KLEINE JUGENDREIHE
Nikolai Korotejew
Operation „Zobel“
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1957
8. Jahrgang, 2, O...
27 downloads
705 Views
360KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
KLEINE JUGENDREIHE
Nikolai Korotejew
Operation „Zobel“
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1957
8. Jahrgang, 2, Oktoberheft Deutsch von Thomas Reschke Stark gekürzte Fassung Veröffentlicht im Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin W 8, Taubenstr. 10 Lizenz-Nr 3-285/67/57 Alle Rechte vorbehalten Umschlag und Illustrationen: Adelhelm Dietzel Satz und Druck: (111/9/1) Sächsische Zeitung, Dresden N 23 3026
Freund oder Feind? Sergeant Walichmetow trat aus der Kaserne. Es war eine dunkle Nacht mit Schneegestöber. Nur mühsam konnte er die Umrisse der auf einem Hügel stehenden Radaranlage unterscheiden. Die schräggestellte Antenne drehte sich langsam. Der junge Soldat sah der Wache am Bildschirm ohne jede Aufregung entgegen. Sie war für ihn nicht mehr neu, und er glaubte, daß es schwerlich eine ruhigere Luftgrenze gebe als hier auf Kamtschatka. In seiner ganzen zweijährigen Dienstzeit hatte sich nichts Außergewöhnliches ereignet. Wer sollte auch auf die Idee kommen, in eine so abgelegene Gegend wie den nördlichen Zipfel dieser Halbinsel einzudringen? Von einer Siedlung zur anderen waren es gute hundert Kilometer, und alle Einwohner kannten sich dem Namen nach. Jetzt, im Winter, tobten außerdem häufig wilde Schneestürme. Noch etwas schlaftrunken, gähnte der Sergeant leise und lief, um in Bewegung zu kommen, leichtfüßig den Hügel hinan. Tief atmend, betrat er den Funkraum. Als er sich beim
diensthabenden Offizier gemeldet hatte, ging er zu dem Funker, der vor dem Bildschirm saß. „Gratuliere zum schlechten Flugwetter“, sagte der Wachhabende und erhob sich, „Den ganzen Tag kein einziges Flugzeug,“ „Vielleicht hast du nicht aufgepaßt“, neckte ihn Walichmetow. „Laß nur, du wirst dir auch keine Lorbeeren holen“, antwortete der andere und fügte hinzu: „Auf alle Fälle wünsche ich dir einen unruhigen Dienst.“ „Wünsche ebensolchen Schlaf“, parierte Walichmetow und setzte sich schnell. Das bis in alle Einzelheiten vertraute Bild stand nun wieder in Augenhöhe vor ihm. Der dunkle Bildschirm mit den flimmernden Rändere war von leuchtenden konzentrischen Kreisen durchzogen. Ein ebenfalls leuchtender Strich, der Mittelpunkt und Rand des Bildschirms verband, lief gleich einem Zeiger unaufhörlich rundum. Das war die Kontrollinie der in den Äther gesandten Signale. Da, wo dieser Strich über den Bildschirm lief, wurden die Umrisse der Landschaft sichtbar – die felsigen Ufer, die Berggipfel, die überwinternden Fischereifahrzeuge in der geschützten Flußbucht und die Häuser der Siedlung. Die Radaranlage arbeitete vorzüglich. Walichmetow hatte nichts weiter zu tun, als vor dem Apparat zu sitzen und darauf zu achten, ob nicht plötzlich hinter dem rotierenden Strich der helle Punkt eines reflektierten Impulses aufflammte. Aber Himmel und Erde waren wie ausgestorben. Eine Stunde verging, eine zweite… Nichts ermüdet so sehr wie erzwungene Untätigkeit. Die Gedanken fließen träge dahin, das Gefühl für die Zeit geht verloren, und man glaubt, nicht erst zwei Stunden, sondern eine ganze Ewigkeit so zu sitzen: Heute war es genauso wie gestern, und morgen würde es
genauso sein wie heute. Vielleicht! Aber ebensogut konnte auf dem schwarzen Bildschirm in der nächsten Sekunde ein heller Punkt, auftauchen, neben dem nicht das geheime Signal „Gut Freund!“ erschien. Und um das zu erleben, wäre der Sergeant bereit gewesen, vierundzwanzig und auch achtundvierzig Stunden lang ununterbrochen auf den Bildschirm zu starren und gegen die schwere Müdigkeit anzukämpfen, die die Augen zufallen ließ und den Körper lähmte. Auch die dritte Stunde verging… Der Sergeant saß ruhig auf dem Stuhl, überzeugt, daß die heutige Wache nicht minder ergebnislos verlaufen würde wie die gestrige. Darum rieb er sich, als am Rande des Bildschirms ein leuchtender Punkt erschien, mit beiden Händen kräftig die Augen. Er glaubte sich geirrt zu haben – aber nein! über den Bildschirm wanderte tatsächlich ein leuchtender Punkt, und solange Walichmetow auch wartete, der geheime Impuls „Gut Freund!“ blieb aus. Die Hände Walichmetows bedienten gewohnheitsmäßig die Hebel und Griffe der Schärfeeinsteilung. Jetzt war der Punkt bereits deutlich zu erkennen. Er bewegte sich auf die Küste zu. Da, was war das? Plötzlich entstand aus dem einen Punkt zwei. Der eine zog rückwärts und verschwand, während der andere in den Kreis eindrang, dessen Peripherie die Grenze der sowjetischen Hoheitsgewässer bezeichnete. Schlaf, Müdigkeit waren wie weggeblasen. Der Peilfunker griff zum Telefonhörer. „Ich habe ein fremdes Flugzeug ausgemacht“, meldete er. „Richtungswinkel – zweihundertneunundfünfzig. Entfernung – neunundzwanzig. Höhe – eintausendvierhundert Meter. Ich setze die Beobachtung fort.“ Der leuchtende Punkt kroch weiter auf die Küste zu. Die
Zeit zog sich in die Länge. Dem Sergeanten schien es, als seien nicht Minuten, sondern Stunden seit seiner Meldung verstrichen, aber die eigenen Flugzeuge waren noch immer nicht zu sehen… Die Explosion in den Wolken Im Stab der Luftwaffenabteilung gab Oberstleutnant Duschkow dem Hauptmann Kutschin, Kommandeur einer Kette von drei Jagdflugzeugen, rasch und knapp seine Anweisungen, Die beiden anderen Piloten standen daneben. „Es handelt sich sehr wahrscheinlich um ein Segelflugzeug“, sagte der Oberstleutnant. „Unsere Horchgeräte haben keine Geräusche aufgefangen, weder von einem gewöhnlichen Motor noch von einem Düsentriebwerk. Der Grenzverletzer fliegt in etwa anderthalbtausend Meter Höhe und geht allmählich tiefer. Das spricht ebenfalls dafür, daß es ein Segelflugzeug ist. Seine Geschwindigkeit beträgt hundertfünfzig Kilometer. Wahrscheinlich ist es von einem schnellen Flugzeug geschleppt worden. Der Auftrag lautet: Einholen und zur Landung zwingen.“ „Alles klar, Genosse Oberstleutnant!“ antwortete Kutschin. „Ich möchte Sie vor einem warnen: Lassen Sie sich durch die Verfolgung nicht mitreißen! Bleiben Sie ständig in Verbindung mit dem Stab“, sagte Duschkow streng. „Zu Befehl!“ „Ich wünsche Erfolg.“ Die Piloten machten eine exakte Kehrtwendung und gingen hinaus. Einige Minuten später stiegen drei Flugzeuge auf und verschwanden im Dunkel der Nacht. Kutschin stieß nach dem Aufstieg als erster durch die Wolken und blickte sich um. Unter der Maschine lag im vollen Mondlicht ein weites Wolkenfeld. Es sah wie eine ver-
schneite Landschaft aus, so daß Kutschin das Gefühl hatte, im Tiefflug über der Erde zu schweben. Am Himmel aber schwammen lange, durchsichtige Federwolken, und da, wo sie sich verdichteten, warfen sie wunderliche Schatten auf die Wolkenwüste unter sich. Die Jagdmaschinen formierten sich zur Kampfordnung und gingen auf den vorgeschriebenen Kurs. Bis zu dem Planquadrat, in dem sich das Segelflugzeug befand, waren es etwa dreihundert Kilometer, aber Kutschin schaltete dennoch das Bordradargerät ein, um ganz sicherzugehen. Auf dem dunklen Bildschirm leuchteten zwei Punkte mit dem geheimen Antwortsignal „Gut Freund!“. Das waren die beiden anderen Jagdflugzeuge. Im Kopfhaubenhörer Kutschins ertönte sein Rufzeichen. Die Peilstelle meldete, daß der Segler in das Quadrat 33-B eingeflogen sei, und gab Richtungswinkel, Höhe und Kurs des Grenzverletzers an. Höhe eintausend Meter, überlegte Kutschin, der Segler fliegt also in den Wolken. Scheint ein erfahrener Wolf zu sein. Er weiß, daß er beobachtet wird, und versucht sich zu drücken. Die Wolken entzogen das Segelflugzeug der Sicht, das erschwerte die Verfolgung. Mit dem Radargerät war es natürlich zu finden, aber wie sollte man es zur Landung zwingen, wenn man nicht herankam? Einfach abschießen? Das ging nicht, der Befehl des Oberstleutnants war Gesetz. Der Ausweg kam Kutschin erst nach längerem Nachdenken. „Möwe! Möwe! Albatros!“ rief er seine beiden Begleiter. „Sobald Sie das Ziel auf dem Bildschirm bemerken, stoßen Sie durch die Wolken und fliegen unter ihnen weiter. Wenn der Segler dann erscheint, schneiden Sie ihm den Weg nach oben ab. Bleiben Sie mit mir in Sprechverbindung!“
„Zeder! Habe verstanden“, antworteten nacheinander die Piloten der beiden Jagdflugzeuge. „Ziel in Sicht!“ hörte Kutschin eine Stimme im Kopfhaubenhörer. „Direkt auf dem Kurs!“ Jetzt bemerkte auch der Kommandeur der Kette einen schwach flimmernden Punkt am Rande des Bildschirms. Die Maschinen der beiden anderen Piloten tauchten in die Wolken. Der Punkt näherte sich schnell der Mitte des Bildschirms, und im selben Maße wuchs auch Kutschins Erregung. Plötzlich machte der Feind eine scharfe Wendung nach links. Kutschin blickte auf die Karte. Vor dem Segelflugzeug erhob sich eine Bergkette, es steuerte direkt auf den Paß zu. „Teufel!“ entfuhr es Kutschin. „Der kennt das Gelände ganz genau!“ Jetzt war das Ziel fast unter ihm. Der Pilot blickte unablässig auf die Wolkenschicht, gewärtig, daß für einen kurzen Augenblick eine dunkle Silhouette daraus auftauche Die beiden anderen Piloten berichteten, daß sich das Ziel über ihnen befinde und nach wie vor unsichtbar sei. Plötzlich flammte in den Wolken ein glutroter Schein auf… Der Chef der Grenztruppenabteilung, Oberst Schipow, wurde um fünf Uhr früh geweckt. Aus dem anhaltenden Klingeln des Telefons schloß er, daß etwas Wichtiges passiert sein müsse „Hier spricht der Diensthabende vom Stab, Major Timofejew“, meldete eine bekannte Stimme „Heute früh, vier Uhr vierzehn Minuten, wurde die Staatsgrenze im Quadrat 33-B von einem Segelflugzeug verletzt Das Vorkommnis wurde sofort der nächsten Luftwaffenabteilung gemeldet. Eine Jägerkette verfolgt den Grenzverletzer.“ „Gut“, antwortete Schipow. „schicken Sie mir ein Auto.“ „Der Wagen ist bereits unterwegs, Genosse Oberst.“
Schipow ging in sein Arbeitszimmer. „Soll ich mit dem Frühstück auf dich warten?“ hörte er die Stimme seiner Frau aus dem Schlafzimmer „Ruf mich lieber um neun Uhr an. Auf Wiedersehen.“ Schipow versuchte sich ein klares Bild von der Grenzverletzung zu machen Es mußte im Abschnitt Hauptmann Babenkos sein, diesem öden und rauhen Winkel der Halbinsel. Längs der Küste ziehen sich dort junge Steinbirkenwälder hin, die Hügel sind spärlich mit Lärchen bewachsen, Krummholzkiefern kriechen bis zu den Berggipfeln hinauf, an den Flüssen stehen Erlen Was suchten die ungebetenen Gäste dort? Zu welchem Zweck drangen sie in diesen wilden Landstrich ein, in dem es so gut wie gar keine Siedlungen gab? Vorläufig wußte es der Oberst nicht. Klar war nur eins: jemand hatte die Grenze verletzt und mußte nun festgenommen werden. Es gibt in jedem Beruf Ereignisse, die den äußersten Grad von Anspannung und Gefahr bedeuten. Das ist beim Seemann der Taifun, beim Arzt der ernste Zustand seines Patienten und bei den Grenzern der heimliche Grenzübertritt. Letzteres bedeutet, daß Soldaten und Offiziere Tag und Nacht, bei Wind und Wetter, in Urwäldern und Sümpfen, in Abgründen und auf Berggipfeln, in jeder Felsspalte, wo ein Feind sich verstecken kann, nach den Menschen suchen, die die Grenze verletzt haben. Das Auto kam, und kurze Zeit später saßen Schipow und Major Timofejew im Dienstzimmer des Obersts und dachten gemeinsam nach. Timofejew zeigte sich etwas nervös. „Geduld ist die Voraussetzung des Erfolges, Genosse Major“, sagte Schipow, nachdem er in aller Ruhe Tee zubereitet hatte. „Aufgeregt sind nur die Menschen, die nicht wissen, was sie machen sollen.“ Er lehnte sich im Stuhl zurück und
fuhr fort: „Sobald es hell ist, begeben Sie sich zur Grenzwache Babenkos.“ „Wie mir berichtet wurde, hat die hiesige Staffel den angeforderten Hubschrauber erhalten“, warf Timofejew ein. „Vielleicht können sie uns helfen?“ „Das kommt ja sehr gelegen! Wann ist der Hubschrauber eingetroffen?“ „Gestern abend, zwanzig Uhr. Er ist für die geologische Expedition bestimmt, die zur Mündung der Penshina vor-. dringen soll.“ Das Telefon klingelte. Schipow nahm den Hörer ab. Während er sprach, versuchte Timofejew zu erraten, ob Schipow gute oder schlechte Nachricht erhielt, aber es gelang ihm nicht. Die Miene des Obersts war undurchdringlich. Schipow legte den Hörer auf und goß sich nachdenklich Tee ein. „Eben wurde gemeldet, daß das Segelflugzeug in der Luft explodiert ist“, sagte er schließlich. Timofejew kostete es große Anstrengung, bei dieser Neuigkeit ruhig sitzen zu bleiben. Aber er wußte, daß der Oberst von seinen Untergebenen Selbstbeherrschung verlangte. So saßen sie einige Zeit schweigend und dachten über die unerwartete Mitteilung nach. Erst ein Offizier, der in das Zimmer trat, unterbrach die Stille. Er überreichte Schipow einen Funkspruch. „Ein ausländischer Sender hat soeben eine Nachricht durchgegeben, die Sie sicher interessieren wird.“ Ohne Eile entfaltete der Oberst die Depesche. „Heute nacht um null Uhr vierzig ist vom Flugplatz auf der Sankt-GeorgsInsel eine Schleppmaschine mit einem Segelflugzeug aufgestiegen. Während der Fahrt kam es zu einer Havarie: die Schlepptrosse riß. Das Segelflugzeug befand sich auf hal-
bem Weg zu den Auteninseln. Die Verbindung mit dem Segelflugzeug ist unterbrochen.“ Schipow reichte das Blatt Timofejew und fragte: „Was sagen Sie dazu?“ Auf einer alten Spur Über dem Ozean ging die Sonne auf. Die Hügelkuppen loderten in purpurnem Glanz, und die Morgenröte verdrängte den blauen Schatten der Dämmerung. Das Bild ergriff Wladimir Kasin, aber er wollte es sich nicht eingestehen, obwohl er in dieser verschneiten Wunderwelt ganz allein war. Das einzige, was einen richtigen Jäger seiner Meinung nach erregen durfte, war die Entzifferung der Tierspuren im Schnee. Wladimir, auf Kamtschatka geboren, war noch nie über die Halbinsel hinausgekommen. Seine Kindheit hatte er im Internat verlebt, nur in den Ferien war er auf Besuch zur Mutter gefahren. Als er zwölf Jahre alt wurde, verheiratete sie sich das zweitemal, mit Kasin, einem Heger des Naturschutzgebiets. Onkel Jepifan, wie der Stiefvater genannt wurde, war vor zwanzig Jahren vom Festland herübergekommen! er hatte bis Kriegsende in PetropawlowskKamtschatski gelebt, war dann hierhergezogen und hatte Arbeit im Naturschutzgebiet angenommen. Wladimir, fröhlich und umgänglich, wie er war, freundete sich rasch mit ihm an. Der Stiefvater nahm ihn mit auf die Jagd, und sie zogen viele hundert Kilometer gemeinsam durch die Taiga, schliefen zusammen am Lagerfeuer und aßen aus einem Kessel. Der Stiefvater galt bei den Jägern als ausgezeichneter Kenner des Küstengebiets. Trotz seiner fünfundsechzig Jahre war er noch frisch und unverwüstlich. Obzwar von Natur schweigsam, versagte er niemand Rat und Hilfe. Die
Jäger in diesen dünnbesiedelten Gegenden, die sich untereinander gut kannten, schätzten ihn sehr. Der Stiefvater hatte Wladimir das Weidwerk beigebracht, von ihm hatte er Ausdauer und kluges Verhalten im Walde gelernt Schon oft war der junge Mann auf Eichhörnchen- und Hermelinjagd ausgezogen, aber heute trug er in der Brusttasche zum ersten Mal die Erlaubnis, einen Zobel zu fangen, jenen wertvollen Bewohner der Kamtschatkaer Wälder. Mit dem heutigen Tag war Wladimir ein richtiger Berufsjäger geworden, für den es nichts gab, was annähernd so schwierig und ehrenvoll war, als dieses kluge und scheue kleine Raubtier zu jagen. Sein Pelz war kostbarer als Gold. Wladimir hatte sich schon weit von zu Hause entfernt. Je tiefer er auf seinen Skiern in die Taiga eindrang, desto häufiger war der Schnee mit Tierfährten und jenen kaum sichtbaren Zeichen verziert, die nur ein erfahrener Jäger zu deuten vermag. Hier, auf dem Fluß, war zum Beispiel ein neugieriges Hermelin gewesen. Es hatte die Spalten und Risse im Eis untersucht und sich an erfrorenen Lachsen gütlich getan. Offenbar etwas später war ein Fuchs gekommen, doch ihm lachte kein Glück. Er hatte eine tiefe Grube in den Schnee gescharrt, aber nichts gefunden. Ein Fischotter hatte seinen langen Körper von einem Eisloch zum anderen geschleift und eine tiefe Furche in den Schnee gedrückt. Die Spur, die einer Kette gleich quer über den Fluß lief, stammte vom Vielfraß, dem Dieb und Landstreicher der Taiga. An diesem Fluß hatte Wladimir vor einigen. Wochen die Spur eines Zobels im trockenen Neuschnee entdeckt, deutlich erkennbar die zierlichen Abdrücke der Pfoten. Es schadete nichts, daß seitdem schon einige Zeit verstrichen war. Jeder Zobel bleibt mehrere Jahre in seinem Revier, etliche Dutzend Quadratkilometer groß. Selbst in den kältesten und
hungrigsten Zeiten geht das Tierchen niemals weit über die Grenzen seines „angestammten Besitzes“ hinaus. Die Gegend hier ist reich an Zirbelkiefern, und es gibt den ganzen Winter über Zirbelnüsse und Mäuse. Am Ufer des Flusses kann der Zobel fischen; und obgleich er im Winter kein Nest hat, obgleich er unablässig seine Jagdpfade entlangzieht, friert er nicht: sein schokoladenbrauner, mitunter auch pechschwarzer buschiger Pelz wärmt ihn zur Genüge. Der Zobel übernachtet in einer Schneewehe oder in einem Steinhaufen, oder er schlüpft unter den Schneepelz, der die ineinandergeflochtenen Krummholzzweige bedeckt, wo er es warm hat und nicht zu hungern braucht. Wenn der Schneesturm tobt, verläßt er seinen Zufluchtsort wochenlang nicht. Schon von weitem sah Wladimir am Rand einer bekannten Lichtung die feine Kette einer Fährte. Er ging näher, sein Herz klopfte vor Freude. Auf der mit Rauhreif überstäubten Schneekruste hoben sich deutlich die Spuren eines Zobels ab. Das Tierchen hatte wie stets die eine Pfote in den Abdruck der anderen gesetzt. Vielleicht war es schon mehrere Male diesen Pfad entlanggelaufen, aber der Spur sah man es nicht an. Wladimir stieß vorsichtig mit der Hand durch die Schneekruste und hob einen Pfotenabdruck heraus. Der Schnee unter dem Abdruck war zu einem festen Klümpchen gefroren. Das Tier mußte also schon vor einiger Zeit, vielleicht gestern abend, hier vorbeigewechselt sein. Es gehörte nicht viel dazu, eine Zobelspur zu entdecken. Dieses Tierchen war hier nicht mehr allzu selten. Wladimir mußte aber einen Zobel lebendig fangen. Dieser sollte weit fort auf das Festland gebracht und dort angesiedelt werden. Mit eiligen Sprüngen hatte das Tier die Lichtung überquert und war dann unter ein niederes Gestrüpp gehuscht.
Wladimir machte auf seinen Skiern einen Bogen von fast fünf Kilometern, bis er die Stelle fand, wo der Zobel das Dickicht wieder verlassen hatte. Er mußte an dem kurzen Wintertag den ganzen Weg verfolgen, den der Zobel in der Nacht zurückgelegt hatte. Obwohl Wladimir verhältnismäßig leicht gekleidet war, geriet er bald ins Schwitzen. Die gewaltige orangefarbene Sonnenscheibe stieg immer höher und strahlte bald in blendendgoldenem Glanz. Wladimir machte keine Pause, er lief, als wolle er seinen Schatten einholen, der vor ihm auf die Bretter fiel. Leutnant Demin macht einen Fund Es war ein klarer, sonniger Morgen, wie er in diesen Breiten selten vorkommt. Jedes bereifte Zweiglein der Steinbirke, jede Nadel der Ajantanne glänzte in funkelnder Pracht. Die frostige Luft war kristallklar Weit in der Ferne über den silbergrauen Bergkuppen erhob sich der Vulkan Kljutschewskaja Sopka. Wie aus einem Schornstein bei Windstille stieg ein weißer Rauchpilz senkrecht über ihm auf. Die Ruhe auf Hauptmann Babenkos Station wirkte gezwungen. Alle gingen schweigend umher. Hatte doch die Grenzverletzung in ihrem Abschnitt stattgefunden, und das Unangenehmste, was einem Grenzer passieren kann, ist ein ungeklärter Grenzübertritt im Bereich seiner Abteilung. Babenko ließ Leutnant Demin rufen. Als dieser eintrat, wanderte der Hauptmann unruhig von einer Zimmerecke zur anderen. Sein Gesicht war streng und konzentriert, „Setz dich, Andrej Sacharowitsch, es gibt Arbeit für uns“, sagte er. „Stell dir vor, das Segelflugzeug ist in der Luft, explodiert, zweihundert Kilometer nördlich von uns. Der Stab hat es mir eben mitgeteilt. Ein Hubschrauber soll zu der Unglücksstelle fliegen; er wird in etwa eindreiviertel Stunde eintreffen. Wir
haben den Auftrag, eine Einsatzgruppe von fünf Mann aufzustellen, die möglicherweise zwei Wochen durch die Taiga streifen muß. Keine leichte Sache. Die Gruppe wirst du führen.“ „Zu Befehl“, antwortete der Leutnant. „Such dir möglichst kräftige Leute aus.“ Soldaten sind schnell einsatzbereit. Eine halbe Stunde später saßen vier Grenzer, nachdem sie für eine Woche Lebensmittel empfangen hatten, bereits in der Wachstube und lauschten begierig auf jedes Geräusch. Dia übrigen, die dienstfrei waren oder bereits geschlafen hatten, trieben sich in der Nähe herum und wünschten sich an die Stelle der Glückspilze. Endlich hörte man das lang ersehnte Motorengeräusch. Die große, einer Kaulquappe ähnliche Maschine senkte sich auf den Schießplatz hinter dem Grenzhaus herab, schwebte, den Schnee aufwirbelnd, sekundenlang über dem Boden und landete. Hinter der Kabine des Piloten öffnete sich eine kleine Tür, und der allen bekannte Major Timofejew und der Sachverständige Sinilow sprangen auf die verschneite Erde. „Einsatzgruppe der Grenzabteilung – bereit zum Start“, meldete Babenko, „Gut. Wir werden uns nicht lange aufhalten“, sagte Timofejew. „Macht euch darauf gefaßt“, wandte er sich an die Soldaten, „daß wir vielleicht keinen Landeplatz finden und ihr an einer Strickleiter hinunterklettern müßt.“ Die Soldaten lachten. Die hellen Strahlen der Sonne, die durch die runden Lichtöffnungen in die Kabine des Hubschraubers fielen, malten bernsteingelbe Kringel auf den Boden. Unten zog die ständig wechselnde Landschaft vorüber. An der Küste standen die Bäume weniger dicht, Aber dann,
als zwischen den Birken auch Lärchen auftauchten, wurde die Taiga dunkel, und die Schatten färbten den Schnee blau. Selbst aus der Vogelperspektive war es schwierig, das Gelände zu überblicken, und an den Berghängen verbarg der finstere Wald dem Auge alles, was unten geschah. Nach einer Stunde etwa winkte der eine Pilot in die Kabine, wo die Grenzsoldaten saßen. Sie beugten sich über die Lichtöffnungen: die Erde, Bäume und Hügel kamen rasch näher. Der Hubschrauber senkte sich hinab. Als die Baumwipfel fast in Augenhöhe waren, erzitterte die Maschine; sie blieb schwankend in der Luft hängen wie an einem unsichtbaren Seil. Direkt unter sich erblickten die Soldaten den vom Feuer beschädigten Rumpf eines Segelflugzeuges, dessen Bug sich in die Wurzeln einer gewaltigen Zirbelkiefer gebohrt hatte. Der andere Pilot holte eine zusammengerollte Strickleiter, befestigte sie und öffnete die Tür. Von den gewaltigen Flügeln der Luftschraube getrieben, brach die frostige Luft wie ein Orkan in die Kabine. Major Timofejew ließ die Ohrenklappen seiner Pelzmütze herunter und band sie unter dem Kinn zusammen, dann gab er mit der Hand das Zeichen „Mir nach“ und begann, an der Leiter hinabzuklettern. Nach und nach kamen alle glücklich unten an. Die Piloten warfen Skier und Rucksäcke mit Verpflegung ab und holten die Strickleiter ein. Der Hubschrauber ging höher und zog einen weiten Kreis über der verschneiten Taiga. Die Piloten spähten nach weiteren Trümmern oder anderen Spuren des Flugzeugunglücks, konnten jedoch nichts entdecken. Der Motorenlärm verstummte allmählich, der Hubschrauber flog zurück. Die Soldaten sammelten die herabgeworfenen Rucksäcke und Skier ein und fällten kleine Bäume, um eine Hütte zu
errichten. Die Offiziere wollten den Rumpf des Segelflugzeugs untersuchen. „Bitte warten Sie einen Augenblick“, sagte der Sachverständige und holte einen Fotoapparat hervor. Er ging nah an die Trümmer heran und machte von verschiedenen Seiten Aufnahmen. Als er den Apparat wieder verwahrt hatte, sagte er: „Ich glaube, in der Kabine liegt ein Toter.“ Das Plexiglas des Daches war vom Feuer trüb geworden, und man konnte dahinter nur sehr undeutlich die Umrisse eines menschlichen Kopfes, richtiger gesagt eines Lederhelms, erblicken. Timofejew versuchte das Dach zurückzuschieben, aber es gab nicht nach: das Metallgerippe des Segelflugzeugs hatte sich beim Aufprall stark verbogen. Man mußte zum Brecheisen greifen. „Ich bitte Sie sehr“, sagte der Sachverständige, als der Rumpf des Segelflugzeugs unter Timofejews Anstrengungen wackelte, „ich bitte Sie sehr, seien Sie vorsichtig. Das Wrack darf nicht bewegt werden. Wir haben es noch nicht besichtigt.“ Timofejew wandte sich an Demin: „Genosse Leutnant, bitte stützen Sie das Kabinendach von der Seite.“ Der Major drückte kräftig auf das Brecheisen, das kaum in den engen Spalt hineingegangen war. Das Dach öffnete sich. In der Kabine saß, die Stirn an das Armaturenbrett gelehnt, ein Mann. Er war tot, der Steuerknüppel war ihm in die Brust gedrungen. Der Leichnam wurde vorsichtig aus der Kabine gehoben und in den Schnee gelegt. Der Mann hatte eine Fliegerkombination und lange Pelzstiefel an. Kleidung und Gesicht waren stark verkohlt.
In der Kabine fanden die Offiziere eine völlig zerstörte Radioapparatur und zwei Thermosflaschen sowie einige Päckchen Dauergebäck und Schokolade. „Ein armseliger Fang“, meinte Demin. „Werfen wir das Netz noch einmal aus“, parierte Timofejew. Die Offiziere teilten das Segelflugzeug untereinander auf, jeder mußte seinen Abschnitt gründlich untersuchen. Leutnant Demin brach einen Tannenzweig ab und kratzte damit vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, das Eis herunter, das sich nach dem Brande aus dem Schnee gebildet hatte. Doch er entdeckte nichts Auffälliges. Gewiß konnte man nur in der Kabine des Segelflugzeugs, wo Timofejew und Sinilow suchten, etwas von Bedeutung finden. Trotzdem setzte er gewissenhaft seine Arbeit fort. „Genosse Major!“ rief er plötzlich aufgeregt. „Hier ist eine Luke!“ Die Zobelfänger Schon die zweite Woche fing jeder Morgen in dem Jägerhäuschen mit Zank an. „Was hast du da gestern bloß wieder mitgebracht, Kasin!“ empörte sich der Direktor des Naturschutzgebiets, Medwedew, und setzte damit ein vom Schlaf unterbrochenes Gespräch fort. „Was sollen wir mit so einem Vieh anfangen? Da ist ja sogar ein Marder dunkler.“ Der Direktor, ein wohlbeleibter Mann mit kahlem Kopf und spärlichem Bartwuchs, lag auf einer mit Bärenfellen bedeckten Bank. Er verzog ab und zu voller Schmerz das Gesicht und preßte die Hand auf die Brust. Vor einem kleinen Ofen hockte ein alter Mann von etwa sechzig Jahren mit einem langen und breiten Bart, der ihm ein würdevolles Aussehen
verlieh. „Denkst du vielleicht, ich setze die Zobel selbst in die Fallen?“ erwiderte dieser und stocherte ärgerlich im Holzfeuer umher, so daß die Funken ins Zimmer flogen. „Weiß nicht, habe keine Ahnung, Verehrtester! Aber wir müssen erstklassige Zobel hinüberschicken, verstehst du, Musterware. Und nicht bloß Musterware, Spitzenklasse! Die besten Zobel im ganzen Bezirk müssen wir fangen… Ach, daß ich gerade jetzt krank werden mußte“, jammerte Medwedew. „Ja, wenn du nur gesund wärst!“ knurrte der Alte als Antwort. „Aber es tut dir nun mal in der Brust weh, und mit dem Herzen ist nicht zu spaßen, Bruder.“ „Hör auf mit der Unkerei! Ich gehe heute mit, basta!“ „Komm ruhig mit, mir ist das egal“, erwiderte Kasin, „Es ist ja dein Schade, nicht meiner.“ Der Direktor des Naturschutzgebiets, Medwedew, und der Forstwächter Kasin hatten den Auftrag erhalten, vier Paare auserlesener Zobel zu fangen, sogenannte Spitzenklasse, die größten und der Farbe ihres Pelzes nach dunkelsten Tiere, und sie auf Hundegespannen in eine Siedlung an der Küste zu schaffen, Die Zobel sollten mit dem Flugzeug auf das Festland gebracht und dort in der Taiga von Birobidshan ausgesetzt werden. Auf dem Wege zu dem Jägerhäuschen, das ihnen als Quartier diente, waren die beiden bejahrten Männer in einen Schneesturm geraten. Um nicht in einer Talsenke vom Schnee begraben zu werden, hatten sie einen Berg erstiegen. Das hatte drei Stunden gedauert, und Medwedews altes Herzleiden, das ihn schon mehrmals ans Bett gefesselt hatte, war erneut ausgebrochen. Er konnte fast gar nicht mehr laufen, der Atem setzte aus, und Kasin mußte für zwei arbeiten.
Die beiden waren zusammen schon so manche hundert Kilometer durch die Taiga gestreift, manchmal auch zu dritt – mit Kasins Stiefsohn Wladimir. Der Ärger am Morgen konnte ihre Beziehungen nicht trüben. Eine Viertelstunde später saßen sie bereits friedlich bei einer Tasse Tee. „Was machen wir nun? Die Zeit vergeht, und in anderthalb Wochen kommt das Flugzeug. Ob wir ihnen mitteilen, daß sie noch warten sollen?“ Kasin blies auf den Tee in seiner Untertasse und schlürfte laut bei jedem Schluck. Als er ausgetrunken hatte, wischte er sich den Schnurrbart und sagte: „Es wird schon klappen. Wenn die Zeit knapp wird, gehe ich einfach von hier aus über den Paß.“ „Der Weg ist doch kaum bekannt.“ „Ich bin ihn als erster gegangen.“ „Sei vorsichtig, Jepifan!“ „Wozu denn? Es wird schon alles gut werden. Heute sehe ich nach den Kastenfallen, die ich vorgestern aufgestellt habe.“ „Ich komme mit!“ „Wie du willst, Afanassi Demjanowitsch.“ Die Jäger machten sich marschfertig. Ein Weg von zwanzig Kilometern durch tiefen Pulverschnee stand ihnen bevor. Kasin spannte die Hunde an, packte Lebensmittel sowie die Käfige für die Zobel auf den Schlitten und ließ auch Platz für Medwedew. Dieser trat ziemlich forsch aus der Tür, aber die trockene frostige Luft verschlug ihm offenbar den Atem, denn er mußte lange und angestrengt husten. Während er auf dem Schlitten Platz nahm, legte Kasin die mit Robbenfell überzogenen Skier an. Die Robbe hat ein hartes, borstiges Fell, die Jäger beziehen damit vor Bergfahrten die Laufflä-
chen ihrer Skier. Wenn sie einen steilen Hang ansteigen und die Skier rückwärts gleiten wollen, sträuben sich die Borsten und werden so zu einer ausgezeichneten Bremse. Die beiden Männer machten sich auf den Weg, als die Sonne über der Taiga aufging. Ringsum herrschte tiefe Stille, nur hin und wieder knackten alte Lärchen im Frost. Unter den Bäumen lagen dunkle bläuliche Schatten, während die Baumwipfel in purpurnem Feuerglanz loderten. Kasin lief voraus, er bahnte den Weg. Hinter ihm zogen die Hunde mit großer Anstrengung die schwerbeladene Narte. Als die Jäger fünf Kilometer zurückgelegt hatten, erreichten sie die erste Kastenfalle, eine aus Brettern gefertigte Kiste. Die einzelnen Bretter müssen so gut aneinandergefügt sein, daß nicht der kleinste Spalt bleibt. Die Kiste ist durch eine Scheidewand in zwei Hälften geteilt: das „Eßzimmer“, wo der Köder liegt, und das mit Rentierwolle gepolsterte „Schlafzimmer“. Solche Kastenfallen werden mit Beginn des Herbstes auf die Zobelwechsel gestellt. Jede Woche wird Futter hineingelegt. Die Zobel sollen sich an den Anblick der Kiste gewöhnen und ohne Scheu hineingehen. Im Winter, wenn die Tiere wenig Nahrung finden, werden die Türen der Falle gespannt. Jetzt braucht der Zobel nur noch hineinzuschlüpfen, und sie klappt zu. Schon von weitem sahen die Jäger, daß die Tür zugeschnappt war. „Sieh mal! Und du sagst immer, es friere und die Zobel verlassen ihr Gestrüpp nicht“, sagte Medwedew. „Wir haben eben Glück gehabt“, antwortete Kasin. Vor der Falle lag eine dicke Schicht Schnee. Die Tür mußte schon vor längerer Zeit zugeklappt sein. „Hast du denn gestern nicht nach der Falle gesehen?“ rief Medwedew aus. „Sieh dir an, wie die Tür zugeweht ist.“ Der
Direktor kletterte vom Schlitten und stapfte selbst hin. „In der Nacht hat es ganz ordentlich geweht“, antwortete Jepifan. „Das ist ein Zobel!“ sagte Medwedew begeistert und betrachtete das Tier durch das kleine Metallgitter. „Das ist Spitzenklasse! Da haben wir ja großes Glück gehabt. Hat schon das ganze Futter aufgefressen, war sicher hungrig. Ja, Brüderchen, die Taiga ist keine liebe Mutter“, fügte er, sich, an den Zobel wendend, hinzu. Kasin zog Lederhandschuhe über, zerrte den sich heftig sträubenden Zobel heraus und setzte ihn in einen Käfig auf dem Schlitten. Die Jäger zogen weiter. Die beiden nächsten Fallen standen leer. Die Zobel waren zwar nachts um die Fallen gestreift – die Spuren waren noch frisch – , aber vielleicht haftete dem Holz noch der menschliche Geruch an, oder es hatte sie jemand verscheucht. In einer anderen Falle steckte ein kleiner Zobel mit hellem Fell. Kasin ließ ihn frei. Dafür saß in der nächsten, die die Jäger erst am frühen Nachmittag erreichten, ein Zobel, so groß wie eine Hauskatze, mit selten dunklem Fell. Medwedew hatte prächtige Laune, als sie abends in die Hütte zurückkehrten. Beim Schlafengehen sagte er: „Wenn es weiter so klappt, machst du nächste Woche eine große Fahrt.“ Die zweite Peilungslinie Ein graublauer Schleier von Tabakrauch hing in Oberst Schipows Arbeitszimmer. Er saß mit dem Sachverständigen Sinilow und Major Timofejew am Tisch. An den müden Gesichtern und den Bergen von Zigarettenstummeln in den Aschenbechern war zu sehen, daß das Gespräch schon lange dauerte. Der Bogen Papier, der vor Schi-
pow lag, war mit Zeichnungen bekritzelt. Sie stellten Flugzeuge dar und Menschen, die durch tiefen Schnee wateten, aber sie waren alle unvollendet, als habe der Oberst mit jedem neuen Gedanken auch eine neue Zeichnung begonnen. Timofejew saß dem Oberst gegenüber und machte ein finsteres Gesicht Er fühlte, daß Schipow unzufrieden war. Sinilow sah einen Stoß Fotografien durch. Seit einigen Minuten herrschte Schweigen. Es war den Männern nicht gelungen, das Hauptglied in dieser Kette scheinbarer Zufälligkeiten zu finden. Warum eigentlich hatte der Pilot sein Segelflugzeug an die Küste Kamtschatkas gesteuert? Wußte er, daß er die Grenze des Sowjetstaates verletzte? Vielleicht waren die Geräte an Bord defekt, und der Pilot konnte sich infolgedessen nicht orientieren? Dann mußte man die Mitteilung des ausländischen Senders für bare Münze nehmen, und es blieb nur übrig, die sterblichen Überreste des Piloten und die Trümmer des Segelflugzeuges auszuliefern und die Umstände, unter denen die Katastrophe erfolgte, mitzuteilen. Aber gerade diese Umstände ließen Schipow keine Ruhe, Warum war das Segelflugzeug in Brand geraten oder, wie die Piloten der Jagdflugzeuge ausgesagt hatten, in der Luft explodiert? Die Gründe dafür hatten sie noch nicht gefunden. Sinilow glaubte nicht, daß der Spionagedienst irgendeines fremden Staates hinter dieser Operation steckte. Man hatte in der Brusttasche des Piloten eine Fotografie gefunden, die wie die Aufschrift besagte, Frau und Kinder des Fliegers waren. Der Sachverständige behauptete, derartige „Fehler“ kämen bei Spionen nicht vor. Das schließe jedoch nicht aus, daß der Segler die Grenze in einer bestimmten Absicht verletzt habe. Timofejew widersprach ihm hartnäckig: Alles von Anfang
bis Ende, sogar die Luftkatastrophe, sei von erfahrenen Spionageorganisatoren eingefädelt worden. Vielleicht sei die Luftkatastrophe notwendig gewesen, den Absprung eines zweiten Grenzverletzers zu tarnen? „Sie glauben also, daß noch ein zweiter Mann in dem Flugzeug gesessen hat?“ fragte Schipow. „Ich kann das nicht beweisen“, antwortete der Major. „Die Luke kann sich auch von der Erschütterung bei der Explosion geöffnet haben. Nur mein Gefühl sagt mir, daß dort noch ein zweiter Mann war. Natürlich kann man alles mit einer Verkettung besonderer Umstände erklären. Aber diese Zufälle wollen mir nicht gefallen. Das Segelflugzeug überfliegt zufällig unsere Grenze und explodiert zufällig in. der Luft. Ist es nicht logischer, hier eine Zwangsläufigkeit anzunehmen, eine besonders listig eingefädelte Verletzung der Staatsgrenze?“ Der Oberst gab Timofejew innerlich recht. Sicher handelte es sich um einen Schachzug des Gegners, fein und bis ins einzelne durchdacht Vermutlich hatte der Gegner – wenn diese Version richtig war – schon einige weitere erfolgreiche Züge getan, während sie inzwischen Zeit verloren hatten und auf der Stelle traten. „Was für einen Sinn hat es aber, einen Spion in der öden Taiga, Hunderte Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt, abzusetzen?“ fuhr Schipow nachdenklich fort „Dort muß ihn doch jede Spur sofort verraten.“ „Das läßt sich dadurch erklären, daß der Spion in der Gegend des Absprungs von einem Ortskundigen empfangen wird“, bemerkte Timofejew. „Durchaus möglich. Aber die Taiga umfaßt Tausende Quadratkilometer. Die verabredete Zusammenkunft findet statt – in welchem Quadrat, wissen wir nicht. Die Dokumente wer-
den übergeben. Der Mann, der sie übergeben hat, kehrt zu seinen Geschäften zurück, und wir haben keine Ahnung, wer es ist“, sagte Schipow ärgerlich. „Und was meinen Sie, wo der Spion bleibt?“ „Man hat sicher versprochen, ihm ein Flugzeug zu schikken“, antwortete der Major. „Wenn er seine Aufgabe erfüllt hat, wird er sich auf das zugefrorene Meer begeben, hinaus auf neutrales Gebiet, und seine Koordinaten funken. Dann kann man ihn dort abholen.“ „Auch das ist möglich“, sagte Schipow. Er war mit dieser Besprechung nicht zufrieden. Vermutungen, Vermutungen, aber nichts Greifbares. Vorläufig gab es keinen anderen Weg als eine verstärkte Beobachtung der Absprunggegend und der Grenze. Timofejew dachte dasselbe. Aber damit war die Aufgabe nicht gelöst. Die Offiziere wußten aus Erfahrung, daß nur aktive Maßnahmen Erfolg bringen konnten, und dazu war es notwendig, einen wenn auch noch so winzigen Anhaltspunkt zu haben, an Hand dessen man die komplizierte Lage entwirren konnte. Schipow zog die auf dem Tisch liegende Karte zu sich heran, in der mit geraden roten Linien die Flugstrecke des Seglers eingezeichnet war. Die erste Linie ging von der SanktGeorgs-Insel nach Südwesten in Richtung Auteninseln. Irgendwo auf halbem Weg war das Flugzeug scharf abgebogen. Dort begann die zweite Linie. Sie führte auf die Halbinsel Kamtschatka und wurde, als sie die Gebirgshänge erreichte, von der dritten Geraden abgelöst, die zum Paß lief. Schipow hatte die Flugstrecke selbst eingezeichnet; er war in Eile gewesen, und daher gingen die Linien, wo sie aufeinandertrafen, über ihre Schnittpunkte hinaus und bildeten jedesmal ein Kreuz.
Sehen aus wie Peilungslinien, dachte der Oberst und zog die kurze Gerade, die am zweiten Wendepunkt ihren Anfang nahm, die Karte hinauf. Sie stieß auf einen Hafen an der Ostküste der Tschuktschenhalbinsel. „Ja“, sagte Schipow nachdenklich, „wenn das wirklich eine Peilungslinie wäre…“, und im selben Augenblick griff seine Hand zum Telefonhörer. „Wir werden die fehlende Peilungslinie finden!“ „Peilungslinie?“ fragte Tirnofejew. „Ja, wir werden die Flugstrecke des Seglers als Peilungslinie ansehen und dann die zweite Linie ausfindig machen.“ „Verbinden Sie mich mit Leutnant Poschibin“, sagte Schipow in den Hörer… „Genosse Leutnant, hier spricht Oberst Schipow. Suchen Sie bitte die Akte 045-t heraus und bringen Sie sie sofort zu mir. Sofort!“ Schipow legte den Hörer auf und ging aufgeregt im Zimmer umher. Er hatte sich an eine Akte erinnert, die noch immer nicht abgeschlossen war. Vor vier Monaten hatte ein Funker in der Serebrjanajabucht die Vierzehn-Meter-Welle abgesucht und zufällig eine unbekannte Sendestation aufgefangen, die nur den einen Buchstaben „O“ in den Äther sandte. Dreimal war dieses Signal erklungen. Der Polarfunker hatte eine Richtantenne und konnte sich auf die unbekannte Station einstellen. Eine solche Antenne dreht sich automatisch in die Richtung, aus der die Signale kommen. Wenn sich nun zwei Funker von verschiedenen Orten aus auf die fremde Station einstellen, dann kann man nach den Richtungswinkeln ihrer Antennen zwei gerade Linien auf der Karte einzeichnen. Da, wo sie sich kreuzen, liegt die gesuchte Sendestation. Aber die erwähnte Station war nur von einem Funker gehört worden, es gab lediglich die eine Peilungslinie. Sie lief durch die
Tschuktschenhalbinsel, durch Kamtschatka und das Ochotskische Meer zum Festland. Nach dem Gutachten des Funkers war die geheime Sendestation ziemlich stark. Konnte man nicht die Fluglinie des Segelflugzeuges an Stelle der zweiten Peilungslinie setzen? Wenn man das tat, dann war der Schnittpunkt der beiden Linien die Absprungstelle. Der Bezirk, der durchforscht werden mußte, würde dadurch erheblich verkleinert. Schipow teilte den beiden anderen seine Gedanken mit. Aber die Freude war nicht von langer Dauer. Leutnant Poschibin erschien mit der Akte, und es stellte sich heraus, daß die Peilungslinien erst im Ochotskischen Meer aufeinandertrafen. Poschibin zerstreute die Bedenken. „Wenn man die unumgänglichen Korrekturen vornimmt“, sagte er, „dann schneiden sich die Linien auf dem Territorium der Halbinsel. Nach dem Charakter der Signale zu urteilen, wurden sie wahrscheinlich zu Peilungszwecken ausgesandt. Im übrigen hat das Segelflugzeug gerade in Richtung der Peilungslinie eine Wendung gemacht. Es kann sogar durch irgend etwas in diese Richtung gelenkt worden sein.“ Die Offiziere beugten sich über die Karte, in der alle Siedlungen, alle Jagdpfade und Jägerhütten eingetragen waren. Die Peilungslinien kreuzten sich im ödesten Teil, da, wo das Naturschutzgebiet lag. „Es gibt auf der Halbinsel einen Partner. Eine Zufälligkeit der Grenzverletzung ist ausgeschlossen“, bemerkte Timofejew. „Nicht ganz klar ist nur, ob noch ein zweiter Mann im Segelflugzeug saß oder ob der Pilot der Spion war.“ „Ja, Genosse Timofejew“, sagte Schipow, zu dem Major gewandt, „Sie werden wohl im Naturschutzgebiet ein wenig auf Jagd gehen müssen.“
Kostbare Beute Wladimir war nun schon den zweiten Tag hinter dem Zobel her. Abends waren die Spuren stets ganz frisch, und ihn trennten vielleicht nur ein oder anderthalb Kilometer von der Beute, aber er mußte haltmachen und sich ein Nachtlager bereiten. Am dritten Morgen erwachte Wladimir, als es zu dämmern anfing. Er warf Reisig ins Feuer, briet einige dünne Scheiben Bärenfleisch zum Frühstück und machte sich wieder auf den Weg. Die Zobelspur stieg bald zwischen Felsen zu kahlen Gipfeln empor, bald lief sie wieder in die Taiga hinab und verlor sich unter dem Schnee – der Zobel hatte Rebhühner gejagt, die sich gern darin verstecken. Eben war die Spur wieder unter dem Schnee verschwunden. Wladimir suchte, wie stets in solchen Fällen, das Ausschlupfloch, da erscholl plötzlich ein gebieterisches leises „Halt!“ Wladimir blieb stehen. Nach einigem Umherblicken entdeckte er einen Mann in Soldatenuniform. Er trug keinen Tarnkittel, hatte sich aber so geschickt unter einer Krummholzkiefer versteckt, daß Wladimir vorbeigelaufen war, ohne ihn zu bemerken. Der Soldat trat aus dem Gebüsch, gefolgt von fünf weiteren Männern in weißen Halbpelzen. Ein Offizier kam auf Wladimir zu. An den Streifen auf den Schulterklappen erkannte Wladimir den Grenzer. „Ihre Papiere.“ Der Jäger holte seinen Paß und seine Lizenz aus der Tasche. Der Offizier prüfte beide mit großer Sorgfalt. „Haben Sie fremde Personen in der Taiga gesehen?“ fragte er. „Nein, ich habe niemand gesehen. Ich bin schon den dritten
Tag unterwegs.“ Und nach einer kurzen Pause fügte Wladimir überflüssigerweise hinzu: „Suchen Sie jemand?“ Der Offizier blickte ihm direkt in die Augen. „Nein, wir machen eine Ausweiskontrolle“, antwortete er. Seine Wangen waren eingefallen, er hatte dunkle Schatten unter den Augen und sah müde aus. Wie lange mochten die Grenzer schon durch die Taiga streifen? Als Wladimir die Papiere zurückerhalten hatte, verabschiedete er sich und nahm die Verfolgung des Zobels wieder auf. „Glückliche Jagd!“ rief ihm eine Stimme nach. Wladimir spuckte aus und schimpfte in sich hinein. Wie kann man nur glückliche Jagd wünschen, dachte er. Das mußte ein junger Soldat sein, ein alter hätte so etwas nicht gesagt. Der Gedanke an die Grenzer ließ Wladimir nicht mehr los. Warum waren sie hier so plötzlich aufgetaucht, mitten in der Taiga, zweihundert Kilometer von der Küste entfernt? Da mußte doch etwas passiert sein. Es ging schon auf den Abend zu, als Wladimir, Wolken von Schneestaub aufwirbelnd, den Guljaiberg hinabglitt. Mitten auf dem Abhang bremste er scharf. An einer alten knorrigen Birke mit doppeltem Stamm hörte die Zobelspur auf. In dem Stamm entdeckte Wladimir eine große Höhlung. Dort hatte sich der Zobel versteckt. Der Jäger schlug eine Anzahl Äste ab und steckte sie rings um die Birke in den Schnee. Auf die Äste hängte er ein Netz mit mehreren Glöckchen. Jetzt war der Zobel eingekreist. Wladimir riß von einer jungen Birke Rinde ab und kletterte auf den Stamm hinauf. Oben holte er Streichhölzer hervor, zündete ein kleines Stück Rinde an und warf es in das Loch. Beißender Qualm stieg aus der Höhlung. Der Zobel warf sich unruhig hin und her, kroch aber nicht heraus. Wladimir
steckte noch mehr brennende Rinde hinein, der Rauch wurde dichter. Plötzlich schoß der Zobel wie ein schwarzer Blitz am Gesicht des Jägers vorbei. Er fiel in den Schnee, sprang auf und wollte flüchten. Da lief er gegen das Netz und verfing sich darin. Hilflos zappelnd, versuchte er die zähen Schnüre durchzunagen. In seiner Todesangst gebärdete sich der Zobel wie toll. Wladimir kletterte vom Baum, zog sich Handschuhe an und befreite das Tier vorsichtig aus der Umstrickung. Als er es in der Hand hielt, fühlte er, wie wild das Herz des Tierchens hämmerte. Der Zobel war pechschwarz. Seine Kirschaugen standen vor Furcht weit offen, und sein dunkles Näschen zuckte ununterbrochen. Da, wo die Hand des Jägers ihn hielt, schaute unter dem schwarzen, glänzenden, daunenweichen Haar in zarter Fliederfarbe die Unterwolle hervor, „Donnerwetter!“ rief Wladimir unwillkürlich aus. Er hatte schon viele Zobel gesehen, aber ein so schönes Tier war ihm im Naturschutzgebiet noch nicht begegnet. Das war Spitzenklasse. „Du hast mich ja tüchtig gehetzt“, sagte Wladimir vor sich hin, während er den Zobel in einen festen dunklen Beutel steckte. „Aber das macht nichts! Du bist ja auch ein Prachtkerl!“ Wladimir beschloß, gleich hier im Birkengehölz am Guljaiberg zu übernachten. Er zündete ein Feuer an, kochte Tee und aß Abendbrot. Die Sonne war schon untergegangen, und am dunstverhangenen Himmel glommen die ersten Sterne auf. Nicht der kleinste Laut unterbrach die schläfrige Stille der Taiga. Die Stämme der Birken hoben sich dunkel vom blauen Schneehintergrund ab; wie Haarsträhnen hingen die langen schwarzen Zweige herab, fast bis zu den Schneewehen. Der Jäger mußte noch Tannenzweige für sein Nachtlager
abschlagen. Finster richtete sich vor ihm die dichte Wand des Nadelwaldes auf. Er trat an die ersten Tannen heran und hackte einige der unteren Zweige ab. Plötzlich ließ Wladimir das erhobene Beil sinken. War dort auf dem Berge nicht eben ein Licht aufgeflammt? Aufmerksam blickte er hin. Tatsächlich, irgendwo hoch oben, da, wo die Konturen der Baumwipfel mit dem nächtlichen Himmel verschmolzen, blinkte, halb verdeckt von den Zweigen, ein Lichtpünktchen. Wladimir warf die abgehauenen Zweige in den Schnee und stieg den Berg hinan. Eines der Rätsel wird gelöst Anderthalb Wochen waren vergangen. Oberst Schipows Laune wurde von Tag zu Tag schlechter. Zwar hatte sich schon vieles aufgeklärt, aber ein wichtiger Punkt blieb unklar. Welchen Zweck hatte die Grenzverletzung gehabt? Der Oberst mochte sich noch so sehr den Kopf zerbrechen, konnte noch so viele Versionen ersinnen – keine einzige davon schien ihm ohne Fehler zu sein. Es gab immer noch keine Beweise dafür, daß in dem Segelflugzeug tatsächlich ein zweiter Passagier gesessen hatte. Trotzdem handelten die Grenzer vorläufig so, als ob es diesen zweiten Mann, der vor dem Absturz aus dem Segelflugzeug abgesprungen sei, gegeben habe. Indes – die Zeit verging. Von Timofejew trafen keine Nachrichten ein. War er von einem Schneesturm aufgehalten worden? Der Oberst baute auf die Findigkeit des Majors. Nur dort im Naturschutzgebiet konnte sich der Feind verborgen halten, nur dort konnte man eine Spur von ihm entdecken – wenn es einen Feind gab. Anderthalb Wochen waren schließlich eine ziemlich lange Zeit. Inzwischen mußte
ein Fremder unter allen Umständen an einem besiedelten Punkt aufgetaucht sein, sich in eine Jagdhütte verirren oder sonstwie seine Existenz kundtun. Er mußte entweder Jäger treffen oder den Patrouillen in die Hände fallen. Und selbst wenn weder das eine noch das andere geschah, so mußte er Spuren hinterlassen, auf die dann unbedingt Demins Einsatzgruppe stoßen würde. Dieser sandte täglich Berichte an seinen Truppenteil, sie waren nicht ermutigend. Die Grenzer hatten bereits alle ihnen bekannten Jägerquartiere revidiert. Tagtäglich legten sie Dutzende von Kilometern auf Skiern zurück, ohne etwas Verdächtiges zu finden. Auch ein weiteres Rätsel war noch ungelöst. Schipow wußte bisher immer noch nicht, wodurch es auf dem Segelflugzeug zum Brand gekommen war. Schon zweimal hatte der Nachrichtenoffizier ihn aufgesucht und ihm eine technisch fundierte Theorie nach der anderen dargelegt, aber aus all diesen ausführlichen Berichten konnte Schipow nur einen einzigen sicheren Schluß ziehen: der Brand war durch einen Fehler in der Radioapparatur des Segelflugzeugs entstanden. An diesem Morgen warteten neue Nachrichten auf Oberst Schipow. Auf seinem Tisch lagen zwei Funksprüche ausländischer Sendestationen. „Das Segelflugzeug, das sich von dem Schleppflugzeug losriß, ist spurlos verschwunden. Wie wir bereits mitteilten, wurden Rettungsflugzeuge nach ihm ausgeschickt, die einige Tausend Quadratmeilen Eisfeld abgesucht haben. Die Filmgesellschaft „NPF“ erlitt Verluste in Höhe von dreihunderttausend Dollar, denn an Bord des Segelflugzeugs befanden sich die Negative eines im Norden gedrehten Films. Es wird angenommen, daß das Segelflugzeug bei der Notlandung in ein Eisloch geraten und untergegangen ist.“ Die zweite Mitteilung war noch kürzer:
„Unser Korrespondent sprach mit Mister Gramphy, dem Leiter der Rettungsarbeiten. Er sagte unter anderem, das Segelflugzeug sei so gut konstruiert gewesen, daß es irgendeine Insel im westlichen Teil des Stillen Ozeans hätte erreichen können. Es besteht die Möglichkeit, daß in Kürze jemand auf seine Spur stößt.“ Als Schipow die zweite Meldung gelesen hatte, lächelte er, sein Gegner fing an, ungeduldig zu werden. Und der Grund war natürlich nicht der, daß eine Filmgesellschaft „NPF“ Verluste erlitten hatte. Der Gegner wird seine Suchaktion bis an die sowjetische Grenze verlegen, überlegte Schipow. Unter dem Deckmantel einer Suchexpedition werden einige Flugzeuge in der Nähe der Küste kreisen, um den Spion – falls er glücklich die Grenze überschritten hat – an Bord zu nehmen. Als Viktor Petrowitsch sich über den Sinn der Funksprüche im klaren war, rief er Syssow, den Leiter der Gebietsjagdverwaltung, an und bat ihn, sich mit dem Naturschutzgebiet in Verbindung zu setzen – vielleicht konnte man etwas von Timofejew erfahren. Als er das Gespräch beendet, hatte, kam ihm, scheinbar ganz unvermittelt, ein überraschender Gedanke. Zunächst mußte er zwar selbst über die neue Idee lächeln, aber je mehr er sich in sie vertiefte, desto ernst zu nehmender erschien sie ihm. Unerwartet trat der Nachrichtenoffizier ein und unterbrach den Gedankengang des Obersts. Er brachte eine Anzahl verbogener, zerstörter Radioteile mit. „Genosse Oberst, der Brand auf dem Segelflugzeug ist nicht zufällig entstanden!“ meldete er. „Na, dann packen Sie mal aus“, sagte Schipow. „Wir haben den Bau und die Lage der Radioapparatur auf
dem abgestürzten Segelflugzeug sorgfältig untersucht und das ganze Schaltbild des Radargeräts, das bei der Explosion besonders stark gelitten hat, rekonstruiert. Dabei stellten wir fest, daß eine der Röhren explodiert ist, obwohl sie ihrer Konstruktion nach unter keinerlei Umständen explodieren kann. Sie kann höchstens versagen, durchschmoren, wie man sagt. Aber sie ist explodiert. Ihre Fassung ist von innen heraus zerfetzt und nicht beim Aufprall auf die Erde verbogen worden. Sehen Sie selbst.“ Der Ingenieur schob dem Oberst das zerbrochene Chassis des Radargeräts hin. Angebrannt und beim Fall zerstört, war es nur noch ein Haufen Bruch. Schipow betrachtete die angegebene Stelle. Der Nachrichtenoffizier hatte recht. Ein kleiner Teil des Chassis, ganz am Rande, hatte besonders stark gelitten, und die zerrissenen Ränder der Fassung, in der die Röhre gesessen hatte, konnten tatsächlich das Ergebnis einer kleinen Explosion sein. „Gut, einverstanden. Weiter“, sagte der Oberst. „Hier, unter den Leitungen, die zu diesem Widerstand führen, entdeckten wir zwei millimeterstarke Leitdrähte, die nach dem Schaltbild überflüssig sind – das Gerät würde auch ohne sie funktionieren. Hier ist das von uns rekonstruierte Schaltbild. Die Drähte führten zu einer Uhr. Von der Uhr liefen sie bis in das Heck des Flugzeugs, zur Batterie. Dabei gingen sie, wie Sie hier sehen können, an der Luke vorbei. Beim öffnen der Luke wurden sie zerrissen. Hier in der Uhr ist ein Relais angebracht. Solange der Strom von der Batterie zum Relais floß, war die Feder hier gespannt – sehen Sie? Wenn aber die Leitdrähte reißen – und das kann nur beim öffnen der Luke geschehen –, dann tritt das Relais in Tätigkeit, und die Röhre, in deren Sockel ein Zünder angebracht ist, explodiert nach kurzer Zeit.“
„Aber der Pilot konnte doch mit dem Fallschirm abspringen. Warum hat er das nicht getan?“ fragte Schipow. „Nein, er konnte nicht. Die Flamme der Explosion, die Glassplitter der zertrümmerten Geräte schlugen ihm ins Gesicht. Außerdem flammten auch sofort die Filme auf, die neben ihm lagen.“ „Sie glauben also, daß zwei Personen in dem Segelflugzeug saßen?“ „Anders konnte es gar nicht sein. Ich habe mir die Luke genau angesehen. Die Riegel waren mit Gummiverspannungen befestigt. In der Luft konnte sich die Luke nicht von selbst öffnen.“ „So… In dem Segelflugzeug war also noch ein zweiter Mann“, konstatierte der Oberst. „Noch etwas. Vor kurzem wurde in einer unserer technischen Zeitschriften darüber berichtet, daß die Filmgesellschaft ,NPF’ schon seit einem Jahr nicht mehr die sehr feuergefährlichen Zelluloidfilme benutzt. Als eine der ersten Firmen begann sie mit der Produktion und dem Verleih von Filmen auf Nylonstreifen. Im Segelflugzeug waren aber Zelluloidfilme.“ „Gut“, sagte Schipow zufrieden. Er entließ den Offizier, rief den Diensthabenden und bat ihn, einen Funkspruch an Timofejew zu schicken. Für eine erfolgreiche Arbeit hatte dem Oberst nur dieses eine Gespräch gefehlt, das ihm das Geheimnis des Brandes auf dem Segelflugzeug enthüllte. Wie eine Lawine stürmten jetzt die Gedanken auf ihn ein. Er trat zum Fenster und öffnete einen Flügel. Frostiger Dunst schlug ihm ins Gesicht, aber er spürte die Kälte nicht
Ein Gespräch über Zobel Vor seiner Abreise hatte Major Timofejew die Gebietsjagdverwaltung aufgesucht und sich lange mit dem gastfreundlichen Leiter unterhalten. Syssow kannte alle seine Mitarbeiter, die meisten waren schon lange im Naturschutzgebiet. Dieser Umstand beunruhigte Timofejew. Vielleicht lebte der Feind schon so manches Jahr unter der Maske eines bescheidenen, unauffälligen Menschen. Timofejew bot sich eine günstige Gelegenheit, in das Naturschutzgebiet mitzufahren. Jetzt saß er schon vier Stunden lang mit dem leitenden Zootechniker auf einem Hundeschlitten, der die ausgefahrene Spur entlang sauste. Dar Zootechniker, ein junger Mann, der das dritte Jahr im Naturschutzgebiet arbeitete, war aus Moskau hierhergekommen. Er hatte das Institut für Pelztierzucht absolviert und arbeitete an einer Dissertation über die freie Zucht der Zobel. Als er merkte, daß sein Reisegefährte, in Gedanken versunken, nur ungern auf seine Fragen antwortete, schwieg er und schwang energischer den Ostol – einen langen Treibstock mit einer Metallspitze. Ihnen stand noch eine mehrtägige Fahrt durch weglose Taiga bevor, und der Major hatte es nicht eilig, mit Sascha Tumanow – so hieß der Zootechniker – nähere Bekanntschaft zu schließen. Wassili Danilowitsch wußte aus Erfahrung: das würde sich ganz von selbst ergeben, Eile war überflüssig. Die Hunde legten sich einträchtig in die Stränge. Der leichte Frost, etwa zwanzig Grad, war kaum zu spüren. Schon drei Tage herrschte klares Wetter. Die klingende Stille im winterlichen Wald wurde nur hin und wieder vom Bellen der Hunde unterbrochen. Feierlich stumm standen zu beiden Seiten der Spur mit Rauhreif bedeckte Birken.
Gegen Mittag machten die Reisenden in einer Talsenke halt, an einer von Birkengestrüpp umgebenen Quelle. Als sie ein Lagerfeuer angezündet hatten, warf Timofejew den Hunden gedörrte Fische vor, hackte trockne Zweige ab und setzte sich auf ein Reisigbündel. Bald würde das Wasser im Teekessel kochen. „Sind Sie schon lange vom Festland weg?“ begann Sascha vorsichtig ein Gespräch. „Ein halbes Jahr.“ „Interessieren Sie sich für die Jagd?“ „Für die Jäger. Das sind ganz besondere Menschen. Sie leben wie Einsiedler, nach ihren eigenen Gesetzen. Und da habe ich mir vorgenommen, ein wenig neugierig zu sein.“ Timofejew warf einen Zweig ins Feuer und fügte hinzu: „Warum haben Sie für Ihre Dissertation die Zobelzucht gewählt? Man sagt, das seien seltene Tiere.“ „Nanu, warum denn selten?“ fragte Tumanow verwundert. „Sie kommen heute ebensohäufig vor wie zur Zeit Stepan Krascheninnikows. Auf Kamtschatka, schrieb er, gibt es ebensoviel Spuren von Zobeln wie an der Lena von Eichhörnchen.“ Sascha schwieg ein Weilchen und begann dann, heftig gestikulierend, darüber zu sprechen, daß man sich in der Sowjetunion noch viel zuwenig mit Tierzucht beschäftige. Wie alle, die leidenschaftlich für eine Sache begeistert sind, hielt Sascha sein Fachgebiet für das allerwichtigste. Anfangs konnte der Major kaum ein Lächeln unterdrücken, aber langsam empfand er Achtung vor dem jungen Mann. Timofejew erfuhr vieles über den Zobel. Er hörte, daß Rußland seit undenklichen Zeiten auf dem Weltmarkt wegen seiner Zobelpelze berühmt sei, daß etwa zwanzig Zobelarten gezählt werden und die kostbarste Art der jakutische Zobel
sei. Der Kamtschatkazobel sei zwar der größte, sein Pelz reiche aber nicht an den jakutischen heran: er sei heller und nicht so weich. Aber auch auf Kamtschatka gebe es mitunter Zobel, die den jakutischen gleichkommen. Es hatte eine Zeit gegeben, da die Jäger in der Sucht nach Verdienst den Zobel fast vollständig ausrotteten. Weder Verbote noch Strafen halfen, die kostbaren Tiere wurden unbarmherzig verfolgt und unterderhand für ein Spottgeld an die Kaufleute verschleudert. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts befürchtete man, daß die Zobel verschwinden und ihre gewerbliche Bedeutung verlieren würden, wie es bei dem Seeotter, dem Kalan, der Fall war. Erst nach der Revolution, wenn auch nicht sofort, gelang es, dem „Zobelfieber“ Einhalt zu gebieten. Das kostbare Tier wurde unter strengsten Naturschutz gestellt. „Sicher wurde der Zobel in manchen Gebieten gänzlich ausgerottet?“ fragte Timofejew. „Ja“, stimmte Sascha bekümmert zu. „Aber wir siedeln ihn jetzt neu an. Das nennt man Reaklimatisation des Zobels. Mehr noch. Jahrhundertelang glaubte man, daß der Zobel sich in Gefangenschaft nicht vermehre. Heute aber gibt es schon eine Reihe Zobelfarmen bei uns. Wir wählen die Tiere sorgfältig aus und züchten nur die wertvollsten.“ Als das Wasser kochte, nahm Sascha den Teekessel herunter, setzte eine kleine Pfanne auf das Feuer und tat in Scheiben geschnittenes Bärenfleisch hinein. „Sie haben Glück“, fuhr er fort. „Wenn wir in das Naturschutzgebiet kommen, sehen Sie die besten Zobel. Die Jäger fangen sie schon seit einiger Zeit. Prächtige Tiere, eins immer schöner als das andere! Sie werden nach Birobidshan gebracht,“ „Wie werden sie denn transportiert?“
„Mit Hundeschlitten, dann im Flugzeug bis Chabarowsk, von dort mit der Eisenbahn und mit Pferden in die Taiga.“ „Ist ja ziemlich teuer, diese Umsiedlung“, bemerkte Timofejew. Sascha lachte. „Das Tier ist ja auch kostbar. Was glauben Sie, wie teuer so ein Fellchen erster Sorte ist?“ „Keine Ahnung“, gestand Timofejew, „Zwei Felle, vier Quadratdezimeter groß, kosten auf dem Weltmarkt ebensoviel wie ein Kleinauto.“ „Was?“ „Freilich! Der Zobel kommt doch nur in Rußland vor.“ Timofejew stand erregt auf und schritt um das Feuer. Er wollte entsprechend seiner Gewohnheit lange Schritte nehmen, um die Gedanken, die plötzlich auf ihn einstürmten, zu ordnen, aber das ging nicht, denn der Pulverschnee lag sehr hoch. Timofejew schien es, als hemme der enge, festgestampfte Raum rund um das Feuer seine Gedanken. Plötzlich fragte er: „Hat im Naturschutzgebiet jemand eine Sendeanlage?“ „Wir haben eine eigene Radiostation.“ „Das weiß ich. Wer ist der Funker?“ „Licharjow, ein demobilisierter Offizier. – Im Auftrag des Bezirkskomitees der DOSAAF leitet er einen Zirkel für Funkamateure.“ „Wer nimmt daran teil?“ Tumanow nannte die Namen und blickte Timofejew eindringlich an. „Ist in der Taiga etwas passiert?“ Der Major wich dieser Frage aus. „Von unserem Gespräch darf niemand etwas erfahren, Sascha“, entgegnete er.
Das flackernde Licht Timofejew und Sascha trafen am Tage in der Siedlung des Naturschutzgebiets ein. Die Narte hielt an der Außentreppe des Direktionsgebäudes. Ungeduldig winselten die hungrigen Tiere. Sascha Tumanow hatte sich am Morgen trotz Timofejews Widerspruch geweigert, sie zu füttern - um so schneller würden sie die Siedlung erreichen. Da niemand die Gäste erwartet hatte, wurden sie auch von niemand empfangen. Der Wächter, Großvater Filipp, erzählte ihnen, daß Medwedew in der Taiga sei und dort eins Partie Zobel für den Abtransport vorbereite. Ein Funkspruch war eingegangen. Er enthielt nur wenige Worte: „Berichten Sie über Ihre Ankunft.“ Schipow wollte über den Stand der Ermittlungen unterrichtet sein. Das Zimmer, in dem der Major untergebracht war, steckte voll ausgestopfter Tiere. Gleich neben der Tür stand ein riesiger Bär auf seinen Hintertatzen, das Maul weit aufgerissen. Aus der Ecke trat ein junger Hirsch, auf dem Schreibtisch saß ein ausgestopfter Zobel. Sascha Tumanow begleitete Timofejew in die Siedlung. Nur ein einziger Pfad führte von der Außenwelt hierher, derselbe, auf dem sie gekommen waren, aber Sascha sagte, daß die Jäger in eiligen Fällen auch über den Paß gingen. Dieser Weg sei jedoch schwer und gefährlich, besonders im Winter, wenn Schneestürme tobten „Wann wird wohl der Direktor wiederkommen?“ „Gegen Morgen sicherlich.“ „So.“ Timofejew war unzufrieden. „Die Leute hier ahnen schon, daß in der Taiga etwas los ist. Unsere Jäger haben Grenzsoldaten gesehen.“ „Wohin führt der Weg über den Paß?“
„Zum Sokoliny-Kap.“ Babenkos Grenzabschnitt, dachte Timofejew. Laut fügte er hinzu: „Und auf diesem Pfad braucht man – wieviel Tage zur Küste?“ „Fünf, mindestens.“ Das Gespräch mit Sascha zwang den Major, einen neuen Entschluß zu fassen. Es hatte keinen Sinn mehr, in aller Heimlichkeit Ermittlungen anzustellen. Sollte sich der Feind hier in der Gegend aufhalten, war er gewiß schon gewarnt. Der Major verabschiedete sich von Tumanow, kehrte in sein Zimmer zurück und setzte einen verschlüsselten Funkspruch an Schipow auf. Der Funker hatte seinen Dienst noch nicht angetreten. Timofejew bat den Wächter, ihn zu holen, Es erschien ein Mann in einem recht abgetragenen Offiziersrock. „Sie haben mich rufen lassen?“ „Genosse Licharjow?“ „Zu Befehl!“ „Welchen Rang hatten Sie in der Armee?“ „Kompanieführer bei den Nachrichtentruppen.“ „Warum sind Sie hierhergekommen? Sie hätten doch auch gut auf dem Festland bleiben können.“ „Als der Krieg zu Ende war, erkrankte ich an einem Ekzem und wurde aus Gesundheitsgründen demobilisiert. Zwei Jahre lang quälte ich mich herum. Weder Kurorte noch Heilbehandlung halfen. Ich wurde meines Lebens nicht mehr froh. Einmal fuhr ich nach dem Süden und lernte im Zug einen Fischer von Kamtschatka kennen. Wir unterhielten uns, und ich erzählte ihm von meiner Krankheit. Er sagte: ,Komm zu uns, bei uns gibt es Heilquellen. Glaube es oder glaube es nicht, aber sie helfen.’ Nun, ich bin hergefahren, habe mich auskuriert und bin hier geblieben.“
Sie wechselten noch ein paar Sätze. Dann bat der Major Licharjow, den Funkspruch durchzugeben. „Ich verlasse mich auf Sie, – übrigens, ich habe gehört, daß Sie hier einen Radiozirkel leiten. Sie können mir gewiß sagen, ob einer der Amateure eine Sendeanlage hat?“ „Im Naturschutzgebiet gibt es nur diese Sendeanlage.“ „Kann sie jemand außer Ihnen benutzen?“ „Nein, ich versiegle die Zentrale, wenn ich gehe. Außerdem kann bis jetzt noch keiner meiner Schüler die komplizierte Apparatur bedienen.“ „Und Sie glauben, daß es hier sonst keinen gibt, der funken kann?“ „N – nein“, sagte Licharjow unsicher. „Das heißt, ich habe noch nie darüber nachgedacht.“ „Bitte verlassen Sie diese Nacht die Zentrale nicht“, sagte Timofejew, und nach einer Weile: „Werden Sie heute etwas durchgeben?“ „Nur Ihr chiffriertes Telegramm.“ „Gut.“ Licharjow ging. Timofejew knipste das Licht an. Das Lämpchen brannte trüb und flackerte rhythmisch im Takt des Aggregats, dessen Tuckern durch das Fenster drang. Er erhob sich, setzte sich dann aber, in Gedanken versunken, neben den geheizten Ofen. Die Stille in dem alten Haus machte ihn schläfrig. Draußen heulte der Wind. Schneesturm! dachte der Major ärgerlich, Das hat mir gerade noch gefehlt! So kommt Medwedew heute vielleicht gar nicht mehr. Unten klappte eine Tür. Jemand schritt schnell und leichtfüßig die Treppe hoch. Die Stufen, die zum Funkraum führten, knarrten leise. Einige Minuten vergingen. Dann wiederholten sich diesel-
ben Geräusche in umgekehrter Reihenfolge, es wurde wieder still. Unmerklich verrann die Zeit. Plötzlich trübte sich dreimal das Licht, diesmal nicht im Takt des Aggregats. Timofejew zuckte zusammen. Was war das? Mit angehaltenem Atem blickte er auf die Lampe. Vielleicht hatte er sich das nur eingebildet? Wie fasziniert starrte er auf den Glühfaden der Birne. Das merkwürdige Flackern wiederholte sich. „Fünf, acht, null“, zählte der Major, „drei, drei, sieben…“ Mit einem Ruck stieß er den Sessel zurück, sprang auf. „Der Sender!“ Timofejew schrie beinah. „Der Sender arbeitet mit dem Strom vom Aggregat! Licharjow?“ Der Major riß die Pistole heraus und stürzte zum Funkraum. Der Vielfraß Sie hielten an einer windgeschützten Stelle bei einem dichten, übermannshohen Birkengebüsch. „Da sind wir“, sagte der alte Kasin. „Schaffst du es jetzt allein?“ „Ich werd’s schon schaffen“, antwortete Medwedew. „Du übernachtest am besten zu Hause.“ In diesem Moment heulte der Wind, der über die Hügel der Taiga brauste, dumpf und bedrohlich auf. „Geh lieber nicht, Jepifan“, sagte Medwedew. „Es bringt nicht viel ein.“ „Am Morgen wird es ruhiger sein“, meinte Kasin. „Vielleicht übernachtest du bei mir?“ „Nein“, antwortete Medwedew zögernd. „Mir ist zwar hundeelend, aber bis nach Hause muß ich es noch schaffen.“ Medwedew besaß die Hartnäckigkeit eines Kranken, der seine Kräfte stets überschätzt. Er wollte unter allen Umstän-
den noch den häuslichen Herd erreichen. „Setzen wir uns doch noch ein Weilchen“, schlug Kasin vor. „Ich habe einen weiten Weg vor mir,“ Medwedew willigte ein. Die Hunde wollten sich erheben, zerrten ungeduldig am Geschirr, aber Kasin rief sie zur Ordnung. Nicht lange, und die Männer standen auf und küßten sich dreimal. „Wer weiß, Jepifan“, sagte Medwedew, „vielleicht sehen wir uns nicht wieder.“ „Behalt auch du mich in gutem Andenken“, erwiderte Kasin. „Nun, es ist Zeit. Paß auf die Zobel auf, sonst krepieren sie noch unterwegs.“ Kasin trieb die Hunde an. Die Narte mit acht auserlesenen Kamtschatkazobeln setzte sich in Bewegung. Nach einigen hundert Schritten machte der Jäger halt und blickte zurück: Die Gestalt Medwedews hatte sich im Schneetreiben verloren. Kasin nahm die Mütze ab und bekreuzigte sich. Nach kurzer Zeit schon hielt das Gespann vor Kasins Haus. Die Hunde, die ungeduldig auf Futter und Ruhe warteten, begannen zu heulen. Aber der Hausherr dachte nicht daran, sie auszuspannen. „Wer ist da?“ fragte eine Frauenstimme. „Mach auf!“ „Gleich, gleich“, sagte die Frau eilig. „Warum brennst du denn Licht?“ fragte der Jäger grob, während die Frau den vom Frost klemmenden Riegel zurückschob. „Ich fürchte mich allein.“ „Na, so was, auf seine alten Tage noch ängstlich zu werden.
Wird’s bald?“ Die Tür öffnete sich. Der Alte trat ein und warf der Frau seinen Halbpelz zu. „Stepanida, geh und lade gedörrten Fisch in die Narte. Möglichst viel, für zehn Tage.“ „Willst du schon wieder fahren? Bei diesem Wetter?“ „Ich muß“, schnitt Kasin ihr alle weiteren Worte ab. „Nun geh, mach schon.“ Die Frau legte Halbpelz und Schal an und ging hinaus. Der Alte öffnete die Kellertür, stieg hinunter und rumorte dort lange herum. Schließlich wurde es unten still. Die elektrische Glühlampe im Zimmer flackerte rhythmisch im Stampfen des von hier weit entfernten Aggregats. Plötzlich geriet dieser Rhythmus durcheinander. Dann trat wieder das normale Flackern ein, das jedoch nach einer Weile abermals gestört wurde. Kurz darauf kam Kasin aus dem Keller geklettert, schwerbeladen mit Lebensmitteln. Obendrauf lag ein kleiner Holzkasten. Der Jäger steckte alles in einen Sack. „Nun leb wohl, Frau!“ „Hättest wenigstens was essen sollen.“ „Keine Zeit. Muß noch zu Medwedew, er wartet auf mich.“ Kasin legte den Sack mit den Lebensmitteln auf die Narte, sah nach, wieviel gedörrten Fisch seine Frau aufgeladen hatte, probierte, ob die Leinen fest waren, und rief die Hunde an. Die Tiere erhoben sich nur ungern Langsam setzte sich der Schlitten, in Bewegung. Die Fahrt führte einen steilen Abhang hinab zu einem Bach. Hier unten war es still, nur in den oberen Zweigen der Erlen und Ebereschen pfiff der Wind. Kasin machte einen scharfen Bogen und hielt auf die Bergkette zu, die jetzt der Schneeschleier verbarg.
Kasin hatte den kurzen Schritt der Jäger und ihren etwas wiegenden Gang. Es ging immer steiler bergan, aber der Alte schien das gar nicht zu merken. Er lief gleichmäßig und schnell wie zuvor. Kasin erreichte den Paß, als der Tag zu dämmern begann. Er blickte zurück. Das Schneetreiben hatte noch nicht aufgehört, nur hier und da auf den niedrigen Hügeln trat die Taiga wie ein spärlich behaartes Fell hervor. Jepifan ließ den Blick aufmerksam über die wilde Einöde schweifen und lud dann die Narte ab. Den Paß versperrte ein gewaltiger Stein. Links davon war ein schmaler Durchgang, den die Hunde eben noch passieren konnten; die Narte hätte man seitlich durchziehen müssen. Rechts von dem Stein lag eine glatte verschneite Fläche. Aber Kasin ließ sich nicht täuschen. Diese Fläche war ein gefährliches, über dem Abgrund hängendes Karnies, das größtenteils aus Schnee bestand und das Gewicht der beladenen Narte nicht tragen würde. Der Alte spannte sechs Hunde aus, lud einen großen Teil der Last ab, band zur Sicherheit eine Leine an die Narte und ließ sie von den übrigen Hunden über das Karnies ziehen. Die fast leere Narte und das verringerte Gespann kamen glücklich über die gefährliche Stelle. Kasin führte auch die restlichen Hunde hinüber, zog die Zobelkäfige durch den schmalen Gang links zwischen dem Stein und der Felswand und verwischte sorgfältig die Spuren, obgleich er wußte, daß der Wind sie ohnehin zuwehen würde. Die Schlittenspur auf dem Karnies ließ er unberührt, als tödliche Falle für seine Verfolger. In raschem Tempo ging es nun bergab. Die Hunde liefen fröhlich dahin, denn sie wußten, daß unten eine Jagdhütte lag, wo sie sich ausruhen konnten und wo es Futter gab.
Als sie sich dem roh gezimmerten Blockhaus mit dem flachen Dach näherten, bemerkte Jepifan schon von weitem, daß ein ungebetener Gast dagewesen war; in dem Schnee auf dem Dach war ein Loch. Die Hunde machten vor dem Blockhaus halt, legten sich nieder und begannen laut zu knurren. Kasin nahm das Gewehr von der Schulter, ging zur Tür und lauschte. In der Hütte war alles still. Vorsichtig öffnete er die schwere Tür und blickte hinein. Zuerst konnte er in dem Halbdunkel nichts erkennen, doch dann sah er auf dem Fußboden einen zerrissenen Sack und abgenagte Knochen. Für einen Augenblick leuchteten unter der Bank zwei große grüne Funken auf. Jepifan blickte genauer hin und erkannte ein Tier von der Größe eines respektablen Hofhundes. „Ein Vielfraß! Alles weggefressen, verdammtes Vieh!“ Kasin legte das Gewehr an und zielte, aber er schoß nicht. Er lachte plötzlich auf, trat hinaus, rief den Hunden zu, ihm zu folgen, und ging von außen um die Hütte herum bis zu der Stelle, wo seiner Berechnung nach der nächtliche Dieb drinnen unter der Bank saß. Jetzt schlug Kasin mit dem Gewehrkolben gegen die Balkenwand, wartete eine Minute und kehrte dann wieder zum Eingang zurück. Eine frische Spur führte aus der Tür. „Weidmannsheil, Namensvetter!“ knurrte der Jäger finster. Die Hunde beschnüffelten wutheulend die Fährte. Kasin schrie sie böse an und holte mit dem Lenkstock aus. Die Hunde kannten ihren Herrn und zogen es vor, zu schweigen. Nun spannte der Alte den Leithund aus und ließ ihn in die Hütte. Die übrigen neun Hunde erhielten ihren Dörrfisch und stürzten sich mit grimmigem Hunger darüber her. Bald prasselte in dem kleinen Ofen ein lustiges Feuer aus harzigem Holz. Kasin saß auf der Bank und blickte in die
Flammen. Der Leithund hatte seine Dörrfischration aufgefressen und vertilgte nun noch die Reste von der Mahlzeit des Vielfraßes. Als er fertig war, streifte er durch die Hütte und schnaubte unzufrieden. Er begriff nicht, warum sein Herr den Eindringling hatte entkommen lassen. Nachdem er die Winkel der Hütte nochmals beschnüffelt hatte, begann er zu winseln. „Was ist denn?“ fragte der Alte und sah den Hund mit verschleiertem, abwesendem Blick an. Dieser wedelte mit dem Schwanz. „Du verstehst das nicht? – Du hast es doch gerne warm, he? – Frißt gerne Fleisch?“ Und plötzlich beugte sich Kasin ein wenig vor und schlug dem Hund mit voller Kraft gegen die Schnauze. Von der Wucht des Hiebes wurde das Tier nach hinten geschleudert und flog, mit den Hinterpfoten krampfhaft und ungeschickt nach Halt suchend, in eine Ecke. Der Alte lachte laut auf. Dann klopfte er sich aufs Knie. Der Hund kam vorsichtig näher. „Ah! Du hast es gern warm? Frißt gern stinkenden Dorrfisch? Du liebst das Leben, du Vieh?“ Und er holte abermals zum Schlage aus. Der Hund sprang zurück. Aber Kasin streckte ihm die Hand hin, und der Hund beleckte sie. „Ich will auch leben. Und ich muß auch die Hand lecken. So ist das!“ Der Wetterbericht Timofejew nahm mit vier Sprüngen die Treppe zum Zwischengeschoß, wo der Funkraum lag, und stieß gegen die Tür. Sie war verschlossen. Ohne zu überlegen, trat er sie mit dem Fuß ein. Mitten im Zimmer lag ein umgestürzter Stuhl. Licharjow stand, den Kopfhörer aufgesetzt, vor dem Sendeapparat und
starrte den Major mit schreckgeweiteten Augen an. „Hände hoch!“ Licharjow hob die Arme, „Was funken Sie?“ „Eine Warnung.“ „Was für eine?“ „Eine Schneesturmwarnung.“ „Warum haben Sie mir nichts davon gesagt?“ fragte Timofejew schon etwas ruhiger. „Ich – ich hatte es vergessen.“ In diesem Moment verdunkelte sich das Licht dreimal. „Was ist das?“ „I – ich weiß nicht.“ „Sehen Sie! Da arbeitet doch ein anderer Sender!“ „Meinen Sie?“ „Haben Sie hier eine Richtantenne?“ Licharjow ließ den Blick nicht von der Pistole, er nickte. „Setzen Sie sich. Fangen Sie mir den Sender ein. Ermitteln Sie die Peilungslinie. Schnell, schnell!“ Licharjow setzte sich, weiterhin auf die Pistole schielend, an das Sendegerät. „Schnell! Beeilen Sie sich! Suchen Sie auf den Zehnmeterwellen!“ Der Major bemerkte erst jetzt, daß Licharjow auf die Pistole schielte. Er schob sie in die Tasche zurück. Die Finger des Funkers glitten über die Knöpfe des Sendegeräts, doch das Licht flackerte wieder im normalen Rhythmus. Der fremde Sender war verstummt. „Hol’s der Teufel!“ Der Major schlug mit der Faust auf den Tisch. In diesem Moment wurde der Rhythmus abermals unterbrochen. Timofejew ergriff einen Bleistift und schrieb fie-
berhaft die Signale mit. Hastig bediente Licharjow die Knöpfe seiner Apparatur. Bald hatte er die fremde Station entdeckt und drehte an dem Rädchen, das die Antenne lenkte. Die Lautstärke der Signale gab ihm die Richtung an, aus der sie kamen. Aus dem Lautsprecher ertönte abgehacktes Tüt-tüt die Signale fielen mit dem Blinken des Lichts zusammen. Dann verstummte der Lautsprecher. „Schluß“, stieß Timofejew hervor und wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. „Haben Sie ihn angepeilt?“ „Ja.“ „Bekommt man hier einen Plan von der Siedlung?“ „Medwedew hat einen auf seinem Schreibtisch liegen.“ „Gehen wir in sein Arbeitszimmer. Nehmen Sie den Winkelmesser mit.“ Im Korridor fragte Licharjow den Major: „Wie haben Sie das herausgekommen?“ „Das mit dem Licht?“ Timofejew warf dem anderen einen Seitenblick zu und lächelte. „Bei mir zu Hause wohnt nebenan ein Funkamateur. Wenn er arbeitet, flackert in meinem Zimmer das Licht. Seine Station verbraucht viel Energie. Wir haben uns schon daran gewöhnt. Wer bei uns das Morsealphabet kennt, ist über alle Funkgespräche meines Nachbarn informiert.“ Sie traten in Medwedews Arbeitszimmer. Der Major holte unter der Glasscheibe auf dem Schreibtisch einen topographischen Plan der Siedlung hervor. „Um wieviel Grad haben Sie die Antenne gedreht?“ „Um sechsundfünfzig.“ Timofejew nahm den Winkelmesser, kennzeichnete die Funkstation durch einen Punkt und trug bei der Zahl Sechsundfünfzig einen zweiten ein. Dann verband er beide Punkte
miteinander und verlängerte die so erhaltene Peilungslinie, Der dünne rote Strich lief durch die Siedlung, ohne auch nur ein einziges Haus zu berühren, und ging erst an ihrem äußersten Rand durch ein Gebäude, das ziemlich abseits und etwas tiefer als die übrigen Häuser an einem Flüßchen stand. „Wem gehört dieses Haus?“ fragte der Major. „Dem Jäger Kasin.“ „Der Sender ist also bei Kasin?“ „Aber… vielleicht… vielleicht muß man die Peilungslinie noch verlängern?“ „Gibt es denn weiter weg auch noch Häuser, die von eurem Aggregat mit Strom versorgt werden?“ „Nein.“ „Also ist der Sender in diesem Haus“, sagte Timofejew fest. Er drehte sich zu Licharjow um und fragte: „Warum glauben Sie das nicht?“ „Der Alte ist mit Medwedew auf Zobelfang. Auch sein Stiefsohn ist schon eine Woche in der Taiga, ebenfalls nach Zobeln.“ „Zobel, Zobel…“, meinte Timofejew nachdenklich. „Können Sie sich beim Peilen vielleicht geirrt haben?“ Licharjow schwieg. „Wer ist dieser Kasin? Warum glauben Sie, daß in seinem Hause kein Sender sein kann?“ „Der Alte wohnt schon acht Jahre hier in der Siedlung und ist sehr angesehen.“ „Das will nicht immer etwas besagen.“ „Er war dagegen, daß sein Stiefsohn funken lernt.“ „Ach so?“ Timofejew ging vom Tisch weg und trat ans Fenster. Der Schneesturm hatte sich verstärkt. Selbst die nächststehenden Bäume waren hinter dem dichten weißen Flockenvorhang
verschwunden. „Bis zu Kasins Haus sind es fünf Kilometer?“ fragte Timofejew. „Mehr. Ungefähr sieben.“ „Derjenige, der dort gefunkt hat, wird bei dem Unwetter das Haus nicht verlassen. Wir werden ihn noch erwischen.“ „Fraglich. Es gibt für ihn einen Ausweg. Im Tal ist es fast windstill, und er kann bis zum Morgen zwanzig Kilometer zurücklegen“, widersprach Licharjow. Unten klappte eine Tür. Man hörte Stimmen. Eine Minute später kam ein untersetzter, breitschultriger Mann mit Pelzstiefeln ins Zimmer. Er ging langsam und hielt sich an der Wand fest, als koste ihn jeder Schritt große Anstrengung. Es war Medwedew. Timofejew begrüßte ihn herzlich, wendete sich dann aber gleich wieder an Licharjow. „Versuchen Sie Verbindung mit der Stadt zu bekommen.“ Als der Funker gegangen war, sagte Timofejew: „Eine eilige Sache, Genosse. In der Siedlung hier hält sich ein Feind versteckt.“ „Wer ist es denn?!“ „Höchstwahrscheinlich ein gewisser Kasin.“ „Kasin?“ schrie Medwedew auf. Er griff nach seinem Herzen und sank in einen Sessel. Die Tragödie des Schmugglers Der diensttuende Offizier trat in Schipows Arbeitszimmer. Er hielt ein kleines graues Kuvert in der Hand. „Das wurde soeben abgegeben, Genosse Oberst.“ „Danke“, antwortete Schipow, nahm das Kuvert in Empfang und öffnete es. Er überflog das Begleitpapier und sah sich dann die beiliegende Kopie des Artikels aus einer Pariser Abendzeitung vom 30. August 1937 an:
„Die Tragödie des Schmugglers. Als ich gestern durch die Pariser Ausstellung ging, begegnete mir ein zerlumpter Mann, der zwei Käfige mit so ungewöhnlichen Tierchen bei sich trug, wie ich sie noch auf keiner Messe der Welt gesehen habe. Sie waren von der Größe einer kleinen Katze, hatten ein schwarzes Fell und glänzende Augen. Ich hielt den Mann an und fragte: ,Was sind das für Tiere?1 ,Zobel!’ antwortete er. Lebende Zobel auf einer Messe! Das war noch nie dagewesen! Wie waren sie hierher geraten? Das interessierte mich sehr. Ich mußte einen Dolmetscher zu Hilfe nehmen, denn der Zobelverkäufer war Russe und sprach fast gar nicht Französisch. Er hieß Terenti Kulguk und stammte aus dem Dorf Sloboda im Gebiet Tschita. Sein Vater, ein wohlhabender Mann, starb, nachdem die Kommunisten sein gesamtes Vermögen beschlagnahmt hatten. Der Tod des Vaters und der Verlust seines Vermögens verbitterten den Sohn. Voriges Jahr gelang ihm eine Entdeckung: er lüftete das Geheimnis um die Vermehrung der Zobel. Bis dahin wußte niemand, wann die Zobel sich paaren und wann sie ihre Jungen zur Welt bringen, und daher konnte man sie nicht züchten. Zobeljagd war streng verboten, doch Terenti fing drei Paare und beschaffte sich außerdem zehn ausgesucht schöne Felle. Damit flüchtete er in die Mandschurei. Hier verkaufte er die Zobelfelle und fuhr nach Paris, erfüllt von den rosigsten Hoffnungen. Aber er hatte sich getäuscht. Vier Zobel gingen unterwegs ein, und in Paris verfolgte ihn ständig Mißgeschick. Niemand glaubte ihm, daß er Zobel züchten könne, und er erhielt für die lebenden Tiere nicht einmal den Wert ihres Felles… Später interessierte ich mich für das weitere Schicksal Te-
renti Kulguks. Ein Amerikaner hatte ihm die beiden Zobel für je tausend Dollar abgekauft und ihn zugleich in seine Dienste genommen. Einige Zeitungen berichteten mit großem Lärm über die Züchtung einer neuen Zobelart, die angeblich die russische in den Schatten stellen sollte. Eine Woche später jedoch, als der Dampfer, mit dem Terenti den Ozean überqueren wollte, in Algier eintraf, starben die Zobel vor Hitze. Terenti Kulguk hätte nach den Bedingungen des Vertrages das Geld zurückerstatten müssen. Aber er hatte es nicht mehr und erhängte sich in seiner Kajüte an einem Handtuch.“ Unter dem Artikel stand der Name des Verfassers, Henri Claude. Oberst Schipow legte die Blätter beiseite. Er war jetzt überzeugt, daß die kamtschatkischen Zobel die Ursache der Grenzverletzung waren. Also hatten sie keine taktischen Fehler begangen: Timofejew suchte im Naturschutzgebiet und die Einsatzgruppe in der Taiga nach dem Feind. Höchste Zeit, sich mit Fachleuten zu beraten! Schipow rief den Leiter der Jagdwirtschaftsverwaltung an und bestellte ihn zu sich. Als der kleine, schon bejahrte Mann mit dem Vollbart eintrat, teilte Schipow ihm sofort seine Vermutungen mit. Syssow hörte gespannt zu und zerrte erregt an seinem Bart. „Das ist ja eine schöne Geschichte! Mir fällt da eine Sache ein, die der Direktor des Naturschutzgebietes, Medwedew, erzählt hat. Er war im vergangenen Jahr auf der Rauchwarenauktion in Leningrad. Drei Tage vor Beginn der Auktion verbreitete sich unter den Vertretern der verschiedenen ausländischen Firmen das Gerücht, daß der Großindustrielle
Frank Hardy eingetroffen sei. Die Einkäufer und die Korrespondenten der ausländischen Zeitungen gerieten in Bestürzung. Was wollte dieser Börsenhai auf der Auktion? Er hatte sich doch noch nie für Pelzwaren interessiert! Auf alle Fragen gab Hardy ausweichende Antworten. Auf der Auktion kaufte er kein einziges Fell, bis die Zobelfelle an der Reihe waren. Der Handel begann. Die Preise schnellten in märchenhafte Höhen. Da erhob sich Hardy und nannte für zehn lebende Zobel einen höheren Preis als für alle angebotenen Felle. Aber lebende Zobel wurden auf der Auktion nicht verkauft, und er erhielt natürlich eine Absage.“ „Und womit erklären Sie das verstärkte Interesse an Zobeln in den letzten Jahren?“ „Erst jetzt – seit etwa zehn Jahren – können wir Zobel in Gefangenschaft züchten. Entsprechende Versuche waren lange Zeit ohne Erfolg geblieben, die Tiere vermehrten sich in der Gefangenschaft nicht. Man hatte irrtümlicherweise angenommen, daß die Paarung der Zobel gegen Ende des Winters oder zu Frühjahrsbeginn erfolge, und in dieser Zeit die Männchen und Weibchen zusammengebracht. Erst Professor Pjotr Alexandrowitsch Manteufel wies nun nach, daß die Zobel und Marder sich eigenartigerweise im Sommer, Mitte Juni bis Mitte August, paaren. Die Trächtigkeit des Zobelweibchens dauert acht bis neun Monate. Nach dieser Entdeckung begann man bei uns Zobelfarmen zu gründen.“ „Wieviel Zeit braucht man, eine große Zobelfarm zu schaffen, wenn man acht Zobel hat?“ „Ungefähr zehn Jahre. Dann würde die Farm über etwa zehntausend Zobel verfügen.“ Als Syssow gegangen war, bat der Oberst, ihn so schnell wie möglich mit Timofejew zu verbinden. Aber die Funkstation des Naturschutzgebietes meldete sich
nicht, und das Gespräch mit dem Major kam erst spät in der Nacht zustande. In der Höhle In der Erdhütte unter den Wurzeln einer hundertjährigen, vom Sturm gefällten Zirbelkiefer herrschte Dunkelheit. Der bereits am Tage eingeheizte Ofen strömte trockene, angenehme Wärme aus, von der einem die Augen zufielen. Aber der Mann, der in der hinteren Ecke auf dem Ofen lag, war hellwach. Er hatte es satt, das Schlafen und das ständige Lauschen auf jedes Geräusch und auf das Heulen des Schneesturms im Schornstein: über ihm, in der Taiga, brauchte nur plötzlich, ein Baum vom Frost zu knacken, und schon griff er zur Pistole und lauschte mit angehaltenem Atem! Er hatte Angst. War er nicht auch nur eine Marionette in diesem Spiel – so wie der Pilot, der im Segelflugzeug umgekommen war? Immer wieder rief er sich den Weg zu dieser Höhle ins Gedächtnis zurück. Hatte er nicht irgendeinen Fehler gemacht, lauerte nicht eine Falle auf ihn wie jene, in die der Pilot geraten war? Bisher hatte er unverschämtes Glück gehabt. Vor gar nicht langer Zeit saß er noch im Gefängnis. Eines Tages wurde er, der Wilddieb und Vagabund, ins Arbeitszimmer des Gefängnisdirektors geholt. Ob er, Harry Mail mit dem Spitznamen „Skunk“, nicht Lust habe, seine Schuld wiedergutzumachen und obendrein ein reicher Mann zu werden? Neben dem Gefängnisdirektor saß ein Herr in einem eleganten Anzug, mit einem Mund wie ein Hufeisen. Er sprach mit Skunk russisch: „Ich werde die Strafe für Ihre Wilderei übernehmen. Aber Sie müssen dann für mich eine kleine Reise machen.“ „Erst überlegen“, antwortete Skunk.
„Sind Sie einverstanden?“ „Ich überlege noch…“ „Was gibt es da zu überlegen?“ „Ich überlege noch“, sagte Skunk zum drittenmal, obgleich er bereits entschlossen war, das Angebot anzunehmen. „Ich brauche Ihre Antwort sofort“, sagte der Mann ärgerlich. „Ich habe keine Zeit zum Warten. Die Freiheit, fünftausend Dollar Handgeld und nach der Rückkehr noch zehntausend… Na?“ „Einverstanden, Sir.“ „Na, ausgezeichnet!“ So begann Skunks neues Leben. Zwei Monate wohnte er im Landhaus seines Herrn Bill Gramphy, las Bücher über Kamtschatka und beschäftigte sich mit der russischen Sprache. Wer hätte gedacht, fuhr Skunk in seinen Überlegungen fort, daß ihm seine Kenntnis der russischen Sprache und sein Wildererberuf, der ihn ins Gefängnis gebracht hatte, noch einmal helfen würden, ein reicher Mann zu werden? Zehn Jahre lang hatte er im „Canon der Drei Zedern“ Seite an Seite mit russischen Emigranten - altgläubigen Jägern - gewohnt. Wie gut ihm das jetzt zustatten kam! Dann der Flug auf die Sankt-Georgs-Insel, der enge Rumpf des Segelflugzeugs und die muntere Stimme des Piloten, ihr letztes Gespräch, „Skunk, lebst du noch?“ „Danach kannst du in einem Monat fragen.“ „Ich sehe das Signal. Es ist Zeit!“ „Fahr zum Teufel.“ „Okay! Wir treffen uns im Quadrat 36-D.“ Skunk zog den Stecker seines im Helm eingebauten Kopfhörers heraus. Als er nachgeprüft hatte, ob der Rucksack mit
den Lebensmitteln gut festgeschnallt war, schob er die Lukenriegel zurück und sprang in die Tiefe.
Er überschlug sich mehrmals in der Luft, doch dann streckte er den linken Arm zur Seite, und die Kraft des Luftwider-
standes drehte ihn langsam mit dem Gesicht zur Erde. Jetzt hielt Skunk beide Arme nach vorn, etwas höher als sein Gesicht, und ließ sich fünfzehn Sekunden lang fallen, ohne den Fallschirm zu öffnen. Erst dann zog er die Reißleine. Nicht umsonst hatte er einen Monat lang trainiert. Geschickt steuerte er den Fallschirm und landete ziemlich genau an der vorgemerkten Stelle; das Signallicht auf dem Berg blieb links zurück. Er konnte die einsame Zirbelkiefer auf der großen Lichtung bereits gut erkennen. Einen Kilometer von ihr entfernt befand sich die von Vielfraß angelegte Erdhütte. Nachdem er den Fallschirm geborgen hatte, stand er ein Weilchen da und lauschte. In der frostigen Stille hörte er das anschwellende Heulen von Düsentriebwerken. Einen Augenblick später flammte in der Richtung, wo sich das Segelflugzeug befinden mußte, ein purpurroter Feuerschein auf. Skunk halte aber schwören können, daß kein Schuß ertönt war. Da fiel ihm ein, daß man ihm auf dem Flugplatz gesagt hatte: „Was aus dem Piloten wird, geht Sie nichts an. Er führt einen Spezialauftrag aus. Sie werden ihn nicht wiedersehen.“ Als Skunk in seinen Erinnerungen bis hierher gekommen war, drehte er sich auf die andere Seite und fluchte in die Dunkelheit hinein. Wie, wenn auch er, Skunk, einen solchen „Spezialauftrag“ ausführte? Vielleicht war er hierhergeschickt worden, um die Arbeit des hiesigen Agenten zu sichern, und mußte im letzten Moment ebenso zum Teufel gehen. Nein, Skunk war kein Dummkopf, er würde sich nicht hinters Licht führen lassen! Dieser Gedanke beruhigte ihn und gab ihm seine Zuversicht wieder. Er führte die Anweisungen seines Chefs genau aus. Jeden Morgen rieb er sich mit
Schnee ab und trieb eine halbe Stunde lang Gymnastik. Er sammelte Kräfte für den schwierigen Rückweg zum Meer. Ihm und Vielfraß stand immerhin ein Marsch von hundertzwanzig Meilen durch weglose Taiga bevor. Am zwölften Tag gegen Abend hörte Skunk Hundegebell. Er holte die Pistole hervor und entsicherte sie. Die Tür knarrte. Ein Mann in Pelzkleidung trat in die Erdhütte. „Wer ist hier?“ fragte er. „Wie ist das Wetter?“ gab Skunk die vereinbarte Parole. „Es herrscht Schneesturm.“ „Wie geht es den Zobeln?“ „Ausgezeichnet. Alle acht sind gesund.“ Skunk steckte die Pistole ein und sprang vom Ofen. Mit einem Streichholz zündete er den auf dem Tisch stehenden Kerzenstummel an und betrachtete gegen das Licht neugierig den Ankömmling. Es war ein alter Mann mit einem würdevollen grauen Bart und kleinen flinken Äuglein, die durch die zusammengekniffenen Lider blickten, als wolle er zielen. Kasin reichte dem anderen die Hand. „Vielfraß“, stellte er sich vor. Skunk ergriff die dargebotene Hand und drückte sie fest Die Finger des Alten erschienen Skunk wie aus Eisen. „Skunk.“ Sie holten die Zobel herein. „Wer soll hier wirtschaften?“ fragte Kasin. „Sie. Ich bin nur Gast.“ Vielfraß heizte den Ofen und holte Bärenfleisch aus seinem Rucksack. Skunk brachte eine Schnapsflasche zum Vorschein. „Heute fahren wir wohl nicht mehr?“ „Nein. Der Schneesturm wird in der Nacht zunehmen.“ „Sind Sie gut weggekommen?“
„Ja. Fünf Tage werden sie mich nicht vermissen. – Wo wird uns das Flugzeug aufnehmen?“ Skunk horchte auf. „Haben Sie denn vom Chef keine Instruktionen erhalten?“ „Die Operation auf Kamtschatka soll für mich die letzte sein.“ „Ja, natürlich. Die Instruktion hat sich nicht geändert“, antwortete Skunk. „Gott sei Dank! Es wird Zeit, daß ich zur Ruhe komme, junger Freund. Dreißig Jahre lang habe ich mich dumm gestellt und die Klugen eingewickelt.“ Skunk lächelte. Der Chef hatte genaue Instruktionen gegeben: Vielfraß sollte Skunk zum Morskoikap begleiten und dann aufs Festland zurückkehren. Damit wurden, so verstand es Skunk, zwei Ziele verfolgt: Der Alte sollte die Verfolgung auf sich lenken und, wenn es ihm gelänge, das Festland zu erreichen, unter neuem Namen noch mehr als einen Auftrag ausführen. Skunk hatte noch nie gehört, daß Agenten pensioniert worden wären. Wenn der Alte auf dem Weg zum Festland ergriffen wurde, dann hatte er eben Pech gehabt! Er, Skunk, würde inzwischen schon weit weg sein. Der Alte träumte davon, in den Ruhestand zu treten. Das war in der Instruktion nicht vorgesehen. Wenn er das aber erfuhr, würde er wohl versuchen, sich seiner, Skunks, zu entledigen. Skunk grinste, er würde schon aufpassen. Der alte Kasin nahm dieses Lächeln offenbar für eine Aufmunterung, in seiner Beichte fortzufahren, und begann mit großem Eifer zu erzählen, wie er, der wackere Gardeleutnant Starzew, sich hier im Jahre zwanzig auf Kamtschatka aufgeführt hatte. Dann flüchtete er zu den Japanern und fristete im Marionettenstaat Mandschukuo ein elendes Leben… bis er zur Spionage kam und ein zweites Mal glücklich die Grenze
überschritt… Skunk hörte Vielfraß – Starzew – Kasin zu und lächelte freundlich. Er begriff, daß der alte Mann sich aussprechen wollte. Dreißig Jahre lang hatte Kasin geschwiegen, und Skunk war nicht abgeneigt, ihm zuzuhören. Aber das alles konnte er sich nur bis zu dem Moment erlauben, da sich die Eisfelder des Ozeans vor ihm auftaten. Dann würde er den Alten zum Teufel schicken. Skunk würde die Instruktionen des Chefs nicht übertreten: er allein würde sich in das Flugzeug setzen. Die Hunde meutern Wladimir saß auf einem Schlitten. Er wußte, daß die Hunde sich nicht sehr beeilten, aber er fühlte sich nicht berechtigt, sie anzutreiben. Sie gehörten ihm nicht. Vorgestern war er in einer Jägerhütte eingekehrt, und Großvater Wassili hatte ihm das Gespann mitgegeben, damit er schneller mit seinem kostbaren Fang nach Hause komme und vor allem von dem geheimnisvollen Licht berichte. Im Wipfel einer gewaltigen Zirbelkiefer hatte er eine elektrische Lampe entdeckt. Als er in den Pfad einbog, der über das Gebirge führte, fühlte er einen Schneesturm nahen. Bei solchem Wetter und bei Nacht konnte er den Paß nicht schaffen. Besser, er wartete das Unwetter in der alten Erdhütte ab, die hier in der Nähe lag. Von dieser Hütte wußten nur er und sein Stiefvater. Wladimir wollte dort ruhig übernachten und sich erholen. Jetzt rasten die Hunde wie der Wirbelsturm einen steilen Hang hinab, der Wind hatte ihnen den Geruch von Rauch herangetragen. Einige Minuten später hielt Wladimir neben der Zirbelkiefer, unter deren Wurzel die Erdhütte lag. Auf der Schwelle stand ein Mann.
„Vater!“ schrie Wladimir erfreut. Nun konnte er seinen Zobel noch mitgeben. Der Alte blickte den plötzlichen Gast finster an. „Komm rein.“ „Gleich. Ich will nur die Hunde füttern.“ Kasin kehrte in die Hütte zurück. Skunk saß da, die Hand im Jackett. „Wer ist draußen?“ „Mein Stiefsohn.“ „Was will er?“ „Wir werden ihn brauchen können.“ „Weiß er etwa Bescheid?“ „Nein. Er war in der Taiga. Er wird uns helfen, die Verfolger abzuschütteln.“ „Die Verfolger? Sei vorsichtig, Vielfraß!“ „Er tut, was ich ihm sage.“ Ein fremder Mann, dachte Wladimir, als er hereinkam. Sicher ein Bekannter von Vater. Er stellte sein Gewehr in die Ecke und trat an den Tisch. „Stell dich vor, mein Sohn. Das ist Anatoli Gerassimowitsch aus Kurlei. Wir haben uns unterwegs getroffen.“ Skunk streckte Wladimir die Hand hin. „Was gibt’s Neues?“ fragte Kasin. „Die Grenzer suchen jemand.“ „Wo denn?“ fragte Skunk lebhaft. „Sie liegen am Guljaiberg auf der Lauer.“ „Wo ist das?“ „Fünfunddreißig Kilometer von hier.“ Wladimir wunderte sich; der Vater hatte ihm einmal gesagt, daß Anatoli Gerassimowitsch aus Kurlei sich in der Gegend auskenne – sie hätten hier zusammen gejagt – , dabei wußte dieser nicht einmal, wo der Guljaiberg lag.
„Na und?“ fragte der Stiefvater. „Sie fragten, ob ich keine Unbekannten gesehen hätte.“ Und Wladimir erzählte, wie er die geheimnisvolle Lampe gefunden habe. Der Stiefvater saß schweigend da und wechselte nur von Zeit zu Zeit einen Blick mit seinem Freund, dessen Wangen zuckten. „Eine Lampe, sagst du?“ fragte der Stiefvater. „Interessant… Wo hast du sie?“ „Draußen, ich will sie zur Miliz bringen.“ „Teufel noch mal!“ rief Skunk aus. Wladimir versuchte zu begreifen, warum der Stiefvater so ein finsteres Gesicht zog und warum der Mann aus Kurlei so aufgeregt war. „Macht nichts“, bemerkte der junge Mann unbekümmert, „man wird sie sowieso ergreifen.“ „Was du nicht sagst!“ Der Stiefvater lachte. „Vielleicht, natürlich…“ Und nach einer Pause fügte er hinzu: „Du sagst das so leicht! Und wenn man sie nun nicht ergreift?“ „Sie werden die Küste abriegeln, das genügt. Wo sollen sie hin?“ Wladimir fing einen finsteren, verschleierten Blick des Fremden auf. Sollte etwa der Bekannte des Vaters…? Nein, das war doch wohl nicht möglich! „Als Sie aus Kurlei kamen, sind Sie da am Guljaiberg vorbeigekommen?“ fragte Wladimir. „Ja“, antwortete Skunk. „Warum haben Sie einen solchen Umweg gemacht?“ „Es war notwendig.“ „So“, sagte Wladimir gedehnt und setzte seine Pelzmütze auf. „Vater, kommst du mit, nach den Hunden sehen?“ „Wozu?“ fragte der Unbekannte schnell. „Was soll das heißen?“ sagte der Stiefvater finster. „Bleib
sitzen. Mach Brennholz klein.“ „Ich dachte nur…“ „Zum Teufel mit ihm!“ rief Skunk und riß seine Pistole heraus. „Er wird uns verraten.“ „Lassen Sie das!“ fuhr Kasin ihn an. „Ich weiß selbst, was ich zu tun habe…“ In der Erdhütte wurde es unheimlich still. Wladimir überlief ein Schauer. Er strich sich mit der Hand über das Gesicht – es war wie vor Kälte erstarrt. Sein Stiefvater? Was sollte – das bedeuten? Was für ein Mensch stand da vor ihm? Der Fremde reichte Kasin die Pistole. Dieser hob sie langsam und zielte. Entsetzen lähmte Wladimir, tausend Gedanken stürmten ihm durch den Kopf. Narrte ihn ein Spuk? „Vater“, stammelte er. Doch dieses Gesicht vor ihm, dieser ihm plötzlich so unheimliche Mann zeigte keine Spur Gefühl. Der Docht der Kerze auf dem Tisch knisterte. Ein Funken sprang heraus, erlosch, und ein blauer, hufeisenförmig gebogener Rauchfaden stieg empor. Wladimir bückte sich im gleichen Augenblick, als der Schuß krachte, er riß den Tisch um und warf ihn auf den Stiefvater. Die Kerze erlosch. Mit einem Sprung war Wladimir zur Tür, packte sein Gewehr und sprang ins Freie. Eine Kugel pfiff über seinen Kopf hinweg. Blindlings eilte er den Hang hinab. Die beiden anderen stürzten ihm nach. Wladimir sah sich um, in der anbrechenden Finsternis und bei dem Schneegestöber war schwer zu unterscheiden, wer näher war. Ein Schuß knallte, ein zweiter. Von einem Baum neben ihm sprangen Splitter ab. Wladimir blieb stehen, schob hastig eine Patrone in den Lauf, zielte auf die nächste dunkle Gestalt und drückte ab.
Der Mann stürzte kopfüber in den Schnee. Im selben Augenblick sah Wladimir das Mündungsfeuer eines Schusses; seine Hand ließ das Gewehr los und sank wie tot herab. Skunk stieß auf Vielfraß Körper und hütete sich weiterzulaufen. Das Risiko war sinnlos: Der Bursche würde ohne Lebensmittel in der Taiga umkommen; und sollte er wirklich die Kreisstadt oder das Naturschutzgebiet erreichen und Verfolger auf seine Spur hetzen, dann würde er, Skunk, schon längst im Flugzeug sitzen. Skunk faßte seinen Komplicen unter die Achseln und zog
ihn in die Erdhütte. War Vielfraß noch am Leben oder schwer verwundet? fragte er sich. Lange mußte er nach dem Kerzenstummel suchen. Schließlich fand er ihn und zündete ihn an. Er leuchtete nach Kasins Kopf und prallte mit einem Fluch zurück. Der Alte war tot, Skunk mußte also allein zur Küste finden. Jetzt war auch der zweite Mann ausgeschieden. In aller Eile packte Skunk das Funkgerät und alle vorhandenen Lebensmittel auf Kasins Schlitten. Dann trug er die Käfige mit den Zobeln hinaus, band sie sorgfältig fest und deckte Felle darüber. Es wurde Zeit, die Hunde einzuspannen. Sie standen, zu einem Haufen gedrängt, neben der Hütte. Skunk brach einen dicken, knorrigen Ast ab und ging auf sie zu. Die Hunde knurrten dumpf, doch Skunk war an derartige Empfänge gewöhnt und achtete nicht auf diese Warnung. Er streckte die Hand nach dem Leithund aus, Der wich in den dichten Haufen zurück. Skunk tat noch einen Schritt vorwärts. Da sprang ihn der Hund an. Der Mann schlug ihm mit dem Ast über den Kopf, das Tier fiel in den Schnee, Doch jetzt stürzte sich die ganze Meute auf den Fremden… Die Verfolger Gegen Morgen wurde es etwas wärmer. Der Himmel war von tiefhängenden, schweren Wolken verhüllt, dichter Schnee fiel. Die kräftigen kamtschatkischen Hunde zogen in raschem Tempo den Schlitten mit Timofejew und Licharjow. In einer knappen Stunde erreichten sie Kasins Haus. Eine dicke Frau öffnete ihnen. „Ist der Hausherr da?“ fragte Timofejew, Die Frau schüttelte den Kopf.
„Wann ist er weggegangen?“ „Wer seid ihr denn?“ Der Major stellte sich vor. Kasins Frau hob die Brauen hoch und trat zurück. „Du lieber Gott! Was wollen Sie denn von ihm? Brauchen Sie ihn als Führer?“ „Ja!“ „Er ist ja schon um Mitternacht weggefahren.“ „Was wollte er hier?“ „Er kam, um Proviant zu holen und sich zu verabschieden.“ „War er im Keller?“ „Ja, er hat Sauerkohl heraufgeholt.“ Timofejew trat ein. Er befahl Sascha, im Zimmer zu warten, und stieg in den Keller. Unten knipste er seine Taschenlampe an und blickte sich um. Der Keller war voller Kisten und Zuber. In einer Ecke, auf Sand, lag Gemüse ausgebreitet. Die Zuber waren offenbar lange nicht benutzt worden. Die Lappen und Steine, mit denen die Deckel beschwert waren, bedeckte Schimmel. Das Fundament des Ofens bestand aus großen unbehauenen Steinen. Die Birne, die zur Beleuchtung des Kellers diente, hing gleich daneben, die Leitung führte durch eine Fuge in der Kellerdecke nach oben. Als der Major die Lichtleitung aufmerksam besah, entdeckte er einen Draht, der in das Ofenfundament lief. Er hat sich ganz sicher gefühlt, der Halunke, dachte Timofejew und rückte an den Steinen. Einer war lose, und dahinter steckte ein Hohlraum, in dem man ein Grammophon hätte unterbringen können. Ein Rechteck hob sich ab, auf dem kein Staub lag: der Gegenstand, der hier gestanden hatte, war vor kurzem herausgenommen worden. „Sieh mal an!“ murmelte Timofejew. „Er hat das Funkgerät mitgenommen, also hat er nicht die Absicht, wiederzukom-
men.“ „Können Sie vorläufig bei Ihren Nachbarn wohnen? Wir müssen das Haus verschließen“, fragte er die Frau, als er wieder hinaufgestiegen war. „Ja, das geht.“ Sie war von all dem ganz verwirrt. Erst als der Major die Tür abschloß und den Schlüssel einsteckte, begann sie zu weinen. „Kopf hoch, Awdotja Polikarpowna“, tröstete sie Sascha. „Sie haben ja nicht schuld.“ Die Frau gab keine Antwort. Sie schnallte ihre Skier an und entfernte sich. „Dieser Kasin hat sie offenbar, wie man so sagt, in Gottesfurcht gehalten“, sagte Timofejew und blickte ihr nach. „Sie ist recht eingeschüchtert.“ Der Weg zwischen den Hügeln war nicht zugeweht, und das Dutzend Hunde zog Sascha und Timofejew mühelos bergab. Langsam und leise fiel Schnee und verhüllte die ferneren Berge wie ein dichter Schleier. Als sie aber aus dem Schutz der Hügel in den Bereich des Schneesturms kamen, mußten sie absteigen und einen Weg bahnen. Timofejew nahm öfters die Karte zur Hand und verglich den Weg mit den Orientierungspunkten, die Großvater Filipp ihm gegeben hatte. Gegen Abend erreichten die Reisenden den Paß und machten vor dem Stein, der den Weg versperrte, halt. Timofejew trat als erster an den Felsblock. „Sascha!“ rief er. „Sieh mal!“ Tumanow kam herbeigelaufen, „Er ist über das Karnies gefahren. Siehst du die Schlittenspur? Vielleicht ist es aber auch eine Falle?“ Sascha hockte sich nieder.
„Der Schlitten war unbeladen. Die Kufen haben sich fast gar nicht in den Schnee eingedrückt. Das ist tatsächlich eine Falle.“ Tumanow ging zu dem schmalen Durchgang zwischen dem Stein und der Felswand und scharrte den Schnee vorsichtig beiseite. „Hier sind auch Spuren!“ Timofejew bückte sich und unterschied deutlich zwei Schneeschichten: eine dunklere, auf der sich die Spur klar abhob, und eine hellere, die darüber lag. Gegen Abend des nächsten Tages bog die Schlittenspur vom Wege ab. „Er ist hier am Waldrand entlanggefahren“, sagte der Major. „Sieh mal – ein entwurzelter Baum. Da hat er sicher vor dem Schneesturm Schutz gesucht.“ Als sie herankamen, hielt Timofejew plötzlich die Hunde an. „Eine Erdhütte!“ flüsterte er. „Siehst du die Tür unter den Wurzeln?“ „Ja“, antwortete Sascha ebenso leise. Der Major zog seine Pistole hervor. Er stieg zu der Tür hinunter, riß sie mit einem Ruck auf und sprang zur Seite. Sascha war niedergekniet und hielt das Gewehr auf den Eingang gerichtet. In der Erdhütte blieb alles still. Schließlich knipste der Major seine Taschenlampe an und ließ den Strahl im Innern kreisen: Ein Tisch und eine Bank, beide umgeworfen; auf dem Fußboden stand eine Kerze, und in der hintersten Ecke lag, den Kopf gegen die Wand gelehnt, ein Mensch. Timofejew und nach ihm auch Sascha traten ein. Der Major leuchtete dem Toten ins Gesicht. „Kasin!“ rief Sascha aus. „Er!“ „Auf der Joppe und im Haar ist Schnee getaut“, bemerkte
der Major. „Er ist nicht hier, sondern draußen ermordet worden. Da liegt auch sein Fausthandschuh.“ „N – nein“, flüsterte Sascha unsicher. „Den habe ich bei seinem Stiefsohn Wladimir gesehen, als er sich bei Medwedew eine Lizenz für den Zobelfang ausstellen ließ.“ „Sein Stiefsohn, sagst du?“ fragte der Major. „Wie soll denn der hierhergekommen sein?“ Sascha antwortete nicht. Der Major sah sich weiter um. Neben dem Ofen entdeckte er ausgespuckten Kautabak. „Hat Kasin Tabak gekaut?“ fragte er. „Nein, er hat auch nicht geraucht.“ „Und Wladimir?“ „Auch nicht.“ „Also ist das die Spur eines dritten.“ „Was mag hier vorgegangen sein?“ „Wenn der alte Kasin in der Taiga ermordet wurde, hat sich die ganze Tragödie dort abgespielt. Leider ist es dunkel. Uns bleibt nicht anderes übrig, als bis zum Morgen zu warten. Nach der Leiche zu urteilen, müssen seit dem Mord mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen sein.“ In aller Frühe, als es kaum dämmerte, suchten Timofejew und Sascha den Hang ab, wobei sie bis zum Gürtel im Schnee versanken. Der Major fand ein blutiges Stück Stoff, das wahrscheinlich von einem Unterhemd abgerissen worden war. „Wladimir ist verwundet“, sagte er. „Vielleicht auch jener dritte?“ „Nein. Siehst du diese Naht? Der wird schwerlich handgenähte Wäsche tragen.“ Oben bei der Hütte hörte man plötzlich Hundegebell und Winseln. Der Major und der Jäger eilten hinauf. Die Hunde hatten die Leiche eines Artgenossen aus dem Schnee ge-
scharrt. Sascha und Timofejew scheuchten sie mit Mühe weg. Der Kopf des toten Hundes war durch einen Knüppelhieb zerschmettert. Während Timofejew noch mit der Untersuchung beschäftigt war, gruben die Hunde einen zweiten Kadaver aus. Dieser Hund hatte einen Nahschuß erhalten. Der Schnee gab noch einige weitere Hundeleichen frei. „…Die Hunde haben den Fremden angegriffen. Wladimir ist also nicht mitgegangen, denn die Hunde kennen ihn… Sehen Sie!“ Sascha zeigte auf einen der getöteten Hunde, der einen Jackenfetzen zwischen den Zähnen hatte. „Das ist Wolfsfell, Wassili Danilowitsch.“ Im Arbeitszimmer Babenkos ließ sich Timofejew schwer auf einen Stuhl fallen. „So? Der Eindringling ist also nicht an der Grenze aufgetaucht?“ „Nein“, erwiderte Babenko. „Auf unserem Abschnitt sind die Patrouillen verstärkt worden.“ „Sie halten einen Grenzübertritt für ausgeschlossen?“ „Völlig, Genosse Major. In den letzten zwei Wochen gab es keine einzige Spur…“ „Wo mag er bloß geblieben sein?“ Diese Frage richtete Timofejew mehr an sich selbst als an den Gesprächspartner. Nach seinen Berechnungen hätte der Feind längst die Küste erreichen und den Grenzern in die Hände fallen müssen. Der Major stand auf und ging zu der an der Wand hängenden Karte des Grenzabschnitts. Vielleicht irrte der Feind in der Taiga umher? Aber sicherlich hatte er Karte und Kompaß. Oder er war schon entwischt? Timofejew drehte sich mit einem Ruck von der Karte weg. Der Gedanke, daß der Verbrecher ungestraft entkommen sei, war recht unwahrscheinlich.
„Genosse Hauptmann“, wandte sich Timofejew an Babenko. „Wir müssen damit rechnen, daß der Verbrecher noch auf unserem Territorium ist, und die Suche fortsetzen. Lassen Sie bitte den Piloten zu mir kommen. Morgen früh werde ich mit ihm fliegen.“ Gefährliche Jagd Wladimir hob das Gewehr mit der rechten Hand auf und eilte den Abhang hinunter. Als er fünfzig Meter durch den tiefen Schnee gelaufen war, blickte er sich um. Der Unbekannte hatte den Stiefvater unter den Achseln gepackt und zog ihn zu der Erdhütte. Wladimir hob das Gewehr mit einer Hand, aber er sah ein, daß der Schuß fehlgehen würde, und ließ die Flinte wieder sinken. Er mußte zunächst seinen Arm verbinden. Zum Glück schien die Wunde nicht sehr tief zu sein. Mit Mühe riß er ein Stück vom Hemd ab und wickelte es sich recht und schlecht um die Schulter. Dann zog er den Arm aus dem Ärmel und preßte ihn an den Körper. Das Gehen fiel ihm jetzt zwar schwerer, aber dafür konnte Wladimir sicher sein, daß er sich die Hand nicht erfror. Der Wind heulte in den Zweigen und peitschte ihm den Schnee ins Gesicht. Endlich blieb Wladimir stehen und lehnte sich müde und erschöpft mit der Schulter gegen einen Baum. Er mußte sich einen Platz zum übernachten suchen. In einem Krummholzgestrüpp scharrte er den Schnee beiseite und zwängte sich so tief wie möglich unter die Zweige. Hier war es nicht so kalt. Er kroch hinein wie ein krankes Tier. Was hatte er getan? Nun, da keine Lebensgefahr mehr für ihn bestand, kam ihm das Schreckliche, das er durchlebt hatte, mit voller Schärfe zum Bewußtsein, Kasin hatte zwei Gesichter gehabt, zwei Leben geführt.
Manches Erlebnis mit dem Stiefvater sah Wladimir jetzt plötzlich in einem anderen Licht. Diese Erkenntnis war schrecklich für ihn. Immer von neuem grübelte er voller Verzweiflung, bis er endlich todmüde einschlief. Er erwachte von einem stechenden Schmerz. Im Schlaf hatte er sich umdrehen wollen und dabei den verwundeten Arm an einen Zweig gedrückt. Zugleich kehrten auch die Gedanken zurück, die noch viel quälender waren. Sein Stiefvater – ein Verräter! Jahrelang hatte er, Wladimir, mit einem Spion zusammengelebt, ihn geachtet und für seinen besten Freund gehalten. Jahrelang war er auf das gemeinste betrogen worden… Kasin hatte ihn durch seine Jagdkunst so sehr geblendet, daß er sogar übersah, wie grob und ungerecht der Stiefvater bisweilen die Mutter behandelte… Zorn packte Wladimir. Er raffte sich auf und kroch ins Freie. Was sollte er tun? Er befand sich allein und verwundet in der Taiga, hatte nichts zu essen, und bis zur nächsten Jägerhütte waren es einige Tagemärsche. Vielleicht kam auch wieder ein Schneesturm… Außer ihm wußte niemand, daß der Mann, der sich in der Erdhütte versteckt hatte, ein Feind war. Er mußte ihm folgen. Und wenn seine eigene Kraft nicht ausreichen sollte, den Spion festzuhalten, so konnte er vielleicht den Grenzern helfen. Der Wind hatte nachgelassen, und tiefe Stille herrschte. Die Taiga schlummerte. Die verschneiten Tannen, die Birken mit ihren herabhängenden Zweigen, die Zirbelkiefern: alles schlief. Wladimir stieg zur Erdhütte hinauf. Gestern abend hatte er seine Skier hinter der gestürzten Zirbelkiefer abgestellt, und der Fremde hatte sie glücklicherweise nicht gefunden. Neben dem Baumstamm erblickte er die Hundeleichen, und in der
Erdhütte lag sein toter Stiefvater. Wladimir blieb erschüttert vor ihm stehen. Wieder und wieder zog ihm das Leben an seiner Seite durch den Sinn. Langsam verließ Wladimir die Hütte, legte die Skier an und folgte der leicht mit frischem Schnee bedeckten Schlittenspur. Er eilte vorwärts, so rasch es seine Kräfte erlaubten. Infolge des Blutverlustes quälte ihn der Durst, und obendrein war er hungrig. Erst gegen Mittag stieß Wladimir auf die erste Raststätte des Feindes. Der Mann hatte kein Lagerfeuer angezündet. Noch etwas fiel Wladimir auf: Der Feind ließ die Zobel nicht frei. Er hatte die Käfige gereinigt und die Tiere mit Fleisch und Vogelbeeren gefüttert. Wladimir war verblüfft. Unbegreiflich – ein Spion, und versorgt die Zobel Vielleicht war er doch ein hiesiger Jäger? In tiefes Nachdenken versunken, folgte Wladimir weiter der Spur. Er bemerkte, daß der Fremde die Gegend nicht kannte und sich nur nach dem Kompaß orientierte, denn er war quer durch ein Dickicht gegangen. Dabei gab es zweihundert Schritt weiter eine Lichtung; dahinter lagen erst ein kleiner See und dann ein Birkenwäldchen. Hätte er sich dorthin gewandt, wäre er viel leichter vorwärts gekommen. Außerdem verriet die Spur einen zweiten wichtigen Umstand: Während der Hunderebellion hatte offenbar eins der Tiere den Spion ins Bein gebissen, denn die Bewegung seines linken Skis war kürzer, und der rechte zeichnete sich schärfer im Schnee ab, er lag tiefer. Wladimir lief in der kaum verwehten Spur und brauchte infolgedessen weniger Kraft, aber der Hunger machte sich immer stärker bemerkbar. Ganz abgesehen davon, daß ihm der verwundete Arm das Zielen sehr erschwerte, traute er sich auch gar nicht zu schießen, denn der Fremde konnte den Schuß hören und ihm einen Hinterhalt legen. Wladimir fühl-
te, daß er für einen Kampf noch zu schwach, war. Außerdem hatte der Feind zwei erhebliche Vorteile auf seiner Seite: Er konnte ihn plötzlich überfallen, und er hatte eine Pistole, während Wladimir keine einzige Kugel mehr besaß, sondern nur Schrotpatronen. Zum übernachten baute er sich am Fuß eines großen Baumes aus Ästen und Baumrinde einen Unterschlupf und bedeckte ihn mit Tannenzweigen. Um seine Anwesenheit nicht zu verraten, entzündete er das Lagerfeuer unmittelbar am Stamm, so daß der aufsteigende Rauch am Baum entlangkroch und sich dann unmerklich verflüchtigte. Obwohl der Jäger weit hinter dem Fremden zurück war, fürchtete er doch, dieser könnte plötzlich wissen wollen, ob er verfolgt werde, und einen Bogen schlagen. Am vierten Tag begann sich in Wladimirs Kopf alles zu drehen. Er sah ein, daß es keinen Zweck hatte, die Verfolgung mit leerem Magen fortzusetzen. So riskant es auch war, die Spur zu verlassen, die von einem plötzlichen Schneesturm verweht werden konnte, begab er sich auf Nahrungssuche. Er hatte Glück: Auf einer Lichtung fand er einen toten Auerhahn, der von einem Zobel gerissen worden war, nur Kopf und Hals fehlten. Der Vogel war groß und mußte für mehrere Tage reichen. Der Jäger machte Rast. Er aß eine tüchtige Portion, schlief sich aus und zog dann weiter. An der Stelle, wo der Feind übernachtet hatte, fand er zwei Hundebälge. Dem Fremden waren offenbar die Nahrungsmittel ausgegangen. Vom Fleisch der Hunde hatte er selbst gegessen und auch den Zobeln gegeben – an den Knochen fanden sich die Spuren der kleinen Zähnchen. Am Abend stellte Wladimir fest, daß der Berg mit den drei Felsen auf dem Gipfel, der weit links zurückbleiben mußte,
rechts lag. Das beunruhigte ihn. Warum hatte der Feind die Richtung gewechselt? In zwei Tagen konnte er die Küste erreichen, aber er ging zurück. Wladimir saß in seiner Laubhütte und zerbrach sich darüber den Kopf. Friedlich brannte das kleine Feuer. Der Tag war wie alle anderen Tage trübe gewesen und ging unmerklich zu Ende. Ohne zu einer Lösung zu kommen, sank Wladimir in tiefen Schlaf. Gegen Abend des folgenden Tages führte die Spur wieder zu derselben Stelle. Wieder erblickte Wladimir rechter Hand den Berg mit dem steinernen Dreizack auf dem Gipfel. Der Feind ging im Kreis. Er hatte sich verirrt! Wie war das möglich? Bis jetzt hatte er doch mit erstaunlicher Sicherheit den richtigen Weg eingeschlagen… Am siebenten Tag ging Wladimir in einer seltsamen Spirale hinter dem Feind her, auf ein geheimnisvolles Zentrum zu. Am achten Tag der Verfolgung nahm Wladimir seinen Verband ab. Die Wunde war fast verheilt, und er konnte den Arm wieder in den Ärmel stecken. Am Morgen darauf erreichte er erneut eine Stelle, wo der Feind übernachtet hatte. Er fand Blut und Eingeweide eines Zobels vor. Der Mann hatte das kostbare Tierchen einfach aufgegessen! Vielleicht das hübsche dunkle, das Wladimir gefangen hatte. Und morgen schon würde er das nächste essen. Diesen Gedanken konnte er nicht ertragen. Wladimir beschloß, dem Feind allein gegenüberzutreten. Länger zu warten war unmöglich. Ein furchtbarer Schatten Der Major saß neben dem Piloten und blickte unverwandt auf die blendendhelle Schneedecke, die sich vor ihm ausbreitete.
„Wir fliegen jetzt in das Quadrat ein“, vernahm er im Hörer der Kopfhaube die Stimme des Piloten. Der Major legte sich Kartentasche und Kompaß auf die Knie. Durch den Feldstecher erkannte er deutlich die Schlittenspur, die er und Sascha hinterlassen hatten; von oben sah sie dünn wie ein Faden aus. Der Hubschrauber flog in einer Höhe von dreihundert Metern, und der Major konnte das Gelände der Taiga im Umkreis von fünf Kilometern gut überblicken. Überall, so weit das Auge reichte, erstreckte sich das Dikkicht der Taiga – von Windbrüchen unterbrochen, von hohen Schneewehen durchzogen, stumm und ermüdend. „Sehen Sie dort rechts“, meldete sich wieder der Pilot. „Wo?“ „Fünfzig Grad rechts vom Kurs.“ Der Major erblickte auf dem Schnee einen dunklen Streifen. Er bat den Piloten, tiefer zu gehen, um, die Spur betrachten zu können. Der nickte mit dem Kopf, und der Hubschrauber glitt in schräger Bahn nach unten, wie ein Rodelschlitten, der den Berg hinabfährt. Unmittelbar über den Tannenwipfeln ging ein Ruck durch die Maschine! sie blieb in der Luft hängen, stärker vibrierte der Motor. Timofejew öffnete die Seitentür und blickte hinaus. Unter den Bäumen lief eine Bärenspur entlang. Meister Petz war mehrere Male zu den Bäumen gegangen, hatte sie beschnüffelt und dann wieder verlassen. Irgend jemand mußte ihn aufgeweckt und in seiner Höhle vergrämt haben. Jetzt würde er den ganzen Winter durch die Taiga streifen, böse, unausgeschlafen und gierig nach Beute. Der Major schloß die Tür, nahm die Karte aus der Tasche und trug die ungefähre Richtung der Bärenspur ein, damit sie nicht wieder hinunterzugehen brauchten, falls sie ihr nochmals begegneten.
„War es die gesuchte Spur?“ fragte der Pilot. „Nein, ein Bär. Fliegen wir weiter.“ Jetzt flogen sie auf Timofejews Bitte in geringerer Höhe. In diesem Teil des Quadrats hoffte der Major die feindliche Schlittenspur zu entdecken. Er ließ die Karte draußen und trug den Flugweg des Hubschraubers ein, wobei er sich nach dem Kompaß und den Orientierungspunkten richtete. Plötzlich kroch die Kompaßnadel rasch nach links, obgleich das Flugzeug den Kurs nicht geändert hatte. „Wie kommt das?“ fragte Timofejew. Der Pilot sah auf den Gyrokompaß, dann auf die Bordkarte, und nach einer Weile vernahm Timofejew aus dem Kopfhörer seine fröhliche Stimme: „Hier liegt Magneterz in der Erde. Da schlagen die Kompaßnadeln eben aus.“ Timofejew stellte fest, daß sein und Saschas Weg hier verlief. Aber sie hatten ja den Kompaß überhaupt nicht benutzt, sondern sich auf die Orientierungspunkte von Großvater Filipp verlassen. Das Feuer flammte bald hell auf, wenn es einen harzigen Zweig erfaßte, bald sank es in sich zusammen. Blauer Rauch kräuselte sich über der Flamme und stieg zum Abzugloch im Dach der Laubhütte auf, die Wladimir wie immer am Stamm eines Baumes mit weitverzweigter Krone errichtet hatte. Als der junge Jäger heute das Nachtlager des Fremden erreichte, fand er die Überreste eines zweiten Zobels vor. Das bestärkte ihn endgültig in seinem Entschluß, selbst mit dem Eeind abzurechnen. Nachdem Wladimir sich für die Übernachtung eingerichtet hatte, zündete er ein Lagerfeuer an und machte sich daran, eine Kugel zu gießen. Er nahm eine der drei Schrotpatronen, entfernte den Papppfropf und schüttete die Schrotkörner auf ein Stück Birkenrinde. Dann tat er sie in einen Blechdeckel
stellte diesen in die Glut und ließ das Blei schmelzen. Als der Schrot zu einem Klümpchen zusammengeflossen und ein wenig abgekühlt war, schüttelte er den Guß heraus. Lange walzte er das Blei mit dem Messer auf dem Gewehrkolben, damit es eine passende Form annehme Dann riß er ein Stück von seinem Hemd ab und umwickelte die Kugel mit einem schmalen Streifen Stoff. Das Geschoß war gut gelungen, er konnte zufrieden sein. Für die Herstellung der Kugel brauchte Wladimir fast die ganze Nacht. Als er fertig war, aß er die Reste des Auerhahns, kaute einige säuerliche Vogelbeeren und legte sich dann zur Ruhe. Aber sein Schlaf war nicht sehr erholsam, der Gedanke, er könne den Tagesanbruch verschlafen, ließ ihm keine Ruhe Wladimir erwachte, als die Glut des Feuers sich vollständig mit Asche bedeckt hatte. Er aß wiederum einige Vogelbeeren, schob die selbstgemachte Patrone in den Gewehrlauf und verließ die Laubhütte. Der Morgen begann eben zu dämmern. Der Himmel war klar und von fahlgelber Farbe. Noch schimmerten die Sterne durch. „Es ist Zeit“, sagte Wladimir entschlossen und schnallte die Bretter an Da er auf Skiern und ohne Gepäck lief, rechnete er damit, den Mann vor ihm gegen Mittag einzuholen, wenn dieser, der ja den Schlitten mit den Zobeln ziehen mußte, eine Ruhepause einlegen würde. Er wollte ihm auflauern, denn er wagte nicht, dem Feind offen entgegenzutreten. Die unzureichende Nahrung und der lange Marsch hatten ihn entkräftet, und die linke Hand gehorchte noch schlecht. Er folgte zunächst der Spur, doch dann bog er seitlich ab, um den Feind zu umgehen. In der elften Stunde sah er vor sich einen dunklen Punkt ei-
ne kahle Halde hinaufkriechen. Der Berg beherrschte das Gelände. Der Mann würde vom Gipfel aus den Ozean erblicken, zu dem es dann nur noch knapp zehn Kilometer waren. Der Zobeldieb würde die Dunkelheit abwarten und noch einen Zobel verspeisen. Dieser Gedanke gab Wladimir einen Stich ins Herz. Er lief noch schneller, um den Fremden zu überholen und sich jenseits des Berges im Wald zu verstecken. Schließlich hatte der junge Jäger den anderen Berghang erreicht, und er raffte nun seine letzten Kräfte zusammen, um dem Feind den Weg abzuschneiden. In der Eile stieß er gegen einen unter dem Schnee verborgenen Baumstumpf und hätte beinahe den rechten Ski zerbrochen. Am Waldrand blieb er stehen. Der Mann, der bisher vor ihm gewesen war, kam ihm jetzt entgegen. In gebückter Haltung zog er mit Mühe den im Schnee einsinkenden Schlitten hinter sich her. Wladimir suchte sich im dichten Krummholz einen bequemen Platz und stützte den Gewehrlauf auf eine Zweiggabelung. Die Ungeduld packte ihn, aber er mußte mit dem Schuß noch warten. Er schob die Hände in die Jacke. Der Mann mit dem Schlitten stieg immer tiefer herab. Wladimir konnte schon den weißen Dampf seines Atems erkennen. Er ging langsam, setzte mit großer Mühe einen Fuß vor den anderen und blickte unverwandt geradeaus zu dem nahen Wald Allmählich konnte Wladimir sein Gesicht mit dem hellen Bart erkennen. Jetzt begegnete er seinem Blick, aber der Feind sah ihn nicht. Er ging Schritt für Schritt auf sein Ziel, das Gebüsch, zu. Mit jedem Schritt verringerte sich die Entfernung. Im gleichen Augenblick, da sich ihre Blicke trafen, legte Wladimir den Finger auf den Abzugshahn. Er stemmte den Kolben fester gegen die Schulter und zielte auf den Kopf des
Feindes. Nein, die Grenzer brauchen ihn lebendig, ging es ihm durch den Sinn. Ich werde ihn am Bein verwunden.
Er ließ das Gewehr ein wenig sinken, und ohne zu bemerken, daß ein streichholzdünner Zweig vor der Mündung lag, drückte er ab. Eine gelbe Flamme brach aus dem Lauf. Der Schuß dröhnte in den Ohren. Die Kugel trat auf ihrem Wege den Zweig, wurde abgelenkt und wirbelte vor den Füßen des Mannes eine Schneefontäne auf. Der blieb wie angewurzelt stehen. Doch nur für einen Augenblick. Dann riß er die Pistole heraus und richtete sie dorthin, wo ein kaum wahrnehmbares Rauchwölkchen emporstieg. Als er aber abdrückte, blieb alles still. Er drückte noch mal, ein drittes, ein viertes Mal… Vergeblich – die Pistole versagte in der Kälte. Ein zweiter Schuß dröhnte aus dem Gebüsch, und der Mann in der Wolfsfelljoppe machte kehrt, um davonzulaufen. Der Schrot, hatte nur den Schnee neben ihm aufstäuben lassen, und er begriff, daß sein Gegner außer Schrot keine Munition besaß. So drehte er sich um und blickte zu Wladimir hinüber. Dieser warf die nutzlos gewordene Flinte weg und trat aus dem Gebüsch. Als der Mann den unbewaffneten Wladimir erblickte, streifte er langsam die Zugleine des Schlittens über den Kopf und zog ebenso langsam, gleichsam träge, sein Messer.
„Na, du Grünschnabel!“ brüllte er und schritt Wladimir entgegen. Dieser zog ebenfalls sein Messer. Der Mann kam langsam näher und sah mit seinen bösartigen, vom Winde geröteten Augen Wladimir starr ins Gesicht. Der Jäger ging ihm ebenso langsam entgegen und trat vorsichtig auf, um nicht im tiefen Schnee zu stolpern. Der Feind war größer als er und hatte breitere Schultern. Fünf Schritte trennten sie noch. Da blieb der Mann stehen und stampfte den Schnee fest, damit er Platz zum Zurückweichen erhielt. Er war offenbar ein geübter Messerstecher, fühlte sich aber erschöpft und konnte daher nicht auf einen leichten Sieg hoffen. Wladimir stampfte ebenfalls den Schnee fest, ohne den Feind aus den Augen zu lassen Langsam, Zentimeter für Zentimeter, gingen sie aufeinander los. Den ersten Ausfall machte Skunk. Er stürzte sich plötzlich seitlich auf Wladimir und führte einen kurzen Stoß. Wladimir wich jedoch geschickt aus und versetzte ihm einen Stich in die Schulter, aber er verwundete ihn nicht, sondern schlitzte ihm nur den Ärmel auf. Und wieder standen sie sich unbeweglich gegenüber. Wladimir wußte, daß er schwächer war, er baute jedoch auf seine Wendigkeit. Wieder griff Skunk als erster an. Er machte eine täuschende Bewegung nach links, sprang dann nach rechts, und sein Messer glitt Wladimir an der Brust entlang Der Jäger fühlte einen scharfen Schmerz, aber mit einer kurzen, kräftigen Bewegung stieß er Skunk den Kopf unters Kinn. Dieser prallte zurück, und Wladimir führte einen Stoß mit dem Messer. Der Feind brüllte auf und warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf den jungen Mann. Wladimir fiel auf den Rücken; noch im Fallen brachte er Skunk eine weitere Wunde bei, verspürte aber auch selbst einen brennenden Schmerz am Schulterblatt.
Skunk fühlte, wie der Körper seines Gegners unter ihm erschlaffte. Er erhob sich und schwankte zu seinem Schlitten. In seinen Ohren dröhnte es, das Herz schlug wie rasend. Die Kräfte verließen ihn, und nach einigen Schritten blieb er stehen. Er hatte von oben her ein gleichmäßiges Brummen gehört. Ein furchtbarer Schatten huschte vorüber. Aufblickend erkannte Skunk zwischen sich und der tiefhängenden Sonne die schwarze Silhouette eines Hubschraubers. Hals über Kopf stürzte er davon. Aber ein plötzlicher Wirbelwind riß vor ihm eine unüberwindliche Schneemauer auf. Skunk stürzte. Langsam senkte sich der hellgelbe Rumpf der Maschine auf ihn herab… Die Luftschraube drehte sich noch ein paar Runden, als der Major und der Pilot Skunk unter dem Bauch des Flugzeugs hervorzogen. Gleich darauf eilten sie zu Wladimir, der sich stöhnend aufzurichten versuchte und hilflos zurückfiel. Die Wunde blutete stark, war aber nicht lebensgefährlich. „Wo sind die Zobel?“ fragte Wladimir, als der Pilot ihm einen Verband anlegte. Timofejew ging zum Schlitten. Er zog die Pelzdecke zurück, die die Käfige bedeckte, und sieben Paar dunkle, lebhafte, runde Augen blickten ihn an Die schwarzen Näschen schnupperten, und die runden Ohren lauschten unruhig „Alles in Ordnung“, sagte Timofejew zu Wladimir. Dann hob er ihn auf und trug ihn zum Hubschrauber. Die russischen Zobel „Genosse Sergeant, Sie übernehmen in fünfunddreißig Minuten die Wache. Nach unseren Informationen muß heute nacht im Quadrat 33-D ein Flugzeug auftauchen. Seien Sie wachsam!“
„Zu Befehl, Genosse Major!“ Und wieder saß Sergeant Walichmetow am Bildschirm des Radargeräts. Und wieder leuchteten wie in jener Nacht im Halbdunkel der Kabine die roten und grünen Signallämpchen der Apparate, der Umformer summte gleichmäßig, und der dünne helle Kontrollstrich lief über den Bildschirm. Der Sergeant hätte gern erfahren, was aus dem von ihm entdeckten Segelflugzeug geworden war. Aber er wußte: ein militärisches Geheimnis ist ein militärisches Geheimnis, und wenn man ihm nichts gesagt hatte, dann hatte das seinen Grund. Die Hauptsache war nicht, daß er ein Geheimnis kannte, sondern daß er zu seiner Enthüllung beigetragen hatte. Hinter ihm saßen Oberst Schipow und Major Timofejew in der Kabine. Sie warteten geduldig. Kein einziges Mal fragten sie Walichmetow, ob er nicht inmitten der Hunderte von hellflimmernden Funkstörungen den bewußten leuchtenden Punkt übersehen habe, obgleich sie sicherlich aufs höchste gespannt und aufgeregt waren. Plötzlich sah Walichmetow diesen Punkt. Langsam kroch er auf die Küstenlinie zu, ohne die geheime Parole zu senden. Die Finger des Peilfunkers bedienten hastig die Schaltknöpfe der Apparatur. „Genosse Oberst, das Ziel ist aufgetaucht! Gestatten Sie, der Peilstelle Meldung zu machen?“ „Melden Sie“, sagte Schipow und trat mit Timofejew zum Bildschirm. Walichmetow gab die Meldung durch und nahm dann wieder vor den Geräten Platz. Schipow und Timofejew blickten über die Schulter des Sergeanten auf den Bildschirm. Im gleichen Augenblick trat der leuchtende Punkt in das bewußte Quadrat ein.
„Wie weit ist das Flugzeug von der Küste entfernt?“ fragte Timofejew. „Etwa zwanzig Kilometer“, antwortete Walichmetow langsam. Der winzige Lichtfleck zog Kreise. Das fremde Flugzeug kurvte über dem Eis. Aber da tauchten auf dem Radarbildschirm drei weitere Punkte auf, neben ihnen – die geheime Parole. Die Maschinen flogen an der Grenze entlang, schwärmten auseinander und flogen ganz nah an der fremden vorbei. Das dauerte nur wenige Minuten. Dann entfernte sich der leuchtende Punkt – das fremde Flugzeug – langsam übers Meer zurück und verschwand vom Bildschirm. So endete die Operation „Zobel“. Einen Monat nach diesem Fall erhielt Timofejew ein großes Kuvert. Es enthielt eine dicke ausländische Zeitung mit einem Mann in Handschellen auf der Titelseite. Darüber stand in lateinischen Lettern: „Der Dieb der russischen Zobel hinter Gittern“, und etwas weiter unten wurde mitgeteilt, daß man auf Seite sechs mehr über den Urheber einer internationalen Affäre lesen könne. Rasch blätterte Timofejew um. „Ein Großgangster auf frischer Tat ertappt. Bill Gramphy organisierte den Raub kamtschatkischer Zobel. Sein Kumpan, von den Russen gefangengenommen, gibt ihn preis. Hohe Zuchthausstrafe für Bill Gramphy. Als Offizier der Besatzungstruppen in Japan war Bill in die Geheimarchive des kaiserlichen Spionagedienstes eingedrungen und hatte hier von der Existenz eines japanischen Agenten im sowjetischen Fernen Osten erfahren. Wie er vor Gericht erklärte, war ihm schon damals die Idee gekommen, Zobel zu rauben. Er wollte die wertvollen Tiere züchten, eine Farm im Nordwesten aufbauen und in fünf Jahren ein reicher Mann sein.
Zehn Jahre lang trug sich Bill Gramphy mit diesem Plan. Schließlich war es soweit: nachdem er sich mit dem ehemaligen Agenten des japanischen Spionagedienstes in Verbindung gesetzt hatte, bereitete er den Raub vor. Bisher konnte noch nicht ermittelt werden, von wem Bill Gramphy die dreißigtausend Dollar zur Organisierung dieses großen Abenteuers erhalten hat. Nachdem er Harry Mail, einen mehrmals bestraften Wilddieb, angeworben hatte, überredete er einen Segelsportler, gegen gute Bezahlung an dem Abenteuer teilzunehmen, und schloß mit einer bekannten Filmgesellschaft einen Kontrakt, wonach er eine Partie alter Filme von der Sankt-Georgsinsel zum Festland transportieren sollte. Unterwegs löste der Segelflieger, wie verabredet, sein Flugzeug von der Schleppmaschine und steuerte auf die Küste Kamtschatkas zu, wo der im Rumpf versteckte Harry Mail mit dem Fallschirm absprang Kurz darauf explodierte das Segelflugzeug Nach einigen Wochen fiel der Wilderer Harry Mail den sowjetischen Behörden in die Hände.“ Timofejew legte die Zeitung mit einem Ausdruck der Zufriedenheit auf den Tisch. Auch er hatte mit dazu beigetragen, diesen geheimnisvollen Vorfall zu enträtseln und zu einem Ende zu bringen.