BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga
OPERATION OMIKRON von Alfred Bekker Scobee 20 Jahre alt, 1,75 m groß, ihre Au...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga
OPERATION OMIKRON von Alfred Bekker Scobee 20 Jahre alt, 1,75 m groß, ihre Augen sind nicht nur nachtsichtig, sondern können auch die Farbe wechseln; Grundfarbe ist jadegrün. Weiblicher Klon und Vorlage (Matrix) für sämtliche nach ihrem Vorbild gezüchteten GenTecs (genetisch optimierte Menschen), von denen mehr als ein Dutzend bei der Reise zum Mars ums Leben kamen. Auf der Erde gibt es im Jahr 2041 noch zwei weitere genetische Ebenbilder: eines davon ging an Scobees Stelle in die Stase, wodurch es ihr selbst überhaupt erst möglich war, an der zweiten Marsmission teilzunehmen; das andere ist eine Telepathin, die akut an progressivem Zeltverfall erkrankte und bald darauf in Koma fiel. Scobee ist zusammen mit John Cloud und den beiden GenTecs Resnick und Jarvis in ungewisser Zukunft gestrandet. Reuben Cronenberg Ehemaliger Leiter des NCIA (Nachfolgeorganisation der CIA);Allerweltsgesicht, wirkt wie ein biederer Familienvater, hat aber Ambitionen auf die Weltherrschaft; war während der Vorbereitungsphase der zweiten Marsexpedition mit Scobee liiert und kennt sie wahrscheinlich besser als jeder andere — was umgekehrt ebenfalls zutrifft. Professor Dr. Xander Hays Initiator und Leiter des GenTec-/Telepathenprogramms. Unterstützte Cronenbergs Ambitionen nach Kräften. Sid Palmer Ehemals persönlicher Berater der US-Präsidentin Sarah 'Cuthbert und ihr engster Vertrauter; wie sich zeigte jedoch nichtgerade loyal. Paktierte in Wirklichkeit mit Cronenberg und entmachtete Cuthbert schließlich vollends in der geheimen Militärbasis nahe Nevada. John Cloud 28 Jahre alt, 1,84 m groß, blauäugig, Sohn von Nathan Cloud, der die erste Marsmission führte — später dann selbst Kommandant von Mission Il, die den Roten Planeten im Jahr 2041 erreichte. Hat sich mit den »Gespenstern« in seinem Hirn arrangiert die Wissensimplantate, aus verstorbenen Menschen gewonnen, sind nach wie vor in ihm vorhanden, plagen ihn aber seit Verlassen des Aqua-Kubus nicht mehr mit Visionen Außerdem kreisen in Clouds Körper immer noch Reste von Protomaterie, die sich bislang zwar noch nicht nachteilig bemerkbar gemacht haben - aber er traut dem Frieden nicht. Durch die Manipulation des Außerirdischen Darnok in eine düstere Zukunft verschlagen, in der die Menschen »Erinjij« genannt werden. Erinjij Sinngemäß: »Geißel der Galaxis« - Name, den die Milchstraßenvölker den rücksichtslos expandierenden Menschen gegeben haben. Die galaktische Position der Erde ist den Außerirdischen dabei unbekannt - mit einer Ausnahme: Der Keelon Darnok kennt die Koordinaten und ermöglichte Cloud und Scobee so erst die Heimkehr ins Sonnensystem. Die Erinjij beherrschen als einzige bekannte Spezis die so genannte »Wurmlochtechnik« - über das künstlich erschaffene Jupiter-Tor gelangen sie zu ebenfalls in der Nähe von Wurmlöchern gelegenen Basen, von wo aus sie ihre Aggressiven Vorstöße koordinieren. Bislang ist unklar, warum die Menschen eine solche Expansionspolitik betreiben, ob die Erde inzwischen aus allen Nähten platzt ... oder ob völlig andere Motive dahinter stehen. Sarah Cuthbert Das erste weibliche Staatsoberhaupt der USA - und zugleich die letzte Präsidentin vor der Invasion durch die Äskulap-Schiffe. 33 Jahre alt, brünett, 174 cm.
Das Mädchen Aylea Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsenes 10-jähriges Mädchen - das unversehens die Schattenseite der terrestrischen Gesellschaft kennen lernt und ins so genannte »Getto« abgeschoben wird, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Jelto, der Florenhüter Ein Klon mit »Kirlianhaut«,genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze - ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten - mentale Verbindung aufnehmen zu können. Jelto ist eine Art lebendiger »grüner Daumen«; er besitzt eine nicht mehr zu übertreffenden Affinität zum Pflanzen und vermag sich optimal um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Jelto hütet eine gewaltige Parzelle Wald, der das Getto umgibt und - wie sich herausstellt - offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch daraus zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vegetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt... Die Master Residieren in gewaltigen, 500 Meter hoch aufragenden Bauwerken, die sich aus den 2041 gelandeten Äskulap-Schiffen entwickelt haben und in sämtlichen Metropolen der Welt und anderen primär wichtigen Umgebungen stehen. Sie sind die Führer der neuen Menschheit.
Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in eine düstere Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden. Im sagenumwobenen Aqua-Kubus finden sie ein Artefakt, das auf die ominösen Sieben Hirten zurückgeht: ein gewaltiges, rochenförmiges Raumschiff. Ihnen gelingt die Inbesitznahme, sie taufen es RUBIKON II. Mit diesem Schiff gelingt ihnen die Flucht aus dem Herrschaftsgebiet der Vaaren, und sie erreichen das heimatliche Sonnensystem, wo sie die Künstliche Intelligenz der RUBIKON überraschend des Schiffes verweist. Mittels einer Transportkapsel, wie sie schon den GenTecs Resnick und Jarvis zum Verhängnis wurde, gelangen sie zur Erde, in eine Tiefseestation der Hirten. Dort werden sie von einem amorphen Kunstwesen attackiert, das sich später als Retter in der Not erweist. Durch ein unterirdisches Gangsystem gelangen sie ins so genannte Getto - ein bizarres Konstrukt, das einmal die Millionenstadt Peking gewesen war. Nun ist sie ein Schmelztiegel der Outsider, der Entrechteten. Und während sich Cloud mit dem Nachfahren von Kaiser Sadako auseinander setzt und dabei endlich mehr über die Verhältnisse auf der Erde der Zukunft erfährt, trifft Scobee einen folgenschweren Entschluss...
Mein freier Wille war eine Illusion!, durchzuckte es Scobee, während sie dem ehemaligen NCIAChef Reuben Cronenberg durch die enge Gasse folgte. Hays und Palmer flankierten die junge Frau. Ich bin weniger als eine Sklavin. Während des Flugs der RUBIKON hatte sie John Cloud immer davon zu überzeugen versucht, dass seine Vorbehalte die GenTecs betreffend ungerechtfertigt waren. Jetzt musste sie ihm beinahe Recht geben... Wut beherrschte Scobee, gepaart mit Hass. Aber diese Emotionen waren in ihr eingeschlossen wie ein Insekt in einer Bernsteinträne. Das genetische Programm in ihr zwang die Klon-Matrix dazu, Reuben Cronenberg zu gehorchen — ganz gleich, was er befahl. Ihr Bewusstsein mochte noch so sehr dagegen rebellieren. Sie hatte nicht den Hauch einer Chance, sich gegen Cronenbergs Herrschaft zu wehren. Das Übel liegt in jedem einzelnen Zellkern meines Körpers!, erkannte sie. Einst hatte sie geglaubt, Cronenberg zu lieben. Aber das war in einem anderen Jahrhundert gewesen. Die Frage ist, ob Liebe je das richtige Wort für das war, was an Emotionen zwischen uns stand, überlegte die junge Frau. In Anbetracht eines derart rigiden Autoritätsverhältnisses war das mehr
als fraglich. Setzt Liebe nicht zumindest so etwas wie eine freie Wahl voraus? Die Entscheidung für einen ganz bestimmten Menschen? Aber welche Entscheidungsfreiheit hatte ich? Keine! Cronenbergs bloße Anwesenheit reichte aus, um sie zum Gehorsam zu zwingen. Mit Schaudern erinnerte sie sich an den Moment, in dem sie Cronenberg in einem der Stasetanks im Hauptquartier der Getto-Rebellen bemerkt hatte. Bis dahin hatte sie geglaubt, Cronenberg wäre längst tot - so wie alle anderen Menschen des Jahres 2041. Wer hätte schon ahnen können, dass der ehemalige Geheimdienstchef zusammen mit ein paar anderen Personen den Abgrund der Jahrhunderte im Tiefschlaf überlebt hatte? Scobee konnte es sich nicht verzeihen, dass sie es gewesen war, die diesem Gespenst aus der Vergangenheit zu neuem Leben verholfen hatte. Sie hatte die Aufwach-Funktion seines Stase-tanks aktiviert und war anschließend zusammen mit ihm und zwei seiner ebenfalls aus dem Staseschlaf geweckten Getreuen in den Stadtdschungel des Gettos geflohen. John wird mich für eine Verräterin halten, war ihr klar. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Er wird glauben, dass ich es von Anfang an nur darauf abgesehen hatte, sein Vertrauen zu gewinnen, in Wahrheit aber immer nur Cronenbergs geheimen Plänen gefolgt bin. Die von Shen Sadako, einem Nachfahren des letzten chinesischen Kaisers, geführten Rebellen würden sie erbarmungslos jagen. Scobee machte sich darüber keine Illusionen. Und auch für die Angehörigen von Sadakos Organisation war sie jetzt eine Verräterin. Sie konnte nicht damit rechnen, dass man besonders rücksichtsvoll mit ihr verfuhr, wenn die Rebellen sie in die Hände bekamen. Scobee dachte einen Moment lang an John Cloud. Das Schlimmste ist, dass sie auch ihn für einen Verräter halten werden, nachdem er behutsam versucht hat, eine Vertrauensbasis zu schaffen!, durchzuckte es sie. Das habe ich niemals gewollt... Aber ihr Wille zählte in diesem Spiel nicht. Für Cronenberg war sie nichts weiter als ein willfähriges Werkzeug. Eine Waffe in Menschengestalt, die in dieser strahlenverseuchten Umgebung wirksamer sein konnte, als der Strahler, den Cronenberg einem der von Scobee überwältigten Rebellen abgenommen hatte. Scobee ließ ihren Blick umherschweifen. Ciudad Latina glich einem Ameisenhaufen. Zahllose Menschen drängten sich in den engen Gassen. Kaum eine dieser Straßen war tatsächlich irgendwann einmal geplant worden. Die meisten Straßen stellten einfach Lücken zwischen den Gebäuden dar, die die Gettobewohner hier errichtet hatten. Eine wild wuchernde Siedlung, die Scobee in vieler Hinsicht an die ausufernden Slums der irdischen Metropolen des Jahres 2041 erinnerte. In der geordneten und renaturierten Welt des Jahres 2252 n. Chr. oder 211 nach der Ankunft waren derartige Erscheinungen normalerweise nicht mehr zu finden. Zumindest wenn man nach dem ging, was Scobee bislang über die Verhältnisse auf der Erde bekannt war. Eine Menschheit mit stark reduzierter Bevölkerungszahl lebte in hoch technisierten Metrops, während der Rest des Planeten eine Art gewaltige Forstlandschaft darstellte. Nur die Gettozone stellte eine Ausnahme dar. In die strahlenverseuchte Zone rund um das ehemalige Peking wurden die Abtrünnigen und Außenseiter gebracht, die sich außerhalb der geltenden Ordnung stellten. Ein Grüngürtel aus äußerst aggressiven Pflanzen außerirdischer Herkunft umgab diese Zone der Ausgestoßenen. Es gab kein Entkommen. Im Laufe der Zeit hatten sich verschiedene Viertel gebildet, die zumeist nach ethnischer Herkunft geordnet waren. Ein Chinesenviertel existierte ebenso wie das so genannte Ameritown, Little Africa oder Dar-al-Arabya. In Ciudad Latina lebten vor allem Menschen aus Lateinamerika und der iberischen Halbinsel. Auf Grund der Strahlenverseuchung funktionierten High-Tech-Geräte nur sehr eingeschränkt oder überhaupt nicht. So konnte man in den Straßen ein groteskes Nebeneinander unterschiedlichster Transportmittel bewundern. Vom Handwagen bis zum mühevoll restaurierten Hovercar. Besonders
empfindlich waren elektronische Bauteile. Je einfacher die Technik, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass das entsprechende Teil auch tatsächlich funktionierte. Die Gettobewohner lebten daher auf einem technischen Niveau, das weit unter dem anzusiedeln war, was ansonsten inzwischen auf der Erde der Erinjij üblich war. Zudem war die Strahlungsintensität in der verseuchten Zone ganz offensichtlich nicht immer gleichmäßig. Es gab Gebiete mit höherer und solche mit niedrigerem Verstrahlungsniveau. Cronenberg und sein Gefolge erreichten einen Platz, der wie ein primitiver Markt wirkte. Händler boten lauthals Waren feil. Meistens handelte es sich um Ersatzteile und technische Geräte, die angeblich an jedem Punkt der Zone funktionierten. Nahrungsmittel und primitive Hieb- und Stichwaffen waren auch darunter. Hin und wieder auch einfache Strahler oder Nadelpistolen, die auf Luftdruckbasis arbeiteten. Scobee spürte immer wieder die Blicke der Gettobewohner. Offenbar entspricht unser Verhalten hier nicht der Norm, ging es ihr durch den Kopf. Aber alles andere wäre auch äußerst verwunderlich. »Wie mächtig ist diese Rebellenorganisation eigentlich?«, fragte Cronenberg an die GenTec-Matrix gewandt. Sie zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht.« Cronenberg grinste. »Bei jedem anderen an deiner Stelle würde ich jetzt annehmen, dass du nur meiner Frage auszuweichen versuchst.« »Aber bei mir nicht...« »So ist es.« Er lachte heiser. »Bei dir weiß ich, dass du ehrlich bist, Scobee.« »Weil ich keine andere Wahl habe.« »Warum auch immer...« Cronenberg kicherte. Der Strahler, den er einem der von Scobee niedergeschlagenen Rebellen abgenommen hatte, verbarg er unter der Kleidung. Hays und Palmer - die beiden anderen wiedererweckten Schläfer waren unbewaffnet. In der Eile der überstürzten Flucht hatten sie nicht daran gedacht, den bewusstlosen Rebellen die Strahler abzunehmen. Cronenberg wiederum war es ganz recht, in der Vierergruppe der einzige Bewaffnete zu sein. Er traute letztlich keinem von ihnen. Weder Dr. Xander Hays, dem ehemaligen Leiter des USTelepathenprojekts noch Sid Palmer, dem ehemaligen persönlichen Berater von US-Präsidentin Sarah Cuthbert. »Mir knurrt der Magen«, stellte Hays angesichts der Gerüche fest, die vom Markt herüberwehten. »Und wir haben keinerlei Möglichkeit, hier auf dem Markt etwas zu kaufen«, ergänzte Palmer. »Du könntest den Strahler gegen etwas anderes eintauschen«, schlug Scobee an Cronenberg gewandt vor. Auf dessen Stirn erschien eine tiefe Furche. Dann grinste er breit und bleckte dabei auf eine Art und Weise die Zähne, die Scobee nicht gefiel. »Das hättest du wohl gerne!« »Du würdest dich mit diesem Strahler doch eher selbst verletzen, als einen Feind töten«, stellte Scobee fest. »Außerdem weißt du nie, ob du dich vielleicht gerade in einer Zone befindest, in der das Ding überhaupt nicht funktioniert.« »Ich wusste gar nicht, dass dein genetisches Programm auch die Sorge um mich beinhaltet!« Er lachte überheblich. »Eine besondere Form des Gehorsams, findest du nicht?« »Kann man so sehen, Scobee.« Er fasste nach dem Strahler, legte die Finger um den Griff. Scobee schluckte. Jeden anderen könnte ich jetzt mit einem gezielten Schlag ausschalten, durchfuhr es sie. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gegner schnell genug die Waffe herausreißen und abfeuern konnte, um ihrem Angriff zuvorzukommen, war mehr als gering. Zumindest wenn die Distanz nicht zu groß war.
Aber Cronenberg konnte sie nicht ausschalten. Sie würde es niemals können, fürchtete sie. Ein Gedanke beherrschte sie plötzlich. Stell dir vor, John Cloud hat Shen Sadako gegenüber plausibel machen können, dass er mit deiner Handlungsweise nichts zu tun hatte... Stell dir weiter vor, dass er dich zusammen mit den Rebellen jagt... Wenn John dir gegenüber stünde und Cronenberg gäbe den Befehl, ihn zu töten, dann würdest du es tun. Ohne zu zögern...
»Hey, die kleine Kampfmaschine hat Recht«, stellte Palmer an Cronenberg gewandt fest. »Diesen verdammten Strahler brauchen wir nicht. Scobee kann doch jeden k.o. schlagen, der uns in die Quere kommt.« »Ich werde die Waffe nicht als Tauschobjekt hergeben«, sagte Cronenberg mit Bestimmtheit. Für ihn war die Sache damit erledigt. Für Palmer aber keineswegs. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der ehemalige Präsidentenberater wirkte nervös und gehetzt. Auf diesem Marktplatz in Ciudad Latina schien er sich äußerst unwohl zu fühlen. »Mann, merken Sie gar nicht, dass wir beobachtet werden?« »Das bilden Sie sich ein, Palmer!«, war Cronenbergs kalte Erwiderung. »Wir sollten irgendwo eine Weile komplett abtauchen, bis wir etwas mehr über die Lage hier Bescheid wissen. Die Klon-Matrix in allen Ehren, aber sonderlich detailliert sind ihre Kenntnisse über diese Zeitepoche offensichtlich auch nicht!« »Halten Sie die Klappe, Sid!« »Sie wissen, dass ich Recht habe!« Cronenberg blieb stehen und musterte Palmer abschätzig. Der sechzigjährige Ex-Berater verfügte normalerweise über eine geradezu erstaunliche Auffassungsgabe und ein außerordentliches Talent zu strategischem Denken. Im Augenblick schien davon nicht viel übrig geblieben zu sein. »Ich hoffe, Sie behalten jetzt die Nerven.« »Da machen Sie sich mal keine Sorgen!« »Ich sage Ihnen eins: Ich werde meinen Weg gehen - mit Ihnen oder ohne Sie! Es liegt ganz bei Ihnen!« »Schön zu hören, woran ich bin«!« »Verdammt, wir sind aufeinander angewiesen, Sid! Als Berater waren Sie immer schön raus, brauchten nie wirklich die Verantwortung zu tragen. In der Schusslinie standen andere. So war es doch, oder?« »Was soll das jetzt?« »Die neue Lage, in der wir uns befinden, überfordert Sie vielleicht, Sid. Aber ich benötige Leute, auf die ich mich verlassen kann, wenn es hart auf hart geht. Keine Weicheier!« Palmers Gesicht wurde dunkelrot. »Biotechnisch gezüchtete Sklaven - so wie die da!« Er deutete auf Scobee. »Die sind Ihnen wohl am liebsten. Sorry, dass Sie es mit einem Menschen zu tun haben...« Sie gingen weiter. Drängten sich zwischen den Menschen auf dem Marktplatz entlang. Scobee hatte schon seit einer ganzen Weile bemerkt, dass ihre drei Begleiter sich gegenseitig nicht wirklich vertrauten. Natürlich setzte die ungewohnte und für die drei ehemaligen Schläfer vollkommen überraschende Situation sowohl Cronenberg als auch seine Begleiter unter extremen Stress. Aber das war es nicht allein. Die Differenzen schienen grundsätzlicherer Art zu sein und Jahrhunderte zurückzureichen. Ich frage mich, weshalb ausgerechnet diese Schläfergruppe in den Stase-tanks gelandet ist, ging es Scobee durch den Kopf. Außer Cronenberg, Hays und Palmer hatten sich auch noch die Körper von US-Präsidentin Sara Cuthbert und eines Klon-Zwillings von Scobee in weiteren Tanks befunden.
Eine Erweckung der zweiten Scobee war nicht mehr möglich. Von ihr war nur ein mumifizierter Leichnam geblieben. Die Versetzung in Staseschlaf mit der dazugehörigen Konservierung schien nicht gelungen zu sein - aus welchen Gründen auch immer. Und eine Erweckung von Präsidentin Cuthbert hat Cronenberg offenbar niemals in Betracht gezogen, wurde es Scobee klar. Dafür musste es Gründe geben. Eine ganz andere Frage war, wie es überhaupt zur Zusammenstellung der Schläfergruppe gekommen war. Sympathie schien nicht unbedingt ausschlaggebend gewesen zu sein. Schließlich sprühten zwischen Cronenberg und Palmer in schöner Regelmäßigkeit die Funken. Hays hielt sich dabei immer auffallend zurück. Aber das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zwischen ihm und Cronenberg ebenfalls Spannungen gab. Scobee ließ den Blick schweifen. Ihr fielen drei Männer mit langen dunklen Haaren auf, die zu Zöpfen zusammengefasst waren. Sie trugen Stirnbänder, auf denen ein Kreuz in einem Kreis zu sehen war. Unter den weiten bunten Hemden konnte man schwer erkennen, ob sie bewaffnet waren. Doch Scobee glaubte hin und wieder, erkennen zu können, wie sich Umrisse von Waffen abzeichneten. Einer der Kerle zog ein Messer aus einem Rückenfutteral und hantierte mit betonter Lässigkeit damit herum. Sein Blick war einige Augenblicke lang direkt auf Scobee gerichtet. Scobee schaltete ihre Augen auf Infrarotsicht um. Bei allen drei Männern entdeckte sie Wärmesignaturen unter der Kleidung, die sehr typisch waren... Sie wandte sich an Cronenberg. »Wir sollten hier schleunigst weg!«, forderte sie. Cronenberg runzelte die Stirn. »Was ist mit dir los? Hier ist ein öffentlicher Platz. In dem Trubel fallen wir unter Garantie kaum auf.« »Du irrst dich, Reuben. Wir werden schon seit geraumer Zeit beobachtet.« »Was?« Immerhin ist er klug genug, meine Feststellung nicht in Frage zu stellen, dachte Scobee. Sie trat näher an Cronenberg heran. Eine seltsame Mixtur von Gefühlen wurde dadurch ausgelöst. Sie erinnerte sich an die Anziehungskraft, die dieser Mann in früheren Zeiten auf sie ausgeübt hatte. Seine bloße Anwesenheit reichte, um diese Empfindung zu reaktivieren. Aber sie war gepaart mit tiefer Abneigung für einen Menschen, der sie nicht als gleichwertiges Wesen ansah. »Sieh nicht zu auffällig zu den Typen mit den Stirnbändern!«, sagte sie leise. »Was ist mit denen?« »Die Wärmesignaturen ihrer Kleidung ähneln sehr stark denen, die von deinem Strahler verursacht werden...« »Ich habe nie erwartet, der einzige Bewaffnete in dieser verfluchten Gettozone zu sein!«, erwiderte Cronenberg. »Siehst du das Symbol auf den Stirnbändern?« »Ja.« »Schon als wir den Hovercar zurückließen sind mir Typen mit diesem Zeichen aufgefallen«, erklärte Scobee. »Könnte eine Art Gang sein, die in diesem Viertel ihr Unwesen treibt. Zweifellos interessieren sie sich für uns!« »Was schlägst du vor?« »Folgt mir! Wir versuchen sie abzuhängen!« Scobee ging voran. Hays und Palmer maulten etwas herum. Aber schließlich zogen sie es vor, mit dem Tempo, das die GenTec vorlegte, Schritt zu halten. Sie bahnte sich einen Weg zwischen den Passanten hindurch. Reuben Cronenberg blieb ihr dicht auf den Fersen. Hays und Palmer folgten den beiden mit ein paar Metern Abstand. Scobee wandte zwischendurch den Blick und bemerkte, dass die Stirnbandträger ihnen folgten und aufholten. Auf dem Balkon eines Hauses bemerkte die GenTec-Matrix einen weiteren Stirnbandträger, der mit Hilfe eines primitiven Feldstechers die Menge beobachtete.
Bei einem Pavillon, in dem man Ersatzteile für Hovercars erwerben konnte, blieb Scobee stehen. Dort fand eine Art Versteigerung statt. Besonders rare Ersatzteile wurden an den Meistbietenden abgegeben. Darunter auch ein Gerät, das angeblich in der Lage war, High-Tech-Komponenten gegen die Auswirkungen der Strahlenverseuchung abzuschirmen. Scobee bemerkte zwei weitere Stirnbandträger in der Nähe der kleinen Bühne, die zu dem Pavillon gehörte. Die beiden ließen suchend den Blick schweifen. Einer von ihnen deutete in Scobees Richtung. Die Männer sprangen von der Bühne und drängelten sich rücksichtslos durch die Menge der Bietenden. Doch die meisten machten ihnen ohnehin Platz, so gut es ihnen möglich war. Scobee blieb stehen. »Wir werden eingekreist«, stellte sie an Cronenberg gerichtet fest. »Was schlägst du vor, Scobee? Ich hoffe doch, du kannst uns hier raus hauen.« Cronenbergs Blick bohrte sich einen Moment lang in Scobees Augen. Sie schluckte unwillkürlich. »Gib mir die Waffe«, forderte sie. Cronenberg lächelte dünn. »Was hast du vor, Scobee?« »Schnell, sonst ist es zu spät!« Cronenberg sah in Richtung der sich zu ihnen vorarbeitenden Stirnbandträger. Unruhe entstand in der Menge. Er schien mit sich zu ringen, ob er dem gentechnischen Programm in Scobees DNA trotz besseren Wissens misstrauen sollte. Aber die Lage war brenzlig, das begriff er. Er holte den Strahler hervor und reichte ihn Scobee. Damit er nicht so anfällig gegen die Wirkung der Strahlung war, hatten die Rebellen so gut wie sämtliche High-Tech-Komponenten entfernt. Es gab keine Zielerfassung und keine elektronische Regulierung der Strahlungsenergie. Man betätigte einfach den Auslöser und ein konzentrierter Laserstrahl zerschmolz alles, was ihm in den Weg kam. Scobee nahm die Waffe in beide Hände. Sie zielte auf das Dach des Pavillons und drückte ab. Der rot glühende Strahl blitzte grell auf. Das Dach bestand aus einem tuchartigen Material und fing auch sofort Feuer. Scobee schwenkte die Waffe. Wie ein Messer durchtrennte der Strahl eine metallene Stützstange, und ein Teil des Pavillons brach sofort zusammen. Panik entstand. Schrille Schreie gellten, Menschen stoben auseinander. Genau das hatte Scobee beabsichtigt. Zusammen mit Cronenberg folgte sie dem Strom der Flüchtenden. Palmer und Hays folgten, so gut sie konnten. Innerhalb von wenigen Augenblicken herrschte vollkommene Orientierungslosigkeit unter den Passanten. Mit äußerster Rücksichtslosigkeit kämpften sich die vier durch die in Panik geratene Menge. Für die Verfolger wurde die Lage jetzt vollkommen unübersichtlich. Menschen strömten ihnen entgegen und erschwerten ihnen das Fortkommen. Schließlich gelang es Scobee und Cronenberg, an den Rand des Marktplatzes zu gelangen. Ein Schrei ließ Scobee herumfahren. Hays winkte ihr zu. Palmer folgte ihm dicht auf. Dem ehemaligen Präsidentenberater stand der Schweiß auf der Stirn. »Warten Sie!«, rief Hays. »Da vorne ist eine Gasse!«, rief Scobee und streckte den Arm aus. »Sie führt nach Norden. Ich schätze, dass wir dort aus Ciudad Latina hinausgelangen. »Und wohin?«, frage Hays. Er schüttelte den Kopf und wandte sich an Cronenberg. »Hören Sie jetzt auf diese Klon-Marionette und lassen sich Befehle geben?«, ätzte er. Cronenberg streckte die Hand aus. »Gib mir den Strahler, Scobee!« Scobee zögerte nicht eine Sekunde und händigte ihrem Herrn und Meister die Waffe aus. Es geschah wie automatisch. Ihr Bewusstsein versuchte, sich dagegen zu sträuben, doch es war sinnlos. Ein zufriedenes Lächeln erschien auf Cronenbergs Gesicht.
Er richtete den Blick auf Hays. »Entweder Sie haben einen besseren Vorschlag oder Sie halten einfach den Mund!«
Sie hetzten die schmale Seitenstraße entlang. Zwei Männer mit einem voll beladenen Handwagen kamen ihnen entgegen. Der Wagen hatte Karosserieteile eines uralten Hovercars geladen. Wir müssen sehen, dass wir hier so schnell wie möglich fortkommen, ging es Scobee durch den Kopf. Für die Bewohner dieses Viertels wirkten sie offenbar wie Fremdkörper. Sie fielen auf. So war es nur eine Frage der Zeit, bis die Stirnbandträger sie aufstöbern würden. Vielleicht gehören die Männer mit dem Kreuz-im-Kreis-Symbol sogar zu den Rebellen, mutmaßte Scobee. Shen Sadakos Leute hatten auf Scobee einen straff organisierten Eindruck gemacht. Es war durchaus denkbar, dass die Rebellen zahlreiche Vertrauensleute in den einzelnen Vierteln hatten, die sie ständig auf dem Laufenden hielten. Sie bogen nach etwa hundert Metern in eine weitere Seitengasse ein. »Vielleicht sollten wir uns den nächsten Hovercar kapern, dem wir begegnen«, schlug Palmer vor. Cronenberg lachte heiser. »Sind wir nicht schon genug aufgefallen?«, versetzte er zynisch. »So wie ich das sehe, geht es im Moment erst einmal darum, dass wir von der Bildfläche verschwinden.« »Aber nicht so, Palmer!« »Ihre kurze Zeit als Chef einer Putschistenregierung scheint Ihnen ja ziemlich zu Kopf gestiegen zu sein, Cronenberg!«, knurrte Palmer schneidend. »Vielleicht darf ich Sie daran erinnern, dass wir in dieser Zeit nichts weiter sind als Zombies, die aus den Gräbern steigen und sich die Augen darüber reiben, wie sich die Welt verändert hat!« »Versuchen Sie nicht, philosophisch zu werden, Palmer. Das passt einfach nicht zu Ihnen«, war die eisige Erwiderung des ehemaligen NCIA-Chefs. Palmer lächelte verkrampft. »Sollte ich da etwa einen Nerv getroffen haben? Aber trösten Sie sich, Cronenberg. Sie sind hier ebenso ein Nichts wie die von Ihnen abgesetzte US-Präsidentin.« »Scheint Ihnen ja eine Genugtuung zu sein, Palmer. Sehnen Sie sich wirklich in die Zeit zurück, als Sie der Schoßhund von Sarah Cuthbert waren?« Die Gasse teilte sich. Cronenberg blieb stehen. »Wir gehen nach links«, entschied er. Hays meldete sich jetzt etwas genervt zu Wort. »Gibt es vielleicht irgendeinen nachvollziehbaren Grund dafür, nach links zu gehen?«, maulte er. Cronenberg grinste. »Eine Frage des Instinkts«, sagte er und wandte sich an Scobee. »Was denkst du dazu?« »Mein Instinkt weist in dieselbe Richtung«, sagte Scobee wahrheitsgemäß. Ihre Lippen bewegten sich wie automatisch. Sie hatte gar nicht die Möglichkeit, ihre wahre Meinung zurückzuhalten. »Deine Sprechpuppe bestätigt dir doch alles, was du von ihr verlangst«, meinte Hays verächtlich. Er machte eine wegwerfende Geste. Trotz ihrer offenkundigen Unzufriedenheit folgten Palmer und Hays dem ehemaligen NCIA-Chef weiterhin. Sie haben keine andere Wahl und wissen das genau, überlegte Scobee. Die beiden sind auf Gedeih und Verderb mit Cronenbergs Schicksal verbunden. Eine explosive Mischung... Ich kann nur hoffen, nicht in der Nähe zu sein, wenn es zur Explosion kommt.
Cronenberg und seine Begleiter gelangten in ein Gebiet, in dem der Groß= teil der Häuser unbewohnt war und offenbar verfiel. Die Bevölkerung bestand auch nicht überwiegend aus Latinos, sondern schien bunt gemischt zu sein. Vor allem Menschen arabischer Herkunft fielen im Straßenbild auf. Von Passanten erfuhren sie, dass sie sich in der Nähe des Araberviertel Dar-al-Arabya befanden. Je weiter sie vordrangen, desto spärlicher wurde die Besiedlung. Immer größere Gebäudekomplexe standen offenbar leer. Mehrstöckige Gebäude standen ohne Fensterscheiben da. Kletterpflanzen hatten es teilweise geschafft, die Wände emporzuwachsen. Manche fraßen sich regelrecht in die Gebäudesubstanz hinein. In ihrer Nähe hing ein beißender Chlorgeruch in der Luft. »Was ist das für Teufelszeug?«, fragte Cronenberg an Scobee gewandt. »Dieses Gestrüpp scheint Säure abzusondern...« »Ich nehme an, dass es sich um Ableger der aggressiven extraterrestrischen Flora handelt, die die Gettozone wie ein Stacheldrahtwall umgibt«, gab Scobee Auskunft. Auch Xander Hays war beeindruckt. »Sie werden die Häuser zerfressen«, stellte er fest. An manchen Stellen waren bereits ganze Mauerstücke zu feinem Staub zerbröselt, nachdem sie dem geheimnisvollen Stoffwechsel der Säureranken zum Opfer gefallen waren. Selbst Fertigteile aus Kunststoff waren vor dem Hunger der Ranken nicht sicher. »Der Wind wird die Samen dieses Mörderefeus auch in die Gettozone getragen haben«, vermutete Scobee. Cronenberg nickte leicht. »Vielleicht sind diese Gebäude deshalb nicht mehr bewohnt, weil die Bewohner dieser Pflanzenpest einfach nicht Herr werden konnten.« »Das würde bedeuten, dass das Getto langsam von ihnen aufgefressen wird«, meinte Palmer. »Ich vermute, dass die Bewohner zuerst diese Häuser verlassen haben und sich die Pflanzen deshalb überhaupt erst ausbreiten konnten«, widersprach Scobee. »Andernfalls hätten wir dieses Problem auch an anderen Stellen des Gettos bemerken müssen.« Cronenberg hob die Augenbrauen und musterte sie mit einem spöttischen Lächeln. »Sieh an, du kannst ja richtig logisch denken!« »Das ist dir früher nie aufgefallen?« »Ich gebe zu, dass ein paar andere Reize mich davon abgehalten haben.« Cronenberg deutete mit dem ausgestreckten Finger auf eines der Gebäude. »Suchen wir uns eine dieser Ruinen aus, um erst einmal einen Unterschlupf zu finden.«
Wenig später betraten sie ein quaderförmiges, vierstöckiges Gebäude. Fenster und Türen waren offenbar ausgebaut worden. Dafür sprachen die in den entsprechenden Öffnungen zurückgebliebenen Abdrücke und Löcher von den Verschraubungen und Halterungen. Die Räume waren kahl. Das Leben in der Gettozone war ohnehin recht einfach, verglichen mit dem gegenwärtigen technischen Standard auf der Erde. Bevor dieses Haus aufgegeben worden war, hatten die Bewohner buchstäblich alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest gewesen war. Zunächst sahen sich die vier im Haus um. Das Erdgeschoss war vollkommen unbewohnt. Die Kletterpflanzen bewuchsen nur die Südseite. Akute Einsturzgefahr schien nicht zu bestehen.
Hays und Palmer waren ziemlich müde. Sie setzten sich auf den Boden und maulten herum, weil keine Aussicht bestand, bald etwas zu essen oder trinken zu bekommen. Scobee wandte sich mit einem Vorschlag an Cronenberg. »Wir sollten uns die oberen Stockwerke kurz ansehen, damit wir nicht irgendeine unliebsame Überraschung erleben.« Sie zuckte die Achseln. »Es könnten sich zum Beispiel auch Tiere eingenistet haben.« Cronenberg musterte sie einen Augenblick. Er will mich nicht gehen lassen, ging es ihr durch den Kopf. Jedenfalls nicht allein. Der Grund lag auf der Hand. Cronenberg fürchtete, dass ihr Gehorsam nachließ, sobald die räumliche Distanz größer wurde. Scobee nahm an, dass diese Furcht vollkommen unbegründet war. Schließlich hatte selbst der in Stasetiefschlaf versetzte Cronenberg ausgereicht, dass Scobee den Kommandoraum der Rebellenorganisation unter einem Vorwand verließ, um den Ex-NCIA-Chef aus dem Tank zu befreien. »Wir gehen zusammen«, entschied er. »Okay.« Dass ich mich nicht auch noch vor ihm verbeuge, nachdem er mir eine Anweisung gegeben hat, ist auch alles!, durchfuhr es sie bitter. Eine Treppe führte hinauf in den zweiten Stock. Die Räume waren ebenso kahl wie die im Erdgeschoss. Cronenberg hielt den Strahler in der Hand. Im dritten Stock entdeckten sie ein Fenster, von dem aus man einen ziemlich guten Überblick über die Umgebung hatte. Es gab kaum Gebäude, die höher waren. Scobee blickte misstrauisch die Straße entlang, die sie gekommen waren. Die Luft schien rein zu sein. Von der seltsamen Kreuz-im-Kreis-Gang war nichts zu sehen. Scobee wusste noch nicht einmal, ob sie das nun begrüßen sollte oder nicht. Ihre Situation war verfahren, wie man es drehte und wendete. Ihre Rolle als gehorsame Dienerin gefiel ihr nicht. Ganz gleich, wer die Zopfträger auch sein mochten - falls sie noch einmal auftauchten, konnte das vielleicht die Karten neu mischen... Zum Beispiel durch Cronenbergs Tod, dachte sie. Sie drehte sich zu Cronenberg herum, der sich in einer halbdunklen Schattenzone befand. Nur sein Umriss war erkennbar. Automatisch schaltete Scobee auf Infrarotsicht um. Jetzt sah sie ihn deutlich im Wärmeprofil. Auch seine Waffe. »Alles in Ordnung?«, fragte er. »Dort draußen schon.« »Und wo nicht?« Scobee trat auf ihn zu, deutete auf den Strahler. »Das Wärmebild des Strahlers hat sich verändert...« Cronenberg hob die Waffe an, starrte stirnrunzelnd darauf und begriff offensichtlich nicht, worauf Scobee hinauswollte. »Ich würde sagen, es ist kaum noch energetische Aktivität in dem Ding«, erläuterte sie schließlich. »Was?« »Vermutlich kannst du die Waffe wegwerfen.« Cronenberg richtete die Waffe auf eine der Wände und drückte ab. Ein schwacher roter Strahl zuckte aus der Mündung. Er traf auf das Mauerwerk, blieb aber vollkommen ohne Effekt und versiegte dann. »Das Ding ist doch kaum benutzt worden!«, stieß er hervor. »Ich habe auch keine Erklärung. Es sei denn...« »Was?« »Vielleicht befinden wir uns in einem Gebiet mit hoher Verseuchung«, sagte Scobee. »Das könnte auch erklären, warum hier niemand mehr wohnt. Das Leben kann verdammt unbequem sein, wenn nicht nur das eine oder andere High-Tech-Modul, sondern nahezu alles nicht mehr funktioniert.« »Na großartig!«, knurrte Cronenberg. »Vielleicht haben wir den idealen Unterschlupf gefunden.« »Wieso?«
»Wenn hier nicht einmal ein einfacher Strahler funktioniert, dann sicherlich auch nicht irgendwelche Ortungstechnik, über die die Rebellen vielleicht noch verfügen.« Cronenberg nickte düster. Er machte schließlich eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf. »Gehen wir wieder zu den anderen...« Er drehte sich halb herum und wandte sich zum Gehen. »Reuben...« Cronenberg blieb stehen. »Ja?« »Hays, Palmer, Cuthbert und die zweite Scobee - wie kam es dazu, dass ausgerechnet diese Gruppe in die Stasetanks gelegt wurde, um im Tiefschlaf zu überleben?« »Du hast mich das schon einmal gefragt...« »...und hast mir keine Antwort gegeben. Aber wenn ich Palmer, Hays und dich so beobachte, scheint gegenseitige Sympathie nicht das ausschlaggebende Moment gewesen zu sein, das euch zu den auserwählten Schläfern machte!« Cronenberg lachte und blickte ihr anschließend fest in die Augen. Das überhebliche Lächeln um seine Mundwinkel gefiel ihr nicht. »Okay, du sollst deine Antwort bekommen!«, kündigte Cronenberg schließlich an.
Zwei Wächter brachten John Cloud in einen fensterlosen Raum mitten im Hauptquartier der Rebellen. Einige Männer und Frauen gruppierten sich mit angespannten Gesichtern um ein pyramidenförmiges Gerät. Ein drahtiger Mann mit schütterem blauschwarzem Haar, asiatischen Gesichtszügen und einem dünnen Oberlippenbart saß auf einem Stuhl davor, beugte sich vor und drückte die Stirn gegen eine sechseckige, schwach leuchtende Fläche. »Ich dachte, Sie wollten mich einer Einsatzgruppe zuteilen, damit ich mich an der Jagd auf Scobee beteiligen kann«, wandte sich Cloud an Shen Sadako, den Nachfahren des letzten Kaisers, der das neochinesische Reich bis zur Invasion der Äskulap-Raumer im Jahr 2041 regiert hatte. »Warum werde ich jetzt hier her geführt?« Sadako ignorierte Clouds Frage. »Sie haben mit Aylea und dem Florenhüter Jelto gesprochen...?« »Ja.« Cloud nickte und unterdrückte seine Verärgerung so gut es ging. »Ich habe Ihnen zu erklären versucht, weshalb sie als Geiseln hier im Hauptquartier bleiben müssen.« »Gut. Was die Jagd auf Scobee angeht, so werden schon noch auf Ihre Kosten kommen, Cloud.« »Was soll das heißen?« »Ich verstehe, dass Sie darauf brennen, sich an Ihrer ehemaligen Begleiterin für den Verrat, den sie begangen hat, zu rächen. Aber es ist soeben eine Nachricht eingetroffen, die Ihren Einsatz kurzfristig verschieben wird...« »Ich verstehe nicht, wovon Sie sprechen!« Shen Sadako lächelte nachsichtig. »Wir haben eine heiße Spur der Flüchtlinge und brauchen wahrscheinlich nicht den ganzen Getto-Heuhaufen nach der berühmtberüchtigten Nadel zu durchforsten.« »Eine Spur?« Cloud war überrascht. Schließlich war das Getto ein mehr oder minder chaotisches Gebilde ohne die Fandungseinrichtungen einer effizienten Polizei. »Der Geheimbund OMIKRON besitzt ein ausgedehntes Netz von Spitzeln und Vertrauensleuten in der gesamten Gettozone...« »OMIKRON?«, echote Cloud. »So nennen wir uns«, erklärte der Rebellenführer. Warum benutzt eine ausschließlich aus Chinesen bestehende Untergrundorganisation ausgerechnet die Bezeichnung eines griechischen Buchstabens als Name?, ging es Cloud durch
den Kopf. Aber er stellte diese Frage nicht. Sie war im Moment nicht weiter von Bedeutung. »Einer dieser Vertrauensleute hat eine Gruppe von vier Personen beobachtet, die der Beschreibung der Flüchtigen entsprechen. Sie ließen zudem ein Hovercar zurück, das in dem stärker verstrahlten Gebiet nicht mehr funktionierte.« Shen Sadako lächelte überlegen. »Offenbar kannten sie die kleinen Tricks nicht, die man bei so einer Maschine in dieser Situation durchführen müsste. Auch das spricht dafür, dass es Cronenberg und seine Leute waren.« »Worauf warten wir dann noch?«, hakte John Cloud nach. Ein Zischen lenkte ihn ab. Es kam von dem pyramidenartigen Gerät. Der Mann mit dem Oberlippenbart lehnte sich zurück. Er stöhnte auf, hielt sich den Kopf. »Was ist los, Qong Wu?«, fragte Sadako. Qong Wu schloss die Augen, atmete tief durch. »Der Umgebungsscan nach relevanten Wärmemustern ist nicht so einfach durchzuführen...«, murmelte er. Einer der anderen Anwesenden mischte sich ein. Er war jünger und hatte eine für einen Asiaten überraschend markante Nase. »Vor allem ist dieses Gerät nicht für menschliche Hirne gemacht!«, meinte er. »Es geht schon, Zheng«, ächzte Qong Wu. Er atmete tief durch und öffnete wieder die Augen. Außerirdische Technologie!, durchfuhr es Cloud. Die Rebellen hatten sie offenbar bei irgendeiner Gelegenheit erbeutet. Erstaunlicherweise schien sie unter den High-Tech-feindlichen Bedingungen der verstrahlten Zone auch zu funktionieren. Ein mattes Lächeln glitt über Qong Wus Gesicht. »Ich kriege das schon hin.« John Cloud sah interessiert zu, wie der Chinese erneut die Stirn gegen die aufleuchtende Sechseckfläche drückte. Shen Sadako beobachtete den Commander. »Dieser Apparat ist nicht für uns konstruiert worden, wie Sie unschwer erraten haben«, erklärte er. »Er reagiert direkt auf Hirnwellen. Allerdings nicht auf die von jedem unter uns. Bei Qong Wu klappt es am besten. Deswegen bedient er den Apparat.« Qong Wu unternahm einen weiteren Anlauf, um den pyramidenförmigen Apparat in Betrieb zu nehmen. An der Spitze der Pyramide entstand eine dreidimensionale Projektion des gesamten Gettogebietes. Deutlich war der Kordon aus außerirdischer Vegetation zu erkennen, der die Gettobewohner von einer Flucht abhalten sollte. Ein pulsierender Lichtpunkt markierte eine bestimmte Stelle. »Dort haben vier Personen, auf die die Beschreibung passt, einen Hovercar verlassen«, erklärte Qong Wu. »Dessen aufgezeichnetes Wärmebild stimmt mit dem Fahrzeug überein, das uns gestohlen wurde.« Die Projektion veränderte sich. Sie wurde mit einem Muster aus unterschiedlich intensiven Rottönen überblendet. Sadako trat etwas näher heran. Er nickte leicht. »Wie ich es mir dachte. Der Hovercar ist in einer Zone mit erhöhter Verseuchung liegen geblieben. Wahrscheinlich hat schlicht und ergreifend die Technik versagt.« »Was ist mit der tiefroten Zone ganz in der Nähe?«, erkundigte sich John Cloud. »Das Gebiet zwischen Ciudad Latina und Dar-al-Arabya«, erklärte Sadako. »Dort lebt kaum jemand, weil die Verseuchung derart stark ist, dass selbst einfachste technische Geräte versagen.« Er verzog das Gesicht. »Ein bisschen Luxus für das tägliche Leben beanspruchen schließlich selbst Gettobewohner für sich.« Zheng meldete sich zu Wort. Der Mann mit der markanten Nase wandte sich direkt an Shen Sadako. »Wenn Sie mich fragen, dann wäre in dieser Zone ein ideales Versteck. Es gibt dort Dutzende von leer stehenden Gebäuden. Die einzige Gefahr sind ein paar außerirdische Pflanzen, deren Knospen Säure verspritzen und das Mauerwerk nach und nach zerfressen...« Shen Sadako hob die Augenbrauen. »Sie scheinen sich dort gut auszukennen, Zheng.«
Der Angesprochene zuckte die Achseln. »Als ich mich vor zwei Monaten mit unserem Vertrauensmann bei Los Tigres verabredete, trafen wir uns in einer dieser Ruinen.« »Was bedeutet >Los Tigres«, erkundigte sich John Cloud. Zheng wandte den Kopf in seine Richtung. Shen Sadako kam ihm jedoch zuvor und antwortete: »Los Tigres ist der Name einer Gang, die den Großteil von Ciudad Latina unter ihrer Kontrolle hat.« »Sie arbeiten mit denen zusammen?«, fragte Cloud. »Nicht offiziell. Wir geben uns nie zu erkennen. Für die Bewohner des Gettos ist der Geheimbund OMIKRON nichts weiter als eine Legende, an deren Wahrheitsgehalt niemand glaubt...« Die Projektion verblasste zusehends und löste sich im nächsten Augenblick vollkommen auf. Qong Wu stöhnte auf. Er lehnte sich in seinem Schalensitz zurück, schloss einen Moment klang die Augen. »Was ist passiert?«, fragte Shen Sadako. »Das System ist zusammengebrochen. Sie wissen doch - auf die Dauer führt die Benutzung durch einen Menschen zum Absturz.« »Versuchen Sie es noch einmal!« »Das geht nicht«, lehnte Qong Wu ab. »Wieso?« »Es war ein Totalkollaps. Danach ist ein Wechsel des Benutzers notwendig. Es akzeptiert jetzt mein Hirnstrommuster nicht mehr. Das System muss erst von einem anderen Benutzer hochgefahren und neu kalibriert werden.« Shen Sadako seufzte genervt. »Ich hoffe, das dauert nicht zu lange.« »Wir werden tun, was wir können«, versprach Qong Wu. »Aber ich gebe zu bedenken, dass die Gehirnmuster aller anderen Benutzer bislang weniger gut akzeptiert wurden als die meinen.« »Wir sollten dieses Gerät bei Gelegenheit so verändern, dass es für Menschen leichter zu benutzen ist. ..«, knurrte Shen Sadako. »In Anbetracht der Tatsache, dass wir in einem Gebiet leben, in dem jegliche Hochtechnologie nur eingeschränkt funktioniert, müssen wir froh sein, dass unsere Geräte überhaupt arbeiten«, warf Zheng ein. Qong Wu wandte sich dem Mann mit der markanten Nase zu. »Versuchen Sie es, Zheng. Ihre Ergebnisse waren eigentlich immer ganz gut.«
»Wir sind gezwungen, auch weiterhin im Geheimen zu operieren«, erklärte Shen Sadako an John Cloud gerichtet. Cloud warf ihm einen fragenden Blick zu. Worauf will er hinaus?, überlegte er. Shen Sadako ging unruhig auf und ab, während sich Zheng weiter an dem pyramidenförmigen Ortungsgerät zu schaffen machte. »Sie haben großes Glück, Cloud«, sagte der Rebellenführer nach einer ziemlich langen Gesprächspause. »Was meinen Sie damit?« »Die meisten Menschen, die von unserer Existenz erfahren haben, sind tot.« »Ich verstehe.« »Das hoffe ich. Wenn wir also in die Ciudad Latina gehen, um Cronenberg und seine Leute zu jagen, dann kommen Sie bitte nicht auf dumme Gedanken. Wir finden jeden.« »Sie haben Aylea und Jelto als Geiseln. Ist das nicht Sicherheit genug?« Shen Sadakos Lächeln wirkte dünn. »Sicher...« Inzwischen hatte es Zheng geschafft, das pyramidenförmige Ortungsgerät neu zu kalibrieren. Die 3-D-Projektion der Gettozone entstand wieder. Zheng zoomte auf jenes Gebiet zwischen der Ciudad Latina und Dar-al-Arabya, in dem es nur unbewohnte Ruinen gab. Vier pulsierende Punkte waren dort zu sehen.
Alle in demselben Gebäude. »Es handelt sich um die Infrarot-Bilder von vier Personen«, erklärte Zheng und zoomte sie näher heran. »Das kann unmöglich ein Zufall sein«, sagte Shen Sadako grimmig. »Scheint so, als wären sie wirklich dort untergetaucht.« »Worauf warten wir dann noch?«, fragte John Cloud.
»Du musst dir Folgendes vorstellen, Scobee«, begann Cronenberg. »Das Weiße Haus war in den Händen von irgendwelchen religiösen Fanatikern, die mit dem Auftauchen der Äskulap-Schiffe das Ende aller Tage gekommen glaubten. Die Regierung hatte sich in einen Geheimbunker, viele Meter tief unter der Wüste von Nevada zurückgezogen. Die Situation wurde von Tag zu Tag schlimmer. Überall auf der Welt herrschte nach der Invasion das völlige Chaos. Große Gebiete versanken in Anarchie und wir waren damit beschäftigt, wenigstens einige funktionsfähige Reste von Armee und Regierung zusammenzuhalten. Außerdem versuchten wir verzweifelt, unsere Kommunikationskanäle wenigstens notdürftig wieder aufzubauen. Schließlich gelang es uns sogar, Kontakt zu Kaiser Sadako in der Qomolangma-Festung aufzubauen.« »Um eine Art Bündnis gegen die Invasoren zu schmieden?«, fragte Scobee. Sie verschränkte die Arme unter der Brust. Cronenberg nickte. »Ja, das trifft es exakt.« »Offenbar war die Antwort positiv, sonst hätten wir die Stasetanks kaum im Hauptquartier einer Organisation gefunden, die von einem Nachfahren des letzten Kaisers geleitet wird«, meinte Scobee. Cronenberg lachte. Scobees Vermutung amüsierte ihn. Sie hingegen hatte auch jetzt das Gefühl, nur ein Spielball für ihn zu sein. »Ganz im Gegenteil, Scobee«, sagte er. »Die Chinesen lehnten unser Angebot ab. Sie glaubten wohl, nicht auf uns angewiesen zu sein...« »Du hast Sarah Cuthbert abgesetzt. Palmer erwähnte so etwas...« »Stimmt. Selbst Palmer, ihr engster Vertrauter, hat mich dabei unterstützt. Aber du wolltest wissen, wie es zur der Auswahl der Staseschläfer kam.« Er verzog das Gesicht. »Eigentlich war es keine Auswahl im eigentlichen Sinn.« »Sondern?«, drängte Scobee. »Wir sind übrig geblieben.« »Das verstehe ich nicht.« Es macht ihm Spaß mich zu verwirren, ging es ihr durch den Kopf. Nach einer kurzen Pause fuhr Cronenberg fort. »Die auf der Erde gelandeten Äskulap-Schiffe verwandelten sich in kathedralenartige Türme, von denen eine Art mentaler Lockruf ausging. Überall wurden die Menschen von diesen Türmen angezogen wie die Motten vom Licht. Es war gespenstisch. Nach und nach desertierten die ersten Soldaten unseres Geheimstützpunktes und machten sich Richtung Washington auf.« »Wieso Washington?« »Dort befand sich der nächstgelegene Turm. Dr. Hays hatte einen Medikamentenmix zusammengestellt, der gegen diesen Drang helfen sollte.« Cronenberg atmete tief durch. »Die Wirkung hätte durchschlagender sein können. Immerhin konnten so einige von uns dem MentalTerror der Invasoren widerstehen. Es war uns klar, dass wir verloren hatten. Die Chinesen haben es zwar irgendwie geschafft, eines der Äskulap-Schiffe in die Luft zu jagen. Aber unsere eigenen Bemühungen hatten keinerlei Erfolg.« »Ihr wolltet also in den Stasetanks auf bessere Zeiten warten«, stellte Scobee fest.
»Ja. Uns standen allerdings nur fünf Tanks in der Kürze der Zeit zur Verfügung. So ließen wir schließlich alle Stützpunktangehörigen zu den Türmen ziehen. Wir hätten es auf die Dauer ohnehin nicht verhindern können. Selbst mit Hilfe von Medikamenten oder drakonischen Strafmaßnahmen nicht. Außerdem hätten sie uns am Ende nur die Plätze in den Stasetanks streitig gemacht.« »Palmer und Hays sind überragende Fachleute, von denen du vermutlich geglaubt hast, dass du in ferner Zukunft auf ihre Fähigkeiten nicht verzichten kannst. Aber was ist mit Sarah Cuthbert? Wieso ist sie dabei gewesen? Ihr hattet sie abgesetzt und konntet nicht im Ernst erwarten, dass sie euch das verzeihen würde...« Cronenberg lächelte kühl. »Interessiert es dich nicht vielleicht viel mehr, weshalb ich die damals bereits im Koma liegende zweite Scobee mit auf die ungewisse Reise in die Zukunft nahm?« Die verschnörkelten Tattoos, die Scobee anstelle von Augenbrauen trug, hoben sich leicht. »Und?« »Keiner von uns hat damit gerechnet, erst zweihundert Jahre später zu erwachen. Wir dachten daran, dass der Widerstand auf der Erde sich in wenigen Jahrzehnten stabilisiert hätte und uns dann jemand wiedererwecken würde...« Er trat näher, strich Scobee gönnerhaft über das Haar. Diese besitz ergreifende Geste war ihr sehr unangenehm, aber sie hatte nicht die Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. »Was hat das mit meiner telepathisch begabten Klon-Kopie zu tun?«, fragte sie. »Ich erhoffte mir, dass in der Zukunft eine Heilung für sie möglich wäre und ich über sie erneut Kontakt zu ihrer im Schlund des Jupiter-Wurmlochs verschwundenen Scobee-Matrix aufnehmen könnte.« Er grinste. »Du siehst, ich habe immer an dich gedacht, Kleines...« Sie schluckte. Ihre Stimme klang tonlos. »Ja, das wird mir jetzt auch klar.« »Lass uns zurück zu den anderen gehen, Scobee.« »Gut.« Scobee riss sich zusammen. »Hays und Palmer muss man im Auge behalten.« »Du traust ihnen nicht.« »Würdest du ihnen vielleicht trauen?«, fragte Cronenberg ironisch. »Nein.« »Na, also...«
Scobee und Cronenberg gingen zurück ins Erdgeschoss. Bei Hays und Palmer war die Laune inzwischen noch schlechter geworden. »Wir brauchen dringend Nahrungsmittel, etwas zu trinken und so weiter«, maulte Hays. Er deutete auf Scobee. »Sie sollten die Kleine deswegen losschicken, Cronenberg. Sie ist am längsten von uns in dieser Zeitepoche und kennt sich immerhin ein wenig aus.« Ein Geräusch lenkte Scobee ab. Sie wirbelte herum, war von einer Sekunde zur anderen alarmiert. »Was hast du?«, fragte Cronenberg. Im nächsten Augenblick stürmte bereits ein Dutzend Männer in den kahlen Raum. Sie trugen die Stirnbänder mit dem Kreuz-im-Kreis-Symbol. Sie waren mit einem Arsenal von Hieb- und Stichwaffen ausgerüstet. Keulen, Wurfsterne und Springmesser waren darunter. Außerdem trugen einige von ihnen Pistolen, bei denen Scobee nicht sofort klar war, womit sie geladen waren und nach welchem technischen Prinzip sie arbeiteten. Einen Strahler trug keiner von ihnen. Hays machte eine ruckartige Bewegung. Sofort schoss einer der Eindringlinge eine klobig wirkende Pistole ab. Es machte klack, und drei daumendicke Bolzen trafen Hays am Oberkörper und am Kopf. Er ächzte und sackte zu Boden. Scobee begriff sofort, dass diese Waffen auf Luftdruckbasis funktionierten. »Keine Bewegung!«, rief jemand.
Die Eindringlinge bildeten einen Halbkreis um Cronenberg, Scobee und Palmer. Hays lag regungslos am Boden. Ein Mann mit dünnem Oberlippenbart und schulterlangem, schwarzem Haar trat vor. Er schien der Anführer der Gruppe zu sein. Scobee war kampfbereit. Mit leicht gespreizten Beinen stand sie da und verlagerte leicht den Körperschwerpunkt. Jeder Muskel und jede Sehne ihres Körpers waren jetzt gespannt. Sie war bereit, wie eine Raubkatze auf ihre Gegner zuzuspringen. Das Risiko für die eigene Person spielte dabei keine Rolle. Zumindest dann nicht, wenn Reuben den Befehl dazu gibt!, durchzuckte es die GenTec-Matrix. Aber dieser Gedanke geriet in den Hintergrund, war schließlich nur noch ein leises Echo in den hinteren Regionen ihres Bewusstseins. Der Anführer trat an den am Boden liegenden Hays heran, stieß ihn mit dem Fuß an und drehte ihn halb herum. »Die Gummigeschosse haben gesessen und den Kerl ausgeknockt!«, stellte er fest. Er wandte sich an Cronenberg. »Ihr könnt das auch haben, wenn ihr wollt. Ist ziemlich schmerzhaft und wenn die Dinger unglücklich auftreffen, können sie sogar töten...« »Was wollt ihr?«, fragte Cronenberg. »Das ist die falsche Frage!«, stellte der Bandenführer klar. Cronenberg hob die Augenbrauen. »So?« Er schielte zu Scobee hinüber, die ihr Gewicht leicht verlagerte. Sie hatte nur eine Chance. Der erste Schlag musste sitzen und sie durfte nicht durch die Distanzwaffen ihrer Gegner außer Gefecht gesetzt werden. Gelang es ihr, das zu vermeiden, hatte sie eine gute Chance. Der Bandenführer verschränkte die Arme vor der Brust. »Die Frage lautet: Was wollt ihr hier?« »Keine Ahnung, was Sie meinen«, knurrte Palmer. »Wir haben euch beobachtet. Ihr gehört nicht in die Ciudad Latina.« Cronenberg berührte Scobee leicht am Arm. Warte noch, hieß das. Warte noch, bevor du dich wie ein Kamikaze-Flieger auf deine Gegner stürzt. Scobee begriff das sofort. »Wir kommen aus einem anderen Teil des Gettos«, behauptete der ehemalige NCIA-Chef. Der Anführer lachte rau. »Und woher genau, wenn ich fragen darf?« »Aus Ameritown!«, erklärte Scobee anstelle von Cronenberg. »So? Ich glaube vielmehr, dass ihr lügt. Ihr kommt nicht einmal aus dem Getto, wenn ihr mich fragt.« »Machen wir kurzen Prozess mit ihnen!«, meinte einer der anderen Gangmitglieder. »Das sind sicher Spitzel!« »Ja, fragt sich nur für wen«, knurrte der Anführer düster. »Aus denen werden wir doch nur Lügen herausquetschen können, wenn sie konditioniert wurden«, meldete sich ein anderer zu Wort. »Wir sollten sie verkaufen, so lange wir einen guten Preis für sie bekommen, Paco!« Paco, der Anführer, grinste hässlich. »Klingt vernünftig«, fand er. »Die Einrichtung wird es sicherlich zu schätzen wissen, wenn wir sie ihnen überlassen...« Cronenberg und Palmer waren inzwischen weiter zurückgewichen. Hinter ihnen war nur noch die graue Betonwand. Scobee stand ein paar Meter weiter vorn. Die Männer kreisten sie weiter ein. Einer spielte mit seinem Wurfstern herum. Der Kerl mit der Luftdruckpistole lud seine Waffe nach. Keiner von ihnen trägt einen Strahler, ging es Scobee durch den Kopf. Sie wissen ganz genau, dass die hier nicht funktionieren... »Ergreift sie!«, rief der Anführer. »Und wenn sie Schwierigkeiten machen, dann legt sie um.« Zwei Männer näherten sich Scobee.
Sie wirbelte zur Seite, ließ den Fuß hochschnellen und schaltete den rechts von ihr stehenden Angreifer mit einem Tritt gegen den Kopf aus. Ohne innezuhalten drehte sie sich blitzartig weiter. Der Keulenschlag ihres nächsten Gegners ging ins Leere, und Scobee versetzte ihm einen Tritt vor den Solar Plexus. Japsend und nach Luft ringend taumelte der Angreifer zwei Schritte rückwärts. Sie warf sich zu Boden, während mehrere Hartgummigeschosse dicht über sie hinweg schossen. Sie prallten gegen die Wand. Scobee rollte sich ab. Ein weiterer Gummibolzen knallte dicht neben ihr auf den Boden und verfehlte ihren Kopf nur um Haaresbreite. »Macht sie fertig!«, rief der Anführer. Scobee war sofort wieder auf den Beinen, parierte ein Springmesser. Ein wuchtiger Handkantenschlag ließ den Angreifer regungslos zu Boden sinken. Bei einem zweiten hakte sie den Fuß, die die Kniekehle und brachte ihn so zu Fall. Sie kickte ihm die Luftdruckpistole aus der Hand, ehe ein weiterer Tritt ihn kampfunfähig machte. Zwei Wurfsterne sirrten durch die Luft. Scobee wich ihnen aus, bückte sich nach der Luftdruckpistole, die sie einem der Angreifer aus der Hand getreten hatte, hob sie auf und drückte ab. Ein Schrei war zu hören. Die kurz hintereinander aus der Mündung schießenden Gummibolzen trafen einen der Kerle mitten im Gesicht. Die Waffe selbst schleuderte Scobee mit schier übermenschlicher Kraft durch den Raum und traf zielsicher den Anführer. Dieser hob noch den Arm, um dieses Wurfgeschoss abzuwehren. Im nächsten Moment war Scobee bei ihm, rammte ihm das Knie in den Magen und die Faust ins Gesicht. In eigenartig verrenkter Haltung blieb er auf dem Boden liegen. Die Gangmitglieder, die noch auf den Beinen waren, wichen zurück. Ihnen dämmerte nun, dass sie es nicht mit einer gewöhnlichen Frau zu tun hatten, sondern mit einer wahren Kampfmaschine, die ohne Schwierigkeiten dazu in der Lage war, die Angreifer einen nach dem anderen außer Gefecht zu setzen. Erneut wurde ein Bolzengeschoss auf Scobee abgefeuert. Der Schütze hatte die Waffe bislang hinter einem seiner Kumpane versteckt gehalten. Die GenTec versuchte noch auszuweichen, doch das Geschoss erwischte sie an der Schulter. Sie wurde zurückgerissen, taumelte zu Boden. Ein höllischer Schmerz durchzuckte sie. Aber das dauerte nur Sekundenbruchteile. Ihre spezielle Konditionierung ermöglichte es ihr, derartig Empfindungen zu unterdrücken. Sie rollte sich auf dem Boden herum, griff nach einem Wurfstern, der auf dem Boden lag und schleuderte ihn einem der Männer entgegen. Sie traf ihn am Hals. Röchelnd sank er zu Boden. Die anderen hatten jetzt genug. Sie flüchteten. Scobee erhob sich wachsam. »Eine Meisterleistung, Schätzchen«, sagte Cronenberg auf die gönnerhafte Art und Weise, die Scobee innerlich zum Explodieren bringen konnte. Palmer meldete sich zu Wort. »Wir dürfen keinen von ihnen entkommen lassen! Sonst tauchen sie hier in Kürze in noch größerer Zahl auf!« »Palmer hat Recht«, stellte Cronenberg fest. »Setz sie außer Gefecht, Scobee!« Es war ein Befehl. Scobee nickte nur. Es war sinnlos, den Gehorsam verweigern zu wollen.
»Na los, tu was nötig ist, Scobee. Und dann komm hierher zurück!«, fügte der ehemalige NCIAChef noch hinzu. Scobee spurtete los. Ihre körperliche Konstitution war der fast aller normal geborenen Menschen haushoch überlegen. Sie war sich sicher, die Männer noch rechtzeitig einholen zu können.
Shen Sadako blieb im Rebellenquartier. Die Einsatzgruppe stand unter dem Kommando eines jungen Mannes namens Guonang. Qong Wu gehörte ebenfalls zu dem aus insgesamt zehn Rebellen bestehenden Trupp. Er trug ein Sichtgerät bei sich, das in der Lage war, auf Infrarot-Basis Wärmespuren zu erkennen. Cloud gegenüber erwähnte er, dass es außerirdischen Ursprungs war und daher die Hoffnung bestand, dass es im extrem anomalieverseuchten Zielgebiet zumindest teilweise einsatzfähig blieb. Die Bewaffnung der Rebellen war gemischt. Einige von ihnen trugen Strahler, andere Nadler und Gummibolzenpistolen, die auf Luftdruckbasis funktionierten. »Die funktionieren auch im Zielgebiet!«, versicherte Qong Wu Cloud gegenüber. Mit zwei altersschwachen Hovercars erreichten sie den äußeren Rand der Ciudad Latina. Die Hovercars stellten sie in einer Seitenstraße ab. Zwei der Rebellen blieben bei den Fahrzeugen. Der Rest setzte den Weg zu Fuß fort. Aus Sicherheitsgründen gab es keinerlei Funkverbindung zum Hauptquartier. Guonang führte einen etwa handgroßen Navigator mit sich, auf dessen Display die gegenwärtige Position und das Zielgebiet markiert waren. Cloud bemerkte, dass die Anzeige hin und wieder gestört wurde, bis sie schließlich völlig zusammenbrach. Guonang deaktivierte das Gerät und befestigte es mit einer Magnethalterung am Gürtel. »Man merkt, dass wir uns dem hochgradig anomalieverseuchten Zielgebiet nähern«, meinte er. Solange sich die Gruppe in den dicht bevölkerten Gassen der Ciudad Latina befand, mussten sie sich möglichst unauffällig verhalten. Zeitweilig teilten sie sich in kleinere Gruppen auf, die, scheinbar getrennt voneinander, auf das Zielgebiet zumarschierten. John Cloud fielen hier und da Männer mit Stirnbändern auf, die das Symbol von Los Tigres trugen. Ein Kreuz im Kreis. Diese Gang schien hier tatsächlich alles im Griff zu haben. Endlich erreichten sie das Zielgebiet. Der Anteil der unbewohnten Häuser wurde immer größer. Cloud fielen die Kletterpflanzen auf, die mancherorts das Mauerwerk regelrecht zerfraßen. Hier und da hing ein chlorartiger, beißender Geruch in der Luft. Ich bin der Einzige, der keine Waffe trägt, überlegte John Cloud, während sie den Weg durch das Ruinenviertel fortsetzten. Daran sieht man, wie wenig Vertrauen mir Shen Sadako entgegenbringt. Schließlich erreichte die Gruppe jenes Gebäude, in dem sich Cronenberg, Scobee, Hays und Palmer vermutlich aufhielten. Auf dem Vorplatz des vierstöckigen, quaderförmigen Baus lagen drei Männer in eigenartig verrenkter Haltung auf dem Boden. John Cloud kniete bei dem Ersten von ihnen nieder und untersuchte ihn. »Bewusstlos«, stellte er fest und erhob sich wieder. Guonang hatte sich einem der anderen am Boden liegenden Männer zugewandt. Er nahm ihm das Stirnband mit dem Kreuz-im-Kreis-Symbol ab und hielt es hoch. »Wenn sich Cronenberg und seine Leute in der Hand von Los Tigres befinden, werden wir schwer an sie herankommen. Unseren Informationen nach verkaufen sie Gefangene an die Einrichtung.« »Ich glaube nicht, dass sie in Gefangenschaft geraten sind«, erklärte Cloud. Guonang hob die Augenbrauen.
»Sie trauen Scobee offenbar viel zu, Cloud. Auch, dass sie mit einer Horde von Gangkriegern fertig wird, die im Straßenkampf erprobt sind.« »Schließlich konnte sie auch Ihre Männer ausschalten, als sie an die Stasetanks heran wollte«, gab Cloud zu bedenken. Qong Wu scannte inzwischen mit seinem Sichtgerät die Umgebung. »Es gibt Wärmeabdrücke«, erklärte er. »Sie sind unterschiedlich stark, woran sich eine zeitliche Abfolge erkennen lässt.« »Was ist passiert?«, fragte Guonang ungeduldig. »Etwa ein Dutzend Personen lief in das Gebäude da vorne. Nur diese drei kamen wieder heraus. Ihnen folgte noch jemand.« »Jemand, der jetzt nicht hier liegt«, stellte Guonang fest. »Scobee!«, stieß Cloud hervor. »Jedenfalls kehrte diese Person zurück ins Gebäude«, ergänzte Qong Wu. Er senkte das Sichtgerät und gab ihm einen Stoß mit dem Handballen. »Verdammtes Ding!« »Was ist los?«, fragte Cloud. »Funktioniert nicht mehr. Die Subroutinen müssen neu initialisiert werden.« »Ein Effekt der Verseuchung?« Qong Wu nickte. »Ja. Auch außerirdische Technologie ist keineswegs immun dagegen.«
Die Gruppe pirschte sich näher an das Zielgebäude heran. Die ersten Rebellen stürmten schließlich mit dem Nadler im Anschlag in das Gebäude hinein. Cloud folgte zusammen mit Guonang und Qong Wu etwas später. In einem der Räume des Erdgeschosses fanden sie dann den Rest der Gangmitglieder. Sie lagen regungslos auf dem Boden. Ein Stöhnen war zu hören. Einer der am Boden liegenden Körper bewegte sich leicht. »Das ist Xander Hays!«, stieß Guonang hervor. Zwei Rebellen kümmerten sich sofort um den ehemaligen Leiter des US-Telepathenprojekts. Hays versuchte zu sprechen, brachte aber zunächst nichts heraus. »Wo sind Cronenberg und die anderen?«, fragte Cloud. »Keine... Ahnung...«, murmelte der Wissenschaftler. Er rang nach Luft, betastete vorsichtig den Brustkorb und den Kopf - und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. »Diese Schweine haben mich einfach hier zurückgelassen!« »Sie müssen doch überlegt haben, wo die Reise hingehen soll!«, beharrte Cloud. Erneut eine Pause. Hays wirkte blass. »Wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen sagen!«, behauptete er. Er kniff die Augen zusammen und blinzelte. »Sie sind Cloud, nicht wahr?« Er lächelte matt. »Die zweite Marsexpedition war zwar geheim, wodurch Sie leider kein Medienstar werden konnten - aber ich habe Ihr Bild in einer Personaldatei gesehen...« »Er hat wahrscheinlich mehrere gebrochene Rippen«, stellte der Rebell fest, der den Verletzten oberflächlich untersucht hatte. Hays klagte außerdem über Schwindelgefühl und Sehstörungen. Qong Wu trat hinzu, hob eines der Gummigeschosse auf und sagte: »Wenn er so etwas aus nächster Nähe abgekriegt hat, ist das kein Wunder! Wenn wir Pech haben, hat er sogar innere Verletzungen.« »Wir müssen so schnell wie möglich hier weg«, forderte Guonang, »sonst bringen Los Tigres uns hiermit in Verbindung.« Er griff zu einem einfachen Funkgerät, das er für alle Fälle am Gürtel trug. Bis auf ein unangenehmes Rauschen wurde der Empfang durch die Anomalie-Verseuchung nicht gestört.
Zuerst beorderte Guonang die beiden Hovercars etwas näher an den Ort des Geschehens heran. Er wies die bei den Fahrzeugen zurückgebliebenen OMIKRON-Rebellen an, so nahe wie möglich an das Zielgebiet heranzufahren, ohne dass die Funktionsfähigkeit der Fahrzeuge auf Grund der starken Verseuchung zu sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. »Stellt euch darauf ein, dass wir einen Verletzten bei uns haben«, teilte der Kommandant der Einsatzgruppe ihnen mit. Als Treffpunkt wurde die so genannte Plaza Violetta ausgemacht. Dort ragte die Nase eines weniger stark verseuchten Gebietes in jene Zone hinein, in der so gut wie gar keine Technik mehr funktionierte. »Sie werden nicht so dumm sein, zurück in die Ciudad Latina zu marschieren«, wandte sich Guonang an Qong Wu. »Ich schlage vor, die Jagd in den angrenzenden Gebieten von Dar-alArabya fortzusetzen. Woanders können die drei doch gar nicht untergetaucht sein.« »Nein, kommt nicht in Frage!«, wehrte der Angesprochene ab. Cloud wunderte sich über die Heftigkeit des Einwands. »Aber sie können noch nicht weit sein«, versuchte Guonang den Älteren zu überreden. »Dar-al-Arabya ist zurzeit für uns tabu. Wir kehren mit Hays zum Hauptquartier zurück. Es ist zu riskant. Shen Sadako war diesbezüglich doch wohl unmissverständlich.« John Cloud fragte sich, was es in Dar-al-Arabya geben mochte, sodass der Geheimbund OMIKRON sich bedroht fühlte. Guonang ging Qong Wus Einwand sichtlich gegen den Strich. »In Ordnung«, knurrte er dennoch. »Wieso ist Dar-al-Arabya tabu für den Geheimbund OMIKRON?«, hakte John Cloud nach. »In Dar-al-Arabya hat es einen Machtwechsel gegeben«, erklärte Guonang an Cloud gewandt. »Eine Gang, deren Angehörige sich Fedayyin nennen, hat jetzt das Sagen. Die Fedayyin haben einige unserer Vertrauensleute getötet und waren nahe daran, OMIKRON zu enttarnen.« »Noch glauben sie allerdings, dass hinter unseren Aktivitäten irgendein Syndikat steckt, das den Handel mit Alien-Beutetechnik zu beherrschen versucht«, ergänzte Qong Wu. Dass bei Shen Sadako das Sicherheitsdenken sehr groß geschrieben wurde, hatte John Cloud inzwischen begriffen. Cloud hatte dafür in Anbetracht der Situation, in der sich die Omikronisten befanden, auch durchaus Verständnis. In diesem besonderen Fall verstand er die mehr als ängstliche Handlungsweise des Rebellenführers jedoch nicht. »Cronenberg, Palmer und Scobee werden uns durch die Lappen gehen«, war er überzeugt. Guonang zuckte die Achseln. Er teilte ganz offensichtlich Clouds Meinung, hatte aber keinen Handlungsspielraum. »Am besten, Sie fragen Shen Sadako selbst danach«, erwiderte er knapp.
Die Einsatzgruppe verließ das Gebäude. Zwei Rebellen stützten den verletzten Hays, der immer wieder vor Schmerzen aufstöhnte und beinahe getragen werden musste. Guonang trieb die Männer zu größerer Eile an. »Ich habe keine Lust zu warten, bis Los Tigres zu sich kommen oder es hier vor weiteren Gangmitgliedern wimmelt!«, stieß er hervor. Sie hetzten durch die leeren Gassen, an denen zu beiden Seiten vor langer Zeit verlassene Häuser standen. Einige waren schon über und über mit außerirdischer Vegetation überwuchert. Immer wieder musste die Gruppe wegen Hays anhalten. Er sackte mehrmals in sich zusammen und hing dann zeitweilig schlaff in den Armen der Rebellen.
Schließlich erreichten sie die Plaza Violetta, in deren Mitte ein bläulich schimmernder, quaderförmiger und mehrere Stockwerke hoher Bau zu finden war, der dem Platz offenbar seinen Namen gegeben hatte. Die Plaza Violetta war ein Schnittpunkt zwischen verschiedenen Vierteln, insbesondere der Ciudad Latina und Dar-al-Arabya. Aber unter den Passanten war auch ein erheblicher Anteil dunkelhäutiger Bewohner aus Little Africa. Zwei Hovercars fuhren auf Guonangs Einsatzgruppe zu und stoppten ziemlich abrupt. Hays wurde in das hintere der beiden Fahrzeuge gehievt. Cloud saß neben ihm. Er ließ den Blick schweifen und bemerkte, dass eine Reihe von Passanten stehen blieb und sie interessiert beobachtete. »Keine Sorge, hier an der Plaza Violetta werden es Los Tigres auf keinem Fall wagen, gegen uns vorzugehen«, sagte Qong Wu. »Wieso nicht?«, fragte Cloud. »Weil dies ein neutraler Ort ist. Die Fedayyin aus Dar-al-Arabya und anderen Gruppen würden sofort gegen sie vorgehen.« Hays meldete sich mit heiserer Stimme zu Wort. »Wenn wir das gewusst hätten, wären wir dieser verdammten Gang nicht in die Arme gelaufen! Und ich hätte diese Gummigeschosse nicht abgekriegt!« Qong Wu lächelte dünn. »Vielleicht haben Sie im Vergleich zu Cronenberg und den anderen das bessere Los gezogen. Sie sind immerhin jetzt in Sicherheit!«
Die beiden Hovercars erreichten das Hauptquartier der OMIKRON-Rebellen ohne Zwischenfälle. Hays wurde zur ärztlichen Untersuchung in ein Behandlungszimmer gebracht. Cloud verlangte, Shen Sadako zu sprechen. Von Guonang und einem Wächter wurde er daraufhin in einen Trakt des Hauptquartiers geführt, den er bisher noch nicht betreten hatte. Schließlich gelangten sie in ein ziemlich weiträumiges Zimmer, dessen Einrichtung zwar schlicht, aber vergleichsweise persönlich war. An den Wänden hingen Wandteppiche. Außerdem ein Portrait, das Hu Sadako zeigte - den letzten Herrscher des neochinesischen Kaiserreichs. Der Geruch von grünem Tee hing in der Luft. Um einen runden Tisch herum gruppierten sich insgesamt vier Schalensessel. Außer Shen Sadako hatte dort noch eine zweite Person Platz genommen, die Cloud sofort erkannte. Es handelte sich um Sarah Cuthbert, die ehemalige Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika. Offenbar war auch sie inzwischen mit Erfolg aus dem Staseschlaf geweckt worden. »Wie ich hörte, war Ihre Jagd nur teilweise erfolgreich«, stellte Shen Sadako fest. Anstelle von Guonang antwortete Cloud. »Wir hätten Cronenberg und die anderen sicher noch gefangen, wenn die Aktion nicht abgebrochen worden wäre!« Shen Sadako lächelte nachsichtig. »Da sind Sie im Irrtum, Cloud.« Er erhob sich, und Sarah Cuthbert folgte dem Beispiel des Rebellenführers. »Ich werde zurzeit keinerlei Aktionen in Dar-alArabya durchführen. Die Fedayyin-Gang ist peinlich darauf bedacht, dass ihr niemand in die Quere kommt. Einige ihrer Leute waren schon sehr nahe daran, herauszufinden, wer wir wirklich sind.« »Dann wollen Sie tatenlos zusehen, wie Cronenberg, Scobee und Palmer in Dar-al-Arabya untertauchen und sich vielleicht neue Bundesgenossen suchen?« Shen Sadako schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Die drei werden unweigerlich den Fedayyin in die Hände fallen. Ich habe bereits über Mittelsmänner Kontakt zu ihnen aufgenommen. Sobald Cronenberg, Palmer und Scobee in Dar-al-Arabya gefasst sind, wird die Fedayyin-Gang sie an uns verkaufen.«
»Und wer sagt Ihnen, dass diese Leute sich an die Abmachung halten?«, fragte Cloud. »Ich dachte, die Fedayyin hätten erst vor kurzem die Kontrolle über das Araberviertel übernommen.« Der Rebellenführer nickte. »Das ist richtig.« »Dann kennen Sie diese Leute doch gar nicht gut genug, um ihnen Vertrauen zu können.« »Auch das ist richtig. Im Moment habe ich aber keine andere Wahl, Cloud. Ein Konflikt mit den Fedayyin könnte unsere gegenwärtigen Pläne kurz vor dem Ziel gefährden. Das darf nicht passieren. Unter keinen Umständen.« »Was für Pläne?«, hakte Cloud nach. Shen Sadako ging darauf zunächst nicht weiter ein. Er deutete auf Sarah Cuthbert. »Ihre Präsidentin werde ich Ihnen ja wohl nicht vorstellen brauchen, Cloud.« Sarah Cuthbert war biologisch gesehen Anfang dreißig, auch wenn sie über zwei Jahrhunderte in Stasetiefschlaf verbracht hatte. Das dunkle Haar trug sie zu einem Knoten zusammengefasst. »Auch wenn wir uns persönlich nie begegnet sind, Mr. Cloud - ich habe viel von Ihnen gehört.« »Es freut mich, Sie gesund und munter zu sehen, Präsidentin Cuthbert«, sagte Cloud. »Die Präsidentin gehört der Vergangenheit an.« »Ich habe gehört, dass Cronenberg Sie abgesetzt hat!« Ein harter Zug stahl sich jetzt in die ansonsten eher weichen Gesichtszüge der Ex-Präsidentin. »Sie haben Recht. Die größte Enttäuschung dabei war, dass einige meiner engsten politischen Weggefährten Teil der Verschwörung waren.« »Sie sprechen von Palmer?« »Unter anderem.« Sarah Cuthbert seufzte. »Aber daran sieht man, was eine politische Freundschaft wert ist, wenn es hart auf hart kommt - gar nichts.« »Um so mehr verwundert es mich, dass Cronenberg offenbar dafür gesorgt hat, dass ein Stase-Tank ausgerechnet für Sie reserviert wurde«, sagte Cloud. Ein Lächeln spielte um ihre vollen Lippen. »Cronenberg ist ein Mann, der stets auf äußerste Sicherheit bedacht war. Ich war wohl eine Art Rückversicherung für ihn. Schließlich hatte ja zumindest theoretisch die Möglichkeit bestanden, dass die außerirdische Invasion in der Zeit unseres Staseschlafs durch regierungstreue Amerikaner abgewehrt worden wäre.« »Ich verstehe.« »Mr. Cloud...« »Ja?« Cloud registrierte, dass ihr Tonfall sich verändert hatte. Sie wirkte angespannt. »Wie lautete die interne Geheimkennung des Rubikon-Projekts?« Eine Prüfung!, erkannte Cloud. Er fühlte Shen Sadakos Blick auf sich gerichtet. Das Ergebnis der genetischen Untersuchung scheint ihm nicht auszureichen. Die Mutationen im mythochondrischen Genmaterial funktionierten wie eine biologische Uhr, mit deren Hilfe man schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts Altersbestimmungen vorgenommen hatte. Shen Sadako weiß, dass ich vor etwas mehr als zwei Jahrhunderten gezeugt wurde, aber könnte eine fortgeschrittene außerirdische Medizin nicht vielleicht die genetischen Veränderungen simulieren? »Red 456578-B-43-CXX«, murmelte Cloud wie automatisch. Er wandte sich an den Rebellenführer. »Sind Sie nun bereit, mir zu glauben, dass ich weder ein Erinjij-Agent noch sonst jemand bin, der Ihre Pläne zu durchkreuzen versucht?«
»Sie haben mich gerade nach unseren Plänen gefragt«, sagte Shen Sadako nach einer kurzen Pause. »Zwei Jahrhunderte sind seit dem katastrophalen Fehlschlag vergangen, mit dem der letzte Angriff auf die Invasoren endete. Jetzt planen wir erneut einen Schlag gegen die Master. Aber diesmal soll er nicht im Desaster enden. Wir haben alles von sehr langer Hand vorbereitet und vielleicht verstehen Sie, dass ich den Erfolg dieser Aktion auf keinen Fall aufs Spiel setzen kann!«
»Ein Schlag gegen die Master?«, echote Cloud etwas verwundert. Rebellen, die noch nicht einmal innerhalb der Gettozone offen zu operieren wagten und sogar die Gegnerschaft einer militanten Gang als ernst zu nehmende Gefahr ansahen, gedachten gegen die nach wie vor unsichtbaren Besatzer der Erde anzutreten? Das klang in, John Clouds Ohren mehr als absurd. Shen Sadako machte eine Pause. Sein Blick wirkte nachdenklich. Er ließ ihn für einen Moment zu Sara Cuthbert schweifen. Was die Präsidentin angeht, so scheint er wesentlich rascher zu der Erkenntnis gekommen zu sein, in ihr einen Bundesgenossen zu haben als bei mir, überlegte Cloud. »Ich werde Sie jetzt vollkommen einweihen, Cloud«, sagte Shen Sadako. »Wir planen einen Schlag gegen den Turm der Metrop Washington.« »Ich dachte, das Getto wäre eine hermetisch abgeriegelte Zone, aus der es unter normalen Umständen kein Entkommen und keine Verbindung nach außerhalb gibt.« Shen Sadako lächelte nachsichtig. »Ich darf Sie an das unterirdische Tunnelsystem erinnern, Cloud...« »...mit dessen Hilfe man mitten in einen menschenfeindlichen Dschungel aus außerirdischer Flora gerät, die eigens dazu herangezüchtet wurde, um, jeden aufzuhalten, der die Gettozone verlässt.« Der Anführer des Geheimbundes OMIKRON schüttelte energisch den Kopf. »In diesem Punkt irren Sie, Cloud.« »So?« »Das Tunnelsystem wurde in vielen Jahrzehnten immer weiter ausgebaut und reicht inzwischen viel weiter, als nur bis in den Killerwald. Es besteht eine permanente Verbindung nach draußen.« Cloud brauchte einen Augenblick, um diese Aussage zu verdauen. »Das heißt, es gäbe für die Gettobewohner eine Fluchtmöglichkeit.« »Ja.« »Niemand außer den Angehörigen von OMIKRON weiß davon.« »Dann spielen Sie den Kerkermeister für die Master!«, stellte Cloud mit galligem Unterton fest. Der Rebellenführer hob die Augenbrauen. »Vielleicht halten Sie mich für einen Zyniker, Cloud. Aber unsere Organisation verfolgt höhere Interessen, hinter denen das Schicksal des Einzelnen zurückstehen muss. Wenn diese Fluchtmöglichkeit bekannt würde, wäre unsere Existenz gefährdet.« »Ich verstehe.« »Unsere Tarnung hier im Getto ist nur unter zwei Bedingungen von Bestand. Erstens darf niemand OMIKRON für mehr als eine Legende halten. Unsere Existenz muss unter allen Umständen geheim bleiben...« »Dafür lassen Sie notfalls Cronenberg entkommen.« »Wenn ich keine andere Alternative habe - ja. Die zweite Bedingung für unsere Sicherheit ist, dass niemand von der Fluchtmöglichkeit über das Tunnelsystem erfährt.« Cloud atmete tief durch. »Und sie glauben wirklich, dass Sie gegen die Invasoren eine Chance haben?« »Es geht zunächst einmal nur um den Schlag gegen einen Turm«, gab Shen Sadako zu bedenken. »Aber dieser erste Schlag wird entscheidend sein...« Ein Mann in blauschwarzer Kombination betrat den Raum. »Verzeihen Sie die Störung...« »Was gibt es, Xia?«, fragte Shen Sadako etwas ungehalten. »Es gibt ein Problem, das Ihre Anwesenheit erfordert!« Shen Sadako atmete tief durch. Er wandte sich kurz John Cloud und Sarah Cuthbert zu. »Sie entschuldigen mich. Wir werden sicher später Gelegenheit finden, uns weiter zu unterhalten.« »Eine Bitte hätte ich noch«, sagte Cloud. Shen Sadako hob die Augenbrauen. »Und die wäre?« »Ich möchte dabei sein, wenn Xander Hays befragt wird.« »Dagegen ist nichts einzuwenden.«
Das Gespräch mit Shen Sadako hinterließ bei John Cloud ein ungutes Gefühl in der Magengegend. »Der Geheimbund OMIKRON hat sehr ehrgeizige Ziele«, wandte sich Sarah Cuthbert an Cloud. »Sie bezweifeln, dass diese Ziele realistisch sind?«, folgerte Cloud aus ihrem Tonfall. Die ehemalige Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika zuckte die Schultern. »Schwer zu beurteilen, wenn man mehr als zwei Jahrhunderte verschlafen hat und sich gerade erst in dieser neuen Welt zurechtfinden muss.« Sie machte eine Pause. Ihr Gesicht wurde sehr ernst. »Die Invasoren waren der Menschheit damals weit überlegen. Wir hatten nicht den Hauch einer Chance. Wenn das alles der Wahrheit entspricht, was Shen Sadako mir berichtete, hat unsere Spezies jetzt eine Art Vasallenstatus auf ihrem eigenen Heimatplaneten.« »Vollkommen richtig«, bestätigte Cloud. »Die gegenwärtigen Herren der Erde scheinen die Zügel sehr fest in den Händen zu halten. Ich kann nur hoffen, dass Shen Sadako sich nicht in eine aussichtslose Idee verrannt hat...« Cloud ließ das Gespräch mit Sarah Cuthbert noch etwas dahinplätschern, dann fragte er unvermittelt: »Haben Sie eigentlich irgendeine Ahnung, was Cronenberg vorhat?« Die Ex-Präsidentin hob etwas erstaunt die Augenbrauen. »Ich bin leider keine Telepathin!« »Aber Sie kennen ihn besser als sonst jemand hier im OMIKRON-Hauptquartier.« »Tut mir Leid. Das Einzige, was sich vorhersagen lässt ist, dass er früher oder später versuchen wird, sich eine Machtbasis zu schaffen. Cronenberg ist ein Mann, der nach oben will. Um jeden Preis. Ich nehme an, zwei Jahrhunderte Tiefschlaf haben an seiner Skrupellosigkeit wenig geändert...«
Die Nacht hatte sich inzwischen über die Gettozone gelegt, deren bewohnte Gebiete jetzt einem wimmelnden Lichtermeer glichen. Unzählige Feuer und Fackeln waren ebenso darunter wie elektrisches Licht aus primitiven Generatoren. In den engen Gassen von Dar-al-Arabya herrschte auch jetzt noch geschäftiges Treiben. Ein exotischer Cocktail unterschiedlichster Gerüche hing in der Luft. In Dar-al-Arabya schien die Bevölkerungsdichte noch weitaus größer zu sein, als in der Ciudad Latina. Die verwinkelten Bauten bildeten ein einziges großes Labyrinth aus Tausenden von Innenhöfen, die durch winzige Gässchen miteinander verbunden waren. Es war so gut wie unmöglich, mit einem Fahrzeug - gleichgültig welcher Bauart - dieses Viertel zu durchqueren. Selbst mit einem Handwagen hatte man es schon nicht leicht, sich seinen Weg zu bahnen. Auf engstem Raum gab es in Dar-al-Arabya eine Unzahl von Werkstätten und kleinen Handwerksbetrieben. Der Einsatz von Hightech war dabei kaum zu beobachten. Hier und da sah man Lasermesser aufblitzen, aber ansonsten schien man sich eher auf traditionelle und technikunabhängige Fertigungsmethoden zu verlassen. Nach dem Kampf in der schwer verseuchten Ruinenzone hatten Scobee, Cronenberg und Palmer einen Teil der Waffen ihrer besiegten Gegner eingesammelt und mitgenommen. Darunter mehrere der Luftdruckpistolen, zwei Messer und einige Wurfsterne. Eine der Luftdruckpistolen hatten sie bei einem Händler gegen Nahrungsmittel eingetauscht. Der Händler hatte sich über das gute Geschäft gefreut, für Cronenberg und seine beiden Begleiter hatte die Waffe ohnehin keinen praktischen Nutzen. Es fehlten passende Gummibolzen, um die Waffe zu laden. In der Eile ihres Aufbruchs war keine Zeit gewesen, die verschossenen Projektile einzusammeln. »Wir werden uns jemanden suchen müssen, der uns hilft«, sagte Cronenberg. »Sonst fallen wir nur der nächsten Gang in die Hände.«
»Früher oder später wird es so kommen.« Scobee nickte. »Wahrscheinlich sind wir schon dadurch aufgefallen, dass wir viel zu viel für die Fladenbrote bezahlt haben.« »Woher willst du das wissen?« »Hast du nicht das Leuchten in den Augen des Händlers gesehen, Reuben? Das sprach doch Bände.« »Du hättest mich darauf hinweisen können.« »Damit wir stundenlang mit dem Kerl feilschen?« Cronenberg machte eine wegwerfende Geste. »Auch wieder wahr.« »Hauptsache, wir verlieren jetzt nicht völlig die Orientierung«, mischte sich Palmer in das Gespräch ein. »Am Ende laufen wir im Kreis und landen wieder dort, wo wir hergekommen sind...« Plötzlich drängte Scobee Cronenberg in eine Türnische. Palmer folgte ihnen. »Was ist los, Kleines?«, fragte der ehemalige NCIA-Chef. Scobee deutete auf die andere Seite des Innenhofes. Eine hoch gewachsene Gestalt stand dort. Der Kopf war mit einem schwarzen Tuch so umwickelt, dass nur die Augen frei blieben. Dem Körperbau nach handelte sich um einen Mann. An dem breiten Gürtel waren verschiedene Waffen befestigt. Ein Laserstrahler, wie ihn die Rebellen um Shen Sadako benutzten, war ebenso darunter wie ein machetenartiges Messer. »Siehst du den Maskierten da drüben?«, fragte Scobee. Cronenberg nickte. »Wahrscheinlich nicht ganz so gut wie du mit deinem Infrarotblick. Er sieht ziemlich martialisch aus.« »Es ist nicht erste Maskierte, der mir auffällt«, sagte Scobee. »Ich glaube, sie suchen jemanden.« »Wahrscheinlich ist es besser, wenn wir diesen Typen aus dem Weg gehen«, meinte Cronenberg. »Ich nehme an, dass es sich um Angehörige der hier herrschenden Gang handelt. Jedenfalls benehmen sie sich, als hätten sie Polizeigewalt!« Der Maskierte überprüfte die Ware eines fliegenden Händlers. Der Händler steckte ihm etwas zu, was von Scobees Standpunkt aus nicht zu sichtbar war. »Die Männer, von denen ihr sprecht, sind die Fedayyin!«, meldete sich eine Stimme zu Wort. Scobee, Cronenberg und Palmer wirbelten herum. Ein Mann trat aus dem Schatten der Türnische heraus. Er trug ein kuttenartiges Gewand, dessen Kapuze tief ins Gesicht gezogen war. Das wenige Licht konnte die Schatten unter der Kapuze nicht durchdringen. Reflexartig ging Scobee in Kampfstellung. Der Kapuzenträger hob die Hände. »Ich will euch nichts tun.« Scobee packte ihn an seiner Kutte, drückte ihn gegen die Wand, blickte in den vollkommen dunklen Eingang. »Da ist niemand mehr...« »Wie konnte dir dieser Lauscher nur entgehen«, tadelte Cronenberg. »Ich war auf den Maskierten konzentriert.« »Schon gut, Kleines...« Die Art, wie Cronenberg »Kleines« zu ihr sagte, gefiel ihr ganz und gar nicht. Aber sie konnte sich nicht dagegen wehren. Nicht einmal verbal. Eine bissige Bemerkung lag ihr auf der Zunge, aber es war ihr unmöglich, sie über die Lippen zu bringen. Sie versuchte es nur einmal... Das ist eine Art Test für den Grad meiner Autonomie, ging es ihr bitter durch den Kopf. Das Ergebnis war geradezu niederschmetternd. Sieh es ein, du wirst absolut nichts gegen ihn unternehmen können. Niemals und unter keinen Umständen. Sie drängte diesen Gedanken beiseite. Sie hielt den Kuttenträger wie in einem Schraubstock. Er rang nach Luft. »Lass ihn los!«, befahl Cronenberg. Scobee gehorchte. »Diese Frau hat einen Griff wie...« Der Mann sprach nicht weiter. Cronenberg trat auf ihn zu und riss ihm die Kapuze vom Kopf. Etwas Licht fiel in sein Gesicht. Er war um die fünfzig, hager und hatte dunkle Augen.
»Ein Signal von mir und meine Begleiterin tötet dich auf der Stelle!«, warnte ihn Cronenberg. Ein mattes Lächeln umspielte die Lippen des Kuttenträgers. »Ein Schrei von mir und ihr habt die Fedayyin auf dem Hals!«, konterte er. »Wer bist du?«, fragte Cronenberg. »Mein Name ist Jamal.« »Ich erkenne das Gesicht«, erklärte Scobee. »Er stand in der Nähe, als wir die Luftdruckpistole gegen etwas Brot eintauschten!« »Ihre Begleiterin hat gute Augen«, stellte Jamal fest. »Wenn du wüsstest, wie gut sie sind!«, erwiderte Cronenberg mit galligem Unterton. »Warum bist du uns gefolgt?« Jamal kicherte. »Ihr seid mir sofort aufgefallen. Und wahrscheinlich nicht nur mir. Lasst mich raten! Dass ihr nicht aus Dar-al-Arabya kommt ist offensichtlich. Aber ich nehme sogar an, dass ihr nicht einmal hier aus dem Getto stammt...« »Ach, ja?« »Schätze, ihr seid erst seit kurzem hier. Was habt ihr getan, dass man euch hier her verfrachtet hat?« Er lachte heiser. Cronenberg wandte sich an Scobee. »Töte ihn!«, befahl er. Scobees Handkante zuckte ansatzlos gegen Jamals Hals. Doch Cronenberg hob die Hand und gebot Scobee damit Einhalt. Sie reagierte prompt. »Nein!«, schrie Jamal erst jetzt. So etwas nennt man Kadavergehorsam!, durchzuckte es die GenTec voller Wut. Und genau das bist du für ihn. Ein totes Stück Fleisch. Aber kein Mensch. Einige Passanten waren auf sie aufmerksam geworden. »Wir sollten von hier verschwinden«, sagte Jamal. »Ich kann euch helfen.« »Helfen?«, echote Cronenberg. »Fragt nicht! Kommt einfach mit! Ihr seid hier wie Blinde in einem Labyrinth. Noch in dieser Nacht werdet ihr den Fedayyin in die Hände laufen! Die suchen übrigens ein paar Typen, auf die eure Beschreibung passt!« »Was du nicht sagst!«, knurrte Cronenberg zwischen den Zähnen hindurch. Palmer meldete sich zu Wort. Schon die ganze Zeit über hatte er den vereinzelten Fedayyin nervös im Auge behalten. Inzwischen waren etwa ein Dutzend dieser maskierten Krieger aufgetaucht. »Seht nur«, sagte er, »sie beginnen, systematisch die Leute zu überprüfen!« »Sie wollen euch!«, wiederholte Jamal. »Warum?«, fragte Cronenberg. »Erst bringe ich euch hier weg, sonst bin ich auch dran!« Cronenberg zögerte. Er schien zu überlegen, ob er diesem Mann trauen konnte. »Tun wir, was er sagt«, forderte Palmer. Der ehemalige NCIA-Chef nickte langsam...
Sie folgten Jamal, der sie dicht an den Mauern entlang zu einem weiteren Hauseingang führte. Die Tür war offen. Zwar war es beinahe stockdunkel, doch Scobee hatte durch ihre Fähigkeit zur Mehrfrequenz-Sicht keine Schwierigkeit, sich zu orientieren. »Ist die Luft rein?«, fragte Cronenberg. »Es ist niemand hier.« Der ehemalige NCIA-Chef wandte sich an Jamal, fasste ihn etwas grob bei den Schultern. »Wo führst du uns hin?« »Fürs Erste einfach nur weg von den Fedayyin. Vertrau mir!«
Jamal ging voran. Er schien den Weg gut zu kennen, denn ihn machte die Dunkelheit offenbar fast genauso wenig aus wie Scobee. Jamal führte die Gruppe einen schmalen Gang entlang. Es ging ein paar Treppenstufen hinab. Schließlich gelangten sie wieder ins Freie. Sie befanden sich in einem anderen Hof, der weit weniger belebt war als jener, von dem sie soeben geflüchtet waren. An ein paar Feuern saßen Männer und unterhielten sich. Jamal, Cronenberg, Palmer und Scobee blieben in der Schattenzone. Für die Männer am Feuer waren sie nicht mehr als Schemen in der Nacht. Die Gruppe erreichte ein Rundbogentor, wie man sie zwischen den einzelnen Innenhöfen häufig in Dar-al-Arabya fand. Das Mondlicht fiel auf eine Zeile arabischer Schrift. Eine menschenleere Gasse schloss sich an. Etwas huschte durch die Dunkelheit. Im Infrarotbereich konnte Scobee die Umrisse einer Katze erkennen, die in einer Türnische verschwand. Ein Stück weit folgten sie Jamal. Doch schließlich blieb Cronenberg demonstrativ stehen. Jamal drehte sich herum. »Worauf wartet ihr?« »Auf ein paar Antworten«, erwiderte Cronenberg. »Warum hilfst du uns gegen die Fedayyin?« »Ich habe keine Ahnung, weshalb die Fedayyin euch jagen. Aber es muss einen wichtigen Grund geben, sonst würden sie nicht so viel Aufwand betreiben«, gab Jamal Auskunft. »Das ganze Viertel spricht darüber. Da ihr nicht von hier stammt und deshalb auch kaum zu Al-Mafia gehören könnt...« »Was soll das sein?«, unterbrach Cronenberg. »Eine Vereinigung, die bis vor ein paar Wochen hier das Sagen hatte. Aber Al-Mafia hat noch viele Anhänger im Viertel. Einige sind nach Little India geflohen, um den Widerstand aufzubauen.« »Dann gehörst du auch zu Al-Mafia!« , stellte Palmer fest. »Ein hübscher Name. Ich dachte immer, dieser Begriff sei italienischer Herkunft.« »Es ist arabisch und bedeutet das Nicht-Geschehene. Wegen Al-Mafia haben die Fedayyin sogar den Gebrauch von Laserstrahlern ab einer gewissen Energiestärke verboten. Die Handwerker schimpfen deshalb schon hinter vorgehaltener Hand auf die Fedayyin. Sie müssen sich mit MiniLasermessern oder sogar gewöhnlichen Schnitzmessern und anderen primitiven Metallwerkzeugen behelfen!« »Du schweifst ab!«, stellte Cronenberg fest. »Ganz und gar nicht!«, widersprach Jamal. »Genau da liegt nämlich auch mein Problem! Ich besitze einige von den Dingern und kann sie jetzt hier in Dar-al-Arabya nicht mehr loswerden. Schon der Besitz kann mich den Kopf kosten. Aber vielleicht habt ihr ja Verwendung dafür! Schließlich seid ihr auf der Flucht und werdet euch früher oder später verteidigen müssen...« »Was verlangst du dafür?«, fragte Cronenberg. Jamal lächelte verhalten. Das Mondlicht blitzte in seinen Augen. »Über den Preis werden wir uns sicher einig. Ich denke, ich kann Ihnen auch noch in anderer Hinsicht weiterhelfen.« »Wo sind die Waffen?«, fragte Cronenberg. »An einem sicheren Ort.« »Dann führ uns hin.« »Wir sind auf dem Weg.«
Jamal führte die Gruppe durch ein Labyrinth finsterer Gassen. Ziemlich bald hatte der ehemalige NCIA-Chef jegliche Orientierung verloren. »Wir müssen den einen oder anderen Umweg machen«, erläuterte Jamal. »Ich nehme an, du legst keinen Wert darauf, doch noch Bekanntschaft mit den Fedayyin zu machen.«
»Kein Bedarf«, knurrte Cronenberg. »Aber solltest du versuchen, mich irgendwie hereinzulegen, bist du ein toter Mann, Jamal!« »Ich habe keinen Grund dazu. Geschäftspartner hintergeht man nicht.« »Ein schöner Vorsatz, Jamal!« »Man bleibt länger am leben, wenn man ihn befolgt. Vor allem in Dar-al-Arabya...« »Du gehörst zu Al-Mafia?« »Sagen wir so: Meine Familie hatte zu den alten Herren des Viertels immer ein vertrauensvolles Verhältnis. Die Fedayyin betrachten uns daher mit Argwohn. Wir haben vielen Mitgliedern von AlMafia dabei geholfen, in anderen Vierteln unterzutauchen. Dabei könnte ich euch auch behilflich sein. Ansonsten werdet ihr ziemlich sicher in das Spinnennetz der Fedayyin laufen.« »Welches Viertel würdest du uns empfehlen?«, fragte Palmer. Jamal lachte heiser. »Das kommt darauf an.« »Worauf?«, hakte Palmer nach. Jamal blieb stehen. Sie befanden sich in einem Innenhof, in dessen Mitte sich ein öffentlicher Brunnen befand. Das Plätschern des Wassers überdeckte die meisten anderen Geräusche der Nacht. In einem der umliegenden Häuser brannte noch Licht. Nur ganz schwach waren Stimmen zu hören. Scobee mischte sich in das Gespräch ein. »Wie kannst du eigentlich sicher sein, dass wir dich für deine Dienste überhaupt bezahlen können, Jamal?« »Ich sagte doch...« »...dass wir uns bestimmt einigen können. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du eine Luftdruckpistole ohne Gummiprojektil als Bezahlung akzeptieren würdest.« »Sei still, Scobee!«, befahl Cronenberg. Sie gehorchte augenblicklich. Irgendetwas stimmt hier nicht!, ging es ihr durch den Kopf. Dieser Jamal ist so gut über uns informiert... Er kann sich denken, dass wir ihm kaum etwas als Gegenleistung bieten können. Jamal wandte den Blick kurz in Scobees Richtung. Er musterte sie nachdenklich. Das Lächeln, das sich danach um die Mundwinkel des Arabers bildete, wirkte verkrampft. Sie folgten ihm zum Sprungbrunnen. Mit der Hand schöpfte Jamal etwas Wasser zum Mund. Anschließend wandte er sich an Cronenberg. »Deine Begleiterin ist nicht nur außerordentlich gut trainiert, sie scheint auch über eine hohe Intelligenz zu verfügen. Ihr Einwand ist berechtigt. Wenn ihr nichts anderes habt, womit ihr mich bezahlen könnt, dann werde ich eine Gegenleistung verlangen. Nicht sofort. Irgendwann wird jemand kommen und euch um einen Gefallen bitten, den ihr nicht ablehnen könnt.« Er geht davon aus, dass wir für immer im Getto bleiben werden, erkannte Scobee. Cronenberg schöpfte ebenfalls etwas Wasser an seinen Mund und befeuchtete das Gesicht, um sich zu erfrischen. »Was wäre das für ein Gefallen?«, fragte Palmer mit eisigem Unterton. »Nichts, was außerhalb eurer Möglichkeiten liegt!«, war Jamals ausweichende Antwort. Palmer verzog das Gesicht. »Also irgendeine Schweinerei, nehme ich an!« »Es braucht euch jetzt noch nicht zu kümmern. Ihr habt sowieso keine andere Wahl, als auf mein Angebot einzugehen. Niemand sonst wäre zurzeit bereit, euch zu helfen.« Cronenberg gab es nicht gerne zu, aber Jamal hatte in dieser Hinsicht wahrscheinlich Recht. »Zeigen Sie uns jetzt endlich die Waffen.« »Wir sind gleich da. Anschließend könnte ich euch aus Dar-al-Arabya herausbringen.« »In welche Richtung liegt das Amerikaner-Viertel?« »Ameritown?«, versicherte sich Jamal. »Ja.« Jamal kicherte. »Du würdest niemals allein dorthin finden.« »Und du willst dein Geschäftsgeheimnis nicht preisgeben?« Jamal schüttelte den Kopf. »Nein, die Lage von Ameritown ist kein Geheimnis. Die könnte euch am Tag jeder dahergelaufene Straßenhändler zeigen. Er würde euch sogar hinbringen, wenn er
blind genug ist, nicht gleich zu merken, dass ihr die Typen seid, die von Fedayyin gesucht werden. Aber es wäre trotzdem klug, mir zu folgen.« »Und weshalb?« »Weil ihr auch in Ameritown Verbindungen braucht, um nicht gleich der erstbesten Gang in die Hände zu fallen.« »Und du hast Verbindungen dort?« »Ich habe Verbindungen überallhin«, erklärte Jamal. »Auch nach außerhalb?«, mischte sich Palmer in das Gespräch ein. Eine Pause entstand. »Ihr wisst doch so gut wie ich, dass es keinerlei Verbindung zur Außenwelt gibt«, erwiderte Jamal schließlich. »Und wenn, dann könntet ihr mir darüber wahrscheinlich mehr berichten als ich euch so eigenartig wie ihr mir erscheint! Und jetzt folgt mir!« Sie passierten ein weiteres Rundbogentor, das mit kunstvollen Arabesken verziert war. Jamal erläuterte, dass es sich um Arbeiten mit dem Lasermesser handelte. »Es gibt niemanden, der damit so umgehen kann, wie die Handwerker von Dar-al-Arabya. Sie sind im ganzen Getto berühmt dafür!« Kurz nach dem Rundbogentor bog Jamal in eine Gasse ein, die kaum breiter als eine Armspanne war. Zu beiden Seiten befanden sich mehrere Stockwerke hoch aufragende Mauern. Aus den oberen Fenstern drang etwas Licht. Nach wenigen Metern erreichten sie eine Tür. Jamal öffnete sie. Cronenberg schickte Scobee voran. »Sieh nach, ob die Luft rein ist!« Die GenTec gehorchte. Sie folgte Jamal in einen niedrigen Raum, dessen Decken mit einem fluoreszierenden Stoff beschichtet waren. Auch Stunden nach Einbruch der Dunkelheit gab die Decke genug des gespeicherten Tageslichtes ab, um für ausreichend Helligkeit zu sorgen. Scobee ließ den Blick schweifen. Die Einrichtung war auf das Notwendigste beschränkt. Ein Tisch, mehrere Stühle und ein Ofen mit Kamin. »Alles klar!«, rief sie. Cronenberg und Palmer betraten jetzt ebenfalls den Raum. Jamal lächelte. »Was hatten Sie erwartet? Einen Hinterhalt?« Er ging zu einer Tür, die zu einem Nebenraum führte und holte einen Schlüssel unter seiner Kutte hervor. »Ich habe es auch mal mit einem Magnetschloss versucht, aber auf die Dinger ist einfach kein Verlass. Manchmal frage ich mich, ob die Verseuchung an ein und demselben Ort eigentlich konstant ist oder schwankt. Manches spricht für Letzteres. Warum sollte ein Magnetschloss zum Beispiel mal funktionieren und mal nicht? Ich verlasse mich jedenfalls nur noch auf Sachen, die so einfach konstruiert sind, dass es keine Probleme gibt...« Warum redet er so viel?, ging es Scobee durch den Kopf. Vielleicht um seine Nervosität zu verbergen? Die Tür sprang auf, und Jamal trat hindurch. Scobee beobachtete ihn dabei, wie er eine Fußbodenplatte löste, sich niederbeugte und einen quaderförmigen Behälter hervorholte. Anschließend kehrte er zurück, stellte den Behälter auf den Tisch. Er öffnete den Kasten, nahm zwei Strahler heraus und warf sie Cronenberg und Palmer zu. »Zufrieden?«, fragte Jamal. »Vollkommen.« Cronenberg grinste. »Ich schlage vor, ihr bleibt über Nacht hier. Es gibt ein paar Vorräte, die ihr gerne verzehren könnt, wenn euch danach ist.« Cronenberg runzelte die Stirn. »Das klingt so, als würdest du uns verlassen, Jamal!« »Ich werde den Rest der Nacht nutzen, um dafür zu sorgen, dass ihr in Ameritown nicht gleich den Falschen in die Arme lauft.« Cronenberg nickte zögernd. »Okay...« Jamal wandte sich zur Tür. »Einen Moment!«, rief Scobee.
Ein Blick mit Infrarotsicht hatte ihr gezeigt, dass mit der Waffe etwas nicht in Ordnung war. Das Wärmemuster stimmte nicht. Da war ein ganz schwach pulsierender Punkt im Griff der Waffe, der da einfach nicht hingehörte. Vor allem pulsierte dieser Punkt in einem charakteristischen Rhythmus. Ein primitiver Peilsender!, erkannte Scobee. »Er hat uns hereingelegt!« Cronenberg hob die Waffe in Jamals Richtung. Dessen Augen weiteten sich vor Schreck. Er schnellte zur Tür. Cronenberg drückte ab. Aber kein Strahlschuss löste sich aus der Waffe. Im nächsten Moment war Jamal verschwunden. Cronenberg wandte sich an Scobee. »Fang diesen Mistkerl ein und bring ihn um!« Sie wirbelte herum und sprang zur Tür. »Halt! Wir sollten sie nicht da raus schicken«, widersprach Palmer. »Ich wette, da wartet schon jemand auf uns!« Doch Scobee ignorierte ihn, sie konnte nicht anders. Sie stieß die Tür auf, warf mit Infrarotsicht einen kurzen Blick in die Nacht... »Warte!«, stoppte sie Cronenbergs Befehl. »Wir kommen mit.« Die GenTec nickte und blickte sich noch einmal um. »Alles klar!« Palmer und Cronenberg folgten ihr. »Das hat dieser Hund geschickt eingefädelt!«, knurrte der ehemalige NCIA-Chef. »Ich frage mich, ob Shen Sadakos Arme so weit reichen, dass diese Kreatur vielleicht auf seiner Lohnliste steht!« »Dieser Jamal wohl kaum. Aber vielleicht haben die Rebellen irgendwelche geheimen Kontakte zu den Fedayyin«, sagte Scobee. Sie biss sich auf die Lippen. Ist das vielleicht eine Chance für dich? Aber du hast keine Gewähr dafür, dass es wirklich so ist. Es ist genauso gut möglich, dass die Fedayyin uns nicht zu Shen Sadakos Leuten bringen, sondern etwas ganz anderes mit uns vorhaben... Sie rannten unter ihrer Führung die Gasse entlang. Da schnellten bereits nur als Schatten erkennbare Gestalten aus Seitenstraßen und Hauseingängen. Scobee bemerkte sie lange vor den anderen, hielt an und wirbelte herum. Hinter ihnen bot sich dasselbe Bild. »Fedayyin!«, entfuhr es Scobee. Sie waren eingekreist. »Stehen bleiben!«, befahl eine barsche Stimme. Die Fedayyin näherten sich. Sie wissen genau, dass die Waffen unbrauchbar sind, die Jamal uns überlassen hat, ging es ihr durch den Kopf. Also denken sie, dass sie nichts zu befürchten haben... Vier Männer standen ihnen auf jeder Seite gegenüber. »Nimm den Paralyser. Wir brauchen sie lebendig«, sagte einer der Fedayyin. Einer der anderen Männer antwortete. »Du weißt, wie unzuverlässig die Dinger sind! Einfache Handschellen wären mir lieber! Wenn der Dosierungschip des Paralysers versagt, haben wir am Ende Gefangene, deren Gehirne so viel wert sind wie formatierte Datenspeicher!« »In dem Fall gibt's Ärger!«, meinte ein Dritter. Scobee konnte erkennen, wie einer der Fedayyin zum Gürtel griff - und schnellte vor! Wie ein automatischer Reflex ging das vonstatten. Sie setzte alles auf eine Karte. Ihr Vorteil war, dass sie ihre Gegner erheblich besser erkennen konnte. Und diesen Vorteil nutzte sie gnadenlos aus. Ein schneller Tritt kickte einem der Kerle die Waffe aus der Hand, von der Scobee annahm, dass es sich um den Paralyser handelte. Eine Kombination aus Handkanten- und Faustschlägen ließ zwei weitere Fedayyin zu Boden sinken. Dem Vierten schleuderte sie einen der Wurfsterne entgegen, die sie den zusammengeschlagenen Mitgliedern der Latino-Gang abgenommen hatte. Dieser Wurf war hart und präzise. Röchelnd sank der Kerl zu Boden. Scobee entriss einem der Fedayyin den Strahler. Es war ein ganz konventioneller Laser, etwa von der gleichen Bauart wie sie von Shen Sadakos Leuten benutzt wurde. Sie wirbelte herum.
Ein Fedayyin hatte Cronenberg von hinten im Würgegriff. Palmer war von einem weiteren Mann gegen eine Hauswand gedrückt worden und stöhnte auf. Scobee zielte kurz und feuerte. Der Laserstrahl zischte haarscharf an Cronenbergs Kopf vorbei, traf den um einiges größeren Fedayyin, drang durch diesen hindurch und bohrte sich in die Wand. Ein ganzes Fassadenstück platzte heraus und krachte in die Gasse herab. Zwei Fedayyin sprangen zurück. Beißender Qualm entstand. Cronenberg war wieder frei. Der Mann, der Palmer in der Gewalt hatte, richtete seinen Laser auf Scobee, drückte ab. Offenbar war es ihm jetzt gleichgültig, wie viel Arger er mit der Fedayyin-Führung bekam, wenn er die Gesuchten tötete. Scobee warf sich zur Seite. Der schlecht gezielte Laserschuss ihres Gegners verfehlte sie und begann, ein Kunstglasfenster anzuschmelzen. Der Strahlschuss der GenTec traf besser. Der Fedayyin sank zu Boden. »Nichts wie weg hier!«, murmelte er leise und mit verstört wirkendem Gesicht. Cronenberg trat auf Scobee zu. Er rieb sich das Ohr. Eine Geste, die beinahe so wirkte, als wollte er sich davon überzeugen, dass dieses Körperteil noch an seinem Ort war. »Das war verdammt knapp!«, sagte er. »Ich habe gute Augen«, erwiderte Scobee sachlich. Cronenberg nickte. Sein Grinsen wirkte verkrampft, fast etwas verlegen. Die Angst sitzt ihm noch in den Knochen, aber das würde er niemals zugeben, erkannte Scobee. Sie sah ihm zu, wie er sich bückte und einem der Fedayyin den Strahler abnahm. Anschließend näherte sich der ehemalige NCIA-Chef Scobee, tätschelte gönnerhaft ihre Schulter. »Komisch, einen Augenblick dachte ich...« »Was?« »Das beste Programm kann versagen. Auch das beste genetische Programm...« Scobee blieb ungerührt. »Du weißt doch, dass ich nie etwas tun würde, was dich ernsthaft gefährden könnte!« Scobee fühlte dabei ihren Puls bis zum Hals rasen. Nur ein paar Zentimeter, ein leicht veränderter Schusswinkel und du wärst jetzt frei!, durchzuckte es sie. Aber sie wusste, dass das unmöglich gewesen war. Deine eigene Perfektion steht dir im Weg!
Sie hetzten weiter durch das Labyrinth der finsteren Gassen von Dar-al-Arabya. Keiner der drei wusste auch nur im Entferntesten, wo sie sich befanden. Scobee führte das Trio an. Ihre Infrarotsicht verhinderte zumindest, dass sie irgendwo aneckte oder stürzte. Auf Palmer und Cronenberg musste sie immer wieder Rücksicht nehmen. Sie konnten in der Dunkelheit nicht so schnell vorwärts kommen wie die GenTec-Matrix. Durch Scobees Laserschüsse war ein Brand entstanden. Teile der Fassadenverkleidung waren offenbar brennbar. In ganzen Straßenzügen herrschte Panik. Für die Flüchtenden war das nur hilfreich. Auch die Fedayyin hatten jetzt anderes zu tun, als zwei Männer und eine Frau zu jagen, die irgendjemand unbedingt lebendig einfangen wollte. Es müssen Shen Sadakos Leute dahinter stecken!, überlegte Scobee. Aber diese Erkenntnis half ihr nicht weiter. Die Stunden verrannen.
Immer weiter irrten sie durch das Labyrinth von Dar-al-Arabya. Nicht einmal Scobee hätte sich gewundert, wenn sie irgendwann wieder in der Ciudad Latina gelandet wären. Palmer und Cronenberg schwiegen die meiste Zeit. Doch während Cronenberg hellwach blieb, machte sich bei Palmer zunehmend Erschöpfung bemerkbar. Der Mann ist eben nicht mehr der Jüngste, überlegte Scobee. Sie hatte keinerlei Zweifel daran, dass Cronenberg ihn ebenso bedenkenlos zurücklassen würde, wie er es mit Hays getan hatte. Die zweite Nachthälfte brach an. Die Straßen und Gassen, in denen noch Passanten auf den Beinen waren, wurden immer seltener. Hier und da waren Patrouillen der Fedayyin zu sehen. Scobee sorgte dafür, dass die Gruppe diesen selbst ernannten Herren des Viertels aus dem Weg ging. Soweit es irgend möglich war hielten sich Cronenberg, Palmer und Scobee in den dunkle Schattenzonen der kleinen, sehr engen Gassen und Hinterhöfe auf. Eine Vorgehensweise, die in der Nacht funktionierte. Aber sobald der Tag anbrach, hatte dieses Spiel zwangsläufig ein Ende. Gegen Morgen wurde es ziemlich kühl. Die ersten Sonnenstrahlen blitzten über die Hausdächer des Gettos. Sie erreichten einen relativ freien Platz. Die umliegenden Gebäude glichen zum Teil Ruinen. Teile der Dächer fehlten. Es gab Löcher in den Wänden, die aussahen, als ob sie mit dem Laserstrahler hinein geschmolzen worden waren. Offenbar hatte es hier vor noch gar nicht so langer Zeit Kämpfe gegeben. Die freien Wandflächen waren teilweise mit Graffiti besprüht, deren künstlerische Gestaltung so ganz und gar nicht nach Dar-al-Arabya zu passen schien. Palmer ließ sich an einer Mauer nieder, sackte in sich zusammen und schloss die Augen. Er war vollkommen erledigt. Cronenberg wischte sich mit einer fahrigen Geste über das Gesicht. »Wo sind wir hier?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, bekannte Scobee. »Scheint so, als hätten wir die Grenze des Araberviertels irgendwann überschritten, ohne es zu merken.« »Dann sitzen uns wenigstens diese Fedayyin nicht mehr im Nacken«, sagte Cronenberg nach einer kurzen Pause. »Ich glaube nicht, dass sie sich trauen, außerhalb von Dar-al-Arabya zu operieren.« »Hoffen wir es«, murmelte Palmer. Er hatte noch immer die Augen geschlossen. »Es kann so nicht weitergehen, Cronenberg!«, fügte er dann hinzu. »Alles was wir bis jetzt zustande gebracht haben ist eine vollkommen planlose Flucht!« Cronenberg verzog das Gesicht zu einem zynischen Lächeln. »Sie haben sicherlich einen brauchbaren Vorschlag, Palmer!«, ätzte er. »Die Cuthbert haben Sie ja auch mit Ihren tollen Ideen zu Grunde gerichtet - ich schätze, dass werden Sie mit mir auch noch schaffen!« »Sie können mich!«, erwiderte Palmer unwirsch. Die Spannungen zwischen den beiden Männern brachen sich wieder Bahn. Scobee hatte das erwartet. Nur die permanente Gefahr, in der das Trio die ganze Nacht hindurch geschwebt hatte, war dafür verantwortlich, dass es zwischen den beiden Männern relativ friedlich zugegangen war. Palmer erhob sich wieder. »Wir sollten uns einen vernünftigen Lagerplatz suchen«, schlug er vor. »Dort ruhen wir uns etwas aus.« »Ich sehe, Ihr Ruf als blendender Stratege ist vollkommen berechtigt«, entgegnete Cronenberg mit vor Ironie triefendem Tonfall. Scobee horchte plötzlich auf. Irgendetwas stimmte nicht. Sie griff sofort zu dem Strahler, den sie einem der Fedayyin abgenommen hatte. »Was ist?«, fragte Cronenberg. »Weg hier! Wir werden beobachtet!« Cronenberg zog ebenfalls seinen Strahler. Scobee ließ erneut suchend den Blick schweifen. Anschließend deutete sie auf eine Öffnung in einer Gebäudewand, die ganz so aussah, als wäre sie mit einem Laser erzeugt worden. »Da rein!«, forderte sie. Plötzlich zischte etwas durch die Luft.
Palmer stöhnte auf. Ein Nadelprojektil hatte ihn mitten in der Brust getroffen. Er sank zu Boden und blieb regungslos liegen. Scobee und Cronenberg schnellten durch die Öffnung in der Hauswand. Der ehemalige NCIA-Chef schaffte es nicht. Er blieb stehen, sank auf die Knie und fiel dann nach vorne über. Sie bemerkte das Nadelprojektil in seinem Rücken. Die GenTec zog ihn aus der Schusslinie in Deckung und untersuchte Cronenberg flüchtig. Er war bewusstlos. Offenbar handelte es sich bei den verwendeten Nadelgeschossen um Injektionsprojektile, die ein schnell wirkendes Betäubungsmittel in den Körper des Getroffenen abgaben. Scobee fasste den Laserstrahler mit beiden Händen. Sie hörte Schritte und Stimmen. Der Raum, in dem sie sich befand, war etwa zwanzig Quadratmeter groß. Auf der anderen Seite befand sich eine Türöffnung, durch die man weiter in das Gebäude vordringen konnte. Das Dach hatte mehrere große Löcher, durch die Licht hereinfiel. Licht, das auf die Graffiti schien, mit denen die Innenwände ausgestaltet waren. In den comichaften Zeichnungen fiel Scobee immer wieder ein Zeichen auf. Es sah aus wie zwei gekreuzte Blitze. Scobee maß dem zunächst keine weitere Bedeutung zu. Sie tauchte aus der Deckung hervor und feuerte mit dem Strahler hinaus ins Freie, um die unbekannten Angreifer auf Distanz zu halten. Sofort zuckte sie wieder zurück. Ihr Blick fiel auf Cronenbergs Gesicht. Du würdest ihn niemals hier zurücklassen können!, wurde ihr klar. Eigentlich lag es auf der Hand, was sie tun musste, um zumindest eine Chance zu haben, den Angreifern zu entkommen. Steh auf, lauf los!, durchzuckte es sie. Sie zwang sich dazu, Cronenbergs Gesicht nicht anzusehen. Es fiel ihr schwer. Ein eiförmiger Gegenstand flog durch das Loch in der Wand und rollte ein Stück in den Raum hinein, bevor er zerplatzte. Ein Gas entwich. Scobee sprang auf und schaffte gerade noch zwei Schritte auf die Türöffnung zu, die ins Innere des Gebäudes führte. Sie spürte einen beißenden, durchdringenden Geruch in der Nase. Alles drehte sich vor ihren Augen. Sie taumelte und sank zu Boden. Dann senkte sich Dunkelheit über ihr Bewusstsein...
Ein grelles Licht blendete Scobee. Sie versuchte, die Augen zusammenzukneifen und die Hand schützend vor das Gesicht zu nehmen. Aber sie war dazu nicht in der Lage. Schwer wie Blei schienen ihre Gliedmaßen zu sein. Sie stieß einen unartikulierten Laut aus, stöhnte kurz auf. Scobee hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Vor ihrem inneren Auge sah sie noch einmal die letzte Szene aufblitzen, die sie in Erinnerung hatte – das Zerplatzen der Gasgranate. Scobee blickte auf die kahle Decke eines Raumes, der wie ein Kellerraum oder eine Garage wirkte. Kaltes Licht, das Scobee an Neonröhren erinnerte, strahlte sie so stark an, dass sie einige Augenblicke brauchte, um Einzelheiten erkennen zu können. Normalerweise waren ihre Augen in der Lage, sich schneller als die jedes anderen Menschen auf neue Gegebenheiten einzustellen. Aber irgendetwas schien diese Fähigkeit zu lähmen. Dasselbe galt für das Umschalten auf Infrarotsicht, was ihr erst mit einiger Verzögerung gelang. Wo bin ich?, durchzuckte es sie. Scobee drehte den Kopf und stellte dabei fest, dass sie den Rest ihres Körpers nicht bewegen konnte. Sie lag auf einer harten Pritsche. Soweit sie feststellen konnte, war sie nicht gefesselt. Cronenberg und Palmer lagen auf ähnlichen Pritschen.
Der ehemalige NCIA-Chef hatte die Augen geschlossen und schien noch bewusstlos zu sein. Dasselbe vermutete sie von Palmer, der auf der anderen Seite lag. Sein Körper nahm das ein, was man in einem Erste-Hilfe-Kurs eine stabile Seitenlage nannte. Scobee konnte nur den Rücken sehen. Er wirkte regungslos. Eine Tür wurde geöffnet und fiel anschließend ins Schloss. Die Geräusche verursachten ziemlich viel Hall, was auf die Größe des Raums schließen ließ. Schritte ließen sie aufhorchen. Zwei Personen näherten sich ihr. »Sie wird wach sein«, stellte eine weibliche Stimme fest. »Du kannst sie befragen, Almighty!« Augenblicke später traten ein Mann und eine Frau in Scobees Blickfeld. Beide waren in schwarzes, glänzendes Leder gekleidet. Die Frau trug strubbeliges, weißblond gefärbtes Haar. Sie war schlank und zierlich. Die Ledermontur zeichnete die Formen ihres Körpers perfekt nach. Am Gürtel trug sie einen Strahler sowie ein paar kleinere Geräte, von denen Scobee nicht wusste, welchem Zweck sie dienten. Über der linken Brust war ein Emblem zu sehen. Es zeigte zwei gekreuzte Blitze. Dasselbe Zeichen, das Scobee auch in den Graffiti aufgefallen war. Der Mann war groß und breitschultrig. Auch er trug eine eng anliegende Ledermontur mit dem Doppelblitz-Emblem sowie einen Strahler an der Seite. Sein Schädel war vollkommen haarlos. Ihm fehlte das linke Auge. Stattdessen trug er ein Implantat, dessen kristalline Struktur ihm ein martialisches Aussehen gab. Sie hat ihn Almighty genannt, ging es Scobee durch den Kopf. Den Allmächtigen. Offenbar eine Art Kriegsname, der nicht gerade von Bescheidenheit zeugte. »Was ist mit den anderen, Zoe?«, fragte er. »Ihre körperliche Konstitution ist schwächer. Aber sie müssten eigentlich auch bald zu sich kommen.« »Gib ihnen etwas, damit das schneller geht, Zoe!« »Okay.« Zoe verschwand aus Scobees Blickfeld. Almighty trat an ihre Pritsche heran, blickte auf sie herab. Er nahm ziemlich grob ihr Kinn in die Hand und drehte ihren Kopf zur Seite. Scobee konnte nichts dagegen tun. Die Muskeln und Sehnen ihrer Arme und Beine gehorchten ihr einfach nicht. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu ertragen, was er tat. Das Gefühl des vollkommenen Ausgeliefertseins war Scobee nicht neu. Genau das war auch ihre vorherrschende Empfindung Cronenberg gegenüber. Almighty berührte mit dem Finger das Tattoo über ihrem rechten Auge. Ein zynisches Grinsen umspielte seinen dünnlippigen Mund. »Was hast du da?«, knurrte er. In seinem Augenimplantat blitzte etwas auf. Eine unglaublich intensive, grelle Lichtquelle. Scobees Augenreflexe funktionierten inzwischen schon wieder besser, sodass sie sich gegen das gleißende Licht sofort zu schützen wusste. »Sieht ganz nach diesen Tattoo-Pfuschern aus Nippon-Town aus«, fuhr er fort. »Aber wer da hingeht, ist selbst schuld. Wundert mich, dass du nicht an einer Infektion gestorben bist!« Er lachte heiser. Das Licht in seinem Augenimplantat verlosch. »Wo bin ich?«, fragte Scobee. »An einem sicheren Ort.« »Aber...« »Die Fedayyin werden euch nicht in die Hände bekommen, dass verspreche ich dir.« Scobee schluckte. Aus den Augenwinkeln heraus registrierte sie, wie die weißblonde Frau zuerst an Cronenberg und anschließend an Palmer hintrat, um ihnen jeweils eine Injektion zu verabreichen. »Du scheinst die Stärkste in eurem Trio zu sein«, stellte Almighty fest. Scobee schwieg. Eine unangenehme Pause entstand.
»Du redest nicht mit jedem.« Sein Blick glitt an ihrem vollkommen wehrlosen Körper entlang. »Komisch - wie eine eiserne Jungfrau siehst du gar nicht aus. Aber man erlebt ja immer wieder Überraschungen.« »Was wollt ihr von uns?«, brachte Scobee heraus. Almighty lachte schallend. »Du glaubst, dass du hier die Fragen stellen kannst!« Er schüttelte den Kopf. »Ziemlich dreist für jemanden in deiner Lage - aber ich muss sagen, das imponiert mir.« Cronenberg bewegte jetzt den Kopf. Palmer stöhnte auf. Die Erkenntnis, dass sie zwar bei Bewusstsein waren, aber ihre Körper nicht bewegen konnten, musste im ersten Moment Panik in ihnen auslösen. Almighty machte eine Handbewegung in Richtung von Cronenbergs Pritsche. »Können die beiden mich jetzt verstehen?« »Davon gehe ich aus«, antwortete die junge Frau, die er Zoe genannt hatte. »Hört mir zu!«, forderte Almighty. »Versucht nicht, eure Muskeln anzuspannen, eure Arme und Beine zu bewegen oder euch aufzurichten. Das verursacht nur Krämpfe, die ziemlich schmerzhaft sein können. Ihr habt eine Substanz injiziert erhalten, die dafür sorgt, dass ihr keinerlei Kontrolle über eure Muskulatur habt - vom Kopf abgesehen. Allerdings bleibt bei dieser Art von Lähmung die Empfindungsfähigkeit voll erhalten.« Er grinste breit und entblößte dabei seine Zähne wie ein Raubtier. »Ich sage das nur, falls ich dieses Verhör mit etwas mehr Nachdruck durchführen muss, weil ich das Gefühl habe, angelogen zu werden.« »Sind wir hier in Ameritown?«, fragte Cronenberg. »Kann schon sein«, erwiderte Almighty. »Zunächst möchte ich wissen, weshalb die Fedayyin euch gejagt haben.« »Das wissen wir nicht«, erklärte Scobee. »Ich mag es nicht, wenn man versucht, mich für dumm zu verkaufen«, erwiderte Almighty mit einem eisigen Unterton. »Ein ganzes Viertel ist hinter euch her. Selbst bei uns hört man davon, welche Preise da im Spiel waren.« Scobee begegnete dem Blick seines gesunden Auges. Ein Muskel zuckte unruhig in seinem Gesicht. Mit diesem Mann sollte man nicht zu spielen versuchen, überlegte die GenTec. »Soll ich einen Elektroschocker holen, Almighty?«, fragte Zoe. »Warte noch. Ich denke, unsere unfreiwilligen Gäste erkennen jetzt den Ernst ihrer Lage.« Eine Furche bildete sich mitten auf Almightys Stirn. Er ballte die Hände zu Fäusten. »Man nennt mich Almighty - und hier in Ameritown bin ich genau das! Allmächtig! Glaubt also nicht, dass ihr mit mir eure Spielchen spielen könnt!« Er atmete tief durch, drehte ich um und wandte den Gefangenen jetzt den Rücken zu. Er ging ein paar Schritte. Schließlich sagte er: »Zum letzten Mal - weshalb wurdet ihr von den Fedayyin gejagt?« Cronenberg meldete sich zu Wort. »Du kannst alles erfahren, was du wissen willst, Almighty.« »Dann lass mich nicht länger warten!« »Wir kommen aus einer anderen Zeit. Mehr als zwei Jahrhunderte verbrachten mein Begleiter Palmer und ich in Stasetanks, mit deren Hilfe wir uns in Tiefschlaf versetzt haben, als die Situation auf der Erde des Jahres 2041 immer verzweifelter wurde.« Scobee konnte sich lebhaft vorstellen, was jetzt in Cronenbergs Kopf vor sich ging. Er glaubte, dass seine Chance gekommen war, endlich das Ohr von jemandem zu finden, der im Getto über einige Macht verfügte. Wie groß sie letztlich war, konnte man aus dieser Lage schwer beurteilen. Aber immerhin befehligte Almighty eine Gang, die es geschafft hatte, sie alle drei zu überwältigen. Selbst mich, die GenTec-Matrix, überlegte Scobee. Reuben denkt, dass er diesen Kahlkopf als Sprungbrett für seine eigenen Ziele benutzen kann! Dieser Narr... Almighty drehte sich um, musterte Cronenberg mit einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck. »Wir erwachten in den Kellern einer Organisation, die von Shen Sadako geleitet wird, dem Nachfahren des letzten neochinesischen Kaisers. Er befehligt eine Rebellentruppe, die versucht, gegen die auf der Erde herrschenden Invasoren vorzugehen...«
Almightys Gesichtsausdruck zeigte zunächst einen Ausdruck von Verwunderung, der schließlich immer mehr einem Anflug von Heiterkeit wich. »Eine Rebellenorganisation, ja?«, echote der Kahlkopf. »Du sprichst nicht zufällig von diesem Geheimbund OMIKRON?« Almighty lachte schallend. »OMIKRON ist eine Legende. Nicht mehr. Ein Stoff, aus dem Geschichten gesponnen werden, die sich die Gettobewohner aus Langeweile erzählen. Schließlich funktioniert der Großteil an Unterhaltungselektronik hier nicht!« Er schüttelte den Kopf. Cronenbergs Redefluss hielt weiter an. Er glaubte offenbar noch, sein Gegenüber für sich einnehmen zu können. »Ich bin Reuben Cronenberg, der ehemalige Chef des amerikanischen Geheimdienstes NCIA und zuletzt sogar Regierungschef der Vereinigten Staaten von Amerika! Außerdem...« »Wer hätte gedacht, dass uns ein Geschichtenerzähler aus Dar-al-Arabya ins Netz gegangen ist«, mischte sich Zoe mit deutlich ironischem Unterton ein. Cronenberg schien seine Lage nicht zu erfassen. Jemand wie er war so sehr daran gewöhnt, andere Menschen zu manipulieren, dass er nicht begriff, wie wirkungslos seine Vorgehensweise einem Mann wie Almighty gegenüber war. »Soll ich den Schocker holen?«, fragte Zoe. »Nein«, bestimmte Almighty. »Unsere Auftraggeber könnten ärgerlich reagieren, wenn wir die drei nicht in körperlich einwandfreiem Zustand übergeben.« »Was soll ich tun?« »Leg sie wieder schlafen, Zoe.« »In Ordnung.«
Als Scobee das nächste Mal erwachte, durchlief ein Kribbeln ihren gesamten Körper. Ein Gefühl von fast schmerzhafter Intensität. Sie schob dieses Symptom auf die Nachwirkungen des Lähmgifts, das Almightys Leute ihr verabreicht hatten. Scobee konnte ihre Arme und Beine wieder bewegen. Sie befand sich in einem vollkommen kahlen Raum, der hell erleuchtet war. Die Wände waren weiß, der Boden glatt. Cronenberg und Palmer befanden sich ebenfalls im Raum. Auch sie kamen gerade zu sich. Scobee erhob sich. Für ein paar Momente hatte sie noch ein leichtes Taubheitsgefühl in den Fingerspitzen, das aber rasch verflog. Sie sah sich suchend nach einem Ausgang um, fand aber nichts, das auf eine Tür hinwies. »Wo haben die uns nur hingebracht?«, meldete sich Cronenberg zu Wort. Der ehemalige NCIAChef erwartete nicht ernsthaft eine Antwort. »Dieser Almighty und seine Leute waren wohl nur Handlanger«, stellte Scobee fest. Palmer konnte sich eine bissige Bemerkung in Cronenbergs Richtung nicht verkneifen. »Wahr wohl ein ziemlich großer Fehlschlag, was Sie da im Hinblick auf diesen Gangführer geboten haben, Cronenberg!«, stellte er nicht ohne Häme fest. »Oder haben Sie wirklich geglaubt, dass er sich vor Ihren Karren spannen ließe?« »Halten Sie Ihre vorlaute Klappe, Palmer!« »War schon unfreiwillig komisch, wie Sie denen die Wahrheit erzählt haben und dieser kahlköpfige Einfaltspinsel Ihnen kein Wort geglaubt hat!« Cronenberg erhob sich jetzt ebenfalls. Er trommelte mit beiden Fäusten gegen die Wand. Sie war mit einem leicht nachgebenden, glatten Material beschichtet. »Sieht hier fast so aus wie in einer guten alten Gummizelle!« »Die Tür hat man einfach vergessen, scheint mir«, brummte Palmer, der in einer Ecke kauerte. Scobee streckte die Hand aus. »Die Tür ist dort drüben«, erklärte sie im Brustton der Überzeugung. »Es ist nicht so leicht zu sehen.«
»Gut, dass wir deine Adleraugen haben«, sagte Cronenberg mit einem Tonfall von ätzender Herablassung. Die Wandbeschichtung veränderte sich auf einer Fläche von der Größe eines Blatt Papiers. Es bildete sich eine Art Sichtschirm, auf dem das Gesicht einer jungen Frau mit brünettem Haar zu sehen war, dass sie zu einem Knoten zusammengefasst trug. Die Züge wirkten ausdruckslos. »Guten Tag«, sagte sie. »Ihre Körper weisen einen Mangel an Nährstoffen und Flüssigkeit auf. Sie erhalten Gelegenheit, diesem Mangel abzuhelfen. Berühren Sie mit der Handfläche die Markierung.« Eine Markierung in Form eines Kreises erschien neben dem Sichtschirm an der Wand. Das Gesicht, bei dem Scobee vermutete, dass es sich um einen computergenerierten Avatar handelte, fuhr inzwischen in gleichförmigem Tonfall fort: »Wenn Sie die Markierung berühren, öffnet sich ein Schrank, in dem Sie alles finden, was Sie benötigen, um Ihre körperliche Verfassung zu stabilisieren. Ich weise Sie jedoch darauf hin, dass jeder unsachgemäße Gebrauch der zur Verfügung gestellten Nahrungsmittel und vor allem des Bestecks sofort unterbunden wird. Auf der gegenüberliegenden Seite dieses Raums erscheint jetzt eine weitere Markierung. Wenn Sie das quadratische Feld berühren, öffnet sich eine Hygienezelle.« Das Gesicht verschwand mitsamt dem Sichtschirm. Cronenberg berührte die Markierung für die Nahrungsmittelausgabe. Eine Klappe öffnete sich in der Wand. »Ich bin mal gespannt, wer da so um unser körperliches Wohl besorgt ist« murmelte er.
Stunden vergingen. Die Nahrungsmittel, die Scobee, Cronenberg und Palmer zur Verfügung gestellt wurden, mochten ernährungsbiologisch sinnvoll zusammengestellt worden sein – sie schmeckten allerdings recht fade. Es handelte sich um Pasten und Biskuits, die jedoch das Hungergefühl ziemlich schnell besiegten. Weitere Stunden vergingen. Die meiste Zeit über herrschte aber Schweigen. Cronenberg brütete vor sich hin, ging nervös auf und ab. Die Ungewissheit machte ihm zu schaffen. Scobee kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es so war. Palmer stichelte ihn immer wieder mit spitzen Bemerkungen. »Hierhin sind wir also unter Ihrer genialen Führung gekommen - in eine ultramoderne Gummizelle«, ritt er auf Cronenbergs wundem Punkt herum. »Sehen Sie es endlich ein! Es hat in diesem Jahrhundert niemand auf Sie gewartet!« Der ehemalige NCIA-Chef parierte äußerst gereizt. »Aber auf den Schoßhund einer abgesetzten Präsidentin schon eher - oder wie soll ich das verstehen, Palmer?« Scobee mischte sich in diese Streitereien nicht ein. Sie kauerte in einer Ecke und versuchte, ein paar klare Gedanken zu fassen. Gedanken, die alle um einen ganz bestimmten Kern kreisten. Wer steckt hinter unserer Gefangennahme? An die Möglichkeit, dass es sich um Shen Sadakos Rebellenorganisation handelte, glaubte sie nicht. Die Machtverhältnisse in der Getto-Zone waren offenbar weitaus komplizierter, als sie es je für möglich gehalten hätte...
Scobee hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war - vielleicht sogar mehrere Tage. Die Beleuchtung in der Zelle war immer gleich hell. Es gab keinerlei Veränderung, nichts, was
irgendeinem mehr oder weniger regelmäßigen Wechsel unterworfen gewesen wäre. Die Gefangenen schliefen, wann immer sie müde wurden, auf dem Boden. Die Mahlzeiten konnte jeder von ihnen selbst bestimmen. Irgendwann öffnete sich in einer der Wände eine Tür. Der Blick auf einen Korridor war frei, der ebenso hell und steril war wie die Zelle, in der Scobee, Palmer und Cronenberg gefangen gehalten wurden. Ein halbes Dutzend Bewaffneter kam den Flur entlang. Sie trugen graue Overalls. In den Händen hielten sie pistolenähnliche Waffen, vermutlich Strahler, die sich von allem unterschieden, was Scobee bisher in der Gettozone gesehen hatte. In ihrer schlichten und sehr funktionellen Kleidung unterschieden sie sich deutlich von den martialischen Gangkriegern des Gettos. Gleichgültig ob man nun an die Fedayyin dachte oder an Almighty und seine Leute. Die drei Gefangenen blickten den Bewaffneten verwirrt entgegen. »Leisten Sie keinen Widerstand«, sagte einer der Wächter, ein grauhaariger Mann mit blasser Haut. »Wir werden Ihnen Fesseln anlegen und Sie für den Transport fertig machen.« »Transport?«, echote Scobee. »Strecken Sie Ihre Hände aus!« Die Gefangenen gehorchten. Nacheinander wurden ihnen zunächst Handschellen angelegt. Ein aufblinkendes Kontrolllämpchen deutete an, dass sie sich gegenüber ihren äußerlich sehr ähnlichen Verwandten aus dem 21. Jahrhundert weiterentwickelt hatten. Anschließend wurden den Gefangenen Metallringe um die Fußknöchel gelegt. »Aktivieren sie die Dinger«, befahl der Grauhaarige an einen etwas kleineren Mann gerichtet, der ein etwa handgroßes Modul hielt. »Fesseln sind aktiviert«, bestätigte dieser. »Gut.« Der Grauhaarige wandte sich den Gefangenen zu. Sein Gesicht wirkte wie eine regungslose Maske. Nach einer kurzen Pause erklärte er: »Jeder Widerstand wird bestraft. Über die Handfesseln können wir Ihnen Elektroschläge verabreichen, die ausreichen, um Sie außer Gefecht zu setzen. Die Fußfesseln mögen Ihnen nicht als solche erscheinen, solange Sie sich richtig verhalten. Falls Sie zu fliehen versuchen, wird ein Magnetfeld aktiviert, das die Ringe um Ihre Fußgelenke aneinander kettet. Sie werden keinen Schritt mehr machen können!« »Wo sind wir?«, fragte Palmer. Der Grauhaarige musterte ihn. Ein kaltes Lächeln umspielte kurz den dünnlippigen Mund, der ansonsten wie ein gerader Strich wirkte. »In der Einrichtung«, sagte er. »Wo sonst?«
Die Bewaffneten nahmen die Gefangenen in die Mitte und führten sie durch kahle Korridore. Schließlich traten sie ins Freie. Es war Nacht. Scobee wandte den Blick. Sie befanden sich auf dem Dach eines quaderförmigen Gebäudes, dessen Höhe mindestens sechs oder sieben Stockwerke betragen musste. Auf der einen Seite hatte man einen relativ freien Blick auf das nächtliche Lichtermeer des Gettos. Es wurde von dunklen Zonen unterbrochen. Zonen, in denen offenbar niemand lebte. Auf der anderen Seite des Gebäudes begann schon recht bald eine Zone völliger Dunkelheit. Der außerirdische Killerwald, ging es Scobee sofort durch den Kopf. Sie schaltete auf Infrarotsicht um, und ihre Vermutung wurde sofort bestätigt. Ein Fahrzeug, das wie eine größere Version der Hovercars aus dem Getto wirkte, stand dort offenbar abfahrbereit. Weitere Menschen in grauen Overalls - darunter sowohl Männer als auch Frauen - erwarteten die Gefangenen.
»Alles klar zum Start?«, fragte der Grauhaarige an eine Frau mit rotbraunem Pagenschnitt gerichtet. »Der Gleiter ist startbereit«, bestätigte diese. »Verlieren wir keine Zeit.« »Die Sache ist dringend?« »Ja.« Ein Außenschott öffnete sich. Die Gefangenen wurden ins Innere des Gleiters gebracht und nahmen in Schalensitzen Platz, die sich im hinteren Teil des Gefährts befanden. Ein tiefes Brummen war jetzt zu hören. Es ließ den Boden vibrieren. Der Schott schloss sich. Der Grauhaarige setzte sich nach vorn, neben den Piloten. »Tiefflug bis wir den Wald hinter uns haben«, ordnete der Grauhaarige an. »Ich will nicht, dass wir wie ein UFO am Gettohimmel erstrahlen.« »Verstanden.« Ein Ruck ging durch den Gleiter. Er hob ab und schwebte davon. Im hinteren Teil des Gleiters gab es keine Sichtfenster. Um nach draußen zu sehen waren die Gefangenen auf den Ausschnitt angewiesen, denen ihnen Front und Seitenscheiben im vorderen Teil boten. Scobee registrierte noch, dass der Gleiter die Waldzone erreichte. Dann hob sich die Vorderschnauze des Gleiters ein paar Grad in die Höhe. Der Gleiter stieg. Für die Gefangenen hieß das, dass sie nichts weiter als die Dunkelheit der Nacht sehen konnten. Das Summen des Motors wurde etwas lauter und höher. Cronenberg erkundigte sich mehrfach danach, wohin sie gebracht würden. Er erhielt keinerlei Antwort. Die Wächter in grau ignorierten ihn einfach. Endlich senkte sich die Vorderseite des Gleiters wieder. Er schien sich im Landeanflug zu befinden. Ein großes Lichtermeer wurde sichtbar. Eine gewaltige Stadt lag vor ihnen. Ein Metrop!, durchfuhr es Scobee. Inmitten dieser weiträumigen Stadtlandschaft erhob sich ein gewaltiger, beleuchteter Turm...
Mehrere Tage waren seit der Flucht von Cronenberg und seinen Getreuen vergangen. Xander Hays war inzwischen eingehend befragt worden, aber niemand im Rebellenhauptquartier maß seiner Aussage irgendeine weiterführende Bedeutung zu. Cronenbergs Ziele schienen verworren zu sein. Außerdem war er sich offenbar mit Palmer nicht einig darüber, wie es weitergehen sollte. Cloud erhoffte sich von Hays' Befragung vor allem Aufschluss darüber, was Scobee dazu getrieben hatte, Cronenberg zu unterstützen. Aber was diesen Punkt betraf, war der ehemalige Leiter des US-Telepathenprojekts nicht sonderlich gesprächig. »Was erwarten Sie?«, fragte Hays. »Die GenTec-Matrix ist letztlich doch nichts weiter als eine Art biologischer Roboter.« »Dieses Vorurteil habe ich auch einmal gehabt«, erwiderte Cloud. »Es ist kein Vorurteil.« »Wie meinen Sie das?« »Es ist die reine Wahrheit. Und jetzt lassen Sie mich in Frieden! Wenn ich wüsste, wo die drei sind oder wo ihr Ziel sein könnte, würde ich es Ihnen sagen! Ich hätte gar keinen Grund dazu, es Ihnen zu verschweigen! Schließlich haben die mich einfach zurückgelassen! Ich wette, denen war es vollkommen gleichgültig, was mit mir geschieht. Wenn Sie mich nicht gefunden hätten - wer weiß, was dann aus mir geworden wäre! Diese Leute aus der Ciudad Latina waren nämlich alles andere als zimperlich...«
Es hat keinen Sinn, dachte Cloud. Er weiß nichts. Nichts, das uns weiterbringen könnte. »Hat mich ganz schön erwischt«, meine Hays anschließend. Er wandte sich an Guonang, unter dessen Leitung die Befragung stattfand. »Mir brummt immer noch der Schädel. Außerdem tut mir bei der kleinsten Bewegung alles weh...« »Sie werden keine bleibenden Schäden davontragen«, versicherte Guonang. Hays schloss die Augen. »War kein guter Start - nach zwei Jahrhunderten Staseschlaf...«
In den vergangenen Tagen hatte Cloud gegenüber Shen Sadako immer wieder darauf gedrängt, die Flüchtigen weiter zu verfolgen. Notfalls auch in Dar-al-Arabya, wo sie untergetaucht zu sein schienen. Aber Shen Sadako hatte dieses Ansinnen stets ziemlich brüsk und entschieden abgelehnt. Cloud wusste, dass er diese Entscheidung letztlich akzeptieren musste. Ihm blieb gar keine andere Wahl. Sich auf eigene Faust auf die Suche zu machen, schied schon deshalb aus, weil er viel zu wenig über das Leben in der Gettozone wusste, um in ihr überleben zu können. Zumindest nicht in Freiheit. Wenn die Rebellen ihn nicht sofort fanden, so wäre er vermutlich innerhalb von 24 Stunden in die Hände einer der rivalisierenden Gangs gefallen. Außerdem gab es da noch Aylea und Jelto, die er weder bei den Rebellen zurücklassen wollte, noch auf eine derartige Suche hätte mitnehmen können. Der Hauptgrund war jedoch ein anderer. Die Pläne des Rebellenführers interessierten Cloud. Er hatte von einem entscheidenden Schlag gegen die Invasoren gesprochen. Wenn Cloud in dieser Hinsicht mehr erfahren wollte, musste er in der Nähe Shen Sadakos bleiben. Sarah Cuthbert schien ähnlich zu denken. Jedenfalls unternahm sie im Gegensatz zu Cronenberg keinerlei Versuch, das Hauptquartier der Rebellen zu verlassen. In wie weit der Rebellenführer sie in die Details seiner Pläne eingeweiht hatte, konnte Cloud schwer einschätzen. Zunächst einmal ging er davon aus, dass sie auf dem gleichen Wissensstand war wie er selbst. Bei den wenigen Gesprächen, die er inzwischen mit der Ex-Präsidentin hatte führen können, war er diesbezüglich nicht schlauer geworden. Es war früh am Morgen, als Shen Sadako Cloud zu sich rufen ließ. Er empfing Cloud in seinen Privaträumen und führte ihn auf einen Balkon, von dem aus man einen weiten Blick über die chaotische Stadtlandschaft des Gettos hatte. Nebel kroch durch die engen Gassen dieses verwinkelten, wild wuchernden Ameisenbaus. »Sie wollten mich sprechen?«, fragte Cloud. »Wir hatten über einen Mittelsmann Kontakt zur Führung der Fedayyin.« »Gibt es eine Spur von Scobee und Cronenberg?« »Leider nein. Nach Ansicht der Fedayyin befinden sich die Flüchtigen nicht mehr in Dar-alArabya. Ich hoffe, dass diese Aussage der Wahrheit entspricht.« Cloud hob die Augenbrauen. »Wie soll ich das verstehen?« »Dass jemand wie Cronenberg frei im Getto herumläuft beunruhigt mich. Noch mehr beunruhigen würde mich allerdings, wenn jemand den Fedayyin für die Flüchtlinge einen höheren Preis geboten hätte als wir...« »Wer sollte das sein?« Auf diese Frage ging Shen Sadako nicht weiter ein. Er ignorierte sie einfach. Der Rebellenführer wandte sich ab, blickte einige Augenblicke lang nachdenklich hinaus in die Nacht. Er winkte in sich gekehrt. Augenblicke des Schweigens folgten. Die Geräusche des Gettos drangen zu ihnen herauf auf den Balkon.
»Sie haben in den letzten Tagen immer wieder geäußert, dass Sie einen Schlag gegen einen der Türme für unmöglich halten, Cloud«, sagte der Rebellenführer schließlich in einem gedämpften Tonfall. »Das ist richtig«, bestätigte Cloud. »Ich möchte Ihnen etwas mehr darüber erzählen, dann werden Sie Ihre Ansicht vielleicht ändern. John Cloud wartete stumm darauf, dass Sadako fortfuhr. »Natürlich will niemand von uns, dass es eine zweite Katastrophe gibt, wie sie der Schlag gegen das Äskulap-Schiff in Peking verursacht hat.« »Und wie wollen Sie das schaffen?«, hakte Cloud nach. Der Zweifel schwang unüberhörbar in seinem Tonfall mit. »Indem wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Unser Ziel ist nicht die Vernichtung des Washingtoner Turms, sondern seine Eroberung.« »Und Sie glauben, dass die Invasoren das zulassen werden?« »Es hat niemand behauptet, dass es einfach wird. Nur, dass eine gute Chance besteht.« Shen Sadako sah John Cloud nicht an, während er weiter sprach. »Wir haben alles lange Zeit vorbereitet. Es wird einen Schlag mit gewaltigen militärischen Mitteln geben. Das ist auch notwendig, denn wir werden nicht viel Zeit haben. Wie der Blitz aus heiterem Himmel werden wir zuschlagen, den Turm erobern und seine Bewohner, die ominösen Master, in unsere Gewalt bringen. Niemand kennt ihre Gestalt oder weiß, wer sich hinter diesem Begriff eigentlich verbirgt. Aber wir sind überzeugt davon, dass es Mittel und Wege gibt, sie zu beeinflussen, wenn wir sie in unserer Gewalt haben.« »Sie beabsichtigen mit Hilfe gefangener Master den Turm zu beherrschen!«, schloss Cloud. Shen Sadako nickte. Er wandte den Kopf in Clouds Richtung. Seine dunklen Augen schienen Cloud geradezu zu durchbohren. Ein überlegenes Lächeln stand in seinem Gesicht. »Das Äskulap-Schiff - nicht den Turm!«, korrigierte er schließlich. »Es handelt sich um ein Raumschiff, vergessen Sie das nicht! Mit Hilfe gefangener Master werden wir den Turm von Washington in seine ursprüngliche Form zurückverwandeln.« »Damit hätten Sie ein Schiff in Ihrer Gewalt! Aber die Machtbasis der Master auf der Erde dürfte damit noch in keiner Weise gefährdet sein«, gab Cloud zu bedenken. »Ein harter Gegenschlag der anderen Seite, und diese Revolte ist zerschlagen. Wahrscheinlich gerät dann auch Ihre Organisation ins Blickfeld der Invasoren. Sie werden den Geheimbund OMIKRON mit Stumpf und Stil vom Antlitz der Erde tilgen.« »Ich bin Realist genug, um die Machtverhältnisse auf der Erde richtig einzuschätzen, Cloud. Wir beabsichtigen lediglich die Eroberung eines Äskulap-Schiffes, das uns anschließend als Operationsbasis dienen kann. Bei Aufbietung all unserer Mittel können wir dieses Ziel mit etwas Glück erreichen. Die Befreiung der gesamten Erde wäre wahrscheinlich in einem Jahrtausend für uns noch nicht möglich. Die Überlegenheit der anderen Seite ist einfach zu groß.« Shen Sadako lächelte, als er den Ausdruck von Überraschung in Clouds Gesicht bemerkte. »Sie haben mich vielleicht für einen idealistischen Träumer oder einen fanatischen Selbstmörder gehalten - aber ich bin weder das eine noch das andere. Ich bin Realist.« Cloud ging auf diese Bemerkung nicht weiter ein. Der Begriff Realismus im Zusammenhang mit Shen Sadakos Plänen erschien Cloud nach wie vor ziemlich unpassend. Die Machtbasis der Master bestand ja nicht nur auf der Erde. Mit Hilfe der ihnen ergebenen Menschen, den Erinjij, beherrschten sie schließlich große Gebiete der Galaxis. Mit einem einzigen Raumschiff gegen eine derartige Macht anzutreten, war eher tollkühn als realistisch zu nennen. In Shen Sadakos Augen blitzte es jetzt. Er schien von seinem Plan vollkommen erfüllt zu sein. Jahrelang hatte er auf die Verwirklichung warten müssen, jetzt stand dieser Augenblick offenbar kurz bevor.
Er hat diesem Plan sein Leben gewidmet, erkannte Cloud. Er sich dieser Idee auf ähnliche Weise geweiht wie andere Menschen einer Religion. Auf die Dauer verliert man wahrscheinlich jede kritische Distanz... »Mal vorausgesetzt, Sie schaffen es tatsächlich, mit einem zurückverwandelten Äskulap-Schiff ins All zu entkommen... »Sie halten das für aussichtslos?« »...wie geht es dann weiter? Die Flotte der Erinjij wird Sie jagen und wahrscheinlich werden Sie nicht lange überleben. Vielleicht schaffen Sie es noch nicht einmal, das Sonnensystem zu verlassen.« Shen Sadako schüttelte den Kopf. »Sie denken zu negativ, Cloud.« »Erklären Sie es mir!« »Die Position der Erde ist in der Galaxis geheim. Dieses Geheimnis stellt eine Basis für die Machtposition der Master dar. Die Feinde der Erinjij haben keinerlei Möglichkeit, einen wirklich vernichtenden Schlag zu führen. Mein Plan ist es, mit diesen Feinden Kontakt aufzunehmen und ihnen die Position der Erde zu verraten. Die Allianz CLARON zum Beispiel wartet doch schon seit langem auf eine Möglichkeit, endlich gegen das Machtzentrum des Erinjij-Reichs vorgehen zu können!« Der Rebellenführer ballte die Hände zu Fäusten. Er schien fest entschlossen zu sein, seinen Plan durchzuführen, gleichgültig welche Einwände dagegen noch vorgebracht werden konnten. »Ich bin überzeugt, dass dies der einzige Weg ist, die Erde zu befreien, Cloud!« »Ihr Plan könnte auch zur Vernichtung der Erde führen!«, gab Cloud zu bedenken. Shen Sadako lächelte dünn. »Ich frage mich, wie Sie trotz Ihres offensichtlichen Mangels an Optimismus je die Reise zum Mars antreten konnten, Cloud!«, versetzte er schneidend. »Es ist etwas anderes, ob man ein persönliches Risiko für sich selbst in Kauf nimmt oder eine Entscheidung trifft, die möglicherweise Millionen von Menschen das Leben kosten kann! Selbst wenn es Ihnen gelingen sollte, eine zweite Pekingkatastrophe zu verhindern, birgt Ihr Plan jede Menge unwägbare Gefahren. Woher nehmen Sie zum Beispiel die Sicherheit, dass die Feinde der Erinjij die Erde und mit ihr die Menschheit nicht einfach vernichten, anstatt sie zu befreien? In meinen Augen wäre das wesentlich näher liegend!« »Sie sind ein Schwarzseher«, meinte Shen Sadako. Die Würfel sind gefallen, dachte John Cloud. Ganz gleich, was ich auch sage - Shen Sadako wird sich von seinem Plan nicht mehr abbringen lassen! Auch das Risiko für die Erde scheint ihn nicht abzuschrecken. Entgegen seiner Behauptung, ein Realist zu sein, war der Rebellenführer offenbar doch eher ein Vabanque-Spieler. Cloud setzte daher mit seinen Bedenken an einem anderen Punkt an. »Ich glaube, Sie stellen sich die Eroberung eines Turms entschieden zu einfach vor«, erklärte er. »An die Pekingkatastrophe muss ich Sie ja wohl nicht erinnern...« »Diesen Punkt hatten wir schon, Cloud. Wir haben die Pekingkatastrophe sehr genau unter die Lupe genommen, um etwas Ähnliches zu vermeiden.« »Die Mission des Klon-Agenten, den Ihr Vorfahre ins Innere des Äskulap-Raumers schickte, endete in einem Fiasko.« »Aber diesmal werden wir es schaffen! »Sie selbst haben mir berichtet, dass Ihr Klon-Agent nur an sein Ziel gelangen konnte, weil er sich seiner Mission nicht bewusst war!« »Das ist richtig.« »Bei einem Angriff, wie Sie ihn mir schildern, kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass die daran Beteiligten nicht wissen, was sie tun. Das müssten sie aber, denn von diesen Türmen ist irgendeine Form mentaler Beeinflussung möglich, die sofort aktiviert werden kann! Folglich ist ein Angriff auf die Türme zum Scheitern verurteilt.«
Shen Sadako lächelte. »Ihnen fehlt einfach die nötige Detailkenntnis, Cloud, sonst würden Sie mich verstehen.« Der Nachfahre des letzten Kaisers trat näher an Cloud heran. »Vertrauen Sie mir einfach!« Eine Pause entstand. Ich rede gegen eine Wand, erkannte Cloud. Eine Wand, an der meine Einwände wirkungslos abprallen. Das Gespräch über den Klon-Agenten hatte ihn auf einen anderen Gedanken gebracht. »Wurde das Klon-Programm des letzten Kaisers eigentlich in irgendeiner Form weiterverfolgt?«, fragte Cloud für seinen Gesprächspartner etwas unvermittelt. Im ersten Augenblick schien Shen Sadako über diese Frage etwas überrascht zu sein. Er schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein... Unsere Organisation hätte dazu nicht die Mittel gehabt.« Irgendetwas enthält er mir noch vor, überlegte Cloud. Gründet sich der unerschütterliche Glaube an den Erfolg des bevorstehenden Schlages wirklich nur auf Fanatismus und Verblendung durch eine Art fixe Idee, an der jeder Zweifel von vornherein ausgeschlossen ist? Betrügt ein Mann, der es geschafft hat, im Schatten der Master eine gut funktionierende Rebellenorganisation aufzubauen, sich tatsächlich in so eklatanter Weise selbst, indem er Fakten einfach aus seinem Bewusstsein ausblendet? Cloud kam der Verdacht, dass noch etwas mehr hinter der Erfolgszuversicht seines Gegenübers steckte. Irgendeine Trumpfkarte, die der Rebellenführer bis jetzt vielleicht noch im Ärmel versteckte. »Sie zweifeln noch immer, Cloud!« Eine Feststellung, keine Frage. Shen Sadako lächelte und rief seine Leibwächter herbei. Anschließend wandte er sich an Cloud. »Kommen Sie, ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Die Wächter nahmen sie in die Mitte und geleiteten sie durch die Korridore des Rebellenhauptquartiers. Wenig später wurde Cloud in einen gut bewachten Raum geführt. Auf einem Tisch lag ein etwa einen Meter langer und halb so breiter Kasten, der aus einem metallischen Material zu bestehen schien. Der Rebellenführer betätigte einen Knopf an der Seite, und der Kasten öffnete sich. Im Inneren flimmerte etwas, das auf Cloud wie eine energetische Barriere wirkte, die den Inhalt schützte. Dieser bestand aus einem zylinderförmigen Gegenstand, an dessen ebenfalls metallischer Oberfläche sich vor Clouds Augen etwas veränderte. Mehrere Kontrollanzeigen bildeten sich, Symbole wurden sichtbar, die zu irgendeinem virtuellen Eingabe-Menü gehören mussten. Cloud zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass dieses Gerät außerirdischer Herkunft war. Schon die Tatsache, dass es auch innerhalb der Gettozone offenbar völlig problemlos funktionierte, sprach dafür. »Das ist die Bombe, die wir diesmal verwenden werden«, erklärte Shen Sadako. »Ich dachte, Sie hätten aus dem Fehlschlag Ihres Vorfahren gelernt«, erwiderte Cloud. »Das habe ich.« »Es wird zu einer zweiten Katastrophe kommen!« »Keinesfalls. Es wird nicht zu einer Anomalie-Verseuchung kommen. Diesmal nicht! Die Bombe wird durch Freisetzung einer bestimmten Strahlungskomponente dafür sorgen, dass die Master erst einmal schnell und sauber außer Gefecht gesetzt werden. Ohne eine Chance der Gegenwehr.« John Cloud schluckte. Mit wem ist Shen Sadako eine Allianz eingegangen?, durchzuckte es ihn. Offenbar standen hinter der Rebellenorganisation weitaus größere Kräfte, als er bisher angenommen hatte...
Der Gleiter landete auf dem Vorplatz des Turms. Das Außenschott öffnete sich. Die grau gekleideten Wächter nahmen Cronenberg, Palmer und Scobee in die Mitte und führten sie auf den Eingang des Turms zu. Sie gelangten ins Innere und wurden durch lange, breite und hell erleuchtete Korridore geführt. Die Menschen, denen sie begegneten, trugen überwiegend die gleichen grauen Overalls wie jene Wächter, die das Trio aus der Gettozone geholt hatten. Erinjij, dachte Scobee. Menschen, die den neuen Herren der Erde ergeben waren. »Ich möchte mit jemandem reden, der hier etwas zu sagen hat!«, forderte Cronenberg. »Habt ihr nicht gehört?« Die Wächter ignorierten die Forderungen des ehemaligen NCIA-Chefs schlichtweg. Wenig später brachte man sie alle drei in eine Zelle, die in allen Details jener glich, in der man sie in der Einrichtung gefangen gehalten hatte. »Scheint so, als wäre Ihr Typ hier nicht sonderlich gefragt«, stichelte Palmer. Sie hatten gerade Zeit genug, ihren Hunger durch das Angebot des Nahrungsspenders zu stillen, als zunächst Cronenberg von Wächtern abgeholt wurde. Wenig später geschah dasselbe mit Palmer und Scobee, und man brachte sie in verschiedene Räume. Scobee registrierte noch, dass sich etwa ein halbes Dutzend Personen im Raum befanden, sowohl Männer als auch Flauen. Überall waren Terminals, 3-D-Projektionen und Bildschirme zu sehen. Jemand setzte von hinten ein Gerät an ihren Hals. Es fühlte sich erst kalt an, dann durchlief sie ein Kribbeln — im nächsten Moment wurde ihr schwarz vor Augen...
Als Scobee aus der Bewusstlosigkeit erwachte, befand sie sich auf einer Liege. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber das gelang ihr nicht. Eine Aura aus bläulich schimmerndem Licht umgab sie. »Der Energieschirm fixiert Sie«, stellte eine männliche Stimme fest. »Versuchen Sie nicht, sich zu bewegen. Es ist sinnlos.« Ein Mann trat in ihr Blickfeld. Die hohe Stirn ließ sein Gesicht sehr lang erscheinen. Ein exakt rasierter Knebelbart bildete die markanteste Linie in seinem Gesicht. »Wie ist Ihr Name?«, fragte er. »Scobee.« Sie war überrascht, mit welcher Schnelligkeit sie geantwortet hatte. Vielleicht hatte man ihr Drogen verabreicht, um eventuellen Widerstand von vornherein auszuschalten. »Fürs Erste werde ich Sie so nennen. Auf die Dauer werde ich nur mit der Wahrheit zufrieden sein. Die Unwahrheit bedeutet Schmerz...« »Sie haben mir Drogen verabreicht.« »Wirkstoffe, die Ihre Kooperationsbereitschaft erhöhen«, korrigierte der Bärtige. Schöne Worte für dieselbe hässliche Sache, ging es Scobee durch den Kopf. Eine weibliche Stimme meldete sich zu Wort. Die Frau, zu der sie gehörte, befand sich außerhalb von Scobees Gesichtsfeld. »Der Medo-Scan ist abgeschlossen.« Der Bärtige hob die Augenbrauen. »Was glauben Sie, wie viele Vergleichsdaten wir brauchen, damit der Lügendetektor fehlerfrei arbeitet?« »Stellen Sie ein paar Vergleichsfragen mehr. Es gibt da einige Auffälligkeiten in ihrem Metabolismus und der zellularen Struktur.« »Art der Auffälligkeiten?« »Wird noch analysiert.« »Gut.« Der Bärtige bedachte Scobee mit einem Blick, der ihr nicht gefiel. Ein Blick, der viel von der Art und Weise an sich hatte, mit der Cronenberg sie zu betrachten pflegte. Als ein Objekt. Eine Sache. Ein Stück Fleisch. Eine zellulare Besonderheit.
»Sie waren in Dar-al-Arabya?«, fragte der Bärtige. »Ja.« »Sie sind mit einem Gleiter hierher gebracht worden?« »Ja.« »Sie waren zu dritt?« »Ja.« »Sie sind im Wald gelandet, der die Gettozone umgibt.« »Nein.« Scobee antwortete wie automatisch. »Das genügt«, stellte die weibliche Stimme fest. »Wir haben genug Vergleichsdaten, Sie können jetzt gezielte Fragen stellen.« Der Bärtige nickte. Scobee schlug der Puls bis zum Hals. Sie war erschrocken darüber, mit welcher Automatenhaftigkeit sie geantwortet hatte. Als ob jeglicher Filter zwischen mir und der Außenwelt verschwunden ist!, dachte sie schaudernd. Es war ihr bewusst, dass sie vermutlich über alles Auskunft geben würde, was der Bärtige wissen wollte. Und sollte ich doch die innere Kraft zum Widerstand aufbringen, wird man mir Schmerzen zufügen... Sie dachte daran, sich ihre Körperfunktionen so weit herunterzufahren, dass sie in einen todesähnlichen Zustand geriet. Vielleicht ist das ein Ausweg. »Sie sind hier, um den Mastern zu schaden?« »Nein.« Die Master – offenbar die entscheidende Instanz in diesem Turm. Die ominösen Herren der Erde... »Wer hat Sie geschickt?« »Ich folgte Cronenberg.« »Welcher Ihrer Begleiter ist das?« »Der Größere der beiden Männer, die mit mir gefangen genommen wurden.« »Er ist der Anführer Ihrer Gruppe?« »Ja.« »Was sind seine Pläne?« »Ich weiß es nicht.« »Sind Sie ein Klon?« »Ja.« »Hat man Sie genetisch konditioniert?« »Ich gehorche Cronenberg.« Alles in ihr sträubte sich dagegen, irgendetwas über den ehemaligen NCIA-Chef preiszugeben. Der Teil von ihr, der Cronenberg Gehorsam leistete, glaubte, ihn damit zu verraten. Etwa, das ihr genetisches Programm nicht zulassen durfte. Andererseits verhinderten die Wirkstoffe, die man Scobee verabreicht hatte, dass sie sich gegen die Fragen verschließen konnte. Blieb nur ein Ausweg. Der kontrollierte Scheintod... Sie versuchte, ihren Metabolismus dahingehend zu beeinflussen. »Achtung. Medizinische Parameter verändern sich rapide«, stellte die weibliche Stimme fest. »Ein Kollaps droht.« »Sehen Sie zu, dass Sie das aufhalten!« Ein dunkler Vorhang legte sich über Scobees Bewusstsein...
Als Scobee erwachte, fand sie sich zusammen mit Palmer und Cronenberg in der Zelle wieder. »Wie ich sehe, hast du versucht, unsere Freunde mit deiner Fähigkeit zum todesähnlichen Winterschlaf zu täuschen«, stellte Cronenberg fest.
Ehe Scobee etwas sagen konnte, meldete sich Palmer zu Wort. »Ich wette, dass die uns nur deshalb in einer Zelle unterbringen, damit sie unsere Gespräche belauschen und auswerten können«, meinte er. »Also gebrauchen Sie Ihren Verstand, bevor Sie den Mund aufmachen!« Cronenberg lachte heiser. Er ging auf und ab. Dann blickte er auf Scobee hinab. »Das medizinische Equipment, das den Mastern zur Verfügung steht, ist dermaßen fortgeschritten, dass wir davon ausgehen können, dass niemand auf Scobees Todesschlaf hereingefallen ist.« »Master...«, murmelte Scobee nachdenklich. Erinnerungsfetzen tauchten in ihrem Bewusstsein auf. Bilder wie aus einem Traum. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren. Dutzende von Fragen hallten in ihrem Kopf wider. Dazu der Klang ihrer eigenen Stimme, der ihr sehr fremd erschien. So sehr sie es auch versuchte, sie konnte sich nur bis zu dem Punkt klar erinnern, da sie ihren Metabolismus heruntergefahren hatte. Oder es zumindest versucht habe!, überlegte sie schaudernd. Wie kann ich mit Sicherheit wissen, was danach geschehen ist? Vielleicht bin ich in einem hypnoseartigen Zustand weiterverhört worden und kann mich jetzt nicht mehr klar erinnern. Scobee erhob sich. »Bist du einem Master begegnet, Scobee?«, fragte Cronenberg. Sie sah ihn erstaunt an. »Nein. Warum fragst du?« »In den Verhören, denen Palmer und ich unterworfen wurden, wurde dieser Begriff immer wieder verwendet. Sie haben es hier zu sagen, die Menschen sind nur Handlanger...« »Wussten wir das nicht längst?« »Aber jetzt ist es Gewissheit! Ich habe verlangt, mit einem dieser Master sprechen zu dürfen. Aber auf diese Forderung ist niemand eingegangen.« »Diese Außerirdischen wollen einfach nichts von Ihnen wissen, Cronenberg!«, ätzte Palmer. Der ehemalige NCIA-Chef warf ihm daraufhin einen finsteren Blick zu: »Sagen Sie bloß, dass Sie erfolgreicher gewesen sind!« Eine Pause des Schweigens entstand. Cronenbergs Gesicht war dunkelrot angelaufen. Er ging in die andere Ecke des Raums und ließ sich auf dem Boden nieder. »Was hast du ihnen gesagt, Reuben?«, frage Scobee schließlich. »Die Wahrheit. Was sonst. Alles andere wäre sinnlos gewesen. Fragt sich nur, was sie davon halten...« Er fuhr sich mit einer Handbewegung über das Gesicht. »Als sie dich hereinbrachten, warst du übrigens nur bewusstlos, aber nicht in einem todesähnlichen Winterschlaf.« »Woher weißt du das?« »Ich habe deinen Puls gefühlt. Er war sehr niedrig. Niedriger als bei jedem Menschen, den man noch als lebendig bezeichnen könnte. Aber ich konnte ihn spüren. Das bedeutet wohl, du hast es versucht, aber sie konnten es verhindern.« >Niedriger als bei jedem Menschen<, echote es in Scobees Gedanken wider. Er sagt das so, als würde er mich nicht zur Menschheit dazuzählen. Eine Tür öffnete sich. Der Bärtige erschien in Begleitung von zwei bewaffneten Wächtern. »Scobee?« »Ja?« »Folgen Sie uns!« »Weitere Verhöre? Was wollen Sie damit bezwecken? Sie wissen doch inzwischen alles über mich.« Das Gesicht des Bärtigen blieb eine kühle Maske. Er musterte Scobee einen Augenblick lang. »Die Master möchten Sie sehen...« »Nur mich?« »Nur Sie.« Cronenberg war außer sich. Er sprang auf, wollte vortreten, doch einer der Bewaffneten hielt ihm den Strahler entgegen. »Treten Sie zurück!«, forderte der Bärtige.
»Sie müssen mich den Mastern vorstellen!«, rief der ehemalige Geheimdienstchef. »Ich kann Ihnen nur raten, keine Schwierigkeiten zu machen«, war die kühle Erwiderung des Bärtigen. Palmer schien ebenso verwundert zu sein wie Cronenberg. Er musterte Scobee mit einem abschätzigen Blick. »Irgendetwas müssen die an dir gefunden haben.« Die Wächter nahmen Scobee in die Mitte und führten sie in den Korridor hinaus. Sie folgte ihnen ohne ein weiteres Wort...
»Du siehst sehr nachdenklich aus«, sagte Aylea. Das zehnjährige Mädchen sah John Cloud fragend an. »Hat es damit zu tun, dass Scobee verschwunden ist?« »Ja, damit auch«, entgegnete Cloud. »Also ist es nicht der einzige Grund?« »Richtig.« »Wie lange werden wir noch hier bleiben?«»Ich habe keine Ahnung, Aylea.« Jelto der Florenhüter war ebenfalls im Raum. Er wirkte in sich gekehrt. »Ihm fehlen seine Kinder«, gab Aylea eine Erklärung. »Ich glaube, seine Sehnsucht nach ihnen macht ihm immer stärker zu schaffen, je länger er von ihnen getrennt ist.« »Ich fürchte, ich kann ihm leider nicht helfen.« Aylea nickte ernst. »Ich weiß.« Bei einem so kleinen Kind wirkte die Geste seltsam. Ich darf nicht vergessen, dass ihr IQ viel höher ist als meiner. Alles was ihr fehlt, ist Erfahrung. Clouds Gedanken schweiften ab. Lange noch hatte er mit Shen Sadako über die Sinnhaftigkeit seines Plans diskutiert. Aber der Entschluss des Rebellenführers stand fest und war durch nichts zu erschüttern. Auch der Einwand, dass dieser Plan vielleicht den Tod von Millionen Menschen zur Folge haben konnte, war an dem Nachfahren des letzten chinesischen Kaisers mehr oder minder abgeprallt. Cloud hatte ihn auch mehrfach nach der Herkunft der Bombe gefragt. Der Rebellenführer war darauf nicht weiter eingegangen. Vielleicht ist er auch nur die Marionette in einem Spiel, das viel größer ist, als ich bisher vermutete..., überlegte Cloud. Wer konnte schon ein Interesse daran haben, dem Anführer des Geheimbundes OMIKRON eine Hightech-Bombe zur Verfügung zu stellen, die offenbar ganz speziell geeignet war, den Plan des Rebellenführers zum Erfolg zu führen. Die äußeren Feinde der Erinjij wie beispielsweise die Allianz CLARON kamen dafür kaum in Frage. Schließlich war ihnen die Position der Erde unbekannt. Gibt es vielleicht unter den Mastern, die von den Türmen der Macht aus die Erde regieren, unterschiedliche Interessengruppen?, fragte sich Cloud angesichts der außerirdischen Unterstützung, die OMIKRON offenbar besaß. Interessengruppen, deren Konflikte jetzt anscheinend einen Eskalationspunkt erreicht hatten, der in einem Schlag gegen den Turm von Washington kulminieren wird... Die andere Möglichkeit war, dass die Rebellen selbst die außerirdische Technologie weiterentwickelt und ihren Bedürfnissen angepasst hatten. Aber wenn man die Probleme bedachte, die ihnen die Handhabung eines extraterrestrischen Ortungsgerätes innerhalb der Gettozone bereitet hatte, war das eher unwahrscheinlich. Wer unterstützt OMIKRON? Das schien für Cloud die entscheidende Frage zu sein. Über das primitive Interkomsystem des Hauptquartiers ertönte ein schrilles Signal. Gleich drauf war eine Stimme zu hören, die sämtliche Rebellen dazu aufrief, das Getto über die unterirdischen Tunnel zu verlassen.
Anschließend erklang Shen Sadako Stimme selbst. »Unsere Pläne treten in eine entscheidende Phase. Der Schlag gegen die Master steht unmittelbar bevor. Sollten unsere Feinde einen Gegenschlag unternehmen, so werden sie innerhalb des Gettos niemanden mehr von uns finden. Finden Sie sich bei den Sammelstellen zum Abtransport ein. Es kommt jetzt auf jeden Einzelnen von Ihnen an.« »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Aylea. »Ich weiß es noch nicht«, antwortete Cloud. »Wenn wir das Getto verlassen - heißt das, ich kann zurück zu meinen Kindern?«, meldete sich Jelto zu Wort.
Cloud, Aylea und Jelto fanden sich zusammen mit den Rebellen bei den unterirdischen Sammelpunkten ein. Man konnte sie nicht verfehlen. An allen Verzweigungen standen Posten und sorgten dafür, dass die Evakuierung schnell und reibungslos vonstatten ging. An den Sammelstellen befanden sich Fahrzeuge, deren Kabinen jeweils etwa ein Dutzend Personen fassten. Cloud und seine Begleiter begaben sich zusammen mit einigen Rebellen in eine der Kabinen. Er entdeckte Sarah Cuthbert unter den Insassen. Ein summender Elektromotor wurde angelassen. Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Es fuhr in einem recht langsamen Tempo hinter einem anderen, baugleichen Wagen her. Scheinwerfer erhellten die dunklen Tunnel. Die Fahrt dauerte lange. Schließlich erreichte die Schlange der einander dicht folgenden Fahrzeuge einen gewaltigen, hallenartigen Raum. Er war beleuchtet. Ein Blick durch seitliche Fenster zeigte Cloud, dass es sich um einen gewaltigen Hangar handelte. Hochmodernes Kampfgerät war hier finden. Vorrichtungen zum Abschuss von Lenkwaffen, Laserkanonen und große, aerodynamisch perfekt wirkende Vehikel, bei denen Cloud annahm, dass es sich um irgendeine Art von Atmosphären-Gleitern handelte. »Wo sind wir hier?«, fragte Aylea. »Da sind ja sogar gepanzerte Kampfgleiter! So etwas habe ich bislang nur im Netz gesehen!« Der Wagen hielt. Sie stiegen aus. Lautsprecheransagen hallten durch den Hangar. Verschiedene Einsatzgruppen wurden zusammengerufen. In einiger Entfernung entdeckte Cloud den Rebellenführer. Shen Sadako erteilte seinen Unterführern offenbar Anweisungen. Mit diesem Kriegsgerät soll offenbar der Angriff auf Washington erfolgen!, durchzuckte es Cloud. Der Schlag gegen die Master stand unmittelbar bevor...
Am Ende des Korridors war eine Tür. Scobees Blick war starr geradeaus gerichtet. Sie fühlte eine innere Anspannung, die mit kaum etwas anderem zu vergleichen war. Schauder überliefen sie. Endlich werde ich Angehörigen jener Spezies begegnen, die vor mehr als zwei Jahrhunderten die Erde in einem Handstreich eroberten, ging es ihr durch den Kopf. Die die Menschen zu Erinjij gemacht haben. Ein Strudel unterschiedlichster Emotionen toste in Scobees Innerem.
Da war einerseits Hass auf diese fremden Invasoren, die der Menschheit rücksichtslos ihr eigenes System aufgezwungen hatten und sie mehr oder weniger nur als nützliches Werkzeug zu betrachten schienen. Aber die Neugier war ebenso stark. Alles, was sie bisher über die Master wusste, war, dass ihre technischen Fähigkeiten unermesslich groß waren. Die Tür öffnete sich. »Gehen Sie weiter«, forderte der Bärtige. Scobee machte ein paar Schritte nach vorne und betrat denn den hell erleuchteten Raum. Sie erstarrte mitten in der Bewegung, blickte den Gestalten entgegen, die auf sie warteten. Ihre Augen weiteten sich, der Mund blieb offen. Fassungslosigkeit spiegelte sich in ihren Zügen wider. Sie schluckte. Wie oft hatte sie sich in Gedanken ausgemalt, wer wohl die geheimnisvollen Beherrscher der Türme sein mochten. Mit allem habe ich gerechnet!, durchzuckte es wie ein greller Blitz ihre Gedanken. Nur nicht damit! In diesem Moment war ein dumpfes Grollen zu hören. Eine starke Erschütterung durchlief den Turm. Mit Mühe hielt Scobee das Gleichgewicht. »Höchste Alarmstufe! Der Turm wird angegriffen!«, meldete eine Stimme. ENDE Sie lasen einen Roman mit der Bastei Zinne. Wo gute Unterhaltung zu Hause ist. Sie finden uns im Internet: unter http://www.bastei.de. Hier können Sie aktuelle Informationen zu unseren Serien und Reihen abrufen, mit anderen Lesern in Kontakt treten, an Preisausschreiben und Wettbewerben teilnehmen oder in Fan-Shops stöbern. Schauen Sie mal rein - es lohnt sich!