Atlan ‐ Die Abenteuer der SOL Nr. 546 All‐Mohandot
Offensive der Ebenbilder von Arndt Ellmer
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Atlan ‐ Die Abenteuer der SOL Nr. 546 All‐Mohandot
Offensive der Ebenbilder von Arndt Ellmer
Die Sol am Scheideweg
Seit Dezember des Jahres 3586, als die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Schließlich ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Jetzt schreibt man an Bord des Schiffes den Anfang des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete. Während Atlan sich gegenwärtig mit der abgekoppelten SZ‐2 in Flatterfeld aufhält, wo er sich mit den Dienern der unbekannten Macht auseinandersetzt, die für die planetenvernichtenden Nickelraubzüge verantwortlich sind, bekommt Chart Deccon auf der Rest‐SOL mehr und mehr die Folgen seiner mit den Alphas eingegangenen Verbindungen zu spüren. Lähmendes Entsetzen macht sich an Bord des Schiffes breit, denn es kommt zur OFFENSIVE DER EBENBILDER …
Die Hauptpersonen des Romans: Chart Deccon ‐ Der High Sideryt flieht. Order‐1 bis Order‐10 ‐ Die Ebenbilder beginnen ihre Offensive. Die Troiliten ‐ Eine unheimliche Macht wird aktiviert. Hage Nockemann ‐ Der Galakto‐Genetiker ist ratlos. Teddy ‐ Ein Extra auf der Jagd.
PROLOG »Chart, küß mich. Küß mich zum letzten Mal!« Die dünne Stimme Tineidbha Daraws sank zu einem Flüstern herab, und ein Zittern durchlief ihren Körper. »Chart, schnell!« Mit steinernem Gesicht stand Chart Deccon am Todeslager des High Sideryt. Mit dunklen, tiefliegenden Augen musterte er den mit einem leichten Tuch bedeckten Körper der abgemagerten Frau. Er sah, daß es zu spät war. Tineidbha erstarrte in einem letzten Aufbäumen. Dann sank ihr Körper auf die weiche Unterlage zurück. Chart Deccon senkte den massigen Kopf, daß das fleischige Kinn sich an der Brust zu einem Wulst aufstaute. Er seufzte. Tineidbha Daraw hatte ihn geliebt. Die alte Frau hatte einen Narren an dem jungen Solaner gefressen. Er hatte in seinem Amt als Magnide eine Krise der SOLAG erfolgreich gemeistert. Das hatte ihn in ihren Augen zusätzlich aufgewertet. Deccon sah wieder auf. Einen letzten, langen Blick warf er auf die Tote, dann schritt er langsam hinaus. Es war ihm manchmal schwergefallen, die Liebe dieser Frau zu erwidern. Er hatte es getan, weil er schnell erkannt hatte, daß sie ihm den Weg ebnen würde, den Weg nach ganz oben. War es nun endlich soweit? Deccon verließ die Klause des High Sideryt und schritt den Korridor entlang bis zum Eingang der Hauptzentrale. Er betätigte den Öffner und trat ein.
Da standen sie, die übrigen Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit. Ihre Augen waren auf seine Gestalt gerichtet, sie schienen mehr zu wissen als er selbst. Gallatan Herts verzog geringschätzig den Mund. Der kleine, verwachsene Magnide mit dem Spitznamen »Rumpelstilzchen« verhehlte nicht, daß ihm die bevorstehende Entscheidung mißfiel. Gleichzeitig aber trat er zurück und machte Deccon Platz. »Ist es an der Zeit?« fragte der alte Nurmer. Merkwürdigerweise schwiegen die anderen alle. Lediglich Homer Gerigk flüsterte halblaut vor sich hin, bis Deccon ihn mit einem Wink zum Schweigen brachte. In diesem Augenblick begriffen alle Magniden, daß das, was kommen würde, nur noch eine Formalität war. »Sie ist tot. Wir haben keinen High Sideryt mehr«, erwiderte Deccon zurückhaltend. Seine Worte verbreiteten den Hauch des Todes in der Zentrale, den er aus der Klause mit herübergebracht hatte. Seine Gestalt straffte sich. »Nurmer, bitte!« winkte er und kreuzte die Arme vor der Brust. Der älteste unter den Magniden trat an die Kontrollanlagen und berührte mit den Fingerspitzen eine Taste. »Nurmer an SENECA«, sagte er langsam. »Der High Sideryt ist tot!« »SENECA an Schiffsführung«, erklang die wohlmodulierte Stimme der Biopositronik auf. »Ich habe mich vom Tod Tineidbha Daraws überzeugt. Damit tritt die Nachfolge‐Speicherung in Kraft.« Wieder spürte Chart Deccon aller Augen auf sich ruhen, und für einen Augenblick bereiteten ihm die brennenden Blicke Unbehagen. Dann aber hatte der mächtige Mann sich wieder unter Kontrolle. Mit keiner Bewegung und keinem Wort ließ er erkennen, was er dachte und fühlte. SENECA sagte: »Der High Sideryt ist tot. Es lebe der neue High Sideryt. Es ist Chart Deccon. Ende der Durchsage!« Die Magniden traten ehrerbietig zurück. Sie warteten darauf, daß Deccon etwas sagte, daß er seine Zustimmung kundtat, seine
Annahme des höchsten Amtes in der SOL erklärte. Der neue High Sideryt holte tief Luft. »Schafft die Leiche weg«, sagte er unbewegt. »Sie erhält ein offizielles Raumbegräbnis!« Die Magniden starrten ihn an wie einen Geist. Ahnten sie etwas von der Energie, die in ihm steckte, mit der er sein Amt erfüllen würde? Langsam wandten sie sich ab und gingen ihrer Aufgabe nach. Chart Deccon verfolgte sie mit seinen hellgrauen Augen, bis sie draußen waren. In ihm war ein unendliches Glücksgefühl. Er lachte befreit auf. Er war am Ziel, hatte die oberste Sprosse der gefährlichen Leiter erklommen. Chart Deccon, der High Sideryt. Reglos blieb er mitten in der Zentrale stehen. Er wartete auf Nurmer, der ihm das Zepter seines Amtes brachte, den Codegeber, mit dem High Sideryt direkt mit SENECA in Verbindung treten konnte. Tineidbha Daraw hatte ihn noch im Tod umklammert gehalten. Ohne zu zögern, nahm er ihn entgegen. Freundlich lächelnd sah er zu, wie der alte Magnide sich entfernte. War Nurmer neidisch? Waren sie das nicht alle? Deccon strich gedankenverloren über den Codegeber. Sie waren es, wenn sie es auch nicht zugaben. Es machte ihm nichts aus. Sie würden sich an die Umstellung gewöhnen wie jedesmal, wenn Magniden einen neuen High Sideryt erhielten. Chart Deccon wandte den Kopf und blickte zum Datumsanzeiger hinüber. Es war der 4. Dezember 3788. 1. Es war das Gesicht, das ihn erschreckte. Deccon saß in seinem Thronsessel und stierte vor sich hin, umfangen von einer Aura der Lähmung. Es war sein Gesicht!
Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Nein, schrien sie, es ist unmöglich. Bilder durchzogen das Innere des High Sideryt. Er sah eine bezaubernd schöne Frau vor sich. Sie trug ein rosafarbenes Kleid mit goldgelben Streifen, das locker um ihren Körper schwang. Es ließ die samtbraune Haut und das brünette, von dunklen Streifen durchzogene Haar besonders gut zur Geltung kommen. Die wohlgeformten, lieblichen Gesichtszüge und die schlanke, gut proportionierte Figur ließen die Frau wie eine Komposition erscheinen, wie sie vollkommener nicht sein konnte. »Alpha!« flüsterte Deccon sehnsüchtig. Mit dem einen Wort verbanden sich für ihn Wochen innigsten Glücks. Die Wirkung dieser Frau war auf ihn so intensiv, so anhaltend, daß sich jede Faser seines Körpers und seines Geistes dagegen wehrte, die Realität anzuerkennen. Das langsame Begreifen, es war ein Prozeß, der schleppend vor sich ging, der jene, die die Verantwortung trugen, beinahe zur Raserei trieb. War es wirklich so schwer? Deccon schluckte und versuchte krampfhaft, die neuen Erkenntnisse zu verarbeiten. Alpha gar nicht Alpha, sondern zehn! In Bruchteilen einer Sekunde zog all das vor seinem geistigen Auge vorbei. Es war die Antwort seines Bewußtseins auf das, was seine Augen in diesem Moment sahen. Es war sein Gesicht! Chart Deccon hätte nicht sagen können, was er zuerst vernommen hatte. Das Öffnen der Tür oder das leise Lachen des Eintretenden. Fassungslos starrte er in das Gesicht, das dem seinen bis in die letzten Fleischfalten an den Augenwinkeln glich. Und dann hörte er seine Stimme, seine eigene Stimme. Ich bin wirklich verrückt, dachte Deccon in panischer Angst. Sein Körper begann zu beben und die Lähmung zu überwinden, die den High Sideryt bisher in ihren Klauen gehalten hatte. Der große, mächtige Körper kam langsam aus dem Sessel hoch. Schwankend
blieb er stehen. »Wer bist du!« krächzte er. »Was willst du?« »Dich will ich!« sagte der Doppelgänger nüchtern. »Du bist mir im Weg!« Deccon sah Deccon an. Der Eindringling trug eine der üblichen hellen Bordkombinationen, wie es sie überall gab, seit die Robotfabriken einwandfrei arbeiteten. Es war das einzige, worin er sich von dem High Sideryt unterschied. Der Unterschied der Farben ernüchterte Chart Deccon ein wenig. Verblüfft stellte er fest, daß er selbst wieder seine Kleidung aus den blau schimmernden Metallschuppen trug, die er im Umgang mit Alpha abgelegt hatte. Er hatte sie wieder angezogen, ohne sich dessen bewußt zu sein. Realität! Das Wort setzte sich in seinem Gehirn fest und wollte nicht mehr weichen. Erst jetzt erkannte Deccon, was vor sich ging. Aus weit aufgerissenen Augen verfolgte er, wie sein Doppelgänger zu ihm an den Thronsessel trat. »Mein Sessel!« forderte er und hob die rechte Hand. Jetzt war es endgültig aus mit den Nerven des High Sideryt. Aufschreiend sprang er nach vorn und stieß die fleischgewordene Truggestalt zur Seite. In wenigen Sätzen hatte er den Ausgang erreicht. Er stieß mit den Ellenbogen gegen das kalte Material, trommelte mit den Fäusten dagegen, weil sich die Tür nicht schnell genug öffnete. Endlich glitt sie zur Seite. Der High Sideryt stürzte hinaus auf den Gang. Wie von Furien gehetzt eilte er davon, blindlings, ohne sich umzusehen oder ein Ziel zu haben. Nur weg von hier, von dieser Stätte des Grauens. Von unsichtbarer Hand war alles weggewischt. Die Versuche, mit sich selbst ins reine zu kommen, die Worte der Magniden zu verdauen und die Sehnsucht zu bewältigen, die der Gedanke an Alpha nach wie vor auf ihn ausübte.
Chart Deccon war in diesen Minuten ein wimmerndes, zitterndes Bündel, das viel besser in den Armen seiner Mutter aufgehoben gewesen wäre, als in den nachtdüsteren Gängen und Korridoren des riesigen Schiffes, das annähernd hunderttausend Menschen durch das All trug. Chart Deccon taumelte. Er wußte, daß etwas Furchtbares geschehen sein mußte, und eine Ahnung stieg in ihm auf, die ihm fast das Bewußtsein raubte. Wer war der andere Deccon? Der High Sideryt floh. In panischer Angst verließ er den Mittelteil der SOL und wechselte in die SZ‐1 über. Stundenlang war er unterwegs. Nur langsam hellte sich sein Verstand auf, konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen. Atemlos erreichte er eine Gegend, in der er sich auskannte. Gehetzt blickte er sich um. War ihm sein Ebenbild gefolgt? Chart Deccon verharrte in einer Nische neben einem Interkom und raffte seine Gedanken zusammen. Er mußte ein Versteck finden. Er lauschte angestrengt. Niemand kam hinter ihm her, es war auch unwahrscheinlich. Nein, dachte Deccon ergrimmt, wahrscheinlich hat er bereits meinen Platz eingenommen und gibt den Magniden Befehle. * »Ich weiß keinen Weg!« schrillte Gallatan Herts und sah seine Amtskollegen herausfordernd an. Ohne Ausnahme wirkten die Magniden blaß und verunsichert. Die Berichte des Galakto‐Genetikers Hage Nockemann hatten ihnen letzte Klarheit über die Lage verschafft. »Eines steht fest«, klang die Stimme Ursula Growns auf. »In der Klause neben der Zentrale sitzt ein falscher Deccon. Die Kratzspuren, die Nockemann dem Duplikat beigebracht hat,
beweisen es eindeutig. Nur, wie sollen wir es beweisen? Vor allem, wo ist der echte Chart Deccon jetzt?« Der High Sideryt war spurlos verschwunden. Er hatte ihnen keine Nachricht hinterlassen und sich auch nicht gemeldet. Es sah nach einer überstürzten Flucht aus. »Wenn zehn Kopien in der SOL unterwegs sind, können sie ein Durcheinander anrichten, gegen das wir machtlos sind«, nickte jetzt auch Arjana Joester. Sie deutete auf Kölsch. »Wajsto hat angedeutet, daß er eine Idee hat«, fuhr die Magnidin fort. »Willst du nicht …?« »Sie nützt jetzt auch nichts mehr«, brummte er. »Wenn wir die Solaner aufrufen, nach den Kopien des echten Deccon Ausschau zu halten, gibt es ein Chaos, wie es sich niemand wünschen kann. Und es läßt sich der richtige doch nicht herausfinden. Seht euch nur die Gestalt in der Klause an. Auf irgendeine Weise hat sie sich Deccons Kästchen angeeignet, das dieser immer um den Hals trug. Oder es handelt sich um eine Fälschung.« »Also sind uns die Hände gebunden«, seufzte Nurmer unglücklich. »Wer hätte das damals gedacht, als Deccon sein Amt antrat, daß er eines Tages von seinem eigenen Ebenbild vertrieben würde.« »Wir können nur eines tun«, stellte Curie van Herling nüchtern fest. »Wir müssen uns an die Anweisungen des Doppelgängers halten und uns in keiner Weise anmerken lassen, daß wir nicht an seine Identität glauben. Auf diese Weise müßte es uns gelingen, näher an ihn heranzukommen. Vielleicht gibt er sich eines Tages eine Blöße, und wir haben den endgültigen Beweis für Nockemanns Ausführungen.« Die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit hatten sich nicht getraut, die Zusammenkunft in der Hauptzentrale abzuhalten. Sie waren in einen verlassenen Raum in der Nähe von Nurmers Kabine ausgewichen, von dem sie wußten, daß er nicht überwacht wurde. Hier fühlten sie sich vor den Nachstellungen des falschen Deccon
einigermaßen sicher. Die Magniden waren ratlos. Anfangs hatten sie versucht, konsequente Entscheidungen in bezug auf die zehn Frauen zu treffen. Sie hatten versucht, Chart aus seinem Wachtraum der Glückseligkeit zu reißen, es war ihnen nicht gelungen. Im Gegenteil, der High Sideryt hatte sie verdächtigt, für das Verschwinden von Alpha verantwortlich zu sein. Sie hatten ihn vom Gegenteil überzeugen müssen, und so war wertvolle Zeit verlorengegangen. Als sie die Wahrheit herausgefunden hatten und Deccon nachdenklich wurde, war es zu spät gewesen. Der High Sideryt selbst hatte sich ihnen in den Weg gelegt. Er war der eigentliche Verantwortliche für den jetzigen Zustand. »Deccon ist die große Unbekannte in unserer Rechnung«, sagte Wajsto Kölsch. »Wir müssen annehmen, daß er sich in der Gewalt seiner Ebenbilder befindet, falls er überhaupt noch lebt.« »Was ist, wenn er nicht mehr lebt?« schrillte Herts. »Dann wird sein Nachfolger das Amt antreten. Erinnert euch an das letzte Mal. SENECA wird es nicht entgehen, wenn Chart stirbt oder getötet wird.« »Wir können also wirklich gar nichts tun«, nickte Ursula Grown. »Kehren wir in die Zentrale zurück!« »Wer informiert Bit, die ihren Dienst versieht?« fragte Nurmer. »Ich werde das übernehmen«, erklärte Gallatan Herts. * Deccon zog den Strahler und hechtete sich durch die Tür, die sich nach drei Sekunden zu schließen begann. Im aufflammenden Licht sah der High Sideryt sich um. Die Ausweichzentrale in der oberen Hälfte der SZ‐1 war unbesetzt. Nicht einmal Roboter konnte der Bruder ohne Wertigkeit ausmachen.
Chart Deccon setzte sich in Bewegung und durchstreifte den als Rundraum angelegten Saal. Alle Anlagen waren stillgelegt. Die AZ wurde nur ihm Gefahrenfall benutzt, wenn die SOL‐Zelle nicht mehr von der eigentlichen Zentrale aus gesteuert werden konnte. Die Positronik der Ausweichzentrale war direkt mit der Hauptpositronik gekoppelt. Der Saal war leer. Der High Sideryt atmete auf. Seine Aufmerksamkeit ließ augenblicklich nach, und er setzte sich erschöpft in einen der Sessel vor den Kontrollen und schloß die Augen. Die Flucht hatte ihn alle Kraft gekostet. Der 85jährige, schwere Mann hustete hart. Auf seinem kahlen Kopf hatte sich ein Meer aus Schweißperlen gebildet, das jetzt langsam abkühlte und den Hünen mit seinen dicken Fleischwülsten und Muskelpaketen frösteln ließ. Er sehnte sich nach einer heißen Dusche, aber die konnte er sich im Augenblick nicht leisten. Wenn es nur das wäre, dachte Deccon. Ich würde viel dafür geben, wenn einer kommen würde, um mir zu sagen, daß es ein Alptraum ist, den ich erlebe. Es war kein Traum, und die Erinnerung an die Erlebnisse der letzten Tage und Wochen war so frisch, daß das Unterbewußtsein sie unmöglich verarbeitet haben konnte. Deccon warf einen flüchtigen Blick auf sein Armband, das ihm Datum und Uhrzeit zeigte. Das Datum erschreckte ihn. »Unmöglich!« stammelte er. »Es kann doch nicht sein, daß so viel Zeit vergangen ist!« Deccon kam es so vor, als habe er unendlich viel Zeit verloren, und er wußte nicht einmal zu sagen, wo und wofür er sie vertan hatte. Alpha! Schmerzhaft und sehnsüchtig zugleich dachte er an die Frau. Nein, es waren zehn Frauen! »Ich muß Gewißheit haben«, stöhnte er. Wieder keimte die Ahnung des Ungeheuerlichen in ihm auf, er
spürte, daß sein innerer Widerstand gegen die Erkenntnis immer mehr erlahmte, und schrieb es seiner Erschöpfung zu. Du leidest unter Entzugserscheinungen! redete er sich ein und ahnte nicht, wie recht er damit hatte. Man hatte ihm seine Alpha entzogen und gab ihm keine Gelegenheit, sie wiederzusehen, sie alle wiederzusehen. Sein Gegenspieler, der Unheimliche, dessen Maske so gut war, daß niemand ihn von dem echten High Sideryt unterscheiden konnte, was tat er im Augenblick? Würden die Magniden den Betrug bemerken? Deccon sprang überhastet auf und trat an die Kontrollen des Interkomnetzes. Er mußte Gewißheit haben, was geschah. Er mußte das Schiff davor bewahren, in das Chaos getrieben zu werden. Dicht über den Tasten und Sensoren blieben die wulstigen Finger hängen. Die Armaturen erschienen dem High Sideryt plötzlich kochend heiß zu sein. Konnte er es wagen? In ihm war das Bedürfnis, erst einmal Ruhe zu finden, klar denken zu können. Die zehn Frauen, die Alpha waren und sein Doppelgänger; er brauchte einfach mehr Zeit, das zu verdauen. Noch zögerte der bisher mächtigste Mann an Bord des Generationenschiffs. Er begriff mit einem Mal, daß es nicht mehr weit her war mit seiner Macht. Was war nur geschehen? Er hatte den Robotern keinen Befehl gegeben, den Fremden einfach zu ergreifen, der aussah wie er. Nein, er war vor ihm geflohen wie vor einem Aussätzigen. Er hatte etwas getan, was ihm früher nie eingefallen wäre, was ihm die Magniden nie verzeihen würden, falls sie es erfuhren. Ich habe meine Entscheidungskraft eingebüßt, stellte Deccon verstört fest. Ich habe mich verändert. Er kam sich nackt und bloß vor, fühlte sich schwach und elend. Bleierne Müdigkeit senkte sich über ihn, und er setzte sich wieder in den Sessel, wo er augenblicklich einschlief.
* Chart Deccon schrak auf. Er stellte fest, daß er fast zehn Stunden geschlafen hatte. Ein paar Augenblicke benötigte er, sich zu orientieren, dann schnaufte er erleichtert. Niemand war außer ihm anwesend, es war auch niemand in der Zwischenzeit dagewesen, wie die automatische Aufzeichnung bewies. Chart stellte sie ab und löschte das Magnetband von dem Augenblick an, als er den Öffner für die Zentrale‐Tür betätigt hatte. Es durfte niemand erfahren, daß er sich hier aufgehalten hatte. »Wie gehe ich vor, um einen schnellen Erfolg zu erzielen?« flüsterte er. »Was kann ich tun, um das Schiff zu retten?« Der High Sideryt zögerte nicht mehr. Die SOL befand sich in Gefahr, solange sein Doppelgänger unerkannt agierte und unumschränkte Handlungsfreiheit besaß. Entschlossen trat er vor und aktivierte den Interkom und die Monitoranlagen. Über die Hauptpositronik der SZ‐1 waren sie mit dem Mittelteil gekoppelt und damit an SENECA angeschlossen, der im Notfall eingreifen und die richtige Entscheidung treffen konnte. Der Gedanke an SENECA schmerzte den High Sideryt. Es waren nun schon etliche Wochen, daß sich die Biopositronik nicht mehr gemeldet hatte. Mit einer Ausnahme. Das Manöver der Neuspeicherung eines Nachfolgers Deccons und die Rückgängigmachung dieses Entschlusses nach einem Gespräch mit Atlan waren von SENECA einwandfrei erledigt worden. Für alles andere aber stand er nicht mehr zur Verfügung. In der SOL hatte sich vieles verändert und gebessert seit Atlans Erscheinen, aber die wirklich schweren Probleme waren geblieben. Chart aktivierte die Bildschirme, die ihm Ausschnitte aus verschiedenen Etagen der SZ‐1 und des Mittelteils zeigten. Er beobachtete, wie die Solaner arbeiteten und lebten, doch es
interessierte ihn nicht. Er kannte diese Dinge aus eigener Anschauung. Wie oft war er in Verkleidung durch die SOL gestreift und hatte ihnen dabei zugesehen oder sich mit ihnen unterhalten. Nein, er suchte etwas anderes. Mit brennenden Augen musterte er die Schirme, holte sich Ausschnittsvergrößerungen heran, wechselte die Beobachtungsabschnitte. Er ließ sich Szenen von Arbeitern in funktionierenden Robotfabriken und SOL‐Farmen vorführen. Die Klause konnte er von außen nicht erreichen, lediglich SENECA besaß die Möglichkeit, den High Sideryt in seinem Heiligtum zu beobachten. Dafür sah Deccon etwas anderes, und es trieb ihn an den Rand einer Ohnmacht. Deutlich stand ihm seine eigene, momentane Hilflosigkeit vor Augen. Er war dazu verurteilt, nur beobachten zu können. Zum eigenen Eingreifen war es zu früh, es hätte nichts bewirkt, denn niemand konnte ahnen, daß ein Rollentausch vorgenommen worden war. Unfreiwillig. Chart entdeckte die Gestalt, die er für diejenige hielt, die in seine Klause eingedrungen war. Sie trug die hellgrüne Kombination und das Kästchen um den Hals, bei dessen Anblick Deccon laut aufstöhnte. Er glaubte sich düster zu erinnern, daß der Fremde in der Klause kein Kästchen getragen hatte. Fahrig griff er sich an die Brust, wo sein eigenes Kästchen hing, das sich von dem des Doppelgängers in keiner Weise unterschied. Auch nicht die Bildvergrößerung änderte etwas an der Tatsache. »Er ist identisch!« murmelte Chart mit bebenden Lippen, aus denen das Blut gewichen war. »Alles ist identisch! So ein exaktes Abbild eines Lebewesens kann nicht existieren. Es ist biologisch unmöglich!« Deccon bemühte sich krampfhaft, seiner inneren Panik Herr zu werden. Er führte gezielte Atembewegungen durch, um den Kreislauf zu stabilisieren. Gleichzeitig aber machte er eine Entdeckung, die seinen Herzschlag erheblich beschleunigte. Ihm
wurde heiß. In zwei völlig auseinanderliegenden Schiffsabschnitten, der eine in der SZ‐1, der andere im Mittelteil, beobachtete er zwei Deccons, die sich in der Art und Weise des High Sideryt aufführten. Der eine von ihnen gab Anweisungen an einen Trupp von Ferraten aus, die sich in der Nähe der Schiffswandung mit Reparaturen beschäftigten, der andere führte ein längeres Gespräch mit einem Vystiden, dem er auseinanderzusetzen versuchte, warum die SZ‐2 abgekoppelt hatte und noch nicht zurück war. Atlan, dachte Deccon vor den Bildschirmen. Was ist aus ihm und der SZ‐2 geworden? Kann er Hilfe bringen? Wie gebannt starrte er die beiden Doppelgänger an, die die Bildschirme lieferten. Und dann sah er den dritten. Dieser debattierte mit einer aufgebrachten Gruppe von Buhrlos. Es gelang ihm, sie davon zu überzeugen, daß die SZ‐2 bald zurückkehrte und die Symmetrie der Heimat wiederhergestellt würde. »Sie sprechen wie ich, sie denken wie ich, ja, es gibt keinen Unterschied zwischen meiner Handlungsweise und ihrer. Ich würde mich in den verschiedenen Situationen genauso verhalten«, ächzte Chart. Mit fliegenden Händen holte er andere Räume, Korridore und Wohngebiete des riesigen Schiffes heran. Seine tief in ihren Höhlen liegenden Augen tränten bereits, und er wischte sie mit den blanken Händen trocken. Er fand einen dritten, vierten, dann noch drei weitere. Eine Vielzahl von Kopien bewegte sich durch die beiden Teile der SOL und ließ ihn an seinem Verstand zweifeln. »Roboter«, stöhnte er, »es sind geschickt nachgemachte Roboter.« Aber er wußte, daß das nicht mehr als ein kläglicher Versuch war, sich selbst zu beruhigen. Was er vor sich sah, waren Wesen aus Fleisch und Blut. Er selbst war es, in vielfältiger Kopie. Chart Deccon schwankte. Wenn eine achte Kopie in seiner Klause saß?
Aus den Augenwinkeln heraus nahm er wahr, daß er zwei der Doppelgänger auf einem einzigen Schirm hatte. Durch Zufall betraten sie von zwei verschiedenen Seiten her einen kleinen Raum, der als Kleiderlager diente. Sie stutzten kurz, dann gingen sie aufeinander zu. Es überraschte Deccon, daß sie sich so ungezwungen bewegten und nicht daran dachten, daß der Raum überwacht wurde. Er warf einen Blick auf die Koordinaten des Raumes. Es ist mir selbst neu, daß es dort Überwachungsanlagen gibt, stellte er verblüfft fest. Dann konzentrierte er sich darauf, was die beiden Ebenbilder sprachen. »Der Weg zum Ziel, ich kenne ihn, aber ich weiß nicht, wie lang er ist. Es ist jedenfalls ein weiter Weg!« sagte Deccon. »Dennoch werden wir ihn schaffen.« »Wir sind in diesem Schiff, um das Ziel zu erreichen«, erwiderte Deccon. »Als Order‐8 werde ich das Amt des High Sideryt bald übernehmen.« »Es spielt keine Rolle, wer von uns es ist. Wir sind zehn, und jeder kann der sein, der das Ziel erreicht. Der Plan ist unfehlbar.« »Mein Vorgehen eignet sich am besten dazu, Order‐3«, erwiderte Order‐8. »Du wirst es sehen!« »Ich spreche nicht mit dir über meine Taktik«, sagte Order‐3. »Es hätte keinen Sinn, da doch nur einer von uns die Rolle des High Sideryt übernehmen kann. Es wird nicht dazu kommen, daß wir uns gegenseitig behindern.« »Das ist richtig. Jeder von uns erfüllt seine Funktion in diesem Plan, und auch die Selbstaufgabe gehört dazu. Dennoch erfüllt es mich mit innerer Genugtung, den Wettbewerb voranzutreiben. Ich bin siegessicher, aber ich werde nicht enttäuscht sein, wenn ich verliere«, bekannte Order‐8. »Im Augenblick sitzt Order‐5 in der Klause des High Sideryt. Er füllt seine Rolle aus, aber er wird die Klause bald verlassen. Der Plan sieht eine Reaktion vor.«
»Es wird Zeit brauchen, es ist notwendig. Warten wir auf die Reaktion, sie ist vorhersehbar.« »Haben wir uns sonst noch etwas zu sagen?« fragte Order‐3. »Es ist nichts vergessen, ich ziehe mich zurück«, stellte Order‐8 fest. »Wir sehen uns am Ziel wieder.« »Auch ich mache mich auf den Weg«, erwiderte Order‐3. Deccon nickte Deccon zu, dann verließen sie die Kleiderkammer. Sie gingen in verschiedenen Richtungen auseinander. Sie gesellten sich zu den übrigen acht Ordern, die sich auf den Mittelteil und die SZ‐1 verteilt hatten. Die Order handelten. Sie kannten das Schema und wußten, wohin ihre Tätigkeit führen würde. Nichts war unbedacht geblieben. Der Plan war perfekt, und der Planer noch mehr. * »Zehn!« Chart Deccon schrie es. Plötzlich war ihm die Ahnung gegenwärtig. Das Gefühl, das ihn immer wieder wie Übelkeit überkommen hatte, verdichtete sich zur Erkenntnis. Er erkannte die Wahrheit. Alpha war die Ursache von allem. Sie hatten ihn mit ihrem Charme bezaubert, mit ihrer Aura eingefangen, die zehn unwiderstehlichen Frauen, die sich in nichts voneinander unterschieden. Er war auf sie hereingefallen. Hatte in einem tranceähnlichen Zustand jede Verantwortung gegenüber dem Schiff vergessen. Er war taub gewesen gegenüber den Ermahnungen der Magniden. Alles war seine Schuld. Er wiederholte die Beobachtungen, die viele Solaner und Solanerinnen in seinem Auftrag im Schiff gemacht hatten. Er hatte ihnen aufgetragen, Alpha zu suchen. Sie hatten ihm berichtet, daß sie sie gesehen hätten, an verschiedenen Orten gleichzeitig und
hochschwanger. Jetzt, wo er um die zehn Frauen wußte, lag die Erklärung auf der Hand. Abwechselnd und ohne daß er es bemerkte, hatten sie die Zeit mit ihm verbracht und waren schwanger geworden. Alle. Zehn Order liefen herum und verursachten das Chaos in der SOL. Deccon brach der Schweiß aus. Er hatte einen Gedanken, aber er verwarf ihn wieder, denn er war zu phantastisch. Es mußte eine andere Erklärung geben. Bestimmt würden die Alphas eines Tages gefunden werden. In Deccon stritten sich die Gefühle um ein Problem mehr. Es war völlig unmöglich, daß Alpha nach wenigen Tagen hochschwanger war. Und doch schien es der Wahrheit zu entsprechen. Die Order – seine Kinder? Der High Sideryt sank in seinen Sessel zurück und schlug die Hände vor das Gesicht. Ein trotziges Schluchzen kam aus seinem Mund, während er versuchte, seine Hilflosigkeit zu bekämpfen. Er dachte wieder an die Vergangenheit, verglich sie mit dem Jetzt. Wie viele Fehler hatte er gemacht, die sich nun auswirkten! Der Körper Charts schüttelte sich. Der einst unnachgiebige Mann war ein kleines Kind, daß sich nicht helfen konnte und doch wußte, daß etwas getan werden mußte. Er dachte an Atlan. Wie würde der Arkonide die Situation anfassen? War es möglich, ihn zu finden und um Hilfe zu bitten? Erschüttert erinnerte sich Chart daran, daß sie nicht einmal einen Hinweis darauf hatten, ob es die SZ‐2 und ihre Besatzung überhaupt noch gab. Dennoch … Seit Atlan an Bord gekommen war und von seinem Auftrag und den kosmischen Mächten gesprochen hatte, war Deccon nachdenklich geworden. Zunächst hatte er die Worte des Arkoniden für Angeberei gehalten. Nach und nach aber hatte er Anzeichen dafür gefunden, daß Atlans Ziel doch nicht so eigennützig war, wie es ausgesehen hatte. Die Abenteuer auf Osath und Chail, waren sie nicht rätselhaft genug, um seine Aussagen zu bestätigen? Und jetzt
Flatterfeld mit der seltsamen Sternenballung Bumerang! Deccon erkannte, daß er nun selbst etwas von diesen Vorgängen an sich verspürte, über die er immer nur gelächelt hatte. Und er fragte sich, welche fremde Macht die zehn Frauen an Bord der SOL geschickt hatte, um deren mächtigsten Mann auszuschalten. Längst hatte er begriffen, daß es um die SOL ging. Für ein paar Augenblicke bekam der High Sideryt es mit der Angst zu tun. Hatte nicht sein Doppelgänger in der Klause gesagt, daß er ihm im Weg war? Deccon sah sein Leben bedroht und fluchte haltlos. Innerlich beschimpfte er sich selbst, daß er so kurzsichtig gewesen war, auf Alpha oder die Alphas hereinzufallen. Es war nicht zu ändern. Aus seiner persönlichen Situation heraus begann Chart die Dinge plötzlich mit anderen Augen zu sehen. Zum ersten Mal glaubte er tatsächlich an die Existenz solcher Mächte, die sich in diesem Teil des Universums ein Stelldichein gaben, den die SOL durchstreifte. Und er konnte sich mit einem Mal für Atlans Beteuerungen erwärmen, daß dies kein Zufall war, daß überhaupt nichts Zufall war, sondern einer Bestimmung folgte, die von anderen vorgegeben wurde. Höhere Mächte, Kosmokraten, wie sie auch immer heißen mochten. Sie beschäftigten sich mit der SOL. Eine hatte die Frauen geschickt, die auf übernatürliche Weise für die Order verantwortlich waren. Sie arbeiteten gegen die bestehende Ordnung an Bord, wollten das Schiff für einen Fremden oder eine fremde Macht beanspruchen. Die SOL würde nicht mehr ihr eigener Herr sein. Sie käme in eine innere Zwangslage, denn die Erkenntnis der Verhältnisse hätte mit Sicherheit Tod und Wahnsinn unter vielen Solanern zur Folge. Wenn tatsächlich einer der zehn Order an die Macht kam, so bedeutete das mehr als Chaos für das Schiff, wie sie es in der Vergangenheit oft erlebt hatten. Das Schiff stand auf dem Spiel. Und das war alles, was sie hatten. Ohne das Schiff waren sie ein
Nichts und so gut wie tot. Chart sprang auf und stürzte zum Interkom. Er mußte die Solaner vor der drohenden Gefahr warnen und sie auffordern, alle Order festzunehmen. Im letzten Augenblick besann er sich. Durch derartige Eröffnungen würden Panik und Gefahr in dem Schiff ausbrechen. Wer weiß, wie die Buhrlos und die Unsymmetrischen und alle anderen Gruppen sich verhalten würden. Deccon schüttelte den Kopf und begann in der Ausweichzentrale auf und ab zu laufen. Es mußte anders gehen. Er mußte einen vernünftigen Plan entwickeln. Wenn jemand gezielt gegen die Ebenbilder vorgehen konnte, dann war nur er es, da er als einziger jetzt alle Fakten kannte, wenngleich noch manches rätselhaft war. »Wenn jemand es tun muß, dann bin ich es«, flüsterte der High Sideryt entschlossen und widmete sich wieder den Monitoren. In seinem Kopf reifte ein Plan, und das, was er über die Bildschirme von einem Solaner namens Hage Nockemann mitbekam, sah nach einer Unterstützung aus, die wichtig war. Nockemann hatte sich mit den Alphas und ihrem Erscheinen befaßt. Er hatte zu denen gehört, die die zehn gleichen Frauen an Bord geholt hatten. Und er befaßte sich mit den Ebenbildern des High Sideryt, die ihm bereits bekannt waren. »Ich kenne den Galakto‐Genetiker«, stellte Chart Deccon aufatmend fest. »Er besitzt meine Daten. Ihm dürfte es ein leichtes sein, meine Identität unter Beweis zu stellen. Dann sind die Order geliefert!« 2. Bora St. Felix war durch ihr Temperament bekannt. Die fünfzig Jahre alte Buhrlofrau unterschied sich noch durch weitere Eigenschaften von den eher melancholischen und in sich gekehrten Mitgliedern ihres Volkes. Ihre Haut schimmerte unter dem
glasartigen Überzug braun bis schwarz und verlieh der Trägerin einen Hauch von Exotik. Dazu war die Frau extrem schlank, fast dürr, bei einer Körpergröße von 1,71 Meter. Bora hielt mit ihrer Meinung nie zurück. In jeder Lage zeigte oder sagte sie, was sie wollte oder von einer Sache hielt. Auch jetzt, am 21. Januar 3792, war sie nicht davon abzubringen, unter den Augen der SOLAG eine Kundgebung einzuberufen, eine Versammlung aller Buhrlos aus ihrem Wohnsektor. Es waren etwas mehr als dreihundert. Sie kamen und sie lagerten in der Nähe des Antigravschachts, wo der Korridor sich zu einer Halle verbreitete und ihnen allen Platz bot. Bora hatte ihre beiden Kinder in der Spielkabine gelassen, den achtjährigen Pjotter und den vierjährigen Foster. Statt dessen hatte sie eine Plastikkiste mitgebracht, die sie verkehrt herum auf den Boden stellte und darauf stieg. So gewann sie einen Überblick über alle und konnte von ihnen besser verstanden werden. »Hört mir zu!« rief sie mit ihrer dunklen Stimme, die so gar nicht mit ihrer zierlichen Figur harmonierte. Ihre Stimmfülle war groß, die Worte tönten nach, wenn die Akustik einigermaßen gut war. Hier in der Halle, in der mehrere Korridore zusammenliefen, war das der Fall. Die Zuhörer standen oder saßen gespannt und warteten darauf, daß Bora mit der Sprache herausrückte. Ihre Körper schimmerten rötlich und unterschieden sich dadurch von dem der Frau, die aus der Familie der St. Felix stammte, einer der geachtetsten Buhrlo‐ Familien an Bord. Selbst zu Zeiten, als der Durchgang zwischen den einzelnen Schiff steilen nicht möglich war, hatten sich immer ein paar Mitglieder der St. Felix in jedem der drei Schiffsteile aufgehalten. Der Umweg über den Weltraum war für die Buhrlos der normale Weg gewesen, und die neue Regelung empfanden sie als etwas Faszinierendes. Die Heimat gehörte eben voll zusammen. Daß dem zur Zeit nicht so war, galt die Versammlung. »Noch ist nichts geschehen, seit Wochen halten uns der High
Sideryt und die Magniden hin. Es ist ein unhaltbarer Zustand«, erklärte Bora. »Wir können nicht tatenlos zusehen.« »Was willst du tun, was schlägst du vor?« antworteten die Buhrlos. Bora musterte die Versammelten. Sie stellte fest, daß auch ein paar Halbbuhrlos sich eingefunden hatten, Solaner mit Buhrlonarben. Sie standen in einigem Abstand an den Mündungen der Gänge und beobachteten, was geschah. Was geht in ihnen vor? dachte Bora kurz. Sie sind aus unserem Stamm, aber sie sind von der Natur benachteiligt worden. Irgendwie sind sie Außenseiter. Sie gehören weder hierhin noch dorthin. Mit der linken Hand formte sie deutlich einen Kreis aus Daumen und Zeigefinger, das Zeichen für Zuneigung. »Der High Sideryt zieht zur Zeit durch das Schiff, betrachtet die Fortschritte, die gemacht worden sind. Er spricht mit allen möglichen Wesen, sogar einer Gruppe von Extras hat er kürzlich Gehör geschenkt. Nur unserem Anliegen schenkt er keine Beachtung. Warum?« Bora unterstrich ihre Worte mit mehreren Gesten. Es war ein Ausdruck ihres Temperaments. Gleichzeitig aber wirkten sie beruhigend und beherrschend. Nicht ein einziger Buhrlo erhob seine Stimme, um seinem Unmut Ausdruck zu verleihen. Der unhaltbare Zustand hielt zu lange an. Die Trennung von der SZ‐2 war ein schmerzhaftes Ereignis gewesen, und der Schmerz war bis jetzt nicht abgeflaut. Gerade die Buhrlos, die auf Grund ihres Minderheitenbewußtseins (in der Gesamt‐SOL mit ihren über neunzigtausend Bewohnern gab es nur rund 4650 Buhrlos) einen stärkeren Gruppeninstinkt und ein größeres Zusammengehörigkeitsgefühl besaßen, empfanden die Trennung von ihren Artgenossen in der zweiten SOL‐Zelle als Amputation. Manche bildeten sich ein, daß ein unsichtbarer Faden gerissen war. »Wir müssen den High Sideryt zu einer Entscheidung zwingen«, fuhr Bora fort. »Deshalb wird eine Gruppe unter meiner Führung
ihn aufsuchen. Wir werden mit ihm sprechen. Wenn er kein Einsehen mit uns zeigt, werden wir ihn hierher in unser Wohnquartier bringen. Es muß doch gelingen, ihn zu überzeugen.« Ein männlicher Buhrlo hob den linken Zeigefinger. Es bedeutete »Aufpassen, ich will etwas mitteilen«. Die Zeichensprache benötigten sie eigentlich nur im Weltraum, um sich untereinander zu verständigen. Aber sie war ihnen so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie sie auch im Innern der Heimat benutzten. »Sprich, Pret Cherch!« forderte Bora ihn auf. »Die Gründe, mit denen ein Flug des verkrüppelten Schiffes zum vermutlichen Standort der SZ‐2 abgelehnt worden sind, besitzen lediglich für die Schiffsführung Überzeugungskraft«, erklärte er. »Wo sind die Gefahren, von denen Deccon sprach oder über die Magniden sprechen ließ? Ich kenne sie nicht. Wer hindert das Schiff, weiterzufliegen und die Wiedervereinigung zu vollziehen?« Bora nickte, aber sie sprach es nicht aus. Sie kannte die Unzufriedenheit am besten, die sich von Stunde zu Stunde mehr anstaute. Und wenn die SZ‐2 in Gefahr war, weil sie sich nicht meldete, war es das Gebot der Stunde, ihr nachzufliegen und beizustehen. Bora St. Felix wußte um die Problematik des Ganzen. Sie kannte auch die Gründe, warum die Schiffsführung dagegen war. Und sie verstand auch, daß irgendwo im High Sideryt das Bewußtsein war, daß ja Atlan die SOL‐Zelle lenkte. Sie erinnerte sich daran, daß es Buhrlos gewesen waren, die den Arkoniden an Bord des fremden Schiffes gefunden hatten, das wie eine Burg ausgesehen hatte. Zwei Namen fielen ihr ein, Kartron Amer und Shia Deen. »Es sind zwei Dinge, die berücksichtigt werden müssen, wir haben sie schon oft durchgekaut«, antwortete sie Cherch. »Die Schiffsführung hat Angst um den Bestand der SOL, gleichzeitig aber hofft sie auf Atlan, daß er die SZ‐2 nicht in Gefahr bringt. Deccon
hat sie ihm zur Verfügung gestellt, er kann erwarten, daß der Arkonide sie heil zurückbringt. Das ist allerdings kein Ausweg aus unserem Dilemma.« Bora erblickte ein paar Buhrlos in der Menge, die in der einseitigen Haltung der Unsymmetrischen auf dem Boden saßen. Unwillkürlich spreizte sie die rechte Hand. Es bedeutete Müdigkeit oder Krankheit, war aber in diesem Fall eher ein Zeichen der Resignation. Die Buhrlofrau befürchtete, daß sich ihr Volk auf Dauer in zwei Lager spalten würde, wenn es nicht schnell gelang, die SOL zu vereinen. »Wir geben dem High Sideryt noch eine Chance«, sagte sie. »Wir organisieren einen Schweigemarsch zur Hauptzentrale, um unserer Forderung noch einmal Nachdruck zu verleihen, daß das Restschiff der SZ‐2 nachfliegt.« »Die Unsymmetrischen werden Krawall machen!« rief jemand. »Es ist mir klar«, antwortete Bora. »Wir selbst müssen dafür sorgen, daß es nicht zu Zwischenfällen kommt.« Sie stieg herunter von der Kiste und setzte sich zu den Männern, Frauen und Kindern. Erschreckend viele waren darunter, die bald in die Nähe des hundertfünfzigsten Lebensjahres kamen, in dem im Durchschnitt die ersten Schwierigkeiten mit den Papillos auftraten, die zu versagen begannen. Die Buhrlohaut war dann nicht mehr dicht für einen gefahrlosen Aufenthalt im Weltall, ihr Träger mußte im Schiffsinnern bleiben, so daß sich die Hornhaut immer mehr verdickte, bis der Betroffene in seinem eigenen Körper erstickte, weil die Hornhaut ihn wie ein luftdichter Panzer umgab. Es war das Schicksal dieses seltsamen Zweiges der Menschheit, von dem niemand wußte, wie und warum er entstanden war. Bora St. Felix zog sich zurück. Sie war sich ihrer vermittelnden Rolle bewußt, erkannte aber auch, daß sie die radikalen Kräfte unter ihrem Volk und der neuen Gruppe der Unsymmetrischen nicht auf Dauer zurückhalten konnte. Es mußte etwas geschehen.
* Manchmal war Hage Nockemann froh, daß er sich damals entschlossen hatte, nicht zu den Ahlnaten zu gehen, sondern ein eigenes Forschungslabor zu unterhalten. Ab und zu war es in der Vergangenheit allerdings schon vorgekommen, daß er sich bessere Verbindungen zur SOLAG gewünscht hätte. Das war immer dann, wenn er durch die äußeren Einflüsse und Zustände im Schiff von seiner Arbeit abgehalten worden war. Jetzt war es anders. Nockemann arbeitete fieberhaft an seinem Problem. Er zählte nicht, wie oft er die gewonnenen Resultate wiederholte. Sie blieben immer dieselben, und Nockemann begriff, daß es keine andere Möglichkeit gab. »Was sagst du dazu, Blödel?« fragte der Wissenschaftler den Computer, mit dem er arbeitete. In einer Laune hatte er ihm diesen Namen gegeben. »Deine Schlußfolgerungen sind in großen Teilen einwandfrei, Chef«, erklärte Blödel. »Die ständigen Prüfungen, die du mich durchführen läßt, haben lediglich einen hohen Energieverbrauch zur Folge. Ich würde für die nächsten Tage davon abraten!« Nockemann brummte etwas Unverständliches. Seine Gedanken waren bereits anderswo. Er war den zehn Frauen auf die Spur gekommen, die Alpha genannt worden waren. Er hatte durch die Positronik ihres Bedienungsrobots herausgefunden, daß sie sich in ihrer Unterkunft in einer fremden Sprache unterhalten hatten. Sie hatten sich gegenseitig mit Ordnerin‐1, Ordnerin‐2 usw. bezeichnet. Die Tatsache, daß sie keine richtigen Namen trugen, hatte ihn hellhörig gemacht. Er vermutete einen Plan hinter ihrem Verhalten und setzte sich auf ihre Fährte. Er untersuchte ihr Zellgewebe und stellte fest, daß es keine Chromosomen enthielt, wie es bei Lebewesen normal war. Dann waren die Doppelgänger Deccons aufgetaucht, er hatte einen am fehlenden Kästchen erkannt. Von
einem anderen besorgte er sich ebenfalls eine Probe, die Gewebe enthielt, das identisch mit dem der Zehnlinge war, aber nur die Chromosomen Deccons enthielt, dessen Daten Nockemann in Blödel vorliegen hatte. Den Rest reimte sich der Galakto‐Genetiker zusammen. Er war bereit zu wetten, daß demnächst zehn falsche Deccons in der SOL auftauchen würden und eine große Schweinerei im Gang war. Der Wissenschaftler war auf Grund seiner Kenntnise in der Lage abzuschätzen, wie mächtig der Gegner sein könnte, der über solche Möglichkeiten einer Reduplikation, verbunden mit einer nur mehrtägigen, im Zeitraffertempo ablaufenden Schwangerschaft, verfügte. Die Erkenntnis trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Hage Nockemann war Junggeselle und als kauziger Wissenschaftler bekannt. Nicht alle nahmen ihn ernst, weil er nur seine Arbeit kannte. Mit seinen 1,69 Meter und den langen, grauen Haaren erweckte er den Eindruck eines Einzelgängers. Daß er gebückt ging, ließ ihn älter erscheinen, als er mit 95 Jahren eigentlich war. Es störte ihn wenig, denn er hatte sich seine körperliche Fitneß erhalten. Wer ihn in seiner abgeschabten, fleckigen Kleidung sah, hätte ihn fast mit einem SOL‐Bettler verwechseln können. Nockemanns größter Schatz jedoch war sein ausgezeichnet arbeitender Verstand, mit dem er in Bruchteilen von Sekunden mehrere Beobachtungen verarbeiten konnte. Der Galakto‐Genetiker hatte den High Sideryt warnen wollen, aber er war zu spät gekommen. Einer der Doppelgänger hatte bereits seinen Platz in der Klause eingenommen. Nockemann hatte es sofort erkannt. Mit einer Ausrede hatte er sich zurückgezogen in die SZ‐1, wo sein Labor lag. Er dachte nach, prüfte, überlegte wieder. Und er kam immer nur zu dem einen Schluß. »Es muß eine Möglichkeit geben, den High Sideryt ausfindig zu machen«, erklärte er. »Wie willst du das anstellen? Du kannst alle elf einfangen und dir einen aussuchen«, erwiderte Blödel.
»So war das nicht gemeint«, stellte der Wissenschaftler fest. »Wir müßten den echten Deccon finden. Er ist doch leicht zu unterscheiden!« »Weil er ein unzerstörbares Kästchen trägt«, stimmte der Computer bei. »Und weil seine Zellstruktur vorliegt. Soll ich einen Vergleich herstellen?« »Später. Zunächst müssen wir ihn haben.« Nockemann blickte auf seine Uhr und fuhr auf. »Die Nachtperiode hat schon begonnen, ich werde mich in meine Kabine zurückziehen«, sagte er. »Gute Nacht, Blödel!« »Es besteht die Möglichkeit, daß der High Sideryt dich aus eigenem Antrieb aufsucht, wenn er sich an dich erinnert«, antwortete der Computer. »Allerdings dürfte er sich in einem Zustand der Verwirrung befinden, der auch auf seinen Geist Auswirkungen haben dürfte. Gute Nacht!« Nockemann schaltete den Computer ab und verschloß das Labor mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit. Er konnte es dem High Sideryt wirklich nicht verübeln, daß dieser nach dem Vorgefallenen verwirrt war. Aber er traute ihm zu, daß er sich schnell fangen würde. Der Wissenschaftler überlegte, während er seine eine Viertelstunde entfernte Kabine aufsuchte, wie er den Kontakt mit dem echten Deccon beschleunigt knüpfen konnte. Es fiel ihm aber nichts Gescheites ein, und er redete sich ein, daß es an seiner Müdigkeit lag, die ihn plagte. Er war überarbeitet. Nockemann legte sich schlafen, und sein letzter Gedanke war, ob die Doppelgänger, mit denen er zu tun gehabt hatte, auf ihn aufmerksam geworden waren und ihn suchten. Befand er sich in Gefahr, weil er zuviel wußte? *
Nockemann wachte auf, weil er ein Geräusch gehört hatte, das ungewöhnlich war. Er bildete sich ein, das Knacken der Türverriegelung sei an sein Ohr gedrungen. Er lauschte. Der Galakto‐Genetiker war kein furchtsamer Mensch. Er schloß seine Kabinentür im Gegensatz zum Labor nie ab. Nicht einmal in Zeiten erhöhter Gefahr hatte er es getan. Es konnte durchaus sein, daß sich jemand in seine Kabine verirrte, der fremd war. Ein Extra vielleicht. Etwas rumpelte, und Nockemann wußte sofort, daß sich jemand durch den Raum bewegte. Er war gegen einen Sessel gerannt. Ein unterdrückter Fluch erklang, ein Kratzen von Fingernägeln an der Wand war zu hören. Dann sagte eine Stimme: »Nockemann, bist du da? Wo ist denn der Lichtschalter?« Die Stimme kam dem Galakto‐Genetiker bekannt vor. Mit einem Satz war er aus dem Bett. »Licht!« rief er laut in die Richtung zur rechten Wand, wo die Membran angebracht war, mit der er seine kleine Spielerei steuerte. Augenblicklich flammte die Deckenbeleuchtung auf. Hage Nockemann sah eine große, massige Gestalt an der Wand lehnen. Ihre Stirn war feucht, Schweißperlen glitzerten wie kleine Edelsteine darauf. »High Sideryth?« sagte der Galakto‐Genetiker erstaunt. Dann aber fiel ihm die Aussage Blödels wieder ein. Nur, war es der High Sideryt? Du mußt vorsichtig sein, redete Nockemann sich ein. Vorerst ist es ein High Sideryt. Was will er? »Hage Nockemann«, grollte der High Sideryt. »Du mußt mir helfen. Du bist der einzige, der es kann!« Nockemann schielte nach einem Gegenstand, den er notfalls als Waffe gebrauchen konnte. Er fand nur eine Vase, die mit Papieren und Berechnungen gefüllt auf einem kleinen Beistelltisch stand. Er trat auf Deccon zu, bis sich die Vase in Reichweite neben seinem rechten Arm befand.
»Was willst du?« Deccon seufzte und deutete auf die Tür. »Kannst du die für eine Weile verschließen?« fragte er. »Ich wunderte mich, daß sie offenstand.« »Gewohnheitssache!« erklärte Nockemann und zwirbelte an seinen buschigen Schnauzbart. Er tat es immer, wenn er nachdachte. Er deutete auf einen Sessel. »Setz dich, High Sideryt«, forderte er den nächtlichen Störenfried auf. »Ich bin der High Sideryt, mein Wort darauf«, sagte Deccon. »Es tut mir leid, dich stören zu müssen, aber es bleibt mir keine andere Wahl.« Er beobachtete Nockemann, der sich ebenfalls niederließ, noch immer in der Nähe der Vase. Deccon begann zu erzählen. Er berichtete von dem Zeitpunkt an, als er zum ersten Mal Alpha gesehen hatte. Er wußte nicht viel, was sich während seines Zusammenseins mit den Zehnlingen in der SOL abgespielt hatte, aber er hatte Nockemann ja beobachtet und kannte die Ergebnisse seiner Nachforschungen. »Ich habe erkannt, daß du der einzige bist, der meine wahre Identität nachweisen kann«, schloß Deccon den Bericht. »Und deshalb störst du mich in meiner Nachtruhe?« fragte der Galakto‐Genetiker. Gespannt beobachtete er die Reaktion seines Gegenübers. Deccon schluckte. Er rang mit sich, was er sagen sollte. Früher wäre er mit Sicherheit anders aufgetreten, hätte Nockemann einfach zu sich in die Klause gerufen. Jetzt war es anders. »Die Order sind mir auf der Spur«, vermutete er. »Sie wissen, daß sie nur Erfolg haben können, wenn sie mich aus dem Weg räumen. Darum bin ich in der Nachtphase gekommen. Niemand hat mich gesehen. Ich halte mich an einem geheimgehaltenen Ort auf.« Er informierte Nockemann darüber, daß ein falscher Deccon in der Klause saß, doch der Galakto‐Genetiker reagierte nicht.
»Es wissen vermutlich alle Deccons, daß es so ist«, sagte er nur. Er erhob sich abrupt. »Es liegt mir selbst daran, Licht in die Vorgänge zu bringen«, fuhr er fort. »Deshalb greife ich deine Bitte auf. Wir gehen in mein Labor!« Deccon nickte erleichtert. Er folgte dem Wissenschaftler hinaus in den Korridor. Schweigend gingen sie nebeneinander her, bis Nockemann an der Tür stehenblieb. »Hier ist es«, eröffnete er, »aber das weißt du vermutlich.« Deccon nickte. Zögernd schloß Nockemann die Tür auf und trat ein. Sein Begleiter folgte ihm auf den Fuß. Der Galakto‐Genetiker ließ sich Zeit. Die ganze Zeit über beobachtete er den angeblichen High Sideryt. Er hatte genug über die Kopien Deccons erfahren, um sich zusammenreimen zu können, wieviel sie wußten. Sie waren nicht nur äußerlich identisch, das hatte das Auftreten verschiedener Kopien bewiesen. Er aktivierte seinen Computer. »Es tut mir leid, daß ich dich aus deinem Schlaf reißen muß, Blödel«, sagte er. »Aber wir haben zu tun.« »Ist es schon Morgen?« erkundigte sich der Computer. Seine Frage war rhetorisch, denn er hatte die Zeit im »Kopf«. Noch immer musterte Nockemann den High Sideryt. Dieser trug das Kästchen an der Brust, das er oftmals mit beiden Händen umklammerte. Der Wissenschaftler fixierte es. Deccon schüttelte den Kopf und verzog schmerzlich das Gesicht. »Alle tragen es inzwischen«, teilte er ihm mit und berichtete von seinen Wahrnehmungen. Nockemann lächelte. »Du sitzt irgendwo in einer Ausweichzentrale, denn nur dort hast du die nötigen technischen Voraussetzungen zu einer umfassenden Überwachung der Vorgänge«, stellte er fest. Deccon nickte zögernd. »Mach den Test, Hage«, forderte er ihn auf. »Ich darf keine Zeit verlieren!« Für einen kurzen Augenblick spiegelte sich im Gesicht des High
Sideryt all das, was er in den letzten Stunden und Tagen mitgemacht hatte. Nockemann sah den Ausdruck, und er erschrak ein wenig. Deccon verunsicherte ihn, aber es konnte Absicht sein, damit er ungenau arbeitete. »Ich brauche die Daten vom High Sideryt, dem echten!« sagte Nockemann zu Blödel. Ein grünes Licht leuchtete auf als Bestätigung, daß er die Daten parat hatte. Nochmals wandte sich der Wissenschaftler an Deccon. »Wir haben es gleich«, bestätigte er. »Die Werte der Proben, die ich der Orderin auf einem Duplikat entnommen habe, liegen im Computer vor. Ich brauche sie nur zu vergleichen.« Deccon nickte auffordernd. »Tu es«, verlangte er. »Du hast es gehört, Blödel«, wandte Hage Nockemann sich an den Computer. »Wie sieht es aus?« »Ich beschränke mich auf das Ergebnis des Vergleichs«, gab Blödel bekannt. »Eine Interpretation ändert nichts daran.« »Na also«, sagte Deccon erleichtert. »Die Werte stimmen überein. Es kann nicht zwischen dem echten High Sideryt und seinen Doppelgängern unterschieden werden!« eröffnete der Computer. * Chart Deccon war leichenblaß. Der Hühne mit dem aufgedunsenen, roten Gesicht wirkte eingefallen und klapprig. Die tiefliegenden Augen verschwanden völlig unter den Augenwülsten, weil er die Augen zusammenkniff. »Hage …«, stöhnte er. »Das muß ein Irrtum sein. Der Computer arbeitet mit falschen Werten. Er wurde manipuliert.« Nockemann verneinte energisch, wiederholte den Test aber dennoch. Es blieb beim ersten Ergebnis.
»Ich habe das Ergebnis auch nicht erwartet«, gestand der Galakto‐ Genetiker. »Ich habe mit allem gerechnet, nur nicht mit einer völligen Übereinstimmung. Der Test ist sinnlos. Es wird sich so nie herausfinden lassen, wer der echte High Sideryt ist.« Chart nickte gequält. »Es war umsonst«, flüsterte er mit brüchiger Stimme. »Was jetzt?« In seinem Kopf summte es wie in einem Bienenschwarm. Die vergangenen Stunden hatte er sich so intensiv an Nockemann und den Test geklammert, daß er sich nun vorkam wie nach einer großen Niederlage. Seine Schultern hingen kraftlos herab, und sein Inneres bebte unter dem Druck der Erkenntnis, daß alles zu spät war. »Ich kann es nicht ändern«, sagte, Nockemann leicht reserviert. »Die verläßlichste Methode des Nachweises hat versagt. Ich kann dir nicht bestätigen, daß du der High Sideryt bist.« Chart Deccon nickte betrübt. Minutenlang versank er in Schweigen. Er starrte den Computer an, der das schriftliche Ergebnis auf dem Bildschirm abwechselnd löschte und wieder neu projizierte, als wolle er damit die Eindringlichkeit unterstreichen. Deccon faßte Nockemann am Arm. »Es muß eine Möglichkeit geben, Hage«, rief er, »sonst ist das Schiff verloren. Wir dürfen nicht aufgeben!« »Du darfst mir glauben, daß es mir auch um das Schiff geht. Solange elf High Sideryts herummarschieren, ist es bedroht«, antwortete der Galakto‐Genetiker. Er schaltete Blödel ab und verließ das Labor. »Ich muß nachdenken«, ließ er Deccon wissen. »Ich werde meine Kabine aufsuchen.« »Ich komme mit!« entschied Deccon. Sie kehrten denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Nichts deutete darauf hin, daß es in ihrer Nähe Leben gab. Die Gänge und Verteilerstationen, sogar die Einstiege in die Antigravs, waren ausgestorben. »Es ist die Ruhe vor dem Sturm«, murmelte der High Sideryt.
Wieder wurde ihm in aller Schärfe bewußt, wie hilflos er war. Nockemann öffnete die Tür zu seiner Wohnkabine und trat ein. Er versuchte sich zu erinnern, ob er die Beleuchtung hatte brennen lassen, als sie das Labor aufsuchten. Der High Sideryt blickte dem Wissenschaftler über die Schulter und fuhr zurück. Er preßte sich draußen neben den Eingang und schielte vorsichtig um die Ecke. Nockemann aber sagte: »High Sideryt! Ich habe es nicht anders erwartet.« Chart Deccon erhob sich schwerfällig aus dem Sessel, in dem er gewartet hatte. »Na endlich«, grollte er und massierte die wulstigen Lippen. Langsam strich er die Falten seiner grünen Bordkombination glatt. »Ich brauche deine Hilfe.« »Ich weiß, worum es geht«, sagte Nockemann. »Es ist mir nicht verborgen geblieben.« »Dann weißt du auch, daß es an Bord von Doppelgängern nur so wimmelt«, sagte Deccon eindringlich. »Das muß aufhören. Ich bin der echte High Sideryt und bitte dich, es zu beweisen. Du bist der einzige, der das kann.« »Ich kenne das Ergebnis bereits, und kann es dir gleich mitteilen«, hörte Deccon draußen die Stimme des Wissenschaftlers. »Es läßt sich nichts beweisen.« Der High Sideryt begann zu kochen. Die Dreistigkeit seines Ebenbildes ließ ihn jegliche Vorsicht vergessen. Er zog den Strahler und stürzte in die Kabine. In ihm war nur ein einziger Gedanke. Ich bringe ihn um! redete er sich ein. Ich bringe sie alle um. Er brachte die Waffe in Anschlag. Hage Nockemann kam nicht dazu, einzugreifen. Fassungslos starrte er die Waffe an, blickte dann zu Deccon, der aus dem Sessel emporgefahren war und aus schreckgeweiteten Augen in die Mündung der Waffe sah. Da aber ließ Chart Deccon den Strahler sinken. Er stöhnte wie in einem inneren Kampf auf. Er erkannte das Kästchen, das um den
Hals des anderen hing und dem seinen aufs Haar glich! Langsam steckte der High Sideryt die Waffe ein. Er faßte nach seinem Kästchen, als wolle er es schützen. Es war mit Ornamenten verziert und sah aus, als sei es aus Elfenbein geschnitzt. Struktur und Farbe täuschten jedoch. Der quaderförmige Körper bestand in Wirklichkeit aus einem federleichten, praktisch unzerstörbaren Kunststoff. Es war eine einmalige Anfertigung. Folglich konnte es sich bei dem Kästchen seines Doppelgängers nur um eine Imitation handeln. Erneut zog der High Sideryt seinen Strahler. Er stellte auf minimalste Energie, dann zielte er auf das Kästchen des anderen, das sich unter dem dünnen Strahl sofort auflöste. Nur die Kette um den Hals baumelte noch. Deccon hatte das Vorgehen seines Gegenübers mit düsterem Gesicht verfolgt. Er nahm die Kette und ließ sie achtlos zu Boden fallen. Er grinste. Der High Sideryt reichte Nockemann seine Waffe. Er streifte sein Kästchen ab und stellte es auf den Boden. »Du kannst die Energiezufuhr auf Maximum erhöhen«, sagte er. »Es wird dem Kästchen nichts anhaben. Schieß!« Nockemann nickte wie in Trance. Er löste den Abzug der Waffe aus, und ein heißer Strahl schoß auf das Kästchen und hüllte es ein. Der Kunststoffboden der Kabine begann zu dampfen, aber das Kästchen stand . unversehrt an seinem Platz. »Das ist der Beweis«, sagte der High Sideryt erleichtert. »Nun wirst du mir hoffentlich glauben und mir helfen, diesen Halunken da und seine Komplizen festzunehmen!« Er deutete auf Deccon, der ihn durchdringend ansah. Unter seinem eigenen Blick wurde es Chart Deccon mulmig, und sein Wunsch verstärkte sich, daß alles doch ein Traum sein möge. »Es ist kein Beweis«, antwortete Deccon, und Nockemann fuhr fort: »Es ist durchaus möglich, daß ein Order dem echten High Sideryt das echte Kästchen abgenommen hat und ihr mir ein Theater
vorspielt, um mich zu übertölpeln. Es ist kein eindeutiger Beweis, mit dem ich Chart Deccon von seinen Duplikaten unterscheiden kann.« »Ich bin der echte Deccon!« schrie der High Sideryt verzweifelt. »Ich bin der echte Deccon!« schrie Chart Deccon zurück und verbiß sich mit Mühe ein Grinsen. »Nockemann hat völlig recht!« Der Galakto‐Genetiker zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht«, gestand er. »Ihr macht mich noch verrückt!« Chart Deccon klammerte sich an seiner Waffe fest. Nochmals zielte er für ein paar Augenblicke auf sein Ebenbild, dann fuhr der massige Körper nach vorn. Es hatte keinen Wert mehr. Wenn das Kästchen kein Beweis war, war es die unterschiedliche Kleidung auch nicht. Die Kleidung aus blauen Metallplättchen, die einer Rüstung glich, konnte ebenso nachgemacht sein. Noch ehe Chart Deccon und Hage Nockemann reagieren konnten, faßte Deccon das Kästchen. Im Drehen hängte er es sich um den Hals, dann stürmte er aus der Kabine des Wissenschaftlers hinaus. Sein Rückzug glich einer Flucht, und es war in gewisser Weise eine Flucht vor sich selbst, Chart Deccon traute sich selbst nicht mehr. Der High Sideryt sah ihm nach. Auch er setzte sich in Bewegung. »Damit bist du überfordert«, sagte er zu Nockemann. Der Wissenschaftler gab keine Antwort. Stumm schloß er die Tür hinter dem zweiten Deccon. Chart Deccon hetzte in sein Versteck zurück. Es war ihm. nicht gelungen, den Galakto‐Genetiker als Helfer zu gewinnen. Er konnte nur hoffen, daß dieser durch das Erlebnis aufgerüttelt wurde und selbst weitere Nachforschungen anstellte. Der High Sideryt begriff endgültig, daß er allein zu schwach war, um das Problem zu lösen. Er mußte einen anderen Weg gehen. Er war jetzt bereit, das Risiko einer Panik oder eines zeitlich begrenzten Chaos auf dem Schiff einzugehen, weil es wirklich die letzte Möglichkeit war, die existierte. Die Solaner mußten gemeinsam
gegen den Feind vorgehen. 3. »Sie kommen!« Ursula Growns Ausruf hallte in der Zentrale nach. »Was sollen wir tun?« fragte Lyta Kunduran. »Eines weiß ich. Wenn es zu einem auch noch so geringen Zwischenfall kommt, setze ich die Vystiden gegen das Pack ein«, keifte Gallatan Herts. Wajsto Kölsch trat zu ihm und maß ihn mit einem verächtlichen Blick. »Du solltest dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmern«, zischte er, »sonst könnten wir uns daran erinnern, daß du bei den Solanern besonders beliebt bist!« Kölsch legte die Betonung auf das »besonders« und verfolgte amüsiert, wie Rumpelstilzchen sich vor ihm aufbaute. »Auch du als ehemaliger Monsterjäger könntest bei ihnen auf große Gegenliebe stoßen«, erwiderte er kichernd. »Was meinst du, sollen wir es gemeinsam versuchen?« Er erhielt keine Antwort, denn der Bildschirm erhellte sich und zeigte das düstere Mobiliar der Klause. Deccons Gesicht war ernst. »Was hat der Auflauf zu bedeuten?« erkundigte er sich. »Es ist eine Demonstration der Buhrlos und der Unsymmetrischen«, erklärte Curie van Herling und musterte den High Sideryt eingehend. »Sie fordern, daß wir uns endlich auf die Suche nach der SZ‐2 machen. Es sind sehr entschiedene Stimmen darunter, die mit einer allgemeinen Erhebung drohen. Eine Delegation der Unsymmetrischen hat gedroht, notfalls das Kommando über das Schiff an sich zu reißen.« »Was gedenkt ihr zu tun?« »Wir werden sie gewähren lassen. Sie werden eine schriftliche
Forderung überreichen, die wir entgegennehmen. Mehr können wir nicht tun.« »Wenn sie zudringlich werden, laßt sie in die Zentrale«, sagte der High Sideryt. »Es ist sowieso bald Gewohnheitsrecht, daß jeder Zutritt hat, wenn er glaubt, etwas Wichtiges vorzubringen. Und sagt den Solanern, daß ich beabsichtige, der SZ‐2 zu folgen, sobald die Lage im Schiff übersichtlicher geworden ist und dieʹ Ebenbilder gefaßt sind.« Die Magniden blickten überrascht in die Kameras. Nurmer faßte sich als erster. »Wir werden es ihnen sagen, Chart«, antwortete er und beobachtete, wie der High Sideryt die Verbindung unterbrach. Ob der falsche Deccon etwas gemerkt hat? fragte der älteste unter den Magniden sich. Er hoffte es nicht. Es war äußerst schwierig, sich so zu stellen, als wüßte man nichts. Sie verfolgten die Übertragung der langen Prozession. Sie schätzten die Zahl der Teilnehmer auf rund zehntausend, ein Vorgang, den es früher nie gegeben hätte. »Alles ändert sich, es ist nicht aufzuhalten«, murmelte Wajsto Kölsch. Er hatte es am eigenen Leib erlebt, und die Abenteuer auf Chail hatten in dem Traditionalisten zwar keine Bekehrung hervorgerufen, aber einen nachhaltigen Eindruck hinterassen. Und manchmal ertappte er sich bei dem Gedanken, daß er die Schuld an den eingefahrenen, verknöcherten Zuständen der Vergangenheit der langen Isolierung gab, die das Schiff und seine Bewohner erlebt hatten. Jetzt wischte der Magnide das alles mit einer Handbewegung weg. Ein anderer Gedanke war ihm gekommen. Sie mußten etwas tun, um dem falschen Deccon ihre Ahnungslosigkeit unter Beweis zu stellen. »Ich gehe hinaus«, verkündete er. »Du willst dich dem Pöbel entgegenstellen?« riefen die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit wie aus einem Mund. »Bist
du lebensmüde?« »Nein«, sagte er über die Schulter zurück. Er hatte den Öffner des Ausgangs bereits betätigt. Wajsto Kölsch schritt langsam den Korridor entlang, am Eingang zur Klause des High Sideryt vorbei. Er erreichte einen Antigrav und ließ sich zwei Etagen hinuntertragen. Er stieg aus und machte sich auf den Weg. Von weitem schon hörte er Gesänge und laute Rufe, dann sah er die Volksmenge, wie sie sich träge durch einen der Hauptkorridore schob. Die Männer und Frauen drängten vorwärts, aber sie waren umsichtig genug, kein Chaos daraus werden zu lassen. Niemand hatte Interesse, daß jemand zu Schaden kam. Von weitem erkannte Wajsto Bora St. Felix. Sie hob sich als dunkle Gestalt vor den rot schimmernden Buhrlos ab. Ein paar Schritte hinter ihr kamen maßgebliche Vertreter der Unsymmetrischen. Sie wirkten in ihrer Weise heiterkeitserregend. Die Unsymmetrischen gingen mit einer Körperseite voran. Sie hielten ein Auge geschlossen und sprachen mit schiefem Mund. Sie bewegten nur einen Arm und behaupteten, daß eine Hälfte ihres Körpers abgestorben sei. Der Magnide verzog geringschätzig den Mund und konzentrierte sich auf die Buhriofrau. Als sie heran war, stellte er sich neben sie und ging mit ihr den Weg zurück, den er gekommen war. Viele der Solaner hatten ihn erkannt, es entstand Unruhe. »Unsere Geduld ist am Ende«, eröffnete Bora St. Felix ihm, ohne ihn zu begrüßen. Kölsch machte eine zustimmende Handbewegung. »Wir haben dafür Verständnis. Auch der High Sideryt ist der Ansicht, daß etwas getan werden muß. Wichtige Dinge verhindern ihn im Augenblick allerdings. Er hat uns aber mitgeteilt, daß er der SZ‐2 folgen wird, sobald gewisse Schwierigkeiten bereinigt sind.« »Was sind das für Schwierigkeiten?« erkundigte Bora sich. »Hängen sie noch immer mit dieser Alpha zusammen, die verschwunden sein soll? Wer ist diese Frau?« Kölsch schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er zurückhaltend, »das ist es nicht, was ihn in Atem hält. Es muß etwas anderes sein.« Bora St. Felix kam nicht mehr dazu, weitere Fragen zu stellen. Überall im Schiff erklang die Stimme des High Sideryt. Langsam und eindringlich sprach er zu allen Solanern. Und was er zu sagen hatte, hätte den Buhrlos die Haare zu Berge stehen lassen, wenn sie welche gehabt hätten. So aber führte es lediglich bei manchen zu einer unkontrollierten Reaktion der Papillos, was zur Folge hatte, daß sich die von verstärkten Wülsten der Buhriohaut umgebenen Körperöffnungen schlossen und so vorübergehend eine Vakuumbereitschaft entstand. Über sechzigtausend Solaner lauschten Chart Deccon. * Dem High Sideryt brannte die Haut unter den Nägeln. In die Ausweichzentrale zurückgekehrt, hatte er sich sofort in alle verfügbaren Interkomkanäle eingeschaltet. Überall im Schiff war er in Wort und Bild zu empfangen. Er wußte, daß es nicht lange dauern konnte, bis jener Order sich einschaltete, der sich in seiner Klause aufhielt. Er würde die Sendung unterbrechen lassen oder den Versuch wagen, SENECA eine Anweisung zur Unterbrechung zu geben. Das war der Punkt, den Chart berücksichtigte. SENECA würde nach wie vor schweigen. »Hier spricht Chart Deccon, der High Sideryt«, begann er seine Ansprache. »Ich habe euch nach Alpha suchen lassen. Inzwischen hat sich die Situation weiter zugespitzt. Zehn Doppelgänger von mir bewegen sich durch die SOL und stiften Verwirrung. Ihnen gilt meine Durchsage.« Zum ersten Mal erfuhren die Solaner nun den ganzen Hintergrund der Affäre, die damit begonnen hatte, daß Deccon die angreifende Station zurückschlug und die Zehnlinge an Bord
bringen ließ. Der High Sideryt klärte sie darüber auf, wie es zur Entstehung der zehn Ebenbilder gekommen war, und machte Andeutungen, wozu sie dienen sollten. Geschickt brachte er sie mit der angreifenden Station und dem Gegner zusammen, der irgendwo in Flatterfeld lauerte. Er vermied es, darauf hinzuweisen, daß die SZ‐2 sich in jenem Sektor aufhielt, in dem der Gegner daheim war. Es hätte unter den Buhrlos und den Unsymmetrischen neue Unruhen und Aufstände ausgelöst. Deccon beobachtete zahlreiche Bildschirme und versuchte, die Reaktion zu erkennen. Die Solaner lauschten angestrengt seinen Worten. Sie wären gar nicht auf den Gedanken gekommen, zwischen den Zeilen zu lesen. Die Fakten waren überwältigend genug für sie. Sie verstanden eines ganz deutlich, und Chart beeilte sich, es ihnen einzuprägen. »Die SOL, unsere Heimat, befindet sich in Gefahr, wenn wir nicht sofort reagieren. Befolgt meinen Rat!« Er überlegte hastig, ob er ihnen Vorschläge machen sollte, wie sie vorgehen mußten. Er entschied sich dagegen, obwohl er in diesem Fall ein ungutes Gefühl im Magen hatte. Was ist nur mit mir los, dachte er. Früher hätte es mir überhaupt nichts ausgemacht, einen Befehl zu erteilen. Jetzt, in dieser wichtigen Angelegenheit, bringe ich es nicht einmal fertig, einen Vorschlag zu machen. Wieder wurde der High Sideryt daran erinnert, daß es Mächte aus dem Hintergrund waren, die die Order steuerten. Waren es dieselben Mächte, von denen Atlan gesprochen hatte oder handelte es sich um andere, fremde? Chart sah die erwartungsvollen und fragenden Gesichter der Solaner auf den Bildschirmen. Sie erinnerten ihn daran, daß er mit seinen Ausführungen noch nicht zu Ende war. »Es gibt eine Möglichkeit, die falschen Deccons vom echten zu unterscheiden«, teilte er ihnen mit. »Alle tragen das seltsame
Kästchen an der Brust, aber nur eines ist unzerstörbar. Sein Träger ist der echte High Sideryt.« Er machte eine kurze Atempause und fuhr dann fort: »Helft mir, die zehn Ebenbilder zu fangen und unschädlich zu machen, bevor sie das Schiff ins Chaos gestürzt haben. Sucht sie überall und prüft, ob ihre Kästchen dem Beschuß eines Strahlers standhalten!« Er schaltete die Mikrofonübertragung ab, ließ die Bildschirme aber weiterhin eingeschaltet. Er blendete andere Bereiche des Schiffes ein und beobachtete. Chart entdeckte Wajsto Kölsch bei einer Meute von Buhrlos und Unsymmetrischen, von denen er während seines Zusammenseins mit Alpha nebenbei gehört hatte. Der High Sideryt beobachtete, wie die Menge sich langsam auflöste. Er hörte, daß Kommandos ertönten und die Solaner in ausgesprochene Hektik verfielen. Vergessen war all das, was sie soeben noch bewegt hatte. Das Schiff befand sich in Gefahr, alle würden versuchen, bei deren Abwendung zu helfen. »Tod den Duplikaten!« hörte Chart jemanden schreien, und er dachte mit Grauen daran, was bei einer Verwechslung geschehen konnte. Ich muß die Magniden anrufen und so tun, als sei ich mitten unter den Solanern, redete er sich ein. Ich muß ihnen weitere Anweisungen geben. Er blendete die Hauptzentrale des Mittelteils ein, fand aber Bild und Ton blockiert. Da wußte er, daß ihm einer der Order zuvorgekommen war. Chart Deccon schaltete die Übertragungsanlagen ab. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, und er mußte den Solanern Zeit zum Suchen lassen. Solange er sich in der Ausweichzentrale aufhielt, war er sicher, nicht das Opfer einer Verwechslung zu werden. Er würde immer wieder beobachten und abwarten, bis alle zehn Duplikate ergriffen worden waren. Dann würde er sich zeigen und an seinem Kästchen die Probe durchführen lassen.
Für einen Augenblick überkam den High Sideryt so etwas wie Siegesgewißheit. Er rechnete damit, daß es vielleicht eine Tag‐ und eine Nachtperiode dauern würde, bis alle Deccons eingefangen waren. Länger würde es auf keinen Fall dauern. Hätte Chart Deccon in diesem Augenblick gewußt, daß alles ganz anders kommen würde, daß ihm ein ganz anderer Weg bestimmt war, das Problem der Doppelgänger zu lösen, er hätte mit Sicherheit resigniert. So aber schwelgte er in Zuversicht, die übertrieben war, die auf Grund der seelischen Erschütterungen, die er in der nahen Vergangenheit durchgemacht hatte, aber völlig verständlich war. Chart Deccon war leichtsinnig. Er dachte nicht daran, daß die Order ihn suchten. Er rechnete nicht damit, daß sie ihn finden würden. Er vergaß für kurze Zeit, daß es seine Ebenbilder waren, die in seinen Bahnen dachten und handelten. Zehn Deccons hielten nach einem Ausschau, und es war gar nicht schwer, seinen Aufenthaltsort zu finden. * Das elektronische Schloß zischte, und es sprühten Funken aus der Öffnung für den Magnetschlüssel. Dann knirschte es in der metallenen Türfüllung. Mit einem Ruck öffnete sich die Tür. »Wir sind richtig«, grollte Chart Deccon zu seinem Begleiter. »Es ist die Spezialwerkstatt. In ihr ist alles enthalten, was wir benötigen.« »Gut«, erwiderte der zweite Mann. Nebeneinander traten sie ein. Die Werkstatt wurde von mehreren Lichterketten erhellt, die sich an der Decke und den Wänden hinzogen. Sie waren auf Sparstrom geschaltet, und die beiden Männer nahmen die Widerstände im Stromkreis weg, nachdem sie die Tür zugeschoben hatten. Richtig schließen ließen sie sich nicht mehr, denn das Schloß war zerstört.
Das Licht wurde intensiver und leuchtete jetzt den ganzen Raum aus. Die Spezialwerkstatt, früher hatte sie zur Erledigung schwieriger Kleinstreparaturen gedient, war lange nicht mehr benutzt worden. Die Bänke und Terminals, die Tische und Regale waren gleichmäßig mit Staub bedeckt. Chart Deccon hustete, und eine Wolke dieser feinsten Partikel erhob sich vor ihm in die Luft und verteilte sich gleichmäßig über ihn und seinen Begleiter herum. »Gut, daß unsere Erinnerung so perfekt ist«, meinte Deccon. »Wir sollten das Versteckspielen aufgeben. Niemand kann uns hier belauschen.« »Ich bin einverstanden, denn ich verfüge über dasselbe Wissen«, grollte sein Begleiter, der das genaue Abbild Deccons war. Die beiden Order sahen sich um. Sie waren in die Spezialwerkstatt eingedrungen, weil es sich als nötig erwiesen hatte, daß mindestens ein Teil der Order jene Kleidung tragen sollte, in die sich der echte Deccon kleidete. Die Order hatten die »Rüstung« aus kleinen, blauen Metallschuppen gesehen. Mit Hilfe ihres besonders ausgeprägten Erinnerungsvermögens war es leicht, die Kleidung nachzubilden. Noch etwas anderes gab es, das sie zu ihrem Vorgehen veranlaßt hatte. Order‐7‐A und Order‐7‐B hatten den Aufruf Chart Deccons verfolgt. Sie hatten erkannt, daß es sich um den echten Deccon handelte und wußten nun, daß es in erster Linie auf das Kästchen ankam und nicht auf die Rüstung. Sie hatten die Reaktion der Solaner beobachtet und erkannt, daß diese sich unverzüglich auf die Suche nach den Doppelgängern machten. Es galt, keine Zeit zu verlieren. »Hier sind die Folien mit den Beständen der Lagerregale«, machte Order‐7‐A seinen Bruder aufmerksam. »Aktiviere das Lesegerät am Computerterminal. Wir benötigen einen unzerstörbaren Kunststoff.«
Sie machten sich an die Arbeit. Über das Aussehen des Rohstoffs hatten sie eine klare Vorstellung, wie sie auch über das gesamte Wissen Deccons verfügten, das zur Schiffsführung notwendig war. Über einen parapsychischen Trick hatten sie es im Lauf ihres schnellen Heranwachsens erhalten. »Ich möchte wissen, was sich in dem Kästchen befindet«, brummte Order‐7‐B. »Ohne dieses Wissen sind wir gegenüber dem High Sideryt immer im Nachteil. Er kann sich damit identifizieren, wenn es sein muß.« »Wie viele Solaner wissen darum?« »Es wird sich nicht feststellen lassen. Außerdem wird es kaum möglich sein, den Inhalt und die Struktur des Kästchens zu bestimmen.« »Ich habe etwas gefunden!« sagte Order‐7‐B in diesem Augenblick. Er deutete auf den Bildschirm des Lesegeräts. Es war ein Kunststoff, wie er im Triebwerksbau und auch zur Herstellung von Dämpfern für Handwaffen verwendet wurde. Er war praktisch hitzeunempfindlich und gegen jede Art von Zerstörung gefeit. Order‐7‐A trat hinzu und musterte die Angaben der Folie. »Ein hochwertiges Plastikgranulat. Es wird in eine Form gegeben und unter Zusetzung eines Katalysators zu der gewünschten Masse geformt. Nach Entfernung aus der Form verfestigt es sich innerhalb einer Viertelstunde zu einer widerstandsfähigen Substanz. Es ist das, was wir brauchen.« »Dann laß uns die Form für das Kästchen anfertigen«, sagte Order‐7‐B mit Grabesstimme. »Der Computer wird uns helfen, die Umrisse und Ornamente des Kästchens genau herauszuarbeiten.« Sie machten sich an die Arbeit und besorgten das Material für die Form, die sie nach den Angaben des Computers bauten. Eine Abtastung mit dem Mikrometer ergab, daß sie den beiden Vorstellungen der beiden Order entsprach. Dann füllten sie sie mit dem Granulat und gaben die Reaktionsmasse dazu, unter deren
Einwirkung sich das Granulat zuerst verflüssigte und dann erhärtete. Nach einer halben Stunde waren alle Arbeiten abgeschlossen. Sie nahmen die Form auseinander und warfen sie in den Abfallvernichter. Order‐7‐A nahm das fertige Kästchen in die Hand und wog es prüfend. »Es ist schwerer als unsere zerstörbaren Imitationen, die wir aus der Not heraus gemacht haben«, stellte er fest. »Es ist dem richtigen Kästchen ähnlicher. Wer von uns beiden soll es erhalten?« »Es spielt keine Rolle«, erwiderte Order‐7‐B. Nachdem sie alle Spuren ihrer Arbeit beseitigt hatten, entfernten sie sich voneinander. Order‐7‐A schritt zur Tür und stellte sich daneben an der Wand auf. Order‐7‐B entfernte sich entgegengesetzt bis zur hinteren Wand der Werkstatt. Die beiden Order verharrten und fixierten sich mit den Augen. »Wir werden losen«, stellten sie nüchtern und ohne Zeichen von Erregung fest. Order‐7‐A hob die massigen Arme und hielt sie über dem Kopf empor. Er verschränkte die Hände ineinander und begann, die Arme rechts herum kreisen zu lassen. 7‐B tat es ihm nach. Aber er bewegte sich in entgegengesetzter Richtung. Sie ließen die Arme in synchronen Rhythmus pendeln, und die Anstrengung trieb ihnen den Schweiß auf die Glatzen. Plötzlich hielten sie inne. Sie senkten die Arme und streckten sie mit noch immer gefalteten Händen von sich weg, dem anderen entgegen. Die beiden Order machten einen Sprung nach vorn, dann noch einen. Zweimal drehten sie sich um sich selbst, dann rannten sie, so schnell sie konnten, dem Mittelpunkt der Werkstatt zu. Ihre Augen richteten sich auf einen imaginären Punkt. In der Mitte stießen sie zusammen. Sie taumelten, aber Order‐7‐B hatte seinen rechten Fuß ein paar Zehntelsekunden früher in die Mitte gebracht als sein Spiegelbild. Gleichzeitig traten sie einen Schritt zurück und verneigten sich leicht.
»Du hast gesiegt«, stellte Order‐7‐A fest. »Das Kästchen gehört dir!« Order‐7‐B nickte zustimmend. Er nahm sein eigenes, zerstörbares ab und trat zu dem Tisch, auf dem das neue, unzerstörbare lag. Rasch tauschte er die goldene Kette aus, hängte sich das neue um. Order‐7‐A nahm das überzählige Kästchen und warf es in den Abfallverwerter. »Damit haben wir den entscheidenden Schritt getan«, sagte er. »Nun wollen wir die Kleidung anfertigen.« Mit den Mitteln der Werkstatt war es ihnen ein leichtes, auch die blaue Plättchenkleidung des High Sideryt so zu imitieren, daß sie nicht von der echten unterschieden werden konnte. Sie vertauschten ihre grünen Kombinationen damit und waren nun von dem echten Deccon nicht mehr zu unterscheiden. Nur die Stabilität ihrer Kästchen war eine unterschiedliche. »Wir brechen auf«, entschied Order‐7‐B, nachdem sie die grünen Kombinationen hatten verschwinden lassen. »Du wirst dich unter die Solaner mischen und darauf warten, daß sie dich auf die Widerstandsfähigkeit des Kästchens prüfen«, sagte Order‐7‐A. »Ich dagegen werde meiner Aufgabe nachkommen.« »Sie ergibt sich aus dem Vorgefallenen von selbst«, antwortete Order‐7‐B. »Du bist von jetzt an nicht mehr Order‐7‐A, sondern nur noch Order‐7.« »Ja. Und es ist meine Aufgabe, Chart Deccon zu finden und dafür zu sorgen, daß er sein Kästchen verliert. Es dürfen keine zwei unzerstörbaren Kästchen an Bord des Schiffes sein.« Sie löschten das Licht vollständig und gingen hinaus. Alle Spuren waren verwischt, und wer das zerstörte Schloß entdecken würde, konnte nicht wissen, was sich in der Spezialwerkstatt ereignet hatte. »In diesem Raum hat sich das Schicksal der SOL erfüllt«, sagte Order‐7 zu seinem Abbild, das das unzerstörbare Kästchen trug.
* Joh Wakelin schloß den Deckel der Selbstbedienungsanlage der Küche und lauschte in sich hinein. Dann schüttelte er den Kopf. »Ronallde!« rief er laut. »Komm sofort zu mir!« Irgendwo knarrte ein ausgeleierter, notdürftig geflickter Sessel. Schwere Schritte dröhnten durch die Wohnung, dann trat Ronallde in die Küche. »Was gibt es, Joh?« säuselte die Frau, die ihren Mann um zwei Kopfeslängen überragte und vom Körpergewicht her um das Doppelte übertraf. Ärgerlich musterte sie die Küchenanlage und die Abdrücke von Johs schmutzigen Händen, die überall zurückgeblieben waren. »Ich möchte wissen, was du mit dem Programmierer gemacht hast«, brummte Wakelin und warf einen Schraubenzieher und einen Schlüssel weg. »Er stellt sich tot, obwohl er ordnungsgemäß angeschlossen ist. An einem Stromausfall kann es nicht liegen.« Ronallde Wakelin zuckte mit den breiten Schultern. »Ich habe dir gleich gesagt, daß einer von der SOLAG her muß«, erklärte sie. »Aber du glaubst mir ja nie. Immer willst du alles selbst erledigen. Wer weiß, was du angerichtet hast. Vielleicht ist die Anlage nun ganz im Eimer.« Joh richtete seine Augen zornig auf die Frau. Sein Kahlkopf ruckte hin und her, er schluckte vernehmlich. »Es ist immer dasselbe. Aber bitte, wenn du wülst, dann besorge dir einen Ferraten oder jemanden, der deiner Meinung nach mehr davon versteht«, brummte er gekränkt. Er zwängte sich an seiner Frau vorbei und suchte die Hygieneeinrichtung auf, um sich die Hände und Unterarme vom Schmutz zu reinigen. Anschließend griff er sich seine Kombinationsjacke, zog sie an und verließ die Wohnung. »He, wo gehst du denn hin?« rief Ronallde hinter ihm nach. »Willst du wieder nach Deccons suchen? Alles Einbildung, weißt
du. He!« Aber da war Joh schon längst draußen und eilte den Korridor entlang, der ihn in die belebteren Bereiche der Wohnetage brachte. Er wußte, wo er sich hinwenden konnte. Wakelin war ein waschechter Solaner. Er besaß keinen Beruf, hatte mit seiner Familie immer nur vor sich hingelebt. Sie hatten schwere Zeiten durchgemacht, in denen sie manchmal nicht gewußt hatten, was sie essen sollten. Einmal war ihre Verteilerstation für Nahrungsmittel eine ganze Woche geschlossen gewesen, eines Überfalls wegen. Damals hatten sie buchstäblich am Hungertuch genagt. Inzwischen war das anders. Die Robotfabriken arbeiteten, und es hieß, daß sie lediglich vernachlässigt worden waren in all der Zeit. Die SOL‐Farmen erlebten einen neuen Aufschwung, und die automatischen Küchenanlagen, die in einem Teil der Wohnungen und Kabinen des riesigen Schiffes eingebaut waren, konnten ihren Betrieb wieder aufnehmen. Aber – Wakelin fluchte bei dem Gedanken innerlich – es funktionierte nicht. Seine Küchenanlage streikte, und Ronallde machte seit Wochen ein unzufriedenes Gesicht. »Bestimmt liegt es daran, daß sie zu lange außer Betrieb war«, redete der Solaner sich ein. »Alle mechanischen Teile sind eingerostet, die elektronischen Teile verharzt oder verpecht, nichts läuft mehr. Mal sehen, was Teddy dazu sagt.« Joh Wakelin erreichte einen sogenannten Bahnhof. Es war eine ovale Verbreiterung des Korridors, in die sechs andere Gänge mündeten. Der Bahnhof war nur zwanzig Meter lang und zehn Meter breit, aber es reichte, um den neuen Aufschwung in der SOL auch an dieser Stelle sichtbar zu machen. Aus alten Tischen, Plastikkisten und Abfallmetall aus den Lagern der Ferraten hatte Teddy sich einen kleinen Stand zusammengezimmert. Er besaß annähernd geschlossene Seitenwände und ein Dach mit einem Vorsprung. Darunter
befanden sich die Tische, auf denen der Extra seine Waren ausgebreitet hatte. Von weitem sah er Wakelin kommen. »Hallo Joh!« rief er mit schmatzender Stimme. Joh Wakelin trat heran und musterte die Auslagen. Sie waren zahlreicher geworden, der Extra hatte sein Angebot vergrößert. Joh sah Spielzeug, Gebrauchsgegenstände, Ersatzteile für Wohnungseinrichtungen, aber auch Nahrungsmittel. Wakelins Augen wurden besonders von einer bohnenähnlichen Frucht angezogen, die klein und runzlig auf einem Papier ausgebreitet war. »Was ist das denn?« flüsterte er. Teddy kam hinter seinem Verkaufsstand hervor und klopfte Wakelin mit einer Pranke freundschaftlich auf die Schulter. »Lange nicht gesehen«, gurgelte der Extra. Er war einen Meter und siebzig groß, nur zwei Zentimeter fehlten ihm zu Johs Größe. Dafür besaß er ungefähr den dreifachen Körperumfang des Solaners. Teddys Haut war glatt und rosig und völlig haarlos. Nur mitten auf seinem Kopf thronte ein Büschel grüner Gräser, von denen jedes einzelne einen anderen Farbton aufwies. Der kugelrunde Kopf wurde eingerahmt von zwei tellerförmigen Ohren, und die weit auseinanderstehenden, kugeligen Augen blickten treuherzig drein. Teddy schneuzte sich sein Stupsnäschen und lachte dann, wie er es von den Solanern her kannte. Dabei öffnete er seinen bis fast zu den Ohren reichenden Mund und entblößte zwei Reihen gefährlich scharfer Zähne. Er kicherte. »Du staunst, ja?« sagte er, und seine Stimme klang jetzt so rauh wie die eines Motors ohne Öl. Joh Wakelins rechte Hand glitt nach vorn. »Ich darf mal«, sagte er und hielt bereits eine der Früchte in der Hand. »Klaster«, heulte Teddy los und klatschte begeistert in die Hände. »Ein ganzer Haufen Klaster.« »Was ist Klaster?« wunderte Joh sich. »Kann man das essen?« »Es schmeckt sehr gut. Man muß es nur in eine wohlriechende
Soße tauchen und dann trocknen.« »Ich weiß noch immer nicht, was es ist«, gestand Wakelin. Teddy nahm ihm die Dörrfrucht aus der Hand. »Es wird in einer der Robotfabriken hergestellt und soll für Notzeiten eingelagert werden. Klaster ist praktisch unbegrenzt haltbar«, erklärte der Extra. »Es wird aus Algen hergestellt und luftgetrocknet. Ich habe die Lieferung von einem Ferraten erhalten. Es kommt noch mehr.« »Wieso bringt der Ferrate das Zeug zu dir, wo es doch eingelagert werden soll?« »Die Schiffsführung hat sich bis jetzt noch nicht dazu entschließen können, Lagerräume herzurichten. Solange das nicht geschieht, wird Klaster an die Solaner verteilt, die sich dafür interessieren. Hast du die Durchsage des High Sideryt gehört?« Joh Wakelin nickte nachdenklich. »Ja«, sagte er, »ich habe sie gehört. Es gefällt mir nicht, was er uns mitgeteilt hat. Warum erfahren wir erst jetzt davon? Wer sind die Doppelgänger und was wollen sie von uns?« »Sie streben nach der Schiffsführung, und das ist nicht gut«, rollte Teddy und richtete sich vor Joh auf. »Wir müssen alle zehn Ebenbilder fangen und unschädlich machen.« Und in der Stimmlage Deccons fuhr er grollend fort: »Jemand greift nach der Herrschaft in der SOL. Es ist eine fremde, unheimliche Macht. Alle Solaner müssen dabei helfen, ein Unglück zu verhindern. Es geht um das Überleben des Schiffes!« »Woher weißt du das alles?« rief Wakelin aus. Er kannte das Talent des Extras, jede beliebige Stimme zu imitieren. Jetzt war sie wirklich nicht von der Deccons zu unterscheiden gewesen. »Ich habe es aus dem herausgelesen, was der High Sideryt verkündet hat«, sagte Teddy bereitwillig. »Es ist seine Rede, nur in anderen Worten.« Er nahm eine der getrockneten Früchte auf und schob sie in den Mund. Genüßlich kaute er darauf herum. Er blickte an Wakelin vorbei, und seine Augen begannen vor Erregung zu
leuchten. »Da kommt er ja!« rief der Extra aus. Joh Wakelin fuhr herum. Der Mann, der mit gewichtigen Schritten den Bahnhof betrat und auf den Stand des Extras zuschritt, war Chart Deccon, der High Sideryt. Die mächtige Gestalt des wichtigsten Mannes in der SOI wirkte auf den Solaner wie eine Erscheinung aus höheren Sphären. Ehrfurchtsvoll wollte er zurückweichen, aber er stieß an Teddys Tisch und kam nicht weiter. Aus großen Augen verfolgte er, wie der High Sideryt ihn erreichte. Deccons Brauen zuckten, die tiefliegenden Augen waren kaum zu sehen. »Du bist tatsächlich der High Sideryt?« fragte Teddy zu Johs Überraschung. »Keine Kopie?« »Nein, ich bin es selbst«, sagte Deccon und strich sich den Brustteil seiner Kombination glatt. »Ich habe mich nach meiner Durchsage aufgemacht, um die Solaner bei der Suche nach den Kopien zu unterstützen.« »Wir können dir nicht helfen, wir haben keine Beobachtungen gemacht«, sagte Wakelin unterdrückt. Aus lauter Ehrfurcht wäre er am liebsten in den Boden versunken. Das war der Mann, der die Station besiegt hatte, die das Schiff mit Asteroiden beschossen hatte. Teddy runzelte die glatte Stirn. »Wo hast du denn dein Kästchen, High Sideryt?« fragte der Extra mit merkwürdig hohler Stimme. Deccon zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe es selbstverständlich in meiner Klause zurückgelassen. Die Gefahr ist zu groß, daß einer meiner Doppelgänger es mir abnehmen könnte.« »Meinst du?« Teddys Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken. »Und wenn du lügst?« »Hör mal!« fuhr Wakelin auf und starrte den Extra erzürnt an. »Du kannst doch nicht den High Sideryt verdächtigen, daß er lügt. Der Bruder ohne Wertigkeit lügt nie!«
»Sehr richtig«, sagte Deccon grollend. »Es gibt mich nur einmal.« »Nein, elf mal!« rief Teddy erbost und griff nach einem Ding, das wie ein knorriger Knüppel aussah. Aber der Extra legte es wieder weg. »Joh, du mußt mir jetzt helfen!« forderte Teddy den Solaner auf. »Du erinnerst dich an den Aufruf Deccons? Wir müssen alle festnehmen, die so aussehen wie er, vor allem, wenn sie keine Kästchen tragen.« Und zu dem angeblichen High Sideryt gewandt, fuhr er fort: »Ich kann dich nicht gehen lassen, du wirst es verstehen. Wir müssen dich den Magniden übergeben, damit sie deine Echtheit prüfen. Wenn du wirklich Deccon bist, hast du ein unzerstörbares Kästchen!« Chart Deccon wandte sich ab. Eilig schritt er auf einen der Korridore zu, doch Teddy kam ihm zuvor. Mit katzenhafter Geschwindigkeit griff der Extra hinter einen der Tische und holte eine kleine Schachtel hervor, an deren einem Ende er auf eine Erhebung drückte. Ein dünnes Drahtseil schoß auf den High Sideryt und wickelte sich mehrmals um seinen Körper. Deccon konnte sich nicht mehr fortbewegen und fluchte lautstark. »Nein«, würgte Wakelin hervor. Teddy trat zu dem High Sideryt und maß ihn mit kalten Augen. »Ich werde jetzt ein paar Solaner rufen, die dich zur Hauptzentrale transportieren«, eröffnete er seinem Gefangenen. Und zu Joh Wakelin sagteer: »Geh du und benachrichtige deine Bekannten und Freunde. Ich bleibe hier und bewache ihn.« * »Bruder, wohin gehst du?« Hart erklang die Frage aus dem Halbdunkel der Reparaturnische,
und Vinderman blieb abwartend stehen. »Wer spricht da?« erkundigte sich der Ferrate und stellte seinen Werkzeugkasten ab, mit dem er auf dem Weg zu einer Schadstelle war. »Es ist unwichtig, wie ich heiße«, erklang wieder die Frage. »Aber sage mir eines: Hast du in den vergangenen Stunden zufällig Chart Deccon gesehen?« Vinderman verneinte. »Ich bin ihm seit Tagen nicht begegnet, und ich weiß nicht, ob es der echte war, den ich gesehen habe.« »Ich habe einen Auftrag für dich«, sagte die Stimme des Unbekannten. »Wenn du einem dieser Doppelgänger begegnest, dann komme hierher und melde es mir, damit ich mich danach richten kann.« »Wer bist du, daß du einem Ferraten einen Auftrag gibst?« fragte Vinderman vorsichtig. In der Nische entstand ein Rascheln. Das Stück eines Gewandes kam zum Vorschein, aber es genügte. Vinderman sah das Hellblau und das bronzefarbene Atomsymbol. Der Unbekannte war ein Ahlnate. Der Ferrate unterdrückte die Frage, warum sein Vorgesetzter sich des Versteckspiels befleißigte. Er hob seinen Werkzeugkasten auf und sagte: »Du kannst dich auf mich verlassen. Ich werde dir umgehend Bescheid geben.« Aus der Nische kam keine Antwort mehr. Vinderman setzte sich in Bewegung und suchte jenen Teil des Schiffes auf, in dem sein Ziel lag. Es war eine kleine Kontrollzentrale vier Etagen unter seinem jetzigen Standort. Dort war ein Schaden im Belüftungssystem entstanden, das wie die Wasserversorgung, Abwasserentsorgung und die damit zusammenhängenden Systeme der Vakuumwarnung und Stromversorgung von der kleinen Kontrollzentrale aus gesteuert wurde. Gleichzeitig besaßen die Kontrollsysteme eine
Diagnoseeinheit, mit deren Hilfe der Schaden schnell lokalisiert werden konnte. Während Vinderman sich vom Antigrav hinabtragen ließ, überlegte er, warum der Ahlnate sich nicht gezeigt hatte. Was steckte hinter der Geheimnistuerei? Der Ferrate entschied sich dafür, nicht darüber zu grübeln, es ging ihn nichts an. Wenn er einen der Deccons ausfindig machte, würde er es melden. Es geht in letzter Zeit vieles vor, was unglaublich ist, dachte Vinderman bei sich. Ist ein Problem beseitigt, taucht ein neues, größeres auf. Und laut sagte er: »Seit die SZ‐2 abgekoppelt hat, ist hier der Teufel los.« Er verließ den Antigravschacht und orientierte sich an den Leuchtmarkierungen, die im Unterschied zu früher in Betrieb waren. Ohne Schwierigkeiten fand er den Eingang in die kleine Zentrale und ging zielstrebig auf die Kontrolltafeln zu, um die Fehlerquelle zu suchen. Er sah sich um. Außer ihm hielt sich niemand in dem Raum auf. Alles machte einen unberührten Eindruck. Nur das rote Blinklicht deutete darauf hin, daß eines der Systeme einen Schaden hatte. Vinderman stellte den Werkzeugkasten mit dem Spezialwerkzeug in einen Sessel und machte sich an die Arbeit. Erstaunlicherweise fand er den Fehler bald. Er befand sich noch im Bereich der Kontrollzentrale. Vinderman mußte nur ein im Boden eingelassenes Reparaturluk öffnen und sich in das Gewirr unterirdischer Versorgungsleitungen hinablassen. Er tat es. Der Einstieg war in der rechten hinteren Ecke neben den Kontrollaggregaten. Das Luk war nicht versiegelt, nicht einmal verriegelt. Er packte es am ausziehbaren Griff und zog es empor. Muffiger Geruch drang ihm entgegen und erinnerte ihn daran, daß die meisten Schächte und Kanäle dieser Art dringend gereinigt und erneuert werden mußten. Er stieg hinein, ertastete mit den Füßen die Sprossen der kurzen Leiter. Er zog seinen Kasten an sich
und schob sich langsam abwärts. Als er mit den Händen weit genug nach unten fassen konnte, aktivierte er die Notbeleuchtung und stieg auf den Boden des engen Schachtes hinab. Vinderman sah sich um. Vor ihm war die Richtung, in der er zu gehen hatte. Hinter ihm aber hörte er das Keuchen eines Menschen. Jemand kam den Reparaturschacht entlang, vermutlich aus demselben Grund, weshalb Vinderman ihn aufgesucht hatte. Wie viele Ferraten waren mit der Behebung des Schadens beauftragt worden? Der Ferrate merkte erst, daß etwas nicht stimmte, als der andere heran war und seine Augen auf ihm ruhen ließ. »Deccon!« stieß er hervor. »Was tust du hier?« »Ich bin auf der Flucht!« ächzte der High Sideryt. »Ich habe meinen Verfolger abgehängt!« Vinderman sah, daß die grüne Kombination Deccons schmutzig war, er mußte eine längere Strecke im Schacht zurückgelegt haben. Das Kästchen baumelte vor seiner Brust und wogte mit den Atemzügen des Riesen auf und ab. Vinderman sammelte seine Gedanken. »Vor wem fliehst du, High Sideryt?« fragte er zögernd. »Hast du meine Durchsage nicht gehört? Die Ebenbilder jagen mich. Ich muß mich verstecken!« Vinderman überlegte, dann leuchteten seine Augen auf. »Du weißt, daß du dich auf die SOLAG verlassen kannst, High Sideryt«, sagte er. »Ich werde dir in jeder Beziehung behilflich sein, aber ich muß mich vorher vergewissern.« »Worüber?« keuchte Deccon und wischte sich kleine Tropfen von der Stirn. »Über die Echtheit deines Kästchens!« »Du phantasierst!« entgegnete der High Sideryt hart. »Ich bin der echte Deccon und im Besitz des echten Kästchens!« »Gib es mir, damit ich es untersuchen kann!« Bereitwillig zog Deccon das Kästchen vom Hals und reichte es
dem Ferraten. Zusammen stiegen sie in die Kontrollzentrale empor. Dort legte Vinderman das Kästchen zu Boden. Er zog seinen Strahler und justierte ihn. Er schoß. Der fein gebündelte Strahl umhüllte das Kästchen und löste es auf. Nichts blieb davon übrig, und die gefährliche Waffe des Ferraten zeigte plötzlich auf Deccons Bauch. »Du bist einer der Doppelgänger!« stellte Vinderman eisig fest, doch Deccon lachte schallend. »Du begreifst wirklich nicht!« rief der High Sideryt aus. »Was glaubst du, würde geschehen, wenn ich das echte Kästchen bei mir trüge?« Der Ferrate überlegte. »Ich glaube, ich verstehe dich«, sagte er dann. »Sie würden es dir abnehmen. Aber warum trägst du dann ein falsches?« »Gerade deshalb. Die Doppelgänger sollen mich für einen der Ihrigen halten. So kann ich ungestört meine Anhänger um mich versammeln.« Vinderman senkte langsam die Waffe. Er wußte nicht, was er glauben sollte und was nicht. »Ja, du hast sicher recht«, entgegnete er, aber es klang wenig überzeugend. »Gut, dann kann ich ja gehen«, sagte der High Sideryt. »Ich muß mir schnell eine weitere Imitation des Kästchens besorgen.« Er schritt zum Ausgang. In Vinderman jagten sich die Gedanken. Anhänger um sich sammeln, von den Doppelgängern für einen der Ihren gehalten werden, aber trotzdem auf der Flucht vor ihnen in einem Reparaturstollen. Ein Widerspruch! Vinderman fingerte an seiner Waffe. »Halt!« sagte er. Deccon stand unter der Tür und wandte ein wenig den Kopf. »Zu spät!« lächelte der High Sideryt, aber da hatte der Ferrate die Waffe schon ausgelöst. Von einem wohldosierten Lähmstrahl
getroffen brach Deccon unter der Tür zusammen. Vinderman drehte sich um und aktivierte den Interkom. Er alarmierte weitere Brüder und Schwestern der sechsten Wertigkeit. Er trug ihnen auf, Deccon in den Mittelteil zu den Magniden zu bringen. Sollten sie selbst entscheiden, ob es der richtige war. Dann machte der Ferrate sich auf. Er vergaß nicht sein Versprechen und suchte die Nische auf, wo er berichtete, was sich ereignet hatte. Er erhielt lange keine Antwort. Endlich aber sagte der sich versteckende Ahlnate: »Es ist gut, du kannst gehen!« Vinderman entfernte sich und rätselte, was das zu bedeuten hatte. Er wollte nochmals zurückkehren und die Nische beobachten, unterließ es jedoch. So versäumte er den Abgang des Unbekannten, der das Gewand eines Ahlnaten achtlos fallen ließ, sich aus der Nische zwängte und eilig davonschritt. Es war Chart Deccon. Einer von zehn falschen. Oder der echte? Wer konnte es schon sagen. Das Chaos warf seine Schatten voraus. * Arjana Joester strich sich mit zwei Fingerspitzen über ihr hübsches, leicht asiatisch geschnittenes Gesicht. Sie trat zu Wajsto Kölsch und lächelte ihn an. Die intimen Beziehungen dieser beiden Magniden waren ein offenes Geheimnis. »Ich habe eine Idee«, flüsterte sie und sah Kölsch fest in die Augen. Das vorspringende Kinn im Gesicht des Magniden bewegte sich hin und her. Auch die übrigen Magniden traten herzu und warteten gespannt darauf, was kommen würde. »Wenn wir einfach in die Klause gehen und Deccon zu einem Beweis zwingen, können wir ihn ohne weiteres loswerden oder festnehmen«, sagte Arjana, nachdem Nurmer ihr beruhigt zugewinkt hatte. Die Hauptzentrale stand im Augenblick nicht
unter Überwachung von der Klause des High Sideryt aus. »Du glaubst, er läßt uns an sich heran?« fragte Curie van Herling zweifelnd. »Er wäre dumm, wenn er es täte.« »Ihr seid viel zu schüchtern«, zischte Gallatan Herts hinter Curies Rücken. »Wenn er der echte Deccon ist, wird er nicht zögern, den Beweis anzutreten.« »Aber wir wissen doch, daß es ein Doppelgänger ist!« ereiferte Lyta Kunduran sich. »Was soll das Theater?« »Deccon weiß nicht, daß wir es wissen«, antwortete Arjana. »Er muß glauben, daß wir ganz einfach eine Sicherheit haben wollen. Er kann sie uns nicht verweigern. Er muß uns gegenüber weiter der echte High Sideryt sein. Er muß uns so lange wie möglich hinhalten. Sind wir erst von seiner Unechtheit überzeugt, hat er es schwer in seiner Klause.« »Du willst also, daß wir zu ihm gehen«, stellte Wajsto Kölsch fest. »Wann?« Arjana blickte sich um. »Wir sind vollzählig«, sagte sie. »Am besten gleich.« »Und wer übernimmt die Herstellung des Kontakts?« »Ich!« Lyta Kunduran sagte es. Die Magniden nickten zustimmend. Bit trat zur Funkzentrale und rief Chart Deccon. Augenblicklich erschien das massige Gesicht des High Sideryt auf dem Bildschirm. »Was gibt es?« fragte er mürrisch. »Wir müssen dich sprechen, Chart«, sagte Lyta mit weicher Stimme. »Es ist sehr wichtig. Wir haben schwere Sorgen!« »Ich weiß, was euch bedrückt«, entgegnete der High Sideryt. »Es hängt mit meinen Doppelgängern zusammen. Wann wollt ihr kommen?« »Du kannst auch herüber in die Zentrale kommen«, schlug Bit vor, aber Deccon schüttelte den Kopf. »Nicht nötig«, sagte er. »Ich erwarte euch.« Die Übertragung erlosch, und die Magniden sahen sich
bedeutungsvoll an. Bit winkte herausfordernd. »Gehen wir«, sagte sie ein wenig erleichtert. »Wir werden ja sehen, was uns erwartet.« Gemeinsam verließen sie die Zentrale durch das Hauptschott und gingen hinüber zum Eingang der Klause. Wajsto Kölsch betätigte den Öffnungsmechanismus, dann traten sie ein. Chart Deccon empfing sie auf seinem Thron sitzend. Er lächelte erheitert, als er die Prozession der Magniden sah. Dann aber wurde er übergangslos ernst. »Es ist nicht nötig, daß ihr große Worte macht«, erklärte er ihnen. »Ich weiß, was ihr wollt. Aber sprecht euch ruhig aus. Ich werde euch nach besten Kräften unterstützen!« »Es sind zehn Doppelgänger von dir in der SOL unterwegs, Chart«, ergriff Arjana Joester das Wort. »Ich weiß«, erwiderte Deccon knapp. »Diese Doppelgänger sehen aus wie du, sie sind in nichts von dir zu unterscheiden. Wir könnten nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob du der echte High Sideryt oder ein falscher bist.« Hage Nockemann hatte den Beweis geführt, daß der Deccon in der Klause ein Doppelgänger war. Die Kratzspuren an seinem Schädel hatten es deutlich gezeigt. Inzwischen waren die Spuren jedoch verheilt, oder bei diesem Deccon überhaupt nie dagewesen, denn sie waren nicht zu erkennen. Dennoch war sich Arjana sicher, es mit einem Doppelgänger zu tun zu haben. »Es gibt nur eine Möglichkeit, es zu beweisen!« Sie deutete auf das Kästchen, das an der Brust des High Sideryt hing. »Ist es das unzerstörbare?« »Eine Antwort erübrigt sich eigentlich«, sagte Deccon betont deutlich. »Natürlich ist es das echte Kästchen, wie ich der echte Deccon bin.« Arjana überlegte kurz. Sie beschloß, ihren wichtigsten Trumpf auszuspielen. »Nockemann hat in dir einen falschen erkannt«, sagte sie. »Er
konnte es uns beweisen. Wir müssen davon ausgehen, daß du immer noch der bist, den Nockemann angetroffen hat, als er mit Nurmer und Ursula bei dir war.« Deccon beugte sich in seinem Sessel vor und atmete laut ein. Der Reihe nach sah er sie an, und sie schienen unter seinen Blicken kleiner zu werden. Herts räusperte sich, es wurde ihm ungemütlich. »Ich weiß, wer Nockemann ist«, eröffnete Deccon den verblüfften Magniden, »aber ich habe ihn lange nicht gesehen. Erst recht war er nicht mit zwei Magniden bei mir in der Klause.« Arjana war irritiert, sie geriet fast ins Stottern. »Dann … dann war es doch … ein anderer!« stieß sie hervor. »Dann bist du noch nicht lange in deiner Klause!« »Die Situation erfordert es, daß ich die Klause immer wieder verlasse. Aber ist es möglich, daß sich einer meiner Doppelgänger eingeschlichen hat?« Die Magniden murmelten untereinander. Nurmer zupfte Arjana am Ärmel ihres langen Gewands. Er wollte ihr etwas sagen, doch die Magnidin reagierte nicht darauf. Sie starrte Deccon an, als sei er ein Geist. Ihre Brust hob und senkte sich. Schließlich gab sie sich einen Ruck. »Kannst du das beweisen?« fragte sie schnell. Deccon lächelte wieder. »Wie sollte ich?« fragte er zurück. »Ich habe keinen Zeugen für den Zeitpunkt, an dem ich zum letzten Mal in die Klause zurückkehrte.« »Er muß die Kästchenprobe machen!« rief Ursula Grown. »Es gibt einen Beweis für die Wahrheit meiner Worte«, sagte Deccon. »Ich muß der echte High Sideryt sein, da ich nur von meiner Klause aus den Aufruf habe durchführen können, der an alle Solaner gegangen ist. Das ist der Beweis für meine Identität.« Er faßte nach seinem Kästchen und hielt es fest. Aus halb geschlossenen Augen beobachtete er, wie die Magniden enger zusammenrückten und sich leise berieten. Dann trat Nurmer vor.
»Ich glaube, es genügt«, teilte er mit. »Wir glauben dir.« »Habt ihr weitere Fragen oder Probleme?« brummte Deccon freundlich. Die Magniden verneinten und zogen sich aus der Klause zurück. »Planst du weiterhin, der SZ‐2 nachzufliegen?« rief Arjana Joester unter der Tür, aber der High Sideryt antwortete nicht mehr darauf. Sie hatte gehofft, er würde sich verraten, denn der von Nockemann als falsch entlarvte Deccon hatte dies beabsichtigt. Die Magniden zogen sich in die Zentrale zurück. »Ich weiß, was du wolltest«, sagte Wajsto zu der Frau. »Aber wer kann schon sagen, wann welcher Deccon in der Klause ist.« Die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit nickten schwermütig. Sie hatten es wirklich nicht leicht, und jetzt sahen sie die größtes Bewährungsprobe auf sich zukommen, seit sie in ihrem Amt waren. Die vorangegangenen Schwierigkeiten, sie waren ein Kinderspiel gewesen im Vergleich zu dem, was sich jetzt ereignete. Das Verwirrspiel lief auf vollen Touren, und die Magniden gestanden sich ein, daß ihr Besuch bei Deccon sinnlos gewesen war. Welcher war nun der richtige Deccon, lebte der High Sideryt überhaupt noch? Oder hatten seine Ebenbilder ihn aus dem Weg geräumt? Die Gedanken in den Gehirnen der Magniden waren alles andere als ruhig und beherrscht. Sie warfen sich gegenseitig Blicke zu, und diese legten Zeugnis davon ab, daß sie jetzt mehr verunsichert waren als vor ihrem Besuch in der Klause. 5. Bora St. Felix atmete auf. Die innere Situation im geteilten Schiff schien vorerst entspannt. Die Solaner beteiligten sich an der groß angelegten Suchaktion nach den Doppelgängern. Aus verschiedenen Sektoren kamen einzelne Erfolgsmeldungen, und es
sprach sich herum, daß die Magniden persönlich sich um die Deccons kümmerten. Erleichternd wirkte die Verkündigung des High Sideryt, bald der SZ‐2 nachzufliegen und sie zu suchen. Diese Nachricht hatte sich inzwischen im gesamten Schiff herumgesprochen, so daß die Unsymmetrischen vorerst schwiegen oder ab und zu mit ihrem einen, geschlossenen Auge blinzelten. Ein Hoffnungsschimmer. Bora hatte sich Zeit genommen, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Jetzt war sie gefällt, und ihre Anhänger erzählten sie herum. Die Buhrlo‐Frau hatte sich für den Bordfrieden ausgesprochen, und es bedurfte ihres Hinweises auf die verzwickte Situation mit den Ebenbildern gar nicht. Die Solaner hatten sie auch so verstanden. Manchmal, in stillen Minuten, zweifelte Bora noch. Dann fragte sie sich, wie es weitergehen würde, wenn die Doppelgänger eingefangen waren. Hielt der High Sideryt Wort, oder war die SOL dann gar nicht mehr in der Lage, dem Willen des Schiffsführers zu folgen? Das unerwartete Erscheinen von Deccons Ebenbildern hatte zu neuer Unruhe geführt. Die Solaner wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten. War der Deccon, der ihnen begegnete, ein falscher oder der echte? Noch mehr, kam das Versprechen, die SZ‐2 zu suchen, von dem wirklichen High Sideryt oder einer seiner Nachahmungen? Die Buhrlo‐Frau wurde durch die Vorgänge an das erinnert, was das Schiff im Bann des Zugstrahls von Mausefalle VII erlebt hatte und was auf und um Chail geschehen war. Es waren geheimnisvolle Vorgänge gewesen, aber die zehn Doppelgänger und die mysteriöse Alpha übertrafen jene Ereignisse um ein Vielfaches. Wo kommen sie her? überlegte Bora, was ist ihre Absicht? Sie hätte viel darum gegeben, es zu wissen, aber wie sollte sie es erfahren? An einer Abzweigung des Korridors entdeckte sie vier junge Buhrlos, die sich unauffällig bewegten, aber dennoch auf etwas zu
warten schienen. Sie sahen der Frau fragend entgegen. »Was tut ihr hier?« erkundigte Bora sich. »Wir warten auf jemanden«, erklärten die Halbwüchsigen ausweichend. Bora sah, daß sie mit Knüppeln bewaffnet waren. Einer hielt eine Metallstange hinter seinem Körper versteckt. »Kannst du es dir nicht denken?« Die Buhrlos wurden immer kleinlauter. »Wir wollen einen der Doppelgänger fangen!« Bora deutete auf die Stöcke und zog die Stange hinter dem Rücken des einen hervor. »Damit?« fragte sie. »Seid ihr verrückt geworden? Wollt ihr jemanden so umbringen?« »Nein«, hauchten die Halbwüchsigen und sahen zu Boden. Bora überlegte. »Wartet mal«, sagte sie, »vielleicht habt ihr recht.« Sie mußte Klarheit haben. Ihr Ziel konnte sie nicht besser erreichen, als wenn sie einen der Doppelgänger fing und ihn verhörte. Dabei konnten ihr die Halbwüchsigen helfen. »Kommt mit mir, wir fangen ihn gemeinsam«, erklärte sie. »Behaltet eure Waffen, aber ihr dürft keinen Gebrauch davon machen. Sie sollen nur zur Abschreckung dienen.« Gehorsam setzten sich die vier in Bewegung und gingen mit ihr weiter. Sie steuerten eine Nottreppe an, die in eine Etage über ihnen führte. Bora vergewisserte sich, daß die Treppe sicher war, dann winkte sie ihren Begleitern. Auf leisen Sohlen stiegen sie hinauf. Von weitem sahen sie, daß der Ausgang oben geöffnet war. Ein helles Licht brannte dort, viel heller als die Tagesbeleuchtung, die überall in Betrieb war. Bora stutzte und verzögerte ihren Schritt. Sie kamen dem Licht immer näher, waren jetzt höchstens noch zwanzig Meter davon entfernt. Wie eine Rotationsleuchte bewegte es sich schräg über ihnen. Sie erkannten, daß es rotes Licht war, das ihnen entgegenglühte.
Ein roter, wabernder Vorhang hing über dem oberen Ende der Treppe. Er trieb hin und her, mal dem Ausgang entgegen, dann wieder zur Treppe. Dabei verdunkelte er sich immer mehr, die Rotglut in ihrer Gefährlichkeit schien zu erlöschen. Bora St. Felix verspürte eigenartigerweise keine Hitze. Das leuchtende Gebilde war kalt. Es war kalte Energie, die sich da veränderte. Instinktiv erkannte Bora die Gefahr. Da war etwas Unheimliches im Gang, und sie glaubte, daß vor ihr etwas stand, was nie und nimmer zur SOL gehören konnte. Sie hielt auf der nächsten Treppenstufe an, jeden Moment bereit, sich zur Flucht zu wenden. »Vorsicht!« flüsterte sie heiser. Die Glut vor ihnen war fast erloschen. Eine dunkle Wand versperrte ihnen den Weg zum Ausgang, und sie wurde zusehends dichter und kompakter. Sie verfestigte sich zu einem unförmigen Gebilde. Hinter Bora begannen die vier Halbwüchsigen die Treppe hinabzurennen. Ihre Nerven waren dem Vorgang nicht mehr gewachsen. »Nur weg!« schrien sie, und einer sagte: »Bora, komm endlich!« Aber Bora St. Felix antwortete nicht. Erstarrt stand sie auf der Treppe und beobachtete aus weit geöffneten Augen, was da wenig entfernt über ihr vor sich ging. Aus der schwarzen Wand schälten sich die überlebensgroßen Umrisse dreier menschlicher Gestalten heraus. Sie nahmen immer deutlichere Konturen an, während die Wand (Oder der Vorhang von einer unsichtbaren Kraft zusammengezogen wurde. Kein Geräusch entstand, Bora hörte nur ihren eigenen rasselnden Atem. Bora wollte umkehren, aber sie kam nicht vom Fleck. Wie angewurzelt verharrte sie auf der Stelle, und starrte die drei unheimlichen Figuren an, die da vor ihr materialisierten, und sie aus dunkel glühenden Augen musterten. Diese Augen versandten Lichtblitze, und sie schienen die Buhrlofrau durchbohren zu wollen.
»Wer … wer seid ihr?« krächzte sie, während sie aus ihrer seltsamen Lähmung heraus verfolgte, wie die Gestalten sich zu bewegen begannen. Sie kamen die Treppe herunter auf sie zu. Eine der schwarzen Gestalten begann zu sprechen, ohne daß Bora einen Mund sah. Dumpfe, dröhnende Laute drangen an ihr Ohr. Bora St. Felix stieß einen Schrei aus. * Waren die Magniden anfangs in ihrer innerlichen Unsicherheit wenig von einem Erfolg der Aktion überzeugt, so mußten sie sich bald eines Besseren belehren lassen. Eine Gruppe von Ferraten brachte Chart Deccon an, der in eine grüne Bordkombination gekleidet war und kein Kästchen bei sich trug. Sprecher der Brüder der sechsten Wertigkeit war ein gewisser Vinderman. Er berichtete von den Umständen, unter denen er den High Sideryt festgenommen hatte, und sprach gleichzeitig die Vermutung aus, daß er ihn für eines der Ebenbilder hielt. Die Magniden nickten. Erst vor kurzer Zeit hatten sie Chart Deccon in seiner Klause aufgesucht und festgestellt, daß er ein Kästchen trug. Der Gefangene der Ferraten mußte also unter allen Umständen ein Doppelgänger sein. Da aber begann dieser zu sprechen. »Nurmer, Wajsto, Lyta und ihr anderen, habt ihr keine Augen im Kopf?« rief Deccon. »Glaubt doch nicht diesem Wichtigtuer. Natürlich habe ich ein imitiertes Kästchen bei mir getragen, aber ich tat es doch nur, um das echte zu schützen. Wozu nehmt ihr mich fest? Laßt mich gehen, und ich hole das unzerstörbare, das mich als den richtigen High Sideryt ausweist!« »Wenn schon«, knurrte Herts und baute sich vor Deccon auf. »Wir glauben dir kein Wort. Der richtige Deccon sitzt drüben in seiner Klause und beobachtet uns.« Und an die übrigen Magniden
gerichtet, fragte er: »Was sollen wir mit dem Duplikat anfangen?« Die Magniden fühlten sich nicht wohl in ihrer Haut. Sie starrten Deccon an, der dem Original wie ein Ei dem anderen glich, und fragten sich, wie so etwas möglich war. Sicher, Hage Nockemann, der Galakto‐Genetiker, hatte die Erklärungen dazu geliefert, aber die Konfrontation mit dem Doppelgänger war etwas ganz anderes. Der Verstand und die Sinne weigerten sich, die Realität zu sehen. Wie erging es da erst den einfachen Solanern, die zum größten Teil den High Sideryt noch nie persönlich gesehen hatten? Erkannten sie die Doppelgänger oder waren sie hingerissen von der Begegnung und brachten den Ebenbildern Ehrfurcht und Unterstützung entgegen? Ursula Grown seufzte. »Wir können nur eines tun«, sagte sie. »Wir sperren sie ein, bis wir alle zusammen haben. Elf müssen es sein, den wirklichen High Sideryt eingeschlossen.« Wajsto Kölsch gab den Ferraten Anweisungen und begleitete sie zu einer in der Nähe der Magnidenwohnungen liegenden Kabinenflucht, die ausbruchsicher war. Auch ein Deccon mit seinem umfassenden Wissen hätte hier keine Möglichkeit gefunden, zu entkommen. Sie sperrten den High Sideryt ein und kehrten in die Zentrale zurück, um zu warten. Vinderman und seine Männer blieben bei ihnen, um weitere Duplikate in Empfang zu nehmen. Es dauerte nicht lange, bis der nächste gebracht wurde. Ein Extra namens Teddy erschien in Begleitung mehrer Solaner an der Zentrale und lieferte ein fest verschnürtes Bündel ab, ebenfalls einen Deccon. Unter dem Kopfschütteln der Magniden nahm er denselben Weg, wurde ebenfalls in eine Kabine gebracht, in der er sich nicht mit seinem bereits gefangenen Genossen verständigen konnte. Zwei weitere Order konnten in kürzester Zeit gestellt werden, zusammen mit dem Deccon in der Klause waren es fünf. Er bereitete den Magniden die meisten Probleme. Nurmer war es schließlich, der den Ausschlag gab.
»Wir müssen konsequent bleiben, wenn wir keinen Fehler machen wollen«, erklärte er. »Auch Deccon in der Klause gehört zu den Verdächtigen. Wir müssen ihn einsperren wie alle!« Sie holten ihn und wunderten sich im stillen darüber, daß er keinen Widerstand leistete. Er setzte keine Roboter ein, obwohl er das hätte tun können. Er begleitete sie unter denselben Sprüchen, die schon vier Deccons vor ihm gemacht hatten. Auch sein Kästchen bestand die Probe nicht. Es handelte sich um eine Fälschung, und sie sperrten ihn ein, obwohl er ständig beteuerte, der echte zu sein. Erst als Curie van Herling ihn anschrie, er solle sich endlich einmal etwas Neues einfallen lassen, machte er den Mund zu und sagte nichts mehr. Die Magniden kehrten in die Zentrale zurück und berieten sich. »Wir müssen warten. Sicher sind bald alle gefunden«, sagte Lyta Kunduran. Sie täuschte sich. Ein Tag und eine Nacht vergingen, ohne daß die ständigen Aufrufe der Magniden zum Erfolg führten. Ab und zu trafen Meldungen ein, daß einer der Deccons gesehen worden war. Ergriffen wurde keiner, und die Magniden begannen langsam aber sicher zu verzweifeln. Die Zeit verging, und sie redeten sich ein, daß doch noch alles gut werden würde. Aber es geschah nichts. Am darauffolgenden Tag erst ereignete sich etwas, was sie nie erwartet hätten. Es verschaffte ihnen keine Gewißheit, ganz im Gegenteil. Es kam ein neues Rätsel dazu und vergrößerte ihre Unsicherheit nur. Aber es war immerhin ein Hoffnungsschimmer. »SENECA an Hauptzentrale!« erklang die melodische Stimme. Die Magniden erstarrten. Hatten sie sich verhört? Ungläubig wanderten ihre Augen zu den Lautsprechern empor und dann zum Bildschirm hinüber, wo das Wort »wichtig« erschien und eindringlich flackerte. SENECA meldete sich! Nach langem Schweigen trat die Biopositronik wieder in Aktion. Die Magniden sahen sich fragend an. Wie lange war es schon her,
daß sie die vertraute Stimme des gigantischen Computers vernommen hatten? Und jetzt! Die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit wußten, daß SENECA sich vor ihnen verschlossen hatte. Selbst Chart Deccon war es in vielen Wochen nicht gelungen, Kontakt zu der Biopositronik herzustellen. Mit Atlan, ja, mit dem sprach sie, was sie aus den Schilderungen des High Sideryt herausgehört hatten. Aber sonst? Lyta »Bit« Kunduran stellte plötzlich fest, daß die Augen aller Magniden auf ihr ruhten. Die Computerspezialistin mit ihrer fast paranormalen Fähigkeit für positronische Vorgänge stand von einem Augenblick zum anderen im Mittelpunkt. Sie hob hilflos die Schultern. Dann aber raffte sie sich auf. »Was gibt es, SENECA?« fragte sie. »Warum hast du so lange geschwiegen?« SENECA zögerte einen Moment mit der Antwort. »Es hat nichts zu bedeuten«, antwortete er. »Es war nicht nötig.« »Aber Deccon wollte doch …«, begann Wajsto Kölsch, doch Bit winkte ab und legte einen Finger auf die Lippen. »Und jetzt?« erkundigte sie sich. »Es ist ein Problem aufgetreten, das die Solaner nicht aus eigener Kraft lösen können«, erklärte SENECA. »Es sind die Doppelgänger!« Lyta Kunduran hatte sich längst angewöhnt, hinter den Worten SENECAs ganz andere Absichten zu vermuten, als dieser zugab. Daß es Schwierigkeiten mit den Ebenbildern Chart Deccons gab, wußte jeder. Das Problem war nicht neu. Allem Anschein nach versuchte SENECA jetzt, Einfluß auf die Entwicklung zu nehmen. Niemand konnte sagen, was dabei herauskommen würde. »Ich glaube nicht, daß ein Eingreifen nötig ist«, sagte Bit deshalb. »Chart hat selbst zur Jagd auf die Doppelgänger aufgerufen, und wir sind sicher, daß wir sie in wenigen Tagen sichergestellt haben.« »Das dauert zu lange«, sagte SENECA knapp. »Was willst du dann?«
»Ihr wißt nicht, daß ihr das Problem nicht lösen könnt, denn es ist ganz anders, als ihr glaubt. Selbst wenn es euch gelingt, alles zu bewältigen, was damit zusammenhängt, ist es nicht gelöst.« Die Magniden verstanden nichts, rein gar nichts. Wovon sprach die Biopositronik? Die Magniden wußten um die Störung SENECAs, aber sie konnten nichts dagegen tun. Trotz der Haltung des High Sideryt waren sie in letzter Zeit fast froh gewesen, daß sich die Positronik nicht gemeldet hatte. Und jetzt, mitten in dem Chaos, das die Doppelgänger unter den Solanern erzeugten, mischte SENECA sich ein. Unsicher begann Bit zu sprechen. Sie rechnete damit, daß SENECA ihnen ins Handwerk pfuschte. »Wie kann das Problem dann gelöst werden?« fragte sie. »Wie willst du damit fertig werden?« »Auch ich bin dazu nicht in der Lage«, entgegnete SENECA. »Ich kann meine Störungen nicht kontrollieren. Ein Eingreifen meinerseits wäre also nicht sinnvoll.« Jetzt verstanden die Magniden überhaupt nicht mehr, was die Biopositronik wollte. Der Gedanke verstärkte sich in ihnen, daß die Störung immer weiter um sich griff und SENECA in einer ernsthaften Krise steckte. War sein positronisches Gehirn schon so verwirrt, daß er nicht merkte, welchen Unsinn er redete? »Wir sollen es nicht lösen können, und er ist nicht dazu in der Lage!« rief Galatan Herts giftig. »Was soll das heißen, SENECA? Willst du uns klarmachen, daß die SOL endgültig verloren ist?« Erschrockene Blicke trafen den Magniden. Mit allem hatten die Männer und Frauen in der Hauptzentrale gerechnet, nur nicht damit. »Nein«, sagte SENECA freundlich, als habe er die Gedanken gelesen. »Es ist etwas anderes. Es muß eine dritte Kraft ins Spiel gebracht werden, die das Problem bereinigt. Dieser Kraft muß völlige Handlungsfreiheit eingeräumt werden.« Unruhe entstand unter den Magniden. Sie konnten sich nicht
vorstellen, wer oder was die dritte Kraft sein sollte. Innerhalb der SOL gab es keine weiteren Kräfte, die an dem Problem hätten arbeiten können. Dann meinte SENECA eine Kraft von außerhalb. Und dagegen hatten die Magniden triftige Gründe für eine Ablehnung. Oft genug hatten sie in der nahen Vergangenheit gegen solche Kräfte kämpfen müssen. Die Demontageroboter von Osath waren nur eine gewesen; eine gefährliche allerdings, denn sie hatten die Substanz der Heimat SOL gefährdet. »Was ist es?« erklang zögernd die Frage. »Es handelt sich um die Troiliten!« erklärte SENECA. »Die gibt es doch gar nicht!« rief Curie van Herling laut. Sie alle kannten die Berichte, die sich um die Troiliten rankten. Es war einfach undenkbar, daß diese Kaste existierte. Ein paar Solaner hatten sich für sie ausgegeben, mehr nicht. »Die Troiliten sind ein Hirngespinst!« nickte auch Lyta Kunduran. »Ihr irrt, die Gerüchte sind wahr«, erwiderte SENECA eindringlich. »Es gab Troiliten schon immer, sie hatten nur keine Aufgabe. Es sind nicht die, von denen in letzter Zeit geredet worden ist. Ein paar Scharlatane hatten sich für sie ausgegeben, um persönliche Vorteile daraus ziehen zu können. Ihr Anführer hat es mit dem Tod bezahlt. Nein, die wirklichen Troiliten sind ein Sicherheitsfaktor für besondere Notfälle. Sie treten nur dann in Erscheinung, wenn es sich um rein interne Probleme der SOL handelt.« »Gab es in der Vergangenheit nicht genug interne Schwierigkeiten in der SOL?« rief Wajsto Kölsch aus. »Wo waren da die Troiliten, die auch Brüder der fünften Wertigkeit genannt werden? Was ist das für eine seltsame Kaste?« SENECA schwieg eine Weile, als müsse er eine Antwort suchen. Dann sagte die Biopositronik: »Ihr habt euch die Worte des Magniden Kölsch inzwischen durch den Kopf gehen lassen und erkannt, daß sie nicht haltbar sind. Bisher konnten alle Schwierigkeiten von den Solanern oder der
Schiffsführung gemeistert werden. Jetzt aber steht der geistige Untergang des Schiffes bevor!« Die Magniden zuckten zusammen. Betroffen sahen sie einander an. Nicht einmal Bit war in der Lage, eine Frage zu stellen oder etwas zu sagen. Der geistige Untergang der SOL! Es klang in ihren Ohren wie eine furchtbare Drohung, und langsam setzte sich in ihnen das Bewußtsein durch, daß SENECA recht hatte, wenn er von Hilflosigkeit sprach. Langsam begriffen sie, daß die Gefahr größer war als vermutet. Sie war in Form von zehn gleichen Frauen aus der angreifenden Station gekommen, die einwandfrei der Zivilisation in der Galaxis Flatterfeld zuzuordnen war, von der sie durch Atlan und Palo Bow erfahren hatten. Die SZ‐2 befand sich dort drinnen in der Kleingalaxis, auch sie war in Gefahr. »Ein Plan des unbekannten Gegners«, flüsterte Nurmer plötzlich. »Es war sein Plan, die SOL zu teilen. Gemeinsam wären die Schiffszellen stärker.« SENECA antwortete nicht. Lyta Kunduran wandte sich an die Magniden. »Wir können nur für den Mittelteil und die SZ‐1 handeln«, stellte sie fest. »Die SZ‐2 muß durch Atlan vor dem Untergang gerettet werden. Oder durch Palo und Brooklyn. Vielleicht ist es gut, daß sie weit weg von uns ist. Wenn wir nur endlich Funkkontakt hätten, wir könnten sie warnen!« Die Gedanken an die SOL‐Zelle 2 wurden wieder durch die Probleme verdrängt, die sie im Restschiff hatten. Gab es keine andere Möglichkeit als die von der Biopositronik genannte? »SENECA, wer sind die Troiliten tatsächlich?« fragte Bit laut. Die Biopositronik meldete sich nicht mehr. Sie hatte längst abgeschaltet. Was zu sagen war, war gesagt worden. »Was können wir tun?« klagte Ursula Grown. »Nichts«, seufzte Bit nach einer Weile. »Nichts als die Hände in
den Schoß legen und warten, bis die Troiliten auftauchen.« 6. Chart Deccon erblickte die kleine Gruppe Solaner, als es fast zu spät war. Sie bewegten sich den Korridor entlang, an dem die Ausweichzentrale lag, in der der High Sideryt sich noch immer versteckt hielt. Begleitet wurden die Solaner von einem Ferraten, dessen dunkelblaue Uniform sich deutlich von ihren hellen Kombinationen abhob. Deccon holte die Gruppe mit der Vergrößerungsoptik zu sich heran. Die Männer und Frauen trugen mehrere Geräte mit sich, die der High Sideryt kannte. Es waren Zusatzspeicher für Computer. »Sie kommen hierher«, flüsterte er erregt. »Es gibt in der Nähe keinen anderen Computer, auf den sie es abgesehen haben könnten!« Mit wenigen Handgriffen legte er sämtliche Bildschirme still und stürmte hinaus auf den Korridor. Er konnte bereits ihre Stimmen hören. Deccon rannte, als gelte es sein Leben. Er spurtete an der Wand entlang bis zur nächsten Tür. Er stieß sie auf und trat eilig ein. Nachdem er sie vorsichtig geschlossen hatte, machte er Licht. Er befand sich in einem Maschinenraum, von dem aus die wichtigsten Reinigungsroboter operierten. In langen Reihen standen die Maschinen an den Wänden. In der Mitte des Raumes lagen auf dem Boden zylinderförmige Behälter, an deren Oberseite vier Lämpchen angebracht waren. Es waren automatische Staubsauger für Luftschächte und Rohrleitungen. Alle Maschinen waren außer Betrieb. Chart Deccon eilte in den hinteren Teil des Raumes, wo er sich zwischen den Robotern verstecken konnte, ohne von der Tür aus gesehen zu werden. Er ließ sich nieder und dachte nach, während er
durch die Wand hindurch auf Geräusche aus der Ausweichzentrale lauschte. Über die Bildschirme hatte er High Sideryt die Wirkungen seines Aufrufs verfolgt. Er hatte erkannt, daß die Jagd auf die Ebenbilder nicht so leicht war, wie er es sich vorgestellt hatte. Außer ein paar Beherzten besaßen die meisten solche Achtung vor der Person des High Sideryt, daß sie nicht Hand an ihn zu legen wagten. Einige der Doppelgänger wehrten sich auch gegen tätliche Übergriffe oder ergriffen die Flucht. Alle aber versuchten, die Solaner von ihrer Echtheit zu überzeugen. Chart seufzte. Wie leicht es doch war, die Menschen zu beeinflussen. Und wie tölpelhaft benahmen sie sich, wenn es galt, die Vernunft zu gebrauchen. Hage Nockemann war das deutlichste Beispiel gewesen. Der Galakto‐Genetiker hatte das unzerstörbare Kästchen nicht als Beweis gelten lassen. Sicher, es war ein schwacher Beweis, aber immerhin einer. Dem High Sideryt brannte der Boden unter den Füßen. Er wußte, daß es Zeit war, weitere Schritte einzuleiten. Er hatte auch das Gespräch zwischen SENECA und den Magniden verfolgen können. Die Eröffnungen der Biopositronik hatten ihn überrumpelt. Er war verwirrt, denn er wußte über die Troiliten auch nicht mehr als die Magniden. Warum äußerte sich SENECA nicht ausführlich dazu? Deccon erkannte, daß er unbedingt ein Gespräch mit der Biopositronik führen mußte. Er hatte ein paar Fragen, von denen das Schicksal der SOL abhing. Und es war auch das Bedürfnis, sich nicht einfach auf das Abstellgleis schieben zu lassen, das ihn trieb. Chart Deccon hatte sich seit seiner Flucht aus der Klause wieder beruhigt. In eifrigen Selbstanalysen, die er während seiner dauernden Bildbeobachtungen durchführte, war er zu der Einsicht gelangt, daß noch eine winzige Hoffnung bestand, das Ruder herumzureißen. Dazu aber durfte er nicht verwirrt und blind sein. Er benötigte einen klaren Kopf, um handeln zu können. Der High Sideryt strengte sich an. Er machte
Konzentrationsübungen und Gymnastik, um seinen Körper frisch zu halten. Und er nahm gehörige Portionen Nahrung zu sich, die ihm ein Ausgabefach in der Ausweichzentrale lieferte. Er trug Trockenwürfel und kleinere Packungen mit Konzentraten mit sich herum. Chart nahm einen Würfel aus einer der Taschen seiner Kleidung und steckte ihn in den Mund. Als er sich mit Speichel vollgesogen hatte, begann der High Sideryt zu kauen. Er wußte, daß ein Würfel Hunger machte auf ein paar weitere, aber er beherrschte sich und schluckte den entstehenden süßlichen Brei genüßlich hinunter. Die Solaner hatten sicher nicht lange in der Zentrale zu tun. Sie würden sich entfernen, ohne bemerkt zu haben, daß sie seit Tagen bewohnt war. Dann konnte er zurückkehren und seinen Kampf fortsetzen. Ja, er hatte sich entschlossen, bis zuletzt zu kämpfen. Es war die erste Bewährungsprobe, die wirklich nur die Wahl zwischen der Selbstaufgabe und dem Sieg ließ. Deccon blickte auf sein Vielzweckarmband. Es zeigte den 27. Januar 3792, und der High Sideryt rechnete aus, daß es in genau drei Wochen ein Jahr her war, daß die SOL in den Zugstrahl von Mausefalle VII geraten war. Wieviel hatte sich seither ereignet. »Es kann nicht das Ende sein«, redete Deccon sich ein. »Es darf nicht das Ende sein!« Er lehnte sich an die kühle Wand und ließ Erlebnisse aus der Vergangenheit vor seinem geistigen Auge passieren. Welche seiner Entscheidungen hatten zum jetzigen Zustand geführt? Wie würde Atlan an meiner Stelle handeln, fragte Chart sich und erkannte plötzlich, wie sehr ihm der Arkonide fehlte. Atlan, besaß er das Wissen und die Macht, die SOL zu retten? Deccon erinnerte sich daran, als er Atlan um die Unterredung gebeten hatte. Damals war ihm klar geworden, daß er den Arkoniden völlig falsch eingeschätzt hatte. Atlan wollte nicht High Sideryt werden, er brauchte das Schiff für eine wesentlich wichtigere Aufgabe, die er als High Sideryt nicht erfüllen konnte.
Von da an war Chart Deccon geneigt, dem silberhaarigen Mann zu glauben, der sich so vorbehaltlos für die Solaner einsetzte. Chart hatte sich bisher immer geweigert, der SZ‐2 nach Flatterfeld zu folgen. Jetzt war ihm klar, daß es ein Fehler gewesen war. Er glaubte daran, daß der Rest‐SOL gar nichts anderes übrigbleiben würde, als Atlan nachzufliegen und ihn um Hilfe zu bitten. Wenn SENECA mitmachte! Chart hörte Geräusche an der Tür und kauerte sich noch mehr hinter den Reihen der Roboter zusammen. Die Tür öffnete sich, und eine Stimme sagte: »Wir lagern sie hier ein, bis wir sie brauchen. Es ist ein Abstellraum für Reinigungsmaschinen.« Die Antwort verstand der High Sideryt nicht. Er hörte nur, wie mehrere Solaner hereinkamen und etwas ablegten. Dann fiel die Tür in ihr positronisches Schloß, und die Stimmen entfernten sich. Rasch kam der High Sideryt in die Höhe. Mit großen Schritten eilte er zur Tür und lauschte. Als er minutenlang nichts hörte, öffnete er sie leise. Draußen war alles ruhig, und er schlüpfte hinaus. Wie ein Schatten kehrte er in die Ausweichzentrale zurück und sah sich um. Keine Spuren, nichts. Die Solaner hatten keine Veränderungen vorgenommen. Sie wollten die Zusatzspeicher erst später einbauen. Das gab dem High Sideryt vorläufig Luft. Aber er mußte jederzeit damit rechnen, daß sie zurückkehrten. Deccon aktivierte alle Bildschirme. Der High Sideryt betätigte die Ruftaste. Nachdem er sich kurz vergewissert hatte, daß die Verbindung stand, begann er. »Deccon an SENECA«, sagte er. »Chart Deccon an SENECA! SENECA, bitte melden!« Der High Sideryt hatte der Biopositronik verschiedene Fragen zu stellen, die über sein weiteres Vorgehen entscheiden sollten. Noch war es den Solanern nicht gelungen, mehr als die Hälfte aller Doppelgänger festzunehmen.
Deccon wartete. »SENECA, bitte melde dich!« wiederholte er, aber die Biopositronik schwieg. Sie schien von dem High Sideryt nichts wissen zu wollen. Müde schüttelte Chart den Kopf. Warum? dachte er. Warum nur? Er unterbrach die Verbindung und stellte eine neue her. Diesmal verband er sich mit der Positronik in der Hauptzentrale der SZ‐1 und gab ihr den entsprechenden Impuls. Sie schaltete sofort eine Verbindung zur Hauptzentrale im Mittelteil. Jeden Augenblick konnte einer der Magniden auf dem Bildschirm auftauchen und sich nach seinem Vorhaben erkundigen, aber es geschah nichts. Die Positronik im Mittelteil konnte SENECA nicht erreichen. Die Biopositronik hatte sich abgeblockt. Deccon fuhr sich über die Glatze, auf der sich Schweißperlen gebildet hatten. Er suchte nach einer Möglichkeit, doch noch mit SENECA sprechen zu können. Hastig löschte er die Verbindung und schaltete sich in den Interkomverkehr ein. Er ließ sich gezielt mit einer jener Ansprechstellen verbinden, die rund um die Sicherheitskugel der Biopositronik angebracht waren. Über sie konnten autorisierte Personen direkt mit dem Rechner in Verbindung treten. Es knackste mehrmals. Die Tür zur Ausweichzentrale öffnete und schloß sich. Deccon hörte es nicht. Aus fiebrigen Augen starrte er auf die Anzeigen und die Schirme. Es mußte etwas geschehen, SENECA konnte sich doch nicht totstellen! Er wußte, um was es ging. Chart wollte nicht begreifen, daß die Biopositronik alles Nötige gesagt hatte und sich jetzt ihren eigenen Problemen widmete. Er richtete sich erwartungsvoll auf, als ein kurzer Blitz über einen Schirm zuckte. Eine harte Hand packte ihn an der Schulter, wirbelte ihn herum. Auge in Auge standen sie sich gegenüber. »Deccon!« schrie Chart Deccon gequält auf. »Du bist eines der
Ebenbilder!« »Deccon!« erwiderte Chart Deccon. »Es war nicht schwer, dich zu finden. Die energetische Aktivität dieser Zentrale war unübersehbar!« Chart Deccon stöhnte auf. »Nein«, stammelte er und machte einen Schritt zurück. »Ich bin Order‐7«, lachte sein Gegenüber hämisch. »Du bist dir selbst in die Falle gegangen!« Chart Deccon hatte sich weiß gefärbt. Er zitterte am ganzen Körper, während Order‐7 die Begegnung nichts auszumachen schien. Der High Sideryt schwankte und zuckte mit den Händen. Sein Gegenüber tat es ihm nach. Langsam ließ Chart Deccon die Hände sinken. Er brachte sie in die Nähe der Stelle, wo er das Futteral des Strahlers spürte. Aber die Waffe war nicht da. Er hatte sie im Nebenraum bei den Robotern liegen lassen. Order‐7 schüttelte den Kopf, als habe er seine Gedanken erraten. Dann griff das Ebenbild bedingungslos an. Chart Deccon erhielt einen Faustschlag gegnen die Brust, der ihn beinahe stürzen ließ. Er spürte die Kraft, die hinter dem Hieb steckte, und brüllte auf. Es war seine eigene Kraft, die ihn bezwingen wollte. Er fuhr ruckartig zur Seite, machte einen Ausfallhieb nach links und trat gleichzeitig mit dem rechten Bein zu. Er hatte auf das Knie der Orders gezielt, aber der war mit der Kampftechnik des High Sideryt vertraut. Mühelos wich er aus und griff seinerseits an. Schweigend umrundeten sich die beiden Männer, die bloßen Hände zu Fäusten geballt, die tiefliegenden Augen fest aufeinander gerichtet. »Ich verfluche euch alle, Alpha eingeschlossen«, schrie Deccon wütend. Der Order grinste sein Deccon‐Grinsen. Plötzlich schlug er wieder zu. Chart Deccon riß den linken Unterarm hoch und fing den Hieb
auf. Gleichzeitig drückte er den rechten Arm des Orders zur Seite und erwiderte den Schlag. An der linken seines Gegners streifend, gelang es ihm, den Order am Kinn zu treffen. Order‐7 war so überrascht, daß er einen Schritt zurück machte und in die Finte Deccons lief. Der wirbelte mit beiden Armen und lenkte die Augen seines Gegners ab. Für einen kurzen Augenblick schwebte die massige Gestalt des High Sideryt in der Luft. Sein rechter Fuß traf den Magen des Orders. Order‐7 stürzte, und Deccon warf sich auf ihn. Er holte zu einem fürchterlichen Schlag mit beiden Fäusten aus. Chart Deccon wurde herumgewirbelt. Der Order hatte die Knie angezogen und sie ihm voll in den Unterleib gerammt. Der High Sideryt schrie gepeinigt auf und erhob sich. Dann aber trat er abwechselnd mit den Beinen auf den Liegenden ein, bis dieser sich durch eine Rolle aus dem Gefahrenbereich brachte und aufsprang. Keuchend standen sich die beiden Kontrahenten gegenüber. »Du Ausgeburt der Hölle!« kreischte Deccon und duckte sich wie zum Sprung. »Was wollt ihr von unserem Schiff? Wer hat euch geschickt?« Lauernd umkreisten sie einander. Order‐7 hustete. »Gib auf«, forderte er Deccon auf. »Dein Widerstand hat keinen Sinn mehr. Du kannst den Gang der Dinge nicht mehr aufhalten. Die Macht, die uns geschickt hat, hält alle Trümpfe in der Hand.« »Welche Macht?« kreischte Deccon und schlug nach seinem Gegner. Order‐7 wich geschickt aus. »Die Macht will wissen, ob die SOL stark genug ist, um für ihre Zwecke verwendet werden zu können. Wenn es sich als falsch herausstellen sollte, wird die SOL auch der Gegenseite dieser Macht nicht mehr zur Verfügung stehen!« Chart Deccon hatte nicht zugehört. Er landete zwei Schwinger zwischen den Rippen des anderen und trieb ihm die Luft aus den Lungen. »Eine Macht!« zischte er. Dann aber wurde er aufmerksam. »Zwei
Mächte?« »Zwei Mächte bemühen sich um die SOL«, japste Order‐7. »Die eine hat die Order geschickt, das sind wir. Diese Macht wird es nicht zulassen, daß die SOL in andere Hände gerät.« Chart Deccon war nachdenklich geworden. Die Erwähnung der zwei Mächte ließ ihn an das denken, was er von Atlan wußte. War die SOL wirklich zwischen zwei Fronten geraten? Mußte sie es sogar, damit ein Ziel erreicht wurde? Er begriff die Rolle nicht, die das Schiff spielte, die er spielte. Erneut bedauerte er, daß er Atlan mit der SZ‐2 hatte ziehen lassen. Ohne den Arkoniden war er verloren. Aber tief in seinem Innern war eine Stimme. Und die Stimme redete ihm ein, daß er die Initiative ergreifen mußte. Er durfte nicht warten, bis der Arkonide ihm half. Langsam ließ Deccon die Hände sinken. Er fixierte seinen Gegner, aber er übersah das Aufblitzen in dessen Augen. Order‐7 sprang vor und riß Deccon zu Boden. Der High Sideryt erhielt einen Schlag gegen die Schläfe, daß er fast das Bewußtsein verlor. Mühsam kämpfte er sich hoch. Er riß die Arme empor, es war zu spät. Order‐7 hatte ihm das unzerstörbare Kästchen bereits von der Brust genommen und die goldene Kette über den Kopf gezogen. Mit ein paar schnellen Schritten war er am Abfallvernichter und warf es hinein. »Nein!« schrie Deccon und taumelte dem Order hinterher. Dieser ergriff ihn am Arm und drehte ihm diesen auf den Rücken. Dann untersuchte er ihn nach Waffen. »Merkwürdig, ich glaubte, daß du bewaffnet bist«, murmelte Order‐7. Deccon schwieg. Der Order schob seinen Gegner aus der Ausweichzentrale hinaus und in den danebenliegenden Raum, in dem Deccon sich kurz zuvor noch versteckt hatte. Order‐7 öffnete eine niedrige Tür, hinter der eine zusätzliche Kammer lag, kaum zehn Quadratmeter groß. Er stieß Deccon hinein und verriegelte die Tür.
»Hier kannst du mir nicht entkommen«, hörte Deccon ihn noch sagen, dann zeigten ihm die sich entfernenden Schritte, daß er verloren hatte. Chart Deccon kauerte sich auf den Boden. Er konnte noch immer nicht richtig begreifen, was geschehen war. Der Schlag an die Schläfe hatte ihn mitgenommen. Plötzlich aber sprang der High Sideryt auf. Er dachte an die Waffe, die da draußen irgendwo lag. Er konnte ja nicht ahnen, daß der Order sie gesehen und mitgenommen hatte. Er dachte nur an ihre Wirkung. Chart begann laut zu rufen und zu schreien. Wie ein Wahnsinniger polterte er gegen die metallene Tür. Es half alles nichts, er war eingesperrt und mußte warten, bis jemand vorbeikam. Aufschluchzend sank der High Sideryt zu Boden. Alle Knochen taten ihm weh, aber sie erreichten nicht die Stärke des Schmerzes, der ihm sein eigenes Versagen bereitete. Deccon schloß die Augen. Ja, er hatte versagt. Er war dem Problem nicht gewachsen. Die Solaner waren es nicht. Hatte SENECA recht? Blieb nur eine dritte Möglichkeit? Mit einem Mal erschienen ihm die Troiliten wie Engel in der Not. Chart kramte in den Taschen, wo er die Würfel und Konzentratpackungen hatte. Er war jetzt froh, sie zu sich gesteckt zu haben. Es war eine Notration. Ein paar Tage, vielleicht auch zwei Wochen konnte er mit ihr überleben. Dann war es aus. Bis zu diesem Zeitpunkt mußte er sich befreit oder sich bemerkbar gemacht haben. 7. Die drei dunklen Gestalten wirkten unheimlich und unwirklich. Sie besaßen zwar menschliche Umrisse, aber es war deutlich erkennbar, daß es sich nicht um Wesen aus Fleisch und Blut, sondern um künstliche Geschöpfe handelte. Die Körper waren glatt und von
tiefschwarzer Farbe. Sie trugen keine Kleidung, besaßen keine Haare, Augenwimpern oder Ähnliches. Ihre Augen waren vom übrigen Gesicht kaum zu unterscheiden, und der angedeutete Mund bewegte sich nur unmerklich, wenn sie sprachen. »Ja, wir sind es«, sagte die drei mit dumpfen, dröhnenden Stimmen. »Wir treten immer zu dritt auf.« »Troiliten!« hauchte Bora St. Felix, unfähig sich zu rühren. »Es gibt nur uns drei«, sagten die drei Unheimlichen. Endlich kam in die Buhriofrau Leben. Sie bewegte sich rasch rückwärts und stürzte fast die Treppe hinunter. Krampfhaft klammerte sie sich am Geländer fest. »Ihr seid keine natürlichen Wesen!« brach es aus ihr hervor. Die Troiliten folgten ihr die Treppe hinunter, wobei Bora immer mehr vor ihnen zurückwich. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagten sie, doch blieben ihre Stimmen angsteinflößend. »Wir tun dir nichts. Wir treten auf, weil wir gerufen wurden. Dies ist unser erster Auftrag, seit wir geschaffen wurden.« Boras Gedanken überschlugen sich. Wer war in der Lage, so etwas zu vollbringen? Wer konnte aus einem glutroten Nebel heraus drei düstere Geschöpfe entstehen lassen, die Angst und Schrecken verbreiteten? »Wer hat euch geschaffen?« würgte sie hervor. Sie wollte Zeit gewinnen. Sie sah in den Troiliten eine Gefahr. Die drei Männer mit ihren zwei Metern Größe ragten über Bora und die Treppe hinaus. Sie traten eng zueinander und warfen sich dunkle Blicke zu. »Wir berichten es dir«, erklärten sie. Bora kannte die Sage von den Troiliten, wußte, daß sie auch die Brüder der fünften Wertigkeit genannt wurden. Sie müßten also mit der SOLAG und dem High Sideryt zu tun haben. Chart Deccon mußte Bescheid wissen. Der Bericht der drei Gestalten aber widersprach dem. In
Wirklichkeit gehörten sie nur scheinbar in die Hierarchie der SOLAG. Einer der ersten High Sideryt hatte sie als Sicherheitsfaktor erschaffen und an SENECA übergeben. Die Biopositronik setzte sie jedoch nur im äußersten Notfall ein. Und dieser war jetzt zum ersten Mal eingetreten. »Wir haben den Auftrag, die sich noch frei bewegenden Doppelgänger des High Sideryt einzufangen«, erklärten die Troiliten. »Wir haben nicht viel Zeit.« Bora hatte den Treppenabsatz erreicht und blieb stehen. »SENECA hat euch jetzt geschickt«, erkannte sie. »Er will den Solanern helfen. Ich werde euch unterstützen.« Die drei dunklen Gestalten rückten noch enger aneinander. Ihre Körper bewegten sich, als schüttelten sie die Köpfe. »Wir arbeiten allein«, sagten sie. »Wir stehen dauernd mit SENECA in Verbindung, aber unser Handeln ist eigenständig. Du wirst uns verlassen, denn du bist uns im Weg.« Bora stellte fest, daß die drei Geschöpfe unbewaffnet waren, und sie fragte sich, über welche Machtmittel sie verfügten, um sich das erlauben zu können. Sie nickte geistesabwesend und wandte sich um, um sich zu entfernen. Aber ein kurzer Ruf der Troiliten hielt sie auf. »Du wirst niemandem von uns erzählen«, schärften sie ihr ein. »Die Überraschung ist auf unserer Seite. Die Ebenbilder Chart Deccons ahnen nicht, daß wir eingesetzt werden.« »Woher sollten sie es wissen?« »Sie besitzen dasselbe technische Wissen wie Chart Deccon und das Wissen über alles, was die Schiffsführung betrifff. Das und ihr Aussehen haben sie mit dem High Sideryt gemeinsam«, betonten die Troiliten. »Geh jetzt!« Bora setzte sich in Bewegung, die restlichen Stufen hinab in die nächste Etage. Fluchtartig verließ sie das Treppenhaus und eilte den Korridor entlang. Von den vier jugendlichen Buhrlos war weit und breit nichts mehr zu sehen.
Sie werden es bereits weitererzählt haben, was sie gesehen haben, dachte sie. Wenn die Ebenbilder nur annähernd über die Funktion der Troiliten Bescheid wissen, können sie sich denken, was die Stunde geschlagen hat. Bora wußte, was sie zu tun hatte. Als erstes mußte sie die Zentrale informieren, was sie über die Troiliten und ihre Aufgabe erfahren hatte. Mit Schrecken dachte sie daran, daß die drei die Ebenbilder womöglich töteten. Was geschah, wenn sie den High Sideryt erwischten? Konnten sie ihn von den Doppelgängern unterscheiden? Bora erreichte einen Interkomanschluß und blieb stehen. Mit fliegenden Fingern tippte sie eine Verbindung zur Zentrale ein. * Order‐4 legte den Weg vom Übergang zur SZ‐1 bis zu deren Hauptzentrale in wenigen Minuten zurück. Er ging das Wagnis ein, im zentralen Antigravschacht nach oben zu fliegen. Er baute darauf, daß die Solaner nicht damit rechneten, daß er so etwas tun würde. Tatsächlich begegnete ihm kein einziger Mensch, und er verließ den Schacht ungesehen. Der Order trat in die Zentrale und sah sich um. Erwartungsgemäß war niemand da. Solange die SOL‐Zelle mit dem Mittelteil vereinigt war, bestand keine Notwendigkeit, sie mit einer Besatzung zu versehen. Order‐4 lächelte, wie Deccon immer lächelte, wenn er etwas vorhatte, was keiner erwartete. Langsam trat er zum Interkom und aktivierte ihn. Grüne Lämpchen leuchteten auf, und der Videoschirm über dem Gerät erhellte sich. Order‐4 rieb sich die fleischigen Hände. »Ich werde ihnen den Spaß ein wenig verderben«, flüsterte er. »Ich werde die Suche abblasen. Es wird die Verwirrung ein wenig
erhöhen.« Er setzte zum Sprechen an, stockte aber. Enttäuscht fuhr er herum. Drei Schotte waren gleichzeitig auf geglitten. Aus den Türen traten drei hohe, schwarze Gestalten, deren Umrisse nur unscharf zu erkennen waren. Order‐4 wußte sofort, daß es sich nicht um Solaner handelte. Fremde? Extras? »Was wollt ihr hier?« herrschte er sie in befehlsgewohntem Ton an. »Seht ihr nicht, daß ihr stört? Als euer High Sideryt befehle ich euch, die Zentrale sofort zu verlassen!« Die unheimlichen Gestalten antworteten nicht. Stumm näherten sie sich dem Order, der nur ein wenig kleiner als sie selbst war. Von drei Seiten kamen sie heran, die vierte Seite war von den Steueranlagen der SZ‐1 versperrt. Ein Entkommen war unmöglich. »Wer seid ihr? Was wollt ihr?« schrie Order‐4, der langsam begriff, daß etwas nicht stimmte. Seine rechte Hand fuhr nach unten, wo der Strahler baumelte. »Er weiß es nicht«, klang es aus den Körpern der Troiliten: »Er sucht nach den Informationen!« Noch fünf Meter waren sie von Order‐4 entfernt, da verlor dieser die Nerven. Er riß den Strahler heraus, stellte ihn eilig auf höchste Intensität und schoß. Die Troiliten waren für Sekunden in ein waberndes Feld aus gleißender Energie gehüllt. Sie traten ein wenig zusammen, als könnten sie sich dadurch besser schützen. Dann begannen sie dröhnend zu lachen. Order‐4 stellte fluchend das Feuer ein und warf den Strahler zu Boden. »Ich weiß jetzt, wer euch gesandt hat«, zischte er kalt. »Was wird geschehen?« »Wir führen den Auftrag aus, mehr nicht«, erwiderten die Troiliten. Sie packten den falschen Deccon und nahmen ihn in ihre Mitte. Dann geleiteten sie ihn aus der Zentrale hinaus. Ihr Weg deutete auf den Mittelteil des Schiffes hin.
Die Troiliten erregten erhebliches Aufsehen. Sie wurden mit ihrem Gefangenen von etlichen Solanern gesehen, die zuerst neugierig näher kamen, bei ihrem Anblick aber schreiend davonrannten. Sie nahmen es kommentarlos zur Kenntnis. Als sie sich der Hauptzentrale im Mittelteil näherten, da waren sie schon so bekannt, daß es kein Versteckspiel mehr gab. Das hatten die Troiliten auch nicht im Sinn. Sie erledigten ihren Auftrag konsequent. Am Eingang wurden sie bereits erwartet. Die Magniden waren vollzählig erschienen. Schweigend nahmen sie das gefangene Duplikat Deccons in Empfang und reichten es weiter. »Wir sind von SENECA unterrichtet und wissen von Bora St. Felix das Nötige«, erklärte Wajsto Kölsch. »Ihr zählt euch also nicht zu SOLAG.« »Wenn du damit meinst, daß wir uns euch nicht unterordnen, hast du recht«, antworteten die Troiliten. Wie immer sprachen sie gemeinsam. »Was ist an euch Besonderes, daß ihr die Ebenbilder müheloser einfangen könnt, während wir über fünf Doppelgänger nicht hinauskamen?« fragte Kölsch. »Es liegt an unserer Fähigkeit, weitere Entfernungen ohne Zeitverlust zurückzulegen. Wir lokalisieren unser Opfer und kreisen es ein. Das ist der Grund unserer Dreiheit.« »Und ihr geht ohne Waffen vor!« erkannte Kölsch richtig. Die Troiliten erwiderten nichts darauf. Sie überließen es dem gefangenen Order, zu berichten. Sie hatten das Nötigste gesagt und verabschiedeten sich auf ihre Weise. Vor den Augen der Magniden verschwammen die Konturen der drei Geschöpfe und lösten sich in rote Glut auf, die überganglos verschwand. Die Magniden waren mit Order‐4 allein. *
Teddy wackelte mit den großen, tellerförmigen Ohren und legte leicht den Kopf zur Seite. Er nickte fortwährend. »Alles schön und anschaulich«, sagte er. »Und es ist noch schöner, wenn man es mit eigenen Augen erleben kann. Ich werde euch begleiten.« Er sagte es und tat es. Die drei Troiliten ließen keine Reaktion erkennen, aber sie taten nichts, ihn an seiner Absicht zu hindern, und so folgte ihnen Teddy im Abstand von wenigen Metern in die SOL hinein. Den Extra hatte das Jagdfieber gepackt. Die Troiliten hatten das Pech gehabt, in der Nähe seines Standes im »Bahnhof« zu materialisieren. Sie wurden den Extra nicht mehr los. Teddy folgte ihnen auf Schritt und Tritt. Ja, er entwickelte eine beachtliche Ausdauer. Mehrmals lösten sich die Troiliten auf, weil sie eine Spur gefunden hatten, jedoch eine größere Distanz überbrücken mußten. Dann stellte sich Teddy an den nächsten Interkom, lauschte den Meldungen und setzte sich mit einem Tempo in Bewegung, das man seinem behäbig erscheinenden Körper nicht zugetraut hätte. Er fand die Troiliten und sagte: »Ihr könnt weitermachen, ich bin wieder da!« Die drei Geschöpfe taten, als hätten sie ihn nicht bemerkt. Sie eilten schnell und mit fließenden Bewegungen durch das Schiff. Plötzlich aber blieb Teddy stehen. »Was soll das?« brummte er und versuchte, hinter den Sinn zu kommen. Die Troiliten trennten sich und eilten in verschiedenen Richtungen davon. Teddy überlegte kurz, dann folgte er dem hintersten von ihnen. Es ging durch zwei Wohnungen hindurch auf einen Parallelkorridor, von dort aus eine Befehlsleiter empor zu einem Oberlicht, von dem aus man in eine Halle sehen konnte. Teddy kletterte fleißig mit.
Der Troilite schlug aber nicht etwa das Fenster ein. Er äußerte sich auch nicht. Schnell kletterte er zurück und stieß dabei Teddy von der Leiter. Der Extra fing sich mit Händen und Füßen ab und entging so schmerzhaften Verletzungen. Aber er hatte Mühe, sich aufzuraffen und der schwarzen Gestalt weiter zu folgen. Er sah sie um eine Ecke verschwinden, aber als er dort ankam, war von ihr nichts mehr zu sehen. Diesmal war Teddy ratlos. Er fragte herum, doch niemand konnte ihm einen Hinweis geben. Der Extra war ein wenig traurig. Er hatte für seine große Tat, einen der Deccons zu fangen, kein Lob erhalten. Die Magniden hatten ihm nicht gedankt. Jeder andere hätte sich zurückgezogen und beschlossen, nie mehr einen Finger für das Schiff zu rühren. Nicht so Teddy. Er gehörte bereits der zweiten Enfeddi‐Generation an, die in der SOL lebte, seit die Pyrriden einen ganzen Schwarm dieser Wesen mit an Bord gebracht hatten. Ein Teil der Familie war den immer wiederkehrenden Monster Jagden zum Opfer gefallen, aber inzwischen waren diese furchtbaren Zeiten ja vorbei. Teddy bewegte sich wie alle Extras frei und konnte überall hingehen, wo er hingehen wollte. Für Teddy war das Schiff die Heimat für alle Solaner, insbesondere die Buhrlos, zu denen er sich hingezogen fühlte. Irgendwann, hatte er sich vorgenommen, würde er einmal in einem Raumanzug mit hinausgehen. Noch nie hatte er beobachtet, wenn die Gläsernen um das Schiff tanzten. Teddy wurde zu weiterer Leistung angestachelt. Er hatte sich auf die Spur der Troiliten gesetzt, um einen neuen Erfolg feiern zu können oder zumindest dabeizusein, wenn sie einen der Doppelgänger fingen. Er hatte Pech gehabt, niemand konnte ihm den neuen Aufenthaltsort der Schwarzen mitteilen. Da half der Zufall.
Teddy schlich gedrückt zum nächsten Antigrav, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Jemand kam gerannt. Ruckartig wandte der Extra sich um und starrte in das schweißnasse Gesicht Chart Deccons. Die meisten Solaner wären anstandslos zur Seite gewichen und hätten viel zu spät daran gedacht, daß es nicht der High Sideryt sein könnte. Nicht so Teddy. Der Order hatte ihn bereits erreicht und hastete an ihm vorbei. Teddy streckte geistesgegenwärtig einen Fuß aus, und der falsche Deccon flog in hohem Bogen durch die Luft und landete klatschend auf dem glänzenden Korridorboden, wo er ein paar Meter entlangrutschte. Benommen blieb er liegen. Der Extra sah, daß vor ihm der Gang rot zu leuchten begann. Er kannte die Erscheinung schon. Im selben Augenblick erschienen die Troiliten als schwarze Schemen und nahmen Konturen an. Ruhig, fast interesselos schritten sie auf den am Boden Liegenden zu, der die Augen geschlossen hielt. Sie bückten sich, hoben den Order auf, als sei er ein Stück Papier, und trugen ihn davon. Teddy blickte ihnen sprachlos nach. »Danke auch«, flüsterte er und dachte daran, daß die Troiliten unbedingt Geschöpfe der Solaner sein mußten, denn die besaßen auch keine Manieren. Er gab es auf, weitere Ebenbilder des High Sideryt zu fangen. Er kehrte zu seinem Stand zurück und wartete auf die weitere Lieferung Klaster. 8. Es waren elf. Innerhalb kürzester Zeit hatten die Troiliten alle an Bord befindlichen Ebenbilder aufgestöbert und zu den Magniden in die Hauptzentrale gebracht. Teilweise waren sie auf Schwierigkeiten gestoßen, aber es hatte sie nicht behindert.
Die Magniden erkannten, daß die Zeit der Entscheidung gekommen war. Sie waren nervös. Kölsch schickte Nurmer und Herts zusammen mit ein paar Ferraten zu den Kabinen, um alle Deccons in die Hauptzentrale zu holen. Fünf hatten sie dort stecken, alle hatten sie ein falsches Kästchen gehabt. Bei den übrigen sechs hatten sie noch keine Probe gemacht. Lyta Kunduran führte das Kommando in der Zentrale. Sie schärfte allen Magniden ein, daß diese sich nicht durch das unterschiedliche Aussehen der Kleidung täuschen lassen sollten. Vier der Doppelgänger trugen nicht die grüne Bordkombination, sondern die aus kleinen, blauen Plättchen angefertigte, rüstungsähnliche Uniform des High Sideryt. Es war durchaus möglich, daß keiner von diesen der echte Deccon war. Die Magnidin wandte sich ab. Sie konnte die ohne Ausnahme schweigenden Ebenbilder nicht mehr ansehen. Bis in die feinsten Haarfasern glichen sie Chart Deccon, nicht einmal Hage Nockemann hatte einen Unterschied herausfinden können. Der Galakto‐Genetiker befand sich auf dem Weg in die Zentrale. In diesem Augenblick sah Bit aus den Augenwinkeln die rote Glut, die sich mitten in der Zentrale bildete. Sie dunkelte rasch ab, die Gestalten der drei Troiliten schälten sich heraus. Sie bildeten sich aus der seltsamen energetischen Erscheinung, als sei es das Alltäglichste auf der Welt, nach Belieben zu erscheinen oder zu verschwinden. Für die Solaner war es ganz im Gegenteil ein gespenstischer Vorgang, und die Troiliten hatten in den wenigen Stunden ihrer Suche ausreichend Verwirrung und Panik unter den Solanern ausgelöst. »Unser Auftrag ist ausgeführt«, erklärten sie mit ihrem dumpfen Stimmen. »Damit ist unsere Existenz unnötig geworden, und wir werden an unseren Ausgangsort zurückkehren.« »Wo ist dieser Ort?« fragte Bit schnell. »Liegt er innerhalb der Fünfhundert‐Meter‐Kugel SENECAs?« Die Troiliten antworteten nicht darauf. Sie sagten lediglich noch:
»Alle Deccons sind aufgespürt.« Gebannt verfolgten die in der Zentrale anwesenden Magniden, wie sich die drei geheimnisvollen Wesen auflösten. Sie verwandelten sich in einen schemenhaften, dunklen Vorhang, der immer heller wurde, bis er intensiv strahlend verschwand. Und Wajsto Kölsch rief: »Nichts mehr, aus. Die Meßgeräte zeigen nichts an.« Bit trat zu Kölsch und ließ sich die Aufzeichnungen zeigen, die der Magnide während der mehrfachen Anwesenheit der Troiliten gemacht hatte. Diese bestanden ohne Zweifel aus Energie, aber sie ließ sich nicht identifizieren. Curie brummelte etwas von Formenenergie, das Lyta aufhorchen ließ. »Ich weiß aus verschiedenen Aufzeichnungen in untergeordneten Speichern, daß SENECA früher ausreichende Kontakte hatte, mit denen ein Vorgang, wie die Troiliten ihn bildeten, erklärt werden könnte«, sagte sie. »Den Hauptteil des Wissens darum dürfte allerdings jener High Sideryt besessen haben, der die Entstehung der drei Wesen verursachte. Wissenschaftler haben sicher dabei geholfen!« Kölsch meinte: »Formenergie ist meßbar und nachweisbar. Es muß eine Variante sein oder eine uns völlig unbekannte Energieart.« Sie hätten sich bestimmt weiter darüber unterhalten, wenn es ein erstrangiges Problem gewesen wäre. So aber standen ganz andere Dinge im Vordergrund. SENECA hatte sie wissen lassen, daß mit dem Abschluß der Arbeit der Troiliten die Gefahr für das Schiff und seine Bewohner beseitigt sein würde. War alles wieder in Ordnung? Nurmer und Herts betraten die Zentrale, hinter sich die Ferraten mit den fünf Doppelgängern. Es war ein gespenstischer Anblick, wie die Deccons zu den übrigen traten. Sie bildeten eine Reihe, als könnten sie dadurch eine Abwehrfront gegenüber den Magniden aufbauen. Die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit waren sich nicht einig, wie sie nun reagieren sollten. Schweigend starrten sie die
Mauer aus Doppelgängern an, elf an der Zahl, von denen einer der echte Deccon sein mußte. Einer! In Lyta Kunduran verstärkte sich das Gefühl der Beklemmung. Sie glaubte für ein paar Sekunden, daß man ihnen Theater vorspielte, daß alles ein groß angelegtes Täuschungsmanöver war, um sie zu verwirren. Hatten die Troiliten tatsächlich in SENECAs Auftrag gehandelt? Die Biopositronik hatte sich nicht mehr gemeldet. Auch ein Versuch der Magnidin, sie anzurufen, war fehlgeschlagen. Die Erklärung dafür existierte schon lange, sie lag in der Unberechenbarkeit der Störung begründet, die von SENECA selbst auch erkannt worden war. Die Ferraten postierten sich auf einen Wink Ursula Growns an der Wand neben dem Eingang. Sie trugen die Strahler offen in den Händen. Die Waffen waren schußbereit, aber ihre Mündungen zeigten zu Boden. Daneben gab es noch Roboter, die immer reglos an den Wänden standen und auf einen Einsatzbefehl warteten. Bit hatte sie desaktivieren lassen. Sie gehorchten in erster Instanz den Anweisungen High Sideryt, und angesichts von elf Ausgaben Deccons hätte es leicht zu positronischen Defekten und unvermuteten Handlungen der Roboter kommen können. Denn auch sie besaßen keine Möglichkeit, den echten High Sideryt von den falschen zu unterscheiden. Die Magniden warteten weiter. Sie warteten auf das Eintreffen von Hage Nockemann, der sie auf Umwegen von seinen jüngsten Erlebnissen mit den Ebenbildern unterrichtet hatte. Der Galakto‐ Genetiker hatte seither unermüdlich gearbeitet. Tag und Nacht hatte er nach einer Möglichkeit gesucht, doch noch eine Unterscheidung treffen zu können. Dutzende von Malen hatte er die Gewebestrukturen der Orderinnen untersucht, sie mit denen ihrer Kinder, der Order, verglichen und Deccons Struktur hinzugezogen. Je länger er es getan hatte, desto stärker war in ihm das Bewußtsein einer unheimlichen Gefahr gewachsen. Er wußte nicht, was es sein
könnte. Aber er glaubte langsam, daß das Problem nicht in den vordergründigen Dingen zu suchen war, die sich vor ihren Augen abspielten. Nockemann beschloß, ganz besonders wachsam zu sein und alle Ereignisse auf ihre Interpretationsmöglichkeiten hin zu überprüfen. Wie er das tun könnte, wußte er allerdings noch nicht. * »Hage, was meinst du dazu?« Die Frage des Magniden klang fast wie ein Hilferuf. Nockemann musterte die nebeneinander aufgereihten Deccons und zählte zum wiederholten Mal nach. Es waren und blieben elf. Der Galakto‐Genetiker zögerte mit einer Antwort. Er selbst hatte ja auf die Problematik des Kästchen‐Beweises aufmerksam gemacht. Wie es aussah, hatten sie keine andere Wahl. Nockemann sah die Magniden an, blickte dann wieder auf die Ebenbilder, die sich nach wie vor in Schweigen hüllten. »Ich kann nicht beweisen, welcher es ist«, antwortete er schließlich. »Aber einer muß der echte Deccon sein.« Er deutete auf die sechs, die noch ihr Kästchen besaßen. Unter ihnen waren auch die vier, die die blaue Kleidung trugen. Die Auswahlmöglichkeiten waren nicht sehr groß. »Also gut!« Wajsto Kölsch gab sich einen Ruck. Er winkte Vinderman, der seine Waffe hob und vortrat. »Kleinste Intensität!« mahnte der Magnide den Ferraten. »Fang an!« Vinderman trat an die Reihe der Ebenbilder heran. Langsam richtete er die Waffe von der Seite auf das erste Kästchen, drückte ab und stieß einen Ruf aus. Unter dem minimalen Strahl, der nicht einmal die Kleidung des Deccon versengte, löste sich das Kästchen in Nichts auf. Nur noch die Kette, mit der es um den Hals getragen
worden war, hing an der Brust des Doppelgängers. Vinderman zögerte, aber Gallatan Herts gab ihm einen Wink. »Weiter!« schrillte der Magnide. Der Ferrate zielte auf das zweite Kästchen, und auch dieses löste sich auf. Ebenso das dritte und vierte. Alle waren Imitationen gewesen. Die Spannung in der Zentrale stieg sprunghaft an. Gebannt hingen die Augen der Anwesenden an dem Strahler, den Vinderman bediente. Der nächste Deccon trug eine gewöhnliche Bordkombination. Er zuckte nicht mit der Wimper, als der Strahl jetzt auf sein Kästchen traf, ein wenig schräg und die Kombination verfärbend. Das Kästchen verschwand, und Vinderman ließ erleichtert die Waffe sinken. »Der da ist es!« sagte er und deutete auf Deccon, der noch als einziger ein Kästchen trug. Lyta Kunduran rief laut: »Keine Tricks. Auch sein Kästchen muß getestet werden!« Wieder hob Vinderman die Waffe und zielte. Er schoß auf das Kästchen, aber es reagierte nicht. Er drehte am Energie regier und probierte es erneut. Das Kästchen blieb und löste sich nicht auf. Der Ferrate nahm den Finger vom Feuerknopf und steckte den Strahler wieder ein. Er ging hinüber zu seinen Kameraden, die ihm bewundernd entgegenblickten. Noch immer blieb die Spannung erhalten. Vor den Magniden stand Hage Nockemann, und noch immer lasen sie die Zweifel in seinem Gesicht. Der Galakto‐Genetiker hätte ein beruhigendes Wort sagen können, das die Situation geklärt hätte. Er konnte es nicht tun, er war mit seinem Wissen am Ende. Er nickte nur und trat zur Seite, um den Magniden Platz zu machen. Sie sollten die Entscheidung ohne ihn treffen. In diesem Augenblick wurde ihnen die Entscheidung abgenommen. Der Deccon, dessen Kästchen unzerstörbar war und der auch noch die blaue Kluft des High Sideryt trug, löste sich aus
der Rehe der Ebenbilder und schritt den Magniden entgegen. »Ihr glaubt nicht, wie froh ich bin, daß alles vorbei ist«, sagte er mit seiner grollenden Stimme. »Wir haben gewonnen. Der Einsatz der Troiliten hat uns gerettet.« Die Magniden atmeten auf. Die Spannung fiel von ihnen ab. Rufe der Erleichterung wurden laut. Aber noch etwas anderes geschah. Nurmer entdeckte es als erster. Mit weit aufgerissenen Augen deutete er auf die Ebenbilder. »Nein«, krächzte auch der Galakto‐Genetiker. Die Körper der zehn Ebenbilder veränderten sich auf schreckliche Weise. Sie alterten in Sekundenschnelle. Die fleischigen Gesichter, die in hohem Rot glänzten, wurden faltig und rissig. Auf den Glatzen bildeten sich Falten. Wie ein im Zeitraffertempo ablaufender Film zeigten sie einen Prozeß, der genau so unglaubhaft wirkte wie alles, was bisher geschehen war. Die Körper der Order zerfielen zu Staub und regneten als kleine Häufchen zu Boden. Nur ihre Kleidung blieb erhalten. Sie legte sich wie ein Leichentuch über den Staub, deckte ihn zu. Hage Nockemann sprang vor. Er faßte die grünen und blauen Kleidungsstücke, wühlte darin. Er schüttelte sie aus, aber es kam nichts anderes zum Vorschein als Staub. Die zehn Order hatten sich aufgelöst. Der Galakto‐Genetiker war blaß, als er sich aufrichtete. Seine letzten Zweifel waren jetzt beseitigt. Bei dem Ebenbild mit dem unzerstörbaren Kästchen handelte es sich um den High Sideryt. Es war der echte Deccon. »Die Erklärung für den Vorgang ist ebenso schwer wie die für die kurze Schwangerschaftszeit und das schnelle Erwachsenwerden der Order«, sagte Nockemann. »Wir werden es wahrscheinlich nie erfahren, warum es geschehen ist und wie die Vorgänge zusammenhängen, aber wir können froh sein, daß es vorbei ist.« Er nickte den Magniden und Deccon zu und bat darum, den Staub zu letzten Untersuchungen in sein Labor bringen zu dürfen. Der
High Sideryt gab ihm die Erlaubnis. Er wirkte ebenfalls erleichtert. Der Galakto‐Genetiker sammelte den Staub ein und transportierte ihn ab. Er rechnete nicht damit, daß er zu neuen Erkenntnissen gelangen würde. Er würde auf dem jetzigen Wissensstand bleiben, ohne jemals zu erfahren, was alles bedeutete und was letztendlich die besondere Aufgabe der Orderin‐7 gewesen war, über die er von dem von ihm auseinandergenommenen Versorgungsroboter erfahren hatte. Und dabei schien es ihm irgendwie, daß das einer der wichtigen Punkte überhaupt war. Chart Deccon sah ihm nach, dann musterte er die Magniden. »Erwartet keine Entschuldigung von mir«, sagte er nüchtern. »Es würde zu nichts führen. Wir haben es überstanden, das ist die Hauptsache!« EPILOG Die lange Zeit des geduldigen Wartens war endlich vorbei. Der Sturm, den das Erscheinen der Ebenbilder entfacht hatte, war am Abflauen, und bald würde er sich ganz gelegt haben. Nichts gab es dann noch, was die Situation beeinträchtigen würde. Chart Deccon saß in seiner Klause im Thronsessel und brütete vor sich hin. Er wußte, daß die Magniden ihn vom Bildschirm her verstohlen musterten. Nach einer Weile erhob er sich und nickte. »Euer Vorschlag ist gut«, sagte er. »Führt ihn aus.« Mit einem Handgriff schaltete er ab. Sie waren beruhigt, akzeptierten ihn als High Sideryt. Das Ergebnis des Kästchentests würde sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Niemand zweifelte mehr an ihm. Deccon setzte sich wieder in seinen Thron und massierte sich das fleischige Kinn. Alles hatte funktioniert, die erste Teilaufgabe war erfüllt. Jetzt galt es, die SOL der Bestimmung zuzuführen, die ihm aufgetragen worden war.
Deccon wußte, daß es sich nicht augenblicklich in die Tat umsetzen ließ, denn dazu brauchte er auch die SZ‐2. Sie wollte er als erstes suchen. Sie operierte in Flatterfeld, und er wußte, daß sie im Begriff war, etwas gegen jene Macht zu unternehmen, die ihn geschickt hatte. Das zu verhindern, würde zu seiner nächsten, kleinen Teilaufgabe werden. Es würde nicht weiter schwierig sein, denn die Solaner standen fast geschlossen hinter ihm. Sie drängten ihn, endlich nach Atlan und der verlorengegangenen SOL‐Zelle zu suchen. Die Troiliten haben die Sache sehr beschleunigt, dachte Deccon zufrieden. Ein guter Schachzug. Und dann versank der High Sideryt in Gedanken an die Macht, die hinter allem stand und der er diente. Und er wußte, daß ihm nichts mehr im Weg stand, den gesamten Auftrag durchzuführen. Der Weg war frei. Order‐7‐B lächelte versonnen und betrachtete das Muskelspiel seiner mächtigen Oberarme. Arme, die etwas leisten konnten. Langsam strich er an der goldenen Kette entlang, an der das Kästchen über seiner Brust hing. »Die SOL, unser Schiff«, flüsterte er, und er meinte sich und seinen Auftraggeber. ENDE Zehn Deccon‐Duplikate fielen der Auflösung zum Opfer – doch das elfte konnte den Platz des echten High Sideryt übernehmen und beherrscht nun die SOL an Deccons statt. Wozu das führt, das schildert Falk‐Ingo Klee im Atlan‐Band der nächsten Woche. Der Roman erscheint unter dem Titel: DECCON GEGEN DECCON