Holger Kaschner Neues Risiko Terrorismus
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Holger Kaschner
Neues Risiko Terrorismus Entgrenzung, Umgangsmöglic...
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Holger Kaschner Neues Risiko Terrorismus
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Holger Kaschner
Neues Risiko Terrorismus Entgrenzung, Umgangsmöglichkeiten, Alternativen
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Katrin Emmerich / Bettina Endres VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16146-4
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Danksagung
Ohne das Zutun anderer wäre dieses Buch nie erschienen. Daher ist es mir ein Bedürfnis, einigen Menschen Dank zu sagen. Zum einen Wolfgang Bonß für seine Nachsicht und Rüdiger Voigt für stets schnelle und präzise Antworten, zum anderen aber auch Dirk Freudenberg, für allzeitige Gesprächsbereitschaft und kritische, aber konstruktive Kommentierung. Für Hinweise in unterschiedlichen Stadien des Werkes bedanke ich mich bei Steffen T. Becker, Till Martin Hogl, Rüdiger Klemm, Thomas Au, Matthias Schmidt sowie Cornelia Weinrich. Für ihr präzises Auge schulde ich Ursula Wenke und Bettina Endres Dank. Jens C. Becker danke ich für seine Expertise im Versicherungssektor, Achim Lütterfelds für die gewährten Freiräume und Vieles mehr. Zu denen, bei denen ich mich bedanken möchte, zählen ferner Katrin Emmerich und Anke Hoffmann vom VS Verlag. Sie standen mir während der Publikation mit Rat und Tat zur Seite. Der wichtigste Dank geht aber an zwei Menschen, die weniger für Inhaltliches, denn für die Rahmenbedingungen gesorgt und somit den Grundstein gelegt haben: meiner Mutter Doris Kaschner, für das Vorbild, das sie mir gibt und meiner Freundin Anne Weinrich für fortwährendes Verständnis, Geduld und Ermutigen. Koblenz, Mai 2008 Holger Kaschner
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Inhalt
Abbildungen ................................................................................................... 11 Abkürzungen .................................................................................................. 12 1
Hinführung und Begrifflichkeiten ....................................................... 15 1.1 Hinführung .................................................................................... 15 1.1.1 Erkenntnisobjekt ......................................................................... 16 1.1.2 Vorgehensweise, Methode und Methodenkritik ......................... 18 1.1.3 Zu Forschungsstand und Quellenlage ......................................... 22 1.2 Grundlagen .................................................................................... 24 1.2.1 Begrifflichkeiten ......................................................................... 24 1.2.1.1 Risiko ............................................................................... 24 1.2.1.2 Neues Risiko – Gefahr zweiter Ordnung – Globalrisiko .. 27 1.2.1.3 Terrorismus ...................................................................... 29 1.2.2 Funktionsweise ........................................................................... 33 1.2.2.1 Propaganda der Tat .......................................................... 33 1.2.2.2 Symbolik .......................................................................... 35
2
Terrorismus – ein Neues Risiko? ......................................................... 38 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5
Entgrenzung und Kompensierbarkeit ............................................ 38 Räumliche Dimension ................................................................. 38 Zeitliche Dimension .................................................................... 39 Sachliche Dimension .................................................................. 41 Soziale Dimension ...................................................................... 43 Kompensierbarkeit ...................................................................... 44
2.2 Entgrenzungspfad .......................................................................... 46 2.2.1 Vormoderner Terrorismus .......................................................... 46
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Inhalt
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2.2.1.1 Vorbemerkungen .............................................................. 46 2.2.1.2 Räumliche Dimension ...................................................... 50 2.2.1.3 Zeitliche Dimension ......................................................... 51 2.2.1.4 Sachliche Dimension ........................................................ 52 2.2.1.5 Soziale Dimension ........................................................... 54 2.2.1.6 Kompensierbarkeit ........................................................... 57 2.2.1.7 Bewertung ........................................................................ 58 2.2.2 Moderner Terrorismus ................................................................ 58 2.2.2.1 Räumliche Dimension ...................................................... 63 2.2.2.2 Zeitliche Dimension ......................................................... 67 2.2.2.3 Sachliche Dimension ........................................................ 70 2.2.2.4 Soziale Dimension ........................................................... 77 2.2.2.5 Kompensierbarkeit ........................................................... 89 2.2.2.6 Bewertung ........................................................................ 92 2.3 3
Strukturelle Andersartigkeit .......................................................... 95
Vom Umgang mit Risiken .................................................................... 97 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4
Fallstudie ....................................................................................... 98 Der Anschlag ............................................................................ 100 Die Auflagen ............................................................................. 101 Die Mittel .................................................................................. 102 Die Handlungsoptionen ............................................................ 103
3.2 Ansätze bis zum Aufkommen des Risk Assessments ................. 107 3.2.1 Vorneuzeitliche Unsicherheitskonzepte .................................... 107 3.2.2 Versicherung als Unsicherheitskonzept .................................... 108 3.2.2.1 Grundprinzip .................................................................. 108 3.2.2.2 Terrorismus als zu versicherndes Risiko ........................ 111 3.2.2.3 Terrorismus – ein soziales Risiko? ................................. 112 3.2.2.4 Terrorismusversicherung in der Praxis .......................... 116 3.2.3 Anwendung auf die Fallstudie .................................................. 123 3.2.3.1 Vorneuzeitliche Unsicherheitskonzepte ......................... 123 3.2.3.2 Versicherung als Unsicherheitskonzept ......................... 124 3.3 Risikowahrnehmung ................................................................... 128 3.3.1 Formal-normative Risikowahrnehmung ................................... 129 3.3.2 Psychologisch-kognitive Risikowahrnehmung ......................... 132 3.3.2.1 Experten-Laien-Differenz .............................................. 132 3.3.2.2 Einflussfaktoren der Risikowahrnehmung ..................... 133
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Inhalt
9 3.3.2.3 Soziale Einflüsse ............................................................ 136 3.3.3 Kulturell-soziologische Risikowahrnehmung ........................... 138 3.3.3.1 Filter der kulturell-soziologischen Risikowahrnehmung 139 3.3.3.2 Auswirkungen kultureller Rahmenbedingungen ............ 141 3.3.3.3 Gesellschaftliche Risikowahrnehmung .......................... 143 3.3.4 Anwendung auf die Fallstudie .................................................. 146 3.3.4.1 Formal-normative Risikowahrnehmung ........................ 146 3.3.4.2 Psychologisch-kognitive Risikowahrnehmung .............. 148 3.3.4.3 Kulturell-soziologische Risikowahrnehmung ................ 154
3.4 Risikokommunikation ................................................................. 166 3.4.1 Arten von Risikokommunikation .............................................. 170 3.4.1.1 Vorsorgekommunikation ............................................... 172 3.4.1.2 Legitimationskommunikation ........................................ 174 3.4.1.3 Krisenkommunikation .................................................... 181 3.4.1.4 Mischformen .................................................................. 185 3.4.2 Grenzen und Probleme von Risikokommunikation .................. 187 3.4.3 Anwendung auf die Fallstudie .................................................. 192 3.4.3.1 Kommunikationsarten .................................................... 193 3.4.3.2 Gute Krisenkommunikation? ......................................... 197 3.4.3.3 Bewertung der Krisenkommunikation ........................... 207 3.4.3.4 Umsetzung der Auflagen ............................................... 208 3.4.3.5 Partizipation der Akteure an der Risikokommunikation 211 3.4.3.6 Vom Einfluss der Paradoxien ......................................... 214 3.4.3.7 Bewertung des Krisenmanagements .............................. 217 3.5 4
Zur Funktionalität der Konzepte ................................................. 221
Möglichkeiten der Handhabung von Terrorismus .......................... 225 4.1 Analytischer Rahmen .................................................................. 227 4.1.1 Methodologischer Kosmopolitismus ........................................ 227 4.1.2 Soziale Systeme ........................................................................ 229 4.1.2.1 Begriff ............................................................................ 229 4.1.2.2 Staat ............................................................................... 231 4.1.2.3 Medien ........................................................................... 235 4.1.2.4 Wirtschaft und Private ................................................... 236 4.2 Zur Wirkung von Terrorismus .................................................... 238 4.2.1 Interaktion zwischen den Funktionssystemen ........................... 238 4.2.1.1 Mediale Interaktion ........................................................ 239
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Inhalt
4.2.1.2 Unmittelbare Interaktion ................................................ 242 4.2.2 Funktionssystemimmanente Terrorismuswahrnehmung .......... 244 4.2.2.1 Staat ............................................................................... 244 4.2.2.2 Medien ........................................................................... 247 4.2.2.3 Wirtschaft und Private ................................................... 252 4.3 Handlungsmöglichkeiten in Theorie und Praxis ......................... 258 4.3.1 Das Spannungsfeld der Rechtsstaatlichkeit als Grundproblem . 258 4.3.1.1 Gegenstände des Risikokommunikationsprozesses über Terrorismus .................................................................... 259 4.3.1.2 Risikokommunikation über Terrorismus am Beispiel der Debatte um die Zulässigkeit von Folter .......................... 262 4.3.2 Lösungsansätze ......................................................................... 271 4.3.2.1 Steuerung der Reaktionselastizität ................................. 272 4.3.2.2 Publizitätssteuerung ....................................................... 279 4.3.2.3 Substitution .................................................................... 284 4.3.3 Zur Möglichkeit einer Second-best-Lösung ............................ 289 4.3.3.1 Absolute vs. begrenzte/soziale Rationalität .................... 290 4.3.3.2 Vorschlag ....................................................................... 294 5
Zusammenfassung und Ausblick ....................................................... 297
Literatur- und Quellenverzeichnis .............................................................. 301
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Abbildungen
Abb. 2-1: Entgrenzung des vormodernen Terrorismus ......................................58 Abb. 2-2: Entgrenzung des modernen Terrorismus............................................92 Abb. 3-1: Untersuchungsgruppe.........................................................................99 Abb. 3-2: Bausteine des Krisenmanagements ..................................................104 Abb. 3-3: Handlungs-/Ergebnismatrix .............................................................147 Abb. 3-4: Auswirkung von Filtern und Eigentümlichkeiten ............................165 Abb. 3-5: Kommunikationsbausteine und -arten..............................................196 Abb. 3-6: Kriterien/Einzelbausteine.................................................................207 Abb. 3-7: Weitere Auflagen .............................................................................210 Abb. 3-8: Beobachtbarkeit der Paradoxien ......................................................216 Abb. 4-1: Nachrichtenwert von Ereignissen ....................................................250
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Abkürzungen
AA ABC-Waffen AKNZ ANA ANP APuZ ASNF AUV BfV BKA BMI BMVg BMZ BND BR BuVerfG BVG CIA CN EGV EinsVG EKD EMRK EOKA epd ETA FLN GAU HQ Kdr KKK
Auswärtiges Amt Atomare, biologische oder chemische Waffen Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz Afghan National Army Afghan National Police Aus Politik und Zeitgeschichte Afghan Special Counter Narcotic Force Arbeiterunfallversicherung Bundesamt für Verfassungsschutz Bundeskriminalamt Bundesministerium des Innern Bundesministerium der Verteidigung Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit Bundesnachrichtendienst Brigate Rosse Bundesverfassungsgericht Bundesversorgungsgesetz Central Intelligence Agency Counter Narcotics Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einsatzversorgungsgesetz Evangelische Kirche Deutschland Europäische Menschenrechtskommission Ethniki Organosis Kyprion Agoniston Evangelischer Pressedienst Euskadi te Askatasuna Front de Liberation Nationale Größter anzunehmender Unglücksfall Head Quarter; Hauptquartier Kommandeur Ku-Klux-Klan
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Abkürzungen
IAEA IFOR IED IFDT IMRO IPbpR IRA ISAF JRA KMU MLN-T LEHI LIC NGO NMD OECD OEF ÖMZ OpInfo OpInfoStOffz PFLP PIZ PLO PR PRT PsyOps PSZ PTBS QRF RAF RZ SACEUR SDI SFOR SGB SVG TMD
13 International Atomic Energy Agency (Internationale Atomenergiebehörde) Peace Implementation Force Improvised Explosive Device (behelfsmäßiges Sprengmittel) Information für die Truppe Interne Mazedonische Revolutionäre Organisation Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Irish Republican Army International Security and Assistance Force Japanische Rote Armee Kleine und Mittelständische Unternehmen Movimiento de Liberación Nacional – Tupamaros Lohame Herut Israel (Kämpfer für die Freiheit Israels) Low Intensity Conflict Non Governmental Organization National Missile Defence Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Operation Enduring Freedom Österreichische Militärzeitschrift (Truppe für) Operative Information Stabsoffizier für Operative Information Popular Front for the Liberation of Palestine Presse- und Informationszentrum Palestinian Liberation Organization Public Relations Provincial Reconstruction Team Psychologische Operationen Personal-, Sozial- und Zentralabteilung Posttraumatische Belastungsstörung Quick Reaction Force Rote Armee Fraktion Revolutionäre Zellen Supreme Allied Commander in Europe Strategic Defence Initiative Stabilisation Force Sozialgesetzbuch Soldatenversorgungsgesetz Theatre Missile Defence
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Abkürzungen
14 TOK WDB WMD WTC ZOpInfo
Taktische OpInfoKräfte Wehrdienstbeschädigung Weapons of Mass Destruction World Trade Center Zentrum Operative Information
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1.1
Hinführung und Begrifflichkeiten
Hinführung
„In der Politik gewinnen Risikothemen im Vergleich zu Normthemen (Rechtsetzung) und Verteilungsthemen an Bedeutung, und auch für die öffentliche Meinung, und die mit ihr verbundenen sozialen Bewegungen gilt Ähnliches“ (Luhmann 1993: 156).
Terrorismus als Risikothema – dies ist der Blickwinkel in der reflexiven Moderne im Allgemeinen sowie in vorliegender Arbeit im Speziellen. Die reflexive Moderne ist gekennzeichnet von einer allgegenwärtigen Verbreiterung des Entscheidungsspielraumes – ein gesellschaftlicher Langzeittrend, wie Niklas Luhmann konstatiert. Durch die Wirkung der Massenmedien ist es nahezu unmöglich, den Zwang zur Entscheidungsfindung in allen Lebensbereichen zu übersehen oder zu ignorieren. Zusätzliche Altersvorsorge, der Erwerb von Zusatzqualifikationen, die Entscheidung über Heirat und Kinderkriegen, selbst die Wahl des Urlaubsortes – alle diese impliziten Risikoentscheidungen werden dem Individuum anhand medial präsentierter Beispiele permanent vorgehalten (vgl. Luhmann 1993: 162). Mindestens seit Christoph Lau (1989) sind argumentative Auseinandersetzungen über Neue Risiken – auch über Terrorismus – ein zu beobachtender Typus gesellschaftlicher Interessenkonflikte. Gerade in der heutigen Zeit, in der das Schlagwort Globalisierung – ihrerseits ein Neues Risiko – omnipräsent ist, genießen andere eng damit verknüpfte Risiken wie Arbeitslosigkeit, Armut, zivilisatorische Krankheiten oder klimatische Veränderungen rege Aufmerksamkeit. Akzeptiert man diese Sichtweise, definiert sich Globalisierung gleichsam als Metarisiko, hinter dem andere Risiken nachrangigen Charakter annehmen. 1 Ein weiteres im Kontext der Globalisierung auftretendes Phänomen sind die heutigen Formen des Terrorismus. 2
1 2
Verbildlichen ließe sich Globalisierung als die Krankheit und die mit ihr verknüpften Risiken als Krankheitssymptome. Johnson (1978: 238) bezeichnet das heute unter dem Label „internationaler“ Terrorismus bekannte Phänomen als „transnationalen“ Terrorismus.
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1 Hinführung und Begrifflichkeiten
16 1.1.1
Erkenntnisobjekt
Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, das, was man gemeinhin Terrorismus nennt, in den Kontext soziologischer Risikoforschung einzubinden, vorhandene Möglichkeiten zum Umgang mit Risiken auf deren Terrorismustauglichkeit zu untersuchen und skizzenartig Alternativen zu entwickeln. Der Arbeit ist folgende These zugrunde gelegt: Dem erst seit den Anschlägen des 11. September als Neues Risiko geltenden Terrorismus werden die bestehenden Konzepte zum Umgang mit Risiken nicht vollständig gerecht. Daher müssen Alternativen gefunden werden, die wiederum die Funktions- und Wirkungsweise von Terrorismus zum Ansatzpunkt haben können. Als einzelne Hypothesen ergeben sich daraus: 1. Terrorismus ist tatsächlich erst seit dem 11. September 2001 ein Neues Risiko. Gemeinhin wird Terrorismus – gänzlich unreflektiert – als Risiko bezeichnet. Hypothetisch-deduktiv wird also angenommen, dass die Kriterien, die für Neue Risiken im Allgemeinen kennzeichnend sind, auch durch Terrorismus erfüllt werden. In einer ersten, oberflächlichen Betrachtung scheint er sogar schon seit geraumer Zeit und nicht erst seit den Anschlägen des 11. September (in Folge auch: 9/11) auf World Trade Center (WTC) und Pentagon auch das zu sein, was man als Neues Risiko bezeichnet. Diese unreflektierte hypothetisch-deduktive Assoziation der Termini Neues Risiko und Terrorismus gilt es auf Richtigkeit zu untersuchen. 2. Die bestehenden Möglichkeiten zum Umgang mit Risiken tragen zwar zum wechselseitigen Verständnis der Positionen unterschiedlicher, mit ihm konfrontierter, Akteure bei und vermögen im Falle einer unmittelbaren Konfrontation, eigenes Handeln zu strukturieren. Gleichzeitig sind sie jedoch nicht geeignet, Terrorismus gesellschaftlich nachhaltig handhabbar zu machen. Die bestehenden Konzepte zum Umgang mit Risiken sind evolutionär anhand anderer Risiken entwickelt worden, die sich von Terrorismus in einem wesentlichen Punkt unterscheiden: in der Funktion, die der Schaden für den Verursacher einnimmt. Somit liegen ihnen wesentlich differierende Voraussetzungen zugrunde. Unter der Prämisse, mit ihrer Hilfe Terrorismus nachhaltig gesellschaftlich handhabbar zu machen, sind für die Konzepte Einschränkungen hinsichtlich ihrer Praktikabilität zu erwarten.
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1 Hinführung und Begrifflichkeiten
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3.
Alternativen zur Handhabung von Terrorismus können an dessen Funktions- und Wirkungsweise ansetzen. Wenn die herkömmlichen Konzepte zum Umgang mit Risiken nicht deren nachhaltige Bewältigung erreichen können, sind Alternativen notwendig, die genau dies auf gesellschaftlicher Ebene schaffen. Die Voraussetzung für die Entwicklung von Handlungsoptionen ist eine differenzierte Betrachtung der Funktions- und Wirkungsweise, die Ansatzpunkte eröffnet. Um auch in offenen, anti-autoritären, demokratischen und aufgeklärten Gesellschaften konsensfähig und somit praktikabel zu sein, unterliegt die Entwicklung von Handlungsoptionen einer grundsätzlichen, finalen Normbindung. Die dazugehörigen Fragen lauten somit: Was ist Terrorismus und wie funktioniert er? Ist er überhaupt ein Neues Risiko oder lediglich ein Risiko? Sind die herkömmlichen Konzepte zum Umgang mit Risiken praktikabel? Welche konsensfähigen Alternativen dazu sind stattdessen denkbar? Es ist ausdrücklich nicht Ziel dieser Arbeit, (soziologische Entstehungs- und) Ursachenforschung zu betreiben, 3 obwohl Terrorismus als Untersuchungsgegenstand soziologischer Forschung sowohl zur Globalisierungs- als auch zur Transformationsforschung Berührungspunkte aufweist. Vergegenwärtigt man sich nochmals die Anschläge von 9/11 und vor allem die weltweiten Reaktionen darauf, so wird der Gegenstand vorliegender Arbeit deutlich. An diesem Tag verübten radikale Islamisten Anschläge auf bedeutende Symbole der amerikanischen Wirtschafts- und Militärmacht – auf Repräsentanten des American way of life. Die Reaktionen hierauf waren heterogen. Einerseits übertrafen sich Repräsentanten des westlichen Kulturkreises (vor allem in der nördlichen Hemisphäre) in Kondolenz- und Solidaritätsbekundungen. 4 Andererseits waren aber in nahezu allen anderen Kulturkreisen auch kritische Töne zu hören. Osama bin Laden zufolge war „Amerika von Allah dem Mächtigen an seinem Lebensnerv getroffen“ (Ali 2003: 40) 5, in Nicaragua umarmten sich Menschen schweigend, in Brasilien wurde das Vorhaben eines New Yorker Musikers, anlässlich eines Konzerts „God Save America“ zu spielen, mit „Osama, Osama!“-Rufen gekontert. In Bolivien wurde gefeiert. In Argentinien weigerten sich Mütter von entführten Kindern, an offiziell angeordneten Trauerfeierlichkeiten teilzunehmen, während in Griechenland Menschen Schweigeminuten missachteten und die Regierung die Veröffentlichung einer Meinungsumfra3 4 5
Eine Untersuchung über das Entstehen terroristischer Bewegungen bietet Wieviorka (2004: 3-24). Allein die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gab schon am Tag der Anschläge drei explizit darauf bezogene Pressemitteilungen heraus. Ebenso wie dieses Zitat orientiert sich die hier skizzierte Auswahl an Reaktionen – sofern nicht explizit anders gekennzeichnet – an der Alis.
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1 Hinführung und Begrifflichkeiten
ge verbot, welche eine positive Resonanz auf die Anschläge zum Ausdruck gebracht hatte. Aufgrund der Zeitverschiebung wurden in China bei Bekanntwerden der Nachricht nur wenige Feuerwerke abgebrannt, erst nach mehr als 24 Stunden gab es die erste Stellungnahme der Partei- und Staatsführung. Die Nachrichtenagentur Xinhua unterlegte die Bilder der einstürzenden Hochhaustürme mit Hollywood-Musik, ein zweites Video mischte diese Bilder mit Szenen aus „King Kong“ und anderen Katastrophenfilmen. Vom „New Yorker“ interviewte Pekinger Studenten schließlich bekundeten offen ihre Freude über die Anschläge und verwiesen die überraschten Journalisten auf das Verhalten der westlichen Welt nach dem Angriff von NATO-Flugzeugen im Zuge des Kosovo-Krieges auf die chinesische Botschaft in Belgrad 1999. Die sechs dabei getöteten Menschen wogen ihrer Meinung nach genauso schwer wie die mehrere Tausend des 11. September. Dieser Rückblick verdeutlicht die Interaktion zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und ihren prägenden sozialen Systemen. Ausgelöst durch die Aktion eines Akteurs – d. h. einer sozialen Gruppe – entwickelt sich ein komplexes Interaktionssystem zwischen mehreren unmittelbar oder nur mittelbar von der Aktion betroffenen sozialen Systemen. Dieses komplexe System mit seinen Akteuren, deren Wahrnehmungen und Interaktionen auf den Umgang mit Terrorismus bezogen zu verstehen und zu skizzieren, wird ebenfalls Bestandteil der vorliegenden Arbeit sein. 1.1.2
Vorgehensweise, Methode und Methodenkritik
In Kapitel 1 dieser interdisziplinären Arbeit – sie beinhaltet, wenn auch teilweise in geringem Umfang, Elemente aus Soziologie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Psychologie – soll daher der notwendige Begriffsapparat entwickelt und die Funktionsweise von Terrorismus aufgeschlüsselt werden. 6 Hierbei sind vor allem die Abgrenzung der Begriffe „Gefahr“ und „Risiko“ zueinander sowie Erläuterungen und Definitionen zu den Termini „Neues Risiko“ und „Terrorismus“ unabdingbar. In Kapitel 2 wird die Richtigkeit der ersten Hypothese – Terrorismus ist erst seit 9/11 ein Neues Risiko – untersucht. Durch das Schlussschema des Modus ponens (vgl. Carrier 2006: 35-44) wird dem Allgemeinfall (Neue Risiken erfüllen bestimmte Kriterien) der Einzelfall (Terrorismus erfüllt dieselben Krite6
Zur Interdisziplinarität der Risikoforschung vgl. Jungk (1989: 257-265) und Banse (1996: 15-72).
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1 Hinführung und Begrifflichkeiten
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rien) gegenübergestellt und daraus ein logischer Schluss gezogen (Terrorismus ist ein Neues Risiko). Die Wahrheit der Prämissen und davon abhängend auch die Gültigkeit der Hypothese ist einer empirischen Überprüfung 7 zu unterziehen. Hierbei wird anhand eines Vergleichs analysiert, ob der spezifische Einzelfall (d. h. Terrorismus) die Kriterien eines Neuen Risikos tatsächlich erfüllt. Dazu wird der Entgrenzungsprozess von Terrorismus anhand der Beck’schen Kriterien (Beck 1989: 120) für Neue Risiken analysiert, um eindeutig zu klären, ob (und wenn ja, seit wann) Terrorismus ein Neues Risiko ist. Diese Analyse setzt im Palästina des ersten Jahrhunderts nach Christus an und endet in der Globalität der reflexiven Moderne. Nach dieser Klärung werden in Kapitel 3 verschiedene Möglichkeiten zum Umgang mit Risiken auf den mit modernem Terrorismus am Beispiel des Krisenmanagements deutscher Truppen in Afghanistan nach einem Anschlag aus dem Jahr 2004 reflektiert. Mittels des Beobachtungsverfahrens der Ethnographie (Flick 2002: 216-220) und der Strategie der Theorien-Triangulation (Flick 2002: 331) werden die bis 1960 gängigen Konzepte, das der Risikowahrnehmung und das der Risikokommunikation, auf ihre Nützlichkeit und Erklärungsstärke untersucht. Dies stellt mit Methoden der qualitativen Sozialforschung geführte Feldforschung dar. Hierbei soll gezeigt werden, dass die synchron zu verschiedenen Risiken entwickelten Konzepte zum Umgang mit ihnen für die gesellschaftlich nachhaltige Bewältigung von Terrorismus nur bedingt hilfreich sind. Auf all diesen Erkenntnissen aufbauend soll in Kapitel 4 innerhalb des theoretischen Rahmens des methodologischen Kosmopolitismus der Versuch der Entwicklung von Handlungsalternativen unternommen werden. Hierfür werden die Resultate der Feldforschung – induktiv 8 – gesamtgesellschaftlich verallgemeinert, sodass schließlich heuristisch verschiedene Alternativkonzepte entwickelt werden können, die dazu beitragen sollen, Terrorismus gesellschaftlich handhabbar zu machen. Sie alle setzen an der Funktions- und Wirkungsweise von Terrorismus an. Kapitel 5 fasst die Erkenntnisse der Arbeit zusammen.
7
8
Als Einwand gegen diese Art der Überprüfung ist die Duhem-Quine-These zu nennen. In Anlehnung an Duhem erklärt Quine (Quine/Ullian 1978: 97), die Prüfung einer Hypothese durch empirische Daten vermöge ihre Gültigkeit nicht sicherzustellen, da stets alternative, gegensätzliche Annahmen als mögliche Erklärungen derselben denkbar blieben. Diese Unterbestimmtheitsbehauptung bedeutet im Umkehrschluss, dass sich jede beliebige Hypothese angesichts beliebiger Daten aufrechterhalten lässt, sofern man zu unplausiblen Anpassungen in anderen Teilen des Systems bereit ist (Carrier 2006: 95). Dem ist entgegenzuhalten, dass eine solche Anpassung erstens notwendig, zweitens aber mit zunehmender Komplexität des Systems immer aufwändiger und so schlechter handhabbar wird. Zum Induktivismus vgl. Chalmers (2006: 35-49).
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1 Hinführung und Begrifflichkeiten
Wie bei allen Sozialwissenschaften bestimmen drei Determinanten die Aufgaben der Risiko- und Terrorismusforschung als Wissenschaft: 1. der allgemeine Auftrag an die Wissenschaft und somit die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen, 2. die Probleme und Aufgaben, mit denen der Erkenntnisgegenstand einer wissenschaftlichen Disziplin verbunden ist und 3. die erkenntnistheoretischen Möglichkeiten und Grenzen der Erfüllung wissenschaftlicher Aufgaben. Die Realität zu erklären, Komplexes zu strukturieren und Lösungen für Probleme zu entwickeln sind die Implikationen der ersten Aufgabe. 9 Dies bildet den Rahmen vorliegender Arbeit. Nach einer Begriffsbestimmung (Kapitel 1) ist die Ausgangslage festzustellen und zu beurteilen (für die Frage, ob, und wenn ja, seit wann Terrorismus ein Neues Risiko ist, Kapitel 2, für die Frage nach der Praktikabilität gegenwärtiger Konzepte Kapitel 3), eine Zieldefinition zu geben und der Weg dorthin aufzuzeigen (Kapitel 4). Den Erfolg zu kontrollieren entspringt zwar ebenfalls als weitere Determinante der zweiten Aufgabe, ist aber erst dann empirisch möglich, wenn die erarbeiteten Ziele und Konzepte in der Praxis Anwendung gefunden haben. Die dritte Aufgabe hat als Determinante das Postulat der Objektivität, der Forderung nach intersubjektiver Überprüfbarkeit der möglichst werturteilsfreien wissenschaftlichen Aussagen. Dies ist das Prinzip des kritischen Rationalismus (vgl. Popper 1989 und 1992). Gegen das Prinzip der Werturteilsfreiheit, das bestmöglich in vorliegender Arbeit verfolgt wird, wurden und werden vier auf Fehlinterpretationen des Prinzips basierende Einwände vorgebracht. Der erste Einwand zweifelt die Möglichkeit von Objektivität an sich an, da schon die Wahl des Erkenntnisziels eine Wertung an sich impliziere. Da allein schon die Ressourcen, die für die Forschung zur Verfügung stehen, Selektion erzwingen, ist dieser Einwand nicht gänzlich unbegründet. Da aber die Antwort auf die Fragestellung werturteilsfrei erfolgt, widersprechen derartige Selektionen nicht dem Prinzip der Werturteilsfreiheit. In vorliegender Arbeit ist dieser Einwand bei Kapitel 4 zu berücksichtigen. Ein zweiter Einwand erhebt den Vorwurf, die Forderung nach werturteilsfreier Wissenschaft sei aufgrund der wichtigen Rolle von Werten und Wertungen im Erfahrungsobjekt der Sozialwissenschaften realitätsfremd. Dem ist entgegenzuhalten, dass der kritische Rationalismus Analysen derselben nicht ausschließt, da Werturteile keine Voraussetzungen derartiger Analysen sind (vgl. Weber 1968: 531). Kapitel 3 und 4 vorliegender Arbeit befassen sich mit der 9
Diese Aufgaben orientieren sich an Popper (1992). In Gesellschaftssystemen, die nicht demokratischen, antiautoritären, offenen und aufgeklärten Maßstäben entsprechen, kann der Auftrag an die Wissenschaft davon abweichen. In jenen ist die Wissenschaft regelmäßig an die herrschende Ideologie gebunden.
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1 Hinführung und Begrifflichkeiten
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Analyse von Werten, ohne jedoch über jene zu urteilen. Ein dritter Einwand verweist darauf, das Prinzip der Werturteilsfreiheit beschneide die Erkenntnismöglichkeiten, da verschiedenste Phänomene schlichtweg nicht wertfrei analysierbar bzw. prognostizierbar seien. Ein Ausweg besteht darin, dass entsprechende Beobachtungen und Prognosen als Hypothesen oder als persönliche Auffassung des Verfassers deutlich gemacht werden und so der Anschein von Objektivität vermieden wird. Diese Praxis findet in Kapitel 3 und 4 Anwendung. Ein vierter Einwand lautet, es bestehe die Gefahr der Instrumentalisierung werturteilsfrei orientierter Wissenschaftler durch politische Systeme. Dem ist zu entgegnen, dass der kritische Rationalismus eine Trennung der Rollen von Staatsbürger und Wissenschaftler verlangt. Für vorliegende Arbeit ist dies insofern relevant, als die Themenwahl sicherlich nicht frei von staatsbürgerlichem Interesse zustande kam – die Beantwortung der damit einhergehenden Fragen jedoch sehr wohl. Dies verdeutlichen erneut Kapitel 3 und 4, in denen Beobachtungen gemacht, Schlüsse gezogen und Vorschläge unterbreitet werden, die als unbequem für Bundeswehr und Staat gelten können. Soziologische Risikoforschung ist lediglich ein – wenn auch in den letzten 15 Jahren gut aufgearbeitetes – Teilgebiet der Risikoforschung.10 Andere Teilgebiete befassen sich mit technischem, ökologischem oder finanziellem Risk Management, aber auch mit Change Management. Psychologie (Schicha 1982) und Verhaltensbiologie (Cube 1990) tragen ebenfalls zu einer umfassenden Debatte der Risikothematik bei. Innerhalb der Soziologie weist die Risikoforschung Schnittstellen zur Demographie-, Transformations- und zur Globalisierungsforschung auf. Die Notwendigkeit von soziologischer Risikoforschung wird nicht nur deutlich, wenn man sich auf die These Ulrich Becks (1986: 2566) einlässt, die Postmoderne sei durch den Übergang von der Reichtumsverteilung hin zu einer Verteilung von Risiken gekennzeichnet. Diese Tendenz zur Verteilung von bekannten wie unbekannten Risiken nimmt eher zu denn ab und stellt somit nicht erst seit den Anschlägen des 11. September 2001 ein gesellschaftliches Problem dar. Die Risiken, mit denen die Gesellschaft konfrontiert ist, zu identifizieren, zu benennen, ihre Auswirkungen zu erforschen, bereits existente oder zukünftig denkbare Umgangsmöglichkeiten zu skizzieren, Gleichförmigkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Risiken herauszuarbeiten – dies ist Aufgabe der Risikoforschung, die folglich dazu beitragen kann und muss, Umverteilungskonflikte von Risiken zu beobachten, zu begleiten und zu steuern.
10
Einen Überblick über die Ansätze und Methoden der Risikoforschung bietet Rowe (1993).
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1 Hinführung und Begrifflichkeiten
22 1.1.3
Zu Forschungsstand und Quellenlage
Zum Begriff des Risikos wurde bereits eine Vielzahl wissenschaftlicher – auch soziologischer – Studien publiziert. 11 Dies gilt mit Einschränkungen auch für den Fall des Terrorismus. Zwar erlebt die sich so nennende Terrorismusforschung nach dem 11. September 2001 eine Wiederauferstehung, indes bewegte sich bis etwa 2003 die überwiegende Mehrheit der Publikationen auf einem Niveau, das bestenfalls als populärwissenschaftlich zu bezeichnen ist. Ab diesem Zeitpunkt ist ein deutlicher Anstieg an qualitativ hochwertigen Abhandlungen zu den verschiedensten Aspekten von Terrorismus zu verzeichnen. 12 Auch die soziologische Risikoforschung entdeckt seit 2003 zunehmend den Terrorismus, setzt jedoch in allen Publikationen voraus, dass Terrorismus auch wirklich ein (Neues) Risiko ist. Differenzierte Analysen hierzu sucht man ebenso vergebens wie von gegenwärtigen Standards abweichende Vorschläge, wie ihm auf gesellschaftlicher Ebene begegnet werden kann. 13 Was bislang in der soziologischen Forschung vorhanden ist, ist eine häufig systemtheoretisch akzentuierte oder auf seine islamistisch-fundamentalistische Ausprägung fokussierende Aufarbeitung des Phänomens Terrorismus (vgl. Baecker/Krieg/Simon 2002; Wieviorka 2004: 3-82; Japp 2003: 54-87; Fuchs 2004). Eine Einbettung des Terrorismus in den Kontext soziologischer Risikoforschung jedoch fand sich bis zu den Anschlägen des 11. September 2001 kaum. Erst danach bestand eine der US-amerikanischen Reaktionen – namentlich des neu geschaffenen Ministeriums für Homeland Security – in der Schaffung universitärer Exzellenzzentren, die die unterschiedlichsten Aspekte des Terrorismus untersuchen sollen. Dazu zählt unter anderem auch ein sozialwissenschaftliches Großforschungszentrum, dessen Erkenntnisgegenstand die
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Für eine Bibliographie vorwiegend deutschsprachiger – nicht nur soziologischer – Risikoliteratur seit etwa 1980 vgl. Banse/Bechmann (1998). Für die Soziologie sind vornehmlich zu nennen Bonß (1995), Bechmann (1993), Ewald (1993) sowie Luhmann (1991 b). Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Risikoforschung bieten Krohn/Krücken (1993). Hierbei sei für den deutschsprachigen Raum vor allem Dietl/Hirschmann/Tophoven (2006) erwähnt. Vergleichbares leistete im anglo-amerikanischen Raum David C. Rapoport (2006 a, 2006 b, 2006 c, 2006 d), jedoch im Gegensatz zu Dietl/Hirschmann/Tophoven als Herausgeber. Zu den Abhandlungen, die Terrorismus aufgreifen, zählen Beck (2003, 2007 a, 2007 b). Vor konkreten Vorschlägen zum Umgang mit Terrorismus schreckt dieser indes zurück: „Auch ich weiß, daß auch ich nicht weiß, wie ich diese Fragen beantworten soll. Die Einsicht in die Ironie des Risikos legt es nahe, auch der Allgegenwart des Risikos im Alltagsleben mit skeptischer Ironie zu begegnen“ (Beck 2007 a: 72 f.).
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Auswirkungen von Terrorismus auf die Bevölkerung ist (vgl. Streitbörger 2006). 14 Im deutschsprachigen Raum nähert sich Gertrud Brücher (2004) dem Terrorismus aus systemtheoretischer Perspektive. Sie vertritt die These, dass angesichts der fortschreitenden Globalisierung in der westlichen Kultur fest verankerte Werte wie Menschenwürde und Menschenrechte auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten sind. Daniel Witte (2005) unternimmt einen Versuch, mittels soziologischer und ökonomischer Erklärungsansätze Aufschluss über die Motive der Attentäter des 11. September zu erlangen. Dieser Fokus ist indes gleichzeitig eine Schwäche gegenwärtiger Forschung: Das Erkenntnisinteresse ist nahezu ausschließlich auf die meist als Täter wahrgenommenen Terroristen gerichtet. Die Konsequenzen und Handlungsmöglichkeiten der von Terrorismus negativ betroffenen Akteure – oder wie Ulrich Beck (2003: 279-285) und der Trendforscher Matthias Horx (2007) vielleicht gemeinsam formulieren würden: Angstgemeinschaften 15 – finden jedoch kaum Berücksichtigung. 16 Für die Untersuchung bestehender Konzepte zum Umgang mit Risiken wird als Fallstudie auf ein Ereignis zurückgegriffen, das die ISAF-Mission der Bundeswehr aus dem Jahr 2004 behandelt und bei dem der Verfasser involviert war. Aus Gründen der Geheimhaltung und der militärischen Sicherheit werden dazu keine klassifizierten militärischen Dokumente inhaltlich exakt wiedergeben, was bei der zugrunde gelegten Fragestellung allerdings keinen wesentlichen Erkenntnisverlust bedeutet. Daher beschränkt sich die Untersuchung in diesem Zusammenhang auf Ereignisprotokolle des Verfassers sowie frei zugängliche Quellen. Im Rahmen der frei zugänglichen Quellen bedarf der Rückgriff auf Print- und Internetmedien eines gesonderten Hinweises. Wie Japp (2003: 57) zu Recht anmerkt, ist die Abhängigkeit wissenschaftlicher Forschung von empirischen Daten und im Falle des Terrorismus somit von den Massenmedien nicht unproblematisch, da Letztere nie gänzlich unabhängig agieren. Derartige Daten sind folglich nicht unreflektiert zu übernehmen. Auf sie zu in Gänze zu verzichten ist jedoch angesichts des Themas vorliegender Arbeit und der
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Im deutsch- und weiteren englischsprachigen Raum hingegen wurde dieser Versuch nur vereinzelt unternommen. Als einer derjenigen, die sich dessen angenommen haben, ist zumindest mit Einschränkungen Mark Daniell (2004: 70-87) zu nennen. Interessanterweise setzt Beck (2003) Terrorismus und Risiko in einen gemeinsamen Kontext, erläutert sogar das Kriterium der Entgrenzung – bezeichnet Terrorismus jedoch hier nicht als Neues Risiko, sondern nur en passant als Globalrisiko. An anderer Stelle (2007 b: 13 f.) spricht er von Terrorismus als einem Weltrisiko. Ihnen soll im vierten Teil vorliegender Arbeit Aufmerksamkeit geschenkt werden.
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noch für Jahre unter Verschluss gehaltenen offizell-staatlichen Dokumente nicht möglich. 17 1.2
Grundlagen
Ein grundlegendes Problem in der Terrorismusforschung besteht in der Uneinheitlichkeit und teilweise sogar Widersprüchlichkeit der verwandten Terminologie. Was ist eine Bedrohung und was ein Risiko? Worin grenzt sich ein Risiko von einem Neuen Risiko und dieses wiederum von einer Gefahr zweiter Ordnung und einem hypothetischen Risiko ab? Was ist Terror und was ist unter Terrorismus zu verstehen? Diese oftmals synonym gebrauchten Ausdrücke sind keineswegs bedeutungsgleich. Die Unterschiede herauszuarbeiten muss notwendigerweise in vorliegender Arbeit den ersten Schritt darstellen, da obige Begriffe häufig in Abgrenzung zueinander Verwendung finden. 1.2.1
Begrifflichkeiten
1.2.1.1
Risiko
Grundlegend für das Verständnis des Terminus Risiko ist seine Differenzierung von der bloßen Gefahr. 18 Zwar sind beides Erscheinungen, die im Kontext der insecuritas humana (vgl. Wust 1937: 29-88) zu sehen sind und sich unter dem englischen Ausdruck uncertainties subsumieren lassen (Bonß 1995: 35 f.), doch weisen sie entscheidende Unterschiede zueinander auf. Während eine Gefahr als rein negativ, als eine bloße Bedrohung gelten kann, die dem Menschen nicht durch soziales Handeln erwächst, verhält sich dies bei Risiken in genau diesen beiden Punkten anders. Ein Phänomen des Typs Risiko entspringt immer menschlichem Handeln. Da der Mensch sich von seinem Handeln stets eine wie auch immer geartete Wirkung erhofft, kann das Risiko somit im Unterschied zur Gefahr nie als rein negativ beurteilt werden. 19 Ein Risiko entspringt also 17 18 19
Auch wenn dies derzeit nach Auffassung des Verfassers nicht besonders wahrscheinlich ist, können nach Freigabe der amtlichen Quellen einzelne Aspekte des Themas in einem anderen Licht erscheinen. Der Wesenskern vorliegender Arbeit bleibt davon unberührt. Für eine Einführung in den Begriff des Risikos vgl. auch Beck (2007 b: 19-23). Eine Differenzierung der Termini Gefahr und Risiko bietet Japp (2003: 82). Hieraus wird deutlich, dass auch Naturkatastrophen unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur Gefahren, sondern auch Risiken darstellen können. Dies ist dann der Fall, wenn
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menschlichem Willen, menschlichen Entscheidungen und menschlichem Handeln. Es ist zurechenbar und aus der Subjektivität des Handelnden auch handhabbar (Bonß 1995: 307, Fn 407). Das das Risiko gebärende soziale Handeln 20 hat in der Regel auf einen klar definierbaren Personenkreis und einen ebenso präzise vorhersagbaren Raum Auswirkungen. Der schon von diversen Autoren beschriebene Seefahrer, der sich, vom Streben nach Profit animiert, zu einer Fahrt aufs Meer entschließt, in einen Sturm gerät und mit Schiff und Ladung untergeht, hat das Risiko, umzukommen oder seine Fracht zu verlieren, bewusst gewählt. Der Schadensfall erstreckt sich auf die Besatzung und deren Angehörige, die aber durch den Abschluss entsprechender Versicherungsverträge Möglichkeiten zur Kompensation des Schadensfalles haben. Während also Untergang und Verlust der Ladung einem sozialen Handeln entspringen und folglich menschlich produziert und zurechenbar sind, ist der Sturm eine Gefahr: Er ist nicht durch soziales Handeln entstanden, er ist daher auch nicht einem oder mehreren Verursachern zurechenbar. Ein anderes Verständnis von Gefahr und Risiko hat Luhmann. Er erklärt die Unterscheidung von Gefahr und Risiko anhand eines Attributionsvorganges. Können etwaige Schäden einem selbst zugerechnet werden, handelt es sich um ein Risiko. Wenn die Schadursache indes außerhalb der eigenen Kontrollmöglichkeiten liegt, dann liegt nach Luhmann (1993: 160) eine Gefahr vor. „Von Gefahr kann man sprechen, wenn der etwaige Schaden durch die Umwelt verursacht wird, zum Beispiel als Naturkatastrophe oder als Angriff böser Feinde, von Risiko dagegen, wenn er auf eigenes vorheriges Verhalten (einschließlich: Unterlassen) zurückgeführt werden kann“ (Luhmann 1990). 21
Dieses egozentrische Risikoverständnis drängt den Menschen in eine Opferrolle, da sie ihm nahelegt, die Ursache vieler uncertainties ausschließlich bei Dritten zu suchen, ohne zu reflektieren, ob und wie er selbst einen Beitrag zur Bewältigung derselben leisten kann. Ein weiterer Nachteil ist die mangelnde Trennschärfe, die Luhmanns Attributionsvorgang mit sich bringt. Er konzediert selbst,
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die Exponiertheit des Einzelnen gegenüber einer Naturkatastrophe erst aus seinem Handeln heraus entsteht. Wer also aus beruflichen Gründen mitsamt seiner Familie in ein potenzielles Hochwassergebiet zieht, um eine Wochenendbeziehung zu vermeiden, der geht freiwillig das Risiko ein, durch Hochwasser geschädigt zu werden. Im Kontext von Naturkatastrophen vgl. auch Plapp (2004). In Abgrenzung zum herkömmlichen, als subjektiv sinnhaftes Verhalten beschriebenen Handeln definiert Max Weber soziales Handeln wie folgt: „’Soziales’ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Anlauf orientiert ist“ (Weber 1976: 8, Hervorhebungen im Original). Zitiert nach Bechmann (1993: XXI).
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dass nach seiner Auffassung Gefahr und Risiko „am selben Sachverhalt und in Mischperspektive auftreten“ können (Luhmann 1993: 161). Er führt ein Beispiel an, in dem er die Gefahr von Schäden aufgrund eines Erdbebens nennt. Habe man im Erdbebengebiet gebaut, sei es ein Risiko. Habe man das Gebäude jedoch geerbt, sei es eine Gefahr – wenn man jedoch wisse, dass es Erdbebengebiet sei, und man verkaufe seine Erbschaft nicht, sei es wieder ein Risiko (vgl. erneut Luhmann 1993: 161). Einfacher und treffender ist es daher, Risiko und Gefahr nicht wie Luhmann über einen egozentrischen Attributionsvorgang, sondern über menschliches Handeln zu begreifen. Dies nimmt den Menschen stärker in die Verantwortung und bietet wie stets auch im Luhmann’schen Beispiel ein Werkzeug zur hinreichenden Differenzierung. Da ein Mensch – ob Erbe oder Erblasser – das Haus gebaut hat oder besitzt, handelt es sich bei der Möglichkeit eines Einsturzes nicht um eine Gefahr, sondern um ein Risiko. Die Differenz zwischen Gefahr und Risiko manifestiert sich sowohl in der Erkenntnis, dass die Zukunft nicht mehr als völlige Intransparenz empfunden, sondern dass sie als von gegenwärtigen Entscheidungen abhängig und somit als abwägungsbedürftig begriffen wird. Ebenso wird eine soziale Differenz zwischen Entscheider (d. h. Verursacher) und Betroffenem deutlich – wobei für Letzteren nach Luhmann das, was für den Entscheider das Risiko ist, aufgrund der nicht vorhandenen Selbstverantwortlichkeit eine Gefahr darstellt (vgl. Bechmann 1993: XXI f.). Hinsichtlich des Verständnisses von Risiken gibt es wiederum unterschiedliche Differenzierungsansätze. Lau (1989: 420-426) beispielsweise unterschiedet drei Typen von Risiken: traditionelle Risiken, industriell-wohlfahrtstaatliche Risiken und letztlich die Neuen Risiken. Während traditionelle Risiken freiwillig eingegangen werden, individuell zurechenbar und zeitlich begrenzt sind, erweisen sie sich aufgrund ihrer sozialen Normierung als von primär sozio-kultureller Bedeutung. Eine derartiges, nahezu den gesamten Alltag umfassendes Verständnis von Risiko ließe vermuten, aktives – und somit schon riskantes – Handeln evoziere die unterschiedlichsten Arten von Risiken in gänzlich unnötiger Art und Weise. Indes stellt die sogenannte Selbstreferenz des Risikos oder auch das Paradoxon des Risikos gleichsam die Kehrseite der Medaille dar. Unter Ungewissheitsbedingungen eine Entscheidung zu treffen oder nicht zu treffen kann gleichermaßen riskant sein, da der Einfluss auf zukünftige Geschehnisse zwar abgeschätzt, aber im Voraus nicht mit absoluter Gewissheit prognostiziert werden kann. Bechmann konstatiert also nur folgerichtig, dass „Handeln und Unterlassen gleich riskant sein können, weil für beide Fälle die Folgen nicht bekannt sind“ (Bechmann 1993: XXIV). Beck hebt diese Problematik auf die gesellschaftliche Ebene:
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„[D]ie Weltrisikogesellschaft [steht] der peinsamen Aufgabe gegenüber (von Ironie kann man hier nicht mehr reden), Entscheidungen über Leben und Tod auf der Grundlage von mehr oder minder eingestandenem Nicht-Wissen treffen zu müssen.“ (Beck 2007 a: 65)
Der Aspekt der Selbstreferenz des Risikos und die egozentrische Perspektive von Entscheider und Verursacher werden vor dem Hintergrund von Terrorismus als Gegenstand vorliegender Arbeit Bedeutung erlangen. Das Wissen um die Abhängigkeit der Zukunft von gegenwärtigen Entscheidungen und somit die potenzielle Verantwortlichkeit für heute noch nicht abzusehende Folgen als Konsequenz des eigenen Handelns setzt das diesen Sachverhalt berücksichtigende Individuum unter immensen psychischen Druck. Sich selbst als Entscheider zu sehen und damit leben zu müssen ist die Erbsünde der Gegenwart, der Gedanke an Goethes Zauberlehrling liegt nahe. 1.2.1.2
Neues Risiko – Gefahr zweiter Ordnung – Globalrisiko
Es wurde bereits verdeutlicht, dass bei konventionellen Risiken der Schadensfall und dessen Auswirkung in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Bei den sogenannten Neuen Risiken oder auch „Gefahren zweiter Ordnung“ (Bonß 1995: 83) ist dieser enge Zusammenhang entweder zeitlich, sachlich, räumlich oder sozial nicht mehr zu beobachten. Die Auswirkungen sind vom Schadensfall entkoppelt. Durch diese Entkoppelung sind sie häufig auch ihrem Verursacher nach den geltenden Regeln von Kausalität, Schuld und demnach auch Haftung nicht mehr eindeutig zurechenbar. 22 In letzter Konsequenz sind sie daher auch nicht mehr kompensierbar oder auch versicherungsfähig. Ebenso ist eine Differenz zwischen Verursacher und Betroffenem zu beobachten. Beck (1986) beschreibt dies bereits anhand ökologisch-technischer, aber auch sozialer Risiken. Das wesentliche Kriterium zur Unterscheidung herkömmlicher von Neuen Risiken ist die Entgrenzung. Diese kann in vier Dimensionen zu beobachten sein: in zeitlicher, sachlicher, räumlicher und sozialer. Diese Dimensionen sind freilich nicht völlig unabhängig voneinander betrachtbar, vielmehr bestehen Wechselwirkungen und Spannungsverhältnisse. Es leuchtet unmittelbar ein, dass beispielsweise ein Schadfall mit chemischen Stoffen eine größere Fläche kontaminiert und folglich auch mehr Menschen betrifft als der Einsturz eines alterschwachen Holzschuppens, der nur für die in direkter Nähe befindlichen Personen gefährlich ist. Chemische Stoffe vermögen unter Umständen eine Wirkung zu entfalten, die nicht mit dem Austritt und der Kontamination beendet 22
Die Zurechenbarkeit von Risiken erklärt Luhmann wie folgt: „So wie für den Entscheider das Risiko sichtbar wird, so durch das Risiko der Entscheider“ (Luhmann 1993: 166).
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ist und somit auch in der Zukunft weitere Menschen und deren Arbeitsmittel schädigt. Allgemein gilt: Je komplexer das den Schadfall verursachende Mittel ist, umso stärker ist die Wechselwirkung zwischen den einzelnen Dimensionen (vgl. Luhmann 1993: 151 f.). Ein generelles Problem der Zurechenbarkeit ist, dass sich eine Vielzahl globaler Effekte nicht konkret zuordnen lassen – weder einer Einzelentscheidung noch einem einzelnen Verursacher (vgl. Luhmann 1993: 183). Es sind fehlende Kausalzusammenhänge, die nach Lau (1989: 419) wesentlich zur Diffusität des Terrorismus – sowohl in Bezug auf Ursachen als auch auf Zwecke, Ziele und Mittel, Aktivisten oder Opfer – beitragen. Das Bekanntwerden und Auftreten Neuer Risiken hat häufig spontane Solidarisierungsprozesse zur Folge – man denke in Bezug auf Terrorismus nur an die weltweite Anteilnahme nach den Anschlägen vom 11. September. Für Neue Risiken ist kennzeichnend, dass sie nicht freiwillig und bewusst eingegangen werden, jedoch ihre Ursachen menschlich produziert sind. Lau zufolge ist dieser augenscheinliche Widerspruch zum einen dadurch zu erklären, dass das Neue Risiko das Resultat „nicht intendierter kollektiver Effekte vieler Individualhandlungen“ ist. Zum anderen sei auch ein „systematische[s] Auseinanderfallen von Risikoverursachung und Risikobetroffenheit“ (Lau 1989: 423) in funktional differenzierten Gesellschaften zu konstatieren. Fasst man Terrorismus als Folgeprodukt aus sozioökonomischer Deprivation 23 und religiösideologischer Indoktrination auf, bedeutet dies auf Terrorismus bezogen, dass es vieler einzelner sozialer Handlungen seitens der sozialen Gruppen und Institutionen bedarf, die einmal die Opfer des Terrorismus werden sollen, um bei den zukünftigen Terroristen den Status der Deprivation überhaupt zu erreichen. 24 Die Ursachen dieser Verarmung werden häufig in den Folgen der wirtschaftlichen Komponente der Globalisierung 25 gesehen, aber auch in den vonseiten der Industriestaaten eingebrachten flankierenden politischen Maßnahmen. Die Rolle der einzelnen Akteure im Globalisierungsprozess erinnert an das „Prinzip der funktionalen Differenzierung, das die Rationalität von Entscheidungen nach Maßgabe ausdifferenzierter, subsystemspezifischer Kriterien bemißt und damit die tendenzielle Nichtbe-
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Unter soziökonomischer Deprivation sei die Verarmung bestimmter Bevölkerungsteile in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht verstanden. Czempiel (2002: 50-52) nennt neben Deprivation noch westliche Dominanz und den Nahost-Konflikt als Quellen der gegenwärtigen Form von Terrorismus. Das Verständnis von „Globalisierung“ folgt in vorliegender Arbeit der Definition Anthony Giddens, der Globalisierung als „Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen“ (so zitiert bei Bonß 2005: 39) bezeichnet. Bonß erklärt den Trend zu dieser Intensivierung durch eine allgemeine Dynamik des Marktes sowie die Fortschritte der Informationstechnologie. Vgl. grundlegend Bonß (1999 und 2000).
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rücksichtigung von riskanten Folgen für andere gesellschaftliche Teilbereiche zur latenten Rationalitätsprämisse werden lässt“ (Lau 1989: 424 ). 26
Nicht unerwähnt bleiben soll der Begriff des Globalrisikos, das im Wesentlichen mit Neuen Risiken identisch ist. Beck (2007 a: 63-66) definiert Globalrisiko über die Merkmale Delokalisation, Unkalkulierbarkeit und NichtKompensierbarkeit, wobei Delokalisierung zeitliche, räumliche und soziale Aspekte beinhaltet. Da der Terminus des Neuen Risikos in der Literatur fester verankert ist, wird in Folge auf die Nutzung des an einen Modebegriff erinnernden Terminus Globalrisiko verzichtet und stattdessen von Neuen Risiken gesprochen. 1.2.1.3
Terrorismus
Vorab ist anzumerken, dass es eine Vielzahl von Terrorismusdefinitionen gibt, die großteils an ein und demselben Umstand kranken. Aufgrund ihrer Abhängigkeit von den Interessen und somit der Wahrnehmung des Definierenden sind sowohl sie selbst als auch die auf ihnen basierenden Schlussfolgerungen widersprüchlich. 27 Es entsteht zwangsläufig der Eindruck, als seien die Definitionen vorab feststehenden Postulaten anzupassen, die lediglich als Schlussfolgerungen verkleidet sind. Daher wird für vorliegende Arbeit eine eigene Definition entwickelt. Diese lautet: 28 Terrorismus ist die von Opfern oder Unbeteiligten gebrauchte Bezeichnung für aus sozialen Gegenbewegungen entstehende, objektiv illegale aber subjektiv legitime, von nichtstaatlichen Akteuren angedrohte oder praktizierte Gewalt gegen staatliche und nichtstaatliche Ziele zum Zwecke der Kommunikation politischer antisystemischer Anliegen. 26 27
28
Lau, allerdings in anderem Kontext. Zu einer abgewandelten Form der Differenzierung bei Neuen Risiken vgl. Perrow (1986: 399 f.). Perrow behauptet, dass die Verursacher eines Schadens selbst nur selten in demselben Ausmaß zu leiden haben wie die Opfer. Hoffman (2002: 38-40) zeigt anhand der Positionen Mauretaniens, der Volksrepublik China und Syriens gegenüber dem Attentat auf israelische Sportler bei der Olympiade in München (1972), wie die Haltung der jeweiligen Staaten die Definition von Terrorismus bestimmen kann und eine international einheitliche Definition von Terrorismus verhindert. Zu verwerfende Kriterien für eine Definition von Terrorismus sind eine eventuelle Einbettung in eine Kampagne sowie ein außerordentliches Maß an Organisiertheit. Dies führt dazu, dass auch einzelne Taten (z. B. Timothy McVeigh in Oklahoma City 1995) ebenfalls als Terrorismus zu werten sind. Sie sind als solcher zu werten, wenn sie die definitorischen Kriterien vorliegender Arbeit erfüllen: Aus sozialer Gegenbewegung stammend, verübt von einem nichtstaatlichen Akteur, umgesetzt durch illegale, aber subjektiv legitime Gewalt(androhung) sowie eine kommunikative Intention letztlich politischer Anliegen beinhaltend.
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Soziale Gegenbewegungen sind nach Wieviorka (2004: 5-9) die Umkehrung sozialer Bewegungen und folglich durch die Verkehrung der diese kennzeichnenden Kategorien der Identität, der Opposition und der Totalität charakterisiert. 29 Identität beschreibt hierbei die Affinität eines Handlungsträgers mit einem bestimmten Personenkreis (d. h. einer sozialen Gruppe), in dessen Namen er zu sprechen und zu handeln glaubt. Opposition ist als sozialer Gegensatz mit inhärenter Gewaltbereitschaft zu verstehen, während Totalität auf den Abbruch jeglicher Art von Kooperation und die Negation aller Gemeinsamkeiten zwischen Terroristen und dem von ihnen bekämpften System verweist. In diesem Kontext ist Terrorismus „an extreme, degenerate, and highly particularized variety of social antimovement“ (Wieviorka 2004: 9). Objektiv illegal bedeutet, dass der Einsatz (aber auch schon die Androhung) von Gewalt gegen geltendes Recht verstößt, da dieses Einsatz und Androhung aus verschiedensten Gründen nicht erlaubt. Subjektiv legitim ist objektiv illegale Gewalt, sofern sie von einer bestimmten Zielgruppe aus verschiedensten Umständen 30 als legitim aufgefasst wird. Diese These vertritt auch Laqueur: „Terrorismus ist moralisch dann gerechtfertigt, wenn sich kein anderer Ausweg aus einer untragbaren Situation anbietet“ (Laqueur 1978: 222). Nichtstaatliche Akteure 31 sind keine Träger staatlicher Gewalt und besitzen folglich zum Einsatz derselben keine gesetzliche Ermächtigung – was bei Missachtung einen Verstoß gegen das staatliche Gewaltmonopol impliziert. 32 Dies schließt nicht aus, dass souveräne Staaten sich mitunter der Förderung des Terrorismus als Mittel der Außenpolitik bedienen (vgl. Waldmann 1999; Laqueur 1978: 101), 33 da dessen Anwendung nach objektiv illegalem Maßstab erfolgt. Wenden Staaten indes eine auf Furcht und Schrecken basierende Politik an, so ist dies – in Abgrenzung zum nach außen gerichteten Terrorismus – Terror. 34 Gewalt, Tod und Zerstörung an sich sind nicht das eigentliche Anliegen der 29 30 31 32
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Japp (2003: 55) stellt die Frage nach der Verbindung und den Gemeinsamkeiten von Protestbewegung und terroristischer Organisation. Keine Möglichkeit zu legaler politischer Betätigung, Repressalien gegen Minderheiten, nicht auf eigenem Staatsgebiet erfolgend. Beck (2003: 284) bezeichnet terroristische Netzwerke als „Gewalt-NGOs“. In einer Grauzone bewegen sich diesbezüglich im staatlichen Auftrag handelnde Söldnerfirmen, die beispielsweise den Personenschutz in Krisengebieten übernehmen. Zur Frage der Entstaatlichung der Kriegsführung vgl. Kümmel (2004), Meinken (2004), aber auch Singer (2004) und Creveld (1999: 373). Laqueur verweist auf die 60er- und 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts, als staatlich geförderter Terrorismus besonders im Nahen Osten und in Nordafrika „eine etablierte Praxis“ darstellte. Zur semantischen und inhaltlichen Differenzierung von Terror und Terrorismus vgl. Waldmann (2001: 15 ff.). Arendt bezeichnet Terror als Element totalitärer Herrschaft, das „in Übereinstimmung mit außermenschlichen Prozessen und ihren natürlichen oder geschichtlichen Gesetzen vollzogen wird“ (Arendt 1991: 711).
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Terroristen. Vielmehr werden sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Subund Objekte angegriffen, die für den Terroristen oder einen bestimmten Adressaten oftmals von besonderer Symbolträchtigkeit sind. Unumgänglich ist nach Waldmann jedoch das Überschreiten bestehender gesellschaftlicher und moralischer Konventionen, um eine adäquate Publizität zu erzielen: „Die Gewalt hat nur einen symbolischen Stellenwert, [sie] ist Träger einer Botschaft“ (Waldmann 2001: 12). Ihr zeitweiser Einsatz ist unumgänglich, denn „… [r]egardless of its political orientation, the first element of the terror process, in a logical as well as chronological sense, is the specific act or threat of violence, which induces a general psychic act of fear, which in turn produces typical patterns of reactive behavior“ (Walter 1969: 7).
Gewaltanwendung im Sinne des Terrorismus entspringt in der Regel der Koinzidenz mehrerer Faktoren: dem Vorhandensein eines charismatischen Führers, der Existenz einer bestimmten Form von Herrschaft und Tariq Ali (2003: 42) zufolge auch religiös oder ideologisch geprägtem Fanatismus. Symbole haben eine besondere Bedeutung innerhalb des dem Terrorismus inhärenten Kommunikationsprozesses. Kommunikation per se erfolgt bereits durch die Einbindung bestimmter Symbole, sodass das Zerstören derselben als Teil der Kommunikationsstrategie (vgl. Waldmann 2003: 38 sowie 2001: 12 f.) 35 zu verstehen ist. So auch im Falle der Al Qaida, „which relies on terrorism to transmit a message that resumes some of the most important meanings“ (Wieviorka 2004: xxii). Was kommuniziert werden soll, sind letzten Endes politische antisystemische Anliegen, 36 die von der bloßen Verbesserung der Lebensumstände einer Zielgruppe über deren politische Unabhängigkeit, die Abschaffung oder Umwälzung gesellschaftlicher Systeme bis hin zur Schaffung einer globalen Theokratie reichen können (vgl. Thamm 2003: 45). Der letztgenannte Fall impliziert in der Perspektive Röhrichs (2005: 22) eine Politisierung der Religion, gleichsam eine Wandlung von Religion zur Ideologie. Jedoch sind nicht alle Gewaltverbrechen terroristischer Organisationen auch gleich Terrorismus. Die Banküberfälle der RAF hatten nicht die Kommunikation eines bestimmten politischen Anliegens zum Ziel, sondern waren bloße Geldbeschaffungsmaßnahmen. Sie waren nicht Terrorismus, sondern als herkömmliche Beschaffungskriminalität zu wertende bloße Hilfsmittel hierzu. Ebenso ist die Bedeutung der antisystemischen Komponente zu betonen. Die Gewaltkommunikation muss gegen ein 35
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Andere Autoren, die Terrorismus nicht zwingend als Kommunikationsstrategie begreifen, können sich dennoch in ihren Analysen nicht völlig vom Kommunikationsbegriff lösen. So bezeichnet Wieviorka (2004: xxix) Terrorismus als Ausdruck eines Kommunikationsfehlers zwischen Tätern und Opfern. Schmitt (1963: 20-28) schreibt die politische Dimension auch dem Partisan zu, jedoch ohne Erwähnung des Kommunikationsaspekts.
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System, eine Idee, eine Lebensweise gerichtet sein – und nicht nur gegen eine einzelne Person. 37 Häufig kommt der Kommunikationsaspekt 38 in auf Anschläge folgenden Erklärungen von Terroristen deutlich zum Ausdruck: „Unsere Worte sind tot, bis wir ihnen Leben verleihen mit unserem Blut. Deshalb werden wir jetzt zu einer Sprache greifen, die ihr versteht“ (Mohammed Sidique Khan, zitiert nach „Todesgrüße von al-Qaida“ (2004)) 39 Bleibt eine solche Erklärung jedoch aus, so ergibt sich zur Entschlüsselung der Botschaft, zum Erkennen des eigentlichen politischen Anliegens die Notwendigkeit der Interpretation. Diese Interpretation orientiert sich im Regelfall an eingesetzten Symbolen, an der Zielwahl oder an der Wahl des Mittels, wodurch sich – wie auch ein Beispiel aus Joseph Conrads Novelle „Der Geheimagent“ aus dem Jahr 1907 illustriert – eine Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten ergibt: „Nehmen wir nur einmal einen Anschlag auf – sagen wir – eine Kirche. Auf den ersten Blick ist das zweifellos eine entsetzliche Sache, und hat doch längst nicht so starke Auswirkungen, wie der Durchschnittsbürger meinen könnte. Gleichgültig, wie revolutionär und anarchistisch die Tat anfangs gedacht war, es gäbe doch genügend Dummköpfe, die einen solchen Anschlag als religiöse Demonstration verstanden wissen wollten. Und dies würde die außergewöhnliche und aufschreckende Bedeutung, die wir der Tat geben möchten, schmälern.“
Terrorismus ist also keineswegs gekennzeichnet durch Willkür, Spontaneität und Zufälligkeit, er ist vielmehr ein in den politisch-sozialen Kontext eingepasstes überaus rationales Unterfangen. 40 Waldmann (2001: 28) zufolge verfolgt der Terrorismus letzten Endes ein indirektes Kalkül, das Ausdruck der nach Weber für die Moderne kennzeichnenden Zweck-Mittel-Relation ist. 41
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Dies ist ein Differenzierungskriterium zum teilweise (Laqueur 1978 a) auch unter Terrorismus subsumierten Tyrannenmord, der sich zumeist gegen eine einzelne Person – wie im Falle des Attentats von Stauffenberg auf Hitler (1944) – und deren Wirken denn ein ganzes System richtete. Den Kommunikationsaspekt betont vor allem Waldmann (1977, 1999, 2001, 2003). Mohammed Sidique Khan war für die Anschläge vom 7. Juli 2005 in London verantwortlich. Zur Rolle der Rationalität beim menschlichen Entscheidungsverhalten vgl. Simon (1957) und Brunsson (1985). Die Zweck-Mittel-Relation stellt auch Wolffsohn (2005: 14) heraus. Ohne die kommunikativen Züge von Terrorismus zu betrachten, subsumiert van Crefeld (1998: 45) ihn unter Low Intensity Conflicts (LIC). Andere Auffassungen von Terrorismus sehen ihn ebenso wie den Partisanenkrieg als asymmetrische Gewaltstrategie, deren Zweck in der Stimulation der Suche nach Alternativen zu bestehenden imperialen Ordnungen liegt. Ziel sei hierbei die politische wie ökonomische Schwächung des imperialen Zentrums mit dem Mittel der Gewalt. Zu dieser Lesart von Terrorismus vgl. vor allem Münkler (2005: 188 f.).
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1 Hinführung und Begrifflichkeiten
1.2.2
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Funktionsweise
1.2.2.1
Propaganda der Tat
Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin und Johann Most 42 geben einen ersten Hinweis auf das Funktionsprinzip des Terrorismus. Most formulierte im späten 19. Jahrhundert den „Grundsatz, dass die rechte That zur rechten Zeit am rechten Ort mehr nützen kann, als eine noch so große literarische oder oratorische Propaganda von tausenden Agitatoren. Die drei „rechten“ haben wir aber wohlweislich unterstrichen, wie wir stets gethan. Denn nicht jede That wirkt propagandistisch, wie die Erobrung längst gelehrt hat; und auf die Wirkung kommt es eben bei allen revolutionären Einzelthaten in erster Linie an. Solche Thaten müssen nicht nur geeignet sein, allgemeines Aufsehen zu erregen, sondern auch in denjenigen reifen, auch welche unsere Agitation hauptsächlich gemünzt ist, Billigung finden“ (Most 1881: 88 f.). 43
Derartige Äußerungen verweisen bereits auf die beiden wesentlichen Bestrebungen des Terrorismus: erstens, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit einzufordern, zweitens dies durch Taten und nicht durch bloße Worte zu erreichen. Im Laufe dieser Arbeit wurden an verschiedenen Stellen bereits einige der Funktionsbedingungen des Terrorismus explizit oder wenigstens implizit erwähnt. Was noch nicht erfolgte, zum Verständnis des besonderen Verhältnisses von Terrorismus und Medien aber unabdinglich ist, ist die systematische Aufschlüsselung dieser Wirkungsprinzipien. Nach Peter Waldmann (2003: 38 f.) besteht das terroristische Kalkül aus drei Elementen: einem Gewaltakt, einer emotionalen Reaktion und bestimmten
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Einen anschaulichen, kurzen Überblick über das Leben von Johann Most sowie den Anarchismus bietet Bremm (2006). Hervorhebungen und grammatikalisch bedingte Unklarheiten im Original. Die Erwähnung des Mords an Zar Alexander II. deutet darauf hin, dass die Schrift frühestens 1881 entstanden ist. Als weitere kommunikative Maßnahmen über die eigentliche Tat hinaus schlägt Most vor, nach einem erfolgreichen Attentat in der entsprechenden Stadt Plakate anschlagen zu lassen, welche über die für die Tat ausschlaggebenden Gründe informieren. Diese Auffassung teilte auch Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1824-1921): „Durch Tatsachen, die sich der allgemeinen Aufmerksamkeit aufzwingen, dringt die neue Idee in die Köpfe ein und erobert Anhänger. Manche Tat macht in einigen Tagen mehr Propaganda als Tausende von Broschüren“ (zitiert nach Nettlau 1972: 24). Vgl. auch Rapoport (2006 e: 6) und Waldmann (2001: 48 f.). Rapoport nennt Kropotkin als Urheber des Grundsatzes der Propaganda der Tat, während Waldmann zumindest das gleichlautende Schlagwort dem anarchistischen Journalisten Paul Brousse zuordnet.
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Verhaltensreaktionen. 44 Schlüssel zu den unterschiedlichen Reaktionen ist – wie es bereits Most und Kropotkin beschrieben – die Publizität eines Gewaltaktes (vgl. Laqueur 1978: 216 f.). 45 Diese ist der wichtigste Baustein des Funktionsprinzips. Garant für Publizität war lange Zeit, menschliche oder sachliche Ziele zu wählen, die nicht der eigenen Nation oder Kultur angehören. 46 Dieses bewusste und kalkulierte Überschreiten von Grenzen stellte einen – auch inhaltlich-gedanklichen – Normbruch dar, der zumindest in der Anfangszeit dieser Praxis das Potenzial zum Außergewöhnlichen und somit Sendenswerten hatte. Vor diesem Hintergrund ist nach Laqueur (1987: 97 f.) die für Terrorismus charakteristische Gewalt eine Provokation. Rainer Paris definiert Provokation als einen „absichtlichen herbeigeführten, überraschenden Normbruch, der den anderen in einen offenen Konflikt hineinziehen und zu einer Reaktion veranlassen soll, die ihn, zumal in den Augen Dritter, moralisch diskreditiert und entlarvt“ (Rainer Paris 1989, zitiert nach Waldmann 2001: 33).
Durch diesen gezielten Normbruch verweisen die Terroristen auf die Existenz einer vorherrschenden übergeordneten Moral, wodurch ihre Taten bei paralleler Diskreditierung staatlicher Maßnahmen Legitimation finden sollen (vgl. Waldmann 2001: 33).
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Waldmann verknüpft diese Dreiersequenz mit drei am Gesamtprozess beteiligten Akteuren: Die Gewaltakteure als Auslöser, die Opfer und schließlich die eigentlichen als Adressat gedachten Zielgruppen. Ein Beispiel für Medienwirksamkeit ist die Geiselnahme der OPEC-Minister 1975 in Wien. Die von dem damaligen Topterroristen Carlos geführten Geiselnehmer reklamierten für sich, im Sinne der palästinensischen Revolution zu handeln. Ihr auf einer schlechten Analyse der Zielgruppe beruhender Ansatz bestand darin, über den österreichischen Rundfunk den Text einer ideologischen Rede mit sprachlichen Anleihen der extremen Linken verlesen zu lassen. Die Aktion verpuffte. Laqueur bemerkt, die Erfolge einiger terroristischer Gruppen seien so oder so nur auf dem Sektor der Publizität zu finden. Zu diesen zählt er die deutsche und japanische RAF, aber auch die britische Angry Brigade. Den Anfang dieser Entwicklung markiert die Entführung einer El-Al-Maschine am 22. Juli 1968 durch die Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP), als drei Aktivisten der PFLP eine mit internationalen Fluggästen besetzte Passagiermaschine der staatlichen israelischen Luftlinie in ihre Gewalt brachten und so die israelische Regierung erstmals zu direkten Verhandlungen mit Terroristen zwangen. Vgl. erneut Laqueur (1978: 222) sowie Hoffman (2002: 85 f.).
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1 Hinführung und Begrifflichkeiten
1.2.2.2
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Symbolik
Zentrale Bedeutung bei der Erlangung von Publizität haben neben Normbrüchen auch und vor allem Symbole, 47 die zu identifizieren und zu interpretieren bei transkulturellen Konflikten oftmals nicht einfach ist (Witte 2005: 84 f.). Die dazugehörigen Eingangsfragen lauten: Besitzt der terroristische Akt überhaupt eine Symbolik? Wenn ja, stammt diese aus der Kultur des Angreifers oder des Angegriffenen? Oder – im für die Wirksamkeit des terroristischen Aktes anzunehmenden Idealfall – sogar aus beiden? Ein Beispiel aus der Geschichte des Terrorismus, welches das Spielen mit Symbolen verdeutlicht, findet sich im Jahr 1164 bei den Assassinen. Die Art der Selbstoffenbarung Hasans, eines Nachfolgers Hasan-i Sabbahs, als Stellvertreter, Gefährte und lebendiger Beweis des verborgenen Imams ist symbolhaft für die Abkehr vom traditionellen Islam. Bei einer Rede auf Burg Alamut positionierte er seine Rednerkanzel so, dass die herbeigerufene Bevölkerung den Rücken anstelle der Front nach Mekka richten musste. 48 Die gegenwärtig offensichtlichsten und bekanntesten Symbole, mit denen Terrorismus arbeitet(e), sind die Angriffsziele des 11. September. 49 Das World
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Nach Hegel ist für ein Symbol charakteristisch, dass es „in seiner Äußerlichkeit zugleich den Inhalt der Vorstellung in sich selbst befasst, die es erscheinen macht“ Hegel (1955: 314). Auch andere Funktionssysteme arbeiten mit Symbolen. In einem Prozess wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der vom 2006 im Irak getöteten Abu Mussab al Sarkawi geführten terroristischen Vereinigung al Tawid verhängte der Vorsitzende des Staatsschutzsenats, Ottmar Breidling, langjährige Haftstrafen gegen drei Palästinenser; ein Algerier wurde wegen seiner Unterstützung der von den Palästinensern geplanten Anschläge verurteilt. Anschlagsziele hätten das Jüdische Gemeindezentrum in Berlin sowie zwei gastronomische Betriebe, die nach Mutmaßungen der Angeklagten von jüdischen Eigentümern betrieben werden, sein sollen. Aufgrund des tiefen Vertrauensverhältnisses zwischen Abu Mussab al Sarkawi und dem Anführer der Gruppe habe. Ersterer nach Auffassung Breidlings symbolisch „mit auf der Anklagebank“ gesessen (Mielke 2005). Für Details zum Tod Sarkawis vgl. Mascolo/Stark/Zand (2006). Lewis (1989: 104 f.) schildert jenseits dieses rituellen Affronts noch weitere Aspekte der von Hasan proklamierten Abkehr vom traditionellen Islam wie den Abbruch des Fastens und öffentlichen Weingenuss. Bezeichnenderweise wurde Hasan aufgrund dieser Lehren von seinem Schwager erdolcht. Für eine Analyse der hinter dem 11. September stehenden Symbolik vgl. Witte (2005: 7583). Unabhängig von Witte ist auf die Bezeichnung „Ground Zero“ hinzuweisen, die sich für die Einsturzstelle des WTC eingebürgert hat. Ursprünglich war Ground Zero der Terminus für Flächen, auf denen Atombomben gezündet worden waren. So wird der Begriff zu einem eigenständigen Symbol, das zwar tatsächlich von einem Atombombenabwurf Betroffene (bzw. die Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki) als geschmacklos empfinden müssen, das aber auch auf die Dimension verweist, in der sich die US-amerikanische Gesellschaft durch 9/11 betroffen fühlte.
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Trade Center 50, das Pentagon und das (aufgrund des vorzeitigen Absturzes des entführten Flugzeuges nicht getroffene) Kapitol können als Symbole für den freien Handel, den Kapitalismus, die US-amerikanische Verteidigungsfähigkeit und vor allem als das Ende ihrer Unangreifbarkeit interpretiert werden (Röhrich 2005: 23 f.). Zusammengenommen repräsentieren die drei Anschlagsziele die drei Säulen der US-amerikanischen Hegemonie: Wirtschaft, Militär, Politik. 51 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ferner, dass auch Osama Bin Laden zu einem Symbol wurde – nicht nur für die westliche Welt, sondern auch und vor allem für seine Anhänger. 52 Publizität ist jedoch nur Mittel zum Zweck, da sie nur der Schaffung eines breiten Auditoriums dient, dem ein eigentliches Anliegen kommuniziert werden soll. Der Erfolg des Einsatzes terroristischer Gewalt als Kommunikationsmittel ist an verschiedene Voraussetzungen geknüpft. Dazu zählt nach Waldmann (2001: 35-38) unter anderem, dass die Botschaft von den jeweiligen Zielgruppen korrekt dechiffriert wird. Laqueur (1978: 222) betont die Notwendigkeit der Eindeutigkeit der Gewaltbotschaften (was wiederum von der Interpretation der Symbolik abhängt), aber auch die der Wahl des richtigen Zeitpunktes. Das Funktionsprinzip des Terrorismus lässt sich somit wie folgt zusammenfassen: Gewalt erzeugt das Interesse der Medien und somit der Öffentlichkeit für ein eigentliches Anliegen – oder zumindest bei den Medien die Bereitschaft, als Plattform für die Kommunikation desselben zu dienen. Über diese Plattform bieten sich nach Fuchs (2004) nach dem ultimativen Abbruch der Kommunikation durch einen Anschlag wiederum weitere Anknüpfungspunkte für Kommunikationen zwischen den einzelnen Funktionssystemen und auch innerhalb derselben. 53 Durch seine auf Beachtung abzielende Wirkungsweise befindet sich Terrorismus von vornherein in einer ausgesprochenen Win-winSituation. Gelingt ein Anschlag, ist mediale Publizität nahezu gesichert. Wird ein Anschlag vereitelt, hat dies zur Konsequenz, dass der vereitelte Anschlag und somit doch wieder Terrorismus zum Thema werden. Auch in diesem Fall ist von medialer Präsenz auszugehen – was dem Zweck des Terrorismus häufig 50 51
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Zur Wirkung, welche die Bilder der einstürzenden Türme noch fünf Jahre später zu entfalten vermögen, vgl. Rauterberg (2006). Lübbe (2004: 59) verweist des Weiteren auf den symbolischen Besuch George W. Bushs in einer Moschee kurz nach den Anschlägen, der zeigen sollte, dass die USA nicht den Islam an sich als Feind betrachteten. Dieses Beispiel ist geeignet, die allseitige Nutzung verschiedenster Symbole zu illustrieren. Für seine Anhänger oder zumindest die Feinde der USA ist Bin Laden „der Agent eines allgemeinen Willens, der nicht minder zur Abstraktion geronnen ist, ein Agent der Freiheit, die Verkörperung des Guten.“ (Kermani 2007: 37, Hervorhebung im Original). Japp (2003: 73) bezeichnet ein Attentat mit entgrenzter Wirkung als „abschließende Kommunikation.“
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ebenso dient wie Berichte über gelungene Anschläge (vgl. Fuchs 2004: 24). 54 Terrorismus profitiert ab einem gewissen Zeitpunkt – der als Publizitätsschwelle bezeichnet werden soll – von jeglichem in seinem Kontext erfolgenden sozialen Handeln, wobei keine Rolle spielt, wer es mit welchem Ergebnis unternimmt.
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Beispiele für die Publizität von Terrorismus trotz gescheiterter Anschläge sind der geplante Anschlag auf den Straßburger Weihnachtsmarkt im Dezember 2000 und die im Sommer 2006 in deutschen Zügen gefundenen Kofferbomben.
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2
Terrorismus – ein Neues Risiko?
Die in Kapitel 2 empirisch zu überprüfende Hypothese lautet: Terrorismus ist erst seit 9/11 ein Neues Risiko. Von der Hypothese, Terrorismus sei ein Neues Risiko, muss der Allgemeinfall eines Neuen Risikos anhand bestimmter Kriterien mit dem Spezialfall Terrorismus verglichen werden. Hierfür ist – auch um Terrorismus als Gegenstand soziologischer Risikoforschung etablieren zu können – zuvor eine grundlegende Frage zu beantworten. Stellt Terrorismus überhaupt ein Neues Risiko dar? Um diese Frage beantworten zu können, sind zunächst verschiedene andere Fragen zu stellen. Welche Kriterien muss Terrorismus erfüllen, um als Neues Risiko zu gelten? Die Kriterien, die dafür zu untersuchen sind, sind mögliche Entgrenzungserscheinungen und die Kompensierbarkeit seiner Schäden. Gesetzt den Fall, dass er in der derzeit dominanten Form die Kriterien erfüllt, ist aber zu fragen, seit wann dies zutrifft. 2.1
Entgrenzung und Kompensierbarkeit
Terrorismus hat in vier Dimensionen – zeitlich, sachlich, räumlich und sozial – entgrenzt zu sein und muss als unkompensierbar erscheinen, um als Neues Risiko gelten zu können. Im Folgenden werden die einzelnen Dimensionen sowie der Aspekt der Kompensierbarkeit näher definiert, um so die Voraussetzung für eine Untersuchung des historischen Entgrenzungspfades des Terrorismus zu schaffen. 2.1.1
Räumliche Dimension
Welche Prämissen müssen erfüllt sein, um Terrorismus räumliche Entgrenzung attestieren zu können? Die Prämissen hierfür sind vergleichsweise einfach zu identifizieren. Anschlagsziele, aber auch Rückzugs- wie Vorbereitungs- und Rekrutierungsgebiete dürfen nicht unter den damaligen Mobilitätsbedingungen auf eine bestimmte Region beschränkt sein, sondern müssen aus einem klar zu
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bestimmenden geographischen Umfeld ausbrechen.55 Ebenso ist eine unverhältnismäßig große Fläche, die von einem einzelnen Anschlag betroffen ist, ein hinreichendes, aber nicht notwendiges Kriterium für räumliche Entgrenzung. Ein solches Szenario ist vor allem beim Einsatz von ABC-Waffen zu erwarten, der freilich noch Entgrenzung in anderen als der rein räumlichen Dimension impliziert. Terrorismus ist also dann räumlich entgrenzt, wenn entweder seine Rekrutierungs-, Operations- oder auch Rückzugsgebiete nach den damaligen Maßstäben der Mobilität internationalisiert sind oder die von einem Anschlag betroffene Fläche unverhältnismäßig groß ist. 56 Daraus folgt, dass die Frage nach der räumlichen Entgrenzung in folgende Einzelfragen aufgeteilt werden kann: Ist die Fläche eines einzelnen Anschlags entgrenzt? Variieren die Rekrutierungs-, Operations- und Rückzugsgebiete? Wird eine oder gar beide dieser Fragen positiv beantwortet, so gilt die zu untersuchende Form von Terrorismus als räumlich entgrenzt. 2.1.2
Zeitliche Dimension
Wann ist die Wirkung von Terrorismus zeitlich entgrenzt? Wenn ein Anschlag oder eine terroristische Gruppe über einen besonders langen Zeitraum mediale Präsenz genießt? 57 Wenn sich Anschläge zeitlich nicht systematisieren lassen? Wenn verschiedene Anschläge besonders präzise zeitlich koordiniert sind und so wie ein einziger erscheinen? Wenn die Schadwirkung eines Attentats erst mit großer zeitlicher Verzögerung einsetzt oder sichtbar wird? Als Maßstab der zeitlichen Entgrenzung kann sowohl die Dauer der physischen Wirkung eines Anschlages angelegt werden als auch die der psychischen – die einen (wenn nicht sogar den wesentlichen) Aspekt des Phänomens Terrorismus darstellt (vgl. Waldmann 2003: 56-87). 58 Für diesen psychischen Effekt 55 56 57
58
Gerade dieser letzte Punkt – die unter Umständen sogar weltweite intensive Wahrnehmung – wird durch zeitliche Entgrenzung in Form eines Live-Berichts noch nachhaltig verstärkt. Zur Unterscheidung von Transnationalisierung und Internationalisierung vgl. Czempiel (2004: 75 f.). Die Frage, was denn als besonders langer Zeitraum gelten soll, lässt sich nicht allgemeingültig beantworten, vielmehr ist stets der politisch-gesellschaftlich-historische Kontext zu beachten. Die Unmöglichkeit, die Frage eindeutig und allgemeingültig zu beantworten, stellt eine Schwäche in der Analyse dar. Die Untersuchung zeitlicher Zusammenhänge besitzt in der Terrorismusforschung einen direkten praktischen Bezug. Die mit ihm konfrontierten Akteure, vor allem Politiker, denken und handeln in zeitlich eng begrenzten Dimensionen, die naturgemäß an die eigene soziale Rolle gekoppelt sind. Terrorismus jedoch kann es sich erlauben, sich im Rahmen einer
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2 Terrorismus – ein Neues Risiko
ist die Schadwirkung von eminenter Bedeutung. Hohe Opferzahlen oder auch eine besondere Symbolhaftigkeit des Anschlagszieles allein evozieren schon große Aufmerksamkeit, die dann zusätzlich durch die mediale Berichterstattung kontinuierlich hochgehalten werden kann, ein dauerhaftes Klima der Unsicherheit schafft und so, um mit Voigt zu sprechen, eine eigene „Konstruktion von Wirklichkeit“ (Voigt 1996: 327 f.) produziert. Voigt verweist im Zusammenhang mit der Rolle der Massenmedien auf die schon von Winfried Schulz (1990: 31-34) herausgearbeiteten wirklichkeitskonstruierenden Faktorendimensionen, 59 die als Selektionskriterien die Auswahl von Informationen lenken. Eine zeitliche Systematisierung zielt darauf, ein eventuelles Muster erkennen zu lassen. Ereigneten sich Anschläge zu bestimmten Tages- oder Nachtzeiten? An bestimmten Wochentagen? Zu bestimmten Feiertagen oder sonstigen Anlässen? Bei der Untersuchung verschiedener Formen von Terrorismus wird schnell deutlich, dass eine fehlende Systematik kein Kriterium für zeitliche Entgrenzung sein kann, da die Durchführung von Anschlägen bestimmte organisatorische Voraussetzungen mit sich bringt. Diese Voraussetzungen variieren fallweise, sodass zwangsläufig auch die Zeitpunkte der Anschläge variieren müssen (vgl. Lau 1989: 426). 60 Besteht man dennoch darauf, dass fehlende Systematik bei Anschlägen ein Kriterium für zeitliche Entgrenzung darstellt, wird man zu dem Schluss kommen, dass nahezu jede terroristische Gruppierung zeitliche Entgrenzung an den Tag legte, was seinerseits die Untersuchung der zeitlichen Entgrenzung ad absurdum führt, da sie kein Differenzierungskriterium mehr darstellt. Als zeitlich entgrenzt können terroristische Akte aber möglicherweise gelten, wenn sie eine besonders präzise zeitliche Koordination aufweisen. Dadurch, dass mehrere Anschläge zu ein und demselben Zeitpunkt verübt werden, lösen sich in der öffentlichen Wahrnehmung die Grenzen zwischen ihnen auf, sodass die verschiedenen einzelnen als ein großer Anschlag in Erinnerung bleiben. 61
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physischen und psychischen Ermattungsstrategie an Dekaden zu orientieren –deutlich langfristiger als die vier bis sechs Jahre währenden Legislaturperioden. Eine Planungsdifferenz in zeitlicher Perspektive ist unumgänglich, die es für die dem Terrorismus negativ gegenüberstehenden Akteure zu berücksichtigen gilt. Diese sechs Faktorendimensionen sind: Zeit, Nähe, Status, Dynamik, Valenz und Identifikation. Dennoch kann der Terrorist mit Prestigegewinn rechnen, wenn er sich zu bestimmten Zeiten an bestimmte Orte begibt. Ein klar umrissener Zeitpunkt, der über Prestigegewinn oder Lebensverlust entscheidet, im Umkehrschluss aber auch eine zeitliche Trennung von Sicherheit und Gefahr impliziert, ist somit ausschlaggebend für zusätzliches Prestige. Beispielhaft für besondere zeitliche Präzision sind die Anschläge von 9/11, Madrid, London und vom 24.08.2004, als Schwarze Witwen nahezu zeitgleich zwei russische Flugzeuge zum Absturz brachten. Zu letzterem Ereignis siehe Mayr (2004: 110).
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Zeitliche Entgrenzung liegt auch vor, wenn eine zeitliche Entkoppelung von Anschlag und Wirkung zu beobachten ist. Besagte zeitliche Entkoppelung von Anschlag und Wirkung lässt sich mit konventionellen Waffen allerdings kaum erzielen. Für sie ist der Einsatz atomarer, biologischer oder chemischer Kampfmittel notwendig. 62 Gewaltakte inneren Sinnzusammenhangs bedürfen einer regelmäßigen medialen Präsenz, um als Terrorismus wahrgenommen zu werden. Folglich kann die bloße Dauer, die eine Terrorismusart in den Medien präsent ist, nicht als Indikator zeitlicher Entgrenzung dienen. Dennoch kann auch die Berichterstattung über den Terrorismus in zweierlei Hinsicht zeitlich entgrenzt sein: sowohl in Verzug wie in Verzugslosigkeit. Ein entgrenzter Verzug wäre bei einer fehlenden Berichterstattung – zum Beispiel aufgrund globaler (Selbst-)Zensur – zu beobachten. Das exakte Gegenteil hiervon ist eine absolute Verzugslosigkeit in Gestalt der Live-Berichterstattung, bei der sämtliche zeitlichen Barrieren aufgelöst werden. 63 Zusammengefasst ergeben sich somit folgende Aspekte als Indikatoren für zeitliche Entgrenzung: Dauer der Wirkung, Verzug der Berichterstattung, besondere Koordination und die zeitliche Entkoppelung von Anschlag und Wirkung. Dadurch kann die Frage nach der zeitlichen Entgrenzung umformuliert werden. Die Fragen lauten jetzt: Wirken terroristische Akte unverhältnismäßig lang? Verläuft die Berichterstattung besonders schnell oder nur extrem zeitverzögert? Sind die einzelnen Anschläge zeitlich besonders präzise koordiniert gewesen? Zeigt sich die Wirkung von Anschlägen erst, wenn derselbe schon in Vergessenheit geraten ist? Wird eine oder gar mehrere dieser Fragen bejaht, so soll die zu untersuchende Form von Terrorismus als zeitlich entgrenzt gelten. 2.1.3
Sachliche Dimension
Unter welchen Voraussetzungen soll Terrorismus als sachlich entgrenzt gelten? Wenn scheinbar willkürlich die verschiedensten Objekte zu potenziellen Anschlagszielen werden und so jegliche Berechenbarkeit verloren geht? Wenn die 62 63
Thränert (2006: 33 f.) nennt das Ausbringen biologischer Kampfstoffe als größtes Problem beim Einsatz derselben. Zur Möglichkeit eines Einsatzes von B-Waffen durch Terroristen vgl. ferner Simon (2006), aber auch Langbein/Skalnik/Smolek (2002: 139-162). Zu den Auswirkungen von Live-Berichterstattung auf politische Entscheidungsprozesse vgl. Hoffman (2002: 200-208). Problematisch ist in beiden Fällen jedoch, dass Terrorismus auf sie nur mittelbaren Einfluss hat. Es kann durchaus hinterfragt werden, ob diese Form der zeitlichen Entgrenzung nicht eher den Medien als dem Terrorismus zugerechnet werden muss.
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verschiedensten Angriffsmittel eingesetzt werden? Wenn gezielt gesellschaftliche Konventionen und Werte gebrochen werden? Terrorismus kann sachlich entgrenzt sein, indem die verschiedensten Dinge zu Waffen werden. Im Falle des 11. September nutzten die Attentäter Teppichmesser und Flugzeuge als Angriffsmittel – beides Mittel, die jenseits des damals üblichen terroristischen Instrumentariums anzusiedeln sind. Dies gilt derzeit für den Einsatz von ABCWaffen, der aktuell ebenfalls als noch nicht unmittelbar bevorstehend gewertet wird und im Falle seiner Anwendung die sachliche Grenze – rein instrumentell wie auch moralisch – erneut verschieben würde. Folglich kann man von einer sachlichen Entgrenzung dann sprechen, wenn entweder Angriffsziele oder Angriffsmittel bestehende Muster durchbrechen. Auch das gezielte Überschreiten von Grenzen, das Brechen von Tabus, stellt eine Form der Entgrenzung dar, da bestehende Werte und Normen mindestens gedehnt, wenn nicht gar zerrissen und an ihrer Stelle neue etabliert werden. Dieses Brechen von alten und Setzen neuer Werte und Normen stellt das Verschieben einer bestehenden zugunsten des Setzens neuer Grenzen dar. Dies ist jedoch integrale Folge der Funktionsweise von Terrorismus an sich, die ja auf die mit Normbrüchen einhergehende Öffentlichkeit abzielt. Daher ist eine mögliche Erschütterung eines bestehenden Normengefüges kein ausreichender Indikator für sachliche Entgrenzung. Sachlich entgrenzt ist ein terroristischer Akt aber, wenn er sich fortwährend auf nicht in bisherige Strukturen passende Objekte (nicht: Subjekte) ausrichtet und somit die strukturelle Homogenität durchbricht. Strukturelle Homogenität liegt dann vor, wenn eine bestimmte Form von Terrorismus ihre Aktionen auf immer dieselben Arten von Objekten konzentriert. 64 Indikatoren für sachliche Entgrenzung finden sich somit bei den Angriffzielen und -mitteln, sodass die im Zusammenhang mit der sachlichen Entgrenzung zu stellenden Fragen lauten müssen: Durchbricht eine bestimmte Form von Terrorismus bestehende Muster hinsichtlich der Angriffsziele? Setzt er Angriffsmittel und Methoden ein, die als außergewöhnlich anzusehen sind? Wird wenigstens eine der beiden Fragen mit „ja“ beantwortet, macht dies Terrorismus zu einem sachlich entgrenzten Phänomen.
64
Unter Objekten sind Gebäude, Autos, Flugzeuge, Schiffe, Busse oder Züge zu verstehen, während der Begriff der Subjekte sich auch Menschen bezieht.
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2.1.4
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Soziale Dimension
Soziale Entgrenzung bezeichnet Waldmann (2001: 49) als „Entpersönlichung“. Entpersönlichung könnte dann vorliegen, wenn die reine Kopfzahl der Mitglieder einer terroristischen Gruppierung besonders groß ist. Da sich diese Kopfzahlen meist nur an Schätzungen orientieren, ist dies kein belastbarer Indikator für soziale Entgrenzung. 65 Der Terminus soziale Entgrenztheit geht jedoch über die rein quantitative Komponente deutlich hinaus. Er umfasst Schicht, Geschlecht, Nationalität, politische Orientierung und Glauben sowohl der Organisationsmitglieder und Sympathisanten als auch der Opfer und Adressaten. 66 Im Falle der Täter besteht für zuverlässige Aussagen über die soziale Struktur ein grundlegendes Problem. Zuverlässige Aussagen lassen sich nur bei ausreichend großen Gruppen erheben. Dies setzt zweierlei voraus – erstens eine entsprechende Größe, zweitens eine praktikable Methode zur Datenerhebung (vgl. Laqueur 1987: 108). Häufig ist jedoch grundsätzlich von einer starken Repräsentanz lokaler Minoritäten auszugehen. 67 Ein Abrücken von diesem Ausgangspunkt – weg von einer geringen, hin zu einer hohen Majoritätsquote – könnte ebenfalls als Indiz einer Entgrenzung gelten. Vor allem aber erstreckt sich die soziale Dimension auf die Opfer des Terrorismus (Laqueur 1987: 96), bei deren Zusammensetzung einige der Vergleichskriterien besonders zu betrachten sind. Nationalität, Alter, Religion, politische Gesinnung oder auch Schicht lassen eine Gesamtheit von Zielen nicht gänzlich diffus erscheinen. Es wird deutlich, dass sich soziale Entgrenzung bei Terrorismus in verschiedener Weise manifestiert und durch die Frage nach Homo- oder Heterogenität der Merkmale Nationalität, Alter, Religion, politische Gesinnung oder Schicht von Terroristen und Opfern beantwortet werden kann. Es gilt: Wenn ein Merkmal Heterogenität aufweist, so soll die jeweilige Form des Terrorismus als sozial entgrenzt gewertet werden. 65
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Dies zeigt sich bei Withof (2004: 46 f.). Withof differenziert die Assassinen in drei Klassen: die Untertanen, die Armee und die Leibwache bzw. Garde, welche die eigentlichen Attentäter stellte. Da Withof von den Assassinen als einem weltlichen Reich spricht, ist auch die Zahl von sechzig- bis siebzigtausend Soldaten nicht so unrealistisch, wie es für eine terroristische Gruppierung auf den ersten Blick erscheint. Trotz allem dürfte die Schätzung die Realität übertreffen, denn Withof stützt sich einerseits auf den Zeitzeugen Wilhelm Tyrius (der sich von den Assassinen bedroht fühlte und von anderen Autoren Wilhelm von Tyros genannt wird) und auf einen Alten vom Berge (der ein Bedrohungsszenar aufbauen wollte), welchen er weder namentlich nennt noch exakt datiert. Aussagen hierüber benötigen eine solide empirische Basis, die aber nahezu ausschließlich über die Massenmedien gewonnen werden kann (Japp 2003: 58). Dass dies nicht bei allen Gruppen oder allgemeinen Arten des Terrorismus der Fall ist, beweist schon der Blick auf den sozialrevolutionären Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Vgl. Laqueur (1987: 105).
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2 Terrorismus – ein Neues Risiko
44 2.1.5
Kompensierbarkeit
Das letzte Kriterium, das Terrorismus zu erfüllen hat, wenn er als Neues Risiko gelten soll, ist, nicht mehr kompensierbar zu sein. Dies bedeutet nichts anderes, als dass der durch ihn entstandene Schaden nicht wiedergutgemacht werden kann – weder durch finanzielle Entschädigungen noch durch soziale Aufmerksamkeit. Während soziale Aufmerksamkeit vor allem dann notwendig wird, wenn Personenschäden anfallen, so erstreckt sich der Bereich der monetären Kompensation auch und vor allem auf Sachschäden. Ist Terrorismus also dann nicht kompensierbar, wenn Personenschäden so gravierend sind, dass auch bestehende soziale Bindungen diese über einen gewissen Zeitraum nicht zu nivellieren vermögen? 68 Worin unterscheidet sich dann aber ein durch Terrorismus entstandener Todesfall von einem herkömmlichen Unglück? Einen nahestehenden Menschen zu verlieren stellt immer eine emotionale Ausnahmesituation dar, welche kaum verallgemeinert werden kann. 69 Dies legt nahe, die emotional-soziale Komponente an dieser Stelle auszuklammern, da ihre weitere Verwendung einer Operationalisierung bedarf, welche die vorliegende Arbeit zu weit vom eigentlichen –soziologischen – Erkenntnisgegenstand wegführt. Verlässt man diese individuelle Ebene der Schadwahrnehmung zugunsten der gesellschaftlichen, so kann man dann von fehlender Kompensierbarkeit sprechen, wenn Terrorismus bleibende, beispielsweise traumatische, Schäden für die Gesellschaft hinterlässt. Hat Terrorismus eine Gesellschaft nachhaltig traumatisiert? Auch diese Fragestellung wirft neue Schwierigkeiten hinsichtlich der Operationalisierbarkeit auf. Unter welchen Bedingungen darf eine Gesellschaft als traumatisiert bezeichnet werden? Wie kann gemessen werden, ob ein Trauma durch Terrorismus oder eventuell doch durch etwas anderes entstanden ist? Einer Verwendung dieses Aspektes steht in Zusammenhang mit dem notwendigen Aufwand bei der Operationalisierung das Ziel vorliegender Arbeit entgegen. Daher muss sich die Frage nach der Kompensierbarkeit von Terroris-
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Die Probleme emotionaler Kompensierbarkeit schildern Günzel/Datt (2006) anhand der Reaktion Hinterbliebener von bei Attentaten in Afghanistan zu Tode gekommenen Bundeswehrsoldaten. Folgt man Verena Kast (2006), so unterschiedet die Psychologie vier verschiedene Phasen, die bei der Bewältigung von Trauer durchlaufen werden: Nicht-Wahrhaben-Wollen (1), Aufbrechende Emotionen (2), Suchen, Finden, Sich-Trennen (3) und neuer Selbst- und Weltbezug (4). Auch die systematische Theologie (Spiegel 1973) identifiziert vier Phasen: Schockphase (1), kontrollierte Phase (2), Phase der Regression (3) und die Phase der Anpassung (4).
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2 Terrorismus – ein Neues Risiko
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mus auf die Komponente der monetären Kompensierbarkeit konzentrieren. 70 In einer gewissen Weise sind nicht nur Sach-, sondern auch Personenschäden zumindest begrenzt kompensierbar. Personenschäden werden kompensierbar, indem unterschiedlichen Verletzungen unterschiedliche Geldsummen zugeordnet werden, die im Fall eines durch einen externen Akteur – einen Terroristen – verursachten Schadens durch einen weiteren externen Akteur – einen Versicherer – zur Auszahlung kommen. Dies bedeutet für die anliegende Frage, unter welchen Bedingungen Terrorismus als nicht mehr kompensierbar gilt, dass sie umzuformulieren ist. Die neue Frage lautet: Können die durch ihn verursachten Schäden durch finanzielle Aufwendungen nivelliert werden? Unbeantwortet ist die Frage nach der Verantwortlichkeit und somit die Frage nach demjenigen, der für potenzielle Schäden Haftungsträger sein kann (vgl. Mason 2005). Ist es der einzelne Terrorist, die hinter ihm stehende terroristische Organisation, ein potenzieller, Terrorismus fördernder staatlicher Akteur? Oder soll prinzipiell das Opfer, da es Terrorismus als Gegenbewegung erst ausgelöst hat, für Schäden (auch an ihm selbst!) haften? Die Überlegung, den Täter im Falle seiner Ergreifung haften zu lassen, ist Ausdruck des Verantwortungsprinzips. Dies ist aus mehreren Gründen problematisch. Der oder die Täter können unbekannt bleiben, dabei umkommen oder finanziell schlichtweg nicht in der Lage sein, für die Schäden aufzukommen. Also bleibt nur, die Kompensierbarkeit in Anlehnung an moderne Kompensationsprinzipien zu untersuchen, sodass Terrorismus dann nicht mehr kompensierbar sein soll, wenn seine Schäden durch eine spezifische Solidargemeinschaft potenziell nicht mehr bezahlbar sind. 71 70
71
Dies ist im weiteren Sinne nichts anderes als die Versicherbarkeit eines Risikos. Die Versicherbarkeit ist nach Beck das entscheidende Kriterium zur Messung von Risiken. Dem ist nur bedingt zuzustimmen. Oftmals sind Risiken nicht versicherbar gewesen – waren aber dennoch nicht das, was unter einem Neuen Risiko zu verstehen ist. Ein einfaches Beispiel ist die Jagd auf Löwen oder Nilpferde im Alten Ägypten. Sie war risikohaftes Handeln, unterlag also dem individuellen Willen eines Handelnden, der sich einen subjektiven Nutzen davon erhoffte, und war räumlich, sachlich, sozial und auch zeitlich begrenzt. Die Jagd barg die Gefahr, selbst Schaden zu erleiden – wofür aber keine (finanzielle) Kompensation zu erwarten und daher keine Versicherbarkeit zu attestieren war. Somit erfüllt die Jagd im Altertum zwar das Kriterium der Nicht-Versicherbarkeit, stellt aber keineswegs ein Neues Risiko dar. Zur Beck’schen These von der Versicherbarkeit als Kriterium zur Messung von Risiken vgl. ebenfalls kritisch Ericson/Doyle (2004). Ein expliziter Verweis auf die Versicherbarkeit – die als Prinzip zum Umgang mit Terrorismus ebenfalls noch zum Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit wird – muss an dieser Stelle unterbleiben, da das Versicherungswesen mitsamt seiner Vorläufer erst nach dem Jahr 1200 entstand, Terrorismus aber schon früher beobachtet werden konnte. Die Frage nach der Versicherbarkeit dieser Formen von Terrorismus zu stellen impliziert, dass allein deshalb fehlende Kompensierbarkeit attestiert werden müsste, weil es zu diesem Zeitpunkt
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2 Terrorismus – ein Neues Risiko
46 2.2
Entgrenzungspfad
Die Fragen, die in diesem Kapitel im Wesentlichen zu klären sind, lauten: Ist Terrorismus ein Neues Risiko? Wenn er eines darstellt, seit wann? Dazu wird eine Klassifizierung notwendig, um einzelne Phasen und Formen des Terrorismus zusammenfassen und analysieren zu können. Eine derartige Klassifizierung bietet Waldmann, der einzelne Phasen und Gruppierung ähnlich wie Walter Laqueur zusammenfasst. Deren Systematik wird jedoch sehr detailliert, was zu allzu spezifischen Ergebnissen der Analyse führen muss. Stattdessen orientiert sich vorliegende Arbeit an der Wellenklassifizierung Rapoports (2006 e), jedoch nicht ohne dieselbe um eine vorwegzuschaltende Form des Terrorismus zu ergänzen. Rapoports ausschließlich auf den modernen Terrorismus ausgerichtete Systematik unterschlägt jedoch zwei für die Entwicklung des Terrorismus wesentliche Gruppierungen, die unter dem Oberbegriff Vormoderner Terrorismus zu subsumieren sind. Dies sind die Sikarier und die Assassinen. Diese werden vorweg aufgrund der großen zeitlichen Differenz zwischen den Bewegungen innerhalb eines jeden Kriteriums in eben dieser Reihenfolge getrennt untersucht, aber um die Vergleichbarkeit mit den Rapoport’schen Wellen zu gewährleisten, zusammengefasst bewertet. 2.2.1
Vormoderner Terrorismus
2.2.1.1
Vorbemerkungen
Vereinzelt werden das Treiben von Seeräubern im Mittelmeerraum des 1. Jahrhundert v. Chr., die Entführung Gaius Julius Cäsars und seine Freilassung gegen Lösegeld (vgl. Horx 2006: 213 f.), aber auch Tyrannenmord als frühe Formen von Terrorismus bezeichnet (vgl. Waldmann 2001: 40 f., Laqueur 1978 a). Da diese aber nicht der in vorliegender Arbeit gebräuchlichen Definition von Terrorismus genügen, 72 werden sie nicht weiter zum Gegenstand der Untersuchung.
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noch keine Versicherungen gab – wohl aber andere, theoretisch denkbare Möglichkeiten, einen finanziellen Schadausgleich herbeizuführen. Nach vorliegender Definition erfordert terroristisches Handeln als wesentliches Kennzeichen die politische Dimension. Da bei der Entführung Cäsars aber vorwiegend ökonomische Interessen im Vordergrund standen, erinnert sie eher an „gewöhnliche“ Kriminalität. Der Tyrannenmord ist zwar häufig durchaus mit politischen Motiven zu assoziieren, jedoch
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Stattdessen soll die Untersuchung bei den im 1. Jh. n. Chr. aktiven Sikariern 73 und den von etwa 1090-1271 aktiven Assassinen (vgl. Berkewitz 2002 sowie Daftary 1994) beginnen, die beide nach der hier angewandten Definition Terrorismus darstellen. 74 Zwar spricht Flavius Josephus als „Teilnehmer und Chronist der Ereignisse im Judäischen Krieg auf beiden Frontseiten“ (Eichler 2003: 7) den Sikariern politische Motive ab, 75 was sich aber nach Eichler (2003) aus den persönlichen Motiven 76 des Josephus erklärt, 77 der sie in seiner „Geschichte des Judäischen Krieges“ wie folgt einführt:
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77
ist die ihm innewohnende politische Kritik mehr an das Fehlverhalten einer Person statt der Repressivität oder Ähnlichem eines Systems gebunden. Die Bewegung der Sikarier hatte ihre Kernzeit von 67-70 n. Chr., dauerte rund 25 Jahre an und endete mit ihrem Massenselbstmord beim Fall der Festung Massada. Vgl. Josephus (2003: 499 f., VII 9 und 10,1) sowie Rapoport (1984). Withofs (2004: 141 f.) Datierung der Assassinen setzt bereits 760 n. Chr. an, während Lewis (1989: 132) vom Beginn des Regimes des Hasan-i Sabbah bis zur Eroberung der Stadt Girdkuh durch die Mongolen 1270 misst. „Auch jetzt hatten sich die Sikarier gegen alle verschworen, die sich den Römern fügen wollten, und behandelten sie in jeder Beziehung als Feinde, indem sie ihnen die Habe raubten und die Häuser in Brand steckten. Sie stellten diese Judäer den Fremden gleich, da sie die so heiß umstrittene Freiheit verraten und eingestandenermaßen die römische Knechtschaft erwählt hätten. Solche Reden waren aber nur der Deckmantel, hinter dem sie ihre Grausamkeit und Habgier zu verbergen suchten“ (Josephus 2003: VII 8,1, S. 487). Laqueur (1987: 21) widerspricht der Interpretation, die Sikarier seien schlicht Räuber (listai) gewesen. Er merkt an, dass folgende für die Sikarier zutreffende Punkte für normale Räuber untypisch seien: Erstens die von Flavius Josephus zugegebenen bei den Sikariern verbreiteten religiösen Wahnvorstellungen; zweitens der Hang zum Martyrium; drittens die Vorstellung, ein Sieg über die amoralischen herrschenden Eliten Palästinas könne das Vertreiben der römischen Besatzungsmacht und eine Annäherung an Gott evozieren. Laqueur erklärt weiterhin, auch Josephus konstatiere, dass religiöse Wahnvorstellungen bei den Sikariern zu beobachten waren – obwohl jener in römischen Diensten stand und seine Aussagen über eine dezidiert antirömisch geprägte Gruppierung mit Vorsicht zu genießen sind. Es ist zu vermuten, dass diese Aussagen nicht objektiv deskriptiv, sondern vielmehr subjektiv wertend sind, dass also Flavius Josephus’ individuelle, durch sein soziales Umfeld geprägte, Wahrnehmung auch in der Berichterstattung Ausdruck fand. Jedoch können für eine Analyse der zeitlichen, räumlichen, sozialen und sachlichen Grenzen verschiedene Elemente seiner Ausführungen – freilich nicht unreflektiert – genutzt werden. Diese beinhalten die Charakterisierung der Sikarier als Verbrecher neuen Typs, die sich eine bestimmte Zielgruppe als Opfer aussuchten und für ihre Taten bestimmte Orte, Zeitpunkte und Waffen bevorzugten. Flavius Josephus (37-100 n. Chr.) hatte selbst aufseiten der Juden am Kampf gegen die römische Kolonialmacht teilgenommen, war aber in der Schlacht um die Festung Jopata in römische Gefangenschaft geraten, wobei er sich dem Entschluss der jüdischen Verteidiger, kollektiven Selbstmord der Gefangennahme vorzuziehen, durch eine Täuschung entzog. Er vollzog den Frontenwechsel so vollendet, dass er hoch in der Gunst Vespasians stieg und dessen Nachfolger Titus die Veröffentlichung der „Geschichte des Judäischen Krieges“, in der Josephus neben einer Darstellung der Geschichte seines Volkes auch und vor allem sein eigenes Handeln rechtfertigt, als offizielles Geschichtswerk anordnete. Eichler charakteri-
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„Nachdem das Land auf diese Weise gesäubert war, machte sich in Jerusalem eine andere Art von Räubern bemerklich, die man Sikarier (…) nannte. Sie begingen am hellen Tage und mitten in der Stadt Morde, mischten sich besonders an Festtagen unter das Volk und erstachen ihre Gegner mit kleinen Dolchen, die sie unter ihrer Kleidung versteckt trugen. Stürzten ihre Opfer zu Boden, so beteiligten sich die Mörder an den Kundgebungen des Unwillens und waren durch dieses unbefangene Benehmen gar nicht zu fassen“ (Josephus 2003: II 13,3, S. 177).
Die politische Absicht der den Zeloten 78 nahestehenden Sikarier bestand nach Rapoport (1984: 669) in der Entfesselung eines Massenaufstandes gegen die Römer, aber auch gegen den zahlenmäßig starken griechischen Bevölkerungsanteil. 79 Fortwährende Anschläge sollten Repressalien hervorrufen, die einerseits das Leben unter der Besatzung unerträglich, andererseits eine erneute politische Annäherung zwischen den Parteien unmöglich machen sollten. 80 Die Basis der vorliegenden Untersuchung über Assassinen, die von Hasan-i Sabbah gegründet wurden und deren Anführer den Titel eines „Alten vom Berge“ trug, bildet aufgrund der überzeugenden Quellenarbeit das Werk Lewis (1989). 81
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siert den Seitenwechsel mit folgenden Worten: „Sein Selbsterhaltungstrieb siegt über die Solidarität zu seinen Landsleuten“ (Eichler 2003: 8). Eine positive Darstellung der Sikarier wäre den eigenen und den Zielen Roms zuwidergelaufen, sodass Josephus deren Aktivitäten zwar erwähnen, gleichzeitig jedoch diskreditieren musste. Aus diesen Gründen ist nicht nur von einer ökonomisch-subsistenziellen, sondern vielmehr einer tatsächlich politischen Motivation der Sikarier auszugehen, was ihre Aktivitäten der in der vorliegenden Arbeit gebräuchlichen Definition von Terrorismus genügen lässt. Hingegen hätte das vollständige Fehlen jeglicher Erwähnung einer wie auch immer gearteten politischen Dimension auf deren tatsächliches Nichtvorhandensein verweisen können. Der Name Zeloten leitet sich aus dem griechischen Wort zelos, Eifer, ab. Die messianische Erwartungen tragenden Zeloten negierten weltliche und staatliche Autorität entschieden. Sie akzeptierten keinen Herrscher außer Gott – somit auch keine römischen Steuereintreiber. Dies verweist auf eine Wahrnehmung der Situation in Palästina in einem Schwarz-WeißSchema (Freiheit vs. Knechtschaft) (vgl. Eichler 2003: 13). Rapoport betont die Symbolkraft, die der Aufstand der Sikarier trotz seines Misserfolges auf die jüdische Bevölkerung ausübte. Laqueur (1987: 20 f.) nennt drei unterschiedliche Lesarten zu den Motivationsgründen der Sikarier. Einerseits wird kolportiert, für die Sikarier hätte die Vierte Philosophie doktrinären Charakter, der zufolge Gott allein als Herrscher angesehen und den Priestern jegliche Mittlerrolle abgesprochen wird. Andererseits gibt es die Lesart der Sikarier als soziale Protestbewegung, welche die Armen gegen die Reichen aufzuwiegeln suchte. Lewis wiederum äußert sich positiv über Silvestre de Sacys Mémoire sur la Dynastie des Assassins. Etymologisch stammt „Assassine“ vom persischen Ausdruck haschisch. Die Bedeutung dieses Ausdrucks ist im Arabischen Kraut, was sich später auf die Cannabis sativa mitsamt ihrer narkotischen Wirkung verengte. Lewis nimmt an, dass die Vorwürfe, die Assassinen seien drogenabhängig gewesen, haltlos sind, zumal weder ismaelitische noch seriöse sunnitische Quellen davon zeugen. Vielmehr geht er davon aus, bei dem Ausdruck handele es sich um eine populäre syrische Beschimpfung. Der Terminus Assassinen war nur dort für die Anhänger Nizari Hasan-i Sabbahs und der von ihm propagierten Neuen Verkündung gebräuchlich, während sie ansonsten sie unter der Bezeichnung Isma’ilijja bekannt
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Sie selbst sahen sich als Vorreiter im Kampf für den wahren – schiitischen – Islam, wobei sie Todesbereitschaft als Ausdruck für Glaubensstärke instrumentalisierten. Bei den Ismaeliten galten sie als „die Elitetruppe im Krieg gegen die Feinde des Imams“ (Lewis 1989: 75), wurden aber von ihren Feinden als „Bande irrlichternder Fanatiker und Mörder“ (Reuter 2002: 43) bezeichnet. 82 Mittelalterliche, christliche Darstellungen der Assassinen stützen sich im Wesentlichen auf sunnitische Schmäh- und Auftragsschriften von Autoren wie Ibn Rizam und Achu Musin, die den Assassinen vorwerfen, Haschisch, Wein, Schweinefleisch und Menschenblut konsumiert und inzestuöse Beziehungen unterhalten zu haben. 83 In diesen tendenziösen Darstellungen werden den Assassinen – ähnlich wie den Sikariern durch Josephus – politische Motive zu Unrecht abgesprochen. 84 Lewis (1989: 188 f.) fasst die Bedeutung der Assassinen in vier Punkten zusammen. Erstens, sie stellten eine massive Bedrohung der bestehenden Ordnung dar. Zweitens, die Assassinen waren nur eine in einer langen Reihe messianischer Bewegungen. Drittens, Hasan-i Sabbah vermochte aus Sehnsüchten, Glaubensüberzeugungen und Wut eine Ideologie mit Potenzial zur Massenmo-
82 83 84
waren. Nizar, ältester Sohn des in Kairo herrschenden fatimidischen Kalifen al-Mustansir, von jenem als Nachfolger bestimmt und bei den Ismaeliten akzeptiert, wurde nach dem Tod des Kalifen 1094 von al-Afdal ausgebootet. Letzter wurde von den Assassinen, die wiederum Anhänger Nizars waren, 1121 ermordet. Zur Vereinfachung wird in vorliegender Arbeit auf diese Differenzierung verzichtet und ausschließlich der Begriff Assassinen verwandt, da dies hinsichtlich der vorliegenden Fragestellung nach der Be- oder Entgrenzung ihrer Aktivitäten nicht zu inakzeptabler Unschärfe führt. Ein anderer zeitgenössischer Name der Assassinen war Batini, Männer des Geheimnisses. Vgl. Daftary (1994) sowie Reuter (2002: 41, 44 u. 412, Anm. 10). Lewis (1989: 18-24) nennt Marco Polo, Arnold von Lübeck, Benjamin von Tudela und Denis Lebey de Batilly. Auch Withof (2004: bes. 63 f.) liefert eine dieser tendenziösen Darstellungen. Er nennt erfahrene Beleidigungen, Argwohn, Freundschaft und Habsucht als Motive. In derselben Perspektive vgl. Brocardus (1906: 496 f.). Einen Auszug Brocardus’ bietet Lewis (1989: 15 f.). Brocardus, ein deutscher Kleriker, der in Armenien gelebt hat, schildert 1332 in einem Brief an König Philipp VI. von Frankreich die Assassinen als besonders geschickte und gefährliche gedungene Mörder. In diesen Darstellungen erscheinen die Assassinen eher als ein von der Mafia gegründeter Staat denn als eine dem Terrorismus zuzuordnende Gruppe. Zu einer gegensätzlichen Auffassung vgl. Lewis (1989: 93 f.). In ihrem Bestreben, in ihrem Herrschaftsbereich den Ismailismus zu etablieren und diesen als eigenständige und wahre Form des Islams zu präsentieren, stehen sie sehr wohl für eine bestimmte Doktrin. Dieser Doktrin zufolge ist der Ursprung aller Unterweisung der nur von Gott einsetzbare Imam als Bewahrer der Wahrheit. Die assassinische Version des Ismaelitentums war die von Hasan-i Sabbah begründete Neue Verkündung, im Rahmen derer er selbst sich als Repräsentant des Imams und nach dem Verschwinden des Imams Nizar als Brücke zwischen den Imamen der Vergangenheit und denen der Zukunft einordnete.
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bilisierung zu entwickeln. 85 Viertens, die Bewegung der Assassinen ist vollständig gescheitert, da sie die bestehende Ordnung nicht stürzen und dem erwarteten Imam den ihm zustehenden Platz darin bieten konnten. An diese Vorbemerkungen zu den Sikariern und Assassinen knüpft nun die Untersuchung derselben auf Entgrenzungserscheinungen und Kompensierbarkeit an. Hinsichtlich des jeweiligen Kriteriums soll der vormoderne Terrorismus als entgrenzt gelten, wenn eine der beiden Gruppen in dieser speziellen Dimension entgrenzt ist. 2.2.1.2
Räumliche Dimension
Die Entgrenzung der Fläche eines einzelnen Anschlags wurde als hinreichendes, aber nicht notwendiges Kriterium für räumliche Entgrenzung identifiziert. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass diese Form der Entgrenzung nach heutigem Wissen nur durch den Einsatz von ABC-Waffen erreicht werden kann. Diese Art von Kampfmitteln stand weder den Sikariern noch den Assassinen zur Verfügung, weshalb räumliche Entgrenzung aufgrund eines einzelnen Anschlags bei beiden Gruppen nicht attestiert werden kann. Die andere Möglichkeit, als räumlich entgrenzt zu gelten, ist eine an damaligen Mobilitätsstandards zu messende Entgrenzung der Rekrutierungs-, Operations- und Rückzugsgebiete. Josephus (2003: IV 7,2, S. 328 f.) berichtet, dass die Sikarier ihre Aktionen bis zum Fall Masadas auf die Städte Judäas, besonders auf Jerusalem, konzentrierten. Nach dem Fall Masadas flohen die Sikarier in andere Teile des Mittelmeerraums, so zum Beispiel nach Kyrene und Ägypten (VII 10,1, S. 501-504). Sie setzten sich also aus ihren Stammlanden ab, um in anderen Regionen den Kampf gegen das Imperium Romanum weiterzuführen. Dies soll – an den damaligen Standards der Mobilität gemessen – als hinreichend gelten, um den Terrorismus der Sikarier als räumlich entgrenzt zu werten. Waren die Rückzugs- und Operationsgebiete der Assassinen für die damalige Zeit internationalisiert? Die Assassinen traten in Persien, Syrien, Georgien
85
Gerade dieser dritte Punkt erinnert an Osama bin Laden und seine Al Qaida. Bemerkenswert sind die theokratisch-semistaatlichen Strukturen, welche die Assassinen südlich des Kaspischen Meeres entwickelten und die den Rückgriff auf die Bevölkerung als Machtmittel ermöglichten. Dieses Machtmittel galt es jedoch auch zu disziplinieren. Lewis (1989: 103) berichtet, wie einer der Nachfolger Hasan-i Sabbahs, Muhammad, auf der Burg Alamut 250 Menschen töten ließ, die der Häresie verdächtig waren. Ihre Leichen ließ er auf die Rücken von 250 weiteren, desselben Vergehens angeklagten, binden. Dies ist einer der seltenen Fälle, in denen eine nicht-staatliche – terroristische – Organisation das staatliche Instrument des Terrors in großem Maßstab praktizierte.
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und dem heutigen Afghanistan auf (vgl. Laqueur 1987: 21). 86 Ihr Rückzugsund Rekrutierungsgebiet hatte seinen Kern im Elbursgebirge im heutigen Nordiran. 87 Im Allgemeinen konzentrierten sie sich auf ländlich-gebirgige Gegenden, in denen religiöse Devianz eine gewisse Tradition hatte und es ihnen erlaubte, leichter Fuß zu fassen (Lewis 1989: 183). Das Operationsgebiet der Assassinen erstreckte sich von der ersten assassinischen Mordstätte in Sahna im Distrikt Nihawand über Tyros bis ins ägyptische Kairo (Lewis 1989: 74 f., 90 f.), sodass Withof nicht gänzlich zu übertreiben scheint, wenn er konstatiert, dass man sich „in Asien zuletzt aller Orten und alle Augenblicke des Todes versehen musste“ (Withof 2004: 72 f.) und die „Furcht für diese gefährlichen Leute […] sogar in der Ferne weit um sich herum“ (Withof 2004: 62) griff. Spekulationen, die Assassinen seien möglicherweise auch in Europa aktiv gewesen, gab es zuhauf. 88 Diese stammten indes aus eben den Quellen, die sich nahezu ausschließlich auf die nicht objektiven sunnitischen Schriften oder Reiseberichte christlicher Pilger stützten. Belege für die Richtigkeit von Aktivitäten der Assassinen in Europa finden sich nicht. Unabhängig davon und auch unbelassen die Tatsache, dass der Kontakt Indiens mit der „Neuen Verkündung“ nicht bedeuteten muss, dass es dadurch zum Aktionsgebiet für Attentate wurde, ist den Assassinen dennoch räumliche Entgrenzung zu attestieren, da man etliche Tagesreisen auf sich nehmen musste, um in Regionen zu kommen, die nicht in der Reichweite der Assassinen lagen (vgl. Lewis 1989: 123, 164). Somit war sowohl der Terrorismus der Sikarier als auch der der Assassinen räumlich entgrenzt, weshalb der vormoderne Terrorismus als Ganzes als räumlich entgrenzt anzusehen ist. 2.2.1.3
Zeitliche Dimension
Die Fragen nach der zeitlichen Entgrenzung sind die nach der Länge der Wirkung der Akte und Berichterstattung, nach der Koordination von mehreren Anschlägen oder auch der Verzögerung der Wirkung. Für die Sikarier liegen hierzu keine Erkenntnisse vor, die eine oder gar mehrere Fragen positiv be86 87 88
Auch Lewis (2003: 20 f., 100) verweist auf Syrien, wobei die Ausdehnung der Assassinen nach Persien erstmals 1167 Benjamin von Tudela dokumentierte. Vgl. dazu Adler (1907: 53 f.). Hauptsitz war die 1090 eroberte Burg Alamut („Wissende im Adlernest“), wobei je nach Zählung bis zu zehn Städte oder Festungen als Ausbildungs- und Erziehungsstätten fungiert haben. Vgl. Reuter (2002: 40), Withof (2003: 48, 127 f.) und Meck (1981: 14). Sogar Withof (2003: 82 f.) bezweifelt die Rechtmäßigkeit dieses Vorwurfs. Innozenz IV. exkommunizierte Friedrich II. auch aufgrund des Vorwurfs, Friedrich habe den Herzog von Bayern durch einen Assassinen ermorden lassen.
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scheiden würden. Daher ist den Sikariern keine zeitliche Entgrenzung zu attestieren. Ähnlich verhält es sich mit den Assassinen, wobei diese im Gegensatz zu den Sikariern nicht auf bestimmte Tage oder gar Tageszeiten festgelegt waren. 89 Einen Hinweis auf zeitliche Entgrenzung stellt der heutige Wortgebrauch von „Assassine“ dar, der zweifellos auf die Assassinen zurückzuführen ist, jedoch eher einen heimtückischen Mörder bezeichnet. Auch wenn damit meist Mörder gemeint sind, die als Waffe den Dolch führen, so ist damit eher die Wirkung der verzerrten Darstellung der Assassinen durch sunnitische wie christliche mittelalterliche Autoren denn die Wirkung des von den Assassinen praktizierten Terrorismus als entgrenzt zu bewerten. In einer anderen Hinsicht sind Anschlag und Wirkung aber in der Tat voneinander entkoppelt. Für den Selbstmordattentäter tritt der Hauptnutzen nicht zu Lebzeiten ein, sondern erst dann, wenn er nach seinem Tod als Märtyrer ins Paradies kommt. Die Wirkung ist folglich postexistenziell und transtemporal. Dies entgrenzt den Terrorismus der Assassinen im Speziellen und kriteriengemäß auch den vormodernen Terrorismus im Allgemeinen in zeitlicher Hinsicht. 2.2.1.4
Sachliche Dimension
Die erste Frage bei der Analyse der sachlichen Dimension ist die, ob die zu untersuchende Form von Terrorismus kontinuierlich bestehende Muster hinsichtlich der Angriffsziele durchbricht. Die Angriffziele der Sikarier waren Kornkammern, die Wasserversorgung Jerusalems, das Haus des Hohepriesters Ananias, Paläste des Herodes, aber auch Akten von Geldverleihern.90 Darüber hinaus griffen sie nach Josephus (2003: IV 7,2, S. 329) auch nicht näher bezeichnete Heiligtümer an. Dies lässt ein Muster von Angriffszielen erkennen, bei denen der Schaden vorwiegend bei der jüdischen Obrigkeit lag, was wiederum bedeutet, dass Entgrenzung nicht erkenntlich ist. Die Assassinen richteten ihre Aktivitäten überwiegend gegen sunnitisch-seldschukische Festungen, selten gegen die Kreuzritter. Das Kalkül der Assassinen bestand in der Zerschlagung der sunnitischen Ordnung, wozu sie nicht nur auf Terrorismus gegenüber den Sunniten setzten, sondern auch auf Kooperation mit einzelnen Führern derselben (vgl. Lewis: 178). Auch hierbei lassen sich keine Entgrenzungserscheinungen erkennen. 89 90
Die Sikarier waren bei Tageslicht an Festtagen, auch am Sabbat, aktiv (vgl. Josephus 2003: II 13,3, S. 177 und Laqueur 1987: 20). Für zeitliche Präferenzen der Assassinen vgl. Withof (2004: 72 f.). Laqueur (1987: 20 f.) bezieht sich bei dieser Aussage auf „rabbinische Archive“, ohne dies jedoch zu präzisieren.
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Wie verhält es sich mit den von den Sikariern und Assassinen eingesetzten Methoden und Mitteln? Setzten sie Dinge als Waffen ein, von denen dies zuvor niemand erwartet hatte? Die Sikarier nutzten als Waffe die sogenannte sica, ein unter dem Mantel getragenes und, wie Laqueur (1987: 20) behauptet, für die damalige Zeit nicht unübliches kurzes Schwert. Dies lässt nichts anderes zu, als auch für diesen Punkt den Sikariern Entgrenzung abzusprechen. Bei den Assassinen ist die Quellenlage bezüglich der eingesetzten Methoden und Mittel umfangreicher. Ihre Methoden waren neben gezieltem Mord auch die bloße Androhung von Gewalt, 91 Spionage, Unterwanderung (Reuter 2002: 42), Propaganda und Brandstiftung (Lewis 1989: 145 f., 160 f.), aber ebenso der Einsatz von Rauschmitteln gegenüber den eigenen Anhängern 92, denen so das Paradies vorgegaukelt wurde. 93 Als Waffe setzten die Assassinen stets einen mitunter vergif91
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Lewis (1989: 89) zitiert dazu Ata Malik Dschuweini. Dschuweini berichtet, wie Hasan-i Sabbah versuchte, einem Friedensangebot an den seldschukischen Sultan Sandschar Nachdruck zu verleihen. Er ließ nachts einen Dolch neben dessen Bett rammen, verbunden mit der Botschaft, wenn er nicht ein Freund des Sultans wäre, hätte der Dolch statt im harten Boden in der weichen Brust des Sultans gesteckt. Lewis (1989: 180 f.) berichtet, wie die Attentäter mit Deckgeschichten ausgestattet wurden, um im Falle einer Gefangennahme unter Folter Aussagen mit Bezug auf die aktuelle politische Lage machen und dabei Zwietracht im Lager der Gegner säen zu können. Von den wahren Hintergründen der Anschläge, mit denen sie betraut waren, wurden die einzelnen Attentäter aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in Kenntnis gesetzt. Der Einsatz von Rauschmitteln und das Vorgaukeln des Paradieses stellt eine subtile Mischung aus realen Begehrlichkeiten und Transzendenz dar, indem das transzendente Ziel, also das Paradies mit all seinen Freuden, in die subjektive Realität verschoben und gleichzeitig mit der Möglichkeit des Erreichens aus eigener Kraft gekoppelt wird. In diesem Zusammenhang kann von einer suggerierten Handhabbarkeit des Transzendenten gesprochen werden. Dieses Überschreiten der Grenzen der Realität hat den Nebeneffekt, dass aufgrund seiner angeblichen Machtfülle das Ansehen des Alten vom Berge unter seinen Anhängern enorm aufgewertet wurde. Withof beschreibt dies sehr anschaulich: „Der Sheykh ließ ihm unwissend an einem heitern und schönen Tage einen Schlaftrunk beibringen. Schlafend ward er in den Garten getragen. Daselbst nahm man ihm sein schlechtes Gewand und kleidete ihn aufs zierlichste. Der Trunkene erwachte zuletzt. Und welche Erstaunung! Er war auf einmal ein ganz neuer Mensch geworden. Und dieser neue Mensch schwomme in lauter Lustbarkeiten. Und das mitten in der vollen Hitze seiner ersten Jugend. Fürwahr, er schreckte was Unendliches. Denn die Lüste, deren er genoss, waren mannigfaltig, sie waren recht sehr lebhaft und von kurzer Dauer. Denselben Abend bekam er wieder unvermerkt einen dergleichen Schlaftrunk. Voller Fröhlichkeit schlief er ein. Man steckte ihn in seine vorige schlechte Kleidung. Er ward aus dem Garten wieder in das Schloss an seinen gewöhnlichen Ort gebracht. Und siehe! Alle Seeligkeit war, wie eine Nachtwache, verschwunden. […] Mitten in dieser letzten Erstaunung trat der Sheykh vor ihm, und tat ihm diese gnädige Erklärung: […] Du bist im Paradies gewesen. Es steht in meiner Macht dich wieder hinein zu lassen. Bist du bereit den Tod in meinem Dienste unerschrocken zu untergehen, so verheiße ich dir, dass du alsdann derjenigen Freuden auf ewig teilhaftig werden sollst, die dir soeben nur in so kurzen Stunden widerfahren sind“ (Withof 2004: 43).
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teten Dolch, nie aber Fernwaffen ein. 94 Die von den Assassinen eingesetzten Methoden und Mittel weisen damit nahezu das gesamte Spektrum dessen auf, was man von politischen Gruppierungen des 12. Jahrhunderts erwarten kann (vgl. Lewis 1989: 102). 95 Der Einsatz von Rauschmitteln zeugt zwar von Kreativität, stellt aber kein Entgrenzungsmerkmal für sich dar. Somit ist der Terrorismus der Assassinen auch bezüglich der eingesetzten Mittel – gerade unter Berücksichtung ihrer Fokussierung auf den Dolch als Waffe – nicht als sachlich entgrenzt anzusehen. Allerdings zeichnen die Assassinen für die Einführung eines neuartigen Konzepts verantwortlich. Sie etablierten etwas, das tatsächlich bestehende Moralvorstellungen nachhaltig verändern sollte und auch heute noch vom Terrorismus praktiziert wird. Sie sahen Mord als heiligen Akt an (Laqueur 1987: 22) – ebenso wie nach Reuter (2002: 41 f.) die anschließende Selbstopferung des Fida’i (Sich-Opfernden). Die bereitwillige Inkaufnahme des eigenen Todes war zwar nicht bei allen Attentätern zu beobachten,96 dennoch führten die Assassinen das Selbstmordattentat als wesentliches Element in das Spektrum terroristischer Praktiken ein und machten es gleichsam salonfähig. Durch diese Kombination – Mord wie Selbstmord als rituellen, herbeizusehnenden Akt zu verstehen – durchbrachen sie bestehende Normen, die möglicherweise den Tod eines Feindes akzeptierten, nicht jedoch zwingend den eigenen verlangten. Dies ist als sachliche Entgrenzung zu bewerten. Wenn auch nicht der der Sikarier, so ist zumindest der Terrorismus der Assassinen sachlich entgrenzt gewesen. Dies ist hinreichend, den vormodernen Terrorismus insgesamt als sachlich entgrenzt anzusehen. 2.2.1.5
Soziale Dimension
Ist, um wieder mit Waldmann zu sprechen, den Sikariern oder Assassinen Entpersönlichung zu bescheinigen? Die Sikarier waren Judäer jüdischen Glaubens und stammten nach Josephus (2003: VII 11,1, S. 504, VII 11,3, S. 505 f.) vor-
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Hiervon berichtet auch Wilhelm von Tyros, wiederum in Auszügen zu finden bei Lewis (1989: 17 f.). Withof (2004: 53) spricht von einem goldenen Mordmesser, das durch bestimmte Zeremonien zu einem geweihten Dolch wurde. Die Assassinen mussten indes erkennen, dass die Praxis des Mordes im Laufe der Zeit ihre Effizienz bei der Mobilisierung der ismaelitischen Massen verlor. Ivanow (1938) sowie Meck (1981: 11 f.) greifen ein Gedicht der Ismaeliten auf, das von einem geglückten Attentat auf einen Prinzen handelt, aber auch von der erfolgreichen Flucht der Attentäter.
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wiegend aus den unteren Bevölkerungsschichten. 97 Sie waren vermutlich den als „Räuber“ diffamierten Zeloten zuzuordnen (vgl. Eichler 2003: 13) 98 und erfuhren auch durch Frauen und Kinder Unterstützung.99 Dies zeichnet ein relativ homogenes und somit sozial begrenztes Bild von den Sikariern. Aber wie verhielt es sich mit deren Opfern? Als Opfer benennen die unterschiedlichen Autoren (Rapoport 1984 sowie Josephus 2003 100) Römer, in Judäa lebende Griechen sowie Judäer, die sie für Kollaborateure Roms hielten. Ihre judäischen Opfer waren meist vornehm, standen der Friedenspartei nahe, fanden sich aber auch unter den gemäßigten Juden in der Diaspora (vgl. Laqueur 1987: 21). Auch und vor allem Priester, denen die Sikarier vorwarfen, Judäa der hellenistischen Kultur ausgeliefert zu haben, wurden zu Opfern. 101 Dies zeichnet ein eher uneinheitliches Bild der Opfer der Sikarier. Aber ist dies tatsächlich darin begründet, dass jene ihre Opfer nahezu willkürlich wählten? Dies steht nicht zu vermuten. Wahrscheinlicher ist, dass aufgrund der spärlichen Quellen verschiedene logische Schlüsse gezogen wurden, die vermutlich in Teilen inkorrekt waren. 102 Einen gemeinsamer Nenner, aus dem sich ein präziseres Bild der Opfer ergibt, könnte folgende Beschreibung darstellen, die auch Grundlage der Bewertung sein soll, ob der Terrorismus der Sikarier aufgrund seiner Opfer als sozial entgrenzt gewertet werden soll. Die Opfer waren in der Wahrnehmung der Sikarier anti-judäisch und profitierten in besonderem Maße von der Kooperation mit dem römischen, aber auch griechischen Ausland. 103 Ist man bereit, den Sikariern in ihrer Wahrnehmung und ih97 98 99
100 101 102 103
Jonathan, Anführer der Sikarier in Kyrene, war Weber. Er wurde auf Befehl Vespasians wegen Verleumdung gegeißelt und anschließend lebendig verbrannt. Sowohl die Sikarier wie auch die Zeloten werden als Räuber (lestai) bezeichnet. Josephus gibt ihnen die Schuld an der Niederlage der Judäer gegen Rom, zu deren Parteinahme er die „Geschichte des Judäischen Krieges“ verfasste. Bei der Belagerung Masadas unter der Führung des in der theologischen Tradition der Zeloten einzuordnenden Eleazar zogen alle in der Festung befindlichen Frauen und Kinder den kollektiven Selbstmord der Gefangennahme durch die Römer vor. Josephus (2003: VII 9, S. 499 f.) berichtet, dass bei diesem Massensuizid, den er auf den „fünfzehnten des Monats Xanthikos“ (vermutlich im Jahre 70 n. Chr.) datiert, insgesamt 960 Menschen den Tod fanden. An anderer Stelle (VII 10,1, S. 502 f.) erwähnt Josephus erneut den Umstand, dass Kinder zu den Sikariern gehörten. Vor allem IV 7,2, S. 328 f.; VII 8 u. 9, S. 486-501; VII 10,1, S. 501 f.; VII 11,1 f., S. 504 f. Rapoport (1984: 669) betont die Symbolkraft, die der Aufstand der Sikarier trotz seines Misserfolges auf die jüdische Bevölkerung ausübte. „Der erste, der von ihnen erdolcht wurde, war der Hohepriester Jonathan“ (Josephus 2003: II 13,3, S. 177). Zu falschen Schlüssen gelangt man, wenn entweder die Prämissen inkorrekt sind oder die Beziehung zwischen Konklusion und Prämissen fehlerhaft ist. Vgl. grundlegend Salmon (1983: 12 f.). Zu den Möglichkeiten des Profits zählen Reichtum und Status, damit einhergehend Macht und Einfluss.
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rem Handeln zumindest ein Mindestmaß an Objektivität und Konsequenz zuzugestehen, so belässt dies auch ihre Opfer sozial begrenzt. Es folgt die Untersuchung der sozialen Entgrenzung des Terrorismus der Assassinen. Diese gelten als Abkömmlinge der Ismaeliter, was sie zu Muslimen schiitischer Prägung macht. 104 Von ihrem Gründer Hasan-i Sabbah über Sinan 105 bis hin zu Koknoddin Khuz-Shah 106 sahen die Assassinen im Gegensatz zur 12er-Schia und vor allem den sunnitischen Seldschuken den Ismailismus und besonders die Neue Verkündung als wahren Weg des Islam. 107 Ihre Führung rekrutierten sie vor allem aus Gelehrten, 108 wobei nach Meck (1981: 21 f.) generelle Rekrutierungskriterien jugendliches Alter und männliches Geschlecht waren. 109 Sympathisanten fanden sich für die Assassinen vorwiegend in der Landbevölkerung, was in engem Zusammenhang mit ihrer Ausbreitungs- und Befestigungsstrategie mittels Burgen zu sehen ist – die ihrerseits eher in ländlichem denn städtischem Gebiet angesiedelt waren. Aus der Landbevölkerung rekrutierten sich großteils auch die aktiven Anhänger. Einen weiteren, die Arbeit der Assassinen an ihrer Zielgruppe erleichternden Aspekt stellt ihr Vorstoßen in Gegenden dar, welche die Tradition religiösen Abweichlertums besaßen. Diese Zielgruppe erwies sich für die mystischen Elemente der Neuen Verkündung als besonders anfällig. Schichtspezifisch waren zu den Befürwortern der Assassinen in erster Linie Teile der untersten gesellschaftlichen Schichten, aber auch Handwerker und teilweise sogar Kaufleute und Gelehrte, jedoch nie die intellektuell-philosophische Elite zu zählen. Die Assassinen und ihre Anhänger weisen ein gemeinsames Identifikationsmerkmal auf: die Verhaftung im Ismailismus. In dieser ausschlaggebenden Perspektive sind die Assassinen eindeutig als sozial begrenzt zu betrachten. Lewis (1989: 80) spricht von einer sorgfältigen Auswahl der Opfer, was er mittels zeitgenössischer syrischer und persischer Quellen begründet, während 104
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Hasan-i Sabbah, der Gründer der Assassinen, wurde in Ghom geboren und als ZwölferSchiit erzogen. Meck weist darauf hin, dass dies auch auf Ayatollah Ruholla Musawi Khomeini zutrifft, der 1979 den Schah von Persien stürzte. Vgl. dazu Laqueur (1987: 21), Lewis (1989: 22, 27) und Meck (1981: 35 f.). Sinan, genannt Raschid al-Din (um 1160) war nach Lewis (1989: 150 f.) der wichtigste Assassinenführer in Syrien. In dieser Form bei Withof (2004: 135 f.). Zu anderen Schreibweisen der mongolischen Namen vgl. Lewis (1989: 125 f.). Letzter der Alten vom Berge war Koknoddin Khuz-Shah. Er wurde von Hulaku, dem Bruder Mangu-Khans, unterworfen. Für eine schwache Begründung dieser These vgl. Lewis (1989: 63 f.). Lewis zufolge (1989: 183 f.) war Hasan-i Sabbah Schriftgelehrter, Ibn Attasch Arzt und Sinan Schulmeister. Meck stützt sich auf den Reisebericht Marco Polos, dem zufolge das Alter der in der Ausbildung befindlichen angehenden Attentäter zwischen zwölf und zwanzig Jahren betrug.
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sunnitische Autoren im 14. Jahrhundert das Werk der Assassinen als global und gegen die gesamte umma gerichtet empfanden. Grundsätzlich ließen sich die Opfer in zwei Gruppen einteilen: weltliche und geistliche Feinde der Assassinen. 110 Während zu Ersteren Fürsten, Offiziere und hohe Beamte zählten, galt dies auf geistlicher Seite vor allem für Kalifen und antiismailische Theologen (74 f., 88). Andere Schiiten oder einheimische Christen waren unter ihren Opfern kaum zu finden, auch Angriffe gegen Kreuzfahrer waren nicht die Regel (149, 161 f.). 111 Somit konzentrierte sich der Terrorismus der Assassinen in seiner sozialen Dimension auf das sunnitische, in weltlichen und geistlichen Funktionen befindliche Establishment. Dies macht den Terrorismus der Assassinen ebenso wie den der Sikarier und somit den vormodernen Terrorismus insgesamt zu einem sozial begrenzten Phänomen. 2.2.1.6
Kompensierbarkeit
Die finanzielle Nivellierbarkeit der Schäden, die durch Akte der Sikarier entstanden sind, ist schwer zu bewerten. Es liegen keine Informationen über Summen vor, deren Begleichen eine Unmöglichkeit dargestellt haben könnte. Interessant ist der Aspekt, dass die Sikarier Akten von Geldverleihern vernichteten, um so das Einfordern ausstehender Zahlungen bei der einfachen Bevölkerung zu verhindern. Auch hier fehlen absolute Größen, die den entstandenen Schaden zumindest in diesem konkreten Fall quantifizierbar gemacht hätten. Indes steht zu vermuten, dass dieser ebenso wie andere Schäden (zerstörte Paläste, verbrannte Kornkammern) in seiner materiellen – nicht ideellen – Gesamtheit entweder durch staatliche Mittel, spezifische Solidargemeinschaften oder auch Einzelvermögen zu begleichen war. Daher wird von der Kompensierbarkeit des Terrorismus der Sikarier ausgegangen. 110 111
Das erste Opfer der Assassinen war Nizam al-Mulk, ein seldschukischer Wesir, der den Angriff auf die ismailischen Zentren Burg Alamut und Quhistan befohlen hatte. Häufige Opfer waren Souveräne, Fürsten, Generale, Gouverneure, Richter. Opfer unter den Kreuzrittern waren unter anderem Raimond, Graf von Tripoli, und Conrad, König von Jerusalem, im Jahr 1192. Hier ist festzuhalten, dass die Datierung der Ermordung Raimunds bei Lewis und Withof differiert (vgl. Withof 2004: 69, 72 f.). Während Withof auf 1149 datiert, vermutet Lewis 1129 oder 1130 als Jahr der Ermordung. Ab 1213 war in Syrien ein Wechsel hinsichtlich der Ziele zu beobachten. Anstelle der bislang muslimischen Opfer wurden nun vermehrt Christen zu solchen. Zu den ersten christlichen Opfern zählte 1213 Raimund, der Sohn Bohemunds IV. von Antiochia. Lewis vermutet, dieser Schwenk könne in Zusammenhang mit der theologischen Umkehr Dschalal al-Dins zum konventionellen Islam in Form der Einführung der Scharia und der Hinwendung zum Kalifen von Bagdad gestanden haben.
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Den Assassinen leisteten verschiedene Anrainer Tributzahlungen. Diese Tributzahlungen können als Präventivkompensation und somit Kompensation verstanden werden. Da ähnlich wie bei den Sikariern keine konkreten Schadsummen vorliegen, ist auch im Falle des Terrorismus der Assassinen von Kompensierbarkeit auszugehen, was den vormodernen Terrorismus insgesamt als kompensierbares Phänomen ausweist. 2.2.1.7
Bewertung
Hat der vormoderne Terrorismus nun als Neues Risiko zu gelten? Das wäre dann der Fall, wenn er als in allen vier Dimensionen entgrenzt und nicht kompensierbar bewertet wäre. Hierbei soll ausreichend sein, wenn die einzelnen Kriterien jeweils durch den Terrorismus einer der beiden Gruppierungen erfüllt werden. Die tatsächliche Bewertung lässt sich anhand Abbildung 2-1 verdeutlichen. Räumliche Entgrenzung Zeitliche Entgrenzung Sachliche Entgrenzung Soziale Entgrenzung Fehlende Kompensierbarkeit
Sikarier Erfüllt Nicht erfüllt Nicht erfüllt Nicht erfüllt Nicht erfüllt
Assassinen Erfüllt Erfüllt Erfüllt Nicht erfüllt Nicht erfüllt
Gesamt Erfüllt Erfüllt Erfüllt Nicht erfüllt Nicht erfüllt
Abb. 2-1: Entgrenzung des vormodernen Terrorismus Deutlich wird, dass der vormoderne Terrorismus lediglich drei der fünf Kriterien erfüllt, die ein Neues Risiko ausmachen: Entgrenzung in räumlicher, zeitlicher und sachlicher Hinsicht. Da er jedoch sozial begrenzt und außerdem kompensierbar war, stellt er lediglich ein konventionelles Risiko dar. 2.2.2
Moderner Terrorismus
Rapoport (2006 e: 3) teilt den modernen Terrorismus in vier Wellen ab 1880 ein, die sich teilweise überschneiden, jeweils rund 40 Jahre andauern und ihren Namen von der Haupteigenschaft der jeweiligen Form von Terrorismus haben.
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Er beginnt mit dem Anarchismus (vgl. grundlegend Rapoport 2006 a), 112 leitet über zum antikolonialen Terrorismus (2006 b), der wiederum vom Terrorismus der Neuen Linken (2006 c) abgelöst wird. Die letzte und derzeit andauernde Welle stellt der religiöse Terrorismus (2006 d) dar. 113 Rapoport vermutet, dass diese Welle Mitte der 2020er von einer anderen, derzeit noch nicht zu identifizierenden Welle abgelöst wird. In dieser Perspektive wird Rapoport zufolge (2006 e: 4 f., 12 f., 16) Terrorismus zu einem festen Bestandteil postmoderner Gesellschaften, der in seiner spezifischen, da wechselnden Form eine Art Modeerscheinung darstellt. 114 Vereinzelt wird die Zuordnung einzelner Gruppen zu bestimmten Wellen in vorliegender Arbeit neu vorgenommen, so beispielsweise bei der ETA und der IRA. Rapoport verortet sie in der Welle der Neuen Linken, obgleich ihre Haupteigenschaft vielmehr der Separatismus zu sein scheint, welcher wiederum besser zu antikolonialen Motiven passt. 115 Ebenfalls dem antikolonialen Terrorismus zugeordnet werden die Aktivitäten tschetschenischer Terroristen, die
112
113 114
115
Bereits die Welle des Anarchismus führte zu einer internationalen Koalition gegen den Terror unter der Führung der USA. Initiator war 1901 US-Präsident Theodore Roosevelt, der so auf die Ermordung seines Vorgängers William McKinley durch einen Anarchisten reagierte. Für eine weiter gehende Untersuchung der daraus resultierenden USamerikanischen Außenpolitik siehe auch Jensen (2006). Eine vergleichende Betrachtung wesentlicher Gruppen der Welle der Neuen Linken und der religiösen Welle bietet Taus (2006), der die Entwicklung der RAF zu jener der Al Qaida kontrastiert. Rapoport betont, dass der Bezeichnung Welle schon eine gewisse, den modernen Terrorismus kennzeichnende, Internationalität innewohnt. Über ihr Abebben entscheiden drei Faktoren: Widerstand in der Bevölkerung, politische Zugeständnisse und eine Änderung der Wahrnehmung (beispielsweise infolge des Aufstiegs vormaliger Terroristen oder Sympathisanten in die Regierung). Vgl. dazu ferner Gross (1978: 201). Interessanterweise zählt Rapoport terroristische Gruppierungen wie die ETA oder die IRA der 1970er zur in den 1980ern abebbenden Welle des Terrorismus der Neuen Linken. Zwar konzediert er, dass deren Ideologie nachhaltiger bei den jeweiligen Zielgruppen auf Resonanz stieß als die originäre Ideologie anderer, unter dem Oberbegriff Neue Linke subsumierter Terroristen. Jedoch verdeutlicht er nicht, dass es sich bei den Anliegen der ETA und der IRA auch im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert noch im Wesentlichen um Unabhängigkeitsbestrebungen handelt. Damit offenbart sich eine Schwäche Rapoports zeitlich gebundener Klassifizierung: In ein und derselben Epoche können durchaus Gruppierungen verschiedener ideologischer Ausrichtung existieren, was er aber nicht explizit kenntlich macht. Für vorliegende Arbeit ist die starre zeitliche Zuordnung indes kein gravierendes Problem, da die Entwicklung des Terrorismus an sich bzw. dessen gegenwärtiges Stadium analysiert werden sollen.
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zwar durch religiöse Motive inspiriert sind, im Kern aber vor allem die Herrschaft Moskaus abzuschütteln wünschen. 116 Die Akteure der ersten Welle – der der Anarchisten – hatten zum übergeordneten Leitmotiv die Zerstörung staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen, vor allem solcher, die autokratische Züge besaßen. Unter dem Überbegriff Anarchismus 117 firmieren deutsche Vordenker wie Johann Most, Karl Heinzen 118 und Wilhelm Weitling, aber ebenso russische wie Michail Bakunin, Nikolai Morosow, Sergej Nechaev, die Narodnaja Wolja („Volkswille“) sowie amerikanische und französische Anarchisten. 119 Auf diese Akteure gehen einige grundlegende Theorien zurück, vor allem die Schriften Heinzens (1849), Nechaevs (1869), Bakunins (1869) Morosows (1880) und Mosts (1881) bieten einen reichhaltigen Fundus an konzeptionellen Überlegungen. Das von Terroristen der antikolonialen Welle verfolgte Ziel war – wie der Name schon sagt – das Abschütteln kolonialer Herrschaft bzw. einer als solchen empfundenen Besatzung. 120 Zu den bekanntesten Gruppen des antikolonialen Terrorismus – der Carrs These, Terrorismus habe noch nie Erfolg gehabt, eindrucksvoll widerlegt (vgl. Carr 2002: 7-18, bes. 14-17) – gehören die jüdischen 116 117
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Das Grundprinzip ist identisch. Antikolonialer und separatistisch-nationalistischer Terrorismus sind beide gegen Staaten gerichtet, die nach Meinung der Terroristen widerrechtlich ein Gebiet mitsamt dessen Bevölkerung besetzt halten. Vgl. Malek (2002: 20). In der Terrorismusforschung werden für das 19. Jahrhundert vornehmlich der Anarchismus und die revolutionären Bewegungen zum Gegenstand des Interesses gemacht. Für beide Typen finden sich schon bei Flavius Josephus (2003: VII 8,1, S. 488), also im ersten nachchristlichen Jahrhundert, entsprechende Vorformen bzw. Vorbilder. Als eine Vorform des Anarchismus können die Idumäer gelten, die, um jegliche Gottesfurcht zu vernichten, Hohepriester erdolchten und die staatliche Ordnung zerstörten, indem sie überall in Judäa Gesetzlosigkeit einführten. Revolutionäre Bewegungen hingegen hatten eine Volkserhebung zum Ziel – was sich bei den Sikariern findet. Auch die Sikarier versuchten, durch Anschläge zu provozieren und so Repressalien heraufzubeschwören, die von der Bevölkerung als untolerierbar empfunden wurden und folglich einen ebenfalls durch Anschläge inspirierten Massenaufstand begünstigen sollten. Rapoport (1984: 669) betont die Symbolkraft, die der Aufstand der Sikarier trotz seines Misserfolges auf die jüdische Bevölkerung ausübte. Engels kritisiert Heinzens Vorstellungen, Vorgehensweise und Absichten und bezeichnet ihn als „schlechte[n] demokratische[n] Parteischriftsteller“ (Engels 1847: 316). Für eine Analyse von Morosows Einfluss auf die Narodnaja Wolja sei auf Ivianski (2006: 78-82) verwiesen. Das politische Anliegen des im Befreiungskampf eingesetzten Terrorismus war die Abschüttlung einer hochintensiven Stufe der Unterdrückung für die eigene Ethnie, sodass die Antwort auf Terror Terrorismus lautete (vgl. Münkler 2006; Wieviorka 2004: xiii f.; Gross 1978: 199). Gross weist darauf hin, dass die Unterdrückung sowohl quantitativ als auch qualitativ gemessen werden muss. In quantitativer Hinsicht seien die verschiedenen Unterdrückungsmaßnahmen zu erfassen, während in qualitativer das durch sie evozierte menschliche Leid von Interesse sei. Im Gegensatz zum sozialrevolutionären linken Terrorismus traut Münkler dem ethnoseparatistischen eine Wiederkehr zu.
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Irgun und die auch unter ihrer britischen Bezeichnung „Stern-Bande“ bekannte LEHI, die algerische Front de Liberation Nationale (FLN) sowie die zypriotische Ethniki Organosis Kyprion Agoniston (EOKA). Darüber hinaus werden in vorliegender Arbeit die baskische Euskadi te Askatasuna (ETA) und die nordirische Irish Republican Army (IRA) der zweiten Welle des modernen Terrorismus zugerechnet. Zu ihren bedeutenderen Werken gehören die Schriften Menachem Begins (1980), Georgios Grivas-Dighenis’ (1964) und an der Schnittstelle zur dritten Welle Frantz Fanons (1981), wovon zumindest die ersten beiden auch heute noch zur asymmetrischen Kriegsführung Hinweise geben können. Das Ziel der dritten Welle des modernen Terrorismus war der Kampf gegen imperialistische Staaten, welche die Bevölkerung in der Dritten Welt für ihre Zwecke instrumentalisierten. Die von diesen Terroristen vornehmlich als Feinde auserkorenen Staaten waren einerseits die Staaten, in denen sie unmittelbar aktiv waren, andererseits übergreifend Israel und die USA. Bedeutende Gruppen der dritten Welle waren die Rote Armee Fraktion (RAF) 121 und die Palestine Liberation Organization (PLO). An Einzelpersonen sind Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Yassir Arafat zu nennen. Um Handlungsanweisungen und legitimatorische Schriften machte sich neben Carlos Marighella (1969) vorwiegend die RAF (1970 u. 1971) 122 verdient. In der vierten Welle besteht das grundsätzliche Anliegen des religiösen Terrorismus muslimischer Ausprägung darin, dem Islam durch säkulare Staaten mehr Geltung zu verschaffen, sie im Idealfall in Theokratien zu verwandeln, in denen die Scharia Anwendung findet. 123 Die erste muslimische Gruppe nach den saudi-arabischen Wahhabiten, die den Islam als staatstragendes Prinzip zu etablieren versuchte, 124 war die 1928 von Hassan al-Banna gegründete ägyptische Muslimbruderschaft. Heute sind vor allem Al Qaida 125, Hizbollah 126 und 121
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Die RAF vereinigte zwei an sich gegensätzliche Weltanschauungen: Marxismus und Anarchismus. Von der einen entlieh sie in ihren Schriften die Methodik der Dialektik, von der anderen die gewalttätigen Elemente (gl. Prantl 2006 a). Beachtliche Gesamtdarstellungen zur RAF bieten Aust (1998), Peters (2004) und Kraushaar (2007). Zur Bezeichnung „Stadtguerilla“ vgl. Laqueur (1978 b: 217). Laqueur versteht die Bezeichnung „Stadtguerilla“ als „Public-relation-Ausdruck für Terrorismus“. Zu einer fundierten Darstellung der islamischen Ideologie und Zielsetzung vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven (2006: 122-143). Für eine Untersuchung der fundamentalistischen Elemente im Wahhabitentum vgl. Bobzin (2005: 87-94). Hirschmann (2006: 27) fasst die Ideologie der Al Qaida zum 3-2-1-Modell zusammen. In der Sicht Said Qutbs (1906-1966) und Abdullah Azzams (1941-1989) sehe sich der Islam drei Feinden („die Kreuzfahrer“, also westlich-christliche Staaten; „die Juden“, also der Staat Israel; „die Handlanger“, also laizistische arabische Staaten) ausgesetzt, die zwei Angriffsarten (Militär- oder Kulturimperialismus) zur Anwendung brächten, weshalb den Muslimen nur ein Weg der Verteidigung (Dschihad) bliebe.
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Hamas 127 aktiv. Ihre bedeutendsten Führer und Ideologen hat die religiöse Welle in Said Qutb (1964), 128 Osama bin Laden (1998; vgl. auch Kepel/Milelli 2006: 90-95) und Aiman Al Zawahiri (2001), 129 wobei jene sich häufig auf Qutb berufen (vgl. Assheuer 2004: 41). 130 Bei der Untersuchung dieser vier Wellen auf räumliche, zeitliche, sachliche und soziale Entgrenzung und fehlende Kompensierbarkeit soll bei der Bewertung, ob eine Welle in einem bestimmten Kriterium tatsächlich entgrenzt ist, der Vergleich mit vorherigen Formen von Terrorismus entscheidend sein. Dies bedeutet, dass der Bewertung nicht nur absolute, sondern zusätzlich auch relative Maßstäbe zugrunde gelegt werden. 131 Ebenso wie bei der Analyse des vormodernen Terrorismus soll beim modernen zuerst die räumliche Dimension untersucht werden, bevor die zeitliche, sachliche und soziale Dimension zum Gegenstand des Interesses werden. Den Abschluss bildet nach der Untersuchung der Kompensierbarkeit wieder eine Bewertung, inwiefern der moderne Terrorismus als Neues Risiko gelten kann. Die Rapoport’schen Wellen werden bei der Untersuchung der einzelnen Dimensionen bzw. der Kompensierbarkeit in chronologischer Reihenfolge abgearbeitet.
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Einen Überblick über die Hizbollah gibt Reuter (2002: 88-134). Während die PLO eher säkular aufgestellt ist, erklärt die Hamas, als Gegner des religiösen Terrorismus kämen die in Betracht, die nicht der eigenen Religion angehören und folglich als Ungläubige angesehen und bezeichnet werden (vgl. Beaupain (2005: 105). Auf diese Weise rechtfertigt die Hamas, die nach Bloom (2004: 195) zumindest von 2000 bis 2002 die aktivste terroristische Gruppierung der Palästinenser war, den individuellen, da defensiven Dschihad. Beaupain zufolge sei der offensive nur kollektiv – d. h. von der gesamten Glaubensgemeinschaft (umma) getragen – zulässig. Qutbs Milestones (1964) stellen das ideologische Fundament des islamistischfundamentalistischen Terrorismus dar. Zur Rezeption Qutbs vgl. weiterführend DamirGeilsdorf (2003). Für eine Milestones-Rezension vgl. auch Ali (2003: 202-204). Für einen Kommentar vgl. Kepel/Milelli (2006: 369-382). Der Weg der Ideologie lässt sich von Osama bin Laden bis Said Qutb zurückverfolgen. Mohammad Qutb, Saids jüngerer Bruder, war Dozent an der Universität von Dschidda, wo Osama bin Laden studierte. Zwar ist nicht nachgewiesen, dass Osama bin Laden Mohammad Qutbs Veranstaltungen besuchte, doch ist ein Kontakt zwischen den beiden ob des Hintergrundes anzunehmen. Nicht weiter Gegenstand der Untersuchung werden rechtsextrem-rassistische Formen von Terrorismus sein. Beispiele hierfür finden sich in den USA mit dem Ku-Klux-Klan (KKK), den unter dem Schlagwort der Christian Identity oder auch Vigilantismus firmierenden Gruppen, aber auch in Deutschland mit der Wehrsportgruppe Hoffmann und den Neonazis Odfried Hepp und Walther Kexel. Einen Überblick zur Geschichte des KKK bietet Laqueur (1987: 23). Für eine kurze Darstellung des US-Rechtsextremismus vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven (2006: 262-265). Zu Hepp und Kexel vgl. Winterberg/ Peter (2005) sowie Pfahl-Traughber (2006).
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2.2.2.1
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Räumliche Dimension
Auch beim modernen Terrorismus wird die räumliche Entgrenzung deutlich, wenn die Rekrutierungs-, Operations- und Rückzugsgebiete variieren bzw. die Fläche eines einzigen Anschlags allein schon entgrenzt erscheint. Auch hier gilt die jeweilige Welle als entgrenzt, wenn eine oder gar beide Varianten offensichtlich zutreffen. Die erste Welle des modernen Terrorismus – der Anarchismus – hatte ihr Operationsgebiet vor allem im russischen Zarenreich. Die Stoßrichtung der russischen Narodnaja Wolja zielte strikt auf den Funktionärsapparat des Zarenregimes. Weiter gehende Pläne, den Terrorismus auch ins Ausland zu tragen, verfolgte sie indes nicht (vgl. Laqueur 1987: 122). 132 Untersuchungen des russischen Geheimdienstes zwangen die russischen Anarchisten sowie die Mitglieder der Narodnaja Wolja schließlich, sich entweder in abgelegene russische Gebiete (Bakunin 1869: 54) oder gleich nach Westeuropa zurückzuziehen (Rapoport 2006 e: 8). 133 Zu den Exilierten zählten auch einige der Vordenker des Anarchismus, was zur Folge hatte, dass viele theoretische Grundlagen des Anarchismus nicht in den Aktions-, sondern in den Rückzugsgebieten publiziert wurden. 134 Ein Beispiel für die Internationalität des Anarchismus schildert Rapoport (2006 e: 8) anhand der russischen terroristischen Brigade. Sie hatte ihr Hauptquartier in der Schweiz, startete Anschläge von Finnland aus, bekam durch amerikanische Millionäre gewaschene Gelder von den Japanern angeboten und bezog ihre Waffen von einer armenischen Gruppe, die wiederum von anderen Russen ausgebildet worden war. Vor diesem Hintergrund ist die erste Welle des modernen Terrorismus als räumlich entgrenzt anzusehen. 135
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Russische Revolutionäre hofften dennoch, ihr Wirken im Zarenreich würde als Fanal für andere europäische Länder wirken. Diese Mobilität wurde erst durch die neuen Kommunikations- und Transportmittel des ausgehenden 19. Jahrhunderts möglich, sodass erstmals in der Geschichte des Terrorismus auch große Distanzen informationell und physisch handhabbar wurden. Die Frage nach den Rekrutierungsgebieten ist schwer zu beantworten, jedoch ist zu vermuten, dass sowohl in Rückzugs- wie in Operationsgebieten rekrutiert wurde. So erschien nach Laqueur (1978 a: 39 f.) Karl Heinzens Schrift „Der Mord“ erstmals 1849 in einer in der Schweiz herausgegebener Zeitschrift, wobei Heinzen selbst nach Boston emigrierte. Auch Pjotr Kropotkins „Der Geist der Revolte“ erschien in der Schweiz. Die führende deutsche Zeitschrift „Freiheit“, herausgegeben von Johann Most, einem früheren sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, erschien 1879 zunächst in London, später in New York. Auch in Irland waren dem Terrorismus verwandte Bewegungen aktiv, wofür die Dynamiters als Beispiel gelten können.
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Sind bei gegen Besatzungsmächte oder als solche empfundene gerichteten terroristischen Aktivitäten Indizien zu beobachten, die auf räumliche Entgrenzung hinweisen? Nationalistisch-separatistischer Terrorismus ist in Spanien 136 und Frankreich, aber auch in Nordirland oder Tschetschenien zu beobachten, während der antikoloniale Terrorismus bei der Staatengründung Irlands, Israels, 137 Zyperns und Algeriens eine bedeutende Rolle spielte (vgl. Rapoport 2006 e: 9). Dies deutet darauf hin, dass die zweite, um den ethnozentristischen Terrorismus erweiterte, Welle nahezu ubiquitären Charakter hat. Überall, wo Unterdrückung oder Besatzung stattfand, waren Befreiungsbestrebungen zu beobachten, woraus sich die Existenz von Operations-, Rekrutierungs- und Rückzugsgebieten auf nahezu allen Kontinenten ableitet. 138 Aber waren diese expansiv, d. h. auf die Ausbreitung auf andere Gebiete angelegt? Waldmann (2003: 116) zufolge war die IRA in ihrer ursprünglichen Funktion ein area defender, 139 welcher den Schutz der katholischen Bevölkerung Nordirlands vor protestantischen Übergriffen als ihre Aufgabe verstand. Durch das selbst erklärte Ziel, für die eigene Minderheitsschicht Autonomie zu erreichen, muss sich der Terrorismus der zweiten Welle in seiner Ausdehnung auf ein eben dieser Zielgruppe eingängiges Gebiet erstrecken (vgl. SchrepferProskurjakov 2005). Oftmals ist es aber nicht ganz einfach, trotz aller theoretischen Definitionen Guerillakrieg von Terrorismus zu unterscheiden. 140 So werden Anschläge von Terroristen in Russland stets reflexhaft mit dem Tschetschenienkonflikt assoziiert. Dies ist unter anderem deshalb der Fall, weil innerhalb Tschetscheniens überwiegend russische oder pro-russische tschetschenische Ziele attackiert wer136 137 138
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Nach Heisig (2006) weist Spanien von allen europäischen Ländern die nachhaltigste Konfrontation mit Terrorismus auf. Bell (2006) verdeutlicht, dass Terrorismus – wie eben in Israel – nur eine der Widerstandsformen war, mit denen sich das britische Empire seit dem Ende des 1. Weltkrieges konfrontiert sah. Den genauen Gegenentwurf bot nach Parekh (2006) Gandhi. Gross (1978: 198 f.) schildert dies anhand der IMRO, die auf dem Balkan Terrorismus im Kampf gegen die Türken institutionalisierte. In Polen wurde Terrorismus 1918 zu einem gegen die russische Besatzung gerichteten Instrument, nicht jedoch in Galizien gegen die Österreicher. Ohne diese regionale Begrenzung fiele es dem ethnisch-nationalistischen Terrorismus deutlich schwerer, die Bevölkerung des Gebietes, für das sie nach Selbstbestimmung oder Unabhängig streben, hinter dem Einsatz von Gewalt zu versammeln. Ein Beispiel, das diese These stützt, ist der Kampf verschiedener Gruppen im Irak gegen die USA. Aber ist deren Vorgehensweise nun als Terrorismus oder Partisanenbewegung zu bezeichnen? Die Antwort bleibt in diesem Fall offen, wogegen sie im Fall der USA und NATO in Afghanistan aufgrund der Rückzugsmöglichkeiten der Taliban im Südosten des Landes und Pakistan tendenziell zugunsten der Partisanenbewegung ausfallen muss. Zur Schwierigkeit der Differenzierung zwischen Guerillakrieg und Terrorismus vgl. ansonsten Daase (2004).
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den – was angesichts der Unterstützung der Rebellen durch die Zivilbevölkerung geradezu prototypisches Merkmal eines Guerilla-Krieges und somit mit operativen Zielen verbunden ist. Die Taten tschetschenischer Aktivisten verändern aber genau dann ihren Charakter, wenn sie über die Landesgrenzen hinausgetragen und möglicherweise mit einem Wechsel der Anschlagsziele kombiniert werden: Aus Anschlägen mit operativem Hintergrund werden Attentate mit strategisch-kommunikativer Zielsetzung, bei der das Mittel der Transnationalisierung und der damit verbundenen Medienwirksamkeit eine wesentliche Rolle spielt. Aufgrund eben dieser Transnationalisierung und der nahezu globalen Verbreitung von Terrorismus als gegen Besatzungsmächte gerichtetes Mittel kann die zweite Welle des modernen Terrorismus nicht als be-, sondern muss als entgrenzt bezeichnet werden. Bewegungen der dritten Welle des modernen Terrorismus existierten in Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, aber auch im Nahen Osten, wo die PLO und ihre Splittergruppen der Neuen Linken zugerechnet werden. Die Operationsgebiete waren häufig identisch mit den Rekrutierungsgebieten (vgl. Rapoport 2006 e: 14), 141 wogegen die Rückzugsgebiete regelmäßig außerhalb dieser Gegenden lagen. 142 Dabei waren die Operationsgebiete weit gestreut. Von 1968 bis 1982 fanden 409 terroristisch motivierte Entführungen in 73 Ländern statt. Auch der Anlass für den ersten Anschlag der RAF ist ein Hinweis auf die räumliche Grenzen ignorierende Charakteristik des Terrorismus der Neuen Linken. Die RAF kontextualisierte den Anschlag auf das Offizierkasino des fünften USArmeekorps mit dem Verminen des nordvietnamesischen Hafens von Haiphong, den sie ebenso wie den Krieg der USA in Vietnam überhaupt als einen imperialistischen Akt interpretierten (vgl. Rapoport 2006 e: 12 f.). Auch im Falle der dritten Welle des modernen Terrorismus ist augenscheinlich räumliche Entgrenzung zu attestieren. Sind beim religiösen Terrorismus – der vierten und derzeit aktuellen Welle – Rückzugs-, Operations- und Rekrutierungsgebiete klar definierbar? Betraf ein einzelner Anschlag ein überaus großes Gebiet? Der religiöse, im konkreten Fall durch den Islam geprägte, Terrorismus hat – wie Röhrich (2005: 28) darlegt – seine Wurzeln im Iran 143 und im Libanon, aber auch in Ägypten. 144 Er lässt sich 141 142
143
Eine Ausnahme bildet die PLO, die durch ihre Flugzeugentführungen im Ausland aktiver als in der Westbank war. Gerade die deutschen Bewegungen nutzten Verbindungen in den Nahen Osten, um dort unterzutauchen oder ausgebildet zu werden. So flüchteten Horst Mahler, Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Peter Homann 1970 in ein Ausbildungslager der Al Fatah, einer Untergruppe der PLO, nach Jordanien. Vgl. Peters (2004: 198-204) sowie Aust (1998: 121-134). Der schiitische Terrorismus, der vom Iran Khomeinis massiv gefördert wurde, hatte keineswegs eine räumliche Begrenzung. Auch er war über die Grenzen des Iran hinaus ange-
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allerdings nicht nur in den arabischen Ländern, sondern auch in den muslimischen Ländern entlang der Südflanke der ehemaligen Sowjetunion beobachten. 145 Der in der aktuellen Terrorismusdebatte dominante Akteur, die Al Qaida, verfügt in 72 Ländern über Zellen und Splittergruppen. 146 Zwar ist die überwiegende Anzahl der religiös motivierten Anschläge auf US-Einrichtungen oder Bürger gerichtet, doch ist das Operationsgebiet der Terroristen nicht auf das originäre Territorium der USA beschränkt. Vielmehr wurden, worauf auch Wieviorka (2004: xix) hinweist, US-amerikanische Botschaften in Afrika und Kriegsschiffe im mittleren Osten zu Zielen.147 Ähnlich räumlich entgrenzt sind auch die Kapitalströme, mit denen sich der islamistisch-fundamentalistische Terrorismus vom Typus der Al Qaida finanziert (vgl. Napoleoni 2004; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006: 351-356). Er nutzt als Rückzugs- und Rekrutierungsgebiete alternierend afrikanische und auf dem asiatischen Kontinent liegende muslimische Staaten. 148 Wieviorka (2004: xxii) zufolge werden auch in westlichen Staaten regelmäßig aus bestimmten Milieus heraus Aktivisten angeworben. Doch nicht nur zum Rückzugs- oder Rekrutierungsgebiet wurde der Westen, sondern auch zum Aktionsgebiet: „These risks are becoming real within the borders of hitherto safe countries. Even the United States is transparently no longer a safe haven from foreign or local terrorists” (Daniell 2004: 72). Dies verdeutlichten die Anschläge des 11. September. Doch nicht nur der Aktionsradius des religiösen Terrorismus hat globale Dimensionen. Dasselbe
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legt. Der Slogan vom Weg nach Jerusalem, der über Kerbala führt, ist hierfür kennzeichnend. Im übertragenen Sinne war dieser Slogan jedoch als Synonym für die Befreiung der islamischen Welt von ihren äußeren (Israel) wie auch inneren Feinden (Saddam Hussein im Irak) zu verstehen. Nichtsdestotrotz wurde damit ein über die Grenzen des Iran hinausgehendes Ziel formuliert. Wieviorka (2004: xiv) weist darauf hin, dass in allen Ländern die jeweiligen Terroristen ihre Anliegen mit der Palästinenserfrage zu verbinden suchten. Huntington (1998: 168-187) beschreibt die islamische Resurgenz als Produkt und Versuch der Bewältigung der Moderne (179), sodass sie eher anti-westlich denn antimodern sei (180). In den afghanischen Trainingscamps wurden bis 2001 Männer aus rund 60 verschiedenen Ländern ausgebildet. Heute besitzt der gewaltbereite Islamismus Strukturen und Basen in Westeuropa, Nordamerika, Nordafrika, Ostafrika, auf der arabischen Halbinsel, in der Türkei sowie in Südostasien (vgl. Röhrich 2005: 28; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006: 236). Die Wurzeln des Islamismus beschreibt Hirschmann (2004: 30-34). Der erste Anschlag der Al Qaida war gegen ein von US-Amerikanern frequentiertes Hotel in Aden (29.12.1992) gerichtet. Die nächsten halbwegs zuverlässig nachweisbaren Anschläge waren die Angriffe auf die US-Botschaften in Nairobi und Dar-es-Salaam (07.08.1998). Rapoport (2006 e: 18) verweist in diesem Zusammenhang auf Ayatollah Komeini, der erklärte, im Islam gäbe es keine Grenzen.
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gilt auch für die Auswirkungen eines einzelnen Anschlags: den Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001. Obwohl der Anschlagsort auf dem amerikanischen Kontinent lag, reagierten – fraglos durchaus auf unterschiedliche Art und Weise – auf allen anderen Kontinenten die verschiedensten Akteure. Dies zeigt, dass der moderne Terrorismus schwerlich von einem anderen Phänomen der modernisierten Moderne trennbar ist: von der Globalisierung. Bedingt durch die sich öffnenden Grenzen und Märkte, die immer vielschichtiger konfligierenden Interessen staatlicher und nicht-staatlicher Akteure, wird die geographische Verortung bzw. Eingrenzung des Al-Qaida-Terrorismus erschwert, den Wieviorka als „transnational force that is extra-territorial with no specific anchorage in the discussions and conflicts of any one country“ (Wieviorka 2004: xiii) beschreibt. Der Terrorismus der vierten Welle ist daher ausdrücklich als räumlich entgrenzt zu werten. 149 2.2.2.2
Zeitliche Dimension
Terrorismus soll dann als zeitlich entgrenzt bewertet werden, wenn einzelne terroristische Akte unverhältnismäßig lang wirken, die Berichterstattung besonders schnell oder nur extrem zeitverzögert erfolgt, die einzelnen Anschläge zeitlich besonders präzise koordiniert sind oder sich die Wirkung von Anschlägen erst zeigt, wenn dieselben schon in Vergessenheit geraten sind. Erfüllt der moderne Terrorismus eines dieser Kriterien? Unverhältnismäßig lang wirkende Anschläge waren bei der ersten Welle des modernen Terrorismus ebenso wenig zu beobachten wie zeitverzögerte Wirkung oder besondere zeitliche Abstimmung bei mehreren inhaltlich zusammenhängenden Anschlägen. Die Einführung neuer Kommunikationsmethoden im 19. Jahrhundert jedoch bedeutete einen Quantensprung für den Umgang mit Informationen und folglich für die Berichterstattung. 150 Telegraphie ermöglichte die Verbreitung von Nachrichten innerhalb kürzester Zeit, weshalb die erste Welle des modernen Terrorismus – gerade im Vergleich zum vormodernen – als zeitlich entgrenzt anzusehen ist.
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Dies gilt ebenso für die buddhistische Aum Shinrykio, die ihr populärstes Attentat (den Sarin-Anschlag im März 1995 in Tokio) innerhalb Japans verübte, jedoch weltweit – vor allem in Russland – Netzwerke bildete. Rapoport (2006 e: 3 ff.) erwähnt als Mittel für schnelle Nachrichtenübertragung das Telegramm.
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Zeitliche Koordination und zeitverzögerte Wirkung traten beim modernen Terrorismus der zweiten Welle nicht in einer Dimension zutage, die zu einer Bewertung als zeitlich entgrenzt führen muss. Die Kommunikationstechnologie entwickelte sich indes stetig weiter – es sei auf die Einführung des Telefons und des Radios 151 verwiesen – sodass auch dem antikolonialen Terrorismus mit derselben Begründung wie dem Anarchismus zeitliche Entgrenzung zu bescheinigen ist. Darüber hinaus sind die Nachwirkungen eines einzelnen Anschlags auch heute noch deutlich im Bewusstsein zumindest von Teilen der Öffentlichkeit. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers am 28. Juni 1914 in Sarajewo wurde zum Anlass des Ersten Weltkriegs und erzeugte somit lang anhaltende Wirkung. 152 Dies entgrenzt den Terrorismus der zweiten Welle zeitlich. Die dem Terrorismus der dritten Welle zuzurechnenden Gruppen verübten Anschläge zwar mitunter parallel, 153 d. h. aufeinander abgestimmt, indes nicht mit einer Präzision, die einen Hinweis auf zeitliche Entgrenzung bedeutet. Auch fielen Terrorakt und Wirkung bislang stets zusammen – bedingt durch die eingesetzten Kampfmittel, die stets einen unmittelbaren physischen und mittelbar psychischen Schaden bewirkten. Dagegen ist die verzugslose Berichterstattung – erneut begünstigt durch den Fortschritt der Kommunikationstechnologie in Form des Fernsehens – wie bei den beiden ersten Wellen dazu geeignet, zeitliche Entgrenzung zu bescheinigen. 154 Doch auch in der letzten Hinsicht – nämlich der übermäßig langen Wirkung – fällt der Terrorismus der Neuen Linken auf. Noch 30 Jahre nach dem Deutschen Herbst (1977) scheint eine nüchternsachliche Debatte über den Umgang mit noch inhaftierten RAF-Mitgliedern bzw. deren Freilassung kaum möglich. 155 Dies verweist auf die nachhaltige Wirkung, die der Terrorismus der RAF in den 1970ern auf die deutsche Gesellschaft entfaltete. Daher ist der Terrorismus der dritten Welle auch in dieser zweiten Hinsicht und folglich insgesamt als zeitlich entgrenzt zu bewerten. 151 152 153 154 155
Für die Entwicklung des Rundfunks in Deutschland vgl. Marek/Sarkowicz (2005). Den Hergang des Attentats schildert Berghahn (1997: 8 f.). Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist die sowohl in zeitlichem wie auch in einem inneren Sinnzusammenhang mit der Schleyer-Entführung stehende Entführung der Lufthansamaschine Landshut (Peters 2004: 430-436, 443-449). Die Bedeutung der Berichterstattung erkannte vor allem die Gruppe Schwarzer September, die unmittelbar weltweite Aufmerksamkeit durch die Geiselnahme israelischer Sportler bei den Olympischen Spielen 1972 erzeugte (Hoffman 2002: 90-92). Dies illustrieren die Positionen der unterschiedlichen Parteien anlässlich der Debatte um eine mögliche Begnadigung von Christian Klar durch Bundespräsident Horst Köhler. In der heftig und öffentlich geführten Debatte attackierte der Generalsekretär des CSU, Markus Söder, sogar den Bundespräsidenten selbst und versuchte, mittels der Androhung fehlender Unterstützung durch die CSU bei einer eventuellen Wiederkandidatur für das Amt des Bundespräsidenten diesen unter Druck zu setzen.
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Abschließend bleibt, die vierte, religiöse Welle des modernen Terrorismus auf zeitliche Entgrenzung zu untersuchen. 156 Dazu wird das Beispiel der Anschläge des 11. September 2001 gewählt. Daniell attestiert ihnen nicht nur zeitlich weitreichende Wirkung: „There are also longer term costs of stress, fear and suffering as the images of the collapsing towers in New York have been indelibly imprinted on the minds of billions of people around the world who were not directly affected by the disaster, but whose lives will be forever influenced by their observations of the televised events” (Daniell 2004: 76).
Verstärkt wird die Wirkung durch einen neuerlichen Sprung in der Entwicklung der Kommunikationstechnologie. Das Internet stellt für den religiösen Terrorismus eine ideale Plattform dar, in extrem kurzer Zeit Informationen extrem breit zu streuen. Die Al Qaida bedient sich des Internets – des Symbols für Kontingenz und absolute Entgrenzung schlechthin – beim Austausch von Anleitungen zum Bombenbau oder auch zur Mobilisierung von Anhängern. Seine Nutzung ist wesentlicher Bestandteil der verschiedenen Entgrenzungen: sachlich, räumlich, zeitlich und sozial. 157 Davon abgesehen stellt die zeitliche Koordination der beiden Flugzeuge, die in die Türme des WTC stürzten, ein in doppelter Hinsicht bemerkenswertes Unterfangen dar. An einem einzigen Morgen wurden insgesamt vier Flugzeuge entführt, wovon zwei mit genau dem zeitlichen Abstand dasselbe Ziel ansteuerten, dass ausreichend Medien vor Ort waren, um live – also ohne jeden Zeitverzug – in Bild und Ton darüber zu berichten. 158 Auch dadurch wirken die Anschläge des 11. September einerseits wie ein einziger, andererseits wirken sie unverhältnismäßig lang. Doch auch die Entkoppelung von Ursache und Wirkung kann beim religiösen Terrorismus in zweierlei Hinsicht beobachtet werden. Einerseits gilt auch hier die Transtemporalität der Wirkung, die Selbstmordattentate für den Terroristen besitzen und die schon den Assassinen attestiert wurde. Andererseits liegen auch bei den sogenannten Schläfern Ursache und Wirkung der Anwerbung 156
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Der Faktor Zeit spielt im Falle des Al-Qaida-Terrorismus noch eine weitere, zu der der anderen drei Wellen unterschiedliche Rolle. Beim vormodernen Terrorismus und sogar den ersten drei Wellen des modernen sollte Terrorismus regelmäßig die Funktion einer Initialzündung beim Erzeugen eines Massenaufstandes haben. Dadurch konnte er nicht unendlich fortgeführt werden, ohne Legitimität, Sympathie und Interesse beim „zu interessierenden Dritten“ einzubüßen. Die Al Qaida hingegen verfolgt nach Münkler (2006) mit dem Einsatz terroristischer Mittel neben der kommunikativen auch eine Strategie der psychischen, militärischen, politischen und ökonomischen Ermattung. Zu einer gegensätzlichen Auffassung vgl. Kepel/Stauffer (2006). Kepel und Stauffer schreiben eher den Bildmedien in der Strategie der Al Qaida eine zentrale Rolle zu. Um 8.46 Uhr Ortszeit stürzte die erste Boeing 767 in den Nordturm des WTC, 17 Minuten später (9.03 Uhr) eine zweite in den Südturm. Vgl. unter anderem Nerkami (2007: 46) sowie für den Ablauf an sich: 11. September: Chronologie der Ereignisse (2001).
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mitunter zeitlich weit auseinander (vgl. Rapoport 2006: 21). Unter Schläfern sind Aktivisten zu verstehen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt bereits für eine terroristische Gruppierung gewonnen wurden, jedoch noch über Jahre unter dem Deckmantel einer bürgerlichen Existenz auf den Angriffsbefehl warten. 159 Auf diese Weise ist der Zusammenhang zwischen Rekrutierung und Anschlag häufig nicht mehr oder nur schwer rekonstruierbar: Ursache und Wirkung scheinen voneinander getrennt. Deutlich wird: Der Terrorismus der vierten Welle erfüllt alle Kriterien zeitlicher Entgrenzung. 2.2.2.3
Sachliche Dimension
Um als sachlich entgrenzt gelten zu können, muss der moderne Terrorismus entweder hinsichtlich der Angriffsobjekte (nicht: Subjekte) frei von Mustern sein oder seine Mittel und Taktiken müssen sich als derart unkonventionell erweisen, dass dadurch bestehende Grenzen verschoben werden. In der ersten Welle des modernen Terrorismus waren Symbole der Obrigkeit, wie staatliche Bahnverbindungen 160 oder nach Morosow (1880: 60) auch Zarenschlösser, bevorzugte Angriffsziele. Vor dem Hintergrund der klaren Zielsetzung, die bestehende gesellschaftliche, aber auch und vor allem politische Ordnung zu erschüttern, zeichnet dies ein recht deutliches Bild. Sachliche Willkür und somit Entgrenzung sind an dieser Stelle nicht zu festzustellen. Die eingesetzten Mittel und Methoden verfolgten zwei grundsätzliche Ziele: Einerseits sollte Aufmerksamkeit erzielt, Propaganda gemacht werden, 161 andererseits soll-
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Für eine allerdings populärwissenschaftlich anmutende Arbeit zur Thematik der Schläfer vgl. Theveßen (2002: bes. 133-144). Heinzen erklärt: „Wenn wir hören, daß mit Mordknechten beladene Eisenbahnzüge durch einen unter die Schienen gelegten Fingerhutvoll Knallsilber von der Bahn geworfen, […] so werden wir darin nur Mittel zu erblicken haben, welche die massenhafte Barbarei der Reaktion der verzweifelnden Freiheitspartei zur Nothwehr aufgedrungen hat“ (Heinzen 1849: 49). Most stellt fest: „Aus Erfahrung weiß nun Jeder, dass man bei der Aktionspropaganda einen desto grossartigeren Effekt zu erzielen vermag, je höher geschossen oder gesprengt wird“ (Most 1881: 83).
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te die eigene zahlenmäßige Unterlegenheit ausgeglichen werden. 162 Während inhaftierte Mitglieder der Narodnaja Wolja Prozesse zur Selbstinszenierung nutzten und ungerechte Haftbedingungen mit Hungerstreik oder Selbstmord beantworteten, 163 fanden auch Plakate und Zeitungen als öffentliche Kommunikationsmittel Anwendung. 164 Um die zahlenmäßige Unterlegenheit auszugleichen, war Theoretikern wie Morosow oder auch Heinzen nahezu jedes Mittel recht: „Wir gehen, durch unsere Gegner belehrt, von dem Satze aus, daß das Morden, sowohl Einzelner als ganzer Massen, noch immer eine Nothwendigkeit, ein unumgängliches Mittel zur Erreichung der geschichtlichen Zwecke ist“ (Heinzen 1849: 45).
Wie bei Waldmann (2001: 49) und Laqueur (1987: 134) deutlich wird, wandelten sich die Anschlagsmittel entsprechend dem technologischen Fortschritt: weg von der bis dato gebräuchlichen Dolchattacke, hin zum Einsatz von Minen und Bomben. An Sprengmitteln kamen Schwarzpulver, Quecksilberfulminat (als Zünder), Dynamit, 165 Nitroglyzerin und Nitrozellulose zum Einsatz. Gerade das damals als ultima ratio geltende Dynamit fand nicht nur bei den amerikanischen und französischen Anarchisten, sondern auch bei der Narodnaja Wolja regelmäßig Anwendung. Nach Laqueur (1987: 133-136) stellten die daraus hergestellten Angriffsmittel Vorläufer von Molotow-Cocktails, Brief- und Paketbomben dar. Nechaev (1869: 57) fordert im Sinne der Revolution eine vollständige EntIndividualisierung, Ent-Emotionalisierung und Ent-Moralisierung, wobei der Revolutionär in der Perspektive Morosows (1880: 62) seine Helfer nicht als Menschen, sondern als Kapital sehen sollte, das dem allgemeinen revolutionären Fundus entstammt. Selbstmordattentate erschienen in diesem Kontext unproduktiv, da im Falle des Überlebens der Attentäter ja erneut tätig werden oder 162
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Heinzen (1849: 51 f.) forderte die Entwicklung neuer Technologien, die einerseits nur wenig Bedienpersonal bräuchten, andererseits in der Lage wären, eine proportional zur Zahl der Feinde zunehmende Schadwirkung zu entfalten. Diese Geräte müssten unauffällig und einfach zu bedienen sein, aber genauso wirksam wie Kanonen. Ferner müssten diese Waffen einfach und kostengünstig herzustellen sein. Eingesetzt durch den Einzelnen der eigenen Partei gegen die Massen des Feindes müssten sie einen weit größeren Effekt erzielen, als wenn jene diese gegen den Einzelnen richten. Damit solche Technologien erfunden würden, sei es denkbar, dass betuchtere Revolutionäre Preise ausschrieben für die Entwicklung derselben. Heinzen richtet diesen Appell vor allem an ungarische, polnische und italienische Parteigänger. Dieses Verhalten nahm das späterer Terroristen vorweg (vgl. Waldmann 2001: 52 f). Most (1881: 91) verweist in diesem Zusammenhang auf seine eigene Zeitung, die in London und New York erschienene „Freiheit“. Dies betont Rapoport (2006 e: 7 f.). Dadurch, dass Dynamit Täter und Opfer gleichermaßen gefährdete, stellte es ein Differenzierungskriterium gegenüber herkömmlichen Kriminellen dar.
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auch seine Erfahrungen weitergeben konnte. Stattdessen regte Wladimir Burzew eine andere, beim modernen Terrorismus mittlerweile regelmäßig zu beobachtende Praxis an: Entführungen. 166 Die unter Anarchismus zu subsumierenden Akteure brachten augenscheinlich nicht nur die damals neueste Technik zur Anwendung, sie zeigten sich auch – hierauf weist Rapoport (2006 e: 5) hin – erfinderisch bei der Entwicklung neuer Konzeptionen zur Anwendung von Gewalt. Alles, was Potenzial zur Destruktivität hatte, wurde bei Anschlägen auch eingesetzt oder sollte es wenigstens werden. Die dabei entwickelten Methoden waren durchaus innovativ – es sei auf die Brief- und Paketbomben verwiesen – und ihrer Zeit teilweise weit voraus. Anhand dieser Aspekte manifestiert sich die sachliche Entgrenzung des Terrorismus der ersten Welle. In der zweiten Welle des modernen Terrorismus waren die ersten Anschläge gegen die Infrastruktur der Polizeibehörden der Kolonial- oder als solche empfundenen Besatzungsmächte gerichtet, die zunehmend mit der Situation überfordert waren und durch Militär ersetzt wurden. Nach der terroristischen Provokationsstrategie sollte nun das Militär zu überharten Gegenmaßnahmen provoziert werden, die die Besatzungsmacht ihrer Legitimität beraubten. 167 Dies verweist hinsichtlich der strikt auf die Infrastruktur der Kolonialmacht sowie die von Kollaborateuren ausgerichteten Angriffsziele auf eine sachliche Begrenzung. 168 Zu den Aktivitäten der IRA zählten ferner Gemälderaub 169 und
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Dieser Vorschlag wurde erst durch die dritte Welle des modernen Terrorismus in großem Stil aufgegriffen (vgl. Laqueur 1987: 146). Die Provokationskomponente des Terrorismus wird unter anderem deutlich bei Rapoport (2006 e: 11) oder in „Der Befreiungskampf der provisorischen IRA“ (1972). Auch Vergnügungsstätten, die von Funktionsträgern der Besatzungsmacht frequentiert wurden, waren geeignete Ziele. So griff die Provisional IRA neben Militär- und Polizeiunterkünften, Außenposten, Zollbüros, Regierungs- und Verwaltungsgebäuden, elektrischen Transformatoren und Hochspannungsleitungen auch Kinos, Hotels, Clubs, Tanzlokale und Pubs an, sofern sie von britischen Soldaten aufgesucht wurden. Dies gilt auch für Fabriken, Firmen und Unternehmen, die entweder britische Eigentümer hatten oder für die Briten produzierten. Ferner zählten auch Wohnungen britischer Agenten oder Kollaborateure dazu. Dieses strategische Vorgehen stellt eine Methode dar, deren Ziel die Entgrenzung der Reaktion der Besatzungsmacht ist. Die Antitourismuskampagne der ETA stellt zwar auch die Umsetzung einer strategischen Konzeption dar, passt aber in ihrer Stoßrichtung nicht zu der der übrigen Terroristen der zweiten Welle, die ihre Angriffe vornehmlich auf von Besatzern genutzte Ziele führten. Laqueur (1987: 120) schildert zwei Gemäldediebstähle der Provisional IRA – 1974 unter der Führung von Dr. Rose Dugdale, einer reichen englischen Erbin, sowie im Mai 1986.
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Drogengeschäfte, 170 wobei diese nur bedingt politisch-kommunikativen Hintergrund haben. 171 Das am häufigsten genutzte Mittel waren Bomben, die jedoch in den verschiedensten Varianten eingesetzt wurden. 172 Das Spektrum der eingesetzten Mittel und Methoden ist durchweg überschaubar und wenig innovativ, wobei sich Ersteres durch die Absicht, eine breite Zielgruppe für das eigene politische Anliegen zu gewinnen, erklärt. Überbordende willkürliche Gewalt wirkt auf breite Bevölkerungsschichten eher abschreckend, sodass Präzision notwendig war, die wiederum den Einsatz von in ihrer Wirkung schwer kontrollierbaren Mitteln (z. B. Massenvernichtungswaffen) ausschloss (vgl. Münkler 2006). Daher wirken die eingesetzten Mittel und Methoden im Vergleich zu anderen, vor der zweiten Welle aufgetretenen Formen von Terrorismus beinahe brav und bieder. Dies erkannte auch Brian Jenkins (1974 und 2002). Er formulierte den Grundsatz, dass Terroristen nicht wollen, dass viele Menschen umkommen, sondern dass viele Menschen zuschauen (vgl. Jenkins 1974 und 2002). 173 Diese These impliziert eine freiwillige Selbstbeschränkung der Terroristen und wird dadurch gestützt, dass das gesamte Spektrum der durch die 170
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Die derzeitige IRA ist verstärkt in Drogengeschäfte involviert; die Wiedervereinigung des protestantischen Nordirlands mit der katholischen Republik Irland scheint nur noch ein nachrangiges Ziel zu sein. Vor diesem Hintergrund akzeptierte der Belfaster Veteranenverband ein einseitiges Statement der IRA, wonach die Waffen niedergelegt würden und der bewaffnete Kampf beendet sei. Zuvor hatte das politische Organ der IRA, die Sinn Fein Partei unter Gary Adams, bei Wahlen in beiden Irlands so gut abgeschnitten, dass sie in deren Regierung vertreten sein dürfte. Ebenso zuträglich für ein Ende des bewaffneten Kampfes war die für politische Zwecke delegitimierend wirkende Hinwendung der IRA zur konventionellen Kriminalität, wovon unter anderem ein Bankraub in Belfast mit einer Beute von 26,5 Millionen Pfund zeugt (vgl. „Durchbruch in Belfast“ 2005). Aktionen terroristischer Vereinigungen, die nicht der Kommunikation politischer Anliegen, sondern lediglich der Finanzierung der Unternehmungen dienen, werden in der Wahrnehmung von Opfern und neutralen Akteuren einerseits nur selten von wirklich kommunikativen Aktionen getrennt, andererseits aber ab einem gewissen Ausmaß in der eigenen Sympathisantenschaft wesentlich skeptischer verfolgt. Folglich nimmt es nicht wunder, dass die IRA in letzter Zeit erhebliche Legitimationsprobleme bekommt. Zwar hält sie sich weitgehend an das Karfreitag-Abkommen von 1998, expandiert aber in den Bereichen der illegalen Geldbeschaffung. Im Karfreitag-Abkommen von 1998 verpflichteten sich Großbritannien, die Republik Irland sowie die Protestanten und Katholiken Nordirlands auf eine friedliche Koexistenz (vgl. Matussek 2005). Zur Finanzierung von Terrorismus vgl. ferner Adams (1986). Laqueur (1987: 136, 140) bemerkt, Brief-, Buch- oder Paketbomben seien ebenso genutzt worden wie solche, die aus gestohlenen Hubschraubern abgeworfen oder in Autos eingebaut wurden. Ihm zufolge war Nordirland der erste Schauplatz überhaupt, an dem Autobomben eingesetzt wurden. Jenkins (2002: 6) erkennt an, dass der Terrorismus der Al Qaida eine neue Dimension im Vergleich zu den bisherigen Formen darstellt. Dies kann als implizite Abkehr von seiner Selbstbegrenzungsthese verstanden werden.
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zweite Welle des modernen Terrorismus genutzten Mittel und Methoden sachlich begrenzt war. Zu den bevorzugten Zielen der dritten Welle des modernen Terrorismus zählten neben Botschaften Großveranstaltungen, die entsprechendes öffentliches Interesse auf sich zogen, 174 Flugzeuge (Merari 2006) und Kreuzfahrtschiffe (vgl. Rapoport 2006 e: 13-16). Da jegliche Transportmittel als Ziele infrage kamen, war es nur noch eingeschränkt möglich, durch individuelle Entscheidungen das Risiko, selbst zum Opfer von Terrorismus zu werden, zu kontrollieren. 175 Der Terrorismus der Neuen Linken war somit hinsichtlich seiner Angriffsziele entgrenzt. 176 Bei ihren Aktionen nutzten die Terroristen eine große Bandbreite an Waffen: 177 Pistolen, Revolver, Sturmgewehre, Handgranaten, Panzerfäuste, Mörser und Bomben zählten dazu. Zur gängigen Methode wurden Entführungen, die als terroristisches Mittel zwar bereits durch den Anarchisten Wladimir Burzew angeregt, bislang aber nicht praktiziert worden waren. 178 Entführt wurden Passagierflugzeuge oder Kreuzfahrtschiffe wie die Achille Lauro (vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006: 47, 375). Hierbei wurden kalkuliert regelrechte Geiselkrisen heraufbeschworen, wie im Falle der Entführungen Hanns 174
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Veranstaltungen von öffentlichem Interesse wie die Olympischen Spiele 1972 in München und die Konferenz der OPEC-Staaten 1975 in Wien rückten in den Fokus vornehmlich arabischer Terroristen. Für die Reaktion Israels auf das Attentat von München vgl. Klein (2005). Zur Geiselnahme auf der OPEC-Konferenz vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven (2006: 82, 362, 386). Dies gilt vor allem für Interkontinentalreisen, bei denen PKW oder Eisenbahn als Transportmittel ausgeschlossen sind. Die sachliche Entgrenzung der Ziele geht einher mit der wachsenden Abhängigkeit der Gesellschaft von infrastrukturellen Rahmenbedingungen (vgl. Johnson 1978: 239). Schon Ende der 1970er listete Chalmers Johnson Flugzeuge, Tanker, Kraftwerke, Pipelines, Transportachsen, Wirtschafts- und Kommunikationszentren und Bohrinseln als mögliche Ziele auf, die für die Gesellschaft von Wichtigkeit sind. Für die Richtigkeit der Beobachtung vgl. Sturbeck (2006). Die Folgen eines – nicht durch Terrorismus hervorgerufenen – Stromausfalls zeigten sich im November 2006, als weite Teile West- und Südeuropas vorübergehend ohne Strom waren, nachdem es in Deutschland bei einer lokalen Abschaltung durch den Energiekonzern E.ON zu einer Überlast-Kettenreaktion gekommen war. Die RAF soll sogar am Diebstahl von Senfgas aus einer amerikanischen Kaserne beteiligt gewesen sein. Über einen Einsatz desselben ist indes nichts bekannt. Vgl. dazu auch Freudenberg (2005). Derartige Methoden waren an sich keineswegs unbekannt. Schon in der nordischen Mythologie finden sich Beispiele, aus denen das Erpressungsprinzip deutlich wird – sogar mit bedingt terroristisch-kommunikativem Kontext. „Das Lied von Thrym“ erzählt, wie der Riese Thrym Thors Hammer stiehlt, um ihn gegen die Fruchtbarkeitsgöttin Freya einzutauschen. Darüber hinaus waren auch in der Antike Entführungen – wofür die Entführung Gaius Julius Cäsars ein prominentes Beispiel ist – ein bekanntes Mittel, jedoch meist vor pekuniärem Hintergrund.
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Martin Schleyers oder des italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro (vgl. Rapoport 2006 e: 13). Das Heraufbeschwören von Geiselkrisen mit zahllosen an sich Unbeteiligten – wie im Falle der Flugzeugentführungen – stellt eine neue Methode dar, die eine Grenze verschob. Dies führt in Verbindung mit der entgrenzten Zielwahl dazu, dass der moderne Terrorismus der dritten Welle insgesamt als sachlich entgrenzt zu bewerten ist (vgl. Reuter 2002: 41 f.; Harkabi 1968: 128 f.; Fanon 1981). 179 Die Untersuchung der sachlichen Entgrenzung der vierten Welle des modernen Terrorismus konzentriert sich an dieser Stelle auf deren dominante, d. h. islamische Form. 180 Deren Hauptakteur, die Al Qaida, verübte Anschläge auf das World Trade Center, das Pentagon, Kriegsschiffe, Botschaften, Verkehrsmittel in Großstädten und Urlaubsorte rund um den Globus. 181 Broder (2006: 121 f.) zufolge plante sie auch einen Anschlag auf den Eiffelturm. Dies deutet darauf hin, dass die Al Qaida ihre Ziele bewusst nach Symbolwert und Funktionalität auswählt. 182 Die Wahl nicht nur von Fern-, sondern auch Nahverkehrsverbindungen bzw. Arbeitsstätten und Urlaubsorten entgrenzt den religiösen Terrorismus in sachlicher Hinsicht. Bemerkenswert ist, dass die häufig als sachlich entgrenzt wahrgenommenen Anschläge des 11. September durch eine ausdrückliche Begrenzung an Mitteln ermöglicht wurden. Nicht durch High-Tech-Waffen brachten die Männer um Mohammed Atta Flugzeuge – die ihrerseits schon bei früheren terroristischen Wellen eine (wenn auch andere) Rolle gespielt haben – in ihre Gewalt, sondern mit Teppichmessern, also mit geradezu archaisch anmutenden Mitteln, 179
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Die Bereitschaft, Gewalt anzuwenden und eigene Nachteile in Kauf zu nehmen, waren im Terrorismus der Neuen Linken zu beobachten. Davon zeugt einerseits der terminologische Rückgriff auf die Opferbereitschaft und Selbstbezeichnung der Assassinen durch die PLOAktivisten. Diese nennen sich – ohne jedoch die Opferbereitschaft ihrer Vorbilder zu erreichen – ebenfalls Fida’jiin (Sich-Opfernde). Gewalt an sich besitzt der Doktrin der Al Fatah zufolge reinigende Wirkung. Hoffman (2002: 211 f.) indes attestiert Linksterroristen eine sehr selektive, Grenzen wahrende Gewaltanwendung. Dies schließt indes nicht aus, dass auf Terrorismus von Buddhisten oder Hindus nicht wenigstens sporadisch Bezug genommen wird. Schließlich ist die Aum-Sekte die bislang einzige terroristische Gruppierung, die ABC-Waffen – genauer: das Giftgas Sarin, was schon seit 1925 international als „besonders heimtückisches Mittel der Kriegsführung“ geächtet ist – eingesetzt hat. Vgl. hierzu unter anderem Wieviorka (2004: xxiv f.), Dietl/Hirschmann/Tophoven (2006: 265-278) und Freudenberg (2005). Eine Untersuchung der Anschläge von New York und Washington 2001, Istanbul 2003, Madrid 2004, Amsterdam 2004 und London 2005 bieten Dietl/Hirschmann/Tophoven (2006: 168-188). Zusätzlich sind seit etwa 2005 verstärkt Attentate auf unspektakulärere Ziele – USEinheiten in Afghanistan und im Irak – zu beobachten. Diese stellen geringere Anforderungen an Planung, Organisation und Logistik als Attentate im Stile von New York, Madrid oder London.
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die wiederum denen der Sikarier und Assassinen ähnelten. 183 Diese Grenzunterschreitung stellt ebenfalls einen Umstand dar, der zwar keine Entgrenzung an sich ist, aber dennoch Grenzen aufzuzeigen vermag: die Grenzen der Kontrollmöglichkeiten. 184 Die Idee, ein Flugzeug in ein Gebäude zu steuern, stammt nicht von der Al Qaida. Dasselbe wurde bereits 1978 in den Turner Diaries (MacDonald 1996: 200-204) angedacht 185 beziehungsweise durch algerische Terroristen mit dem Eiffelturm als Angriffsziel im Dezember 1994 versucht (vgl. Wieviorka 2004: xxiii f.). Nichtsdestotrotz verschiebt die Umsetzung der Idee erneut Grenzen, da sie eine deutliche Abweichung vom bisherigen Schema der Flugzeugentführungen darstellt. 186 Rational kalkulierter Selbstmord, gepaart mit gleichzeitiger Exklusion jeglicher Verhandlungen, war zumindest bei Flugzeugentführungen vor dem 11. September unbekannt. Das schockierende und somit der Kommunikation dienliche Element war nicht mehr die Entführung des Flugzeugs an sich, sondern das Ziel derselben. Der Terrorismus der Al Qaida beschreibt den – möglicherweise vorläufigen – Höhepunkt einer Entwicklung der sachlichen Entgrenzung: „[T]errorists no longer distinguish between limited and restricted 183
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Dies sagt nichts über die potenziell einsetzbaren Mittel aus. Vgl. Hirschmann (2003: 31 ff.), Dietl/Hirschmann/Tophoven (2006: 288) sowie al-Baradei (2005: 117). So gelten unter Cyberterrorismus zu subsumierende Angriffe auf daten- und informationsverarbeitende Systeme als grundsätzlich möglich, wurden bislang aber noch nicht aus terroristischen Motiven in großem Stil unternommen. Dies gilt auch – mit Ausnahme des Sarin-Angriffs der Aum Shinrikyo – für den Einsatz von ABC-Waffen. Letzterer stellt fraglos eine Form der sachlichen Entgrenzung dar. Terroristen, die sich Massenvernichtungswaffen zu verschaffen suchen, werden von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) als eines von drei Phänomenen gesehen, die die Welt in den letzten Jahren radikal verändert hätten. Obwohl aufgrund in Afghanistan gefundener Dokumente erwiesen ist, dass die Al Qaida Überlegungen angestellt hat, wie sie sich Atomwaffen verschaffen kann, lagen der IAEA zufolge zumindest bis Februar 2005 keine stichhaltigen Beweise für einen tatsächlichen Erfolg vor. Die anderen beiden Phänomene seien die Bestrebungen einiger Länder zur Aneignung der zur Produktion von spaltbarem Material notwendigen Technologie sowie das Entstehen eines internationalen Schwarzmarktes für Nuklearmaterial. Auch Anschläge mit zunehmend in Afghanistan und im Irak eingesetzten behelfsmäßigen Sprengmitteln (Improvised Explosive Device; IED) sind kaum abzuwenden. Derartige improvisierte Sprengsätze werden entweder am Wegesrand platziert, auf Autos, Motorräder, Fahrräder oder auch Esel montiert oder durch Selbstmordattentäter gezündet. William L. Pierce schrieb den Roman unter dem Pseudonym Andrew MacDonald. Er ist vollständig und kostenfrei im Internet als kapitelweises Download im pdf-Format unter http://www.angelfire.com/folk/bigbaldbob88/TurnerDiaries.pdf [Stand: 30.08.2007] verfügbar. Dies gilt nicht für die von Wieviorka (2004: xviii) als „infinite violence“ bezeichneten Selbstmordattentate, obwohl der schiitischen Hizbollah der zweifelhafte Verdienst zukommt, diese nach dem israelischen Einmarsch im Libanon als terroristische Methode wiederbelebt zu haben. Vgl. Rapoport (2006 e: 18).
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uses of violence“ (Coker 2002: 39). Somit ist die vierte Welle des modernen Terrorismus auch vor diesem Hintergrund sachlich entgrenzt. 187 2.2.2.4
Soziale Dimension
Lassen sich bei der sozialen Struktur der Terroristen und ihrer Opfer Regeloder Gesetzmäßigkeiten erkennen? Sollte dies nicht der Fall sein, so ist der moderne Terrorismus sozial entgrenzt und folglich ein Neues Risiko. Das Interesse soll zuerst der Sozialstruktur der Terroristen der ersten Welle des modernen Terrorismus gelten. 188 Unter den Anarchisten waren verschiedene, jedoch meist europäische, Nationalitäten vertreten. 189 Die Mitglieder der russischen Narodnaja Wolja – hierüber legt Waldmann (2001: 51 f.) recht präzise Angaben vor – hatten überwiegend einen ähnlichen sozialen Hintergrund. Sie stammten aus dem Adel, aus Offiziers- und Beamtenfamilien oder dem gehobenen Bürgertum. 92 % waren jünger als 30 Jahre, stammten aus den südwestlichen Teilen des Zarenreiches und hatten an der Petersburger Hochschule studiert. Unter den Mitgliedern waren Juden überproportional vertreten, 190 auch dachte Nechaev (1869: 58 f.) Frauen eine – nach damaligen Maßstäben – ungewöhnlich wichtige 187
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Daniell (2004: 72-75) zeigt, dass moderner Terrorismus – nicht nur der der Al Qaida – generell das Potenzial zur sachlichen Entgrenzung hat. Dieses entspringt zumindest teilweise der theoretischen Verfügbarkeit von Massenvernichtungswaffen, wie sie in Form des Einsatzes des Giftgases Sarin durch die Aum-Sekte in Tokio bereits praktiziert wurde. Daniell indes argumentiert zu Recht, auch konventionelle Kampfmittel könnten ins Kritische reichenden Schaden an Infrastruktur, Energieversorgung und auch Informationssystemen verursachen. Hierbei werden französische Geheimbünde der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht berücksichtigt, da weder ihr Wirken mit der in vorliegender Arbeit gebräuchlichen Definition von Terrorismus noch der Zeitraum ihres Auftretens mit der ersten Welle des modernen Terrorismus übereinstimmt. Zur sozialen Struktur der französischen – speziell: Pariser – Geheimbünde gibt eine Studie Lucien de la Hoddes (1850), eines in die Geheimbünde eingeschleusten Mitarbeiters der französischen Polizei, Auskunft. Diese Schrift differenziert die Mitglieder revolutionärer Bewegungen in neun verschiedene Gruppen: die sogenannte Schuljugend, die Dummen, die Herumtreiber, das unabhängige Volk, die Fliegenfänger, die Unzufriedenen, politische Flüchtlinge und die Banditen. Auch Laqueur (1978 a: 157 und 1987: 106 f.) weist darauf hin, dass die Klassifikation de la Hoddes sich auf die Mitglieder revolutionärer – nicht dezidiert terroristischer – Bewegungen bezieht. Nach Laqueur (1987: 122 und 1978 a: 39) waren die Aktivisten zumeist Iren, Russen und Franzosen, während die Theoretiker aus Deutschland oder Russland kamen. Beispielsweise kokettierte Wilhelm Weitling, ein früher deutscher Sozialist, mit der Idee, die kriminelle Unterwelt zu mobilisieren. Laqueur (1987: 107) gibt eine gegensätzliche Darstellung. Er verweist zwar auch auf Bakunin, Kropotkin und Sofia Petrowskaja, die allesamt Kinder von Aristokraten oder Landadeligen waren, nennt aber zusätzlich Scheljabow, der Sohn eines Leibeigenen war.
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Rolle zu. 191 Das durchschnittliche Mitglied der Narodnaja Wolja war demnach unter 30, kam aus guter Familie aus dem Südwesten Russlands und war gebildet. Diese Charakterisierbarkeit deutet auf eine gewisse soziale Homogenität hin, was einer sozialen Entgrenzung entgegensteht. 192 Die Theoretiker des Terrorismus waren sich des Umstands durchaus bewusst, dass trotz der an sich breiten Basis – bestehend aus der im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung stetig wachsenden Arbeiterschaft – nur sehr wenige Personen zu terroristischen Aktionen wirklich bereit waren (vgl. Most 1881: 89). Auch erkannten sie die Problematik, dass bei größeren revolutionären Bewegungen aufkommende Spannungen zwischen den Mitgliedern möglich sind, gerade in der Führung. Morosow (1880: 60 f.) nennt als einen der Streitpunkte die Uneinigkeit ob der Wahl der Anschlagsziele. 193 Derartige Überlegungen konterkarieren eine Forderung Nechaevs, dass jeder „Genosse noch einige zweit- oder drittrangige Revolutionäre unter sich haben“ (Nechaev 1869: 57) 194 sollte, zumal sie auch deutlich praxisnäher waren. Daher kann auch hinsichtlich der schieren Kopfzahl potenzieller Aktivisten von einer sozialen Be-
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Nechaev unterteilte die Gesellschaft hinsichtlich ihrer Nützlichkeit in verschiedene Kategorien. Die Rangreihenfolge der Kategorien war ein Spiegel des Schadens, den die Individuen der Sache der Revolution zugefügt hatten. Er ermittelte sechs Kategorien, deren letzte die Frauen darstellten. Die erste musste diejenigen enthalten, für die der sofortige Tod bestimmt war. In der zweiten Kategorie sollten Leute eingeordnet werden, die aufgrund ihres an sich negativen Verhaltens trotzdem zur Revolution beitragen konnten, indem sie das Volk weiter aufstachelten. Die dritte Kategorie umfasste Personen, die über ökonomische Mittel und Einfluss verfügten. Diese waren zu umgarnen. Die vierte bestand aus potenziellen Verbündeten aus der Politik, vorwiegend Liberalen, während die fünfte Propagandisten und Agitatoren waren, welche zu heftiger Aktivität angespornt werden mussten, jedoch den Makel der Halbherzigkeit besaßen. Die sechste und letzte Kategorie schließlich waren die als sehr wichtig eingestuften Frauen, die je nach ihrem Wesen zum Zwecke der Revolution für die Männer der unterschiedlichen Kategorien „benutzt“ werden sollten. Die Frauen, die voll eingeweiht und Förderer der Revolution waren, wurden als von unschätzbarer Wichtigkeit und unersetzlich bezeichnet. Laqueur (1987: 101, 104-106) schätzt den Altersdurchschnitt der russischen Anarchisten und Sozialrevolutionäre auf etwa 25 Jahre, die Frauenquote auf knapp 25 %. Auch seien bei den russischen Anarchisten und Sozialrevolutionären wie bei nahezu allen terroristischen Gruppierungen Minderheiten überproportional vertreten gewesen. Morosow widerspricht sich an selber Stelle, indem er erklärt, der Erfolg der terroristischen Bewegung werde dann unausweichlich, wenn Terrorismus zur „unzerstörbaren Idee der Massen“ würde. Darüber hinaus legte Nechaev für die Nachwuchswerbung strenge Maßstäbe an. So hatte ein potenzieller neuer Genosse schon vor seiner Aufnahme durch Wort und Tat zu überzeugen und durfte nur bei einstimmigem Votum aufgenommen werden.
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grenzung ausgegangen werden. 195 Die Opfer der ersten Welle des modernen Terrorismus waren Vertreter der staatlichen Institutionen (vgl. Waldmann 2001: 51), 196 welche Johann Most auch als „Repräsentanten der heutigen Gaunerordnung“ (Most 1881: 83) bezeichnete. Diese Anhänger des Staatstums (Bakunin 1869: 54) sollten gezielt, geradezu chirurgisch, getroffen werden. 197 Den Vorteil des Terrorismus sahen die Anarchisten darin, dass er im Vergleich zu einem Massenaufstand auf beiden Seiten nur verhältnismäßig wenige Opfer koste (vgl. Waldmann 2001: 52 sowie Hoffman 2002: 286, Fn 10). Weitere Hinweise auf mögliche Entgrenzungserscheinungen bieten Berichte über die Narodnaja Wolja, die vermeintliche Spitzel unbeschadet ließ, sobald die Verdachtsmomente seiner Schuld erschüttert waren. Auch fanden es weder die französischen Anarchisten noch die Narodnaja Wolja legitim, Kinder zu entführen und für den Fall einer ausbleibenden Lösegeldzahlung mit deren Ermordung zu drohen (vgl. Morosow 1880: 62). Selbst der Mord an höchsten Repräsentanten war nicht unumstritten. 198
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Dennoch kommt Waldmann (2001: 49) zu dem Schluss, es sei sukzessive unmöglich geworden, eine terroristische Tat einer einzelnen Person zuzuordnen. Ursache hierfür sei das in diese Zeit fallende verstärkte Entstehen terroristischer Gruppierungen, die nach und nach den Einzeltäter ablösten. Zu den Opfern der Narodnaja Wolja gehörten unter anderem der Polizeipräfekt von St. Petersburg und Zar Alexander II. Letzterer kam am 1. März 1881 bei einem Bombenanschlag ums Leben, unmittelbar nachdem er einen ersten unbeschadet überlebt hatte und sich um einen verletzten Zuschauer kümmern wollte. Zar Alexander II. hatte zwar wichtige Schritte zu Liberalisierung Russlands initiiert – unter anderem die Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 und der Todesstrafe – doch die Verhältnisse in Russland besserten sich nach Ansicht der Narodnaja Wolja nicht schnell genug. Morosow (1880: 60 f.) plädiert nicht für eine breite Revolution, sondern vielmehr für eine Serie politischer Morde, die mit chirurgischer Präzision nur die treffen sollten, die den Tod auch wirklich verdient hätten. Zu einer gegensätzlichen Position vgl. Heinzen (1849: 49, Hervorhebung im Original): „Der hat kein republikanisches Herz im Leibe, der nicht die Genugtuung, eine Million Barbaren unter die Erde zu bringen, freudig mit seinem Leben bezahlte“. Heinzen stützend fordert Bakunin, man müsse „begreifen, daß es bedeutend menschlicher ist, Dutzende, ja Hunderte von Verhaßten zu erdolchen und zu ersticken, als im Verein mit ihnen sich an systematischen, gesetzlichen Mordtaten, an dem Quälen und Martern von Millionen von Bauern zu beteiligen, woran unsre […] Gelehrten, unsre Popen, unsre Kaufleute, mit einem Worte, alle Leute von Stande, welche die zu keinem Stande Gehörigen unterdrücken, sich mehr oder minder unmittelbar beteiligen!“ (Bakunin 1869: 56). An dieser Stelle ist zu konzedieren, dass für die Bedenken eher taktische denn moralische Gründe den Ausschlag gaben. Morosow sah es als wahrscheinlich an, dass Zarenmord ob der traditionellen russischen Gesellschaftsstrukturen nicht ausreichen würde.
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All diese Überlegungen waren darauf ausgerichtet, den „zu interessierende[n] Dritte[n]“ (Münkler 2006) 199 für die eigene Sache und gegen die des Staates einzunehmen. 200 Die daraus folgende Implikation ist die soziale Begrenzung der Opfer des Anarchismus. 201 Diese strukturelle Gleichheit der Opfer – bei der der Staatsdienst ein verbindendes Kriterium darstellt – blieb trotz einer ab 1880 auftretenden Erweiterung bestehen, 202 sodass die erste Welle des modernen Terrorismus sozial begrenzt war. 203 Richtet man bei der Untersuchung der zweiten – antikolonialen – Welle des modernen Terrorismus den Blick auf die Schichtzugehörigkeit der Mitglieder 199
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Die Narodnaja Wolja hatte einen allgemeinen Aufstand zum Ziel. Hierbei achtete sie penibel darauf, ihre Anschläge nicht auf Armeeangehörige auszudehnen – in dem Teil ihrer Organisation, den man als den militärischen bezeichnen kann, waren zahlreiche ehemalige Offiziere zu finden (vgl. auch Laqueur 1987: 97-99). An anderer Stelle (150) negiert Laqueur hingegen den Erfolg der Narodnaja Wolja beim Adressaten, wobei dieser sich im russischen Falle insgesamt als nahezu immun gegenüber dieser Form der Kommunikation erwies. Weder bei den Bauern noch bei den Arbeitern war der durch die Aktionen der Narodnaja Wolja gemachte Eindruck ein nachhaltiger, lediglich die Intelligenz – die Bakunin (1869: 54 f.) neben der Jugend ausdrücklich als Adressaten nennt – wurde erreicht. Auch in Westeuropa blieb die Wirkung auf breite Schichten der Bevölkerung überschaubar, lediglich kleine abgeschottete Gruppen Intellektueller, Schriftsteller und Künstler sympathisierten mit den Anarchisten bzw. deren Vorgehen. Kaljajew, der einen Bombenanschlag auf Großfürst Sergej Alexandrejowitsch verüben wollte, unterließ es beim ersten Anlauf, da sich das Opfer in Begleitung der Familie befand: Er wollte unschuldige Frauen und Kinder nicht verletzen. Vgl. Laqueur (1987: 109, 199 f.), aber ebenso Hoffman (2002: 20). Hoffman (2002: 19 f.) bezeichnet das Vorgehen der Narodnaja Wolja als an Don Quichotte erinnernd und skrupulös, da sie sich bei der Umsetzung der Propaganda der Tat an der Symbolkraft der Opfer orientierte und diese bewusst auswählte. Nach Waldmann (2001: 49) wurden nicht mehr nur Monarchen und politische Funktionäre mit Schlüsselfunktionen als eines Angriffs wert klassifiziert, sondern auch in der Hierarchie nicht in der unmittelbaren Spitze anzusiedelnde Vertreter des jeweiligen Staates. Hierbei verschob sich der Fokus der Terroristen weg von den Repräsentanten hin zu den Teilen des Staatsapparats, deren Aufgabe die Aufrechterhaltung der Sicherheit war. Hochrangige Angehörige von Polizei und Militär gerieten ins Visier der Attentäter. Zu einer Darstellung, welche Teile der Gesellschaft zwar nicht bekämpft, so doch unterwandert werden sollten, vgl. Nechaev (1869: 58), der die unteren Schichten, die Mittelklasse, die Bürokratie, das Militär, die Geheimpolizei, die Welt der Reichen und sogar den Winterpalast nennt. Die stete Instrumentalisierung der in der jeweiligen Zeit verfügbaren modernsten Kampfmittel für terroristische Zwecke impliziert aufgrund mangelnder Kontrollierbarkeit der Auswirkungen eine Entgrenzung auch in räumlicher und sozialer Hinsicht. Während durch eine Dolchattacke ein Mensch an exakt einem präzise bestimm- und somit eingrenzbaren Ort zu Schaden kam, vergrößert der Einsatz von Explosivmitteln das von der physischen Schadwirkung betroffene Areal. Eine Vergrößerung der Fläche impliziert eine größere Anzahl betroffener Personen – auch wenn diese von der ursprünglichen Absicht des Attentäters her keineswegs als Ziele definiert waren. Diese Vergrößerung erfolgte beim Anarchismus jedoch noch nicht in einem Ausmaß, das wirkliche soziale Entgrenzung kennzeichnet.
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einzelner Gruppierungen, so stellt sich die Situation im Falle der IRA wie folgt dar: kaum Frauen, dafür junge, überwiegend katholische Männer einer bestimmten Region, die Waldmann (2001: 91 sowie 2003: 115, 120) zufolge als Angehörige der unteren Mittelschicht oder Unterschicht Teil einer aufgrund äußeren Drucks entstandenen sozialen Gemeinschaft mit ausgeprägten moralischen Zügen waren. Bei der Betrachtung anderer Gruppierungen ergibt sich ein ähnliches Bild. Eines der grundlegenden sozialen Kriterien der im antikolonialen Terrorismus verorteten Gruppen ist die nationale bzw. religiöse Homogenität ihrer Mitglieder. Während in der Irgun und der Stern-Bande (LEHI) die Aktivisten Juden (vgl. Begin 1980) und die der FLN Algerier waren, sind die Mitglieder der ETA Basken. Diese ethnische Konzentration förderte den Kontakt zu Diasporagruppen, die als Geldgeber, Waffenlieferanten und Freiwilligenreservoir in Erscheinung traten. 204 Geschlechterspezifisch ergibt sich das Bild, dass Frauen vereinzelt zwar als Boten und Kundschafter beteiligt waren (Rapoport 2006 e: 13), jedoch nicht als Führungspersonal oder Aktivisten. Nationalität und Religion stellen beim antikolonialen Terrorismus zwei klare Inklusions-Exklusionskategorien dar, die über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur jeweiligen terroristischen Organisation entscheiden. Andere Kriterien sind bereits vor dem Zeitpunkt des Eintritts in die terroristische Gruppierung existente soziale Bindungen, was allerdings weniger für die IRA als die ETA gilt. Waldmann (2003: 117-123) berichtet, dass die Mitglieder einer Organisation ihre sozialen Kontakte stark auf die Angehörigen der von ihnen vertretenen Minderheitsschicht ausrichten und ihre Organisation als eine Art Ersatzfamilie ansehen. Der durchschnittliche Aktivist kam folglich aus einer unterdrückten Ethnie und wies die gleiche Nationalität und/oder Religion wie die anderen Gruppenmitglieder auf, sodass in Bezug auf die Aktivisten des antikolonialen Terrorismus ein Gesamteindruck als sozial begrenztes Phänomen entsteht. Ausgehend von den Thesen der Jenkins-Doktrin müsste sich eine klare soziale Struktur der Opfer abzeichnen, zumal auch doktrinäre Statements der einzelnen Gruppen regelmäßig Soldaten und nicht Zivilisten als Feinde benannten (vgl. Laqueur 1978 a: 102 f. und 1978 d: 221). 205 So bezeichnen doktrinäre Statements der IRA britische Soldaten als Feind, während die protestantische 204 205
Rapoport (2006 e: 11 f.) berichtet von amerikanischen Juden oder Iren, die ihre jeweiligen Ethnien in den Heimatländern unterstützten. Auch die FLN erfuhr aus Drittstaaten – vorwiegend arabischen – nachhaltige Unterstützung. Die Provisional IRA hingegen habe sich bei den Opfern von vornherein vorwiegend auf protestantische Arbeiter konzentriert. Laqueur belegt diese Aussage allerdings weder durch Beispiele noch Quellen.
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Bevölkerung Irlands nicht a priori negativ wahrgenommen wurde. Doch wie verhielt es sich in der Realität? Allgemein war es nicht unüblich, dass verschiedene Gruppen vor Anschlägen Warnungen schickten, um die Zahl der zivilen Opfer zu begrenzen. 206 Bei den Anschlägen der Irgun waren die Opfer meist Soldaten, bei der IRA hingegen kam Laqueur (1978 a: 102 f. und 1978 b: 221) zufolge von September 1974 bis Oktober 1976 kein britischer Soldat in Belfast aufgrund von terroristischen Aktivitäten ums Leben, stattdessen aber hunderte von Bürgern beider Konfessionen. Dies trug zum Ansehensverlust der IRA deutlich bei. 207 Die Vielzahl ziviler Opfer verhindert das Zeichnen eines Bildes vom durchschnittlichen Opfer, weshalb der antikoloniale Terrorismus in der Theorie be-, in der Praxis jedoch sozial entgrenzt war. Andere Autoren verweisen darauf, dass es in der Kernzeit der zweiten, antikolonialen, Welle kaum Anschläge mit prominenten Opfern gab. 208 Rapoport (2006 e: 11) erklärt dies aus den Erfahrungen der ersten Welle, bei der die Reaktion der Behörden nach Anschlägen auf bekannte Persönlichkeiten stets sehr heftig und zum Nachteil der Terroristen war. Erneut zeichnet sich kein Bild eines Durchschnittsopfers ab. Der Überfall tschetschenischer Terroristen auf eine Grundschule in Beslan am 3. September 2004 stellt abschließend eine neue Eskalationsstufe dar. Von den 1251 Geiseln kamen nach Buse et al. (2005: 67, 72) 330 ums Leben, darunter 176 Kinder. Darüber hinaus gab es rund 600 Verletzte. Dies stellt im Falle
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Hiervon berichten Rapoport (2006 e: 11) sowie „Der Befreiungskampf der provisorischen IRA“ (1972). Zu den Gruppen, die Warnungen schickten, zählte unter anderem die Irgun. Auch die provisorische IRA gab vor Anschlägen Warnungen heraus, deren Zurückhalten sie den britischen offiziellen Stellen regelmäßig vorwarf. Matussek (2005) schildert die Konsequenzen eines Ende 2004 in Belfast verübten Bankraubs der IRA, bei dem 26,5 Millionen Pfund erbeutet wurden. Gerry Adams und Martin McGuiness, die Chefs des politischen Arms der IRA, Sinn Fein, leugneten die Beteiligung der IRA, obwohl zeitgleich Aktivisten bei der Geldwäsche ertappt wurden. Kurz darauf wurde – ebenfalls von Mitgliedern der katholischen IRA – ein Katholik bei einer PubStreiterei verstümmelt und umgebracht. Nach dem traditionellen Gesetz des Schweigens hätte die – katholische – Familie des Ermordeten aus Solidarität zur ebenfalls katholischen IRA dies nicht öffentlich anprangern dürfen, um die Katholiken als durch nichts entzweibaren monolithischen Block erscheinen zu lassen. Doch die fünf Schwestern des Ermordeten wandten sich an die Medien und suchten Hilfe bei der – protestantischen – Polizei. Rapoport (2006 e: 12) nennt in diesem Zusammenhang lediglich Alexander I. von Serbien. Aufgrund des Mordes an Alexander 1934 in Marseille erließ der Völkerbund zwei Konventionen, die sich mit Terrorismus befassten, aber nicht umgesetzt wurden. Eine der Konventionen hatte die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofes zum Gegenstand, wogegen verschiedene Staaten opponierten. Zu diesen Staaten zählten auch Ungarn und Italien, denen vorgeworfen wurde, den Mord unterstützt zu haben.
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der Opfer eine mehrfache Entgrenzung in sozialer Hinsicht dar. 209 Sowohl die schiere Zahl der Opfer als auch deren Alter entgenzen diese Form von Terrorismus in sozialer Hinsicht. 210 Der Überfall auf die Schule traf mit Kindern eine soziale Gruppe, die bis ins dritte Jahrtausend ob ihrer offensichtlichen Hilflosigkeit und Unschuld an politischen Gegebenheiten außen vor gelassen und allenfalls als mit einzukalkulierender Kollateralschaden perzipiert worden war. 211 Der Versuch, ein Durchschnittsopfer zu charakterisieren, muss an dieser Stelle endgültig scheitern. Dies stellt im Fall der zweiten Welle des modernen Terrorismus soziale Entgrenzung par excellence dar und markiert einen Wendepunkt in der Historie des Terrorismus. Auch die dritte Welle des modernen Terrorismus wird in der Reihenfolge Terroristen – Opfer auf soziale Entgrenzung hin untersucht. Die Untersuchung stützt sich im Wesentlichen auf die RAF, die zusammen mit den Roten Brigaden 212 in Italien als repräsentativ für den Neuen Linken Terrorismus gelten kann. 213 Dies ist deshalb möglich, weil einige wichtige Voraussetzungen für alle dieser Gruppen gelten. Der Großteil der selbst zur Blütezeit nur wenigen dutzend Mitglieder (vgl. Laqueur 1987: 122) 214 gehörte dem „linksextreme(n) 209
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Nicht entgrenzt ist jedoch die soziale Dimension der Täter. Zu diesen gehörten zwölf Tschetschenen, zwei Tschetscheninnen (‚Schwarze Witwen’ oder ‚Schahitkas’), neun Inguschen, drei Russen, je zwei Araber und Osseten sowie je ein Tatare, Kabardiner und Guraner. Die Täter stammten zu einem beträchtlichen Teil aus Bassajews Stammland, dem Noschai-JurtDistrikt im Osten Tschetscheniens. Bereits an dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass es sich um religiös inspirierten antikolonialen Terrorismus handelt, was ein Zitat Schamil Bassajews, des Führers des tschetschenischen Widerstandes gegen Russland, verdeutlicht: „Im Namen Allahs des Allmächtigen und Gnädigen erkläre ich, Abdallah Schamil Abu-Idris, Emir der Islamischen Märtyrerbrigade ‚Rijad al-Salihin’, das dritte Jahrtausend der Erfüllung der Prophezeiung des Propheten Mohammed … Wir werden eure Häuser, Schiffe, Flugzeuge sprengen, wir werden euch direkt in den Straßen eurer gottlosen Städte töten, weil der Tod von wollüstigen und widerlichen Ungläubigen die Zustimmung Allahs findet. Der Weg des Heiligen Krieges ist der Weg der wahren Muslime. Allahu akbar!“ (nach Buse et al. 2004: 75). Zynisch mutet auch an, dass die von Buse et al. (2004: 91 ff.) beschriebene Nahrungsverweigerung gegenüber den Kindern seitens der Terroristen als Hungerstreik gegen die Regierung deklariert wurde. Einen Überblick über die Roten Brigaden (BR) bieten Dietl/Hirschmann/Tophoven (2006: 84-87). Laqueur (2003: 293 f.) ordnet diese Gruppe mit der Begründung, sie bekenne sich zum Marxismus-Leninismus, zwar dem ultralinken Terrorismus zu, konzediert aber mit einem Verweis auf Kassimeris, dass die Gruppe ihre nationale stärker als ihre sozialrevolutionäre Prägung betont. Für Griechenland ist die Gruppe 17. November zu nennen, während die PLO sich im Vergleich zu den europäischen Gruppen leicht abweichend zusammensetzte. Horst Herold, der von Strasser(1986: 31) als „Avantgardist kollektiver Sicherheitsobsessionen“ bezeichnet wird, glaubt nach Prantl (2006 a), die Sympathisantenszene der RAF habe über hunderttausend Menschen umfasst.
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Spektrum der ‚Post-1968er-Bewegungen’“ (Hirschmann 2003: 18) an, war antiimperialistisch 215 motiviert und besaß keine tiefgehende gesellschaftliche Verankerung (vgl. Hirschmann 2003: 18). 216 Im Falle der RAF entstammten die Mitglieder der Mittelschicht. Sie waren Studenten oder Akademiker. 217 Auffällig ist weiterhin, dass sie großteils aus Familien stammten, die in normativer Perspektive wenigstens eine Anomalie aufwiesen. 218 Die Frauenquote der RAF war beträchtlich: 1981 waren zehn der 14 meistgesuchten RAFTerroristen Frauen. Dieser hohe Anteil wurde gelegentlich als Ausdruck extremer Emanzipation erklärt. Frauen traten in der dritten Welle nicht mehr nur als Unterstützungspersonal, sondern vielmehr als Aktivisten und sogar Anführer auf. Sie galten nach Rapoport (2006 e: 13) und Laqueur (1987: 105) als fanatischer und entstammten nicht dem Arbeitermilieu. Zusammengefasst ergibt dies für den durchschnittlichen Terroristen der dritten Welle: Sie/er war geschlechtsspezifisch nicht bestimmbar und konnte auf den ersten Blick verschiedenen Nationalitäten angehören. Innerhalb der einzelnen Gruppen (RAF, BR usw.) waren die Nationalitäten aber homogen, ebenso im Großen und Ganzen die Schichtzugehörigkeit. Daher ist an dieser Stelle die Täterseite als sozial begrenzt anzusehen.
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Das ehemalige RAF-Mitglied Christoph Wackernagel erklärte Hoffman zufolge die RAFDefinition von Antiimperialismus 1995 wie folgt: „Der Antiimperialismus bedeutete zuallererst den Protest gegen den Vietnamkrieg, aber auch [gegen] die amerikanische Vorherrschaft in den meisten Ländern der Dritten Welt“ (Hoffman 2002: 103 f.). In dieser Linie lässt sich auch die Verlagerung des Schwerpunktes nach dem Ende des Vietnamkrieges auf die Unterstützung der Palästinenser – die sich als im Kampf mit den von den USA unterstützten Israelis verstanden – durch die RAF verstehen. Religion stellte beim Terrorismus der RAF kein Inklusions-Exklusionskriterium dar. Waldmann (2001: 79) weist auf die Überheblichkeit und den Absolutheitsanspruch hin, der sich in ihren Worten und Taten manifestierte und mit zur Ablehnung durch Linksparteien, Gewerkschaften oder auch ihres Hauptadressaten, der Arbeiterschaft, beitrug. Tatsächlich waren es lediglich Studenten wie sie selbst und Linksintellektuelle, die sich von den revolutionären Ideen und Bestrebungen angesprochen fühlten. Die breite Bevölkerung indes kam kaum über ein Stadium kurzer Sympathie hinaus, da einerseits das theoretische Fundament, andererseits aber auch die zu dessen praktischer Umsetzung gewählten Mittel keinen breiten Anklang fanden. Dies war zumindest Teilen der RAF durchaus bewusst, wie eine Aussage der RAF-Aktivistin Irmgard Möller zeigt: „Es konnte für uns von Anfang an nicht um Mehrheiten gehen. […] Das Bewusstsein hier war so, dass nur eine Minderheit den revolutionären Prozess vorantreiben konnte“ (zitiert nach Schrep 2004: 81). Zu einer gegenteiligen Aussage Andreas Baaders vgl. Aust (1998: 621). So wuchsen Baader, Meinhof, Mahler und Raspe ohne Vater auf, Klein hasste seinen Vater und die Eltern Astrid und Thorwald Prolls lebten in Scheidung. In ihrer eigenen Wahrnehmung hatten sie allesamt nicht genügend Zuwendung erhalten. Vgl. dazu schlaglichtartig Laqueur (1987: 102 f.), vertiefend Jaeger (1982: 166 ff.) und Schwind (1978).
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Die Opfer der RAF 219 waren neben US-Generalen 220 das Führungspersonal staatlicher Organe 221 oder der Wirtschaft. 222 Nichtsdestotrotz kamen bei Aktionen der RAF auch Menschen zu Schaden, die nicht in das Zielraster der RAF eingepasst werden können. Eine Eingrenzung der potenziellen Opfer war indes durchaus intendiert und kein zufälliges Randprodukt, was anhand des Beispiels der Baader-Befreiung deutlich wird. 223 Die RAF erklärte dazu rückblickend in Das Konzept Stadtguerilla: „Die Frage, ob die Gefangenenbefreiung auch dann gemacht worden wäre, wenn wir gewusst hätten, daß ein Linke dabei angeschossen wird – sie ist uns oft genug gestellt worden – kann nur mit Nein beantwortet werden“(RAF 1971). 224
Das theoretische Durchschnittsopfer war demnach ein Funktionär oder Repräsentant der von der RAF als solche bezeichneten imperialistischen Regime. 225 Die Praxis anderer Gruppen des Terrorismus der Neuen Linken hingegen bestand auch aus Flugzeugentführungen. Bei Flugzeugentführungen hingegen ging es nicht mehr um symbolhafte Einzelpersonen, eine Zielselektion fand nicht statt. Somit entschieden hier nicht individuelle Merkmale darüber, ob man sich als Opfer eines Anschlags eignete, sondern vielmehr die Frage, ob man bereit war, das Risiko einer Reise mit dem Fugzeug oder auch Kreuzfahrtschiff einzugehen. An diesem Punkt ist es nicht mehr möglich, den Typus des Durch-
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Prantl (2006 b) summiert die Zahl der Opfer der RAF auf 34. So zum Beispiel General Alexander Haig (Juni 1979) oder der SACEUR, General Kroesen (September 1981). Vgl. dazu Laqueur (1987: 149). Im April 1977 ermordete das Kommando Ulrike Meinhof den damaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Auch die Ermordung Günter von Drenkmanns durch die Bewegung 2. Juni wurde von den zu diesem Zeitpunkt (November 1974) bereits inhaftierten Mitgliedern der RAF erfreut zur Kenntnis genommen (vgl. Aust 1998: 306). Der Vorstandsvorsitzende der Dresdner Bank Jürgen Ponto, Arbeitgeberpräsident HannsMartin Schleyer, der Chef der Deutschen Bank Alfred Herrhausen und auch der Vorstandsvorsitzende der Treuhandanstalt Detlev Karsten Rohwedder kamen bei Anschlägen der RAF ums Leben. Wie bei Hoffman (2002: 211 f.) zitierte Aussagen Mario Morettis, des Führers der römischen BR belegen, orientierten sich auch die BR bei ihrer Zielwahl an Symbolen, wobei der hinter eben dieser Symbolik stehende Mensch nicht das eigentliche Ziel darstellte. Allerdings vermag eine solche Ausrichtung auf Symbole – wie der Perzeptionswandel italienscher Intellektueller nach der Ermordung Aldo Moros zeigt – auch eine bislang neutrale Perzeption ins Negative zu kehren. Vgl. ferner Laqueur (1987: 152 f.). Zur Stellungnahme der RAF zur Befreiung vgl. Rote Armee Fraktion (1970: 24 ff.). Weitere Details der Befreiung bietet Aust (1998: 20-24). Georg Linke, ein Angestellter des Instituts für soziale Fragen, wurde bei der Befreiung Andreas Baaders verletzt. Rapoport (2006 e: 13 f.) zeigt, dass die Opfer großteils aufgrund ihrer Symbolwirkung entführt oder ermordet wurden.
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schnittsopfers der dritten Welle des modernen Terrorismus zu skizzieren, 226 weshalb er als sozial entgrenzt zu bewerten ist. 227 Erneut konzentriert sich die Untersuchung der vierten Welle des modernen Terrorismus auf den religiösen Terrorismus muslimischer Ausprägung. Innerhalb dessen werden die Muslimbruderschaft und die Al Qaida auf soziale Entgrenzung untersucht. Sind Islamisten auch nicht immer identisch mit Vertretern des islamisch-religiösen Terrorismus, so dienen sie doch für Letztere als Rekrutierungspool, was wiederum einige Rückschlüsse auf die soziale Zusammensetzung terroristischer Gruppierungen zulässt. Für die ägyptische Muslimbruderschaft 228 lassen sich folgende Aussagen treffen. 229 1) Jung, meist zwischen zwanzig und vierzig. 2) Rund 80 Prozent sind Hochschüler oder haben bereits ein Studium absolviert. 3) Über 50 Prozent von ihnen haben Elite-Einrichtungen besucht oder einen medizinisch-ingenieurswissenschaftlichen Hintergrund. 4) Über 70 Prozent kommen aus der unteren Mittelschicht und sind häufig die ersten Vertreter ihrer Familie, die Zugang zu höherer Bildung haben. 5) Ihre Kindheit erlebten sie auf dem Land oder in Kleinstädten, wohnen jetzt aber in Großstädten. 6) Das Mitglied ist Sunnit männlichen Geschlechts. Dies entwirft ein recht klares Bild des Durchschnittsmuslimbruders 230 und deutet folglich auf eine soziale Begrenzung der Täter hin. Aber wie verhält es sich mit der Al Qaida? Dies zu beantworten ist nicht unproblematisch, da sich einerseits die verschiedenen Quellen,231 die Hinweise 226 227
228 229 230 231
Zwar behauptet Rapoport (2006 e: 14), etwa ein Drittel aller Anschläge der dritten Welle habe Angehörige der Bevölkerung der USA betroffen. Doch dies reicht nach Ansicht des Verfassers nicht aus, das Durchschnittsopfer als Amerikaner zu bezeichnen. Die RAF lehnte ausufernde Gewalt gegen Zivilisten zumindest theoretisch ab. Im Zusammenhang mit der Landshut-Entführung wurde kurz vor dessen Tod dem inhaftierten Andreas Baader die Frage gestellt, wo denn seiner Meinung nach Terrorismus beginne. Er antwortete: „Bei dieser Form terroristischer Gewalt gegen Zivilisten“, was er wie folgt begründete: „Das ist nicht Sache der RAF, die langfristig eine gewisse Form politischer Organisation angestrebt hat.“ Hier zitiert nach Aust (1998: 621). In dieser Perspektive besitzt die JenkinsDoktrin Gültigkeit. Zu einer Kurzübersicht zur 1928 von Hassan al-Banna gegründeten antinationalistischen, antimodernen, antikommunistischen und anfangs auch pro-britischen Muslimbruderschaft vgl. Ali (2003: 185-195), aber ebenso Dietl/Hirschmann/Tophoven (2006: 144-147). Huntington (1998: 173 f.) ist bereit, diese Aussagen auch für andere muslimische Länder als wahrscheinlich anzunehmen. Ali (2003: 194) beziffert die temporäre Mitgliederzahl der Muslimbruderschaft (Kader und Sympathisanten zusammen) auf annähernd 250.000 Mitglieder. Schmitt (2004) zufolge ist der durchschnittliche Al-Qaida-Aktivist 26 Jahre alt, stammt aus gutem Hause säkularer Prägung, ist Jemenit, Ägypter oder Saudi. Er ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Sunnit und Migrant, hat zu 60 % eine Universität besucht, ist zu 75 % verheiratet, zu 66 % mit einem im Djihad befindlichen Mann befreundet und hat Kinder.
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auf deren Sozialstruktur bis 2005 geben, widersprechen. 232 Andererseits gilt nach Dietl/Hirschmann/Tophoven (2006: 122-125) die Al Qaida seit dieser Zeit eher als Ideologie denn als terroristische Gruppierung, was zur Frage führt, inwiefern eine Ideologie bzw. deren Anhänger überhaupt sozial begrenzt sein können. Vom Charme der Al-Qaida-Ideologie kann prinzipiell jeder erfasst werden – nicht nur Muslime. Huntington (1996: 334-350) zeigt, dass sich die Verteilung der muslimischen Kultur in der globalisierten Welt nicht mehr auf einen einzelnen regional definierbaren Kulturkreis beschränkt. Vielmehr ist in den liberalen multikulturellen Gesellschaften Europas und Nordamerikas eine Vielzahl von Muslimen vertreten, die der Ideologisierung durch radikale Fundamentalisten ausgesetzt sind. Weltweit vermag die radikal-islamische Doktrin in vermeintlich feindlicher Umgebung gefühlter Orientierungslosigkeit abzuhelfen (vgl. Wieviorka 2004: xiii). Ausbau oder Verdichtung des Netzwerks sind die Folge, woraus wiederum räumliche, aber auch soziale, Nichteingrenzbarkeit des radikalen Islamismus 233 resultiert. 234 Wieviorka (2004: xxii) berichtet von der Rekrutierung Jugendlicher auf globalem Niveau. Dies verhindert tiefer gehende Homogenität unter den Mitgliedern. Besagte originäre Heterogenität 235 nimmt in demselben Maße ab, wie die Mitglieder der Indoktrination ausgesetzt werden. Räumliche Distanz, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit oder sozialer Status sind keine InklusionsExklusionskriterien. Inklusions-Exklusionskriterien sind einzig Religionszugehörigkeit und Linientreue zur Al-Qaida-Ideologie. Dies kann eine Lockwirkung entfalten, da es im Kreise der Adressaten kaum jemanden gibt, der diese weichen Kriterien nicht erfüllt. Jedermann kann sich davon angesprochen fühlen und im Kreise von Gleichgesinnten Anerkennung und Geborgenheit finden, auch wenn ihm dies in seinem bisherigen sozialen Umfeld verwehrt war (vgl. United States Department of State – Office of the Coordinator for Counterterrorism 2005: 7). Somit lassen sich wie bei anderen Ideologien auch unter den Anhängern der Al Qaida einige grundlegende Gemeinsamkeiten ausmachen. Unter der Trademark Al Qaida firmieren vor allem Sunniten. Angehörige ihrer Splittergruppen stammen häufig aus dem bereits großen und immer noch wachsenden 232 233 234 235
Wieviorka (2004: xviii) meint, der in westlichen Ländern lebende potenzielle Terrorist habe kein homogenes Erscheinungsbild. Teilweise stamme er aus armen Familien mit niedrigem Bildungsstand, teilweise aber aus angesehenen Familien und sei frisch zugewandert. Pfahl-Traughber(2001: 44) nennt als Kennzeichen des Islamismus die politische Deutung einer religiösen Glaubensgrundlage. Diese Entgrenzung ist nach Daniell (2004: 72 f.) eine der Ursachen dafür, dass es immer schwieriger wird, konkrete Präventivmaßnahmen gegen den Terrorismus zu ergreifen. Für Hinweise auf die Heterogenität der Sympathisanten der Al Qaida vgl. Musharbash (2006: 24 f.).
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Pool unzufriedener und für anti-westliche militante Ideologie anfälliger Jugendlicher (vgl. United States Department of State – Office of the Coordinator for Counterterrorism 2005: 7), wobei Frauen nach Rapoport (2006 e: 6) kaum eine Rolle spielen. Der durchschnittliche Al-Qaida-Terrorist ist demnach ein junger, unzufriedener, anti-westlicher Sunnit. Diese Charakterisierung ist ob der Anzahl der Individuen, auf die sie zutrifft, wenig geeignet, ein hinreichend klares Täterbild zu entwerfen. 236 Der religiöse Terrorismus islamischer Prägung ist seitens der Täter folglich als entgrenzt zu werten. Ist der religiöse Terrorismus hinsichtlich seiner Opfer ebenfalls entgrenzt oder tragen diese einheitliche Merkmale? Die ägyptische muslimische Bruderschaft verübte von 1945 bis 1948 – also außerhalb der Kernzeit der vierten Welle des modernen Terrorismus – Attentate auf Führer der Nationalisten und Linken, den ägyptischen Polizeichef und den ägyptischen Premierminister. In den Jahren 1954 und 1964 verübte sie mindestens vier Anschläge auf Nasser (vgl. Ali 2003: 187 f., 194 f. 201). 237 Die Opfer wurden folglich nach Nationalität, Status und Symbolwert ausgesucht, was sozial begrenzend wirkte. Die Opfer der Al Qaida zu untersuchen heißt, den Blick auf 9/11,238 Djerba, Bali, Madrid oder London zu richten. 239 Dabei lässt sich nicht einmal eine grundlegende, prowestliche Grundhaltung nachweisen, die das Freund-Feind-Schema der Al 236 237
238
239
Dazu kommt außerdem, dass an dieser Stelle nur der Terrorismus der Al Qaida Gegenstand des Interesses war. Schiitischer Terrorismus, wie er von der Hizbollah praktiziert wird, existiert ebenfalls. Allein 1964 verübte die Bruderschaft drei Attentate auf Nasser, worauf die ägyptische Regierung mit Masseninhaftierungen und der Hinrichtung Said Qutbs, des ideologischen Vaters der Al Qaida, im Folgejahr reagierte. Ziel der Anschläge war, die Regierung zu zwingen, den Notstand auszurufen und die Verfassung außer Kraft zu setzen, was den Säkularismus schwächen sollte. Religiös motivierte Anschläge wurden als Provokation gegen säkulare Institutionen und Organisationen verübt. Die Hoffnung bestand darin, dass im Falle eines Erfolgs der Provokation die staatlich-säkulare Reaktion aufgrund ihrer vermutlichen Heftigkeit delegitimierend wirkt. Erfolg verzeichnete die Provokationsstrategie durch die außergerichtliche Exekution Hassan al-Bannas durch einen Agenten der Regierung. Dieses Vorgehen erinnert stark an 9/11, als die USA sich provozieren ließen, durch ihre in Folge praktizierte Politik sich selbst delegitimierten und dem radikalen Islamismus dadurch weltweit immensen Zulauf verschafften. Nach Prantl (2006 b) kostete der 11. September 3.500 Menschen das Leben. Im deutlichen Widerspruch dazu steht eine Aussage der Al Qaida in ihrem Bekenntnis zu den Anschlägen von Madrid vom 11.03.2004. „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“ zitierte und titelte Kaufmann ( 2004). Vgl. gegensätzlich Jenkins nach Müller (2003: 19). Seit dem Ende des Taliban-Regimes sind religiös motivierte Anschläge nach der Auffassung von Rapoport (2006 e: 21) zumeist auf weiche, einfacher zu treffende Ziele gerichtet. Dabei geht es nun weniger um Angriffe auf bestimmte Symbole, denn um die schlichte Maximierung der Opferzahl. Dies stellt die Widerlegung der Jenkins-Doktrin dar, die von der Kontraproduktivität vieler Opfer für terroristische Anliegen ausging. Zur Abkehr von der Jenkins-Doktrin vgl. Hoffman (2002: 265-268).
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Qaida erfüllen würde. Diese Art des Terrorismus wirkt egalisierend, entdifferenzierend und individualisierend. Ähnlich wie Gefahren vom Typus Naturkatastrophe scheint das Individuum zum Spielball des Zufalls zu werden, der keine Rücksicht auf Merkmale wie Geschlecht, Generation, Beruf, Klasse, Schicht, Religion 240 oder sonstige sozialisationsspezifischer Merkmale nimmt (vgl. Lau 1989: 425). Diese zunehmende Indifferenz bei der Wahl der Opfer wird durch die Marginalisierung des Adressaten möglich, was wiederum den Einsatz von Massenvernichtungswaffen nicht mehr gänzlich ausschließt (vgl. Daase 2005). 241 Lediglich Geldgeber in den Herkunftsregionen der Terroristen können noch in der Sprache Münklers (2006) als „zu interessierender Dritter“ klassifiziert werden. Damit verzeichnet der moderne Terrorismus der vierten, religiösen Welle in seiner fundamental-islamistischen Ausprägung hinsichtlich der Opfer die derzeit größte anzunehmende soziale Entgrenzung. 242 2.2.2.5
Kompensierbarkeit
Sind die vom modernen Terrorismus verursachten Schäden noch kompensierbar? Da in Kapitel 2.1.5 festgelegt wurde, dass die emotional-soziale Dimension der Kompensation in vorliegender Arbeit nicht zum Gegenstand des Interesses 240
241
242
Rapoport (2006: 17 f.) beschreibt, dass auch Hindus – die Tamil Tigers – Attentate entlang religiöser Grenzlinien verüben. Jedoch sind es vornehmlich islamistische Fundamentalisten, die der religiösen Welle ihre Bedeutung verschafft haben. Während bei den Tamil Tigers Buddhisten bevorzugte Opfer sind, gilt dies für den islamistischen Terrorismus beinahe unterschiedslos für Christen, Juden und Muslime anderer Glaubensrichtungen. Der Angriff der buddhistischen Aum-Sekte in der U-Bahn von Tokio richtete sich im Gegensatz dazu gegen Angehörige der eigenen Religion. Deutlich wird, dass Religion beim religiösen Terrorismus kein Kriterium darstellt, das eine mögliche soziale Grenze bei den Opfern charakterisiert. Christlich motivierter Terrorismus hingegen ist kaum zu beobachten. Rapoport weist zu Recht darauf hin, dass die Zuordnung christlicher Motive für das Attentat Timothy McVeighs in Oklahoma 1995 gelinde gesagt problematisch ist. Hier ist vielmehr von einer vigilantistischen Motivation auszugehen, wie sie in den das Attentat inspirierenden „Turner Diaries“ (MacDonald 1996) zu finden ist. Christopher Daase schlägt vor, mittels eines auf mehrere Faktoren gestützten Analysemodells ein derartiges Risiko einzuschätzen und darauf basierend Empfehlungen für Handlungsmöglichkeiten abzugeben. Er nennt vier Faktoren: Motivation, Gelegenheit, Verwundbarkeit und Kapazität. Die Ausführungen Rapoports (2006: 18 f.) verdeutlichen, dass mit der Entgrenzung der Mittel eine Entgrenzung in sozialer Hinsicht einhergeht, da der Einsatz von Sprengstoff gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit erhöht, neben einem gezielten Opfer auch mehrere Unschuldige zu treffen, wenn dies nicht von vornherein beabsichtigt war. Nicht verschwiegen werden soll an dieser Stelle, dass auch der Täter sich dabei ungewollt umbringen kann. Er wird so zu seinem eigenen Opfer, was eine interessante Form der Entgrenzung darstellt.
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wird, wäre dies dann der Fall, wenn die Schäden weder durch den Geschädigten selbst noch durch spezifische Solidargemeinschaften, Versicherungen oder auch den Staat mehr bezahlbar sind. Das Ende des 19. Jahrhunderts und damit zur Zeit der ersten Welle aufkommende Sozialversicherungswesen hemmte Aufkommen und Verbreitung sozialrevolutionärer Ideen, die ihrerseits Gewaltbereitschaft gefördert hätten. 243 Das Versicherungswesen als Ganzes war an dieser Stelle indes noch nicht so umfassend, dass Terrorismusschäden Versicherungsgegenstand waren. So war es an den Familien der Opfer bzw. dem Staat, für Ausgleich zu sorgen. Obwohl das vorwiegend von Anschlägen betroffene Zarenreich 244 nicht die Wirtschaftskraft Großbritanniens oder des Deutschen Reichs besaß, bewegten sich die durch Anschläge entstandenen Kosten in kompensierbaren Dimensionen. 245 In der zweiten Welle des modernen Terrorismus griffen Irgun und FLN vornehmlich staatliche Organe und Infrastruktur an, sodass die Kompensation der Schäden Sache der Kolonialmächte war. In deren Verantwortung lag folglich die Opfer- und Hinterbliebenenversorgung. Es ist anzunehmen, dass entsprechende Entschädigungsleistungen haushaltstechnisch grundsätzlich möglich waren. Die nationale Öffentlichkeit jedoch war der Auffassung, die monetären und psychologischen Besatzungskosten seien zu hoch, wie es besonders beim Rückzug der Briten aus Palästina, wo sie über die augusteische Schwelle zurückgedrängt wurden, 246 der Fall war.
243 244
245 246
Über die tatsächlichen Auswirkungen der Einführung des Sozialversicherungswesens auf die Empfänglichkeit besonders der deutschen Gesellschaft für revolutionäre oder anarchistische Ideen liegen keine belastbaren Daten vor. Frankreich und die USA waren ebenfalls betroffen, jedoch in wesentlich geringerem Umfang. Da die Haushaltslage in beiden Staaten besser war als im Zarenreich, ist nicht davon auszugehen, dass die Kompensation der Schäden zu untragbaren Belastungen des Budgets geführt hat. Dies stellt mangels exakter Summen eine These des Verfassers dar, die sich aus dem Fehlen von Hinweisen in der Literatur begründet, nach denen die erste Welle des modernen Terrorismus eine große finanzielle Belastung darstellte. Münkler (2005: 112-117) beschreibt mit dem Begriff der augusteischen Schwelle ein Reformenbündel, welches ein Imperium beim Übergang von Expansion zu Konsolidierung zu stabilisieren vermag. Ohne derartige Reformen, die die sozialen Unterschiede zwischen Peripherie (Kolonialstaat) und Zentrum (Kolonialmacht) eines Imperiums nivellieren, bliebe die kostenintensive militärische Dimension der Herrschaft überbetont. Anschläge wiederum stellen ein Mittel dar, die Kosten noch weiter zu steigern, was in absehbarer Zeit im Heimatland der Kolonialmacht nicht mehr toleriert wird. An das Vorgehen der Irgun erinnert das der Al Qaida. Es kann als Versuch interpretiert werden, die USA über die augusteische Schwelle zurückzudrängen und so der Weltöffentlichkeit die Illegitmität USamerikanischen Handelns zu verdeutlichen.
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Auch IRA und ETA richteten ihre Anschläge auf Staatsorgane, sodass staatliche Absicherung, in Mitteleuropa gegebenenfalls ergänzt um private Zusatzversicherungen, erneut das Kompensationsprinzip darstellt. Hier liegen ebenfalls keine Hinweise vor, dass die einzelnen Kompensatoren ihren Verpflichtungen nicht nachkommen können. Liegen die Opfer des Terrorismus jedoch aufseiten der Minoritäten, die den Terrorismus unterstützen, fungieren diese selbst als spezifische Solidargemeinschaften, wobei sie sich in verschiedenen Formen um Kompensation bemühen. 247 Bei zivilen Opfern ist anzunehmen, dass Entschädigungszahlungen des Staates eher zurückhaltend erfolgen, sodass der privaten Absicherung erhöhte Bedeutung zukommt. Ingesamt liegen für keinen dieser Fälle Hinweise vor, dass die zur Kompensation der Anschläge des antikolonialen Terrorismus notwendigen Summen die Grenzen der Machbarkeit überstiegen haben. Er soll daher als kompensierbar bewertet werden. Im Rahmen der dritten Welle des modernen Terrorismus war nach Rapoport (2006: 13) ein Bestandteil des Lernprozesses im Umgang mit Terrorismus, dass Firmen aufgrund der ständig steigenden Zahl der Entführungen dazu übergingen, ihr Spitzenpersonal gegen Terrorismus zu versichern. 248 Hiermit ging ein bestimmtes Maß an Gewissheit für die Geiselnehmer einher, tatsächlich ein entsprechendes Lösegeld ausgezahlt zu bekommen. Dies wiederum konnte grundsätzlich als Stimulus wirken, da die Entführer aufgrund der Versicherungspraxis davon ausgehen konnten, dass der potenzielle Verhandlungspartner nachgeben und sich auch tatsächlich zu einer Lösegeldzahlung bereit erklären würde. 249 Dennoch belegt die Möglichkeit der Entführungsversicherung die Kompensierbarkeit im Sinne von Versicherbarkeit des Terrorismus der Neuen Linken. Bei der vierten Welle des modernen Terrorismus stellt sich angesichts der Schaddimension der Anschläge des 11. September die Frage, ob derartige Summen noch innerhalb der Kompensierbarkeitsgrenze oder schon jenseits derselben liegen. Nach Leibfritz (2004) werden die Summen, mit denen Versicherer und Rückversicherer einspringen mussten, auf 30 bis 58 Mrd. US-Dollar taxiert (vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006: 349 f.), was die Versicherer an ihre finanziellen Grenzen stoßen ließ. Spielmann (2003) zufolge nahmen sie dies 247 248
249
Waldmann (2003: 126-130) geht weniger auf die Kompensation der Nachteile für die Opfer, sondern auf die Kompensation der Folgen für die Täter ein. Freudenberg (2007 a) weist darauf hin, dass Versicherungen gegen Entführungen, aber auch Erpressungen, international schon länger üblich waren, in Deutschland jedoch erst Ende der 1990er zugelassen wurden. Seiner Auffassung nach kam die Zulassung letzten Endes aufgrund des Ausweichens potenzieller Kunden ins Ausland bzw. zu ausländischen Anbietern zustande. In dieser Perspektive stellt die Ökonomie das notwendige Regulativ dar. Belastbare Hinweise, dass nach der Einführung der Versicherung von Spitzenpersonal gegen Entführungen ein Anstieg an Entführungen zu verzeichnen war, liegen nicht vor.
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zum Anlass, Haftungsausschlüsse und -obergrenzen durchzusetzen, Zusatzversicherungen einzuführen sowie die Versicherungsprämien zu erhöhen. Die USA als eigentliches Angriffsziel sahen sich zu ressortübergreifenden Reaktionen gezwungen, welche das Budget merklich belasteten. 250 Anhand 9/11 wird nachdrücklich deutlich, dass schon ein einzelner Anschlag Schäden und Folgekosten verursachen kann, die ohne Weiteres nicht mehr kompensierbar sind. Dies verdeutlichen besonders die Haftungsausschlüsse und -limitierungen, was wiederum den modernen Terrorismus der vierten, religiösen Welle die Grenzen der monetären Kompensierbarkeit überschreiten lässt. 2.2.2.6
Bewertung
Bei der abschließenden Bewertung, ob Terrorismus als Neues Risiko gelten darf oder nicht, soll ausschlaggebend sein, ob er in allen vier Dimensionen entgrenzt und nicht mehr kompensierbar ist. Um ein einzelnes Kriterium zu erfüllen, genügt wie beim vormodernen Terrorismus die Entgrenzung in einer Erscheinungsform, d.h. Welle: Räumliche E.
Zeitliche E.
Sachliche E.
Soziale E.
Anarchismus
Erfüllt
Erfüllt
Erfüllt
Nicht erfüllt
Antikolonialer Terrorismus Neue Linke
Erfüllt
Erfüllt
Nicht erfüllt
Erfüllt
Nicht erfüllt
Erfüllt
Erfüllt
Erfüllt
Erfüllt
Nicht erfüllt
ReligiöErfüllt Erfüllt Erfüllt Erfüllt ser Terrorismus Abb. 2-2: Entgrenzung des modernen Terrorismus
Erfüllt
250
Fehlende Kompensierbarkeit Nicht erfüllt
Gesamt Nicht erfüllt Nicht erfüllt Nicht erfüllt Erfüllt
Zu diesen zählt auch die Intervention in Afghanistan, wo bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt US-Truppen stationiert sind – was seinerseits erhebliche Kosten verursacht.
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Die erste Welle war in drei Dimensionen entgrenzt, die zweite ebenfalls, die dritte 251 wie auch die vierte sogar in allen vier. Aber erst der Terrorismus der religiösen vierten Welle ist nicht mehr kompensierbar. 252 Dabei ist nochmals darauf hinzuweisen, dass einerseits die Wertung „erfüllt“ nicht zwangsläufig für alle Akteure der jeweiligen Welle gelten muss 253 und andererseits die Bewertung über eine etwaige Entgrenzung sich stets am Bezugsrahmen orientiert, der sich aus den früheren Formen des Terrorismus ergibt. So ist es möglich, dass der antikoloniale Terrorismus mindestens genauso viele verschiedene oder gar noch mehr Ziele angriff oder Mittel dabei einsetzte wie der Anarchismus, ohne jedoch im Gegensatz zu jenem als sachlich entgrenzt bewertet zu werden – ausschlaggebend ist, dass er keine entscheidende Neuerung einführte. Daher steigt der Entgrenzungspfad sowohl der räumlichen, der zeitlichen wie auch der sozialen Dimension stetig, während der der sachlichen einen Bruch aufweist. Die Entwicklung der Kompensierbarkeit war während der dritten Welle aufgrund der Entführungsversicherungen sogar tendenziell rückläufig, bis sie durch den religiösen Terrorismus vollständig aufgehoben wurde und ihn zu einem Neuen Risiko machte. 254 Vor allem aufgrund der in den letzten beiden Stufen vollständigen Entgrenzung verliert Terrorismus jegliche Berechenbarkeit – es scheint, dass die Berechenbarkeit von Terrorismus sich umgekehrt proportional zu seiner Entgrenzung verhält.
251
252 253
254
Johnson (1978: 239) berichtet von einem vorläufigen Höhepunkt der Entgrenzung, dem Massaker japanischer Terroristen auf dem Fughafen Lod in Tel Aviv am 30. Mai 1972. Besagte der Japanischen Roten Armee (JRA) angehörenden Terroristen wurden durch nordkoreanische Agenten rekrutiert, finanziert durch Gelder aus Deutschland und abschließend ausgebildet in Syrien und im Libanon. Die suizidal angelegte Tat führten sie letztlich im Auftrag der PFLP aus. Aufgrund der speziell gegen palästinensische Terroristen gerichteten Sicherheitsvorkehrungen des Flughafens nahm die PFLP Rückgriff auf Personen asiatischen Aussehens. Trotzdem vermutet Horx (2006: 213), die Dschihadisten seien Verfechter einer bereits im Niedergang befindlichen Idee. Stellvertretend sei auf die Unterschiede in der sachlichen Dimension zwischen verschiedenen Theoretikern des Anarchismus und der Narodnaja Wolja hingewiesen. Theoretiker wie Nechaev und Bakunin forderten die Unterordnung der Mittel unter den Zweck. Die Narodnaja Wolja hingegen plädierte bewusst und gezielt für moralische und ethische Prinzipien und somit soziale Begrenzung. Der Entgrenzung Nechaevs steht also die Begrenzung der Narodnaja Wolja gegenüber, die – wie die Praxis zeigte – Anwendung fand. Krause (2004: 76) zufolge setzt sich der religiöse Terrorismus aus drei Subrisiken zusammen. Subrisiko eins stellt der der islamistischen Ideologie inhärente Nihilismus dar, während Subrisiko zwei aus einer extremistisch-religiös motivierten Destabilisierung westlicher Staaten besteht. Subrisiko drei besteht schließlich in der Gefahr, dass eine mögliche Gewaltspirale einem Dschihad-Projekt in die Hände spielt.
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Eng damit verbunden ist das schlussendliche Fehlen von Zurechenbarkeit. 255 Bis zur vierten Welle des modernen Terrorismus konnten Anschläge auf verschiedene Weise einem bestimmten Verursacher zugeordnet werden.256 Aufgrund der Vielzahl an schnell entstehenden und genauso schnell wieder verschwindenden Splittergruppen, die sich der Doktrin der Al Qaida verpflichtet fühlen, wird es zunehmend auch für Nachrichtendienste schwierig, Handlungen einem spezifischen Handelnden jenseits der Gewissheit, dass jener islamistischfundamentalistisch motiviert war, zuzuordnen. 257 Zurechenbarkeit aber ist ein wesentlicher Aspekt im Hinblick auf die Ertragbarkeit von Anschlägen. Den Urhebern eines Schadens ein Gesicht geben zu können oder wenigstens konkretes Wissen über sie zu haben, vermag auf individueller Ebene bei der Bewältigung der psychischen Folgen zu helfen. 258 Es ist anzunehmen, dass Abstraktheit, wie sie im Zuge willkürlich erscheinender Anschläge unbekannter und sich auch nicht bekennender Gruppierungen zu beobachten ist, das individuelle Gefühl des Ausgeliefertseins und der subjektiv empfundenen wie objektiv zu attestierenden Ohnmacht gegenüber derartigen Aktionen verschlimmert. Kurz: Terrorismus ist augenscheinlich ein fester, in allen vier Dimensionen entgrenzter 259 Bestandteil der reflexiven Moderne, der 255
256
257 258
259
Hinterfragt man Zurechenbarkeiten, so stößt man unweigerlich auf den Aspekt, wem oder was Terrorismus im Allgemeinen und Terrorismus vom Typus der Al Qaida im Speziellen zuzurechnen ist. Für den allgemeinen Fall lässt sich im Gegensatz zu klimatischen Phänomenen die Antwort „dem Menschen“ überaus einfach und eindeutig geben. Für den speziellen ist die Frage nach der Zurechenbarkeit und somit im weiteren Sinne nach der Schuld wesentlich schwerer zu beantworten (vgl. Kapitel 2.1.4 und 2.2.1.6). Begreift man Terrorismus im Wieviorka’schen Sinne als Gegenbewegung, als Reaktion, so ist die Suche nach dem Verursacher eines terroristischen Aktes nicht bei dem Täter, seiner Organisation und deren Ideologie zu Ende, sondern führt zu dem, was Terrorismus als Gegenbewegung, als Reaktion ausgelöst hat. Für das Beispiel der Al Qaida – die sich als Bewegung zur Erneuerung des Islam und als Vorkämpfer gegen Israel und westliche Hegemonialität versteht – wäre die Frage nach dem Verursacher mit „der westliche Kulturkreis mit seinem Wertesystem“ zu beantworten, da es das westliche Wertesystem ist, durch das islamistische Fundamentlisten ihren Glauben und folglich auch ihren Kulturkreis bedroht sehen. Dies manifestiert sich vor allem in den Schriften des ideologischen Begründers des islamistischen Fundamentalismus Said Qutbs. Bekennervideos bieten im Nachhinein zumindest Anhaltspunkte, haben jedoch häufig das Problem mangelnder Glaubwürdigkeit. Vgl. Freudenberg (2005). Darauf lässt die Reaktion Michael Bubacks, des Sohns des von der RAF ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback, schließen. In verschiedenen Stellungnahmen im ersten Halbjahr 2007 wies Buback auf die Bedeutung hin, die den Namen des Täters zu kennen für ihn habe. Hinweise Boocks, Klar sei bei der Tat nicht der Schütze gewesen, ließen Buback die Einwände gegen eine Begnadigung Klars zurückziehen. Die Entgrenztheit kann nicht überraschen, da global intensivierte Interaktion – ermöglicht durch technologische Innovation – „die traditionellen Grenzen von Zeit und Raum außer Kraft“ (Bonß 2005: 39) setzen.
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jedoch hinsichtlich der spezifischen Erscheinungsform variiert und in seiner derzeit vorherrschenden Form auch seine Kompensierbarkeit verloren hat. Er erfüllt alle Kriterien eines Neuen Risikos, womit schwindende Be- und Zurechenbarkeiten einhergehen. 260 An dieser Stelle ist auf die Hypothese, die diesem Abschnitt zugrunde gelegt wurde, zurückzukommen. War Terrorismus schon vor 9/11 ein Neues Risiko? Die Antwort lautet: nein. Er war zwar schon vorher in allen vier Dimensionen entgrenzt, aber er war noch kompensierbar. Erst die Anschläge des 11. September hoben die Kompensierbarkeit auf, was das Erfüllen des letzten ausstehenden Kriteriums eines Neuen Risikos bedeutet. Somit bestätigt die empirische Überprüfung die Hypothese: Terrorismus ist erst seit 9/11 ein Neues Risiko. 2.3
Strukturelle Andersartigkeit
Ist Terrorismus also angesichts seiner Entgrenzung, seiner egalisierenden Wirkung, seiner kaum mehr attestierbaren Kompensier- und Zurechenbarkeit ein Neues Risiko wie jedes andere auch? 261 Einerseits ist ein wesentliches Kennzeichen der terroristischen Kommunikation ihre – nicht nur in physischer Hinsicht – destruktive Tendenz. Sie bemüht sich ausschließlich darum, auf nach der individuellen Perzeption der Terroristen existente Defizite hinzuweisen, freilich ohne praktikable Lösungs- oder wenigstens Besserungsvorschläge unterbreiten zu können (vgl. Waldmann 2001: 39). Im Gegensatz dazu sind die meisten ökologisch-technischen Risiken selbst Alternativen zu bereits existenten Problemlösungen. An diese Erkenntnis anknüpfend ist andererseits beim Terrorismus als einem per se sozialen, allerdings um ökologisch-technische Risiken erweiterten 262 und mit ihnen vermischten Neuen Risiko ein weiterer, noch schwerwiegenderer Unterschied zu allen anderen Neuen Risiken festzustellen. Während bei allen 260
261 262
Auch Nolte (2006: 14 f.) weist darauf hin, dass die reflexive oder auch modernisierte Moderne insgesamt durch ein Schwinden an eindeutigen Zurechenbarkeiten gekennzeichnet ist. Dies gilt für klimatische Phänomene ebenso wie für wirtschaftliche Entwicklungen. Während Ersteren Umweltverschmutzung und somit menschliche Produziertheit als Erklärungsursache angedient wird, werden Letztere häufig als negative Konsequenz terroristischer Aktivitäten interpretiert. Es fällt schwer zu bewerten, ob dem Terrorismus auch die Entdifferenzierung von Verursacher und Betroffenem attestiert werden kann. Beck (2003: 284) weist darauf hin, dass Terrorismus durch den Einsatz entsprechender Mittel durch ökologisch-technische Risiken verstärkt werden kann. Schließlich ist denkbar, dass infolge eines Anschlags mit ABC-Waffen entsprechende Inhaltsstoffe freigesetzt werden und so die Katastrophenschwelle überschritten wird.
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anderen Neuen Risiken – egal, ob Gentechnologie (vgl. Fuchs 1996 u. 2003, Breckling/Verhoeven 2004), Kernkraft (vgl. Nowotny 1993) oder Chemie 263 – Schäden als kontraproduktiv angesehen werden, sind sie das unumstößliche Funktionsprinzip des Terrorismus. Das terroristische Kalkül geht nicht auf, solange die Schadwirkung verpufft oder von einer Verpuffung ausgegangen wird. Den Unterschied in der Schadintention erkennt auch Beck: „Gegen Zufallsunfälle sind wir – mehr oder weniger – versichert. Völlig schutzlos sind wir dagegen beabsichtigten Terrorattacken ausgesetzt“ (Beck 2003: 284). Um zu funktionieren, muss sich Terrorismus folglich kontinuierlich weiterentwickeln, anpassen und entgrenzen. Dieser Prozess der zunehmenden Enthemmung und Entgrenzung kann sich letztlich als hinderlich für das terroristische Kalkül erweisen, das auf die Durchsetzung politischer Interessen gerichtet ist. Die kontinuierliche Entgrenzung begrenzt den Handlungsspielraum, der abseits physischer wie psychischer Gewaltanwendung oder -drohung zur Verfügung steht (vgl. Horx 2006: 212 ff.). Die fortwährende Entgrenzungsspirale erhöht die Barrieren zur Aufnahme sachbezogener verbaler Kommunikation so stark, dass diese auf absehbare Zeit nicht als Erfolg versprechende Alternative zur terroristischen Kommunikation zur Verfügung steht. Vor allem den Attentaten des 11. September kann attestiert werden, dass sie für die Wahrnehmung von Terrorismus eine ähnlich katalytische Funktion besitzen, wie der größte anzunehmende Unglücksfall (GAU) von Tschernobyl 1986 für die Wahrnehmung ökologisch-technischer Risiken. Tschernobyl wurde – flankiert von der Idee der Risikogesellschaft (Beck 1986) – zum Symbol der Abkehr vom positivistisch-technischen Fortschrittsglauben (vgl. Nolte 2006: 12). Während die Negativseiten der ökologischtechnischen Neuen Risiken als herkömmliche bads – Abfallprodukte der radikalisierten Moderne – bezeichnet werden, können terroristische Aktivitäten als intentionale bads bezeichnet werden. 264 Von dieser Schattenseite der Globalisierung, den Verlierern der globalen Verdichtung von Interaktions- und Kommunikationsräumen und ihrer Nicht-Bereitschaft, dies widerspruchslos hinzunehmen, zeugt der moderne Terrorismus.
263
264
Die ökologisch-technischen Risiken sind in der Forschung insgesamt gut erfasst und aufgearbeitet, so in Elster (1993) und Merz (2006). Zu einem Überblick über die verschiedenen ökologisch-technischen Risiken und die Umgangsweise mit ihnen vgl. Cutter (1993). Eine überaus anschauliche Annäherung bietet Krieg (2000). Beck (2003: 283 f.) deutet diesen gravierenden Unterschied zu ökologisch-technischen oder sozialen Neuen Risiken nur kurz an, ohne ihn ausführlicher zu erörtern.
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3
Vom Umgang mit Risiken
In Kapitel 3 wird nach einer hermeneutischen Analyse bestehender Konzepte zum Umgang mit anderen Risiken als Terrorismus mittels Feldforschung, deren beobachtete und protokollierte Erkenntnisse mit Methoden der qualitativen Sozialforschung ausgewertet werden, die zweite Hypothese untersucht: Die bestehenden Möglichkeiten zum Umgang mit Risiken tragen zwar zum wechselseitigen Verständnis der Positionen unterschiedlicher, mit ihm konfrontierter, Akteure bei und vermögen im Falle einer unmittelbaren Konfrontation, eigenes Handeln zu strukturieren. Gleichzeitig sind sie jedoch nicht geeignet, Terrorismus gesellschaftlich nachhaltig handhabbar zu machen. Um die einzelnen Ansätze zum Umgang mit Terrorismus auf ihre Funktionalität untersuchen – also die Strategie der Theorien-Triangulation (Flick 2002: 331) anzuwenden – und sie vergleichen zu können, ist eine Anwendung derselben auf stets ein und dieselbe Situation sinnvoll. Dies erfordert, eben diese Ausgangsituation – eine in der Feldforschung protokollierte Fallstudie 265 – zu skizzieren. Hierbei wurde eine durch berufliche Rahmenbedingungen vorgegebene Fallgruppe ethnographisch beobachtet, aus der als Fallauswahl eine Untersuchungsund eine Kontrollgruppe gebildet wurden (vgl. Flick 2002: 97, 106-108). Das Verfahren der Ethnographie ermöglicht die Verbindung von Beobachtung und Befragung und erwies sich durch seinen Anwendungsbereich – alltägliche Lebenswelten und die Stellung des Verfassers zur Fallgruppe – unter Berücksichtigung beruflicher Rahmenbedingungen des Verfassers für besonders geeignet. 266 Im weiteren Verlauf der Arbeit werden die einzelnen Konzepte folglich 265
266
Auf dieses Protokoll (Kaschner 2005) wird im weiteren Verlauf der Arbeit regelmäßig Bezug genommen. Sämtliche Hinweise auf die Ereignisse rund um den Anschlag sowie die Reaktionen und Auffassungen der Untersuchungs- und Kontrollgruppe sind – sofern nicht explizit anders gekennzeichnet – diesem Dokument entnommen und werden nicht einzeln belegt. Im Falle der Nutzung abweichender Quellen werden diese benannt. Der Umstand, dass es sich bei dem Protokoll um ein als militärische Verschlusssache klassifiziertes Dokument handelt, führt dazu, dass keine wörtliche Zitation und auch nur auszugsweise die inhaltliche Bezugnahme seitens der Bundeswehr (Zentrum Operative Information) bewilligt wurde. Flick (2002: 237) erkennt die Gefahr der unspezifischen Forschungshaltung als ein mögliches Problem des Verfahrens der Ethnographie, begrenztes Interesse an methodischen Fragen hingegen als Grenze der Methode.
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erst erläutert und auf den Terrorismus allgemein reflektiert, um dann anhand der folgenden Fallstudie trianguliert zu werden. 3.1
Fallstudie
Die in der Feldforschung protokollierte Fallstudie stammt aus dem Jahr 2004 und beschreibt das auf einen Anschlag auf eine deutsche Patrouille in Kunduz, Afghanistan, folgende Krisenmanagement. 267 Bei dem Anschlag wurden drei Soldaten verletzt. Zu diesem Zeitpunkt war der Verfasser vorliegender Arbeit ebenfalls im dortigen Provincial Reconstruction Team (PRT) eingesetzt. Sein Aufgabenbereich verlangte die Teilnahme am Krisenmanagement und ermöglichte somit Einblicke in die Art und Weise, wie bestimmte Truppengattungen der Bundeswehr im Auslandseinsatz mit der Bedrohung durch Terrorismus umgehen. Die Fallgruppe an sich umfasst rund 350 Personen überwiegend männlichen Geschlechts und deutscher Nationalität. Aus dieser Fallgruppe wurde eine Fallauswahl in Form einer Untersuchungs- und einer Kontrollgruppe gebildet. Die Untersuchungsgruppe besteht aus 14 deutschen und niederländischen Soldaten, die sich alle hinsichtlich ihres dienstlichen wie privaten Hintergrundes unterscheiden. Die durch Gespräche mit ihnen gewonnenen Erkenntnisse werden im als solchen gekennzeichneten Einzelfall auch durch solche ergänzt, die sich aus Gesprächen mit Soldaten ergaben, die anlässlich des Anschlags mit der Untersuchungsgruppe zusammengearbeitet haben. Anzumerken ist, dass sich aus der Analyse keinerlei geschlechtsspezifische Rückschlüsse ziehen lassen, da sämtliche Personen der Untersuchungsgruppe – aber auch der Einzelbeispiele – männlichen Geschlechts sind.
267
Für eine Darstellung Afghanistans vgl. Chiari/Militärgeschichtliches Forschungsamt (2006), aber auch Baraki (2002).
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Einen Überblick über Einsatzerfahrung und Alter der Angehörigen der Untersuchungsgruppe bietet Abbildung 3-1: Lfd. Nr. 1 2 3 4 5 6 7 8 8 10 11 12 13 14
Einsatzerfahrung (in Monaten) 1 1 4 > 12 1 1 1 3 3 > 12 1 1 > 12 2
Alterstufe 268 3 2 2 3 2 2 1 1 2 2 2 1 3 1
Abb. 3-1: Untersuchungsgruppe Um einen möglichst starken Kontrast zur Untersuchungsgruppe zu erhalten, wurde als Kontrollgruppe die Redaktion des Radiosenders des PRT ausgewählt. Hierbei handelte es sich um sieben afghanische Zivilisten, die sechs Tage die Woche jeweils acht Stunden täglich für das PRT arbeiteten. Die geschilderten Details wurden in der Zeit vom 27. November bis 5. Dezember 2004 protokollartig festgehalten. Auf sie sollen jetzt – mit einem der Objektivität und Rollendistanz zuträglichen Zeitabstand 269 – die einzelnen Konzepte im Umgang mit Risiken angewandt und deren Praktikabilität analysiert werden. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass verschiedene 268
269
Stufe 1: < 25 Jahre; Stufe 2: 25-30; Stufe 3: > 30. Der jüngste Soldat (Chefredakteur Print) war zum Zeitpunkt des Anschlags 22, der älteste (OpInfoStOffz) 39 Jahre alt. Auf detaillierte Angaben zu den einzelnen Personen wird verzichtet, da diese sie sich teilweise noch in Diensten der Bundeswehr befinden und sich konkrete Rückschlüsse auf den Einzelnen ziehen lassen könnten. Gänzlich objektiv kann die Analyse nicht sein, da der Verfasser in die Geschehnisse selbst mittelbar involviert war. Allein die Auswahl der festgehaltenen und auch wiederum der geschilderten Details impliziert einen gewissen Filter, der absolute Objektivität unmöglich macht. Um jedoch die größtmögliche Objektivität zu erreichen, werden sämtliche damals protokollierten Details in die Schilderung des Fallbeispiels aufgenommen, unabhängig davon, wie wichtig sie für das Thema vorliegender Arbeit zu sein scheinen.
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Details aufgrund der fortlaufenden Auslandseinsätze und weiterhin geltenden Einsatzgrundsätze nicht explizit geschildert werden dürfen. 3.1.1
Der Anschlag
Am 26.11.2004 wurde in Kunduz, Afghanistan, um 19.59 Uhr ein Anschlag auf eine Patrouille des deutschen PRT verübt. Sofort nach der Meldung des Anschlags durch den Patrouillenführer alarmierte die Operationszentrale (OPZ) das Feldlager und leitete Rettungsmaßnahmen ein. In den folgenden Tagen stellte sich heraus, dass die bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte „Revolutionäre Islamische Mudschahedin-Armee Afghanistan“ den Anschlag verübt und ein Bekennerschreiben hinterlassen hatte. Zwei der verletzten Soldaten wurden umgehend repatriiert. Rund 150 Minuten nach dem Anschlag (also gegen 22.30 Uhr) erging an die Truppe für Operative Information (OpInfo) als für die Public Relations (PR) im Einsatzgebiet zuständige Abteilung270 der Auftrag, die Berichterstattung und den erforderlichen Medienansatz zielgruppengerecht zu koordinieren. Zielgruppe war die Bevölkerung des Verantwortungsbereichs des PRT Kunduz. Diese Koordination wurde ohne weiteren Verzug in einer Krisensitzung vorgenommen, an der die Verantwortlichen der einzelnen Teilbereiche teilnahmen. 271 Für sie leitete sich der Auftrag ab, nach einer rationalen Beurteilung der Lage detaillierte Planungen für den zweckmäßigsten Ansatz der Kräfte und die medieninternen Verfahren zu erarbeiten, um diese dem für die Medienarbeit verantwortlichen Berater des Kommandeurs noch in der Nacht zur Entscheidung vorlegen zu können.
270
271
Nach Bataillon für Operative Information 950 (2007: 1) hat die Truppe für Operative Information den Auftrag, „mit kommunikativen Mitteln unter Nutzung von Druckerzeugnissen, Lautsprecheraufrufen und -durchsagen, Hörfunksendungen, TV-/Videobeiträgen, Internet sowie sonstigen zur auftragsgerechten Erreichung von Zielgruppen geeigneten Medien auf Zielgruppen im Einsatzgebiet einzuwirken, um deren Einstellung und Verhalten zu beeinflussen sowie Vertrauen und Unterstützung für den eigenen Auftrag zu erzielen und damit zum Schutz eigener Kräfte beizutragen.“ Zur Gegenpraxis der Taliban vgl. Gebauer (2007). Dazu gehörten der Radiosender Sada-e Azadi Shamal, die Zeitung Sada-e Azadi, die Taktischen OpInfo-Kräfte (TOK) sowie die Zielgruppenanalyse.
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3.1.2
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Die Auflagen
Bei der Beurteilung der Lage waren verschiedene, als unabhängige Variablen anzusehende Faktoren zu berücksichtigen. Hierzu zählte neben der absoluten Verpflichtung zur Schilderung ausschließlich objektiv überprüfbarer Tatsachen die Forderung, auf jeden Fall deeskalierend zu wirken. Hierbei galt es, sich darauf einzustellen, aufgrund sicherheitsrelevanter Überlegungen bestimmte Informationen zurückhalten zu müssen, ohne dass dies bei flüchtiger Betrachtung auffallen würde. Bei der gesamten Arbeit der Operativen Information – die es unbedingt mit der Arbeit des Presse- und Informationszentrums 272 zu koordinieren galt – sollte der Anschein von Normalität vermittelt werden, wobei ISAF als fähig und souverän dargestellt werden musste. Ebenso musste sich OpInfo darauf einstellen, der Zielgruppe über die in den einzelnen Kampagnen 273 fixierten Informationsziele und -inhalte hinaus weitere konkrete Botschaften der PRT-Führung nahezubringen. Hierzu zählte die Aussage, dass der Anschlag einerseits als Tat einer einzelnen Gruppe angesehen und nicht die gesamte afghanischen Bevölkerung unter Generalverdacht gestellt wird, 274 andererseits keinen Einfluss auf die Dauer der stabilisierend wirkenden Präsenz von ISAF habe. Eine andere zu vermittelnde Botschaft war, dass der Anschlag keinen Einfluss auf die positive Grundstimmung der ISAFSoldaten gegenüber der Zielgruppe haben werde. Des Weiteren bestand unabhängig vom Anschlag die Notwendigkeit, die Zielgruppe von einer am Sendetag aus der Beseitigung von Restmunition resultierenden zu erwartenden gewaltigen Explosion in Kenntnis zu setzen, um so eventuell entstehende Unruhe zu vermeiden. Die hierfür gängigen Formate waren Lautsprecheraufrufe vor Ort und ein Info-Update im Radio.275 Ebenso galt es, die Zielgruppe zum frühesten möglichen Zeitpunkt über einen bereits drei Tage zuvor (am späten Dienstagabend) im Kishim District in 272 273 274
275
Die Zielgruppe der Presse-/Informationszentren sind nationale und internationale Medien, während OpInfo die Bevölkerung in den Einsatzgebieten als Zielgruppe hat. Kampagne sei verstanden als kontinuierliche zielgerichtete Informationsverbreitung mit klarer Zielgruppe und spezifischem Informationsziel. Es musste um jeden Preis eine Eskalation der Lage vermieden werden, wie sie aus der Reaktion der französischen Sicherheitskräfte in den 50er-Jahren auf Anschläge der algerischen FLN resultierte. Frankreich hatte nach Waldmann (2001: 17 f.) terroristische Anschläge mit dem Beginn eines Guerillakrieges – welcher der Unterstützung durch die Bevölkerung bedarf – verwechselt und folglich nahezu die gesamte algerische Bevölkerung unter Generalverdacht genommen. Diese Vorgehensweise – eine Distanzierung ortsfremder Truppen von der einheimischen Bevölkerung – spielte der FLN in die Hände. Genau dies galt es im Fall des Anschlags vom 26.11.04 zu verhindern. Bei einem Info-Update handelt es sich um ein Informationsformat von maximal einer Minute, das nur bei besonders wichtigen oder kurzfristigen Anlässen genutzt wurde.
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der Provinz Badakhshan 276 erfolgten, aber erst jetzt zur Berichterstattung freigegebenen Einsatz der Afghan Special Counter Narcotic Force (ASNF) zu informieren. Dieser erste wahrnehmbare Einsatz der neu geschaffenen ASNF bestand in der Zerstörung von Drogenlabors, wobei die Existenz der ASNF durch die afghanische Regierung zu diesem Zeitpunkt noch nicht intensiv kommuniziert wurde, was der afghanischen Bevölkerung den Verdacht nahelegen musste, dass ausländische Truppen für die Zerstörung der Drogenlabors verantwortlich waren. Da derartige Operationen nicht zum Auftrag von ISAF, sondern zum Aufgabenspektrum der Operation Enduring Freedom (OEF) gehörten, war es notwendig zu betonen, dass die Zerstörung keine ISAF-Aktion war – im Idealfall ohne ISAF überhaupt zu erwähnen. 277 Diese Information musste mit besonderer Sorgfalt verbreitet werden, da es galt, jegliche eigene Wertung zu vermeiden, ohne aber Interpretationsspielraum für die Zielgruppe zu eröffnen. 278 Zum Zeitpunkt der Krisensitzung bestand die Vermutung, der Anschlag könnte eine Vergeltungsmaßnahme für die Zerstörung sein; diese Vermutung durfte nicht nach außen kommuniziert werden. 3.1.3
Die Mittel
An schnell verfügbaren Einsatzmitteln standen der Radiosender Sada-e-AzadiShamal, die Print-Section zur Produktion von Handzetteln sowie die Taktischen OpInfo-Kräfte (TOK) zur Verfügung. Der Radiosender 279 eröffnete die Mög276 277
278 279
Nach damaligen Straßenverhältnissen rund sieben Stunden von Kunduz entfernt. Als grundsätzliches Problem der Arbeit von ISAF erwies sich die mangelnde Differenzierungsfähigkeit oder -bereitschaft der afghanischen Bevölkerung zwischen den Mandaten von ISAF und OEF sowie den Nationalitäten der ausländischen Nationen. Bestreben von OpInfo war und ist, den Auftrag von ISAF herauszustellen und implizit von OEF abzugrenzen. Hierbei war wichtig, wiederum implizit zu verdeutlichen, dass Deutsche Deutsche und nicht Amerikaner sind, da das Ansehen Deutschlands im Allgemeinen und der Bundeswehr im Speziellen deutlich positiver als das amerikanische war. Diese Erkenntnis erwies sich den Ergebnissen nahezu täglicher Gesprächsaufklärung zufolge über den ganzen Einsatzzeitraum als stabil. Drogenbekämpfung (Counter Narcotics; CN) in irgendeiner Form zu betreiben war für national-deutsch geführte Kontingente – wie das in Kunduz der Fall war – Ende 2004 durch das Einsatzführungskommando untersagt. Das in Dari und Paschtu sendende Zielgruppenradio hatte im Zeitraum November 2004 bis März 2005 zwei Sendefenster in Eigenverantwortung zu bestücken, wobei weder Beiträge noch Nachrichten ohne vorherige Kontrollübersetzung gesendet werden durften. Da keine Dari oder Paschtu sprechenden militärischen Redakteure – bei denen Live-Betrieb grundsätzlich denkbar gewesen wäre – zur Verfügung standen, mussten sämtliche Programminhalte vorproduziert werden. Die beiden zu bestückenden Sendefenster waren zum einen von 09.00 Uhr bis 10.00 Uhr, zum anderen von 15.00 Uhr bis 21.00 Uhr. Aufgrund des Zwangs
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lichkeit, schon in der Morgensendung – also zwischen 09.00 Uhr und 10.00 Uhr – entsprechende Nachrichten zu senden. Von 15.00 Uhr bis 21.00 Uhr waren stündliche Nachrichten sowie aufgrund der Exklusivwirkung lediglich ein InfoUpdate opportun. Die Redaktion 280 bestand neben einem deutschen Chefredakteur aus sieben afghanischen Redakteuren (im Folgenden auch Kontrollgruppe genannt), darunter eine Frau. Der Chefredakteur sprach weder Dari noch Paschtu, die afghanischen Redakteure kein Deutsch und nur teilweise ausreichend Englisch. 281 Die Print-Section – bestehend aus einem deutschen Chefredakteur, einem Mediengestalter und zwei afghanischen Redakteuren – eröffnete die Möglichkeit zur Produktion von Handzetteln. Bis 10.00 Uhr morgens hätten sich rund 5.000 vierfarbige Exemplare drucken lassen. Die Zeitung Sada-e-Azadi indes erschien nur alle zwei Wochen. Ihr Inhalt unterlag einem aufwändigen, bürokratischen und folglich langwierigen Genehmigungsverfahren. Daher schied die Zeitung als schnelles Reaktionsmittel aus. Die Taktischen OpInfo-Kräfte boten mit ihren Lautsprecherfahrzeugen 282 die Möglichkeit, zeitlich völlig flexibel vorgefertigte oder während des Tages auch live eingesprochene Aufrufe zu machen und von der Print-Section gefertigte Handzettel zu verteilen. Auf diese Weise sollte sich die Möglichkeit eröffnen, mit der Zielgruppe ins Gespräch zu kommen und deren Sichtweise auf den Anschlag kennenzulernen. 3.1.4
Die Handlungsoptionen
In der Krisensitzung wurden folgende einzelne Bausteine identifiziert, aus denen wiederum drei in Umfang und Kommunikationsintensität gestaffelte Module (vgl. Abbildung 3-2) zusammengestellt und zur Entscheidung vorgelegt wurden.
280 281 282
zur Vorproduktion, der Anzahl der Beiträge und der Arbeitszeiten der afghanischen Redakteure bestand die Mel-e-Shamal (die Morgensendung „Der Norden am Morgen“) aus zwei Tage zuvor gesendeten Beiträgen und einer bunten Musikauswahl. Komplettiert wurde die Radio-Section durch zwei deutsche militärische Techniker. Nichtsdestotrotz mussten die Redaktionskonferenzen in Englisch abgehalten werden – mit regelmäßigen Unterbrechungen, um für die schlechter Englisch sprechenden Redakteure die Übersetzung in Dari zu ermöglichen. Die TOK verfügten über zwei Lautsprecherträger vom Typ „Wolf“, einen geschützten Mercedes-Geländewagen, ebenfalls Typ „Wolf“, sowie einen Transportpanzer vom Typ „Fuchs“. Lediglich der Transportpanzer war gepanzert.
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104 Element Audio - Toppositionierung in Nachrichten - Beiträge - Botschaft Kdr PRT/Leiter ziviler Anteil PRT an Bevölkerung - Info-Update - ab 15.00 Uhr halbstündliche Nachrichten - Nachrichten in Morgensendung Print - Editorial in Sada-e-Azadi (Kdr PRT/Leiter ziviler Anteil PRT) - Beitrag in Sada-e-Azadi - Handzettel - Sonderbeilage zur Sada-e-Azadi TOK - Gesprächsaufklärung - Lautsprecheraufrufe - Verteilung von Handzetteln - Lautsprecheraufruf mit Botschaft Kdr PRT
Modul 1
Modul 2
Modul 3
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x x x
Abb. 3-2: Bausteine des Krisenmanagements Dies waren letztlich ein puristischer Ansatz (Modul 1), ein darauf aufbauender erweiterter Ansatz (Modul 2) sowie ein Ansatz, der nahezu das komplette Spektrum an verfügbaren Mitteln und Maßnahmen umfasste (Modul 3). Alle Ansätze waren hinsichtlich der enthaltenen Informationen (nicht: Botschaften) noch vor Beginn der morgendlichen Redaktionskonferenz des Radiosenders mit der PIZ abzustimmen und sollten mittelfristig die Aufforderung an die Bevölkerung enthalten, mit den lokalen Behörden oder ISAF direkt zusammenzuarbeiten und zur Aufklärung des Anschlags, aber auch der Vermeidung zukünftiger Attentate beizutragen. Modul 1 umfasste einen Editorial-Beitrag des Leiters des zivilen Anteils des PRT in der nächsten regulär erscheinenden Ausgabe der Zeitung Sada-eAzadi. Außerdem sollte im Radio der Anschlag im Rahmen der ab 15.00 Uhr aus dem Regionalstudio Kunduz stündlich gesendeten Nachrichten auf den Spitzenplatz gesetzt werden, ergänzt um einen Beitrag, der ISAF gegenüber
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positiv gestimmte offizielle Stellungnahmen beinhalten sollte. Auf den Einsatz eines Info-Updates bzw. von Lautsprecheraufrufen und Handzettelverteilung wurde bewusst verzichtet. Einerseits sollte nicht schon bei einem Anschlag mit verhältnismäßig geringen Folgen283 ein Medienansatz praktiziert werden, der kaum Steigerungsmöglichkeiten offenließ, andererseits beurteilte man die Lage von ISAF in der Zielgruppe als positiv genug, um auch ohne Handzettel mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen. Der Editorial-Beitrag sollte der Bevölkerung signalisieren, dass der Anschlag keine negativen Auswirkungen auf die Stationierung des PRT oder die Einstellung der deutschen Soldaten gegenüber der Bevölkerung hat. Außerdem sollte die Wahl eines zivilen Autors die Rolle des zivilen Anteils 284 des PRT beim Wiederaufbau Afghanistans betonen. Im Radio sollte die Positionierung in den Nachrichten bei gleichzeitigem Verzicht auf ein Info-Update verdeutlichen, dass das PRT den Anschlag sehr wohl ernst nimmt, ihn aber nicht überbewertet. Der Beitrag war als Stimmungsverstärker für die sehr in Stammesstrukturen verhaftete Bevölkerung gedacht, die sich aufgrund des patriarchalischen Systems auch in der Meinung an von ihr akzeptierten Obrigkeiten anlehnt. Zusätzlich bot dieser Ansatz die Möglichkeit, das Format des Info-Updates und die TOK zur Information der Bevölkerung über die zu erwartende Detonation aufgrund der Beseitigung von Restmunition zu nutzen sowie die Nachrichten über die Operation der ASNF hinter der Anschlagsmeldung zu platzieren. Modul 2 entsprach dem um eine Radiobotschaft eines hohen Vertreters des PRT, mindestens einen weiteren Beitrag in der nächsten Zeitungsausgabe sowie um Lautsprecheraufrufe unter dem Logo des Radiosenders Sada-e-Azadi Shamal erweiterten Modul 1. Modul 3 schließlich bestand aus dem um ein InfoUpdate sowie den Druck und die Verteilung von Handzetteln ergänzten Modul 2. Einzelne Bausteine 285 wurden für keines der drei Module für sinnvoll erachtet, da deren Einsatz für zukünftige krisenhafte Szenarien keinerlei Steigerungsmöglichkeiten mehr offengelassen hätten. Der OpInfoStOffz befahl die Umsetzung des Moduls 1, das bis zum 5. Dezember abends wie folgt umgesetzt wurde: Der Leiter des zivilen Anteils des PRT wurde gebeten, den Editorial-Beitrag für die nächste Zeitungsausgabe zu 283 284 285
Die endgültigen Konsequenzen waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht ersichtlich. Die Tatsache jedoch, dass die verletzten Soldaten sich nicht mehr in Lebensgefahr befanden, war bekannt. Der zivile Anteil bestand aus Vertretern des AA, des Bundesministeriums des Innern (BMI) sowie des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Radio: Nachrichten in der Morgensendung; halbstündliche Nachrichten; Print: Sonderbeilage für nächste Ausgabe der Zeitung Sada-e-Azadi; TOK: Lautsprecheraufruf mit einer persönlichen Botschaft eines hohen Repräsentanten des PRT.
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verfassen, im Radio erhielt der Anschlag den geplanten Spitzenplatz in den Nachrichten und der Gouverneur der Provinz Kunduz erklärte in einem Beitrag sein Mitgefühl und forderte die Bevölkerung – explizit wurden die Besucher der Moscheen angesprochen – zur Kooperation auf. Die Gesprächsaufklärung der TOK fand statt und ergab nicht nur allgemeines Bedauern über den Anschlag, sondern brachte zusätzlich noch Informationen über den Tathergang. Einer Quelle aus der Quick Reaction Force (QRF) der Afghan National Army (ANA) 286 zufolge handelte es sich um insgesamt drei Täter, die einen Sprengsatz ferngezündet hatten. Zwei der Täter wurden festgenommen, der dritte angeschossen, konnte jedoch entkommen. Die Täter seien nicht aus der Stadt Kunduz selbst, sondern aus dem nahe gelegenen Char-Dara-Distrikt. Andere Quellen berichteten von rund 20 mit dem Anschlag in Verbindung stehenden Festnahmen. Einfluss auf die Informationsarbeit am Tag nach dem Anschlag (Samstag) hatte der Ausfall des Internets, das erst im Laufe des Sonntags wieder funktionierte und somit als Recherchemittel für die Redaktion des Radiosenders nicht zur Verfügung stand. Außerdem wurde die vorsichtige Informationspolitik – sowohl die der PRT-Führung gegenüber den eigenen Soldaten als auch die der Truppe für Operative Information gegenüber der Zielgruppe – aufgeweicht, da das ISAF-Hauptquartier (HQ ISAF) in Kabul sowie das Einsatzführungskommando in Potsdam mit dem Presseoffizier des PRT nicht abgestimmte Pressemitteilungen frühzeitig herausgaben. 287
286 287
Die QRF der ANA war schon kurz nach dem Anschlag vor Ort und konnte die Täter stellen. Sie war es auch, die das Bekennerschreiben fand. Der Entwurf der Pressemeldung vom 27.11.2004 des Presseinformationsoffiziers des PRT Kunduz lautete wie folgt: „Am 26. November 2004 gegen 20:00 Uhr (Kunduz) wurden bei einem gezielten Anschlag gegen ISAF an der südlichen Ausfallstraße von Kunduz drei Soldaten des deutschen Einsatzkontingents ISAF PRT KUNDUZ leicht verletzt. Die Soldaten waren im Raum Kunduz während einer Nachtstreife unterwegs, als sich in der Nähe eines der militärischen Kraftfahrzeuge eine Detonation ereignete. Maßnahmen der Hilfeleistung wurden direkt eingeleitet. Ein beweglicher Arzttrupp sowie weitere Unterstützungskräfte wurden sofort in Marsch gesetzt und haben die leicht verletzten Soldaten direkt in das Bundeswehrrettungszentrum des PRT KUNDUZ gebracht. Den Soldaten geht es den Umständen entsprechend. Die Untersuchungen zu den Umständen der Detonation wurden aufgenommen.“ Die kursiv geschriebenen Worte und Absätze wurden in der offiziellen Stellungnahme des BMVg nicht übernommen, da sie die Situation als zu bedrohlich hätten erscheinen lassen. Der Entwurf der eigentlichen Pressemitteilung war für das BMVg um Hintergründe ergänzt, zu denen der Hinweis auf das gefundene Bekennerschreiben und die Fernzündung aus rund 200 Meter Entfernung zählten.
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3.2 3.2.1
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Ansätze bis zum Aufkommen des Risk Assessments Vorneuzeitliche Unsicherheitskonzepte
Herstellung von Sicherheit vor Unsicherheiten aller Art geht regelmäßig einher mit der Produktion von Erwartungssicherheit. Hierbei kommen Strategien zur Anwendung, die subjektiv-rational gewählt werden und in dieser subjektivrationalen Perspektive der Zielerreichung dienen. Unabhängig von der gewählten Strategie und dem zu begegnenden Risiko wird dabei eine „entlastende Erwartungssicherheit“ (Bonß 1995: 93) aufgebaut. Traditionale Sicherungsstrategien sind die symbolische Bannung von Gefahren sowie Externalisierung. Beiden Konzepten ist gemein, dass sie versuchen, Erwartungssicherheiten zu generieren. Die Technik der symbolischen Bannung von Gefahren verweist auf eine kulturell spezifische Konstruktion von Schutz, ebenso wie auch die Praxis der Externalisierung. Die symbolische Bannung von Gefahren wird beispielsweise durch afrikanische Stämme wie die Lele praktiziert, die Risiken mittels Amuletten begegnen. Externalisierung hingegen, also die Projektion von Phänomenen auf einen Außenstehenden, war auch und vor allem in Europa im Zeitalter der Inquisition zu beobachten, als ungünstige Ereignisse, für die es keine andere Erklärung gab, als von Menschenhand geschaffen angesehen und einem konkreten Verursacher zugeordnet wurden. Allzu häufig waren dies Menschen, denen nachgesagt wurde, vom Teufel besessen zu sein. Eine Mischform aus symbolischer Bannung und Externalisierung von Risiken stellt die Hexerei dar, wie sie im heutigen Afrika beobachtet werden kann. Alle unerklärlichen positiven wie negativen Phänomene werden beim Glauben an Hexerei externalisiert, indem sie als menschlich – von einer Hexerin oder einem Hexer – produziert angesehen werden. Schutz davor bieten Amulette, die ihrerseits von einem Hexer gefertigt und bei diesem erworben werden können. 288 Signer (2004) schreibt der Hexerei dadurch eine soziale Kontrollfunktion zu. 289 In dieser Perspektive können auch terroristische Akte gehandhabt werden. 288
289
Signer beschreibt Hexerei als eine soziale Realität, „eine Metapher für von Missgunst geprägte Sozialbeziehungen: Es soll dir nicht besser gehen als mir. […] Der Druck der Verwandtschaft auf jeden, der etwas hat, ist unerbittlich. Die Bittsteller sind nie zufrieden. Und die Verwandtschaft ist tendenziell unendlich“ (Signer 2006: 22). Für das Wirken von Zaubern nutzen die Hexer Fetische, häufig in Form amorpher Lehmfiguren. Für eine Überblicksdarstellung zur Wirkung von Hexerei in Afrika vgl. Grill (2005), der mit Verweis auf Signer (2004) Okkultismus im Allgemeinen und Hexerei im Speziellen als Hemmnis der ökonomischen Entwicklung Afrikas ausmacht.
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Sie stellen sich als Wirken einer der eigenen Persönlichkeit übel gesinnten Person dar, vor dem aber ein Gegenzauber oder auch Opfergaben und Amulette Schutz bieten können. Bestandteil vorneuzeitlicher Sicherungsstrategien sind auch magisch-mythische und religiöse Riten, worunter sich Gebete subsumieren lassen. Diese Umgangsmöglichkeit mit Terrorismus ist in der Tat regelmäßig und kulturübergreifend zu beobachten. 290 Auf einer anderen Ebene ist Externalisierung als vordergründiges Erklärungsprinzip für gegen Terrorismus gerichtetes Handeln zu beobachten. Einige Akteure scheinen eine inverse Form der Externalisierung zu praktizieren, indem sie verschiedenste, meist negative, für sie schwer oder gar nicht handhabbare Gegebenheiten mit Terrorismus verknüpfen – unabhängig von seiner tatsächlichen Auswirkung auf die jeweilige Gegebenheit. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um Akteure, die ansonsten auch auf vorneuzeitliche Sicherungsstrategien zurückgreifen, sondern um zweckrational handelnde politische Akteure. 3.2.2
Versicherung als Unsicherheitskonzept
3.2.2.1
Grundprinzip
Integraler Bestandteil der Entzauberung der Welt 291 war eine Veränderung im Umgang mit Unsicherheiten. Was bislang als bedrohlich und nicht erklärbar galt, wurde in religiöse und mythische Dimensionen verschoben und so einer externen, vom Menschen nicht unmittelbar steuerbaren Gewalt zugerechnet. Was bislang externalisiert wurde, wurde nun sukzessive rational erklärt. Was Gegenstand von Vermutungen oder Wetten war, wurde mithilfe der Wahrscheinlichkeitsrechung kalkulierbar. 292 Die mathematische Kalkulation von 290 291
292
Man erinnere sich an die Gedenkgottesdienste und Gebete für die verschiedenen Entführungsopfer im Irak. Weber führt den Ausdruck von der Entzauberung der Welt wie folgt ein: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip- durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, , für den es solche Mächte gab, muß man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das.“ (Weber 1995: 19). Nach Beck (2007 b: 21) lässt sich das Verfahren der Wahrscheinlichkeitsrechnung bis ins Jahr 1651 auf einen Briefwechsel zwischen Pierre Fermat und Blaise Pascal zurückverfolgen.
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Risiken bedeutete den ersten Schritt zu ihrer Verwissenschaftlichung und bildet einen wesentlichen Teil des Versicherungsprinzips. Durch die beim Konstrukt Versicherung Anwendung findende Umverteilung der monetären Risikofolgen auf eine spezifische Solidargemeinschaft – ein zweiter Schritt – wurden einerseits die Risikokosten vergesellschaftet, was indes andererseits – dies stellt einen dritten Schritt dar – eine Entkoppelung von Verursacher und Kompensator impliziert (vgl. Lau 1989: 422). Dreh- und Angelpunkt für das Versicherungswesen ist der Begriff des Risikos. Paul Braess beschreibt ihn als Mittelpunkt allen Versicherungsgeschehens, sowohl aus der Perspektive des Versicherers als auch des Versicherungsnehmers. Braess definiert Risiko als Ereignis mit „negativen, speziell wirtschaftlich nachteiligen Folgen, das ,möglicherweise’ zu irgendeinem Zeitpunkt oder in einem von vornherein ungewissen Ausmaße eintreten kann, keineswegs aber mit Sicherheit eintreten wird“ (Braess 1960: 11). 293
Grundidee einer Versicherung ist nicht der Transfer von Gefahren auf die Solidargemeinschaft, sondern lediglich der ihrer negativen Folgen.294 Vor diesem Hintergrund definiert sich Versicherung auch als „planmäßige und entgeltliche Deckung eines risikobedingten Eventualbedarfs“ (Braess 1960: 14). 295 Damit ist einem Wirtschaftssubjekt die Möglichkeit gegeben, Risiken auf ein anderes Wirtschaftssubjekt zu übertragen, welches deren Deckung im Eventualfall in einem zuvor festgelegten Umfang zu übernehmen hat. Ihr eigentlicher Zweck besteht also darin, Restunsicherheiten von Risiken bei negativem Ausgang eines Handelns zu kompensieren, was zur Folge hat, dass sukzessive höhere Risiken eingegangen werden. Dies, so Bonß (1995: 155, 163), impliziert gleichermaßen, dass Schadensverhütung und Risikobeseitigung nicht durch Versicherungen aller Art erreicht werden können. Auch der Versicherer geht ein unternehmerisches Risiko ein, das in der Versicherungsliteratur als technisches Risiko bezeichnet wird. Es kennzeichnet das unternehmerische Wagnis der Versicherungen, die Risiken anderer Wirtschaftssubjekte gegen einen bestimmten Betrag zu übernehmen. Unter dem Terminus des technischen Risikos ist Braess (1960: 15) zufolge also das Risiko des Versicherers zu verstehen, Prämien nicht zum eigenen ökonomischen Nachteil festzulegen. Das Prinzip einer Ex-ante-Prämienzahlung an einen externen Versicherer entwickelte sich Mitte des 13. Jahrhunderts, zuvor fungierten 293 294 295
Als Beispiele für derartige Ereignisse nennt Braess ob seines ungewissen Zeitpunkts den Tod und den Brandschaden an einem Gebäude. Braess’ Schadperspektive ist eine vorrangig ökonomische. Bonß (1995: 155 f.) weist darauf hin, dass bei der Definition des Begriffs Versicherung beträchtliche Uneinigkeit herrscht und schlägt als Minimalformel vor, von der „Übernahme von Verlustrisiken gegen vorherige Prämienzahlung“ zu sprechen.
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zweckgebundene Solidargemeinschaften als Versicherungsträger. Die Frühphase des Versicherungsgeschäfts erinnerte jedoch an Wetten. Bonß (1995: 156-167) schildert, wie in diesem regelrechten Wettgeschäft hauptsächlich ökonomische Risiken versichert wurden. 296 Zu den versicherten Risiken gehören regelmäßig Unfälle. Als Unfall bezeichnet man „ein unvorhersehbar eintretendes, zeitlich begrenztes Ereignis, das eine Körperschädigung oder Sachbeschädigung mit sich führt“ (Kuhlmann 1981: 9, zitiert nach Bonß 1995: 199). Im Zusammenhang mit der Frage nach der Verantwortung, der Zurechenbarkeit und Kompensation des Schadens stellt sich bei jedweder Art von Unfällen die Frage nach der Haftung. Hierbei sind grundsätzlich die Delikts- oder Unrechtshaftung von der Gefährdungshaftung zu unterscheiden. Die Unrechtshaftung (§§ 823 ff. BGB) kommt zum Tragen, wenn die Schuld auf ein unrechtmäßiges Fehlverhalten zurückgeführt werden kann, während die bloße Existenz eines an sich akzeptierten gefährlichen Sachverhalts über die Gefährdungshaftung geregelt ist. Die Gefährdungshaftung setzt kein unerlaubtes Fehlverhalten (wie bei Unrechtshaftung) voraus, weshalb auch keine moralische Schuld damit einhergeht, aber dennoch die Verpflichtung zur Kompensation besteht (vgl. Bonß 1995: 197 f.). In beiden Fällen ist kennzeichnend, dass der Schadensfall nicht absichtlich herbeigeführt wird. Dies ist für die folgenden Überlegungen ein wesentlicher Aspekt. Nach Bonß (1995: 199 ff.) unterscheidet sich ein Unfall von einem Anschlag oder auch Sabotage hinsichtlich der Intentionalität des Schaden verursachenden Handelns. Im Gegensatz zum Anschlag wird ein Unfall – ein plötzliches, unvorhersehbares Ereignis, das einen nicht intendierten Schaden evoziert – in der modernen Gesellschaft aber bereits mehr oder weniger als Normalfall hingenommen. 297 Derartige als Alltäglichkeit geltende Schäden über eine möglichst breite Solidargemeinschaft abzusichern ist wesentliches Kennzeichen moderner Gesellschaften. Francois Ewald (1989 und 1993) prägte vor diesem Hintergrund die Begriffe Vorsorgestaat und Versicherungsgesellschaft. Ewald zufolge ist die Assekuranz eine spezifische Vergesellschaftungsform der Moderne: Das Prinzip der Versicherung konstituiert eine moderne Gesellschaft. Hierbei ist der „als Versicherungsanstalt konzipierte Staat […] um so erfolgrei-
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Das Zünfte- und Gildenwesen, aber auch und vor allem der Seehandel stellen wichtige historische Etappen bei der Entwicklung des Versicherungswesens dar, das unter anderem ob fehlender Wahrscheinlichkeitsrechnung bis Anfang des 18. Jahrhunderts nicht klar vom Wettgeschäft getrennt werden konnte. In diesem Zusammenhang ist der Ausnahmecharakter zu betonen, den exemplarisch ein Autounfall für das betroffene Individuum hat. Ob ihrer Häufigkeit stellen Autounfälle aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive jedoch keine Besonderheit dar.
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cher und legitimierter, je mehr Unsicherheiten er absorbieren kann“ (Bonß 1995: 206 f.). 298 Aber wie verhält es sich mit Schäden, die noch nicht als Normalfall anerkannt sind? Vor allem solchen Schäden, denen intentionales Verhalten zugrunde liegt? Werden diese in modernen Gesellschaften vom Typus der Versicherungsgesellschaft trotzdem von einer breiten Solidargemeinschaft getragen oder bleiben sie ein individuelles Risiko, das zu versichern in der Verantwortung eines jeden Einzelnen liegt? Sind solche Risiken versicherbar? Um die Frage noch weiter zu konkretisieren: Stellen durch Terrorismus verursachte Schäden ein versicherbares Risiko dar? 3.2.2.2
Terrorismus als zu versicherndes Risiko
Grundsätzlich bedarf eine Versicherung mehrerer einzelner Elemente. Zunächst einmal bedarf es eines Versicherungsnehmers, eines Versicherers und eines zu versichernden Risikos. Der Versicherungsnehmer wird in der Regel derjenige sein, der die Befürchtung hegt, vom Risiko Terrorismus potenziell negativ betroffen zu sein. Als Versicherer kommen prinzipiell Solidargemeinschaften oder Versicherungsunternehmen infrage. 299 Versicherungsunternehmen unterliegen ökonomischen Zwängen und orientieren sich am Prinzip der Gewinnmaximierung. Dies bedeutet nichts anderes, als dass Versicherungsunternehmen die Versicherung des Risikos Terrorismus als Geschäft begreifen, ein Geschäft, welches es versicherungsmathematisch unter Berücksichtung von Kosten und Nutzen (Cost-Income-Ratio) zu kalkulieren gilt. Diese Kalkulation wiederum verlangt in der Regel den Rückgriff auf eine Datenbasis bzw. sonstige Berechnungsmodelle, um das versicherungstechnische Risiko, so Leibfritz (2004), handhaben zu können. 300 Um sich gegen ein Risiko versichern zu können, bedarf es einer Definition desselben, die sowohl von der Versicherungsgesellschaft als auch vom Versicherungsnehmer akzeptiert wird (vgl. Oelßner 2002: 54 f.). 301 Dies verweist auf die erste Schwierigkeit hinsichtlich der Versicherung des Risikos Terrorismus. 298 299 300 301
Bonß zufolge sind die am Beispiel Frankreichs erfolgten Beobachtungen Ewalds auf die Gesellschaft anderer Staaten übertragbar. Unter Solidargemeinschaften sind Genossenschaften oder auch der Staat zu subsumieren. Im Falle des Terrorismus sind die für die Versicherungswirtschaft nutzbaren Datensätze verhältnismäßig spärlich. In der Praxis wird die Einvernehmlichkeit der Definition ersichtlich, indem der Versicherungsnehmer die vom Versicherer in einem Vertragsangebot vorgegebene Definition mittels seiner Unterschrift akzeptiert.
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Idealiter besäße diese Terrorismusdefinition internationale Anerkennung, da es sich hierbei um ein Phänomen handelt, das in seinem Handlungsfeld ähnlich wie Versicherungsunternehmen nicht auf einen einzelnen Nationalstaat begrenzt ist. Die Vertragspartner können aus verschiedenen Ländern kommen oder der Schadfall tritt in einem anderen als dem Land des Vertragsabschlusses ein. 302 Ferner erfordert eine Versicherung gegen Terrorismus im Zuge der Kompensation eines eventuellen Verlusts des Vertragsgegenstandes oder Schäden desselben auch die Monetarisierung physischer und psychischer Personenschäden – kurz: die Taxierung menschlichen Lebens mit bestimmten Summen. Diese Praxis – die auch in Lebens- oder Unfallversicherungen Anwendung findet – war in Europa bis ins 17. Jahrhundert untersagt, da es nach Braun (1963: 60) als unmoralisch angesehen wurde, Leben gegen Geld aufzurechnen. 303 3.2.2.3
Terrorismus – ein soziales Risiko?
Stellt Terrorismus ein individuelles oder ein soziales Risiko dar? Um diese Frage belastbar beantworten zu können, ist zuerst eine andere zu klären, nämlich die Frage: Was ist denn ein soziales Risiko überhaupt? Nach Bonß ist ein soziales Risiko „ein potentieller Schaden für die Allgemeinheit, der nur begrenzt kompensationsfähig erscheint und aus genau diesem Grunde grundsätzlich nicht in Kauf genommen werden kann“ (Bonß 1995: 218 f.). 304 Welche Schäden entstehen der Gesellschaft durch Terrorismus? Sind diese kompensierbar? Die Antwort auf diese Frage soll ausschlaggebend sein, ob Terrorismus im Folgenden als soziales Risiko aufgefasst werden darf. Terrorismus erzeugt auf der einen Seite Schäden, auf der anderen Seite Unsicherheiten. Dazu zählen physische, psychische, aber auch materielle Schäden und wirtschaftliche Einbußen, was seinerseits verschiedene Arten von Unsicherheit erzeugt. Diese Unsicherheit lässt sich nicht auf einen bestimmten Personenkreis begrenzen, vielmehr ist sie gesamtgesellschaftlich zu beobachten. Dadurch wirkt Terrorismus auf die Allgemeinheit. Er erzeugt ein Klima politischer und wirtschaftlicher Unsicherheit, die wiederum Auswirkungen auf die Planbarkeit 302
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Spielmann (2003) zufolge war in der Schweiz einer der beiden Hauptgründe für die Gründung einer Arbeitsgruppe des Schweizerischen Versicherungsverbandes und großen Erstund Rückversicherern die Suche nach einer gemeinsamen Definition, was denn die Versicherungswirtschaft unter Terrorismus versteht. Der andere bestand im gemeinsamen Ankauf der nur beschränkt erhältlichen Rückversicherungskapazitäten. Bonß (1995: 170, 184 f.) verweist darauf, dass man Leben an sich nicht versichern kann, lediglich eine Umdefinition desselben in Kapital sei möglich. Daran anknüpfend erörtert Bonß die Frage, was unter einem inakzeptablen Schaden für die Allgemeinheit zu verstehen sei, ohne jedoch zu eindeutigen Ergebnissen zu kommen.
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individueller (Erwerbs-)biographien hat. Obwohl einzelne Teilschäden möglicherweise mittelfristig kompensierbar sind, soll deren Gesamtheit als – wenn überhaupt – nur langfristig überwindbar gelten (vgl. Sontheimer 2007 und Malzahn 2007). 305 Somit ist Terrorismus insgesamt nicht individuell kompensierbar und als soziales Risiko anzusehen. Die Zurechenbarkeit von Terrorismus zu den sozialen Risiken lässt sich noch auf andere Weise illustrieren. Der Ausdruck Versicherung beschreibt nach Bonß (1995: 148) einerseits ein Prinzip und eine Institution zur Handhabung von Risiken, die sich in der Zeitdimension anhand der Ausprägungen Zukunft, Zufall, Glück, Vorsehung und Schicksal manifestieren (vgl. Ewald 1989). Ein direkter Kontakt mit Terrorismus, der in aller Regel negativ ausfallen wird, ist vor diesem Hintergrund unter Schicksal zu subsumieren, was die handlungsund entscheidungsbezogene Komponente aus Terrorismus herauslöst. Schicksal erinnert an eine Katastrophe, die auf einen einzelnen Menschen oder eine Gruppe unabhängig vom Tun und Lassen hereinbricht, wogegen der Umstand, Opfer eines terroristischen Aktes zu werden, regelmäßig auf eigenes Handeln unabhängig von dessen Freiwilligkeit zurückzuführen ist. Ein Hochhaus zu betreten, einen Zug zu nutzen oder auch in ein beliebiges Land in den Urlaub zu fahren schuf bei 9/11, Madrid und Djerba erst die Voraussetzungen, um überhaupt in die Zone eines Anschlags geraten zu können. „Sofern der Zeitpunkt des Todes von der eigenen Lebensweise abhängt, kann man für ihn unter bestimmten Voraussetzungen aber auch sonst verantwortlich gemacht werden“ (Bonß 1995: 190).
Die Lebensweise individuell zu wählen und somit auch für die Folgen des eigenen Handelns voll verantwortlich zu sein zeugt von einem Verständnis, in welchem der Mensch mündiger Bürger ist. In dieser Perspektive ist es nach Ewald (1993) dem Menschen nicht möglich, die Konsequenzen des eigenen Handelns anderen aufzuerlegen. 306 Dies klingt für Anschläge in Ländern fernab des heimatlichen Alltags einleuchtend – weshalb auch sollen andere Menschen für die Schattenseiten individueller Freizeitgestaltung einstehen? Doch die oben genannten Beispiele zeigen auch eine andere Seite. Wie verhält es sich mit terroristischen Akten wie denen von New York oder Madrid, bei denen nicht individuelle Freizeitgestaltung, sondern soziale Zwänge wie der Zwang zum Broter-
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Man erinnere sich an dieser Stelle an die Debatten um die Freilassung bzw. Hafterleichterung der RAF-Terroristen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar noch rund 30 Jahre nach dem Deutschen Herbst von 1977 bzw. 25 Jahre nach deren aktiver Zeit. Einen anderen Teil der Vergangenheitsbewältigung stellen die Opfer bzw. deren Angehörige dar. Deren Perspektive findet sich in Siemens (2007). In diesem Kontext wird dem Menschen absolute Verantwortlichkeit zugeschrieben.
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werb Menschen zu Opfern werden ließen? Ist unter diesen Voraussetzungen eine derart liberale Sichtweise angemessen? Wollte man dies bejahen, so könnte die Argumentation wie folgt aussehen. Da es jedem freisteht, für seinen Broterwerb zu sorgen oder auch nicht, so ist jeder auch für die Folgen von Handeln, das diesem Zweck dient, verantwortlich. Wären die Menschen eben nicht aus bestimmten Motiven einer Tätigkeit nachgegangen, welche sie veranlasste, das WTC oder die Madrider Züge zu betreten, so wären sie auch nicht Opfer der Anschläge geworden. Dieses zynische Argument unterstellt eine so nicht existente Freiwilligkeit der Gestaltung des Broterwerbs. 307 Da gerade bei 9/11 und Madrid das Handeln, das die Menschen zu Opfern der terroristischen Akte werden ließ, nicht ohne Weiteres unterlassen werden konnte, ist es naheliegend, Terrorismus als soziales Risiko zu begreifen. Ist man bereit, diese Sichtweise vor dem spezifischen Hintergrund des Terrorismus anstelle auf Arbeitsgesellschaften auf Risikogesellschaften zu projizieren und akzeptiert man die Sichtweise des westlichen Kulturkreises 308 als eine Gesellschaft, die dem Risiko Terrorismus fortwährend ausgesetzt ist, so wird Terrorismus zum sozialversicherungsfähigen Risiko. Anschläge wie in New York, Madrid oder London, bei denen Menschen auf dem Weg zur oder bei der Arbeit selbst zu Opfern von Terrorismus wurden, fielen somit zulasten der Solidargemeinschaft aller Sozialversicherten. Falls in einem solchen Modell die Komponente der Fremdhilfe in Form staatlicher Zuschüsse integriert wäre, hätte die Gesamtheit aller Steuerzahler dafür aufzukommen. Dies impliziert eine Kollektivierung der Verantwortung und somit des Risikos Terrorismus. Interessanterweise sind in der versicherungswissenschaftlichen Diskussion die Kriterien der Zurechen- und der Verantwortbarkeit nicht unbedingt entscheidend. 309 Die Differenzierung in individuelle und soziale Risiken erfolgt vielmehr entlang der Biographie eines Menschen – wobei die Risiken, die nicht in jeder Biographie mehr oder weniger automatisch auftauchen können, als 307
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Diese gleichsam seitenverkehrte Form der Argumentation war bereits im 19. Jahrhundert bei der Haftungsfrage bei Unfällen mit Dampfkesseln zu beobachten. Während die preußische Dampfkesselgesetzgebung von 1831 die abstrakte Gefährdungshaftung für die Betreiber von Anlagen begründete, argumentierten die Betreiber ihrerseits, die Arbeiter gingen ihrer Tätigkeit freiwillig nach, sodass sie auch für die Folgen ihrer Freiwilligkeit einzustehen hätten. Die Industrialisierung zeigte schließlich, dass das liberale Modell mit seiner angeblich vollständigen Willensfreiheit und der sich daraus ableitenden absoluten Verantwortung nicht durchzuhalten war. Vgl. Bonß (1995, 194 f.). Der Terminus Kulturkreis ist nicht als vorwiegend geographische Angabe, sondern als Synonym für eine bestimmte Lebensweise zu verstehen. Dies stellt einen klaren Kontrast zu soziologischen Perspektiven von Risiko dar, in denen Zurechen- und Verantwortbarkeit wichtige Kriterien zur Klassifizierung von Unsicherheiten sind.
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individuelle gelten. Risiken allerdings, die jedem begegnen können und denen man sich nicht entziehen kann, gelten als soziale. Nach Bonß (1995: 209) sind derartige Risiken gesellschaftlich produziert. Terrorismus kann man sich schwerlich vollständig entziehen – es sei denn, man lebt als Einsiedler fernab der Zivilisation. Er ist auch gesellschaftlich produziert – schließlich entsteht er durch menschliches Handeln, das seinerseits dem Sinn nach auf anderes menschliches Handeln gerichtet ist. Terrorismus ist somit eine spezifische Form der Interaktion, der man sich nicht entziehen kann. Auch in dieser Perspektive ist Terrorismus ein unter die sozialen Risiken zu subsumierendes Phänomen. Ein weiteres Argument für die Zurechenbarkeit von Terrorismus zu den sozialen Risiken ist die Sicherheitslage in einigen Staaten, wodurch wie in Israel Anschläge nicht mehr die Ausnahme, sondern eben die Regel darstellen. In diesem Kontext erscheinen sie als Gegenstand der Gefährdungshaftung als Begleiterscheinung der schieren Existenz Israels und seiner Politik gegenüber den nahöstlichen Nachbarn. In dieser Perspektive lassen sich nicht verhinderte Anschläge mit Unfällen vergleichen – für den einzelnen Betroffenen ein Ausnahmefall, gesamtgesellschaftlich jedoch beinahe normal. Akzeptiert man den Vergleich eines solchen Anschlags mit einem herkömmlichen Unfall, so lässt sich folgende Beobachtung darauf übertragen: „Sofern auch bei verantwortlichem Handeln stets Schadensfälle eintreten können, muß zum anderen klar sein, daß sich Schadensregulierung nicht moralisch oder mit Konzepten ‚einfacher’ Verantwortlichkeit begründen läßt, sondern einen kollektiven Verantwortungsausgleich erfordert“ Bonß (1995: 205).
Ein derartiger kollektiver Verantwortungsausgleich ist Prinzip des deutschen Konsulargesetzes. Das aus dem Jahr 1974 stammende Konsulargesetz der Bundesrepublik Deutschland erlaubt dem deutschen Staat zwar, Auslagen zurückzufordern, die infolge einer Geiselnahme im Ausland entstanden sind. 310 Der Grad, in dem dieses Recht geltend gemacht wird, ist jedoch unabhängig vom Grad des Selbstverschuldens der entstanden Notlage. Dies hat zur Folge, dass Deutsche, die aus terroristischen oder wenigstens terrorismusnahen Motiven entführt wurden, bislang nur für einen geringen Teil der tatsächlich zu ihrer Freilassung aufgebrachten Mittel aufkommen mussten. 311 Befreiungskosten – zu 310 311
Hierzu zählen Krankentransport, Telefonkosten und ein Ticket nach Deutschland. So musste nach Kneip (2006) die 2000 auf den Philippinen entführte Familie Wallert rund 6.590 Euro, neun 2003 in der Sahara gekidnappte Deutsche je rund 2.300 Euro sowie die Weihnachten 2005 im Jemen verschleppte Familie des ehemaligen Staatsekretärs Jürgen Chrobog nur 459,42 Euro pro Person bezahlen. Im letzteren Fall lagen allein die Flugkosten bei etwa 14.000 Euro. Die 2005 im Irak entführte Susanne Osthoff erhielt selbst Monate später noch keinen Kostenbescheid, da sie einen Rückflug nach Deutschland nicht beansprucht hätte.
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denen auch Lösegeld zählt – werden in Gänze vom Staat und somit mittelbar von der Solidargemeinschaft getragen, wiederum unabhängig vom Selbstverschuldungsgrad. Eine Gesetzesänderung wird von Politikern wie Dieter Wiefelspütz (SPD) als problematisch gewertet, da es schwierig sei, „Eigenverantwortung in Euro und Cent umzurechnen“. 312 Im Wesentlichen verweisen die Argumente, weshalb Terrorismus ein soziales Risiko darstellt – das konsequenterweise auch im Rahmen der Sozialversicherung zu versichern wäre – auf die zunehmende Darstellung von Terrorismus als Normalität und seine Unausweichlichkeit, gesellschaftliche Produziertheit und die mangelnde Kompensierbarkeit. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die tatsächliche Versicherungspraxis gegenüber Terrorismus aussieht. Ist Terrorismus – sofern er sich auf Personenschäden bezieht – tatsächlich Gegenstand der Sozialversicherung, ähnlich wie die sozialen Risiken Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit und Alter? 3.2.2.4
Terrorismusversicherung in der Praxis
Deutlich wurde bislang, dass Terrorismus als soziales und nicht nur individuelles Risiko begriffen werden kann (vgl. Bonß: 1995: 208 f.). Auf individueller Ebene erhöhen zuvor einige Handlungen das Risiko, manche belassen es auf einem gewissen Grundniveau – dennoch sind alle Menschen, die im westlichen Kulturkreis leben, potenzielle Opfer. Dem Versicherungsstreben stehen jedoch Grenzen entgegen, die sich am Willen der Versicherungsunternehmen, an den Kosten und an bürokratischen Hürden manifestieren. 313 Versicherer und Rückversicherer verweisen auf die ursprüngliche Zielsetzung bestehender Versicherungen wie der Arbeiterunfallversicherung (AUV), in die sich Terrorismus nach Auffassung der Münchener Rück (2004 a) nicht ein-
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Zitiert nach Kneip (2006). Angesichts der Entführung und Lösegeld-bedingten Freilassung deutscher Sahara-Urlauber erhob jedoch der CDU-Politiker Peter Bosbach die Forderung, die Urlauber müssten sich an den Kosten beteiligen. Ebenso lehnten einer im Auftrag der Welt durchgeführten Emnid-Umfrage zufolge zum damaligen Zeitpunkt 51 Prozent der Bundesbürger eine Unterstützung der Geiseln durch die Bundesregierung ab („Rettungsaktion ist unter Deutschen umstritten“ 2003). Johnson (1978: 238) berichtet über eine am 25. und 26. März 1976 vom US State Departement einberufene Konferenz über Terrorismus, auf der die Teilnehmer Versicherungen gegen terroristisch motivierte Entführungen ebenso wie einen Steuerkredit für Lösegeldzahlungen offensichtlich ablehnten.
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passen lasse. 314 Terrorismus sei nicht auf bestimmte Berufsgruppen aufzuschlüsseln und daher schwer zu kalkulieren, was wiederum Einfluss auf Finanzierung und Entschädigung habe (vgl. Münchener Rück 2004 b). 315 Augenscheinlich sehen Versicherer wie die Münchener Rück Terrorismus nicht als Berufsrisiko bzw. dessen Folgen nicht als Berufskrankheit an (vgl. Münchener Rück 2004 c). 316 Auch hätte die Einbindung von Terrorismus in die AUVSysteme eine Verbreiterung der Anspruchsgrundlage zur Folge, sodass die Versicherungsträger gezwungen würden, kaum zu kalkulierende Risiken auf sich zu nehmen. Kalkulierbare Risiken seien aber für einen nachhaltigen Versicherungsschutz erforderlich. Terrorismus indes sei nicht kalkulierbar – und da er sich gegen die Sicherheit allgemein richte und Letztere ein öffentliches Gut darstelle, sei ohnehin der Staat als Garant der Sicherheit auch für die Kompensation von Terrorismusschäden zuständig. Dies bringt eine einfache Grundüberlegung zum Ausdruck: „Je größer die Risikogemeinschaft, desto effektiver lassen sich die ökonomischen Konsequenzen einer möglichen nächsten Megaattacke schultern“ (Münchener Rück 2004 a). 317
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Die AUV geht zurück auf die Kaiserliche Botschaft Wilhelms I. von 1881. Zwischen 1880 und 1900 wurde in Deutschland ein Sozialversicherungssystem (Krankenkassen, Rentenversicherungen, Berufsgenossenschaften) geschaffen. Die Münchener Rück vertritt in (2004 b) ferner die Auffassung, das Terrorismusrisiko könne geographisch zugeordnet werden, betont aber unter Verweis auf fehlende Präventionsmöglichkeiten nachmals die Unzweckmäßigkeit der AUV zur Versicherung von Terrorismusrisiken. Um Terrorismus als Gegenstand der AUV überhaupt finanzierbar machen zu können, regt die Münchener Rück Risikozuschläge für „Arbeitnehmer in Hochhäusern, Rüstungsbetrieben oder öffentlichen Gebäuden“ an, vor allem wenn sich die Erwerbstätigkeit in städtischen Ballungsräumen abspielt. Vor allem die aus einer schmutzigen Bombe resultierenden Risiken seien aus der AUV auszuschließen. Die Primärwirkung einer solchen Bombe – die Druckwelle – sei als Berufsunfall, die aus der Sekundärwirkung – Kontaminierung mit nuklearen, biologischen, chemischen oder radioaktiven Stoffen – hervorgehenden Krankheiten als Berufskrankheiten zu werten. Grundsätzlich erschwerend sei, dass Zeitraum und Ausmaß der Kontaminierung schwer abzuschätzen seien, zumal sich Spätfolgen wie Krebs erst nach entsprechenden Latenzperioden entwickeln. Dies führt dazu, dass das Risikopotenzial eines Anschlags mit einer schmutzigen Bombe unberechenbar ist, weshalb für den vollständigen Ausschluss von nuklearen, biologischen, chemischen oder radioaktiven Gefahren aus der AUV plädiert wird und eine Integration derselben die Existenz des Arbeiterunfallsystems in toto gefährde. In diesem Kontext stellt Krebs eine klassische Gefahr zweiter Ordnung dar. Die USA, Großbritannien und Spanien haben aufgrund dessen bereits steuer- oder beitragsfinanzierte staatliche Fonds zur Deckung terroristischer Akte eingerichtet. Darüber hinaus begrüßt die Münchener Rück die in den USA gewährte Möglichkeit, „non-domesticterrorism“ in der Rückversicherung auszuschließen, welche stattdessen großteils mittels Staatsgarantien gehandhabt wird. In Ländern, in denen Erst- und Rückversicherer in die Pflicht genommen werden, bemühte sich die Münchener Rück, über Ereignis- oder Subli-
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Die Erwerbsunfähigkeitsversicherung orientiert sich ebenfalls an der Klassifizierung in Berufsgruppen, anhand der sich wiederum risikoabhängig die festgesetzten Prämien orientieren. Die Berufsgruppe der Soldaten, die sich im Rahmen internationaler Einsätze dem Risiko Terrorismus stärker ausgesetzt sieht als die meisten anderen, zählt indes nicht zu den gefährdetsten.318 Eine denkbare Erklärung ist, dass weniger Soldaten durch Anschläge erwerbsunfähig wurden als andere Berufsgruppen durch deren berufsspezifische Risiken. Es gibt neben dem Soldatenberuf noch andere, deren Ausübung ein erhöhtes Risiko mit sich bringt, einem terroristischen Akt zum Opfer zu fallen. Hierzu sind hohe Funktionen in Politik und Wirtschaft zu zählen, aber auch die Tätigkeit bei jeglichen für Sicherheit sorgenden Organisationen und Unternehmen. Aber hat dies Auswirkungen auf beispielsweise deren Einstufung bei der privaten Unfallversicherung? Für Versicherungen stellt Terrorismus ein Kumulrisiko dar, bei dem durch ein einziges Ereignis Ansprüche aus Sach-, Haftpflicht- und Betriebsunterbrechungsversicherung geltend gemacht werden können (vgl. Oelßner 2002: 52). Einzelne Versicherungsarten verbuchen das Risiko, durch Terrorismus Schaden zu erleiden, explizit unter dem sogenannten passiven Kriegsrisiko, was in der Perspektive der Versicherer einen durch Terrorismus entstandenen Schaden mit einem aus dem Rettungsversuch eines Haustieres resultierenden gleichsetzt. 319 Hierbei werden Personen in Berufen, die dem Terrorismus eher ausgesetzt sind als andere, nicht höher taxiert. Hinter all diesen Argumenten stehen bei den Versicherungsunternehmen ökonomische Interessen. Nach Leibfritz (2004) beliefen sich die Verluste der (Rück-)Versicherer aufgrund der Anschläge des 11. September auf rund 30 bis 58 Mrd. US-Dollar. 320 Dies stellt in der Geschichte der Versicherungswirtschaft den bislang größten Schadensfall dar, der auch deshalb so schwer verkraftet wurde, weil noch Schäden von Naturkatastrophen aus den Jahren zuvor auf der Passivseite, der Einbruch der Kapitalmärkte auf der Aktivseite ihre Bilanzen belasteten. 321
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mits eine Begrenzung der Haftung zu erreichen. Allerdings liege es der Versicherungsbranche fern, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Der mit einem Erwerbsunfähigkeitsrisiko von 67,14 % gefährlichste Beruf ist nach Brandstetter (2006) der eines Gleisbauers, der sicherste der des Arztes (6,23 %). Die Berufsgruppe „Soldaten, Grenzschutz, Polizei“ ist hiernach der zwölftsicherste Beruf. Zu diesen zählen die Unfallversicherungen der Württembergischen Versicherung, aber auch der Allianz. Betroffen sind insbesondere Lebens- und Gebäudeversicherungen, Auto- und Flugzeugversicherungen und Versicherungen für Lohn- und Geschäftsausfälle. Der Hurrikan Katrina (US-Ostküste, September 2005) kostete die Versicherungswirtschaft geschätzte 40 bis 55 Mrd. US-Dollar und liegt somit fast gleichauf mit 9/11. Der Tsunami von Weihnachten 2004 kostete zwar Zehntausende Menschen das Leben, belastete die Ver-
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Bis zum 11. September waren in den Versicherungspolicen Terrorismusschäden nicht explizit erwähnt und somit implizit und unlimitiert mitversichert. Dies schlug sich in den Kosten für die Versicherer nieder, die darauf auf zwei Arten reagierten. Die eine Art bestand im Anheben der Prämien, 322 die andere im Bemühen, Haftungsbeschränkungen bei terrorismusbezogenen Risiken zu erreichen. 323 Diese zu genehmigen obliegt in den USA den einzelnen Bundesstaaten, die Einschränkungen des Versicherungsschutzes genehmigen können.324 Schäden, die bislang automatisch abgedeckt waren, müssen nun gegen entsprechende Prämien gesondert versichert werden. Dadurch verteuert Terrorismus für Unternehmen, aber auch Privatleute, die Risikoabsicherung.325 Die Entführungen der Ingenieure aus Wurzen, Susanne Osthoffs oder auch Staatssekretär Chrobogs und deren Abfindung durch das Konsulargesetz demonstrieren, dass terroristisch verursachte Schadfälle regelmäßig durch den Staat, somit die Gemeinschaft aller Steuerzahler, und nicht ausschließlich durch ein Versicherungsunternehmen, d. h. eine spezifische Gemeinschaft von Versicherten, kompensiert werden müssen (vgl. Borscheid 1988: 17). Dies stellt eine Entkoppelung von Verursacher und Haftungsträger dar, die zwar nicht so ungewöhnlich, ja sogar Prinzip des Versicherungswesens ist, sich aber in diesem Fall als moralisch gewöhnungsbedürftig erweist. Der Staat fungiert noch in anderer Art und Weise als Kompensator von Terrorismusschäden. Zwar entstanden – dies schildert Leibfritz (2004) – nach 9/11 Versicherer, die sich speziell auf Terrorismusschäden ausrichteten.
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sicherungswirtschaft indes nur gering. Vgl. auch VersicherungsJournal (2005) sowie Block (2004). Oelßner (2002: 48-50) schildert am Beispiel der Lufthansa, dass nach dem 11. September Deckungseinschränkungen bei der für am Boden entstehende Schäden aufkommenden Dritthaftpflichtversicherung den Versicherungsschutz bei gestiegenen Prämien von zwei Milliarden US-$ auf 50 Millionen reduzierte. Besonders berücksichtigt wurden die nuklearen, biologischen, chemischen oder strahlenden Gefahren. Vgl. Münchener Rück (2004 b). Dies ist nach Leibfritz (2004) auch gängige Praxis. Gebäudeversicherungen gegen Schäden, die durch einen terroristischen Akt entstehen, sind großteils nicht mehr möglich. In der Schweiz wiederum sind kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) zwar nach wie vor versichert, mittlere und große Unternehmen jedoch gezwungen, den Versicherungsschutz gegen Terrorismus durch Zahlung entsprechender Prämien wieder einzukaufen. Hierbei bleibt die Deckungssumme trotz allem limitiert. So spricht die Winterthur nach Spielmann (2003) von maximal 300 Millionen Schweizer Franken für Schäden, die innerhalb einer Zone mit einem Radius von 250 Metern um das versicherte Objekt entstehen. Innerhalb von Geschäftsvierteln in Großstädten gilt hierbei die First-come-first-serve-Regel. Wer sein Gebäude zuerst versichert, ist im Vorteil. Mittels der sogenannten Kumulkontrolle wird online überwacht, dass der Wert von 300 Millionen Franken in einer bestimmten Zone auch durch den Abschluss mehrer Policen nicht überschritten wird.
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Jedoch springt ab einer gewissen Schadenshöhe vereinzelt wieder der Staat als letzter Rückversicherer ein. Dies war auch nach dem 11. September 2001 der Fall. Lediglich Staatsgarantien ermöglichten nach Oelßner (2002: 49-51) die Aufrechterhaltung des Flugbetriebs, da die vor 9/11 bestandenen Dritthaftpflichtversicherungen durch die Versicherungsunternehmen mit siebentägiger Kündigungsfrist zum 27.09.2001, 23.59 Uhr MEZ gekündigt und anschließend auf maximal 50 Millionen US-$ limitiert wurden. Demgegenüber schrieben Luftverkehrsaufsichtsbehörden für die Erteilung von Landerechten allerdings Deckungssummen von bis zu einer Milliarde US-$ vor. Diese Versicherungslücke konnte durch Staatsgarantien gefüllt werden. Sollte der Staat tatsächlich gezwungen sein, diese Beträge im Bedarfsfall auszuzahlen, so belastet dies wie im Falle des Konsulargesetzes ebenfalls die Gesamtheit aller Steuern zahlenden Wirtschaftssubjekte (vgl. Nguyen 2006). 326 Eine Mischform zwischen Staatshaftung und privater Versicherungswirtschaft ist in Form von Versicherungsgesellschaften, die eine hohe staatliche Beteiligung aufweisen, ebenfalls zu beobachten. Staatliche Beteiligungen wie die Deutschlands an der Extremus-Versicherungsaktiengesellschaft (Extremus AG), die Versicherungsschutz gegen Terrorismusrisiken anbietet, sind jedoch nicht unumstritten. 327 So gilt als fraglich, ob eine derartige Staatsbeteiligung eine unzulässige Beihilfe im Sinne des Art. 87 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) und somit einen Verstoß gegen das europäische Wettbewerbsrecht darstellt. 328 Dies ergibt insgesamt eine interessante Konstellation hinsichtlich der Möglichkeiten, das Risiko Terrorismus zu versichern. Die erste Variante, die private Versicherungswirtschaft, widersetzt sich der vollen Übernahme der Risiken und kann daher nicht als Allheilmittel gesehen werden. Die zweite Variante, die reine Staatshaftung, wie man sie im Konsulargesetz findet, wird zwar nicht von den Versicherungsunternehmen opponiert, ist aber für die Gesamtheit aller Steuerzahler unbefriedigend, weil ungerecht – wer bezahlt schließlich gern für die Risiken des privaten Vergnügens
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Dies gilt neben den USA auch für Großbritannien, Spanien, Frankreich, Israel. In Deutschland haftet der Staat über seine Beteiligung an der 2002 gegründeten Extremus AG. Unabhängig von rechtlichen Unsicherheiten lief auch das operative Geschäft der Extremus GmbH zumindest im ersten Jahr nicht wie geplant. Dams (2003) berichtet, dass im ersten Geschäftsjahr von den kalkulierten 300 Millionen Euro nur 105 Millionen an Prämien eingenommen wurden. Dams zufolge verzichteten vor allem größere Unternehmen aufgrund der hohen Prämien und der Begrenzung auf Deutschland auf den Versicherungsschutz der Extremus AG. Am Beispiel der Extremus AG ergab eine wettbewerbsrechtliche Überprüfung, „dass die der Extremus AG gegebene staatliche Beihilfe in Form von Staatsgarantie ausnahmsweise zulässig ist“ (Nguyen 2006).
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anderer? Der dritten Variante – der der Staatsbeteiligung an speziellen Terrorismusversicherern – stehen jedoch gesetzliche Beschränkungen gegenüber. Wie kann vor diesem Hintergrund die Absicherung des Risikos Terrorismus konstruiert werden? Ein denkbarer Ansatz zur Versicherung könnte so aussehen: Terrorismus ist ein soziales Risiko und daher Gegenstand der Sozialversicherung. Berufsgruppen, die durch Terrorismus besonders exponiert sind, werden mit Zuschlägen belegt, welche durch den Hauptprofiteur der Tätigkeit getragen werden, also durch den Staat (bei Polizisten, Soldaten) oder Unternehmen. Eine derartige Versicherung bringt indes zweifelsfrei einen Anstieg der Lohnnebenkosten mit sich, weshalb sie vermutlich sowohl vonseiten der Politik als auch der Wirtschaft als unerwünscht gelten wird. Hierbei tritt der Staat direkt als Versicherer auf. 329 Auch wenn diese Variante keine Musterlösung darstellt, ist sie doch für die Absicherung von Personenschäden gerechter als die derzeitige Praxis, zumal freiwillige weitere Zusatzversicherungen über die Versicherungswirtschaft denkbar sind. 330 Eine andere Möglichkeit zur Finanzierung von Terrorismusschäden bietet der Kapitalmarkt in Form von Katastrophenbonds, wie sie seit 1996 vor dem Hintergrund von Naturkatastrophen gehandelt werden. Das Prinzip ist recht einfach. Der Anleger kauft zu einem bestimmten Kurs ein solches verzinsliches Wertpapier, das ihm einen über dem Marktzins liegenden Zins bietet. Ereignet sich während der Laufzeit keine Katastrophe, so profitiert der Anleger von den Ertragsausschüttungen, in Abhängigkeit von der generellen Zinsentwicklung auch von eventuell steigenden Kursen. Ereignet sich aber ein Anschlag, wird der Schaden über die Einzahlungen der Anleger kompensiert, was den Kurs des Bonds unter Druck bringt (vgl. Leibfritz 2004). Da derartige Fonds zumindest mit Stand Mitte 2007 nur für institutionelle Anleger geöffnet sind, stellen sie – unabhängig von ihren Risiken – für Privatpersonen allerdings keine Option dar. An dieser Stelle ist auf den Aspekt der originären Intention des Konstrukts Verscherung zurückzukommen. Versicherungsschutz gegen terroristisches Handeln ist vornehmlich etwas, das aus Sicht der Opfer gesucht wird. Bizarr wird die Versicherungspraxis, wenn bei terroristischen Akten nicht die Opferseite, sondern die Täterseite von Versicherungen profitiert. Mittels Versicherungsbe329
330
Für eine wichtige Rolle plädiert aus der Perspektive eines privaten Versicherers Oelßner (2002: 53-55). Er argumentiert, da es dem Staat als Garant für Recht und Ordnung obliege, seine Bürger und Unternehmen zu schützen, habe er im Falle eines aus politischen Motiven und aus externem Einwirken resultierenden Schadens für dessen Kompensation zu sorgen. Der Schaden entstehe wie am Beispiel des 11. September ja nicht durch den eigentlichen Betrieb eines Luftfahrzeugs („Betriebsgefahr“), sondern durch dessen Zweckentfremdung. Für einen umgekehrten Ansatz, in welchem die Grundversicherung in private, die Kompensation von Restrisiken aber in staatliche Hände gelegt ist, vgl. Oelßner (2002: 54 f.).
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trugs werden Versicherungen mitunter auch zur Finanzierung von Terrorismus instrumentalisiert. Leyendecker/Ramelsberger (2005) berichten, wie ein staatenloser Palästinenser im Sommer 2004 plante, Lebensversicherungen mittels Versicherungsbetrugs zur Auszahlung zu bringen, wobei der Todesfall ironischerweise aus einem Selbstmordattentat resultieren sollte. Auch die Anschläge des 11. September 2001 wurden im Nachhinein für versuchten Versicherungsbetrug instrumentalisiert. So wird dem Immobilienspekulanten Larry Silverstein unterstellt, den Einsturz eines dem WTC benachbarten Gebäudes absichtlich herbeigeführt zu haben, um die Versicherungssumme zur Auszahlung bringen zu können. 331 Das Lebensversicherungsprinzip wird noch weiter pervertiert. Die Arab Bank, eine jordanische Privatbank, zahlt den Hinterbliebenen von Selbstmordattentätern umgerechnet rund 4.000 Euro, sofern diese sich mit einem Nachweis über den Tod des Angehörigen in einer der Filialen melden. Dies kann von den Selbstmordattentätern sogar durch ein sogenanntes „Martyr Kit“ vorbereitet werden, das alle notwendigen Bescheinigungen beinhaltet. Gegen diese Versicherungspraxis laufen derzeit Klagen von Opfern, da sie diese als spezifische Art der Finanzierung von Terrorismus ansehen. 332 Es stellt sich vor allem aus der Perspektive des Terroristen eine weitere Frage. Gesetzt den Fall, eine terroristische Tat (z. B die Sprengung eines Gebäudes) ist einem Täter zurechenbar und dieser wird gefasst – wer kommt für den Schaden auf? Kann er sich dagegen versichern? Nach normalem Menschenverstand gilt: Fügt eine Person einer anderen vorsätzlich Schaden zu, so haftet der Verursacher selbst, während bei Fahrlässigkeit die Versicherung die Kompensation übernimmt. Schäden durch Terrorismus sind intentionaler, bei Folge- oder Kollateralschäden zumindest grob fahrlässiger Art. Gibt es Versicherer, die dennoch für den Fall des Ergriffenwerdens nach einem terroristischen Akt Versicherungsschutz anbieten? Hierzu liegen noch keine Erkenntnisse vor. Führt man sich jedoch die Praxis der Arab Bank vor Augen, so erhält man ein denkbares Szenario, wie sich die Frage beantworten lassen könnte.333 Versicherungsbetrug oder Hinterbliebenenversicherung setzen der Versicher331 332
333
Nach Thomas (2007) handelt es sich bei dem Gebäude um das Salomon-Brothers-Gebäude (World Trade Center 7; WT 7), für das Silverstein erst wenige Wochen vor dem Anschlag die Pacht erworben hatte. Zu den Dokumenten zählen das Todeszertifikat der palästinensischen Autonomiebehörde oder auch eine Kontokarte bei der Arab Bank. Die Gelder werden nach Mertin/Sanberg/Schult (2007) über Komitees bereitgestellt und stammen häufig aus SaudiArabien. Neben der Kompensation durch ein privates Unternehmen wie die Arab Bank ist ferner denkbar, dass ein Staat diese übernimmt. Hierfür sei auf die Zahlungen Libyens im Zuge der Anschläge von Lockerbie und der Berliner Diskothek La Belle verwiesen.
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barkeit an sich keine praktischen Grenzen. Was sich aber aufdrängt, ist das Gefühl eines moralischen Grenzübertritts, der dem Gedanken der solidarischen Schadkompensation einen faden Beigeschmack verleiht. Die Funktionsfähigkeit des Versicherungsprinzips – dies sei betont – bleibt davon jedoch unberührt. 3.2.3
Anwendung auf die Fallstudie
An dieser Stelle sollen zuerst die vorneuzeitlichen Konzepte zum Umgang mit Unsicherheiten und anschließend das Konzept der Versicherung auf mögliches Auftreten in der Fallstudie untersucht werden. Dadurch – so die Hoffnung – lassen sich Rückschlüsse auf die Alltagspraktikabilität der Konzepte im Umgang mit Terrorismus gewinnen. 3.2.3.1
Vorneuzeitliche Unsicherheitskonzepte
Waren bei der Untersuchungsgruppe vorneuzeitliche Sicherungsstrategien wie symbolische Bannung, Externalisierung oder religiöse Riten zu beobachten? Das speziell auf Terrorismusprävention gerichtete Tragen von Amuletten wurde bei den Angehörigen der Untersuchungsgruppe nicht beobachtet. Gleichwohl war das Prinzip der symbolischen Bannung von Gefahren anhand von Glücksbringern und kleinen Geschenken von Freunden oder Verwandten vereinzelt zu beobachten. In keinem dieser Fälle war dieser Glücksbringer speziell auf den Schutz vor Anschlägen gerichtet, vielmehr sollte er dazu beitragen, die betreffende Person ganz allgemein heil nach Deutschland zurückkehren zu lassen. Ferner versuchten Angehörige des PRT – die indes nicht zur eigentlichen Untersuchungsgruppe gehören – zukünftige Anschläge vorauszusagen, indem sie aus der Stellung des Mondes (Vollmond), den zwischen den einzelnen Anschlägen liegenden Zeitabständen oder schlicht den Wochentagen bzw. dem Datum Regelmäßigkeiten herauszufiltern versuchten. Diese Vorgehensweise erinnert in groben Zügen an das Verfahren der Externalisierung. Anderes an Externalisierung erinnerndes oder gar dazu zu zählendes Handeln konnte bei der Untersuchungsgruppe nicht beobachtet werden. Der Militärgeistliche des PRT bot grundsätzlich einmal pro Woche die Möglichkeit zur Teilnahme an einem Feldgottesdienst und so zur kollektiven Ausübung religiöser Riten. Dieses Angebot wurde lediglich von einem Angehörigen der Untersuchungsgruppe angenommen. Die Motivation lag nach Aussage des Betreffenden hierbei indes weniger im Wunsch, in irgendeiner Form Terrorismus zu handhaben, denn in der Persönlichkeit des Militärgeistlichen selbst. Die hinsichtlich ihrer Präventions-
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kraft von Terrorismus sicherlich anzweifelbaren vorneuzeitlichen Unsicherheitskonzepte wurden somit in der Untersuchungsgruppe kaum angewandt. 3.2.3.2
Versicherung als Unsicherheitskonzept
Welche Auswirkungen die Entwicklung der Versicherungen auf die Untersuchungsgruppe hatte, soll an dieser Stelle untersucht werden. Ein vorab zu erwähnender Aspekt ist die freie Heilfürsorge, die Soldaten genießen. Dies bedeutet die Kostenübernahme durch den Bund für die Behandlung der Verletzten. Erschwerend wirkt bei der Untersuchung der Fallstudie indes, dass keine exakten Informationen über eventuell tatsächlich erhaltene Kompensation, Status oder aktuellen Gesundheitszustand vorliegen. Aus diesem Grunde wird – jedoch stets unter explizitem Hinweis – vereinzelt mit Annahmen gearbeitet. Leistungen privater Versicherungen, deren gängigsten die Lebens- und die Unfallversicherung sind, werden nach BMVg/PSZ III 1 (2005: 33) auf die gesetzlichen Ansprüche nicht angerechnet. Daher soll zunächst die Lebensversicherung auf ihre Kompensationsfähigkeit gegenüber Terrorismus untersucht werden, bevor dies für die Unfallversicherung erfolgt. In Lebensversicherungen, deren Versicherungsgegenstand das eigene Leben ist, ist meist die sogenannte Kriegsklausel enthalten. Die Kriegsklausel stellt einen Haftungsausschluss dar, falls der Versicherte in unmittelbarem oder auch nur mittelbarem Zusammenhang mit kriegerischen Ereignissen ums Leben kommt. Sie kommt jedoch bei humanitären oder unterstützenden Einsätzen – wie ISAF – nur eingeschränkt zur Anwendung. 334 Wenn also „der Versicherte im Ausland stirbt und an den kriegerischen Ereignissen nicht aktiv beteiligt war“ (BMVg/PSZ III 1 (2005: 36), kann sich die Versicherungsgesellschaft nicht auf die Kriegsklausel berufen. Dabei gilt dem Versicherten jedoch die Obliegenheitspflicht, der zufolge er den Auslandseinsatz dem Versicherer rechtzeitig vor Abreise ins Einsatzgebiet anzuzeigen hat. Wären also die Soldaten beim Anschlag ums Leben gekommen, so wären eventuelle Lebensversicherungen zur Auszahlung gekomen. 335 334
335
Dies verdeutlicht auch die DBV-Winterthur Lebensversicherung AG (2004), nachdem der Verfasser die DBV-Winterthur über den bevorstehenden Auslandseinsatz informiert hatte. In dem Antwortschreiben wird klar zwischen ISAF und Operation Enduring Freedom (OEF) differenziert. Hiernach gilt im Rahmen der ISAF-Mission das passive Kriegsrisiko, das mitversichert ist. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass die Betroffenen ihrer Obliegenheitspflicht vor Antritt des Auslandseinsatzes nachgekommen sind. Nichtsdestotrotz ist darauf hinzuweisen, dass die Versicherungsbedingungen von Gesellschaft zu Gesellschaft variieren können und daher obige Aussagen hinsichtlich des Versicherungsschutzes keine Allgemeingültigkeit besitzen.
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Unfallversicherungen haben die eigene Gesundheit zum Versicherungsgegenstand, deren unfallbedingte Schädigung finanziell abgesichert werden soll. Die Versicherungswirtschaft definiert einen Unfall als ein plötzlich von außen auf den Körper der versicherten Person einwirkendes Ereignis, bei dem die Person unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. Dies sichert die eigene Gesundheit zumindest im Regelfall gegen das Risiko terroristischer Anschläge ab. Allerdings greift bei Unfallversicherungen – im Gegensatz zu Lebensversicherungen – die Kriegsklausel uneingeschränkt. Dies hat zur Folge, dass Unfälle, die aus einem (Bürger-)Kriegsereignis entstehen, von Versicherern unter Berufung auf die Kriegsklausel abgewiesen werden. Ein Anschlag im Rahmen einer Stabilisierungsoperation wie ISAF zählt als ein solches Ereignis mit Ausschlusscharakter, sodass Unfallversicherungen für Soldaten kein probates Mittel darstellen, um sich gegen terroristische Risiken in Auslandseinsätzen abzusichern. BMVG/PSZ III 1 (2005: 19) zufolge gliedert sich die Absicherung für Soldaten in Form von Versorgungsleistungen im Falle eines Auslandseinsatzes in Beschädigtenversorgung, Einsatzversorgung, einmalige Entschädigungen sowie Schadensausgleich. Einsatzversorgung und Beschädigtenversorgung stellen die gesetzlich-dienstliche Absicherung dar und existieren gleichberechtigt nebeneinander. Hierbei wird teilweise zwischen Berufssoldatinnen/Berufssoldaten, Soldatinnen/Soldaten auf Zeit, Beamtinnen/Beamten sowie Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmern und übrigen Statusgruppen 336 differenziert. Eventueller Schadensausgleich wird durch den Staat aufgrund § 63b des Soldatenversorgungsgesetzes (SVG) entrichtet. Dies bedeutet, dass der Staat Sach- und Vermögensschäden bei einem Dienst- oder Einsatzunfall in angemessenem Umfang ersetzt. Zu diesen Vermögensschäden zählen auch Versicherungsleistungen, die Versicherer unter Berufung auf die Kriegsklausel verweigern. Der staatliche Schadensausgleich erfolgt allerdings nicht in voller, sondern lediglich in angemessener Höhe (vgl. BMVg/PSZ III 1 2005: 40-43). 337 Die Beschädigtenversorgung ist in §§ 80 bis 86 SVG geregelt. 338 Sie ist unabhängig vom Status 339 des verletzten Soldaten. Voraussetzung ist jedoch, dass die Verletzung die Kriterien einer Wehrdienstbeschädigung (WDB) erfüllt. Eine WDB liegt nach BMVg vor, wenn eine gesundheitliche Schädigung vorliegt, 336 337 338 339
Zu den übrigen Statusgruppen zählen u. a. Reservisten. Lebensversicherungssummen werden bis zu 250.000 € ohne Prüfung als angemessen angesehen. In der am 20.7.2006 (BGBl. 2006 I S. 1706) durch Art. 10 G geänderten Neufassung mit Bekanntgabe vom 9.4.2002 (BGBl. 2002 I S. 1258, 1909). Status meint in diesem Zusammenhang das Dienstverhältnis, in dem ein Soldat steht – Berufs oder Zeitsoldat bzw. Wehrdienstleistender.
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„die durch Wehrdienstverrichtung, einen Unfall während der Ausübung des Wehrdienstes, die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse, Kriegshandlungen, Aufruhr, Unruhen, gesundheitsschädigende Verhältnisse, vom Inland wesentlich abweichende Verhältnisse, denen die Soldatin/der Soldat besonders ausgesetzt war (z. B. außerhalb des Dienstes durch Schlangenbiss, Erdbeben), einen Unfall oder eine Erkrankung im Zusammenhang mit einer Verschleppung oder Gefangenschaft, einen rechtswidrigen tätlichen Angriff oder dessen Abwehr“ (BMVg/PSZ III 1 2005: 16 f.)
entstanden ist. Solange das Dienstverhältnis andauert, stehen dem Soldaten ein Ausgleich in der Höhe der Grundrente sowie Sachschadenersatz zu. Die Konstruktion der Beschädigtenversorgung nach Beendigung des Dienstverhältnisses stellt einen ganzheitlichen Absicherungs- und Versorgungsansatz dar, der nicht nur auf die Kompensation kurzfristiger Schäden, d. h. Verletzungen, sondern auch auf die Wiedereingliederung ins zivile Berufsleben zielt.340 Neben den unmittelbar von Terrorismus negativ Betroffenen – den Soldaten – existiert auch eine finanzielle Absicherung für die Hinterbliebenen, wobei zwischen dem überlebenden Ehepartner, Waisen und Eltern hinsichtlich des Leistungsumfangs differenziert wird (vgl. BMVg/PSZ III 1 2005: 17). 341 Dies macht die Beschädigtenversorgung zu einer im Schwerpunkt finanziellen Kompensationsform, jedoch mit sozialer Ausprägung. Damit die Einsatzversorgung gewährt wird, muss eine Berufskrankheit oder ein Dienstunfall vorliegen. § 27 II Satz 1 SVG definiert einen Dienstunfall als „ein auf äußerer Einwirkung beruhendes, plötzlich, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist“ (§ 27 II Satz 1 SVG). 342 „Gleichzuachten ist ferner ein Körperschaden, den ein Berufssoldat im Ausland erleidet, wenn er bei Kriegshandlungen, Aufruhr oder Unruhen […] angegriffen wird“ (§ 27 V Satz 2 SVG) 343
Einsatzversorgung umfasst dem SVG zufolge angemessenen Schadensausgleich, Einmalentschädigungen sowie für Berufssoldatinnen und -soldaten eine 340
341 342 343
Zu den Leistungen der Beschädigtenversorgung zählen nach BMVg/PSZ III 1 (2005: 16) im Wesentlichen die freie Heilbehandlung (für den Schaden an sich und dessen Folgen) sowie verschiedene Renten, die wiederum den im Bundesversorgungsgesetz (BVG) festgelegten Leistungen entsprechen. Zu diesen Renten zählen Grundrente, Schwerstbeschädigtenzulage, Ausgleichsrente, Pflegezulage, Berufsschadensausgleich und berufsfördernde Leistungen zur beruflichen Rehabilitation. Im Einzelnen gliedert sich die Hinterbliebenenversorgung für Ehepartner in Grund- und Ausgleichsrente sowie Schadensausgleich. Waisen erhalten lediglich Grund- und Ausgleichsrente, während Eltern Elternteil- bzw. Elternpaarrente beziehen können. Hier zitiert in der am 20.7.2006 (BGBl. 2006 I S. 1706) durch Art. 10 G geänderten Neufassung des SVG mit Bekanntgabe vom 9.4.2002, BGBl. 2002 I S. 1258, 1909. In der am 20.7.2006 (BGBl. 2006 I S. 1706) durch Art. 10 G geänderten Neufassung mit Bekanntgabe vom 9.4.2002, BGBl. 2002 I S. 1258, 1909.
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erhöhte Dienstunfallversorgung. Entsteht ein Gesundheitsschaden im Einsatz durch Ereignisse, die auf wesentlich von denen in Deutschland abweichende Umstände zurückzuführen sind, gilt dies als Einsatzunfall, der wiederum dem Dienstunfall gleichgestellt ist. Die Leistungen der Einsatzversorgung, die augenscheinlich abhängig sind vom Status des Geschädigten, kommen sowohl dem Soldaten als auch im Todesfall desselben seinen Angehörigen zugute. 344 Diese Konstruktion der Einsatzversorgung macht sie zu einer rein finanziellen Form der Kompensation, wobei der Anschlag auf die Patrouille die Kriterien eines Dienstunfalls erfüllt, sodass den Verletzten Ansprüche aus der Einsatzversorgung erwachsen. Unabhängig vom Status des Soldaten steht ihm bei schweren Unfällen ein einmaliger Entschädigungsbetrag in Höhe von 80.000 € zu. Voraussetzung hierfür ist eine durch einen Einzelunfall entstandene Beeinträchtigung der Erwerbstätigkeit um mindestens 50 Prozent. Die Bewertung erfolgt bei Dienstzeitende. 345 Ohne den abschließenden Befund der verletzten Soldaten zu kennen, wird davon ausgegangen, dass keine Beeinträchtigung der Erwerbstätigkeit um 50 Prozent oder mehr bei Dienstzeitende vorliegt. Daher wird auch die Dienstzeitversorgung, die Berufssoldaten und deren Hinterbliebenen zusteht, aber im Falle des erhöhten Unfallruhegehalts eine 80-prozentige Erwerbsminderung voraussetzt, nicht weiter betrachtet (vgl. BMVg/PSZ III 1 2005: 20-23). Wären die Soldaten aufgrund der Folgen des Anschlags gezwungen gewesen, aus dem Dienst auszuscheiden, so hätten ihnen – gesetzt den Fall, dass sie den Status von Zeitsoldaten gehabt hätten – Übergangsbeihilfe und Übergangsgebührnisse zugestanden. 346 Diese Art von Leistungen dienen – ähnlich wie beim normalen Auslaufen eines Dienstverhältnisses auf Zeit – dem Zweck, dem Soldaten eine gewisse Flexibilität bei der Arbeitssuche und somit der Wiedereingliederung ins zivile Erwerbsleben zu gewähren. 347 Dies rückt diese Art der 344
345 346 347
Hierbei ist besonders das Einsatzversorgungsgesetz (EinsVG) vom 21. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3592) in Zusammenhang mit den jeweiligen Passagen aus dem SVG zu berücksichtigen. Vgl. § 63c SVG in der am 20.7.2006 (BGBl. 2006 I S. 1706) durch Art. 10 G geänderten Neufassung mit Bekanntgabe vom 9.4.2002, BGBl. 2002 I S. 1258, 1909, aber auch die Soldatenversorgungs-Übergangsverordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 24. März 1993 (BGBl. I S. 378), zuletzt geändert durch Artikel 8 des Gesetzes vom 21. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3592), in: http://bundesrecht.juris.de/sv_v/ BJNR017210991.html [08.03.07] sowie abschließend BMVg/PSZ III 1 (2005: 18 f.). Verstirbt ein Soldat an den Folgen eines Einzelunfalls, so erhalten entweder der Ehepartner oder die Eltern sowie nicht versorgungsberechtigte Kinder oder die Großeltern und Enkel einmalige Entschädigungsleistungen. Im Todesfall wäre den Hinterbliebenen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung (Übergangsbeihilfe und Sterbegeld) erwachsen. Darüber hinaus stehen dem Soldaten noch Ansprüche im Rahmen des Berufsförderungsdienstes zu, was die soziale Komponente der Kompensation unterstreicht.
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Kompensation – die zweifelsfrei monetärer Art ist – ob ihrer Zielsetzung in ein soziales Licht. 348 Wie kann die Frage nach der Versicher- und Kompensierbarkeit des Risikos Terrorismus für Soldaten nun beantwortet werden? Die gesetzlichdienstliche Absicherung hat eine überwiegend finanzielle Ausrichtung, deren Umfang zwischen den einzelnen Statusgruppen zugunsten der Berufssoldaten differiert. Erwähnenswert ist der zwar limitierte, aber deshalb nicht weniger wichtige Schadensausgleich des Bundes für Vermögensschäden. Aspekte, die auf soziale Kompensation, d. h. Reintegration ins Zivilleben zielen, sind indes nur mittelmäßig ausgeprägt. Die Möglichkeiten zur privaten Absicherung sind wesentlich geringer. Zwar lässt sich das eigene Leben versichern, sodass zumindest die Hinterbliebenen im Todesfall eine gewisse Kompensationsleistung erwarten können. Dauerhafte gesundheitliche Schädigungen jedoch, die nicht zum Tod führen, sind aufgrund der Kriegsklausel in den Unfallversicherungsverträgen nicht zusätzlich versicherbar, sodass ein Soldat, der infolge eines Anschlags aus der Bundeswehr ausscheiden muss und aufgrund gesundheitlicher Schäden pflegebedürftig ist, sich allein auf staatliche Leistungen verlassen muss. 349 Zwei weitere Aspekte der Debatte um Risiken wurden in diesem Kapitel bereits kurz angerissen, nämlich einerseits die Notwendigkeit zur Kalkulation und andererseits die Frage, was im Umgang mit dem Risiko Terrorismus zulässig ist. Diese Aspekte werden in den beiden folgenden Kapiteln, die von Risikowahrnehmung und Risikokommunikation handeln, ausführlich erörtert. 3.3
Risikowahrnehmung
Gegenstand dieses Kapitels ist die Anwendung der verschiedenen Erklärungsmodelle für die Risikowahrnehmung auf den Terrorismus. Dazu sind in einem ersten Schritt die drei möglichen Erklärungsmodelle zur Risikowahrnehmung zu skizzieren und zu strukturieren, bevor im zweiten und entscheidenden der Versuch unternommen wird, Terrorismus durch die einzelnen Wahrnehmungsmo348
349
Leistungen, die übrigen Statusgruppen oder Beamten zustehen, werden an dieser Stelle nicht weiter betrachtet, da es sich bei den im Fallbeispiel verletzten Soldaten entweder um Berufssoldaten oder um Soldaten auf Zeit gehandelt haben muss. Zu den Leistungen für übrige Statusgruppen im Falle der Beendigung des Dienstverhältnisses nach Schädigung im Auslandseinsatz vgl. BMVg/PSZ III 1 (2005: 22-25). Diese können durch um die Leistungen aus einer Berufsunfähigkeits- oder Unfallversicherung ergänzte Zuwendungen aufgebessert werden. Die Zuwendungen hängen ihrerseits in ihrer Höhe vom Umfang privater Absicherung ab (Prinzip des Schadensausgleichs).
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delle zu betrachten. Dieses Vorgehen ermöglicht, einerseits die Praktikabilität der jeweiligen Perzeptionsart (bzw. deren Grenzen) festzustellen, andererseits aber zwingt es, sich die individuellen Betrachtungsweisen der verschiedenen Akteure anzueignen, um so einen Beitrag zur Erklärung deren sozialen Handelns geben zu können. Risikowahrnehmung sei in vorliegender Arbeit verstanden als „Annahme über (zumeist negativ bewertete) Auswirkungen menschlichen Handelns und Verhaltens und der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens durch Individuen, Gruppen oder Institutionen“ (Banse/Bechmann 1998: 9). 350 Die Strukturierung in einzelne Erklärungsmodelle orientiert sich an Bechmann (1993), der drei Ansätze unterscheidet: den formal-normativen, den psychologisch-kognitiven und letztlich den kulturell-soziologischen Ansatz. 3.3.1
Formal-normative Risikowahrnehmung
Die aus der Anfangsphase der Risikoforschung stammende formal-normative Betrachtungsweise hatte die Entwicklung eines universell gültigen Risikomaßes zum Ziel, das durch Objektivierung einerseits die Vergleichbarkeit verschiedenster individueller Risiken, andererseits eine rationale Debatte um ihre Akzeptierbarkeit ermöglichen sollte. Grundlage hierfür stellte die aus der Versicherungsmathematik entliehene Formel R = S x W dar, der zufolge sich das Risiko (R) aus dem Produkt der Schadenshöhe (S) und dessen Eintrittswahrscheinlichkeit (W) ergibt (vgl. Hüfner 1989: 34 f.). Somit eröffnet diese Formel theoretisch die Möglichkeit, das Risiko verschiedener Anschläge ebenso zu ermitteln wie das Risiko, Opfer eines terroristischen Aktes zu werden, mit dem eines Unfalles in einem Chemiewerk zu vergleichen. Voraussetzung zur Ermittlung dieses sogenannten objektiven Risikos ist das Vorhandensein ausreichender Datensätze, die Aufschluss über Häufigkeit und Schadenshöhe zu geben vermögen. Während man sich bei der Wahrscheinlichkeitsermittlung ökologischtechnischer Risiken teilweise auf die Annahme hypothetischer Wahrscheinlichkeiten 351 verlassen musste, ist zur Ermittlung der Eintrittswahrscheinlichkeit im 350
351
An anderer Stelle definieren Banse/Bechmann den Begriff Risikowahrnehmung differenzierter. Danach ist Risikowahrnehmung ein „zielgerichtet[er] strukturierter und methodisch orientierter, somit bewusst organisierter und reflektierter, empirisch oder theoretisch, deskriptiv oder normativ ausgerichteter Prozeß des Erkennens und Begreifens von Risiken, des Aufweisens und des Erfassens von möglichen Schadens- und Gefahrendimensionen, von Ursache-Wirkungs- bzw. Ursache-Folgen-Beziehungen, von Gewinnchancen, von Verlustmöglichkeiten und Gefährdungspotentialen“ (Banse/Bechmann 1998: 11). Hypothetische Wahrscheinlichkeiten werden dann angenommen, wenn Stichproben entweder zu klein sind oder gar nicht vorliegen. Beispielsweise nimmt der Rasmussen-Report,
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Falle des Terrorismus folgendes Verfahren denkbar: Man nehme die Zahl aller durch Anschläge zu Schaden gekommenen Personen in Deutschland und deutschen Staatsbürgern weltweit für den Zeitraum der letzten vierzig Jahre und berechne den jährlichen Durchschnittswert für in Mitleidenschaft gezogene Personen. Teilt man diesen Durchschnittswert durch das Ergebnis der Summe aller in Deutschland lebenden Menschen und Deutschen im Ausland, so erhält man einen Wahrscheinlichkeitswert dafür, Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden. Schwieriger verhält es sich mit der zweiten Komponente zur Bestimmung des Risikos, der Schadenshöhe. Die Schadenshöhe erfordert zwingend eine (monetäre) Quantifizierung zu erwartender negativer Folgen. Wie Bechmann jedoch richtig bemerkt, lassen sich jenseits des technischen Bereichs diverse Schadensaspekte oftmals nicht ohne Weiteres quantifizieren. Da durch terroristische Aktionen sowohl Menschen als auch Dinge Schaden erleiden können, bedarf es zur Quantifizierung der Schadenshöhe einer emotionslosen Betrachtungsweise. Der monetäre Wert von Dingen ist daher ebenso wie der eines menschlichen Lebens mit den zugrunde gelegten Versicherungssummen zu taxieren. 352 Indes war dem Versuch der Übernahme versicherungsmathematischer Methoden zur Risikobewältigung im Allgemeinen kein dauerhafter Erfolg beschieden, da weder für Schaden- bzw. Nutzenaspekte ein einheitliches Maß gefunden werden konnte noch eine Einigung hinsichtlich der zu berücksichtigenden Schadensdimensionen erzielt wurde. Ausschlaggebend waren zwei Erkenntnisse. Zum einen, dass es selbst in den Sicherheitswissenschaften keinen einheitlichen Risikobegriff geben kann, 353 zum anderen, dass die per se objektive Formel
352
353
ohne Erfahrungswerte dafür zu besitzen, die Wahrscheinlichkeit, dass es bei einer Kernschmelzung in einem Reaktor zu einer Dampfexplosion kommt, mit 0,1 an. Die Wahrscheinlichkeit, dass durch die Explosion auch der Sicherheitsbehälter gesprengt wird, wird mit weiteren 0,1 angesetzt. Hieraus ergibt sich das hypothetische Risiko einer Zerstörung des Sicherheitsbehälters aufgrund einer aus einer Kernschmelze resultierenden Dampfexplosion mit 0,1 x 0,1 = 0,01. Multipliziert man diesen Wert nun mit dem Wahrscheinlichkeitswert einer Kernschmelzung, so ergibt sich ein außerordentlich geringer Wert, der hinsichtlich der daraus ableitbaren Risikoaussagen zu heftiger Kritik geführt hat. Vgl. Bechmann (1993: X). Ohne expliziten Bezug auf die Versicherungswirtschaft greift Perrow (1987: 360) eine USamerikanische Studie von 1981 auf, welche den Wert eines menschlichen Lebens mit 300.000 US-$ (bei einer durchschnittlichen Inflation von jährlich 2,5 Prozent bis 2006 also rund 428.000 Euro) taxierte. Ähnliches ist für die Terrorismusforschung hinsichtlich einer allseits anerkannten Terrorismusdefinition auch zukünftig zu erwarten.
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R(isiko) = S(chadenshöhe) x W(ahrscheinlichkeit) die Subjektivierung der einzelnen Faktoren nicht zu verhindern vermag. 354 Im Falle des Terrorismus ist dies ebenfalls zu beobachten. Bislang wurden von Terroristen ABC-Waffen erst zweimal eingesetzt, 355 sodass die auf statistischen Daten beruhende Wahrscheinlichkeitserwartung folglich keine ausreichenden Daten auswirft. Des Weiteren ist nicht erwiesen, dass sich derzeit eine oder mehrere terroristische Gruppierungen im Besitz derselben befinden. Dennoch überlagert in allen Szenarien gerade die Furcht vor den Auswirkungen eines ABC-Waffen-Einsatzes die ausschließlich hypothetische Wahrscheinlichkeit. Folglich besteht die einzige Möglichkeit, terroristische Nukleareinsätze mittels des formal-normativen Ansatzes handhabbar zu machen, in der Annahme hypothetischer Werte. Somit wirft die Berechnung des Risikos anhand der Formel R = S x W zwar einen auf im weitesten Sinne überprüfbaren Statistiken beruhenden Wert aus, was allerdings nicht nur hinsichtlich der nur unvollständig objektivierten Einzelfaktoren, sondern auch angesichts der Diffusität der Anschlagsziele auf eine nur wenig Erfolg versprechende kognitive Rationalisierung verweist. Für den individuellen Einzelfall kann – dies betont Lau (1989: 428) – keine hinreichend plausible Aussage getroffen werden. Nichtsdestotrotz ist der Versuch der Rationalitätserzeugung nicht gänzlich unnütz. Er kann dazu beitragen, entscheidungstheoretische Perzeptionen transparenter zu gestalten, indem durch Spezifikation der in die Formel einzusetzenden Daten für unterschiedliche Teilszenarien unterschiedliche Risikowerte gewonnen werden, sodass diese unterschiedlichen Risikowerte für die Entscheidungstheorie funktionalisiert werden können. Demjenigen, der Terrorismus ausgesetzt ist, bieten sich dadurch Möglichkeiten der objektiv-rationalen Risikoermittlung für unterschiedliche Handlungen, unter denen er sich nach Banse/Bechmann (1998: 34-37) für eine entscheiden muss. Zuverlässige und somit anwendbare Wahrscheinlichkeitsberechnungen und Kostenkalkulationen scheitern bei Neuen Risiken im Allgemeinen und bei Terrorismus im Speziellen einerseits an der subjektiven Bewertung des Risikos, andererseits an der Inkommensurabilität (vgl. Lau 1989: 429). Da die Grenzen des analytischen Ansatzes deutlich werden, ist das normative Risk Assessment 354 355
Beispielsweise wenn aufgrund fehlender Datensätze die Arbeit mit hypothetischen Risiken die Schadenshöhe besonders betont. Hierbei handelt es sich um einen von der Baghwan-Sekte 1984 mit Salmonellen auf eine Salatbar in der US-amerikanischen Kleinstadt The Dalles (Oregon) und um den von der Aum-Sekte mit dem Giftgas Sarin verübten Anschlag auf die Tokioer U-Bahn im Jahr 1995. Ein möglicher dritter Fall könnte der Ausbruch der Maul- und Klauenseuche in Großbritannien im August 2007 sein. Dessen Ursachen sind noch nicht restlos aufgedeckt, die Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund sind jedoch nach Fritzen (2007) dünn.
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für den Umgang mit Terrorismus als bedingt geeignet zu bewerten. Wie sich diese Defizite auf die individuelle Risikowahrnehmung auswirken, ist von mehreren Umständen abhängig, die in der psychologischen Risikoforschung untersucht wurden. 3.3.2
Psychologisch-kognitive Risikowahrnehmung
3.3.2.1
Experten-Laien-Differenz
Das Fehlen ausreichenden objektiven Datenmaterials wirft die Frage nach der Kompensation desselben auf. Das meist zu beobachtende Substitut aber ist der Rückgriff auf Experten bzw. deren Schätzungen und Aussagen – wie es beispielsweise auch hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit des hypothetischen Risikos für einen Einsatz von ABC-Waffen durch Terroristen der Fall ist. Experten wird für ihr Gebiet 356 definitorische Kompetenz attestiert, sie werden zu Trägern scheinbarer Objektivität. Der Laie hingegen ist auf die nahezu ausschließlich medial vermittelten Expertenschätzungen angewiesen 357 und bleibt mit dem Stigma unwissender Subjektivität behaftet. 358 Ein Experten-Laien-Kontrast im Umgang mit und der Bewertung von Risiken aller Art wird evident. 359 Folgt man Bechmann (1993: XI f.), dann neigen vor allem Laien unbewusst dazu, die möglicherweise geringe Wahrscheinlichkeit außer Betracht zu lassen und dem potenziellen Ausmaß des Schadens absolute Aufmerksamkeit zu schenken. Dies sei vor allem dann zutreffend, wenn ein Überschreiten der „Katastrophenschwelle“ (Luhmann 1991 b: 11) angenommen werden kann, d. h. wenn die Schadenshöhe ins Exorbitante steigt. Augenscheinlich fällt bei den meisten Neuen Risiken die Risikobewertung von Laien kritischer, d. h. mit höherem Hang zur Negativperzeption, als die von Experten aus. Ist dies im Falle
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357 358 359
Für die Perspektive von Experten vgl. Hauke (1990). Es sei betont, dass Experten aufgrund ihrer Spezialisierung keine universelle definitorische Kompetenz besitzen. Auch kommt es zwischen Experten ein und desselben Fachgebiets des Öfteren zu abweichenden, vereinzelt sogar konträren Lagebeurteilungen. Im Internet-Zeitalter ist auch den Laien eine große Anzahl an Quellen relativ leicht zugänglich, sodass sich die Angewiesenheit von Laien auf Experten in einigen Fällen reduziert. Schon das Erscheinungsdatum (vgl. Borcherding/Winterfeldt 1983) zeugt von der Tatsache, dass Überlegungen zum Risikoverständnis von Laien alles andere als neu sind. Das Wissen um die Diskrepanz zwischen vermeintlich individuell-subjektiven und empirisch-objektiven Betrachtungsweisen ist nicht neu. An dieser Stelle sei nur die Differenzierung in dóxa (Meinung) und epistéme (Wissen) in der altgriechischen Philosophie erwähnt.
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des Terrorismus ebenfalls zu beobachten? Oder verhält es sich hierbei umgekehrt? Tendieren Laien dazu, Terrorismus eher über- als zu unterschätzen? Für Terrorismus als Neues Risiko – sofern man nicht aus der Perspektive der Befürworter desselben argumentiert – stellt sich die Frage nach dem Nutzen für das Individuum nur in den seltensten Fällen. Für den Einzelfall bedeutet dies, dass auch im Falle des Terrorismus die Negativperzeption des Laien vermutlich intensiver als die der Experten ausfällt. Auch scheint die Schadquelle bei der Risikobewertung eine nicht unwesentliche Rolle zu spielen. Lässt sich ein (hypothetischer) Schaden auf eine besonders umstrittene Technologie – und dies auch noch gezielt von Terroristen verursacht – zurückführen, ist die Luhmann’sche Katastrophenschwelle schneller überschritten, als dies der Fall wäre, wenn der Schaden nicht vorsätzlich oder nicht durch die umstrittene Technologie verursacht worden wäre. Zuverlässige Aussagen sind hierüber jedoch nur bedingt möglich – dazu bedürfte es einer breiten Datenbasis über das Bewusstsein der Bevölkerung über terroristische Bedrohung, die dann mit Expertenmeinungen abzugleichen wäre. Was Laien (aber in gewissem Ausmaß sicher auch Experten) in ihrer individuellen Wahrnehmung hauptsächlich beeinflusst, sind die Faktoren Betroffenheit, Kontrollierbarkeit und Freiwilligkeit (vgl. Starr 1969: 1232; Cutter 1993: 19 f.; Roth 1996; Perrow 1987: 365 f.). Darüber hinaus scheint eine Rolle zu spielen, ob die Schäden durch neue Technologien (Kernkraft, Chemie, Gentechnik) entstehen, als reparierbar (oder monetär kompensierbar) gelten können und ob sie erst mit zeitlicher Verzögerung zu erwarten sind (vgl. Bechmann 1993: XII f.). Im Falle einer grundsätzlichen Ablehnungshaltung gegenüber dieser Art von Neuen Risiken ist a priori von einer Negativperzeption des sie instrumentalisierenden Terrorismus auszugehen. 3.3.2.2
Einflussfaktoren der Risikowahrnehmung
Wann nehmen Individuen Risiken wie wahr? Menschen nehmen Risiken dann negativ wahr, wenn sie von einem beliebigen Risiko selbst und unmittelbar betroffen sind, es außerhalb ihrer Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten liegt und sie sich ihm unfreiwillig ausgesetzt sehen (vgl. Bechmann 1993: XIV). Umgekehrt nehmen sie Risiken positiv wahr, wenn sie sich individuell Nutzen davon versprechen, das Risiko freiwillig und mehr oder weniger bewusst eingehen und
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vor allem, wenn sie an dessen Kontrollierbarkeit – am besten durch sich selbst – glauben. 360 Grundsätzlich wird die Betroffenheit von Risiken zuerst individuell empfunden. Sie bedarf jedoch des direkten Erfahrens, um intensiver und greifbarer zu werden. Erst durch intensive Interaktion innerhalb und zwischen sozialen Gruppen steigert sich die Wahrnehmung einer Bedrohung und ein Solidarisierungseffekt mit den tatsächlich Betroffenen zeichnet sich ab. Exemplarisch für diese Beobachtung sind die weltweiten Reaktionen nach den Anschlägen auf das WTC und das Pentagon am 11. September 2001, aufgrund derer die soziale Identität durch diese nur mittelbare Betroffenheit als geradezu zentral bedroht bewertet wurde. 361 Angesichts der Tatsache, dass nur die wenigsten am 11. September 2001 tatsächlich in New York und Washington vor Ort waren, liegt der Schluss nahe, dass in der modernisierten Moderne – und gerade bei Phänomenen wie Terrorismus – massive mediale Vermittlung an die Stelle individueller, direkter Erfahrungswerte tritt. Während die Risiken, von deren Kontrollierbarkeit der Mensch ausgeht, niedriger bewertet werden, neigt er dazu, jene überzubewerten, auf deren Auswirkungen er keinen Einfluss hat. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die unterschiedliche Wahrnehmung der Risiken Autofahren – was zumindest begrenzt der eigenen Kontrolle unterworfen ist – und Fliegen – bei dem man dem Können anderer Menschen und der Technik ausgeliefert ist – verwiesen. Levitt/Dubner (2006: 203-208) erörtern die im Bereich der Risikoforschung häufig gestellte Frage nach der tatsächlichen und der wahrgenommenen Gefährlichkeit der Nutzung eines Flugzeugs im Vergleich zu der eines Autos. Hierbei vergleichen sie nicht die nur die tatsächliche Zahl der Todesfälle im Verhältnis zu den tatsächlichen Nutzern, sondern nehmen die bei der Nutzung verbrachte Zeit als Bewertungsgrundlage. Demnach sind auf die Stunde umgerechnet das unkontrollierbare Fliegen und das angeblich kontrollierbare Autofahren gleichermaßen riskant. Dies widerspricht der gängigen Meinung, Fliegen sei riskanter als Autofahren. Ferner greifen Levitt/Dubner Erkenntnisse Peter Sandmans auf, der 2004 die Risikowahrnehmung in den USA bezüglich des Risikos, an BSE oder den alltäglichen Erregern einer Großküche zu erkranken, untersuchte. Er kam zu dem Schluss, dass die BSE-bezogenen Panikreaktionen durch das Gefühl man360 361
Bei Risiken, von deren Ausgang sie weder profitieren oder Schaden nehmen, neigen Individuen häufig dazu, sich passiv zu verhalten und geringes Interesse zu zeigen. Wie „Eine neue Dimension der Angst?“ (2002) erkennen lässt, besteht eine gewisse Ambivalenz durch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Einerseits wirkt dies Trost spendend und wirkt wie ein Puffer auf Schocks, kann andererseits aber auch Ursache dafür sein, selbst zum Ziel eines Anschlags zu werden.
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gelnder Kontrollierbarkeit kamen, während Menschen die Sauberkeit einer Küche und somit die Anzahl der dortigen Erreger für kontrollierbar hielten. Wie verhält sich es sich aber mit der Einschätzung, ob Terrorismus kontrollierbar ist? Zur Bekämpfung des Terrorismus wurde und wird eine Vielzahl von – teilweise ineinander greifenden, teilweise sich widersprechenden – Konzepten in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft diskutiert. Aus ihnen allen erwächst die Erkenntnis, dass es nur eingeschränkte Möglichkeiten gibt, Terrorismus zu kontrollieren. 362 Mit Verweis auf die Terror–Management-Theorie 363 von Greenberg/Pyszczynski/Solomon (u. a. 1986) schildert „Eine neue Dimension der Angst?“ (2002), wie auf individueller Ebene angesichts des Einsturzes des WTC und dem eigenen Bedürfnis nach Kontrollmöglichkeiten Treppen gegenüber Aufzügen, aber auch Autos gegenüber Flugzeugen präferiert werden. Als grundsätzliche Ausprägungen individuellen Risikohandelns existieren Risikoaversion auf der einen, Risikofreude auf der anderen Seite. Vor allem beim Vorhandensein letzterer Ausprägung ist eine gewisse Freiwilligkeit zu beobachten, mit der Menschen mitunter Risiken trotz fehlender ausreichender Kontrollmöglichkeit bewusst und freiwillig eingehen. 364 Sie tun dies aus Langeweile oder zum Lustgewinn. In beiden Fällen ist bei erfolgreicher Bewältigung des Risikos vom Erreichen eines objektiv höheren Sicherheitsniveaus auszugehen, das aus den bei der Bewältigung des Risikos gewonnenen Erkenntnissen und Erfahrungen resultiert. Neben diesen drei aus der psychologischen Risikoforschung stammenden Faktoren formulieren Levitt/Dubner (2006: 205-207) noch einen weiteren, der sich zwar bedingt – aber eben auch nur bedingt – unter Betroffenheit subsumieren lässt: die zeitliche Unmittelbarkeit. Sie beobachteten, dass Menschen dazu tendieren, in zeitlicher Ferne liegende Risiken kritischer zu bewerten als solche, die in unmittelbarer Zukunft eintreten oder auch nur eintreten können. Dies verdeutlichen sie anhand eines Vergleichs des Bewusstseins um das Risiko, an 362
363 364
Gerade auf individueller Ebene ist es schlicht unmöglich, das Neue Risiko Terrorismus zu beherrschen. Es ist davon auszugehen, dass mittlerweile selbst Osama bin Laden nicht mehr in der Lage ist, den islamistisch-fundamentalistischen Terrorismus dezidiert zu kontrollieren. Dies leitet sich aus der Mutation der Al Qaida von einer sozialen Gruppe zu einer Ideologie ab. Ochsmann (2002) beschreibt einige Folgen des 11. September aus der Perspektive der Terror-Management-Theorie. Zu diesen zählt das Erkennen der eigenen Verletzlichkeit, gefolgt von der Freisetzung existenzieller Angst. Von Cube (1990: 21-48) beschreibt das menschliche Risikohandeln als grundsätzlich, da das Bewältigen von Risiken das objektive Maß an Sicherheit erhöhe. Daher sei der Mensch aus Sicherheit produzierender Neugier stets instinktiv auf der Suche nach immer neuen, subjektiv handhabbaren Risiken. Dieser Produktion letztlich objektiver (aber auch subjektiver) Sicherheit sei durch Lernen und Denken die rein instinktive Produktion von Sicherheit vorausgegangen.
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einer Herzerkrankung aufgrund zu fettiger Ernährung oder bei einem Terroranschlag zu sterben. Bei diesem Beispiel sei das ausschlaggebende Moment bei der Risikowahrnehmung die Plötzlichkeit, sodass trotz seiner geringeren Wahrscheinlichkeit der Terroranschlag im Vergleich höher bewertet wird. 3.3.2.3
Soziale Einflüsse
Orientiert man die Überlegungen zur Risikowahrnehmung sozialpsychologisch, so hat man mit der Grundannahme eines Sets an relativ stabilen Einstellungen und Werten, die ein jedes Individuum besitzt, zu arbeiten. Meinungsbildung erfolgt durch möglichst widerspruchsfreies Einbinden neuer Beobachtungen in dieses System. Nimmt man nun die Risikoquelle – in diesem Fall den Terrorismus – als neue Beobachtung und macht ihn zum Angelpunkt der Wahrnehmung eines Individuums, so ergeben sich aufgrund von Vorstellungen, Assoziationen und Verhalten des Individuums Hinweise zu seiner Risikobewertung (vgl. dazu Otway 1980; Bechmann 1993: XIV). Alles in allem wird Terrorismus also nicht isoliert wahrgenommen, sondern hinsichtlich Sinn bildender Werte individuell kontextualisiert. Hierdurch lassen sich für die Einstellung zum Terrorismus zusätzlich zu einem grundsätzlichen Maß an Risikobereitschaft verschiedene Risiko- bzw. Nutzenfaktoren ermitteln: - psychologische wie physiologische Gefährdung bei sich selbst oder auch Freunden und Bekannten, - erkannte oder vermutete negative Auswirkungen auf die Entwicklung der (Welt-)Wirtschaft bei gleichzeitiger Möglichkeit zu individuellem Profit (durch entsprechende Investments an der Börse) oder erheblichen ökonomischen Einbußen, 365 - Folgegefährdung für die eigene Person oder Bekannte durch internationales Engagement im Kampf gegen den Terrorismus. 366 Aber ebenso Meinungen im Bekanntenkreis oder medial transportierte politische oder kirchliche Positionen zum Terrorismus gilt es in das bestehende Set einzupassen. Die zumindest im westlichen Kulturkreis weitestgehend negative Perzeption des Terrorismus in toto verhindert nicht, ihn – ein gewisses Maß an Zynismus vorausgesetzt – vereinzelt als Chance zu begreifen und ebenso vereinzelt monetär davon zu profitieren. Variiert man die Überlegung und rückt die Bewertung der Gefährdung unterschiedlicher Anschlagsszenarien ins Zentrum 365 366
Zum Beispiel der Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund negativer Auswirkungen des Terrorismus auf die Weltwirtschaft. Beispielsweise durch die Entsendung deutscher Soldaten zu Missionen wie OEF oder ISAF.
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der Betrachtung, so ergeben sich folgende Risikofaktoren: 367 Auswirkungen auf die eigene Lebensgestaltung und -planung, Arbeitsplatzverlust oder Sicherheit, aber auch eine potenzielle Schädigung der Umwelt, der eigenen Person oder der sozialen Gruppe. 368 Aus der individuellen Definition von Terrorismus – die ihrerseits durch die Wahrnehmung determiniert ist – ergeben sich die Möglichkeiten zum Umgang damit. Wahrnehmung wie auch Definition normieren Handlungsoptionen. Dies können Protest oder Sympathiebekundung, politisches Engagement, Rückbesinnung auf religiöse Handlungsmuster oder vollständige Ignoranz des Risikos sein. Nach Lau (1989: 429) entscheidet das sozialisierte und enkulturierte Individuum auf der Grundlage eines risikofreudigen oder risikoaversen Naturells über den Umgang mit Terrorismus. Auch bei der Wahrnehmung von Terrorismus ist grundlegend zwischen externer und Selbst-Wahrnehmung zu differenzieren. Die individuelle (Selbst-) Wahrnehmung von Terroristen ist einerseits von Subjektivität, andererseits aber auch von Objektivität geprägt. Die Subjektivität kommt dadurch zum Ausdruck, dass der Terrorist sich hauptsächlich über seine Hingabe an die von ihm verfochtene Sache definiert, sich vollkommen mit ihr identifiziert und ihre Legitimität nicht anzweifelt. Sein Kampf wird ihm zum wichtigsten Gut. Objektivität hingegen tritt zutage, sobald sich der Fokus des Terroristen auf Akteure des von ihm bekämpften Systems richtet. In diesem Fall vermögen Terroristen häufig jegliche sentimentale Subjektivität, die gegenüber einem Opfer aufkommen kann, gleichsam abzuschalten und in ihrem Opfer nicht mehr den Menschen, sondern einen Verfechter konträrer politischer Positionen – nüchtern: ein Ziel – zu sehen (vgl. Wieviorka 2004: 8). Die RAF bietet sowohl Beispiele für erfolgreichen wie auch fehlenden Objektivismus. Erfolgreiche Objektivität ist bei der von Peters (2004: 386-393) geschilderten Ermordung (anstelle der geplanten Entführung) Jürgen Pontos durch Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt zu 367
368
Hierbei ist von folgenden Grundannahmen auszugehen: Anschläge mit konventionellen Waffen werden eher akzeptiert werden als solche mit ABC-Waffen, Anschläge im Ausland gefährden Arbeitsplätze rund um die Tourismusbranche, Anschläge fördern die Sicherheitsindustrie und sichern somit Arbeitsplätze. Alle diese Überlegungen, mittels durch Empathie gestützter Heuristik Erkenntnisse über die Perspektiven von Individuen auf den Terrorismus zu erhalten, dürfen eines nicht außer Acht lassen. Die Faktoren – von denen angenommen wird, dass sie die Wahrnehmung beeinflussen – dienen zwar in vorliegender Arbeit als Beispiele und Arbeitshypothesen, bedürfen indes noch empirischer Überprüfung. Die Überprüfung wiederum ist kein Anliegen dieser Arbeit, da es in ihr nicht um die Gewinnung harter Daten, sondern um das Aufzeigen von Möglichkeiten, von Optionen zum Umgang mit Terrorismus geht. Daher ist eine etwaige Falsifikation der Arbeitshypothesen – will man über deren Stichhaltigkeit Klarheit erlangen – zum Gegenstand eines separaten Projekts zu machen.
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beobachten, als die dem Bankier persönlich bekannte Susanne Albrecht den Zutritt zu ihm und somit die Tat ermöglichte. Die für eine emotionslose Operation notwendige Objektivität war in einem anderen Fall indes nicht vorhanden oder schwand im Laufe der Zeit: bei der Schleyer-Entführung. Während seiner Geiselhaft wurde Schleyer im Wechsel von verschiedenen Mitgliedern der RAF bewacht, von denen eines jedoch aus diesem Dienst herausgelöst wurde, da es nach Auffassung der anderen Mitglieder begann, für das Opfer Sympathie zu entwickeln und die notwendige Distanz zu verlieren (Peters 2004: 421 f.). Es stellt sich die Frage, ob die psychologisch-kognitive Risikowahrnehmung ähnlich formal wie das herkömmliche Risk-Assessment-Konzept ausgedrückt werden kann. Die eine Seite der Gleichung müsste in diesem Fall zweifelsfrei erneut aus dem Risiko bestehen, während auf der anderen Seite auf jeden Fall die Subjektivität der Wahrnehmung zum Ausdruck kommen muss. Subjektivität lässt sich nur schwer in Zahlen fassen, weshalb eine solche Formel letztendlich keinen eindeutigen quantitativen, sondern eher einen qualitativen Wert auswerfen kann. Folgt man Peter Sandman (2007), der genau diesen Versuch unternommen hat, so wird das qualitative Risiko (R) aus der Summe der Gefahr (G) und der dadurch verursachten Empörung (E) gebildet. Die verursachte Empörung ist hierbei nichts anderes als die Subjektivität der Wahrnehmung, die als Bestandteil einer solchen Gleichung für notwendig erachtet wurde. Lautete die Formel für das formal-normative Risiko noch R = S x W, so ist sie also für das psychologisch-kognitive Risiko mit R = G + E zu beschreiben. Das Konzept der psychologisch-kognitiven Risikowahrnehmung vermag also zu erklären, warum Individuen ein bestimmtes Risiko – somit auch Terrorismus – wie wahrnehmen. Es vermag unterschiedliche Blickwinkel auszudifferenzieren, scheint über eine Veränderung der die Wahrnehmung steuernden Parameter hinaus jedoch keine Ansatzpunkte zu bieten, den individuellen Umgang mit Terrorismus zu verändern. Somit erweist auch dieses Konzept sich für den Umgang mit Terrorismus zumindest als bedingt geeignet. 3.3.3
Kulturell-soziologische Risikowahrnehmung
Die Bedeutung der kulturell-soziologischen Risikowahrnehmung leitet Beck über einen Vergleich der sozioökonomischen Konflikte der nationalen Industriegesellschaft mit der internationalen Konfliktkonstellation zu Zeiten des OstWest-Konflikts und den Konfliktlinien der Weltrisikogesellschaft her:
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„In dem Maße, in dem sich globale Risiken der Kalkulation nach wissenschaftlichen Methoden entziehen und ein Gegenstand des Nicht-Wissens sind, erlangt die kulturelle Wahrnehmung […] eine zentrale Bedeutung.“ (Beck 2007 a: 68) 369
3.3.3.1
Filter der kulturell-soziologischen Risikowahrnehmung
Die Wahrnehmung des Terrorismus ist durch diverse Bezugsgruppen tradiert und nie rein individuell – sie steht in steter Wechselwirkung mit den kulturellsoziologischen Rahmenbedingungen. Die gruppenspezifische Wahrnehmung ist wiederum wesentlich beeinflusst von der individuell durch die Gruppenmitglieder erfahrenen Enkulturation im Großen und der Sozialisation im Kleinen, worin die Wertvorstellungen relevanter Bezugsgruppen auf das Individuum übertragen werden. Das Resultat ist eine von äußeren Einflüssen geprägte Wahrnehmung. Auch die Risiko-/Nutzenfaktoren der Risikowahrnehmung stehen keinesfalls im luftleeren Raum, vielmehr sind gerade sie als durch Sozialisation und Enkulturation gefiltert zu betrachten. Dies gilt für Individuen wie auch für soziale Gruppen. Diese sozialen Filter beeinflussen die Risikowahrnehmung und somit die Art und Weise, wie Terrorismus ins bestehende Werte- und Einstellungsset eingebunden wird. An dieser Stelle soll der Übergang von der Wahrnehmung des Individuums zu der der jeweiligen Bezugsgruppen – genauer: der wechselseitige Einfluss der Bezugsgruppen, von Sozialisation und Enkulturation auf die Wahrnehmung einzelner Akteure (nicht: Individuen) – Gegenstand der Betrachtungen sein. Bechmann (1993: XV-XVIII) sieht die Wahrnehmung bzw. die Einstellung zu Neuen Risiken – und somit auch zum Terrorismus – in Abhängigkeit von mehreren gesellschaftlichen, als Filter fungierenden Faktoren: der öffentlichen Meinung, der sozialstrukturellen Position und dem Zweck, dem das Risiko bzw. die Gewalt als instrumentalisierende Kommunikationsstrategie dient. Die öffentliche Meinung erzeugt gesellschaftlichen Erwartungsdruck und normiert wiederum die individuelle wie gruppenspezifische Meinung, sodass ein Abweichen von der gesellschaftliche Position individuell zu begründen ist. 370 Da nicht alles individuell erfahrbar ist, erhält die öffentliche Meinung Wahr-
369 370
Hervorhebung im Original. Japp (2003: 83) merkt zum Begriff der Weltrisikogesellschaft an, wie es sich angesichts der von Beck (1997) genannten Risiken wie Treibhauseffekt, Verarmung breiter Regionen etc. mit eher regionalen oder lokalen Risiken verhalte. Zur normierenden Wirkung des Erwartungsdrucks aufgrund gesellschaftlicher Positionen vgl. Rammstedt (1981). Nach Bechmann (1993: XV-XVII) wird die normative um die kognitive Funktion ergänzt.
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nehmungs- und Bewertungsfunktion. 371 Hierbei können Informationen transportiert werden, die mehr dem Interesse einzelner Akteure entsprechen als Objektivität besitzen. 372 Dieser Umstand kommt besonders beim Terrorismus zum Tragen. Ohne eine öffentliche Diskussion könnte der Terrorismus seine Wirkung nicht entfalten. Gefährdungswahrnehmung hängt auch von der Signifikanz aktueller Informationen ab. Ebenso erscheinen einzelne Gefahrenbereiche, die mehr Platz in der öffentlichen Meinung und Darstellung erhalten, gefährlicher als andere: Terrorismus forderte in Deutschland stets weniger Opfer als Asthma, Diabetes oder Autofahren, die nicht denselben Sensationswert wie ein terroristischer Anschlag besitzen. 373 Auch seitens der Terrorismus praktizierenden Akteure spielt die für sie relevante öffentliche Meinung eine wichtige Rolle, indem sie die Individuen zu Handlungen anstachelt. Bei solchen folgen sie nicht „eigenen Kognitionen, sondern Schemata und scripts einer öffentlichen Meinung fundamentalistischer Provenienz“ (Japp 2003: 69). Die sozialstrukturelle Position hingegen entsteht im Zuge von Enkulturation und Sozialisation sowohl reflexiv durch die Diskussion innerhalb sozialer Gruppen, aber auch und vor allem durch mediale Steuerung. 374 Indes weist auch die mediale Steuerung reflexive Aspekte auf. Sie ist letztlich von Menschen gemacht, die in ihren sozialen Gruppen ihre eigene Meinung gegenüber abweichenden vertreten müssen, zur Argumentation und Reflexion gezwungen sind und so neue Sichtweisen kennenlernen. Der Zweck eines Risikos – hier: Terrorismus – ist mit entscheidend für dessen Wahrnehmung. Ein weiteres, mit dem Zweck des Terrorismus eng verbundenes Kriterium sind die eingesetzten Mittel. Der Zweck erschließt sich am ehesten, wenn die Hintergründe eines Anschlags – dazu zählt vor allem die Motivation der Täter – der Öffentlichkeit (oder wenigstens den für die Mei371
372
373
374
Häufig werden Informationen, die sonst bestimmte Gesellschaftsschichten nie erreichen würden, von den Medien über-regional und über-sozial verbreitet, indem auch seriöse Zeitungen oder Rundfunkanstalten unter Verweis auf die Informationspflicht terroristische Konzepte publizieren. Horst Herold ist der Auffassung, dass nur dadurch die Ideologie der RAF eine so breite Öffentlichkeit erfahren konnte. Vgl. Prantl (2006 a). Nach Noelle-Neumann (u. a. 2001) kann man öffentliche Meinung als Meinungen oder Verhaltensweisen verstehen, die mit Wertbezug geäußert werden können, ohne sich gegenüber seiner Umwelt zu isolieren. Da der Mensch genau diese Isolation vermeiden wolle, entstehe eine Schweigespirale, die allerdings durch selbstbewusstes öffentliches Verkünden und Begründen einer eigenen, abweichenden Meinung durchbrochen werden kann. Weitere Gründe für die nachrangige Bewertung derartiger Risiken sind die fehlende Plötzlichkeit ihres Eintretens bzw. das Gefühl der Kontrollierbarkeit, jedenfalls aber ihr unspektakuläres und alltägliches Wesen (vgl. Levitt/Dubner 2006: 205-208). Zu einer Analyse, wie sich die Medien der Anfälligkeit der Gefährdungswahrnehmung für Dramatisierungen bedienen, vgl. Horx (2007: 27-31). Auch dies illustriert die normierende Wirkung medial gesteuerter öffentlicher Meinung.
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nungsbildung entscheidenden Akteuren) bekannt sind oder durch ein Bekennerschreiben bekannt gemacht werden. Die eingesetzten Mittel sind unter verschiedenen Aspekten für die Wahrnehmung von Terrorismus relevant. Mögliche eigene Betroffenheit, Unverhältnismäßigkeit oder schlicht allgemeine Entgrenzung kann dafür ausschlaggebend sein, dass ein Zweck, dem ursprünglich verständnisvoll gegenübergestanden wurde, gesellschaftlich zunehmend kritisch gesehen wird. Dies gilt nicht nur für die Wahrnehmung von Terrorismus, sondern auch für die Wahrnehmung von ergriffenen Gegenmaßnahmen. 375 3.3.3.2
Auswirkungen kultureller Rahmenbedingungen
Die Auswirkungen der kulturellen Rahmenbedingungen können erneut anhand des Beispiels der Lele 376 verdeutlicht werden. Diese kennen als größte Risiken Unfruchtbarkeit, Erkältung und Blitzschlag (Douglas/Wildavsky 1993), was für den durchschnittlichen Mitteleuropäer nicht die primären Lebensrisiken sind. In Mitteleuropa wird über die Feinstaubbelastung diskutiert, die ihrerseits in weiten Teilen der Welt nicht Gegenstand des öffentlichen Diskurses ist. Für den Terrorismus verhält sich dies ähnlich. Während in Israel oder anderen Ländern im Nahen und Mittleren Osten die Gefahr, Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden, im Bewusstsein der Bevölkerung omnipräsent ist, ist dies im Umkehrschluss für die Inuit als eher unwahrscheinlich anzunehmen. Auch in Deutschland ist Terrorismus nicht das Primärrisiko: Sozioökonomische Risiken wie demographische Veränderungen, Massenarbeitslosigkeit, Bildungsnotstand, Generationenkonflikte, aber auch der Klimawandel sind im öffentlichen Bewusstsein wesentlich präsenter. 377 Schon an diesen Beispielen wird deutlich, dass in unterschiedlichen Regionen der Erde und den jeweils angesiedelten Kulturen unterschiedliche Risikoperzeptionen vorherrschen. 378 375
376 377 378
Als Paradebeispiel für einen Stimmungsumschwung aufgrund der Unverhältnismäßigkeit der gewählten Mittel kann die Einstellung des „Alten Europa“ zu den nach Beendigung des Afghanistan-Krieges ergriffenen Maßnahmen der USA im Kampf gegen den Terrorismus gelten. Vor allem der rechtsfreie Raum Guantánamo und der dürftig legitimierte dritte IrakKrieg evozierten zunehmend Skepsis. Auch wenn deren Untersuchung bereits einige Jahre alt ist und die Perzeption der Lele sich gewandelt haben kann, so ist sie doch geeignet, um die kulturellen Einflüsse auf die Wahrnehmung von Risiken zu illustrieren. Zu den Auswirkungen, die Kapitalismus in globalen Dimensionen als „Großrisiko“ auf die Wahrnehmung der Deutschen hat, vgl. grundlegend Nolte (2006). Beck (2007 a: 68 f.) macht anhand der Beispiele Klimawandel und Terrorismus deutlich, dass selbst einander sehr ähnliche Kulturen wie die Nordamerikas und Europas in ihren Risikobewertungen differieren können.
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Woher kommen diese Unterschiede in der Wahrnehmung ein und desselben Risikos zwischen den Kulturen? Woher kommen die Unterschiede in den wahrgenommenen Hauptrisiken? Wodurch kommen die Unterschiede in der Risikobewertung zum Ausdruck? An dieser Stelle muss die Untersuchung auf die unterschiedliche Wahrnehmung ein und desselben Risikos durch verschiedene soziale Gruppen und Organisationen (in vorliegender Arbeit als Akteure bezeichnet) fokussieren, da nicht das Verhältnis eines oder mehrerer Akteure zu verschiedenen Risiken, sondern die Wahrnehmung und der Umgang mit immer demselben Risiko – dem Terrorismus – Gegenstand des Interesses ist. Für die Unterschiede in der kulturell-soziologischen Wahrnehmung ein und desselben Risikos kann es verschiedene Gründe geben. Eine große Distanz zwischen dem Anschlagsort und dem Ort, an dem der Anschlag wahrgenommen wird, lässt seine Wirkung schwächer erscheinen. Dies verweist auf die Filterrolle der Distanz (Cutter 1993: 23). Verstärkt wird der abschwächende Effekt der räumlichen Distanz, wenn zu ihr noch eine kulturelle Dimension hinzutritt. Findet der Anschlag in einem dem jeweiligen Akteur fremden Kulturkreis statt, so ist das Gefühl der Betroffenheit und Solidarität geringer, als wenn es einen als dem eigenen wesensgleich oder wenigstens ähnlich wahrgenommenen trifft. Steigende räumliche Distanz und Differenzierbarkeit in verschiedene soziale Gruppen (gemessen an der eigenen Gruppe, der der Täter und jener der Opfer) weisen also eine Korrelation zur abnehmenden Intensität der Wahrnehmung terroristischer Akte auf. Je größer die Distanz zum Ort des Anschlags und der Abstand zur jeweiligen Kultur, desto geringer ist die Intensität der Wahrnehmung und folglich der Identifikation und Solidarisierung mit den Opfern. Andererseits: Je enger und positiver die Beziehung zur sozialen Gruppe, die Opfer eines Anschlags wird, desto intensiver und negativer wird das Ereignis perzipiert. 379 Doch auch regionale und kulturelle Nähe sind nicht das Alleinerklärende für unterschiedliche Perzeptionen. Französische Intellektuelle nahmen den ideologisch-sozialrevolutionären Terrorismus in Deutschland sowie den Tod Ulrike Meinhofs gänzlich anders wahr, als dies die bundesdeutsche Öffentlichkeit tat. Folgt man Laqueur (1987: 152), machte man in Deutschland die RAF für ihre Taten verantwortlich, während französische Intellektuelle der Gesellschaft in Deutschland die Hauptschuld zuwiesen – einem außerhalb der eigenen Landesgrenzen praktizierten Terrorismus wurde offensichtlich Verständnis entgegengebracht. Diffiziler wird eine Beschreibung der Wahrnehmung von Terrorismus also, wenn selbst innerhalb eines Kulturkreises (in diesem Falle dem westlichen) die Ansichten über ein und denselben Anschlag eine 379
In Bezug auf mögliche Gegenmaßnahmen als Reaktion auf terroristische Akte scheint die Wahrnehmung invertiert.
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deutliche Varianz aufweisen. Oftmals ist nicht mehr eindeutig zu trennen, ob legitimatorische Intentionen oder entsprechende Sozialisation den Ausschlag für die jeweilige Wahrnehmung gegeben haben. Zur Illustration dieses Umstands sei der Umgang mit dem Anschlag Timothy McVeighs aus dem Jahr 1995 gewählt. Von einer überwältigenden Mehrheit der Wissenschaftler wird ihm rechtsextreme Motivation attestiert (Hoffman 2002; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006: 262-265), einzelne Autoren jedoch subsumieren ihn unter religiösem Terrorismus. 380 Es gibt zahlreiche mögliche Erklärungen, weshalb diese Autoren eine Umdefinition einer Terrorismusart in die andere vornehmen: Zugehörigkeit zum Sympathisantenkreis um den jeweiligen Täter, Wunsch nach Untermauerung eigener Thesen oder schlichtweg oberflächliche Recherche. Die Zielsetzung, die hinter der (Nicht-)Zurechnung zu einer bestimmten Kategorie steht, kann aber auch Ausdruck der von einer Gruppe verkörperten Wert- und Moralvorstellungen sein. Die gruppenspezifische Wahrnehmung wiederum hängt wesentlich davon ab, wie ein bestimmter Anschlag oder eine bestimmte terroristische Gruppe möglichst widerspruchsfrei in das eigene Wertesystem eingebunden werden kann. 381 3.3.3.3
Gesellschaftliche Risikowahrnehmung
Eine Verortung des Terrorismus in der Perspektive von Zentrum und Peripherie 382 ergibt Wieviorka (2004: 8-10) zufolge eine funktionalistische Erklärung, weshalb politische Gewalt – die noch nicht zwingend terroristisch sein muss – zu Terrorismus wird. Der von der Peripherie ausgehende Terrorismus ist als das Resultat der Unfähigkeit oder Weigerung eines in sich selbst zurückgezogenen 380
381
382
Daniell (2004: 80) erklärt unter Berufung auf nicht näher genannte „new statistics” alle Anschläge aus dem Jahr 1995 mit acht oder mehr Toten als religiös motiviert. Dies umfasst auch die Anschläge auf das Oklahoma State Building durch Timothy McVeigh sowie den Giftgasanschlag der Aum-Sekte in Tokio. Während bei entsprechender definitorischer Unschärfe der Anschlag einer Sekte noch als religiös motiviert gelten kann, ist dies bei einem aus dem Umfeld des arischen Suprematismus stammenden Attentat ohne Ignoranz jeglicher definitorischer Grundlagen nicht vorstellbar. Laqueur (1987: 153) verweist auf Habermas, der den Umstand hervorhebt, auch Terroristen neigten zu selektiver Wahrnehmung. Dies äußerte sich darin, dass sie sich aus verschiedenen Lehren und Theorien die Fragmente heraussuchten, die sich am ehesten für ihre Zwecke instrumentalisieren ließen. Luhmann (1995: 205) sowie Münkler (2005: 41-50) differenzieren aus unterschiedlichen Positionen heraus zwischen Zentrum und Peripherie. Japp (2003: 62) spricht von einer zentralen und einer peripheren Moderne, wobei er mit zentraler Moderne die erste, mit peripherer Moderne hingegen die dritte Welt bezeichnet.
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Staates (d. h. des Zentrums) zu sehen, auf soziale Bedürfnisse seiner Bürger angemessen zu reagieren. In ihrer extremen Form wird die bewaffnete Erhebung auch von den sozialen Bewegungen, aus denen wiederum die Aktivisten hervorgehen, als völlig verschieden zu den eigenen originären Idealen wahrgenommen (vgl. Wieviorka 2004: 5, 21 f.). Hieraus wird ersichtlich, dass die Selbstwahrnehmung eines Akteurs nicht zwangsläufig der durch einen anderen Akteur entsprechen muss. Bezieht man in die Analyse der kulturell-soziologischen Risikowahrnehmung neben den Kulturkreisen auch die Gesellschaft eines beliebigen Staates mit ein, so lohnt es sich, erneut Douglas/Wildavsky (1993) aufzugreifen. Douglas/Wildavsky haben drei Eigentümlichkeiten identifiziert, die für soziale ebenso wie für ökologisch-technische Risiken gelten: Uneinigkeit über das Problem, der Umstand, dass unterschiedliche Akteure sich über unterschiedliche Risiken sorgen und ferner, dass Wissen um ein Risiko und das eigene Handeln nicht zusammenfallen. Versteht man Terrorismus als Neues Risiko sozialer Art, werden diese Charakteristika bei der Wahrnehmung desselben deutlich. Uneinigkeit hinsichtlich des Terrorismus herrscht in mehreren Punkten. Weder herrscht definitorische Einigkeit, was Terrorismus ist, was seine Ziele sind, woraus er entsteht und wie ihm am zweckdienlichsten zu begegnen ist. An einer internationalen, konsensual tragbaren Definition mangelt es, da hierzu in entsprechenden Organisationen wie der UN zu viele, auf die Interessenlagen der jeweiligen Staaten zurückführbare, Wahrnehmungen aufeinanderprallen und trotz intensiven Diskurses offensichtlich nicht miteinander vereinbar sind. Gerade dieser international auszuarbeitende Konsens stellt jedoch die Grundlage für eine darauf aufbauende Rechtssprechung dar. Auch über die Ursachen und Entstehungsgründe herrscht keine allzu große Einigkeit. Sozioökonomische Deprivation wird zwar in breiterem Maße als Grund akzeptiert als eine auf KulturellReligiöses abzielende Argumentation, doch die Uneinigkeit erstreckt sich auch auf die Ursachen der den Terrorismus begünstigenden sozioökonomischen Faktoren. Eng mit der Frage nach den Ursachen verbunden ist die nach den Ansätzen und Zielen beim Umgang mit Terrorismus. Diese variieren von Region zu Region, von Akteur zu Akteur. Das Resultat sind Konzepte, die sich im günstigen Fall ergänzen, häufig aber konträr und schlichtweg nicht umsetzbar sind. Der Umstand, dass unterschiedliche Gruppen verschiedene Risiken unterschiedlich wahrnehmen und somit auch unterschiedlich bewerten, wurde bereits erörtert. Für den Terrorismus lässt sich definitionsgemäß festhalten, dass alle Gruppen, die für eine bestimmte, Gewalt nutzende Strategie den Terminus Terrorismus wählen, diese auch negativ empfinden, wobei ihre Gründe dafür merklich variieren. Von der terminologisch a priori determinierten Perzeption losgelöst können die Wahrnehmungen aller Akteure für eine Strategie der kommuni-
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zierenden Gewalt prinzipiell auf dichotome Positionen reduziert werden: eine Position der Sympathie und eine der Antipathie. Diese Dichotomie zeigt die zu beobachtenden extremen Ausprägungen. Die Gruppe, deren Sicht von Antipathie geprägt ist, besteht aus mittelbar und unmittelbar negativ vom Terrorismus Betroffenen. Dies beinhaltet nicht nur faktisches Betroffen-Sein, sondern vielmehr auch die Furcht vor durch Terrorismus evozierten negativen Konsequenzen. Diese überaus heterogene Gruppe knüpft keinerlei Hoffnungen (d. h. positive Erwartungen) an das Handeln von Terroristen, vielmehr vereint sie die Summe der subjektiv empfundenen und daher individuellen Risikowahrnehmungen negativer Art. Ihre Risikowahrnehmung lässt sich anhand der gleichen Formel wie die psychologisch-kognitive ausdrücken: R = G + E. Hierzu konträr ist eine Position, die durch eine positive Erwartungshaltung gegenüber dem Terrorismus gekennzeichnet ist. Diese Erwartungshaltung ist indes nicht das Kennzeichen einer monolithischen Gruppe, sondern vielmehr der Gesamtausdruck positivistisch kommunizierter Terrorismuswahrnehmung.383 Die dritte und letzte der Eigentümlichkeiten, die nach Douglas/Wildavsky (1993) Neue Risiken kennzeichnen, äußert sich im zeitlichen Auseinanderdriften von Wissen und Handeln. Dies bedeutet nichts anderes, als dass das menschliche Wissen um Neue Risiken das Handeln nicht unmittelbar beeinflusst. Bei diesem Verständnis von Wissen ist indes von der rein subjektiven Risikowahrnehmung der jeweiligen Gruppe beziehungsweise des jeweiligen Akteurs auszugehen. Dies ist unabdingbar, da nicht alle Akteure über die für hinreichende Objektivität notwendigen Informationen zur Bewertung von Neuen Risiken verfügen. Diese Aspekte führen dazu, dass das kulturell-soziologische Modell zur Erklärung der Terrorismuswahrnehmung – hierin ist Bechmann (1993: XVI f.) ausdrücklich zuzustimmen – gegenüber dem psychologisch-kognitiven als das für die soziologische Risikoforschung funktionalere zu bewerten ist. 384 Unabhängig davon sind gerade angesichts des Spektrums denkbarer Gegenmaßnahmen jeder Vorschlag und jede Forderung zu hinterfragen – nicht nur nach dem tatsächlichen Nutzen hinsichtlich des Kampfes gegen den Terrorismus überhaupt oder innerhalb desselben, sondern auch und vor allem hinsichtlich der mit der Gegenmaßnahme nicht formal benannten Sekundärwirkungen und deren Profiteuren. Kurz, die zu stellende Frage ist nicht die nach dem quid sondern nach dem qui bonum.
383 384
Für eine Analyse der terrorismusbezogenen Wahrnehmungscharakteristika verschiedener Akteure sei an dieser Stelle auf Kapitel 4.1.2 und 4.2 vorliegender Arbeit verwiesen. Bechmann bezieht den Terrorismus allerdings nicht explizit in seine Ausführungen ein.
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146 3.3.4
Anwendung auf die Fallstudie
3.3.4.1
Formal-normative Risikowahrnehmung
Die Fallstudie stammt aus dem dritten Kontingent, das in Kunduz stationiert war. In den ersten beiden Kontingenten waren insgesamt zwei Anschläge auf das PRT bzw. seine zivilen Angestellten verübt worden, was für einen Anschlag einen Wahrscheinlichkeitswert von eins für das dritte Kontingent ergab. Diese hundertprozentige Wahrscheinlichkeit steht jedoch auf wackeligen Füßen. Die geringe Zahl von zwei Kontingenten ergibt noch keine zuverlässige Datenbasis. Auch lässt sich aus den zuvor verübten Anschlägen keinerlei Muster ableiten, das eine besondere Wahrscheinlichkeit, bei einer bestimmten Tätigkeit einem Anschlag zum Opfer zu fallen, erkennen ließe. Lediglich der Wahrscheinlichkeitswert, bei Dunkelheit durch einen Anschlag zu Schaden zu kommen, war null. 385 Die Schadenshöhe verlangt eine Quantifizierung, die sich aus der Summe der Personenschäden und des Sachschadens je Anschlag ergibt. Auch dies ist problematisch, da bei beiden Anschlägen Art und Schwere der Verletzungen nicht öffentlich gemacht wurden und sie so auch nicht mithilfe einer Kalkulation, wie sie beispielsweise bei einer Unfallversicherung Anwendung findet, nachträglich quantifiziert werden können. 386 Der entstandene Sachschaden erstreckt sich im Falle des Raketenangriffs auf die OPZ auf mehrere Büroeinrichtungen, beim Anschlag auf den angemieteten PKW auf eben diesen. Eine grobe Schätzung ergibt für beide Anschläge jeweils einen Sachschaden im unteren fünfstelligen Bereich. Aufgrund der Tatsache, dass keine Soldaten getötet wurden und der Sachschaden ebenfalls überschaubar blieb, wird für beide Anschläge von einer mittleren Schadenshöhe ausgegangen. 387 Das Risiko eines terroristischen Aktes auf das PRT in Kunduz bestand also aus einer hohen Wahrscheinlichkeit, Personen- und Sachschaden in mittlerer Höhe zu erleiden. Für den einzelnen Soldaten lässt sich das Risiko, Opfer eines Anschlags zu werden, wie folgt berechnen: die Anzahl aller in Kunduz durch 385
386 387
Das Ziel des einen Anschlags war die innerhalb des PRT gelegene OPZ. Das eingesetzte Mittel war eine Rakete, die Verletzten deutsche Soldaten. Das Ziel des anderen Anschlags war ein vom PRT angemieteter ziviler PKW, das eingesetzte Mittel ein Sprengsatz, der außerhalb des PRT an einer der Zufahrtstraßen gezündet wurde. Hierbei kamen afghanische Mitarbeiter des PRT bzw. Passanten, jedoch keine Soldaten, zu Schaden. Beide Anschläge wurden bei Tageslicht verübt. Zur Problematik des Quantifizierens von Risiken in anderen Fällen vgl. Brucker (1991). Die bei den Anschlägen verletzten Personen werden diese Sichtweise aller Wahrscheinlichkeit nach nicht teilen.
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Anschläge verletzten Soldaten geteilt durch die Gesamtheit aller dort eingesetzten Soldaten. Bei geschätzten Zahlen ergibt sich hieraus folgende Rechnung: vier Verletzte beim Raketenangriff, geteilt durch 600 Soldaten, die bis November 2004 dort stationiert waren. Diese Rechnung ergibt einen Wert von 0,007. Das Risiko, Ende 2004 in Kunduz als deutscher Soldat durch Terrorismus verletzt zu werden, wies somit eine Wahrscheinlichkeit von 0,7 % auf. Hatte dieser Wert auch nach dem dritten Kontingent Bestand? Wenn nein, wie hat er sich nach dem Anschlag auf die Patrouille verändert? Während des dritten Kontingents wurde ein Anschlag verübt, was als Wahrscheinlichkeitswert für einen terroristischen Akt auf das PRT weiterhin eins ergibt. Auch die Schadenshöhe (Verletzte, aber keine Toten, Sachschaden in mittlerer Höhe durch Totalschaden am Fahrzeug) blieb konstant. Für den einzelnen Soldaten ist die Berechnung zu aktualisieren: statt vier nun sieben Verletzte, statt einer Gesamtheit von 600 Soldaten nun 900. Nach dem Anschlag auf die Patrouille stieg die Wahrscheinlichkeit für den einzelnen Soldaten, mittleren Schaden zu erleiden, von 0,7 % auf 0,8 %. Eine entscheidungstheoretisch akzentuierte Sichtweise lief ex ante für die Untersuchungsgruppe darauf hinaus, anhand der Rahmendaten (zwei Anschläge, beide bei Tag, einer auf das Lager, einer außerhalb) Strategien zu entwickeln, die es erlaubten, den Auslandseinsatz unbeschadet zu überstehen. Ex post jedoch ergaben sich drei Anschläge, zwei bei Tag, einer bei Nacht, einer auf das Lager, zwei außerhalb. Dies verdeutlicht Abbildung 3-3: Ex ante a1: Verbleib im Lager a2: Verlassen des Lagers Ex post a1: Verbleib im Lager a2: Verlassen des Lagers
s1: Helligkeit e11: Anschlag e21: Anschlag
s2: Dunkelheit e12: kein Anschlag e22: kein Anschlag
e11: Anschlag e21: Anschlag
e12: kein Anschlag e22: Anschlag
Abb. 3-3: Handlungs-/Ergebnismatrix a1 und a2 beschreiben die Handlungsalternativen, im Lager zu bleiben oder es zu verlassen; s1 und s2 stehen für die Umweltbedingungen Helligkeit oder Dunkelheit; e11, e12, e21, e22 sind die entsprechenden Ergebnisse. Entscheidungstheoretisch gab es folglich ex ante für die Umweltbedingung Helligkeit keine eindeutige Präferenz für eine Handlung, ebenso wie für Dunkelheit. Ex post
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jedoch wirft die Handlungs- und Ergebnismatrix zumindest für die Nacht eine Präferenz für das Verbleiben im Lager aus. 388 3.3.4.2
Psychologisch-kognitive Risikowahrnehmung
Doch wie nahmen die einzelnen Personen den Anschlag wahr? Um diese Frage zu beantworten, ist zu untersuchen, inwieweit sich die Personen der Untersuchungsgruppe dem Risiko Terrorismus freiwillig aussetzten, sich durch den Anschlag betroffen fühlten, die Situation in Kunduz hinsichtlich möglicher Anschläge für kontrollierbar hielten und zeitliche Aspekte bewerteten. Zusätzlich wird die Wahrnehmung des Anschlags hinsichtlich seiner Kompensierbarkeit analysiert. Die Angehörigen der Altersgruppe 3 traten noch zu Zeiten des Ost-WestKonflikts und somit unter der Prämisse der Bündnis- und Landesverteidigung ihren Dienst an. 389 Out-of-area-Einsätze 390 – auch vor dem Hintergrund eines internationalen Kampfes gegen Terrorismus – waren zum damaligen Zeitpunkt undenkbar. Die Soldaten der Altersgruppe 2 verzeichnen einen Dienstantritt Mitte der 90er-Jahre, als Auslandseinsätze Einzelerscheinungen und auf Stabilisierungsoperationen in Europa (IFOR, SFOR) begrenzt waren. Hieraus lässt sich zumindest in Teilen die Freiwilligkeit ableiten, sich auch außerhalb der Staatsgrenzen der Bundesrepublik Deutschland verschiedensten Risiken auszusetzen. Da die für den Soldatenberuf charakteristische Pflicht zum treuen Dienen 391 in der Eidesformel verankert ist, verweist von obigen Überlegungen unabhängig schon allein der Beruf der Untersuchungsgruppe auf ein gewisses Maß an Freiwilligkeit, sich verschiedenen Risiken – zu denen auch Terrorismus zu zähen ist – auszusetzen. Vor allem bei den der Altersgruppe 1 zuzurechnenden Soldaten ist hiervon auszugehen, da ihr Dienstantritt nicht vor 1999 liegt – dem Zeitpunkt, als die Bundeswehr wie im Kosovo robuste Mandate mit dem dazugehörigen gestiegenen Risiko zu übernehmen begann. Allen Angehörigen der Untersuchungsgruppe gemein ist der Umstand, dass sie nicht versucht haben, sich dem Auslandseinsatz und den damit verbundenen 388 389 390 391
Diese Eindeutigkeit stellte aus Sicht der Betroffenen keinen Gewinn dar, da eine vermeintlich sichere Handlungsoption weggefallen und die Selbstbestimmung über das eigene Handeln aufgrund operativer Zwänge eingeschränkt war. Dieses Szenario war geprägt durch Symmetrie, Stabilität, Bipolarität und Berechenbarkeit. Die Rahmenbedingungen der Out-of-area-Einsätze sind Asymmetrie, Instabilität, Uni- bzw. Multipolarität und Unberechenbarkeit. Freudenberg (2007 b) beschreibt das passive Erleiden des Todes in Kauf zu nehmen als Wesenskern soldatischen Dienens.
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Risiken aktiv zu entziehen. 392 Ihr Motivationsspektrum, tatsächlich in den Auslandseinsatz zu gehen und sich so dem Neuen Risiko Terrorismus stärker als in Deutschland zu exponieren, ist breit gefächert: soziale und berufliche Anerkennung (Altersgruppe 1 und 2), monetäre Anreize (vor allem Altersgruppe 1), Abenteuerlust (vor allem Altersgruppe 1), das Begleichen einer Schuld gegenüber dem Dienstherrn (Altersgruppe 2) oder auch das Offenhalten von Karrierechancen (Altersgruppe 2 und 3) spielten alle eine unterschiedliche Rolle, existierten häufig aber parallel. Deutlich wird der Risikocharakter des Auslandseinsatzes und somit der möglichen Begegnung mit Terrorismus dadurch, dass neben Nachteilen wie der Trennung von Freunden und Familie und einer instabilen Sicherheitslage auch Gewinnpotenzial wahrgenommen wird. In der Zeit nach dem Anschlag, als ein begrenzter Austausch von Personal bereits stattgefunden hatte, konnte eine weitere Form der Freiwilligkeit bzw. Nichtfreiwilligkeit im Umgang mit Terrorismus beobachtet werden. So musste ein etwa sechs Wochen nach dem Anschlag zum Kontingent gestoßener – und somit nicht zur eigentlichen Untersuchungsgruppe gehöriger – Soldat (Altersgruppe 1) seiner Mutter vor Abflug versprechen, das Feldlager aus Sicherheitsgründen nicht ohne Notwendigkeit zu verlassen. Seiner Selbsteinschätzung nach kam dieser Wunsch seinem risikoaversen Naturell entgegen. 393 Innerhalb der Untersuchungsgruppe war niemand beim Anschlag persönlich und unmittelbar vor Ort, sodass eine direkte und unmittelbare individuelle Erfahrung in keinem Fall vorliegt. Nichtsdestotrotz wurde der Anschlag auch mittelbar sehr intensiv wahrgenommen – durch den Alarm mit all seinen Maßnahmen und durch in der Folgezeit geführte Gespräche mit Soldaten der betroffenen Patrouille sowie Ersthelfern. Verstärkt wurde das Gefühl der individuellen Betroffenheit durch die Gewissheit, einerseits auch innerhalb des Lagers nie absolut geschützt zu sein, andererseits aber auch selbst täglich aufgrund des Auftrages außerhalb des Feldlagers unterwegs sein zu müssen und daher ein potenzielles Ziel darzustellen. Alles in allem entspricht die zu beobachtende Identifikation und Solidarisierung mit den Opfern den bereits beschriebenen Effekten. So wurde der An392 393
Wege hierbei sind die Beschaffung ärztlicher Gutachten, die eine Auslandsdienstverwendungsfähigkeit als nicht gegeben bescheinigen, oder auch die schlichte, aber nicht folgenlose, Weigerung. Die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme muss angezweifelt werden, da auch das Feldlager ein potenzielles Anschlagsziel darstellte. Ab Dezember war ein überirdischer Schutzbunker so weit fertiggestellt, dass er immerhin gegen Flachfeuer und Splitter Schutz bot, nicht jedoch gegen Steilfeuer (beispielsweise Mörser oder Artillerie). Dennoch hielt der besagte Soldat – soweit dem nicht zwingende dienstliche Gründe entgegenstanden – über die gesamte Einsatzdauer konsequent sein Versprechen.
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schlag nicht als Anschlag auf die einzelne Patrouille aufgefasst, sondern vielmehr als gegen ISAF insgesamt gerichtet. Diese in der Untersuchungsgruppe zu beobachtende Wahrnehmung deckt sich mit der im Bekennerschreiben 394 geäußerten Absicht der Täter. Dennoch herrschte Uneinigkeit darüber, ob der Anschlag – unabhängig vom Inhalt des Bekennerschreibens – gezielt auf Deutsche oder allgemein auf ISAF gerichtet war. Die Argumentation derjenigen, die den Anschlag als gezielt gegen Deutsche gerichtet auffassten, stützte sich im Wesentlichen auf den Umstand, dass die überwältigende Mehrheit der im PRT ihren Dienst verrichtenden Soldaten aus Deutschland stamme. Die Befürworter der Gegenthese verwiesen einerseits auf das sehr gute Ansehen der Deutschen in der Bevölkerung, andererseits auf den Mangel an aus anderen Ländern stammenden Zielen, auch und gerade vor dem Hintergrund des Inhalts des Bekennerschreibens. 395 Der Anschlag wurde von keinem Angehörigen der Untersuchungsgruppe persönlich genommen, evozierte aber vor allem in der Altersgruppe 2 das unbedingte Bedürfnis, selbst einen Beitrag zu Krisenbewältigung zu leisten. Dies führte in einem Fall zum Vorschlag von Maßnahmen, die einerseits deutlich mehr Engagement gezeigt hätten, als die Forderung nach Deeskalation sinnvoll hätte erscheinen lassen, andererseits aber auch den unmittelbaren Aufgabenbereich von OpInfo überschritten hätten. Ursächlich hierfür war nach Auffassung des Verfassers nicht eine übersteigerte Selbstwahrnehmung – verstanden als Selbstreflexion der eigenen Rolle – sondern lediglich das erwähnte Bedürfnis, sich selbst nützlich zu machen. 396 Alles in allem erzeugte der Anschlag kollektive Betroffenheit, die ebenso zu einer starken Solidarisierung mit den unmittelba394
395
396
Die durch militärische Dolmetscher erfolgte deutsche Übersetzung des in Dari gehaltenen Schreibens (Revolutionäre islamische Modjahedinarmee Afghanistan 2004) lautet: „... Die revolutionäre islamische Modjahedinarmee Afghanistan. Ihr für Bush, Blair, Karsai Opferbereiten müsst wissen, dass islamische Opferbereite so wie Belal, ,Allah Allah’ sagend in der Stadt Kunduz eingetroffen sind und mit sich die Hölle für Sie (Anm.: Unterstützer von Bush, Blair, Karsai) mitgebracht haben und Tod und Märtyrertod lieben sie (Anm.: „die islamischen Opferbereiten“) so sehr, wie Sie (Anm.: Unterstützer von Bush, Blair, Karsai) die Welt lieben. Sie übernehmen die Verantwortung für mehrere Angriffe in Kabul, Badghies und Nangarhar. Planer der Operationen, Mohammad (Al-Bashir).“ Eine abschließende Antwort auf die Frage kann nicht gegeben werden, da die Vernehmungsprotokolle nicht öffentlich gemacht wurden. Nichtsdestotrotz blieb das Ansehen der ISAF-Truppen in der Provinz Kunduz während des gesamten Einsatzzeitraums (November 2004 bis März 2005) konstant positiv. Ebenso wurde angeregt, die Gesprächsführung mit der Zielgruppe verstärkt auf nachrichtendienstliche Informationsgewinnung auszurichten. Der Vorschlag wurde zur Diskussion gestellt, zumal beschlussgemäß die anderen Abteilungen – vor allem Radio und Print – sichtbare Beiträge leisten konnten, die TOK jedoch keine tragende Rolle zugewiesen bekommen hatten.
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ren Opfern wie auch zu der Wahrnehmung des lokalen Terrorismus als gemeinsam zu meisternde Herausforderung führte. Risiken werden gemeinhin eher akzeptiert, wenn sie als kontrollierbar angesehen werden. Aufschluss über die Ansichten in der Untersuchungsgruppe, ob man es selbst in der Hand habe, selbst zum Opfer eines Anschlags zu werden, geben folgende, frei wiedergegebene aber exakt zurechenbare Äußerungen: „Wenn’s einen erwischt, dann erwischt’s einen. Ich mach mir da keine Platte.“ 397 „Ich seh das hier wie in Deutschland mit Fahren auf der Autobahn. Da kann’s mich genauso erwischen.“ 398 Beide Äußerungen verweisen auf einen Mangel an Überzeugung, das Risiko, einem Anschlag zum Opfer zu fallen, gänzlich kontrollieren zu können. 399 Ebenso deuten sie auf eine – bewusste oder unbewusste Verdrängung – desselben hin. Eine mögliche Erklärung zur Ursache der Verdrängung bietet das Aufgabenspektrum, das die beiden Personen wahrzunehmen hatten. Die Aufgabe der zitierten Soldaten bestand darin, nahezu täglich in der gesamten Provinz Kunduz den unmittelbaren Kontakt und Gespräche mit der afghanischen Bevölkerung zu suchen. Um auf selbst für afghanische Verhältnisse schlechten Straßen die Bevölkerung auch in entlegenen Gebieten zu erreichen, standen ihnen nur schwach geschützte Fahrzeuge zur Verfügung. Sowohl während der Fahrt als auch während der Gespräche mit der Bevölkerung stellten sie leichte Ziele dar. 400 Angesichts dieser Umstände scheint die Verdrängung des Risikos eine Schutzfunktion darzustellen, die erst ermöglicht, der eigentlichen Arbeit nachzugehen. Allgemein herrschte ein Gefühl der Unsicherheit, der Hilflosigkeit und des dem Risiko Ausgesetztseins vor, dem nur vereinzelt Optimismus entgegenstand: „Freundlichkeit gegenüber der Bevölkerung kann dazu führen, dass man vor einem Anschlag gewarnt wird.“ Diese Hoffnung stammt von einem jedoch nicht aus der Untersuchungsgruppe stammenden Soldaten, sondern von 397 398 399
400
Die Person feierte an diesem Tag Geburtstag. Äußerung einer anderen Person, deren Sichtweise sich weder während des Einsatzes noch danach änderte. Der Vergleich zwischen den Risiken, in einen Autounfall verwickelt oder Opfer von Terrorismus zu werden, kann indes die Vermutung nahelegen, dass auch beim Terrorismus ein Mindestmaß an Kontrollierbarkeit vorliegt. Ausgangspunkt dieser Interpretation ist der Umstand, dass Autofahrer dazu neigen, sich selbst als durchaus fähig wahrzunehmen, und daher meinen, ihnen könne nichts passieren. Davon unbenommen ist es Tatsache, auch als Autofahrer vom Handeln anderer abhängig zu sein, was Autofahren wiederum zu einem nur begrenzt kontrollierbaren Risiko macht. Dies erkannten auch afghanische, sich vermutlich aus den Taliban rekrutierende Terroristen. Allein im zweiten Quartal 2006 wurden in der Provinz Kunduz gezielt auf die TOK zwei Anschläge verübt. Der Umstand, dass dabei keine Soldaten getötet wurden, wird von den aus Belgien und Deutschland stammenden betroffenen Soldaten als reines Glück angesehen.
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einem Angehörigen des Vorgänger-Kontingents. Er erklärte mit dieser These das freundliche Winken deutscher Soldaten in Richtung der Bevölkerung während der Fahrten durch die Stadt. Da das Nachfolgekontingent diese Praxis beibehielt, dennoch aber zum Ziel eines terroristischen Angriffs wurde, scheint die These ihre Einschränkung („kann“) zu Recht zu enthalten. Dennoch ist sie Ausdruck des Glaubens an zumindest eine minimale Kontrollierbarkeit des Risikos Terrorismus. Umstritten war in der Untersuchungsgruppe über den gesamten Zeitraum des Einsatzes (November 2004-März 2005) die Frage, ob man innerhalb oder außerhalb des Lagers sicherer sei. Um eine Antwort zu finden, versuchte man aus den beiden bislang erfolgten Anschlägen Strukturen und Gesetzmäßigkeiten abzuleiten (vgl. dazu Abbildung 3.3), was je nach Interessenlage zu unterschiedlichen Interpretationen führte. Betrachtete man den Umstand, dass ein Anschlag Personen innerhalb des Feldlagers, der andere aber Personen außerhalb des Lagers verletzt hatte, lautete die Meinung, weder innerhalb noch außerhalb des Lagers sei man sicher. Rückte man bei der Betrachtung aber die Nationalitäten der Opfer in den Mittelpunkt, war es außerhalb des Lagers sicherer. Die Befürworter der These, innerhalb des Lagers sei es sicherer, argumentierten, seit dem Raketenangriff seien an allen Gebäuden Schutzmaßnahmen 401 ergriffen worden und für den Fall eines Anschlags könne die ärztliche Versorgung deutlich schneller erfolgen. Ein Konsens dieser drei Auffassungen konnte nur insofern beobachtet werden, dass niemand von absoluter Sicherheit – weder im Lager noch außerhalb davon – sprach. 402 Bemerkenswert ist weiterhin, dass kein Soldat – unabhängig, ob zur Untersuchungsgruppe gehörig oder nicht – äußerte, er fühle sich durch die Einsatzvorausbildung gegenüber dem Risiko Terrorismus gerüstet. Als in zeitlicher Hinsicht unmittelbar bevorstehend wurde die Möglichkeit eines Anschlags grundsätzlich empfunden. Die vorherrschende Meinung war, dass man in der durchschnittlich viereinhalb Monate währenden Einsatzdauer eben auftragsbedingt mit der Möglichkeit von Anschlägen rechnen müsse. So war auch der Anschlag auf die Patrouille kein Ereignis, das als große Überraschung angesehen wurde. Die Fallstudie verdeutlicht, dass das Kriterium der zeitlichen Unmittelbarkeit zwar beim Vergleich zweier unterschiedlicher Risiken – wie bei Levitt/Dubner – aufschlussreich ist, für die Analyse der Risikowahrnehmung einer Untersuchungsgruppe in einem spezifischen Einzelfall jedoch nur bedingte Aussagekraft besitzt. 401 402
Um sämtliche Gebäude herum wurde jeweils eine Mauer aus Sandsäcken errichtet, die zumindest vor Splittern und Handfeuerwaffen schützen sollten. Ein Konsens wurde auch bei der Frage, ob man in Menschenmengen möglicherweise sicherer sei, nicht erreicht.
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Die Frage, ob der Anschlag als kompensierbar wahrgenommen wurde, muss zweigeteilt beantwortet werden: einerseits für den entstandenen Sach-, andererseits für den Personenschaden. Der Sachschaden erstreckte sich auf ein zerstörtes Auto („Wolf“) sowie Teile der Ausrüstung der verletzten Soldaten. Sämtliche Gegenstände waren somit nicht persönliches Eigentum, sondern das der Bundesrepublik Deutschland. Der Ausfall des Fahrzeugs führte zwar zu vorübergehenden Einschränkungen in der Patrouillentätigkeit, die aber weitestgehend durch Nutzung anderer, baugleicher Fahrzeuge kompensiert werden konnten. Unabhängig vom überschaubaren monetären Ausmaß 403 wurde der Sachschaden allein schon aus diesem Grunde als kompensierbar wahrgenommen.404 Wesentliche Kriterien zur Beantwortung der Frage nach der Kompensierbarkeit der Personenschäden waren mögliche Langfrist- oder auch Spätfolgen bzw. das Überleben an sich. Für die Wahrnehmung der Kompensierbarkeit der Personenschäden spielt weiterhin die gute und schnelle ärztliche Versorgung eine Rolle, die im Bedarfsfall zur Verfügung steht. Noch am Abend des Anschlags äußerte der für die Kampfmittelbeseitigung und somit auch für die Analyse der Sprengfalle zuständige Stabsoffizier, es sei „nichts passiert“. 405 Er begründete diese Einschätzung mit seinen persönlichen Erfahrungen und der Tatsache, dass der Anschlag keine Menschenleben gefordert hatte. Zynismus vorausgesetzt, kann diese Aussage so interpretiert werden, dass ein Anschlag nur dann als relevant zu betrachten ist, wenn es Tote gibt. Im vorliegenden Fall gab es drei Verletzte, zwei von ihnen wurden umgehend nach Deutschland zur weiterführenden ärztlichen Versorgung ausgeflogen. Über ihre Verletzungen wurde bekannt – was nichts über den Wahrheitsgehalt dieser Information aussagt – dass sie gut behandelbar seien. Die Verletzten konnten zügig erstversorgt werden; auch von Spätfolgen war nicht die Rede, sodass in der Untersuchungsgruppe auch nicht davon ausgegangen wurde. Daher wurde auch der Personenschaden als kompensierbar wahrgenommen. Die psychologisch-kognitive Wahrnehmung des Anschlags lässt sich für die Untersuchungsgruppe daher wie folgt zusammenfassen: Auslandseinsätze gehören zum Soldatenberuf dazu, weshalb man sich durch die Wahl dieses Berufes auch freiwillig dem Terrorismus ein Stück weit exponiert. Im Falle eines terroristischen Aktes sind (sicherlich verstärkt durch soldatisches Selbstverständnis) Solidarisierungsprozesse mit den Opfern zu erwarten, während deren Schädigung (sofern sie nicht von Dauer ist) als kompensierbar betrachtet wird. Hin403 404 405
Das Fahrzeug war etwa zehn Jahre alt. Auch in der Operationsführung kam es nicht zu langfristigen gravierenden Schwierigkeiten. Der betreffende Offizier war bereits auf dem Balkan im Einsatz gewesen. Nach eigenen Angaben stand er bereits nachts zu Fuß in einem Minenfeld und war bei der Untersuchung von Massengräbern anwesend.
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sichtlich der Kontrollierbarkeit des Risikos Terrorismus herrscht jedoch breite Skepsis. 3.3.4.3
Kulturell-soziologische Risikowahrnehmung
An dieser Stelle muss die Perspektive innerhalb der Fallstudie erweitert werden, um für den kulturell-soziologischen Ansatz zur Erklärung der Terrorismuswahrnehmung verwertbare Daten zu erhalten. Daher wird in diesem Kapitel nicht nur die ursprüngliche Untersuchungsgruppe Gegenstand des Interesses sein, sondern auch die als Kontrollgruppe fungierenden sieben afghanischen, für den Radiosender Sada-e-Azadi Shamal tätigen, Redakteure. Deren Altersdurchschnitt lag bei knapp 26 Jahren. 406 Für den Radiosender und somit für die Truppe für Operative Information arbeitete keiner seit mehr als zwölf Monaten. Durch das Miteinbeziehen der afghanischen Redakteure in die Untersuchung stehen eine Untersuchungs- und eine Kontrollgruppe zur Verfügung, anhand der sich Differenzen in der Terrorismuswahrnehmung sowohl aufzeigen als auch unter Zuhilfenahme des kulturell-soziologischen Ansatzes erklären lassen. Die Individuen der Untersuchungsgruppe sind deutsche Soldaten, die der Kontrollgruppe afghanische Zivilisten. Aus dieser Konstellation ergeben sich für die Analyse der Terrorismuswahrnehmung folglich zwei Merkmale (Nationalität und Beruf), die in zwei Ausprägungen (Soldat vs. Redakteur) auftreten und für die Reflexion der sogenannten Filter 407 bzw. der von Douglas/Wildavsky herausgearbeiteten Eigentümlichkeiten 408 auf die Ereignisse genutzt werden können. Bei den Eigentümlichkeiten ist darauf hinzuweisen, dass diese durch die Analyse der Wahrnehmung von Gruppen aus ein und demselben Kulturkreis erarbeitet wurden. Macht es daher überhaupt Sinn, die Wahrnehmung von Un406
407 408
Diese Zahl kann nur auf Schätzungen basieren, da in Afghanistan Geburtsurkunden unüblich sind und sich die Territoriale Wehrverwaltung bei der Ausstellung der Arbeitsverträge auf die Angaben der Einheimischen verlassen musste. Auch quasi-amtliche Dokumente wie Ausweis oder Führerschein sind hierfür keine verlässlichen Quellen. Zum einen werden die in ihnen enthaltenen Daten nahezu ausschließlich nach Angaben der Antragssteller eingetragen, zum anderen ist die Ausstellung derartiger Dokumente regelmäßig nur eine Frage des Geldes. Siehe auch Kapitel 3.3.3.1 vorliegender Arbeit. Vgl. erneut Bechmann (1993: XV-XVIII). Diese Filter sind die öffentliche Meinung, die sozialstrukturelle Position sowie der Zweck des Terrorismus. Siehe auch hierzu Kapitel 3.3.3, aber ebenso Douglas/Wildavsky (1993: 113). Die Eigentümlichkeiten sind: Uneinigkeit über das Problem des Terrorismus, Wissen um Terrorismus und eigenes Handeln fallen nicht zusammen, aber auch der Umstand, dass unterschiedliche Gruppen hinsichtlich unterschiedlicher Risiken besorgt sind.
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tersuchungs- und Kontrollgruppe – die nun mal aus unterschiedlichen Kulturkreisen stammen – auf diese Eigentümlichkeiten hin zu untersuchen? Vor dem Hintergrund des gemeinsamen Risikos möglicher Anschläge erscheint eine solche Untersuchung sowohl möglich als auch sinnvoll, da sich Untersuchungswie Kontrollgruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt (Ende 2004) an ein und demselben Ort (Kunduz, Afghanistan) befanden. Somit bestand für beide Gruppen die Möglichkeit, Opfer eines Anschlags zu werden. Darüber hinaus darf eine weitere Gemeinsamkeit nicht ignoriert werden: Untersuchungs- wie auch Kontrollgruppe standen politisch – grob verallgemeinert – auf der Seite des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai und seiner damaligen Übergangsregierung. Aufgrund dieser Gemeinsamkeiten erscheint es also durchaus zulässig und nutzbringend, die Wahrnehmung von Untersuchungs- und Kontrollgruppe nicht nur auf die Wirkung der Filter der kulturell-soziologischen Risikowahrnehmung hin zu untersuchen, sondern auch auf das etwaige Auftreten der von Douglas/Wildavsky identifizierten Eigentümlichkeiten. Dazu sollen zuerst die Wahrnehmungen dargestellt werden, bevor diese im Einzelnen auf die Auswirkungen der Filter bzw. Douglas/Wildavsky’schen Eigentümlichkeiten hin untersucht werden. Vor dem Anschlag hatte die Untersuchungsgruppe Terrorismus als ein ubiquitäres Phänomen wahrgenommen, das zwar in Ausbildung und Gesprächen häufig thematisiert, in letzter Konsequenz jedoch nicht greifbar wurde. Nach dem Anschlag war die Wahrnehmung wesentlich konkreter, da man zum einen dem Ort terroristischen Wirkens sehr nahe gekommen und gleichzeitig nicht in seinem vertrauten heimischen Umfeld war. Zum anderen waren bei dem Anschlag Personen zu Opfern geworden, die einem Teil der Untersuchungsgruppe persönlich bekannt waren. Ein weiterer, eine Intensivierung der Wahrnehmung bewirkender, Umstand war, dass der Anschlag von der Untersuchungsgruppe selbst Handeln verlangte und sie sich so indirekt betroffen fühlte. Aber auch der Umstand, dem Risiko Terrorismus erstmalig so nah gewesen zu sein, machte den Anschlag zu einer Besonderheit. Nichtsdestotrotz blieben kriegsähnliche Gewalthandlungen ein nicht alltägliches Ereignis und behielten damit Sensationscharakter. Eines blieb jedoch konstant. Sowohl vor als auch nach dem Anschlag erzwang die häufige Thematisierung eine geistige Auseinandersetzung mit dem Risiko, zum Ziel eines Anschlags zu werden. Die Kontrollgruppe verurteilte den Anschlag als dem innerafghanischen Stabilisierungsprozess abträglich. Es sei die Tat Einzelner gewesen, die nicht die Unterstützung der breiten Massen der Bevölkerung hätten. Darüber hinaus erklärten die Redakteure, aus ihrer Sicht sei es undenkbar, dass der Anschlag von Bürgern der Stadt Kunduz verübt oder auch nur unterstützt worden war.
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Es müsse eine Tat von Leuten gewesen sein, die nicht aus der Gegend stammten. 409 Man hätte zwar schon am Abend des Anschlags Gerüchte gehört, allerdings nicht gewusst, dass es sich bei der Explosion um den Angriff auf eine Patrouille gehandelt habe. Alles in allem wirkten die Betroffenheitsbekundungen der Redakteure aufrichtig, ihre Reaktionen und Aussagen aber bemerkenswert unaufgeregt. Nun soll eine Analyse der Wahrnehmungen erfolgen, indem auf die Filter zurückgegriffen wird. Hierzu ist der Einfluss der öffentlichen Meinung, der sozialstrukturellen Position von Untersuchungs- und Kontrollgruppe und schließlich des Zwecks (und der Mittel) des Anschlags auf deren Wahrnehmung zu untersuchen. Hierbei wird jeweils zuerst die Untersuchungsgruppe Gegenstand des Interesses sein, bevor sich dieses auf die Kontrollgruppe richtet. Versteht man öffentliche Meinung als durch Medien, Bezugspersonen und -gruppen zu Hause in Deutschland vermittelt, so kam sie vor allem vor Abflug ins Einsatzland zum Tragen, da der Kontakt nach Deutschland – zu Familie, Angehörigen und Massenmedien – danach nur eingeschränkt möglich war. Zu Hause bildete sich für die Soldaten die öffentliche Meinung aus eben diesen Bezugsgruppen, die teilweise konfligierende Auffassungen zu einer wenigstens bedingten Freiwilligkeit, sich Terrorismus auszusetzen, verkörperten. Während die Angehörigen und Freunde – soweit sie nicht persönliche Erfahrungen mit der Bundeswehr hatten – Auslandseinsätzen mit ihren Risiken eher verständnislosskeptisch gegenüberstanden, war die Erwartungshaltung anderer Soldaten, gestützt durch die Medien, eine konträre. Der Tenor war, Auslandseinsätze seien als Teil des Berufes zu akzeptieren, man habe als Soldat schließlich einen Eid geschworen, der „Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“ (§9 Abs. 1 Soldatengesetz). Aus diesem Eid leite sich die im Soldatengesetz verankerte sogenannte Pflicht zum treuen Dienen ab, worunter auch die Teilnahme an Auslandseinsätzen zu subsumieren sei. Vom Zeitpunkt der Ankunft im Einsatzland an war zu beobachten, dass der Einfluss von Angehörigen und Freunden auf die Wahrnehmung der Untersuchungsgruppe langsam aber stetig abnahm. Dies kann unter anderem darauf zurückgeführt werden, dass die wichtigste Bezugsgruppe des Einzelnen die anderen Soldaten des PRT wurden, während der Kontakt nach Deutschland reduziert wurde und hinsichtlich der Informationen über die in Afghanistan tatsächlich herrschende Bedrohungslage vorwiegend durch die Soldaten gesteu409
Die Beteuerungen und Erklärungen der Bevölkerung nach Anschlägen blieben im Wesentlichen von 2004 bis Mitte 2007 dieselben. Die zunehmende Instabilität der Verhältnisse und Anzahl der Anschläge mindern jedoch ihre Glaubwürdigkeit.
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ert war. Da in den Jahren 2004 und 2005 verhältnismäßig wenige Anschläge in Afghanistan verübt wurden, war das Thema in den deutschen Medien auch nicht in einem Maß präsent, das es Angehörigen erlaubt hätte, sich ohne unverhältnismäßigen Aufwand Informationen zu beschaffen und sich so ein eigenes, von den Schilderungen der Soldaten abweichendes, Bild der Lage zu machen. Diese Beobachtungen lassen den Schluss zu, dass auch unmittelbar nach dem Anschlag die öffentliche, aktuell aus Deutschland stammende Meinung unverändert blieb und keinen spürbaren Einfluss auf die Wahrnehmung des Risikos Terrorismus durch die Untersuchungsgruppe hatte. Der Einfluss der öffentlichen Meinung auf die Kontrollgruppe lässt sich schwer beobachten oder gar messen. Die nach dem Anschlag durch Angehörige der Truppe für Operative Information durchgeführten Umfragen in der Bevölkerung der Provinz Kunduz geben zwar Hinweise, genügen aber nicht wissenschaftlichen Ansprüchen. Befragungen ergaben, dass auch die Bevölkerung den Anschlag als eine Tat von Fremden wahrnahm. Hierbei sind allerdings zwei Aspekte problematisch: Die Selbsterzeugtheit der Wahrnehmung und eine schwer zu eruierende Interessenlage der Bevölkerung. Die Wahrnehmung der Bürger könnte in der Tat deckungsgleich mit der der Kontrollgruppe gewesen sein. Das, was die Kontrollgruppe als ihre Sicht der Dinge schilderte, entsprach weitgehend dem, was die Bevölkerung angab. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die die Kontrollgruppe bildenden Redakteure eine doppelte Multiplikatorfunktion besaßen. Einerseits vermochten sie offiziell mittels des Radiosenders Sada-e-Azadi Shamal erheblichen Einfluss auszuüben,410 andererseits stammten sie aus in Kunduz sehr angesehenen Familien und konnten so auch informell meinungsbildend wirken. 411 Aufgrund der Mulitplikatorwirkung lässt sich letztlich schwer beurteilen, wer wessen Meinung beeinflusst hat: die Kontrollgruppe die der Öffentlichkeit oder die Öffentlichkeit (in Form der Familien) die der Kontrollgruppe? Der zweite Aspekt ist die unklare Interessenlage der afghanischen Bevölkerung. Was könnte die Bevölkerung von Kunduz dazu gebracht haben, den Anschlag als definitiv falsch und von Fremden verübt zu betrachten? Aus der jüngeren Geschichte und der damaligen Situation (wieder fremde Truppen im 410
411
Der Radiosender war der einzige, der rund um die Uhr auf UKW sendete. Andere Sender waren entweder nur über Kurzwelle oder nur zu bestimmten Zeiten, oftmals sogar beides zusammen, zu empfangen. Daraus ergab sich eine Quasi-Monopolstellung von Radio Sadae-Azadi Shamal. Das afghanische Gesellschaftssystem ist wesentlich stärker durch informelle Strukturen – in Form von Familien und Stämmen – geprägt als das deutsche, sodass sich im Status widerspiegelnde familiäre Bindungen erheblichen Einfluss auf die Wirkung von Informationen haben können. Vgl. Chiari/Militärgeschichtliches Forschungsamt (2006: 147-153).
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Land, die auch kein absolutes Ende von Kampfhandlungen gebracht haben, aber ihrerseits in ihrem Verhalten noch nicht völlig berechenbar erscheinen) lassen sich folgende, teils intrinsische, teils extrinsische Motive ableiten: ehrliche Meinung (intrinsisch), afghanische Höflichkeit (intrinsisch), der Wunsch, die Täter zu decken (intrinsisch), Angst vor Repressalien durch ISAF (extrinsisch) oder auch einfach keine Lust, eine unbequeme abweichende Meinung begründen zu müssen (intrinsisch/extrinsisch). Über die tatsächliche Motivation, den Anschlag als eine unerwünschte, durch nicht aus Kunduz stammende Personen verübte Tat zu bezeichnen, lassen die Befragungen keine Rückschlüsse zu. Die sozialstrukturelle Position der Untersuchungsgruppe ergibt sich aus den Merkmalen Nationalität und Beruf, die in den Ausprägungen deutsch und Soldat vorliegen. Sie kommt aus einem Land, in dem kriegsähnliche Gewalthandlungen seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht mehr vorgekommen sind, wobei ihr Beruf genau hierfür Präventionscharakter besitzt. Der Enkulturationsprozess – verstanden als lebenslange Wertevermittlung – enthielt folglich als wesentliches Merkmal die Tabuisierung von Gewalt. Demgegenüber steht der Soldatenberuf, ein Symbol staatlicher Gewalt. Der Sozialisationsprozess als Soldat ist dem bereits zuvor durchlaufenen Enkulturationsprozess als mitteleuropäisches Individuum entgegengerichtet: weg von der Norm des Gewaltverzichts, hin zu einer Norm, Gewalt in beschränktem Maß und unter strengen Auflagen gezielt einzusetzen, aber gegebenenfalls in unbeschränktem Maß zu erdulden. Während Enkulturation ein lebenslang laufender Prozess ist, begann die Sozialisation als Soldat für die Untersuchungsgruppe erst um das 20. Lebensjahr. Der Altersdurchschnitt der Untersuchungsgruppe lag bei rund 27 Jahren, woraus sich wiederum geschätzte sieben Jahre als Soldat ergeben. Diese sieben Jahre soldatischer Sozialisation entsprechen gerade 26 % der durchlaufenen Enkulturation. Die Norm, Gewalt als Ausnahme zu erfahren, konnte augenscheinlich internalisiert werden, während mit kriegsähnlichen Gewalthandlungen nüchtern umzugehen und diese als normalen Bestandteil des Berufslebens zu akzeptieren im Zuge der Sozialisation noch nicht so intensiv vermittelt wurde. Dies deutet darauf hin, dass die Nationalität (als Ausdruck der Enkulturation) die Wahrnehmung von Terrorismus stärker beeinflusst als der Beruf (als Ausdruck der Sozialisation). Ebenfalls mit verantwortlich für die intensive Wahrnehmung des Anschlags durch die Untersuchungsgruppe mag der Umstand gewesen sein, dass diese erste Erfahrung mit Terrorismus fern der Heimat und somit außerhalb des vertrauten sozialen Umfelds, jeglichen Komforts und jeder Privatsphäre gemacht wurde. Von den 14 Personen der Untersuchungsgruppe lebten 13 in nur zwei Unterkunftscontainern (zusammen geschätzte 75 m²). Selbst wenn sich eine Person nicht aktiv an der Diskussion über die neues-
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ten Entwicklungen nach dem Anschlag beteiligen wollte, musste sie aufgrund der räumlichen Nähe diese zumindest mitverfolgen. 412 Die sozialstrukturelle Position der Kontrollgruppe muss ebenfalls die beiden Merkmale Nationalität und Beruf enthalten, die an dieser Stelle in den Ausprägungen afghanisch und Redakteur auftreten. Im Folgenden wird der Beruf Redakteur mit dem Obergriff Zivilist bezeichnet, der eine bessere Kontrastierung zu der anderen möglichen Ausprägung des Merkmals Beruf – Soldat – erlaubt, ohne dass dadurch einzelne Fakten verzerrt würden. Richtet man zuerst die Betrachtung auf die Nationalität, so hat man sich mit der Geschichte Afghanistans auseinanderzusetzen oder wenigstens mit dem Teil, in den die Lebenszeit der Kontrollgruppe fällt. Der Altersdurchschnitt der Kontrollgruppe lag bei geschätzten 26 Jahren, woraus sich im Durchschnitt 1978 als Geburtsjahr ergibt. Seit dem Einmarsch sowjetischer Truppen im Dezember 1979 bis zum Ende des Krieges der USA gegen die Taliban im Dezember 2001 war Afghanistan nahezu ununterbrochen in einem Zustand des Krieges oder Bürgerkrieges. Hieraus folgt, dass die Kontrollgruppe von ihren im Schnitt 26 Lebensjahren 22 im Kriegszustand erlebt hat – 77 % ihres Lebens. Es ist als wahrscheinlich anzunehmen, dass in diesen 77 % kriegsähnliche Gewalthandlungen weniger tabuisiert wurden, als dies bei der Untersuchungsgruppe der Fall ist. Selbst wenn sie noch in ausreichendem Maß tabuisiert sind – beispielsweise so sehr, um selbst davor zurückzuschrecken – so war in der Kontrollgruppe doch eine gewisse Gelassenheit hinsichtlich der Anwendung physischer Gewalt zu erkennen. Hiervon zeugt der Bericht eines Redakteurs, er und seine Freunde hätten in der Kindheit regelmäßig Fußball gespielt. Beim Spiel hätten sie sich auch nicht davon stören lassen, dass das Fußballfeld währenddessen von Raketen oder Granaten überschossen worden sei. Außerdem sei man ja nicht immer Redakteur 413 gewesen. Es wird deutlich, dass die Untersuchungsgruppe den Anschlag wesentlich intensiver wahrnahm als die Kontrollgruppe. Während man bei einer oberflächlichen Betrachtung den umgekehrten Fall hätte erwarten können – (deutsche) Soldaten gehen mit einem Anschlag souveräner um als (afghanische) Zivilisten – zeigt eine differenziertere Betrachtung, dass augenscheinlich die Enkulturation die Wahrnehmung von Terrorismus stärker beeinflusst als die Sozialisation. Ausgeklammert wurde bei der Betrachtung
412 413
Um dem zu entgehen, waren mp3-, MD- oder CD-Player aufgrund ihrer Kopfhörer das einzige Mittel. Der betreffende Redakteur wollte damit möglicherweise andeuten, dass auch er in irgendeiner Form an kriegsähnlichen Gewalthandlungen teilgenommen oder zumindest eine militärische Ausbildung genossen haben könnte.
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unter anderem ein Aspekt aus der psychologisch-kognitiven Risikowahrnehmung, der ebenfalls eine Rolle gespielt haben kann: die Betroffenheit. Das subjektive Gefühl der Betroffenheit war aufgrund der intensiveren sozialen Beziehungen zu den Opfern bei der Untersuchungsgruppe sicherlich höher als bei der Kontrollgruppe. Um die Frage beantworten zu können, ob sich der Zweck und die dafür eingesetzten Mittel eines Risikos – in diesem Fall des terroristischen Aktes – auf die Wahrnehmung einer bestimmten Gruppe auswirkt, muss zuerst klar sein, was die jeweilige Gruppe überhaupt als Zweck aufgefasst hat. Die Untersuchungsgruppe nahm als Zweck des Anschlags das Bestreben einiger weniger an, ISAF – nicht speziell deutsche Soldaten – aus dem Land zu vertreiben und sie als Kollaborateure der USA zu bestrafen. Dass bei dem Anschlag niemand getötet wurde, wurde als Warnung verstanden, ergänzt um die Annahme, dass die Terroristen, wenn sie denn gewollt hätten, auch hätten töten können. Anders formuliert: Der Anschlag wurde als regional und sozial halbwegs adäquate Kommunikation verstanden, wobei die Mittel zwar keineswegs gebilligt, aber als beinahe verhältnismäßig eingestuft wurden. Auch bot die im Bekennerschreiben vermittelte Absicht – Unterstützer der afghanischen Regierung, der USA und Großbritanniens bekämpfen und vermutlich aus Afghanistan vertreiben zu wollen – keine Überraschung. Die Kontrollgruppe sah den Anschlag als Störung und Gefährdung einer sich erst sukzessive etablierenden öffentlich-staatlichen Ordnung. Der Anschlag wurde weniger als außergewöhnlich und spektakulär als vielmehr als Rückfall in die Zeiten des Bürgerkrieges und somit als Zeichen politischer Instabilität gesehen. Nach eigenem Bekunden erhoffte sich die Kontrollgruppe vom ISAFMandat innenpolitische Stabilität, ohne jedoch diese durch äußere Mächte oktroyiert bekommen zu haben. Stabilität wiederum wurde – neben Bildung – als Schlüssel für Wohlstand erkannt, vor allem nach den Jahren des Bürgerkrieges, der weder Wohlstand noch Bildung zugelassen hatte. Der Anschlag wurde folglich als Bedrohung dieser prosperierenden Zukunft wahrgenommen, für die ISAF ein Symbol war. Folglich lehnte die Kontrollgruppe den Anschlag und die damit verbundenen Absichten – ISAF zu vertreiben und Afghanistan wieder zu destabilisieren – entschieden ab. Doch wie glaubhaft sind die öffentliche Ablehnung beinhaltenden Aussagen der Kontrollgruppe? Kann man diesen Glauben schenken? Die Richtigkeit der Aussagen der Kontrollgruppe kann letztendlich weder bewiesen noch widerlegt werden. Dennoch ist es wichtig, auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass die kommunizierte Meinung zum Anschlag nicht der tatsächlichen entsprach. Rückwirkend betrachtet werden die Aussagen indes zumindest von Ergebnissen der Gesprächsaufklärung der Taktischen OpInfo-Kräfte gestützt, denen zufolge
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zum Jahreswechsel 2004/2005 nicht nur die Kontrollgruppe, sondern auch große Teile der Bevölkerung von Kunduz den Anschlag mitsamt seinem Zweck als den eigenen Zielen kontraproduktiv ansahen. 414 Die Fallstudie vermochte anhand der Gegenüberstellung der Wahrnehmung des Anschlags durch Untersuchungs- und Kontrollgruppe die Wirkung der Filter auf Gruppen mit unterschiedlichem sozialkulturellem Hintergrund zu illustrieren und so deren Wahrnehmung als Ausgangspunkt sozialen Handelns zu erklären. Doch sind auch die von Douglas/Wildavsky benannten Eigentümlichkeiten daran zu beobachten? Woran manifestieren sie sich im Einzelfall? Um diese Fragen zu beantworten, wird im ersten Schritt analysiert, ob, und wenn ja, welche Unterschiede sich in der Wahrnehmung des Anschlags bei Untersuchungs- und Kontrollgruppe zeigen. Im zweiten Schritt werden Untersuchungsund Kontrollgruppe auf das Auseinanderfallen von Wissen und Handeln hin betrachtet, bevor im dritten und letzten Schritt nach Uneinigkeiten über die Wichtigkeit unterschiedlicher Risiken gesucht wird. Die Untersuchungsgruppe sah den Anschlag als eine vorwiegend physische, unmittelbar existenzielle Bedrohung. Die Kontrollgruppe dagegen verband damit vor allem die Furcht vor materiellen Einbußen, die eine sich kontinuierlich verschlechternde Sicherheitslage – unter Umständen gefolgt und verstärkt durch einen Rückzug der ISAF-Kräfte – mit sich bringen würde. Monetäre Einbußen wären vor allem durch den Wegfall der monatlichen Redakteursgehälter zu erwarten, sodass es ein ökonomisches Anliegen der Zielgruppe gewesen sein kann, den Anschlag als unerwünscht zu betrachten oder zumindest so zu bezeichnen. Während die Untersuchungsgruppe den Anschlag also tatsächlich als Besonderheit wahrnahm, reduzierte die Kontrollgruppe diesen auf ein nahezu alltägliches Phänomen. Das eigentliche damit assoziierte Risiko bildet einen weiteren Unterschied in der Risikowahrnehmung. Deutlich wird die zeitliche 414
Dies schließt keineswegs aus, dass sich die Meinung der Kontrollgruppe über die Jahre ändert. Berichte des Führers der TOK von März bis Juli 2006 – also rund eineinhalb Jahre nach den im Fallbeispiel geschilderten Ereignissen – zeugen von nahezu konstanten Verhaltensweisen der noch immer in nahezu unveränderter Konstellation (um zwei Redakteure erweitert) für den Radiosender tätigen Kontrollgruppe. Auch bei den regelmäßigen Anschlägen im zweiten Quartal 2006 besagten die Stellungnahmen der Kontrollgruppe, es müsse sich um Täter von außerhalb handeln. Schließlich stünde die Bevölkerung von Kunduz den Deutschen sehr freundlich gegenüber. Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage ist zu diesem Zeitpunkt allerdings zu hinterfragen. So wurde für einen Anschlag auf einen mit deutschen und belgischen Soldaten besetzten geschützten „Wolf“ von den Tätern ein Artilleriegeschoss als IED direkt neben einer Hauptverkehrsstraße vergraben – ohne dass irgendjemand aus der Bevölkerung etwas gesehen hatte oder haben wollte. Den stereotypen Beteuerungen der Kontrollgruppe, die Bevölkerung aus der direkten Umgebung sei nicht in Anschläge eingeweiht und verurteile diese, schenkten zumindest einzelne Angehörige der OpInfo-Kontingente in Kunduz seit dem zweiten Quartal 2006 keinen Glauben mehr.
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Komponente der Risikowahrnehmung. Die Untersuchungsgruppe nahm den Anschlag als ein überraschend auftretendes Ereignis wahr und bewertete es aufgrund seiner für sie schnell eintretenden Wirkung – die jegliche Gegenmaßnahmen ausschloss – als großes Risiko. Die Kontrollgruppe hingegen siedelte die Auswirkungen des Ereignisses als in der Zukunft liegend an, woraus sich die prinzipielle Möglichkeit zum Ergreifen von Gegenmaßnahmen eröffnete. Kurz: Während die Untersuchungsgruppe das Risiko als unmittelbar wahrnahm, empfand die Kontrollgruppe dieses als mittelbar. Aber bedeuten diese Unterschiede auch tatsächlich Uneinigkeit in der Risikowahrnehmung? Uneinigkeit läge dann vor, wenn die Sichtweise der einen Gruppe nicht durch die andere Gruppe geteilt würde. Im vorliegenden Fall hatte sich die Untersuchungsgruppe zu großen Teilen schon vor dem Auslandseinsatz intensiv mit der afghanischen Geschichte auseinandergesetzt, sodass sie die Furcht der Kontrollgruppe vor möglichen negativen Konsequenzen nachvollziehen konnte. Im Umkehrschluss verfügten einige Personen der Kontrollgruppe über ausreichend individuelle Erfahrung mit kriegsähnlichen Handlungen, um deren Einschüchterungspotenzial einschätzen zu können. Dies bedeutet nichts anderes, als dass im Vergleich der Terrorismuswahrnehmung von Untersuchungs- und Kontrollgruppe zwar Unterschiede deutlich werden, aber nicht Uneinigkeit attestiert werden muss. In Afghanistan selbst gab es für die Untersuchungsgruppe zwei Handlungsalternativen, die einander ausschlossen: so wenig wie möglich das Lager zu verlassen und sich dort einzuigeln oder eben aktiv den Kontakt mit der Bevölkerung zu suchen, um mehr über deren Befindlichkeiten zu lernen und für die eigene Sache zu werben. Die unterschiedlichen Arten von Anschlägen – sowohl auf das Lager als auch auf Patrouillen außerhalb des Lagers waren Anschläge denkbar – ließen für die Untersuchungsgruppe kaum Rückschlüsse darauf zu, welche der beiden Optionen die vermeintlich sichere sei. Damit kann auch kein Zuwiderhandeln gegen die scheinbar sichere Variante festgestellt werden. Aber wie verhält es sich mit dem Auseinanderfallen von Wissen und Handeln, wenn man den Bezugsrahmen weiter fasst? Die Untersuchungsgruppe ging in den Auslandseinsatz nach Afghanistan, obwohl sie um das erhöhte Risiko, Terrorismus zu begegnen, wusste. Dies bedeutet, dass sie nicht vollständig sicherheitsorientiert handelte und ihr Handeln dem Wissen um die Gefährdung nicht anpasste. 415 Hieraus folgt, dass an der Untersuchungsgruppe die Eigen-
415
Keine Rolle spielt dabei, dass die Teilnahme am Auslandseinsatz ein doppelt normiertes Verhalten darstellte, da dies sowohl durch den Dienstherrn aufgrund des Amtseides als auch durch den Kreis der Kameraden erwartet wurde.
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tümlichkeit vom Auseinanderfallen von Wissen und Handeln eindeutig zu beobachten ist. Die Kontrollgruppe wusste um das gegenüber anderen Regionen der Welt tendenziell höhere Risiko, in Nordafghanistan Terrorismus ausgesetzt zu sein. Indes äußerten mehrere Angehörige der Kontrollgruppe wiederholt, sie seien fürs erste zufrieden mit den Verhältnissen, denn zum einen sei es ihnen selbst schon deutlich schlechter gegangen, zum anderen gäbe es auch in Afghanistan noch Regionen, gegenüber denen es ihnen selbst, allen Schwierigkeiten und Risiken zum Trotz, gut ginge. In ihrer Wahrnehmung bestand also nicht die Notwendigkeit, wegzuziehen, um dem Risiko Terrorismus zu entkommen. Nimmt man die Wahrnehmung anstelle des Wissens als Maßstab, so war bei der Kontrollgruppe kein Auseinanderfallen von Wissen und Handeln zu beobachten. Macht man jedoch – definitionsgemäß – das Wissen zum Ausgangspunkt des Vergleichs, so ergibt sich eine tatsächliche Differenz zwischen dem, was die Kontrollgruppe wusste, und dem, was sie tat. 416 Die in den Tagen nach dem Anschlag am häufigsten gestellten Fragen innerhalb der Untersuchungsgruppe lauteten: Was ist jetzt zu tun? Wie lassen sich weitere Anschläge verhindern? Wie reagiert man am besten, wenn man selbst unmittelbar davon betroffen sein wird? Die Fragen wurden um die Hoffnung ergänzt, die Besorgnis der Familien und Freunde in Deutschland möge hoffentlich nicht allzu groß sein. Die Risikowahrnehmung kreiste offensichtlich um den Anschlag an sich, sodass für die Untersuchungsgruppe das als am brisantesten wahrgenommene Risiko Terrorismus und die mit ihm zu verbindende Gefahr für Leib und Leben zu nennen ist. In der Kontrollgruppe konnte an einem Einzelfall soziales Handeln beobachtet werden, das möglicherweise nicht verallgemeinerbar ist, aber dennoch bezeichnend für die Gemütslage derselben war – zumindest, wie sie durch die Untersuchungsgruppe wahrgenommen wurde. Am Tag nach dem Anschlag 417 bat die afghanische Redakteurin den deutschen Chefredakteur, ihn in einer persönlichen Angelegenheit sprechen zu dürfen. In Gegenwart eines zweiten Redakteurs, der als Übersetzer ins Englische diente, ersuchte sie um eine Gehaltserhöhung, die ihr nach eigener Aussage bereits durch den Vorgänger des Chef-
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Die Selbstwahrnehmung der Kontrollgruppe als in relativ guten Verhältnissen lebend bedeutet nicht, dass nicht der Wunsch zur Verbesserung derselben existiert hätte. Wegziehen oder Auswandern sind indes nie als Handlungsmöglichkeiten genannt worden, vermutlich aufgrund der vermeintlichen Offensichtlichkeit von ökonomischen und sozialen Zwängen. Als ihre Chance zur Verbesserung der Lebensumstände gab die Kontrollgruppe unisono (Weiter-)Bildung und daraus resultierend gut bezahlte Arbeit an. Die genaue Uhrzeit lässt sich nicht mehr nachvollziehen.
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redakteurs versprochen war. 418 Unabhängig von dem Versprechen sei es ihr ohne die Gehaltserhöhung nicht möglich, weiter für den Radiosender zu arbeiten. Ihre Familie dulde diese Tätigkeit nur, befürworte sie aber keinesfalls. Wenn sie schon für Europäer arbeite – und dies noch dazu ohne eine weitere Frau als Anstandsdame oder einen Verwandten als Aufpasser in der Redaktion – verlange die Familie wenigstens deutlich mehr Geld. Sonst sei sie gezwungen, ihre Arbeit für das PRT zu beenden. Die Redakteurin nahm also am Tag nach dem Anschlag nicht diesen als offensichtlichstes Risiko wahr, sondern vielmehr ein ökonomisches, das eng mit einem sozialen verknüpft war. 419 Des Weiteren können für die Kontrollgruppe auch die bereits erörterten Sekundärrisiken des Terrorismus – ökonomische Einbußen aufgrund einer sich kontinuierlich verschlechternden Sicherheitslage – genannt werden, denen zufolge Terrorismus nur ein Symptom war, das es zu beachten galt, aber keineswegs der eigentliche Grund zur Besorgnis. Auch diese Überlegungen deuten darauf hin, dass die von der Kontrollgruppe wahrgenommenen Risiken – egal, ob im Kontext des Terrorismus gesehen oder nicht – eher ökonomischer denn unmittelbar physischer Natur waren. 418
419
Die Redakteurin war die einzige Frau und da der Radiosender sich implizit auch der Stärkung der Rolle der Frau in der afghanischen Gesellschaft verschrieben hatte, war es undenkbar, keine Frau in der Redaktion zu haben. Ihr monatliches Redakteursgehalt belief sich auf rund 250 US-$. Zum Vergleich: Afghanische Tagelöhner, die Sandsäcke befüllen, transportieren und aufschichten mussten, erhielten von ihrem im Dienst des PRT stehenden Arbeitgeber nach eigenen Angaben weniger als 60 $ pro Monat. Eine Gehaltserhöhung bedeutete nicht nur ein mehr an Geld, sondern auch an Ansehen. Nach den Jahren der Taliban-Herrschaft – Kunduz war eine Hochburg derselben gewesen – war es Ende 2004 noch nicht üblich, dass Frauen unbegleitet von Familienangehörigen mit fremden Männern und noch dazu Europäern zusammenarbeiteten. Für die Redakteurin musste deshalb eine Vielzahl von Sonderregelungen ins Leben gerufen werden. Aufgrund der Besonderheit, die ihre Arbeit im PRT für die Familie darstellen musste, ist als wahrscheinlich anzunehmen, dass die Familie die Redakteurin schon seit einigen Tagen unter Druck gesetzt hatte, mehr Geld zu verlangen. Im Nachhinein ist der Zeitpunkt der Gehaltsforderung eher als Zufall zu bewerten, im ersten Augenblick jedoch wirkte er wie eine nüchtern kalkulierte Unverschämtheit. Aufgrund des Anschlags war Krisenmanagement an einer Vielzahl an Fronten gefragt, sodass eine schnelle Bewilligung der Gehaltserhöhung – bei der es sich nach afghanischen Maßstäben um eine beträchtliche Summe handelte, nicht aber nach europäischen – zumindest in diesem Bereich schnell für Ruhe gesorgt hätte. Allerdings hätte Nachgeben weitreichende Konsequenzen gehabt: Ein Präzedenzfall wäre geschaffen gewesen, der jedem Redakteur die Möglichkeit eröffnet hätte, Krisensituationen mit einer sich auf angebliche Versprechen stützenden Argumentation für individuelle Zwecke zu instrumentalisieren. Daher wurde die Gehaltserhöhung nicht sofort bewilligt, sondern an die Verbesserung der englischen Sprachkenntnisse geknüpft, die sich wiederum zuerst in der Alltagsarbeit niederschlagen musste. Zusätzlich hielt der Chefredakteur des Radiosenders bezüglich des angeblichen Versprechens Rücksprache mit seinem Vorgänger, der ein solches Versprechen gegeben zu haben verneinte.
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Wie lassen sich diese Erkenntnisse über die Wahrnehmung des Anschlags durch Untersuchungs- und Kontrollgruppe zusammenfassen? Einen Überblick gibt Abbildung 3-4: Filter/Eigentümlichkeit Öffentliche Meinung Sozialstrukturelle Position Zweck Uneinigkeit Auseinanderfallen von Wissen und Handeln Differenz bei der Risikobewertung
Untersuchungsgruppe mittel-gering 420 groß gering nein ja
Kontrollgruppe gering groß mittel bedingt
ja (unmittelbar-physisch vs. mittelbarökonomisch-sozial)
Abb. 3-4: Auswirkung von Filtern und Eigentümlichkeiten Der Einfluss der Filter der kulturell-soziologischen Risikowahrnehmung war im Großen und Ganzen auf beide Gruppen identisch: Die öffentliche Meinung scheint mittleren bis geringen Einfluss, die sozialstrukturelle Position hingegen großen Einfluss gehabt zu haben. Nur beim Zweck des Anschlags gab es leichte Abweichungen. Die Untersuchungsgruppe hatte mit genau diesem Zweck gerechnet, sodass sie sich unbeeindruckt davon zeigte. Die Kontrollgruppe sah durch ihn mittelfristig die Prosperität der Region gefährdet, sodass der Zweck des Anschlags durch die Kontrollgruppe negativer als durch die Untersuchungsgruppe beurteilt wurde. Die Analyse der Wahrnehmung der beiden Gruppen auf die Douglas/Wildavsky’schen Eigentümlichkeiten hin erbrachte, dass beide Gruppen den Anschlag negativ wahrnahmen und sich somit keine Uneinigkeit hinsichtlich der grundsätzlichen Bewertung des Risikos ergaben. Ebenso wussten beide Gruppen um das vergleichsweise hohe Risiko, in Afghanistan Opfer eines terroristischen Aktes zu werden, hielten sich aber dennoch dort auf. Lediglich bei der letzten Eigentümlichkeit wichen die Wahrnehmungen von Untersuchungs- und Kontrollgruppe voneinander ab. Während die Untersuchungsgruppe im Terrorismus ein unmittelbar-physisches Risiko sah, war dieser für die Kontrollgruppe ein mittelbar-ökonomisch-soziales. Derartige Unterschiede diskursiv zu behandeln ist Gegenstand des Konzeptes der Risikokommunikation. 420
Vor der Ankunft in Afghanistan ist der Einfluss der öffentlichen Meinung als „mittel“ zu bewerten, da das gesamte soziale Umfeld und die Massenmedien – teilweise in entgegengesetzte Richtung weisenden – Einfluss ausüben konnte. In Afghanistan schließlich verebbte dieser Einfluss, woraus sich die Bewertung „gering“ ergibt.
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Risikokommunikation
Ohne einen Konsens über die Gewichtung der Bedrohung (der eine fürchtet einen Angriff im Stile des 11. September, der andere beruft sich auf Madrid oder London, die nächsten fürchten den Einsatz von ABC-Waffen) lassen sich schwerlich einleuchtende und von einer breiten gesellschaftliche Mehrheit zu tragende, oftmals unangenehme Konzepte zum Umgang mit Terrorismus entwickeln. Fraglos sind einige Maßnahmen als Resultat aller Risikobewertungen gleichermaßen gangbar, können jedoch keinesfalls ausreichen. Die Zusammenführung der verschiedenen Perspektiven und Risikobewertungen – unabhängig, ob formal-normativer, psychologisch-kognitiver oder kulturell-soziologischer Prägung – ist auf der Makroebene ebenso Bestandteil der Risikokommunikation, wie es die Beschaffung von Akzeptanz für das jeweilige Risiko sein kann. Auf der Mikroebene äußert sich Kommunikation über Risiken meist als wechselseitiger Informationsaustausch über einen bestimmten, dem Risiko inhärenten Aspekt. Hinsichtlich der bereits in der Forschung auch vor diesem Hintergrund ausführlich diskutierten Neuen Risiken ökologischtechnischer 421 oder auch sozialer 422 Prägung wird Risikokommunikation mit genau diesem Ansatz mehr oder weniger erfolgreich praktiziert. Risikokommunikation als „kommunikative Verflüssigung der Grenzziehung zwischen ‚sicheren’ und ‚unsicheren’ Aktivitäten“ (Bonß 1995: 246) zielt bei der Zusammenführung verschiedener Perspektiven ausdrücklich auf einen basalen Konsens – die letztendliche Einigung darüber, was als sicher und was als unsicher gelten soll. 423 Hier setzt eine Unterart der Risikokommunikation an, die von potenziellen Verursachern potenzieller Schäden zum Zweck der Akzeptanzbeschaffung geführt wird. Diese Form der Risikokommunikation trägt manipulative Züge, lässt aber im Gegenzug demokratische, wie im Bonß’schen Ansatz vorhandene, Elemente zwar nicht völlig verschwinden, aber immerhin in den Hintergrund treten (vgl. Otway 1987: 125). Nur wenn hinsichtlich des Bestrebens, Schäden zu minimieren oder gar auszuschließen, Einigkeit erzielt werden kann, ist die Risikokommunikation unter dem Gesichtspunkt der bloßen Akzeptanzbeschaffung ein Erfolg versprechendes Konzept. Der Eintritt eines Schadens muss also für alle am Kommunikationsprozess beteiligten Akteure gleichermaßen unerwünscht sein. Bei den ökologisch-technischen wie auch 421 422 423
Gentechnologie, Kernkraft, chemische Industrie. Armut, Gesundheit, Arbeitslosigkeit. Conrad (1989: 184-186) behauptet, ein Konsens über die Entstehungszusammenhänge des Risikos bzw. die politischen Konflikte darüber sei weder sinnvoll noch zu erwarten. „Risikodiskussion“ ist für ihn eine ritualisierte Form des Konfliktaustrags, welche die Wichtigkeit der Experten unterstreicht. Vgl. ebenso Jungermann/Wiedemann (1990).
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sozialen Risiken ist die Schadwirkung, d. h. der Eintritt des zur Debatte stehenden Ereignisses, gänzlich unerwünscht, da für jeden Akteur – möglicherweise differierende – Nachteile damit verbunden sind. Terrorismus jedoch definiert sich gerade über den intendierten Schaden – oder zumindest die Furcht davor (vgl. Kapitel 2.3). Für einen allgemeinen Konsens darüber, was als (un-)sicher gelten soll, ist ein Konsens hinsichtlich der Schadintention unabdingbar. Beim Terrorismus indes tritt – betrachtet man alle an der Kommunikation beteiligten Akteure – ein Dissens zutage. Zwar hoffen Staat und Politik, Wirtschaft, Kirchen und Bürger auf eine absolute Vermeidung des Schadens. Bei anderen Akteuren aber kann dies nicht ohne Weiteres attestiert werden. Schon im Falle der Medien herrscht eine durchaus gespaltene Interessenlage. Der einzelne Journalist ist zwar als Privatperson vermutlich entsetzt über Terrorismus, verdient in seiner beruflichen Rolle aber sein Geld damit. Noch deutlicher wird der Nutzen terroristischen Schadens (nicht identisch, aber ähnlich der Schadintention) bei den Terroristen und ihren Sympathisanten. Sie verfolgen Ziele, denen der Schadeintritt nicht nur nicht zuwider läuft, sondern die vielmehr durch ihn oder seine schiere Möglichkeit gefördert werden. Idealiter kann man sich also unter Risikokommunikation einen kollektiven Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess vorstellen, realiter jedoch ist bereits sachkundige und verantwortungsbewusste Kommunikation – gerade über das Risiko Terrorismus, weit entfernt von der Meinungszusammenführung – recht selten. 424 Eine dritte, weniger eng gefasste Deutungsart von Risikokommunikation ist die von Risikokommunikation als jeglicher Kommunikation über Risiken – ohne explizit das Erzielen von Einigkeit über sichere und unsichere Risiken zum Ziel zu haben. Demzufolge ist jede Kommunikation, die ein bestimmtes als Risiko verstandenes Phänomen – wie den Terrorismus – zum Gegenstand hat, auch Risikokommunikation. Diese Sichtweise ähnelt der bereits angesprochenen Risikokommunikation auf Mikroebene – mit dem Unterschied, dass die Kommunikation hierbei nicht auf einen einzelnen Aspekt innerhalb eines Risikos ausgerichtet ist, sondern vielmehr das Risiko in Gänze thematisiert. Versteht man Terrorismus als Kommunikation politischer Anliegen, so ist Risikokommunikation über Terrorismus folglich Superkommunikation. Der Begriff Superkommunikation ist in vorliegender Arbeit in Abgrenzung zu Schulz von Thuns Metakommunikation zu verstehen. Superkommunikation ist schlicht Kommunikation, die Kommunikation zum Gegenstand hat. Wie andere Kommunikations424
Im Krisenfall auf Mikroebene kann Risikokommunikation nur dann erfolgreich verlaufen, wenn sie tatsächlich auch zu einer allseitig getragenen Entscheidung führt. Für ein Beispiel von Krisenkommunikation auf Mikroebene sei auf Kap. 3.4.3 vorliegender Arbeit verwiesen.
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psychologen versteht auch Schulz von Thun (2006: 91-95) unter Metakommunikation neben der Kommunikation über Kommunikation das Loslösen von der eigenen Position, um aus einer gewissen inneren Distanz die eigene Kommunikation reflektieren und darüber kommunizieren zu können. Aus dieser Perspektive stellt Superkommunikation lediglich einen Teil der Metakommunikation dar. Die Kommunikationspsychologie geht davon aus, dass gekonnte Metakommunikation ein wesentlicher Beitrag zur diskursiven Problemlösung ist. Terrorismus als solcher unterscheidet sich vor allem in der Schadintention von anderen Neuen Risiken. Hinsichtlich der grundsätzlichen Debatte, ob, und wenn ja, in welchem Ausmaß er als sicher oder unsicher gelten kann, erinnert der Diskurs über Terrorismus in weiten Zügen an den über die ökologischtechnischen Risiken. 425 Die Frage nach der Sicherheit von Terrorismus lässt sich in mehrere Problemfelder differenzieren. Soll Terrorismus dann als sicher gelten, wenn der Akteur, der sich mit ihm gedanklich auseinandersetzt, ihm nicht ausgesetzt ist? Oder ist Terrorismus grundsätzlich immer dann ein sicheres Neues Risiko, wenn er ausschließlich konventionelle – d. h. nicht atomare, biologische oder auch chemische – Mittel einsetzt? Wie verhält es sich, wenn Terroristen zwar noch keine ABC-Waffen eingesetzt haben, aber mit dem Einsatz oder auch nur der Beschaffung derselben drohen? Aber auch: Wie kann – aus Sicht der Terroristen – die Akzeptanzbeschaffung für Terrorismus aussehen? Diese Fragen stehen in der Tradition des erstbeschriebenen Verständnisses von Risikokommunikation. Sich auf sie zu beschränken, griffe im Falle des Terrorismus zu kurz, denn aufgrund der Verschiedenheit des Terrorismus von anderen Neuen Risiken wirft er in andere Richtungen zielende Fragen auf. Was sind die Ursachen von Terrorismus? Was genau ist allgemeingültig darunter zu verstehen, wie lässt sich Terrorismus also unter Berücksichtung der unterschiedlichsten Auffassungen so definieren, dass die letztendliche Definition auch wirklich praktikabel ist? Wie kann ihm – wiederum abhängig von der jeweiligen Interessenlage – am besten begegnet werden? Weshalb sind die einzelnen Akteure in seinem Fokus? Gibt es ihm gegenüber vielleicht doch ein Ziel, das alle
425
Dadurch, dass sich Teile der Debatte um ABC-Waffen drehen, wird der Diskurs über Terrorismus partiell zu einem Rekurs über ökologisch-technische Risiken. Dieser Rekurs beinhaltet jedoch ausschließlich die negativen Aspekte der angesprochen Technologien, während die positiven nicht zum Tragen kommen. Diese Sichtweise orientiert sich an denen der Opfer und unbeteiligter Dritter, die Sichtweise der Terroristen auf den Einsatz von ABCWaffen muss hiervon grundlegend verschieden sein. Die durch sie wahrzunehmenden Vorteile können beispielsweise im Machtmittel bestehen, das ABC-Waffen zweifelsohne sind, woraus eine gestärkte eigene Position resultiert, die ihrerseits auf verschiedenste Art und Weise für die eigenen Absichten instrumentalisiert werden kann.
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an der Debatte über Terrorismus beteiligten Akteure gemeinsam haben? Was kann man gegen Terrorismus tun? 426 Die am Bonß’schen Verständnis von Risikokommunikation orientierten Fragen unterstellen jedwedem ökologisch-technischen Risiko allesamt einen gewissen unterschwelligen Nutzen – lediglich fundamentalistisch argumentierende Gegner eines jeden Risikos verneinen einen solchen. Schließlich profitiert nahezu jedermann in irgendeiner Form von Atomenergie, Biotechnologie oder der chemischen Industrie. 427 Doch wie verhält es sich bei den Fragen rund um den Terrorismus? In seinem Falle scheinen nicht nur Befürworter, sondern auch und vor allem die Profiteure eindeutig in der Minderheit zu sein. 428 Eine breite Mehrheit weist zumindest in der westlichen Welt gegenüber Terrorismus eine ablehnende oder bestenfalls neutrale Gesinnung auf. Zu groß ist der grundsätzlich denkbare Schaden für die eigene Person, ohne dass ein individueller Nutzen deutlich wird. 429 Aufgrund der Unterschiede bei der Schadintention und den Fragestellungen orientiert sich die Terminologie der vorliegenden Arbeit am dritten, dem am weitesten gefassten Verständnis von Risikokommunikation, welches wiederum 426
427 428 429
Die Frage lautet ausdrücklich nicht: „Wie kann man sich vor einem Anschlag schützen?“ Eine solche Frage wäre auch auf andere Neue Risiken übertragbar. Die Frage nach den Möglichkeiten des eigenen Gegenhandelns verweist auf eine grundsätzliche Unsicherheit und Ratlosigkeit, wie diesem Phänomen beizukommen ist. Ihr liegt eine Negativperzeption des Terrorismus zugrunde, die im Gegensatz zu ökologisch-technischen Risiken nicht aus der Perspektive von Fundamentalisten (der Peripherie), sondern vielmehr aus der Perspektive von Opfern und unbeteiligten Dritten (dem Zentrum) stammt. Geringere Energiepreise, medizinische Verfahren wie künstlich generierte Haut oder Kosmetikartikel mögen als Beispiele dienen. Eine differenzierte Erörterung dieser These bieten Kapitel 4.2.2 und 4.2.3 vorliegender Arbeit. Doch nicht nur hinsichtlich der Fragestellungen hat der Risikokommunikationsprozess über Terrorismus unterschiedliche Voraussetzungen zu dem über ökologisch-technische Risiken. Terroristen und ihre Befürworter rekrutieren sich – typischerweise fundamentalistische Züge aufweisend – aus der gesellschaftlichen Peripherie, während sich bei nahezu allen anderen Risiken nicht die Befürworter, sondern die Gegner aus der Peripherie rekrutieren. Im Umkehrschluss rekrutieren sich die Befürworter anderer Risiken zu großen Teilen aus dem Zentrum, beim Terrorismus sind die ihm ablehnend gegenüber stehenden Akteure dort anzusiedeln. Auch diese Beobachtung stützt die häufig angeführte These vom Zusammenhang zwischen Peripherie und Fundamentalismus. Indes wird erneut deutlich, dass – versteht man Terrorismus als soziale Gegenbewegung im Sinne Wieviorkas (2004) – die Peripherie das Zentrum zu Selbstreflexion und Erneuerung zwingt. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass dieser Interpretation ein fortgeschrittenes Stadium der Globalisierung zugrunde gelegt werden muss. Vor dem Hintergrund einer derart integrierten Welt besteht das Zentrum aus den prosperierenden Ökonomien, die global maßgeblichen politischen und kulturellen Einfluss auszuüben vermögen. Diesem Zentrum gegenüber steht eine Peripherie, die sich als depriviert, unterdrückt, ausgeschlossen und benachteiligt ansieht.
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Konsensbeschaffung und die Lesart von Risikokommunikation über Terrorismus als Superkommunikation gleichermaßen mit einschließt. 430 3.4.1
Arten von Risikokommunikation
Risikokommunikation – gerade im Falle des Terrorismus – wird nicht ausschließlich von Experten betrieben, sondern sehr häufig von Individuen und Gruppen, die zumindest auf den Terrorismus bezogen als Laien gelten müssen. Sie besitzen weder über Hintergründe noch über Zusammenhänge hinreichende Kenntnisse und sind so für einen annähernd seriösen Diskurs denkbar schlecht gerüstet. Dadurch schlich sich in die Debatte zwangsläufig eine gewisse Unschärfe ein, die sich aber noch weiter erstreckt. Es ist anzunehmen, dass die in den Risikokommunikationsprozess eintretenden Akteure das Phänomen Terrorismus häufig (noch) nicht hinreichend reflektiert haben und sich so auch hinsichtlich der benutzten Terminologie eine gewisse Vagheit breitmacht. Um in vorliegender Arbeit diese Defizite auszuschließen, soll der Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen eine Annäherung an die jeweilige Begrifflichkeit bilden, die unter den Konzepten der Vorsorge-, Legitimations- und Krisenkommunikation firmieren. Aufgrund des breiten Spektrums an beteiligten Akteuren ist es zweckmäßig, bei dieser Annäherung zumindest als Ausgangspunkt nicht ausschließlich auf kommunikationstheoretische Werke Rückgriff zu nehmen, sondern vielmehr auf solche, die allgemein hohe Akzeptanz besitzen. In vorliegender Arbeit erfolgt dies anhand des Brockhaus und des Dudens. 431 430 431
So fällt auch der Versuch einer diskursiven Annäherung zwischen Christentum und Islam, beispielsweise über theologische Hintergründe aktueller Konflikte (Valentin 2005), unter dieses weite Verständnis von Risikokommunikation über Terrorismus. Die Annäherung an den Begriff Kommunikation erfolgt mithilfe Schulz von Thuns (2006). Bestandteil seiner Untersuchung ist der Umstand, dass ein und dieselbe Nachricht mehrere – explizite oder implizite – Botschaften enthalten kann, woraus die Notwendigkeit zur Analyse und Interpretation resultiert. Die Inhalte der verschiedenen Botschaften können nach Schulz von Thun in vier Kategorien gegliedert werden: Informationen über die Sache an sich (Sachseite; 2006: 129-155), (gewollt oder ungewollt gesendete) Informationen über den Absender selbst (Selbstoffenbarungsseite; 2006: 99-128), Informationen über das Verhältnis des Absenders zum Empfänger (Beziehungsseite; 2006: 156-208) ) und schließlich die Information über das gewünschte, aus der Nachricht resultierende soziale Handeln des Empfängers (Appellseite; 2006: 209-253). Für den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit – Terrorismus – ist die appellative Komponente von besonderer Bedeutung, da die anderen drei häufig in deren Dienst gestellt werden, indem beispielsweise nur einseitige Informationen verbreitet werden, sich einzelne Akteure besonders inszenieren oder die Nachrichten so gestaltet sind, dass Interaktionsgeflechte zwischen den Akteuren eine bestimmte Struktur erhalten. Es gilt also, will man eine Nachricht vollständig und korrekt decodieren, möglichst viele Informationen über den sendenden Akteur zu haben.
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Kommunikation sei in vorliegender Arbeit als verbaler oder nonverbaler wechselseitiger Informationsaustausch von mindestens zwei Akteuren verstanden. Kommunikation, die an sich nur zwischen zwei Akteuren erfolgt, jedoch von einem interessierten Dritten verfolgt wird, vermag auch dessen Perzeption und Erwartungshaltung gegenüber dem Gegenstand der Kommunikation zu verändern – unabhängig davon, ob er der Adressat der Nachricht ist oder nicht. Dieses „Querhören“ macht den Risikokommunikationsprozess über Terrorismus so komplex, da er großteils über die Medien, die ihrerseits eine Vielzahl an Adressaten haben, abläuft. Diese(n) Adressaten korrekt zu identifizieren und von simplen „Querhörern“ zu unterscheiden, ist eine der Herausforderungen in der Analyse des Umgangs der einzelnen Akteure mit Terrorismus. Abhängig von Zeitpunkt, Umständen und der Intention des einzelnen Akteurs lassen sich archetypisch drei verschiedene Arten der Risikokommunikation unterscheiden: Vorsorgekommunikation, Legitimationskommunikation und Krisenkommunikation. Vor allem Vorsorge- und Legitimationskommunikation erinnern in der Art ihrer Nutzung an Propaganda, 432 dem Brockhaus folgend verstanden als „systematische Verbreitung politischer, weltanschaulicher o. ä. Ideen u. Meinungen [mit massiven (publizistischen) Mitteln] mit dem Ziel, das allgemeine Bewusstsein in bestimmter Weise zu beeinflussen“ (Brockhaus 2001: 1096).
Propaganda als systematische Ideenverbreitung zur Meinungsbeeinflussung impliziert kommunikativ Eindimensionalität, da es einen Sender und einen oder mehrere Empfänger zu geben scheint. Diese Empfänger werden von der Grundidee der Propaganda her ihrerseits nicht selbst explizit zu Sendern, was letztlich für vollwertige Kommunikation (verstanden als wechselseitiger Informationsaustausch) kennzeichnend ist. Nichtsdestotrotz erfolgt auch bei der Anwendung von Propaganda ein wechselseitiger Informationsaustausch, so beispielsweise bei der Herstellung von Propagandaprodukten hinsichtlich des Tests ihrer Effektivität. Hierzu werden im Allgemeinen Entwürfe von Slogans und audiovisuellen Produkten in Pre-Tests an der Zielgruppe getestet, die wiederum Feedback über die dem Produkt ihrer Meinung nach inhärenten Botschaften gibt. Dieses Feedback wiederum fließt in eine neuere Version des Propagandaprodukts ein, das letztendlich verbreitet oder nochmals getestet wird. Eine zweite Rückmeldung der Zielgruppe über die Effektivität des Propagandaprodukts ergibt sich einerseits über 432
Zu einem Überblick über Forschungsansätze zu Propagandakonzepten sei vor allem auf eine aufschlussreiche Arbeit Bussemers (2005) verwiesen. Zum Thema Propaganda vgl. aber auch Diesener/Gries (1996).
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Post-Tests, aber auch und vor allem über die nach Verbreitung des Produkts gezeigten Verhaltensweisen und Einstellungen. 433 Auf diese Weise komplettiert sich der Kommunikationskreislauf ein weiteres Mal und ermöglicht das Verständnis von Propaganda als vollwertiger Kommunikation. In der Praxis weisen die Archetypen – Vorsorge-, Legitimations- und Krisenkommunikation – auch aufgrund ihrer Verwandtheit zu Propaganda häufig nicht die für eine eindeutige Zurechenbarkeit hinreichende Trennschärfe auf. Vielmehr besitzen sie häufig Charakteristika von mindestens zwei, wenn nicht gar allen drei Archetypen. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, diese kurz zu skizzieren. Dies erfolgt für jeden der drei Typen, indem zuerst die definitorische Grundlage geschaffen wird, dann typische Anwendungsfelder aufgezeigt und von anderen Kommunikationsarten und dem Begriff der Propaganda abgegrenzt werden. Den Abschluss bildet jeweils ein typisches Beispiel, gefolgt von einer kurzen Zusammenfassung. 3.4.1.1
Vorsorgekommunikation
Der Duden definiert Vorsorge als „Maßnahmen, mit denen einer möglichen späteren Entwicklung od. Lage vorgebeugt werden soll“ (Duden 1989: 1696). Es handelt sich hierbei also um aktives Tun, das auf zukünftige (implizit negative) Gegebenheiten vorbereiten soll, deren Eintreffen aber zum Zeitpunkt des Tuns als noch keineswegs gesichert angesehen wird. Vorsorge zu treffen ist folglich ein A-priori-Handeln, das auf Eventualitäten und Vermutungen verweist. Vorsorgekommunikation ist damit wechselseitiger Informationsaustausch mindestens zweier Akteure, wobei wenigstens ein Akteur mit dem Ziel der Vorbeugung eines zukünftigen Ereignisses bei mindestens einem anderen ein bestimmtes Handeln oder eine bestimmte Einstellung a priori zu erzeugen sucht. Negativ betroffene Akteure betreiben Vorsorgekommunikation typischerweise dann, wenn es darum geht, andere Akteure vor möglichen Anschlägen und deren Folgen zu warnen, um so bestimmte Verhaltensweisen zu bestimmten Zeitpunkten oder auch dauerhaft zu erzeugen oder auszuschließen. Dieses Anwendungsfeld kann von Aufforderungen zum Meiden öffentlicher Plätze (um so im Falle eines Anschlags die Lage für die Krisenmanager weniger komplex und die 433
Diese Vorgehensweise orientiert sich an derjenigen, die bei der Bundeswehr durch die Truppe für Operative Information praktiziert wird. Deren Auftrag besteht darin, durch die Verbreitung von Informationen in bestimmten, durch den Bundesminister der Verteidigung freizugebenden Zielgruppen, bestimmte Verhaltensweisen oder Einstellungen zu erzeugen. Ausdrücklich nicht zu potenziellen Zielgruppen gehören die Bevölkerung und Streitkräfte Deutschlands bzw. mit Deutschland verbündeter Staaten.
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Opferzahlen geringer zu halten) bis zum Bestreben reichen, frühzeitig mit anderen Akteuren Allianzen für ein gemeinsames Vorgehen gegen Terrorismus zu bilden. Auch seitens der dem Terrorismus positiv gegenüberstehenden Akteure kann Vorsorgekommunikation das Vermeiden unnötiger Opfer bei eventuellen Anschlägen zum Ziel haben. 434 Vorsorgekommunikation kann aber in dieser Perspektive auch zum Ziel haben, nahestehende Akteure frühzeitig auf Sanktionen (die als Reaktion auf einen eigenen Anschlag erwartet werden) einzustellen und ihnen so die Möglichkeit zu geben, Maßnahmen zur Milderung von deren Auswirkungen zu ergreifen. Weiterhin mag diese Kommunikationsart dazu dienen, räumliche wie auch politisch-diplomatische Rückzugsmöglichkeiten vorzubereiten oder auch eine weiter gehende Radikalisierung hinsichtlich einer konkreten Überzeugung beim Adressaten zu erzeugen. Ein weiteres Ziel terroristischer Vorsorgekommunikation kann ferner darin bestehen, potenzielle Opfer in Sicherheit zu wiegen. Hierbei ist es nicht notwendig, dass die Kommunikation das zukünftige Opfer unmittelbar zum Adressaten hat, vielmehr ist es ausreichend, wenn das Opfer als „Querhörer“ die Kommunikation verfolgt. Abschließend ist auch das frühzeitige Verschaffen von Legitimität durch anerkannte Autoritäten als Anwendungsgebiet der Vorsorgekommunikation zu nennen, ebenso die Dämonisierung der Feinde, womit eigenes, gegen diese Feinde gerichtetes, Handeln a priori legitimiert werden soll. 435 In der Intention, durch Informationsaustausch bei einem oder mehreren Akteuren aufgrund einer spezifischen, zukünftig zu erwartenden Gegebenheit ein bestimmtes Verhalten oder auch eine bestimmte Einstellung zu evozieren, erweist sich Vorsorgekommunikation als eine spezielle Unterart der als systematische Verbreitung von Ideen verstandenen Propaganda. Diese Unterart ist gekennzeichnet durch ihre futurale Ausrichtung und eine daraus resultierende inhaltliche Unschärfe. Diese Unschärfe ist nicht zu vermeiden, da Zukünftiges nicht bis ins letzte Detail vorausgeahnt werden kann – was wiederum eine präzise Vorsorgekommunikation unmöglich macht. Aus Sicht des jeweiligen Akteurs bleiben denkbare Inhalte einer Schwerpunkte setzenden Vorsorgekommunikati434
435
Während bei den traditionellen Formen des Terrorismus der Jenkins-Doktrin zufolge diese Aussage für nahezu alle Akteure (außer den direkt als Opfer auserkorenen) gelten konnte, muss sie für den modernen Terrorismus der vierten, religiösen Welle merklich relativiert werden. Letzterer nimmt kaum Rücksicht auf unbeteiligte Dritte und hat demzufolge in seiner Vorsorgekommunikation auch das Minimieren von Opferzahlen nicht zum Ziel. Die beiden letztgenannten Anwendungsfelder für Vorsorgekommunikation liegen an der Schnittstelle zur Legitimationskommunikation. Da ihr Zweck aber eindeutig im Erzeugen einer A-priori-Einstellung bzw. -Handelns des unmittelbaren Adressaten besteht, werden sie unter Vorsorgekommunikation subsumiert.
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on der GAU – zu verstehen als das individuelle worst case scenario eines jeden Akteurs – und die Szenarien, deren Eintreffen als besonders wahrscheinlich angesehen wird. Mit diesen Ereignissen ist in der Regel aber auch soziales Handeln anderer Akteure verbunden. Dieses soziale Handeln kann – muss aber keineswegs explizit – im Rahmen der Vorsorgekommunikation gleichsam angekündigt werden. Der Inhalt der Vorsorgekommunikation ist in diesem Moment nicht mehr das zukünftige Ereignis, sondern vielmehr die Reaktion eines oder mehrerer Akteure. Diese neu hinzukommende Akzentuierung – weg von der geistigen Vorbereitung auf ein durch den Akteur selbst nicht unmittelbar zu beeinflussendes Ereignis, hin auf ein Handeln, das zu steuern er zumindest bedingt in der Lage ist – kennzeichnet den Übergang von Vorsorge- zu Legitimationskommunikation. Ein typisches Beispiel für reinrassige Vorsorgekommunikation sind die Hinweise und Warnungen, die die Organisatoren der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland frühzeitig herausgaben. Der Schwerpunkt der Vorsorgekommunikation lag auf den öffentlichkeitswirksamsten Veranstaltungen zu Beginn und Ende der WM, sodass potenzielle Besucher – aber auch andere Interessierte – für das nach Meinung der Organisatoren bei diesen Veranstaltungen erhöhte Risiko eines terroristischen Anschlags sensibilisiert wurden. 436 Vorsorgekommunikation im Rahmen des Risikokommunikationsprozesses über Terrorismus liegt also dann vor, wenn ein Akteur (Sender) andere Akteure (Empfänger) auf bestimmte mit dem Terrorismus in Zusammenhang stehende, vom Sender nicht unmittelbar zu beeinflussende und von den Empfängern negativ wahrzunehmende Ereignisse vorbereiten und bei diesen bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen erzeugen will. 3.4.1.2
Legitimationskommunikation
Der Brockhaus definiert Legitimation wie folgt: „1. Beglaubigung; [Rechts-]ausweis. 2. Berechtigung. 3. Ehrlichkeitserklärung“ (Brockhaus 2001: 793). Die zweite Definition soll die Grundlage für das Verständnis von Legitimation in 436
Glücklicherweise erwies sich die Vorsorgekommunikation vordergründig als überflüssig, da keine Anschläge verübt wurden (auch die Kofferbomben, die im August 2006 auf den Bahnhöfen Dortmund und Koblenz gefunden wurden und schon während der Fußballweltmeisterschaft eingesetzt werden sollten, kamen nicht zum Einsatz). Nichtsdestotrotz sind aber möglicherweise Sekundärwirkungen zu verzeichnen, die derzeit noch nicht messbar sind. Hierzu zählt eine dauerhafte Sensibilisierung für das Risiko, terroristischen Gewalthandlungen grundsätzlich ausgesetzt zu sein. Ebenso ist aber denkbar, dass die Antizipation eines Anschlags durch die Opfer und deren Kommunikation darüber die Durchführung verhindert hat.
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vorliegender Arbeit sein. Dies macht Legitimationskommunikation zu einem wechselseitigen Informationsaustausch zwischen mindestens zwei Akteuren, wobei mindestens ein Akteur die Absicht verfolgt, kommunikativ einer Handlung Berechtigung, d. h. Legitimität, zu erzeugen. Eine implizite – wie es bei der Vorsorgekommunikation der Fall ist – oder gar explizite Aussage über die zeitliche Abfolge von Legitimationsversuch und Legitimationsgegenstand ist der Definition nicht zu entnehmen. Daraus resultiert, dass Legitimationskommunikation sowohl a priori, d. h. vor dem Ersichtlichwerden des Legitimationsgegenstandes, als auch ex post, d. h. danach, erfolgen kann. Legitimationskommunikation ist ein elementarer Bestandteil jeglicher Risikokommunikation. Sie ist keineswegs ausschließlich auf den Risikokommunikationsprozess rund um den Terrorismus begrenzt, vor allem in wirtschaftlichen Prozessen ist massives Betreiben von Legitimationskommunikation zu beobachten. 437 Hinsichtlich des Terrorismus ist der Gegenstand der Legitimationskommunikation nicht nur die Legitimation des eigenen Handelns sondern auch die Delegitimation der Handlungen anderer Akteure, wobei die einzelnen Akteure hierfür oftmals ähnliche, wenn nicht gar kongruente Semantiken nutzen (vgl. Röhrich 2005: 22 f.). 438 Aufseiten der durch Terrorismus negativ betroffenen Akteure findet Legitimationskommunikation dann Anwendung, wenn der Sender von einer negativen Perzeption des Legitimationsgegenstandes seitens des oder der Adressaten ausgeht. Dazu können die Verschärfung oder das Erlassen von Gesetzen, die Einschränkung von Grundrechten oder – praktiziert durch potenziell negativ betroffene Staaten – auch außenpolitische Aktivitäten zählen. Die Sinnhaftigkeit und Rechtmäßigkeit all dieser Maßnahmen aufgrund der von ihnen ausgehenden Unannehmlichkeiten einem oftmals wechselnden Kreis von Adressaten zu ver-
437 438
Zur Legitimationskommunikation von Wirtschaftskonzernen vgl. Obermeier (1999: 171201). Obermeier identifiziert drei an Max Webers Formen legaler Herrschaft orientierte Säulen der Rechtfertigung: die traditionale, die autoritative und die legale. George W. Bush bezeichnete den Krieg gegen den Terrorismus als Kreuzzug, während Osama Bin Laden islamisch-fundamentalistische Anschläge im Konzept des Djihad zu verorten sucht. Beide Akteure nutzen religiöse Konzepte, die sie stark vereinfacht in Form von Schlagworten und Schwarz-Weiß-Malerei präsentieren. Dies ermöglicht, ideologischpolitische Hintergründe und Motive einem breiten Spektrum an Akteuren gleichermaßen verständlich zu machen. Im Falle der Akteure USA und Al Qaida lassen sich unter anderem folgende Gleichförmigkeiten beobachten: Beide Akteure trachten nach einer breiten Akzeptanz im jeweils eigenen Kulturkreis, den sie dort durch massive mediale Präsenz zu erreichen trachten. Jeder der beiden Akteure versucht, sein Handeln durch Rückgriffe auf die für den jeweiligen Kulturkreis prägende Religion zu legitimieren. Als Beispiel für die Nutzung der „Kreuzfahrerterminologie“ vgl. Bin Laden (1998).
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deutlichen, ist Gegenstand der Legitimationskommunikation. 439 Durch den Rückgriff auf die Analysen von Experten und die Schaffung neuer oder Umsetzung bestehender Gesetze orientieren sich die Legitimationsmuster seitens der vom Terrorismus negativ betroffenen Akteure an der traditionalen und der legalen – in Obermeier’scher Terminologie gesprochen – Säule der Rechtfertigung (1999: 173 f.). 440 Des Weiteren tendieren vom Terrorismus negativ betroffene Akteure dazu, diesen selbst legitimatorisch seinem Zweck zu entfremden. Außen- wie innenpolitisch kann Terrorismus zur Durchsetzung von Programmen instrumentalisiert werden, die ansonsten am Widerstand anderer politisch-gesellschaftlicher Akteure gescheitert oder wenigstens schärfer kritisiert worden wären. Als Beispiel auf außenpolitischer Ebene mag der 2003 von den USA unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung geführte Irak-Krieg gelten. Für die Innenpolitik sind staatenübergreifend Terrorismus zum Zentralargument machende Kampagnen zu nennen, welche die Durchsetzung von Grundrechtseinschränkungen aus möglicherweise tatsächlich anders gelagerten Interessen zum Ziel haben. 441Terrorismus praktizierende oder unterstützende Akteure nutzen Legitimationskommunikation, um in der eigenen Anhängerschaft bzw. bei neutralen Beobachtern Akzeptanz für ihr eigenes Handeln oder auch ihre bloße Existenz
439
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441
Dies ist am einfachsten, wenn man in Schwarz-Weiß-Argumentationsmuster verfällt. Auf der einen Seite stehen die Guten, auf der anderen Seite stehen die Bösen. Das in der reflexiven Moderne scheinbar anachronistisch anmutende Verhaltensmuster der von Soldaten in Anspruch genommenen Gebetshilfe ist ein mögliches Indiz dafür, dass sich gerade diese soziale Gruppe der einprägsamen Rhetorik z. B. eines George W. Bush („God bless you“; zitiert nach Lübbe 2004: 59) nicht entziehen kann. Die alljährlich im Bundestag stattfindende Mandatsverlängerung des ISAF- und OperationEnduring-Freedom-Einsatzes (OEF) der Bundeswehr ist nur ein Beispiel dafür. Biehl (2005) zufolge erfuhr das Stabilisierungsmandat in der Studie Sicherheitspolitische Lage 2004 bei lediglich 57 % der Bundesbürger Zustimmung, der Einsatz gegen Terrorismus im Rahmen von OEF hingegen bei 63 %. Die Volksrepublik China überzeugte nach Wagner (2007) mit Hinweisen auf angebliche Verbindungen zur Al Qaida die USA 2002 davon, die islamische Unabhängigkeitsbewegung Etim als terroristische Organisation einzustufen.
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zu erwirken. 442 Schuldzuweisungen an die Opfer und das Bemühen um deren Delegitimation sind häufig zu beobachtende Erscheinungsformen der Legitimationskommunikation terroristischer Gruppierungen. 443 Terroristen legitimieren ihre Handlungen regelmäßig mit dem Hinweis, im Willen des Volkes zu handeln, häufig gepaart mit dem Verweis auf die Schattenseiten der Globalisierung, 442
443
Bei Matussek (2005) wird deutlich, dass beispielsweise die IRA seit einigen Jahren Defizite in ihrer Legitimationskommunikation aufweist. Verschiedene ihrer Aktivitäten machten die katholische Bevölkerung und nicht die protestantischen Polizei- und Ordnungskräfte Großbritanniens zu Leidtragenden und konnten daher von der Bevölkerung kaum mehr in einen sinnhaften politischen Kontext gebracht werden. Hierzu seien folgende stichpunktartige Überlegungen angestellt: Katholiken (Bürger und IRA) und Protestanten (Staat) sind zwei rivalisierende Gruppen, deren Identität und Solidarität sich maßgeblich aus der Abgrenzung zur jeweils anderen Gruppe ergibt. Aufgrund dieser Abgrenzung zwischen den Gruppen war es der IRA bislang möglich, innerhalb der Katholiken das Gesetz des Schweigens durchzusetzen. Dies beruhte maßgeblich auf der Akzeptanz der terroristischen Ziele durch die Katholiken. Folglich wurden aus Terrorismus resultierende Todesfälle in der eigenen Gruppe toleriert, sie dienten einer guten Sache, deren Sinn erkannt wurde. Der Zusammenhalt in der Gruppe und somit das Gesetz des Schweigens gerät aber dann an seine Grenzen, wenn die Ziele der IRA, die dazu notwendigen Mittel und folglich die Sinnhaftigkeit der Todesfälle nicht mehr allgemein anerkannt werden. Genau dies ist das Anwendungsfeld von Legitimationskommunikation. Versagt oder unterbleibt sie, brechen die Identifikation mit den Terroristen sowie die Selbstbindung zum Schweigen weg: Der gemeinsame Wert, das Wohl der Katholiken gegen den äußeren Feind – die Protestanten – gemeinsam zu verteidigen, wird hinterfragt. Dies gibt den Anstoß, auch Normen wie das Gesetz des Schweigens individuell zu überprüfen. Der Wert – das Wohl der Katholiken – wurde in vorliegendem Fall nicht von Protestanten, sondern vielmehr von Katholiken selbst gefährdet, die dafür die Einhaltung der Norm – des Gesetzes des Schweigens – einzufordern suchten. Der Bruch der impliziten Norm, keinem Angehörigen der eigenen Gruppe willentlich ohne zwingenden Grund zu schaden, wurde seitens der Opfer mit einem Normbruch ihrerseits erwidert, indem sie sich an die Medien und vor allem an die Polizei wandten. Doch wie ist das zu erklären? Die beiden Normen, keine Angehörigen der eigenen Gruppe ohne Grund zu verletzen sowie Gesetzesverstöße von Mitgliedern der eigenen Gruppe nicht nach außen zu tragen, sind eng aneinander gekoppelt. Wird die eine verletzt, steht die andere auf wackeligen Füßen. Daher ist es aus Sicht des Handelnden vermutlich fraglich, ob es sich beim Gang in die Öffentlichkeit überhaupt um einen Normbruch handelt, da ja die Koppelung bereits durch den Mord aufgeweicht, wenn nicht gar aufgehoben wurde. Ist man bereit, die These von der Normkoppelung zu akzeptieren, kann man noch einen Schritt weiter gehen: Dadurch, dass die eine Norm gebrochen wurde, musste die andere zwangsläufig ebenfalls außer Kraft gesetzt werden. In diesem Falle wäre der Gang an die Öffentlichkeit nicht eine unerhörte Überraschung und „moralische[r] Verrat“ (Matussek 2005: 126), sondern vielmehr eine logische Konsequenz. Den Gegner zu desavouieren ist nach Carr (2002: 18) gängige Praxis, während Waldmann (2001: 34) zufolge Legitimationskommunikation auch darauf abzielen kann, dem Adressaten einen Rollenwechsel zu suggerieren: Der tatsächliche Täter versucht sich als Opfer und den terroristischen Akt als Verteidigungsmaßnahme darzustellen und dabei trotzdem als faktisch schwächerer Part überlegen zu erscheinen – in physischer wie auch moralischer Hinsicht.
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die ein Risiko für funktionierende traditionelle Normen- und Wertesysteme darstellt (vgl. Rapoport 2006 e: 6). Unstrittig ist: Durch die Globalisierung verändern sich die Rahmenbedingungen politischen Handelns. Dieser eine wachsende Dynamik verzeichnende Prozess impliziert einen allseitigen Zuwachs an Unsicherheit, was im Falle gesellschaftlicher Gegenbewegungen zu Abwehrreaktionen wie Terrorismus führen kann, bei Staaten indes nach Bonß (2005: 42 f.) zu einer Neukonzeption ihrer politischen, militärischen und ökonomischen Leitlinien jenseits der Nationalstaatlichkeit führen muss. Im Falle des islamistisch-fundamentalistischen Terrorismus sind Terroristen auf die Absegnung des eigenen Handelns durch religiöse Autoritäten angewiesen. 444 Dies verweist auf eine Nutzung der autoritativen Säule der Rechtfertigung gerade durch die Al Qaida (vgl. Obermeier 1999: 173 f.). 445 Sie legitimiert Gewalt gegen Zivilisten durch den Hinweis auf demokratische Strukturen in den Ländern der Anschlagsziele bzw. Opfer. Durch demokratische Wahlverfahren seien die Bürger eines Landes für die gewählte Regierung und all deren Entscheidungen – somit auch für gegen Terrorismus praktizierende Gruppen gerichtete Maßnahmen – mitverantwortlich und folglich legitime Anschlagsziele. 446 In ihrer Legitimationskommunikation erinnern die anderen Akteuren447 gegenüber gezeigten Verhaltensweisen der islamistisch-fundamentalisitschen Terroristen an imperiale Barbarendiskurse. 448 In diesen wird der jeweils außerhalb des eigenen Einfluss- und Kulturkreises Stehende als von minderer Zivilisiertheit dargestellt. Den außen stehenden Barbaren zu zivilisieren stellt die eigene imperiale Mission dar. Dessen ungeachtet ist bei beiden Antagonisten – also auch bei den säkularisierten und westlichen Staaten – erneut auf die religiöse Rhetorik hinzuweisen. Diese wird nach Münkler von beiden Parteien genutzt, um einerseits der imperialen Mission transzendenten Charakter zu verleihen, andererseits um sie innerhalb wie außerhalb des eigenen Kulturkreises bei wechselnden Bezugsgruppen zu legitimieren:
444 445 446 447 448
Musharbash (2006: 244 f.) verweist auf die Legitimation, die der Terrorismus der Al Qaida aus einer muslimischen Utopie als Ganzes zieht. Zum Rückgriff der Al Qaida auf religiöse Autoritäten vgl. Bin Laden (1996). Diese Argumentation wird häufig genutzt, so unter anderem auch als Begründung der Anschläge in London am 7. Juli 2005. Vgl. dazu „Todesgrüße von al-Qaida“ (2004). Säkulare Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung oder westliche Staaten. Zur Wichtigkeit des Barbarendiskurses für die Stabilität von Imperien vgl. Münkler (2005: 148-157). Diese Beobachtung erstreckt sich indes auch auf andere Formen des Terrorismus. So finden sich nach Laqueur (1978 b: 218) bei Johann Most Passagen, in denen er Polizisten den Status des Menschen abspricht und sie Schweinen gleichsetzt, deren Liquidierung kein Mord und daher legitim sei.
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„Im Prinzip ist die imperiale Dämonologie eine ins Religiöse gesteigerte Form des Barbarendiskurses, in dem die Völker, die nicht zum imperialen Herrschaftsbereich gehören, auf eine niedrigere Stufe gestellt und zum potenziellen Objekt imperialer Zivilisierung gemacht werden. Die antiimperiale Dämonologie zahlt das mit gleicher Münze heim, indem sie das imperiale Zentrum zum Hort des Sittenverfalls und der Sünde stilisiert“ (Münkler 2005: 149 f.).
Legitimationskommunikation weist propagandaartige Züge auf. Ähnlich wie Propaganda komplettiert sich auch Legitimationskommunikation weniger in unmittelbarem, mündlichem oder schriftlichem Dialog, sondern erst durch die gezeigten Verhaltensweisen bzw. die Einstellung des Adressaten. Auch hinsichtlich der systematischen Verbreitung weisen Propaganda und Legitimationskommunikation eine Schnittmenge auf, wobei der Gegenstand bei der Legitimationskommunikation im Gegensatz zur Propaganda nicht ausschließlich in einer Meinung oder Idee bestehen muss. Im Vergleich zur futural-ereignisbezogenen Vorsorgekommunikation ist Legitimationskommunikation zeitunabhängig-handlungsbezogen. Der Gegenstand der Legitimationskommunikation ist handlungs- und entscheidungsbezogen, zurechenbar und häufig durch den Legitimationskommunikation betreibenden Akteur zu verantworten, was auf ein aktives, handlungsbezogenes und dadurch Rechtfertigungsdruck aufbauendes Moment verweist. Anders ausgedrückt: Während man aus Sicht des kommunizierenden Akteurs dem Gegenstand der Vorsorgekommunikation mehr oder weniger ausgeliefert ist, hat(te) man die Möglichkeit, den Gegenstand der Legitimationskommunikation selbst zu beeinflussen. Freilich kann Legitimationskommunikation eng mit Vorsorgekommunikation verknüpft sein, beispielsweise dann, wenn eigenes Handeln in den Kontext eines spezifischen zukünftig erwarteten Ereignisses gebracht wird. Davon unabhängig bleibt indes beim Vergleich von Vorsorge- mit Legitimationskommunikation die Differenz hinsichtlich der Einflussmöglichkeiten auf den Kommunikationsgegenstand, aber auch der definitionsgemäßen zeitlichen Abfolge bestehen. Das Beispiel der durch den Bundesminister der Verteidigung Franz Jung aufgezeigten sich unter Umständen ergebenden Notwendigkeit eines Zuwiderhandelns gegen das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Luftsicherheitsgesetz vermag wenigstens einen Teilbereich der Legitimationskommunikation zu illustrieren. Im Luftsicherheitsgesetz vom 15.01.2005 war in § 14 Abs. 3 eine sogenannte Abschussermächtigung verankert. Diese berechtigte die Bundeswehr, als letztes Mittel zur Abwehr eines Terroranschlags ein Passagierflugzeug abzuschießen, wenn dies die einzige Möglichkeit zur Rettung anderer Menschen sei. Am 15.02.2006 erklärte das Bundesverfassungsgericht die im Luftsicherheitsgesetz verankerte Abschussermächtigung für nichtig. Das Urteil erklärt die Regelung als nicht vereinbar mit dem Grundrecht auf Leben und mit der im
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Grundgesetz verankerten Garantie der Menschenwürde, da die Passagiere des entführten Flugzeuges als bloße Objekte behandelt würden. Hierdurch werde ihnen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukomme (BVerfG 2006 sowie Bundessverfassungsgericht – Pressestelle 2006). Jung argumentiert in Pörtner/Wiegold (2006), einem etwaigen Angriff von Terroristen mit entführten Flugzeugen oder auch Massenvernichtungswaffen könne nur durch die Bundeswehr begegnet werden. Vor diesem Hintergrund und vor allem durch ein weit gefasstes Verständnis des Begriffs „Verteidigung“ – einem Kernauftrag der Bundeswehr 449 – sei die Freigabe zum Abschuss durch den Bundesminister der Verteidigung auch ohne Änderung des Grundgesetzes legal. Auf diese Weise sucht er der Eventualität eigenen Handelns vorzubeugen, indem er dieses gleichsam a proiri zu legitimieren versucht. 450 Ein anderes im Zusammenhang mit Terrorismus zu nennendes Beispiel für Legitimationskommunikation ist der Versuch der USA, den Irak-Krieg 2003 auch mit Saddam Husseins angeblicher Unterstützung für die Anschläge des 11. September zu begründen und eine ähnlich breite Koalition hinter sich zu scharen, wie sie dies unmittelbar nach dem 11. September in Vorbereitung des Krieges gegen das Taliban-Regime in Afghanistan vermocht hatten. Zum Krieg gegen das Taliban-Regime 2001 stellte Caleb Carr fest: 451 449
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Nach Bundesministerium der Verteidigung (2003: 10 f.) und (2006: 11 f.) besteht der Auftrag der Bundeswehr neben der Bündnis- und Landesverteidigung aus der Sicherung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit, dem Leisten eines Beitrags zur Stabilität im europäischen und globalen Rahmen und der Förderung multinationaler Zusammenarbeit und Kooperation. Daraus leiten sich als einzelne Aufgaben internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung, die Unterstützung von Bündnispartnern, der Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger, deren Rettung und Evakuierung, Partnerschaft und Kooperation sowie sonstige Hilfeleistungen ab. In diesem Beispiel lohnt sich eine kurze Betrachtung der legalen Säule der Rechtfertigung und deren Rolle in der Argumentation. Einerseits kündigt der Sender einen Normbruch (Zuwiderhandeln gegen Entscheidung BuVerfG) an, begründet diesen andererseits aber mit einer anderen Norm (Auftrag der Bundeswehr). Auf die Gegenmaßnahmen gegen die Al Qaida und deren Stützpunkte in Afghanistan bezogen verlief die Legitimationskommunikation der USA erfolgreich, nicht jedoch im Falle des Irak-Krieges von 2003. Während in Afghanistan mit ISAF noch heute eine wirklich multinationale Friedenstruppe auch in ihren Heimatländern eine breite politische Akzeptanz erfährt, ziehen sich selbst die Reste der coalition of the willing – deren Existenz im internationalen Umfeld auch und gerade aufgrund der schwachen legitimatorischen Leistung nie annähernd so positiv aufgenommen wurde wie das ISAF-Mandat – aus dem immer instabiler werdenden Irak zurück. Spanien zog bereits bis Mitte 2005 unter der Regierung Zapatero seine Truppen ab, auch Polen und Großbritannien planen die Reduzierung bzw. den Abzug eines Teils ihrer Kontingente. Hierfür sind unbestritten weitere Gründe jenseits der erfolglosen Legitimationskommunikation anzuführen, allen voran die stetig instabiler werdende Lage, die daraus resultierende erhöhte Gefährdung für die Soldaten und vor allem die schwindende Unterstützung für deren Entsendung in den jeweiligen Heimatländern.
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„Wie von der internationalen Gemeinschaft verlangt, musste Amerika erst einmal die Rechtmäßigkeit eines Gegenschlags gegen die Al-Qaida unter Beweis stellen, gerade so, als fände die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus vor einem internationalen […] Gerichtshof statt“ (Carr 2002: 11f.).
Dieses zweite Beispiel illustriert einerseits, welche Bedeutung ausreichende Legitimität in der internationalen Wahrnehmung erreichen kann, andererseits wie Terrorismus im Rahmen der Legitimationskommunikation instrumentalisiert werden kann. 452 Unter Legitimationskommunikation im Rahmen des Risikokommunikationsprozesses über Terrorismus ist also zeitlich flexibler, handlungsbezogener wechselseitiger Informationsaustausch zwischen mindestens zwei Akteuren zu verstehen, wobei die Absicht mindestens eines Akteurs (Sender) in der Beschaffung von Legitimität und der Erzeugung einer bestimmten Verhaltensweise oder Einstellung bei einem oder mehreren anderen Akteuren (Empfänger) liegt. 3.4.1.3
Krisenkommunikation
Der Brockhaus definiert Krise 453 als aus dem Griechischen von krisis stammend wie folgt: „1. Entscheidungssituation, Wende-, Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung. 2. gefährliche Situation“ (Brockhaus 2001: 767). Die Definition 452
453
Weitere Musterbeispiele für Legitimationskommunikation sind trotz ihrer Wirkungslosigkeit in der Zielgruppe die noch vor der Ausweitung ihrer Aktivitäten entstandenen Schriften der RAF (1970 und 1971). Weimann (2006) zeigt, wie auch die Al Qaida Legitimationskommunikation betreibt und sich dabei des Internets bedient, das zum Symbol für Kontingenz und absolute Entgrenzung wird. Die Al Qaida nutzt das Internet zum Austausch von Anleitungen zum Bombenbau, zur Mobilisierung von Anhängern und zur Vermittlung der Rechtmäßigkeit der eigenen Handlungen. Töpfer (1999: V) zufolge können Krisen entweder sachliche oder kommunikative Ursachen (Art, Inhalt, Zeitpunkt und Intensität) haben. Davon unabhängig unterscheidet gerade die wirtschaftswissenschaftliche Forschung drei Grundarten von Krisen: eruptive, schleichende und periodische Krisen. Die eruptive Krise ist dadurch gekennzeichnet, dass nach plötzlichem Eintritt der Krise das öffentliche Interesse stark ansteigt, im Laufe der Zeit aber aufgrund von Krisenmanagement abnimmt. Die schleichende Krise ist durch ihr anfangs niedriges Niveau charakterisiert, das aufgrund verschiedenster Einflüsse eskaliert und das öffentliche Interesse nach sich zieht; ihre lange Entstehungsphase wird hierbei vom Akteur nicht zur Kriseneindämmung/-prävention genutzt. Bei der periodischen Krise schließlich ist das öffentliche Interesse anfangs auf durchschnittlichem Niveau und das Krisenmanagement setzt ein – aber nur unzureichend. Somit flaut das Interesse erst kurz ab, um dann jedoch ein höheres Niveau als bei erstmaligem Bekanntwerden des Sachverhalts (oder der Vermutungen) zu erreichen. Krisenmanagement setzt erneut ein, usw. Hierbei werden beim Akteur kaum Lerneffekte sichtbar, weder in der Vorsorge- noch in der Legitimations- oder auch Krisenkommunikation.
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des Dudens ähnelt der des Brockhaus: „schwierige Situation, Zeit, die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt“(Duden 1989: 902). Eine Krise ist also ein Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung, die entweder durch externe Einflüsse dem Akteur aufgezwungen oder intern produziert ist, beispielsweise durch Entscheidungen und die ihnen anhaftenden Risiken. Hieraus leitet sich das Verständnis ab von Krisenkommunikation als wechselseitigem Informationsaustausch mindestens zweier Akteure, von denen wenigstens einer am Scheitelpunkt einer gefährlichen Entwicklung steht und der auf diese bezogen bei mindestens einem anderen Akteur ein bestimmtes Handeln oder eine bestimmte Einstellung zu erzeugen sucht. Krisenkommunikation wird immer dann praktiziert, wenn die anderen Kommunikationsarten nicht die erhoffte Wirkung gezeigt haben oder nicht angewandt wurden und sich mindestens ein Akteur einer öffentlichkeitswirksamen, negativ empfundenen Situation ausgesetzt sieht. Sie auf Makro- und Mikroebene erfolgreich zu praktizieren stellt ob des vielfältigen Drucks besondere Herausforderungen an die beteiligten Akteure. 454 Sie müssen einem „Kommunikations-Vakuum“ (Töpfer 1999: 259) entgegenwirken, das durch unzureichende Kommunikation entsteht und von den anderen Teilnehmern des Kommunikationsprozesses, vor allem den Medien, mit Spekulationen oder Gerüchten gefüllt werden kann. Diese kommunikative Leistung ist maßgeblich für die Effektivität des Krisenmanagements, von dem wiederum Dauer, Verlauf und Intensität der Krise abhängen. Untersuchungen aus dem wirtschaftlichen Sektor haben gezeigt, dass die Kommunikation – die die öffentliche Wahrnehmung der Krise zu steuern vermag – hierbei bis zu einem gewissen Grad sogar wichtiger ist als der tatsächliche Erfolg der gegen den Anlass der Krise gerichteten sachlichen Maßnahmen. Auch ist zu beobachten, dass der eigentliche Sachverhalt mitunter wesentlich schneller beherrschbar ist als das Problem des daraus resultierenden Vertrauensverlusts. 455 Diese Erkenntnis ist auf die Krisenkommunikation im Falle eines 454
455
Conrad (1989: 184-186) zufolge bekommt die Diskussion über Risiken in Krisensituationen Ritualcharakter, wodurch gesellschaftlich eindeutige Antworten auf eben diese Ausnahmefälle gegeben werden. Er versteht unter ihnen „soziale Formen, die Werte und Weltbilder zelebrieren und festigen, die diese aufrechterhalten und durch sie legitimiert werden.“ Die Mercedes A-Klasse war 1999, drei Tage nach ihrer Markteinführung, im Rahmen eines zum damaligen Zeitpunkt nicht standardisierten und objektivierbaren Fahrtests (Elchtest) umgekippt. Im Fall des misslungenen Elchtests konnte nach Töpfer (1999: 261) die technische Lösung des Problems – Einführung des Stabilitätssystems ESP, Absenkung des Schwerpunkts, geänderte Bereifung – schon am 30. Oktober 1997 (neun Tage nach Bekanntwerden des Sachverhalts) präsentiert werden. Die Wiederherstellung des Vertrauens in die Marke Mercedes indes war Gegenstand einer Marketingkampagne, die mehrere Wochen andauerte.
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terroristischen Aktes übertragbar: Kommunikation und Maßnahmen sind gemeinsam ausschlaggebend für das Maß an Vertrauen, das dem Sender (regelmäßig das Opfer eines terroristischen Aktes) entgegengebracht wird. Seitens der negativ vom Terrorismus betroffenen Akteure ist das klassische Anwendungsfeld für Krisenkommunikation die allgemein empfundene Unsicherheit und Ungewissheit direkt nach einem Anschlag. Anliegen der Krisenkommunikation ist es, diese mittelbaren und unmittelbaren Unsicherheitserfahrungen und daraus resultierenden Ängste nicht in Panik ausufern zu lassen sowie eine den eigenen Zwecken dienliche Darstellung und Kontextualisierung des Anschlags zu bieten. Allgemein gesprochen zielt die Krisenkommunikation der negativ vom Terrorismus betroffenen Akteure darauf ab, den Sender als kompetent, die Lage als durch ihn beherrschbar und die Tat als illegitim darzustellen. Es ist schwer einzuschätzen, ob aufseiten der Terrorismus praktizierenden oder befürwortenden Akteure unter denselben Voraussetzungen – nämlich den eines Anschlags – überhaupt von einer Krise gesprochen werden kann. Definitionsgemäß beschreibt der Terminus „Krise“ eine gefährliche Entwicklung, die bei einem Anschlag aber vornehmlich aufseiten der Opfer und weniger aufseiten der Terroristen selbst zu sehen ist. Eine gefährliche Entwicklung, deren Höheoder Wendepunkt als Krise definiert ist, zeichnet sich für sie auf andere Weise ab. Eine für sie bedrohliche Entwicklung kann das Einfrieren von Geldern, das Verpuffen von Anschlägen in der öffentlichen Wahrnehmung, der Verlust von Rückzugsgebieten, aber auch die Festnahme oder Liquidierung einer Schlüsselperson sein. Während der Publizitätsverlust und der Verlust von Rückzugsgebieten sich in schleichenden Krisen abzeichnen und so kommunikativ vorbereitet werden können, besitzen das Einfrieren von Konten und vor allem das Ausschalten von Schlüsselpersonen Züge einer eruptiven Krise. Gerade in diesen beiden Fällen ist seitens der Terrorismus befürwortenden Akteure Krisenkommunikation gefordert. 456 Sowohl Vorsorge- als auch Legitimationskommunikation weisen als wesentliches Charakteristikum Langfristigkeit und somit Planbarkeit auf, was sich im Erfolgsfall bei den Adressaten in einer schleichenden Wahrnehmungs- und Verhaltensänderung äußert, wovon jene idealiter kaum etwas merken. Krisenkommunikation hingegen findet unter grundsätzlich anderen Voraussetzungen 456
Nach dem Tod Abu Mussab al Zakarwis im Irak 2006 benannte die Führung der Al Qaida schon wenige Tage später einen Nachfolger. Adressaten hierbei waren einerseits die eigenen Anhänger, denen so verdeutlicht wurde, dass der Kampfeswillen gegen die USA ungebrochen ist. Dieselbe Botschaft, ergänzt um den impliziten Hinweis, dass das Ausschalten eines einzelnen Mannes die Anschläge beendigen wird, richtete sich auch an die USA und Großbritannien.
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Anwendung. Wenig Zeit, unzureichende Informationen, viele Adressaten (die wiederum in unterschiedlichen „Sprachen“ 457 unterschiedliche Informationen verlangen 458), aber auch der unbedingte Zwang zur Kommunikation sind Faktoren, die der Krisenkommunikation praktizierende Akteur zu berücksichtigen hat. 459 Zurückhaltende Subtilität, wie sie in Vorsorge- oder auch Legitimationskommunikation angeraten sein kann, wirkt im Falle einer Krise häufig deutlich zu passiv. Krisenkommunikation kann nicht zu einem bestimmten, vorhersagbaren Zeitpunkt enden. Sie muss vielmehr ab einem bestimmten, wiederum nicht allgemein prognostizierbaren, Wirkungsgrad in eine der beiden anderen Kommunikationsarten übergehen, um so im besten Fall zukünftig überhaupt nicht mehr oder wenigstens nur in abgeschwächter Form erneut Anwendung finden zu müssen. Krisenkommunikation auf Makroebene (d. h. nach außen und somit an andere Akteure gerichtete Krisenkommunikation) folgt seitens der negativ betroffenen Akteure seit dem 11. September regelmäßig demselben Muster: offen kommunizierte Bestürzung, Wut, Androhung der Bereitschaft zur nachhaltigen Verfolgung der Täter, Ausdruck des Bedauerns für die Angehörigen und Freunde der Opfer. Ähnlich stereotyp verlaufen die Reaktionen anderer, nicht unmittelbar betroffener Akteure: Solidaritätsbekundung, Ausdruck von Mitgefühl, Mahnung zur Besonnenheit sind wiederkehrende Inhalte deren Krisenkommunikation. Diese Reaktionen lassen sich im Zusammenhang mit den Anschlägen von New York und Washington 2001, Madrid 2004 und London 2005 beobachten. Krisenkommunikation auf Mikroebene – d. h. die zwischen den einzelnen Akteuren stattfindende – anhand aktueller Fallstudien entsprechender politischer 457
458
459
Dies kann Töpfer (1999: 253-257) zufolge durch entsprechende Terminologie, Inhalte, Kommunikationsmittel, Formate, Symbole, Absender, aber auch Zeit oder Ort der gesendeten Information geschehen, wie Töpfer anhand einer Analyse der Krisenkommunikation von DaimlerChrysler A-Klasse schlussfolgert. Dies trifft fraglos auch auf Vorsorge- und Legitimationskommunikation zu. Allerdings ist dies aufgrund der dabei zur Verfügung stehenden Ressourcen – vor allem Zeit und Informationen – nicht in dem Ausmaß als problematisch zu bewerten, wie es das bei der Krisenkommunikation ist. Fraglos ist es auch bei den anderen Kommunikationsarten sinnvoll, erstens überhaupt und zweitens zielgruppengerecht zu kommunizieren. Erfahrungen aus der Wirtschaft hinsichtlich der Kriterien, die Krisenkommunikation zu erfüllen hat, sind erneut auf den Umgang mit Terrorismus übertragbar. Minwegen (2004) fordert von Krisenkommunikation Glaubwürdigkeit, Empathie, Kompetenz (oder wenigstens den Anschein davon), Informationssteuerung, das In-Aussicht-Stellen von Kompensation, die Integration und Anpassung an bestehende Notfallpläne, ihre Aktualisierung, das Nennen von Ansprechstellen und Kontaktmöglichkeiten, zielgruppengerechte Formulierungen und Inhalte sowie vor allem Verzugslosigkeit und Verständlichkeit.
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Gremien zu untersuchen, ist aufgrund der unter Verschluss gehaltenen Akten und Gesprächsprotokolle nicht unproblematisch. 460 Da typische Fälle zur Illustration der einzelnen Kommunikationsarten herangezogen werden sollen, wird hier nicht auf die spärlichen ausreichend nachvollziehbaren Fälle eingegangen, da es schlichtweg keine hinreichende Breite an Fällen gibt, die zum Vergleich herangezogen werden können und so dem Einzelfall die Attribution „typisch“ erlauben. 461 Unter Krisenkommunikation im Rahmen des Risikokommunikationsprozesses über Terrorismus ist also ereignisbezogener wechselseitiger Informationsaustausch zwischen mindestens zwei Akteuren zu verstehen, wobei die Absicht mindestens eines am öffentlichkeitswirksamen Scheitelpunkt einer bedrohlichen Entwicklung stehenden Akteurs (Sender) in der Vermittlung von Kontrolle, Kompetenz und Glaubwürdigkeit zur Erzeugung einer bestimmten Verhaltensweise oder Einstellung bei einem oder mehreren anderen Akteuren (Empfänger) liegt. 3.4.1.4
Mischformen
Wesentlich häufiger als die reinen Formen der Risikokommunikation sind in unterschiedlichsten Kombinationen auftretende Mischformen. Meist ist einer der drei Archetypen die Hauptintention der Kommunikation, während der andere lediglich Sekundärfunktion besitzt. Hierbei kann mitunter nicht eindeutig geklärt werden, welcher Archetyp die Hauptintention des Senders bildet. Selten sind Beispiele, bei denen alle drei Arten der Risikokommunikation innerhalb eines Kommunikationsprozesses verschwimmen, d. h. in einem eng begrenzten Zeitraum angewandt werden. Im Folgenden sollen die gängigsten Mischformen kurz dargestellt und anhand ausgewählter Beispiele auf ihre Intention analysiert werden. Kündigt ein beliebiger Akteur Maßnahmen irgendwelcher Art an, die er als terrorismusbezogen-notwendig ausweist, ist dies – auf den ersten Blick erkennbar – Legitimationskommunikation. Unterschwellig jedoch weist er den Adressaten auf die Existenz von Terrorismus und somit eine (mehr oder minder) präsente Gefährdung eigener Interessen durch denselben hin. Dieser implizite Hinweis erlaubt es dem Adressaten, sich schon frühzeitig auf eben diese Gefährdung einzustellen. Dies ist nichts anderes als Vorsorgekommunikation. Diese 460 461
Für eine Darstellung der Krisenkommunikation der US-Regierung nach dem 11. September 2001 siehe Woodward (2003). Ob die im Fallbeispiel betriebene Mikrokommunikation als typisch gelten kann, ist schwer zu bewerten. Nichtsdestotrotz bietet das Fallbeispiel die Möglichkeit zur Untersuchung derselben.
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Art der Vorsorgekommunikation muss nicht unbedingt intendiert sein und ist somit gleichsam eine Nebenwirkung der Legitimationskommunikation. 462 Die Erhebung biometrischer Daten und deren Aufnahme in den Reisepass kann als Beispiel hierfür herangezogen werden. Dieses Verfahren wird durch den Staat (Sender) als aufgrund des Terrorismus notwendig gewordene Sicherheitsmaßnahme kommuniziert, bereitet den potenziell Reisenden (Empfänger) implizit aber auch auf die Möglichkeit vor, auf Reisen selbst Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden. Umgekehrt kann Vorsorge auch die Primärintention, Legitimation hingegen die Nebenwirkung sein. Ein solcher Fall liegt vor, wenn ein Akteur innerhalb des Risikokommunikationsprozesses die Betonung auf die Gefährdung durch den Terrorismus legt, mit dem Ziel, beim Adressaten ein gewünschtes Verhalten zu evozieren. Dieses Verhalten kann direkt auf den Terrorismus bezogen sein, woraus – mitunter nicht unintendiert 463 – eine wie auch immer geartete Bereitschaft zur Akzeptanz der Maßnahmen des Vorsorgekommunikation betreibenden Akteurs resultiert. Diese Mischform trat unter anderem beim USamerikanischen Versuch auf, den Einmarsch im Irak 2003 propagandistisch vorzubereiten. 464 Eine dritte und letzte hier vorzustellende Mischform stellt der Übergang von Krisenkommunikation zu Vorsorge- und/oder Legitimationskommunikation dar. Den Zeitpunkt des Übergangs als solchen eindeutig zu definieren, ist nicht unproblematisch. Nimmt man jedoch die wesentlichsten Charakteristika für Krisenkommunikation – mangelhafte Informationslage, hohes öffentliches Interesse, enger zeitlicher Zusammenhang zum Anlass der Krise – als Bewertungsgrundlage, so ergibt sich bei deren Wegfall eine mögliche Schwelle, die den Übergang zu anderen Kommunikationsarten induzieren kann. Ausgangspunkt für diese Mischform ist die reine Krisenkommunikation, die ihrerseits beim Empfänger auch schon ähnliche Wirkung wie Vorsorge- und Legitimationskommunikation erzielen kann. Liegt dieser Wirkung Intentionali462 463
464
Zu betonen ist hierbei die Vagheit der Nebenwirkung, sodass sich daraus für den Sender schwerlich eine konkrete Verhaltensweise, höchstens eine bestimmte Einstellung dem Terrorismus gegenüber, ergeben kann. Es ist durchaus einleuchtendes und auch gängiges Verhalten, eine potenzielle Gefährdung in den Vordergrund zu rücken, um eigenen Maßnahmen höhere Legitimität zu verleihen. Hierbei spielt ausdrücklich keine Rolle, ob die Gefährdung überhaupt besteht oder nicht. Wichtig ist allein die von der Behauptung ausgehende Wirkung. Die Betonung der US-amerikanischen Kommunikation lag auf der Bedrohung, die durch angeblich unter der Verfügungsgewalt Saddam Husseins stehende Massenvernichtungswaffen ausging. Erst in zweiter Linie wurde eine Verstrickung Saddam Husseins in die Aktivitäten der Al Qaida rund um den 11. September kolportiert. Im Nachhinein erwiesen sich beide Pfeiler der Legitimation als nicht tragfähig.
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tät zugrunde, so ist dies ein Indiz für die Qualität der Krisenkommunikation. 465 Exemplarisch kann ein Übergang von Krisen- zu Vorsorge- und Legitimationskommunikation im vierten Quartal 2001 anhand der Risikokommunikation der westlichen Staaten über Terrorismus beobachtet werden, als mit zunehmend gesicherter Informationslage, immer größer werdendem zeitlichem Abstand bei allmählich abnehmendem öffentlichem Interesse diese Akteure sich auch verstärkt innenpolitisch mit Terrorismus zu befassen begannen. In dieser Zeit brachten die Regierungen der westlichen Staaten Gesetzesvorlagen ein. Darüber hinaus schufen sie Organisationen oder statteten bereits bestehende mit weiter reichenden Kompetenzen aus, was ohne die Legitimation durch Terrorismus bei gleichzeitigen expliziten Hinweisen auf die Möglichkeit, selbst zum Opfer zu werden, kaum denkbar gewesen wäre. 466 3.4.2
Grenzen und Probleme von Risikokommunikation
Bei allen positiven Effekten, die Risikokommunikation für die sie praktizierenden Akteure beinhaltet, sind indes auch kontraproduktive oder wenigstens solche, die dringend der Berücksichtigung bedürfen, zu konstatieren. Das erste, grundsätzliche Problem besteht in der Selbstreferenz des Risikos, das die bloße Entscheidung über Teilnahme oder Nicht-Teilnahme am Risikokommunikationsprozess bedeutet. Allein durch die Teilnahme verhilft man – gerade als vom Terrorismus negativ betroffener Akteur – dem terroristischen Anliegen ein Stück weit zum Erfolg, nämlich der Schaffung von Publizität. Jeder weitere Akteur, der sich an der Risikokommunikation über Terrorismus beteiligt, trägt folglich zu dessen Erfolg bei. 467 Vermag sich ein Akteur der Beteiligung zu entziehen, hat er unter Umständen mit informellen Sanktionen anderer Akteure zu rechnen. Beteiligt er sich jedoch, birgt auch jeder Kommunikationsbeitrag das Risiko, sich aufgrund des Inhaltes bei anderen Akteuren in ein schlechtes Licht zu rücken und gegebenenfalls selbst in eine für den Terrorismus besonders exponierte Rolle zu schlüpfen. 465 466
467
Mitunter werden unter dem akuten Eindruck von Krisen auf diese Weise schon frühzeitig unpopuläre Maßnahmen vorbereitet, die andernfalls keine oder nur sehr viel schwerer Billigung erfahren würden. Die USA schufen in dieser Zeit die Grundlagen für das Departement for Homeland Security und statteten den CIA mit zusätzlichen Kompetenzen aus. In Deutschland passierten die nach dem damaligen Bundesinnenminister Otto Schily „Otto-Katalog“ genannten Sicherheitsgesetze ohne größere Schwierigkeiten den Bundestag. Cutter (1993: 182 f.) subsumiert den individuellen Beitrag am Risikokommunikationsprozess – allerdings nicht explizit auf Terrorismus bezogen – als soziale Verstärkung von Risiken.
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Auch wenn ein wie auch immer geartetes Ergebnis des Risikokommunikationsprozesses keinem bestimmten Akteur mehr eindeutig zurechenbar ist, kann die Wahrnehmung des Ergebnisses durch Dritte für den einzelnen Akteur riskant werden. 468 Darüber hinaus sind die Probleme bei der Interpretation von Nachrichten, d. h. deren Aufschlüsselung in einzelne Botschaften, nicht zu vernachlässigen. Die vier Seiten einer Nachricht sind auch bei Superkommunikation von Relevanz, sodass bei der Entschlüsselung der Botschaften durch den oder die Empfänger eine Vielzahl von Annahmen zu Hilfe gezogen werden müssen, die aber letztendlich nur im Idealfall mit der ursprünglichen Intention des Senders kongruent sind. In diesem Zusammenhang ist nochmals darauf hinzuweisen, dass nicht die Nachricht und somit die Absicht des Senders, sondern die Interpretation der Empfänger deren Handeln bzw. Einstellung determiniert. 469 Nicht vergessen werden darf der Umstand, dass es mitunter Akteure geben kann, die sich am Risikokommunikationsprozess über Terrorismus nicht beteiligen wollen oder können. Eine eventuelle Nichtbeteiligung ergibt sich dann, wenn einzelne Akteure aus infrastrukturellen Gründen mitunter nicht erreicht und so an einer kollektiven Kommunikation über Terrorismus beteiligt werden können. 470 Dies bedeutet nicht, dass diese Akteure nicht Superkommunikation im vorliegenden Sinne betreiben, freilich aber in einem vom internationalen weitgehend abgeschotteten und auf Mikroebene verlaufenden Kommunikationsprozess. Als immun gegenüber Risikokommunikation erweisen sich fundamentalistische Gruppierungen, die einem bestimmten Neuen Risiko gegenüber eine überaus dezidierte Position vertreten. Auch diese aus der Forschung über ökologisch-technische Risiken stammende Erkenntnis lässt sich auf die Terrorismus468
469 470
Auch wenn Luhmann (1993: 165 f.) dies nicht anhand des Terrorismus feststellt, ist die Beobachtung als solche doch auf terroristische Szenarien übertragbar. Man stelle sich folgendes, fiktives Szenario vor: drei Staaten (A, B, C) entscheiden in einer geheimen Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip über Gegenmaßnahmen gegen Terrorismus. A und B überstimmen C. Da das Ergebnis der Konsultation aber nicht transparent nach außen getragen wird, können Außenstehende das Abstimmungsverhalten der einzelnen Akteure nicht ohne Weiteres nachvollziehen und die getroffene Entscheidung eindeutig zurechnen. Fraglos kann darüber gestritten werden, ob die Interpretation eine bestimmte Einstellung zu einem Thema zur Folge hat oder ob die Einstellung nicht schon vorhanden und daher für die Interpretation maßgeblich ist. In Afghanistan beispielsweise stellen eine Vielzahl von Faktoren Hürden für eine Beteiligung der afghanischen Bevölkerung an der internationalen Debatte über Terrorismus dar: geringe Bevölkerungsdichte bei gleichzeitig unzureichenden Anbindungen an Telekommunikationsverbindungen, eingeschränkte mediale Erreichbarkeit (v. a. Print- und Internetmedien), eine hohe Analphabetenrate, die Existenz zahlreicher weiterer Sprachen neben Dari und Paschtu, den beiden offiziellen Amtssprachen.
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forschung übertragen. Die Nichtbereitschaft zur Akzeptanz von der eigenen Meinung entgegenstehenden Argumenten und Positionen ist beim Umgang mit Terrorismus weit verbreitet. Betrachtet man exemplarisch die Antagonisten Staat (als vom Terrorismus negativ betroffener Akteur) und Terroristen (als diesem positiv gegenüberstehende Akteure), so wird es schwerlich zu einem Interessenausgleich kommen. 471 Dies erklärt sich vor allem durch das Auseinanderfallen von Verursacher bzw. Nutznießer und Betroffenem hinsichtlich des eingetretenen Schadens, sodass diese Differenz zwangsläufig auch in die Risikokommunikation mit übertragen wird. Der größte Teil der Risikokommunikation über Terrorismus lief und läuft zwischen vom Terrorismus negativ betroffenen Akteuren, sobald aber der Akteur Terrorist (und somit der Verursacher) am Kommunikationsprozess teilnimmt, tritt die bereits von Luhmann (1995: 205) thematisierte Differenz von als Peripherie bezeichneten (sozialen) Protestbewegungen einerseits und den Organisationen der sogenannten Funktionssysteme (des bereits erwähnten Zentrums) andererseits offen zutage. Ausdruck dieser Differenz sind häufig unvereinbare Perzeptionen über das Risiko an sich, aber auch über die Verortung des jeweiligen Akteurs, was sich in wechselseitiger Kommunikationsimmunität äußert. Der nächste, ebenfalls bei der Risikokommunikation über Terrorismus – aber nicht nur auf dieses Feld begrenzte – zu erwähnende Schwachpunkt ist die Forschungslage hinsichtlich der Auswirkungen des „Querhörens“. Die Kommunikationswissenschaft konzentriert sich hauptsächlich auf Sender und einen oder mehrere als Adressaten beschriebene Empfänger. Gerade bei der Risikokommunikation über Terrorismus gibt es regelmäßig eine Vielzahl an „querhörenden“ Empfängern, die vom Sender sicherlich nicht explizit, möglicherweise nicht einmal implizit als Adressaten vorgesehen sind. Angesichts der Nachhaltigkeit, mit der sich Terrorismus in der öffentlichen Debatte etabliert und der Vielzahl an Querhörern wäre eine weitere Auseinandersetzung mit diesem Phänomen angeraten. Unabhängig von wissenschaftlichen Defiziten weist die Risikokommunikation weitere beachtenswerte Effekte auf, zu denen die nicht intendierten Nebeneffekte des eigenen Handelns zählen. 472
471
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Diese These orientiert sich am Auftreten der USA und der Al Qaida. Dass ein Ablegen der Kommunikationsimmunität unter bestimmten Voraussetzungen wenigstens in eingeschränktem Maß möglich ist, belegen indes die Erfahrungen des Terrorismus der ETA und IRA, die über ihre politischen Arme stets ein grundsätzliches Mindestmaß an Dialogfähigkeit bewahrten. Solche Nebeneffekte sind nahezu immer und überall denkbar, dürfen aber angesichts des Themas vorliegender Arbeit nicht ignoriert werden.
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„Die Erzeugung von Risiken durch die Wissenschaft und ihre Wahrnehmung mit Hilfe von Wissenschaft – dies dürfte das eigentlich Neue an der Risikokommunikation sein: daß sich die Wissenschaft auch mit ihren eigenen Folgen beschäftigen muß“ (Bechmann (1993: VII f.). 473
Diese Feststellung Bechmanns trifft im Fall des Terrorismus eher auf die Medien denn auf die Wissenschaft zu. Die Medien nehmen eine Schlüsselposition im Risikokommunikationsprozess ein. Sie besitzen beachtlichen Einfluss, denn das Ausmaß ihrer Berichterstattung ist mitverantwortlich für den Erfolg und die Wirkung terroristischer Akte. 474 Aber nicht nur das Handeln, sondern auch die Risikokommunikation als solche birgt Stolpersteine. Harry Otway und Brian Wynne (1993) identifizieren in diesem Zusammenhang sieben miteinander korrespondierende Paradoxien (Paradoxie sei dem Brockhaus (2001: 985) folgend verstanden als „etw., was einen Widerspruch in sich enthält“). 475 Diese Paradoxien beschreiben den Umstand, dass Kommunikation oftmals trotz bester Absichten und Umsetzung aufgrund ihrer schieren Existenz den gegenteiligen Effekt erzielen kann als den eigentlich intendierten.476 Die Gründe hierfür liegen unter anderem in der Vierdimensionalität einer Nachricht und der Notwendigkeit der Interpretation durch den Empfänger (vgl. Schulz von Thun 2006: 2568). Auf die Risikokommunikation über Terrorismus bezogen lässt sich vor allem für die Terrorismus befürwortenden oder gar praktizierenden Akteure eine Vielzahl derartiger Paradoxien feststellen. Die Intensität der Anwendung von Terrorismus als Mittel zur Kommunikation politischer Anliegen vermag die Einigkeit unter den Befürwortern zu zerstören. Gegebenenfalls führt Terrorismus sogar dazu, dass die Rechmäßigkeit des eigentlichen Anliegens infrage gestellt wird. Auch kann das angegriffene politische System statt auseinander-
473
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Für den Fall des Terrorismus ist diese Aussage indes in einem Punkt abzuwandeln. Der Akteur, der im Risikokommunikationsprozess über Terrorismus beziehungsweise allgemein im Umgang mit ihm aus ethischer Perspektive zur Selbstreflexion gezwungen ist, sind die Medien. Für eine Analyse ihrer Rolle im Risikokommunikationsprozess vgl. Kapitel 3.4.3.5 vorliegender Arbeit. Otway/Wynne identifizieren bei der Untersuchung der Risikokommunikation über technische Risiken folgende Paradoxien: Authentizitätsparadoxon, Beruhigungs-/Beunruhigungsparadoxon, Gleichgültigkeitsparadoxon, Informationszielparadoxon, Informationskulturparadoxon, Informationsnachfrageparadoxon und das Körpersprachenparadoxon. Beispielsweise kann Kommunikation, die einen Sachverhalt als verhältnismäßig harmlos schildert, vom Empfänger durchaus so aufgefasst werden, dass es eben gefährlich ist – die Hauptbotschaft, dass es wesentlich schlimmer sein könnte, geht hierbei unter. Statt Beruhigung erzielt die Nachricht Beunruhigung.
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zubrechen auch ein Stadium der Festigung und des Zusammenrückens seiner Bürger durchlaufen. 477 Für die Terroristen selbst besteht die Gefahr, dass sie sogar von der eigenen Anhängerschaft nicht als Helden und Freiheitskämpfer, sondern als Kriminelle wahrgenommen werden. 478 Selbst wenn Terroristen ein Regime zum Sturz bringen, bedeutet dies noch nicht zwangsläufig ihre politische Anerkennung. Ein Beispiel hierfür sind die uruguayischen Tupamaros,479 deren Wirken zwar den Sturz des demokratischen Systems verursachte – worauf dieses von einem totalitären rechten Regime abgelöst wurde, das eine Repressivität entfaltete, welche die Tupamaros schlussendlich ins Exil zwang (vgl. Laqueur 1987: 177). Seitens der negativ vom Terrorismus betroffenen Akteure scheinen Maßnahmen im Großen und Ganzen goutiert zu werden, solange sie sich eindeutig und nachhaltig als auf Terrorismus bezogen ausweisen lassen. 480 Dass Terrorismusbezogenheit ein notwendiges Kriterium ist, verdeutlicht erneut das Beispiel vom IrakKrieg 2003, als Deutschland trotz der gemeinsamen Wertebasis mit den USA den Krieg ungeachtet der versuchten Verknüpfung desselben mit Terrorismus nicht für hinreichend legitimiert erachtete. 481 Risikokommunikation über Terrorismus stößt also mitunter an ihre Grenzen, wenn zwei sich denselben Fakten gegenüber sehende und sogar über eine gemeinsame Wertebasis verfügende Akteure dezidiert konträre Auffassungen hinsichtlich der Bewertung der Fakten sowie der Zielsetzung und Legitimität der einzusetzenden Mittel vertreten. Jenseits des bestehenden Fakten- und Wertekonsenses scheint sich ein Konflikt abgezeichnet zu haben, der langfristige Konsequenzen für die Beziehungen der Akteure untereinander zu evozieren vermag: „Wenn es dagegen um Zukunft in der Perspektive von Risiko geht, 477 478 479 480
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Dies verdeutlicht das Beispiel der USA nach den Anschlägen des 11. September, als sich einerseits die Bevölkerung kollektiv mit den Opfern solidarisierte, andererseits auch die bis dato aktiven Kritiker sich hinter George W. Bush stellten. Diesen Schluss lässt auf die IRA bezogen die Schilderung Matusseks (2005) zu. Der vollständige Name der Tupamaros, die seit 1985 eine reguläre politische Partei bilden, lautet „Movimiento de Liberación Nacional – Tupamaros“ (MLN-T, Nationale Befreiungsbewegung). Infolge der Anschläge des 11. September dürfen Fluggäste Flüssigkeiten im Handgepäck nur noch sehr eingeschränkt mitführen. Obwohl dadurch allein in Deutschland wöchentlich Waren im Wert von zwei Millionen Euro vernichtet werden, sollen einer Umfrage von TNS Forschung im Auftrag des Spiegels zufolge nach der Meinung von 65 % der Bundesbürger die Beschränkungen bestehen bleiben. Vgl. hierzu „Nachgefragt. Sicherheit geht vor“ (2007). Es darf nicht unterschlagen werden, dass nicht nur die Sekundärlegitimation – Terrorismusbezogenheit – nicht die von der US-Regierung erhoffte Wirkung erzielte, sondern auch und vor allem die Primärlegitimation – die angebliche Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak.
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scheint weder Faktenkonsens noch Wertkonsens zu helfen, und sogar beides den Konflikt zu verschärfen“ (Luhmann 1993: 159). Letztendlich sehen sich beide Seiten – Terrorismus praktizierende Akteure wie auch negativ davon Betroffene – generell der Möglichkeit gegenüber, dass die Adressaten eine Nachricht falsch interpretieren oder dass sich Empfänger angesprochen fühlen, die seitens des Senders nicht als Adressaten gedacht waren. Dies alles deutet darauf hin, dass Risikokommunikation trotz ihrer grundsätzlichen Stärke hinsichtlich des Ausgleichs der unterschiedlichsten Wahrnehmungen und vor allem der ExpertenLaien-Differenz kein Allheilmittel im Umgang mit Neuen Risiken im Allgemeinen und auch nicht mit Terrorismus im Speziellen ist. 3.4.3
Anwendung auf die Fallstudie
Die Untersuchung der Risikokommunikation bzw. allgemeiner formuliert des Risikomanagements vom 26. November abends bis zum 5. Dezember 2004 in einem Auslandseinsatz der Bundeswehr im Zuge eines Anschlags als einer Hoch-Risiko-Umgebung hat als wesentlichen Bestandteil das Suchen nach den Antworten auf folgende Fragen: 482 Welche Kommunikationsarten waren erkennbar? Wurden die Kriterien für gute Krisenkommunikation eingehalten? Daran anknüpfend: Sind die einzelnen Auflagen und Forderungen umgesetzt worden? Gab es Akteure, die nicht an der Risikokommunikation beteiligt waren? Wenn ja, warum? Lag es an etwaiger Kommunikationsimmunität? Welche Paradoxien wurden bei der Risikokommunikation deutlich? Die Antworten auf diese Fragen sollen eine abschließende Bewertung des Krisenmanagements ermöglichen. In der Analyse der Risikokommunikation werden vor allem die Programminhalte des Radiosenders Sada-e-Azadi Shamal vom 27. November 2004 zum Gegenstand des Interesses, ohne jedoch den Editorialbeitrag in der am 5. Dezember 2004 erschienenen Folgeausgabe der Sada-e-Azadi-Zeitung und die Maßnahmen der Taktischen OpInfo-Gruppe zu ignorieren. Die einzelnen Bestandteile der Risikokommunikation werden an dieser Stelle mit Hinweisen zur Chronologie kurz skizziert. Der Inhalt der Morgensendung des Radiosenders waren die beiden Beiträge vom 25. November, welche turnusgemäß wiederholt wurden und keinen Bezug zum Anschlag aufweisen 483, sowie das Info-Update, welches die zu er482 483
Zu einer Sammlung von Beiträgen über die Kommunikation unter Risikobedingungen vgl. Dietrich (2003). Die beiden Wiederholungsbeiträge, deren Themen nicht mehr nachvollzogen werden können, finden nur der Vollständigkeit halber Erwähnung und sind nicht weiter Gegenstand der Betrachtungen.
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wartende Explosion aufgrund der Beseitigung einer alten Fliegerbombe ankündigte. Ebenfalls bereits vormittags führte die Taktische OpInfo-Gruppe Lautsprecheraufrufe zum selben Zweck sowie Gesprächsaufklärung durch. Letztere hatte zum Ziel, etwas über die Meinung der Bevölkerung hinsichtlich des Anschlags zu erfahren. Im Radio wurden in der Hauptsendezeit von 15.00 Uhr bis 21.00 Uhr stündlich Nachrichten ausschließlich mit den Themen „Anschlag“ und „ASNF“ gesendet. Die Nachrichten wurden zu ungeraden vollen Stunden in Dari, zu geraden vollen Stunden in Paschtu ausgestrahlt. Weiterhin wurde in der Hauptsendezeit ein ebenfalls in beiden Sprachen produzierter Beitrag mit einer Stellungnahme des Gouverneurs der Provinz ins Programm genommen. 484 Der Beitrag „Gouverneur“ wurde standardmäßig am übernächsten Tag in der Morgensendung wiederholt, während erst am 5. Dezember der Anschlag über das Editorial in der Zeitung aufgegriffen werden konnte. Über diesen gesamten Zeitraum dauerte mit nachlassender Intensität die Gesprächsaufklärung an. Es ist zu betonen, dass vor allem das Programm von Radio Sada-e-Azadi Shamal am 27.11.2004 als Ganzes, d. h. als Summe aller Programminhalte in Relation zu einem „normalen“ Tag 485 zu sehen ist. Erst dieser Vergleich ermöglicht eine realistische Bewertung der Intensität der auf den Anschlag bezogenen Risikokommunikation. 3.4.3.1
Kommunikationsarten
An welchen Stellen der Fallstudie finden sich Elemente, die sich einem der Archetypen der Risikokommunikation oder auch einer der Mischformen zuordnen lassen? Vorsorgekommunikation ist vornehmlich durch Zukünftigkeit und eine gewisse Hilflosigkeit von Sender und auch Empfänger gegenüber einem 484 485
Ob, und wenn ja, mit welchem Thema ein zweiter Beitrag am 27. November im Regionalprogramm war, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Lediglich ein Beitrag mit indirektem oder gar direktem Bezug ist auszuschließen. Ohne Ausrichtung auf ein Schwerpunktthema bestand ein normaler Sendetag von Radio Sada-e-Azadi Shamal aus der Wiederholung der zwei Tage zuvor gelaufenen Beiträge in der Morgensendung zwischen 9.00 und 10.00 Uhr morgens. Regionalnachrichten waren in diesem Zeitfenster überhaupt nicht, Info-Updates nur im Ausnahmefall vorgesehen. In der Hauptsendezeit zwischen 15.00 und 21.00 Uhr gab es zur vollen Stunde Nachrichten mit mindestens drei aktuellen, auch bunten Themen. Die Nachrichten wurden abwechselnd in Dari und Pashtu gesendet. Als weiterer Informationsteil waren zwei, meist voneinander unabhängige, Beiträge vorgesehen, die zu etwa 85 % in Dari produziert waren. Von diesen wurde je einer pro Sendestunde ausgestrahlt und in der übernächsten wiederholt, sodass jeder Beitrag dreimal im regulären Sendefenster lief. Info-Updates und landestypische Musik wurden zwischen diesen mehr oder weniger festen Blöcken platziert.
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Ereignis gekennzeichnet. Legitimationskommunikation bezieht sich vor allem auf das Handeln des Senders, während Krisenkommunikation in unklaren und bedrohlichen Lagen Anwendung findet. Das Info-Update und die Lautsprecheraufrufe informierten über eine gezielte Zerstörung von alter Munition, was eine enorme Explosion verursachen würde. Profiteur der Beseitigung war hauptsächlich die Bevölkerung, aber auch die ANA und ISAF. 486 Die Explosion konnte durch die Zielgruppe auf verschiedene Weise wahrgenommen werden: 1) Neuerlicher Anschlag auf ISAF. 2) Antwort von ISAF auf den Anschlag auf die Patrouille. 3) Lärmbelästigung. 4) Minenräumung durch HALO-Trust. 487 5) Sonstige kriegsähnliche Handlungen. Die Punkte 4) und 5) wurden aus Sicht der Operativen Information aufgrund ihrer geringen Wahrscheinlichkeit als irrelevant bewertet. Die Frage der Lärmbelästigung musste aufgegriffen werden, da der letztendliche Verursacher derselben – die ISAF-Truppen – nur Gast in Afghanistan war. Lärm zu verursachen stellt ein für einen Gast ungebührliches Verhalten dar, das es einerseits zu erklären und andererseits anzukündigen galt. Die Gründe für die Lärmbelästigung zu erläutern war nichts anderes als Legitimationskommunikation. Die Kontextualisierung der Explosion mit terroristischen Maßnahmen gegenüber ISAF bzw. einer möglichen Reaktion von ISAF auf solche zu verhindern war der Ansatzpunkt bei den ersten beiden Punkten. Dieser zu erwartenden Kontextualisierung vorzubeugen war nichts anderes als Vorsorgekommunikation. 488 Die doppelte Funktion des Info-Updates macht es selbst zu einer Mischform aus Legitimations- und Vorsorgekommunikation, wobei streng auf Terrorismus bezogen eindeutig der Aspekt der Vorsorgekommunikation dominiert. 489 Die am selben Tag ausgestrahlte Nachricht über die Operation der ASNF diente dem Zweck, einerseits der Bevölkerung den Willen Präsident Karsais zur Bekämpfung des Drogenhandels zu demonstrieren, andererseits aber ISAF nicht als Urheber oder auch nur Beteiligten der Maßnahmen erscheinen zu lassen. 486 487 488
489
Die Sprengung sollte außerhalb des eigentlichen Stadtgebiets in der Nähe des von ISAFTruppen genutzten Flughafens stattfinden. In dessen weiterem Umfeld befanden sich auch einige Häuser sowie eine Kaserne der ANA. HALO-Trust ist eine britische Wohltätigkeitsorganisation, die sich mit der Beseitigung der Altlasten von Kriegen beschäftigt. Der Internetauftritt von HALO-Trust findet sich unter http://www.halotrust.org/. Die Definition von Vorsorgekommunikation verlangt das Vorliegen eines durch den Sender nicht zu beeinflussenden zukünftigen Ereignisses. Die Sprengung als solche lag zwar in der Verantwortlichkeit des PRT, konnte aber aus verschiedenen Gründen nicht verschoben oder abgesagt werden, was sie folglich zu einem der Definition genügenden Ereignis macht. Da die exakte Uhrzeit der Sprengung zum Zeitpunkt der Redaktionskonferenz noch nicht feststand, war es sowohl aus legitimatorischen wie auch aus Vorsorgeaspekten sinnvoll, das Info-Update möglichst früh zu senden. Der Umstand, dass die Sprengung kurzfristig abgesagt und auf einen späteren Termin verschoben wurde, mutet rückblickend wie Ironie an.
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Dies musste verhindert werden, um ISAF nicht zum Ziel von Vergeltungsmaßnahmen – etwa in Gestalt weiterer Anschläge – werden zu lassen. Auch diente sie dem Zweck, den Anschlag für die Zielgruppe nicht als Machtdemonstration der Drogenhändler aussehen zu lassen. Das Senden dieser Nachricht hatte somit Präventivcharakter und ist somit Vorsorgekommunikation. Die Radionachricht über den Anschlag war sachlich-informativ und verfolgte das Ziel, zu informieren ohne zu eskalieren und dabei das PRT als Herr der Lage erscheinen zu lassen. Sie erfolgte nicht zum ersten möglichen Zeitpunkt, sondern, um die Wichtigkeit nicht überzubetonen, erst zur regulären Sendezeit. Ihr Inhalt war einerseits kurzfristig und somit aufgrund des noch nicht vollständigen Lagebildes nur eine erste Information, andererseits war sie strikt ereignisbezogen. Daher ist sie als Krisenkommunikation zu werten. Der Radiobeitrag mit der Stellungnahme des Gouverneurs 490 verfolgte das Ziel, einen Multiplikator der Zielgruppe zu Wort kommen zu lassen und so dessen Einstellung und Sichtweise auf den Anschlag auf die Bevölkerung zu übertragen. Der Beitrag wurde kurzfristig und ereignisbezogen ins Programm genommen und gab weitere, über den knappen Inhalt der Nachricht hinausgehende Informationen, so zum Beispiel von afghanischen Augenzeugen. Er erfüllt folglich wesentliche Kriterien für Krisenkommunikation. Die Aussage des Gouverneurs als solche war eine eindeutige Stellungnahme zugunsten von ISAF, wobei er den Anschlag verurteilte und die Bevölkerung, gerade die Besucher der Moscheen, zur Kooperation mit den nationalen Sicherheitsorganen und mit ISAF aufforderte. Dies ist eine öffentliche Delegitimierung des Anschlags und trägt somit deutliche Züge von Legitimationskommunikation. Der Editorial-Beitrag betonte die zivile Komponente des PRT, dessen Auftrag die Unterstützung des Wiederaufbaus Afghanistans und nicht das Ausüben von Besatzungsmacht ist. Ebenso wies er explizit auf die Nutzlosigkeit des Unterfangens hin, mittels des Einsatzes von Gewalt ISAF zum Abzug bewegen zu wollen. Allein der Ansatz, den Leiter des zivilen Anteils des PRT um das Verfassen des Editorials zu bitten, stellte Krisenmanagement dar, was den Beitrag selbst zur Krisenkommunikation macht. Der Hinweis auf den Unterstützungsauftrag sollte die Notwendigkeit der Präsenz von ISAF illustrieren und ist als Legitimationskommunikation zu werten. Gleichzeitig grenzte er die Rolle des PRT von der der Sowjettruppen zwischen 1979 und 1990 ab. Die dahinterstehende Intention war, dass die Zielgruppe deutsche Soldaten nicht als Feinde und somit als legitimes Ziel terroristischer Gewalt wahrnehmen sollte. Dieses Element des Editorials stellt Vorsorgekommunikation dar.
490
Der Beitrag ist weder als Tondokument noch in gedruckter Version erhalten.
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Die Gesprächsaufklärung hatte zum Ziel, Informationen über die Meinung der Bevölkerung zum Anschlag zu erhalten, auch und vor allem nachdem andere Bestandteile des Krisenmanagements bereits umgesetzt waren. Diese inhaltliche Ausrichtung macht sie zu einem Bestandteil der Krisenkommunikation. Die Zuordnung der einzelnen Bausteine zu den unterschiedlichen Kommunikationsarten verdeutlicht Abbildung 3-5:
Info-Update Nachricht „ASNF“ Nachricht „Anschlag“ Beitrag „Gouverneur“ Editorial-Beitrag Gesprächsaufklärung
Vorsorgekommunikation x x
Legitimationskommunikation
x x
x x
Krisenkommunikation
x X X X X
Abb. 3-5: Kommunikationsbausteine und -arten Die Analyse der sechs Einzelbausteine ergibt in vier Fällen die eindeutige Zuordnung zum Typus Krisenkommunikation. Sowohl das Info-Update und die Lautsprecheraufrufe über die Explosion als auch die Nachricht über die Zerstörung von Drogenlabors durch die ASNF ließen sich durch den Anschlag völlig neu kontextualisieren, da sich ohne offensive Risikokommunikation des PRT in beiden Fällen aus Sicht der Bevölkerung ein impliziter Zusammenhang hätte ergeben können. Die Berichterstattung in den Nachrichten sowie der Beitrag „Gouverneur“ waren archetypische Krisenkommunikation. Ist vor diesem Hintergrund die Arbeit der Truppe für Operative Information als Krisenkommunikation zu bezeichnen? Vergleicht man das Regionalprogramm des Radiosenders vom 27.11.2004 mit dem beliebiger anderer Sendetage, so werden vor allem folgende Unterschiede deutlich: Trotz des Fehlens einer zum Sendezeitpunkt dominierenden Kampagne ließen sich alle Sendeinhalte (außer der wie üblich als Wiederholung gesendeten Morningshow und dem zweiten, nicht mehr nachvollziehbaren Beitrag) mit einem Metathema kontextualisieren: dem Anschlag. Diese Abweichung von der Normalität verweist auf die Außerordentlichkeit der herrschenden Rahmenbedingungen, woran auch die im Vergleich zum theoretisch Machbaren zurückhaltende Intensität nichts ändert.491 Dies legt den Schluss nahe, dass der Programminhalt des 27.11.2004 als Ganzes 491
Diese Zurückhaltung war selbst Bestandteil des Krisenmanagements.
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als Bestandteil der Krisenkommunikation zu werten ist. In die gleiche Richtung verweist die Gesprächsaufklärung der Taktischen OpInfo-Kräfte, die ebenfalls ohne Leitkampagne über mehrere Tage nur auf Informationen zu einem einzigen Thema ausgerichtet war: den Anschlag. Zusammengenommen machen allein diese beiden Aspekte die kommunikativen Maßnahmen der Truppe für Operative Information zu Krisenkommunikation. 3.4.3.2
Gute Krisenkommunikation?
Nachdem festgestellt wurde, dass sowohl einzelne Bausteine als auch das Kommunikationspaket in toto Krisenkommunikation waren, ist zu prüfen, ob diese nach den bereits skizzierten Kriterien als „gut“ zu bewerten ist (vgl. Kapitel 3.4.1.3). Die Kriterien, die gute Krisenkommunikation erfüllen muss, sind Glaubwürdigkeit, Empathie, Kompetenz, zielgruppengerechte Sprache und Information, Informationskoordination, In-Aussicht-Stellen von Kompensation, ihre Integration und Anpassung an bestehende Notfallpläne, kontinuierliche Aktualisierung, das Nennen von Ansprechstellen und Kontaktmöglichkeiten, Verzugslosigkeit und Verständlichkeit sowie die Intentionalität der Vorsorgeund Legitimationsaspekte. 492 Ob und wie diese Faktoren in der Fallstudie Umsetzung fanden, soll im Folgenden untersucht werden. Der erste zu betrachtende Faktor guter Krisenkommunikation ist die Glaubwürdigkeit. Wovon hängt die Glaubwürdigkeit eines Akteurs und folglich seiner Maßnahmen ab, wodurch ist sie gekennzeichnet? Basis für die Glaubwürdigkeit von Krisenkommunikation ist bereits bestehendes grundlegendes Vertrauen des oder der Adressaten in den Sender. Von dieser Basis hängt auch und vor allem bei Krisenkommunikation die Glaubwürdigkeit der gesendeten Informationen und Botschaften ab. In der Fallstudie kann aufgrund der konstanten Ergebnisse der Gesprächsaufklärung vom Vertrauen der Bevölkerung von Kunduz und dessen Umland ausgegangen werden, sodass die Basis für glaubwürdige Krisenkommunikation vorhanden war. 493 Gerade für einen Akteur wie 492 493
Die Kriterien orientieren sich an Minwegen (2004), werden aber durch den Verfasser wiederum um die Intentionalität der Vorsorge- und Legitimationsaspekte ergänzt (vgl. Kapitel 3.4.1.4). Ende 2004 ergab die Face-to-face-communication durch die Taktischen OpInfo-Kräfte eine positive Einstellung der Bevölkerung gegenüber ISAF, was wiederum auf ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit der PRT-eigenen Medien verweist. Als Beispiel dafür, dass Glaubwürdigkeit ein generelles Leitmotiv des Handelns von ISAF ist, kann die einsatzvorbereitende Ausbildung in Deutschland gelten. In ihr werden nachdrücklich die Folgen unterstrichen, die gegebene Versprechen haben können, sowohl wenn sie eingehalten als auch wenn sie gebrochen werden.
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die Truppe für Operative Information, deren Auftrag Informationsverbreitung ist, ist die Verpflichtung zur Wahrheit absolut. Ließe sich nur einmal eine Information als unwahr beweisen, so würde die zukünftige Wirkung der kommunizierten Botschaften merklich gemindert. Folglich war es nicht nur unter dem Aspekt der Krisenkommunikation unabdingbar, dass sämtliche verbreiteten Informationen überprüfbaren Tatsachen entsprachen. Das Wissen der Bevölkerung um die Überprüfbarkeit der über die Medien des PRT verbreiteten Informationen war die wichtigste Voraussetzung dafür, dass diese auch im Krisenfall als glaubwürdig angesehen wurden. 494 Da weder die Taktischen OpInfo-Kräfte noch die Zielgruppenanalyse zu Erkenntnissen gelangten, die darauf hinwiesen, dass die Kommunikation nicht als wahrheitsgetreu angesehen wurde, wird das Kriterium „Glaubwürdigkeit“ als erfüllt bewertet. Neben der Glaubwürdigkeit gilt Empathie als wesentliches Kennzeichen guter Krisenkommunikation. War Empathie vorhanden? Wenn ja, worin wurde diese deutlich? Und welche Rolle spielt Empathie im Allgemeinen für die Arbeit der Truppe für Operative Information? Um diese Fragen beantworten zu können, bietet sich an, zuerst die Radionachricht „Anschlag“ näher zu analysieren. Der Text der Radionachricht beinhaltete neben der Schilderung des eigentlichen Sachverhalts – ein Anschlag wurde verübt – auch einen Hinweis auf dessen Konsequenzen – nämlich seine Ineffektivität hinsichtlich einer Änderung der Einstellung von ISAF (des Senders) gegenüber der afghanischen Bevölkerung (dem Empfänger). Die erörterten Konsequenzen orientierten sich an den Bedürfnissen der Zielgruppe. Sie befassten sich mit der Frage, welche Folgen der Anschlag für die Einstellung der ISAF-Truppen gegenüber der Zielgruppe haben würde und richtete sich somit unmittelbar auf ein Thema, von dem angenommen wurde, dass es für die Hörerschaft von Bedeutung war. Ausgangspunkt der Überlegungen, welche Maßnahmen ergriffen, welche Information wie verpackt und welche Nachricht wie formuliert werden sollte, war stets die Frage nach deren Wirkung auf die Zielgruppe. Besagte angenommene Wirkung in der Zielgruppe war das entscheidende Argument. Hierbei mussten zwingend die kulturellen Unterschiede zwischen Sender (ISAF; westlich-christliche Soldaten) und Empfänger (Bevölkerung der Nordostprovinzen Afghanistans; muslimische Zivilisten) berücksichtigt werden, bei deren Überwindung sich vor allem drei organisatorische, institutionelle und persönliche Faktoren als hilfreich erwiesen: erstens, als organisatorischer Faktor, die gute 494
Unterstützt wurde dies durch den Umstand, dass die kommunizierten Tatsachen für die Zielgruppe als Empfänger weder spektakulär oder außergewöhnlich noch von der gleichen unmittelbaren Brisanz wie für das PRT als Sender selbst waren.
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landeskundliche Einweisung des Schlüsselpersonals im Rahmen der Vorbereitung auf den Auslandseinsatz; zweitens, als institutioneller Faktor, das Vorhandensein der Zielgruppenanalyse. 495 Dritter und letzter Faktor ist der persönliche. Die Zusammenarbeit mit den afghanischen Redakteuren war eng und von gegenseitigem Vertrauen geprägt. 496 Zusammen mit diesen sie fördernden Faktoren stellte Empathie ein wesentliches Element zur zielgruppengerechten Gestaltung der Krisenkommunikation dar, sodass auch das Kriterium „Empathie“ als erfüllt bewertet wird. Was ist vor dem Hintergrund eines Anschlags auf ausländische Soldaten unter deren Kompetenz zu verstehen? Im Rahmen von Stabilisierungsoperationen 497 wirkt Militär kompetent und professionell, wenn es auch in Krisensituationen diszipliniert, aber der einheimischen Bevölkerung gegenüber freundlichbestimmt auftritt und Überreaktionen vermeidet. Auf die Informationspolitik des Zielgruppenrundfunks bezogen bedeutet Kompetenz, einerseits die Professionalität und Unerschütterlichkeit der ISAF-Soldaten zu kommunizieren und andererseits selbst im Wettstreit mit anderen Sendern umfassender, präziser und schneller zu informieren. Professionalität sollte durch das Fortfahren mit der geplanten Beseitigung von Restmunition bewiesen werden, aber ebenso durch die Botschaften, die sich in der Nachricht über den Anschlag verbargen. Die Aussage, die verletzten Soldaten seien auf Patrouille gewesen, trägt als eigentliche Botschaft die der Professionalität: „Die Soldaten erfüllten ihren Auftrag!“, während die Information „sie sind außer Lebensgefahr“ so interpretiert werden sollte, dass die medizinische Versorgung hervorragend ist. „Der Anschlag hat keine Auswirkungen auf Einstellung oder Präsenz der ISAFTruppen“ schließlich war dazu gedacht, die Unerschütterlichkeit zu betonen. Ob diese Botschaften von der Zielgruppe auch in dieser Form verstanden wurden, ist letztlich nicht belegbar. Dies ändert jedoch nichts an dem Umstand, dass Kompentenzvermittlung tatsächlich ein Anliegen der Krisenkommunikation darstellte. Unter dieser Prämisse ist das Kriterium „Vermittlung von Kompetenz“ ebenfalls als erfüllt zu bewerten. 495 496
497
Die Zielgruppenanalyse ist eine Abteilung, die für die Analyse der in der Bevölkerung des Einsatzgebietes geltenden Werte und Normen zuständig ist und auch beratende Funktion hat. Dieser Umstand darf nicht als unumstößliches Faktum gelten. Über kulturelle Grenzen hinweg Vertrauen aufzubauen erfordert neben Toleranz auch Empathie. Das Personal, das seitens der Truppe für Operative Information mit afghanischen Redakteuren zusammenarbeitete, profitierte zum Zeitpunkt des Anschlags – gerade drei Wochen nach Übernahme der Dienstgeschäfte – hierbei vor allem noch vom Vertrauensvorschuss, der vom Vorkontingent gleichsam geerbt wurde. Unter die Kategorie der Stabilisierungsoperationen ist auch die ISAF-Mission zu subsumieren. Andere Operationsarten sind Evakuierungsoperationen und Anfangsoperationen.
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Voraussetzung für die Verständlichkeit aller kommunikativen Bestrebungen sind zielgruppengerechte Formulierungen und zielgruppenrelevante Inhalte. Diese zu identifizieren erforderte einerseits Empathie, andererseits angesichts der Sprachbarriere auch entsprechende Sprachfähigkeiten. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, bei fehlender eigener Sprachkompetenz Sprachmittler einsetzen zu müssen, die wiederum die entsprechenden Formulierungen vom Englischen in Dari und Pashtu übersetzen mussten. Die Kommunikationsinhalte hingegen ergaben sich aus den sachlichen Zwängen 498 und dem militärischen Auftrag, wiederum gestützt durch Empathie. Aus Sicht des PRT waren mehrere Zielgruppen mit jeweils unterschiedlichen Formulierungen und Inhalten zu befriedigen. Zum einen gab es die übergeordneten Dienststellen, die von dem Anschlag in Kenntnis gesetzt wurden. Auf diese interne Kommunikation wird nicht weiter eingegangen, da sie kaum Schnittstellen zur Arbeit der Truppe für Operative Information aufweist. Zum anderen gab es die Öffentlichkeit, in Deutschland wie in Afghanistan. Die deutsche wie auch die weltweite Öffentlichkeit zu informieren war Angelegenheit des Presseoffiziers. Die afghanische Öffentlichkeit vor allem in der Region Kunduz zu informieren war der Auftrag der Truppe für Operative Information. Es war zu erwarten, dass die Zielgruppe vereinzelt auch von internationalen Meldungen über den Anschlag Kenntnis erhielt, sodass es von großer Wichtigkeit war, die Inhalte der eigenen Kommunikationsmaßnahmen mit denen des Presseoffiziers abzustimmen. Sowohl die Pressemitteilung des Presseoffiziers als auch die Nachricht im Zielgruppenrundfunk verzichtete aus Gründen der Verständlichkeit auf militärische Fachbegriffe und gab auch nicht sämtliche Erkenntnisse preis, über die das PRT verfügte. Unterschiede gab es jedoch hinsichtlich der benutzten Sprachen. Während der Presseoffizier sich ausschließlich auf Deutsch äußerte und eventuelle Übersetzungen den Empfängern überließ, verbreitete die Truppe für Operative Information ihre Inhalte in den Amtssprachen der Zielgruppe: in Dari und Pashtu. Lediglich das in der Folgeausgabe der Zeitung erschienene Editorial wurde – wie alle anderen Beiträge der Zeitung – in Dari, Pashtu und Englisch abgedruckt. Es wird deutlich, dass unterschiedliche Zielgruppen durch unterschiedliche Stellen in verschiedenen Sprachen, jedoch ohne den Gebrauch militärischer Fachausdrücke, bedient wurden. Somit ist das Kriterium „zielgruppengerechte Formulierungen, Inhalte und Verständlichkeit“ als erfüllt anzusehen. Das Kriterium der Informationskoordination wurde bereits gestreift. In der Praxis wirkte sich dies vor allem auf die im Radio erscheinenden Formate aus. 498
Zu den sachlichen Zwängen gehörten die Darstellung des Sachverhalts sowie die Einhaltung der Kriterien guter Krisenkommunikation.
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Schon in der Nacht war die Nachricht für die stündliche Nachrichtensendung im Radio mit dem Entwurf der Pressemitteilung abgestimmt und fertig verfasst. Sie musste aufgrund der Änderungen des BMVg allerdings überarbeitet werden, was noch vor ihrer Übersetzung in Dari und Paschtu erfolgte. Diese Vorgehensweise, dass der Chefredakteur die Nachrichten selbst schrieb, war nicht alltäglich. Im Normalfall wären die Nachrichtenthemen in der Redaktionskonferenz gemeinsam identifiziert, von den Nachrichtenredakteuren in den Landessprachen verfasst und anschließend ins Englische übersetzt worden. Die englische Übersetzung war durch den Chefredakteur abzunehmen. Um die gewünschten Informationen und Botschaften möglichst präzise umgesetzt und folglich gesteuert zu wissen, wurde im vorliegenden Fall vom Alltagsprocedere abgewichen. 499 Aufgrund dessen ist für den Bereich des PRT Kunduz im Allgemeinen und den der Truppe für Operative Information im Speziellen das Merkmal „Informationskoordination“ als erfüllt anzusehen. Die Kommunikation verständlich zu gestalten war ein zentrales Anliegen des Krisenmanagements, was durch abgestimmte Inhalte und den Verzicht auf Fachterminologie bei gleichzeitiger Nutzung der Landessprachen praktiziert wurde. Doch erfolgte die Krisenkommunikation auch verzugslos? Theoretisch wäre es denkbar gewesen, noch in der Nacht einen oder mehrere afghanische Redakteure in die Redaktion zu bitten, um Ad-hoc-Meldungen via Radio senden zu können. Ein anderer Ansatz – wie bereits erörtert – hätte darin bestehen können, schon in der Morgensendung oder vor dem eigentlichen nachmittäglichen Sendefenster mit entsprechenden Nachrichten auf Sendung zu gehen. Nimmt man diese beiden Optionen als Bemessungsgrundlage, so erfolgte die Krisenkommunikation praktisch nicht unverzüglich. Dieser Verzug wurde bewusst in Kauf genommen, um den Stellenwert des Anschlags nicht überzubetonen. Stattdessen wurde er zum frühesten möglichen Zeitpunkt gesendet, den die regulären und der Zielgruppe vertrauten Sendezeiten und -formate zuließen. Setzt man also Theorie und Hörergewohnheiten in Relation, so ist das Kriterium „Verzugslosigkeit“ als bedingt erfüllt zu werten. Das nächste zu untersuchenden Kennzeichen für gute Krisenkommunikation ist das In-Aussicht-Stellen von Kompensation. Kompensation ist in erster Linie für Geschädigte und deren Angehörige gedacht, in zweiter Linie als Wiedergutmachung für entstanden Mühen und Kosten von Helfern oder Augenzeugen. Die Kompensation der erlittenen Verletzungen bestand einerseits durch die 499
Während das PRT seine Informationspolitik sauber mit den übergeordneten deutschen Stellen koordinierte, verzichtete das HQ ISAF auf Koordination mit dem PRT, was sich in einer offeneren Stellungnahme als der des BMVg niederschlug. Folglich funktionierte die Informationskoordination aufseiten der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit von ISAF als Ganzes weniger gut.
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eingeleitete medizinische Versorgung, andererseits durch monetären Ausgleich. Die monetäre Kompensation hatte sich nach der Beschädigtenversorgung sowie nach individuell zusätzlich abgeschlossenen Versicherungen der Opfer zu richten (vgl. Kapitel 3.2.3.2). 500 Weiterhin ist vorstellbar, Dritte für entstandene Mühen im Zusammenhang mit der Aufklärung der Hintergründe des Anschlags zu entschädigen. Hierunter fällt im weitesten Sinne auch das Aussetzen von Belohnungen für sachdienliche Hinweise. Weder für den einen noch den anderen Fall liegen Erkenntnisse vor, die auf Kompensation hindeuten. Ebenso wenig wurde Derartiges durch die Truppe für Operative Information in Aussicht gestellt. Hierbei ist zu erwähnen, dass Kompensation nicht Bestandteil des Auftrags der Truppe für Operative Information ist. Dennoch und davon losgelöst: Da keine Hinweise auf etwaige geleistete Kompensation vorliegen, ist das Kriterium „In-Aussicht-Stellen von Kompensation“ als nicht erfüllt zu werten. Ein weiteres Kriterium, das es zu überprüfen gilt, ist die Integration der Krisenkommunikation in bzw. ihre Anpassung an bestehende Notfallpläne. Hierbei sind aus Sicht des Verfassers drei verschiedene Ebenen zu betrachten: eine Metaebene, eine Makroebene und eine Mikroebene. Auf der Metaebene wurden bereits durch die militärische Organisationsstruktur im Allgemeinen und auch des PRT im Speziellen entsprechende Instanzen geschaffen, die auch im Krisenfall jeweils einen klar umrissenen und von dem der anderen abgrenzbaren Bereich der Informationsverbreitung wahrzunehmen haben. Militärische übergeordnete Dienststellen wurden mittels der sogenannten täglichen Meldung informiert. Die Öffentlichkeit außerhalb des Einsatzlandes durch Pressemitteilungen zu informieren ist Angelegenheit des Presse- und Informationszentrums vor Ort bzw. des Presse- und Informationsstabes des BMVg. Die Information der Bevölkerung im Einsatzgebiet hingegen ist der Auftrag der Truppe für Operative Information. Die Entscheidung über die endgültige Weiter- und Freigabe der Informationen lag prinzipiell bei Kommandeur des PRT, wurde aber in der Praxis regelmäßig an die für die jeweiligen Instanzen verantwortlichen Offiziere delegiert, welche wiederum die Informationspolitik untereinander koordinieren mussten. Dieses Verfahren war standardisiert und bedurfte auch für den Krisenfall keiner Modifikation. 501 500 501
Die Beschädigtenversorgung ist im Soldatenversorgungsgesetz (§§ 80 bis 86 SVG) geregelt. Der Zwang zur Koordination macht die Organisationsstruktur anfällig für individuelle Schwächen. Haben die handelnden Personen ernsthafte, die Professionalität überdeckende, persönliche Differenzen, erschwert dies eine monolithische Informationspolitik. Im vorliegenden Fallbeispiel war dies jedoch ausdrücklich nicht der Fall, vielmehr ist die Zusammenarbeit sämtlicher Ebenen und Organe als überaus vertrauensvoll und zuverlässig zu bewerten.
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Die Makroebene beschreibt die Krisenkommunikation der PRT-Führung gegenüber dem unterstellten Bereich, zu dem auch das Personal der Truppe für Operative Information gehört. Kommunikationstheoretisch impliziert dies gegenüber den bislang erörterten Aspekten einen Perspektivwechsel, da die Truppe für Operative Information in diesem Zusammenhang nicht als Sender, sondern als Empfänger auftritt. Da in der Fallstudie aber der Fokus auf der Arbeit der Truppe für Operative Information als Sender liegt, soll die Makroebene an dieser Stelle nicht weiter Gegenstand der Betrachtung sein.502 Auf der Mikroebene ist der Ablauf der Krisenkommunikation innerhalb der Truppe für Operative Information zu untersuchen. Existierten Notfallpläne? Gab es Checklisten von Aspekten, die im Krisenfall zu beachten waren, wollte man auch unter dem Eindruck einer wie auch immer gearteten Krise erfolgreich auf die afghanische Bevölkerung kommunikativ einwirken? Diese Fragen sind zu verneinen. Das Fehlen von Notfallplänen impliziert, dass auch die Krisenkommunikation nicht in solche eingepasst werden konnte. Dies führte wiederum dazu, dass sämtliches Krisenmanagement der Truppe für Operative Information aus dem Stand geschehen musste. Weder war es möglich, sich auf Erfahrungen der Vorgänger zu stützen, noch auf solche, die aus Deutschland mitgebracht und in Übungen bereits erprobt waren. Darüber hinaus wurde in der Folgezeit versäumt, eine solche zu erstellen und an die eigenen Nachfolger zu übergeben. Der Vergleich, wie die einzelnen drei Kommunikationsebenen in Notfallpläne integriert waren, hinterlässt ein zwiespältiges Bild. Während der durch die PRTFührung unmittelbar zu verantwortende Bereich – nämlich teilweise die Metaund zur Gänze die Makroebene – alles in allem als Teil eines Gesamtsystems und somit positiv bewertet werden kann, verhält es sich mit der Mikroebene ausdrücklich umgekehrt. Die Truppe für Operative Information – auf deren Umgang mit Terrorismus in vorliegender Arbeit das Hauptaugenmerk liegt – verfügte über keinerlei Notfallplanung, weshalb das Kennzeichen „Integration und Anpassung an bestehende Notfallpläne“ als nicht erfüllt zu bewerten ist. Wie verhält es sich mit der Aktualisierung der Krisenkommunikation der Truppe für Operative Information gegenüber der afghanischen Bevölkerung?
502
Diese Ebene umfasst heute noch gültige Einsatzgrundsätze der Bundeswehr und kann daher aus Gründen der militärischen Sicherheit nicht detailliert geschildert werden. Alles in allem ist die Kommunikation nach innen aber als verbesserbar zu bewerten, da die Informationen zu restriktiv gehandhabt wurden und so die Aktualisierungen ihren Wert verloren. Nichtsdestotrotz lassen verschiedene Umstände darauf schließen, dass die nach innen gerichtete Krisenkommunikation tatsächlich Teil eines bestehenden Krisenplans war: Dafür spricht unter anderem die Professionalität, mit der die OPZ die Maßnahmen nach Eingang der Meldung über den Anschlag einleitete und auch koordinierte. Dies deutet auf eingeübte Verfahren und bestehende Pläne hin.
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Aktualisierung ist immer – aber keinesfalls ausschließlich 503 – dann notwendig, wenn es neue Informationen oder Lageentwicklungen gibt. Sie dient auch dazu, einem möglichen, mit Spekulationen füllbaren, Informationsvakuum vorzubeugen. 504 Daher ist zuerst der Blick auf die Entwicklung der Lage und die damit einhergehenden neuen Informationen zu richten. Die Lage entwickelte sich in einem Ausmaß weiter, das für die Zielgruppe als von nicht übermäßigem Interesse bewertet wurde. 505 Lediglich der Umstand, dass Verhaftungen vorgenommen wurden, wurde als zielgruppenrelevant bewertet und folglich in den Radionachrichten thematisiert. Hierbei wurde bewusst ebenso auf das Nennen konkreter Zahlen wie auf das des Namens der Gruppe, die das Bekennerschreiben hinterlassen hatte, verzichtet. Auf konkrete Zahlen wurde verzichtet, da sich die unterschiedlichen Quellen hierin widersprachen. Der Name der terroristischen Gruppierung wurde nicht publiziert, um den Tätern so wenig Publicity wie möglich zu bieten; aus dem gleichen Grund wurden auch die im Bekennerschreiben niedergelegten Ziele der Terroristen der afghanischen Bevölkerung nicht kommuniziert. Ebenso wenig wurde der Zielgruppe mitgeteilt, dass es keine wesentlichen neuen Erkenntnisse über die Hintermänner der Attentäter gab. Im Rückblick erfolgte dies jedoch nicht aus einem bestimmten Kalkül heraus, sondern stellte schlichtweg ein Versäumnis dar. 506 Was bedeutet das für das Kriterium der Aktualisierung? Die Krisenkommunikation wurde aktualisiert, aber sehr zurückhaltend und restriktiv, was teils aus Nachlässigkeit, teils aus operativen Erwägungen heraus erfolgte. Daher wird das Merkmal „Aktualisierung“ als bedingt erfüllt bewertet. Ein weiteres Kennzeichen guter Krisenkommunikation ist das Nennen von Ansprechstellen und Kontaktmöglichkeiten. Zweck der Bekanntgabe von Ansprechstellen ist es, Angehörigen von Personen, die eventuell vom die Krise auslösenden Ereignis negativ betroffenen sind, eine Möglichkeit zur Informationsbeschaffung zu bieten und ein Gefühl des Betreutwerdens zu suggerieren. In der Fallstudie hätte sich dies folglich auf die Angehörigen der verletzten Soldaten beziehen müssen, was allerdings nicht zum Auftrag der Truppe für Operati503
504 505 506
Auch bei einer sich nicht verändernden Lage sind regelmäßige Lageinformationen sinnvoll, einerseits um, wie bereits erörtert, Spekulationen vorzubeugen, andererseits um dem Adressaten das Gefühl zu vermitteln, er sei nicht vergessen und wichtig genug, um mit Informationen bedacht zu werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist Krisenkommunikation auch immer Vorsorgekommunikation. Es wurden keine neuen Anschläge verübt, keine prominenten Verdächtigen identifiziert oder Truppenbewegungen aus Kunduz hinaus oder nach Kunduz hinein durchgeführt. Die Frage, die sich aus dieser Erkenntnis heraus stellt, ist die nach den Auswirkungen des Versäumnisses. Da die Taktischen OpInfo-Kräfte im Rahmen ihrer Gesprächsaufklärung keine Erkenntnisse hierüber gewannen, muss sie unbeantwortet bleiben.
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ve Information gehört. Das Nennen von Ansprechstellen für Angehörige wäre dann der Auftrag der Truppe für Operative Information gewesen, wenn es sich bei den Opfern um afghanische Zivilisten gehandelt hätte. So musste sich die Truppe für Operative Information darauf beschränken, Ansprechstellen für sachdienliche Hinweise, die zur Aufklärung der Hintergründe oder zur Festnahme weiterer Personen beitragen konnten, zu nennen. Dies erfolgte durch den Radiosender anhand des Beitrags „Gouverneur“, der die Bevölkerung zur Kooperation aufforderte und dabei explizit an die afghanischen Sicherheitsorgane als Kontaktadresse verwies. 507 Folglich wurden Ansprechstellen genannt, wenn auch nicht solche, wie sie originär im Rahmen der Krisenkommunikation gedacht sind. Dennoch – da kein Versäumnis zu attestieren ist – ist das Kriterium „Nennen von Ansprechstellen“ als erfüllt zu bewerten. Dieses letzte zu berücksichtigende Merkmal guter Krisenkommunikation findet sich nicht in den unterschiedlichen Publikationen zu Krisenkommunikation und Krisenmanagement. Grundlegendes Charakteristikum von Krisenkommunikation ist die ereignisbezogene Kurzfristigkeit der Maßnahmen. Sollten diese Maßnahmen – worunter auch in diesem Zusammenhang praktizierte Vorsorge- oder Legitimationskommunikation zu subsumieren ist – dazu geeignet sein, nicht nur kurzfristige, sondern vielmehr auch langfristige Wirkung zu entfalten, ist dies ebenso wie die bereits genannten ein Kriterium für gute Krisenkommunikation. Liegt dieser langfristigen Wirkung dann auch noch Intentionalität zugrunde – schließlich ist auch zufallsgenerierte Langfristigkeit möglich – zeugt dies von einer besonderen Qualität des Krisenmanagements. Um das gezeigte Krisenmanagement auf eben diese besondere Qualität analysieren zu können, sind also die Nachhaltigkeit und Intentionalität der Vorsorge- und Legitimationskommunikation zu untersuchen. Da über den gesamten Einsatzzeitraum kein weiterer Anschlag im Verantwortungsbereich des PRT in Kunduz verübt wurde, wird von der Nachhaltigkeit der Maßnahmen ausgegangen. Die Analyse der Vorsorge- und Legitimationsanteile auf Intentionalität erfordert, den Blick erneut auf die Einzelbausteine zu richten, die Vorsorge- oder Legitimationscharakter aufweisen: das Info-Update „Explosion“, die Nachricht „ASNF“, den Beitrag „Gouverneur“ und das Editorial (vgl. Kapitel 3.4.3.1). Das Info-Update „Explosion“ wurde sowohl der Vorsorge- als auch der Legitimationskommunikation zugeordnet, wobei es auch unabhängig von der Krisenkommunikation über den Anschlag gesendet worden wäre. Der Anschlag erhöhte jedoch die Wichtigkeit, das Info-Update tatsächlich zu senden, da ohne die daraus zu erwartende Kontextualisierung der Anteil der Vorsorgekommuni507
In diesem konkreten Fall die Afghan National Police (ANP) und die Afghan National Army (ANA).
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kation nicht den der Legitimationskommunikation hätte überlagern können. Das Merkmal Intentionalität war zwar durchaus vorhanden, kann jedoch nur als bedingt erfüllt bewertet werden, da der Baustein „Info-Update“ nicht eigens im Rahmen der Krisenkommunikation ins Programm genommen wurde. Die Nachricht „ASNF“ als Einzelbaustein wurde der Vorsorgekommunikation zugeordnet. Für sie gilt das Gleiche wie für das Info-Update: schon vorab als Sendeinhalt für den 27. November identifiziert, aufgrund des Anschlags jedoch neu kontextualisierbar. Nach dem Anschlag kam es darauf an, der Zielgruppe das Fehlen jeglichen Zusammenhangs zwischen den Aktivitäten von ISAF und der Zerstörung der Infrastruktur zur Drogenherstellung anzudeuten. In der Zielgruppe dieser Assoziation vorzubeugen, war von vornherein das mit diesem Format verbundene Ziel, welches vor dem Hintergrund des Anschlags lediglich noch erweitert wurde, indem auch das Fehlen jeglichen Zusammenhangs zwischen der Aktion der ASNF und dem Anschlag implizit herausgestellt werden sollte. Daher ist auch für die Nachricht „ASNF“ das Kriterium Intentionalität als bedingt erfüllt zu bewerten. Der Beitrag „Gouverneur“ wurde als Einzelbaustein sowohl der Krisenals auch der Legitimationskommunikation zugeordnet. Bei dem Beitrag handelte es sich im Wesentlichen um den Zusammenschnitt eines Interviews, bei dem der Gouverneur nicht etwa von der Truppe für Operative Information vorgefertigte Antworten zu verlesen hatte, sondern vielmehr selbst dazu Stellung nehmen konnte. Das dem Beitrag zugrunde liegende Interview wurde strikt ereignisbezogen mit dem Ziel geführt, mittels ISAF-freundlicher Statements des Gouverneurs dessen Multiplikatorwirkung auf die Zielgruppe zu nutzen und so deren Einstellung ISAF gegenüber nicht nur kurz-, sondern vielmehr langfristig positiv zu beeinflussen. Daher ist das Kriterium der Intentionalität für den Beitrag „Gouverneur“ als erfüllt zu bewerten. Das Editorial schließlich wurde als Krisen-, aber auch als Vorsorge- und Legitimationskommunikation klassifiziert. Der legitimatorische Gedanke, nochmals den Auftrag und somit den mittelbaren Nutzen der ISAF-Mission für die Bevölkerung zu betonen, zielte ebenfalls auf die nachhaltige Einstellung der Zielgruppe gegenüber den ISAF-Soldaten. Obwohl das Editorial unbestritten ereignisbezogen und somit als Beitrag im Rahmen der Krisenbewältigung konzipiert wurde, ist die auf Langfristigkeit angelegte Intentionalität nicht von der Hand zu weisen. Daher ist das Kriterium Intentionalität auch bei diesem letzten Baustein als erfüllt anzusehen.
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3.4.3.3
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Bewertung der Krisenkommunikation
Wie ist die Qualität der Krisenkommunikation zu bewerten? Von den insgesamt elf Kriterien guter Krisenkommunikation wurden in der Fallstudie sechs eindeutig und drei weitere mindestens bedingt erfüllt. Lediglich zwei sind als nicht erfüllt zu bewerten, was anhand folgender Abbildung deutlich wird: 508 Lfd. Nr. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kriterium Glaubwürdigkeit Empathie Kompetenz Zielgruppengerechte Formulierungen und Inhalte Informationskoordination Verzugslosigkeit und Verständlichkeit In-Aussicht-Stellen von Kompensation Ihre Anpassung an bestehende Notfallpläne Ihre Aktualisierung Das Nennen von Ansprechstellen und Kontaktmöglichkeiten Intentionalität von Vorsorge- und Legitimationsaspekten
Einzelbaustein/ Gesamtpaket Gesamtpaket Gesamtpaket Nachricht „Anschlag“ Info-Update „Explosion“/ Lautsprecheraufrufe Gesamtpaket
Erfüllt
Ja
Gesamtpaket Nachricht „Anschlag“
Ja Bedingt
Entfällt
Nein
Entfällt
Nein 509
Radionachrichten Beitrag „Gouverneur“
Bedingt Ja
Info-Update „Explosion“ Nachricht „ASNF“ Beitrag „Gouverneur“ Editorial
Bedingt Bedingt Ja Ja 510
Ja Ja Ja
Abb. 3-6: Kriterien/Einzelbausteine 508 509 510
In Prozent stellt sich dies wie folgt dar: eindeutig erfüllt 54,5 %; bedingt erfüllt 27,3 %; nicht erfüllt 18,2 %. Bezogen auf die Mikro-Ebene, d. h. das interne Krisenmanagement der Truppe für Operative Information. In der Gesamtbewertung wird die Intentionalität von Vorsorge- und Legitimationsaspekten mit „bedingt erfüllt“ gewertet, da die relevanten Einzelbausteine keine mehrheitliche uneingeschränkte Intentionalität aufweisen.
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Fokussiert man stärker auf den Aufgabenbereich der Truppe für Operative Information, so ist ein Kriterium nicht zu berücksichtigen: das Versprechen von Kompensation. Da die Zielgruppe der Truppe für Operative Information die afghanische Bevölkerung darstellt, in dieser aber niemand durch den Anschlag unmittelbar geschädigt wurde, war auch das Versprechen von Kompensation nicht erforderlich. Somit darf es sich in der Bewertung auch nicht negativ niederschlagen, dass keine Kompensation in Aussicht gestellt wurde. Daher wird in der abschließenden Bewertung von zehn Kriterien guter Risikokommunikation ausgegangen, sodass sich folgendes Bild ergibt: erfüllt 60 % (sechs Merkmale), bedingt erfüllt 30 % (drei), nicht erfüllt 10 % (eins). Zusammengefasst ergibt sich daraus eine Quote von 90 % zumindest in Teilen erfüllter Kriterien, was angesichts der nicht einfachen Rahmenbedingungen als gut zu bewerten ist. Im Rahmen des Krisenmanagements wurde folglich gute Krisenkommunikation praktiziert, deren Einzelbausteine mit Elementen von Vorsorge- und Legitimationskommunikation angereichert waren. Dies ist für Krisenmanagement nicht unüblich und stellt somit keine Besonderheit dar. 3.4.3.4
Umsetzung der Auflagen
Zusätzlich zu diesen üblichen Regeln für Krisenkommunikation waren lage- und auftragsbezogen noch weitere Auflagen zu berücksichtigen. Zu den bereits im Rahmen der Kriterien guter Krisenkommunikation auf ihre Umsetzung überprüften Auflagen zählte die Notwendigkeit, die Krisenkommunikation unbedingt mit der Arbeit des Presse- und Informationszentrums zu koordinieren.511 Ebenso wurde in diesem Zusammenhang bereits erörtert, inwiefern es gelang, den Anschein von Normalität zu vermitteln, wobei ISAF als fähig und souverän dargestellt werden musste. 512 Über diese bereits erörterten Aspekte hinaus galt es, der absoluten Verpflichtung zur Wahrheit ebenso nachzukommen wie auch der Forderung, auf jeden Fall deeskalierend zu wirken. Ferner bestand der Zwang zum Transport weiterer, konkreter Botschaften sowie zur Information über bestimmte andere Ereignisse. Ob und wie diese Auflagen Umsetzung fanden, ist im Folgenden Gegenstand des Interesses, welches sich zuerst auf die Verpflichtung zur Wahrheit richtet. Die Verpflichtung zur Wahrheit war neben der notwendigen Empathie oberstes Gebot. Daher kam es stets darauf an, sich bei jeglicher Berichterstattung 511 512
Dies erfolgte im Rahmen der Analyse des Kriteriums „Informationskoordination“. Das Kriterium, in dessen Rahmen dieser Aspekt untersucht wurde, ist das der Kompetenzvermittlung.
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auf überprüfbare Tatsachen zu beschränken. Wurden nicht überprüfbare Sachverhalte oder Meinungen kommuniziert, waren diese auch eindeutig und unmissverständlich als solche zu kennzeichnen. Von diesem Grundsatz wurde auch in der Krisenkommunikation nach dem Anschlag nicht abgewichen, da eine nachgewiesene Abweichung zu einem kaum mehr kompensierbaren Glaubwürdigkeitsverlust in der Zielgruppe geführt hätte. Somit ist zu attestieren, dass der Verpflichtung zur Wahrheit nachgekommen wurde. Gilt dies auch für die Forderung, unbedingt deeskalierend zu wirken? Dies war erforderlich, um größerer Unruhe in der Zielgruppe und somit einer weiteren Verschlechterung der Sicherheitslage vorzubeugen, was Auswirkung auf Intensität und Umfang der Berichterstattung, aber ebenso auf Formulierungen, Botschaften, Inhalte und Zeitpunkte sämtlicher Maßnahmen hatte. 513 Die Forderung nach Deeskalation war dafür ausschlaggebend, dass weder eine Sondersendung in den Nachrichten noch eine mehrere Tage das Radioprogramm dominierende Berichterstattung erfolgte. Die Stabilisierung der Sicherheitslage in den Tagen nach dem Anschlag kann als Indiz gewertet werden, dass der gewählte Ansatz zur Deeskalation geeignet war und die dahinterstehende Forderung somit als erfüllt zu bewerten ist. Des Weiteren hatte die Krisenkommunikation zu erklären, wie ISAF den Anschlag wahrnahm und wie dieser die Haltung von ISAF gegenüber der Zielgruppe beeinflusste. Die Erklärung beinhaltete im Wesentlichen drei Kernbotschaften. Erstens, der Anschlag wurde als Tat einer einzelnen Gruppe angesehen und nicht die gesamte afghanische Bevölkerung unter Generalverdacht gestellt. Zweitens, er hat weder Einfluss auf die positive Grundstimmung der ISAFSoldaten gegenüber der Bevölkerung noch, drittens, auf die Dauer der Präsenz von ISAF. Diese Botschaften wurden anhand der Radionachricht „Anschlag“, des Beitrags „Gouverneur“ sowie des Editorials vermittelt, sodass auch die Forderung nach der Vermittlung von Kernbotschaften erfüllt wurde. Darüber hinaus war die Zielgruppe noch zwingend über zwei Ereignisse oder Aktionen, welche die Arbeit bzw. die Wahrnehmung von ISAF durch die Zielgruppe unmittelbar beeinflussen konnten, zu informieren: die Aktivitäten der ASNF und die Beseitigung von Restmunition durch den Kampfmittelbeseitigungsdienst (EOD). Diese Auflage wurde durch eine Nachricht im Radio (ASNF) sowie ein Info-Update und Lautsprecheraufrufe (Beseitigung der Restmunition) erfüllt. Summa summarum bleibt festzuhalten, dass nicht nur diese letzte, sondern alle zusätzlichen Auflagen zur Gänze Beachtung fanden. Die
513
Es galt also, einen Mittelweg zu finden zwischen Deeskalation und unverzüglicher Informationspflicht, wie sie Bestandteil von Krisenkommunikation ist.
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Umsetzung der sechs zusätzlichen, über die Erfordernisse guter Krisenkommunikation hinausgehenden Auflagen veranschaulicht Abbildung 3-7: Lfd. Nr. 1 2 3
4
5 6
Auflage Verpflichtung zur Wahrheit Deeskalation Information der Zielgruppe über - ASNF - Beseitigung Restmunition weitere, konkrete Botschaften - afghanische Bevölkerung steht nicht unter Generalverdacht - Anschlag hat keinen Einfluss auf die Dauer der Präsenz von ISAF - Anschlag hat keinen Einfluss auf positive Grundstimmung von ISAF gegenüber der Zielgruppe Zwang zur Koordination der Informationsarbeit mit dem Presse- und Informationszentrum Vermittlung der Kompetenz von ISAF
Einzelbaustein/ Gesamtpaket Gesamtpaket Gesamtpaket Nachricht „ASNF“ Info-Update „Explosion“ Lautsprecheraufrufe Nachricht „Anschlag“ Beitrag „Gouverneur“ Editorial
Nachricht „Anschlag“ Beitrag „Gouverneur“ Editorial Gesamtpaket
Erfüllt Ja Ja ja
Ja
Ja Ja
Abb. 3-7: Weitere Auflagen Es wird deutlich, dass alle sechs Auflagen erfüllt wurden, was eine Erfüllquote von 100 % bedeutet. Folglich ist die Umsetzung der zusätzlichen Auflagen mit sehr gut zu bewerten.
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3.4.3.5
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Partizipation der Akteure an der Risikokommunikation
Ferner ist zu untersuchen, ob alle Akteure in den Kommunikationsprozess eingebunden waren – sei es als Sender, Empfänger oder wenigstens als Querhörer. 514 Das PRT, die Terroristen selbst, die afghanische Bevölkerung, offizielle afghanische Stellen und die Presse waren die Akteure, von denen eine wie auch immer geartete aktive Teilnahme an der Risikokommunikation zu erwarten war. Als Sender traten das PRT mit seiner Berichterstattung und in diesem Rahmen auch offizielle afghanische Stellen in Erscheinung. Die Terroristen mit ihrer Tat und ihrem Bekennerschreiben sowie die Presse durch ihre Verlautbarungen sind ebenfalls als Sender eindeutig identifizierbar. Die Kommunikation des PRT zielte einerseits auf die afghanische Bevölkerung im Allgemeinen, hierbei jedoch auf einflussreiche Persönlichkeiten als Multiplikatoren im Speziellen. Andererseits richtete sich die Kommunikation aber auch an offizielle afghanische Stellen und natürlich die Attentäter selbst samt ihren Sympathisanten. Die Ebene der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit hingegen befasste sich ausschließlich mit der internationalen Presse. 515 Es ist davon auszugehen, dass die Terroristen in erster Linie das PRT, in zweiter aber auch die afghanische Bevölkerung und offizielle Stellen, unter Umständen auch die Presse, als Adressaten ihrer Botschaft im Sinn hatten. 516 Als Querhörer dürfen zum einen ausländische, auch offiziell als befreundet geltende, Nachrichtendienste angenommen werden, die das Radioprogramm von ISAF zumindest phasenweise mitscannten. Zum anderen besteht die theoretische Möglichkeit, dass bei optimalen Witterungsbedingungen der Radiosender noch jenseits der afghanischtadschikischen Grenze zu empfangen war, was die dort ansässige Bevölkerung zu potenziellen Querhörern macht. Beide Akteure galten für die Truppe für Operative Information nicht als Zielgruppe und wurden daher auch nicht angesprochen. Jedoch liegen weder über die Wirkung auf diese noch über eventuelle andere Querhörer gesicherte Erkenntnisse vor. Wer die tatsächlichen Empfänger und Querhörer waren bzw. wie sich die Kommunikation auf sie auswirkte, ist nur schwer messbar. Die Gesprächsaufklärung der TOK ergab und ergibt Daten, die aus verschiedenen Gründen angezweifelt werden können. Ein dazu führender Faktor ist die recht geringe Anzahl
514 515 516
Von etwaigen Querhörern wurde keine aktive Teilnahme an der Kommunikation erwartet. Nationale – also afghanische Pressevertreter – wurden durch den Presseoffizier an die Truppe für Operative Information verwiesen, da sie mit zu deren Zielgruppe gehörten. Das Bekennerschreiben sprach die Verbündeten der USA und der Regierung des afghanischen Präsidenten, Hamid Karsai, direkt an.
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von Befragten in Relation zur Bevölkerungszahl, 517 sodass die Repräsentativität dieser Stichprobe für die zugrunde liegende Grundgesamtheit anzweifelbar ist. Ein weiterer Faktor, der mittels Gesprächsaufklärung erhobene Daten angreifbar macht, ist die sprichwörtliche afghanische Höflichkeit. Sie, aber auch verschiedenste andere Interessenlagen, können die im direkten Gespräch mit ISAFSoldaten geäußerte Meinung von der tatsächlichen abweichen lassen. Hieraus folgt, dass die Bevölkerung die Krisenkommunikation durchaus anders aufgefasst haben kann, als sie dies behauptete und dies auch seitens des Senders (= ISAF) intendiert war. Auch war technisch-infrastrukturell keineswegs sichergestellt, dass mit den eingesetzten Kommunikationsmitteln die Bevölkerung zur Gänze überhaupt erreicht werden konnte. Je nach Witterungslage und Bodenrelief war der Radiosender in einem Radius von 50, im besten Fall rund 90 Kilometern zu empfangen. Dies bedeutet, dass in der Provinz Kunduz und erst recht in den zum Verantwortungsbereich des PRT gehörenden Nachbarprovinzen Takhar und Badakshan diverse, vor allem gebirgige, Regionen überhaupt nicht erreicht werden konnten. Gerade diese Gebirgsregionen aber werden als Rückzugsmöglichkeiten der Terroristen vermutet. Diese Schwierigkeiten deuten darauf hin, dass vermutlich nicht alle Akteure in dem Maß als Empfänger in den Kommunikationsprozess eingebunden waren, wie es die jeweiligen Sender erhofft hatten. Diese Beobachtung lässt jedoch noch keine Aussage über eventuelle Immunitäten gegenüber der Kommunikation anderer Akteure zu. Es gilt nach wie vor die These, dass gerade Akteure mit fundamentalistischer Wahrnehmung sich der Kommunikation anderer Akteure verschließen. Auf den ersten, gleichsam enkulturierten Blick wird der negativ behaftete Fundamentalismus Terroristenschon fast reflexhaft attestiert. Ob diese sich von der Kommunikation des PRT und afghanischer offizieller Stellen tatsächlich innerlich abschotteten, ist nicht zu belegen. Der Umstand, dass Anschläge in den nächsten Wochen und Monaten ausblieben, ist kein ausreichendes Indiz für diese These. Stattdessen erscheint es sinnvoll, die Suche nach fundamentalistischen Sichtweisen und entsprechendem Handeln auf andere Akteure auszudehnen. Löst man sich zugunsten größerer Objektivität geistig von der eigenen Enkulturation, so rückt das PRT als Akteur mit tendenziell fundamentalistischen Wesenszügen in den Fokus. Hierbei ist von vornherein unmissverständlich festzuhalten, dass ISAF und somit auch das PRT nicht religiös zu missionieren versuchen. Was die westliche 517
Die exakte Anzahl ist im Nachhinein nicht mehr feststellbar, dürfte aber unter Berücksichtigung der Faktoren Zeit und verfügbares Personal bei höchstens 100 Befragten gelegen haben. Dazu kommt der Aspekt, dass von diesen Gesprächen keine Protokolle angefertigt, sondern deren Inhalte allein aus dem Gedächtnis durch den Führer der TOK weitergemeldet wurden.
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Staatengemeinschaft indes sehr wohl versucht, ist westliche Werte und Normen zu tradieren. 518 Beredte Beispiele sind der Versuch der Verbreitung demokratischer Strukturen, das Insinuieren einer partiellen Abkehr von einem im Wesentlichen auf islamischer Gesetzgebung ruhenden Rechtssystem sowie die Aufwertung der Rolle der Frau in der afghanischen und folglich einer muslimischen Gesellschaft. Dies sind weitgehende, exogen verursachte, Veränderungen der Gesellschaftsstruktur. Die diesem Tradierungsversuch zugrunde liegenden Prinzipien stehen seitens der internationalen Staatengemeinschaft ebenso wenig zur Diskussion wie die Frage nach ihrer Präsenz in Form der ISAF-Truppen. 519 Solche starren Verhandlungspositionen und Sichtweisen müssen für einen muslimischen Akteur ebenfalls fundamentalistisch 520 erscheinen, auch wenn der Religionsgedanke dabei ausgeklammert bleibt. 521 Tatsächlich deutet die Krisenkommunikation des PRT auf Fundamentalismus hin. In keinem an die Zielgruppe gebrachten Produkt oder Beitrag, unabhängig vom transportierenden Medium, wird Verständnis für die Sichtweise der Terroristen evident, ebenso wenig inhaltliche Zustimmung oder gar Verhandlungsbereitschaft signalisiert. Aus diesem Grunde kann für das PRT zwar die Beteiligung am Kommunikationsprozess attestiert werden, aber ebenso eine dabei an den Tag gelegte gewisse 518 519 520
521
Hubel (2006: 48) verweist – allerdings mit Blick auf die Irak-Politik – auf die fundamentalistischen Züge der US-Regierung unter George W. Bush. Auf dieses Selbstverständnis deutet die alljährliche Mandatsverlängerung gerade durch den deutschen Bundestag hin. Die Abstimmung hierzu erscheint nach Ansicht des Verfassers nur noch als ein Pro-forma-Akt. Nach Herbers (2005: 11) definierte „Meyers Enzyklopädisches Lexikon“ Fundamentalismus 1973 als „komplexe innerkirchliche Bewegung des amerikanischen Protestantismus zur Abwehr des Liberalismus seit etwa 1875.“ Er selbst stellt eine weite und eine engere Definition vor. Die weite zielt auf „Interpretationen und Vorstellungen, die sich radikal gegen gesellschaftliche Neuerungen stemmen, besonders wenn diese religiöse Positionen in Frage stellen und die deshalb auf alte, vermeintlich nicht weiter hinterfragbare Wahrheiten bzw. Interpretationen der jeweils autoritativen Schriften pochen“ (Herbers 2005: 12). Die enge Definition hingegen versteht unter Fundamentalismus schlicht Gewaltbereitschaft bei der Verteidigung der eigenen Position bzw. zum Zweck der Errichtung theokratischer Herrschaftsformen. Bobzin (2005: 66) mahnt, zumindest im Kontext der iranischen Revolution Khomeinis sei es passender, von „Islamismus“ zu sprechen, während Brenner (2005: 41 f.) Intoleranz als prägendes Merkmal von Fundamentalismus ausmacht. Japp (2003: 66) schließlich erkennt in Fundamentalismus einen Teil eines gleichsam dialektischen Prozesses, anhand dessen sich aus Modernisierung und Gegenmodernisierung die Expansion der modernen Weltgesellschaft vollzieht. Die Verschlechterung der Sicherheitslage seit dem ersten Halbjahr 2006 lässt sich vornehmlich auf das hohe Reformtempo und die geringe Akzeptanz einzelner Reformpunkte – z. B. die Aufwertung der Rolle der Frau – zurückführen, da die afghanische Gesellschaft dafür noch nicht bereit scheint. Das offen kommunizierte Verfolgen von Zielen, die sich regelmäßig als bestenfalls bedingt erreichbar erweisen, diskreditiert mittelfristig die internationale Staatengemeinschaft im Allgemeinen und ISAF im Besonderen.
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Immunität. 522 Die Untersuchung der (Nicht-)Beteiligung einzelner Akteure am Risikokommunikationsprozess und vor allem deren Ursache haben ein so nicht zu erwartendes Resultat erbracht. Der einzige Akteur, dem trotz seiner Beteiligung an der Kommunikation fundamentalistisches Handeln eindeutig nachgewiesen werden kann, ist das PRT und somit ISAF selbst. 523 Diese Kommunikationsimmunität ist, will man Afghanistan tatsächlich zu Sicherheit, Stabilität und Prosperität verhelfen, für die Zwecke von ISAF als kontraproduktiv zu bewerten. 3.4.3.6
Vom Einfluss der Paradoxien
Otway/Wynne (1993) beschreiben sieben Paradoxien der Risikokommunikation, denen zufolge bestimmte Maßnahmen exakt das Gegenteil dessen bewirken können, was sie eigentlich sollen. 524 Doch bedeuten diese in der Realität tatsächlich Einschränkungen im Umgang mit Terrorismus? Dies soll anhand der Fallstudie untersucht werden. Das Beruhigungs-/Beunruhigungsparadoxon geht davon aus, dass eigentlich zur Beruhigung gedachte Maßnahmen in der entsprechenden Zielgruppe eher Unruhe erzeugen können. In der Fallstudie war dies von Belang, als es darum ging, einen Mittelweg zwischen guter und aktueller Krisenkommunikation bei gleichzeitiger Deeskalation zu finden. Das Informationszielparadoxon befasst sich mit der grundlegenden Frage, wie entsprechende Informationen zu vermitteln sind, ohne dass der Empfänger vom exakten Gegenteil ausgeht. In der Risikokommunikation nach dem Anschlag war dies von Bedeutung, als die Zielgruppe über die Aktivitäten der ASNF zu informieren war, wobei deutlich werden musste, dass ISAF daran nicht beteiligt war. Die Frage nach der expliziten Nennung von ISAF in diesem Zusammenhang ist ein klassisches Informationszielparadoxon. Das Informationskulturparadoxon greift den Umstand auf, dass unterschiedliche soziale Gruppen und Organisationen unterschiedliche Gewohnheiten in der Handhabung von Informationen haben. Dies war in der Fallstudie einerseits bei der Auswahl der Einzelinformationen, vor allem aber bei der Wahl der 522 523 524
Diese Kommunikationsimmunität scheint wenig dazu geeignet, starre Kommunikationsfronten aufzuweichen und einen neuen Kommunikationsprozess zwischen ISAF und ISAFkritischen Kräften zu initiieren. Hierbei mag eine Rolle spielen, dass der Verfasser vorliegender Arbeit zu eben diesem Bereich/Akteur mehr Zutritt als zu den anderen hatte, was teilweise tiefere Einblicke erlaubt, ansonsten aber die Wahrnehmung subjektiviert. Vgl. dazu Kapitel 3.4.2 vorliegender Arbeit.
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Sprachen und der entsprechenden Terminologie zu beachten. Das Informationsnachfrageparadoxon beschreibt die Möglichkeit, eine Zielgruppe mit Informationen überzuversorgen, sodass jene entweder in der Menge der Informationen die relevanten herauszufiltern nicht mehr in der Lage oder des Themas an sich schlicht überdrüssig ist. Dieses Paradoxon hängt folglich von der Quantität der Kommunikation ab. In der Fallstudie war in Anlehnung an das Beruhigungs/Beunruhigungsparadoxon die Intensität der Berichterstattung das Kontrollinstrument. Das Körpersprachenparadoxon greift die Möglichkeit auf, dass sich die unbewussten von den bewusst gesendeten Informationen deutlich unterscheiden, sogar konträr zu diesen sein können. In der Fallstudie wurde das Medium Fernsehen nicht eingesetzt, sodass das Körpersprachenparadoxon bei einer oberflächlichen Analyse nicht beobachtet werden kann. Erweitert man den Blickwinkel jedoch so, dass von reiner Körpersprache abgerückt und das Gesamtverhalten betrachtet wird, so lässt sich die Risikokommunikation nach dem Anschlag auch auf das Körpersprachenparadoxon untersuchen. 525 Der Gesamtansatz der Kommunikation lässt Rückschlüsse darauf zu, wie sehr der Anschlag – unabhängig von den in Worte gekleideten Botschaften – das PRT tatsächlich getroffen hat. Dieser Aspekt wurde bei der Wahl des Kommunikationsansatzes berücksichtigt. 526 Das Gleichgültigkeitsparadoxon verweist darauf, dass das Vertrauen in die Menschen, die ein Risiko kontrollieren, die Einstellung zum Risiko selbst in den Hintergrund drängt und so zu Wachsamkeitsverlusten führen kann. Dieses Paradoxon lässt sich nur schwer mit der Fallstudie assoziieren, weshalb unmittelbar und abschließend das Authentizitätsparadoxon untersucht werden soll. Es besagt, dass in der Risikokommunikation die Wahrheit geringeren Stellenwert besitzt als das Vertrauen in den Sender. Da bei der Kommunikation mit der Zielgruppe die ausschließliche Verbreitung überprüfbarer Fakten anstelle subjektiver Wahrheiten höchsten Stellenwert besaß, ist dieses letzte Paradoxon für die Risikokommunikation der Truppe für Operative Information ausdrücklich unzutreffend. Abschließend ist zu fragen, welche Auswirkungen die Paradoxien der Risikokommunikation einerseits auf die Zielgruppe an sich, andererseits auf die Arbeit der Truppe für Operative Information hatten. Im ersten Fall ist es erneut unmöglich, eindeutige Aussagen zu treffen, da über die Auswirkungen der Paradoxien auf die Bevölkerung von Kunduz als Zielgruppe keine wissenschaftli525 526
Das Körpersprachenparadoxon erinnert an die Selbstoffenbarungsseite einer Nachricht, die Rückschlüsse auf die emotionale Befindlichkeit des Senders zulässt. Wiederum ist der einschlägige Indikator die Intensität der Kommunikation.
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chen Ansprüchen genügenden Daten vorliegen, sodass auch keine Aussagen, Bewertungen oder Folgerungen daraus abgeleitet werden können. Im zweiten Fall lässt sich die Frage nach den Auswirkungen aufschlüsseln. Einen ersten Überblick über die Auswirkungen der Paradoxien auf die Arbeit der Truppe für Operative Information gibt Abbildung 3-8: Lfd. Nr.
Paradoxon
1
Beruhigungs-/ Beunruhigungsparadoxon
2
Informationszielparadoxon Informationskulturparadoxon
3
4
Informationsnachfrageparadoxon
5
Körpersprachenparadoxon
6
Gleichgültigkeitsparadoxon Authentizitätsparadoxon
7
Zusammenhang Aktualität und Intensität vs. Deeskalation Beitrag „ASNF“ Zielgruppe Æ Wahl der Einzelinformationen, Sprache, Terminologie Wahl der Einzelinformationen/Intensität Gesamtverhalten als Selbstoffenbarung Nicht beobachtet Für OpInfo unzutreffend
Spürbare Auswirkungen Zwang zu Empathie und Analyse der Zielgruppe Zwang zur Koordination Hoher Aufwand zur Vorbereitung und Koordination Zwang zu Analyse der Zielgruppe Zwang zu Selbstreflexion, Empathie Nicht beobachtet Nicht beobachtet
Abb. 3-8: Beobachtbarkeit der Paradoxien Rückblickend ist zu attestieren, dass die Paradoxien eine durch Empathie gestützte saubere Analyse der Zielgruppe erzwangen. Dies setzte allerdings – vollkommen unabhängig von eventueller Krisenkommunikation – die intensive Auseinandersetzung mit den für die Zielgruppe relevanten Themen, ihren Bedürfnissen und Zielen voraus. 527
527
Diese Vorbereitung konnte nicht erst im Einsatzland, sondern musste vielmehr schon in Deutschland erfolgen. Zusätzlich besteht – wiederum nicht nur während des Krisenmanagements, aber dort in besonderem Maße – ein permanenter Zwang zur Selbstreflexion.
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Derartige Beobachtungen treffen vor allem auf das Beruhigungs-/ Beunruhigungsparadoxon, das Informationsnachfrageparadoxon und das Körpersprachenparadoxon zu, während dem Informationskulturparadoxon zu begegnen zusätzlich einen hohen koordinativ-organisatorischen Aufwand hinsichtlich entsprechender Übersetzungen in die Landessprachen verlangte. Das Informationszielparadoxon zwang vor allem zur Koordination mit dem Presseoffizier, da die Informationspolitik hinsichtlich der ASNF mit dessen Arbeit abgestimmt werden musste. Das Gleichgültigkeitsparadoxon hingegen hatte keine isoliert zu beobachtenden Auswirkungen für die Informationsarbeit, während das Authentizitätsparadoxon für die Truppe für Operative Information zu vernachlässigen war, da diese dem ausdrücklichen Zwang unterliegt, nur verifizierbare Inhalte zu kommunizieren. 3.4.3.7
Bewertung des Krisenmanagements
An dieser Stelle hat sich das Augenmerk abschließend auf die noch offenen Fragen nach einer Gesamtbewertung des Krisenmanagements und dem beobachtbaren Lerneffekt und zu richten. Die Beantwortung dieser Fragen ermöglicht etwas Wesentliches: das Ableiten von Folgerungen, die sich aus der Analyse der Fallstudie für zukünftige Einsätze der Truppe für Operative Information im Speziellen und der Bundeswehr im Allgemeinen ergeben. Wie ist also das Krisenmanagement in toto, gerade hinsichtlich der zusätzlichen Sachzwänge, zu bewerten? Um diese Frage zu beantworten, wird schlaglichtartig nochmals der Blick auf die Krisensitzung und anschließend auf die einzelnen Maßnahmen und Sachzwänge, schließlich aber auch auf das Gesamtpaket der Kommunikation gerichtet. In der Krisensitzung unmittelbar nach dem Anschlag wurden die Sachzwänge und Handlungsmöglichkeiten identifiziert. Sie war geprägt durch die Disziplin der Teilnehmer und eine bemerkenswert offene Diskussion, bei der die Dienstgrade der einzelnen Teilnehmer erst von Bedeutung waren, als es um die Beschlussfassung ging. 528 Der Zwang zur Information über die geplante Sprengung von Restmunition bedeutete eine Einschränkung der zur Krisenkommunikation über den Anschlag einsetzbaren Mittel bzw. deren Effektivität, da sowohl Lautsprecheraufrufe als auch Info-Updates für Krisenkommunikation und
528
Dies ist nicht unbedingt typisch für militärische Organisationen und Gremien, wird in der Truppe für Operative Information aber häufig so praktiziert und erweist sich immer wieder als nutzbringend.
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schlichte Bevölkerungsinformation gleichermaßen geeignet waren. 529 Die Berichterstattung über die Aktivitäten der ASNF hätte – verstärkt durch die reduzierte Anzahl an verschiedenen Nachrichten – unfreiwillig einen Zusammenhang zwischen der Zerstörung von Drogenlabors und dem Anschlag suggerieren können. Für diese Suggestivwirkung brachte die Gesprächsaufklärung der TOK indes keine Indizien. Der Ausfall des Internets am nächsten Tag reduzierte allerdings die Bandbreite der recherchier- und sendbaren Nachrichten deutlich, war jedoch zum Zeitpunkt der Krisensitzung nicht absehbar. 530 Die nicht mit dem PRT koordinierte Informationspolitik des HQ ISAF barg grundsätzlich die Gefahr, dass Informationen bei den Soldaten des PRT und der afghanischen Bevölkerung Einstellungen und Verhaltensweisen erzeugten, die aufgrund der Sicherheitslage als unerwünscht gelten mussten. Doch welche Folgerungen ergeben sich aus dieser Bewertung der einzelnen Faktoren? Die drei identifizierten Ansätze waren auf den ersten Blick allesamt geeignet, die Bevölkerung über die Geschehnisse zu informieren bzw. ihr Vertrauen in ISAF aufrechtzuerhalten. Bei einer differenzierten Betrachtung barg vor allem das Modul 3, das den massivsten Informationsansatz umfasste, die Gefahr, die Emotionalität der Soldaten auf die Bevölkerung zu übertragen. Einem Ereignis, das für die Zielgruppe nicht denselben extrem hohen Stellenwert wie für die Betroffenen besaß, unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit zu schenken, hätte an Stelle der geforderten deeskalierenden Wirkung aller Wahrscheinlichkeit nach den gegenteiligen Effekt erzeugt. Auch die Überlegung, sich hinsichtlich der einzusetzenden Mittel noch Steigerungspotenzial offenzuhalten, ist im Nachhinein als richtig zu bewerten. 531 Der Einstieg mit einem nicht zu intensiven Medienansatz hat sich rückblickend in dieser Situation bewährt, sodass ein
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531
Erschwerend kam hinzu, dass der dafür geplante Medienansatz Info-Updates und Lautsprecheraufrufe am Tag der Sprengung als wesentlichen Bestandteil vorgesehen hatte und bis zum Tag des Anschlags auch darauf ausgerichtet war. Zwar waren zu diesem Zeitpunkt jegliche Telefon- und Internetverbindungen aus dem Lager hinaus unterbrochen, doch gehörte dies zu den üblichen, im Alarmierungsfall getroffenen Maßnahmen. Im Laufe der Nacht wurden die Telefonverbindungen wieder aktiviert. Die Nichtverfügbarkeit des Internets resultierte nicht aus einer sicherheitsrelevanten Maßnahme der PRT-Führung, sondern schlicht aus einem technischen Problem, das erst einen Tag später behoben werden konnte. Die Truppe für Operative Information reduzierte die Berichterstattung schon am Folgetag und griff das Thema „Anschlag“ außer in dem bereits erwähnten Editorial-Beitrag des Leiters des zivilen Anteils des PRT knapp zwei Wochen später überhaupt nicht mehr auf. Bis Ende März gab es keinen weiteren Anschlag, auch zeigte sich die Bevölkerung ISAF gegenüber mehr als freundlich. Indes ist nochmals darauf hinzuweisen, dass zwischen der Krisenkommunikation des PRT und dem Ausbleiben weiterer Anschläge sicherlich eine Korrelation, möglicherweise aber keine Kausalität besteht.
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ähnlich vorsichtiger Start für zukünftige Krisen vergleichbaren Ausmaßes zu empfehlen ist. Die Notwendigkeit, mit Info-Updates und Lautsprecheraufrufen über die Beseitigung von Restmunition informieren zu müssen, erwies sich im Nachhinein als Vorteil, da deshalb die beiden genannten Formate für die Krisenkommunikation nicht erste Wahl waren. Dies trug dazu bei, einen zu intensiven Kommunikationsansatz zu vermeiden, der unter Umständen die Krise stärker als beabsichtigt betont hätte. Auch der Zwang zur Berichterstattung über die Aktivitäten der ASNF erwies sich als nicht folgenschwer, während der Ausfall des Internets allerdings am nächsten Tag einen unfreiwilligen Schwerpunkt auf die durch die Redakteure vor Ort recherchierbaren Ereignisse und somit den Anschlag sowie die Zerstörung der Infrastruktur zur Drogenherstellung legte. Ähnlich wie bei der Information der Zielgruppe über den Einsatz der ASNF keine Suggestivwirkung entstand, verursachte die unkoordinierte Informationspolitik des HQ ISAF bzw. Einsatzführungskommandos keine messbaren negativen Konsequenzen. Abschließend ist das Handeln der beteiligten Akteure auf Lerneffekte zu untersuchen, um daraus Folgerungen ableiten zu können. Mittel hierzu ist ein Soll-Ist-Abgleich, der idealtypisches und tatsächliches Lernen im Fallbeispiel in Relation setzt. Wie hätte also der ideale Lernerfolg ausgesehen? Welche Lehren konnten aus dem Krisenmanagement nach dem Anschlag gezogen werden? An erster Stelle sind vorbereitete, ständig zu aktualisierende Notfallpläne zu nennen. Sie müssen grundsätzlich vorhanden sein, was zum Zeitpunkt des Anschlags jedoch nicht der Fall war. 532 Die zweite Lehre ist das Wissen um die Notwendigkeit von sicheren und vor allem redundanten Kommunikationsverbindungen, welche die Grundlage redaktionellen Arbeitens und somit auch der Krisenkommunikation bilden. Die dritte Lehre ist die Erkenntnis, dass verstärktes Üben solcher Krisenszenarien in der Ausbildung der Kontingente vonnöten ist, um schon als eingespieltes Team in den Einsatz zu gehen, während die vierte und letzte aus der Notwendigkeit der Wirksamkeitsevaluation der eigenen Kommunikationsmaßnahmen besteht. Doch wie wurden die gewonnenen Erkenntnisse umgesetzt? Auch durch das zum Zeitpunkt des Anschlags amtierende OpInfo-Kontingent wurde kein Krisen- oder Notfallplan erstellt. Das einzige Dokument, das einem solchen annäherungsweise entspricht, ist eine Dokumentation der Ereignisse und getroffenen Maßnahmen, welche an die Nachfolger übergeben wurde. Auch dies war 532
Über den Raketenanschlag auf die OPZ lag aus dem Vorkontingent zwar Schriftverkehr vor, jedoch kein Notfallplan. Zum Zeitpunkt des Anschlags auf die Patrouille war er durch das aktuelle Kontingent noch nicht ausgewertet und wurde während des Krisenmanagements auch nicht berücksichtigt.
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indes nur ein rückwärts gerichtetes, deskriptives Papier und kein Maßnahmenkatalog, wie es für eine eigentliche Notfallplanung zweckdienlich wäre. Auch die sicheren und redundanten Kommunikationsverbindungen konnten nicht bereitgestellt werden, was aber nicht der Truppe für Operative Information, sondern vielmehr infrastrukturellen Rahmenbedingungen zuzuschreiben ist. 533 Das verstärkte Üben von Krisenszenarien und auf Teambuilding gerichtete Maßnahmen in der einsatzvorbereitenden Ausbildung werden schon seit September 2005 umgesetzt. 534 Die Evaluation schließlich kann prinzipiell auf zwei Wegen durchgeführt werden. 535 Der erste ist die personelle Aufstockung der Zielgruppenanalyse und der Taktischen OpInfo-Kräfte in den Einsatzländern. 536 Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, den auswertbaren Datensatz zu erweitern und schon vor Ort auszuwerten. Der zweite Weg besteht im Outsourcing der Evaluation an zivile afghanische Firmen, was aber bis Mitte 2007 noch nicht in allen Teilen Afghanistans praktiziert wird. 537 Von den vier essenziellen Lehren wurde eine voll, zwei bedingt und eine gar nicht umgesetzt. Daraus wird deutlich, dass die Nachhaltigkeit der erworbenen Erfahrungen gerade hinsichtlich der Folgekontingente nur bedingt sichergestellt wurde. Das Versäumnis, tatsächlich vor Ort einen Krisenplan mit Maßnahmenkatalog erstellt und auch nicht die Möglichkeit einer gründlichen regionalen Evaluation zu haben, birgt weiterhin das Potenzial einer periodischen Krise. 538
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Dieser Aspekt muss vielmehr von Anfang an bei der infrastrukturellen Ausstattung von Feldlagern, aber auch bei entsprechenden Beschaffungsmaßnahmen von Fernmelde- und Kommunikationsmitteln berücksichtigt werden. Das Kontingent, das den Anschlag auf die Patrouille als Krisenkommunikation gegenüber der afghanischen Bevölkerung zu bearbeiten hatte, kehrte Ende März 2005 aus dem Einsatz zurück, sodass am Heimatstandort zwischen Erkenntnisgewinn und Umsetzung desselben in die Ausbildung sechs Monate vergingen. Hierbei ist anzumerken, dass der Entschluss zur Umsetzung schon früher gefallen war, lediglich die Umsetzung erst ab September möglich war. Eine Kombination aus beiden sowie die zusätzliche Nutzung von Kapazitäten in Deutschland sind denkbar. Dies ist aufgrund der angespannten Personalsituation bei der Truppe für Operative Information, aber auch wegen der begrenzten Zahl an Dienstposten in den Einsatzländern problematisch. Zusätzlich erschwert die sich seit Anfang 2006 kontinuierlich verschlechternde Bedrohungslage das Sammeln von Informationen. Besagtes Verfahren findet schon seit 2004 vor allem in Kabul mehr und mehr Anwendung. Es bietet gerade angesichts der Bedrohungslage aus westlicher Sicht wesentliche Vorteile. Diese Aussage bezieht sich ausschließlich auf den Zeitraum November 2004 bis März 2005 in Kunduz und ist nicht verallgemeinerbar.
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3.5
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Zur Funktionalität der Konzepte
Hermeneutische Analyse und Feldforschung zeigen unabhängig voneinander, dass die zeitlich vor dem Aufkommen des Risk Assessments zu verortenden Ansätze nur sehr eingeschränkt Wege darstellen können, den Umgang mit Terrorismus im Einzelfall, keineswegs jedoch gesellschaftlich, zu erleichtern. Dem Prinzip der rationalen Kalkulation als Bestandteil wissenschaftlichen Deutens genügen sie nicht (vgl. Weber 1980: 13 sowie Bonß 1995: 96). Eben diese rationale Kalkulation im Sinne Max Webers schuf die Grundlage für eine andere Konzeption zum Umgang mit Risiken: „Solange man ungebrochen in der Hingabe an einen göttlichen Willen lebte und in Krankheit, Seuchen, Not und Tod nicht blinden Zufall, sondern Prüfungen und Strafen sah, konnte der Wunsch, sich durch eine rationale Konstruktion gegen das Walten des Zufalls zu schützen, gar nicht erst aufkommen […]. Nur dort, wo das ursprünglich elementare Vertrauen zur Schöpfungsordnung brüchig geworden war, sehen wir Versicherungen sich entwickeln“ (Müller-Armack 1944: 244). 539
Das Prinzip und die Institution der Versicherung hatten zu Beginn ihres Aufkommens gegenüber Terrorismus wenigstens zwei Implikationen. Zum einen wirkten gerade in Deutschland die Anfänge des Versicherungsstaates – welcher eine wohl kalkulierte Maßnahme Bismarcks zur Nivellierung sozialistischer Forderungen war – beruhigend auf die gesellschaftliche Gesamtsituation. Durch das Gewähren staatlicher Sicherheiten wurde aus der mit erheblicher Schärfe geführten Debatte der Zündstoff merklich herausgenommen, was die Verbreitung revolutionären und gewaltbereiten Gedankenguts in der Gesamtbevölkerung merklich hemmte (vgl. Waldmann 2001: 47 f.). Diese hemmende Wirkung ist heute nicht mehr zu beobachten. Der Versicherungs- und Kompensationsgedanke umfasst grundsätzlich auch das Risiko Terrorismus, was entlastend für die potenziellen Opfer und möglichen Versicherungsnehmer wirkt. In den bis zur vierten Welle des modernen Terrorismus beobachtbaren Erscheinungsformen war Terrorismus tatsächlich noch ein herkömmliches Risiko und daher nach heutigem Ermessen versicher- und kompensierbar. 540 Somit bestand für potenzielle Opfer die grundsätzliche Möglichkeit, Schäden monetär abzudecken. Allerdings hat der Terrorismus seine eigenen Grenzen immer weiter verschoben, was nur noch in Teilen durch Versicherungen aufgefangen werden kann. Darüber hinaus kann die für die Opfer beruhigende Wirkung der Versicherungen für Terroristen zum An-
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Hier zitiert nach Bonß 1995: 178. Dies gilt nicht nur für die Wettversicherung als spezifische Form der Versicherung.
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sporn werden, dieses Gefühl der Sicherheit aufzubrechen und in eines der Unsicherheit zu wandeln. 541 Das Mittel zu einer solchen Umwandlung ist das der Entgrenzung, die ihrerseits wiederum Publizität sichert. Dies deutet vor dem Hintergrund von Haftungsausschlüssen und -limits, rechtlichen Hürden und ungerechter Kostenverteilung darauf hin, dass das Versicherungsprinzip damals wie heute zwar in Teilen Nutzen entfalten und zu seiner gesellschaftlichen Bewältigung beitragen, keinesfalls jedoch als Allheilmittel gegen Terrorismus verstanden werden kann. 542 Wie hat eine abschließende Beurteilung der Praktikabilität des Prinzips der Versicherung als Mittel zum Umgang mit Terrorismus auszusehen? Unabhängig von den skizzierten Schwierigkeiten ist die Versicherung ein Konzept, das zumindest die materiellen Schäden des Terrorismus nivellieren kann und deren Bedeutung folglich mindert. Durch die gebotene Kompensation entzieht es dem Terrorismus teilweise den Boden, auf dem er operiert. Folglich muss sich Terrorismus andere Wege suchen, um Aufmerksamkeit zu sichern: weg von einfachen Gegenständen, hin zu extrem kostspieligen oder symbolbehafteten Zielen oder, noch besser, zu menschlichen Zielen, deren Leben nur bedingt monetär taxierbar ist. In dieser Perspektive wirkt das Versicherungsprinzip als Stimulus für neue Entgrenzung. Wie lassen sich die Erkenntnisse zur Risikowahrnehmung zusammenfassen? Cutter formuliert es – freilich ohne Terrorismusbezug – so: „Simply put, risk perception is a gigantic clash of conflict of interests between different ages, classes, ideologies, political parties, races and genders” (Cutter (1993: 23). 543 Mit Terrorismusbezug sei folgender Versuch unternommen: Die Terrorismuswahrnehmung ist als gesellschaftlich gesteuert und sozial gefiltert zu bezeichnen, woraus sich als Ansatzpunkte zur Beeinflussung derselben die gesellschaftliche Steuerung und die sozialen Filter herauskristallisieren (vgl. Bechmann 1993: XVII). Deutlich wird, dass die Kalkulation von Schadensumfang und 541
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Interessanterweise – dies zeigt Schmitt (2003) – schöpften im Fall des 11. September die verletzten Opfer bzw. Hinterbliebenen die monetären Kompensationsmöglichkeiten nicht einmal annähernd aus. So wurden aus einem staatlichen Entschädigungsfonds von drei Milliarden bereitgestellten lediglich 623 Millionen US-Dollar aufgrund 800 gestellter Anträge ausgezahlt. So kann zumindest eine AFP-Meldung vom 8. Juli 2005 interpretiert werden. Der Meldung zufolge haben in Deutschland 97 Prozent aller Unternehmen keine Versicherung gegen Anschlagsschäden, obwohl die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in der Zeit vor dem Londoner Anschlag vor den Folgen eines solchen gewarnt hatte. Auf den Ebenen individueller und kulturell-soziologischer Risikowahrnehmung identifiziert Cutter (1993) letztlich sechs Einflussfaktoren: Erfahrung, kultur-übergreifende Vergleiche, die Einstellung des Umfelds, Rasse, Geschlecht und sozioökonomischer Status sowie die Distanz zum Risiko.
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Eintrittswahrscheinlichkeit sehr wohl Ergebnisse auszuwerfen vermag, die jedoch nicht zwingend dem öffentlichen Risikobewusstsein entsprechen, welches sich meist am Empörungspotenzial eines Anschlags orientiert. Doch auch diese Einsicht verhilft nicht zu einer einheitlichen, von allen Akteuren (individuell wie gruppenspezifisch) gleichermaßen getragenen Risikobewertung. Sie vermag lediglich dazu beizutragen, die Sichtweise anderer Akteure nachvollziehen zu können. Durch die Differenzierung der Wahrnehmung in einzelne, sie beeinflussende Faktoren wird das Problem deutlicher. Will man einen breiten Konsens hinsichtlich des Umgangs mit Terrorismus erzielen, müssen die reell herrschenden Perspektiven zusammengeführt oder es muss zumindest eine Hierarchie daraus abgeleitet werden. Doch genau dies verläuft trotz mehr oder minder intensiver Risikokommunikation nur bedingt erfolgreich. Das grundsätzliche Problem von Risikokommunikation über Terrorismus besteht darin, dass schon allein die Kommunikation einen Erfolg für den Terrorismus darstellt. Er erfährt Publizität und kann so seine Wirkung entfalten. Der Anschlag in Kunduz entfaltete seine Wirkung vornehmlich dort, sie wurde durch intensive Kommunikation innerhalb der Untersuchungsgruppe noch verstärkt. In Deutschland wurde er kaum wahrgenommen, Kommunikation darüber fand nicht statt. 544 Vor Ort – also in Kunduz selbst – halfen die theoretischen Grundlagen von Risikokommunikation im Allgemeinen und Krisenkommunikation im Speziellen, das eigene Handeln zweckmäßig zu organisieren. Wie muss also – losgelöst von der Fallstudie – das Resümee zur Hypothese von den nicht vollständig geeigneten Umgangsmöglichkeiten mit dem Neuen Risiko Terrorismus ausfallen? Unabhängig von einigen Mängeln in der Anwendung der einzelnen Konzepte, was in der Analyse der in der Feldforschung gewonnenen Daten deutlich wurde, sind diese Konzepte zusammen zwar in der Lage, Erkenntnisgewinn zu verschaffen, dadurch Verstehen zu befördern, kurzfristig (un-)mittelbare Konfrontation erträglich zu machen und das eigene Handeln zielgerichtet zu strukturieren. Sie vermögen jedoch nicht, die destruktive Wirkung, die Terrorismus auf Menschen hat, nachhaltig zu absorbieren. Dies zeigt vor allem die Gegenüberstellung der Sozialisation und Enkulturation von Untersuchungs- und Kontrollgruppe (Kapitel 3.3.4.3.3), die verdeutlicht, dass das Konzept der Risikowahrnehmungsforschung Unterschiede in Risikobewertungen zu erklären, nicht aber das Neue Risiko Terrorismus oder zumindest seine negativen Begleiterscheinungen zu kontrollieren vermag. Daher stützen
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Dies verweist ebenfalls darauf, dass ungesteuert erfolgende Risikokommunikation eher kontraproduktiv bei der Handhabung von Terrorismus ist.
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die im Rahmen von Feldforschung gewonnenen und mittels qualitativer Methoden ausgewerteten Daten die zweite der Hypothesen: Die bestehenden Möglichkeiten zum Umgang mit Risiken tragen zwar zum wechselseitigen Verständnis der Positionen unterschiedlicher, mit ihm konfrontierter, Akteure bei und vermögen im Falle einer unmittelbaren Konfrontation, eigenes Handeln zu strukturieren. Gleichzeitig sind sie jedoch nicht geeignet, Terrorismus gesellschaftlich nachhaltig handhabbar zu machen. Will man sich nicht auf eine These Horx’ verlassen, der zufolge die Bereitschaft zu Selbstmordattentaten mit abnehmender Geburtenzahl in den Herkunftsländern der Attentäter von selbst abnehmen könnte,545 macht dies die Suche nach Alternativen notwendig. Das Anliegen des letzten Kapitels besteht daher in der Entwicklung von Möglichkeiten, wie Terrorismus jenseits der bereits erörterten Konzepte im Zeitalter der Globalisierung und ubiquitären Entgrenzung handhabbar gemacht werden kann. 546
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Horx (2007: 188-190) verweist auf den Zusammenhang der demographischen Entwicklung („youth bulge“) einer Gesellschaft und der Bereitschaft zu Selbstmordattentätern. Er nimmt an, Einzelkinder würden im Vergleich zu Familien mit mehreren Kindern seltener in den Tod geschickt bzw. erklärten sich dazu bereit. Ein Ende des Bevölkerungswachstums in Gebieten wie dem Gazastreifen oder Afghanistan – die Geburtenrate liegt dort bei sechs Kindern pro Familie – impliziert ein Limit des Pools potenzieller Attentäter. Levitt/Dubner (2006: 161-198) beobachten in den USA einen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Legalisierung von Abtreibung, dem Nicht-Geboren-Werden potenzieller Problemkohorten und dem Rückgang von Kriminalität. Bei Horx wie auch bei Levitt/Dubner ist der grundsätzliche Tenor gleich: Wenn weniger Menschen da sind, die Unrechtes tun können, wird auch weniger Unrecht getan. Die Notwendigkeit hierzu erkennt auch Beck: „Alle vergangenen und gegenwärtigen praktischen Erfahrungen im Umgang mit Ungewißheit können dieselbe Berechtigung beanspruchen, stellen allerdings gerade deshalb keine fertige Lösung für die resultierenden Probleme bereit“ (Beck 2007 a: 66).
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Kapitel 2 und 3 zeigten die nicht neue, aber doch umfassende Entgrenzung der derzeitigen Erscheinungsform des Terrorismus und untersuchten verschiedene Konzepte zum Umgang mit Risiken auf ihre Praktikabilität hinsichtlich des Neuen Risikos Terrorismus. Die Erkenntnisse der Feldforschung bzw. die der Analyse der Beobachtbarkeit der einzelnen Konzepte zum Umgang mit Risiken an Untersuchungs- und Kontrollgruppe werden in Kapitel 4 – induktiv – gesamtgesellschaftlich verallgemeinert, sodass heuristisch verschiedene Alternativkonzepte entwickelt werden können, die dazu beitragen sollen, Terrorismus gesellschaftlich handhabbar zu machen. Als möglicher Einwand gegen diese Induktion ist der Umstand zu nennen, dass es sich hierbei vorwiegend um eine einzelne Fallgruppe handelt, die im Mittelpunkt der Beobachtungen stand (vgl. Chalmers 2006: 39-41). Der induktive Schluss ist aber deshalb zulässig, weil die Daten der Fallstudie zeigen, dass sogar in der Untersuchungsgruppe trotz der militärischen, den Umgang mit Gewalt differenzierter betrachtenden, Sozialisation die Konfrontation mit Gewalt eine Ausnahmesituation bleibt. Diese Ausnahmesituation stellt wiederum ein tief verankertes Tabu mit Sensationscharakter dar (vgl. Kapitel 3.3.4.3.3). Wenn also selbst militärische Sozialisation den Sensationscharakter von Gewalt nicht abschaffen kann, dann ist er auch in einer reflexiven Gesellschaft insgesamt tief verankert. Für die Zulässigkeit der Induktion bzw. deren Güte spricht weiterhin, dass die Beobachtungen der Fallstudie nicht im Widerspruch zu allgemeinen, im militärischen wie auch zivilen Bereich beobachtbaren, Wahrnehmungsweisen und Verhaltensmustern – gerade in der Reaktion auf den 11. September – stehen (vgl. Chalmers 2006: 39). Während die weltweiten Reaktionen auf 9/11 bereits in Kapitel 1.1.1 skizziert wurden, entsprechen die Reaktionen in den USA nach Ochsmann (2002) im Wesentlichen dem, was anhand der Annahmen der Terror-ManagementTheorie zu erwarten war (vgl. Greenberg/Pyszczynski/Solomon 1986). Das Verteidigen der eigenen Weltsicht, Bestrafung derjenigen, die diese infrage stellen und Belohnung der Unterstützer zählen ebenso dazu wie das Entstehen eines „Wir-Gefühls“. Auf der anderen Seite sind klare Tendenzen zur Polarisierung und Re-Nationalisierung zu erkennen, auch waren vereinzelt Übergriffe auf Muslime zu beobachten, da diese mit den Terroristen paktiert haben sollen. Bei
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all dem lassen sich zweifelsfrei auch objektiv als positiv zu bewertende Elemente identifizieren. Hierzu zählen die Solidarisierung mit den Opfern sowie verstärkt zu beobachtender Altruismus. Demgegenüber stehen aber Effekte, die ob ihrer Konsequenzen zumindest potenziell negativ zu bewerten sind. In diesem Zusammenhang sind die zunehmende Polarisierung, die Re-Nationalisierung und die Neigung zur Bestrafung derjenigen, die die eigene Weltsicht und ihre Werte infrage stellen, zu nennen. Diese Phänomene bieten allesamt Eskalationspotenzial, da sie eine Verhärtung der Fronten bedeuten und Terroristen förmlich zu erneuten Reaktionen herausfordern. Vor diesem Hintergrund ist Ochsmann zumindest aus gesellschaftlicher Perspektive eindeutig zu widersprechen, wenn er die Reaktionen auf 9/11 als „konstruktive[n] Umgang mit existentieller Angst“ (Ochsmann 2002) bezeichnet. Denn eines geschah nicht: Es wurden keine tragfähigen Konzepte entwickelt, wie die Verhärtung der Fronten als Beitrag zur Eskalationsspirale vermieden werden kann. 547 Eine Form des gesellschaftlichen Umgangs mit Terrorismus zu entwickeln, die unter Vermeidung dieser negativen Effekte die positiven dennoch hervorbringt, bedarf augenscheinlich alternativer Handlungsweisen. Daher greift Kapitel 4 die dritte und letzte Hypothese auf: Alternativen zur Handhabung von Terrorismus können an dessen Funktionsund Wirkungsweise ansetzen. Zur Entwicklung von alternativen Handlungsmöglichkeiten zum Umgang mit Ungewissheit im Allgemeinen und Terrorismus im Besonderen wird eine mehrstufige Vorgehensweise gewählt. Ausgangspunkt muss die Entwicklung des analytischen Rahmens sein, der wiederum an der Gegenwart orientiert und den für die nahe und mittlere Zukunft zu erwartenden Entwicklungen angepasst sein muss. Dieser analytische Rahmen findet sich im methodologischen Kosmopolitismus. Der zweite Schritt besteht dann in der Analyse der Wirkungsweise des Terrorismus, der dritte zeigt die gegenwärtige Praxis seiner Handhabung, während im vierten, kontrastierenden Schritt heuristisch Optimallösungen, die alle an der Funktions- und Wirkungsweise von Terrorismus ansetzen, aufgezeigt werden. Im fünften und letzten werden mit dem Wissen, dass Optimallösungen in der Realität selten praktikabel sind, realisierbare Vorschläge zur gesellschaftlichen Handhabung von Terrorismus unterbreitet. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Entwicklung von Handlungsmöglichkeiten nicht das Verlassen der rein beobachtenden Objektivität bedeutet, obwohl deren Entwickeln nolens volens darauf zielt, Terrorismus als 547
Aus einer Bush-kritischen Perspektive illustriert Kleine-Brockhoff (2006), wie die USamerikanische Gesellschaft fünf Jahre nach den Anschlägen aufgrund wesentlich mit ihnen zusammenhängender Ereignisse emotional ermattet wirkt.
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politisches Instrument und Kommunikationsform in seiner Wirkung einzuschränken. 548 Genauso gut wäre denkbar, die gewonnenen Erkenntnisse zu einer Analyse zu nutzen, wie Terrorismus für dessen Verfechter effektiver gestaltet werden kann. Da ein solches Unterfangen den Rahmen vorliegender Arbeit sprengen würde, wird von der zweiten Möglichkeit Abstand genommen. 4.1
Analytischer Rahmen
Die Entwicklung des analytischen Rahmens erfolgt im Wesentlichen in zwei Schritten. Im ersten wird das Prinzip des methodologischen Kosmopolitismus skizziert, im zweiten werden die Begrifflichkeit des sozialen Systems geklärt und die für die vorliegende Arbeit relevanten Akteure definiert. 4.1.1
Methodologischer Kosmopolitismus
Im Zuge der Globalisierung verlieren alte Grenzen – räumlich wie auch sozial – an Bedeutung. Diese Abkehr von primär nationalstaatlichen Orientierungen durchzieht den Umgang mit Terrorismus vollständig. Einerseits wird er durch die Terroristen – gerade islamistisch-fundamentalistischer Prägung – vorexerziert, andererseits ist ein internationaler Handhabungsansatz eine logische Konsequenz aus einer internationalen Betroffenheit (vgl. Röhrich 2005 sowie Bonß 2005: 40). Nach Beck (2003: 287 f. und 2007 b) zeichnet sich eine staatenübergreifende, Grenzen negierende Weltrisikogesellschaft ab, was eine großteils unreflektierte Prämisse der Sozialwissenschaften infrage stellt: den Nationalstaat mit seinen Bestimmungselementen Staatsvolk, Staatsgewalt und Staatsgebiet als die den Rahmen des Erkenntnisgegenstandes vorgebende Institution und somit auch den methodologischen Nationalismus (vgl. Beck 2007 a: 70). In dessen Rahmen versucht die Soziologie bislang Antworten auf die Fragen nach Gerechtigkeit, Mobilität, Ungleichheit und Risikokonflikten zu finden, wobei die Sichtweise die des Staatsvolks ist. 549 Der Nationalstaatsglaube fußt im Wesentlichen auf vier Prämissen: 1) Gesellschaft und Nationalstaatsgesellschaft sind identisch. 2) Staaten und Regierungen bilden den Rahmen der politikwissenschaftlichen 548 549
Will man den Vorwurf fehlender Objektivität erheben, so bietet sich hierfür bereits dadurch Gelegenheit, dass in vorliegender Arbeit – nach entsprechender Definition – durchgängig der Terminus Terrorismus mit all seinen anhängenden Perspektiven Verwendung findet. Beck (2003) bezeichnet die im Paradigma des methodologischen Nationalismus betriebene Soziologie als Nationalsoziologie.
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Analyse. 3) Die Menschheit zerfällt in Nationen, die sich in Nationalstaaten organisieren und voneinander abgrenzen. 4) Abgrenzung und Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten sind das politische Organisationsprinzip. 550 Was der methodologische Nationalismus nicht handhabbar machen kann, sind gegenwärtige Phänomene wie Transmigration, transnationale Lebensformen, globale Eliten, supranationale Organisationen, Dynamiken – und Neue Risiken wie Terrorismus. Die daraus resultierende Weltrisikogesellschaft ist eine kosmopolitische Gesellschaft, die durch ein hohes Maß an Interaktion über nationalstaatliche Grenzen hinweg, aber auch innerhalb und zwischen den sozialen Funktionssystemen gekennzeichnet ist. Sie wird möglich durch technische Lösungen für Kommunikation und Mobilität, deren Akzeptanz und Nutzung in der kosmopolitischen Gesellschaft einhergehen mit steigender interkultureller und auch Sprachkompetenz, was nationalstaatliche Beschränkungen stetig weiter auflöst (vgl. Beck 2003: 288 f.). Antworten auf die Fragen nach den Auswirkungen der genannten Phänomene auf die sozialen Systeme 551 der Weltrisikogesellschaft sind im Paradigma des methodologischen Nationalismus nicht zu gewinnen. Diesem methodologischen und somit analytischen Kosmopolitismus steht die Idee eines kosmopolitischen Regimes gegenüber, dessen normative Elemente schwer implementierbar sein dürften. Ein kosmopolitisches Regime setzt unter der Prämisse der Praktikabilität ein Mindestmaß an global akzeptierten Normen und gegenseitiger kultureller Toleranz voraus, damit eine postnationale, globale Gesetzgebung die Umsetzbarkeit von Sicherheitspolitik als Teil der Weltinnenpolitik gewährleisten kann. Notwendigerweise bestünde der erste Schritt hierbei in der Konsensbeschaffung, was als sicherheitsrelevantes Risiko gelten soll und wie es zu definieren ist – für den Terrorismus eine never ending question. 552 Obwohl in einzelnen Teilen der Welt schon Ansätze zur Überwindung alter nationalstaatlicher Handlungsmuster erkennbar werden – hier sei auf den europäischen Integrationsprozess verwiesen – zeigt vor allem der letzte Hinweis die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens, will es wirklich kosmopolitisch angelegt sein. Der methodologische Kosmopolitismus stellt offensichtlich einen 550
551 552
Die politische Praxis kann – im Gegensatz zur wissenschaftlichen Perspektive des methodologischen – als normativer Nationalismus beschrieben werden. Beck (2003: 287 f.) verweist auf die These, Demokratie könne nur in Nationalstaaten gedeihen, freilich ohne diese selbst zu stützen. Zu einer diese These infrage stellenden Auffassung vgl. Habermas (1998). In vorliegender Arbeit sind – sofern nicht explizit anders gekennzeichnet – unter Systemen stets soziale Systeme zu verstehen. Nichtsdestotrotz ist ein handlungsfähiges kosmopolitisches Regime zur Abwehr von Terrorismus mehr als wünschenswert, zumal bereits Dumont (1997: 43 f.) angesichts der Internationalisierung des organisierten Verbrechens das Versagen des nationalstaatlichen Instrumentariums bemängelt.
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Paradigmenwechsel dar. Gerade angesichts der Nichteingrenzbarkeit von Terrorismus ist er die logische Abkehr von nationalstaatlich geprägten Deutungsmustern, da er eine perspektivische Erweiterung auf eine globalisierte Gesellschaft – die Weltrisikogesellschaft – bietet und sie mit ihren Interaktions- und Kommunikationssträngen analysierbar macht. Der vorliegende Abschnitt verfolgt nicht das Ziel, Möglichkeiten der Implementierung eines kosmopolitischen Regimes zu suchen. Vielmehr sollen innerhalb des Paradigmas des methodologischen Kosmopolitismus Ideen entwickelt werden, wie die Wirkung der Dynamiken, die der Terrorismus auslöst und auf die Systeme hereinbrechen lässt, absorbiert oder wenigstens gehemmt werden kann. Hierfür muss in Anlehnung an Fuchs (2004) unter Zuhilfenahme von Anleihen der Systemtheorie (ohne sich ihr jedoch in Gänze zu übereignen) der Blick auf die trotzdem weiterhin funktional differenzierten sozialen Systeme gerichtet werden. 553 4.1.2
Soziale Systeme
An dieser Stelle folgt eine Bestimmung des Begriffs des sozialen Systems, woran sich die Definition der für die Analyse der Auswirkungen von Terrorismus relevanten Akteure als eben solche Funktionssysteme anschließt. 4.1.2.1
Begriff
Ein soziales System kann als Kommunikationsgeflecht verstanden werden, das einen spezifischen Zusammenhang erzeugt und über diesen Zusammenhang eine Differenz zu seiner Umwelt erkennen lässt. Ein System ist folglich „die Reproduktion einer spezifischen Differenz.554 Der allgemeinste Ausdruck für diese Differenz ist: System/Umwelt“ (Fuchs 2004: 25). System meint nicht einfach Organisationen oder Akteure, wobei zu konzedieren ist, dass sich Akteure und Organisationen sozialen Systemen zuordnen lassen. „Soziale Systeme ‚durchpunkten’ sich mit Zurechnungsstellen, die als ‚Autoren’ der Kommunikation erscheinen“ (Fuchs 2004: 22). Von diesem „Durchpunkten“ wird hier Gebrauch gemacht, um einen realeren und konkreteren Bezug zur erfahrbaren 553 554
Fuchs definiert funktionale Differenzierung als die Tatsache, dass „die primäre Ordnung der Gesellschaft nicht mehr durch Schichtung beschrieben werden kann, sondern durch gesellschaftsweit operierende Funktionssysteme“ (Fuchs 2004: 43 f.). Japp (2003: 55) identifiziert die Wertedifferenz – beispielsweise ein Freund-Feind-Schema – als Kriterium.
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Umwelt herzustellen. In vorliegender Arbeit ist der Zweck bzw. die Aufgabe (= die Funktion) eines sozialen Systems und seiner Akteure innerhalb der Gesellschaft von Interesse. 555 Diese unterschiedlichen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben stellen hier das wesentlichste Differenzierungskriterium der sozialen Systeme dar. Die Perspektive ist folglich die der funktionalen Differenzierung. 556 Durch die Wirkung, die sie aufgrund ihrer gesellschaftlichen Rolle erzeugen, üben alle sozialen Systeme implizit auch Macht aus, da sie in irgendeiner – für den Terrorismus in Folge zu zeigender – Form für jedes andere System Nutzen stiften. Somit erfüllen sie auf andere Systeme gerichtete spezifische Funktionen. Ihre gesellschaftliche Funktion lässt sich allgemein beschreiben als die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und die anderer sozialer Systeme. 557 Kontinuierliche Bedürfnisbefriedigung schafft für Angebots- und Nachfrageseite einerseits Erwartungssicherheit, dass dies in Zukunft ebenfalls so sein wird. Andererseits aber ergibt sich dadurch auch eine Abhängigkeit vom jeweiligen anderen, als Interaktionspartner fungierenden System. Die Stabilität des Gesamtsystems – der (kosmopolitischen) Gesellschaft – hängt also unter anderem an diesen interaktiven bedürfnisbasierten Abhängigkeiten. Untersucht man die Wirkung von Terrorismus in der Weltrisikogesellschaft, so können in einer an der Volkswirtschaftslehre orientierten Klassifizierung vier soziale Systeme unterschieden werden, von denen die letzten drei – weil negativ von ihm betroffen – den Terrorismus vordergründig als unerwünscht ansehen, während das erste diesen begünstigt: 558 1) die Medien; 2) der Staat; 3) die Wirtschaft; 4) die Privaten. Ausdifferenziert auf die Ebene des Individuums treten zwangsläufig Schnittmengen zwischen den einzelnen Funktionssystemen auf. Soziale Systeme können im methodologischen Kosmopolitismus – der sich ja explizit über bestehende politische Schranken hinwegsetzt – global zusammengefasst und zum Gegenstand des Interesses gemacht werden, da in wesentlichen Teilen der Weltrisikogesellschaft die Zwänge, Nöte und Belange derselben einander ähneln. Der durch menschliches Zutun verstärkte Klimawandel betrifft Menschen in Südostasien ebenso wie in Zentralafrika. Die Wirtschaft muss weltweit mit konjunkturellen Abwärtsbewegungen infolge von Einschränkun555 556 557 558
Das Verständnis von „Funktion“ in vorliegender Arbeit weicht somit von dem rein systemtheoretischer Werke ab. Zur funktionalen Differenzierung als gesamtgesellschaftliches Organisationsprinzip vgl. grundlegend Durkheim (1964), aber auch Parsons (1972). Bedürfnis sei als Oberbegriff für objektiv nachvollziehbare und subjektiv begründete Wünsche verstanden. Verbunden mit dem Hinweis, dass die einzelnen Teilsysteme einander nicht ersetzen können, differenziert Schimank (2005: 80f.) indes stärker.
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gen der Energieversorgung (unabhängig von deren Ursachen) rechnen, wie die Privaten individuelle Handlungsmuster zur Bewältigung der Folgen negativer wirtschaftlicher Entwicklung und Klimawandel entwickeln müssen. Die politischen Führungsorgane sehen sich in allen Regionen der Welt der Erwartungshaltung der Bevölkerung ausgesetzt, aktuelle oder zukünftige Herausforderungen zu meistern. Die Medien schließlich verstehen es, jenseits aller nationalstaatlichen Beschränkungen Ereignisse mit Besonderheitswert zu thematisieren – auch und gerade von Terroristen verursachte Ereignisse. Im Folgenden soll die Terrorismuswahrnehmung der einzelnen Systeme untersucht werden. Dazu ist für jedes die gesellschaftliche Funktion zu skizzieren, daraus eine Haltung gegenüber Terrorismus abzuleiten und diese auf versteckte Nutzenmomente zu untersuchen. Vorab ist zu bemerken, dass oftmals sowohl weder die gesellschaftlichen Funktionen der einzelnen Systeme eindimensional – d. h. nur auf ein einziges anderes System gerichtet – sind noch deren Wahrnehmung von Terrorismus in Kategorien von gut und böse ausgedrückt werden kann. 4.1.2.2
Staat
Staat ist nicht als Nationalstaat zu begreifen, sondern als Synonym für den oder die Träger der Verantwortung, die in heutiger Zeit den als Staaten bezeichneten legalen Herrschafts- und Ordnungsbereichen zugeschrieben wird: Organisation und Sicherstellung der Rahmenbedingungen, welche die Entwicklung einer Gesellschaft ermöglichen. Dies lässt sich im Kern auf die Produktion unterschiedlicher Sicherheiten reduzieren.559 Diese Herrschaftsbereiche mit den ihnen anhängenden Organisationen und Institutionen bestehen alle aus Exekutive, Legislative und Jurisdiktion, wobei diese Gewalten häufig jedoch nicht klar voneinander getrennt sind. Sind sie getrennt, gilt nach Luhmann vor allem für die Herrschaftsbereiche: „Sie müssen Beschränkungen hinnehmen, müssen mit den Unvollkommenheiten der Welt zurechtkommen und trotzdem sich aufführen als diejenigen, die die Verantwortung für die Folgen zu tragen haben“ (Luhmann 1993: 165). Aus einer von sämtlichen sozialen Systemen gelösten Perspektive – aus der die Beobachtung und Analyse letztendlich erfolgen muss – erscheint bei effektiver Aufgabenerfüllung das System Staat als Normierungs- und Sanktionierungsinstanz der inter- und intrasystemischen Interaktionen. Wird diese Sanktionie559
Um nur einige der Sicherheiten zu nennen: physische Sicherheit, Erwartungssicherheit, Rechtssicherheit.
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rungsinstanz aber ihren eigenen Ansprüchen und den von anderen Systemen an sie gerichteten Erwartungen nicht gerecht, so wirkt sie in normativer Perspektive wie ein Anachronismus, während sie in interpretativer kaum mehr wahrzunehmen ist. Die Staatsform ist für vorliegende Untersuchung an sich von nachrangigem Interesse, 560 da der vertragstheoretisch begründete, wesentliche Teil des Staatsauftrages davon unberührt bleibt: Fürsorge und Verantwortung gegenüber den anderen sozialen Systemen, d. h. der Gesellschaft. Der Staat hat Rahmenbedingungen zu schaffen und aufrechtzuerhalten, in denen die anderen Systeme ihrerseits ihre sozialen Funktionen wahrnehmen können. Akzeptiert man Fürsorge und Verantwortlichkeit als Leitprinzipien, so ergeben sich für den Staat im Wesentlichen die Aufgabe des Schutzes der Bevölkerung vor Risiken und Nöten. Armut, Alter, Krankheit sind Begleitumstände, die mit staatlichen Handlungsfeldern assoziiert werden. 561 Neben diesen soft risks obliegt dem Staat indes auch der Schutz seiner Bürger vor hard risks, also solchen, die im Gegensatz zu den soft risks zeitlich und unmittelbar negative Konsequenzen für Physis oder Psyche der Bürger haben können. 562 Aus dieser Perspektive legitimiert sich in der Vertragstheorie das staatliche Gewaltmonopol, das der Staat zugunsten und mitunter auch zuungunsten der anderen sozialen Systeme durchzusetzen hat. Hierauf fußt die Negativwahrnehmung von Terrorismus durch das soziale System Staat. 563 Ausdruck für das staatliche Streben nach der Produktion von Sicherheit ist in der Ära der Nationalstaaten die Sicherheitspolitik, 564 deren Anliegen der Schutz der staatlichen Ordnung vor äußeren Bedrohungen ist (vgl. Kaufmann 1973: 72). Anders formuliert: In nationalstaatlicher Perspektive muss der Staat neben der inneren auch die äußere Sicherheit gewährleisten. Während ein von außen gegen einen Staat gerichteter terroristischer Akt auch völkerrechtlich 560 561 562
563 564
Dieser Frage nehmen sich Eubank/Weinberg (1994) an. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Terrorismus eher in demokratisch denn in totalitären Regimes zu finden ist. Bonß (1995: 206 f.) spricht im Kontext von Sicherheit und Unsicherheit ganz allgemein von der Reduktion von Unsicherheit als oberster Staatsaufgabe. Der Staat hat nach Naumann (2004) die Pflicht zum Schutz vor gegenwärtigen Bedrohungen und die zur vorausschauenden Verhinderung (Preemption). Bestandteil der Preemption sei die präventive Behandlung von Konfliktursachen. Anzumerken ist jedoch, dass sich Naumann vom Paradigma des methodologischen Nationalismus zu lösen beginnt, indem er ein Ende der Trennung von innerer und äußerer Sicherheit und auf diese Weise einen wesentlichen Aspekt eines kosmopolitischen Regimes postuliert. Kaufmann (1973: 63 f.) zeigt auf, dass die Sicherheit der Bürger als Staatsaufgabe bereits in der securitas augusti erkennbar ist. Bundesminister der Verteidigung Franz Josef Jung versteht im Vorwort das Weißbuch als „eine sicherheitspolitische Standortbestimmung“ Bundesministerium der Verteidigung (2006: 4), die der Orientierung diene, Bundeswehr und Sicherheitspolitik transparent mache und gleichzeitig Programm für die nächsten Jahre sei.
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nicht widerspruchsfrei einzuordnen ist, stellt er für den Fall, dass er aus der eigenen Gesellschaft entspringt, einen innenpolitischen Angriff auf das staatliche Gewaltmonopol 565 und die Sicherheit der anderen Systeme dar. Dies ist genau der Stellenwert, den Terrorismus in einem kosmopolitischen Regime grundsätzlich einnehmen würde. Folgt man Beck (2003: 292), wäre er eine Angelegenheit der Weltinnenpolitik, ähnlich normaler Kriminalität. Der demokratische Staat westlicher Prägung charakterisiert sich neben föderalistischen Elementen vor allem durch das Prinzip der Gewaltenteilung, woraus sich als Akteure Legislative, Exekutive und Judikative ableiten. Das staatliche Funktionsprinzip liegt im Konsens aller (Teil-)Systeme über den Transfer des Rechts zur Gewaltausübung an das Konstrukt Staat. Die vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkriegs und der ständigen Furcht um Leib und Leben (vgl. Fetscher 1966: XI) entstandene Idee, den Konfliktaustrag zwischen nichtstaatlichen Akteuren durch vertraglichen Gewalttransfer an einen externen, unparteiischen Schiedsrichter zu begrenzen (vgl. Hobbes 1966: 134 f.), muss Terrorismus als Bedrohung des skizzierten Funktionsprinzips wahrnehmen, da Terrorismus per definitionem von einem nichtstaatlichen Akteur ausgehende Gewaltanwendung darstellt, welche häufig sogar explizit gegen den Staat gerichtet ist. Das für demokratisch-rechtsstaatliche Verhältnisse zwingend notwendige staatliche Gewaltmonopol wird angetastet. Um den implizit mit seinen Bürgern geschlossenen Vertrag – Übertragung des Rechts auf Gewaltanwendung gegen Schutzgarantien – einhalten zu können, kommt der Staat nicht umhin, Terrorismus zu bekämpfen und so der Schutzgarantie gegenüber seinen Bürgern bestmöglich nachzukommen. 566 In demokratischen, an Menschenrechten orientierten Staaten kann so ein Spannungsfeld entstehen, da der Staat zum Schutz des einen Rechts dazu gezwungen sein kann, andere zu beschneiden. Der Prozess der Rechtsgüterabwägung läuft an, an dem sich wiederum das Zusammenspiel aus Gesetzgebung und judikativen Kontroll-
565
566
Zur Wichtigkeit der Aufrechterhaltung des Gewaltmonopols für den Fortbestand des Konstruktes Staat vgl. grundlegend Creveld (1999: 434-449, 457-463), der den Staat als juristische Person versteht, als eine Körperschaft, die ihrerseits wiederum eine spezifische und nicht unveränderliche Form von Regierung darstellt. Creveld ist der Auffassung, dass der Staat in seiner derzeitigen Organisationsform den Trends der Globalisierung nicht in demselben Maß gewachsen ist wie andere Organisationen. Indikator für den Rückzug des Staates sei unter anderem die zunehmende Privatisierung von Sicherheit und Gewalt. Zur Privatisierung von Gewalt vgl. Voigt (2002: 324-327). Unter den Hauptbedrohungen, zu denen auch Proliferation, regionale Konflikte, organisierte Kriminalität und das Scheitern von Staaten gezählt werden, wird Terrorismus regelmäßig an erster Stelle genannt. Vgl. Europäische Union (2003) sowie Bundesministerium der Verteidigung (2006).
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elementen zeigt, was – wie im Falle des Luftsicherheitsgesetzes – zu einer Aufhebung schutzintentionaler Gesetze führen kann. In der Perspektive des methodologischen Nationalismus – und somit in der Realität des beginnenden 21. Jahrhunderts – können Staaten indes auch als Förderer von Terrorismus auftreten. Gegen andere Staaten gerichteten Terrorismus zu fördern kann ein Mittel sein, einen Kontrahenten zu schwächen und ihn so zu hindern, den Schutzgarantien gegenüber der eigenen Bevölkerung nachzukommen. Bei dieser Lesart wird nicht das eigene, sondern das Gewaltmonopol des Kontrahenten ausgehebelt, sodass das (im Fördererstaat eventuell vorhandene) demokratische Funktionsprinzip intakt bleibt. 567 Auf den Terrorismus reflektiert kann die Absicht des Staats trotz dieser Konstellation grundsätzlich als Schutz der Bürger vor Anschlägen und deren Folgen bei gleichzeitiger Verfolgung anderer politischer Ziele charakterisiert werden. Ein Scheitern bei diesem Vorhaben stellt das vertragstheoretisch legitimierte Gewaltmonopol infrage (vgl. Bonß 1995: 206 f.). 568 Der Kern der Wahrnehmung des Terrorismus durch den Staat ist auf institutioneller Ebene die als eine Bedrohung der vertragstheoretischen Legitimation durch ein politisches, negativ empfundenes Phänomen, das aber auf operativer Ebene durchaus das Potenzial zur Instrumentalisierung für eigene, nicht unmittelbar mit Terrorismus zusammenhängende Zwecke birgt. 569 567
568
569
Bislang konnte nicht beobachtet werden, dass nach westlichen Kriterien als demokratisch zu bezeichnende Staaten als Förderer von Terroristen auftraten. Diese Praxis war bislang eher in Autokratien, wie beispielsweise Libyen (vgl. Exenberger 2002) Usus, wobei sich diese jedoch mehr und mehr den Normen der internationalen Staatengemeinschaft annähern. Eine Sonderrolle nimmt nach wie vor der mit demokratischen Elementen ausgestattete, aber von einem religiös geprägten Wächterrat kontrollierte Iran ein. Zu den Zielen von Politik vor dem Hintergrund des nuklearen Eskalationspotenzials des Ost-West-Konfliktes vgl. Kaufmann (1973: 72 f.), aber auch Luhmann (1993: 185). Mitunter besteht beim Funktionssystem Staat implizit die Tendenz, eigenes Zutun zum Entstehen und Wirken von Terrorismus zu negieren. Dies stellt eine Vorgehensweise dar, die Luhmann als Transformation von Risiken in Gefahren bezeichnet. Dieser Schachzug dient allgemein der Darstellung eines Phänomens als nicht handlungs- und entscheidungsbezogen und somit nicht zurechenbar. Balzli/Reuter (2005) zeigen, dass dieser Vorwurf in der Regel von politischen Akteuren erhoben wird, die tendenziell im linken Spektrum anzusiedeln sind. Exemplarisch sei ein vordergründig als Maßnahme gegen den Terrorismus initiiertes Verfahren dargestellt, das in beträchtlichem Umfang auch zu anderen Zwecken genutzt wird: die nach dem 11. September eingerichtete Konten-Datenbank zur Prüfung von Geldwäsche und Terrorfinanzierung, die mittlerweile auch durch das Bundesministerium für Finanzen bei der Suche nach Steuersündern genutzt wird. Auch den Arbeits- und Sozialämtern kommt zugute, dass die Gesetze gegen Geldwäsche seit 2003 die Banken zu einer steten Aktualisierung der Kontodaten verpflichten. Grundsätzlich anders argumentierte und kommunizierte Ansätze werden offensichtlich durch eine Vielzahl von Akteuren, die von der Ursprungsidee nicht betroffen waren, zweckentfremdet. Vgl. hierzu Czempiel (2004: 74).
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4.1.2.3
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Medien
Außer dem Staat samt seiner drei offiziellen Gewalten ist zwingend die häufig sogenannte inoffizielle vierte Gewalt 570 als soziales System zu betrachten: die als institutionalisierte Kommunikationskanäle zu verstehenden Medien. Sie stellen streng genommen ein Teilsystem des sozialen (Funktions-)Systems Wirtschaft dar und haben – wie zu zeigen sein wird – ob ihrer Rolle im Interaktionsund Kommunikationsprozess rund um Terrorismus besondere Bedeutung. Das System Medien umfasst alle Arten von Print-, Audio-, Video- und Internetpublikationen 571 sowie die dafür tätigen Organisationen, Institutionen und Individuen. 572 Seriosität bei der Berichterstattung stellt kein Kriterium dar, das über Einoder Ausschluss in das Funktionssystem entscheidet. Lediglich die Tatsache, Menschen gewerblich mit Informationen zu versorgen, ist von Relevanz. Ihr spezifischer, sie von anderen Systemen abgrenzender Unterschied besteht aus der an ökonomischen Prinzipien orientierten Informationsverbreitung, während die anderen Systeme auf der Empfängerseite anzusiedeln sind. Fraglos bemühen sich auch andere soziale Systeme um die Rolle des Senders, sind bei der Umsetzung aber stets auf die Medien angewiesen. Die Medien haben eine fünffache soziale Funktion, 573 wodurch sie gleichermaßen Scharnier und Katalysator der Terrorismuswahrnehmung sind: Information, Filter, Verstärkung, Kontrolle und das Bereitstellen einer Plattform zur (Selbst-)Inszenierung. Die tatsächliche Funktion wechselt mit der Perspektive des Systems, aus der die Zuweisung der Funktion erfolgt. Für die Medien sind Sensationen aller Art eine Ware, ein Mittel zur Gewinnmaximierung, das durch selektive Berichterstattung erst zur Wirkung gebracht wird und bei entsprechender Nachhaltigkeit diese Wirkung noch verstärkt. 574 Daneben üben die Medien noch eine informelle Kontrolle des Umgangs der anderen Systeme, besonders des Staates, mit Terrorismus aus. Hierbei stellen sie die Plattform dar, 570 571
572 573 574
Mit Bezug auf Paul Virilio spricht Voigt (2002: 311) aus einer internationalen, auf die Analyse von Propaganda ausgelegten Perspektive von den Medien als der „vierten Großmacht“. Luhmann/Baecker (2004: 311 f.) konstatieren (vielleicht mit Ausnahme des Radios), den Medien sei die Nachhaltigkeit der gesendeten Information gemein: „Schriftlichkeit reicht […] über große Raumdistanzen und natürlich Zeitinstanzen“, jedoch vorbehaltlich der Tatsache, dass die Kommunikation häufig „aufs Geratewohl oder ins Unbekannte hinein“ verläuft. Ebenso sind Nachrichtendienste aller Art auf mobile Kommunikationsmittel unter Medien zu subsumieren. Luhmann erklärt, Massenmedien „leisten einen Beitrag zur Realitätskonstruktion der Gesellschaft“ (Luhmann 2004: 183). Musharbash (2007) berichtet von einer Konferenz internationaler Medienexperten in Lugano, in deren Rahmen selbstkritische Aspekte zu beobachten waren.
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über die andere Systeme sich und ihre Anliegen der Gesellschaft präsentieren. Gerade in der globalisierten Welt ist ihre fünffache Funktion dadurch gekennzeichnet, dass „Raum- und Zeitgrenzen entfallen, dass man […] mit fern liegenden Räumen kommunizieren kann“ (Luhmann/Baecker 2004: 311). 4.1.2.4
Wirtschaft und Private
Dem Duden folgend sei Wirtschaft in vorliegender Arbeit verstanden als Synonym für die „Gesamtheit der Einrichtungen u. Maßnahmen, die sich auf Produktion und Konsum von Wirtschaftsgütern beziehen“(Duden 1989: 1747). 575 Dem sozialen System Wirtschaft, dessen wesentliches Differenzierungskriterium zu anderen Systemen die Mehrwerterzeugung ist, sind Börse, Unternehmen, Banken, Gewerkschaften und Industrieverbände, aber auch Forschungseinrichtungen und alle Arten von Dienstleistern zuzurechnen. Die soziale Funktion des Systems Wirtschaft besteht in der Bereitstellung von Wirtschaftsgütern, um den Bedarf und die Bedürfnisse des eigenen sowie der anderen Systeme zu befriedigen. Es lässt sich in verschiedene Teilsysteme gliedern, wobei vorliegende Untersuchung sich auf die der Wissenschaft und der Individuen beschränken wird. Das Hauptbestreben der Wirtschaft ist die Gewinnmaximierung. Hierfür benötigt sie Rahmenbedingungen, die sie weder in Forschung noch in Produktion oder Handel beeinträchtigen. 576 Wesentliches Merkmal derartiger Rahmenbedingungen ist Berechenbarkeit und daraus resultierend Erwartungs- und Planungssicherheit. 577 In dieser Perspektive stellt Terrorismus einen exogenen Schock dar. Somit ist er ein unerwünschter Störfaktor, da er Berechenbarkeit mindert und Erwartungssicherheit in Erwartungsunsicherheit transformiert. Zusätzlich stellt Terrorismus ob der staatlichen Gegenmaßnahmen ein Malus für die Wirtschaft dar. Sicherheitsvorschriften führen beispielsweise zu höheren Transportkosten, die ihrerseits die Gewinnspanne verringern. Auch Vorsorgeund Versicherungskosten mindern die Erträge. Ferner kostet Terrorismus den Staat Geld, welches dieser nach Leibfritz (2004) ohne Terrorismus unter Umständen zu Zwecken verwenden würde, die der Wirtschaft nützlicher sind.578 575 576 577 578
Auch Dienstleistungen sind unter dem Begriff der Wirtschaftsgüter zu subsumieren. Der Gewinn einer Unternehmung berechnet sich aus der Differenz von Erlös und Kosten (G = E - K). Der maximale Gewinn (Grenzgewinn: G’) ist dann erreicht, wenn der Grenzerlös gleich den Grenzkosten (E’ = K’) ist. Auch Wolffsohn (2005: 13) betont angesichts terroristischer Bedrohung die Wichtigkeit von Erwartungssicherheit und Planbarkeit für das System Wirtschaft. Zu diesen Maßnahmen zählen Steuersenkungen, welche – indirekt – die Kaufkraft der Privaten stärken, was die Nachfrage stimulieren kann. Direkt wirken Steuersenkungen auf die Gewinne, wenn sie sich beispielsweise auf die Körperschaftssteuer beziehen.
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Eine andere bei der Wirtschaft zu vermutende Perspektive ist die von Terrorismus als Gegenstand des Wertschöpfungsprozesses. Terrorismus kann auch zum Dreh- und Angelpunkt der Wertschöpfungskette gemacht werden, da die Möglichkeit terroristischer Anschläge bei anderen Systemen das Bedürfnis nach Schutz- oder Gegenmaßnahmen weckt. In dieser Perspektive wird Sicherheit zum Wirtschaftsgut. Schutz- und Gegenmaßnahmen Gewinn maximierend bereitzustellen ist folglich Anliegen eines Teils der Wirtschaft. Die Terrorismuswahrnehmung des sozialen Systems Wirtschaft ist folglich ambivalent, obwohl Ökonomen regelmäßig die negativen Auswirkungen des Terrorismus auf die Weltwirtschaft betonen (vgl. Leibfritz 2004). Die Privaten stellen in bestimmten Staatsformen die legitimatorische Basis für das oder die herrschenden Regime. Auch in Formen von Herrschaft, die nicht auf der Beteiligung breiter Schichten der Bevölkerung basieren, besitzen sie soziale Funktionen. Sie sind Gegenstand staatlicher Verantwortung und Aufmerksamkeit – sei es aus Gründen der Fürsorge oder aus Furcht vor Unruhen. Ferner sind sie Abnehmer der Dienstleistungen, Produkte und Informationen von Wirtschaft und Medien. Auf organisatorisch-institutionell-individueller Ebene zählen zum sozialen System der Privaten Individuen und nicht am Wertschöpfungs- oder Verwaltungsprozess beteiligte Institutionen und Organisationen wie Kirchen, Religionsgemeinschaften und unpolitische NGO. Der Kern ihrer Terrorismuswahrnehmung ist die von Terrorismus als einem Risiko, dessen Opfer und deren Angehörige Solidarität benötigen und verdienen. So bezeichnete der Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland, Manfred Kock, die Attentäter des 11. September als „despisers of mankind“ (Kock/Pressestelle der EKD 2001 a) und drückte allen Opfern dieser „bisher unvorstellbaren, menschenverachtenden Gewalt“ (Kock/Lehmann/Pressestelle der EKD 2001) sein Mitgefühl aus. Terrorismus erscheint als eine Bedrohung für den Frieden, die aber individuell in begrenztem Umfang kontrolliert werden kann. 579 Davon unberührt und sich selbst selten bewusst gemacht stellt Terrorismus für das System der Privaten ein Mittel dar, ihr Bedürfnis nach Sensationen wenigstens temporär zu befriedigen. 580 Andererseits vermag das System der Privaten Terrorismus – hier ist wieder auf die Definition von Terrorismus in vorliegender Arbeit zu verweisen – unter bestimmten Bedingungen auch als 579
580
Eine forsa-Umfrage (forsa 2005) vom Juli 2005 ergab, dass 47 Prozent aller Deutschen ihr Urlaubsziel unter dem Eindruck von Terrorismus aussuchen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass etwa die Hälfte aller Bundesbürger glaubt, Opfer von Terrorismus zu werden sei durch eigenes soziales Handeln beeinflussbar. Leibfritz (2004) zeigt, wie Terrorismus eine der liebsten Tätigkeiten der deutschen Privaten – das Reisen – einschränkt. Die Befriedigung des Bedürfnisses nach Sensation geht folglich auf Kosten der Befriedigung des Bedürfnisses nach Entspannung.
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Instrument der Unmutsbekundung anzusehen. In diesem Kontext wird Terrorismus eine Alternative zu legaler politischer Partizipation. Dies verdeutlicht die mehrdimensionale Terrorismuswahrnehmung durch die Privaten.581 Stellt man sich die Frage, welche der Perspektiven die überwiegende ist, so bieten sich – ähnlich wie bei der Wirtschaft – mehrere grundsätzliche Möglichkeiten, um eine Antwort zu finden. Wiederum ähnlich der Wirtschaft ist dies nicht unproblematisch. Einerseits ist denkbar, sich an den absoluten Kopfzahlen der Terrorismusgegner, dessen Befürworter und der einfach nur neutral-interessierten Beobachter zu orientieren, andererseits kann man auch schlicht die Frage stellen, welche der Fraktionen effekt- und kraftvoller ist. Auf beide Fragen können indes keine eindeutigen und belastbaren Antworten gegeben werden. 4.2
Zur Wirkung von Terrorismus
Aufbauend auf diese Beschreibung der einzelnen Funktionssysteme erfolgt nun eine Untersuchung der Wirkungsweise von Terrorismus auf dieselben. Ziel dieses Abschnittes ist es, die Wirkung – im Positiven wie im Negativen – besser verstehen zu können, was wiederum Voraussetzung für die Entwicklung von Umgangsmöglichkeiten mit Terrorismus ist. Genau dies soll Gegenstand der anschließenden Kapitel sein. Konkret wird daher die Wirkung und Bedeutung von Terrorismus für die sozialen Systeme zum Gegenstand des Interesses, sodass in den folgenden Kapiteln darauf aufbauend alternative Umgangsmöglichkeiten entwickelt werden können. 4.2.1
Interaktion zwischen den Funktionssystemen
Der Interaktions- und Kommunikationsprozess rund um Terrorismus lässt sich orientiert am dynamisch-transaktionalen Ansatz Werner Frühs beschreiben. Früh (1991: 31-33) legt dar, dass weder der Stimulus-Response-Ansatz noch der Nutzenansatz für sich allein genommen für die Beschreibung von Massenkommunikationseffekten praktikabel sind. Stattdessen schlägt er vor, beide Ansätze zu einem einzigen zu vereinen und so die reflexiven Elemente bzw. die oszillierende Interaktionsabfolge der am Kommunikationsprozess beteiligten Akteure erfassen zu können. Dies ist eine Vorbedingung für die Entwicklung von Umgangsmöglichkeiten mit Terrorismus im Allgemeinen, aber auch für den Risi581
Die Produktion von Einheitlichkeit in der Terrorismuswahrnehmung ist in der Realität unmöglich.
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kokommunikationsprozess im Speziellen, da die Handlung oder Kommunikation des einen sozialen Systems eine komplexe Abfolge von eigenen Handlungen evoziert. 4.2.1.1
Mediale Interaktion
Interaktion zwischen den Systemen Staat und Medien erfolgt, indem der Staat die konstitutionellen Rahmenbedingungen schafft und bewahrt, welche die Medien für die Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Funktion benötigen. Umgekehrt ist im Zeitalter der Nationalstaaten regelmäßig das exakte Gegenteil dieser Form von Interaktion – der Sicherung der Pressefreiheit – zu beobachten: Zensur. 582 Der durch die Medien initiierte Teil der Interaktion besteht aus der Berichterstattung an sich, die – auf die Aufgabenerfüllung des Systems Staat bezogen – eine Verstärkung des Prinzips der Gewaltenteilung implizieren kann. Die sozialen Systeme Staat und Medien kommunizieren durch Interviews, Hintergrundgespräche, Pressekonferenzen und Pressemitteilungen einerseits sowie durch Berichterstattung in den verschiedensten Darstellungsformen andererseits. 583 Ein beträchtlicher, über die Medien verbreiteter Teil der staatlichen Kommunikation ist indes nicht an die Medien selbst gerichtet. Der Adressat ist vielmehr eines oder mehrere der anderen Systeme. Dies unterstreicht die Plattform- oder Transmitterfunktion der Medien. Allerdings obliegt es den Medien in der Regel, wie und in welcher Form sie sich als Plattform zur Verfügung stellen. Ausnahme von dieser Praxis ist bislang noch das Internet, das sich zumindest großteils zentraler Kontrolle entzieht und so prinzipiell Transmitter für jedermann sein kann. Diese Form der Transmission ist indes ob ihrer Diffusität wenig effizient, da einzelne Adressaten kaum gezielt mit Botschaften konfrontiert werden können. Ihre Verstärkungs- und Filterfunktion üben Medien folglich über das Internet nur in beschränktem Maß aus. 584 Ohne explizite Bezugnahme auf Terrorismus weist Voigt (2002: 308 f.) darauf hin, dass Kriege heute nicht mehr nur durch militärische, sondern auch durch die Übermacht der Medien gewonnen werden. Auch wenn im Fall des Terrorismus der Terminus „Krieg“ nicht gänzlich zutrifft, vermag diese Feststellung dennoch einen bedeutsamen Hinweis auf die Rolle der Medien bzw. das Verhältnis des Staats zu Medien zu geben. Eine mögliche Auswirkung von 582 583 584
Für eine Analyse des Spannungsfeldes zwischen Staat und Medien vgl. Miller (1990). Zu den journalistischen Darstellungsformen zählen nach Schneider/Raue (2001) unter anderem Feature, Porträt, Reportage, Satire und Kommentar. Voigt (2002:315) bewertet die Kontrollierbarkeit des Internets sehr skeptisch, jedoch ohne die Zensurbestrebungen und -erfolge der Volksrepublik China zu thematisieren.
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Terrorismus auf die Interaktion und Kommunikation von Staat und Medien kann daher in der Verdichtung des Interaktionsgeflechts bestehen. Während an alltäglichen, terrorismusfreien Tagen bestimmte Sender und Zeitungen sich nahezu ausschließlich auf „bunte“ Themen 585 konzentrieren, schichten sogar diese ihre Inhalte aufgrund des Sensationsgehaltes des Ereignisses und der Konnektivität des Staates an terroristische Ereignisse regelmäßig so um, dass auch das System Staat eine Plattform erhält, zu entsprechenden Ereignissen mit terroristischem Hintergrund wenigstens begrenzt Stellung zu beziehen. Es ist davon auszugehen, dass die gesteigerte Interaktionsdichte im Interesse beider Funktionssysteme – Medien wie Staat – erfolgt. Die sozialen Systeme Wirtschaft und Medien interagieren, indem Produkte und Dienstleistungen aus dem wirtschaftlichen Sektor durch die Medien nachgefragt und für die Verbreitung von Informationen eingesetzt werden. Hinsichtlich des Terrorismus ist diese Form der Interaktion nicht von zentraler Bedeutung. Die Reaktion der Wirtschaft auf terroristische Aktivitäten hingegen ist relevant, da sie wesentlich von der Darstellung der Medien abhängt. Grob lässt sich der Zusammenhang skizzieren, dass eine intensive Aufbereitung eines Anschlages zu einer heftigeren Reaktion der Wirtschaft – insbesondere der Börsen – führt als eine zurückhaltendere. 586 Besonderer, terrorismusbezogener Nutzen für Wirtschaft und Medien ergibt sich bei der Interpretation von Anschlägen. Hierbei greifen Medien regelmäßig auf als Terrorismusexperten ausgewiesene Wissenschaftler zurück, die Bilder interpretieren sowie Symboliken identifizieren und deuten. 587 Dies verdeutlicht erneut die Plattform- und Transmitterfunktion der Medien, da sie einerseits verstärkend und filternd wirken und andererseits den Experten (und somit einem anderen System) die Plattform zur Selbstdarstellung bieten. Ferner hat Terrorismus auch auf die Interaktion und Kommunikation von Wirtschaft und Medien verdichtende Wirkung. Diese Verdichtung erfolgt wie im Fall des Staats und der 585 586
587
Unter „bunten“ Themen sind all jene zu verstehen, welche eher unterhaltenden denn rein informativen Charakter besitzen. Schneider/Raue (2001: 99-124) zufolge werden sie durch die Darstellungsformen Feature, Reportage und Porträt aufbereitet. Hierfür sei auf die Reaktion des EuroStoxx 50 nach 9/11 (ca. -25 %), Madrid (ca. -15 %) und London (ca. -7 %) verwiesen. Die Berichterstattung wurde insgesamt von Mal zu Mal zurückhaltender, die Reaktion des europäischen Leitindex immer schwächer. Ob es sich hierbei um eine Kausalität oder nur eine Korrelation handelt, lässt sich an dieser Stelle nicht nachweisen. Für den weiteren Verlauf dieser Arbeit wird von einer Kausalität ausgegangen: Schwache Berichterstattung führt zu einer weniger negativen Reaktion. Wissenschaft wird hier unter Wirtschaft subsumiert, da Medienauftritte sich auf die Einkommenssituation eines Individuums auswirken und daher wirtschaftlichen Charakter annehmen. Zu konzedieren bleibt, dass Experten indes nicht nur aus der Wissenschaft stammen, sondern auch – im Falle von Politikern – dem Funktionssystem Staat zurechenbar sein können.
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Medien ob der Konnektivität des Funktionssystems Wirtschaft mit Terrorismus. Es ist jedoch festzuhalten, dass vermutlich weder die Stärke der Konnektivität noch das öffentliche Interesse bei der Interaktion zwischen Wirtschaft und Medien so hoch wie bei der Kombination von Staat und Medien ist. Nichtsdestotrotz nimmt aufgrund der allseits auf Terrorismus fixierten Berichterstattung auch die Interaktion der Medien mit der Wirtschaft zu. Auch die Interaktion und Kommunikation von Privaten und Medien verläuft nach einem ähnlichen Schema. Eine Form der Interaktion ist das Angebot und die Nachfrage von Informationen, wobei das Ausmaß der Nachfrage als Ausdruck der Zufriedenheit über das Angebot, somit als Feedback und folglich als Kommunikation verstanden werden kann. Durch die Berichterstattung über Terrorismus befriedigen die Medien ein Unterhaltungs- und Sensationsbedürfnis, ermöglichen den Privaten aber über die Art der Darstellung – Terrorismus als Krieg – auch das Abrufen von spezifischen Denk-, Interpretations- und Handlungsmustern (vgl. Witte 2005: 90 f.). 588 Ein kausaler Zusammenhang zwischen Intensität der Berichterstattung und Emotionalität des Systems der Privaten ist anzunehmen. Die Privaten sind ebenfalls von der Plattformfunktion der Medien abhängig, wenn sie publikumswirksam am Risikokommunikationsprozess über Terrorismus teilhaben wollen. Umgekehrt sind die Medien abhängig von der Nachfrage der Privaten nach ihren Produkten, sprich: Informationen. Treffen die Informationen (zum Beispiel über Terrorismus) nicht das Informationsbedürfnis, dann stimmen die Einschaltquoten oder Absatzzahlen nicht, was mittelfristig zu einer Änderung des Informationsangebots führen wird. Ähnlich wie bei Staat und Wirtschaft verdichten terroristische Aktivitäten auch die Interaktion der Privaten mit den Medien. Einerseits geschieht dies nach oben beschriebenem Funktionsprinzip, andererseits aber auch und vor allem über den kulturbedingten Sensationswert des Terrorismus, der die Auflagen in die Höhe treibt und gleichzeitig die Abnahme derselben durch die Privaten sichert.
588
Assheuer (2004) verweist auf die Betonung der totalitären Aspekte in der Person Osama bin Ladens in der US-amerikanischen Terrorismusdebatte. In dieser Perspektive wird bin Laden als Nachfolger Hitlers und Stalins präsentiert.
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242 4.2.1.2
Unmittelbare Interaktion
Terrorismusbezogen interagieren die sozialen Systeme Staat und Wirtschaft unmittelbar, indem der Staat einerseits die Rahmenbedingungen schafft und bewahrt, in denen die Wirtschaft ihrer gesellschaftlichen Funktion nachgehen kann (vgl. Schlösser 2007). Dies schlägt sich in Steuern nieder, welche die Wirtschaft an den Staat abführt. Der Staat übt seine Schutzpflicht demnach nicht pro bono aus. Lobbyismus ist ein anderer Bestandteil der Kommunikation zwischen Wirtschaft und Staat. 589 Über die tatsächlichen Auswirkungen von Lobbyismus auf politische Entscheidungen lässt sich für aktuelle Beispiele kaum eine gesicherte Aussage treffen, wobei ein gewisser Einfluss jedoch anzunehmen ist. Die Schaffung der politisch-ökonomisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen impliziert ferner die Einführung und Durchsetzung von auf den Terrorismus bezogenen Gesetzen, die auch das Funktionssystem Wirtschaft tangieren. Die gesetzliche Ermächtigung, aufgrund terroristischer Bedrohung immer weitere Aspekte der Gesellschaft kontrollieren zu dürfen, erstreckt sich auch auf den Interaktionsraum mit der Wirtschaft. Gesetze gegen Geldwäsche, gläserne Konten oder auch das Verbot des Exportes bestimmter Güter in bestimmte Länder mögen ebenso als Beispiele dafür dienen, wie Staat und Wirtschaft aufgrund des Terrorismus interagieren, wie auch die Auftragsvergabe des Staates an die Wirtschaft, entsprechende Güter und Dienstleistungen bereitzustellen, die aufgrund des Terrorismus nachgefragt werden. 590 Interaktion und Kommunikation zwischen den Systemen Staat und Private resultieren aus der Schutzpflicht des Staats einerseits und aus der Steuerpflicht und dem Wahlrecht der Bürger andererseits. Der Staat schützt also die Bürger in einem diskursiv zu definierenden Maß vor Terrorismus, wofür die Privaten Steuern abführen und die Qualität des Schutzes – neben diversen anderen Kriterien – in ihre Entscheidung bei Wahlen einfließen lassen. Ähnlich wie bei der Interaktion von Staat und Wirtschaft vollzieht sich die Interaktion von Staat und Privaten im Spannungsfeld von Schutzpflicht und Freiheitsrechten, wobei sich der Staat – dies zeigt Kümmel (2004) – mitunter auch auf private Sicherheitsdienstleistungen stützt. 589
590
So erhielt die Firma KBR, eine Tochter von Halliburton, ohne öffentliche Ausschreibung im Irak Aufträge (vgl. „Halliburton serviert US-Armee teure Mahlzeiten“ sowie „Halliburton darf noch viel mehr machen“). Richard Cheney war nach seiner Amtszeit als Verteidigungsminister unter George Bush sr. bis zu seiner Kandidatur als Vizepräsident 2000 unter George Bush jr. fünf Jahre Chief Executive Officer (CEO) von Halliburton, deren Aktienkurs in den 34 auf den Ausbruch des Krieges im April 2003 folgenden Monaten um rund 250 % und damit stärker als der Dow Jones stieg. Hierzu zählt die Überwachungstechnologie.
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Terrorismus kann auf die Verbindung zwischen Staat und Privaten die Auswirkung der gegenseitigen Entfremdung haben. Dies ist dann zu beobachten, wenn keine Ausgewogenheit zwischen Schutzpflicht und Freiheitsrechten mehr besteht. Das eine, Entfremdung verursachende, Extrem bestünde in der vollständigen Liberalisierung der Gesellschaft durch die einseitige Bewahrung der Freiheitsrechte. In diesem Szenar käme der Staat der Schutzpflicht nicht nach, weshalb die Privaten entweder schutzlos terroristischen Aktivitäten ausgesetzt wären oder den Schutz als Wirtschaftsgut einzukaufen gezwungen wären. 591 Das andere, die Schutzpflicht überbetonende Szenar ähnelt dem, das George Orwell in seiner Utopie „1984“ skizziert: Ein total(itär)er Überwachungsstaat, der all jene Werte vernichtet, die auch einige terroristische Ideologien verdammen. 592 Die sozialen Systeme Wirtschaft und Private interagieren schließlich terrorismusbezogen, indem auch hier Dienstleistungen, Güter und zusätzlich Arbeitsplätze angeboten bzw. nachgefragt werden. Dazu zählen ebenso Antiterrorismusversicherungen 593, terrorismusimmune Formen der Geldanlage, Sicherheitsgüter, mit Sicherheit in Zusammenhang stehende Dienstleistungen und die damit verbundenen Arbeitsplätze. 594 Oftmals werden – wie in den genannten Beispielen – bereits existente Güter nur an die Erfordernisse von Terrorismus angepasst. Die vielleicht gravierendste Auswirkung, die Terrorismus auf die Interaktion von Privaten und Wirtschaft haben kann, ist in einem Klima gesellschaftlicher Verunsicherung ein Zusammenbruch der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen, einhergehend mit Überproduktion aufgrund von Absatzschwierigkeiten. 595 Sollte Terrorismus folglich nachhaltig die Privaten zur Zurückhaltung beim Erwerb von Gütern und Dienstleistungen animieren, könnte dies das System Wirtschaft ebenso nachhaltig destabilisieren.
591 592 593 594
595
Betrachtet man diesen Sachverhalt aus einer normativen Perspektive, dann kommt der Staat seinen Aufgaben nicht nach. Aus einer interpretativen Sicht heraus ergibt sich das Bild einer liberalen Gesellschaft, in der Sicherheit ein Wirtschaftsgut ist. Normativ gesehen übererfüllt der Staat seine Aufgaben. Interpretativ stellt sich die wechselseitige Individualkontrolle als gesellschaftliches Phänomen dar. Zu einer kritischen Darstellung aus Sicht der Anbieter vgl. Frischleder (2005). Die intensive Nachfrage privater Sicherheitsdienstleistungen kann auch Auswirkungen auf das System Staat haben. Dies zeigt das Beispiel des mittlerweile aufgelösten südafrikanischen Unternehmens Executive Outcomes, das 1990 in Sierra Leone und 1993 in Angola erfolgreich gegen Rebellenbewegungen eingesetzt wurde. Überproduktion war einer der Faktoren, die zum Schwarzen Freitag an der Wallstreet im Oktober 1929, dem Auftakt der Weltwirtschaftskrise, führten.
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244 4.2.2
Funktionssystemimmanente Terrorismuswahrnehmung
4.2.2.1
Staat
Interaktion und Kommunikation zwischen dem (Funktions-)System Staat und Terroristen erfolgt einerseits durch Anschläge von Terroristen auf staatliche Ziele und andererseits durch Gegenmaßnahmen des Staates, die der Prävention zukünftiger oder der Sanktionierung bereits erfolgter terroristischer Akte dienen sollen. 596 Zu beobachten ist auch mittelbare, d. h. über ein drittes, als Transmitter agierendes, Funktionssystem erfolgende Interaktion. 597 Im Paradigma des methodologischen Kosmopolitismus ist neben dem der Medien 598 das soziale System der Privaten ein denkbarer Transmitter, in dem des methodologischen Nationalismus sind dies auch andere Staaten. Kommunikation erfolgt in den seltensten Fällen direkt und unmittelbar. Sie ist nur dann zu beobachten, wenn Terroristen sie durch entsprechende Akte erzwingen 599 oder der Staat jene mit Maßnahmen der Jurisdiktion überzieht, 600 womit Individuen der verschiedenen Funktionssysteme unmittelbar kommunizieren. 601 Häufiger zu beobachten ist jedoch die bereits erwähnte mittelbare Kommunikation. Kommunikationsbausteine können auf staatlicher Seite Aussagen über die Bewertung eigener oder auch terroristischer Maßnahmen sein, aufseiten des Terrorismus Bekennerbriefe oder Videobotschaften. In diesen Fällen stellen die Medien die Plattform zum Austausch der Informationen bereit – mit dem Nebeneffekt des Querhörens anderer Systeme. Diese offene, mittelbare Art der Kommunikation wirkt bei den Querhörern aufgrund der bereits beschriebenen Eigenschaften der Medien – Filter und Verstärkung – meinungsbildend.
596 597 598 599 600 601
Diese Gegenmaßnahmen sind meist Maßnahmen der Exekutive (Krieg, Festnahmen, Einfrieren von Konten, Fahndungen) und Legislative (um die gesetzlichen Grundlagen für Maßnahmen der Exekutive zu schaffen). Hetzer (2004) illustriert, wie Staaten auch mittels des sozialen Systems der Wirtschaft Druck auf Terroristen ausüben. Auch bei der Kommunikation sind im methodologischen Nationalismus andere Staaten als Transmitter vorstellbar. Hierfür sei auf die Rolle Lybiens und Muhammar Gaddafis bei der Entführung der Göttinger Familie Wallert verwiesen. Besonders die Akteure der dritten Welle des modernen Terrorismus erwiesen sich beim Erzwingen direkter Kommunikation mit Repräsentanten verschiedener Staaten als erfolgreich. 1968 zwang die PFLP die Regierung Israels erstmalig in direkte Kommunikation. Exemplarisch sei auf den Prozess gegen die erste Generation der RAF verwiesen. Die aus dem Funktionssystem Terrorismus stammenden Angeklagten verteidigen sich vor den Staat repräsentierenden Staatsanwälten und Richtern.
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Differenziert man die Analyse des Verhältnisses Staat-Terrorismus weiter, d. h. richtet man den Blick auf die Wahrnehmung der unterschiedlichen, im sozialen System Staat zusammengefassten Subsysteme, so ergibt sich folgendes Bild. Innerhalb des Systems Staat ist zwischen den einzelnen ihn verkörpernden Handlungsträgern und ihm selbst, als gleichsam leviathanisches Wesen, zu differenzieren. Handlungsträger ist und bleibt der Mensch, der in den unterschiedlichen Gewalten Tätigkeiten ausübend den Staat im Kleinen verkörpert und daraus eine gruppenspezifische Sichtweise auf das Neue Risiko Terrorismus erfährt und tradiert. Dies soll anhand einer Untersuchung der Teilsysteme Politiker (stellvertretend für die Legislative), Richter und Staatsanwälte (für die Jurisdiktion) und Soldaten (für die Exekutive) verbildlicht werden. Für Politiker besteht die Möglichkeit, selbst Opfer eines terroristischen Aktes zu werden. Dies zeigt unter anderem der Fall der Ermordung des Ministerialdirektors im Auswärtigen Amt, Gerold von Braunmühl, durch das zur RAF gehörende Kommando Ingrid Schubert 1986 (vgl. Butz 1986: 627-634). 602 Andererseits eröffnet sich durch die auf politischer Ebene gegebene Notwendigkeit zum Umgang mit Terrorismus die ausdrückliche Chance, sich auf diesem Sektor zu profilieren und so die eigene Stellung zu festigen oder gar auszubauen – mit allen beruflichen und privaten positiven Konsequenzen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt widerstand im Deutschen Herbst 1977 den Erpressungsversuchen der zweiten Generation der RAF, die deshalb scheiterten. Seine unnachgiebige Haltung brachte ihm im Nachhinein großen Respekt ein. Dieser Chance als positiver Seite der Medaille Risiko steht freilich auch eine negative Seite gegenüber: Im Falle ungeschickten oder erfolglosen Umgangs mit Terrorismus verkehrt sich die Gewinn- in eine Verlustchance. Auch dies lässt sich an der Person Helmut Schmidts illustrieren. Dieser erklärte in verschiedenen Interviews, für den Fall eines Scheiterns der Erstürmung der Lufthansamaschine „Landshut“ im Deutschen Herbst seine Rücktrittserklärung vom Amt des Bundeskanzlers bereits vorbereitet zu haben. Amts- und damit einhergehend Statusverlust kann augenscheinlich eine Folge sein. 603 Für Politiker eröffnet sich somit durch den Terrorismus eine ambivalente Perspektive. Für Richter und Staatsanwälte bietet bei positiv wahrgenommener Arbeit Terrorismus eine beträchtliche Gewinnmöglichkeit. Publizität winkt ebenso, wie durch eine erfolgreiche Verurteilung von Terroristen die Wehrhaftigkeit eines Rechtssystems demonstriert wird. Seit dem Deutschen Herbst 1977 erfährt das 602 603
International fielen unter anderem die US-Präsidenten Garfield und McKinley sowie der italienische Ministerpräsident Aldo Moro Anschlägen zum Opfer. Prominentes Beispiel für Imageverlust, der zum Teil auch aus unglücklichem Umgang mit Terrorismus resultiert, ist der ehemalige Verteidigungsminister George W. Bushs, Donald Rumsfeld.
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Amt des Generalbundesanwalts beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit. Verfahren gegen Terrorismus besitzen auch negatives Potenzial, beispielsweise dann, wenn die Person des Richters oder Staatsanwalts zum Ziel eines Anschlags wird. So wurde Generalbundesanwalt Siegfried Buback, der als „oberster Terroristenjäger“ der Bundesrepublik Deutschland galt, im April 1977 von Mitgliedern der zweiten Generation der RAF („Kommando Ulrike Meinhof Rote Armee Fraktion“) erschossen (vgl. Butz 2004: 379-385), ein Anschlag auf seinen Nachfolger Kurt Rebmann am 26. August 1977 scheiterte. Für Richter und Staatsanwälte eröffnet sich also eine ähnliche Ambivalenz wie für Politiker. Für Soldaten bedeutet Terrorismus den Zwang, Deutschland am Hindukusch zu verteidigen und sich somit – ohne möglicherweise selbst prominentes Ziel zu sein oder gar politisch hinter dem eigenen Auftrag zu stehen – letaler Gefährdung auszusetzen. Der Auslandseinsatz wiederum stellt sich für den Soldaten als Folgerisiko des Terrorismus dar. Gewinnmöglichkeiten manifestieren sich im Kennenlernen neuer Kulturen, monetären Anreizen sowie meist einem Prestigegewinn innerhalb der Bezugsgruppen – andere Soldaten, Familie, Bevölkerung im Heimatort, Vereine. Das inhärente Verlustpotenzial hingegen erstreckt sich auf die erheblichen Belastungen durch Routinedienst, das Klima, den permanenten intensiven Kontakt zu einem dem eigenen gänzlich unterschiedlichen Kulturkreis, den landesspezifische Krankheiten 604 sowie das latente Bewusstsein um die ständige physische Gefährdung durch mögliche Anschläge. Gerade physische und in nicht zu unterschätzendem Maß – auch aufgrund des im Anschluss an den Einsatz auftretenden Burn-out-Syndroms 605 – psychotraumatische Erkrankungen sind zu beobachten. So verdreifachte sich gegenüber 2003 die Zahl der an der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erkrankten Soldaten beinahe (Deutscher Bundestag 2007: 42). Diese gesundheitlichen Beeinträchtigungen stellen Faktoren dar, die das Negativspektrum des Risikos 604
605
Gerade der Norden Afghanistans, wo die Bundeswehr in Masar-e-Sharif, Kunduz und Feyzabad stationiert ist, ist mit Ausnahme der Zeit von Mitte November bis Anfang März Malariagebiet. Da es gegen die durch Mücken übertragene Malaria keinen Impfstoff gibt, müssen die Soldaten Präparate zur Malariaprophylaxe einnehmen, deren bekannte und regelmäßig heftig auftretende Nebenwirkungen von Kopfschmerzen und Übelkeit bis in selteneren Fällen hin zu Netzhautablösung und Leberschäden reichen. Eine weitere, durch eine andere Mückenart übertragene, Krankheit ist die Leishmaniose, gegen die es außer dem Bedecken möglichst großer Teile der Haut keine Prophylaxe oder gar Impfstoff gibt. Diese zu entstellenden Narben führende Krankheit wurde bislang vorwiegend in der Gegend um Masar-e-Sharif beobachtet. Folgt man jedoch Hoelzgen (2007), stellt sie auch in Kabul ein Risiko dar. Der Begriff des Burn-out-Syndroms geht auf den Psychoanalytiker Herbert Freudenberger zurück, der damit schon 1974 berufsbezogene, aber auch familiäre chronische Erschöpfung beschreibt. Häufige Symptome sind Depressionen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Magenkrämpfe und Schuldgefühle. Vgl. Burisch (2005) oder auch Fengler (2001).
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Auslandseinsatz als Folge terroristischer Aktivität ausmachen. 606 Erneut wird eine Ambivalenz des Risikos Terrorismus evident. Die Betrachtung des Staats als System und vor allem der Teilsysteme zeigt, dass Terrorismus durchaus Bedürfnisse bedient. Damit ist nicht ausgesagt, dass die Bedürfnisse Terrorismus hervorbringen, sondern lediglich darauf hingewiesen, dass Terrorismus zur Bedürfnisbefriedigung instrumentalisiert werden kann. Der Akteur Staat vermag Terrorismus somit durchaus differenziert wahrzunehmen. Für das soziale System Staat stellt Terrorismus ein legitimatorischpropagandistisches Argument zur Durchsetzung unpopulärer Entscheidungen dar, das indes sein Gewaltmonopol unterminiert. Für die den Staat als Handlungsträger verkörpernden Menschen eröffnet sich in allen Teilsystemen die ein Risiko kennzeichnende Ambivalenz von Gewinn- und Verlustpotenzial. 4.2.2.2
Medien
Das Verhältnis von Terrorismus und Medien ist in der Literatur bereits gut erfasst. 607 Da die Grundabsicht des Terrorismus definitionsgemäß in der Kommunikation politischer Anliegen besteht, bedarf es neben dem Sender (dem Terroristen) eines Empfängers (diverse Adressaten oder Zielgruppen), der mittels eines Mediums eine kodierte Information erhält und seinerseits versucht, diese zu dekodieren. Es ist durchaus möglich, dass auch das Medium – nämlich dann, wenn es sich dabei nicht um eine Plattform zur Selbstdarstellung wie das Internet, sondern um einen Fernsehsender oder eine Zeitung handelt – seinerseits die Information für sich selbst dekodiert, auswertet, neu kodiert und erst dann an den eigentlichen Empfänger sendet, der wiederum den Prozess des Dekodierens erneut zu unternehmen hat. Anschließend wird von diesem eine wie auch immer 606
607
Der in Einsätzen oftmals praktizierte individuelle Umgang mit dem Risiko Terrorismus besteht oftmals aus einer Rückbesinnung auf die Religion. Dieser Rückgriff – quasi der (un?)bewusste Aufbau eines christlichen Gegenpols zum muslimischen Antagonisten – ist Lübbe (2004: 58 f.) zufolge auch bei George W. Bush zu beobachten, der Ansprachen teilweise mit „god bless …“ beendet. Auf deutscher Seite wird im Allgemeinen bei Auslandseinsätzen häufiger als im Friedensbetrieb auf die Dienste von Militärgeistlichen zurückgegriffen (so zumindest der vom Fallbeispiel aus Kapitel 3 unabhängige Eindruck des Verfassers). Die Gründe hierfür sind indes nur zu einem Teil in der Angst vor terroristischen Anschlägen begründet. Ein anderer, wesentlicher Teil dreht sich um Hilfe bei privaten Problemen – die regelmäßig aufgrund der langen Trennung von den Angehörigen auftreten. Die Militärseelsorge befasst sich weiterhin mit dem Phänomen des Terrorismus, indem sie ihn zum Gegenstand des sogenannten lebenskundlichen Unterrichts bzw. Arbeitskreises macht. Stellvertretend seien Johnson (1978: 240 ff.), Fuchs (2004: 77-84), Bleicher (2003) sowie Junge (2003) genannt.
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geartete Reaktion erwartet, welche die Kommunikation vervollständigt (vgl. Waldmann 2003: 38 f.). Bei der Kommunikation der terroristischen Botschaft haben Medien als verstärkender und filternder Transmitter katalytische Funktion. Sie sind es, die im Informationszeitalter jenseits der Grenzen von Zeit608 und Raum das Potenzial haben, einzelnen Ereignissen zu globaler Wahrnehmung und somit Bedeutung zu verhelfen – oder auch nicht. Hierbei wählen sie Informationen entsprechend ihrem Nachrichtenwert aus. Die Art und Weise, wie sie ein Thema behandeln, entscheidet über die Wahrnehmung desselben in den verschiedenen Zielgruppen. 609 Sie sind letztlich die Instanz, die den Erfolg terroristischer Akte bewirkt oder verhindert. Gerade bei den Anschlägen des 11. September nutzte die Al Qaida geschickt die Medien, indem die beiden Maschinen mit ausreichend Zeitversatz in die Türme des WTC flogen, um Kamerateams beim zweiten Mal vor Ort zu haben, was wiederum die audiovisuelle Partizipation der gesamten Welt sicherte. Auch die Symbiose von Terrorismus und Medien zeigt die Al Qaida, diesmal im Zusammenspiel mit dem aus Katar stammenden Fernsehsender al-Dschasira. Al-Dschasira erlangte seit 2001 auch fernab der arabischen Halbinsel Berühmtheit ob der Exklusivität der von ihm ausgestrahlten Videobotschaften Osama bin Ladens oder auch Aiman Al Zawahiris. Dies stützt die These Laqueurs von der faszinierenden Wirkung, welche Terrorismus auf die Medien ausübt. 610 Eine andere Art der Interaktion des sozialen (Funktions-)Systems der Medien mit Terroristen zeichnet sich im Irak und in Südafghanistan ab. Da bei den häufigen Anschlägen auf westliche Truppen kaum Kamerateams präsent sind, die Attentäter jedoch nicht auf die Dokumentation ihres Handelns und dessen Verbreitung verzichten wollen, filmt einer von ihnen den Anschlag und stellt das Material anschließend im Internet frei. 611 Über diese Form psychologischer Operationen (PsyOps) der Terroristen gelangt auch besonders makabres Bild608
609 610 611
Knapp 30 Jahre nach dem Deutschen Herbst von 1977 erfuhr der Terrorismus der Welle der Neuen Linken neuerliche Beachtung. Anlässlich der medial omnipräsenten Diskussion um die mögliche Begnadigung Christian Klars verhalfen Berichte in der Senkung verschwundenen Akteuren zu neuerlicher Publizität. Vgl. exemplarisch Boock/Büchel (2007) oder auch Holm et al. (2007). Früh (1991: 33) weist auf die Notwendigkeit eines Informationsangebots an sich hin. Die Folge der faszinierenden Wirkung besteht nach Laqueur (1978 b: 224 f.) darin, dass diese ihn wie mit einem Vergrößerungsglas begutachten. Eine der Seiten, auf denen sich derartiges Material findet, ist http://www.liveleak.com/browse?tag=al%20qaeda [Stand: 02.01.2007]. Anzumerken bleibt, dass die dort zu findenden Videos großteils nicht exklusiv, sondern von islamistischen Websites importiert sind. Für eine Darstellung des Gesamtspektrums, in dem die Al Qaida das Internet nutzt, vgl. Musharbash (2006: 93-156).
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und Tonmaterial an die Öffentlichkeit und dient gleichzeitig – mit dem Internet anstelle eines Fernsehsenders oder einer Zeitung als Plattform – als Nachwuchswerbung. Unmittelbare Kommunikation zwischen Medien und Terroristen findet indes nur in Interview- oder Entführungssituationen statt. Ansonsten ist die Beziehung eher von Kommunikation über- statt miteinander geprägt. In der Beziehung zwischen Medien und Terrorismus sind verschiedene Nutzenmomente für beide Funktionssysteme zu beobachten. Terrorismus profitiert vom System Medien durch Anregungen zu Anschlägen, die sie aus Katastrophenfilmen oder Romanen erhalten (vgl. Witte 2005: 90 f.). Dies wird anhand einer Retrospektive auf die „Turner Diaries“ (MacDonald 1996) und einer Reflexion der gewonnenen Erkenntnisse auf tatsächliche terroristische Akte zwischen 1995 und 2001 deutlich. In dem erstmalig 1978 erschienenen und zwischen 1989 und 1993 handelnden Roman, der einen zum Weltkrieg ausartenden rassistisch motivierten Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten von Amerika zum Thema hat, werden – geschildert aus der Sicht eines arischen Suprematisten – die Blaupausen für das Bombenattentat Timothy McVeighs auf ein Gebäude der Bundesbehörden vom April 1995 sowie vor allem für die Anschläge des 11. September präsentiert. 612 Weiterhin profitiert Terrorismus von den Medien, da deren Berichterstattung die gesellschaftliche und individuelle Wahrnehmung von Terrorismus intensiviert. Will der Terrorist seine Kommunikation omnipräsent gestalten, ist er zwingend auf das soziale System der Medien angewiesen. Aber auch die Medien profitieren vom Funktionssystem Terrorismus. Er beschert den Medien Quote und Absatzzahlen, letztlich also Geld und daher ebenfalls beträchtlichen Nutzen. Den Wert, den Terrorismus für die Medien hat, verdeutlicht folgende Abbildung:
612
Der Anschlag auf das Bundesgebäude bildet im Roman den Auftakt einer revolutionären Erhebung, deren erzählerischen Höhepunkt der gezielte Sturz des Ich-Erzählers mit einem Flugzeug ins Pentagon bildet. Diese Form der Selbstopferung macht ihn in den SchlussSeiten des Romans zu einer mythischen Gestalt, der die Organisation – so die Bezeichnung der Gruppe, die den Bürgerkrieg initiiert und letztlich gewinnt – sehr viel zu verdanken habe. Auch von der Berichterstattung über den 11. September selbst wird angenommen, dass sie gewaltbereite Akteure zu Anschlägen inspirierte (Czempiel 2002: 56).
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Faktor Elite-Nation Elite-Institutionen Elite-Person Aggression Kontroverse Werte Erfolg Tragweite Betroffenheit Nähe Ethnozentrismus Emotionalisierung Thematisierung Stereotypie Vorhersehbarkeit Frequenz Ungewissheit Überraschung Personalisierung
Definition Der Nachrichtenwert eines Ereignisses ist umso größer, je … mächtiger die beteiligte(n) Nation(en) ist(sind). … mächtiger die beteiligte(n) Institution(en) oder Organisation(en) ist (sind). … mächtiger, einflussreicher, prominenter die beteiligten Akteure sind. … mehr offene Konflikte und Gewalt vorkommen. … kontroverser das Ereignis oder Thema ist. … stärker allgemein akzeptierte Werte oder Rechte bedroht sind. … ausgeprägter der Erfolg oder Fortschritt ist. … größer die Tragweite des Ereignisses ist. … mehr die Lebensumstände oder Bedürfnisse Einzelner berührt werden. … näher das Ereignis in geografischer, politischer, kultureller Hinsicht kommt. … stärker die Beteiligung von Angehörigen der eigenen Nation ist. … mehr emotionale, gefühlsbetonte Aspekte das Geschehen hat. … stärker die Affinität des Ereignisses zu wichtigen Themen der Zeit ist. … eindeutiger und überschaubarer der Ereignisverlauf ist. … mehr das Ereignis vorherigen Erwartungen entspricht. … mehr der Ablauf der Erscheinungsperiodik der Medien entspricht. … offener, ungewisser der Ereignisablauf ist. … überraschender das Ereignis eintritt oder verläuft. … mehr das Ereignis auf individuelles Handeln zurückgeht.
Abb. 4-1: Nachrichtenwert von Ereignissen 613
613
Orientiert an Witte (2005: 88) und Schulz (1997: 70-72). Witte weist in diesem Zusammenhang auf den im Jahr 1922 liegenden Ursprung der Nachrichtenwerttheorie bei Walter Lippmann (1950) hin.
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Bei einer entsprechenden Wahl der Symbolik genügt Terrorismus nahezu allen diesen Faktoren. Medien profitieren bei der Berichterstattung über Terrorismus nicht nur von Bildern und Informationen über terroristische Aktivitäten und Gruppen, sondern auch von damit in Verbindung stehenden Sekundäreffekten. Diese Sekundäreffekte können unter anderem aus Reaktionen anderer Systeme bestehen. 614 Hierbei stellt das eine Beispiel die Angebotsseite, das andere die Nachfrageseite des Informationsmarktes dar. Dies unterstreicht das Gewinnpotenzial des Neuen Risikos Terrorismus aus Sicht der Medien. Auch jenseits der systemischen Ebene besitzt die Ware Terrorismus für die Medien Gewinnpotenzial. Exklusivität der Berichterstattung nutzt nicht nur einem Sender oder einer Zeitung, sie steigert auch die Bekanntheit des berichtenden Journalisten. Hierzu ist es nicht einmal notwendig, große Kenntnisse über Terrorismus zu haben oder sich in Krisengebiete begeben, sondern es genügt, zur richtigen Zeit am richtigen Ort als Korrespondent eingesetzt zu sein. Dies sichert dem Korrespondenten bei der Berichterstattung seines Muttersenders eine Art Monopolstellung. Diesem Gewinnpotenzial gegenüber stehen eher individuelle Verlustmöglichkeiten, die vom System Medien auf seine Individuen vor Ort delegiert werden. Journalisten sind für Terroristen – trotz der wechselseitigen Angewiesenheit – keineswegs unantastbar, sodass das Risiko des vor Ort berichtenden Journalisten ebenso wie das von Mitarbeitern von NGO, Soldaten und anderen staatlichen Repräsentanten ein physisch-psychisches ist. 615 Moralisch-ethische Risiken tragen die Medien kaum. Selbst al-Dschasira wird trotz des unbestreitbaren Beitrags zum Gelingen des Kalküls der Al Qaida auch von westlichen Medien nicht in bemerkenswertem Maß kritisiert. 616 Somit birgt Terrorismus auf der Ebene des dem (Funktions-)System Medien angehörenden Individuums auch negative Aspekte, 617 auf systemischer Ebene – und diese ist für vorliegende 614
615
616 617
Hier sind insbesondere die Reaktionen des Staates, aber auch der Opfer, ebenso das Streben nach Selbstinszenierung von (selbst ernannten) Experten gemeint. Ebenso profitiert das soziale System der Medien vom (teilweise künstlich hoch gehaltenen) Interesse und Informationsbedarf der Öffentlichkeit. Hierfür sei auf die Enthauptung des für The Wallstreet Journal tätigen US-Journalisten Daniel Pearl im pakistanischen Karatschi 2002 verwiesen. Die Basler Zeitung berichtete am 15. März 2007, dass Khalid Scheich Mohammed die Tat gestanden habe (vgl. „Scheich Mohammed gesteht Mord an US-Journalist Pearl“ 2007). Bei der Ermordung der beiden Stern-Reporter Volker (erschossen am 13. Juni 1999 im Kosovo) lässt sich ob der zeitlichen Koinzidenz mit dem Einmarsch der NATO-Truppen in den Kosovo ebenfalls ein terroristischer Hintergrund vermuten (vgl. Reporter ohne Grenzen e. V. 2000). Interessanterweise kritisieren jedoch ausgerechnet Sympathisanten Bin Ladens alDschasira. Musharbash (2007) berichtet, die Sympathisanten bezeichneten den Sender als al-Khansira („das Schwein“). Persönliche negative Konsequenzen physischer, psychischer oder pekuniärer Art oder auch der eigenen Überzeugung zuwiderlaufend.
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Untersuchung ausschlaggebend – ist er jedoch schlicht eine Ware mit hohem Gewinnpotenzial, die Gewinn maximierend veräußert werden kann und soll. Ein eher geringes Risiko besteht für Medien und Terroristen gleichermaßen in der Abstumpfung der Leserschaft gegenüber der Berichterstattung über Terrorismus. Da diese Abstumpfung aber auch nicht im Interesse der Terroristen selbst ist, war diesbezüglich bislang eine Art Selbstregulierung der Berichtsintensität zu beobachten. 618 Eine gewisse Balance in der Intensität von Anschlägen und Berichterstattung ist demnach sowohl für die Medien als auch den Terrorismus von Interesse. Zu exzessive Berichterstattung mindert den Nachrichtenwert, was wiederum zu weniger Aufmerksamkeit und gesunkenen Absatzzahlen führt. Ein Rückgang an Aufmerksamkeit und Absatzzahlen wiederum läuft den Absichten sowohl der Medien als auch des Terrorismus zuwider. 619 Auch dies trägt mit dazu bei, dass die Beziehung von Terrorismus und Medien rundweg als symbiotisch zu bezeichnen ist. 4.2.2.3
Wirtschaft und Private
Interaktion zwischen Terroristen und Wirtschaft erfolgt einerseits über Anschläge und die Reaktion der Börsen und Rohstoffpreise. Bei bestimmten, globale Botschaften tragenden Anschlägen ist auch Globalität der Reaktionen zu attestieren. 620 Diese entsteht nicht ausschließlich durch die unmittelbare Interaktion, sondern teilweise mittelbar durch die Verbreitung des Ursprungshandelns durch die Medien. Andererseits – hier sei auf den Bankensektor oder den Bereich der Logistik verwiesen – erfolgt Interaktion aber auch durch Angebot und Nachfrage von Dienstleistungen und Gütern (vgl. grundlegend Napoleoni 2004). Eine besondere Art der Interaktion – in der Regel durch das Funktionssystem Staat initiiert – stellt das Beenden bereits bestehender Interaktionen dar. 621
618
619 620
621
Eine Ausnahme hiervon stellt die Berichterstattung über Ereignisse mit besonderem Nachrichtenwert dar. In diesen Fällen – worunter aus deutscher Sicht 9/11, aber auch die Osthoff-Entführung zu subsumieren sind – entsprach die Berichterstattung mit der Zeit nicht mehr dem öffentlichen Interesse. Bei diesem Phänomen handelt es sich um eine Form des Informationsnachfrageparadoxons nach Otway/Wynne (1993: 107 f.). Leibfritz (2004) verweist auf die Geldpolitik der US-Notenbank und den Anstieg der Rüstungsausgaben der USA nach dem 11. September. Zweifelsfrei entfalteten derartige Maßnahmen in erster Linie ihre Wirkung in den USA selbst, über den Zustand der USWirtschaft aber auch in den mit den USA in Wirtschaftsbeziehungen stehenden Volkswirtschaften. So zum Beispiel durch das Sperren von Konten.
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Nutzen ziehen die Terroristen aus dem (Funktions-)System der Wirtschaft, wenn sie deren – regelmäßig durch die Medien publizierten – Antiterrorismusmaßnahmen auf Lücken und Schwachstellen analysieren622 oder in zeitlichem Zusammenhang mit Anschlägen gezielt die Reaktion der Börsen nutzen, um sich selbst zu bereichern und das System Staat unter Druck zu setzen. Betrachtet man nun den Wirtschaftsektor als Ganzes, so eröffnet sich erneut ein ambivalentes Feld zur Terrorismuswahrnehmung. Je nach Branche bedeuten regelmäßige terroristische Aktivitäten Rezession (Tourismus), individuell gefolgt vom Verlust des Arbeitsplatzes (sprich: monetäre und Statuseinbußen), oder die Entwicklung eines Booms (wie beispielsweise in der Sicherheitsbranche, gepaart mit monetärem und Statusgewinn). Indikatoren für die Auswirkungen von Terrorismus auf das System Wirtschaft sind die Entwicklung der Aktienmärkte, des Wirtschaftswachstums und der Edelmetall- und Rohstoffpreise. Es sei jedoch betont, dass für die Entwicklung dieser Größen Terrorismus nur einer von vielen Einfluss nehmenden Faktoren ist. Das soziale System Wirtschaft lässt sich in eine Vielzahl von Teilsystemen untergliedern. In vorliegender Untersuchung soll das Verhältnis derselben zu Terrorismus thematisiert werden, sodass an dieser Stelle die Teilsysteme der Wissenschaft und der Individuen, die innerhalb des Systems verschiedene Rollen zu spielen haben, behandelt werden müssen. Für die Wissenschaft als mit dem Terrorismus konfrontiertem Akteur ist dieser ein Forschungsfeld interdisziplinären Charakters. Politikwissenschaftliche, psychologische, soziologische, rechtswissenschaftliche und militärtheoretische Konzepte versuchen, sich diesem Neuen Risiko zu nähern, unter anderem um Erklärungs- und Lösungsmodelle zu entwickeln. Es ist dieses breite Spektrum, das Terrorismus zu einer gern angenommenen Herausforderung für Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen macht. Sie erhalten so die Möglichkeit zur Profilierung, was durch Medienauftritte und aktives Publizieren deutlich verstärkt werden kann. Das Gewinnpotenzial des Terrorismus lässt diesen zu einem Mittel zur Erhöhung des eigenen Renommees, des Einkommens und infolgedessen des Status werden. Ausdruck ihres Status ist die Wissenschaftlern als so verstandenen Experten attribuierte definitorische Kompetenz. Ihnen wird die Fähigkeit zu einer realistisch-objektiven Risikobewertung hinsichtlich der Gewichtung der Faktoren Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit eines Anschlages mit bestimmten Mitteln attestiert. Ebenso wird ihnen die Fähigkeit zugeschrieben, die hinter Anschlägen stehenden Symboliken zu erkennen und zu interpretieren. Für das Teilsystem Wissenschaft und seine Handlungsträger bietet Terrorismus 622
Gerade wissenschaftliche Studien – so auch die vorliegende – können Terrorismus ungewollt Hinweise zur Steigerung der Effizienz geben.
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folglich Gewinnpotenzial. Das Verlustpotenzial hingegen bleibt überschaubar. Auch im Falle überholter oder unzutreffender Prognosen oder Erklärungsmodelle – wie beispielsweise der Jenkins-Doktrin – erfolgt (zumindest im öffentlichen Diskurs) keine nachhaltige Ächtung, überhaupt sind Anfeindungen diskursiver Art selten. Auch der Ausübung physischer oder psychischer Gewalt durch Terroristen scheinen die Handlungsträger des Teilsystems Wissenschaft nicht häufiger oder intensiver ausgesetzt zu sein als der gänzlich unbeteiligte Bürger. Begreift man die Individuen eines Systems als Träger von Funktionen, also als Rollenspieler, so können auch sie ein eigenes Teilsystem darstellen. Somit wird auch das individuelle, aus Terrorismus entspringende Risiko mit seinem Gewinn- und Verlustpotenzial der ökonomischen Handlungsträger für vorliegende Arbeit zum Gegenstand des Interesses. Terrorismus birgt für Individuen des Systems Wirtschaft Gewinnpotenzial, wenn sie sich trauen, unbequeme, weil der öffentlichen Meinung entgegenstehende, Meinungen zu vertreten. Dies schlägt sich in – manchmal durchaus dauerhafter – Publizität nieder. Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) und Otto Schily konnten sich als Anwälte der inhaftierten RAF-Mitglieder der ersten Generation schon Mitte der 1970er-Jahre einer breiten Öffentlichkeit präsentieren und sich einen Namen machen. Sowohl Ströbele als auch Schily wurden Bundestagsabgeordnete ihrer Parteien. Das Verlustpotenzial von Handlungsträgern des Systems Wirtschaft äußert sich in der Möglichkeit, aufgrund der eigenen Rolle zum Ziel terroristischen Handelns zu werden. Waren durch vor allem die Welle des Neuen Linken Terrorismus fast ausnahmslos bekannte Funktionäre aus Unternehmen oder Verbänden – also Symbolträger – betroffen, 623 so wird die Opferwahl gerade beim islamistisch-fundamentalistischen Terrorismus unterschiedslos. Es genügt, für ein den Terroristen nicht genehmes Unternehmen oder auch nur am falschen Ort tätig zu sein, 624 um als Opfer eines Bombenattentats oder einer Entführung zu einem bloßen Kommunikationsmittel instrumentalisiert zu werden.625 Unmittelbare Interaktion zwischen den Terroristen und dem sozialen System der Privaten ist in Form von Anschlägen und der unmittelbaren Reaktion der Betroffenen darauf zu beobachten. Als Interaktion sind auch die unterschiedlichen Vermeidungsstrategien, um eben nicht Opfer eines Anschlags zu 623
624 625
Dies wird deutlich an den Morden der RAF an Jürgen Ponto (Sprecher des Vorstandes der Dresdner Bank; erschossen 1977), Hanns Martin Schleyer (Arbeitgeberpräsident; erschossen 1977) und Alfred Herrhausen (Sprecher des Vorstandes der Deutschen Bank; Fahrradbombe 1989). Vgl. Butz (2004: 651-657, 386-393, 397-470). Das gilt für zwei Ingenieure aus Wurzen oder eine seit 20 Jahren im Irak lebende 60-jährige Frau und ihren Sohn, die zu Geiseln wurden (vgl. „Lebenszeichen der Irak-Geiseln“ 2007). Dies impliziert allerdings keine signifikante Risikosteigerung gegenüber den Individuen anderer Systeme.
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werden, zu werten. Vermeidungsstrategien in diesem Sinne können einerseits das Meiden von Großveranstaltungen, bestimmter Verkehrsmittel oder Urlaubsziele, andererseits aber auch die Übernahme einer Überzeugung als spezifische Form der Kooperation bzw. Konformität mit den Terroristen darstellen. Direkte Kommunikation zwischen Terroristen und dem System der Privaten ist zu beobachten, wenn Individuen unmittelbar miteinander konfrontiert sind. Diese Konstellation ergibt sich bei Entführungen und Geiselnahmen. Mittelbar kommunizieren Terroristen mit den Privaten durch die Medien, hier vor allem durch das Internet als Plattformgeber. Das Internet ist für den Terrorismus das Medium schlechthin zur grenzüberschreitenden Verbreitung der eigenen Ideen und Rekrutierung neuer Mitglieder. 626 Umgekehrt erfolgt auch die Kommunikation der Privaten mit Terroristen nahezu ausschließlich über die Medien als Transmitter. Dies verdeutlicht wiederum der Entführungsfall der Susanne Osthoff, als sich die Familienangehörigen via Fernsehen an die Entführer wandten, aber auch die Appelle der Repräsentanten der verschiedenen Religionen in Deutschland. 627 Die beim sozialen System der Privaten exemplarisch in den Mittelpunkt rückenden Teilsysteme sind das der Glaubensgemeinschaften, 628 das der Terroristen und – ähnlich dem der Wirtschaft – das der Individuen. Glaubensgemeinschaften – wobei sich die Untersuchung hauptsächlich auf die Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam konzentriert – sind im westlichen Kulturkreis mit Ausnahme des Vatikanstaats keine per se politischen Gebilde und folglich als Teilsystem des sozialen Systems der Privaten anzusehen. 629 Für sie besitzt Terrorismus insofern Gewinnpotenzial, als er ein Anliegen kommuniziert, das 626
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Forsyth behauptet in Herwig (2006: 138), mindestens die Hälfte aller Rekrutierungen der Al Qaida erfolge durch das Internet. Auch wenn die Behauptung nicht mit konkreten Zahlen belegt wird, so ist doch anzunehmen, dass das Internet eine wichtige Transmitterfunktion zwischen Terrorismus und Privaten ausübt. Beispiel für die Nutzung der Medien als Transmitter der Kommunikation zwischen Kirchen und Terrorismus stellt u. a. Kock/Pressestelle der EKD (2001 b) dar. Auf die Anschläge des 11. September bezogen erklärte Nadeem Elias in seiner Funktion als Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland: „Wer immer die Hintermänner dieser blutigen Tat sind, beim Islam können sie keine Rechtfertigung für ihre Taten finden. Wir beten für eine friedliche Welt, die frei ist von Gewalt und Terrorismus. […] Wir rufen dazu auf, dass Vertreter der christlichen und muslimischen Gemeinden deutlich machen, dass sie sich für ein friedliches und konstruktives Zusammenleben in unserer Gesellschaft einsetzen wollen“ (zitiert nach Pressestelle der EKD 2001). Denkbar, an dieser Stelle jedoch nicht notwendig, ist eine weitere Differenzierung nach einzelnen Religionen. Für einen nach den Themen Dialog, Opfer, Säkularisierung, Gebet und Frieden geordneten Überblick über die Reaktionen der Buchreligionen auf den 11. September vgl. Lutterbach/Manemann (2002).
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sich durch sie instrumentalisieren lässt. Sowohl die christlichen Kirchen als auch der Islam profitieren – zumindest theoretisch – vom Terrorismus der Al Qaida. Während die christlichen Kirchen ihn vor dem Hintergrund des Mitgliederschwunds zur Schärfung ihres eigenen Profils und zur Selbstinszenierung als Alternative in einer Welt der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit nutzen können, 630 verzeichnet der Islam zumindest in Deutschland hinsichtlich seiner Mitglieder steigende Zuwachsraten. 631Aber Terrorismus birgt auch das risikotypische Verlustpotenzial. Da religiöse Glaubensgemeinschaften – die Buchreligionen ebenso wie Buddhismus, Hinduismus oder auch Konfuzianismus – Gewalt verurteilen, richten sie Appelle der Friedfertigkeit und Bedachtsamkeit an andere (Teil-)Systeme. 632 Bleiben diese ungehört, haben die Religionen zwar einen Beweis ihrer Friedfertigkeit, aber auch und vor allem ihrer Ohnmacht erbracht. Das Gewinnpotenzial aus Sicht der Terroristen ist vielfältig. Die Kommunikation eines Anliegens, schlichte Vergeltung an Feinden, das Gefühl sozialer Zugehörigkeit, monetäre Anreize bzw. soziale Sicherheit für die Angehörigen oder Bildung für die eigenen Kinder können darunter subsumiert werden und stellen das dem Terrorismus inhärente Gewinnspektrum von Terroristen sowie in gewissem Rahmen auch ihrer Sympathisanten dar. Sie sehen ihr Handeln als notwendig und legitim, ja manchmal als einzige Alternative zu legaler politischer Partizipation. Indem sie Anschläge verüben oder auch nur mit solchen drohen, kommunizieren sie aus ihrer Sicht auf legitime Weise legitime Anliegen. 633 In der Wahrnehmung radikaler islamistisch-fundamentalistischer Grup630
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In diesem Kontext kann auch Papst Benedikts XVI. polarisierende Rede 2006 in Regensburg gesehen werden, in der er den byzantinischen Kaiser Manuel II. Paläologos zitiert. „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten“ (Benedikt XVI 2006). Lutz Ackermann (2007) beschreibt unter Berufung auf das Islam-Archiv in Soest die Entwicklung der Konversionen zum Islam in Deutschland, jedoch ohne expliziten Hinweis auf eine etwaige Sogwirkung der Al Qaida. Bis 2003 lag die Zahl der jährlichen Konversionen bei rund 300, verdreifachte sich von 2003 bis 2004 auf etwa 1.000, um sich von 2004 bis 2005 mit rund 4.000 Übertritten zu vervierfachen. Akzeptiert man die These von der Sogwirkung des islamistisch-fundamentalistischen Terrorismus, so lässt dies die Al Qaida als eine erfolgreiche Recruiting-Agency oder wenigstens Werbeagentur für den Islam erscheinen. Dies konnte vor allem in den Predigten, Pressemitteilungen und Fürbitten der EKD in den Monaten nach den Anschlägen auf New York und Washington beobachtet werden. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt warnte die EKD vor dem Eskalationspotenzial, das einem Angriff auf Afghanistan oder auch Irak innewohnte. Sich von der soft power des westlichen Kulturkreises bedrängt fühlend, sehen die Mitglieder der Al Qaida aufgrund der Unmöglichkeit, dieser zu widerstehen, den Angriff auf dessen hard power als einziges Mittel, um die Erosion der eigenen Werte und Normen – sprich: der kollektiven Identität der Muslime – aufhalten und in sein Gegenteil verkehren zu kön-
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pen entwickelt sich Terrorismus nicht nur zu einem legitimen Mittel im Kampf gegen Feinde jedweder Couleur, sondern vielmehr zum Allzweckmittel bei der Kommunikation eigener Interessen. Fraglos nehmen sie innerhalb ihres Handelns Risiken verschiedenster Art wahr. Doch der Erfolg ihres Handelns stellt eben nicht – wie bei, mit Ausnahme der Medien, allen anderen Akteuren – das eigentlich Riskante dar. Das eigentlich Riskante und somit das Verlustpotenzial des Risikos Terrorismus besteht für sie schlicht in der Möglichkeit zu scheitern: festgenommen zu werden, nicht die nötige Publizität zu erzeugen, Repressalien für die eigene Gruppe zu provozieren oder im individuellen Fall auch schlicht physischen oder psychischen Schaden zu erleiden. Auf den ersten Blick erscheint es überraschend, dass auch das Teilsystem der privaten Individuen dem Neuen Risiko Terrorismus positive Aspekte abringen kann. Diese positiven Aspekte erklären sich durch die Motivation, weshalb Menschen sich durch die Medien von Terrorismus fesseln lassen: Sensationsgier, Mitgefühl und Schadenfreude verkörpern einen Teil des möglichen intrinsischen Motivationsspektrums. Unabhängig von der Art der Motivation erzielen Individuen einen Gewinn durch Terrorismus, da er durch die mediale Vermittlung Unterhaltung bedeutet. Indes ist die breite Zielgruppe der Individuen (wie die Anschläge von Madrid, London, in gewissem Maß auch Bali und Djerba gezeigt haben) großteils identisch mit dem Kreis der potenziellen Opfer und verweist damit auf Verlustpotenzial. Für sie ist Terrorismus riskant, da sie mit ihm auf dem Weg zur Arbeit oder auch im Urlaub konfrontiert werden können. Diese Konfrontation wird in den meisten Fällen ausschließlich negativ empfunden, da sie auf physische und psychische Schädigung hinausläuft. 634 Beim Terrorismus sozialrevolutionärer oder nationalistisch-separatistischer Art wurde deutlich, dass innerhalb Europas die Wahrnehmung desselben stark variierte, 635 während der islamistisch-fundamentalistische Terrorismus vom Typus der Al
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nen: „Sie setzen auf die Wiederherstellung der Gemeinschaft, und die Erneuerung ihrer Werte nimmt die Form des bewaffneten Kampfes an. Er wird für sie zu einer moralischen Läuterung, in der sich die Gemeinschaft der Abtrünnigen und Verräter entledigt. Aber eine solche Läuterung […] kann ihr Ziel nur erreichen, wenn sie im Kampf gegen den Herd der Verderbnis, das imperiale Zentrum, erfolgt“ (Münkler 2005: 209). Zur Rolle der soft power in der Weltpolitik vgl. grundlegend Nye (2004). Denkbar ist, dass einige wenige Individuen das Er- und Überleben von Anschlägen als Ausbruch aus dem Alltag, als Abenteuer empfinden könnten. Je nach regionaler Abstufung werden unterschiedliche Arten von Terroristen unterschiedlich (negativ oder teilweise sogar positiv) wahrgenommen: In Frankreich war es vermutlich schwer, Sympathisanten für die algerische FLN zu finden, für die RAF war dies aber durchaus möglich. Allgemein ausgedrückt: Je weiter (in km und somit meist auch kulturell) man vom Terrorismus entfernt ist, desto geringer die Intensität der negativen Wahrnehmung.
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Qaida im westlichen Kulturkreis eine nahezu monolithische Negativperzeption erfährt. 4.3
Handlungsmöglichkeiten in Theorie und Praxis
Die vorangegangenen Kapitel zeigten, dass Terrorismus von Publizität lebt, wie sich zwischen den sozialen Systemen terrorismusbezogene Interaktionen beobachten lassen und dass Terrorismus unterschiedliche Bedürfnisse eines jeden sozialen Systems bedient. Bevor die Untersuchung und Entwicklung von Handhabungsmöglichkeiten beginnen kann, ist es zweckmäßig, das grundsätzliche Spannungsfeld der Rechtsstaatlichkeit zu skizzieren, in welchem sich alles auf Terrorismus bezogene Handeln abspielt, und die gegenwärtige Praxis darauf zu reflektieren. 4.3.1
Das Spannungsfeld der Rechtsstaatlichkeit als Grundproblem
Anknüpfend an die Überlegungen zu Funktionsweise, Sichtweisen und Nutzenmomente der sozialen Systeme soll nun ein stärkerer Praxisbezug hergestellt werden. Stellte Bechmann (1993: XVI f.) im Zusammenhang mit technischen Risiken noch die Frage nach der Zumutbarkeit derselben, ist im Falle des Terrorismus der Gegenstand der Frage zu modifizieren. Die für eine Diskussion über Terrorismus hinsichtlich der Zumutbarkeit zu stellende Frage lautet: Welche Gegenmaßnahmen sind im Kampf gegen den Terrorismus zumutbar? 636 Die jeweils gültige Antwort auf diese Frage ist immer das Resultat eines gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses, der – und somit auch die beschlossenen Gegenmaßnahmen – maßgeblich von den Medien beeinflusst ist. Dieses soziale System beweist anhand der öffentlichen Präsentation des diesem Kommunikationsprozess zugrunde liegenden Wertekonflikts erneut seine Filter- und Verstärkungsfunktion. Das gesamtgesellschaftliche Gefüge ist durch Normen geregelt. Normen verschaffen den sozialen Systemen wie auch dem Individuum Erwartungssicherheit – unter der Prämisse, dass einerseits Verstöße sanktioniert werden und andererseits alle an der Interaktion beteiligten Akteure an diese Normen gebunden sind. Zu diesen Normen zählen in der Bundesrepublik Deutschland die Öffentlichkeit des Strafverfahrens, die Trennung von Polizei und Geheimdienst, aber auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Nach dem 11. September 636
Zu einer (völker-)rechtlichen Erörterung vgl. Koch (2002).
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wurden – dies zeigt Prantl (2006 b) – diese Normen in Deutschland, aber auch und vor allem in den USA, unter Vorbehalt gestellt. 637 Die Ermittlung von Methoden, Terrorismus praktikabel zu begegnen, wird im Falle einer ihm abgeneigten Einstellung sich augenscheinlich dahingehend verdichten, ihn nicht zu fördern, sondern vielmehr einzudämmen. Das soziale System, für das Terrorismus ein eigenständiges und besonderes Risiko darstellt, ist das staatliche. Untersucht man also staatliche, auf Terrorismus bezogene Maßnahmen, wird recht schnell zweierlei deutlich: zum einen, dass ohne ein kosmopolitisches – also weltweit einheitliches – Regime die unterschiedlichen Staatsformen unterschiedliche Umgangsweisen mit Terrorismus evozieren. Zum anderen wird deutlich, dass in Demokratien ein besonderes Spannungsfeld zwischen dem Risiko Terrorismus einerseits und dem Risiko eines Verstoßes gegen rechtsstaatliche Prinzipien andererseits besteht. Dieses Spannungsfeld zwischen Rechtsstaatlichkeit und Terrorismusbekämpfung zu skizzieren soll Gegenstand des vorliegenden Kapitels sein. 4.3.1.1
Gegenstände des Risikokommunikationsprozesses über Terrorismus
Im Umgang mit Terrorismus innerhalb des westlichen Kulturkreises sind überwiegend Handlungsweisen zu beobachten, die als Gegenmaßnahmen charakterisiert werden können. Dazu zählen strukturelle, organisatorische und institutionelle Anpassungen, 638 (Video-) Überwachung, 639 Definition als Krieg (vgl.
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Zu den von den USA eingeleiteten Maßnahmen zählen nach Prantl (2006 b) die Aufhebung der Trennung von polizeilichen und geheimdienstlichen Ermittlungen, die Vereinfachung der Genehmigungsverfahren für Überwachungen und das Unter-Kriegsvorbehalt-Stellen aufgeklärter Strafverfahren. Während im Weißbuch von 1994 Terrorismus nicht einmal thematisiert wurde, sind seit dem 11. September 2001 auf Terrorismus ausgerichtete strukturelle, organisatorische und institutionelle Anpassungen verstärkt zu beobachten. Das neu gegründete „Departement for Homeland Security“ in den USA, aber auch die Einrichtung eines „Krisenreaktionszentrums des Auswärtigen Amtes“, des „Nationalen Lagezentrums Sicherheit im Luftraum“ und das „Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum“ in Deutschland sind nur einige Beispiele. Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (1994) und kontrastierend (2006). Jutzi (2005) gibt ein Streitgespräch des Vorstands im Verband der deutschen Internetwirtschaft, Klaus Landefeld, mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz, Peter Schaar, und dem Präsidenten des BKA, Jörg Ziercke, wieder. Landefeld erhebt den Einwand, Unternehmer müssten „als Hilfssheriff der Staatsmacht Millionen Euro investieren“ (vgl. „Das verwirrt nur“ 2005).
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Freudenberg 2005), 640 Kompetenzausweitung, 641 das Führen von Risikokommunikation, die Anwendung geltenden Rechts (vgl. Mielke 2005), aber auch ganzheitliche politische Anstrengungen 642 sowie passive Schutzsysteme. 643 Neben diesen gesellschaftlich großteils mehr oder weniger klaglos hingenommenen oder sogar befürworteten Verfahrensweisen gibt es aber auch solche, die weitaus kritischer perzipiert werden. Präventivschläge gegen failing states (vgl. Bundesministerium der Verteidigung 2006: 24), das Aussetzen eines Kopfgeldes, 644 das gezielte Töten von Terroristen, 645 Verwandte von Terroristen in Geiselhaft zu nehmen und auch das Rendition-Programm (extraordinary rendition,
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Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen eröffnet einem Staat im Falle eines bewaffneten Angriffs das Recht zur (kollektiven) Selbstverteidigung. Die Überlegung, ob ein terroristischer Angriff das Recht zur kollektiven Selbstverteidigung eröffnet, verdeutlicht nach Freudenberg den Paradigmenwechsel seit dem Zweiten Weltkrieg im Verständnis von Krieg. Die Gleichsetzung von Terrorismus mit Krieg hat den Vorteil, altbekannte Handlungsmuster stereotyp ablaufen lassen zu können, hat aber gleichzeitig den Nachteil, aufgrund alt eingefahrener Prozesse die Entwicklung probaterer Möglichkeiten zum Umgang mit Terrorismus zu versäumen. Ferner impliziert die Definition eines terroristischen Aktes als Kriegshandlung die Aufwertung einer Handlung eines nichtstaatlichen Akteurs zu der eines staatlichen. Gängige Praxis in nahezu allen dem Terrorismus negativ gegenüberstehenden Staaten ist die Ausweitung der Kompetenzen einzelner Organisationen. Die Geheimdienste erhalten Kompetenzen im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung, was sie im Falle Deutschlands aber nicht denselben verfassungsrechtlichen Kontrollen wie Polizei und Staatsanwaltschaft unterwirft (vgl. Gusy 2004 sowie Prantl 2006 b). Zur Kontroverse um die Ausweitung von Kompetenzen der Bundesbehörden vgl. Bittner/Klingst (2004). Windfuhr/Zand (2005) zufolge führt Scheich Hamdan Ibn Raschid al Maktum, in Dubai Minister für Industrie und Finanzen, das Ausbleiben von Anschlägen in seinem Land auf das Fehlen von Armut und erhebliche staatliche Unterstützung für die Bürger Czempiel (2002: 57) sowie Bundesministerium der Verteidigung (2006). Der Begriff der passiven Schutzsysteme ist weit gefasst, Unter ihm lassen sich schusssichere Westen und gepanzerte Fahrzeuge ebenso subsumieren wie die Programme der National Missile Defense (NMD) oder der Theatre Missile Defense (TMD), mit welchen Trägersysteme von Kampfmitteln abgefangen werden können, aber auch simple Stacheldrahtzäune, wie sie die Taliban am Einsickern von Pakistan nach Afghanistan hindern sollen. Vgl. „Mit Stacheldraht gegen die Taliban“ (2007) sowie Ilsemann (2007). Der Begriff der Ekwal-Tradition beschreibt nach Schrepfer-Proskurjakov (2005: 52) im kaukasischen Raum den Handel mit Informationen über gesuchte Personen. Ali (2003: 188) beschreibt die Hinrichtung des Gründers der muslimischen Bruderschaft in Ägypten, Hassan al-Banna, als staatlich initiierten Mord. Einer sicherlich anfechtbaren Pro7-Umfrage vom 27.04.2004 (409 Teilnehmer) zufolge befürworten 84,1 % aller Deutschen gezielte Liquidierungsmaßnahmen. Im Juni 2007 überlegte Bundesinnenminister Schäuble, mittels einer faktischen Trennung von Völkerrecht im Krieg und Frieden gezielte Tötungen rechtlich abzusichern. Diese Überlegungen erwiesen sich auf intra- wie interparteilicher Ebene als nicht konsensfähig (vgl. u. a. „Frontalangriff auf den Rechtsstaat“ 2007).
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zu Deutsch „außerordentliche Überstellung“, ein Euphemismus für Kidnapping von Personen, die der Beteiligung an Terrorismus verdächtigt werden) 646 sind die dazugehörigen Beispiele. Umfragen von TNS Infratest aus Dezember 2005 und Februar 2007 zufolge lehnen 81 % der Bundesbürger Praktiken wie Rendition oder auch Folter ab, 647 halten jedoch eine rechtliche Grundlage zur Ausspähung von Privatcomputern für sinnvoll. 648 Dies ist ein Hinweis darauf, dass von der Bevölkerung verschiedene Maßnahmen auf unterschiedliche große Akzeptanz stoßen und damit auch Gegenstand des Risikokommunikationsprozesses rund um Terrorismus sind. Eine solche Vielzahl an umstrittenen Verfahren ausführlich zu diskutieren würde den Rahmen vorliegender Arbeit sprengen. 649 Stattdessen soll die gegenwärtige Risikokommunikation um das Spannungsfeld zwischen Rechtsstaatlichkeit und Terrorismusbekämpfung anhand der Debatte um die Zulässigkeit oder nicht Zulässigkeit der Folter exemplarisch illustriert werden (vgl. Bruha/Tams 2006).
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Die bekanntesten Fälle dieses Programms sind Ramzi Yousef (einer der Planer des ersten Anschlags auf das WTC 1993), Osama Mustafa Hassan Nasr (genannt Abu Omar; 2003 in Mailand entführt; der Fall wurde durch die italienische Staatsanwaltschaft untersucht) sowie die Entführung Khaled El Masris Ende 2003 im mazedonisch-serbischen Grenzgebiet. Rendition fand erstmals 1995 unter der Regierung Clinton Anwendung, um als gefährlich eingestufte und in Drittländern bereits verurteilte Terroristen zu ergreifen und an eben diese Drittländer auszuliefern. Seit 9/11 ist das Programm auf Personen ausgedehnt, die lediglich Informationen haben. Vgl. Sklar (2007), Drumheller/Mascolo/Stark (2007: 38) sowie Bartelt/Muggenthaler (2006), die sich als Mitarbeiter von amnesty international (ai) mit Rendition befassen. Ertel et al. (2005: 124) präsentieren eine Umfrage von TNS Infratest für den SPIEGEL, durchgeführt vom 6. bis 8. Dezember 2005: „Halten Sie die CIA-Methoden, wozu Folterung und Verschleppung von Verdächtigen gehört, angesichts der gestiegenen terroristischen Bedrohung für angemessen oder für nicht angemessen?“ Rund 1.000 Befragte; „Ja“: 16 %; „Nein“: 81 %; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/keine Angabe. Zur Folterpraxis im Umgang mit Terrorismus vgl. Mascolo (2007). Umfrage von TNS Forschung für den SPIEGEL, durchgeführt vom 6. bis 7. Februar 2007: „Halten Sie eine rechtliche Grundlage zur heimlichen Ausspähung von Privatcomputern durch die Polizei, etwa zur Bekämpfung von Kinderpornografie und Terrorismus, für sinnvoll?“ Rund 1.000 Befragte; „Ja“: 68 %; „Nein“: 28 %; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/keine Angabe. Vgl. „Schnüffeln im PC“ (2007). Einen Überblick über unterschiedliche Ansätze zur Terrorismusbekämpfung bieten Dietl/Hirschmann/Tophoven (2006: 294-356).
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Risikokommunikation über Terrorismus am Beispiel der Debatte um die Zulässigkeit von Folter
Anliegen ist an dieser Stelle nicht – und kann es auch gar nicht sein – eine rechtswissenschaftliche Abhandlung über das Folterverbot zu erstellen. Dies stellt ein eigenes, hier nicht zu bewerkstelligendes Projekt dar. Stattdessen wird das Ziel verfolgt, die regelmäßig auftretenden Normen- und Wertekonflikte beim Umgang mit Terrorismus anhand der Debatte über das Folterverbot zu verdeutlichen. Die Überlegung, Folter zu erlauben, tangiert einerseits einen Normenkonflikt, andererseits einen Wertekonflikt. Der Staat als handelnder Akteur unterliegt einerseits der Norm, die Menschenwürde zu achten (Achtungspflicht), andererseits aber auch der Norm, das Leben seiner Bürger zu schützen (Schutzpflicht). Hinter diesem Normenkonflikt liegt darüber hinaus ein Wertekonflikt, der in der Abwägung besteht, ob das Leben Unschuldiger über die psychische oder physische Unversehrtheit eines potenziell Schuldigen gestellt werden soll. 650 Für die Frage nach der Zulässigkeit von Folter sind im Bereich der Bundesrepublik Deutschland verschiedene Rechtsnormen – vor allem das Grundgesetz 651 – zu beachten. Auf der Ebene nationaler Gesetzgebung gehen die normativen Grundlagen auf das Grundrecht der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 I GG) und die Bindung der Exekutive durch die Grundrechte (Art. 1 III GG) zurück (vgl. Schäfer 2007). 652 Auf internationaler, für die Bundesrepublik Deutschland verbindlicher Ebene verbieten unterschiedlichste Institutionen und Normen die Anwendung von Folter (vgl. Brugger 2006: 9 f. sowie Bruha/Tams2006: 16). So wird Folter in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 politisch-moralisch geächtet und ist
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Brugger (2006) erörtert die Frage, welcher Wert der größere sei – die Opfer oder der Täter? Art. 104 I 2 GG lautet: „Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden.“ Art 1 I GG ist ebenso eindeutig: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Kühling (2007) betont vor allem das Schutzgebot von Art. 1 Abs. 1 GG, führt die staatliche Pflicht, die Menschenwürde zu schützen, aber auch auf Art. 2 Abs. 2 GG zurück. Darüber hinaus ist das Verbot der Folter im Polizeirecht integriert und somit Sache der Bundesländer. Vgl. stellvertretend das Beispiel Baden-Württembergs, wo dies in § 35 I Polizeigesetz (PolG BW) geregelt ist: „Die Polizei darf bei Vernehmungen zur Herbeiführung einer Aussage keinen Zwang anwenden.“
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mittlerweile auch völkerrechtlich verboten. 653 Artikel 2 der Anti-FolterKonvention der Vereinten Nationen erklärt: „Außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand, dürfen nicht als Rechfertigung für Folter geltend gemacht werden“ (zitiert nach Bielefeldt 2006: 3).
Folter sei in Folge verstanden als die „Aufhebung der Willensfreiheit (auf physischem oder psychischem Weg) bei Erhaltung des Bewusstseins“(Splett zitiert nach Beestermöller 2006: 123). 654 Da diese Definition nichts über den Zweck der Aufhebung der Willensfreiheit aussagt, lässt dies den notwendigen Spielraum, um Misshandlungen, die der Gewinnung von Informationen dienen, darunter zu subsumieren. 655 Derartige Verfahren sind keineswegs neu, wurden aber verschiedentlich in den letzten Jahren erneut zur Diskussion gestellt (vgl. Richter 2001). Das vielleicht bekannteste Beispiel, an dem sich die Debatte um die Rettungsfolter öffentlichkeitswirksam entzündete, ist die Entführung des Jakob von Metzler. 656 Der 11-jährige Bankierssohn Jakob von Metzler wurde im September 2002 von dem Studenten Magnus Gäfgen entführt. Zum Zeitpunkt der Ergreifung Gäfgens hatte die Polizei berechtigten Grund zur Annahme, dass das Kind noch 653
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Art 25 GG erklärt die Regeln des Völkerrechts zum Bestandteil des Bundesrechts, sodass auf international-völkerrechtlicher Ebene die am 31.12.1990 in Kraft getretene Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter besondere Wirkungskraft entfalteten kann. Maihold (2004: 1) weist auf Art. 4 dieser Konvention hin, aus dem sich die Pönalisierung von Folter als Auftrag an die Vertragsstaaten ableitet. Dem Pönalisierungsauftrag wird unter anderem durch § 343 StGB, §§223 ff., § 340 StGB (Körperverletzung im Amt), § 240StGB (Nötigung) sowie § 136a StPO Rechnung getragen, dessen Einschlägigkeit Freudenberg (2007) betont. § 136a StPO lautet: „(1) Die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten darf nicht beeinträchtigt werden durch Mißhandlung, durch Ermüdung, durch körperlichen Eingriff, durch Verabreichung von Mitteln, durch Quälerei, durch Täuschung oder durch Hypnose. Zwang darf nur angewandt werden, soweit das Strafverfahrensrecht dies zuläßt. Die Drohung mit einer nach seinen Vorschriften unzulässigen Maßnahme und das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils sind verboten. (2) Maßnahmen, die das Erinnerungsvermögen oder die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten beeinträchtigen, sind nicht gestattet. (3) Das Verbot der Absätze 1 und 2 gilt ohne Rücksicht auf die Einwilligung des Beschuldigten. Aussagen, die unter Verletzung dieses Verbots zustande gekommen sind, dürfen auch dann nicht verwertet werden, wenn der Beschuldigte der Verwertung zustimmt.“ Die Definition von Folter variiert, jedoch nicht in demselben Ausmaß wie beim Begriff des Terrorismus. Brugger (2006: 9) verweist in diesem Zusammenhang auf Art. 1 der UN-Anti-FolterKonvention. Außer der Entführung Jakob von Metzlers berichtet Trauboth (2002) von wenigstens zwölf weiteren Fällen zwischen 1971 und 1998 in Deutschland, in denen Mitglieder reicher Familien gegen Zahlungen in Millionenhöhe ausgelöst werden sollten.
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leben könnte. Die Zeit allerdings drohte den Ermittlern davonzulaufen. Das Leben des Kindes schien akut bedroht zu sein. In dieser Situation entschied sich der Polizeivizepräsident von Frankfurt, Wolfgang Daschner, für den Versuch, durch die Androhung von Folter Hinweise zum Aufenthaltsort des entführten Bankierssohnes zu bekommen. Im weiteren Verlauf der Ermittlungen stellte sich heraus, dass der entführte Junge zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. Daschner stand bei seiner Entscheidung vor der Frage, was höher zu werten ist: Die Rechte des einen oder das Leben des anderen Menschen? Das Dilemma, in dem sich Daschner befand, lässt sich auf ein Szenario übertragen, das anstelle eines entführten Kindes einen bevorstehenden terroristischen Anschlag beschreibt. Man stelle sich folgende Situation vor: Terroristen planen Anschläge mit biologischen Waffen. Sie beabsichtigen, eine besonders aggressive Form des Ebola-Virus zeitgleich an verschiedenen Verkehrsknotenpunkten (z. B. internationalen Flughäfen) freizusetzen. Ein Impfstoff ist nicht verfügbar. Zurzeit befindet sich das Ebola-Virus noch geschlossen in einem Labor, es ist noch nicht an die Attentäter bzw. Mittelsmänner verteilt. Sobald dies geschieht, sind die Anschläge nicht mehr zu vermeiden. Der Ort, an dem sich das Labor befindet, ist den Ermittlern unbekannt. Sie wissen, dass ihnen nur wenig Zeit bleibt, das Labor zu finden. Jedoch haben sie einen der Täter ergriffen, dessen Informationen den rechtzeitigen Zugriff auf das Labor erlauben. Aber der Täter weigert sich, die Informationen preiszugeben. Es drängt sich die Frage auf: Dürfen die Ermittler zur Rettung unzähliger Menschen Maßnahmen einsetzen, die die individuellen Rechte eines Menschen massiv verletzen? Diese Frage ist Winfried Brugger (2006: 14 f.) zufolge essenzieller Gegenstand der Anti-Folter-Debatte. Sie wird auf juristischer Ebene zwischen den Deontologen einerseits und den Konsequentialisten andererseits geführt. Während die Deontologen Folter kategorisch ablehnen,657 plädieren die Konsequentialisten dafür, sie unter bestimmten, klaren Voraussetzungen zuzulassen. Staatsrechtler wie Brugger fordern angesichts des „ticking-bomb“-Szenarios 658 das Recht des
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Diese deontologische Position wird unter anderem in amnesty international Deutschland (2005) vertreten. Das „ticking-bomb“-Szenario ist ein Synonym für folgende, von gerade geschilderter in Teilen abweichende, im Kern aber identische Situation: Terroristen haben eine Bombe platziert, die droht, unzählige Menschen zu töten. Ein Terrorist wird festgenommen. Er besitzt Informationen, wie die Explosion verhindert werden kann, will diese jedoch nicht preisgeben. Das Erfüllen von Forderungen der Terroristen ist nicht möglich, sodass der einzige Weg der Gefahrenabwehr die Aussage des gefangenen Terroristen ist.
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Staates, unter bestimmten Voraussetzungen Folter als legitimes Mittel einsetzen zu dürfen – mit der Gefahr, dass aus dem Einzel- ein Präzedenzfall und aus dem Grenzfall ein stetig wachsender Grenzbereich wird. (Brugger 2006, 2000, 1996). Juristisch stützen sich im deutschen Raum Befürworter der Rettungsfolter 659 im Wesentlichen auf das Recht auf Notwehr bzw. den rechtfertigenden Notstand. 660 Beides ist in den Paragraphen 32 und 34 des Strafgesetzbuches (StGB) geregelt. 661 § 32 II StGB definiert Notwehr als „die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden“ (§ 32 II StGB). Ergänzend ist Eisele zufolge der rechtfertigende Notstand nach § 34 StGB zu betrachten, der in Situationen zum Tragen kommt, „bei denen sich das geschützte Rechtsgut, dem eine Gefahr droht, und das beeinträchtigte Rechtsgut, in das eingegriffen wird, gegenüberstehen“ (Eisele o. J.). Kennzeichnend für eine solche Notsituation ist die Gegenwärtigkeit der Gefahr für ein Rechtsgut des die Handlung Ausübenden (also des Täters) oder eines Dritten. Der erste Fall wird nach Eisele (o. J) als Notstand, der zweite als Notstandshilfe bezeichnet. Notstand und Notstandshilfe zusammen bilden einen Teil der Argumentation pro Rettungsfolter. Einen anderen stellt die Differenzierung zwischen Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht dar, wie sie Günther Jakobs vornimmt. Er unterscheidet zwischen Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, in welchem für eine bestimmte Gruppe die Achtung als Rechtspersonen außer Kraft gesetzt ist. Hierdurch erweitert sich der staatliche Handlungsspielraum, da bei Anwendung des Strafrechts „dem Staat eine Bindung auferlegt wird – eben die Notwendigkeit, den Täter als Person zu respektieren –, die gegenüber einem Terroristen, der die Erwartung generell personalen Verhaltens gerade nicht rechtfertigt, schlechthin unangemessen ist“ (Jakobs 2004: 92, zitiert nach Bielefeldt 2006: 6).
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Trapp (2006) kritisiert den Euphemismus Rettungsbefragung für Rettungsfolter. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskommission (EMRK) verlangt: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ Ähnliches findet sich in Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie in Art. 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR). Vgl. hierzu Brugger (2006: 9 f.) sowie Bruha/Tams (2006: 16). Laut Brugger (2006: 10) erstreckt sich der Gültigkeitsbereich von § 32 StGB nur auf das private Notwehr- und Nothilferecht; für die Polizei habe das jüngere Amtsrecht Vorrang.
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Bielefeldt erklärt, das Feindstrafrecht solle dann anwendbar sein, „wenn Menschen sich derart fundamental gegen die Rechtsordnung stellen, dass mit ihnen keine rechtliche Gemeinschaft möglich“ (Bielefeldt 2006: 5 ) ist. Dies ist im Kern die Verfahrensweise der US-Regierung im Umgang mit den Gefangenen in Guantánamo, denen sie weder den Status von Kriegsgefangenen zuerkennt noch sie dem Schutz des Strafrechts zuführt. Andere Autoren unterstützen diese Verfahrensweise, indem sie fordern, da der Gegner sich nicht an Regeln gebunden fühle, sei es auch notwendig, dass sich der Staat im Umgang mit Terrorimus, speziell zu dessen Abwehr, auf das Notwendige und nicht nur auf das ethisch Angeratene konzentriert (Broder 2006). 662 Sowohl auf Ebene der Vereinten Nationen wie auch in der Europäischen Menschrechtskonvention ist das Verbot der Folter als notstandsfeste Menschenrechtsnorm ohne jede Einschränkung gültig und daher absoluter Art. 663 Es gibt verschiedene Arten von Argumenten für die Beibehaltung des absoluten Folterverbots, deren zwei Grundprinzipien einmal pragmatischer und einmal prinzipieller Art sind. Das pragmatische Anti-Folter-Argument ist das Dammbruchargument Das Dammbruchargument besagt, wenn durch die Einführung der Folter der Rechtsstaat erst mal beschädigt ist, werden weitere negative Konsequenzen für den Rechtsstaat zwangsläufig folgen. Die implizite Befürchtung ist also die, dass eine Lockerung des absoluten Folterverbots ein Schritt in ein rechtsstaatliches Niemandsland sein könnte (vgl. Bielefeldt 2006: 6 f.). 664 Ebenso pragmatisch ist der Hinweis, staatlich legitimierte Folter könne von Terroristen zum Gegenstand einer öffentlichkeitswirksamen Kampagne gemacht wer662
663 664
Ebenso wie in Guantánamo ist im Feindstrafrecht das Prinzip der Unschuldsvermutung außer Kraft gesetzt. Dies birgt Entgrenzungspotenzial, da der Staat prinzipiell jeden Menschen, den er für verdächtig hält, dem Feindstrafrecht unterwerfen und ihn somit der Unschuldsvermutung entziehen könnte (vgl. wiederum Bielefeldt 2006: 6). Zur Rechtmäßigkeit der US-amerikanischen Vorgehensweise in Guantánamo, siehe Nowak (2006). Nach Schattauer (2005) befürworten vor allem Opfer von Terroranschlägen und Angehörige von Opfern die Nutzung von Foltergeständnissen. Weitere Hinweise zum Folterverbot finden sich im Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 sowie in der Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen von 1984. Letztere wurde 2002 um ein Zusatzprotokoll ergänzt, das im Juni 2006 in Kraft trat. Diese Argumentation einer bevorstehenden Kettenreaktion für den Fall des Eintritts eines bestimmten Ereignisses findet sich in ähnlicher Form auch in Theorien der Außenpolitik. Vgl. dazu vor allem X [Kennan, George Frost] (1947) sowie Acheson (1970). Angesichts der Ausdehnung der Sowjetunion nach Mitteleuropa formulierte Dean Acheson 1947 als Under Secretary of State die rotten-apple-theory. Er verglich den Kommunismus in Osteuropa mit einem verfaulten Apfel, der alle anderen im selben Fass befindlichen Äpfel nach und nach zum Faulen bringt. Diesen Fäulnisprozess gelte es aufzuhalten. Zum selben Thema formulierte George F. Kennan bereits im Juli 1947 unter dem Pseudonym „X“ in einer Analyse der sowjetischen Außenpolitik die sogenannte Domino-Theorie: Wird ein Land kommunistisch, werden unweigerlich die benachbarten folgen.
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den. Eine solche Kampagne schade dem Ansehen des Staates, der Folter einsetzt, und sorge dadurch für einen weiteren Zustrom an Befürwortern von Terrorismus. In diesem Kontext wird Folter zum Gegenstand der Delegitimationskommunikation von Terroristen. Dieses Szenario ließ sich, wie Follath et al. (2006) schildern, bereits infolge der Aufklärung der von US-Soldaten angewandten Praktiken im Gefängnis Abu Ghureib im Irak beobachten. Das prinzipielle Argument zielt auf die menschliche Ethik. Es verweist darauf, dass die Achtung der Menschenwürde – dies betont Bielefeldt (2006: 7) – die Grundlage von Moral und Recht und damit gleichzeitig die Basis normativer Verbindlichkeit zwischen den Menschen sei. Das Grundprinzip des Folterns hingegen sei die Verdinglichung des Menschen. Bei der Folter verkommt der Mensch in der Sichtweise des Folterers zu einem bloßen Informationsträger, ähnlich einem Datenträger in der elektronischen Datenverarbeitung. Dies stellt die Umkehrung des Kant’schen kategorischen Imperativs dar, den Menschen niemals als bloßes Mittel, sondern stets auch als Zweck anzusehen (vgl. Kant 1911: 429; Bielefeldt 2006: 7). Ein weiteres Argument gegen die Rettungsfolter ist das der rechtsstaatlichen Glaubwürdigkeit. Wenn ein Rechtsstaat sich im Kampf gegen Terrorismus für den Einsatz von Folter ausspricht, macht er sich unglaubwürdig, da er auf moralischer Ebene den Unterschied zu den Terroristen nivelliert. Für ein an sich legitimes Ziel heiligt der Zweck alle Mittel, indem der Staat sich von einer kleinen Minderheit die Aufgabe von Werten und Normen abtrotzen lässt, die von einer überwältigenden Mehrheit getragen werden. Er verstößt selbst gegen das, was er den Terroristen vorwirft, und zerstört indirekt das, was die Terroristen auch zerstören wollen: Rechtsstaatlichkeit nach westlichen, aufgeklärten Prinzipien. Auch die Unterscheidung in verschiedene Formen des Strafrechts ist als Mittel nicht unangreifbar. Ein Problem ist, dass die Mittel in den Feindstrafrechtszonen nicht klar definiert sind, woraus sich nach Bielefeldt (2006: 6) ein Ermessensspielraum ergibt. 665 Dies bedeutet auch für das fiktive Szenario eines bevorstehenden Anschlags mit ABC-Waffen wenigstens dreierlei. Zum einen ergibt sich die Gefahr der Entgrenzung der Mittel, die angewandt werden. Zum anderen wird die Verantwortung über die Entscheidung der einzusetzenden Mittel auf das unmittelbar mit dem Terroristen interagierende Individuum delegiert. Kritischer formuliert: Die politischen Verantwortungsträger entziehen sich ihrer Verantwortung und schieben Bauernopfer vor. Als drittes Problem ist die fehlende Erwartungssicherheit zu nennen. Erwartungssicherheit ist weder für 665
Dies entspricht nicht dem Ansatz Bruggers, der für den Einsatz von Folter klare Regeln favorisiert.
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den Ermittler zu erkennen noch für den zu Vernehmenden. 666 Alles in allem birgt die Unterteilung in verschiedene Strafrechtsformen ohne konkrete Definition der einzusetzenden Mittel das Risiko der Willkür, sodass Folter im Feindstrafrecht – systematisch gesehen – zu einer von vielen Handlungsoptionen wird (vgl. Bielefeldt 2006: 8). Welche Auswirkungen haben derartige Werte-, Normen- und Rechtsgüterkonflikte auf die deutsche Gesellschaft? Diese Frage versucht Heribert Prantl (2006 b) zu beantworten. Er erläutert, wie Deutschland auf dem Weg sei, Tatstrafrecht in allgemeines Gefahrenrecht zu überführen, da es nicht mehr nach einer konkreten Gefahr frage, sondern eine Gefahrenlage genügen lasse, die nicht mehr wie das Schuldprinzip die Strafe nach personalen Maßstäben bemesse, sondern für die eine vermutete Gefährlichkeit ausreichend sei. Ferner verlange das allgemeine Gefahrenrecht nicht mehr nach einem konkreten Tatverdacht, sondern lasse die bloße Ahnung eines Verdachts, dass der Betroffene sich verdächtig machen könnte, genügen. Vor diesem Hintergrund seien die rechtsstaatlichen Regularien lediglich „hinderliche Förmlichkeiten“, sodass Prantl (2006 b) zufolge das allgemeine Gefahrenrecht zu einem umfassenden Vorbeugerecht werde. Freudenberg (2007 a) weist vor diesem Hintergrund auf einen möglichen Übergang vom Tatstrafrecht zum Täterstrafrecht hin. Während im Tatstrafrecht ex post eine Tat sanktioniert werde, laute die Frage im Täterstrafrecht nicht mehr, was der Mensch getan habe, sondern was er sei. Aus der tatbezogenen Ex-post-Strafe wird eine personenbezogene A-priori-Sanktion. 667 Prantl interpretiert derartiges als Rechtsverschiebung, da das bislang für terroristische Akte zuständige Strafrecht auf ein Gebiet ausgedehnt werde, das bislang vom Polizeirecht abgedeckt gewesen sei, wobei das Polizeirecht seinerseits auf Gebiete menschlichen Zusammenlebens Ausdehnung finde, die bislang externer Kontrolle entzogen gewesen seien. Während lange Zeit die Unschuldsvermutung gegolten habe, gelte nun das Gegenteil: Der Bürger habe seine Unschuld zu beweisen. 668 Für das Individuum ergibt sich als Konsequenz eine gesunkene Erwartungssicherheit gegenüber der internalisierten Rechtsstaatlichkeit, da wesentliche Bestandteile des internalisierten Normkomplexes neu zuge666
667 668
Die von Bielefeldt (2006: 6-8) angesichts des von ihm befürworteten absoluten Folterverbots angestellten Überlegungen, rückblickend Polizisten, die Folter unter bestimmten Bedingungen eingesetzt haben, straffrei zu stellen, verringern das Maß an Erwartungssicherheit nur noch weiter, da sich der Staat auf diese Weise einen Ermessensspielraum bei der Sanktionierung von Verstößen gegen die vermeintlich absolute Norm des Folterverbots vorbehält. Vgl. aber auch Brugger (2006: 15). Vertiefend äußert sich Calließ (1974: Kapitel 1.2), online einzusehen unter www.http://www.jura.uni-hannover.de/calliess/Artikel/Theorie_der_Strafe.htm [Stand: 07.08.2007]. Prantl (2006 b) führt als Beispiel die Sicherheitskontrollen auf Flughäfen an.
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ordnet und hierfür folglich zuerst ent- und anschließend re-internalisiert werden müssen. Lässt sich daraus zumindest für Deutschland eine Tendenz erahnen? Dies ist in groben Zügen der Fall, wie folgendes, ebenfalls von Prantl (2006 b) skizziertes, Bild zeigt. Ausgehend von der in Deutschland im Zuge der Terrorismusdebatte der letzten Jahre entstandenen Situation vergleicht er die gesellschaftlichen Rechte mit einer Sanduhr. Seit dem Terrorismus der RAF befinden sich in deren oberen Gefäß die Bürger- und Freiheitsrechte unserer Gesellschaft, im unteren Gefäß jedoch Sicherheitsgesetze, Telefonüberwachung, Lauschangriff, Datenspeicherung, geheimdienstliche Ermittlungsmethoden der Polizei und Polizeibefugnisse für Geheimdienste. 669 In dieser Perspektive sind die nach dem 11. September erlassenen Sicherheitsgesetze nur eine stringent-logische Fortsetzung einer Entwicklung, die bereits vor 30 Jahren im Kampf gegen die RAF mit der Entwicklung der Rasterfahndung begonnen hat (vgl. Prantl 2006 a) und deren Kulmination das Bundesverfassungsgericht bislang noch verhindert (Bittner 2006). Welche grundlegenden Erkenntnisse im Sinne eines möglichen Musters lassen sich induktiv aus diesen Aspekten herleiten? Ausgehend von der These, auch Terroristen dürften nicht gefoltert werden, entsteht die Antithese: Leute, die Unschuldige töten, dürfen der Folter unterworfen werden. Eine Ebene darüber, gleichsam als Synthese, ergibt sich eine massive Relativierung des Stellenwerts der Menschenwürde. Sie wird von einem absoluten zu einem relativen Gut. Diese Art von Dialektik kann auch auf das Handeln von Staat und Terroristen übertragen werden. Beginnend mit dem Primat der staatlichen Gefahrenabwehr als These und weiter gehend mit der Entgrenzung des Terrorismus als Antithese, führt dies zu einer der gerade beschriebenen ähnelnden Synthese – nämlich einer allmählichen Verschiebung des Stellenwerts der Menschenrechte: 670 „Wer keine hinreichende Sicherheit personalen Verhaltens leistet, kann nicht nur nicht erwarten, noch als Person behandelt zu werden, sondern der Staat darf ihn auch nicht mehr als Person behandeln, weil er ansonsten das Recht auf Sicherheit der anderen Personen verletzen würde (Jakobs 2004, zitiert nach Bielefeldt 2006: 6; Hervorhebung durch den Verfasser vorliegender Arbeit).
669
670
Das Gefäß sollte in der ursprünglichen Intention und im Zuge der nach dem 11. September 2001 entstandenen Sondergesetzgebung nach fünf Jahren wieder umgedreht werden, um das Verhältnis zwischen Einschränkung und Bürgerrechten wieder zugunsten Letzterer zu verschieben. Bielefeldt (2006: 5) weist auf den Widerspruch zwischen der Billigung von Folter und dem Glauben, sie in rechtsstaatlichen Schranken halten zu können, hin.
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Dies lässt sich noch weiter verallgemeinern. Eine Bedrohung als Ausgangspunkt gebiert als These den Ruf nach Gegenmaßnahmen, die sich aufgrund der subjektiven Werte-, Normen- und Rechtsgüterhierarchien der sozialen Teilsysteme als rational begründet und berechtigt darstellen. Diese Gegenmaßnahmen provozieren – wiederum aufgrund subjektiver Werte-, Normen- und Rechtsgüterhierarchien, die indes zu den erstgenannten nicht kongruent sind – öffentlich geäußerten Widerspruch. Solch ein Widerspruch führt gegebenenfalls zum Vorschlag modifizierter Gegenmaßnahmen, die erneut keine uneingeschränkte Zustimmung finden. Dieser Prozess setzt sich solange fort, bis entweder die Maßnahmen auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner oder die unterschiedlichen subjektiven Werte-, Normen- und Rechtsgüterhierarchien zur Kongruenz gebracht wurden. Letzterer Fall ist nichts anderes als der bereits erwähnte Wandel von Werten und Normen. 671 Als Indikator für die Erosion von Wertvorstellungen ist das vergleichsweise milde Urteil des Frankfurter Landgerichts gegenüber dem während der VonMetzler-Entführung zuständigen Staatsanwalt Wolfgang Daschner anzusehen. Nach dessen Folter-Drohung gegenüber dem Kindsentführer signalisierten schon 2002 öffentliche Reaktionen Zustimmung und Verständnis. Daschner wurde 2004 schließlich vom Frankfurter Landgericht, obwohl es das absolute Folterverbot bekräftigte, lediglich mit einer Verwarnung mit Strafvorbehalt bedacht. Dies kann als Indiz für einen Werte- und Normwandel, weg vom absoluten Folterverbot, hin zu einem mit strengen Auflagen versehenen, interpretiert werden. Ein weiterer Hinweis auf den einsetzenden Werte- und Normwandel ist die Skepsis und Nachdenklichkeit einschlägiger Überlegungen, wie sie in der „quasi-offizielle[n] Kommentierung“ (Bielefeldt 2006: 4) des Grundgesetzes durch Matthias Herdegen aus dem Jahr 2003 Ausdruck findet und gleichzeitig den Anspruch der Repräsentativität einer schweigenden Mehrheit erhebt. Herdegen zufolge könne es im Einzelfall möglich sein, „dass die Androhung oder Zufügung körperlichen Übels, die sonstige Überwindung willentlicher Steuerung oder die Ausforschung unwillkürlicher Vorgänge wegen der auf Lebensrettung gerichteten Finalität eben nicht den Würdeanspruch verletzen“ (Herdegen zitiert nach Bielefeldt 2006: 4, Fn 2).
Der Risikokommunikationsprozess über Terrorismus und die zulässigen Möglichkeiten des Umgangs mit ihm lassen sich somit als eine Entwicklung beschreiben, die eine mehr oder weniger konkrete Gefährdung für Leib und Leben 671
Risiken tragen generell zu einem Wandel der gesellschaftlichen subjektiven Werte-, Normen- und Rechtsgüterhierarchien bei, wie schon van den Daele (1993: 293) vor dem Hintergrund des Neuen Risikos Gentechnologie illustrierte. Zu diesem Thema vgl. auch Conrad (1989: 193).
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zum Ausgangspunkt hat und über den Risikokommunikationsprozess dem Werte- und Normenwandel diskursiv den Weg bereitet. Dieser Prozess ist fraglos auch ohne Terrorismus existent, verläuft mit ihm aber gesellschaftlich intensiver und bewusster. 4.3.2
Lösungsansätze
Paul Virilio (2004: 3 f.) identifiziert angesichts der Anschläge des 11. September menschliche Emotionen im Allgemeinen und Panik im Besonderen als Achillesfersen der westlichen Zivilisation. 672 „Nicht die Tat selbst zerstört die westlichen Institutionen der Freiheit und Demokratie, sondern die Antizipation der Tat und die Reaktion auf diese Antizipation in Gesellschaft und Politik.“ (Beck 2007 a: 61).
Virilios Meinung nach sei die öffentliche Synchronisation dieser Regungen in der Lage, institutionelle Veränderungen herbeizuführen, ja sogar in einzelnen Staaten die Demokratie abzuschaffen. Die bereits gewonnenen Erkenntnisse über die Funktionsweise von Terrorismus und die Beobachtung Virilios zusammen lassen die Ansatzpunkte zur gesellschaftlichen Handhabung von Terrorismus erahnen: Publizität und Reaktion. 673 Weitere ergeben sich, wenn man berücksichtigt, welche Faktoren zu Hass als einer der möglichen Triebfedern für Terrorismus führen können. 674 Hierzu zählen nach Nuber/Gruen (2005) hohe Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Verwahrlosung und fehlende Aufmerksamkeit und Liebe durch Bezugspersonen. Verbindet man derartige sozioökonomische Deprivation mit einseitigen Darstellungen, so lässt sich gezielt die Meinung von Menschen steuern. Die Ansatzpunkte, die hierin erkennbar werden, sind Bedürfnisse und Wahrnehmungssteuerung. 675
672 673 674 675
Scheerer (2002: 139) erklärt, Terrorismus funktioniere nur, wenn er in seinem Gegenüber einen „heimlichen Komplizen“ finde. „Bin Laden und seine Netzwerke bedürfen unfreiwilliger Erfüllungsgehilfen, nämlich der massenmedialen Verallgegenwärtigung der Gewalt und der Kriegserklärung des USPräsidenten Bush sowie der NATO“ (Beck 2007 a: 61). Überlegungen hierzu bieten Speck/Horsch (2005). Derzeitige, passiv verlaufende gesellschaftliche Bewältigung lässt diese Ansatzpunkte komplett außer Acht und setzt sich – wie anhand der Schilderung von Berg/Hipp/Sontheimer (2007: 21) deutlich wird – im Kern aus den Komponenten Reue und Vergebung zusammen. Eine von ihnen aufgegriffene Umfrage zeigt, dass ohne Reue des Täters 80 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung zumindest im Fall des Ex-Terroristen Christian Klar keine Vergebung befürworten.
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Im Folgenden sollen drei theoretische Handlungsmöglichkeiten – nicht zu verwechseln mit den drei von Beck genannten 676 – mitsamt den Grenzen, die ihrer Umsetzung gesetzt sind, diskutiert werden. Diese Handlungsmöglichkeiten fokussieren auf vier steuerbare Faktoren: Publizität, Reaktion, Bedürfnisse und Wahrnehmungssteuerung. Diese vier Faktoren werden in den einzelnen Ansätzen jeweils unterschiedlich miteinander in Relation gebracht. Zu betonen ist, dass diese Ansätze sich weniger an ethischen Prinzipien orientieren, sondern aufbauend auf die bereits gewonnenen Erkenntnisse analytisch oder auch technokratisch argumentiert werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass seitens des Terrorismus in einem nach Zeit oder Anzahl der Handlungen nicht abgeschlossenen System (spieltheoretisch: nicht auf eine Runde begrenzt) immer das Bestreben nach weiterer Eskalation zur Erzeugung von Publizität zu vermuten ist. 4.3.2.1
Steuerung der Reaktionselastizität
Ein Zusammenhang zwischen Risikowahrnehmung und Reaktion lässt sich anhand einiger kurzer Überlegungen illustrieren. Zur Beschreibung der individuellen Risikowahrnehmung schlägt Peter Sandman – hierauf verweisen Levitt/Dubner (2006: 206 f.) – eine Subjektivierung der formal-normativen Risikogleichung vor (vgl. Kapitel 3.3.1). Die strenge Rationalität der Formel R = S x W kann seiner Auffassung nach durch die Aufnahme der beiden Summanden Empörung und Gefahr an die individuellen Bedürfnisse angepasst und folglich subjektiviert werden. Levitt/Dubner (2006: 207) stellen daher folgende Risikogleichung auf: R = G(efahr) + E(mpörung). Es besteht folglich ein positiver Zusammenhang zwischen Risiko und Empörung. Akzeptiert man die These eines ebenfalls positiven Zusammenhangs zwischen der Größe eines Risikos und der Intensität der Reaktion darauf, so wird ein weiterer positiver Zusammenhang evident: Die Reaktion hängt letzten Endes von der Empörung ab. Um die Reaktion zu mindern, muss also aktiv die Wahrnehmung beeinflusst werden, damit die E(mpörung) auch bei großen G(efahren) gering bleibt. Dieser Ansatz verläuft Konzepten und Überlegungen, wie sie im Umgang mit anderen Neuen Risiken zu beobachten sind, diametral entgegen. Jobst Conrad fragt bezüglich ökologisch-technischer Risiken:
676
Beck (2007 a: 59) nennt Leugnung, Apathie oder Transformation als einzige Reaktionsmöglichkeiten angesichts eines als allgegenwärtig wahrgenommenen Risikos.
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„Wie kann der Abnutzung von Risikobewußtsein gerade bei erfolgreicher Vermeidung von Unfällen gegengesteuert werden? Wie kann die Verdrängung nicht beherrschbarer Restrisiken kompensiert werden? […] Wie lassen sich liberale Regelungen und hohe Sicherheit vereinbaren?“ (Conrad 1989: 180) 677
Für Terrorismus ist die zweite Frage unverändert beizubehalten, die erste Frage aber umzukehren. Wie kann eine Abnutzung des Risikobewusstseins bei erfolgloser Vermeidung von Anschlägen erreicht und so mehr Alltagsgelassenheitgegenüber Terrorismus erreicht werden? Wie können die inter- und intrasystemischen Kopplungen zum Zweck der Schadabsorption gelockert werden? Grundidee dieses Ansatzes muss folglich sein, die Reaktion der Adressaten über ihre Wahrnehmung zu kontrollieren und Terrorismus somit wirkungslos werden zu lassen. Dieser Prozess wird als Steigerung der Reaktionselastizität 678 bezeichnet. Die Steuerung der Reaktion einzelner sozialer (Teil-)Systeme auf eine terroristische Tat kann einerseits am Transmitter ansetzen, an den Medien. Andererseits kann die Reaktionssteuerung auch direkt beim Adressaten ansetzen. Das Schema wäre also wie folgt: Terroristen verüben einen Anschlag, die Medien berichten darüber – aber die sozialen Systeme Staat, Wirtschaft und Private zeigen keine weiter gehenden Reaktionen. Möglichkeiten zur Vergrößerung eben dieser Reaktionselastizität zu erörtern wird Gegenstand dieses Kapitels sein. Der erste Ansatz zur Steuerung der Wahrnehmung und somit der Reaktionselastizität sozialer Systeme geht von der Annahme aus, dass ein Phänomen vor allem dann als bedrohlich wahrgenommen wird, wenn es kognitiv nicht handhabbar ist. Daher kann eine Möglichkeit zur Entschärfung der Bedrohlichkeit von Terrorismus sein, die Gesellschaft über dessen Funktionsweise aufzuklären und ihm so den Schrecken zu nehmen. Hierbei muss es darauf ankommen, bei den sozialen Systemen die Erkenntnis zu fördern, dass jede – egal welche – eigene Reaktion auf Terrorismus zu dessen Publizität und somit seinem Erfolg beitragen kann. Allgemein gesprochen beeinflusst die Politisierung von Risiken den Umgang mit ihnen. Ihre Identifikation, Einschätzung und Messung werden – dies schildert Cutter (1993: 177) – durch die öffentliche Meinung beeinflusst und das Risiko wird zum Gegenstand eines öffentlichen Diskurses. Folglich ließe sich das Konzept der Entmystifizierung durch breit angelegte Aufklärungskampagnen implementieren, an denen Teilsysteme aller sozialen Systeme mitwirken könnten. Bei Terrorismus mit islamischem Hintergrund 677 678
Conrad vertritt die Auffassung, dass Symbolwert und Ritualfunktion der Risikokommunikation an sich gesellschaftlich gleichrangige Bedeutung besitzen wie die tatsächlich durch sie erzielten Ergebnisse. Hinsichtlich des Umgangs mit den Negativseiten von Risiken benutzt schon Wildavsky (1993: 311) den Begriff der Elastizität. Er beschreibt sie als „die Fähigkeit, mit dem Unbekannten, dann wenn es eintritt, besser fertig zu werden.“
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besteht nach Weimann (2006) eine mögliche Vorgehensweise in der Nutzung des Internets zur Aufklärung über den islamistischen Fundamentalismus. 679 Als menschliche Symbole könnten hohe Repräsentanten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Religion unterschiedlichen Adressaten auf jeweils andere Art und Weise das Funktionsprinzip des Terrorismus erklären und es so in deren Wahrnehmung weniger gefährlich und empörend wirken lassen. Die Wahrnehmung des Summanden G und daraus folgend auch des Summanden E der modifizierten Risikogleichung werden so in ihrer Höhe reduziert, was eine Reduzierung der Gesamtwahrnehmung bedeutet. Auch die (Sub-)Systeme der Muslime und der Terroristen müssen in diesen Ansatz mit einbezogen werden. Der Terrorismus der Al Qaida dient einem retroversen Zweck. Er wird praktiziert, um das Kalifat wieder zu errichten (Musharbash 2006: 238 f.). Dazu soll eine starke Solidargemeinschaft innerhalb der umma – der Gemeinschaft aller Muslime – erzeugt werden. Das Mittel zur Beschwörung dieser Solidargemeinschaft liegt in der Vergangenheit: das Kalifat der Periode der rechtgeleiteten Kalifen, das seinerseits auch als Blaupause für die von Said Qutb skizzierte Gegengesellschaft diente. Dieser Terrorismus zielt also nicht auf gegenwärtige Zustände, sondern trachtet danach, längst Vergangenes wieder zu etablieren, Vergangenes, das unter erheblich differierenden politischen, ökonomischen und auch sozialen Umständen existierte. Bemerkenswert ist weiterhin, dass auch unter den Omaiyaden und Abbasiden das im Koran in keiner Sure erwähnte Kalifat eher pragmatischen denn religiösen Zwecken diente: Das Fortbestehen der umma sollte gesichert werden. Aus dieser mangelnden religiösen Legitimation entsprang letztendlich auch der Verlust des normativen Charakters der Institution Kalifat (Röhrich 2005: 26 f.). Dies den Adressaten – der umma als Gesamtheit aller Muslime im Allgemeinen und islamistischen Fundamentalisten im Speziellen 680 – verständlich zu machen, ist eine Aufgabe der Risikokommunikation. Hierbei kommen den Kommunikationsebenen, aber auch den Schulz von Thun’schen (2006) vier Seiten einer Nachricht besondere Bedeutung zu. 681
679 680 681
Weimann verweist vor diesem Hintergrund auf die bereits unter www.mi5.gov.uk angewandte Praxis des britischen Inlandsgeheimdiensts MI5. Zand (2007: 96) berichtet von einem durch das saudi-arabische Königshaus eigens zum Kontern fundamentalistisch-religiöser Argumente ins Leben gerufenen Bildungskanal („alFadschr“). Probleme in der Kommunikation sind vor allem dann zu erwarten, wenn die nüchtern zu betrachtende Sachebene in den Augen der Empfänger nicht als solche erkannt, sondern auf die Ebene eines Appells gehoben wird. Dies könnte als Bevormundung durch einen (nicht muslimischen) Akteur empfunden werden, der aus der Perspektive des Empfängers keine Legitimation dazu besitzt (Beziehungsebene).
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Ein Schwachpunkt des Ansatzes der Entmystifizierung ist – dies muss zugestanden werden – seine Grundannahme. Ob Verstehen 682 dem Terrorismus den Schrecken zu rauben vermag, ist fraglich. 683 Im schlimmsten Fall fühlen sich die Adressaten noch stärker bedroht als zuvor, weil ihnen bewusst wird, dass es kaum „harte“ Handhabungsmöglichkeiten gegenüber Terrorismus gibt, dass ihr Leben nach einer bestimmten kulturellen Leitidee eben eine zwar implizite, aber doch aktive und eigene Entscheidung war, dass sie wissen, ihre eigenen Reaktionen im Fall neuerlicher Gewaltanwendung nicht steuern zu können. Ebenso als problembehaftet kann sich erweisen, dass der Terrorismus zumindest kurzfristig – nämlich zu Beginn der Aufklärungskampagne – ohne eigenes Zutun Publizität erhält. Auch das Be(un-)ruhigungsparadoxon kann unter Umständen beobachtet werden. Eine Information, die auf Beruhigung und Gelassenheit zielt, bewirkt zumindest temporär das Gegenteil. Ein anderer Schwachpunkt kann auch das mögliche Desinteresse einzelner (Teil-)Systeme sein, sich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen und so überhaupt Verständnis entwickeln zu können. Auch der Faktor Zeit ist an dieser Stelle zu erwähnen. Wenn Entmystifizierung der Steigerung der Reaktionselastizität dienen kann, dann nicht kurzfristig, vermutlich nicht einmal mittelfristig. Terrorismus zu einem gesellschaftlich verstandenen – nicht: bereitwillig akzeptierten – Phänomen zu machen ist ein langfristiges, möglicherweise eine Generation oder mehr dauerndes Unterfangen, an dessen Ende im Erfolgsfall jedoch ein Terrorismus stehen wird, der in der gesamtgesellschaftlichen Risikowahrnehmung auf der Ebene herkömmlicher Kriminalität angesiedelt ist. Auch die zu vermutende Reaktion der Terroristen auf nachlassende Reaktionen darf nicht vernachlässigt werden. Es ist zu vermuten, dass sie aus der Steuerung des Summanden „E“ besteht. Die Empörung der Gesellschaft zu erhöhen kann vor allem durch absolute moralische Entgrenzung erreicht werden. Sucht man Symbole, deren Schädigung besonders erschütternd wirken, so stößt man – wie das Beispiel Beslan zeigt – auf Kinder. Ein Anschlag auf Kinder, eventuell kombiniert mit ABC-Waffen, stellt einen Normbruch dar, der die gewünschte Empörung erzeugen kann.
682
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Auch Scheerer (2002: 125-141) beschreibt im dritten dreier Szenarien zur Zukunft von Terrorismus Verstehen als Alternative im Umgang mit Terrorismus. Aus der Erkenntnis des Scheiterns herkömmlicher Ansätze fordert er eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Motivlage der Attentäter. Hierbei plädiert er indes weniger für eine rationale Analyse der Motivlage, denn für eine Reflexion der Politik. Für ein Szenario zur möglichen Entwicklung des Al-Qaida-Terrorismus vgl. Musharbash (2006: 239-245), der sich wiederum auf den jordanischen Journalisten Fuad Hussein und dessen Korrespondenz mit hochrangigen Mitgliedern der Al Qaida stützt. Dies ist ein Beispiel für ein Informationszielparadoxon.
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Terrorismus wird in sicherheitspolitischen Grundlagenwerken häufig als die Gefahr der Zukunft schlechthin genannt, wobei seine Vielfalt – in Entstehung wie Erscheinungsformen – betont wird. 684 Die Möglichkeit allumfassenden, hundertprozentigen Schutzes wird ausgeschlossen. Jedes soziale System weltweit – und mit dem Verweis auf Madrid vor allem die Mitglieder der EU – kann von einem durch Hass, religiösen Eifer oder Widerstand gegen die Globalisierung motivierten Anschlag getroffen werden. Für die (Teil-)Systeme, die sich aber durch Terrorismus und nicht durch westliche Lebensart bedroht fühlen, ist es notwendig, Verfahren zum Umgang mit der Reaktion der Terroristen auf die von ihnen selbst wahrgenommene Bedrohung zu identifizieren. Hierbei kann das von Brücher (2004) beschriebene Verfahren der Gefahrenselektion als Möglichkeit, mit der stetigen Zunahme derselben fertig zu werden, hilfreich sein. Sucht man konkret nach Umgangsmöglichkeiten, dann liegt die Idee nahe, in der gesellschaftlichen Wahrnehmung Terrorismus im Vergleich zu anderen Risiken gezielt nach hinten zu verschieben und so den Selektionsprozess extern und aktiv zu steuern. Zur Steuerung der Gefahrenselektion gibt es zwei grundsätzliche Möglichkeiten, wenn der Terrorismus auf einen der hinteren Plätze verdrängt werden soll. Die erste ist implizit im Ansatz des Verstehens enthalten, nämlich beim Terrorismus selbst anzusetzen und diesen realistisch bewertbar zu machen. Möglichkeit zwei hat sich auf die Wahrnehmung der anderen, mit Terrorismus konkurrierenden, Gefahren und Risiken zu richten. Rückt eines oder sogar mehrere andere Risiken stärker ins gesellschaftliche Bewusstsein, so ist zwar mehr denn je der Begriff der Weltrisikogesellschaft zutreffend, Terrorismus aber ist nur von sekundärer Bedeutung. Zur Identifikation alternativer Risiken und deren Instrumentalisierung finden sich bei Horx (2007: 70-84) Hinweise. Horx identifiziert Alarmismus als gesellschaftliches, aus der Beeinflussung durch Massenmedien resultierendes und fallbezogen stets anhand sieben Wellen zu beobachtendes Phänomen. 685 Die erste dieser Wellen auszulösen verlangt das Identifizieren einer in der Gesellschaft latent vorhandenen archaischen Angst, was als Auslöser der restlichen Wellen wirkt und so die Fokussierung des öffentlichen Interesses auf ein spezifisches, von Terrorismus verschiedenes, durchaus initiierbares Risiko befördert. Somit ließe sich mittels medialer Steuerung eine breite Kampagne, ein aktiver 684 685
So auch der Grundtenor in Bundesministerium der Verteidigung (2003 und 2006). Die sieben Wellen sind nach Horx (2007: 83 f.) das Finden einer archaischen Angst, das Skizzieren eines romantischen Idealzustandes, das Aufbauen von Schulddruck, das Ermöglichen von Kompensation, die Verklärung überholter Prinzipien, das für vorliegenden Ansatz besonders wichtige Codieren der Wahrnehmung und das bei der Operationalisierung unumgängliche „branden“ des Risikos.
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Beitrag im Welthässlichkeitswettbewerb (Beck 2007 b: 17) von Großrisiken initiieren, deren Erfolg bei entsprechender Nachhaltigkeit möglich ist und wodurch Terrorismus als Resultat vermutlich tatsächlich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung an Bedeutung verlieren würde. Risikobehaftet ist diese Verfahrensweise insofern, als dass die gesellschaftliche Reaktion in Form ihrer Folgekosten (Panik, Vertrauensverlust, unsichere politische Entscheidungen, etc.) unkalkulierbar ist. Aus einer ethischen Perspektive besonders bedenklich ist der Umstand, dass eine derartige Kampagne nichts anderes als Massenmanipulation bedeutet. Als Reaktion von Terroristen auf eine Kampagne zur Reduzierung der Wahrnehmungsintensität von Terrorismus sind prinzipiell drei Tendenzen denkbar. Tendenz eins ist das Ende von Terrorismus, da auch die Terroristen von der Propagandamaschinerie überzeugt werden und ihre eigenen Anliegen, zu deren Kommunikation sie Gewalt einzusetzen bereit gewesen waren, als unwichtig empfinden und folglich auch nicht mehr dafür kämpfen. Dieses Szenario ist als rundweg unwahrscheinlich anzunehmen. Tendenz zwei ist die unbeirrte Fortsetzung, als fände eine solche Kampagne nicht statt. Dieses Szenario ist deutlich wahrscheinlicher. Tendenz drei schließlich ist die Ausweitung terroristischer Aktivitäten, um trotz harter Konkurrenz durch die Kampagne weiter Publizität zu generieren und öffentliches Interesse zu besitzen. Dieses Szenario ist das wahrscheinlichste. Ausgehend von der These, dass Terrorismus ein Risiko und keine bloße Gefahr darstellt, aber niemand willens ist, sein eigenes Handeln so auszurichten, dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr in das Zielschema terroristischer Gruppierungen passt, obliegt es den sozialen Systemen, Wege zu finden, sich mit ihm zu arrangieren. 686 Dieser dritte Ansatz zur Steigerung der Reaktionselastizität sei als resignative Verdrängung umschrieben. Der Inhalt derselben erklärt sich über die den kennzeichnenden Begriffen zugeschriebene Bedeutung. Resignativ meint den Umstand, dass der Weltrisikogesellschaft bereits mehr oder weniger implizit bewusst ist, dass das Risiko Terrorismus nicht mit dem Ziel universaler Sicherheit gehandhabt werden kann. Eine Nebenwirkung der resignativen Komponente kann in der gesellschaftlichen Integration und Solidarisierung bestehen, da alle sozialen (Teil-)Systeme dem Risiko Terrorismus gleichermaßen hilflos gegenüberstehen. Verzweiflung, Niedergeschlagenheit oder gar Depression sollen an dieser Stelle ausdrücklich nicht mit dem Terminus „resignativ“ assoziiert werden. Verdrängung ist in Anlehnung an Sigmund Freud zu verstehen, d. h. als Strategie, welche im Falle der 686
Allerdings ist fraglich, inwiefern das Verständnis des eigenen Handelns als Risikohandeln in Bezug auf Terrorismus gesellschaftlich präsent ist. Vgl. Lau (1989: 433 f.).
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Hilflosigkeit gegenüber einer bestimmten Situation praktiziert wird. Verdrängung schützt den Menschen somit davor, ob des Wissens um seine Ausgeliefertheit unkontrolliert und irrational zu handeln. Kurz, Verdrängung schützt vor Durchdrehen. Dieses Verhalten ist bereits in großen Teilen der Gesellschaft zu vermuten. Letzten Endes könnte Terrorismus in der gesellschaftlichen Risikowahrnehmung auf einer Ebene mit herkömmlicher Kriminalität angesiedelt werden – wie auch in einem kosmopolitischen Regime, bei dem Terrorismus Gegenstand der Weltinnenpolitik wäre. Terrorismus wäre ein unangenehmes, aber alltägliches Phänomen, mit dem man sich arrangiert. Es sind wenige Maßnahmen – außer einer breiten, subtil konzipierten Aufklärungskampagne – denkbar, die resignative Verdrängung als gesellschaftliches Umgangsprinzip mit Terrorismus zu forcieren vermögen. Daher liegt es an jedem Einzelnen, aus den Begleitumständen der Globalisierung die Aspekte und Risiken selbst herauszufiltern, die individuell für relevant erachtet werden. Freiheit zu leben und aktives Einstehen für die eigene Überzeugung, wie Wolf Dombrowsky (2004) und Henryk M. Broder (2006) 687 angesichts der europäischen Haltung gegenüber den muslimischen Reaktionen auf die MohammedKarikaturen fordern, klingt zwar selbstbewusst und stark. Die Forderung an sich spielt aber den Zielen islamistisch-fundamentalistischer Terroristen ebenso zu, wie sie gesamtgesellschaftliche Gelassenheit als Ausdruck resignativer Verdrängung angesichts des Risikos Terrorismus verhindert (vgl. Ali et al. 2006). 688 Der größte Schwachpunkt der resignativen Verdrängung als Konzept zur Steigerung der Reaktionselastizität gegenüber Terrorismus besteht in dem bereits erwähnten Umstand, dass sie kaum aktiv vorangetrieben werden kann. Vielmehr scheint es ein Erklärungsmodell zu sein, das eine Tendenz beschreibt oder vielmehr einzelne, gegenwärtig zu beobachtende Aspekte als eine solche deutet. Indikatoren für eine gestiegene Reaktionselastizität sind die immer schwächer werdenden Reaktionen der Börsen nach den Anschlägen vom 11. September, Madrid und schließlich London. Schon am Tag nach den Anschlägen von London normalisierte sich bei einer gleichzeitigen Aufwertung des Dollars die Situation an den Börsen. Obwohl der Rohölpreis sich den damaligen 687 688
Broder plädiert für ein selbstbewusstes Auftreten gegenüber islamistischen Fundamentalisten, da Toleranz und konziliantes Verhalten des Westens von Muslimen als Schwäche ausgelegt würden und so zu immer neuen Machtdemonstrationen führten. Deren Schrift stellt ein Manifest dar, in welchem Intellektuelle zum Widerstand gegen den islamischen Fundamentalismus aufrufen, den sie als Ideologie begreifen. Ihr Hauptanliegen ist die Freiheit, insbesondere die zur Meinungsäußerung, welche sie bedroht sehen. Ihr Vorgehen stellt ausdrücklich keine Form der resignativen Verdrängung dar, ganz im Gegenteil. Die Autoren hoffen, mit ihrer Erklärung den islamistischen Fundamentalismus als eine der Wurzeln des islamistischen Terrorismus (jedoch ohne Letzteren explizit zu erwähnen) zu bekämpfen.
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Rekordständen von 62 Dollar je Barrel annäherte, reichten die Börsennotierungen beinahe an die Werte vor den Anschlägen heran. Das Tourismusgeschäft der beiden größten deutschen Reiseveranstaltern TUI und Thomas Cook verzeichnete keinen Rückgang. Von Stornierungs- und Umbuchungsmöglichkeiten für Städtereisen nach London wurde bis zu diesem Zeitpunkt nur in geringem Umfang Gebrauch gemacht. Nach Branchenangaben wurde ein „Gewöhnungseffekt“ als Grund für die geringen Auswirkungen gesehen. Sollte es tatsächlich soweit kommen, dass Terrorismus den Stellenwert von herkömmlicher Kriminalität in der öffentlichen Wahrnehmung erhält, so wird er alles daran setzen, sich erneut von diesem zu differenzieren, da eine Nivellierung gegenüber Kriminalität der Publizität abträglich ist und folglich das terroristische Funktionsprinzip gefährdet. 689 Um diese Nivellierung aufzuheben, bietet sich dem Terrorismus – fast schon traditionell – das Mittel der Eskalation, der Entgrenzung, des Normbruchs. Es ist also durchaus ein zweischneidiges Schwert, gesellschaftliche Abstumpfung – um es überspitzt darzustellen – herbeizusehnen. 690Es wurden drei Ansätze zur Steigerung der Reaktionselastizität erörtert. Alles in allem erscheinen weder der Ansatz der Entmystifizierung des terroristischen Funktionsprinzips noch jener der Steuerung der Gefahrenselektion wirklich praktikabel und Erfolg versprechend. Auch das Konzept der resignativen Verdrängung besitzt operative Schwächen. Da es aber gegenüber anderen Konzepten keine unverhältnismäßigen, weil stark Eskalation provozierenden, Nachteile besitzt, könnte es sich aber als zumindest bedingt praktikabel erweisen. 4.3.2.2
Publizitätssteuerung
Da Terrorismus als eine Kommunikationsstrategie für politische Anliegen aufgefasst wird, ist er ausdrücklich kein Selbstzweck, er ist vielmehr eine Art Sprache. Dies als Basis für weitere Überlegungen nehmend, bieten sich zwei verschiedene Ansatzpunkte, mit Terrorismus umzugehen. Da er eine Sprache dar689 690
Weiterhin birgt eine nicht hinreichende Differenzierung von Terrorismus zu Kriminalität für den Terrorismus die Gefahr des Imageverlusts. Hechler/Klein (2005) berichten, wie Journalisten eine Woche nach den Anschlägen von London die Sensibilität der Deutschen bezüglich herrenloser Gepäckstücke in öffentlichen Nahverkehrsmitteln der Städte Berlin, Köln und Frankfurt/Main testeten. Ein vermeintlich herrenloser Koffer wurde in insgesamt rund zehn Stunden Fahrzeit nur je dreimal von Mitreisenden und Kontrollpersonal als ungewöhnlich empfunden bzw. die Frage nach dem etwaigen Besitzer gestellt. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass es keine Vergleichswerte über das Verhalten zu einem anderen, weniger sensiblen Zeitpunkt gibt. Folglich kann die Zurückhaltung bei der Suche nach dem Besitzer des Koffers auch andere Gründe haben.
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stellt, kann ihm die Möglichkeit der Signalübermittlung genommen werden. Somit sendet er keine Botschaften mehr, wodurch heftige Reaktionen der sozialen Systeme ausbleiben. Der andere Ansatzpunkt besteht darin, dem Terrorismus praktizierenden Akteur eine andere Sprache anzubieten, die er anstelle von Gewalt mit der gleichen Publizitätsgarantie einsetzen kann. Dies setzt Einsicht in die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit von Gewaltverzicht seitens der Terroristen voraus. Die Grundidee besteht also darin, sich die Publizitätsangewiesenheit des Terrorismus beim Umgang mit ihm zunutze zu machen. Hierbei sind zwei diametral entgegenstehende Ansätze denkbar: Nichtkommunikation und Hyperpublizität. Seine Grenze findet Terrorismus als Form der Kommunikation in der Nichtachtung. Werden terroristische Akte völlig ignoriert, in der Presse kaum beachtet und von staatlicher Seite gleichsam ignoriert, so ist die Kommunikation lediglich eine einseitige. Die Botschaft wurde zwar vom Sender ausgestrahlt, jedoch verweigert der Empfänger die Annahme. Die Grenze terroristischer Kommunikationsbestrebungen ist somit eine inhärente: Ohne vollständige Kommunikation keine erfolgreiche Kommunikation. Hieraus wird die „Reaktionsabhängigkeit“ (Rainer Paris) der Terroristen ersichtlich. Ausgehend von der auf Publizität gerichteten Funktionsweise von Terrorismus besteht eine Variante, Terrorismus in seiner Wirkung zu dämpfen, folglich in der Verweigerung der Publizität. Publizität entsteht, vereinfacht gesprochen, dann nicht, wenn die Medien Terrorismus nicht aufgreifen. Hierfür sind mehrere Gründe denkbar. 1) Die Berichterstattung ist verboten. Verstöße gegen das Verbot werden hinreichend stark sanktioniert, um nicht in signifikantem Maß aufzutreten. 2) Die Medien verzichten freiwillig auf die Berichterstattung, wofür einerseits ethische, die eigene Rolle im Umgang mit Terrorismus reflektierende Gründe eine Rolle spielen können. Andererseits ist ebenso denkbar, in der Praxis aber wahrscheinlicher, dass ökonomische Einbußen – beispielsweise wegen Marktsättigung – Ursache eingeschränkter oder gar unterbleibender Berichterstattung sein können. Zur Umsetzung des Ansatzes der Nichtkommunikation können alle sozialen Systeme beitragen. Handlungsoptionen des Staates sind die Verstaatlichung und in Folge enge Kontrolle der Medien, das Erlassen von Zensur erlaubenden Gesetzen oder überhöhte Steuern für Medien, die über Terrorismus berichten, dieses Phänomen also nicht totschweigen. Das Prinzip staatlich kontrollierten Fernsehens erproben die USA im Irak. Als Teil der Propagandamaschinerie setzen die USA als bewussten und gezielten Gegenpol zu al-Dschasira einen Fernsehsender (al-Hurra) ein, der mittels „Mode, Sport und
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[einem] halbwegs differenzierte[n] Blick auf den Irak“ Akzeptanz fördernd und letztlich Gewalt mindernd wirken soll (Mascolo/Zand 2005: 121). 691 Die Medien selbst können – wie gerade erwähnt – freiwillig auf die Berichterstattung verzichten. Hierbei ist zu betonen, dass eine überzogen negative Berichterstattung keine Alternative zum Unterlassen von Berichterstattung darstellt, da auch negative Publizität eben noch Publizität und folglich ein Erfolg für den Terrorismus darstellt. Das System Wirtschaft kann Medien, die Terrorismus nicht totschweigen, mit einem Kooperationsboykott überziehen, was mittelfristig das Handeln der Medien zum Erliegen bringen muss. Die Privaten schließlich können auf der Nachfrageseite der Informationen über Terrorismus ansetzen und die Abnahme der Informationen boykottieren. Sinkende Nachfrage hat ebenso wie der Boykott der Wirtschaft mittelfristig negative ökonomische Konsequenzen für Medien, die sich der Nichtkommunikation nicht anschließen wollen. Die Maßnahmen zur Umsetzung des Prinzips der Nichtkommunikation verdeutlichen auch gleich seine Schwachstellen. Die Maßnahmen, die der Staat ergreifen kann, sind schlichtweg nicht mit westlich geprägten, demokratischliberalen Freiheitsrechten vereinbar. Bei den anderen sozialen Systemen stellen die Bedürfnisse und Interessen derselben eine vermutlich in dieser Form nicht zu überwindende Hürde dar. Selbst wenn der Ansatz der Nichtkommunikation Anwendung finden würde, könnte eine mögliche Reaktion des Terrorismus darin bestehen, sich des Internets und eigener Medien zu bedienen. Das Internet kann kaum kontrolliert werden und bei entsprechender Finanzkraft – wie sie Osama bin Laden attestiert wird – lassen sich auch eigene Medien finanzieren und somit steuern. 692 Interessanterweise sind es Islamisten, die das Totschweigen eines potenziellen Problems bereits erfolgreich praktiziert haben. Dies verdeutlicht das Beispiel Anwar Shaikhs, der bei Weitem nicht den Bekanntheitsgrad eines Sal691
692
Dies wird nach Mascolo/Zand (2005) von den irakischen Betreibern des Senders mit der Begründung dementiert, man habe noch nie explizite Anweisungen erhalten. Solches mag durchaus möglich sein, jedoch ist es nur schwer vorstellbar, dass sich ein (auf dem Gelände des US-Rüstungskonzerns Boeing angesiedelter) irakischer Fernsehsender der Einflussnahme seiner US-amerikanischen Gelbgeber entziehen kann. Dieser Eindruck verdichtet sich, wenn man berücksichtigt, dass der Direktor von al-Hurra („der Freie“) diesen Posten Norman Pattiz verdankt, dem wiederum die Aufsicht über sämtliche Programme des 1942 gegründeten Propagandasenders Voice of America obliegt. Skeptiker halten den Sender für Geldverschwendung, da die Menschen im Irak kein Vertrauen in al-Hurra hätten. Notwendige Ressource sind dabei Satelliten, die Fernsehprogramme weltweit ausstrahlen können. Derzeit ist der Rückgriff auf Satelliten denkbar, die von Sympathisantenstaaten kontrolliert werden. Im Zeitalter eines noch in der Zukunft anzusiedelnden kosmospolitischen Regimes ist eine breitere Verfügbarkeit privat finanzierter und gesteuerter Satelliten vorstellbar.
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man Rushdie erlangte. Nachdem Salman Rushdie erst durch die über ihn verhängte Fatwa breite Aufmerksamkeit zuteilwurde, setzte ein Lernprozess bezüglich des Umgangs mit Dissidenten, Kritikern und Reformern ein. Anwar Shaikh, ein aus dem Punjabi stammender und in Cardiff lebender Muslim, zweifelt – ähnlich den Mutaziliten im 9. Jahrhundert – in seinen Publikationen an der Göttlichkeit des Korans und stellt dessen Offenbarungscharakter infrage. Die sich unter anderem in Leserbriefen an Zeitungen wie die Daily Jang 693 oder Daily Awaz abzeichnenden Reaktionen von Muslimen waren gekennzeichnet durch die Hoffnung auf eine Widerlegung seiner Thesen durch islamische Geistliche sowie auf eine Begrenzung des Schadens: „Der Teufel Rushdie war ein Unbekannter. Wir verhängten eine Fatwa und setzten ein Kopfgeld aus. Hätten wir dies nicht getan, wäre er am Ende gewesen. Mit anderen Worten: Einem Verrückten dieser Sorte ist es vermutlich nicht einmal in den Sinn gekommen, dass er den Propheten beleidigt hat. Rushdie und Shaikh sind aus dem gleichen Holz geschnitzt. Die Menschen sollten nicht protestieren, um zu verhindern, dass Anwar Shaikh weltberühmt wird“ (Qari Sayyad Hussain Ahmed zitiert nach Ali 2003: 125 ). 694
Die Reaktion der Terroristen auf den Versuch der Nichtkommunikation würde vermutlich in einer Steigerung der Intensität der eigenen Medienarbeit, vornehmlich über das Internet, liegen. Die Schaffung alternativer Plattformen zur Berichterstattung über eigene Aktivitäten könnte bei entsprechender Bekanntmachung derselben den Ausfall bisheriger Transmitter in seiner Wirkung begrenzen. Aber auch eine weitere Eskalation der Gewalt – um den Druck zur Berichterstattung in offenen, demokratischen Gesellschaften zu erhöhen – ist wahrscheinlich. Dieser Ansatz ist die exakte Umkehrung von Zensur. Da das Funktionsprinzip des Terrorismus darauf zielt, ein politisches Anliegen zu kommunizieren, kann eine Möglichkeit ihm zu begegnen sein, die dafür notwendige und ansonsten erst durch einen Gewaltakt zur Verfügung stehende Publizität schon vorab zu gewähren. Da Gewaltanwendung keinen Selbstzweck darstellt und der Terrorist ihrer nicht mehr bedarf, um ein Forum zur Kommunikation seiner Anliegen zu bekommen, wird er auch keine Gewalt mehr anwenden. Anschläge werden überflüssig und verschwinden. Falls ein bereits an dieser Form von Publizität partizipierender Akteur weiterhin Gewalt anwendet, kann er sie nicht als alternativlose Form der Kommunikation darstellen, was ihn delegitimiert und möglicherweise zu einem Rückgang an öffentlicher Unterstützung
693 694
Bei der Daily Jang handelt es sich um eine konservative, in Urdu verfasste und in ganz Europa erhältliche Tageszeitung. Anwar Shaikh strebte zwar danach, mit islamischen Gelehrten in Radio oder Fernsehen zu debattieren, jedoch mieden jene eine direkte und öffentliche Auseinandersetzung – wie Ali annimmt, um ihm die gewünschte Publizität zu verwehren (vgl. Ali 2003: 131).
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führt. Es gilt also, Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Nutzern terroristischer Strategien dieselbe Öffentlichkeit bieten, die sie anderenfalls mithilfe von Terrorismus zu erreichen suchten. Besagte Rahmenbedingungen müssen so geschaffen sein, dass sie den am Risikokommunikationsprozess beteiligten sozialen (Teil-) Systemen die Möglichkeit bieten, bei größter Öffentlichkeitswirksamkeit ihre jeweiligen Anliegen zu kommunizieren. Ziel dieser Kommunikation könnte die formale Institutionalisierung eines Forums zum Austausch und Ausgleich individueller Interessen unter höchstmöglicher Publizität sein. Umsetzung könnte das Konzept der Hyperpublizität durch Rahmenbedingungen in Form von Internetforen, Gesprächsrunden in Radio und Fernsehen, aber auch in Zeitungen finden. Für den Bekanntheitsgrad und die Öffentlichkeitswirksamkeit der Foren und Gesprächsrunden wäre kontinuierlich Sorge zu tragen – allerdings durch andere Maßnahmen als terroristische Aktionen. Die Beteiligung an diesen Foren müsste allen sozialen (Teil-)Systemen offenstehen, sodass für kein (Teil-)System Gewalt als Kommunikationskatalysator politischer Anliegen eine notwendige Alternative bleibt. Allerdings besitzt das Konzept der Hyperpublizität in Gestalt von mehr Variablen denn Konstanten offensichtliche Schwachstellen. Wie haben derartige Rahmenbedingungen auszusehen? Wie können sie institutionalisiert werden? Finden sie bei den unterschiedlichen Akteuren die notwendige Akzeptanz? Können sie so gestaltet werden, dass sie nicht nur als Substitut für eine bestimmte Art, sondern für jeglichen Terrorismus genutzt werden können? Sind alle sozialen (Teil-)Systeme willens, sich an einem solchen Vorgehen zu beteiligen? Schlussendlich impliziert das Konzept eine Aufwertung von Akteuren, die sich bereits des Terrorismus bedient haben. Dadurch, dass sie an einer regulären, organisierten Kommunikation teilnehmen dürfen, erfolgt eine Entkriminalisierung von politischen Kriminellen (vgl. Freudenberg 2007 a). Ebenfalls wird es schwierig sein, jedem, der dies wünscht, Hyperpublizität zu ermöglichen. Wie können die einzelnen Aspiranten ihre Beteiligung durchsetzen? Durch den Einsatz eines bestimmten Maßes an Gewalt, das gleichsam Zulassungsvoraussetzung ist? Und wie bleibt das Kommunikationsforum trotz vermutlich regelmäßiger Fluktuation der Teilnehmer für eine breite Öffentlichkeit – den Adressaten – interessant? Wie reagieren Akteure, die nicht Zugang zur Hyperpublizität erhalten, aber grundsätzlich bereit sind, Gewalt als Kommunikationsmittel einzusetzen? Dann bestünde die vermutliche Reaktion des potenziellen Terroristen wahrscheinlich wieder in der Anwendung von Gewalt, deren Einsatz ihm ja schließlich erst negative Publizität, dann aber Amnestie und Hyperpublizität beschert. Das Konzept lädt also durch die der Gewaltanwendung folgende Entkriminalisierung vielmehr sogar zur Anwendung derselben ein und kann als eine implizite Suggestion zur Anwendung von Gewalt interpretiert werden.
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Auch wenn Rashid (2002) die Entwicklung Afghanistans nur bis zum 11. September 2001 beschreibt, gibt er doch wertvolle Hinweise zur Praxis der Entkriminalisierung politischer Gewalttäter. Beim Wiederaufbau Afghanistans sind auch solche Akteure für die westliche Staatengemeinschaft reguläre Ansprechpartner, denen im Laufe des Bürgerkriegs, aber auch danach, Morde nachgewiesen werden können. Skrupelloser Einsatz von Gewalt bildete bei jenen die Grundlage ihrer heutigen Machtpositionen, die wiederum die Voraussetzung sind, dass westliche Nationen, aber auch die afghanische Regierung unter Hamid Karsai, diese Akteure als Verhandlungspartner – wenn auch zähneknirschend – akzeptieren. Ein prominentes Beispiel für diese Art der Kommunikation mit Gewalttätern und deren Entkriminalisierung stellt Rashid Dostum dar, der im Laufe des Bürgerkrieges regelmäßig die Seiten wechselte, verschiedener Kriegsverbrechen verdächtig ist und heute – nachdem er seine Truppen vor den Parlamentswahlen 2005 nicht entwaffnen ließ – als Stabschef der afghanischen Streitkräfte ein hohes offizielles Amt mitsamt neuerlicher Machtposition innehat. Zwei Ansätze zur Publizitätssteuerung wurden erörtert. Der Ansatz der Hyperpublizität wirkt im ersten Moment zwar verführerisch, offenbart auf den zweiten indes zu viele gravierende Nachteile. Der Ansatz der Nichtkommunikation in der Variante der Freiwilligkeit jedoch behält seinen Charme, auch nach genauerer Betrachtung, wobei die Gefahr der Eskalation und die Fraglichkeit der Bereitschaft der Medien zur Nichtkommunikation nicht ignoriert werden dürfen. 4.3.2.3
Substitution
Die Weltrisikogesellschaft hat unter dem Eindruck der Globalisierung mit verschiedenen, als negativ empfindbaren, Rahmenbedingungen zurechtzukommen. Zu diesen Rahmenbedingungen zählen nach BMVg (2006: 19) Armut, Unterentwicklung, Bildungsdefizite, Ressourcenknappheit, Naturkatastrophen, Umweltzerstörung, Ungleichheiten und Menschenrechtsverletzungen, aber auch Terrorismus. Diese Rahmenbedingungen wecken vornehmlich bei den von ihnen negativ Betroffenen Bedürfnisse. Der Ansatz der Substitution richtet sich auf die Bedürfnisse und Nutzenmomente der sozialen (Teil-)Systeme, die Terrorismus als Begleiterscheinung der Globalisierung bedient. 695 Diese Bedürfnisse durch etwas anderes als Terrorismus zu ersetzen und ihn somit überflüssig wer695
Zur Rolle von Bedürfnissen bei nicht gesetzeskonformen Handlungen vgl. Müller (2004 und 2006).
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den zu lassen ist die Grundidee. Bedingung ist, dass die Substitute ihre Wirkung der Bedürfnisbefriedigung mindestens genauso zuverlässig und effektiv entfalten, wie es Terrorismus könnte. An dieser Stelle ist das Verständnis von funktionaler Differenzierung einer Gesellschaft hilfreich, wie es Max Weber und vor allem Niklas Luhmann offenbaren. Ihnen zufolge ist die Gesellschaft zwar differenziert, aber nicht als arbeitsteilig organisiertes Gesamtgebilde. Vielmehr ist jedes Teilsystem vor allem selbstreferenziell, selbstverabsolutierend und zur Gleichgültigkeit gegenüber anderen neigend (vgl. Luhmann 1997: 595-865; Schimank 2005: 81 f.). Jedes soziale (Teil-)System stellt also die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse über die der anderen. Schwerpunkt der Betrachtung soll daher das Teilsystem der Terroristen und ihrer Sympathisanten sein, da von allen sozialen Teilsystemen sie die größte Affinität zu Terrorismus haben. Dazu sind zuerst die Bedürfnisse zu systematisieren und die Erkenntnisse anschließend auf mögliches Vorhandensein bei terroristischen Gruppierungen zu übertragen. Im Rahmen der Bedürfnisanalyse lassen sich sechs Ebenen (im Folgenden als M1-M6 bezeichnet) von Bedürfnissen analysieren.696 M1 erfasst die unterste, dringlichste Ebene von Bedürfnissen, nämlich die physiologischen Bedingungen, die ein Mensch zum Überleben braucht: Wasser, Nahrung, Schlaf. M2 spricht das menschliche Sicherheitsbedürfnis an, während M3 das Spektrum der sozialen Zugehörigkeit umfasst. M4 umfasst den Bereich der Leistung und sozialen Anerkennung. M5 ist das Bedürfnis der Selbstverwirklichung, M6 ein Synonym für transzendente Bedürfnisse. Dem Modell liegen weitere zwei Annahmen zugrunde. (1) Erst wenn die darunterliegenden Bedürfnisse befriedigt sind, richtet das Individuum sein Augenmerk auf die nächste Ebene (vgl. Maslow 2005). 697 (2) Die Befriedigung der Bedürfnisse M1-M3 kann durch externes Einwirken gesteuert werden, M5-M6 lediglich intrinsisch. M4 stellt einen Übergangsbereich dar. Hieraus resultiert, dass für das weitere Vorgehen – da es ja das Ziel der externen Steuerung verfolgt – vor allem die Bedürfnisebenen M1 bis M4 von Relevanz sind, da M5 und M6 lediglich intrinsisch beeinflussbar sind. 696
697
Scheidt (2005) orientiert sich in seinem Modell zur Erklärung der Unruhen in Frankreich stark an Maslow und dessen Bedürfnispyramide, ergänzt diese aber um eine sechste, höchste, von ihm als Transzendenz bezeichnete Stufe. Maslow (2005) spricht von Grundbedürfnissen und beschreibt als unterste Stufe die physiologischen Bedürfnisse (62-65), über denen die Sicherheitsbedürfnisse (66-70) stehen. Über diesen siedelt er die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe (70-72) an, die ihrerseits von denen nach Achtung (72 f.) und schlussendlich nach Selbstverwirklichung (73 f.) gefolgt werden. Grundlegend 64 f., 79-81, vertiefend 127-134.
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Sowohl die Muslimische Bruderschaft als auch die Hamas betreiben Armenspeisungen, was auf der einen Seite elementarste Bedürfnisse befriedigt (M1), auf der anderen Seite Abhängigkeiten schafft. Derartige Zuwendungen an Bedürftige stehen nach Ruthven (2000: 194) im Einklang mit den Forderungen des Islam. 698 Versteht man unter dem Sicherheitsbedürfnis auch das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit, so bieten terroristische Gruppierungen eben diese (M2). Die Mitgliedschaft in terroristischen Gruppierungen befriedigt nicht nur das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit (M3), 699 sie äußert sich auch in monetären Zuwendungen für die Familie, wenn sich ein Individuum als Selbstmordattentäter opfert. 700 Ein Selbstmordattentat dient gleichzeitig aber noch der Befriedigung weiterer Bedürfnisse. Es sichert auch über das eigene Leben hinaus dem Attentäter wie auch seinen Hinterbliebenen nicht nur soziale Zugehörigkeit und Sicherheit, welche die dahinterstehende terroristische Organisation zu geben vermag. Zusätzlich schafft es auch soziale Anerkennung aufgrund einer spezifischen Leistung (M4). Steigt man indes in der Hierarchie der Organisation auf, gewinnt man Macht und Einfluss, die wiederum zur Selbstentfaltung eingesetzt werden können (M5). Die Rolle, die Terrorismus beim Streben nach Transzendenz (M6) 701 einnehmen kann, verdeutlicht erneut das Beispiel Anwar Shaikhs, von dem Ali (2003: 129) berichtet. 702 „Die […] Entwertung diesseitiger Fragestellungen durch die säkularisierte Weltsicht der westlichen Welt, bei der das diesseitige Leben in der Regel eine höhere Bedeutung erhält als das jenseitige Leben, stellen die Terroristen durch ihren Selbstmord in Frage“ (Röll 2002: 117).
Akzeptiert man die These vom Menschen als triebhaftem Wesen, so lässt sich die Bereitwilligkeit, mit der junge Muslime sich für Suizidmissionen anbieten, über den Wunsch nach dem Ausleben der eigenen Sexualität erklären (vgl. Ali 698 699
700 701
702
Die dritte der fünf Säulen des Islam ist das Zakat, das Almosengeben. Japp (2003: 55) zufolge wird der Zulauf, den terroristische muslimische Gruppierungen erfahren, häufig mit der Kontingenz der westlichen Welt und der Unfähigkeit der Muslime, damit zurechtzukommen, erklärt. Ähnliches vermutet auch Enzensberger: „Der scheinbare Überfluß an Waren, Meinungen, ökonomischen und sexuellen Optionen führt zum double bind von Attraktion und Ablehnung […] wird unerträglich“ (Enzensberger 2006: 47, Hervorhebung im Original). In dieser Perspektive trägt der Verbund mit Menschen, die mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, zur Bewältigung bei. Follath (2006: 96 f.) bietet einen skizzenhaften Überblick über die Motive von Selbstmordattentätern, wobei er die Wichtigkeit transzendentaler Heilsversprechen betont. Witte identifiziert einen deutlichen Gegensatz zwischen der Bedeutung der Existenz im Jenseits in stark religiös geprägten sozialen Systemen und der „eher materiellen Diesseitsorientierung von Gesellschaften, in denen säkulare Vorstellungen und Prinzipien dominant sind“ (Witte 2005: 82). In diesem Beispiel ist das Bedürfnis nach Transzendenz mit dem auf einer deutlich tieferen Ebene anzusiedelnden Bedürfnis nach Sexualität verknüpft.
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2003: 128 f.). Dies soll nach dem Tod im islamischen Paradies erfolgen, was nach eigenen Angaben auch bei der Tötung dreier Sikhs durch den damals 19jährigen Anwar Shaikh eine Rolle spielte: „Ich fürchtete mich nicht davor, festgenommen zu werden. Ich wusste, ich war für das islamische Paradies ausersehen, in dem mich unzählige Huris erwarteten, siebzig Jungfrauen mit festen Brüsten. Allah würde mich bis zu meinem vierundachtzigsten Lebensjahr mit ausreichend Manneskraft segnen. Was konnte sich ein junger Mann schöneres wünschen? Sie sehen also, ich war nicht nur unerschrocken, sondern freute mich auch auf den ununterbrochenen Sex im Paradies“ (zitiert nach Ali 2003: 129).
In dieser Erklärung findet sich ein expliziter Hinweis auf das Gefühl der Auserwähltheit („Ich war für das islamische Paradies ausersehen.“), das auf eine Wahrnehmung der eigenen Sache als richtig und bewundernswert hindeutet, denn: Kommt man für eine negativ zu wertende Tat ins Paradies (M6)? Somit ist die Überzeugung, für eine Tat ins Paradies zu kommen, ein Indikator auf Positiv-Perzeption der eigenen Sache. Die Äußerung Shaiks, aufgrund derartiger sexueller Verheißungen dem Eintritt ins Paradies freudig entgegengesehen zu haben, wird indes von Ali angezweifelt, da nach seiner Auffassung ein junger Mann die Romantik der Polygamie bzw. Promiskuität vorziehe (Ali 2003: 129). 703 Auch in anderen terroristischen Ideologien als der muslimischfundamentalistischen kann das Bedürfnis nach Transzendenz zumindest erahnt werden. Bei den Anarchisten lässt sich das Streben nach Transzendenz mit dem Streben nach Anarchie kontextualisieren – beides fanden sie in den von ihnen attackierten Gesellschaften nicht. Die Herbeiführung der Anarchie befriedigte in dieser Sichtweise das Bedürfnis nach Transzendenz. Um die Rolle zu substituieren, die terroristische Organisationen bei der Befriedigung der Grundbedürfnisse (M1) und der Sicherheit (M2) einnehmen, müssen andere soziale Systeme Nahrung, monetäre Grundsicherung usw. bereitstellen oder die Rahmenbedingungen für die Menschen so ändern, dass sie selbst in der Lage sind, ihre Bedürfnisse hinreichend zu befriedigen. Richtet man seinen Blick auf Staaten, in denen beispielsweise der islamistischfundamentalistische Terrorismus großen Zuspruch erfährt, so wird deutlich, dass 703
Bemerkenswert ist der Zusammenhang von Religion und Gewalt bei Anwar Shaikh. Ein häufig zu beobachtender Weg führt über eine Gewalttat, die Reue darüber und anschließende Sühne zu einer kritiklosen Hinwendung zur Religion und Rückzug vom öffentlichen Leben; Religion wird als Heilmittel empfunden. Bei Anwar Shaikh ist dieser Prozess invertiert. Er bereut eine aus religiösem Fanatismus und Hass begangene Tat und entwickelt sich zu einem Skeptiker derselben. Er hinterfragt die religiösen Lehren kritisch (M6), publiziert die unbefriedigenden Antworten und sucht die Öffentlichkeit, um andere von den Fehlern abzuhalten, die er (zumindest teilweise) aus religiöser Motivation gemacht hat. Religion ist für ihn kein Heilmittel, sondern in ihrer missverstandenen Form ein Gift.
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diese (vielleicht mit Ausnahme Ägyptens) über keine ausgeprägten sozialen Sicherungssysteme verfügen. Soziale Zugehörigkeit (M3) bieten Familie, Freunde und Vereine. In Staaten, die vom Bürgerkrieg nachhaltig gezeichnet sind, sind genau diese Bezugsgruppen häufig schwach ausgeprägt. Familienmitglieder und Freunde wurden getötet, an Vereinsleben ist aufgrund der unsicheren Lage nicht zu denken. Der Ausweg aus dieser Situation muss also eine Stabilisierung der politischen Verhältnisse, die Schaffung öffentlicher Sicherheit sein, damit soziale Gruppen nicht länger durch Todesfälle dezimiert werden und sich in Folge – beispielsweise über den Sport – etwas dem Vereinsleben Ähnliches etablieren kann. In einem solchen Umfeld wird es Individuen möglich sein, durch eigene konstruktive, nicht wie bei Selbstmordattentaten destruktive, Leistungen Anerkennung zu finden (M4), möglicherweise zu etwas Wohlstand zu gelangen, der ihnen wiederum erlaubt, ihr Bedürfnis nach Selbstentfaltung (M5) zu erfüllen. Transzendenz kann nicht von außen aufgezwungen werden, was jedoch erfolgen kann, ist das Bereitstellen eines Angebots von ideologischtheologischen Alternativen zu terroristischen Heilslehren. Es wird deutlich, dass viel von der Stabilisierung kriselnder Staaten und Gesellschaften abhängt, da erst diese gesellschaftliche und staatliche Stabilität der breiten Masse der Menschen die eigenständige Befriedigung ihrer Bedürfnisse ermöglicht. Entwicklungshilfe, generell monetäre Zuwendungen an Staaten und Gesellschaften, die ihrer Schutzpflicht gegenüber der Bevölkerung nicht nachkommen können – sind bereits Usus. Sie müssen, um nachhaltig Wirkung zeigen zu können, zielgerichtet intensiviert und deren Einsatz auch kontrolliert werden, wenn sozioökonomische Deprivation als Zuwendungsgrund für Terrorismus entfallen soll. Die Bereitstellung von Nahrung (M1) und Sicherheit (M2) muss bei Terrorismus von IRA, ETA und vor allem RAF ins Leere greifen, da vor allem bei Letzteren die Mitglieder nicht depriviert waren und somit auch die Grundbedürfnisse eigenständig befriedigen konnten. Ausgrenzung (M3) als Ursache von Radikalität wird sicher nie vollständig zu vermeiden sein, Anerkennung (M4) bedarf gewisser, vom Individuum selbst zu erbringender Voraussetzungen. Auch greift der Ansatz der Substitution sicherlich nicht bei Individuen, bei denen Terrorismus das Bedürfnis der Selbstentfaltung (M5) in Form von Machtausübung über andere Menschen oder das Bedürfnis der Transzendenz (M6) erfüllt. Derartige Bedürfnisse werden auch bei den Attentätern des 11. September vermutet. Dies macht deutlich, dass Attentate durch Substitution allein nicht verhindert werden können, aber auch, dass Substitution vor allem bei Terrorismusarten funktionieren kann, die ihren Nachwuchs aufgrund von sozioökonomischer Deprivation rekrutieren. Auch wenn Substitution Terrorismus nicht zum Erliegen bringt, vermag sie den Zu-
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strom an Menschen zu mindern, die von nach Selbstentfaltung und Transzendenz strebenden Individuen für ihre Zwecke instrumentalisiert werden. Substitute wie Entwicklungspolitik befriedigen die Bedürfnisse der anderen sozialen Systeme nicht so effektiv wie Terrorismus (vgl. Calließ 2003). Für die Medien ist Entwicklungspolitik kein Ersatz für terroristische Anschläge, vorausgehende oder flankierende militärische Maßnahmen schon eher. Den Privaten, die ihre Sensationsbedürfnis an Terrorismus befriedigen bzw. wie im Fall der Religionsgemeinschaften radikale Tendenzen nutzen, um ihren eigenen Fördererkreis zu vergrößern, ist damit wenig geholfen. Dies stellt allerdings vermutlich insofern kein Problem dar, als dass daraus keine gravierenden gesamtgesellschaftlichen Nachteile zu erwarten sind. Das soziale System Staat schließlich profitiert davon. Zwar kann ihm Terrorismus, wenn er denn zurückgegangen ist, nicht mehr in demselben Maß wie früher zur Legitimation unpopulärer Maßnahmen dienen, 704 sein Gewaltmonopol ist jedoch gestärkt. Als Reaktion des Terrorismus ist zu erwarten, dass von anderen sozialen (Teil-) Systemen initiierte Hilfsprojekte attackiert werden. Ebenso wie staatliche – auch militärische – Maßnahmen zum Wiederaufbau zerstörter Staaten mindern derartige Hilfsprojekte die Abhängigkeit der Menschen von den Terroristen selbst. Dies zeigt vor allem die Entwicklung in Afghanistan und im Irak, wo Schutztruppen und Entwicklungshelfer zu Angriffszielen werden. 705Das Konzept der Substitution findet bereits in einigen Bereichen wie der Entwicklungspolitik und Wiederaufbauhilfe implizit Anwendung. Auch wenn es allein nicht in der Lage ist, Terrorismus nachhaltig einzudämmen oder dessen Wirkung auf die sozialen Systeme abzuschwächen, so macht es im Verbund mit anderen Maßnahmen Hoffnung, zumindest eine geringfügige Minderung des Gesamtrisikos Terrorismus bewirken zu können. 4.3.3
Zur Möglichkeit einer Second-best-Lösung
Die Versuche, Terrorismus normativ zu handhaben, verliefen komplementär zu seiner eigenen Entwicklung. Ebenso wie der Terrorismus seinen Wirkungsbe704 705
Scheerer (2002: 105-123) beschreibt in einem Szenario zur möglichen Zukunft des Terrorismus, wie die USA von unter dem Titel „war against terror“ firmierenden Maßnahmen und somit Terrorismus an sich geopolitisch profitieren. Dies zeigt der Mord an einem Mitarbeiter der Welthungerhilfe im März 2007 (vgl. „Mordopfer war ein 65-jähriger Bauingenieur“ 2007). Ferner sei an dieser Stelle erneut auf die Osthoff-Entführung verwiesen, aber auch auf die italienischer Entwicklungshelferinnen sowie der beiden Ingenieure aus Wurzen, die durch ihre Arbeit zum Wiederaufbau des Irak beitrugen.
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reich erweiterte, ist dies auch für die Gegenmaßnahmen zutreffend. So ergibt sich ein intensives Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Sicherheit und dem Recht auf Freiheit. Im Kontext des Terrorismus scheint ein umgekehrt proportionaler Zusammenhang zwischen diesen beiden Rechten zu bestehen. Das Grundprinzip lautet: Der Bürger gibt Freiheitsrechte ab und erntet dafür zumindest das Versprechen auf mehr Sicherheit. Dieser implizite Normen- und Wertekonflikt ist Gegenstand eines nachhaltigen, öffentlichen Diskurses. Beredtes Beispiel in Deutschland ist die Debatte um die gesetzlich zu billigende Folter (vgl. Kapitel 4.3.1). Lösungen zum Umgang mit Terrorismus müssen daher jenseits dieses Normen- und Wertekonflikts bei gleichzeitig auf wackligen Füßen stehenden staatlichen Sicherheitsversprechen gefunden werden. 4.3.3.1
Absolute vs. begrenzte/soziale Rationalität
Prinzipiell bieten sich beim Umgang mit Risiken zwei Möglichkeiten. Entweder man versucht sie vollständig zu beherrschen – oder nicht. Nach Charles Perrow (1987) ist die vollständige Beherrschung von Risiken Gegenstand des Konzeptes der absoluten, unvollständige Beherrschung hingegen Gegenstand der Konzepte der begrenzten oder sozialen Rationalität. Absolute Rationalität ist im Umgang mit Risiken vornehmlich bei Wirtschaftswissenschaftlern und Ingenieuren anzutreffen, begrenzte Rationalität hingegen – zumindest nach Auffassung von häufig aus dem Bereich der kognitiven Psychologie stammenden Risikoanalytikern – in der breiten Bevölkerung. Demgegenüber steht die organisationssoziologische Auffassung vom Menschen als einem oftmals unbewusst nach dem Prinzip der sozialen – und nicht der begrenzten – Rationalität handelnden Wesen (vgl. Perrow 1987: 368-378). Das Konzept der absoluten Rationalität geht nach Perrow von zwei einfachen Grundannahmen aus: 1) Sowohl das Risiko als auch der Nutzen eines Phänomens oder einer Handlung sind mathematisch erfassbar. 2) Auftretende Probleme regeln sich nicht von selbst, sie bedürfen äußerer Einwirkung und Lösung. Kontrolle und Steuerung sind die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Umgang mit Risiken. Dies wird vor allem dann zu einem eigenständigen Risiko, wenn das ursprüngliche, zu behandelnde Risiko mathematisch nicht fassbar ist und sich als zu komplex erweist, um die Auswirkungen eigener, zu dessen Reduzierung implementierter, Kontrollmechanismen eindeutig prognostizieren zu können. Die Ursachen der schwindenden Prognosemöglichkeiten sieht die kognitive Psychologie in den Grenzen des Fassungsvermögens des menschlichen Geistes. Diese Grenze kann auch durch computergestützte Simulationen nur bedingt verschoben werden, was in letzter Konsequenz auf die
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Grenzen der Rationalität verweist. Dies bedeutet, dass jenseits des Fassungsvermögens mit Vermutungen, Schätzungen, Intention, d. h. heuristischen Methoden, operiert werden muss. Gerade in eng gekoppelten sozialen wie technischen Systemen mit übergroßer Komplexität bergen Vermutungen und äußere Eingriffe das Risiko, Schäden mit Katastrophenpotenzial zu erzeugen (vgl. Perrow 1987: 368-378). Dies lässt Handeln nach dem Konzept der absoluten Rationalität nicht nur überholt, sondern als eigenständiges Risiko erscheinen. Auf den Umgang mit Terrorismus reflektiert stellt sich die grundlegende Frage, ob es sich bei der Interaktion mit Terroristen um eindeutige oder komplexe Handlungsabläufe handelt, ob dieser Handlungsrahmen eng oder lose gekoppelt ist. Die Antworten auf diese Fragen können wertvolle Hinweise geben, ob der Umgang mit Terrorismus sich am Konzept der absoluten Rationalität orientieren soll – oder dies keinesfalls darf. Da es sich bei der Interaktion mit Terroristen um einen für andere soziale Teilsysteme ebenfalls zugänglichen Prozess handelt, der den Eintritt in denselben oder auch nur seine Beobachtung erlaubt, handelt es sich um ein offenes, komplexes System. Dies impliziert eine fehlende (mathematische) Fassbarkeit an auftretenden Handlungsalternativen, ganz zu schweigen von den Inhalten und Bedeutungen der Handlungen. Die Frage nach der engen oder losen Kopplung kann umformuliert werden in: Kann die Reaktion eines sozialen (Teil-)Systems auf eine beliebige Handlung exakt prognostiziert werden? Da es sich hierbei um Menschen und somit um soziale Systeme – und nicht um technische – handelt, sind Prognosen zwar bedingt möglich, aber den Erfordernissen der absoluten Rationalität nicht genügend. Somit verweisen die Antworten auf beide Fragen darauf, beim Umgang mit Terrorismus nach Lösungen jenseits des Konzeptes der absoluten Rationalität zu suchen. Ein die Grenzen des menschlichen Fassungsvermögens erkennendes und akzeptierendes Konzept stellte Herbert A. Simon vor. 706 Sein Konzept der bounded rationality beinhaltet drei Grundannahmen: - Es gibt es kein Set an festen Handlungsalternativen. - Der Akteur sucht prozessförmig nach Altnernativen, von denen er die Wahrscheinlichkeit des Nutzens, den sie bringen, nicht kennt. - Bei der Auswahl einer Alternative ist nicht der größte, sondern ein zufriedenstellender Nutzen ausreichend.707 Verlässt man die Perspektive der Analyse, so kann aus diesem Ansatz zur Erklärung von Entscheidungsverhalten ein Ansatz zur Entwicklung von Handlungsal706 707
Zu diesem Thema, vgl. neben Simon (1997) ebenso March (1978: 587-608), March/Olsen (1976) und March/Simon (1958). Hierauf verweist Witte (2005: 118 f.).
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ternativen werden, was sich auch für die Entwicklung von Umgangsmöglichkeiten mit Terrorismus als sinnvoll erweist. Das Konzept der begrenzten Rationalität kann als implizite Aufforderung gedeutet werden, angesichts der Schranken des menschlichen Geistes und der Komplexität des Risikos Terrorismus das Scheitern von Versuchen, Anschläge zu verhindern, sowohl a priori als auch a posteriori zu akzeptieren. Ebenso verweist es auf die Notwendigkeit, aus den gewohnten Denkmustern zum Umgang mit ihm auszubrechen und auch und vor allem nicht länger nach der vermeintlichen Maximallösung – also einer absoluten – zu suchen. Wonach stattdessen gesucht werden soll ist eine Umgangsweise, die mit einer gewissen, aber nicht exakt prognostizierbaren, Wahrscheinlichkeit eine zufriedenstellende Verbesserung in Bezug auf einen situationsabhängig zu definierenden Ausgangspunkt darstellt. Begrenzte Rationalität impliziert weiterhin, dass man sich zu Maßnahmen entschließen muss, auch wenn man nicht weiß, ob andere Handlungen nicht letztlich einen höheren objektiven Nutzen gebracht hätten. Entscheidend dabei ist allein, dass eine subjektiv empfundene Verbesserung der Ausgangssituation bei akzeptablen Kosten zu erwarten steht. Tröstlich ist bei all dem, dass auch Terroristen die Wirkung und Folgen ihres Handelns nicht exakt prognostizieren können: „Die Entscheidungsprozesse von Terroristen unterliegen genau diesen Einschränkungen: Weder lassen sich die potenziellen Folgen aller alternativen Formen von politischer Aktivität genau benennen, noch sind die Konsequenzen eines Selbstmordanschlags im Voraus klar bestimmbar – gerade der eigene Tod unterliegt Ungewissheiten, die eine exakte Prognose von Wahrscheinlichkeiten verbieten“ (Witte 2005: 119). 708
Dass die einzelnen sozialen (Teil-)Systeme hierbei möglicherweise nicht vollkommen Nutzen oder Gewinn maximierend handeln, kann dennoch Ausdruck ökonomischer Rationalität sein. Weiter nach einer besseren Handlungsmöglichkeit zu suchen, bedeutete unter Umständen mehr Aufwand, als dass dadurch die Wahrscheinlichkeit eines höheren Nutzens signifikant stiege. Dies führt dazu, dass schon eine zufriedenstellende Alternative als ausreichend bewertet wird. Somit ist auch die Wahl einer Second-best-Lösung eine Strategie der Maximierung, nämlich eine, welche die Kosten des Suchvorgangs einkalkuliert (vgl. Simon 1997: 295-297). Dies gilt es bei Umgang mit Terrorismus zu berücksichtigen.
708
Viele Entscheidungen, die auf den ersten Blick weder logisch noch rational anmuten, sind es auf den zweiten Blick doch. Dies resultiert aus der unterschiedlichen Kontextualisierung der Entscheidungsgrundlage durch den Entscheider und den Beobachter. Je nach Kontextualisierung ergeben sich unterschiedliche, jedoch in sich rational begründete Handlungsalternativen. Vgl. dazu auch Perrow (1987: 370-373).
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Das Konzept der sozialen Rationalität geht hinsichtlich der Notwendigkeit der Akzeptanz auftretender Fehler sogar noch weiter als das der begrenzten: Es gilt die Annahme, dass Dinge sich von selbst regeln. Was dem Konzept der bounded rationality wieder sehr nahe kommt, ist die Aussage, dass in lose gekoppelten Systemen – wie sie dem Konzept der sozialen Rationalität zugrunde liegen – exakte Lösungen nicht immer nötig sind, Näherungen vielmehr ausreichen. Weiterhin werden die Grenzen der rationalen Entscheidungsfindung nicht nur hingenommen, sondern sogar begrüßt. Perrow (1987: 375-378) führt aus, da Menschen geistig unterschiedlich veranlagt seien, bildeten sich Abhängigkeiten zwischen ihnen, die wiederum die sozialen Bindungen intensivierten und stabilisierten. Derartige Abhängigkeiten aufgrund unterschiedlicher Veranlagung hätten den Vorteil, perspektivisch divergierende Lösungsansätze für ein und dasselbe Problem zu erzeugen. Diese Beobachtung kann für Folgekosten von Anschlägen in einer funktional differenzierten Gesellschaft hilfreich sein. Aus den unterschiedlichen sozialen (Teil-)Systemen sind unterschiedliche Vorschläge zu erwarten, wie am besten mit Terrorismus umzugehen sei. Soziale Rationalität zählt weiterhin die Furcht vor einem Risiko bzw. den Folgen eines eventuellen Schadens zu den sogenannten Kosten. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zum Konzept der absoluten Rationalität, in welchem konsequenterweise die bei der Risikoprävention auftretenden sozialen Kosten weder wahrgenommen noch berücksichtigt werden. Die Annahme, Dinge regelten sich von selbst, erscheint beim Umgang mit Terrorismus indes nur bedingt zielführend. Es ist zweifelsfrei richtig, dass irgendetwas immer passiert – aber sich gänzlich dem Schicksal – hier: dem Terrorismus – zu ergeben und auf das Glück oder Gott zu vertrauen, erscheint gesamtgesellschaftlich nicht konsensfähig. Was aus dem Konzept der sozialen Rationalität beim Umgang mit Terrorismus berücksichtigt werden sollte, ist der Aspekt der unterschiedlichen Perspektiven der einzelnen (Teil-)Systeme und die daraus resultierende Vielfalt möglicher Handlungsalternativen. Dies ergibt ein breites Spektrum an Möglichkeiten, die interdisziplinär ermittelt und additiv eingesetzt werden können. 709 Was deutlich wird, ist dass die Produktion von physischer Sicherheit als staatlicher Aufgabe kaum mehr in gesellschaftlich zufriedenstellendem Maß möglich erscheint. Sowohl die Grenzen der Kontrollierbarkeit als auch die Funktions- und Wirkungsweise von Terrorismus verweisen auf die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels im Verständnis des Begriffs der Sicherheit. Während bislang vornehmlich die physische Sicherheit der Bürger damit assozi709
Die jährlich erscheinenden Country Reports on Terrorism des US-Außenministeriums, das Nachfolgewerk der „Patterns of Global Terrorism“, verdeutlicht, dass das USAußenministerium ebenfalls einen additiven Ansatz verfolgt.
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iert wurde, erscheint es nun wichtig, den Fokus des Verständnisses von Sicherheit von der Physis der Bürger auf deren Psyche zu verlagern. Überspitzt lässt sich das Prinzip simpel beschreiben: Wenn der Staat schon Leib und Leben der Bürger nicht schützen kann, dann doch wenigstens deren Geist. 4.3.3.2
Vorschlag
Allumfassender Schutz – d. h. jederzeit überall für jedermann – ist schon theoretisch kaum vorstellbar, aber nach Dombrowsky (2004) sowohl ob der damit verbundenen Kosten als auch Freiheitsrechtseinschränkungen nicht wünschenswert. Dies impliziert den Zwang zur Inkaufnahme eines Restrisikos.710 Wie kann also ein sinnvolles Konzept zum Umgang mit dem Neuen Risiko Terrorismus aussehen, das dem angeratenen Paradigmenwechsel und dem Grundsatz sozialer wie ökonomischer Verhältnismäßigkeit Rechnung trägt? Da das im Konzept der absoluten Rationalität zu verortende Ziel, Terrorismus gänzlich zu unterbinden, nicht realisierbar ist, müssen die Überlegungen auf eine Art Second-best-Lösung hinauslaufen, welche einerseits Instrumente zur Minderung terroristischer Aktivität, aber andererseits auch und vor allem zur Beeinflussung der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Terrorismus und somit dem Schutz der Psyche umfasst. Das ist nichts anderes als das Herbeiführen dessen, was Münkler nach Böhm (2006) im Zeitalter postheroischer, wohlstandsorientierter Gesellschaften als „heroische Gelassenheit“ 711 – also das Ruhebewahren auch nach einer Reihe von Anschlägen bezeichnet. 712 Dies verdeutlicht die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Interagency-InteractionAnsatzes. 713 Diese Art von Second-best-Lösung hat ein wesentliches Kriterium 710 711
712 713
Bonß (1995: 241-243) beschreibt die Inkaufnahme von Restrisiken als eine von drei Grundoptionen zum Umgang mit Ungewissheiten in der modernisierten Moderne. Die anderen beiden Möglichkeiten sieht er in Prävention und der Politisierung des Risikodiskurses. Luttwak (1995) beschreibt das Phänomen der postheroischen Kriegsführung, womit die vermeintlich risikoarme Luftkriegführung vornehmlich der USA gemeint ist. Durch diese wird die Zahl der eigenen Opfer minimiert und der Krieg gesellschaftlich akzeptabel. Überspitzt formuliert, besteht die Konsequenz ob der ausbleibenden eigenen Opfer in der Verweichlichung der Gesellschaft. Der Begriff der Re-Heroisierung der Gesellschaft drängt sich in diesem Zusammenhang auf. Das BMVg (2006: 16) erkennt an, dass die Bewältigung anstehender Risiken – zu denen auch ausdrücklich Terrorismus gehört – einen ganzheitlichen Ansatz erfordert, wie er bereits in Bundesregierung (2004) vorgesehen ist. Ganzheitlich soll sowohl die Beteiligung der Ressorts als auch die Wahl der Instrumentarien zur Begegnung der Risiken sein, was sich bereits in den Verteidigungspolitischen Richtlinien aus dem Jahr 2003 (BMVg 2003: 19) abzeichnet. Zur Rolle der Bundeswehr in diesem ganzheitlichen Ansatz vgl. Bühl (2006).
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zu erfüllen. Um gesamtgesellschaftlich Akzeptanz zu finden, müssten die einzelnen Maßnahmen sich innerhalb rechtsstaatlicher Grenzen bewegen. Instrumente zur Minderung des terroristischen Impetus können sich am Konzept der Substitution orientieren. Initiator solches an den Bedürfnissen der Terroristen und ihrer Sympathisanten orientierten Handelns müsste das soziale System des Staats sein, zu dem aber auch die anderen Systeme beitragen können. Die Not zu mindern, die in manchen Regionen der Welt die Menschen für das Werben terroristischer Organisationen empfänglich macht, könnte deren Zulauf abschwächen und so Rückzugs- und Rekrutierungsräume verkleinern. Die Kehrseite der Substitution stellen Strafen für terroristisches Handeln dar, die als Folgekosten der Bedürfnisbefriedigung anzusehen sind und somit Terrorismus als Mittel der Bedürfnisbefriedigung unattraktiv werden lassen. Die Steigerung der Reaktionselastizität, d. h. die Lockerung der inter- und intrasystemischen Kopplungen, verhindert sicherlich keinen Anschlag, vermag aber im Falle eines solchen die gesamtgesellschaftlichen Folgekosten zu mindern. Angst, Panikreaktionen und unverhältnismäßig lange öffentliche Thematisierung einer möglicherweise immer noch oder bereits wieder bevorstehenden terroristischen Bedrohung wären vermutlich auch weiterhin, aber nicht mehr so ausgeprägt wie bislang, zu beobachten. Die Reaktionselastizität zu steigern bedarf erneut des Staates, der in durch die Medien gestalteten und möglicherweise durch die Wirtschaft unterstützten Aufklärungskampagnen die Eigenverantwortung der Menschen für ihr Tun und Lassen aufzeigen und vor allem das auf Publizität und Reaktionen ausgelegte terroristische Funktionsprinzip erklären muss. Die Steigerung der Reaktionselastizität ist keinesfalls kurzfristig Erfolg versprechend. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es wenigstens eine Dekade dauern wird, bis der veränderte Umgang mit Terrorismus fester Bestandteil der Sozialisation ist. Erst wenn er gesellschaftlich fest verankert ist, besteht die Möglichkeit, ihn nachhaltig zu tradieren und so integralen Bestandteil kosmopolitischer Enkulturation werden zu lassen. Um Terrorismus einerseits alltäglicher erscheinen zu lassen, gleichzeitig aber kompensatorische Vorsorge zu betreiben, böte sich die Einführung einer symbolischen Pflichtabgabe als Terrorismusversicherung an. Auf diese Weise würde sich die Gesellschaft im Zuge der Einführung einer solchen Pflichtabgabe vermutlich kurzfristig intensiv mit Terrorismus befassen, was im Sinne der Aufklärungskampagne über dessen Funktionsweise läge. Mittelfristig würde so einerseits das Problembewusstsein beibehalten, durch die symbolische Abgabe der Terrorismus aber den unspektakulären sozialen Risiken gleichgesetzt. Auch dies könnte mittel- bis langfristig zu einer Änderung der Wahrnehmung des Terrorismus beitragen. Zusätzlich ließe sich so ein gewisser Kapitalstock auf-
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4 Möglichkeiten der Handhabung von Terrorismus
bauen, der im Falle eines Anschlags tatsächlich zur Schadkompensation eingesetzt werden könnte. Hilfreich wäre, wenn auch diese Variable – Publizität – nicht für, sondern gegen Terrorismus eingesetzt würde. Da das Postulat rechtsstaatlicher Maßnahmen erhoben wurde, könnte die Steuerung der dem Terrorismus zu gewährenden Publizität nur durch die Medien selbst und somit auf freiwilliger Basis erfolgen. Dies ist dann zumindest ansatzweise in größerem Stil vorstellbar, wenn sich durch das soziale System Staat initiierte Substitution – in der Terminologie von Horx gleichsam staatlich initiierter Alarmismus – auch der Bedürfnisse des sozialen Systems der Medien annimmt. Zusätzlich wird man nicht umhinkommen, auch bestimmte Symbole besonders zu schützen. Ob Bauwerke, Personen oder Veranstaltungen – bei einer Beschränkung auf bestimmte Schwerpunkte lässt sich deren Sicherheit wesentlich erhöhen. Katastrophenübungen, Notfallpläne, computergestützte Simulationen und andere, vorwiegend technikbasierte, Antiterrorismusmaßnahmen erscheinen in diesem Zusammenhang denkbar. 714 Weder isoliert noch additiv bieten die Ansatzpunkte der Second-bestLösung absolute Sicherheit vor einem erneuten Normbruch in Form eines terroristischen Aktes, da einerseits den dazu notwendigen Normen nicht gänzlich Geltung verschafft werden kann, technische Sicherheitskonzepte gegen bestimmte Einsatzspektren (Stichwort: schmutzige Bomben) keinen Schutz bieten oder weil der Gewinnung notwendiger nachrichtendienstlicher Erkenntnisse demokratische Rechtsnormen im Weg stehen. Neben technischen Grenzen einerseits stellen nicht nur begrenzte Möglichkeiten zur Normdurchsetzung, sondern auch gültige Normen anderseits die limitierenden Faktoren zur Verhinderung eines zu erwartenden Normbruchs, d. h. eines terroristischen Aktes, dar. Dass die eingesetzten Maßnahmen sich innerhalb rechtsstaatlicher Grenzen bewegen und daher nicht die Effektivität anderer denkbarer und in Teilen derzeit sogar praktizierter Maßnahmen erreichen können, wäre einerseits Ausdruck sozialer und ökonomischer Verhältnismäßigkeit, andererseits der Preis für ihre gesamtgesellschaftliche Akzeptanz. Auch wenn die Nebenwirkungen der einzelnen vorgeschlagenen Elemente nicht eindeutig prognostizierbar sind und Anschläge sicherlich nicht verhindert werden können, bestätigen die Überlegungen dieses vierten Kapitels die Hypothese: Alternativen zu den skizzierten Umgangsmöglichkeiten können an der Funktions- und Wirkungsweise von Terrorismus ansetzen.
714
Kohlhöfer (2006) untersucht die Sicherheitsmaßnahmen für die Fußballweltmeisterschaft (WM) 2006 in Deutschland anhand des Berliner Olympiastadions. So versicherte sich das Organisationskomitee gegen den Ausfall der WM.
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Zusammenfassung und Ausblick
Dem erst seit den Anschlägen des 11. September als Neues Risiko geltenden Terrorismus werden die bestehenden Konzepte zum Umgang mit Risiken nicht vollständig gerecht. Daher müssen Alternativen gefunden werden, die wiederum die Funktions- und Wirkungsweise von Terrorismus zum Ansatzpunkt haben können. Diese These war der Untersuchungsgegenstand vorliegender Arbeit. Aus ihr resultierten folgende Fragen: Seit wann ist Terrorismus ein Neues Risiko? Sind die herkömmlichen Konzepte zum Umgang mit Risiken praktikabel? Welche Alternativen dazu sind stattdessen denkbar? Darüber hinaus bestand das Ziel der vorliegenden Arbeit darin, unter Nutzung politikwissenschaftlicher, aber auch psychologischer und rechtswissenschaftlicher Aspekte einen Beitrag zur Etablierung von Terrorismus als Gegenstand soziologischer Risikoforschung zu leisten, vorhandene Möglichkeiten zum Umgang mit Risiken auf deren Terrorismustauglichkeit zu untersuchen und Ideen für Alternativen dazu zu skizzieren. Als hilfreich erwies sich hierbei vor allem die seit einigen Jahren stetig steigende Qualität der zum Thema Terrorismus erschienenen Publikationen, die jedoch erst aus der Flut herausgefiltert werden mussten. Auch die Erfahrungen des Auslandseinsatzes des Verfassers verdienen, als hilfreich bezeichnet zu werden. Nach der Entwicklung des Begriffsapparats und einer Analyse des auf Symbolik und Publizität ausgelegten terroristischen Funktionsprinzips ergab die empirische Überprüfung bzw. der Vergleich des vormodernen und des modernen Terrorismus mit den Kriterien, die Neue Risiken ausmachen, dass zwar die erste Welle des modernen Terrorismus die bedeutendsten Konzeptionen hervorbrachte, aber erst die gegenwärtige vierte, religiöse Welle nicht nur räumlich, zeitlich, sachlich und sozial entgrenzt, sondern darüber hinaus auch nicht mehr kompensierbar ist. 715 In deren Form kann Terrorismus mit Fug und Recht als ein (jedoch aufgrund der Schadintentionalität andersartiges) Neues Risiko angesehen werden. 715
Auch wurde deutlich, dass die Bezeichnung „religiöse Welle“ politisch korrekt, ja geradezu euphemistisch ist. Nüchterner und weniger zurückhaltend ließe sie sich auch als islamistisch-fundamentalistische Welle bezeichnen.
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Darauf fußte eine hermeneutische Analyse der Praktikabilität unterschiedlicher Konzepte zum Umgang mit Terrorismus und eine mittels qualitativer Methoden geführte Analyse der Daten einer Feldforschung. Letztere bestand aus einer Fallstudie, welche das Krisenmanagement von Teilen der Bundeswehr in Afghanistan nach einem Anschlag zum Gegenstand hat. Hierbei zeigte sich, dass keiner der unterschiedlichen Ansätze für sich allein ein Allheilmittel darstellt. Vor allem die Konzepte bis einschließlich des normativen Risk Assessments erwiesen sich als nur bedingt praktikabel, um ein soziales Phänomen wie Terrorismus angesichts der gegenwärtigen Rahmenbedingungen gesamtgesellschaftlich handhaben zu können. Dies schließt auch die Versicherungspraxis ein, die sowohl mit nicht ausreichenden Statistiken als auch mit exorbitanten Schadsummen zu kämpfen hat. Die Ansätze der Risikowahrnehmung und Risikokommunikation zeigten, dass ihre Kombination unter sorgfältiger Reflexion der eigenen Sozialisation und Enkulturation zumindest Hinweise geben kann, wie das soziale, multikulturelle Umfeld das Risiko, Opfer von Terrorismus zu werden, in unterschiedlichen Situationen wahrnimmt und sein Handeln darauf auszurichten gedenkt. Kombination und Reflexion können dazu beitragen, in entsprechenden Situationen eigenes Handeln unter den Gesichtspunkten subjektiver Rationalität bestmöglich auszurichten. Im Verlauf der Untersuchung bestätigte sich zunehmend die Erkenntnis, dass es sich bei Terrorismus nicht um ein Risiko handelt, das nach den Konzepten der absoluten Rationalität gehandhabt, d. h. vollständig kalkuliert oder beherrschbar gemacht werden kann. An dieser Stelle wurde die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels im Verständnis von Sicherheit als staatlicher Aufgabe deutlich. Eine perspektivische Erweiterung des Begriffs Sicherheit um das Attribut psychische Sicherheit, bei gleichzeitiger Konzentration auf dasselbe, scheint unausweichlich, da einerseits die Psyche quantitativ stärker bedroht und andererseits die Physis nicht gänzlich schützbar ist. Unter der Prämisse, aus einer Position von Terrorismus negativer Betroffenheit heraus zu argumentieren, erschien es daher ratsam, die gleichsam „eingedachten“ Wege zum Umgang mit Risiken zu verlassen und stattdessen auf weiche Prävention gerichtete Alternativen zu entwerfen. 716 Bei der heuristischen Entwicklung der Alternativen konnte es nicht darum gehen, unanfechtbare und endgültige Handlungsmodelle zu präsentieren. Vielmehr musste die Absicht darin bestehen, Möglichkeiten und Konsequenzen aufzuzeigen, die angesichts der Unvermeidlichkeit eines Übergangs vom nicht realen Risiko zur realen 716
Den grundsätzlichen Schritt – weg von der Konzentration auf Kompensation, hin zur Prävention – vollzieht bereits Ewald (2002).
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Katastrophe (Beck 2007 a: 61) deren psychologische Wirkung begrenzen, dadurch Reaktionen rationalisieren und den Anstoß zu zukünftigen Überlegungen geben zu können. Den theoretischen Rahmen für die Entwicklung der Alternativen und einer kritischen heuristischen Reflexion derselben bot der methodologische Kosmopolitismus. Innerhalb dieses theoretischen Rahmens wurden unter Anleihen aus der Systemtheorie funktional ähnliche soziale Gruppen und Akteure unter expliziter Vernachlässigung nationalstaatlicher Beschränkungen zu Systemen zusammengefasst. Dies war möglich, da Terrorismus als globales Risiko auf alle diese Gruppen die gleiche Wirkungsrichtung besitzt. Die identifizierten Gruppen waren der Staat, die Wirtschaft, die Privaten und vor allem die Medien. Die Analyse der Wirkung des Terrorismus auf jedes einzelne dieser Systeme zeigte, dass er neben den stets beachteten negativen durchaus auch uneinheitliche nutzbringende Effekte besitzt. Ebenso zeichnete sich eine Schlüsselrolle der Medien ab. Unabdingbar war in diesem Zusammenhang eine Untersuchung der Rolle der Legalität und Legitimität von gegen Terrorismus gerichteten Maßnahmen. Diese Untersuchung wurde anhand der Debatte um Folter im Spannungsfeld von Rechtsstaatlichkeit geführt und zeigte, dass eine deutliche Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien in einer kurzsichtigen Perspektive zwar ein halbwegs effektives Mittel gegen Terrorismus darstellen kann, jedoch bei differenzierter Betrachtung jenem eher in die Hände spielt. Daher hatten die zu entwerfenden Handlungsalternativen Normbindung nach westlichen Prinzipien aufzuweisen. Die heuristisch entwickelten Alternativen beziehen auch die Erkenntnisse zum Funktionsprinzip des Terrorismus sowie zur Nützlichkeit von Risikowahrnehmung und Risikokommunikation mit ein. Grundsätzlich zielen sie darauf ab, das terroristische Funktionsprinzip auszuhebeln. Elemente, die in diesem Zusammenhang diskutiert wurden, waren die Entmystifizierung des Terrorismus, die Steuerung der gesellschaftlichen Wahrnehmung sowie die Förderung eines bereits beobachtbaren, hier resignative Verdrängung genannten Prozesses. Alle drei Komponenten hatten zum Ziel, die von Terroristen auf ihre Anschläge erhofften Reaktionen abzuschwächen. Einen anderen Ansatzpunkt – nämlich die Schlüsselrolle der Medien – wählten die nächsten beiden Vorschläge, die diskutierten, inwiefern Terrorismus durch Überpräsenz – Hyperpublizität – oder durch schlichte Nicht-Berichterstattung effektiv begegnet werden kann. Die sechste und letzte vorgestellte Alternative folgte der Grundidee, Terrorismus für alle sozialen Systeme zu substituieren. Erwartungsgemäß erwies sich keiner der Ansätze für sich genommen als ausreichend oder gar vollends praktikabel. Um verschiedenen Aspekten gerecht zu werden, wurde abschließend der Versuch
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unternommen, eine aus mehreren Elementen bestehende Second-best-Lösung zu skizzieren und zur Diskussion zu stellen. Wie kann ein Fazit aussehen? Die in der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse weisen nachdrücklich darauf hin, dass Terrorismus ein gleichsam integraler Bestandteil nicht nur der reflexiven, sondern der Moderne überhaupt ist. Sie zeigen ebenfalls, dass die bewährten Methoden zum Umgang mit Risiken nicht hinreichend praktikabel sind und für den Fall, dass aus dem abstrakten Neuen Risiko Terrorismus eine real auftretende Katastrophe wird, der Ergänzung bedürfen. Des Weiteren wird deutlich, dass diese Ergänzung nicht vollständige Sicherheit oder Kontrolle zum Ziel haben darf – der Preis wäre im Verhältnis zum Nutzen viel zu hoch. Stattdessen gilt es folglich, eine gesunde Balance zwischen Sicherheit und Freiheitsrechten zu finden. Das Ziel hat daher in der Minderung der negativen (Sekundär-)Effekte auf die Gesellschaft zu bestehen. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen tragfähige Verfahrensweisen zu entwickeln muss Gegenstand zukünftiger Arbeiten sein, die sich mit Terrorismus als Gegenstand (nicht nur soziologischer) Risikoforschung beschäftigen. Möglicherweise bieten die hier vorgestellten Gedankenskizzen dafür keine nutzbringenden Ansatzpunkte. Möglicherweise aber doch. Es bleibt spannend.
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Literatur- und Quellenverzeichnis
Bei der Zitation von Online-Quellen beschreibt das in der eckigen Klammer zuerst genannte Datum den so präzise wie möglich nachvollziehbaren Zeitpunkt der Veröffentlichung, das zweite den Zeitpunkt des Abrufs der Quelle. Bei sämtlichen Literaturangaben – sofern nicht explizit anders ausgewiesen – handelt es sich um Erstausgaben. 11. September: Chronologie der Ereignisse (2001). In: http://www.netzeitung.de/servlets/page? section=1109&item=159805 [20.09.2001/30.08.2007]. Acheson, Dean (1970): Present at the Creation. My Years in the State Departement. New York: New American Library. Ackermann, Lutz (2007): Sportcoupé mit Gebetsteppich. In: Der Spiegel, H. 3., 38. Adams, James (1986): Profit and Loss. In: The Financing of Terror, 237-252. New York: Simon and Schuster. Adler, Marcus Nathan (Hg.) (2005): The Itinery of Benjamin Tudela. Travels in the Middle Ages. New York: Nightingale Resources. al-Baradei, Mohammad (2005): Auch al-Qaida will die Bombe. In: Der Spiegel, H. 8., 116-118. Ali, Tariq (2003): Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung. Die Krisenherde unserer Zeit und ihre historischen Wurzeln. Aus dem Englischen von Gabriele Göckel et al. Erweiterte und aktualisierte Ausgabe. Kreuzlingen/München: Heyne [Orig.: The Clash of Fundamentalisms – Crusades, Jihads and Modernity. 2002]. Ali, Ayaan Hirsi et al. (2006): Gemeinsam gegen den neuen Totalitarismus. In: Focus, H. 12., 78. Al-Zawahiri, Ayman (2001): Ritter unter dem Banner des Propheten. In: Kepel, Gilles/Milelli, JeanPierre (Hg.) (2006): Al Qaida. Texte des Terrors. Herausgegeben und kommentiert von Gilles Kepel und Jean-Pierre Milelli, 352-368. München: Piper. amnesty international Deutschland (2005): Nein zur Folter. Ja zum Rechtsstaat. Für den Schutz des absoluten Folterverbots. In: http://www2.amnesty.de/internet/deall.nsf/3c7abab8 e052c42fc1256eeb004ce861/9f87934c699e9e5bc1256fb8004f3aad?OpenDocument [2005/ 29.08.2007]. Arendt, Hannah (1991): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Ungekürzte Ausgabe. 2. Auflage. München/Zürich: Piper [1. Aufl. 1986. Orig. The Origins of Totalitaranianism. 1951]. Assheuer, Thomas (2004): Fundamentalismus der Killer. In: Die Zeit 19, 41. Aust, Stefan (1998): Der Baader Meinhof Komplex. Erweiterte und aktualisierte Ausgabe. Erweiterte und aktualisierte Auflage. München: Goldmann [1. Aufl. 1985]. Baecker, Dirk/Krieg, Peter/Simon, Fritz B. (Hg.) (2002): Terror im System. Der 11. September und die Folgen. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Bakunin, Michail (1869): Die Aufstellung der Revolutionsfrage. In: Laqueur, Walter (Hg.) (1978): Zeugnisse politischer Gewalt. Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, 53-56. Kronberg/Ts.: Athenäum. Balzli, Beat/Reuter, Wolfgang (2005): Gläserne Konten. In: Der Spiegel, H. 7., 90f.
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