Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 11
Mond der Visionen von Hans Kneifel
Atlan, der unsterbliche Arkonide, m...
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Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 11
Mond der Visionen von Hans Kneifel
Atlan, der unsterbliche Arkonide, macht sich im Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) zusammen mit der geheimnisvollen Varganin Kythara auf, einem Hilferuf der Cappins aus der Galaxis Gruelfin zu folgen, die von den geheimnisvollen »Lordrichtern von Garb« bedroht werden. Doch ehe sie sich nach Gruelfin begeben können, müssen sie den Lordrichtern in der heimatlichen Milchstraße die Stirn bieten. Diese versuchen varganische Psi-Quellen für bislang unbekannte Zwecke zu missbrauchen. Um diese Umtriebe zu stoppen, beschaffen Atlan und Kythara sich einen »Kardenmogher«. Leider fehlt ein wichtiger Bestandteil, um die alte varganische Waffe voll funktionsfähig zu machen: ein Hegnudger. Eines der beiden entsprechenden Arsenale, die Sternenstadt VARXODON, ist in der Gewalt der Lordrichter. Die letzte Chance ist daher der MOND DER VISIONEN …
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Visionen quälen den Arkoniden. Kythara - Die Varganin überwacht die Reparaturarbeiten am Kardenmogher. Gorgh-12 - Der Wissenschaftler entlastet Kythara bei der Arbeit. Emion - Ein Wurm sorgt für Verwirrung.
Prolog Zu den wuchtigen Takten und Klängen der Musik aus den Sternen bewegten sich Arkoniden in einem irren Reigen, der mich vor Schreck erstarren ließ. Ungeheuerliches, dumpfes Dröhnen, das aus dem Leerraum zwischen den Gestirnen hervorquoll, vom hungrigen Sog eines Schwarzen Lochs kaum gedämpft, erschütterte den Kosmos bis hinein in meinen Körper. Meine Knochen schienen zu vibrieren. Im Gestank, der mich umwaberte, taumelten verwundete Arkoniden. Grelle, peitschende Klänge, peinigend wie Explosionen in einer Sonnenkorona, warfen zuckendes Licht auf die blutenden Tänzer, deren Gesichter Hofnungslosigkeit, Erschöpfung und Wahnsinn ausdrückten. Einige Dutzend arkonidische Männer, in jedem Alter. Jeder trug eine große, farbige Plakette. Die Männer, die nicht auf dem Boden saßen und an den Wänden lehnten, bewegten ihre Körper stolpernd im Takt der Musik, die nur wir hörten. Ich spürte die Schallwellen gegen meinen Körper prallen, wich langsam zurück und betrachtete die graugesichtigen Gefangenen. Es waren etwa hundert, und ich begrif nicht das Geringste von dem, was um mich herum vorging. Blau für Knochenbrüche, sagte eine Stimme tief in meinem Inneren, lauter als die Musik. Rot für sonstige Verletzungen. Gelb für die Verrückten. Es redete der Logiksektor zu mir. Die meisten tragen gelbe Plaketten. Die Arkoniden beachteten mich nicht. Sie befanden sich im ausschließlichen Bann des kosmischen Schrillens und Dröhnens. In einer seitlichen Halle eines hangargroßen Ge-
bäudes auf einem der zwölf Trantagossa-Planeten waren die Bedauernswerten gesammelt worden. Ich zählte zu ihnen. Meine Blicke huschten verwirrt umher; ich erwachte langsam aus meiner Schreckensstarre. Ich befand mich im Zentrum eines furchtbaren Albtraums. Der Albtraum hatte damit begonnen, dass der Maahk Grek-1 aus dem Wrack seines Schiffes heraus den arkonidischen Schlachtkreuzer beschossen hatte. Das Gefecht endete mit dem Tod des Methanatmers und der Vernichtung seines Schifs, dessen Trümmer im Staub Vassantors versanken. Dann »retteten« mich die Arkoniden, die nach dem jungen Kristallprinzen Atlan suchten. Der Seher Vrentizianex im roten Gewand und mit dem Schuppenhut. Helpakanor! Das Varganenschiff! Mein Gefährte Woogie. Etwas in meiner Nähe schrie und übertönte die Musik. »Das ist zwölftausend Jahre her!« Die blutenden, notdürftig verbundenen Arkoniden drehten sich in einem makabren Tanz. Das klirrende Schmettern und die fast subsonischen Bässe, unter deren Einschlägen die Fundamente der Halle zitterten, schwollen zu einem gewalttätigen Crescendo an. Ich vermochte mich aus der Starre zu lösen und stützte mich an der Wand hinter mir ab. Die Wirklichkeit oder ein anderer Wahnsinnstraum schien sich von allen Seiten zu nähern; die Musik riss jäh ab. Mit gleicher Gewalt wie die stellare Musik fiel die Stille über mich her. Atlan! Arkonide! Ein Traum! Eine Vision!, schrie der Logiksektor. Das Bild vor mir und um mich herum wurde heller, die gepeinigten Körper verloren ihre Konturen. Es war, als öffne ich langsam die Augen und blicke in eine völlig
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andere Welt. Als ich den Schädel, die Fühler und die großen Facettenaugen Gorghs erkannte, erkannte ich auch die neue – alte! – Umgebung. »Ich war irgendwie … abwesend«, murmelte ich und erlebte in Gedanken mit, wie das keineswegs symbolische Schwert der Ordnung in der Hand des Lordrichters aus dem Angsttraum verschwand. »Ich war auf diesem Mond Vassantor, vor endlos langer Zeit, gefangen in einer Vision.« »Und danach auf Trantagossa«, sagte eine Stimme, die mich völlig in die Gegenwart zurückholte. Kytharas Stimme. In einem hofentlich letzten rasenden Reigen zogen Gestalten, Geschehnisse und deren Bedeutungen an mir vorbei, an meinem inneren Auge, produziert von meiner fotografisch perfekten Erinnerung, und die Eindrücke davon, dass sie unveränderlicher Bestandteil meiner Vergangenheit waren, legten sich wie eisiger Sternenstaub auf meine erregten Nerven. Oder wie der Staub, der sich nach so langer Zeit auf den Resten der Raumschife und der Ruinen abgelagert hatte. Auf Vassantors eiskalten Ruinen … Ich entspannte mich, sank in den Kontursessel zurück und schlief übergangslos ein. Es war nur ein kurzer Schlaf.
1. Im Gefüge des Kardenmoghers 24. Mai 1225 NGZ; nach Mitternacht Zum zweiten Mal riss mich eine Folge seltsamer, undeutbarer Geräusche aus einem kurzen, abgrundtiefen Schlaf. Schon einmal, vor mehr als einer Stunde, schienen Millionen positronischer Ameisen, Bohrkäfer und geisterhafter Wesen mit klirrenden Werkzeugen im beschädigten Inneren des varganischen Konstrukts gewütet zu haben. Ich brauchte nur wenige Atemzüge, um wieder klar zu denken; ein einziger Blick überzeugte mich, dass auch Kythara unruhig geworden war. »Schon wieder!«, sagte sie kurz und richtete sich auf. Wir trugen bequeme Bordklei-
dung, lagen in Kontursesseln im halb abgedunkelten Zentrum des säulenförmigen Kardenmoghers und hatten gedacht, nach der Flucht von der Sternenstadt VARXODON und dem anschließenden Kampf einige Zeit die relative Ruhe im Raumschiff genießen zu können. Wir hatten sie dringend nötig. »Wenn ich dieses Geräuschchaos deuten sollte, dann …« »Deute es!«, forderte ich sie leise auf. Immerhin flogen wir mit einem beschädigten Gerät durch den Hyperraum, auf der Flucht vor den Schiffen der Lordrichter, und Kythara war am besten mit den technischen Eckdaten des Kardenmoghers vertraut. »… würde ich mit einiger Sicherheit sagen: Es klingt, als würden sich nacheinander große Teile und Abschnitte des Gerätes selbständig halb auflösen, dann umbauen, umgruppieren und neu konfigurieren.« »Kein Widerspruch von mir, Kythara«, antwortete ich und konzentrierte mich darauf, zuzuhören und den Lärm zu identifizieren. Ich wartete auf eine Frage, die ähnlich derjenigen des Extrasinns direkt in meinem Verstand erklang; Kythara war wie alle Varganen in der Lage, ihre Gedanken zielgerichtet telepathisch zu übermitteln, nutzte diese Gabe aber nur selten, da sie andererseits keine wortgenauen Gedanken anderer wahrnehmen konnte. Ich lauschte dem besorgniserregenden metallischen Klicken und Knirschen, dem andauernden wispernden Prasseln, den kurzen, harten Schlägen, wie von Hämmern auf Ambossen, und dem hin und wieder ertönenden Summen, das mit hochfrequenten Vibrationen einherging; eine Kakophonie alarmierender Laute. Kythara schob mit beiden Händen ihre goldgelockte Mähne in den Nacken, schwang sich aus dem Sessel und sagte: »Es wird sich vielleicht zeigen, was in diesem Vehikel vor sich geht. Mein Vertrauen in die Langlebigkeit und Zuverlässigkeit varganischer Hochtechnik wurde in letzter Zeit arg strapaziert.« Wir waren ein seltsames Team: zwei menschenähnliche Unsterbliche, ein insek-
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toider Wissenschaftler und ein Wurm, dessen Talente umfangreich schienen und uns trotzdem allen unbekannt waren, ihn selbst eingeschlossen. Wir waren auf der Flucht. Die Truppen der Lordrichter von Garb hatten uns verfolgt, als wir von der Sternenstadt geflüchtet waren. Binnen knapp 48 Stunden gelang es uns, die Verfolger abzuschütteln. Der Kardenmogher war keineswegs voll funktionstüchtig, das wussten wir. Aber jeder von uns zuckte zusammen, wenn wieder dieses schwer zu definierende Geräusch durch die umgestalteten Wände in eine der Kabinen oder in die Zentrale eindrang wie eine akustische Drohung aus dem Hyperraum. Selbst du kannst weder diese Geräusche unterbinden noch die Entwicklung beeinflussen, stellte der Logiksektor sachlich fest. Ich konnte nicht widersprechen; die Situation blieb brüchig, und die unmittelbare Zukunft war voller offener Fragen. Und obwohl ich eigentlich satt, ausgeruht und ausgeschlafen war, empfand ich unsere Situation, als umhülle eine klebrige Nebelwolke meinen Verstand, meine Reaktionsbereitschaft und alle meine Gedanken. Ich war müde, träge, unwirsch. Spätestens nach der albtraumhaften Vision, die aus einem kosmischen Irrenhaus hätte stammen können. Was konnte ich dagegen tun? Nichts. Wirklich nichts? Nur: WARTEN? Abwarten, den Flug nach Vassantor beenden und hoffen, dass sich dort die Umstände änderten? Nichts anderes bleibt dir übrig, bekräftigte der Logiksektor in düsterer Prophezeiung. Es wird nicht die einzige Einschränkung dieser Art in deinem Leben bleiben. Ich senkte den Kopf und richtete meinen schläfrigen Blick auf Kytharas Profil. Auf ihre 800 Jahrtausende alten Gesichtszüge. Außer faszinierender Schönheit vermochte ich nichts daraus herauszulesen.
* Bevor Kythara, Gorgh-12, Emion und ich
versucht hatten, ein wenig Ruhe zu finden, hatten Kythara und ich sämtliche Holos peinlich genau kontrolliert. Der KyriÜberlicht-Antrieb, der einen direkten Flug durch den Hyperraum erlaubte, war auf eine Geschwindigkeit von nur fünf Millionen beschränkt, also auf knapp 750 Lichtjahre pro Stunde. Wir hatten die rund 25.000 Lichtjahre, die Vassantor von der Sternenstadt trennten, trotz dieser Einschränkungen bereits fast völlig zurückgelegt, als uns die Geräusche zum ersten Mal beunruhigten. Jede Ortungsunterbrechung und jeder Orientierungsstopp hatte uns gezeigt, dass wir den richtigen Kurs flogen. Das Ziel: Vassantor! Ich hatte mich im Halbtraum, in der Dämmerzone zwischen Schlaf und Wachen, an Vassantor erinnert. Etwas mehr als 3450 Kilometer Durchmesser, unterwegs auf einer lang gestreckten Ellipse von nahezu zweieinhalb Milliarden Kilometern Aphel und etwa 136 Millionen Kilometern Perihel. Tief begraben und überlagert von anderen Sedimenten der Erinnerungen lagen die halb vergessenen Erlebnisse auf dieser atmosphärelosen Welt, Erinnerungen an meine Jugend und an eine Hand voll Freunde und Feinde aus dieser Zeit. Von dort quollen auch Visionen durch die Ritzen des Vergessens, die ich lange vor der ersten Landung gehabt hatte, an jene Zeit vor zwölf Jahrhunderten. Der irreguläre Mond Vassantor! Eine äquatornahe Rundfläche, ein uralter, ausgedehnter Krater mit einer zentralen Erhebung. Und ganz plötzlich wurde ich unsicher, woran ich mich wirklich erinnerte. Der Extrasinn raunte drängend: Wenn es denn sein muss … denke eine Ebene tiefer! In Wirklichkeit erinnerst du dich an eine Schicht, die von den Ablagerungen einer Kette wirklicher Erlebnisse und Geschehnisse überdeckt wurde! Ischtar und die Maahks sind die Bezugspunkte! Sie führen dich bis ins Jahr 10.498 da Arkon zurück! »Ja!«, ächzte ich. »Ich erinnere mich …« Bevor ich je den Mond Vassantor gesehen und betreten hatte, war ich von Visionen ge-
6 nau dieses Schauplatzes heimgesucht worden. Der geheimnisvolle Mond! Die Bilder, die ich sah, nachdem das Schiff – damals! – gelandet war, waren identisch mit denen in meiner Vision. Fartuloon! Grek-1! Ischtar und die prachtvolle fremde Stadt innerhalb des Ringgebirges, südlich des Äquators, umgeben und wie durch Mauern geschützt von glatt geschliffenen Bergen, die bis zu 2800 Meter hoch waren! Eindrücke überfluteten mich, und ich erlebte die Verblüffung ein zweites und drittes Mal, als ich mich daran erinnerte, dass die Wirklichkeit meiner Vision entsprach. Damals hatte ich mein wenig rationales Verhalten mit einer flüchtigen Droge im Luftumwälzsystem des Maahkraumers in Verbindung gebracht. »Es ist so lange her«, murmelte ich, atmete tief ein und aus, betrachtete wieder einige Augenblicke lang meine unsterbliche Gefährtin und redete schließlich unvermittelt weiter, halb erzwungen, halb erleichtert. Kythara schien gespürt zu haben, dass ich das Wort an sie richtete. Sie hob ihre Blicke von den Kontrollen der Steuerzentrale. »Du sollst es wissen, Kythara. Es ist kein Geheimnis, keine negative Erinnerung, aber ich will uns vor dem Betreten des Kraters warnen. Noch bevor wir auf Vassantor landen.« »Krater? Erinnerungen aus deiner Jugend, die nachweislich weit zurückliegt?«, erwiderte sie ein wenig ironisch. Ich nickte. »Weniger weit als deine«, antwortete ich grinsend. »Ich habe, bevor ich in meiner Jugend auf Vassantor landete, eine starke Vision dieser kleinen Welt gehabt. In der Vision war ich auf einer blühenden Welt voller Farben und prächtiger Gebäude, in hellem Licht und langen, kühlen Schatten. Unter der fein modellierten Oberfläche, die dem Blick schmeichelte, verbargen sich zahlreiche Hohlräume; ein sublunares Reich voll von unbekannten Bedeutungen.« Ich fühlte das zaghafte Tasten von Kytharas telepathischer Frage in meinem Hirn. Der Logiksektor schwieg. Einen langen Au-
Hans Kneifel genblick schwindelte mir, dann hatte ich in meinen Erinnerungen eine einigermaßen klare Struktur gepackt und konnte sie in zeitliche Übereinstimmung bringen. »Unser Sohn Chapat. Ischtars und mein ungeborener Sohn. Er befand sich in einem Überlebensbehälter und wurde in die Eisige Sphäre der Varganen entführt.« Ich bemühte mich, die Geschehnisse in meinen Erinnerungen nicht zu werten und niemandem moralische Schuld zu geben. Es war so unendlich lange her, und nichts daran war zu ändern. »Ich war danach in die Fänge des Henkers Magantilliken geraten, und schließlich hatte es mich als jungen Kristallprinzen per Transmitter auf die Welt des psibegabten varganischen Sehers verschlagen, jenes Vrentizianex, von dem ich damals schon gehört hatte; Ischtar hatte von ihm gesprochen. Er, der Mondschattenpriester, war bestraft worden, weil er Dinge sah, die er nicht hatte sehen dürfen.« »Sprich weiter«, flüsterte Kythara. »Der Ausdruck Mondschattenpriester – erzähle mir mehr davon. Du hilfst mir, mich besser zu erinnern.« Ich richtete meinen Blick auf das Holo, das uns in wenigen Ausschnitten die unglaublichen Vorgänge und die Geschwindigkeit zeigte, in der sich der Kardenmogher in seinem rätselhaften Inneren selbst neu organisierte. Kythara hatte die Vorgänge weder anhalten noch beeinflussen können. Die Ortungsholos blieben ohne Echos, die Normaloptik offenbarte uns die grau marmorierte Struktur des Hyperraums. Die Geräusche nahmen nicht an Lautstärke, aber an bedrohlicher Bedeutung zu. Ja. Rede mit Kythara, riet der Logiksektor mit Nachdruck. Noch unterliegst du nicht dem Sprechzwang. Je mehr du dich freiwillig von den Erinnerungen befreist, desto später setzt der Zwang ein! Ich begann zögernd zu sprechen: »Vrentizianex war Angehöriger eines kleinen varganischen Stammesverbandes, der bei euch, den Varganen der frühen Jahrhunderte, wenig beliebt war. Viele dieses Stam-
Mond der Visionen mes zählten zu den so genannten Mondschattenpriestern. Sie verkörperten die Macht oder zumindest einen Teil davon: jenen, der sich auf paranormale Fähigkeiten stützte, die stärker waren als die varganische Norm.« Ich hob beide Fäuste an meine Augen. »Einige besaßen besondere Fähigkeiten. Die ursprünglichen Augen des Kyriliane-Sehers waren weißgelb, so groß wie die Fäuste eines Kindes und von vielen Äderchen durchzogen, und sie schienen gedankenschnell auf Wanderschaft durch das ganze Universum gehen zu können: Wo immer er etwas sehen wollte, was er zu sehen begehrte – er sah es. Weder die Helligkeit einer Sternoberfläche noch hochkomplexe Schutzfelder hinderten ihn.« »Das weißt du alles von Ischtar?«, fragte Kythara. »Ja. Und noch mehr. Er muss etwas gesehen haben, was niemand sehen durfte. Er brach das ›Große Tabu‹. Ich weiß nicht, was es war. Die Varganen nahmen ihm seine großen, kugeligen Augen und setzten ihm dafür Kristalle ein. Sie sorgten dafür, dass er jene wunderbaren Augen, die im Baum der Erinnerung versteckt wurden, niemals erreichen konnte. Der Baum wuchs auf Zercascholpek.« »Das Ende dieser Geschichte kenne ich«, unterbrach Kythara. »Vrentizianex, so wurde beschlossen, sollte tausend Tode sterben und zuvor die grausamsten Leiden erdulden. Er war, wie wir alle, unsterblich. Also stießen ihn die anderen aus und verbannten ihn, als sich die meisten Varganen in den Mikrokosmos zurückzogen …« Achthunderttausend Jahre vor der terranischen Zeitrechnung!, ergänzte der Extrasinn, während Kythara weiterredete, ebenso im Bann der Erzählungen aus alter Zeit wie ich selbst: »… verbannten ihn auf die Welt Helpakanor, wo er im Lauf einiger Jahrtausende wahnsinnig wurde. Die endlos lange Zeit, die Einsamkeit und mehrere varganische Thronsessel, die mit seinen Kristallaugen und untereinander in besonderer para-
7 mechanischer Verbindung standen – wo immer sich der Seher in seiner einsamen Station auch befand, folterten ihn seine Gedanken und Erinnerungen. Er hatte nicht die geringste Chance, jemals wieder normal denken und empfinden zu können.« Ich musste mich an der Rückenlehne des Kontursessels festhalten. Ich starrte Kythara an und sagte: »Und als ich mich auf einen dieser Thronsessel setzte, wurde ich fast überwältigt. Mit Hilfe meiner DagorSchulung und des Extrasinns konnte ich mich gerade noch losreißen. Ohne dass ich es damals merkte, müssen einige der Erinnerungen jenes unglückseligen Sehers auf mich übergeflossen sein. Damals, als junger Kristallprinz …« Und deine allerersten Visionen von Vassantor hast du diesem Erlebnis zu verdanken!, rief der Logiksektor. Flüchtige Bilder und Szenen fügten sich zu dichteren Sequenzen zusammen. Ich dachte an den Seher Vrentizianex; Kyriliane bedeutete alles, das Ganze, und ich vergegenwärtigte mir, welche Todesangst ich im Bann des Thronsessels empfunden hatte. Ich erlebte den Tod des Sehers mit, und aus den Visionen an Bord der Maahkwalze wurde Wirklichkeit; sehr viel später. Die folgenden Geschehnisse waren fast ein Déjàvu-Erlebnis. »Ich erlebte kurz darauf auf Vassantor mit, wie sich Maahks und Arkoniden gegenseitig umbrachten. Aber das hatte ich zuvor schon … geträumt; deswegen konnte ich flüchten.« Kythara schien Vassantor oder zumindest die schüsselartige Landschaft der varganischen Siedlung aus einer weitaus ferneren Vergangenheit sehr viel besser zu kennen als ich oder ein anderer Arkonide; ich vermutete es, seit sie das Ziel des Fluchtkurses genannt hatte. Während sich um uns herum Wände, Hohlräume, Leitungen und technische Funktionen weiterhin lautstark veränderten, überlegte Kythara eine Weile stumm, dann nickte sie und versicherte mir: »Ich glaube dir. Was hast du damals sonst noch gesehen und erlebt?«
8 »Ich hatte die Vision einer prächtigen, belebten Stadt und anderer Anlagen. Als ich dann gelandet war, sah ich, dass es dort vielleicht vor Äonen eine Stadt gegeben haben mochte; die Kraterebene, keine 20 Kilometer im Durchmesser, war von Staub und Schotter erfüllt, aus dem Boden stiegen Gasfontänen, und irgendwo hinter dem Ringgebirge hing eine kalte weiße Sonne. Gebäudereste sah ich, sternförmig angelegte breite Straßen … Alles schien mehr als uralt zu sein. Was auch, nachdem so viele Jahrtausende vergangen waren, durchaus logisch ist.« Kythara sah mich abwartend an. Schließlich fasste sie zusammen: »Der Hegnudger befindet sich irgendwo auf diesem einst namenlosen Mond, den du nach visionären Erlebnissen betreten und in geringem Umfang erforscht hast. Wir müssen ihn finden. Richtig?« »Zutreffend«, antwortete ich. »Wenn ich meine damaligen Erlebnisse zum Maßstab nehme, müssen wir damit rechnen, dass unser Ziel durch zahlreiche gefahrvolle Elemente aus ferner Vergangenheit geschützt wird. Deine Erinnerungen reichen sehr viel weiter als meine. Also wirst du, wenn du dich erinnerst, mehr über Vassantor wissen als ich. Ohne es zu wollen, sind wir in ein Geflecht eingetaucht, in das wirre Gefüge einer Zeitodyssee, die bis in die Vorzeit der Galaxis zurückreicht.« Ich lächelte nicht, als ich den Satz beendete. »In eine Zeit, in der selbst du noch nicht geboren warst.« »Vassantor gehört auch in diese Zeit«, antwortete sie ruhig. »Dass wir dorthin fliegen müssen, ist der Beweis dafür.« Ich schloss die Augen und überließ mich wieder einige Atemzüge lang meinen Erinnerungen. Wahrscheinlich lagen die Wracks des Maahkraumers, eines Diskus und anderer Fahrzeuge unverändert seit einer Ewigkeit an Ort und Stelle, vom Staub der Jahrtausende bedeckt. Sie – und möglicherweise das Hegnudger-Zusatzelement für unseren Kardenmogher. »Ich schalte auf die Beobachtungsmodu-
Hans Kneifel le«, kündigte Kythara an, deren dunkle Stimme ihre Beunruhigung erkennen ließ. Gorgh-12 schien gespannt zuzuhören, aber er richtete seine Aufmerksamkeit auf das Saqsurmaa, durch dessen dicken Wurmkörper ab und zu ein Zucken lief. Ich nickte Kythara zu. Die Geräusche, die scheinbar ungefiltert durch die metallenen Wände drangen, rissen nicht ab, aber veränderten sich unentwegt.
* Den Bildern und Sequenzen fehlten Schärfe und Klarheit. Meine Gedanken verhakten sich nutzlos in Details, die eher meiner persönlichen Betroffenheit als allgemein hilfreichen Informationen geschuldet waren. Obwohl ich mich von Minute zu Minute deutlicher an Vassantor erinnerte, in dessen Ruinen und Relikten angeblich der Hegnudger zu finden war, blieb mein Optimismus gedämpft. »Es arbeiten nicht nur die SelbstreparaturMechanismen«, sagte ich, während sich in dem »Mitteldeck« der vormaligen goldenen Energieblase ein Hologramm nach dem anderen aufbaute. Die bläuliche Metallsäule war vielleicht kurz nach der Flucht noch von den Truppen der Lordrichter von Garb verfolgt worden, aber wir schienen im Hyperraum alle Verfolger abgeschüttelt zu haben. »Irgendwie hört sich der Lärm so an, als ob das Allzweckgerät tatsächlich am Ende seiner Leistungsfähigkeit angekommen wäre.« Der Kardenmogher, den wir als Raumschiff benutzten, vom Varganen Ezellikator vor einer Ewigkeit erbaut, schien eine derart große und schwierig zu manipulierende Anzahl von Sicherheitskodes zu enthalten, dass Kytharas Schaltungen und Befehle die Metallröhre nicht völlig unter Kontrolle bringen konnten. »Schwierigkeiten!«, stellte Kythara fest. Gorghs flimmernde Facettenaugen schienen uns und gleichzeitig die gesamte Umgebung zu beobachten; seine Mandibeln bewegten sich unruhig. Das leise Knistern, das
Mond der Visionen jede Bewegung des Insektoiden erzeugte, ging im Lärmen des Kardenmoghers unter. Signale und Anzeigen breiteten sich vielfarbig blitzend in den Hologrammen aus. Die Geräusche aus allen Teilen der sechzig Meter langen Stahlsäule nahmen abermals an Intensität und Lautstärke zu. Das Knistern, Klicken und Summen, das Klacken und Klirren wurden unerträglich laut. Ein Schütteln schien den Walzenkörper zu durchlaufen, als litte der Kardenmogher unter dreidimensionalem Fieber. Der Logiksektor wisperte: Es wird gefährlich, Arkonide! Wach aus deinen Erinnerungen auf! Noch während Kythara schaltete und ihre Befehle in winzige Mikrofone flüsterte, fiel der Kardenmogher aus dem Hyperraum. Unvermittelt, ohne Signal, mit beängstigender Plötzlichkeit zeigte das große Holo wieder die überwältigende Pracht des Sternenhimmels. Auf dem Rundum-Holo erschienen Sterne, Gaswolken und Staubnebel des Normalraums. Kythara wirbelte herum, hob die Hand und rief: »Das passierte ohne mein Zutun, Atlan!« »Verstanden«, sagte ich, zutiefst beunruhigt. Scharf wie eine glühende Nadel drang ihr plötzliches Erschrecken in mein Bewusstsein. »Wir sind noch immer auf dem Flug nach Vassantor. Und was geschieht nun?« »Hier verändert sich eine ganze Menge!«, keuchte sie nach einem Blick auf die Anzeigen. »Alles verändert sich irgendwann«, entgegnete ich sarkastisch, da mir diese Auskunft nichts brachte. »Geht's etwas genauer?« »Gern«, gab sie kaum weniger bissig zurück. »So viel Zeit muss schließlich sein, nicht wahr? Hier, in den drei großen Holos, sehen wir einen Prozess der Umgestaltung, eine Art Wunder, das seinen Ursprung in der fernen Vergangenheit hat.« »Ach was?«, meinte ich nur und beschloss, dass mir nur die persönliche Inau-
9 genscheinnahme wirklich hilfreich sein würde. Unabhängig von der Warnung meines Extrasinns war ich fast sicher, dass unsere Flucht einen sehr kritischen Punkt erreicht hatte. Um mich herum bildeten sich Sterne, Dunkelheit, farbglühende Staubwolken und Filamente ab, glimmende und verwirrend schöne Teile des normalen Weltalls. Im schwachen Licht eines Sterns, der sich halb hinter dem Rand einer Energiespirale verbarg, sahen Kythara und ich zu, wie sich der Kardenmogher äußerlich veränderte, wie er in erstaunlich großer Geschwindigkeit seine Form und sein Aussehen wechselte. Er baute sich sozusagen selbst um. Er änderte, mehr und deutlicher von Sekunde zu Sekunde, seine innere Struktur und seine äußere Form. Der Kardenmogher, der bisher einer bläulich schimmernden Säule mit vielen Kannelüren glich, mit fünfzehn Metern Durchmesser und einer Länge von sechzig Metern, schob sich entlang der Längsachse langsam zusammen. Genau in der Mitte begann er sich symmetrisch auszubeulen und eine Form anzunehmen, die zwei Kegelzahnrädern mit je 24 Zacken oder Zähnen zu gleichen begann, die sich mit der größeren Rundung gegeneinander pressten. Die Basisform, so, wie wir sie vor einer Stunde noch gekannt hatten, gab es nicht mehr. Ofensichtlich ist das der Ausdruck einer zweiten Aktivierung!, bemerkte der Logiksektor. Ich betrachtete schweigend und staunend den Vorgang im Hologramm, das von den Außenobjektiven gespiegelt wurde. Bei der »ersten« Aktivierung auf Parkasthon, wo Kythara zunächst EzellikatorErkennungskodes eingespeist und ich in der letzten Sekunde mit dem Ruf »Dapsorgam!« uns als berechtigte Insassen und Kommandanten des Kardenmoghers ausgewiesen hatte, war die Außenhülle in erschreckender Plötzlichkeit völlig umgeformt worden. »Dapsorgam!« war das letzte Wort des Saqsurmaa gewesen, bevor es seine vier Stielaugen geschlossen hatte und jäh eingeschlafen – und bis jetzt nicht wieder aufgewacht –
10 war. Kanzeln und Vorsprünge waren hervorgewuchert, an anderer Stelle erschienen klaffende Löcher, Risse und Öffnungen, Beulen und stachelförmige Auswüchse; dieses uralte, erstaunliche Gerät, dessen Waffen mühelos die Bevölkerung ganzer Planeten auslöschen oder riesige Städte wie aus dem Nichts entstehen lassen konnten, war und blieb ein einziges Rätsel der varganischen Technik. »Der Kardenmogher gestaltet sich völlig um«, wiederholte Kythara nach einigen Minuten. Ihr schmales, goldfarbenes Gesicht zeigte deutliches Erstaunen, fast Verwirrtheit. »Dieser wahnwitzige Ezellikator! Bevor er sich umgebracht hat, scheint er alle seine Verrücktheiten in dieses … Ding hineinkonstruiert zu haben.« Der Vargane hatte die Droge benutzt, das Krachtyl, um sein Bewusstsein gezielt von der körperlichen Hülle in den »sanften Tod« überzuführen, in Varganisch als »Freisetzung ins Kyriliane« bezeichnet. Wahrscheinlich hatte seine Verwirrtheit, sein geniehafter Wahnsinn, in der Konstruktion des Kardenmoghers ihren Höhepunkt erreicht. Offensichtlich hatten seine Sicherheitskodes auch diese drastische Veränderung des halb defekten Geräts ausgelöst. Der Kardenmogher schien jetzt kaum länger oder höher als 35 Meter zu sein; der Durchmesser näherte sich 45 Metern. Ich hörte Kythara reden, verstand aber ihre leisen Worte nicht. Augenblicklich erwiderte die Bordpositronik: »Die Mechanismen der Selbstreparatur haben die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit erreicht. Die technischen Funktionen können kaum noch sichergestellt werden.« Ich fing Kytharas alarmierten Blick auf und beruhigte sie: »Wir sollten uns nicht selbst in Panik versetzen. Versuche festzustellen, wie lange das Gerät noch für seine Umorganisation braucht. Wir können noch immer die ATLANTIS zu Hilfe rufen.« Kythara nickte und deutete auf das verwirrende Spiel der Anzeigen und Holos. Aus
Hans Kneifel unsichtbaren Lautsprechern meldete die Bordpositronik: »Die Umgruppierung ist bald beendet. Aber der Mechanismus wird das Ziel nur mit letzter technischer Kraft erreichen können. Ohne die dringend benötigte Unterstützung von außen, also den Einrichtungen auf Vassantor, der Zielwelt, ist die finale Havarie so gut wie vorprogrammiert.« Eine Erklärung, die du akzeptieren solltest, riet mir der Extrasinn mit Nachdruck. Kythara und ich wechselten einen Blick des Verständnisses. Gorgh beugte sich zu Emion hinunter. Das Wesen, einst der persönliche Adjutant Litraks, machte keine Anstalten, aus dem Dauerschlaf aufzuwachen, aber der schlauchförmige Körper zuckte bisweilen wie eine albträumende Schlange. »Wir schaffen es bis zum Ziel«, sagte Kythara. »Knapp zweihundert Lichtjahre weit bis zur Sonne Vassantors.« »Ich weiß.« Als sich der Kardenmogher zum ersten Mal aktiviert hatte, war das Innere der Säule von einem funkelnden, blitzenden und knisternden Irrgarten erfüllt gewesen, von einem dreidimensionalen Wirrwarr vielfach verästelter Energiefäden, das den holografischen Funktionsdarstellungen eines arbeitenden Gehirns in intensiver Denktätigkeit glich. Aus der Hohlblase des Säulenzentrums hatten sich inzwischen Decks aus scheinbar massiver Formenergie gebildet, in denen Kytharas Schaltungen einige Kabinen, eine Steuerzentrale, Schotten und jene Einrichtungen geschaffen hatten, wie sie jedes Raumschiff aufwies. Im Zentrum der seltsamen Maschinerie schien sich nichts verändert zu haben. Nur Emion, das Saqsurmaa, zuckte träumend mit den Augenstielen. »Es wird Zeit, dass wir diese unwillkommene Unterbrechung beenden«, sagte Gorgh und raschelte mit seinen Gliedmaßen. »Mein Beitrag dazu wäre indifferent. Kannst du denn nichts dagegen tun, Kythara?« Kythara deutete in einer halbkreisförmigen Geste auf die Holoprojektionen. »Ich versuche alles, was mir einfällt. Offensicht-
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lich geht es nicht schneller …« Irgendwo im technischen Gefüge des Kardenmoghers entstand ein feines Sirren, aus dem sich ein schrilles Summen entwickelte, das lauter und schneidender wurde und in ein sägendes Heulen überging. »Das Kyri-Triebwerk!«, rief Kythara, deren schlanke Finger über die Sensorfelder huschten. Das letzte Bild zeigte uns die neue Version des Kardenmoghers: Der doppelte 24-zackige Kegelstumpf veränderte seine 35 Meter hohe Außenhülle nicht mehr. Wir fühlten es nicht, aber es schien ein Ruck durch die Konstruktion zu gehen. Das Raumschiff beschleunigte plötzlich. Immerhin eine neue, bisher unbekannte Form. Wir kennen Kugeln, Walzen, Quader und ein Dutzend andere Formen, nicht wahr, Arkonide? Nun, als varganisch gegenwärtige Form fliegen wir in einem doppelten Kegelstumpf mit tiefen Kühlrippen oder dergleichen. Mein Extrasinn schien mit der Entwicklung zufrieden zu sein. Hatte er die Veränderung erwartet? Ich wandte mich an Kythara und fragte: »Wie lange dauert der Hyperraumsprung nach Vassantor?« »Knapp drei Stunden bis in Sonnennähe. Warum fragst du?« »Weil ich in dieser Zeit in meinen Erinnerungen graben, Teile davon neu sortieren und verschiedene Stränge verknüpfen werde. Vassantor gehört unveränderlich zu meinem früheren Leben; was uns dort erwartet … Vielleicht kann ich verhindern, dass wir uns ins Verderben stürzen.« »Ein vernünftiger Entschluss«, antwortete sie ruhig. »Ich werde das Gleiche versuchen. Wir sind wieder auf Kurs.« Ich nickte ihr zu, setzte mich und streckte mich im Sessel aus. Etwa 180 Minuten lang hatten wir Zeit, die Gegenwart, die ferne und nähere Vergangenheit und, vielleicht, einen winzigen Teil der nahen Zukunft miteinander zu verknüpfen und in eine Form zu bringen, die wir verstehen konnten.
2.
Landung auf Vassantor 24. Mai 1225 NGZ, früher Morgen Nachdem ich ungefähr eine Stunde tief und erholsam geschlafen hatte – ein Luxus, den ich mir trotz meines Zellschwingungsaktivators gönnte, der lediglich die körperlichen Befindlichkeiten regenerierte –, beobachtete ich Kythara aus halb geschlossenen Augen. Die schöne Varganin wirkte, als kenne sie jede Sekunde unserer Zukunft und sämtliche Gefahren, die uns unter der Oberfläche Vassantors und auf dem Weg zur PsiQuelle erwarteten. Während unser seltsames Raumfahrzeug die kurze, letzte Hyperraumetappe durchraste, war der für uns beobachtbare selbständige Umbau der Strukturen zu einem Ende gekommen. Die Geräusche hatten aufgehört, die Holoprojektionen zeigten erstarrte Flächen und technische Einrichtungen in den Farben seltsamen Dämmerlichts. Keine der Projektionen ließ irgendeine Bewegung erkennen, ich sah keine umherschwirrenden Mikromodule oder Ähnliches. Es war wie die Ruhe nach – oder vor? – dem Sturm. Kythara saß, umgeben von dem fremdartig wirkenden Luxus der Einrichtung, beobachtete konzentriert die Kontrollen, scheinbar immer noch die Übersicht behaltend. Bilderfolgen, zeitlupenhaft und verwaschen, schwebten durch meine Gedanken. Die Erinnerung an die Visionen und die fotografisch genaue Erinnerung an die tatsächlich erfolgten Geschehnisse hatten mich zwar innerlich aufgewühlt, aber keine Verwirrung und keinen Verlustschmerz zurückgelassen. Ich bemerkte das Fehlen Emions und Gorghs; der kleine insektoide Chefwissenschaftler von Maran'Thor hatte sich samt seinem Schützling wahrscheinlich in die Kabine zurückgezogen. Ich aktivierte meinen Monoblock; wieder einmal fühlte ich die Faszination dieser Frau. Die Tatsache, dass Kytharas aufregender junger Körper unsterblich war und einen fast unvorstellbar viel älteren Geist als meinen eigenen barg, war wie ein Schlüssel zu
12 all diesen verwirrenden Ereignissen. Jeder, der aus der fernen Vergangenheit kommt, trägt das Wissen von Jahrtausenden. Kythara ist fraglos fähig, dieses Wissen anzuwenden. Auch sie kann sich irren; eher unwahrscheinlich, aber denkbar, da sie nicht augenblicklich über jede ihrer Erinnerungen perfekt verfügen kann. Sie kennt Vassantor aus einer Zeit, als das Universum der Varganen noch jung war. Bereite dich auf überraschende Einsichten vor, Arkonide!, wisperte belehrend der Logiksektor. Ich stimmte innerlich zu und sah erfreut und halb bewundernd, wie sich Kythara bewegte. Mit graziöser Gelassenheit und der absoluten Sicherheit, in Jahrtausenden erworben. Wie viele Erlebnisse, Begegnungen, Kämpfe und Liebhaber, Höhepunkte und Enttäuschungen kannte dieser uralte Körper? Ich entsann mich einiger Liebesnächte, die Ischtar und ich geteilt hatten. Ich grinste innerlich: Wie die Goldene Göttin Ischtar war auch Kythara eine faszinierende Frau, gegenwärtig meine Missionspartnerin, eine lebende, wenn auch problematische Auskunftei, was einen Teil des Universums betraf. In einigen Holoprojektionen änderten sich blinkend Farben und Formen. Der Kardenmogher beendete die Hyperraumetappe und fiel vibrierend in den Normalraum zurück. Als habe Kythara trotz meiner Sperre mindestens die Hälfte meiner Gedanken erraten, drehte sie sich zu mir herum und sagte leichthin: »Wir sind im Zielgebiet, Atlan.« Ich sprang auf und sah zu, wie die Ortung binnen kürzester Zeit die Bilder der dreidimensionalen Umgebung stabilisierte, die kleine weiße Sonne suchte und fand und eine lang gestreckte Bahnellipse definierte. Es dauerte nur Minuten, bis auf der haarfeinen Spur im Ortungsholo der Irrläufer auftauchte. Der Kardenmogher änderte fast lichtschnell den Kurs, bremste kontinuierlich ab und bewegte sich dabei auf den weißen Mond zu, der von dem winzigen Gestirn in hartem Weiß halb ausgeleuchtet wurde. Vassantor befand sich auf dem Kurs zur Son-
Hans Kneifel nennähe, etwa ein Drittel vom Scheitelpunkt der Bahn entfernt. Wir hatten also trotz der Beschädigungen die letzte Hyperraumetappe sehr zuverlässig durchgeführt und beendet; ich atmete erleichtert auf. Nachdem ich die Darstellung mit meinen Erinnerungen verglichen und minutenlang die Ortungsdaten und die Messergebnisse studiert hatte, bestätigte ich unser Ziel: »Wir fliegen tatsächlich Vassantor an. Ich erkenne den kleinen Irrläufer-Planeten wieder. Planet oder Mond – in jedem Fall ohne Oberflächenbewuchs, ohne Lufthülle, eiskalt; vielleicht messen wir etliche kalte Gaseruptionen an. Die Oberfläche scheint völlig von kosmischem Staub bedeckt zu sein.« »Was nicht für unsere Erinnerungen gilt«, antwortete Kythara lächelnd. »Uns wird das Suchprogramm zu dieser Kraterebene hinführen. Ich kenne sie aus einer bezaubernden Frühzeit. Deine Vision hat sie dir grün, als gestaltete Landschaft und bewohnt gezeigt. Deine Abenteuer aber fanden vor zwölf Jahrtausenden in kosmischer Wüstenei statt.« Ihre Blicke wechselten zwischen den Holos der Außenkameras und meinem Gesicht. »Welch ein einzigartiger Platz.« »Der dreifach aufregend ist: durch dich, aufgrund der uns harrenden Abenteuer und der Notwendigkeiten, die uns hierher geführt haben«, sagte ich und verbeugte mich knapp. »Auf dem Weg zur Psi-Quelle, zum Schwert der Ordnung der verdammten Lordrichter. Vor Jahrhunderttausenden war hier der Kosmos noch ganz ohne Klinge der Jurisprudenz in Ordnung.« Mit einem schlanken Zeigefinger wies Kythara auf die Projektion, die sich wie ein riesiges Panoramafenster vor uns ausbreitete. In geringer Entfernung von der Oberfläche begann der Kardenmogher den Mond zu umkreisen und tauchte in den Schatten ein. Die grauweiße Oberfläche des großen Mondes oder kleinen Planeten zog als grafisches Muster aus Ebenen, Kratern, hellen Flächen und rußschwarzen Flächen unter dem Kardenmogher vorbei. Irgendwo dort unten mussten wir das Hegnudger-Zusatzteil fin-
Mond der Visionen den, um mit dem voll funktionsfähigen Kardenmogher gegen die Psi-Quelle vorgehen zu können. Kytharas bisheriges Verhalten ließ mich vermuten, dass sie über die Bedeutung des Mondes sehr viel mehr wusste als ich und als sie bisher berichtet hatte. »In meiner Erinnerung geistern ziemlich dramatische Vorfälle herum«, bemerkte ich nachdenklich und sah zu, wie die Bilder und Schatten der Oberfläche Vassantors deutlicher wurden. Vor einigen hunderttausend Jahren war der Mond aus der Bahn um einen Riesenplaneten gerissen worden und seitdem als Irrläufer auf einer weiten Ellipse unterwegs. »Damals, als die Station des Vrentizianex und sein Raumschiff entdeckt wurden. Von den Maahks …« »Erzähl's mir«, bat Kythara und legte die Hand auf meine Schulter. »Vielleicht kann ich deine Erinnerungen ergänzen.« »Ja«, sagte ich. »Ich weiß es so sicher, als hätte ich es selbst miterlebt. Trotzdem misstraue ich aus bestimmten Gründen der Klarheit meiner Erinnerungen … Also: Die Maahks entdeckten den stark havarierten Oktaeder-Raumer und griffen übergangslos an. Der Kyriliane-Seher wurde von Grek-1 mit Schüssen aus einem Impulsstrahler getötet. Ich sah zu, wie die kristallenen Augen sich aus dem Schädel Vrentizianeks lösten und in tausend Fragmente zersplitterten. Die Bruchstücke strahlten sternenhell auf und verwandelten sich in Fontänen aus Funken, die minutenlang in alle Richtungen sprühten und im Schnee verloschen. Ich war Gefangener der Maahks. Das Schlachtschiff steuerte einen unbewohnten und atmosphärelosen Mond an, das Gestirn meiner Visionen. Der Flug dauerte sechs Pragos lang; als das Schif landete, erkannte ich, dass der Zustand des Mondes sich in den vielen Jahrtausenden verändert hatte. Die einstigen Anlagen, bewohnt und inmitten blühender Natur, waren jetzt auf der Oberfläche gerade noch ruinenhaft zu erkennen. Ich war ein Tauschobjekt in der Hand der Methanatmer und sollte gegen einen Maahk ausgetauscht werden, der sich
13 in der Hand der Arkoniden befand. Der Chef der arkonidischen Delegation erkannte sofort, dass ich nicht der erwartete hohe arkonidische Ofizier, sondern ein einfacher Raumfahrer mit Namen Vregh Brathon war. Ein völlig fremder Arkonide! Der Kommandant brach die Verhandlungen ab und ließ die Maahks angreifen. Sie hatten auf der Einhaltung des Austauschvertrags bestanden.« »Bist du jemals nach diesem Abenteuer nach Vassantor zurückgekommen?«, erkundigte sich Kythara. Ich schüttelte den Kopf. »Niemals. Nach mehr als zwölf Jahrtausenden sehe ich heute ebenso wie damals, was aus den einstigen blühenden Landschaften geworden ist. Ein erbittertes Gefecht brach aus. Die Arkoniden und die Maahks brachten sich gegenseitig um und vernichteten dabei auch die Raumschiffe. Ich konnte mich in Sicherheit bringen und fand bei der Durchsuchung des arkonidischen Wracks den gefangenen Maahk, der ebenso wie ich durch einen unglaublichen Zufall überlebt hatte. Wir schafften es trotz gegenseitigen Misstrauens, ein eingeklemmtes, diskusförmiges Beiboot in einem Hangar des Arkonraumers frei zu bekommen und damit zu starten. Aber die Triebwerke des Diskus versagten, und wir stürzten ab.« Die Bewegung des Kardenmoghers hatte fast aufgehört. Die Konstruktion schwebte über einem Tal, einem Einschnitt im staubbedeckten Ringgebirge. Das Licht der weißen Sonne kam von links, das Gestirn hing einige Handbreit über den höchsten der charakteristischen Erhebungen; ich erkannte die Ebene wieder und den zentralen Hügel des riesigen, schüsselförmigen Kraters. Er war etwa tausend Meter hoch, und die Ruinen standen inmitten von Schutthaufen auf einem Plateau, das 900 Meter Durchmesser haben mochte. Ich sammelte meine Erinnerungen und redete weiter: »Ich erinnerte mich an meine Visionen und untersuchte, so gut ich es vermochte, die Überreste der Stadt. Während ich mich
14 vom Wrack des Diskus entfernte, tauchte plötzlich ein arkonidischer Schlachtkreuzer auf, das der Maahk – er fürchtete sich vor einer erneuten Gefangennahme – unter Feuer nahm. Das Wrack des Maahkraumers wurde von den arkonidischen Geschützen völlig zerstört, und ich wurde von den Arkoniden gerettet. Ich gab meine falsche Identität nicht auf und blieb Vregh Brathon, der Ahnungslose. Als der Schlachtkreuzer startete, flog ein Maahk-Schifsverband den Mond an und verwickelte den Arkonidenraumer in ein Gefecht. Aber der Start gelang trotz einer erheblichen Übermacht, und uns Arkoniden gelang die Transition. Der Flug ging planmäßig zum Flottenstützpunkt Trantagossa, und dort begann eine andere Kette von Erinnerungen. Jene, die ich zu fürchten gelernt hatte.« »Es ist wahrscheinlich sinnvoll«, kam es von Kythara, die gerade einige Schaltungen durchführte, »dass wir rasch landen und einen Überblick über die Schäden des Kardenmoghers bekommen.« Die große Holoprojektion in Augenhöhe zeigte, wie das Raumgefährt sich dem Rand des Ringwalls näherte. Auch die Berge und Aufwerfungen waren zerfallen und von einer dicken, hellgrauen Staubschicht bedeckt. An zwei Stellen hatten wir haarfeine Strahlen angemessen. Es waren Gase aus dem tiefen Inneren des Mondes, die sich augenblicklich auflösten. Die Außenbord-Analyse bestätigte, dass Vassantor kalt und atmosphärelos geblieben war. Zuerst entdeckte ich die wenigen Teile des Maahkraumer-Wracks und die Spuren der Explosionen. Alle Einzelheiten lagen unter einer dicken Staubschicht verborgen. Der Kardenmogher schwebte in fünfzig Metern Höhe über dem Talkessel auf den rechten Hang des Zentralbergs zu. »Dort drüben erkenne ich die Reste des 500-Meter-Schlachtkreuzers wieder«, sagte ich und deutete auf ein halbkugeliges Gebilde, das erkennbar zerstört aus dem Boden aufragte. Einige Sekunden später zeigte ich auf die Reste des Leka-Diskus, die genau
Hans Kneifel dort zu sehen waren, wo sie in meiner Erinnerung nach sein mussten. »Kein Zweifel! Wir sind an Ort und Stelle.« Kythara steuerte den Kardenmogher geradeaus, ließ ihn tiefer sinken und hielt unmittelbar vor dem zentralen Hügel an. Vor ihrem Sitz blinkten und flimmerten Leuchtfelder in den Schaltpulten; eine lautlose Unterhaltung des Kardenmoghers mit Ortungsund Wachanlagen des Mondes? Das Rundum-Holo zeigte die eisige Trostlosigkeit des uralten Kratergebietes. »Ein Ort, an den ich mich ebenso gut erinnere. Ich kann nur hoffen, dass die uralten Anlagen ebenso fabelhaft arbeiten wie unser Erinnerungsvermögen.« »Eines Tages«, bemerkte ich sarkastisch, »werde ich ebenso viel wissen wie du. Zumindest über Orte und Abenteuer, die wir irgendwie miteinander geteilt haben.« »Es kann sein, dass wir diesen Tag erleben«, sagte sie, lächelte und schenkte mir einen langen, freundschaftlichen Blick aus ihren Goldaugen. »Vordringlich ist und bleibt die Reparatur dieses varganischen Wunderwerks.« Ich hatte längst aufgehört, mich unentwegt verblüfft zu zeigen. Mittlerweile schien sie den Kardenmogher völlig zu beherrschen; er tat alles, was sie ihm befahl. Was mich stets fasziniert hatte, ließ mich jetzt seltsam unbeeindruckt. Sie stand offensichtlich in Funkverbindung mit den Überwachungsanlagen oder vielleicht mit dem Hauptrechner von Vassantor. Der Kardenmogher schwebte am Zentralberg vorbei und näherte sich der gegenüberliegenden Hügellandschaft. Die Stadt war einst in Form konzentrischer Kreise angelegt worden. Jetzt zeugten davon nur mehr ringförmige Umrisse aus Schutt und Trümmern und Staub. Kytharas Zeigefinger berührte den flirrenden Rand einer Holoprojektion; sie gab zu bedenken: »Aber es würden, wenn wir uns nicht der Hilfe der uralten Einrichtungen versichern können, wichtige Module bei weiterer Verwendung durchbrennen.« In dem steilen Teil der Bergflanke, direkt
Mond der Visionen geradeaus im größten Hügel des Ringgebirges, bewegte sich der Staub. In der halbmeterdicken Schicht erschienen Risse, der Staub rieselte auseinander, und keine fünfzig Meter vor dem Kardenmogher verbreiterten sich die Risse. Sekundenlang flimmerte das Bild, als ob aus dem Inneren staubgesprenkelte warme Luft oder die Reste von Schutzgas entweichen würden. Zwei Teile eines bislang verborgenen Portals schoben sich auf, während der Staub träge aufstob und langsam auseinander wölkte. Der Staub fiel ins Innere einer hangargroßen Halle, in der plötzlich Lichtblitze flackerten. Sekunden später hatten sich mehr als hundert Beleuchtungskörper eingeschaltet, und wir schwebten ins Innere der Anlage. Lautlos und langsam schlossen sich die wuchtigen, uralten Portale dieser sublunaren Anlage hinter uns. Die Oberflächenschwerebeschleunigung des Mondes betrug nur knapp die Hälfte des Standardwertes – wir würden es am eigenen Leib spüren, sobald wir den Kardenmogher verließen. In meinen verschleierten Überlegungen erschienen flüchtig die Einzelheiten aus der Zeit, in der hier Varganen gelebt hatten: durchbrochene Mauern, Bäume und niedriges Grün, Gebäude aller Art und viele Stelen und Säulen, auf denen Statuen von Fabelwesen kauerten. Ich wusste, dass sich noch viel mehr Stollen, Hallen und Einrichtungen unter der Oberfläche der Versunkenen Welt verbargen. Die Umgebungstemperatur, die eben noch unter null Grad gemessen worden war, stieg fast unmerklich langsam an. Von irgendwoher wurde ein heißes Gasgemisch in die Halle geblasen. Die Spektrografen arbeiteten an der Analyse des Gasgemischs. Wahrscheinlich produzieren die uralten Maschinen sogar gesunde Atemluft!, meinte der Logiksektor lakonisch. Die Überraschungen und Seltsamkeiten, dachte ich unbehaglich, reißen nicht ab. Ich betätigte eine Schaltung und fragte: »Glaubst du, dass die alten Anlagen in der Lage sind, uns zu helfen?«
15 »Nur wenn sie mich – uns – als Berechtigte anerkennen«, antwortete Kythara und gab der Positronik weitere Befehle. Neben einigen Wandnischen huschten Leuchtanzeigen über die halb energetischen Flächen. Mit einem federleichten Ruck setzte der Kardenmogher in der Halle auf. Wir befanden uns nunmehr auf einem fast staubfreien Boden aus hellen, geriffelten Platten. In dem Hangar hätte ein 200-Meter-Kreuzer mühelos Platz gehabt. Wir sahen aufgeblendete Scheinwerfer, Tiefstrahler, Rampen und umlaufende Galerien, Dutzende erkennbarer Roboter und überall eine dünne Staubschicht, auf der Schatten lagen. Es gehörte wenig Scharfsinn dazu, zu erkennen, dass Kythara die Bedingungen und Umstände von Vassantor genau wieder erkannte, und das sagte mir, dass sie sich vor langer Zeit selbst hier aufgehalten oder sogar längere Zeit hier gelebt hatte. »Ich kann nicht abschätzen, wie lange die Reparatur dauert«, gab Kythara einige Minuten später Auskunft. »Zuerst muss ich mir einen Überblick verschaffen.« Die energetischen Abdeckungen von zwei Nischen verschwanden. Unsere Schutzanzüge hingen gebrauchsfertig in den Befestigungen. Ich dachte schläfrig an den Hegnudger und an die Schwierigkeiten, die uns bevorstanden, und löste den Monoblock. Ich hob meinen Anzug aus den Halterungen und wandte mich an die Varganin. »Du hast tatsächlich Verbindung mit Überwachungseinrichtungen herstellen können?«, fragte ich, während ich den varganischen Kampfanzug anlegte. Jede Bewegung erschien mir lästig und erforderte höheren Kraftaufwand. »Seit unserem Anflug existiert Funkverbindung zwischen dem Kardenmogher und dem uralten Hauptrechner Vassantors«, erklärte Kythara in einem Tonfall, als habe es keine Alternative gegeben. »Der Rechner überprüft gerade meinen Status. Immerhin hat er einen Reparaturhangar für uns geöffnet.« »Dein Status als Berechtigte – du scheinst
16 wirklich alles über Vassantor zu wissen«, murmelte ich und streifte die dunkelgoldfarbenen Stiefel über. »Auch meine Erinnerungen sind nicht immer zuverlässig. Aber es scheint, als habe ich eine nicht unwichtige Zeit meines Lebens hier verbracht. Du erfährst alles, wenn ich ungehindert über die Erkenntnisse verfüge.« »Also werde ich mich, während ich darauf geduldig warte, auf Vassantor umsehen.« »Tu das. Hier – die Bestätigung!«, rief Kythara unterdrückt. »Du bist also berechtigt«, stellte ich zufrieden fest – ich hatte nichts anderes erwartet. Noch immer spürte ich eine ungewohnte Unschlüssigkeit. Müdigkeit? Ich war ausgeruht und hatte genug Schlaf gehabt; der Extrasinn bestätigte es. Kythara vergrößerte eine Holoprojektion, die in Rundumsicht zeigte, wie sich aus allen Richtungen unterschiedlich große Maschinen dem Kardenmogher näherten. Die Dichte der Innenatmosphäre und deren Temperatur nahmen zu. Das Gasgemisch war in der ermittelten Zusammenstellung nicht atembar. »Gegenüber dem varganischen Hauptrechner sind wir beide berechtigt. Du solltest deinen Status dazu benutzen, den Hegnudger zu finden.« Als Letztes legte ich den metallisch dunkelblauen Aggregatgürtel um und befestigte die beiden stabförmigen KombimodusEnergiestrahler an den Außenseiten der Anzugsoberschenkel. Etwa 30 Tage lang, abgesehen vom zu geringen Wasservorrat, sicherte der Anzug mein Überleben, und mit Hilfe des gravomechanischen Feldantriebs würde ich mich auch auf der Oberfläche Vassantors ungehindert bewegen können. Kythara unterbrach ihren stummen Dialog mit den Reparaturaggregaten und widmete sich ihrem Anzug. Das Rundum-Holo zeigte, dass sich Teile des Kardenmoghers geöffnet hatten. Im Inneren war nichts davon zu hören oder zu spüren gewesen. Die Robotmaschinen, die
Hans Kneifel uns in zwei oder drei Kreisen umstanden, klappten und schoben in ihren Flanken unterschiedlich große Luken auf, aus denen Schwärme kleiner Maschinen hervorschwärmten und, von aufflackernden laserähnlichen Strahlen in verschiedenen Farben geführt, durch aufklaffende Luken in den Doppelkegelstumpf eindrangen. »Sämtliche Untersuchungen und Analysen haben ergeben«, sagte Kythara und führte einen weiteren Funktionscheck ihres Anzugs durch, »dass große Teile des Gerätes durchbrennen und explodieren würden, wenn es weiter betrieben wird. Die Selbstreparatur-Einrichtungen arbeiten schon fast jenseits der Belastungsgrenze. Der Zentralrechner ist ohne meine Hilfe überfordert.« »Also musst du den Kardenmogher verlassen und die Reparatur beaufsichtigen.« »Gorgh-12 wird auf Emion aufpassen«, sagte sie, »und hier in der Zentrale die Kommunikation aufrechterhalten.« »Ich verstehe«, antwortete ich und sah über ihre Schulter. In der Holoprojektion zeigte sich, einen langen Schatten in die Staubebene werfend, der zentrale Hügel. Seine Flanken färbten sich plötzlich grün; ich sah Bäume, Büsche und weiße Pfade, über denen sich alabasterne Mauern im Sonnenlicht erhoben. Dahinter glänzten silberfarbene Kuppeln. Jenseits einiger Säulenkapitelle trieben weiße Wolken über einen stahlblauen Himmel. »Da ist der …« Im gleichen Sekundenbruchteil veränderte sich das Bild. Der Hügel stand staubbedeckt in einer kahlen Landschaft, und es gab weder Säulen, Himmel noch Wolken. Das Bild schimmerte als Negativ sekundenlang in meinen Augen. So als wollten meine Gedanken diese Bilder abermals speichern. Ein Flashback deiner Visionen, nicht der Wirklichkeit!, schrillte der Logiksektor. Mein Blick irrte um eine Handbreit ab und bohrte sich in Kytharas Augen. »Was hast du … gesehen?« »Wahrscheinlich den Zustand, den du besser kennst als ich«, antwortete ich und schüttelte meine Beunruhigung ab. Ich akti-
Mond der Visionen vierte per Gedankenbefehl die Kommunikationsanlage des Anzugs und den Ortungsgerätekomplex; paramechanisch schalteten sich die einzelnen Sektoren auf. Die Anlage, die auf Normal- und Hyperbasis arbeitete, besaß planetare Reichweite und würde auf Vassantor selbst in den Höhlen und Kavernen für problemlose Verständigung sorgen. Ich führte einige Kontrollen durch und ärgerte mich darüber, dass ich die Bedeutung der Statusanzeigen nicht in gewohnter Schnelligkeit erfasste. Wieder ermahnte mich der Extrasinn: Du musst eine zusätzliche Analyse durchführen, du Narr! Reiß dich zusammen! Ich hatte es vergessen. Mein Zustand war besorgniserregend; an der tiefsten Stelle meines Verstandes schien sich eine bedenkliche Krise anzubahnen. Visionen, Illusionen und Wirklichkeit kollidierten miteinander, so meine Selbstdiagnose. Bevor ich zum ersten Mal auf Vassantor gelandet war, hatte ich Spuren einer Droge in der umgewälzten Luft des Raumschiffs vermutet und für meinen Zustand verantwortlich gemacht. Es schien undenkbar, dass eine ähnliche Droge in der Luft des Kardenmoghers zirkulierte, in diesem varganischen Meisterwerk. Ein Gedankenbefehl setzte die Medosensoren des Anzugs in Tätigkeit, die sich selbständig mit der Mikropositronik verbanden – die Analyse unserer Atemluft begann lautlos und hoch effizient. Ich wartete einige Atemzüge lang, dann wandte ich mich zum Schott herum und verkündete: »Ich sehe mich in der Unterwelt dieses Mondes der Visionen um.« Kythara nickte nur. Fast gleichzeitig stülpten sich die transparenten Klapphelme unserer Anzüge in Stand-by-Position. Das Schott öffnete sich mit leisem Zischen, und wir verließen nacheinander die Zentrale. Gorgh-12 kam uns im Korridor entgegen und hob ein zangenbewehrtes Vorderglied. Der insektoide Hyperphysiker steckte noch immer in dem grauen Schutzanzug, der bis auf den Kopf und die Gliedmaßen den Ameisenkörper bedeckte. Die fingerdünnen
17 Antennenfühler bewegten sich aufgeregt. Im indirekten Licht der Leuchtelemente blitzten und schimmerten die bläulichen Facetten seiner großen Augen. »Es erscheint mir sinnvoll«, erklärte er, begleitet von dem ständigen Rascheln und Knistern seiner dunkelbraunen Glieder und Gelenke, »dass ich als Teil des Teams die Reparaturen und Veränderungen überwache.« »Genau darum hätten wir dich gebeten«, antwortete Kythara und winkte Gorgh in die Zentrale. »Atlan durchsucht den Mond, während ich die Arbeiten in der Halle kontrolliere. Würdest du bitte bei den Holoprojektionen bleiben!« Der Daorghor drehte den kleinen Kopf halb herum und schien mich anzusehen. Aufgeregt spielten die Mandibeln vor der Mundöffnung. Der Chefwissenschaftler betrachtete uns beide, das Saqsurmaa und sich als Teile eines Teams, als kleines Kollektiv, das natürlicher Bestandteil seiner InsektenMentalität war. »Ich kontrolliere, was ich verstehe«, antwortete Gorgh und lief auf vier knisternden Gliedmaßen in den Mittelpunkt der Pulte. Binnen Sekunden passte sich der Sitz seiner Größe und der Position des spitz auslaufenden Hinterleibes an. »Emion schläft und blinzelt mit den Sehtentakeln. In meiner Ruhehöhle. Oder es ist ohnmächtig. Oder will nicht mit uns reden.« »Von allem ein wenig«, sagte ich und ging zur Schleuse. Ich wartete, bis Kythara neben mir stand, sich die Klapphelme geschlossen hatten und sich das Licht golden färbte. Die Bestätigung erschien eingespiegelt, als sich die interne Versorgung des Kampfanzugs einschaltete. Wir benutzten einen ringförmigen Korridor, der abwärts führte. Halblaut sagte ich ins winzige Kragenmikro: »Wir bleiben in ständiger Verbindung, Kythara. Wenn einer in Gefahr gerät, muss ihm der andere helfen.« »Das hat seit zwanzig Tagen perfekt funktioniert, mein Lieber«, antwortete sie. Die äußere Schleusentür öffnete sich lautlos, ei-
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Hans Kneifel
ne Rampe entstand wie aus dem Nichts; wir befanden uns etwa zehn Meter unterhalb des größten Durchmessers des Kardenmoghers und betraten am Fuß der Rampe die Zone der verringerten Schwerkraft. Nach einigen Schritten drehten wir uns um und staunten das Bild an, das sich uns bot. Auf unserer »Hemisphäre« hatten sich zwei oder drei Dutzend unterschiedlich große Öffnungen gebildet. Die Außenhülle hatte weder die Farbe noch das Aussehen geändert; die Luken klafften wie Türen auf. Ströme aus glühenden und blinkenden Mikro- und Nanorobots durchschwirrten die bloßgelegten Teile tief im Inneren des Kardenmoghers. Die Außenmikrofone übertrugen eine Vielzahl metallischer Geräusche. Funken sprühten, Lichtbogen blendeten auf, kalkweiße Scheinwerfer leuchteten versteckte Winkel aus. Wie selbständig bewegten sich Leiterplatten, Schaltkreise und andere Teile der technischen Organe und Gedärme des seltsamen Apparates, bogen und teilten sich und fanden in eckigen Knäueln wieder zusammen. »Ich dringe an Ort und Stelle in die Geheimnisse ein«, erklärte Kythara. Ich sah zu, wie sie senkrecht in die Höhe schwebte und einer Gruppe blinkender Geräte, die jeweils kaum größer als eine Faust waren, in eine der weit offenen Funktionsräume des Kardenmoghers hinein folgte. Mein Gefühl sagte mir, dass dieser riesige Aufwand an Technik wahrscheinlich genügte, um unsere technischen Probleme zu lösen. Ich winkte Kythara unaufgeregt zu und ging in der geringen Schwerkraft mit vorsichtigen Schritten zur Stirnseite der Montagehalle. Die Temperatur betrug inzwischen fünfzehn Grad über dem Gefrierpunkt; noch immer war das eingeblasene Gasgemisch nicht atembar.
3. Unter dem Ringgebirge 24. Mai 1225 NGZ; Mitternacht Nach fünfzig Schritten blieb ich stehen und setzte mich auf die staubfreie Oberflä-
che einer Speicherbank. Die selbst für arkonidische Begriffe erstklassige Ausbildung, die ich erhalten und bei zahllosen Gelegenheit erprobt und vertieft hatte, reichte nicht aus, die exotische Technologie der Varganen, die zudem älter war als achthundert Jahrtausende, mehr als teilweise zu verstehen. Was die Reparatur des Kardenmoghers betraf, so war ich im Großen und Ganzen hilflos. Die einzelnen Schritte der Reparatur zu begreifen und zu überwachen – das war Kytharas Aufgabe. Und diejenige von Maschinen, die schon in ihrer Jugend ausgereift gewesen waren. Von Anlagen, die seit damals in der Unterwelt Vassantors warteten und jetzt zum Einsatz kamen. Zu dieser Einsicht war mein saumseliger Verstand gerade noch fähig. Seine eigene Minderfunktion zu erklären vermochte er nicht. Ich erinnerte mich an die Analyse und ließ die Skala und die Werte auf die Helminnenfläche projizieren. Als ich verstand, was ich las, sagte der Logiksektor schroff: Wie zu erwarten war: nicht einmal ein Molekül einer entsprechenden Droge! Ich begriff viel zu langsam, dass ich in eine andere Welt eingetreten war. In eine Scheinwelt aus Vergangenheit, lebensechten Visionen und Verblüffung über die schier endlose Zeit und die Qualität, mit der die varganische Hinterlassenschaft heute noch funktionierte. Bevor ich mich in dieser Welt verlor, musste ich zu mir zurückfinden, zu meiner gewohnten Zuverlässigkeit. Aber ebenso tief wie diese Störung kauerte in meinem benommenen Verstand die Ahnung davon, dass die Unterwelt Vassantors für mich weitere Störungen bereithielt, wenn ich mich auf die Suche nach dem Hegnudger machte. Was tun? In Bewegung bleiben. Einige Metaphern aus der Dagor-Philosophie tauchten flatternd wie stählerne Schmetterlinge auf. Neugierig bleiben, suchen und nicht an Wunder glauben, sondern am Ziel festhalten. Das Ziel: die Psi-Quelle. Mit Kythara, die von all diesen Einschränkungen nichts wusste, an der
Mond der Visionen Seite würde es gelingen. Auch wenn mir mein Stolz eigentlich verbot, sie um Hilfe zu bitten. Der Logiksektor warnte: Bilder und Szenen werden auftauchen und sich verdichten. Du musst durch die Schemen hindurch die Wirklichkeit erkennen. Die Kraft deines Bewusstseins muss die makabre Materie der Erscheinungen dominieren! Ich stand auf, warf einen letzten Blick auf den Kardenmogher inmitten eines Halos aus Bewegungen, Licht und Farben, Funken und Geräuschen und schwebte auf eine Personenpforte zu, die sich in einem Riesenportal abzeichnete. Die Berührung mit den Fingerkuppen genügte, um das Schott zu öffnen. Ich schwebte durch einen Korridor, nicht länger als zehn Meter. An dessen Ende blendete mich grellweißes Sonnenlicht, und als der transparente Helm blitzschnell die phototrope Schutzschaltung ausführte, bewegte ich mich einige Meter über dem Boden in eine Welt hinein, die ich unter keinen Umständen hier erwartet hatte. Ich schwebte höher und hielt in der Bewegung an. Wie in einem griechischen Theater stiegen in einer domartigen Höhle oder Halle breite, aber unregelmäßige Ränge hoch, bis die Enden oder Wipfel von blaugrünen Algengewächsen, die aus bräunlichem Schlamm hervorwuchsen, einen purpurnen Himmel zu berühren schienen. An vielen Stellen trat nackter Fels hervor, der von glänzendem Metall eingefasst war. Das Gestein in vielen Farben und die Sinne verwirrenden Äderungen glänzte, als wäre es poliert; das Metall glomm und leuchtete tief aus sich selbst heraus. Die gesamte Höhle war von einem smaragdfarbenen Nebel erfüllt, in dem unübersehbare Mengen von Luftblasen sich aufwärts, abwärts, kreuz und quer bewegten. Langsam »schwamm« ich durch dieses Medium auf eine steinerne Bühne zu, die von schlanken schwarzen Säulen und einer glatten weißen Wand begrenzt wurde. Während ich mich dem gegenüberliegen-
19 den Teil der Halle näherte, schwand ganz langsam das Licht. Alle Farben endeten in tiefem Grau. Ich schaltete den Helmscheinwerfer an. Der Lichtstrahl zuckte geradeaus, krümmte sich nach rechts, wich nach oben aus und verlor sich nach wilden Schleifen und Knoten im Irgendwo. Ich fing an, laut mit mir selbst zu reden: »Die Visionen, die ich damals erlitt, waren weniger poetisch. Ich verstehe, dass die Varganen den Mond zu ihrer Kurzweil aushöhlten. Ist es nicht ein wenig spät, einen harmlosen Besucher mit optischen Tricks verwirren zu wollen?« In völliger Dunkelheit, die Arme weit ausgestreckt, driftete ich zwischen zwei Säulen hindurch und prallte leicht gegen die Wand. Als ich sie berührte, schalteten sich in der Höhle einige Dutzend Scheinwerfer, Solarlampen und Tiefstrahler ein, und ich sah, als ich mich umdrehte, die Wirklichkeit. In den Becken, die den Boden bedeckten und sich entlang der Wände schmiegten, befand sich eine glasartige, weiße, oftmals halb durchsichtige Masse. EIS! Aus diesem Eis ragten kahle Baumreste, Äste, Gabelungen und Strünke; sie wirkten wie ein verwüsteter Wald nach einem verheerenden Frosteinbruch, der vor Urzeiten stattgefunden hatte. Über einigen der gefrosteten Hinterlassenschaften einer Flora, die einst vor 800.000 Jahren geblüht und gegrünt hatte, im Licht der uralten Leuchtelemente, schwebten kugelförmige Dinge, deren Antennen und Linsen schwach leuchteten. Eines dieser Beobachtungsgeräte streifte ein Astgebilde, das einer Skeletthand glich. Es zerbrach und zerstäubte lautlos zu einer bräunlichen Wolke, die von einer Luftströmung ergriffen und davongeweht wurde. Ich schwebte ungefähr in der Mitte der glatten Wand und war mir bewusst, dass ich nach einem Bauteil suchte, das unseren Flug zur Psi-Quelle ermöglichen würde. Ein Gedankenbefehl erhöhte die Sendeleistung und pegelte die Lautstärke ein, reduzierte gleichzeitig die Empfindlichkeit der Außenmikrofone.
20 »Kythara? Ich habe eine Frage.« »Ich höre. Was willst du wissen?« »Wie lautete vor 800 Jahrtausenden der Begriff für ›berechtigt, Berechtigter‹? Du musst es wissen.« Unter normalen Umständen hätte ich die Tatsache, dass sie etwa fünfzehn Sekunden lang nachdenken musste, mit einer ironischen Bemerkung kommentiert. Meine Benommenheit verhinderte es. Sie antwortete in sachlichem Ton: »Rhatgyrn beziehungsweise Rhatgit Kherop. Bist du etwa in einen Dialog mit dem Zentralrechner eingetreten?« Ich schwebte nach rechts und leuchtete die Wand aus geschliffenem Fels mit dem Helmscheinwerfer an. Der Strahl krümmte und knotete sich nicht mehr. »Noch nicht«, antwortete ich. »Aber ich versuche, alle Möglichkeiten einzukalkulieren. Ich hatte eben die Vision einer seltsamen varganischen Erholungslandschaft. Ich melde mich wieder.« »Viel Glück. Geh kein Risiko ein.« »Bisher habe ich nichts wirklich Riskantes erlebt«, wich ich aus und bremste den Flug ab, als ich mich einer schlundartigen Öffnung näherte. Ein schwarzes, gerundetes Loch schluckte den breit gefächerten Lichtstrahl. Ich folgte der dunklen Röhre abwärts und in einen breiten Korridor hinein, dessen Boden aufleuchtete, als ich einen unsichtbaren Strahl passierte. Vor mir lag ein geschwungener Tunnel, der nach links führte. Dicht über dem Boden schwebte ich vorwärts und dachte darüber nach, ob es sicherer sei, den Vragon-Schutzschirm zu aktivieren. Der Boden bestand aus einer glasartigen Substanz, die aus sich heraus hellgrün strahlte. Die Wände waren von reliefartigen Ranken, schwimmenden oder fliegenden Wesen, Blättern und Blüten bedeckt; auf jeder Seite lief ein breites goldfarbenes Band, das sich scharf von dem grünen Schimmer abhob. Ich setzte die Geschwindigkeit des Anzugs herauf und spürte sekundenlang die Vibrationen des Energieaggregats.
Hans Kneifel Nach schätzungsweise 150 Metern unterbrachen breite, lang gezogene Sichtflächen die linke Seitenwand. Ich hielt an und sank auf den Boden hinunter, der von einer hauchdünnen Staubschicht bedeckt war. Das war viel zu wenig Staub für diese lange Zeit. Ich blickte durch die dicke, hoch transparente Fensterfläche hinaus auf die grauweiß bestaubte Ebene. Im direkten Blickfeld lag der zentrale Hügel. Er war leer bis auf die fast unkenntlichen Ruinen, und die langen Schatten der tief stehenden Sonne bewegten sich ebenso wenig wie die trümmerübersäten Flanken. Ich atmete innerlich auf, denn diesmal narrte mich keine Vision. Schweigend betrachtete ich die sanft ansteigende Fläche, einen Kreisring von weniger als zehn Kilometern Breite, dessen innerer Rand mit den Flanken des Hügels verschmolz. Fast unmerklich langsam begannen sich die Farben zu verändern; vor meinen Augen entstanden weiße Gebäude und grüne Flächen, wuchsen aus dem Nichts, verzweigten sich fließend und erstarrten zu Bauwerken, Straßen und Brücken. Ich schloss die Augen und unterdrückte die erste aufsteigende Panik. Mit bewusster Nachdrücklichkeit aktivierte ich meinen Monoblock. Vielleicht war er stark genug … Ein dumpfes Pochen, wenige Schwingungen über der Hörgrenze, rollte wie ein schwarzer Kältehauch durch den Tunnel. Als ich die Augen wieder öffnete, hatte sich die Vision voll und in strahlenden Farben entfaltet. Der Logiksektor rief mahnend: Du weißt, dass du die Welt deiner Erinnerungen erlebst! Die Realität ist anders, die Visionen sind gefährlich, weil unkontrollierbar und plastisch! Auf der Ebene sah ich Bäume, deren Kronen sich in einem mittelstarken Wind bewegten. Straßen und Wege, kühn geschwungene Brücken und einzelne Säulen unterbrachen die grünen Flächen und die Waldinseln, die bis zu einer kleinen Stadt reichten. Große Vögel mit weißen Schwingen bewegten sich majestätisch unter den Wolken über
Mond der Visionen die Landschaft hinweg, auf die Türme und Mauern der Burg zu. Mein Blick glitt von der varganischen Burg zum sonnenbeleuchteten Teil des Planeten und hinunter zu den blinkenden Reflexen des Sonnenlichts auf dem Wasser. In der Ebene zwischen meinem Ausblick befuhren rote Boote die schmalen Wasserläufe. Wasser auf Vassantor? Groß, mit strahlend weißen Gebäuden und schlanken Minaretten, mit silbernen Schmuckbändern und funkelnden Kuppeln verziert, erhob sich die Burg unter der großen Sichel des Planeten. Ich erkannte sie sofort wieder. Ich wusste, dass unterhalb der Sockel und Säulengänge sich ein Reich aus Hallen und Korridoren erstreckte, in denen sich Maschinenquader aus grauem Metall ebenso reihten wie seltsame, faszinierende und undefinierbare Schätze. Der Takt der Trommelschläge, die durch die sublunare Anlage hallten, wurde schneller; eine hypnotisierende Melodie erklang, ganz leise und unaufdringlich. Sie schmeichelte sich in mein Bewusstsein ein und beeinflusste meinen Verstand. Ich erlebte ein Geschehen, das von anderen diktiert wurde. Aber wer waren diese »anderen«? Wieder versuchte ich mich auf die heutige Wirklichkeit zu konzentrieren, auf Vassantor im gegenwärtigen, verlassenen, atmosphärelosen Zustand, aber es gelang mir nicht. Meine Benommenheit war zu groß. Ich rief in einer Aufwallung von Trotz: »Ich bin ein Rhatgit Kherop! Das ist nicht meine Wirklichkeit!« Mir schien, dass meine Worte, lauter als die seltsamen Klänge der Musik, durch den Korridor dröhnten. Konnte nur ich diese Klänge hören? Ich schwebte weiter, und jedes Mal, wenn ich an einem der drucksicheren Fenster vorbeikam, starrte ich hindurch und sah weitere Einzelheiten der gepflegten Riesenanlage. Ein Flusslauf gabelte sich in unzählige kleine Bäche und zierlich angelegte Kanäle und bildete ein System silberner Adern im saftigen Grün des riesigen
21 Parks. Ich sah andere Boote und Schiffe; aus purpurnem Schilf flogen gelb gefiederte, reiherähnliche Geschöpfe auf. Ich konnte, solange ich durch den Korridor und die anschließenden Hallen und Rampenanlagen flog und an Sichtflächen – oder waren es Holoprojektionen von unglaublicher Qualität? – vorbeischwebte, meine Blicke nicht von dem Bild zu lösen, das sich nicht veränderte. An wenigen Stellen des Parks, der bewaldeten Hänge und der Berggipfel dahinter stiegen dünne Rauchsäulen in die Höhe und wurden vom Wind zerfasert. Ich befand mich gleichzeitig in zwei Realitäten. Unbestimmte Zeit später öffnete sich vor mir ein unnatürlich schmales, sehr hohes Doppeltor. Ich stellte mir die Frage – wieder einmal! –, ob die Wirklichkeit sich erst im Verstand bildete oder ob sie so war, wie ich sie wahrnahm. Ich ließ den Anzug zu Boden schweben, blieb leicht schwankend stehen und betrachtete die metallenen Flächen des Doppelschotts. Dicke, wulstige Mehrfachdichtungen liefen um die Kanten. Der Raum dahinter glich auf verwirrende, fast verstörende Weise einem Museum; dieses Mal handelte es sich um kein Bild aus meinen damaligen Visionen. Verstörend, Arkonide, aber nur für dich!, schränkte der Logiksektor ein. Zögernd ging ich in die große Halle hinein, betrachtete die Sockel und die Dinge, die darauf standen oder darüber zu schweben schienen, die Scheinwerfer und Richtstrahler, die mit unterschiedlich farbigem Licht einzelne »Exponate« effektvoll beleuchteten, und die Holoprojektionen, die für einzelne Ausstellungsstücke eine Umgebung schilderten. Langsam ging ich vorwärts, umschmeichelt von den Klängen und im Rhythmus der Bässe. Sämtliche Bodenflächen bestanden aus schattenlos milchig glimmendem Material. In der Mitte der Halle, halb überwältigt von der Fremdartigkeit alter varganischer Kunst oder der Artefakte aus ihrer Geschichte, blieb ich stehen. Nacheinander erloschen die Scheinwerfer.
22 Die Musik schwieg. Über sämtlichen Gegenständen lag plötzlich ein ganz hauchdünner Staubschleier oder auch ein feiner Nebel. Die Illusion oder die andere Realität verschwand. Denke an die ferne Vergangenheit! Als du die Thronsessel benutzt hast, müssen einige Erinnerungen des Vrentizianex auf dich als jungen Kristallprinzen übergeflossen sein. Solche Elemente, die bis heute nicht aufällig geworden waren, versuchen dich völlig zu beherrschen! Ich war sicher, diese Warnung schon einige Male gehört zu haben. Langsam drehte ich mich einmal um die eigene Achse und erkannte, dass ich noch immer in diesem »Museum« stand und dass sich offensichtlich alle nicht energetischen Gegenstände nicht von der Stelle gerührt hatten. Ich rief Kythara und stellte ihr eine Frage; hoffentlich antwortete sie, ohne an unsere intellektuelle Auseinandersetzung zu denken. »Weißt du, ob sich der Kyriliane-Seher vor seiner Bestrafung definitiv hier auf Vassantor aufgehalten hat?« Meine Erinnerung produzierte ein klares Bild. Dieses Mal gab es für mich keinen Zweifel: eine Szene aus meiner Erinnerung. Erleichterung kam über mich, als mein Verstand die Bilderfolge als das definierte, was sie war: URALTE ERINNERUNG! Ich war in einen schwarzen Saal von den Ausmaßen einer phantastischen Thronhalle eingetreten … Die Hallendecke war schwarz, und ebenso stumpf schwarz war das Material, polierter Stein oder glattes Metall, aus dem der Thron bestand. Er ragte im hinteren Drittel der Halle auf. Von einer Seitenwand blickte mich ein riesiges, stilisiertes Auge an, das aus verschiedenen Schattierungen von Weiß gemalt oder projiziert worden war. Ein großer, breitschultriger Mann saß auf dem Thron, in gefährlich anmutender Gelassenheit. Unter der roten Kleidung erkannte ich an einigen Stellen die Haut. Sie war wie bronzefarbenes Metall. Aus zwei Kristallen,
Hans Kneifel groß wie Kinderfäuste, starrte mich der Thronende an. Mich, den ahnungslosen Kristallprinzen. »Ob Vrentizianex hier gelebt hat?«, hörte ich aus den Anzuglautsprechern, während mich unter der Erinnerung schauderte. »Es ist nicht unwahrscheinlich. Ich finde keine direkten Erinnerungen daran, Atlan.« »Wie weit sind die Reparaturen vorangekommen?« »Der Kardenmogher ist schwerer beschädigt, als wir angenommen haben. Aber von Stunde zu Stunde arbeiten mehr Blöcke zuverlässig. Das haben die Reparatureinheiten bestätigt. Wo bist du?« »In einem Museum der Vergangenheit«, antwortete ich. »Und den verdammten Visionen dieser Vergangenheit ausgeliefert. Sie sind so eindringlich, dass ich an meinem Verstand zu zweifeln beginne.« »Hast du den Hegnudger gefunden?« »Nein«, entgegnete ich. »Aber ich rechne mit dem Schlimmsten. Auch damit, dass ich ihn bald finde.«
4. Inferno der Visionen 25. Mai 1225 NGZ; die Stunden nach Mitternacht Der Mann auf dem Thron betrachtete mich, als sei ich ein Kulturschädling, der zu vernichten sei. Jedenfalls deutete ich den Blick aus den kugeligen Kristallen, aus deren Facetten winzige Blitze nach mir zuckten, so und nicht anders. Seine Hände lagen auf den Knäufen der Armlehnen. Die Finger, dicht mit fahl schimmernder, bronzefarbener Schuppenhaut bedeckt, endeten in dreieckigen Krallen. Auch der Schädel war mit Schuppen besetzt; weder die Finger noch der Körper bewegten sich. Nur diese schrecklichen großen Augen, aus denen Funken sprühten. Ich stand gebannt da und wartete. Wartete, dass etwas geschah. Darauf, dass ich verstehen durfte, was jene Vision mir sagen wollte. Noch war ich fast sicher, dass
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diese monströse Gestalt nicht lebte, dass ich einer Statue oder einer seltsamen Art Mumie gegenüberstand. Nach einer Ewigkeit bewegten sich die Lippen. Die Gestalt sonderte leise Worte ab, die von unnennbarem Leid getränkt waren. Sie troffen von Schwermut; ich verstand kein Wort dieses gesummten, gestöhnten Singsangs. Aber die Laute lösten meine Erstarrung, und ich ging langsam um den Thron herum. Die funkelnden Blicke der Kristallaugen schienen mir zu folgen, und ich erkannte, dass die Gestalt lebte. Ich fragte beklommen: »Wer bist du?« Ich erhielt keine Antwort. Ich fragte mich, ob dieser Mann das Reich, in dem ich mich bewegte, geschaffen hatte. Schließlich verstand ich, was der Mann redete; es war ein kaum erkennbarer varganischer Dialekt. Mir saß der Kyriliane-Seher Vrentizianex gegenüber, und aus seinem Munde erfuhr ich von der grenzenlosen Grausamkeit, mit der die Varganen den Seher gestraft hatten. Der Logiksektor und ein Rest meiner Beherrschung rissen mich zurück in die Gegenwart Vassantors.
* Aus Kytharas Antwort hatte ich herausgehört, dass sie abgelenkt war. Sie klang beschäftigt und gehetzt; unwillig, sich mit mir zu unterhalten. Ihr schier endlos langer Weg, der vor 806 Jahrtausenden mit dem Vordringen der varganischen Expeditionsflotte aus dem so genannten Mikrokosmos in die Milchstraße seinen Anfang genommen hatte, war vorübergehend zum Stillstand gekommen. Ich konnte ihr nicht helfen, denn die Reparatur dieser einzigartigen Maschine namens Kardenmogher überstieg meine Fähigkeiten. Magantilliken, der Henker der Varganen, hatte sie ebenso verfolgt wie jenen unglücklichen Seher, und jetzt war sie gestrandet auf dem Mond, auf dem sie – meiner Meinung nach – einst gelebt hatte. Begreiflich, dass Kythara anderes zu tun hatte, als in ihren Erinnerungen zu graben.
Ohne nachzudenken, noch halb in Visionen und Erinnerungen gefangen, war ich geradeaus weitergegangen und hatte das Ende der Halle erreicht. Ich stieg zwei Dutzend Stufen aufwärts und blieb stehen, drehte mich um. Ich stand zwischen zwei schlanken Säulenpaaren, die durch eine geschwungene Traverse verbunden waren, und dachte an Odysseus, einen jener archaischen Fürsten aus meiner Zeit in der unfreiwilligen Einsamkeit auf Larsaf Drei. Odysseus und die unglaubwürdigen Sirenen. Vielleicht sollte ich hier auf Vassantor mir Wachs in die Ohren stecken, die Augen verbinden und meine Erinnerungen ausschalten – um nicht zwischen den Visionen eingefangen zu werden und meine Unabhängigkeit zu bewahren, während ich nach diesem mysteriösen Ersatzteil suchte. Odysseus war zu Penelopeia, seiner Gattin, zurückgekehrt. Und ich lief Gefahr, in die Erinnerungen an Ischtar zurückzukehren und daran umzukommen. Im Augenblick bist du frei und selbstbestimmt, Arkonide!, wies mich nachdrücklich der Extrasinn zurecht. Ich zuckte mit den Schultern und machte einige Schritte. Zwischen den Säulen spannte sich plötzlich ein lautlos aufglühendes Netz aus Strahlen, und ich befand mich in einer völlig veränderten Umgebung. Transmittersprung! Drei Handbreit vor der transparenten Sichtscheibe des Helms spannte sich eine große Glasfläche, durch die ich auf die staubbedeckte Ebene und den Hügel in deren Mittelpunkt blickte. »Ein Transmitter …«, murmelte ich. Der Raum, in dem ich gelandet war, war ungewohnt klein und gut eingerichtet. Vier dünne Streben zwischen Decke und Boden, Bauelemente eines geradezu verspielten Transmitters, befanden sich innerhalb einer bläulich schimmernden Energieblase. Meine Blicke huschten umher; das Zimmer, kaum größer als 60 Meter im Quadrat, schien dicht unterhalb eines der Gipfel des Ringgebirges angelegt worden zu sein. Ich erkannte ein
24 großes Bett, einige kostbar aussehende Möbelstücke, zwei erloschene und ein Dutzend voll funktionierende Holoprojektionen an den Wänden und mehrere Lichtquellen. Der Schlafraum, wahrscheinlich für eine Frau, versuchte der Logiksektor sachlich zu erklären. Ich streckte den Arm aus, berührte die Energieblase und sah, dass die Finger ungehindert und ohne Widerstand hindurchglitten. Mit vier Schritten stand ich mitten im Zimmer. In der Deckenfläche glomm ein Mosaik aus goldenen, silbernen, schwarzen und blauen Elementen; es wirkte überaus kostbar. Es zeigte kein erkennbares Bild und schien nichts anderes als eine symmetrische Verzierung zu sein. Ich hatte bewusst nichts getan, um den Transmitter zu schalten oder gar ein Ziel auszusuchen – verfolgte mich der Zentralrechner etwa mit Sucherkameras und einem Programm für Besucher? Für berechtigte »Rhatgit-Kherop-Persönlichkeiten«? Ich betrachtete die prächtigen Hologramme, die zwischen Schirmenergie-Vorhängen die Wände zierten. Sie zeigten planetare Ansichten, exotische Landschaften und Stillleben aus Blumen, Pflanzen und formschönen Gebrauchsgegenständen. Ein männlicher Vargane würde die Wände seines Schlafraums wahrscheinlich mit anderen Darstellungen schmücken, sagte ich mir. Auch die Möbel und besonders das große Lager deuteten auf einen weiblichen Bewohner hin. Ich wanderte ganz langsam durch den staubfrei konservierten Raum und betrachtete schweigend die Spuren der Benutzung. Der Extrasinn warf fragend ein: Es könnte ein Hinweis darauf sein, dass Kythara hier lange gewohnt hat? »Sie will offensichtlich nicht darüber reden«, brummte ich und näherte mich vorsichtig einem Verbindungsschott. Vielleicht fand ich weitere Zeichen oder gar Beweise für Kytharas Aufenthalt. Oder … Erinnerungen an Ischtar? Die Hälften des Schotts, kostbar verzierte Platten aus bernsteinartigem Material, öffne-
Hans Kneifel ten sich lautlos nach beiden Seiten. Ich betrat einen Wohnraum von beträchtlichen Ausmaßen, der sich über drei Ebenen erstreckte. Wieder hatte ich den Eindruck, nicht einfach von einem Raum in den anderen übergewechselt zu sein, sondern einen Transmittersprung durchgeführt zu haben. Ich spürte einen ersten Anflug von Angst, als ich durch die raumhohe Glaswand auf die Ebene hinausblickte. Den Berg mit den staubbedeckten Ruinen sah ich abermals aus einem anderen Winkel und geringerer Höhe. »Die Angst«, flüsterte ich, nur um meine Stimme zu hören, »ist ein Signal oder eine Vorwegnahme einer Gefahr, vor der ich mich hilflos fühlte.« Ein uralter DagorSinnspruch kam mir in den Sinn. »Die unmittelbare Reaktion ist meist Erregung.« Und – du bist wirklich erregt!, stimmte der Logiksektor zu. Meine Furcht beschränkte sich auf die Gegenwart Vassantors, in der mich Erinnerungen in einer Form heimsuchten, die mich denken ließ, ich wäre das Ziel bewusster Angriffe. Warum? Wer verfolgte mich mit Visionen, die mich an meinem gesunden Verstand zweifeln ließen? Ziellos ging ich durch den Raum, suchte und fand Spuren der Benutzung. Sie wirkten, als hätten der oder die Bewohner erst vor wenigen Tagen die Räume verlassen. Oder vor vielen Jahrtausenden? Kythara hatte zur Zeit der Hyperstürme in den Archaischen Perioden im Kugelsternhaufen Omega Centauri vor dem Henker Magantilliken Schutz gesucht. Hatte sie vorher hier gewohnt? Und bedeutete der Umstand, dass ich durch das sublunare Reich streifte – zum zweiten Mal in meinem Leben –, eine Gefahr für mich? Plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Nur scheinbar das Einfachste der Welt. »Die Zentrale suchen, den Hegnudger finden und zu Kythara in den Kardenmogher zurück!«, sagte ich, halb ratlos, halb entschlossen. Meine Nerven tobten; ich fühlte, dass meine Finger zu zittern begannen. Kalter Schweiß lief zwischen meinen Schulterblättern hinunter. »Und zwar so schnell wie
Mond der Visionen möglich.« Es stand für mich fest: Die uralte varganische Stadt, die aus einem ausgedehnten System hervorragend eingerichteter Hohlräume innerhalb des Ringgebirges, unterhalb des Hügels und als geradezu idyllische Siedlung in dem großen, flachen Schüsselkrater bestanden hatte, war mit gewaltigem Aufwand und großem Luxus errichtet worden. Aber wenn damals schon eine Maschine wie der Kardenmogher existiert hatte, konnten die Varganen solche Siedlungen binnen kürzester Zeit praktisch mit einer einzigen Schaltung »erschaffen«. Es war höchste Zeit, das Ersatzteil zu finden. Wie sollte ich vorgehen? Welche Möglichkeiten hatte ich, abgesehen von einer direkten Anfrage beim Zentralrechner? Ich verließ den Wohnraum und schwebte durch leere Korridore, Magazine und Abteilungen voller Technik, die sämtlich aus dem Fels des Gebirges herausgefräst und mit neuen Oberflächen verkleidet worden waren. In einer Schaltzentrale, die mir geeignet erschien, sank ich vor einem geschwungenen Pult zu Boden und regelte die Außenlautsprecher auf Maximum ein. Ich rief in Varganisch: »Rhatgit Kherop an Zentralrechner: Ich muss schnellstmöglich zum Aufbewahrungsort des Hegnudgers gebracht werden.« Der Schall meiner Worte hallte in beträchtlicher Lautstärke durch den Raum. Noch während ich redete, begannen auf einer Art Bühne vier dicke Metallsäulen, auf denen eine wuchtige Deckenplatte ruhte, dunkelrot zu glühen. »Von dort, im Besitz des Hegnudgers, muss ich sofort in den Hangar gebracht werden, in dem der zweite Rhatgit Kherop den Kardenmogher instand setzt.« Ich bekam trotz meines Gebrülls keine klare Antwort: keine Lichter, keine Signale. Das Glimmen der Metallsäulen nahm zu. Die Form des Transmitters entsprach nicht nur ungefähr denjenigen Geräten, die Kythara und mich seit Beginn unserer abenteuerli-
25 chen Reise durch das Chaos befördert hatten. Ich ging langsam, um nicht den Kontakt mit dem Boden zu verlieren, zum Schnittpunkt der vier Säulen und wartete. Lautlos und ohne Entzerrungsschmerz beförderte mich der Transmitter in eine erstaunliche Szenerie. Ich stand in einem uralten Hochwald. Nach einigen Schritten aus dem Transmitter sah ich, dass ich mich am Rand einer Lichtung zwischen gewaltigen, knorrigen Wurzeln befand. Die dicken, borkigen Stämme verschmolzen in großer Höhe mit der nächtlichen Dunkelheit. Von rechts schimmerte im Bodennebel hinter einer Hand voll schräger, halb versunkener Säulen und Stelen schwache Helligkeit. Es war ein machtvolles Bild, das ich wiedererkannte: eine Nacht auf einem fremden Planeten, in irgendeinem Jahr meiner Vergangenheit, mit einer Bedeutung, die diese Szene zu einem Déjà-vu-Erlebnis machte. Was war damals geschehen? Was stand mir jetzt bevor? Ich fand in meiner Erinnerung keine Erklärung, legte die Hand auf die Waffe über dem rechten Oberschenkel und ging mit ganz vorsichtigen Schritten auf den Lichtschein zu. Wald, dachte ich. Baumstämme und Wurzeln so tief unter der Oberfläche? Die varganische Technik hatte wahrhaft wunderbare Schöpfungen hervorgebracht. Nach einem Dutzend Schritten erscholl von irgendwoher dumpfer Gesang. Zuerst scheinbar aus großer Entfernung oder bewusst leise, dann schwoll er an. Das Leuchten wurde stärker; die Steine, die mich an Grabmale erinnerten, warfen vage Schatten. Sie bewegten sich langsam hin und her. Über dem Boden lag eine Nebelschicht, in der meine Stiefel verschwanden. Ich hörte eine dumpfe Trommel, die einen Takt anschlug, der einem sehr langsamen Schreiten entsprach. Dazwischen rasselten die Trommelstöcke auf einer kleinen Handtrommel. Über das hypnotisierende Trommeln erhob sich der schrille Klang einer Flöte, die seltsame Schnörkel ins Halbdunkel blies; es klang wie das Trillern einer wahnsinnigen
26 Lerche. Die Männerstimmen passten zu den Grabsteinen, dem Nebel und dem Trommelschlag. Vorsichtig tastete ich mich über die Wurzeln und den weichen Waldboden. Der Gesang wurde durchdringender und sinnverwirrender. Zunächst versuchte ich vergeblich, die gedehnten Silben und Worte zu erkennen; es schien ein mir unbekannter varganisch-archaischer Dialekt zu sein. Oder eine der alten Sprachen Terras? Als ich zwischen einer Säule und einer schrägen Steinplatte hindurchstolperte, sah ich über dem Boden der Lichtung, in einem Kreisring angeordnet, leuchtende Zylinder aus glasartigem Material. Sie schwebten langsam an mir vorbei wie die Gondeln eines makabren Karussells. In ihrem Inneren lagen reglose Gestalten, die Arme über der Brust gekreuzt. Sie trugen knöchellange, dunkelrote Gewänder, genau wie Magantilliken. Jetzt verstand ich auch einzelne Wörter des grausigen Chores: … Eisige Sphäre … verschollene Varganen … Tod und Bewahrung für die Ewigkeit … Ich konnte nicht unterscheiden, ob die reglosen Körper in den gläsernen Särgen Nachbildungen, Schlafende oder Tote waren. Der Chorgesang war abermals lauter geworden und der Takt der Trommel schneller. Ich drehte mich um und ging zur Mitte der Lichtung. Ihr Durchmesser betrug ungefähr fünfzig, sechzig Schritte, und unter dem Nebel glaubte ich Gräser und Ranken zu erkennen. In der Mitte der Lichtung blieb ich stehen und überlegte, wie ich diesen Ort der Rätsel verlassen konnte. Zwischen den Stämmen, weit entfernt, blinkte ein einzelnes Licht. Dieses Mal links von mir. Schemenhaft erkannte ich eine Ruine am gegenüberliegenden Rand der Lichtung. Eine Quadermauer, ein abgebrochener Rundbogen und einige verfallene Tür- und Fensteröffnungen. Ein zweites Licht, ein drittes blinkte, verschwand und erschien erneut, ein viertes, und ich erkannte, als ich die Scheinwerfer meines Anzugs aufblendete, eine Reihe Gestalten. Sie trugen Kapu-
Hans Kneifel zengewänder im gleichen Rot wie die Schlafenden oder Toten. Jede Gestalt hielt eine lange Fackel, deren Flamme hoch loderte, in der Hand. »Eine abseitige Vorstellung«, murmelte ich und zählte sechs Fackelträger. Ein siebenter, die Hände in den Kuttenärmeln, schritt feierlich vor ihnen her, zwischen den dicken Baumstämmen zur Lichtung und direkt auf mich zu. Im Gesang, der mich wie eine drohende Wolke umgab, glaubte ich »Kardenmogher … Enklave im Universum … Hegnudger …« verstehen zu können. Die sieben Gestalten hatten den Rand der Lichtung erreicht. Ich sah im Fackelschein, dass sich unter den schweren Kapuzen keine Gesichter versteckten, sondern konturlose Metallovale mit blau strahlenden Sehlinsen. Noch immer erfüllten der Gesang und die Trommelklänge den Wald. Also standen mir Roboter gegenüber. Ich wandte mich jener Maschine zu, die plötzlich auf einem runden, grellweiß strahlenden Tablett ein etwa faustgroßes Oktaeder trug. Der Robot, flankiert von seinen Artgenossen, präsentierte das kristallene Gebilde wie ein Geschenk und reichte mir das Tablett. Vermochte ich ein reales Objekt inmitten einer perfekten Illusion zu erkennen? Für mich war jeder Teil dieses erstaunlichen Vorgangs die unverrückbare Realität. Mitten im Gesang ertönte ein donnernd lauter Ruf. Aus verborgenen Lautsprechern sagte eine sonore Stimme: »Der Berechtigte erhält den Hegnudger.« Die Szenerie schien plötzlich meinen Wünschen zu entsprechen. Trotzdem blieb ich misstrauisch. Der Robot starrte mich aus blau glimmenden Linsen an. Seine Begleiter bildeten einen Kreis um uns und hielten die Fackeln in die Höhe. Die Flammen blähten sich zu grellen Lichtkugeln auf; die Szene wurde blendend taghell. Ich streckte blinzelnd die Hand aus und ergriff das Kristalloktaeder, dessen Kanten verhalten im weißen Licht funkelten. Ich hielt tatsächlich einen festen Gegenstand in den Fingern und verstand instinktiv, dass wir Bestandteile ei-
Mond der Visionen ner virtuellen Umgebung und einer synthetisch erzeugten Stimmung waren. Wer sprach zu mir? Die Stimme des unsichtbaren Zentralrechners bestätigte: »Dem Rhatgit Kherop wurde der Hegnudger übergeben.« »Bringe mich in den Hangar, in dem der Kardenmogher repariert wird!«, wiederholte ich meinen zweiten Befehl. Der weihevolle Gesang wurde lauter. Von irgendwoher ertönten, als wollten sie mich verhöhnen, wohltönende Echos. Das Oktaeder fest im Griff meiner Finger, öffnete ich eine Ersatztasche am Gürtel und schob den Hegnudger hinein. Die Klappe schloss nicht völlig, also hielt ich das Objekt mit den Fingern der linken Hand fest. Der Kreis um uns öffnete sich. In einem Halbkreis eskortierten mich die Fackelträger durch den Nebel der Lichtung bis zum Transmitter, der aus mächtigen Felsbrocken mit einem Findling als Dach zu bestehen schien. Im Fackellicht sah ich Moos und kleine Sträucher auf den Felsflanken und in Spalten wuchern. Ich war mit wenigen Schritten im Schnittpunkt der vier Steintrümmer, drehte mich um und starrte auf die Lichtung hinaus. Das Licht wurde schwächer. Die Fackeln und die Roboter schrumpften zu stabdünnen Schemen zusammen, ebenso die Baumstämme. Binnen weniger Atemzüge wurde der Gesang leiser und verstummte völlig; nur der Flötentriller blieb. Ein purpurner Blitz zuckte auf. Meine Augen nahmen einen letzten Eindruck auf: Die hypnotisierende Szenerie verschwand mit einem Schlag, und ich sah nur noch stumpfes Leuchten auf Teilen von Projektoren, die an Felswänden steckten. Der zweite, hellrote Blitz kennzeichnete die Entladung des Transmitters. Ich hatte den »Wald« verlassen und war in eine leere weiße Halle versetzt worden, deren niedrige Decke von dicken schwarzen Säulen gestützt wurde. Im Mittelpunkt der Halle, die völlig schmucklos war, befand sich ein Podium von ungefähr 15 Metern
27 Kantenlänge und einem Meter Höhe. Ich verließ den Transmitter und setzte mich auf die Kante des Podiums. Plötzlich schien ich wieder in der Realität angekommen zu sein. Der Druck gegen den Monoschirm löste sich; ich begriff, dass mein Extrasinn drängend zu mir sprach: Du wanderst ohne Selbstkontrolle durch eine Welt aus Visionen, Hologrammen, aus Spiegeln und den Echos von Spiegelbildern, Arkonide! Hier ist etwas, das dich wahnsinnig machen will! Dagor! Konzentration! Monoschirm! Rufe Kythara um Hilfe! Raus hier, weg von hier! Ich bedachte Wort um Wort und versuchte zweierlei zu verstehen: Wer oder was versuchte mir zu schaden, und wie schaffte ich es, diesem Irrgarten zu entrinnen? Schweigend wartete ich auf den Gammablitz der Einsicht, auf die Supernova der Erkenntnis. Ich fühlte mich unermesslich müde. Obwohl ich mich nicht physisch bedroht sah, schien ich von Gegnern umgeben zu sein. Unendlich mühsam formulierte ich Gedankenbefehle, die Hyperfunkgerät und Normalfunk aktivieren und auf höchste Sendeleistung bringen sollten. Ich erhielt augenblicklich eine wilde Abfolge von Ortungsergebnissen: Grob- und Feinstwerte der Masseortung, scharfe Projektionen georteter Energie aus allen Richtungen und Ergebnisse der Konturortungen. Um mich herum schienen sich Dutzende ortsunabhängiger Maschinen zu bewegen, die humanoide Umrisse aufwiesen. Kythara antwortete nicht. Ich versuchte es ein zweites Mal und ignorierte die Ergebnisse der Ortungen. Vielfach verstand ich nicht, was ich auf der Innenfläche des Helms sah. Aber die Lautsprecher blieben stumm, obwohl es mir gelang, die Funktionsanzeigen der Funkgeräte zu lesen. »Kythara!«, rief ich. »Ich brauche Hilfe! Deine Hilfe!« Mühsam entsann ich mich der Meditationstechniken der Dagor-Philosophie, die mir so oft das Leben und die geistige Gesundheit
28 gerettet hatten. Ich saß auf dem Podium, starrte durch die Zwischenräume der Säulen und wartete auf Kytharas Reaktion. Nichts. Dich rettet nur Aktion, du armer Narr!, tobte der Logiksektor. Ich schaffte es, den Sauerstoffanteil meiner Atemluft heraufzusetzen und die Innentemperatur des Schutzanzugs zu senken. In unmittelbarer Folge dieser Handlungen begann ich zu frösteln. Keine Antwort von Kythara, kein Signal, dass ihre Anzuggeräte meine Sendeenergie geortet hatten. Bewege dich! Zurück zum Kardenmogher! In den Reparaturhangar! Zwinge den Zentralrechner, die Transmitter richtig zu schalten! »Ich tue, was ich kann«, murmelte ich. Mit Mühe riss ich die Augen auf und hob, die kalte, sauerstoffreiche Luft tief einatmend, den Kopf. Ich fühlte eine Kraft, die ich nicht bewusst steuerte, durch meine Nerven in die Muskeln und Gelenke strömen. Wie eine stählerne Sphäre umgab mich mein Monoblock. Zwischen den Säulen trat eine Gestalt hervor. Auch sie trug dunkelrote Kleidung, darüber hinaus einen seltsamen Kopfputz. Auf den Schultern, vor der Brust und den Oberschenkeln erkannte ich goldglänzende Panzerplatten. In den Händen trug die Gestalt, die mit tänzerisch leichten Schritten näher kam, waagrecht eine mehr als armlange Katana, ein Samuraischwert, dessen glänzende, geschwungene Klinge jedoch in einer Peitschenschnur auslief und dabei immer dünner wurde. Sie ringelte sich mir über drei oder vier Meter wie eine angreifende Kobra entgegen. Der Boden der Halle hatte sich in ein kostbar wirkendes Intarsienparkett verwandelt. Die eingelassenen Holzverzierungen zeigten mythologische Wesen aus dem schwarzen Unterbewusstsein der frühen Varganen oder dem frühen Japan Terras. Wieder ein Déjà-vu-Ereignis? Ich stand auf. Der richtige Reflex ließ mich den VragonSchutzschirm aktivieren, der mich umgehend wie eine schillernde Blase umwölbte. Die rote Gestalt trug die Gesichtszüge des
Hans Kneifel Sehers hinter einer irisierenden energetischen Gittermaske. Vrentizianex nahm das Schwert in die Linke, hob es über den Kopf, und die silberblitzende Schlangenschnur bildete funkenblitzende Ringe und Schleifen. Ein Peitschenknall hallte wie das metallische Geräusch eines Blitzschlags durch den Raum. »Schwerkraft 1 Gravo. Umgebungstemperatur 15 Grad Celsius. Nicht atembares Gasgemisch. Energieemission der Waffe für Lebewesen deiner Masse absolut tödlich!«, kommentierte der Schutzanzug. »Ich bin der Hüter der Transmitter!«, heulte eine Stimme auf. »Kämpfe um den Zutritt, Fremder!« Das Peitschenschwert beschrieb Kreise und Halbkreise. Ein gewaltiger Funkenregen kam auf mich zu; in jeder Sekunde knisterte ein Peitschenschlag. »Ich habe kein Funkenschwert!«, hörte ich mich sagen. Die Gestalt verschwand, als sie sieben Meter vor mir stand. Eine Sekunde später ertönte hinter mir der Peitschenknall – der varganische Samurai, vor dessen Kristallaugen Teile des Gesichtsschutzes im Gegenlicht verschwanden, stand zwischen mir und dem Transmitter, der sich in der Wand der Halle befand. »Dieser Umstand mindert deine Überlebenschancen«, antwortete Vrentizianex, sprang meterweit nach rechts und links und im Zickzack vorwärts. Die Bewegungen des Schwertes wurden schneller, die Funkenwirbel hüllten den in Rot gekleideten Krieger wie ein wirbelndes Sternenrad ein. »Nicht zwangsläufig«, erwiderte ich, obwohl ich wusste, dass er mich nicht hörte. Oder wenn er mich hörte, nicht verstand. Oder nicht verstehen konnte oder wollte. Meine Hand fuhr reflexhaft zum KombiEnergiestrahler am rechten Schenkel. Ich stellte mit dem Daumen den Desintegratormodus ein und hob die Waffe. Peitschend, Funken wirbelnd und in weiten Sprüngen kam der Seher auf mich zu. Ich brauchte nicht bewusst zu zielen; als der rote, goldfunkelnde Körper hinter den Fun-
Mond der Visionen kenrädern einige Herzschläge lang verharrte und der nächste Peitschenschlag meinen Schutzschirm treffen würde, feuerte ich einen schmal gefächerten Desintegratorstrahl ab. Der Angreifer löste sich in einem nebligen Glutball auf, zugleich mit einer Säule, die in der Mitte in atomare Partikel zerstrahlt wurde. Ich rannte, die Waffe in der Hand, durch das Gemenge aus glimmendem Gas, Rauch, Nebel und umhersurrenden Trümmern und Splittern und erreichte den Transmitter. »Zum Hangar! Sonst lege ich hier alles in Schutt und Asche – und zwar in der Gegenwart!«, brüllte ich. Der Extrasinn schrie: Bravo! Gut so, Arkonide! Die starke Transmissions-Energie schleuderte mich in eine lichterfüllte Umgebung, in einen runden Saal mit hoher Decke, dessen Wände aus schmalen Schrankelementen bestanden. Ich trat aus dem filigranen Käfig des Transmitters hinaus. Die Kuppel über der Halle war durchsichtig; ich sah Sterne und fremde Konstellationen in stumpfschwarzer Finsternis. Die Fronten der Schaltschränke schillerten und schimmerten in Hunderten verschiedener Farben. Lichter und Funken huschten über die Flächen, verbanden sich miteinander und lösten sich wieder, und wieder wusste ich nicht, ob ich in der Gegenwart oder wieder in einer Vergangenheit war. Ich dirigierte den Kampfanzug in eine schräge Aufwärtsbahn und blickte durch den unteren Teil der Kuppel. Offenbar befand ich mich im zentralen Hügel, denn ich erkannte einen Teil der Ebene und des Ringgebirges. Und ich war in einem der schimmernden Burgbauwerke, die sich auf der Kuppel des Hügels erhoben. Also wieder tief in meiner – nein, in einer mir fremden – Erinnerung! Als ich wieder zu Boden schwebte, öffneten sich mehrere Fronttüren jener Schränke, und einige schlanke, bronzefarbene Roboter traten hervor und schritten auf mich zu. Beherrschung! Keine Panik, Arkonide. Es ist ein hoch gefährliches Spiel zwischen
29 Gegenwart und Vergangenheit. Ein Gegner spielt mit dir! Die Warnung meines Extrasinns half mir, nicht verrückt zu werden. Ich entschloss mich, die Roboter für real zu halten. Die Roboter starrten mich aus glühenden Linsenpaaren an. Das Spiel aus Farben und Leuchterscheinungen an den Fronten der Einbauten verstärkte sich, als ich zum Transmitter tappte. Mit dem Hegnudger in Händen konnten wir endlich ernsthaft daran denken, die Psi-Quelle auszuschalten. Als ich in der Mitte des Gebildes aus dünnen Stäben anhielt, die wie pulsierende Kristallröhren aussahen, erfolgte der nächste Transmitterimpuls. Das Gegengerät entließ mich in einen riesigen, annähernd würfelförmigen Raum. Ich trat von der Plattform hinunter und versuchte mich zu orientieren. Wieder befand ich mich in einer Wohneinheit. Auf fünf Ebenen erkannte ich Schlaf- und Aufenthaltsräume, ein luxuriöses Bad mit allen erdenklichen Einrichtungen, eine Robotküche und einen mit Technik angefüllten Arbeitsraum. Durch große Glasflächen blickte ich in einen geräumigen, prächtigen Garten, den eine Art varganischer Kreuzgang umschloss. Ich war wieder mitten in einer Vision gelandet.
* Nimm dich zusammen! Glaube nicht, was du siehst!, schrillte der Logiksektor. Ich blieb starr stehen, die Finger fest um das Ersatzteil in der Gürteltasche geschlossen. Mit einem Rest meines wachen Verstandes merkte ich, dass ich mich in »normaler« Schwerkraft bewegte, also im Bereich von einem Gravo. In mir tobte noch immer, an- und abschwellend, der Kampf zwischen bewusstem Wachsein und dem hoffnungslosen Versinken in Visionen. Lämpchen der Mikropositronik des Anzugs blinkten durchdringend grün; der AußenluftAnalysator spiegelte die Werte auf den
30 Klapphelm: kühle, reine Atemluft, ungefährlich für Varganen wie für Arkoniden! Ich sah nicht ein, warum ich den Klapphelm öffnen und wieder aufbereitete varganische Luft atmen sollte. Aber die Temperatur schien zu beweisen, dass dieser Raum entweder bewohnt gewesen oder zur Bewohnung vorbereitet worden war. »Ich sollte eine Runde schlafen und mich erholen«, murmelte ich unschlüssig. Wieder fing ich mit einem Rundgang an und suchte nach Spuren, die mir irgendetwas sagten. Mein nächster Gedanke ließ mich in ein kurzes, bitteres Lachen ausbrechen: Alles in allem wirkt der Raum, als hätte Kythara oder Ischtar hier gewohnt. Wann? Wie lange? Ich stand vor einem zierlichen Schreibtisch neben einem meisterhaft gearbeiteten Stuhl und blickte zwischen zwei schwebenden Leuchten hinaus in den Innenhof. Die kleine Sonne war gewandert; sie hing zwischen einigen großen Sternen ein, zwei Handbreit höher, und über die Dachrundungen und den Kreuzgang fielen die Schatten hoher Säulen oder Türme. Also befand ich mich in dem Gebäude, das Kythara und ich als »Burg« bezeichneten. Ein kleiner Schatten bewegte sich. Ich blickte genauer hin und sah zwischen den Säulen und den Kaskaden der grünen, von Blüten übersäten Ranken eine Gestalt hervorkommen. »Das … ist unmöglich«, knurrte ich. Langsam, aber mit kraftvollen Schritten trat die Gestalt ins Licht. Während ich zu erkennen versuchte, was sich unter dem kapuzenähnlichen Hut verbarg, wuchs die Gewissheit, dass Kythara in der weißen Burg gewohnt und in dieser Zeit jeden Winkel der Siedlung und aller verborgenen Räume kennen gelernt hatte. Ich ging über Treppenstufen aus kostbarem Holz und Rampen, die mit Mosaikteppich belegt waren, im Zickzack bis zur untersten Ebene des Raumes. Vor mir öffnete sich in der Glasfassade ein großer Durchlass. Trotz des geschlossenen Helms atmete ich den zauberhaften Duft der Blüten ein,
Hans Kneifel die sich um Säulen und an weißen Mauern rankten. Die Schritte des rot gekleideten Näherkommenden knirschten auf Kies, der aus weißen, goldenen, silbernen und blauen Kügelchen bestand. Eine Stimme, die ich als Schall aus ferner Vergangenheit wieder erkannte, flüsterte mir zu: Nun kannst du endlos viele Fragen stellen, und mit ein wenig Glück werden alle beantwortet. Ich wartete vor dem weit offenen Durchgang und hörte nicht nur die Schritte und das Rascheln des bodenlangen Gewandes, sondern summenden Flügelschlag und das Zwitschern und Quinquilieren unsichtbarer Vögel. Plötzlich war mir, als stünde oder säße Ischtar in dem Raum hinter mir und beobachte mich. Ich drehte mich um und suchte den Platz zwischen Möbeln, Holoprojektionen, Vorhängen und matt leuchtenden Lampen ab. Ich war allein. Aber der duftende Hauch der Anwesenheit Ischtars mischte sich in aufregenden Schleiern mit dem Blütenduft. Ich hielt die Hand vor meine Augen, berührte das Material des ausgespannten Klapphelms und erlebte mit, wie meine Gedanken wie Tropfen schmelzenden Metalls in mein Bewusstsein fielen und meine Erinnerungen versengten. Dann sah ich die Bronzehaut des Fremden und die Schuppen an seinen Händen und an den wenigen sichtbaren Stellen des Halses und Kopfes. Die Krempe des Hutes verschob sich, und ich fühlte mich dem Blick riesiger Kristallaugen ausgesetzt. In meinem Kopf dröhnte eine Stimme auf: DER KYRILIANE-SEHER VRENTIZIANEX! »Du bist es«, sprach ich ihn laut an. »Ich erkenne dich wieder. Was willst du von mir?« Er blieb zwei, drei Meter vor mir stehen, pflückte eine handgroße Blüte und heftete sie auf seine linke Schulter: Die Blüte war gelb, rot geädert, blinkte hellgrün und öffnete und schloss ihre Blätter, gab verspielte Signale mit den Stängeln der Staubgefäße. »Ich will dich auf ein Wiedersehen mit der Goldenen Göttin vorbereiten«, sagte er
Mond der Visionen mit volltönender, nach Leid und Qual klingender Stimme. Ich spürte, wie ein Zittern meinen ganzen Körper und meine Seele durchlief. Goldene Göttin? Geliebte …? »Mit Ischtar? Hier und heute? Und warum? Um mich zu quälen?«, stieß ich hervor. Inzwischen stand der psibegabte Kyriliane-Seher im kalten weißen Licht unmittelbar vor mir, und ich sah jede Einzelheit. Ich erkannte jede noch so winzige Einzelheit wieder. ER WAR ES! »Nicht um dich zu quälen. Alles weiß ich über Qualen, endlos und furchtbar, unvorstellbar grausam; ich bin von Meistern aller denkbaren Schmerzen mit ausgesuchter Grausamkeit gequält und geschunden worden.« »Ich weiß wenig über dich. Noch weniger von dir«, antwortete ich. Wie in einer Parodie oder halb bewussten Verhöhnung begleiteten Insektengesumm, Vogelgezwitscher, Blumenduft, ein weicher Wind und mehrfarbige Wolkenballungen über dem rechteckigen Ausschnitt des Innenhofes unser Treffen. »Du bist tot! Zu Staub zerfallen! Eine Gestalt aus einer unfassbar fernen Vergangenheit.« Aus den verzierten Säumen der weiten Ärmel schoben sich Hände und Handgelenke. Ich sah schuppige Bronzehaut und stählern schimmernde dreieckige Krallen. Die Kristallaugen waren von einem netzartigen Geflitter aus Funken und eisigen Blitzen umsäumt. »Ich, der Mondschattenpriester, bin ebenso Teil der fernen Vergangenheit wie deine Erinnerungen, weißhaariger Arkonide. Wie deine goldfarbene Braut Ischtar, wie Kythara und andere. Vassantor ist eine Welt des Wiedersehens, ein Mond, auf dem Schuld zu Sühne und Erinnerungen zur Gegenwart werden.« Ich hob die rechte Hand, deutete auf die Ebenen des Wohnraums und entgegnete: »Ich bin überzeugt davon, dass dir der Name Kythara viel sagt. Ich bin ebenso sicher, dass sie dich nicht nur gekannt, sondern auch an deiner Bestrafung mitgewirkt hat –
31 auf irgendeine Weise, die ich nicht kenne.« »Ich war der Seher, der alles sah«, antwortete Vrentizianex traurig und grimmig zugleich wie jemand, der seinen letzten Kampf austrug. Seine Lippen bildeten einen dünnen Strich, die Mundwinkel zogen sich nach unten. »Es waren so viele, die mich bestraften. Von Kythara rede ich nicht. Aber Ischtar war nicht unter ihnen, war keine davon. Deshalb habe ich sie gebeten, mit mir zu kommen. Ich wusste, dass ich dich treffe, junger Arkonide.« »Ischtar kommt hierher?«, hörte ich mich sagen. Plötzlich war es völlig unwichtig, ob Kythara hier auf Vassantor gewohnt hatte. Ich sah, wie der zylindrisch anmutende Kapuzenhut des Sehers schwankte. Es gab keine Schwierigkeiten, den varganischen Dialekt zu reden und zu verstehen. Meine Augen sahen alles: Nichts entging ihnen. Weder die Entfernung zwischen den Sonnen noch höher geordnete Schutzfelder konnten meinen Klarblick hindern. Das waren die Worte des Sehers bei unserem ersten Zusammentreffen gewesen. Das Ganze sah ich! Alles: Kyriliane. Sie bestraften mich, diese Varganen, weil ich die Gene jener Mutation besaß, die mich zum Seher werden ließen. Sie nahmen meine Augen und setzten diese Kristalle ein! Wir standen uns an der Grenze zwischen Innenraum und Garten gegenüber. Ich wusste, dass die rachsüchtigen Varganen verhindert hatten, dass er seine eigenen Augen im Baum der Erinnerung auf der Welt Zercascholpek erreichen konnte. Die Augen waren mit ihm, dem Mondschattenpriester, eigentlich untrennbar verbunden. Der Seher drehte sich halb um, seine Kristallaugen blitzten mich an, und er deutete wieder in den Innenhof. »Öffne deinen Anzug!«, befahl er. »Wenn du und deine große Liebe aus der Vergangenheit euch trefft, sollte ein bestimmtes Maß an Innigkeit nicht unterschritten werden. Ein blühender junger Garten für eine alte, wieder aufblühende Liebe.« »Ich habe es nicht eilig«, gab ich zurück.
32 »Du hast hier gelebt?« »Eine lange, erlebnisreiche Zeit.« »Du hast auch hier dank deiner besonderen Gabe unendlich wichtige Dinge und Vorgänge gesehen?«, fragte ich. Er senkte seinen Kopf. Wellenbewegungen durchliefen sein rotes, kuttenähnliches Gewand bis hinunter zu den Stiefeln aus rotem Leder. »Etwas, das du niemals hättest sehen dürfen? Was war es?« Ich glaubte, über dem blühenden Innenhof und den Kuppeln des Kreuzganges die schillernde Halbblase einer Energieprojektion zu sehen. Also trog die Anzeige des Atemluftindikators nicht. »Das darf ich nicht offenbaren.« Ich bewegte mich hilflos inmitten eines undurchschaubaren Wirrwarrs varganischer Rätsel, die zwangsläufig Rätsel und Legenden und Sagen aus einer geradezu abstrus fernen Vergangenheit darstellten. Mehr als 800 Jahrtausende! In einer solchen Zeitspanne alterten selbst Sonnen! Der wahnsinnige Seher wirkte auf mich alles andere als verrückt. Vielleicht hatte das Leid seiner Bestrafung seinen Verstand verwirrt; ich wünschte, Fartuloon, der alte Bauchaufschneider, stünde neben mir und hülfe mir zu erkennen, ob ich es war, der wahnsinnig wurde. Dunkle und grell ausgeleuchtete Hallen mit schwarzen und weißen Thronen, das Versprechen, Ischtar zu sehen, mit ihr zu reden, sie anfassen zu können … ich fühlte abermals, wie die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit ineinander verschwommen. »Ich warte auf Ischtar«, versprach ich und machte ein paar Schritte in den Garten hinaus. Ich glaubte, ihn wiederzuerkennen. Versailles? Maurische Gärten in El Andaluz? »Wo ist sie? Wann kommt sie?« Mit der schuppigen Klauenhand zeigte der Seher auf die blühenden Bäume und antwortete: »Erwarte sie am schönsten Platz von Vassantor, unter den Bäumen der Ewigkeit. Für euch ist ein Festmahl unter dem Sternenbaum vorbereitet.« Ich nickte ihm zu. Die Worte der Stimme,
Hans Kneifel die in meinem Verstand flüsterte, schrie und dröhnte, verstand ich nicht mehr. Ich hob den Kopf. Eine Kaskade aus Blüten, blau und goldgelb, teilte sich. Zwischen dem Blumenvorhang, aus dem einzelne Blätter zu Boden rieselten, trat die Goldene Göttin hervor. Ischtar, meine große Liebe aus der Vergangenheit. Sie lebte, war zu mir zurückgekehrt. Ich war unfähig, mich zu bewegen, und murmelte vor mich hin. Ein einziger Gedankenbefehl würde den Klapphelm zurückschnellen lassen, und dann atmete ich die gleiche Luft wie Ischtar, redete mit ihr ohne Mikro und Lautsprecher, berührte sie, würde sie küssen können … Hingerissen starrte ich sie an. Ischtar trug keinen Schutzanzug. Ihr goldfarbener Körper war von einem jener weißen Kleider halb verhüllt, an die ich mich erinnerte. Goldfarbene Locken ringelten sich über die Schultern. Schmuckbänder lagen um die Handgelenke. Ihre goldenen Augen betrachteten mich erstaunt und erwartungsvoll. Ischtars Lächeln galt nur mir. »Nach so langer Zeit … nach so vielen Jahren …«, rief sie mir zu. »Es gibt also doch ein Wiedersehen, Kristallprinz!« »Mir fallen nicht die richtigen Worte ein, Ischtar«, antwortete ich stockend und breitete meine Arme aus. Ein mikroskopisch kleiner Impuls hinderte mich noch daran, den Raumanzug zu öffnen. Ich würde den Helm zurückklappen, wenn ich vor ihr stand. Mit unsicheren Schritten bewegte ich mich auf dem funkelnden Pfad auf Ischtar zu, dachte an ihre Schönheit und an die Luft, die wir gemeinsam atmen würden.
5. Störung im »Projekt Kyrlan« 25. Mai 1225 NGZ; 06.00 Uhr morgens Ein Schwarm aus etwa fünfzig faustgroßen Robotern stob aus der Öffnung im oberen Teil des Kardenmoghers. Wie eine kleine Wolke entfernten sich Tausende fun-
Mond der Visionen kelnder Mikroelemente aus dem Hohlraum. Einige Teile der indirekten Beleuchtung schaltete sich ab, dann schloss sich mit leisem Summen die Luke. Kythara stand auf der Plattform eines der zwei Dutzend schwebender Gerüste, hatte die Arme in die Seiten gestemmt und sah zu, wie sich ein zweites Segment des Raumschiffs von Robotern leerte; die Reparatur des gesamten Systems näherte sich nun zusehends dem Ende. Kythara ließ per Gedankenbefehl den goldenen Schutzanzug in die Höhe schweben, bewegte sich im Halbkreis vom Gerüst hinunter und zur Schleuse des Kardenmoghers. Atlan! Rede mit mir, Arkonide!, dachte sie. Sie rief ihn zum vierten oder fünften Mal und machte ihren telepathischen Ruf nachdrücklicher und dringlicher. »Keine Antwort«, flüsterte sie nach einigen Sekunden. Sie wollte wissen, wo er sich aufhielt und ob er den Hegnudger gefunden hatte. Sie landete in der Schleuse, schloss die Innentür und öffnete den Raumanzug, nachdem der Druckausgleich stattgefunden hatte. Ein weiterer Gedankenbefehl setzte die Kombüse in Gang. Kythara leerte einen großen Becher heißes Aufbaugetränk und zwang sich, eine mehrschichtige Energiepastete zu essen. Sie war davon überzeugt, dass Atlan aus schierer Neugierde von Raum zu Raum des sublunaren Systems schwebte und die varganischen Wunder der Vergangenheit bestaunte. … und zwischen seinen Erinnerungen nach dem Ersatzteil suchte. Noch einmal rief sie den Arkoniden; wieder blieb der kleine Kosmos der Leere zwischen ihnen ohne jeden Funken. Kythara holte sich ein Glas sprudelnden Mineralwassers. Sie setzte sich in der Zentrale vor die Pulte und die Holoprojektionen, trank unwillkürlich und ließ blitzschnell die Statistik der erfolgten Instandsetzungsarbeiten durchlaufen. Sie brauchte – vorausgesetzt, sie bekam bald den Hegnudger – nicht mehr als zehn, vielleicht zwölf Stunden, bis der Kardenmo-
33 gher wieder zuverlässig funktionierte. Schon in drei Stunden würde er flugfähig sein. Wieder hielt sie inne, unterdrückte ihre Beunruhigung und sandte einen telepathischen Ruf aus. Atlan lebte; der Ruf prallte zwar an Atlans gedanklicher Abschirmung ab, aber sie erkannte, dass der Arkonide verwirrt und entschlusslos war. Gleichzeitig lenkte sie ein zweites Gedankenmuster ab, das einem Varganen im Tiefschlaf entsprach. »Ich … Das kann ich nicht glauben«, wisperte sie und schloss die Augen. »Es kann nicht sein.« Abermals schweiften ihre hoch entwickelten varganischen Sinne durch die Umgebung. Unentdecktes Leben in den Kavernen des Mondes? Das Team des Kardenmoghers und Atlan waren die einzigen lebenden Wesen auf Vassantor. Es gab kein weiteres vergleichbar intelligentes Lebewesen! Und doch: Sie erkannte das Gedankenmuster eines Schlafenden. Und … sie erinnerte sich mit aller Schärfe genau daran. Einen Sekundenbruchteil lang suchte eine eisige Schwäche ihren gesamten Körper heim. Sie unterdrückte ebenso schnell diesen Impuls, aber der Keim der Furcht hatte sich bereits eingenistet. Sie war von ihren Erinnerungen gezwungen, sich diese und keine andere Persönlichkeit zu vergegenwärtigen. Sie dachte … … an KALARTHRAS. Kalarthras, der Leiter des Projekts Kyrlan. Damals. Ihr Geliebter. 6000 Jahre nach dem Übergang ins Standarduniversum. »Undenkbar …!«, hauchte sie. Als sie nach einiger Zeit wieder die Augen öffnete, sah sie im Halbkreis vor sich die blinkenden Anzeigen der Pulte, die Bilder der Holos und die Statusanzeigen der einzelnen Raumschiffssektoren. Die Rückmeldungen der mikropositronischen Sensoren mehrten sich. Die Reparatur ging in gewohnter Schnelligkeit problemlos weiter. Ihre Furcht wich einer von Skepsis, aber auch Neugierde gesättigten Erregung, die sie bis in die Fingerspitzen spürte.
34 »Vor mehr als fünfzig Jahrtausenden habe ich dich zum letzten Mal getroffen, Geliebter«, flüsterte sie. Zusammen mit ihren Erinnerungen schwangen ihre Gefühle verwirrt zurück in die Zeit, in der das Reich der Varganen seinen Höhepunkt erreicht hatte; damals war sie am gemeinsamen Projekt beteiligt gewesen. Kalarthras war der Projektleiter. Damals, so hatte sie es wahrheitsgetreu erklärt, stand die Wissenschaft in voller Blüte, »… und wir wollten noch nicht in den Mikrokosmos zurückkehren. Zahlreiche Projekte sicherten unseren Wohlstand und unser Reich.« In eines der großen Wissenschaftsprojekte war Kythara zumindest im Anfangsstadium eingebunden gewesen – ins Projekt Kyrlan. Kythara unterbrach ihre ultrakurzen Erinnerungen und lauschte wieder nach Impulsen. Sie empfing ein wirres telepathisches Signal Atlans und die ruhigen Schwingungen des Tiefschläfers. »Wo? Wie finde ich sie?«, fragte sie sich und suchte, während die Erinnerungen mit aller Macht und in zahllosen Bildersequenzen auf sie eindrangen, nach einer konstruktiven Möglichkeit. Im Leerraum rings um die Galaxis hatten die Varganen mit dem Bau von fünf PsiStationen begonnen. Sie wollten mit ihnen die Kosmischen Kräfte anzapfen und deren Energie speichern. Speicher sollten geschaffen werden, deren Kräfte den Varganen unbegrenzt und auf Dauer zur Verfügung stehen sollten. Maschinen wie der Kardenmogher waren nur ein Teil dieser Absichten; damals begannen die Schwierigkeiten – auch mit Kalarthras. Über die Richtung, in die das varganische Kommando dieses Projekt weiterentwickeln wollte, kam es zwischen Kythara und dem Leiter des Projekts zu ernsthaften Differenzen. Kythara schied, um den Streit nicht eskalieren zu lassen, halbwegs freiwillig aus und verlor im Lauf der Zeit das Projekt aus den Augen. Kythara holte tief Atem. Sie wusste nicht,
Hans Kneifel ob sie ihren Eindrücken trauen durfte. Mittlerweile ahnte sie, dass in den Kavernen Vassantors trotz der Kälte, des Staubs und des Verfalls so vieler Jahrtausende imaginäre Kräfte und Strömungen hausten, die sie trotz ihrer »Berechtigung« kaum kontrollieren konnte. Wo, bei allen kosmischen Wundern, hielt sich dieser weißhaarige Arkonide auf? Wo verbarg sich der Hegnudger? Und hatte der Umstand, dass im Verlauf so vieler Jahrhunderttausende drei der geschaffenen Stationen ein eigenes Bewusstsein der gehorteten, angesammelten psionischen Konzentrationen entwickelt hatten, etwas mit den gegenwärtigen Ereignissen zu tun? »Was hat Kalarthras ausgerechnet hierher getrieben, nach Vassantor?«, fragte sie sich. Ihre Erregung, die einen Stich aussichtsloser Verzweiflung in sich trug, wuchs. Noch konnte sie die Lage völlig kontrollieren. War Kalarthras ein Opfer dieser PsiQuellen? Von den Quellen waren – damals – einige der Versunkenen Welten über Transmitter direkt zu erreichen gewesen. Und umgekehrt! »Vielleicht hoffte mein Geliebter, von dem ich mich damals getrennt habe, mir auf Vassantor wieder zu begegnen?« Nein! Niemand konnte derlei über die gigantische Kluft so vieler Jahre, Jahrhunderte, Jahrhunderttausende mit auch nur minimaler Aussicht auf Erfolg planen! Sie trank, ohne es wirklich wahrzunehmen, das Glas leer und sammelte ihre Gedanken, Erinnerungen und Empfindungen. Was sie empfing und empfand, schien mit einer großen Wahrscheinlichkeit in den Bereich von willkürlich projizierten Visionen zu gehören. Als sie in ihren Gedanken die erste Störung definierte, ließ sie das Glas fallen und setzte sich auf. Wieder versteifte sich ihr Körper. Sie begriff innerhalb eines Sekundenbruchteils, dass sie selbst, Atlan, Gorgh und das Saqsurmaa in tödlicher Gefahr schwebten. In einer Gefahr, die weder sie mit all ihrer Erfahrung noch der Kardenmogher, noch irgendetwas anderes abwenden
Mond der Visionen
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konnten.
* Kythara drehte sich halb herum und musterte den insektoiden Wissenschaftler. Er schien in einem positronischen Dialog mit einem der Reparatur-Großelemente zu stehen, von denen die Schwärme und Kolonnen der Nanorobots gesteuert wurden. Auf seinen Facettenaugen spiegelten sich die Lichter, Farben und Bewegungen, die das kuppelförmige Hologramm der Zentrale ausstrahlte. Es zeigte die Aktivitäten der Einrichtungen im Reparaturhangar, rund um das Raumschiff. »Ich werde die Verantwortung über die letzten Reparaturphasen dir übertragen müssen, Gorgh-12«, kündigte Kythara an. Gorghs Fühler bewegten sich überrascht. »Das dürfte mich vor keine unüberwindlichen Barrieren stellen«, antwortete er augenblicklich und senkte den Kopf. »Dich hat sicherlich die Arbeit in der Halle ermüdet. Als Teammitglied übernehme ich gern deine Aufgabe. Oder … Ah! Ich verstehe … Unser unternehmungslustiger Arkonide ist es, der dich abkömmlich macht.« Gorgh-12 betätigte mit knisternden Klauengelenken einige Schaltungen. Einige Felder in der Pultfläche, die bisher aufgeregt geblinkt hatten, erloschen, und andere glommen auf. »Und mentale Ausstrahlungen aus der Vergangenheit … unsere wagemutige Gruppe bewegt sich in der Tat durch unfassbar weite Zeiträume.« »Und deswegen muss ich mich auf eben diese Seltsamkeiten konzentrieren«, schloss Kythara und blieb neben der Schleusenluke stehen. »Wahrscheinlich muss ich zur Kontrollstation vordringen. Nur dort kann ich einen umfassenden Überblick bekommen.« »Wir bleiben in Kontakt«, rief Gorgh. Seine Stimme erhielt einen eigentümlich sirrenden Unterton. »Ich helfe dir, wenn es notwendig sein sollte.« Kythara nickte, hob winkend die Hand und streifte sich auf dem Weg zur Außen-
schleuse – auch dieser Sektor hatte sich zum Teil neu gestaltet – sorgfältig die Handschuhteile des Anzugs über. Erst sehr viel später hatte Kythara erfahren, dass im Verlauf der Jahrhunderttausende drei der Stationen eigenes Bewusstsein entwickelt hatten. Die psionischen Ballungen, die dort über so lange Zeit gesammelt und gespeichert worden waren, ließen die Stationen seither im Psi-Bereich strahlen. Man konnte auch sagen, im UHF-Bereich waren sie zu reinen Psi-Quellen geworden. Von diesen Stationen aus waren einige der varganischen Versunkenen Welten direkt zu erreichen, und ebenso leicht führten die Wege von den Welten zu den Stationen. In dieser Problematik lag das Zerwürfnis Kytharas mit Kalarthras begründet. Die Varganin schloss den metallisch goldenen Anzug, ließ die Mikropositronik einen Check durchführen und wartete, bis sich die innere Schleusenluke geschlossen hatte. Ihre Gedanken waren bei Kalarthras: Was hatte ihn ausgerechnet hierher getrieben? Hatte er etwa erwartet, sie auf Vassantor zu treffen? Vor mehr als 50 Jahrtausenden waren sie einander zum letzten Mal begegnet. Während Kythara mit einfachen Gedankenbefehlen den Schutzanzug quer durch die Halle steuerte und auf die kleine Schleuse neben dem Riesenportal zuhielt, suchte sie intensiv nach Kalarthras' und Atlans mentalen Emissionen. »Ich weiß nicht, was mich stört … noch nicht«, sagte sie und lauschte auf den Nachklang ihrer Worte. Erst als sich die äußere Luke öffnete und nachdem der Staub langsam zu Boden gerieselt war, begann Kythara zu verstehen, dass Kalarthras' Varganenbewusstsein denjenigen zu entsprechen schien, die nach der Rückkehr in den Mikrokosmos in der Eisigen Sphäre die Fähigkeit der »Bewusstseinsprojektion« entwickelt hatten. Ein untypisches Muster! Stammte es wirklich von ihrem ehemaligen Geliebten? Durch das Material des Helms strahlte das weiße Licht der Sonne. Kythara orientierte
36 sich mit einem langen Blick und ließ den Anzug aufwärts schweben, kippte den Körper nach vorn und setzte die Geschwindigkeit herauf. In direktem Kurs flog sie auf den Mittelpunkt-Hügel zu, voll innerlicher Unruhe, aber zielstrebig und wachsam. Sie verzichtete auf den Schutz des VragonEnergieschirms und glitt über Trümmer, Raumschiffsüberbleibsel und Zeugen der ehemaligen Stadtstruktur hinweg; alles von einer dicken Staubschicht fast bis zur Unkenntlichkeit bedeckt. Ein Gedankenbefehl erreichte eine Überwachungsautomatik, die nach erstaunlich kurzer Reaktionszeit zum Leben erwachte. »Aber … Kalarthras blieb, rebellisch, wie er war, im Standarduniversum zurück«, überlegte Kythara laut. »Würde auch ich, vielleicht, diese Fähigkeit erreichen können?« Sie erinnerte sich an Magantilliken. Der varganische Henker hatte, wenn auch lediglich für kurze Zeit, einen anderen Körper übernehmen müssen, ehe er sein Bewusstsein an andere Orte versenden konnte. Damals, als man entdeckte, dass man die Eisige Sphäre auf geistigem Weg verlassen konnte, hatten sie nach Begriffen gesucht, diesen Prozess zu kennzeichnen: Bewusstseinsteleportation, Parapoltransmission, Geistestransfer oder Bewusstseinsprojektion? Kytharas Anzug-Normalfunkgerät empfing einen Peilstrahl, der die Trägerin in die Nähe des Zentralrechners bringen sollte, in eine funktionierende Schleuse und ein zielführendes System aus Gängen und Kammern tief in der Basis des Hügels. Nur Varganenkörper konnten übernommen werden; Körper von konservierten und sterilisierten Gestorbenen in speziellen Behältnissen. Diese konservierten Toten blieben die einzige Möglichkeit für Bewusstseinstransfer. Es gelang niemals, das Bewusstsein in einen lebenden Körper zu versetzen. Überdies gab es tödliche Fristen: Das Bewusstsein musste nach einer bestimmten Zeit den Körper wechseln oder in die Eisige
Hans Kneifel Sphäre zurückkehren. Dieser Umstand ermöglichte es Magantilliken damals, auftragsgemäß die varganischen Rebellen zu jagen. Kythara bremste den Antrieb ab, orientierte sich und änderte geringfügig die Richtung und die Flughöhe. Noch immer war sie auf der Spur Atlans und Kalarthras'. Beide Impulse waren vage und mehrdeutig. Der Anzug hielt keine zwanzig Meter vor der Hügelflanke im eisigen Pseudovakuum des Mondes an. Magantilliken hatte aus den Gesprächen mit einigen seiner Opfer bedenkenswerte Einzelheiten erfahren, die er nicht hatte deuten können. Manche Varganen redeten von typisch varganischen Spuren, die aber keinesfalls von ihnen stammten; die Silberkugeln, die im Dreißig-Planeten-Wall die Welten miteinander verbanden, schienen ein solcher Beweis zu sein. Ein Gedankenbefehl öffnete die Schleuse. Wieder kam die dicke Staubschicht in Bewegung, Risse und Sprünge entstanden, kleine Staubklumpen fielen ins Innere einer Schleusenkammer, deren Beleuchtung in rasend schnellem Rhythmus flackerte. Kythara schwebte hinein, ließ sich zu Boden sinken und legte die Hand mit gespreizten Fingern auf eine Kontaktfläche. »Ich bin Kythara, Rhatgit Kherop. Auf dem Weg zur Zentrale.« Sie erhielt keine Antwort, spürte aber, dass sich tief im Fels uralte Schaltungen bewegten; ebenso wie im Reparaturhangar. Sie wartete in steigender Ungeduld. Einige der Rebellen waren davon überzeugt gewesen, dass viele der Legenden, Mythen und religiös gefärbten Überlieferungen über das Dogma der Totenkonservierung mit jenen Spuren zusammenhingen. Vielleicht gab es auch einen Zusammenhang mit den Unbekannten, die von Atlans Geliebter damals die »verschollenen Varganen« genannt worden waren. Als Kythara an diesem Punkt ihrer Erinnerungen angelangt war, öffnete sich die innere Schleusenluke. Eine beleuchtete Halle,
Mond der Visionen deren kuppelförmige Decken aus dem Fels herausgeformt worden waren, empfing die Varganin. Entlang der Wände standen kubische Elemente, deren Vorderfronten in verschiedenen Farben glommen. Kythara schritt schneller aus und unterdrückte die Erinnerungen aus der fernen Vergangenheit; die Schlussfolgerungen aus diesen Erinnerungen und Berichten waren möglicherweise überaus weit reichend. Sie ließ nach einigen weiten Schritten den Anzug aufsteigen und las die Werte der Luftanalyse ab: genügend Druck, erträgliche Temperatur, nahezu staubfrei und nicht atembar. Sie zögerte kurz, den VragonSchutzschirm zu aktivieren, entschied sich schließlich dafür und schwebte durch die Höhle, deren Aussehen an eine übermäßig stilisierte Kathedrale erinnerte. Nichts bewegte sich, niemand hielt die Varganin auf, keine Sperren oder Fallen hinderten sie, die Halle zu durchqueren und in einen lichterfüllten Korridor hineinzuschweben. Zwei lange Reihen aus Schaltschränken bildeten die Wände. In unregelmäßigen Abständen unterbrachen Bildschirme, Holoprojektionen und offene Fronten die metallenen Flächen. In der Luft vor den Öffnungen hatten sich Schwärme aus Nano- und Mikrorobots gebildet, die emsig wie positronische Bienen die uralten varganischen Schaltungen kontrollierten oder instand hielten. Kythara drosselte die Geschwindigkeit und prägte sich die Bilder ein, die sie im Vorbeifliegen erkannte. Es waren meist unbewegte Szenen aus anderen Teilen der sublunaren Anlage. Aber auf einigen Schirmen und in Holos sah sie Teile der damaligen Stadt: die Burg, Straßen und Bauwerke, einen liebevoll angelegten Garten, Flusslandschaften, in denen Boote voller Vassantor-Bewohnern ihre Heckspuren zogen, riesige Wohnräume … und schließlich, in mehreren großen Holoprojektionen, jene herrlich eingerichteten Räume, die sie selbst bewohnt hatte. »Ach«, wisperte sie und gestattete sich einen langen, wehmütigen Augenblick der
37 Erinnerungen an unwiederbringlich vergangene Zeiten, »es waren herrliche, aufregende Jahre. Ein Aufbruch der Phantasie, der intelligenzfunkelnden Freiheit und …« Ob Atlan auf seiner Suche solche Bilder gesehen hat?, fragte sie sich, als sie einen der Räume wiedererkannte, die die Kontrollstation schützend umgaben. Auch sie gehörten zur einst vertrauten Umgebung, die sie wie ein kompliziertes Bild aus Mosaiksteinchen wiedererkannte. Sie bremste mitten in der würfelförmigen Kaverne, drehte sich langsam um ihre Achse und sah zu, wie in den Schaltpulten zwischen den Projektoren der Abwehr- und Verteidigungswaffen Warnlichter aufflammten und haarfeine, farbige Strahlen durch den Raum zuckten. Sie wurde von mehreren Prüfeinrichtungen abgetastet. Der Zentralrechner verarbeitete die Informationsströme binnen weniger Sekunden und gab das Panzerschott in der stahlverkleideten Felswand frei. »Finde ich hier irgendwo den tiefschlafenden Kalarthras?«, fragte Kythara laut und sah zu, wie sich die sieben Segmente des Schotts zurückzogen. »Hat er womöglich diese Übernahme-Fähigkeit erringen können? Und könnte mir eine vergleichbare Fähigkeit erwachsen?« Sie schwebte einen halben Meter über dem Boden durch die Öffnung. Ein röhrenförmiger Gang schloss sich an, ein weiteres Schott fuhr lautlos auseinander und gab den Durchgang frei. Dahinter erkannte Kythara die Zentrale. Sämtliche Elemente des Rechners waren in Säulen, Stufen, Architraven und Statuen verborgen; die ganze Anlage glich einem Tempel, der seinerseits frei im sternenübersäten Weltraum schwebte. Auch diese virtuelle Darstellung war Kythara vertraut. Das Tiefengestein des Mondes war als mathematisch vollkommene Kugel ausgehöhlt worden. Auf einem Felspfeiler stand der Tempel, das Weltall setzte sich aus einer riesigen Menge von Holoprojektionen zusammen. Sie zeigten das Aussehen und den Zustand der kosmischen Umgebung
38 aus einer Zeit, die mehr als eine halbe Million Jahre zurücklag. Kythara lächelte und schwebte auf die unterste der Stufen zu, die als Teil der Treppen aus poliertem weißem Stein auf allen Seiten des rechteckigen Tempels zu den Säulensockeln hinaufführten. Sie desaktivierte den Antrieb, nicht aber den Schutzschirm. Als ihre Sohlen den Boden berührten, sprach sie: »Ich, die Rhatgit Kherop Kythara, habe deine Hilfe angefordert. Der Zentralrechner hat mir und meinem Raumschiff geholfen. Jetzt brauche ich abermals deine Hilfe.« Die Echos ihrer Stimme, die von den Außenlautprechern drastisch verstärkt wurde, hallten durch den holografischen Weltraum. Augenblicklich antwortete der Zentralrechner: »Du bist als weisungsberechtigte Varganin erkannt, Kythara. Aber durch das Einwirken feindlicher Mächte sind meine Möglichkeiten eingeschränkt.« »Erkläre die Ursache der Einschränkungen!«, verlangte sie verblüfft. »Gegenwärtig laufen gewisse Schutzroutinen«, sagte der Zentralrechner. Seine Stimme glich jetzt der eines alten, weisen Varganen, dessen Lebensinhalt die Mythen und die präreligiösen Glaubensfragen geworden waren. »Meine Rezeptoren haben einen Übergriffsversuch entdeckt.« »Meine Sorge gilt zunächst dem Hegnudger«, sagte Kythara. Die Antwort des Rechners erschreckte sie. Wer außer ihr wäre in der Lage, überlegte sie, die Sensoren des Rechners in derartig dramatische Aufregung zu versetzen? Hier und jetzt gab es niemanden außer ihr! Sie kannte sicherlich nicht alle technischen Möglichkeiten des Rechners, wohl aber die meisten, und konnte daher die Größenordnung der Störung abschätzen. Sie redete weiter und betrachtete die Darstellung glimmender Sterne hinter bizarren Wolken aus stellarem Gas und Staubwolken. »Ist er an den Berechtigten übergeben worden?« »Er hat ihn, ausgeführt in einer würdigen Zeremonie, von mir erhalten.« »Wo finde ich ihn?« Der Rechner schien nachzudenken oder in
Hans Kneifel Speichern mit gigantischer Kapazität zu suchen. Schweigen. Nach neun Sekunden sagte die Stimme, die zwischen den virtuellen Säulen hervorhallte und als Echo von den Sternen zurückkam: »Darüber habe ich keine Information.« Kythara erschrak. Die vage Furcht, die sie seit Stunden empfand, wurde unverkennbar zur Angst. Angst um Atlan und um die Existenz des Kardenmoghers und seiner Insassen. Die kostbare Zeit verrann in beängstigender Geschwindigkeit.
6. Chaos, Angst und Flucht 25. Mai 1225 NGZ; 22.46 Uhr Kythara betrachtete einige Sekunden lang den Tempel und die Sterne, die für sie zweifelsfrei eine Serie hervorragender varganischer Holoprojektionen darstellten. Selbst ein Zentralrechner, der nach so langer Zeit noch arbeitete, würde mit den Möglichkeiten seiner Kapazität und denjenigen der Speicher und des technologischen Aufwandes spielen. Die Projektionen waren wertfrei, bedeuteten nichts; die innewohnenden Informationen bedeuteten alles. »Wenn nicht von dir – woher bekomme ich ausreichende Informationen?«, erkundigte sie sich laut. In ihrem Rücken blitzten und funkelten die Signale eines Transmitters. Der Zentralrechner gab abermals keine Antwort. Die Sekunden verstrichen ereignislos, und Kythara fragte sich, wie groß die persönliche Gefahr für sie und Atlan war und ob sie sich während dieses Schweigens der Ratlosigkeit vergrößerte. »Du musst es selbst herausfinden!« »Atlans Auseinandersetzung mit dem Seher Vrentizianex ist lange her, aber sie war intensiv«, antwortete sie. »Ist es denkbar, dass dieser Streit in der Gegenwart von Bedeutung ist?« »Dein Begleiter, der Rhatgit Kherop Atlan, verströmt seit einigen Stunden starke Emissionen. Sie sind identisch mit den men-
Mond der Visionen talen Emanationen, die denen des Kyriliane-Sehers entsprechen.« Während sich Kythara rückwärts gehend Schritt um Schritt auf den Transmitter zurückzog, nach allen Seiten sichernd und abwehrbereit, drang die Stimme nach wie vor machtvoll zwischen den Tempelsäulen hervor. »Mentale Emanationen?«, sagte sie in höchstem Erstaunen. »Der Seher Vrentizianex? Das ist undenkbar! Unmöglich!« »So erschien es auch mir zunächst.« Die Stimme strömte leichte Panik aus. Die Lichteffekte innerhalb des Transmitterfeldes verstärkten sich. »Aber nach erheblicher Rechen- und Speicherarbeit kam ich zwangsläufig zu dem Schluss, dass es dem verbannten Seher gelang, einen Seelentransfer durchzuführen. So, wie es vom Henker Magantilliken und anderen bekannt ist.« »Kaum vorstellbar«, rief Kythara. »Aber falls es den Tatsachen entspricht: Was bedeutet es für mich und Atlan?« Der Zentralrechner schien in seiner Ausarbeitung eine hohe Ebene der Sicherheit erreicht zu haben. Seine Stimme klang bestimmt und fuhr ohne Zögern mit den Antworten und Erklärungen fort. Zwischen den Tempelsäulen breitete sich ein rötliches Leuchten aus. »Eines meiner Subprogramme aktivierte eine Visionsmaschine. Sie arbeitet auf paranormaler Basis und erzeugt eine Reihe von Traumsequenzen, die für den Verurteilten definitiv tödlich sein werden.« Atlan, musste Kythara voll Verwunderung und Angst begreifen, strahlte die gleichen Emissionen wie der Seher Vrentizianex aus! Es war im Augenblick völlig bedeutungslos, wie dieser angebliche »Seelentransfer« stattgefunden haben mochte. Der Seher war verurteilt worden, und der Rechner und dessen Visionsmaschine würden mit mathematischer Gründlichkeit das Urteil vollstrecken. Sie handelte augenblicklich und rief: »Bringe mich zum Verurteilten! Ich werde die Arbeit deiner Maschine unterstützen. Der Traum der Maschine reicht
39 nicht aus – der Rhatgit Kherop ist mit unglaublich mächtigen Kräften ausgestattet.« »Betritt den Transmitter! Ich bringe dich in die Nähe des Opfers.« Kytharas Hände glitten, während sie mit wenigen Schritten im Schnittpunkt der Anlage stand und dem Blitzgewitter standhielt, zu ihren Waffen. Den Schutzschirm aktivierte der nächste Gedankenbefehl, und wahrscheinlich, sagte sie sich, wusste Atlan, dass sein wirklicher Tod unmittelbar bevorstand. Sie spürte weder den Entstofflichungsvorgang noch die Aktion des Gegengerätes. Dann sah sie Atlan. Er schien nicht mehr zu leben.
* Ich war nicht mehr in der Lage, das Chaos in meinem Inneren zu analysieren und dagegen anzukämpfen. Es gab keine Grenze mehr; alles verschwamm zu einem gefährlichen Gebräu aus Hilflosigkeit, Trotz, Mutmaßungen und Furcht. Ein unendlich kleines Teilchen des alten Atlan, so, wie ich mich – ihn! – kannte, kreiste hilflos um den Zustand und beobachtete, ohne einzugreifen zu können. Ich glaubte Stimmen zu hören. Ich war sicher, durch einen Spiegel in eine Welt eingetreten zu sein, in der nichts mehr von den festen Punkten meines bisherigen Lebens galt. Alles war anders. Es war ein »Nahtod-Erlebnis«, das ich mit allen meiner Sinne erlebte – bis zum Ende. Dieses Ende stand unmittelbar bevor. Aber da war Ischtar, schön und fremd, dennoch so vertraut wie nie zuvor, begehrenswert und fremder als der Kern einer unbekannten Galaxis. Sie blickte in mein Gesicht; der Ausdruck ihrer Augen – mein geschundenes Ich erinnerte sich an dessen Bedeutung! – bohrte sich tief in den Rest Gefühl, der mir noch geblieben war. Wir gingen, Hand in Hand, durch die leuchtende Pracht des Gartens, auf den riesigen Baum in dessen Mittelpunkt zu. Eine raschelnde Hecke voller duftender Blüten versperrte uns den Weg.
40 Ischtar zog mich sanft und beharrlich durch einen Teil des Gartens und in den Kreuzgang hinein. Ich staunte sie von der Seite an; noch war der richtige Zeitpunkt, über unser Treffen zu reden, nicht gekommen. Wir verließen vor der sorgfältig beschnittenen Hecke den Garten und gingen über knirschenden Kies in den dämmerigen Kreuzgang hinein. An den Wänden sah ich Hologramme oder wirkliche Abbildungen von Männern und Frauen. Varganen. Die aufrecht stehenden Halbplastiken wirkten wie die inbrünstig gemeißelten Deckel uralter Gräber. Katafalke für Varganen, die vor vielleicht einer Million Jahren den Mond Vassantor besiedelt oder auf anderen Welten Städte errichtet oder Wunderwerke erschaffen hatten? Mich beseelte nur ein Gedanke: ISCHTAR! Sie führte mich über die Bodenplatten des Kreuzgangs, deren jede einzelne ein mosaikhaftes Bild trug; ein Symbol, ein Schriftzeichen, eine Zahl. Unsere leisen Schritte gingen im Säuseln des Windes und den Lauten der Singvögel unter. Ich genoss durch den Handschuh hindurch den Druck von Ischtars bloßen, goldfarbenen Fingern. An einer anderen Stelle traten wir aus dem Halbdunkel wieder ins helle Licht hinaus. »Setzen wir uns, mein Liebster«, bat mich Ischtar. Im Schatten des Baumes war ein großer Tisch mit weißem Leinen gedeckt. Vier hochlehnige, gepolsterte Stühle umstanden das Kopfende. Blütenblätter lagen zwischen Krügen, Pokalen, Tellern, funkelndem Besteck und großen Schalen und Platten, auf denen sich Leckerbissen häuften. Ischtar führte mich zu einem Sessel und nahm mir gegenüber Platz. Ich setzte mich und streckte erleichtert meine Beine aus. Vor uns standen langstielige Gläser, in denen bernsteinfarbene Flüssigkeit perlte – unbewusst dachte ich an alten terranischen Champagner. Plötzlich, wie in einem elektrischen Schock, spürte ich nagenden Hunger und
Hans Kneifel folternden Durst. Aber der Anblick Ischtars lenkte mich ab. Für wen waren die beiden anderen Gedecke bestimmt? Ein Impuls, ebenso plötzlich wie das Durstgefühl, durchfuhr mich vom Scheitel bis zur Sohle. Du hast alle Zeit des Universums. Warte ab! Buchstäblich alles in deiner Umgebung ist viel zu vollkommen! Vielleicht ist auch Ischtar nichts weiter als eine perfekte Maske – denke an deine eigenen Masken! Ich streckte beide Hände aus. Die Rechte legte ich auf Ischtars Finger und fühlte die Wärme ihres Körpers, die in die Spitzen ihrer wunderschönen Finger mündete. Mit der Linken ergriff ich das Glas, hob es und wollte es zu den Lippen führen. Mit hellem Klingen stieß der geschliffene Rand gegen die Helmwölbung des Anzugs. Ich betrachtete fassungslos das Glas, setzte es wieder ab und begann einen Gedankenbefehl zu formulieren. Aber nur widerwillig, wie in zähem dunkelgrauem Öl, fügte sich ein Gedanken-Wort an das nächste. »Wie hast du herausfinden können«, hörte ich mich fragen, »dass ich heute hier bin und dass wir uns hier treffen können?« Uralte mnemotechnische DagorTechniken ermöglichten meinem irregulär tobenden Restverstand diese Frage. Mit schmelzendem Lächeln anwortete Ischtar: »Erinnerungen und Maschinen, varganische Technologie und eine Reihe winziger Zufälle – und hier bin ich.« Sie hob ihr Glas und strahlte mich über dessen Rand an. »Trink endlich, Liebster. Für endlose Gespräche ist noch Zeit genug. Nachher.« Ich zögerte. Überdies sah ich mich noch nicht in der Lage, den Gedankenbefehl zur Öffnung des Schutzanzugs zu formulieren. Hier lief vieles falsch. Welche Empfindungen entsprachen der Wirklichkeit, welche kamen aus der rätselhaften Umgebung? Ich blickte mich auf der gedeckten Tafel um: Das Essen, das Besteck, all die Leckerbissen, so raunte es mir eine innere Stimme zu, kannte ich. Ihr Anblick und ihr Geschmack entstammten hundert verschiedenen bewus-
Mond der Visionen sten Momenten: Arkon, Larsafs dritter Planet, andere Orte – blitzartig aufsprudelnde Erinnerungen aus mehr als zehn Jahrtausenden. Zu jedem Gericht gab es eine Geschichte, die viel Speicherplatz füllte. »Danach. Wonach?«, fragte ich. Ein winziger Vogel mit flammend leuchtendem Gefieder landete am Rand einer Muschelschale und begann an den Körnern eines schwarzen Gewürzes zu picken. »Nach dem ersten Schluck zu unserer Feier der Wiedervereinigung!« Die leeren Plätze schräg gegenüber und rechts von mir wurden plötzlich besetzt. Aus den Augenwinkeln erkannte ich zwei wuchtige, männliche Gestalten. Wenn ich sie genauer ins Auge fassen wollte, verschwanden sie allerdings. Es war, als würde ich, um meinen Schatten sehen zu können, in die Sonne blicken. Aber ich wusste, wer an unserem seltsamen Gastmahl teilnahm: Magantilliken und der Seher Vrentizianex. Sie hatten von mir Besitz genommen – sie waren ich, ich war sie, in dieser Welt jenseits aller Spiegel, in der ich mich mit Ischtar unterhielt. »Wie alt ist Chapat?«, fragte ich. »Lebt er noch? Was tut er? Kommt er hierher?« »Sorge dich nicht um ihn«, belehrte mich meine offensichtlich unsterbliche Geliebte. »Du triffst ihn, wenn wir Vassantor verlassen haben.« Sie nahm einen tiefen Schluck aus dem Glas mit dem perlendurchzogenen Inhalt. Ihr Lächeln, das einst mein Herz gebrochen hatte, galt nur mir. Sie ignorierte die beiden Gestalten, die neben uns auftauchten und wieder verschwanden wie Gedanken am Ende eines Traums. »Nun ist es wohl endgültig an der Zeit«, verstand ich, »dass ich über die letzte Grenze gehe, die deine von meiner Welt trennt.« »Recht so!«, polterte Vrentizianex neben mir. Als ich ihn ansehen wollte, löste er sich auf. »Alles ist vergessen und vergeben. Die Vergangenheit ist obsolet!«, rief Magantilliken. Ich blinzelte; sein Sessel war leer wie
41 die Schale an seinem Platz. Trotzdem hörte ich: »Nur Mut, Arkonide!« Ich schloss die Augen, holte tief Luft, öffnete sie und wandte mich ihnen zu. Sie waren verschwunden. Nur ein Pokal voll rotem Wein schwebte in der Luft, senkte sich schwankend und verschüttete seinen Inhalt auf das strahlend weiße Tuch. Ich hatte den gesamten Gedankenbefehl für die paramechanisch erfolgende Öffnung des Helms, einen kurzen Satz, mehr ein Impuls als eine willkürlich gewählte Folge von Worten, endlich bereit. Ich hob abermals das Glas, schenkte Ischtar ein verlorenes Lächeln und öffnete den Schutzanzug. Die Blase des Helms schien sich aufzulösen, die physikalisch wirksame Schale zog sich in den Kragen zurück. Die Welt verschwand. Ich rang, einen Atemzug später, hilflos nach Luft. Meine Hand, die eben noch das Glas gehalten hatte, war leer. Der Schatten des Baums löste sich auf, die Kälte des Vakuums erreichte, nachdem die geringe Menge warmer Atemluft zerstoben war, meine Gesichtshaut. Ich verlor den Halt, presste meine Unterarme vor das Gesicht und fühlte, wie ich langsam vom Sitz kippte. Ich schlug zu Boden und krümmte mich in Embryonalhaltung zusammen. In meinem schwindenden Bewusstsein suchte ich nach den richtigen Worten, um den Anzug wieder schließen zu können. Jetzt wusste ich es unumstößlich. Innerhalb weniger Minuten würde ich tot sein. Atlan Gonozal starb in der eisigen Einsamkeit des Mondes Vassantor.
* Kythara war mit drei weiten Schritten aus dem energetischen Gefüge des Transmitters förmlich hinausgesprungen. Ein blitzschneller Rundblick zeigte ihr, dass sie sich in einem ihrer Wohnquartiere befand. Wie unendlich lange war es her! Dann überstürzten sich die Ereignisse und ihre Reaktion darauf.
42 Die Sensoren des Schutzanzugs reagierten ebenso schnell wie sie selbst mit ihren varganischen Sinnen. Vor Sekunden noch waren die Räume bewohnbar gewesen, mit warmem Gasgemisch gefüllt. Jetzt heulte sekundenlang ein Sturmstoß aus einer Öffnung, die sie noch nicht kannte. Ihre Blicke folgten dem aufgewirbelten Staub, der aus fast allen Richtungen herangewirbelt wurde und das eben noch geschlossene System fauchend verließ. Der Staub wurde durch eine Öffnung der raumhohen Glaswand auf der untersten Ebene der Wohnanlage hinaus ins Vakuum gesogen. Kythara breitete die Arme aus und sprang vorwärts, dirigierte den Anzug über eine Brüstung, ein Dutzend Meter tiefer und hinaus durch die weit geöffnete Glastür. Vor ihr lag im weißen Sonnenlicht eine staubbedeckte, viereckige Fläche von der Ausdehnung, die dem Mehrfachen des Reparaturhangars entsprach. In der Mitte der Ebene erhob sich ein Podium, auf dem ein zerbrochener Säulenstumpf von etwa zehn Metern Höhe stand. Davor erstreckte sich ein kantiger Block, der größer war als ein Tisch. Eine zusammengekrümmte Gestalt in einem golden-metallischen Schutzanzug lag neben dem steinernen oder metallenen Block. Kythara eilte im inzwischen lautlosen Staubsturm ins Freie hinaus. Die Sensoren des Anzugs registrierten augenblicklich das Vakuum und die Weltraumkälte. Keine andere Lichtquelle existierte mehr; die langen Schatten der tief stehenden weißen Sonne lagen über der staubigen Ebene. Es gab nur eine Erklärung: Bei der reglosen Gestalt handelte es sich um Atlan. Kythara raste in Höchstgeschwindigkeit über die Distanz von rund 70 Metern auf den Block zu. Ihre Blicke und die Abfolge ihrer Handlungen konzentrierten sich auf den Arkoniden, aber sie nahm wahr, ohne es bewusst zu registrieren, dass auf der Fläche jenes Tisch-Blocks eine gefrorene Blüte, ein reifbedecktes Vogelgerippe und die Scher-
Hans Kneifel ben eines langstieligen Glases lagen. Eine dünne Staubschicht breitete sich auf dem Block aus. An einer Stelle zeichneten sich im Staub die Spuren von Unterarmen und einzelnen Fingern ab. Sie bildeten wirre Muster auf der Fläche. Kythara kam hart auf. Ihre Stiefelsohlen berührten den Boden und zogen eine zehn Meter lange Doppelspur. Der Vragon-Schirm baute sich auf, dehnte sich aus und erstarrte in dem Augenblick als energetische Blase, als Kythara ihre Arme unter Atlans Körper geschoben und ihn hochgehoben hatte. Er hatte die Unterarme vor dem Gesicht verschränkt und bewegte sich nicht. Sein Anzug war staubbedeckt und eiskalt, ein Rest feuchter, warmer Luft, die nach Schweiß roch, strömte aus der Helmöffnung, als Kythara den Radius ihres VragonSchirms erweiterte und ihren Anzug in die Höhe schweben ließ. »Ich rufe Gorgh im Raumschiff«, sagte sie laut. »Notfall! Innere Schleusentür schließen, Notstart vorbereiten!« Der nächste Gedankenbefehl setzte den Grundumsatz ihres eigenen Schutzanzugs um 100 Prozent herauf und öffnete ihren Helm. Kühle, sauerstoffreiche Luft fauchte an ihrem Kopf vorbei in Atlans Gesicht. Sie riss die Schutzklappe von den Schaltern und Knöpfen der Außen-Notsteuerung am Ende des sichelförmigen Kamms im Nacken von Atlans Anzug herunter, drückte die Kontakte und drehte beide Regler. Die Automatik schloss augenblicklich Atlans Anzughelm und schlug dabei seine Arme zur Seite. »Bestätigt«, hörte sie den Wissenschaftler über Funk. »Übernimmst du die Kommunikation mit dem Zentralrechner?« »Bin schon dabei!« Zwei weitere präzis ausformulierte Gedanken sicherten Atlans Klapphelm und regulierten die Innenversorgung mit temperierter Atemluft neu ein. Ein Überdruckventil aktivierte sich fast von sich selbst. Langsam drehte sich Kythara, in zwanzig Metern Höhe schwebend, einmal um sich
Mond der Visionen selbst und prüfte jede Einzelheit ihrer Umgebung. Sie erkannte mit einem Blick, dass sie, Atlan an sich pressend, auf halber Höhe des zentralen Hügels über einer scheinbar natürlichen kleinen Ebene der Hügelflanke schwebte. Der Kardenmogher im Hangar, dessen Portale geschlossen waren, war mehr als 20 Kilometer entfernt, für sie unsichtbar in der Flanke eines Berges. Die Ortungsgeräte sprangen an. Kythara hielt Atlan an sich gepresst, zog mit der Rechten aus den Gürtelelementen zwei Sicherheitshaken und ein Stück Trosse. Sie klinkte die Haken in Atlans Gürtel ein, die Servos strafften die dünnen Leinen. Weitere Gedankenbefehle aktivierten die optische Anzeige der Ortung und riefen die Ergebnisse ab, zwei Sekunden danach kannte sie die Position der geschlossenen Hangartore. Sie beschleunigte den Anzug auf Höchstgeschwindigkeit und blieb zwei Dutzend Meter über dem Boden, als sie das Ziel aufgenommen hatte. »Atlan!«, sagte sie drängend. »Hörst du mich? Kannst du mich verstehen?« Der Helm seines Schutzanzugs war zuverlässig geschlossen, die Innenversorgung arbeitete teilweise unter höchster Belastung, die Mikropositronik ihres Anzugs korrespondierte rasend schnell mit derjenigen des Atlan-Anzugs. Sie verringerte den Durchmesser des Schutzfeldes und klinkte den anderen Anzug an einer weiteren Stelle am eigenen an. Atlan gab keine Antwort. Aber sie hörte ihn keuchen, atmen, husten, Undeutliches murmeln. Sie hatte in ihrem langen Leben so viele Sterbende gesehen, hatte selbst töten müssen, aber sie wollte nicht einmal einen Wimpernschlag lang daran denken, dass Atlan starb. Sie hielt ihn, den »Unsterblichen«, wie sich selbst für ein Wesen, das unverletzlich war und buchstäblich jede Gefahr überlebte. Zwanzig Sekunden später hatte Kythara alles unter Kontrolle und konnte sich um den Arkoniden kümmern. Atlan atmete hastig, er röchelte, aber er war nicht mehr be-
43 wusstlos. Kythara konnte nicht erkennen, ob Atlan geistig oder körperlich ernsthaft geschädigt worden war, dazu fehlten ihr die Diagnosemöglichkeiten; seine Augen waren geschlossen, die Lippen gerötet, und die Haut des Gesichts schien unversehrt zu sein. Sie schaltete sich in die Funkverbindung mit dem Zentralrechner ein und rief: »Der Verurteilte ist von der Wirkung der Visionsmaschine getötet worden. Ich bringe ihn in den Kardenmogher. Wir fliegen ihn von Vassantor fort.« Die Antwort erfolgte unmittelbar. Der Rechner schien den Tod des Fremden nicht nur beschlossen, sondern auch herbeigeführt zu haben. »Die mentalen Emissionen sind erloschen«, stellte der Rechner sachlich fest. »Wenn du das tote Subjekt von hier fortschaffst, werde ich dich nicht daran hindern.« »Hast du feststellen können, ob tatsächlich ein Seelentransfer stattgefunden hat?« Kythara und Atlan rasten in Höchstgeschwindigkeit über die versunkenen Ruinen und den Staub, quer über die freie Fläche des Kraters, auf die charakteristische Formation von vier Gipfeln des Ringgebirges zu. Im Licht ihres Helmscheinwerfers, den Strahlen der fernen kleinen Sonne und einiger großer Sterne wirkte das Gesicht des Arkoniden, als träume er. »Die Wahrscheinlichkeit ist groß genug, um das Rechnerbewusstsein zu überzeugen. Optische oder energetische Beweise konnten nicht erbracht werden.« Atlans Augenlider zuckten, der Mund schloss und öffnete sich. Der linke Arm war halb angewinkelt, und die Finger hielten ein mehr als faustgroßes Kristalloktaeder fest, das in einer Gürteltasche festgekeilt war. Der Hegnudger!, dachte Kythara erleichtert. Selbst in diesem Zustand hält ihn Atlan fest! »Ich kann die Bewegung der Hangartore anmessen«, hörte sie die Stimme des Insektoiden. »Einige Luken des Raumschiffs schließen sich soeben, offensichtlich endgül-
44 tig. Ich projiziere für dich einen Leitstrahl.« »Verstanden, Gorgh-12«, antwortete sie. »Atlans Lebenszeichen sind außerordentlich schwach. Er war zu lange im Zugriff dieses Visionärs.« »In größerer Entfernung von Vassantor wird sich der Zugriff lockern«, versuchte der Wissenschaftler sie zu trösten. Ohne überrascht zu sein, registrierte Kythara, dass sie die mentalen Signale ihres schlafenden Geliebten nicht mehr empfing. Später bleibt mir noch Zeit dafür, dachte sie, zuerst kommen jetzt Atlan und der Kardenmogher … In der Bergflanke hatten sich die Hangartore einen Spalt weit geöffnet. Das Licht, das die Öffnung des Hangars in den Bergschatten kennzeichnete, wurde heller. Sekunde um Sekunde verging. Wenn Atlan zu sich zurückfand, sagte sich Kythara aufgeregt, bestand die Gefahr, dass der Zentralrechner wieder seine mentalen Ausstrahlungen anmessen und … Der lichterfüllte Spalt wurde breiter. Der Kardenmogher, von mächtigen Scheinwerfern und Tiefstrahlern schattenlos ausgeleuchtet, schwebte über dem Hangarboden. Die meisten Schwebegerüste hatten sich zurückgezogen. Als Kythara entlang des Funkpeilstrahls näher herangerast war, konnte sie nur noch drei Reparaturöffnungen in der gezackten Außenhülle erkennen. Die Portalteile kamen zum Stillstand, die Öffnung klaffte in einer blendenden Lichtflut. »In fünfzehn Sekunden bin ich mit Atlan in der Schleuse«, sagte sie. »Alles ist bereit. Die Startsequenz läuft an, wenn du in der Zentrale bist. Ich habe alles für Atlan vorbereitet.« Der kleine Daorghor war wirklich ein zuverlässiger Bordgenosse, der im richtigen Augenblick das Richtige tat, ohne viele Worte, sagte sich Kythera. Sie setzte die Flughöhe um einige Meter herauf und begann gleichzeitig abzubremsen. Atlan öffnete die Augen und schien Kythara zwar anzusehen, aber nicht zu erkennen. Dann irrte sein Blick ziellos umher. Seine Lippen formten ein Wort. Mühsam las
Hans Kneifel die Varganin: Ischtar. Sie zuckte innerlich zusammen. Aber: Anderes war wichtiger und musste blitzschnell erledigt werden. Sie desaktivierte während der wenigen Sekunden, in denen sie durch den Hangar flog, den Schutzschirm ihres Anzugs und schwebte in die Luftschleuse hinein. Mit schnellen Griffen klinkte sie Atlans Anzug los, drehte den Arkoniden halb herum und lehnte ihn, die Arme nach vorn, ans innere Schleusenschott. »Wenn du nach meinem Signal die Schleuse öffnest, Gorgh«, kündigte sie an, »fällt dir Atlan entgegen …« »Eine Schwebeliege ist bereit. Ich weiß, wie der Anzug von außen geöffnet wird …« Kythara nahm Atlans linke Hand und bog die Finger auseinander. Er umklammerte den Hegnudger, aber er setzte der Kraft ihrer Griffe nichts entgegen. Als sie das Oktaeder fest in der Hand hielt, sagte sie: »Ich setze den Hegnudger von außen ein. Schließe die Schleuse, wenn ich das Schiff verlassen habe. Du siehst mich in den Holos. Der Kardenmogher öffnet für mich einen Zugang in die Zentrale.« Augenblicklich erwiderte der Wissenschaftler: »Ich beobachte euch. Alles ist klar! Das Team arbeitet präzise zusammen.« Kythara sprang aus der Schleuse und schwebte in einem Halbkreis aufwärts. Die äußere Schleusenluke schloss sich. Aus der großen Wartungsöffnung stach ein eisblauer Suchstrahl hervor und verlor sich in der Weite des Hangars. Kythara wusste, dass Atlan langsam nach vorn zusammenbrechen und auf die Antigravliege fallen würde, wenn das innere Luk aufglitt. Sie schwang sich in den Strahl hinein, der hin und her zitterte und sich auf das unersetzliche Teil in ihrer Hand heftete. »Ich bin im Schiff«, sagte sie, als ihre Sohlen den Boden des winzigen, mit Technik voll gestopften Raums berührten, an dessen Wänden Tausende Dioden, Lämpchen, Leuchtfelder und Holos funkelten, blitzten und glühten. Mit kleinen Schritten folgte sie, während sich in ihrem Rücken die Revisi-
Mond der Visionen onsklappe schloss und laut klackend einrastete, dem Strahl bis zu dessen Ausgangspunkt. Flächen aus Formenergie veränderten sich, als sie den Hegnudger in beide Hände nahm und ihn in die blau leuchtende Öffnung zwischen die Kontaktflächen und positronischen Greifer schob, die den Klauen Gorghs ähnelten. Leise summend schlossen sich die Kontakte. Schalenförmige Elemente erstellten sich und begannen sich um das Oktaeder zu schließen. Kytharas Gedankenbefehle setzten paramechanische Vorgänge in Tätigkeit; vor ihr entstand, nachdem der blaue Leitstrahl erloschen war, ein schmaler, mehrfach gewundener und aufwärts führender Durchgang. Hinter ihr ertönten harte, stählern klingende Geräusche. Sie hastete zur Zentrale, öffnete während des Laufens und Kletterns den Anzug und zerrte die Handschuhe von den Fingern. Eine Serie von Vibrationen durchlief den Kardenmogher. Gorghs aufgeregte Stimme, unverkennbar: »Ich starte!« Mit einem Satz war Kythara in der Zentrale. Ihre Hände zuckten zur Steuerung, und ohne auf ihre Finger zu blicken, ließ sie das Schiff aufsteigen, zur Seite schwenken und auf die Öffnung des Hangars zugleiten. Ein nächster Blick überzeugte sie, dass Atlan sich auf einer Antigravliege ausgestreckt hatte. Gorgh-12 schien den Anzug per Notschaltung geöffnet zu haben, denn die Hülle lag wie ein aufgebrochener Chitinpanzer neben der Liege. Kytharas Blick ging von der Holoprojektion zurück zur Steuerung – der Kardenmogher hatte die Trennlinie zwischen den Portalhälften passiert. Nur fort von Vassantor!, dachte sie halb erleichtert, halb voller gespannter Erwartung. So schnell wie möglich! Der Kardenmogher hob sich, unaufhörlich mit Maximalwerten beschleunigend, aus der kalten weißen Ebene des Riesenkraters hinaus, fast senkrecht hinauf zu den Sternen und den glühenden kosmischen Staubwolken, wurde schneller und entfernte sich
45 mehr und mehr mit jeder Sekunde aus der Einflusszone des Sehers Vrentizianex, aus dessen Visionen und den Emanationen einer fernen Vergangenheit – und aus der vernichtenden Wirkung der Visionsmaschine. Selbst Kythara, die in den vergangenen knapp 50 Stunden nicht gefährdet gewesen war, spürte von einer Lichtsekunde zur nächsten, wie ihre Beklemmung wich. Sie entledigte sich des Anzugs und setzte sich vor die Kontrollen. Das Ziel, der Murloth-Emissionsnebel, war längst programmiert worden. Sie rief die Zielkoordinaten auf, ließ sie von der Bordpositronik überprüfen und speicherte sie im Autopiloten. »Unterwegs zur Psi-Quelle«, murmelte sie, winkte Gorgh-12 in den Pilotensitz, sprang auf und hastete hinunter zur Schleuse. Atlan hatte sich bewegt. Er saß zitternd auf der Liege und blickte suchend um sich; wahrscheinlich war er halb verdurstet und verhungert. Sie mischte in der winzigen Kombüse einen Krug voll mit belebenden, nahrhaften und einigermaßen wohlschmeckenden Flüssigkeiten, suchte Saughalme heraus und setzte sich neben Atlan auf den Rand der Liege. »Du hast es, scheint mir, gerade noch überlebt. Hier, trink; es hilft zunächst deinem Kreislauf.« Atlan starrte sie an, während er gierig sog und trank, fast ohne abzusetzen und Luft zu holen, als sähe er sie zum ersten Mal. Er umklammerte das Trinkgefäß mit beiden Händen, war verwirrt, keineswegs im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte, zu Tode erschöpft und offensichtlich noch nicht fähig, seine Situation zu verstehen und zu analysieren. Kythara griff nach der manuellen Steuerung der Liege und sagte leise in geradezu mütterlichem Tonfall: »Zuerst einmal wirst du schlafen, mein Lieber. Die Wirkung des Aktivators abwarten. Wir sind nicht mehr gefährdet – alles wird gut.« Ihre dunkle Stimme schien ihn zu beruhigen. Er ließ den leeren Krug fallen. Jede seiner wenigen Bewegungen drückte äußerste
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Hilflosigkeit aus. Kythara seufzte leise und steuerte die Liege bis in Atlans Kabine. Sie wuchtete ihn auf sein Bett und zog nicht ohne Mühe zwei Drittel seiner Kleidungsstücke aus; der Arkonide roch stechend nach erkaltetem Schweiß, nach überstandener Angst und Schlimmerem: Kythara brauchte nicht viel mehr Eindrücke, um unwiderruflich zu verstehen, dass Atlan nur eine Folie, kaum wahrnehmbar dünn, vom irreparablen Wahnsinn oder vom Tod getrennt hatte. Kaum hatte er seinen Arm unter das Kissen und den Kopf auf das Kissen gelegt, schlief er ein. Sie betrachtete sein Gesicht, die kantigen arkonidischen Züge, das feuchte, verklebte Haar; Mitgefühl und Mitleid überschwemmten sekundenlang ihre Gefühle. »Schlaf, Kristallprinz«, flüsterte sie und stand auf. Er konnte es nicht mehr hören. »Schlaf hat schon mehr von uns Unsterblichen gerettet, als du ahnst. Schlafe tief, gut und lange.« Sie dämpfte die wenigen Lichter und verließ die Kabine. Sie ließ das Schott geöffnet und ging langsam zur Zentrale. Sie fühlte sich mindestens ebenso erschöpft, aber scheute sich, das Schiff schon jetzt der alleinigen Obhut des Maran'Thor-Wissenschaftlers zu überlassen.
* Irgendwann begann ich mich zu erinnern, das Raumschiff verlassen zu haben. Etwas war geschehen, was mir mein Bewusstsein geraubt und mich völlig erschöpft hatte. Jetzt spürte ich meinen Körper, spürte jeden einzelnen Muskel schmerzen, fühlte, wie der Zellaktivator zu glühen schien. Der Herzschlag hämmerte wie ein riesiger Hammer auf Basaltquadern und presste Wellen aus Hitze und Kälte durch meinen Kreislauf. Obwohl ich meine Augen geöffnet hatte, sah ich nur eine bernsteinfarbene Helligkeit, in deren Mittelpunkt ich lag. Dann schien sich mein Verstand, mein ganzes Ich, selbständig zu machen und zu
schweben. Nach einem taumelnden Flug kam ich zur Ruhe und sah mich selbst; mein bewegungsloser Körper war auf der Liege, offensichtlich in meiner Kabine oder einem gleichartigen Ort, lang ausgestreckt. Die Arme lagen neben den Schenkeln, mein Haar klebte auf dem Kissen. Ich schwebte, leichter als eine Hand voll flüchtiger Positronen, über der Szenerie. Ich sah, hörte, roch und verstand alles – ich sah Kythara, Gorgh-12, Emion, das Saqsurmaa, die meinen Körper umstanden. Etwas lebte in meinem Körper, hörte zu und antwortete. Ich war es nicht. Welche Stimme hatte ich in meinem Körper (und meinem Verstand) gespeichert, ohne sie beeinflussen zu können? »Mich, du Narr«, hörte ich deutlich. »Mich, das zuverlässige Ergebnis deiner ARK SUMMIA, den Extrasinn oder den Logiksektor. Wie immer man mich auch nennt, so bin ich doch funktionsfähig, selbst wenn du Mitleid erregender Dagor-Krieger es nicht mehr bist.« »Dann kannst du auch den Dia-, Treoder Quattrolog bestreiten«, dachte ich mürrisch. »Keine Schwierigkeit. – Wir sind nicht mehr dem Einfluss des Vrentizianex unterworfen. Gib's zu: Die Visionen waren überperfekt, überzeugend, kaum überbietbar und haben dich überfordert.« Welche Visionen meinte der Extrasinn? Kytharas Stimme: »Ich versuch's zu erklären.« »Ich weiß es besser«, unterbrach sie der Extrasinn. »Atlans Rückkehr – unsere Rückkehr zu diesem verdammten Mond Vassantor! – hat jenes Wissen, das ihm von Vrentizianex übertragen wurde, wieder aufsteigen lassen. Dies rief die ersten Visionen Atlans hervor.« Ich begrif, wenn auch mühsam: Mein Extrasinn diskutierte mit Kythara. Ich erkannte keine der beiden Stimmen wieder. Sie redeten viel zu laut. Echos prallten von den Wänden zurück. Gorgh hörte zu und verstand kaum etwas. Womöglich beteiligte sich auch das Saqsurmaa an der
Mond der Visionen »Unterhaltung«. »Wie damals«, warf Kythara ein, »an Bord des Maahk-Raumschiffs.« »Zutreffend!«, bemerkte der Logiksektor. »Das rief den Zentralrechner auf den Plan. Er kramte in seinen mikropositronischen varganischen Erinnerungen und zauberte mit seiner Visionsmaschine eine Serie hoch überzeugender Starkvisionen hervor. Sie waren alle meisterhaft! Meinem Atlan wären sie kaum besser eingefallen: Musik, Blüten, Wein, Ischtar, die Unvergessliche, und sie alle hatten das Ziel, uns umzubringen.« »Sie hätten es haarscharf geschaft«, antwortete Kythara ruhig. Ich war nahe daran, völlig zu verzweifeln: ein Dialog zwischen der uralten, faszinierenden Varganin und meinem Extrasinn; und ich hörte zu! Ich hatte keine Möglichkeit, mich in diese wahnwitzige Diskussion einzuschalten oder sie zu unterbrechen. Aber ich fühlte: ICH LEBTE! Und: Kythara hatte mein Leben gerettet! Sie fuhr fort: »Wir befinden uns auf dem Flug zur Psi-Quelle, die von den Lordrichtern kontrolliert wird.« »Hast du die Absicht«, fragte der Logiksektor die schöne Varganin, »noch einmal zu diesem vermaledeiten Mond Vassantor zurückzukehren?« »Vielleicht. Später«, entgegnete sie bedachtsam. »Sollte es ein Später geben!« Mir fiel eine Metapher ein, ein Gleichnis, aus einer Erzählung erwachsen, die ich während meines langen, qualvollen Aufenthalts in der Tiefseekuppel bei den Terranern auf Larsaf Drei mehrfach gehört hatte. In Tempeln, an Lagerfeuern, auf unzähligen Märkten, zwischen Liebenden und an Bord von zehntausend Schiffen erzählte man sich diese seltsam bedeutungsvolle Geschichte: Da gab es einen riesigen Berg aus granitenem Tiefengestein, der so alt wie der Planet war. Einmal in jedem Jahrzehnt kam ein kleiner Singvogel dahergeflattert, kauerte sich auf dem gigantischen Berg nieder und wetzte seinen Schnabel am eisenharten Fels. Dies wiederholte sich unzählbar viele
47 Male. Jahrhundert um Jahrhundert, Jahrtausend um Jahrtausend flatterte das unscheinbare Tier herbei. Wenn das Schnäbelchen des Vögelchens den riesigen Berg zu einem Hügelchen bedeutungslosen Staubs abgewetzt hatte, war eine Sekunde der Ewigkeit vergangen. Stunden, Tage, Monate und Jahre … wie unendlich lange dauerten sie! Nicht einmal eine Varganin konnte darauf zufrieden stellend antworten. Wobei es kürzere und längere Zeiteinheiten gab als Sekunde und Ewigkeit. So ähnlich verhielt es sich mit Erinnerungen, die kaum weniger als eine Million Jahre alt waren. Oder 50.000 Jahre. Oder 20 Jahrtausende. Oder selbst meine Erinnerungen, deren stärkste Phasen untrennbar an weniger als zehn Jahrtausende auf Larsafs drittem Planeten gebunden waren. Bei den Sternengöttern – ich war so müde wie ein Sterbender! Nichts war in diesen Momenten für mich wichtiger als ein tiefer, erholsamer Schlaf. Danach? Danach konnten Kythara und ich alles bereden, begrübeln und analysieren! Mein strapazierter Verstand nahm immerhin bereits wahr, dass ich lebte und wieder zu denken begonnen hatte.
* Ich betrachtete mich durch die schläfrig geschlossenen Lider hindurch. Fünf Stunden Schlaf, Essen, eine heiße und eiskalte Dusche, einige Jahrhunderte bewusster Verdrängung des Erlebten, genügend Ruhe, um zu mir zu kommen, dann war ich wieder der Alte, voll bei mir, entschlossen und handlungsfähig, und dann würde ich auch nicht mehr meinen Extrasinn in einem solch makabren Dialog miterleben müssen. Ich betrachtete zunächst Kytharas goldhäutiges Gesicht, dann ihre unvergleichlichen Hände, schließlich ihren begehrenswerten Körper – und verglich sie mit meinen betäubenden, von Wehmut und Enttäuschung erfüllten Erinnerungen an Ischtar. Mitten in der Abwägung über den Sinn-
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gehalt meiner Erinnerungen hörte ich den kleinen, insektoiden Daorghor aufgeregt raschelnd ausrufen: »Emion ist verschwunden. Spurlos!« Die Gestalten, die mein Bett umstanden, erstarrten. Sie blickten nicht mehr länger mich, den Arkoniden im Halbschlaf, sondern sich gegenseitig an. Die bernsteinfarbene Kabinenbeleuchtung schimmerte in Gorghs Facettenaugen. Er gestikulierte mit seinen Scheren-Endgliedern in Richtung Kythara und rief mit knisternden Mandibeln: »Die Bordpositronik hat dies mehrfach gemeldet und bestätigt! Emion ist spurlos verschwunden! Es befindet sich nicht mehr an Bord – jedenfalls kann die Positronik ihn oder es trotz aller intensiver Anstrengungen nicht mehr aufinden.« Lange Sekunden der Überraschung. Keine Panik, weil niemand von uns die wahre Natur und die Bedeutung Emions kannte – war sein Verschwinden eine schicksalhafte Laune, oder gefährdete der Vorgang unser Leben? »Unser Flug scheint unter abenteuerlichen Zwischenfällen zu leiden«, stellte Kythara scheinbar wenig alarmiert fest. »Trotzdem: Das Ziel steht fest. Ich sehe nach, ob wir diesen verschlafenen Superwurm irgendwo finden.« Viel Glück und Erfolg bei der Suche!, bemerkte lakonisch mein Extrasinn. Ich schloss – im übertragenen Sinn und in der Wirklichkeit meines maroden Zustandes – meine Augen und schlief wieder ein.
Nach etlichen Stunden oder einer kleinen Ewigkeit wachte ich auf. Nur noch ein wenig erinnerten mich die Muskelschmerzen an überstandene Strapazen. Zum ersten Mal seit unbestimmter Zeit hörte mein Verstand wieder die Stimme des Extrasinns: Du bist wach, an Bord des Kardenmoghers und im Begrif, dich zu erholen. Kythara hat dich im letzten Sekundenbruchteil vor dem Tod gerettet. Wir sind im Hyperraum auf dem Flug zur Psi-Quelle. Einige Erinnerungen kamen zurück. Verwirrende Bilder zuckten durch meine Gedanken. Ich war in einer Welt aus Visionen, Illusionen und falscher Wirklichkeit gefangen gewesen; so viel begriff ich inzwischen. Kythara hatte eingegriffen, erklärte der Logiksektor. Die Bemerkung sagte mir, dass mein Leben gefährdet gewesen war. Während des Weiterflugs würden wir darüber zu reden haben. Meine Erschöpfung war groß. Der Körper erholte sich schneller als der Verstand. Ich schloss die Augen und merkte, wie ich in den Schlaf hinüberglitt. Aber ich fürchtete mich schon jetzt vor dem Aufwachen, denn dann waren wir vermutlich im Murloth-Emissionsnebel oder in dessen unmittelbarer kosmischer Umgebung. Was uns dort erwartete, ahnte wahrscheinlich nicht einmal die Varganin, trotz ihres jahrtausendealten Wissens. ENDE
* ENDE
Angriff der Lordrichter von Michael Marcus Thurner Seltsame, verwirrende Vorkommnisse auf Vassantor fanden ihren Abschluss, ohne dass die Rätsel dieser Welt wirklich erschöpfend geklärt werden konnten. Zumindest Atlan muss froh sein, dass er noch am Leben ist. Der Kardenmogher indessen ist mittlerweile voll einsatzbereit. Für langwierige Testläufe ist allerdings keine Zeit. Die Bedrohung durch die MurlothPsi-Quelle muss ausgeschaltet werden …