JOSEF NOWAK
MENSCH AUF DEN ACKER GESÄT KRIEGSGEFANGEN IN DER HEIMAT
Edition Richarz Verlag CW Niemeyer
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JOSEF NOWAK
MENSCH AUF DEN ACKER GESÄT KRIEGSGEFANGEN IN DER HEIMAT
Edition Richarz Verlag CW Niemeyer
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Nowak, Josef: Mensch auf den Acker gesät: kriegsgefangen in der Heimat / Josef Nowak. – 1. Aufl. – Hameln: Niemeyer, 1990 (Edition Richarz, Bücher in großer Schrift) ISBN 3-87585-905-7
© 1956 Adolf Sponholtz Verlag, Hameln/Hannover Die Rechte dieser Großdruckausgabe liegen beim Verlag CW Niemeyer, Hameln 1. Auflage 1990 Umschlag: Christiane Rauert Foto: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin Gesamtherstellung: Ueberreuter Buchproduktion Printed in Austria ISBN 3-87585-905-7
INHALT SCHUTT, NICHTS ALS SCHUTT ........................................................... 5 PRÜGEL AM ANFANG, PRÜGEL AM ENDE ...................................... 19 DRAHTKÄFIG BRACKWEDE.............................................................. 25 FRACHTGUT DES TODES................................................................... 36 VERSPÄTETES VORWORT ................................................................. 42 ENDSTATION RHEINBERG ................................................................ 46 STICHWORT WOLKENBRUCH........................................................... 50 HÖHLENBEWOHNER .......................................................................... 55 EINE BÜCHSE WASSER ...................................................................... 65 KEINE LÄUSE, ABER HUNGER.......................................................... 71 EDUCATION IN RHEINBERG ............................................................. 79 ABSCHIED VON EINEM ALTEN MANN ............................................ 84 HANGEND AN DER ANGEL DES BITTEREN TODES ....................... 90 HEILKUNDE MIT DEM HOLZSCHEIT................................................ 94 DER GROSSE TRECK......................................................................... 103 DAS ERSTE STÜCK BROT................................................................. 110 AMERIKANISCHER KALENDER...................................................... 117 SCHWARZER BRUDER GENTLEMAN............................................. 122 ARME KLEINE BESTIE MENSCH..................................................... 127 VOLKSWIRTSCHAFTLICHER LEHRGANG..................................... 136 DAS FÜNFTE SIEGEL ........................................................................ 141 DIE FAHNE HOCH.............................................................................. 146 WEIL WIR ALLE MENSCHEN SIND ................................................. 153 HEIMKEHR ......................................................................................... 161
SCHUTT, NICHTS ALS SCHUTT Am Freitag, dem 13. April – nein, von Wahrsagern, Handlesern und Sternguckern halte ich nichts. Ich kenne die Künste der Magier, die die menschliche Dummheit besteuern, aber an mir haben sie noch keinen Pfennig verdient. So oft ich ihnen begegnete, war ich immer durch eine Pressekarte legitimiert. Da nun aber der Aberglaube schon in so zahlreichen Köpfen nistet, daß sogar die Staatsmänner mit ihm rechnen müssen, will ich das Datum nicht verschweigen. Es wird ein Fingerzeig für jeden sein, der nach der Ursache der Mißhelligkeiten forscht, die ihm jetzt aufgetischt werden. Am Freitag, dem 13. April, gegen zehn Uhr morgens, bugsierten mich zwei kanadische Militärpolizisten, jeder mit einer Maschinenpistole am Hals, in eine leere Garage, die ihrem Hauptquartier als Kerker diente. Genau 48 Stunden vorher hatte ich meinen Separatfrieden mit den alliierten Streitkräften geschlossen. Die schwere Flak-Batterie, in der ich Kriegsdienste tat, lag in Bemerode, ein paar hundert Meter vom Haupttor des hannoverschen Messegeländes entfernt. Wenn auch an der Front die schwere Flak als panzerbrechende Waffe hochgeschätzt war, in der Heimat war es ihre Aufgabe, in die Luft zu schießen. An gutem Willen fehlte es ihr nicht, aber ihre Granaten waren zu lange unterwegs. 28 Sekunden brauchten sie, bis sie oben in 9.000 Meter Höhe platzten. In dieser Zeit legten die schnellen feindlichen Flugzeuge drei, vier, ja fünf Kilometer zurück. Außerdem war die Munition knapp. Wir mußten uns zu jedem Sperrfeuer erst einen Bezugschein beim Reichsmarschall holen. Was die Katastrophe betrifft, so war sie ein paar Tage vor jenem 13. April in greifbare Nähe gerückt. Der Chef stand in vorgerückter Abendstunde am Fernsprecher der Hauptbefehlsstelle. Er kritzelte etwas in sein Taschenbuch, las 5
die Zahlen noch einmal vor. Die Stimme schnappte ihm über. Dann brüllte er den drei Entfernungsmessern Schußwerte zu. Die kurbelten wie die Irren. - E 1 fertig! – E 2 fertig! – E 3 fertig! - Feuer frei! - Schnelles Gruppenfeuer! Gruppe! – Glocke! – Gruppe! – Glocke! Alle vier Sekunden krachten die Granaten aus den 16 Rohren. Ein paar Sekunden später hat jeder auf der Hauptbefehlsstelle begriffen, was los ist. Wir beschießen ein Straßenkreuz, das kaum 16 Kilometer entfernt ist. Wir sehen die amerikanischen Panzer nicht. Wir können ihnen mit unseren Geschossen auch nichts anhaben. Aber sie schrecken vor dem Stahlhagel zurück und lassen sich tagelang aufhalten. Der Spaß geht schnell zu Ende. Plötzlich bekommen wir Feuer aus der Flanke. Dort sind Panzerbatterien aufgefahren. Fair ist der Kampf nicht. Unsere Kanonen ruhen auf schweren Zementsockeln. Wir können wagerecht in die Gegend und senkrecht in die Luft schießen, wir können nach allen Seiten feuern, aber wir können die Geschütze nicht vom Platz bewegen. Die Panzer dagegen machen nach jeder Salve Stellungswechsel. Die Mäuse sitzen in der Falle. Die Katzen hacken mit ihren tödlichen Krallen durch die Gitter. In einer Feuerpause – die Amerikaner hielten die Stunde des Mittagessens streng und verläßlich ein – kam von Hannover das Mädchen Lissy dahergeradelt. Lissy liebte einen unserer Geschützführer. Liebe gibt den Frauen übernatürliche Kräfte. Lissy brachte bemerkenswerte Nachrichten mit. Wir holten den Batterie-Chef herbei. Wir sahen es seinem Gesicht an, daß er nunmehr begriff, weshalb er weder von der Abteilung noch vom Regiment, noch von der Brigade etwas zu hören oder zu lesen bekam. Es gab keine Brigade, kein Regiment, keine Abteilung mehr. Die Amerikaner waren von Westen her in Hannover eingedrungen und standen schon in den nördlichen 6
Vororten. Wenn wir am Kriegsgeschehen noch teilnehmen wollten, dann verblieb uns nur der schleunigste Rückzug aus unserer Igelstellung. Eine schmale Lücke schien es noch zu geben, durch die wir uns nach Osten absetzen konnten. Der Chef öffnete den für solche Umstände vorgesehenen Umschlag mit dem Geheimbefehl. Die Kinnlade fiel ihm fast bis zum Verdienstkreuz an seiner Brust herunter. Er befahl, unverzüglich die beiden Batterie-Schweine zu schlachten. Er zauberte auch eine Kiste Cognac herbei. Wir waren erschüttert. Das Ende der Welt mußte nahe sein. Wir setzten uns nieder zum Festessen. Für viele Mitglieder der Batterie war dies die letzte gute Mahlzeit ihres Lebens, für die anderen die letzte Mahlzeit, bei der sie sich satt aßen, bevor der Hunger begann. Wir stopften das Fleisch in uns hinein wie die Eskimos an der Melville-Bay, wenn sie nach langem Winterhunger beim Eisbruch ein paar Seehunde gefangen haben. Dazu tranken wir reichlich Schnaps, um nicht an Gallenkolik zu sterben, falls uns der Heldentod erspart bleiben sollte. Ohne daß einer davon sprach, wir wußten es, der Krieg war in wenigen Stunden zu Ende. Wie und wo für jeden von uns, das war die einzige Frage. Es war eine gemischte schwere Flak-Batterie, in der wir dienten. Sie bestand aus 40 deutschen Soldaten, 50 italienischen Polizisten, in ihrer Heimat Carabinieri genannt, aus 28 Flakhelfern im Alter von 15 bis 17 Jahren und aus 22 Flak-Mädchen, die in der Schreibstube, in der Küche, am Funkmeßgerät das Vaterland verteidigten. Der Chef beschloß auf unser Drängen, zunächst die Mädchen und Knaben in Marsch zu setzen. Aber die Jugend revoltierte. Sie verlangte stürmisch, ihr einen Unteroffizier mitzugeben. Wen sie haben wolle, fragte der Chef. Ich atmete auf. Mich wollten sie haben. Der Chef sträubte sich lange und nicht ohne Grund. Ich war der einzige in der Batterie, der Italienisch sprach, der einzige auch, dem diese verlassenen Kinder des Südens ihr volles Vertrauen 7
schenkten. Die Jugend siegte. Die Disziplin bekam schon Risse wie das Eis in der Februar-Sonne. Jeden Moment konnte die Decke zerspringen und sich in Schollen auflösen. Wir rückten ab. Ahlten, halbwegs zwischen Misburg und Lehrte, war das erste Marschziel. Auf der Brücke an der Hindenburg-Schleuse trat mir ein forscher Hauptmann der Luftwaffe entgegen. Ich wies meinen Marschbefehl vor. - Flakhelfer und Flakhelferinnen können gehen, wohin sie wollen, Sie, Unteroffizier, bleiben hier! Vergeblich berief ich mich auf meinen Marschbefehl, auf meine Pflicht, für die Mädchen und Kinder zu sorgen. Er habe einen Korpsbefehl, erklärte der Hauptmann. Die Brücke werde bis zum letzten Blutstropfen verteidigt. Bis wohin? Mir blieb das Wort nicht nur im Hals stecken, es rutschte mir in den Magen hinunter. Am Ende der Brücke stehe schon eine 8,8cm-Kanone. Ich als Artillerist sei hinfort der Geschützführer. Jeder Soldat sei anzuhalten und der Kampftruppe, die vorläufig nur aus mir und dem Hauptmann bestand, einzugliedern. Ob er Panzergranaten hätte? Nein, die habe er nicht, aber sie seien im Anrollen. Ein paar Stunden vergnügten wir uns damit, jeden Wagen anzuhalten, der die Brücke passierte. Wir trieben es wie die Strauchritter zur Zeit des Götz von Berlichingen. Zwei Männer schoben eine Karre daher. Sie hatten einen Doppelzentner Zucker an Bord. Gestohlen ohne Zweifel. - Abladen! Ein Lieferwagen wollte in schneller Fahrt über die Brücke preschen. Ich winkte ihm freundlich mit der Pistole zu. Die Fahrer hatten ein Proviantamt ausgeräumt. Bier, Schnaps, Wein. - Abladen! Ein Bäcker flitzte heran. - Abladen! Die Ausgeplünderten fluchten. Warum sollten sie nicht 8
fluchen? Wir hatten volles Verständnis im Herzen. So war der Krieg eigentlich ganz nett. Ein paar Tage konnte man das fortsetzen, wenn man Zeit dazu hatte. Am späteren Nachmittag konnte ich den Mädchen unter Inanspruchnahme aller Beredsamkeit klarmachen, daß sie mir nur im Wege waren, wenn es galt, schnelle Entschlüsse zu fassen. Ich hatte die Absicht, meine letzten Blutstropfen für andere Gelegenheiten aufzusparen. Die Mädchen zogen als Vorhut ab. Die Jungen aber blieben. Da half kein Befehl, kein Rat, keine Bitte. Nein, sie dächten nicht daran, mich jetzt im Stich zu lassen. Der Hauptmann war zufrieden. Besser diese Steitmacht als gar keine. Als es aber Abend wurde, hielt ich mit meinen Bengeln Kriegsrat ab. Ich empfahl ihnen, einen halben Kilometer geradeaus zu marschieren und dort auf mich zu warten. Ich käme nach. Ich suchte den Hauptmann in seinem Bunker auf, ließ mir vorsichtshalber an Hand der Karte genau die Kriegslage erklären und meldete mich ab, um meinen Posten auf der Brücke zu beziehen. Fünf Minuten später hatte ich meine Jungen erreicht und brachte sie ohne Zwischenfall nach Ahlten, wo die Mädchen bereits große Mengen von Kartoffeln gekocht, geschält und geschnitzelt hatten, um sie uns geröstet zu servieren. Ich hatte gerade die Gabel in die Faust genommen, als draußen ein Wagen vorfuhr. Es war der Chef. Er riß mich von den Bratkartoffeln weg, stieß mich in das Auto hinein und jagte mit mir nach Bemerode zurück. Die Italiener hatten den Gehorsam verweigert, stellten sich taub und stumm, machten Gesichter wie müde Ochsen im Hochsommer. Schön. Wie aber sollte ich über die Brücke kommen, an dem Hauptmann vorbei, der dort nach meinem Blut lechzte? Wir gelangten ohne besondere Vorkommnisse über den Kanal. Ich war wieder in Bemerode. Camerati, schrie ich, amici, und hielt eine kurze Ansprache, für die mich der Chef, wenn er sie verstanden hätte, auf der Stelle niedergeschossen hätte. 9
- Evviva, dottore, evviva! brüllten die Italiener, drückten mir die Hand, umarmten mich und waren plötzlich sanft und fügsam. Mit einem strahlenden Morgen begann der nächste Frühlingstag. Der letzte Mann mußte zufassen und Munitionskörbe an die Geschütze schleppen. Über 400 Granaten hatte jede Kanone zu verschießen. Wir jagten die Geschosse bei einer Rohrerhöhung von zehn Grad in die Landschaft. Ein Höllenlärm brach los. Das Trommelfell schmerzte unter den hämmernden Explosionen. Der Schweiß floß in Strömen über Brust und Rücken. Wir glotzten betäubt in die beizenden Luftwirbel, atmeten keuchend in Pulverdampf und treibendem Staub. Dann war plötzlich tiefe, unheimliche Stille. Die ganze Schöpfung schien tot zu sein. Die Geschütze hatten ihren letzten donnernden Choral hinausgeschmettert. Während wir uns wuschen und zum Abmarsch rüsteten, brachten die Geschützführer die Sprengladungen an. Ich werfe noch einen Blick auf die zwei Kommandogeräte, diese Wunderwerke, die wie schnelle Gehirne aus Entfernung und Höhe den Zielhöhenwinkel errechneten, die von elektrischen Gedanken gesteuert das steigende, das fallende, das drehende Flugzeug verfolgten und seinen Standpunkt im Raum für den Bruchteil der Sekunde bestimmten, in dem die Granaten seinen Weg kreuzten. Ich werfe noch einen Blick auf das Funkmeßgerät mit dem magischen grünen Kreis, in dem das kommende Flugzeug sich als gezackte Flamme anzeigt. Ich werfe noch einen Blick auf das Marburg-Gerät. Drei solcher Geräte soll es nur gegeben haben. Sie waren noch ganz neu. Vor ihren empfindlichen Sehnerven konnten sich die Flugzeuge auch durch elektrische Störungen nicht tarnen. Schade. Wir sind schon unterwegs, als die aufgerissenen Leiber der Geräte zur Seite fallen. Trümmer, Schrott, Asche, das ist das Ende allen menschlichen Schaffens. Als wir zur Hindenburg-Schleuse kamen, war die ,Brücke 10
zum letzten Blutstropfen’ menschenleer. Kein Verteidiger war mehr zu erblicken. Auch den Hauptmann mit seinem Korpsbefehl hatte das Schicksal verschluckt. Nur die Kanone stand noch da und streckte einsam und melancholisch ihr Rohr in die Luft. Die Italiener lehnten sich phlegmatisch ans Brückengeländer und ließen ihre Panzerfäuste sacht ins Wasser gleiten. Pietro Bertolino, der Maresciallo, zu deutsch der Hauptfeldwebel, wandte sich mit vorwurfsvollem Blick an mich: - In somma, dottore – in queste circostanze – mi sembra, dottore – cosa fare – bisogna salvare la pelle – Mir schien es auch so, im großen und ganzen und unter diesen Umständen. Die Italiener hatten jetzt genug und wollten ihre Haut retten. - Addio, amici, arrivederci, signori, sia in campo di concentramento, sia nel cielo – Lebt wohl, Freunde. Wir sehen uns im Gefangenenlager oder niemals auf Erden wieder. Kurz vor dem Abmarsch von Ahlten ins Ungewisse Richtung Ost meldete ich mich beim Chef ab. Ich wolle noch einen Abschiedsbesuch bei meinen Freunden in Lehrte machen und die Batterie am Eingang zur Stadt erwarten. Ich schwang mich auf mein Rad, einen belgischen Karabiner über der Schulter, vier Handgranaten und eine Pistole am Koppel, und trat kräftig in die Pedale. Auf dem Weg nach Lehrte öffnet sich unversehens das Tor eines Ausländerlagers. Männer und Frauen quollen heraus. Sie denken gewiß, ich sei der letzte Soldat, der Hannover verlassen habe. Hier ging es um Totschlag. Das war ganz augenscheinlich. Ich steige ab, reiße die Pistole aus der Tasche – Die Totschläger ziehen sich knurrend zurück. Ohne Risiko würden sie ganz gern morden, aber sterben will keiner dabei. Ich schiebe mein Rad am Tor vorbei und steige wieder auf. Arme Irre, denke ich noch, wie gut, daß ihr keine Ahnung habt, 11
was euch geschehen wäre, hätten die beiden nachfolgenden Batterien meine Leiche vor dem Tor gefunden. Kein Mann und keine Frau hätte diesen Mord in der Morgenstunde überlebt. Meine Freundin Annemarie war zu Hause. Während ihr Vater meine Feuerwaffen in einem nahen Gewässer versenkte, übergab mir die Tochter im Rahmen des Leih- und Pachtvertrags einen blauen Anzug und ein Paar braune Schuhe. Beim Umkleiden hörte ich die Ketten der schweren Panzer General Eisenhowers auf der nahen Autobahn rasseln. Ich hatte den Kriegszustand mit ihm beendet. Mitten durch die amerikanischen Panzer- und Wagenkolonnen bin ich dann nach Hause geradelt. Frau und Tochter zögerten nicht, meine Intelligenz zu preisen. Der Krieg war für mich aus. War er es wirklich? Tags darauf klebten überall in der Stadt Plakate, auf denen allen Bürgern, die einen noch ungefangenen Soldaten zu beherbergen sich erdreisteten, die schrecklichste Vergeltung angedroht wurde. Die Frauen und Mütter deutscher Krieger waren in dieses drohende Strafgericht ausdrücklich einbezogen. Diesen Ton kannten wir schon. Auch im Dritten Reich hatte man ja den Eltern zugemutet, ihre Kinder, den Kindern ihre Eltern zu denunzieren. Die Tradition riß nicht so schnell ab. Am Freitag, dem 13. April 1945, begab ich mich also, um Weib und Kind vor dem amerikanischen Tod des Erschossenwerdens zu bewahren, zur benachbarten kanadischen Militärpolizei, um sie von meinem guten Gewissen nebst der Tatsache zu überzeugen, daß ich mich niemals freiwillig im bewaffneten Konflikt mit den Alliierten befunden und daß ich die erste Gelegenheit dazu benutzt habe, um die Feindseligkeiten einzustellen. Hätte ich diesen Gang nicht am Freitag, dem 13. April, angetreten, vielleicht wäre es mir gelungen, mich einem Offizier verständlich zu machen. Als mich aber ein Feldwebel in Empfang nahm und dieser keinerlei Anstalten traf, mich 12
weiterzureichen, begriff ich, daß ich mich in die Nesseln gesetzt hatte. Der kanadische Feldwebel verstand von meinem Vortrag so viel, wie jeder Feldwebel jeder anderen Wehrmacht auf Erden verstanden hätte. Er übergab mich kurzerhand den beiden schon erwähnten Maschinenpistolenträgern, die mich in die schon erwähnte Garage schoben. Dort stöberten sie zunächst meine Taschen durch und beraubten mich sämtlicher Metallgegenstände, deren bedeutendster eine Nagelfeile war. Nur ein winziges Taschenmesser in der Westentasche entging ihrem Scharfblick. Ich sank merklich in ihrer Achtung, als sie an meinem linken Handgelenk keine Armbanduhr vorfanden. Sie lehnten sich rechts und links an die Garagentür und begannen mich zu bewachen. Ihre soldatische Pflicht hinderte sie aber nicht, mir hin und wieder eine Zigarette zuzuwerfen. Ihr Vorrat war unerschöpflich. Ein Volk, das über solche Reserven verfügte, mußte den Krieg gewinnen. An Stelle des Mittagsmahls, das inzwischen fällig gewesen wäre und das mir sowohl nach der Haager Landkriegsordnung wie nach der Genfer Konvention zustand, bekam ich wenigstens etwas zu lachen. Auf der Bildfläche erschien die mir vom Ansehen bekannte Besitzerin des Hauses und der Garage. Sie sprach zwar nicht fließend Englisch, aber fließend Unsinn. Sie machte die Kanadier darauf aufmerksam, daß sich in der Mitte des Zementfußbodens eine hölzerne Falltür befinde, und ermunterte die beiden Sieger, das Versteck zu öffnen. Die taten ihr den Gefallen und hoben alsbald eine mit Spirituosen gefüllte Kiste ans Tageslicht. Mutti, dachte ich, bist du denn ganz verblödet? Wenn du auch wahrscheinlich die Ilias und Odyssee nicht kennst, zwei Weltkriege hast du doch schon erlitten und solltest wissen, daß der Soldat in seiner Vernichtungswut nicht Bier, nicht Wein, nicht Schnaps schont. Alte Dame, vielleicht hast du gedacht, es sei jetzt Zeit zu feiern. Vielleicht hast du gedacht, die Militärpolizei werde sich mit einer Flasche Aquavit als Bergungslohn begnügen. Nach 13
langem Feilschen war Madame so weit, daß sie schluchzend um eine einzige Pulle für sich bettelte. Die Krieger blieben hart: - This is for american soldiers! Bei Tafelsilber hätten sie zur Not noch Spaß verstanden. Der Alkohol war eine ernste Sache. Der durfte so wenig wie Schußwaffen in den Händen der Besiegten bleiben. Madame ging von dannen und weinte bitterlich. In diesem Augenblick hatte auch sie den Krieg verloren. Jetzt nimmt die Frau wohl enttäuscht und traurig das Mittagessen vom Herd. Sie hat sich heute zum Tag der Heimkehr angestrengt. Mein Teil bleibt unvergessen. Was denken Frau und Tochter jetzt? Stehen sie draußen am Zaun? Haben sie einen Offizier erwischt, um ihn zur Vernunft zu bringen? Mehr als zwanzig Zigarettenstummel liegen schon am Boden. Endlich, endlich erscheint der Feldwebel in der Tür. - Come on! Ich komme on. Sie schieben mich wie einen Koffer in den Jeep. Rechts herum – links herum – gerade aus und wieder rechts herum. Da steht eine lange Wagenkolonne, unabsehbar, ein mobiles Gefängnis für Tausende von Kriegern. Es ist kein Viehtransport, was da vor sich geht. Nie habe ich Vieh mit so wenig Verstand und Sorgfalt verladen gesehen. Die Lastwagen gleichen riesigen, hochgestellten Kisten voll großer Sprotten. Keine fällt aus der Kiste. Keine kann aus der Kiste fallen. Sie sind dicht zusammengepreßt, daß sie aneinander kleben. Da ist kein Platz mehr. Ich schaue die Kanadier an. - Come on! Ich steige ab und wieder auf, stehe erst lange auf fremden, allmählich dann auf eigenen Füßen. Wir warten noch ein Weilchen. Soldaten haben Zeit, Gefangene noch viel mehr. Außer dem Essen versäumen sie nichts, gar nichts. Alle schweigen, starr und regungslos, stumm wie Weidevieh im Regen. Es ist, als hätte ein Schock alle Zungen gelähmt. Kein 14
Wort fällt, keine Frage, nicht einmal ein Fluch. So eng sie sich auch aneinander drücken, sie gehören nicht zusammen. Jeder ist, obschon der Raum bis auf den allerletzten Millimeter von Schuhen ausgenutzt ist, allein. Leer sind die Gesichter, ausdruckslos, als seien sie eben erst aus Ton geformt worden und noch nicht angerührt von dem, der sie lebendig macht. Sie sind aus ihrer Ohnmacht noch nicht aufgewacht. Sie haben die neue Welt, in die sie hineingeschleudert worden sind, noch nicht erfaßt. Vielleicht müssen sie sich erst von dem dabei erlittenen Schädelbruch erholen. Sie haben das neue Sein, das ihnen das Schicksal dekretiert, noch nicht erkannt. Sie sind noch nicht so weit, um zu begreifen, wo sie sind, wohin sie gehen. Sie haben vergessen, woher sie kommen. Sie sind entgleist und warten ohne Gefühl und Hoffnung, daß einer sie wieder auf die Schienen hebt. Und einigen von ihnen ist vielleicht zumute wie dem Odysseus und seinen Gefährten, nachdem sie der schauerlichen Höhle des Riesen Polyphemos entronnen waren. Nur zu erzählen vermögen sie noch nicht. Rollt die Wagenkolonne immer noch nicht? Doch, ja, sie rattert durch die Stadt. Die Stadt? Es ist der geschändete, in Stücke gehackte, halb verbrannte Leichnam einer Stadt. Die Wagen fahren mitten hinein in ihr zerrissenes Herz. SchuttPflüge haben die Straßen geräumt und die Trümmer beiseite geschoben. Die Sieger haben an alles gedacht. Ihre Ingenieure wußten, daß man eines Tages vor lauter Schutt nicht vorwärts kommen würde. Darum konstruierten sie die großen Pflüge, die den Panzern Fahrbahnen durch die zerschlagenen Städte brachen. Hohlwege tun sich auf. Stünden die Häuser noch, bis zu ihren ersten und zweiten Geschossen reichten die hohen Halden rechts und links. Da liegt die ganze Herrlichkeit der Gotik und Renaissance. Schutt, nichts als Schutt – Asche, nichts als Asche – Dreck, nichts als Dreck. Das nordische Nürnberg ist in ein paar hunderttausend Tonnen Müll verwandelt. Das Pfeilerhaus, das 15
Wedekindhaus, den umgestülpten Zuckerhut, das Rolandshospital, das Knochenhaueramtshaus, das alles kannst du mit zwei, drei Pferdegespannen in zwei, drei Tagen zur großen Schuttkippe fahren. - Sancte Pater, sie transit gloria mundi – singt der KardinalDiakon bei der Papst-Krönung, indem er vor dem Herrn der Christenheit einen Strohwisch abbrennt. Um den modernen Diktatoren zu zeigen, wie der Ruhm der Welt vergeht, brannte man ganze Städte ab. Hier wurde Weltruhm in wenigen Minuten in ein Gelände von flachen Lehmhügeln verwandelt, aus denen nur ab und zu verkohlte Balken ragten. Wohl 20.000 Menschen hätten die Flieger allein in dieser Stadt bei lebendigem Leibe geröstet und gekocht, wären die Bewohner nicht gleich zu Beginn des Alarms in wilder Panik auf die nahen Berge geflohen, getreu den Ratschlägen des Evangelisten Matthäus, die er den Juden zum Untergang Jerusalems gab: - Wer auf dem Dach ist, der soll nicht erst in seine Wohnung hinuntersteigen, um etwas mitzunehmen, und wer auf dem Felde ist, soll nicht noch umkehren, um seinen Mantel zu holen. Wehe den Schwangeren und Wöchnerinnen in jenen Tagen! Betet, daß eure Flucht nicht in den Winter falle. Diese Flucht fiel in das Frühjahr, aber dennoch verbrannten ganze Hundertschaften von Menschen in den Straßen und ihre Leichen wurden so klein wie die Puppen, mit denen die Mädchen am Christfest beschenkt werden. Wir drehen eine Runde durch diesen Friedhof der Architektur. Wir drehen die zweite, die vierte, die sechste Runde. Wir drehen immer weiter und haben längst aufgehört zu zählen. Die Wagenkolonne reißt Wirbel von Staub hoch, daß sie um die ausgebrannten Kirchturmspitzen kreisen. In einem gelbroten Schleier tauchen wie Gespenster die zerbrochenen Leiber der Kirchen auf und verlieren sofort wieder ihre ausgezackten, grotesken Konturen. Die Neger in 16
den Führersitzen der Lastwagen drehen unersättlich eine Runde nach der anderen. Haben sie Befehl erhalten, uns zu zeigen, was es heißt, den Helden aus Übersee zu trotzen? Müssen sie uns ins Gedächtnis ätzen, daß der Stolz des Abendlandes den modernen Städtezerstörern keine Stunde, keine Viertelstunde standhält? Schade um jeden Tropfen Benzin, der da vergeudet wird. Diese ausgebooteten Gestalten der Weltgeschichte, die durch die hingerichtete Stadt gefahren werden, nehmen keine Lehre auf. Sie sehen, hören, schmecken, fühlen, riechen nichts. Sie merken kaum, daß sich der Lehm- und Ziegelstaub zentimeterdick auf ihre Gesichter gelegt hat. Dort wird er liegen bleiben, viele Wochen lang. So schließen sie apathisch Kameradschaft mit dem Dreck und gehen, ohne es zu ahnen, eine lange Lebensgemeinschaft mit ihm ein. In Flocken hängt er an den Augenbrauen, an den Wimpern, an den Haaren. Er kriecht in Nase, Augen, Ohren, Mund und Lungen. Der letzte Tropfen Speichel ist vertrocknet. Mit aufgerissenen Mäulern wie die Fische, bevor sie einen barmherzigen Schlag oder Stich ins Genick bekommen, schnappen die Kriegsgefangenen nach Luft. Die Education hat begonnen. Die da mit staubblinden Augen, mit dreckverstopften Kehlen die Qualen des Todes durch Ersticken leiden, die haben den Krieg verloren. Die sollen das erkennen. Im trojanischen Krieg kannte man noch eine andere Nuance. Da band man sogar die Leiche des erschlagenen Feindes an seinen Kampfwagen und schleifte sie um die Mauern der belagerten Stadt. Die römischen Feldherren führten ihre Gefangenen, bevor sie abgeschlachtet oder als Sklaven verkauft wurden, im Triumphzug zum Kapitol. Hier leistete sich ein kleiner Kommandeur, Bankier im Zivilberuf oder Rechtsanwalt, das Vergnügen, seine menschliche Kriegsbeute zu verhöhnen und zu quälen. Einmal aber muß die Lust an diesen Ehrenrunden zu Ende gehen. Der Staubschleier wird allmählich dünner. Man verliert 17
langsam das Gefühl, bei Sonnenfinsternis durch einen Sandsturm zu fahren. Straßen, Häuser, bewaldete Höhen werden sichtbar. Ich werfe noch einen letzten Blick auf die tote Stadt zurück, sehe die rußgeschwärzte, zerfetzte Ruine des Domes, der Weihestätte Karls des Großen und seiner Söhne und Enkel. Mittendurch ist die Apsis gespalten, wie von einem Ungeheuern Blitzschlag zerteilt. Unter den zerbrochenen Sandsteinquadern, unter dem flüssigen Blei und den glühenden Kupferplatten des Daches war der Tausendjährige Rosenstock, das heilige Symbol der Stadt, begraben, verbrannt, erstickt. Es gab keine Verheißung, keine Zukunft mehr. Und wir, die sie verspielt hatten, fuhren nun nach Westen, gefangen und mit unbekanntem Ziel.
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PRÜGEL AM ANFANG, PRÜGEL AM ENDE Westwärts rast die Kolonne auf der uralten Reichsstraße 1, die schon manchen Soldatentransport in tausend und mehr Jahren gesehen hat, aber keinen, der es so eilig gehabt hätte. Die Neger an den Lenkrädern treten in kindischer Freude wie die Besessenen auf die Gashebel. Vielleicht sitzen sie im Geist auf den Rücken durch die Steppe brausender Rhinozerosse, obwohl bisher noch kein Forscher eine derartige Parforce-Jagd verzeichnet hat. Widerlich kreischen die Reifen, wenn es in die Kurven geht. Die Reifen brauchen nicht geschont zu werden. Ein Land, das so viel Gummi hat, das konnte den Krieg nicht verlieren. Bremsen zu betätigen, scheint verboten zu sein. Und das leuchtet auch ein. Es befindet sich ja keine Wachmannschaft an Bord. In der schnellen Fahrt allein liegt die Gewähr, daß kein Gefangener abspringt und flüchtet. Absprung ist sicherer Tod. Wer eine Handgranate abzieht und in den Mund steckt, kann sein jähes Ende nicht zuverlässiger haben. Ein wunderbarer Frühling liegt über dem Land. Dieser April nimmt alle Schönheit, die die Dichter dem Mai nachsagen, vorweg. Wie ein zartes, leuchtendes Gewand bedeckt die junge Saat die dunkle Erde. Drüben am Berghang liegt Osterwald, das Dorf mit den zahlreichen steilen Straßen und den noch zahlreicheren Eseln. Norddeutschlands Zuchtstätte für Esel befindet sich hier. Nur hier? Wir rasen weiter. Links auf einem Feld verfault der Kadaver eines Pferdes. Das Tier hat ausgedient, hat Ruhe. Am Waldrand drüben liegt der Kadaver eines Panzers. Er hat auch ausgedient und streckt seine Kanone wie eine Deichsel lächerlich in die Luft. Sonst ist in dieser Landschaft wenig vom Ruhm des Krieges zu lesen. So schnell brach er über dieses Tal der Weser herein, daß er nicht dazu kam, Unheil anzurichten. Die Männer auf den Sturm19
geschützen kamen nur selten zum Schuß. Die Granatwerfer hatten vor lauter Schnelligkeit keine Zeit, junge Wälder abzumähen und Dörfer zu zerstören. Eine halbe Stunde sind wir vielleicht unterwegs, als die Straße belebt wird. Es ist, als seien ganze Völkerstämme wie zur Zeit der Cimbern und Teutonen auf die Wanderschaft gegangen. Franzosen sind es, Belgier, Holländer, Zwangsarbeiter alle, die nun Eile haben, nach Hause zu kommen. Traktoren haben sie aus Scheunen und Schuppen geholt, die letzten Pferde aus den Ställen gezogen und vor Erntewagen und Kutschen ehrwürdigen Alters gespannt. Heimwärts fahren sie, westwärts ohne Pause. Wie die Prozessionsspinner hängen sie sich aneinander. Sie singen, schreien, hüpfen auf und ab, als hätten sie Gummibänder in den Gelenken. An Proviant fehlt es ihnen nicht. Sie haben den Bauern die Wurstkammern ausgeräumt. Sie haben Kälber und Schafe zum Schlachten mitgenommen. Sie haben auch nicht vergessen, daß sie seit ein paar Stunden zu den siegreichen Nationen gehören. Auf jedes Fahrzeug haben sie einen ausreichenden Vorrat von Knütteln, Dreschflegeln und Bohnenstangen gepackt. Damit hauen sie jauchzend und brüllend den verhaßten Deutschen auf die Schädel. „Ail Itleer!“ kreischen die Franzosen und dreschen die Menschenfracht auf den Lastwagen wie reifes Korn. Die Deutschen biegen und bücken sich nicht. Sie können den Schlägen nicht ausweichen. Sie täten es auch nicht, wenn sie es könnten. Sie haben das dumpfe Gefühl, daß dies alles zum Ende gehört. Darum stehen sie aufrecht wie Bäume. Hin und wieder wird einer vom Wagen gefällt, geht wie eine Marsstenge über Bord. Das ist vom Schicksal bestimmt. Er stürzt zu Boden und gerät sofort unter die Räder der folgenden Wagen, wird zerquetscht, zermalmt. Er war nicht Wachmann in Auschwitz, nicht Leichenverbrenner in Theresienstadt, nicht Menschenschinder in Buchenwald. Er hat nur den Krieg verloren und wird nun in Buße genommen. Keiner hält den 20
Fallenden fest. Er fiele nur selbst mit. Es ist die Frage, ob er ihn hielte, wenn er selbst nicht mitfiele. Diese ganze elende Menschheit ist von einem Starrkrampf befallen, der sie moralisch lähmt. Ich schaue einen Augenblick zur Seite, auf die Straße hinab. Ich traue meinen Augen nicht. Da wandern deutsche Soldaten friedlich heimwärts. Ohne Gewehr, ohne Seitengewehr, aber mit vollem Rucksack pilgern sie westwärts und ostwärts. Niemand denkt daran, sie gefangenzunehmen. Es ist nicht befohlen. Der Sergeant, der die Ehre hat, unseren Transport zu leiten, sieht die deutschen Landser auch. Er schiebt den Kaugummi vom linken Oberkiefer zum rechten Unterkiefer und spuckt den Marschierern hin und wieder einen kräftigen Strahl auf die Mützen. Er denkt nicht daran, seine Kolonne zu stoppen. Nur wir auf den Wagen, wir sind schon gefangengenommen. Unsere Schicksalslinie verläuft eben anders. Ein riesiger Holländer schwingt eine mächtige Latte. Auf meinen Kopf in der Nordostecke des Wagens hat er es abgesehen. Wenn dieser Keulenschlag richtig ankommt, liege ich unten. Eine halbe Sekunde später saust der nächste Wagen über mich weg. Und nichts bleibt übrig als blutiger Brei, den man keiner Gattin, keinem Kind mehr vorzeigen kann. Der Tulpenzüchter oder Käsehändler oder was er nun ist, hat mehr Muskulatur als Verstand. Von Waffentechnik versteht er nichts. Er hat keine Ahnung davon, daß er die Geschwindigkeit seines und meines Wagens einrechnen muß, keine Ahnung davon, daß sich der Seitenwinkel immer langsamer, der Höhenwinkel immer schneller verändert, je näher der Wechselpunkt ist. Kurzum, von Flak-Schießlehre versteht er nichts. So streift er nur lahm und weich meinen Hinterkopf. Es war nicht meine Stunde, vom Wagen zu fallen. Wie lange ist es bloß her, daß ich das letztemal Stockschläge bezog? Zweiundzwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Bald nach der Machtergreifung, im Frühjahr 1933 war es. SA21
Stürmer marschierten mit den lächerlichen Starenkästen auf den Köpfen hinter der Hakenkreuz-Fahne durch die Stadt. Da ich an politischem Rheuma in der rechten Schulter litt, betrachtete ich angestrengt das Schaufenster eines Juweliers. Und dann gab es Faustschläge und Stockhiebe. Ich hatte dem Hut nicht Reverenz erwiesen. Es war meine Schuld. Ich brauchte ja meinen Rücken nicht so demonstrativ anzubieten. Außerdem hätte ich Zeit genug gehabt zu emigrieren. Education, nicht wahr? Wo es Stöcke gibt, da wachsen auch schnell die Erzieher nach. Aber wofür bekomme ich heute holländische Prügel? Vielleicht nur aus dem einen Grunde, damit sich das Erlebnis aus dem Dritten Reich in meiner Seele besser abrundet. Prügel am Anfang, Prügel am Schluß. Nur die Nationalität der Schläger hat gewechselt. Sonst ist alles beim alten geblieben. Wenn wir das geahnt hätten, damals im November 1938, als das Scherengitter hinter mir einschnappte und Himmlers geheime Staatspolizisten in stundenlangem Verhör nach einem ganz kleinen Gründchen suchten, um mich ins KZ zu transferieren, wenn wir das geahnt hätten, daß mich sieben Jahre später holländische Prügelhelden gewissermaßen zum posthumen Nationalsozialisten zu stempeln versuchten, wir wären wahrscheinlich vor schauerlichem Lachen von den Stühlen gefallen. Gesegnet sei eure Einfalt, Schläger und Geschlagene! Denk ja nicht, du prügelnder Niederländer, ich sei dir sonderlich böse gewesen. Ich tat mir nicht leid. Du tatest mir leid, vornehmlich wegen deiner grasgrünen Dummheit. Deinem primitiven Gehirn genügte es, auf einen Schädel zu schlagen, bloß weil es ein deutscher Schädel war. Sollte dir jemals dieses Buch in die Hände fallen, denke nach, ob es dir damals gelungen ist, einen anderen deutschen Soldaten vom Wagen zu schlagen und zu ermorden. Vielleicht bist du, Bruder aus Holland, ein wallonisch-reformierter Christ aus Haarlem oder Utrecht. Und vielleicht war dein Opfer ein reformierter Bekenntnis-Pfarrer aus Deutschland, der mit seinen schwachen 22
Kräften Christi treue Schar, die immer kleiner wurde, zusammenhielt und davor bewahrte, dem Zeichen des Tieres zu dienen. Und wenn du dann ein paar schlaflose Nächte hast, die seien dir von Herzen gegönnt. Immer weiter geht die rasende Fahrt. Was ich schon lange befürchtet hatte, geschah. Der Wagen vor uns hatte keine sehr hohe Reling. Man hatte sie mit Lattengerüsten höher gezogen. In wildem Tempo braust die Kiste in eine scharfe Rechtskurve. Das Gerüst hält dem Sog nicht stand. Es kracht auseinander. Menschenleiber wirbeln durch die Luft. Sind es zwei, drei, vier? Einer hat sich den Schädel an der Mauer eingerannt. Die andern liegen schon unter den Rädern. Sie haben den Krieg verloren. Der Krieg hat sie verloren. Es ist wie im Jahr 1525, als Martin Cronthal in seiner Würzburger Chronik vom großen Bauernsterben berichtete. Ein Menschenleben habe weniger Wert gehabt als das eines Huhns. Irgendwer wird die Toten schon auflesen und begraben. Irgendwer wird die Krüppel, wenn es sich lohnt, schon wieder zusammenflicken. Unsere Fahrer hatten keine Frachtbriefe bei sich, in denen das von ihnen transportierte Stückgut näher bezeichnet war. Sie kannten nicht einmal die Zahl der Menschen, die sie beförderten, genau. Von ihnen würde daher keine Rechenschaft für Frachtverluste gefordert werden. Ja, wenn sie ihren Hauptmann um ein gebratenes Huhn gebracht hätten. Jetzt überholen wir ein Wägelchen, hochbepackt, vor das als Zugtier nur eine noch rüstige Kuh gespannt ist. Bald wird der Fuhrmann gezwungen sein, eine klare Stellung zum Rindvieh zu beziehen. Fleisch oder Arbeitskraft, das wird die Frage sein. Westwärts bewegt sich auch dieses armselige Gefährt. Ein Mann führt die Kuh am Halfter. Er sieht sehr jüdisch aus. Weiß Gott, wie er es angestellt hat, diese Katastrophe Israels zu überstehen. Ich beglückwünsche ihn. Woran erinnert er mich bloß, dieser jüdische Männerkopf, der ein so uraltes Gesicht hat? Ein paar Kilometer später fällt es mir ein. An den 23
jüdischen Viehhändler Nußbaum erinnert er mich, der in meiner Straße wohnte. Er war ein wohlhabender, anständiger Mann. Sein Geschäft betrieb er mit mehreren Kraftwagen. Aber eines Tages – es war vielleicht im Sommer des Jahres 1933 – sah ich ihn auf einem ziemlich klapprigen Pferdewagen sitzen. An dessen Steven hatte er eine Kuh gebunden, die er einem Bäuerlein abgekauft hatte. Einige Wochen später sah ich ihn wieder. Diesmal zog er am Halfter ein Rind hinter sich her. Er war gekleidet wie ein Bankprokurist. Denn schlechte Kleider hatte er nicht. Ich grüßte ihn freundlich wie immer, blieb stehen, wechselte ein paar Worte mit ihm. Er flehte mich an, weiter zu gehen und nicht ihn, nicht mich selbst in Gefahr zu bringen. „Mensch“, sagte ich zu ihm, „sind Sie noch immer da? Gehen Sie doch um Gottes willen fort nach Paris als Stiefelputzer, nach London als Hausierer. Alles wird besser sein als das, was Sie hier erwartet. Glauben Sie mir, ich habe die ganze Literatur der braunen Götterdämmerung gelesen. Irgendeine Seuche hat die Gehirne angefressen. Es wird kein Gewitter, es wird eine Serie von Gewittern geben. Der Teufel ist los in Deutschland und niemand weiß, wann er wieder eingefangen wird.“ Ich habe meinen Nachbarn nicht wieder gesehen. Hoffentlich hat er auf meinen Rat gehört und pflanzt jetzt Apfelsinen in Palästina an. Wie haben die Reichsstraße 1 verlassen. Wir halten plötzlich in der Nähe von Detmold. Hier scheint ein Gefangenenlager von beträchtlichem Umfang zu sein. Da wird dann wohl auch Verpflegung ausgegeben. Es kommt zu einem langen Palaver am Tor. Dann klettern die Neger wieder mürrisch in ihre Kabinen. Wir fahren weg von unserem Abendbrot, immer westwärts, um irgendwo eine Herberge für die erste Nacht der Gefangenschaft zu finden.
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DRAHTKÄFIG BRACKWEDE Brackwede liegt in der Nähe von Bielefeld. Es gibt dort eine Anlage, die einen allgemeinen Sport- und Tennisplatz umfaßt. Vielleicht ist Brackwede noch durch andere Vorzüge erwähnenswert. Doch diese sind uns nicht bekannt geworden. Die Sportanlage war schon von Natur aus stark verdrahtet, eignete sich also vortrefflich dazu, um Vieh aller Art einzusperren. Als wir vom Wagen sprangen, wurde uns bedeutet, daß wie bei den Preußen so auch bei den Nachkommen Washingtons der Laufschritt die langsamste Gangart des Soldaten, zumindest des kriegsgefangenen, sei. Ob dieser Umstand auf das Wirken des Generals von Steuben zurückzuführen ist, das mögen die Militärwissenschaftler klären, desgleichen die Frage, ob der gute alte fredericianische Korporalstock in der demokratischen amerikanischen Armee illegal, aber doch spürbar fortlebte. Unsere Wächter formierten sich zu einer stockbewehrten Gasse, durch die wir uns munteren Schrittes und stark gezüchtigt zum Drahtkäfig bewegten. Kräftige Arme schrieben uns das ABC der Sieger ins Kreuz und Hinterteil. Es waren weiße Amerikaner, die uns schlugen. Wenn geschlagen wurde, waren es immer die Weißen, selten die Mischlinge, niemals Neger, die den Knüppel schwangen. Tausende und aber Tausende von Gefangenen quollen hinein in die Gitterlandschaft. Alle paar Minuten kam ein neuer Geleitzug an. Hätte der Strom nicht gegen Sonnenuntergang nachgelassen, so wäre der Draht geborsten. Und dann hätten sicher die Maschinenpistolen gebellt. Da wir schon kein Mittagessen empfangen hatten, waren wir nicht sonderlich überrascht, als auch das Abendbrot ausblieb. Nein, dieser amerikanische Militarismus unterschied sich vom preußischen in keiner Weise. Zweimal in meinem Leben bin ich zur deutschen Luftwaffe eingezogen 25
worden, einmal als jenes maßlos traurige Stück Mensch, das gemeinhin als Rekrut bezeichnet wird, das andere Mal immerhin als Mitglied eines Ersatzhaufens. Beide Male traf ich erst nach 18 Uhr in der Kaserne ein. Es war meine Schuld. Warum hatte ich keinen anderen Zug bestiegen, der mich früher ans Ziel brachte. Die Fouriere hatten ihre Schalter bereits geschlossen. Wer so spät kam, der gehörte der „Ist“Stärke nicht mehr an und hatte keinen Anspruch auf Brot und Fleisch. Auch Bettwäsche empfing er nicht mehr. Dagegen stand dem späten Ankömmling ein gestopfter oder noch zu stopfender Strohsack zu. Hier in Brackwede fiel auch der Strohsack weg. Bettwäsche brauchte daher überhaupt nicht ausgegeben zu werden. Denn wo in aller Welt war es üblich, die nackte Erde mit einem Leintuch zu bespannen? Unsere Kerkermeister waren der Ansicht, daß Männer, die den Krieg verloren hatten, auch keinen Liegeplatz am Boden zu fordern hätten. Höchstens der dritte Teil der Gefangenen konnte sich schichtweise auf dem grasbedeckten oder betonierten Boden schlafen legen. Schließlich weiß man ja, daß auch viele Pferde stehend schlafen. Gepriesen sei der preußische Kommiß! Er war doch nicht so schlecht und hat uns auf manche Härte des Daseins vorbereitet. Vor allem lehrte er uns bei der Flak, tagelang zu stehen und in jeder Lebenslage zu schlafen. Ich habe Brackwede acht Tage lang fast nur stehenden Fußes erlebt. Käme ich heute auf den Gedanken, diesem Städtchen einen Erinnerungsbesuch zu machen, ich wäre sicher höchst überrascht zu sehen, daß es auch dort an Sitzgelegenheiten nicht mangelt. Acht Tage stand ich also auf dem Tennisplatz zu Brackwede, ungewaschen und unrasiert, einer von vielleicht 30.000 Ungewaschenen und Unrasierten. Wenigstens vier Stunden lang gaben wir uns am nächsten Morgen nach Sonnenaufgang der eitlen Hoffnung hin, daß uns ein Frühstück überreicht werde. Von da an begannen wir, mit 26
dem Mittagessen zu rechnen. Wir hatten ja doch so viel von Kaisers Liberty-Schiffen gehört, die mit vollen Bäuchen kalifornische Ernten nach Europa schleppten. Viele von uns hätten tagelang amerikanischer Speise nicht bedurft. Sie hatten ihre Rucksäcke beim Zusammenbruch der Heimatfront mit Brot und Wurst, mit Zucker und Käse, mit frischem Fleisch und Fleisch in Dosen vollgestopft. Die weißen Amerikaner hatten in den meisten Fällen bei der Gefangennahme die deutschen Nahrungsmittel in den Dreck getreten. Weshalb? War das Atavismus? Schon in der Bronze-Zeit war es ja üblich, die Kornfelder, die Weinberge des Besiegten zu zerstampfen. Ich machte mich langsam an die Gitterwand heran und umschritt meinen Käfig, nicht ohne von Zeit zu Zeit ein etwas gedämpftes Wiedersehen mit den Kameraden meiner Batterie zu feiern. Sie hatten fast alle den Weg hierher gefunden. Sie hatten fast alle pralle Rock- und Manteltaschen, gefüllt mit Zucker. Die erste Nacht der Gefangenschaft hatten sie in einer Zuckerfabrik verbracht. Sie hatten auf den Zuckersäcken geschlafen und diese angeritzt, um sich mit Proviant zu versorgen. Der eine oder andere langte in die Tasche, und ich leckte dankbar den Zucker aus der hohlen Hand. Gegen Mittag war ich beim Offizierskäfig angelangt. Der glich zwar auch keinem Luxushotel, verfügte aber über einige wacklige Stühle, auf denen sich die Träger der Schulterstücke in einem gewissen Rhythmus ausruhten. Hinten in der Ecke stelzte ein Oberfähnrich auf und ab. Wahrhaftig, Hermann war es. Die Sache will es, daß wir uns mit seinem Vornamen begnügen müssen. Oberfähnrich Hermann zählte zu meinen unvergeßlichen Wehrmachterlebnissen. Er war eines Abends, als ich gerade beim Geschütz Bertha Wache schob, an mich herangetreten und hatte einige Male schwer geseufzt. Er wollte eine Beichte ablegen. Irgendwo in der Gegend der Mainlinie hatte er auf Geheiß des Führers seine Frau und seine drei Kinder verlassen. In 27
Norddeutschland hatte er die Tochter eines Generals kennengelernt. Die schenkte ihm in der biologisch vorgesehenen Frist einen Sohn. Der Großvater wider Willen reagierte mit Härte. Hermann wurde an Stelle eines Säbelduells aufgefordert, standesgemäß Alimente zu bezahlen, widrigenfalls. Eben darum ging es in jener Nacht. Es konnte nicht ausbleiben, daß der Batterie-Chef dienstlich von der Sache erfuhr, daß die Gattin zu Hause eine betrübliche Kenntnis erlangte, wenn Hermann die fällige Buße nicht pünktlich entrichtete. Da ich, wie jeder in der Batterie wußte, in jenen Tagen von den Staatstheatern in Dresden, Hamburg, Kassel und Stuttgart beträchtliche Tantiemen bezog, hielt Hermann mich für ebenso vertrauenswürdig wie kreditfähig. Ich schoß also vor und leistete des öfteren Zahlungen in derselben Höhe und jeweils kurz vor dem Ersten eines Monats. Wie wenig sich auch meine Frau um Finanzfragen und Postscheckkonten kümmerte, eines Tages fielen ihr diese eigentümlichen Geldgeschäfte auf. Sie mißbrauchte meinen nächsten Wochenendurlaub zu einer indiskreten Frage. Ich antwortete wahrheitsgemäß. Aber sie nahm die Sache doch nicht ohne herbe Kritik hin. - Ist das nicht ein bißchen zu viel? - Aber ich bitte dich, für das Baby einer Generalstochter! - Ich denke jetzt nicht an die Höhe der Summe. Die ganze Geschichte – wem willst du das eigentlich glaubhaft machen? - Wieso denn? - Nun, ich habe schon oft von Männern gehört, die sich dagegen sträuben, ihre Alimente zu zahlen, aber ein Esel, der fremde bezahlt, ist mir bisher noch nicht vorgekommen. Daran dachte ich, als ich die Nase durch den Maschendraht steckte und mich vergeblich dem fernen Oberfähnrich bemerkbar zu machen suchte. Bald darauf schien irgendwo etwas zu geschehen. Tausende von Nasen hoben sich witternd in die Luft. Sollte es endlich etwas zu essen geben? Ich schlängle mich näher und näher an 28
den Herd der Unruhe. Tatsächlich, ein Tor hat sich aufgetan. Hinter dem Tor sind Kisten aufgestapelt. Der Empfang des Mittagessens beginnt. Zu zwei und zwei sausen die Gefangenen an den Spendern vorbei. Im Flug wie die Möwen müssen die Gefangenen ihren Fraß erhaschen. Zwei kleine Konservendosen wirbeln jeweils durch die Luft. Was fällt, bleibt liegen. Wer kein Artist ist, hat nichts oder nur die Hälfte zu essen. Ich weiß nicht, ob diese Essensausgabe eine Eigentümlichkeit der amerikanischen Wehrmacht ist. Vielleicht konstruierten da die Techniker ein imaginäres Fließband zwecks Rationalisierung des Fourierdienstes. Ich sehe nur, daß die zweireihige Prügelkolonne wieder Spalier bildet und mit maschinenmäßiger Präzision die Erziehung zur Demokratie über das Gesäß fortsetzt. Jedenfalls beschleunigt sie auf diese Art den Gang der Ereignisse ganz erheblich. Damals hatten wir den Film „Verdammt in alle Ewigkeit“ noch nicht gesehen. Darum leisteten wir uns auch als Besiegte die Kühnheit, etwas verwundert zu sein. Meat and noodles hatte ich erwischt. Andere kauten an Lima-beans oder Ham and eggs. Der Kubikinhalt einer Dose – das muß hier gesagt werden – war bequem in drei oder vier Streichholzschachteln zu packen. Wir stellten dann bald beim Studium der Aufschriften fest, daß unsere tägliche Futterration einer halben amerikanischen Frühstücksration entsprach, wobei Brot und Butter, da wir nichts davon empfingen, sowieso außer Betracht blieben. Nun ja, wir hatten den Krieg nicht gewonnen. Ein Gefangenenlager ist schließlich keine Mastanstalt. Wir mußten zufrieden sein, wenn der Ofen wenigstens mit einem halben Brikett geheizt wurde. Meat and noodles – schön, aber eine Tasse Tee oder Kaffee wäre willkommen gewesen. Dort hinter dem Atlantik sollen sie ja doch die Lokomotiven mit Kaffeebohnen heizen. Einige Stunden später waren wir so weit, daß wir nach nichts weiter als einer Tasse frischen Wassers verlangten. Wie jeder 29
anständige Tennisplatz, so verfügte auch der in Brackwede über eine Wasserleitung. Es war nicht gerade Quellwasser, was da heraussprudelte, obwohl Brackwede am Fuß des Teutoburger Waldes liegt. Wir hatten im Krieg schon manche Brühe gesoffen, ohne die Bazillen vorher zu zählen. Aber das Wasser war hier von einem fetten Kreolen bewirtschaftet. Er hatte eine so widerliche Visage, daß mir wie nie zuvor die ganze Schwere des Herrengebotes aufging, demzufolge man seinen Nächsten wie sich selber lieben soll. Wenn ich es nicht vermeiden wollte, eine ketzerische Aussage zu machen, so würde ich dreist behaupten, daß der Herr selber diesem Manne gegenüber Schwierigkeiten mit seinem ersten und größten Gebot gehabt hätte. Von Zeit zu Zeit ließ der Kreole etwas Wasser in den steinernen Trog laufen, der sich unter dem Hydranten befand. Der Trog war voll von Staub, von Unrat, von Strohresten und anderem Mistzeug. Nur so viel Wasser ließ der Kreole herniederträufeln, daß es den Unrat gerade bedeckte und zum Schwimmen brachte. Dann forderte der Kerl uns NaziSchweine auf, unseren Durst zu löschen. Ich warnte jeden Mann, der mich anhörte, aus diesem Drecksumpf zu trinken. Ich beschwor die Umstehenden, lieber noch einen Tag Durst zu leiden, vielleicht auch noch einen zweiten, einen dritten Tag. Hier war ein Henker, ein Mörder am Werk. Dennoch wurde getrunken. Zwei Tage später wußten wir, welcher Art dieses Getränk war. Wahrlich, wir hatten den Krieg gründlich verloren, total, möchte man sagen, sonst hätten wir noch so viel Kraft gehabt, um diesen Halunken über dem Boden zu zerfetzen, was auch nachher geschehen mochte. Wir ertrugen ihn schweigend. Ein halbverdurstetes Skelett von einem Menschen, ein wenigstens sechzigjähriger Volkssturmmann, richtete an den Tyrannen von Brackwede, der wie ein Eunuche fast aus der Hose platzte, die flehentliche Bitte, den Trog doch voll laufen zu lassen und so 30
das Wasser einigermaßen trinkbar zu machen. Da lief dem Satansknecht der Hals rot an wie einem Puter. Er hob den schweren Hydrantenschlüssel und stieß ihn dem Skelett ins Gesicht. Er hatte selbst Schuld, der alte Mann. Wie konnte er, der Besiegte, es wagen, eine Forderung an einen Vertreter der Vereinten Nationen zu richten. So war Brackwede. Eine volle Woche dauerte das Grauen. Waschen – rasieren – Zähne putzen – kämmen – alles Blödsinn. Hunger leiden – Durst leiden – frieren – im Dreck liegen – verzweifeln – das war unser Dasein. Manchmal tauchte ein weißer Amerikaner auf dem Podest auf. Er sprach viel zu gut deutsch, um im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten geboren zu sein. Er berichtete uns, was draußen alles geschehen sei. Hitler sei in Berlin gefangengenommen worden. Goebbels habe man bereits im Flugzeug nach London gebracht. Der Friedensschluß stehe in wenigen Wochen bevor. Der Bursche predigte Geduld und Verständnis. Es sei schwer, Lebensmittel heranzuschaffen. Aber die Transportlage bessere sich von Tag zu Tag. In Kürze gehe es nach Hause. Nach solcher Rede sprang der Mann wieder von seiner Kiste herunter. Hinkte er nicht? Der Kerl mußte doch einen Hinkefuß haben. Armer Idiot! Du hast wohl noch kein Gaupropaganda-Amt erlebt. Die Leute dort wußten am 18. Februar, daß am 3. März 350.000 Brutto-RegisterTonnen im Nordatlantik versenkt worden waren. Sie meldeten am 4. März den U-Boot-Erfolg mit Fanfarengeschmetter und betteten in demselben Heeresbericht den fluchtartigen Rückzug von Tobruk nach Benghasi ein. Der Sprecher in Brackwede wollte nur Ruhe im Lager haben, weil er abends bei seinem deutschen Mädchen sorglos schlafen wollte. Der Platz des Entsetzens, der uns bereitet wurde, war nicht hier. Manchmal stand ich am Draht und schaute mir die jungen Belgier an, die, das Gewehr im Arm, auf dieses unrasierte Gewimmel herabsahen. Es gelang mir nicht, mit einem dieser 31
Knaben ins Gespräch zu kommen. Das eleganteste Französisch stieß auf taube Ohren. Aber die Gesichter dieser Bürschchen waren sehr aufschlußreich. Tag um Tag sahen sie, wie wir immer mehr verkamen. Sie sahen, daß es unter uns Große und Kleine, Dicke und Dünne, Alte und Junge gab. Vielleicht gab es sogar Gute und Böse? Ich merkte es an ihren gerunzelten Stirnen, daß sie mit Mühe die ihnen eingetrichterte Weltanschauung aufrechterhielten. Gott allein weiß, mit welchen Vorurteilen sie sich herumplagten. Ich stehe wieder einmal am Offizierskäfig. Ist das nicht – natürlich ist es mein ehemaliger Leutnant, bis vor wenigen Tagen Meßoffizier und NS-Führungsoffizier in meiner Batterie. So, so, da ist er nun auch, der Herr NS-Führungsoffizier, der mit der Zähigkeit eines mittelalterlichen Kreuzzugspredigers den Endsieg verkündet hatte. Da steht er nun, genauso armselig und gottverlassen wie ich. Nein, ihm wird wohl noch schlimmer zumute sein. Mir ist ja keine Welt zusammengebrochen. Mir hat sich nur eine grausige Vorahnung bestätigt. Ich hoffe, am Ende des Chaos angelangt zu sein. Er ist am Anfang. Aber nicht darum allein schicke ich einen Blick voller Sympathie, voller Freundschaft zu ihm hinüber. Wir hatten wieder einmal bei der Abwehr von Luftangriffen in Bemerode eine schwere Nacht gehabt. Ich hatte meinen Platz am Kommandogerät verlassen und gerade noch gesehen, daß sich der Leutnant mit dem Batterie-Chef unterhielt. Mit drei anderen Unteroffizieren schlief ich in einem Bunker, der aus zwei Räumen bestand. Den hinteren Raum bewohnte der Leutnant. Er konnte ihn nur durch unseren Raum erreichen. Da ich, wie die ganze Batterie wußte, den Londoner Sender täglich in französischer und italienischer Sprache abhörte, erkundigten sich die drei Korporale nach der Kriegslage. Februar 1945 war es inzwischen geworden. Ich unterrichtete meine Zuhörer über die strategischen Züge des Generals Patton und wies ihnen in 32
einem etwa halbstündigen Vortrag nach, daß es sich allenfalls noch um einige Wochen bis zum Tag X handeln könne. Ich höre gerade auf, ihre Wehrkraft zu zersetzen, als sich die Tür öffnet. Der Leutnant tritt aus seinem Bunker in unsere Bude. Ich hatte mich getäuscht. Er hatte sich nicht auf der Hauptbefehlsstelle mit dem Chef unterhalten. - Kommen Sie mit! Nein, ohne umzuschnallen! Ich gehe mit. Schweigend öffne ich die Tür. Schweigend tritt er zur Seite, läßt mich vorausgehen. Aber er lenkt seine und meine Schritte nicht zur Wache, nicht zum Chef-Bunker. Oha, denke ich. Also was? Genickschuß? Seit wann ist denn das in der Wehrmacht Sitte? Sind neue Befehle vom Kommandeur des Heimatheeres, von Heinrich Himmler gekommen? Einen steilen Feldweg schlägt der Leutnant mit mir ein. Wir sind nun weit genug von der Stellung weg. Der Herr NS-Führungsoffizier öffnet den Mund zu einer kurzen Ansprache: - Was denken Sie sich eigentlich, Sie Vollidiot? In welche Lage haben Sie mich da eben gebracht? Sie wissen doch, was ich jetzt tun muß, was ich jetzt tun müßte. Und Sie wissen auch, daß Sie dann morgen früh vor dem Feldgericht stehen und zwei Stunden später erschossen sind. Das sage ich Ihnen, wenn Sie noch einmal so schafsdämlich sind und hochverräterische Reden führen – verdammt noch einmal! Konnten Sie nicht vorher an meine Tür klopfen? Und jetzt machen Sie, daß Sie ins Bett kommen! Können Sie sich wenigstens auf die anderen drei Kerle verlassen? Kann ich mich auf diese Knilche verlassen? - Herr Leutnant, die sind alle drei uralte Parteigenossen. - Das ist ja noch schlimmer! Entsetzt schreit der Leutnant auf. Ich beruhige ihn. Ich versichere ihm, daß nach meiner Kenntnis selbst die ältesten Parteigenossen inzwischen erwacht sind. Am kommenden Morgen ergriff der Leutnant, der wußte, was Pflichterfüllung 33
hieß, das Wort vor der Batterie: - Es ist wiederholt vorgekommen, daß Soldaten auch unserer Batterie am Sieg zweifeln und daß sie defaitistische Reden vor ihren Kameraden führen. Keiner lasse sich erwischen bei solchem Hochverrat. Ich bin ermächtigt, ihn mit eigener Hand ohne Feldgericht niederzuschießen. Streng und finster blickt mich der Leutnant an. Streng und finster erwiderte ich seinen Blick. Nur einmal zuckte mein Gesicht ein wenig. Eine Fliege hatte sich auf meine Oberlippe gesetzt und kitzelte mich mit ihren zarten Beinchen ganz fürchterlich. So war unser Leutnant. Wenn auch unsere Flak-Offiziere mangels Handfeuerwaffen oft genug Holzattrappen in ihren Pistolentaschen trugen, der Leutnant als NS-Führungsoffizier besaß eine Pistole. Er wäre sicher belobt, sogar befördert worden, wenn er mich niedergeknallt hätte. Denn ich war meinem Gau- und Kreisleiter nicht ganz unbekannt. Der Leutnant war übrigens Lehrer im Zivilberuf. Wenn man weiß, welches Ansehen sich der Lehrerstand im Dritten Reich erworben hat – kurzum, mich hat unser Leutnant gelehrt, von den Lehrern besser zu denken. Er hatte also doch pädagogische Fähigkeiten. NS-Führungsoffizier war er. Ihm wird es wahrscheinlich sehr schlecht gehen, wenn die Justitiare der Vereinten Nationen das erst merken. Einer wird sich schon finden, der ihn verrät. Ein paar Jahre Straflager wird dieser anständige Mensch dann abmachen müssen. Wer weiß, ob er sie überlebt. Und ich kann ihm nicht helfen. Wenn man nicht einmal um eine Konservendose voll sauberen Wassers bitten darf, ohne den Hydrantenschlüssel in der Fresse zu haben. Latrinen gab es in Brackwede nicht. Wozu auch? Wir brauchten keine. Wir produzierten weder flüssige noch feste Düngemittel. Unser ganzer leiblicher Apparat war wie das Dritte Reich aus den Fugen geraten. Nichts funktionierte mehr. Immer wieder sah ich Männer aus dem Trog saufen wie 34
durstige Pferde. Einige hatten schon Fieber. Unteroffizier Bruno, einer aus dem erwähnten Quartett im Leutnantsbunker zu Bemerode, konnte fast nicht mehr gehen. Eine trockene Hitze hatte von ihm Besitz ergriffen und machte ihn ganz apathisch. Um die Mittagszeit faßte ich ihn am Arm, schleppte ihn durch die Gasse der prügelnden Mittelwestler zum Essensempfang, erhielt zum Lohn für meine Samaritertätigkeit die fünf- bis zehnfache Ration von Schlägen, entwickelte mich ohne Training zum Parterre-Akrobaten, fing seine und meine Büchse im Flug auf, und fiel schließlich nach dieser Strapaze mit ihm zusammen ermattet zu Boden. Als ich am nächsten Tag meinen üblichen Umgang gemacht hatte und Bruno wieder auf die Beine helfen wollte, rollte er schon am Boden wie ein Betrunkener hin und her. Er war auch schon ärmer geworden. Kameraden hatten ihm seine Wolldecke entrissen. Kameraden hatten ihm die goldene Uhr gestohlen. Gewiß, er brauchte das alles bald nicht mehr. Aber sogar die Geier und Hyänen warten doch, bis die Toten auch wirklich tot sind. Nur die menschlichen Leichenfledderer greifen dem Sterben vor. Kein Lazarett ist da, keine Ambulanz, nichts. Kein Arzt, kein Sanitäter, kein Medikament, nichts. Keine Tragbahre, kein Krankenzimmer, kein Zelt, nichts. Und so muß Bruno wie ein überzähliger alter Hund im Dreck verrecken. Man räumt ihn wie ein Aas weg, verscharrt ihn irgendwo. Diakon war er gewesen, ein kerzengerader Mann, ein unbeugsames Glied der bekennenden Kirche. Mit seiner Frau warteten sechs Kinder auf ihn. Sie warten vielleicht heute noch. Nichts hindert sie anzunehmen, daß er beim Rückzug von Hannover auf die Elbe, daß er auf dem Heimweg nach Thüringen in die Hände der Russen gefallen und in Rußland verschollen ist. Und er ist nur einer von vielen Tausenden gewesen.
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FRACHTGUT DES TODES Ob ich sehr traurig war? Ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich nicht. Wir dämmerten in einer Art von moralischer Agonie dahin. Ein Flugzeug war abgestürzt mit dreißig Mann an Bord. Ein Schiff mit 4.000 Flüchtlingen war untergegangen. Eine Stadt war für 40.000 oder 120.000 Menschen zum Krematorium geworden. Wer wollte sich diesen Aufmarsch der Abgeschiedenen noch vorstellen? Hier vor meinen Füßen hatte nur ein Herz aufgehört zu schlagen, ein todkrankes Menschenherz. Ein Uhrzeiger war angehalten worden. Das Werk hörte auf zu ticken. Und wir hatten andere Sorgen. Was würde es morgen zu essen geben? Wieder das fade meat and noodles, wieder die geschmacklosen Lima-Bohnen, wieder Schinken mit Rührei ohne ein Stück Schwarzbrot? Und wann würden wir nach Hause kommen? Für wen würde es sich überhaupt noch lohnen, nach Hause zu fahren? Latrinen gab es in Brackwede nicht, Latrinenparolen in schier unerschöpflicher Menge. Würden wir als Holzfäller nach Kanada kommen? Oder stimmte es, daß wir vom Unteroffizier aufwärts nach den Feuerlandinseln deportiert werden sollten, eine Maßnahme, die ursprünglich nur den Generalstäblern vorbehalten war? Traf es zu, daß bereits russische Unterhändler im anglo-amerikanischen Hauptquartier eingetroffen waren, um einen größeren Posten deutscher Sklaven für den Wiederaufbau Stalingrads und anderer Städte zu chartern? Nein, an Gesprächsstoff fehlte es nicht. Man brauchte schon gute Nerven, um das Inferno der Latrinenparolen zu überstehen. Aus welchen Gründen sollte man ihnen keinen Glauben schenken? Aus welchen? Was bisher mit uns veranstaltet worden war, das konnte der Auftakt zu jeder Barbarei, zu jedem Verbrechen am Menschen sein. Daran war nichts zu deuteln. 36
Eines Morgens war der Marschbefehl da. Vor den Toren des Sportplatzes hüpften immer neue Kolonnen von Kriegsgefangenen wie Frösche zu Boden. Wir hingegen entfernten uns im Laufschritt durch einen rückwärtigen Ausgang. Wohin, das ahnten wir nicht. Transatlantische Schläger waren wieder in großer Zahl angetreten, Cowboys, die der Viehherde die Vokabeln aufs Fell trommelten und das Sieger-Alphabet mit ihr repetierten. Auf einem hohen Bahndamm war ein Güterzug vorgefahren. Den mußten wir ohne Rücksicht auf eigene und fremde Körperteile im Sturm nehmen. In drei Minuten hatten sich wohl tausend Mann an Bord geschwungen. Bis zur Abfahrt war dann noch drei Stunden Zeit. Man kennt ja doch den militärischen Terminkalender. Wer sich als freiwilliger Helfer des Roten Kreuzes aufführte und einem Schwerkranken auf den Wagen half, der wurde reicher mit Schlägen bedacht. Mag sein, daß der Leser dieses ewige Gerede vom täglichen Prügeln langsam als monoton empfindet, ich will es hinfort nicht mehr so oft erwähnen. Nach ein paar Wochen hatte es auch für die aktive Seite den Reiz der Neuheit verloren. Mag sein, daß die Anhänger dieses Sports mit der Zeit einfach zu faul waren, ihre Leichtathletik fortzusetzen. Die offenen Güterwagen waren nun unser Hotel, für zwei Tage und zwei Nächte, wie sich später herausstellte. Der Himmel trübte sich ein. Wir hatten den Krieg verloren und darum auf dem Transport auch Regen verdient. In wenigen Stunden würde er da sein. Bevor die Räder vorwärts rollten, prasselte ein Hagelschauer von kleinen Kartons auf unsere Köpfe. Es war unsere Marschverpflegung, die übliche halbe Frühstücksration für den ganzen Tag, die diesmal aus leichtverdaulichen Nahrungsmitteln wie Keksen, Bonbons, Schokoladetäfelchen und ähnlichem Zeug bestand. Getränke waren nicht vorgesehen. Nach wenigen Minuten wußten wir, es ging nach Westen, nicht nach Stalingrad. Von der Beringstraße bis zum Kap Horn 37
waren alle Möglichkeiten offen. Der Bahnkörper war ziemlich verlottert. Kniehoch stand das Unkraut zwischen den Schwellen. Keine Weiche, kein Signal war zu betätigen. Alle Stellwerke waren außer Betrieb. Was die Amerikaner nicht zerbombt hatten, das hatten die Deutschen gesprengt. Mit Mühe und Not war ein einziger Schienenstrang durch das Ruhrgebiet fahrbar gemacht worden. Nordamerikas Füsiliere waren in den technischen Vernichtungsschlachten nicht recht zum Zuge gekommen. Darum hatten sie im Einzelfeuer sämtliche Porzellanglocken an den Telegrafenmasten zerschossen. Es war ungemein geistvoll anzuschauen. Langsam rollte unser Zug durch diesen Campo Santo der Schwerindustrie. Alle Räder standen still. Nicht eine einzige Seilscheibe drehte sich auf den Zechen. Mehr Tod konnte auch in Hiroshima, in Nagasaki nicht sein. Wer sollte diese Kraterlandschaft mit ihren verbogenen Stahlgerüsten und zerfetzten Betonklötzen je wieder ordnen? Nein, da war ja Feuerland oder Alaska besser. In Hamm machte der Zug längeren Aufenthalt. Ich warf einen Zettel ab, mit der Bitte, meiner Frau eine Postkarte zu schreiben. Der Finder befolgte meinen Wunsch. Die Karte kam im September an. Ich war im August schon zu Hause. Die Post war den Kamelreitern, die als Kuriere unter Dschingis Khan ritten, hoffnungslos unterlegen. Wenn man an den Perserkönig Xerxes denkt, dessen Eilpost für die Strecke von Stockholm nach Messina dreieinhalb Tage brauchte, und das vor 2.500 Jahren, dann erkennt man erst die Fortschritte des technischen Zeitalters, in deren Genuß wir im Jahr 1945 kamen. Ein Amerikaner hatte ein Hitlerbild auf der Plattform eines Eisenbahnwagens aufgehängt. Er begann, es vor unseren Augen mit der Pistole zu beschießen. Er war sichtlich verärgert, als er keinen von uns zum Lachen brachte. Ein bißchen spät war das, was er da trieb, weltgeschichtlich gesehen. Tapfer war das nicht, auch nicht witzig. Der Pfarrer Müller in 38
Großdüngen hatte es gewagt, einigen Herren einen Witz zu erzählen, als es noch gefährlich war, Witze über Hitler zu verbreiten. Roland Freisler schickte diesen Priester, der wenige seinesgleichen an Eifer und Charakterstärke hatte, auf die Guillotine. Davon wußte dieser dumme Mensch aus Chicago oder Los Angeles natürlich nichts, sonst hätte er möglicherweise begriffen, daß uns seine läppischen Heldentaten völlig kalt ließen. Vielleicht wäre er ein ganz respektabler SS-Mann oder Gestapo-Beamter geworden, wenn er das Licht der Welt in Mitteleuropa erblickt hätte. Im übrigen interessierten wir uns mehr für den Wasserhahn auf dem Bahnsteig. Er tropfte. Uns hingen die Zungen fast bis zum Knie aus dem Hals wie den Schäferhunden an einem heißen Sommertag. Aber da waren die Läufe zweier Maschinenpistolen. Vorläufig war es noch besser, Durst zu leiden. Später vielleicht. Im Lauf des Abends gab es dann Wasser genug. Wahre Fluten von Regen schlugen in unsere Wagen herein. Wir hielten die seit zehn Tagen ungewaschenen Hände auf und ließen sie vollregnen. Vielleicht tranken wir die Ruhr mit. Aber das machte uns keine Sorge mehr. Wer zum Frachtgut des Todes gehörte, der war schon gezeichnet. Die Nacht war entsetzlich. Das bißchen freie Bodenfläche war für die Kranken reserviert, die sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten. Sie lagen auf Eisen und Holz, irgendwo unter uns, unsichtbar in der nassen Finsternis, halb schwimmend im Regenwasser, das der Himmel ohne Unterlaß auf uns herabschüttete. Hin und wieder drang ein fiebriges Stöhnen zu uns herauf, von Kameraden, denen vor Kälte die Kinnladen klapperten. Wer es nicht mehr aushielt, der konnte ohne Schwierigkeiten sterben. Er brauchte sich nur hinzulegen und allen Widerstand aufzugeben. Und viele machten in dieser Nacht vom Sterben Gebrauch. Ein paar Jahre vorher waren auch Gefangene westwärts 39
gefahren. In ungeheizten Güterwagen bei schärfstem Frost hatte man die Russen von der Ostfront nach Deutschland auf die Reise geschickt. Da hatte der Tod Ernte gehalten wie sonst nur in Pestzeiten des Mittelalters. Man überließ es der Kälte, den Henker zu spielen. Semjon aus Sibirien hatte mir einmal in gebrochenem Deutsch, aber in ungebrochenem Groll davon erzählt. Er war in meiner 2-cm-Batterie Hilfssoldat gewesen. Das war kein leichtes Leben. Die Russen waren etwas mehr als Sklaven, aber etwas weniger als Strafgefangene. Wir durften nicht mit ihnen sprechen. Wir durften sie nur anschnauzen und in den Hintern treten. Später, als die Lage ernster und der russische Hilfssoldat wertvoller wurde, durfte sein Hinterteil nicht mehr getreten werden, aber jede menschliche Beziehung blieb Landesverrat. Natürlich ließen sich diese Richtlinien nur höchst mangelhaft durchführen. Ich hatte mit Semjon ein Abkommen getroffen, das ich von meinem Gewissen allein ratifizieren ließ. Ich machte ihn zum Dieb. Alle Lebensmittel, die sich im dritten Fach meines Spinds befanden, durfte er stehlen. Er hatte sich im Stammlager eine Magenkrankheit geholt. Ich konnte ihm hin und wieder Weißbrot, etwas Butter, Pudding, ein paar Eier, auch Medikamente verschaffen. Das darf er sicher in Rußland niemals erzählen, so wenig ich es im Dritten Reich jemand außer meiner Frau erzählen durfte. Das war doch Landesverrat, wenn er sich aus dem Schrank eines Deutschen etwas zu essen nehmen durfte. Es ist schon schwierig, sich als Mensch zwischen den Fronten ohne Lebensgefahr zu bewegen. Irgendwann rollt der Zug über die Rheinbrücke in Duisburg. Es soll die einzige am Niederrhein sein, die noch passierbar ist. Damit wäre uns der Fluchtweg in rechtsrheinisches Gebiet so gut wie abgeschnitten. Denn wie sehen wir aus? Kein entlassener Zuchthäusler, kein Zigeuner, kein Strolch würde sich mit uns auf der Straße sehen lassen. Aber wollen wir denn fliehen? Ist bisher schon einer geflohen? Ich glaube nicht, daß 40
einer von uns sich überhaupt schon Gedanken darüber gemacht hat, ob es eine Möglichkeit gab, das Schicksal zu ändern. Vorläufig taten wir nichts, wir warteten ab, was mit uns geschehen sollte. Jenseits der Rheinbrücke horche ich ein paar Minuten auf das Geschwätz, das zwei Männer neben mir im Morgengrauen führen. Sie wohnen in derselben Stadt wie ich. Der eine erzählt, daß er Setzer in einem Zeitungsverlag sei. In welchem Verlag, frage ich ihn. Es stellt sich heraus, daß es derselbe Betrieb war, in dem ich selbst mehrere Jahre lang tätig gewesen war. Ich müßte den Mann doch eigentlich kennen. Er müßte sich meiner entsinnen, obwohl es allerdings zwölf Jahre her war, daß ich im Frührot des Dritten Reiches die Redaktion verlassen hatte. Wie er denn heiße? Wie ich denn heiße? Natürlich kannten wir uns. Aber das wüste Gestrüpp um Lippen und Kinn hatte uns so entstellt, daß wir uns erst einander mit Namen vorstellen mußten. Die Sonne geht auf. Es gibt wieder zu essen. Abermals ist es, als werde eine Tüte Erdnüsse über einem Affenkäfig ausgeschüttet. Der Zug hat angehalten. Jetzt, da der Rhein hinter uns liegt, wird uns erstmals auf freiem Gelände gestattet, auszusteigen und ein paar Schritte abseits zu tun, wobei uns von allen Seiten die Mündungen der Maschinenpistolen drohen. Stundenlang liegen wir dann vor dem Bahnhof Rheinberg. Es findet ein wilder, uns völlig unverständlicher Austausch von Pfeifsignalen statt. Sie müssen alles ersetzen, was vorher Stellwerke, Telefon- und Telegrafenanlagen leisteten. Wir stehen, von der Morgensonne beschienen, in den Güterwagen, naß, hungernd, frierend, zitternd, Europas jämmerlichster, von Gott und allen guten Geistern verlassener Haufen. An diesem Morgen vor Rheinberg waren wir erstmals fertig und glaubten an keine Zukunft mehr. Wir hatten in den zwei Nächten die letzten Reserven verbraucht. 41
VERSPÄTETES VORWORT Vielleicht soll ich dieses kleine Buch doch nicht ohne Vorwort in diese Welt der Mißverständnisse schicken. Das Vorwort kommt eben noch zurecht. Das Lager Rheinberg wird ja mit unserer Ankunft erst existent. Bis zur Stunde ist es noch ein Kleeacker, eine Viehweide, ein Rübenfeld, was weiß ich. In der Geschichte aber wird es denselben Ruf genießen wie Dachau, wie Buchenwald, wie Sachsenhausen. Im Mittelalter war das physische Wissen noch ziemlich beschränkt, wenn auch der britische Franziskaner Roger Bacon schon empfohlen hatte, die Augen aufzumachen, nicht die Bücher des Aristoteles zu lesen, sondern die Natur zu studieren und dabei den Kraftwagen und das Flugzeug zu entdecken. Bacon hatte diese technischen Errungenschaften immerhin schon im 13. Jahrhundert vorausgesehen. Bis zur Wasserstoffbombe allerdings hatte sein Horizont nicht gereicht, sonst wäre er vielleicht doch mit dem Aristoteles glimpflicher umgegangen. Trotz der geringen Kenntnisse war der Kosmos damals gut und übersichtlich gegliedert. Oben war der Himmel, die Herberge der Engel und der seligen Geister, unten war die Hölle, die Herberge der Teufel und der Verdammten. In der Mitte aber lag die Erde, Durchgangsstation, Kampfplatz, Leidensstätte der Menschheit. Himmel und Hölle mühten sich mit demselben Eifer um die unglücklichen Kinder Evas. Jeder Sterbliche hatte Gott und den Satan in seiner Brust, die Kraft, das Gute, die Macht, das Böse zu tun. Da gab es keine Landesgrenzen, keine Rassenschranken, nur die Erbsünde und die Erbgnade. Und beide waren in das Herz des Menschen gesenkt. Die Neuzeit hatte gelernt, über den Himmel wie über die Hölle zu lachen. Aber das Stück dazwischen, die Erde, hatte sie 42
neu und – man muß es zugeben – nicht weniger übersichtlich gegliedert. Da gab es gute und böse Nationen, edle und unedle Rassen, Übermenschen und Untermenschen, gesegnete und verfluchte Völker. Es war die übelste und zugleich dümmste Form einer Prädestinationslehre, von der die Köpfe jemals verwirrt worden sind. Andererseits war alles, wie schon Jakob Burckardt gelehrt hatte, furchtbar einfach geworden. Man brauchte nur noch den Paß eines Menschen einzusehen, allenfalls noch den Ahnenpaß, man brauchte nur seine Muttersprache zu hören und schon wußte man, wohin dieser Aristokrat oder Schuft gehörte. Wir waren als Söhne Satans nach Rheinberg gereist. Noch nie hatte es in der Geschichte eine solche Riesenversammlung von Sündenböcken gegeben. Wir hatten als einziges Gepäck die Kollektiv-Schuld eines ganzen Volkes auf dem Rücken. Während man im Mittelalter sich ab und zu einen Ketzer aus Gottes merkwürdigen Teichen gefischt und geröstet hatte, kannte man jetzt ganze Völker von Ketzern. Wenn alles Masse war, wie sollten da nicht auch die Ketzer in Massen auftreten? Es war uns aufgegeben, eine schlimme Einkehr zu halten. Während das Mittelalter die Ketzer aber nur hart bestrafte, wenn sie unbußfertig waren, nützte uns die Bußfertigkeit nichts. Wer so dumm war, seine Schuld zu bekennen und zu bereuen, vor den irdischen Richtern nämlich, der war dadurch der Rache verfallen. Innere Bereitschaft zur Sühne, das mochte noch hingehen, äußere Bereitschaft wäre Torheit gewesen. Ihr war das moderne Klima zu rauh. Sie siechte deshalb an der Schwindsucht dahin. Sie kam uns mit unseren Toten abhanden. Wir waren ja nicht aus der Haft des Teufels entlassen worden, um einer Horde von Erzengeln in die Hände zu fallen. Wir waren in die Drahtnetze von KZ-Kerkermeistern geraten. Wir waren besessen gewesen von der Einsicht, die menschliche Schande, die hinter uns lag, sei so groß gewesen, daß man sich schämen müsse, sie überlebt zu haben. Bald aber 43
merkten wir, daß es neue Schande gab, die überlebt sein wollte. Die Waage der Gerechtigkeit, die so lange mit falschem Gewicht gearbeitet hatte, wippte stürmisch auf und nieder, suchte ihr Gleichgewicht. Die verlogenen Zerrbilder begannen, wieder wahrhaftig zu werden. Ein furchtbarer Verdacht keimte aus dem Schutt unserer Seelen. Die Sieger, die unseren Stacheldrahtkäfig bewachten, glichen uns aufs Haar. Der Unterschied war nur, daß sie Maschinenpistolen trugen und wir nicht, daß sie sich täglich vollfraßen, während wir vor Hunger einschrumpften. Ich hasse die Amerikaner nicht. Wofür sollte man sie hassen? Weil sie genauso dumm, so grausam, so hochmütig waren wie wir? Weil sie genauso leichtgläubig, so mörderisch naiv waren? Wie hätte man sie sonst zur Rheinberger Kollektiv-Rache aufpeitschen können? Später, viele Jahre nach meiner Kriegsgefangenschaft, brachte ich einen schweren Abend mit einem katholischen Priester zu. Er hatte im Zuchthaus zu Wolfenbüttel einige Hektatomben schlachtreifer Opfer zum Fallbeil geleitet. Das war vor dem April 1945. Eine Woche später verbrachte ich einen schweren Abend mit einem anderen katholischen Priester. Er hatte im Zuchthaus zu Hameln Scharen von Todeskandidaten zum Galgen geleitet. Das war nach dem April 1945. Galgen und Schafott waren beide von Sondergerichten beliefert worden. Darum unterschieden sich die Berichte der beiden Pfarrer nur wenig voneinander. Verschieden dagegen waren die Pässe der Hingerichteten voneinander. Man richtete in anderen Kategorien hin. Unser Wille, eine Gewissenserforschung stellvertretend für unser Volk zu treiben, erlahmte in Rheinberg schnell. Alte und neue Greuel verschmolzen vor unseren Augen zu einem blutigen Sumpf, der der Menschheit gemeinsam bis an die Knie, bis an die Hüften reichte. Wir begriffen, daß es nicht der Weisheit der Staatsmänner, nicht der Gesetzeskunde der 44
Richter, sondern ganz einfach der Allwissenheit Gottes bedurfte, um zu entscheiden, wie viele Rekruten Hitlers sich in den Reihen der Sieger, wie viele Träger der Menschenwürde sich in unseren Reihen befanden. Und da unternahm es irgendein Colonel oder Captain im Auftrag irgendeines Ministers, in der Pose Jesu Christi am Tag des Jüngsten Gerichts die Schafe von den Böcken zu scheiden. Wir sind Gottes gerechte und geliebte Söhne. Ihr seid Luzifers schwarze Schar. Und jetzt wollten wir ein bißchen Höllensturz veranstalten. Nein, wir haßten die Amerikaner nicht. Wir hegen auch heute keinen Haß gegen sie, wenn auch zwischen Berlin und Washington Rheinberg liegt. Wir ahnten damals schon, obwohl es keiner schon auszudrücken vermocht hätte, daß sich aller Unsinn auf Erden von selbst revidiert.
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ENDSTATION RHEINBERG Come on! Snell! Snell! Snell! Snell! Von allen Wagen springen die Gefangenen auf den Bahndamm herunter, stolpern, fallen, kommen wieder auf die Beine, stoßen sich die Böschung hinunter, knicken in den Fußgelenken um, stürzen übereinander, raffen sich wieder auf, stürmen vorwärts, ballen sich zu zappelnden Knäueln zusammen, lösen sich auf, drängen sich, schieben sich. Wer hinten ist, flieht vor den Schlägen nach vorn. Wer vorn ist, läuft geradeaus, irgendwohin, ins Leere hinein, jeden Augenblick gewärtig, daß das Maschinengewehrfeuer beginnt. Es sieht aus, als ob eine Büffelherde über die Prärie gehetzt würde. - Snell! Snell! Snell! Snell! Damit ist der Sprachschatz der Treiber erschöpft. Wo habe ich bloß eine solche Hetzjagd schon einmal gesehen? In Misburg war es. Nicht weit von dieser Stadt, deren Straßen immer mit Zementstaub gepudert sind, war meine Batterie aufgebaut. Sie hatte die Ölraffinerie zu schützen. Eines Tages war ich als Kurier in Hannover gewesen und kehrte auf dem Fahrrad in die Stellung zurück. Gerade als ich den Stadtrand von Misburg erreiche, heulen die Sirenen auf. Ich weiß, was das bedeutet. Der Bombenangriff ist schon im Gange. In der Raffinerie wird die Arbeit nicht niedergelegt, bevor die ersten Pulks die Bombenabwurfgrenze erreicht haben. Ich strample eben mit höchster Geschwindigkeit am Haupttor des Ölwerks vorbei, als dieses sich langsam öffnet, breit, immer breiter. Und dann wälzen sich ganze Heersäulen von Menschen in gestreifter Kleidung heraus. Einfache Strafgefangene sind dabei und Zuchthäusler, aber auch KZ46
Häftlinge aller Rangklassen. Ich kenne mich in den ZebraUniformen des Elends und der Schande nicht aus. Erst viel später habe ich erfahren, daß die echten Verbrecher einen grünen Streifen hatten, die Politiker einen roten, die Juden einen gelben, die Bibelforscher einen blauen, die Homosexuellen einen violetten. Diese erniedrigte Masse Mensch rennt um ihr Leben. Angstverzerrt sind die Gesichter. Todesnot glüht in den Augen. Ist denn auch dieses Leben noch kostbar, noch rettenswert? Die Sklavenhorden des Diktators werfen sich verzweifelt in die Straßen, als brenne die Erde schon hinter ihnen. Sie wissen, die Bomben sind unterwegs, rauschen und gurgeln schon über ihren Köpfen. Pfui Teufel, jetzt sehe ich auch gestreifte Frauen. Ich muß absteigen. Nein, das ist falsch, ich kann nicht mehr fahren, bin eingeschlossen, nur noch ein hilfloses Stück Leben in diesem menschlichen Wirbelsturm. Ich kann nichts mehr sehen außer Köpfen und Schultern. Gleich werden sie mich tottreten. Warum sollten sie es nicht tun? Nein, da ist keine Spur von Feindschaft, von Haß. Gewiß halten sie mich für einen anders uniformierten, aber ebenso armen Hund. Und jetzt denken sie an ihr eigenes Leben, nicht an das meine. Nun aber machen sich die Faktoren der Ordnung geltend. Ganze Wagenladungen von SS-Männern werden in die Straßen gespien. Zehn, zwölf, zwanzig Löschzüge brausen heran. Hier geht es um den Lebenssaft für die Ostfront. Polizeitrupps, Bautrupps, Sanitätstrupps tauchen an allen Ecken und Enden auf. Rettet die Öltanks, die Maschinen. Der Führer will es. Misburg darf nicht zerstört werden. Was da oben in 8.000 Meter Höhe sich nähert, das ist der Vortrab einer ganzen Bomberdivision. Sie werfen nicht schlecht. Ein Öltank nach dem anderen geht hoch. In roten und schwarzen, immer breiter werdenden Flammenspiralen, die sich Hunderte von Metern hochdrehen, verbrennt das Öl. 47
Ich benutze die erste Gelegenheit, um nach der Seite aus dem Gewühl der Gehetzten auszubrechen und auf das freie Feld zu gelangen. Mich läßt die SS passieren. Ich schwinge mich auf mein Rad, sause fort über Stock und Stein, quer durch die Viehkoppeln, haarscharf an alten und frischen Bombentrichtern vorbei, immer ostwärts, nur fort aus dieser Hölle. Daß es sie geben sollte, hatte man mir schon gesagt. Jetzt hatte ich sie erstmals gesehen, die gestreiften Totentänzer von Misburg. Hier in Rheinberg kann ich nicht nach der Seite ausbrechen. Diesmal gehöre ich selbst zu den Gestreiften, obwohl ich damals Anspruch auf den roten Streifen gehabt hätte und heute darum frei sein müßte. Aber das kümmert die terribles simplificateurs von Übersee nicht. Wenn es in Lessings Nathan hieß: „Tut nichts, der Jude wird verbrannt“, dann heißt es hier: „Tut nichts, der Deutsche wird eingesperrt und geprügelt.“ Das darf man den Leuten nicht einmal übelnehmen. Sie hatten ihre Richtlinien, ihre Kategorien, ihre Rassen- und Klassenlehre mitgebracht. Sie hielten an ihren politischen Dogmen fest wie das Konzil von Nicäa an der Wesensgleichheit Christi mit Gottvater. Ich treibe mit den anderen dahin in einer unwiderstehlichen Woge. Wo zum Teufel ist denn dieses gottverdammte Lager Rheinberg? Irgendwo muß es doch liegen. Keine Baracke ist zu sehen, kein Zelt, kein Bretterzaun, nichts. Also Fußmarsch? Wie weit? Wohin? Hinten rechts, ganz weit weg wird ein graues Wogen sichtbar. Sind das etwa auch… Ja, es sind Gefangene. Aber wie viele? Großer Gott, ist denn hier die ganze deutsche Armee zusammengelaufen? Drüben links sieht es genauso aus. Da hat sich wieder eine Heeresgruppe versammelt. Hin und her, von Horizont zu Horizont fluten die unübersehbaren Horden der Gefangenen. So muß es in Lappland zugehen, wenn die Rentiere in Bewegung kommen. 48
Plötzlich bricht die brandende Woge in sich zusammen, macht halt, drängt mit Gewalt zurück. Lastwagen mit flinken Negern umkreisen uns, lassen den Stacheldraht wie eine Riesenschlange abrollen. Die brodelnde Masse orientiert sich, strömt nach der entgegengesetzten Richtung ab und flutet nach einiger Zeit wieder gegen Lastwagen, flinke Neger und Stacheldraht. Jetzt begreift sie auch langsam, was ihr geschieht. Sie wird eingezäunt. Hier ist Rheinberg, auf diesem uferlosen Kleeacker. Hier ist das Lager, unter unseren Füßen, die in frischem Gras, in junger Saat stehen. Hier ist das 20. Jahrhundert dabei, einen neuen Superlativ zu gebären, das größte Gefangenenlager aller Zeiten. Die Neger kommen rüstig vorwärts. Sind sie bei Himmler, bei Berija in die Schule gegangen? Oder gehört dieses Drahtziehen ganz einfach zu den Fähigkeiten des technischen Zeitalters? Schneller als Gestapo oder NKWD richten die Amerikaner ein Straflager für eine Viertelmillion Menschen ein. Nun, so schwer ist das auch wieder nicht. Wenn man von vorneherein auf Unterkünfte, auf Licht, auf Küchen, auf Wasser und sogar auf Latrinen verzichtet und mit motorisiertem Stacheldraht arbeitet, dann sind die Möglichkeiten unbegrenzt, so gewiß sie auch eingezäunt werden. Da feiern wir nun also die erste Rheinberger Nacht, dicht am Busen der Erde ruhend und den Sternenhimmel als Deckbett über uns. Wir liegen da wie das ausgespiene Gewölle des Universums, wie welkes Laub, zu Bergen vom Wind zusammengeblasen. Wir fühlen, dies hier ist der menschliche Schuttabladeplatz nach der Katastrophe, und wir sind der Müll, der aus den zertrümmerten Städten hinausgefahren und zur Seite geworfen ist.
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STICHWORT WOLKENBRUCH Und nun hatten wir Zeit, viele Tage und Nächte lang Zeit. Vier Monate blieb es dabei, daß der Erdboden unser Bett und daß der Nachthimmel unsere Decke war. Der große Käfig war in zahlreiche kleinere Käfige gegliedert. Jeder von ihnen mochte rund 30.000 Mann beherbergen. Die Amerikaner hatten alles aufgesammelt, was ihnen begegnete, Soldaten in Uniform und Soldaten, die sich schon als Bauern, Arbeiter, Wanderer, Strolche kostümiert hatten, Briefträger, Eisenbahner, Hilfspolizisten, Förster, 15jährige Flakhelfer und 65jährige Volkssturmmänner. Wenn Hitler sich an der Jugend und am Alter versündigt hatte, die Amerikaner trugen keine Bedenken, seinem Beispiel zu folgen. Der Besitz einer Dienstmütze, sei es die eines Portiers, eines Straßenbahners oder Gepäckträgers, genügte, um nach Rheinberg transportiert zu werden. Ein ehemaliger Panzerpionier hatte nichts am Leib als ein Hemd und eine Unterhose. Als man ihn festnahm, gestattete man ihm nicht, sich anzuziehen. So ergriff er schnell noch eine blauseidene Steppdecke, in die er dann zwei Löcher für die Arme riß. Ein Schauspieler von den Städtischen Bühnen Hannovers war nur mit einem schwarzen Trainingsanzug bekleidet. Ein Sänger derselben Bühne lief in dem ihm sichtlich ungewohnten Kostüm eines Volkssturmmanns herum. Er machte nicht den Eindruck, als ob er noch lange leben würde. An der einen Schmalseite unseres rechteckigen Camps E war der Draht besonders hoch und breit verlegt. Ich rieb mir zweimal, dreimal die Augen. Tatsächlich, da liefen Tausende von Mädchen aus dem Arbeitsdienst herum, Nachrichtenhelferinnen, Flakhelferinnen und sogar Schwestern des Roten Kreuzes. Sicher waren manche dieser Frauen freiwillig der 50
Wehrmacht gefolgt. Aber unzählige waren doch einfach verpflichtet, zum Dienst in der Armee gepreßt worden. Die Frauen schienen nicht besonders niedergeschlagen. Sie waren es schon gewohnt, ihrer Freiheit beraubt zu werden. Von wem, das war schließlich gleichgültig. Aber die andere Schmalseite des Rechtecks? Die habe ich nur ein einziges Mal aufgesucht, so lange ich in diesem Camp war. Ein zweites Mal wollte ich dieses grausige Bild nicht mehr sehen. Es war auch nicht nötig. Ich habe es gut im Gedächtnis behalten, und von Zeit zu Zeit werden seine Farben und Konturen in einem quälenden Traum wieder aufgefrischt. Da waren Männer, die einen Arm oder beide Arme eingebüßt hatten. Da waren Männer, die ein Bein oder auch beide Beine verloren hatten. Da waren Männer mit bandagierten Köpfen, Händen und Füßen. Ob auch Blinde dabei waren, kann ich nicht sagen. Ich muß es leider für möglich halten. Alle diese Verwundeten und Verstümmelten waren in Lazaretten erbeutet und nach Rheinberg verschleppt worden. Hier kampierten sie nun als Genesungshaufen, zunächst wie wir ohne Dach über dem Kopf. Es war ein schauerliches Gemälde, von Pieter Breughel und Hieronymus Bosch zusammen skizziert. Beide Maler müssen dabei betrunken gewesen sein. Ein nüchterner Mensch kann solch ein Bild nicht gemalt haben. Ich weiß nicht, wer diese Schande zu verantworten hatte. Ich weiß nicht, ob es einer allein war oder ob er sich wie die meisten Schurken bei dieser Tat in guter Gesellschaft befand. Ich weiß erst recht nicht, ob Staatsmänner, ob Heerführer oder ob sadistische Etappenschweine an dieser Generalversammlung der Kriegskrüppel schuldig waren. Ich weiß nur, daß mit der göttlichen und irdischen Weltordnung etwas nicht stimmt, so lange die Verantwortlichen für diese Schmach nicht zur Rechenschaft gezogen sind. In den ersten Tagen hatten wir häufigen Besuch von Tieffliegern. Sie hatten Kameramänner an Bord. Die drehten 51
eifrig ihre Wochenschau zusammen. Die Welt wollte sehen, welch ein verlotterter Sauhaufen wir waren. Die Flieger störten uns nicht. Mochten sich die Filmbesucher in Neu-Mexiko oder Minnesota an dem ergötzen, was sie für Realismus und Wahrheit hielten. Uns machte das nichts aus. Das Flugbenzin wäre zu sparen gewesen. In Jack Londons Buch „Abenteuer des Schienenstrangs“ ist nachzulesen, wie es in amerikanischen Gefängnissen zugeht. Man brauchte bloß die Insassen herauszuholen, mit Dreck zu schminken und mit struppigen Bärten zu versehen, um denselben Effekt wie in Rheinberg zu erzielen. Oder denken die Bewohner Amerikas, daß sie immer noch wie Diplomaten beim Neujahrsempfang aussehen, wenn sie sich wochenlang nicht rasieren und waschen und die ganze Zeit auf der blanken Erde liegen? Wenn man uns die Filme gezeigt hätte, ich glaube, wir hätten uns selbst nicht erkannt. Wir hatten ja keine Spiegel, um unseren Gang in die Verwilderung zu kontrollieren. Abends regnete es in Rheinberg, eine halbe, eine ganze Stunde lang, manchmal etwas weniger, aber es regnete regelmäßig. Insofern eignete sich der Niederschlag besonders gut für ein Lager unter freiem Himmel. Wir wurden täglich naß bis auf die Haut und wanderten dann am Zaun auf und ab, bis wir trocken waren. Gleich in den ersten Tagen bescherte uns ein gütiges Geschick einen Wolkenbruch. Da standen wir wie die Säulen und ließen das Wasser vom Kapitell abwärts rinnen. In dieser Nacht kam keiner zum Schlafen. Keiner legte sich zu Bett in den Schlamm. Wolkenbruch… Während mir die Flut aus dem Haar in den Mund lief, dachte ich nichts als Wolkenbruch… Im März 1945 war es gewesen. Abends pflegte ich einen Oberfähnrich meiner Batterie zu besuchen. Er war von Beruf Amtsrichter. Bei uns sollte er zeigen, ob er zum Leutnant reif war. Einmal kam ich zu ihm 52
und sah ihn trostlos am Tisch hocken, als hätte er eben die Nachricht erhalten, daß seine ganze Familie bei einem Bombenangriff ausgerottet worden sei. Ich schwieg auch eine Weile. Dann wünschte ich ihm eine gute Nacht. Dieser Wunsch kam von Herzen, war jedoch ziemlich blöde, weil wir damals überhaupt nicht mehr zum Schlafen kamen. Spätestens in zwei Stunden und dann bis Sonnenaufgang würden wir wieder an den Kanonen stehen. Ich kam nicht weg. Mit einer müden, aber erschütternden Geste bat er mich zu bleiben. Wir schwiegen noch eine Weile. Dann sagte ich: - Wenn du mit mir noch etwas besprechen willst, und wenn das heute noch sein soll, viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Er hatte Angst, zitterte, als ob er einen Schüttelfrost hätte, wollte lange nicht mit der Sprache herausrücken, versicherte mir, daß er nur mir allein in der Batterie vertraue, aber… Ich verstand. Es ist nicht so leicht, in Erwartung der Todesstrafe zu reden. Ich erfuhr dann die Wahrheit. Ein Geheimbefehl war gekommen, den nur der Batteriechef und er als technisch Schießender kannte, ein Blutbefehl, ein Mordbefehl. Stichwort Wolkenbruch! Wenn der Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar dieses Stichwort herausgebe, dann habe die Großbatterie für alle sechzehn Kanonen eine bestimmte Entfernung, einen bestimmten Seitenwinkel, eine bestimmte Rohrerhöhung einzustellen und mit hochgezogenem Sprengpunkt 2.000 Schuß abzufeuern. Hochgezogener Sprengpunkt – das bedeutete, daß die Granaten etwa zwei Meter über dem Boden platzten. Er hatte auf der Karte Besteck genommen. Wir sollten die Gestreiften in Misburg ermorden! Sie wenigstens sollten den Tag der Katastrophe nicht überleben! Der Oberfähnrich schien zusammengebrochen. Er weinte haltlos wie eine Frau. Ich tröstete ihn. - Mensch, das ist doch nicht schlimm. Ich habe ja doch den 53
Schlüssel des Kommandogeräts in der Hand. Ein Wink, und ich verdrehe die Seite schnell um ein paar Strich. Dann geht die ganze Ladung ins Moor. Und wenn es der liebe Gott mit den armen Kerlen gut meint, dann sorgt er dafür, daß ich im Augenblick der Gefahr am Gerät stehe, sonst allerdings… Das Stichwort Wolkenbruch ist nie ausgegeben worden. Wir brauchten keinen Landesverrat, oder was das nun war, zu begehen. Der Gauleiter hatte samt seinem Stabsgesindel solche Eile, aus Hannover fortzukommen, daß er die Gestreiften in Misburg vergaß. Nur die Schnapskisten und die Zigarettenkartons hatten sie nicht vergessen, als sie sich in wilder Hast nach dem Harz absetzten. Wolkenbruch – die Wolken brachen noch immer auseinander. Die Säulenfüße standen schon bis zu den Knöcheln und höher im Schlamm. Wenn einer weinte von den Stummen in Rheinberg, niemand hat es gesehen. Er hätte es auch nicht gespürt. Die paar Tropfen hätten es nicht vermocht, den herabstürzenden Ozean zu salzen.
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HÖHLENBEWOHNER Die Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkriegs haben es gelernt, sich in die Erde einzugraben. Diese Fähigkeit kam uns in Rheinberg zustatten. Wir hatten weder Hacke noch Spaten, noch Schaufel. Kein Werkzeug war da außer Konservendosen, außer einem Holzscheit, bevor es verbrannt wurde. Wir wühlten wie die Maulwürfe. Wenn solche da waren, so zwangen wir sie unbedingt zur Bewunderung, da wir ja doch von Natur aus viel schlechtere Graber waren. Wir brachten nicht nur Löcher, wir brachten Höhlen und Gänge zustande. Viele gruben sich ihr Grab. Der Boden war ziemlich sandig und hatte wenig Halt am Stoß und im Hangenden. Als ehemaliger Gedingeschlepper und Kohlenhauer sah ich dieses leichtfertige Höhlengewirr mit Besorgnis. Immer wieder brachen die Erdbauten zusammen. Mancher hatte schon den Sargdeckel über sich und wußte es nicht. Kam der Einsturz des nachts, dann waren die Höhlenbewohner ohne Vaterunser beerdigt. Und das war im Anfang keineswegs selten. Sollte man die Toten wieder ausbuddeln und den Amerikanern zur Augenweide ans Tor legen? Meist geschah das. Dann wurden sie abgefahren und eingescharrt. Wo, das blieb uns unbekannt. Rheinberg hatte keine Registratur. Uns hat man die ganzen sechzehn Wochen über um das vornehmste Recht des Gefangenen betrogen, eine Nummer zu haben. Man nahm von uns buchstäblich keine Notiz. Selbst in Hitlers Konzentrationslagern wurde der Mensch noch höher bewertet. Er war noch ein Individuum, wenn auch vielleicht eines, das ausgelöscht werden mußte. Wir hier waren nur eine breiige Masse, aus der sich der Tod seine Stücke herausschnitt. Ab und zu drängte ein neuer grauer Haufen durch die Tore herein. Es ging zu wie in einem Schrottlager, das nach Bedarf vermehrt und vermindert 55
wird, das seine Quoten zum Hochofen schickt, damit sie geschmolzen, gereinigt, umgeformt werden. Dennoch vollbrachten diese Namenlosen noch erstaunliche Taten. Mitten im Lager Rheinberg hatten sich ein paar Bauernhöfe mit Scheunen und Nebengebäuden befunden, dazu ein paar Bäume, ein paar Telegrafenmasten. Zwei Nächte hatten genügt, sie völlig vom Erdboden wegzuwischen. Jedes Stück Holz, jedes brauchbare Stück Metall war herausgebrochen worden. Womit? Mit den Fingernägeln? Mit Fußtritten? Mit dem Blech der Konservenbüchsen? Es wird mir ewig rätselhaft bleiben. Und wie hatten sie die Bäume, die Telegrafenmasten umgelegt? Wie hatten sie die Stämme zu Brennholz verarbeitet? Es gab keine Säge, kein Beil, nichts. Nur etwas Weißblech… Nachts war es bitter kalt. Manchmal warf ein barmheziger Bauer einen kleinen Sack voll Kartoffeln über den Zaun. Wir warfen den Sack mit ein paar Ziegelsteinen als Ballast zurück. Die Kartoffeln fraßen wir roh auf, wenn es sein mußte, aber gekocht schmeckten sie besser. Darum war Kleinholz ein begehrter Artikel. Er wurde angeschafft mit einer Zuverlässigkeit, als könne man Bäume übers Knie brechen. Damals soll ein amerikanischer Offizier zu einem unserer Dolmetscher gesagt haben, die Deutschen seien ein entsetzliches Volk. Man brauche nur ein paar Kerle mit einem Stück Blech in den Wald zu schicken, nach einiger Zeit kämen sie mit einer Maschinenpistole zurück. Wir hatten nachts einen leichten Schlaf. Länger als eine Stunde hielt man die Rückenschmerzen nicht aus. Man hatte das Gefühl, als sei das Rückgrat durchgebrochen, als hätte man mit Eisenstäben Stöße in Schultern und Hüften bekommen. Muskeln, Sehnen, Nerven arbeiteten langsam und schmerzhaft. Jede Umdrehung des Körpers auf der harten Erde war eine Qual. Da alle in einem Loch Vereinten gleichzeitig stöhnten, drehten sie sich auf Kommando gleichzeitig um. Wenn wir 56
nicht so rasch wieder einschliefen, kam wohl auch ein Gespräch in Gang. Da mußte mir doch einer aus meiner Batterie Stoff zu einem üblen Traum liefern, der mir noch oft zu schaffen machte und heute noch in meinem Unterbewußtsein herumgeistert. Unsere Großbatterie hatte, wie es damals üblich war, aus zwei Einheiten bestanden, einer Batterie der Luftwaffe und einer Batterie des Reichsarbeitsdienstes. Am letzten Sonntag unseres Aufenthaltes in Bemerode, wenige Tage, bevor wir unsere Geschütze in die Luft sprengten, hatten RAD-Männer zwei englische Kriegsgefangene eingebracht. Die waren schon seit längerer Zeit in der Landwirtschaft tätig und hatten nur einen kleinen Sonntagsbummel gemacht. Nun waren sie also neuerdings „gefangengenommen“ worden. Der Chef der RADBatterie, ein Oberstfeldmeister, hatte beschlossen, sie „umzulegen“. Umsonst widersprach unser Oberleutnant. Der Oberstfeldmeister stand der Partei näher und wußte besser, was zu geschehen hatte. Nach Landsknechtart gab er den beiden Engländern die übliche, letzte Zigarette, bevor er sie ins Genick schoß. Ich hatte nichts davon erfahren. Jetzt mußte mich ein Unteroffizier meiner Batterie ins Bild setzen. Viele Stunden brachte ich damit zu, mein Gewissen zu prüfen. War es nicht Pflicht, solch einen feigen Schurken und kaltblütigen Mörder an den Strang zu liefern? Nicht jetzt natürlich, sondern später, wenn ich Rheinberg verlassen hätte. War es nicht notwendig, einen scharfen Trennungsstrich zu Verbrechern zu ziehen? Ich hatte mir überflüssige Sorgen gemacht. Der Oberstfeldmeister war ohne mein Zutun den Briten in die Hände gefallen. Sie hatten ihn aufgeknüpft. Dennoch bin ich immer wieder im Traum der Gefangene, der ohne Ausweg ist und die Mündung der Pistole schon im Genick spürt. Ist es ein Trost zu wissen, daß es auch in anderen Nationen Kreaturen gibt, die es an Schwärze mit jedem Gestapochef 57
aufnehmen können? In jenen Tagen – so erzählte mir der Pfarrer von Wolfenbüttel – kam die Hinrichtungsmaschine im dortigen Zuchthaus keineswegs zur Ruhe. Sie lief unter britischer Herrschaft zwar langsamer, bedächtiger, aber sie lief. Nur gehörten die Hingerichteten jetzt der Klasse an, die im Dritten Reich die herrschende gewesen war. Ein deutscher Polizeileutnant hatte, möglicherweise gestützt auf einen Befehl Himmlers, zwei britische Flieger erschossen, ermordet, muß man wohl richtiger sagen. Dafür war er zum Tode verurteilt worden. Er bat den Pfarrer von Wolfenbüttel, dem britischen Offizier zu sagen, er, der Verurteilte, betrachte seine Strafe als eine gerechte Sühne für das, was er verbrochen habe. Dieses Bußangebot wurde nicht angenommen. Die Salve des Todeskommandos ging dem Gerichteten nicht in das Herz, sondern in den Bauch. Als er sich zu Tode zappelte, wollte der Pfarrer sich neben in knien, ihm die letzten Minuten erträglicher machen, ihm dem Gebot seiner Kirche gemäß die letzte Ölung spenden. Der britische Offizier rief ihn mit scharfem Kommando zurück. Er verwehrte ihm die Seelsorge an einem Sterbenden. Der Vertreter des Empire bestimmte, ob einem Menschen die Sterbesakramente gespendet werden durften oder nicht. Die Hybris der Machthaber weist selten Unterschiede auf. Im Dritten Reich war der Pfarrer von Harzburg-Bündheim – um nur einen zu nennen – nur deshalb nach Dachau verschleppt worden und dort gestorben, weil er einer Polin die Sakramente seiner Kirche gespendet hatte. Ich war selbst einmal dazu ausersehen gewesen, Mitglied eines Erschießungskommandos zu werden. Ein Deserteur sollte gerichtet werden. Ich kämpfte wie ein Wilder gegen die Ehre, auf einen armen Sünder zu schießen. Als alle Bitten nichts fruchteten, erklärte ich meinem Chef, ich würde mich freiwillig an die Front melden. Darauf konnte er es nicht ankommen lassen. Ich war B 4 am Kommandogerät, hatte den Kurs der Bombenflugzeuge einzudrehen, eine Arbeit, die mit ganz 58
leichter Hand und mit einer fast intuitiven Voraussicht gemacht sein wollte. Nicht einmal General von Unruh, der Heldenklau, kam an diese Spezialisten heran. Er mußte sie in Ruhe lassen. Außerdem hätte der Chef seinen italienischen Dolmetscher verloren. Vielleicht dachte er daran, welche unüberwindlichen Schwierigkeiten es geben mußte, wenn er den Italienern den Mann fortnahm, den sie als ihren Vater und ihre Mutter bezeichneten, diese armen Kerle, die Mussolini unter falschen Vorwänden an Hitler verschachert hatte. Erst kürzlich hatte es einen bösen Zwischenfall gegeben. Der österreichische Putzer des Chefs hatte einen Sizilianer, einen heißblütigen, aber unerschrockenen und tapferen Mann denunziert, wobei es ihm auf eine Lüge mehr nicht ankam. Da ich gerade abwesend war, wurde Zerillo ohne Verhör zu acht Tagen verschärftem Arrest verurteilt. Als ich zurückkam, hatte ich ihm diesen Beschluß seines Gerichtsherrn zu eröffnen. Ein Tobsuchtsanfall war die Folge. - Porca miseria, schrie der erboste Sizilianer. Dio cane! Er warf seine Mütze zu Boden, sein Koppel dazu, raste schräg wie ein Motorradfahrer in der Kurve um uns herum, trampelte auf seiner Mütze herum, stieß mit schäumendem Mund die wildesten Flüche aus. Sprachlos stand der Chef da. Schließlich bat er mich, den Mann zu fragen, was das bedeuten solle. Nun stellte es sich schnell heraus, daß der Deutsche gelogen hatte. Was tun? Das Urteil konnte nur der Abteilungskommandeur kassieren. Wenn der dann merkte, daß der Chef den Italiener verurteilt hatte, ohne ihn zu hören. Ich nahm Zerillo in den Arm, erklärte ihm, daß man den Chef irregeführt hatte. Er sei ja doch ein Barbar und nicht einmal rechtgläubig. Ob er zufrieden sei, wenn er verurteilt bleibe, aber nicht ins Gefängnis käme, um die unverdiente Strafe abzusitzen? Damit war Zerillo einverstanden. Alles war wieder in Ordnung. 59
- Bravo, dottore, schrien die Italiener allesamt. - Wie lassen Sie sich anreden? fragt der Chef mich empört. - Sie sagen immer „Herr Doktor“ zu mir. - Dann machen Sie ihnen klar, daß das verboten ist. Wir sind hier in einer Batterie, nicht in einer Universität. - Von heute an habt ihr mich „Herr Gefreiter“ zu nennen. Verstanden? - Si, dottore, brüllten die Italiener. Der Chef gab den Kampf auf und verschwand in seiner Baracke. Wir haben ihn erst beim nächsten Fliegerangriff wieder zu Gesicht bekommen. Nein, er konnte auf meine Dienste nicht verzichten. Darum brauchte ich auch auf keinen Menschen zu schießen. Nur der Spieß war unzufrieden. Er hatte noch preußische Tradition in den Knochen. In seinen Augen war ich nicht weniger als ein Hochverräter. Man sah es ihm an, sollten wir eines Tages den Krieg verlieren, dann würde er mir ein reichliches Teil von Schuld zumessen. In Rheinberg waren wir von aller Welt abgeschnitten. Post bekamen wir nicht. Wir konnten auch keine versenden. Das war offenbar eine der Errungenschaften des totalen Krieges. Erst gegen Ende der Gefangenschaft war es denen, die irgendwie erfahren hatten, wo wir lebten, möglich, Nachricht zu geben. Aber Antwort erhielten sie nie von uns. Sie mußten voller Zuversicht ins Leere schreiben, mußten es im Herzen spüren, daß wir noch nicht begraben waren. Kein Fremder durfte das Lager betreten. Wenn ich daran denke, was ich im Dritten Reich fertigbrachte… Da war der Generalvikar Dr. Seelmeyer, völlig unschuldig verurteilt, im Zuchthaus zu Brandenburg-Görden. Eine Festung war das. Über einen betonierten Graben, in dem nachts Bluthunde herumliefen und der von Maschinengewehrtürmen flankiert war, führte eine Brücke zum Haupttor. Hinter diesem war die Hauptwache. Auf allen Korridoren, in allen Höfen trieben sich Bewaffnete herum. Dennoch konnte ich 60
eindringen. Mit Pfarrer Schubert von Brandenburg betrat ich diese Stätte des Rechts und der Ungerechtigkeit. Der Pfarrer war ein untersetzter und, wie mir schien, wohlgepolsterter Herr. Wir gingen zuerst zur Kapelle, wo wir vom Küster, einem Lebenslänglichen, empfangen wurden. Der schloß den Tabernakel auf und füllte ihn aus der dicken Aktentasche des Pfarrers mit Kautabak, Schnupftabak, Zigaretten, kleinen Medikamenten, daß er fast überquoll. Christus der Gütige, der Freund der Sünder, wird es seinem geringen Knecht gewiß vergeben haben, daß er das heilige Zelt zu einem Depot für Liebesgaben machte. Beim Rundgang kamen wir in die Küche. Dort standen mindestens zwölf Köche mit weißen Ballonmützen herum. Der Pfarrer verschwand in einem wilden Gewoge von weißen Schürzen und kam dann sichtlich abgemagert wieder hervor. Da er den Gefangenen nichts geben durfte, erlaubte er ihnen, ihm die Taschen auszuräumen. Natürlich waren auch die Beamten im Zuchthaus nicht blind. Auch die kannten den fetten Pfarrer, der eintrat, und den mageren, der von dannen ging. Aber sie schwiegen. Sie waren in der Mehrzahl nur sehr widerwillige Knechte des Diktators. Und nachdem die Welt so viel Schlechtes über sie erfahren hat, ist es an der Zeit, ihre Menschlichkeit zu rühmen. Der Pfarrer schob mich am Ende des Rundgangs in ein Zimmer. Es war der Raum des Lehrers, der mit im Komplott war. Ich saß da nun mutterseelenallein. Es wäre eine Lüge, wenn ich behaupten wollte, mir sei in meiner Haut wohl gewesen. Plötzlich öffnet sich die Tür. Ein kleiner Mann im gestreiften Gewand wird hereingeschoben. Er sieht mich, schluckt, weint. Was soll man da tun? Ich reiße meine Aktentasche auf. - Jetzt wollen wir zuerst Kaffee trinken, Herr Generalvikar. Ich hatte Brötchen geladen, Wurst, Schinken, Butter, eine Kiste Zigarren, eine Thermosflasche mit Kaffee. Wir 61
frühstückten ausgiebig. Dann besprachen wir bei einer Zigarre den Plan, der den Weg in die Freiheit ebnen mußte. Ehre sei den unbekannten Holländern, die das Geld gaben. Waren es 6.000 oder 8.000 Gulden? Ich weiß es nicht mehr. Sie wurden an die Kasse Himmlers entrichtet. Dann war Dr. Seelmeyer frei, vorausgesetzt, daß er auf jedes Wiederaufnahmeverfahren verzichtete und sein Amt niederlegte. 6.000 Gulden – das war nicht gerade viel. Für die aus den Museen entfernten Werke der „entarteten Kunst“ kassierte Goebbels in der Schweiz weit höhere Beträge. Aber hier handelte es sich ja auch nur um einen Menschen ohne jede Schuld. Es blieb ihm erspart, drei Jahre Zuchthaus abzusitzen. Pfarrer Schubert von Brandenburg mußte, dem Wort der Bibel gemäß, bald beweisen, daß niemand größere Liebe hat als der, der sein Leben hingibt für seine Freunde. Im Zuchthaus befanden sich auch belgische und französische Ordenspriester. Der Pfarrer beförderte heimlich ihre Post nach Hause. Wer weiß, von wem er denunziert wurde. Es können ja kaum fünf, sechs Menschen zusammenkommen, ohne daß nicht ein Judas unter ihnen wäre. Pfarrer Schubert kam ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Am Tag Christi Himmelfahrt – ich glaube, es war im Jahre 1937 – hängte er sich auf. So berichtete wenigstens die Geheime Staatspolizei. Sie vergaß nicht hinzuzufügen, daß der gewissenhafte Priester zuvor noch sein Brevier zu Ende gebetet habe. Man brachte die Leiche zum Begräbnis nach Brandenburg. Der Sarg durfte vor den Verwandten einen Augenblick lang geöffnet werden. Aber herantreten durften sie nicht… Den Generalvikar im Zuchthaus hatte ich besucht, hatte ihm sogar ein Frühstück gebracht. Für Pfarrer Schubert konnte ich nichts tun. Ihn zu besuchen, war unmöglich. Er befand sich in einem Strafvollzug, wie wir ihn jetzt in Rheinberg kennenlernten. In Brandenburg-Görden waren die Zellen mit Linoleum und fließendem Wasser ausgestattet. Wer will es 62
leugnen, daß man in den Zuchthäusern des Dritten Reiches besser aufgehoben war als in den Konzentrationslagers der Vereinten Nationen? Hier gab es keine Beamte, die sich im geheimen noch einen letzten, namhaften Rest von Menschlichkeit bewahrt hatten. Hier gab es nur noch Funktionäre eines gut geölten Apparats, der mit der Stumpfsinnigkeit eines Hammerwerks arbeitete. In Brandenburg-Görden hatte es sogar noch eine Rangordnung gegeben. Die Sträflinge selbst hatten sie geschaffen. Soziale Oberschicht waren die politischen Verbrecher, Mittelschicht die gewöhnlichen Verbrecher, Auswurf die Sittlichkeitsverbrecher. Selbst Gewaltverbrecher fühlten sich in ihrer sozialen Ehre gekränkt, wenn man sie mit einem Sittlichkeitsverbrecher zusammen in einer Zelle einkerkerte. „Ich bin ein anständiger Mensch“, so pflegte dort der Dieb, der Betrüger, der Mörder sogar zu argumentieren. Er protestierte so lange, bis er von der Gegenwart des Sittlichkeitsverbrechers befreit wurde. In Brandenburg gab es sogar eine anerkannte Aristokratie. Zu ihr gehörte der Generalvikar Dr. Seelmeyer. Wenn er zum Spaziergang kam, dann rissen die Sträflinge ihre Mützen ab und riefen im Chor: - Guten Morgen, Herr Generalvikar! Das war ihre tägliche Demonstration. Sie hatten mehr Gefühl für Sauberkeit und Gerechtigkeit als die Justiz, die den schuldlosen Mann dorthin gebracht hatte. Der Staat hatte übrigens eine andere Rangordnung. Oberschicht waren bei ihm die Gewaltverbrecher, Mittelschicht die Sittlichkeitsverbrecher, Auswurf waren die politischen Gegner. Damit haben sich die Herrenmenschen selbst demaskiert. Nicht zuletzt an dieser Rangordnung sind sie dann auch zugrundegegangen. In Rheinberg hab es keinen Rang und keinen Unterschied. Da gab es nur Mitglieder einer Nation von Verbrechern. Wer ihr angehörte, war allein dadurch gekennzeichnet. Von da bis 63
zum Judenstern war kein Schritt mehr. Die Sieger hatten den Schritt schon getan. Es gab genug Männer unter uns, die mit den Amtsträgern des Dritten Reiches Partien gleichzuziehen und Rechnungen glattzumachen hatten. Jetzt saßen sie mit ihren Ortsgruppenleitern, Kreisleitern, Amtsleitern und Amtswaltern aller Sorten in derselben Höhlenlandschaft, nagten am selben Hungertuch, standen im selben Regen, wandten sich in denselben Schmerzen. Doch, das war klug bedacht. Die letzte Rettung der Schwachen ist immer noch die Dummheit der Starken gewesen. Mich hatte zum Beispiel das Schicksal mit einem meiner ehemaligen Kreisleiter in ein gemeinsames Dreckloch gebettet. Vielleicht hätte ich unter anderen Umständen der Versuchung widerstehen müssen, an einem Sondergericht über ihn teilzunehmen. Rheinberg machte uns zu Freunden fürs Leben. Als ich nach Hause fuhr, während er noch aus politischen Gründen zurückbehalten wurde, überlegte ich schon, was ich für ihn tun könnte, um seine Strafhaft abzukürzen. Vielleicht waren die Lager in Rheinberg, in Remagen, in Wickrath die großen Retorten, in denen sich ein Volk, auf dem Boden des Abgrunds angekommen, aus Schuld und Schrecken und Not neu bildete und sich noch einmal vom Rande des Untergangs löste.
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EINE BÜCHSE WASSER Wasser gab es in Rheinberg nicht außer dem, das täglich vom Himmel fiel. Wollte man uns also austrocknen, verdursten lassen? Ach nein, an solche Bosheit braucht man nicht unbedingt zu denken. Es war doch die Militär-Bürokratie, die solch ein Lager einrichtete. Riefe man alle Bürokraten der Erde zu einem olympischen Wettbewerb der Idiotie auf, die Palme wäre den militärischen sicher. Als ich im Jahre 1940 zum ersten Mal den grauen Rock anziehen mußte und als Rekrut im Truppenlager Hohn zwischen Rendsburg und Husum weilte, sprach dieser Platz wirklich jedem gesunden Menschenverstand Hohn. 6.000 oder mehr Krieger wurden dort geschliffen, ohne jemals in vollen sechs Wochen einen Tropfen Wasser zu trinken. Es war typhusverdächtig. Der Mensch der Steinzeit, las ich öfters, ließ sich nur dort nieder, wo es Trinkwasser gab. In den Plänen der Generalstäbler spielten solche primitiven Erwägungen keine Rolle. Als ich 1943 zum zweiten Mal Soldat wurde, diesmal in Hannover und Umgebung, wurde uns wieder die Wasserscheu befohlen. In Ahlten rasierten wir uns zwei Jahre lang mit Kaffee. Es war nicht ratsam, die dort aus dem Boden geschöpfte Brühe mit einer kleinen Schnittwunde im Gesicht in Berührung zu bringen. Ein paar hundert Meter weiter nördlich und östlich hätte es Trinkwasser in Hülle und Fülle gegeben. Aber zwischen der wasserwirtschaftlichen und raumplanerischen Abteilung des Generalstabs waltete keine Korrespondenz. Es ist zu vermuten, daß die amerikanischen Strategen den deutschen an Geistlosigkeit nicht nachstehen wollten. Darum allein war das Lager Rheinberg ohne Trinkwasser. Wollte man aber ein Massensterben unter den scheußlichsten Umständen verhindern, dann mußte Wasser für 250.000 Menschen herangebracht werden. Am dritten oder vierten Tag 65
unseres Aufenthalts wurde dieses Unternehmen eröffnet. Ein städtischer Sprengwagen tauchte am Horizont auf. Wir ergriffen, als er in unser Camp einfuhr, froh unser Geschirr, das fast durchweg in einer Konservendose von der Größe einer Teetasse bestand, und stellten uns an. Morgens um zehn Uhr begann sich die vielfach gewundene Schlange zu bilden. Wer seinen Platz verließ, der konnte sich hinten als der 30.000ster wieder anreihen. Wer sich auf den Boden setzte und einschlief, der wurde am Kragen gepackt und nach vorwärts geschleift, damit er sein Anrecht nicht einbüßte. Nach 16 Stunden war ich am Kran angelangt. Meine kleine Büchse wurde gefüllt. Ich goß den Inhalt in die Kehle, hielt noch einmal hin, wurde aber, gleich allen Frevlern dieser Art, mit einem Fußtritt weiterbefördert. In der kommenden Nacht fiel nur mäßiger Regen. Wir hätten gern die Pfützen aufgeleckt wie Hunde. Aber es bildeten sich keine Pfützen. Der Boden war zu sandig. Das Wasser, das die amerikanische Heeresleitung ausgab, schmeckte übrigens großartig. Es war so gechlort, daß einem speiübel beim Trinken wurde. Die Amerikaner sorgten sich allerdings kaum um unsere Gesundheit. Sie fürchteten sich vor ansteckenden Krankheiten fast noch mehr als vor Brand- und Sprengbomben. Ihre Angst war geradezu kindisch. Als sich zeigte, daß man die Bedürfnisse mit Sprengwagen nicht zu decken vermochte, bauten die Amerikaner Wasserbehälter aus imprägnierten Stoffen. Jetzt konnte man immerhin schon einen Liter Wasser beziehen. Noch später, als die Engländer Lagerverwalter geworden waren, kam der Kommandant sogar auf die tolle Idee, eine Wasserleitung zu legen. Die hatte ein paar Dutzend Hähne, aber keinen Abfluß. Wer zum Wasser ging, der watete bis an die Knie durch Schlamm, kam schmutzig hin und kehrte wie ein Schwein zurück. Es ist für die Heeresleitungen aller Nationen nicht besonders schmeichelhaft, daß wir diese Zustände als durchaus 66
militärisch zu würdigen wußten. In jenen 16 Stunden, als ich geduldig auf einen Mundvoll Wasser wartete, sprach ich mir selber Trost zu. Gewiß, die Versorgung ließ zu wünschen übrig. Aber wir hatten ja schon bei der eigenen Wehrmacht auswendig gelernt, daß der Soldat sich über Verpflegung, Bekleidung und Unterkunft nicht zu beschweren habe. Die Amerikaner verließen sich darauf, daß wir in dieser Hinsicht geschult waren. Nur über Vorgesetzte durfte man sich beim Kommiß beschweren. Aber ratsam war das nicht. In Rheinberg hätten wir gar nicht gewußt, wie man das anstellen sollte, sich über einen amerikanischen Offizier zu beschweren. Das hätte gerade noch gefehlt, daß Deutsche sich über einen Uniformträger der Alliierten zu beschweren gedachten. Wozu hatte man schließlich gesiegt? Gar so schlimm war das nicht. Wenn ich an andere Geschehnisse dachte. Es war im November 1942. Ich hatte mir mit unsäglicher Mühe und mit Hilfe eines befreundeten Majors beim Wehrbezirkskommando meine letzte U.k.-Stellung verschafft, leitete ein kleines Blatt mit 5.000 Beziehern. Mitte November erhielten wir – wie üblich unter Androhung der Todesstrafe für Schwatzhaftigkeit – erstmals im roten Dienst des Propagandaministeriums die Information, daß die deutsche Armee in Stalingrad als verloren anzusehen sei. Die Truppe habe die hehre Aufgabe, sich für Führer und Volk zu opfern. Von diesem Glück dürfe aber weder das Volk noch die Armee des Feldmarschalls Paulus unterrichtet werden. So schickte uns denn vom 15. November 1942 bis zum 29. Januar 1943 dasselbe Ministerium täglich seine Wehrmachtsberichte, in denen es hieß, daß eine Panzerarmee auf dem Wege sei, die Stalingrad-Kämpfer zu befreien, daß sie erfreuliche Fortschritte machte – man konnte sich ihren Weg mit Fähnchen auf der Karte abstecken – daß es sich nur noch um Tage, um Stunden handeln könne… So leisteten wir Journalisten mehr als zehn Wochen lang 67
Beihilfe zu einer der schamlosesten Lügen, die je ein Volk befleckt haben. Aber wie gesagt, wer schwatzte, der wurde Roland Freisler ausgeliefert. Jeden Monat einmal mußten Verleger und Schriftleiter den roten Dienst feierlich in den Ofen stecken und verbrennen, nicht ohne ein Protokoll über diese Einäscherung zu unterzeichnen. Dieses ständige Dasein mit dem Kopf unter dem Fallbeil wirkt heute noch nach. Ich weiß zwar, daß mich heute niemand wegen meiner Plauderei über den roten Dienst hinrichten darf, aber ganz sicher bin ich meiner Sache nicht, vor allem nicht im Halbschlaf oder Wachtraum. Da brauche ich manchmal nach dem Erwachen noch eine gute Weile, bis ich mir klar darüber bin, daß ich in meinem Schlafzimmer und nicht in einer Todeszelle liege. In der letzten Januar-Woche des Jahres 1943 bekamen wir den Befehl, zum 30. Januar als dem Jahrestag der Machtergreifung eine Festnummer der Zeitung vorzubereiten, in der Wehrmacht und Partei zu verherrlichen seien, die Partei ganz besonders, denn sie allein sei es… Wir hatten allerdings nichts zu tun, als die Prosa-Hymnen der Propagandasänger wirkungsvoll zu placieren. Auf welcher Seite, in welchem Schriftgrad, mit welcher Überschrift, das war alles angeordnet. Am 27. Januar hatten wir, wie alle Zeitungen, die befohlene Sondernummer fertig daliegen. In der Nacht kam ein fernmündlicher Befehl: „Ganze Auflage der Sondernummer einstampfen! Neue Weisungen abwarten!“ Am 29. Januar stellten wir Hals über Kopf die neue Sonderausgabe fertig. Stichwort: Nibelungentreue – Heroischer Untergang – Todesmarsch der Goten! Hitler hatte seine 6. Armee abgeschrieben. Morgenthau wollte das ganze deutsche Volk abschreiben. Wie sich doch die Gehirne gleichen. Dennoch wäre ich schon im November 1942 lieber im Lager Rheinberg gewesen. Zehn Wochen lang zu lügen, wenn auch auf Befehl, oder die Wahrheit zu sagen und sich dafür erschießen zu lassen, das war eine harte Alternative 68
gewesen. Noch heute ist mir, als sei ich den StatlingradKämpfern etwas schuldig geblieben und damit an ihrem Untergang mitschuldig geworden. Nein, damals wäre ich bestimmt lieber nach Rheinberg gegangen. Und wenn ich daran dachte, was der Wahnsinnige für uns geplant hatte… Nachdem wir unsere Batterie in Bemerode in die Luft gesprengt hatten, sollten wir laut Geheimorder nach Osten marschieren. Versammlungsraum Gommern bei Magdeburg! Wir sind nie nach Gommern gelangt. Nur komplette Narren konnten auf den Gedanken verfallen, aus Flak-Batterien Marschierer zu machen. Was dachten sich die letzten Generalstäbler eigentlich, als sie eine völlig technisierte und satzungsgemäß vollmotorisierte Truppe in eine InfanterieEinheit verwandeln wollten? Hatten sie ernstlich erwartet, daß wir vor dem Jüngsten Tag in Magdeburg ankämen, wir akademischen Soldaten, die mehr von der sphärischen Trigonometrie als vom Karabiner verstanden? Was sich hier auftat, das war die Strategie des Jakob Kohl von Eibelstadt, der im großen Bruderkrieg des Jahres 1525 die Seinen mit Dreschflegeln ausrüstete und sie gegen die Kanonen der Feste Marienberg und die Kavallerie des Truchseß von Waldenburg jagte. In ähnlicher Weise sollten jetzt schwere Artilleristen, mit Infanteriewaffen nur unzulänglich ausgerüstet, gegen die russischen Panzerarmeen geworfen werden. Nein, so weit wir in Frage kamen, hoffte Hitler vergebens auf die sagenhafte Armee Wenk, die Berlin befreien sollte. Wenn wir die Wahl hatten, gotisch zu sterben oder nach Sibirien verschleppt zu werden – mit einem Wort, wir fühlten uns in Rheinberg nicht eben wohl, aber wenn man die Verhältnisse nüchtern abwog, dann war dies hier allenfalls die Vorhölle, nicht die Hölle selbst. Es hatte in letzter Zeit wenig geregnet. Ich war lange nicht durchnäßt gewesen, mindestens einen Tag lang schon. Ich hatte sogar eine kleine Büchse voll Wasser bekommen. Lange 69
konnte dieses Lager doch auch den Amerikanern keinen Spaß machen. Vielleicht würden sie uns bald nach Hause schicken. Ich war nun so guten Willens, wie man ihn bei einem Menschen in meiner Lage voraussetzen konnte.
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KEINE LÄUSE, ABER HUNGER Waren es zwei, waren es drei Wochen, seit ich in Gefangenschaft geraten war? Für uns schied sich die Zeit nur in Morgen, Mittag, Abend und Nacht. Wir hatten kein Datum mehr. Wir brauchten es nicht. Es war gleichgültig, ob es am 5., 6. oder 7. Mai regnete. Es war ebenso gleichgültig, ob wir am 25., 26. oder 27. April Durst hatten. Wir interessierten uns allenfalls für Tatsachen, aber nicht für das Datum, an dem sie sichtbar wurden. Eines Tages wanderte ich in der Morgensonne um das Camp. Ziemlich nahe am Draht hockte im Türkensitz ein ganz besonders dreckiger Krieger. Sein Hemd war so grau wie altes Zinn. Er hatte es über den Kopf gezogen und auf dem Schoß ausgebreitet. Er durchsuchte es mit gewandten Fingern. Ich hatte bis dahin noch nie eine lebendige Kleiderlaus gesehen und kannte dieses Tier nur vom Hörensagen. Hier aber war ein Jäger und Henker am Werk. Er machte reiche Beute und benutzte seinen Daumennagel als Fallbeil. Er richtete ein beträchtliches Blutbad an. Mir wurde übel, als ich an mein zur Stunde zwar nur von mir bewohntes, aber nicht minder aschgraues Hemd dachte, dem nun die Invasion der Kleiderläuse bevorstand. Doch die amerikanische Armee – Gott segne sie! – war in jenen Tagen unbedingt die bestzivilisierte der Erde. Sie hatte nicht nur die schnelle Moskito, die viermotorige Fortress, die Atombombe herübergebracht, sondern auch das beste Läusepulver der Welt in ihrer Bagage und genug davon, um den ganzen europäischen Kontinent damit weiß zu pudern. Es wäre aber unrecht zu verschweigen, daß sich die Wirksamkeit dieses Pulvers nicht nur auf die Kopf- und Kleiderlaus erstreckte, es machte jede menschliche Kleintierhaltung unmöglich. Es war ein durchaus modernes Hilfsmittel des 71
Massenmordes. Einem Hindu hätten sich die Haare gesträubt, wäre er diesen amerikanischen Kopf-, Leib- und Kammerjägern in die Hände gefallen. Im Lager Rheinberg war mangels jeder ordentlichen Lagerhaltung täglich Viehzählung. Unsere gestaltlosen Haufen mußten antreten, sich in Hundertschaften aufspalten und in solcher Formation das Futter empfangen. Wir hatten an diesem Tag schon gegessen und ruhten uns von den Strapazen des Mahls aus, als wir ein zweites Mal aufgescheucht wurden. Diesmal wurden wir nicht durch hundert dividiert. Wir hatten eine achtreihige Schlange zu bilden, die sich nach stundenlangen Zuckungen und Windungen nach vorn bewegte. Vor jeder Reihe hatten sich zwei Kerle aufgebaut. Der eine hatte nichts in den Händen. Er übte nur die Polizeiaufsicht aus. Der andere hatte eine mächtige Spritze in der Faust, die aber keine Flüssigkeit, sondern ein mehlartiges Produkt enthielt. Jeder Gefangene riß seine Mütze oder was er sonst an Kopfbedeckung besaß ab und bekam einen Schuß Pulver in die Kopfwolle, mitten in das verfilzte Haar hinein. Die zweite Ladung wurde ihm in den Kragen gepustet. Dann hob er die Rockschöße hoch und ließ sich die dritte Staubwolke in den Hosenbund jagen. Wir lächelten erst etwas hoffärtig oder mitleidig, lernten aber bald die Zauberkraft der modernen Chemie schätzen. Mindestens alle vierzehn Tage wurde die schmerzlose Prozedur wiederholt. Der Effekt war verblüffend. Jene Läuse, die ich im Hemd des oben geschilderten Kriegers erblickt hatte, waren die einzigen, die mir in Rheinberg zu Gesicht kamen. Nein, Ungeziefer gab es hier nicht, falls man uns – und ich bin dessen sicher, daß es mindestens am Anfang so war – nicht selbst als Ungeziefer ansah. Läuse waren nicht lizensiert. Gelobt sei der Vernichtungswille der amerikanischen Armee! Es war übrigens seltsam. In diesem ganzen Riesencamp schien die Tierwelt überhaupt ausgestorben. Man sah keine 72
Katze, keine Ratte, keine Maus, keinen Maulwurf. Man sah keinen Vogel, nicht einmal einen hungrigen jämmerlichen Sperling. Keine Krähe, keine Taube überflog unser Lager. Vielleicht ahnten die Tiere, daß sie beim ersten matten Flügelschlag hypnotisiert und nach der Landung roh verschlungen würden. So knapp das Futter war, die Tiere vermißte ich sehr, zumal die Menschen sich als sehr zweifelhafte Gesellschafter erwiesen. Sogar auf der Zeche, als ich Bremser am Berg war, wenigstens 700 Meter tief, war es mir gelungen, zwei junge Ratten so weit zu zähmen, daß sie zum Frühstück auf meine Kiste kamen. Hier in Rheinberg gab es nichts zu zähmen. Wir wurden sogar von den Tieren gemieden. Läuse hatten wir nicht, aber Hunger. In der ersten Zeit hatten die Amerikaner uns immer noch täglich eine halbe Frühstücksration gewährt. Dann hatten sie anscheinend irgendwo größere Kartoffelbestände erbeutet. Jetzt warfen sie jedem Kapitän einer Hundertschaft einen Haufen roher Kartoffeln vor die Füße. Der sortierte sie dann nach der Größe und teilte sie aus. Einer der Kapitäne war ich. Zweihundert böse Augen überwachten mich bei meinem Geschäft. Zweihundert Füße verfolgten mich auf Schritt und Tritt. Es war jedesmal, als trüge ein Raubtier ein Lamm im Rachen davon, umringt von anderen Raubtieren, die streng darauf achteten, daß der Träger der Beute ja nicht allein zum Fressen kam. Es wäre unmöglich gewesen, ein Kartöffelchen auch nur von der Größe einer Haselnuß in die Tasche zu stecken. Es war verboten, Feuer anzuzünden. Dieses Verbot war allen Gefangenen gleichgültig, den meisten deshalb, weil sie weder Papier noch Holz noch Streichholz besaßen, den übrigen deshalb, weil sie im Besitz dieser Utensilien waren und alsbald zu backen und zu rösten begannen. Wo kein Feuer war, da wurden die Kartoffeln roh verschlungen. Möglicherweise meldete dann ein fixer Reporter nach Hause, er habe mit 73
eigenen Augen gesehen, daß die Deutschen die Kartoffeln wie die Wildschweine roh verschlängen. Der Mann hat nicht einmal gelogen, obschon er nicht die Wahrheit geschrieben hat. Nach der kurzfristigen Kartoffelperiode mußten die Amerikaner ein Proviantamt entdeckt und ausgeleert haben. Jetzt empfing der Kapitän für sich und seine Mannen heute einen Kanister Tomaten, morgen einen Kanister Sauerkraut, übermorgen einen Kanister grüne Bohnen, Rotkohl oder Spinat. Die meisten Gefangenen waren ohne Besteck, alle waren ohne Geschirr. Eine Anzahl Löffel war bei der Gefangennahme der Hunderttausende nicht konfisziert worden. Vor Messer und Gabel aber hatten die Amerikaner eine Heidenangst. Diese Werkzeuge rangierten auf einer Stufe mit Schnellfeuergewehren, Maschinenpistolen, Taschenmessern und Nagelfeilen. Zwei oder drei Löffel aber waren gewöhnlich im Bereich einer Hundertschaft vorhanden. Der Kapitän nahm den Kanister in die eine, den Löffel in die andere Hand, lief an der langen Reihe seiner Truppe auf und ab, strich jedem Empfänger einen Schlag Bohnen oder Tomaten ins Maul. Wenn er es geschickt machte, konnte er am Anfang wie am Ende der Reihe je einen Löffel voll für sich ergattern. Meist begleiteten ihn aber einige Gardisten zu Fuß, die es sich zur Pflicht machten, seine Gelüste zu unterdrücken. Wenn die Amerikaner tagsüber keine Lust hatten, dann gaben sie diese Kanister des Nachts aus. Die Nahrungsaufnahme verlief in solchen Fällen besonders eindrucksvoll. Nicht immer hing die Lampe am Himmel, von der die Erde nun schon seit Jahrmillionen begleitet wird. Aber wenn der Mond schien, dann mag der Uralte manchmal gedacht haben, daß doch nicht alles auf Erden schon einmal dagewesen war. Immer wieder bringen es die Menschen fertig, ihre Fähigkeiten zur Originalität mit neuen Zeugnissen zu belegen. Jäh wie sie über uns gekommen, war diese kalte Küche eines Tages zu Ende. Der Amerikaner ging nun zu Hülsenfrüchten 74
über. Die Kapitäne bekamen grüne Erbsen, gelbe Erbsen, weiße Bohnen, braune Bohnen ausgehändigt, ungekochte natürlich. Hier blieb nun nichts anderes mehr übrig, als die Früchte des Feldes statistisch zu erfassen und jedem Empfangsberechtigten seine 37 Bohnen oder 49 Erbsen zuzuteilen. Das war neu, wenigstens als Erfahrung am eigenen Leib. An fremden Leibern hatte ich lange vorher meine Studien gemacht. Die Russen in meiner Flak-Batterie bekamen zum Mittagessen meist nur Kartoffeln, ohne Fleisch, ohne Gemüse, ohne Fett. Zur Ehre der deutschen Wehrmacht muß aber gesagt werden, daß die Kartoffeln stets gekocht waren. Da hockten sie dann um ihren Tisch herum, Semjon, Iwan, Dimitri und wie sie alle hießen. Mit lodernden Blicken und verkniffenen Lippen, sortierten, wogen, prüften sie die Kartoffeln, schoben sie hin und her, bis endlich dieses hundsgemeine Maß von Gerechtigkeit erreicht war, zu dem der Hunger sie zwang. Jetzt waren wir selber so weit, wir Übermenschen oder Obermenschen, wir Mitglieder der Herrenkaste, in die wir ohne Wunsch und Willen eingereiht gewesen waren. Da hockten wir am Boden, Majore, Fähnriche, Hauptwachtmeister, Schriftsteller, Sänger, Pfarrer, Amtsrichter, Rechtsanwälte, Kaufleute, Lehrer und zählten Hülsenfrüchte ab in der einzigen, aber berechtigten Sorge, der andere könne drei oder vier Erbsen mehr bekommen als ihm rechnerisch zustanden. Was taten wir mit diesen Nahrungsmitteln? Wir hatten kein Wasser, um das Zeug quellen zu lassen, wir hatten kein Geschirr außer schmutzigen Konservendosen mit verfaulten Speiseresten. Wir hatten kein Feuer, kein Salz, nichts. Darum fraßen wir die Feldfrüchte roh auf und wanden uns dann tagelang in Magen- und Darmkrämpfen. Nach diesem frugalen Trockenkurs ging die geheime Macht, der unser Appetit ausgeliefert war, zu ausgesprochener Säuglingsnahrung über. Wir erhielten je Kopf und Tag zwölf Kekse, vierzehn Kekse, zehn Kekse, elf Kekse, neun Kekse. 75
Ein System war nicht zu erkennen. Es wäre reizvoll gewesen, ein Zahlen-Lotto zu veranstalten. Plötzlich und unerwartet wie das Thermometer im Mai sank die Kekszahl auf sieben, auf fünf, auf vier, auf drei, auf zwei, auf einen Keks je Tag und Kopf. Die niedrigste meßbare Größe betrug einen halben Keks je Kopf und Tag. Offenbar hatten die amerikanischen Fouriere von Kernphysik und Atomzertrümmerung noch nichts gehört, sonst hätten sie uns mit Mikrorationen beliefert. Es kam auch vor, daß es keinen Keks je Kopf und Tag gab und außerdem überhaupt nichts. Jetzt wußten wir es. Hier war Mord am Werk, überlegter, kalter Mord. Nicht Mörder waren in Tätigkeit gewesen, der berechnete Mord einer bürokratischen Maschine war angelaufen. Irgendein Gehirntrust hatte beschlossen, uns hinzurichten. Er brauchte kein Blut zu vergießen, keine Köpfe abzuschlagen, keine Galgen zu zimmern. Er überließ es der Natur, ihre Auslese zu treffen, zuerst die Schwachen, dann die Widerstandsfähigen, schließlich die Starken zu fällen. Den Tieren der Wildnis und sogar den meisten Haustieren ist es gegeben, der Welt mitzuteilen, daß sie Hunger leiden. In ihrem Gebrüll und Geheul und Gejammer spricht sich die Hoffnung aus, daß doch noch irgendwoher Futter kommt. Wir schrien und brüllten und heulten nicht. Uns sagte der Verstand, daß es zwecklos sei zu schreien. Wir wußten, daß niemand uns hören wollte. Uns ging die Erkenntnis auf, daß wir in einem Vergeltungs- oder Vernichtungslager angekommen waren. Eine andere Erklärung fanden wir nicht. 250.000 Menschen zählte das Lager Rheinberg. Wollte man jedem Gefangenen täglich ein halbes Pfund Nahrung bewilligen, so mußte man täglich etwa 60 Tonnen Lebensmittel heranschaffen. Das sollte eine Armee nicht zustandebringen, die es vermocht hatte, während der letzten Monate des Krieges täglich 6.000, ja 12.000 Tonnen und noch mehr Bomben auf die deutschen Städte zu schleudern? Törichter Versuch, hier nach Nachschub76
schwierigkeiten zu fahnden. Es waren Sterbensmittel, nicht Lebensmittel, was man in Rheinberg austeilte. Ich weiß nicht, ob es grausige Ironie oder nur blöder Ablauf einer Militärmaschinerie war, als man uns freigiebig und reichlich mit Kernseife versorgte. Es war eine Seife, wie wir sie seit sechs Jahren nicht mehr in den Händen gehalten hatten. Leider war sie nicht eßbar. Sie war auch sonst nicht zu verwenden. Wir hätten uns gerne gewaschen und auch unseren Hemden diesen Genuß gegönnt. Aber wir hatten ja kein Wasser. Und dann empfingen die Kapitäne der Hundertschaften je eine Rolle Klosettpapier für ihre Mannen. Als ob ein Mensch, der am Tag einen halben oder keinen Keks zu verzehren hatte, dieser Papierfülle bedurft hätte. Doch ja, ich bedurfte dieses Papiers dringend. Es war von bester Friedensqualität, wurde immer wieder nachgeliefert. Ich benutzte es anfangs selten, später oft zum Schreiben und hatte am Schluß des Lagerlebens eine neue Komödie skizziert. Die trug ich dann, da es streng verboten war, beschriebenes Papier auf der Heimreise bei sich zu haben, als Klosettpapierrolle nach Hause. Alliierte und deutsche Soldaten mochten an meinem Verstand zweifeln, wenn sie sahen, mit welcher krampfhaften Besitzerlust ich die Rolle zärtlich ans Herz preßte. Nach der Ära der unteilbaren Kekse brach die Periode der flüssigen Nahrung über uns herein. In der Mitte jedes großen Käfigs war mit der Zeit ein kleiner Käfig errichtet worden, in dem sogar Zelte aufgestellt wurden. Auch einige Kochkessel wurden installiert, die jeden Tag zahllose Hektoliter von Milchsuppe ausstießen. Trockenmilch wurde angerührt und mit jenem Mandelgeschmack angereichert, der uns schon bei der deutschen Wehrmacht in die höchsten Gipfel der Tannen, dahin, wo die meisten Zapfen stehen, getrieben hatte. Außerdem schwammen noch ein paar Nudeln oder Makkaroni, ein paar Rosinen oder getrocknete Zwetschgen in dieser 77
türkisfarbenen Brühe herum. Wie eine Amsel einen Regenwurm für ihre Jungen zerhackt, so mußten jetzt die Suppenverteiler eine Nudel in vier oder sechs Abschnitte teilen, um den Ausbruch einer Meuterei zu verhindern. Desgleichen wurde das Backobst herausgefischt, geschätzt, begutachtet, zerrupft. Um eine einzige Rosine gab es oft ein Geschrei, wie es nicht größer im Feldlager vor Troja gewesen sein kann, als sich Agamemnon und Achilles um das schöne Mädchen Briseis stritten. Einen Viertelliter, höchstens einen halben Liter Milchsuppe, die zu neun Zehnteln aus gechlortem warmem Wasser bestand, erhielt jetzt der Gefangene als Tagesration, dazu eine Rosine, eine ganze oder halbierte Zwetschge, dazu den Bruchteil einer Nudel. Ging der Essenholer zu früh zum Kochkessel, dann brachte er Suppe ohne Einlage mit. Getadelt wurde er darob nicht. Aber wenn er die Blicke der anderen sah, dann wußte er, auf welcher Stufe der Minderwertigkeit er sich befand. Nein, Läuse hatten wir in Rheinberg nicht. Wer weiß, ob wir das Läusepulver überhaupt notwendig hatten. Vielleicht wären die armen Tiere an unseren verhungerten Leichnamen von selber zugrundegegangen. Verglichen mit uns war Johannes der Täufer, als er in der Wüste fastete, ein Prasser zu nennen. Heuschrecken aß der Schlemmer und sogar wilden Honig dazu. Und was hat dieser Maler Mathis Gothart Nithart bloß auf seinem Isenheimer Altar zusammengepinselt? Da flattert ein Rabe herzu und bringt dem Einsiedler Antonius Brot! Mein Gott, wie schmeckte denn Brot? War es drei, war es vier Wochen her, seit wir keines gesehen hatten? Brot – gab es denn überhaupt noch Brot auf der Erde?
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EDUCATION IN RHEINBERG Die Frage, wie lange Rheinberg gemäß dem ursprünglichen Plan als Sterbelager für die deutschen Kriegsgefangenen gedacht war und zu welchem Zeitpunkt es diese Funktion verlor, kann nur dann entschieden werden, wenn die amerikanischen Archive geöffnet werden – falls es darüber überhaupt Akten gibt. Es liegen aber gewisse Anzeichen dafür vor, daß die Krise des Lagers etwa nach fünf Wochen eingetreten ist. In unserem Gedächtnis lebt der Tag der Wende unauslöschlich weiter. Es war der 35. Tag der Gefangenschaft für die einen, der 34. für die anderen, der 33. für den Rest der großen Kolonne. An diesem Tag erhielt jeder Mann eine fünf Millimeter dicke Scheibe Weißbrot… Rheinberg sollte ohne Zweifel eine Erziehungsanstalt für das deutsche Volk sein. Hier begann die Education. Und sicher haben wir manches gelernt. Mit offenen Mäulern bestaunten wir das Wunder der amerikanischen Manneszucht. Da lag ein Soldat vor dem Draht auf dem Bauch. Er rauchte eine Zigarette und blinzelte gelangweilt in die Gegend. Ihm näherte sich der Lagerkommandant, der alsbald das Wort an seinen Untergebenen richtete. Der stand keineswegs auf. Er machte sich nicht einmal die geringe Mühe, seinem Vorgesetzten den Kopf zuzudrehen. Er nahm auch die Zigarette nicht aus dem Schnabel. Mit leichtem Knurren gab er dem Offizier zu verstehen, daß er den Befehl geistig zu verarbeiten begann. Daß eine solche Armee den Krieg gewonnen hatte, blieb unseren Spießern unfaßlich. Dennoch muß ich zur Ehre der deutschen Offiziere sagen, daß man auch mit ihnen um so besser verkehren konnte, je höher sie im Rang standen. Vom Regimentskommandeur aufwärts konnte man meist sehr gut mit ihnen auskommen. Mein Regimentskommandeur in Hannover trug kein Bedenken, mich, den Gefreiten, mit der 79
Anrede „Herr“ auszuzeichnen, wenn er sich mit mir unterhielt. Nun, wir gehörten auch beide dem Geheimbund der Humanisten an. Als ich einmal auf der Hauptbefehlsstelle mich mit dem Kommandeur unterhielt und dabei den Fuß etwas leger auf eine Kiste stellte, begannen Batterie-Chef und Spieß an Gesichtskrämpfen zu leiden, als bereite ihnen der Trigeminus-Nerv Todesqualen. Ich fragte die Herren nachher, womit ich ihr Mißfallen erregt hätte. Ich erfuhr dann, daß der Regimentskommandeur – von mir gar nicht erst zu sprechen – ganz ohne Zweifel einer der Hauptschuldigen sein würde, wenn der Krieg verloren ginge, da er sich in unversöhnlichem Gegensatz zu Clausewitz und anderen apokryphen Militärschriftstellern befände. Und das alles nur aus dem einen Grunde, weil ich mich mit meinem Oberstleutnant über die Zukunft der abendländischen Tragödie nicht in strammer Haltung ausgesprochen hatte. Ohne dem Kasernenhof und dem Drill das Wort zu reden, aufgestanden wäre ich auf jeden Fall, wenn der Regimentskommandeur mich einer Anrede gewürdigt hätte. In die amerikanische Heeresdisziplin taten wir auch nur so am Rande einen Einblick. Für uns hielt die Education andere Überraschungen bereit. Der gütige Gott hat es so gefügt, daß Erzieher auf Erden selten Glück, selten Erfolg haben. Hätte die Rheinberger Education die erwarteten Ergebnisse erzielt – nein, lassen wir das. Es genügt, daß Europa am Rande seiner letzten Katastrophe stand und um Haaresbreite noch einmal davongekommen ist. Als die Heerscharen der Alliierten über Deutschland hereinbrachen, erwarteten wir den heiligen Geist der Humanität, der Freiheit, der Menschenwürde. Sein Kommen war uns so von den Propheten im Londoner Rundfunk, von den Kehlköpfen der Stimme Amerikas angesagt worden. Zuteil aber wurde uns ein Zuchthaus, das sich von gewöhnlichen Zuchthäusern dadurch unterschied, daß wir kein Dach über dem Kopf hatten, daß wir hilflos am Boden krepierten, daß wir 80
echte Zuchthäusler um ihre reichhaltigen Mahlzeiten beneideten. Ich habe in den Jahren des Herrn von 1939 bis 1945 den Londoner Sender oft genug gehört, so daß man mir die Kompetenz nicht absprechen kann. Ich erinnere mich noch sehr genau dessen, was uns Safton Delmer, Lindley Frazer, Richard Crossmann und andere britische Propagandasprecher erzählten. Sie verhießen uns nicht nur, daß nach dem Sturz Hitlers ein demokratisches Morgenrot von solcher Leuchtkraft über uns käme, daß wir nur noch benommen die Augen schließen könnten, sie stellten uns auch ganz reale Vorteile in Aussicht. Jeder Kriegsgefangene, so versicherten sie uns, erhalte bis auf das letzte Gramm wohlabgewogen dieselbe Verpflegung wie die alliierten Soldaten. Nun ließen sich ganz gewiß nicht viele von uns um des Essens willen in die Kriegsgefangenschaft locken. Dennoch muß es erlaubt sein, sich dieser Londoner Rundfunkbotschaften zu erinnern und denen, die sie verkündeten, das entsprechende Prädikat zu erteilen. Vielleicht begreifen sie endlich, weshalb sie heute jeder Glaubwürdigkeit bar sind, weshalb sie dann am besten beraten sind, wenn sie ihr Interesse dem deutschen Volk ein für alle Male nicht mehr zuwenden. Sie können, wenn sie reden und schreiben, neues Werden nur gefährden und verderben. Sie können ihr eigenes Volk nur noch kompromittieren. Nützliches und Glaubhaftes können sie nicht mehr vorbringen. Es könnte einer fragen, warum ich dieses Buch über Rheinberg erst heute schreibe. Nun, bislang stand mir das Besatzungsrecht etwas im Wege. Ich habe schon im Winter 1945/46 einigen kanadischen und britischen Secret-ServiceLeuten bei Gin und Whisky von meinen Rheinberger Erlebnissen erzählt. Die Kanadier gerieten ganz aus dem Häuschen. Sie flehten mich an, ich solle das alles niederschreiben, damit sie diesen Skandal in der kanadischen Presse veröffentlichen könnten. Ich tat das nicht, von 1933 bis 1943, als ich Soldat 81
wurde, hatte ich zu den Aspiranten auf einen längeren, wenn nicht gar lebenslänglichen Aufenthalt in Dachau oder Buchenwald gezählt. Ich war heilfroh, daß mir dieses Schicksal mit Gottes und anständiger Nationalsozialisten Hilfe erspart geblieben war. Ich wollte den britischen und amerikanischen Lagerkommandanten keine Chance geben. In Zonen-Deutschland hätte ich für mein Buch keine Lizenz bekommen, so wenig wie mein Verleger von einem bestimmten Zeitpunkt an im Dritten Reich für meine Bücher Papier bekam. Es ist auch gut so, daß ich zehn Jahre warten mußte, bevor ich mich literarisch mit dem Stoff befaßte. Abstand macht sachlich. Erkenntnis wächst langsam wie ein Baum. Der Sinn des Geschehens wird oft erst nach Jahren begriffen. Darum ist die Politik auch ein so problematisches Handwerk. Vielleicht war die Education in Rheinberg als stellvertretende Sühne gedacht. Aber dann ist hier ein christlicher Kerngedanke verfälscht, entstellt, mißbraucht worden. Christus leistete freiwillig die stellvertretende Sühne für die Schuld der Menschen. Hier aber wurde eine Zwangssühne ohne Urteil über Schuldige und Schuldlose verhängt. Sie wurde verhängt von ehrgeizigen Politikern, von rachsüchtigen Feinden. Darum wurde in Rheinberg nicht gesühnt. Der Stärkere tobte sich aus. Und diese Erziehung hatten die Menschen, die die braune Diktatur aktiv oder passiv erlebt hatten, nicht mehr nötig. Natürlich war jeder von uns schuldig. Wir waren Hitlers Soldaten geworden, allerdings nur zum Teil. In Rheinberg waren ja auch Zivilisten und Frauen in reicher Zahl vertreten. Gewiß, wir konnten den Kriegsdienst verweigern. Wir konnten meutern. Wir konnten desertieren. Es gab für uns Möglichkeiten genug, erschossen zu werden. Wir hatten keine davon ergriffen. War das die Schuld, die gesühnt werden sollte? Was hätten die Engländer, was hätten die Amerikaner gesagt, wenn alle Gegner Hitlers – und sie zählten nach Millionen! – 82
emigriert wären? Hätte man sie aufgenommen, beherbergt, ihnen Arbeit und Brot gegeben? Nein, ich war nicht bereit gewesen, mich von Himmlers SSKommandos erschießen zu lassen. Sollte ich dafür in Rheinberg verhungern? Und wenn nicht verhungern, so doch ein Dasein führen, mit dem verglichen das eines Vagabunden noch paradiesisch zu nennen ist? Und welches Ziel schwebte diesen der Machtpolitik und der Militärgewalt verhafteten Erziehern eigentlich vor, wenn ihnen Tausende und Abertausende in die Finger gerieten, an denen selbst die nationalsozialistische Erziehungskunst gescheitert war? Das Unheil, das da an Leib und Seele verübt wurde, ist in einer ganzen Generation nicht vergessen, nicht vergeben. Wir haben das Rätsel Rheinberg bis auf den heutigen Tag nicht gelöst. Nur die Amerikaner können es selbst lösen. Unzählige Deutsche sind in ihre Hände gefallen, und sie werden nicht müde, diese fairen Gegner zu rühmen. Man gab ihnen reichlich zu essen. Man schickte sie so schnell wie möglich nach Hause. Man behandelte sie wie Kameraden. Amerika kann sich glänzendere Zeugnisse seiner Humanität nicht wünschen. Aber daneben stehen andere, düstere, grauenvolle, schmachvolle Zeugnisse aus Rheinberg, Wickrath und Remagen. Waren da Geisteskranke am Werk, vom Teufel Besessene? Oder wurde doch ein geheimer politischer Auftrag vollstreckt? Wer hat ihn gegeben? Wer hat ihn vollzogen? Die Verantwortlichen mögen sich zu ihren Werken bekennen. Rheinbergs Tote und mit ihnen die Überlebenden rufen nicht nach einem Gerichtshof. Aber die Namen der Schuldigen bleiben, wenn sie erst bekannt sind, im Strafregister der Weltgeschichte verzeichnet, zusammen mit den Namen Himmlers, Kaltenbrunners, Heydrichs und all der anderen schurkischen Menschenquäler, an denen das 20. Jahrhundert so überreich ist.
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ABSCHIED VON EINEM ALTEN MANN Es dauert schon seine Zeit, bis der Hunger von jedem Teil des menschlichen Körpers Besitz ergriffen hat. Die Magenschmerzen, die Kopfschmerzen, das Schwindelgefühl, das alles ist noch erträglich. Irgendwo sind ja auch noch Reserven aufgespeichert, selbst in einem nichtgemästeten Leib, die langsam aufgezehrt werden. Aber eines Tages stehst du dem Nichts gegenüber. Die Vitamin-Zufuhr hat sich dem Nullpunkt genähert. Eiweiß, Fett, Kohlehydrate bleiben aus. Jetzt kannst du an deiner eigenen sterblichen Hülle biologische und physiologische Studien machen. Und du begreifst mit aller Klarheit, daß der über dich verhängte Hunger ein gemeines Verbrechen an der menschlichen Natur ist. Obwohl du deinem Magen und Darm nur einen Bruchteil des Nahrungsbedarfs zuführst, leidest du an chronischen Verdauungsbeschwerden. Frischkost bekommst du überhaupt nicht zu Gesicht. Der Skorbut meldet sich mit seinen Vorboten an. Magenkrankheiten aller Art treten in ihren ersten Symptomen auf. Das alles ist anfänglich merkwürdig, rätselhaft, unbegreiflich. Aber bald kommst du dahinter, daß hier frevelhaft mit dem Leben selbst verfahren wird. Ich liege eines Morgens in der Sonne, träge, müde, entschlußlos. Doch die Natur verlangt ihr Recht. Ich muß den dazu bestimmten Platz aufsuchen. Ich stehe schnell, wie ich es gewohnt bin, auf. Einige Sekunden später wird mir langsam klar, was geschehen ist. Ich bin kopfüber in den Sand gestürzt. Eine kleine Mulde legt Zeugnis davon ab. Ich lächle etwas verlegen, schäme mich fast, daß ich solch ein Schwächling bin. Aber niemand nimmt Notiz von mir. Die Blicke, die mich treffen, gelten mir gar nicht. Ich könnte ebensogut in einem Museum voll ägyptischer oder gotischer Plastik sitzen. 84
Ich stehe wieder auf, diesmal bedächtig, in kläglichen Etappen, gehe erst in die Knie, richte mich dann feierlich auf wie ein uralter Patriarch, der auf der Straße gefallen ist. Ich wandere mit kleinen, demütigen Schritten durch das Camp, nicht geradewegs, sondern auf einem Schlangenpfad, der durch die Armee der Liegenden führt. Ich hätte auch nicht gerade zu gehen vermocht, weil ich dauernd um mein Gleichgewicht kämpfte. Die Menschen liegen wie vom Artilleriefeuer niedergemäht, auf dem Bauch, auf dem Rücken, auf der Seite, mit starren Gliedern wie Verstorbene, aber auch verkrümmt, zerdehnt, zusammengerollt, mit geschlossenen Augen oder mit halboffenen, die an aller Welt unbeteiligt sind und wahrscheinlich überhaupt nichts sehen. Wie die Bäume im Hochschwarzwald nach einem Windbruch, umgeweht, niedergewalzt, so liegen sie da. Es gab kein Mittel mehr, sie zu einer Anteilnahme am Leben zu bewegen als dieses: ihnen ein Stück Brot, einen Brocken Fleisch, irgendetwas Eßbares vor die Zähne zu halten. Dicht vor meinen Füßen ist ein hagerer Körper hingestreckt. Er scheint steif gefroren trotz der warmen Frühlingsluft. Die Sehnen seiner Füße sind kraftlos geworden. Die Fußspitzen sind nach beiden Seiten gefallen und berühren fast den Boden. Die Augen schauen starr in die Sonne. Sie leiden keinen Schaden mehr. Sie gehören einem Toten. Ihm die Augen zu schließen, dazu hat noch keiner Zeit gefunden. Ich tue es auch nicht. Ich bin froh, daß ich aufrecht stehe. Ich habe keine Lust, einen zweiten Kopfsturz zu machen. Deshalb gehe ich weiter. Ich habe ja schließlich etwas zu tun. Nur darum bin ich aufgestanden. Bei der Rückkehr von der Latrine nehme ich mir vor, diesem Toten aus dem Weg zu gehen. Ich will ihn nicht mehr sehen. Ich kann ihm weder einen Sarg noch einen Leichenwagen noch einen Priester besorgen. Aber es geht mir wie einem Anfänger auf dem Fahrrad. Wie der mit nachtwandlerischer Sicherheit 85
ein Hindernis rammt, obwohl er es schon aus fünfzig Meter Distanz gesehen hat, so stolpere ich beinahe über den Mann, der sich da selbst zur letzten Ruhe gebettet hat. Das Gehirn hat so gut wie nichts mehr zu befehlen. Die Beine haben sich selbständig gemacht und sind einem unergründlichen Mechanismus Untertan. Ich erinnere mich eines Brauches, den ich schon als Kind in einem oberschwäbischen Städtchen gelernt hatte. Am Sterbebett eines Menschen hat der Christ ein Vaterunser zu beten. Beten wir also. Vater unser, der Du bist in dem Himmel, geheiligt werde Dein Name – hols der Teufel, ich bringe das Vaterunser nicht zu Ende. Die sieben Bitten wollen sich nicht mehr zusammenfügen. Das Gedächtnis ist in den Streik getreten. Es macht nicht mehr mit. Es protestiert gegen die Unterernährung. Ich versuche es lateinisch, griechisch, gotisch, französisch, italienisch, spanisch, erwische da einen Fetzen, dort einen Fetzen des christlichen Abendlandes, aber ein Vaterunser wird nicht daraus. Not lehrt beten. Ich ertappe mich dabei, daß ich laut auflache. Einige Umliegende schauen mich an, nicht tadelnd, wissend. Sie ahnen schon, daß es mit mir nicht mehr lange dauert. Not lehrt beten – wenn das wahr wäre, dann hätten wir jedes Trappistenkloster in den Schatten gestellt. - Alter Mann, nun bin ich Dir Deinen Tribut schuldig geblieben und werde mein Leben lang ein schlechtes Gewissen haben. Was sollen die oberschwäbischen Bauern von mir denken, bei denen ich mir so schöne Volksbräuche zu eigen gemacht habe? Alter Mann, wie aus grauem Stein gehauen ist Dein Gesicht. Der Tod ist der erste Bildhauer der Erde. Er macht aus dem schlichtesten Material, aus dem leersten Antlitz noch eine erhabene Form. Alter Mann, Du siehst mir ganz nach einem Volkssturmmann aus mit Deinen sechzig Jahren. Nun hat Dich die große Sturmflut nach Rheinberg getragen. Irgendwo mußtest Du ja sterben. Warum nicht hier? Bist Du 86
ein Schlesier, ein Märker, ein Ostpreuße? Wie soll ich das aus Deinen grauen Haaren, aus Deinem fast weißen Bart herauslesen? Wo hast Du Dich herumgetrieben, alter Mann? Hier am Niederrhein? Oder hat Dich nur der Hunger so uralt gemacht und bist Du vielleicht auf der Eismeerstraße bis Rowaniemi gefahren? Bist Du aus Prag geflüchtet und so lange an der Ostfront gewesen, bis sie mit der Westfront zusammenschmolz? Hat Dich das Geschick in Sachsen, in Thüringen den Amerikanern anheimgegeben oder ist es Dir in letzter Minute noch gelungen, über die Elbe, über den modernen deutschen Schicksalsstrom zu fliehen? Ach, so ist das, denke ich dann. Dort drüben hat einer einen Kopfsturz gemacht. Er liegt jetzt genau so verwirrt, genau so blöde da wie ich vorhin. Beim nächsten Mal, wenn er aufsteht, wird er sich ein wenig in acht nehmen. - Alter, namenloser Mann, jetzt werden sie Dich bald hier wegschleppen und eingraben. Keiner weiß Deinen Namen. Dich kann niemand mehr fragen. Andere zu fragen, wäre völlig zwecklos. Und im übrigen ist es ja doch wohl gleichgültig, ob Du unter einem fremden oder gar keinem Namen verscharrt wirst. Du bist abgemeldet. Vielleicht denken Deine Kinder, Deine Enkel noch ein paar Jahre, Du seist in Rußland geblieben. Aber wenn Du dann gar nicht schreibst… Rußland ist groß. Rußland ist weit. Wer soll denn auf den absurden Gedanken verfallen, daß Du, Ostfrontkämpfer, der sich halb Rußland an den Stiefeln abgelaufen hat, der unbekannte Tote vom Niederrhein bist? Wenn jemand eines Tages nach Deiner Leiche verlangt, so wird er das ganz bestimmt an der falschen Stelle tun. Da fällt schon wieder einer um. Der Hunger leistet saubere Arbeit. Als ob er einen Knüppel schwänge und jeden, der aufzustehen wagt, auf den Schädel schlüge. Ich bin also doch nicht der einzige Jammerlappen hier im Lager. Merkwürdig, wie gleich uns der Hunger macht, daß wir alle am selben Tag 87
wie auf Kommando Kopfstürze machen. Das kann dich von der Eitelkeit heilen. Du bist also doch nichts Besonderes auf diesem Friedhof der Illusionen. Ein ganz gewöhnlicher Tropf bist du und genau so auf den Kopf gefallen wie tausend andere Tröpfe. - Wenn Du dann gar nie schreibst, alter Volkssturmmann, dann denkt Deine Frau, mit der Du bald die goldene Hochzeit gefeiert hättest, Du seist in Kurland oder an der Moldau gestorben. Ich verstehe Dich gut, Alter, Du hast einfach keine Lust mehr gehabt, hast Dich einfach geweigert aufzuwachen. Wozu auch? Um weiter zu hungern? Nein, nein, Selbstmord will ich das nicht gerade nennen. Aber gib zu, Du hast ganz bewußt vor Müdigkeit und Trostlosigkeit Schluß gemacht, hast Dein eigenes Herz angehalten. Nicht wahr, so ist es gewesen? Du hast Dich auf die uralte Kunst des Tieres und des primitiven Menschen besonnen, zur rechten Zeit und still zu sterben. Und jetzt hast Du einen so majestätischen Kopf aufgesetzt, daß man beinahe ehrfürchtig wird. Vielleicht sollte ich Dir an Stelle des Vaterunsers eine Träne spenden. Aber ich muß sparsam sein. Man bekommt hier ja fast nichts zu trinken, um die vergeudete Flüssigkeit wieder zu ersetzen. Und warum soll eigentlich geweint werden? Du hast Dich ja nun von Rheinberg verabschiedet auf eine Weise, die höchste Distanz ausdrückt. Es ist für die Amerikaner nicht gerade schmeichelhaft, wie Du über sie denkst. Und man kann die zu Stein erstarrte Verachtung in Deinem Gesicht nicht mehr abwischen. Da ich nun endlich wieder nach Hause gehen will, zu meinem Erdloch und meiner Nachbarschaft, schaue ich einen Augenblick über das weite Camp. Bewegung ist in die Masse gekommen. Die Zeit des Nahrungsempfanges ist da. Alles steht auf. Aber, mein Gott, forsche nach in Deinem urewigen Gedächtnis, das älter als die Uran-Uhr ist, forsche nach, ob Du je solch ein Schauspiel gesehen hast. Es ist, als hätte die Fallsucht über Nacht Hunderttausende ergriffen. Ringsherum 88
sehe ich nichts als Kopfstürze. Es ist ein schauerliches Kabarett, das sich da produziert. Ein stürzendes Heer von Akrobaten oder Hampelmännern treibt da sein Unwesen. Wenn das Edvard Grieg geschaut hätte, bevor er den Tanz der Trolle in der Halle des Bergkönigs komponierte, seine Musik wäre noch schrecklicher, noch wilder geworden. - Alter Mann, daß Du das nicht mehr mitgemacht hast. Du ahnst gar nicht, Du rücksichtsloser Verstorbener, wie viel Leben in solch einem verhungerten Haufen steckt. Du hast Dich zu früh davongeschlichen. Nicht einmal Papiere hast Du hinterlassen, nicht die Anschrift Deiner Familie. Keinen Namen hast Du, Leichnam. Aber wer weiß, ob man Dir den aufs Grab gesetzt hätte. Vor ein paar Tagen ist da drüben einer im Loch erstickt. Der hatte auch keinen Namen. Es sah aus, als zerrten Ameisen eine tote Ameise aus dem Bau. Man schleifte den Toten zum Tor. Es werden sich Hände finden, die auch Dich dorthin schleifen. Gute Fahrt zum Jüngsten Gericht. Wenn ich das Vaterunser wieder zusammenbringe, will ich gern an Dich denken, obwohl Du Dich ohne Urlaub in Deine selbstsüchtige Starre zurückgezogen hast, während wir das Gleichgewicht verlieren und das Hungerballett im Drahtkäfig aufführen.
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HANGEND AN DER ANGEL DES BITTEREN TODES Schmale, lange Gräben, wie mit dem Lineal gezogen, 15 cm breit vielleicht, schmal genug, daß die Schwachen und Sterbenden nicht hineinfallen konnten, das waren die ersten Latrinen in Rheinberg. Die Gefangenen litten hauptsächlich an zwei Krankheiten. Den einen jagte die Ruhr den letzen Bissen Nahrung aus dem Leib, den anderen war der Darm wie mit einem Korken aus Stein verschlossen. Der Verdauungsapparat hatte seine Tätigkeit eingestellt. Das kalte Fett, die trockenen Kekse, die ungekochten Hülsenfrüchte, der Mangel an jeglicher Frischkost – das alles trug dazu bei, um die Därme derer, die nicht von der Ruhr ergriffen waren, zu völliger Passivität zu verurteilen. Was die einen nicht festzuhalten vermochten, davon konnten sich die anderen nicht trennen. An Krämpfen, an Stichen, an brennenden Schmerzen, an zerrenden und reißenden Qualen litten alle. Von der Ruhr blieb ich verschont. Ihr Gegenteil nahm zweimal von mir Besitz. In einer bösen Nacht trat ich wieder einmal den Gang an, den ich seit einer Woche oder länger immer wieder vergeblich getan hatte. Der Mond stand am Himmel, im Scheitel eines Rundhorizonts mit blaßgelber Kuppel. Er leuchtete kalt herunter auf das ekelerregende Gewürm, von dem das Grabensystem bevölkert war. Ich bohrte mit den schmutzigen Fingern in meinem Gedärm herum, zähneknirschend und stöhnend. Die Tränen liefen mir an der Nase herunter, tropften über die Lippen zum Kinn. Eine steinharte Kugel von der Größe eines Hühner-Eis mußte sich am Darmausgang festgesetzt haben. Ich wollte sie lockern, herausquetschen, wenigstens in kleine Stücke brechen. Ich zerkratzte mit den ungeschnittenen langen Fingernägeln meine 90
Darmwände, betrachtete gleichgültig meine blutenden Fingerspitzen, begann wieder zu bohren, bildete aus zwei Fingern eine Zange – alles umsonst. Um mich herum hockten andere Gefangene, die dasselbe abscheuliche Handwerk betrieben, ebenso vergeblich wie ich. Sie jammerten, heulten, winselten, schrien. Irgendeine Stimme sang auch ich in diesem schrecklichen Chor. Menschen wankten zitternd davon, kamen, sich krümmend, die Hände an den Bauch pressend, wieder, schluchzten wie Verzweifelte. Jetzt erwies es sich als ein ungewollter Segen, daß die Amerikaner uns alle Metallgegenstände abgenommen hatten. Hätten wir Stichwaffen gehabt, wir hätten uns die Eingeweide zerschnitten. So vergifteten wir uns nur mit dem Dreck, der an unseren Händen klebte. Die Stimmen fingen an, Vater und Mutter zu verfluchen. Ein Mann richtete sich plötzlich auf, wurde sichtlich von einem Entschluß überfallen, rannte wie ein Sturmbock gegen den Stacheldraht, riß ihn mit zerfetzten Händen auseinander, blieb hängen, riß sich los, machte einen neuen Ansturm. Da bellte kurz eine Maschinenpistole… Dem Mann war geholfen. Er hatte keine Verdauungsbeschwerden mehr. Für ihn war jeder Krampf zu Ende. In fünf, in zehn oder noch mehr konzentrischen Kreisen hockten oder lagen Menschen um mich herum, alle von der Hüfte an nackt, viele Ruhrkranke darunter. Einem klapperten die Zähne im Fieber. Ein anderer zuckte wie ein mit dem Beil erschlagenes Tier. Gestalten, halb grau, halb weiß wälzten sich in Schauern herum, geworfen in einen Sumpf von Blut und Urin und Kot. Hier fand das Sterben am laufenden Band statt. In allen Stadien konnte man es sehen, vom Beginn der Agonie bis zur Leichenstarre. Da konnte man das Sterben lernen, hangend an der Angel des bitteren Todes, wie der Mystiker sagte. Der Mond hatte inzwischen seine Farbe geändert. Giftgrünes 91
Licht floß an den Toten und Sterbenden hernieder. Alle Gesichter bemalte er mit der abstoßenden Patina alter, unbeerdigter Leichen. Vor meinen Füßen kroch einer weg. Sein Unterkörper war nackt. Er hatte keine Kraft, er hatte keinen Willen mehr, sich anzuziehen. Hinter sich ließ er wie eine halbzertretene Schnecke eine schleimige, von roten Fäden durchzogene Spur. Es war die letzte, deren er sich auf Erden schuldig machte. Ich versuchte zu gehen. Ich machte Schritte, so kurz wie ein einjähriges Kind. Im fahlen Mondlicht sah die Erde aus, als hätte es eine Nacht lang Blut und Eiter geregnet. Und darin lagen wie unförmige Baumstümpfe die, die ausgelitten hatten. Als Gustave Dore Dantes Inferno illustrierte, ruhten die menschlichen Kriechtiere des Lagers Rheinberg noch im Schoße der Zukunft. Sie sollten erst später zur Welt kommen. Dante und Dore hatten noch Phantasie gebraucht, als sie ihre düsteren Visionen sichtbar machten. Hier in Rheinberg hätten sie den Realismus des 20. Jahrhunderts vor Augen gehabt, den Triumph der reinen Humanität. Aber hätte der Dichter der Divina Commedia den Mut gehabt, diesen Verdammten der Neuzeit, deren Teil die Hölle auf Erden war, die Hölle der Ewigkeit in Aussicht zu stellen? - Du bist Deinem natürlichen Wesen nach ein Spiegel der Gottheit. Du bist ein Ebenbild der Dreifaltigkeit. Du bist ein Abbild der Ewigkeit. Schau an und beachte, was Du bist, wo Du bist und wohin Du gehörst! So hatte der Mystiker von der Insel zu Konstanz gesprochen. Es kann daher nur Gotteslästerung gewesen sein, was in Rheinberg geschehen ist. Hier wurden mit den Leibern die Seelen in die Latrine geworfen. Hier wurde das junge Gras, das aus dem Boden sprießen wollte, mit Säure übergossen und bis in die Spitzen der Wurzeln zerstört. Hoffentlich steht nicht eines Tages einer auf und sagt, mit diesen Gräueln habe man andere Gräuel vergolten. Hoffentlich fügt keiner hinzu, man 92
habe geglaubt, mit diesen Gräueln die vorhergehenden vergelten zu müssen. Wenn das geschähe, dann hätten sich die Verantwortlichen selbst um Kopf und Kragen geredet. Denn was anderes könnten sie vor der Welt und vor Gott zu ihrer Entlastung sagen als das klägliche Wort, sie hätten von all dem nichts gewußt? Natürlich gab es kriegserfahrene Ärzte genug in Rheinberg. Die Amerikaner werden auch tüchtige Mediziner mitgebracht haben. Die traten nicht in Aktion. Die deutschen Ärzte und Sanitäter wären gerne in Aktion getreten. Es war ihnen verwehrt. Sie hatten ja nicht einmal ein Krankenzelt, ein Sterbezelt anzubieten. Sie hatten keine Instrumente, keine Medikamente, kein Fieberthermometer. Ich weiß nicht, wie viele Ruhr-Tote das Lager Rheinberg erlebt hat. Ich weiß nicht, wo und wie man sie begraben hat. Ich weiß nur, daß ich diese Sterbe- und Leichenhalle unter freiem Himmel in Regen und Schmutz nicht vergessen kann. Und bis auf den heutigen Tag hat mir der Mut gefehlt, den Schuldigen zu vergeben. Sie mögen sich selbst absolvieren.
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HEILKUNDE MIT DEM HOLZSCHEIT Ich sagte schon, daß es einen nicht genau zu fixierenden Zeitpunkt gab, von dem an uns die Amerikaner nicht mehr als eine eingekreiste, auszuhungernde Horde von Wanderratten betrachteten. Verschiedene Anzeichen deuteten darauf hin, daß wir eine bescheidene Rangerhöhung erlebt hatten. Wohltaten begannen auf uns herabzuregnen. Mag sein, daß die Filmleute das Interesse an uns verloren hatten, eines Tages diktierte der amerikanische Kommandant, daß jeder Gefangene zum Haarschnitt und zum Rasieren zu erscheinen habe. Friseure heraus! So dröhnte der Ruf aus den Megaphonen. Er verhallte ungehört. Am nächsten Tag erscholl er abermals, jetzt aber mit dem Zusatz, daß die Figaros nicht nur Scheren und Rasiermesser, sondern auch Arbeitslohn in Gestalt von Nahrungsmitteln erhalten sollten. Ein paar hundert Scheren, ein paar hundert Rasiermesser wurden verteilt. Welch ungeheuerliches Waffenarsenal! Welche Fülle von Mordinstrumenten! Ich dachte an meine kleine Nagelfeile und begriff nicht, wieso die Amerikaner plötzlich von ihrer Todesfurcht geheilt waren. Es zeigte sich, daß die Zunft der Barbiere in allen Camps wohl vertreten war. Die Friseurstuben wurden durch Kisten und alte Stühle, die irgendwo draußen konfisziert worden waren, gekennzeichnet. Und nun erschienen die Kolonnen der verwilderten Gestalten am Tatort. Ihre Köpfe glichen denen struppiger Straßenköter, die sich seit Monaten verwahrlost in der Gosse herumgetrieben hatten. Nun kam jeder Gefangene dazu, eine halbe Stunde oder länger wie ein zivilisierter Mensch zu sitzen. Er mußte es erst wieder lernen und befand sich zunächst keineswegs wohl dabei. 94
Der Seifenschaum blieb nicht lange weiß, er war nicht einmal gelb oder bräunlich, er war einfach schwarz wie das Fell, das zum Vorschein kam, wenn die Barbiere mit der Schere ihre Schneisen durch das Gestrüpp der Bärte trieben. Die Gesichtshaut war spröde, verkrustet, förmlich in Lehm verpackt. Ströme von Schmutz flossen in allen Farben an den Wangen herab. Der letzte Dreck aus der Heimat, der Staub der vernichteten Holzarchitektur war auch dabei. Da die Wasserzufuhr sich allmählich verbessert hatte, konnte man nach dem Rasieren sogar das Gesicht waschen, zum ersten Mal seit vier, seit fünf Wochen. Wer will das noch wissen? Immerhin – der Eintritt in die Zivilisation war vollzogen. Jener Kommandant hat es verdient, Ehrenmitglied jeder FriseurInnung zu werden. Wir spiegelten unsere Visagen in den Wassereimern. Aha, so sahen wir jetzt aus. Wir erkannten uns sofort wieder, hatten allerdings Falten im Gesicht, die man schon fast als Gräben bezeichnen konnte. Die Architektur der Gesichtsknochen war gut zu studieren. Nur die Nasen waren kaum abgemagert, aber sonst hatten die Knochen wirklich nur noch einen Überzug aus gegerbtem Leder, voller Risse wie eine alte Borke im Walde. Etwa zur selben Zeit entstanden in den Camps große Sanitätszelte. Sie schützten die Kranken vor Sonne und Regen und auch ein bißchen vor dem Wind. Deutsche Ärzte waren am Werk mit der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts und dem Instrumentarium der älteren Steinzeit. Jeder Medizinmann im afrikanischen Busch war besser ausgerüstet als sie. Dafür hatten sie gute Hände und noch mehr guten Willen. Sie brachten ihre Diagnosen zustande, halfen mit ihren gehemmten Kräften, wo sie nur konnten, trieben vor allem eine intensive Seelsorge. In diesem Dasein ohne jeden Firnis von Kultur begriff man es schnell, daß der Arzt aus dem Stand des Priesters hervorgegangen ist, daß er auch heute noch priesterliche Funktionen erfüllt. Den größten Segen stifteten 95
die deutschen Ärzte dadurch, daß sie ihre amerikanischen Kollegen veranlaßten, die Schwerkranken in Lazarette zu bringen. Außer den Krankenzelten in den Camps wurde eine Zentralstation eingerichtet, in der die Spezialisten eingezäunt wurden. Die Zahnärzte waren immerhin insoweit bewaffnet, daß sie Zähne ziehen konnten. Aber damit erschöpfte sich ihre Tätigkeit. Die Internisten, die Augenärzte, die Halsärzte mußten sich mehr oder weniger auf gute Ratschläge beschränken. Wo eine Pille helfen konnte, war sie mitunter zur Stelle. Im Lager Rheinberg waren Tausende von einem merkwürdigen Ohrenleiden befallen, das sich allerdings als verhältnismäßig harmlos herausstellte. Der durch Hunger gelähmte Organismus weigerte sich, die Ausscheidung der Ohren nach draußen zu befördern. Sie verhärtete, setzte sich wie ein Kork vor dem Trommelfell fest, machte bald völlig taub und verursachte Kopfschmerzen. Durch einen reinen Zufall erfuhr ich, daß es irgendwo eine „Ohrenklinik“ gebe. Ich stellte mich also am Tor meines Champs auf und wartete einen halben Tag lang darauf, daß amerikanische Soldaten kämen und mich zum Arzt brächten. Mehrere Tage lang wartete ich umsonst am Tor. Die amerikanischen Truppen hatten offensichtlich keine Lust, sich um unseren Gesundheitszustand zu kümmern. Ich gab aber die Hoffnung nicht auf, wie das andere taten. Eines Morgens ging das Tor auf. Ich trabte auf die breite Lagerstraße hinaus. Dort flankierten mich zwei stahlhelmbewehrte Wächter. Jeder hatte eine Maschinenpistole um den Hals hängen. Ich schwoll vor Stolz an wie ein Kürbis im Herbst. Ich hätte mich niemals für einen so gefährlichen Krieger gehalten. Welch fürchterliche Kerle mußten wir sein, wenn jedem von uns zwei Maschinenpistolen nebst den Trägern zukamen? Waren wir denn Gorillas, die imstande waren, mit ihren bloßen Fäusten die berühmten 96
Einzelkämpfer aus Texas in Stücke zu reißen? Ich lächelte vor mich hin. Ich dachte an den Tag, da wir in Ahlten eine Fortress II in Brand geschossen hatten. Die elf Mann stiegen in etwa 8.000 Meter Höhe aus. Wunderbar zart hingen ihre weißen Fallschirme in der Luft. Ein paar der Herren schienen im Bereich unserer Batterie landen zu wollen. - Holen Sie die Burschen her! sagte der Chef zu mir. Ich machte mich auf, um die Burschen zu verhaften. Ich hatte nicht einmal ein Seitengewehr, von anderen Hieb-, Stichund Schußwaffen ganz zu schweigen. Völlig waffenlos sammelte ich also meine Kanadier ein, die samt und sonders eine Maschinenpistole, eine Pistole und vermutlich noch einige andere Mordwaffen besaßen. Aber die Talfahrt und die eben gelungene Flucht aus dem Krematorium in den Lüften hatte die Flieger etwas demoralisiert. Sie folgten mir wie Schiffbrüchige, die endlich wieder Boden unter den Füßen hatten. Ich nahm ihnen nicht einmal ihr Schießzeug ab. Ich ging voran, sie trotteten brav hinter mir her. Der Ohrenarzt war ein netter junger Mann. Erst schnauzte er mich an, als ob ich allein daran schuldig sei, daß er das Ohrenschmalz kiloweise aus den Köpfen der Gefangenen herauskratzen müsse. Aber er merkte bald bei unserem munteren Gespräch, daß ich zu den gebildeten Soldaten gehörte. Er teilte eine Zigarette mit mir, die er als Arzthonorar empfangen hatte, und bat mich, ein bißchen Zeit für ihn zu haben. Er werde verrückt, wenn er Tag für Tag nur Ohren ausschaben müsse. Ich bat ihn, mir zu verzeihen, daß auch ich ihm nur eine Portion Ohrenschmalz anzubieten habe an Stelle einer Mittelohrentzündung oder einer anderen interessanten Krankheit. Wir unterhielten uns dann über Literatur, über Universitätsstädte, die wir kannten, über unsere berufliche Zukunft, über das, was unserem Lande bevorstehen mochte. Dann seufzte er und entschuldigte sich, daß er nur ganz trauriges Handwerkszeug besitze und mir darum weh tun 97
müsse. Er besaß nichts als einen geglätteten Holzspan, um mir die Ohren auszuräumen. Aber weiß Gott, er machte seine Sache gut, und da alles auf Erden relativ ist, auch das Wohlbefinden, fühlte ich mich geradezu erlöst. Solch einen geglätteten Holzspan hatte ich schon einmal in Aktion gesehen. Eines Tages mußte ich, da ich mir einen Stiftzahn an Adolf Hitlers Kommißbrot ausgebissen hatte, zum Zahnarzt. Der Chef gab mir gleich drei Russen mit, die auch Zahnschmerzen hatten. Während ich einem Stabsarzt in die Hände geriet, mußten sich die Russen mit einem Sanitätsunteroffizier begnügen. Der fuhr den armen Kerlen mit seinem Holzspan im Munde herum. Ob sie angaben, an Zahnschmerzen, an Magenbeschwerden, an Gallenblasen- oder Nierenbeckenentzündung zu leiden, der Korporal der Heilkunde gab jedesmal die stereotype Antwort: - Ihr müßt nicht so viel fressen, dann werdet ihr auch nicht krank. Ich war damals noch schlichter Kanonier. Ich hatte schwere Folgen zu gewärtigen, wenn ich dem Unteroffizier eine Maulschelle versetzte. Träfe ich ihn heute wieder, ich wäre, ungeachtet der Prozeßkosten, bereit, meine Schuldigkeit zu tun. Die Russen waren halbe Soldaten, wenn man so sagen will, halbe Verbündete, aus Hunger vermutlich. Bei jenem Revier hatten sich auch polnische und französische Kriegsgefangene eingefunden, Leute, die mehr Stolz, aber eben auch weniger Hunger als die Russen hatten. Sie bekamen Pakete aus dem Westen. Sie hatten reichlich Zigaretten zu rauchen. Normalerweise stürzten sich die Russen auf jeden Zigarettenstummel wie die Habichte auf junges Geflügel. Aber die Polen und Franzosen kräuselten zynisch die Lippen. Sie traten jede Zigarettenkippe tief in den Schmutz, um die Russen zu bestrafen. Auf dem Heimweg setzte ich mich mit meinen Russen vor einer einsamen Gastwirtschaft in den Straßengraben, nachdem ich für jeden ein Glas Bier geholt hatte. Jeder 98
erhielt auch eine Zigarette. Immerhin, wenn man uns erwischt hätte, dann wäre ich vor ein Kriegsgericht gekommen und die Russen wären zur Nachkur in das gefürchtete Stammlager gewandert. Ich denke, daß die deutschen Ärzte in Rheinberg Humor hatten, sonst hätten sie diese Zeit nicht überlebt, ohne an ihrem Beruf irre zu werden. Eines Tages hieß es, eine schweizerische Ärzte-Kommission werde im Auftrag des Internationalen Roten Kreuzes erscheinen, um sich in Rheinberg umzusehen. Offenbar waren doch schon Gerüchte über das Lager Rheinberg in die Welt hinausgedrungen. Man hielt es für angezeigt, ihnen sofort zu begegnen. Als wir antreten mußten, wir 30.000 Mann in unserm Camp, dachten wir, es handle sich zunächst nur um eine außerplanmäßige Viehzählung. Wir erhielten aber den Befehl, sofort in unsere Erdlöcher zurückzukehren und alsbald splitternackt, wie uns Gott geschaffen, wieder auf der Bildfläche zu erscheinen. Wir schauten uns fragend an, zögerten einen Augenblick – aber hatte es Zweck zu meutern? Dann gab es heute eben nichts zu essen. Das war das Grundgesetz der amerikanischen Disziplinargewalt, von dem auch reichlich Gebrauch gemacht wurde. Wir gehorchten, traten in einer zwölfreihigen, unübersehbaren nackten Kolonne an und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Die Kapitäne der Hundertschaften wurden zum Appell gerufen. Man teilte ihnen mit, daß eine ärztliche Untersuchung stattfinde. Und die fand auch statt. Je zwei deutsche Ärzte hatten sich am Beginn der zwölfköpfigen nackten Menschenschlange aufgebaut. Dann krochen die Schlangen an ihnen vorbei, wurden beäugt, gemustert, ab und zu gestoppt. Da und dort wurde ein Mann herausgefischt und zur Seite gestellt. Was suchten die Herren? Die Zahl der Separatisten wurde größer und größer. Sie hatten allesamt übel aussehende Ekzeme, entzündete, oder mindestens stark gerötete Stellen in der Haut. Mit einem Wort, sie hatten das, 99
was die Schweizer Experten nun wirklich nicht sehen sollten. Unsere medizinischen Kenntnisse waren dürftig. Ein Arzt verriet mir später das Geheimnis. Die Ausgesonderten hatten die häßlichen Flecken des Hungers am Leibe. Nur darauf hatten die deutschen Ärzte befehlsgemäß zu achten. Wir sahen mehr. Klägliche Gestelle der Menschennatur, ausgemergelte, ausgedörrte Figuren ohne Fleisch an den Knochen. Durch ihre Hungerleiber schimmerte das ganze Knochengerüst. Man glaubte, es bei jedem Schritt, den sie taten, klappern zu hören. Die meisten Männer hatten die untere Grenze des eben noch erträglichen Gewichtsverlustes erreicht. Sie glichen eher welkenden Blättern am Weinstock als lebendigen Organismen. Ein paar Amerikaner standen bei den deutschen Ärzten. Ich weiß nicht, ob sie Jünger der Heilkunde waren. Als einer unserer Ärzte mit düsterem Gesicht auf ein besonders jämmerliches Exemplar zeigte, das zwar keine roten Spuren auf der Haut hatte, aber im Todesfall keine vier Sargträger, sondern höchstens noch zwei brauchte, da sagte ein fetter Amerikaner, dessen Haut wie die einer gerupften Mastgans glitzerte: - Ist das so schlimm? In Hitlers Konzentrationslagern sahen die Leute noch schlechter aus. Einen Mörder hatten wir nun also leibhaftig vor uns gesehen, einen Rächer, einen Henker. Er mag sich seinen Titel selbst aussuchen. War das also der Sinn und Zweck des Lagers Rheinberg, Hitlers Schandtaten, an Unschuldigen begangen, nun an Unschuldigen zu rächen? Wieder war die böse Frage da. Geschah das auf Befehl der höchsten Stelle? Oder hatte sich einer allein entschlossen, gegen das Gesetz zu handeln, einer, der Macht genug dazu hatte? Und wenn es so war, konnte er Hunderten von Untergebenen – gleich den Hoheitsträgern im Dritten Reich – befehlen, verbrecherisch zu handeln? Konnte er sie zum Gehorsam wider alles 100
Menschenrecht zwingen? Und sie, sie ließen sich zwingen? Wo war denn der Unterschied? Die Schweizer kamen übrigens nicht, damals nicht und überhaupt nie. Sie vernachlässigten ihre Pflicht gleich allen anderen neutralen Ländern. Aber soll man sie deshalb anklagen? Ihre Bewohner waren auch nur Menschen und hatten erst einmal eine ganze Menge zu vergessen. Wir zogen uns wieder an und hungerten weiter. Die Ausgesonderten mischten sich wieder unter uns. Der falsche Alarm war vorbei. Dennoch wurden Schwerkranke hin und wieder in ein amerikanisches Lazarett gebracht. Einen von ihnen – er war Unteroffizier in meiner Batterie gewesen – sah ich nach einigen Wochen geheilt wieder. Er hatte die Ruhr gehabt. Als er in unser Camp zurückkehrte, hatte er einen ganz eigenartigen Blick, flackernd, ängstlich, beinahe ungläubig. Es war, als schaue er scheu über die Schulter zurück, nach dem Totengräber, der schon an seinem Grab schaufelte. Er brauchte lange, bis er sich wieder daran gewöhnt hatte, daß er da war, daß er lebte, daß er gesund war. Dieser Mann erzählte mir von seiner Zeit im Lazarett. Er konnte die amerikanischen Ärzte, Sanitäter, Schwestern nicht genug rühmen. Alles hatte man getan, was im Bereich der modernen Medizin lag. Man hatte die Kranken besser behandelt als Patienten, die in der ersten Klasse die höchsten Sätze bezahlen. Man hatte ihnen eine Kost verabreicht, die sie in kurzer Zeit wieder auf die Beine brachte und alle Hungerschäden überwand. Ich hörte dasselbe von vielen anderen Lazarettinsassen. Hätte ich ihre Worte aufgeschrieben, ich hätte mehr als ein Ruhmesblatt für die amerikanische Armee damit gefüllt. Ich bin mit diesen Widersprüchen niemals fertig geworden. Sie mußten doch ihre Gründe haben. War einer von ihnen der, daß man den Ärzten weniger als allen andern Menschen zumuten konnte, einen Morgenthau-Plan auszuführen? Oder 101
war das äußere und innere Chaos bei den Siegern ebenso groß wie bei den Besiegten? Ich selbst habe als Gefangener die anderen Amerikaner niemals kennengelernt. Ich kam in kein Lazarett. Ich blieb in Rheinberg. Mein Schicksal war es, den Morgenthau aus erster Hand zu empfangen. Gerne würde ich einmal ein Buch darüber lesen, was sich die Amerikaner in Rheinberg damals gedacht haben und warum sie so und nicht anders handelten. Aber kann man einer Politik der falschen Geleise zumuten, daß sie selbst eine Generalbeichte ihrer Torheiten ablegt?
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DER GROSSE TRECK Anfänglich lebte ich im Camp C. Von da wurde ich eines Tages ins Camp D geschleust. Als der Schlamm dort einen Pegelstand von Kniehöhe erreicht hatte, wenigstens an den Hauptverkehrsadern, wurden wir in das Camp E verlegt, das soeben neu eingezäunt worden war. Im Camp D hatten wir wie überall in Rheinberg Erdhöhlen gebuddelt. Sie erregten das Mißfallen des Kommandanten, wenn nicht das eines noch höheren Tieres, das in einem Hotel oder in einer beschlagnahmten deutschen Villa schlief und nicht einsah, wozu erwachsene Männer in Sand und Lehm wühlten, um sich eine Unterkunft zu bauen. Der Unzufriedene erließ den strikten Befehl, im neuen Camp E keine Fuchsbauten mehr auszuschachten. Es war ein echter Kommiß-Befehl, 08/15 amerikanischer Bauart, ungefähr so geistvoll wie der deutsche Befehl: Flak-Kanoniere, ihr habt zwar Russen zur Geschützbedienung zugeteilt bekommen, aber ihr dürft nicht mit ihnen sprechen. Es gab noch mehr sinnvolle Befehle ähnlicher Art: Soldaten, vor dem Einschlafen sind die Öfen in den Baracken auszuräumen. Jedes Feuer muß gelöscht werden. Am 1. Oktober ist der oberste Knopf an der Luftwaffen-Feldbluse zu schließen, am l. April ist er zu öffnen, ungeachtet der herrschenden Witterung. Wie nett, daß die Dummheit auf Erden ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen und sogar die Ozeane stattfindet. - Blöder Hund! Vollidiot! Armleuchter! Das waren noch die gemäßigten Verbalnoten, die an den Kommandanten gerichtet wurden. Und wenn er fünf Sterne an seinem Hut oder Kragen gehabt hätte, ein Mann, der solche Befehle gab, hatte den Anspruch, ernst genommen zu werden, verwirkt. Gegen Mittag setzten wir uns also in Marsch. An Marsch103
stiefeln fehlte es nicht. Fast bis zu den Knien steckten unsere Beine und Füße in Lehmhüllen. Camp E war, als wir einzogen, ein blühendes Kleefeld. Wir wateten mit Genuß durch die knirschende grüne Pracht. Kipling hat im Dschungelbuch etwas über den Tanzplatz der Elefanten erzählt, wie sie eine Waldwiese samt allem Gebüsch und Gehölz zu einer festen Tenne niedertrampeln. So ähnlich verfuhren unsere 60.000 stampfenden Füße mit dem Klee. Vorläufig wurde noch nicht gegraben, nicht etwa deshalb, weil wir dem kommandierenden Einfaltspinsel die Illusion lassen wollten, als hätte er wirklich etwas zu sagen, aber wir hatten noch nicht Stellung bezogen, hatten unsere Lagerplätze noch nicht gewählt. Wir mußten erst noch unsere Claims wie die Goldgräber belegen. Das alles hatte Zeit. Wir würden unser Landlos schon nicht verlieren. Als ich so obdachlos auf dem Acker stand, schickte ich einen drahtlosen Dankesgruß an meinen ehemaligen Regimentskommandeur in Bensheim-Auerbach. Hoffentlich erging es ihm besser als mir. Ihn hatte man aus der Wehrmacht entlassen, weil er dem Gauleiter widersprochen hatte. Als der Oberstleutnant erfahren hatte, daß sich in seinem Flak-Regiment ein Autor befinde, der sogar auf der Bühne gespielt werde, da hatte er mich in meiner Baracke, die ich mit 13 Mann bewohnte, aufgesucht. Sofort verlangte er vom Batterie-Chef, daß ich einen eigenen Wohnraum erhalte. Und als der Chef erklärte, er habe keinen Raum, ließ der Kommandeur am selben Tag eine kleine Baracke für mich anfahren. „Dichterklause“ wurde sie von den Kameraden genannt. Sie war fast neutraler, heiliger Boden. Man hatte das Gefühl, hier habe selbst der BatterieChef weniger zu sagen. Solche hohen Offiziere gab es. Das darf nicht verschwiegen werden. Ich hatte auch einen Brigadekommandeur, der Zeit fand, sich um mich persönlich zu kümmern. Da er mir – auf Reichsmarschalls allerhöchsten Befehl – sechs Wochen Urlaub zur Niederschrift eines 104
Drehbuchs für Carl Fröhlich nicht geben durfte, gab er mir eben zweimal drei Wochen. Mit dem Regimentskommandeur zusammen sorgte er dafür, daß ich baldigst Unteroffizier wurde, damit ich wenigstens vom Druck der unteren Militärhierarchie frei wurde. An diese beiden Männer dachte ich jetzt und ebenso an jenen Oberstleutnant bei der Wehrersatz-Inspektion zu Hannover, der mich im Jahre 1940 vom Wehrdienst freigestellt hatte, obwohl er das nicht durfte. Er hatte eben beschlossen, die Fußnote im Gesetz, in der sich Goebbels mit mir und meinesgleichen eine besondere Schlittenpartie vorbehalten hatte, zu übersehen. In der Mitte des Camps E war auch schon das Sanitätszelt aufgebaut, desgleichen die Küchen- und Proviantzelte. Diese bildeten wie überall ein kleines Konzentrationslager für sich. Da die Gefangenen ruhelos hin- und herwogten, wurden die Maschinengewehrtürme mit Doppelposten besetzt. Man konnte von unten die Munitionsgurte erkennen. Neger lehnten faul, aber aufmerksam an den Brüstungen der Türme. Als die Nacht hereinbrach, kam es zu einer regen Scheinwerfertätigkeit. Die vier Drahtwände waren taghell beleuchtet. Ab und zu flammten Lichtbündel in die schwankenden Massen. Wir glotzten geblendet wie Rotwild auf der Autobahn in die Lichtkegel und standen plötzlich wieder blind in der Nacht, so daß wir minutenlang keinen Schritt zu tun wagten. Mir kam eine andere helle Nacht in den Sinn. Zu Bemerode war es, da, wo heute das Haupttor zu Hannovers Messegelände liegt. Der Sender Primadonna hatte gemeldet, daß starke feindliche Bomberverbände über Kassel ihr Karussell machten und daß sie dann auf Nordkurs drehten. Wir setzten schweigend, ohne einen Befehl abzuwarten, die Stahlhelme auf. Kassel – Nordkurs – das hieß, die Ölraffinerie Misburg wird angegriffen. Unsere Batterie befand sich zwar auf dem Erdboden, lag 105
aber der Luftflotte mitten im Wege. Diesmal kam sie mit neuer Taktik angeflogen. 9.000 Meter hoch flog der erste Verband. Er setzte eine Fülle heller Lichter, die wie große Glaskuppeln wirkten. Wir begannen mit der sinnlosen Schießerei bei fünf Kilometer Vorhalt. Kaum hatten die Geschütze ihre elektrischen Schußwerte empfangen, da rauschte der zweite Verband in 3.000 Meter Höhe heran. Das Marburg-Gerät faßte ihn auf. - Elektrisch Ost! Der Batterie-Chef brüllt wie ein Irrer. Denn jetzt sind wir dran. Bei solcher Höhe können wir treffen. Der zweite Verband setzt kleine, aber intensiv strahlende Laternen. In wilder Hast drehen wir am Kommandogerät die neuen Werte ein. Doch nun faßt das Funkmeßgerät West den dritten Verband auf, der in 5.000 Meter Höhe heranzieht. - Elektrisch West! Ein Tohuwabohu bricht aus. So strahlend hell die Nacht ist, die Entfernungsmesser können keine Maschine sehen. Es ist zuviel Licht zwischen Himmel und Erde. Auch der dritte Verband hat Lampen in großer Zahl abgeworfen, um uns völlig zu verwirren. Und dann ist ein Donner über uns, daß uns die Knie zittern. Hunderte von Flugzeugen ziehen stur auf Misburg zu. Wir haben neue Munition erhalten, BrandschrapnellGranaten. Die platzen in allen Höhen wie kleine Sterne, alle vier Sekunden 16 Stück, und jeder der Sterne fächert einen Kometenschweif aus. Es ist ein Feuerzauber, wie ihn kein Filmregisseur jemals zustandebrächte. Der ganze Nachthimmel lodert und flammt und sprüht und glüht. Beinahe ist es soweit, daß wir schreien und tanzen. Das ist doch nicht mehr der Krieg. Das ist die Götterdämmerung selbst. Wo ist denn das Orchester, das uns Wagners Untergangs-Musik ins Parkett hämmert? Hier kann man doch nicht mehr schießen. Hier kann man sich nur noch fertigmachen zur Katastrophe. Vorbei braust das wilde Heer. Es knattert, kracht, donnert in 106
den Lüften, als würden ganze Wälder von Orkanen zertreten. Dann schießen Stichflammen empor, Hunderte von Metern hoch. Öltanks sind getroffen, sind explodiert, brennen wie berghohe Fackeln mit schwarz-roten Flammenbahnen aus. Wir blieben unbehelligt. Keine Bombe waren wir dem Zug der Luftkreuzer wert. Wieder schneidet mich ein Scheinweferkegel aus der Rheinberger Nacht heraus. Wollen uns die Amerikaner ins Bett leuchten oder was haben sie vor? Sie fassen es nicht, daß wir immer noch stehen, gehen, stehen, gehen. Mitten in der Nacht begann es zu regnen, erst wolkenbruchartig, dann etwas maßvoller, aber zäh, unerbittlich. Es war ein ausgewachsener Landregen, der nicht nur die Kleider, der schon die Haut darunter aufzuweichen drohte. Langsam, ganz langsam, aber wie ein paar Dutzend Lokomotiven unter Dampfdruck schoben sich die Massen von allen Seiten gegen das Sanitätszelt, das einzige Dach im Camp E. Die Ärzte wurden leichenblaß, wie man mir später erzählte. An den Rändern des Zelts stauten sich die Wellen, holten noch einmal kurz Atem. Gleich würden sie das Zelt überrollen. In wenigen Sekunden wären Ärzte, Sanitäter, Kranke zerstampft, zertreten, zerquetscht. Einer aber nutzte die Schrecksekunde aus. Gott allein weiß, wie er es gemacht hat. Er hatte einen strategischen Einfall. Plötzlich ging die Parole von Mund zu Mund: „Alle ans Tor!“ Bald war kein Halten mehr. Der konzentrische Druck ließ nach. Die Ringe lockerten sich. „Zum Tor! Wir werden heute noch abtransportiert!“ Keiner wollte zu spät kommen. Keiner wollte aus Versehen im Lager zurückbleiben. Genaues wußte niemand. Jeder hatte von den unerforschlichen Plänen der Amerikaner gehört. Es war kein Aufruhr im Camp, auch keine Freude, es war nur Bereitschaft, diesem grausigen Wassersturz unter freiem Himmel zu entkommen. Aber wo war das Tor? Wir waren ja erst vor ein paar 107
Stunden ins Camp E gekommen. Wir konnten uns nicht orientieren. Und selbst wenn wir gewußt hätten, in welcher Richtung das Tor lag, wie sollten wir es finden? Um jeden Körper schlossen sich Wasserwände, undurchdringliche, dicke Wasserwände. Gingen wir oder traten wir nur den Schlamm an Ort und Stelle? Die Scheinwerfer wurden aufgeregt, schleuderten ihre Lichtbahnen auf uns. Aber sie vermochten den dichten Wasserschleier nicht mehr zu durchdringen. Was war denn los im Camp E? Was war denn in diese verdammten Deutschen gefahren? Bisher ging doch alles ganz glatt. Man konnte sie schlechter als Russen, schlechter als Galeerensträflinge, schlechter als Farbige, schlechter als chinesische Kulis behandeln. Die hatten doch täglich mindestens eine Handvoll Reis verlangt. Den Deutschen brauchte man hin und wieder gar nichts zu geben. Sie meuterten nicht. Hatten sie bisher nur mit heuchlerischer Geduld jede Gemeinheit ertragen? Sollte der Aufstand der Mißhandelten beginnen? Panzer fuhren auf. Infanterie ging mit Maschinengewehren in Stellung. Wie schön, daß auch diese Kerle einmal gründlich naß wurden. Weiße und Schwarze spähten wütend durch den Draht. Sammelten sich die Lemminge zu ihrem Marsch in den Tod? Jeden Augenblick konnte das Schnellfeuer, der Massenmord beginnen. Es brauchte nur noch irgendein Hornochse die Nerven zu verlieren. Seltsam eigentlich, daß das nicht geschah. Ob die Scharfschützen am Ende einsahen, daß man den Gefangenen, die kein Dach über dem Kopf hatten, erlauben mußte, im Regen herumzulaufen, so lange sie wollten? Als der Regen endlich etwas nachließ, als ich allmählich begriff, daß in einer solchen Nacht kaum noch an Abtransport zu denken sei, warf ich mich irgendwo nieder, erschöpft wie nie zuvor. Ich weinte auch ein bißchen. Vielleicht habe ich sogar heftig geweint. Ich nahm keine Rücksicht mehr auf mich, 108
blieb im Schlamm liegen, nahm eine flache Pfütze als Kopfkissen, wurde fast in die Erde hineingeregnet. Da lag ich, bis ich einen bleigrauen Streifen ins Auge bekam. Es war der Sonnenaufgang hinter den Regenwolken. Es war also noch nicht zu Ende. Ich stand auf, mühselig wie ein Greis, den man scheintot in den Sarg gelegt hat und der mit seiner letzten, nichtigen Kraft versucht, gegen diesen Irrtum zu protestieren. Als ich mich umsah, war das Kleefeld verschwunden. Das ganze Camp E war nur noch ein Watt, von dem soeben die Flut zurückgewichen war. Kein grünes Blatt war mehr zu sehen. Wir machten uns wie Feldmesser daran, das Land aufzuteilen und zu beziehen. Eine Stunde später waren schon die ersten Stollen in die Erde getrieben.
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DAS ERSTE STÜCK BROT Fünf Wochen genau warteten die Rheinberger der ersten Stunde auf ein Stück Brot. Der Mann, der bei uns „Stubendienst“ machte, brachte mit dem Trink- und Waschwasser die erste Kunde davon, daß es Brot geben solle. Er fand wenig Glauben für sein Geschwätz. Ob er das Brot selbst gesehen habe? Nein, das habe er nicht, aber er habe mit einem gesprochen, der von einem dritten erfahren habe, daß ein vierter von einem fünften gehört habe, am Bahnhof seien Wagen mit Brot eingetroffen. So war das also. Wir blieben faul in der Sonne liegen. Es schien aber doch bald, als ob sich eine große Unruhe des Camps bemächtigte. Die Küche wurde allmählich ganz unsichtbar, so dicht drängten sich vor ihrem Draht die grauen Rücken. Wir losten den aus, der auf Spähtrupp ziehen sollte. Das Los traf mich. Ich schlenderte gemächlich hin zu der Mauer, die sich da aufgebaut hatte, fand noch einen schmalen Durchlaß, quetschte meinen Kopf zwischen zwei anderen Köpfen möglichst nah an den Draht. Brot! Tatsächlich, da liegt Brot! Wie die vor Hunger keuchenden Alaska-Wölfe einen Ring um das Lagerfeuer der Goldgräber schließen, so belagern hier Männer das Brot, das sauber wie die Ziegelsteine auf Stapel gelegt ist. Knurrend, schmatzend, die Lippen leckend schauen wir auf das Brot. Kein Maschinengewehr hätte uns zu vertreiben vermocht. Das war viel Brot, so viel, daß es ganz unmöglich von der amerikanischen Soldateska aufgefressen werden konnte. Das mußte für uns bestimmt sein. Ich sollte nun eigentlich zum Loch zurückkehren, den anderen armen Lumpen die frohe Botschaft zu verkünden. Aber ich kann mich vom Anblick des Brotes nicht trennen. Ich 110
muß es andächtig verehren. Weiß Gott, ich war nahe daran, eine Kniebeuge zu machen, wäre keineswegs verwundert gewesen, wenn eine solche verlangt worden wäre. Ein paar Stunden lang starrten wir alle demütig und hoffnungsfroh auf das Brot. Küchenbullen laufen geschäftig, aber nichtstuend hin und her. Es macht ihnen sichtlich Spaß, uns noch ein bißchen zappeln zu lassen. Sie können sich das leisten. Jeder von ihnen hat schon seinen Laib unter dem Arm. Er ist meist auch schon angeschnitten. Auch die deutschen Lagerpolizisten, die sich drinnen herumlümmeln, machen einen durchaus gesättigten Eindruck. Dem Stand der Sonne nach ist die Mittagszeit lange vorbei. Nur Geduld, wir werden das Brot schon noch vor dem Regen bekommen. Vielleicht machen sie sich drinnen noch Kopfzerbrechen, ob sie uns Butter oder Schinken dazu liefern sollen. Wenn es auch stark auf die Stunde des Regens zugeht, sie werden doch das Brot nicht erst im Wasser aufweichen lassen. Wenn sie das täten, dann müßte sich ja auf Befehl Gottes die Erde spalten und diese Gotteslästerer allesamt verschlingen. Und was mag in den Kochkesseln schmoren? Jetzt, da die Regierung in Washington uns Brot schickt, muß ja doch eine Zeitenwende angebrochen sein. Sie werden uns doch nicht all das nachliefern wollen, was sie uns bisher vorenthalten haben. Da könnte ja jeder von uns ein Lebensmittelgeschäft aufmachen. Jedenfalls – so schlimm wie am 4. November 1944 kann es nun nicht mehr werden. Wir wollten gerade zu Mittag essen, als uns die Sirene an die Geräte und Geschütze rief. Eine Bomber-Division war wieder einmal im Anflug auf Misburg. Wir schossen mit Erlaubnis des Reichsmarschalls Sperrfeuer auf 20 Kilometer Distanz. Die Rohre begannen zu glühen, aber wir Schossen die ganze Division auseinander. Aus dem Teppich-Wurf, der dem verhaßten Ölwerk den Garaus machen sollte, wurde nichts. 111
Dafür kurvten zwei Verbände von je 30 viermotorigen Maschinen auf unsere Batterie ein. Ich wechsle mit dem Chef einen Blick. Wir haben uns verstanden. Die Batterie soll möglichst gar nicht erfahren, was auf sie zukommt. Wir schießen deshalb auf einen Verband, der nördlich an uns vorbeizieht. Mein Fernrohr aber ist beweglich. Ich kann es auf die Angreifer richten. - Rauchzeichen über Batterie! Ich zische es dem Chef zu. - Bombenschächte gehen auf! - Bomben fallen! Noch sechs Sekunden – noch vier – noch zwei – Und dann kracht es über uns, neben uns, vor uns, hinter uns, als hätten sich gleichzeitig Dutzende von kleinen Vulkanausbrüchen ereignet. Bis jetzt haben die blutjungen Luftwaffenhelfer am Kommandogerät wie die Waschpfähle gestanden. Sie haben schon vor ein paar Minuten gemerkt, was ihnen bevorstand. Keiner hat sich vom Kopfhörer, keiner vom KehlkopfMikrofon losgerissen, um in den Bunker zu kriechen. Es hätte auch wenig Zweck gehabt. Wäre die Hauptbefehlsstelle, die betoniert war, von dem Bombenteppich getroffen worden, wir wären samt und sonders später von den Wänden gekratzt worden. Wir neigten unsere stahlhelmbewehrten Hirnkästen bald nach Osten, bald nach Westen, nach jeder Richtung, aus der die nächste Dreckfontäne hochbrach. Ein hölzerner Kasten wirbelte dicht an die Verschanzung heran. Es war einer der Offiziers-Zylinder von der zentralen Latrinenanlage. Krachend brach das Häuschen auseinander, daß uns die Splitter um die Ohren flogen. Bretter, Balken, Steine, tote und lebende Kaninchen eigener Zucht, der Leichnam eines Schweines, Bombensplitter, Erdbrocken, alles das hagelte auf uns hernieder, bis der Schutt kniehoch in der Hauptbefehlsstelle lag. Keine Kanone feuerte mehr. Alle elektrischen Leitungen waren zerstört. Triumph der Technik. Da wir nur noch 112
Drahtzieher, nur noch am Draht Gezogene sind, genügt es, den Draht zu zerreißen, und alles steht still. Die Verschlüsse der Kanonen sind unter Lehmklumpen verschwunden. Mehrere Bedienungen sind verschüttet. Das Geschütz Bertha ist samt seinem Betonsockel aus der Erde gerissen und umgekippt. Das Rohr hat den Geschützführer wie ein gewaltiger Dreschflegel vor die Stirn geschlagen. Wir suchten ihn lange in immer weiteren Kreisen. Als wir ihn fanden, war er tot und nackt. Luftwirbel hatten ihm alle Kleidungsstücke vom Leib gerissen. In acht Minuten war die ganze Batterie ausgelöscht worden. Sie feuerte in den nächsten Tagen nicht mehr. Unsere Straßen in der Stellung waren in einem Trichterfeld untergegangen. Ich sollte erkunden, was alles geschehen war. Als ich zur Küche kam, packte mich die Wut. Das hatte uns gerade noch gefehlt. Eine Bombe hatte die ganze Küchenbaracke zu ofengerechtem Kleinholz geschlagen. Die Kessel mit Fleisch, Gemüse und Kartoffeln waren zum Teufel. Glücklicherweise hatte ich ein großes Repertoir an schwäbischen und italienischen Flüchen. Wir buddelten die Verletzten aus. Dann hatte ich schwer zu tun auf dem Verbandsplatz. Mein Italienisch, an Dante, an Boccaccio, an Leopardi und Papini geschult, reichte nur schwer aus, als ich den Ärzten die Schmerzen der verwundeten Carabinieri verdolmetschen mußte. Carlo Rizzato, Ladekanonier bei Geschütz Cäsar, hatte einen Schädelbruch. Man brachte den Besinnungslosen in das nächste Militärlazarett. Als ich mich am nächsten Tag nach ihm umsehen sollte, war er nicht mehr da. Armer Carlo, dachte ich, wie hast du dich nach deiner lombardischen Heimat gesehnt. Nach langem Forschen ermittelte ich, daß man Carlo für einen italienischen Zivilisten gehalten hatte. Darum hatte man ihn ins Nordstadt-Krankenhaus gebracht. Einem Zivilisten kam es nicht zu, in einem Militärlazarett zu leiden und zu 113
sterben. Ich machte den Sanitätsfeldwebel darauf aufmerksam, daß Carlo rechtmäßiges Mitglied der deutschen Luftwaffe im Range eines Gefreiten sei. - Was! brüllte der betroffene Hausvater. Her mit dem Kerl! Ich komme in Teufels Küche, wenn er dort stirbt. Vergeblich versuchte ich den Feldwebel umzustimmen, mit dem Hinweis darauf, daß ein neuer Transport für den Verletzten tödlich sein könne. - Mir egal! schnauzte der Feldwebel. Hauptsache, daß er dann wenigstens in einem Krankenwagen der Wehrmacht stirbt! In diesem Augenblick erleuchtete mich der heilige Geist. - Herr Feldwebel, sagte ich, es ist doch nur ein Italiener. Wir haben noch genug von dem Zeug da. Es fällt gar nicht auf, wenn da einer ausfällt. Die zählen doch überhaupt nicht als Soldaten. Das leuchtete ein. Vielleicht habe ich Carlo damit das Leben gerettet. Ich weiß es nicht. Nach ein paar Wochen war er wieder gesund. Als wir nach jenem Bombenangriff mit unseren Verwundeten fertig waren, rang der Chef die Hände. Kein Fernsprecher funktionierte mehr. Womit sollte er uns verpflegen? Wir sagten es ihm. Mit den eisernen Rationen natürlich! Aber das war ein schwerer Entschluß für den Oberleutnant. War die Lage auch schon eisern genug? Wir redeten ihm gut zu, bis er überzeugt war, daß der Ernstfall vorliege. Und dann aßen wir. Es war auch Brot in luftdichter Verpackung dabei. Brot – ich stand noch immer am Draht. Heute würde es Brot geben. Es bestand keine Bombengefahr für das Brot. Wir würden es bekommen – betrachten – verzehren… Wir erhielten es wirklich. Es war nicht das Schwarzbrot, nicht das knusprige Roggenbrot, nach dem wir uns sehnten. Es war Brot, weiß wie frischgefallener Schnee, wie gebleichtes 114
Linnen. Die Scheibe, die jeder erhielt, war gerade einen einzigen Zentimeter dick, vielleicht sogar etwas dünner. Jetzt gelangte ich zu hohen Ehren in meinem Erdloch, auch in den benachbarten Erdlöchern. Ich war plötzlich einer der begehrtesten Männer geworden. Als die Amerikaner bei der Gefangennahme meine Taschen ausräumten, hatten sie in der Westentasche ein zierliches Taschenmesser übersehen. Ich hatte es mir immer wieder neu erkämpft, als die Versuchung an mich herantrat, es gegen Lebensmittel einzutauschen. Man konnte ja doch Holzspäne damit schnitzeln, wenn man einmal Holz hatte. Ich hatte allen Verlockungen widerstanden. Jetzt waren wir in der Lage, unser Brot anständig zu behandeln, sauber zu teilen. Andere mußten es in Stücke reißen und diese unter Geschrei und Geschimpfe gegeneinander abwiegen. Ob wir in unserem Loch besondere Aristokraten waren? Ich kann es nicht sagen. Ich weiß nur, daß wir über unsere Brotscheibe nicht herfielen, sondern sie voller Ehrfurcht anschauten, bis zum Abend aufbewahrten und dann erst, fast ergriffen, verzehrten. Hätten wir einen Tabernakel mit einem goldenen Kelch gehabt, dort, nur dort hätten wir das weiße Brot aufbewahrt. Ich begriff an diesem Tage erstmals ganz, warum die Christen den Leib des Herrn in der Gestalt des Brotes erkennen. Der Duft des reifen Weizens, der aus dem Brot strömt, das ist ja doch der Hauch der lebendigen Schöpfung selbst. Warum aßen wir das erste Brot nicht, bevor die Dunkelheit uns voneinander schied? Vielleicht haben wir es vorher mit unseren Tränen konsekriert. Als wir im Erdloch aßen und nur noch in verschwommenen Konturen zugegen waren, da packten wir ein paar armselige Wünsche in unser geschundenes Herz. Sie schienen uns der Reichtum selbst zu sein: Ein Stück trockenes Brot essen – in einem Stall wohnen, auf Heu oder Stroh, aber mit einem Dach über dem Kopf – 115
trockene Kleider am Leib haben – an einem Tisch sitzen – ein Buch lesen – Nein, jetzt wirst du schon wieder unbescheiden, mein Freund. Wenn du eine Bibliothek und einen Stuhl und eine wasserdichte Decke über deinem Bett brauchst, dann mußt du zusehen, daß du in ein Zuchthaus kommst. Friß dein Brot und halte das Maul! Kriegsgefangene kannten schon in der Steinzeit kein Recht, außer dem Recht des Siegers natürlich.
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AMERIKANISCHER KALENDER Es ist den Völkern der Erde nicht leicht gemacht, sich zu verständigen, da es doch schon über die Maßen schwierig ist, sich zu verstehen. Ich bin noch nie in Amerika gewesen und kenne daher die Gepflogenheiten des Landes nicht. Gehe ich von dem aus, was ich in Rheinberg erfahren habe, dann habe ich Grund zu der Annahme, daß im politischen Machtbereich der Vereinigten Staaten des Sonntags grundsätzlich nicht gegessen wird. In England sind nur alle Lustbarkeiten verboten. In Amerika wird auch das Essen dazu gezählt. Der Sonntag muß dort im Gegensatz zum christlichen Abendland Fasttag sein. Nur aus solcher Haltung und Tradition kann ich mir die Tatsache erklären, daß wir in Rheinberg in den acht Wochen, während wir uns amerikanischen Gewahrsams erfreuten, am Sonntag nichts zu essen bekamen. Wir hatten also mangels gedruckter Vorlagen einen ausgezeichneten Kalender. Wenn es nichts zu essen gab, dann war Sonntag. Wenn es zwei Tage nichts zu essen gab, dann konnte es sich nur um das zweitägige christliche Pfingstfest handeln. Denn das Osterfest hatten wir noch als freie Krieger erlebt, und für Weihnachten war es nicht kalt genug. So einfach, so linear war unser Kalender. Die Woche fing immer gut an. Am ersten Wochentag wurde gefastet. Hungern konnte man das nicht nennen. Wir hungerten ja doch jeden Tag schon ausgiebig. Auf einer Stufe mit den christlichen Sonn- und Festtagen standen die Gerichtstage der Amerikaner. Hatte einer des Nachts einen Abtrittdeckel geklaut – was natürlich erst zu einer Zeit möglich war, da es Abtritte und Abtrittsdeckel gab –, dann wurde vom Kommandanten alsbald ein christlicher Feier- und Fasttag über uns verhängt. Das ganze Camp, das nur auf 117
diesem Wege vom Verschwinden eines Abtrittsdeckels Kenntnis erhielt, bekam nichts zu essen. Ich weiß nicht, ob der Bursche wirklich katholisch war und von daher den Gebrauch des Triduums kannte. Manchmal rächte er nämlich eine geringe Schandtat dadurch, daß er das ganze Camp zu drei Tagen Fasten verdammte. Vielleicht war er ein national gesinnter Mann, der seinem Vaterland auf diese Art manchen Dollar einsparte. Vielleicht war er ein tüchtiger Kaufmann im Zivilberuf und trieb mit den von unserem Mund abgesparten Lebensmitteln einen schwunghaften Schwarzhandel. Vielleicht liegt der Fall aber auch viel einfacher und es handelte sich nur um einen überdurchschnittlich blöden Kommißkopf, wie wir ihn irrtümlich bislang nur bei den Preußen und ihren Nachfolgestaaten antreffen zu können geglaubt hatten. Wie konnte er sonst auf den Gedanken verfallen, das Lager mit einem Fasttag zu belegen, weil ein Mädchen ein kleines Paket über den Draht geworfen hatte? Die Jungfrau hatte das nur deshalb vor seinen Augen zu tun gewagt, weil sie die amerikanischen Rangabzeichen nicht kannte. Wenn ich daran denke, daß sich unter den mir in der Wehrmacht des Dritten Reiches über den Weg gelaufenen charmanten Wienern besonders straffe Nationalsozialisten, besonders brutale Schleifer und Schinder befanden, dann will es mir auch nicht mehr unwahrscheinlich vorkommen, daß die Demokraten aus Ohio oder Wisconsin gelegentlich Rückfälle in die barbarischen Kollektivspäße des Militarismus erlitten. Uniform und Rangabzeichen verderben überdies den Menschen nicht, sie offenbaren nur, welchen Charakters er ist. Und die Schäbigkeit des Charakters ist in keiner Weise von den Landesfarben abhängig. Um es statistisch auszudrücken, von den rund 50 Tagen, die wir unter amerikanischer Hoheit in Rheinberg zubrachten, waren etwa 35 Tage gewöhnliche Hungertage, an denen uns der Kohldampf ziemlich systemlos serviert wurde. Rund 15 118
Tage waren zur Pflege der Bußfertigkeit reine Fasttage, an denen Mund, Gaumen und Magen wirklich ausruhten. Nicht nur dieser amerikanische Kalender verursachte uns Kopfzerbrechen, der amerikanische Volkscharakter, falls von einem solchen überhaupt gesprochen werden kann, stellte uns vor manches Rätsel. Ich sah einmal in einer sternhellen Nacht, wie Gefangene den Draht lockerten und einen ganz brauchbaren Durchlaß zustandebrachten. Pfeilschnell schlängelten sie sich dann hinaus und huschten auf dem Bauch durch das hohe Gras. Man wurde bei diesem Anblick an die wogende Kiellinie schwimmender Delphine erinnert. Ich betrachtete diese Massenflucht nicht ohne Besorgnis. Als ich aber nahe genug war, sah ich draußen vor dem Paß einen amerikanischen Soldaten stehen. Leicht gebückt sorgte er mit behutsamen Fingern dafür, daß keiner der Flüchtlinge an den rostigen Stacheln hängen blieb. Dann stieß er jedem mit einem freundschaftlichen Tritt in den Hintern in die Freiheit hinaus. Die Sache machte ihm sichtlich einen Heidenspaß. Als fairer Sportsmann gab er jedem Ausbrecher seine Chance. Er war seiner Zeit weit voraus, dieser nette, hilfreiche Kerl. Er nahm in seinem schlichten Gemüt schon den Marshall-Plan und den Atlantikpakt nebst der Wiederbewaffnung vorweg. Beinahe hätte ich mich entschlossen, ein Glied der flüchtenden Schlange zu werden. Hätte ich nur geahnt, wie ich über den Rhein kommen sollte. Ich wurde meiner Grübelei durch Geschrei und Maschinengewehrfeuer auf der anderen Seite des Camps entrissen. Ohne Hast ging ich quer durch das Lager, um zu sehen, was los war. Auch hier hatten die Landser den Stacheldraht aufgewickelt und einen Ausgang geschaffen. Vor ihnen stand aber kein fröhlich grinsender Sportsmann, sondern ein Wildschütz. Er hatte wahrscheinlich allzu lange keine lebenden Zielscheiben vor seinem Mordgewehr gehabt. Nun nahm er die, die ihm die Natur gerade bot. Endlich gab es 119
wieder einmal etwas auszurotten. Der Bursche ließ also erst eine Handvoll Leute ins Freie kriechen. Dann mähte er sie nieder. Das heißt, am Boden lagen sie schon, er hatte sie nur noch auszulöschen. Das besorgte er mit der Gleichgültigkeit eines Fleischergesellen, der im städtischen Schlachthaus die Tagesquote der Schweine hinrichtet. Sein Kalender war noch rückständig, nein, modern. Er entsprach gegenwärtigem, nicht zukünftigem Denken. Er übersetzte die Grundsätze des Morgenthau-Planes in die schlichte Sprache eines Totschlägers. Selten habe ich Edelmut und Kameradschaft und Humanität so nahe beim Haß, bei der Rachgier, bei der Mordlust gesehen. Nicht wahr, der amerikanische Volkscharakter wird bei solchem Aspekt doch etwas problematisch. Entschließen wir uns zu vermuten, daß es auch jenseits des Atlantischen Ozeans gute und schlechte Menschen gibt, Quäker und Gangster, Leute, die Atombomben nach Japan und Care-Pakete nach Deutschland schicken, Männer, die halb Deutschland dem Bolschewismus ausliefern und dann Berlin über die Luftbrücke mit einer Hingabe ohnegleichen ernährten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Priesterseminare, Mutterhäuser für Krankenschwestern, Gesellschaften zur Rettung von Schiffbrüchigen in Amerika ebenso ihren Nachwuchs finden wie Zuchthäuser, Staatspolizeispitzel und Mordkommandos. Und was die Rassenpolitik des Dritten Reiches betrifft, so brauchen wir noch Jahrzehnte, bis unser Gewissen sich von Gräuel und Schande erholt hat. Sollten wir dann einmal so weit sein, daß uns auch die Juden vergeben haben, dann, aber erst dann dürfen wir uns in der Welt umsehen, in England und Südafrika, in den Vereinigten Staaten und sogar in Palästina, um nachzuforschen, ob es dort nur rassenpolitische Erzengel gibt. Die Indianer in Nord-, Süd- und Mittelamerika sind auch nicht nach der Haager Landkriegsordnung, nach der Genfer Konvention, nach der Magna Charta der Menschenrechte 120
ausgerottet worden. Auch der Sklavenhandel mit den Negern Afrikas zählt nicht gerade zu den Großtaten der Kultur. Der Streit kann nur noch darum gehen, ob die Greuel vor zehn, vor hundert, vor fünfhundert Jahren verübt wurden, was für die, die weder persönlich beteiligt noch verantwortlich waren, keinen besonders großen Unterschied ausmacht. Schämen müssen wir uns alle ohne Unterschied der Nation, daß Menschen vor zehn, vor hundert, vor fünfhundert Jahren solcher Taten fähig waren, in Frankreich, in Spanien, in der Türkei, in Irland, in Mexiko und auch in Deutschland. Und Angst müssen wir haben, wessen die Menschen in Gegenwart und Zukunft noch fähig sein könnten. Dies aber sei als Erkenntnis festgehalten: Der Lehm, aus dem der homo americanus gemacht ist, ist von ebenso guter oder schlechter Qualität wie der europäische Lehm. Und da der Mensch aller Zonen und Nationen, wie zu argwöhnen ist, demselben Schöpfer seinen Atem, seinen Geist, sein Sein verdankt, muß ernstlich befürchtet werden, daß die allen Menschen gemeinsame Schöpferhand den Tonfiguren gewisse Eigentümlichkeiten, Charakterzüge, Entwicklungsmöglichkeiten allgemeiner Art eingehaucht hat. Gott ist allen Menschen und Völkern gleich nahe, wie auch der Teufel allen Menschen und Völkern gleich nahe ist. Ein militärischer Sieg taugt nicht dazu, um die Menschen in gute und schlechte Exemplare einzuteilen. Sieger und Besiegte sind keine moralischen Kategorien. Wir in Rheinberg merkten das rasch. Die Amerikaner brauchten ein paar Jahre dazu. So hat eben auch der Besiegte seine Stunde der Stärke.
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SCHWARZER BRUDER GENTLEMAN Zwischen amerikanischen Soldaten und deutschen Gefangenen gab es im Lager Rheinberg keine Beziehung außer der von Schlägern und Geschlagenen, die aber verhältnismäßig früh wieder abgebrochen wurde. Im übrigen verhielten sich die Amerikaner zu uns wie etwa britische Großkaufleute in Hongkong zu ihren chinesischen Kulis. Nein, das stimmt nicht. Wir rangierten weit unter dem Kuli. Wir wurden nicht einmal bemerkt, keines Blicks, keiner Anrede gewürdigt. Solange wir allerdings Armbanduhren besaßen, bestand Handelsverkehr. Auch Ritterkreuze, Deutsche Kreuze in Gold, Narvik-, Kretaund Krim-Schilde waren günstige Tauschartikel. Die Sache mit den Armbanduhren gab uns wieder eines der unlösbaren Rätsel auf. Unser Aberglaube, daß die Amerikaner eine reiche, mit allen technischen Errungenschaften und Konsumgütern bis zum Exzeß überfütterte Nation seien, brach in diesen Tagen zusammen. Die Amerikaner waren hinter den Armbanduhren her wie die Iltisse hinter den Hühnern. Gibt es hinter dem Ozean, gibt es zwischen Point Barrow und Cap Horn keine Uhrmacher, keine Uhrenfabriken? Und wenn es Uhrenfabriken nicht gibt, wenn man unfähig ist, Uhren herzustellen, wohin sind denn die nationalen und internationalen Handelskammern gekommen? Lassen sich Armbanduhren auch nicht in größerer Stückzahl importieren? Daß die Russen nach unseren Chronometern begehrten, das begriffen wir noch. Daß aber das Land der sogenannten unbegrenzten Möglichkeiten nicht in der Lage war, seine waffentragenden Söhne mit Uhren auszurüsten, das hat uns überrascht. Siehe da, der alte Kontinent und sogar das verfluchte Land der Deutschen waren doch noch etwas wert. Hier schien die Heimat der Uhren zu sein. Was waren Babitt, Roosevelt, Eisenhower ohne uns? Sie, 122
die großmächtigen Herren der Welt, wußten nicht einmal, wie spät es war, wenn wir ihnen keine Uhren schickten. Von diesem Schlag gegen unsere Illusionen haben wir uns lange nicht erholt. Alle Uhren, die den Deutschen bei der Gefangennahme nicht geraubt worden waren, gingen in Rheinberg über den Draht. Eine gute, dekorative Armbanduhr kostete 100 Zigaretten. Das war nach amerikanischem Geld sechs bis zehn Mark, nach der damals gültigen deutschen Währung etwa 10.000 Mark. Auf den Geldwert des Dollars bezogen, war die Uhr 80 oder 100, ja 150 Mark wert. Selbst bei halbem Preis wären noch 400, 600, 1.000 Zigaretten fällig gewesen. Es war also ein gemeiner Betrug schamloser Ausnutzung menschlicher Notlage und Leidenschaft. Wie kam der Handel zustande? Der Amerikaner zeigte die Zigaretten, der Deutsche die Uhr. Zwischen ihnen lag der mindestens vier Meter hohe Draht. Nachdem die Tauschartikel sichtbar gemacht waren, mußten Treu und Glauben in Kraft treten. Der Amerikaner warf 20 oder 40 Zigaretten herüber, der Deutsche ließ seine Uhr durch die Luft wirbeln. Dann schleuderte der Amerikaner die restlichen Zigaretten herüber – oder auch nicht. Ich habe es mehr als einmal als Augenzeuge erlebt, daß die Gefangenen nur die Hälfte, nur ein Drittel des vereinbarten Preises erhielten. Dann zog der Beschissene ab. Er tat es meistens wortlos, warf allenfalls noch einen Blick durch den Draht, auf den der schmutzige Sieger draußen stolz sein konnte. Aber der hatte in der Regel ein dickes Fell. Man muß den Amerikanern auch zugute halten, daß sie uns presse-, rundfunk- und befehlsgemäß als den Abschaum der Menschheit ansahen. An Denk- und Urteilsfähigkeit standen sie Hitlers Gefolge nicht wesentlich nach. Begeisterte Händler waren die Neger. Sie fletschten vor Wonne die Zähne, wenn sie ein besonders schönes Armbandührchen sahen. Sie zahlten die höchsten Preise, manchmal 123
doppelt so viel wie ihre weißen Kameraden. Einmal sah ich, wie so ein Kaffeebrauner, dessen Vorfahren vielleicht in Ostafrika gewohnt hatten, ein Uhrengeschäft mit 150 Zigaretten abschloß. Vierzig Zigaretten kamen herüber. Die Uhr landete drüben. Dann stellte der Neger seine leichtathletische Tätigkeit ein. Er hatte keine Zigaretten mehr, machte ein halb unglückliches, halb tröstendes Gesicht, deutete an, er käme morgen zur selben Zeit wieder, um den Rest zu bringen. Und weiß der Kuckuck, er kam! Warf noch zehn Zigaretten mehr als Verzugszinsen herüber. Mit einer beschenkte mich sofort der frohe Empfänger, der mich gar nicht kannte. Schwarzer Bruder – verdammt noch einmal! Du Gentleman hast uns etwas aufgerichtet, Mann mit der schwarzen Haut und dem weißen Gewissen! Dunkler Ehrenmann du! Ich sah niemals einen weißen Schuldner zurückkommen. Aber Deinesgleichen habe ich viele erlebt. Und darum, schwarze Brüder, habe ich mich viele Jahre später in Hannover auf der Messe zu euch gesetzt, als die Kaufherren aller Länder im Hauptrestaurant mit euch nichts zu tun haben wollten. Wenn ihr immer so ehrlich wie in Rheinberg handelt, dann muß der ehrbare schwarze Kaufmann gerühmt werden. Schwarze Brüder, ihr habt uns nicht geprügelt, nicht beschimpft, nicht betrogen, nicht bestohlen. Ich habe euch später in Frankfurt, in Kassel, in Eichenberg gesehen, zu einer Zeit, als es noch keinen Marshall-Plan gab, da habt ihr alten deutschen Mütterchen ihre Koffer in den Zug geschleppt, ihr habt ihnen sogar eure Sitzplätze abgetreten, während die weißen Soldaten ihre Beine über drei und vier Sitzplätze flegelten. Schwarze Männer, in Rheinberg habt ihr uns sogar zu essen gegeben, wenn ihr euch auch einen kleinen, aber verzeihlichen Spaß dabei machtet. Dicht am Camp E führte eine Straße vorbei, die von den Frauen und Töchtern Rheinbergs dazu benutzt wurde, um 124
Pakete mit Brot, Wurst, Früchten, Kartoffeln heranzuschleppen und über den Zaun zu werfen. Die Amerikaner versuchten vergeblich, dieses Treiben abzustellen. Da sie aber zu faul waren, um unablässig bei Tag und Nacht in großer Zahl Wache zu schieben, kamen jeden Tag Päckchen über den Zaun geflogen. Allerdings mochte man wie der Apostel bei der Speisung der Fünftausend mit fünf Gerstenbroten und zwei Fischen sagen: Herr, was ist das für so viele? Um den Postverkehr endlich lahmzulegen, verfiel ein amerikanischer Kulturträger auf einen genialen Gedanken. Er ließ eine lange Reihe von Aborten am Zaun so aufstellen, daß wir die Frauen und Mädchen mit nacktem Hintern begrüßten, wenn sie uns etwas Gutes tun wollten. Aber auch diese schmutzige Teufelei führte nicht zum Erfolg. Der Mensch hat ja doch die Kraft, das nicht zu sehen, was er nicht sehen will. Und so war jener erfinderische Kopf nicht zum Ziel gelangt. Der Zaun war doppelt gelegt. Zwischen den beiden Stacheldrahtwänden befand sich der Laufgang für die Wachtruppe. Wenn nun die Frauen mit ihren schwachen Kräften nicht beide Hindernisse überwanden, dann lagen die Päckchen im Laufgang. Die weißen Amerikaner traten in der Regel die Liebesgaben in den Dreck, stellten den Absatz darauf und machten eine doppelte Kehrtwendung. Kam aber ein schwarzer Mann, dann sammelte er die Pakete ein, warf sie uns zu oder trug sie fort zu seinem Maschinengewehrturm, um von dort droben die Fütterung der Raubtiere zu organisieren. Mitten in das Gewühl der Hungrigen schleuderten die schwarzen Postboten die Butterbrote. Vielleicht wurden sie an die Freßgier der Krokodile erinnert, wenn sie sahen, wie Männer im Hechtsprung emporschossen, die Brote förmlich in der Luft zerrissen und sie verschlungen hatten, bevor sie wieder auf dem Boden ankamen. Falls es noch irgendeinem weißen Kulturträger nicht ganz klar geworden sein sollte, warum der Respekt vor dem weißen Mann bei den 125
farbigen Völkern so jäh dahingeschwunden ist, dann mag er seinen Forschungen solche Rheinberger Szenen zugrundelegen. Auch hier auf deutschem Boden am Niederrhein stürzte die Herrschaft der Großmächte über ihre Kolonialvölker wie ein Kartenhaus zusammen. Und wenn die schwarzen Soldaten Amerikas, wie ich ihnen von Herzen gönne, das sowieso unbegründete Gefühl ihrer rassischen Minderwertigkeit zusehends verlieren, dann haben sie in Rheinberg die denkbar beste Schule genossen.
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ARME KLEINE BESTIE MENSCH Und führe uns nicht in Versuchung – so hat der Herr selbst uns beten gelehrt. Er kannte die Tiefen und Untiefen der Menschennatur. In Rheinberg wurden wir täglich in Versuchung geführt. Das sechste Gebot freilich war zu völliger Bedeutungslosigkeit zusammengeschrumpft. Die endlosen Variationen über ein schmutziges Thema, dem Soldaten aufs beste vertraut, waren verstummt. In den 16 Wochen meiner Gefangenschaft hörte ich keine Zote, keinen Scherz oder Witz, der das berüchtigte Soldatenthema Nr. 1 betroffen hätte. Das alles war aus den Gehirnen ausradiert, als sei es nie dagewesen. Natürlich dachten wir oft an die Frauen. Aber das waren dann immer Geschöpfe, die zu kochen verstanden, die ein anständiges warmes Essen auf einen sauberen Tisch brachten, die ein freundliches Heim in Ordnung hielten, Kleider und Wäsche in Pflege nahmen, die liebenswürdig, menschlich, gütig waren. Alle anderen Vorstellungen hatte der Hunger ausgelöscht. Der Frau waren nur die mütterlichen, die schwesterlichen Züge ihres Weses geblieben. Dennoch wurden wir täglich in Versuchung geführt: zu hassen, zu fluchen, zu stehlen, zu betrügen, zu morden, an Gott und der Welt zu verzweifeln, nie wieder einem Menschen zu glauben und das ganze Geschmeiß in Bausch und Bogen zu verachten und im Geiste hinzurichten. Die Amerikaner und später auch die Engländer hätten genug Gelegenheit gehabt, etwas für die Moral zu tun. Im Lager waren dringende Arbeiten zu leisten. Auch außerhalb des Lagers wäre mancher wichtige Dienst zu verrichten gewesen. An freiwilligen Hilfskräften hätte es nicht gefehlt. Sie hätten nichts verlangt als mehr und besser zu essen. Der Tagelohn bestand aber nur aus einem schmalen Stück trockenen Brotes. Das war zu wenig, um den 127
Ofen zu heizen. Nach wenigen Stunden waren wir zu schwach, um Hacke oder Schaufel zu heben. Darum war Arbeit nicht geschätzt. Sie stellte nur eine weitere Möglichkeit dar, schneller zu sterben. Die Amerikaner – und nach ihnen die Engländer – unterhielten eine deutsche Lagerpolizei. Sie setzten auch deutsche Köche ein und Lebensmittelverwalter dazu. Polizisten und Köche hausten in einem besonderen Drahtkäfig innerhalb des Camps. Während uns das Fleisch von den Knochen fiel, wurden sie fett. Sie brauchten bald neue Hosen, weil ihre Schenkel und Hinterteile zu stramm wurden. Das war für sie kein Problem. Sie verwalteten auch die spärliche Garderobe, die mit der Zeit ins Lager hereinkam. Sie setzten uns erstklassige Wassersuppen vor und brieten sich selbst Rührei aus Milch- und Eipulver. Wenn wir am Küchenzaun standen, bekamen wir wenigstens den Duft in die Nasen. Dann wankten wir in unsere Löcher zurück und fraßen den Kaffeesatz auf, von dem uns ein menschenfreundlicher Koch eine Konservendose voll ausgehändigt hatte. Nein, diese dicken Schufte dachten nicht an ihre Kameraden. Wölfe und Hyänen tun das ja auch nicht. Sie mästeten sich wie die Schlachtschweine und entzogen unserer Nahrung das bißchen Kraft, das mit Genehmigung der Besatzungsmacht noch darin war. Amerikaner und Engländer hatten dabei das beste Gewissen. Sie konnten sich immer darauf berufen, daß gegen ihren Willen Deutsche von Deutschen beraubt wurden. Polizisten und Köche rechneten sich selbst zur herrschenden Oberschicht. Darum konnten sie es sich erlauben, Aasgeier zu sein. Uns dagegen regierten sie mit Strenge. Wenn sie einen kleinen Dieb erwischten, wurde er sofort grausam bestraft. Wenn die Mittagssuppe verteilt war, gab es oft noch einen Nachschlag, der einen Bruchteil der Hauptration darstellte. Auch dieser war in der Regel durch 20 zu dividieren. Wehe dem der versuchte, aus dem Nachschlag einen Schluck mehr 128
für sich zu ergattern. Ein hungriger Oberst hatte einmal dieses Verbrechen begangen. Vielleicht wollte er sich kurz vor seinem Hungertode noch einmal sattessen. Die Polizisten hingen ihm ein Schild um den Hals mit der Inschrift: „Ich habe meine Kameraden bestohlen!“ Sie sperrten ihn drei Tage lang in einen Hundezwinger aus Draht, in dem er nicht aufrecht stehen konnte. Zu essen bekam er drei Tage lang nichts. So verfuhren die vollgefressenen Lagerbonzen mit ihm, die Kerle, die uns täglich unserer Notdurft beraubten. Mit ihnen verglichen waren Piraten und Strauchritter als eine Elite zu betrachten. Sie genossen aber das volle Vertrauen der alliierten Truppen. Sie waren selbst alliiert mit der Gemeinheit. Es war im Lager so, wie es überall ist. Die kleinen Diebe werden gezüchtigt, während die großen Spitzbuben sich bei den Mächtigen einigen Ansehens erfreuen. Immerhin, wären wir freie Männer gewesen… Wir waren keine freien Männer. Lagerköche und Lagerpolizei waren für uns das, was bis vor kurzem Geheime Staatspolizei und Ernährungsämter gewesen waren. Nach dem ersten Weltkrieg war ich längere Zeit Bergarbeiter im Ruhrgebiet gewesen. Ich hatte im Ledigenheim gewohnt. Das war damals keine sehr vornehme Herberge, es war der Sammelplatz gescheiterter Existenzen. Dort überwinterten Strolche und Landstreicher, Zigeuner und anderes fahrendes Volk, Studenten, Handwerker aller Art, die keine andere Arbeit mehr finden konnten, Polen, Kroaten, Slowenen, Schwaben, Bayern, Ostpreußen, Schlesier, Ungarn, Vorbestrafte, Messerstecher, Nationalisten und Kommunisten. Es war eine Masse ohne Gestalt und Hoffnung, die sich scharf abhob von dem bodenständigen Stamm der Bergleute, der kraftvoll, sauber, pflichtbewußt war und an Moral und Disziplin unter der Arbeiterschaft seinesgleichen nicht hat. Der freundschaftliche Umgang mit diesen Männern gehört für immer zu meinen schönsten Erinnerungen. So stark war seine formende Kraft, 129
daß selbst die wilde Horde im Ledigenheim noch etwas von seinen Gesetzen und Mannestugenden in sich aufnahm. Keinem, auch dem lumpigsten unter ihr, wäre es jemals eingefallen, den Schacht zu verlassen, solange noch Menschen verschüttet oder sonstwie in Gefahr waren. Eines Abends kam ich todmüde ins Ledigenheim nach einer schweren Schicht. In dumpfem Schweigen hockten die Männer in der Menage an den Tischen, ganz nach vorne gebeugt, weil die Stühle gleich denen beim Kommiß keine Lehnen hatten. Ich holte mir an dem schwer armierten Küchenfenster mein Futter, schaute es an, nahm einen Löffel voll davon, spuckte es aus. Es war der reinste Buchbinderkleister, aus erdgrauen Kriegsnudeln gekocht. Kein Schwein hätte ohne Not seinen Rüssel hineingesteckt. Ich stülpte den Blechnapf um auf den Tisch. Wohlgeformt und spiegelglatt saß der Leimkuchen auf der Platte. Dies war das Zeichen zum Aufruhr. Armselige Intelligenzler, die am Schreibtisch Revolutionen ausarbeiten, weil ihnen der Instinkt und die Fähigkeit fehlen, am rechten Platz und zur rechten Stunde das Rechte zu tun. Wo Spannung ist, da muß es blitzen. Und dann kommt auch das Donnerkrachen von selbst. Bewegung kam in die stumpfen Reihen. Andere Männer stülpten, meinem Beispiel folgend, die Näpfe um, packten ihre Löffel, klebten den widerlichen Brei an die Decke, an die Wände, an die Fenster, auf den Fußboden, auf Hocker und Tischplatten. Dann stürmte die Menge zum Ausgang, johlte über den Hof, brach in die Wohnung des Menagemeisters ein, riß ihn aus dem Bett, schleifte ihn über den Hof durch Schlamm und Pfützen, treppauf, treppab dann durch das Haus bis in die Küche. Dort wurde er auf die Beine gestellt. Dort wurde ihm Nudelbrei über Haar und Gesicht geschüttet. Dort wurde er niedergeschlagen, aufgerichtet, niedergeschlagen, getreten, gewürgt. So müssen Männer mit denen umgehen, die ihnen die Nahrung stehlen. Das hatte der Bursche getan. Er hatte die ihm von der Zeche gelieferten 130
Lebensmittel unterschlagen und billigen Dreck für uns eingekauft. Am nächsten Morgen wurde er zum Teufel gejagt. Die Aristokratie der Spitzbuben hält sich nicht lange, wenn man sie mit der Faust anfaßt. Hier in Rheinberg waren wir hilflos, rechtlos, tatenlos. Hätten wir einen von den fetten Amtswaltern zerstampft, man hätte nicht nur die Rädelsführer oder solche, die man dafür hielt, bestraft, das ganze Camp hätte eine Woche lang nichts zu essen erhalten. An Verrätern hätte es gewiß nicht gefehlt. Um ein Stück Brot hätte Judas in Rheinberg immer eine unabsehbare Gefolgschaft gefunden. Die Lagerpolizei beschränkte sich darauf, Küche und Köche und ihr eigenes Freßprivileg zu beschützen. Ein Berufsrisiko kannte sie nicht. Ihre Autorität beruhte auf den Maschinenpistolen der fremden Soldaten. Der Polizist entsprach dem Capo im Konzentrationslager. Die Menschen und die Institutionen gleichen sich immer und überall. Als ich eines Nachmittags am Zaun stand, hinter dem draußen die Landstraße lag, sah ich einen Pfarrer vorüberwandeln. Sollte das der Pfarrer von Rheinberg sein? Sollte er die mir befreundete Baronin von L. kennen? Ich rief ihn an. Er war es. Er kannte sie. Schnell kritzelte ich ein paar Worte auf ein Stück Papier, wickelte es um einen Stein und warf diesen in hohem Bogen über den Zaun. Der Pfarrer hob den Kassiber auf, steckte ihn in die Tasche und winkte mir aufmunternd zu. Ich wußte, daß die Baronin mich nicht im Stich lassen würde. Unsere Freundschaft war erprobt. Wir hatten zusammen schuldlose Menschen vor dem Konzentrationslager bewahrt. Wir hatten Menschen, die ohne Schuld in den Zuchthäusern des Diktators saßen, herausgeholt. Wir hatten mehr als einmal Kopf und Kragen riskiert. Wenn ich ehrlich bin, muß ich gestehen, daß diese Frau an persönlichem Mut mich und tausend andere Männer, die immer zu einem Risiko bereit waren, in den Schatten stellte. Am nächsten Morgen war die 131
Baronin mit einem Riesenpaket da. Ein stämmiger Bauer erbot sich, für sie den Wurf zu tun. Er war noch bei Kräften, dieser rheinische Bauer. Das Geschoß sauste hoch über beide Zäune hinweg. Ursache zu danken hatte ich allerdings nicht. Ich erwischte nicht einmal einen Fetzen Papier. Wie Fußballspieler von internationalem Format stießen die Oberfeldwebel, Hauptwachtmeister, Korporale und Obergefreiten in die Höhe. Dutzende von menschlichen Krallen hackten in das Paket ein, zerrissen es hoch über dem Boden, streuten den Inhalt nach allen Seiten auseinander. Als ich, gewiß doch nicht ganz ohne Recht, einen Bissen zu schnappen versuchte, traten sie mich nieder, die Herren Kameraden. Ich stand wieder melancholisch am Zaun und brüllte meine Enttäuschung zu der Baronin hinüber. Weiß Gott, es war leichter gewesen, Liebesgaben in Hitlers Zuchthäuser hineinzuschmuggeln. Es war sogar leichter gewesen, an den Agenten der Gestapo vorbei einen Pfarrer aus Berlin oder Leipzig nach Westen und über die holländische Grenze zu bringen. Die Baronin kam am folgenden Tag wieder, diesmal schon morgens um 7 Uhr. Auch das war zu spät, wenn ich auch dieses Mal eine zerquetschte halbe Brotscheibe zu fassen bekam. Etwas mutlos bat ich, doch schon morgens um 4 Uhr zu kommen. Und dann erschien tatsächlich eine junge Dame, Baroneß Marierose, vor Sonnaufgang am Draht. Gott segne den Tennissport, für den ich bis dahin nicht viel übrig gehabt hatte. Aber er verleiht einem Mädchenarm Kraft. Jetzt endlich konnte ich in Empfang nehmen, was mir zugedacht war. Und mit mir konnten das die drei Männer tun, die mit mir im Loch lagen. Später erlaubten die Engländer, daß die Pakete regelrecht mit Anschriften versehen abgegeben und verteilt wurden. Wenn sie verteilt wurden… Einige Zeit vor dieser ersten freiherrlichen Lebensmittelspende war ich ernstlich erkrankt. Die Engländer, die in der 132
Halbzeit unserer Rheinberger Gefangenschaft das Lager übernommen hatten, kannten, obwohl sie doch wahrlich als strenge Sonntagsheiliger bekannt sind, die amerikanische Art der Sonntagsheiligung nicht. Sie gaben uns auch am Sonntag zu essen, zwar auch nicht genug, aber doch besser und reichlicher. Sie führten sogar um den 60. Tag herum den Genuß des Schwarzbrots ein, daß wir fast außer Rand und Band gerieten. Es war allerdings kein echtes Schwarzbrot aus kernigem Roggen, sondern nur ein aus vollausgemahlenem Weizenmehl gebackenes Brot mit viel Schliff. Dennoch nährte es seinen Mann besser als das hostienblasse Weizenbrot der Amerikaner. Die Engländer gaben täglich Päckchen aus, die Kekse, Schokolade, Plumpudding, Käse, Butter, recht gute und fette Suppenwürfel und Tee enthielten, Tee in Würfeln, die auch gleich Sahne und Zucker spendeten. Immerhin – alle diese Genüsse waren ohne Mühe nach der Verteilung in einer Kaffeetasse unterzubringen. War das Holz knapp oder der Appetit zu groß, dann aßen wir die Teewürfel gleich roh auf. Nun trat das Gedärm in den Generalstreik, bei mir 16 Tage lang. Schon vorher waren die Kreislaufstörungen schlimm geworden. Hände und Füße wurden kalt, wurden weiß, als seien sie erfroren. Füße und Beine schmerzten, als seien sie mit Knütteln zerschlagen. Und nun war auch der Darm wieder gelähmt. Ich stand nicht mehr auf. Ich blieb liegen zum Sterben. Ich hauste damals mit ein paar wildfremden Brüdern zusammen. Wir besaßen zusammen einen dünnen Regenmantel, eine Wolldecke und eine Zeltplane. Wir hatten eine flache Mulde in den Boden gekratzt. Die Zeltplane diente als Matratze. Mit Mantel und Decke schützten wir uns notdürftig vor Regen und Kälte. Am Kopfende der Mulde standen unsere Habseligkeiten, zwei oder drei Konservendosen verschiedener Größe, ein paar Löffel voll Zucker, ein paar Kekse, ein Stück Brot darin. Noch waren wir nicht so tief gesunken, daß wir unseren Futtervorrat wie die Tiere vergruben. 133
Ich lag schon ganz apathisch da, nahm kaum noch Notiz von dem, was um mich herum geschah. Am ersten Tag hatten mir die Kameraden noch meine Ration gebracht. Am zweiten Tag erhielt ich nichts mehr. Es war mir auch gleichgültig. Am dritten Tag sah ich zwischen halbgeschlossenen Lidern, daß die Kameraden wie die Füchse zu meinen Dosen schlichen. Flink holten sie mein Brot, meinen Zucker, meine zwei gekochten Kartoffeln aus den Büchsen und verschlangen alles vor meinen Augen. Dem einen war sichtlich nicht wohl dabei. Er hätte lieber gewartet, bis ich tot war. Dann aber wäre er sicher zu kurz gekommen. Der andere hatte ein robusteres Gewissen. Nachdem er mich meiner erbärmlichen Vorräte beraubt hatte, riß er mir mit schnellem Griff meinen Regenmantel vom Leib. So war das also. Die Erde begann schon ohne mich zu rotieren. Wann würde der Kerl mir die Strümpfe, die Hose, den Rock ausziehen? Lange konnte auch das nicht mehr dauern. Ich war schon aus dem Buch des Lebens gestrichen. Jetzt erwachte in mir der Trotz. So einfach wollte ich mich nicht abschreiben lassen. Es konnte doch nicht im Ermessen dieser Straßenräuber liegen, ob ich noch ein Recht zu leben hätte oder nicht. Ich raffte mich auf, kam stöhnend auf die Knie, dann auf die Beine, beschloß mit unklarem Kopf, mein Heil im Sanitätszelt zu versuchen, gelangte schließlich auch dort hin. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich zu sprechen vermochte, bis ich überhaupt merkte, daß sich ein gutes Gesicht über mich beugte. Das Wesen der Krankheit hatte der Arzt schon halb erraten. Wir hatten ja doch nur ein paar Standardkrankheiten. Dann begann eine Kur, deren ich mich nur noch mit einiger Mühe erinnere. Man gab mir Öl zu schlucken und verabfolgte mir zwei Klistiere. Es war alles umsonst. Kann man Granit mit Öl bewegen? Kann man den Mörtel im Mauerwerk mit Klistieren aufweichen? - Das ist ja schlimmer als in einem Steinbruch! So hörte ich den Arzt sprechen. Und dann machte er sich an 134
die Arbeit. Sein Instrumentarium war mehr als kümmerlich. Der Schweiß rann ihm von der Stirn, als er mich endlich auf den Rücken wälzte. - Versuchen Sie es das nächste Mal doch mit Eisenbeton! Er konnte schon den Humor verlieren, dieser Mann, der ohne Apotheke, ohne antiseptischen Schutz, ohne gekochte Instrumente Tausenden von Gefangenen das Leben gerettet hat. Wir wußten nicht einmal, wie er hieß. - Bleiben Sie noch ein paar Stunden ruhig liegen. Ich denke, Sie werden noch einmal ohne Schaden durchkommen. Ich verlangte meinen Zucker, meine Kartoffeln und mein Brot nicht zurück. Ich nahm nur schweigend meinen Mantel an mich und ging fort, um mit Gottes Hilfe eine bessere Gesellschaft zu finden.
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VOLKSWIRTSCHAFTLICHER LEHRGANG In der ersten Hälfte des Monats Juni zogen die Amerikaner ab. Weder der Kommandant noch seine Offiziere oder Soldaten machten uns einen Abschiedsbesuch. Sie verschwanden einfach von der Bildfläche. Wir hätten sie auch bestimmt nicht zu längerem Verweilen aufgefordert. Nach den Amerikanern kamen die Engländer. Wir begriffen bald, daß es da draußen so etwas wie eine amerikanische und britische Zone geben müsse. Nun wurden wir erstmals registriert. Welche Seligkeit! Wir wurden in die Kulturwelt eingegliedert und durften zu diesem Zweck einen Fragebogen ausfüllen. Man nahm Kenntnis von unserer fragwürdigen Existenz. Man hielt es für der Mühe wert, die graue Masse in Personen aufzugliedern. Welchen Sinn sollten die Fragebögen sonst haben? Erst viel später begriffen wir, daß dieses Fragebogen-Manöver nur dazu diente, die ehemaligen Nationalsozialisten vom Ortsgruppenleiter aufwärts in ein Straflager zu versetzen. Es schien bald so, als sollten die in der britischen Zone wohnhaften Gefangenen irgendwie enger mit der britischen Besatzung verbunden sein. Denn bald darauf zogen die in der amerikanischen Zone Behausten ab, siedelten nach Remagen um, während die deutschen „Großbritannier“ von dort nach Rheinberg verfrachtet wurden. Wo aber blieben die „Russen“? Es schien auch eine russische Zone zu geben. Die dort Beheimateten schienen heimatlos zu sein, wenn auch schon ein Gerücht wissen wollte, sie würden demnächst den Russen ausgeliefert. Ein anderes Gerücht besagte, daß dies eben nicht geschehen solle. Vielmehr sollten die deutschen Staatsbürger russischer Zone nach Belgien, Holland und Frankreich zur Zwangsarbeit fahren. An diesem Gerücht war später viel Wahres. Mit dem Einmarsch der Männer aus Remagen begann 136
in Rheinberg ein volkswirtschaftlicher Lehrgang, in dessen Verlauf wir uns grundlegende Kenntnisse für das ganze Leben erwarben, auch wenn wir wenig oder gar keinen Sinn für Währung, Geldumlauf und Umsatz von Verbrauchsgütern gehabt hatten. Die Leute aus Remagen brachten nicht nur Spielbanken die Menge mit, sondern auch eine regelrechte Börse, an der täglich die Mark bewertet und notiert wurde. Bis dahin war Rheinberg fast idyllisch gewesen. Wie knapp auch das Holz und die Pappe war, wie wenig Taschenmesser auch verfügbar waren, oftmals waren kleine Meisterwerke der Schnitzerei entstanden. Tischler, Drechsler und Kunsthandwerker hatten Schachspiele, Dosen, Bestecke und andere hübsche Sachen aus Holz und Blech hergestellt, gehämmerte, getriebene, gravierte, geschnitzte, gedrechselte Gegenstände, die man auf jeder Ausstellung zeigen konnte. Remagen aber überschwemmte Rheinberg mit Glücksspielen anständiger und unanständiger Art. Bis in die Nächte hinein hallte der Lärm der Betrogenen und Ausgezogenen, so daß es dem britischen Kommandanten zu dumm wurde. Er sparte keine Mühe, um die Moral im Lager wiederherzustellen. Ich hätte ihm gerne die besten Ratschläge erteilt, aber er fragte mich nicht. Besseres Essen und etwas Arbeit – der ganze Spuk wäre in wenigen Stunden verflogen. Die Remagener brachten auch eine neue Währung mit. Ein Stück Brot, eine Zigarette, ein kleiner Riegel Schokolade, das alles kostete je 50 Mark. Nun aber öffneten unsere Spieße, Rechnungsführer und Fouriere die Rucksäcke. Wenn man sie auch meist bei der Gefangennahme ihrer Lebensmittel beraubt hatte, die Kompanie- und Batteriekassen, die Regimentskassen, die Brigadekassen hatte man ihnen gnädigst belassen. Die Besatzungsarmee hatte sich ja selbst deutsches Geld gedruckt, ohne sich darüber Kopfzerbrechen zu machen, daß solches Unterfangen in jedem Rechtsstaat mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bestraft wurde. Oft waren die Verwalter des 137
Heeresguts auch ihrer Zigaretten verlustig gegangen, aber vielen von ihnen war es gelungen, Tausende von Zigaretten ins Lager einzuschleusen. Denn welcher Amerikaner hätte das Unkraut geraucht, an dem wir uns in den letzten Kriegsjahren vergiftet hatten? Bislang hatten die Zigarettenbesitzer ihre Schätze wie Geizhälse gehortet und in kleinen Dosen selbst verbraucht. Wie sollte man Lebensmittel gegen Zigaretten tauschen, solange man täglich vor Hunger Schwindelanfälle bekam? England nährte seine Gefangenen etwas anständiger, und schon machten sich die Laster wieder breit. Vor allem befanden sich in den britischen Päckchen so hübsche Tauschgegenstände wie Schokolade und Bonbons. Beinahe hätte diese Herrlichkeit ein gräßliches Ende genommen. Staatlich geprüfte und diplomierte Idioten hatten sich nämlich bald an die britischen Soldaten herangemacht, um die empfangene Schokolade gegen Zigaretten einzutauschen. Als dies dem Kommandanten zu Ohren kam, war er zunächst verständlicherweise der Meinung, daß es uns immer noch zu gut ginge und daß die Verpflegung zu üppig sei. Vielleicht hatte der Mann auch ein bißchen Menschenkenntnis und Welterfahrung und wußte, welch seltsame Vögel sich im Gezweig dieser Erde schaukeln. Gottes Segen über ihn und seine Familie, weil er nichts veranlaßt hat, um unseren Lebensstandard zu senken. In wenigen Tagen war der Markt zu Rheinberg von den Börsianern geordnet. An die Stelle der Zwangswirtschaft mit ihren festen Preisen war freie Wirtschaft getreten. Der Geldüberhang wurde in ein gesundes Verhältnis zur vorhandenen Ware gebracht. Da Geld genug in den Rucksäcken war, kostete die Zigarette jetzt 100 Mark. Und da dem einen das Stück Brot so viel wie eine Zigarette wert war, kostete auch das Brot 100 Mark. Auch das Kreditwesen kam bald in Fluß. Es gab in Rheinberg manchen Kapitalisten, der im bürgerlichen Leben ein armes Schwein war. Manchen Wehrmachtkapitalisten 138
kannte ich. Wir wußten, wer wir waren, wo wir wohnten und was wir voneinander zu halten hatten. Ich nahm also bei dem Bankier eine Anleihe auf und kaufte mir Brot dafür. Ich stellte ihm einen regelrechten Schuldschein aus, der meine Frau auch für den Fall meines Todes anwies, das Darlehen zurückzuzahlen. Das System funktionierte wie jedes andere Bankgeschäft. Die Schuldscheine wurden später präsentiert und eingelöst. Ihnen hatte ich es zu verdanken, wenn ich in dieser Zeit wieder auf die Beine kam. Trotz der besseren Verpflegung, nein, wegen der besseren Verpflegung empfanden wir die britische Gefangenschaft härter als die amerikanische. Wir waren nicht mehr ganz so schlimm ausgehungert. Die Untätigkeit war von Tag zu Tag schwerer zu ertragen. Wie sah es denn aus da draußen? War denn nichts zu tun für eine Viertelmillion von Männern? Sollten die Trümmer nicht aufgeräumt, die zerschlagenen Häuser und Fabriken nicht wieder aufgebaut werden? Welchen Sinn sollte es haben, nach der Kapitulation Hunderttausende von Menschen zum absoluten Nichtstun zu verdammen? Aber dann kam ein Tag, da wurde plötzlich ausgerufen, Landarbeiter sollten sich melden. Wohin sollte es gehen? Wirklich nach Hannover, nach Magdeburg, um den Bauern zu helfen? Die Landarbeiter zogen in Scharen ab. Wären wir nicht so grenzenlos dumm gewesen, wir hätten uns als Landarbeiter gemeldet und wären ein paar Wochen früher nach Hause gekommen. Hätten wir nur gewußt, wie einfach das war. Wir wußten es eben nicht. Nicht viel später wurden stürmisch und immer wieder Bergarbeiter aufgerufen. Das begriffen wir schon besser. Wer die Ruhrschächte in seiner Gewalt hatte, der wollte auch Kohle sehen. Bergarbeiter war ich schon vor 23 Jahren gewesen. Das lockte mich heute nicht mehr. Ja, wenn ich noch amerikanisch gehungert hätte… Ich hatte aber schon einmal im Jahre 1922 volle 16 Stunden verschüttet unter den Steinen gelegen, mit Rippenbrüchen und 139
schweren Quetschungen. Auch damals hatten wir Reparationskohle gefördert … Fuchsteufelswild aber wurden wir, als es dann hieß, Verwaltungsbeamte sollten sich schleunigst melden, um in die Heimat gebracht zu werden. Verwaltungsbeamte als privilegierte Heimkehrer? Wenn das Franz Kafka geahnt hätte! Ein paar Tage lang liefen wir herum, als ob wir die Tollwut hätten. Waren denn die Bürokraten so notwendig? Natürlich waren sie notwendig. Wir begriffen das nur noch nicht. Die Alliierten hatten die bedingungslose Kapitulation verlangt und das Chaos bekommen. Sie hatten die ganze Maschine lahmgelegt und sahen plötzlich mit Schrecken, daß sie stillstand und nicht mehr in Gang zu bringen war. Wenn die Sieger nicht Gemeinderäte, Stadtinspektoren, Bürgermeister, Regierungsräte, Amtsrichter, Staatsanwälte, Ministerialräte werden wollten, dann brauchten sie Deutsche, vor allem solche, die im Verdacht standen, von der Verwaltung mehr zu verstehen als von Zechgelagen mit Gin und Whisky. So zog denn Rudi, der städtische Oberinspektor, aus unserem Erdloch von dannen. Wir ließen ihn traurig scheiden. Dennoch war er auch Briefträger für unsere Familien. Nun wußten sie, wo wir waren und daß wir noch lebten. Es war eine harte, aber doch zeitgemäße Lehre der modernen Volkswirtschaft, daß der Bürokrat in der menschlichen Rangordnung auf einer Stufe mit dem Land- und Bergarbeiter steht. Großer Gott, wann würden da die Schriftsteller, die Schauspieler, die Musiker und all das Gesindel aufgerufen werden, das in der Welt der technischen Vernunft so unproduktiv, so unbrauchbar und so unbelehrbar war?
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DAS FÜNFTE SIEGEL Von den Bildern, die Domenikos Theotokopulis, den die Zeitgenossen El Greco nannten, gemalt hat, ist mir keines so vertraut wie „das fünfte Siegel“. Der Apostel Johannes, der Mystiker auf Patmos, schaut die Auferstehung der Toten. Wie oft habe ich an ihn gedacht und an sein Gesicht, wenn der rotglühende Morgen über dem Lager Rheinberg aufflammte, das wie ein riesiges Gräberfeld dalag. Ich habe Grecos Bild im Original nie gesehen. Dafür bin ich aber dem Maler weit voraus. Was er nur im Geist geschaut hat, das habe ich in der Wirklichkeit dieser Welt erblickt. Ich stand meist sehr früh auf, weil ich dieses Bild wieder und wieder sehen wollte. Das Aufstehen war eine Qual. Vom Liegen auf der harten Erde ohne Kopfkissen schmerzte der ganze Leib wie eine offne Wunde. Hatte ich dann die steifgewordenen Glieder zurechtgebogen, schaute ich mich um, sah in der Ferne einen Kirchturm, ein paar Dachfirste, sonst nur eine gelbbraune Fläche von Horizont zu Horizont, von Drähten zerschnitten, die jetzt ungemein zart und zierlich schimmerten. In diesen kurzen Augenblicken des neuen Morgens spürte ich nichts mehr von Gefangenschaft. Da war ich „unterwegs in eine Weite, die unmeßbar war“, empfand, was der Mystiker meinte, wenn er sagte, daß er in der Gottheit schwimme wie ein Adler in der Luft, obwohl – nein, wie Adlern war uns nicht eben zumute, dann eher schon wie Seiltänzern, die sich zu weit hinausgewagt hatten, für die der Weg zum Ende so weit war wie der Weg zurück zum Anfang. Dann riß Gott ein wenig am Seil, ein ganz klein wenig nur, und sie stürzten ab, lagen am Boden mit einer schweren Gehirnerschütterung. Die war nun selber ein Ende oder ein Anfang. Man weiß es nicht so genau, ob die Menschen in Rheinberg an Gott glaubten, ob sie überhaupt noch glauben wollten oder 141
konnten. Darum war das fünfte Siegel, das sich jeden Morgen vor mir öffnete, darum war die Auferstehung der Toten ein so ergreifendes Geschehen, trotz aller Prosa. Denn es waren nicht die Posaunen des Jüngsten Gerichts, die die in der Erde Schlafenden aufweckten, es waren nur die Mäuler der Köche, die brüllten, der Kaffee sei fertig und sofort abzuholen. Nach vielen Wochen der Wasserarmut wurde ja morgens Kaffee ausgegeben, guter, echter Kaffee sogar, wenn auch ohne Brot, Butter, Wurst, Käse, Milch, Zucker und all die anderen Ingredienzien, die das Frühstück zu einem Vergnügen machen. Es war nützlich, dem Ruf der Köche zu folgen. Wer sich nicht beeilte, der war vom Kaffee-Empfang ausgeschlossen. Sobald der Ruf ertönte, tauchten die Köpfe aus der Erde, die Schultern, die Knie, erst vereinzelt, dann zahlreich, dann unübersehbar, bis sich der Campo Santo mit einem wilden Gewimmel anfüllte, daß man erschrecken konnte. Es war, als würden die Toten aller Jahrtausende aus der Erde herausgerufen, um ihren Richterspruch zu empfangen. Nie vorher und nachher habe ich den Aufstand der leidenden Kreatur stärker erlebt. Hätte sich der Himmel über uns mit dem Weltenrichter auf dem Thron geöffnet, ich wäre nicht verwundert gewesen, nur neugierig vielleicht, was er mit uns anfangen würde, mit uns, die das Zeichen der Verdammnis von Menschenhand schon an der Stirn trugen. Würde er die asthmatische Justiz der Sieger zu der seinen machen? Darüber dachte ich nach, wenn sich die abgezehrten Leichname emporhoben aus der Grabesnacht in das morgenrote Licht. Und dann war ich der tröstlichen Zuversicht sicher, daß es besser sei, ihm nicht als irdischer Richter, sondern als irdischer Angeklagter und Vorbestrafter entgegenzutreten. Als Rheinberg unter britischer Herrschaft stand, wurde auch Gottesdienst abgehalten. An Priestern fehlte es nicht. Wie in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches, so befanden sie sich auch hier zu Dutzenden hinter dem Stacheldraht. Für 142
Hostien und Kerzen sorgte der Pfarrer von Rheinberg, auch für den goldenen Kelch. Ein gepanzerter Tabernakel war nicht vonnöten. Wer sollte hier stehlen? Und wo wollte der Dieb das gestohlene Gut verbergen oder zu Geld machen? Die Orgel hatten wir in den Kehlen. Aber das Singen war nichts für Neurastheniker. Es lebten zu viele Erinnerungen in den Melodien. Die warfen uns gleich in die frühe Kindheit zurück, in die Tage, da man in Oberschwaben mit dem brennenden Lichtstock in der Hand durch den morgenfrühen Schnee ging, um in der Kirche Adventslieder zu singen. Cantus firmus wäre gut gewesen, gregorianischer Choral in mönchisch-männlicher Zucht. Aber diese barocken Kirchenlieder zogen die Tränen an wie das sommerliche Gras den Tau. Da konnte man nur weglaufen, wenn die Lippen zu zucken anfingen, wenn die Mundwinkel sich verkrampften, wenn die Augen brannten und kleine Sterne vor ihnen glitzerten. Weglaufen mußte man, sich selbst zurechtweisen, sich beschimpfen sogar. Ach nein, wir waren auch im Zweiten Weltkrieg noch nicht zur vollkommenen Härte gelangt. Man machte einen großen Bogen um den Kreis der Kirchengemeinde und kehrte zurück wie ein ehrlicher Mann und Sünder. Anders war dies alles doch nicht zu ertragen, alles, diese Sklavenkirche zuerst, die ihren Gottesdienst hinter Stacheldraht feiern mußte, geächtet, verachtet, aussätzig. Das war ja doch nicht viel besser als bei den verfolgten Christen der Urkirche, nicht viel besser als in der Volkswagenstadt Wolfsburg, in der Gott nach dem Willen des Diktators überhaupt keine Stätte haben sollte und durfte. Dieses ganze Lager Rheinberg konnte doch nur in einer Welt stattfinden, die Christus nicht kannte, die mindestens so tat, als ob er nie gelebt hätte. Schlechter behandelten auch die römischen Prokonsuln ihre Gefangenen nicht. Wenn man daran dachte, wie das Neue Testament anfängt, man konnte sich die Haare ausraufen, sich nackt in den Stacheldraht werfen oder sich die Schlagader mit einem Stück 143
Blech aufreißen. En proto en logos – am Anfang war das Wort, Gottes Wort, Gottes Sohn, Gottes Geist, überall gegenwärtig in unserer Sprache, in der Logik, in der Theologie und Anthropologie, in der Kosmologie und Geologie, in der Eschatologie und Biologie. Und die taten mit uns, als sei die Menschheit über das Stadium der Eiszeit nie hinausgekommen. Nein, der Gottesdienst in Rheinberg war von all dem Schweren, das wir zu ertragen hatten, fast am schwersten zu ertragen. Wenn wir zu beten versuchten, dann knirschten wir mit den Zähnen, nicht aus Zorn oder Haß, sondern weil der Wind den Betenden unablässig Sand in den Mund blies. Was wir auch taten, ob wir aßen, tranken oder schliefen, immer blies uns der Wind Dreck in die Augen, Dreck in den Hals, lebensgefährlichen Dreck voll von tödlichen Krankheitskeimen, die er von den Sterbelagern der Ruhrkranken holte. Mit diesem Schmutz zwischen den Lippen und Zähnen ließ es sich schlecht beten. So gewiß es ist, daß die Liebe eine der wenigen Katastrophen ist, die den Menschen wirklich verändern, sie hatte uns noch nicht berührt, noch nicht erschüttert. Es gab noch zu viel Zäsuren auf dem Weg zu Gott. Ich erinnere mich eines Nachmittags, da wir zum Gottesdienst gerufen wurden. Der junge Pfarrer predigte gut. Er hatte etwas von einem galiläischen Fischer an sich, nein, von einem norddeutschen Fischer, der auch unter der Eisdecke im See zu fischen versteht. Kräftig und sachlich zog er sein Schleppnetz unter dem Eis her. Es schien, als werde er einen großen Fang tun. Da krachte ein furchtbarer Donnerschlag dazwischen. Eine pechschwarze Wand hatte sich ungesehen genähert, lag jetzt über uns wie ein gewaltiger Sargdeckel. Dann brach eine Sturzflut über uns herein, als wären alle himmlischen Stauwerke geborsten. Wir rannten nach Luft schnappend durch die Wasserwand, um uns wieder in unseren Löchern zu verkriechen. Nein, es war noch zu früh gewesen. Die Stunde der Gnade war noch nicht da. Das letzte Wort über 144
Rheinberg konnte noch nicht gesprochen werden. In dieser Sinnlosigkeit einen Sinn zu erkennen, war uns noch nicht gegeben. Jener junge Pfarrer hatte keine zweite Fischerstunde. Darum blieb Rheinberg eine Frage für uns, schnell vergessen, schnell beiseitegeschoben an dem Tag, da wir entlassen wurden. Aber wir konnten sie weder töten noch beantworten. Sie steht immer wieder auf, verlangt eine Antwort. Wer soll sie geben? Wer kann sie geben? Nun, da zehn Jahre vergangen sind, da das Gras längst wieder über dem Lager Rheinberg gewachsen ist, will ich einen Versuch dazu machen.
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DIE FAHNE HOCH Unter britischer Herrschaft konnten sich die Gefangenen täglich waschen, von oben bis unten, konnten ihre Hemden zwar nicht kochen, aber doch einseifen und gründlich spülen. Nach rund acht Wochen Schmutz ein gewaschenes Hemd anzuziehen, das war immerhin ein Ereignis, das uns näher ging als die meisten gleichzeitigen Geschehnisse von weltgeschichtlichem Range. Die Engländer ließen auch Mäntel, Decken und Mützen in größeren Mengen verteilen. Nur Schuhe gab es nicht. Die unseren waren ausgehungert wie wir selber, sahen verschimmelt, zerfressen, zerlumpt aus wie wir selbst. Solange man sie nicht auszog, hielten sie merkwürdigerweise ganz gut zusammen. Immerhin – es mußte nun bald etwas geschehen. Es war Juli geworden. Man mußte sich bei der Militärbürokratie entschließen, uns wie Kriegsgefangene zu behandeln, für den nahen Herbst Baracken zu bauen, Heizmaterial heranzuschaffen, wenn schon keine Bettwäsche, dann wenigstens Stroh zu besorgen. Wenn man das nicht tun wollte, dann mußte man sich entschließen, uns wie ein lästiges, leider davongekommenes Gesindel abzustoßen. Vier Monate nach Beginn der Gefangenschaft konnte man es weder amerikanischen noch britischen Soldaten zumuten, Zeugen eines Massenmordes durch Hunger, Kälte und Seuchen zu sein. Man kam zu der Ansicht, daß es besser sei, uns nach Hause zu schicken. Und so wurden wir denn eines Tages zum zweiten Male registriert, bekamen wiederum Fragebögen in die Hand gedrückt. Diesmal füllten wir sie aber schon mit viel weniger Eifer aus. Wohin war denn die erste Registratur gekommen? War sie vom Winde verweht oder in der Küche verheizt worden? Wir hatten schon vergessen, wie viele sinnlose Fragebögen wir als Zivilisten und Soldaten im Dritten Reich beschrieben hatten. Wir ahnten auch damals noch nicht, daß 146
Hitlers Staats- und Parteibürokratie, verglichen mit dem Fragebogen-Hurrican der alliierten und späteren deutschen Bürokratie, nur ein sanftes Zephirsäuseln gewesen war. Außerdem entzog sich uns damals noch die schlichte Erkenntnis, daß es zum Wesen der Bürokratie gehört, ihre Papierbestände dauernd zu verjüngen und daß jeder echte Bürokrat lieber zehnmal denselben Fragebogen ausfüllen läßt, als daß er ihn einmal aus seiner Registratur herauskramt. Dennoch – dieses Mal wurde es ernst. Einige Tage nach der Schreibarbeit mußten wir antreten. Wir warteten von morgens bis abends auf das, was geschehen sollte. Es geschah nichts. Einige Tage danach mußten wir abermals antreten, abermals etliche Stunden warten, geduldig wie – nun wie Kriegsgefangene. Von uns konnten die Schafe noch lernen. Doch nun geschah etwas. Um die Mittagszeit marschierten wir in ein anderes Camp, beileibe nicht in militärischer Formation. Da wir unter Hitler stets in drei Reihen antraten und marschierten, marschierten wir jetzt demokratisch in vier Reihen. Vor einem Zelt, so groß wie ein Dorf-Zirkus, machten wir halt. Es war ein heißer Juli-Tag. Uns verlangte nicht nach seiner bräunenden Kraft. Wir hatten alle schon eine Hautfarbe, die gebeiztem Kirschbaumholz glich. Es wurde 13 Uhr, es wurde 14 Uhr. Niemand kam. Im Zelt sollte nämlich eine Kommission Platz nehmen, die uns mit den Röntgenstrahlen ihrer politisch unfehlbaren Augen Herz und Hirn durchleuchten sollte. Mit jedem einzelnen Gefangenen gedachte sie ein strenges Verhör anzustellen. Wo blieben die hohen Herren denn? Wahrscheinlich speisten sie noch zu Mittag. Es wurde 15 Uhr. Wahrscheinlich tranken sie noch ihren Kaffee. Endlich tauchte einer im Zelteingang auf. Er machte keine freundliche Figur, kurz und fett, wie er war. Sein Deutsch konnte sich auf dem Kurfürstendamm hören lassen. Er merkte, daß wir ziemlich verstimmt und lustlos waren. Das fehlte gerade noch! - Singen! schrie er. Ein Lied! 147
Stures, feindseliges Schweigen ringsum. Der Mann war uns auf Anhieb unsympathisch. Seinen vom Lederzeug mühsam zusammengehaltenen Bauch konnte er sich unmöglich an der Front geholt haben. Unser Schweigen verdroß ihn. - Singen! schrie er. Wir haben Zeit, bis morgen, bis nächste Woche, bis nächsten Monat sogar. Singen! Das EngellandLied! Wir blinzelten ihn in der Sonne an, als ob er nicht ganz normal wäre. Er war aber völlig normal. Am liebsten hätten wir diese dicke, häßliche Laus geknackt. Aber hatte das Zweck? Hier fand heute nichts mehr statt, wenn wir nicht sangen. So viel war klar. Hart blieben die Gesichter, fester geschlossen die Lippen. Wir wollten es darauf ankommen lassen. Wir hatten noch nicht alle Selbstachtung verloren. Im übrigen offenbarte der Bursche einen Mut, wie ihn nur die Dummheit aufbringt. Er hatte nicht Instinkt genug, um zu fühlen, daß es mit ihm jeden Augenblick zu Ende sein konnte. Wenn er an Gott ebenso fest glaubte wie an die Macht der Maschinenpistolen, dann mußte ihm das Paradies sicher sein. - Wenn ihr nicht wollt… Der runde Bonze am Zelteingang machte auf dem Absatz kehrt, ging zurück in das kühle, schattige Zelt. Da wurden einige typische Vertreter der nassen Hose schon weich, intonierten mit heiseren Tenören, mit rostigen Bässen und fanden schnell Mitläufer, Pardon, fanden Mitsänger genug. - Gib mir deine Hand – deine weiße Hand. Leb wohl, mein Schatz, leb wohl, mein Schatz, leb wohl! Denn wir fahren, denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engelland! Die breite und grinsende Fratze tauchte im Zelteingang auf. Sie war mit dem Erfolg sichtlich zufrieden. - Und jetzt das Horst-Wessel-Lied! Vorwärts! Los! Falls dem Kerl dieses Buch zu Gesicht kommt, sei es ihm gesagt: Gleich vielen anderen Deutschen in Rheinberg habe ich an diesem Tag zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben 148
das Horst-Wessel-Lied gesungen. Er, er allein hat diesen jämmerlichen Cantus an diesem Tag zur Hymne erniedrigter und beleidigter Menschen gemacht. Und wenn es im britischen Empire einen Orden für politische Psychologie geben sollte, so müßte diesem Manne die höchste Stufe verliehen werden. Die Ouvertüre war vorüber. Die Posse begann. Man hatte uns genau instruiert. Im Zelt, so hatte man uns belehrt, säßen an Tischen britische Offiziere oder mindestens Herren in britischer Offiziersuniform. Jeder von uns, der Einlaß erhalte, habe sich im Laufschritt (!) an einen freien Tisch zu begeben. Dort habe er dem Uniformträger in strammer Haltung (!) den ausgefüllten Fragebogen zu überreichen und in unverändert strammer Haltung Rede und Antwort zu stehen. Sei der Gefangene abgefertigt, so habe er wieder im Laufschritt (!) das Zelt zu verlassen. Wer nicht schnell genug laufe, der werde sofort unbehandelt aus dem Zelt hinausgeworfen, desgleichen jeder, der es an strammer Haltung fehlen ließe. Wir merkten schon, es ging im Laufschritt der Demokratie entgegen. Friedrich Wilhelm, der preußische Soldatenkönig, hätte seine Freude an diesen Emigranten und Remigranten gehabt. Nur eines begriffen wir nicht. Wenn man uns schon das HorstWessel-Lied singen ließ, warum hat man uns nicht auch befohlen, den Herren den deutschen Gruß zu erweisen, wo wir doch alle noch ganz leidlich in Form waren. Es gibt Pessimisten, die nicht immer sagen können, was sie eigentlich von der Zukunft befürchten, die aber das Gefühl haben, man müsse, solange es an der Zeit sei, sich für alle nur möglichen Katastrophen rüsten. Ich gehöre zu dieser Art Schwarzsehern. So mag es denn zu erklären sein, daß die geheimen Staatspolizisten bei ihren häufigen Besuchen in meinem Arbeitszimmer niemals die Funde machten, auf Grund derer sie mich nach Dachau oder anderswohin zu expedieren vermocht hätten. Als ich mich von meiner Batterie getrennt 149
hatte, da benutzte ich den einzigen Tag meiner Freiheit, bevor mich die Amerikaner nach Westen verschleppten, dazu, um mir von meinem Arbeitgeber, dem Bischöflichen Stuhl, bescheinigen zu lassen, daß ich im Dritten Reich zwar Hauptschriftleiter, aber immerhin der eines katholischen Kirchenblattes gewesen sei. Das Schriftstück trug einen roten Stempel, groß wie ein Spiegelei. Ich hatte es in der Brieftasche bei mir. Kaum hatte der fragwürdige Tommy, vermutlich deutscher Nation, meinen Fragebogen in der Hand, kaum hatte er in der Rubrik Beruf das Wort „Hauptschriftleiter“ entziffert, als er zynisch und brutal bemerkte: „Straflager!“ Und ohne das Attest mit dem roten Spiegelei wäre ich tatsächlich mit allen Reichsleitern, Gauleitern, Kreisleitern, Ortsgruppenleitern, Gestapochefs, kurz mit allen Leuten, die mich zehn Jahre lang bis aufs Blut schikaniert hatten, ins Straflager gegangen! Das hätte eine Begegnung gegeben, mit meinem Kreisleiter etwa, der meiner Flak-Abteilung verboten hatte, mich als politisch Unzuverlässigen zum Offizierslehrgang zu schicken, mit meinem Ortsgruppenleiter etwa, der sich die größte Mühe gemacht hatte, um mich ins Konzentrationslager zu versetzen. Der Mann wäre vor Freude am Schlaganfall gestorben, wenn er erlebt hätte, daß die Engländer jetzt das zustandegebracht hätten, worum er jahrelang umsonst gekämpft hatte. Wenn ich so manche dekorierte Menschenbrust sehe, immer wieder bin ich versucht, zu beantragen, daß doch auch das Großkreuz für verdienstvolle Dummheit geschaffen und verliehen werden müsse. Wahrlich, die Kandidaten sind stets unter uns. Der rote Stempel tat seinen Dienst. Der Herr Emigrant, wie ich seinem akzentfreiem Deutsch nach urteile, hatte glücklicherweise von katholischen Bischöfen schon gehört. Er wurde freundlicher, appellierte dann an mein christliches Empfinden und empfahl mir, alles zu tun, um möglichst viele ehemalige Nationalsozialisten an meiner Stelle in das Straflager zu bringen. Ich gestehe, daß ich mich in dieser Lage 150
nicht ordentlich betrug. Ich habe ihm nicht ins Gesicht, nicht einmal vor die Füße gespuckt. Aber ich wollte ja doch nach Hause. Und der Kerl hatte Macht über Leben und Tod. Darum bitte ich für die drei Minuten der Schwäche um Nachsicht. Der heilige Hieronymus hat ja dem Christen empfohlen, wie er sich in solchen Fällen zu verhalten habe: Falte die Hände, blicke zum Himmel und schlucke deinen Speichel hinunter! Mancher Mann, politisch ebenso unbelastet wie ich, ging für Monate oder Jahre ins Straflager, starb dort sogar, nur weil er diesen roten Stempel nicht hatte… Ein paar Tage später kam dann ein Lagerpolizist zu uns. Er schwang eine ellenlange Liste in der Hand und las mit quälender Langsamkeit Namen vor. Meiner war auch darunter. Am nächsten Morgen hatten wir am Tor anzutreten, ohne Holz und ohne Blech, ohne Brennholz also und ohne Konservendosen, die als Geschirr dienten. Ein bißchen Holz – ein bißchen Blech, das war ja unser einziger Besitz. Jetzt konnten wir diese armselige Habe an die Zurückbleibenden verteilen. Der Mann, der mein kleines Taschenmesser erhielt, hatte Tränen in den Augen. Dennoch war es fast ein Wunder, daß ich die Heimkehr erlebte. Am Abend des letzten Tages im Lager Rheinberg machte ich einen stillen Gang durch das Camp E. Es war damals schon halb leer. Nur noch die vordere Hälfte war besiedelt. Eine lange Holzbarriere trennte den hinteren Raum ab. Ich kroch unten durch. Ich besuchte noch einmal alle die Plätze, an denen ich so bittere eigene und fremde Qualen erlebt hatte, und gedachte der Toten, die am Hunger, an der Ruhr, an Altersschwäche gestorben waren, die Selbstmord begangen hatten oder über denen die Erde eingestürzt war. Ich näherte mich in Gedanken versunken dem Draht, hinter dem das Camp C lag, überdachte noch einmal diesen schauerlichsten Abschnitt meines bisherigen Lebens, als ich plötzlich ein Gewehrschloß rasseln 151
hörte. Ich war nicht mehr allein. Hinter dem Draht stand ein Alliierter mit der Schußwaffe im Anschlag. Er hatte ein Gesicht, wie Edgar Wallace, der es ja wissen mußte, es den Verbrechern in Soho und Whitechapel zuschreibt. Kein Zweifel, der Kerl meinte mich. Mord hatte er in den Augen. Ich versuchte, ihm in gebrochenem Englisch klarzumachen, daß ich morgen nach Hause gehen dürfe und daß ich jetzt meinen Abschiedsgang durch das Lager mache. Ich weiß nicht, ob mein Englisch so schlecht oder ob sein Wille, mich zu verstehen, noch schlechter war. Wahrscheinlich hatte dieser primitive Krieger auch noch nie etwas von dem verästelten Seelenleben eines Schriftstellers gehört. Er brüllte auf wie ein Geisteskranker und fuchtelte gefährlich mit seinem Gewehr herum. Es hatte keinen Zweck, sich mit ihm geistig auseinanderzusetzen. Ich ergriff die Flucht, in der Hoffnung, daß er vorbeischießen würde. Er schoß auch vorbei, vielleicht mit eigener Absicht, vielleicht auch im Dienst einer höheren Absicht. Keuchend kam ich an der Barriere an. Jetzt war mir alle Lust vergangen, noch einen letzten Blick auf diesen Acker der Tränen, der geweinten und ungeweinten, zu werfen. Wir hatten den Krieg verloren. Uns war nichts mehr erlaubt, nicht einmal eine Minute des Gedenkens an die Opfer einer sinnlosen Sieger-Demonstration. Wie Vieh waren wir hergetrieben worden. Wie Vieh sollten wir abtransportiert werden. So endete der letzte Tag im Lager Rheinberg würdig aller vergangenen Tage.
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WEIL WIR ALLE MENSCHEN SIND Es ist doch manchmal gut, wenn der Mensch durch Zeitumstände gehindert wird, das Wort mit einem Artilleriegeschoß zu verwechseln. Ein Rohr ist schnell geladen, eine Granate schnell abgefeuert. Sie platzt irgendwo, ob mit, ob ohne Treffer, steht dahin. Auch wenn sie tötet, es wird nicht übelgenommen, so wenig wie dem, der das Geschütz bedient hat. Aber an einem Wort, wenn es einmal gesprochen oder geschrieben ist, radieren oft ganze Generationen vergeblich herum. Die von den deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg (nicht) abgehackten Kinderhände geisterten jahrzehntelang in der internationalen Literatur umher, genauso wie die Säuglinge, die von den Russen im Jahr 1914 an die Scheunentore Ostpreußens genagelt wurden. Inzwischen weiß ja jeder und beinahe aus eigener Erfahrung, daß die Soldaten aller Nationen ihre Taschen und Rucksäcke leeren, sobald sie kleine Kinder sehen, die Russen so gut wie die Deutschen oder Amerikaner. Sicher wollten die Alliierten uns anfänglich durch Hunger zähmen, dezimieren, in Schach halten. Aber ehe wir noch dazu kamen, einen moralischen Aufstand zu inszenieren, liefen schon die ersten Schiffe mit Lebensmitteln ein. Sicher haben die westlichen Alliierten zahllose deutsche Kriegsgefangene den Russen ausgeliefert. Es ist aber nicht minder sicher, daß sie ebensoviele Deutsche, auf die die Russen Anspruch erhoben, nach Westen mitgenommen haben. Es gibt auch Zeugnisse genug dafür, daß sie Deutsche mit allem Wohlwollen über die Elbe fliehen ließen und sogar ihr Leben einsetzten, um Frauen und Kinder herüberzuholen. Sicher haben die Alliierten die deutsche Industrie erst mit Bomben zerschlagen, dann die überlebenden Betriebe gelähmt 153
und demontiert. Aber dann haben sie mit den Mitteln des Marshall-Plans dieselbe Industrie wieder in Schwung gebracht und uns geholfen, ein neues wirtschaftliches Leben aufzubauen, das der europäischen Völkergemeinschaft würdig war. So ist denn das aktuelle Wort in der Stunde seiner Geburt meist schon das Wort von gestern, wie das Zeittheater oft das Theater von vorgestern ist. Propheten wie Dostojewski, Donoso Cortez, Jakob Burckhardt denken gewöhnlich in großen Zeiträumen. Sie holen die Wahrheit und Weisheit aus der Vergangenheit in die Zukunft herüber. Der Mensch, der kein Prophet ist, kann nur vorsichtig sein, wenn er es vermeiden will, daß seine Urteile in einem Jahr, in zwei Jahren, in zehn Jahren nicht nur korrigiert, sondern ausgestrichen werden. Er muß wissen, daß die Brücke, auf der er geht, einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat. Die Spannung ist in der Mitte am stärksten, aber der Bogen ruht auf dem Lager am Anfang und auf dem Lager am Ende. Nicht, als ob der, der Anfang und Mitte und Ende überschaut, nun schon gerecht wie Gott selber würde, aber er wird dann nicht mehr so ungerecht sein wie in der Stunde, da er vom Trotz des Siegers oder des Besiegten beherrscht wird. Darum können die Rheinberger heute ohne Haß an das Jahr 1945 denken. Darum können sie sogar nach dem verborgenen Sinn dieser grausamen Prüfung forschen. In jedem Fall haben sie das Lager verwandelt verlassen, auch die Amerikaner, die dort den Mißbrauch der Macht und die Verantwortung des Siegers erfahren hatten. Ich glaube nicht, daß die Rheinberger noch bereit sind, KollektivUrteile über Völker und Menschen ohne Einspruch hinzunehmen. Im Dritten Reich lebte ich einige Zeit in einem Ferienheim, dessen Besitzerin eine bekenntnistreue evangelische Christin war. Zu ihr kamen nur Gleichgesinnte, nur Gegner des Diktators und seiner Gewaltherrschaft. Man brauchte seine 154
Gedanken hier nicht zu verbergen. Eines Tages erschien ein Landgerichtsdirektor auf der Bildfläche. Er umkreiste mich erst wie ein mißtrauischer Schäferhund, kam dann langsam näher und fragte mich eines Tages, ob er am Abend zu mir kommen dürfe. Ich war einverstanden. Drei Stunden saß er bei mir und schwieg. Diese stumme Aussprache wiederholte sich mehrmals. Dann wußte ich Bescheid, wußte, was diesen Mann fast erstickte. Er war Richter im Dienst des Diktators. Später sprach er auch. Er war Präsident eines Volksgerichtshofes, hatte nicht die Kraft und den Mut, nein zu sagen und lieber als gemeiner Soldat in die Strafkompanie zu gehen oder in einem Konzentrationslager zu sterben. Natürlich war er ein schwacher, elender Mensch. Richten sollen ihn aber die, die es anders gemacht haben. Ich meine, wie Maria Stuart sagte, daß nur Könige ihre Pairs seien, so darf auch dieser Mensch verlangen, nur von Pairs verurteilt zu werden, von Leuten also, die aus gleicher Lage in die Strafkompanie und ins Konzentrationslager gingen. Wer diesen hohen sittlichen Rang nicht erreicht hat, der tut besser daran zu schweigen. Jenen Landgerichtsdirektor ließen die Todesurteile, die er dem Buchstaben des Gesetzes getreu gefällt hatte, nicht mehr schlafen. Er stellte sich selbst auf eine Stufe mit Mördern. Nach dem Zusammenbruch hielt ein britischer General – ich mag seinen Namen nicht nennen, da er sich später so anständig, so vornehm betragen hat, daß wir ihn alle nur mit Trauer scheiden sahen – vor dem Rat der Stadt eine Ansprache. Er fragte die Ratsherren, ob sie auch dafür gesorgt hätten, daß im nächsten Frühjahr, wenn das große Sterben anhebe, Särge genug zur Hand seien. Der britische General ist nie wie der deutsche Richter nachts zu mir gekommen, um von seiner Qual zu sprechen. Ich hatte im Jahr 1942 den Deutschen nicht verdammt. Ich wollte im Herbst 1945 auch den Engländer nicht verdammen. Denn wahrscheinlich hatte ihm seine Regierung empfohlen, für 155
die erwartete Hungersnot die notwendigen Sarglager einzurichten. Übrigens – die Stadt kam mit ihren Särgen aus. Es wurde nicht so schlimm, wie der General im Winter befürchtet hatte. Die Achse der Weltpolitik hatte sich wenige Wochen nach seiner Rede zu drehen begonnen. Als wir im Dritten Reich Menschen aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern befreiten, halfen auch die Nationalsozialisten mit. Unter ihnen befand sich der Rechtsanwalt Dr. Freisler, der Bruder des berüchtigten Roland Freisler. Der Bruder hatte schwächere Nerven. Er beging später Selbstmord. Nach 1945 holten wir auch Gefangene aus den britischen Konzentrationslagern heraus. Mein Hausarzt war darunter. Er hatte das Verbrechen begangen, irgendein Amt der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen bekleidet zu haben. Englische Offiziere und Unteroffiziere halfen bei der Befreiungsaktion kräftig mit. Ein jüdischer Sergeant war auch dabei. Der ließ die Akten verschwinden. Vielleicht geraten israelische Nationalisten in Wut, wenn sie das erfahren. Immerhin – jener nationalsozialistische Arzt hatte sich im Dritten Reich in vorbildlicher Weise um kranke Juden und Kriegsgefangene gekümmert. Alle Maßstäbe, alle Gebrauchsanweisungen versagen, wenn wir auf den Menschen und seine Art schauen, statt die Kollektiv-Urteile oft schon historisch gewordener Einfaltspinsel nachzubeten. Als am 30. Juni 1943 und an den folgenden Tagen Röhm und seine Genossen auf Befehl Hitlers ermordet wurden, kam auch ein katholischer Journalist, Guido Schmidt, zu Tode. Seine Schuld bestand lediglich darin, daß er genauso hieß wie ein Standartenführer, der auf der Erschießungsliste des Diktators stand. Nach dem Zusammenbruch wurde in meiner Stadt das Haus eines Architekten beschlagnahmt und den Polen übergeben. Die Frau des Beraubten verlor die Nerven und schied freiwillig 156
aus dem Leben, wenn man das freiwillig nennen darf. Die Schuld des Architekten hatte lediglich darin bestanden, daß er genauso hieß wie ein anderer Mann, dem der Haß der Alliierten gegolten hatte. Man sieht, die Parallele ist fast vollständig. Am 10. November 1938 besuchte ich die Stadt Hannover. Ganze Halden von Scherben lagen vor den jüdischen Geschäften. Die Synagoge war in die Luft gesprengt worden. Ich war damals dunkelster Ahnungen voll, daß wir für diese Schandtaten einmal bitter bezahlen würden. Im September 1943 brannte Hannovers zerschlagene Innenstadt aus. Am schlimmsten sah es da aus, wo vordem die jüdischen Geschäfte lagen. Meine Ahnungen hatten sich erfüllt. Ob die Betroffenen schuldiger waren als die Juden fünf Jahre zuvor? Ich denke noch manchmal mit Zorn daran, wie die Amerikaner sich für ein paar lumpige Zigaretten kostbare Armbanduhren von deutschen Kriegsgefangenen ergaunerten. Ein paar Jahre später sah ich, wie deutsche Bauern von deutschen Hungernden sich die Eheringe für ein paar lumpige Kartoffeln als Kaufpreis aushändigen ließen… Am Morgen nach der Reichskristallnacht hatte man in meiner Stadt jüdische Männer, darunter einen greisen Sanitätsrat, dessen Sohn später den Nobelpreis erhielt, unrasiert und ohne Hosenträger durch die Straßen zum Gefängnis getrieben. Es war ein kläglicher Anblick, wie sie ihre Hosen festhielten und im Geschwindschritt dahinstolperten. Ein paar Jahre später herrschte bei der britischen Militärpolizei ein Feldwebel, der jeden Deutschen fragte, ob er in der NSDAP gewesen sei. Sagte der Befragte nein, dann nannte ihn der Feldwebel ein deutsches Schwein, einen Lügner, einen feigen Nazi-Lumpen. Sagte der Gefragte ja, dann schlug ihm der Feldwebel mit der Faust ins Gesicht. Trug der Unglückliche eine Brille, war es dem Feldwebel ein besonderes 157
Vergnügen, diese zu Boden zu schmettern und sich daran zu erfreuen, wie der Halbblinde umhertastete. Lief dem Geschlagenen das Blut aus Mund und Nase, befahl ihm der Feldwebel, den Rock auszuziehen und den Fußboden aufzuwischen. Soll ich noch hinzufügen, daß es dann der jüdische Sergeant war, der den verhafteten Nationalsozialisten wieder zu einer Brille verhalf? Nicht überall gab es für die Kriegsgefangenen Lager wie in Rheinberg. Schleswig-Holstein riegelten die Engländer einfach ab. Die ganze damalige Provinz wurde Gefangenenlager, in dem sich die ehemaligen Krieger unter Aufsicht ihrer Offiziere ohne Stacheldraht bewegen konnten. Eines Tages befand sich eine größere Gruppe deutscher Kriegsgefangener auf einem Bauernhof, wo ein Film gezeigt worden war. Just am Ende der Vorstellung kam der Hausherr aus der Kriegsgefangenschaft heim. - Was läuft denn da für ein Volk auf meinem Hof herum? sagte der Deutsche. Die gehören doch alle hinter Stacheldraht! Die deutschen Offiziere genossen noch Ansehen, hatten noch etwas zu sagen. Das war gut für den heimgekehrten Bauern. Er wäre sonst erschlagen worden. Nach dem Krieg beriefen die Briten und Amerikaner die Kommunisten als ihre Verbündeten haufenweise in wichtige Stellungen. Als besondere Empfehlung galt es, in Amerika im Antifaschistenlager oder in Rußland beim kommunistenfreundlichen Soldatenbund der Generäle Paulus und v. Seydlitz gewesen zu sein. Wenige Jahre später war aus der Empfehlung eine Belastung geworden. Einer Frau, die mit einem Kriegsgefangenen aus der Gruppe Seydlitz verheiratet gewesen, von ihm aber geschieden war, durfte nicht ihren inzwischen nach Amerika ausgewanderten Eltern folgen. Sie ist durch ihre Heirat lebenslänglich vorbestraft. Wie die Blutrichter des 20. Juli 1944 mit ihren Opfern umgingen, das ist hinlänglich bekannt, bis zu den Fleischer158
haken, die der Führer angeordnet hatte. Der Zuchthauspfarrer von Hameln hat mir eine andere Story erzählt. Da war – nach 1945 – ein ehemaliger SS-Arzt zum Tode verurteilt worden. Männer der evangelischen Kirche gaben sich alle erdenkliche Mühe, um die Begnadigung zu erreichen. Sie drangen bis zum britischen Hauptquartier vor. Death by hanging – Tod durch den Strang, so hatte das Urteil gelautet. Der Todeskandidat stand schon unter dem Galgen, sah schon den Strick über seinem Kopf baumeln, als man ihm mitteilte, das Hauptquartier habe ihm Strafurlaub gewährt. Er erlebte dasselbe, was Dostojewski auszustehen hatte. Fjodor Michailowitsch wurde für zehn Jahre nach Sibirien geschickt. Der SS-Arzt ging vier Wochen später wieder zum Galgen. Diesmal wurde er gehängt. Im Dritten Reich mußten die Juden den gelben Stern tragen. Sudetendeutsche Frauen berichteten mir, daß sie nach dem Zusammenbruch bis zu ihrer Vertreibung den deutschen Stern tragen mußten. Sicher ist es eine Eigenart des Deutschen, daß er keine Gelegenheit versäumt, um sich neue Feinde zu machen. Aber haben denn die anderen solche Gelegenheiten immer verpaßt? Sicher ist der einzelne Deutsche, der einzelne Amerikaner, der einzelne Engländer nicht so konstruiert, daß er bewußt Gemeinheiten ausbrütet und Schandtaten begeht. Wenn der Mensch aber als Masse auftritt – nun, auch das ist begreiflich. Wenn schon Unsinn gemacht wird, dann will man ihn wenigstens in großer Gesellschaft machen, weil es dann keinen Verantwortlichen mehr gibt. Hoffentlich ist eine andere Erkenntnis weniger sicher, nämlich die, daß entgegen den Versicherungen frommer Priester die Menschen durch Heimsuchungen nicht gebessert werden, daß der Fortschritt die Umkehr ausschließt, daß die Menschen unverändert bleiben und daß nur ihre Lieblingssünden individueller wie kollektiver Art wechseln. 159
Wir hatten in Rheinberg viel zu viel Zeit, um nachzudenken. Und auch nachher blieben uns noch ein paar Jahre, um uns mit uns und den anderen zu befassen. Wir kamen nach Rheinberg als zweibeinige, leibhaftige Minderwertigkeitskomplexe. Wir waren der Auswurf der Weltgeschichte, der sich zu Tode zu schämen hatte. Aber in diesem Lager taten wir unsere ersten Atemzüge eines neuen Daseins. Die Amerikaner haben uns wieder aufgerichtet, haben uns, die sie erst mit den Gesichtern in den Dreck gestoßen hatten, aufgehoben und auf die Beine gestellt. Sie genierten sich nicht, uns vor Augen zu führen, daß sie dasselbe Gesindel, dieselbe vekommene Sippschaft waren. Wir sind ihnen noch heute dankbar für diese Ehrlichkeit. Den Rest bemerkten wir selbst, damals oder später, daß es bei ihnen wie bei uns großartige Idealisten, saubere Charaktere, mutige Kerle gibt. Die Brutalität, die wir in Rheinberg erfuhren, hat die Waage ins Gleichgewicht gebracht, hat bewirkt, daß unser schiefes Menschenbild wieder in die Balance kam. Darum haben wir mit den Amerikanern und Engländern nichts abzurechnen. Vielleicht ging oder geht es ihnen so wie uns: Mag der Mensch die Dinge nicht begreifen, so begreifen sie ihn. Wir sind begriffen worden, damals noch unklar, unaussprechlich. Jetzt ist es nicht mehr so schwer, Worte zu finden. Denn das ausgespiene Gewölle des Universums, das welke Laub, vom Wind zusammengeblasen, als das wir nach Rheinberg, nach Wickrath, nach Remagen gekommen waren, ist wieder Mensch geworden, Mensch, auf den Acker gesät, für eine kurze Weile begraben, um dann mit junger Kraft die Schollen beiseite zu schieben und Licht zu gewinnen.
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HEIMKEHR - Du hast ja Grünspan im Gesicht. Was ist los? Ich kam soeben von einer kurzen Lagebesprechung der „Kommandeure“ zurück, meinen Offizierssold in Gestalt eines halben Brotes unter dem Arm. Was soll schon los sein? Die Abfahrt nach Hause war schon wieder fraglich geworden. Im Nachbar-Camp F soll Typhus ausgebrochen sein. Typhus hat eine Quarantäne von 59 Tagen. Das hat uns gerade noch gefehlt. Ich fürchte, wir hätten eine Reihe von ernsten Nervenkrisen und sogar Selbstmorden erlebt. Noch einmal von vorn anfangen, noch einmal auf das Ende hinter dickem Nebel warten? Und was konnte den Siegern inzwischen noch einfallen? Sie brauchten sich nicht an ihre Beschlüsse zu halten. Sie konnten jeden Tag andere fassen, konnten neue Verträge miteinander schließen. Und wir konnten das Kleingeld sein, mit dem die Spesen bezahlt wurden. Der Typhus, falls er im Camp F wirklich aufgetreten war, machte einen gnädigen Bogen um uns herum. Am 30. Juli 1945 sagten wir dem Lager Rheinberg adieu. Vorher nahm man uns alle Wolldecken ab. Na ja, wenn es doch heimging… Aber es ging nicht so schnell heim. Die Heimkehr war organisiert. Der Soldat kennt das, weiß, was ihn erwartet, wenn die Wehrmacht organisiert. Als ich im Jahr 1940 Rekrut war und nach sechs Wochen Lehrzeit uk.gestellt wurde, mußte ich von Schleswig-Holstein beinahe erst nach Warschau reisen, weil dort mein Truppenteil stationiert war. Später entdeckte der Große Generalstab, daß ich auch in Hamburg abmustern konnte. Hätten wir den Krieg gewonnen, dann hätten wir nach Linz a. D. in Österreich fahren müssen, um dort nach Hause entlassen zu werden. Tausend Kilometer hin – tausend Kilometer zurück. So hatten es die Stäbe beschlossen. Auch Großbritannien verfügte über General161
stäbler, wie wir bald erfahren sollten. Für je 30 Mann stand ein Lastwagen bereit. In dieser Quote sprach sich die veränderte Zeit aus. Auf der Reise nach Westen hatte man 60 Mann auf einen Wagen gestopft. Die Engländer hatten ihre Gründe, uns nach Hause zu fahren. Hätten sie uns ausgehungertes Gesindel auf die Landstraßen gestellt, wir wären wie die Steppenwölfe über Häuser und Höfe hergefallen. Wir hätten zwar keine Frauen vergewaltigt, aber Küchen und Keller hätten wir bis auf den letzten eßbaren Brocken ausgeräumt. Es wäre nicht ratsam gewesen, uns dabei zu behindern. Wir schieden aus Rheinberg glücklich, aber mit weißglühender Wut im Herzen, nicht in Erinnerung dessen, was wir durchgemacht hatten, sondern angesichts der Tatsache, daß die Briten ihren deutschen Knechten die Treue hielten. Sie gaben uns unsere dicken Köche, unsere vollgefressenen Lagerpolizisten nicht mit auf den Weg. Wie gerne hätten wir sie von den Brücken in die Kanäle, auf die Eisenbahnschienen geworfen. Wie gerne hätten wir sie unter die Räder der britischen Lastwagen gestoßen. Keiner von ihnen sollte lebend entkommen. Das hatten wir uns selbst zugeschworen. Die Engländer machten uns meineidig. Sie hatten keinen Sinn für Gerechtigkeit. So blieb hier ein wichtiges Werk ungetan. Deshalb fuhren wir unzufrieden und zornig von dannen. Wir waren schon eine Weile unterwegs, als einer plötzlich entdeckte, daß wir die Morgensonne noch immer im Rücken hatten. Verdammt noch einmal, wir fuhren nicht nach Osten der Sonne entgegen. Wir trieben nach Westen ab. Wohin? Nach Holland? Nach Belgien? Nach Frankreich? Brauchte man uns also doch noch als Zwangsarbeiter, nachdem wir sechzehn Wochen lang nichts getan und nur gegessen hatten? Wir wurden unruhig, dann resigniert, schließlich apathisch. Dann eben Arbeitslager in der Normandie. Wir hatten den Krieg verloren. Vermutlich hätten wir dort wenigstens ein Dach über 162
dem Kopf. Wenn wir etwas leisten sollten, dann mußte man uns auch besser ernähren. Bald aber war die Wagenkolonne am Ziel. Weeze hieß das Nest. Hier war einer der großen Menschenfrachthöfe, wie immer als Freilichttheater eingerichtet, ohne Baracken, ohne Zelte. Ein großbritannischer Etappenhengst, elegant, direkt von der Kriegsschule entlassen, kommandierte. Als Adjutanten hatte er sich einen deutschen, ungemein zackigen Hauptfeldwebel zugelegt. - In Linie angetreten, marsch marsch! Wir trauten unseren Ohren nicht. War denn der Krieg noch nicht zu Ende? - Der Größe nach antreten!, brüllte der Zackige. Wir begriffen zwar nicht, was die Heimkehr mit der Leibesgröße zu tun habe, aber schon schrie er: - Nach hinten weggetreten, marsch marsch! Nein, Spaß war das nicht, wenn man diese Visage sah. - In Linie angetreten, marsch marsch! Der Zackige prüfte wie auf einem Potsdamer Kasernenhof, ob Ellbogen an Ellbogen, ob Schuhspitze an Schuhspitze sich fügte, ob die Linie auch keine Bucht nach vorn oder hinten aufweise. Das hätte unsere Heimreise ernstlich gefährdet. Mit undurchdringlichem Gesicht stand der lackierte Tommy im Schmuck seiner Bügelfalten daneben. Schließlich war der Zackige halbwegs zufriedengestellt. Als Chef meines Transports hatte ich später mit ihm zu verhandeln. Er war das widerlichste Stück Menschenleben, mit dem ich als Soldat und Gefangener jemals zu tun hatte. Daß die Engländer sich seiner bedienten, das stimmte uns nachdenklich. Holz und Blech hatten wir befehlsgemäß in Rheinberg abgeliefert. Der Decken und Zeltplanen hatte man uns beraubt, In Weeze gab es nichts an Komfort. Die hohle Hand war Schüssel und Teller. Die Finger waren Messer, Gabel und 163
Löffel. Wir hatten kein Gefäß, um auch nur einen Schluck Wasser zu trinken. Die Nacht war kalt. Wir schliefen eine Stunde. Dann wachten wir auf, zähneklappernd und schaudernd, standen auf, liefen eine halbe Stunde hin und her, um etwas warm zu werden, legten uns wieder für eine Stunde nieder. Ihr Dichter, die ihr die hellen Sommernächte preist, schlaft erst einmal unter dem Himmelszelt, bis ihr aufwacht, triefend vor Nässe, nicht weil ihr schwitzt, sondern weil der perlende Tau an euch hängt. Da geht die ganze Poesie über Bord und wendet sich einem verlausten Strohsack in einer muffigen Baracke zu. Von Weeze ging es nach Osnabrück. Die Stadt mit dem großen Schienenkreuz war auch Kreuzungspunkt der britischen Gefangenenkolonnen. Von hier aus fuhren sie sternförmig nach Norden und Westen, Süden und Osten. Die Klöckner-Werke waren unser Hotel. Mein Gott, welch ein Abend! Kein Stacheldraht war zu sehen. Wir liefen wie freie Menschen umher. Davon lief keiner. Jeder wußte, daß er am nächsten Morgen auf einem Lastwagen einen Platz fand. Wir schliefen auf dem Betonfußboden, den wir mit Feinblechplatten auslegten. Wir schliefen erträglich, auch ohne Matratzen und Daunendecken, weil es ja doch die letzte Nacht war und wir immerhin dadurch der Kultur näher gekommen waren, daß sich ein Dach über uns spannte. Noch einmal überdachte ich die Fahrt durch das Münsterland. In den engen Straßen von Telgte waren Nonnen mit Schulkindern aufmarschiert. Meterhohe Stöße von Butterbroten hatten sie mitgebracht. - Mensch, schrie ein junger Berliner begeistert auf, haste das jesehn: Kartoffelpuffer hatten die… Das Schicksal war ihm gnädig. An der nächsten Ecke stockte die Kolonne. Eine Nonne reichte einen ganzen Stapel Kartoffelpuffer herauf. Die frommen Frauen und die kleinen Schulmädchen verdrehten vor Schrecken die Augen. Sie hatten 164
noch niemals Haifische gesehen. Die Schnitten und Puffer verschwanden in den aufgesperrten Rachen, als wären es nur Brosamen gewesen. Was auch an Proviant herbeigeschleppt wurde, er reichte nicht aus. Dreißig Wagen zählte die Kolonne. Dreißig Mann hielten auf jedem Wagen Ausschau mit gierigen Augen und fangbereiten Händen. Die Brote wurden in der Luft zerfetzt. Für uns wäre es eine Kleinigkeit gewesen, in fünf Minuten eine Stadt kahl zu fressen. Wir hätten das gründlicher als die Heuschrecken besorgt. An ein ehrliches, anständiges Teilen dachte kaum einer. Und wenn einer versuchte, der Zivilisation das Wort zu reden, dann wurde er gehässig niedergeschrien. Steckten auch in uns Köche und Lagerpolizisten? Zum ersten Mal nach so kurzer Zeit zweifelte ich daran, ob es recht gewesen wäre, die Köche und Polizisten unter die Räder zu stoßen. Vielleicht waren die Engländer doch ganz vernünftige Leute. Wer weiß? Sicher ist da, als das Lager Rheinberg zu Ende ging, etwas versäumt worden. Aber es wird so viel auf Erden versäumt… Es war doch nicht die letzte Nacht der Gefangenschaft gewesen, die wir in Osnabrück zugebracht hatten. Man ließ uns noch eine Nacht in Hannover auf einem Fußballplatz schlafen. Aber das war nun wirklich die letzte. Wir nahmen sie willig als Sport hin. Am nächsten Morgen waren wir zu Hause, aber noch nicht daheim. Wir fuhren durch die Stadt, die wir kannten und liebten. Die britischen Fahrer wußten Bescheid. Jeder stoppte eine Sekunde vor dem Laden des Bäckermeisters Schulze. Der hatte einen Berg von Broten an der Straßenkante aufgestapelt. Zwei Brote flogen vorn, zwei hinten auf jeden Wagen. Das setzte der Mann wochenlang so fort, bis die Transporte zu Ende waren. Sein eigener Sohn war in Kriegsgefangenschaft. Er hoffte, daß auch ihm einer Brot gab… Man setzte uns in einer alten Ziegelei ab, die wieder im Schmuck des Stacheldrahts prangte. Jetzt lernten wir die 165
Heimat kennen, die wir so lange nicht gesehen hatten. Junge Damen hatten sich bereits in großer Zahl den britischen Dienststellen verpflichtet, die BDM-Führerinnen an der Spitze. Solcher Dienst brachte Vorrechte mit sich. Unsere Marschverpflegung für diesen Tag hatte noch aus dem jedem Gefangenen bekannten Schokoladepäckchen bestanden. Wir gedachten es jetzt zu empfangen und unseren Frauen und Kindern als Reisegeschenk mitzubringen. Aber die jungen deutschen Damen hatten uns schon in der gemeinsten Weise bestohlen. Sie hatten sich unseres Reiseproviants bemächtigt und liefen auf dem Fabrikhof umher, indem sie sich ihre rotgeschminkten Lippen mit unserer Schokolade beschmierten. Zum Ausgleich empfingen wir einen Blechnapf, in dem sich drei Zentimeter hoch Rotkohl und darüber zehn Zentimeter warmes Wasser befand. Worin nun auch die von den Engländern geschätzten Fähigkeiten der jungen Damen bestehen mochten, ihre Kochkunst konnte es nicht sein. Wir begriffen ganz beiläufig, daß sich dieses weibliche Jungvolk bereits zu den Siegern geschlagen hatte und daß es ihm deshalb erlaubt war, Heimkehrer wir Kanaillen zu behandeln. Kurz vor dem Gang zum Einwohnermeldeamt erlebten wir den Höhepunkt der Heimkehr. Im Auftrag des Regierungspräsidenten begrüßte uns ein beamteter Flegel von ungeheuerlichem Ausmaß. Auch er sprach als „Sieger“ zu uns: - Sie sind nicht nach Hause gebracht worden, um zu faulenzen. Sie sind heimgekehrt, um unverzüglich und hart zu arbeiten. Sie haben sich morgen früh beim Arbeitsamt zu melden. Sie haben jede Arbeit anzunehmen, die Ihnen zugewiesen wird. Wenn Sie sich weigern, das zu tun, was Ihnen befohlen wird, werden Sie sofort der Besatzungsmacht zur Bestrafung übergeben. Das sagte er uns, die sich keine halbe Stunde auf den Beinen halten konnten, ohne schwindlig zu werden. Auch in der 166
Heimat waren also Lagerköche und Lagerpolizisten obenauf. Die Demokratie war sichtlich schon ausgebrochen. Sie begrüßte uns mit den Vokabeln des Dritten Reiches, das wir bis dahin fälschlicherweise für untergegangen gehalten hatten. Es war also noch da, in deutschen und fremden Köpfen zu Hause. So einfach war es offenbar nicht, mit Hitler fertig zu werden. Die Menschenrechte lagen schon wieder oder immer noch unter den genagelten Stiefeln. Wenige Tage später lernte ich den Ernst der Lage kennen. Der Direktor des Arbeitsamtes ernannte mich zum Bauhilfsarbeiter. Man muß annehmen, daß großer Mangel an Bauhilfsarbeitern herrschte, sonst hätte man nicht den einzigen Bühnenschriftsteller des ganzen Regierungsbezirks dazu abgeordnet. Schriftsteller? Das sei kein Beruf, belehrte mich die Arbeits-Maid, pardon, eine Arbeitsamts-Maid. Ich hätte zu gehorchen, widrigenfalls… Da konnte mir auch mein großer und geschätzter Landsmann Götz von Berlichingen nicht mehr helfen. Ich erwirkte also einen Befehl des britischen Stadtkommandanten, mich hinfort in Ruhe zu lassen. Es war glücklicherweise ein literarisch gebildeter Kommandant, der mich vor den Proleten in Schutz nahm. Ein paar Wochen später klingelte es abends an der Haustür. Mein Freund Gerd, ein Rheinberger Lagerfreund, der noch nach Belgien verschleppt worden war, fiel mir um den Hals. Er war Berliner, konnte als solcher nicht heimkehren und hatte deshalb meine Wohnung als Heimat angegeben. Jetzt stand er da, hielt mich an der Hand, konnte vor Schlucken und Weinen nicht sprechen. Meine Frau und meine Tochter sahen ihn und sich etwas ratlos an. Na ja, dachten sie wohl, die beiden haben schwere Tage zusammen erlebt. Wir würden vielleicht auch weinen. Schließlich faßte sich Gerd, wurde feierlich, dankte mir wie einem Schutzheiligen. Ich sei es ja doch gewesen, der ihm in 167
Rheinberg das Leben im Camp D gerettet habe. Das behauptete er. Er sei an der Ruhr erkrankt, und ich hätte ihn ans Tor geschleppt, damit ihn der amerikanische Krankenwagen fände und mitnähme. Ich sei immer wieder selbst zusammengebrochen vor Schwäche, hätte ihn halb getragen, halb gezerrt und geschleift, bis ich es geschafft gehabt hätte. Und beinahe hätten mich die Amerikaner selbst aufgeladen, weil ich so erschöpft dagelegen hätte. Es ist ja sehr schön, wenn einem solche Werke erzählt und gedankt werden. Nur, ich wußte nichts mehr davon, damals nicht, als Gerd es mir in die Erinnerung zurückrief, und auch heute weiß ich es nicht. Ich glaube ihm natürlich, aber nicht die geringste Spur ist in meinem Gedächtnis vorhanden. Nun, es mag auch manch anderem Menschen so ergehen, daß er unzurechnungsfähig ist, wenn er seine besten Taten vollbringt. Das bewahrt ihn vor der Selbstzufriedenheit und vor dem geistigen Hochmut. Es hat dann eine Weile gedauert, bis ich wieder zum Dom ging. Ich wußte ja, die Ostapsis war durch eine Luftmine gespalten. Sandsteinquader, flüssiges Blei und glühende Kupferplatten hatten den Tausendjährigen Rosenstock versengt, verbrannt, begraben, erstickt. Das heilige Symbol der Stadt war vernichtet. Wie anders sollten wir dieses Zeichen deuten, als daß es mit unserer Zukunft vorbei war? Ich kletterte über Trümmer- und Schutthalden, über die aufgerissenen Gräber der Bischöfe. Was war übriggeblieben von karolingischer, ottonischer und salischer Herrlichkeit? Eine schwankende Hochwand, ausgebrannte Türme. Aber der zweigeschossige Kreuzgang war leicht zu restaurieren. Die Apsis konnte abgetragen und wiederaufgebaut werden. An ihre Rundung hatte sich ehedem die Tausendjährige Rose gelehnt. Ich kann nicht mehr sagen, wie lange ich davor stand, ungläubig zuerst, noch nicht ganz erholt von einem gräßlichen Traum. Aber was ich sah, war doch wahr. 168
Der Tausendjährige hatte den stürzenden Steinen und dem feurigen Metall getrotzt. Er hatte neue Triebe zur ApsisRundung ausgestreckt. An den Fingern konnte man die blaßrosa Sterne abzählen. Aber er lebte. Er blühte.
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