Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 10
Lordrichter Saryla von Achim Mehnert
Auf den von Menschen besiedelten Welte...
12 downloads
312 Views
403KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 10
Lordrichter Saryla von Achim Mehnert
Auf den von Menschen besiedelten Welten schreibt man das Jahr 1335 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Der unsterbliche Arkonide Atlan kämpft in der Milchstraße, in der Galaxis Dwingeloo und in Gruelfin, der Heimat der Cappins, gegen die mysteriösen Lordrichter. Während er in der künstlichen Intrawelt den Flammenstaub besorgt, der eine ultimate Waffe sein soll, findet seine varganische Kampfgefährtin Kythara den Tod. Atlan trägt nun den Flammenstaub in sich. Aber je intensiver er ihn benutzt, desto verheerender ist sein Einfluss auf Psyche und Körper. In Gruelfin mischt sich der Arkonide in die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Ganjasen und Takerer ein. Mit Hilfe eines Sammlers, des gigantischen Robotschiffs MITYQINN, und der geeinten Flotte der Jungen Clans verfügt Atlan nun über beträchtliche Machtmittel, die er zur Verteidigung der Freihandelszone Susch einsetzt. Das eigentliche Motiv der Invasion ist die Suche nach dem verschollenen vierten Stamm der avoiden Rhoarxi. Unterwegs zu deren mutmaßlichem Exil auf Eschens Welt, erhält der Unsterbliche Einblicke in die Macht im Hintergrund, das so genannte Schwert der Ordnung, vom gefangenen LORDRICHTER SARYLA …
Lordrichter Saryla
3
Die Hautpersonen des Romans: Saryla - Der Lordrichter erzählt seine Geschichte. Atlan - Der Arkonide erhält neue Einblicke. Carpes Maluni - Der Dekan der Takera-Universität auf Sytio verkündet eine neue Heilslehre. Rowena - Sarylas Freundin wird von Zweifeln geplagt. Das Schwert der Ordnung - Die Macht im Hintergrund spielt ein doppeltes Spiel.
1. 31. Oktober 1225 NGZ Nur ein gequälter Schrei bewahrte mich davor, das Bewusstsein zu verlieren. Hatte ich selbst ihn ausgestoßen? Kein anderer Ton, keine visuellen Eindrücke. Totale Dunkelheit umgab mich, wo eben noch Licht gewesen war. Der Abgrund, in den mein Geist stürzte, schien endlos. War mein Körper überhaupt noch vorhanden? Ich registrierte ihn allenfalls als leere Hülle, jeglicher Kraft beraubt, als forderten die hinter mir liegenden Jahrtausende schlagartig ihren Tribut. Nie zuvor hatte ich eine solch tiefe Erschöpfung verspürt, war ich so nahe daran gewesen, mich in mein Schicksal zu ergeben. Ich konnte nicht sagen, wie viel Zeit verstrich, bis ich begriff, dass ich nicht stürzte. Meine Knie berührten harten, kalten Untergrund. Fester Boden war unter mir. Mit dieser Erkenntnis fiel ein anderes Empfinden über mich her. Schmerz. Heftig pochte er zwischen meinen Schläfen und machte es mir beinahe unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen und mich daran zu erinnern, was zuvor geschehen war. Doch er sorgte dafür, dass ich aus meiner Lethargie aufschreckte. Mein Körper war ausgelaugt, am Ende seiner Kräfte. Ich kannte jede Stufe körperlicher Erschöpfung, hatte sie alle mehr als einmal erlebt und war in meinem langen Leben häufig bis an den Rand des Zusammenbruchs getrieben worden. Stets hatten die belebenden Impulse des Zellaktivators mir geholfen, mich dagegen zu stemmen, und mich auf den Beinen gehalten, wo Normalsterbliche längst in gnädi-
ge Ohnmacht gefallen waren. Dieses Mal richtete auch der unter meinem linken Schlüsselbein implantierte Chip nichts aus. Nur du allein bist in der Lage, dir zu helfen, versetzte mein Extrasinn. Es ist längst keine Frage der Physis mehr, sondern nur noch eine des Willens. Zu meiner Überraschung ersparte er mir jeglichen Sarkasmus. Natürlich entging ihm mein Zustand nicht. Wie Ovarons Bewusstseinssplitter hatte auch er nicht protestiert, als ich den verdammten Flammenstaub erneut eingesetzt hatte. Eine Frage des Willens – ich stimmte ihm zu, sosehr es mich auch schmerzte, diesen eisernen Willen aufzubringen. Wer indes sollte dazu fähig sein, wenn nicht ein Unsterblicher, der einst in den Stand eines Ritters der Tiefe erhoben worden und sogar hinter die Materiequellen zu den Kosmokraten gelangt war? Wenn du dir dessen bewusst bist, bleibt nur noch ein weiterer kleiner Schritt, du Narr. Offenbar hatte ich ihm voreilig Absolution erteilt. Der Extrasinn war unerbittlich wie eh und je. Du hast den Lordrichter besiegt. Nun sorge dafür, dass er sich nicht von seiner Niederlage erholen kann. Ich war nicht fähig, ihm eine passende Antwort zu geben. Es war auch nicht nötig. Wichtig waren seine treibenden Impulse, die in dieser Lage mehr bewirkten als die des Aktivatorchips. Denn sie waren wie ein Rettungsanker, der meinen Geist in der Realität hielt. Schritt für Schritt kämpfte ich mich in die Wirklichkeit zurück und verdrängte die bleierne Schwere, die mich umfangen hielt. Es war, als tauchte ich aus einem trüben Gewässer an die vertraute Oberfläche. Geräusche und Stimmen drangen an meine Ohren, Wortfragmente lediglich, in die ich noch keinen Sinn bringen konnte.
4 Das Stöhnen, das ich vernahm, kam aus mir selbst, etwas anderes hingegen nicht. »Atlan!« Diesmal war das Wort klar und deutlich, und ich hatte keine Probleme, auf Anhieb den Sinn zu begreifen. Trotzdem dauerte es eine Weile, bis mir klar wurde, dass nicht der Logiksektor mich rief. Mein Name drang an meine Ohren. Mit einer unsäglichen Kraftanstrengung gelang es mir, zu blinzeln und verschwommene Eindrücke von Bedienungspulten und Bewegungen zu erhaschen. Sie wirkten belebend, und meine Gedanken begannen sich zu klären. Das Eishaarfeld … kollabiert. Der Flammenstaub … einmal mehr aktiviert. Erzherzog Saryla … zu einem unscheinbaren Wesen degradiert. Ich spürte helfende Hände und schaffte es irgendwie, die Augen ganz zu öffnen. Mir war hundeelend. Ich schluckte ein paarmal, um den unangenehmen Geschmack in meinem Gaumen loszuwerden. »Bist du in Ordnung?« Ich schaffte es aufzuschauen, doch ich benötigte eine halbe Ewigkeit dafür. Jedenfalls kam es mir so vor. Die besorgte Stimme gehörte Ypt Karmasyn. Die an Bord der AVACYN für Funk und Ortung zuständige Ganjasin mit dem schwarzen Haar und den pockenartigen Narben zog mich in die Höhe. Mein Körper zitterte wie unter Fieber. Ich fürchtete, im nächsten Moment wieder in den Kniekehlen einzuknicken, schaffte es aber, auf den Beinen zu bleiben. »Es … geht«, brachte ich krächzend hervor. Meine Kehle war ausgetrocknet, und das Zittern legte sich nur allmählich. Immer noch fühlte ich mich unendlich schwach. Längst schien der Schmerz zwischen meinen Schläfen zu einem weiteren ständigen Begleiter geworden zu sein. Ich versuchte ihn zu ignorieren, so gut es ging. Auch für die Kommandozentrale der AVACYN hatte ich keinen Blick übrig. Stattdessen stellte ich mich darauf ein, dass der Lordrichter noch einen Trumpf im Ärmel hatte, gegen den ich bestehen musste, wenn er ihn
Achim Mehnert ausspielte. Ich irrte mich. Widerstandslos ließ sich Saryla aus der Zentrale führen. Da fiel mein Blick auf die tote Kaystale. Im nächsten Moment brach ich erneut zusammen.
* »Verrat!«, zischte Saryla. »Du warst es, Schwert der Ordnung!« Eine Woge aus Hass brandete in dem entblößten Lordrichter auf und suchte nach einem Ventil. Solange er denken konnte, hasste er die abscheulichen Ganjasen, und nun war er schutzlos ihren Blicken ausgeliefert. Mit Macht drängten seine Instinkte, sich auf sie zu stürzen und sie zu vernichten. Die Meute umringte ihn, Waffen in den Händen. Wäre er nicht so verunsichert gewesen, hätte er ihnen nicht mehr als hämisches Gelächter entgegengeschleudert. Eben noch hatte seine stärkste Waffe, das Eishaarfeld, sie unterjocht und zu Boden geworfen, nun war es erloschen. Es gab nichts, wohinter er seinen hinfälligen Körper mit den entstellenden Stigmata verstecken konnte. In den Augen der widerwärtigen Ganjasen war er vermutlich nicht mehr als eine traurige Gestalt. Wie auch sollte dieser Körper seinen brillanten Geist adäquat repräsentieren? Er hatte nicht nur den Kampf gegen Atlan und dessen Flammenstaub verloren, sondern auch seine Ehre. Es war schwer zu entscheiden, welche Niederlage schwerer wog. Beide zusammen kamen einer Katastrophe gleich. Alles gesetzt und verloren, obwohl er einen scheinbaren Erfolg errungen hatte. Der vorgeblich höchste Sieg barg die schmerzhafteste Niederlage in sich, sagte eine alte Weisheit der Takerer. Für ihn war sie stets eine Floskel gewesen, denn Niederlagen gab es in seinem bisherigen Leben nicht. Außer dem einen Mal, an das sich zu erinnern ihm unendliche Schmerzen bereitete. Mit Macht schob er den Gedanken beiseite. »Beweg dich nicht!« Drohend schwenkte ein Ganjase seinen Strahler. Saryla kannte ihn nicht, kannte niemanden von der Besatzung des
Lordrichter Saryla kleinen NAMEIRE-Raumers. Sie waren nicht wert, dass er sich mit ihnen beschäftigte. Betont aufreizend drehte er sich zu Atlan. Einzig dieser Mann war für ihn von Interesse. Sein weißhaariger Gegner hockte auf den Knien und schien nicht Herr seiner Sinne. Sein Gesicht war eingefallen, Schatten umflorten die geschlossenen Augen. Nur die Lider zuckten heftig, als führte der Träger des Flammenstaubs einen stillen Kampf mit sich selbst. Wahrscheinlich war das auch so. Saryla schnaubte verächtlich. In diesem Zustand war Atlan kein ernst zu nehmender Gegner. Ohnehin war er das nicht. Aufgrund ungenauer Informationen hatte Saryla den Flammenstaub unterschätzt, sonst wäre es nicht so weit gekommen. Er hasste Atlan nicht weniger als die Ganjasen. »Willst du mich töten?«, fragte er den hageren Mann mit der Waffe, ohne ihn anzuschauen. »Wenn du mich dazu zwingst, werde ich es tun.« Ein heftiger Stoß traf Saryla im Rücken und warf ihn beinahe zu Boden. Er stolperte ein paar Schritte vorwärts und drehte sich umständlich in die Richtung, aus der die Attacke gekommen war. Eine Ganjasin mit hell gefärbtem Haar, die mehr als wuchtig gebaut war, hatte ihn angegriffen. »Erschieß ihn, Evoron!«, forderte sie. »Er hat Kaystale getötet und Atlan zumindest schwer verletzt.« »Der Arkonide wird es überleben. Die Takererin dagegen hat nichts anderes als den Tod verdient.« Der Lordrichter legte sämtliche Verachtung, zu der er fähig war, in seine Worte. »Das ist ein noch viel zu geringer Preis für eine, die sich mit euch Bodensatz verbündet.« »Wenn du ihn nicht erschießt, mache ich das.« Die Drohung jagte Saryla keinen Schrecken ein. Den Erzfeinden aus dem cappinschen Brudervolk auf diese Weise ausgeliefert zu sein war ungleich schlimmer als der Tod.
5 »Halt dich zurück, Myreilune. Atlan soll entscheiden, was mit ihm geschieht.« »Du willst ihn ungeschoren lassen? Ich lasse nicht zu, dass er Kaystale ungestraft umgebracht hat.« »Auch wenn du jetzt das Sagen an Bord hast, denk erst nach, bevor du handelst. Carmyn würde den Lordrichter auch nicht einfach umbringen. Niemand sagt, dass er ungeschoren davonkommt. Kaystale hat Atlan vorbehaltlos vertraut. Ohne Atlan wäre keiner von uns mehr am Leben.« »Ohne Atlan wäre keiner von uns überhaupt in Gefahr.« Gespannt verfolgte Saryla die Meinungsverschiedenheit der Ganjasen. Vielleicht ließ sich aus deren Uneinigkeit später ein Vorteil ziehen. Die anderen Anwesenden hielten sich aus dem Wortwechsel heraus, zielten aber ebenfalls auf ihn. Zweifellos hätte jeder Einzelne von ihnen den Gefangenen liebend gern erschossen, doch bei einem derartigen Streit kam es selten zu einem Ergebnis. An Bord keines Schiffes der Garbyor hätte es eine solche Diskussion gegeben. Sarylas Verachtung für die Ganjasen wuchs ins Grenzenlose. Atlan stöhnte auf, sein Körper schüttelte sich. Dieser Mann sollte über ihn richten? Wenige Minuten zuvor noch hatte Saryla selbst davor gestanden, seinem Feind das Gehirn aus dem Schädel zu brennen und ihn langsam und qualvoll umzubringen. Er zweifelte nicht daran, dass Atlan das Gleiche mit ihm tat, sobald sich die Gelegenheit bot. Saryla machte sich nichts vor. Der Weißhaarige würde ihn verhören und alles daransetzen, ihm Informationen über den Obersten Lordrichter und das Schwert der Ordnung zu entreißen, ihn notfalls auch foltern. An sie wollte Atlan herankommen, so, wie das Schwert seinerseits den Fremden lebend in seine Gewalt bekommen hätte. Nun wird er es sein, der mir das Gehirn aus dem Schädel brennt, dachte der erniedrigte Lordrichter. Oder auch nicht. »Bringt ihn in ein Quartier, in dem er si-
6
Achim Mehnert
cher ist!«, befahl die Frau namens Myreilune. »Bevor ich es mir anders überlege und ihn zur Großen Horde schicke.« »Du meinst wohl in eine Zelle, aus der ich nicht entkommen kann«, konterte Saryla. »Du kannst es nennen, wie du willst. Ich rate dir nur, dich zu fügen, dann bleibst du am Leben. Vorerst jedenfalls«, drohte die korpulente Frau. »Das kann sich aber schnell ändern, wenn Atlan einen anderen Entschluss fasst. Fühl dich also nur nicht zu sicher.« Sie half Atlan, der langsam wieder zu sich kam, auf die Beine. Saryla betrachtete ihn sinnend. Es wäre so leicht, Atlan zu entkommen. Der Weißhaarige war nicht in der Lage, sich zu verteidigen. Ein willentlich erzeugtes Gedankenbild würde bewirken, dass er augenblicklich tot umfiel. Warum eigentlich nicht? Für die Zerstörung des Eishaarfeldes hatte auch Atlan nichts anderes als den Tod verdient. Der Lordrichter konzentrierte sich und zerstörte sein eigenes Gedankenbild, bevor es richtig entstand. Es wäre ein Fehler gewesen, erkannte er. Er musste eine andere Taktik anwenden, auch wenn sie ihm zutiefst widerstrebte. Töten konnte er Atlan immer noch. Zunächst musste er mit ihm reden.
* Übergangslos erwachte ich aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Ich lag in meinem Quartier, war anscheinend von einem Medoroboter versorgt worden. Zu behaupten, mir ginge es gut, wäre geprahlt gewesen. Doch zumindest war die unmittelbare Todesahnung gewichen, die ich beim Einsatz des Flammenstaubs gegen den Lordrichter empfunden hatte. Ich schaffte es, mich auf meiner Liege aufzurichten, ohne einen weiteren Schwächeanfall zu erleiden. Mit einem raschen Blick auf den Chronographen stellte ich fest, wie viel Zeit verstrichen war. Ich hatte eine Stunde geschlafen, viel zu wenig zum Regenerieren zwar, aber
doch zu viel, um mir diese Auszeit überhaupt gestatten zu können. Denn die Zeit brannte mir unter den Nägeln. Ich musste so schnell wie möglich nach Eschens Welt gelangen, wo der vierte Rhoarxi-Stamm lebte, die Anarii. Ich ging davon aus, dass auch das Schwert der Ordnung nach den Rhoarxi suchte, um das ehemalige Hilfsvolk der Kosmokraten in seine Dienste zu zwingen. Wenn ihm das gelang und es zudem fündig wurde bei seiner Suche nach dem Flammenstaub, hatte es ein Machtmittel in der Hand, dessen Möglichkeiten sich noch gar nicht abschätzen ließen. Niemand konnte sagen, welche Macht die Anarii noch besaßen und welcher Schaden sich in falschen Händen damit erzielen ließ. Ihre Anwesenheit in Gruelfin konnte jedenfalls unabsehbare Folgen für die ganze Sombrero-Galaxis und darüber hinaus haben. Deshalb musste ich Eschens Welt unbedingt vor dem Schwert der Ordnung oder seinen Hilfskräften erreichen. Seufzend besann ich mich auf das nahe Liegende. Bevor ich die Rhoarxi aufsuchte, hatte ich eine Verabredung mit einem enttarnten Lordrichter. Vor dem Verlassen meines Quartiers schaute ich in den Spiegel und zuckte unwillkürlich zusammen. Tiefe Furchen hatten sich unter meine Augen gegraben, mein eigenes Gesicht kam mir fremd vor. Es war eingefallen von den Anstrengungen der letzten Zeit. Selbst der gewohnte Glanz in meinen Augen war verschwunden. Sie wirkten stumpf und schienen ins Nichts zu stieren. Alles in allem sah ich genauso aus, wie ich mich fühlte: völlig erschöpft. Die Anwendung des Flammenstaubs ging über jede erdenkliche körperliche Belastung hinaus. Sie ließ sich nicht mit einer durchschlafenen Nacht kompensieren. Mit einer Stunde schon gar nicht. Dabei konnte ich froh sein, überhaupt noch am Leben zu sein. Wenn ich den Flammenstaub weitere ein oder zwei Mal anwendete, wäre ich – Zellaktivatorchip hin oder her – dem sicheren Tod ausgeliefert.
Lordrichter Saryla Ich gab mir einen Ruck und riss mich von dem deprimierenden Anblick meines Abbilds los. Kaystale hatte weniger Glück als du, wisperte der Extrasinn, als ich mein Quartier verließ. Ich will dich nicht mit ihrem Tod belasten. Ich erwähne ihn nur, weil ich spüre, dass er dich ohnehin quält, sosehr du auch versuchst, ihn zu verdrängen. Ich sparte mir eine Antwort, weil mein lautloser Dialogpartner den Nagel auf den Kopf traf. Eigentlich durfte ich mich vom Zorn und der Trauer über Kaystales Tod nicht von den vor mir liegenden Aufgaben ablenken lassen, doch zum Glück war ich keine Maschine, bei der man nur einen Hebel umzulegen brauchte, um gewisse Fakten auszuschalten. Die Takererin war die Einzige aus der Besatzung gewesen, die es geschafft hatte, sich dem Lordrichter zu widersetzen. Dafür hatte er sie gnadenlos getötet. Schon aus diesem Grund war ich nicht willens, ihn zu schonen, wenn er nicht kooperierte. Gebotenenfalls würde ich Methoden einsetzen, die für ihn höchst unangenehm wären. Im bevorstehenden Kampf gegen weitere Verbände der Lordrichter konnte jeder Hinweis entscheidend sein. In Momenten wie diesen war ich froh, dass Perry Rhodan nicht in der Nähe war. Grundsätzlich teilte ich seine zutiefst humanistischen Ansichten, allerdings war ich eine Ecke härter als er, wenn es sich als nötig erwies. Wie ich Perry kannte, hätte er Foltermethoden unter keinen Umständen zugestimmt. Da das Schicksal einer oder mehrerer Galaxien davon abhing, sah ich die Sache etwas anders. Entweder der Lordrichter redete freiwillig, oder ich brachte ihn dazu. Als ich die Zentrale betrat, war die angespannte Atmosphäre beinahe mit Händen zu greifen. Die Pilotin Myreilune, nach Carmyn Oshmoshs Verweilen auf BOYSCH nun in der Position der Kommandantin, und Ypt Karmasyn hockten missmutig in ihren Sitzen und verfolgten die Anzeigen in verschiedenen Holos. »Atlan.« Die Funkerin stemmte sich in
7 die Höhe. »Wie geht es dir?« »So weit ganz gut.« »Du siehst furchtbar aus«, fand Myreilune. Es war nichts Neues, dass sie ständig auf Widerspruch aus war. »Sieht so aus, als hätte der Lordrichter dich fast geschafft.« Ich ging nicht auf ihre Spitze ein. »Wo ist er?« »Wir haben ihn in eine sichere Zelle gesperrt und ihn zusätzlich verschnürt, damit er nicht auf die Idee kommt, sich etwas anzutun. Wir können froh sein, dass wir ihn lebendig haben. Entweder besitzt er kein Todesimplantat, oder es hat nicht funktioniert.« Ypt trat zu mir und musterte mich nachdenklich. Mit ihren 1,70 Metern Körpergröße musste sie zu mir aufschauen. In den leicht geschlitzten Augen, die einen faszinierenden Kontrast zu ihrer bronzefarbenen Haut darstellten, lag Verunsicherung. »Es gab gewisse … Meinungsverschiedenheiten, was wir mit ihm tun sollen.« »Kopf um Kopf«, forderte Myreilune aus dem Pilotensessel. »Wir sollten mit ihm dasselbe machen, was er Kaystale angetan hat.« »Es ist nett, dass du das nicht gleich erledigt, sondern auf mich gewartet hast. Wenn wir den Takerer umbringen, bekommen wir nichts aus ihm heraus. Außerdem weigere ich mich, einen Gefangenen zu töten.« Deine Hemmungen, einen Gefangenen zu töten, halten dich aber nicht davon ab, ihn unter Umständen zu foltern, versetzte der Extrasinn. Von der einen Barbarei ist es nicht weit zu der anderen. Sein Wohlergehen liegt allein an ihm selbst, wehrte ich den Vorwurf mit kühler Gelassenheit ab. Natürlich war meine stumme Antwort kein schlagendes Argument, doch auf den berechtigten Vorwurf meines Extrasinns gab es auch keine. Ich hätte ihm die Wahrheit sagen können, nämlich dass ich bei dem, was auf dem Spiel stand, meinen Gefühlen folgte. Es hätte nichts gebracht. Logiksektor blieb Logiksektor, da war es sinnlos, mit Emotionen zu argumentieren. Ich dachte an die Takererin Kaystale. Die
8 Erwähnung der Kämpferin hatte mir einen Stich versetzt. Mir war nicht entgangen, dass sie mir gewisse Sympathien entgegengebracht hatte. Sie war nicht zu jeder Zeit uneingeschränkt bei allen an Bord beliebt gewesen, doch an ihrer Loyalität hatte ich nie den kleinsten Zweifel gehegt. »Habt ihr Kaystale in ihr Quartier gebracht?« »Sie liegt auf Eis.« Die Worte der Pilotin klangen härter als beabsichtigt. Dass der Tod der Takererin sie ebenfalls getroffen hatte, bewiesen mir die fahrigen Bewegungen, mit denen sie sich durch ihre hell gefärbten Haare fuhr. Die Geste passte nicht zu ihrer dominanten Art. »Ich bin davon ausgegangen, dass du den Lordrichter verhören willst.« »So ist es, Ypt«, bestätigte ich. »Ich hoffe, dass er in die Pläne des Schwerts der Ordnung eingeweiht ist.« »Freiwillig wird er sie dir nicht offenbaren«, unkte Myreilune. »Dazu müssen wir ihm wohl auf die Füße treten. Aber keine Sorge, darin bin ich Spezialistin.« »Das hat die gesamte Besatzung längst begriffen«, pflichtete der wissenschaftliche Leiter Evoron Salto der Pilotin bei. Der hagere Spezialist auf dem Gebiet von Halbraumfeldern und Sextadim-Forschung begegnete nicht nur mir mit Misstrauen, sondern hatte generelle Probleme mit der weiblichen Führungsspitze an Bord. »Status der AVACYN?«, wechselte ich mürrisch das Thema. Die Schmerzen in meinem Kopf hatten nachgelassen und einem ständigen Druck Platz gemacht. »Wir haben Kurs auf Eschens Welt gesetzt. Ich nehme an, das war in deinem Sinne?« Ich nickte. Je früher wir dort ankamen, desto besser. »Flottenbewegungen?« »Ich orte keine Schiffe in den angrenzenden Sektoren«, antwortete Ypt. Wie immer, wenn sie sich in der Zentrale aufhielt, schlürfte sie von einem süßlich riechenden Symbiontengetränk, das angeblich die Konzentrationsfähigkeit steigerte. Wäre davon
Achim Mehnert eine Wirkung auf meinen Organismus möglich gewesen, hätte ich sie gebeten, mir ein paar Liter der sämigen Flüssigkeit abzutreten. »Außerdem fange ich keine Funksprüche auf. Niemand folgt uns.« »Das ist keine Garantie, dass die Truppen der Lordrichter nicht längst auf dem Weg nach Eschen oder vielleicht sogar schon dort eingetroffen sind.« Myreilune sprach meine eigene Befürchtung aus. Dummerweise blieb uns keine andere Wahl, als das geplante Ziel anzusteuern und darauf zu vertrauen, dass wir zuerst dort ankamen. Ansonsten blieb uns nichts anderes übrig, als vor Ort zu improvisieren oder vom Wissen des gefangenen Lordrichters zu profitieren. »Wo habt ihr den Lordrichter untergebracht?«, fragte ich. Evoron nannte mir den Schiffsbereich. »Ich werde dich begleiten«, drängte sich die Pilotin in den Vordergrund. Die Vorstellung behagte mir nicht angesichts der Maßnahmen, die ich womöglich ergreifen musste. »Ich spreche lieber allein mit dem Lordrichter«, wehrte ich ab. »Euch ist sicher nicht entgangen, was er für euch empfindet. Es scheint sich um einen Takerer zu handeln, für den Ganjasen ein rotes Tuch sind. Wenn ich allein komme, ist er vielleicht etwas offenherziger.« »Dich kann er auch nicht leiden.« Myreilunes Gesicht war so übertrieben stark geschminkt, dass es mir Schwierigkeiten bereitete, eine Mimik darin zu erkennen. Statt zu antworten, verließ ich die Zentrale der AVACYN.
* Was die Pilotin als Zelle bezeichnet hatte, war eine stählerne Kammer von drei mal vier Metern. Leere Regaleinheiten standen vor schmucklosen Wänden. Ansonsten war der kleine Raum bis auf den gefangenen Lordrichter leer. Der Takerer war nicht länger nackt wie nach dem Zusammenbruch seines Eishaarfeldes, sondern trug eine sch-
Lordrichter Saryla lichte graue Kombination, wie sie an Bord der AVACYN Standard war. Beiläufig registrierte ich, wie hinter mir das Schott automatisch in seine Verankerung rastete. Obwohl der Takerer von einem Fesselfeld zur Bewegungslosigkeit verurteilt wurde, spürte ich auf Anhieb die negative Aura, die ihm anhaftete. Er schaute nicht nur auf andere Lebewesen herab, sondern verachtete alle, die schwächer waren als er selbst, und opferte sie, wenn es seinen Zielen diente. Er verkörperte all das, was ich an Intelligenzwesen zutiefst verabscheute. Unterdrückung. Zügellose Machtgier. Sogar schiere Mordlust. Hinzu kam zweifellos ein eklatanter Mangel an Mitgefühl. Bösartigkeit war die treffendste Bezeichnung, die mir bei seinem Anblick einfiel. Abgrundtief böse war er. Jetzt jedoch nicht mehr. Von seiner einstigen Macht war nichts geblieben, nur Hilflosigkeit. Er war mir wehrlos ausgeliefert. Ohne seine Position in der Großen Horde hätte ich glatt Mitleid für ihn empfinden können. Aus müden Augen betrachtete ich ihn. Sein Körper stand in krassem Widerspruch zu seinem Wesen. Er war etwa so groß wie ich, leicht übergewichtig und auf groteske Weise verunstaltet. Seine rechte Hand war verstümmelt und ließ sich zweifellos nicht mehr zweckgerichtet einsetzen. Eine martialisch aussehende Narbe verwandelte sein Gesicht in eine deformierte Fratze, die sich eine Stunde zuvor noch hinter einer eisglitzernden Nebelwolke aus dünnen Fädchen verborgen hatte. Mit der davon ausgehenden Ausstrahlung der Macht war auch die Bedrohlichkeit des Lordrichters gewichen. Er ist gefährlich, immer noch. Lass dich nicht von seiner scheinbaren Hilflosigkeit täuschen. Ich zuckte zusammen, als sich Ovarons Bewusstseinssplitter unerwartet meldete. Seit dem vorangegangenen Kampf hatte er geschwiegen, und ich hatte seine Präsenz beinahe vergessen. Ich ahne die Gefahr ebenfalls, pflichtete
9 der Extrasinn ihm bei. Es ist töricht von dir, dich allein mit dem Lordrichter zu unterhalten. Du hättest Myreilunes Angebot annehmen sollen. Er kann sich weder regen noch auf die Fähigkeiten seines Eishaarfeldes zurückgreifen. Er stellt keine Gefahr dar, wiegelte ich ab. Ich wusste selbst nicht, woher ich die Gewissheit nahm. Möglicherweise täuschte ich mich und hätte auf die Stimmen meiner beiden stummen Ratgeber hören sollen. Es fiel mir schwer, meine Gedanken zu sortieren. Ich schloss meine tränenden Augen, als eine Schmerzwelle durch meinen Kopf brandete. Es bereitete mir sogar Mühe, mich auf die Dagor-Lehre zu konzentrieren, die mich in meinem Leben selten im Stich gelassen hatte. Der Körper war nichts, der Geist war alles. Er hatte die völlige Herrschaft über das Fleisch. Die Verinnerlichung der ehernen Erkenntnis half mir auch jetzt. Die Schmerzwelle ebbte ab. Als ich die Augen wieder öffnete, hatte sich mein Blick geklärt. Der Takerer betrachtete mich aufmerksam. Was für Schlüsse mochte er aus meinem Schwächeanfall ziehen? Es war gleichgültig, denn er konnte keinen Vorteil daraus ziehen. Er braucht keine Waffe und auch keine körperliche Handlungsfähigkeit, um eine Bedrohung darzustellen, drang Ovarons Bewusstseinssplitter in mich. Ich passe schon auf. »Du hast dich als fähigsten der Lordrichter bezeichnet«, wandte ich mich an den Gefangenen, um ihn aus der Reserve zu locken. »Von dieser Herrlichkeit ist dir nicht viel verblieben.« »Saryla. So lautet mein Name. Präg ihn dir gut ein, Arkonide.« Der verstümmelte Takerer sprach leise. Kaltes Feuer glomm in seinen Augen, das seiner hilflosen Lage widersprach. Sollte an den stummen Warnungen meiner Bewusstseinspartner doch etwas dran sein? Ich konnte es mir nicht vorstellen, denn das Fessel-
10 feld ließ ihm keinen Spielraum. »Du hast einen Fehler begangen, an Bord der AVACYN zu kommen.« Ich musterte ihn von oben bis unten, was ihm sichtlich missfiel. Die entstellende Narbe in seinem Gesicht zuckte wie eine eigenständige Kreatur. Saryla wand sich in seinen unsichtbaren Fesseln. Für einen aberwitzigen Moment fürchtete ich, er würde sie so spielerisch überwinden, als seien sie gar nicht vorhanden. Kein Wesen vermochte sich gegen eine solche Umklammerung zu stemmen. Er schaffte es lediglich, seinen Kopf zu bewegen und in meine Richtung zu drehen. Mehr war ihm nicht möglich. Meine eigene Unsicherheit behagte mir nicht. Sie konnte nur aus meiner körperlichen Schwäche resultieren. »Bist du sicher? Wer sagt dir, dass nicht alles so läuft, wie ich es geplant habe?« »Du hast geplant, dich von deinem Feind gefangen nehmen zu lassen? Das widerspricht den Prinzipien der Garbyor. Bevor sie hilflos einem Feind in die Hände fallen, gehen sie lieber in der Großen Horde auf.« »Ich bin nicht so hilflos, wie du denkst, Arkonide.« Plötzlich erkannte ich verzehrenden Hass in der Stimme des Lordrichters. »Es ist mir mühelos gelungen, ein Mitglied der Besatzung dieses Schiffs zu töten.« Eine kalte Hand griff nach meinem Herzen, als ich Kaystales Abbild vor mir sah. Ich war drauf und dran, nach dem Lordrichter zu schlagen. Nur mit Mühe gelang es mir, den Drang zu unterdrücken. »Dir hat etwas an ihr gelegen«, interpretierte Saryla mein Zögern richtig. »Umso mehr freut es mich, dass die verräterische Takererin tot ist.« »Das kann auch dir passieren, wenn du mir nicht einige Fragen beantwortest.« »Ich kann dich töten, bevor du es überhaupt begreifst.« Sarylas verzerrtes Gesicht fegte meine letzten Zweifel fort, dass sein Hass sich gegen mich richtete. Seine Behauptung hingegen hielt ich für Aufschneiderei oder Hinhaltetaktik. Er hätte nicht einmal etwas dagegen unternehmen können,
Achim Mehnert wenn ich ihm mit einem gezielten Dagorgriff das Genick gebrochen hätte. »Es gibt kein Leben außer in Trodar.« Ich schüttelte den Kopf. »Die Doktrin der Horde und ihrer Herren wirkt bei mir nicht. Sie ist so unsinnig wie plakativ.« »Wie Recht du hast. Auch die Große Horde ist nur etwas für Dummköpfe, und von denen gibt es mehr als genug, wie du sicher weißt.« Bei seinen Worten zuckte ich alarmiert zusammen. Es gab keinen Widerspruch gegen das Schwert der Ordnung. Selbst bei einem Lordrichter konnte ich mir das nicht vorstellen, wenn ihm sein Leben lieb war. Ich besaß immer noch viel zu wenig Informationen über das Schwert, doch Saryla opferte sein Leben sicher nicht so bereitwillig, wie es die indoktrinierten Garbyor-Hilfsvölker taten. Was also bezweckte er mit seinen Worten? Gab er sich der Hoffnung hin, mich in trügerischer Sicherheit wiegen zu können? Vielleicht beabsichtigte er, sich auf ein Psychospiel mit mir anzulegen. Dazu hatte ich weder Lust noch Zeit. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Lordrichters. Ich vermochte nicht zu unterscheiden, ob es unerschütterliche Arroganz verriet oder mit kalter Berechnung zur Schau getragen wurde. Ich straffte meinen Körper und trat hinter ihn. »Was hast du vor, Arkonide?« »Ich sagte es dir bereits. Ich erwarte Informationen von dir.« »Ich habe es nicht vergessen, und ich spüre, dass es dir ernst damit ist. Du würdest alles tun, um sie zu erhalten. Doch glaubst du wirklich, sie einem Lordrichter mit Gewalt entreißen zu können?« Saryla lachte hell auf. Es war ein Lachen, wie ich es nie zuvor vernommen hatte. Es war ein einziger Ausdruck von Hass und Verachtung. Der Takerer war kalt, so kalt. »Ich lasse es auf einen Versuch ankommen, wenn du mich dazu zwingst«, eröffnete ich ihm. »Davon bin ich überzeugt. Doch deine Drohung berührt mich nicht. Du hast keine
Lordrichter Saryla Vorstellung von wahrer Gewalt, Atlan. Ich habe sie in all ihren Spielarten kennen gelernt. Manche habe ich erfunden, andere verfeinert. Es ist erstaunlich, zu welchen Ideen die Phantasie einen intelligenten Geist treiben kann. Ich kann dir Methoden zeigen, von denen du keine Ahnung hast.« Die Methoden der Lordrichter interessierten mich nicht. Trotz meiner Bereitschaft zur Gewalt in diesem speziellen Fall trennten sie und mich Welten. Sie agierten auf einer Ebene, auf die ich mich niemals begeben wollte. Dir fällt nicht auf, dass du dir selbst widersprichst, warf mir der Extrasinn vor. Bis zu welchem Punkt bist du bereit, deine Prinzipien zu dehnen? Soweit es nötig ist, belehrte ich ihn. Und soweit ich es verantworten kann, ohne mein Identität zu verlieren. Du warst noch nie so nahe daran, das zu tun, wie seit der wiederholten Benutzung des Flammenstaubs. Es ist ein schleichender Prozess, den du noch immer nicht in seiner ganzen Tragweite erkennst, du Narr. »Wieso wolltest du mich umbringen?«, wandte ich mich an Lordrichter Saryla, statt das sinnlose Geplänkel mit meinem Logiksektor fortzusetzen. »Weil ich auf dich angesetzt wurde. Ich vermute, du hast längst begriffen, dass die Zerstörung der Kirigalo-Einheit und ihrer Zaqoor-Begleitschiffe nur gelungen ist, weil ich es gestattet habe. Ich hatte es von Anfang an so geplant, um in deine direkte Nähe zu gelangen.« »Das ist dir gelungen.« Sarylas Großspurigkeit schrie geradezu nach Sarkasmus. »Dein Plan hat nicht ganz so funktioniert, wie du gedacht hast. Es beruhigt mich ungemein, dass die geheimnisvollen Lordrichter solche Fehler begehen.« »Mein Plan war perfekt«, fauchte der Takerer. »Du bist auf jedes Detail meiner ausgeklügelten Charade hereingefallen. Unter normalen Umständen wärst du jetzt tot.« »Was ist schon normal in einem Universum, in dem sich der Wahnsinn ständig wei-
11 ter ausbreitet? Perfekter Plan oder nicht – du kannst nicht leugnen, dass er schief gegangen ist. Oder sehe ich das falsch, dass ich am Leben bin und du dich in meiner Hand befindest?« »Ich hasse dich«, giftete Saryla. Die Eröffnung ging spurlos an mir vorbei, da ich das längst begriffen hatte. Umso mehr überraschten mich die nächsten Worte des Lordrichters. »Allerdings gibt es jemanden, den ich noch viel mehr hasse als dich. Deshalb werde ich dir helfen und dir meine Geschichte erzählen. Welche Erkenntnisse du daraus ziehst und was sie dich lehrt, liegt ganz allein in deinem Ermessen.« Und Saryla begann zu berichten.
2. Vergangenheit Die Disziplin durfte nicht gefährdet werden, denn Disziplin war alles. Disziplin war das Wesen der Takerer, Unstetigkeit und Minderwertigkeit hingegen das der Ganjasen. Der schulische Leitsatz spukte in seinem Hinterkopf herum, obwohl Sarylas Überlegungen von einem ganz anderen Thema beherrscht wurden. Sie drehten sich um Trayn und hatten mit Disziplin nicht das Geringste zu tun. Das hatte auch Trayn nicht, deshalb gab es keinen Grund, sich einen Vorwurf zu machen. Außerdem war niemand undiszipliniert, der sich nicht erwischen ließ. Ein integraler Bestandteil der Disziplin war die Fähigkeit, im Verborgenen zu agieren und nicht in die Verlegenheit zu kommen, sich einem anderen gegenüber für sein Tun verantworten zu müssen. Vorsichtig öffnete Saryla die Tür in den angrenzenden Korridor und spähte hinein. Niemand hielt sich darin auf, weder Lehrer noch Schüler. Er hatte sich einen günstigen Zeitpunkt für seinen Plan ausgesucht. Die allgemeine Freistunde war die einzige Möglichkeit, die Vorbereitungen zu treffen, mit denen er seinem Nebenbuhler eins auswischen konnte.
12 Nebenbuhler! Er kannte den Begriff von seinem Vater, auch wenn ihm dessen Bedeutung verschlossen blieb. Das Wort allein klang gut. Es sagte alles und nichts aus. Eine Menge ließ sich hineininterpretieren, viel von dem, was einem durch den Kopf ging, wenn man jemanden nicht mochte. Und Saryla mochte seinen Mitschüler Trayn ganz und gar nicht. Das hagere Bürschchen mit den feuerroten Haaren und dem Gesicht voller Sommersprossen, mit denen es einem Ghurta aus den Wäldern Sytios glich, besaß die Unverschämtheit, Rowena nachzustellen. Trayn machte ihr kleine Geschenke, obwohl sein Vater auf den Plantagen arbeitete. Zwar kamen sie an Sarylas Zuwendungen für das schwarzhaarige Mädchen mit der kecken Stupsnase nicht heran, doch allein die Dreistigkeit verlangte nach einem Dämpfer, den Trayn so schnell nicht vergessen würde. Die Lieblichkeit ihres Gesichts rührte ein Gefühl in Saryla an, das er sich nicht erklären konnte. Ähnlich empfand er sonst nur für Mutter und Vater. Dabei war Rowena gar nicht mit ihm verwandt. Saryla verharrte, als er ein Geräusch vernahm, und lauschte. Sein eigener Herzschlag kam ihm übermäßig laut vor. Er wusste nicht, welche Strafe ihm drohte, wenn man ihn erwischte, denn in seinen ersten beiden Schuljahren hatte er sich noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Daheim gab es kaum etwas, wofür ihn seine Eltern zur Rechenschaft zogen, doch manche der Lehrer waren von einem anderen Kaliber. Sie verhängten drakonische Strafen, wenn ihnen danach war. Saryla hatte es einmal erlebt, als einer seiner Mitschüler unbemerkt eine Tachyt-Echse in den Klassenraum geschmuggelt und ein Heidendurcheinander ausgelöst hatte. Man hatte ihn von der Schule verwiesen. Niemand hatte jemals wieder von dem Jungen gehört. »Das geschieht ihm ganz recht«, hatte Sarylas Vater den Vorgang kommentiert, als er davon erfuhr. »Bei dieser Sippschaft kann man nichts anderes erwarten, ganz beson-
Achim Mehnert ders nicht bei dem Vater. Dieser KayolenPflücker hegt gewisse Sympathien für die Ganjasen. Man hätte den Jungen gleich auf die Plantagen schicken sollen, statt den vergeblichen Versuch zu unternehmen, ihm Anstand und moralische Integrität zu vermitteln.« Manchmal benutzte Sarylas Vater Ausdrücke, die der Junge nicht verstand. Was an ihrer Richtigkeit aber natürlich nichts änderte. Sein Herzschlag beruhigte sich, als niemand in den Korridor trat. Er schloss die Tür hinter sich und eilte zum Prüfungssaal, der ebenfalls verlassen lag. Dutzende Pulte reihten sich darin, die den Eindruck erweckten, bar jeglicher Funktionalität zu sein. Das würde sich schlagartig ändern, sobald die Prüflinge in den auf Achtjährige zugeschnittenen Sitzen Platz nahmen. Du wirst dich wundern, Trayn, du Missgeburt, dachte Saryla verächtlich. Ich werde dafür sorgen, dass dich diese Schule ebenfalls schon bald vergessen hat und mit ihr alle, die du jemals kanntest. Da niemand den Raum betrat, eilte er zu dem Pult, auf das er es abgesehen hatte. Die Position war ihm so vertraut wie die seines eigenen Lernplatzes, denn er war häufig daran vorbeigegangen und hatte es mit zornigen Blicken taxiert. Zuweilen hatte er sich vorgestellt, seinen in die Aufgaben vertieften Mitschüler mit einem ansatzlosen Haken niederzustrecken. Trayn hatte seinem kräftemäßig weit überlegenen Konkurrenten nichts entgegenzusetzen. Vermutlich würde der Magersüchtige sich den Rotz aus dem Leib heulen und auf die Hilfe der Lehrer pochen. Körperliche Gewalt war in der Schule verpönt, und Saryla hatte sie auch daheim niemals kennen gelernt. Am Ende würde diese Missgeburt noch Recht bekommen. Darauf wollte Saryla es nicht ankommen lassen. Wozu auch? Es gab andere Möglichkeiten, Trayn bei Rowena lächerlich zu machen. Saryla ließ seine Fingerspitzen über die in
Lordrichter Saryla die Tischplatte versenkten Sensorfelder huschen. Er stellte sich vor, wie die verborgenen Bedienungselemente zum Vorschein kamen und in langen Reihen die Holomonitoren zum Leben erwachten. Jetzt blieben sie inaktiv, weil er sorgfältig darauf achtete, keine Kontrolleinrichtung zu berühren, die ihn verraten konnte. Er brauchte nicht einmal hinzuschauen, als er die Eingaben an Trayns Pult vornahm, sondern behielt den Eingang im Auge, bereit, sich zwischen den Pulten zu verstecken, falls ein Lehrer einen unvorhergesehenen Kontrollgang unternahm. Er durfte sich nicht erwischen lassen, wenn er sich nicht ebenfalls den Zorn des Lehrkörpers zuziehen wollte. Dabei handhabte er die Eingaben so spielerisch, wie es kaum ein Kind in seinem Alter konnte. Schon im zarten Alter von drei Jahren hatte er im Elternhaus die ersten Erfahrungen mit den in jedem Raum installierten Rechnern gemacht. Damit hatte er dem Großteil seiner Altersgenossen einige Jahre voraus, denn deren Eltern arbeiteten überwiegend auf den Plantagen, um ihr tägliches Brot zu verdienen. Sie besaßen keine eigenen Häuser, geschweige denn darin vernetzte Computersysteme, an denen sie ihre Kinder ausbilden konnten. Hungerleider! Saryla liebte auch dieses Wort, das sein Vater bei jeder sich bietenden Gelegenheit von sich gab, wenn er es mit Vertretern der niederen Stände zu tun hatte. Hungerleider. Trayns Familie gehörte dazu. Vielleicht war das Sommersprossengesicht deshalb solch eine halbe Portion, die ausgemergelt wirkte und bei jedem Wettlauf um Längen hinter Saryla zurückblieb. Den meisten Mitschülern ging es nicht anders. Sie besaßen keine Sporteinrichtungen im Elternhaus, an denen sie sich von klein an stählen konnten. Saryla war ein kräftiger Bursche von, wie sein Vater sich ausdrückte, gutem Wuchs, der einmal zu einem stattlichen Mann heranwachsen sollte. Nicht nur in seiner eigenen Klasse, sondern in der gesamten Schule vermochte es in sportlicher Hinsicht kaum jemand mit ihm aufzunehmen. Wenn jemand
13 bei den Wettläufen es schaffte, mit ihm gleichzuziehen, so war es Rowena. Allein aus diesem Grund bewunderte er sie. Dass seine Gefühle für sie noch einen anderen Grund hatten, konnte er in seinen jungen Jahren nur ahnen. Nachdem er seine Vorbereitungen abgeschlossen hatte, verließ er den Raum so leise und unbemerkt, wie er ihn betreten hatte. Wenig später mischte er sich im Innenhof unter seine Klassenkameraden, von denen keinem seine vorübergehende Abwesenheit aufgefallen war. Einzig Rowena warf ihm einen fragenden Blick zu. »Die Antwort erhältst du in einer Stunde«, flüsterte er, als er sich zu ihr gesellte. Von Trayn war nichts zu sehen. Der Hungerleider mied Saryla. Dazu sollte er bald noch viel mehr Anlass haben. Ein gehässiges Grinsen zierte Sarylas Gesicht.
* Er ahnte, dass sein Plan nicht aufging, als er vor der nächsten Unterrichtsstunde am Betreten des Schulgebäudes gehindert wurde. Ein Lehrer, den Saryla erst ein paarmal gesehen hatte und den er als Karvon kannte, stellte sich ihm in den Weg und verwehrte ihm den Zutritt. Eine sanfte Brise spielte mit der weit geschnittenen Oberbekleidung des drahtigen Mannes. »Wohin willst du denn so eilig?« »Ich habe gleich eine Prüfung. Sie beginnt in wenigen Minuten.« Saryla versuchte sich an dem Lehrer vorbeizudrücken. Dessen Hand schnellte vor und hielt den Jungen fest. »Deine Schulkameraden haben eine Prüfung, du nicht. Du wirst mich begleiten.« »Dazu habe ich keine Zeit.« Saryla wand sich in dem stählernen Griff. Trotz seiner sportlichen Veranlagung kam er nicht dagegen an und fügte sich notgedrungen in sein Schicksal. »Was hast du mit mir vor? Wenn ich die Prüfung versäume, bekommst du Ärger mit
14 meinem Vater. Er ist ein wichtiger Mann, der sich so etwas nicht gefallen lässt.« »Er ist reich – nicht wichtig.« Geringschätzung sprach aus den Worten des Lehrers. »Es mag sein, dass er selbst den Unterschied nicht kennt, du hingegen wirst ihn frühzeitig lernen, um nicht eines Tages so zu werden wie er. Und zu deiner Beruhigung, dein Vater wurde bereits benachrichtigt. Er ist auf dem Weg hierher. Ich bin sehr gespannt, was er zu den geschickten Manipulationen seines Sohnes sagen wird.« Die Worte ließen keinen Zweifel, dass beobachtet worden war, wie Saryla sich an Trayns Pult zu schaffen gemacht hatte. Sein Plan war nicht nur vereitelt worden. Es stand zu befürchten, dass er selbst nun als der Dumme dastand, über den sich die ganze Schule lustig machen würde. Saryla kam nicht auf die Idee, sich selbst einen Vorwurf zu machen. Die Missgeburt trug die Schuld an den Folgen, die auf ihn warteten. Er fragte sich, wie sein Vater reagieren würde. Er ist nicht wichtig, hatte Karvon gesagt. Wenn das stimmte, konnte auch er nichts gegen die Schulführung unternehmen. Drohte Saryla der Schulverweis? Und wenn schon, sein Vater würde ihn auf eine andere Schule schicken, die viel besser war als diese hier. Trotzdem blieben Zweifel, als Lehrer Karvon den Jungen ins Lehrgebäude schob, nachdem der Rest der Kinder darin verschwunden war. Sie gingen nicht in die Richtung, in der die Klassenräume lagen. Sie betraten einen Flügel, in dem der Junge noch nie gewesen war. Er war für die Zöglinge tabu. Neugierig sah Saryla sich um, doch die Gänge unterschieden sich nicht von denen, die er kannte. In regelmäßigen Abständen gab es Türen. Er fragte sich, was für Räume dahinter liegen mochten, denn unterrichtet wurde in diesem Bereich der Schulanlage nicht. Am Ende des Korridors lag ein Antigravschacht, in den sie stiegen. Das aufwärts gepolte Feld trug sie vier Stockwerke nach oben, wo sie es wieder verließen. Bis auf
Achim Mehnert verschiedene holografische Aufnahmen an den Wänden war das Bild das gleiche wie unten. Türen reihten sich, die Saryla verunsicherten. Sie waren wie Durchgänge in eine andere Welt, die sich vor ihm verbarg. Er konnte es nicht leiden, wenn sich ihm etwas nicht offenbarte, auf das er gern einen Blick geworfen hätte. Nichts und niemand hatte das Recht, sich vor ihm zu verstecken. Das stand allein ihm zu. Für einen Moment wähnte er sich unsichtbar. Niemand konnte ihn sehen, nicht Karvon und auch nicht die anderen Lehrer. Er hatte keine Angst vor ihnen, doch es behagte ihm nicht, ihnen und ihren Launen ausgeliefert zu sein. Sein Vater war niemandem ausgeliefert und niemandem Rechenschaft schuldig. Auf seinen Plantagen tanzten alle nach seiner Pfeife, auch die elterlichen Hungerleider der Missgeburt Trayn. Eines Tages, nahm er sich vor, werde ich tatsächlich unsichtbar sein, auf welche Weise auch immer. Ich werde ein heimlicher Impulsgeber unserer Welt sein, und meine tausend Augen werden alles sehen und überwachen. Dummerweise war dies nur ein hehrer Wunsch, ein törichter sogar, wie Saryla sehr wohl wusste. Sollte es irgendwann dazu kommen, lag dieser Tag in ferner Zukunft. Lehrer Karvon öffnete eine der Türen und dirigierte den Jungen in den dahinter liegenden Raum. Er war größer als die Klassenzimmer und wohnlicher eingerichtet. Die multifunktionalen Pulte waren auch hier zweckmäßig angelegt, dabei jedoch in ein stimmungsvolles Gesamtbild aus mehreren gemütlichen Sitzlandschaften, geschmackvoll arrangierten Zwergbäumen und der Zerstreuung dienenden Holoprojektionen eingepasst. Die meisten davon zeigten Planetensysteme oder Ausschnitte von Welten, die so fremd waren, dass es sich dabei nicht um Sytio handelte. Saryla lächelte, als er sie sah, und hätte sich am liebsten mit Feuereifer in ihre Untersuchung gestürzt. Neues faszinierte ihn immer. Auch wenn der Umstand seines heutigen Hierseins kein erfreulicher war, kann-
Lordrichter Saryla ten ihn alle Lehrer als aufgeweckten und klugen Schüler, der sich unter seinesgleichen rasch durchsetzte. Die steinernen Mienen der anwesenden Lehrer verrieten ihm, dass er für sein kleines Vergehen gleichwohl keine Gnade von ihnen zu erwarten hatte. Dabei war die Durchführung nicht einmal gelungen. Im Grunde hatte er sich gar nichts zuschulden kommen lassen, doch zweifellos waren sie anderer Meinung. Saryla seufzte. Alles hätte so schön sein können ohne den dürren Trayn. Abermals wünschte er sich, unsichtbar und den durchdringenden Blicken der Lehrer entzogen zu sein. »Hast du etwas zu deiner Verteidigung zu sagen?« Es war Konrektor Loschkon, der die Worte ausstieß. Der massige Mann mit dem schütteren Haar galt als besonders restriktiv im Umgang mit in ihrem Verhalten irregeleiteten Schülern. »Ich habe nichts getan«, gab Saryla trotzig zurück. Er entschied, den Arglosen zu spielen, der zu Unrecht einer Missetat bezichtigt wurde. Niemand war in der Nähe gewesen, der ihn beobachtet hatte. Vermutlich hatte man die Manipulation entdeckt und verdächtigte ihn, ohne Beweise zu haben. Es war bekannt, dass er Trayn nicht mochte. Er hatte nie ein Hehl daraus gemacht, besonders Rowena gegenüber nicht. Der Türsummer riss ihn aus seinen Gedanken. Lehrer Karvon öffnete, und Sarylas Vater trat ein. »Foraton«, begrüßte Loschkon den hochgewachsenen, durchtrainierten Mann und erhob sich aus seinem Sessel. »Ich danke dir, dass du unserer Einladung so schnell gefolgt bist.« Foraton überragte ihn um Haupteslänge. Der Plantagenbesitzer war braun gebrannt, weil er sich, sooft es ging, im Freien aufhielt. Er ließ es sich nicht nehmen, die Erntearbeiten der Pflücker und der unter ihrer Aufsicht stehenden Maschinen von nahe gelegenen Aussichtspunkten zu beobachten. »Von einer Einladung kann wohl keine Rede sein, eher von einer Vorladung.« Er
15 sah sich um und bedachte seinen Sohn mit einem aufmunternden Blick. »Was ich hier sehe, gefällt mir nicht, Konrektor. Ich gewinne den Eindruck eines Tribunals, dem man meinen Sohn aussetzt.« »Leider zwingt uns ein ernsthafter Zwischenfall zu diesem Vorgehen.« Loschkon wand sich sichtlich. »Glaub mir, es ist mir äußerst unangenehm, aber wir …« »Unangenehm?«, warf Karvon ein. »Saryla hat in verantwortungsloser Weise Zugriff auf die Einrichtungen der Schule genommen. Dafür gibt es keine Entschuldigung.« »Stimmt das, Saryla?«, fragte Foraton. Der Junge schwieg verbissen. »Sein Schweigen ist beredt genug.« Karvon fuchtelte mit den Händen und deutete zu einem Schaltpult. »Doch du kannst dich mit eigenen Augen davon überzeugen, was dein Sohn versucht hat. Er scheint der Meinung zu sein, sich die gleichen Freiheiten herausnehmen zu können wie sein Vater.« »Schweig!«, fuhr Loschkon seinem Untergebenen in die Parade. Sein Gesicht war kalkweiß. »Aber wieso denn? Ich verstehe nicht …« Karvon brach ab, als er einen warnenden Blick des Konrektors auffing. »Er sprach von einem Beweis.« Ein drohender Unterton lag ins Foratons Stimme. »Zeigt ihn mir, denn ich gestatte nicht, dass meinem Sohn aus der Luft gegriffene Vorhaltungen gemacht werden.« Wortlos aktivierte Karvon ein Holo. Saryla zuckte zusammen, als er den ablaufenden Film verfolgte. Eine versteckte Überwachungseinrichtung hatte seinen Eingriff aufgenommen und vermutlich einen stillen Alarm ausgelöst. Deutlich war zu sehen, wie er sich am Rechner von Trayns Pult zu schaffen machte. »Hätten wir die Manipulation nicht rückgängig gemacht, wäre es mitten in der Prüfung zu einem Kollaps am System von Sarylas Klassenkameraden gekommen, die wir Trayn angelastet hätten.« »Das hat der Hungerleider verdient«,
16 zischte Saryla drohend. Instinktiv stellte er sich auf die Zehenspitzen, um größer zu erscheinen. »Er hat mich provoziert. Es war nur rechtens, dass ich mich auf diese Weise verteidigt habe.« »Ich nehme an, dass du diese Sichtweise nicht teilst, Foraton«, buckelte Loschkon. »Ich frage dich daher, was wir mit deinem Sohn machen sollen.« »Du fragst ihn, Konrektor?« Karvon war außer sich vor Empörung. »Das ist ja unerhört. Ein derartiger Zwischenfall rechtfertigt einen Verweis von der Schule.« »Von der Schule, deren Unterhaltung ich zu einem Teil trage. Meine Herren, liegt es nicht in eurer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass es Schülern unmöglich ist, die Schulsysteme zu manipulieren?« Mit einem Lächeln tat der Plantagenbesitzer die Vorwürfe ab. »Statt meinen Sohn zu verurteilen, solltet ihr ihm dankbar sein, dass er euch diese Schwachstelle aufgezeigt hat.« Karvons Gesicht verfärbte sich puterrot. Er setzte zu einer harschen Antwort an. »Kein Wort mehr!« Der Konrektor war noch eine Spur blasser geworden. Seine Stimme zitterte. »Ich bin geneigt, mich Foratons Einschätzung anzuschließen. Bevor wir Fehler bei anderen suchen, müssen wir uns selbst in Frage stellen. So interpretiere ich das Gebot der Disziplin.« »Können wir gehen?«, wandte Saryla sich lächelnd an seinen Vater. Foraton schaute fragend in die Runde. »Gibt es Einwände, meine Herren?« Die versammelten Lehrer schwiegen. Karvon war in sich zusammengesunken und wagte keinen weiteren Widerspruch. Loschkon neigte den Kopf und machte eine zustimmende Geste. »Ich danke dir für deinen Besuch, Foraton«, verabschiedete er den Plantagenbesitzer. »Ich werde Saryla umgehend persönlich zum Prüfungsraum geleiten. Danach möchte ich unter vier Augen mit dir sprechen, Karvon.« Saryla bekam die unterschwellige Drohung nicht mit. Doch er sah Karvon nie wie-
Achim Mehnert der.
* »Du hättest ihn sehen sollen. Ich dachte, jeden Augenblick platzt er.« Bei der Erinnerung an Lehrer Karvons Gesichtsausdruck brach Saryla in schallendes Gelächter aus. Gemeinsam mit Rowena saß er auf einem aufgeschütteten Begrenzungswall, der scheinbar bis zum Horizont reichte. Er verlief rings um die Plantagen seines Vaters, die so ausgedehnt waren, dass man nur einen kleinen Teil davon sehen konnte. »Er ist nicht mehr in die Schule gekommen.« Rowena trug ein luftiges Kleid aus buntem Stoff. Sie schaute zum wolkenlosen Himmel empor, wo sich die gewaltige Scheibe der gelben Sonne abzeichnete. Der Sommer hatte seinen Höhepunkt erreicht, und die Erntemaschinen arbeiteten auf Hochtouren. Saryla verfolgte das Treiben der Maschinen. Monströsen Kraken gleich, zogen sie ihre Bahnen über die Karula-Felder. Unzählige Tentakel der schwebenden Giganten bohrten sich in den Boden und entrissen ihm die mannsgroßen Knollen, um sie in voluminösen Körben zu verstauen. Was sich vor den Augen der beiden Kinder dehnte, war nur ein Teil der Plantagen. In anderen Gegenden wuchsen Talu-Flechten, KastonaStangen, Medora-Stauden und zahlreiche weitere Gemüsesorten. Zudem gehörten Foraton ausgedehnte Plantagen mit Zitrusfrüchten. »Du meinst Karvon? Nein, er ist nicht mehr gekommen. Vermisst du ihn etwa? Im Gegensatz zu wichtigen Leuten sind Lehrer austauschbar.« Karvon hatte sich bei der Einschätzung von Sarylas Vater gründlich getäuscht. Er ist reich – nicht wichtig. Foraton war immerhin wichtig genug, dafür sorgen zu können, dass der großmäulige Lehrer sich nach einer Arbeit als Pflücker umschauen musste. Die Vorstellung bereitete Saryla Vergnügen.
Lordrichter Saryla »Ich vermisse ihn nicht. Ich wundere mich nur.« Rowena sah ihn verunsichert an. »Dein Vater ist dafür verantwortlich, nicht wahr?« »Vielleicht.« Saryla zuckte die Achseln. »Vielleicht auch nicht. Karvon kann froh sein, dass nicht ich über sein Schicksal entschieden habe. Dann wäre es ihm noch viel schlimmer ergangen.« Düstere Bilder waberten durch seinen Geist, als er sich vorstellte, wie er selbst die Macht seines Vaters eingesetzt hätte. Die ganze Schule hätte für Karvon gebüßt. Grundsätzlich hatte er nichts gegen das Institut, schließlich war und blieb er ein überdurchschnittlich guter Schüler, dem alles leichter fiel als seinen Mitschülern. Doch keiner durfte sich ihm gegenüber so verhalten. Bei seinem Vater wagte das auch niemand. Noch jeder, der diesen Fehler begangen hatte, hatte ihn irgendwann bitter bereut. »Ich wüsste trotzdem gern, was aus ihm geworden ist.« »Belaste dich nicht mit solchen Gedanken. Wir sind hergekommen, um gemeinsam über die Disziplin nachzudenken.« Es war der Tag der inneren Reinigung, der achte und letzte Tag der Woche. Er diente allein dem Müßiggang und der inneren Einkehr. Die Zöglinge sollten an diesem Tag nicht an die Schule denken, sondern an andere Dinge ihres Lebens, um sich dem Institut am kommenden Tag wieder mit all ihrer Kraft widmen zu können. »Ich weiß, dass du nicht wirklich darüber reden willst«, hielt Rowena ihm entgegen. »Du traust der Disziplin nicht.« Saryla grinste. »Ich traue ihr schon, aber ich beuge mich ihr nicht. Das wäre undiszipliniert.« »Du solltest dich nicht darüber lustig machen. Für unsere Eltern ist sie ein wichtiges Ordnungsprinzip jenseits des Alltags.« »Das sind Floskeln, bei denen ich mir nichts vorstellen kann. Es fällt mir schwer, es zu erklären. Sie haben für mich keinen … Inhalt.« Zumindest keinen, der Saryla zusagte. Der Zwischenfall mit Karvon hatte ihm
17 bewiesen, dass er sich nicht unterordnen musste, auch wenn die Disziplin etwas anderes verlangte. »Stell dir vor, du wärest gezwungen, dich einem Ganjasen unterzuordnen. Wie würdest du dich verhalten?« »Wie kommst du auf eine solche Idee? So etwas wird niemals geschehen.« »Natürlich nicht. Stell dir einfach nur einmal vor, es ergäbe sich eine Situation, in der du vor dieser Möglichkeit stündest.« Rowena schüttelte vehement den Kopf. »Dazu wird es niemals kommen. Die Ganjasen sind unsere Urfeinde. Wir alle wissen das.« Saryla schürzte die Lippen und lächelte. Natürlich waren die Ganjasen das. Jedes Takererkind lernte das von klein auf. Niemals durfte vergessen werden, was die Ganjasen den Takerern angetan hatten. Am liebsten würden sie uns alle töten und unser Volk ausrotten. Wir müssen uns gegen sie zur Wehr setzen. Doch wie sollte man das tun, wenn man strikt dem Diktat der Disziplin folgte? Anscheinend hatte bisher kein Mensch auf Sytio den Widerspruch bemerkt. »Ich suche meinen Glauben noch.« »Ich verstehe nicht, was du meinst.« Rowena verzog traurig das Gesicht. »Aber ich würde es gern verstehen.« Saryla konnte ihr das nicht übel nehmen. Er begriff selbst nicht richtig, was er ausdrücken wollte. »Der Tag wird kommen, wo wir beide es verstehen werden«, murmelte er. »Eines Tages wird all das dir gehören«, wechselte Rowena das Thema. Sie drückte sich an ihn und legte ihren Kopf auf seine Schulter. »Die Plantagen meiner Eltern werden mir gehören. Stell dir nur vor, wir legen sie zusammen. Dann wird unser Land vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang reichen. Ist das nicht romantisch?« Die Vorstellung gefiel Saryla, doch er dachte nicht an die Romantik, sondern an die Macht, die damit einherging. Einen Vorgeschmack hatte er erhalten. Es ging ihm nicht aus dem Kopf, wie sein Vater selbst
18
Achim Mehnert
den mächtigen Konrektor, der sich sonst von keinem Takerer etwas sagen ließ, abgekanzelt hatte. Eines Tages werde ich alle in der Tasche haben, sinnierte er. Nicht nur die Schule und die Lehrer, sondern ganz Sytio. Er begriff, dass er keinen Grund hatte, sich in irgendeiner Weise zurückzuhalten. Sein Vater hatte einmal die Hand über ihn gehalten und ihn geschützt, er oder die Mutter würde es jederzeit wieder tun. Saryla konnte nichts geschehen. Mit diesem Bewusstsein setzte er seine Schullaufbahn fort.
* Mit jedem verstreichenden Tag wuchs Sarylas Selbstsicherheit. Spielerisch schlängelte er sich durch die Jahre der Schulausbilduhg. Seine Noten wurden von Jahr zu Jahr besser. In dieser Hinsicht war keine Intervention durch seine mächtigen Eltern nötig. Saryla entwickelte sich zum besten Schüler seines Jahrgangs. Mit seinen schulischen Erfolgen gingen seine sozialen Kontakte einher. Beständig stieg er bei seinen Mitschülern, von denen die meisten aus einfachen Verhältnissen stammten, in der Beliebtheitsskala. Sie hielten sich gern in seiner Nähe auf und gaben sich alle Mühe, sich zu seinen Freunden zählen zu dürfen, zumal er schnell herausfand, dass kleine Geschenke die Freundschaft erhielten. Was er tatsächlich dachte, verriet er nur Rowena, zu der sein Verhältnis zunehmend enger wurde. Sie verbrachten den Großteil ihrer Freizeit zusammen und bereiteten sich gemeinsam auf die regelmäßig stattfindenden Prüfungen vor. »Wie sie alle kriechen, wenn sie etwas von mir wollen«, sagte er einmal zu ihr. »Sie benehmen sich wie die Ganjasen.« »Mach ihnen keinen Vorwurf. Ihre Eltern sind nicht so wohlhabend wie unsere.« »Warum sind sie uns dann gleichgestellt?« Eigenartige Gefühle durchströmten Saryla, wenn er sich diese Frage stellte. Sie
suchte ihn immer häufiger heim. Als er versuchte, mit einem Lehrer darüber zu reden, wurde er verständnislos zurückgewiesen. Kein Lehrer wagte jemals wieder, sich gegen ihn zu stellen, doch was nützte ihm das? Er gewann den Eindruck, dass sie nicht in der Lage waren, seinen Gedankengängen zu folgen. Seine Eltern hingegen protegierten ihn, wo es nur ging, stimmten ihm jedoch bei jedem Wort zu, ohne ihm neue Denkanstöße zu vermitteln. Je orientierungsloser sich Saryla vorkam, desto größer wurde der Zorn in ihm. Bewusst handelte er gegen die Disziplin und prügelte sich mit Klassenkameraden. Auch in dieser Hinsicht konnten sie ihm nicht die Stirn bieten. Als Trayn Rowena nach langer Zeit mal wieder ein Geschenk machte, bekam Saryla einen Wutanfall. »Ich bringe diese Missgeburt um!«, schrie er und rannte durch die Schule, bis er seinen Kontrahenten fand. Wortlos stürzte er sich auf ihn und schlug so lange auf Trayn ein, bis der blutüberströmt zusammenbrach und sich nicht mehr rührte. Der Rothaarige musste in ein Medocenter eingeliefert werden, und sogar Foraton hatte Mühe, die Angelegenheit zu richten. Es gelang ihm nur, weil er Trayns Hungerleidereltern mit einer größeren Geldsumme bestach und sie zwang, mit ihrem Sohn in eine andere Stadt auf Sytio zu ziehen. Neben seinen glänzenden Leistungen in der Schule verwendete Saryla im Lauf der Jahre immer mehr Zeit darauf, sich mit den ganjasischen Urfeinden zu beschäftigen. Aus unzähligen Berichten, in denen ihre Feindseligkeit den Takerern gegenüber thematisiert wurde, fertigte er sich ein Bild über die Ganjasen. Sie nahmen für sich nicht nur ein alleiniges Herrschaftsrecht für die Galaxis in Anspruch, sie setzten es auch rücksichtslos und brutal gegen die Takerer und alle Andersdenkenden durch. Aus einem Samenkorn gedieh eine prächtige Pflanze des Hasses auf die Ganjasen, die sich in loderndes Feuer verwandelte, das verzehrend in Saryla brannte und sogar seinen Zorn ver-
Lordrichter Saryla
19
brannte und auf ein erträgliches Maß reduzierte. Je mehr er erfuhr, desto hilfloser fühlte sich Saryla. Er konnte nichts gegen die Urfeinde unternehmen. Dafür war eine Macht nötig, wie sie auf ganz Sytio nicht existierte. Er wünschte sich, dass jemand käme und sie in ihre Schranken verwies. Er selbst war dieser Jemand jedenfalls nicht. Manche seiner Mitschüler sprachen davon, nach der Schule zur Raumflotte zu gehen und hinaus ins Weltall zu ziehen, wo sich Takerer und Ganjasen bekämpften. Saryla sah keinen Sinn darin. Zwar hatte er keine Angst vor einem Krieg, doch ob er dabei war oder nicht, änderte nichts. Kein einzelner Takerer konnte die Auseinandersetzungen in eine bestimmte Richtung lenken. Außerdem gab es noch so viel zu lernen. Sarylas Wissbegier hatte in den hinter ihm liegenden Jahren nicht abgenommen, und als sich die Jahre der Schule ihrem Ende näherten, war es nicht nur für seine Eltern, sondern auch für ihn selbst selbstverständlich, zur Universität in die Hauptstadt Tyko zu gehen. »Ich bin überzeugt, dass du auch dort zu den Besten gehören wirst«, gab Foraton ihm mit auf den Weg. »Du wirst auf Sytio Geld und Glück machen, so, wie deine Mutter und ich es getan haben.« Saryla nickte. Dank seines wirtschaftlich-finanziellen Hintergrunds standen ihm sämtliche Türen offen. Er zweifelte nicht an einer glänzenden Karriere, die ihn bis in höchste Positionen führen mochte. Als es so weit war, trübte kein Schatten Sarylas Aussichten, denn Rowena teilte seine Pläne und ging mit ihm nach Tyko. Da waren beide längst ein Paar.
3. Vergangenheit Hundert Meter unter ihm pulsierte das Leben Tykos. Saryla stand auf einer Plattform der Takera-Universität und beobachtete das Treiben, das aus dieser Perspektive ungewohnt wirkte, wenn man es zum ersten Mal
sah. Fahrzeuge und Takerer schienen wie Miniaturen ihrer selbst. Er war in den vergangenen Jahren häufig hier gewesen und hatte sich längst an den Anblick gewöhnt. »Uns bleibt noch ein Jahr bis zu unserem Abschluss«, sagte Rowena, die neben ihm stand. Der warme Wind spielte in ihren langen Haaren. »Wir müssen bald entscheiden, was wir anschließend tun.« Darüber hatte Saryla schon häufig nachgedacht. Für seine Zukunft gab es so zahlreiche Optionen, dass es ihm schwer fiel, sich für eine von ihnen zu entscheiden. Das letzte Jahr seines galaktowirtschaftlichen Studiums war angebrochen. Nicht mehr lange, dann war dieser Abschnitt seines Lebens abgeschlossen, und er würde die Universität verlassen. Es war eine eigenartige Vorstellung. Er fühlte sich wohl in dem gewaltigen Konglomerat aus zweckmäßig angelegten Hallen und Pagoden und den wuchtigen Türmen, die sich sternförmig daraus erhoben. In den zahlreichen Gängen und Ebenen der verzweigten Anlage konnte man sich leicht verlaufen. Den Studenten stand das gesamte Areal offen, doch zumeist beschränkten sie sich auf die Bereiche, die für ihr eigenes Studium wichtig waren. »Ich habe noch keine Entscheidung getroffen«, antwortete er, wobei er sich von der Aussicht löste und sich ein paar Schritte vom Rand der Plattform entfernte. »Vielleicht gehe ich in die Verwaltung. Es gibt zahlreiche Strukturen, die verbessert werden können. Die Aufstiegschancen sind nirgendwo so groß wie dort.« »Du klingst … unentschlossen.« Saryla stieß einen Seufzer aus. »Mir fehlt der entscheidende Anstoß. Ist dir nie aufgefallen, in welch festgefahrenen Bahnen unsere Dekane denken? Gegen Ende eines Studienganges sagen sie dir das Gleiche wie zu Beginn. Es gibt keine Weiterentwicklung. Keiner von ihnen hat mich wirklich von einer Idee überzeugt.« »Die meisten haben versucht, dir das Prinzip der Disziplin näher zu bringen.« Rowena lächelte amüsiert. »Du bist ihnen stets
20 mit Spott begegnet. Kein Wunder, dass sie es nach kurzer Zeit aufgegeben haben, in dich zu dringen. Du hast ihnen deutlich zu verstehen gegeben, dass die Grundlagen deines Studiums im wirtschaftlichen Bereich liegen, nicht in dem der Geisteswissenschaften.« »Vielleicht war das ein Fehler.« Rowena fuhr zu ihrem Partner herum und betrachtete ihn aus großen Augen. »Das ist doch nicht dein Ernst?«, fragte sie ungläubig. »Nach all den Jahren änderst du deine Meinung? Ist es dafür nicht ein bisschen zu spät?« »Ich habe meine Meinung nicht geändert, sie höchstens erweitert. Es soll einen neuen Dekan an der Universität geben.« »Das ist nicht ungewöhnlich. Wir haben selbst schon mehrere Wechsel erlebt.« Das stimmte, doch diesmal war es etwas anderes. Seit ein paar Tagen drangen Gerüchte an Sarylas Ohren, die nur hinter vorgehaltener Hand erzählt wurden. Ein Fremder, wie ihn noch nie jemand gesehen hatte, war an der Universität tätig. Er hatte die Philosophische Fakultät übernommen, ausgerechnet. Das erleichterte ihm seinen Einstand an der Takera-Universität nicht gerade, denn die Studienfächer der Geisteswissenschaften waren auf einem von größtenteils einfacher Bevölkerung geprägten Planeten wie Sytio nicht unbedingt sehr beliebt. »Er soll ein Riese sein, der nicht aus Gruelfin stammt, ganz anders als Takerer. Angeblich kennt niemand seine Herkunft. Es heißt, er lehre einen neuen Glauben.« »Unsinn!« Rowena schüttelte den Kopf. Ihre langen Haare flogen. »Du weißt, dass ich nicht viel auf Hörensagen gebe. Ein Fremder, der ohne weiteres Aufnahme auf Sytio findet? Das steht nicht im Einklang mit den Vorgaben der Disziplin.« Die junge Frau machte eine beschwichtigende Geste. »Schon gut, ich habe verstanden. Ein möglicher Widerspruch zur gültigen Doktrin ist genau das, was dich anspricht.« Es war noch viel mehr als das. Endlich gab es etwas, das einen Ausbruch aus dem
Achim Mehnert täglichen Einerlei versprach. Saryla sah sich selbst als einen Skeptiker, auch wenn eine unüberschaubare Zahl an Glaubensrichtungen, Kulten, Religionen und Philosophien zum Wesen sämtlicher Cappin-Völker gehörten. Das war der Grund, warum Saryla sich auf handfestere Lehren gestürzt hatte, als sie in der Philosophischen Fakultät vermittelt wurden. Eine Ahnung sagte ihm, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war, sich in eine andere Richtung als bisher zu orientieren. Vielleicht bot sich ihm hier die Chance, auf die er so lange gewartet hatte, vielleicht war sie auch nur ein Truggespinst. Doch er durfte sie sich nicht entgehen lassen. »Ich werde mir den Fremden ansehen«, entschied er. »Ich werde mir anhören, was er zu sagen hat. Das bedeutet nicht, dass ich meinen eigentlichen Studien damit untreu werde.« Er trat neben seine Gefährtin und nahm sie in den Arm. »Begleite mich. Es ist einen Versuch wert.« Zögernd nickte Rowena. In ihrem Gesicht war wenig Begeisterung abzulesen. Sie tat es nur Saryla zum Gefallen, obwohl sie sich von dem Fremden lieber fern gehalten hätte. Auch Saryla hatte, gleichwohl er den neuen Dekan noch nicht persönlich gesehen hatte, ein eigenartiges Gefühl, das ihm fremd war. Es lag an der hohen Erwartungshaltung, endlich mit einer Lehre konfrontiert zu werden, die alles Dagewesene vergessen ließ. Er versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass er sich etwas vormachte, dass er in sich selbst zu große Hoffnungen schürte. Doch diese Hoffnungen zerstieben nicht, weil sie auf etwas Unbekanntem aus der Unendlichkeit des Universums fußten. Es war nicht das Edikt der Disziplin, das auf Saryla wirkte. Es war ein unsichtbarer Schatten. Ein Schemen aus der Ewigkeit. Ein Phänomen fern allem, was die Takerer und die anderen Cappin-Völker kannten.
*
Lordrichter Saryla »Besonders groß ist der Zulauf nicht.« Saryla nickte zu Rowenas Worten. Nicht viel mehr als zwei Hand voll Studenten verloren sich in dem Vorlesungssaal. Es war so, wie er es erwartet hatte. Bei aller Religionsaffinität und Orakelgläubigkeit der Cappins fielen Geisteswissenschaften auf Sytio nicht auf fruchtbaren Boden. Die einfache Bevölkerung interessierte sich mehr für die Erntequoten und die daraus abgeleiteten schmalen Prämien als für die Werte des Geistes oder gar Politik. Er schnappte ein paar Bemerkungen der Kommilitonen auf. Wie er waren sie zum ersten Mal hier. Sonst hätte er sie nach ihren bisherigen Eindrücken gefragt. »Setzen wir uns in die erste Reihe.« Er zog seine Gefährtin mit sich. Es war ausreichend Platz. Keine drei Meter vor ihm stand das Vorlesungspult. Es unterschied sich durch nichts von denen in anderen Sälen. Überhaupt hätte er sich in seinem gewohnten Sitzungssaal befinden können, wenn mehr Zuhörer anwesend gewesen wären. Trotzdem wollte sich seine Nervosität nicht legen. Ein etwa gleichaltriger Takerer setzte sich auf den Platz neben Saryla und blickte versonnen nach vorn. »Ich bin Scholar«, stellte er sich vor. Saryla nannte seinen und den Namen seiner Freundin. »Habt ihr Carpes Maluni schon erlebt? Er ist großartig.« Die Eröffnung elektrisierte Saryla. »Du kennst ihn also schon. Wir sind zum ersten Mal hier.« »Dann habt ihr bisher etwas verpasst, obwohl er erst seit einer Woche an der Takera lehrt. In dieser kurzen Zeit habe ich mehr erfahren als in den Jahren zuvor.« Scholar dämpfte seine schwelgerischen Worte. Ein versonnener Ausdruck trat in seine Augen. »Ich begreife nicht, wieso ich bisher so blind sein konnte. Der Dekan hat mir einen Weg aufgezeigt, von dem ich zuvor nie auch nur zu träumen gewagt hätte. Erst jetzt eröffnet sich mir der Sinn meiner Existenz.«
21 »Das klingt kryptisch. Kannst du denn deine Eindrücke konkretisieren?« »Es ist schwierig. Man muss es selbst erleben. Ihr werdet gleich die Gelegenheit dazu erhalten.« Rowena stieß Saryla an. Ihr unauffälliges Kopfschütteln zeigte, was sie von den vagen Andeutungen hielt. Saryla sah ihr an, dass sie sich sichtlich unwohl fühlte in ihrer Haut. Wäre er nicht bei ihr gewesen, hätte sie den Saal vermutlich auf der Stelle verlassen. Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen. Ein riesenhaftes Wesen, das ihn augenblicklich in seinen Bann schlug, betrat den Raum. Es war in eine eng anliegende Montur aus Leder gekleidet, die ihm einen martialischen Ausdruck verlieh. Als kehrte der Dekan soeben aus einer Schlacht zurück, hatte Saryla eine Assoziation, die nicht dazu beitrug, seinen anfänglichen Schrecken über Carpes Malunis Erscheinungsbild zu überwinden. Ein Raunen ging durch die Reihen der Studenten. »Beim großen Taschkar!«, keuchte Rowena. »Was ist das?« Der Kopf des Fremden drehte sich in ihre Richtung, als hätte er die Worte vernommen. Mit seinen über drei Metern Größe musste er sich bücken, um sich nicht den Kopf am Türrahmen zu stoßen. Der stämmige Körper wurden von zwei säulengleichen Beinen getragen, die bei jedem Schritt federnd nachgaben und dem Fremden den Ausdruck eines Raubtiers vorm Sprung verliehen. Seine nicht weniger mächtigen Arme schwangen wie eigenständige Lebewesen, die sechsfingrigen Klauenhände öffneten und schlossen sich, als griffen sie nach einer imaginären Beute. Das also ist er. Er, Carpes Maluni, dachte Saryla mit einem Anflug von Ehrfurcht, als der Dekan sein Pult erreichte und dahinter verharrte. »Was für ein dämonisches Gesicht.« Rowenas Hand suchte die ihres Gefährten. Bei aller Faszination kam Saryla nicht umhin, ihr zuzustimmen. Büschel braunen
22 Fells waren in Carpes Malunis Echsengesicht verteilt. Sein Schädel war kantig und lief nach hinten spitz zu. Am markantesten waren die großen Augen, rot glühend und von gelben Sprenkeln übersät, denen nichts zu entgehen schien, was um den Dekan herum geschah. Unstet wanderten seine Blicke von einem Studenten zum nächsten. »Unsere Zahl hat sich verdoppelt«, bemerkte er anstelle einer Begrüßung. Im Gegensatz zu seiner Erscheinung sprach er mit sanfter, weicher Stimme. »Ich begrüße euch, Neulinge, und spreche euch meine Achtung dafür aus, den wichtigsten Schritt in eurem bisherigen Leben getan zu haben. In unserer gemeinsamen neuen Fakultät werdet ihr euren wahren Wert erkennen. Vergesst alles, was ihr bis heute gehört habt.« »Vergessen?«, raunte Rowena. »Aber wieso? Wovon redet er?« Der Kopf des Dekans ruckte in ihre Richtung. Feuer glomm in seinen Augen. Weit öffnete er den Mund und zeigte zwei Reihen blitzender Zähne, die Saryla einen Schauer über den Rücken jagten. Er erwartete eine harsche Zurechtweisung an seine Freundin und bereitete sich darauf vor, sie zu verteidigen. »Warum fragst du ihn?«, wandte sich Carpes Maluni an Rowena. »Er kann dir die Antwort nicht geben, noch nicht. Ich lese in seinen Augen, dass er dazu bereit ist, den Weg zu gehen, dir bald sämtliche Fragen beantworten zu können. Nur wird es dann nicht mehr nötig sein, weil auch du selbst das kannst. Ihr alle werdet es können, wenn ihr mir folgt. Doch noch bin ich der Einzige, der Antworten auf alle Fragen hat, die euch beschäftigen – auch wenn sie bereits tief in eurem Inneren schlummern. Ich werde sie wecken und an die Oberfläche führen.« Saryla spürte, wie seine Gefährtin mit sich rang. Aufmunternd drückte er ihre Hand, und schließlich gab sich Rowena einen Ruck. »Du forderst uns auf zu vergessen, was wir bis heute gehört haben«, brachte sie zögernd hervor. »Wie kannst du verlangen,
Achim Mehnert dass wir unser bisheriges Leben verleugnen?« Die Antwort verstörte Saryla. »Es gibt kein Leben«, eröffnete Carpes Maluni. »Es gibt nur Trodar.«
* Trodar. Noch lange hallte der Begriff in Saryla nach und ließ ihn auch nach dem erschöpfenden Liebesspiel mit Rowena keine Ruhe finden. Erst als bereits die Morgendämmerung einsetzte, fiel er in einen unruhigen Schlaf, in dem ihm Legionen riesenhafter Wesen erschienen, die sich um ihn scharten, um ihm Trodar nahe zu bringen. Trodar, das für ihn noch nicht mehr war als eine Idee, hinter der sich unzählige Wirklichkeiten verstecken konnten. Wer oder was war Trodar, und wer oder was verbarg sich dahinter? Wesen wie Carpes Maluni? Diese Scharen von … Übergangslos schreckte Saryla in die Höhe. Die Sonne schien ins Schlafzimmer des Hauses, das er dank der großzügigen Zuwendungen seiner Eltern ganz in der Nähe der Universität gemeinsam mit Rowena bewohnte. »Wieso Legionen?«, murmelte er, noch gefangen in der diffusen Zone zwischen Schlaf und Wachzustand. Gab es nur den einen Maluni, oder waren sie auch anderenorts aktiv? Er kannte nicht einmal den Namen des Volkes, dem der Dekan angehörte. Rowena rührte sich an seiner Seite. Erst jetzt nahm er ihren süßen Duft wahr und die Wärme, die von ihrem nackten Körper ausging. Bewegung kam in den Wasserfall ihrer Haare. Als sie sich herumwälzte, fiel sein erster Blick auf ihre süße Stupsnase, die er so sehr liebte. »Von was für Legionen sprichst du?«, fragte sie schlaftrunken. »Legionen von Studenten, die längst auf dem Weg in die Takera sind«, wich Saryla mit einem Blick aus dem Fenster aus. Der Tag war bereits vorangeschritten. »Du kennst doch den alten Witz. Warum stehen
Lordrichter Saryla die meisten Studenten schon um sieben Uhr auf? Weil um acht schon die Versorgungseinrichtungen schließen.« »Liebe Güte!«, entfuhr es Rowena, als sie die Uhrzeit ablas. »So spät ist es schon. Wir haben den halben Tag verschlafen. Die heutigen Vorlesungen können wir vergessen.« Sie fuhr in die Höhe, sprang aus dem Bett und verschwand in der Hygienezelle. Saryla folgte ihr und spülte mit heißem Wasser die Müdigkeit aus seinem Körper. Er achtete kaum auf die Worte, die seine Freundin an ihn richtete. Unablässig kreisten seine Gedanken um Carpes Maluni. Der Dekan hatte für den heutigen Tag angekündigt, den Studenten die Augen für ihren eigenen Wert und ihre brachliegenden Fähigkeiten zu öffnen. »Er gibt sich so mild, und doch bleibt er mir unheimlich. Es gibt kein Leben – was für ein Unsinn ist das denn?« Mürrisch kleidete Rowena sich an. »Das klingt nicht philosophisch, sondern religiös.« »In dem Fall ist Carpes Maluni auf Sytio genau richtig«, fand Saryla. »Für so etwas hat unser Volk stets offene Ohren. Ohnehin gehen beide Themen bei den Takerern ineinander über.« »Dann müsste er einen viel größeren Zuspruch bei den Studenten haben. Etwas stimmt mit diesem Dekan nicht. Wie kommt er überhaupt an die Takera? Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Ich habe jedenfalls keine Lust, weitere Stunden bei ihm zu verbringen. Mir reicht das Edikt der Disziplin.« »Mir nicht, das weißt du genau. Außerdem bin ich überzeugt davon, dass hinter seinen Andeutungen viel mehr steckt, als wir uns vorstellen können.« Saryla drückte seiner Freundin einen kuss auf die Lippen. »Du hast es selbst gesagt, zu den anderen Vorlesungen kommen wir ohnehin zu spät.« Er fragte sich, ob es Zufall war, dass Carpes Maluni seine Lehrstunden später begann. Wenn er wirklich über die intellektuellen Fähigkeiten verfügte, die Saryla ihm zutraute, ließ er keine Zufälle zu. Vielmehr han-
23 delte es sich dann um sorgfältige Kalkulation. Vielleicht hoffte der Dekan, auf diese Weise weitere Zuhörer zu gewinnen. »Also schön«, gab Rowena sich geschlagen. »Ich begleite dich. Aber bilde dir bloß nicht ein, dass das zur Gewohnheit wird.« Sie verließen das Haus und begaben sich zur Universität. Saryla konnte sich nicht erinnern, jemals eine Vorlesung dermaßen herbeigesehnt zu haben. Er beruhigte sich erst, als er wieder in der vorderen Zuhörerreihe saß. Beiläufig registrierte er, dass sich weitere drei oder vier Studenten dem kleinen Kreis angeschlossen hatten. Auch dieses Mal ging bei Carpes Malunis Eintreten ein Raunen durch den Saal. »Ich«, sagte der Dekan inbrünstig. Anscheinend war es seine Art, auf eine Begrüßung zu verzichten. Nacheinander taxierte er seine andächtigen Zuhörer, um plötzlich umso vehementer auszustoßen: »Ich!« Ratlos schaute Saryla zu ihm empor. Seine Gedanken drehten sich. Er versuchte einen Sinn in die Äußerung zu bringen. Zweifellos hatte sie mit Trodar zu tun. Carpes Maluni war kein Wesen, das Unbedachtes von sich gab. Hinter jedem seiner Worte, hinter jeder Geste verbarg sich eine Wahrheit, die es zu ergründen galt. Ich, das widersprach zutiefst dem Edikt der Disziplin, die sich über alles stellte, besonders über eigene persönliche Belange. Deshalb hatte Saryla damit auch niemals warm werden können. Denn abgesehen von denen seiner Eltern standen seine persönlichen Belange im Vordergrund seines Daseins. Es war erstaunlich, dass er das in diesem Moment zum ersten Mal richtig begriff, auch wenn er es latent schon immer gespürt hatte. »Ich!« Er versank ein wenig in seinem Sitz, als ihm bewusst wurde, dass er es gewesen war, der das Wort ausgestoßen hatte. Ein Anflug von Schuld befiel ihn. Wie konnte er sich so gehen lassen? Die Blicke der anderen Studenten lasteten vorwurfsvoll auf ihm. Rowena machte da keine Ausnahme. Mit bebenden Lippen wollte er sich bei
24 dem Dekan entschuldigen. Es blieb bei dem Vorsatz, denn ein diabolisches Lächeln huschte über Carpes Malunis Gesicht. Rowena atmete heftig, als der Dekan hinter seinem Pult hervortrat und sich an den Rand des Podiums stellte. Plötzlich schien er sich nur noch für Saryla zu interessieren. Es sah aus, als würde er noch größer, als er ohnehin schon war. Seine Präsenz füllte den Raum und fraß sich in den Geist des jungen Mannes. »Nenn mir deinen Namen!« »Saryla.« Er wagte kaum zu atmen, fühlte sich auf seinem Platz wie gebannt. Selbst wenn ein Feuer ausgebrochen wäre, hätte er sich nicht rühren können. »Du hast den ersten Schritt getan. Ich sehe deinen Weg genau gezeichnet. Wenn du willst, werden wir ihn gemeinsam gehen.« Abrupt wandte der Dekan sich ab und trat an sein Pult zurück. »Ich will, dass ihr alle es nun aussprecht. Ich! Ich! Ich!« Zögerliche Stimmen wurden laut, die das Wort wiederholten. Als hätte es nur dieses Anstoßes bedurft, übertönten die Studenten sich Sekunden später. Ein wildes Durcheinander entstand, bis Carpes Maluni Einhalt gebietend die Arme hob. Augenblicklich wurde es totenstill. »Ich ist von heute an euer Leitsatz. Lasst alle anderen hinter euch. Gegen Ich haben sie kein Gewicht mehr. Statt ›ich möchte‹ sagt ›ich will‹.« Auch jetzt stand die weiche, beinahe melodische Stimme des riesenhaften Wesens in krassem Gegensatz zu seinen Aussagen. »Für jeden Einzelnen von euch gibt es ein höchstes erreichbares Ziel, und das ist der Glaube an die eigene Stärke. Nichts und niemand ist so stark wie ihr selbst. Verinnerlicht diese Erkenntnis, um in Trodar zu denken, der Großen Horde, die über allem steht.« Wie in Trance lauschte Saryla den Ausführungen, die seine eigene Unüberwindlichkeit postulierten. Er war der Beste und Größte, der Kräftigste und Stärkste. Niemand konnte es mit ihm aufnehmen. Es war eine beinahe magische Beeinflussung, der er
Achim Mehnert sich nur zu gerne hingab. Denn sie beinhaltete all das, was all die Jahre unter seiner Oberfläche geschlummert hatte. Ohne den Einfluss des Dekans hätte es sich niemals gegen die kruden Aussagen der Disziplin durchsetzen können. Es störte ihn nicht, dass seine Kommilitonen zum gleichen Glauben aufgerufen wurden. Sie vermochten ihm nicht das Wasser zu reichen. Für einen Augenblick nur dachte er an Rowena, die gleich neben ihm saß, doch auch sie war weit entfernt. »Trodar«, sagte Saryla, als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. »Du sprachst von Trodar, ehrwürdiger Carpes Maluni. Was hat es damit auf sich?« Der Blick des Dekans ging in weite Ferne. »Es gibt keinen Tod«, intonierte er feierlich, »es gibt nur Trodar. Es gibt kein Leben, es gibt nur Trodar. Es gibt keine Angst, es gibt nur Trodar. Es gibt keine Freude, außer in Trodar.« Danach verstummte Carpes Maluni. Zitternd vor Aufregung erwartete Saryla eine Erklärung, doch der Dekan blieb stumm. Schweigend wendete er sich von den Studenten ab und verließ den Saal. Ratlosigkeit blieb zurück, aber auch ungebändigte Neugier auf mehr. Saryla rutschte auf seinem Sitz hin und her und war nahe daran, aufzuspringen und dem Dekan zu folgen. Er wollte mehr wissen. Er wollte alles wissen. Erst wenn ihm das gelungen war, würde sich Carpes Malunis Behauptung endgültig bestätigen. Saryla war der Beste. Der Größte. Der Kräftigste. Der Stärkste. Oder eben einfach nur … Saryla.
4. 31. Oktober 1225 NGZ »Ich habe Durst, Arkonide. Wenn du willst, dass ich weiter erzähle, gib mir etwas zu trinken.« Ich betrachtete die Gestalt, die von dem unerbittlichen Fesselfeld gehalten wurde. Der Junge Saryla, der junge Mann … er war
Lordrichter Saryla zu dem Monster geworden, das als Lordrichter die Galaxis unsicher gemacht hatte. Auch wenn ich den weiteren Verlauf der Geschichte noch nicht kannte, war ich nahe daran, Mitleid für ihn zu empfinden. Ohne eigenes Zutun war er in eine Situation gestolpert, in der er sich verstrickt hatte. Ohne eigenes Zutun? Nennst du das so, oder versuchst du damit die Parallelen zu deiner eigenen Kindheit zu verdrängen, Kristallprinz?, spöttelte der Extrasinn. Sarylas Kindheit war die Basis für seine Entwicklung und seine Anfälligkeit einer starken Doktrin gegenüber. Von Kindesbeinen an lebte er in einem Elfenbeinturm, fern von den Sorgen der normalen Planetenbevölkerung. Dieser Zustand verstärkte sich, sobald er in den elitären Kreis der Philosophischen Fakultät geriet. Das nennst du ohne eigenes Zutun? Sein Weg war durch seine frühe Sozialisation vorherbestimmt, widersprach ich heftig. Er wurde von anderen zu einem Herrenmenschen herangezogen. Das hat er bereitwillig mit sich geschehen lassen, obwohl er einen anderen Weg hätte wählen können. Ihm standen alle Möglichkeiten offen. Du bist es doch, der eine schlechte Kindheit und ungenügende Sozialisation nicht als Ausreden für sämtliche negativen Taten im späteren Leben eines Intelligenzwesens gelten lässt. Das stimmte in der Tat. Ich fragte mich, wieso ich Saryla gegen besseres Wissen verteidigte. Traf womöglich die Spitze des Extrasinns meine Kindheit betreffend zu? Sicherlich nicht. Mochte ich auch meine ersten Lebensjahre ähnlich wohlbehütet verlebt haben wie Saryla, war dies bereits im zarten Alter von vier Jahren vorbei gewesen. Nach Orbanaschols Mord an meinem Vater Gonozal VII. hatte mich der Bauchaufschneider Fartuloon auf dem Exilplaneten Gortavor in Sicherheit gebracht. Zwar war mir auch dort eine gediegene Privatausbildung zuteil geworden, doch die Umstände ließen sich nicht vergleichen. Keinen Tag meiner Kindheit war ich in wirklicher Sicherheit gewe-
25 sen, niemals hatte ich das elterliche Erbrecht wie selbstverständlich in Anspruch nehmen können. Du warst auch nie so ein verzogenes Muttersöhnchen wie Saryla. Ich war müde, und der Druck zwischen meinen Schläfen ließ nicht nach. Mich argumentativ mit einem geschärften Geist vom Kaliber des Logiksektors auseinander zu setzen kostete mich zusätzliche Kraft. Deshalb gab ich es auf. Ich holte etwas Wasser und flößte es Saryla ein. »Danke«, sagte er, nachdem er getrunken hatte. »Ich weiß deine Geste zu schätzen.« Ich sah ihm an, dass er mir das Wasser nur zu gern ins Gesicht gespuckt hätte. Etwas hinderte ihn daran, nicht nur sein Durst. Es war derjenige, den er angeblich noch mehr hasste als mich. Ich sah ein, dass es sinnlos war, ihn danach zu fragen. Seine Geschichte würde offenbaren, wen er meinte. »Du erwähntest in deiner Schilderung deine Überlegung, ob es weitere Vertreter des Volkes von Carpes Maluni gab. War dem so?« »Ich habe es nie herausgefunden. Ich kann es nur vermuten. Jedenfalls hatte er leichtes Spiel, nicht nur bei mir.« Ich nickte verstehend. Einst hatte der Ganjo-Kult als pseudomessianische Religion die Cappin-Völker geeint. Im Zuge des später einsetzenden allgemeinen Zerfalls und der unübersichtlichen Splitterung in unzählige Gruppierungen innerhalb Gruelfins hatte sich deren Religionsaffinität verstärkt. Das galt besonders für die rachsüchtig veranlagten Takerer, die die Ganjasen bis heute als ihre Erzfeinde ansahen, mit denen es keinen dauerhaften Frieden geben konnte. Dabei waren die Takerer es gewesen, die in Gruelfin über 200.000 Jahre lang das Ruder in der Hand gehalten hatten. Wie auch immer, die Vertreter sämtlicher Cappin-Völker waren schon immer sehr anfällig für religiöse Tendenzen gewesen. Wer es geschickt anstellte, konnte Ganjasen, Takerer, Lofsooger, Wesakenos, Olkonoren, Oldonen, Chamyros und
26
Achim Mehnert
all die anderen Splittervölker im Handumdrehen um den Bart wickeln. »Du bist auf ihn hereingefallen«, interpretierte ich Sarylas Worte. »Du irrst dich, Atlan. Ich wusste sehr genau, was ich tat. Es war der richtige Zeitpunkt, und alles passte zusammen. Allenfalls war ich zu blauäugig, wie ich später erfuhr. Anderenfalls würde ich meinen Atem nicht an dich verschwenden, sondern dich auf der Stelle töten.« Sein Hass und seine Verachtung waren fast körperlich zu spüren. Ich hatte das Gefühl, sie richteten sich gegen die ganze Welt. Während seiner Schilderung war Saryla vergleichsweise ruhig gewesen, nun brach es wieder aus ihm heraus. Ich fragte mich, was das Universum ihm angetan hatte, dass er so reagierte. »Ich lese in deinen Augen, Arkonide. Du kannst es nicht erwarten, mehr zu erfahren.« Der Lordrichter gab ein meckerndes Lachen von sich. Seine Züge verzerrten sich zu einer abstoßenden Fratze. »So, wie es auch mir einst erging. Vielleicht wirst du es später ebenso bereuen wie ich. Ich wünsche es dir.« »Möchtest du noch etwas Wasser?« »Dein geheucheltes Mitgefühl rührt mich zu Tränen.« Die Worte troffen vor Gift. »Ich werde mit meiner Lebensgeschichte fortfahren, bevor du auf die Idee kommst, dich mit mir zu verbrüdern.« Ich erwartete einen Kommentar des Extrasinns, doch mein Plagegeist schwieg. Es war still in der Zelle, bis Saryla erneut die Stimme erhob.
5. Vergangenheit Es gibt keinen Tod, es gibt nur Trodar. Es gibt kein Leben, es gibt nur Trodar. Es gibt keine Angst, es gibt nur Trodar. Es gibt keine Freude, außer in Trodar. Kein Schüler verinnerlichte die Litanei des Glaubens so wie Saryla. Ständig zitierte er sie. Sie brannte sich in seinen Verstand
und wurde zu seinem eigenen Selbstverständnis. Rowena beobachtete seine Entwicklung mit Besorgnis. Wenn sie ihn darauf ansprach, tat er ihre Einwände mit fadenscheinigen Ausflüchten ab. Sie begleitete ihn auch weiterhin zu den Lehrstunden, um ihn im Auge zu behalten, und nahm hinter seinem Rücken sogar Kontakt zu Sarylas Eltern auf. Auch deren Einfluss auf den Trodar-Gläubigen wurde immer kleiner. In den folgenden Monaten füllte Carpes Maluni die Grundzüge der Lehre von Trodar nach und nach mit Inhalt. Die Schüler erfuhren vom ewigen Leben in der Großen Horde, erlernten die Lieder von Trodar und erfuhren von den Garbyor. Die bekannten Litaneien wurden in subtiler Weise weitervermittelt, abgewandelt, gedehnt, erweitert und in sich selbst schlüssig erklärt. Sie enthielten keinen Ansatzpunkt, der sich in negativer Hinsicht interpretieren ließ. Je größer Trodar erschien, desto größer fühlte sich auch Saryla. Jeder Auftritt Carpes Malunis hinterließ einen starken Eindruck. Etwas Mythologisches haftete ihnen an. Der Dekan bediente sich der Sprache eines Erlösers, der gekommen war, um Saryla seiner Bestimmung zuzuführen. Der schleichende Prozess der Beeinflussung entging dem jungen Mann nicht. Er gab sich ihm sogar willig hin, denn er erhielt lediglich positive Aspekte. Er half Saryla, seine schlummernden Anlagen zu verstärken. Wie die Litaneien verinnerlichte der Student auch seine eigene Wertigkeit. Mehr und mehr kam er zu der Überzeugung, dass nichts und niemand ihm etwas anhaben konnte, wenn er den Weg der Stärke und der Selbstsicherheit ging. Er war unüberwindlich, so, wie Maluni es forderte. Gemeinsam mit Rowena setzte er sein galaktopolitisches Studium fort. Obwohl ihre Liebe gewachsen war, hegten sie völlig unterschiedliche Ansichten und stritten zuweilen. Für Saryla wurde die Trodar-Lehre zum Maß aller Dinge, während Rowena weiterhin bescheiden nach den Inhalten der Disziplin lebte. Schließlich gab sie es auf, ihn
Lordrichter Saryla weiter in die Philosophische Fakultät zu begleiten. »Er verführt dich, und du bemerkst es nicht einmal«, begründete sie ihren Rückzug. »Du müsstest dich selbst einmal sehen, wie du ihn verehrst und um ihn herumscharwenzelst. Er besitzt Macht und Kontrolle über dich. Er ist zum bestimmenden Zentrum deines Lebens geworden.« »Du irrst dich. Das Zentrum meines Lebens bist du, gemeinsam mit meinen Eltern.« »Wenn das so ist, lass uns zu ihnen fahren. Morgen ist der Tag der inneren Reinigung.« »Der Dekan und ich haben einen neuen Aspekt entdeckt, der sich mit dem Wert des Lebens beschäftigt. Wir haben verabredet, morgen ausführlich darüber zu diskutieren.« Sarylas Augen leuchteten. »Nur er und ich, ohne die anderen. Keinem von ihnen traut er so viel zu wie mir. Deshalb hat er mir angeboten, mein persönlicher Mentor zu werden.« »Und du hast natürlich angenommen?« »Wie könnte ich mir eine solche Ehre entgehen lassen?« Es war nicht das einzige Mal, dass Saryla seine Gefährtin stehen ließ und aus dem Haus stürmte. Er war überzeugt, dass sie seinen Antrieb eines Tages verstehen würde. Das Ende des Schuljahres kam und mit ihm das Ende der Ausbildung. Für Carpes Malunis Schützlinge begann ein neuer Lebensabschnitt. Sie waren dazu bestimmt, Sytio zu verlassen und das Gedankengut, das sie erworben hatten, weiterzugeben. »Denkt in Trodar«, verabschiedete der Dekan die jungen Männer und Frauen. Sie wurden in aller Heimlichkeit in die Galaxis hinausgeschickt, um still und leise für eine Weiterverbreitung des Trodar-Glaubens zu sorgen. »Dann wird Trodar auf jedem eurer Schritte bei euch sein. Vergesst dabei nicht, was ihr erfahren habt, besonders dann nicht, wenn ihr auf Schwierigkeiten stoßt. Es gibt kein Hindernis, das euch aufhalten kann.« Seine Stimme wurde eindringlich, fast be-
27 drohlich. »Sprecht keine andere CappinVolksgruppe an als Takerer-Abkömmlinge. Nur Takerer verdienen es, unsere Lehre übermittelt zu bekommen. Alle anderen sind unrein.« So, wie Saryla das sah, wären die Studenten auch ohne die Weisung auf gar keine andere Idee gekommen. Die verfluchten Ganjasen waren nicht wert, vom Licht der Trodar-Lehre erleuchtet zu werden. Er verabschiedete sich von Scholar und ein paar anderen, zu denen er flüchtigen Kontakt aufgebaut hatte. Der Jahrgang bereitete sich auf den Aufbruch ins All vor. Lediglich Saryla dachte nicht daran, die Heimat zu verlassen. Mit dem, was er von seinem Lehrmeister gelernt hatte, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, in der Hierarchie Sytios an die Spitze zu gelangen. Das war jedoch nicht sein vorrangiges Ziel. Er äußerte seine Bitte dem Dekan gegenüber unter vier Augen, nachdem die anderen gegangen waren. »Unterrichte mich weiter«, bat er. »Mein Wunsch ist es, irgendwann in deine Fußstapfen zu treten, verehrter Carpes Maluni. Bis dahin möchte ich mein Glück in der Heimat machen.« Der Dekan musterte ihn lange und nachdenklich. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Es war kalt wie Eis und ließ Saryla für einen winzigen Moment vermuten, dass der Dekan nur auf diesen Wunsch gewartet hatte. »Ich bin einverstanden. Bei jedem anderen hätte ich ihn abgelehnt. Bei dir mache ich eine Ausnahme. Ich spüre deutlich, dass du auf dem richtigen Weg bist.« »Ich werde mich als würdig erweisen.« »Davon bin ich überzeugt.« Das riesenhafte Wesen flüsterte, und die gelben Sprenkel in seinen Augen pulsierten. In den folgenden Jahren erzog Carpes Maluni weitere Jünglinge in der Tradition von Trodar, während er Saryla parallel dazu zu seinem Assistenten ausbildete. Immer häufiger konfrontierte Rowena ihren Lebensgefährten mit den für sie offensichtlichen Fakten. »Du bist nicht mehr du selbst«, warf sie
28 ihm vor. »Du hast dich verändert. Es ist dir wichtiger, deinem Meister zu gefallen, als mit mir zusammen zu sein.« »Jede Minute in seiner Nähe bringt mich auf meinem Weg voran«, verteidigte sich Saryla. »Unsere Beziehung ist die zwischen Lehrer und Schüler, mehr nicht. Sie ist niemals persönlich geworden.« »Dann frage ich mich, wieso du deine Lebensgewohnheiten den seinen angepasst hast. Ich sehe eine psychische Abhängigkeit, die mir nicht gefällt. Statt mit mir lebst du mit ihm im gleichen Rhythmus. Du schläfst, wenn er schläft, und du gehst in die Fakultät, wenn er da ist.« »Natürlich. Wie sonst sollte ich von ihm lernen? Vertraust du ihm denn immer noch nicht? Wir harmonieren perfekt.« »Du belügst dich selbst, wenn du das glaubst. Der Dekan pfeift, und du springst. Das ist keine Harmonie, sondern Unterdrückung. Er ist mir unheimlich, mehr denn je.« »Du bist verrückt.« Zornerfüllt wollte Saryla auf seine Gefährtin losgehen. Er hielt sich zurück, als er ihren erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkte. Sie sah ihn so verständnislos an wie noch nie in ihrem Leben. Kopfschüttelnd stolperte er von ihr zurück. Wie konnte sie nur so blind sein? Erkannte sie denn nicht, was vor sich ging? Er liebte Rowena, doch er verstand sie nicht mehr. Zu allem Überfluss gab sie sich einer neuen Leidenschaft hin. Sie hatte ihr Interesse für die verhassten Ganjasen entdeckt und studierte alles, was mit ihnen zusammenhing. Wenn man sich als Takerer mit den Erzfeinden beschäftigen sollte, dann höchstens indem man sie abschlachtete. Eine andere Form der Aufmerksamkeit verdienten sie nicht. Umso vehementer stürzte Saryla sich in seine Arbeit als Carpes Malunis Assistent. Er unterbrach sie nicht einmal, als ihn die Nachricht vom Tod seiner Eltern erreichte, die einem tragischen Unfall zum Opfer gefallen waren. Seine einzige Reaktion bestand in der Sichtung seines Erbes. Zusammen mit
Achim Mehnert seinen persönlichen Ersparnissen deponierte er das ererbte Vermögen in der Fakultät, um es seinem Lehrer zugänglich zu machen. Maluni griff großzügig auf die unverhofften Finanzmittel zurück. Saryla hatte keinen Einwand, da sämtliche Ausgaben Trodar zugute kamen. Die Lehre hatte ihn vollends in ihren Bann gezogen, und mit jedem Tag verschrieb er sich ihrem Inhalt mehr. Mit Hingabe widmete er sich der Errichtung weiterer Fakultätsableger auf ganz Sytio. Er gab sein eigenes, inzwischen umfangreiches Wissen weiter und koordinierte schon bald ein kleines und weitmaschig gesponnenes Netzwerk von Trodar-Gläubigen. Andere Abgänger missionierten mittlerweile auf vielen takerischen Welten, und mit jedem Abschlussjahr erhöhte sich ihre Anzahl. Am fünften Todestag seiner Eltern lud Saryla seinen Lehrmeister in deren ehemaligen Wohnsitz ein. Er spürte, dass er alles über Trodar gelernt hatte. Carpes Maluni hatte ihm so viel beigebracht. Es war an der Zeit, sich dafür zu bedanken und sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Er kam nicht dazu, das Thema anzuschneiden. Carpes Maluni kam ihm mit seiner Eröffnung zuvor. »Meine Arbeit auf Sytio ist beendet«, erklärte er in aller Gemütsruhe. »Es ist an der Zeit, weiterzuziehen.« Saryla fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.
* »Wieso?« Saryla taumelte. Es gelang ihm kaum, das Gehörte zu verarbeiten. »Weil du nicht der Partner geworden bist, den ich mir vorgestellt habe.« Der Dekan klang distanziert, beinahe gleichgültig. »Ich habe mich in dir getäuscht. Du schaffst es nicht, den Glauben der Garbyor in allen Konsequenzen zu durchdenken. Du bist unfähig, den Mythos so zu leben, wie er es verdient.« Saryla zuckte unter den Worten zusammen. Jedes einzelne war wie ein körperli-
Lordrichter Saryla cher Schlag. Er weigerte sich zu glauben, was er hörte. »War ich nicht stets ein gelehriger Schüler?«, keuchte er, um Fassung ringend. »Habe ich nicht alles getan, was du verlangt hast, ehrwürdiger Carpes Maluni?« »Gelehrig? Davon bin ich einst ausgegangen. Ich muss blind gewesen sein. Ein Speichellecker bist du, dessen hündische Ergebenheit mir Übelkeit bereitet. Du verstehst nicht einmal den Inhalt der Lieder von Trodar. Wie sonst könntest du sie so schlecht rezitieren? Dein beispielloses Versagen kann ich nicht dir, sonder ich muss es mir vorwerfen. Zum Glück habe ich endlich die Wahrheit erkannt. Du bist nur ein Schwächling, mit dem ich meine sehr wertvolle Zeit nicht länger vergeuden will.« Ein Schwächling? Etwas schrie in Saryla auf. Verzweiflung und Qual überfielen ihn mit nie gekannter Intensität. Er war kein Schwächling. Er dachte und lebte in Trodar. Er war auf dem richtigen Weg, mehr noch, er war bereit, beinahe schon am Ziel angelangt, auf das er seit Jahren hinarbeitete. Alles, was gewesen war, konnte unmöglich aus einer Laune heraus von einem Moment auf den nächsten negiert werden. »Ich habe dir alles zur Verfügung gestellt!« Seine schrille Stimme füllte den Raum. »Wie ein Dummkopf, der Trodar unwürdig ist. Ist denn alles an dir vorbei gegangen, was ich dir zu vermitteln versucht habe?« Carpes Malunis anfängliche Gleichgültigkeit verwandelte sich in offen gezeigte Verachtung. »Deine kriecherische Selbstlosigkeit mir gegenüber disqualifiziert dich. All deine Ersparnisse sind aufgebraucht. Wie eine Zitrusfrucht auf den Plantagen deines toten Vaters habe ich dich bis auf den letzten Tropfen ausgepresst. Selbst in dieser Hinsicht bist du mir nicht mehr von Nutzen.« Die Welt drehte sich vor Sarylas Augen. Das ungleich größere Wesen, dem er tiefste Verehrung entgegenbrachte, verschwamm und führte einen grotesken Tanz auf. Er wünschte zu träumen und im nächsten Moment aufzuwachen, um festzustellen, dass
29 alles nur ein quälender Alpdruck war, doch er war inmitten der Wirklichkeit gefangen. Als sich sein Blick wieder klärte, spürte er warme Feuchtigkeit auf seinen Wangen. Sein in langen Jahren aufgebautes Weltbild brach binnen weniger Augenblicke zusammen. Die großartige Aufgabe, die vor ihm lag, zerstieb zu nichts und hinterließ grenzenlose Leere. Sein Lehrmeister sortierte ihn gnadenlos aus und verdammte ihn damit zur Bedeutungslosigkeit, nicht einmal mit Bedauern, sondern mit zerstörerischer Selbstverständlichkeit. »Das … das ist nicht richtig«, stammelte Saryla. Doch hatte er die Entwicklung nicht selbst verschuldet? Schlagartig erwachten die Zweifel an sich selbst. Es war ihm immer nur um seine persönliche Bequemlichkeit gegangen. Statt wie seine Kommilitonen Trodars Botschaft in die Galaxis hinauszutragen, war er auf Sytio geblieben. Carpes Maluni hatte Recht. Er war ein Schwächling. Statt an Trodar hatte er primär an sich selbst gedacht. Diese Fehlsicht der Dinge wurde ihm nun zum Verhängnis. Andererseits hatte sein Lehrmeister ihm bereits vor langer Zeit attestiert, der einzig Wahre unter seinen Schülern zu sein. War das nur eine Lüge gewesen? Sarylas Gedanken überschlugen sich, während sich seine Ergebenheit für Maluni in Zorn und Wut verwandelte. »Hat es dir die Sprache verschlagen? Wenn du nichts mehr zu sagen hast, werde ich dich nun verlassen.« Sarylas Puls raste, sein Herzschlag dröhnte ihm in den Ohren. Das Blut kochte in seinem Körper und ließ ihn die eigene Schwäche vergessen, den nahen Zusammenbruch überwinden. »Ich habe etwas zu sagen«, brachte er bebend hervor. »Auch wenn du es nicht begreifst, mein Lehrmeister. Ich bin sehr wohl in der Lage, den Trodar-Glauben in der richtigen Weise zu interpretieren.« Und allemal die Konsequenzen daraus zu ziehen, fügte er gedanklich hinzu, die du von mir erwartest, mir aber nicht zutraust, Ver-
30 dammter. Ohne Vorwarnung warf Saryla sich nach vorn und stürzte sich auf den fast doppelt so großen Dekan. Mit dem Überraschungseffekt auf seiner Seite brachte er Maluni zu Fall. Gemeinsam stürzten die Gegner und rollten ineinander verkrallt über den Boden. Weil er seinen sportlichen Körper während der Studienjahre in Form gehalten hatte, gelang es Saryla, dem riesenhaften Wesen für ein paar Sekunden Paroli zu bieten. Dann kehrte mit der Erkenntnis der psychischen Unterlegenheit ein Teil von Sarylas Vernunft zurück. Ohne Waffe war er gegen Maluni verloren. Dessen sechsfingerige Klauenhände machten eine blitzschnelle Verwandlung durch. Aus den zurückweichenden Fingerkuppen entsprangen dolchähnliche Fortsätze, die nach Saryla stachen. Eine davon fand ihr Ziel. Sie bohrte sich tief in das Fleisch des jungen Takerers und zerschnitt sein Gesicht. Saryla schrie auf. Bohrender Schmerz raste durch seine Wange und vernebelte ihm die Sinne. Er sah Blut aufspritzen und trat wild um sich. Irgendwie gelang es ihm, sich aus der Umklammerung seines Gegners zu lösen und aus dessen unmittelbarer Reichweite zu entkommen. Markerschütterndes Gelächter folgte ihm, als er zu einem Tisch kroch. Er empfand keine Angst, fürchtete sich seltsamerweise nicht einmal vor dem Tod. Klar lag vor ihm, was er zu tun hatte. Schon spürte er den heißen Atem Malunis in seinem Nacken, als er den Tisch erreichte. Sein entstelltes Gesicht starrte ihn von der gläsernen Platte an, auf die sein Blut tropfte. Saryla achtete nicht darauf. Er griff nach einem rituellen Dolch, mit dem sein Vater in den Wäldern Jagd auf Ghurtas gemacht und sie lebendig gehäutet hatte. Das Gleiche werde ich mit dir tun! Der Gedanke war von solcher Kraft und einem dermaßen verzehrenden Hass beseelt, dass Saryla glaubte, Maluni müsse ihn auch stumm empfangen. Ein schleifendes Geräusch ließ ihn her-
Achim Mehnert umfahren. Groß und mächtig wie ein Todesengel näherte sich der Dekan, sich seiner unterlegenen Beute sicher. Seine Fingerdolche sirrten durch die Luft. Saryla verharrte regungslos. Seine Überlegungen ausgeschaltet und die Gefühle in Trodar weilend, sah er dem Ende ins Antlitz. Nur wenn man dazu fähig war, konnte man den Tod überwinden. Er präsentierte sich Maluni als Besiegter, der keine Kraft mehr aufbrachte, dem Schicksal zu entfliehen. Ewiges Leben in der Großen Horde. Saryla rollte nach vorn und war unvermittelt hinter seinem Gegner. Mit einer fließenden Bewegung kam er in die Höhe und stieß Maluni den Dolch in den Rücken. Die Große Horde konnte warten. Zunächst galt es, das Dasein in körperlicher Form mit Taten zu füllen. Carpes Maluni schrie auf und fuhr herum. Eitriges Blut quoll aus der Wunde, die die Klinge geschlagen hatte. Seine Säulenbeine zitterten, vermochten ihn nicht länger zu tragen. Mit einer letzten Kraftanstrengung stieß sein Kopf vor, schnappten seine Zahnreihen nach dem überraschten Saryla. Instinktiv riss der junge Mann die Arme vors Gesicht. Malunis Zähne bohrten sich in eine Hand, ohne sie halten zu können. Saryla riss sich los, seine verstümmelte Hand ignorierend. Der Schmerz wurde zur Nebensache, als sein Gegner in den Kniekehlen einknickte und stürzte. Verzweifelt versuchte das Monster sich aufzurichten, doch die Kräfte schwanden aus seinem Körper. Überraschung und Unverständnis traten in Malunis Blick, bevor er brach und der Lebensfunke entlosch. »Es gibt keinen Tod, es gibt nur Trodar«, intonierte Saryla. Er sah eine Missgeburt vor sich, sah Trayn und sah Maluni, sah eine Sternenmissgeburt, die ihr Recht auf Leben verwirkt hatte. Alles wiederholte sich, doch nicht für ihn. Für ihn war alles anders, war alles neu. Er hatte eine neue Seite des Lebens aufgeschlagen, war in eine höhere Dimension Trodars vorgestoßen. Ein nie gekanntes Triumphgefühl durch-
Lordrichter Saryla
31
strömte ihn. Er hatte geschafft, was Maluni ihm abgesprochen hatte. Mit dem vorangegangenen Zweikampf hatte er den Beweis geliefert und seine Meisterprüfung abgelegt. Die Erkenntnis spülte mit der Macht einer Seebebenwoge über ihn hinweg. Teilnahmslos betrachtete er den toten Körper. In dem gleichermaßen kurzen wie heftigen Kampf war alles aus ihm geschwunden, was an Nähe zu Maluni existiert hatte. Saryla hatte sämtliche Konventionen und Schranken hinter sich gelassen. Das, was sein Lehrmeister eingefordert hatte, war tatsächlich eingetreten. Saryla war zum Garbyor geworden. Auf eine Art und Weise allerdings, mit der Carpes Maluni nie gerechnet hätte.
6. 31. Oktober 1225 NGZ Ich vermutete, dass dieser Mord die entscheidende Wende in seinem Leben darstellte. Einem denkenden und empfindenden Wesen fiel es schwer, ein anderes zu töten. Beim zweiten Mal war schon alles viel leichter. »Gekränkte Eitelkeit«, unterbrach ich den Lordrichter. »Du bist nicht der Erste, der daran zerbricht.« »Erwecke ich den Eindruck, zerbrochen zu sein?«, blaffte Saryla. »Bevor du dich als Exopsychologe betätigst, solltest du deine Aufgaben machen.« Ich ging auf ihn zu und blieb direkt vor ihm stehen. Unsere Köpfe berührten sich fast. Dafür gewahrte ich die Kraft des Feuers, das in seinen Augen brannte. Zweifellos hatte er allein mit ihr so manchen Widersacher in die Knie gezwungen. Nein, er war nicht zerbrochen. Nicht dieser Takerer, der es von einem verwöhnten, reichen Einzelkind bis zur Geißel einer ganzen Galaxis gebracht hatte. Trotzdem vermutete ich, dass er die Zurückweisung durch seinen ehemaligen Lehrmeister nie ganz verwunden hatte. Wenn du auf die Idee kommst, den Aufstieg zum Lordrichter als Überkompensation
wegen dieser Zurechtweisung zu bewerten, schließe ich mich dem vernichtenden Urteil über deine Fähigkeiten als Psychologe an, drohte der Extrasinn. Was soll ich sonst tun? Schuster, bleib bei deinen Leisten. Wie terranisch das klang. Ich hatte dem Ratschlag nichts entgegenzusetzen und zog es vor, mich wieder mit Saryla zu beschäftigen. »Carpes Maluni hat dir einen entscheidenden Aspekt der Trodar-Lehre verschwiegen. Sie beinhaltet nämlich nicht nur eine selbstlose Heilslehre. Viel elementarer sind die selbstzerstörerischen Passagen dieses Glaubens. Er verlangt Hingabe bis zur Selbstaufopferung.« »Dafür sind die Zaqoor das beste Beispiel«, bewies der Lordrichter mir, dass seine Ausführungen noch lange nicht am Ende waren. »Du kennst die Zaqoor also.« Was bei seiner Position nur selbstverständlich war. Hätte er nicht über sie Bescheid gewusst, stimmte seine Geschichte ganz und gar nicht. »Es dauerte noch eine Weile, bis ich ihnen zum ersten Mal begegnete. Da waren sie mir allerdings auf Anhieb sympathisch, ganz im Gegensatz zu dir und deinen abstoßenden Ganjasen-Freunden. Wenn du so erpicht darauf bist zu erfahren, was ich dir zu sagen habe, solltest du dich mit Geduld wappnen, Arkonide. Ich käme mit meinem Bericht nämlich schneller voran, wenn du mich nicht unterbrechen würdest.« Ich trat zurück und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Eingangstür. Sein Vorwurf hatte etwas für sich. Auch ich wollte die Sache möglichst rasch hinter mich bringen. Auffordernd hob ich die Hände. Saryla verstand die Geste und setzte seine Schilderung fort.
7. Vergangenheit Saryla ließ sich gehen. Durch seine Ver-
32 stümmelungen vernachlässigte er seinen Körper. Seine Konzentration richtete sich auf Trodar und seine geistigen Fähigkeiten. Physisch hingegen wurde er träge. Der Tod war zu seinem engsten Vertrauten geworden, zu einem Freund, den er nicht mehr missen wollte. Jahre waren vergangen, seit er seinen ehemaligen Lehrmeister umgebracht hatte. Auch wenn bei den damaligen Ermittlungen viele Fragen offen geblieben waren, hatte man ihm den Mord nie nachweisen können. Längst legte niemand mehr Wert darauf, um es sich nicht mit ihm zu verscherzen. Ich bin ein wichtiger Mann, dachte Saryla. Der wichtigste auf dem ganzen Planeten. Gar wichtiger noch, als es einst mein Vater gewesen ist. Wer wollte sich da schon mit ihm anlegen? Er empfand keine Genugtuung bei dem Wissen, da es ihm schon lange in Fleisch und Blut übergegangen war. Er konnte sich kaum daran erinnern, dass es andere Zeiten gegeben hatte, Zeiten der Armut und Entsagungen. Sie hatten nicht lange angehalten. Dank seines Glaubens hatte er rasch den gesellschaftlichen Status zurückerlangt, den seine Eltern vor ihrem Tod besessen hatten. In nur wenigen Jahren war es ihm gelungen, ein finanzielles Vermögen anzuhäufen, das seinesgleichen suchte. Das Glück verbarg sich in Trodar. Trodar bedeutete Skrupellosigkeit, wenn man seine Ziele verfolgte. Den Blick stets nach vorne richten und sämtliche Hindernisse aus dem Weg räumen, mit welchen Mitteln auch immer, so lautete seine neue Maxime. Saryla hatte den Trodar-Glauben bis auf den Grund seines Geistes verinnerlicht. Seinen eigenen Trodar-Glauben indes, der bestimmt nicht so war, wie Maluni sich das vorgestellt hatte. Ihm allein verdankte er seinen wundersamen Aufstieg. Das gelang aber nur, wenn man Trodar hinterfragte. Ich, ging ihm Malunis elementare Aussage durch den Kopf. Hätte der Narr sie konsequenter gehandhabt, statt vor seinem Ende zum Schwätzer zu mutieren, wäre er vielleicht noch am Leben.
Achim Mehnert Saryla schaute dem Mann nach, der soeben sein Büro verließ. Er war froh, dass der Kriecher endlich weg war. An manchen Tagen gaben sich unterwürfige Kreaturen wie er in Sarylas Büroräumen die Klinke in die Hand. Kaum hatte man einen abgewimmelt, kam der Nächste und stahl einem die Zeit. Der Trodar-Führer ging zur Panoramafensterfront und schaute in die Ferne. Am Horizont erhob sich ein Raumschiff der KELTATRON-Klasse in den Himmel. Vor dem wolkenlosen Blau bot es einen grandiosen Anblick. Saryla ertappte sich bei dem Wunsch, an Bord zu sein und für eine Weile von Sytio zu verschwinden. »Du hättest ihn nicht so abkanzeln sollen.« Rowena trat neben ihn. Sie war nicht mehr das unbeschwerte Mädchen, das er einst gekannt hatte. Obwohl immer noch eine junge Frau, zeichneten sich Sorgenfalten in ihrem Gesicht ab. »Du brauchst Politiker wie ihn, wenn du deine Pläne vorantreiben willst.« »Pläne?« Saryla lachte humorlos auf. »Von was für Plänen redest du? Ich habe mehr erreicht, als irgendein Takerer von Sytio sich jemals hätte träumen lassen. Was weißt du schon von meinen Plänen. Und Politiker? Ich habe sie alle in der Tasche. Sie würden mir die Füße küssen, schlösse ich mich einem von ihnen an.« Bei all der erlangten Macht hegte Saryla keine politischen Ambitionen. Dabei war seine Behauptung nicht aus der Luft gegriffen. Die Vertreter aller Parteien auf Sytio umwarben ihn. Sie hätten alles dafür gegeben, ihn in ihre Reihen zu bekommen. Doch was wollten sie ihm geben, das er nicht bereits besaß? Sie konnten ihn weder mit Geld locken noch mit Macht korrumpieren. Von beidem besaß er mehr als genug, um Konkurrenz fürchten zu müssen. Sich mit ihnen zu verbünden hätte in Sarylas Augen einen sozialen Abstieg bedeutet. Er war nicht nur der wichtigste Mann auf seinem Heimatplaneten, sondern weit darüber hinaus bekannt und geschätzt. Im gesamten takerischen Einflussbereich, in dem eine Vielzahl von Dia-
Lordrichter Saryla dochen-Reichen um die Vorherrschaft stritt, galt er als große Nummer. Verschiedene Reiche hatten ihm sogar die Übernahme ihrer Staatsgeschäfte angetragen. Er hatte dankend abgelehnt. Das Staatswesen, das ihm vorschwebte, war größer. Viel größer. »Trotzdem brauchst du sie vielleicht eines Tages sehr dringend«, brachte Rowena ihn in die Wirklichkeit zurück. »Ich brauche niemanden!«, brauste Saryla auf. »Gilt das auch für mich?« Saryla antwortete nicht darauf. Was hätte er seiner Jugendliebe auch sagen sollen? Er war ihrer überdrüssig, und das wusste sie. Deshalb klang ihre Stimme so matt. Obwohl sie ihn so liebte wie in den unbeschwerten Tagen, hatte sie ihn aufgegeben und schaffte es doch nicht, sich von ihm zu trennen. Saryla verachtete sie für diese Schwäche, weil sie ihn an seine eigene erinnerte. Er hatte sie mit dem Mord an Maluni abgelegt und verabscheute es, daran erinnert zu werden. Sie gehörte einer Vergangenheit an, die endgültig vorüber war. Tat Rowena das mit Absicht, oder war sie nur gedankenlos? Sie sprachen schon lange nicht mehr miteinander, und wenn sie es taten, redeten sie aneinander vorbei. Er wusste weder, was sie dachte, noch was sie tat, wenn sie nicht in seiner Nähe war. Es war ihm gleichgültig, andernfalls hätte er sie ebenso überwachen lassen wie alle, die in den Blickpunkt seines Interesses gerieten oder sich mit seiner Bekanntschaft schmückten. »Kriecher«, murmelte er ausweichend. »Ich wiederhole es, damit auch du es begreifst. Alle Politiker sind Kriecher. Sie sind alle so gering. Sie können ruhig wissen, was ich von ihnen halte, denn eines Tages werde ich sie bis auf das letzte Exemplar ausrotten. Manchmal habe ich Lust, ihnen ins Gesicht zu spucken.« Rowena zuckte bei seinen derben Worten zusammen. »Es würde keinen Unterschied machen. So, wie du dich ihnen gegenüber verhältst, haben sie das längst bemerkt.« Ein eintreffender Anruf enthob Saryla ei-
33 ner Antwort. Er nahm ihn entgegen, ohne sich um die Anwesenheit seiner Gefährtin zu kümmern. »Da ich einen Kontakt erst nach Erledigung der Aufgabe gestattet habe, gehe ich davon aus, dass alles zu meiner Zufriedenheit erledigt ist«, meldete er sich ohne Umschweife. »So ist es, Herr. Das Problem ist aus der Welt geschafft.« »Unauffällig, wie ich annehme?« »Unauffällig, was uns betrifft. Auffällig, was die Ganjasen angeht. Es gibt keine Hinweise auf eine Beteiligung unsererseits. Dafür wurden Spuren ausgelegt, die auf Ganjasen als Attentäter hindeuten.« Saryla bedankte sich und unterbrach die Verbindung. Zufrieden rieb er sich die Hände. Während der vergangenen Jahre hatte er dafür gesorgt, dass andere führende Sprecher des Trodar-Glaubens aus dem Weg geräumt wurden, besonders die der ersten Generation, die gemeinsam mit ihm studiert hatten. Sie waren ihm zu linientreu. Sie vertraten nicht das Trodar, das er vertrat. Scholar war der Letzte von ihnen. Der Anruf war die Bestätigung, dass auch er nicht mehr lebte. Sarylas Agenten hatten ganze Arbeit geleistet. Er machte sich eine gedankliche Notiz, dass auch die Attentäter von der Bildfläche verschwinden mussten. Nur ein toter Mitwisser war ein akzeptabler Mitwisser. »Bist du endlich da, wo du hinwillst?« »Da bin ich schon lange.« »Dennoch kehrst du immer wieder nach Sytio zurück.« Der davonfliegende KELTATRON-Raumer wurde immer kleiner, bis er nicht mehr zu sehen war. Es stimmte. Die Zeiten, da Saryla Sytio nicht verlassen hatte, waren vorbei. Bei diversen Raumflügen hatte er sich mit eigenen Augen von den Geschehnissen in der Galaxis überzeugt. Trotz der zahlreichen Herrscher in den zersplitterten Reichen existierte ein Machtvakuum, das darauf wartete, von etwas Großem ausgefüllt zu werden. Von etwas Großem wie Trodar. Es machte Spaß, den Glauben zu benutzen, wie man wollte. Das war das Gute an einem Glauben.
34 Er trug diese Bezeichnung, weil seine Inhalte sich weder empirisch belegen ließen noch weil er feststehenden Axiomen folgte, anhand deren man ihn hätte zerpflücken können. Je mehr Interpretationsspielraum er zuließ, desto flächendeckender konnte man ihn einsetzen, und genau daran lag Saryla. Er hatte die Gläubigen, die ihm folgten, auf zahlreichen Welten positioniert. Sie dienten ihm treu und stellten keine Gefahr für seine eigenen Ambitionen dar. Ambitionen, mit denen er zwar nicht hausieren ging, die er aber auch nicht verschwieg, wenn die Sprache auf das Thema kam. Er dachte in Trodar und glaubte an die Takerer. An seine Takerer, die einem kollektiven Trauma unterlagen, seit sie den Ganjasen unterlegen waren. Sie standen unter deren Knute, auch wenn kein Unbeteiligter das erkannt hätte. Es stand ihnen das Recht zu, über Gruelfin zu herrschen, wie sie es 200.000 Jahre lang getan hatten. »Ich sehe etwas auf mich zukommen«, erklärte, er Rowena. »Ich glaube, dass ich Sytio bald verlassen werde, für immer.« Er sah ihr an, dass die Ankündigung sie nicht überraschte. Offenbar hatte sie schon seit langem mit einer solchen Eröffnung gerechnet. »Wohin wirst du gehen?« Sie sparte sich die Frage, ob sie ihn begleiten würde. »Ich weiß es nicht, doch mein Weg ist vorherbestimmt. Ich werde es erkennen, wenn ich unterwegs bin. Es ist keiner mehr da, der mich aufhalten kann. Ich bin der wichtigste Vertreter des Trodar-Glaubens.« »Du bist davon besessen. Ich erinnere mich gut, wie du die Disziplin abgelehnt hast. Dein Irrglaube ist nichts anderes.« Rowena wagte kaum, ihren Gefährten anzusehen. Ihre Stimme war von Furcht durchtränkt. »Es gibt nur einen Unterschied. Er ist gefährlich. Gefährlicher als alles, was ich mir vorstellen kann. Wie kannst du ihm dein ganzes Leben widmen?« »Weil er mehr ist als das Leben«, dozierte Saryla verklärt. Er starrte auf einen imaginären Punkt am Horizont. Ein Bild entstand in der Ferne, undeutlich, verschwommen.
Achim Mehnert Noch offenbarte es sich ihm nicht vollständig. »Siehst du das?«, fragte er in einem Zustand völliger Verklärtheit. »Schau hin, dann begreifst du, was ich meine.« Es gibt kein Leben, es gibt nur Trodar. »Was siehst du?« Rowena war erschüttert. »Da ist … nichts. Deine Wahnvorstellungen treiben dich in den Irrsinn.« Tränen liefen über ihre Wangen. Sie wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. »Ich … ich halte es nicht mehr aus.« Ich? Hatte sie ich gesagt? Es fiel Saryla schwer, aus seiner Vision in die Wirklichkeit zurückzufinden. Er lachte heiser. »Du brauchst dich nicht zu fürchten, denn alles wird gut werden.« Es gibt keine Angst, es gibt nur Trodar. Rowena drehte sich um und stürzte davon. Was hatte sie vor? In einer plötzlichen Eingebung begriff Saryla, dass sie stumme Zeugin seiner Morde geworden war, auch wenn sie immer dazu geschwiegen hatte. Sie hatte ihn in der Hand. Wenn sie seine Taten in der Öffentlichkeit ausbreitete, konnte selbst er sich nicht aus der Affäre ziehen. Sie durfte nicht reden. Es gab nur eine Konsequenz. Er musste sie an den Ort schicken, an dem sie nichts verraten konnte, weil niemand ihr zuhörte. Es gibt keinen Tod, es gibt nur Trodar. Er sprang hinter Rowena her und bekam sie zu fassen. Alles geschah von allein. Er brauchte kaum etwas dazu zu tun. Seine Hände legten sich um Rowenas Hals und drückten das Leben aus ihrem Körper. Wie leicht sie war, wie schwach und zerbrechlich, viel zu gut für diese Welt aus Kampf und Intrigen. Sie wehrte sich kaum, als es zu Ende ging, röchelte nur ein wenig, als freute sie sich auf das ewige Leben in der Großen Horde. Dann bewegte sie sich nicht länger. Ihr Atem versiegte wie eine trockengelegte Quelle, und sie trat ein in den Hort der Freude. Es gibt keine Freude, außer in Trodar. Etwas streifte Sarylas Geist, was Augenblicke zuvor noch nicht da gewesen war, und drang in ihn ein. Mit einer heftigen
Lordrichter Saryla
35
Eruption ging es auf ihn über und wurde zu einem Bestandteil seines Wesens. Sofort wusste er, dass er es nicht mehr loswerden konnte. Es war … … ein Leben. Zumindest ein Stück davon. Der Bruchteil eines Lebens. Ein Bewusstseinssplitter, der latent Böses und Abgründiges ausstrahlte. Er schärfte Sarylas Gedanken und übermittelte ihm seltsame Ideen aus einer längst vergangenen Zeit. Auf einmal besaß Saryla Wissen über die Ganjasen, das er nie erworben hatte. Der Splitter drängte sich ihm nicht auf, blieb passiv im Hintergrund als ein Hort des Wissens. Woher kam dieses Lebensfragment? Von Rowena? Hatte sie es im Moment des Todes an ihn übertragen, bewusst oder unbewusst? Es gab weder einen Beweis dafür noch dagegen. Es war gleichgültig. Saryla nahm die Tatsache als von Trodar gegeben hin. Denn Trodar war allgegenwärtig, und Trodar würde nichts gestatten, was ihm schadete.
* Weitere Jahre vergingen, in denen Saryla seine Position festigte. Immer häufiger zog es ihn hinaus in den Weltraum. Bald war er mehr zwischen den Sternen unterwegs als auf seinem Heimatplaneten. Die TrodarGläubigen, die auf zahlreichen Welten in seinem Namen tätig waren, fürchteten seine spontanen Kontrollbesuche. Wer sich einen Fehler erlaubte, wurde gnadenlos eliminiert. Er hatte sich daran gewöhnt, so beiläufig und emotionslos zu töten, wie er ein Insekt zertrat. Ein großes Ziel vor Augen gestattete keinen überflüssigen Blick auf Nebensächlichkeiten. Außerdem hatte keines seiner Opfer Grund, sich zu beschweren. Die Große Horde empfing sie und nahm sie auf. Die Große Horde stand jedem offen. Nur für sich selbst legte Saryla keinen Wert darauf, vor seiner Zeit dorthin zu gelangen. Ein neuer Begriff hatte Einzug in seinen Denkschatz gehalten. Selbstaufopferung!
Dafür waren die Garbyor geschaffen. Danach sollte all ihr Trachten ausgerichtet sein. Im Dienste Trodars, zum Gefallen der Großen Horde. Es war ein milder Frühlingstag, als die DAKAYN nach einer geheimen Mission auf Sytio landete. Selbst seine engsten Vertrauten ahnten nicht, wo Saryla gewesen war. Er besaß inzwischen einen eigenen kleinen Raumhafen, auf dem mehrere Schiffe unterschiedlicher Bauart geparkt waren. Der KYNOVARON-Raumer warf einen gewaltigen Schatten, als er sich auf das Landefeld hinabsenkte. Es gab kein Empfangskomitee, wie es Politiker bevorzugten. Saryla hielt nichts von überflüssigem Pomp, obwohl er sich jede Annehmlichkeit leisten konnte. In Begleitung seiner Leibgarde verließ er die DAKAYN. Er konnte sich vorbehaltlos auf die Männer verlassen. Da sie seinen Glauben teilten und ihn als legitimen Anführer ansahen, hätten sie ihr Leben gegeben, bevor sie zuließen, dass ihm etwas zustieß. Doch aufgrund seiner unauffälligen Arbeit und des Fehlens jeglicher politischer Ambitionen hatte Saryla keine Feinde. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ein Attentat auf ihn zu verüben. Sein Leben verlief in geordneten Bahnen. Bis vor ihm die Luft zu flimmern begann. Auf dem Landefeld manifestierte sich ein Objekt von zylindrischer Form. Es durchmaß zwei Meter und war dreieinhalb Meter hoch. Unwillkürlich hatte Saryla die Assoziation eines kleinen Beiboots. Doch woher sollte es kommen und wie auf diese Weise erscheinen? Dann erkannte er, dass es kein Objekt war, das sich klassifizieren ließ. Es blieb unkenntlich, glich einer eisglitzernden Nebelwolke, die aus dünnen Fädchen bestand. »Zurück, Herr!«, gellte die alarmierte Stimme eines Gardisten. Die Takerer zogen ihre Waffen und schirmten Saryla gegen das unbekannte Phänomen ab. »Nicht schießen!« Verwirrende Eindrücke stürzten auf Saryla ein. Die Nebelwolke flimmerte und verbarg, was in ihrem Inneren
36 steckte. Außer ständig wechselnden Konturen war nichts zu erkennen. Eine direkte Gefahr schien nicht zu bestehen, nur eine unheimliche Bedrohung ging davon aus. Ringsum stöhnten die Gardisten auf. Saryla beobachtete, wie seine Männer in die Knie gingen. Nacheinander stürzten sie zu Boden, bis keiner von ihnen übrig war, um ihn zu beschützen. Flucht, ging es dem Trodar-Führer durch den Kopf. Es war ein unsinniger Impuls. Es war kein Zufall, dass ihm außer der Wahrnehmung einer diffusen Präsenz nichts zustieß. Die Macht, die seine Leibgarde lähmte, verschonte ihn. Das konnte nur bedeuten, dass sie es speziell auf ihn abgesehen hatte. »Wer bist du?«, hörte er sich fragen. »Was bist du?« »Ich bin das Schwert der Ordnung.« Mit der lapidaren Erklärung wurde ein Emotionsschwall übermittelt, der Saryla erschaudern ließ. Was sich vor ihm präsentierte, war natürlicher Herkunft. Ein überaus mächtiges Wesen verbarg sich hinter dem Geflecht. In dessen Gegenwart verblasste Sarylas Macht zur Bedeutungslosigkeit. Es hatte ihn gesucht und gefunden, was angesichts der Tatsache, dass er gerade erst von einer dreiwöchigen Reise zurückkehrte, so gut wie unmöglich war. Nein, nicht für dieses Wesen, begriff Saryla. Es besaß Möglichkeiten, die er sich nicht einmal ausmalen konnte. Seine Männer krümmten sich unter unsichtbaren Kräften. Zugleich hatte das Geflecht eine abschreckende Wirkung, die verhinderte, dass man sich ihm näherte. Dazu waren die Gardisten in ihrem Zustand ohnehin nicht in der Lage. Er kannte sie als harte Burschen. Es war erschreckend und faszinierend zugleich, dass bloße Geisteskraft sie dermaßen umwarf. Er spürte deutlich, dass der Fremde auch ihn mit Leichtigkeit töten konnte, wenn ihm daran lag. Die Vorstellung bereitete ihm weniger Unbehagen, als es im Angesicht einer zweifellos tödlichen Bedrohung angebracht war. Eine unerklärliche Ahnung sagte Saryla, dass der Fremde nicht mit feindli-
Achim Mehnert chen Absichten gekommen war. Die Bezeichnung, mit der er sich vorgestellt hatte, klang martialisch. »Schwert der Ordnung«, fand Saryla seine Sprache wieder. »Was willst du von mir?« »Ich will dir helfen. Doch zunächst weise deine Anhänger an, sich friedlich zu verhalten. Dann nehme ich meinen Bann von ihnen.« »Sie haben es begriffen. Ohne einen direkten Befehl von mir werden sie sich nicht gegen dich wenden.« Hohles Gelächter erklang. Die Konturen unter der Nebelwolke verschwammen und setzten sich neu zusammen, ohne eine konkrete Form anzunehmen. »Du hast Mut. Nichts anderes habe ich von dir erwartet. Nur deshalb führt mein Weg mich zu dir. Die Galaxis wird den Mutigen gehören. Den Schwachen wird sie eine Grabstätte sein.« Saryla registrierte um sich herum Bewegungen. Seine Männer richteten sich stöhnend auf. Sie hielten ihre Waffen umklammert, legten jedoch nicht auf das unkenntliche Wesen an. Sie waren erfahren genug, um zu wissen, dass ein Fehlverhalten eine Katastrophe nach sich ziehen würde. »Von was für Hilfe sprichst du? Wie kommst du darauf, dass ich deine Hilfe benötige, und wobei?« »Du brauchst sie gegen die Ganjasen.« Das Schwert der Ordnung sprach den Namen des takerischen Erzfeindes aus wie einen Fluch. »Sei nicht erstaunt. Ich weiß, was in dir vorgeht. Ich kenne deine Probleme besser als du selbst. Deshalb bin ich gekommen. Du musst sie endlich freilassen und eine Lösung anstreben. Ansonsten wirst du keine Ruhe finden.« Die Ganjasen! Bei ihrer Nennung spürte Saryla einen schmerzhaften Stich. An kaum einem Tag seines Lebens war es ihm vergönnt gewesen, nicht an sie zu denken. Besonders in jüngster Zeit ließ ihn der in grauer Vorzeit erwachte Hass nicht mehr los. Die Ganjasen nahmen keine Rücksicht auf die Territorialansprüche der Takerer. Selbst da, wo die Splitterreiche halbwegs stabile Gren-
Lordrichter Saryla zen aufwiesen, führten sie Patrouillenflüge durch. Sie kannten weder Respekt noch Zurückhaltung, sondern gingen ihren expansionistischen Trieben nach, wie sie es seit Jahrhunderten taten. Bösartige Gedankenfragmente blitzten in Sarylas Verstand auf, undeutliche Bilder, Bruchstücke von Wissen. Er presste die Lippen zu zwei schmalen Strichen zusammen, als ihm aufging, was geschah. In den zurückliegenden Jahren hatte er den Vorgang mehrmals erlebt. Die Eindrücke stammten von dem Bewusstseinssplitter, der bei Rowenas Tod in ihn eingedrungen war. »Dein Schweigen verrät mir deine Not«, setzte das Schwert nach. »Ich weiß, dass all dein geheimes Wirken einzig dem Wohl deines Volkes dient.« Saryla stemmte sich gegen die Bilder, die ihn heimsuchten. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, was die Aussage seines unheimlichen Besuchers beinhaltete. »Du überwachst mich.« »Ich schaue in diese Galaxis und noch sehr viel weiter. Statt dich deswegen zu sorgen, solltest du froh sein, dass ich auf dich aufmerksam geworden bin. Ich kann dich mit nahezu unbegrenzter Macht ausstatten. Mit ihr kannst du im Namen deines Volkes endlich Rache an den Ganjasen üben.« Die Verlockung drohte Saryla zu übermannen. Hier wurde ihm angeboten, wonach er stets getrachtet hatte. Tod den Ganjasen! Zumindest sollten sie die Unterdrückung kennen lernen, die sonst von ihnen ausging. Gleichzeitig reizten ihn die endgültige Freiheit für die Takerer und die Bewältigung des Traumas. Die Vorstellung war zu schön, um wahr zu sein, und genau das störte ihn. Wieso sollte Saryla einem unbekannten Wesen trauen, von dem er Minuten zuvor nichts geahnt hatte? Wenn es ihm wenigstens sein Gesicht gezeigt hätte, wäre es ihm möglich gewesen, darin zu lesen und nach einer Lüge Ausschau zu halten. Er war schon einmal betrogen und fallen gelassen worden. Nach den schlechten Erfahrungen mit Carpes Maluni
37 war er nicht bereit, sich in ein weiteres Abenteuer mit Ungewissem Ausgang zu stürzen. Nach all den Jahren merkte er, wie tief der Stachel bis heute in der Wunde saß. Er hatte gedacht, sie sei verheilt, doch die Narbe war noch frisch. »Was ist das für eine Macht, die du mir anbietest?«, fragte er. »Ich werde sie dir zeigen, wenn du zustimmst«, vertröstete das Schwert der Ordnung ihn. »Andernfalls gebe ich sie dir nicht preis.« Saryla kniff die Augen zusammen. Die Verlockung, einfach ja zu sagen, war groß. In schillernden Farben malte er sich aus, wie er unter den Urfeinden, die sich wie die Takerer Cappins schimpften, wüten würde. Doch bei all seiner Macht und seinem Reichtum fehlte ihm die Logistik für einen Erfolg versprechenden Zug gegen die Ganjasen. »Ich habe gelernt, Versprechungen keinen Glauben mehr zu schenken«, widerstand Saryla dem Drang, sich auf den hingeworfenen Brocken zu stürzen. »Deshalb lehne ich dein Angebot ab.« Stille trat ein. Er spürte deutlich die Anspannung seiner Gardisten. Trotz seiner Behauptung würden sie nicht auf einen ausdrücklichen Befehl zum Angriff warten, wenn ihrem Herrn Gefahr drohte. Die Nebelwolke bewegte sich und reflektierte das Sonnenlicht. Ihr Glitzern verhieß Bedrohung. Zäh verrannen die Sekunden, und nichts geschah. »Du beugst dich nicht vor mir, obwohl du gesehen hast, wozu ich in der Lage bin«, nahm das Schwert das Gespräch wieder auf. »Dein Mut beeindruckt mich, mehr aber noch deine innere Stärke. Sie ist es, auf die es ankommt. Nur weil ich weiß, dass du sie besitzt, interessiere ich mich für dich. Mit Schwächlingen paktiere ich grundsätzlich nicht, denn die Schwächlinge werden aus dem Universum verschwinden.« »Das klingt, als würdest du persönlich dafür sorgen.« »Ich und andere und unsere Hilfskräfte,
38
Achim Mehnert
die Zaqoor.« »Die Zaqoor?«, echote Saryla verständnislos. Der Klang seiner Stimme verwehte über dem Landefeld. Seine Gardisten verblassten wie der gesamte Raumhafen. Schlagartig veränderte sich die Umgebung.
* Er hing regungslos inmitten einer Kugel. Hinter der semitransparenten Rundung lauerte die lebensfeindliche Kälte des Weltraums. Wegen fehlender Vergleichsmöglichkeiten war es unmöglich, die Größe der Raumschiffe abzuschätzen, die ringsum versammelt waren. Sie gehörten ausnahmslos dem gleichen Typ an. Es handelte sich um kugelförmige Einheiten, deren Hüllen von Einbuchtungen übersät waren. Saryla nahm das Bild beiläufig in sich auf. Die Erkenntnis seines eigenen Schicksals rumorte in ihm. Das Schwert der Ordnung hatte ihn entführt, entweder auf dem Weg, auf dem es nach Sytio gelangt war, oder ihm standen weitere Möglichkeiten zur Verfügung. Wohin hatte es ihn verfrachtet? Saryla war geneigt, ihm seine Ankündigung von den nahezu unbeschränkten Machtmitteln zu glauben. Aber wozu mich? Was will es von mir? »Du sollst mit eigenen Augen sehen, dass ich nicht übertrieben habe.« Saryla fuhr zusammen. Er war nicht allein. Neben ihm schwebte die eisglitzernde Nebelwolke. Sie war blasser als zuvor, was an dem geringen Lichteinfall von außerhalb der Kugel liegen mochte. Als er sich seinem Entführer zuwandte, geriet sein Körper in Rotation. Die Dellenschiffe begannen sich scheinbar um die Kugel zu drehen. Es waren Hunderte, wenn nicht Tausende. Die Bauart war ihm unbekannt, was ihn nicht beruhigte. Eine solche Flotte wurde kaum zu friedlichen Zwecken zusammengezogen. »Zaqoor«, erklärte das hinter dem Gespinst unsichtbare Wesen. »Du erinnerst dich, dass ich von ihnen sprach?«
Natürlich. Saryla hielt die Frage nicht nur für überflüssig, sondern für dumm. Keine Minute war vergangen seit dem Gespräch auf seinem Raumhafen. Schmerzlich wurde ihm klar, dass es keinen Beweis für seine Schlussfolgerung gab. Möglicherweise war er bewusstlos geworden. Es gab keinen Anhaltspunkt, wie viel Zeit verstrichen war. »Wie bin ich hierher gekommen?«, fragte er. »Unwichtig.« Jede Verbindlichkeit war aus der Stimme des Schwerts der Ordnung gewichen. »Wichtig ist allein, dass du begreifst, was du nicht zu glauben bereit bist. Was gleich geschieht, wird jeden Zweifel hinfortwischen, dass ich dir wirklich geben kann, was ich dir angeboten habe.« »Die Machtmittel, die Ganjasen zu besiegen?«, konterte Saryla spöttisch. Er erhielt keine Antwort. Stattdessen nahmen die Raumschiffe Fahrt auf und die Kugel mit ihnen. Saryla hatte jedes Gespür für die Zeit verloren. Sie schien einfach stehen geblieben zu sein. Wie anders ließ sich erklären, dass er zwar den Eindruck hatte, Lichtjahr um Lichtjahr zu überbrücken, die Kugel aber gleichzeitig nicht von der Stelle kam? Mit verlässlich arbeitenden Andruckabsorbern war das zwar Normalität, über die nachzudenken nicht lohnte, doch ein nicht weit entfernt stehender sonnenloser Planet behielt seine relative Position bei. Oder wir die unsere, schloss der TrodarFührer. Es ist lediglich eine Illusion. Wir bewegen uns nicht. »Dort draußen sind gar keine Schiffe«, sprach er seine Vermutung laut aus. »Sie sind dort draußen, nur nicht so nahe, wie es optisch erscheint. Selbst mit einem ABENASCH-Raumer würden wir eine Weile brauchen, um vor Ort einzutreffen.« »Vor Ort?« Das Schwert schwieg und ließ die Bilder für sich sprechen. Die Dellenschiffe trafen auf eine andere Flotte. Saryla wusste sofort, dass es sich um Schiffe der Ganjasen handelte. Es war ein buntes Gemisch aus unterschiedlichen Typen. Neben den Standardein-
Lordrichter Saryla heiten gab es in Gruelfin unzählige bauliche Abwandlungen, die es schwierig machten, den Überblick über die Raumschiffe der Cappins zu behalten. Die Dellenschiffe stürzten sich auf die Ganjasen und verwickelten sie in einen kurzen, aber heftigen Kampf. Oder besser, in ein Massaker. Die Angreifer, die nur geringe Verluste davontrugen, gewährten kein Pardon. Sie zerstörten, was ihnen vor die Waffensysteme kam, und ließen niemand entkommen. »Keine Gnade«, wisperte das Schwert der Ordnung. »Keine Überlebenden. Keine Zeugen. Keine Fragen. Und selbst wenn, wen sollten sie wohl interessieren?« Die absolute Kälte des Weltalls durchdrang die Kugel, und Saryla erwartete zu erfrieren. Auch das war nur Einbildung. Er fragte sich, was mit ihm los war. Weder das Schicksal der sterbenden Ganjasen noch der gefühllose Kommentar des Schwerts gingen ihm nahe, und genau so sollte es sein. Gestalten schälten sich aus den Bildern der Zerstörung, kräftige, kompakte Krieger in schweren Kampfanzügen, die mehrere Höcker an ihren kantigen Schädeln trugen. Es war eine Überblendung, denn sie kämpften nicht im luftleeren Raum, sondern an der Oberfläche eines Planeten. Verwirrt beobachtete Saryla das Vorpreschen der Krieger, die nicht davor zurückschreckten, in das Sperrfeuer derjenigen zu laufen, die zu töten sie gekommen waren. Auch sie Ganjasen. Und die Krieger, denen ihr eigener Tod nichts auszumachen schien, wer waren sie? »Zaqoor«, erklärte das Schwert, als hätte es die Gedanken erraten. »Sie kämpfen bis zum Ende. Gleichgültig, ob bis zu dem ihrer Gegner oder bis zu ihrem eigenen. Sie glauben nicht daran, wirklich sterben zu können, sondern erwarten, in der Großen Horde aufzugehen. Gib ihnen einen Befehl, und sie führen ihn bis zu ihrem letzten Atemzug aus.« Es gibt kein Leben, es gibt nur Trodar. Es gibt keinen Tod, es gibt nur Trodar. Vor Sarylas staunenden Augen metzelten
39 die Zaqoor-Landetruppen ihre Gegner bis auf den letzten Mann nieder. Sie kämpften mit Energiewaffen, Messern und ihren bloßen Händen, die zum Töten geschaffen schienen. Mit ihren Stiefeln stapften sie durch das Blut und die Leichen, spähten nach Bewegungen von Überlebenden und sorgten dafür, dass sie aufhörten. Als die Zaqoor sich zurückzogen, ließen sie eine Stadt auf einem Außenposten der Ganjasen zurück, die nur noch tierisches und pflanzliches Leben beherbergte. »Damit ist diese Welt wieder zur Besiedelung freigegeben«, kommentierte das Schwert der Ordnung. »Ewiges Leben in der Großen Horde.« Saryla verstand. Es war ein Bindeglied. Ewiges Leben, die einzige Freude, und alles in Trodar. Von den Zaqoor hatte Carpes Maluni nie gesprochen. Dabei waren sie die Speerspitze der Garbyor. Das Schwert der Ordnung war nicht durch einen Zufall zu ihm gekommen. Es gab einen Plan, und er gehörte dazu. Wie Carpes Maluni benutzten alle Trodar nur für ihre eigenen Ziele. Das war weise und verschlagen. Es gab nur eins, was Gruelfin und die in ihm agierenden Mächte nicht ahnen konnten. Nämlich dass Saryla allen anderen an Weisheit und Verschlagenheit in nichts nachstand. Mehr denn je war er entschlossen, den Trodar-Glauben zu nutzen. Mit ihm konnte er alles erreichen und das Ziel verwirklichen, das er schon so lange vor Augen hatte. Da hatte das Schwert Recht. Nur konnte es nicht ahnen, dass sich Sarylas Trodar-Glauben längst von dem der ersten Stunde unterschied. Zusammen mit der gewaltigen Schlagkraft der Zaqoor konnte ihn niemand aufhalten, auch nicht das unkenntliche Wesen hinter dem Nebelfeld. Der erratische Bildersturm ging weiter, zeigte Sequenzen aus dem Leben der Garbyor, die in ihrer Intensität und Aussagekraft eindeutig waren. Nichts und niemand hielt die Zaqoor auf. Wo sie wüteten, war jeder Gegner unterlegen, jede Gegenwehr zum Scheitern verurteilt. Es gab keine kampf-
40 kräftigere Truppe als sie, und sie dienten dem Schwert und denen, die einen Waffenpakt mit ihm eingingen. Es waren perfekte Krieger, von denen ein paar Bataillone Saryla gut zu Gesicht gestanden hätten. Was er eben gesehen hatte, konnte nur der Anfang sein. Gruelfin war groß, da gab es eine Menge zu tun. Wenn Saryla mit den Ganjasen fertig war, konnten sie froh sein, sich wieder in der Kleingalaxis Morschaztas verkriechen zu dürfen. »Du hast mich überzeugt, Schwert der Ordnung.« Ein hämisches Grinsen lag auf Sarylas Seele, während sein Gesicht Konsens ausdrückte. »Du besitzt tatsächlich gewaltige Machtmittel, die mir meinen Weg erleichtern werden. Wenn du sie mir zur Verfügung stellst, unterstütze ich dich.« Er war nahe daran, laut aufzulachen. Es gibt keine Freude, außer in Trodar. Zumindest galt das, solange Trodar in seinem Sinne wirkte. »Herr, ist alles in Ordnung?« Die Stimme brachte Saryla in die Wirklichkeit zurück. Die Kugel war verschwunden. Er stand auf dem Landefeld zwischen seinen Anhängern. Sie musterten ihn besorgt, weil er nicht gleich antwortete. Auf sein Verschwinden gingen sie nicht ein. Er war gar nicht weg gewesen. Es war auch keine Zeit verstrichen. Was er sah, hatte sich nur in seinem Kopf abgespielt. »Du erhältst Nachricht, schon bald.« Das Nebelfeld verblasste, verschwand. War es wirklich da gewesen, oder hatte Saryla es sich nur eingebildet? Verunsichert schauten die Gardisten sich um. »Es ist verschwunden, Herr. Wie ist das möglich?« Sie hatten es ebenfalls gesehen. Saryla war keinem Tagtraum aufgesessen. Er wusste, dass er bald eine Antwort auf die Frage bekommen würde, auf sie und auf unzählige weitere. Es dauerte nur wenige Tage, bis er einen Koordinatensatz erhielt. Er startete mit einem SIRALIA-Beiboot, ohne Begleitung und ohne Angaben über sein Ziel. Was vor ihm lag, war eine persönliche Angelegen-
Achim Mehnert heit, die seinen Anspruch auf Macht und Rache zementieren sollte. Seine Heimat Sytio gehörte endgültig der Vergangenheit an.
* Der Anblick war unwirklich. Vor ihm erstreckte sich die Ebene weiter, als er sehen konnte. Sie verschmolz mit keinem Horizont, denn ein solcher existierte nicht. Dutzende von Kilometern in jede Richtung reichte die Ebene, dann brach sie übergangslos ab. Wenn man an ihren Rändern einen weiteren Schritt tat, fiel man buchstäblich ins Nichts. Die Analogie vom Ende der Welt, hier stimmte sie. Aus dem Weltall war der Anblick trist gewesen. Die SIRALIA-Einheit flog eine im interstellaren Leerraum schwebende, rechteckige Platte von hundert Metern Dicke an. Verschiedene Metalllegierungen und natürlich gewachsenes Gestein verschmolzen zu einem Konstrukt bar jeglicher Bebauung. Es illuminierte einen diffusen Lichtschein, der eine vage Orientierung ermöglichte. Es gab eine künstliche Schwerkraft und atembare Luft, sonst nichts. Außerdem herrschten für einen Takerer erträgliche Temperaturen. Saryla drehte sich um und schaute zu dem Beiboot, das zwanzig Meter hinter ihm stand. Er hatte es etwa in der Mitte der Platte gelandet. Nun war es der einzige Bezugspunkt, an den sich sein Geist klammern konnte. Es wirkte verloren. Ähnlich kam auch er selbst sich vor. Mit einem Anflug von Schrecken stellte er sich vor, wie das Boot abhob und in den Tiefen des Raums verschwand, ihn zurücklassend. Ein perfekteres Gefängnis als dieses konnte es nicht geben. In der Hoffnung auf einen Einstieg ins Innere der Platte suchte Saryla die Umgebung ab. Die Oberfläche war glatt und fugenlos. Sie wirkte wie aus einem Guss. Ohne Unterbrechung, ohne Zeichen oder Hinweise, dass jemals ein Wesen seinen Fuß darauf gesetzt
Lordrichter Saryla hatte. Weder hatte sich kosmischer Staub abgelagert, noch entdeckte er Spuren von Meteoriteneinschlägen. Da kein Schutzschirm die Plattform überspannte, besaß sie einen anderen Schutzmechanismus, der ihm verborgen blieb. Vielleicht hatte Saryla sich die falsche Seite zum Andocken ausgesucht. Heiser lachte er auf. Der Gedanke war lächerlich. Zweifellos hatten die Erbauer der Plattform eine solche Möglichkeit ins Kalkül gezogen. Das bestätigten seine beim Anflug gemachten Beobachtungen. Oben und Unten, wenn man die Begriffe in diesem Zusammenhang überhaupt benutzen konnte, unterschieden sich durch nichts voneinander. In dieser Umgebung kam ihm sein eigenes Lachen unwirklich vor. Spielte das Schwert der Ordnung ihm einen Streich? Warum hatte es ihn zu diesen Koordinaten bestellt und ließ sich selbst nicht blicken? Möglicherweise testete es ihn. Er erinnerte sich daran, dass es von seiner inneren Stärke gesprochen hatte. Saryla ging in die Hocke und ließ sich auf dem Boden nieder. Während er wartete, beobachtete er das funkelnde Meer der Sterne, das aus diesem Blickwinkel so friedlich wirkte, als gäbe es keine Kämpfe und keine Interessenkonflikte darin, nicht einmal Intelligenzen, die es bewohnten. Für einen Moment hatte er das Gefühl, das einzige Wesen in ganz Gruelfin zu sein. Es vermittelte eine Allmacht, die Saryla gefiel. Andererseits war es ernüchternd. Was nützte einem Wesen selbst die absolute Macht, wenn es ganz allein war? Macht war dazu da, sich mit ihr über andere zu erheben. Sie wurde negiert, wenn man sie nicht ausüben und beweisen konnte. Einzig das Geräusch seines eigenen Atems durchbrach die grenzenlose Stille. Rasch verlor Saryla jedes Zeitempfinden. Nur die gelegentlichen Blicke auf seinen Chronographen verrieten ihm, dass ein halber Tag Sytio-Standardzeit verstrich, ohne dass etwas geschah. Allmählich verspürte er Hunger und Durst. Er unterdrückte den Drang, seinem Verlangen nachzugeben.
41 Wenn er an Bord des Beiboots ging, fürchtete er, würde er die Maschinen hochfahren und starten. Weitere Stunden vergingen. Seine Ausdauer wurde auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Ein ums andere Mal ertappte Saryla sich bei dem Gedanken an eine großangelegte Täuschung oder einen Verrat, wie ihn Carpes Maluni begangen hatte. Seine Bedenken wurden zerstreut, als ein paar Meter vor ihm die Luft zu flimmern begann. Da er das Erscheinen des Schwerts der Ordnung bereits erlebt hatte, verfolgte er den Vorgang gelassen. Auch diesmal gestattete das glitzernde Nebelfeld keinen Blick in sein Inneres. Saryla spielte mit dem Gedanken, heranzutreten und es zu durchdringen. Er unterließ den Versuch. Vielleicht stellte das Feld einen tödlichen Schutz dar, vielleicht betrachtete das Schwert die Annäherung auch als Angriff. »Du bist bereits eingetroffen«, erklang dessen Stimme. Saryla verzichtete auf den Hinweis, dass sie vor knapp einem Tag verabredet gewesen waren. »Ein gastlicher Ort«, begrüßte er das Schwert stattdessen. »Hätte es nicht auch ein öder Asteroid als Treffpunkt getan?« Augenblicklich bedauerte er seine respektlose Bemerkung. Das Schwert war gefährlich. Er durfte es auf keinen Fall unterschätzen. Es war alles andere als klug, es herauszufordern. »Urteile niemals vorschnell. Erste Eindrücke können trügen«, belehrte das Schwert der Ordnung ihn. »In diesem Fall tun sie es. Nur auf den drei Weihetafeln kann die Initiierung durchgeführt werden. ALTAMON ist die einzige davon, die sich in Gruelfin aufhält.« Sarylas Gedanken überschlugen sich. Er sollte initiiert werden, was auch immer darunter zu verstehen war. Außerdem gab es zwei weitere solcher Plattformen, die in anderen Galaxien unterwegs waren. Das Schwert der Ordnung und die Garbyor waren in weiteren Sterneninseln aktiv. »Warum zeigst du dich mir nicht? Fürchtest du dich
42 vor mir?«, versuchte er das unkenntliche Wesen aus der Reserve zu locken. »Ich würde mich besser fühlen, könnte ich meinem Verbündeten beim Gespräch in die Augen sehen.« »Verbündeter?« Das kalte Lachen ertönte, das Saryla bereits kannte. »Überschätze dich nicht. Du bist nicht mein Verbündeter, sondern mein Untergebener. Du brauchst mich nicht zu sehen. Außerdem wirst auch du die Vorzüge des Eishaarfeldes zu schätzen wissen, wenn du dich daran gewöhnt hast.« Eishaarfeld – die Bezeichnung war zutreffend. Die Ankündigung, ebenfalls eine solche Vorrichtung zu erhalten, elektrisierte Saryla. Er fragte sich, ob es sich um eine rein technische Einrichtung handelte oder ob mehr dahintersteckte. Eine Initiierung klang nach einem geistigen Akt. Er sah auf, als sich in der Dunkelheit Umrisse bildeten. Gebäude? Er konnte nicht erkennen, ob sie sich aus dem Inneren der Plattform an die Oberfläche schoben oder auf die gleiche Art materialisierten wie das Schwert. Zwei pechschwarze Hallen zeichneten sich in dem diffusen Zwielicht ab. Nachdem ihre Manifestierung abgeschlossen war, wuchsen sieben gleichfalls schwarze Stelen zwischen ihnen auf. Sterne funkelten darin. Sarylas Blick drang in eine Stele ein und irrte in ihrem Inneren umher. Ein unendlicher Raum lag darin verborgen. »Sieh nicht zu lange hin«, warnte das Schwert der Ordnung. »Sonst besteht die Gefahr, dass du dich verirrst und nicht mehr zurückfindest. Wenn dein Geist dort verloren geht, muss ich mir einen neuen Probanden suchen.« Ich bin mehr als ein Proband, du Narr. Saryla fühlte sich stark, und in Kürze würde er noch stärker sein. »Was soll ich tun?« »Tritt zwischen die Stelen und öffne dich für das, was du empfangen wirst.« Auch wenn die Bemerkungen des Schwerts vage waren und bislang keinen Sinn ergaben, zögerte Saryla nicht. Seine Interpretation Trodars ließ nicht zu, dass er sich ein zweites Mal so angreifbar machte,
Achim Mehnert wie es durch Carpes Maluni geschehen war. »Bist du bereit?« »Sonst wäre ich nicht hier.« Entschlossen setzte der Trodar-Führer sich in Bewegung. Als er zwischen die schwarzen Säulen trat, die zehn Meter hoch aufragten, schien er eine andere Welt zu besuchen. Deutlich spürte er die unsichtbare Grenze, die er überschritt. Sie war wie ein materielles Band, das er zerriss, obwohl nichts zu sehen war. Schauriges Geflüster drang an seine Ohren, diesige Schimären erhoben sich und hüllten ihn ein, sekundenlang nur, dann waren sie wieder verschwunden. Saryla war nicht sicher, sie sich nicht vielleicht nur eingebildet zu haben. Ein glitzerndes Gespinst aus Fäden, ähnlich dem eines Eishaarfeldes, verzweigte sich zwischen den Stelen. Das Schwert schien Lichtjahre weit entfernt. Regungslos beobachtete es, was geschah. Der Drang in Saryla, hinter seine Fassade zu schauen, wurde übermächtig. Er riss sich zusammen. Hier ging es nicht um das Schwert der Ordnung, sondern ausschließlich um ihn. Er schob sämtliche störenden Gedanken weit von sich und konzentrierte sich auf das nahe Liegende. Sofort registrierte er eine unsagbar fremde Präsenz, die ihn auf einer höheren Ebene berührte. Saryla keuchte auf. Ein Eiswind fuhr durch seinen Körper und ließ ihn frösteln. Etwas wurde ihm geschenkt. Nur wenige Wesen im Universum teilten die Erfahrung, die er machte. Die Stelen spien ihn förmlich aus. Das Gespinst löste sich auf, und er wurde aus dem Kreis geschleudert. Als er sich umschaute, waren die Stelen ebenso verschwunden wie die schwarzen Hallen. Ein Eishaarfeld kam auf ihn zu … zwei Eishaarfelder. Obwohl äußerlich durch nichts voneinander zu unterscheiden, wusste er auf Anhieb, unter welchem sich das Schwert der Ordnung verbarg. »Ich bin der Oberste Lordrichter«, stellte sich das zweite unkenntliche Wesen vor. Wie auch vom Schwert ging eine bestimmte geistige Signatur von ihm aus. Mühelos unterschied Saryla die beiden Entitäten. Der
Lordrichter Saryla Bewusstseinssplitter in ihm verstärkte sein Gespür dafür. Der Oberste Lordrichter strahlte mehr aus als das Schwert der Ordnung, aber auch wieder weniger. Er war auf eine nicht zu bestimmende Art indifferent, eine Gestalt an der Kippe zwischen Genie und Wahnsinn. Eine unterschwellige Bedrohung ging von ihm aus. »Ich beglückwünsche dich zu deiner erfolgreichen Initiierung, Lordrichter Saryla«, meldete sich das Schwert der Ordnung. »Dir ist eine große Ehre zuteil geworden, dass du unter Umgehung der Hierarchie in diesen Status erhoben wurdest. Dir bleibt der langwierige Prozess erspart, dich die Strukturen der Garbyor-Horden hochdienen zu müssen.« »Besitze ich nun Befehlsgewalt über die Zaqoor?« »Nicht nur über sie, sondern auch über andere Hilfsvölker in den Reihen der Garbyor. Außerdem stehst du über jedem Marquis und Erzherzog.« »Du stehst auf einer Stufe mit den anderen Lordrichtern. In Gruelfin bist du der erste Lordrichter. Unterstellt bist du allein mir und dem Schwert der Ordnung«, fügte der Oberste Lordrichter hinzu. »Was ist mit meinem …«, Saryla wagte kaum, die Frage zu stellen, »… Eishaarfeld?« »Konzentriere dich darauf. Du wirst es rasch beherrschen, wenn du es ein paarmal eingesetzt hast«, versicherte das Schwert. Da war etwas Unbekanntes in ihm, zu dem er rasch Vertrauen fasste. Saryla stellte fest, dass ein bloßer Gedankenimpuls ausreichte, es zu einer Reaktion zu veranlassen. Seine Forderung an sich selbst bewirkte etwas. Ein überschwängliches Glücksgefühl durchströmte ihn, als sich das Eishaarfeld um seinen Körper aufbaute. Es verlieh ihm zusätzliche Macht. Die bloße visuelle Wahrnehmung des Eishaarfeldes genügte, einfache Wesen zu unterdrücken. Er hatte es auf seinem Raumhafen erlebt. Zusätzlich war es eine hervorragende Tarnung. Denn wer immer ihn in diesem Zustand betrachtete, sah
43 keinen Takerer vor sich, sondern exakt das, als das sich der Oberste Lordrichter und das Schwert der Ordnung ihm präsentierten. Doch es gab auch eine Kehrseite der Medaille. Das aktive Feld vermittelte ihm ein Gefühl des Gefangenseins. Saryla akzeptierte diesen kleinen Preis, den er für die Macht zahlen musste. Er behielt seinen Gedanken für sich und konzentrierte sich auf die Impulse des Obersten Lordrichters. Vor ihm fürchtete Saryla sich beinahe noch mehr als vor dem Schwert der Ordnung. Das mochte an der latenten Wahnsinnsaura liegen, die ihm anhaftete. Beide Wesen indes besaßen eine solche Macht, dass sie für ihn unangreifbar waren. Doch das war ein Zustand, der sich im Laufe der Zeit ändern konnte.
8. Vergangenheit Im Laufe der nächsten Jahrzehnte baute der Lordrichter seine Machtbasis kontinuierlich aus. Dabei setzte er all seine Gerissenheit ein. Wenn er einen Plan gefasst hatte, ließ er sich nicht davon abbringen, sondern betrieb die Realisierung so ausdauernd, bis er endlich in die Tat umgesetzt war. Sein Einflussbereich wuchs ständig. Skrupel kannte er nicht. Im Gegenteil wurde er mit jedem Erfolg ehrgeiziger und rücksichtsloser. Bald sah er Gewalt nicht mehr nur als legitimes Mittel, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern als das einzig Wahre. Wo alle anderen Maßnahmen versagten, führte sie dennoch zum Erfolg. Warum sich also zuerst anderer Mittel bedienen, wenn er mit ihnen nur Zeit verlor? Er begann Gefallen am Chaos zu finden, an Orgien der Gewalt und Vernichtung. Je häufiger sie die Ganjasen betrafen, desto besser. Bedenkenlos schickte er Legionen Zaqoor in den Untergang, wenn es ihm nur einen kleinen Vorteil brachte oder den ganjasischen Urfeinden schadete. Seine Anhänger waren in unzähligen Sonnensystemen unterwegs. Unablässig missio-
44 nierten sie weitere Gefolgsleute, die dann ihrerseits neue Gläubige anwarben. Je weiter der Trodar-Glaube sich in Gruelfin verbreitete, umso weniger ernst nahm Saryla ihn. Seine unbedingte Gläubigkeit daran war längst vergangen. Er begann nicht nur, ihn und seine Leitsätze zu hinterfragen, gelegentlich ließ er sich sogar zu einer bissigen Bemerkung hinreißen. Natürlich tat er das hinter vorgehaltener Hand, um nicht seine Glaubwürdigkeit zu verlieren und seine Position aufs Spiel zu setzen. Generell war Saryla schlau genug, sich bei allem, was er tat, vom Schwert der Ordnung fern zu halten, um kein Misstrauen zu erregen. Seinerseits kümmerte es sich nicht um ihn, sondern ließ ihn schalten und walten, wie es ihm beliebte. Diese Freiheit nutzte Saryla aus. Es gab Jahre, in denen nicht mal eine Nachricht vom Schwert kam, obwohl es angeblich stets alles im Auge behielt, was in seinem Einflussbereich geschah. Manchmal hatte er den Verdacht, es halte sich nicht in Gruelfin auf, sondern wurde in einer anderen Galaxis so sehr gefordert, dass ihm kein Freiraum für anderweitige Aktivitäten blieb. Den hatte Saryla umso mehr. Er nutzte ihn dazu, Nachforschungen über das Schwert und den Obersten Lordrichter anzustellen. Zu seinem Bedauern verliefen sie im Sand. Die einzigen beiden Wesen, die im Rang über ihm standen, ließen sich nicht unters Eishaarfeld schauen. Auch er selbst trat in der Öffentlichkeit mehr und mehr in dessen Schutz auf. Einige enge Vertraute, die seine wahre Identität kannten, räumte er aus dem Weg, wie er es schon mit seinen ehemaligen Studienkollegen getan hatte. Zuweilen verschleierte er seine Schuld nicht einmal, denn schließlich konnte er tun und lassen, was er wollte. Niemand war in der Position, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Eine ganze Galaxis stand in seinem Bann. Im Laufe der Zeit erschienen weitere Lordrichter auf der Bildfläche. Die Tatsache gefiel Saryla nicht, denn sie bedeutete einen Machtverlust. Er hätte sich der Neuen, wie
Achim Mehnert er sie bei sich abschätzig nannte, gern entledigt. Leider bot sich diese Option nicht. Wenn nämlich einer von ihnen verschwand oder unter mysteriösen Umständen ums Leben kam, hätte das zwangsläufig das Schwert oder den Obersten Lordrichter auf den Plan gerufen. Wenn Saryla seine Ambitionen also in diese Richtung ausdehnte, musste er bei diesen beiden Herren anfangen, und das wagte er noch nicht. Besonders die Erinnerung an das bedrohliche Wesen des Obersten Lordrichters fraß in Sarylas Eingeweiden wie ein Geschwür. Er lernte die Lordrichter Kelkapalin und Ibin Kyrela persönlich kennen. Sie waren so frisch in ihre Positionen erkoren wie er selbst, hatten sie sogar noch etwas weniger lange inne. Aus diesem Grund fühlte er sich ihnen überlegen. Ihre Kollegen Ansandsa und Banadar Tasana wirkten älter und anders auf ihn. Deshalb traute er ihnen noch weniger. Da der Oberste Lordrichter einst behauptet hatte, Saryla sei der erste in Gruelfin initiierte Lordrichter, ging er davon aus, dass Ansandsa und Banadar Tasana aus einer anderen Galaxis nach Gruelfin versetzt worden waren. Zu gelegentlichen Treffen kamen die in Gruelfin tätigen Lordrichter auf der Weihetafel zusammen, auf der Saryla initiiert worden war. Er nahm an, dass zumindest die jüngeren ihre Initiierung ebenfalls auf ALTAMON erhalten hatten, doch er wagte nicht, die Frage jemals zu stellen. Auch er selbst wurde nicht darauf angesprochen. Es war so etwas wie ein unausgesprochenes Tabu, das die Lordrichter teilten. Ebenso wenig bekamen sie einander jemals persönlich zu Gesicht. Bei ihren Zusammenkünften trugen sie ihre Eishaarfelder, um sich vor den anderen zu verbergen. Saryla grübelte nach einer Möglichkeit, hinter die Identität seiner Kollegen, die er eher als Konkurrenten betrachtete, zu kommen. Es gelang ihm nie. Wahrscheinlich versuchten sie ihrerseits herauszufinden, wer derjenige war, der als erster Lordrichter in Gruelfin initiiert worden war. Trotzdem setzte er seine Nachforschungen
Lordrichter Saryla im Stillen fort. Gerüchte gab es immer. Die Kunst war, das Fünkchen Wahrheit herauszufiltern, das darin steckte. Saryla hatte ein Gespür dafür, ob es sich um bloße Legendenbildung oder ernst zu nehmende Informationen handelte. Aus vielen kleinen Puzzleteilchen ließ sich zumindest schließen, dass das Schwert der Ordnung und der Oberste Lordrichter auch erst seit relativ kurzer Zeit an der Spitze der Machtpyramide standen. Angeblich schufen die beiden Herren in ihrer Heimatgalaxis Vancanar und in Gruelfin neue, ihnen genehme Strukturen. Das würde erklären, wieso sie mindestens drei junge Lordrichter berufen hatten. Vielleicht existierten noch weitere, von denen Saryla nichts wusste. »Könnt ihr euch vorstellen, warum das Schwert der Ordnung und der Oberste Lordrichter nach Gruelfin, in die so genannte Milchstraße und nach Dwingeloo expandieren?«, fragte er, als die fünf Lordrichter sich nach einem Jahr wieder zu einem Zusammentreffen auf ALTAMON einfanden. Ratlosigkeit schlug ihm entgegen. Kelkapalin und Ibin Kyrela waren sogar die Namen der anderen Galaxien unbekannt. »Die Gründe gehen uns nichts an«, hielt ihm Banadar Tasana entgegen. »Wenn die Information für unsere Aufgabe wichtig wäre, hätten wir sie erhalten.« »Du hast Recht«, stimmte Saryla ihm zu, um sich keine Blöße zu geben. Gerade den zwei älteren Lordrichtern traute er nämlich zu, hinter seinem Rücken zu intrigieren und ihn bei den Herren anzuschwärzen, um sich selbst in ein gutes Licht zu rücken. Er musste auf seine Äußerungen achten, wenn sie in der Nähe waren. Es wäre so einfach, dachte er. Vor der nächsten Zusammenkunft bestücke ich ALTAMON mit einer Bombe und entledige mich der ganzen Bande auf einmal. Der Gedanke ließ ihn nicht los, auch wenn er ihm aus Gründen der Vernunft entsagt hatte. Blieb er als Einziger übrig, würde man ihm die Schuld am Tod der anderen geben, gleichgültig ob er wirklich etwas damit
45 zu tun hatte oder nicht. Unter seinem Eishaarfeld schnitt er eine verächtliche Grimasse. Letztlich waren die Gründe für die Expansionspolitik der Herren unwichtig. Für Saryla war vorrangig wichtig, sich ihrer Machtmittel bedienen zu können, um die Takerer vom Joch der verhassten Ganjasen zu befreien. Schon flammten an vielen Orten Gruelfins Brandherde auf. Wenn man sie noch eine Weile schürte, würden sie sich zu Flächenbränden ausweiten. Dann war der richtige Zeitpunkt gekommen, über die Erzfeinde herzufallen und Gruelfin von ihrer Vorherrschaft zu befreien. Nicht nur Takerer und Ganjasen stellten sich offen gegeneinander, auch andere Cappin-Völker ließen sich in die Auseinandersetzungen hineinziehen. Selbst einige Junge Clans rieben sich in ihrer Kurzsichtigkeit und mit ihrem Kämpfernaturell in sinnlosen Raumschlachten auf. Als Krönung führten die Zaqoor Feuerüberfälle wie Nadelstiche durch, verwüsteten Welten und plünderten Transportschiffe auf den Versorgungsrouten. Für Sarylas Pläne konnte es nicht besser laufen. Sein Tag würde schon bald kommen. Mit seinen Verbindungen und seinem Netzwerk von Agenten sah er sich als einen der obersten Nutznießer des Trodar-Gedankentums. »Ich vermisse die Präsenz der Herren«, seufzte Kelkapalin. »Ich wünschte, sie würden uns mit ihrer Anwesenheit beglücken.« Idiot!, dachte Saryla. »Das geht uns allen so«, sagte er. Er hätte diesem Narren zu gern ins Gesicht gesehen. Aufgrund der ehernen Regel zum Schutz der Lordrichter, sich stets nur mit aktiven Eishaarfeldern zu begegnen, war sein Wunsch müßig. Ob die Herren ahnten, dass es unter ihren Lordrichtern zu Animositäten und Eifersüchteleien kam? Es war gut möglich, dass sie die Regel genau aus diesem Grund aufgestellt hatten. Aus ihrer Sicht war das zweifellos eine vernünftige Entscheidung. Saryla an ihrer Stelle hätte nicht anders gehandelt. Ohne die speziellen, in ihren emittierten Kennungen leicht voneinander abweichenden Felder hätten die fünf Kollegen sich nicht einmal untereinan-
46
Achim Mehnert
der erkannt. Wie meist kam bei dem Zusammentreffen nichts heraus, was ihm weiterhalf. Er hatte sich daran gewöhnt. Trotzdem nahm er immer wieder daran teil. Die Herren gaben die terminlichen Vorgaben, auch wenn sie selbst nicht zugegen waren. Saryla wusste, dass ALTAMON schon in wenigen Stunden mit unbekanntem Ziel verschwinden würde. Nach einer früheren Zusammenkunft hatte er die Weihetafel beobachtet und aus Neugier sogar in den Linearraum verfolgt. Er hatte ihre Spur schon bald verloren. Vor dem Auseinandergehen intonierten die Lordrichter die Trodar-Litanei. »Es gibt keinen Tod, es gibt nur Trodar. Es gibt kein Leben, es gibt nur Trodar. Es gibt keine Angst, es gibt nur Trodar. Es gibt keine Freude, außer in Trodar.« Sarylas Lippen formten einen stummen Zusatz. »Es gibt keine Idioten, außer in Trodar.« Seine Kollegen verstanden seinen kurzen Heiterkeitsausbruch nicht. Statt über seine Erweiterung der Litanei zu lachen, hätten sie sich in seltener Einigkeit gegen ihn gestellt. Sie alle hatten nur eins verdient. Den Tod.
verwirklichen. Er würde die Takerer befreien. Er würde die Kleinreiche der Ganjasen zerschlagen, sie in die Knie zwingen und ihnen zeigen, wo ihr Platz in der künftigen Ordnung war. Manche von ihnen hatten zwar schon vor Jahren erkannt, was von Seiten der Takerer auf sie zurollte, ohne allerdings viel ausrichten zu können. Ihnen fehlten die Machtmittel, die Saryla dank seiner Position als Lordrichter besaß. Und alle anderen Cappin-Völker … sie hatten es selbst in der Hand, was mit ihnen geschah. Sie würden Teil der neuen Ordnung werden oder mit den Ganjasen untergehen. Alles war nach Plan verlaufen. Alles bis auf einen unbedeutenden Faktor, der in sämtlichen Kalkulationen fehlte. Dieser Faktor hieß Atlan. Der Fremde hatte Saryla besiegt und in seine Gewalt gebracht. Für den Lordrichter war die Geschichte damit beendet. Oder sie begann gerade erst.
*
Der entmachtete Lordrichter verstummte. Von dem sportlichen jungen Mann, der er einst gewesen war, war nichts geblieben. Das Leben unter dem Eishaarfeld hatte ihn dick und träge gemacht. Die Verstümmelung seiner Hand und die Verunstaltung in seinem Gesicht trugen dazu bei, dass er in dem Fesselfeld nur noch kläglich wirkte. Zumindest wusste ich nun, wie er sich die schweren Verletzungen zugezogen hatte. Mitleid empfand ich nicht mit ihm, wenn ich an all die Leichen dachte, die seinen Weg pflasterten. Er hätte ein veritables Beispiel in der Liste der Massenmörder der Menschheitsgeschichte abgegeben, von Arkon ganz zu schweigen. Meine Gedanken schweiften ab. Kopfschmerzen und Müdigkeit machten es mir zunehmend schwerer, mich zu konzentrieren.
Seitdem war ein weiteres halbes Jahr verstrichen, in dem die Dinge ein rasantes Eigenleben entwickelt hatten. Das Feld war bestellt, der Vorabend des großen Krieges angebrochen, und Saryla stand wenige Tage vor seinem fünfzigsten Geburtstag. Alles war perfekt, wenn er an die Situation in Gruelfin dachte. Sämtliche Vorbereitungen waren abgeschlossen, die Figuren in Position gebracht. Alles lief genauso, wie er es vorhergesehen hatte. Das Schwert der Ordnung war auf dem Weg zu Eschens Welt. Am Horizont sah Saryla eine gigantische Lohe, die sich anschickte, über die Welten der Ganjasen herzufallen. Er hatte den Arm ausgestreckt und die Hand geöffnet. Er brauchte sie nur noch zu schließen, um ganz Gruelfin einzusacken und seinen Traum zu
9. 31. Oktober 1225 NGZ
Lordrichter Saryla »Wieso schweigst du?« Saryla wand sich in seinen unsichtbaren Fesseln. »Hat meine Geschichte dich so erschüttert, dass dir die Worte fehlen?« »Ich frage mich nur, wieso du mir das alles freiwillig erzählst.« »Weil dein Gegner nun auch mein Gegner ist.« Unvermittelt war wieder dieser Hass da. »Von mir aus kann ganz Gruelfin verbrennen. Es schert mich nicht mehr. Abermals wurde ich benutzt, und diesmal habe ich keine Gelegenheit, den Verräter zu töten. Um das zu schaffen, muss ich mit dir zusammenarbeiten.« »Du bezeichnest das Schwert der Ordnung als Verräter?« Seit 10.000 Jahren war ich keinem Wesen begegnet, das einen solch verzehrenden Hass in sich getragen hatte wie Saryla. Er füllte die stählerne Kammer bis in den letzten Winkel aus. »Die Treue der Garbyor ist sprichwörtlich. Wieso soll ich dir glauben, dass du dich nach deiner Gefangennahme gegen es stellst und mit mir paktieren willst? Noch vor wenigen Stunden wolltest du mich töten.« »Noch vor wenigen Stunden war alles anders«, konterte der Lordrichter. »Begreifst du denn nicht, was geschehen ist? Ich wurde bedenkenlos geopfert. Nachdem Carpes Maluni mich fallen ließ, habe ich mir geschworen, mich nie wieder dermaßen demütigen zu lassen. Entsprechend habe ich mein Leben gestaltet.« Mit Mord, Intrigen und Kriegshetze, machte mich der Extrasinn aufmerksam. Er bietet dir einen Köder an und wartet darauf, dass du danach schnappst. Er ist hilflos und hat keine Möglichkeit mehr, Schaden anzurichten, versetzte ich ärgerlich. Für einen Moment schloss ich die Augen. Meine Lider waren schwer wie Blei. Übertriebene Warnungen bringen mich derzeit keinen Schritt weiter. Wenn du keine konstruktiven Vorschläge hast, schlage ich vor, dass du ausnahmsweise schweigst. Ich werde darüber nachdenken … Narr. »Das Schwert der Ordnung hat dich nicht fallen lassen«, versuchte ich den Gesprächs-
47 faden wieder aufzunehmen. Die eine Stunde Schlaf hatte meinem Körper nach den Strapazen der letzten Zeit anscheinend mehr geschadet als genutzt. Aber wie sagten meine terranischen Barbarenfreunde so zutreffend: Schlafen kann ich, wenn ich tot bin. Und bis dahin hatte ich noch eine Menge zu erledigen, ob es dem Logiksektor nun passte oder nicht. Dennoch ließ ich seine Warnung nicht ganz außer Acht. »Was willst du mir vormachen? Wenn dir die Flucht gelänge, würdest du dich dem Schwert mit fliegenden Fahnen wieder anschließen.« »Du solltest logisch denken, Arkonide, dann erkennst du die Wahrheit hinter dem Offensichtlichen. Natürlich ist das Schwert der Ordnung nicht so plump vorgegangen wie Carpes Maluni. Es hat mich zum Kampf mit dir ausgesandt, um deine Kräfte zu schwächen. Im Gegensatz zu mir wusste es, welche Macht der Flammenstaub hat, den du in dir trägst, und dass du dich selbst schwächst, wenn du ihn einsetzt. Dass ich meine Kräfte dabei verausgabe, war ihm gleichgültig. Ich vermute sogar, dass dem Schwert dieser Nebeneffekt willkommen war. So wurde es mich auch los.« »Warum sollte es einen seiner Lordrichter opfern?« Ich erwartete einen bissigen Kommentar des Extrasinns, doch er schwieg. Ich konnte mir meine Frage auch allein beantworten. Die Gründe lagen auf der Hand. Saryla hatte seine eigenen Pläne verfolgt. Für ihn waren das Schwert der Ordnung und die TrodarReligion am Ende nur noch Mittel zum Zweck gewesen. »Ich war naiv, mich ständig unbeobachtet zu wähnen«, bestätigte der Takerer meine Überlegung. »Möglicherweise kannte das Schwert der Ordnung meine wahren Intentionen von Anfang an. Mir ging es immer nur um mein Volk, ihm um etwas ganz anderes. Solange es mich brauchte, hat es mich benutzt.« Das letzte Wort war erfüllt von Bitterkeit. »Ich werde mich dafür rächen, selbst wenn ich dafür einen Pakt mit dir eingehen muss, Arkonide.«
48 »Das klingt, als hättest zur Abwechslung du vor, mich für deine Rache zu benutzen.« »Du hast Recht, und das leugne ich nicht. Trotzdem wirst du auf meine Bedingungen eingehen. Das Schwert ist auf dem Weg nach Eschens Welt, wie du weißt. Es wird mit allem rechnen, nur nicht damit, dass ich noch am Leben bin. Zweifellos geht es davon aus, dass du mich mit dem Flammenstaub getötet hast.« »Was nützt mir das?« »Vielleicht war ich naiv, Atlan, doch ich bin nicht dumm.« Von seiner Selbstsicherheit hatte Saryla nichts verloren. »Ich habe dir nur einen Teil meiner Geschichte erzählt. Ein paar wesentliche Dinge, die das Schwert betreffen, habe ich ausgespart. Glaube mir, in dem Kampf, der vor dir liegt, können sie sehr hilfreich für dich sein.« »Ich habe dir schon zu Beginn unseres Gesprächs zu verstehen gegeben, dass ich mir dein Wissen notfalls mit Gewalt hole.« »Und ich habe versucht, dir begreiflich zu machen, dass du mit Folter bei mir nichts erreichst. Eher verschlucke ich meine Zunge, als dir gegen meinen Willen Informationen preiszugeben, für die ich keine Gegenleistung erhalte.« Unser Gespräch drehte sich im Kreis. Zwar blieb mir die Möglichkeit, es auf die harte Tour zu probieren, doch glaubte ich mittlerweile nicht mehr daran, damit zum Ziel zu kommen. Saryla war viel zu ausgebufft, um einen haltlosen Bluff zu probieren. Vielmehr war ich sicher, dass er so offen zu mir war, wie es ein Wesen nur sein konnte. Er war bereit, mir alles zu liefern, was ich wollte, wenn ich ihm dafür zu seiner Rache verhalf. Oder ihn dabei sogar unterstützte. Damit hatte ich kein Problem. Weder bei der Ausschöpfung sämtlicher Mittel gegen das Schwert der Ordnung noch gegen den Obersten Lordrichter oder die Garbyor hatte ich die geringsten Hemmungen. Zu deutlich war mir noch in Erinnerung, wie die Zaqoor den alten Quengler Zamptasch, den Anführer des Ercourra-Clans Abenwosch-Pecayl 966. und mich über den Mond Eptascyn gehetzt hat-
Achim Mehnert ten. Saryla beobachtete mich aufmerksam. »Du verlierst wertvolle Zeit«, drängte er mich. Als ich zu einer Antwort ansetzte, schrie der Extrasinn auf. Du hast die Geschichte des Lordrichters gehört. Einem solch skrupellosen Subjekt darfst du nicht trauen. Er hat zugegeben, stets seine eigenen Ziele verfolgt zu haben. Bedenkenlos wechselt er auch jetzt die Seite. Er wird es wieder tun, sobald er dich nicht mehr braucht. Er hat nichts mehr zu verlieren. Ich an seiner Stelle würde mich auf den gleichen Handel einlassen. Sein Angebot riecht nach Charade. Er lügt. Bei der nächstbesten Gelegenheit wird er dich verraten, so, wie er nun das Schwert der Ordnung verrät, versuchte der Extrasinn mich mit einem leidenschaftlichen Appell zu überzeugen. Wenn du dem Lordrichter vertraust, bist du dümmer, als ich es jemals angenommen habe. Ich zögerte. Wir stritten häufig, wenn es um wichtige Entscheidungen ging. Längst nicht immer war meine die richtige gewesen. Ich ließ mir seine Argumente noch einmal durch den Kopf gehen … und setzte mich darüber hinweg, weil ich überzeugt war, Saryla vertrauen zu können. Mir blieb gar nichts anderes übrig. Ich hatte nichts mehr zu verlieren, deshalb musste ich diese Chance ergreifen, mochte sie auch noch so klein sein. Ich war nicht nur todmüde, ich hatte überhaupt keine Alternative, wenn ich bei der vor mir liegenden Auseinandersetzung nicht von vornherein auf verlorenem Posten kämpfen wollte. Jede noch so winzige Information über das Schwert der Ordnung konnte ausschlaggebend sein, es in seine Schranken zu weisen. Wer, wenn nicht der Lordrichter, sollte sie mir geben können? »Ich bin einverstanden«, erklärte ich, beinahe am Ende meiner Kräfte. Meine Beine fühlten sich an wie aus Pudding. »Eine weise Entscheidung, die du nicht bereuen wirst.«
Lordrichter Saryla
49
Du kannst nicht mehr klar denken, giftete der Extrasinn. Die Müdigkeit ist nicht nur zu viel für deinen Körper, sondern auch für deinen Geist. Bei den She'Huhan. Du siehst nicht die Fakten, warf ich ihm vor. Das Schwert der Ordnung hat mich vor sich hergetrieben. Es hat mich mit seinen Winkelzügen an diesen Ort getrieben. Ob es dir gefällt oder nicht, Saryla und ich sind von jetzt an Partner. »Du kannst das Fesselfeld abschalten, Atlan«, forderte Saryla. Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, seiner Bitte nachzukommen, dann entschied ich mich dagegen. Ich wollte nicht, dass er im Schiff herumlief, bevor wir Eschens Welt erreichten, und es sich womöglich doch noch anders überlegte. Außerdem hatte er unter der Besatzung keine Freunde. Besonders Myreilune hatte nicht verleugnet, dass sie ihn wegen Kaystales Tod liebend gern auch umgebracht hätte. »Vorerst bleibst du zu deiner eigenen Sicherheit in deiner Kabine«, wehrte ich ab. »Gefesselt?« »Gefesselt. Ich entlasse dich aus dem Feld, bevor wir auf Eschens Welt landen. Diese kleine Bedingung zu meiner zusätzlichen Sicherheit wirst du mir sicher nicht ausschlagen.« Saryla lächelte. »Ich werde die Zeit dazu nutzen, etwas zu ruhen – obwohl du das offensichtlich viel nötiger hast als ich.« Ich verließ die Zelle und sicherte sie. Schlaf, ja, den brauchte ich wirklich. Sonst bestand die Gefahr, dass ich im entscheidenden Moment einschlief. Eine kurze Frist blieb mir, die ich genau dazu und zum Schmieden von Plänen nutzen wollte.
* Es war ruhig an Bord der AVACYN. Die Männer und Frauen der Besatzung wussten, dass die entscheidenden Stunden auf sie zukamen. Wir hatten keine Ahnung, was uns auf Eschens Welt bevorstand. Es gab keine Garantie, dass der vierte Rhoarxi-Stamm
wirklich dort lebte. Auf dem Weg zu meiner Kabine begegnete mir Ypt Karmasyn. Besorgnis zeichnete sich in ihrem Gesicht ab, als sie mich sah. »Du siehst noch schlechter aus als vorhin.« »Es ist nett, dass mich jeder darauf hinweist.« Ich musste gähnen und hielt mir die Hand vor den Mund. »Glaub mir, ich kann mir auch ohne Spiegel vorstellen, wie ich aussehe, denn genau so fühle ich mich.« »Hast du bei unserem Passagier etwas erreicht?« »Er zeigt sich kooperativ. Hoffentlich irre ich mich nicht.« Wenn doch, erhielt ich vielleicht nicht einmal mehr die Gelegenheit, dem Extrasinn Abbitte zu leisten. »Hat sich Myreilune beruhigt, oder will sie Saryla immer noch an die Kehle?« »Du kennst sie doch. Sie hat eine große Klappe, aber wenn es darauf ankommt, trifft sie die richtige Entscheidung. Sie begeht schon keine Dummheit. Sie hat sich übrigens in ihre Kabine zurückgezogen, um wie der Rest der Besatzung um Kaystale zu trauern. Ich werde das Gleiche tun. Uns bleiben noch zwei Stunden Zeit.« Ich nickte. Nach Ablauf dieser Frist würden wir den Sammler MITYQINN mit einem Vorsprung von wenigen Minuten nach Eschens Welt vorausschicken. Danach halfen nur noch Glück und rasche Entscheidungen. Kaystale war dann nicht mehr an unserer Seite. Sie hatte sich für mich geopfert. Wie vielen Verbündeten auf meinem langen Weg war es so ergangen wie ihr? Viel zu vielen auf jeden Fall. Ich bedauerte, dass ich trotz meines fotografischen Gedächtnisses wohl den einen oder anderen von ihnen vergessen hatte. »Bis später«, verabschiedete ich mich von der Funkerin. Wenige Minuten später lag ich erschöpft in meiner Kabine.
Epilog Bruchstücke der Unterhaltung mit Saryla
50
Achim Mehnert
geisterten durch meinen Verstand wie Schlaglichter. In ihnen erschien mir der verstümmelte Lordrichter wie ein Monster, das sich über Gruelfin hermachte. Ich lauschte in mich hinein, weil ich die plärrenden Warnungen des Extrasinns vernahm. Es waren nur Echos des vorangegangenen Zwiegesprächs. Er schwieg. Es gehörte nicht zu seinem Repertoire, eingeschnappt zu sein. Also gab es nichts zu sagen. Er beharrte so stur auf seiner Ansicht wie ich auf meiner. Wer von uns beiden danebenlag, würde in wenigen Stunden feststehen. Plötzlich erreichte mich ein durchdringender, schmerzhafter Gedankenimpuls. Für einen Moment dachte ich, der Extrasinn hätte seine Meinung geändert. Doch es war nicht er, der mich rief, sondern Ovarons Bewusstseinssplitter.
Was ist los?, dachte ich, wobei ich mich mit einem Ruck aufrichtete. Ich weiß jetzt, was mich an Lordrichter Saryla so fürchten lässt, teilte er mir verzweifelt mit. Er trägt etwas in sich, was du nicht wahrnehmen kannst. Der winzige Teil des Ewigen Ganjos in meinem Kopf heulte auf. Es ist ein weiterer Splitter meines aufgeteilten Bewusstseins, und zwar ein negativer. Bist du sicher? Natürlich. Ich stieß die Luft aus und ließ mich auf den Rücken fallen. Mit einem unguten Gefühl schloss ich die Augen, um zu schlafen. ENDE
ENDE
Die verlorenen Rhoarxi von Uwe Anton Für Atlan fügen sich die verschiedenen Puzzleteile langsam zu einem Bild zusammen. Die blutrünstige Biografie Sarylas wird ihn wohl weniger aufgewühlt haben als die beunruhigende Tatsache, dass der gefangene Lordrichter einen negativen Bewusstseinssplitter Ovarons in sich trägt. Trotzdem bleibt es beim Pakt mit seinem Gegenspieler. Auf Eschens Welt bahnt sich das große Finale an.