Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 12
Angriff der Lordrichter von Michael Marcus Thurner
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Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 12
Angriff der Lordrichter von Michael Marcus Thurner
Atlan, der unsterbliche Arkonide, macht sich im Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) zusammen mit der geheimnisvollen Varganin Kythara auf, einem Hilferuf der Cappins aus der Galaxis Gruelfin zu folgen, die von den geheimnisvollen »Lordrichtern von Garb« bedroht werden. Doch ehe sie sich nach Gruelfin begeben können, müssen sie den Lordrichtern in der heimatlichen Milchstraße die Stirn bieten: Diese versuchen varganische Psi-Quellen für bislang unbekannte Zwecke zu missbrauchen. Um diese Umtriebe zu stoppen, beschaffen Atlan und Kythara sich einen »Kardenmogher«. Damit sollte es möglich sein, die Psi-Quelle Murloth unschädlich zu machen – doch dann kommt es zum ANGRIFF DER LORDRICHTER …
Angriff der Lordrichter
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide betrügt seine Begleiterin. Kythara - Die Varganin spürt einen Toten. Gorgh-12 - Der Daorghor kommt sich überflüssig vor. Achunt - Der Erzherzog ist verantwortlich für die Sicherheit der Psi-Quelle.
1. Atlan Vassantor. Ischtar. Vrentizianex. Oder, in gleich darauf gebildeten Assoziationen: Furcht. Liebe. Wut. Worte, Begriffe, Eindrücke wirbelten durcheinander, erzeugten endlos lange Denkketten, ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Überlagerten in mehreren Schichten wie hauchdünne Spinnweben die Person Atlan. Mich. Was und wer war ich? Was war erträumt, was Wirklichkeit? Wo begann meine Physis, wo endete mein geistiges Ego? Ich konzentrierte mich auf den simplen Befehl, den ausgebrannten und schwachen Körper in eine Seitenlage zu wälzen. Ich blickte in Richtung einer goldenen Wand – sowie zweier übereinander geschlagener Beine, die meine Körperlichkeit mit erschreckender Plötzlichkeit erwachen ließen. Es gibt Wesen deines Alters, ätzte der Extrasinn, die sich bereits auf dem Weg in Richtung Superintelligenz befinden und körperlichen Begierden längst entsagt haben. Bei dir scheint sich eine gegenläufige Entwicklung anzubahnen … Das schließt du aus einem einzigen Blick? Nur weil ich ein Paar hübscher Beine bewundere? Es ist nicht nur der Blick, Arkonide! Vielmehr spüre ich, dass deine körperchemikalische Werkstätte ein buntes Feuerwerk entfacht, neue Fantasiegespinste alle physischen Problemchen überlagern und dir das Blut heiß überallhin schießt, nur nicht in den Kopf. Wenn es ein Anzeichen für einen begin-
nenden Heilungsprozess gab – dann war es die Tatsache, dass mein Extrasinn wieder präsent war und mich mit seinen süffisanten Kommentaren malträtierte. Ich ließ den Blick von den Beinen aufwärts wandern, übersprang da und dort bewusst ein Stückchen weiblicher Verlockung, das zum Verweilen einlud, und gelangte schließlich zum Gesicht Kytharas. Kythara, die Varganin. Begleiterin, Freundin, Helferin in der Not. Bronze- und Goldtöne überlagerten alles an ihr. Makellose, feine Haut spannte sich um Formen, die an eine Perfektion der Schöpfung denken ließen. Ich richtete mich mühsam auf. Die Frau war mehr als acht Jahrhunderttausende alt. Der Gedanke daran war selbst für mich als Unsterblichen erschreckend. Zu viele Geschöpfe hatte ich bereits kennen gelernt und gesehen, die nach ewigem Leben gegiert und es sogar erreicht hatten – um letztendlich an dem zu scheitern, was die Zeit uns antat: Sie schenkte sich selbst im Überfluss, damit wir über Verluste, die wir im Laufe unseres langen Weges unweigerlich erlitten, endlos lange trauern würden. In einem Wesen wie Kythara mussten unglaubliche Lebensenergie, unfassbar viel Mut – und erschreckende Leidensbereitschaft stecken. Wie sonst hätte sie all die Jahre bei klarem Verstand überleben können? Die Varganin lächelte mich an. »Woran denkst du? Es geht um mich – so viel kann ich spüren.« Du kannst von Glück sagen, dass sie keine echte Telepathin ist, kommentierte der Extrasinn. Dann hättest du mit ein paar sehr unangenehmen Fragen zu rechnen, Lustgreis. Ich zuckte zusammen und ärgerte mich im
4 nächsten Augenblick über meine mangelnde Kontrolle, sowohl über den Geist als auch über den Körper. »Na, na, Arkonide«, tadelte Kythara. »Deine Körpersprache lässt kaum Zweifel aufkommen, woran du gerade denkst.« »Ich …«, begann ich, doch ihr Blick ließ mich schweigen. »Richte deine Gedanken am besten auf die Zukunft. Mit dem voll funktionstüchtigen Kardenmogher gibt es nämlich eine – außer für die Murloth-Quelle.« »Ich war gerade noch mit der Vergangenheit beschäftigt«, versuchte ich das Gespräch in unverfänglichere Bahnen zu lenken. »Unsere Erlebnisse auf Vassantor …« »Vergiss Vassantor!«, forderte mich die Varganin auf, während sie sich erhob und den leise knisternden Overall glatt strich. »Vergiss alles, was du dort gesehen und erlebt hast.« Eine bezaubernde Falte entstand an ihrer Nasenwurzel. Ich kannte sie bereits gut und nannte sie die Große Strenge. Diese Frau hatte sich zumeist mit Lebewesen herumschlagen müssen, die ihr nicht das Wasser reichen konnten und stets ehrfürchtig zu ihr hochgeblickt hatten. Sollte ich mich da wundern, dass sie es gewohnt war, mit einem einfachen Stirnrunzeln, einer beiläufigen Geste oder eben mit dem Herbeizaubern der Großen Strengen all das zu bekommen, was sie wollte? Ich schüttelte den Kopf, beinahe reflexartig. »Ich kann und will nicht verdrängen, was auf Vassantor passiert ist«, sagte ich und erschrak dabei vor dem Klang meiner eigenen rauen Stimme. »Ich muss es jetzt aufarbeiten – oder es wird mich über Gebühr belasten. Mein Kopf ist voll, nach wie vor …« Erneut fielen lange geistige Schatten über mich. Jene der Geliebten, Ischtar, und auch jene des Sehers Vrentizianex. Die Große Strenge verschwand aus dem Gesicht Kytharas, die so attraktiven Gesichtszüge glätteten sich und machten einem nüchternen, unpersönlichen Bild Platz.
Michael Marcus Thurner Selbst ihre Tonlage änderte sich, wurde um eine Spur drängender. »Für die Heilung kleiner Wehwehchen ist später Zeit«, sagte sie. »Dein erstes Interesse sollte deiner Kleidung und dein zweites unsere Aufgabe gelten. Wir nähern uns bereits dem Murloth-Nebel.« Oha. Ich hatte länger geschlafen, als ich erwartet hatte. Und ich war, wie mir jetzt erst bewusst wurde, splitterfasernackt.
2. Atlan An Bord des Kardenmoghers verloren Tage und Stunden für mich an Bedeutung, obwohl die Zeitmesser unbeeindruckt mangelnder Tag-Nacht-Wechsel der Neuen Galaktischen Zeitrechnung folgten und mittlerweile den 27. Mai 1225 erreicht hatten. Etwas mehr als drei Wochen … … es hätten ebenso gut vierundzwanzig sein können, so voll gestopft, chaotisch und verwirrend waren die Geschehnisse, in deren Strudel wir geraten waren. … seitdem Kythara und ich den Zusammenbruch der Obsidian-Kluft miterlebt hatten. … wussten wir überhaupt erst von der Existenz der so genannten Lordrichter, von ihren Umtrieben in der Milchstraße, die schlimme Befürchtungen in mir weckten. Nicht nur Neugierde und Forschungsdrang trieben mich voran und ließen mich sämtliche Gefahren vergessen. Es waren vielmehr Gefühle der Angst und Unsicherheit, die meinen Herzschlag beschleunigten, die Brust einengten und die Gedanken stets auf Trab hielten. Kythara musste es ähnlich ergehen. Kein Wunder – bedienten sich die Handlanger der Lordrichter doch jener geheimen varganischen Hinterlassenschaften, die seit Jahrhunderttausenden in der Milchstraße gesichert und weitgehend unberührt gewesen waren. Der Kardenmogher projizierte auf meinen
Angriff der Lordrichter Wunsch hin ein Falschfarben-Hologramm des Murloth-Nebels, der sich, wie wir mittlerweile wussten, am Rande der Southside der heimischen Galaxis befand und sich als ein Zentrum der lordrichterlichen Umtriebe erwies. Mehrere hundert Sonnenmassen waren hier gefangen im langwierigen Prozess ihrer Werdung. Diese Kinderkrippe der SternEntstehung war für uns stoffliche Wesen eine Offenbarung sondergleichen. Gasförmige Nebelschwaden durchzogen das ungefähr zwanzig Lichtjahre große und annähernd kugelförmige Gebiet. Ionisierter Wasserstoff, durchsetzt von anderen Molekülen und kosmischem Staub, erhellt von heiß strahlenden interstellaren Gasblasen, würde sich irgendwann in einem wilden Tanz und unter Einfluss der kosmischen Kräfte zu Sternen zusammenfügen. »Wer hier ein Chaos sieht, hat den Geist der Schöpfung nicht verstanden«, murmelte Kythara. Ich nickte stumm. Dieses bunte Laboratorium des Lebens erheischte Ehrfurcht und Andacht. Der Anblick war einfach nur … schön. Kythara gruppierte kurzerhand die Anordnung ihrer Holo-Instrumentarien um. Der Kardenmogher, der mehrzackige Kegelstumpf varganischer Fertigung und ein Wunderwerk der Technologie, gehorchte der Frau mittlerweile problemlos, wie ich mich überzeugen konnte. Die langwierigen und komplexen Reparaturmaßnahmen auf Vassantor hatten also ihren Sinn gehabt. Ein unauffälliges Symbol, auf das mich Kythara hinwies, kennzeichnete die Anwesenheit des Hegnudgers. Das etwa faustgroße Kristalloktaeder war jener Teil, für den ich auf Vassantor Leben und geistige Gesundheit riskiert hatte. Ich hoffte, dass das angeblich so wertvolle Zusatzaggregat den Einsatz rechtfertigen würde. Gorgh-12 schwebte von unten her kommend in die blasenförmige Zentrale des Schiffes. Er raschelte kurz mit seinen Mandibeln, verneigte sich steif.
5 Der Hyperwissenschaftler reichte mir bis zur Brust und erinnerte in vielerlei Hinsicht an eine aufrecht marschierende Riesenameise. Ungeachtet seines fremdartigen Aussehens und der nur schwer zu erfassenden Logik eines Insektoiden war er in den letzten Tagen zu einem Freund und Helfer geworden. Was mit dem Saqsurmaa Emion war, stand auf einem gänzlich anderen Blatt. Dieses wurmähnliche Wesen besaß ein unglaubliches Alter, neben dem Kytharas und meine Lebensspanne verblassten: 546 Millionen Jahre waren eine derart lange Zeit, dass sogar der Begriff »unvorstellbar« sie nur ungenügend umschrieb. »Wo mag das Saqsurmaa jetzt sein?« Kytharas und meine Gedanken gingen offenbar in die gleiche Richtung, wie diese Frage bewies. Die Varganin sah mich dabei nicht an, sondern arbeitete hochkonzentriert an den Instrumentenpulten. »Ich habe keine Vorstellung«, antwortete ich. Gorgh verzichtete auf eine Antwort. Er betrachtete Aussagen ohne weiterführenden Gehalt als ineffizient. Wenn er jetzt schwieg, hieß das aller Wahrscheinlichkeit nach, dass er ebenfalls nichts wusste. »Wollen wir hoffen, dass es noch an Bord ist«, sagte die Varganin. »Freund Emion verbirgt sicherlich einige Geheimnisse und Überraschungen.« »Womit er wohl nicht der Einzige an Bord dieses Schiffes ist«, entgegnete ich schnippisch. Kythara sah kurz von ihrem Zentralpult hoch, lächelte mich strahlend an und wandte sich anschließend wieder ihrer Arbeit zu. Das war alles, was wir uns momentan schenken konnten. Ein kurzes Lächeln da, eine kleine Geste dort. Für mehr war keine Zeit. Ereignisse trieben uns vor sich her – oder drohten uns zu überrollen. Dabei hätten wir beide unbedingt Zeit benötigt, um uns auszusprechen. Kleinere Missverständnisse aufzuklären, Fronten abzustecken oder einfach nur unsere Bezie-
6 hung zu vertiefen. Doch die wenigen freien Minuten, die uns blieben, nutzten wir, um frische Kräfte zu sammeln. Die Lage zu analysieren. Im Gespräch auf neue Ideen zu kommen. Auch das ist ein Fluch der Langlebigkeit, philosophierte der Extrasinn. Es bleibt einem nicht mehr Zeit; ganz im Gegenteil … »Ich messe … Ungewöhnliches an«, sagte Kythara plötzlich. »Ja?« »Die UHF-Strahlung inmitten des Murloth-Nebels hat sich intensiviert und geht nur noch von einer einzigen Quelle aus.« »Einer einzigen Quelle? Du meinst, dass die Ableger energetisch tot sind?« »Sie sind verschwunden! Dafür ist das ultrahochfrequente Leuchtfeuer der Psi-Quelle im Zentrum des Nebels umso stärker ausgeprägt. Ich schätze, dass sich ihr Strahlwert ums Zehnfache erhöht hat. Und zwar in einem Bereich, der in der Milchstraßen-Typologie bei vier mal zehn hoch fünfzehn Kalup liegt.« »Also nahe dem Übergang zum Sextadim-Bereich – oder im ›Erfassungsspektrum‹ der On- und NoonQuanten«, reflektierte ich, nachdenklich geworden. »Ja. Das sind auch von uns Varganen nahezu unerforschte Bereiche, weil wir sie mit unserer Technologie nicht ausreichend differenziert untersuchen können. Und das, obwohl deren Kraft ausreichen könnte, das Universum aus den Angeln zu heben.« »Deine Ortung spricht dafür, dass die Mutter ihre Kinder verschluckt oder in sich aufgenommen hat.« »So könnte man es ausdrücken.« »Wir sollten vorerst nach Narukku zurückkehren«, sagte ich. »Hältst du das für machbar?« »Zurück zur AMENSOON?« Die goldenen Augen der Frau leuchteten. »Das dürfte mit dem Kardenmogher kein Problem sein. Narukku befindet sich an der Peripherie des Nebels.« Konzentriert blickte sie in das Hologramm, zoomte per Gedankenbefehl jenen
Michael Marcus Thurner Teilausschnitt mit dem Planeten heran, auf dem wir vor gerade einmal drei Wochen notgelandet waren. »Ich kann nur geringfügige Tätigkeit der lordrichterlichen Truppen in der Nähe Narukkus anmessen«, sagte sie schließlich. »Sie müssen den Planeten nach dem Erlöschen des Psi-Ablegers in der Ebene ohne Schatten endgültig geräumt haben.« Ich stand auf. »Hoffen wir, dass die AMENSOON nicht von den Truppen der Lordrichter entdeckt wurde.« »Unmöglich! Das Antiortungs- und Tarnfeld, unter dem wir das Schiff zurückgelassen haben, ist unter normalen Umständen gar nicht zu knacken.« »Was im Zusammenhang mit dem Schwert der Ordnung war bisher schon normal?« Ich seufzte. »Und denk daran, wie viele varganische Hinterlassenschaften mittlerweile schon entdeckt und für die Zwecke der Lordrichter missbraucht wurden.« Kythara schluckte schwer. Ich konnte spüren, wie sehr sie darunter litt, dass geheime Stationen, Versunkene Welten und auch die Sternenstadt VARXODON von fremdartigen Truppen erobert worden waren. Nicht nur das: Der Feind machte sich peu à peu das ungeheure technische Potenzial der Varganen zunutze. Das beste Beispiel war die Psi-Quelle selbst … Zu welchem Endzweck wurde dieser Aufwand betrieben? Was hatten die Lordrichter für Pläne? Nun, auch das galt es herauszufinden. Unser erstes Interesse musste dabei die PsiQuelle im Zentrum des Murloth-Nebels sein … Kythara nickte mir schließlich zu und brachte den Kardenmogher auf Kurs in Richtung Narukku.
* Das Targan-Binnenmeer … Wir näherten uns einer stürmischen, grauen Wasseroberfläche, die von gischtenden Schaumkronen gezeichnet war, durchbra-
Angriff der Lordrichter chen sie wuchtig und tauchten hinab, endlose Verwirbelungen hinter uns lassend. Rasch wurde es dunkel. Breite Kegel stechend weißen Lichtes warfen kurze Schlaglichter auf die heimische Unterwasserwelt. Da waren knochige Krakenwesen, durchsichtige, reifenähnliche Quallen, scharfzahnige Raubfische und vieles mehr … doch meine ganze Konzentration galt dem leisen »Ping«, das den Standort der AMENSOON kennzeichnete. Rasch fielen wir hinab, bis in eine Tiefe von nahezu achthundert Metern. »Alles in Ordnung«, atmete Kythara erleichtert auf. »So, wie es aussieht, ist mein Schiff unentdeckt geblieben.« Sie schickte die Erkennungssequenz ab. Die Positronik des Kardenmoghers konferierte kurz mit jener der AMENSOON. Wenige Augenblicke später erhielten wir ein Empfangssignal. Ein schwacher Traktorstrahl zog uns sanft an eine Flanke des Oktaeders. Die Außenhülle des Kardenmoghers löste sich an der Breitseite eines der beiden Kegelstümpfe auf. Ein Leitstrahl führte uns direkt aus der Zentrale in eine Schleuse der AMENSOON. Die Varganin eilte voraus. Die Erleichterung war ihr anzusehen, als die Positronik des Schiffes sie ansprach. »Willkommen, Kommandantin!«, flüsterte eine sanft modulierte Stimme. »Ist alles … in Ordnung mit dir?«, fragte Kythara, beinahe ängstlich. »Ja.« »Sind die Reparaturroutinen abgeschlossen?« »Ich bin jederzeit startklar.« »Das ist gut, sogar sehr gut. Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?« »Nein, Kommandantin. Es gab keine Versuche, mich hier ausfindig zu machen.« »Hast du auffällige Aktivitäten anmessen können?« »Ich habe lediglich das Erlöschen der UHF-Konstante in der Ebene ohne Schatten angemessen; darüber hinaus bin ich auf deinen Wunsch hin passiv geblieben.«
7 Gorgh-12 stakste unterdessen bewundernd hinter uns her, auf den Kernbereich des Schiffes zu. Da und dort blieb er stehen, fuhr mit seinen Arm- und Beinzangen über Teile der Lackschicht der Innenwandung. Offensichtlich spürte oder sah er mit seinen zweifellos etwas anders gelagerten Sinnen die bioaktive Enzymschicht, die Licht erzeugen konnte. Kythara flüsterte einen mir unbekannten varganischen Begriff; eine Prallfeld-Sphäre entstand vor unseren Augen, prickelnd und golden leuchtend. Ohne zu zögern, vertraute ich mich dem geräumigen Transportmittel an, das uns binnen weniger Sekunden in die Zentrale im Zentrum des Schiffes brachte. Alles hier schien unverändert. So, wie die AMENSOON ohnehin zeitlose Eleganz ausstrahlte. »Erschließt ihr mir den Zweck unseres Hierseins?«, fragte Gorgh nach einer Weile. Er beendete seinen Rundgang durch die Zentrale. Er hatte die Gerätschaften ausreichend bewundert und richtete seinen Blick nunmehr mit dem ihm eigenen Pragmatismus nach vorne. »Ich möchte den Hegnudger mit den Mitteln der AMENSOON überprüfen«, sagte Kythara sofort. »Er wird unser wichtigstes Hilfsmittel sein, sobald wir zur Psi-Quelle vordringen. Ich möchte mich darauf verlassen können, dass im entscheidenden Moment alles funktioniert.« Der Hegnudger … würde er das halten, was sich die Varganin von dem ominösen Gerät versprach? »Ihr habt demnach eine Lösung erarbeitet, unbeobachtet in die Nähe der Quelle zu gelangen?«, wunderte sich der Insektoide. »Gebt mir Zeit, um über alles nachzudenken«, sagte ich müde. »Ich fühle mich nach wie vor nicht einsatzbereit, bin angeschlagen und benötige dringend ein paar Stunden Erholung.« Endlich kommst du zur Vernunft!, meldete sich der Extrasinn nach längerer Pause wieder zu Wort. Dein Blick ist immer wieder von Bildern überlagert, die du von Vassan-
8 tor mitgenommen hast. Und es sind nicht nur deine Augen, die übermüdet sind. Auch dein Verstand benötigt Ruhe. Kythara betrachtete mich zweifelnd und nickte mir schließlich zu. Es brannte ihr unter den Nägeln, wieder in den Einsatz zu gehen. »Sieh zu, dass du so rasch wie möglich wieder auf dem Damm bist«, empfahl sie mir und fügte mit einem gezielten Impuls gedanklich hinzu: Ich hätte eine Ahnung, wie wir die Flotte der Lordrichter überlisten könnten. Sie denkt wie du, flüsterte mir der Extrasinn zu. Ihr bewegt euch manchmal wie auf einer Wellenlänge. Dies war etwas, dem ich nicht unbedingt nur positive Seiten abgewinnen konnte. Ein Gleichklang der Gefühle wäre mir um einiges lieber gewesen als einer des Verstandes. Ich verabschiedete mich von den beiden anderen und zog mich in jene Kabine zurück, die ich bereits kannte. Frische, exotisch duftende Schlafwäsche lag bereit. Luxus, den ich durchaus vorhatte auszukosten. Eine prickelnd heiße Dusche würde mir hoffentlich die notwendige Bettschwere verleihen. Der golden schimmernde varganische Kampfanzug war zwar bequem und leicht zu handhaben, dennoch waren mir die notwendigen Handgriffe nicht ausreichend vertraut. Mehr als einmal fuhr ich daneben, verfehlte die Bioklebestreifen, die sich nur durch mehrmalige Reibebewegungen lösten und Teile des leichten Schutzgewandes zu Boden sinken ließen. Besonders jener Falz am Rückenansatz … Ich berührte einen Gegenstand, durch einen leichten Magneten festgeklammert, dessen Existenz ich in den letzten Tagen ignoriert hatte – und erinnerte mich plötzlich wieder. Vorsichtig, um nicht zu sagen ehrfurchtsvoll, löste ich das nahezu kopfgroße Ding, hielt es mit beiden Händen vor meine Augen. Ich hatte es im Peripherie-Bereich der
Michael Marcus Thurner Vergessenen Positronik gefunden. Die Begegnung mit dem sterbenden Cappin Carscann und eine durch nichts zu erklärende Ahnung ließen mich damals annehmen, dass es sich um ein Gerät aus cappinscher Fertigung handelte. Meine Meinung war heute ebenso ambivalent wie damals. Es konnte so sein, aber Beweis hatte ich keinen. Auch der Fundort, der Kosmische Holländer, ließ keine weiteren Rückschlüsse auf die Herkunft des Geräts zu. Auf der Vergessenen Positronik hatten seit der Blütezeit des LemurerReiches unzählige Völker ihre Spuren hinterlassen. Das Objekt war annähernd kugelförmig, allerdings von einer Vielzahl kleinerer Aufsätze bewachsen. Erinnerten diese Spitzen tatsächlich an Antennen oder Waffentürme? Oder interpretierte ich hier etwas, das gar nicht da war? Seltsam … Mehrmals drehte ich das Objekt hin und her, suchte nach Öffnungsmechanismen oder Herkunftszeichen. Nichts. Sollte ich es der Obhut der varganischen Positronik übergeben und durchtesten lassen? Ein leises, aber aufdringliches Sirren erregte meine Aufmerksamkeit. Alarm! Hastig schlüpfte ich in die Hose des Varganen-Anzugs und nahm einen der stabförmigen Energiestrahler an mich. »Was ist los?«, fragte ich in den augenblicklich aktivierten Bord-Kom. »Kein Grund zur Panik!«, beruhigte mich Kytharas Ebenbild. »Die Positronik des Kardenmoghers hat lediglich gemeldet, dass das Saqsurmaa aufgetaucht ist.«
* Zehn Minuten später trafen wir uns in der Zentrale des angeflanschten Raumschiffes. Der Kardenmogher hatte nach unzähligen Reparaturen seine Größe drastisch verändert. Was sich vor wenigen Tagen als walzenförmiges Objekt von mehr als sechzig
Angriff der Lordrichter Metern Höhe präsentiert hatte, war nun auf zwei mit ihren Breitseiten aneinander geflanschte Kegelstümpfe reduziert. Das Schiff wies zudem beidseitig jeweils 24 Zacken auf. Aus dem Blickwinkel der Aerodynamik war es für einen Atmosphäreflug denkbar ungeeignet. Doch was machte das schon aus? Die Technik des Kardenmoghers, die Möglichkeit, Flächen umzugestalten, Größenrelationen immer wieder zu verändern oder alles notwendige Gerät immer dort aus Formenergie manifestieren zu lassen, wo es gerade benötigt wurde – dies spiegelte ein technologisches Niveau, das ich als atemberaubend empfand. »Das Saqsurmaa wurde in einem der Zacken-Hohlräume entdeckt«, sagte Kythara, während wir an leuchtenden Energiefäden entlang durch den Kardenmogher glitten, erneut von einem Leitstrahl geführt. Gorgh-12 befand sich hinter uns, schweigend wie meistwährend der letzten Stunden. Da lag das geheimnisvolle Lebewesen. Ein dicker, fetter Wurm, zweieinhalb Meter lang, mit mehreren Segmenten und Einschnürungen. Er hatte eine fahle, glatte Haut, die ab und zu ein wenig zuckte, als würden Muskelkontraktionen sichtbar. Und so war es womöglich auch. Das Saqsurmaa nagte mit unnatürlich weit geöffnetem Maul an einer goldmetallen legierten Trennplatte. Biss sie in große Stücke, die es hastig verschlang. Unangenehmer, stechender Geruch machte sich in diesem Teil des Kardenmoghers breit. Emion fraß nicht nur – er verdaute auch und schied aus. Und wie! »Das war ein gutes Schläfchen«, sagte das Saqsurmaa gut gelaunt zwischen zwei Bissen. »Könnte mich bitte jemand aufklären, wie ich hierher gelangt bin?« »Kannst du dich nicht daran erinnern?«, fragte Kythara, die über den Anblick des merkwürdigen Wesens und seiner Ausscheidungsprodukte gar nicht so sehr erfreut schien. »Würde ich sonst fragen, Kleines? Natür-
9 lich würde ich nicht – oder etwa doch?« Emion schaffte es, trotz seiner eingeschränkten physiognomischen Möglichkeiten nachdenklich zu wirken. »Nein, würde ich nicht. Oder? Na ja, vielleicht …« Es sprach in jener Vorgängersprache der Mächtigen, die ich ja beherrschte. Das Saqsurmaa fiel plötzlich schlaff in sich zusammen. Der Körper verlor an Spannkraft, und noch während es die letzten Bissen der Metallplatte zu sich nahm, fielen ihm die vier Augen an den langen Stielen zu. Es war eingeschlafen. Ich starrte meine beiden Begleiter nacheinander an. »Dieses Wesen macht mich, ehrlich gesagt, ein wenig ratlos«, brachte ich schließlich hervor. »Wo war das Saqsurmaa während der letzten Stunden?«, fragte Kythara die omnipräsente Positronik des Kardenmoghers. »Das Wurmwesen befand sich nicht an Bord«, entgegnete eine nüchterne Stimme. »Es ist erst jetzt wieder aufgetaucht.« »Ist es rematerialisiert?«, hakte ich nach. »Hast du Energieflüsse anmessen können? Einen Transmissions-Peak? UHFTätigkeit, die auf Teleportation schließen lassen könnte? Irgendetwas?« »Negativ«, vermeldete die Positronik des Kardenmoghers. »Für alle meine Sinne war das Saqsurmaa inexistent und ist übergangslos aufgetaucht.« »Das kann's doch nicht geben!«, rief ich ärgerlich. Waren wir Beobachter einer besonderen Fähigkeit Emions geworden? War er im Augenblick der Gefahr in einem ndimensionalen Raum verschwunden? Hatte er sich in eine Art Raumstase zurückgezogen, um jetzt, nachdem eine mögliche Bedrohung für ihn vorbei war, zurückzukehren? Alles war möglich! Was wussten wir schon über ihn … Vor zwei Wochen hatte ich auf Maran'Thor, einer Versunkenen Stadt der Varganen, jenen schwarzen Würfel im Tresor-
10 raum der Station gefunden, aus dem Emion wenige Tage darauf während eines Transmittersprunges geschlüpft war. Das Saqsurmaa hatte sich aus dem achtzehn Zentimeter großen Würfel befreit und war bis zu seinen jetzigen Dimensionen herangewachsen. Wörter wie »unglaublich« hatten in Zusammenhang mit dem rätselhaften Wesen aus einer fernen Vergangenheit eine vollkommen neue Dimension erlangt. Ich hatte mir im Laufe meines Lebens längst angewöhnt, buchstäblich alles in Betracht zu ziehen. Nichts, rein gar nichts, war unwahrscheinlich genug, um nicht doch möglich zu werden. Aber das hier? Ein Geschöpf, das bereits in einer Zeitepoche existiert hatte, die auf meiner zweiten Heimat Terra als Kambrium bezeichnet worden war? In der sich auf der Erde gerade erst Leben in den Ozeanen entwickelte, Trilobiten und Mollusken vorgeherrscht und die Fauna aus wenigen Algenarten bestanden hatte … Zurück in die Gegenwart!, mahnte mich der Extrasinn. Grübeleien bringen in der momentanen Situation nichts. Nimm die Tatsachen hin, wie sie sind … Das Saqsurmaa rührte sich plötzlich wieder. Der Leib zuckte und blähte sich auf. Gorgh sprang erschrocken einen Schritt zurück, streckte in einer abwehrenden Bewegung alle vier Arme von sich. Emion klappte die Augen auf, rülpste ungeniert und intonierte danach mit der hinteren Körperöffnung einen fanfarenähnlichen Laut. »Ich möchte mich ein wenig erholen. Bitte bereitet mir eine Lagerstatt mit einer dicken Schicht warmen Sandes. Ich bin überanstrengt und fühle mich keineswegs vollständig …« Die Worte versiegten langsam, und mit einem letzten, deutlichen Verdauungsschmatzer schlief das Saqsurmaa erneut ein. Kythara und ich sahen uns ratlos an. Was sollten wir schon tun, außer uns den Wünschen Emions zu beugen und darauf zu hoffen, dass er irgendwann so weit erholt war, unsere Neugierde stillen zu können …
Michael Marcus Thurner Neugierde ist des Arkoniden Tod!, zeterte der Extrasinn. Das Wissen dieses Wesens ist zweitrangig. Konzentrier dich gefälligst auf Wesentliches. Die Psi-Quelle … Er hatte Recht wie so oft. Schwere und dringlichere Aufgaben warteten auf mich. Augenblicklich wurde ich mir meiner Erschöpfung bewusst. Ich verabschiedete mich mit einem Kopfnicken von Kythara. Die Varganin würde Emion bestmöglich versorgen. Auf mich hingegen warteten nach wie vor eine heiße Dusche und ein paar Stunden Schlaf – die hoffentlich nicht von schmerzhaften Erinnerungen an Ischtar unterbrochen wurden.
3. Atlan Der Zellaktivator hatte ganze Arbeit geleistet. Alle physischen Schmerzen waren wie weggeblasen. Auch mein Kopf war wieder frei, die Erinnerung an die Bilder der Vergangenheit verblasst. »Na, Arkonide?«, empfing mich Kythara zerstreut. »Wieder voller Tatendrang?« Ich erwiderte ihr Lächeln und fläzte mich bequem in eine der wenigen Sitzgelegenheiten, die nicht aus Formenergie bestanden. Gorgh-12 erhielt für die kleine Besprechung eine Art Barhocker mit einem kreisrunden Loch, das seinen tropfenförmigen Hinterleib aufnahm. Leise vor sich hin knisternd, naschte der Daorghor an einer klebrigen und kugelrunden Masse, die er sich mit seinen Mandibeln stückchenweise ins Maul schob. »Nicht nur die Veränderung der PsiQuelle ist bemerkenswert«, begann Kythara übergangslos. »Der Kardenmogher und die AMENSOON haben in den letzten Stunden eine gewaltige Anzahl von Raumschiffen angemessen, die wir den Truppen der Lordrichter zuordnen müssen.« Das war zu erwarten gewesen. »Um was für Einheiten handelt es sich?«, fragte ich. »Hauptsächlich Tropfenraumer der Daorghor«, antwortete die Varganin.
Angriff der Lordrichter Gorgh schlenkerte unvermittelt mit seinen sechs Gliedern. Eine Geste, die einem Zusammenzucken vieler humanoider Völker gleichkam. Der Fahnenflüchtige musste sich darauf vorbereiten, auf Angehörige seines Volkes zu treffen. Kythara fuhr fort: »Dazu KäferSchlachtschiffe der Shiruh und einige wenige Superschlachtschiffe in Golfballform der Zaqoor …« »Hast du auch den Seestern eines Lordrichters orten können?«, unterbrach ich sie erneut. Die Varganin zögerte. »Indirekt …«, sagte sie schließlich. »Bitte?« Mein Herz schlug schneller. Wenn wir einen Seestern ausfindig machen und ihn angreifen konnten … Seitdem wir den Kardenmogher unter absurden Umständen auf dem Planeten Parkasthon erobert und aktiviert hatten, besaß ich wieder ausreichend Zuversicht und Glauben, diesen unheimlichen und unbekannten Wesen adäquate Kampfkraft entgegensetzen zu können. »Es sind mögliche Spuren, die ich angemessen habe«, führte Kythara weiter aus. »Emissionsbilder und arttypische EnergieKennungen, wie sie der Kardenmogher bei der Annäherung an die Sternenstadt VARXODON und den beiden dort stationierten Seesternen abgespeichert hat. Leider lassen diese wenigen Werte nicht allzu viele Rückschlüsse zu …« »Das sind mir zu viele ›Vielleichts‹«, unterbrach ich sie kopfschüttelnd. Diese Informationen waren wertlos. Ich fragte mich, warum sie Kythara überhaupt erwähnte. »Der Kardenmogher hat bedeutsame Funksprüche aus dem funktechnischen Chaos innerhalb des Murloth-Nebels herausgefiltert«, fuhr die Varganin unbeirrt fort. »Eigentlich handelt es sich um Echos oder, besser gesagt, um verzerrte Fragmente einer Unterhaltung. Ich würde sie dem Befehlshaber eines Seesterns einerseits und der lordrichterlichen Kontrollstation der Psi-Quelle andererseits zuordnen. Höchstwahrscheinlich wurde die Diskussion ein paar ausge-
11 wählten Raumschiffskommandanten der gegnerischen Flotte zugespielt, um, hm … um Druck zu machen.« Nun – das war etwas, mit dem ich allerdings nicht gerechnet hatte.
* »… viel zu langsam!« »Herr – wir tun unser Bestes!« »… was bei weitem … nicht ausreichend ist. Das Schwert der Ordnung verlangt Einsatz bis … elbstaufgabe! Tod ist … leichtes Schicksal im Vergleich zu dem Urteil über diejenigen, die … ersagen.« »Wir tun alles, um … zufrieden zu stellen, Herr! Aber wir benötigen mehr Zeit. Nur 30 Settens mehr …« »Schweig! … keinen Augenblick länger. Die Psi-Energie wird für … Dunkelstern in spätestens 60 Settens erwartet.« (Pause) »… st es dir lieber, wenn ich Erzherzog Garbgursha kommen lasse? Soll er … Dinge in die Hände nehmen?« (Stöhnen. Dann:) »Nein, bitte nicht! Wir schaffen …! Es wird … lingen! In 60 Settens, bei den 47 Leben meines Geleges, ich … schwöre es. Bitte, Herr! Bitte, erhabener … Yagul Mahuur!« »… werde auf den Gedanken mit … Gelege zurückkommen, wenn du versagst. Dasselbe gilt auch für deine … ommandanten. Sichert den Nebel verstärkt ab, achtet auf … Ankunft des … rkoniden. Er ist trickreich und unter keinen Umständen zu … terschätzen. Haben wir uns verstanden?« »Nein, Herr! Ja, Herr! … nke, Herr! Wir … erden uns deiner als würdig erweisen …«
* Ich schwieg und überlegte. Yagul Mahuur … war mir der Name schon einmal untergekommen? Nein, das konnte ich ausschließen. Was die Stimme betraf – nun, sie war verzerrt wiedergegeben worden und hatte dennoch bedrohlich geklungen. Hoch, fast krei-
12 schend, mit kaum unterdrückter Aggressivität. Da und dort hatte er Druck gemacht, die Stimmlage erhöht, den ängstlichen Kommandanten der Psi-Quelle noch nervöser gemacht. Die Drohung, das Gelege des Befehlshabers – wahrscheinlich ein Insektenabkömmling wie Gorgh – zu zerstören, hatte so beifällig, so uninteressiert geklungen, als würde es den Lordrichter bloß ein Fingerschnippen kosten. Vielleicht wollte Yagul Mahuur das seinen Gesprächspartner auch nur glauben lassen, aber ich bezweifelte es. Es hatte so viel gelangweilte Selbstverständlichkeit in der Stimme mitgeklungen, wie ich sie in den Herrscherhäusern des arkonidischen Hochadels kennen und verachten gelernt hatte … »Es ist … angsteinflößend«, sagte auch Kythara, die sonst nicht leicht zu beeindrucken war. Ich beobachtete Gorgh. Er war abrupt aufgestanden, als er die Stimme des Lordrichters gehört hatte. Seine Beine waren eingeknickt, nur mühsam hatte er einen Sturz verhindern können. Waren den Hilfsvölkern Angst und Panik genetisch eingepflanzt worden? Waren sie im Bewusstsein erzogen worden, dass ein Lordrichter für den größten vorstellbaren Schrecken stand? Oder war es die Erinnerung an die Präsenz jenes Wesens, die er erstmals gemeinsam mit uns auf Maran'Thor zu spüren bekommen hatte? Fast befürchtete ich, Gorgh würde an Ort und Stelle kollabieren, doch schließlich fing er sich und knabberte nervös an seinem Ballen spinnstoffähnlicher Nahrung. »Erzherzog Garbgursha«, sagte er mümmelnd, ohne weiter auf den Lordrichter einzugehen, »ist eine Sagengestalt meines Volkes. Ein schreckliches Monstrum, ähnlich kräftig und groß gebaut wie Erzherzog Garbhunar, den ihr kennen gelernt habt – aber ungleich grausamer.« Ich erinnerte mich an das drei Meter große Insektenwesen, das durch die Auslösung eines Todesimpulses vor meinen Augen gestorben war.
Michael Marcus Thurner »Die Ammen erzählen die gräulichsten Geschichten über Garbgursha, wenn man sich im Gelege nicht benimmt oder aus der Reihe stapft. Er muss … grauenhaft sein.« »Aber er ist kein Lordrichter …« »Lordrichter sind noch schlimmer. Schrecklich jenseits jeglicher Vorstellungskraft.« Ich erwiderte nichts. Angst war und ist stets die beste Repressalie gegen unterdrückte Massen gewesen. Doch oft entpuppten sich Unterdrücker, die sich hinter Mauern aus Furcht verbargen, als hinfällige, schwache und ganz kleine Wesen, in jedem Sinne des Wortes. Oft. Aber nicht immer. Ich konzentrierte mich wieder auf die Aussagen, die in dem aufgefangenen Funkgespräch verpackt gewesen waren. »60 Settens – wie lange ist das?« »Annähernd zehn Tage deiner Zeitrechnung«, antwortete die Bordpositronik der AMENSOON. Es war nicht meine Zeitrechnung, es war die terranische, in die das Schiffshirn umgerechnet hatte. Aber ich erwiderte nichts darauf. Der 24-Stunden-Tagesrhythmus war mir ohnehin in Fleisch und Blut übergegangen. »Ist dir der Begriff Dunkelstern schon einmal untergekommen?«, wandte ich mich erneut an Gorgh-12. »Nein.« »Wie kann der UHF-Energietransfer erfolgen? Wie wurde er von den Psi-Ablegern zur Quelle selbst bewerkstelligt?« »Ich weiß es nicht …« »Du warst doch als Hyperphysiker direkt in die Lagerungsarbeit der Psi-Energie an der Quelle eingebunden, oder?« Sofort erwachte mein Misstrauen, kräftig unterstützt vom Druck, den mein Extrasinn ausübte. »Das stimmt. Hauptsächlich habe ich mich um die Abspeicherung und Sicherung großer Mengen von Psi-Energie gekümmert. Wir haben an Bord von Forschungsraumschiffen rund um die Psi-Quelle mit Leitermetallen, Speicherkristallen und Hyper-
Angriff der Lordrichter raumblasen experimentiert, bis wir mit Hilfe jenes hyperkristallinen Staubs aus den Feuerringen von Maran'Thor eine Stabilisierung der UHF-Massen erreichen konnten.« »Das war nicht meine Frage!« Gorgh-12 faselte, suchte nach Ausflüchten. Unmerklich nickte ich Kythara zu. Sie war aufgestanden und achtete aufmerksam auf jede Bewegung des Insektoiden. Bereit, sofort einzugreifen, sollte der Daorghor eine falsche Bewegung machen. Das Insektenwesen klackerte mit den Mandibeln. Ein resignatives Seufzen, wie ich mittlerweile wusste. »Ich war vorgezogener Teil eines Teams. Sozusagen der Stachel einer Mannschaft, die sich mit den Lagerproblemen beschäftigte. Ihr müsst verstehen, um was es bei dieser Energie eigentlich geht! Um Kräfte, die nach daorghorschem Ermessen eigentlich nicht zu bändigen sind, die viele von uns in den Wahnsinn oder in den Tod trieben. Und dennoch ist es uns gelungen, den Verlust durch Diffusion und Abstrahlung in den ndimensionalen Raum zu minimieren.« Stolz klang in der Stimme mit, um gleich darauf wieder in Nüchternheit umzuschlagen: »Aber um die Fokussierung und Abstrahlung der gelagerten Mengen, wohin auch immer, kümmerten sich andere Trupps von Wissenschaftlern. Ich hatte damit nie etwas zu tun.« Er wandte sich um 90 Grad zur Seite und wippte leicht auf den hornigen Krallen. Auf und nieder, vor und zurück. Ich begriff. Er schämte sich. Er bedauerte es, uns nicht helfen zu können. Gorgh-12 verstand sich, seitdem er mit uns zusammen war, als Teil eines neuen Kollektivs. Eines, dem er mit all seiner Kraft diente. Und nun glaubte er, uns enttäuscht zu haben. Ich entspannte mich, ebenso wie Kythara. Kurz lächelten wir uns zu. »Das ist schade, aber da kann man nichts machen«, sagte ich kurz, um den Daorghor zu beruhigen, und wechselte gleich darauf
13 das Thema: »Wir haben also zehn Tage Zeit, um den Energietransfer von der Psi-Quelle zum so genannten Dunkelstern zu verhindern. Wie auch immer …« Kythara unterbrach mich. »Du irrst dich, Atlan. Diese Unterhaltung ist eine Aufzeichnung, die nicht von heute stammt …« »Sondern?« »… sondern bereits acht Tage alt ist. Uns bleiben maximal zwei Tage.« Du hast nicht ernsthaft damit gerechnet, dass es einfach würde?
* »Wie sind die feindlichen Schiffe ausgerichtet?« Das Wort feindlich in Bezug auf die Hilfsvölker der Lordrichter rutschte mir leicht von den Lippen. Es bestand kein Zweifel, dass uns die Daorghor, Shiruh, Zaqoor, Torghan, Ur'ogh und wie sie alle heißen mochten ans Leder wollten. »Die Formationen werden ständig umgebildet.« Kythara ließ mit einer Handbewegung ein Hologramm im Raum erscheinen, das aus Unmengen irrlichternder Punkte bestand. Im Mittelpunkt der Betrachtung stand das varganische Symbol eines Fragezeichens, stellvertretend für die Psi-Quelle. Acht größere und dicht gestaffelte Flottenverbände befanden sich in unmittelbarer Nähe des Symbols, nicht weiter als einige Lichtminuten davon entfernt. Dies war also der innerste Verteidigungsring. Weitere Häufchen von Schiffskonzentrationen, nicht mehr ganz so nahe beieinander stehend, formierten sich in einer Distanz von etwa einem Lichtjahr zur Psi-Quelle. Ich musste zugeben, dass der Koordinator der gegnerischen Truppenpositionierung ausgezeichnete Arbeit leistete. Er berücksichtigte die urtümlichen Gegebenheiten dieser Sternentstehungs-Brutstätte. Er hatte seine Einheiten dort ausgedünnt, wo die Bedingungen für Raumflug schlecht waren. An den möglichen Einflugschneisen zum Zentrum des Murloth-Nebels hingegen standen die Schiffe dicht an dicht.
14 Es gab zudem eine dritte VerteidigungsSchicht. Kampfkräftige Beobachter, die die Außenbezirke der Sternenwolke durchmaßen. Sicherlich noch einmal an die tausend Einheiten. »Wir müssen trotzdem unser Möglichstes tun, um an die Psi-Quelle heranzukommen und sie zu zerstören«, befand Kythara zusammenfassend. »Koste es, was es wolle. Sonst züchten die Lordrichter weitere Heerscharen von Killerandroiden wie auf Narukku heran, um … zu zerstören. Aller Wahrscheinlichkeit nach wollen sie das Para-Potenzial dieser Geschöpfe mit Hilfe der Quelle erhöhen und zumindest einen Teil der Energie zu diesem so genannten Dunkelstern abstrahlen. Zu welchen Zwecken auch immer.« »Realistisch gesehen gibt es derzeit keine Möglichkeit, an die Psi-Quelle heranzukommen«, erklärte Gorgh, der die Grafiken aufmerksam betrachtet hatte. »Vorerst nicht.« Ich lächelte und hoffte, dass er meine Mimik richtig deuten konnte. »Aber wir haben ein oder zwei Trümpfe im Ärmel.« Der Daorghor wandte sich abrupt zur Seite und verließ ohne ein weiteres Wort die Zentrale. Seine Reaktionen muteten manchmal wirklich etwas seltsam an. »Was hat er vor?«, fragte ich. »Er spaziert durchs Schiff«, antwortete sie. Da war sie wieder: Die Große Strenge ließ weitere wellige Falten auf Kytharas Stirn erscheinen. »Der Daorghor hat kaum geschlafen«, fuhr sie fort. »Er zeigt großes Interesse an den biolumineszierenden Komponenten der AMENSOON und an allem, was mit höherdimensionaler Technik zu tun hat. Können wir uns wirklich auf ihn verlassen?« »Du denkst, er könnte ein Trojaner sein, den man uns untergejubelt hat?« »Nun – ich würde es nicht so salopp ausdrücken, aber im Prinzip meine ich es so.« »Für Misstrauen bin normalerweise ich zuständig.« Ich grinste kurz, sagte aber gleich darauf mit aller Überzeugungskraft:
Michael Marcus Thurner »Nein. Gorgh ist nach meinem Ermessen ›sauber‹. Die Umstände, unter denen er sich uns anschloss, waren so hektisch und ungeplant, dass kein Gehirn dieses Universums Methode dahinter vermuten würde.« Überleg dir mal, was du sagst!, mischte sich der Extrasinn augenblicklich ein. Dort, wo starre Strukturen vorherrschen, müssen Pläne und deren Variationen mit einem viel weiteren Horizont gefasst werden. Die Daorghor besitzen möglicherweise keine Gabe zur Improvisation, beherrschen aber mathematische Vorausplanung bis zur Perfektion. Willst du also wirklich ausschließen, dass dein Zusammentreffen mit Gorgh vorgesehen war? Das war pathologisches Misstrauen, wie ich es vom Extrasinn gewohnt war. »Ich bin mir sogar absolut sicher«, sagte ich laut zu Kythara. »Ich vertraue auf meine Intuition. Die hat mich noch selten im Stich gelassen. Sonst wäre ich wohl kaum so alt geworden, wie ich heute bin.« Ich würde es anders formulieren, widersprach der Extrasinn pampig. Trotz deiner so genannten Intuition bist du so alt geworden. Das ist schon ein kleines Wunder. Ruhe!, dachte ich angestrengt und brachte damit meinen stets mäkelnden Dauergast wenigstens für ein paar Minuten zum Schweigen. Die kurze Unterhaltung mit dem Extrasinn hatte zumindest ein Gutes: Ein Plan, bislang vage und nur aus Ansätzen bestehend, gewann in der nächsten halben Stunde einer lockeren Unterhaltung zunehmend an Konturen. Er handelte von Misstrauen und spekulierte mit der starren Denkweise unserer Gegner, die sich hauptsächlich aus Insektenabkömmlingen rekrutierten. Ungeduldig wartete ich, bis Kythara Gorgh in den Tiefen der riesigen AMENSOON ausfindig gemacht und in die Zentrale zurückgerufen hatte. Unruhig marschierte ich hin und her, verwarf die eine und wog eine andere Variante ab. Kythara indes war sitzen geblieben und beobachtete mich mit spöttischem Lächeln.
Angriff der Lordrichter Ihre ruhige Art wirkte manchmal aufreizend. Aber ich wusste, dass sie auch ganz anders konnte. In manchen Situationen war sie mir weit voraus, konnte wesentlich besser extrapolieren und im entscheidenden Moment zuschlagen. Gorgh-12 kam in die Zentrale hereingeschwebt und lehnte sich ohne weiteren Kommentar gegen die Wandung. »Wir wissen alle, worauf unsere Aufgabe hinausläuft«, begann ich, »Wir haben etwas mehr als 40 Stunden, um zur Psi-Quelle vorzudringen, sie zu erforschen und den UHFTransfer gegebenenfalls zu unterbinden. Die Lordrichter, wer auch immer sie sein mögen, dürfen ein derart hohes Vernichtungspotenzial nicht für ihre Zwecke benutzen.« Gorgh-12 stand wie versteinert da, als er sagte: »Ich habe ein Wort von euch Humanoiden gelernt, das in Daorghorschen keine Entsprechung besitzt. Man nennt es ›Größenwahn‹.« Kythara kicherte, während der Insektoide fortfuhr: »Ich hatte gehofft, dass Arkoniden und Terraner meinem Volk mit militärischer Macht Einhalt gebieten. Ich erwartete, dass ihr große Flotten aufbringt, um die Situation zu klären …« »Das war auch mein erster Gedanke«, gab ich zu. »Aber der Zeitfaktor spielt hier und heute eine immens große Rolle. Du hast keine Ahnung, was es bedeuten würde, auf diplomatischem Weg einen militärischen Einsatz in die Southside in die Gänge zu bekommen. Brr …« Ich schüttelte mich und dachte mit Schaudern an verlorene Jahrzehnte und Jahrhunderte, die ich vergebens auf diplomatischem Parkett verbracht hatte. »Ich glaube, dass wir mit dem, was wir hier haben, wesentlich effektiver handeln können.« Gorgh-12 fuhr unbeeindruckt fort: »Ich bin nicht zum Verräter geworden, um nun einen unsinnigen und wertlosen Tod zu sterben. Die Leistungen des Kardenmoghers, seiner Offensiv- und Defensivwaffen sind genauso beeindruckend wie das, was ich hier an Bord der AMENSOON kennen ge-
15 lernt habe. Doch das ist nichts, wenn wir gegen jene Schiffseinheiten antreten müssen, die die Psi-Quelle verteidigen werden …« »Ich gebe dir Recht«, unterbrach ich den Daorghor. »Ein offener Kampf wäre reiner Selbstmord.« Ich wandte mich an Kythara und stellte die alles entscheidende Frage: »Was wissen wir über den Verbleib der Vergessenen Positronik?« Die Varganin wirkte übergangslos nachdenklich. »Wir haben offensichtlich gleiche oder ähnliche Gedanken«, sagte sie. »Ich verstehe nicht …« Gorgh-12 wirkte verwirrt. Wir hatten ihm selbstverständlich von der lemurischen Abwehrplattform erzählt, die im Krieg gegen die Haluter vor mehr als fünfzigtausend Jahren von einem Paratronschlag getroffen worden war und seitdem zwischen mehreren Existenzebenen hin und her pendelte. Aber nicht davon, dass Kythara und ich während unseres kurzen Aufenthaltes auf der Vergessenen Positronik mehrere Peilsender angebracht hatten, die in kurzen Abständen ultrakurze und überlichtschnelle Impulse an die AMENSOON ausgestrahlt hatten. Und hoffentlich wichtige Informationen über den Taumelkurs des Kosmischen Holländers übermitteln würden. »Nun?«, hakte ich bei der Varganin nach. »Wir haben Informationen erhalten«, sagte Kythara betont langsam. »Die hyperphysikalischen Umstände im Murloth-Nebel waren und sind aber leider störend. Die Datenblöcke wurden richtiggehend zerrissen und müssen rekonstruiert werden. Dazu kommt, dass die AMENSOON unter dem Einfluss des Psi-Quellen-Ablegers auf Narukku nicht alle Dateien einwandfrei empfangen konnte.« Manchmal argumentierte Kythara umständlich. Ein schlichtes Ja oder Nein hätte genügt. »Die Frage ist, ob sich ein Muster in den Rematerialisierungen der Plattform erkennen lässt«, meinte ich. »Die Positronik der AMENSOON befin-
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det sich in der Endphase der Auswertung.« Sie warf einen Blick auf ein Kontrollpaneel rechts von ihr. »Und es sieht gut aus. Die Vergessene Plattform springt im Murloth-Nebel hin und her, vom ultrahochfrequenten Leuchtfeuer der Psi-Quelle angezogen wie ein Insekt von grellem Licht.« Erleichtert atmete ich auf und wandte mich Gorgh zu. »Während wir auf die Daten warten, werde ich dir mehr über ein so genanntes Trojanisches Pferd erzählen …«
* Wenige Stunden später, am Morgen des 28. Mai 1225 NGZ, verließen wir an Bord des Kardenmoghers Narukku. Die AMENSOON blieb einmal mehr unter aktiviertem Ortungsschutz im Targan-Binnenmeer zurück. In Schleichfahrt näherten wir uns einem Bereich unweit des ehemaligen Standorts des zweiten Psi-Ablegers. Damit wuchs die Entfernung zum Zentrum des Murloth-Nebels zwar, aber die Vergessene Positronik würde über kurz oder lang unsere Eintrittskarte zum Zentrum der Psi-Quelle sein, dessen war ich mir sicher. »Wie verlässlich sind die Daten?«, fragte Gorgh zum wiederholten Male. Kythara verwies ihn geduldig auf weitere Daten-Cluster. Die Informationen unserer Peilsender an Bord der Plattform wurden in endlos scheinenden Zyklen immer und immer wieder überprüft, allen möglichen Gesichtspunkten wie gravitationalen Verhältnissen, den sich stets ändernden UHF-Konstanten oder auch Emissionswirkungen dunkler Gasmassen unterworfen. »Diese Informationen sind nicht konkret genug«, schnarrte er daraufhin, ebenfalls zum wiederholten Male. Der Kadergehorsam, den er uns gegenüber immer wieder beschworen hatte, war in diesen Stunden wie weggeblasen. »Die Wahrscheinlichkeit, unter diesen Bedingungen einen Rendezvouspunkt mit der Vergessenen Positronik zu errechnen, liegt bei nicht einmal 36 Prozent.
Das ist Zeitverschwendung.« »Wir versuchen etwas!«, fuhr ich den Insektoiden an. »Es kann funktionieren, muss aber nicht.« Langsam verlor ich meine Geduld. Es war keinesfalls Pessimismus, von dem der Daorghor gesteuert wurde. Es wollte einfach nicht in seinen Chitin-Kopf passen, dass man in Situationen wie diesen auch nach geringfügigen Chancen greifen musste. Gorgh-12 schwieg daraufhin. Er hielt es wohl für vergebene Liebesmüh, sich mit einem irrational denkenden Wesen wie mir auf Diskussionen einzulassen. »Wann soll es zum Rendezvous kommen?«, fragte ich Kythara. »In zwei Minuten«, antwortete sie knapp. Zeit verstrich. Die Sekunden rannen dahin, addierten sich, bis dann endlich … »Das war einmal nichts«, sagte die Varganin schließlich nüchtern. »Ich messe soeben einen Impuls der Vergessenen Positronik an. Sie ist in einer Entfernung von mehr als drei Lichtjahren materialisiert.« Ich spürte Gorghs Blick auf meinem Hinterkopf. Ein Humanoider hätte in diesem Moment wohl ein »Na – hab ich's dir nicht gesagt?« geäußert. Aber der Insektoide blieb ruhig. »Kein Grund zur Aufregung.« Ich demonstrierte Gelassenheit. Fehlschläge waren von vorneherein eingeplant gewesen. »Gibt es eine neue Berechnung?«, fragte ich Kythara. Sie nickte. »Die Positronik wirft zwei weitere mögliche Materialisationspunkte der Vergessenen Plattform für den späteren Nachmittag aus. Beide Ziele befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft …« »Wie hoch sind diesmal die Wahrscheinlichkeitswerte?«, erkundigte sich Gorgh. »22 und 26 Prozent.« »Ungenügend!« Bei dem Insektoiden kam dieser ärgerliche Ausruf geradezu einer emotionellen Explosion gleich. »Unsere Vorgehensweise mag bei wissenschaftlichen Versuchsserien ihren Sinn haben – aber im Rahmen unserer Zielsetzung halte ich sie für … für idiotisch!« Idiotisch? Allmählich färbte meiner und
Angriff der Lordrichter Kytharas Wortschatz auf den Daorghor ab. »Wenn du einen alternativen Vorschlag anzubieten hast, bitte ich darum!«, entgegnete ich nach einer Weile. »Wenn nicht, sollten wir den Kardenmogher in Bewegung setzen. Und zwar auf jenes Ziel mit der höheren Wahrscheinlichkeit zu.« Ich nickte Kythara zu, und sie leitete die Startsequenz ein. Es galt, einen Schleichkurs zu finden und den Spähschiffen der Lordrichter-Truppen weitmöglichst auszuweichen. Ich wandte mich dem Wissenschaftler aus dem Volk der Daorghor zu, beobachtete ihn. Wollte Gorgh mich und Kythara bewusst bremsen, oder waren seine Worte Ausdruck dafür, dass er mit unserer Vorgehensweise nicht einverstanden war? Improvisation, wie du sie betreibst, ist ein Begrif, mit dem der Insektoide nur wenig anfangen kann, vermittelte mir der Extrasinn. Auch dem Prinzip Hoffnung kann er nur wenig abgewinnen. Hab Geduld mit ihm. Er muss sich an euch anpassen – genauso, wie es auch umgekehrt passieren muss. Das mochte stimmen. Ich beschloss, dennoch wachsam zu bleiben. Dies hier würde eine äußerst komplizierte Aktion werden, die uns allen höchste Aufmerksamkeit abverlangte. Was wir momentan am wenigsten brauchen konnten, war ein interner Quertreiber. Wertvolle Zeit verrann … Wir benötigten für knappe drei Lichtjahre mehr als eine Stunde. Immer wieder zwangen uns entlang der Flugroute unvermittelt auftauchende Schiffe der Daorghor, toten Mann zu spielen oder Ausweichmanöver einzuleiten. Trotz aller aktivierten Antiortungs- und Tarnmechanismen wollten wir kein Risiko eingehen. Einen schlafenden Löwen weckte man möglichst spät. Bestenfalls erst dann, wenn man ihm die Beute gestohlen, sie verspeist und einen halben Kontinent zwischen sich und den Beraubten gebracht hatte. An Bord des Kardenmoghers herrschte eine merkwürdige Diskrepanz zu dem normalerweise so quirligen Bordleben auf terranischen Raumschiffen.
17 Hier gab es keine hektisch gerufenen Anweisungen. Auch kein scheinbar heilloser Wirrwarr, in dem man sich erst nach längerer Zeit zurechtfand. Und schon gar nicht gab es jene wilde Mischung an Botenstoffen zu spüren, die sich trotz bester Klimaanlagen festsetzte und für eine unvergleichliche Atmosphäre sorgte. An Bord des Kardenmoghers passierte alles ruhig, fast emotionslos. Es war wohl jene Art und Weise, mit der Varganen seit jeher ihre Aufgaben angingen, die sich erst allmählich auf uns übertrug. Sollte ich mich wohl fühlen, wohler als zum Beispiel an Bord der ATLANTIS? Ich wusste es nicht. Vieles war ganz einfach … anders. »Rendezvouspunkt erreicht«, unterbrach Kythara meine Überlegungen. »Wenn diesmal alles glatt geht, müsste die Vergessene Positronik in einer halben Stunde auftauchen.« Gorgh ließ die Mandibeln gegeneinander krachen. Offensichtlich ein Zeichen des Unglaubens oder der Geringschätzung. »Kennung ausstrahlen!«, befahl ich. Erst als ich die Große Strenge erscheinen sah, wurde mir bewusst, dass ich an Bord des Kardenmoghers keinerlei Befehlsgewalt besaß. Dies war, wie so vieles in der letzten Zeit, nicht gerade eine neue, aber doch ungewöhnliche Erfahrung für mich. Kythara ließ sich demonstrativ einige Sekunden Zeit, bevor sie eine Identitätskennung an die varganische Sektionspositronik der Vergessenen Plattform aktivierte. Das kurzwellige Signal würde uns Zutritt verschaffen – wenn sich in den letzten Wochen an Bord des Kosmischen Holländers nicht allzu viel geändert hatte. »Ein Golfballschiff der Zaqoor ist soeben rematerialisiert!«, sagte die Positronik des Kardenmoghers. »Entfernung: zwölf Lichtminuten. Es treibt mit mäßiger Geschwindigkeit direkt auf uns zu. Unser Ortungsschutz ist bis auf eine Entfernung von zehn Lichtsekunden gegeben.« Zaqoor … Ich hatte keine angenehmen Erinnerungen an die Humanoiden. Sie ma-
18 ßen mehr als zweieinhalb Meter, verbargen ihr Aussehen meist hinter silbernen Schutzanzügen und galten als wichtiges Hilfsvolk in der Hierarchie der Lordrichter. Und sie besaßen einen unguten Hang zu Folterspielchen, wie mir nur allzu deutlich in Erinnerung geblieben war. »Ist es Zufall, dass sie gerade jetzt auftauchen?«, fragte mich Kythara. »Nichts deutet auf das Gegenteil hin«, antwortete ich. »Meiner Meinung nach handelt es sich um eine Orientierungsetappe eines Beobachter-Schiffes. Leider ist dies eine Begegnung der eher unglücklichen Art. Setzen wir uns unauffällig ab, Kythara. Es wird weitere und bessere Gelegenheiten geben, an die Vergessene Positronik heranzukommen.« Ich war keineswegs so ruhig, wie ich mich nach außen hin zu geben bemühte. Die Zeit, sie lief uns davon … »Ich bin dagegen«, sagte Gorgh-12 überraschenderweise. »Wir sollten so lange wie möglich warten.« »Warum dieser plötzliche Sinneswandel?«, fragte ich skeptisch. »Hast du nicht vor kurzem noch gemeint, unsere Versuche, die Vergessene Plattform zu erreichen, seien blanker Unsinn?« »Ein weitaus größerer Nonsens wäre es meiner Meinung, ständig unsere Vorgehensweise zu ändern«, entgegnete der Daorghor. »Wir haben uns auf ein Prozedere geeinigt – also sollten wir es auch beibehalten. Es handelt sich um ein reines Orientierungsmanöver der Zaqoor. Ich kenne ihre Vorgehensweise recht gut.« Ich blickte den Daorghor abwägend an. Mein Misstrauen dem Insektoiden gegenüber war erneut geweckt. Wollte er uns hier und jetzt in eine Falle locken? Schlussendlich geht es darum, ob du ihm hundertprozentig vertraust oder nicht, mischte sich der Extrasinn ein. Ich tu es nicht. Ich vertraue ihm. Und sei es nur aus Protest, richtig? Selbstverständlich.
Michael Marcus Thurner »Wie viel Zeit bleibt, bevor uns die Zaqoor anmessen?«, fragte ich die Positronik des Kardenmoghers. »Zehn Minuten deiner Zeitrechnung«, antwortete das varganische Raumschiff. »Und wann soll die Vergessene Positronik nach deinen Berechnungen auftauchen?« »In sieben bis acht Minuten.« Ich nickte. »Ich bin dafür, Gorghs Vorschlag anzunehmen. Wir müssen unsere Möglichkeiten ausreizen, soweit es nur möglich ist. Außerdem könnte uns dieses Schiff der Zaqoor sogar einen Gefallen tun …« Eine mehr als waghalsige Idee gewann an Kraft und Form. Mein langjähriger Wegbegleiter Ronald Tekener hätte in diesen Momenten seine wahre Freude an mir gehabt. Ich war bereit, alle guten Vorsätze über Bord zu werfen, jeden Gedanken an Sicherheit beiseite zu schieben … Erneut sah ich auf meine Uhr. Noch 28 Stunden … Kythara warf mir einen warnenden Blick zu. Sie konnte meine Gedanken zwar nicht lesen, aber zumindest die Grundstimmung erkennen, in der ich mich befand. »Ich bin nicht so alt geworden, um dank der Verrücktheit eines größenwahnsinnigen Arkoniden zu sterben«, warnte sie mich, halb scherzend und halb im Ernst. »Ich vergrößere nicht das Risiko, sondern wandle lediglich unseren Plan ein wenig ab«, log ich ungerührt. Skeptisch blickte sie mich an, nickte aber schließlich. »Wir warten bis zum letzten Augenblick!«, befahl sie der Positronik des Kardenmoghers.
* Tatsächlich! Ja, die Berechnungen stimmten diesmal. Als hätte ein wissender Dirigent seinen Taktstock geschwungen, passierten die entscheidenden Dinge gleichzeitig: Die Vergessene Positronik tauchte mit torkelnden Bewegungen im Einstein-Raum auf, nur wenige Lichtsekunden entfernt. Gleichzeitig wurden auch die Befehlshaber im Zaqoor-Schiff
Angriff der Lordrichter auf den Kosmischen Holländer aufmerksam und beschleunigten darauf zu – und kamen uns damit gefährlich nahe. Nur Sekunden verblieben, in denen sich das Schicksal unseres waghalsigen Einsatzes entscheiden würde. »Die varganische Positronik akzeptiert die Kennung Stein der Weisen«, berichtete Kythara seelenruhig. »Annäherung damit möglich. Ich beschleunige.« Kurze Pause. Dann: »Das Golfballschiff hat uns in der Ortung. Ich messe energetische Spitzenwerte des Feindschiffes an. Die Zaqoor aktivieren ihre Waffensysteme. Hyperfunksignale werden in Richtung Zentrum und aller weiteren Flottenkonzentrationen der Lordrichter-Schiffe im Murloth-Nebel abgestrahlt.« Damit war unsere Ankunft in der Höhle des Löwen offiziell geworden. Gut so. Ich verfolgte unsere Annäherung an die quaderförmige Plattform mit gehöriger Skepsis. Die Ober- und Unterfläche des riesigen Objekts waren jeweils sechstausend Meter lang und zweitausend Meter breit. Wie immer war der Kosmische Holländer in diffuses, unwirkliches Leuchten gehüllt. Die Psi-Kristalle des Obsidianmondes, die die Oberfläche des Lemurer-Reliktes überzogen hatten, waren verschwunden. »Energetischer Kontakt!«, meldete Kythara. »Ein Traktorstrahl holt uns hinab, wie bereits gehabt.« Ein holografisch gestalteter Energiepegel, den ich ständig im Auge behielt, schnellte kurzfristig um ein paar Millimeter in die Höhe. Der Zaqoor-Raumer hatte das Feuer auf uns eröffnet. Auch wenn ich mich im Inneren des Kardenmoghers in Sicherheit wähnte – das Wissen, unter Beschuss zu liegen, erzeugte immer wieder ein gewisses Magenkribbeln. »Ich schalte die Triebwerke ab und überlasse den Landevorgang den Mechanismen der Plattform«, sagte die Varganin gänzlich unaufgeregt. »Wir befinden uns bereits im Einflussbereich der Vergessenen Positronik. Ein Zugstrahl hat uns erfasst. Der Schutz-
19 schirm der Plattform hat uns soeben verschluckt. Das Zaqoor-Feindschiff stellt den Beschuss ein und dreht schnell ab …« Ich betrachtete die Oberfläche des wundersamen Objekts. Erinnerungen an Jugenderlebnisse drängten hoch, genauso wie jene, die erst ein paar Wochen alt waren … Es schien mir, als wäre mein Schicksal auf eine merkwürdige Art und Weise mit diesem Relikt einer sonst längst vergessenen Epoche untrennbar verbunden. Der Kosmische Holländer präsentierte sich äußerlich wiederhergestellt, nachdem er seine verfängliche Fracht an den PsiAbleger auf Narukku verfüttert hatte. Ultrahochfrequente Kristalle hatten die Oberfläche der Vergessenen Positronik zerfurcht und porös erscheinen lassen. Doch jetzt und heute wirkte die Oberfläche glatt wie frisch geschliffen. Entweder waren die überdimensionalen Einwirkungen nur eine zeitlich begrenzte Erscheinung gewesen, oder geheimnisvolle Selbstreparaturmechanismen hatten mittlerweile gegriffen. »Landung!«, meldete Kythara. Bei arkonidischen und terranischen Schiffen wurde bei Bodenkontakt der so genannte Rüttelefekt wirksam. Für einen kurzen Moment erzeugten moderne Raumer wenige Prozent zusätzlicher Schwerkraft, um den Passagieren und Besatzungsmitgliedern das Gefühl zu geben, gelandet zu sein. Hier jedoch, an Bord des antiken und dennoch hochmodernen Varganen-Schiffes, bemerkte man die Landung bestenfalls anhand der Kontrollanzeigen. »Flottenverbände der Daorghor ziehen auf«, fuhr Kythara in ihrer Berichterstattung fort. Sie liebte es offensichtlich, die Rolle, die auch die Positronik des Kardenmoghers hätte einnehmen können, auszufüllen. »Mehr als einhundertdreißig Kampfeinheiten. Sie eröffnen das Feuer auf die Vergessene Positronik – jetzt!« Ein bläulicher Schirm, der das riesige Objekt überzog, gut auf unserem Holobildschirm zu sehen, flammte kurz auf, wurde für wenige Momente etwas heller. Das war
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alles. Dann passierte, was ich gefürchtet, aber auch längst erwartet hatte: Wir transitierten.
* Die Schmerzen der Ent- und der Rematerialisation waren etwas, das man zu ertragen lernen konnte. Absorber konnten die Schmerzen reduzieren, aber sie blieben auch in einem solchen Fall zumindest als dumpfes Gefühl erhalten. »Es hat … gar nicht so wehgetan«, sagte Kythara krächzend und voll Ironie. Ich vollzog einige Dagor-Atemübungen, um den Kopf frei zu bekommen. Unmittelbare Gefahr konnte keine drohen. Die Positronik des Kardenmoghers hätte sonst längst Alarm geschlagen. Dann überprüfte ich Gorghs Gesundheitszustand. Der Daorghor saß vollkommen aufrecht da, den Blick starr geradeaus gerichtet, und rührte kein Glied. Ofensichtlich eine Art katatonische Verkrampfung, flüsterte mir der Extrasinn zu. Das Nervensystem des Insektoiden reagiert anders auf die ungewohnte Belastung als du. Nur allmählich fand unser Begleiter zu sich. Das Leben kehrte nach vegetativen Nervenzuckungen in die federleichten Arme und Beine Gorghs zurück. Er gab mir zu verstehen, dass er keine weitere Hilfe benötigte. Ich ging zu Kythara und konzentrierte mich auf die Datenströme, die der Kardenmogher in sich aufnahm. »Der Sprung hat über annähernd 25 Lichtjahre geführt«, sagte sie, wohl etwas enttäuscht. »Von einem Ende des Murloth-Nebels zum anderen.« Hatte sie tatsächlich damit gerechnet, gleich mit dem ersten Sprung in unmittelbare Nähe der Psi-Quelle zu gelangen? Der Kardenmogher hatte dafür eine Wahrscheinlichkeit von lediglich zwölf Prozent für die nächsten vierundzwanzig Stunden vorausberechnet. Eine Zahl, die für meinen Geschmack viel zu niedrig war und die ich ger-
ne beeinflussen wollte. »Vorerst müssen wir froh sein, dass wir es relativ problemlos schafften, an der Plattform anzudocken.« Der kurze Sprung hatte uns tatsächlich weit über unser Wunschziel hinaus in die »gegenüberliegende« Peripherie des Murloth-Nebels gebracht. Die farbenfrohe Darstellung dieser galaktischen Kinderstube war mir momentan einerlei. Viel mehr interessierten mich die Vorgänge auf dem Kosmischen Holländer selbst. Der Kardenmogher war fest verankert, von einem leicht bläulich leuchtenden Fesselfeld an die Oberfläche gebunden. Kythara schien meine Gedanken erraten zu haben. »Wir können diese Fesselung jederzeit ablegen«, beruhigte sie mich. »Sie wurde von der varganischen Sektionspositronik der Vergessenen Plattform erstellt. Ich stehe in ständigem Kontakt zu ihr.« »Zeigt sie … Funktionsfehler?« »Derzeit nicht«, antwortete die Varganin. »Sie reagiert völlig normal, im Gegensatz zu unserem ersten gemeinsamen Besuch hier, vor drei Wochen.« »Vielleicht war es damals wirklich nur die Psi-Strahlung, die zu Störungen geführt hat. Aber ich traue der Sache nicht. Wir sollten uns aus dem Fesselfeld lösen.« Sie nickte zustimmend und trat in eine stumme, telepathische Konversation mit dem Kardenmogher ein. Ich kümmerte mich nicht weiter um das Problem. Ich besaß zwar alle Autorität und alle Berechtigungen, um im Namen der Varganin zu handeln, doch schlussendlich wusste Kythara besser, wie sie mit der ihr so sehr vertrauten Technik umgehen musste. »Der erste Teil deines Planes ist also aufgegangen«, sagte Gorgh-12 zu mir. »Aber wird uns dieses verfluchte Schiff auch zur Psi-Quelle bringen?« »Ich will dich nicht mit weiteren Elaboraten über Hoffnungen und Vermutungen langweilen«, sagte ich und musste unwillkürlich grinsen. »Aber würdest du mich für komplett übergeschnappt halten, wenn ich sagte, dass die Truppen der Lordrichter die-
Angriff der Lordrichter ses Problem für uns lösen werden?« Es machte mir gehörig Spaß, den Daorghor ein ums andere Mal zu überraschen. Ich weihte ihn in die weitere Planung ein.
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seine Gewalt bringen. Vielleicht fürchtet es mich – und vielleicht fürchtet es sich auch vor einer Rückkehr der Varganen.« »Das ist eine sehr eigenwillige Interpretation der damaligen Geschehnisse«, sagte Kythara zweifelnd. »Mir scheint, dass in 4. deiner Gleichung mehr Unbekannte und VaAtlan riable sind als Konstanten.« Natürlich hielt mich Gorgh für überge»Die Gleichung wird sich auflösen; verschnappt, und natürlich wollte er »an meitraue mir!« nem überbordenden Wahnsinn«, wie er es so Sie mochte ahnen und in meinen Gedannett formulierte, keinesfalls teilhaben. ken spüren, dass ich noch etwas vor ihr und Aber was blieb ihm anderes übrig? Gorgh verbarg. Aber sie drang nicht weiter Also machte er es sich in einem im mir in mich. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab abgewandten Bereich der Kardenmogher-Zentra- und trat erneut in ein stummes Zwiegespräch le gemütlich und diskutierte mit der Schiffsmit der Bordpositronik. positronik über Wahrscheinlichkeiten. Erleichtert atmete ich auf. Denn ich »So Unrecht hat er nicht«, meinte Kythara brachte einfach nicht den Mut auf, ihr vom leise. »Darauf zu hoffen, dass die Truppen ganzen Umfang meines Planes zu erzählen. der Lordrichter die Vergessene Plattform in die Nähe der Psi-Quelle schaffen werden – * das hat etwas von Verzweiflung an sich. Warum sollten unsere Gegner das tun?« »Die varganische Sektionspositronik pen»Vielleicht weil sie wissen, dass sie damit delt zwischen Wahnsinn und Vernunft«, auch Kythara und Atlan einfangen können?« sagte Kythara nach einer Weile. »Wir tun Sie blickte mich entgeistert an. wirklich gut daran, uns nicht allzu sehr auf »Deswegen wolltest du auch, dass uns das sie zu verlassen.« Schiff der Zaqoor ortet?« »Hast du versucht, über sie den lemuriIch nickte. schen Zentralrechner zu beeinflussen?«, »Hältst du uns tatsächlich für so wichtig, fragte ich. »Wenn wir die Kontrolle über die dass der Gegner dieses Risiko eingehen Plattform erlangten, wäre alles viel leichter wird?« …« »Die Lordrichter haben uns den Kampf Die Varganin schenkte mir ein mitleidiges angesagt. Du erinnerst dich an Maran'Thor? Lächeln. Du solltest es besser wissen, schien An unsere Begegnung mit diesem … Wees zu sagen. sen?« Ja, das sollte ich. »Wie könnte ich mich nicht erinnern?« Die Vergessene Positronik war unbereKythara lachte humorlos. »Es wollte mich chenbar. Sie barg mehr Geheimnisse in sich, … uns auf ein Nichts reduzieren. Diese beals unzählige Generationen an Forschern, drückende, psychische Machtfülle, diese Abenteurern, Wissenschaftlern und Soldaten bösartige Kraft … ich werde unsere Begeghatten erforschen können. nung mit dem Lordrichter niemals vergesJede Expedition, die hier an Bord in den sen!« vergangenen Jahrtausenden nach Reichtum, »Ich auch nicht.« Die Erinnerung an die Glück oder gar nach dem Schlüssel zum wenigen Sekunden hatte sich wahrhaftig in ewigen Leben gesucht hatte, hatte Spuren meine Erinnerung eingebrannt. hinterlassen. Ein unglaubliches, lebensbe»Wer auch immer dieses Wesen war«, drohendes Konglomerat an unterschiedlifuhr ich fort, »es wollte mich haben. Mich in chen Technologien, bedient oder zweckent-
22 fremdet von Nachkommen angelockter Besucher, war entstanden. Die Vergessene Positronik wahrte ihre Geheimnisse gut. Und ich zweifelte daran, ob sie irgendjemand vollständig würde lüften können. Kythara hatte mir und Gorgh strengstens untersagt, den Kardenmogher zu verlassen. Auch wenn es mich in den Fingern juckte, in die Stahlkavernen vorzudringen und eine aktive Rolle bei der Steuerung der Plattform zu spielen – ich musste ihr Recht geben. Wir konnten jederzeit aufs Neue transitieren, möglicherweise hin zur Psi-Quelle. Und dann war mein Platz hier an Bord. Überschlagblitze zuckten einmal mehr über die Oberfläche des riesenhaften Gebildes. Psychedelisch leuchtende Aufrisse, die unsere Sinne verwirrten, entstanden unweit voraus. Nach allen Gesetzen der Physik durfte der Kosmische Holländer nicht mehr existieren. Seit so langer Zeit pendelte er zwischen verschiedenen Daseinszuständen hin und her, schluckte und absorbierte unglaubliche Formen von Energien, die weit über unser vierdimensionales Verständnis hinausreichten. »Ein Daorghor-Schiff!« Kythara riss mich aus meinen Überlegungen. Ich betrachtete das sogleich aufbereitete Bild eines tropfenförmigen Schiffes mit einer Länge von nahezu 750 und einer größten Stärke von 350 Metern. Es näherte sich der Plattform, ohne allerdings eine Landung oder einen Beschuss zu versuchen. Es beobachtete, und es sondierte. Höchstwahrscheinlich wusste man dort drüben bereits, dass der Kardenmogher angedockt war, und gab die Standort-Information der Vergessenen Positronik an den Befehlshaber der gegnerischen Flotten weiter … »Ein weiterer Aufriss!«, sagte Kythara erschrocken. Sie deutete auf ein rotes Auge, auf einen sich verästelnden Schlund, den die Plattform plötzlich erzeugte. Er waberte grässlich, verschlang dunkle Materie, Sternenstaub, Licht, Energie – alles. Auch den Aufklärer der Lordrichter.
Michael Marcus Thurner Es war schrecklich mit anzusehen. Dort, wo soeben noch der silberne Tropfen parallel zu unserem Kursvektor geschwebt hatte, verteilten sich nunmehr ein paar lächerlich kleine Funken. Den Rest hatte der Aufrissblitz zerstört und mit sich gerissen, wohin, in welchen Daseinszustand und in welche Zeitebene auch immer. Ich wandte den Blick ab, wagte erst nach wenigen Sekunden, nach Gorgh-12 zu sehen. Die viergliedrigen Zangen seiner Arme klapperten willkürlich aufeinander. Der Wissenschaftler war einem Zusammenbruch nahe, vermutete ich. Auch wenn er sich von seinem Volk gelöst und nunmehr an unserer Seite den Kampf gegen die Lordrichter aufgenommen hatte, so litt er doch mit seinen Landsleuten. Gorgh ist weder der gefühllose Insektoide, als den du ihn klassifizierst, warf mein Extrasinn ein, noch ein ausgeprägt gefühlsbetontes Wesen. Finde dich damit ab, dass du es niemals schaffen wirst, seine Motivation und Verhaltensweisen zur Gänze zu verstehen. Im Gegenzug ist es genauso. Nicht einmal ich begreife alles, was du tust! »Es … es tut mir Leid«, sagte Kythara leise zu Gorgh-12. »Wir hatten keinen Einfluss darauf.« »Selbstverständlich nicht«, knarzte der Daorghor. »Und dennoch schmerzt es.« Bernsteinfarbene, harzige Tröpfchen traten links und rechts der großen Facettenaugen hervor, fielen zu Boden und zerklirrten dort leise.
* Eine neue Transition erfolgte, dann noch eine und noch eine. Mehrmals entstofflichten wir in eine krankhaft anmutende Dämmerzone, in der sich unsere Sinne einfach nicht mehr zurechtfanden. Links wurde zu rot, hell zu salzig. Kein Sinneseindruck war mehr nachvollziehbar, all unsere Gedanken standen Kopf. Der Kardenmogher glitt in diesen Momenten automatisch in eine Art
Angriff der Lordrichter Dämmerschlaf und erwachte erst wieder, sobald wir mit uns mit all unseren Sinnen im Einstein-Universum wiederfanden. Weiter ging es, kreuz und quer, stets durch den Murloth-Nebel. Das schöne, farbenfrohe und doch so gefährliche Lichtspektakel präsentierte sich jedes Mal aus einem anderen Blickwinkel und jedes Mal aufs Neue beeindruckend. Einmal verzeichnete der Kardenmogher eine gewaltige Erschütterung im Inneren der Vergessenen Positronik. Wer wusste schon, welche Tragödien sich unter uns, im Riesenkörper, abspielten? Vielleicht kämpften soeben arkonidische Abkömmlinge gegen Cappins, Lemurer gegen Akonen, Blues gegen Tefroder? Der Zentralraum des Kardenmoghers war abgedunkelt. Gorgh-12 war nach der letzten Transition noch nicht wieder erwacht. Seine körperlichen Funktionen, so versicherte der Kardenmogher, waren allerdings intakt. »Wir sind diesmal bis auf drei Lichtjahre an die Psi-Quelle herangekommen«, unterbrach Kythara leise meine Überlegungen. »Ich bekomme neue, bessere Daten. Und auch beunruhigende.« »Ja?« »Die UHF-Strahlung der Psi-Quelle hat weiter zugenommen. Dort steuert alles unweigerlich auf einen Höhepunkt zu. In 20 Stunden sollte, wenn wir dem abgefangenen Funkspruch des Lordrichters Yagul Mahuur glauben, die Abstrahlung zum Dunkelstern erfolgen …« Mit einem Mal fühlte ich mich überfordert. Wir warfen hier mit Begriffen um uns, deren Sinn wir nicht einmal einzuordnen wussten. Was war der Dunkelstern? Wozu dienten diese Unmengen an hochfrequenter Psi-Energie? Was würde passieren, wenn die Psi-Quelle ausgebrannt war? Was war die Psi-Quelle eigentlich? Kythara, die vor Jahrhunderttausenden in die Planung eines geheimnisvollen Projekts namens Kyrlan eingebunden gewesen war, blieb mir eine Antwort schuldig. Wusste sie nichts darüber? Hatte sie die Erinnerung an
23 die fünf Psi-Stationen, die im Hinterhof der Milchstraße errichtet worden waren, weitgehend verdrängt? Oder gar alle technischen Informationen – vergessen? Drei Psi-Stationen waren zu Psi-Quellen pervertiert. Eine davon war aller Wahrscheinlichkeit nach hierher, in den MurlothNebel, verschleppt worden. Und weiter? Was erwartete uns dort in Wirklichkeit? Reiß dich am Riemen!, befahl mir der Extrasinn. Ich gehorchte, atmete tief durch, konzentrierte mich wieder auf Kytharas Ausführungen. »Die Staffelung der Flottenverbände der Lordrichter wird immer dichter. Der Gegner zieht seine Kräfte im unmittelbaren Umfeld der Psi-Quelle zusammen. Mehr als zweihundert Kampfraumer umschwirren die Vergessene Plattform. Weitere Schiffe sind in den nächsten Minuten zu erwarten.« »Wir sollten abbrechen«, forderte Gorgh. »Wenn wir uns jetzt von der Vergessenen Plattform lösen, haben wir noch eine Chance zu entkommen.« Er war wankelmütig geworden, unser insektoider Freund. Immer wieder änderte er seine Einstellung. Ein schlechtes Zeichen. Gorgh musste hochgradig nervös sein, wenn er so reagierte. Ich konzentrierte mich auf das Hologramm, das unsere Lage inmitten des lordrichterlichen Schiffsschwarms nachzeichnete. Wie Bienen, die von Botenstoffen angelockt wurden, stürzten sich die Zaqoor, Daorghor, Ur'ogh, Torghan und wie sie alle hießen, auf den Kosmischen Holländer. Noch hielten sie Abstand, noch feuerten sie nicht … »Sie ahnen, was wir vorhaben«, sagte Kythara mürrisch. »Dein Plan kann und wird nicht aufgehen, Atlan! Wer garantiert dir, dass diese Völker die technologische Macht haben, unser Trojanisches Pferd abzuschleppen?« Ich schwieg weiterhin, konnte nur hoffen, dass Kythara nicht gegen meinen Willen
24 handeln und den Kardenmogher von der Plattform loslösen würde. Sekret sammelte sich in den Augenwinkeln, erste Tränen bildeten sich. Ich konnte meine Spannung nicht verbergen. Der Kardenmogher maß weitere Strukturerschütterungen ankommender Schiffe an, und im selben Moment eröffneten erste Raumer das Feuer auf uns. Kythara blickte mich an. »Du hast dich geirrt!«, sagte sie leise. »Sie sind auf die vollständige Vernichtung der Vergessenen Plattform aus.« »Nein!« Ich konnte, wollte es nicht glauben. Alles in mir sträubte sich anzuerkennen, dass ich mich geirrt hatte. »Mehr als 300 Schiffe haben nunmehr in die Kampfhandlungen eingegriffen«, sagte die Stimme der Bordpositronik. »330 jetzt, Tendenz weiterhin steigend …« »Wie reagiert die Vergessene Plattform?«, fragte ich angespannt. »Das bläuliche Leuchten, das augenscheinlich Abbild eines Schutzschirms ist, wehrt vorerst alle Angriffe ab«, antwortete Kythara. »Die Plattform bleibt aber defensiv. Zwei gegnerische Einheiten wurden zerstört, weil sich ihre Kommandanten zu nahe an den Kosmischen Holländer herangewagt haben. Ich messe stark erhöhte UHFSchwingungen auf der Vergessenen Positronik an. Sie scheinen aus dem Material selbst, aus diesem schwarzen Oberflächenmetall, zu dringen …« Waren dies vielleicht strukturelle Überreste des Psi-Mondes, die durch den Beschuss der gegnerischen Schiffe gereizt oder angeheizt wurden? Wenn ja – was würden sie bewirken? Selten hatte ich mich so hilflos den Elementen des Universums ausgeliefert gefühlt wie in diesen Momenten. Nichts konnte ich tun. Warten. Zusehen. Hoffen. Das war alles, was geblieben war. Und beten, dass mein Plan, wahnsinnig, wie er war, doch noch greifen würde. »600 Schiffe«, sagte Gorgh. »Der Kardenmogher misst Strukturrisse im Schutz-
Michael Marcus Thurner schirm an, die sich verbreitern.« Das war's. Auch ein Alarmstart half in dieser Situation nicht mehr. Trotz der Überlegenheit unseres Schiffes würden wir gegen die gewaltige feindliche Übermacht nicht ankommen und unter dem Beschuss der lordrichterlichen Hilfsvölker durchbohrt, wie von Tausenden Nadelstichen zerfetzt werden. Da passierte es: »Entstofflichung …« Ich wurde zum Mittelpunkt von Bildern, Gerüchen und Geschmäckern, die nicht einzuordnen waren. Mein Denken versagte, versiegte. Ich drohte an Erdbeerduft zu ersticken, durch Wörter zu erfrieren. Kopf kratzte Arm, Haare wurde zu Vogelzungen, Geschwindigkeit zerfetzte meine Arterien und Venen, ich war nicht mehr, wurde nicht mehr … »Räumlichkeit wieder gegeben«, sagte irgendjemand – oder irgendetwas – mit erschreckender Nüchternheit. Unter Mühe schaffte ich es, eine Assoziation zu bilden: Es war die Stimme des … Kardenmoghers? Was war passiert? Wo war ich? Die Vergessene Plattform, erinnerte mich der Extrasinn, mein unbestechlicher Begleiter. Ihr seid in einen Abgrund des Halbraums geglitten. Was euch und mir, so nebenher gesagt, das Leben gerettet hat. Langsam dämmerte es mir. Ich griff nach Kytharas Hand, die neben mir auf einer Energieliege lag. Ihre Augäpfel waren verdreht, Speichel troff aus den Mundwinkeln, ihr Körper zitterte unkontrolliert. Sie würde ihre Schwäche ebenso überwinden wie Gorgh-12 und ich, das bereitete mir keine großen Sorgen. Aber was war mit unseren Verfolgern? »Statusbericht!«, verlangte ich vom Kardenmogher. »Die Vergessene Positronik hat eine weitere Transition vollzogen«, antwortete das Schiff. »Wir haben uns mittlerweile der PsiQuelle bis auf null Komma sechs Lichtjahre angenähert. Unsere Verfolger wurden teilweise im Sog des Kosmischen Holländers
Angriff der Lordrichter mit in die Entstofflichung gerissen und zerstört, teilweise von ultrahochfrequenten Peaks getroffen und vernichtet. Von den 600 Einheiten, unter deren Beschuss wir lagen, existieren maximal noch 450, die zudem zurückgeblieben sind.« »Wie ist die Situation hier?« Der Kardenmogher fertigte eine neue dreidimensionale Grafik, die nicht besonders ermutigend ausfiel. Ich konnte die in grellem Rot leuchtenden Punkte, die die feindlichen Einheiten markierten, weder zählen noch ihre Menge abschätzen. »Es sind 411 gegnerische Schiffe«, nahm mir die Bordpositronik diese Arbeit ab. »Gibt es Anzeichen dafür, dass die Vergessene Plattform unter dem Beschuss gelitten hat?« »Ihre Funktionen sind nicht stärker gestört, als sie es bereits zuvor waren«, antwortete der Kardenmogher. Kythara erhob sich, schüttelte unwillig meinen Arm ab. Sie zeigte einmal mehr, dass sie in Momenten wie diesen unglaublich schnell zu sich selbst zurückfand, und fragte mich: »Kann es sein, dass es der Beschuss war, der die Plattform in die Entstofflichung getrieben hat?« »Wer weiß das schon«, sagte ich achselzuckend. »Ich will mich gar nicht weiter damit beschäftigen.« Ich deutete auf das Hologramm. Die Schiffe der Lordrichter gruppierten sich um, bildeten die Form einer Hohlkugel, mit dem Kosmischen Holländer im Zentrum. Doch sie schossen nicht. Warteten sie auf weitere Anweisungen? Ich vermutete es … »Wir treiben mit zwei Prozent Lichtgeschwindigkeit auf die Psi-Quelle zu«, sagte die Bordpositronik. »Antriebsgeschwindigkeit zunehmend.« Die Psi-Quelle! Sie war so nahe … Ich betrachtete die Anzeigen. Immer wieder schlugen ultrohochfrequente Peaks durch. Unser außergewöhnliches Raumschiff filterte trotz energetischen Störfeuers der gegnerischen Flotte die wichtigsten In-
25 formationen der Umgebung und bereitete sie für uns auf. »Wir sind nicht nahe genug für einen direkten Beschuss der Quelle«, sagte Kythara enttäuscht. »Und dennoch ist es die Chance, auf die wir gewartet haben. Ist der Hegnudger einsatzbereit?« »Ja«, antwortete Kythara. Auf einen Wink von ihr öffnete sich eine bislang verborgen gebliebene Fläche aus Formenergie in der Rundung der Zentralekugel. Das faustgroße Kristalloktaeder schwebte heran, umkränzt von golden leuchtenden, mikrominiaturisierten Modulen. Auf meinen Wunsch hin hatte Kythara das Objekt mehrmals überprüft und in Zusammenarbeit mit dem Kardenmogher immer wieder nachjustiert. Die Mikromodule erzeugten unter anderem ein Kältefeld nahe dem absoluten Nullpunkt, hielten jeglichen Staub fern und filterten Rotlicht aus. Der Hegnudger musste, wie ich mittlerweile erfahren hatte, im Falle seines Einsatzes unter spezifischen Bedingungen aktiviert werden. Und der Moment des Einsatzes stand unmittelbar bevor … Ich beobachtete das Haupt-Hologramm. Es tat sich weiterhin nichts Bedeutendes. Die gegnerischen Schiffe verhielten sich still, furchterregend still. Kein Funkspruch erreichte uns, niemand eröffnete das Feuer. Hier und jetzt schien alles den Atem angehalten zu haben. »Es ist so klein, fast unscheinbar«, sagte ich zweifelnd. »Kann der Hegnudger tatsächlich Psi-Potenziale im UHFFrequenzbereich in den Hyperraum abstrahlen?«, wunderte ich mich. »Wird er die Wirkung der Gravo-Zyklon-Projektoren hier an Bord so sehr verstärken, dass mit ihrer Hilfe die Psi-Quelle zur Überladung gebracht wird?« »So ist die Theorie, ja.« Kythara stand auf. »Aber wir sind nach wie vor zu weit von unserem Ziel entfernt.« »Lass das nur meine Sorge sein«, sagte
26 ich. »Bring den Hegnudger in Position.« Meine Geheimnistuerei passte der Varganin sichtlich nicht in den Kram. Aber hätte ich ihr meinen an Wahnsinn grenzenden Plan verraten sollen? Sie hätte mir kurzerhand jegliche Befehlsgewalt an Bord des Kardenmoghers entzogen und mich wahrscheinlich ohne Raumanzug aus der nächsten Schleuse gestoßen. Kythara ließ den Hegnudger durch seine golden flitternden Begleiter in die Tiefen des Kardenmoghers transportieren. Wir beobachteten den Vorgang auf einem HoloSchirm. Sahen, wie sich irgendwo unterhalb der Zentrale in der Innenwandung des Raumschiffs eine Strukturlücke bildete und das merkwürdige Objekt darin verschwand. Kurz leuchtete es rot auf, sandte flackernde Energiefunken aus – und war plötzlich Bestandteil der Wand. Keine Fuge, keine Naht war mehr zu sehen. Der Hegnudger war an seinen angestammten Platz zurückgekehrt. Konnte ich die Zufriedenheit des Kardenmoghers gar spüren? War es möglich? Mir war, als würden in mehreren Bereichen der kugelförmigen Zentrale Wolken aus Goldflitter entstehen, die einen irrwitzigen Tanz aufführten, um sich schließlich so unvermittelt aufzulösen, wie sie entstanden waren. »Hegnudger aktiviert«, sagte Kythara, die so tat, als sei nichts Aufregendes geschehen. Vielleicht war es auch so. Vielleicht bedrängten mich bloß wieder jene Gespenster und Bilder, die ich geglaubt hatte, auf Vassantor zurückgelassen zu haben. »Hat sich der Aufwand gelohnt, um dieses … Ding zu erobern?«, fragte ich die Varganin zum wiederholten Male. Sie nickte ohne Anzeichen von Ungeduld oder Unverständnis. Ich war ganz sicher nicht der Erste, der die Fähigkeiten eines varganischen High-Tech-Erzeugnisses in Frage stellte. Ich konnte und wollte mir einfach nicht vorstellen, dass der Hegnudger die ungeheure Vernichtungskraft der bordeigenen Gravo-Zyklon-Projektoren noch einmal um ein Vielfaches verstärken konnte.
Michael Marcus Thurner Die Gravo-Zyklon-Projektoren … Das waren gruselige Waffensysteme, die gravomechanische Feldwirbel in immenser Stärke erzeugten. Optisches Resultat eines Feindbeschusses waren zumeist zyklonartige Verwirbelungen. Materie wurde binnen weniger Augenblicke pulverisiert, die Überreste bei exakter Fokussierung in schlauchähnlichen Fahnen durch einen rot leuchtenden Aufriss in den Hyperraum gejagt. Ich widmete mich der Außenbetrachtung. Nach wie vor war da ein rotes Meer. Mehr als viertausend Einheiten des Feindes, die ohne ersichtlichen Grund abwarteten. Uns konnte diese Verzögerung nur recht sein, gab sie uns doch Gelegenheit, unsere wenigen verbliebenen Varianten durchzudiskutieren. »Der Hegnudger potenziert also die Kernschussweite des Kardenmoghers mit dem Faktor zehn?«, fragte ich zum wiederholten Male. »Korrekt«, antwortete Kythara. »Die Kernschussweite wird von 25 Lichtsekunden auf 4 Lichtminuten gestreckt, wobei die volle Reichweite in Nullzeit erreicht wird. Die Wirkungsstärke erhöht sich um den Faktor 12.« Es war müßig, das Zahlenwerk vordergründig im Kopf zu behalten. Die Tatsache, dass ich mit dem Kardenmogher von der Planetenoberfläche des Mars aus mit einem simplen Befehl die Erde hätte vernichten können, war anschaulich genug. Und sie ließ mich schaudern. Der Kardenmogher war nicht nur ein Raumschiff mit außergewöhnlichen Funktionen, nein! In Situationen wie diesen erschien er mir auf die Funktionen einer geladenen Waffe reduziert, die darauf wartete, abgefeuert zu werden. »Ein Funkspruch!«, meldete die Bordpositronik. »Man fordert uns auf, zu kapitulieren.« »Endlich!« Erleichtert atmete ich auf. »Wer ist unser Gesprächspartner? Ein Lordrichter?« »Nein. Ein Daorghor. Soll ich die Verbindung herstellen?«
Angriff der Lordrichter »Ja.« Kythara bedachte mich mit einem ärgerlichen Blick. Ich hatte ihren Part als Befehlshaber übernommen, aber in dieser Situation durfte sie mir unter keinen Umständen in die Quere kommen. Ein zusätzliches Holobild entstand. Es war nicht sauber, sondern von milchigen Schlieren durchzogen. Selbst die beste Abschirmung nützte angesichts der Nähe zur Psi-Quelle nichts mehr. »Ich bin Erzherzog Achunt«, meldete sich der Insektoide. »Ich fordere dich und deine Besatzung auf, das Varganen-Schiff und die Plattform, an der ihr angedockt seid, unverzüglich an meine Truppen zu übergeben.« Eine tiefe Narbe lief quer über das linke Facettenauge. Mehrere Dutzend mechanischer Linsen wuchsen wulstartig daraus hervor. Prothesen offensichtlich. Ich überkreuzte die Arme vor der Brust. Ein Zeichen, das der Daorghor, so hoffte ich, als Ausdruck meines Selbstbewusstseins deuten würde. »Ich habe kein Bedürfnis, mit minderen Chargen über dieses Thema zu diskutieren«, sagte ich. Ein zwischengeschaltetes Translator-Modul übersetzte nahezu simultan. »Ich verlange, mit Lordrichter Yagul Mahuur zu verhandeln.« Die Reaktion war vorherzusehen gewesen. Der Daorghor, sicherlich um zwei Köpfe größer als unser Begleiter Gorgh, schreckte vor dem Aufzeichnungsfeld zurück, klackerte aufgeregt mit seinen Mandibeln und fand erst nach mehreren Sekunden seine Sprache wieder. Angehörige insektoider Rassen waren nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Aber wenn es einmal geschafft war, hatte man mit ihnen wesentlich leichteres Spiel als zum Beispiel mit Humanoiden. Du verallgemeinerst schon wieder!, wies mich der Extrasinn zurecht. Ich ignorierte diesmal seine Warnungen. »Woher … ich meine … du darfst …«, stotterte Achunt. »Es hat dich nicht zu interessieren, woher
27 ich den Lordrichter kenne«, unterbrach ich den Erzherzog. »Folge meinen Anweisungen!« »Das geht … nicht!«, entfuhr es Achunt. Ich hatte ihn eiskalt übertölpelt, und er verriet mir genau das, was ich hatte wissen wollen. Ein Lordrichter und das waffentechnische Leistungsvermögen eines Seestern-Schiffes waren das Einzige, wovor ich in dieser Situation Angst hatte. Wenn ich die Zeichen richtig deutete, stimmten die Messungen des Kardenmoghers. Zurzeit befand sich keines der unheimlichen Wesen in der Nähe der Psi-Quelle. Ich ließ dem Erzherzog Zeit, zur Ruhe zu kommen, und winkte währenddessen Gorgh näher an mich heran. Aus verständlichen Gründen blieb unser Begleiter im toten Winkel des Aufzeichnungsgerätes. Ich desaktivierte kurzerhand den Ton der Übertragung und wandte mich dem Daorghor zu. »Kennst du diesen … Mann? Ist er der Befehlshaber der PsiQuelle?« Gorgh-12 schnippte mit zwei seiner Greifhände. Ein »Ja«. Ergänzend fügte er hinzu: »Achunt ist einer von zweien. Er ist für die militärische Seite der Forschung im Duumvirat zuständig.« »Gut.« Das reichte mir. Ich schaltete den Ton wieder zu und ignorierte Kythara, die rechts neben mir stand und die Große Strenge deutlich zur Schau stellte. Sie tat das mit gutem Recht. Wenn sie nur wüsste … »Nun?«, fragte ich Achunt mit all jener Arroganz, die mich sonst an den Angehörigen meines Volkes so aufregte. »Du … du wirst mit mir vorlieb nehmen müssen!«, brachte der Erzherzog endlich hervor. »Entweder kapitulierst du und übergibst uns das varganische Schiff, oder …« »Ja?« Achunt ließ ein hässliches Aneinanderreiben seiner Mandibeln hören. Ein Lachen. »… oder wir lassen dich die Macht der Psi-
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Quelle spüren.« Ich machte eine kurze Pause, während der ich ein blasiertes Lächeln auf meine Züge kriechen ließ. Mein Gesprächspartner sollte spüren, wie sehr ich mich ihm überlegen fühlte. Es galt, ihn dazu zu verleiten, genau das zu tun, was ich von ihm wollte. »Du könntest mich nicht einmal dann verletzen, wenn deine verkrüppelten Zangen Monofilamentschneiden hätten und ich wehrlos vor dir stünde! Geschweige denn dass du die Psi-Quelle zu etwas bewegen kannst«, sagte ich langsam, als redete ich mit einem Schwachsinnigen, und unterbrach sofort anschließend die Bildverbindung. Das – so hoffte ich – würde ausreichen, um Achunts Zorn zu erregen.
* »Nein!«, schrie Kythara und schnellte auf mich zu, wollte die Übertragung wiederherstellen. Ich ergriff ihre Handgelenke, hielt sie fest. »Ganz ruhig, Varganin! Ich weiß ganz genau, was ich tue.« Ärgerlich schüttelte sie meinen Griff ab und ließ den Kardenmogher mit ein paar Worten alle Kräfte in die Defensiv-Bewaffnung überleiten. Ein Alarmstart schloss sich angesichts der riesigen Übermacht, die uns umkreiste, aus. Das Gold ihrer Augen glühte beängstigend, als sie sich mir wieder zuwandte. Sie stieß mich kräftig vor die Brust, sodass ich nach hinten taumelte, mich nur mühsam an einem Holopult anhalten konnte. »Ich bin jederzeit bereit zu sterben«, fuhr sie mich an, »aber nicht, um den Irrsinn eines Arkoniden zu befriedigen! Wie kannst du es wagen, derart über meinen Kopf hinweg zu entscheiden! Die gebündelte Macht der Psi-Quelle! Uns werden nur Bruchteile von Sekunden bleiben, nachdem Erzherzog Achunt den Feuerbefehl erteilt hat. Waren wir uns nicht einig, dass wir es darauf anlegen würden, uns von der gegnerischen Flotte zur Quelle schleppen zu lassen, um dort un-
sere Chance zu suchen?« »Diese Chance hat niemals existiert«, sagte ich, unbeeindruckt vom Zornesausbruch der Varganin. »Du hast doch nicht ernsthaft angenommen, dass uns die lordrichterliche Flotte auf Kernschussweite an die Quelle heranlassen würde.« »Und warum hast du uns nicht an deinen wunderbaren Weisheiten teilhaben lassen?« Sie war nach wie vor so wütend, dass sie gegen mich anrannte, mich vor sich herschubste. Ich drehte mich rasch zur Seite. »Hör mir doch mal zu! Du und Gorgh, ihr hättet meinem Plan niemals zugestimmt, und deswegen musste ich eigenmächtig handeln …« »Was für ein famoser Plan im Plan! Du hast auf Vassantor offenbar doch mehr Schaden erlitten, als ich gedacht hatte!« »Die Psi-Quelle zeigt erhöhte AbstrahlTätigkeit«, meldete die Bordpositronik des Kardenmoghers in aller Nüchternheit. »Beschuss steht unmittelbar bevor. Schutzschilder maximiert.« Gorgh-12 unterdessen, der nicht wusste, wie ihm geschah, hielt seinen Körper gekrümmt und betete in aller Ruhe zu den Göttern seiner Vorstellung. »Wahnsinniger!«, fuhr mich Kythara an, wandte sich ab und schloss die Augen. Mit emotionsloser Stimme meldete sich die Positronik des Kardenmoghers: »Die Psi-Quelle emittiert – jetzt!« Wir starben.
5. Atlan Ich schwebte dahin, getragen von einem Gefühl unendlicher Trauer. Doch mein Leid war nur von kurzer Dauer, denn ich wurde überschüttet von Emotionen der Freude, Lust, Gier, Hass und vielem mehr. Es verwirrte mich, zerriss mich, zerfetzte mich. Ich wusste nicht mehr, wohin mit meinen Empfindungen, wem ich sie mitteilen, mit wem ich sie teilen konnte, bekam keine Luft mehr, wollte unbedingt zurück an die Ober-
Angriff der Lordrichter fläche der Normalität. Ich hielt es nicht mehr aus, ich ertrank in grellgrünem Licht und erstickte an moschusduftenden Gänseblümchen. Wo war der Tod? Ich wollte ihn greifen und umarmen, damit er mich aus diesen Wahn-Sinnen befreite, mir Sicherheit gab, tatsächlich jemals eine Existenz besessen zu haben. Doch da war nichts. Nichts außer Leere, die unter meinen Händen zerbröselte und einem neuen, goldglimmernden Universum Platz machte. Gold. Wohin ich auch roch, hörte und schmeckte. Konnte ich es festhalten? Ich versuchte es, streckte meine Sinne aus, verbreiterte mich, wurde zu einem kilometerweiten und -breiten Ungetüm, das nur aus Nervenrezeptoren bestand und nach der Wirklichkeit tastete. Ein einbeiniger Störenfried, hässlich, wütend und cholerisch, mit blassroten Schlangenhaaren hüpfte durch mich hindurch, wollte mir etwas – sagen? Ich verstand ihn nicht, begriff den Sinn der – Wörter? – nicht. Dann: der Schock. Ich berührte etwas, ein Teil von mir hatte Kontakt mit der äußeren Welt, fühlte etwas. Ich konzentrierte mich, schob die Sinnesgespinste beiseite, wurde eins mit diesem einen kleinen Punkt, dieser Schwärze, die das Außen berührte. Ich ließ mich von der Dunkelheit aufsaugen. Verlor all die Möglichkeiten, die ich im überdimensionalen Sterben besessen hatte – und sprang zurück in die Wahrheit.
* Ich lag da, an die Außenwandung des Kardenmoghers gepresst. Alles schmerzte. Besonders die Zunge. Sie klebte an goldenem Metall. Ich schluckte beständig leicht britzelnde, süßlich schmeckende Überschlagsblitze. Ich benötigte unendlich viel Kraft und Willensstärke, um die verbrannte Zunge zurück in die
29 Mundhöhle zu ziehen, die Energiebrücke zu unterbrechen. Alles tat weh. Alles. Das Gold der Wandung, das mich ebenso wie die Verbrennungen an meiner Zunge in die Wirklichkeit zurückgeführt hatte, schimmerte matt in jener biolumineszierenden Notbeleuchtung, die ich von der AMENSOON her kannte. Diese Funktion war mir an Bord des Kardenmoghers bislang verborgen geblieben, doch ich beschäftigte mich nicht weiter damit. Vielmehr mühte ich mich damit ab, auf die Beine zu kommen. Zuerst einen Finger, dann die Hand, schließlich den Arm zu bewegen, um festzustellen, dass ich sie wieder kontrollieren konnte, dass sie zu mir gehörten. Ich stöhnte und war glücklich darüber, meine eigene Stimme zu vernehmen, wenn auch über belegte Hörkanäle. Wie lange dauerte es, bis ich mich aufrichten und von der Außenwandung des Kardenmoghers wegdrücken konnte? Meinem subjektiven Empfinden nach mindestens eine Stunde. Eine weitere brauchte es wohl, bis sich meine Sinne gänzlich an die bekannte – und doch so veränderte – Wirklichkeit angepasst hatten. Wo waren die anderen? »Ky … Kyt … Kythara«, stotterte ich, kaum fähig, die Zungenmuskulatur zu koordinierten Bewegungen zu zwingen. Keine Antwort. Ich kroch nach oben. Dort, wo in meiner Erinnerung die Zentrale des Kardenmoghers gewesen war, tobten sich hyperenergetische Elmsfeuer wie kleine Teufelchen aus. Ich vermied jede Berührung mit den blaugrünen, durchsichtigen Flammen. Da lag die Frau. Auf dem Rücken. Mit gebrochenem Blick und trockenen Augen, die in endlose, innere Weiten sahen. Vorsichtig schloss ich sie. Ich griff an ihren Hals. Meine beinahe gefühllosen Hände ertasteten nach längerer Zeit einen Pulsschlag, unendlich verlang-
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samt und schwach. »Wasser!«, krächzte ich. Es knirschte, als würde ein unsichtbarer Geist mit Fingernägeln über eine Kreidetafel fahren. Und doch reagierte der Kardenmogher und bildete unweit von mir einen formenergetischen Becher. Ich kostete die Flüssigkeit zur Sicherheit, genoss für einen kurzen Moment das Gefühl, Empfindungen an der richtigen Stelle zu verspüren, und benetzte schließlich vorsichtig die Lippen der Varganin. Was auch immer jetzt gerade da draußen passierte – es war mir gleichgültig. Ich wollte es nicht sehen. Das Schicksal Kytharas war mir wichtiger. Langsam träufelte ich ihr die Flüssigkeit in den Mund. Sie hustete und spuckte. Ein Kälteschauder lief über ihre nackten Arme. Sanft tätschelte ich die Wangen der Varganin, redete mit schwerer Zunge auf sie ein. Sie musste aus der Halbwelt entkommen, in der sie gefangen war, benötigte unbedingt Reize aus dem Hier. »Aaah!«, schrie sie, sprang mit einem Satz auf die Beine, fegte mich mit einem überraschenden Hieb zur Seite – und sank gleich darauf wieder zu Boden. Sie hatte mich zwei, drei Meter beiseite geschleudert! Was für Kräfte steckten in diesem so zarten Körper? Mein Steißbein war von der Wucht des Aufpralls an einem Formenergie-Regler geprellt, die rechte Schulter schmerzte ebenso. Doch das war momentan einerlei. Die Augen der Varganin standen wieder offen, die Pupillen waren in endlose Weiten gerichtet. Ich führte einen Finger pendelnd innerhalb ihres Sichtfeldes hin und her, wartete auf eine Reaktion. Da! Ein leichtes Zucken, eine leichte Verengung der Iris. Ich gab ihr erneut Wasser zu trinken, begann wieder zu reden. Und plötzlich, von einem Moment zum nächsten, war sie da. »… tlan!«, krächzte sie. »Du … schloch!«
*
Mit vereinten Kräften gelang es uns, Gorgh ebenfalls ins diesseitige Reich zurückzuholen. Erschöpft hockten, lungerten, lagen wir in der kugelförmigen Zentrale und nahmen die wenigen verlässlichen Daten in uns auf, die der weitgehend angeschlagene Kardenmogher zur Verfügung stellen konnte. »Erzherzog Achunt wollte uns durch hyperdimensionalen Beschuss aus diesem Universum jagen«, fasste ich zusammen. »Was er nicht ahnen konnte, ist, dass die Vergessene Positronik den ungeheuren Energiemengen standhalten, ja, im Gegenteil, einen weiteren Satz auf die Psi-Quelle zumachen würde.« »Er ahnte es genauso wenig wie ich«, sagte Kythara und funkelte mich zornig an. »Niemand konnte es wissen!« »Ich rechnete mir gute Chancen aus«, erwiderte ich gelassen. »Die Psi-Kristall-Mengen aus der Obsidian-Kluft, die die Vergessene Plattform zum Ableger auf Narukku schaffte, waren ein deutlicher Hinweis …« »Damals handelte es sich um eine gleichmäßig aufgenommene Menge hyperdimensionaler Energie, etwa um den Faktor 20 kleiner als dieser eine Schuss, der uns eine nicht ganz so sanfte Überführung ins Kyriliane verschaffen sollte!« Kyriliane … das varganische Pendant zu einem jenseitigen Reich. »Wenn ich daran denke«, fuhr sie fort, »dass der Kosmische Holländer bereits damals bedenkliche Auflösungserscheinungen zeigte – und du gehst das zwanzigfach erhöhte Risiko dennoch ein …« »Beruhige dich, bitte! Die Tatsachen sprechen für sich. Schließlich spürst du deinen Körper, was Beweis genug dafür sein sollte, dass du lebst.« »Und wie ich den spüre! Als wäre mein Innerstes nach außen gekehrt worden.« »Beides ist gleichermaßen entzückend«, versicherte ich und verdrängte die Erinnerungen an die – wie lange? Vier Stunden? – vier Stunden amöbenhafter Existenz in ei-
Angriff der Lordrichter nem nicht fassbaren Zwischenraum. Hätte mich nicht der Schmerz an meiner Zunge und ein Rumpelstilzchen mit blassrotem Schlangenhaar in die Realität zurückgetrieben – wir wären wohl hilflos verendet. Verdurstet, verhungert oder einfach, indem wir das Atmen vergessen hätten. Nach wie vor schwebten wir zwischen den Dimensionen, ohne Chance, auf die Dinge einzuwirken. Oder? Die Vergessene Positronik, auf deren Oberfläche der Kardenmogher nach wie vor ruhte, würde voraussichtlich so lange in diesem Kontinuum bleiben, bis die Energie der Psi-Quelle verbraucht war. Und das konnte eine halbe Ewigkeit dauern. Ein dünner Energieschlauch verband die beiden Objekte, hielt jenes dünnwandige Gleichgewicht zwischen zwei dimensionalen Zuständen aufrecht, in denen sich der Kardenmogher und wir uns derzeit befanden. Um uns war die Wunderwelt eines anderen Kontinuums. Bilder, Stimmen und Eindrücke, so anders, dass sie den Verstand augenblicklich zu verwirren drohten. Ein Start, eine Loslösung vom Kosmischen Holländer verbot sich daher von selbst. Wer würde schon freiwillig den einzigen Bezugsanker zum Einstein-Raum aufgeben, zumal der Kardenmogher nicht ausreichend in der Lage schien, kontrollierte Flugmanöver zu vollführen. Und, vor allem: Wohin hätte er uns fliegen sollen? Auf die Psi-Quelle zu, die sich auf den Bildschirmen als mehrfarbig loderndes Höllenfeuer darbot? »Gut«, sagte die Varganin, mühsam beherrscht, »du hast also Recht behalten und dein kleines Spielchen gewonnen. Die Vergessene Positronik hat uns bis auf eine Entfernung von 20 Millionen Kilometern an die Psi-Quelle herangebracht. Also auf Kernschussweite, wenn der Hegnudger einsatzbereit ist.« »Ist er das?«, fragte ich. »Ja.« »Dann sollten wir uns an die Arbeit machen.«
31 Sie wandte sich den Anzeigen zu und suchte den gedanklichen Kontakt mit dem Kardenmogher. Auch die Positronik des varganischen Raumschiffs war beeinträchtigt und setzte vielerlei Anweisungen nur langsam und schwerfällig um. Trotzdem bewunderte ich die ausgereifte Technik. Unter keinen Umständen hätten die Syntrons an Bord eines Schiffes wie der ATLANTIS den Gewalten des veränderten Kontinuums standhalten können. Neugierde erwachte in mir. Ich riskierte, während Kythara stumm dastand und den Kardenmogher zu lenken versuchte, einen Blick nach draußen. Das Weltall erschien so, wie es nicht sein durfte. Als negatives Bild seiner selbst, aber zusätzlich in sich verzerrt und ständig rotierend, sich in sich selbst verdrehend. Nach wenigen Momenten musste ich wegschauen. Es war mir übel geworden. Wo waren die feindlichen Einheiten? Ihre Präsenz war irgendwie spürbar, doch der Kardenmogher konnte uns keine präzisen Auskünfte geben. Physikalische Grundlagen hatten in dieser Welt der Teilentstofflichung keine Existenzberechtigung mehr. Parameter, die wir stets als selbstverständlich annahmen, hatten ihren Sinn verloren. Konnten wir aus dieser Deckung, aus diesem unmöglichen Zustand heraus, das Feuer auf die Psi-Quelle eröffnen? Ja!, erklärte mein Extrasinn. Und zwar deshalb, weil die Quelle in diesem Zwischenkontinuum, in dem wir uns befinden, manifest ist. Erleichtert atmete ich auf. »Kythara – es tut mir wirklich Leid«, sagte ich schließlich laut. »Du hättest meinem Plan niemals zugestimmt. Ich musste eigenverantwortlich handeln.« »Wähle deine Worte mit mehr Bedacht!«, schnappte sie. »Diese Eigenverantwortlichkeit bezieht sich nur auf dich, aber nicht auf Gorgh und mich.« Du hattest kein Recht, über unsere Köpfe hinweg zu entscheiden, du arkonidischer Egomane!
32
Michael Marcus Thurner
»Es gab nur diese eine Variante«, erwiderte ich. »Keinen anderen Plan. Kein Ja oder Nein. Entweder diese kleine Chance – oder gar keine.« »Du selbst hast uns in diese Situation hineinmanövriert!«, schrie sie mich so laut an, dass diesmal selbst Gorgh-12 aufmerksam den Kopf hob. »Jede einzelne Minute unseres Fluges seit dem Start von Narukku bis hierher, jede einzelne Handlung war von dir geplant. Du hast mich manipuliert, von vorne bis hinten, mich in diese Situation hineingetrieben! Willst du das etwa bestreiten?« »So war es nicht«, antwortete ich leise. Doch. Es war so gewesen. Ich verstärkte den Monoschirm, damit die Varganin meine gedanklichen Schwingungen nicht erfassen konnte. Und damit sie nicht bemerkte, wie sehr ich mich für mein verlogenes Spielchen schämte.
* Wenn man den Aufzeichnungen des Kardenmoghers trauen konnte, hatte Erzherzog Achunt den Angriff vermittels der PsiQuelle bereits nach wenigen Sekunden wieder eingestellt. Eine Stichflamme ultrahochfrequenter Energie hatte über die Vergessene Positronik geleckt, hatte sie in diesen diffusen Halbraum versetzt und war bald darauf nahezu erloschen. Nur noch jener dünne Energieschlauch war geblieben. Die Vergessene Positronik saugte beständig und gierig daran, zog sich an diesem UHF-Bindfaden näher und näher an die Psi-Quelle heran. Warum hatte Achunt den Beschuss gestoppt? Hatte der Vasall der Lordrichter eingesehen, dass er uns mit den so schwer kontrollierbaren Energien der Quelle nichts antun konnte? Nein. Das bezweifelte ich. Das Funkgespräch zwischen ihm und Lordrichter Yagul Mahuur war so eindringlich gewesen, dass der Erzherzog sicherlich jeden Funken einer Möglichkeit ausgenutzt hätte, um Kythara und mich zu vernichten.
Viel wahrscheinlicher schien mir, dass ein unkontrollierbarer Faktor den Beschuss beendet hatte. Hatte es Rückkoppelungen gegeben? Waren die Energieflüsse heftiger geworden, nachdem die Vergessene Plattform näher an die Psi-Quelle herantransitiert war? Antworten auf all diese Fragen würden wir wahrscheinlich erst dann erhalten, wenn wir in den Einstein-Raum zurückkehrten. Und das würden wir, wenn überhaupt, erst dann, wenn die Psi-Quelle erloschen war. »Noch knapp 14 Stunden«, sagte Kythara. Ich nickte. Binnen Tagesfrist würde die Psi-Quelle ihren verfänglichen Inhalt auf Geheiß der Lordrichter emittieren. Wohin auch immer, warum auch immer. Immer wieder gerieten wir als Personen in Gefahr, von den Phantasmagorien der Halbentstofflichung gefangen zu werden und in widernatürliche Daseinszustände zu gleiten. Die Effekte, denen wir nach wie vor ausgesetzt waren, zeigten bedeutsame Schwankungen. Manchmal glaubte ich, mich in der Wirklichkeit wiederzufinden, dann wiederum betrachtete ich mich als winzigen Farbklecks inmitten einer psychedelischen Landschaft, die mich allmählich zum Überschnappen brachte. Schmerz half. Ich rüttelte mich hoch, indem ich mich zwickte, mir selbst Ohrfeigen versetzte oder bewusst möglichst unangenehme Sitzpositionen einnahm. Gorgh-12 reagierte ähnlich. Es tat mir weh zuzusehen, wie er Teile seines chitinumhüllten Körpers abschabte oder abbrach. Und Kythara? Nun – es schien mir, als benötigte sie keinerlei Stütze, um bei Sinnen zu bleiben. Ihre Wut, noch lange nicht verraucht, diente als nur allmählich versiegende Treibstoffquelle für ihren Kampf gegen die Unwirklichkeit. »Ich beginne die Aktivierung der Waffensysteme und den Beschuss der Psi-Quelle in zehn Sekunden«, sagte sie unvermittelt, und zählte den Countdown leidenschaftslos her-
Angriff der Lordrichter unter. »… vier … drei … zwei … eins …« Ein Rumpeln, wie ich es an Bord des Kardenmoghers noch nie gehört oder bemerkt hatte, erschütterte das Varganen-Schiff. Eine Fehlfunktion? »Gravo-Zyklonen drei bis acht aktiviert und scharf«, kommentierte Kythara mit einem Blick auf ein flackerndes Kontroll-Holo. »Eins und zwei reagieren nicht, werden aus dem Verbund genommen. Neukalibrierung erfolgt.« Eine kurze Pause. »Abstrahlung der Gravo-Zyklonen … jetzt!« Erneut ein Ruckeln und Ächzen. Ein Geräusch wie von einem rülpsenden Ertruser. Flackerte das Holo, das ich betrachtete, oder litt ich erneut unter Sehstörungen? Die Sekunden vergingen – und nichts geschah. Weder änderte sich die Intensität des Leuchtfeuers der Psi-Quelle, noch war irgendein Effekt anzumessen. Oder? »Sie reagiert nicht«, sagte Kythara tonlos, »dafür aber wir!« »Drück dich klarer aus!«, forderte ich sie auf. »Je energiereicher unser Beschuss, desto mehr steigert sich das Psi-Potenzial der Quelle. Was für die Vergessene Positronik Anreiz genug ist, noch näher an sie heranzufliegen.« »Angriffsfeuer stoppen!«, wies ich sie an. »So kommen wir nicht weiter.« Sie reagierte sofort. Jetzt war keine Zeit, über Kompetenzen und Befehlsgewalt zu diskutieren. Gleich darauf blickte sie von ihren Anzeigen hoch und murmelte: »Ich habe den Beschuss eingestellt. Die Wirkung ist gleich null. Die Vergessene Plattform wird von ihr wie magisch angezogen.« »Probieren wir einen Notstart«, empfahl ich ihr. Ich schwitzte, während sich mein Körper gleichsam in Schneeflocken auflöste, zu gallertartiger Masse wurde, an einer perlenbesetzten Angelschnur nach oben unten schwebte, ins Nichts hinein …
33 Komm zu dir!, befahl mir der rothaarige Kobold, der mich bereits einmal vor dem Absturz ins Delirium bewahrt hatte. Er zeigte mir die Zunge, riss sein ungeheuer breites Maul auf – und machte die Sicht frei auf das Dahinter. Die Wirklichkeit. »… Zentralrechner der Vergessenen Positronik hat einen Fesselschirm aktiviert.« Kythara wischte mit einer Hand fahrig vor ihren Augen hin und her, als könne sie damit irgendwelche Geisterbilder vertreiben. »Der Kardenmogher kann sich nicht lösen. Wir sind untrennbar mit dem Kosmischen Holländer verbunden. Und wir treiben weiter auf die Psi-Quelle zu …«
* Die Situation wurde immer schlimmer. Immer weniger konnte ich mich in der Realität zurechtfinden, trieb tiefer und tiefer in die Bilder meines Unterbewusstseins. Kein Weckamin, kein Medikament und nicht einmal die stetige Zufuhr von Reizimpulsen durch den Zellaktivator konnte verhindern, dass wir drei allmählich verloren gingen. Gorgh delirierte und redete in einer Art Babysprache wirres Zeug. Ich selbst tauchte immer wieder in jene anderen Welten ein, ohne die Übergänge auch nur zu registrieren. Noch schaffte ich es, ein ums andere Mal zurückzukehren. Noch … Kythara hielt sich am besten. Ihr Teint war heller geworden, ganze Bäche von Schweiß rannen über ihr Gesicht, und ihr Atem ging meist stoßweise – aber sie behielt die Kontrolle über ihre Existenz. Wie lange noch? Wir hatten uns der Psi-Quelle bis auf hunderttausend Kilometer angenähert. Die verhängnisvolle Wechselwirkung zwischen ihr und der Vergessenen Positronik, an der wir angekettet waren, verstärkte sich von Minute zu Minute. »Ich sehe … den Kern … der Quelle«, flüsterte Kythara. Sie schüttelte den Kopf, beutelte Schweißtropfen von sich. Einer traf
34 mich. Er schmeckte nach Salz und nach Dunkelheit und nach unbändiger Lust … »Was siehst du?«, fragte ich sie, müde geworden. Und plötzlich blind. Warum sollten wir uns wehren? Wäre es nicht ein gutes Ende gewesen, an Bord der Vergessenen Positronik in die Psi-Quelle hineinzuschweben, mit all ihrem Potenzial die angestauten UHF-Energien zur Entladung zu bringen und somit unser Ziel zu erreichen? Warum anstrengen, wenn wir unser Ziel ohnehin erreichen konnten? Unser nebensächlicher Tod – nun, er würde unter »geringfügige Kollateralschäden« in die Geschichtsbücher des Kosmos eingehen. Ich kicherte. »Komm zu dir!«, fuhr mich die Varganin an. Eine Ohrfeige wie ein Donnerschlag traf mich. »Sieh hin!« Kythara wies auf die HoloAufnahme. Die Dunkelheit verschwand, und für einen Moment sah ich so klar wie schon seit Stunden nicht mehr. Wie lange befanden wir uns nun schon im Einflussbereich der UHFStrahlung? Ein Countdown, der irgendwann sicherlich eine Bedeutung gehabt hatte, zeigte acht Stunden und zwölf Minuten. Ich konzentrierte mich auf die Darstellung der Psi-Quelle. Wir waren tatsächlich in die innerste Zone ihres Strahlungsbereiches vorgedrungen und trieben, wie magnetisch angezogen, auf die zentrale Station zu. Denn nichts anderes befand sich vor uns: eine Arsenalstation, wie ich sie erstmals im Orbit von Maran'Thor gesehen hatte! Umgeben war die mehr als fünfzehn Kilometer durchmessende Kugel von einer Art KirlianAura, deren Intensität schier unglaublich war. Meine Augäpfel schmerzten wie von einem Sonnenbrand, und alles in mir drängte danach, möglichst rasch vor diesem Eindruck wegzulaufen. »Nein!«, hörte ich mich wimmern, »bitte nicht!« Kythara desaktivierte das Holo und gab
Michael Marcus Thurner mir zu trinken. Woher nahm die Frau bloß die Kraft? Was nährte sie, dass sie diese Eindrücke ertragen konnte? War es etwa ihre Affinität zu Psi-Gewalten? Schließlich besaß sie selbst einiges Talent auf dem Gebiet der Quasitelepathie. »Hör mir jetzt gut zu«, flüsterte sie mir ins Ohr, während mein Geist wie schmelzender Käse zerrann. »Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, uns hier rauszupauken. Ich spüre etwas, und ich möchte dem nachgehen. Aber dazu muss ich euch für eine Zeit lang verlassen.« »Tu's nicht!«, bettelte ich sie an. »Lass dich nicht von den Irrgeistern täuschen. Wir sollten zusammenbleiben …« »Um einen sicheren Tod im Wahnsinn zu sterben?« Sie kicherte wie verrückt, während sich meine Sicht erneut verdunkelte und gleich darauf von Blitzen aus Zuckerwatte erhellt wurde. »Vertraue mir!«, fuhr sie fort. »Ich weiß genau, was ich tue.« »Es sind … Fantasien, denen du aufsitzt«, versuchte ich es erneut. Ich bohrte die Fingernägel in das Fleisch meiner Handflächen und fand dabei für Augenblicke Erleichterung im Schmerz. »Vertraue mir!«, wiederholte sie. »Und kämpfe weiter gegen die Einflüsse an.« Ich spürte, wie ihre Hand über meine Stirn streichelte, wie sie meine Wange küsste. Dann ging sie weg, bloß ein paar Meter. Ich hörte, wie sie sich in einen Stuhl fallen ließ – und ruhig wurde. Es fehlte mir die Zeit, mich um die Varganin zu kümmern. Denn aus ihrem Kuss waren Spinnen geschlüpft, gelbgrün und Eiter absondernd, die durch meine Nasenlöcher zum Gehirn vordrangen. Ich schrie.
6. Kythara Kyrlan. Vassantor. Kalarthras. Oder, in gleich darauf gebildeten Assoziationen: Unbehagen. Furcht. Liebe.
Angriff der Lordrichter Worte, Begriffe, Eindrücke wirbelten durcheinander, erzeugten endlos lange Denkketten, ließen Kythara nicht und nicht zur Ruhe kommen. Überlagerten in mehreren Schichten wie hauchdünne Spinnweben ihre Person. In Schutzschichten. Diese mehrdimensionale Zwischenwelt, in der Atlan, Gorgh und sie festhingen, benötigte einen gedanklichen Anker in der Wirklichkeit, den sie in genau diesen drei Begriffen gefunden hatte. Kyrlan. Das varganische Projekt, dessen Folgen sie in Form der Psi-Quelle sehen konnte, erzeugte Unbehagen. Vassantor. Jener Planet, auf dem sie den Hegnudger gefunden und auf dem sie Furcht kennen gelernt hatte. Furcht vor der Begegnung mit … Kalarthras. Der Mann, den sie vor mehr als fünfzigtausend Jahre das letzte Mal gesehen und dem sie einst ihre Liebe geschenkt hatte. Immer wieder schwirrten diese Wörter durch ihren Kopf, erzeugten Resonanzen und Rückkoppelungen, hielten sie im Jetzt fest. Zudem entstand etwas in Kytharas Umfeld. Nur langsam wuchs es und wurde stärker. So, wie die Psi-Quelle eine energetische Nabelschnur zur Vergessenen Plattform und damit zum Kardenmogher erschaffen hatte, spürte sie eine Verbindung in ihrem Geist entstehen. Dies war keineswegs wie die Verpflanzung ihrer Gedanken in den Kopf eines anderen Menschen; jener Vorgang, den sie, ohne viel nachzudenken, beherrschte und seit jeher ein Teil ihres Daseins gewesen war. So selbstverständlich wie Atmen und Essen. Nein. Kythara meinte, eine Bewusstseinsverbindung zu einem anderen Varganen herstellen zu können! Immer wieder manifestierte sich diese Idee, unterbrochen von kurzen Blackouts. Sinnverwirrenden Schimären, erzeugt und
35 geboren aus dem ultrahochfrequenten Reservoir der Quelle. Der Gedanke an einen Bewusstseinstransfer kam und ging, kam und ging. Wurde heftiger, stärker, drängender. Die Varganin hob Atlans Kopf leicht an und gab ihm Wasser zu trinken. Sie erläuterte ihm mit wenigen Worten, was sie vorhatte, war sich aber nicht sicher, ob er sie verstand. Die roten Augen ihres Begleiters glänzten ausdruckslos und fiebrig. Sein Geistesleben war durcheinander und zudem von einem bröckeligen Monoschirm umgeben. »Vertraue mir«, sagte sie und gab dem Arkoniden ein paar eindringliche Ratschläge. Und einen sanften Kuss auf die Stirn. Warum? Wieso? Sie konnte es nicht sagen. Nach wie vor war sie wütend darüber, dass dieser … Knabe … es gewagt hatte, ihrem Urteilsvermögen zu misstrauen. Immer wieder hatte sie versucht, den Mann zu verstehen, seine oftmals recht verworrenen Argumente nachzuvollziehen. Möglicherweise lag der Grund für die kleinen Missverständnisse, die sich im Laufe der letzten Wochen angehäuft hatten, im Zwischenmenschlichen. Vielleicht entwickelte der Arkonide Gefühle für sie. Vielleicht empfand gar sie etwas für ihn? Kythara wusste es nicht. Ihr gut geölter Verstand hatte sie gelehrt, in Liebesdingen der Zeit zu vertrauen. So, wie sie es im Falle von Kalarthras gehalten hatte. Die Varganin straffte ihren Körper und sortierte ihren Geist, der erneut von Attacken der Psi-Quelle geprüft wurde – und sie andererseits mit nie gekannter, unendlich befriedigender Energie überschüttete. Sie ließ sich schwer in einen Stuhl fallen, schloss die Augen und konzentrierte sich. Wo war der Körper gewesen, den sie gespürt hatte? War er überhaupt das, was sie vermutete? Eine – Hülle? Ein Gefäß, in das sie ihr Bewusstsein – übertragen konnte? War der Gedanke denn so absurd? Kythara wusste um die Pedotransfer-Fähigkeiten der Cappins. Sie kannte die Schwingungen
36 jener Vertreter ihres eigenen Volkes, die in der Eisigen Sphäre die Gabe der Bewusstseinsprojektion entwickelt hatten. Konnte es auch ihr gelingen? Das Psi-Potenzial, das die Quelle zur Verfügung stellte, so spürte sie, erzeugte nicht nur Störfaktoren. Erneut fokussierte sie auf das mögliche Übertragungsziel. Es war die Hülle eines toten Varganen, so viel stand fest. Eine Karte entstand in ihrem Kopf, die nicht auf Raum und Zeit angewiesen war, sondern von lumineszierenden Geistesessenzen bestimmt wurde. Diese Ballungen hier mochten Insektoide sein, weit voraus in ihren Raumschiffen schwebend, schwach und nur dank ihrer Masse als senkrecht verlaufende Energiestriche erkennbar. Dort fühlte sie eine größere Ansammlung Humanoider. Zaqoor, wie sie vermutete. Ihre Energiepegelstreifen verliefen zackig, waren aber weitaus länger als jene der Insektoiden. Ganz in ihrer Nähe ruhte ein breiter Balken, ausgefranst und um seine Achse schwankend. Atlan. Doch ihr wichtigster Bezugspunkt leuchtete wie ein Fanal, wie ein masseverschlingender Schlund, der auf nichts anderes zu wirken schien als auf ihr Bewusstsein. Das kalte Feuer der Psi-Quelle waberte darüber hinweg, ließ das Glühen des varganischen Körpergefäßes stärker zutage treten. Das, was sie lockte, befand sich in unmittelbarer Nähe der stärksten PsiKonzentration. Wenn sie in ihrem angespannten und zerrütteten Zustand noch einen Schluss zu ziehen vermochte, dann befand sich der tote Vargane in der Arsenalstation. Und damit ergaben sich ungeheure Möglichkeiten, die sie einfach nutzen musste. Ihres Seelenheils wegen, aber auch, um das Werk der Lordrichter zu vernichten. Sie wollte dorthin gelangen – aber wie? Etwas ließ Kythara kurz vor und zog sie dann wieder zurück, gängelte sie wie an einem Gummiband. Nein, es war kein Haken,
Michael Marcus Thurner an dem sie festgehalten wurde, und auch kein Befehl, der sie bannte – es war schlicht und einfach ein Begriff. Ein Wort. Angst. Mach dich frei, sagte sie sich. Vergiss alles, an dem du bislang gehangen hast. Erfinde einen neuen Glauben … Es fiel so schwer, es kostete unendlich viel Kraft. Archetypische Instinkte mussten überwunden werden. Ihre bisherige Funktion in der realen Welt musste neu formuliert werden. Was hatte Kalarthras einmal gesagt, am Höhepunkt ihrer ersten, unvergesslichen Liebesnacht inmitten irisierenden Sternenstaubs auf einem Planetoiden mit geringer Schwerkraft? »Glaube«, so hatte er gekeucht, »versetzt nicht nur Berge – er zerstört sie auch gleich. Und er birgt immer den Untergang seiner selbst in sich.« Mit jedem Stoß, mit dem er in sie eingedrungen war, waren sie höher gestiegen, hinein in den Weltenraum, unterstützt von kleinen Antriebsdüsen, bis Kälte und Luftlosigkeit nicht mehr auszuhalten gewesen waren, und dennoch waren sie weiter hinausgetrieben, gestärkt allein durch ihre Leidenschaft, durch das Vertrauen auf ihre Liebe. Hinein in den Beinahe-Tod, der von sensationeller Gier und Sehnsucht nach Leben begleitet gewesen war. Als sie schließlich ihren »kleinen Tod« erlitten hatte, in unendlicher Schwärze, den Planetoiden weit unter sich, war der Glaube erloschen, und in größter Not waren sie in die Sicherheit zurückgekehrt. Mit Erfrierungen und Schmerzen im Atembereich. Kalarthras war stets ein Grenzgänger geblieben. Deswegen hatte sie ihn geliebt und ihn gehasst. Doch seine Worte über den Glauben und seine Verfänglichkeit waren in ihrem Gedächtnis haften geblieben und kamen nun, zum richtigen Zeitpunkt, zum Vorschein. Kythara machte sich frei. Löste sich von der Vorstellung, keinen Bewusstseinstransfer durchführen zu können – und änderte ihr Glaubensbild.
Angriff der Lordrichter Sie wurde neu geboren.
* Geringer und doch spürbarer Widerstand war da, als Kythara im fremden Körper erwachte. Offensichtlich eine Art Restbewusstsein. Spuren von Erinnerungen an Erlebtes, das der varganische Gastkörper substanziell verinnerlicht hatte. Mit einem gedanklichen Befehl wischte sie diese Spuren beiseite, so, wie man Spinnweben zerfetzte. Sie öffnete die Augen. (Vernon erwachte, doch es war kein angenehmes Erwachen.) Es reckte sie, doch der Magen war leer. Keine Kraft war in diesem Körper. Kein Animo, keine Lust am Leben. Kein Bedürfnis, auch nur die geringsten Körperfunktionen wahrzunehmen. (Was Vernon verspürte, waren Schmerz und Hilflosigkeit. Und ein überwältigendes Gefühl des Grauens.) Die Varganin zwang sich, ihren neuen Körper, den Mund zu öffnen und die Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Ein Rascheln wie von welkem Papier erklang in ihr. Nervenrezeptoren, vollkommen falsch gesteuert, sandten irrwitzige Signale an ihr Gastgehirn und versetzten den Leib in wilde Zuckungen und Raserei. Nur allmählich ließ das Toben nach, begleitet von urtümlichen Geräuschen aus ihrem Mund. Sie spuckte Speichel, der anders schmeckte als der ihre, spürte Zähne, die anders standen als die ihren, fühlte eine Zunge, viel größer und rauer, die gegen ihren Gaumen drückte. War dies tatsächlich der Körper eines Varganen? Allmählich, millimeterweise, hob sie den Leib, blickte sich um. Ein Objekt, groß und krumm, störte ihr Gesichtsfeld. Ihre neue Nase. Unwillkürlich griff sie ins Gesicht. Verfehlte, traf die kratzige Wange. Denn sie nutzte ihre linke Hand. Das Gehirn, in das sie eingedrungen war, war das eines Linkshänders. Die Synchronisation wird eine Zeit lang dauern, konstatierte Kythara nüchtern. Sie
37 würde auch einige ungewöhnliche Probleme mit sich bringen. Die Varganin befand sich schließlich im Körper eines Mannes.
* Kythara stieg langsam aus dem Konservierungsbehälter, einem riesigen, dosenförmigen Gefäß. (Vernon glaubte, den letzten Rest seines Verstandes zu verlieren, als ihm klar wurde, dass er keinen Einfluss auf seine tote Hülle nehmen konnte. Der Fremde steuerte seine Bewegungen. Nur der Andere besaß die vollständige Gewalt über das Gehirn, die Nerven und Muskeln und war in der Lage, den Körper zu benutzen. Doch er schien nichts davon zu bemerken, dass ein winziges Residualbewusstsein des ursprünglichen Besitzers dieses Körpers zurückgeblieben war.) Das Licht wurde allmählich intensiver. Langsam stellten sich auch die Augen auf ihren Geist ein und übertrugen Bilder, die nicht doppelt oder falschfarben waren, an ihr Bewusstsein. Um sie waren angenehm kalte und kühle Flächen, wie sie es von varganischer Bauweise gewohnt war. Erst jetzt nahm sie einen Alarmton wahr. Ein an und abschwellendes Geräusch, knapp an der Grenze der Hörbarkeit. Dies war der Beweis! Sie musste sich tatsächlich in der Arsenalstation befinden. Das Signal galt wohl der näher kommenden Vergessenen Plattform. Wahrscheinlich irrten die Hilfskräfte der Lordrichter verzweifelt durch die riesige Station und versuchten mit allen Mitteln, der psi-energetischen Katastrophe Einhalt zu gebieten. Kythara konnte davon ausgehen, dass Erzherzog Achunt keinesfalls das ganze Gebäude unter Kontrolle hatte. So war es auf Maran'Thor und der Sternenstadt VARXODON gewesen. Varganische Relikte waren nicht einfach zu knacken, und sie gaben noch weniger gern ihre vielfältigen Geheimnisse preis.
38 Nichtsdestotrotz hatte sie hier einen Auftrag zu erfüllen. Sie musste unter allen Umständen verhindern, dass die Psi-Energie über die Quelle an ihr unbekanntes Ziel abgestrahlt wurde. Wenn sie doch nur einen Anhaltspunkt für die Zeit gehabt hätte, die ihr zur Verfügung stand … Mit ihren großen, nackten Füßen platschte sie unbeholfen auf den Boden. Es war Kythara unmöglich, ihren gewohnten Gang mit diesen riesigen und schweren Beinen nachzuvollziehen. Sie drehte sich im Kreis, ging langsam in die Knie, vollzog Gymnastikübungen, an die sie sich seit Jahrtausenden gewöhnt hatte. Manche gelangen überhaupt nicht, andere funktionierten aufgrund der längeren und kräftigeren Hebel weitaus besser, als die Varganin es gewohnt war. Wertvolle Momente verstrichen. Doch die Kontrolle, die sie jetzt über ihren Körper erlangte, würde ihr später möglicherweise entscheidend weiterhelfen. Die Abschirmung gegen die ultrahochfrequente Bestrahlung war in diesem Raum besser als an Bord des Kardenmoghers, dennoch war der Einfluss der Psi-Quelle atemberaubend stark und, vor allem, näher. Ein Triumph- und Glücksgefühl über den gelungenen Vollzug des Bewusstseinstransfers durchströmte sie augenblicklich und mit urtümlicher Gewalt; viel impulsiver und auch viel rascher abklingend als in ihrem eigenen Körper. Sie ärgerte sich darüber und bemerkte sogleich, dass sich die Muskeln des Mannes abrupt verhärteten. Eine physische Synchronisation zwischen Bewusstsein und Körper war anscheinend leichter herzustellen als eine zwischen weiblichem Denken und männlicher Substanz. Kythara orientierte sich weiter und tapste schließlich auf den Ausgang des Erwachungsraumes zu. Wahrscheinlich war die Bauweise der Arsenalstation so wie die räumliche Anordnung streng logisch. Ohne langes Nachdenken durchschritt sie eine Energieschleuse, wandte sich nach links, den leicht gekrümmten Gang entlang – und
Michael Marcus Thurner wurde abrupt von der vollen Wirkung des Psi-Potenzials erfasst.
* Der Druck auf Kythara war schier unerträglich, drohte ihr den Kopf zu sprengen. Novae explodierten vor ihren Augen, schmolzen sogleich zu millimetergroßen Punkten zusammen, um im selben Moment von einem bizarr geformten Riesenfisch verschluckt zu werden, der seinerseits in eine Materiequelle stürzte. Heiße Wellen, so groß wie Sternenreiche, gischteten aus dieser Ursuppe hoch, wurden zu zähbreiigen Flutbächen, die sich gierig über mehrere Multiversen ergossen und sie wie einen Schokoladepudding überbuken. »Nein!«, rief Kythara mit tiefer Bassstimme. Wände, bunt gesprenkelte Energievorhänge, glitten näher, schlossen sie ein, zerdrückten ihren Leib, sosehr sie sich auch wehrte, teilten sie in zwanzig, vierzig, sechzig Teile ihrer selbst, die sich verflüssigten und in einem Zeitbrunnen erneut miteinander verschmolzen, um schließlich … »Nein!«, rief Kythara mit tiefer Bassstimme. Die Wände, bunt gesprenkelte Energievorhänge, glitten … Halt! Sie dachte und träumte in einer Endlosschleife! Geformt aus Zeit, Raum, ungreifbaren Energieverläufen, wirren Denkprozessen und aufgefangen mit einem varganischem Zwitter-Gehirn, das für diese Bilder und Welten einfach nicht geeignet war. Kythara schloss die Augen, brüllte ihren Zorn in das grausame Nichts hinaus. Wie sollte sie jemals wieder in die Wirklichkeit zurückfinden, wenn sie nichts sah, was der Realität entsprach, ihren männlichen Körper nur rudimentär spürte und zudem keine Ahnung hatte, wohin sie überhaupt gehen konnte? Angst erfasste Kythara, und sofort war sie sich der Präsenz ihres männlichen Leibes
Angriff der Lordrichter wieder bewusst. Chemische Reize produzierten Adrenalin, gerieten in Rückkoppelung mit dem Gehirn, schärften ihr Wahrnehmungsvermögen. Für Momente sah sie klar. Sie lag auf dem Boden eines Gangs, zitternd, den Blick nach oben gewandt. Auch wenn sie ihren Gastkörper mit Sicherheit einem endgültigen Tod aussetzen würde – sie wollte nur weg, zurück in den Kardenmogher, um dort wieder zu Kräften zu kommen. Doch das war illusorisch und würde auch keine Besserung ihrer Situation bewirken. Die Vergessene Plattform trieb immer weiter in Richtung der Psi-Quelle und würde sie wohl in den nächsten Stunden erreichen. Die Folge eines Zusammenpralls oder, noch schlimmer, einer Verschmelzung konnte und wollte sie sich nicht ausmalen. Kythara musste aufstehen und weiterlaufen, darauf hoffend, dass die ultrahochfrequenten Psi-Energien in anderen Teilen der Arsenalstation nachlassen würden. Mit aller verbliebenen Kraft befahl sie dem Körper aufzustehen. Nichts. Sie konnte diesen … diesen hinfälligen Männerleib nicht einmal dazu bewegen, einen Finger zu rühren. Also würde sie hier, von wahnhaften Fantasien geplagt, in Folge des Aufpralls der Vergessenen Positronik sterben.
7. Atlan Ein heiseres Krächzen war nach mehreren Unendlichkeiten des Schreiens übrig geblieben. Für mehr fehlten mir Luft und Kraft. Etwas musste sich geändert haben. Ein neuer Einfluss breitete sich aus, legte sich wie eine dünne Schicht mentalen Biomolplasts über meinen Geist. Ich blinzelte. Es schmerzte, als würde mir jemand mit dem Reibeisen über die Augen fahren. »Emion!«, stöhnte ich. Das Saqsurmaa war erschienen, wahr-
39 scheinlich materialisiert. Sein langer Leib war in unmittelbarer Nähe von mir um Kythara gewunden, die in einem Stuhl ruhte. Der Schlauchkörper hob und senkte sich regelmäßig. Das uralte Wesen schlief offensichtlich. Und dennoch … von ihm ging jene Wirkung aus, die mich ein wenig schützte und einen Rest von Wachheit gewährleistete. Doch der Grund für Emions Erscheinen war wohl Kythara. Die Frau, die neben mir saß, war nur noch eine körperliche Hülle. Ihre Wangen waren eingefallen, der Teint dunkler als gewohnt. Alles Leben schien entwichen, und hätte ich nicht die kräftigen Atemzüge gesehen, hätte ich sie für tot gehalten. Was hatte die Varganin gesagt? Ich muss euch für eine Zeit lang verlassen! Ich hatte den Sinn in meinem verwirrten Zustand nicht verstanden. Ich hatte geglaubt, sie würde ein letztes Mal versuchen, in die Vergessene Plattform einzudringen, um an den Zentralrechner der ehemals lemurischen Station heranzukommen. Doch was sie wirklich gemeint hatte, war ein Bewusstseinstransfer gewesen. Kythara hatte erstmals etwas geschafft, was zum Beispiel Magantilliken, der Henker des varganischen Volkes, bis zur Perfektion beherrscht hatte. Langsam und wackelig kam ich näher. Jeder Schritt schmerzte. Tausend kleine Teufelchen bohrten ihre Dreizacke durch meine Schädelplatte, wollten mich erneut in jenen dämmrigen Zustand der Verlorenheit jagen. Ich war heran, wollte Kytharas Stirn berühren. Das Saqsurmaa zuckte kurz, breitete sich sowohl körperlich als auch psychisch aus. Meine Hand wurde zurückgeschleudert, wie von einem elektrischen Schlag getroffen. Eine deutliche Warnung. Emion verstand sich als der Wächter der Frau. Ich fühlte mich zu schwach, um weiter über die Situation nachzudenken. Der wieder aktivierte Holo-Bildschirm zeigte mir,
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dass sich die Vergessene Plattform bis auf wenige tausend Kilometer an die Psi-Quelle angenähert hatte. Abgesehen von den lebenserhaltenden Funktionen und ein paar Anzeigemodulen war der Kardenmogher tot. Selbst das glänzende Gold der Innenwandung war zu matt poliertem, fleckigem Blech geworden. Wo war Gorgh-12? Er hing über seinem speziell gefertigten Sessel, alle sechs Glieder steif von sich gestreckt. Langsam schleppte ich mich zu ihm. Schritt für Schritt, den ich mich vom Saqsurmaa entfernte, wurden die bewusstseinsschädigenden Energien, die die Psi-Quelle emittierte, kräftiger. Es gelang mir unter Aufwendung der letzten Kraftreserven, den Daorghor an mich heranzuziehen und schließlich nahe dem Saqsurmaa auf den Boden zu legen. Vielleicht lebte er, vielleicht auch nicht. Ich hatte das Arkonidenmögliche in dieser Situation getan. Todmüde warf ich mich neben den Insektoiden und schnappte gierig nach Luft. Der Schweiß lief mir in Strömen den Nacken hinab. Der Countdown neben dem HoloBildschirm zeigte 85 Minuten. So viel Zeit blieb Kythara, wo auch immer sich ihr Geist befand, um die Psi-Quelle zu zerstören. Die Vergessene Plattform würde wenige Minuten später gegen die Arsenalstation prallen und sie in den Untergang reißen. Auch wenn mir das alles momentan herzlich egal war.
8. Zwischenspiel: Erzherzog Achunt »Herr, dies ist wirklich eine Notsituation! Ich … ich kann den Zeitplan unmöglich einhalten.« »Du hast also versagt, Achunt? Damit hast du dein Todesurteil unterschrieben.« »Es gibt neue Faktoren, auf die ich keinen Einfluss habe. Diese verfluchte Plattform – sie ist erneut aufgetaucht und beeinflusst die
Psi-Quelle.« »Was soll das heißen?« Achunt schwieg. Er konnte das Ergebnis der unglaublichen Vorgänge der letzten Zeit einfach nicht in Worte fassen. Er übermittelte stattdessen einen Datenstrom mit den wichtigsten Informationen an den Lordrichter. Die Übertragung dauerte sehr lange. Yagul Mahuur meldete sich noch einmal. Kurz angebunden sagte er: »Du langweilst mich mit Lappalien. Wahrscheinlich wurde die Annäherung des Kosmischen Holländers vom Arkoniden initiiert. Ich habe dir befohlen, ihn auszuschalten. Vernichte die Plattform um jeden Preis. Egal, wie viele Schiffe unserer Flotte vernichtet werden. Mann und Material sind ersetzbar; die Psi-Masse kaum. Ich erwarte nach wie vor die Übertragung zum befohlenen Zeitpunkt. Du erhältst deinen Todesimpuls eine Settens danach. Solltest du scheitern, wird zudem dein gesamter Volksstamm sterben. Ende.«
9. Kythara Sie hatte eine Vision, die von Tod und Auferstehung handelte. Die Bilder, bunt und aggressiv, erzeugten Gedankenketten, die sie an ihre ersten Momente im Inneren des neuen Körpers erinnerten. War da nicht Widerstand gewesen? Der Rest eines alten Bewusstseins? Möglicherweise sogar Restessenz des ersten Benutzers dieses Leibes? Des seit langem toten Varganen. Würde ein Toter von den Ausstrahlungen der Psi-Quelle betroffen sein? Soweit es ihr möglich war, verweigerte sich Kythara den falschen Sinneswahrnehmungen und konzentrierte sich auf ihr Inneres. War noch etwas da von diesem Scheinleben? Von dieser Erinnerung an eine körperliche Existenz? Die Varganin stocherte umher, sandte Lockrufe aus und stöberte in räumlich nicht
Angriff der Lordrichter greifbaren Geistesschubladen umher, bis … Ich bin tot, flüsterte eine tonlose Stimme. Ja, das bist du. Aber dies war einmal dein Körper …. dachte Kythara. Sie bemühte sich darum, den Kontakt möglichst unaufgeregt zu erhalten. Ich war Vernon. Jetzt bin ich tot. Du erfüllst meinen Körper. Ich mag das nicht, ich mag dich nicht. Dieses Schein-Wesen zeigte nicht viel geistige Beweglichkeit. Wie auch? Vielleicht konnte sie diese … diese Naivität ausnutzen? Ich kann dir den wahren Tod schenken, wenn du das willst, raunte sie ihm zu. Das würdest du? Ein wenig Neugierde und auch das Lechzen nach dem Ende seiner Schein-Existenz waren zu spüren. Ja! Sie frohlockte. Führ mich fort von hier. In die Zentrale des positronischen Hauptrechners. Tu es, und ich erfülle dir deinen sehnlichsten Wunsch. Kurzes Zögern. Dann: Ich mache es. Ihrer beider Körper erhob sich, nunmehr gesteuert vom Restbewusstsein Vernons. Kythara spürte es, erfasste die eckigen Bewegungen, sah aber nichts. Zu sehr war sie mit den geistigen Manifestationen der PsiQuelle beschäftigt. Vernon stapfte durch die Trugbilder einer semitransparenten Umwelt. Unbeirrt. Nichts und niemand konnte ihm etwas antun. Denn er war bereits tot.
* Äonen vergingen, bis Kythara den Druck nachlassen spürte. Nur ganz allmählich kehrte das Gefühl für ihren Gastkörper zurück. Sie sah wieder. Sie war umlodert von Flammenschein, von nahezu manifest gewordener PsiMaterie – oder doch zumindest von PsiEnergie. Die Funkenbilder knisterten leise, streckten die langen Arme verlangend nach
41 ihr aus. Doch Vernon, der Tote, scherte sich nicht darum. Er marschierte geradewegs durch das Flammenmeer, ohne Feuer zu fangen. Das Ende eines breiten Ganges war erreicht. Eine Schleuse, gerade mal breit genug für zwei Varganen, empfing sie. Vernon marschierte hindurch, betätigte Schließ- und Öffnungsmechanismus der beiden Zwischentore, ging in den oval geformten Raum hinein – und Kythara war nahezu übergangslos vom größten Druck befreit. War dies bereits die sichere Zone der Arsenalstation? Ja, erwiderte Vernon auf die gedachte Frage. Ein Plan erschien in ihrem Kopf. Präzise gezeichnet, mit genauen Anweisungen, wie sie das Herz der Station erreichen würde. Danke, dachte Kythara intensiv – und riss die Kontrolle über Vernons Körper ruckartig wieder an sich. Erneut verschob sie das Restbewusstsein in jenen Niedrigschwellenbereich, in dem sie es entdeckt hatte. Mit einem weiteren Impuls löschte sie die Erinnerung des Toten an ihre Zusammenarbeit. Sie tat dies ohne schlechtes Gewissen. Um an die Schaltzentrale der Arsenalstation heranzukommen, würde sie lügen, morden und stehlen. Moral hatte in diesem verzweifelten Kampf gegen die Lordrichter nichts verloren. Sie hatte gelogen. Die Varganin musste unter allen Umständen vermeiden, dass sich der Tote an das erinnerte, was sie ihm so leichtherzig versprochen hatte. Kythara spürte kein Interesse, Vernon jetzt und sofort aus der Pflicht zu entlassen. Sie benötigte diesen Körper möglicherweise noch länger. Vielleicht würde sie den Wunsch des Toten erfüllen. Aber erst nach getaner Arbeit … Wäre Atlan mit ihrer Vorgehensweise einverstanden gewesen? Möglicherweise. Kalarthras hingegen sicherlich. Ihr früherer Liebhaber hatte stets nur das getan, was gut für ihn und seine Ziele gewesen war.
42 Kythara fühlte sich wieder leidlich einsatzbereit und fand erstmals Muße, sich genauer in diesem Raum umzusehen. Alles hier war ihr vertraut, alles war durch und durch varganisch – und dennoch erschien vieles anders. Die Anordnung der Geräte, die Farbgebung, die Bedienregister der Instrumente, selbst die Höhe des Raums. Logik und Verständnis für Systematik hatten bei der Errichtung der ehemaligen PsiStation einen eigenen Weg genommen. Seit ihrem Abschied vom Projekt »Kyrlan« hatte sich wohl einiges getan … Kythara verinnerlichte die neuen Anordnungen und nahm sie hin. Es dauerte trotz der widrigen Umstände nur wenige Sekunden, bis sie die Steuerung aktiviert und mit Hilfe mehrerer alter Überrangkodes auf sich geeicht hatte. Sie ließ sich einen Kodegeber fertigen, der ihr den Weitermarsch erleichtern und beschleunigen würde. Ein Schattenbild der Arsenalstation, zumindest einen Meter im Durchmesser, erschien in der Mitte des Raums. Rote und grüne Flächen überlagerten einander. Einige wenige Bereiche waren gelb gefärbt. »Das Rot steht für nicht psi-energetisch abgeschirmte Bereiche«, murmelte sie mit der ungewohnt tiefen Stimme. »Das Grün für … für jene Gebiete, in denen eine andere Macht das Sagen hat. Also die Lordrichter und ihre Schergen.« Irgendwo hier würde also Erzherzog Achunt sein Lager aufgeschlagen haben und die Lagerung des PsiPotenzials verwalten. Momentan würde er höchstwahrscheinlich verzweifelt nach einer Möglichkeit suchen, den Zusammenstoß mit der Vergessenen Plattform zu verhindern und, für ihn wohl noch vordringlicher, die gebündelte ultrahochfrequente Energie in Richtung eines unbekannten Zieles termingerecht abzustrahlen. Die gelben Bereiche – sie kennzeichneten jene Teile der Arsenalstation, die sowohl frei von Truppen der Lordrichter als auch nicht von den Psi-Kräften beeinflusst waren. Diese Gebiete beschränkten sich hauptsächlich auf das geographische Zentrum der
Michael Marcus Thurner fünfzehn Kilometer durchmessenden Kugel. Kythara selbst befand sich in am Rande dieser Zone. Zwei Datenblöcke erregten ihre Aufmerksamkeit. Der eine gab an, dass die Abstrahlung der Psi-Energie in knapp zehn Minuten beginnen würde. Der zweite zeigte, dass der Kontakt mit dem Kosmischen Holländer unmittelbar bevorstand. Es waren keine dreißig Minuten mehr! Konnte sie die Abstrahlung der PsiMassen von hier aus verhindern? Nein. Die Daorghor-Insekten hatten alle varganischen Schaltstationen ihrer Eingriffsmöglichkeiten beraubt – mit Ausnahme der Zentrale, wie sie anhand des Schattenbilds feststellen konnte. Kythara atmete tief durch, verinnerlichte nochmals den Plan der Station, so, wie ihn Vernon übermittelt hatte. Aus verständlichen Gründen gab es hier keine Transmitterverbindungen. Auch das Transportsystem war nach dem Eindringen der lordrichterlichen Truppen lahm gelegt worden. Sie musste gehen beziehungsweise laufen, um die Steuerzentrale innerhalb der verbleibenden Frist zu finden. Die Varganin setzte sich in Bewegung, ignorierte geflissentlich alle Schmerzsignale, die ihr männlicher Körper nach jahrtausendelangem Schlaf aussandte. Es würde knapp werden, verdammt knapp. Durch den ovalen Raum, eine lange Rampe hinab, über Nottreppen, zwei Etagen abwärts, erneut eine Rampe … Sie prallte gegen den weichen, nachgiebigen Körper, wurde zurückgeprellt und landete unsanft auf der rechten Schulter. Kythara schüttelte den Kopf, sah sich um. Was war das für ein Wesen, das sie gebremst hatte? Es war quallenähnlich, ein Stück größer als sie und weitaus voluminöser. Teile des Leibes wurden von einem silberglänzenden Exoskelett in Form gehalten. Meterlange Barthaare wuchsen aus einem
Angriff der Lordrichter formlosen Kopfteil und fuhren peitschend über den Boden. Tastorgane? Wahrscheinlich. Mit zielstrebiger Sicherheit näherten sich die durchsichtigen Fühler ihren Füßen, wollten Kythara wohl näher heranziehen … Sie kam auf die Beine, wich aus. Ein Grunzen ertönte. Ein Laut der Enttäuschung? Sie tänzelte um die etwas schwerfällig wirkende Qualle, gab ihr möglichst wenig Zeit, sich zu orientieren. Einmal traf sie ein peitschender Schlag eines Barthaars des fremdartigen Wesens quer über Brust und Bauch. Sofort entstand ein roter Striemen, aus dem dunkelrotes Blut tropfte. Doch es musste sich um einen Zufallstreffer gehandelt haben. Der Quallenähnliche, der nur Laute von sich gab und darüber hinaus wohl an keiner Konversation interessiert war, benahm sich außerordentlich tollpatschig. Hatte er Probleme, sich in dieser Umgebung zurechtzufinden? Vernon atmete schneller. Sie atmete schneller. Der männliche Körper besaß zwar große Kräfte, war aber wenig ausdauernd. Erneut schlug das Quallenwesen mit mehreren Barthaaren nach ihr. Kythara reagierte blitzschnell und packte zwei der dünnen Arme. Riss und zog daran, mit aller Kraft, die Schmerzen in den Handflächen ignorierend. Ihr Gegner nässte. Giftige, ätzende Substanzen ergossen sich über ihren Leib. Die beiden Barthaare rissen. Ein Ton, so schrill und hoch, dass ihre Trommelfelle zu platzen drohten, erfüllte den domartigen Raum. In weitem Bogen schoss milchig weiße Flüssigkeit aus den Wunden des Quallenwesens. Überall dort, wo sie auftraf, entstanden Ätzwolken. Unangenehmes, stechendes Odeur drang in ihre Nase, tötete augenblicklich ihre Geruchsnerven, fraß sich weiter vor, schädigte Vernons Körper irreparabel. Kythara taumelte zurück und umging das sterbende Wesen, soweit es ihr möglich war. Mehr als die Hälfte seiner Körpersäfte war bereits ausgeronnen, doch noch lebte es.
43 Da war keine Zeit, sich näher mit dieser Schreckensgestalt zu beschäftigen. Ihr Körper, Vernons Körper, mochte jeden Moment zusammenbrechen und sterben, aber sie musste doch die zentrale Positronik erreichen, die Abstrahlung der Psi-Materie verhindern … »Danke!«, flüsterte die Qualle. Auf Varganisch. Kythara blieb ruckartig stehen, wandte sich dem Sterbenden nochmals zu. »Alles, sogar der Tod, ist besser als diese Existenz!«, hauchte der Quallensack, blubberte ein letztes Mal kurz auf und sank schließlich gänzlich in sich zusammen.
10. Atlan Die Ausstrahlung des Saqsurmaa half, die Illusionen im Bann zu halten. Selbst die bohrenden Kopfschmerzen ließen nach, und allmählich konnte ich mich wieder auf andere Probleme als die meinen konzentrieren. Die Uhr zeigte acht Minuten vor Ultimo. Die Ballung psi-energetischer Energie, diese wabernde Wolke rund um die Arsenalstation, war in ihrem Volumen, sofern es die Instrumente des Kardenmoghers richtig wiedergaben, kleiner, aber auch kompakter geworden. »Wir werden zerstrahlt«, sagte Gorgh-12, der ebenfalls wieder bei Sinnen war. »Der Psi-Peak sammelt sich um die obere Polkuppel der Arsenalstation. Siehst du diese eigentümliche Verfärbung?« Ich folgte dem Fingerzeig der insektoiden Klauen. Das, was die Hologramme dort einfingen, war keine Farbe, sondern ein … Zustand. Etwas Abartiges, das kein Wesen dieses Universums eigentlich sehen durfte. »Während unserer Arbeit hier nannten wir den Zustand dieser eigentümlichen Ablagerungen Drommetenrot. Sie tauchen immer dann auf, wenn eine Änderung des Zustands der Psi-Energie kurz bevorsteht. Eine radikale Entladung. Eine Implosion. Oder die Entstehung eines gewaltigen Aufrisses …«
44 Emion zuckte kurz mit seinem Leib. Unwillkürlich rückte ich einen halben Meter zur Seite und spürte sogleich, wie sehr die Wirkung der Psi-Energie auf meine Psyche zunahm. Hastig robbte ich wieder zurück, ganz in die Nähe des Saqsurmaa und Kytharas. »Wir verlassen allmählich den Zwischenraum!«, rief Gorgh-12. Er hatte Recht. Neben all den fünfdimensionalen Effekten, die wir nach wie vor ausmachen konnten, erschienen allmählich Gaswolken und Sterne des Murloth-Nebels auf der Holo-Darstellung. Und Raumschiffe, die die Vergessene Positronik aus allen Rohren befeuerten. Es war mir unerklärlich! Wie konnten sich die Besatzungen der lordrichterlichen Truppen gegen die hyperdimensionalen Einflüsse behaupten? Wie schafften sie es, mit ihren Waffensystemen an die semimaterielle Plattform heranzukommen? Brachten sie erst jetzt das volle Ausmaß ihrer technischen Möglichkeiten zum Einsatz, hatten sie ihre Waffen und Aggregate erst jetzt fein justiert? Im nächsten Moment erhielt ich die traurige Antwort auf meine Fragen. »Sie verlieren Schiff um Schiff«, sagte Gorgh, und ich meinte, einen Seufzer zu hören. Tropfenraumer und Käferschlachtschiffe in unglaublicher Menge waren um uns gruppiert und griffen den Kosmischen Holländer mit konventionellen wie mit überlichtschnellen Waffensystemen an. Ohne Rücksicht auf Verluste zu nehmen. Ohne darauf zu achten, dass durch ihr Tun unberechenbare Effekte ausgelöst wurden. Sie riskierten einfach alles – und das war buchstäblich zu viel. Sobald ein Raumer explodierte, rückte sofort ein anderer nach. Es war ein Feuerwerk sondergleichen, das vor dem Hintergrund der drommetenroten Entladungen passierte. »Die Arsenalstation beginnt zu vibrieren«, bemerkte Gorgh. »Und sie verliert ihren Bezug zum vierdimensionalen Raum. Sieh nur, wie sie sich allmählich auflöst …«
Michael Marcus Thurner »Erzherzog Achunt nimmt die Vernichtung der Station in Kauf, nur um den PsiEnergie-Transfer unter allen Umständen fristgerecht durchzuführen.« Ein ganzes Geschwader hell leuchtender Tropfenschiffe eilte auf die Arsenalstation zu. Dorthin, wo die Psi-Entladungen am stärksten wüteten. Die Raumer hüllten sich in mehrfach gestaffelte Schutzschirme vierdimensionaler Energien, die die beängstigenden Hypereffekte am weiteren Entfalten hindern sollten. »Das ist blanker Irrsinn!«, flüsterte Gorgh-12. »Gegen diese Gewalten gibt es keinen Schutz!« Ein Schiff implodierte, wurde ins Innere des Drommetenrots gezogen. Zwei weitere folgten ihm nach, dann ging es Schlag auf Schlag. »Achunt opfert die ganze Flotte! Sieh nur!« Es war eine der verächtlichsten Taten, die ich je mitverfolgt hatte. Der Erzherzog schickte die eine Hälfte seiner Truppen gegen die Vergessene Plattform, die andere zur Arsenalstation, um die termingerechte Abstrahlung der Psi-Energien zu gewährleisten. Ein Schiff nach dem anderen wurde vernichtet. Zehn, zwanzig, hundert … Tausende, Hunderttausende Lebewesen starben, während ich zusah. Hilflos saß ich da, die Hände im Schoß gefaltet, blickte mit tränenden Augen auf das Zählwerk. Ich betete darum, dass es möglichst rasch die Null erreichen würde. Dass es bald vorbei sein würde. Doch halt! Bot nicht gerade die Wiederverstofflichung der Vergessenen Positronik eine Chance, das Finale dieses Wahnsinns zu verhindern?
11. Kythara Es blieb ihr keine Zeit zum Staunen. Was auch immer das Quallenwesen gemeint hatte – es war nebensächlich für ihr jetziges Tun. Kythara musste weiter.
Angriff der Lordrichter Krampfhaft presste sie die linke Hand gegen die klaffende Wunde über ihrer Brust. Allmählich riss die Haut zu den Seiten hin auf. Der Männerkörper schmerzte. Doch Schmerz war etwas, an das sich die Varganin im Laufe ihres langen Lebens gewöhnt hatte. Mit weiten, kräftigen Schritten rannte sie weiter. Die bislang gespenstische Stille wurde von Explosionslärm durchbrochen, der aus Decks unterhalb stammen musste. Gleich darauf spürte sie Vibrationen. Ein Dutzend Alarmmeldungen ertönten gleichzeitig. Varganische Verhaltensmaßregeln wurden bekannt gegeben. In einer leicht veränderten Sprachmelodie, die auf das Alter der Station hinwies, wurde die varganische Besatzung aufgefordert, die Arsenalstation so rasch wie möglich mit Rettungsschiffen zu verlassen. Einmal sah sie mehrere Daorghor und die tödlichen Blumen ihres breit gefächerten Strahlfeuers am Ende eines Querganges. Hier wurde sinnlos gekämpft, höchstwahrscheinlich unter dem Einfluss der PsiEntladungen. Kythara achtete nicht weiter darauf, hetzte endlos scheinende Wege entlang. Die Vibrationen im Boden wollten nicht mehr enden, wurden immer stärker. Blut pulste währenddessen aus der Bauchwunde, rann zwischen den Fingern ihrer breiten Hand hinab, tropfte mit jedem Schritt zu Boden. Die Zentrale! Sie hatte sie erreicht. (Der Fremde in Vernons Körper hatte die Zentrale des positronischen Hauptrechners betreten.) Erneut half ihr der Kodegeber, erlaubte ihr den Zutritt. Kythara fühlte keinen Triumph. Dieses Bauwerk hatte den Jahrhunderttausenden getrotzt – und den eindringenden Truppen der Lordrichter erbitterten Widerstand geleistet. Doch das alles war unwichtig geworden. Aggregate erwachten leise knisternd zum Leben, flackernde Hologramme erschienen.
45 Ihre Finger huschten über Eingabefelder. Hastig überprüfte sie die Lage. (Zielstrebig näherte sich Vernon einer Konsole und nahm verschiedene Schaltungen vor.) Mehr als einhundert externe Lager ultrahochfrequenter Energien waren um das Herz der Psi-Quelle in kleineren Satelliten angelegt. Sie alle strahlten hierher, an einen Punkt oberhalb des nominellen Nordpols der Station, sorgten für eine weitere Überhitzung des fünfdimensionalen Potenzials. Die kritische Masse war bald erreicht, eigentlich nur eine Sache von Sekunden … »Vargane!«, brüllte eine tiefe, zornige Stimme. Kythara drehte sich um, wollte sich beiseite werfen … Strahlenschüsse durchbohrten ihr rechtes Bein und den Brustkorb.
* Kythara fiel zu Boden, atemlos vor Schmerz. Ihr Bein war zerfetzt. Die verschmorten Reste hingen wie zerrissenes Tuch am Knochen. Das Pfeifen in den Lungen machte deutlich, dass sie in den nächsten zwei Minuten ersticken würde. Doch ein varganischer Verstand war ein wundersames Werk der Natur, gestärkt und gestählt in der Beinahe-Ewigkeit eines langen Lebens. Das Geräusch schwerer Schritte näherte sich. Ein Daorghor, groß und stämmig, begleitet von zwei Zaqoor, kam heran. War dies Erzherzog Achunt in Begleitung zweier Leibwächter? Möglich, aber nicht sicher. Sie konnte die Insektoiden kaum voneinander unterscheiden, und ihr Gesichtsfeld war ohnehin stark eingeschränkt. Es spielte auch keine Rolle, wie und warum es dem kleinen Trupp gerade jetzt gelungen war, bis in das Innerste der Arsenalstation vorzudringen. Wahrscheinlich waren die Soldaten der Lordrichter ihren blutigen
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Spuren gefolgt. Kythara presste eine Faust in das Loch in ihrer Brust, stoppte für einige Momente das pfeifende Geräusch entweichender Luft. Sie brauchte Kraft für ein paar Worte, mehr nicht. Einer der Zaqoor war heran, richtete den Strahler auf ihr Gesicht, wollte sein blutiges Werk vollenden. Kythara konzentrierte sich, sandte ihm eine gedankliche Botschaft, übertrug einen kleinen Teil des Schmerzes, den sie erlitten hatte, auf ihn. Der breitschultrige, in einen Schutzanzug verpackte Humanoide schreckte kurz zurück, schoss meterweit an ihr vorbei. Auch die beiden anderen Wesen blieben stehen, betrachteten sie verwundert. Ein paar Worte. Sprechen. »Bevollmächtigte Kythara hier«, flüsterte sie, spuckte Blut. »Ich befehle, Psi-Kontakt … zu fremdem Objekt zu … unterbrechen. Abstrahlung Psi-Masse an … unbekanntes Ziel … untersagt.« (Vernon verzweifelte. Der Fremde im konservierten Varganenkörper setzte sein verhängnisvolles Tun unbeirrt fort.) Die Männer hatten ihre Angst überwunden. Der Insektoide rieb sich schabend die Hände, legte an, schoss ihr in den Magen. Es war vorbei. Hatte sie versagt? »Autorisation der Bevollmächtigten wurde anerkannt. Der Psi-Kontakt zu unbekannter Plattform wurde einseitig unterbrochen«, hörte sie eine ruhige Stimme, bevor ihre Sinne endgültig versagten. »Die Abstrahlung der Psi-Masse kann nicht mehr verhindert werden. Abschlusssequenz ist eingeleitet …« (Vernon schrie. Seine Qual wurde unerträglich, doch sein Entsetzen verhallte ungehört.)
12. Atlan Kythara rührte sich, sprang auf, schrie wie am Spieß. Ihr Blick war ins Leere gerichtet,
der Körper angespannt wie eine Sehne. Das Saqsurmaa grunzte vernehmlich, wälzte sich im Schlaf ein wenig und gab den Weg zur Frau frei. Ich eilte zu ihr, versetzte ihr leichte Schläge auf die Wangen. »Ich bin tot!«, schrie sie, krümmte ihren Leib, hielt sich abwechselnd Brust und rechtes Bein, als würde sie starke Schmerzen verspüren. »Irrtum«, sagte ich, »noch lebst du.« Und, mit einem kurzen Seitenblick auf den HoloBildschirm: »Aber nicht mehr lange.« Ein weiterer, etwas kräftigerer Schlag, und die Varganin kam übergangslos wieder zu sich. Sie starrte mich an. Offener Hass glühte für einen kurzen Moment in ihren Augen auf. Offensichtlich hatte sie den letzten Hieb bewusst miterlebt. Doch gleich fing sie sich wieder, sah an mir vorbei auf den Bildschirm. »Wir sind frei!«, krächzte sie. Ich wandte mich um, betrachtete die Anzeigen. Tatsächlich! Jene Nabelschnur, die die Psi-Station und die Vergessene Plattform aneinander gebunden hatte, war verschwunden. »Alarmstart!«, befahl die Varganin. Was auch immer sie durchgemacht hatte – ihre Reaktionszeit war beeindruckend. Aber sie entschied falsch! Wie sollten wir uns während des Angriffs und unter dem Dauerfeuer der halben lordrichterlichen Flotte von der Positronik lösen können? Und waren wir nicht an den Kosmischen Holländer gebunden? Ein kurzer Blick belehrte mich eines Besseren. Nachdem die Psi-Nabelschnur abgetrennt worden war, hatte die Plattform ihren Konfrontationskurs gestoppt und stand nun nahezu bewegungslos, trieb wenige tausend Kilometer vor der Arsenalstation. Bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, startete der Kardenmogher, löste sich wie zäher Kaugummi von der Oberfläche der Vergessenen Positronik. Auch das Fesselfeld war also hinfällig geworden, aus welchen Gründen auch immer.
Angriff der Lordrichter Und das Geschützfeuer der Daorghor? Es blieb aus! Orientierungslos trieben die Tropfen- und Käferraumschiffe durch den Leerraum. Als fehlten ihnen weitere Anweisungen, als seien sie von der Situation völlig überfordert. »Hegnudger aktivieren!«, sagte die Varganin konzentriert, während sie sich weiterhin die Brust wie unter großen Schmerzen hielt. »Gravo-Zyklon-Projektoren feuerbereit machen.« Atemlos sah ich zu, wie sich der nach wie vor angeschlagene Kardenmogher zwischen den feindlichen Schiffen hindurchschlängelte und gleichzeitig seine tödlichsten Geschütze auf die Psi-Quelle ausrichtete. »Weißt du, was du tust?«, fragte ich Kythara zweifelnd. »Besser als jemals zuvor in meinem Leben«, antwortete sie kurz angebunden, kümmerte sich dann nicht weiter um mich. Um die Arsenalstation hatte sich ein Strahlenkranz gebildet, der nunmehr fast geschlossen war. Ein längerer Blick auf diese irrlichternden Gewalten erzeugte Irrsinn. Das Drommetenrot glühte, riss Tore zu Niederungen auf, die besser im Unerforschten hätten bleiben sollen. Der Druck auf meinen Kopf wurde trotz der Nähe des Saqsurmaa unerträglich. Die Nähe der Psi-Quelle, diese unerhörte Ansammlung fünfdimensionalen Matsches – ich spürte, dass ich erneut die Kontrolle über meinen Körper verlor, kollabieren würde … »Geschütze eins bis acht aktiviert … Feuer!« Der Kardenmogher schüttelte sich. Die Kerben der beiden aufeinander gesetzten Kegelstümpfe schienen sich ächzend gegeneinander zu verdrehen – so zumindest stellte es sich meinen überreizten Sinnen dar. Kythara stand in der Mitte der Zentrale, fuchtelte mit den Händen in der Luft. Wie ein Zauberlehrling, der mit Kräften, die ihm verliehen waren, nicht umgehen konnte. »Gravo-Zyklonen abgeschickt«, flüsterte sie mit blutig gebissenen Lippen. Nichts tat sich auf dem Bildschirm, rein
47 gar nichts … Doch. Die Psi-Materie, die die Lordrichter gefordert hatten, schoss in einem breiten drimmetenroten Strahl davon, durch den Leerraum des Murloth-Nebels, einem unbekannten Ziel entgegen. Wir hatten verloren.
13. Vernon Vernon lag am Boden und spürte, wie sich sein Körper auflöste. Er verbrannte, von mehreren Strahlschüssen getroffen. Von Säure aufgefressen. Von Goldsplittern explodierender Aggregate zerfetzt. Vom Feuer eingeäschert. Sein pseudototer Körper, der ihm so fremd war, sandte letzte Impulse des Schmerzes aus, die das Restbewusstsein, das Vernon hieß, gleichgültig zur Kenntnis nahm. Es war vorbei, er hatte ausgelitten. Achthunderttausend Jahre Leben und Scheinleben waren endgültig zu Ende. Er umarmte das endgültige Vergessen, während ringsum alles außer Rand und Band geriet.
14. Atlan Wir hatten gewonnen. Blaue Zungen loderten gut sichtbar aus unserem Schiff, erfassten den Strahlenkranz aus Drommetenrot. Gravo-Zyklonen. Sie perforierten das Universum, stanzten Löcher in die Wirklichkeit. Die Verwirbelungen erfassten Materie und hyperdimensionale Energien, brachten zunehmend das thermodynamische Gefüge des Standarduniversums durcheinander. Der Strahl der Psi-Energie, das Drommetenrot, wurde erfasst und umgelenkt. Nie hätte ich geglaubt, dass Licht, jener winzige Teil elektromagnetischer Strahlung, derart verbogen und verrenkt werden könnte. Der Vorgang war in keinster Weise mit jenen am Erlebnishorizont eines Schwarzen Lochs zu
48 vergleichen, an dessen Kippe Licht unweigerlich verschluckt wurde. Denn das Drommetenrot hier – es zerfaserte und verbog sich wie unter entsetzlichen Qualen, wurde von den Zyklonen zerfetzt, in einen akausalen Strudel gerissen … Der Anfangsstrahl der Psi-Quelle versiegte abrupt. Die Gravo-Zyklonen fingen alle Energien auf, die vom Nordpol der Arsenalstation ausstrahlten. Ein rot leuchtender Aufriss entstand. Im Leerraum. Er verästelte sich, wurde breiter und größer, erlaubte die Sicht auf das Dahinter, Dazwischen, Damals und das Vielleicht. Die Arsenalstation explodierte, wurde zerquetscht, so, wie man eine Weintraube zwischen den Fingern zerdrückte. Es blieb uns nicht einmal die Zeit, die Sinneseindrücke zu verarbeiten, da waren die Reste der ehemaligen Varganen-Station bereits vom Aufriss verschluckt. Eine metallene Kugel mit einem Durchmesser von 15 Kilometern – einfach weg! Auch die Schiffe der Daorghor, Torghan, Ur'ogh, Shiruh und Zaqoor, die zum Schutz der Psi-Quelle abgestellt worden waren, verschwanden von der Bildfläche. Kleine Blitze, meist nur ein kurzes Aufflackern, kündeten von hunderttausendfachem Tod. Der Verstand weigerte sich, die Größe und den Wahnsinn der Ereignisse zu erfassen. Die Dimension des Todes, wie ich sie nicht einmal von den Schlachten gegen die Methanatmer aus meinen frühen Tagen her kannte, überforderte mich. Der Riss wurde noch immer breiter, wollte schier alles um sich verschlingen. Kythara starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Schlund. Geschockt, richtiggehend paralysiert. »Weg!«, schrie ich und schüttelte die Frau. Wir befanden uns in einem Abstand von nicht einmal zwei Lichtsekunden zum Höllentor! Die Varganin fiel ohnmächtig zu Boden. Was auch immer ihr Geist an Bord der Arsenalstation erlebt hatte – just in diesem Mo-
Michael Marcus Thurner ment war es zu viel für sie geworden. »Gravo-Zyklon-Projektoren aus!«, befahl ich. Die Positronik des Kardenmoghers akzeptierte meine Autorität und befolgte die Anweisungen. Sofort erlosch unsere Befeuerung des Aufrisses. »Notbeschleunigung!«, setzte ich hinzu. »Fluchtvektor in einer Normalen zur Aufriss-Ebene. Ausführung jetzt!« Der Kardenmogher gehorchte langsam und zäh, beeinflusst von den Umwälzungen, die hier passierten. Obwohl wir den Beschuss mit Hilfe des Hegnudgers eingestellt hatten, wuchs der Hyperraum-Schlund in alle Richtungen und Dimensionen. Ich spürte, wie er gierig nach uns griff, so wie auch nach allen anderen Schiffen in unmittelbarer Umgebung. Mein Körper wurde weniger, wurde Quant für Quant in Richtung Aufriss gezogen. Ich fühlte mich in die Länge gezogen und gezerrt, in die Unendlichkeit gerissen. Ein hastiger Blick auf die Anzeigen bewies, dass wir trotz der Schwäche des Kardenmoghers mit mehr als 400 Kilometern pro Sekundenquadrat beschleunigten, binnen weniger Sekunden unfassbare Distanzen zurücklegten – und dennoch zu langsam waren. Die Anziehung aus dem Schlund, dem Aufriss, sie breitete sich weitaus rascher aus, schien keine physikalischen Grenzen zu kennen. Ich hielt mich fest, irgendwo, klammerte zugleich meinen Geist an das Bild des rosarothaarigen Kobolds, um den Bezug zur Wirklichkeit zu behalten. Alles umsonst. Wir wurden spürbar langsamer. Materie löste sich auf, Energie hörte auf zu existieren, Gedanken verschwanden. Das Ende. Und plötzlich, als alle Hoffnung längst erloschen war, geschah eine leise, fast unauffällige Umkehr. Ein neuer Faktor stellte sich zwischen Gorgh-12, Kythara und mich, zog jegliche Aufmerksamkeit der drommetenroten Gier
Angriff der Lordrichter an sich. Ein schlauchartiges Lebewesen. Das Saqsurmaa. Dieses eine Wesen, trotz der Umstände scheinbar im Halbschlaf, band jegliche Hyperenergie. Schluckte sie. Füllte seinen unersättlichen Leib. Kreischte dabei in nie gehörten Tönen. Fraß und fraß und fraß, sog Psi-Kraft unendlichen Ausmaßes in sich auf. Bis es ruhiger wurde an Bord, bis wir in Sicherheit waren. Dann entmaterialisierte das Saqsurmaa, drommetenrot schillernd.
15. Atlan »Ich kann es einfach nicht mit ansehen«, wimmerte Gorgh-12 und schwebte mit schrecklich laut aneinander schabenden Chitingliedmaßen aus der Zentrale des Kardenmoghers. Ich musste ihm Recht geben. Es gehörte übermäßig viel Kraft dazu, das Ausmaß der Zerstörungen im Inneren des Murloth-Nebels nüchtern zu beurteilen. Nahezu die gesamte lordrichterliche Flotte war untergegangen. Da und dort gab es versprengte Einheiten. Schiffe, die wie welke Blätter fortgeweht worden waren. Orientierungslos schwebten sie im Leerraum, in dem nach wie vor ungekannte Urgewalten tobten. »Langsam kehrt sich die Wirkung des Aufrisses um«, fasste Kythara die neuesten Erkenntnisse in Worte. Sie stand aufrecht und weigerte sich nach wie vor, über die Erlebnisse an Bord der Arsenalstation zu berichten. »Ich bin dort gestorben«, hatte sie lediglich gesagt und war dann wieder still geworden. Sie hatte mir – uns – das Leben gerettet und dafür anscheinend enorme psychische Qualen auf sich genommen. Auch über den Vorgang des Bewusstseinstransfers schwieg sie sich aus. Es würde wohl eine Zeit lang dauern, bis sie über das Erlebte würde berichten können. Ich wandte mich wiederum den hyperphysikalischen Phänomenen zu, die im Umkreis
49 von mehr als einem Lichtjahr um den ehemaligen Standort der Psi-Quelle tobten. Die Effekte würden wahrscheinlich tage- oder wochenlang anhalten und möglicherweise das Gesamtgefüge des Murloth-Nebels sowie seines galaktischen Umfeldes nachhaltig schädigen. Auch wenn sich der Aufriss allmählich schloss – die Folgen der Ereignisse der letzten Stunden waren nicht abzusehen. »Ist die Vergessene Positronik in den Schlund gestürzt?«, fragte ich Kythara, die sich soeben über einen visuellen Kartentank beugte. »Ich glaube nicht«, antwortete die Varganin. »Der Kardenmogher hat registriert, dass der Kosmische Holländer im Moment nach unserem Loslösen erneut in den Halbraum geglitten ist. Noch bevor ich den Beschuss mit den Gravo-Zyklon-Projektoren begann, hat sie sozusagen den Rückwärtsgang eingelegt. Ich ahne oder vermute, dass sie dem Untergang einmal mehr entkommen ist.« »Als ob irgendwer oder irgendetwas dort an Bord geahnt hätte, wann es Zeit ist, sich zu empfehlen«, sinnierte ich. »Es sind mir einfach zu viele Zufälle, die im Zusammenhang mit der Vergessenen Plattform passieren.« »Das soll uns nicht weiter kümmern«, sagte Kythara und beendete damit abrupt das Thema. Die Lippen hielt sie schmal zusammengepresst, die Große Strenge war seit Stunden nicht mehr aus ihrem Gesicht gewichen. Natürliche Schönheit und Eleganz der Varganin waren fast vollends dahin. Ihre Sorgen und Interessen galten wohl ganz anderen Dingen. »Wie weit ist es bis Narukku?«, fragte ich. »Drei Lichtjahre. Mehr als sechs Stunden.« Ich seufzte. Wir bewegten uns an Bord eines besseren Wracks. Der Kardenmogher war, trotz der Schutzmaßnahmen durch das Saqsurmaa, schwer beschädigt worden. Die positronischen Rechenprozesse waren auf ein Minimum reduziert und erschwerten den über-
50 lichtschnellen Raumflug ungemein. Selbst die lebenserhaltenden Funktionen waren nicht frei von Versagern. Immer wieder änderten sich Schwerkraftvektoren, sausten wild gewordene Droiden ziellos durch die Zentrale, huschten goldene Funkenbögen über uns hinweg oder lallte eine anrüchige Stimme schmutzige arkonidische Seemannslieder. »Bravo, Atlan«, flüsterte ich mir selbst zu, »ein einziger Einsatz, und dieses wundersame Schiff ist in seine Einzelteile zerlegt.« Ich möchte dich daran erinnern, dass dies nicht das erste Schif ist, das du zerstört siehst, teilte mir der Extrasinn sarkastisch mit. Erinnerst du dich zum Beispiel an deine Ankunft auf LarsafI? Wie konnte ich das jemals vergessen? Die TOSOMA … Mit meiner Notlandung und dem 10.000 Jahre dauernden Exil auf der Erde hatte mein Leben eine entscheidende Wende genommen. Trotz aller Kabbeleien war ich froh, den Extrasinn wieder einsatzbereit »an Bord« zu haben. Unter der fünfdimensionalen Beeinflussung waren mir die Einflüsterungen meines Logiksektors nahezu abhanden gekommen. Lediglich ein fahles Abbild, der Schatten einer Vorstellung, war mir in diesen Stunden von ihm geblieben. Das Bild eines Kobolds mit riesigem Maul und roten Haaren … Der Extrasinn schwieg beleidigt zu meinen Gedanken. »Was findest du denn so lustig?«, fuhr mich Kythara an, die mein Grinsen bemerkte. »Das ist eine Eigenschaft, die ich von den Menschen übernommen habe«, entgegnete ich unbeeindruckt. »Man sollte selbst in den ausweglosesten und traurigsten Situationen niemals den Humor verlieren.« »Und von diesen merkwürdigen Humanoiden hast du dir tatsächlich etwas abgeschaut?«, fragte mich die Varganin. »Von den Menschen, die weder aus ihrer Vergangenheit lernen noch über ihre Rolle in der
Michael Marcus Thurner Zukunft Bescheid wissen?« »Zumindest sind sie ihres Lebens niemals überdrüssig geworden.« Das saß. Kythara wandte sich abrupt von mir ab. Ich drehte mich zu ihr, legte ihr die Hand auf die Schulter, um mich für meine unbedachte Bemerkung zu entschuldigen. »Lass das!«, fuhr sie mich an, schob meinen Arm beiseite und drückte einmal mehr die Hände wie vor Schmerzen gegen die Brust. Was auch immer es war, was sie empfand – sie wollte unter keinen Umständen darüber sprechen. Momentan schien ohnehin alles, was wir zueinander sagten oder voneinander wollten, einfach nur falsch. Ich konnte bloß hoffen, dass diese Phase bald vorübergehen würde. »Was nun?«, fragte sie mich mit abgewandtem Gesicht. »Zurück nach Narukku«, empfahl ich. »Wir legen eine Pause für Mensch und Maschine ein. Du und ich sollten Ruhe finden und dann gemeinsam mit Gorgh-12 Kriegsrat halten.« Kythara nickte und kümmerte sich dann darum, den Kardenmogher auf Kurs zu bringen.
16. Atlan Der 29. Mai 1225 NGZ ging zu Ende. Ein paar Stunden Schlaf hatten zwar keine Wunder bewirkt, aber immerhin die schlimmsten Eindrücke vergessen lassen. So ging es zumindest mir. Kythara saß mir mit einem nach wie vor verkniffenen Gesicht gegenüber. Immerhin war sie bereit, eine Analyse der Situation vorzunehmen. »Wie sieht es nun mit dem Kardenmogher aus?«, fragte ich. »Er ist ohne Hilfestellung von außen nicht einsatzbereit«, erwiderte die Frau. »Auf meinen Wunsch hat er sich in 52 Einzelteile zergliedert, die in Lagerräumen der AMENSOON Platz gefunden haben.«
Angriff der Lordrichter Sie hatte einmal mehr eigenwillig gehandelt, ohne mich um Rat zu bitten. Nun gut. Es war ihr Schiff, und es war die Technologie der Varganen, um die es ging. Sie wusste sicherlich sehr genau, was gut für den Kardenmogher war und was nicht. »Was ist mit dem Saqsurmaa? Irgendwelche Spuren?« »Nein. Es ist nicht wieder aufgetaucht.« »Hast du die Impulse der Vergessenen Positronik anpeilen können?« »Nein. Sicher ist nur, dass die Plattform der Zerstörung entkommen ist.« Kythara tätschelte nervös ihr rechtes Bein. Als müsste sie sich vergewissern, dass es da war. »Haben die positronischen Rechner irgendwelche Aufschlüsse, was die Reste der lordrichterlichen Flotte betrifft?« »Nun …« Sie zögerte. »Es handelt sich lediglich um ein paar Dutzend Schiffe, die dem Inferno entkommen sind.« »Und?« Sie ließ sich die Neuigkeiten wie Würmer aus der Nase ziehen. »Diese Flottenreste haben sich gesammelt und sind vor zirka einer Stunde in den Überlichtflug gegangen …« Ich sprang auf. Erregung packte mich. »Hast du den Kursvektor eruieren können?« Durch eine Fügung des Schicksals sowie einer Kythara, die bis an den Rand der Selbstaufgabe gegangen war, hatten wir die Psi-Quelle zerstören und ihre unselige Kraft in den Hyperraum abstrahlen können. Nun wurde es Zeit, dass wir uns dem Kern des Problems zuwandten: den Lordrichtern selbst. Wesen, die ihre Hilfsvölker ohne Bedenken zu Millionen in den Tod jagten, mussten von einer besonderen … Qualität sein. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als diesen hohen Herren so rasch wie möglich Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. »Ja, ich könnte den Kurs extrapolieren«, sagte die Varganin langsam. »Könnte? Was soll das bedeuten? Wir müssen sie verfolgen …« »Nein!«, erwiderte sie heftig. »Es gibt hier in der Milchstraße genügend andere
51 Dinge, um die wir uns kümmern sollten.« Ich wusste, was sie meinte. Und wen sie meinte. Doch ich wollte es aus ihrem eigenen Mund hören. »Ja?«, fragte ich. »Die Sternenstadt VARXODON ist nach wie vor von den Truppen der Lordrichter besetzt«, flüsterte sie. »Wir sollten auch herausfinden, was die Cappins für eine Rolle spielen. Denk an Carscann auf der Stahlwelt und an Sorgaron in VARXODON …« »Beide sind tot. Sie werden uns nichts mehr sagen können.« »Es gibt sicherlich weitere von ihrer Art, die wir suchen sollten.« Mühselig argumentierte sie mir gegenüber, um vom wahren Grund ihres Zögerns abzulenken. »Wir sollten uns über die Vergangenheit meines Volkes und die gegenwärtige Rolle der Cappins klar werden. Die Bedrohung der Ganjasen … die Lordrichter von Garb … das Schwert der Ordnung … die Gefahr für Gruelfin … das eigentliche Ziel der Psi-Entladung, der Dunkelstern – wir müssen mehr Informationen als diese paar Brocken haben, bevor wir den Truppen der Lordrichter hinterhereilen und uns in ein weiteres Abenteuer stürzen.« »Du selbst sagtest, dass wir die Flugrichtung der Resttruppen problemlos bestimmen könnten«, sagte ich unbeeindruckt. »Dieses Wissen ist wichtiger als alles andere. Warum sollten wir hier, in der Milchstraße, planlos herumstochern, wenn wir unser Wissen direkt vor Ort beziehen könnten?« »Das ist Wahnsinn!«, stieß sie aus. »Genauso, wie es Wahnsinn war, die PsiQuelle anzugreifen. Und dennoch ist es uns gelungen, sie zu zerstören.« »Wir können uns nicht immer auf unser Glück verlassen …« »Mir reicht's mit diesen Spielchen!«, fuhr ich sie an. »Sag gefälligst, was du tatsächlich vorhast!« Sie schwieg für mehrere Sekunden, sah mir dann tief in die Augen. Die Große Strenge war längst verschwunden. Ein schwärmerischer Ausdruck erschien in ihren so zarten Gesichtszügen. »Ich will zurück
52
Michael Marcus Thurner
nach Vassantor«, flüsterte sie. »Ich möchte, dass wir Kalarthras befreien. Und ich bitte dich, mir dabei zu helfen.« Ich hatte es geahnt. Diesmal ließ ich mir mit meiner Antwort Zeit. Sie sollte ruhig ein wenig zappeln. Mein Monoschirm stand mittlerweile wieder wie ein Bollwerk. Sie konnte meine Empfindungen sicherlich nicht erfassen. »Na gut.« Ich seufzte und hob meine Arme schicksalsergeben und theatralisch an. »Dann holen wir deinen … Freund … eben ab.« Ihr Lächeln, das erste seit langer Zeit, war mir lieb und wert. Aber mein Herz wollte nicht so richtig froh werden.
17. Im Irgendwo Sarkahan: »Der verfluchte Arkonide und die Varganin haben unsere Planungen also zum Scheitern gebracht?« Yyrputna: »Ja. Trotz des immensen Aufwands, den wir um die Abstrahlung des PsiPakets betrieben haben. Selbst die Drohungen Yagul Mahuurs haben nichts gefruchtet.« Sarkahan: »Und Atlan selbst ist nach wie vor … flüchtig?« Yyrputna: »Ja, er ist der Vernichtung knapp entkommen.« Sarkahan: »Wir müssen dem Schwert Be-
richt erstatten.« Yyrputna: »Weder der Oberste Lordrichter noch das Schwert werden über den Misserfolg begeistert sein. Unsere persönliche Situation ist … prekär. Wir sollten alles daransetzen, den Arkoniden endlich matt zu setzen.« (Längere Pause) Sarkahan: »Atlan ist also unterwegs nach Vassantor?« Yyrputna: »Allem Anschein nach war er kurz vor der … Vernichtung der Psi-Quelle dort und ist jetzt erneut auf dem Weg dorthin. Die Gelegenheit ist günstig.« Sarkahan: »Wir sollten direkt eingreifen …« Yyrputna: »Nein, unter keinen Umständen! Wir beauftragen Erzherzog Garbfandogh. Er ist bestens für diesen Auftrag geeignet. Fünfundzwanzig Schiffe der ZaqoorLeibgarde werden ihm ausreichen.« Sarkahan: »Wir sollten auch den Geheimtransmitter der Sternenstadt VARXODON nutzen und vorab weitere Zaqoor-Truppen nach Vassantor verlegen.« Yyrputna: »Einverstanden. Denn wenn wir ein weiteres Mal versagen …« Sarkahan: »Ich weiß.« ENDE
ENDE
Das Ewige Leben der Garbyor von Hans Kneifel Die Handlung um DIE LORDRICHTER endet mit einer Reihe offener Fragen, die im anschließenden neuen Zyklus aufgenommen werden. Demnächst beginnt mit Band 25 der zwölfbändige Zyklus DER DUNKELSTERN. Dieser Roman stammt von keinem Geringeren als von ATLAN-Altmeister Hans Kneifel und läutet Ereignisse ein, in denen jener Dunkelstern eine besondere Rolle spielen wird. DAS EWIGE LEBEN DER GARBYOR legt die Grundlagen für die kommenden Abenteuer – ein Roman, den man sich keineswegs entgehen lassen sollte.