Tanizaki Jun’ichiro Lob des Schattens Entwurf einer japanischen Ästhetik
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Tanizaki Jun’ichiro Lob des Schattens Entwurf einer japanischen Ästhetik
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Tanizaki Jun’ichiro Lob des Schattens aus dem japanischen übertr agen von eduard klopfenstein
M A N E S S E V E R L AG Z Ü R IC H
Mit * gekennzeichnete Ausdrücke werden in den Anmerkungen des Übersetzers S. 76 ff. erläutert.
Wenn heutzutage ein Architekturliebhaber für sich ein Haus in rein japanischem Stil errichten möchte, so wird er der Installation von Elektrizität, Gas, Wasser besondere Aufmerksamkeit schenken und keine Mühe scheuen, diese Einrichtungen mit den japanischen Räumen irgendwie harmonisch zu verbinden; und selbst jemand, der nie ein eigenes Haus gebaut hat, wird wohl in der Regel solche Bemühungen wahrnehmen, sobald er ins Innere eines Versammlungsraums, eines Speiselokals oder einer Herberge tritt. Von jenen selbstzufriedenen Tee-Menschen einmal abgesehen, die sich über die Segnungen der Zivilisation hinwegsetzen und ihre «Grashütte» lieber in ländlicher Abgeschiedenheit aufstellen, kommt keiner, der einen Hausstand von einer gewissen Größe hat und in der Stadt wohnt, um den Einbau der zum modernen Leben notwendigen Heizung, Beleuchtung und sanitären Einrichtung herum, mag er auch noch so sehr auf japanischen Stil bedacht sein. Wählerische Leute zerbrechen sich dann über die kleinsten Kleinigkeiten den Kopf, und sei es über das Telephon, das sie hinter eine Treppe oder in eine Ecke des Korridors plazieren, wo es möglichst wenig ins Auge fällt. Sie verlegen die elektrische Zuleitung des Vorgartens in den Boden, verstecken drinnen die Schalter in
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Wandschränken und Regalen, lassen die Kabel im Schatten von Stellschirmen verschwinden und denken sich sonst noch allerhand aus, so daß man schließlich in manchen Fällen von so viel übersensibler Künstlichkeit eher unangenehm berührt wird. In der Tat haben sich unsere Augen zum Beispiel an die elektrische Lampe längst gewöhnt. Anstatt also irgendwelche unzulänglichen Maßnahmen zu ergreifen, scheint es mir natürlicher und schlichter, das Licht mit einem jener herkömmlichen f lachen Lampenschirme aus milchweißem Glas zu versehen und die Glühbirne nackt zu belassen. Wenn ich abends vom Zugfenster aus eine ländliche Gegend betrachte und im Schatten der shōji * in schilfbedeckten Bauernhäusern eine Glühbirne unter jenem jetzt veralteten Lampenschirm brennen sehe, so finde ich das geradezu von erlesenem Geschmack. Schwieriger ist es dagegen mit Ventilatoren. Sowohl vom Geräusch her, das sie erzeugen, wie von der Form lassen sie sich noch immer schwer mit einem japanischen Raum in Einklang bringen. In einem gewöhnlichen Haushalt kann man, wenn man sie nicht mag, sehr wohl darauf verzichten. Ein Haus jedoch, das auf den Empfang von Gästen im Sommer ausgerichtet ist, darf nicht nur auf die Vorlieben des Hausherrn Rücksicht nehmen. Mein Freund, der Besitzer des Kairaku-en, ist ziemlich engagiert in Fragen des Bauens. Er konnte Ventilatoren nicht ausstehen und verzichtete lange darauf, sie in seinen Gästezimmern aufzustellen. Da sich aber jeden Sommer die Klagen der Gäste wiederholten, sprang er schließlich über
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seinen eigenen Schatten und ließ ihren Gebrauch zu. Ich selber habe, als ich letztes Jahr mit einem für meine Verhältnisse unangemessen hohen Kapital ein Haus baute, ähnliche Erfahrungen gemacht. Wenn man anfängt, sich um die Einrichtung im einzelnen bis hin zu den kleinsten Gerätschaften zu kümmern, ergeben sich die verschiedensten Schwierigkeiten. Nehmen wir nur schon die shōji als Beispiel: Aus Gründen des Geschmacks möchte man auf Glas verzichten. Wollte man sie aber konsequent nur mit Papier bespannen, so ergäben sich Probleme unter anderem mit der Lichtdurchlässigkeit und der Abschließbarkeit des Hauses. Gezwungenermaßen bespannt man sie also auf der Innenseite mit Papier und verglast sie nach außen. Dazu aber braucht es einen doppelten Rahmen, Vorder- und Rückseite, was die Kosten erhöht. Hat man die Sache einmal so weit getrieben, erweist es sich, daß die shōji von draußen nur wie einfache Glastüren aussehen, während sie von innen wegen des Glases auf der Außenseite eben doch nicht jene bauschige Weichheit wirklicher Papier-shōji besitzen und leicht einen unangenehmen Eindruck hinterlassen. Da hätte man ebensogut simple Glastüren einsetzen können, sagt man sich endlich reuevoll. Nun mag man, wenn es einen anderen betrifft, darüber lachen; aber selber bringt man es kaum über sich aufzugeben, bevor man die Sache nicht bis zu diesem Punkt ausprobiert hat. In letzter Zeit werden im Handel verschiedene elektrische Beleuchtungskörper in Form von Trag- und Stehlampen, von Papierlaternen, von viereckigen
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Deckenlampen oder von Leuchtern angeboten, die sich in japanische Interieurs einfügen. Dennoch finde ich keinen Gefallen daran. So suchte ich bei Antiquitätenhändlern altertümliche Petrollampen, Nachtlaternen und Kopfkissenlampen zusammen und stattete sie mit Glühbirnen aus. Besonderes Kopfzerbrechen aber bereitete mir das Entwerfen der Heizung. Denn unter all dem, was die Bezeichnung «Ofen» trägt, gibt es keine einzige zu japanischen Räumen passende Form. Der Gasofen erzeugt überdies ein lästig zischendes Geräusch, und man bekommt bald Kopfweh davon, wenn er nicht mit einem Abzugsrohr versehen wird. Der elektrische Ofen gilt zwar in dieser Hinsicht als ideal, aber seine Form ist ebenso unansehnlich. Ein Ausweg besteht darin, daß man Heizkörper, wie sie in der Straßenbahn verwendet werden, unter einem tiefen Regal anbringt. Doch es kommt keine winterliche Stimmung auf, wenn die Röte des Feuers unsichtbar bleibt, und das ist auch dem Zusammensitzen im trauten Familienkreis abträglich. Nach mancherlei Überlegungen ließ ich eine große zentrale Herdstelle einbauen, wie man sie in Bauernhäusern findet, und versah sie mit «elektrischen Kohlen». Diese Einrichtung eignet sich sowohl zum Wasserkochen wie zum Heizen des Zimmers, und wenn man von den erhöhten Kosten absieht, darf man sie auch vom Stil her als einen Erfolg verbuchen. Während ich für die Heizung also eine passable Lösung fand, brachten mich als nächstes das Badezimmer und die Toilette in Verlegenheit. Der Besitzer des Kairaku-en hat eine Ab-
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neigung dagegen, Badewannen und Waschgelegenheiten mit Fliesen auszulegen, und er hält die Badezimmer für die Gäste in reiner Holzausstattung; aber es braucht nicht gesagt zu werden, daß von der Wirtschaftlichkeit und vom praktischen Gebrauch her Fliesen unendlich überlegen sind. Braucht man allerdings für die Decke, die Pfeiler, die Täfelung ein schönes japanisches Holz und legt man nur einen Teil mit jenen grellen Fliesen aus, so harmoniert das sehr schlecht miteinander. Solange der Raum neu ist, mag es noch angehen. Aber wenn nach Jahren die geschmackvolle Maserung auf Brettern und Pfeilern hervortritt und nur die Fliesen weiß glitzern und gleißen, so sieht es wirklich aus, als habe man Holz zu Bambus gefügt (d. h. Unvereinbares miteinander verbunden; Anm. d. Übers.). Beim Bad nimmt man es vielleicht in Kauf, die praktischen Aspekte in einem gewissen Grad der Liebhaberei zu opfern; bei der Toilette hingegen ergeben sich Probleme, die nochmals um einen Grad heikler sind.
Jedesmal, wenn ich in Kyoto oder Nara einen Tempel besuche und dort zu einem althergebrachten, dämmerigen, tadellos sauberen Abort gewiesen werde, kommen mir die Vorzüge der japanischen Architektur so richtig zum Bewußtsein. Ein Teeraum ist gewiß ein sehr ansprechender Ort, aber noch mehr ist der Abort japanischen Stils so konzipiert, daß der Geist im wahr-
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sten Sinn Ruhe findet. Solche Örtchen stehen immer vom Hauptgebäude getrennt im Schatten eines Gebüschs, wo einem der Geruch von grünem Laub und Moos entgegenkommt; sie sind mit dem Haus durch einen gedeckten Gang verbunden, und wenn man in ihrem Halbdunkel kauert und, vom matthellen Widerschein der shōji beschienen, sich seinen Träumereien hingibt oder den Garten vor dem Fenster betrachtet, so ist das ein ganz unbeschreibliches Gefühl. Meister Sōseki * soll den allmorgendlichen Toilettenbesuch zu den Annehmlichkeiten des Lebens gerechnet haben, indem er bemerkte, es handle sich in erster Linie um ein physiologisches Wohlgefühl. Es dürfte kaum einen Ort geben, wo man dieses Wohlgefühl deutlicher empfindet, als den japanischen Abort, der von ruhigen Wänden und feiner Holzmaserung umgeben ist, der den Blick auf die Farben des blauen Himmels und des grünen Laubwerks freigibt. Und dazu gehört unabdingbar – ich sage es noch einmal – ein gewisses Halbdunkel, gründliche Sauberkeit und eine Stille, die selbst das Summen einer Mücke zum Ohr dringen läßt. Ich liebe es, auf einem solchen Örtchen dem sanften Rieseln des Regens zu lauschen. Besonders im Kantō-Gebiet haben die Aborte am Boden ein schmales, langes Fenster zum Auskehren des Staubs; von da her hört man den leisen Aufprall der vom Vordach oder den Baumblättern herabfallenden Tropfen noch näher, wie sie etwa das Fundament einer Steinlaterne waschen oder das Moos auf den Schrittsteinen anfeuchten, bevor die Erde sie aufsaugt.
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In der Tat, es gibt keinen geeigneteren Ort, um das Zirpen der Insekten, den Gesang der Vögel, eine Mondnacht, überhaupt die vergängliche Schönheit der Dinge zu jeder der vier Jahreszeiten auf sich wirken zu lassen, und vermutlich sind die alten HaikuDichter ebenda auf zahllose Motive gestoßen. So könnte man nicht ohne Grund behaupten, die japanische Architektur habe hier ihren raffiniertesten Ausdruck gefunden. Unsere Vorfahren, die die Gabe hatten, alles zu poetisieren, machten aus dem an sich unsaubersten Teil des Hauses einen Ort des guten Geschmacks, verbanden ihn mit den Schönheiten der Natur und umgaben ihn mit einer Aura von liebenswerten Assoziationen. Verglichen mit der Einstellung der Abendländer, die den Ort von Grund auf als unrein behandeln und sich sogar scheuen, in der Öffentlichkeit davon zu sprechen, ist die unsere viel weiser und erreicht ein Höchstes an geschmacklichem Raffinement. Ein Nachteil, falls man unbedingt einen solchen nennen will, ist allenfalls in der Entfernung vom Hauptgebäude zu sehen, was das Hingehen während der Nacht erschwert und besonders im Winter Erkältungsgefahr in sich birgt; aber da nach einem Ausspruch von Saitō Ryoku’u * «guter Geschmack eine kalte Sache» ist, so fühlt man sich wohler, wenn an einem solchen Ort die gleiche Kälte wie in der Umgebung draußen herrscht. Es ist höchst unangenehm, wenn sich in den westlichen Toiletten der Hotels die warme Luft der Zentralheizung ausbreitet. Jedem Liebhaber des architektonischen Teehaus-Stils dürfte
also diese Art des japanischen Aborts als Ideal vorschweben, und ohne Zweifel ist sie solchen Gebäuden angemessen, die wie etwa die Tempel im Verhältnis zu ihrer Weiträumigkeit wenig Bewohner zählen und in denen es nie an Händen zum Saubermachen mangelt. In gewöhnlichen Häusern dagegen ist es nicht einfach, ständig solche Sauberkeit zu wahren. Vor allem wenn der Boden mit Brettern oder tatami * ausgelegt ist, mag man noch so sehr auf gute Manieren halten und konsequent mit dem Putzlappen wirken: die Flecken sind bald einmal nicht mehr zu übersehen. So entschließt man sich eben doch eines Tages für Reinigungsinstallationen, indem man Fliesen legt und ein Klosett mit Wasserspülung einrichtet. Das ist nicht nur hygienischer, sondern erspart einem auch viel Mühe; aber damit ist es auch aus mit jeglicher Verbindung zum «geschmacklichen Raffinement» und zu den «Schönheiten der Natur». Wenn’s dort so hell glänzt und noch dazu die vier Wände blendend weiß ausgekleidet sind, so ist einem kaum danach zumute, das physiologische Wohlgefühl des Meisters Sōseki nach Herzenslust auszukosten. Gewiß, da von Ecke zu Ecke alles in reinstem Weiß überblickt werden kann, herrscht ohne Zweifel Sauberkeit; aber die Frage sei erlaubt: Muß man sich wirklich in diesem Ausmaß um einen Ort kümmern, der die Ausscheidungen unseres Körpers aufnehmen soll? Gleich wie es sich für eine schöne Frau – und mag sie noch so wunderbare Haut haben – nicht geziemt, das Hinterteil oder die Beine vor aller Welt zu entblößen, so ist
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es auch der Gipfel der Indiskretion, einen solchen Bereich so aufdringlich zu erhellen. Viel eher wird man von der Sauberkeit dessen, was man sieht, zur Gedankenübertragung angeregt auf das, was unsichtbar bleibt. Es macht sich besser, solche Orte in ein verschwommenes Halblicht zu tauchen und den Grenzbereich, von dem an es sauber oder weniger sauber wird, im Unklaren zu lassen. Aus all diesen Gründen habe auch ich mich beim Bau zwar für eine Spüleinrichtung entschieden, aber auf das Verlegen von Fliesen durchwegs verzichtet. Ich versuchte, mich an den japanischen Stil zu halten, indem ich den Boden mit Brettern des Kampferbaums abdecken ließ. Das Klosettbecken jedoch bereitete mir Schwierigkeiten. Wie man weiß, bestehen alle Becken für Wasserspülung aus schneeweißem Porzellan und sind mit glänzenden Metallteilen ausstaffiert. Mir hingegen schwebt vor, daß diese Einrichtung, gleich ob es sich um eine für Männer oder eine für Frauen handelt, möglichst aus Holz gefertigt sein sollte. Am besten ist mit Wachs versiegeltes Holz; aber auch unbehandeltes Holz nimmt mit der Zeit eine schön dunkle Färbung an, läßt die Maserung in reizvoller Weise hervortreten und hat eine seltsam beruhigende Wirkung auf die Nerven. Ideal wäre ganz besonders jene (für den männlichen Gebrauch bestimmte) Schüssel in Form einer Trichterwinde, falls sie aus Holz bestünde und mit dunkelgrünen Zedernzweigen ausgelegt würde; denn sie wäre nicht nur dem Auge angenehm, sondern würde auch jeglichen Schall verschlucken. Ob-
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wohl ich mir einen solchen Luxus nicht erlauben konnte, hatte ich doch wenigstens die Absicht, das Klosettbecken meinen Wünschen entsprechend anzufertigen und es mit Spülung zu versehen. Aber die Beschaffung eines derart ungewöhnlichen Stücks hätte mir so viele zusätzliche Umtriebe und Kosten verursacht, daß ich mich gezwungen sah zu verzichten. Zwar habe ich nichts dagegen, daß man die Errungenschaften der Zivilisation, sei es nun Beleuchtung, Heizung oder Klosett, übernimmt; aber wenn schon, warum kann man dann nicht ein bißchen mehr auf unsere Bräuche und Lebensart Rücksicht nehmen und jene Errungenschaften in ihrem Sinne adaptieren und verbessern? Dies war die eine Frage, die sich mir damals aufdrängte.
Schon jetzt kommen elektrische Leuchtkörper in Form von Papierlaternen allmählich in Mode, weil uns die zeitweilig vergessene Weichheit und Wärme des Materials «Papier» erneut aufgegangen ist und wir eingesehen haben, daß es besser als Glas zu unseren japanischen Häusern paßt. Dagegen findet man bei den Klosettbecken und den Öfen immer noch keine Formen im Handel, die wirklich harmonieren. Was die Heizung angeht, so halte ich meine Idee, eine Herdstelle mit «elektrischen Kohlen» auszustatten, für die beste. Aber kein Mensch käme darauf, auch nur eine so einfache Einrichtung auszugestalten (es gibt zwar schwächliche elektrische Kohlenbecken, aber sie
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unterscheiden sich kaum von gewöhnlichen Kohlenbecken, insofern sie nicht zum Heizen geeignet sind); in den Geschäften werden nur jene unförmigen Öfen westlichen Stils angeboten. Freilich, es ist ein Luxus, sich über den guten Geschmack in solchen Details des täglichen Lebens lange den Kopf zu zerbrechen, und manche Leute werden wohl sagen, Hauptsache sei, wenn etwas zum Schutz vor Kälte, Hitze oder Hunger beitrage; da sei es nicht am Platz, nach der Form zu fragen. Zugegeben, man mag sich in seinen Ansprüchen noch so sehr einschränken, «ein Tag, an dem der Schnee fällt, ist ein kalter Tag», und wenn man an einem solchen Tag ein praktisches Gerät in Reichweite hat, so ist man natürlich rasch geneigt, sich dieser Wohltat zu bedienen, ohne lange die etwa vorhandene oder fehlende Eleganz zu erörtern. Das sehe ich gewiß ein – und dennoch beschäftigt mich immer wieder der Gedanke, inwiefern sich wohl unsere Gesellschaft von ihrem heutigen Zustand unterscheiden würde, wenn der Osten eine vom Westen völlig getrennte, eigenständige wissenschaftlich-technische Zivilisation hervorgebracht hätte. Angenommen, wir hätten zum Beispiel unsere eigene Physik und Chemie gehabt, hätte dann nicht auch die darauf basierende Technik und Industrie von selbst eine andersartige Entwicklung durchgemacht, und wären dabei nicht allerhand Dinge produziert worden wie Apparate für den täglichen Gebrauch, Medikamente oder kunstgewerbliche Arbeiten, die besser mit unserem Volkscharakter
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übereinstimmten? Wer weiß, vielleicht hätte man sogar die Prinzipien der Physik und der Chemie selbst aus einem anderen Blickwinkel als demjenigen der Abendländer betrachtet, und Phänomene wie die Lichtstrahlung, die Elektrizität, die Atome hätten sich in bezug auf Wesen und Eigenschaften in anderer Gestalt präsentiert als derjenigen, die man uns heute beibringt. Mir fehlen allerdings theoretische Kenntnisse, und so lasse ich hier nur einfach meiner Phantasie die Zügel schießen; doch wenn nur schon die Erfindungen auf praktischer Ebene eine originale Richtung verfolgt hätten, so kann man sich leicht ausmalen, daß sie dann einen breiten Einfluß auf die Art, wie wir wohnen, uns kleiden und ernähren, im weiteren auch auf die Formen unserer Politik, Religion, Kunst und Industrie hätten ausüben müssen und daß der Osten als Osten wohl eine ihm eigene Welt geschaffen hätte. Um ein naheliegendes Beispiel zu nehmen: Ich habe früher einmal in der Zeitschrift «Bungei shunjū» einen Vergleich zwischen dem Füllfederhalter und dem Pinsel gezogen. Wenn zufällig ein Japaner oder Chinese aus früherer Zeit sich den Füllfederhalter ausgedacht hätte, dann hätte er vermutlich die Spitze nicht mit einer Metallfeder, sondern mit Pinselhaaren versehen. Für die Tinte hätte er nicht jenes Blau, sondern eine der Reibtusche nahekommende Farbe gewählt, und er hätte die Tinte aus dem Halter in die Pinselhaare aussickern lassen. In diesem Falle hätte sich auch das westliche Papier nicht geeignet; am stärksten wäre wohl die Nachfrage nach einer
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in großen Mengen herstellbaren, aber dem Japanpapier ähnlichen Papierqualität, nach einer Art verbessertem hanshi *, gewesen. Wenn Papier, Tusche und Pinsel eine derartige Entwicklung genommen hätten, dann wären wohl Feder und Tinte nie so populär wie heute geworden, die Befürworter der römischen Schrift * hätten wohl nie solches Gehör gefunden, und die allgemeine Vorliebe für die chinesischen Ideogramme und die japanischen Silbenschriftzeichen hätte sich unvermindert erhalten. Und nicht nur das, auch unser Denken und unsere Literatur hätten wohl nicht in diesem Ausmaß dem Westen nachgeeifert, wären vielleicht in neue, selbständigere Sphären vorgestoßen. Diese Überlegung zeigt, wie selbst ein unscheinbares Schreibgerät große, sich ins Unendliche fortsetzende Auswirkungen haben kann.
Ich weiß sehr wohl, daß diese Gedanken nichts weiter sind als Phantasien eines Schriftstellers und daß wir an dem Punkt, an dem wir heute nun einmal stehen, nicht mehr zurückkehren und neu anfangen können. Was ich da gesagt habe, ist deshalb nur ein Greifen nach dem Unmöglichen, es läuft auf eine Nörgelei hinaus; aber sei’s drum, man wird ja wohl darüber nachdenken dürfen, was für Nachteile wir im Vergleich zu den Abendländern in Kauf nehmen müssen. Mit einem Wort: Der Westen hat auf einem gradlinigen Weg seinen heutigen Stand erreicht; wir unserer-
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seits stießen auf eine überlegene Zivilisation, waren gezwungen, sie zu übernehmen, und mußten dafür einen andern Kurs einschlagen als denjenigen, den wir seit ein paar tausend Jahren verfolgt hatten, was verschiedene Mängel und Inkonvenienzen zur Folge hatte. Ich gebe zu: Hätte man uns einfach uns selbst überlassen, so wären wir vielleicht in materieller Hinsicht weder vor fünfhundert Jahren noch heute viel weiter gekommen; und tatsächlich ist ja in China oder Indien auf dem Land draußen auch heute noch das Leben kaum anders als zu Zeiten des Buddha und des Konfuzius. Aber zumindest hätten wir eine unserem Wesen entsprechende Richtung einhalten können. Und schließlich, nach einem zwar langsamen, aber stetigen Fortschreiten wäre vielleicht doch auch für uns einmal der Tag gekommen, da wir zivilisatorische Errungenschaften vorzuweisen gehabt hätten, die unseren heutigen Straßenbahnen, Flugzeugen oder Radioapparaten entsprächen – Errungenschaften, die nicht von anderen entlehnt wären, sondern wirklich mit unseren Bedürfnissen übereinstimmten. Greifen wir als weiteres Beispiel den Film heraus, dann unterscheidet sich der amerikanische vom französischen oder deutschen in bezug auf Schattierung und Farbtönung. Von der Art der Spielweise und der Verfilmung eines Stoffes ganz abgesehen, manifestiert sich schon auf der Ebene der Aufnahmetechnik irgendwie der unterschiedliche Volkscharakter. Wenn das schon beim Gebrauch derselben Apparate und Chemikalien, desselben Filmmaterials der Fall ist, wie sehr müßte
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dann erst recht eine von uns selbständig entwickelte Photographie auf unsere Haut, unser ganzes Aussehen, unsere klimatischen und topographischen Verhältnisse zugeschnitten sein. Das gleiche gilt auch für das Grammophon und das Radio; wenn sie von uns erfunden worden wären, so wäre wohl etwas zustande gekommen, das die Eigenarten unserer Stimmgebung und Musik besser zum Leben erweckt. Unsere Musik ist ihrem Wesen nach zurückhaltend und von Stimmungen geprägt; deshalb geht der größte Teil ihres Reizes verloren, wenn sie auf Platten aufgenommen oder durch Lautsprecher verstärkt wird. Auch bei unseren Erzähl- und Redekünsten ist unsere Stimme weniger laut, wir brauchen weniger Worte, und wichtiger als alles andere ist das richtige Pausieren; bei der mechanischen Reproduktion aber wird dieses Pausieren vollständig zunichte. Und so verzerren wir gar unsere Künste selbst, um ja der Maschine entgegenzukommen. Ursprünglich haben die Abendländer diese Apparate aus ihrer Mitte heraus entwikkelt und daher selbstverständlich nach den Bedürfnissen ihrer Künste gestaltet. In diesem Sinne müssen wir die verschiedensten Nachteile in Kauf nehmen.
Das Papier ist, so heißt es, eine Erfindung der Chinesen. Wenn wir westliches Papier vor uns haben, empfinden wir nichts, außer daß es sich um einen einfachen Gebrauchsgegenstand handelt. Wenn wir
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jedoch die Musterung von China- oder Japan-Papier betrachten, so spüren wir darin eine Art Wärme, die unser Herz beruhigt. Auch wenn alle Sorten weiß sind, so ist doch die Weiße des westlichen Papiers verschieden von der Weiße des dicken japanischen hōsho-Papiers * oder des weißen China-Papiers. Die Oberfläche des westlichen Papiers scheint die Lichtstrahlen gleichsam zurückzuwerfen, während das hōsho- und das China-Papier wie eine Fläche weichen, frisch gefallenen Schnees die Lichtstrahlen satt in sich aufsaugt. Berührt man es, so ist es geschmeidig und erzeugt beim Falten und Zusammenlegen kein Geräusch. Es fühlt sich sanft und feucht an, als ob man ein Laubblatt anfaßte. Im allgemeinen werden wir von innerer Unruhe erfaßt, wenn wir hell glänzende Dinge sehen. Im Westen verwenden die Leute unter anderem für das Besteck Silber und Stahl und Nickel und polieren es, damit es möglichst glitzert, aber wir haben eine Abneigung gegen solche funkelnden Gegenstände. Zwar braucht man auch bei uns gelegentlich Wasserkessel, Sake-Schalen und -Flaschen aus Silber, doch nie werden sie so poliert. Im Gegenteil, man freut sich, wenn der Oberflächenglanz verschwindet und sie mit dem Alter schwarz anlaufen. Fast in jedem Haus kommt es vor, daß eine unverständige Dienstmagd ein Silbergefäß mit wertvoller Patina blankscheuert und deswegen vom Hausherrn gescholten wird. Neuerdings ist in der chinesischen Küche Zinngeschirr weit verbreitet. Vermutlich lieben es die Chinesen, weil es ebenfalls Patina ansetzt. Solange es näm-
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lich neu ist, sieht es ähnlich wie Aluminium aus und ist nicht gerade ansprechend; erst wenn es älter wird und eine geschmackvolle Qualität annimmt, können die Chinesen sich damit anfreunden. Und auch die darauf eingravierten Gedichtzeilen und anderen Aufschriften passen erst dann wirklich dazu, wenn die Oberfläche schwärzlich angelaufen ist. Das heißt, in den Händen der Chinesen wird das seichte, glänzende Leichtmetall Zinn zu etwas Dichtem, Schwerem, das abgründig wirkt wie rötliche Keramik. Die Chinesen lieben auch die Jade, und ich frage mich, ob wohl außer uns Ostasiaten noch jemand etwas Reizvolles an diesen seltsam trüben Steinklumpen sehen kann, die in ihrem tiefsten Innern ein träges, stumpfes Licht umschließen, als wäre da die alte Luft von Jahrhunderten zu einer Masse geronnen. Auch wir selber sind uns nicht recht im klaren darüber, was uns eigentlich zu solchen Steinen hinzieht, die weder die Farben des Rubins oder Smaragds noch das Funkeln des Diamanten an sich haben. Aber beim Betrachten der wolkigen Oberfläche erscheint einem dieser Stein als etwas typisch Chinesisches, so als ob sich in dieser kompakten Trübnis gleichsam der Bodensatz der in ferne Vergangenheit zurückreichenden chinesischen Zivilisationen abgelagert hätte, und man wundert sich jedenfalls nicht, daß die Chinesen an einer solchen Farbqualität und Substanz Geschmack finden. Oder nehmen wir den Kristall: Seit einiger Zeit wird viel davon aus Chile importiert; vergleicht man ihn mit dem japanischen, dann ist er allzu schön und durchsichtig. Der seit alters
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bekannte Kristall aus der Provinz Kōshū ist hingegen bei aller Durchsichtigkeit von leichten Wolken durchzogen und macht einen schwereren Eindruck. Und dann gibt es sogenannte «Graskristalle», in deren Innerem undurchsichtige Partikel eingeschlossen sind und die uns noch mehr als die anderen Freude machen. Selbst das Glas – gibt es nicht das von den Chinesen produzierte kenryū-Glas, welches eher nach Jade oder Achat aussieht als nach Glas? Die Kunst der Glasherstellung ist zwar schon früh auch im Osten bekannt geworden, aber hat sich, anders als im Westen, nicht entfaltet. Dafür wurde die Keramik weiterentwickelt, was ohne Zweifel mit unserem Volkscharakter in Zusammenhang stehen muß. Man kann nicht sagen, daß wir ganz allgemein glänzende Dinge ablehnen; doch einem seichten, hellen Glanz ziehen wir ein vertieftes, umwölktes Schimmern vor. Sei es ein natürlicher Stein oder ein künstlich geschaffenes Gerät, es geht uns um einen von Trübungen gedämpften Glanz, der unfehlbar mit der Vorstellung einer Alterspatina zusammenhängt. Man hört den Ausdruck «Alterspatina» oder dergleichen oft, doch um die Wahrheit zu sagen, handelt es sich um den Glanz, der auf den Schweiß und Schmutz der Hände zurückzuführen ist. In China gibt es das Wort «Handglanz», in Japan das Wort «nare» (Abgegriffensein; Anm. d. Übers.); beide meinen den Glanz, der entsteht, wenn eine Stelle von Menschenhänden während langer Zeit angefaßt, glattgescheuert wird und die Ausdünstungen allmählich ins Material eindringen. Es handelt sich also,
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anders gesagt, zweifelsohne um den Schweiß und Schmutz der Hände. So betrachtet, darf man dem Ausspruch «Guter Geschmack ist eine kalte Sache» auch noch beifügen «und eine unsaubere dazu». Jedenfalls läßt sich nicht leugnen, daß in dem, was wir als «Raffinement» schätzen, ein Element von Unreinlichkeit und mangelnder Hygiene steckt. Während die Abendländer den Schmutz radikal aufzudecken und zu entfernen trachten, konservieren ihn die Ostasiaten sorgfältig und ästhetisieren ihn, so wie er ist – könnte man, wenn man wollte, beschönigend sagen; aber wie auch immer, es ist unser Schicksal, daß wir nun einmal Dinge mit Spuren von Menschenhänden, Lampenruß, Wind und Regen lieben oder auch daran erinnernde Farbtönungen und Lichtwirkungen. Und wenn wir in solchen Gebäuden, mitten unter solchen Gerätschaften wohnen, dann besänftigt sich unser Herz und beruhigen sich unsere Nerven in seltsamer Weise. Darum denke ich immer bei mir, wie es wäre, wenn man in den Krankenhäusern, die für Japaner bestimmt sind, nicht derart glänzende oder schneeweiße Wände, Operationskleider und medizinische Apparate häufen würde, sondern all das in einem etwas dunkleren, weicheren Ton hielte. Falls die Wände mit Sand oder etwas Ähnlichem abgedeckt wären und die Patienten auf tatami in japanischen Räumen behandelt würden, müßte sich sicher auch ihr Erregungszustand legen. Der Grund, warum wir den Zahnarzt nicht mögen, liegt zum einen sicher bei den Kratz- und Bohrgeräuschen, zum andern aber
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gibt es da allzu viele glitzernde Gegenstände aus Glas und Metall, die uns einschüchtern. Damals, als ich an ausgeprägter Nervenschwäche litt, sträubten sich mir die Haare, wenn ich nur schon von einem Zahnarzt hörte, der eben aus Amerika zurückgekehrt und auf seine modernste Einrichtung stolz war. Einen altmodischen Zahnarzt, der in einem traditionellen japanischen Haus eines kleinen Landstädtchens seine Praxis eingerichtet hatte, suchte ich dagegen gerne auf. Damit will ich freilich nicht sagen, vom Alter gezeichnete medizinische Apparate seien etwas Erstrebenswertes. Aber wenn die moderne Medizin in Japan herangereift wäre, so hätte man die Einrichtungen und Apparaturen zur Behandlung der Kranken doch wohl irgendwie in einer Weise entworfen, daß sie mit japanischen Räumen harmonieren. Auch dies ist ein Beispiel dafür, wie uns aus der Übernahme von Dingen Nachteile erwachsen.
In Kyoto gibt es ein berühmtes Restaurant namens Waranji-ya. In diesem Haus wurden bis vor kurzem die Gastabteile nicht mit elektrischen Lampen, sondern mit altertümlichen Kerzenleuchtern erhellt, was als besondere Attraktion galt. Doch als ich diesen Frühling nach längerem Unterbruch wieder einmal hinging, waren plötzlich stehlampenförmige elektrische Lichter an ihre Stelle getreten. Als ich fragte, seit wann das so sei, hieß es, man habe sie im letzten Jahr
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ersetzt; man sei dazu gezwungen gewesen, weil viele Gäste sich beklagt hätten, es sei allzu dunkel bei Kerzenlicht. Denjenigen aber, denen es in der alten Weise besser gefallen habe, bringe man gerne Kerzenleuchter. Ich ließ also die Lampen mit Kerzenleuchtern vertauschen, denn ich war gerade auch wegen dieses Vergnügens hergekommen. Und bei der Gelegenheit spürte ich, wie die Schönheit der japanischen Lackarbeiten erst dann wirklich zur Geltung kommt, wenn man sie in solch unbestimmtes Dämmerlicht stellt. Die Séparées im Waranji-ya sind bescheidene, etwa viereinhalb Matten große Teeräume, die Pfeiler der Wandnischen und die Decken glänzen schwärzlich, und deshalb erwecken sie schon bei elektrischer Stehlampenbeleuchtung einen dunklen Eindruck. Aber als die noch weit dunkleren Kerzenleuchter gebracht wurden und ich im Widerschein ihrer schwankenden Flammen das Eßtischchen und die Suppenschale anschaute, entdeckte ich, daß der abgründig und dicht wie ein stehendes Gewässer schimmernde Glanz dieser Lackgegenstände einen ganz andersartigen Reiz als bisher gewonnen hatte. Ich weiß jetzt, es war kein Zufall, daß unsere Vorfahren den Lack als Anstrich erfunden und eine Vorliebe für die Farbwerte und Ausstrahlung der damit behandelten Geräte gezeigt haben. Mein Freund Sabarwal hat mir berichtet, in Indien meide man auch heute noch Keramik als Eßgeschirr, größtenteils brauche man dafür Lackwaren. Wir im Gegenteil verwenden, sieht man von der Teezeremonie oder anderen zeremoniellen Gelegenheiten
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ab, fast nur Keramik, außer für die Eßtischchen und die Suppenschalen, ja, es ist so weit gekommen, daß man Lackwaren geradezu als bäurisch und geschmacklos ansieht. Liegt ein Grund dafür nicht etwa in der «Helligkeit», die uns die neuen Beleuchtungseinrichtungen beschert haben? Es ist in der Tat berechtigt, «Dunkelheit» zu den notwendigen Bedingungen zu rechnen, wenn die Schönheit einer Lackarbeit beurteilt werden soll. Heute stellt man zwar auch so etwas wie «weißen Lack» her, doch die Oberfläche der seit alters gebräuchlichen Lacke ist schwarz, braun oder rot; es sind Farben, in denen sich «Dunkelheit» in mehreren Schichten abgelagert hat und die, so darf man annehmen, notwendigerweise aus dem Dunkel ihrer Umgebung heraus entstanden sind. Mit luxuriösen Lackmalereien versehene, hellglänzende, wachsüberzogene Toilettenkästen, Schreibpulte, Regale mögen zwar tatsächlich grell, ruhelos, ja sogar vulgär wirken; aber man tauche einmal den Raum in ihrer Umgebung in pechschwarze Dunkelheit und lasse dann anstelle des Sonnenlichts oder des elektrischen Lichts das Licht einer einzigen Altarlampe oder Kerze aufscheinen – so werden diese grellen Gegenstände alsbald eine Qualität von Tiefe, Schlichtheit und Würde annehmen. Ohne Zweifel hatten die Kunsthandwerker früherer Zeiten, wenn sie Geräte lackierten und mit Malereien versahen, solche dunklen Räume im Sinn und wollten eine Wirkung im Rahmen solch spärlicher Beleuchtung erzielen; und auch wenn sie reichlich Goldfarbe verwendeten, so
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bedachten sie sehr wohl, in welchem Grad das Gold im Dämmerlicht hervortreten und den Lampenschein reflektieren würde. Das heißt, eine Lackmalerei in Gold soll nicht an einem hellen Ort mit einem Blick als Gesamtheit überschaut werden, sondern sie ist so beschaffen, daß man an einem dunklen Ort von Zeit zu Zeit den einen und dann wieder den andern Teil tiefgründig auf leuchten sieht. Gerade die Tatsache, daß die prunkvoll-üppigen Muster größtenteils im Dunkel verborgen bleiben, erzeugt eine unaussprechliche Resonanz. Jener hervorstechende Glanz der gesamten Oberfläche seinerseits widerspiegelt, wenn ins Dunkel gerückt, das Schwanken der Flamme, zeigt an, daß auch durch ein ruhiges Zimmer gelegentlich ein Luftzug streicht, und zieht den Menschen unwillkürlich ins Sinnieren hinein. Stünden in dem düstern Raum keine Lackgeräte, wieviel an Reiz verlöre dann die Traumwelt jenes durch Kerzen oder Altarlämpchen erzeugten Ungewissen Lichtscheins und wieviel verlöre der vom Flackern einer Flamme bestimmte Pulsschlag der Nacht! Wirklich, als ob zahlreiche Rinnsale über die tatami flössen und sich zu einem stehenden Gewässer sammelten, so nimmt der Lack hier und dort einen Lichtstrahl auf, leitet ihn dünn, diffus und flackernd weiter und webt ein Muster in die Nacht selber hinein, ähnlich dem einer Lackmalerei. Zwar eignet sich Keramik nicht schlecht für Eßgeschirr, doch fehlt ihr im Unterschied zu den Lacken die Schattierung und Tiefe. Nimmt man Keramikwaren in die Hand, so wirken sie schwer und kalt; weil
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sie die Wärme schnell weiterleiten, sind sie für warme Speisen nicht zweckmäßig, und überdies klirren sie unangenehm. Lack waren dagegen liegen leicht in der Hand, sind weich und erzeugen kaum einen hörbaren Ton. Wenn ich eine Suppenschale in der Hand halte, dann liebe ich über alles ihre lebendige Wärme und die Schwere ihres Inhalts, die auf der Handfläche lastet. Es ist ein Gefühl, als ob man den geschmeidigen Körper eines eben geborenen Säuglings trüge. Mit guten Gründen wird also auch heute noch eine Lackschale für die klare Suppe verwendet; niemals könnte Keramik denselben Dienst leisten. Vor allem zeigt sich bei einer Keramikschale der Körper und die Färbung der darin enthaltenen Flüssigkeit durch und durch, sobald man den Deckel hebt. Unvergleichlich ist dagegen bei der Lackschale die kurze Zeitspanne vom Abnehmen des Deckels bis zum Ansetzen der Schale an den Mund, wenn am dunklen, tief hinabführenden Schalengrund die kaum von der Lackfarbe zu unterscheidende, lautlos dahindämmernde Flüssigkeit sich dem Auge darbietet. Man kann nicht erkennen, was das Dunkel der Schale in sich birgt, aber man fühlt auf der Hand das sanfte Schwanken der Brühe, man bemerkt, wie sich am Rand ein feiner Dunst niedergeschlagen hat und von daher der Dampf aufsteigt, man ahnt aus dem Geruch dieses Dampfes andeutungsweise den Geschmack, noch bevor man die Schale an die Lippen setzt. Was für ein Unterschied des Empfindens in diesem Augenblick, wenn man an die westliche Manier denkt, Suppen in seichten, weißlichen
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Tellern aufzutragen! Man geht kaum zu weit mit der Behauptung, es sei darin eine Art von Mystik, ein Anstrich von Zen enthalten.
Wenn ich die Suppenschale vor mir habe, wenn ich die Schale singen höre mit jenem ganz leisen, wie von einem fernen Insekt herstammenden Ton, der gleichsam ins innerste Ohr einsickert, wenn ich meine Sinne auf den Vorgeschmack der Speise richte, die ich gleich kosten werde, dann fühle ich mich immer in einen Zustand der Selbstvergessenheit hineingezogen. In einer ähnlichen Gemütslage befinden sich vermutlich die Teeliebhaber, die das Geräusch des ziehenden Wassers in Gedanken mit dem Wind in den Kiefern von Onoe * verbinden und dabei in Verzückung geraten. Es heißt oft, die japanische Küche sei nicht zum Essen da, sondern zum Anschauen, aber in unserem Fall möchte ich sagen, noch mehr als zum Anschauen sei sie zum Meditieren da. Das ist die Wirkung einer wortlosen Musik, die aus dem Zusammenspiel des im Dunkel flackernden Kerzenlichts mit der Lackschale aufklingt. Vor einiger Zeit hat Meister Sōseki in seinem Werk «Kusamakura» * die Farbe der süßen Bohnenpaste (yōkan) * gepriesen; und in der Tat, hat jene Farbe nicht auch etwas Meditatives an sich? Die wie Jade halbdurchsichtige, umwölkte Oberfläche saugt das Licht tief in sich hinein und umschließt eine traumhafte, matte Helligkeit. Ein solches Gefühl, eine
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solche Tiefe und Komplexität der Färbung wird man bei westlichen Süßigkeiten nie zu Gesicht bekommen. Wie seicht und simpel wirken im Vergleich dazu Crèmes irgendwelcher Art! Einen noch stärkeren Anreiz zur Meditation bietet die Färbung der Bohnenpaste allerdings, wenn man sie in eine Lackschale gibt und wenn ihr Oberf lächenglanz im kaum durchschaubaren Dunkel der Schale versinkt. Schiebt man nun eines dieser kalten, glatten Stücke in den Mund, so hat man das Gefühl, die im Zimmer herrschende Dunkelheit sei gewissermaßen zu einem süßen Klumpen geronnen, der nun auf der Zungenspitze zergeht; und selbst eine yōkan-Sorte, die in Wahrheit nicht besonders fein ist, gewinnt dadurch eine ungewöhnliche Tiefe des Geschmacks. Wahrscheinlich dürfte in allen Ländern die Färbung der Speisen so gehalten sein, daß sie mit der Farbe des Eßgeschirrs und auch der Zimmerwände harmoniert; gewiß ist jedenfalls, daß der Appetit um die Hälfte abnimmt, wenn man japanische Speisen an einem hellen Ort aus weißlichem Geschirr ißt. Als Beispiel sei jene rötliche miso-Suppe * erwähnt, die wir jeden Morgen zubereiten: Wenn man über ihre Farbe nachdenkt, leuchtet es ein, daß sie ihren Ursprung in den halbdunklen Häusern früherer Zeiten haben muß. Einst folgte ich der Einladung zu einer Teezeremonie, bei der miso-Suppe aufgetragen wurde. Als ich die durch eine dicke, rötliche Erdfarbe gekennzeichnete Brühe, welche ich bis dahin immer gedankenlos zu mir genommen hatte, betrachtete, wie sie unter ungewissem Kerzenschimmer in einer
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schwarzen Lackschale dahindämmerte, wurde mir bewußt, welche Tiefe und welcher Wohlgeschmack tatsächlich in dieser Farbe beschlossen ist. Oder nehmen wir als weiteres Beispiel die Sojasauce, besonders jenes schwere Konzentrat namens tamari, das man in der Gegend von Kyoto-Osaka für rohen Fisch und eingelegtes oder gekochtes Gemüse verwendet: Wie reich an Schatten ist doch diese dickf lüssig glänzende Tunke, wie sehr steht sie mit der Dunkelheit im Einklang. Aber auch weiße miso-Suppe, tōfu *, kamaboko *, geriebene Yamswurzel, weißf leischiger Fisch, alle diese Dinge, die weiß aussehen, kommen farblich nicht zur Geltung, wenn ihre Umgebung erhellt wird. Und dann vor allem der Reis: Gibt man ihn in einen glänzenden, schwarzlackierten Reisbehälter und stellt man ihn an einem dunklen Ort auf, dann ist er nicht nur schön zum Anschauen, sondern regt auch den Appetit an. Wer jenen frischgekochten, reinweißen Reis sieht, wie er unter dem rasch gehobenen Deckel hervor warmen Dampf aufsteigen läßt, wie er in dem schwarzen Gefäß aufgehäuft daliegt und wie jedes einzelne Korn gleich einer Perle glänzt, der wird, sofern er ein Japaner ist, so recht das Ehrfurchtgebietende des Reises spüren. Beim Nachdenken über all diese Dinge kommt man zur Einsicht, daß unsere Küche gewöhnlich den Schatten zum Grundton macht und mit der Dunkelheit in unauflöslicher Verbindung steht.
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Ich bin zwar ein vollständiger Laie in bezug auf Architektur, aber es heißt, die Schönheit der westlichen Kathedralen gotischen Stils bestehe darin, daß ihre Dächer steil in die Höhe laufen und ihre Spitzen bis in den Himmel hinein streben. Im Gegensatz dazu stülpt sich bei den Tempelhallen unseres Landes ein riesiges Ziegeldach über das ganze Gebäude, und die Struktur ist in dem breiten, tiefen Schatten zusammengefaßt, den das Vordach wirft. Nicht nur bei den Tempeln, sondern auch bei den Palästen und Bürgerhäusern ist das, was von außen her am meisten in die Augen fällt, das große, manchmal ziegelgedeckte, manchmal schilfgedeckte Dach und die unter dem Vordach sich ausbreitende kompakte Dunkelheit. Gelegentlich herrscht selbst am hellichten Tag von der Dachtraufe an eine höhlenähnliche Düsternis, und der Eingang, die Türen, die Wände, die Pfeiler sind kaum zu erkennen. Dies trifft gleicherweise für die mächtigen Bauten etwa des Chion-in * oder des Honganji-Tempels * wie auch für weit abgelegene Bauernhäuser auf dem Lande zu. Vergleicht man bei alten Gebäuden die Dachpartie mit dem Teil von der Dachtraufe abwärts, so erscheint wenigstens dem bloßen Auge das Dach meist viel schwerer, höher, großflächiger. Wenn wir also einen Wohnsitz errichten, breiten wir vor allen Dingen den Schild eines Daches aus, beschatten damit ein abgemessenes Areal auf dem Erdboden und konstruieren das Haus in diesen dämmrigen Schattenbezirk hinein. Natürlich sind auch die Gebäude im Westen nicht ohne Dächer,
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aber ihr Hauptzweck liegt weniger im Abschirmen der Sonnenstrahlung als im Schutz vor Regen und Nässe, und schon die äußeren Unirisse machen deutlich, daß sie darauf angelegt sind, ein Minimum an Schatten zu werfen und den Innenraum soviel wie irgend möglich dem Licht auszusetzen. Wenn das japanische Dach ein Schirm ist, so ist das westliche Dach nur ein Hut – ein Hut überdies, dessen Krempe wie bei einer Sportmütze auf einen kleinen Rest reduziert ist und bei dem die direkte Sonnenstrahlung bis ganz nahe unter den Rand hinauf vordringt. Vermutlich hängt die Länge des japanischen Vordachs mit den klimatischen und topographischen Verhältnissen, mit den Baumaterialien und mit verschiedenen anderen Bedingungen zusammen. Zum Beispiel hatte man keine Ziegel, kein Glas und keinen Zement zur Vertilgung, und deshalb sah man sich wohl gezwungen, die Vordächer tief herabzuziehen, um die seitlichen Windstöße und Regenschauer abzuhalten. Man machte also aus der Not eine Tugend, denn ohne Zweifel wären auch für die Japaner helle Räume bequemer gewesen als dunkle. Das, was man als schön bezeichnet, entsteht in der Regel aus der Praxis des täglichen Lebens heraus. So entdeckten unsere Vorfahren, die wohl oder übel in dunklen Räumen wohnen mußten, irgendwann die dem Schatten innewohnende Schönheit, und sie verstanden es schließlich sogar, den Schatten einem ästhetischen Zweck dienstbar zu machen. Tatsächlich gründet die Schönheit eines japanischen Raumes rein in der Abstufung
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der Schatten. Sonst ist überhaupt nichts vorhanden. Abendländer wundern sich, wenn sie japanische Räume anschauen, über ihre Einfachheit und haben den Eindruck, es gebe da nur graue Wände ohne die geringste Ausschmückung. Das ist von ihrem Standpunkt her gesehen durchaus plausibel; aber es zeigt, daß sie das Rätsel des Schattens nicht begriffen haben. Wir hingegen bringen auf der Außenseite der Zimmer, in die die Sonnenstrahlen ohnehin schon mit Mühe eindringen, zusätzlich noch Schutzdächer oder Veranden an, um das Licht noch mehr fernzuhalten und um zu bewirken, daß sich nur der diffuse Widerschein vom Garten her durch die shōji hindurch ins Innere stehlen kann. So besteht das ästhetische Element unserer Räume in nichts anderem als eben in dieser mittelbaren, abgestumpften Lichtwirkung. Und damit dieses kraftlose, kümmerliche, unbestimmte Licht sich stillvertraulich über die Zimmerwände legt, versehen wir diese Wände absichtlich mit einem Sandbelag in zurückhaltenden, dezenten Farben. Orte wie Speicher, Küchen, Korridore werden in einem glanzvollen Farbton gehalten; doch die Wände der Wohnräume sind fast durchwegs Sandwände und werden höchst selten zum Glänzen gebracht. Denn wenn man ihnen Glanz verleiht, löst sich die weiche, zarte Stimmung des spärlichen Lichtscheins in nichts auf. Wir erfreuen uns an jener zarten Helligkeit, die entsteht, wenn ein bereits diffuses Außenlicht allenthalben die dämmerfarbigen Wandflächen überzieht und nur mit Mühe einen Rest von Leben bewahrt.
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Für uns übertrifft diese Helle oder dieses Dämmerlicht auf den Wänden jegliche Art von Dekor, und wir werden seines Anblicks nie überdrüssig. Darum sind richtigerweise die Sandwände immer in einer einheitlichen Farbe angestrichen, damit die Lichtwirkung nicht beeinträchtigt wird. Nur von Raum zu Raum gibt es je leicht veränderte Farbtönungen – und was für delikate Unterschiede sind das doch! Fast eher als um Farbunterschiede handelt es sich um ganz geringe Hell-Dunkel-Nuancen, die etwa leichten Stimmungsschwankungen des Betrachters entsprechen. Überdies erhält jeder Raum aufgrund der unmerklichen Farbunterschiede eine ihm eigene, leicht anders getönte Schattenwirkung. Es gibt allerdings in unseren Wohnräumen auch die sogenannten Wandnischen (tokonoma), in die man Bildrollen hängt und Blumen stellt; aber selbst diese Bildrollen und Blumen sollen nicht so sehr die Wirkung einer Dekoration ausüben als vielmehr dem Schatten Tiefe verleihen. Wenn wir eine Bildrolle aufhängen, dann achten wir vor allen Dingen auf den Einklang der Rolle mit der Wand der tokonoma, also auf das, was man tokoutsuri (etwa: Stimmigkeit in bezug auf die Wandnische; Anm. d. Übers.) nennt. Eben darum legen wir auch auf die Art, wie eine Rolle aufgezogen ist, gleich viel Gewicht wie auf die Kalligraphie oder das Bild selbst, das den Inhalt der Rolle ausmacht. Wenn die Stimmigkeit schlecht ist, so verliert jedes noch so berühmte kalligraphische oder malerische Werk seinen Wert als Hängebild. Umgekehrt gibt es Fälle, da eine für
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sich genommen keineswegs zu den Meisterwerken zählende Kalligraphie oder Malerei, sobald man sie in die Nische eines Teeraums hängt, damit außergewöhnlich gut harmoniert, so daß Bildrolle wie Raum plötzlich gesteigert hervortreten. Und wenn man nachprüft, was denn bei dieser an sich nicht gerade hervorragenden Rolle eine so harmonische Wirkung hervorbringt, dann liegt es gewöhnlich an der antiken Qualität des Papiers, der Tuschfarbe oder der Leinwand, auf die das Bild montiert ist. Diese antike Qualität steht im genau entsprechenden Verhältnis zur Dunkelheit der Wandnische oder des ganzen Raums. Wir besuchen häufig die berühmten Tempel in Kyoto oder Nara, und man zeigt uns dabei manche als Tempelschätze geltenden Bildrollen, die in den Wandnischen von weiten, tief hineinführenden Hallen hängen. Solche Nischen sind meist auch tagsüber kaum erhellt, man kann die Bildelemente nicht auseinanderhalten, und während man zu den Erklärungen des Führers den halbverblaßten Tuschespuren folgt, bildet man sich nur ein, man habe ein prachtvolles Bild vor sich. Doch ergibt sich zwischen solchen alten Bildern und düsteren Wandnischen ein so genaues Zusammenspiel, daß man die Undeutlichkeit der Zeichnung nicht nur problemlos akzeptiert, sondern auch noch das Gefühl hat, ein solches Maß an Undeutlichkeit sei genau das Richtige. Das heißt, in diesem Fall ist das Bild nichts weiter als eine vornehme «Fläche», die zur Aufnahme des unbestimmten, schwachen Lichtscheins dient, hat also gänzlich
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dieselbe Funktion wie eine Sandwand. Aus diesem Grund legen wir bei der Wahl von Bildrollen auf das Alter und die Patina so viel Wert. Ein neues Bild, sei es nun in Tusche oder koloriert, zerstört nämlich die Schattenwirkung der Wandnische, wenn man nicht außerordentlich achtgibt.
Wollte man den japanischen Wohnraum mit einem Tuschebild vergleichen, dann entsprächen die shōji den Stellen, wo die Tusche sehr verdünnt aufgetragen ist, und die Wandnische den Stellen, wo die Tusche am kräftigsten ist. Jedenfalls, wenn ich die Wandnische eines geschmackvoll durchgestalteten japanischen Raumes sehe, bewundere ich, in welchem Ausmaß die Japaner das Geheimnis des Schattens verstanden haben und wie raffiniert sie mit Licht und Schatten umzugehen wissen; und zwar ohne allzu spezielle Vorkehrungen. Kurz gesagt haben sie mit Hilfe von bloßem Holz und nackter Wandf läche einen nach hinten eingelassenen Raum ausgespart, in dessen Vertiefungen das einfallende Licht hier und dort dämmrige Winkel erzeugt. Bei allem Wissen, daß es sich nur um simple Schatten handelt, drängt sich uns dennoch im Anschauen der dunklen Stellen hinter dem oberen Querbalken, im Umkreis der Blumenvase oder unter den Wandregalen der Eindruck auf, die Luft sei dort lautlos in sich versunken und das Dunkel von einer ewig unveränderlichen Stille beherrscht. Vermutlich
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ist mit dem «Mysterium des Ostens», von dem die Abendländer reden, die unheimliche Stille gemeint, die solches Dunkel in sich birgt. Auch uns selbst überkam in der Jugendzeit jeweils eine unaussprechliche Furcht, ein Frösteln, wenn wir in die Wandnische eines Teeraums oder Studierzimmers hineinstarrten, wo kein Sonnenstrahl hingelangte. Wo liegt also der Schlüssel zu dem Mysterium? Ich will das Geheimnis lüften: Es läßt sich letzten Endes auf die Magie des Schattens zurückfuhren. Falls man die in allen Winkeln kauernden Schatten fortscheuchte, wäre die Wandnische augenblicklich nichts weiter als ein leerer Raum. Das Genie unserer Vorfahren hat also der Schattenwelt, die durch bewußtes Abschirmen eines leeren Raums von selber entsteht, einen geheimnisvollen ästhetischen Ausdruck verliehen, gegen welchen keine Wandbemalung oder Dekoration auch nur annähernd aufkommt. Das sieht nach einem simplen Kunstgriff aus; aber in Wirklichkeit liegen die Dinge nicht so einfach. Man kann unschwer abschätzen, wieviel den Blicken verborgene Mühe für jedes Detail, zum Beispiel für den Fensterausschnitt zur Seite der Wandnische, für die Tiefe des oberen Querbalkens, für die Höhe der Nischenschwelle, aufgewendet worden ist. Ich jedenfalls bleibe im weißlich-matten Lichtschimmer, den die shōji des Studierzimmers hereinlassen, oft unversehens davor stehen und vergesse, wie die Zeit verstreicht. Ursprünglich diente das Studierzimmer, wie der Name sagt, zum Bücherlesen, und das besagte Fenster wurde zu diesem Zweck an-
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gebracht. Im Verlauf der Zeit reduzierte es sich dann wohl zum reinen Lichteinlaß für die Wandnische. In vielen Fällen kann man es aber nicht einmal mehr als Lichteinlaß bezeichnen, sondern es hat eher die Funktion, das von der Seite her einfallende Außenlicht durch das shōji-Papier einmal zu filtrieren und in angemessener Weise zu dämpfen. Was für einen einsamen, frostigen Ton hat doch das indirekte Gegenlicht, das da hinter jenen shōji aufscheint! Das Sonnenlicht des Gartens, welches sich zuerst unter das Vordach eingeschlichen hat und dem Korridor entlang endlich bis hierhin vorgedrungen ist, hat keine Kraft mehr, die Dinge wirklich zu beleuchten. Als ob ihm alle Lebenskraft abhanden gekommen wäre, vermag es nur noch gerade das Weiß des shōji-Papiers hervorzuheben. Ich bleibe öfters vor diesen shōji stehen und betrachte die Papierfläche, die zwar hell ist, aber nicht im geringsten blendet. In den Räumen von mächtigen Tempelbauten wird das Licht wegen des großen Abstands zum Garten noch weiter verdünnt, und – sei es Frühling, Sommer, Herbst oder Winter, sei es ein heiterer oder ein bewölkter Tag, sei es Morgen, Mittag oder Abend – das matte Weiß zeigt kaum eine Veränderung. In jedem Rechteck der mit dichtstehenden, senkrechten Leisten versehenen shōji bilden sich Schattenwinkel, gerade als ob sich Staub abgelagert hätte; man fragt sich verwundert, ob sie denn ewig unbewegt auf dem Papier haften bleiben. In solchen Augenblicken zweifle ich an der Wirklichkeit dieser traumhaften Helle und zwinkere mit den
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Augen. Das Gefühl drängt sich auf, vor den Augen sei ein nebelhaftes Flimmern, das die Sehkraft abstumpft. Es liegt daran, daß der Widerschein des mattweißen Papiers die dichte Dunkelheit der Wandnische nicht zu verscheuchen vermag, sondern im Gegenteil, vom Dunkel zurückgeworfen, eine sinnverwirrende Atmosphäre erzeugt, in der sich Helle und Dunkelheit nicht auseinanderhalten lassen. Haben Sie, meine Leser, beim Betreten eines solchen Raumes nicht auch schon das Gefühl gehabt, das darin schwebende Licht sei kein gewöhnliches Licht, sondern habe etwas besonders Ehrfurchtgebietendes, Gewichtiges an sich? Oder hat Sie nie eine Art Schauder vor dem «Ewigen» erfaßt im Gedanken, daß Sie während des Aufenthalts in diesem Raum das Zeitgefühl verlieren könnten, daß unbemerkt Jahre verstreichen und Sie als weißhaariger Greis daraus hervortreten könnten?
Und weiter, wenn Sie bis tief hinein in den innersten Raum eines solchen mächtigen Gebäudes vordringen, haben Sie dann noch nie gesehen, wie dort im Dunkel, von keinem direkten Außenlicht mehr erreicht, Goldschiebetüren oder Goldwandschirme den letzten Ausläufer der vom weit entfernten Garten durch viele Zimmer herdringenden Helligkeit aufnimmt und wie im Traum verhalten reflektiert? Dieser Widerschein wirft, einem Horizont bei Abenddämmerung vergleichbar, einen unendlich zarten goldenen Schimmer
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in das umgebende Dunkel; ich glaube nicht, daß Gold sonst je eine so ergreifende Schönheit ausstrahlt. Es kommt vor, daß ich mich im Vorübergehen wiederholt umdrehe und hinschaue. Die Oberf läche des Goldpapiers nimmt dann, während man aus der Frontalstellung zur Seite hin schreitet, langsam einen machtvoll tiefen Glanz an. Es handelt sich keinesfalls um ein rasches, unruhiges Glitzern, sondern um ein Aufleuchten in langen Abständen, als ob ein Riese seinen Gesichtsausdruck veränderte. Hie und da macht man die Entdeckung, daß der Goldstaub, der eben noch einen gleichsam schlummernden, gedämpften Widerschein hervorgebracht hat, beim Zurseitetreten wie Feuer aufflammt; und man fragt sich verwundert, wie nur an einem so dunklen Ort sich eine derart intensive Lichtstrahlung konzentrieren konnte. Hier erst wird mir ganz deutlich, warum die Alten ihre Buddhastatuen oder die Wände in den Wohnräumen der Vornehmen vergoldet haben. Die Menschen von heute leben in hellen Häusern und kennen darum diese Art Schönheit des Goldes nicht. Die Bewohner der dunklen Häuser in früheren Zeiten dagegen ließen sich wohl nicht nur von der wundervollen Farbe des Goldes bezaubern, sondern kannten gleichzeitig auch seinen praktischen Nutzen. Denn in den lichtarmen Innenräumen hatte es ohne Zweifel auch die Aufgabe eines Reflektors. Das heißt, man verwendete Blattgold und Goldstaub nicht einfach nur aus Prunksucht, sondern benutzte ihre Ref lexionskraft, um die Helligkeit zu erhöhen. Wenn dies
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zutrifft, liegt der Grund für die ungemeine Wertschätzung des Goldes auf der Hand: Während nämlich der Glanz von Silber und anderen Metallen bald verblaßt, bewahrt das Gold sehr lange seine Leuchtkraft und mildert so die Düsternis eines Innenraums. Ich habe weiter oben gesagt, Lackmalereien seien im Hinblick darauf gefertigt, daß sie an einem dunklen Ort betrachtet werden. Das gilt aber nicht nur für Lackmalereien. Unsere Überlegungen bringen uns dazu, zum Beispiel auch den reichlichen Gebrauch von Goldund Silberfäden in alten Geweben auf dieselbe Ursache zurückzuführen. Ist nicht die Brokatschärpe des buddhistischen Priesters das beste Beispiel dafür? Heutzutage haben in den Städten viele Tempel ihre Hallen erhellt, um breiteren Volksschichten entgegenzukommen; an solchen Orten wirkt die Schärpe unnötig pompös und erweckt kaum je Ehrfurchtsgefühle, wie würdevoll und hochgestellt der Priester, der sie trägt, auch sein mag. Wohnt man dagegen einer nach alten Regeln abgehaltenen Zeremonie in einem traditionsreichen Tempel bei, entdeckt man, wie sehr die runzlige Haut des betagten Priesters, das unstete Flackern der Altarlampen und die Textur jenes Brokats miteinander harmonieren, wie sehr sie die Feierlichkeit erhöhen – eine Folge davon, daß das Dunkel wie bei den Lackmalereien den größten Teil des prunkvollen Gewebemusters verbirgt und nur die Gold- und Silberfäden dann und wann partiell aufscheinen. Im weiteren denke ich – doch stehe ich vielleicht mit dieser Ansicht alleine da –, daß nichts so
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harmonisch zur Hautfarbe der Japaner paßt wie die Kostüme des Nō-Theaters *. Bekanntlich gibt es unter diesen Kostümen zahlreiche prachtvolle Stücke, an die reichlich Gold und Silber verwendet worden ist; andrerseits legen die darin auftretenden Nō-Spieler im Unterschied zu den Kabuki-Schauspielern keine weiße Schminke auf. So entfaltet die für Japaner charakteristische rötlich-braune Haut oder das ins Gelbliche hinüberspielende elfenbeinerne Gesicht einen sonst nie erreichten Reiz, und ich bin immer voll Bewunderung, sooft ich das Nō besuche. Besonders passend sind Untergewänder mit eingewobenen Gold- und Silbermustern oder Stickereien, nicht weniger aber auch reichverzierte dunkelgrüne und khakifarbene Überwürfe und Bekleidungen von der Art des suō, suikan und kariginu oder die in Weiß gehaltenen kurzärmligen Kimonos und weiten Beinkleider. Wenn der Spieler zufällig ein schöner Jüngling ist, so wird der Teint seiner zarten Haut, seiner jugendlich glänzenden Wangen dadurch noch um einen Grad erhöht; man meint da einen Zauber zu erkennen, der sich von weiblicher Haut naturgemäß abhebt, und es leuchtet ein, daß dies der Ort war, wo sich die Fürsten vergangener Tage in die Schönheit ihrer Lieblinge vergafften. Das Kabuki *, besonders das der historischen Spiele und Tanzstücke, steht zwar in der Pracht seiner Kostüme dem Nō nicht nach und übertrifft es nach allgemeiner Meinung in der erotischen Ausstrahlung bei weitem. Doch wer durch regelmäßigen Besuch mit beiden vertraut ist, wird gerade das Gegen-
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teil für richtig halten. Gewiß, auf den ersten Blick wirkt das Kabuki erotischer, prachtvoller; aber wenn wir von den früheren Verhältnissen einmal absehen, so gerät jene pompöse Farbigkeit auf der heutigen, nach westlicher Art beleuchteten Bühne recht bald ins Vulgäre, und man bekommt genug davon. Wenn das für die Kostüme gilt, so gilt es ebenso für die Schminkmaske: Man mag ein solches Gesicht für schön halten, aber es bleibt doch bis zuletzt etwas Zurechtgemachtes, und die Empfindung echter, natürlicher Schönheit fehlt. Der Nō-Spieler hingegen tritt mit bloßem Gesicht, Nacken und Händen in Erscheinung; der Reiz der Gesichtszüge ist dem Betreffenden eigen und täuscht unsere Augen nicht im geringsten. So befällt uns beim Nō-Spieler nie jene Art von Ernüchterung wie etwa dann, wenn wir mit dem ungeschminkten Gesicht eines Frauendarstellers oder jungen Liebhabers im Kabuki konfrontiert werden. Wir bemerken einzig und allein, in welchem Ausmaß ein Spieler, der ja dieselbe Haut hat wie wir, durch das Tragen von scheinbar unpassenden Prunkgewändern der Feudalzeit in seinem Aussehen herausgehoben erscheint. Früher einmal habe ich Kongō Iwao * in der Rolle der Yang Kuei-fei * aus dem Nō-Stück «Der Kaiser» gesehen und vergesse auch heute nicht, wie anziehend seine aus den Ärmelöffnungen hervorstehenden Hände waren. Meine Blicke schweiften beim Betrachten öfters zu meinen eigenen, auf den Knien liegenden Hände hinab. Wenn seine Hände so wunderbar aussahen, so lag das wohl an der delikaten
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Bewegungsart der Handflächen vom Handgelenk bis zu den Fingerspitzen, es lag an der meisterhaft einstudierten Fingertechnik. Und dennoch konnte ich mich des Staunens nicht erwehren: Woher eigentlich kam der Glanz, der wie ein Lichtstrahl aus dem Innern hervorbrach? Das waren doch völlig normale Japanerhände, die sich in nichts von meinen auf den Knien liegenden Händen und deren Hautfarbe unterschieden! Ich ließ den Blick zwei-, dreimal zwischen meinen und denen von Herrn Kongō auf der Bühne hinund herwandern, aber soviel ich auch verglich, es waren dieselben! Doch merkwürdig, diese gleichen Hände, die auf der Bühne geradezu befremdend schön wirkten, machten auf meinen Knien nur einen ganz gewöhnlichen Eindruck. Im übrigen bleibt diese Feststellung nicht etwa nur auf Herrn Kongō beschränkt. Im Nō treten nur ganz wenige Körperteile unbedeckt nach außen in Erscheinung, nämlich das Gesicht, der Hals und der Nacken sowie die Hände vom Handgelenk bis zu den Fingerspitzen. Wenn wie bei Yang Kuei-fei eine Maske getragen wird, bleibt auch das Gesicht verborgen; und trotzdem wirkt der Teint dieser wenigen Partien seltsam eindrücklich. Bei Herrn Kongō war der Effekt besonders auffallend, doch haben auch die Hände von irgendwelchen andern Nō-Spielern, also ganz gewöhnliche japanische Hände, eine Ausstrahlungskraft, die uns große Augen machen läßt und die wir ihnen nicht zuschreiben würden, solange sie in moderner Kleidung stecken. Ich wiederhole: Dies beschränkt sich keineswegs auf
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Darsteller vorn Typ des anmutigen Knaben oder des schönen jungen Mannes! Im Alltag ist es zum Beispiel kaum vorstellbar, daß die Lippen eines gewöhnlichen Mannes anziehend wirken; auf der Nō-Bühne aber erhält jene bräunliche Röte und jene von Feuchtigkeit schimmernde Haut, mehr als die rot bemalten Lippen einer Frau, eine f leischlich-sinnliche Qualität. Der Grund ist wohl der, daß die Spieler beim Nō-Gesang fortlaufend die Lippen mit Speichel benetzen – und doch mag ich nicht recht glauben, es liege nur daran. Auch weisen die Wangen der Kinderdarsteller eine besondere Röte auf, weil diese Farbe höchst wirkungsvoll hervorgehoben erscheint. Nach meiner Erfahrung entsteht dieser Eindruck am häufigsten dann, wenn Kostüme in grünen Farbtönen getragen werden. Bei Kindern mit weißem Teint ist die Wirkung natürlich gegeben, aber bei Kindern mit dunklem Teint fällt in Wahrheit die charakteristische Röte noch mehr in die Augen. Und zwar aus dem folgenden Grund: Bei hellhäutigen Kindern ist der Kontrast zwischen Weiß und Rot überdeutlich und deshalb zu stark in Verbindung mit dem dunkel gebrochenen Ton des Nō-Gewands. Auf den bräunlichen Wangen eines dunkelhäutigen Knaben jedoch sticht das Rot nicht so stark hervor; Kostüm und Gesicht steigern sich gegenseitig. Dezentes Grün und herbes Braunrot, diese beiden farblichen Zwischenstufen spiegeln sich ineinander, die Haut der gelben Rasse findet ihren adäquaten Ausdruck und zieht jetzt erst die Augen auf sich. Ich weiß nicht, ob es sonst noch eine vergleich-
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bare Schönheit aufgrund von Farbenharmonie gibt. Jedenfalls müßte, wenn im Nō gleich wie im Kabuki moderne Beleuchtung eingeführt würde, dieses Schönheitsgefühl unter den brutalen Lichtstrahlen zunichte werden. Wenn also die Nō-Bühne im traditionellen Dämmerzustand belassen wird, so entspricht dies einer notwendigen Übereinkunft, und je älter der ganze Theaterbau ist, desto besser! Eine Bühne, deren Bretter natürlichen Glanz ausstrahlen, wo die Pfeiler und die hintere Wand schwärzlich schimmern, wo Dunkelheit von oben unter dem First bis zum Vordach herab wie eine mächtige Glocke über den Köpfen der Spieler hängt – eine solche Bühne eignet sich am besten; und wenn in letzter Zeit das Nō auch in neue Säle wie das Asahi kaikan oder das Kōkaidō vorgedrungen ist, so mag das zwar erfreulich sein, doch von unserem Gesichtspunkt aus verliert es dabei über die Hälfte seines wirklichen Zaubers.
Die Dunkelheit, die das Nō umgibt, und die daraus entstehende Schönheit bilden also eine eigentümliche Welt des Schattens, die wir heute nur noch auf der Bühne zu Gesicht bekommen, die aber früher wohl nicht so weit vom wirklichen Leben entfernt war. Denn die Dunkelheit der Nō-Bühne war auch die Dunkelheit der damaligen Wohnhäuser, und die NōKostüme entsprachen in der Musterung und Färbung, auch wenn sie um eine Spur prunkvoller waren, doch
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wohl im großen und ganzen dem, was die Adligen und Feudalherren jener Zeit trugen. Sooft ich mir das vergegenwärtige, stelle ich mir vor – und gerate in Entzücken darüber –, wie stattlich doch die alten Japaner, im besonderen die Samurai zur Zeit der Kriegswirren und der Momoyama-Periode, mit ihren Prunkgewändern im Vergleich zu uns ausgesehen haben müssen. Das Nō zeigt wahrhaftig die männliche Schönheit unserer Landsleute in ihrer höchsten Ausprägung, und so waren sicher auch die erprobten Kriegergestalten auf den Schlachtfeldern jener Zeit höchst imposante und würdevolle Erscheinungen, wenn ihre vom Wind und Regen gezeichneten, knochigen, schwarz-rötlichen Gesichter mit den Farben und dem Glanz ihrer zeremoniellen, wappengezierten Trachten kontrastierten. Allen, die sich am Besuch des Nō erfreuen, bereitet es Vergnügen, mehr oder minder in solchen Vorstellungen zu schwelgen; und mit dem Gedanken, daß die Farbenwelt auf der Bühne einst gerade so Wirklichkeit gewesen sei, ist ein vom Spiel selber unabhängiges nostalgisches Gefühl verbunden. Das Kabuki dagegen erzeugt eine in jeder Hinsicht fiktive Welt, die mit den Reizen unserer ungeschminkten Hautfarbe in keinem Zusammenhang steht. Dies gilt gleicherweise für die männliche wie auch für die weibliche Schönheit: Es ist undenkbar, daß Frauen in früheren Jahrhunderten dem entsprochen haben, was wir heute auf dieser Bühne zu sehen bekommen. Zwar sind auch im Nō die Frauendarsteller, da sie Masken tragen, weit von der Wirk-
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lichkeit entfernt, aber noch weniger Echtheitsgefühl kommt bei den onnagata * (Frauendarstellern; Anm. d. Übers.) des Kabuki-Theaters auf. Das ist in erster Linie eine Auswirkung des viel zu hellen Lichts auf der Kabuki-Bühne. Damals, als es noch keine modernen Beleuchtungsinstallationen gab, als man mit Kerzen und Laternen den Theaterraum nur notdürftig auszuleuchten vermochte, standen vermutlich auch die onnagata der Wirklichkeit um einiges näher. Es ist also keineswegs der Begabung oder dem Aussehen der Schauspieler zuzuschreiben, wenn geklagt wird, im heutigen Kabuki gebe es keine ausgeprägt femininen onnagata mehr wie in früheren Zeiten. Würde man die ehemaligen onnagata auf die gegenwärtige lichtüberflutete Bühne stellen, so fielen ohne Zweifel auch bei ihnen die harten männlichen Umrisse in die Augen. Es war also nur das frühere Dämmerlicht, das diese Umrisse in angemessener Weise überdeckte. Mit aller Deutlichkeit wurde ich mir dessen bewußt, als ich den alternden Baikō * in der Rolle der Okaru * sah. Ich dachte: Es ist die unnötig übertriebene Beleuchtung, die die Schönheit des Kabuki-Theaters zuschanden macht! Im Bunraku-Puppentheater * seien, wie mir ein Kenner aus Osaka versicherte, auch nach Anbruch der Meiji-Epoche noch lange Zeit Lampen verwendet worden, und damals habe eine weit nuancenreichere Atmosphäre geherrscht als heute. Mir kommen auch jetzt noch jene Puppen viel realer vor als die onnagata des Kabuki; und erst recht wenn ich mir vorstelle, wie in dem dämmrigen Lampenschein ihre
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eigentümlich harten Linien verschwanden, wie der Glanz ihrer weißen Bemalung abgestuft erschien, wie sehr sie von Weichheit umgeben waren – dann durchfährt mich beim Gedanken an die unerhörte Schönheit der damaligen Szenerie unwillkürlich ein Schauer.
Wie man weiß, bestehen die weiblichen Puppen im Bunraku-Theater nur aus Kopf und Händen. Der Rumpf und die Fußspitzen sind hinter dem lang herabfallenden Gewand verhüllt; deshalb genügt es, wenn die Puppenspieler ihre Hände einführen und die Bewegungen nur andeuten. Mir scheint, das komme der Wirklichkeit am allernächsten, denn die Frauen früherer Zeiten waren Wesen, die nur vom Kragen an aufwärts und von der Ärmelöffnung an existierten; alles andere blieb im Dunkeln verborgen. Damals gingen Frauen der höheren Stände höchst selten aus, und wenn sie es taten, dann versteckten sie sich im Innern ihrer Wagen oder Sänften, damit ja niemand von der Straße her sie zu Gesicht bekam. Meist aber weilten sie in einem Zimmer ihrer düsteren Residenzen hinter Vorhängen und vergruben ihren Körper Tag und Nacht in der Dunkelheit, so daß man durchaus sagen kann, nur ihr Gesicht habe ihre Existenz angezeigt. Übrigens, während die Männerkleidung verglichen mit heute ziemlich prunkvoll wirkte, gilt dies nicht im gleichen Ausmaß für die Frauenkleider. Die Bürgermädchen und -frauen der Edo-Zeit trugen
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erstaunlich schlichte Sachen; denn die Kleidung war, in einem Wort gesagt, nichts weiter als ein Teil des Dunkels oder auch ein Verbindungsstück zwischen Gesicht und Dunkelheit. Auch wenn man die Schminksitte des Zähneschwärzens überdenkt, mag man sich fragen, ob wohl das Bestreben, jede leere Stelle, abgesehen vom Gesicht, mit Dunkelheit zu stopfen, dazu geführt habe, sogar die Mundhöhle schwarz auszufärben. Heutzutage kann man weibliche Schönheit dieser Art nicht mehr betrachten, es sei denn, man begebe sich an einen so speziellen Ort wie das Haus Sumiya in Shimabara *. Wenn ich allerdings an die Gestalt meiner Mutter zurückdenke, wie sie damals, als ich ein kleines Kind war, drinnen in unserem Haus in Nihonbashi * bei spärlich hereindringendem Gartenlicht ihre Nadelarbeit verrichtete, dann kann ich mir einigermaßen vorstellen, von welcher Art die Frauen früher gewesen sind. Bis zu jener Zeit, das heißt bis in die zwanziger Jahre der MeijiÄra (um 890; Anm. d. Übers.) zeigten die Bürgerhäuser von Tokio alle eine solche düstere Bauweise, und meine Mutter, meine Tanten und weitere Verwandte wie überhaupt die Frauen jener Generation hatten noch im großen und ganzen die Zähne geschwärzt. An ihre Alltagstracht erinnere ich mich nicht mehr; aber wenn sie ausgingen, trugen sie öfters mausgraue, kleingemusterte Kimonos. Die Mutter war von sehr kleinem Wuchs, kaum fünf Fuß hoch, was jedoch für die Frauen jener Zeit das Übliche gewesen sein dürfte. Ja, etwas stark ausgedrückt kann
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man sagen: Diese Frauen besaßen kaum einen Körper. Ich erinnere mich außer an das Gesicht und die Hände meiner Mutter nur noch undeutlich an ihre Füße, jedoch nicht an ihren Leib. Dabei kommt mir der Körper jener Kannon-Statue im Chūgūji * in den Sinn. Wirkt sie als nackte Figur nicht geradezu wie ein Modell für die japanische Frau vergangener Zeiten? Die einem Brett vergleichbare, platte, mit einer papierdünnen Büste markierte Brustpartie, der noch stärker eingezogene Bauch, die schnurgerade, durch keine Unebenheit beeinträchtigte Linie von Rückgrat, Hüfte und Hinterteil, dieser Rumpf in seiner Gesamtheit ist verglichen mit dem Gesicht und den Gliedern unverhältnismäßig abgemagert, ohne Fülle, und macht weniger den Eindruck eines Körpers als den eines Stocks ohne Taille. Waren nicht die Frauenkörper vergangener Zeiten weitgehend von dieser Art? Auch heute noch trifft man gelegentlich etwa auf ältere Damen in traditionalistischen Familien oder auf Geishas, die eine solche Figur haben. Bei ihrem Anblick kommt mir unweigerlich der Stock im Innern der Puppe in den Sinn. In der Tat ist der Körper solcher Frauen ein Stock, um daran die Kleider zu befestigen, nichts weiter! Das, was die Körperfülle ausmacht, besteht aus so und so vielen Lagen von Kimonos und baumwollenen Untergewändern, und wenn man sie aus ihren Kleidern wickelte, bliebe wie bei der Puppe nur ein unförmiger Stock übrig. Früher mochte das genügen; für die im Dunkeln wohnenden Frauen war es wichtig, ein weißliches Gesicht zu
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haben, ein Körper war nicht nötig. Für diejenigen allerdings, die die strahlenden körperlichen Reize der modernen Frau preisen, dürfte es schwierig sein, die geisterhafte Schönheit solcher Frauen nachzuvollziehen. Andere werden vielleicht sagen, eine durch Dämmerlicht vorgetäuschte Schönheit sei keine wahre Schönheit. Aber wie schon oben gesagt, wir Orientalen haben nun einmal die Tendenz, in an sich unbedeutenden Orten Schattenwirkungen entstehen zu lassen und dadurch Schönheit hervorzubringen. Astwerk, zusammengetragen und verbunden: eine Reisighütte. Aufgelöst: wie zuvor wieder die Wildnis. So geht ein altes Kurzgedicht, und unsere Denkweise ist nun einmal von dieser Art. Wir sind der Meinung, Schönheit sei nicht in den Objekten selber zu suchen, sondern im Helldunkel, im Schattenspiel, das sich zwischen Objekten entfaltet. Gerade wie ein phosphoreszierender Stein, der im Dunkel glänzt, aber bei Tageshelle jeglichen Reiz als Juwel verliert, so gibt es, glaube ich, ohne Schattenwirkung keine Schönheit. Das heißt, unsere Vorfahren haben die Frauen gleich wie die mit Lackmalereien oder Perlmuttereinlagen versehenen Geräte als etwas betrachtet, das nicht vom Dunkel zu trennen ist. Sie haben versucht, sie möglichst vollständig in eine Schattenwelt zutauchen, haben ihre Hände und Füße durch lange Ärmel und Kleidersäume mit Dunkelheit um-
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hüllt und trachteten danach, nur eine einzige Partie, nämlich den Kopf, hervorzuheben. Zugegeben, ein solcher platter Rumpf ohne Ebenmaß muß verglichen mit der Figur westlicher Frauen wohl als unansehnlich bezeichnet werden. Doch was wir nicht sehen, darüber machen wir uns keine Gedanken. Was unsichtbar bleibt, erachten wir als nicht vorhanden. Und wer unbedingt diese Unansehnlichkeit betrachten will, der wird zugleich jegliche vorhandene Schönheit zunichte machen, gerade wie wenn er ein Licht von hundert Kerzenstärken auf die Wandnische eines Teeraums richtete.
Doch warum eigentlich tritt diese Neigung, das Schöne in der Dunkelheit zu suchen, nur bei den Orientalen mit solcher Stärke hervor? Auch im Westen hat es ja wohl eine Zeit ohne Elektrizität, Gas und Erdöl gegeben, aber soweit mir bekannt ist, hat man dort nie den Hang gehabt, sich am Schatten zu ergötzen. Seit jeher haben die japanischen Gespenster keine Beine, während sie im Westen, so heißt es, mit Beinen versehen sind, dafür aber einen gänzlich durchsichtigen Körper besitzen. Selbst einem solchen geringfügigen Detail kann man entnehmen, daß in unseren Phantasien gewöhnlich lackschwarze Dunkelheit herrscht, während man im Westen sogar die Gespenster mit einer gläsernen Helligkeit ausstattet. Wir lieben auch bei allerhand kunstgewerblichen Gegenstän-
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den des täglichen Gebrauchs Farben, die man als Anhäufung von Schatten bezeichnen kann; die Leute im Westen dagegen lieben Farben, in denen sich das Sonnenlicht konzentriert. Auch bei Silber- oder Kupfergeschirr haben wir gern, wenn sich eine Patina darüberlegt; sie aber betrachten dies als unsauber, unhygienisch und polieren das Metall auf Hochglanz. In ihren Zimmern streichen sie Decken und Wände weißlich an, um möglichst alle Schattenwinkel auszumerzen. Und bei der Anlage von Gärten breiten sie ebene Rasenflächen aus, wo wir schattige Bäume und tiefes Buschwerk pflanzen. Aus was für Gründen kam es wohl zu derartigen Geschmacksunterschieden? Meiner Meinung nach ist es die Art von uns Ostasiaten, die Umstände, in die wir einbezogen sind, zu akzeptieren und uns mit den jeweiligen Verhältnissen zufriedenzugeben. Deshalb stört uns das Dunkel nicht, wir nehmen es als etwas Unabänderliches hin; wenn es an Licht fehlt, sei’s drum – dann vertiefen wir uns eben in die Dunkelheit und entdecken darin eine ihr eigene Schönheit. Demgegenüber sind die aktiven Menschen des Westens ständig auf der Suche nach besseren Verhältnissen. Von der Kerze zur Lampe, von der Lampe zum Gaslicht, vom Gaslicht zum elektrischen Licht fortschreitend, streben sie unablässig nach Helligkeit und mühen sich ab, selbst den geringfügigsten Schatten zu verscheuchen. Es dürfte also teils an solchen Unterschieden der Wesensart liegen; jedoch möchte ich hier auch noch die Unterschiede der Hautfarbe zur Sprache bringen. Seit alters
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hat man bei uns eine weiße Haut für vornehmer und schöner gehalten als eine dunkle; doch irgendwie unterscheidet sich unser Weiß von der Hautfarbe der weißen Rasse. Wenn man einzelne Personen aus der Nähe betrachtet, scheint es Japaner zu geben, die weißer sind als Leute aus dem Westen, und umgekehrt westliche Menschen, die dunkler sind als Japaner; doch die Qualität dieser Weiße und dieses Dunkels ist verschieden. Ich spreche hier aus eigener Erfahrung: Früher, als ich in Yokohama auf der Bergseite wohnte, nahm ich sowohl tagsüber wie abends an Landpartien der ansässigen Ausländer teil oder vergnügte mich in Festhallen und Ballsälen, wo sie einund ausgingen. Wenn ich mich direkt neben ihnen befand, kam mir ihre Weiße nicht so übermäßig weiß vor, aber von ferne betrachtet war der Unterschied zwischen ihnen und den Japanern wirklich augenfällig. Es gab da japanische Ladies, die in ihren Abendkleidern den Ausländern nicht nachstanden und auch weißere Haut hatten als sie; aber wenn sich auch nur eine von diesen Damen unter die Ausländer mischte, war sie aus der Entfernung sogleich zu erkennen. Und zwar darum, weil sich bei Japanern, mögen sie noch so hellhäutig sein, im Weiß eine leise Schattierung bemerkbar macht. Solche Frauen hatten zu allem Überfluß auch noch sämtliche unbedeckten Körperteile vom Rücken über die Oberarme bis zu den Achselhöhlen dick mit weißer Schminke belegt, um ja nicht hinter den Fremden zurückzustehen. Trotzdem gelang es ihnen eben doch nicht, die am Grunde ihrer
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Haut stagnierende dunkle Färbung zu übertünchen. Sie blieb erkennbar, gerade so wie eine Verschmutzung am Grunde eines klaren Gewässers von einem erhöhten Ort herab deutlich erkennbar ist. Besonders in den Fingergabelungen, um die Nasenf lügel, im Genick und dem Rückgrat entlang ergibt sich eine schwärzliche Tönung wie von einer Staubschicht. Die Haut von westlichen Menschen ist hingegen am Grunde immer hell und durchsichtig, selbst wenn ihr Teint oberflächlich getrübt sein sollte, und keine einzige Stelle ihres ganzen Körpers zeigt einen solchen leicht schmuddligen Schatten. Vom Scheitel bis zu den Fingerspitzen sind sie von einem klaren, unvermischten Weiß. Wenn sich daher einer von uns in ihre Gesellschaft begibt, so ist es, als ob sich auf einem weißen Papier ein Fleck aus dünner Tusche gebildet hätte. Dieser eine sticht auch uns selber in die Augen und hinterläßt kein besonders gutes Gefühl. Von hier aus kann man sich in die Psychologie der früheren Diskriminierung der farbigen Rassen durch die Weißen einigermaßen einfühlen: Für sensible Leute unter den Weißen mußte wohl der Fleck, der sich da auf dem Hintergrund einer geselligen Zusammenkunft abzeichnete, mußte die Anwesenheit auch nur von einem oder zwei Farbigen zum Ärgernis werden. Ich weiß nicht, wie die Dinge heute stehen, aber es heißt, früher, zur Zeit des Sezessionskrieges (in den USA), als die Unterdrückung der Neger am heftigsten war, habe sich ihr Haß und ihre Verachtung nicht einfach nur auf die Schwarzen, sondern auch auf Mischlinge
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zwischen Weißen und Schwarzen, auf die Kinder von zwei Mischlingen, auf die Kinder zwischen Weißen und Mischlingen und so weiter ausgedehnt. Sie unterschieden zwischen solchen, die zur Hälfte, zu einem Viertel, zu einem Achtel, zu einem Sechzehntel, ja zu einem Zweiunddreißigstel gemischt waren, und konnten sich nicht enthalten, selbst die geringsten Anzeichen schwarzen Blutes aufzuspüren und zu verfolgen. Ihre zudringlichen Augen übersahen auch bei Mischlingen, die sich auf den ersten Blick nicht von den Weißen unterschieden und die höchstens vor zwei, drei Generationen einmal einen Schwarzen unter den Vorfahren gehabt hatten, nicht eine noch so feine Pigmentierung am Grunde der reinweißen Haut. Wenn man sich solche Dinge vergegenwärtigt, erkennt man, welche tiefe Beziehung wir Angehörigen der gelben Rasse zum Schatten haben. Niemand setzt sich gerne Verhältnissen aus, die ihn häßlich machen; und so ist es natürlich, daß wir für Gebrauchsgegenstände im Zusammenhang mit Nahrung, Kleidung und Wohnung umwölkte Farben verwenden und uns mit einer dunklen Atmosphäre zu umgeben trachten. Das heißt nun nicht, daß unsere Vorfahren sich der Schattierung ihrer Haut bewußt gewesen wären oder daß sie von der Existenz einer weißeren Rasse als ihrer eigenen Kenntnis gehabt hätten. Aber ihre Sensibilität gegenüber den Farben muß wohl spontan eine derartige Geschmacksrichtung hervorgebracht haben.
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Unsere Vorfahren schnitten zunächst aus der Helligkeit der Erdoberfläche einen nach allen Seiten abgegrenzten Raum heraus, schufen darin ein Reich des Schattens, setzten die Frau in die innerste Dunkelheit hinein und bildeten sich ein, es müsse sich um das weißeste menschliche Wesen auf dieser Welt handeln. Wenn man eine weiße Haut als unabdingbares Element idealer weiblicher Schönheit betrachtet, dann blieb uns wohl nichts anderes übrig, als so vorzugehen, und es gibt nichts dagegen einzuwenden. Die Haare der Weißen sind hellfarben, die unseren sind schwarz; das heißt, die Natur selbst lehrt uns das Gesetz der Dunkelheit, und die Alten folgten unbewußt diesem Gesetz, um ein gelbes Gesicht weiß aufscheinen zu lassen. Über das Schwärzen der Zähne habe ich schon weiter vorne geschrieben, und auch wenn die Frauen früher ihre Augenbrauen abrasierten, war das wohl ein Mittel, das Gesicht hervorzuheben. Am meisten aber bewundere ich jenes wie ein Prachtkäfer schillernde, blau-grüne Lippen-«Rot». Allerdings legen es selbst die Geishas von Gion * heute kaum mehr auf. Man muß sich auf jeden Fall dieses «Rot» im Flackerschein des dämmrigen Kerzenlichts vorstellen, sonst versteht man seinen Reiz nicht. Die Alten verdeckten die roten Frauenlippen absichtlich mit grünschwärzlicher Farbe und überzogen sie mit Perlmutterglanz. Aus den reizvoll-üppigen Gesichtszügen tilgten sie jede lebendige Röte. Wenn eine junge Frau im schwankenden Laternenschatten von Zeit zu Zeit lächelt und zwischen irrlichternden, bläulichen
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Lippen lackschwarze Zähne auf blitzen läßt, dann kann ich mir kein weißeres Gesicht als dieses vorstellen. Das Weiß der weißen Rasse ist ein durchsichtiges, selbstverständliches, alltägliches Weiß; hier aber haben wir es mit einer Art übermenschlichem Weiß zu tun. Mag sein, daß ein solches Weiß in Wirklichkeit gar nicht existiert. Mag sein, daß es nur ein augenblickliches, aus Licht und Dunkel zusammengebrautes Blendwerk ist. Aber uns genügt es; wir können gar nicht auf mehr hoffen. Hier nun möchte ich auch über das, was zu einem solchen weißen Gesicht dazugehört, nämlich über die Färbung der Dunkelheit, von der es umgeben ist, etwas sagen. Ich erinnere mich, vor Jahren, als ich mich mit einem Gast aus Tokio im Haus Sumiya in Shimabara vergnügte, ein gewisses unvergeßliches Dunkel gesehen zu haben. Ich glaube, es war in einem weiträumigen Zimmer namens «Kiefernhalle», das später einem Brand zum Opfer fiel: Die Düsternis dieses von einem schwachen Leuchter erhellten weiten Raumes hatte eine ganz andere Qualität an Dichte und Dunkelheit als in kleinen Zimmern. Gerade als ich den Raum betrat, hatte eine Dienerin im reiferen Alter, mit abrasierten Brauen und geschwärzten Zähnen, einen Leuchter vor einen mächtigen Wandschirm hingestellt und setzte sich würdevoll zurecht. Hinter diesem Wandschirm aber, der einen hellen Ausschnitt von nur etwa zwei tatami * abgrenzte, hing eine hohe, dichte, monochrome Dunkelheit, gleichsam als wäre sie im Begriff, von der Decke herabzufallen. Das unstete Kerzenlicht ver-
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mochte diese Dichte nicht zu durchdringen, sondern wurde zurückgeworfen, als wäre es gegen eine schwarze Wand geprallt. Haben Sie, meine Leser, je die Farbe einer solchen «lichtbestrahlten Dunkelheit» gesehen? Sie war irgendwie aus anderer Substanz als etwa das Dunkel auf einem Nachtweg; der Eindruck drängte sich auf, es wimmle von winzigen, aschenartigen Körperchen, und jedes einzelne Teilchen glänze in allen Regenbogenfarben. Aus Furcht, sie könnten mir in die Augen dringen, zwinkerte ich unwillkürlich mit den Lidern. Heute herrscht allgemein die Tendenz vor, die Raumgröße zu beschränken und Zimmer von zehn, acht oder sechs tatami abzuteilen. Selbst wenn man immer noch Kerzen anzünden würde, wäre darin eine so beschaffene Dunkelheit nicht zu sehen. Früher aber, als es in Residenzen, in Häusern der Vergnügungsviertel und ähnlichen Orten noch üblich war, hohe Decken, weite Korridore und riesige Zimmer von Dutzenden von tatamiEinheiten einzubauen, waren wohl die Innenräume ständig von einem solchen nebelartigen Dunkel erfüllt, und die edlen Damen saßen dann, eingetaucht in diese Lauge von Düsternis. Ich habe mich schon einmal in meinen «Aufzeichnungen aus der Hütte unter der Kiefer» (Kishōan zuihitsu, 932; Anm. d. Übers.) darüber geäußert: Die Menschen von heute sind längst an die Helligkeit des elektrischen Lichts gewöhnt und haben vergessen, daß es je eine solche Dunkelheit gegeben hat. Insbesondere jene «sichtbare Dunkelheit» der Innenräume hatte, so scheint mir,
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etwas Glitzerndes, Flimmerndes an sich, erzeugte leicht Halluzinationen und wirkte in gewissen Fällen unheimlicher als das Dunkel im Freien. Kobolde und Geistererscheinungen traten wohl vorzugsweise aus dieser Art Dunkelheit hervor; und die Frauen, die darin wohnten, hinter tiefen Vorhängen versteckt und von mehrfachen Stellschirmen und Schiebetüren umgeben, gehörten sie letzten Endes nicht auch zur Sippe der Phantome? Dunkelheit umhüllte diese Frauen sicherlich zehnfach, zwanzigfach und füllte sämtliche Spalten und Öffnungen an ihren Kleidern, am Kragen, an den Ärmeln, am Kleidersaum und wo auch immer. Je nachdem mochte es sich sogar umgekehrt verhalten: Aus ihrem Körper, aus ihrem Mund mit den geschwärzten Zähnen, aus den Spitzen ihrer schwarzen Haare ließen sie Dunkelheit ausströmen, so wie die Erdspinne ihre Fäden ausspeit.
Nach den Aussagen von Takebayashi Musōan *, der vor ein paar Jahren vorübergehend aus Paris zurückkehrte, seien Tokio und Osaka im Vergleich zu den europäischen Städten nachts viel heller beleuchtet. Selbst mitten auf den Champs-Elysées in Paris gebe es Häuser, wo man Petroleumlampen benütze, während man in Japan schon in sehr abgelegene Berggegenden gehen muß, um noch ein solches Haus zu finden. Vermutlich seien Amerika und Japan die beiden Länder auf der Welt, die am verschwenderischsten mit
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dem elektrischen Licht umgehen. Musōan stellte fest, Japan versuche eben in jeder Beziehung, Amerika nachzuahmen. Seine Aussagen liegen nun schon vier, fünf Jahre zurück, als das Neonlicht noch nicht in Mode gekommen war. Wenn er also das nächste Mal zurückkehrt, wird seine Verwunderung über die erneut angewachsene Lichtflut noch größer sein. Das Folgende ist eine Anekdote, die mir Herr Yamamoto, der Verleger der Zeitschrift «Kaizō», mitgeteilt hat: Als er einst den Professor Einstein in die Gegend von Kyoto-Osaka begleitete und der Zug gerade Ishiyama * passierte, rief der Professor, der durch das Fenster die Landschaft anschaute, plötzlich aus: «Ah, das ist ja im höchsten Grad unwirtschaftlich!» Auf die Frage warum, zeigte Einstein auf die Lichter, die dort herum am hellichten Tag an den Masten brannten. Herr Yamamoto gab dazu den Kommentar: «Einstein ist Jude und darum wohl so kleinlich in solchen Dingen.» Aber es scheint eine Tatsache zu sein, daß man – Amerika einmal ausgeklammert – in Japan viel verschwenderischer mit dem elektrischen Licht umgeht als in Europa. Da gerade von Ishiyama die Rede ist, sei noch eine weitere komische Begebenheit angefügt. Dieses Jahr hatte ich mir lange den Kopf zerbrochen, wo ich im Herbst den Vollmond betrachten wolle, und mich schließlich für den Ishiyama-Tempel entschieden. Doch am Vortag des Fünfzehnten * stand in der Zeitung, man habe beim Ishiyama-Tempel Lautsprecher zwischen den Bäumen installiert und werde eine Aufnahme der Mondschein-Sonate ab-
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spielen, um zur Unterhaltung des Mondschau-Publikums beizutragen. Als ich das las, verzichtete ich auf der Stelle auf meinen Ishiyama-Ausflug. Und zwar nicht nur, weil ich mich an den Lautsprechern stieß, sondern auch, weil ich fast sicher war, daß man unter diesen Umständen den gesamten Tempelbezirk mit Lichtern und Illuminationen ausstaffieren und einen lebhaften Festbetrieb in Gang setzen würde. Man hatte mir schon einmal auf diese Art die Mondschau verdorben. In einem früheren Jahr gedachte ich nämlich, die fünfzehnte Nacht mit einem Boot auf dem Teich des Suma-Tempels * zu verbringen; als wir dann, ich und einige Freunde, mit Eßkästchen ausgerüstet von Land stießen, leuchteten rings um den Teich prunkvolle Lichtgirlanden in allen Farben, und obwohl der Mond am Himmel stand, war es, als gäbe es ihn gar nicht. Wir scheinen, wenn man dies alles bedenkt, in letzter Zeit wie betäubt vom elektrischen Licht und haben offenbar in erstaunlichem Ausmaß unsere Sensibilität verloren gegenüber den Nachteilen, die eine übertriebene Beleuchtung mit sich bringt. Nun ja, in einem Fall wie der Mondschau mag man das auf die leichte Schulter nehmen; aber in Versammlungsräumen, Restaurants, Hotels und Herbergen japanischen Stils geht die Lichtverschwendung im allgemeinen über jegliches Maß hinaus. Ein gewisser Aufwand mag ja notwendig sein, um die Gäste anzuziehen; aber wozu ist es zum Beispiel im Sommer gut, schon bei Taghelle die Lichter anzuzünden? Was nicht nur eine Vergeudung ist, sondern zusätzlich noch ein
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Ansteigen der Hitze zur Folge hat. Wohin ich auch im Sommer gehe, bringt mich diese Unsitte aus der Fassung. Wenn es draußen zwar kühl, drinnen aber scheußlich heiß ist, so hängt das fast ausnahmslos mit der übermäßigen Leuchtstärke oder mit der zu großen Zahl der Birnen zusammen. Löscht man versuchsweise einen Teil, so wird es sogleich frischer, und man kann nicht genug darüber staunen, warum weder die Gäste noch die Besitzer auf den Gedanken kommen. Eigentlich sollte im Hausinnern das Licht während des Winters etwas heller und während des Sommers etwas weniger hell eingestellt werden. Das ruft den Eindruck der Kühle hervor, und vor allem zieht es die Mücken nicht an. Das schlimmste ist dagegen, unnötig viele Lichter anzuzünden und dann unter dem Vorwand, es sei heiß, den Ventilator einzuschalten; nur schon der Gedanke daran widert mich an. In Räumen japanischen Stils kann man es allenfalls noch aushalten, weil dort die Hitze seitlich wegströmt, aber in den Zimmern westlicher Hotels, wo die Luft schlecht zirkuliert und obendrein die Hitze vom Boden, von den Wänden, von der Decke aufgesaugt und von allen Seiten zurückgestrahlt wird, ist es wirklich unerträglich. Ich führe, nicht ohne ein gewisses Bedauern, ein Beispiel an. Sollten diejenigen, die sich einmal an einem Sommerabend in der Empfangshalle des Miyako-Hotels in Kyoto aufgehalten haben, meiner Auffassung nicht beipflichten? Die Sache ist um so ärgerlicher, als das Hotel auf einer nordwärts gerichteten Terrasse liegt, von wo sich die Berge Hiei und
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Nyoi, die Pagode und der Hain von Kurodani mit sämtlichen grünen Höhen der Ostberge * in einem einzigen Blick erfassen lassen und eine Szenerie bieten, die schon beim bloßen Anschauen das Herz erfrischt. Man begibt sich also eines Abends im Sommer dorthin, um in die erquickende Stimmung dieser landschaftlichen Schönheiten einzutauchen und um den kühlen Luftzug zu genießen, der wohl das Gebäude durchziehen muß. Doch weit gefehlt: An der weißen Decke sind überall große Milchglasscheiben eingelassen, hinter denen sengende Lichter brennen. Da in letzter Zeit die Decken in westlichen Gebäuden niedrig gehalten sind, ist es, als drehe sich direkt über dem Kopf wie wild ein Feuerball; es herrscht unvergleichliche Hitze, desto stärker, je näher ein Körperteil der Decke kommt; man hat das Gefühl, vom Kopf über den Nacken bis zur Rückenlinie herab geröstet zu werden. Und obwohl einer von diesen Feuerbällen vollauf genügen würde, um die gegebene Fläche zu beleuchten, strahlen drei oder vier davon von der Decke herab. Außerdem sind auch noch den Wänden und Pfeilern entlang soundso viele kleine Leuchtkörper angebracht, die offenbar zu nichts anderem nütze sind als dazu, aus sämtlichen Winkeln jegliche Lichtabstufung zu verscheuchen. In dem Raum gibt es also keinen einzigen Schatten, und wenn man sich umblickt, dringen die weißen Wände, die dicken roten Pfeiler, der mosaikförmig in Prunkfarben ausgelegte Boden wie bei einer frisch abgezogenen Lithographie in die Augen ein, was wiederum den Eindruck sticki-
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ger Hitze steigert. Der Temperaturunterschied ist offensichtlich, wenn man den Raum vom Eingangskorridor her betritt. Auf diese Weise mag noch soviel kühle Nachtluft hereinströmen, sie verwandelt sich sofort in einen heißen Wind und bleibt wirkungslos. Früher bin ich öfters in diesem Hotel abgestiegen, und nur aus Wohlwollen, weil ich mich gerne daran erinnere, bringe ich diese Kritik hier an; denn es ist wirklich sündhaft, einen solchen malerischen Ausblick, einen solchen für die Erfrischung im Sommer wie geschaffenen Ort mit elektrischer Beleuchtung zu verschandeln. Ohne Zweifel verschlägt es den Japanern bei dieser Hitze den Atem, aber gewiß nicht minder auch den Ausländern, mögen sie noch so sehr die Helligkeit lieben. Man mache doch einfach einmal den Versuch und reduziere das Licht – man wird mir unverzüglich beistimmen! Freilich, das ist nur ein einzelnes Beispiel für eine Sache, die keineswegs auf das besagte Hotel beschränkt ist. Einzig das ImperialHotel mit seiner indirekten Beleuchtung entgeht dem Vorwurf; aber selbst hier finde ich, man könnte das Haus im Sommer ruhig noch etwas dunkler halten. Wie auch immer, es geht bei der heutigen Innenbeleuchtung nicht mehr darum, das Lesen, das Schreiben oder das Nähen zu ermöglichen, sondern sie wird dazu vergeudet, die Schatten aus sämtlichen Ecken zu vertreiben – was von einer Geisteshaltung zeugt, die sich jedenfalls nicht mit den Schönheitsvorstellungen der japanischen Architektur verträgt. In den privaten Haushalten wirkt sich das glücklicherweise kaum aus,
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weil man hier aus wirtschaftlichen Gründen sparsam umgeht mit der Elektrizität. Aber sobald man es mit Gästehäusern aller Art zu tun hat, ist offenbar ein überrissener Aufwand an Lichtern in den Korridoren, bei den Treppen, im Hauseingang, im Garten, beim äußeren Tor und anderswo unvermeidlich, und als Folge davon verlieren die Innenräume sowie die Teiche und die Steinformationen des Gartens ihre Tiefe. Im Winter wird man diese Zugabe an Wärme vielleicht sogar begrüßen. An Sommerabenden aber mag man in noch so abgelegenen Kurorten Zuflucht suchen, man wird, sofern man in einem Gasthaus absteigt, fast immer auf dasselbe Malaise stoßen wie im Miyako-Hotel. Nach meiner Überzeugung gibt es deshalb kein besseres Mittel, die Kühle einzulassen, als im eigenen Haus die Läden auf allen Seiten weit zu öffnen und sich mitten in der Dunkelheit unter das aufgespannte Moskitonetz zu legen.
Letzthin las ich irgendwo in einer Zeitschrift oder Zeitung einen Artikel über ältere Frauen in England, die sich beschwerten, sie selber hätten in ihrer Jugend die Alten mit Respekt behandelt und für sie gesorgt, während heute die Mädchen sich überhaupt nicht um sie kümmerten, ja ihnen aus dem Weg gingen, als wären alte Menschen etwas Unsauberes; die Einstellung der jungen Leute habe sich im Vergleich zu früher sehr stark verändert. Mit Betroffenheit stellte ich
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fest, daß sich die Alten, wie es scheint, überall auf der Welt in ähnlicher Weise äußern; je älter der Mensch wird, desto mehr kommt er auch ohne besonderen Anlaß zur Überzeugung, früher sei alles besser gewesen als in der Gegenwart. Das heißt, die Alten vor hundert Jahren sehnten sich nach der Zeit vor zweihundert Jahren, die Alten vor zweihundert Jahren trauerten der Zeit vor dreihundert Jahren nach, und zu keiner Zeit waren sie je mit der eigenen Gegenwart zufrieden. Dies gilt gerade auch für die jüngste Zeit: Nicht nur schreitet die Kultur sehr rasch voran; unser Land befindet sich überdies in einer ganz speziellen Situation, und deshalb entsprechen die Veränderungen, die seit der Meiji-Restauration im Vergleich zu vorher eingetreten sind, einer Entwicklung von vielleicht dreihundert oder gar fünfhundert Jahren. Wie ich das so hinschreibe, komme ich mir selber komisch vor; ich bin also auch in die Jahre gelangt, wo man derartige Altersweisheiten nachzubeten beginnt. Und doch ist sicher, daß die gegenwärtigen zivilisatorischen Einrichtungen ausschließlich der Jugend schmeicheln und sich ein Zeitalter anbahnt, das den alten Menschen nicht freundlich gesinnt ist. Um ein Beispiel zu nennen: Seit es üblich geworden ist, an Kreuzungen die Straße auf Befehl zu überqueren, können alte Leute nicht mehr ruhig in die Stadt gehen. Wer es sich leisten kann, sich mit dem Wagen herumchauffieren zu lassen, hat diese Sorge zwar nicht. Aber selbst für einen wie mich, der nur gelegentlich nach Osaka hineinfährt, ist das Überschreiten
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der Straße eine Nervenbelastung, die ihn ganz in Anspruch nimmt. Wenn es sich um Lichtsignale handelt, so sieht man diejenigen zwar gut, die mitten über der Straße angebracht sind; diejenigen hingegen, die irgendwo seitlich in der Luft oben rot und grün aufblinken, sind nicht nur schlecht auszumachen, sondern bei breiten Straßen verwechselt man auch leicht die zur Seite gerichteten mit den frontalen Ampeln. Früher einmal hatte ich mir vorgestellt, sobald man in Kyoto Verkehrspolizisten einsetzen werde, sei alles aus! Heute sind wir soweit, daß man Städtchen wie Nishinomiya, Sakai, Wakayama, Fukuyama aufsuchen muß, wenn man noch eine rein japanische städtische Atmosphäre erleben möchte. Selbst in bezug auf Lebensmittel bereitet es Mühe, in den Großstädten etwas für alte Leute Bekömmliches aufzutreiben. Unlängst besuchte mich ein Journalist und bat mich, über irgendeine ungewöhnliche leckere Speise zu berichten. Da beschrieb ich ihm die Zubereitung von «sushi mit Kakiblättern», den die Bewohner der abgelegenen Bergtäler von Yoshino essen. Ich kann bei dieser Gelegenheit das Rezept gleich auch hier bekanntgeben. Man kocht Reis, indem man auf Shō Reis (,8 l) Gō Sake (,8 dl; Umrechnungen d. Übers.) beifügt. Erst wenn der Reis im Kessel zu sieden anfängt, gießt man den Sake (Reiswein) dazu. Nach dem Kochen bleibt der Reis stehen, bis er vollständig ausgekühlt ist; erst dann bestreut man die Hände mit Salz und formt festgepreßte Reisklöße. Dabei muß jegliche Feuchtigkeit an den Händen vermieden werden. Das
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Geheimnis liegt darin, die Klöße rein mit Salz zu pressen. Danach schneide man dünne Scheiben von Salzlachs, lege sie auf die Reisklöße und wickle sie in Kakiblätter ein, deren Vorderseite nach innen schaut. Auch von den Kakiblättern und vom Lachs wischt man zuvor mit einem trockenen Tuch gründlich jegliche Feuchtigkeit ab. Wenn es soweit ist, nimmt man einen inwendig ganz ausgetrockneten sushi-Kübel oder Reisbehälter, füllt die sushi-Klöße in kleinen Mengen ein, so daß keine Zwischenräume übrigbleiben, legt den Preßdeckel obenauf und beschwert ihn mit dem Gewicht eines Pökelsteins. Der am Abend eingemachte sushi kann etwa vom nächsten Morgen an gegessen werden; er schmeckt während des ersten Tages am besten, bleibt aber auch am zweiten und dritten Tag noch genießbar. Beim Essen taucht man ein Blatt des bitteren Knöterichs in Essig und besprengt den sushi damit. Ein Freund, der sich vergnügungshalber in Yoshino aufhielt, fand diese Speise so überaus wohlschmeckend, daß er die Zubereitung lernte und sie mir weitergab. Es genügt, Kakiblätter und Salzlachs zur Verfügung zu haben, dann kann man diesen sushi überall herstellen. Man versuche es nur einmal bei sich zu Hause und vergesse dabei nur nicht, jede Feuchtigkeit unbedingt zu vermeiden und den Reis vollständig auskühlen zu lassen – dann ist dieser sushi in der Tat köstlich! Der Saft und der Salzgeschmack des Lachses dringen im richtigen Maß in den Reis ein, der Lachs wird zart, als wäre er roh und frisch, und nimmt eine Konsistenz an, die einfach
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unaussprechlich ist. Dieser sushi hat einen ganz anderen Gout, als man von demjenigen in Tokio gewohnt ist, und da er eher meinem Geschmack entspricht, habe ich diesen Sommer über fast nur davon gelebt. «Man kann den Salzlachs also auch noch auf diese Art essen!» sagte ich mir dabei ständig und bewunderte die Erfindungsgabe der an Gütern nicht gesegneten Bergbewohner. Wenn man sich einmal nach solchen verschiedenartigen Lokalgerichten umsieht, kommt man zum Schluß, daß der Geschmackssinn der Landleute heutzutage viel sicherer ist als derjenige der Städter; in einem gewissen Sinn treiben sie einen Luxus, der über unsere Vorstellungen hinausgeht. So lassen denn nach und nach manche alten Leute die Stadt hinter sich und führen ein zurückgezogenes Leben auf dem Lande, wobei man sich aber auch da nicht mehr so unbehelligt fühlen kann; denn auch Landstädtchen installieren Straßenlampen und andere Dinge und gleichen von Jahr zu Jahr mehr der Stadt Kyoto. Nach einer Theorie werden, wenn die Zivilisation noch einen Schritt weiter vorangekommen ist, die Verkehrsträger in die Luft oder unter den Boden verlegt, und die Straßen der Städte kehren dann zu ihrer früheren Stille zurück. Aber wie auch immer, zu dieser Zeit werden mit hundertprozentiger Sicherheit wieder andere neue Einrichtungen die Alten tyrannisieren. Schließlich wird es heißen, sie sollten sich schön gefälligst zurückziehen; und dann wird ihnen kein anderer Ort mehr verbleiben, als im eigenen Haus sich zu ducken und bei Hausmannskost und einem abendlichen Sake-
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Becher Radio zu hören. Ewige Nörgelei, wie sie nur von alten Leuten kommen kann! wird man vielleicht denken. Aber das scheint nicht ganz zuzutreffen. Kürzlich hat der Kolumnist der Osaka-Asahi-Zeitung, der mit dem Pseudonym Tenseijingoshi (Stimme des Himmels – Menschenworte; Anm. d. Übers.) zeichnet, die Präfekturbeamten verhöhnt, wie sie rücksichtslos den Wald roden und die bewaldeten Hügel auslichten, um eine Fahrstraße in den Park von Mino’o anzulegen. Als ich das las, fühlte ich mich in meiner Auffassung um einiges bestärkt. Wirklich, sogar den Bergwald seiner tiefen Baumschatten zu berauben, ist ein ruchloses Vorgehen. Wenn das so weitergeht, werden wohl sämtliche berühmten Orte in der Umgegend von Nara, Kyoto und Osaka zwar der breiten Masse zugänglich gemacht, dafür aber auch allmählich in der gleichen Weise kahlgeschlagen. Doch genug, auch das ist wieder so eine Litanei! Ich selbst bin der letzte, der sich der vielfältigen Segnungen unserer Zeit nicht bewußt wäre. Und überdies, wozu noch viele Worte machen? Japan hat längst einen Kurs entlang den Leitlinien der westlichen Kultur eingeschlagen, so daß gar nichts anderes übrigbleibt, als die alten Leute und solche, die nicht mehr mitkommen, zurückzulassen und unentwegt weiterzuschreiten. Allein, da unsere Hautfarbe sich jedenfalls nicht verändert, müssen wir uns damit abfinden, die daraus erwachsenden, uns allein betreffenden spezifischen Nachteile auf unabsehbare Zeit auf uns zu nehmen. Aber natürlich habe ich dies alles mit dem Hin-
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tergedanken niedergeschrieben, ob denn nicht etwa ein Weg offen bliebe, solche Nachteile auf irgendeinem Gebiet, zum Beispiel der Literatur oder Kunst, zu kompensieren. Ich jedenfalls möchte versuchen, unsere schon halbverlorene Welt der Schatten wenigstens im Bereich des literarischen Werks wieder aufleben zu lassen. Ich möchte am Gebäude, das sich Literatur nennt, das Vordach tief herabziehen, die Wände beschatten, was zu deutlich sichtbar wird, ins Dunkel zurückstoßen und überflüssige Innenverzierungen wegreißen. Ich sage nicht, daß ich mir das für alle Häuser wünsche; aber wenigstens eines von dieser Art darf doch wohl bestehen bleiben. Und um zu sehen, was dabei herauskommt, lösche ich probeweise einmal das elektrische Licht.
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anmerkungen
Bei den Namen wurde durchwegs die japanische Reihenfolge Familienname – persönlicher Name beibehalten. Seite 6/7
shōji: Schiebefenster oder -türe, bestehend aus einem Holzgitter mit darübergeklebtem weißen, lichtdurchlässigen Papier. Nach außen wird das Papier heute meist durch Milchglasscheiben ersetzt. 0 und 29 Natsume Sōseki (867–96): führender Autor zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit großem Einfluß auf spätere Generationen. Moderner Klassiker. Der weiter unten genannte Roman «Kusamakura» (‹Graskopfkissen›, d. h. Übernachten auf der Reise) entstand 906. Vgl. auch seinen Roman ‹Kokoro›, übers. v. Oscar Benl, Manesse Verlag, Zürich 976. Saitō Ryoku’u (867–904): Schriftsteller und Kritiker. 2 tatami: siehe zu S. 60. 7 hanshi: Japanpapier für die Pinselschrift. Format: Breite 24–26 cm, Höhe 33–35 cm. Römische Schrift: Von der Jahrhundertwende bis zum 2. Weltkrieg gab es verschiedene Bewegungen, die anstelle der japanischen Schrift die Lateinschrift einfuhren wollten, jedoch ohne Erfolg. Die Lateinumschrift (rōmaji) wird zwar zum Zweck der Transkription in den Schulen gelehrt, aber der Ersatz der japanischen Schrift steht schon längst nicht mehr zur Diskussion. Die japanische Schrift, eine Mischung aus chinesischen Ideogrammen und in Japan entwickelten Silbenzeichen, ist Teil der kulturellen Identität der Japaner.
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hōsho: dickes, weißes Japanpapier von hoher Qualität, ursprünglich für Regierungserlasse (hōsho) verwendet. Kiefern von Onoe: geschützte Kiefern beim OnoeSchrein in Kakogawa, Hyōgo-Präfektur (westlich von Kōbe). Altes poetisches Motiv. yōkan: eine traditionelle japanische Süßigkeit, Paste aus gekochten, gezuckerten roten Bohnen von dunkelrotbrauner Farbe. Sie wird in festen, länglichen Blöcken mit glänzender Oberfläche verkauft, die zum Essen in Scheiben geschnitten werden. Beliebte Beigabe zum grünen Tee. miso: Paste aus fermentierten Sojabohnen. Erfüllt vor allem als Suppenbasis eine wichtige Funktion in der japanischen Küche. tōfu: wird aus Sojabohnen gewonnen durch Kochen, Passieren und Gerinnenlassen. Im Unterschied zu den seit einigen Jahren in Europa gehandelten Sorten verwenden die Japaner hauptsächlich eine zarte, schneeweiße, puddingartige Sorte. kamaboko: kompakte, meist auf Holzbrettchen halbzylindrisch geformte Masse aus gedämpftem Fisch. «Fischpastete». Wird in Scheiben geschnitten. Chion-in: am Ostrand von Kyoto gelegener Tempel der Sekte vom ‹Reinen Land›, gegründet durch den Mönch Hōnen (33–22). Das monumentale Eingangstor ist mit seinen 25 m das höchste in Japan. Honganji: Es gibt den östlichen und den westlichen Honganji, zwei mächtige Tempelkomplexe im südlichen Teil von Kyoto. Sie sind die Zentren der zwei rivalisierenden Linien der ‹Neuen Sekte vom Reinen Land›.
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Nō: älteste Form des traditionellen japanischen Theaters. Im 4. und 5. Jahrhundert durch Kan’ami (333–384) und seinen Sohn Seami (364–444) ausgestaltet und bis heute durch fünf Familien oder Schulen (z. B. Kongō, Kanze) in ununterbrochener Linie überliefert. Eine Bühnenkunst von hoher Abstraktion und aristokratischem Zuschnitt, in deren Zentrum der Tanz steht. Auffallend sind u. a. die wertvollen Prunkkostüme, die als Familienschätze weitergegeben werden. Es gibt eine große Zahl von Typen, Macharten und Musterungen mit einer komplizierten Terminologie. Suō, suikan und kariginu sind solche Typen, deren Unterschiede sich nur mit Hilfe von Abbildungen aufzeigen ließen. Kabuki: das sehr abwechslungsreiche, farbige, vitale Theater des städtischen Bürgertums, das im 7. / 8. Jahrhundert entstanden ist und noch heute große Popularität besitzt. Kongō Iwao (887–95): einer der führenden NōSpieler in der . Hälfte des 20. Jahrhunderts, Oberhaupt der Kongō-Schule in Kyoto. Yang Kuei-fei: klassische Schönheit, die Helena der chinesischen Tradition. Sie war die Favoritin eines Kaisers und wurde im Jahr 756 durch Soldaten ermordet. Ihr Name taucht häufig in klassischen chinesischen und japanischen Schriften auf. onnagata: Frauendarsteller. Im Kabuki-Theater werden alle Frauenrollen von Männern gespielt. Diese im 7. Jahrhundert durch Regierungserlaß erzwungene Maßnahme hat sich zu einem besonders wichtigen Merkmal der spezifischen Stilisierungskunst des Kabuki entwickelt.
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Onoe Baikō (870–934): berühmter onnagata (Frauendarsteller). Okaru: Frauenfigur aus dem berühmten historischen Schauspiel «Chūshingura» (‹Schatzkästlein der Lehenstreue›) aus dem Jahr 748. Bunraku: seit ca. 800 der gebräuchliche Name für das im 7. Jahrhundert parallel zum Kabuki entstandene klassische Puppentheater. Merkmale: Stockpuppen. Jede Puppe wird von je drei Mann geführt, die dem Zuschauer sichtbar sind. Alles Gesprochene wird vom Rezitator vorgetragen, der mit seinem Begleiter, dem Shamisen-Spieler, auf einem Podest rechts vor der Bühne sitzt. Im Unterschied zum Westen nimmt das Puppentheater eine ganz zentrale Stellung in der japanischen Theatertradition ein. Shimabara: Bezirk im südwestlichen Teil der Stadt Kyoto, wo sich seit dem 7. Jahrhundert bis gegen Ende des 9. Jahrhunderts das Freudenviertel befand. Das Haus Sumiya besteht noch heute und ist als Kulturdenkmal geschützt. Nihonbashi: ‹Japan-Brücke›, Quartier im Zentrum von Tokio. Chūgūji: ehemaliges Frauenkloster, neben dem ältesten japanischen Tempelkomplex, dem Horyūji, in der Nähe von Nara gelegen. Es ist vor allem wegen seiner Buddhastatue, eines Meisterwerks und Nationalschatzes aus dem 7. Jahrhundert, berühmt. Nach herkömmlicher Auffassung, der auch Tanizaki hier folgt, handelt es sich um eine Figur des Bodhisattva Kannon (skr. Avalokiteśvara), dem eine populäre Tradition weibliche Züge zuschreibt. Dies ist aber nach neueren Forschungen in doppelter Hinsicht unzutreffend. Erstens ist Kannon nicht weiblich. Und zweitens stellt die Statue im
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Chūgūji nicht Kannon, sondern höchstwahrscheinlich den Bodhisattva Miroku (skr. Maitreya) dar. Vgl. zu diesen beiden Bodhisattvas: Seckel, Dietrich, ‹Kunst des Buddhismus›, (Reihe: Kunst der Welt), Baden-Baden 962, S. 28–228. Gion: Quartier in Kyoto, östlich des Flusses Kamogawa. Ein traditioneller Vergnügungsbezirk, der für seine Geishas berühmt ist. tatami: Matten aus Stroh und Binsen, mit denen in Japan die Böden der Wohnräume ausgelegt werden. Es gibt vor allem zwei Normen: das alte Kyoto-Maß 95 × 90 cm und das heute allgemein verbreitete Standardmaß 78 × 76 cm. Das Grundmaß der tatami bestimmt die Proportionen und die Dimensionierung der Räume und des ganzen Gebäudes. Die Zimmergröße wird nach der Anzahl Matten bemessen, 3, 4½, 6, 8, 0, 2 Matten usw. Takebayashi Musōan (880–962): Schriftsteller und Übersetzer, lebte zwischen 920 und 934 hauptsächlich in Frankreich. Ishiyama: Tempel östlich von Kyoto am Ausfluß des Biwa-Sees. Einer legendenhaften Überlieferung zufolge hat Murasaki Shikibu, die Verfasserin der ‹Geschichte vom Prinzen Genji›, hier zwei Kapitel ihres Werks niedergeschrieben, indem sie den Mondschein betrachtete. Der Tempel gilt deshalb als für die Mondschau geeigneter Ort. Der Fünfzehnte: Zu den vielen festlichen Anlässen des japanischen Jahreslaufs gehört die Mondschau. Und zwar gilt nach der Überlieferung der 5. Tag des 8. Monats nach altem Kalender (entspricht etwa Mitte September nach unserer Zeitrechnung) als besonders geeignet. Der ‹Fünfzehnte Abend› (jūgoya) ist daher in
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der Dichtung ein Jahreszeitenwort für den Herbst und kann mit ‹Vollmond› gleichgesetzt werden. Suma: Die Küste von Suma, im westlichen Teil der heutigen Stadt Kōbe gelegen, ist ein in der klassischen Literatur vielzitierter Ort. Die Sitte, sich zur Mondschau dorthin zu begeben, geht zurück auf das 2. Kapitel (Suma) des «Genji monogatari». Siehe: ‹Genji monogatari – Die Geschichte vom Prinzen Genji›, 2 Bde. Manesse Verlag, Zürich 966. Hiei, Nyoi, Kurodani, Ostberge: Die Stadt Kyoto liegt in einem weiten Talkessel, der im Westen, Norden und Osten von Hügelzügen oder ‹Bergen› umgeben ist. Die Ostberge (Higashiyama) sind insofern am wichtigsten, als die Stadt sich früh bis an ihren Fuß ausbreitete und viele Tempel an ihren Abhängen zu finden sind. Höchster Punkt im NO ist der Berg Hiei (848 m), auf dem seit dem 9. Jahrhundert die weitläufige Klosteranlage des Enryakuji, des Zentrums der Tendai-Sekte, steht. Südlicher liegt der Berg Nyoi, bekannter unter dem Namen Daimonji-yama, an dessen Westflanke alljährlich beim Bon-Fest Feuer entfacht werden. Kurodani ist ein kleiner Tempelbezirk am Ostrand der Stadt.
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tanizaki jun’ichiro (886–965) wurde in Tokio geboren. Beide Eltern stammten aus alten Kaufmannsfamilien. Der Vater war unter anderem Reishändler. Jun’ichiro, ein hochbegabter junger Mann, erregte schon in der Schule durch stilistische Glanzleistungen Aufsehen und studierte an der kaiserlichen Universität von Tokio englische und japanische Literatur. Ohne einen Abschluß zu machen, entschied er sich für die Schriftstellerlaufbahn und hatte mit seinen ersten Erzählungen, besonders mit «Shisei» (‹Tätowierung›, 90), sogleich großen Erfolg. Von da an produzierte er in unermüdlicher Schaffenskraft ein Werk nach dem anderen und gilt unangefochten als einer der führenden Autoren des 20. Jahrhunderts. Unter dem Einf luß von Leuten wie Oscar Wilde, Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire sowie seines Lehrers Nagai Kafū nahm er von Anfang an einen antinaturalistischen Standpunkt ein und wurde zum Bannerträger des Ästhetizismus. Sein Hauptthema ist die Suche nach Schönheit und nach einer oft übersteigerten, sich am Rande des Abartigen bewegenden Sinnlichkeit und Erotik. 923 siedelte er in das Gebiet von Kyoto-Osaka um und wandte sich vermehrt der traditionellen Kultur zu. Als Hauptwerk darf wohl der umfangreiche Familien- und Gesellschaftsroman «Sasame yuki» (‹Feiner Schnee›, 943–48) bezeichnet werden, ein imponierendes Sittengemälde aus dem Kaufmannsmilieu von Osaka. Tanizaki schreibt eine breit angelegte, kraftvolle, präzise Prosa. Sein souveräner Stil und sein
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Sinn für literarische Strukturen zeigen einen geborenen Epiker. Der lange Essay «In’ei raisan» (‹Lob des Schattens›) entstand 933 und wurde erstmals in der Zeitschrift «Keizai ōrai» veröffentlicht. Er ist ein Schlüsselwerk für Tanizakis Ästhetik, zeugt sowohl für seinen ausgeprägten Sensualismus wie für seine Hinwendung zur Tradition und reflektiert in einzigartiger Weise die Situation des Umbruchs, die Spannung zwischen Alt und Neu, zwischen Ost und West, in der sich Japan in den dreißiger Jahren befand und noch heute befindet. E. K.
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bibliographie der Werke Tanizakis, die in deutscher Übersetzung vorliegen: «Irezumi» (90) ‹Tätowierung›, übersetzt von Heinz Brasch. Zuletzt in: Japan erzählt. Frankfurt / M. 969. ‹Das Opfer›, nach der amerikanischen Übersetzung ins Deutsche übertragen von Monique Humbert. In: Nippon – Moderne Erzählungen aus Japan. Zürich 965. «Chiisa na ōkoku» (98) ‹Ein kleines Königreich›, übersetzt von Jürgen Berndt und Eiko Satō-Berndt. In: Träume aus zehn Nächten. Moderne japanische Erzählungen. Berlin 975. «Watashi» (92) ‹Ich›, übersetzt von Ingrid Schuster und Reiko Sato. In: Japanische Kriminalgeschichten. Stuttgart 985. «Chijin no ai» (924–25) ‹Naomi oder eine unersättliche Liebe›, übersetzt von Oscar Benl. Reinbek bei Hamburg 970. «Tade kuu mushi» (928) ‹Insel der Puppen›, aus dem Amerikanischen übersetzt von C. Meyer-Clason. Esslingen 957.
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«Shunkin shō» (933) ‹Shunkinshō – Biographie der Frühlingsharfe›, übersetzt von Walter Donat. In: Die fünfstöckige Pagode. Japanische Erzähler des 20. Jahrhunderts. Düsseldorf-Köln 960. «Sasame yuki» (943–48) ‹Die Schwestern Makioka›, übersetzt von Sachiko Yatsushiro. Reinbek bei Hamburg 964. «Kagi» (956) ‹Der Schlüssel›, übersetzt von Sachiko Yatsushiro und Gerhard Knauss. Reinbek bei Hamburg 96. «Fūten rōjin nikki» (962) ‹Tagebuch eines alten Narren›, übersetzt von Oscar Benl. Reinbek bei Hamburg 966.
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CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Tanizaki, Jun’ichirō: Lob des Schattens / Tanizaki Jun’ichiro. Aus d. Japan. übertr. von Eduard Klopfenstein. – 5. Aufl. – Zürich: Manesse Verlag, 990 (Manesse Bücherei; Bd. 4) Einheitssacht.: In’ei-raisan dt . isbn 3-775-809-0 NE: GT
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Buchgestaltung Brigitte und Hans Peter Willberg, Eppstein Titel der japanischen Originalausgabe: «In’ei raisan» Copyright © 933 by Chuokoransha Tokyo. Alle Rechte vorbehalten Copyright © 987 für die deutsche Ausgabe by Manesse Verlag Zürich
Tatsächlich gründet die Schönheit eines japanischen Raumes rein in der Abstufung des Schattens. Sonst ist überhaupt nichts vorhanden. Abendländer wundern sich, wenn sie japanische Räume anschauen, über ihre Einfachheit und haben den Eindruck, es gäbe da nur graue Wände ohne die geringste Ausschmückung. Das ist von ihrem Standpunkt her gesehen durchaus plausibel, aber es zeigt, daß sie das Rätsel des Schattens nicht begriffen haben.
isbn 3-775-809-0