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Letzte Nacht
Stewart O’ Nan Roman Deutsch von Thomas Gunkel marebuchverlag
marebibliothek
Autoren erzählen ihre Geschichte vom Meer Herausgegeben von Denis Scheck Band 32
Für meinen Bruder John und alle, die die Schichten übernehmen, die kein anderer will
All the vatos and their abuelitas All the vatos carrying a lunch pail All the vatos looking at her photo All the vatos sure that no one sees them All the vatos never in a poem Luis Alberto Urrea
Darden Restaurants Inc. erhöht seine Prognose und rechnet für das Jahr 2005 mit einer Steigerung der Dividende von insgesamt 22 bis 27 Prozent pro Aktie ...
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Geschäftszeiten
Ein grauer Wintertag, der Verkehr am Einkaufszentrum ist zum Erliegen gekommen. Später Vormittag, aber die schwach leuchtenden Straßenlaternen brennen noch. Ver‐ einzelte Schneeflocken schweben herab wie Asche, doch die Straßen sind im Moment größtenteils trocken. Die Feiertage stehen bevor – am Kühlergrill eines Müllautos, das an der Ampel hält, ist mit Draht ein großer Kranz befestigt, rote Samtschleife inklusive. Auf der Abbiege‐ spur warten sie darauf, dass der Pfeil über der Straße auf Grün springt, dann setzt sich eine Kolonne salzverkrus‐ teter Fahrzeuge in Bewegung und biegt nach links in die Einfahrt des Einkaufszentrums, wo sich ihre Wege tren‐ nen und jeder sich auf die Suche nach einer Parklücke macht. Ein einzelner Wagen gleitet allein über die Weite des Parkplatzes, vorbei an einem zusammengeschobenen Schneehaufen, der aufragt wie ein schmutziger Eisberg. Ein schrottreifer weißer Buick, wie man ihn vielleicht von einer Großmutter erben würde, an der Fahrertür fehlt ein Stück Zierleiste. Der Regal bleibt auf der markierten Spur ganz am äußersten Rand, hält am Stoppschild, obwohl es hier draußen bloß freie Parkflächen gibt, und schließlich das Fahrtziel des Wagens, weit hinten in einer Ecke ge‐ legen, als wäre dort der Angelpunkt des gesamten Park‐ platzes, ein dunkler Holzrahmenbau mit eigener Park‐
fläche und unbeleuchtetem, dem Highway zugewandten Neonschild – ein Red Lobster. Der Regal blinkt überflüssigerweise und gleitet auf den Parkplatz wie ein Ozeandampfer, der endlich den Hafen erreicht, vorbei an den Behindertenparkplätzen zu beiden Seiten des Wegs, der zum Eingang führt, er bremst, biegt dann ab und verschwindet hinter dem Ge‐ bäude, nur um ein paar Sekunden später ganz hinten auf der anderen Seite wieder aufzutauchen und neben einem umzäunten Müllcontainer zu halten, als wollte sich der Fahrer verstecken. Einen Augenblick steht der Wagen mit ausgeschal‐ teter Zündung da, Schnee rieselt auf Dach und Heck‐ fenster, und die beheizte Scheibe scheint jedes auftref‐ fende Schneekristall aufzusaugen. Im Wageninnern, ein‐ gerahmt von den Schalensitzen, baumelt am Rückspiegel eine goldbefranste puertoricanische Flagge. Der Fahrer beugt sich zu einer Flamme hinab, drückt den Kopf wie ein Astronaut gegen die Kopfstütze und stößt Rauch aus. Nochmal, und dann ein weiteres Mal, und der Rauch schwebt derweil in einer Wolke über dem Rücksitz. Der Blick des Mannes schnellt ängstlich zum Rück‐ spiegel. Es ist noch zu früh, und außerdem ist er zu alt, um sich zu bekiffen – gut und gern fünfunddreißig, Dop‐ pelkinn, kakaobraune Haut, borstiger Ziegenbart und Koteletten –, aber vielleicht liegt es auch bloß an seiner Krawatte, dass er so seltsam aussieht, als er das Feuerzeug an den stählernen Pfeifenkopf führt. Er könnte Börsen‐ makler sein oder ein Verkäufer bei Circuit City, der ge‐ rade Kaffeepause macht, doch das Namensschild, das aus der offenen Lederjacke hervorlugt, zeigt einen garnierten Hummer über seinem Namen: MANNY. Auf seinem
Schoß liegt, schwer wie ein Vorhängeschloss, ein an der Gürtelschlaufe befestigter dicker Schlüsselbund. Wenn jemand hier etwas zu suchen hat, dann Manny DeLeon. Als Geschäftsführer ist er dafür zuständig den Laden aufzusperren, eine Aufgabe, die ihm mittlerweile Spaß macht. Obwohl Red Lobster keine Lizenzen ver‐ gibt, betrachtet er die Filiale als sein Eigentum – zumin‐ dest tat er das, bis er den Brief von der Zentrale bekam. Er ging davon aus, dass sie wegen Renovierungsarbeiten schließen würden, wie die Filiale in Newington, dass die dunkel lackierten Nischen und das Küstendekor‐Imitat ersetzt würden durch einen offenen Grundriss und zarte blaugrüne Pastelltöne, den Coastal Home‐Stil, der auf der Webseite des Unternehmens verheißen wurde. Mit ihren Fachwerkdecken, dem eingedrückten Fiberglas‐ schwertfisch und den mit Schellack überzogenen Treib‐ holzschildern für die Toiletten waren sie längst überfällig. Stattdessen bedauerte die Zentrale, ihm mitteilen zu müssen, eine Unternehmensstudie habe ergeben, dass der Standort in New Britain die Erwartungen nicht erfülle, und deshalb mit Wirkung vom 20. Dezember endgültig geschlossen werde. Vor zwei Monaten hat Manny noch vierundvierzig Leute beschäftigt, zwanzig davon Vollzeit. Wenn er heute Abend die Tür abschließt, werden bis auf fünf alle ih‐ ren Job verloren haben, und einer von diesen fünfen – ungerechterweise, denn er war ihr Vorgesetzter – wird er selbst sein. Am Montag werden die Verbliebenen im Olive Garden in Bristol anfangen, eine zusätzliche Vier‐ telstunde Fahrzeit, aber besser als das, was Jacquie und die Übrigen erwartet. In den letzten paar Wochen hat er an den Empfehlungsschreiben gesessen und versucht,
sich etwas Nettes einfallen zu lassen – in manchen Fällen nicht schwer, in anderen fast unmöglich. Jacquie könnte er immer noch mitnehmen, wenn sie zu ihm käme und ihn darum bäte. Eigentlich stimmt das nicht, aber es ist eine Lüge, an die er gern glauben würde, weshalb er es sich immer wieder einredet. Viel‐ leicht hat es vor ein paar Monaten noch gestimmt, aber jetzt tut es das nicht mehr. Jacquie hat selbst gesagt, es wäre besser so, und er hat ihr zugestimmt – wenn auch nur aus praktischen Erwägungen. Nach dem heutigen Abend wird er sie nie mehr wiedersehen. Das müsste eine Erleichterung sein. Ein Schlussstrich. Doch warum malt er sich dann aus, dass er sie nach Feierabend anfleht, mit ihm mitzukommen, oder braucht er bloß ihre Verge‐ bung? Er bläst ein letztes Mal Rauch in die Luft und klopft die Pfeife im Aschenbecher aus, verstaut sie dann neben sich in der Konsole, öffnet das Fenster einen Spaltbreit, schnippt eine Zigarette aus der Packung, zündet sie sich an und pustet einen sich kräuselnden Rauchschleier über das Dope. Er schließt die Augen, als wollte er schlafen, und schiebt den Ärmel seiner Jacke zurück, um auf die Armbanduhr zu schauen. «Okay», murmelt er, als würde ihn jemand antreiben, öffnet dann langsam die Tür und schwingt sich nach draußen, die Zigarette zwischen die Zähne geklemmt. Obwohl niemand da ist, macht er sich die Mühe, den Wagen abzuschließen. Kein Lüftchen regt sich, nur die sich überlappenden Verkehrsgeräusche von der anderen Seite des hübschen, in Habachtstellung stehenden Kiefernspaliers und die Schneeflocken, die sanft auf den rissigen Asphalt fallen, empfangen ihn. Als er den Parkplatz überquert, fliegt
eine Krähe auf von der Laderampe, wie ein schlechtes Omen. Er hält mitten im Schritt inne und beobachtet, wie sie zu den Kiefern gleitet, geht dann weiter, fächert die Schlüssel am Bund auf, ordnet sie bedächtig, die Zigarette im Mundwinkel wie ein Klugscheißer in einem Film. Als er den Richtigen gefunden hat, zieht er ein letztes Mal an der Zigarette und wirft den Stummel in einen großen schwarzen Plastikaschenbecher neben der Hintertür, der wie ein Butterfass geformt ist (und sieht auf dem Boden mehrere Zigarettenstummel vom vorigen Abend liegen, um die er sich später kümmern muss). Drinnen ist es dunkel wie in einem Bergwerk. Er schiebt einen Gummikeil unter die Tür, damit sie offen bleibt, knipst das Licht an und wartet, während an der Küchendecke eine Neonleuchte nach der anderen auffla‐ ckert. Die Edelstahltische glänzen wie Spiegel. Die back‐ steinroten Fliesen, die Eddie und Leron gestern Nacht vor Feierabend gewischt haben, sind blitzsauber. Eddie kommt mit in den Olive Garden; wenigstens den kleinen Kerl kann Manny mitnehmen. Leron findet jederzeit ei‐ nen anderen Job – außerdem trinkt Leron und hat Pro‐ bleme mit dem Wagen, während Eddie vom Easy Street‐ Kleinbus bei Wind und Wetter immer pünktlich vorbei‐ gebracht und wieder abgeholt wird. Und obwohl Manny es nie zugeben würde, weil sie Freunde sind, lässt sich Eddie, der stets einen guten Eindruck machen will, viel leichter herumkommandieren. Er geht die Kochzeile entlang und lässt die Hand wie ein Zauberer über die Fritteusen und den Grill gleiten, um sich zu vergewissern, ob alles ausgeschaltet ist. Die Eismaschine läuft und ist voll – gut. Er geht zur Stechuhr und stempelt die Karte ab, hängt dann seine Jacke auf,
kontrolliert, ob der Safe verschlossen ist, und schiebt sich durch die Schwingtür in den Speiseraum. Dort ist es dämmerig, graue Lichtstrahlen sickern durch die Jalousien und fallen auf eine glänzende Tisch‐ platte, eine Messingstange, die Segel eines Modellschiffs. An der großen Servicetheke leuchtet ein Kassenmonitor, ein königsblaues Viereck. Bei den Schaltern zögert er, weiß das Halbdunkel zu schätzen. An der Bar funkeln die in den Regalen aufgereihten Flaschen, und aus dem vorderen Teil des Gebäudes dringen das Summen des Fil‐ ters und das Wasserfoltergetröpfel des Aquariums herü‐ ber. Wenn ich nicht aufmache, denkt er, können sie auch nicht schließen. Das ist ein Kindertraum. Egal, was heute passiert, morgen ist das Restaurant so zu wie das Per‐ kins ein Stück die Straße runter (und trotzdem wird er für ein paar Stunden in Uniform aufkreuzen und an die enttäuschten Mittagsgäste Geschenkgutscheine verteilen müssen, als wäre das alles seine Schuld). In den letzten beiden Monaten hat er den Lagerbestand beträchtlich verringert, sodass sie kaum noch Frisches dahaben. Der Konzern wird prüfen, was noch zu gebrauchen ist, und es nach Newington schicken – die Kriegsbeute. Alles Üb‐ rige, wie der glasäugige Schwertfisch, wird abtranspor‐ tiert. Wahrscheinlich wird alles leergeräumt und das Ge‐ filde den Mäusen und Silberfischen überlassen, die er so lange bekämpft hat, ohne dass es einen eindeutigen Sie‐ ger gab. Warum nicht einfach alles abbrennen? Der Nächste, der herkommt, will sowieso neu bauen. Er knipst das Licht im Hauptraum und dann in der Bar an. Draußen auf dem Gehweg liegt die Zeitung, die Nachrichten bereits veraltet. Er holt sie rein, breitet sie
für Kendra flach auf dem Empfangspult aus und streift sich das Gummiband übers Handgelenk wie ein mo‐ disches Sportarmband – eine Gewohnheit aus Kinder‐ tagen, als er frühmorgens mit seinem Vater und später dann allein den Herald austrug. Vielleicht sind weder das Restaurant noch die Angestellten zu retten, doch für ein Gummiband findet man immer eine Verwendung. Er lässt die Jalousien unten und zieht sich in die Kü‐ che zurück, heizt die große Kaffeemaschine auf, das zi‐ schende Herz des Hauses, lauscht ihrem Gluckern und gibt am Safe die Kombination ein. Die Kunstledermappe liegt mitten drin, der Reißverschluss zeigt nach hinten und ist zugezogen, alles genauso wie er es gestern Abend zurückgelassen hat. Aus Gewohnheit blickt er über beide Schultern, bevor er den Schlüssel rausholt. Er ist nie in Versuchung geraten, aber heute scheint das Geld nicht mehr ihm zu gehören. Auch wenn es ihm niemand ver‐ übeln könnte, kann er sich nicht vorstellen, in den Regal zu steigen und in Richtung Bridgeport und Deena zu verschwinden. Und außerdem soll es schneien, vom Meer wirbelt ein Nordostwind herüber, bis Mitternacht sollen es acht bis fünfzehn Zentimeter werden. Er malt sich aus, wie er mit all den Lastwagen auf der 95 feststeckt, wie der Staatspolizist mit seiner einem Schlagstock ver‐ dammt ähnlichen Taschenlampe zum Fenster reinleuch‐ tet und seinen Namen nennt. Es ist bloß grüne Tinte auf Papier, die Ehre eines Mannes nicht wert, würde seine Oma sagen, aber weil er nie Geld besessen hat, denkt er unwillkürlich, dass es bei der ganzen Sache um nichts an‐ deres als darum geht. Das Problem ist, dass es keine Vorwarnung gab. Ihre Einnahmen waren okay, nicht toll, aber besser als letztes
Jahr – trotz der ganzen Bauarbeiten auf der 9 im Sommer. Man hat ihnen nicht mal die Zahlen vom Herbst mit‐ geteilt. Das Letzte, was er von der Zentrale erhalten hat, war Tys Anstecknadel zum Zehnjährigen, und dann BUMM, wie ein altes, baufälliges Gebäude, das auf einen Schlag einstürzt, als war’ s ganz aus Sand. Wie an jedem anderen Tag zählt er die Scheine zwei‐ mal nach, verschließt dann die Geldmappe und den Safe wieder, füllt die Schublade der Kasse hinter der Bar und lässt die Niederhaltebügel mit ihren Sprungfedern wie Mausefallen zuschnappen. Als er fertig ist, wäscht er sich wie ein Chirurg die Hände, schrubbt zwischen den Fin‐ gern und singt in Gedanken «Happy Birthday». Seit einer Salmonellenvergiftung in Tennessee hat die Zentrale auf eine größere Sorgfalt bei der Lebensmittelhygiene gedrängt, und Manny hat wie bei allen Anordnungen des Konzerns sein Bestes getan, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Er hat Graffiti übertüncht, die choleste‐ rinfreundliche Speisekarte empfohlen und seinen Leuten beigebracht, dass jede Kleinigkeit zählt, wenn man seinen Gästen ein tolles Esserlebnis bereiten will. Er hat alles getan, was man verlangt hat, und doch muss da noch etwas anderes gewesen sein, etwas, das ihm entgangen ist. Mit dem neuen tragbaren Sensor kontrolliert er die Temperatur in der Kühlvitrine, im Kühlraum und im Ge‐ frierschrank und speichert im Gehen die Zahlen in dem pistolenförmigen Gerät – ein Nachtwächter, der mit sei‐ nem Schlüssel für die Zeitschlösser seine Runden macht. Manny geht die Checkliste mit den Vorbereitungen durch, hakt seine Aufgaben der Reihe nach ab und wärmt die Suppen in den beiden Kochkesseln auf. Bei dem Schnee
kommt die Fischsuppe bei den Leuten, die den ganzen Morgen im Einkaufszentrum verbringen, bestimmt gut an, die Gumbosuppe eher nicht. Da draußen wird die Hölle los sein. Es sind noch genau vier Einkaufstage bis Weihnachten, und er hat immer noch keinen Schimmer, was er Deena schenken soll. Nichts für das Baby; die Sachen müssen sie sowieso kaufen. Sie hat ihn schon darauf hingewiesen, dass sie etwas Romantisches haben will – wie die Hals‐ kette, die er Jacquie gekauft hat, als sie ein halbes Jahr zu‐ sammen waren, aber das ist zu teuer, besonders bei sei‐ ner unsicheren Zukunft. Vor kurzem hat sie durchbli‐ cken lassen, dass sie heiraten sollten – nicht bloß wegen des Babys, sondern ihretwegen. Immer wenn sie davon anfängt, macht Manny einfach dicht, er weiß auch nicht, warum. Die Frage verfolgt ihn durch den Lagerraum bis nach vorn. Das Aquarium ist mit einer heimelig blinkenden bunten Lichterkette, schäbigem Goldlametta und zu‐ sammengewürfeltem Weihnachtsschmuck behängt, der schon ein Dutzend Nebensaisons auf dem Lagerschrank überstanden hat. Mit einem Netz schöpft er die Was‐ seroberfläche ab, beobachtet die trägen, in den Ecken versammelten alten Hummer und denkt gerade an Ohr‐ ringe, als der Easy Street‐Bus in mehrere Schichten zer‐ legt zwischen den Jalousien vorbeihuscht. Der Fahrer ist gut zehn Minuten zu früh – wahrscheinlich aus Angst vor dem Schnee. Manny legt das tropfende Netz auf den Filter und begibt sich nach hinten, damit Eddie nicht dasteht und an den Türrahmen klopft, wie man’ s ihm im Heim beigebracht hat. Manny geht ans andere Ende der Bar, zieht an der
Ecke die Hüfte ein, strafft dann die Schultern, trippelt kurz und stößt die Schwingtür auf. Es dürfte eigentlich keine Überraschung sein, dass sich sein Körper jede Ein‐ zelheit im Lobster eingeprägt hat, aber heute wirkt alles fremd und bemerkenswert, kostbar, weil es schon fast verloren ist. Er erreicht die Laderampe, und Eddie steigt gerade die Stufen des Busses herunter, eine nach der anderen wie ein kleines Kind, den Kopf gebeugt, als wäre das eine Ohr an die Schulter geklebt. Seine Augen quellen vor, vergrößert durch die dicke Kassenbrille, und sein Ge‐ sicht ist ständig verzerrt, als koste ihn jede Bewegung Mühe. Wegen seiner Knieprobleme braucht Eddie zum Gehen zwei Krücken. Als er auf die Rampe zukommt, knicken die Beine bei jedem Schritt ein, und er wankt heftig, als könnte er jeden Moment stürzen, seine Krü‐ cken zwei nützliche Ausleger, die ihn immer wieder ret‐ ten. Nicht dass es Manny noch auffallen würde, so geht Eddie eben. Alle paar Jahre muss Manny für die Stiftung eine Beurteilung schreiben, und jedes Mal schreibt er: «Eddie ist der beste Mitarbeiter, den ich habe.» Und ob‐ wohl das rührselig und in mancher Hinsicht falsch sein mag (er betrachtet Roz als Königin des Speiseraums und Ty als den Fels in der Küche), ist es kein Zufall, dass Ed‐ die heute als Einziger aus der Mittagsschicht pünktlich ist. «Big Papi», sagt Eddie. «El Guapo.» «Weißt du, wie viel es inzwischen ist? Ich hab’s im Ra‐ dio gehört.» «Wieviel?» «Zweihundert Millionen.»
Manny pfeift. «Wie viele Spielscheine hast du?» «Ich hab schon fünf. Wenn ich darf, kauf ich mir noch fünf.» Hinter ihm winkt der Fahrer, und Manny winkt zurück und entlässt ihn aus seiner Verantwortung. «Wie viele hast du?» «Brother, ich hab nicht mal Geld für Geschenke.» «Vielleicht kannst du mir später welche kaufen?» «Mal sehen.» Eddie hängt sich eine Krücke über den Arm und ergreift das Treppengeländer. Manny weiß, dass Eddie es allein schaffen muss, und als er oben angelangt ist, schüttelt ihm Manny die Hand – eine Formalität, die nichts damit zu tun hat, dass heute der letzte Tag ist, doch unwill‐ kürlich begreift er, dass sie dieses Ritual jetzt zum letzten Mal vollziehen. Wie viele andere letzte Rituale erwarten ihn?, fragt er sich. Wird es den ganzen Tag so gehn? Drinnen beauftragt er Eddie, vorn alles abzustauben – die Jalousien und dann die Balken –, während er das Öl in den Fritteusen wechselt und sie aufheizt. Ob letzter Tag oder nicht, er muss sich an die Checkliste halten und schleppt einen schweren Eimer voll dunkler, stinkender Schmiere nach draußen und über den Parkplatz zum Alt‐ fettcontainer. Ein Sperling beobachtet von einem kahlen Baum aus, wie er das Fett hineinschüttet, und reitet auf einem im Wind schaukelnden Zweig. In der Kälte merkt Manny, dass er nicht mehr bekifft ist, dass der private Teil des Tages vorbei ist, auch das zum letzten Mal. Als er auf dem Rückweg gerade an eine Zigarette denkt, kommt ihm Ty mit seinem aufgemotzten Supra in die Quere und macht hupend einen Satz nach vorn, sodass Manny nicht vorbei kann. Manny hält den tropfenden Eimer hoch, droht, den Rest über die lange Haube zu
kippen, und Ty braust auf den freien Platz neben dem Regal. Ty sieht klasse aus, er trägt eine schwarze Lederjacke wie Manny, aber ein wirkliches gutes Stück, nicht von Men’s Warehouse, Schultern und Taille auf Maß, wie an‐ gegossen. Mit seinem dünnen Oberlippenbart und dem kurz geschnittenen Ziegenbärtchen sieht er aus wie Mekhi Phifer in Emergency Room, dasselbe verschmitzte Lächeln. «Hey, Chef», sagt er und streift einen Autohandschuh ab, um Manny die Hand zu geben, «was machen wir hier eigentlich? Wir müssen doch sowieso früher schließen. Es soll ungefähr einen halben Meter Schnee geben.» «Acht bis fünfzehn Zentimeter.» «Vor fünf Sekunden haben sie fünfundzwanzig bis fünfunddreißig angesagt», erwidert er und deutet auf sei‐ nen Wagen. «Ja, und wann hatten sie zum letzten Mal recht?» Die Wolken hängen direkt über dem Einkaufszentrum, und der Wind frischt auf. Warum sollte es ihm etwas aus‐ machen, wenn sie früher schließen? Er weiß nicht, aber der Gedanke ist enttäuschend. Es kommt ihm schon selt‐ sam vor, dass er das Restaurant verlässt – als bliebe ihm hier noch irgendetwas zu beweisen, als hätte er noch et‐ was zu erledigen. Im Olive Garden fängt er als stellver‐ tretender Filialleiter an, und obwohl er weiß, dass sie ihm nicht einfach seine eigene Filiale geben konnten, und ob‐ wohl sein Gehalt gleich bleibt, betrachtet er das Ganze als Zurückstufung. Deena ist froh, dass er weniger arbeiten muss. Auch er sollte froh sein. «Ich kann’ s immer noch nicht glauben», sagt Ty. «Das ist derselbe Scheiß, den die Navy mit uns gemacht hat.
Ich kann nicht glauben, dass ich mich auch im wirklichen Leben mit so was abfinden muss.» «Musst du ja nicht», sagt Manny. «Wenn ich was zu Beißen haben will, schon.» Ty hatte in der Küche schon das Sagen, als Manny noch ein unerfahrener Anlernling war. Er kam damals direkt vom U‐Boot, und beim Kochen legt er eine un‐ gemein disziplinierte, stramme Haltung an den Tag, hält alles in Gang und macht jeden zur Schnecke, der das Tempo nicht mitgeht. Von ihnen allen hat Ty vermutlich die besten Chancen auf einen vergleichbaren Job, doch Manny fand, er müsste sich ihm gegenüber loyal verhal‐ ten, das heißt, er ließ Derek gehen, der normalerweise für die Mittagsschicht zuständig war, und Rafael, der manch‐ mal die Wochenenden übernahm. Beide sagten, sie ver‐ stünden das, und obwohl sie es nicht aussprachen, er‐ warteten sie, dass er verstand, warum sie ab dem Tag nicht mehr kamen. Ty sagt, die Vierzehnstundentage ma‐ chen ihm nichts aus, solange er bezahlt wird, aber weil erst die Platzanweiserinnen, dann die Serviererinnen und schließlich das Küchenpersonal von Bord gingen, waren die letzten paar Wochen hektisch, und Ty ist jeden Tag später gekommen. In gewisser Hinsicht werden sie beide froh sein, wenn dieser Tag vorbei ist. «Wen hab ich in der Küche?», fragt Ty. «Sag bloß nicht Frito.» «B‐Mac, Warren und Rich. Und Fredo.» Ty dreht sich um und geht auf seinen Wagen zu. «Wohin willst du?», ruft Manny. «Heim. Ich kann doch in der Küche nicht mit drei Leu‐ ten arbeiten.» «Fünf. Und ich helfe aus.»
«Mit vier Leuten kommen wir Samstagabends nicht aus.» «Fünf – und ich dachte, wir müssen heute sowieso frü‐ her schließen.» «Das solltest du hoffen, denn ich schwör’s, ich bring Frito um, wenn ich den ganzen Abend seinen Scheiß wie‐ der hinbiegen muss.» «Musst du nicht», verspricht Manny, aber bloß damit Ty reinkommt. Heute steht überall die Loyalität auf dem Prüfstand (er hat gehört, dass manche Zentralen Spione vorbeischicken, die den Bestand kontrollieren sollen, besonders bei Hummern und Alkohol), und er ist auf Ty angewiesen. Er wird alles Nötige tun, damit sie das hier mit Anstand über die Bühne bringen und zum Olive Garden kommen. «Okay», sagt Ty, «aber Rich ist Bäcker. Ich muss meine Jungs bei mir haben.» «Fredo hilft bei Bedarf, wie wär’s damit?» «Halt ihn einfach von der Kochzeile fern, dann kriegen wir das schon hin.» Ty tauscht sein teures Leder gegen eine makellos sau‐ bere Kochjacke und ‐schürze ein, dreht das Radio auf dem Regal über dem Spülbecken neben der Hintertür an (Ludacris, wummernd) und macht sich im Kühlraum an die Arbeit, wo er aus den farblich als frisch gekennzeich‐ neten Vorräten die Tagesgerichte auswählt. Dass es als Gemüse Blumenkohl gibt, bedeutet für denjenigen, der die Teller zusammenstellt, jede Menge Arbeit, um den Arrangements ein bisschen Farbe zu verleihen. «Weißes Essen für weiße Leute», sagt Ty. «Bring die roten Paprika mit», sagt Manny. «Es ist Weihnachten.»
Die Kaffeemaschine gluckert, und Manny steigt auf einen Stuhl und füllt auf der einen Seite normalen und auf der anderen koffeinfreien Kaffee ein. Als er die De‐ ckel wieder zuschraubt, spaziert Roz vorbei, das Handy am Ohr und an der Zigarette saugend, obwohl sie weiß, dass sie in der Küche nicht rauchen darf. Sie winkt ihm mit der Kippe zwischen den Fingern zu und verschwindet im Pausenraum. Obwohl sie erst in einer Stunde öffnen, ist es Manny nicht entgangen, dass nur jene Leute auftauchen, die er zum Olive Garden mitnimmt, als wären die anderen weggeblieben, um ihm eine Lektion zu erteilen. Bei all den Problemen, die es mit der Stellenbesetzung gab, konnte er jede Menge Überstunden anbieten – eine Weih‐ nachtszulage –, aber vielleicht hat er ihren Stolz unter‐ schätzt. Er weiß nicht genau, ob er selbst gekommen wäre (aber das ist gelogen: Er wäre sogar pünktlich gewesen). Wie um seine Theorie zu widerlegen, taucht ein paar Minuten später ausgerechnet Leron auf, schüttelt den Schnee von der Mütze und bringt seine Hochfrisur mit den Fingern wieder in Ordnung. Irgendwann zwischen Mittwoch und heute hat er sich etwas eingefangen, das nun als eine blutverkrustete Wunde unter seinem linken Auge prangt. Er schlendert an Manny vorbei, der inzwi‐ schen an einem Küchenbrett Salat schneidet und ihn mit einem leisen «Okay» begrüßt; der Grasgestank, der in seiner Armeejacke sitzt, ist nicht zu verbergen. Er schiebt die Stechkarte ein und bleibt lange hinten im Flur, bevor er mit Schürze und schwarzem Piratentuch zurück‐ kommt und nach der Schachtel mit den Latexhandschu‐ hen greift.
«Hände», sagt Manny und deutet mit einem Messer aufs Waschbecken, und Leron lächelt, ein Lächeln wie «fast hätte es geklappt», oder vielleicht glaubt er auch, das ist nicht Mannys Ernst, sich jetzt noch um so was zu scheren. Bei Leron weiß man nie. Von Anfang an hat er so getan, als läge ihm nichts an dem Job, aber hier ist er, nachdem er gestern Abend nicht da war und sich auch nicht gemeldet hat. Wortlos übernimmt er das Sa‐ latschneiden für Manny. Er ist wesentlich schneller, doch nur seine Arme und Hände sind in Bewegung, alles Üb‐ rige ist stocksteif, der Mund zu einer schmalen Linie ge‐ presst, die Augen müde und starr. Ty hat erzählt, er hätte auf dem U‐Boot so einen Typen gekannt, einen jungen Schwarzen, der hätte irgendwann auf Landurlaub seine Frau umgebracht, und man hätte sie erst gefunden, als das U‐Boot schon wieder auf offener See war. Ty hätte ihm seine Mahlzeiten in die Zelle gebracht. Monatelang hätte der Typ keinen Mucks getan, aber als Ty eines Abends das Essenstablett abholte, hätte er plötzlich gesagt: «Die Rüben waren gut.» Da Manny mit Anfang zwanzig eine Weile auf der schiefen Bahn war und sich verantwortungs‐ los benahm (wie Jacquie darüber lachen würde), redet er sich ein, dass Leron zwar Probleme hat, aber im Grunde seines Herzens ein guter Mensch ist. Er hat schon erlebt, dass Leron Eddie hilft, wenn sich das saubere Geschirr am Ausgang der Geschirrspülmaschine stapelt, hat erlebt, wie er ein Heftpflaster auf Eddies Hand klebt, wenn der sich an einem kaputten Wasserglas geschnitten hat, alles mit demselben seelenruhigen Gesichtsausdruck. Er stellt sich vor, dass Leron zu Hause oder bei Freunden anders ist – dass er außerhalb des Lobster wieder zum Leben er‐ wacht.
Manny ist erstmal froh, dass er da ist. In vierzig Mi‐ nuten öffnen sie, und er hat niemanden in der Küche und nur eine Serviererin. Er weiß Lerons annähernd pünkt‐ liches Erscheinen zu schätzen, während Warren, den er zum Olive Garden mitnimmt, schon mehr als eine Stunde verspätet ist. Vorn ist Eddie mit dem Staubwischen fertig und sitzt in einer Nische, wo er das Silberbesteck in Papierser‐ vietten wickelt und mit den Gebinden nach und nach mehrere weiße Eimer füllt, einen für jede Servicetheke. Roz sprüht ihre Nischen ab, ganz Ellbogen und knochige Arme, und beim Abwischen der Tischplatten schaukelt ihr Clairol‐blonder Pferdeschwanz hin und her. Trotz ihrer mädchenhaften Haarspangen ist Roz so alt, dass sie seine Mutter sein könnte. Sie ist ein Profi, mit schwar‐ zen Schwesternschuhen und den Waden eines Mountain‐ bikers – sie hat das ganze Leben in diesem Job geschuftet und ist die Einzige, der eine betriebliche Altersver‐ sorgung von Darden zusteht. Das Namensschild an ihrer Uniform wird schon längst nicht mehr hergestellt; er hat versucht, eins bei eBay zu finden. Da Manny nicht ver‐ langen kann, dass sie Jacquies, Crystals oder Nicolettes Nischen herrichtet, schnappt er sich eine Sprühflasche Windex und macht sich selbst an die Arbeit. «Was denn», sagt Roz, «bist du etwa auf‘ ne Beförde‐ rung aus? Wo ist überhaupt deine Freundin?» «Welche denn?» «Los, ihr müsst alle lachen», sagt sie in den Raum hin‐ ein, und Eddie blickt auf. «Der Boss hat einen Witz ge‐ rissen. Wenn ich ihr erzählen würde, was du gesagt hast, würde ihr das bestimmt gefallen.» «Sie kommt noch.»
«Ich kapier nicht, warum. Schuldest du ihr Geld, oder was?» Schon wieder so eine stichelnde Bemerkung, aber Manny tut sie mit einem Schulterzucken ab. Er lässt sich das von Roz gefallen, weil er weiß, dass die Situation, von außen betrachtet, lächerlich wirkt, aber sie kennt nicht die ganze Geschichte. Er schuldet Jacquie viel mehr als schlichte Loyalität. Er hat ihr größere Enttäuschungen bereitet, für die es keine Entschuldigung gibt. Was Jac‐ quie wirklich denkt, ist ihm ein Rätsel. Vor einem Jahr hat sie auf die Karte an seinem Geschenk «Für immer» geschrieben. Jetzt reden sie kaum noch miteinander. Das Baby ist nicht das einzige Problem, genauso wenig wie Deena oder Jacquies Freund Rodney. All das ist speziell, wenigstens redet Manny sich das gern ein, um damit sich und Jacquie vom Rest der Welt zu scheiden. Von Anfang an wohnte ihrer Beziehung etwas Traumhaftes, Unwirk‐ liches inne, etwas Unausgewogenes (alle konnten sehen, dass sie zu schön für ihn war), aber das ist, genau wie alle anderen ernsthaften Gedanken, die er sich über Jacquie und sich gemacht hat, lediglich eine Vermutung. «Sie kommt noch vor Nicolette», prophezeit er. «Du glaubst echt, dass sie kommt?» «Ja», sagt er und dann: «Wen meinst du?» «Nicky», sagt Roz, denn Nicolette kann diesen Namen nicht ausstehen. «Wenn sie ihren Scheck haben will, kommt sie.» «Die ist so faul, dass sie nicht mal beantragt hat, sich das Geld aufs Konto überweisen zu lassen.» «Das sag ich ihr.» «Sag ihr, was du willst», erwidert Roz. «Ich hab vor ihr keine Angst.»
Und als könnte sie ihn noch nicht vom Haken lassen, fragt sie plötzlich: «Wer macht die Bar?» «Dom.» Dom ist verlässlich, und Roz war immer ein bisschen in ihn verknallt, so weit so gut. Manny ist mit Jacquies Tischen fertig und macht sich über die von Ni‐ colette her. Roz beobachtet ihn kopfschüttelnd und wen‐ det sich Crystals Bereich zu. «Danke», sagt Manny. «Das ist mein Problem», sagt sie. «Ich bin zu nett.» Neben der Eingangstür klopft jemand an die Scheibe – Kendra, mit flauschigen weißen Ohrenschützern, das dunkle Haar vom Wind übers Gesicht gefächert. «Lass sie außen rumgehen» sagt Roz, doch Manny hat schon Blickkontakt aufgenommen und stellt die Sprüh‐ flasche ab. «Gott, bist du leicht rumzukriegen.» Ihre Worte klingen eher resigniert als empört. Kendra ist zwanzig und studiert Betriebswirtschaft an der Cen‐ tral. Sie ist im Schwimmteam und trägt anschmiegsame Kaschmirpullover und streifendünne Halsbänder, auf der Haut eine Kamee. Die Jungs in der Küche passen beson‐ ders gut auf, wenn sie reingeflitzt kommt, um sich einen sauberen Lappen oder neue Zahnstocher zu schnappen. Bei ihrem Anblick verstummen Rich oder Warren, und obwohl sie es auf diese Art von Verehrung nicht anlegt, sind die Serviererinnen eifersüchtig – es zählt nicht, dass sie doppelt so viel leisten wie Kendra. Manny nimmt sie nicht mit in den Olive Garden, also kommt sie heute nur aus Gefälligkeit, und er bedankt sich dafür. «Ich würde bloß zu Hause rumsitzen», sagt sie und wischt sich den Schnee von den Schultern, und er denkt, auch sie wird ihm fehlen. Er überlässt ihr das Empfangspult, richtet Nicolettes
Nischen her und geht in die Küche. Ty schabt den Grill sauber, brennt die Reste von gestern herunter und hobelt alles mit einem Spachtel ab. Er hat den Ventilator an, und das leise Brummen übertönt das Radio, sodass Manny nur den blechernen Morsecode der Becken hört. Rich und Fredo sind da, der eine mischt Brötchenteig, und der andere, hager und vornübergebeugt, schneidet neben Le‐ ron den Weißkohl für den Krautsalat. Ihre Messer kla‐ cken und klappern gegen die Kevlar‐Küchenbretter. Rich ist okay, er ist bloß ein Jugendlicher, ein großer, schüchterner weißer Junge. Er arbeitet erst seit dem Früh‐ ling hier und ist schweigsam, da fällt es Manny schwer, genau zu beurteilen, wie weit seine Loyalität reicht, und wie loyal sich Manny ihm gegenüber verhalten sollte. Fredo ist nicht so schlimm, wie Ty behauptet, aber er hat sicherlich seine Probleme: Von einem heißen Backblech, das Fredo abgestellt hat, ohne einen Lappen drauf liegen zu lassen, hat Manny immer noch eine blasse Narbe am Daumen. Wenn er mehr als fünf mitnehmen könnte, wäre Rich vielleicht dabei. Fredo nicht. Die Fischsuppe, die Gumbosuppe und der Kaffee sind in Arbeit. Eddie schaltet die Geschirrspülmaschine ein und fügt noch eine weitere Lärmschicht hinzu. Der Raum füllt sich mit dunstiger Hitze, und Manny kommt sich vor wie früher im Umkleideraum vor einem großen Sportfest, wo dieselbe aufgestaute Energie darauf war‐ tete, freigesetzt zu werden. Keiner von ihnen ist neu. Er braucht ihnen nicht zu sagen, dass sie unterbesetzt sind und was das bedeutet. Er geht zum Haustelefon in dem schmalen Gang bei der Garderobe und ruft Warrens Handy an, erwischt aber bloß dessen Mailbox. Er probiert es bei B‐Mac und
fragt sich, ob die beiden das zusammen durchziehen, eine blöde Racheaktion, weil er sie nicht beide mitnimmt. Manny stellt fest, dass er an seinem Gummiband zupft, es gegen sein Handgelenk schnellen lässt, und hält inne. Nicolette kommt um die Ecke geschossen und rennt ihn fast über den Haufen. Also hat er auch diese Wette verloren. «Draußen sieht’s übel aus», sagt sie und entledigt sich ihres Schals. «Direkt vor unserem Bus ist ein Wagen ins Rutschen gekommen.» «Keine Sorge», sagt Manny, «Roz hat für dich alles hergerichtet.» «Hm‐hmm.» «Nee, ich war’s.» «Gut», sagt sie mit einer Mischung aus Erleichterung und Genugtuung. Von allen Serviererinnen ist Nicolette am kürzesten da und hat sich die meisten Feinde ge‐ macht – von den Platzanweiserinnen über die Hilfskell‐ ner bis zum Küchenpersonal. Es kann für sie keine Über‐ raschung gewesen sein, dass er sie nicht mitnimmt. Schon bevor er seine Entscheidung bekanntgab, hat sie regel‐ mäßig gedroht zu kündigen, einmal unter spektakulären Umständen, als sie eine alte Dame, die ihr den Kugel‐ schreiber geklaut hatte, bis auf den Parkplatz verfolgte und durchs geschlossene Autofenster beschimpfte. «Auf so einen Scheiß kann ich verzichten», sagte sie und warf ihr Namensschild durch den Pausenraum, als Manny ihr die Kündigung auszureden versuchte. Und obwohl es ihm leid tut, dass er sie gehen lassen muss, glaubt er ins‐ geheim, dass sie es so haben will. Noch zwanzig Minuten, und Crystal, Dom und Jac‐ quie sind immer noch nicht da. Er hat zwar damit gerech‐
net, dass nicht viele kommen würden, aber das hier ist ein Alptraum. Er probiert es nochmal bei Warren und bei B‐ Mac, krempelt dann die Ärmel hoch und löst Rich ab, bearbeitet den Brötchenteig mit den Handgelenken und zuckt mit den Schultern, als Ty stocksauer rüberkommt. «Bitte sag mir, das ist ein Scherz.» «Das brauchst du mir nicht zu sagen», entgegnet Manny. «Sag’ s deinem Kumpel Warren.» «Mach ich», sagt Ty, kommt kurz darauf vom Telefon zurückstolziert und sagt Fredo, er soll aufhören, Karotten zu würfeln und ihm helfen. Sie haben erst mal genug Salat. Es ist Zeit, den Reis und die Fritten zuzubereiten. Manny bestückt ein halbes Dutzend Backbleche und schiebt sie in die Kühlvitrine. Eddie steht bloß rum, also ruft er ihn her und macht ihn zum Bäcker, zeigt ihm, wie alles geht. «Du brauchst neue Handschuhe.» «Stimmt», sagt Eddie. «Wie viele soll ich machen?» «Mach einfach weiter, bis ich dir sage, dass du aufhören sollst.» Das ist eine gefährliche Anordnung, weil Eddie so etwas noch nie gemacht hat und Ty bestimmt irgend‐ was abgewaschen haben will, aber Manny hat’s eilig und glaubt, dass er bald wieder da ist, um ihn abzulösen. Draußen ist es so dunkel, dass Roz die Deckenbe‐ leuchtung eingeschaltet hat, was dem Restaurant die spät‐ nächtliche Atmosphäre einer Cocktailbar verleiht. Dom ist immer noch nicht da. Manny muss die Bar vorbe‐ reiten und bittet Roz und Nicolette, Zitronen in Schei‐ ben zu schneiden, während er ein paar Eimer Eis von der Maschine herschleppt. Der Bombay Sapphire und der Dewar’s sind fast leer. Als er die Bar wieder auffüllt, sieht er im Spiegel, wie vorn ein Wagen an den Fenstern vorbeigleitet, findet die verkehrte Richtung verwirrend
und dreht den Kopf, um zu sehen, wer es ist, versucht seine Neugier jedoch zu verbergen, als ihm klar wird, dass Roz und Nicolette ihn wahrscheinlich beobachten. Es ist nicht Jacquies schneller, rasanter Accord, sondern Doms klobiger goldener Grand Am, also kann er aufhö‐ ren, an der Bar zu arbeiten, und sich den Weg vornehmen, der schon mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt ist. Der Schnee ist so trocken, dass er einen Besen be‐ nutzen kann. Beim Fegen blickt er beiläufig über den Parkplatz des Einkaufszentrums, auf dem es von Autos wimmelt, die ihre Scheinwerfer eingeschaltet haben, um die Dunkelheit und den Schnee zu durchdringen, der jetzt ununterbrochen senkrecht vom Himmel fällt. Er hat keine Jacke an, und allmählich packt ihn die Kälte, nimmt ihm den Atem und dringt in die Fingerspitzen, trotzdem lässt er sich Zeit. Was würde es bedeuten, wenn Jacquie nicht auftaucht? Dass all seine Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit falsch sind und noch schmachvoller, als wenn es sie nie gegeben hätte. Denn jetzt fällt es ihm schwer, daran zu glauben, dass es sie je gegeben hat. Der Tag, an dem sie sich freinahmen und einen Ausflug nach Lake Compounce machten, wo sie den ganzen Tag Karussell fuhren und in der Geisterbahn knutschten, als wären sie noch Teenager. Der Tag, an dem sie morgens im Wartezimmer der Arzt‐ praxis saßen und nicht miteinander redeten. Inzwischen sind diese Szenen ton‐ und bewegungslos. Er kann sich nur noch an Standbilder erinnern – ihr schwarzes Haar nass und schwer vom Duschen, ihre Strümpfe über einen Stuhl gehängt, das Licht vom Fenster in dem Glas Wasser auf dem Fußboden neben ihrem Bett gefangen –, doch statt mit der Zeit zu verblassen, sind diese Bilder noch
kraftvoller geworden und können ihn lähmen, wenn er ihnen zu lange nachhängt. Ein Teil von ihm – der verantwortungsvolle, klügere Teil, der sich wünscht, dass Deena grenzenlos glücklich ist – hofft, dass Jacquie nicht auftaucht. Was könnte er ihr schon sagen? Lebewohl. Ist es das? Das haben sie schon vor Monaten probiert. Er hat immer darüber gestaunt, dass – obwohl es Mil‐ lionen Menschen auf der Welt gibt – sie sich gefunden ha‐ ben, egal ob es ein Zufall, Schicksal oder das Ergebnis ei‐ ner folgerichtigen, auf sie einstürzenden Kette von Ereig‐ nissen war. Jetzt, wo er den Schnee betrachtet, der auf die dunklen Autos fällt, hält er das Ganze für ein noch grö‐ ßeres Rätsel und, wie das Lobster, für unnütz. Er denkt, sie hätte wenigstens anrufen können, aber auch das hätte nicht gereicht. Was hätte gereicht? Er tauscht den Besen gegen eine Tüte Streusalz, ver‐ streut die weißen Körner wie Hühnerfutter und beob‐ achtet, wie sie herumhüpfen und sich verteilen. Sie knir‐ schen unter den Füßen, schaffen eine andere Glätte, und er fände es passend, wenn jemand hinfiele, sich die Hüfte bräche und den Konzern verklagte. Bis jetzt hat er die Schneefräse in diesem Winter noch nicht benutzt, und eigentlich würde er es gern vermeiden, sie einzusetzen. Es ist jedes Mal ein Kampf, das alte Ding anzuwerfen (es steht unter einer Plastikplane in der schummerigen Ecke hinter der Eismaschine und hat wahrscheinlich kaum noch Benzin). Wenn es so weiterschneit, muss ein Schneepflug den Parkplatz räumen, und er nimmt sich vor anzurufen, wenn er wieder reingeht. Aber im Mo‐ ment gefällt es ihm, allein hier draußen zu sein, am Bord‐
stein entlang auf dem Weg Salz zu streuen, und er folgt dem Gebäudeflügel bis zum äußersten Ende, von wo er wie ein Kundschafter die Einfahrt des Einkaufszentrums beobachten kann. Ein paar Mal glaubt er ihren Accord einbiegen zu sehen, aber bei der Entfernung und der dichten Wolken‐ decke könnte jedes japanische Coupe ein Honda sein, jede dunkle Farbe kastanienbraun – bis die Wagen näher kommen und sich als enttäuschende Hyundais oder Mazdas, billige Imitationen entpuppen. Auf dem Weg zurück zur Mitte merkt er, dass das Streusalz allmählich zu wirken beginnt und sich rings um die Kügelchen wie bei einer Zielscheibe winzige Ringe bilden. Es ist gleich so weit; auch ohne einen Blick auf seine Armbanduhr spürt er, dass die Sekunden wie bei einem Countdown herunterticken. Er nimmt sich den anderen Flügel vor, fängt am hin‐ teren Ende an und kommt in entgegengesetzter Rich‐ tung zurück, damit er die Ampel im Auge behalten kann, und plötzlich hält ein Wagen am Stoppschild, als wüsste er nicht, wohin er sich wenden soll, kommt dann näher, folgt Doms Reifenspuren und biegt auf den Parkplatz. Ein großer, schlecht lackierter Caprice, wahrscheinlich ein ehemaliges Taxi oder ein auf einer Auktion erstandener Streifenwagen, eine richtig alte Kiste. Er rechnet damit, dass der Wagen einen weiten Bogen fährt und einen der besten Parkplätze vor dem Gebäude nimmt, doch er gleitet vorbei, als wollte er um den ganzen Komplex herum fahren. Manny hält inne, um den Wagen passieren zu sehen, und richtet sich auf, als würde er das Restau‐ rant bewachen. Vorn sitzen zwei Personen – ein riesiger Schwarzer hinterm Lenkrad und neben ihm eine zier‐
liche braunhäutige junge Frau mit zurückgebundenem Haar und einem Diamantnasenstecker. Jacquie. Da Manny ein netter Kerl ist, hebt er die Hand, um zu winken. Einen Augenblick glaubt er, dass sie ihn direkt anblickt, mit funkelnden Augen, die ihn bitten, es nicht zu tun, und er zögert unsicher. Er erstarrt mitten in der Bewegung, und dann sind sie auch schon vorbei und um die Ecke, vorbei an Doms Grand Am und Roz’ neuem CRV, ziehen eine wirbelnde Schneefahne hinter sich her, und Manny bleibt zurück und betrachtet die frische Rei‐ fenspur. Er steckt die Hand in die Tüte, als wenn nichts passiert wäre, und ist überzeugt, dass ihn hinter den Ja‐ lousien alle beobachten. Er hat Fotos von Rodney auf ihrer Frisierkommode gesehen, doch persönlich ist er ihm noch nie begegnet. Rodney ist Kricketspieler, ein begehrter Werfer in Hart‐ ford und sogar in New York. Er ist wegen seiner Wut‐ anfälle aus ein paar Amateurligen geflogen, und Manny kann zwar selbst auf sich aufpassen, aber sein letzter Ringkampf liegt schon eine Weile zurück, und er muss zugeben, dass ihn Rodney wohl fertigmachen könnte und dass er es nach allem, was passiert ist, wahrschein‐ lich verdient hätte. Nachdem er ihn so lange und so kom‐ plett hintergangen hat, bedauert er Rodney manchmal noch mehr als sich selbst – bis ihm einfällt, dass Rod‐ ney immer noch Jacquie hat. Von dem Wenigen, das sie Manny erzählt hat, weiß er, dass Rodney jede Schwarzar‐ beit annimmt, die er kriegen kann, denn er hat keine Auf‐ enthaltserlaubnis und befürchtet, dass ihn Jacquie ver‐ lässt, sobald sie ihren Abschluss hat, und sich jemanden Gebildetes sucht. Er hat um ihre Hand angehalten – sie glaubt, aus Verzweiflung. Manny kann sich in ihn rein‐
versetzen. So erniedrigend er ihr angedeutetes Winken auch fand – meistens war er einfach dankbar, dass sie auf‐ tauchte. Solange sie in seiner Nähe ist, geht’s ihm gut, egal wie erbärmlich das klingt. Auf eine seltsame Art sind er und Rodney Brüder, denn sie sind ihr beide auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Der Caprice tuckert um die andere Gebäudeseite, schneidet frische Spuren, und als er mit schlitterndem Heck den Parkplatz verlässt, gerät er ins Schleudern, fängt sich aber wieder. New Yorker Kennzeichen – wahr‐ scheinlich nicht mal auf seinen Namen zugelassen. Nicht dass Mannys Fahrweise besser wäre. Manny wirft mehrere Hände voll Salz, um sicherzuge‐ hen, dass überall genug hinkommt. Das könnte ihm er‐ sparen, dass er die Prozedur in ein paar Stunden wieder‐ holen oder sich mit der Schneefräse herumschlagen muss. Jacquie hat wahrscheinlich schon ihre Stechkarte gestem‐ pelt und ihren Mantel aufgehängt (ein bauschiger him‐ melblauer Steppmantel mit weißem Kunstpelzkragen; als sie zusammen waren, fand Jacquie es immer witzig, den Mantel direkt neben seinen zu hängen, beide wie in ei‐ ner heimlichen Andeutung aneinandergedrängt, obwohl bestimmt alle das Gefühl hatten, dass sie ihr Glück zur Schau stellten). Jetzt holt sie sich ihren Kaffee und schiebt sich durch die Tür des Pausenraums. Jetzt kontrolliert sie ihren Bereich und fragt, wer die Tische hergerichtet hat. Bei all den Ablenkungen hat er Crystal vergessen, die immer noch nicht da ist, aber das ist etwas anderes als mit Warren und B‐Mac in der Küche. Roz, Jacquie und Nicolette verstehen ihr Handwerk. Roz meckert ständig, dass sie größere Bereiche bräuchten, um echtes Geld zu verdienen – heute ist die Gelegenheit.
Als er mit der schraffierten Fläche zwischen den Be‐ hindertenparkplätzen fertig ist, biegt noch ein Wagen ein, ein riesiger Olds mit rostfleckiger Stoßstange – Mr. Ka‐ shynski, Mannys ehemaliger Turnlehrer und Trainer an der High School, inzwischen im Ruhestand. Er war schon damals uralt, hatte aufgesprungene Gesichtshaut und einen pomadisierten Seitenscheitel. Dass er seit zwanzig Jahren Witwer ist, hat’s nicht besser gemacht. Er ist Stammgast, hat seine eigene Fensternische. Er wird den gegrillten Tilapia und eine Tasse Kaffee bestellen, dann unauffällig den Herald lesen und Roz drei Dollar Trink‐ geld geben. Er schwenkt mit dem großen 98 weit aus und fährt auf den ersten Parkplatz. «Hey, Trainer.» Manny winkt, denn Mr. Kashynski kann ihn durch die Windschutzscheibe nicht hören. Manny schiebt den Finger unter den Ärmel, um auf seine Armbanduhr zu schauen (da ist wieder das Gummiband, als sollte es ihn an irgendetwas erinnern), und hält dann denselben Finger hoch, um dem Trainer zu signalisieren, dass es noch eine Minute dauert. Mr. K. macht eine weg‐ werfende Handbewegung, keine Eile, und holt seine Zei‐ tung hervor. Drinnen teilt Nicolette Manny mit, dass Crystal noch nicht da ist – als wenn er das nicht bemerkt hätte. Jacquie sitzt mit Roz im Pausenraum und füllt Salz‐ und Pfefferstreuer auf. Er stürmt vorbei, so schnell, dass er sich gerade mal für ihr Kommen bedanken kann. «Mein Wagen ist nicht angesprungen», entschuldigt sie sich. «Ist schon okay», sagt er. «Du hast’ s ja geschafft.» «Ein Glück», sagt Roz. «Heute steht nämlich Shrimps All‐you‐can‐eat auf dem Programm.»
«Nein», sagt Jacquie, als könnte sie’s nicht glauben. «Das darf doch nicht wahr sein.» «Was soll ich machen?», sagt Manny. «Sie haben die ganze Woche dafür Werbung gemacht.» Hinten belegt Eddie immer noch Bleche mit Bröt‐ chenteig, und Manny sagt, das ist prima, mehr als genug, und schickt ihn wieder zur Geschirrspülmaschine. Rich bereitet Remouladensoße zu. Leron lässt einen Korb Fritten abtropfen. «Das ist also alles?», fragt Ty. «Das ist alles», antwortet Manny. «Bete lieber, dass nicht so viel los ist.» «Der Trainer wartet schon draußen.» «Tilapia», sagt Ty zu Fredo, der kurz zögert, bevor er die Kühlvitrine öffnet, und dann wieder zögert. «Weißer Kasten, zweites Regal rechts. Steht auf dem Deckel.» Manny sieht, dass es den ganzen Tag so weitergehen wird, und überlässt es ihnen, damit klarzukommen. (In seiner Verwirrung hat er völlig vergessen, die Schneeräu‐ mer zu verständigen.) Von jetzt an läuft alles nach Checkliste. Er dreht die Deckenbeleuchtung heller, knipst in allen vier Bereichen die Tiffanylampen‐Imitate über den Tischen an. Er schal‐ tet die Stereoanlage ein, stellt die Musik auf die vorge‐ schriebene Lautstärke, und schon singt Bonnie Raitt zum x‐ten Mal «Something to Talk About». Fenster für Fens‐ ter zieht er behutsam an den Schnüren der Jalousien und lässt das graue Tageslicht herein. Wie aufs Stichwort hievt sich Mr. Kashynski aus seinem Wagen und kommt den Weg entlang. Nicolette zieht sich in den Pausenraum zurück. Dom signalisiert ihm von der Bar, dass alles klar ist. Kendra ist bereit, das Haar gebürstet und die Lip‐
pen geschminkt, auf dem Empfangspult ein Stapel Spei‐ sekarten, in dem Fach hinter ihr zwei Dutzend Pager or‐ dentlich aufgereiht, für den Fall, dass Massen von Leuten kommen. «Los geht’s», sagt Manny zu sich und den anderen, und zum allerletzten Mal knipst er am Highway das Ne‐ onschild an und schiebt an der Eingangstür das Plastik‐ schildchen mit der Aufschrift GESCHLOSSEN nach rechts, um aller Welt kundzutun, dass sie geöffnet haben.
Which Nobody Can Deny
Sie kommen paarweise, zu dritt oder manchmal auch zu viert, um diese Tageszeit vorwiegend Ehefrauen und junge Mütter, Leute, die aus dem Einkaufszentrum geflüchtet sind. Sie kommen aus West Hartford, Farmington, Sims‐ bury und anderen Vororten, die Manny erst im Som‐ mer auf dem Weg zum Stausee in Barkhamsted durch‐ quert hat, stets vorsichtig und auf der Hut vor übereif‐ rigen Polizisten. Ihre Geländewagen fressen sich durch den Schnee und verstopfen die Parkplätze, rechtfertigen einen Tag lang ihren kostspieligen Allradantrieb. Sie ha‐ ben Schneeklumpen an den Schuhen, bleiben stehen, um aufzustampfen und die Tagesgerichte auf den Tafeln zu überfliegen, folgen dann Kendra zu ihren Nischen, glei‐ ten auf ihre Plätze, legen Tüten, Handschuhe und Jacken ab, erleichtert, dass sie sich hinsetzen, sich sammeln und ihre Einkäufe vergleichen können. Über der Schale mit dem Teelicht wärmen sie sich die Hände, ohne den ziel‐ los herumlaufenden Manny zu beachten. Sie wollen, dass ihre Kellnerin kommt. Sie wollen ihr Essen haben, damit sie wieder loskönnen, um ihre restlichen Einkäufe zu er‐ ledigen. In der Ecke hockt Mr. Kashynski mit seinem Kaffee über dem ausgebreiteten Sportteil und stochert ab und zu an seinem Tilapia herum, der Teller ist beiseite geschoben. Roz meckert manchmal, dass er einen ihrer Vierertische
in Beschlag nimmt, aber wenn wenig los ist, ist sie froh, ihn zu haben. Und außerdem scheucht er sie nicht herum wie die Einkaufenden, die alle Wasser und mehr Brötchen für die Kinder haben wollen und bei Ty nachfragen las‐ sen, ob die Muscheln tiefgefroren sind oder die Meeres‐ früchtefüllung Muschelsaft enthält. Manny schaut vorbei, um hallo zu sagen, und Mr. K. tippt mit der leberfleckigen Hand auf einen Artikel. «Wir hätten fast gegen Weaver verloren. Weaver! Ich weiß nicht, was da drüben läuft.» «Ist noch früh», sagt Manny, denn er hat den Trai‐ ner schon öfter so schimpfen gehört. Es ist Saisonan‐ fang, und obwohl New Britain schon drei neue Trainer hatte, seit er im Ruhestand ist (angeblich musste er nach einem Streit mit jemandem von der Schulbehörde aufhö‐ ren), regt er sich zu dieser Jahreszeit immer wieder auf. «Wir sind doch noch ungeschlagen, stimmt’ s?» «Wir hatten noch keinen richtigen Gegner, und uns bleibt nicht mal ein Monat, um uns auf Southington vor‐ zubereiten.» «Die sollen gut sein», pflichtet Manny ihm bei, obwohl er das nur von Mr. K. selbst gehört hat und sich an keine Einzelheiten erinnern kann. Wie bei allen Leuten, die sich schon lange kennen, sind ihre Gespräche angenehm lo‐ cker. Manny kann ihm zuhören und gleichzeitig über‐ prüfen, ob es irgendwo Probleme gibt, wie ein Polizist, der gerade einen Strafzettel schreibt. Im Foyer herrscht viel Betrieb, und Kendra bemüht sich, alle Gäste zu be‐ grüßen und an ihre Tische zu führen. «Ich hab gehört, ihr macht zu. Stimmt das?» Offiziell darf ihm Manny nicht antworten, doch sein Zögern sagt alles. «Wo haben Sie das gehört?»
«Irgendwo.» «Aber nicht hier.» Damit meint er Roz. «Ist doch kein großes Geheimnis, oder?» Manny zupft an dem Gummiband, reibt sich das Handgelenk und stemmt die Hände in die Hüften. «Verdammt», sagt Mr. K. «Ich hab gehofft, dass es nicht stimmt. Wann denn?» «Morgen.» «Mein Gott, hättest du mir das bloß erzählt! Ich hab zu Hause noch jede Menge Gutscheine rumliegen.» «Essen Sie gern italienisch?» Er zuckt mit den Schultern. «Im Olive Garden dürfte es gut schmecken. Da werden wir hingeschickt.» «Das in Bristol?» «Montag geht’s los. Kommen Sie vorbei, wir kümmern uns um Sie.» Denn als Neulinge werden Manny und die anderen die ganze Woche für die Mittagsschicht einge‐ teilt. Bis jetzt hatte er das nicht als gut angesehen. «Mach ich vielleicht», sagt Mr. K. «Tun Sie das», sagt Manny nickend, um die Abma‐ chung zu besiegeln, und entschuldigt sich dann, um Ken‐ dra zu helfen. Ein Problem, das der Umbau lösen sollte, ist das kleine Foyer. Im Sommer können die Gäste ihre Pager nach draußen mitnehmen und sich auf die Bänke setzen. Doch heute stehen sie zusammengedrängt zwischen dem Aqua‐ rium und dem Schwertfisch, versperren den Weg zu den Toiletten und stöhnen jedes Mal, wenn die Tür aufgeht, über den Wind. Es sind noch nicht so viele Leute, dass Kendra die Namen aufschreiben muss. Es gibt noch freie Tische, sie kann sich bloß nicht sofort um alle kümmern.
Als sie ihren Posten verlässt, um eine Zweiergruppe hin‐ einzuführen, murren die Leute. Ein großer, kahlköpfiger Mann mit khakibraunem Trenchcoat über einem Anzug mit roter Fliege drängt sich zum Empfangspult. Manny greift ein und fragt, wie viele Leute zu seiner Gruppe ge‐ hören. «Vierzehn», sagt er und blickt sich um. «Wir sind noch nicht alle da.» «Haben Sie reserviert?» «Die junge Frau, mit der ich gesprochen habe, hat ge‐ sagt, Sie nehmen keine Reservierungen an.» «Stimmt, aber bei Gruppen von mehr als zehn Leuten wüssten wir gern im Voraus Bescheid.» «Deshalb hab ich ja angerufen», erwidert der Mann. «Es hörte sich an, als wäre es kein Problem.» «Ist es auch nicht», sagt Manny gelassen, denkt, dass es wahrscheinlich Suzanne war und dass sie es wahrschein‐ lich mit Absicht getan hat, und überlegt gleichzeitig, wo er sie alle unterbringen kann – hinten an der Wand, er muss sechs frei stehende Vierertische zusammenschie‐ ben – und wer sie bedienen soll. Das ist Arbeit für zwei Leute, also natürlich Roz, denn der Trainer bleibt noch eine Weile in seiner Ecke sitzen, und Jacquie, denn ihr Bereich liegt direkt daneben. Wenn er seine Entscheidung anhand räumlicher Nähe trifft, braucht Manny nicht zu‐ zugeben, dass er zögert, die Gruppe Nicolette anzuver‐ trauen. Es sind Büroangestellte, immer anstrengend und chaotisch, und am Ende legen sie wahrscheinlich zusam‐ men und knausern beim Trinkgeld. «Vielen Dank», sagt Roz und hilft ihm, die schweren Tische an ihren Platz zu schleppen. Jacquie packt mit an, und damit ist dies der erste rich‐
tige Moment, in dem sie sich von Angesicht zu Ange‐ sicht gegenüberstehen – der unbeholfene Tanz mit einem Vierertisch mitten im Raum, vor lauter Leuten, die ihnen zuschauen. Am liebsten würde er mit ihr reden wie früher, beide unter der Bettdecke aneinander gekuschelt, seine Lippen so nah an ihrem Ohr, dass er bloß zu flüs‐ tern brauchte. Sie würde lachen und ihn wegstupsen, und dann würden sie sich wieder umschlingen und sich Ge‐ heimnisse aus ihrer Kindheit erzählen, auch die wenigen Erinnerungen, die er an seine Mutter hat. Jacquie hebt den Tisch mit den Fingerspitzen an, schlurft mit Manny seitwärts, stellt ihn ab und rückt ihn zurecht, bis die Kanten bündig sind, dann geht sie zum nächsten. Manny folgt ihr. Gemäß der Firmenpolitik hat sie ihren Diamantstecker rausgezogen und sieht so wehr‐ los und verletzlich aus wie seine Oma, als sie im Kran‐ kenhaus ohne ihre Brille aufwachte. Er hat Jacquie schon gefragt, ob sie mit ihnen – ihnen, nicht ihm – kommen will, und sie hat abgelehnt, wie also soll er sie jetzt noch umstimmen? Er stellt sich vor, wie er sie anfleht und zum Ausrasten bringt – wie er ihr noch mehr Grund gibt, ihre traurige gemeinsame Vergangenheit hinter sich zu las‐ sen. Ihm fällt ein, wie er noch im Frühling ganz selbstver‐ ständlich neben ihr arbeitete, wie scharf und herrlich es war, ihr Geheimnis zu hüten; es konnte in einem innigen Kuss hinten an der Garderobe zum Ausdruck kommen oder indem sie ihn an der Hand auf die Laderampe hin‐ auszog. Inzwischen ist dasselbe Schweigen zwischen ih‐ nen negativ und nur noch schwach aufgeladen, als hät‐ ten sie sich geeinigt, ihre Gefühle zu ersticken oder so zu tun, als hätten sie keine. Er vergisst ständig, dass sie ei‐
nen Waffenstillstand geschlossen haben. Er sollte unbe‐ teiligt sein. Sie stellen die Stühle auf, und Manny gibt Kendra das Zeichen, die Gruppe hereinzuschicken. Der Mann mit der Fliege nickt ihm im Vorbeigehen zu, von Chef zu Chef, als hätte Manny all das ihm zuliebe getan. Nicolette fegt mit einem leeren Tablett vorbei. Weil die große Gruppe so viel Platz einnimmt, muss Kendra in Nicolettes Bereich zwei Tische auf einmal besetzen, und an einem ihrer Vierertische sitzen zwei Moms mit einem kleinen Jungen, der auf der Sitzbank auf und ab hüpft, mit den Fäusten wedelt und nur innehält, um den Kopf über den Tisch zu recken und durch einen Strohhalm Li‐ monade zu schlürfen. Für einen Hochstuhl ist er zu groß, also schaut Manny an dem Tisch vorbei und fragt die Mutter, ob er ihr einen Kindersitz bringen soll. «Das wäre wunderbar», sagt sie. Er vergisst nicht, den Sitz abzuwischen, den er von der Garderobe nimmt, gesprenkeltes braunes Plastik mit zwei Vertiefungen für einen winzigen Hintern. Zunächst setzt sich der Junge, wegen dem Reiz des Neuen und der Aufmerksamkeit, aber als Manny sich durch die Bar schlängelt, um Dom bei den Getränken für die Büro‐ angestellten zu helfen, steht der Kleine schon auf dem Kindersitz, und das Ganze ist noch gefährlicher als vor‐ her. Mannys Gedanken schweifen wieder zu Gerichts‐ verhandlungen, saftigen Vergleichszahlungen, zu dem Traum von einem Lotteriegewinn, einem Haus auf dem Lande, dem Traum, nie wieder arbeiten zu müssen. Ein Aufblitzen im Raum bringt ihn zur Besinnung – jemand aus der Gruppe macht Fotos. Vielleicht ein Geburts‐ tag. Sie sind laut, wegen des aufbrandenden Gelächters
schauen die anderen Gäste schon rüber, und wieder ist er froh, dass er die Gruppe nicht Nicolette überlassen hat. Dom entleert eine Flasche Chardonnay und öffnet eine neue, während Manny die Gläser für Jacquie in Gän‐ seblümchenmuster auf einem Tablett verteilt. Hier ist al‐ les im Griff, also begibt er sich in die Küche und sieht im Vorbeigehen, dass in Nicolettes Bereich eine Birne durch‐ gebrannt ist. Er schraubt sie heraus und nimmt sie mit, schüttelt sie dicht am Ohr, um den Glühfaden klingeln zu hören, und wehrt mit dem freien Arm die Schwingtür ab. In der Küche herrscht Hochbetrieb, es brutzelt und klirrt und scheppert, aber weil so viele Leute nicht er‐ schienen sind, wirkt sie leer, und obwohl er es besser weiß, befürchtet er, dass sie noch nicht fertig sind. Ty steht mit Leron zusammen an der Kochzeile, Fredo hilft ihnen und läuft immer wieder zum Kühlraum. Rich ar‐ beitet als Bäcker, während Eddie die Vorspeisenteller der allerersten Gäste in den Geschirrkorb räumt. «Wie sieht’s aus?», fragt Manny Ty, der gerade Spieße mit gegrillten Shrimps in einem Speisenwärmer stapelt. «Wir haben keine Königskrabbenbeine mehr.» «Das ist gut.» «Vielleicht für dich. Dann empfehlen wir den Leuten wohl am besten Shrimps.» «All‐you‐can‐eat.» Ty fuchtelt mit seiner Zange vor Leron herum, der ei‐ nen triefenden Korb aus der Fritteuse zieht. «Sag den Frauen, dass sie die Hühner satteln.» Im Lager findet Manny eine Glühbirne in der rich‐ tigen Größe. Auf dem Weg durch den Pausenraum wirft
er die alte weg und geht an Jacquie vorbei, die mit einem Geschirrkasten aus der anderen Richtung kommt. «Ich brauch jemanden, der den Vierertisch für mich abräumt», sagt sie. «Niemand da», sagt er, und sie stürmen jeder durch seine Tür. Die neue Birne brennt – und ist hilfreich, denn draußen wird es immer düsterer, der Schnee treibt seitwärts vor dem Fenster vorbei, das Einkaufszentrum nur noch ein Schemen. Manny hält kurz inne und beobachtet, wie die Autos über den Parkplatz schleichen, während er Jac‐ quies Tisch abräumt. Als er den vollen Kasten auf die Schulter nimmt, erntet er von Roz einen empörten Blick. Zum Ausgleich nimmt er sich als Nächstes einen ihrer Ti‐ sche vor und dann einen von Nicolette. Es ist eben einer der Tage, wo alle mit anpacken müssen. «Verdammt», sagt Ty, als er mit dem dritten Kasten reinkommt. «Die springen mit dir um, als wärst du ihr kleines Pony. Hüah!» Stimmt schon, er schwitzt ein bisschen – das liegt an seiner Körperfülle und dem tropischen Klima in der Kü‐ che. Er feuchtet am Waschbecken ein Papiertuch an und tupft sich die Stirn ab. Als er zurückkehrt, hat der kleine Junge den Kinder‐ sitz verlassen und hängt wie eine Beutelratte am Hals sei‐ ner Mutter, während die sich mit ihrer Freundin unter‐ hält. Die Mutter bestellt noch eine Sprite für den Klei‐ nen, die er gleich verschüttet, das Eis flutscht über den Tisch, die Limonade tropft an der Seite runter. Manny hilft Nicolette, alles aufzuwischen. Als sie das Besteck ausgetauscht haben, verlangt die Mutter eine kosten‐ lose neue Sprite, denn der Junge hätte sie ja kaum ange‐
rührt. Er klettert immer noch in der Nische herum, zer‐ bricht Buntstifte und wirft mit angebissenen Crackern. Auf dem Weg zur Bar lächelt Nicolette Manny mit zu‐ sammengebissenen Zähnen an. «Ich bring ihn um», sagt sie wie eine Bauchrednerin. «Darum soll sich die Mutter kümmern.» «Die bring ich als Erste um.» Die Büroangestellten veranstalten ein Abschiedsessen, komplett mit Geschenken und Ansprachen. Der Ehren‐ gast ist eine elfenhafte grauhaarige Frau mit knallrotem Lippenstift und einem hauchdünnen schwarzen Halstuch. Einer nach dem anderen stehen ihre Kollegen auf und bringen einen Trinkspruch auf ihre Verdienste aus. Sie sitzt am Kopfende des Tisches, mit dem Rücken zum fallenden Schnee, in kindlicher Freude bei jedem Witz und jeder Anekdote die Hände ringend. Sie geht in Ru‐ hestand, damit erklären sich die Scherzgeschenke: eine rappelnde Pillenbox voller Tic Tacs (dieselbe rosa Plas‐ tikbox, bei der er seiner Oma immer beim Aufmachen helfen musste), ein klapperndes Aufziehgebiss, eine Rie‐ senpackung Inkontinenzwindeln. Manny versucht zu lä‐ cheln, stellt sich aber seine eigene Abschiedsparty vor. Was würden Leron, Rich und Nicolette ihm schenken? Der Applaus treibt ihn nach vorn, wo er bei Kendra vor‐ beischaut. «Läuft ganz gut», sagt sie. «Draußen sieht’s langsam echt schlimm aus.» «Hey», sagt er, «kannst du mir einen Gefallen tun und Nicolette ein bisschen schonen?» «Ich geh immer der Reihe nach. Wenn ich ihr nie‐ manden brächte, würde sie meckern. Sie muss sich nicht mal um den großen Tisch kümmern.»
«Ich weiß, ich weiß. Das ist kein Gefallen, den du ihr tun sollst, sondern mir.» «Gut», sagt Kendra, die jetzt stocksauer ist. Der Weg ist fast schon wieder ganz weiß, und in den Reifenspuren auf dem Parkplatz ist der Schnee fest zu‐ sammengedrückt. Manny ist wütend, aber nur zum Teil auf sich selbst. Wenn es so heftig schneit, dürfte es über‐ flüssig sein, dass er die Schneeräumer verständigt, da müssten sie von selbst kommen. Er benutzt das Telefon am Empfangspult, hört den Anrufbeantworter, wartet, während die Ansage abge‐ spielt wird, und betrachtet den geschwungenen, musku‐ lösen Körper des Schwertfischs, sein aufgesperrtes Maul und die Zähne, die in der speerförmigen Schnauze ent‐ täuschend harmlos aussehen. Irgendwo unter dem Staub und Schellack muss sich mal ein echter Fisch befunden haben. Wie lange ist das wohl her? Er kann ihn geradezu schwimmen, durch swimmingpoolblaues Wasser schnel‐ len sehen, in den letzten Augenblicken, bevor er an Bord gezogen wird. Der Piepton. «Hier spricht Manny vom Red Lobster. Es ist zwölf Uhr fünfunddreißig, ich brauche hier einen Schneepflug. Danke.» Kendra hat Mitgefühl – oder bekrittelt sie seine Un‐ fähigkeit? – und schüttelt den Kopf, während er sich ins Foyer drängt und die Tüte Streusalz schnappt. «Hey», sagt er durch die offene Tür, «könntest du ab‐ räumen helfen, wenn du Zeit hast?» «Wenn ich Zeit hab.» «Ich sorge dafür, dass du deinen Anteil am Trinkgeld bekommst.»
Sie lacht, bloß ein Prusten, als würde das sowieso nicht klappen – denn dieses Thema ist ein ewiger Streitpunkt. Draußen dringt der Wind durch Mannys dünnes Hemd, zarte Flocken verfangen sich in seinen Wimpern. Die matschigen Schemen von Fußabdrücken schim‐ mern durch die frische Schneedecke. Es ist merklich wärmer geworden, der Schnee schwer wie feuchter Ku‐ chen, die Kristalle kleben im Fallen zusammen. Wahr‐ scheinlich sollte er die Schneefräse rausholen, doch er sät erst mal Hände voll Streusalz aus, eine Notlösung, damit sich nach dem Mittagessen niemand die Hüfte bricht. Auf der anderen Seite des Parkplatzes streift ein großes Räumfahrzeug zwischen den Parkreihen hindurch, die Schaufel schabt bis runter auf den Asphalt, und das gelbe Licht dreht sich. Der Wagen piept beim Zurücksetzen und kämpft sich dann wieder vorwärts, das Geräusch des Dieselmotors ist ob der Entfernung und durch den nebelartigen Schneeschleier gedämpft, das Einkaufszent‐ rum kaum zu erkennen, ein dunkler Block, an dessen Ecken Scheinwerfer brennen, wie bei einer Festung oder einem Gefängnis. Er stapft bis zum Ende des einen Ge‐ bäudeflügels, wo abgeschieden die Wagen von Dom und Roz stehen, arbeitet sich zum Lobster zurück, und zu seiner Überraschung findet er plötzlich die trügerische Bewegung der durch die Eingangstür blitzenden bunten Lichterkette, die erleuchteten Fenster und die kerzen‐ beschienenen Gesichter der Essenden wunderschön, als wäre er immer noch bekifft. Er hält kurz inne, um den Anblick zu genießen, und hört in der Stille in einiger Ent‐ fernung das verzweifelte Aufheulen eines Wagens, dessen Räder durchdrehen. Im Sturmlicht wirkt das Restau‐ rant warm, lebendig und freundlich, wie ein Ort, wo je‐
der gern hingehen würde. Es sieht aus wie ein Gemälde, und er ist stolz, als wäre das sein Werk, und in gewisser Hinsicht stimmt das auch, nur dass es aus ist, wie bei ihm und Jacquie, verloren, für immer vorbei. Hängt er deshalb so sehr an dem Laden? Dieser Abend bleibt ihm noch, denkt er. Dieser Tag bleibt ihm noch. Er hat immer noch keinen Schimmer, was er Deena kaufen soll, denkt aber, dass er’s inzwischen wirklich wissen müsste. Er sollte sich besser bald was einfallen lassen. Er weiß aus jüngster Erfahrung, dass es nichts Schlimmeres gibt als ein Geschenk aus schlechtem Gewissen. Die Tüte ist leer, bevor er mit der Fläche zwischen den Behindertenparkplätzen fertig ist – das kann er nicht ein‐ fach so lassen. Er folgt seinen bereits verschwindenden Spuren den Weg entlang und öffnet die Tür. Beim Betre‐ ten des Foyers umfangen ihn die Wärme, der Lärm und die Hintergrundmusik. In der Küche ist es noch lauter, denn der Grill brutzelt, das Radio dröhnt und die Ge‐ schirrspülmaschine läuft. «Wo ist die Salsa für das Az‐ tekenhähnchen?», brüllt Ty Leron an, während Manny eine neue Tüte aus dem Lagerraum schleppt und am Eis‐ würfelbereiter und an der Schneefräse unter ihrer stau‐ bigen Plane vorbeigeht. «Verdammt nochmal, Frito, wo sind meine Linguini?» Fredo rennt zu ihm, rutscht aber mit dem Turnschuh an einer nassen Stelle aus, stürzt schwer und lässt den Topf fallen, der auf den Boden knallt und umkippt, und die Linguini ergießen sich über die Fliesen. Ty stößt mit der Zange in seine Richtung. «Warum tust du mir so was an? Sag mir einfach, warum.» «Alles in Ordnung?», fragt Manny und hilft Fredo auf.
«Das funktioniert so nicht», sagt Ty. Roz und Jacquie kommen reingestürmt, um die Vor‐ speisen abzuholen, die aber noch nicht alle fertig sind. Die Küche kommt mit den Bestellungen der Abschieds‐ party und den All‐you‐can‐eat‐Nachschlägen kaum hin‐ terher, und die Serviererinnen müssen den Kopf hinhal‐ ten. «Los, Jungs», sagt Roz. «Es ist eine Party. Ich kann nicht bloß dem halben Tisch was bringen.» «Versuch’s doch mal», witzelt Ty. «Hallo», sagt Roz, «muss ich den Ehrengast als Erstes bedienen?» Sie haben genug Brötchen, also zieht Manny Rich vom Backen ab und setzt ihn als zusätzliche Kraft zum An‐ richten der Speisen ein. Es ist schon so spät, dass sich die Geschirrkästen ruhig eine Weile stapeln können und Ed‐ die Fredo bei den Vorbereitungen zur Hand gehen kann. «Ich brauch jemanden, der Tisch 35 abräumt», sagt Ni‐ colette. «Das ist nicht dein Ernst, oder?», erwidert Jacquie, denn die Gruppe hält sie mit vereinzelten Getränkebe‐ stellungen auf Trab, und Nicolette hat bloß noch die Ni‐ sche mit dem kleinen Jungen und einen Vierertisch mit Großmüttern – bekanntlich knauserig, aber nicht allzu anstrengend. «Seh ich aus, als würde ich Scherze machen?» «Gib mir zehn Sekunden», sagt Manny. Auf dem Weg nach draußen kommt er an Kendra vorbei, die untätig am Empfangspult rumsteht, und er spürt – und er hat mit Sicherheit Recht damit –, dass die‐ ser Machtkampf nicht zwischen ihm und ihr oder Jacquie und Nicolette, sondern zwischen Kendra und Nicolette
ausgetragen wird, ein langjähriger Streit zwischen Platz‐ anweiserin und Serviererin, den er sich zu schlichten be‐ müht hat. Es ist ihr letzter Tag, da wird keine von ihnen nachgeben, und Manny ist nicht so dumm zu versuchen, beide zum Einlenken zu bewegen. Er verstreut rasch ein paar Hände voll Salz, geht dann steifbeinig wieder rein und lässt die Tüte im Foyer ste‐ hen. Er schnappt sich einen Kasten und räumt Tisch 35 ab, schlängelt sich durch den Pausenraum und entdeckt Jacquie an der Bar. «Ich weiß nicht, warum sie überhaupt kommt, wenn sie sich dann so aufführt», sagt sie. «Wie denn?», fragt Manny. «So ist sie doch immer.» «Ich weiß. Das meine ich doch. Warum bleibt sie nicht einfach zu Hause? Sie tut sowieso nichts.» Wenn sie wü‐ tend ist, redet sie schnell und ihr Inselakzent ist rauszu‐ hören, und dann hat Manny das Gefühl, als würden sie sich vertraulich unterhalten. Auch wenn es nicht stimmt, redet er sich gern ein, dass sie das keinem anderen sagen würde. «Sie will bloß Kendra ärgern ...» «Die ist genauso nutzlos. Sie sollten helfen, statt sich gegenseitig zu schikanieren.» Er sieht seine Gelegenheit – Jacquie und er hier, Dom damit beschäftigt, Lobsteritas zu mixen, während der Sturm auf der Karte des Wetterkanals über der Kasse seine Bahn zieht. Er zögert, denn er weiß, wie mühelos sie ihn durchschaut. Wenn er’s tut, wird es nicht beiläufig wirken. «Warum bist du gekommen?», fragt er, und als sie auf‐ blickt, ist klar, dass sie nicht über die Arbeit sprechen. «Ich hab dir doch gesagt, dass ich komme.»
«Eine Weile war ich mir da nicht so sicher.» «Ich halte meine Versprechen. Das solltest du inzwi‐ schen wissen.» «Stimmt», sagt er, und das erinnert ihn wieder daran, dass er es war, der unbedingt eine perfekte, imaginäre Zukunft für sie beide entwerfen musste, dass er lächer‐ liche Versprechungen und Schwüre gemacht, dass er sie gebeten hatte, ihn zu heiraten. Sie hatte gelacht, und eine Woche später hatte sie nach dem Beischlaf geweint, um ihm dann die Badezimmertür vor der Nase zuzuknallen. Es ergibt für ihn immer noch keinen Sinn: Trotz ihres Temperaments ist sie ausgeglichener als er. Manchmal denkt er, dass er vielleicht verrückt war und sich völlig in ihr getäuscht hat, dass er dankbar sein sollte, mit Deena zusammenzusein. Vielleicht ist er immer noch verrückt. Roz kommt mit einem Getränketablett unterm Arm. «Guck mal, was mir der Trainer gegeben hat.» Sie lässt einen Zwanziger vor Jacquies Nase baumeln, zieht ihn dann weg, steckt ihn in ihre Brusttasche und tätschelt sie zärtlich. «Was hast du dafür gemacht?», stichelt Jacquie. «Ist er noch da?», fragt Manny, dreht sich um und sieht, wie er den Speiseraum durchquert. Er erwischt den Trainer noch an der Garderobe, be‐ gleitet ihn in seiner bauschigen Jacke und griechischen Fischermütze zum Aquarium und schüttelt ihm ein letz‐ tes Mal die Hand, bevor er die Handschuhe anzieht. «Wir schlagen Southington», sagt Manny. «Weißt du da mehr als ich?» «Die haben wir doch immer geschlagen.» «Es gibt immer ein erstes Mal.» Der Trainer blickt sich im Foyer um, die Hände ausgebreitet, als wollte er auf die
Einrichtung deuten. «Das wird seltsam. Der Olive Garden, was?» «Ja. Kommen Sie vorbei. Wir kümmern uns um Sie.» «Das weiß ich. Mach’s gut, ja?» «Sie auch», sagt Manny, und weil die Lichter blin‐ ken, wünschen sie sich frohe Weihnachten. «Gut gestrit‐ ten ...» «...New Britain.» Draußen im Schnee dreht sich Mr. K. um und winkt ein letztes Mal. Manny winkt zurück, beobachtet, wie er zu seinem Wagen schlurft, genau wie er es bei seinem Großvater täte, und hofft die ganze Zeit, dass er genug Salz gestreut hat. «Jetzt ist es offiziell», verkündet Dom und deutet mit dem Daumen auf den Fernseher, «es ist ein Schneesturm. Der Wintersturm Adrian. New York ist völlig lahm ge‐ legt.» «Verdammt nochmal», sagt Manny, als wäre er be‐ eindruckt, aber innerlich fragt er sich, was für Auswir‐ kungen das auf heute Abend haben könnte. Er hat so sehr auf diese letzte Schicht gesetzt, als könnte sie eine end‐ gültige Antwort bringen. Er weiß, dass das nicht der Fall ist, und doch findet er den Gedanken bedrohlich, seine letzte Chance einzubüßen. «Seit wann haben Winterstürme denn Namen?», fragt Roz, fasst Manny am Ellbogen und beugt sich vor. «An Tisch 16 haben wir ein Problem.» Einer der Tische der Büroangestellten. Ein Mann hat in ein Cheddarbrötchen gebissen und etwas Dünnes, Glattes wie Plastikfolie gespürt. So wie es Roz jetzt beschreibt, befürchtet Manny, Eddie hat eins seiner Heftpflaster verloren, ein eindeutiger Klagegrund.
Der Mann hat das Beweisstück für Manny aufgehoben und reicht ihm den Teller mit Brot und Butter, als könnte nur er den Fremdkörper identifizieren. Der ganze Tisch schaut ihn an. Das Ding ist dünn und durchsichtig – ganz anders als zum Beispiel die Spitze eines Handschuhs – und geschmeidig, also kein Zellophan. «Das ist tatsächlich Plastikfolie», sagt Manny und schmeichelt dem Mann wegen seiner Fähigkeit zur lo‐ gischen Schlussfolgerung. «Manchmal wickeln wir den Teig ein, um ihn frisch zu halten. Tut mir sehr leid. Na‐ türlich sind Sie heute unser Gast.» Es dauert einen Au‐ genblick, bis Roz ihn an der Kasse gefunden hat. Bedeu‐ tungsschwer zeichnet Manny den Bon ab und gibt ihn zurück, wie ein politischer Führer, der ein wichtiges Ab‐ kommen unterschreibt. Der Mann scheint besänftigt zu sein und zuckt mit den Schultern, als wäre es ein verzeih‐ licher Fehler. «Sollten Sie irgendetwas wünschen oder brauchen, sagen Sie bitte einfach Bescheid, und wir wer‐ den unser Bestes tun. Kann ich Ihnen noch ein Corona bringen?» «Klar.» «Mit Limone?» «Ja.» Und schon ist Manny weg, kümmert sich persön‐ lich um die Angelegenheit, nimmt den betreffenden Teller mit – getreu dem alten Leitfaden, den er anfangs wie eine Bibel studiert hat: Räumen Sie den fraglichen Teller ab –, und zeigt ihn Rich und Eddie, weil beide heute als Bäcker gearbeitet haben. «Wer weiß», sagt er, «auch ich könnt’s gewesen sein. Am Anfang hab ich den Teig zubereitet. Wir müssen alle aufpassen, was wir tun.» «Jawohl, Chef», witzelt Ty, doch Manny findet das nicht komisch.
Er bringt das Bier an den Tisch, macht fast eine Ver‐ beugung, und der Mann bedankt sich – ein Zeichen, dass alles in Ordnung ist. Dem Chef mit der Fliege geht’s gut, er plaudert wieder mit dem Ehrengast, und Manny be‐ schließt zu gehen, statt nochmal zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Vorn steht Kendra mit der Nase direkt an der Ein‐ gangstür und beobachtet draußen etwas. «Da steckt je‐ mand fest», sagt sie, und er hebt die Hand, um sein Spie‐ gelbild zu verdecken, und er sieht, dass Mr. K.s uralter Olds quer steht und sich im Schneematsch abmüht. «Arschlöcher», sagt Manny, als er draußen ist – damit meint er die Schneeräumer, die immer noch nicht aufge‐ taucht sind. Der Motor des Olds heult auf, und die Reifen jaulen. Heckantrieb ist bei diesem Mistwetter nutzlos, und das alte Schiff wiegt bestimmt ein paar Tonnen. Der Trainer wühlt bloß ein Loch, und der Geruch von ver‐ branntem Gummi steigt auf. Manny klopft ans Beifahrerfenster und zeigt ihm die Tüte Streusalz. «Lassen Sie mich ein bisschen streuen, und dann schieb ich Sie an.» Er wartet ein paar Sekunden, damit die Kügelchen wirken können. «Okay, legen Sie jetzt den Rückwärtsgang ein und rollen Sie einen halben Meter zurück.» Er wirft ein bisschen Salz vor die beiden Vorderräder, winkt ihn vorwärts, lässt ihn anhalten. «Okay, jetzt wieder zurück. Okay. Stellen Sie jetzt das Lenkrad gerade. In Ordnung, versuchen wir’s.» Manny stemmt sich gegen den Kofferraum des Olds, während der Trainer ganz langsam vorwärtsfährt. Seine Arbeitsschuhe haben kein Profil und rutschen weg, also gräbt er mit den Seiten der Absätze so etwas wie Startblö‐
cke in den Schnee. Inzwischen haben die durchdrehenden Reifen einen kleinen Eishügel geformt, den sie überwin‐ den müssen. Inmitten des Streusalzes kann Manny ein bisschen Druck entwickeln, der Trainer tritt ganz be‐ hutsam aufs Gaspedal, sie haben fast genug Schwung, doch im letzten Moment rollt der Wagen wieder zurück, und der Trainer gibt unwillkürlich Vollgas, schießt zwei Strahlen Schneematsch an Manny vorbei und schwingt mit dem Heck zur Seite. Beim nächsten Versuch läuft es genauso. «Moment», sagt Manny und hält die Hand hoch, aber der Trainer kann ihn nicht hören und gibt wieder Gas. Er macht alles bloß noch schlimmer. «Jetzt mal mit Anlauf», sagt Manny, denn eine der Mulden ist gut dreißig Zentimeter lang, und das Streusalz scheint langsam zu wirken. Der Trainer lässt den Wagen zurückrollen, würgt den Vorwärtsgang rein, rollt wieder zurück und überwin‐ det beinahe die Rückseite der Mulde, schaukelt wieder vorwärts, die Reifen greifen auf dem Asphalt und haben jetzt Bodenhaftung, Manny schiebt mit der Schulter am Kofferraum, die Rücklichter flammend rot in seinem Ge‐ sicht, und stößt sich schließlich kraftlos von der Stoß‐ stange ab, während der Olds es schafft freizukommen, und plötzlich hat Manny nichts mehr, woran er sich fest‐ halten kann, und liegt auf allen vieren im Schneematsch. Fluchend stemmt er sich hoch, Ärmel und Hose klatsch‐ nass. Mr. K. hat Angst, nochmal stecken zu bleiben, und fährt einfach weiter, er hupt bloß, biegt am Ende der Wa‐ genreihe ab, rollt am Stoppschild vorbei auf die geräumte Zufahrtsstraße und ist verschwunden. «Oh Mann», sagt Manny und streckt die Arme aus, um sich den Schaden anzusehen. Seine Krawatte ist ruiniert,
er ist nass und friert, aber er hat auch das Gefühl, als hätte er etwas erreicht, als hätte er dem Trainer etwas zurück‐ geben können. Der Schnee fällt sanft – Charlie Brown‐ Schnee –, und es geht fast kein Wind. Vielleicht ist das nur die Ruhe vor dem Sturm, aber während er die Hände schüttelt, damit sie wieder warm werden, denkt er, dass es für einen Schneesturm zu schön ist. Drinnen wäscht er sich in der Herrentoilette, spült seine Krawatte ab und hebt die Knie wie ein Tambourma‐ jor, damit der Händetrockner seine Hose trocknen kann. Er wischt die Waschbecken mit Toilettenpapier sauber, lässt ein Knäuel in den Müll fallen und wäscht sich die Hände. Eine knappe Minute später hebt er am Tisch des kleinen Jungen eine widerspenstige Fritte vom Fußboden auf und muss sich die Hände nochmal waschen, und dann nochmal, nachdem er eine Getränke‐und‐Dessert‐Karte abgewischt hat, die von der großen Gruppe irgendwie mit Remouladensoße beschmiert wurde. Der Mittag ist erst mal unter Kontrolle. Die große Gruppe ist endlich leise, damit beschäftigt, das Hauptge‐ richt zu essen. Der kleine Junge sitzt still und verschlingt Popcorn Shrimps. Es ist Viertel nach eins, der Schnee hält die Leute fern. Es ist der letzte Tag, und trotzdem macht er sich Sorgen über die Anzahl der Gäste; wegen der Fei‐ ertage hatte er sich ein volles Haus erhofft, bloß um es dem Konzern unter die Nase reiben zu können. Kendra führt die Nachzügler zu ihren Nischen, und weil sie dann nichts mehr zu tun hat, gibt sie klein bei und räumt Roz’ letzten Vierertisch ab. Die Küche hinkt nicht mehr hin‐ terher; Ty hat Eddie und Leron schon wieder zum Ge‐ schirr geschickt. Fredo räumt auf, Rich macht den Back‐ tisch sauber. Manny spürt, dass er ein bisschen Zeit hat,
und versucht die Schneeräumer anzurufen, erreicht wie‐ der nur den Anrufbeantworter und hinterlässt eine zweite Nachricht, überprüft dann, ob seine Krawatte schon tro‐ cken ist – ist sie nicht –, schleicht mürrisch um die Bar herum und sieht sich zusammen mit Dom an, wie der Sturm weiß‐rosa über beide Bildschirme fegt. Jacquie ertappt ihn dabei, wie er Erdnüsse isst – sie wollte immer, dass er das einschränkt –, und er lässt alles, was er noch in der Hand hat, auf eine Serviette fallen, als wäre er fertig. «Haben wir noch welche von den Leuchtturmglä‐ sern?» «Wie viele brauchst du?» «Es geht um ein ganz Spezielles, Nummer sieben oder so, keine Ahnung.» «Wir haben nur das Eine.» Er führt sie in den Lagerraum, greift ins oberste Regal, holt einen Karton runter und öffnet die eingeklappten Laschen. Seite an Seite, schauen sie hinein wie in eine Schatzkiste. In einem Nest aus Seidenpapier liegen ein Dutzend schwere Gläser mit Reliefoberfläche, klobig wie Eisskulpturen – Manny fand sie immer hässlich, obwohl er erlebt hat, dass sie bei eBay für dreißig Dollar weggin‐ gen. Das Unternehmen hatte eine Serie von zehn Gläsern im Angebot, aber das war letztes Jahr. Die einzigen Leute, die jetzt noch daran Interesse haben, sind Sammler; die Zentrale hat im Frühling ein Memo verschickt, in dem untersagt wurde, die Gläser einfach zu verkaufen. Die Vorschriften gelten immer noch: Der Gast muss das richtige Essen dazu bestellen. Wie Manny sich gerade erinnert, handelt es sich bei al‐ len Gläsern um die Nummer drei, eine achteckige Rakete,
die den Tybee Island‐Leuchtturm in Georgia darstellen soll – so berühmt, dass er noch nie von dem Ding gehört hat. Er lässt den Karton unten, dann kann er das Glas, wenn Jacquie zurückkommt, wieder einwickeln und an seinen Platz legen. Noch etwas für die Inventur. Der Lagerraum ist gar kein richtiger Raum, sondern ein Flur hinter dem Grill, in dem sich auf beiden Seiten Regale bis zur Decke erheben. Während Manny war‐ tet, umgeben von genau gleichen trommelartigen Do‐ sen mit Sysco‐Pickles und in Scheiben geschnittenen Pilzen, Zwanzig‐Liter‐Plastikbehältern Ketchup, Honigsenf und Cocktailsoße, hört er, wie Ty Fredo schikaniert («Da kommt das nicht hin. Aus dem Weg»), hört das transformatorhafte Summen des Eiswürfelbereiters und das zyklische Rotieren der Geschirrspülmaschine. Hier hat sie ihn ein Dutzend Mal geküsst, sich an ihn gedrückt trotz seiner nicht richtig ernst gemeinten Beteuerungen, dass man sie erwischen würde. Einige der staubigeren Dosen haben das wahrscheinlich damals miterlebt – die Maraschinokirschen und die Maiskölbchen vielleicht. Es erscheint ihm nicht richtig, dass sogar diese leicht ver‐ derblichen Waren das überdauert haben, was er einmal als immerwährend betrachtete – eigentlich immer noch betrachtet –, aber da stehen sie, als unumstößlicher Be‐ weis. Auch die Leuchtturmgläser, obwohl sie nur ein be‐ fristetes Angebot sein sollten. Doch was ist schon unbe‐ fristet? Daran muss er bei Deena denken. Kurz darauf ist Jacquie ohne das Glas wieder da. «Sie sagt, sie nimmt alle.» «Für jeden Gast nur ein einziges», sagt er ohne zu über‐ legen und sieht an ihrem Blick, wie albern das ist. «Klar, kein Problem.»
Als er sich selbst eins nimmt, wirft sie ihm einen ande‐ ren Blick zu. «Ich kann nicht glauben, dass dir das hier wirklich feh‐ len wird.» Ich kann nicht glauben, dass es dir nicht fehlen wird, würde er am liebsten sagen, zuckt aber bloß mit den Schultern. «Ich war wohl zu lange hier.» «Sieht so aus.» Er weiß nicht, warum das ein Witz ist (erst mal ist es eine Lüge), doch wie all seine Wortwechsel mit Jacquie in letzter Zeit will er auch diesen nicht so genau analysieren, denn das führt zu nichts. Sie unterhalten sich bloß. «Was wirst du tun?», fragt er. «Mir einen Job besorgen – was denkst’n du?» «Crystal nehme ich nun doch nicht mit, also ...» «Manny», unterbricht sie ihn. «Ich dachte, das hätten wir schon geklärt.» «Haben wir auch ...» «Fang nicht wieder damit an. Nicht jetzt.» «Ich hätte es dir vorher sagen sollen ...» Aber plötzlich taucht Rich hinter ihr auf wie ein Ge‐ spenst. «Tut mir leid. Wir brauchen mehr Öl.» «Schon okay», sagt Manny und lässt ihn durch, aber Jacquie geht bereits. Er könnte laufen, um sie einzuho‐ len, auch mit dem Karton in den Armen. Doch er bringt ihn in den Pausenraum, schiebt sich vorsichtig rückwärts durch die Tür und packt die Gläser auf dem Tisch für sie aus. «Danke», sagt sie. «Keine Ursache.» «Sie wird sich sehr freuen.» «Ja.»
Roz stürmt mit einem vollen Geschirrkasten rein und ekommt gerade noch die letzten Worte mit. Sie schüttelt theatralisch den Kopf, als würde er einen großen Fehler machen, geht weiter in die Küche und brüllt: «Hab noch ein Geschenk für dich, Eddie.» Danach drängt sich Nicolette leise vor sich hin flu‐ chend vorbei, in der Hand ein Messer und einen Löffel. «Hier. Wenn jemand sein Besteck auf den Boden wirft, nimmt man’s ihm dann weg, oder gibt man ihm neues?» «Man gibt ihm neues», sagt Manny. «Echt, wenn man so was im Pflegeheim macht, kriegt man’s nicht zurück. Und man kriegt keinen Nachtisch.» «Er isst Nachtisch?» «Er sitzt da draußen und hat schon den dritten Löffel in Benutzung.» Zum zweiten Mal an einem Vierertisch vorbeizu‐ schauen, ist des Guten zu viel, doch nach der verschüt‐ teten Sprite kann Manny es rechtfertigen. Während die Moms ihren Kaffee trinken und ihre Einkaufszettel ver‐ gleichen, nimmt der Junge ein Fudge Overboard in An‐ griff, einen riesigen Brownie mit Eis und Sprühschlag‐ sahne, übergossen mit Schokoladensoße. Manny hat schon erlebt, dass Männer, die so groß waren wie er, an dieser Portion gescheitert sind, aber der Kleine hat be‐ reits die Hälfte weggeputzt und schaufelt immer noch in sich hinein. «War alles in Ordnung?», fragt Manny die Moms. «Ja», sagt die Mutter des Jungen, «aber ich finde, un‐ sere Serviererin hätte etwas höflicher sein können.» Sie blickt die andere Mutter an, und die nickt bestätigend. «Anscheinend hatte sie schon vor dem Missgeschick ein Problem mit Martin. Ich finde, ein Lokal, das als Fami‐
lienrestaurant für sich wirbt, sollte auf Kinder eingestellt sein.» «Verstehe», sagt Manny, verzichtet aber darauf, sich zu entschuldigen. An jedem anderen Tag würde er das Dessert des Jungen wohl nicht berechnet haben, aber Ni‐ colettes grundsätzliche Haltung hin oder her – in die‐ sem Fall hat sie recht. Er wird Mom nicht dafür beloh‐ nen, dass sie ihrem Kind keine Grenzen setzt. «Würde es Ihnen etwas ausmachen, eine dieser Beurteilungskarten auszufüllen? Danke. Bei Ihrem nächsten Besuch schenken wir Ihnen besondere Aufmerksamkeit, das verspreche ich. Schönen Tag noch.» «Was für eine dumme Kuh», sagt er im Pausenraum zu Nicolette. «Und du weißt genau, dass die mich leer ausgehen las‐ sen. Und das nach diesem ganzen Scheiß.» «Ich hab sie eine Beurteilungskarte ausfüllen lassen.» «Das ist doch nicht dein Ernst.» «Doch. Du kannst sie um vier Uhr nachts anrufen und sie ihr vorlesen.» Nicolette springt von ihrem Stuhl und stößt die Faust in die Luft. «Ahh! Ja, mein Junge! Ich kenne jemanden, der bald mitten in der Nacht eine Lieferung vom Pizza‐ dienst kriegt. Aufmachen, hier ist Domino’s, du Mist‐ stück!» Manny hält den Finger an die Lippen, und sie ist still. Das bleibt ihr Geheimnis, ein Regelbruch, der sie beide in Schwierigkeiten bringen könnte, aber das ist es wert. Auch wenn Nicolette ihm oft auf die Nerven geht, ist sie doch eine seiner Serviererinnen. Als er in die Bar zurückkehrt, fragt Dom, ob er die Erdnüsse noch haben will.
«Schmeiß sie weg», sagt Manny und lässt sich von Dom eine Diät‐Cola mit Zitrone geben. Die Mittagszeit neigt sich dem Ende zu, und er braucht einen Koffeinstoß, be‐ sonders wo es draußen so dunkel ist. Seine Ärmel sind immer noch nass und verdecken das Gummiband. Er geht mit dem Glas zum Fenster und späht zwischen den Ja‐ lousien hindurch. Der Schnee treibt seitwärts vorbei, als würde Manny in einem Zug fahren, und er fragt sich, wie das wohl von dem Fenster hinten in seiner Wohnung aus‐ sieht – der Garten, der zum Bach hin abfällt, vollkommen weiß, bis auf die gepunktete Linie einer Katzenfährte. Er stellt sich vor, dass er morgen den ganzen Tag unter sei‐ nem alten Patriots‐Schlafsack auf dem Sofa liegt und sich die Spiele anschaut, dass er sich nicht mal anzieht und dass er sein Geschirr rumstehen lässt, als wäre er krank. Nein, er muss hier sein, er muss Deena besuchen. Wenn er direkt nach dem Abendessen bei ihr aufbricht, könnte er rechtzeitig zu Hause sein, um das Ende des Spätspiels noch mitzubekommen. Und genauso schnell ist es Mon‐ tag, und all das gehört der Vergangenheit an. Draußen geht ein hagerer Typ in Kapuzenshirt, die Hände in die Tasche gestopft, am hinteren Rand des Park‐ platzes entlang, vornübergebeugt gegen den Wind. Ohne das Stoppschild zu beachten, überquert er die Straße und schlurft in Richtung Einkaufszentrum. Wo kommt der bloß her? Nicht aus der Eingangstür – da hätte Manny ihn doch gehen sehen –, und einen Augenblick glaubt er, es ist der Obdachlose, der ihnen im Herbst solche Schwierigkeiten gemacht hat, der nach unverschlossenen Autos suchte und bei den Müllcontainern über den Zaun kletterte. Erst als die Gestalt stehen bleibt, um einen Ge‐ ländewagen ausparken zu lassen, und die Bremslichter
das Gesicht des Burschen erleuchten, erkennt Manny Fredo. «Das gibt’ s doch nicht.» Er stellt sein Glas hin und läuft nach draußen, der Schlüsselbund schlägt gegen seine Hüfte. Das Streusalz hat gewirkt, aber nur bis zum Ende des Weges. Nach drei Schritten auf dem Parkplatz quillt Schneematsch in Man‐ nys Schuhe, und er muss umkehren. «Fredo!», ruft er in den Schneesturm hinaus. «Fredo!» Bei dem Schnee ist es schwer zu erkennen, aber er könnte schwören, dass sich Fredo kurz umdreht und dann weitergeht, direkt auf das Bushäuschen bei JCPenney zu. «Okay», brüllt Manny, die Arme weit ausgebreitet, als wollte er ihn herausfordern, «deinen Scheck kannst du vergessen.» Als Erstes vergewissert sich Manny, ob Fredo ausge‐ stempelt hat, und das hat er. «Keine Ahnung», sagt Ty. «Er hat einfach die Schürze ausgezogen und ist gegangen.» «Du hast nichts zu ihm gesagt?» «Zum Beispiel?» Zum Beispiel: Bist du wirklich so doof, oder baust du mit Absicht so eine Scheiße? Oder: Wer hat dir gesagt, dass du das machen sollst, ich jedenfalls nicht. Oder: Jetzt muss ich das Ganze nochmal machen, das kostet meine Zeit. «Hat irgendwer versucht, ihn aufzuhalten?» Rich, Leron und Eddie blicken wortlos herüber, als würde sie die Sache nichts angehen. Jacquie kommt rein, um an der Kaffeetheke eine Kanne aufzufüllen, schaut sich um und spürt die gespannte Stimmung. «Scheiß auf Fredo», sagt Ty. «Eddie kann mir helfen.» «Hast du nicht gesagt, dass wir abends nicht mit drei Leuten auskommen?», fragt Manny.
«Meinst du wirklich, dass wir heute Abend Essen ser‐ vieren?» «Jedenfalls allen, die kommen.» «Dann kriegen wir das schon hin», sagt Ty, «denn es wird niemand kommen.» So wie s draußen schneit, hat Ty zweifellos recht, aber Manny will bei diesem Streit nicht den Kürzeren ziehen. Wenn man als Geschäftsführer keine überzeugenden Ar‐ gumente hat, kann man immer noch den Vorgesetzten rauskehren. «Irgendwer kommt bestimmt, und wenn nicht, sind wir trotzdem vorbereitet. Noch haben wir ge‐ öffnet, und wir werden auch noch bezahlt. Ich bin heute nicht hergekommen, um Babysitter zu spielen. Und jetzt lasst uns die Desserts rausbringen und dann sauber ma‐ chen.» Wie alle Halbzeitansprachen löst auch diese keine große Reaktion aus. Ty geht wieder zur Schnellkoch‐ platte, und Rich trottet hinterher. Eddie und Leron dre‐ hen sich um, leeren schweigend die Geschirrkästen und räumen alles in normalem Tempo in den Geschirrkorb. «Du hast doch gewusst, dass so was passieren würde», sagt Jacquie im Pausenraum. «Was?», fragt Manny, aber er weiß, was sie sagen will. Er hat Fredo (genau wie Leron) eingestellt, weil er sich selbst als Jugendlichen in ihm wiedererkannt hat – noch so ein Junge ohne Zukunft, der nie aus New Bri‐ tain rauskommen wird. Er hat Fredo eine Chance gege‐ ben, und egal, was passiert, das wird er nie als Fehler an‐ sehen. Er würde gern glauben, dass Fredo es bei einem anderen Koch – jemandem mit mehr Geduld und we‐ niger Wutanfällen – geschafft hätte, doch mit einem sol‐ chen Koch hat er nie gearbeitet. Ehrlich gesagt, gibt es
einen solchen Koch wahrscheinlich nicht. Der einzige Mensch, der Fredos Begriffsstutzigkeit ertragen könnte, ist Manny selbst. «Erstaunlich, dass er überhaupt gekommen ist», sagt Jacquie. «Erstaunlich, dass irgendjemand gekommen ist», erwi‐ dert Manny. «Erstaunlich, dass ich gekommen bin.» «Warum musst du das ins Lächerliche ziehen? Keine Ahnung, ob dir das klar ist, aber viele von uns sind bloß deinetwegen gekommen.» «Du zum Beispiel.» «Ja, ich zum Beispiel. Meinst du, ich bin gekommen, weil ich nichts Besseres zu tun hatte? Ach ja, stimmt, ich bin hier, um das große Geld zu machen. Mein Gott, Manny, denk doch ausnahmsweise mal nach.» Nachdem sie ihn runtergeputzt hat, geht sie, darin hat sie Übung, und er hat Übung darin, ihre Worte hin und her zu wenden, um deren wahre Bedeutung zu verstehen, diese Bedeutung dann aber nicht an sich ranzulassen, weil zwischen ihnen alles provisorisch und vorüber‐ gehend ist und, wie es in zierlicher Schrift auf der Speise‐ karte steht, Änderungen vorbehalten sind. Roz kommt mit einem Tablett voll lippenstiftbe‐ schmierten Weingläsern und Bierflaschen mit abge‐ rissenen Etiketten durch die Schwingtür und sieht ihn mit einem wohlwollenden Gesichtsausdruck an, den sie sich normalerweise für kleine Kinder aufspart, eine Art Schmollmund mit vorgeschobener Unterlippe. «Oh‐ooh. Sieht aus, als gäb’s Ärger im Paradies.» «Das hier soll das Paradies sein?», fragt Manny. «Warum nicht, wenn du deine Karten geschickt aus‐ spielst.»
Das sagt sie im Vorbeigehen und ist schon halb in der Küche, als er unwillkürlich auflacht und über ihre Be‐ gabung, ihn aufzuziehen, und den lächerlichen Gedanken, dass er irgendwelche Karten ausspielen könnte, den Kopf schüttelt. Vorn ist der kleine Junge im Aufbruch begriffen. Ni‐ colette hat die Essensreste in eine Styroporschachtel ge‐ packt, der Mom die Kreditkarte zurückgegeben, sich von allen verabschiedet und ist in den Pausenraum geflüchtet. Erst jetzt, wo ihre Visa‐Karte wohlbehalten in ihrer Brieftasche steckt, lässt die Mutter die Beurteilungskarte in die aufklappbare Ledermappe gleiten, die sie neben das Teelicht legt. Manny lauert an der großen Servicetheke, beobachtet, wie sie an den Großmüttern vorbeimarschie‐ ren, die sich beide gleichzeitig umdrehen, um eine Bemer‐ kung über den Jungen zu machen, das einzige Kind im ganzen Restaurant. Manny widersteht dem Drang, rüber‐ zugehen und die Frau nochmal zu beschwichtigen – was ihm nicht schwer fällt, weil der Junge wie ein aufgedreh‐ ter Pudel um ihre Beine herumspringt. Jetzt sind sie stehen geblieben. Eine der Großmütter will dem Kind irgendwas aus ihrer Handtasche geben – ein Lutschbonbon, genau das, was er braucht. «Geh weiter», murmelt Manny vor sich hin. Die Mutter lehnt höflich ab – nein danke, das können wir nicht annehmen –, als der Junge plötzlich die Hand vor den Mund hält, als müsste er rülpsen, den Oberkörper nach vorn beugt und sich auf ihre Stiefel erbricht. Ein dicker karamellbrauner Schwall voller Brocken. Und er ist noch nicht fertig. Sein Würgen ist trotz Kenny Loggins zu hören, und die Leute von der Abschiedsparty drehen sich auf ihren Stühlen um.
«Bringen Sie ihn raus», flüstert Manny, doch die Mutter und ihre Freundin wollen den Jungen trösten und nicht zur Tür schleifen, und mit ihrer Hilfe übergibt er sich auf den Teppich, während sich die Großmütter schockiert anstarren. «Kann ihm irgendwer bitte ein Glas Wasser holen?», schreit die Mutter, mit beiden Füßen in der Pfütze, denn es kommt nicht in Frage, sich von den Großmüttern eins zu borgen. Manny hat immer einen Krug und ein leeres Glas auf der Servicetheke bereit stehen. «Vielen Dank», schimpft die Mutter. «Wir kümmern uns um das Ganze», entgegnet er. «Sie können sich auf der Toilette sauber machen.» Aber erst muss er ihre Stiefel abwischen, damit sie die Schmiere nicht im ganzen Restaurant verteilt. Er kniet sich hin und befeuchtet im Eiswasser eine Serviette. Aus der Nähe riecht das Zeug wie eine Mischung aus saurer Milch und frischer Hundescheiße. «Vorsichtig», sagt die Frau. «Machen Sie sie nicht klitschnass.» Gnädige Frau, würde er am liebsten sagen, das sind Stiefel. Während er den stinkenden Teppich schrubbt und die ekligen Lappen in einen Geschirrkasten wirft, muss Ni‐ colette die Großmütter zu einer Nische führen, die so weit wie möglich entfernt liegt, und das bedeutet, dass die ganze Bedienerei nochmal von vorn losgeht. Jacquie trägt ein Tablett rüber. Kendra auch, und Roz steht mit offenem Mund da und ist genauso erstaunt wie er. Wäh‐ rend er auf dem Boden kniet, sieht er ein paar Kaugum‐ miflecke an der Unterseite des Tisches, und bevor er sich
bremsen kann, denkt er, er sollte später nach dem Spach‐ tel suchen und sich der Sache annehmen. Er holt gerade das Desinfektionsspray hervor, als die Mutter ihn bremst. Der Junge wartet mit der anderen Mutter am Aquarium, und die bunten Lichter spielen auf ihren Gesichtern. «Ich will wissen, wer Ihr Vorgesetzter ist.» «Ich habe keinen Vorgesetzten, ich bin der Geschäfts‐ führer.» «Okay, ich will’s Ihnen leichter machen.» Sie spricht jedes Wort deutlich aus. «An wen muss ich schreiben, um mich über das zu beschweren, was hier passiert ist? Denn ich finde, man sollte nicht darüber lachen, dass einem Kind schlecht ist, und mindestens eine Ihrer Angestellten hat über meinen Sohn gelacht.» «Ich bin mir sicher, dass das nicht stimmt.» «Ich weiß genau, dass es stimmt, und ich werde jeman‐ dem in dieser Angelegenheit einen Brief schreiben.» «Ich kann Ihnen eine neue Beurteilungskarte geben.» «Ich will keine neue Beurteilungskarte. Ich will den Namen und die Adresse von jemandem, der wirklich was unternimmt.» Manny spürt die Versuchung – und so etwas ist ihm noch nie passiert –, der Frau zu sagen, dass ihr Sohn ein verzogener Balg und sie eine schreckliche Mutter und ein schrecklicher Mensch ist, doch er gibt ihr nur die Kon‐ taktinfo für den Regionalleiter und entschuldigt sich, um sie endlich zur Tür hinauszubekommen. Lächelnd lässt er sich vor aller Augen runterputzen, und auch wenn das sonst niemand versteht, Manny versteht es: Wie bei sei‐ ner Auseinandersetzung mit Ty ist das eben der Preis, den er als Chef zahlen muss.
Der nasse Teppich stinkt wie ein penetranter Käse. Er sprüht die Stelle mit Desinfektionsmittel ein und steht dann ein paar Minuten am Waschbecken und wäscht sich die Hände. Wenn die Schweinerei trocken ist, saugt er al‐ les ab, aber nicht im Beisein der Gäste. Es geht darum, dass wieder Ruhe einkehrt, damit sie die Sache vergessen. Im richtigen Leben unmöglich, aber hier klappt es per‐ fekt. Als der Junge und seine Mutter weg sind, geht ein ansteckendes Gelächter durch den Raum, als hätten alle, auch die Großmütter, es zurückgehalten, und die Leute johlen und schlagen so fest auf die Tischplatte, dass ihr Besteck scheppert. Auch Manny muss laut loslachen. Die große Gruppe ist fertig, und Jacquie und Roz können beim Ausstel‐ len der Rechnungen Hilfe gebrauchen. Er gibt alles auf dem Kassenmonitor ein, zieht Kreditkarten durch den Leseschlitz und druckt Kassenzettel aus. Das System ist brandneu, auch das eine idiotische Anschaffung des Kon‐ zerns. Ihm gefällt, wie schnell und glatt sich damit alles abwickeln lässt, das Gefühl, etwas vollendet, ein Geschäft abgeschlossen zu haben, das Geld in der Kasse, als wäre es irgendwie sein Verdienst. Als stellvertretender Ge‐ schäftsführer im Olive Garden wird das in seiner Schicht eingenommene Geld bloß in einem größeren Topf landen, und obwohl ihm klar ist, wie egoistisch das klingt, weil er immer Teamwork gepredigt hat, betrachtet er diesen Umstand als Verlust. Als die Mitglieder der Gruppe einer nach dem ande‐ ren rausgehen, platziert sich Manny protokollgemäß am Empfangspult und bedankt sich, er und Kendra, die hin‐ ter ihm steht wie eine Braut und alle ermahnt, vorsich‐ tig zu fahren, haben Aufstellung genommen wie eine Art
Empfangskomitee. Der Chef mit der Fliege schüttelt ihm die Hand. «Danke, dass Sie uns so kurzfristig unterbrin‐ gen konnten.» «Kein Problem. Danke, dass Sie sich für Red Lobster entschieden haben.» Inzwischen sagt er das, ohne zu überlegen, aber was bedeutet es? Wer, außer den Leuten, die hier arbeiten, denkt schon über Red Lobster nach? Und auch die den‐ ken eigentlich nicht drüber nach. Vielleicht Eddie, der bestimmt froh ist, einen Ort zu haben, wo er jeden Tag hinkommen kann, oder Kendra, die darüber nicht immer froh ist, aber Manny kann sich nicht vorstellen, dass Rich oder Leron viele Gedanken auf so etwas Unwichtiges wie einen Job verschwenden. Vielleicht hat auch Manny nicht genug drüber nachgedacht, denn all die Jahre fand er es selbstverständlich, dass es das Lobster gab. In der Hinsicht ist er wohl genau wie Eddie. Und jetzt ist es zu spät. Wie bei ihrer Ankunft versammelt sich die Gruppe un‐ ter dem Schwertfisch, der Schnee draußen ein Hemm‐ nis. Einer nach dem anderen holen sie ihre Jacken von der Garderobe (eine Frau hat seltsamerweise einen Regen‐ schirm dabei) und knöpfen sie zu, bevor sie dem Sturm die Stirn bieten, dann gehen sie in mehreren Wellen, an‐ einandergelehnt, um das Gleichgewicht nicht zu verlie‐ ren, und wieder fragt sich Manny, wie es wohl wäre, dort in dieser Firma zu arbeiten – oder irgendwo anders, denn es ist klar, dass er nicht sein ganzes Leben damit vergeu‐ den kann, für Darden Restaurants, Incorporated, tätig zu sein. Als die Letzten gegangen sind, sieht er etwas neben dem Aquarium auf dem Boden liegen, eine alte creme‐
rosa gestreifte Glaskugel, zerbrochen wie ein Vogelei, und die größte Scherbe zeigt ihr silbern glänzendes In‐ neres. So eine Kugel hätte am Baum seiner Oma hängen können. Wahrscheinlich hat sie jemand gestreift, ohne zu hören, dass sie auf den Teppich fiel. Die Ironie lässt Manny keine Ruhe: etwas so Zerbrechliches, das schon so viele Weihnachtsfeste überstanden hat; noch ein Tag, und die Kugel hätte es geschafft. Aber vielleicht quält ihn auch, wie rührselig er langsam wird, dass er in jeder Kleinigkeit sein eigenes Schicksal sieht, als wäre er hilf‐ los. Er schnappt sich die Kehrmaschine neben dem Emp‐ fangspult, lässt sie über die Scherben gleiten, bis alle ver‐ schwunden sind, und klopft die Maschine dann in der Küche am Rand des Abfalleimers aus. «Immer sachte, Chef», sagt Ty. «Wenn du das Ding ka‐ puttmachst, musst du’s bezahlen.» Er sitzt auf einem Ho‐ cker am Ende des Grills und blättert im Courant, wäh‐ rend Rich in Gummihandschuhen am Ausgang der Ge‐ schirrspülmaschine steht, kochend heiße Teller aus den Körben nimmt und sie in Geschirrwagen stapelt. «Seid ihr fertig mit dem Mittagessen?» Ty breitet die Arme aus, um ihm die blitzsaubere Kü‐ chentheke zu zeigen. «Was nehmen wir heute Abend als Special?». «Was übrig ist.» «Nimm Hummerschwänze», sagt Manny, in der Hoff‐ nung, noch ein paar loszuwerden. «Und was gibt’s für uns zu Mittag?» «Was du kochst», sagt Ty, aber Manny geht auf den Witz nicht ein. «Was die Leute haben wollen. Ich hab noch Krabbenbeine – falls wir die nicht für heute Abend aufheben.»
«Ich muss ins Einkaufszentrum, aber bitte sorge dafür, dass alle was kriegen.» Das ist auf Roz gemünzt, die Kaf‐ fee trinkt, statt etwas zu essen. Auch bei halbem Preis ist das Essen nicht günstig. Manchmal muss ein Geschäfts‐ führer nach eigenem Ermessen handeln. «Und sag allen, dass es heute aufs Haus geht.» «Klasse», sagt Rich und hält den behandschuhten Dau‐ men hoch. «Du willst mir bestimmt für die Zeit deiner Abwesen‐ heit die Verantwortung übertragen?», fragt Ty. «Wem sonst?» «Ich übernehme die Verantwortung», sagt Eddie. «Ich geb allen eine Gehaltserhöhung.» «Okay, Guapo», willigt Manny ein, «du hast die Ver‐ antwortung.» Vorn lassen die Großmütter sich Zeit, bitten Nicolette, ihnen Kaffee nachzuschenken, und merken gar nicht, dass sie die einzigen Gäste sind. Oder vielleicht haben sie auch bloß Angst rauszugehen; der Schnee treibt gegen die Betonfüße der Bänke oder wird von den Windböen in Schlangenlinien über den Parkplatz gewirbelt. Dom sagt sechzig Zentimeter für den hiesigen Abschnitt der 84 voraus, noch mehr in den Hügeln im Westen. «Da sind wir wohl ganz schön angeschmiert», sagt er, «wenn wir’s nicht vorher schon waren.» «Wenn die Leute nicht fahren können», folgert Manny, «müssen sie irgendwo Halt machen.» «Nicht wenn sie gar nicht erst losfahren.» Manny deutet auf die Fenster. «Es ist nicht mal drei Uhr.» «Und bis wann willst du warten, ehe du das Abendes‐ sen abbläst?»
«Was denn, hast du eine Verabredung, oder was?», fragt Manny und sagt dann willkürlich: «Halb fünf.» Kendra ist unruhig, und Nicolette ist frustriert über die Großmütter, die jetzt probieren, ihre Rechnungen mit abgelaufenen Ermäßigungsgutscheinen zu begleichen. Da sonst niemand mehr da ist, kann Manny hören, wie Nicolette auf der anderen Seite des Raums in herrischem Ton mit ihnen spricht. «Tut mir leid, Ma’am, selbst wenn der Gutschein noch gültig wäre, gilt das Angebot nur für ein Gericht pro Tisch, nicht für zwei.» Logisch betrachtet hat Nicolette recht, doch die Großmütter lassen sich nicht unterkriegen. Als die Lautstärke zunimmt, muss Manny einschreiten. Die Großmütter beharren darauf, sie seien zwei ver‐ schiedene Tische, weil sie getrennte Rechnungen verlangt hätten, und der Gutschein sei gerade erst abgelaufen. Ni‐ colette reicht ihm den Gutschein, als wäre er voller Milz‐ brand‐Bakterien. Die Gültigkeitsdauer endete letzten Samstag, noch nicht lange her, aber während er dasteht, sieht er, dass der Keramikständer, der voller Zucker‐ und Süßstofftütchen sein müsste, völlig leer geräumt wurde – immer eine Gefahr bei diesen alten Schachteln, die dank ihrer Erinnerungen an die Weltwirtschaftskrise nicht nur sparsam, sondern habgierig sind. Eigentlich könnte ihm das egal sein, weil alles, was in keinem verschlossenen Karton steckt, wahrscheinlich weggeworfen wird, aber jetzt fühlt er sich doppelt getäuscht. «Ein Tisch, ein Gericht», entscheidet er und unterbricht ihre Argumentation mit erhobenem Finger. «Und das tu ich nur, weil Weihnachten ist.» «Hier esse ich nie wieder», sagt eine der beiden. «Dabei sollte das doch ein nettes Restaurant sein.»
«Tut mir leid, wenn Sie das so sehen», sagt Manny. «Wenn Sie wollen, können Sie eine Beurteilungskarte aus‐ füllen.» An der Servicetheke sagt Nicolette, er hätte ihnen nichts erlassen sollen. «Ich wette um einen Zwanziger, dass sie mir kein Trinkgeld geben.» «Da brauchen wir nicht zu wetten», sagt Manny, doch er hat Unrecht. Die Großmütter lassen Nicolette einen einzigen Penny da – einen Penny, mit dem Nicolette zur Eingangstür rennt, um ihn ihnen in den Sturm hinterher‐ zuwerfen. «Verdammte alte Schachteln, hoffentlich baut ihr einen Unfall!» Sie muss noch die Kaffeetassen wegräumen, stürmt aber fluchend und mit leeren Händen geradewegs in den Pausenraum. Das ist einer ihrer vergleichsweise leich‐ teren Wutanfälle. Erst als sie einen Augenblick später in ihrer Jacke und mit der Tasche über der Schulter wieder auftaucht, wird ihm klar, dass sie’s ernst meint. «Lass gut sein», sagt er. «Ich will meinen Scheck haben.» «Das ist doch nicht dein Ernst.» «Willst du sehen, wie viel ich heute verdient hab?» Dro‐ hend hält sie ihm ein zusammengefaltetes Bündel Eindol‐ larscheine vor die Nase. Es können nicht mehr als zwan‐ zig Dollar sein. «War nicht viel los.» «Das gilt aber nicht für alle, nicht wahr? Bloß für mich. Und woran liegt das wohl?» Sie kratzt sich an der Schläfe, streckt die flache Hand wie ein Game‐Show‐Model in Richtung Kendra, die mit Dom an der Bar steht, und deu‐ tet dann auf Manny. Es geschieht ihm im Grunde recht, weil er sie von der großen Gruppe ferngehalten hat, und
er kann ihr auch nicht versprechen, es beim Abendessen wieder gutzumachen. «Ich muß mich ja gar nicht wun‐ dern. Ich meine, die eine ist deine Freundin, und die an‐ dere ist deine Mutter, also bleibe ich außen vor. Es macht mir nichts aus, in einer beschissenen Schicht zu arbeiten, solange ich die faire Chance hab, ein bisschen Geld zu verdienen, und du weißt, das stimmt, denn ich hab letzten Monat jeden Mittag gearbeitet, statt einfach ‹Leck mich› zu sagen. Ich wusste, dass du zu wenig Leute hast. Des‐ halb bin ich auch heute gekommen, und guck dir mal an, was ich davon hab. Das war’s, mir reicht’ s. Ich will bloß meinen Scheck haben und nix wie weg. Du brauchst mich sowieso nicht.» «Ich hab dir auch gute Schichten gegeben», sagt Manny. Nicolette steht nur mit störrischer Miene da, ohne ir‐ gendwas zuzugeben. Er weiß, dass er sie bitten, vielleicht sogar anflehen sollte zu bleiben, aber das Mittagessen ist vorbei, es sind keine Gäste da, und es schneit heftig. «Ich hol dir deinen Scheck», sagt er. «Hast du schon ausgestempelt?» «Ja.» Und hinten sieht er, dass es stimmt; sie hat nicht geblufft. Jacquie und Roz wissen es schon, sie sitzen an dem Tisch im Pausenraum, als wäre alles in Ordnung. «Tja», sagt Jacquie. «Es ist ja nicht so, als hätte sie viel getan», sagt Roz, und vielleicht ist er zu weichherzig, denn er wünscht sich, Nicolette würde ihnen fehlen. Er würde Nicolette gern die Hand schütteln, wie um ihren Streit beizulegen, aber sie nimmt bloß den Scheck,
lässt ihn in ihre Tasche gleiten und zieht sich die Hand‐ schuhe an. Wie Fredo muss sie bis zur Bushaltestelle lat‐ schen und hat sich schon eingemummelt. Kendra und Dom haben sich nicht vom Fleck gerührt und geben das Publikum, als Manny Nicolette zur Tür begleitet. «Danke», sagt er ihr unter vier Augen im Foyer, und nicht bloß aus Gewohnheit. Sie hat für ihn gearbeitet, und das weiß er zu schätzen. «Leck mich», sagt Nicolette. «Du hast nicht Crystal, sondern mich gefeuert – darauf läuft’s doch hinaus –, und siehst du Crystal hier irgendwo? Nein, aber ich dumme Kuh bin da, also leck mich, Manny. Danke», äfft sie ihn nach, und das ist ihr letztes Wort. Wie immer spürt er die anderen hinter seinem Rücken. Er weiß, dass sie nicht alles hören können, doch er weiß auch, dass dieser verglaste Kasten den Tonfall seiner Antwort wie eine Trommel verbreiten wird. Am liebsten würde er sagen, dass er niemanden gefeuert, sondern um diese fünf Stellen hart gekämpft hat, und dass er ihr, ehr‐ lich gesagt, jede andere vorgezogen hätte, sogar Le Ly, die kaum Englisch konnte. «Viel Glück», sagt er, als sie in den Sturm hinausdrängt, und winkt steif zum Abschied. Während er ihr nach‐ schaut, erscheint es ihm irgendwie nicht richtig, dass er statt Trauer oder Wut nur eine egoistische, teilnahms‐ lose Erleichterung verspürt. Zumindest in diesem Fall kommt es ihm vor wie das Eingeständnis einer Nieder‐ lage. Bei seiner Rückkehr fragt auch Kendra nach ihrem Scheck, und statt ihr zu sagen, dass sie ebenfalls ver‐ schwinden könne, geht er wortlos zum Safe, nimmt alle Schecks außer seinem und teilt sie aus, wirft sich die Ja‐
cke über und marschiert direkt an Roz und Jacquie vor‐ bei – Roz ruft: «Hey, geh nicht so wütend weg!» –, mar‐ schiert durch den verlassenen Speiseraum und am unbe‐ setzten Empfangspult vorbei, stapft durchs Foyer in den peitschenden, wirbelnden Schnee hinaus, rutscht in sei‐ nen nutzlosen Schuhen aus (ja, er muss die Schneefräse einsetzen), die dünnen Socken schon nass, und folgt Ni‐ colettes halb zugeschneiten Spuren über den Parkplatz zu dem dunklen, nur stellenweise beleuchteten Klotz des Einkaufszentrums. Ohne nachzudenken, streift er das Gummiband vom Handgelenk und feuert es in die Luft, wo es zwischen den Schneeflocken verschwindet. So ein rechtschaffenes Hochgefühl hat man bestimmt, wenn man kündigt, denkt Manny, doch während er noch die Zufahrtsstraße überquert und sich durch die Kälte schleppt, hat es sich verflüchtigt, und er ist müde. Er muss sich noch um Deenas Geschenk kümmern, das hat er schon zu lange aufgeschoben. Unwillkürlich fällt ihm ein, wie er den winzigen silbernen Verschluss der Halskette öffnete, um sie Jacquie zum ersten Mal anzulegen, wie Jacquie den Kopf vorbeugte und ihr Haar mit einer Hand raffte, sodass er den wuscheligen Haaransatz und den Knubbel des obersten Halswirbels sah, die Sommer‐ sprosse daneben ein perfekter Kreis. Eine Schaufel knallt auf den Boden, und ein großer Dieselmotor heult auf, das Scharren so nah, dass er schwören könnte, der Schneepflug wird ihn überfahren, aber nein, der Schnee und die unheimliche, gedämpfte Stille haben ihm bloß einen Streich gespielt. Hinter sich sieht er nur freie Parkplätze und ein paar Wagen, die bis zu den Radkappen im Schnee stecken. Der Schneepflug befindet sich auf der anderen Straßenseite, piept, macht
dann wieder einen Satz nach vorn, und die Scheinwerfer gleiten über das Lobster, als würde es neu eröffnet. Der Schneeräumer ist da.
Die schönste Zeit
Das Einkaufszentrum verschluckt ihn. Er drückt den ers‐ ten Wall verchromter Schwingtüren auf, putzt die Schuhe auf der gerippten Gummimatte ab und schiebt sich durch die nächsten Türen in einen nicht allzu warmen, leeren Flur. Wie das Lobster ist auch das Willow Brook‐Ein‐ kaufszentrum schon alt, das Licht der Deckenleuchten ist so düster wie das in der Lobster‐Küche und wird vom Fußboden nur schwach reflektiert. Irgendwo spielt eine Blaskapelle ein trauriges «Good King Wenceslas», an‐ sonsten sind das einzige Lebenszeichen zwei dreieckige VORSICHT, FRISCH GEWISCHT‐Warnpyramiden, die aussehen wie Panzersperren – CUIDADO: PISO MOJADO, zu spät übersetzt für seine Oma, mit einem nichtssagenden, nach hinten kippenden Strichmännchen, ein Bein ausgestreckt, das andere im Knie abgeknickt, die Hand in die Luft geworfen wie Travolta, als würde das Männchen einen Breakdance vorführen oder auf die Homeplate rutschen. Manny kennt sich in der Boden‐ pflege gut aus und sieht, dass hier schludrig gearbeitet wurde, einmal nass drüber, ohne nachzuwischen, da trocknet der Schmutz in Schlangenlinien, aber aus Re‐ spekt geht er um die feuchten Stellen herum. Die ersten zwanzig Meter des Flurs bestehen nur aus Wänden. Die Läden auf beiden Seiten sind geschlossen, aber nicht wegen des Schnees – sie stehen leer: dunkle,
mit Teppichboden ausgelegte Kammern hinter Metallgit‐ tern, die eine großzügigere, vornehmere Form jener Wellblechtore darstellen, wie es sie in New York zum Schutz der Ladenfassaden gibt. Der Raum zur Rechten war ein Smokinggeschäft namens Finest Formals, der zur Linken ein Reisebüro, denkt er, und vorher vielleicht eine Shawmut Bank. Egal was, es hat sich nicht lange gehalten. Weit vorn, im Herzen des Einkaufszentrums, im Ge‐ genlicht des hellen Innenhofs vor Penney’s, gleiten schat‐ tengleich ein paar Einkaufende dahin, unter ihnen auch eine Mutter mit Kinderwagen. Also haben die Läden noch geöffnet, ein gutes Zeichen. Mit schnellen Schritten stürzt er auf die dreiseitige Informationstafel zu – er hat nur eine halbe Stunde Mittagspause –, bleibt dann abrupt stehen, um den Etagenplan des Einkaufszentrums zu be‐ trachten, farbig unterteilt wie das Spielbrett eines Kindes. Seine Mission ist einfach: Etwas kaufen, das ihr gefällt und wofür sie ihn lieben wird. Nichts Nützliches – wie eine neue Kamera, um das Baby zu knipsen (das steht auf einer anderen Liste); oder eine Bremsenreparatur an ih‐ rem Elantra (nur auf seiner eigenen Liste, quälend wie ein Loch im Zahn oder das plötzlich verschwundene Gummiband). Es muss persönlich und doch überraschend sein, etwas, das ihm wie durch Zauberei einfällt, eine Konsumversion des Gedankenlesens. Innerhalb gewisser Grenzen spielt der Preis keine Rolle. Manny denkt an hundert, hundertfünfzig, er hat grundsätzlich einen teuren Geschmack. Es muss ein schönes Geschenk sein. Was zum Anziehen also? Im Moment passt ihr nichts richtig, und er traut seinem Geschmack nicht mal dann, wenn er sich selbst etwas kauft. Parfüm? Die riechen ihm alle zu stark, und auf ihrer
Frisierkommode steht eine Flasche neben der anderen. Die Chance, etwas zu finden, das sie noch nicht hat und das ihr gefällt, ist gering. Musik? Zu highschoolmäßig, zu unpersönlich, genauso wie elektronische Geräte. Da bleibt nur noch die letzte Rettung für Idioten: Schmuck. Mansour Jewelers ist D 11, direkt neben Penney’s ge‐ zwängt, aber da hat er die Kette für Jacquie gekauft. Er muss ganz runter in die zweite Etage, am Kmart vorbei, und es bei Zales probieren. Ohrringe, Perlen oder Bril‐ lanten, so groß, wie er sie sich leisten kann – ein einfacher Plan, und doch kann er es sich nicht merken. Auf der Rolltreppe, schräg über dem Wattebausch‐Nordpol und dem unbesetzten rot‐goldenen Thron (ein schlechtes Zei‐ chen), überkommt ihn eine Leere, die alle Gedanken weg‐ wischt, ein zweckdienlicher Kurzschluss, wie wenn er an die in ihrem Badezimmer lachende Jacquie denkt, an den verzweigten Riss in ihrer Zimmerdecke oder daran, wie sie im Schlaf aussieht. Er verscheucht die Erinnerungen, und als er in die Leere eintaucht, kommt es ihm vor, als würde er kapitulieren, als hätte alles keinen Sinn. Im zweiten Stock haben alle geöffnet, aber es ist wenig los. Bei Hickory Farms kommt er an einer Schwangeren vorbei, und kurz darauf sieht er auch unten eine, die neben einem Springbrunnen voll glitzernder Pennys ei‐ nen riesigen Keks isst. Auf der anderen Seite vom Kmart sind noch zwei, und noch mehr Kinderwagen, noch mehr kleine Kinder. Das sollte ihn nicht überraschen – das sind eben die Leute, die herkommen, so wie die Großmütter mittags im Lobster essen –, aber es zwingt ihm die Frage auf, was er getan hätte, wenn Jacquie das Baby gewollt hätte.
Er hat gesagt, dass er sie heiraten will, aber sie hat nur gelacht. Er weiß – und wusste auch damals schon –, dass das unrealistisch war, und doch war er bereit, es den Rest seines Lebens durchzuziehen, das hat er aufrichtig versprochen, vielleicht weil sie ihn nie ernst nahm. Um Deenas Hand hat er nicht angehalten, und im Moment bezweifelt er, dass er’s je tun wird, das ist nicht in Ordnung. Er kann geradezu hören, was seine Oma dazu sagen würde. Es ist auch das erste Mal, dass er seiner Oma kein Weihnachtsgeschenk besorgen muss – außer den Kranz für den Besuch, den er ständig aufschiebt –, eine weitere Sache, die ihn aufwühlt. Er hat das quälende, alptraum‐ hafte Gefühl, dass er noch etwas anderes besorgen sollte, während er hier ist, weiß aber weder was noch für wen. Er fragt sich, ob der Trainer über Weihnachten allein ist, ob er vielleicht mal vorbeischauen soll, bevor er zu Deena fährt. Ja, auf jeden Fall, das kann er am Montag im Olive Garden regeln, und obwohl Manny auch keine Ahnung hat, was er dem Trainer besorgen soll, hilft es ihm, sich auf etwas konzentrieren zu müssen, worauf er nach heute Abend hinarbeiten und sich freuen kann. Wenigstens ein bisschen. Als Geschäftsführer ist er nie frei von Verpflichtungen. Es mag seine Mittagspause sein, die ruhige Halbzeit des Tages, aber auch als er in den Schaufenstern etwas sucht, das dem Trainer gefallen könnte, ist ihm klar, dass er sich mit jedem Schritt weiter von Jacquie und dem Lobster – von der wirklichen Welt, in der sein Leben wartet – entfernt, dass er das bisschen Zeit, das ihm dort noch bleibt, verschwendet. Er ist fast einen Kilometer gelaufen und fängt an zu schwitzen, doch er lässt die Jacke an, um seine Taille zu
verbergen. Als er an The Limited vorbeigeht, damit be‐ schäftigt, diese Knäuel zu entwirren, lacht plötzlich ein kleines Mädchen hinter ihm in der Tür. Sie zeigt mit dem Finger auf ihn und hält sich die Hand vor den Mund, und ihre Mutter packt ihren Arm, reißt ihn herunter und verzieht entschuldigend das Gesicht, als würde so etwas ständig passieren. Ängstlich geht er weiter, überzeugt, dass die Leute ihn anstarren. Vielleicht ist sein Haar nass vom Schnee und kräuselt sich wie bei einer schlechten Dauerwelle, und er tut so, als würde er das Schaufenster des Old Navy betrachten, klatscht die Haare mit beiden Händen nach hinten und sieht gerade noch, wie ihm zwei spindeldürre, zottelige Jugendliche hinter seinem Rücken gleichzeitig den Kopf zudrehen wie in einem Gruselfilm und, als Manny sich umdreht, einfach weitergehen, als wäre er unsichtbar. Was soll’s? Da er schon mal vor dem Schaufenster steht, sieht er nach, ob ihm jemand einen Zettel auf den Rücken geklebt hat, und stellt fest, dass seine Jacke zerrissen ist. Nein, nicht zerrissen, sondern zerfetzt, denn als er sie auszieht und hochhält, um den Schaden zu untersuchen, sieht er, dass jemand das Leder mit einem unglaublich scharfen Messer vom Kragen bis runter zum Gürtel in einem lan‐ gen, sauberen Schnitt aufgeschlitzt hat. Fredo. Hat wahrscheinlich gedacht, sie gehört Ty. «Arschloch», sagt Manny. Das lässt sich nicht mehr in Ordnung bringen, das Ding ist hinüber. Dieser bescheuerte Fredo, nicht mal das macht er richtig. Jetzt kann er seinen Scheck wirklich vergessen. Rechtlich gesehen weiß Manny nicht genau, wie das läuft, aber im Moment ist ihm das egal. Und im Moment kann
er nichts machen, also legt er sich die Jacke über den Arm und geht weiter. Er will das Ganze jetzt nur noch hinter sich bringen. Im Kmart ist nicht viel los, aber das ist immer so. Der zweite Innenhof überrascht ihn, die offene Fläche unten für einen Chor hergerichtet – eine provisorische Bühne mit Tribüne und Notenständern –, aber menschenleer, als käme er für den Auftritt zu früh. Es sieht aus, als wäre der Raum soeben evakuiert worden. Nur eine Sicherheitsbe‐ amtin sitzt auf einem der Klappstühle fürs Publikum, in der allerletzten Reihe am Gang, und isst etwas aus einem Stück Plastikfolie. Hier oben auf der zweiten Empore ist er einer von zwei Einkaufenden, die andere eine junge Weiße auf der gegenüberliegenden Seite, unterwegs in die entgegengesetzte Richtung, als würde sie vor ihm flüchten. Als er den Flügel betritt, in dem sich Zales befindet, hat er den Flur ganz für sich allein. Er befürchtet schon, dass geschlossen ist – als Strafe, weil er seinen Posten verlassen hat – und dass er an Mansour’s vorbei zurückgehen und es morgen nochmal probieren muss, aber hinter dem Tresen steht eine zierliche Blondine in schwarzem Kleid und mit Lippen‐ stift, das Haar hinter den Ohren festgesteckt, damit man ihre schlichten Brillantohrstecker sieht – genau das, was Manny sucht. Obwohl sie die einzigen Leute im Laden sind, lässt sie ihn eine Weile die Glasvitrinen betrachten, bevor sie rü‐ berkommt. «Kann ich Sie irgendwie helfen?» Wie jeder, der in New Britain aufgewachsen ist, erkennt Manny sofort einen polnischen Akzent. JADWEGA steht auf ihrem Namensschild. Sie hört sich an, als wäre
sie noch nicht lange in Amerika, aber sie ist wunder‐ schön – blaue Augen und zarte Figur – und äußerst selbstsicher. «Fier eine Freundin, ja?» Sie braucht nicht viele Worte, um Manny zu einem Paar Brillanten wie ihren eigenen für 179 Dollar zu lotsen («Die werden sie sehr glicklich machen»), und ehe er be‐ greift, dass er mit ihr flirtet, bittet er sie, ihm die Ohrste‐ cker vorzuführen. Sie erfüllt seinen Wunsch, dreht sich ins Profil und legt die manikürte Hand mit den blutroten Nägeln an den Hals wie bei QVC, erst die eine Seite und dann die andere. Bei Deena werden sie völlig anders aus‐ sehen, aber das spielt keine Rolle. Auch bei Jacquie wür‐ den sie anders aussehen. Manchmal zählt nicht der Ge‐ danke, sondern bloß das Geschenk. «Die nehm ich», sagt Manny und wartet, während sie die schicke Schatulle als Geschenk verpackt. «Danke», sagt sie lächelnd und verabschiedet ihn. Er ist immer noch leicht verwirrt von dem, was gerade pas‐ siert ist, wie jemand, der aus einem Zauberbann erwacht. Er kann sich nicht vorstellen, eine solche Macht zu besit‐ zen – wie Jacquie sie über ihn hatte, immer noch hat –, und glaubt, dass er in dieser Hinsicht immer hilflos, dumm und uncool sein wird. Aber er hat Deenas Geschenk, ein‐ gepackt und in einer Tüte, den verräterischen Kassen‐ beleg im Geldbeutel, und genau deswegen ist er herge‐ kommen, egal, wie die Sache im Einzelnen abgelaufen ist. Und es ging schnell – ihm bleiben noch zwölf Minuten. Auf dem Rückweg sieht er vor Gingerbread House einen Kerl auf Krücken, der wie ein Biker aussieht, und ihm fällt ein, dass Eddie noch ein paar Lotteriescheine ha‐ ben wollte. Oben werden nirgends welche verkauft, also
fährt er mit der Rolltreppe nach unten und schlendert den Hauptflur entlang. Er braucht bloß einen Zeitungs‐ stand, aber dort gibt’s nur ein nutzloses Waiden Books. Smoker’s World ist geschlossen. Er kann kaum glauben, dass im gesamten Einkaufszentrum niemand so etwas Simples wie Lotteriescheine verkauft, doch die Informa‐ tionstafel bestätigt es. Am kürzesten dürfte es zu einem der Tankstellenläden am Highway sein – zur Mobil neben Friday’s oder der Citgo neben Daddy’s Junky Music, die wahrscheinlich näher liegt. Wenn er denselben Weg zurückgeht, dann Kohl’s durchquert und auf der Seite beim Ruby Tuesday’ s rausgeht, muss er nicht über den ganzen Parkplatz. Also entscheidet er sich für Citgo und fühlte sich wie ein fahrender Ritter, der sich in ein Abenteuer stürzt. Er macht auf dem Absatz kehrt und geht wieder an Weather‐ vane, Radio Shack und der leeren Bühne vorbei. Da er sich nicht zwischen bummelnden Leuten hindurchdrän‐ gen muss, kommt er schnell voran. Er betritt Kohl’s und folgt dem Labyrinth der Linoleumgänge zur Rück‐ seite des Ladens, wo die Ausgänge auf den Parkplatz führen. Es ist schon fast dunkel, aber seine Uhr zeigt erst kurz vor vier an. Ein Auto fährt mit eingeschalteten Scheinwerfern und schwingenden Scheibenwischern vor‐ bei, die Reifen voller Schnee. Er bleibt auf der nassen Mat‐ te vor dem Ausgang stehen, um den Reißverschluss sei‐ ner ruinierten Jacke zuzuziehen, wünscht, er hätte einen Hut dabei, stößt dann die Tür auf und stürmt nach drau‐ ßen. Wer hier gestreut hat, hat beschissene Arbeit geleis‐ tet. Der Gehsteig ist nicht deutlich vom Parkplatz abge‐ grenzt, es geht einfach runter, die Bordsteinkante unter‐
brochen von einer sanft abfallenden Rollstuhlrampe. Der Schnee liegt gut und gern dreißig Zentimeter hoch, und Manny stapft zur Mitte der Straße, die Socken schon voll Wasser gesogen. Vielleicht war das doch keine so gute Idee. Es ist noch früh – noch kann er umkehren –, aber als er auf der Fahrspur ist, geht’s. Das Citgo‐Schild ist beleuchtet, der Schnee weht durch den Lichtschein. Er stapft los, wartet auf einen Schneepflug, der hinter ihm angerumpelt kommt, und behält das Schild im Blick wie eine Fata Morgana, aus Angst, es könnte verschwinden. Schneeflocken wehen aus der Dunkelheit, und er muss blinzeln, sie schmelzen auf seiner Haut, und dieses Gefühl hat etwas Natürliches, Angenehmes. Als er sich mit rutschenden Schuhen und eiskalten Fingern die Straße entlangschleppt, ist er so glücklich wie schon den ganzen Tag. Das einzige Auto auf dem Highway ist ein Übertra‐ gungswagen von Channel 30 mit rasselnden Schneeket‐ ten und einer Satellitenschüssel auf dem Dach. Die Straße ist zerfurcht und weiß. Die summenden Ampeln springen für niemanden um. Die Kassiererin in ihrer Citgo‐Uniform ist allein im Laden, telefoniert mit ihrem Handy und wirkt nicht überrascht, als sie ihn aus dem Sturm hereinschlurfen sieht. Hinter ihr an der Wand stehen ein Dutzend ver‐ schlossene Behälter voll glänzender Rubbellose. Er hat noch nie Lotterie gespielt – seine Oma hat immer gesagt, das wäre was für Idioten wie seinen Onkel Rudy – und muss die Frau nach einem Powerball‐Formular fragen. Sie hört nicht auf zu reden, sondern deutet bloß auf eine Anzeige, auf der in Leuchtschrift der augenblickliche Jackpot steht: 285 Millionen Dollar.
Neun Gewinnmöglichkeiten, verspricht das Formular und führt die Gewinnchancen auf. Er muss fünf Zahlen zwischen 1 und 55 ankreuzen und dann noch eine Zahl zwischen 1 und 42 – die rote Powerball‐Zahl. Wenn alle stimmen, gewinnt Eddie den großen Preis. Wenn die fünf weißen Zahlen stimmen, gewinnt er hunderttausend Dollar. Bei vier weißen und der Powerball‐Zahl gibt’s fünftausend. Die anderen sechs Möglichkeiten bringen hundert Dollar oder noch weniger und sind nicht beson‐ ders aufregend. Eddie hat gesagt, er hätte fünf Stück, also kauft ihm Manny noch fünf und verdoppelt damit seine Chancen, aber welche Zahlen soll er nehmen? Er weiß, dass die Kassiererin sie nach dem Zufallsprinzip von der Maschine aussuchen lassen kann, aber das ist, als würde man nicht mal spielen. Auf dem ersten Schein kreuzt er die 3 und die 5 an, für den 5.März, an dem er Jacquie zum ersten Mal geküsst hat, die 8 und die 11 für ihren Geburtstag, die 27 für ihr Alter und als Powerball‐Zahl die 34, für David Ortiz, den echten Big Papi, ihren Lieblingsspieler bei den Red Sox. Der nächste gehört Deena, und dann kommt jeweils einer für seine Oma, einer für Eddie, einer für den Trainer, jeder mit einem eigenen Geheimcode aus Geburten und Jubelfeiern, Adressen und Helden – Zahlen, die bereits Glück bringen, Lieblingszahlen. Die Verkäuferin legt ihr Handy hin, um seinen Zet‐ tel zu nehmen und die Zahlen einzutippen. Wie im Kino schiebt sich der erste Schein aus einem Schlitz oben in der Maschine, und Manny denkt, so werden Spielsüchtige geködert, denn einen Augenblick scheint der Traum wirklich zu sein, scheint die Möglichkeit zu bestehen, dass dieser frisch bedruckte Zettel ein völlig neues Le‐
ben für sie alle bereithalten könnte. Die Verkäuferin reicht ihm den Schein, und er glaubt, ihr ist ein Feh‐ ler unterlaufen. Er wollte fünf haben. Er will gerade et‐ was sagen, als er sieht, dass all seine Zahlen draufstehen, in der Mitte in rechteckiger Punktmatrix zusammenge‐ zwängt, wodurch der Schein ungefähr so offiziell aus‐ sieht, als wäre er aus dem Internet ausgedruckt worden. Während sich die Verkäuferin wieder ihrem Gespräch zu‐ wendet, steht er da und überprüft die Zahlen nochmal, dann steckt er den großen Zettel mit Deenas Kassenbe‐ leg in seinen Geldbeutel, als hätten beide den gleichen Wert. Der Rückweg kommt ihm länger vor, das Wetter kälter, aber vielleicht ist er bloß langsamer, und er drängt ins warme Kohl’ s, zieht die Jacke aus, und bei Penney’ s zieht er sie wieder an für das letzte bitterkalte Stück bis zum Lobster, einem in der Ferne leuchtenden Vorposten. Er ist genau pünktlich – auch jetzt, wo es keinen Sinn mehr hat, versucht er noch, mit gutem Beispiel voranzugehen. Es ist zehn nach vier, die tote Zeit vor dem Abendessen, deshalb verwirrt es ihn zu sehen, dass ein Kleinbus auf ihr Stoppschild zugleitet, blinkt und dann in Richtung Ausfahrt auf die Zufahrtsstraße biegt. In der hereinbre‐ chenden Dämmerung und dem Schnee ist er schwer zu erkennen, aber beim Abbiegen sind die weiße Stromli‐ nien‐Verkleidung über dem Führerhaus, die großen Aus‐ legerspiegel und die lange, kastenförmige Fahrgastkabine eines Kleinbusses unverkennbar. Die Fensterscheiben sind bestimmt groß und getönt, und obwohl er es aus dieser Entfernung nicht erkennen kann, weiß er, dass die Streifen an der Seite grün und blau sind, umrankt von einer sich schlängelnden Zeichentrickstraße mit gepunk‐
tetem gelben Mittelstreifen, und auf dem hinteren Sei‐ tenblech steht bestimmt – zu spät, denkt er – in flippiger I Love the 70s‐Schrift die Aufforderung zu einem RIDE ON EASY STREET.
Bitte warten Sie, bis Sie zu Ihrem Platz gebracht werden Mit dem Fuß in der Tür überfällt Kendra ihn mit den schlechten Nachrichten. Sie hat die Jacke an, als wollte sie gerade losgehen und nach ihm suchen. Eddie ist weg, und sie geht auch. Ihre Mutter hat aus Bristol angerufen und gesagt, der Strom ist ausgefallen und sie soll unbe‐ dingt nach Hause kommen. Sie schuldet ihm wohl keine Loyalität mehr (jetzt, wo sie ihren Scheck hat), außerdem kann er die Leute begrü‐ ßen, also ist es okay. Obwohl er sich irgendwie verlassen fühlt, würde auch er nicht wollen, dass Deena oder seine Oma allein im Dunkeln sitzen, sofern die Geschichte wirklich stimmt. «Und was ist mit Eddie?», fragt er und streift die Jacke ab, damit sie den Riss nicht sieht. «Die hatten wohl Angst wegen dem Schnee. Es soll noch schlimmer werden.» «Hat jemand angerufen?» «Die sind einfach vorbeigekommen und haben gesagt, er muss mitkommen.» «Ist sonst noch jemand weg?» «Nein, aber ich glaub sowieso nicht, dass ihr Abend‐ essen serviert.» «Man kann nie wissen», sagt Manny lächelnd mit einem Schulterzucken, als war’ s nicht ernst gemeint. «Ich muss los», sagt Kendra, und diesmal kann er
ihr die Hand schütteln und sich für ihre Arbeit bedan‐ ken. «Schon okay», stammelt sie und weicht zurück, als wäre er wahnsinnig. «Kommt gut nach Hause.» «Du auch.» Er bringt sie nicht zur Tür, sondern durchquert den Pausenraum, die Schatulle von Zales in der Tasche, ver‐ borgen vor Roz, die gerade ein Kreuzworträtsel löst und an einem Stück Limettenkuchen rumstochert. «Was hast du besorgt?», fragt sie, ohne aufzublicken. «Ist eine Überraschung», sagt er und drängt sich durch die Schwingtür in die Küche. Er geht zur Garderobe, um Tys Jacke zu untersuchen. Wenn sein Verdacht richtig ist, ist sie unversehrt. Dann muss er sich überlegen, ob er’s überhaupt jemandem erzählen soll. Er findet, dass es reichen dürfte, Fredos Scheck einzubehalten und ihm kein Zeugnis zu geben. Er ergreift die Schulter von Tys Jacke und zieht den Kleiderbügel raus. Am Rücken sieht er einen tauben‐ blauen Schlitz, sie ist genauso zerfetzt wie seine. Scheißkerl. Nach allem, was er für ihn getan hat. Jacquies und Roz’ Mantel und Lerons Armeejacke sind unversehrt. Nur seine und Tys Jacke sind kaputt, und ob‐ wohl die Beweise eindeutig sind, würde sich Manny gern einreden, dass es ein Irrtum war. Er findet Ty an der offenen Hintertür, wo er mit Jac‐ quie eine raucht, sein Hemd oben aufgeknöpft. Schnee treibt herein und schmilzt auf dem Fliesenfußboden. Ei‐ gentlich müssten sie draußen rauchen, aber heute nimmt er’s nicht so genau. «Wie war’ s im Einkaufszentrum?», fragt Jacquie. «Ist immer noch offen.»
«Viele Leute da?» «Ein paar. Draußen ist’s wirklich nicht so schlimm.» Er zündet sich eine Zigarette an und lehnt sich mit ih‐ nen an die Küchentheke, schnippt die Asche ins große Spülbecken, steht frierend im Wind, der zur Tür herein‐ pfeift. «Habt ihr schon was gegessen?», fragt er, doch er will bloß Zeit schinden. Er will die kaputten Jacken vor Jacquie geheimhalten (nicht bloß seine, sondern beide), als müsste er sonst sein Versagen eingestehen. «Kendra ist also weg», sagt er. «Wo sind Rich und Le‐ ron?» «Die sehen sich UConn an», sagt Ty und deutet mit dem Kopf zur Bar. «Frauen oder Männer?» «Was spielt das für eine Rolle?», sagt Jacquie, denn es ist ihr egal. «Männer, gegen Syracuse.» Sie reden weder über den nächsten Tag noch über den Olive Garden, es gilt die stillschweigende Vereinbarung, dass diese Themen für eine gemütliche Zigarettenpause zu ernst sind. Basketball ist unproblematischer, genauso wie über Kendra herzuziehen, weil sie früher abgehauen ist, oder sich an Suzanne zu erinnern, die einfach wahn‐ sinnig und bösartig war. Sie lachen mit dem Stolz von Überlebenden, der harte Kern, und Manny ist froh. Schließlich schnippt Jacquie ihren Filter zur Tür hinaus, durchquert die Küche und geht in den Pausenraum. Manny schaut ihr nach, im Licht glänzt ihr straffes dun‐ kles Haar. Es ist immer noch geheimnisvoll, wie ihr Kör‐ per unter der Uniform aussieht – jetzt vielleicht noch ge‐ heimnisvoller, aber vielleicht liegt das auch bloß an sei‐ ner Verwirrung, daran, dass sie sich mal so nahe standen.
Die Tür zum Pausenraum schwingt zurück, und Jacquie ist verschwunden. «Ich muss dir was zeigen», sagt er zu Ty. Zuerst zeigt er ihm seine eigene Jacke. Ty lässt seine vom Bügel gleiten und schüttelt den Kopf, als hätte er’s wissen müssen – «Verdammter kleiner Scheißkerl» –, dann hängt er sie wieder über den Bügel und stürmt aus dem schmalen Flur direkt auf die Hintertür zu, als wollte er Fredo nachjagen. Manny folgt ihm, von seiner schieren Geschwindigkeit mitgerissen. Draußen ist es schon dunkel, die blasse Lampe über den Müllcontainern leuchtet herab und wirft Schatten auf den Schnee. Der Typ mit dem Schneepflug hat hier hinten schlampige Arbeit geleistet und nur die vordere Reihe und um die Ecke eine einzige Ausfahrtspur ge‐ räumt. Mannys Regal und Tys Supra sind fast zugeweht. Mehrere, halb zugeschneite Fußspuren verlaufen quer über die unberührte Fläche: Außer einer führen alle zum Müllcontainer, und dieser einen Spur folgt Ty, geht ne‐ benher, als wollte er sie als Beweis erhalten. Sie endet zwischen den beiden Autos. «Das ist hoffentlich ein Scherz», sagt Ty und geht auf die Lücke zu. Manny befürchtet, dass Fredo die Wagen mit dem Schlüssel zerkratzt hat. Von hinten kann man das we‐ gen des Schattens nicht erkennen. Der Schnee pappt im‐ mer noch richtig zusammen, sodass sich der kastenför‐ mige Kofferraum des Regal und das Fließheck des Supra deutlich abzeichnen. Die Dächer und die Motorhauben sind unversehrt. Ty bleibt plötzlich vor ihm stehen, starrt irgendwas gebannt an, und Manny muss ihm über die Schulter blicken.
In beiden schneeverkrusteten Windschutzscheiben klaffen dunkle, faustgroße Löcher. Aus Mannys Scheibe ragt ein Stiel mit gedrechseltem Holzgriff, den er zu ken‐ nen glaubt. «Was ist denn das?», sagt Ty und zieht das keulenartige silberne Ende des Kartoffelstampfers heraus. «Er hat sich um die Kartoffeln gekümmert.» Ty hält den Stampfer wie einen Hammer senkrecht in die Luft. «Er ist ein toter Mann.» Das Loch ist schartig, die Scheibe ringsherum einge‐ dellt und zerknittert, als hätte Fredo mehrmals drauf‐ schlagen müssen, bis er durchkam. Manny begreift nicht, warum ihn irgendwer hassen sollte, und doch hat er das Gefühl, dass er, wenigstens teilweise, daran schuld ist. Das Armaturenbrett ist voll Schnee und spitzen blauen Scherben. Bei Ty sieht’ s genauso aus, nur ist das Loch auf der Beifahrerseite, da kann man leichter fahren. Manny verkneift sich zu sagen, dass er Glück gehabt habe. «Wir sollten die Polizei verständigen.» «Wozu?», fragt Ty. «Die unternimmt doch sowieso nichts.» «Wegen der Versicherung.» «Bringt nichts – ist doch Glas. Wir sollten Fredo einfach in den Arsch treten. Du hast doch seine Telefonnummer, nicht?» «Wir sollten das irgendwie abdecken.» «Hast du seine Nummer?» «Ich weiß nicht genau, ob sie noch stimmt.» «Gib sie mir, dann finden wir’s raus. Dieser blöde Frito. Ich weiß überhaupt nicht, warum du den eingestellt hast.» Nach allem, was passiert ist, kann Manny ihn schwer ‐ lich verteidigen. «Ich auch nicht.»
Als der erste Schock verflogen ist, schließen sie ihre Wagen auf und beseitigen die Scherben und den Schnee. Damit hat Manny Erfahrung. Als seine Großmutter noch lebte, wurde ihr Wagen dreimal gestohlen, direkt aus der Einfahrt – bloß Jugendliche, die eine Spritztour mach‐ ten –, und Manny wurde Fachmann im Fensterabdichten mit Müllsäcken und Pappe. Die Windschutzscheibe ist etwas anderes, aber er muss ja heute Abend irgendwie heimkommen. Er weiß, dass im Lagerschrank in einem Brotkorb aus Plastik eine Rolle Klebeband und ein Teppichmesser liegen, und schon geht er zur Hintertür, dankbar, mit der Lösung eines Problems beschäftigt zu sein. Dom sieht ihn in der Küche und trottet hinter ihm her in den Lagerraum. Es ist schon nach halb fünf. «Und was ist jetzt mit dem Abendessen?» «Wir öffnen.» Dom bleibt stehen und lässt ihn weitergehen. Manny spürt ihn hinter sich lauern und dreht sich um. Eingerahmt von den Regalen, steht Dom da und starrt Manny an, als wäre er wahnsinnig. «Wenn du nicht willst, brauchst du nicht zu bleiben. Ich glaube nicht, dass be‐ sonders viel los sein wird.» «Da dürftest du recht haben.» «Ist deine Entscheidung. Wenn du gehen willst, sag mir einfach Bescheid.» «Ich würde gern jetzt gehen, wenn das okay ist.» «In Ordnung», sagt Manny und geht auf ihn zu. «Danke, dass du gekommen bist. Ich weiß das zu schätzen.» «Kein Problem», sagt Dom. «Wenn nicht so ein Un‐ wetter wäre ...» «Ich versteh schon», sagt Manny und ergreift seine
Hand. «Lass dir von Roz und Jacquie dein Trinkgeld ge‐ ben.» «Hab ich schon.» «Okay», sagt Manny, «mach’s gut», und obwohl die‐ ser Abschied glatter über die Bühne zu gehen scheint als bei Kendra, überlegt Manny, als er den Wandschrank öffnet und in den nach Mottenkugeln riechenden Regalen nach dem Brotkorb sucht, warum Dom gefragt hat. Wenn Manny gesagt hätte, dass er bleiben muss, hätte er dann einfach «Leck mich» gesagt und wäre gegangen? Und warum interessiert ihn das überhaupt? Das Klebeband liegt genau da, wo es sein sollte, aber das Teppichmesser ist weg, und er muss um den Pau‐ senraum herumgehen und sich hinter Rich und Leron entlangschleichen, die sich das Spiel ansehen, um Ken‐ dras Schere vom Empfangspult zu stibitzen. Er braucht bloß einen einzigen Müllsack. Mit dem Sack in der Hand durchquert er gerade die Küche, als Roz aus dem Kühl‐ raum kommt. Er sieht sie zu spät, weicht der Gefahr aber unwillkürlich aus. «Was hast du denn vor?», fragt sie und deutet mit einer Gabel auf seine Sachen. Sie isst ein zweites Stück Kuchen – ihre Version eines Mittagessens. In der Hoffnung, ihr zu entwischen, geht er weiter. «Kaputte Fensterscheibe.» «Wo?», fragt sie verwirrt, weil es in der Küche gar keine Fenster gibt. «An meinem Wagen.» «Was denn, ist ein Baum draufgestürzt?» Inzwischen ist er am Ende der Kochzeile angelangt und biegt ab zur Hintertür. Er winkt. «Schon in Ordnung, mach dir keine Gedanken.»
Er hat den Parkplatz schon halb überquert, als er sie von der Laderampe rufen hört: «Was ist denn passiert?» «Siehst du nicht, was dieser bescheuerte Frito ange‐ richtet hat?», brüllt Ty mit ausgebreiteten Armen. Danach müssen sich alle die Sache ansehen. Wie bei einem Unfall scharen sie sich um die beiden Wagen, Roz und Jacquie in ihren Mänteln, während Rich und Leron die Besichtigung in Hemdsärmeln durchstehen, mal flu‐ chend, mal grinsend – vermutlich halb aus Mitleid und halb aus Bewunderung für Fredos Mumm. Manny hat nur zwei Hände, und es ist überall so nass, dass man nichts hinlegen kann, also nehmen Roz und Jacquie das Klebeband. Rich richtet eine Taschenlampe auf die Scheibe, und Leron reicht Ty ein viereckiges, aus einem Dewar’s‐Karton ausgeschnittenes Stück Pappe. Während Manny die Pappe über das Loch in der Windschutz‐ scheibe des Supra klebt, wird ihm klar, dass keiner auf das Lobster aufpasst, und einen Augenblick gerät er in Panik und stellt sich vor, wie ein Dieb in die Kasse greift oder, was wahrscheinlicher ist, ein älteres Paar am Emp‐ fangspult wartet. Aber als er sieht, wie alle mit anpacken, denkt er, dass es schon in Ordnung ist. Dass sie alle zu‐ sammen hier sind, ist wichtiger. Das verleiht ihm neuen Schwung für die Arbeit, als sie wieder reinmarschieren, mit den Füßen aufstampfen, ihre Sachen hinten im Flur aufhängen und eine Weile die bei‐ den aufgeschlitzten Lederjacken anstarren. Sie versam‐ meln sich in lockerem Kreis um die Kaffeetheke. Die Pause ist schon seit zwanzig Minuten vorbei, also dürften alle wissen, was kommt. «Okay», sagt er und blickt ihnen in die Gesichter. Ohne den Lärm des Radios und der Geschirrspülmaschine
kommt er sich vor wie auf einer Bühne. «Wir bereiten uns wie immer aufs Abendessen vor, aber wir gehen die Sache locker an. Roz und Jacquie, lasst uns Orange und Rosa herrichten. Wenn nötig, können wir noch Gelb da‐ zunehmen.» Sie nicken, als würde das einen Sinn ergeben. «Ty, Rich, Leron, tut so, als hätten wir die Mittagsschicht an einem normalen Wochentag. Beilagen dürften wir schon genug haben, nicht wahr?» «Jawohl, Chef», sagt Ty. «Jetzt hör doch auf, Mann», fleht Manny geradezu, denn es ist wichtig, dass Ty die Sache ernst nimmt. «Die reichen.» «Okay», sagt Manny etwas lauter, klatscht einmal in die Hände und schickt alle los – alle bis auf Ty, der dasteht, als hätte Manny irgendetwas vergessen. «Ich warte immer noch auf die Nummer.» «Kannst es ja probieren», sagt Manny schulterzuckend und holt die Nummer auf sein Handy. Ty schaut aufs Display, wählt die Nummer und zieht sich zur Lade‐ rampe zurück, dem einzigen Ort, wo sie Empfang haben. Manny sieht, dass er vor einer Stunde von Deena eine Voice‐Mail bekommen hat. Er verzieht sich in den La‐ gerraum, um sie sich anzuhören, auch damit er Ty nicht hört. «Hey», sagt Deena und macht eine Pause. «Wollte nur mal hören, was los ist. Wahrscheinlich arbeitest du. Hier schneit’ s ziemlich stark. Die Leute werden aufgefordert, nicht mit dem Auto zu fahren.» Den Kopf gesenkt, lehnt er sich an ein Regal und merkt plötzlich, dass sich links von ihm das Licht verändert und ein dunkler Schatten in der Tür steht – Jacquie, die nach Zuckertütchen sucht. Er winkt mit der freien Hand, doch sie hat sich schon abge‐
wandt. «... schwerer Unfall auf der 95, aber bis morgen dürfte alles wieder okay sein. Ruf zurück und sag Be‐ scheid, wann du hier bist. Ich will einen Baum besorgen. Und fahr vorsichtig. Okay, bis später.» Als er rauskommt, knallt Ty gerade einen Kochtopf auf die Herdplatte. «Hattest du Glück?» «Nee. Hast du seine Adresse?» «Nein», sagt Manny. «Dann kannst du ruhig die Polizei verständigen.» Manny ruft an, streckt den Kopf zur Hintertür raus und gibt alle Informationen. Die Frau in der Zentrale klingt unbeeindruckt, als würde er ihre Zeit vergeuden. «Bei dem Wetter können wir uns im Moment nicht darum kümmern. Ist morgen jemand da?» «Ja, ich», sagt Manny und steckt das Handy in die Ta‐ sche. In einer Küche geht es um das richtige Timing, alle müssen im selben Tempo arbeiten. Am schwersten ist es, bei Null anzufangen. Wie immer versucht Manny, mit gutem Beispiel voranzugehen. Er schaltet das Radio an, stellt sich Schulter an Schulter mit Leron und spießt Knoblauchshrimps auf, obwohl er eigentlich vorn den Weg freifräsen müsste. An jedem anderen Tag würde er diese Flaute genießen, die Küche ein warmer Kokon ge‐ gen das schlechte Wetter, und er findet es schade, sich dieses Gefühl von allem anderen verderben zu lassen. Die Marinade ist glitschig, und ein Shrimp flutscht Manny aus der behandschuhten Hand und landet auf dem sauberen Edelstahl, wo er einen schmierigen Fleck hinterlässt. Manny wirft ihn in den Abfall und wischt den Tisch mit einem Lappen ab. Leron arbeitet einfach
weiter, sticht und stochert behände und stapelt seine fertigen Spieße in ihrem gemeinsamen Speisenwärmer. Manny kommt wieder in den Rhythmus, versucht, mit Leron mitzuhalten, strengt sich an und schafft es auch eine Weile, fällt aber schließlich zurück. Leron lässt sich nicht anmerken, ob er es mitbekommen hat, aber es kann ihm nicht entgangen sein. Manny betrachtet sein blaues Auge, die obere Wange gequetscht und geschwollen, und fragt sich schon zum zehnten Mal an diesem Tag, was Le‐ ron hier macht. Er überlegt, ob er ihm Warrens Platz im Olive Garden überlassen soll, aber er würde es dort auf keinen Fall schaffen, weil er entweder zu spät oder be‐ kifft zur Arbeit käme oder sogar beides (und Manny ist durchaus kein Heuchler: Es gibt einen richtigen und ei‐ nen falschen Zeitpunkt fürs Kiffen). Eigentlich sieht er auch jetzt bekifft aus: rotgeränderte Augen, im Augen‐ winkel eine gewundene Kapillare. Hat sich wahrschein‐ lich zugekifft, als Manny im Einkaufszentrum war, wahr‐ scheinlich nicht mal allein. Trotzdem verspürt Manny den Drang, ihn – und auch Rich – zu belohnen, aber wo‐ mit? Während er dasteht und überlegt, ist er noch weiter ins Hintertreffen geraten, und es ist schon nach fünf, dem of‐ fiziellen Beginn des Abendessens. Er beobachtet Leron und schüttelt den Kopf über sein Tempo. «Zu schnell für mich», sagt er und zupft die Handschuhe von den Fingern. «Ich geh jetzt und schlag mich mit der Schneefräse rum.» «In Ordnung», sagt Leron. «Brauchst du Hilfe?», stichelt Ty vom Grill, denn er weiß, was für Kämpfe Manny mit dem Ding schon aus‐ gefochten hat.
«Wenn, dann sag ich dir Bescheid.» «Ich schick dann einen Suchtrupp los.» «Schick besser die Spurensicherung, denn wenn das Ding nicht läuft, mach ich Kleinholz draus.» Das ist nicht bloß Spaß. Er stellt seine Aufgabe übertrieben schwer dar, damit ihre ihnen leichter vorkommt, aber er kann das verdammte Ding wirklich nicht ausstehen, genauso wenig wie seine eigene Hilflosigkeit. Es ist wie alles an diesem Tag. Als er die Plane wegzieht, hofft er geradezu, dass kein Benzin mehr im Tank ist. Die Schneefräse ist schon alt, ein verblichenes Rot wie bei landwirtschaftlichen Ma‐ schinen, schmutzige Fahrradgriffe mit Handkupplung für Vorwärtsgang, Rückwärtsgang und Geschwindigkeit der Schaufeln, und dazu noch Gashebel und Choke. Die Spinnweben an den Verbindungskabeln sind voll win‐ ziger wattebauschartiger Eier. Er kann sich weder daran erinnern, wann er die Fräse zum letzten Mal benutzt hat – im März oder April, als er und Jacquie noch zusammen waren und die Tage an ihm vorbeirauschten –, noch, dass er sie wieder weggeräumt hat, doch das muss er gewesen sein. Nicht mal damals, in dieser sorglosen (und, wie er geglaubt hatte, endlosen) Verzückung, hätte er den Tank leer gelassen. Er schraubt den Metalldeckel ab und neigt den Kopf zur Seite, bis Licht in der ruhigen ingwergelben Flüssigkeit glitzert. Unmöglich zu erkennen, wie viel noch drin ist. Halb voll vielleicht. Jedenfalls genug. Er zieht die Fräse hervor. Die verstaubten Reifen sind schlaff. «Du kannst es schaffen!», sagt Ty in beherztem Rob Schneider‐Ton. «I‐I‐I‐Ich versuch’s, Trainer», antwortet Manny und
denkt, dass sie sich immerhin in seinem Beisein über ihn lustig machen. Es gibt keinen Grund, die Jacke nicht zu tragen (er kontrolliert seine Krawatte, immer noch feucht), und doch zögert er, bevor er sie überstreift, und zieht dann idiotischerweise vorn den Reißverschluss zu. Roz bie‐ tet ihm mütterlich ihre Handschuhe an – zu klein; er will sie nicht ruinieren. Jacquie beobachtet, wie er sich mit dem Hintern durch die Schwingtür schiebt, und auch wenn es unsinnig ist, fragt er sich, halb hoffend, es möge stimmen, ob sie vielleicht eifersüchtig oder gekränkt sein könnte. Er wird sich nicht für das Telefongespräch oder für Deena entschuldigen. Abgesehen von einer steifen Gratulation haben er und Jacquie nicht über das Baby ge‐ sprochen, als ginge sie das nichts an, und vielleicht geht es sie auch nichts an, nicht mehr. Der Weg draußen sieht aus wie ein Trog mit dreißig Zentimeter hohen Wänden, die einzigen Fußspuren seine eigenen – erstaunlich, viel spreizfüßiger, als er gedacht hätte, und sofort streckt er die Zehen gerade. Das Neon‐ schild über dem Eingang taucht alles in ein Heizlampen‐ rosa, auch den kaputten Aufkleber mit der Gebrauchs‐ anleitung zwischen Choke und Gashebel. Nach all den Jahren müsste er eigentlich auswendig wissen, wie man das Ding startet, aber noch bevor er die Beschreibung der sechs Schritte zu Ende gelesen hat, verweigert sich sein Gehirn der Angelegenheit. Einfacher ist es, mit der Kurbel den Auswurf einzustellen, der den Schnee wegschleudert und gebogen ist wie ein Periskop. Es ist zwecklos, die Sache rauszuzögern. Auch wenn er den Anweisungen nicht glaubt, wird niemand kommen, um ihn zu retten.
Geduldig und exakt befolgt er die einzelnen Schritte und betet, dass alles klappt. Rasten Sie den Kupplungshebel ein. Öffnen Sie den Benzinhahn. Ziehen Sie den Choke heraus. Stellen Sie den Gashebel auf «voll» (Symbol des rennenden Kanin‐ chens). Ziehen Sie die Starterschnur. Schieben Sie den Choke hinein. Beim ersten Versuch schafft er’s nicht bis «Schieben Sie den Choke hinein». Die Starterschnur ist widerspens‐ tig, weil sie acht Monate lang fest aufgerollt war. Er zerrt an dem Plastikgriff, spürt, wie sich die Muskeln in seiner Schulter von den Knochen lösen, bis sich der Rotor in der Maschine endlich dreht, ein blechernes Klirren, das erst langsamer wird und dann ohne Zündung zum Stillstand kommt. Sein dritter Versuch ist besser, und der Rotor rasselt, fängt aber nicht an zu laufen. Beim nächsten und über‐ nächsten Mal wieder nichts. «Tu mir das nicht an», sagt er und überprüft nochmal die Einstellungen: Kupplungshebel ein, Benzinhahn auf, Choke raus, Kaninchen. «Gut.» Manny umklammert den Griff, holt tief Luft und reißt mit aller Kraft an der Schnur. Der Rotor surrt, der Motor regt sich – nur ein Räuspern – und bleibt dann stehen. Manny probiert’s nochmal, aber nichts passiert. «Verdammter Mist!» Er blickt am Lichtschleier der Lampen vorbei in den Himmel, um seine Geduld wiederzufinden, entdeckt aber nur Wolken und noch mehr Schnee, der senkrecht herab‐ fällt wie Regen. «Komm schon.» Nochmal. Und nochmal. Und nochmal. Und nochmal.
Seine Geduld ist am Ende. Jetzt nimmt er einfach Auf‐ stellung, lehnt sich zurück und zerrt immer wieder an der verdammten Schnur. Es ist eiskalt, und doch fängt er an zu schwitzen, Schweißperlen rinnen ihm in die Au‐ genbrauen, und als der Motor tuckernd anspringt und blauen Rauch spuckt, der über die verschneiten Bänke davonweht, ist Manny am Kinn und im Nacken ganz nass und stößt heiße Dampfwölkchen aus. Er denkt daran, den Choke reinzuschieben, und der Motor bleibt stehen. «Verdammtes Scheißding.» Beim nächsten Mal schafft er’s. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn und wedelt mit den Jackenschößen, lässt den Motor laufen, bis er ruhig klingt, und drückt dann die Kupplung, um die Schaufeln in Gang zu setzen. Er lenkt die Maschine den Weg rauf und runter, trottet hinterher, als würde er Rasen mähen, und stellt den Aus‐ wurf auf der Rückseite mit der Kurbel so ein, dass der Schnee nicht wieder auf die geräumte Fläche geschleu‐ dert wird. Jetzt, wo alles funktioniert, ist Manny erstaunt über den Unterschied, wenn er die Maschine so einstellt, dass sie sich bis zum nackten Beton durchfrisst. Wenn es nicht stärker schneit als im Moment und er noch ein bisschen Salz streut, könnte ein Durchgang reichen. Der Parkplatz ist zwar nicht einwandfrei, aber wenn der Weg geräumt ist, kann er die anderen eher davon überzeugen, das Lobster geöffnet zu lassen. Okay, denkt er, ich muss schon ziemlich verzweifelt sein, wenn ich die Schneefräse als Verbündeten betrachte. Er nimmt sich zuerst den Flügel in Richtung Ein‐ kaufszentrum vor, aus Angst, dass ihm das Benzin aus‐ geht. Er weiß nicht mehr, wann die Maschine zum letzten
Mal gewartet wurde, aber der Motor macht einen ziem‐ lichen Lärm, und Manny fragt sich – genau wie bei dem Schwertfisch und den lebenden Hummern –, wo sie am Ende wohl landet. Nach dem Tod seiner Oma musste er das Haus leer räumen, und da er wusste, dass er in eine Wohnung ziehen würde, verkaufte er ihren klappernden alten Rasenmäher bei der Haushaltsauflösung. Er steht jetzt in der Garage einer salvadorianischen Familie und wartet auf den Frühling, zumindest hofft Manny, dass er nicht für Ersatzteile ausgeschlachtet wurde. Während er blinzelnd und schniefend der Schneefräse folgt und sich schlurfend bemüht, mit ihr Schritt zu hal‐ ten, denkt er, dass er sich vielleicht deshalb in Jacquie verliebt hat. Als er seine Großmutter und das einzige Zu‐ hause verloren hatte, das er kannte, brauchte er etwas, woran er sich festhalten konnte. Aber warum dann nicht Deena? Warum jetzt nicht Deena? Das ist die Frage, die er nicht beantworten kann, und er kann auch nicht genau sagen, was er für sie empfindet oder wie ihre gemeinsame Zukunft aussehen könnte, und während ihn Müdigkeit überfällt, denkt er, dass er sie nicht genug liebt und es wahrscheinlich nie tun wird, dass sie für diesen Fehler beide später mal büßen müssen, mehr als er und Jacquie es schon getan haben. Draußen, mit sich allein, ist es so einfach nachzuden‐ ken, und er wünscht, er hätte seinen iPod da, mit ein paar fetzigen Stücken von Cafè Tacuba (aber auch die könnten ihn heute in die falsche Richtung, den falschen Wagen, das falsche Zimmer, das falsche Bett führen). Dom ist verschwunden, mutterseelenallein steht nur noch Roz’ CRV da, bis zu den Radkappen im Schnee. Das Benzin reicht, aber beim Fräsen auf der anderen Seite
(wo vermutlich überhaupt niemand hinkommt) friert er plötzlich, ist hungrig, weil er mittags nichts gegessen hat, und empfindet einen stechenden Schmerz, der auf die Stirnhöhle drückt. Trotzdem will er gute Arbeit leisten und schummelt nicht, sondern schiebt die Maschine dicht am Bordstein entlang. Nochmal kommt er nur hier raus, wenn es unbedingt sein muss. Beim Salzstreuen merkt er, dass sein rechter Arm zit‐ tert. Seine Finger sind taub und kribbelig, verkrampft vom Kampf mit der vibrierenden Maschine. Als er drin‐ nen die Schneefräse wegräumt, rutscht ihm die Plane ständig aus der Hand, und auch nachdem er sich die Fin‐ ger gerieben und sie hin und her bewegt hat, fühlen sich seine Hände schlaff an. In der Küche ist es, abgesehen vom Radio, still. Ty, Rich und Leron stellen ihre Speisenwärmer neben die Warmhalteplatte, als wollten sie ihm zeigen, dass sie fer‐ tig sind. «Gib mir das Übliche», sagt Manny. Ty ist erstaunt, weil es schon so spät ist, aber er hat sich sofort wieder gefasst. «Was für Gemüse gibt’ s?» «Blumenkohl.» «Das gab’s doch schon heute Mittag.» «Okay – Albinobrokkoli.» «Dann lieber kein Gemüse.» Manny geht zur Bar, schenkt sich eine Diät‐Cola ein, gibt ein Stück Zitrone hinzu und muss das Glas mit bei‐ den Händen hochheben. Das UConn‐Spiel ist vorbei, und bei dem neuen Spiel ist gleich Halbzeit. Auf dem an‐ deren Bildschirm zeigt der Wetterkanal dasselbe Bild wie vor drei Stunden, und Manny streckt die Hand aus, um
auf Channel 30 umzuschalten, der sich in ihrer Straße be‐ findet, und dort sind die überregionalen Nachrichten zu sehen, mit Videoaufnahmen von Leuten, die in Einkaufs‐ zentren herumlaufen – der übliche Beitrag über Einzel‐ händler, die aufs Weihnachtsgeschäft zählen, als wäre die Wirtschaft allein auf die Feiertage angewiesen. Die an‐ deren Lokalsender bringen nichts übers Wetter, also be‐ gnügt er sich mit ESPN, stellt den Ton leise und steht an seinem Glas nippend da. Die Mannschaften sagen ihm nichts, und schon beim ersten Werbespot interessiert er sich mehr für die Schnapsflaschen, die sich in drei Reihen den Spiegel entlangziehen, und macht sich Sorgen, dass seine Inventur eventuell nicht stimmen könnte. Selbst im Großhandel kostet eine Dreiviertelliterflasche Chi‐ vas eine Stange Geld, und obwohl ihm die Fehlmenge nicht vom Lohn abgezogen wird, muss er der Zentrale zeigen, dass er es versteht hauszuhalten, wenn er wieder eine eigene Filiale haben will. Nach den schlechten Bi‐ lanzen des Lobster kann er sich nicht viel Schwund leis‐ ten. Er konzentriert sich auf das oberste Regal, wo der Scotch steht, die Farben als Blickfang gedacht wie schö‐ nes Holz. Der Chivas ist noch fast voll, aber er kann sich nicht erinnern, dass der Crown Royal schon so leer war, und er könnte schwören, dass er den Dewar’s, in dem nur noch ein paar Fingerbreit sind, gerade erst ausgetauscht hat. Ja, heute früh, weil Dom zu spät kam. Bevor er der Sache nachgehen kann, ruft Roz aus dem Pausenraum, dass sein Abendessen fertig ist. Auch als er einen Hocker ans andere Ende des Tisches zieht und weit hinten bei den Fritteusen anfängt zu es‐ sen (er muss sich Serviette und Besteck holen und legt
aus Gewohnheit ein Gedeck für sich auf), wird er seinen Verdacht nicht ganz los. Natürlich befürchtet er nicht, dass Dom sich selbst das eine oder andere Gläschen ein‐ schenkt, sondern dass er ganze Flaschen stiehlt – offen, für seinen eigenen Bedarf, oder noch verschlossen, um sie weiterzuverkaufen. Vor ein paar Jahren hatten sie im Sommer mal Probleme mit einer Vertretung, die hinter dem Müllcontainer in leeren Kartons Wein versteckte. Manny hat keinen Grund, Doms Verlässlichkeit anzu‐ zweifeln, aber es passieren seltsame Dinge, wenn man weiß, dass es der letzte Tag ist – als wären plötzlich sämt‐ liche Regeln aufgehoben. Stirnrunzelnd betrachtet er Tys Scampi, serviert wie für einen Restaurantkritiker, die kopflosen Hälse der Shrimps in die Mitte des Tellers zeigend, die Körper spi‐ ralförmig angeordnet, die Schwänze am Rand nach links gebogen, mit Petersilienröschen garniert. Es ist das be‐ liebteste Essen der ganzen Restaurantkette, schlicht und für einen richtigen Chefkoch todlangweilig zuzubereiten. Ty serviert es Manny seit fast zehn Jahren, und auch dies‐ mal schmeckt es so gut wie immer, der Knoblauch sticht aus der Butterigkeit hervor, am Schluss ein zarter Hauch Weißwein. Der Pilaw ist locker und leicht, nicht nass und schwer, wie er es schon in anderen Filialen erlebt hat. Es liegt nicht an Ty, dass sie schließen – aber das weiß Ty; er würde nie an sich zweifeln. Und es sind auch nicht ihre letzten Scampi: Im Olive Garden sind sie fester Bestand‐ teil der Speisekarte. Ty sitzt weiter vorn am Tisch auf seinem eigenen Ho‐ cker, kaut auf einem Zahnstocher herum und blättert in einer alten Ausgabe des Old Car Trader. «Häuptling», sagt Manny, um seine Aufmerksamkeit
zu erregen, wedelt mit der Hand, um anzudeuten, dass es so la la schmeckt, und Ty zeigt ihm kurz den Mittel‐ finger. Im Radio kommt um sechs ein neuer DJ, der theat‐ ralisch erzählt, wie lange er für die Fahrt ins Studio ge‐ braucht hat, und allen Leuten empfiehlt, die Straßen zu meiden, wenn sie nicht unbedingt rausmüssen, ein Rat, den Manny insgeheim ausschlägt. Ab sechs ist im Lobster immer am meisten los. Jetzt fragt sich Manny, ob ihre Zahlen nicht nur durch die Bauarbeiten auf der 9 beein‐ trächtigt wurden, sondern auch durch den ganzen Schnee im letzten Winter. Er beschließt, die Gäste nicht länger zu zählen (einundsechzig, erbärmlich für einen Samstag, da‐ für lohnt es sich eigentlich gar nicht zu öffnen). In der Ecke bei der Geschirrspülmaschine spielen Rich und Leron mit den vom Mittagessen übrig gebliebenen Brötchen eine Art Hufeisenwerfen und benutzen den Abfalleimer als Korb. Nachdem Manny aufgegessen hat, kommt Rich rüber, nimmt den Teller und lässt ihn auf der Küchentheke geschickt zu Leron gleiten, der ihn mit der Brause abspritzt und dann in den Geschirrkorb stellt, da‐ mit sie weiterspielen können. Roz und Jacquie haben es sich im Pausenraum gemüt‐ lich gemacht – Roz raucht und benutzt ihre Untertasse als Aschenbecher. Sie beklagt sich gerade, dass ihre mitt‐ lere Tochter Weihnachten ihren Freund mitbringt. Das ist die Tochter in Florida, die nach einem schweren Au‐ tounfall mit dem Trinken aufhörte und religiös wurde. Ihr Freund gehört derselben Kirche an und ist zwanzig Jahre älter. «Ich weiß nicht», sagt Roz, «er ist nett, aber die ganze Zeit. Das ist irgendwie gruselig.» «Hört sich seltsam an», sagt Manny.
«Kann man nicht wissen», erwidert Jacquie. «Vielleicht braucht sie das jetzt.» «Na, ich jedenfalls brauche es nicht», sagt Roz. «Das ist schließlich auch mein Urlaub. Den muss Jesus mir nicht vermiesen. Was ist mit euch, fahrt ihr irgendwohin?» «Vielleicht fahr ich ein paar Tage nach New York. Hängt von meinem neuen Job ab.» Manny könnte von Bridgeport erzählen, verzichtet aber darauf und stellt sich vor, wie sich Jacquie (nicht Rodney, bloß Jacquie) die Schlittschuhläufer am Rocke‐ feiler Center ansieht, unter der komischen goldenen Sta‐ tue von diesem liegenden Typen und dem großen Baum mit dem General Electric‐Gebäude dahinter, wo Satur day Night Live gedreht wird. Seine Oma war mal mit ihm dort, als er noch klein war; er kann sich noch an die Fahnen und den gläsernen Aufzug erinnern, der unter die Erde führte. Er wäre gern Schlittschuh gelaufen, doch die Schlange war zu lang, und er wusste auch gar nicht, wie’s geht. «Hey», fragt ihn Roz, «machst du für nächsten Monat den Dienstplan der Mittagsschicht?» «Darüber hat niemand mit mir gesprochen, also sag ich nein.» «Und was wollt ihr euch alles angucken?», fragt Roz Jacquie. Manny wollte eigentlich bloß durchflitzen, und jetzt steht er da, während die beiden sitzen, und hat das Gefühl, als hätte er sich in ihr Gespräch eingemischt. Das Emp‐ fangspult ist nicht besetzt, und das benutzt er als Vor‐ wand und schiebt sich durch die Schwingtür in den lee‐ ren Speiseraum, wo auf den Tischen die Kerzen flackern und Marvin Gaye zusammen mit Tammi Terrell «Ain’t
nothing like the real thing, baby» singt. Die Lichter am Aquarium blinken, und das Lametta und der Bauch des Schwertfischs werfen die Farben zurück. Der Weg drau‐ ßen ist immer noch frei, nur von einer feinen, durchsich‐ tigen Schneeschicht bedeckt, und Manny ist froh zu wis‐ sen, dass sie bereit sind, falls jemand kommt, obwohl al‐ les dagegen spricht. Es taucht niemand auf, und er hat genug Zeit, Eddie zu vermissen (er hat noch seine Powerball‐Scheine – oder vielmehr den einen Schein) und sich darüber Gedanken zu machen, ob Dom irgendwas rausgeschmuggelt hat, während Manny im Einkaufszentrum war. Er schreitet im Hauptsaal auf und ab und geht wieder ins Foyer, blickt auf den Parkplatz hinaus und legt sich zurecht, was er Jacquie sagen könnte, falls sich eine Gelegenheit mit ihr allein ergibt. Jedes Paar Scheinwerfer könnte Rod‐neys sein, der kommt, um sie für immer fortzuholen, es sei denn, Manny unternimmt etwas, aber was kann er tun oder sagen, das er nicht schon ausprobiert hat? Das Schlimmste ist: Im Grunde weiß er, dass sie recht hat, dass seine Vorstellungen kindisch und unrealistisch waren und dass er sich glücklich schätzen kann, wenigs‐ tens eine Weile mit ihr zusammengewesen zu sein. Er hat sich nie für jemanden gehalten, der alles wegwirft für ein ganz neues Leben, und genau das müssten sie beide tun. Jacquie hat das begriffen – wie’s aussieht, von Anfang an –, und sie musste ihn während ihrer Beziehung ständig daran erinnern, dass es nur eine kurze Affäre sei, ob‐ wohl sie selbst gern daran geglaubt hätte. Einmal im Le‐ ben war er der Träumer und zwang seinem Gegenüber die Verantwortung auf; das ärgerte sie natürlich, und in ihren eigentlich glücklichsten Momenten machte sie ihm
Vorwürfe, was ihn verwirrte und glauben ließ, er sei allein schuld an ihren Problemen, wo er doch bereit war, alles aufzugeben, um mit ihr zusammenzusein. Jetzt sieht er, wie verrückt das klingt – und wie grausam, weil das Baby unterwegs ist und Deena sich auf ihn verlässt –, aber da‐ mals hat er wirklich daran geglaubt und hätte es auch durchgezogen, wenn sich Jacquie nicht anders entschie‐ den hätte. Und obwohl sie recht hatte – immer noch recht hat –, wünscht er sich manchmal, es wäre anders gekom‐ men. Manchmal hängt er dem egoistischen Wunsch nach, sie wäre viel zu verknallt in ihn gewesen, um verhindern zu können, dass sie eine Dummheit begingen. Als er in den Flur biegt, sieht er einen Schal auf der Garderobe liegen – einen schwarzen, weichen Strickschal mit einem Etikett von Nordstrom s (kein schlechtes Ge‐ schenk, denkt er). Gehört wahrscheinlich jemandem von der Abschiedsparty. Hinten haben sie einen Karton für Fundsachen. Manny stolziert mit dem Schal an Roz und Jacquie vorbei und legt ihn zu den beiden Totes‐Regen‐ schirmen, der schweißfleckigen Yankee‐Kappe und der schmutzigen Plastikrassel, obwohl sie das ganze Zeug morgen wahrscheinlich wegschmeißen. Über dem Karton hängt seine Krawatte an der Garde‐ robenstange, noch feucht, aber schon so trocken, dass er in die Toilette geht und die Krawatte eine Weile unter den Händetrockner hält, sie sich dann heiß um den Hals legt und vor dem Spiegel zurechtrückt. In der riesigen Be‐ hindertentoilette wirft er sie sich über die Schulter, bevor er sich setzt, wartet dann und starrt die schwarz‐weißen Fußbodenfliesen an, zwischen denen zur Betonung hin und wieder eine rote eingefügt ist. Er verknüpft sie wie bei einem Kreuzworträtsel, und seine Oberschenkel wer‐
den schon langsam taub, als plötzlich jemand an die Toi‐ lettentür klopft, sie quietschend aufgeht und ein Schwall Celine Dion hereinweht. «Hey Chef», ruft Roz. «Ja?» «Komm vom Topf runter. Wir haben Gäste.» Er zieht ganz behutsam an dem billigen Toilettenpa‐ pier, damit es nicht reißt, und sein erster Gedanke ist ein Tagtraum, so schal, dass er ihn unwillkürlich im Schnell‐ gang durchläuft. Der Wagen, der über den Parkplatz schleicht, ist voller Gangster oder Terroristen, die das Unwetter ausnutzen, um das Restaurant zu überfallen. Sie nehmen alle anderen als Geiseln, während sich Manny auf der Herrentoilette versteckt, sich schließlich raus‐ schleicht und das Lobster wie Bruce Willis in Stirb lang sam mit Mut und Intelligenz rettet. In Wirklichkeit handelt es sich bei den Gästen um ein gebrechliches altes Paar, das bei diesem Wetter draußen gar nichts zu suchen hat. Die Frau kommt den Weg ent‐ langgewankt, ihr Mann direkt neben ihr wie ein Pfleger, beide Hände um ihren Arm geklammert, um sie zu stüt‐ zen, und trotzdem torkelt und schwankt sie, als würde sie jeden Moment stürzen. Manny tritt in die Kälte hinaus, hält ihnen die Tür auf und muss sich beherrschen, um nicht noch mehr zu tun. Er denkt, dass sie sich nur in den Wind lehnen, aber als sie an ihm vorbeigehen, sieht er, dass beide gebeugt sind, die Frau schiefschultrig, der Mann bucklig, die Schultern hochgezogen bis zu den Ohren. Drinnen hilft der Mann der Frau aus dem Mantel und reißt sie dabei fast nach hinten um. Manny bleibt in der Nähe, bereit sie aufzufangen – eine andere Art von Held.
«Sind Sie auf der Durchreise?», fragt er und zieht zwei Speisekarten aus dem Halter am Empfangspult, als wäre es ganz normal, dass das Restaurant völlig leer ist. «So kann man’ s wohl nennen», sagt der Mann laut, als wäre er noch draußen im Sturm. «Eigentlich sollten wir längst zu Hause sein.» «Sieht übel aus draußen», pflichtet Manny ihm bei, führt die beiden in den Speiseraum und setzt sie in eine Fensternische mit Blick auf ihren Wagen, einen neuen Lincoln. Als er sich vorbeugt, um ihnen die Speisekar‐ ten zu reichen, gibt es eine ohrenbetäubende Rückkopp‐ lung, wie das Jaulen eines fernen, spätnächtlichen Radi‐ osenders, und Manny stellt fest, dass sie vom Hörgerät des Mannes ausgeht. Im Lampenlicht sehen die Hände des Mannes geschwollen aus, ein schwarzgoldener Frei‐ maurerring schneidet ihm in den Finger. Die Frau steckt das ganze Gesicht in die Speisekarte, ein Auge dicht vor der Schrift. An den Handgelenken hat sie lila Druckstellen und eine fleckige, papierdünne Haut, genau wie seine Oma in ihrem letzten Jahr, und unwillkürlich fragt sich Manny, was der Mann wohl tun wird, wenn sie tot ist. «Was für eine Suppe gibt es?», fragt der Mann. Manny ändert seine Lautstärke. «Neuenglische Fisch‐ suppe und Bayou‐Gumbo mit Meeresfrüchten.» «Ich meine die Tagessuppe.» «Haben wir heute leider nicht.» «Hm», sagt der Mann, als wäre er reingelegt worden. «Was?», fragt die Frau. «Es gibt keine Tagessuppe.» «Das ist aber schade.» Manny versichert ihnen, dass gleich eine Serviererin kommt und ihnen heiße Cheddar Bay‐Brötchen bringt.
Genau genommen ist es Roz’ Bereich, aber die beiden haben eine Münze geworfen, und Jacquie hat verloren. «Ich dachte, in Erinnerung an alte Zeiten will sie noch‐ mal ran. Und außerdem kann sie das Geld besser gebrau‐ chen als ich.» «Ja, schönen Dank», sagt Jacquie. «Der sieht auch ge‐ rade nach einem großen Trinkgeld aus.» Es mag für Jacquie kein großer Tisch sein, doch Manny muss das Verlangen unterdrücken, in ihrer Nähe zu blei‐ ben, und zieht sich in die Küche zurück, wo sich Ty im‐ mer noch über den Old Car Trader beugt und Corvettes bewundert. «Guck dir das mal an», sagt Ty und deutet auf ein Stingray‐Kabrio aus den sechziger Jahren, das fast dop‐ pelt so viel kostet wie das, was die Bank für das Haus sei‐ ner Großmutter raustun wollte. «Wir haben zwei alte Leutchen da.» «Hab schon gehört.» Jacquie kommt durch die Schwingtür. «Zwei gegrillte Flundern, einmal Ofenkartoffel, einmal Reis.» «Das ging aber schnell», sagt Manny. «Sie haben Hunger. Um die Zeit gehen sie sonst schon bald schlafen.» «Keine Flunder», sagt Ty und blättert um. «Schellfisch?» Jacquie bleibt an der Kaffeekanne ste‐ hen. «Tilapia.» «Du willst, dass ich ihnen Tilapia verkaufe.» «Kannst bloß verkaufen, was da ist.» «Brauchst du Drinks?», fragt Manny. «Hab ich.» Und schon ist sie wieder weg. Manny würde ihr gern folgen und sich entschuldigen,
zu den alten Leuten an den Tisch gehen und ihnen sagen, dass sie nicht immer so schlecht bestückt sind, als legte er Wert darauf, dass sie wiederkommen. Er muss sich da‐ mit begnügen, ihnen ihre Salate zu bringen, sucht die bei‐ den besten aus und sortiert eine weiße Salatrippe aus. Für alle Fälle wärmt er ein paar Extrabrötchen in der Mikrowelle auf. Als Jacquie zurückkommt, warten alle auf ihre Bestel‐ lung. Sie geht den ganzen Weg bis zur Warmhalteplatte. «Und?», muss Ty fragen. «Dann eben Tilapia.» «Gut gemacht.» Die Küche kommt in Gang, Rich und Leron nehmen ihre Plätze ein. Bei einer so kleinen Bestellung kommen sie allein zurecht, und statt sie zu beaufsichtigen, geht Manny nach vorn und besetzt das Empfangspult, als würde er mit dem normalen abendlichen Ansturm rech‐ nen. Draußen schneit es stetig, ununterbrochen. Die bei‐ den Alten beugen sich über ihren Salat, der Frau fallen ein paar Salatstücke von der Gabel, und sie hebt alles auf und legt es wieder auf ihren Teller. Jacquie hat ihnen gerade die neuen Brötchen gebracht, als die Lampen sich verdunkeln und blinken, und alle, auch Manny, blicken auf. Celebration von Kool & the Gang reißt mitten im Re‐ frain ab. Die Lampen und Deckenleuchten, die Lich‐ terkette am Aquarium und die beschirmte Leuchte am Empfangspult, alles flackert. Alle Lichter gehen gleich‐ zeitig aus und danach wieder an, leuchten heller auf, um dann wieder dunkler zu werden, heller, dunkler, als wür‐ den sie das richtige Gleichgewicht suchen, als wollten sie ihnen einen Streich spielen; schließlich erlöschen sie end‐
gültig, und zurück bleiben nur die in den Fenstern ge‐ spiegelten Kerzen und eine seltsame Stille. «Alles in Ordnung», verkündet Manny, und im selben Moment geht die Notbeleuchtung an – ein batteriegetrie‐ bener Kasten an der Wand gegenüber, der mehr Schatten als Licht wirft. Er geht rüber und versichert dem Paar, dass das nur vorübergehend sei, überhaupt kein Problem. Es dürfte auch keins sein: Der Grill, die Heizung, das Wasser, alles müsste noch funktionieren. Er witzelt, dass sie dank des Schnees und des Stromausfalls ein richtiges Abenteuer erleben. «Tut mir leid, aber ich kann nichts sehen», sagt die Frau, legt die Gabel hin und lehnt sich zurück, als wollte sie nichts mehr essen. «Moment», sagt Manny, als hätte er eine Idee, und holt mit Jacquie die Kerzen von den Nachbartischen, bis ihre Gesichter leuchten. «Sehr romantisch», säuselt Jacquie, doch bei dem Ge‐ danken, wie weich ihre Haut letztes Mal in diesem kräf‐ tigen Licht aussah, findet Manny ihre Bemerkung über‐ flüssig. Der Mann bricht ein Brötchen in der Mitte durch und streicht Butter drauf. Die Frau beugt sich vor und nimmt wieder ihre Gabel. In der Küche stellt Roz Kerzen auf, während Ty den Tilapia auf der Platte anrichtet. Er scheucht Leron und Rich weg; es ist einfacher, alles selbst zu garnieren. Manny sieht freudig, dass er seine Aufgabe ernst nimmt, dass er seine drei besten Zitronenscheiben wie eine Ampel in der Mitte des Filets aufreiht und ein vereinzeltes Reiskorn vom Tellerrand pflückt. Das könnte die letzte Mahlzeit
sein, die sie servieren, und wie alles andere heute soll sie perfekt sein. Er bleibt in der Küche, als Jacquie das Tablett raus‐ bringt. Es ist erst zwanzig nach sieben, aber wegen der Dunkelheit kommt es ihm später vor. An jedem anderen Abend würde Manny überlegen, was er am nächsten Tag braucht, und frisches Obst und Gemüse bestellen. Doch heute lehnt er sich zur Hintertür raus und raucht, blickt in die Dunkelheit über den Bäumen hinterm Müllcontainer, wo eigentlich ihr Neonschild am Highway leuchten müsste. Niemand kann sie jetzt sehen, also weiß auch niemand, dass sie geöffnet haben. Es gibt keinen besseren Grund zuzumachen, und Manny kann bloß hoffen, dass der Strom bald wieder da ist. Erst mal schnippt er nur sei‐ nen Filter in den Schnee und schließt dann die Tür. Bevor er an den Tisch geht, kaut er ein Pfefferminz‐ bonbon und zupft an seinen Kragenspitzen, um sich zu vergewissern, dass sie angeknöpft sind – albern, denn die beiden könnten das wahrscheinlich nicht einmal bei nor‐ malem Licht erkennen. «Keine Sorge, du siehst großartig aus», sagt Roz, ohne ihre Patience zu unterbrechen. Im Vergleich zum Pausenraum, wo nur eine einzige Kerze brennt, wirkt der Speiseraum hell – und heimelig, denn die Flammen erwecken den Eindruck von Wärme. Manny gleitet an der Nische der beiden vorbei, als wollte er woandershin, und sieht, dass sie sich über ihren Tila‐ pia hermachen, als wäre es eine Flunder. «Alles in Ordnung bei Ihnen?» «Ja», sagt der Mann. Die Frau nickt bloß kauend. Manny wünscht sich mehr – er würde gern hören, es
sei das beste Essen, das sie je hatten, einfach unvergess‐ lich, er hätte gern, dass ihm der Mann die Hand schüttelt und sagt, er habe unter schwierigen Bedingungen her‐ vorragende Arbeit geleistet –, aber mehr werden sie ihm nicht sagen. «Kann ich Ihnen sonst noch was bringen? Vielleicht et‐ was Kaffee?» «Nein danke.» «Okay», sagt Manny. «Lassen Sie es sich schmecken.» Sie essen, also sollte er zufrieden sein. An jedem ande‐ ren Tag würde ihm das reichen. Es ist unfair zu erwarten, dass alle dasselbe empfinden wie er, egal, ob es gerecht‐ fertigt ist oder nicht. Das macht dreiundsechzig Gäste. An einem normalen Samstag wäre das Restaurant jetzt rappelvoll, die über‐ zähligen Gäste würden mit Pagern warten, die Bar und das Foyer verstopfen, Bier oder Lobsteritas trinken, und Manny würde umherlaufen und versuchen, allen gleich‐ zeitig zu helfen. Weil er nichts zu tun hat, weiß er nicht, wie er die Zeit totschlagen soll, also nervt er Roz eine Weile, beobachtet, wie die beiden Alten zu Ende essen, und räumt dann für Jacquie den Tisch ab. Er ist unge‐ heuer stolz, dass beide alles aufgegessen haben. Die Geschirrspülmaschine läuft nicht, also wäscht Leron das Geschirr eigenhändig im großen Spülbecken, und Rich trocknet für ihn ab. Manny nervt sie nicht mit der Mindestspültemperatur; wo das Geschirr auch hin‐ kommt, es muss sowieso neu gespült werden. Die alten Leute wollen kein Dessert, das ist keine Überraschung. Ohne Kasse zum Ausdrucken der Rech‐ nung muss Jacquie das Ganze auf einen Zettel schreiben. Manny zählt alles zusammen, kramt einen Taschenrech‐
ner aus der Schublade am Empfangspult, um die Steuer auszurechnen, und der Mann reicht Jacquie seine Ameri‐ can Express‐Karte. Manny muss fragen, ob er Bargeld hat. «Ich hab welches», sagt der Mann, «aber das würde ich lieber behalten. Schließlich müssen wir noch bis nach Springfield kommen.» Die großzügige Lösung bestünde darin, dass sie die Kreditkartennummer des Mannes notieren, ihn die Rech‐ nung unterschreiben lassen und seine Unterschrift kopie‐ ren, wenn sie wieder Strom haben. Das wäre ganz einfach, aber der Tag war schon so verrückt, dass Manny es über‐ flüssig kompliziert findet, besonders weil die beiden die einzigen Gäste sind, und aus Ungeduld trifft er kurzer‐ hand eine Entscheidung. Vielleicht macht es sich auf der Abrechnung nicht so gut, besonders nach den geringen Tageseinnahmen und dem kostenlosen Abendessen fürs Personal, aber er findet es richtig, dass ihr letztes Essen aufs Haus gehen sollte. Erst ziert sich der Ehemann, doch dann löst das An‐ gebot die überschwängliche Dankbarkeit und den Hän‐ dedruck aus, den sich Manny schon vorher gewünscht hatte. «Wissen Sie», sagt der Mann und gibt Jacquie ein groß‐ zügiges Trinkgeld, «das ist das Beste, was uns den ganzen Tag passiert ist, und es war ein langer Tag.» «Hätte ich doch bloß ein Dessert bestellt», sagt die Frau. Manny kann die beiden im Dunkeln nicht allein den matschigen Weg entlangtappen lassen und bittet Jacquie um Hilfe. Er hält es für keine so gute Idee, dass sie noch fahren wollen, doch der Mann hat es sich in den Kopf ge‐
setzt und sagt, dass sie’s bis hierher ja auch geschafft hät‐ ten. Es seien nur noch ungefähr sechzig Kilometer. Es gehe zwar nur langsam voran, doch die Straßen seien frei. Draußen ist das Einkaufszentrum nicht mehr zu sehen, die einzigen Lichter sind die der auf dem Highway vor‐ beifahrenden Autos. Die Schneepflüge sind unterwegs, aber trotzdem ist Manny froh, dass die beiden den Lin‐ coln mit seiner wuchtigen Motorhaube haben. Er und Jacquie helfen ihnen beim Einsteigen, stehen dann im Licht der Scheinwerfer und winken zum Abschied wie Verwandte. Manny befürchtet, dass sie an der Ampel falsch abbiegen, aber nein, sie fahren nach rechts zur 9. Er sieht, dass Jacquie ihn anschaut. «Was ist los?» «Wie meinst du das?», fragt er. «Du bist schon den ganzen Tag so seltsam.» «Es war ein seltsamer Tag.» «Ich meine, mir gegenüber. Erst willst du, dass ich mit dir in den Olive Garden komme, und dann sprichst du den ganzen Tag keine fünf Worte mit mir. Bist du wütend auf mich, oder was? Ich hab nämlich nichts getan. Haben wir nicht gesagt, dass es so am besten ist? Für mich und für dich. Für alle. Stimmt’ s?» Plötzlich spürt er deutlich die Zales‐Schatulle in seiner Tasche. Er könnte sich in den Schnee knien und ihr Deenas Ohrringe schenken, ohne dass es etwas ändern würde – warum findet er es dann so verlockend? Weil er nicht weiß, was er sagen soll. So eine große Geste, auch wenn’s nicht die richtige ist, fiele ihm leichter, als sich zu erklären. «Nicht für alle», sagt er. Sie schlägt ihm mit dem Handrücken gegen die Brust,
aber nicht im Spaß. «Du hast versprochen, das sein zu lassen, also lass es, okay?» «Ich weiß bloß nicht, was ich machen soll.» «Das, was alle machen.» «Und das wäre?» «Du kümmerst dich um dein Baby und heiratest und kaufst irgendwo ein Haus.» «Ach, ich weiß nicht.» «Genau das wirst du tun, denn dann bist du glücklich, jedes Wochenende den Rasen mähen und dafür sorgen, dass alles perfekt ist. Ich kenn dich doch, Manny. Das ist das, was du willst.» «Wir hätten das tun können.» Das ist unfair von ihm. So will er sich nicht verabschieden. Jacquie schüttelt nur den Kopf, und die Hoffnung, dass sie mit ihm Zusammensein will, kommt ihm dumm vor – als hätte er die ganze Zeit nicht kapiert, was allen anderen von Anfang an klar war. «Komm schon», sagt sie und versucht ihn zu beruhigen. «Weißt du noch, wie wir mal in dem Park waren und, als wir im Bach gewatet sind, lauter so Fische gesehen haben?»
«Ja.»
«Das war das, was ich wollte. Und wir waren glücklich. Wir hatten das doch.» «Ich will es immer noch.» «Meinst du, ich nicht? Ich würde das unheimlich gern mit dir haben, Manny, aber es geht nicht. Und wir wissen beide, dass es nicht richtig ist.» Rodney, meint sie, und jetzt Deena und das Baby. Ihr Leben und seins, die Schwierigkeiten, die er bequemer‐ weise vergisst. Er hat immer gewusst, dass es falsch war,
und doch würde er ihr gern widersprechen – die Dinge ändern sich, sie können alles tun, was sie wollen –, aber er weiß, dass sie dann auf ihn wütend wird, als würde er nicht begreifen. Vielleicht ist er bloß störrisch. Sie waren sich einig, dass es so am einfachsten wäre; manchmal hatte er ein schlechtes Gewissen, weil es so praktisch ist, eine saubere Trennung. Jetzt weiß er nicht mal mehr, was das heißt. «Du gibst mir zu viel zu denken», sagt er und zuckt mit den Schultern. «Das mag ich an dir.» «Keine Ahnung, warum», sagt Jacquie. «Ich auch nicht.» Aber das sagt er nicht bloß. Es stimmt: Er weiß immer noch nicht genau, was passiert ist. Er fand sie schon schön, klug und witzig, als er sie nicht mal kannte. Sie dreht sich um, das Zeichen für ihn, sich auch um‐ zudrehen. Er würde gern ein paar Abschiedsworte sagen, hier draußen im Dunkeln, bevor sie wieder zu den ande‐ ren gehen – «Ich liebe dich» oder etwas ähnlich Nutz‐ loses –, aber sie ist schon auf dem Weg zur Tür und ent‐ flieht ihm wieder, wie immer. Drinnen haben sich alle um einen niedrigen Tisch in der Bar versammelt, als wäre der Abend schon vorbei. Rich und Leron tragen noch ihre Schürzen und haben sich, die Füße auf dem Tisch, in Sessel gefläzt. Manny und Jacquie setzen sich aus Gewohnheit auf gegenüber‐ liegende Seiten. Roz hat ihre Schuhe ausgezogen und er‐ zählt von dem Tag, an dem Fat Kathys Exfreund verhaftet wurde, weil er sich mit ihr auf dem Parkplatz prügelte. Manny hat die Geschichte schon oft von ihr gehört und lehnt sich im Kerzenlicht zurück, hört nur mit einem Ohr zu und wartet auf die Pointe: dass Fat Kathy Manny be‐
schimpft habe, weil er die Polizei verständigte, bevor sie es dem Typen richtig gegeben hatte (in fast allen Punk‐ ten falsch: Nicht Manny hat angerufen, sondern Joanne, nachdem der Typ Fat Kathy die Nase gebrochen hatte; und die Bemerkung war nur eine Witzelei von Fat Kathy, während sie sich einen Lappen vors Gesicht hielt). Das war schon vor einer Ewigkeit, noch bevor Jacquie anfing, in einem anderen Leben. Aber auch jetzt ist alles wieder ganz anders, als bestünde gar kein Zusammenhang. Manny sitzt im Dunkeln und lässt Revue passieren, wie er mit Jacquie neben dem Müllcontainer in seinem Wagen sitzt, obwohl sie sich immer zusammenrissen und nie auf dem Parkplatz knutschten. Sie gingen gern in den Park, wo sie am Bach hinterm Stadion an den Picknicktischen saßen oder sich über das Geländer der Fußgängerbrücke beugten und beobachteten, wie die Zweige davontrieben, die sie ins Wasser fallen ließen. «Manny», sagt Roz gerade. «Was denn?» «Wie hieß er noch gleich? Boyd, Burt, Bart – irgend‐ was Ländliches.» «Bret.» «Und Bret saß in seinem Pick‐up, nippte an seinem Jack und überlegte», erzählt sie weiter. Manny schließt kurz die Augen und versucht, sich an das Gesicht dieses Kerls zu erinnern. Er sieht seinen Pick‐up vor sich, einen großen, klotzigen Chevy, ein rotes Flanellhemd, viel‐ leicht einen Bart. Er sieht Fat Kathy in ihrer Uniform, komplett mit Namensschild, als wäre sie gerade zur Ar‐ beit gekommen, aber an den Freund kann er sich nicht mehr erinnern, und er glaubt, dasselbe wird er mal für Rodney sein: ein fetter, gesichtsloser Name mit einem
großen Schlüsselbund, Jacquies ehemaliger Chef. Und das ist auch gut, so muss es sein. Die Pointe erntet ein paar Lacher, und Roz dreht sich zu Leron um und fragt: «Woher hast du überhaupt das Veilchen?» Leron starrt sie schweigend mit zusammengekniffenen Augen an, als hätte sie kein Recht, danach zu fragen. Ei‐ nen Moment befürchtet Manny, er könnte in die Luft ge‐ hen oder einfach nicht antworten. Doch Leron neigt den Kopf zur Seite und legt den Finger auf die Wange. «Das hat mir eine Katze verpasst.» «Au», sagt Ty und zuckt zusammen. Als Nächstes ziehen sie über Suzanne her. Alle kennen sie, also hat jeder etwas beizutragen. Sogar Manny muss über die Geschichte lachen, wie sie am Empfangspult mal jemandem am Telefon gesagt hat, er könne sie am Arsch lecken, während direkt neben ihr Gäste standen. «Die war echt bösartig», sagt Ty. «Du hattest ja nichts mit ihr zu tun», sagt Jacquie. «Wisst ihr noch, wie sie bei Nicolette mal auf einen Schlag drei Tische besetzt hat ...?» «Während es bei Le Ly völlig leer war», sagt Roz. «Bei der weiß ich auch nicht, warum du sie eingestellt hast», sagt Ty. Und das bringt sie auf Joe, der nur Bratkartoffeln aß und den Mixer kaputt machte, indem er die Rührschau‐ fel verklemmte, auf Danny, der seinen grau grundierten Integra immer neben Tys Supra parkte, auf Marisol, die schwanger wurde und sich ins Handwaschbecken über‐ gab, und auf Kaylie, die Sängerin in einer irischen Band war, die sie sich alle mal an einem Freitag nach Feierabend stockbetrunken angesehen haben. Roz kann sich noch an
die Zeit erinnern, als sie ein eigenes Softballteam hatten und auf einem Abschnitt vom Highway 9 immer freiwil‐ lig den Müll einsammelten, und obwohl Manny damals schon hier gearbeitet hat, kommt es ihm vor, als würden sie über ein ganz anderes Restaurant reden. Es war eine andere Atmosphäre, nicht bloß wegen Jacquie. Er war die ganze Zeit lang Geschäftsführer, und doch weiß er nicht, wie es so weit hatte kommen können. Ihre Zahlen waren gar nicht so schlecht. Ramon R, der sich auf dem Kopf drehen konnte, Fran‐ kie mit seinen Gewichten an Hand‐ und Fußgelenken, Des, Santos, Michelle und J. T. Der Tag, an dem der Eis‐ würfelbereiter kaputtging und den Lagerraum über‐ schwemmte. Der Mann, der, obwohl er noch gar nicht so alt war, in der Toilette einen Herzinfarkt hatte. «Danke», sagt Manny, «den hätte ich fast vergessen.» Ein Handy klingelt – nicht seins, sondern der pol‐ ternde Missy‐Klingelton von «Get Ur Freak On»: Jac‐ quies. Sie verlässt die Bar, um ranzugehen, und er denkt, es muss Rodney sein. Manny schuldet Deena noch einen Anruf – sie müssen über morgen sprechen. Er sollte ein‐ fach zumachen und alle nach Hause schicken. Stattdessen sitzt er im Dunkeln herum, lauscht seiner eigenen Vergangenheit und wartet darauf, dass Jacquie zurück‐ kommt, aber als sie wiederkommt, setzt sie sich wortlos hin, und die Zeiten, als er sie fragen konnte, wer dran war, sind endgültig vorbei. Unbewusst zieht er sein eigenes Handy hervor, um zu sehen, ob er irgendwelche Nachrichten hat. Als er es auf‐ klappt, geht über dem Tisch das Licht an, und sie halten sich die Hände vor die Augen wie Vampire. Blinzelnd warten sie, als könnte es gleich wieder aus‐
gehen. Im Fernsehen wird wieder geredet, das Aquarium plätschert, die bunte Lichterkette blinkt. Das Einzige, was fehlt, ist die Musik. Manny steht auf und geht zum Eingang. Der Weg ist rot glasiert, sanft fallen rote Flocken herab. Das Einkaufszentrum und die Ampel sind wieder zu sehen, und als er die leere Küche durchquert und sich auf die Laderampe stellt, sieht er ihr Neonschild neben dem Highway leuchten. «Sieht aus, als könnten wir wieder loslegen», verkündet er und versucht, seine Aufregung zu verbergen. Die Gruppe löst sich auf, und alle schlurfen zu ihren Posten zurück, als wären schon neue Gäste unterwegs, und plötzlich fehlt es Manny, mit den anderen zusammen im Dunkeln zu sitzen. Er dreht die Musik wieder an, übernimmt das Empfangspult und wartet. Es ist seltsam, als Einziger vorn zu sein, aber vielleicht ist er am Ende der langen Doppelschicht auch bloß müde. Jacquie hat nicht gefragt, ob sie früher gehen kann, das ist schon mal gut. Er überprüft sein Handy: keine neuen Nachrichten. Allen Platzanweiserinnen hat er eingebläut, immer das Handy auszuschalten; jetzt missachtet er seine eigenen Richtlinien und schaut vom Eingang hinaus auf die Straße, bevor er wählt. «Hey Babe», sagt Deena bei laufendem Fernseher. Wahrscheinlich liegt sie schon im Bett. In letzter Zeit geht sie immer früher ins Bett und wirft sich die ganze Nacht hin und her, bis er wach wird. Auch deshalb hat er in sei‐ ner Wohnung übernachtet. «Du hast mich angerufen?» «Wollte bloß mal hören, was mit morgen ist.» «Von elf bis zwei muss ich hier sein.» Im Hintergrund reden mehrere Stimmen durcheinan‐
der. Sie lacht, und dann herrscht Schweigen, als würde sie ihm nicht mehr zuhören. «Was siehst du dir gerade an?» «Den Film mit Bill Murray, wo er diesen Geizkragen spielt.» «Die Geister, die ich rief», sagt Manny. «Der ist ziemlich witzig», sagt sie, als hätte sie das gar nicht erwartet. «Und um wieviel Uhr kommst du?» «Keine Ahnung. Vier, halb fünf?» Er ist zum Schwert‐ fisch rübergeschlendert, betrachtet das Glasauge und wischt dem Fisch mit dem Daumen den Staub vom Rü‐ cken. «Du brauchst doch keine zwei Stunden, um herzukom‐ men.» «Ich will mich noch umziehen.» «Das kannst du auch hier machen. Bring eine Tasche mit. Es gibt bloß Abendessen. Du kannst nicht über Nacht bleiben.» Das ist ein alter Streitpunkt, und Manny lässt es dabei bewenden. «Halb vier», sagt er, dann hat er noch eine halbe Stunde für sich. «Was ziehst du an? Du musst auf Mami einen guten Eindruck machen.» «Ich weiß nicht. Das, was ich immer anhab.» «Nein. Zieh dein blaues Hemd an.» «Das ist nicht gebügelt.» «Bring’s mit. Ich bügle es dir.» Deena will über ihre Pläne für Silvester sprechen – er dachte, es stünde schon alles fest. «Ich darf nichts trinken, also fahre ich», sagt sie. Er geht zum Aquarium und be‐ trachtet die letzten Überlebenden: Ihre Scheren sind mit einem gelben Band zusammengebunden, und von den
blinkenden Lichtern werden sie in Rummelplatzfarben getaucht. Er dachte, er hätte ganz gut gewirtschaftet, aber jetzt sieht er, dass er zu optimistisch war. Auch wenn es nicht geschneit hätte, hätte er sie nicht an einem einzigen Abend verkaufen können. «... und dann fahren wir zu mir», sagt Deena. «Hört sich das nicht gut an?» «Klar», sagt er, kehrt zum Eingang zurück, starrt hinaus auf den Parkplatz. Sie lacht wieder über Bill Murray, und Manny weiß nichts zu sagen. Er würde gern glauben, dass es an diesem Tag liegt, an seiner Müdigkeit. «Okay», sagt er, «also vier.» «Halb vier.» «Stimmt, bis morgen.» Während sie noch rumpalavern, gleitet lautlos ein Streifenwagen mit rotem Blinklicht den Highway ent‐ lang. In seinem Schlepptau fährt, als wäre er unter Ge‐ leitschutz, ein großer Bus, eine dieser Luxuskarossen, in denen die Leute zu den Kasinos fahren. Schließlich ver‐ abschiedet sich Manny von Deena, und der Streifenwa‐ gen bleibt an der Ampel am Einkaufszentrum stehen. Der Bus hält direkt dahinter und blinkt links. Manny behält alles im Auge, das aufgeklappte Handy noch in der Hand. Das Einkaufszentrum hat wegen der Feiertage lange geöffnet, aber in so einem Bus fährt man dort nicht hin, nicht zum Willow Brook‐Einkaufszentrum. Er macht das Handy aus und beobachtet, wie der Polizist abbiegt und die Zufahrtsstraße entlangkommt, direkt auf das Lobster zu. Er will schon nach den anderen brüllen, wartet aber noch, um sicherzugehen, während der Streifenwagen blinkt und, gefolgt von dem Bus, auf den Parkplatz biegt. Manny läuft los.
Und rennt Jacquie fast über den Haufen, als er in den Pausenraum stürzt. «Ein Bus kommt.» Und dann in die Küche. «Ein Bus kommt.» «Du willst mich wohl auf den Arm nehmen», sagt Ty und bleibt auf seinem Hocker sitzen. «Nein, im Ernst. Auf geht’s.» Er klatscht in die Hände wie ein Trainer. «Sofort alles an die Arbeit.» Er läuft nach vorn, darauf gefasst, dass der Streifenwa‐ gen und der Bus wieder wegfahren, aber ein Staatspolizist kommt wie ein Kundschafter durch den Schnee gestapft. Manny öffnet die Tür des Foyers, um ihn zu begrüßen. «Haben Sie offen?», fragt der Polizist. Aus Gewohnheit – oder ist es Stolz? – sagt Manny: «Bis elf» und deutet auf das Schild mit den Öffnungs‐ zeiten. «Haben Sie was dagegen, dass diese Leute Ihre Toilet‐ ten benutzen?» «Ganz und gar nicht.» «Danke.» Er geht nach draußen und gibt dem Busfah‐ rer das Zeichen, alle reinzuschicken. «Die Reisegruppe hat in einem Restaurant in Waterbury verdorbene Mu‐ scheln gegessen. Viele sind schon älter, deshalb treffen wir alle Vorsichtsmaßnahmen. Haben Sie Wasser in Fla‐ schen?» «Nur Perrier.» «Ist das mit Kohlensäure?»
«Ja.»
«Wie steht’ s mit normalem Wasser?» «Ich kann Ihnen Eiswasser in Gläsern geben.» «Das war prima. Wie groß sind Ihre Toiletten – wie viele Kabinen?» «Vier und zwei. Vier in der Damentoilette.»
«Das reicht. Der Fahrer hat versucht, mit der einen Toilette im Bus hinzukommen. Keine angenehme Situ‐ ation.» «Unsere sind sauber», sagt Manny, doch jetzt wünscht er, er hätte sich nach dem Mittagessen nochmal drum ge‐ kümmert. Die ersten Fahrgäste kommen vornüber gebeugt her‐ ein, die Arme wegen der Kälte vor dem Körper ver‐ schränkt. Manny ist überrascht zu sehen, dass es aus‐ schließlich Chinesen sind. Er schickt sie den Flur entlang, geht dann nach hinten, erklärt seinen Leuten die Lage und bittet Jacquie und Roz, zwei Tabletts mit Eiswasser fertigzumachen und sie im Foyer auf Beistelltische zu stellen. «Also will niemand was essen», fragt Ty, «ist das rich‐ tig? Sie entleeren sich bloß.» «Sie haben schon gegessen, und das ist nicht besonders gut gelaufen.» «Das ist echt enttäuschend. Sieht er sich meine Wind‐ schutzscheibe mal an?» «Dazu ist er nicht hergekommen.» «Fragen kostet ja nichts.» Natürlich fragt Manny nicht. Er steht bereit, falls neue Papierhandtücher benötigt werden, und bietet den Fahr‐ gästen, die anscheinend kein Englisch können, Wasser an. Sie lassen Plastikröhrchen herumgehen, die an Crack‐ fläschchen erinnern, und kippen sich Kügelchen auf die Hand, die aussehen wie Pfefferkörner: eine Art Kräu‐ terarznei. Die alten Frauen sind zierlich und erinnern ihn an seine Oma, gebrechlich und einer fremden Sprache ausgeliefert. Er verbeugt sich, deutet mit der geöffneten Hand auf die Gläser, aber kaum jemand nimmt eins. Erst
als ein Fahrgast Mannys Platz einnimmt und den ande‐ ren Anweisungen gibt, leeren sich die Tabletts allmählich, und die Reisenden stehen grüppchenweise herum wie auf einer bizarren Cocktailparty. Manny will Roz und Jac‐ quie gerade bitten, Nachschub zu holen, als der Fahrer – ein knochiger Mann mit schiefem Gebiss – alle auffordert, wieder einzusteigen, zumindest versteht Manny es so, weil alle ihre Gläser auf die Tabletts zurückstellen und ihm nach draußen folgen. Ein paar Leute danken Manny auf ihre Art, und er nickt lächelnd zurück. Er lässt Jacquie in der Damentoilette nachsehen, ob alle draußen sind, während er selbst die Herrentoilette inspiziert. Es ist nicht schmutziger als sonst, das Wasch‐ becken nass, ein paar matschige Fußspuren, ein einzelnes hauchdünnes Stück Toilettenpapier auf dem Fußboden einer Kabine. Der Polizist wartet am Eingang auf ihn und signalisiert dem Fahrer, dass er losfahren kann. Manny fragt nicht, warum er den Bus nicht wieder zur 9 geleitet. Ihn inter‐ essiert mehr, wie er aufs Lobster gekommen ist. Der Polizist deutet in den Himmel. «Auf dem Schild stand BUSSE WILLKOMMEN.» «Stimmt», sagt Manny, und als der Mann weg ist, schätzt er, wie viele Fahrgäste es waren, und zählt zur bisherigen Zahl sechzig hinzu – über hundertzwanzig al‐ les in allem, nicht ihr schlechtester Tag. Als er in der Küche nachsieht, stellen Leron und Rich die Wassergläser gerade in den Geschirrkorb. Die Hin‐ tertür steht offen, um die Hitze rauszulassen, und Ty ist draußen und kratzt die Windschutzscheibe frei, sein Wa‐ gen im Leerlauf, der Defroster auf höchster Stufe. Die von Manny hat er schon sauber gemacht.
Da Manny ohnehin hier draußen ist, wirft er unwill‐ kürlich einen Blick auf den Müllcontainer und stößt die Zauntore auf, um die Ratten zu verscheuchen. Die Lampe oben drüber verbreitet ein grelles, metallisches Licht, doch die Zaunlatten werfen tiefe Schatten. Die Fußabdrücke im Schnee auf der anderen Seite sind grö‐ ßer als seine eigenen, und als er um die Ecke biegt, sieht er einen unversehrten Smirnoff‐Karton, der Deckel mit ein paar Zentimetern Schnee bedeckt, auf der Erde stehen. Darin befindet sich Diebesgut: drei noch fast volle Fla‐ schen Cuervo, Tanqueray und Hennessy. Er hätte nicht ins Einkaufszentrum gehen dürfen. Er nimmt die Flaschen und lässt den Karton stehen. «Hat dir jemand ein Geschenk dagelassen?», fragt Ty. «Irgendwer.» «Ein Dummbeutel.» Ty ist nie mit Dom klargekom‐ men. «Wahrscheinlich.» Manny vergewissert sich, dass Rich am Ausgang der Geschirrspülmaschine beschäftigt ist, bevor er hinein‐ schlüpft und die Flaschen im Lagerraum verstaut. Nach‐ dem sie draußen waren, kann er sie nicht gefahrlos zu‐ rückstellen, auch wenn er glaubt, dass mit ihnen alles in Ordnung ist (sie zählen sowieso als Schwund, die Kosten werden automatisch seinem Bestandskonto belastet), aber zum Wegschütten sind sie zu schade. Vielleicht ein Dankeschön für Leron und Rich, vorausgesetzt, die haben sie nicht selbst geklaut. Das kann warten. Erst muss er die Toiletten sauber machen – nicht weil jemand kommen könnte, sondern weil er nicht ertragen kann, dass irgendwas unerledigt bleibt. Er könnte die Aufgabe einem anderen überlassen,
da würde sich keiner beklagen (zumindest nicht offen), aber Manny braucht jetzt etwas, worauf er sich konzent‐ rieren kann, und ein makellos sauberer Spiegel oder die sichtbaren Fortschritte beim Wischen haben ihm schon immer gefallen. Als er fertig ist, ist es zwanzig nach zehn. Der Abend ist fast vorbei. Nur ein Idiot würde jetzt noch erwarten, dass irgendwer kommt, und er will seine Leute nicht länger dabehalten als unbedingt nötig. Genau genommen haben sie noch bis elf geöffnet. Die Ziele, die er heute gern erreicht hätte, hat er eins nach dem anderen aufgegeben, und obwohl der Entschluss auf der Hand liegt, muss er sich sagen, dass er eigentlich nicht kapituliert. Er bittet Jacquie und Roz, mit ihm in die Küche zu kommen, damit es alle gleichzeitig erfahren. «Das war’s», verkündet er. «Machen wir zu.»
Abrechnung
Alles wird weggeworfen. Die Spieße, die Fritten, der Reis – alles, was sie vorbereitet haben. Der Krautsalat geht weg, die Ofenkartoffeln, der ganze Blumenkohl, tablettweise Brötchen. Normalerweise würden sie die Fisch‐ und die Gumbosuppe aufheben. Mit Topfhandschuhen übergibt er Leron die Töpfe, und der kippt den dampfenden Inhalt in den gurgelnden Müllschlucker. Was für eine Ver‐ schwendung, denkt Manny, und stellt sich vor, wie viele Leute eine Suppenküche in der Innenstadt damit verkös‐ tigen könnte. Das ganze Gemüse, das sie geschnitten ha‐ ben. Alle Soßen, die sie heute zubereitet haben. Er rollt den Abfalleimer zur Kühlvitrine und räumt die Regale leer. Die Sachen zum Garnieren in den kleinen Speisen‐ wärmern auf der Warmhalteplatte – die Zitronenschei‐ ben, die gehackte Petersilie, der Parmesankäse und die saure Sahne. «Schmeiß das in einen Eimer», sagt Ty und gibt Rich einen Kochtopf voll Kräuterbutter. «Was habt ihr denn mit Ty angestellt?», fragt Manny mit gespieltem Entsetzen, denn normalerweise genießt er um diese Uhrzeit das Vorrecht, auf seinem Hocker zu sit‐ zen und den anderen beim Aufräumen zuzuschauen. «Ich bin wie Troy Brown – für mich zählt nur das Team.» «Dann dürfte ich wohl Bill Belichick sein.»
«Nein, du bist Romeo Crennel», erwidert Ty und ern‐ tet Gelächter, denn Crennel ist fett. «Gegen wen spielen sie morgen?», fragt Rich. Es ist bloß blödes Geschwätz, um das Gespräch in Gang zu halten, doch Manny muss an die ganzen Playoff‐Spiele und Super Bowls denken, für die sie einen Groß‐ bildfernseher mieteten, an die Tausend‐Dollar‐Tabelle, die sie (entgegen der Firmenpolitik und für ihn selbst höchst nervenaufreibend) hinter der Bar aufhängten. Als die Patriots zum ersten Mal im Endspiel gewannen, um‐ armten sich er und Eddie so fest, dass ihm fast ein Zahn abgebrochen wäre. Ty hat die Küche unter Kontrolle, also geht Manny nach vorn und kümmert sich um die Bar. Es muss nichts aufgefüllt werden, und doch wandert sein Blick unwill‐ kürlich zu den fast leeren Flaschen, und ihm geht eine Liste durch den Kopf, die er sofort beiseite wischt. Er schließt die Kühlschränke und die Regale ab. Der Alkohol bleibt stehen, aber alle offenen Mixsachen wie der Grapefruitsaft werden sofort in den Ausguss gekippt. Er wirft die Oliven und die Cocktailzwiebeln weg, die Zi‐ tronen‐ und Limonenscheiben, die Orangen‐ und Ana‐ nasstücke, die Maraschinokirschen und die Erdbeeren. Der Teller mit dem kreisförmig verkrusteten Margarita‐ salz – weg. Er zapft je einen Krug Frozen Margeritas und Bahama Mamas, bevor er die Maschinen leert, weil viel‐ leicht jemand etwas trinken will, während sie sich die Powerball‐Ziehung anschauen. Dann schaltet er bei bei‐ den Fernsehern auf Channel 6 um. Im Speiseraum benutzen Jacquie und Roz Rollwagen zum Abräumen der Tische, stapeln Vorspeisenteller und sammeln Besteckbündel, Teelichter und die verfluchten
Getränke‐ und Dessertkarten ein, die er nie sauberhalten konnte – reißen alles ab, was heute früh aufgebaut wurde. Manny kann sich nicht vorstellen, dass das Unternehmen Salz und Pfeffer wiederverwerten will, aber das überlässt er den Erbsenzählern. Dasselbe gilt für die Lobster‐Sekt‐ quirle, ‐Untersetzer und ‐Servietten, doch die sind wahr‐ scheinlich unhygienisch. Plötzlich wird ihm schmerzlich bewusst, dass er die Fisch‐ und die Gumbosuppe hätte aufheben können (zu‐ mindest die Fischsuppe), um sie zusammen mit den Ge‐ schenkgutscheinen an die Gäste auszuteilen, die morgen kommen. «Hey», brüllt Roz von der anderen Seite des Speise‐ raums und deutet zur Decke, «kann ich die blöde Musik ausschalten? Ich schwör’ s, wenn ich mir ‹This One’s for the Girls› nochmal anhören muss, bring ich jemanden um.» «Nur zu», sagt Manny. «Ich meine, mach sie einfach aus.» Also sind jetzt nur noch die Fernseher eingeschaltet, wo die zweite Hälfte der Zehn‐Uhr‐Nachrichten läuft, während er die Küchenbretter abwischt und das kleine Spülbecken sauber macht. Die Toiletten sind sauber, und er nimmt sich mit der Kehrmaschine die schmutzigsten Stellen im Foyer und auf dem Flurteppich vor. Den Speiseraum kann er mor‐ gen früh saugen – da sieht man’s wieder: Er tut so, als sei dies ein Abend wie jeder andere. Es ist sinnlos, zu saugen oder auch nur zu fegen, denn hier wird sowieso alles aus‐ einander genommen. Wahrscheinlich ist es genauso sinn‐ los, sich wegen seiner Bestandsliste Sorgen zu machen. Er wurde ja schon herabgestuft. Die Garderobe ist leer und das Empfangspult sauber,
der Dienstplan für morgen unausgefüllt. Als Huldigung lässt er das Tagesgericht an der Tafel stehen. Er packt den nicht zusammenpassenden Weihnachtsschmuck in die Nester aus sprödem Seidenpapier, zieht den Stecker der Lichterkette raus und wickelt sie um den Ellbogen wie ein Roadie. Das Lametta wirft er weg. «Hey», sagt Jacquie, «und was sollen die Hummer jetzt machen?» «Die können sich gegenseitig angucken», sagt Manny, und ihm fährt ein Schreck in die Glieder, denn sie könnte glauben, dass er von ihnen beiden spricht. Es ist wirklich seltsam, fünf Tage vor Weihnachten den ganzen Schmuck abzunehmen. Trotz des Schnees und Deenas Geschenk in seiner Tasche hat er nicht das Gefühl, dass Weihnachten ist. Er muss an Bill Murray in Die Geister, die ich rief denken, daran, wie sich am Schluss für ihn alles zum Guten wendet, wie die gesamte Belegschaft des Fernsehsenders vor den Kameras singt und die Tussi aus Indiana Jones ihn küsst, und Manny muss sagen, dass ihm so etwas gefallen würde. Wenn eine der Powerball‐ Zahlen stimmt, denn nur so könnte das Wunder in letzter Sekunde geschehen. Aber vielleicht ist es ja schon ge‐ schehen. Vielleicht bestand es einfach darin, dass alle ge‐ kommen sind, dass alle immer noch da sind. Er blickt sich im Foyer nach weiterer Dekoration um, aber da ist nur der Schwertfisch. Was sollen sie damit bloß machen? Was würde er damit machen? Was aus den Hummern wird, ist klar. Sie gehen an ir‐ gendein anderes Lobster. Zum Wegwerfen sind sie zu teuer. Doch die Lichterkette wird nicht weitergereicht. Er weiß nicht, wann oder von wem sie mal gekauft wurde,
aber Darden Restaurants, Incorporated, gehört sie ge‐ nauso wenig wie er selbst, und statt sie wieder in den La‐ gerschrank zu stopfen, steckt er sie behutsam in eine Mit‐ nehmtüte und stellt die Tüte hinten im Flur direkt unter seiner Jacke auf den Fußboden, als wollte er die anderen warnen, ihn als Dieb zu bezeichnen. Jacquie und Roz sind im Speiseraum fertig und gehen in die Küche, um sich die Kaffeetheke vorzunehmen. Als der Speiseraum abgeschlossen ist, lässt Manny den Computer die Tagesabrechnung machen, und während sie erstellt wird, leert er die Kassenschublade und druckt an der Kasse in der Bar die Belege der Serviererinnen aus. Er gleicht das Bargeld mit ihren Rechnungen ab, und auch wenn sie einen furchtbaren Tag hatten (an dem sich ein Diebstahl nicht lohnen würde), freut er sich, dass nur knapp zwei Dollar fehlen. Er zählt das Geld dreimal, füllt einen Einzahlungsbeleg aus und steckt alles in die Ledermappe, zieht den Reißverschluss zu und verstaut sie im Safe. Hinten steht die Geschirrspülmaschine still. Rich schiebt heiße Geschirrkörbe voller Wassergläser weg, und die Rollen hinterlassen nasse Spuren. Leron packt den Abfall in Säcke, während im großen Spülbecken dampfendes Wasser in einen Wischeimer prasselt. Zum Teil liegt es bestimmt am frühen Feierabend, aber Manny hat das Gefühl, dass sie schneller arbeiten als den ganzen Tag. «Okay», sagt er, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. «Ihr müsst jetzt langsam fertig werden, denn in vierzehn Minuten» –, er hält den Schein hoch –, «gewin‐ nen wir alle beim Powerball. Der einzige Haken ist, dass wir mit Eddie teilen müssen.»
«Viel Glück», sagt Roz. «Die Ziehung ist genau um 10:59 Uhr, in der Bar. Alle Drinks gehen auf mich.» «Ich glaub’s nicht», sagt Jacquie und betrachtet den Schein, als hätte Manny sich übers Ohr hauen lassen. «Warum gibst du nicht jedem von uns einen Dollar?» «Komm schon», sagt Manny, «man kann nie wissen.» «Ich weiß, dass du fünf Dollar einfach zum Fenster rausgeworfen hast», sagt sie, und jetzt wünscht er sich wirklich, dass sie gewinnen – nicht den Hauptpreis, aber irgendwas. Lerons Eimer ist fast voll, und Manny will einen letzten Blick auf den Karton hinterm Müllcontainer werfen, also bringt er freiwillig den Abfall raus. Von all dem Essen ist der Sack besonders schwer und spannt sich, und als Manny über den Parkplatz watschelt, hat er Angst, er könnte zerreißen. Scheppernd öffnet er die Seitenklappe, drückt den Sack rein wie einen Medizinball und steht dann schwer atmend, mit verkrampften Händen in der Dunkelheit. Die Kälte tut ihm gut. Am Zaun sind seine Fußspuren die letzten – den Karton hat keiner angerührt. Er drückt ihn platt und zwängt die Pappe durch die Sei‐ tenklappe, schlägt dann das Maschendrahttor zu, sorgt dafür, dass es nicht zurückprallt, und schließt ab. Dom hat lange für ihn gearbeitet, und obwohl Manny weiß, dass er nicht der einzige Barkeeper ist, der schon mal Schnaps gestohlen hat, hätte er das Empfehlungsschreiben für ihn gern zurück. Leron hat nie um eins gebeten, doch er ist immer noch da und wischt mit Rich den Boden, während im Ra‐ dio «Hard Knock Life» von Jay‐Z läuft. Jetzt, wo die Geschirrspülmaschine und der Grill aus sind, findet
Manny die Musik zu laut, aber er sagt nichts. Er geht vorsichtig durch den Lagerraum, um nicht auf den nas‐ sen Fußboden zu treten. Auf der anderen Seite streckt er den Kopf vor, um die Kaffeetheke zu kontrollieren, holt dann die drei Flaschen, schirmt sie mit dem Kör‐ per ab, als er im hinteren Flur verschwindet, und steckt sie sofort in eine Tüte, damit niemand auf falsche Gedan‐ ken kommt. Auf der Theke neben der Stechuhr überträgt er die Zahlen von dem Powerball‐Schein auf fünf Klebezettel und schreibt auf jeden einen beliebigen Na‐ men – nur bei Jacquie achtet er darauf, dass es ihr eigener ist. Der Uhr zufolge dauert es nur noch sieben Minuten, bis sie reich sind. «Wischt einfach nass durch», sagt er zu den beiden Jungs, und sie starren ihn mit übertriebenem Erstaunen an. «Und kommt nach vorn, wenn ihr fertig seid. Ich hab eine Überraschung für euch.» Jacquie, Roz und Ty sitzen schon auf Hockern, nippen an Eisdrinks und sehen sich die Höhepunkte des UConn‐ Spiels an. Manny gleitet hinter die Theke, als wollte er sie bedienen, und sieht, dass Jacquie ihren Diamantstecker wieder trägt. «Was hast du da?», fragt Ty. Als er die Tüte abstellt, klirren die Flaschen. «Weih‐ nachtszulage.» «Für wen?» «Wer arbeitet hier am härtesten?» «Das war doch nicht nötig gewesen», sagt Roz und streckt die Hand aus. «Tut mir leid», sagt Manny und weist sie ab, «du hast deine Zulage schon in der Hand.»
In den Nachrichten bieten sie einen letzten Blick aufs Wetter. Es soll noch in der Nacht aufhören zu schneien – perfektes Timing. Es ist 22:55 Uhr, während des Wortgeplänkels der Nachrichtensprecher wird es 22:56 Uhr. Als Leron und Rich aus dem Pausenraum geschlendert kommen, ist es 22:57 Uhr. Ohne ihre Schürzen sehen sie seltsam aus, als wären sie gerade von der Straße reinge‐ kommen. Manny sagt ihnen, dass sie sich eine der drei Flaschen aussuchen können und stellt sie auf die Theke wie die Preise auf einem Rummelplatz. Leron lacht – «In Ordnung» – und schüttelt den Kopf, als wäre das Ganze ein schlechter Witz. «Ich verrat euch nicht, wo ich die herhab. Sagen wir einfach, wenn ihr Dom das nächste Mal seht, solltet ihr euch bei ihm bedanken.» Leron lässt Rich den Vortritt. Er entscheidet sich für den Tequila. Leron nimmt den Gin. «Irgendwelche Interessenten?», fragt Manny und zeigt allen den Hennessy. Schließlich greift Ty zu. «Und», sagt Manny, «wer von euch würde jetzt gern dreihundert Millionen Dollar gewinnen?» «Augenblick noch», sagt Roz. Feierlich verteilt er die Klebezettel. Die Nachrichten sind endlich vorbei, kein Abspann, nur das Fox‐Copy‐ right. Manny dreht sich zum Fernseher um und denkt, dass es nicht viel sein muss, bloß hundert Dollar oder fünfunddreißig oder fünf. Bloß ein Gewinn, damit der Abend richtig endet. Eine Frau in mittlerem Alter macht Werbung für ein örtliches Matratzengeschäft. «Zwecklos», sagt Ty.
Als Nächstes ein langer Werbespot für einen Funknetz‐ betreiber. «Das ist albern», sagt Jacquie. «Weißt du, wie da die Chancen stehen?» «Sechsunddreißig zu eins», erwidert Manny. «Nicht für den Hauptpreis, aber um irgendwas zu gewinnen.» Der Fernseher verspricht, dass ihnen die neuen Bei‐ lagen bei Boston Market schmecken werden. «Zeigt einfach die verdammte Zahl», sagt Ty, während die billige Grafik für die Ziehung über den Bildschirm spült. «Hier kommt das einzigartige Powerball», tönt der Ansager, «jetzt noch größer und noch besser als je zu‐ vor! Hallo allerseits, ich heiße Mike Pace. Es stimmt: Unser Jackpot beträgt heute Abend geschätzte dreihun‐ dertfünfundzwanzig Millionen Dollar, und bei Powerball gibt es mehrere große Gewinnmöglichkeiten, unter anderem die Chance, bei Power Play eine Milliarde Dollar zu gewinnen. Heute heißt der Multiplikator zwei, die Zwei ist heute Abend der Multiplikator ...» Die Kugeln wirbeln schon herum wie Wäschestücke in einem Trockner, sie stoßen zusammen, rollen durchein‐ ander und fallen auf eine schmale Plexiglasschaufel. Die erste Zahl ist die 13. «Scheiße», sagt Rich. «Das ist doch bloß eine», sagt Manny. «Man muss nicht alle richtig haben.» «Müssen sie in der richtigen Reihenfolge kommen?», fragt Roz. «Die werden von der kleinsten zur größten geordnet», erwidert Manny. «Dann also nicht», sagt Jacquie.
«Sehen Sie sich Ihre Scheine genau an», lautet die Auf‐ forderung des Ansagers. «Wir haben die 19 und dann die 50 ...» Die 50 hat keiner von ihnen, denkt Manny und ärgert sich, dass alles so schnell geht. Und die 23 kann er ver‐ gessen. «... und die letzte weiße Kugel ist die 41. Also los, jetzt geht’s um über dreihundert Millionen, und der Powerball ist die 13, 13 ist ...» Und schon ist das Ganze vorbei, und der Mann verab‐ schiedet sich mit dem gleichen schnellen Geplapper wie bei der Begrüßung. «Also, ich hab nichts», sagt Roz. «Ich hab die 19», ruft Rich. «Verdammt», sagt Ty und knüllt seinen Klebezettel zu‐ sammen. «Was ist mit dir?», fragt Manny Jacquie. «Hast du ir‐ gendwas richtig?» «Nein.» Leron schnippt seinen Zettel einfach die Theke ent‐ lang. «Hey», sagt Manny, «wir haben’s probiert. Hoffentlich hatte Eddie mehr Glück als wir.» «Schlechter kann’ s ja nicht gelaufen sein», erwidert Ty. «Hey», sagt Roz, «du hast wenigstens eine Flasche Schnaps gekriegt.» Manny schaltet den Fernseher aus, nicht um die Runde aufzulösen, aber genau das passiert. «Ich kümmere mich um die Drinks», sagt er, doch Roz hat sich schon ein Tablett geschnappt, und er muss noch das Schild am Highway ausschalten, denn es ist bereits nach elf.
Während die anderen ihre Stechkarten stempeln, geht er die Checkliste in umgekehrter Reihenfolge durch. Aus Sicherheitsgründen dürfen Geschäftsführer das Restau‐ rant weder durch die Hintertür noch allein verlassen. Der Küchenfußboden ist noch nicht ganz trocken, deshalb tritt er vorsichtig auf, schaltet die Geschirrspülmaschine und das Radio aus und vergewissert sich, dass die Hin‐ tertür verschlossen ist. Aus Gewohnheit schnuppert er nach Gas, als er am Grill vorbeikommt, kontrolliert kurz die Kühlvitrine und den Kühlraum und schnappt sich die Tüte mit dem Weihnachtsschmuck und seinem Leucht‐ turmglas. Sie warten im Pausenraum auf ihn – Ty sieht in sei‐ ner zerschlitzten Jacke aus wie Mannys Zwillingsbruder, Leron schiebt sich die Mütze genau über die Ohren, als würde man das gerade so tragen. Manny weiß noch, wie Jacquie in diesem Mantel mal mit ihm Schlittschuh laufen ging, wie der wuschelige Kunstpelz der Kapuze ihn am Kinn kitzelte und er seine kalte Nase in ihrem warmen Nacken vergrub. Sie schrie und zahlte es ihm auf dieselbe Weise heim. «Habt ihr alles?», fragt Manny. «Sieht so aus, als hättest du dir was unter den Nagel ge‐ rissen», sagt Roz, und er hält die Tüte auf, um ihr den In‐ halt zu zeigen. «So was bringst auch nur du fertig.» «Was ist es denn?», fragt Rich. «Plunder», sagt sie. Nacheinander verlassen sie den Raum, und Manny, der als Letzter geht, macht alle Lichter aus. Am Eingang blei‐ ben sie stehen, um sich einzumummeln, während er in der Bar und dann im Speiseraum eine Lampe nach der an‐
deren ausknipst, bis sie im Dunkeln stehen. Hinter ihnen plätschert das Aquarium, während der Wind Schnee über den Weg peitscht. Er knipst die Außenlampen aus, späht zur Sicherheit nochmal durch die Tür und scheucht dann alle nach draußen, damit er die Alarmanlage einschalten kann. An der Wand schimmert der geschwungene Bauch des Schwertfischs, und Manny muss sich ins Gedächtnis rufen, dass er nicht zum letzten Mal im Lobster ist, auch wenn es ihm so vorkommt. Er beeilt sich, weil er nicht will, dass Rich und Leron einfach abhauen. Sie fahren schon los, über den Parkplatz in Richtung Einkaufszentrum und Bushaltestelle, und Manny, dem die Schlüssel gegen die Hüfte schlagen, muss hinterherlaufen und in den Schneesturm hinausbrüllen. Misstrauisch drehen sich die beiden um, als könnte er ihnen die Flaschen wieder abnehmen. «Hey», sagt er, «ich wollte mich bloß bedanken, dass ihr heute gekommen seid», und schüttelt beiden die Hand. «Wenn einer von euch daran interessiert ist, im Olive Garden zu arbeiten, soll er diese Woche vorbeikommen, dann seh ich mal, was ich tun kann, denn Warren ist endgültig weg vom Fenster.» «In Ordnung», sagt Leron, oder: «Geht in Ordnung», Manny weiß nicht genau, was. «Das ist in Bristol, oder?», fragt Rich. «Denkt mal drüber nach», sagt Manny und lässt sie fahren. Jacquie, Roz und Ty stapfen in den Reifenspuren ums Haus. Der Schneepflug war nicht nochmal da, und Manny fragt sich, ob er anrufen soll – als würde man ihn morgen für den Parkplatz benoten. Alle helfen Roz, ihren CRV vom Schnee zu befreien.
Manny hält mit den Fingern das Ende seines Ärmels fest und wischt ihre Scheinwerfer mit dem Handgelenk ab. Mit ihrem Allradantrieb kommt sie problemlos aus der Parklücke, wartet aber auf Ty und Manny, für den Fall, dass sie abgeschleppt werden müssen. Doch das ist nicht nötig, und Jacquie geht rüber, um sich durchs Fenster von ihr zu verabschieden. Das dauert eine Weile, eine kleine Beratung, und Manny fragt sich, worüber sie wohl reden. «Bis Montag», ruft Roz. «Fahr vorsichtig», sagen Manny und Ty und winken zum Abschied. Es ist Zeit, sich zu verabschieden, auch wenn Rod‐ ney noch nicht da ist. Ty geht einfach davon aus, dass Manny bei Jacquie bleiben will, und Manny widerspricht nicht. «Okay, Chef», sagt Ty. Er nimmt Mannys Hand, zieht ihn an seine Brust und klopft ihm auf den Rücken. Das‐ selbe macht er bei Jacquie, nur behutsamer, er beugt sich zu ihr runter und steigt dann in seinen Supra. «Viel Spaß noch.» «Haben wir bestimmt», sagt Jacquie. Als er weg ist, steigt sie in den Regal und fordert Manny auf, ein Stück vor zu fahren. Er beugt sich beim Fahren gangstermäßig nach rechts, damit er an der geflickten Stelle in der Windschutzscheibe vorbeisehen kann. Er ist ihr so nah, dass er den Kokosnussduft ihrer Hautlotion riecht und sich vorstellt, wie sie sich nach dem Duschen damit einreibt. Die Scheibenwischer bleiben an dem Müllsack hängen. Er schaltet sie aus und dreht den Defroster voll auf. «Wenn du willst, bring ich dich nach Hause.»
«Mit der Scheibe? Nein danke.» «Rufst du ihn an?» «Er müsste in fünf Minuten da sein.» Nicht viel Zeit, denkt Manny, aber besser als gar nichts. Sie warten mit Blick auf das Stoppschild, der Schnee treibt durchs Scheinwerferlicht und ändert mit dem Wind seine Richtung wie ein aufgeschreckter Fischschwarm. Das Neonlogo am Einkaufszentrum geht aus, doch es glimmt noch eine Weile nach, als wäre es dem Auge ein‐ gebrannt. Manny gibt sich größte Mühe, nicht zu rauchen, doch plötzlich öffnet Jacquie neben ihm den Reiß‐ verschluss einer Innentasche und zieht eine Schachtel hervor. Reflexartig kramt er nach seinem Feuerzeug. Als er es anknipst, hat sie keine Zigarette in der Hand, son‐ dern eine grüne Samtschatulle, die sie ihm hinhält wie ein Geschenk. Also hat sie das die ganze Zeit vorgehabt. Und er dachte schon, alles würde ausnahmsweise mal nach seinen Vorstellungen laufen. Er lässt die Flamme ausgehen. «Manny, tut mir leid. Ich kann die nicht behalten.» «Sie gehört dir.» «Ich weiß, und du weißt auch, wie gut sie mir gefällt, aber wenn ich mit jemand anders zusammen bin, kann ich sie nicht anziehen. Verstehst du das?» «Was soll ich damit?» «Keine Ahnung. Ich kann sie bloß nicht mehr behalten, okay?» Sie streckt ihm die Schatulle entgegen. Wenn sie sie jetzt losließe, würde sie ihm in den Schoß fallen. «Bitte Manny. Mach’ s mir doch nicht noch schwerer.»
Ihre Worte klingen, als solle er sie retten, und das ist doppelt unfair, weil sie weiß, dass er dem nicht widerste‐ hen kann. In der Dunkelheit kann er die Schatulle nicht sehen, und er stellt sich vor, dass sie ihm eine geladene Pistole reicht. Seine Hand schließt sich um den Samt, und sie gehört wieder ihm, oder vielmehr keinem. «Danke», sagt sie, beugt sich mit raschelndem Mantel rüber und küsst ihn seitlich aufs Kinn. «Kein Problem», sagt Manny und reibt mit dem Dau‐ men über die samtige Oberfläche. «Wahrscheinlich hab ich dich mit Lippenstift voll ge‐ schmiert.» «Ist schon okay.» «Erst wollte ich dir einen Brief schreiben, aber das fand ich nicht richtig.» «Danke.» Aber eigentlich wünscht er, sie wäre still. Er blickt an ihr vorbei zur Straße und rechnet damit, Rod‐ neys Scheinwerfer zu sehen, aber es fährt bloß ein wei‐ terer Streifenwagen vorbei. «Hey, komm schon», sagt sie, «wir haben das Richtige getan. Das ist doch was wert.» «Bestimmt.» «Jetzt führ dich nicht so auf.» «Wie denn?», fragt er mit gesenktem Blick. «So.» Das folgende Schweigen ruft ihm ins Gedächtnis, warum sie sich getrennt haben. Am Schluss hatte er Angst, zur Arbeit zu kommen, wenn sie Schicht hatte. Der Waf‐ fenstillstand, den sie eingingen, war seltsam – nicht mit‐ einander reden –, aber irgendwie war’s einfacher, als Tag für Tag denselben Streit auszufechten. Er hat jetzt wieder dieselben Kopfschmerzen, wie wenn er sich auf ihre Aus‐
einandersetzungen konzentrierte, aber vielleicht trock‐ net der Defroster auch bloß seine Stirnhöhle aus. Um bessere Laune zu bekommen, denkt er daran, wie sie nach dem Beischlaf reglos und erschöpft in Jacquies niedrigem Bett lagen, als würden sie schlafen. Das war die beste Zeit, trotz des Fotos, auf dem Rodney in seinen weißen Kricketsachen von der Frisierkommode lächelte. Er stützte sich immer schweigend auf den Ellbogen, um sie zu bewundern, reckte den Hals und küsste sie auf die Lider. Vielleicht war es nur Einbildung, aber damals kam er sich stärker, klüger, schlanker vor. «Du hast mich glücklich gemacht», sagt er. «Ach», sagt sie und drückt die Hand aufs Herz. «Du mich auch. Wenn’ s mit uns anders wäre ...» Anscheinend will sie’s dabei bewenden lassen, und viel‐ leicht ist das genau die Erklärung, die er immer brauchte, und er war bloß zu störrisch, um aufzugeben. Er würde sie gern fragen, ob er sie trotzdem anrufen kann, aber er kennt die Antwort. Er wusste nie, was er ihr sagen sollte. Sie war ihm im‐ mer ein paar Schritte voraus. In mancher Hinsicht gefiel ihm die Herausforderung, mit ihr Schritt zu halten. Es war anregend, mit ihr zusammenzusein, und jetzt, ohne sie, kommt er sich träge vor. Er beobachtet einen Schneepflug, der sich den Highway entlangschiebt und mit der Schaufel einen Schneestrahl zur Seite wirft. An der Ampel fährt ein Wagen, der aus der anderen Richtung kommt, auf die Abbiegespur und wartet mit eingeschaltetem Blinker. «Da ist er», sagt Manny und fügt mit dem drohenden Unterton eines Vaters hinzu: «Er soll dich bloß gut be‐ handeln.»
«Ich bin es, die sich bessern muss. Du auch. Du willst doch, dass das Baby mal stolz auf dich ist.» «Ja», stimmt er ihr sanftmütig, ohne große Überzeu‐ gung zu. «Das willst du.» Der Caprice ist abgebogen und kommt die Zufahrts‐ straße entlang. Einen Augenblick wird er von einem rie‐ sigen Schneehaufen verdeckt und taucht dann, näher, wieder auf. «Hey», sagt Manny, «danke, dass du gekommen bist.» «Was sollte ich denn tun, nein sagen? Du kennst mich doch.» «Du hättest nicht bleiben müssen.» Als er das sagt, merkt er, dass er mit der Schatulle vor ihr rumfuchtelt, doch sie beobachtet, wie Rodney nach links auf den Parkplatz biegt. Seine Scheinwerfer beleuchten die Risse in Mannys Windschutzscheibe und färben sie für einen kurzen Moment silbern. «Kommst du klar?», fragt Jacquie. «Ja», sagt Manny. «Sicher?» «Ja.» Rodney hält direkt neben ihnen, die beiden Wagen Tür an Tür, wie bei einem Drogendeal. «Ich muss los», sagt sie, zögert jedoch und wirft ihm einen letzten Blick zu, wie als Ersatz für einen Kuss. «Geh», sagt Manny, und als sie die Tür öffnet, beugt er sich über die Handbremse und winkt Rodney, der, gut‐ mütig wie er ist, zurückwinkt. Manny beobachtet, wie Jacquie um die Haube herumgeht und einsteigt, und er hofft, dass sie sich nochmal umdreht, ist aber nicht über‐ rascht, als sie es nicht tut.
Rodney schaut rüber und gibt ihm die Möglichkeit, als Erster loszufahren. Manny lässt ihm den Vortritt, als hätte er noch etwas zu erledigen. Er muss seinen Aufbruch nicht lange hinauszögern. Die Schatulle öffnet er nicht, er steckt sie bloß in die Tüte mit seinen anderen Souvenirs, dann sitzt er noch einen Augenblick da und wartet, bis Rodney an der Ampel am Highway grün hat. Er streicht das Klebeband rings um das Loch glatt und verstellt den Defroster – da fällt ihm ein, dass er vergessen hat, den Thermostat runterzudre‐ hen. «Scheiße.» Es würde bloß fünf Sekunden dauern, ins Gebäude zu schlüpfen und den Code neu einzustellen. Und jetzt, wo niemand mehr da ist und der Regal den Eingang verdeckt, überlegt er halb im Ernst, ob er den Schwertfisch stehlen soll. Er stellt sich vor, wie er mit aus dem Fenster ra‐ genden Schnabel davonfährt. Der Fisch ist bestimmt fest‐ geschraubt, und Manny hat nicht das richtige Werkzeug dabei. Er kann nicht einfach ein großes Loch in der Wand hinterlassen. Und außerdem machen die Sicherheitsleute des Einkaufszentrums auf den Parkplätzen ständig ihre Runde. Wahrscheinlich beobachten sie gerade, wie er mit eingeschlagener Windschutzscheibe dasitzt und sich verdächtig macht. Die normalen Polizisten würden ihn bestimmt für betrunken halten. Also lieber nicht. Die Heimfahrt dürfte auch so schlimm genug werden. Er greift nach dem Sicherheitsgurt und sieht, dass er schon angeschnallt ist, schaltet auf Drive, lenkt den Re‐ gal zum Stoppschild und blinkt, als wäre jemand hinter ihm. Die Zufahrtsstraße ist okay, in der Mitte ein nas‐ ser Pfad. Er verspürt einen leichten Hunger und denkt an
das Wendy’s auf der anderen Seite des Einkaufszentrums, an das würzige Hähnchensandwich mit einer Tasse Chili statt Fritten. Er weiß, dass es bis Mitternacht geöffnet hat, aber bei dem Schnee haben sie vielleicht früher zuge‐ macht. Nicht alle sind so verrückt wie er. An der Ampel muss er sich entscheiden und fährt schließlich nach rechts, in Richtung Route 9 und nach Hause. Er ist ohnehin dick genug, und mit all der Drama‐ tik war es ein langer Tag. Es ist schon spät, und er muss ins Bett, wenn er morgen wieder zeitig da sein will.
Danksagung Mein besonderer Dank gilt allen, die ihr Insiderwissen mit mir geteilt haben: Jim Kehoe, Brynn Lafferty, Maria Lavendier, Esaul Rodriguez, Aaron Thompson Wie immer möchte ich mich bei meinen treuen «Erst‐ Lesern» bedanken: Paul Cody, Lamar Herrin, Liz Holmes, Stephen King, Lowry Pei, Alice Penz, Susan Straight, Luis Urrea Ganz herzlichen Dank an Trudy, Stephen und Caitlin, die ein Jahr lang mein Red Lobster‐Gerede ertragen mussten. Und schließlich Dank an David Gernert und Josh Kendali, weil sie an das Buch geglaubt haben.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar. Die amerikanische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Last Night at the Lobster bei Viking, New York. Copyright © Stewart O’ Nan 2007 3. Auflage 2008 © 2007 by marebuchverlag, Hamburg Alle Rechte vorbehalten, auch das der fotomechanischen Wiedergabe Umschlaggestaltung Nadja Zobel/Barbara Stauss, Zeitschrift mare, Hamburg Typographie und Einband Farnschläder&Mahlstedt Typografie, Hamburg Schrift Stempel Garamond und Linotype Syntax Druck und Bindung Clausen& Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 978‐3‐86648‐074‐2 Von mare gibt es mehr als Bücher: www.mare.de
Zentaur 22/03/2008