John Irving
Letzte Nacht in Twisted River Roman Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog Titel der 2009 erschienenen ...
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John Irving
Letzte Nacht in Twisted River Roman Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog Titel der 2009 erschienenen Originalausgabe: >Last Night in Twisted River<
TUX - ebook 2010
Für Everett - mein Pionier, mein Held I had a job in the great north woods Working as a cook for a spell But I never did like it all that much And one day the axe just fell. Bob Dylan, Tangled Up In Blue
LETZTE NACHT IN TWISTED RIVER Teil 1 COOS COUNTY, NEW HAMPSHIRE, 195 1 - Unter den Baumstämmen Der junge Kanadier - er war höchstens fünfzehn - hatte zu lange gewartet. Einen endlosen Augenblick lang standen seine Füße still auf den Stämmen, die im Becken oberhalb der Flussbiegung trieben; dann war er ausgerutscht und im Wasser verschwunden, ehe jemand seine ausgestreckte Hand packen konnte. Einer der Flößer hatte noch versucht, nach den langen Haaren des Jungen zu greifen; immer wieder patschte die Hand des Mannes
in das eiskalte Wasser, das von all den abgeriebenen Rindenstücken zähflüssig, fast suppig war. Dann krachten zwei Stämme zusammen und brachen dem verhinderten Lebensretter das Handgelenk. Die Lücke zwischen den wie ein Teppich flussabwärts treibenden Stämmen schloss sich über dem jungen Kanadier; nicht einmal eine Hand oder ein Stiefel tauchten noch kurz aus dem braunen Wasser auf. Sobald die Flößer den Stamm losgestochert hatten, der einen Holzstau verursacht hatte, mussten sie sich sputen und ständig in Bewegung bleiben. Wenn sie auch nur eine Sekunde innehielten, würden sie in die Strömung stürzen und von den flussabwärts treibenden Stämmen zu Tode gequetscht werden, noch ehe sie ertrinken konnten - doch Ertrinken kam häufiger vor. Dem Koch und seinem zwölfjährigen Sohn, die vom Flussufer aus das Fluchen des Flößers
hörten, der sich das Handgelenk gebrochen hatte, war sofort klar, dass jemand in noch größeren Schwierigkeiten steckte als der verhinderte Lebensretter, der seinen verletzten Arm befreit hatte und wieder sicher auf den treibenden Stämmen stand. Die anderen Flößer beachteten ihn nicht, sondern eilten mit Trippelschritten über die Stämme in Richtung Ufer und riefen den Namen des verschwundenen Jungen. Dabei schoben sie ständig mit ihren Flößerhaken die Stämme vor ihnen in die gewünschte Richtung. Jetzt ging es ihnen zwar in erster Linie darum, sicher ans Ufer zu gelangen, doch dem Sohn des Kochs, der die Hoffnung nicht aufgeben wollte, kam es so vor, als versuchten sie, eine möglichst breite Lücke im Wasser zu schaffen, wo der junge Kanadier wieder auftauchen könnte. Tatsächlich aber gab es kaum mehr Lücken zwischen den Stämmen. Ehe man sich's versah, war der Junge, der sich ihnen als »Angel Pope aus Toronto« vorgestellt hatte,
nicht mehr da. »Ist es Angel?«, fragte der Zwölfjährige seinen Vater. Mit seinen dunkelbraunen Augen und dem auffallend ernsten Gesichtsausdruck hätte man den Jungen glatt für Angels jüngeren Bruder halten können. Doch seine Ähnlichkeit mit dem immer wachsamen Vater ließ keinen Zweifel, zu wem er gehörte. Der Koch wirkte stets besorgt, als rechnete er ständig mit den unwahrscheinlichsten Katastrophen, und diese unterschwellige Besorgnis spiegelte sich auch in der Ernsthaftigkeit seines Sohnes wider. Ja der Junge sah seinem Vater so ähnlich, dass sich mehrere Holzarbeiter schon laut gewundert hatten, warum der Junge beim Gehen nicht genauso auffällig hinkte wie sein Dad. Der Koch wusste nur zu gut, dass tatsächlich der junge Kanadier unter die Baumstämme geraten war. Er selbst hatte die Holzfäller ja noch gewarnt, Angel sei für die Arbeit als
Flößer zu unerfahren; der Bursche hätte nicht versuchen dürfen, einen Holzstau aufzulösen. Doch wahrscheinlich wollte er sich unbedingt nützlich machen, und vielleicht hatten die Flößer ihn zunächst gar nicht bemerkt. Außerdem hatte der Koch gedacht, Angel Pope sei noch zu unerfahren und ungeschickt, um in einer Sägemühle in der Nähe des großen Sägeblatts zu arbeiten. Das war ausschließlich den Sägewerkern vorbehalten, hochqualifizierten und erfahrenen Leuten. Auch die Hobelmaschine wurde von einem Fachmann bedient, allerdings war diese Tätigkeit nicht besonders gefährlich. Zu den gefährlicheren, aber weniger anspruchsvollen Jobs gehörten die Arbeit auf dem Rundholzplatz, wo die Stämme in das Sägewerk und auf den Sägeschlitten gerollt wurden, sowie das Abladen der Stämme von den Holztransportern. Vor der Einführung mechanischer Kräne wurden zu diesem Zweck
einfach Sperren an den Seiten der Holzlaster entriegelt, so dass die gesamte Ladung auf einmal herunterrutschte. Doch gelegentlich ließen sich die Sperren nicht auf Anhieb lösen, und die Männer mussten sich unter den Laster ducken, um nicht von einer Baumstammlawine zerquetscht zu werden. Der Koch war der Ansicht, Angel hätte nicht einmal in die Nähe sich bewegender Stämme kommen dürfen. Doch die Holzarbeiter mochten den jungen Kanadier genauso gern wie der Koch und sein Sohn, und Angel hatte erklärt, Küchenarbeit finde er langweilig. Der Junge hatte körperlich anstrengendere Arbeit gewollt, und er war gern im Freien. Das ständige Pochen der Flößerstangen gegen die Stämme wurde kurz von den Rufen der Flößer unterbrochen, die gerade Angels Stange entdeckt hatten - etwa fünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo der Junge verschwunden war. Die knapp fünf Meter lange Stange trieb
abseits der Stämme im Wasser, weiter draußen, wo die Flussströmung sie hingetragen hatte. Der Koch sah den Flößer mit dem gebrochenen Handgelenk ans Ufer kommen, die Flößerstange in der unversehrten Hand. Zuerst an den vertrauten Flüchen, dann auch an den verfilzten Haaren und dem wirren Bart erkannte der Koch, dass der Verletzte Ketchum war - ein erfahrener Mann, der sich mit den Tücken einer Trift, dem Flößen nicht miteinander verbundener Baumstämme, auskannte. Es war April - nicht lange nach der Schneeschmelze und dem Beginn der Matschperiode -, doch das Eis im Fluss war erst kürzlich aufgebrochen, und die ersten Stämme waren weiter oben, in den DummerTeichen, durch das Eis gekracht. Der Fluss war eiskalt und führte Hochwasser, und viele der Holzfäller hatten dichte Barte und lange
Haare, die ihnen Mitte Mai ein wenig Schutz vor den Kriebelmücken bieten würden. Ketchum lag wie ein angeschwemmter Bär am Flussufer auf dem Rücken. Der Teppich aus Baumstämmen trieb an ihm vorbei; er sah aus wie ein Rettungsfloß und die Flößer darauf wie Schiffbrüchige auf hoher See, nur dass das Meer von einem Augenblick zum anderen die Farbe wechselte - von Grünlich-Braun zu Bläulich-Schwarz. Gerbstoffe färbten das Wasser des Twisted River. »Scheiße, Angel!«, schrie Ketchum. »Ich hab doch gesagt: >Beweg deine Füße. Du musst die Füße bewegen!< So 'ne Scheiße!« Für Angel war die riesige Fläche aus Baumstämmen kein Rettungsfloß gewesen. Zweifellos war er im Becken oberhalb der Flussbiegung ertrunken oder zu Tode gequetscht worden. Dennoch folgten die Holzfäller (auch Ketchum) dem Holz wenigstens noch bis zu der Stelle, wo sich der
Twisted River am Dead-Woman-Damm in den Pontook-Stausee ergoss. Diesen Stausee hatte der Pontook-Damm am Androscoggin River geschaffen. Ließ man die Stämme weiter in den Androscoggin treiben, kamen sie als Nächstes zu den Sortierstellen bei Milan. Danach hatte der Androscoggin auf drei Meilen ein Gefälle von siebzig Metern; bei den Sortierstellen in Berlin dann teilten zwei Sägewerke den Fluss. Durchaus denkbar, dass der junge Angel Pope aus Toronto dorthin unterwegs war. Bei Einbruch der Dunkelheit waren der Koch und sein Sohn immer noch in der Dining Lodge, dem Kochhaus der kleinen Siedlung namens Twisted River, die kaum größer und nur wenig dauerhafter war als ein Holzfällercamp. Gemeinsam räumten sie die zahlreichen unberührten Mahlzeiten ab, vielleicht konnte man ja am nächsten Tag noch
etwas davon gebrauchen. Vor nicht allzu langer Zeit war eine Dining Lodge bei einer Holztrift gar kein festes Haus gewesen. Damals gab es nur eine mobile Küche, die man fest auf das Chassis eines Trucks montiert hatte, und daneben einen Laster mit Einzelteilen, die man ablud und zu einer Kantine zusammensetzte. Damals folgten die Lastwagen noch den Holzarbeitern an ihre verschiedenen Einsatzorte entlang des Twisted River. Zu jener Zeit kamen die Flößer - außer an den Wochenenden - kaum zum Essen und Schlafen in den Ort Twisted River zurück. Der Lagerkoch kochte dann häufig in einem Zelt. Alles musste transportierbar sein, sogar die Schlafbaracken hatte man auf LkwFahrgestelle montiert. Noch wusste keiner, was aus der nicht gerade florierenden, auf halber Strecke zwischen dem Flussbecken und den Dummer-Teichen
gelegenen Ortschaft Twisted River werden würde. Hier wohnten die Angestellten des Sägewerks mit ihren Familien. Den weniger sesshaften Holzarbeitern, zu denen nicht nur die frankokanadischen Wanderarbeiter, sondern auch die meisten Flößer und die anderen Holzfäller gehörten, stellte das Holzunternehmen Schlafbaracken zur Verfügung. Der Koch und sein Sohn bekamen sogar eine besser ausgestattete Küche in einer richtigen Dining Lodge - dem Kochhaus. Aber für wie lange? Das wusste nicht einmal der Besitzer des Holzunternehmens. Die Holzwirtschaft war in einer Übergangsphase; eines Tages würde jeder in der Holzbranche von zu Hause aus zur Arbeit gehen können. Die Holzfällercamps (und selbst die etwas weniger provisorischen Siedlungen wie Twisted River) starben aus. Ja sogar die Wanigans verschwanden, jene seltsamen Schuppen, in denen man schlief, aß und Ausrüstung lagerte und die man nicht nur
auf Pick-ups, Räder oder Raupenfahrwerke montierte, sondern häufig auf kleine Floße oder Boote. Die indianische Tellerwäscherin, die für den Koch arbeitete, hatte seinem Sohn vor längerer Zeit erzählt, wanigan leite sich von einem Wort aus der Abenaki-Sprache ab, weswegen der Junge sich fragte, ob die Tellerwäscherin ebenfalls zum Stamm der Abenaki gehörte. Vielleicht war sie ja nur zufällig auf die Herkunft des Wortes gestoßen oder hatte sie einfach erfunden. (Ein indianischer Schulkamerad hatte dem Sohn des Kochs nämlich erzählt, wanigan sei ein AlgonkinWort.) Während einer Holztrift wurde vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Dunkelheit gearbeitet. Bei der Flößerei wurden die Männer viermal täglich verpflegt. Wenn früher die Wanigans nicht bis zum Flussufer durchkamen, brachte man den Flößern die
beiden Mittagsmahlzeiten zu Fuß oder zu Pferd. Die erste und die letzte Mahlzeit des Tages wurden jeweils im Basislager eingenommen - oder inzwischen eben in der Dining Lodge. An diesem Tag hatten viele der Holzarbeiter wegen Angel das Abendessen im Kochhaus ausfallen lassen. Sie hatten den ganzen Abend die treibenden Stämme begleitet, bis die Dunkelheit sie zur Umkehr gezwungen hatte. Den Männern war dabei klargeworden, dass keiner von ihnen wirklich wusste, ob der Dead-Woman-Damm offen war oder nicht. Vielleicht waren die Stämme - vermutlich mit Angel - von dem Flussbecken unterhalb der Ortschaft Twisted River schon in den PontookStausee getrieben - es sei denn, der DeadWoman-Damm war zu. Und wenn der Pontook-Damm und der Dead Woman offen waren, trieb die Leiche des jungen Kanadiers womöglich schon mit Karacho den Androscoggin hinunter. Keiner wusste besser
als Ketchum, dass man Angel dort wahrscheinlich nicht mehr finden würde. Der Koch merkte, dass die Flößer ihre Suche beendet hatten - durch die Fliegengittertür der Küche hörte er, wie sie die Flößerhaken an das Kochhaus lehnten. Einige müde Männer aus dem Suchtrupp fanden sich im Dunkeln noch in der Dining Lodge ein, und der Koch brachte es nicht übers Herz, sie wegzuschicken. Das Personal war nach Hause gegangen - alle bis auf die indianische Tellerwäscherin, die meistens noch bis tief in die Nacht blieb. Der Koch mit dem schwierigen Namen Dominic Baciagalupo - oder »Cookie«, wie ihn die Holzfäller gewöhnlich nannten - machte den Männern ein spätes Abendessen, und sein zwölfjähriger Sohn brachte es ihnen an den Tisch. »Wo ist Ketchum?«, fragte der Junge seinen Dad. »Wahrscheinlich
kriegt
er
einen
Gips«,
antwortete der Koch. »Bestimmt hat er Hunger«, sagte der Zwölfjährige, »aber Ketchum ist irre zäh.« »Für einen, der so viel trinkt, ist er erstaunlich zäh«, pflichtete ihm Dominic bei, dachte aber bei sich: Vielleicht war Ketchum in diesem Fall nicht zäh genug, denn Angels Verschwinden traf ihn wohl von allen am schwersten. Der erfahrene Holzarbeiter hatte den jungen Kanadier mehr oder weniger unter seine Fittiche genommen; er hatte auf den Jungen aufgepasst oder hatte es jedenfalls versucht. Ketchums Haar und Bart waren tiefschwarz so schwarz wie Holzkohle, schwärzer als das Fell eines Schwarzbären. Er hatte früh geheiratet, und zwar mehr als einmal. Zu seinen Kindern, die inzwischen groß und ihre eigenen Wege gegangen waren, hatte er keinen Kontakt mehr. Nun wohnte er jahrein, jahraus in einer der Schlafbaracken oder in irgendeiner
der heruntergekommenen Herbergen, wenn er nicht in einem selbstgebauten Wanigan schlief - auf der Ladefläche seines Pick-up-Trucks, wo er in manchen Winternächten, wenn er sturzbesoffen weggedämmert war, beinahe erfroren wäre. Doch Ketchum hatte nicht nur Angel vom Alkohol, sondern auch etliche Frauen im sogenannten Tanzsaal von dem jungen Kanadier ferngehalten. »Du bist zu jung«, hatte der Koch Ketchum zu Angel sagen hören. »Außerdem kannst du dir bei den Damen was einfangen.« Ketchum wird es wohl wissen, hatte der Koch gedacht. Dominic wusste, Ketchum war schon Schlimmeres passiert, als sich bei einer Trift das Handgelenk zu brechen. Das ständige Zischen und gelegentliche Flackern der Zündflammen am Gasherd in der Kochhausküche - ein alter Garland mit zwei Backöfen, acht Flammen und darüber einem rußgeschwärzten Bratrost - passte zu der
Trübsal unter den Holzfällern am Tisch. Sie hatten den verschwundenen Jungen ins Herz geschlossen und ihn aufgenommen, wie man ein entlaufenes Haustier aufnehmen würde. Auch der Koch hatte ihn ins Herz geschlossen. Vielleicht sah er in dem ungewöhnlich fröhlichen Teenager eine ältere Version seines zwölfjährigen Sohnes - denn mit seinem offenen und neugierigen Blick war Angel so ganz anders als seine verschlossenen und mürrischen Altersgenossen im rauhen und kargen Twisted River. Das alles war umso bemerkenswerter, als Angel ihnen erzählt hatte, er sei erst kürzlich von zu Hause weggelaufen. »Du bist doch Italiener, oder?«, hatte Dominic Baciagalupo ihn gefragt. »Ich bin nicht aus Italien, ich spreche kein Italienisch - wenn man aus Toronto kommt, ist man nicht sehr italienisch«, hatte Angel geantwortet.
Der Koch hatte geschwiegen. Dominic kannte sich ein wenig mit den Italoamerikanern in Boston aus, von denen einige Probleme damit hatten, wie sehr oder wie wenig italienisch sie waren. Angel wäre in der alten Heimat vermutlich ein Angelo gewesen, dachte der Koch. (Als Dominic klein war, hatte seine Mutter ihn mit sizilianischem Zungenschlag Angelù genannt.) Doch nach dem Unfall fand sich sein Name, Angel Pope, nirgendwo auf seinen Sachen, auf keinem Brief, in keinem Buch. Falls er überhaupt einen Ausweis gehabt hatte, war der mit Angel im Fluss verschwunden - vermutlich in der Tasche seiner Latzhose -, und wenn Angels Leiche verschollen blieb, konnte seine Familie oder vor wem auch immer der Junge weggelaufen war, nicht benachrichtigt werden. Ob legal oder nicht, ob mit oder ohne ordnungsgemäßen Papieren, Angel Pope war über die kanadische Grenze nach New
Hampshire gekommen, wenn auch nicht, wie die meisten, aus der Provinz Quebec. Er hatte Wert darauf gelegt, aus Ontario und kein Frankokanadier zu sein. Der Koch hatte ihn nie auch nur ein Wort Französisch (oder Italienisch) sprechen hören, und die Frankokanadier im Camp hatten mit dem jungen Ausreißer nichts zu tun haben wollen offenbar mochten sie keine englischsprachigen Kanadier. Angel wiederum hielt zu den Frankokanadiern Distanz; offenbar mochte er die Quebecois genauso wenig wie sie ihn. Dominic war immer diskret gewesen; jetzt wünschte er, er wüsste mehr über Angel Pope und dessen Herkunft. Angel war Daniel (oder Danny, wie die Holzfäller und Sägewerksarbeiter den Sohn des Kochs nannten) ein gutmütiger und verlässlicher Kumpel gewesen. In Twisted River kannte fast jeder Mann im arbeitsfähigen Alter den Koch und seinen
Sohn - einige Frauen ebenfalls. Dominic hatte eine ganze Menge Frauen kennenlernen müssen - vor allem, damit sie auf seinen Sohn aufpassten -, denn der Koch hatte vor zehn langen Jahren seine Frau, Dannys Mutter, verloren. Dominic Baciagalupo spürte, dass Angel Pope Küchenarbeit gewohnt war; der Junge hatte sie ungelenk, aber ohne Murren und mit sparsamen Handgriffen (wie sie nur durch lange Übung entstehen) erledigt, obwohl ihn die Arbeit in der Küche angeblich langweilte und er sich beim Schneiden öfter verletzte. Außerdem las der junge Kanadier gern; er lieh sich viele Bücher, die Dominics verstorbener Frau gehört hatten, und oft las er Daniel daraus vor. Angel las dem kleinen Dan zum Beispiel Robert Louis Stevenson vor - nach Ketchums Meinung »im Übermaß« -, und zwar nicht nur Entführt und Die Schatzinsel, sondern auch Stevensons unvollendeten Roman Flucht ins
Abenteuer, der, laut Ketchum, am besten mit dem Autor gestorben wäre. Als der Unfall auf dem Fluss geschah, waren Angel und Danny gerade mitten in der Lektüre von Der Ausschlachter gewesen. (Zu diesem Roman hatte sich Ketchum noch nicht geäußert.) Doch egal, woher Angel Pope kam, er hatte zweifellos eine gewisse Schulbildung genossen - und zwar mehr als die meisten frankokanadischen Holzarbeiter, die der Koch kennengelernt hatte. (Mehr auch als die meisten Sägewerker und einheimischen Holzarbeiter.) »Warum musste Angel sterben?«, fragte Danny, während er seinem Vater half, die Esstische abzuwischen. Die Holzarbeiter waren inzwischen gegangen, ins Bett oder auf einen Schlummertrunk. Und auch die indianische Tellerwäscherin war nach getaner Arbeit mit ihrem Pick-up zurück in den Ort gefahren - normalerweise lag Danny meist
schon im Bett, wenn sie ging. »Angel musste nicht sterben, Daniel - es war ein vermeidbarer Unfall.« Im Wortschatz des Kochs kamen »vermeidbare Unfälle« sehr oft vor, und sein Sohn kannte die fatalistischen Ansichten seines Vaters über die Fehlbarkeit des Menschen im Allgemeinen und jugendlichen Leichtsinn im Besonderen zur Genüge. »Er war zu unerfahren, um bei einer Trift mitzumachen«, stellte der Koch fest, als wäre damit alles gesagt. Danny Baciagalupo wusste, wofür alles Angel oder jeder andere Teenager nach Dominics Ansicht zu unerfahren war. Der Koch hätte Angel auch ungern in der Nähe eines Fällhebers gesehen. (Der wichtigste Teil des Fällhebers war der mit einem Scharnier befestigte Wendehaken, mit dem man selbst schwere Baumstämme von Hand bewegen konnte.) Laut Ketchum waren die »alten Zeiten«
gefährlicher gewesen: Zum Beispiel sei es riskant gewesen, im Winter das Holz mit Pferdeschlitten aus den Wäldern zu ziehen. Vor nicht allzu langer Zeit stiefelten die Holzfäller in die Berge hinauf, fällten die Bäume und zogen sie mit Pferden aus den Wäldern, einen Stamm nach dem anderen. Auf reifenlosen, schlittenartigen Wagen zogen sie dann das Rundholz über den gefrorenen Schnee, den nicht einmal Pferdehufe durchbrachen, weil die Spurrillen der Schlitten auf den Holzwegen nachts immer vereisten. Bis die Schneeschmelze und die Schlammperiode kamen und die gesamte Arbeit in den Wäldern zum Erliegen brachten. Doch selbst das änderte sich. Dank der neuen Forstmaschinen, die im Schlamm eingesetzt und mit denen die Stämme über weite Strecken bis zu besseren, winterfesten Straßen transportiert werden konnten, war die Schlammperiode immer weniger ein Problem und die Pferde mussten Raupenschleppern
weichen. Mit den Bulldozern konnten neuerdings Zufahrten bis zum Fällplatz angelegt und das Holz per Lastwagen direkt zu einer zentraler gelegenen Abladestelle an einem Fluss, Teich oder See abtransportiert werden. Nicht mehr lange, und der Transport auf Straßen würde die Flößerei überflüssig machen. Vorbei die Zeiten, als man Seilwinden dazu benutzte, Pferde vorsichtig die steileren Hänge hinunterzulassen. »Die Arbeiter konnten auf dem Hintern runterrutschen«, hatte Ketchum dem kleinen Dan erzählt. (Ketchum hielt große Stücke auf Ochsen, die im tiefen Schnee sehr standfest waren, doch Ochsen hatten sich nie durchgesetzt.) Auch der Holzabtransport auf Schienen war Geschichte. Er endete 1948 im Pemigewasset Valley, im selben Jahr, als einer von Ketchums Cousins bei der Papiermühle von Livermore Falls unter eine Shay-Lokomotive kam - ein
50-Tonnen-Ungetüm, mit dem die letzten Schienen aus dem Wald geschafft wurden. In den 1950er Jahren dienten die ehemaligen Schienenbetten den Lkws als stabile Holzabfuhrstraßen, allerdings konnte sich Ketchum noch an einen Mord auf der BeebeRiver-Eisenbahn erinnern -»seinerzeit«, als er noch einen mit erstklassigen Fichtenstämmen beladenen vierspännigen Schlitten lenkte. Ketchum war damals auch noch Kutscher einer frühen Lombard-Dampflok gewesen, die von einem Pferd gezogen wurde. Das Pferd bewegte die vorderen Schlittenkufen, und der Kutscher saß vorn auf dem Holzanhänger; bei späteren Modellen wurden Pferd und Kutscher durch einen Steuermann an einem Lenkrad ersetzt. Wie Danny Baciagalupo wusste, war Ketchum auch Steuermann gewesen anscheinend hatte Ketchum alles gemacht. Auf den alten Lombard-Fahrwegen um Twisted River herum fahren inzwischen Lkws, allerdings stehen in der Gegend immer noch
ein paar zurückgelassene Lombard-Wracks herum. (Eins steht immer noch aufrecht in Twisted River, ein anderes liegt, auf die Seite gekippt, in einem Holzfällercamp namens West Dummer - oder neuerdings Paris, nach der Paris Manufacturing Company in Paris, Maine.) Der Phillips Brook fließt nach Paris und in den Ammonoosuc River, der seinerseits in den Connecticut River mündet. Die Flößer transportierten auf diesem Flüsschen Hartholzstämme bis nach Paris, und auch etwas Faserholz. Das Sägewerk in Paris verarbeitete ausschließlich Hartholz - die Firma aus Maine stellte Toboggans her, traditionelle indianische, kufenlose Schlitten -, und in dem Holzfällercamp mit seinem dampfbetriebenen Sägewerk war der ehemalige Pferdestall inzwischen in eine Maschinenwerkstatt umgebaut worden. Daneben standen auch das Haus des Werksleiters sowie eine Schlafbaracke für 75
Mann und eine Kantine, außerdem gab es ein paar einfache Familienunterkünfte - von einem voller Optimismus angelegten Apfelgarten und einem Schulgebäude ganz zu schweigen. Dass es in der Ortschaft Twisted River weder eine Schule gab, noch jemand optimistisch genug gewesen war, um Apfelbäume zu pflanzen, führte zu der (vor allem in Paris vertretenen) Ansicht, das Holzfällercamp sei eine zivilisiertere und beständigere Siedlung als Twisted River. Von der Anhöhe zwischen diesen beiden Vorposten aus betrachtet, wäre kein Wahrsager so töricht gewesen, der einen oder der anderen Siedlung Erfolg oder Langlebigkeit zu prophezeien. Danny Baciagalupo hatte gehört, wie Ketchum sowohl dem Holzfällercamp in Paris als auch Twisted River den sicheren Untergang vorhersagte, doch Ketchum hatte prinzipiell »nichts für Fortschritt übrig«, wie der Koch seinen Sohn gewarnt hatte. Dominic war kein
Geschichtenerzähler, und er zog Ketchums Geschichten regelmäßig in Zweifel. »Daniel, du solltest Ketchums Geschichten nicht unbesehen glauben«, sagte Dominic dann. War Ketchums Tante, eine Buchhalterin, wirklich in der Drechselbankfabrik in Milan von einem Stapel Holzeinfassungen erschlagen worden? »Ich bin mir nicht sicher, ob es in Milan eine Drechselbankfabrik gibt oder je gegeben hat, Daniel«, hatte der Koch seinem Sohn zu bedenken gegeben. Und laut Ketchum hatte ein Gewitter vier Personen in dem Sägewerk bei der Staumauer zu den DummerTeichen getötet, bei dem größten und am weitesten flussaufwärts gelegenen der Dummer-Teiche. Angeblich hatte ein Blitz in den Blocksenkwagen eingeschlagen. »Der Kranführer und der Werkzeugeinrichter, der Sägewerker, der die Hebel der Bandsäge betätigte, und ein Hilfsarbeiter wurden allesamt von einem einzigen Blitz getötet«, hatte Ketchum Danny erzählt. Zeugen hätten
beobachtet, wie niederbrannte.
das
gesamte
Werk
»Schon erstaunlich, dass diesmal kein einziger von Ketchums Verwandten unter den Opfern war, Daniel.« Mehr sagte Dominic dazu nicht. Tatsächlich war ein anderer Cousin Ketchums in den Schnitzler einer Papierholzfabrik gefallen; einem Onkel hatte ein herumfliegender, ein Meter zwanzig langer Stamm das Gehirn zerquetscht in einer Sägerei, in der lange Fichtenstämme auf die für Papierholz erforderliche Länge zurechtgeschnitten wurden. Und auf dem Dummer-Teich hatte es einmal einen sogenannten »Dampfesel« gegeben, eine schwimmende, dampfbetriebene Winde, mit der Stämme für den Einlauf zum Sägewerk an der Staumauer gebündelt wurden, doch die Maschine war explodiert. Auf der Insel im Teich fand man im Frühlingsschnee, wo durch die Explosion sämtliche Bäume angesengt
worden waren, ein gefrorenes Männerohr. Später, so behauptete Ketchum, habe ein Eisangler das Ohr im Pontook-Stausee als Köder benutzt. »Auch Verwandte von dir, nehme ich an?«, hatte der Koch gefragt. »Nicht, dass ich wüsste«, hatte Ketchum erwidert. Ketchum behauptete, er habe das »legendäre Arschloch« gekannt, das flussaufwärts von den Schlafbaracken und der Kantine von Camp Five einen Pferdestall gebaut hatte. Als alle Männer im Lager erkrankten, schnallten sie den Mann in eine Art Geschirr aus Zaumzeug und hängten ihn im Pferdestall über die Jauchegrube, »bis das Arschloch von den Dämpfen ohnmächtig wurde«. »Jetzt verstehst du, weshalb Ketchum den alten Zeiten nachtrauert, Daniel«, hatte der Koch zu seinem Sohn gesagt.
Dominic Baciagalupo kannte einige Geschichten, behielt sie aber meist für sich. Doch die, die er seinem Sohn erzählte, regten die Phantasie des Jungen weit weniger an als Ketchums Geschichten. Eine handelte von der Kochgrube draußen vor dem Zelt des Kochs am Chickwolnepy Stream, nicht weit vom Success Pond. In den schon erwähnten alten Zeiten hatte Dominic während einer Trift einmal eine Kochgrube ausgehoben, Durchmesser eins zwanzig, und abends zur Schlafenszeit angefangen, darin Bohnen zu kochen. Die Grube deckte er mit heißer Asche und Erde ab. Den versiegelten Topf wollte er um fünf Uhr morgens, wenn er glühend heiß war, fürs Frühstück aus dem Boden holen. Doch ein Frankokanadier war noch im Dunkeln aus dem Schlaf-Wanigan getreten, wahrscheinlich um zu pinkeln. Er war barfuß gewesen, als er in die Kochgrube fiel, und hatte sich beide Füße verbrannt. »Das war's? Das ist die ganze Geschichte?«,
hatte Danny seinen Dad gefragt. »Na ja, ist wohl 'ne Art Kochgeschichte«, hatte Ketchum gesagt, um nett zu sein. Manchmal zog Ketchum Dominic damit auf, dass am oberen Androscoggin Baked Beans und Erbsensuppe inzwischen von Spaghetti verdrängt würden. »Früher hatten wir hier nie so viele italienische Köche«, sagte Ketchum dann und zwinkerte Danny zu. »Heißt das, du hättest lieber Baked Beans und Erbsensuppe statt Pasta?«, fragte der Koch seinen alten Freund. »Dein Dad ist ein empfindliches Kerlchen, stimmt's?«, meinte Ketchum dann zu Danny und zwinkerte erneut. »Heiliger Dünnschiss!«, hatte Ketchum mehr als einmal zu Dominic gesagt. »Du bist vielleicht empfindlich!«
Jetzt war wieder Schlammperiode, und der Fluss führte Hochwasser. Eine große Wassermenge war durch eins der Schleusentore gekommen - Ketchum nannte das »Flutwasser«, wahrscheinlich aus dem Schleusentor an der Ostseite des Little Dummer Pond -, und ein unerfahrener Junge aus Toronto, den sie kaum gekannt hatten, war mit weggeschwemmt worden. Nur noch kurze Zeit würden die Holzfäller das Wasservolumen im Twisted River erhöhen. Zu diesem Zweck hatten sie an den Flüsschen, die in die Haupttriftgewässer mündeten, Staudämme gebaut. Die Schleusen wurden im Frühjahr geöffnet, so dass eine Unmenge Wasser das Triften erleichterte. In diesen Flüsschen (und an deren Ufern) stapelte sich während des Winters das Faserholz und wurde dann mit dem von den Dämmen gestauten Wasser in den Twisted River geschleust. Wenn das kurz nach der Schneeschmelze geschah, war die Strömung schnell, und die
rasch dahintreibenden Baumstämme bohrten sich in die Flussufer. Der Koch fand, der Twisted River besitze nicht genug Biegungen, um seinen Namen Gewundener Fluss - zu verdienen. Der Fluss schoss aus den Bergen geradeaus talwärts, er hatte nur zwei Biegungen. Doch für die Flößer, besonders für die alten Hasen, denen der Fluss seinen Namen verdankte, waren diese beiden Biegungen schlimm genug, denn sie verursachten jedes Frühjahr einige üble Holzstaus - vor allem oberhalb des Beckens in der Nähe der Dummer-Teiche. An beiden Flussbiegungen mussten die Stämme meist von Hand losgestochert werden; an der oberen Biegung, wo die Strömung am stärksten war, hätte man keinen so Unerfahrenen wie Angel auf den Holzstau losgelassen. Doch Angel war im Becken untergegangen, wo der Fluss relativ ruhig war. Die treibenden Stämme wühlten das Wasser zwar auf, aber
die Strömung war eher mäßig. Und an beiden Biegungen löste man die größeren Staus zu Dominic Baciagalupos Leidwesen mit Dynamit auf. Die Sprengungen brachten die Töpfe, Pfannen und anderen aufgehängten Utensilien seiner Küche durcheinander; im Speisesaal rutschten die Zuckerdosen und Ketchup-Flaschen von den Tischen. »Dein Dad mag kein Geschichtenerzähler sein, Danny, aber Dynamitfan ist er ganz gewiss nicht«, so hatte es Ketchum dem Jungen gegenüber formuliert. Vom Flussbecken unterhalb der Ortschaft Twisted River floss das Wasser bis in den Androscoggin River. Neben dem Connecticut waren der Ammonoosuc und der Androscoggin die großen Triftgewässer im Norden New Hampshires. Alle diese Flüsse waren erwiesenermaßen mörderisch. Doch in dem relativ kurzen Flussabschnitt zwischen dem Little Dummer Pond und dem
Ort Twisted River, wo es Stromschnellen gab, waren schon einige Flößer ertrunken oder zerquetscht worden - und auch in dem breiten Flussbecken. Angel Pope war weder der Erste, noch würde der junge Kanadier der Letzte bleiben. Und selbst in den notdürftig zusammengezimmerten Siedlungen Twisted River und Paris waren etliche Sägewerksarbeiter verstümmelt oder sogar getötet worden - gar nicht wenige leider bei Schlägereien, die sie sich in gewissen Kneipen mit den Holzfällern lieferten. Es herrschte Frauenmangel - deswegen die Schlägereien; Ketchum allerdings behauptete steif und fest, es herrsche Kneipenmangel. In Paris gab es jedenfalls überhaupt keine Kneipe, und nur verheiratete Frauen wohnten dort. Ketchum zufolge waren es diese beiden Faktoren, welche die Männer aus Paris fast allabendlich auf die Holzabfuhrstraße nach
Twisted River trieben. »Man hätte nie eine Brücke über den Phillips Brook bauen dürfen«, behauptete Ketchum außerdem. »Siehst du, Daniel«, sagte der Koch, »Ketchum hat wieder einmal nachgewiesen, dass uns der Fortschritt irgendwann alle umbringen wird.« »Aber dieses ganze katholische Zeug bringt uns noch vorher um, Danny«, widersprach Ketchum. »Italiener sind Katholiken, und dein Dad ist italienischer Abstammung - und du folglich auch, obwohl weder du noch dein Dad in eurem Denken besonders italienisch seid, und auch nicht besonders katholisch. Ich meine vor allem die Frankokanadier, die beispielsweise so viele Kinder haben, dass sie sie manchmal durchnummerieren, statt ihnen Namen zu geben.« »Gott im Himmel«, sagte Baciagalupo kopfschüttelnd.
Dominic
»Stimmt das?«, wollte der kleine Dan von Ketchum wissen. »Was ist denn Vingt Dumas für ein Name?«, fragte Ketchum den Jungen zurück. »Roland und Joanne Dumas haben keine zwanzig Kinder!«, rief der Koch. »Vielleicht nicht gemeinsam«, erwiderte Ketchum. »Was war dann der kleine Vingt? Ein Versprecher?« Dominic schüttelte wieder den Kopf. »Was ist denn?«, fragte Ketchum. »Ich habe seiner Mutter versprochen, dass Daniel eine anständige Bildung bekommt«, sagte der Koch. »Nun, ich mache gerade den Versuch, Dannys Bildung zu vervollständigen«, argumentierte Ketchum. »Zu vervollständigen«, wiederholte Dominic immer noch kopfschüttelnd. »Deine Wortwahl,
Ketchum«, begann der Koch, verstummte aber wieder; er sagte nichts mehr. Weder ein Geschichtenerzähler noch ein Dynamitfan, dachte Danny Baciagalupo. Der Junge liebte seinen Vater heiß und innig, doch der Koch hatte eine bestimmte Angewohnheit, die seinem Sohn schon aufgefallen war. Oft führte Dominic seine Gedanken nicht zu Ende (nicht laut, jedenfalls). Von der indianischen Tellerwäscherin abgesehen und der Handvoll Sägewerksarbeiter-Ehefrauen, die dem Koch in der Küche halfen -, aßen nur selten Frauen im Kochhaus, außer an den Wochenenden, wenn einige der Männer mit ihren Familien zum Essen kamen. Der Koch hatte ein striktes Alkoholverbot durchgesetzt. Das Abendessen (oder »Abendbrot«, wie es die alten Flößer nannten, die noch die Wanigans gewohnt waren) wurde bei Einbruch der Dunkelheit
aufgetragen, und die meisten Holzfäller und Arbeiter aus dem Sägewerk waren nüchtern bei ihrer Abendmahlzeit, die sie rasch und fast stumm verspeisten - selbst an den Wochenenden oder wenn gerade keine Trift im Gange war. Da die Männer meist direkt von der Arbeit ins Kochhaus kamen, war ihre Kleidung dreckig und sie rochen nach Pech und Fichtenharz, nasser Rinde und Sägespänen, aber ihre Hände und Gesichter waren sauber und dufteten nach der Kieferteerseife im riesigen Bad des Kochhauses. (Vor dem Essen die Hände zu waschen war auch eine der von Dominic durchgesetzten Regeln.) Außerdem waren die Handtücher im Waschraum immer sauber; die Handtücher waren ein Grund, weshalb die indianische Tellerwäscherin im Allgemeinen länger blieb. Während die Küchenhilfe das letzte Geschirr vom Abendessen abwusch, steckte die Tellerwäscherin ihrerseits in der Waschküche des Kochhauses die Handtücher
in die Waschmaschinen. Sie ging erst nach Hause, wenn der Waschgang beendet war und sämtliche Handtücher in die Trockner gepackt waren. Die Tellerwäscherin wurde Indianer-Jane genannt, auch wenn natürlich niemand sie so rief. Danny Baciagalupo mochte sie, und sie schien an dem Jungen einen Narren gefressen zu haben. Sie war über zehn Jahre älter als sein Dad (sie war sogar älter als Ketchum), und sie hatte einen Sohn verloren - offenbar war er im Pemigewasset ertrunken, falls Danny die Geschichte richtig verstanden hatte. Vielleicht aber waren Jane und ihr toter Sohn auch aus der Gegend namens Pemigewasset Wilderness, New Hampshire, nordwestlich der Sägewerke in Conway, und der Sohn war anderswo ertrunken. Nördlich von Milan, wo das Fichtensägewerk stand, begann eine noch größere, ungezähmte Wildnis, und dort oben gab es weitere Holzfällerlager und jede Menge Stellen, an denen ein junger Holzfäller
ertrinken konnte. (Jane hatte Danny erzählt, Pemigewasset bedeute »Gasse der schiefen Kiefern«, und für den Jungen mit seiner lebhaften Phantasie klang das nach einem Ort, an dem man leicht ertrinken konnte.) Eigentlich erinnerte sich Dan nur noch daran, dass es ein Triftunfall in der Wildnis gewesen war, und so zärtlich, wie die Tellerwäscherin den Sohn des Kochs ansah, musste ihr Sohn wohl ungefähr zwölf gewesen sein, als er ertrank. Danny wusste es nicht, und er fragte auch nicht. Alles, was er über Indianer-Jane wusste, hatte er beobachtet oder sich zusammengereimt. »Man hört keine Gespräche mit, die für anderer Leute Ohren bestimmt sind, Daniel«, hatte sein Vater ihm eingeschärft. Damit meinte der Koch, Danny solle nicht den Gesprächsfetzen oder unzusammenhängenden Bemerkungen der Männer beim Essen lauschen.
An den meisten Abenden tranken die Holzfäller und Sägewerksarbeiter nach dem Essen - aber nicht so hemmungslos wie zur Zeit der Wanigans und in der Regel nicht, wenn am nächsten Morgen eine Trift anstand. Die wenigen, die in Twisted River eine eigene Unterkunft hatten, tranken zu Hause. Die »Durchreisenden« - also die meisten Waldarbeiter und alle kanadischen Wanderarbeiter - tranken in ihren kargen Schlafbaracken, die in dem ewig feuchten Teil des Ortes direkt oberhalb des Flussbeckens standen. Von diesen Herbergen aus konnte man die tristen Spelunken zu Fuß erreichen, ebenso den schäbigen Tanzsaal, der seinen Namen zu Unrecht trug, da dort gar nicht getanzt wurde - es gab nur Musik und den üblichen Männerüberschuss. Die Holzfäller und Sägewerksarbeiter, die Familie hatten, zogen die kleinere, aber angeblich »zivilisiertere« Siedlung Paris vor. Ketchum weigerte sich standhaft, das
Holzfällercamp »Paris« zu nennen, und blieb bei dem, wie er sagte, richtigen Namen des Fleckens - West Dummer. »Keine Ortschaft, nicht einmal ein Holzfällercamp, sollte nach einer Firma benannt werden«, erklärte Ketchum. Außerdem empörte es ihn, dass ein Holzunternehmen in New Hampshire nach einer Firma in Maine benannt wurde - die zudem ausgerechnet Toboggans herstellte, indianische Holzschlitten. »Meine Güte!«, rief der Koch. »Bald treibt auf dem Twisted River nur noch Faserholz – zur Papierherstellung! Was ist denn an Toboggans schlimmer als an Papier?« »Aus Papier werden Bücher gemacht!«, hatte Ketchum entgegnet. »Und welche Rolle spielen denn Toboggans bei der Bildung deines Sohnes?« In Twisted River waren Kinder Mangelware, und die wenigen gingen in Paris zur Schule so wie Danny Baciagalupo, wenn er überhaupt
zur Schule ging. Um Dannys Bildung zu verbessern, behielt ihn der Koch nicht selten zu Hause, damit er das eine oder andere Buch las, eine Tätigkeit, die in der Schule in Paris (oder West Dummer) nicht unbedingt gefördert wurde. »Gott bewahre, dass die Kinder in einem Holzfällerlager lesen lernen!«, lästerte Ketchum. Er hatte als Kind nicht lesen gelernt, worüber er immer noch wütend war. Auf der anderen Seite der kanadischen Grenze herrschte - und herrscht nach wie vor - eine große Nachfrage sowohl nach Rundholz als auch nach Faserholz. Der Norden New Hampshires liefert weiterhin riesige Holzmengen an Papiermühlen in New Hampshire und Maine sowie an eine Möbelfabrik in Vermont. Doch von den einstigen Holzfällercamps zeugen nur noch kümmerliche Ruinen.
In einem Ort wie Twisted River blieb nur das Wetter unverändert. Von der Staumauer am unteren Ende des Little Dummer Pond bis zum Flussbecken unterhalb von Twisted River hielt sich zu jeder Jahreszeit, außer wenn der Fluss zugefroren war, bis weit in den Vormittag hinein ein hartnäckiger Nebel oder Dunst über dem unruhigen Wasser. Das durchdringende Wimmern der Sägeblätter von den Sägewerken her war so vertraut wie das Gezwitscher der Vögel, allerdings waren weder der Sägelärm noch das Vogelgezwitscher so verlässlich wie die Tatsache, dass es in diesem Teil New Hampshires nie Frühlingswetter gab - von jener scheußlichen Periode zwischen Anfang April und Mitte Mai abgesehen, die sich durch gefrorenen, langsam tauenden Schlamm auszeichnete. Dennoch war der Koch geblieben, und nur wenige in Twisted River kannten den Grund. Noch weniger wussten, warum, woher und
wann er überhaupt gekommen war. Doch sein Hinken hatte eine Vorgeschichte, das war allen klar. In einem Ort mit einem Sägewerk oder in einem Holzfällercamp war ein Hinken wie das von Dominic Baciagalupo nichts Ungewöhnliches. Wenn Stämme jeder Größe in Bewegung gesetzt wurden, war ein Knöchel rasch zerquetscht. Selbst wenn der Koch gerade nicht 33 ging, fiel auf, dass der Stiefel an seinem kaputten Fuß zwei Nummern größer war als der an seinem intakten Fuß. Und wenn Dominic saß oder ruhig dastand, war der größere Stiefel immer abgewinkelt. Die Einwohner von Twisted River, die sich mit solchen Dingen auskannten, wussten, dass so eine Verletzung von allen möglichen Unfällen bei der Holzarbeit herrühren konnte. Dominic hatte sich für den Job als Teenager ausgegeben. Seiner eigenen Einschätzung nach war er damals zwar nicht so unerfahren wie Angel Pope gewesen, doch »noch ziemlich grün hinter den Ohren«, wie er seinem Sohn
erzählte. Er hatte nach der Schule auf einer Verladerampe in einem der großen Sägewerke in Berlin gejobbt, wo ein Freund von Dominics abwesendem Vater Vorarbeiter war. Dieser angebliche Freund von Dominics Dad war dort bis zum Zweiten Weltkrieg Teil des Inventars gewesen, doch der Koch hatte den sogenannten Onkel Umberto als Alkoholiker in Erinnerung, der wiederholt über Dominics Mom herzog. (Selbst nach Dominic Baciagalupos Unfall nahm dessen verschwundener Vater nie Kontakt zu ihm auf, und »Onkel« Umberto erwies sich kein einziges Mal als Freund der Familie.) Auf dem Rundholzplatz hatte eine Ladung Hartholzstämme gelegen, hauptsächlich Ahorn und Birke. Der junge Dominic rollte gerade mit Hilfe eines Fällhebers die Stämme in das Werk, als plötzlich etliche gleichzeitig losrollten - er konnte ihnen nicht mehr ausweichen. 1936 war er erst zwölf; den Fällheber bediente er mit verwegener
Selbstsicherheit. Dominic war damals genauso alt gewesen wie sein Sohn jetzt. Nie würde der Koch seinem geliebten Daniel erlauben, einen Rundholzplatz zu betreten, selbst dann nicht, wenn der Junge einen Fällheber rechts- und linkshändig bedienen könnte. Als Dominic damals von den rollenden Stämmen zu Boden geschleudert wurde, bohrte sich der Wendehaken seines Fällhebers wie ein Angelhaken in seinen linken Oberschenkel und sein linker Fußknöchel wurde seitlich weggedrückt und vom Gewicht des Holzes zerquetscht. Die Blutung aus der Fällheberwunde war nicht lebensgefährlich, doch damals konnte man leicht an einer Blutvergiftung sterben. Auch hätte er später wegen der Knöchelverletzung an einer Gangrän (damals noch Wundbrand genannt) sterben können oder das war wahrscheinlicher - den linken Fuß, wenn nicht das ganze Bein, amputieren lassen müssen. 1936
gab
es
im
Coos
County
keine
Röntgengeräte. Einen zerschmetterten Knöchel zusammenzuflicken fiel den medizinischen Experten in Berlin nicht ein; in solchen Fällen empfahl sich ein kleiner oder gar kein chirurgischer Eingriff. Bei so einem Unfall hieß es abwarten: Entweder waren die Blutgefäße platt gequetscht, was eine Durchblutungsstörung zur Folge hätte - dann würden die Arzte den Fuß amputieren müssen -, oder die gebrochenen und verschobenen Knöchelfragmente würden krumm und schief zusammenwachsen und irgendwie heilen und Dominic Baciagalupo würde zeitlebens hinken und Schmerzen haben (wie es dann auch kam). Es gab auch noch die Narbe vom Haken des Fällhebers, die der Bisswunde eines seltsamen kleinen Tieres glich, eines Tieres mit einem einzigen gebogenen Zahn und einem Maul, das nicht groß genug gewesen war, um den Schenkel des Zwölfjährigen zu umschließen. Und ehe der Koch einen Schritt machte, zeigte sein linker Fuß scharf nach links. Seither fiel
den Leuten, noch bevor sie Dominic hinken sahen, zuerst der missgestaltete Knöchel und die Fehlstellung des Fußes auf. Eins war klar: Dominic würde nie Holzfäller werden. Bei dieser Arbeit musste man sein Gleichgewicht halten. Und der Unfall war in einem Sägewerk passiert - ganz abgesehen davon, dass der Trunkenbold und »Freund« seines durchgebrannten Vaters dort Vorarbeiter war. Nein, Dominic Baciagalupos Zukunft lag auch nicht in einem Sägewerk. »He, Baciagalupo!«, hatte ihm Onkel Umberto oft zugerufen. »Du magst einen neapolitanischen Namen haben, aber du hängst rum wie ein Sizilianer.« »Ich bin Sizilianer«, erwiderte Dominic dann pflichtschuldig. Seine Mutter schien darauf ungemein stolz zu sein, dachte der Junge. »Tja, aber dein Name ist napolitano«, entgegnete Umberto.
»Nach meinem Vater, nehme mutmaßte der junge Dominic.
ich
an«,
»Dein Dad war kein Baciagalupo«, teilte ihm Onkel Umberto mit. »Frag Nunzi, woher dein Name stammt - schließlich hat sie ihn dir gegeben.« Dem Zwölfjährigen passte es gar nicht, wenn Umberto, der Dominics Mutter offenkundig nicht mochte, sie »Nunzi« nannte - eine Koseform von Annunziata. Aus Umbertos Mund klang es überhaupt nicht zärtlich. (In einem Theaterstück oder einem Film hätte das Publikum Umberto problemlos als Nebenfigur identifiziert, doch die beste Besetzung für die Rolle des Umberto wäre ein Schauspieler, der überzeugt ist, eine Hauptrolle zu spielen.) »Und du bist wohl auch nicht mein richtiger Onkel?«, hatte Dominic von Umberto wissen wollen. »Frag deine Mama«, antwortete der. »Wenn
sie gewollt hätte, dass du siciliano bleibst, hätte sie dir ihren Namen geben sollen.« Der Mädchenname seiner Mutter war Saetta, worauf sie ebenfalls sehr stolz war, genau wie auf alle Saettas, von denen Dominic sie je hatte erzählen hören, wenn sie über ihre Abstammung sprach. Über Dominics Abstammung sprach Annunziata nur äußerst ungern. Das wenige, was der Junge wusste, hatte er eher schlecht als recht aus Informationsoder Desinformationsbröckchen zusammengetragen, ähnlich den unvollständigen Beweisen und lückenhaften Indizien in dem zunehmend beliebten Brettspiel Cluedo, das der Koch und Ketchum mit Dan spielten und zu dem sich manchmal auch Jane gesellte. (War es Oberst Günther von Gatow in der Küche mit dem Kerzenleuchter, oder hat Fräulein Ming den Mord mit dem Revolver im Musikzimmer
begangen?) Als Kind wusste Dominic nur, dass sein Vater, ein Neapolitaner, die schwangere Annunziata Saetta in Boston sitzengelassen hatte. Es ging das Gerücht, er habe ein Schiff zurück nach Neapel genommen. Auf die Frage »Wo ist er jetzt?« (die der Junge seiner Mutter oft gestellt hatte) zuckte Annunziata seufzend die Achseln, schaute entweder gen Himmel oder zu der Dunstabzugshaube über dem Küchenherd und sprach die geheimnisvollen Worte: »Vicino di Napoli.« - »In der Gegend von Neapel«, vermutete Dominic. Mit Hilfe eines Atlas und weil der Junge gehört hatte, wie seine Mutter im Schlaf die Namen zweier Bergstädte (und Provinzen) in der Gegend um Neapel murmelte - Benevento und Avellino -, kam Dominic zu dem Schluss, dass sein Dad in diesen Teil Italiens geflohen war. Umberto, der war eindeutig kein Onkel - und auf jeden Fall ein »legendäres Arschloch«, wie
Ketchum es formuliert hätte. »Was ist denn Umberto für ein Name?«, hatte Dominic den Vorarbeiter gefragt. »Der vom König!«, hatte Umberto entrüstet geantwortet. »Ich meine, das ist doch ein neapolitanischer Name, stimmt's?«, hatte der Junge gefragt. »Was fragst du mich hier aus? Du bist zwölf und tust, als wärst du schon sechzehn!«, rief Umberto. »Ich soll doch allen sagen, ich sei sechzehn, das war doch deine Idee«, hatte Dominic den Vorarbeiter erinnert. »Hast ja auch einen Job gekriegt, Baciagalupo«, hatte Umberto gesagt. Dann rollten die Baumstämme, und Dominic wurde Koch. Seine Mutter, eine auf Sizilien geborene Italoamerikanerin, die eine ungewollte Schwangerschaft von Boston nach
Berlin in New Hampshire verschlagen hatte, konnte kochen. Sie war aus der Großstadt nach Norden gezogen, nachdem sich Gennaro Capodilupo in Richtung der Docks in der Nähe von Atlantic Avenue und Commercial Street geschlichen und sie in anderen Umständen zurückgelassen hatte, um, ob buchstäblich oder im übertragenen Sinn, das Schiff »zurück nach Neapel« zu nehmen. Arschloch (wenn schon nicht Onkel) Umberto hatte recht: Dominics abwesender Vater war kein Baciagalupo, sondern ein Capodilupo was, wie Annunziata ihrem Sohn erklärte, »Wolfskopf« hieß. Was sollte die ledige Mutter schon machen? »Nach all den Lügen, die dein Vater erzählt hat, müsste er eigentlich Bocozdalupo heißen!«, sagte sie zu Dominic. Das bedeutete »Wolfsmaul«, wie der Junge später erfuhr - ein passender Name für das Arschloch Umberto, dachte er oft. »Aber du, Angelù, du bist mein Wolfekuss«, sagte seine Mutter.
In dem Bemühen, ihn für ehelich zu erklären, und weil sie Wörter liebte, aber sehr eigenwillig damit umging, nannte seine Mutter Dominic nicht Kopf (noch Maul) des Wolfes; für Annunziata Saetta kam nur ein Wolfskuss in Frage, Baciodalupo. -Doch wegen Nunzis verschliffener Aussprache und wegen eines Tippfehlers im Kindergarten war der falsch buchstabierte Name hängengeblieben. Noch ehe er Koch wurde, war aus Dominic Baciodalupo ein Dominic Baciagalupo geworden. Seine Mutter benutzte auch die Kurzform Dom - Dominic leitet sich von domenica ab, was »Sonntag« bedeutet. Nicht, dass Annunziata eine strikte Anhängerin des von Ketchum so genannten »katholischen Zeugs« gewesen wäre. Was an der Familie Saetta katholisch und italienisch war, hatte die junge, unverheiratete Frau schließlich gen Norden nach New Hampshire getrieben; in Berlin würden sich andere Italiener (vermutlich auch
Katholiken) ihrer annehmen. Hatte Nunzis Familie erwartet, dass sie ihr Kind zur Adoption freigeben und ins Bostoner North End zurückkehren würde? Nunzi wusste, dass so etwas gang und gäbe war, aber sie dachte nicht daran, ihr Baby wegzugeben, und geriet - trotz ihres beträchtlichen Heimwehs nach dem italienischen North End auch nie in Versuchung, wieder nach Boston zu ziehen. Sie war ungeplant in andere Umständen geraten, worauf sie weggeschickt worden war, was sie verständlicherweise übelnahm. Auch wenn Annunziata in der Küche eine treue Sizilianerin blieb, waren die sprichwörtlichen Familienbande endgültig zerrissen. Ihre Bostoner Familie - und mit ihr auch die italienische Gemeinschaft im North End und alles, was dort das »katholische Zeug« verkörperte - hatte sie verstoßen. Jetzt verstieß Nunzi sie. Weder ging sie selbst zur
Messe, noch schickte sie Dominic hin. »Es reicht, dass wir bei Bedarf zur Beichte gehen«, sagte sie zu Dom, ihrem kleinen Wolfskuss. Und weder brachte sie dem Jungen Italienisch bei - von ein paar unentbehrlichen Kochbegriffen abgesehen -, noch war Dominic gewillt, die Sprache der »alten Heimat« zu lernen, die für ihn das Bostoner North End war, nicht Italien. Die Sprache und der Ort hatten seine Mutter verstoßen. Italienisch würde nie Dominic Baciagalupos Sprache sein, und er betonte entschieden, nichts ziehe ihn nach Boston. Alles in Annunziata Saettas Leben in Berlin war ein Neuanfang. Die jüngste von drei Schwestern konnte so gut Englisch lesen und sprechen wie sizilianisch kochen. Nunzi brachte Kindern in einer Grundschule in Berlin das Lesen bei, und nach dem Unfall nahm sie Dominic aus der Schule und lehrte ihn die Grundlagen der Kochkunst. Außerdem legte
sie Wert darauf, dass der Junge Bücher las nicht nur Kochbücher, sondern alles, was sie selbst las, Romane vor allem. Ihr Sohn hatte die allgemein missachteten Gesetze zur Kinderarbeit übertreten und war dabei zum Krüppel geworden, und Annunziata hatte ihn aus dem Verkehr gezogen; zum Hausunterricht gehörte für sie kulinarische und literarische Bildung. Weder das eine noch das andere war Ketchum zuteil geworden, der noch keine zwölf war, als er die Schule verließ. 1936, mit neunzehn, konnte Ketchum weder lesen noch schreiben. Wenn er nicht als Holzfäller arbeitete, belud er auf den offenen Rampen des größten Sägewerks von Berlin Eisenbahn-Flachwagen mit Nutzholz. Die Belademannschaft schichtete die Ladung oben so auf, dass die Wagen problemlos durch Tunnel und unter Brücken hindurchkamen. »Darin erschöpfte sich meine Bildung, bevor deine Mutter mir das Lesen beibrachte«, erzählte Ketchum
Danny Baciagalupo gern. Der Koch schüttelte dazu wieder den Kopf, doch an der Geschichte, dass Dominics verstorbene Frau Ketchum das Lesen beigebracht hatte, ließ sich offenbar nicht rütteln. Zumindest gehörte sie anscheinend nicht in die Kategorie von Ketchums Lügengeschichten so wie beispielsweise die über die Schlafbaracke mit der niedrigen Decke in Camp One. Laut Ketchum hatte man »irgendeiner Rothaut« den Auftrag erteilt, den Schnee vom Dach zu schaufeln, doch der Indianer hatte diese Arbeit vernachlässigt. Als das Dach unter dem Gewicht des Schnees einstürzte, kamen alle Holzarbeiter mit dem Leben davon - bis auf den Indianer, der, wie Ketchum es formulierte, »an dem konzentrierten Gestank nasser Socken« erstickt sei. (Natürlich kannten der Koch und sein Sohn Ketchums ständige Klage, der Gestank nasser Socken sei der größte Fluch des Lebens in den Schlafbaracken.)
»Ich erinnere mich an keinen Indianer in Camp One.« Mehr hatte Dominic zu seinem alten Freund nicht gesagt. »Du bist zu jung, um dich an Camp One zu erinnern, Cookie«, hatte Ketchum erwidert. Danny hatte oft erlebt, wie sein Vater bei der bloßen Erwähnung der sieben Jahre Altersunterschied zwischen ihm und Ketchum hochging, während Ketchum dazu neigte, die Altersdifferenz zwischen ihnen überzubetonen. Diese sieben Jahre wären ihnen unüberwindlich erschienen, wenn sich die beiden Männer im Berlin ihrer Jugend kennengelernt hätten - als Ketchum ein knochiger, aber bärenstarker Neunzehnjähriger war, der schon mit einem (wenn auch struppigen) Vollbart protzte, und Annunziatas kleiner Dom noch ein Kind war. Er war damals ein starker, drahtiger Zwölfjähriger gewesen - nicht groß, aber kompakt und sehnig -, und der Koch hatte
immer noch die Figur eines schlanken, muskulösen, jungen Holzarbeiters, obwohl er inzwischen dreißig war und sogar älter wirkte, besonders in den Augen seines halbwüchsigen Sohnes. Es war seine Ernsthaftigkeit, die seinen Dad älter erscheinen ließ, dachte der Junge. Man brauchte in Gegenwart des Kochs nur »die Vergangenheit« oder »die Zukunft« zu sagen, schon runzelte er die Stirn. Und was die Gegenwart anging: Sogar der zwölfjährige Daniel verstand, dass die Zeiten sich änderten. Er wusste, dass eine Knöchelverletzung das Leben seines Vaters von Grund auf verändert hatte; ein anderer Unfall, der Dannys junger Mutter widerfahren war, hatte den Verlauf seiner eigenen Kindheit umgekrempelt und das Leben seines Vaters erneut von Grund auf verändert. Für einen Zwölfjährigen konnte Veränderung nichts Gutes sein. Jede Veränderung beunruhigte Danny - so wie es ihn beunruhigte, wenn er in der Schule fehlte.
In den nicht so alten Zeiten, als Danny und sein Dad während einer Trift in den Wanigans arbeiteten und schliefen, war der Junge nicht zur Schule gegangen. Dass er die Schule nicht mochte - aber den versäumten Unterrichtsstoff immer, und viel zu mühelos, nachholte -, beunruhigte Danny auch. Alle anderen Jungs in seiner Klasse waren älter als er, weil sie möglichst oft die Schule geschwänzt und den versäumten Unterrichtsstoff nie nachgeholt hatten. Alle waren sitzengeblieben und hatten eine oder zwei Klassen wiederholt. Wenn der Koch merkte, wie beunruhigt sein Sohn war, sagte er unweigerlich: »Lass dich nicht unterkriegen, Daniel - aber bleib am Leben. Eines Tages hauen wir ab von hier, Ehrenwort.« Doch auch das beunruhigte Danny Baciagalupo. Sogar die Wanigans waren für ihn wie ein Zuhause gewesen. Und in Twisted River hatte der Zwölfjährige ein eigenes
Zimmer oben im Kochhaus, wo auch das Schlafzimmer seines Vaters lag und das Bad, das sie sich teilten. Es waren die einzigen Zimmer im ersten Stock des Küchengebäudes, und sie waren geräumig und gemütlich. Jedes hatte ein Oberlicht, große Fenster mit Blick auf die Berge und - unterhalb des Kochhauses - auf einen Teil des Flussbeckens. Holzabfuhrwege zogen sich um die Hügel und Berge. Wo die Holzfäller das Hartholz und den Nadelwald geschlagen hatten, gab es große Wiesenflächen und Sekundärwald. Von seinem Zimmer aus kam es Daniel so vor, als könnten der blanke Fels und der Sekundärwald nie Ersatz für die Ahornbäume und Birken hervorbringen oder für die Weichhölzer - die Fichten und Tannen, die Rotkiefer und die Weymouthskiefer, die Hemlocktanne und die Amerikanische Lärche. Der Zwölfjährige glaubte, dass die Wiesen verwilderten und überall nur hüfthohes Gras und Unkraut wuchs. In Wirklichkeit wurden die Wälder der
Region nachhaltig bewirtschaftet. In diesen Wäldern wird immer noch Holz geschlagen »im verdammten einundzwanzigsten Jahrhundert«, wie Ketchum später sagen würde. Und wie Ketchum regelmäßig versicherte: Manche Dinge änderten sich nie. »Die Amerikanische Lärche wird immer Sümpfe mögen, die Gelb-Birke wird als Möbelholz immer hohe Preise erzielen, und die Pappelblättrige Birke wird außer als Brennholz nie für irgendwas zu gebrauchen sein.« Doch was die Tatsache anging, dass sich die Triften in Coos County bald auf ein Meter zwanzig lange Stämme Faserholz beschränken würden, weigerte sich Ketchum mürrisch, irgendwelche Vorhersagen zu machen. (Der erfahrene Flößer gab höchstens zu bedenken, dass kleineres Faserholz häufig aus der Strömung abtreibe und von Aufräumteams geborgen werden müsse.)
Was die Holzbranche aber wirklich verändern und schließlich vielleicht sogar den Koch die Arbeit kosten würde, war der rastlose Geist der Moderne. Der Zeitenwandel konnte für eine kleine »Siedlung« wie Twisted River das Aus bedeuten. Danny Baciagalupo jedoch fragte sich nur wie besessen: Was für Arbeit konnte es in Twisted River geben, wenn die Holzfäller einmal weitergezogen wären? Würde dann auch der Koch weiterziehen?, fragte er sich besorgt. (Und könnte Ketchum jemals weiterziehen?) Was den Fluss betraf, der floss einfach weiter, was sollen Flüsse sonst tun - sonst tun. Unter den Stämmen trieb der Leichnam des jungen Kanadiers, und der Fluss stieß ihn hin und her - hin und her. Wenn der Twisted River in diesem bestimmten Augenblick ebenfalls ruhelos, sogar ungeduldig wirkte, so wollte der Fluss vielleicht auch, dass die Leiche des Jungen rasch weitertrieb - rasch weitertrieb.
2 - Do-si-do In einem Schrank neben der Speisekammer bewahrte der Koch zwei modrige Schlafsäcke und zwei Klappbetten auf - sie stammten noch aus der Zeit, als er in transportablen Wanigans geschlafen hatte. Beides hatte Dominic nicht etwa aus Nostalgie behalten. Manchmal übernachtete nämlich Ketchum in der Küche des Kochhauses. Und wenn Danny dann noch auf war, bettelte er darum, ebenfalls in der Küche schlafen zu dürfen, weil er hoffte, von Ketchum eine neue Geschichte erzählt zu bekommen, falls der nicht zu betrunken war oder eine neue, wilde Version einer alten Geschichte. An dem ersten Abend, nachdem Angel Pope unter den Baumstämmen verschwunden war, schneite es leicht. Im April war es nachts
immer noch kalt, doch Dominic hatte die beiden Gasherde in der Küche eingeschaltet, den einen auf 175, den anderen auf 220 Grad, und vor dem Schlafengehen noch die trockenen Zutaten für die Scones, die Maismuffins und das Bananenbrot vorbereitet. Seine Armen Ritter (aus Bananenbrotscheiben) waren beliebt, und morgens machte er die Pfannkuchen immer frisch; wegen der rohen Eier bewahrte Dominic den Pfannkuchenteig nie länger als zwei Tage im Kühlschrank auf. Auch die Buttermilchbrötchen machte er fast jeden Morgen frisch und backte sie in dem auf 220 Grad vorgeheizten Herd. Gewöhnlich war es Dannys Aufgabe, vor dem Zubettgehen die Kartoffeln zu schälen, zu würfeln und über Nacht in Salzwasser einzuweichen. Am nächsten Morgen röstete sein Dad sie dann zusammen mit dem Schinkenspeck auf dem Backblech. In dem alten Garland-Herd befand sich das Backblech über dem Grillrost, in Augenhöhe des Kochs.
Obwohl er einen langstieligen Pfannenwender benutzte und sich entweder auf die Zehenspitzen oder auf einen kleinen Hocker stellte (beides nicht leicht für einen Koch mit schiefem Fuß), verbrannte sich Dominic häufig den Unterarm, wenn er in den hinteren Teil des Blechs langte. (Manchmal löste Indianer-Jane den Koch am Backblech ab, weil sie größer war und längere Arme hatte.) Es war noch dunkel, wenn Dominic aufstand, um zu backen und den Schinkenspeck zu braten, und es war auch dunkel, wenn Danny im ersten Stock des Kochhauses aufwachte, weil es nach Schinkenspeck und Kaffee duftete, und es war immer noch dunkel, wenn die Küchenhilfen und die Tellerwäscherin aus dem Ort in ihren Wagen eintrafen; zuerst hörte man immer die Motoren, Sekundenbruchteile später tauchten die Scheinwerfer auf. Morgens war der Grillrost des Garland meist glühend heiß, damit der Käse auf den Omeletts schmolz. Bevor Danny zur Schule ging,
musste er noch die Paprikas und Tomaten für die Omeletts schneiden und die große Kasserolle mit Ahornsirup hinten auf den achtflammigen Herd stellen. Die Außentür zur Küche ließ sich nicht richtig öffnen und schließen; sie hing so locker, dass sie im Wind klapperte. Die Fliegengittertür ging nach innen auf, was auch auf die Liste der Dinge gehörte, die Danny Baciagalupo beunruhigten. Aus verschiedenen praktischen Gründen wäre es besser gewesen, wenn die Tür nach außen aufgegangen wäre. In der Küche war immer so viel los, dass man keine Tür brauchte, die einem im Weg war - aber einmal, vor langer Zeit, war ein Bär in die Küche des Kochhauses eingedrungen. Es war ein lauer Abend gewesen - die defekte Außentür hatte offen gestanden -, und der Bär hatte die Gittertür einfach mit dem Kopf aufgestoßen und war ins Haus marschiert. Danny war noch ganz klein gewesen und
konnte sich nicht an den Bären erinnern, doch sein Vater musste ihm die Geschichte immer wieder erzählen. An jenem Tag hatte Dannys Mutter den Jungen schon längst zu Bett gebracht. Als der Bär hereinkam, saßen Dannys Eltern gerade bei einem späten Snack: Champignon-Omelett und dazu ein Glas Weißwein. Als er noch Alkohol getrunken habe (erklärte Dominic seinem Sohn), habe er häufig nachts Lust auf einen Imbiss gehabt. (Jetzt nicht mehr.) Als Dannys Mutter den Bären sah, schrie sie laut auf. Worauf der Bär sich auf die Hinterbeine stellte und sie aus zusammengekniffenen Augen ansah. Dominic jedoch hatte eine ganze Menge Wein getrunken und zunächst nicht gemerkt, dass es ein Bär war. Offenbar hielt er den Eindringling für einen haarigen, betrunkenen Holzfäller, der seine schöne Frau angreifen wollte. Auf
dem
Herd
stand
eine
gusseiserne
Bratpfanne von zwanzig Zentimeter Durchmesser, in der der Koch eben die Champignons für das Omelett angeschwitzt hatte. Dominic nahm die noch warme Pfanne und schlug sie dem Bären ins Gesicht hauptsächlich auf die Nase, aber auch auf die breite, platte Nasenwurzel zwischen den kleinen, blinzelnden Bärenaugen. Der Bär ließ sich auf alle viere fallen und entfloh durch die Küchentür. Nur das zerrissene Fliegengitter und zerbrochene Holzlatten blieben im Türrahmen zurück. Jedes Mal, wenn der Koch diese Geschichte erzählte, sagte er zum Schluss: »Tja, natürlich musste die Tür repariert werden, aber sie geht immer noch in die falsche Richtung auf.« Und wenn Dominic die Geschichte seinem Sohn erzählte, fügte er meist hinzu: »Einen Bären hätte ich nie mit einer gusseisernen Bratpfanne geschlagen - ich hielt ihn für einen Mann!« »Aber was hättest du mit einem Bären
gemacht?«, fragte Danny seinen Dad. »Ihm gut zugeredet, schätze ich«, antwortete der Koch. »Mit einem Mann kann man in so einer Situation nicht reden.« Was er mit »so einer Situation« meinte, konnte Dan nur raten. Hatte sein Vater sich eingebildet, seine hübsche Frau vor einem gefährlichen Mann beschützen zu müssen? Die gusseiserne Bratpfanne bekam übrigens einen Ehrenplatz. Sie musste sich nicht mehr mit anderen Töpfen und Pfannen die Küche teilen, sondern hing in Schulterhöhe an einem Haken im ersten Stock - gleich hinter Dominics Schlafzimmertür. Sie wurde zur Allzweckwaffe des Kochs; sollte er jemals auf der Treppe Schritte hören oder einen Eindringling (ob Tier oder Mensch), der in der Küche herumschlich, würde er nach ihr greifen. Dominic besaß keine Schusswaffe und wollte
auch keine haben. Er war zwar in New Hampshire groß geworden, aber nie jagen gegangen - was nicht nur an seiner Knöchelverletzung lag, sondern auch daran, dass er ohne Vater aufgewachsen war. Die Jäger unter den Holz- und Sägewerksarbeitern brachten dem Koch ihr Wild. Der zerlegte die Tiere für sie und behielt genug Fleisch für sich, um gelegentlich im Kochhaus Hirsch oder Reh aufzutischen. Nicht dass Dominic die Jagd ablehnte, er mochte nur weder Wildbret noch Schusswaffen. Außerdem hatte er immer wieder denselben Traum, von dem er Daniel erzählt hatte und in dem er im Schlaf ermordet (in seinem Bett erschossen) wurde; und jedes Mal, wenn er aus diesem Traum erwachte, hallte der Knall des Schusses noch in seinen Ohren nach. Und so kam es, dass in Dominic Baciagalupos Schlafzimmer eine Bratpfanne hing. In der Küche gab es gusseiserne Bratpfannen in allen Größen, doch die mit zwanzig Zentimeter
Durchmesser war zur Selbstverteidigung am besten geeignet. Sogar Danny konnte sie mit einiger Wucht schwingen. Die 26er- und 28erBratpfannen waren vielleicht besser zum Braten, aber zu schwer und darum als Waffen ungeeignet. Nicht einmal Ketchum könnte mit diesen größeren Pfannen schnell genug zuschlagen, um einen geilen Holzfäller oder einen Bären unschädlich zu machen. In der Nacht, nachdem Angel Pope unter die Stämme geraten war, lag Danny Baciagalupo in seinem Bett im ersten Stock des Kochhauses. Das Zimmer des Jungen war direkt über der sich nach innen öffnenden Fliegengitter- und über der wackligen Außentür, die er im Wind klappern hörte. Den Fluss hörte er auch. Im Kochhaus konnte man den Twisted River immer hören, wenn der Fluss nicht unter einer Eisschicht lag. Doch Danny war wohl genauso schnell eingeschlafen wie sein Vater, da er den Pickup nicht kommen hörte. Es hatten auch keine
Scheinwerfer in das Kochhaus hineingeleuchtet. Wer auch immer am Steuer des Pickups saß, hatte sich entweder einen Spaß daraus gemacht, in fast völliger Dunkelheit herzufahren - oder er war betrunken und hatte vergessen, die Scheinwerfer einzuschalten. Danny glaubte zu hören, wie die Fahrertür des Pick-ups ins Schloss fiel. Der tagsüber weiche Schlamm knirschte nachts unter den Stiefeln nachts wurde es noch so kalt, dass der Schlamm gefror, und jetzt bedeckte ihn obendrein eine dünne Schneeschicht. Ich muss mich getäuscht haben, dachte der Junge; das Plopp hätte auch irgendein Geräusch in seinem Traum sein können. Doch dann hörte er wieder Schritte auf dem gefrorenen Schlamm vor dem Kochhaus, sie klangen wie ein Schlurfen tapsig und vorsichtig. Vielleicht ist es ein Bär, dachte Danny. Der Koch hatte draußen vor der Küche eine
Kühlbox stehen. Sie war zwar fest verschlossen, enthielt aber das Hackfleisch für das Lammhaschee, den Schinkenspeck und alle anderen leicht verderblichen Lebensmittel, die nicht in den Kühlschrank passten. Was, wenn der Bär das Fleisch in der Kühlbox gewittert hat?, dachte Danny. »Dad?«, rief der Junge, doch sein Vater schlief wohl tief und fest am anderen Ende des Flurs. Wie alle anderen auch hatte der Bär mit der Außentür offenbar Probleme; er schlug mit der Tatze dagegen, und Danny hörte auch ein Brummen. »Dad!«, rief Danny lauter. Er hörte, wie sein Vater die Bratpfanne von dem Haken an der Schlafzimmerwand riss. Wie sein Dad war der Junge in langer Unterhose und Socken zu Bett gegangen. Der Boden im Obergeschoss fühlte sich für Danny kalt an, trotz der Socken an seinen Füßen. Er und sein Dad tapsten nach unten in die von den flackernden
Zündflammen des alten Garland-Herds schwach erhellte Küche. Der Koch hielt die schwarze Pfanne beidhändig fest. Nachdem der Bär (falls es einer war) die Außentür aufbekommen hatte, drückte er seinen Oberkörper gegen das Fliegengitter. Auf wackligen Beinen, aber aufrecht, kam er ins Haus. Die langen weißen Zähne schimmerten gespenstisch. »Ich bin kein Bär, Cookie«, sagte Ketchum. Das leuchtende Weiß, in Dannys Vorstellung die gebleckten Zähne des Bären, war der frische Gips an Ketchums rechtem Unterarm. Der Gips reichte von der Mitte seiner Handfläche bis zur Armbeuge. »Tut mir leid, Leute, wenn ich euch erschreckt habe«, fügte Ketchum hinzu. »Mach die Außentür zu, ja? Ich geb mir alle Mühe, dass es hier drin warm bleibt«, sagte der Koch. Danny sah, wie sein Vater die Pfanne auf die unterste Treppenstufe legte.
Ketchum versuchte, mit der linken Hand die Außentür zuzuziehen. »Du bist besoffen«, stellte Dominic fest. »Ich hab nur einen Arm, Cookie, und ich bin Rechtshänder«, sagte Ketchum. »Trotzdem bist du besoffen«, sagte Dominic Baciagalupo zu seinem alten Freund. »Vermutlich weißt du noch, wie das ist«, erwiderte der. Danny half Ketchum beim Zuziehen der Außentür. »Bestimmt hast du einen Mordshunger«, sagte er zu ihm. Der leicht schwankende, stämmige Mann verstrubbelte ihm die Haare. »Ich muss nichts essen«, sagte Ketchum. »Aber vielleicht wirst du davon schneller nüchtern«, sagte der Koch und öffnete den Kühlschrank. »Ich habe noch etwas Hackbraten, der schmeckt kalt gar nicht übel.
Du kannst Apfelmus dazu haben.« »Ich brauche nichts zu essen«, wiederholte der stämmige Mann. »Du musst mit mir kommen, Cookie.« »Wo soll's denn hingehen?«, fragte Dominic, doch sogar Danny merkte, wenn sein Vater vorgab, etwas nicht zu wissen, was er offensichtlich doch wusste. »Du weißt, wohin«, sagte Ketchum. »Ich erinnere mich nur nicht an die genaue Stelle.« »Weil du zu viel trinkst, Ketchum, deshalb erinnerst du dich nicht«, sagte Dominic. Als Ketchum den Kopf senkte, schwankte er noch mehr. Einen Augenblick lang dachte Danny, der Flößer würde umkippen. Und weil beide Männer jetzt leiser sprachen, merkte der Junge, dass sie verhandelten. Sie achteten auch darauf, nicht zu viel zu sagen, denn Ketchum wusste nicht, was Dominic dem Zwölfjährigen über den Tod seiner Mutter erzählt hatte, und
Dominic wollte nicht, dass sein Sohn zu viele unerwünschte Details erfuhr, die Ketchum in diesem Moment einfallen mochten und die den Jungen erschrecken könnten. »Probier einfach mal den Ketchum«, sagte der Koch leise.
Hackbraten,
»Mit Apfelmus schmeckt er ziemlich gut«, ergänzte Danny. Der Flößer ließ sich vorsichtig auf einem Hocker nieder. Seinen neuen weißen Gips legte er auf die Arbeitsplatte. Alles an Ketchum war kantig wie ein geschnitzter Stock - und, wie Danny aufgefallen war, »irre hart« -, weshalb der weiße, zerbrechlich wirkende Gips an dem Mann so deplatziert wirkte wie ein künstliches Glied. (Hätte Ketchum einen Unterarm verloren, hätte er sich mit dem Stumpf beholfen - und ihn vielleicht als Knüppel verwendet.) Doch jetzt, wo Ketchum saß, sah er in Dannys Augen wieder so ungefährlich aus, dass man
ihn berühren konnte. Noch nie zuvor hatte der Junge einen Gips angefasst; sogar in betrunkenem Zustand wusste Ketchum irgendwie, was Danny gerade dachte. »Na los - du darfst ihn anfassen«, sagte der Flößer und hielt dem Jungen seinen Gips hin. An Ketchums gekrümmten Fingern, die starr aus dem Gips herausragten, klebte getrocknetes Blut oder Harz. Bei einem gebrochenen Handgelenk tat es die ersten paar Tage weh, die Finger zu bewegen. Vorsichtig berührte der Junge Ketchums Gips. Der Koch brachte Ketchum eine große Portion Hackbraten mit Apfelmus. »Es gibt Milch oder Orangensaft«, sagte Dominic, »ich könnte dir aber auch einen Kaffee machen.« »Was für eine traurige Auswahl!«, sagte Ketchum und blinzelte Danny zu. »Traurig«, wiederholte der Koch und sagte dann kopfschüttelnd: »Ich mach einen Kaffee.«
Danny wünschte, die beiden Männer würden einfach über alles reden. Der Junge wusste viel über die Vorgeschichte der beiden, aber nicht genug über seine Mutter. Kein Detail über ihren Tod könnte ihn erschrecken, dachte Danny - er wollte alles hören. Doch der Koch war ein vorsichtiger Mensch oder jedenfalls zu einem geworden; und selbst Ketchum, der sich von seinen eigenen Kindern entfremdet hatte, war Danny gegenüber ausgesprochen aufmerksam und fürsorglich - so hatte er sich auch gegenüber Angel verhalten. »Wenn du getrunken hast, fahre ich sowieso nicht mit dir dahin«, sagte der Koch gerade. »Du hattest getrunken, als ich dich dahin gebracht habe«, sagte Ketchum. Um nicht mehr zu sagen, stopfte er sich den Mund mit Hackbraten und Apfelmus voll. »Wenn eine Leiche nicht unter einem Holzstau hängt, treibt sie langsamer flussabwärts als ein Baumstamm«, sagte Dominic, als spräche er
mit der Kaffeekanne statt mit Ketchum, der ihm den Rücken zuwandte. »Es sei denn, die Leiche klemmt unter einem Stamm fest.« Danny hatte diese Erklärung bereits in anderem Zusammenhang gehört. Die Leiche seiner Mutter hatte für die Reise von dem Flussbecken bis zur Flussenge mehrere Tage gebraucht (drei, um genau zu sein). Dort war sie wieder aufgetaucht und gegen den Damm getrieben worden. Zuerst sinkt die Leiche eines Ertrunkenen, hatte der Koch seinem Sohn erklärt, dann steigt sie wieder auf. »Am Wochenende lassen sie alle Dämme geschlossen«, sagte Ketchum. Der Flößer aß gleichmäßig, aber nicht schnell, weil er die Gabel ungewohnterweise in der linken Hand halten musste. »Schmeckt gut mit Apfelmus, stimmt's?«, fragte ihn der Junge. Ketchum nickte zustimmend und kaute energisch.
Es duftete nach aufgebrühtem Kaffee, und der Koch sagte, mehr zu sich selbst als zu seinem Sohn oder Ketchum: »Wenn ich schon mal dabei bin, kann ich genauso gut mit dem Schinkenspeck anfangen.« Ketchum aß einfach weiter. »Vermutlich sind die Stämme schon am ersten Staudamm«, fuhr Dominic fort, als führte er immer noch ein Selbstgespräch. »Ich meine unsere Stämme.« »Ich weiß, welche Stämme und welchen Damm du meinst«, brummte Ketchum. »Ja, die Stämme sind schon am Damm - sie sind da angekommen, als du Abendessen gemacht hast.« »Du warst also bei diesem trotteligen Arzt?«, fragte der Koch. »Man muss zwar kein Genie sein, um ein gebrochenes Handgelenk zu gipsen, aber wenn du zu diesem Arzt gehst, musst du zumindest ein risikofreudiger Mensch sein.« Dominic trat aus dem Kochhaus, um den Schinkenspeck aus der
Kühlbox zu holen. Draußen war es stockfinster, und das Rauschen des Flusses drang in die warme Küche. »Früher warst du auch risikofreudiger, Cookie!«, rief Ketchum seinem alten Freund hinterher. Er sah Danny aufmerksam an. »Früher war dein Dad glücklicher - als er noch getrunken hat.« »Ich war glücklicher, Punkt«, sagte der Koch und knallte den Speck auf das Schneidbrett. Danny fuhr herum, doch Ketchum sah nicht von seinem Hackbraten mit Apfelmus auf. »Wenn man bedenkt, dass Leichen langsamer flussabwärts treiben als Baumstämme«, sagte Ketchum betont langsam und mit leicht belegter Stimme, »was wäre nach deiner Schätzung die genaue Ankunftszeit Angels an der Stelle, an die ich mich nicht mehr erinnere?« Danny zählte im Stillen vor sich hin, doch ihm
und Ketchum war klar, dass der Koch Angels Reisedauer schon geschätzt hatte. »Samstagnacht oder Sonntagmorgen«, antwortete Dominic Baciagalupo. Er musste lauter reden, um das Zischen des Specks zu übertönen. »Nachts gehe ich da nicht mit dir hin, Ketchum.« Dannys Blick huschte zu Ketchum, denn der Junge ahnte, was der stämmige Mann antworten würde; schließlich ging es dabei um die Geschichte, die ihn am meisten interessierte und ihm besonders am Herzen lag. »Aber ich bin mit dir nachts da gewesen, Cookie.« »Die Chancen stehen besser, dass du Sonntagmorgen nüchtern bist«, sagte der Koch zu Ketchum. »Sonntagmorgen um neun Daniel und ich treffen dich da.« (Sie meinten den Dead-Woman-Damm, doch der Junge wusste, dass keiner von beiden den Namen aussprechen würde.)
»Wir können alle in meinem Truck fahren«, schlug Ketchum vor. »Ich nehme Daniel in meinem Wagen mit, für den Fall, dass du nicht ganz nüchtern bist«, erwiderte Dominic. Ketchum schob seinen leeren Teller weg. Dann legte er den struppigen Kopf zum Ausruhen auf die Anrichte und betrachtete seinen Gips. »Heißt das, wir treffen uns am Sägewerkteich?«, fragte Ketchum. »So nenne ich ihn nicht. Der Damm war vor dem Werk da. Wie können sie Teich dazu sagen, wenn an der Stelle der Fluss schmaler wird?« »Du kennst doch Sägewerksarbeiter«, sagte Ketchum verächtlich. »Der Damm war vor dem Werk da«, wiederholte Dominic, ohne den Damm beim Namen zu nennen.
»Eines Tages wird das Wasser den Damm durchbrechen, und dann werden sie einfach keinen neuen bauen«, meinte Ketchum. Ihm fielen die Augen zu. »Eines Tages werden sie kein Holz mehr den Twisted River runterschicken«, sagte der Koch. »Dann braucht man auch keinen Damm mehr an der Stelle, wo der Fluss in den Stausee fließt. Doch der Pontook-Damm am Androscoggin River wird vermutlich bleiben.« »Eines nicht mehr fernen Tages, Cookie«, verbesserte Ketchum seinen Freund. Er hatte die Augen geschlossen, Kopf, Brustkorb und beide Arme auf die Anrichte gelegt. Der Koch nahm wortlos den leeren Teller weg, doch Ketchum schlief nicht; er sprach nur noch langsamer als vorher. »Auf einer Seite des Damms gibt es eine Art Überlauf. Das Wasser bildet einen Tümpel - sieht fast aus wie eine offene Quelle -, allerdings mit einer Sperrvorrichtung oder schwimmenden
Barriere - ein Tau mit Schwimmern, damit die Stämme nicht reintreiben.« »Klingt, als könntest du dich genauso gut daran erinnern wie ich«, sagte der Koch. Dort hatten sie seine Mutter gefunden, das wusste Danny. Ihre Leiche hatte tiefer im Wasser gelegen als die Stämme; offenbar war sie unter der Barriere hindurch und in den Überlauf getrieben. Ketchum hatte sie in dem Tümpel gefunden - ganz allein, es war kein einziger Stamm in ihrer Nähe. »Ich weiß nicht recht, wie man dahin kommt«, sagte Ketchum ziemlich verdrossen, mit immer noch geschlossenen Augen. Langsam bog er die Finger seiner rechten Hand nach unten, bis die Fingerspitzen beinahe die Unterseite des Gipses berührten. Dem Koch und seinem Sohn war klar, dass der Holzfäller sein Schmerzempfinden testete. »Das kann ich dir zeigen, Ketchum«, sagte
Dominic sanft. »Du musst entweder auf dem Damm oder über die Stämme gehen - weißt du noch?« Der Koch hatte eins der Klappbetten in die Küche gebracht. Er nickte seinem Sohn zu, und der half ihm, das Bett aufzubauen - nicht zu nahe an den Herden und auch nicht zu nah an der nach innen aufgehenden Fliegengittertür. »Ich will auch in der Küche schlafen«, quengelte Danny. »Wenn du raufgehst, außer Hörweite, schläfst du vielleicht sogar wieder ein«, sagte Dominic zu seinem Sohn. »Ich will aber zuhören«, sagte Danny. »Das Gespräch ist fast vorbei«, flüsterte der Koch dem Jungen ins Ohr und gab ihm einen Kuss. »Verlass dich nicht drauf, Cookie«, sagte Ketchum mit geschlossenen Augen.
»Ich muss noch backen, Ketchum - und könnte auch schon mit den Kartoffeln anfangen.« »Ich hab schon erlebt, wie du gleichzeitig gekocht und geredet hast«, entgegnete Ketchum. Der Koch sah seinen Sohn streng an und zeigte in Richtung Treppe. »Oben ist es aber kalt«, protestierte Danny. Der Junge blieb auf der untersten Stufe stehen, wo die Bratpfanne lag. »Häng die Pfanne bitte wieder an ihren Platz, wenn du nach oben gehst, Daniel.« Widerstrebend ging der Junge hoch, machte aber auf jeder Stufe halt und lauschte, wie sein Vater mit den Rührschüsseln hantierte. Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, was sein Dad gerade machte. Als Erstes bereitete der Koch immer das Bananenbrot zu. Während Danny die Bratpfanne an den Haken im Schlafzimmer seines Vaters hängte, zählte er mit, wie sechzehn Eier aufgeschlagen wurden
und in die Schüssel aus rostfreiem Stahl fielen; dann kamen die pürierten Bananen und die gehackten Walnüsse dazu. (Manchmal garnierte sein Dad das Brot auch mit warmen Äpfeln.) Als Nächstes bereitete der Koch die Scones zu, gab die Eier und die Butter zu Mehl und Salz und den anderen trockenen Zutaten zum Schluss noch Obst, wenn er welches hatte. Aus dem Flur im ersten Stock hörte Danny, wie sein Vater die Muffinförmchen einfettete, die er dann mit Mehl bestäubte, ehe er die Maismuffin-Mischung in die Förmchen gab. In dem Bananenbrot waren Haferflocken und süße Kleie, was der Junge auf seinem Zimmer bald riechen konnte. Unter den Bettdecken war es warm, und dort hörte Danny, wie die Herdtüren geöffnet und die Backbleche und Muffinförmchen in den Herd geschoben wurden. Dann schlossen sich die Herdtüren. Das ungewohnte Geräusch, das bewirkte, dass der Junge die Augen aufschlug und sich im Bett aufsetzte, war das Ächzen
seines Vaters, der sich abmühte, Ketchum hochzuheben. Er packte den schweren Mann unter beiden Armen und schleifte ihn zum Klappbett. Danny hatte nicht gewusst, dass sein Dad stark genug war, um Ketchum hochzuheben. Leise schlich der Zwölfjährige wieder die Treppe hinunter und beobachtete, wie sein Vater Ketchum auf das Bett hievte, wo er ihn mit einem der offenen Schlafsäcke zudeckte. Dominic Baciagalupo verteilte gerade die Kartoffeln auf dem Backblech, als Ketchum brummte: »Du durftest sie nicht sehen, das konnte ich unmöglich zulassen, Cookie - das wäre nicht richtig gewesen.« »Ich verstehe«, sagte der Koch. Auf der Treppe schloss Danny wieder die Augen, er sah die Geschichte vor sich, die er auswendig kannte - der betrunkene Ketchum ging in kleinen Schrittchen auf den Stämmen, dabei hielt er die Hände in den
Überlauftümpel. »Komm nicht hierher, Cookie!«, hatte Ketchum in Richtung Ufer gerufen. »Versuch ja nicht, auf den Stämmen zu gehen - oder auf dem Damm!« Dominic hatte zugesehen, wie Ketchum seine tote Frau an der Sperre entlangtrug. »Aus dem Weg, Cookie!«, hatte Ketchum gerufen, als er auf den Stämmen näher kam. »Du darfst sie nicht sehen - sie ist nicht mehr die, die sie mal war!« Der ebenfalls betrunkene Koch hatte die Decke von der Ladefläche von Ketchums Pick-up genommen. Doch Ketchum weigerte sich, an Land zu kommen. Obwohl er betrunken war, ging er weiter mit kleinen Schrittchen über die Stämme. »Breite die Decke auf der Ladefläche aus, Cookie - und dann geh wieder!« Als Ketchum ans Ufer kam, stand Dominic an der Spitze eines gleichschenkligen Dreiecks - vom Flussufer und von Ketchums Truck gleich weit entfernt.
»Halt die Stellung, Cookie, bis ich sie zugedeckt habe«, hatte Ketchum befohlen. Danny fragte sich, ob daher die häufige Mahnung seines Vaters kam: »Halt die Stellung, Daniel - aber bleib am Leben.« Vielleicht stammte der Ausspruch von Ketchum, der die tote Frau des Kochs sanft auf die Ladefläche seines Pick-ups legte und die Decke über sie breitete. Dominic blieb auf Distanz. »Wolltest du sie denn nicht sehen?«, hatte Danny seinen Dad immer wieder gefragt. »Ich vertraue Ketchum«, hatte sein Vater geantwortet. »Vertrau du ihm auch, Daniel, falls mir mal etwas zustoßen sollte.« Offenbar war er wieder die Treppe nach oben in sein Zimmer geschlichen und eingeschlafen, stellte Daniel fest, als er plötzlich außer den Backdüften auch noch das Lammhaschee roch. Er hatte nicht mitbekommen, wie sein Dad die
Außentür der Küche geöffnet und das Lammhack aus der Kühlbox geholt hatte. Der Junge lag immer noch mit geschlossenen Augen im Bett und genoss die vielen Gerüche. Er wollte Ketchum fragen, ob seine Mom mit dem Gesicht nach oben im Überlaufwasser gelegen hatte, als er sie fand, oder mit dem Gesicht nach unten. Danny zog sich an und ging hinunter in die Küche. Jetzt erst sah er, dass sein Vater sich inzwischen oben angezogen hatte, wahrscheinlich nachdem Ketchum auf dem Klappbett weggetreten war. Er beobachtete seinen Dad bei der Arbeit am Herd. Wenn sich der Koch auf drei oder vier Tätigkeiten gleichzeitig konzentrierte, die alle auf engstem Raum stattfanden, bemerkte man sein Hinken fast nicht. In solchen Augenblicken konnte er sich vorstellen, wie sein Vater im Alter von zwölf Jahren gewesen war - vor dem Unfall. Danny Baciagalupo war mit zwölf ein einsamer Junge; er hatte keine Freunde. Er
wünschte sich oft, er hätte seinen Dad als Zwölfjährigen gekannt. Wenn man zwölf ist, kommen einem vier Jahre lang vor. Annunziata Saetta wusste, dass der Knöchel ihres kleinen Dom keine vier Jahre brauchen würde, um zu heilen. Nunzis geliebter »Wolfskuss« ging schon nach vier Monaten wieder ohne Krücken, und mit 13 konnte er so gut lesen wie andere mit 15. Der Heimunterricht funktionierte. Schließlich war Annunziata Grundschullehrerin und wusste, wie viel Zeit an einem Schultag für Disziplinprobleme, Pausen und Essen draufging. Der Junge machte brav seine Hausaufgaben und kontrollierte sie sogar selbst. Danach blieb ihm noch Zeit für jede Menge zusätzlicher Lektüre, außerdem führte er ein Tagebuch mit den Kochrezepten, die er lernte. Beim Kochen lernte der Junge langsamer, und
nach dem Unfall stellte Annunziata ihre eigenen Gesetze zur Kinderarbeit auf. Sie ließ Dominic erst dann in einem Frühstückscafe in Berlin, New Hampshire, arbeiten, als der Junge sich richtig gut in der Küche auskannte, und auch erst, als er sechzehn war. In diesen vier Jahren wurde Dominic zu einem sehr belesenen jungen Mann und zu einem versierten Koch, der weniger Erfahrung im Rasieren hatte als darin, sich humpelnd fortzubewegen. 1940 lernte Dominic Baciagalupo Dannys Mom kennen. Sie war 23 und unterrichtete in derselben Grundschule wie Annunziata Saetta, ja die Mutter des Kochs machte ihren sechzehnjährigen Sohn sogar mit der neuen Lehrerin bekannt. Diese Begegnung war unvermeidlich. Annunziatas Cousine Maria, auch eine Saetta, hatte einen Calogero geheiratet. Das war ein gängiger sizilianischer Name. »Nach
irgendeinem griechischen Heiligen, der da gestorben ist - der Name hat wohl allgemein etwas mit Kindern zu tun, oder vielleicht speziell mit Waisen«, hatte Nunzi Dominic erklärt. Er werde auch als Vorname verwendet, fuhr seine Mutter fort, »vorzugsweise für Bastarde«. Für den sechzehnjährigen Dominic waren uneheliche Kinder ein heikles Thema - für seine Mutter Annunziata allerdings auch. Ihre Cousine hatte ihre schwangere Tochter nach New Hampshire in die Pampa geschickt. Dabei sei ihre Tochter die erste Frau in der Familie Calogero mit einem Collegeabschluss, hatte sie geklagt. »Es war zwar nur ein Lehrerseminar, und was hat's ihr groß gebracht - sie hat sich trotzdem schwängern lassen!«, erzählte die Mutter des armen Mädchens Nunzi, die diese unsensiblen Worte Dominic hinterbrachte. Auch ohne Einzelheiten zu erfahren, verstand der Junge, dass man ihnen die schwangere Dreiundzwanzigjährige
schickte, weil man der Meinung war, Annunziata und ihr Bastard säßen im selben Boot wie die werdende Mutter. Sie hieß Rosina, aber noch ehe sie die Reise von Boston nach Berlin, New Hampshire, antrat, war die verstoßene junge Frau (bei Nunzis Faible für Abkürzungen kein Wunder) schon eine Rosie. Wie es »damals« gang und gäbe war - und zwar nicht nur in Bostons North End und keineswegs nur in italienischen oder anderen katholischen Familien -, schickten die Saettas und Calogeros ein schwarzes Schaf der Familie zu einem anderen. Annunziata hatte also allen Grund, ihrer Bostoner Verwandtschaft doppelt zu grollen. »Lass dir das eine Lehre sein, Dom«, sagte Nunzi. »Wir werden die arme Rosie nicht wegen ihres bedauerlichen Zustandes verurteilen - wir werden sie lieben, als wäre nichts geschehen.« Auch wenn Annunziatas nachsichtige Haltung
Lob verdient - zumal 1940, als gerade ledige Mütter in Amerika mit äußerst wenig Nachsicht rechnen konnten -, war es sowohl leichtsinnig als auch überflüssig, ihrem sechzehnjährigen Sohn zu sagen, er solle seine Cousine zweiten Grades lieben, »als wäre nichts geschehen«. »Wieso ist sie meine Cousine zweiten Grades?«, fragte der Junge seine Mutter. »Vielleicht ist das nicht ganz richtig vielleicht ist sie eigentlich deine Großcousine oder so was«, antwortete Nunzi. Da Dominic sie verwirrt ansah, fuhr seine Mutter fort: »Egal, wie man das nennt, sie ist nicht deine richtige Cousine - jedenfalls keine Cousine ersten Grades.« Für einen verkrüppelten Sechzehnjährigen stellte diese Information (oder Fehlinformation) eine unbekannte Gefahr dar. Sein Unfall, seine Rekonvaleszenz, der Heimunterricht, von seiner neuen Laufbahn als
Koch ganz zu schweigen: das alles hatte verhindert, dass er gleichaltrige Freunde fand. Und der »kleine« Dom hatte einen Vollzeitjob, er sah sich schon als jungen Mann. Und jetzt hatte Nunzi ihm erzählt, die dreiundzwanzigjährige Rosie Calogero sei nicht seine »richtige« Cousine. Als Rosie eintraf, sah man ihr die »anderen Umstände« noch nicht an; das würde sich bald ändern und neue Probleme stellen. Rosie hatte auf dem Lehrerseminar einen Bachelor-Abschluss in Pädagogik gemacht. Dafür, an einer Grundschule in Berlin, New Hampshire, zu unterrichten, war sie eigentlich überqualifiziert. Doch wenn man der jungen Frau die Schwangerschaft erst einmal ansah, würde sie ihre Stellung vorübergehend aufgeben müssen. »Oder wir müssen einen Ehemann für dich auftreiben, einen echten oder einen imaginären«, hatte Annunziata ihr eröffnet. Zweifellos war Rosie hübsch genug,
um einen Mann zu finden, einen echten Dominic fand sie absolut umwerfend -, doch das arme Mädchen wollte sich nicht in die gesellschaftlichen Abenteuer stürzen, die erforderlich waren, um alleinstehende junge Männer kennenzulernen, nicht in ihrem Zustand! Vier Jahre lang hatte der Junge mit seiner Mutter gekocht. Weil er sich jedes Rezept notierte - von den Rezeptvarianten ganz zu schweigen, die er gelegentlich ohne sie kochte -, übertraf er sie in mancher Hinsicht sogar schon, obwohl er noch lernte. An jenem Abend, der sein Leben für immer verändern würde, kochte Dominic für die beiden Frauen und sich. Er war gerade auf dem besten Weg, sich in dem Frühstückscafe in Berlin einen Namen zu machen, und er kam eine ganze Weile früher nach Hause als Rosie und seine Mom. An den Wochenenden kochte in der
Regel Nunzi, doch sonst wurde Dominic allmählich zum Hauptkoch des kleinen Haushalts. Er rührte in seiner Marinarasauce und sagte: »Also, ich könnte Rosie doch heiraten oder so tun, als wäre ich ihr Mann bis sie einen Geeigneteren findet. Das muss doch keiner erfahren, oder?« Für Annunziata war das ein nettes, unschuldiges Angebot; sie lachte und umarmte ihren Sohn. Doch der junge Dom konnte sich für Rosie keinen Geeigneteren vorstellen als sich selbst - das mit dem so tun hatte er nicht ernst gemeint. Er hätte Rosie richtig geheiratet. Der Altersunterschied und dass sie um ein paar Ecken miteinander verwandt waren, stellte für ihn kein Hindernis dar. Für Rosie wiederum spielte es keine Rolle, dass der nette, aber eben nicht so unschuldige Antrag des Sechzehnjährigen unrealistisch und wahrscheinlich strafbar - war, sogar im Norden New Hampshires. Was die arme junge
Frau, die noch im ersten Drittel ihrer Schwangerschaft war, wirklich erboste, war die Tatsache, dass der Hallodri, der sie geschwängert hatte, nicht angeboten hatte, sie zu heiraten, obwohl erheblicher Druck auf ihn ausgeübt worden war. Den Vorlieben der männlichen Mitglieder der Familien Saetta und Calogero entsprechend, nahm dieser »Druck« die Gestalt zahlreicher Kastrationsdrohungen an und gipfelte in der Aussicht auf einen Tod durch Ertrinken. Ob der Hallodri das Schiff nach Neapel oder Palermo nahm, ließ sich nicht klären, doch ein Heiratsantrag blieb aus. Dominics spontaner und von Herzen kommender Vorschlag war der erste Antrag gewesen, den Rosie je erhalten hatte. Überwältigt brach sie am Küchentisch in Tränen aus, noch ehe Dominic die Garnelen in der Marinarasauce pochieren konnte. Schluchzend ging die verstörte junge Frau ohne Abendessen ins Bett.
Nachts wurde Annunziata durch die irritierenden Geräusche von Rosies Fehlgeburt wach - »irritierend«, weil Nunzi in diesem Moment nicht wusste, ob der Verlust des Babys ein Segen oder ein Fluch war. Dominic Baciagalupo lag in seinem Bett und hörte seine Cousine zweiten Grades (oder seine Großcousine) weinen. Ständig wurde die Toilettenspülung betätigt, die Badewanne füllte sich - offenbar war Blut geflossen -, und all das wurde vom mitfühlenden Säuseln seiner Mutter begleitet. »Rosie, vielleicht ist es besser so«, sagte sie mit ihrer trostreichsten Stimme. »Jetzt musst du nicht aufhören zu arbeiten - nicht einmal vorübergehend! Wir müssen dir auch keinen Ehemann besorgen weder einen echten noch einen von der imaginären Sorte! Hör mir zu, Rosie - es war kein Baby, noch nicht.« Doch Dominic lag da und fragte sich: Was habe ich nur getan? Selbst eine imaginäre Ehe sorgte bei dem Jungen beinahe für eine
Dauererektion. (Na ja, kein Wunder, er war 16 Jahre alt!) Als er hörte, dass Rosie nicht mehr weinte, hielt der junge Dominic den Atem an. »Ob Dominic mich gehört hat - glaubst du, ich habe ihn geweckt?«, hörte er Rosie seine Mutter fragen. »Der Junge schläft wie ein Toter«, antwortete Nunzi, »aber du hast einen ziemlichen Tumult veranstaltet - verständlicherweise, natürlich.« »Bestimmt hat er mich gehört!«, rief die junge Frau. »Ich muss mit ihm reden!« Dominic hörte sie aus der Wanne steigen. Dann wurde heftig mit einem Badetuch gerubbelt, und nackte Füße patschten über den Badezimmerboden. »Ich kann das Dom am Morgen erklären«, sagte seine Mutter, doch die nackten Füße seiner Doch-nicht-Cousine liefen schon durch den Flur zum Gästezimmer. »Nein! Ich muss ihm etwas sagen!«, rief
Rosie. Dominic hörte, wie eine Schublade aufging; in einem Schrank fiel ein Kleiderbügel herunter. Dann war die junge Frau in Doms Zimmer - sie öffnete einfach die Tür, ohne anzuklopfen, und legte sich neben ihn auf das Bett. Er spürte, wie ihre nassen Haare sein Gesicht berührten. »Ich habe dich gehört«, sagte er ihr. »Das wird schon wieder«, fing Rosie an. »Ich kriege schon noch ein anderes Baby, eines Tages.« »Hast du Schmerzen?«, fragte er sie. Er wandte sein Gesicht im Liegen von ihr ab, weil es schon zu lange her war, dass er die Zähne geputzt hatte - er befürchtete, Mundgeruch zu haben. »Dass ich das Baby haben wollte, wird mir erst jetzt klar, wo ich es verloren habe«, sagte Rosie gerade. Ihm fiel nichts Vernünftiges dazu ein. Sie sprach weiter. »Was du zu mir
gesagt hast, Dominic, war das Netteste, was je ein Mensch zu mir gesagt hat. Ich werde es nie vergessen.« »Ich würde dich wirklich heiraten - ich habe das nicht nur so gesagt«, flüsterte der Junge. Sie umarmte ihn und küsste ihn aufs Ohr. Sie lag auf der Bettdecke und er darunter, doch er fühlte, wie sich ihr Körper gegen seinen Rücken presste. »Ein netteres Angebot bekomme ich nie, das weiß ich«, sagte seine Doch-nicht-Cousine. »Vielleicht könnten wir heiraten, wenn ich ein bisschen älter bin«, schlug Dominic vor. »Vielleicht machen wir das wirklich!«, rief die junge Frau und umarmte ihn wieder. Meinte sie das ernst, überlegte der Sechzehnjährige, oder war das nur freundlich gemeint? Im Bad, wo Annunziata das Badewasser
ablaufen ließ und die Wanne putzte, waren die Stimmen der zwei hörbar, aber unverständlich. Nunzi war überrascht, dass Dominic sprach; der Junge - der noch mitten im Stimmbruch steckte - war eigentlich wortkarg. Doch in dem Augenblick, als sie Rosie »Vielleicht machen wir das wirklich!« sagen hörte, fing Dominic an zu reden, und er redete immer weiter, und die Einwürfe der jungen Frau wurden leiser, aber länger. Was die beiden sagten, blieb unklar, doch sie flüsterten so atemlos wie Liebende. Während Annunziata weiter zwanghaft die Badewanne schrubbte, fragte sie sich nicht mehr, ob die Fehlgeburt ein Fluch oder ein Segen war. Es ging nicht mehr um die Fehlgeburt, sondern um Rosie Calogero selbst: War sie ein Segen oder ein Fluch? Was hatte sich Nunzi nur dabei gedacht? Sie hatte ihr Haus einer hübschen, intelligenten (und offenkundig äußerst emotionalen) jungen Frau geöffnet - die von ihrem Liebhaber
sitzenlassen und von ihrer Familie verstoßen worden war -, ohne zu merken, was für eine unwiderstehliche Verlockung die Dreiundzwanzigjährige für einen einsamen Halbwüchsigen sein würde. Annunziata erhob sich und ging durch den Flur, wobei ihr auffiel, dass die Schlafzimmertür ihres Sohnes einen Spaltbreit offen stand und drinnen immer noch geflüstert wurde. In der Küche nahm Nunzi eine Prise Salz und warf sie sich über die Schulter. Sie widerstand dem Drang, die beiden zu stören, meldete sich aber - nachdem sie ein paar Schritte zurück in den Flur gegangen war - mit lauter Stimme zu Wort. »Meine Güte, Rosie, du musst mir verzeihen«, verkündete Annunziata. »Ich habe dich nie gefragt, ob du wieder zurück nach Boston möchtest!« Nunzi hatte versucht, das nicht so klingen zu lassen, als wäre es ihre Idee, und sich bemüht, ihrer Stimme einen neutralen
oder gleichgültigen Klang zu geben, als hätte sie ausschließlich Rosies Pläne und Wünsche im Sinn. Doch das Gemurmel aus Dominics Zimmer wurde von einem abrupten, tiefen, gemeinsamen Atemholen unterbrochen. Dass der an ihren Oberkörper gepresste Junge abrupt nach Luft schnappte, merkte Rosie in dem Moment, als sie es selbst tat. Die beiden reagierten so perfekt im Gleichklang, als hätten sie die Antwort geprobt. »Nein!«, hörte Annunziata ihren Sohn und Rosie im Chor rufen. Ganz eindeutig kein Segen, dachte Nunzi, als sie Rosie sagen hörte: »Ich will hierbleiben, bei dir und Dominic. Ich will an der Schule unterrichten. Ich will nie wieder zurück nach Boston!« (Was ich ihr nicht verdenken kann, dachte Annunziata. Sie kannte dieses Gefühl.) »Ich will, dass Rosie bleibt!«, hörte Nunzi ihren Sohn rufen.
Aber natürlich willst du das, dachte Annunziata. Doch welche Auswirkungen hätte der Altersunterschied zwischen den beiden? Und was würde geschehen, wenn es Krieg gäbe und alle jungen Männer eingezogen würden? (Nicht aber ihr geliebter Wolfskuss nicht mit einer solchen Gehbehinderung, das wusste Nunzi.) Rosie Calogero behielt ihre Arbeit und machte sie gut. Auch der junge Koch behielt seine Arbeit und machte sie gut - so gut, dass das Frühstückscafe inzwischen auch Mittagessen servierte. Schon nach kurzer Zeit kochte Dominic Baciagalupo viel besser als seine Mom. Und egal, was der junge Koch mittags zubereitete, das Beste davon brachte er fürs Abendessen mit nach Hause. Er verpflegte seine Mutter und seine Doch-nicht-Cousine sehr gut. Gelegentlich kochten Mutter und Sohn noch
gemeinsam, doch in den meisten kulinarischen Disziplinen ließ Dominic Annunziata hinter sich. Dominic machte Hackbraten mit Worcestershiresauce und Provolonekäse, den er warm mit seiner vielseitig einsetzbaren Marinarasauce servierte - oder kalt mit Apfelmus. Er machte panierte Hähnchenschnitzel alia parmigiana. In Boston, erzählte ihm seine Mutter, habe sie Kalbsschnitzel mit Parmesan zubereitet, doch in Berlin bekam man kein gutes Kalbfleisch. Dominic machte auch Auberginen mit Parmesan - der nicht eben kleinen Kolonie von Frankokanadiern in Berlin war dieses Gemüse vertraut. Und Dom bereitete Lammkeule mit Zitrone, Knoblauch und Olivenöl zu; das Olivenöl kam aus einem Laden in Boston, den Nunzi kannte, und Dominic rieb mit dem Öl Brathähnchen ein oder begoss den Truthahn damit, den er wie das Hähnchen mit Maisbrot, Wurst und Salbei füllte. Er briet Steaks unter
dem Bratrost, oder er grillte sie und servierte dazu weiße Bohnen oder Röstkartoffeln. Allerdings mochte er Kartoffeln nicht besonders, und Reis verabscheute er sowieso. Zu den meisten Hauptgerichten reichte er Pasta, die er sehr schlicht zubereitete - mit Olivenöl und Knoblauch, manchmal auch mit Erbsen oder Spargel. Möhren kochte er in Olivenöl mit schwarzen sizilianischen Oliven und noch mehr Knoblauch. Und obwohl Dominic schwarze Bohnen nicht ausstehen konnte, standen sie auf seinem Speiseplan; es gab Holzfäller und Sägewerker, vor allem zahnlose Senioren, die kaum etwas anderes aßen. (»Die Baked-Beans-und ErbsensuppeBande«, wie Nunzi sie despektierlich nannte.) Gelegentlich trieb Annunziata Fenchel auf, den sie und Dom in süßer Tomatensauce mit Sardinen kochten; die Sardinen stammten aus einem anderen Laden, den Nunzi in Boston kannte, und Mutter und Sohn zerdrückten sie mit einer Gabel und vermengten sie mit
Knoblauch und Olivenöl zu einer Paste, die sie mit Nudeln servierten, mit Brotkrümeln bestreut und im Ofen überbacken. Seinen Pizzateig stellte Dominic selbst her. Jeden Freitagabend machte er vegetarische Pizza statt Fisch, auf dessen Frische sich hier im Norden weder der junge Koch noch seine Mutter verlassen mochten. In bauklotzgroßen Eisblöcken eingefrorene Garnelen kamen unaufgetaut in Zügen von der Küste, daher traute Dominic den Garnelen. Und auf den Pizzas konnte er wieder seine geliebte Marinarasauce verwenden. Ricotta- und Romanokäse, Parmesan und Provolone kamen allesamt aus Boston, genau wie die schwarzen sizilianischen Oliven. Der Koch, der sein Handwerk noch lernte, hackte jede Menge Petersilie und streute sie auf alles, sogar auf die unvermeidliche Erbsensuppe. (Petersilie sei »reines Chlorophyll«, hatte ihm seine Mutter beigebracht; sie neutralisiere Knoblauch und sorge für frischen Atem.)
Dominic beließ es bei einfachen Nachspeisen, die - zu Nunzis Verdruss - nichts auch nur entfernt Sizilianisches an sich hatten: Apfelkuchen, Blueberry Cobbler (eine Art Blaubeerauflauf) und Johnnycake, auf einem Blech gebackenes Maisbrot. Im Coos County bekam man immer Apfel und Blaubeeren, und Dominic hatte ein Händchen für Teig. Sein Frühstück war sogar noch schlichter Eier mit Schinkenspeck, Pfannkuchen und Arme Ritter, Maismuffins, Blaubeermuffins und Scones. Damals machte er Bananenbrot nur, wenn die Bananen braun geworden waren; gute Bananen zu nehmen sei Verschwendung, hatte ihm seine Mutter eingeschärft. Im Androscoggin Valley, irgendwo zwischen Berlin und Milan, gab es eine Putenfarm, und der Koch machte Putenhaschee mit Paprika, Zwiebeln und ganz wenig Kartoffeln. »Corned Beef eignet sich nicht für Haschee - es muss
irisches Rindfleisch sein!«, hatte Annunziata ihn instruiert. Onkel Umberto, das trunksüchtige Arschloch, das sich noch vor Kriegsende zu Tode saufen würde, aß nie ein von seinem Eigentlich-dochnicht-Neffen zubereitetes Gericht. Der erfahrene Holzarbeiter ertrug es kaum, Vorarbeiter einer immer größer werdenden Schar von Arbeitenden im Sägewerk zu sein, und die Frauen ertrugen Umberto schon gar nicht, was dessen Alkoholkonsum noch weiter in die Höhe trieb. (Nebenfigur hin oder her, Umberto würde noch lange durch Dominics Erinnerungen spuken, dort spielte der Eigentlich-doch-nicht-Onkel eine Hauptrolle. Wie hatte Dominics Vater mit Umberto befreundet sein können? Und konnte Umberto Nunzi nicht leiden, weil sie nicht mit ihm schlafen wollte? In Anbetracht der Verbannung seiner Mutter aus Boston und ihrer Situation in Berlin quälte Dominic oft der Gedanke, Umberto habe sich unberechtigte
Hoffnungen gemacht, verführen zu können.)
Nunzi
problemlos
Eines Winters, einige Jahre vor dem Ableben von Arschloch Umberto, bekam Annunziata Saetta die Grippe, die alle Schulkinder bereits hatten. Nunzi starb noch vor dem offiziellen Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Was sollten Rosie Calogero und der junge Dom nun machen? Sie waren 24 beziehungsweise 17; sie konnten nicht gut gemeinsam in demselben Haus wohnen, nicht nach dem Tod von Dominics Mutter. Da sie es aber auch nicht ertrugen, voneinander getrennt zu leben, befanden sich Doch-nicht-Cousin und Dochnicht-Cousine in einem Dilemma. Nicht einmal Nunzi konnte ihnen sagen, was sie tun sollten, nicht mehr. Die junge Frau und der deutlich jüngere Mann taten nur, was die arme Annunziata ihrer Ansicht nach gewollt hätte, und vielleicht stimmte das sogar. Der junge Dom log einfach, was sein Alter
betraf. Er und seine (Eigentlich-dochnicht-)Cousine heirateten in der Schlammperiode 1941 - kurz vor den ersten großen Triften dieses Jahres auf dem Androscoggin, nördlich von Berlin. Sie waren ein erfolgreicher, wenn auch nicht gerade wohlhabender, junger Koch und eine erfolgreiche, allerdings nicht wohlhabende, Lehrerin. Wenigstens waren sie keine Saisonarbeiter, und sie brauchten auch nicht besonders viel Geld. Sie waren beide (jeder auf seine Weise) jung und verliebt, und sie wollten nur ein Kind - ein einziges -, das sie, im März 1942, auch bekamen. Der kleine Danny kam in Berlin zur Welt »kurz vor der Schlammperiode«, wie sein Vater immer sagte (die Schlammperiode war eindeutiger als der Kalender) -, und gleich nach seiner Geburt zogen die hart arbeitenden Eltern des Jungen aus der Stadt weg. Für die empfindliche Nase des Kochs war der Gestank der Papierfabrik ein ständiger Affront.
Wahrscheinlich würde der Krieg eines Tages vorbei sein, und dann würde Berlin wachsen und sich bis zur Unkenntlichkeit verändern, abgesehen von dem Gestank. Doch schon 1942 war die Stadt für Dominic Baciagalupo zu groß und zu übelriechend - und voller nicht nur guter Erinnerungen. Und Rosies Erfahrungen im North End ließen sie zögern, nach Boston zurückzuziehen, obwohl beide Familien, die Saettas wie die Calogeros, das junge Paar anflehten, doch »nach Hause« zu kommen. Kinder spüren, wenn sie nicht vorbehaltlos geliebt werden. Seine Mutter hatte sich verstoßen gefühlt, das wusste Dominic. Und obwohl Rosie sich offenbar mit den Umständen abfand, die sie gezwungen hatten, einen Jungen zu heiraten, nahm sie es ihrer Familie ausgesprochen übel, wie die sie damals nach Berlin verbannt hatte. Das Flehen der Familien Saetta und Calogero
stieß auf taube Ohren. Wie konnten sie behaupten, alles sei vergeben? Anscheinend fanden sie es in Ordnung, dass Cousin und Cousine verheiratet waren und ein gemeinsames Kind hatten, aber Dominic und Rosie erinnerten sich noch gut daran, dass es für eine Saetta und eine Calogero nicht in Ordnung gewesen war, schwanger und unverheiratet zu sein. »Sollen sie eine andere finden, der sie vergeben können«, formulierte es Rosie. Dominic, der Nunzis Haltung dazu kannte, pflichtete Rosie bei. Boston war eine Brücke, die man hinter ihnen verbrannt hatte; wichtiger noch, die beiden jungen Leute waren überzeugt, dass nicht sie sie verbrannt hatten. Gewiss war moralische Achtung in Neuengland nichts Neues, nicht 1942. Und auch wenn vielleicht die meisten jungen Paare Boston einem Kaff wie Twisted River vorgezogen hätten, hängen ihre
Entscheidungen immer von den konkreten Umständen ab. Für die junge Familie Baciagalupo mochte Twisted River zwar abgelegen und ein rauhes Pflaster sein, doch hier gab es keine Papierfabrik. Sägewerk und Holzfällercamp hatten noch nie einen Koch über eine Schlammperiode hinweg behalten, und es gab auch keine Schule - nicht in einem überwiegend von Wanderarbeitern bewohnten Ort. Allerdings bestand Bedarf für eine Schule in der kleineren, aber solider gebauten Siedlung namens Paris (dem ehemaligen West Dummer), die am Phillips Brook, nur wenige Kilometer auf der Holzabfuhrstraße von dem deutlich schäbigeren Ort Twisted River entfernt, lag, wo das Holzunternehmen bislang kein dauerhaftes Kochhaus finanzieren wollte. Laut der Firma waren die zerlegbare, improvisierte Küche und die Wanigans als Esshütten ausreichend. Dass Twisted River dadurch eher wie ein Holzfällerlager als wie ein richtiger Ort aussah, entmutigte Dominic
und Rosie Baciagalupo nicht, die Twisted River als Chance begriffen - und als Herausforderung. Im Sommer 1942 - es blieb ihnen also genug Zeit, um für die neue Schule in Paris Lehrbücher und andere Dinge zu bestellen folgten der Koch und die Lehrerin samt ihrem Söhnchen dem Androscoggin nordwärts bis Milan, anschließend reisten sie auf der vom Pontook-Stausee kommenden Abfuhrstraße weiter, in nordnordwestlicher Richtung. Die Stelle, wo der Twisted River in den Pontook mündete, hieß einfach nur »die Flussenge«; dort gab es nicht einmal eine Sägemühle, und der im Bau befindliche Dead-Woman-Damm hatte noch keinen Namen. (Wie Ketchum später sagte: »Damals war alles längst nicht so schick.«) Noch vor Einbruch der Dunkelheit und vor den Mücken erreichte die junge Familie das Flussbecken unterhalb von Twisted River. Den
wenigen, die sich an ihre Ankunft erinnerten, müssen der hinkende Mann und seine hübsche, aber älter aussehende Frau mit ihrem Säugling hoffnungsfroh vorgekommen sein, auch wenn sie an Kleidung kaum mehr dabei hatten als das, was sie am Leib trugen. Ihre Bücher sowie der Rest ihrer Kleidung, samt den Utensilien des Kochs, waren vor ihnen eingetroffen - in einem leeren Holzlaster, mit einer Plane bedeckt. Eine gründliche Reinigung reichte bei den Küchen- und Ess-Wanigans nicht aus: Sie mussten generalüberholt werden. Darauf bestand der Koch. Und wenn das Holzunternehmen von ihm erwartete, über die nächste Schlammperiode hinaus zu bleiben, würde es ein dauerhaftes Kochhaus bauen müssen, mit Schlafzimmern im ersten Stock, in denen der Koch und seine Familie wohnen könnten. Rosies Forderungen waren bescheidener: Für
Paris, vormals West Dummer, wo es noch nie eine Schule gegeben hatte, würde ein Schulhaus mit einem Raum ausreichen. 1942 gab es am Phillips Brook nur wenige Familien mit schulpflichtigen Kindern und noch weniger in Twisted River. Bald würden es mehr werden - nach dem Krieg, wenn die Männer nach Hause kamen -, aber Rosie Baciagalupo, vormals Calogero, würde weder erleben, wie die Männer aus dem Krieg zurückkehrten, noch würde sie jemals deren Kinder unterrichten. Die junge Schullehrerin starb im Spätwinter des Jahres 1944, kurz nachdem ihr Sohn Dan zwei geworden war. Der Junge hatte keine Erinnerung an seine Mutter, er kannte sie nur von den Fotos, die sein Vater aufgehoben hatte - und den Stellen, die sie in ihren vielen Büchern unterstrichen hatte. Auch die hatte sein Dad aufbewahrt. (Genau wie Dominic Baciagalupos Mutter hatte Rosie gern Romane gelesen.)
Dominics augenscheinlicher Pessimismus sein Benehmen hatte etwas Unnahbares, sein Auftreten wirkte distanziert, ja selbst seine Haltung war irgendwie melancholisch - legte den Schluss nahe, dass er sich von dem tragischen Tod seiner 27-jährigen Frau nie erholt hatte. Doch neben seinem geliebten Sohn hatte Dominic Baciagalupo noch etwas bekommen, was er unbedingt gewollt hatte: Das Kochhaus war nach seinen Vorgaben gebaut worden. Was offenbar an einem guten Draht zur Paris Manufacturing Company lag. Die Frau irgendeines hohen Tieres hatte auf der Durchreise in Berlin haltgemacht und anschließend von Dominics Kochkünsten geschwärmt. Das hatte sich herumgesprochen: Sein Essen war weit besser als der in Holzfällercamps übliche Fraß. Es wäre in Dominics Augen nicht korrekt gewesen, wenn er nach dem Tod seiner Frau einfach seine Siebensachen gepackt hätte und abgereist
wäre, doch der Koch und sein Sohn waren sogar zehn Jahre geblieben. Natürlich gab es den einen oder anderen alten Holzarbeiter - allen voran Ketchum -, der den traurigen Grund kannte. Der mit zwanzig verwitwete Koch machte sich selbst für den Tod seiner Frau verantwortlich - und er war nicht der einzige Mann, dessen Leben in Twisted River dem gnadenlos in die Länge gezogenen Abbüßen einer Sünde glich. (Man denke nur an Ketchum.) 1954 war Dominic Baciagalupo erst dreißig ein junger Vater für einen zwölfjährigen Sohn -, doch der Koch sah aus wie jemand, der sich längst mit seinem Schicksal abgefunden hatte. Er war so unerschütterlich ruhig, dass ihn eine Aura von Fatalismus umgab, die man leicht mit Pessimismus verwechseln konnte. Doch die Hingabe, mit der er sich um seinen Sohn Daniel kümmerte, hatte überhaupt nichts
Pessimistisches, und nur wenn es um das Wohl seines Jungen ging, klagte der Koch auch einmal darüber, wie hart und entbehrungsreich das Leben in Twisted River war beispielsweise gab es in dem Ort immer noch keine Schule. In der Schule, die von der Paris Manufacturing Company am Phillips Brook für Rosie Baciagalupo gebaut worden war, hatte sich seit ihrem Tod nichts groß verändert. Zugegeben, die Zwergschule hatte inzwischen ein neues Gebäude bekommen, doch die älteren Jungen, die ein- oder zweimal sitzengeblieben waren, gaben mit ihren aggressiven Umgangsformen weiterhin den Ton an. Sie waren nicht zu bändigen - die leidgeprüfte Lehrerin war eben keine Rosie Baciagalupo. Die Schulrowdys von Paris hatten sich darauf verlegt, den Sohn des Kochs zu quälen - und das nicht nur, weil Danny in Twisted River wohnte und sein Dad hinkte. Sie hänselten den Jungen auch, weil er sich immer um eine korrekte Ausdrucksweise
bemühte. Danny artikulierte präzise; wenn er sprach, verschliff er nie die Konsonanten oder dehnte die Vokale wie die Kinder aus Paris, und deshalb drangsalierten sie ihn. (»Die Gören aus West Dummer«, wie Ketchum sie durchwegs nannte.) »Halt die Stellung, Daniel - aber bleib am Leben«, empfahl ihm sein Vater, wie vorauszusehen war. »Eines schönen Tages ziehen wir hier weg, das verspreche ich dir.« Doch trotz ihrer Mängel und seiner traurigen Familiengeschichte war die Paris Manufacturing Company School am Phillips Brook die einzige Schule, die der Junge bisher besucht hatte. Schon allein die Vorstellung, diese Schule zu verlassen, beunruhigte Danny Baciagalupo. »Angel war zu unerfahren, um im Wald Bäume zu fällen oder auf den Holzplattformen
zu arbeiten«, war Ketchum vom Klappbett in der Küche aus zu vernehmen. Der Koch und sein Sohn wussten, dass Ketchum im Schlaf redete, besonders wenn er getrunken hatte. Es gab zwei Arten, Baumstämme zu verladen. Zum einen mittels einer Holzplattform, die aus einer Art Gitter aus Baumstämmen bestand und in die Böschung neben einer HolzabfuhrStraße gebaut wurde; sie musste ein wenig höher sein als die Ladeflächen der neben ihr haltenden Holzlaster. Dahinter lagerten die gefällten Baumstämme bis zu ihrem Abtransport. Zum anderen konnte man eine Holzrutsche bauen, die bis zu einer Rampe neben dem Lkw reichte, von wo eine Motoroder von einem Pferd betriebene Windenkonstruktion die Stämme dann auf die Ladefläche hievte. Wäre es nach Ketchum gegangen, hätte Angel Pope nie etwas mit dem Auf- oder Abladen von Baumstämmen zu tun haben dürfen.
Danny Baciagalupo hatte bereits mit dem Kochen begonnen, als der volltrunkene Ketchum zum zweiten Mal redete. »Er hätte Schnittholz schichten sollen, Cookie.« Der Koch, der am Herd stand, nickte, obwohl er genau wusste, dass Ketchum im Schlaf redete und ihn darum nicht sah. Bretter stapeln - oder eben »Schnittholz schichten«, wie der Fachmann sagte - war in einem Sägewerk eine Arbeit, die man gewöhnlich Anfängern überließ. Dafür wäre Angel nicht zu unerfahren gewesen, das hätte selbst der Koch eingesehen. Das Schnittholz wurde im Wechsel mit schmalen Querleisten geschichtet, damit die Luft zirkulieren konnte und die Bretter besser trockneten. Alles in allem eine Arbeit, die der Koch unter Umständen sogar Danny erlaubt hätte. »Rapide um sich greifende Mechanisierung«, nuschelte Ketchum. Hätte der stämmige Mann sich auch nur ein bisschen im Schlaf
umgedreht, wäre er vom Klappbett gefallen oder es wäre unter ihm zusammengeklappt. Doch Ketchum lag starr auf dem Rücken, den Gips quer über den Brustkorb gelegt, als wartete er auf seine Seebestattung. Der geöffnete Schlafsack bedeckte ihn wie eine Flagge, und seine linke Hand berührte den Fußboden. »O Mann - jetzt geht das wieder los«, sagte der Koch und lächelte seinem Sohn zu. Die rapide um sich greifende Mechanisierung war Ketchum ein Dorn im Auge. 1954 tauchten bereits Baumrückmaschinen mit Gummireifen, sogenannte Skidder, in den Wäldern auf. Die größeren Bäume wurden vorwiegend von Traktoren geerntet; den kleineren Holzfällerteams zahlte man einen »Stücklohn« (nach Festmeter oder nach Schnittvolumen) für die Bäume, die von ihnen gefällt und an eine vorher festgelegte Stelle neben der Straße gebracht wurden. Als altgedienter Holzfäller, der Holz noch mit Pferden transportiert hatte,
wusste Ketchum natürlich, dass die Bäume mit Skiddern schneller geerntet werden konnten. Doch Ketchum war kein Freund von Beschleunigung. Danny öffnete die Außentür und ging zum Pinkeln nach draußen. (Das hatte er von Ketchum gelernt, was Dominic gar nicht gefiel.) Es war noch dunkel, und der vom Fluss aufsteigende Nebel legte sich kalt und feucht auf das Gesicht des Jungen. »Diese Typen und ihre Dampfesel können mich mal!«, schrie Ketchum im Schlaf. »Und die Trucker, diese Arschlöcher, können mich auch mal!« »Da hast du ganz recht«, pflichtete der Koch seinem schlafenden Freund bei. Als Danny wieder hereinkam und die Außentür hinter sich zuzog, hatte Ketchum sich auf dem Klappbett aufgesetzt; offenbar war er von seinem eigenen Geschrei aufgewacht. Der Holzfäller bot einen furchteinflößenden Anblick. Mit
seinen unnatürlich schwarzen Haupt- und Barthaaren sah er wie ein schwerverletztes Brandopfer aus - und die bleiche Narbe auf seiner Stirn schimmerte in dem weißlichen Licht der Leuchtstoffröhren besonders fahl. Ketchum musterte seine Umgebung desorientiert, aber argwöhnisch. »Und vergiss nicht, Constable Carl kann dich auch mal«, sagte der Koch zu ihm. »Und zwar kreuzweise«, stimmte Ketchum zu. »Dieser Scheißcowboy.«
ihm
Ihm hatte Ketchum seine Narbe zu verdanken. Der Constable schlichtete regelmäßig Schlägereien im Tanzsaal und in den Wirtshäusern, und eine der Schlägereien, in die Ketchum verwickelt war, hatte er dadurch geschlichtet, dass er dem Holzfäller den langen Lauf seines 45er-Colts über den Schädel zog - »die Sorte Angeberwaffe«, die Ketchum zufolge »in New Hampshire nur ein Arschloch hat«. (Folglich war Constable Carl
für ihn ein »Cowboy«.) Dennoch war es wohl immer noch besser, fand jedenfalls Danny, von Constable Carl und seinem 45er-Colt einen Schlag auf die Stirn als einen Schuss in den Fuß oder ins Knie zu bekommen - eine Methode, Schlägereien zu beenden, die der Cowboy vorzugsweise bei kanadischen Wanderarbeitern anwandte. Was in der Regel bedeutete, dass die Frankokanadier nicht mehr in den Wäldern arbeiten konnten und zurück nach Quebec mussten, was Constable Carl nur recht war. »Hab ich was gesagt?«, fragte Ketchum den Koch und seinen Sohn. »Du hast dich wortreich über das Thema Dampfesel-Typen und Lkw-Fahrer ausgelassen«, teilte Dominic seinem Freund mit. »Die können mich mal«, erwiderte Ketchum automatisch. »Ich geh nach Norden,
Hauptsache, hier weg«, verkündete er. Ketchum saß immer noch auf dem Klappbett, wo er seinen Gips anstarrte wie eine neuerworbene, aber völlig nutzlose Extremität - hasserfüllt stierte er ihn an. »Na klar«, sagte Dominic. Danny schnitt auf der Anrichte Paprika und Tomaten für das Omelett. Der Junge wusste, dass Ketchum ständig davon sprach, »nach Norden« zu gehen. Millsfield oder auch die Gegend namens Second College Grant, die heute offiziell Great North Woods heißt, sowie die Aziscohos-Berge südöstlich von Wilsons Mills in Maine - das waren Holzfällergebiete nach Ketchums Geschmack. Doch der altgediente Flößer und Holzarbeiter, der Stämme noch mit Pferden transportiert hatte, wusste, dass die obenerwähnte »rapide um sich greifende Mechanisierung« auch nach Norden gelangen würde, ja sogar schon dort war.
»Du solltest deine Zelte hier abbrechen, Cookie, und das weißt du auch«, sagte Ketchum, als die ersten Scheinwerferkegel der Küchenhilfen in das Kochhaus schienen. »Na klar«, wiederholte der Koch. Wie Dominic sprach Ketchum oft davon, wegzuziehen, und blieb dennoch. Das Motorengeräusch des Pick-ups der indianischen Tellerwäscherin unterschied sich von dem der anderen Fahrzeuge. »Heiliger Dünnschiss!«, sagte Ketchum, als er endlich aufstand. »Schaltet Jane eigentlich auch mal vom ersten in den zweiten Gang?« Der Koch, der Ketchum nicht angesehen hatte, während er am Herd beschäftigt gewesen war, sah ihn jetzt an. »Zum Autofahren hab ich sie nicht angestellt, Ketchum.« »Schon klar«, lautete Ketchums einziger Kommentar, als Indianer-Jane die Außentür öffnete und mit den übrigen Küchenhilfen
eintrat. (Danny fragte sich kurz, weshalb Jane die Einzige war, der diese lästige Tür offenbar keine Schwierigkeiten bereitete.) Ketchum hatte das Bett zusammengeklappt, den Schlafsack gefaltet und packte beides gerade weg, als Jane den Mund aufmachte. »Oje - da ist ein Holzfäller in der Küche«, sagte sie. »Kein gutes Zeichen.« »Du und deine Zeichen«, sagte Ketchum, ohne sie anzusehen. »Ist dein Mann schon tot, oder müssen wir die Feier verschieben?« »Ich habe ihn noch nicht geheiratet und werde es auch nicht tun«, entgegnete Jane wie immer. Die Tellerwäscherin lebte mit Constable Carl zusammen - was Ketchum und der Koch absolut unbegreiflich fanden. Dominic mochte den Cowboy genauso wenig wie Ketchum. Auch war Jane noch nicht lange mit dem Constable zusammen und machte (apropos Zeichen) gelegentlich vage Andeutungen, dass sie ihn vielleicht verlassen
könnte. Er schlug sie. Der Koch und Ketchum hatten sich mehr als einmal über Janes geplatzte Lippen und ihre Veilchen ausgelassen, und selbst Danny waren die daumengroßen und fingerabdruckförmigen Blutergüsse an ihren Oberarmen aufgefallen, wo der Constable sie offenbar gepackt und geschüttelt hatte. »Ich bin hart im Nehmen«, sagte Jane gewöhnlich zu Ketchum oder dem Koch, obwohl es ihr sichtlich schmeichelte, dass die beiden sich so um ihre Sicherheit sorgten. Und bei seltenen Gelegenheiten fügte sie hinzu: »Carl sollte sich vorsehen, sonst schlage ich eines Tages noch zurück.« Jane war eine massige Frau, und sie begrüßte Danny so wie immer, indem sie ihn gegen eine ihrer ausladenden Hüften drückte. Der Zwölfjährige reichte ihr bis an die gigantischen Brüste, die nicht einmal das schlabbrige Sweatshirt kaschieren konnte, das
sie gegen die Morgenkälte trug. Außerdem hatte Indianer-Jane dichte, rabenschwarze Haare, die allerdings stets zu einem dicken Zopf geflochten waren, der ihr bis an den Hintern hinabreichte. Nicht einmal in Jogginghosen oder einer weiten Latzhose ihren bevorzugten Arbeitsklamotten - konnte Jane ihren Hintern verstecken. Auf ihrem Kopf thronte ein Geschenk Ketchums, eine 1951er-Baseballmütze der Cleveland Indians - mit einem Loch hinten, das sie für den Zopf geschnitten hatte. Einmal hatte Ketchum im Sommer von den Kriebelmücken und Moskitos genug gehabt und war mit einem Lkw weggefahren. Es war ein Langstrecken-Holztransporter, und Ketchum hatte die Mütze tatsächlich im fernen Cleveland erstanden. (Das musste wohl, überlegte Danny, gewesen sein, ehe Ketchum entschied, dass alle Trucker Arschlöcher waren.)
»Tja, Jane, du bist Indianerin, das ist genau die richtige Mütze für dich«, hatte Ketchum zu ihr gesagt. Das Logo auf der Mütze zeigte das rote Gesicht von Indianerhäuptling Wahoo, mit gebleckten Zähnen und einem irren Grinsen, das Ganze eingerahmt von einem großen C, aus dem nur oben die Spitze einer Feder hervorragte. Dieses wünschelrutenförmige C war rot, die Mütze blau. (Weder Ketchum noch Indianer-Jane wussten, wer Häuptling Wahoo war.) Danny hatte diese Geschichte schon oft gehört, es war eine von Janes Lieblingsgeschichten. Wenn Jane sie erzählte, nahm sie jeweils ihre Mütze ab, eine der denkwürdigeren Gelegenheiten, bei denen Danny sie ohne die Mütze sah. »Ketchum sah übrigens ziemlich gut aus, als er noch jünger war«, erzählte Jane dann immer dem Jungen. »Allerdings sah er nie so gut aus wie dein Dad - oder so gut, wie du einmal aussehen wirst«, ergänzte die Tellerwäscherin stets. Ihre Baseballmütze mit
dem grinsenden Indianer wies Wasser- und Speiseölflecken auf. Jane setzte die HäuptlingWahoo-Mütze dem Zwölfjährigen dann auf den Kopf, und sie rutschte ihm tief in die Stirn, bis auf die Augenbrauen. Er spürte, dass seine Haare aus dem Loch hinten herauslugten. Danny hatte Indianer-Jane nie mit offenem Haar gesehen, obwohl sie früher seine Babysitterin gewesen war, als er noch zu klein war, um seinen Dad auf den Triften zu begleiten, und in dem Küchen-Wanigan nicht richtig schlafen konnte. Jane hatte Danny dann in seinem Zimmer über dem Kochhaus zu Bett gebracht. (Danny nahm an, dass sie in den Nächten, wenn sein Vater weg war, in dessen Schlafzimmer geschlafen hatte.) Wenn Jane dem Jungen am nächsten Morgen Frühstück machte, deutete nichts darauf hin, dass ihr langer schwarzer Zopf in der Nacht gelöst worden wäre. Allerdings war kaum vorstellbar, dass man mit einem so langen und
dicken Haarzopf bequem schlafen konnte. Danny wäre nicht erstaunt gewesen, wenn Jane ihre Cleveland-Indians-Baseballmütze auch im Bett aufbehalten hätte. Der irre grinsende Häuptling Wahoo gehörte zu ihr, ein Dämon, der stets über sie wachte. »Ich lasse euch Damen dann mal in Ruhe arbeiten«, verkündete Ketchum. »Weiß Gott, ich möchte keinesfalls im Weg sein.« »Weiß Gott«, sagte eine der Küchenhilfen. Sie war die Frau eines Sägewerksarbeiters - so wie die meisten Küchenhilfen. Alle waren verheiratet und dick; nur Indianer-Jane war noch dicker, und sie war nicht mit Constable Carl verheiratet. Der Constable war ebenfalls dick. Der Cowboy war so stämmig wie Ketchum - doch Ketchum war nicht dick -, und Carl war überdies fies. Danny hatte den Eindruck, dass alle den Cowboy hassten, aber Constable Carl kandidierte immer wieder neu für sein Amt,
und nie fand sich ein einziger Gegenkandidat. Gut möglich, dass kein anderer Mensch in Twisted River auch nur die geringste Lust hatte, Polizist zu werden. Der Job bestand in erster Linie darin, Schlägereien zu beenden und Methoden zu finden, wie man die frankokanadischen Wanderarbeiter nach Quebec zurückschicken konnte. Constable Carls Methode - ihnen in die Füße oder Knie zu schießen - war fies, funktionierte aber. Wer außer ihm wollte den Leuten schon einen Revolverlauf über den Kopf ziehen oder in Füße und Knie schießen?, fragte sich Danny. Und warum in aller Welt wollte Indianer-Jane, die der Junge anhimmelte, mit einem Cowboy wie Carl zusammenleben? »Das Leben hier zwingt zu Kompromissen, Daniel«, sagte der Vater des Jungen oft. »Nur eine Frau, die schon nicht mehr schön ist, würde mit Constable Carl zusammenziehen«, hatte Ketchum versucht,
dem Jungen zu erklären. »Aber wenn die Frau dann gar nicht mehr schön ist, sucht sich Carl eine andere.« Die Küchenhilfen, ganz gewiss aber die Sägewerksarbeiterfrauen, waren allesamt schon nicht mehr schön - das fand jedenfalls Danny Baciagalupo. Auch wenn Indianer-Jane die dickste von allen war, so hatte sie doch ein hübsches Gesicht und prächtiges Haar. Außerdem hatte sie so spektakuläre Brüste, dass Danny es kaum ertrug, an sie zu denken, was natürlich hieß, dass seine Gedanken ständig unwillkürlich und unpassenderweise zu ihnen schweiften. »Sind's die Brüste, die Männer an Frauen toll finden?«, hatte Danny seinen Vater gefragt. »Frag Ketchum«, antwortete der Koch, doch Danny dachte, Ketchum sei zu alt, um sich für Brüste zu interessieren - Ketchum schien Brüste nicht einmal mehr zu bemerken. Zugegeben, Ketchum hatte es im Leben oft
schwer gehabt. Er hatte Prügel eingesteckt und sah älter aus, als er war. Ketchum war erst 37, wirkte aber trotz pechschwarzem Haar und Bart viel älter. Und Jane - wie alt mochte sie sein?, fragte sich Danny. Indianer-Jane war zwölf Jahre älter als Dannys Dad - sie war 42 -, aber auch sie sah älter aus, als sie war. Und auch sie hatte Prügel eingesteckt, und zwar nicht nur von Constable Carl. Dem Zwölfjährigen kamen alle alt vor oder zumindest älter, als sie waren. Sogar die Jungs in Dannys Schulklasse waren älter. »Bestimmt hast du die Nacht prima geschlafen«, sagte Jane zu dem Koch. Sie lächelte Danny an. Als sie hinter sich griff, um die Schürzenbänder um ihre dicke Taille zu binden, dachte der Junge, dass ihre Brüste riesig waren. »Hast du denn schlafen können, Danny?«, fragte ihn die indianische Tellerwäscherin. »Klar, hab ich«, antwortete der Junge. Er wäre
gern mit Jane allein gewesen, weil er sie über seine Mutter ausfragen wollte. Davon, wie Ketchum ihre übel zugerichtete Leiche aus dem Überlauf geborgen hatte, konnte Dominic seinem Sohn erzählen; vermutlich, weil Ketchum ihm den wüsten Anblick erspart hatte. Aber über den Unfallhergang konnte Dannys Vater nicht sprechen - zumindest nicht zu seinem Sohn und ganz bestimmt nicht in halbwegs konkreten Einzelheiten. Ketchum brachte es kaum über sich, mehr zu sagen als: »Wir waren alle drei betrunken, Danny.« Und dann: »Dein Dad war betrunken, ich war betrunken, und deine Mom war auch ein wenig betrunken.« »Ich war am betrunkensten«, meldete sich dann unweigerlich Dominic. Sein überwältigendes Schuldgefühl war der Grund, weshalb er zu trinken aufgehört hatte - wenn auch nicht sofort.
»Vielleicht war ich betrunkener als du, Cookie«, sagte Ketchum manchmal. »Schließlich hab ich sie aufs Eis gehen lassen.« »Das war meine Schuld«, widersprach der Koch gewöhnlich. »Ich war so betrunken, dass du mich tragen musstest, Ketchum.« »Glaub ja nicht, dass ich das nicht mehr weiß«, sagte Ketchum dann. Aber keiner von beiden konnte (oder wollte) sagen, was genau geschehen war. Danny bezweifelte, dass ihnen die Einzelheiten entfallen waren; anscheinend konnten sie die Einzelheiten nicht in Worte fassen, oder es war für beide Männer undenkbar, sie einem Kind zu erzählen. Indianer-Jane, die nichts getrunken hatte - sie trank nie Alkohol -, erzählte dem Zwölfjährigen die Geschichte. Sooft der Junge sie auch fragte, sie erzählte ihm jedes Mal dieselbe Geschichte. Deshalb wusste er, dass sie wahr sein musste.
Jane war an jenem Abend Dannys Babysitterin gewesen; Danny war damals zwei. Samstagabends wurde im Tanzsaal getanzt, und zwar gab es zu der Zeit richtige Tänze, auch Squaredance. Dominic Baciagalupo tanzte nicht; mit seinem Hinken ging das nicht. Doch seine etwas ältere Frau - von Ketchum »Cousine Rosie« genannt - war eine begeisterte Tänzerin, und der Koch sah ihr gern beim Tanzen zu. Rosie war hübsch und klein, ebenso schmal wie zierlich, ganz anders als die meisten ihrer Altersgenossinnen in Twisted River und Paris, New Hampshire. (»Deine Mom hatte nicht den Körper einer Frau, die auf die dreißig zuging - jedenfalls nicht einer Frau aus dieser Gegend«, sagte Indianer-Jane jedes Mal, wenn sie Dan die Geschichte erzählte.) Anscheinend war Ketchum entweder zu alt oder schon zu lädiert, um eingezogen zu
werden. Auch wenn Constable Carl ihm erst kürzlich die Platzwunde auf seiner Stirn verpasst hatte, konnte Ketchum schon zahlreiche andere Verletzungen und Verstümmelungen vorweisen - genug, um ihn für den Militärdienst untauglich zu machen, aber nicht genug, um ihn am Tanzen zu hindern. »Deine Mutter hat Ketchum das Lesen und Tanzen beigebracht«, hatte der Koch seinem Sohn in einem seltsam neutralen Ton erzählt, als habe er entweder keine Meinung zu dem Thema oder als wisse er nicht, welche dieser erlernten Fähigkeiten beachtlicher oder für Ketchum wichtiger war. Ja, Ketchum war Rosies einziger Tanzpartner gewesen. Er kümmerte sich um sie, als wäre sie seine Tochter, und auf der Tanzfläche wirkte die Frau des Kochs neben Ketchum so klein, dass sie beinahe als sein Kind hätte durchgehen können. Wäre da nicht der »denkwürdige Zufall« gewesen, wie Indianer-Jane es Danny
gegenüber immer formulierte, dass seine Mom und Ketchum beide 27 waren. »Ketchum und dein Dad haben gern zusammen einen gehoben«, erzählte Jane dem Jungen. »Keine Ahnung, warum Männer gern zusammen trinken, aber Ketchum und dein Dad machten das ein wenig zu gern.« Vielleicht hatte es ihnen das Trinken ermöglicht, über manches zu reden, dachte Danny. Seit Dominic Baciagalupo Abstinenzler geworden war (während Ketchum immer noch soff wie ein junger Flößer), hielten sich die beiden bei Gesprächen eher bedeckt. Sogar der Zwölfjährige wusste, dass vieles ungesagt blieb. Laut Ketchum konnten oder sollten »Rothäute« gar nichts trinken. Dass IndianerJane nicht trank, war für ihn schlicht und einfach gesunder Menschenverstand. Und doch lebte sie mit Constable Carl zusammen, einem üblen Säufer. Sobald der Tanzsaal und
die Wirtshäuser geschlossen hatten, soff sich der Constable in eine streitlustige Stimmung. Es war oft spät, wenn Jane nach Hause kam sie konnte das Kochhaus erst verlassen, wenn sie die Handtücher gewaschen und in den Trockner in der Waschküche gesteckt hatte. Ob spät oder nicht, manchmal war Constable Carl noch wach und aggressiv, wenn Jane gern schlafen gehen wollte. Schließlich stand sie im Gegensatz zum Constable früh auf. »Na ja, es war so«, sagte Indianer-Jane manchmal völlig unvermittelt zu Danny. »Dein Vater vertrug weniger als Ketchum, versuchte aber, mit ihm Schritt zu halten. Deine Mutter war zwar vernünftiger, hat aber auch zu viel getrunken.« »Verträgt mein Dad weniger als Ketchum, weil er kleiner ist?«, fragte Danny dann Indianer-Jane. »Das Gewicht spielt schon eine Rolle«, antwortete die Tellerwäscherin. »Es war nicht
das erste Mal, dass Ketchum deinen Dad vom Tanzsaal nach Hause tragen musste. Deine Mom tanzte unterwegs um sie herum, mit ihren hübschen kleinen Do-si-dos.« (Entging Danny hier vielleicht eine Spur Neid oder Sarkasmus, die in Indianer-Janes Formulierung von den »hübschen kleinen Dosi-dos« mitschwingen mochte?) Danny wusste, dass Do-si-do eine Schrittfolge beim Squaredance ist. Er hatte Ketchum gebeten, sie ihm zu zeigen, doch der hatte nur den Kopf geschüttelt und war in Tränen ausgebrochen. Jane hatte Danny einen Do-sido vorgemacht; die Arme unter dem gewaltigen Busen verschränkt, war sie an seiner rechten Schulter vorbeigegangen und hatte ihn umkreist, Rücken an Rücken. Der Junge versuchte, sich seine Mutter vorzustellen, wie sie mit Do-si-do-Schritten Ketchum umkreiste, während dieser seinen Dad trug. »Hat Ketchum auch getanzt?«,
fragte Danny. »Ich nehme es an«, antwortete Jane. »Ich bin erst später zu ihnen gestoßen. Schließlich war ich ja bei dir, oder?« Am zugefrorenen Flussbecken hörte Rosie Baciagalupo auf, um Ketchum herumzutanzen, und rief etwas über das Eis in Richtung der Berge. Wenn der Twisted River zugefroren war, gab es ein besseres Echo; das Eis warf die Stimme schneller und unverfälschter zurück als das offene Wasser. »Ich frage mich, wieso«, sagte Danny dann meist zu Jane. »Ich konnte sie vom Kochhaus hören«, fuhr Indianer-Jane fort, ohne je irgendwelche Vermutungen über das Echo anzustellen. »Deine Mom rief: >Ich liebe dich!< Und dein Dad, der über Ketchums Schulter hing, rief zurück: >Ich liebe dich auch!< Ketchum schrie einfach nur >Scheiße< und dergleichen, dann
rief er: >Arschlöcher!< Nicht lange, und alle drei schrien: >Arschlöcher!< Ich dachte, das Gebrüll würde dich wecken, aber du hast immer wie ein Stein geschlafen - auch schon als Zweijähriger.« »Meine Mom ist also als Erste aufs Eis gegangen?«, fragte Danny immer. »Do-si-dos auf dem Eis waren schwierig«, antwortete Jane. »Ketchum ging raus aufs Eis, um mit deiner Mom zu tanzen, dabei trug er weiterhin deinen Dad auf dem Rücken. Das Eis war sogenanntes schwarzes Eis. Im Wald lag Schnee, aber nicht auf dem Fluss. Der Wind hatte das Eis dort saubergefegt, und es war seit fast einer Woche kein Neuschnee gefallen.« Gewöhnlich fügte Jane an dieser Stelle hinzu: »In den meisten Wintern war das Eis auf dem Fluss nicht so brüchig.« Der betrunkene Koch konnte nicht stehen, wollte aber auch auf dem Eis herumrutschen und ließ sich von Ketchum absetzen. Dann fiel
Dominic hin - er setzte sich schlicht auf den Hosenboden, und Ketchum schob ihn umher wie einen menschlichen Schlitten. Dannys Mom tanzte um die beiden herum. Hätten sie nicht so laut »Arschlöcher!« geschrien, hätte vielleicht einer von ihnen die Baumstämme gehört. Damals zogen die Holzarbeiter mit ihren Pferden so viele Stämme sie konnten auf den gefrorenen Fluss zwischen Little Dummer Pond und dem Becken in Twisted River und auch in die weiter oben einmündenden Bäche. Manchmal brach das Gewicht der Stämme zuerst durch das Eis auf dem größeren der Dummer-Teiche, dessen Wasser durch eine Schleuse zurückgehalten wurde, die nicht immer hielt. Doch so oder so brach das Eis immer als Erstes flussaufwärts, oberhalb von Twisted River, auf, und im Spätwinter 1944 kamen die Stämme so pfeilschnell die Stromschnellen vom Little Dummer Pond herab, dass das Eis noch vor ihrem Aufprall
barst und sich Eisschollen samt Baumstämmen als Sturzflut in das Flussbecken ergossen. Das passierte jedes Jahr, im Spätwinter oder bei Frühlingsanfang, nur dass es meist tagsüber geschah, weil es am Tag wärmer war. 1944 kam die Sturzflut aus Baumstämmen nachts ins Becken. Ketchum schob Dominic auf dessen Hosenboden über das Eis; die hübsche, »etwas ältere« Frau des Kochs tanzte um sie herum. Gehörte die Formulierung »etwas älter« zu Indianer-Janes Schilderung jener Nacht? (Danny Baciagalupo erinnerte sich später nicht mehr, wusste aber noch genau, dass Jane sobald in ihrer Geschichte die Stämme in das Becken schössen - unweigerlich jenen »denkwürdigen Zufall« erwähnte, dass Ketchum und »Cousine Rosie« gleichaltrig waren.) Indianer-Jane war in die Tür der Kochhausküche getreten und wollte den dreien
sagen, sie sollten das »Arschlöcher!«-Rufen sein lassen, sonst würden sie noch Danny aufwecken. Jane stand hoch genug über dem Flussbecken, um das heranrauschende Wasser und die Stämme zu hören. Den ganzen Winter über hatten Eis und Schnee das Rauschen des Flusses gedämpft - doch nicht in jener Samstagnacht. Jane warf die Tür zu und rannte den Hügel hinunter. Jetzt schrie niemand mehr »Arschlöcher!«. Der erste Stamm schlidderte über das Eis in das Flussbecken; die Stämme waren nass und darum auf dem glitschigen Eis noch schneller. Einige der Stämme schössen tief ins Becken und unters Eis. Wenn sie dann wieder auftauchten, durchstießen sie das Eis von unten, »wie Torpedos«, sagte Indianer-Jane immer. Als Jane beim Flussbecken ankam, begann das Eis gerade unter dem schieren Gewicht der Stämme einzubrechen; einige der Eisschollen
waren so groß wie Autos. Dann war Rosie plötzlich verschwunden. Eben noch sah Ketchum sie Do-si-do tanzen, und im nächsten Augenblick war sie hinter einer wie eine Wand aufragenden Eisscholle verschwunden. Sofort schoben sich Baumstämme über die Stelle, wo Rosie eben noch gestanden hatte. Ketchum arbeitete sich vorsichtig über die Eisbrocken und die auf und nieder hüpfenden Stämme bis zu der Stelle zurück, wo der Koch auf einer Eisscholle umgekippt war, die jetzt flussabwärts trieb. »Sie ist weg, Cookie - wegl«, rief Ketchum. Der Koch setzte sich auf, sah überrascht, wie ein Stamm aus dem Becken auftauchte und neben ihm mit Wucht wieder ins Wasser klatschte. »Rosie?«, fragte Dominic. Hätte er jetzt »Ich liebe dich auch!« geschrien, hätte er kein Echo mehr gehört, nicht bei dem Höllenlärm, den die Stämme und Eisschollen inzwischen
machten. Ketchum legte sich den Koch über die Schulter und tänzelte von Stamm zu Stamm ans Ufer, wobei er manchmal auf eine Eisscholle statt auf einen Baumstamm trat, so dass sein Bein einsank und bis zum Oberschenkel nass wurde. »Arschlöcher!«, schrie Indianer-Jane vom Flussufer aus - ihnen beiden, allen dreien zu. »Arschlöcher! Arschlöcher!«, rief sie immer wieder und weinte und weinte. Der Koch war nass, unterkühlt, er zitterte, und er klapperte mit den Zähnen, doch Ketchum und Jane verstanden ihn ganz gut. »Sie kann nicht weg sein, Ketchum - sie kann doch nicht einfach so verschwinden!« »Aber genauso war's, Danny«, erzählte die Tellerwäscherin dem Jungen. »Schneller, als sich der Mond hinter eine Wolke schieben kann - so schnell war deine Mutter verschwunden. Und als wir ins Kochhaus zurückkamen, warst du hellwach und hast
geschrien - es war schlimmer als jeder Alptraum, den ich je bei dir erlebt habe. Ich nahm das als Zeichen, dass du irgendwie wusstest, dass deine Mom nicht mehr da war. Ich brachte dich nicht dazu, mit dem Weinen aufzuhören - dich nicht und deinen Vater auch nicht. Ketchum hat sich ein Hackebeil gegriffen. Er stand einfach nur da, in der Küche, die linke Hand auf ein Schneidebrett gelegt, das Beil in der Rechten. >Lass es<, hab ich gesagt, doch er hat immer nur seine auf dem Schneidebrett liegende linke Hand angestiert - und sich womöglich vorgestellt, sie wäre nicht mehr da. Ich ließ ihn stehen, um mich um dich und deinen Dad zu kümmern. Als ich wieder in die Küche kam, war Ketchum weg. Ich habe überall nach seiner linken Hand gesucht, ich war mir sicher, ich würde sie irgendwo finden. Ich wollte nicht, dass du oder dein Vater sie findet.« »Aber er hat sich die Hand doch nicht abgehackt!«, unterbrach Danny sie jedes Mal.
»Tja, also, nein - hat er nicht«, bestätigte Jane einigermaßen gereizt. »Dir ist doch hoffentlich aufgefallen, dass Ketchum seine linke Hand noch hat, oder?« Manchmal, besonders wenn Ketchum betrunken war, das hatte Danny bemerkt, starrte der Holzfäller seine linke Hand an; genauso hatte er letzte Nacht seinen Gips angestarrt. Hätte Indianer-Jane gesehen, wie Ketchum seinen Gipsarm anstarrte, hätte sie das vielleicht als Zeichen dafür aufgefasst, dass Ketchum immer noch daran dachte, sich die Hand abzuhacken. (Aber warum die linke?, fragte sich Danny. Ketchum war Rechtshänder. Wenn man an Selbsthass litt, wenn man sich wirklich selbst bestrafen wollte oder sich schuldig fühlte, würde man sich dann nicht die gute Hand abhacken?) Geschäftig liefen sie in der Küche hin und her - all die dicken Frauen und der schlanke Koch
mit seinem Sohn. Man ging nicht hinter jemandem vorbei, ohne »Achtung, hinter dir!« zu rufen oder der Person die Hand auf den Rücken zu legen; die Frauen der Sägewerksarbeiter tätschelten Danny bei der Gelegenheit häufig den Po. Die eine oder andere gab auch dem Koch einen Klaps, aber nur wenn Indianer-Jane nicht hinsah. Danny war aufgefallen, wie oft sich Jane zwischen seinen Vater und die Küchenhilfen stellte, vor allem in dem schmalen Handtuch von einem Durchgang zwischen Herd und Arbeitsplatte, der noch schmaler wurde, sobald man die Herdklappen öffnete. Es gab in dieser Küche noch andere Engpässe, die für Köche und Kellnerinnen eine Herausforderung waren, doch der Durchgang zwischen Herd und Arbeitsplatte war besonders eng. Ketchum war zum Pinkeln ins Freie gegangen - eine Angewohnheit aus seiner Waniganzeit, die er offenbar nicht ablegen konnte -, während Indianer-Jane in den Speisesaal ging,
um die Tische zu decken. In jener »guten alten Zeit« der mobilen Holzarbeiterlager hatte Ketchum die Flößer und die anderen Holzarbeiter gern geweckt, indem er gegen die metallene Verkleidung der Schlaf-Wanigans pisste. »Ein Wanigan ist in den Fluss gefallen!«, brüllte er dabei oft. »Gott im Himmel - er driftet ab!« Worauf aus dem Inneren der Behausungen ein Schwall wüster Beschimpfungen folgte. Ketchum schlug auch gern mit einem Flößerhaken gegen die metallene Verkleidung der Schlaf-Wanigans. »Lasst den Bären nicht rein!«, grölte er dazu. »O Gott - er hat eine der Frauen! O Gott - lieber Gott, nein!« Danny schöpfte den warmen Ahornsirup aus der großen Kasserolle auf der hinteren Herdflamme in die Krüge. Eine der Sägewerksarbeiterfrauen war dem Jungen von hinten förmlich auf die Pelle gerückt. »Achtung, hinter dir, Süßer!«, sagte die Frau
mit heiserer Stimme. Sein Dad war gerade damit beschäftigt, das Bananenbrot in die Eierpampe zu tunken. Eine der Küchenhilfen legte die Armen Ritter dann auf das Backblech, während eine andere mit einem Bratenwender das Lammhaschee rührte. Ehe Ketchum zu einer offenbar endlosen Pinkelpause ins Freie gegangen war, hatte er den Zwölfjährigen noch ermahnt: »Neun Uhr, Sonntagmorgen. Erinnere deinen Dad daran, Danny.« »Wir werden da sein«, hatte der Junge versprochen. »Was hast du mit Ketchum vor?«, flüsterte Indianer-Jane dem Zwölfjährigen ins Ohr. So massig sie auch war, der Junge hatte nicht bemerkt, dass sie hinter ihm stand. Zuerst hatte er sie für die Frau gehalten, die ihm auf die Pelle gerückt war, aber Jane kam gerade aus dem Speisesaal zurück.
»Dad und ich treffen uns Sonntagmorgen mit Ketchum am Dead-Woman-Damm«, verriet ihr Danny. Jane schüttelte den Kopf, wobei ihr langer Zopf, der länger war als ein Pferdeschweif, über ihrem gewaltigen Hintern hin und her wedelte. »Ketchum hat ihn also überredet«, stellte sie missbilligend fest. Wegen des tief in die Stirn gezogenen Schirms ihrer ClevelandIndians-Mütze konnte der Junge ihre Augen nicht sehen. Dafür schenkte ihm Häuptling Wahoo sein irres Grinsen. Einem Fremden wäre nicht aufgefallen, wie perfekt die Abläufe in der Küche ineinandergriffen; Danny und die indianische Tellerwäscherin kannten es nicht anders. Alles lief reibungslos wie immer, sogar als der Koch das heiße Blech voll Scones mit den Topfhandschuhen balancierte, sprangen die Frauen wie einstudiert beiseite, wobei eine von ihnen im selben Moment die Maismuffins aus
den Muffinförmchen in eine große Porzellanschüssel klopfte. Niemand rempelte den anderen an, so dick alle - außer Dominic und Danny - auch sein mochten. In dem engen Durchgang zwischen der Arbeitsplatte und dem Herd, auf dem unter Töpfen oder Pfannen sechs der acht Flammen gleichzeitig brannten, schoben sich der Koch und die Tellerwäscherin Rücken an Rücken aneinander vorbei. Das war an sich nichts Außergewöhnliches, doch Danny bemerkte eine leichte Variante in ihrer Choreographie und bekam unvermutet einen kurzen, aber eindeutigen Dialog zwischen den beiden mit. Als sie, Rücken an Rücken, aneinander vorbeigingen, streifte Jane den Koch absichtlich mit ihrem großen Hintern mitten im Kreuz - Dominic reichte ihr nur bis zu den Schultern. »Do-si-do deinen Partner«, Tellerwäscherin leise.
sagte
die
Obschon er hinkte, hielt der Koch die Balance, und kein einziger Scone rutschte von dem heißen Blech. »Do-si-do«, flüsterte Dominic Baciagalupo. Indianer-Jane war bereits weitergegangen. Keiner außer Danny hatte diesen kurzen Kontakt bemerkt, Ketchum aber - egal, ob betrunken oder nüchtern - wäre er bestimmt nicht entgangen. (Doch der Holzfäller war nach wie vor draußen und pinkelte vermutlich noch immer.)
3 - Eine Welt voller Unfälle Am Donnerstag war Angel Pope unter die Baumstämme geraten. Nach dem Frühstück am Freitag brachte Indianer-Jane Danny in ihrem Pick-up zur Schule der Paris Manufacturing Company am Phillips Brook und fuhr anschließend allein zum Kochhaus nach Twisted River zurück.
Der Flößertrupp würde an einer Stelle knapp oberhalb des Dead-Woman-Damms arbeiten. Der Koch und seine Küchenhilfen würden vier Mittagsgerichte zubereiten; zwei davon würden sie per Rucksack zu den Flößern bringen und die zwei anderen mit dem Auto zu den Holzarbeitern, die auf der Abfuhrstraße zwischen dem Ort Twisted River und dem Pontook-Stausee Holzlaster beluden. Auch ohne die Trauer um Angel waren Freitage schon schlimm genug. Alle konnten es kaum erwarten, dass das Wochenende begann, obwohl an Wochenenden in Twisted River (fand zumindest der Koch) wenig mehr geschah als Besäufnisse und die üblichen sexuellen Fehltritte - »von der anschließenden Peinlichkeit und der Scham ganz zu schweigen«, wie Danny Baciagalupo seinen Dad (mehr als einmal) hatte sagen hören. Und für Dominic war das freitägliche Abendessen im Kochhaus die Mahlzeit der Woche, die ihm am meisten abverlangte. Für die
praktizierenden Katholiken unter den Frankokanadiern machte der Koch seine berühmten fleischlosen Pizzas, doch für die »Nichtmakrelenfresser« - wie Ketchum sich und die meisten anderen Holz- und Sägewerksarbeiter gern nannte - war eine fleischlose Pizza an einem Freitagabend nicht genug. Als Indianer-Jane Danny vor der Schule in Paris absetzte, gab sie ihm einen leichten Knuff auf den Oberarm. Dorthin würden ihn die älteren Schüler schlagen, wenn er Glück hatte. Natürlich schlugen ihn die älteren Jungs fester als Jane, sei es auf den Oberarm oder woandershin. »Lass das Kinn unten, die Schultern locker, die Ellbogen am Körper und die Hände oben vorm Gesicht«, sagte Jane. »Du musst aussehen, als würdest du jeden Moment zuschlagen - dann trittst du den Scheißkerl in die Eier.« »Ich weiß«, erwiderte der Zwölfjährige. Er
hatte noch nie jemanden geschlagen oder in die Eier getreten. Janes Anweisungen verstörten den Jungen; ihre Tipps, so dachte er, beruhten bestimmt auf Ratschlägen, die Constable Carl ihr gegeben hatte, dabei hatte Jane doch höchstens vom Constable etwas zu befürchten. Der kleine Dan glaubte, kein anderer würde es wagen, sich mit ihr anzulegen - vielleicht nicht einmal Ketchum. Wenn sie sich im Kochhaus oder sonst irgendwo in Twisted River voneinander verabschiedeten, gab Jane Danny immer einen Abschiedskuss, nie aber, wenn sie ihn vor der Schule der Paris Manufacturing Company absetzte oder wenn sie ihn irgendwo am Phillips Brook abholte, wo sich die Kids aus West Dummer herumtreiben mochten. Wenn die älteren Jungs sahen, wie Indianer-Jane Danny einen Kuss gab, würden sie ihm noch mehr zusetzen als sonst. An diesem Freitag blieb der Zwölfjährige einfach neben Jane im Pick-up sitzen und rührte sich nicht. Vielleicht
hatte Dan einen Moment lang vergessen, wo sie waren - und wartete nun, dass sie ihn küsste -, oder er wollte Jane wegen seiner Mutter etwas fragen. »Was ist los, Tellerwäscherin.
Danny?«,
sagte
die
»Machst du mit meinem Dad Do-si-do?«, fragte der Junge. Jane lächelte ihn an, doch es war ein verhalteneres Lächeln, als er es auf ihrem hübschen Gesicht gewohnt war; dass sie nicht antwortete, beunruhigte ihn. »Sag nicht, ich soll Ketchum fragen«, platzte es aus dem Jungen heraus. Das brachte Indianer-Jane zum Lachen. Ihr Lächeln war jetzt natürlicher, offener. (Häuptling Wahoo trug wie immer sein irres Grinsen zur Schau.) »Frag doch deinen Vater, wollte ich eigentlich sagen«, erwiderte die Tellerwäscherin. »Mach dir keine Sorgen«, ergänzte sie und boxte ihn
noch mal in den Oberarm, diesmal ein wenig fester. »Danny?«, sagte Jane, als der Zwölfjährige aus dem Truck stieg. »Frag Ketchum nicht.« Sie lebten in einer Welt voller Unfälle, dachte der Koch. Er kochte, was das Zeug hielt. Das Lammhaschee, das er zum Frühstück serviert hatte, reichte noch für ein Mittagessen. Außerdem hatte er (für die Katholiken) Kichererbsensuppe gekocht und einen Wildeintopf mit Möhren und Perlzwiebeln. Ja, es gab auch den vermaledeiten Topf Baked Beans und die unvermeidliche Erbsensuppe mit Petersilie. Aber ansonsten erinnerte kaum etwas an den üblichen Holzfällerfraß. Eine der Sägewerksarbeiterfrauen briet auf dem Backblech ein paar grobe italienische Würste. Der Koch sagte ihr mehrmals, sie solle die Würste zerkleinern, um das Wurstbrät anzubraten, woraufhin eine andere der Sägewerksarbeiterfrauen anfing zu singen.
»Besorg's deiner Wurst mit 'm Bratenwender!«, sang sie zu der nicht unbedingt naheliegenden Melodie von Vaya con Dios. Die anderen Frauen stimmten mit ein. Am lautesten sang die Frau, die der Koch damit beauftragt hatte, sich um die Hefe für den Pizzateig zu kümmern; er behielt die Frau im Auge. Dominic wollte den Teig noch kneten und aufgehen lassen, ehe sie sich auf den Weg machten, um die Mittagessen zu verteilen. (Am Freitagabend würde es etliche wütende Frankokanadier geben, wenn für die Makrelenfresser nicht genug fleischlose Pizzen da waren.) Der Koch backte auch Maisbrot. Er wollte die Füllung für die Brathähnchen vorbereiten, die freitags abends ebenfalls auf dem Menü im Kochhaus standen. Dazu würde er das Wurstbrät mit dem Maisbrot, ein wenig Sellerie und Salbei mischen und - nach seiner
Rückkehr vom Fluss oder wo auch immer die Lastwagen beladen wurden - Eier und Butter hinzufügen. In der großen Kasserolle, in der Danny den Ahornsirup erwärmt hatte, kochte Dominic den Butternusskürbis; er würde ihn zerstampfen, mit Ahornsirup mischen und die Butter beigeben, wenn er in den Ort zurückkam. Zu den gefüllten Brathähnchen reichte er am Freitagabend neben dem Kürbispüree auch noch Kartoffelgra-#tin. Die Kombination galt als Ketchums Lieblingsgericht; meist aß er freitags aber auch noch ein bisschen von der fleischlosen Pizza. Ketchum tat dem Koch leid. Dominic wusste nicht, ob Ketchum ernsthaft glaubte, dass sie Angel am Sonntagmorgen im Überlauf des oberen Damms finden würden, oder im Gegenteil hoffte, dass sie den Leichnam des Jungen nicht finden würden. Eines hatte der Koch entschieden: Daniel sollte Angels Leiche nicht sehen. Aber Dominic Baciagalupo war sich nicht sicher, ob er Angels Leiche sehen
oder den Jungen überhaupt finden wollte. Das Wasser in dem Topf, in dem der Koch die Eier mit ein wenig Essig pochiert hatte, kochte wieder. Zum Frühstück hatte er das Lammhaschee mit den pochierten Eiern serviert, doch zum Mittagessen gab es das Haschee nur mit reichlich Ketchup; pochierte Eier ließen sich nicht gut transportieren. Als das Essigwasser kochte, goss Dominic es über die Schneidebretter, um sie zu sterilisieren. Eine der Sägewerksarbeiterfrauen hatte mit dem vom Frühstück übriggebliebenen Schinkenspeck sowie mit Salat und Tomatenscheiben etwa fünfzig Sandwiches belegt. Jetzt aß sie eines der Sandwiches und musterte dabei den Koch - sie führte irgendwas im Schilde, irgendeine Teufelei, das merkte Dominic. Sie hieß Dot, »Pünktchen«. Für ein Dot war sie viel zu unförmig, und sie hatte so viele Kinder, dass sie ihm wie eine Frau vorkam, der von all ihren Fähigkeiten nur
noch ihr Appetit geblieben war, und daran dachte der Koch nur sehr ungern. (Sie hatte Appetit auf zu viele verschiedene Dinge, ahnte Dominic.) Die Küchenhilfe mit dem Bratenwender - die vergessen hatte, das Wurstbrät auf dem Backblech zu zerkleinern - war anscheinend in den Streich eingeweiht, denn auch sie ließ den Koch nicht aus den Augen. Da Dot den Mund voll hatte, sprach die Frau mit dem Bratenwender zuerst. Sie hieß May, war noch dicker als Dot und zum zweiten Mal verheiratet. Mays Kinder mit ihrem zweiten Mann waren genauso alt wie ihre Enkel - also wie die Kinder ihrer Kinder aus erster Ehe -, und dieses unnatürliche Phänomen hatte May und ihren zweiten Mann dermaßen aus der Bahn geworfen, dass sie sich angesichts der schieren Seltsamkeit ihres Lebens nicht einmal mehr gegenseitig trösten konnten. Unnatürlich
fand
Dominic,
dass
May
pausenlos darüber jammern musste, dass sie Kinder hatte, die gleich alt waren wie ihre Enkel. Warum war das so ein Problem?, hatte sich der Koch gefragt. »Schau sie dir doch an«, hatte Ketchum gesagt. Er meinte May. »Für sie ist alles ein Riesenproblem.« Schon möglich, überlegte der Koch, als May mit dem Bratenwender auf ihn zeigte. Verführerisch mit den Hüften wackelnd, säuselte sie: »O Cookie, ich würde mein erbärmliches Leben hinter mir lassen - wenn du mich nur heiraten und auch noch bekochen würdest!« Dominic bearbeitete gerade mit einer langstieligen Spülbürste die im heißen Essigwasser eingeweichten Schneidebretter; von den Essigdämpfen tränten ihm die Augen. »Du bist schon verheiratet, May«, sagte er. »Wenn du mich heiraten würdest und wir Kinder bekämen, hättest du Kinder, die jünger
als deine Enkel wären. Nicht auszudenken, wie du dich dann fühlen würdest.« Diese Vorstellung schien May ernsthaft zu schockieren. Vielleicht hätte er dieses Tabuthema nicht ansprechen sollen, dachte der Koch. Doch Dot, die immer noch auf ihrem Sandwich kaute, lachte mit vollem Mund - und verschluckte sich prompt, sie begann zu würgen. Die Küchenhilfen, einschließlich May, standen da und warteten, dass der Koch etwas unternahm. Dominic Baciagalupo hatte Erfahrung mit Erstickungsanfällen. Er hatte eine Menge Holzfäller und Sägewerksarbeiter erlebt, die an Essen zu ersticken drohten - er wusste, was zu tun war. Vor Jahren hatte er eine der Frauen aus dem Tanzsaal gerettet. Sie war betrunken gewesen und drohte an ihrem eigenen Erbrochenen zu ersticken, doch der Koch hatte gleich gehandelt. Die Geschichte war berühmt. Ketchum hatte sie »Wie Cookie Sixpack-Pam
rettete« getauft. Die Frau war so groß und grobknochig wie Ketchum, und Ketchum hatte Dominic helfen müssen, um sie erst auf die Knie und dann auf alle viere zu zwingen, damit der Koch seine Variante des HeimlichHandgriffs vornehmen konnte. (Sixpack-Pam wurde so genannt, weil ein Sechserpack nach Ketchums Schätzung ihrem abendlichen Bierkonsum entsprach - ehe sie sich den ersten Bourbon genehmigte.) Dr. Heimlich wurde 1920 geboren, doch 1954 war sein heute berühmter Handgriff im Coos County noch nicht bekannt. Dominic Baciagalupo hatte da schon vierzehn Jahre lang hungrige Esser bekocht. Zahllose Menschen hatten vor seinen Augen Erstickungsanfälle bekommen, drei waren gestorben. Der Koch hatte die Erfahrung gemacht, dass es nicht immer half, jemandem auf den Rücken zu klopfen. Auch Ketchums ureigenes Verfahren, nämlich die Erstickenden mit dem Kopf nach unten zu halten und sie
heftig zu schütteln, ging manchmal schief. Doch einmal hatte Ketchum improvisieren müssen, und Dominic war Zeuge des erstaunlichen Erfolgs gewesen. Ein betrunkener Holzfäller war zu rauflustig und zu schwer gewesen, als dass Ketchum ihn hätte verkehrt herum halten und schütteln können. Mehrmals ließ Ketchum den Mann fallen, der nicht nur dem Erstickungstod nahe war, sondern auch noch versuchte, Ketchum umzubringen. Ketchum schlug den Tobenden wiederholt in die Magengegend, immer mit Aufwärtshaken. Nach dem vierten oder fünften Uppercut hustete der Mann ein großes, ungekautes Stück Lammfleisch aus, das ihm versehentlich in die Luftröhre gelangt war. Im Laufe der Jahre hatte der Koch Ketchums Methode für seine geringere Körpergröße und weniger gewalttätige Natur angepasst. Dominic wich den hektisch herumfuchtelnden
Armen des Erstickenden aus und nahm hinter ihm Aufstellung. Dann packte er das Opfer um den Oberbauch und drückte mit verschränkten Armen, direkt unter dem Brustkorb, abrupt nach oben. Das hatte jedes Mal funktioniert. Als Dot in der Küche anfing, wie wild um sich zu schlagen, stellte sich Dominic rasch hinter sie. »O mein Gott, Cookie - rette sie!«, rief May. Die Kinder-Enkel-Krise war vorübergehend nebensächlich geworden, wenn nicht völlig vergessen. Dominic presste seine Nase gegen Dots warmen, verschwitzten Nacken, und als er die Arme um sie schlang, gelang es ihm kaum, die Hände zu verschränken. Ihre Brüste waren so groß und hingen so tief, dass Dominic sie anheben musste, um zu ertasten, wo Dots Brustkorb endete und ihr Oberbauch anfing. Doch in dem kurzen Moment, als er ihre Brüste hielt, packte Dot seine Hände und rammte ihm ihren Hintern in den Magen. Sie
lachte überdreht, denn sie hatte gar keinen Erstickungsanfall. Die verrückte May und die übrigen Küchenhilfen stimmten in ihr Gelächter ein. »O Cookie ... woher wusstest du, wie ich's mag?«, stöhnte Dot. »Ich hab mir immer schon gedacht, Cookie ist so einer, der's von hinten macht«, stellte May sachlich fest. »Ach, du schlimmer Finger, du!«, rief Dot und rieb ihr Hinterteil an dem Koch. »Ich liebe es, wie du immer >Achtung, hinter dir!< sagst!« Endlich kriegte Dominic seine Hände von ihren Brüsten los und wich zurück. »Vermutlich sind wir ihm nicht dick genug, Dot«, sagte May betrübt. Ein unangenehmer Unterton hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Dem Koch entging er nicht. Jetzt muss ich für meine Kinder-Enkel-Bemerkung bezahlen, dachte Dominic. »Oder wir sind ihm nicht indianisch genug«, fügte May hinzu.
Der Koch würdigte sie keines Blickes; auch die anderen Küchenhilfen hatten sich von ihr abgewandt, sogar Dot. Trotzig drückte May das Lammhaschee mit dem Bratenwender flach auf das Backblech. Dominic griff um sie herum und schaltete den Backofen aus. Als er hinter ihr vorbeiging, berührte er mit seinen Fingern ihr Kreuz. »Dann wollen wir mal zusammenpacken, Ladys«, sagte er, fast so, wie er es sonst auch sagte. »Du und May, ihr könnt das Essen für die Flößer mitnehmen«, sagte der Koch zu Dot. »Wir anderen fahren die Abfuhrstraße runter, bis wir die Holzarbeiter finden.« Er sprach weder direkt zu May, noch sah er sie an. »Dot und ich müssen also alles zu Fuß machen?«, fragte May. »Du solltest mehr zu Fuß gehen«, sagte Dominic, noch immer ohne sie anzusehen. »Das wird dir guttun.« »Tja, ich hab die verdammten Sandwiches
gemacht - dann trag ich sie wohl auch«, sagte Dot. »Nimm auch das Lammhaschee mit«, befahl der Koch. Jemand fragte, ob unter den Flößern nicht auch ein paar »ultrakatholische« Frankokanadier seien; vielleicht sollten Dot und May auch etwas Kichererbsensuppe zum Fluss mitnehmen. »Ich schleppe keine Suppe auf dem Rücken«, sagte May. »Die Makrelenfresser können ja den Schinkenspeck aus den Sandwiches rausnehmen«, schlug Dot vor. »Ich glaube, unter den Flößern sind keine Makrelenfresser«, sagte Dominic. »Die Kichererbsensuppe und den Wildeintopf bringen wir den Arbeitern an der Holzabfuhrstraße. Falls am Fluss irgendwelche Katholiken wütend werden, sagt denen, ich
war schuld.« »Keine Sorge, ich sag ihnen schon, dass du schuld bist«, brummte May. Sie wandte die Augen nicht von ihm, doch er würdigte sie keines Blickes. Als ihre Wege sich trennten, sagte May: »Ich bin zu dick, du kannst mich nicht einfach ignorieren, Cookie.« »Sei bloß froh, dass ich dich ignoriere, May«, erwiderte er. Der Koch hatte nicht erwartet, Ketchum unter den Arbeitern zu finden, die auf der Abfuhrstraße die Holzlaster beluden. Selbst ein verletzter Ketchum war ein besserer Flößer als jeder andere Mann am Fluss. »Dieser Trottel von Arzt hat mir verboten, den Gips nass zu machen«, erklärte Ketchum. »Warum solltest du den Gips nass machen?«, fragte ihn Dominic. »Ich hab dich noch nie ins Wasser fallen sehen.«
»Vielleicht hat mir der Fluss gestern fürs Erste gereicht, Cookie.« »Es gibt Wildeintopf«, teilte Küchenhilfen den Arbeitern mit.
eine
der
Es hatte einen Unfall mit einem der Pferde gegeben und einen anderen Unfall mit einer motorbetriebenen Winde. Laut Ketchum hatte außerdem ein Frankokanadier einen Finger verloren, als er von einer Holzplattform Stämme ablud. »Tja, heute ist Freitag«, sagte Dominic, als sei an einem Freitag unter solchen Idioten nichts anderes zu erwarten. »Es gibt Kichererbsensuppe für diejenigen von euch, denen es etwas bedeutet, dass heute Freitag ist«, verkündete der Koch. Ketchum fiel auf, wie ungeduldig sein alter Freund war. »Was ist los, Cookie? Was ist passiert?«, fragte er. »Dot und May haben bloß rumgestichelt«,
antwortete der Koch. Er erzählte Ketchum, was geschehen war - und auch, was May über Indianer-Jane gesagt hatte. »Erzähl das nicht mir, erzähl's Jane«, sagte Ketchum. »Jane reißt May den Arsch auf, wenn sie's erfährt.« »Ich weiß, Ketchum - darum sag ich's ihr nicht.« »Wenn Jane gesehen hätte, wie Dot deine Hände an ihre Titten hält, hätte sie Dot schon längst den Arsch aufgerissen, Cookie.« Auch das wusste Dominic. Die Welt war ein gefährlicher Ort; der Koch wollte lieber nicht erfahren, wie viele neue Ärsche jede Minute aufgerissen wurden. Ketchum hatte seinerzeit eine ganze Menge aufgerissen und hätte keinerlei Skrupel, noch ein paar mehr aufzureißen. »Heute Abend gibt's gefüllte Brathähnchen mit Kartoffelgratin«, informierte Dominic
Ketchum. Als Ketchum das hörte, schaute er gequält drein. »Ich hab ein Rendezvous«, sagte er. »So ein Pech, dass ich gefüllte Hähnchen verpasse.« »Ein Rendezvous?«, wiederholte der Koch angewidert. Für Ketchums Beziehungen hauptsächlich mit Frauen aus dem Tanzsaal schien ihm das Wort >Rendezvous< unpassend. Und in letzter Zeit hatte Ketchum mit Sixpack-Pam angebandelt. Gott allein wusste, wie viel die beiden zusammen trinken konnten, dachte Dominic. Seit er sie gerettet hatte, hatte der Koch ein Faible für SixpackPam, spürte aber, dass sie ihn nicht besonders mochte; vielleicht ließ sie sich nicht gern retten. »Immer noch Pam?«, fragte Dominic seinen trinkfreudigen Freund. Doch Ketchum wollte nicht darüber reden.
»Du solltest dir Sorgen machen, Cookie. May weiß über dich und Jane Bescheid. Müsstest du da nicht ein wenig beunruhigt sein?« Dominics Aufmerksamkeit galt jetzt den Küchenhilfen. Sie hatten am Rand der Holzabfuhrstraße gerade einen Klapptisch aufgebaut, neben dem Wanigan. Dort drin gab es Propangasbrenner, die Suppe und Eintopf warm hielten. Auf dem Klapptisch waren große Schüsseln und Löffel; die Holzarbeiter nahmen sich je eine Schüssel und einen Löffel und gingen in den Wanigan, wo ihnen die Frauen das Essen ausgaben. »Du wirkst nicht besorgt genug, Cookie«, stellte Ketchum fest. »Wenn May das mit Jane und dir weiß, weiß Dot es auch. Und wenn Dot es weiß, wissen es alle Frauen in deiner Küche. Sogar ich weiß es, aber mir ist es scheißegal.« »Ist mir klar, und ich weiß es zu schätzen«, sagte Dominic.
»Worauf ich hinauswill: Wie lange noch, bis Constable Carl es weiß? Apropos Ärsche und Arschlöcher«, sagte Ketchum und legte dem Koch seinen schweren Gips auf die Schulter. »Sieh mich an, Cookie.« Mit seiner guten Hand wies Ketchum auf seine Stirn, auf die lange, bleiche Narbe. »Mein Kopf ist härter als deiner, Cookie. Glaub mir, das mit dir und Jane darf der Cowboy auf keinen Fall erfahren.« Fast hätte Dominic seinen alten Freund gefragt, mit wem er verabredet war, nur um das Thema zu wechseln. Doch der Koch wollte eigentlich gar nicht wissen, mit wem Ketchum bumste - vor allem, wenn es nicht SixpackPam war. Wenn Jane abends nach Hause kam, dann meist (und immer öfter) so spät, dass Constable Carl schon im Tiefschlaf war. Morgens wachte der Cowboy erst wieder auf, nachdem sie zur Arbeit gefahren war. Es gab
nur gelegentlich Stress - hauptsächlich wenn Jane zu früh nach Hause kam. Doch sogar ein tumber Säufer wie der Constable würde irgendwann dahinterkommen. Oder eine der Küchenhilfen würde ihrem Mann etwas erzählen; unter den Sägewerksarbeitern waren der Koch und Indianer-Jane nicht unbedingt so beliebt wie bei den Flößern und den anderen Holzarbeitern. »Ich verstehe, was du meinst«, sagte der Koch zu Ketchum. »Verdammt, Cookie. Weiß eigentlich Danny das mit dir und Jane?« »Ich wollte es ihm erzählen«, antwortete Dominic. »Wollte«, wiederholte Ketchum hämisch. »Ist das, wie wenn du sagst, du wolltest ein Kondom überziehen, oder heißt das, du hast eins übergezogen?« »Ich verstehe, was du meinst«, wiederholte der
Koch. »Sonntagmorgen, neun Uhr«, sagte Ketchum zu ihm. Dominic konnte daraus nur schließen, dass Ketchums Rendezvous zwei Nächte dauern würde ... wohl doch eher ein Gelage oder eine Sauforgie. Wenn es in Twisted River Abende gab, die der Koch am liebsten vor seinem Sohn verheimlicht hätte, dann wären es die Samstagabende gewesen. In dem Ort, dessen Existenzgrundlage in unmittelbarer Nähe zu dem reißenden Fluss immer prekär blieb, nahm dann das Herumhuren und exzessive Saufen überhand - zumal bei den Menschen, die ihren Lebensunterhalt unter großen Gefahren verdienten und es schlicht für ihr Recht hielten, an Samstagabenden über die Stränge zu schlagen. Dominic Baciagalupo, ein Abstinenzler und zudem ein Witwer, der nicht die Angewohnheit hatte, herumzuhuren, hatte für
die diversen selbstzerstörerischen Aktivitäten, deren Zeuge er an einem durchschnittlichen Samstagabend wurde, dennoch ein gewisses Verständnis. Ketchums Verhalten verurteilte der Koch vielleicht mit deutlicheren Worten, als er je gegenüber den anderen Flegeln und Schlawinern in Twisted River verwendet hätte. Weil Ketchum eben kein Narr war, war der Koch womöglich mit Ketchums Ausrutschern weniger nachsichtig, doch für einen intelligenten Zwölfjährigen - und Danny war sowohl aufmerksam als auch intelligent schien hinter der fortwährenden Enttäuschung seines Vaters über Ketchum mehr als nur Ungeduld zu stecken. Und wenn nicht Indianer-Jane Ketchum gegen die harte Kritik des Kochs verteidigte, dann übernahm das Danny. An jenem Samstagabend, als Angels lädierter Leichnam möglicherweise am Dead-WomanDamm angelangt war und (da Menschen tiefer im Wasser treiben als Baumstämme) vielleicht
bereits die Sperre passiert hatte (und nun im oder gegen den Uhrzeigersinn links oder rechts vom Hauptdamm und vom Schleusenüberlauf herumgewirbelt wurde), half Danny Baciagalupo seinem Dad nach dem Abendessen im Kochhaus, die Tische abzuwischen. Die Küchenhilfen waren nach Hause gegangen, so dass es Indianer-Jane überlassen blieb, die letzten Töpfe und Pfannen zu schrubben, während sie auf das Ende des Waschgangs wartete, um dann alle Handtücher und sonstigen Textilien in die Trockner zu stecken. Samstags kamen ganze Familien zum Abendessen ins Kochhaus. Einige der Männer waren schon betrunken und stritten sich mit ihren Frauen, und einige der Frauen wiederum ließen ihren Frust an den Kindern aus. Einer der Sägewerksarbeiter hatte in den Toilettenraum gekotzt, und zwei besoffene Holzfäller waren zu spät zum Abendessen erschienen - bestanden aber natürlich darauf,
verpflegt zu werden. Die Spaghetti mit Fleischklößchen, die der Koch - wegen der Kinder - samstags abends immer machte, waren hart und fast kalt und genügten Dominic Baciagalupos Qualitätsansprüchen nicht mehr, weshalb er den Männern frische Penne mit ein wenig Ricotta und der obligaten Petersilie zubereitete. »Das schmeckt ja saugut!«, hatte einer der Säufer verkündet. »Wie nennt man das, Cookie?«, fragte der andere Holzfäller. »Prezzemolo«, antwortete Dominic angeberisch, und die schiere Exotik des Wortes schwappte über die betrunkenen Holzfäller hinweg wie eine weitere Runde Bier. Der Koch ließ die beiden das Wort so lange wiederholen, bis sie es korrekt aussprachen. Jane war angewidert. Sie wusste, prezzemolo
war nur das italienische Wort für Petersilie. »Und das für zwei Besoffene, die schon zu spät auf die Welt gekommen sind!«, beschwerte sich Jane. »Wenn Ketchum zu spät gekommen wäre, hättest du ihn mit leerem Magen weggeschickt«, warf Danny seinem Vater vor. »Zu Ketchum bist du irre streng.« Aber die beiden Betrunkenen hatten ein Spezialabendessen bekommen und waren zufrieden wieder gegangen. Danny, sein Dad und Jane näherten sich dem Ende ihrer Samstagabendschicht, als der Luftzug von der plötzlich aufgestoßenen Speisesaaltür noch einen späten Gast im Kochhaus ankündigte. Aus der Küche konnte Jane nicht sehen, wer es war. Sie rief in die Richtung, aus der der Windstoß kam: »Zu spät! Abendessen ist vorbei!« »Ich hab keinen Hunger«, sagte Sixpack-Pam.
Und wirklich, nichts an Pams Erscheinung deutete auf übermäßigen Appetit hin. Das spärliche Fleisch schlabberte an ihren großen Knochen, und ihr hageres, wildes Gesicht, verhärmt und schmallippig, ließ eher an eine Bierdiät denken als an einen Hang zu Fressattacken. Dennoch war sie groß und breitschultrig genug, um Ketchums Wollflanellhemd zu tragen, ohne darin verloren auszusehen, und ihre strubbeligen blonden Haare mit den grauen Strähnen wirkten sauber, aber ungepflegt, so wie ihre ganze Person. Die Taschenlampe in ihrer Hand war so groß wie ein Gummiknüppel. (Die Straßenbeleuchtung in Twisted River ließ zu wünschen übrig.) Nicht einmal die Ärmel von Ketchums Hemd waren ihr zu lang. »Soso, du hast ihn also umgebracht und dir seine Klamotten unter den Nagel gerissen«, sagte der Koch und musterte sie misstrauisch. »Ich hab auch keinen Erstickungsanfall,
Cookie«, entgegnete Pam. »Diesmal nicht, Sixpack!«, rief Jane aus der Küche. Offenbar, stellte Danny fest, kannten die Frauen einander gut genug, dass Jane Pam an der Stimme erkannt hatte. »Ziemlich spät dafür, dass sich das Personal noch hier rumtreibt, oder?«, fragte Pam den Koch. Dominic registrierte Sixpacks besondere Sorte Trunkenheit mit Neid und einem Anflug von Nostalgie, der ihn überraschte - die große Frau vertrug Bier und Bourbon besser als Ketchum. Jane war mit einem Nudeltopf unter dem Arm aus der Küche gekommen, die Öffnung wie eine Kanonenmündung auf Pam gerichtet. In seinem präsexuellen Zustand von einem Drittel Erregung und zwei Dritteln Vorahnung fiel Danny Ketchums Bemerkung darüber ein, wie Frauen ihre Schönheit verloren und wie Constable Carl auf diese unterschiedlichen
Stadien reagierte. Für den Zwölfjährigen hatte Jane ihre Schönheit nicht verloren - noch nicht ganz. Ihr Gesicht war immer noch hübsch, sie hatte einen umwerfend langen Zopf, und noch mehr glänzten die vielen rabenschwarzen Haare in seiner Phantasie, wenn sie den Zopf löste. Auch ihre enormen Brüste waren nicht zu verachten. Sixpack-Pams Anblick wiederum brachte Danny zwar auf andere, aber auch wieder ähnliche Weise aus dem Gleichgewicht: Sie sah so gut, das heißt kraftstrotzend, aus wie ein Mann, und das Weibliche an ihr hatte etwas Rauhes - wie sie zum Beispiel unbekümmert Ketchums Hemd übergestreift hatte, ohne bh, so dass ihre locker hängenden Brüste den Stoff wölbten ... Jetzt huschte ihr Blick von Jane zu Danny und verharrte dann jungmädchenhaft verwegen, aber auch etwas nervös, auf dem Koch. »Ich brauche deine Hilfe mit Ketchum,
Cookie«, sagte Pam. Dominic fürchtete schon, Ketchum könnte einen Herzinfarkt oder Schlimmeres gehabt haben. Er hoffte, Sixpack würde dem jungen Daniel die schrecklichen Einzelheiten ersparen. »Ich kann dir mit Ketchum helfen«, bot Indianer-Jane an. »Bestimmt ist er irgendwo zusammengeklappt - in dem Fall kann ich ihn eher tragen als Cookie.« »Er ist nackt auf dem Klo zusammengeklappt, und ich hab bloß ein Klo«, sagte Pam zu Dominic, ohne Jane anzusehen. »Hoffentlich hat er nur gelesen«, erwiderte der Koch. Ketchum arbeitete sich unermüdlich durch Dominics Bücher, die eigentlich dessen Mutter und Rosie gehört hatten - ihre geliebten Romane. Für einen Mann, der in Dannys Alter schon nicht mehr auf der Schule war, verschlang Ketchum die geborgten Bücher mit
einer an Wahnsinn grenzenden Verbissenheit. Wenn er dem Koch die Bücher zurückgab, waren auf fast jeder Seite Wörter umkringelt es gab keine unterstrichenen Passagen, auch keine ganzen Sätze, sondern nur einzelne Wörter. (Danny fragte sich, ob seine Mom Ketchum so das Lesen beigebracht hatte.) Einmal hatte der Junge eine Liste der Wörter erstellt, die Ketchum in dem Exemplar von Hawthornes Der scharlachrote Buchstabe umkringelt hatte, das einmal seiner Mutter gehört hatte. Zusammengenommen ergaben die Wörter überhaupt keinen Sinn. Sinnbild Pranger Geschlecht Missetäterinnen Stich
Busen Stickerei qualvoll schändlich matronenhaft erbebend Strafe Erlösung kläglich Wimmern besessen unehelich rein innerste Vergeltung Galan
Gespielin besudelt abscheulich Und diese Wörter hatte Ketchum allein in den ersten vier Kapiteln umkringelt! »Was hat er sich dabei gedacht, was glaubst du?«, hatte Danny seinen Dad gefragt. Der Koch hatte den Mund gehalten, auch wenn ihm das schwerfiel. Klar, »Geschlecht« und »Busen« gingen Ketchum oft durch den Kopf; was »Missetäterinnen« anging, da hatte Ketchum einige gekannt (darunter SixpackPam!). Was den »Galan« betraf, wusste Dominic Baciagalupo mehr, als ihm lieb war zum Teufel mit dem, was Ketchum mit dem Wort verband! Und was »Pranger« und »qualvoll« anging - von »Wimmern«, »unehelich«, »besudelt« und »abscheulich«
ganz zu schweigen -, so hatte der Koch keinerlei Wunsch, Ketchums lüsternes Interesse an diesen Wörtern zu ergründen. Das »matronenhaft«, »rein«, »innerste« und vor allem »Sinnbild« waren einigermaßen überraschend. Genauso wenig hätte Dominic vermutet, dass Ketchum viele Gedanken auf »Stickerei« verschwenden würde, auch nicht auf »schändlich«, »erbebend« oder »kläglich«. Der Koch glaubte, dass »Vergeltung« (besonders im Sinne von »Strafe«) seinen Freund ebenso betraf wie die Sache mit dem »Besessen«-Sein, denn Ketchum war zweifellos besessen - und zwar so sehr, dass »Erlösung« äußerst unwahrscheinlich war. (Und verspürte Ketchum regelmäßig einen »Stich«? Und falls ja, weswegen und wessentwegen, fragte sich Dominic.) »Vielleicht sind es ja nur Wörter«, hatte Danny laut überlegt. »Wie meinst du das, Daniel?«
Wollte Ketchum seinen Wortschatz erweitern? Für einen ungebildeten Menschen konnte er sich sehr gut ausdrücken - und er lieh sich immerzu Bücher! »Auf der Liste stehen lauter ausgefallene Wörter, die meisten jedenfalls«, hatte Danny gemutmaßt. Stimmt, pflichtete ihm der Koch bei - von »Busen«, »Strafe« und vielleicht »Stich« abgesehen. »Ich weiß bloß, ich hab ihm vorgelesen, und dann hat er das Scheißbuch geschnappt, ist ins Bad gegangen und zusammengeklappt«, sagte Sixpack. »Er klemmt irgendwie in 'ner Ecke, hockt aber noch auf dem Klo«, fügte sie hinzu. Von dem Vorlesen wollte Dominic nichts wissen. Zu seinem Bild von Ketchums Tanzsaalbekanntschaften gehörten weder literarische Interessen noch literarische Neugier; der Koch war überzeugt, dass
Ketchum kaum mit diesen Frauen sprach und ihnen selten zuhörte. Doch einmal hatte Dominic Ketchum im Scherz gefragt, wie er es so mit dem »Vorspiel« halte. Worauf Ketchum, zur nicht geringen Überraschung des Kochs, geantwortet hatte: »Ich bitte sie, mir etwas vorzulesen. Das bringt mich in Stimmung.« Oder in die Stimmung, das Buch mit ins Bad zu nehmen und damit aus den Latschen zu kippen, dachte Dominic. Auch hätte der Koch nicht gedacht, dass Ketchums weibliche Tanzsaalbekanntschaften besonders gebildet waren. Woher wusste Ketchum, welche von den Frauen überhaupt lesen konnte? Und welches Buch hatte ihm bei Sixpack-Pam die Stimmung verdorben? (Vielleicht hatte Ketchum einfach nur aufs Klo gemusst.) Indianer-Jane war in der Küche verschwunden und kam jetzt mit einer Taschenlampe wieder. »Damit du den Rückweg findest«, sagte sie zu
Dominic und gab ihm die Lampe. »Ich bleib hier bei Danny und bring ihn ins Bett.« »Darf ich mitkommen?«, fragte der Junge seinen Dad. »Ich könnte dir mit Ketchum helfen.« »Meine Wohnung ist für Kinder nicht besonders geeignet, Danny«, sagte ihm Pam. Das schrie geradezu nach einer Reaktion, doch der Koch ging nicht darauf ein. »Bleib bei Jane, Daniel. Ich komme gleich wieder«, sagte er nur, eher zu Jane als zu seinem Sohn, doch die Tellerwäscherin war schon wieder in der Küche verschwunden. Aus den Schlafzimmern im ersten Stock des Kochhauses konnte man einen Teil des Flussbeckens und oberhalb davon fast die ganze Ortschaft überblicken. Allerdings war es nachts in Twisted River so dunkel, dass man in dem abgelegenen Kochhaus wenig von dem
mitbekam, was in den diversen Saloons und Absteigen vor sich ging - und die Musik aus dem Tanzsaal, wo niemand mehr tanzte, konnten Danny und Indianer-Jane auch nicht hören. Eine Zeitlang hatten der Junge und die Tellerwäscherin die beiden Taschenlampen auf ihrem Weg in den Ort beobachtet. Durch das Hinken des Kochs ließ sich sein auf und nieder ruckendes Licht leicht identifizieren - und dank der kürzeren Schritte, Dominic musste nämlich doppelt so viele Schritte machen, um nicht hinter Sixpack-Pam mit ihren längeren Beinen zurückzubleiben. (Ihr Gespräch hätte Jane vielleicht ganz gern mit angehört; Danny seinerseits hätte zu gern gesehen, wie Ketchum nackt auf dem Klo hockte.) Doch bald waren die Taschenlampen in dem Nebel verschwunden, der das Flussbecken einhüllte, und zwischen den schwächeren Lichtern der Ortschaft.
»Er ist bald wieder da«, erklärte der Zwölfjährige, der wohl gespürt hatte, dass Jane dies hoffte. Sie reagierte nicht, deckte nur das Federbett im Zimmer seines Vater auf - und knipste die Lampe auf dem Nachttisch an. Danny folgte ihr in den Flur und sah, wie sie beim Verlassen des Schlafzimmers die gusseiserne Bratpfanne berührte. Die Pfanne hing in Schulterhöhe seines Vaters, aber in Brusthöhe von Indianer-Jane. Für Danny, der sie im Vorbeigehen auch berührte, hing sie in Augenhöhe. »Stellst du dir vor, wie du einem Bären eine verpasst?«, fragte Jane den Jungen. »Das hast du dir wohl vorgestellt«, erwiderte er. »Putz dir die Zähne und alles andere auch«, sagte sie. Der Junge ging in das Bad, das er sich mit seinem Vater teilte. Als er fertig war und sich
den Schlafanzug angezogen hatte, kam Jane in Dannys Zimmer und setzte sich neben ihm aufs Bett. »Ich hab noch nie gesehen, wie du deinen Zopf aufmachst«, sagte der Junge. »Ich frage mich, wie du mit offenen Haaren aussiehst.« »Du bist zu jung, um mich mit offenen Haaren zu sehen«, sagte Jane zu ihm. »Ich will dich nicht zu Tode erschrecken und dich auf dem Gewissen haben.« Der Junge sah unter dem Schirm der Cleveland-Indians-Mütze ihre verschmitzten Augen. Aus dem Ort ertönte ein Ruf und dann entweder ein ähnlicher Ruf oder ein Echo von dem nahen Flussbecken. Es ließen sich keine einzelnen Wörter heraushören, und mögliche Antwortrufe wurden vom Wind verweht. »Samstags abends ist es im Ort gefährlich, stimmt's?«, wollte Danny von Indianer-Jane wissen.
»Ich kenne da einen kleinen Kerl, der hinkt wenn du weißt, wen ich meine - und der immer sagt, das sei >eine Welt voller Unfälle<. Vielleicht kommt dir das bekannt vor«, sagte Jane. Ihre große Hand war unter die Bettdecken geschlüpft und hatte Dannys Achselhöhle gefunden, wo er, wie sie wusste, am kitzligsten war. »Ich weiß, wen du meinst!«, rief der Zwölfjährige. »Nicht kitzeln!« »Also, an einem Samstagabend gibt es einfach mehr Unfälle«, fuhr Jane fort. Sie kitzelte ihn nicht, ließ ihre Hand aber in seiner Achselhöhle. »Aber keiner wird sich mit deinem Dad anlegen, nicht wenn Sixpack bei ihm ist.« »Aber auf dem Rückweg ist er ganz allein«, wandte der Junge ein. »Mach dir um deinen Vater keine Sorgen, Danny«, riet ihm Jane. Sie nahm die Hand aus
seiner Achsel und setzte sich auf. »Könntest du's mit Sixpack-Pam aufnehmen?«, fragte Danny. Das war eine von Daniel Baciagalupos Lieblingsfragen; ständig wollte er von Indianer-Jane wissen, ob sie es mit irgendwem »aufnehmen« könnte, das Pendant zu Ketchums Drohung, einem echten oder angeblichen Gegner den Arsch aufzureißen. Könnte Jane es mit Henri Thibeault »aufnehmen« oder mit Keine-Finger La Fleur, mit den Brüdern Beaudette oder den Beebe-Zwillingen - oder mit Scotty Fernald, Earl Dinsmore, Charlie Clough und Frank Bemis? Meist antwortete Indianer-Jane: »Ich glaub schon.« (Als Danny sie gefragt hatte, ob sie es mit Ketchum aufnehmen könnte, antwortete sie: »Wenn er betrunken wäre, vielleicht.«) Doch als es um Sixpack-Pam als imaginäre Gegnerin ging, zögerte Jane. Danny hatte nicht sehr oft erlebt, dass sie zögerte. »Sixpack ist
eine verlorene Seele«, sagte Jane schließlich. »Aber könntest du es mit ihr aufnehmen?« Danny ließ nicht locker. Als Jane aufstand, beugte sie sich über den Jungen, drückte ihm mit ihren starken Händen die Schultern und küsste ihn auf die Stirn. »Ich glaub schon«, sagte Indianer-Jane. »Warum hatte Sixpack keinen bh an?«, fragte Danny. »Anscheinend hat sie sich in aller Eile angezogen«, antwortete Jane. Von seiner Zimmertür aus warf sie ihm eine Kusshand zu und ließ die Tür dann halb offen stehen. Solange Danny zurückdenken konnte, war das Licht im Flur sein Nachtlicht. Es klapperte, als der Wind an der losen Außentür zur Küche rüttelte. Der Zwölfjährige wusste, dass das nicht sein Dad war, der nach Hause kam, oder irgendein anderer nächtlicher Besucher.
»Ist nur der Wind!«, rief Indianer-Jane ihm vom anderen Ende des Flurs zu. Seit der Geschichte mit dem Bären fürchtete sich der Junge vor Eindringlingen, das wusste sie. Jane ließ ihre Schuhe oder Stiefel immer unten stehen und kam auf Socken die Treppe herauf. Wäre sie nach unten gegangen, hätte Danny die Stufen unter ihrem Gewicht knarren hören, aber Jane musste oben geblieben sein, bewegte sich in ihren Socken so lautlos wie ein nachtaktives Tier. Später hörte Danny im Bad Wasser laufen; er fragte sich, ob sein Vater nach Hause gekommen war, war aber zu müde, um aufzustehen und nachzusehen. Der Junge blieb liegen und lauschte dem Wind und dem allgegenwärtigen Tosen des Wassers. Als ihn wieder jemand auf die Stirn küsste, schlief der Zwölfjährige zu tief, um sagen zu können, ob es sein Dad oder Indianer-Jane gewesen war - oder ob er nur träumte, geküsst worden zu sein, und zwar diesmal von Sixpack-Pam.
Als Pam so mit großen Schritten durch den Ort stapfte - wobei der Koch wie ein treuer, aber ramponierter Hund hinter ihr herhinkte -, wirkte sie viel zu respektgebietend und zielstrebig, als dass irgendwer auch nur im Traum daran gedacht hätte, sie zu küssen oder von ihr geküsst zu werden. Der Koch jedenfalls träumte nicht davon - nicht bewusst zumindest. »Nicht so schnell, Sixpack«, sagte Dominic, doch entweder trug der Wind seine Worte davon, oder Pam machte absichtlich noch längere Schritte. Der Wind grub Furchen in den zwei Stockwerke hohen Turm aus Sägemehl vor dem Sägewerk, und es wehte ihnen in die Augen. Es war leicht entflammbar, was Ketchum »ein potentielles Inferno« nannte besonders in dieser Jahreszeit. Man würde den Sägemehlhaufen, der sich im Winter
angesammelt hatte, erst wegfahren, wenn die Holzabfuhrstraßen am Ende der Schlammperiode wieder hart wurden. Erst dann würde man es mit Lkws wegschaffen und an die Bauern im Tal des Androscoggin verkaufen. (Natürlich gab es im Inneren des Werks noch mehr davon.) Ein Sägemehlbrand würde den gesamten Ort in Schutt und Asche legen; nicht einmal das Kochhaus auf seinem Hügel gleich bei der Flussbiegung würde verschont bleiben, weil Hügel und Kochhaus vom Fluss her die volle Wucht des Windes abbekämen. Die größeren, am hellsten glimmenden Holzstücke würden aus dem Ort hinaufgeweht werden. Doch das Haus, auf dessen Errichtung der Koch bestanden hatte, war das stabilste in der Siedlung Twisted River. Die Absteigen und Saloons - selbst das Sägewerk und der sogenannte Tanzsaal - wären lediglich Zunder für einen Sägemehlbrand, wie ihn sich der Untergangsprophet Ketchum in seinen
Träumen von jederzeit Katastrophen ausmalte.
drohenden
Möglicherweise träumte Ketchum sogar jetzt, auf dem Klo. Jedenfalls stellte sich das Dominic Baciagalupo vor, während er krampfhaft versuchte, mit Sixpack-Pam Schritt zu halten. Sie kamen an der Bar in der Nähe der Absteige vorbei, die die frankokanadischen Wanderarbeiter bevorzugten. In der schlammigen Gasse neben dem Tanzsaal stand eine Lombard-Dampflok aus dem Jahre 1912, die schon so lange dort parkte, dass der Tanzsaal inzwischen abgerissen und um sie herum neu aufgebaut worden war. (In den 1930er Jahren waren diese Loks, mit denen man die holzbeladenen Schlitten durch die Wälder zog, von benzinbetriebenen Rückezügen abgelöst worden.) Sollte der Ort einmal brennen, überlegte Dominic, wäre die alte Lombard-Dampflok vielleicht das Einzige, was von ihm übrigblieb.
Als der Koch jetzt die Lombard betrachtete, sah er zu seiner Überraschung, dass auf dem Vordersitz über den Schlittenkufen die Beaudette-Brüder schliefen; oder sie waren tot. Vielleicht hatte man sie aus dem Tanzsaal geworfen, und sie waren hier eingepennt (oder abgeladen worden). Dominic verlangsamte den Schritt, als er an den vornüber zusammengesackten Brüdern vorbeihumpelte. Pam hatte sie auch gesehen, hielt aber nicht an. »Die erfrieren schon nicht es schneit ja nicht mal«, sagte Sixpack. Vor dem nächsten Saloon standen vier oder fünf Männer herum und sahen einer halbherzigen Schlägerei zu. Earl Dinsmore und einer der Beebe-Zwillinge hatten sich schon so lange geprügelt, dass sie ihre besten Schläge verbraucht hatten, vielleicht waren die Männer aber auch von vornherein zu betrunken gewesen. Offenbar konnten sie einander nicht mehr weh tun - wenigstens
nicht absichtlich. Der andere Beebe-Zwilling zettelte plötzlich, sei es aus Langeweile oder purer Scham über seinen Bruder, eine Schlägerei mit Charlie Clough an. Im Vorbeigehen schlug Sixpack-Pam Charlie nieder; dann streckte sie Earl Dinsmore mit einem Unterarmstoß gegen das Ohr zu Boden, so dass nur noch die Beebe-Zwillinge dastanden und einander irritiert betrachteten, bis ihnen langsam dämmerte, dass sie keine Gegner mehr hatten - es sei denn, sie wagten es, sich mit Pam anzulegen. »Es sind Cookie und Sixpack«, bemerkte Keine-Finger La Fleur. »Ein Wunder, dass du uns auseinanderhalten kannst«, sagte Pam und schob ihn beiseite. Sie kamen zu den neuen Reihenhäusern mit den Flachdächern - den Absteigen, wo die Trucker und Dampfmaschinenfahrer übernachteten. Wie Ketchum sagte: Ein Bauunternehmer, der im Norden New
Hampshires ein zweistöckiges Haus mit Flachdach hinstellte, war zu dumm, um zu wissen, wie viele Arschlöcher ein Mensch hat. In diesem Moment wurde die Tür des Tanzsaals aufgeweht (oder aufgestoßen), und die schauderhafte Musik drang ins Freie Perry Como mit dem Song Don't Let the Stars Get in Your Eyes. Die nächste Absteige erreichte man über eine Außentreppe. Pam drehte sich um, packte Dominic an einem Hemdsärmel und zog ihn hinter sich her. »Pass bei der vorletzten Stufe auf, Cookie«, sagte sie und zerrte ihn die Treppe hinauf. Wegen seines Hinkens hatte Dominic Mühe mit Treppen - erst recht bei dem Tempo, das Sixpack vorlegte. Die vorletzte Stufe fehlte. Der Koch stolperte und stützte sich an Pams breitem Rücken vor ihm ab. Sie drehte sich einfach noch mal um, packte ihn unter beiden Armen und hob ihn auf die oberste Stufe.
Seine Nasenwurzel prallte gegen ihr Schlüsselbein. An ihrem Hals fing er einen femininen Duft auf, zwar kein Parfüm, aber die an Ketchums Flanellhemd haftenden Männergerüche verwirrten den Koch. Oben an der Treppe war die Musik aus dem Tanzsaal lauter - Patti Page sang How Much Is That Doggie in the Window?. Kein Wunder, dass niemand mehr tanzt, dachte Dominic Baciagalupo gerade, als Sixpack mit der Schulter die Tür aufdrückte. »Scheiße, ich hasse dieses Lied«, sagte sie und schleifte den Koch ins Haus. »Ketchum!«, schrie sie, bekam aber keine Antwort. Glücklicherweise verstummte die schreckliche Musik, als Pam die Tür zumachte. Dem Koch war nicht ganz klar, wo die Küche, in der sie nun standen, aufhörte und wo das Schlafzimmer anfing. Die verstreuten Töpfe, Pfannen und Flaschen wurden irgendwann von herumliegender Unterwäsche abgelöst, dann
kam das riesige, ungemachte Bett, auf das nur das grünliche Licht eines Aquariums fiel. Wer wusste schon, dass Sixpack-Pam eine Fischfreundin war, ja dass sie überhaupt Haustiere mochte? (Falls in dem Aquarium wirklich Fische waren - Dominic sah zwischen den Algen nichts herumschwimmen. Vielleicht war Sixpack ja eine Algenfreundin.) Sie gingen durchs Schlafzimmer; selbst wenn man nicht hinkte, war es schwierig, um das mächtige Bett herumzukommen. Dominic konnte sich lebhaft vorstellen, wie die extreme Situation und der peinliche Schauplatz von Ketchums Zusammenbruch Pam genötigt hatten, sich hastig anzuziehen und auf den bh zu verzichten, doch jetzt, auf dem Weg ins Bad, kamen sie an drei bhs vorbei - von denen, trotz der Hektik, sicherlich jeder seinen Zweck erfüllt hätte. Jetzt kratzte sich Sixpack unter Ketchums Flanellhemd an der Brust. Dominic musste
keine Angst haben, dass das eine frivole Andeutung oder sonst ein Flirtversuch war. Diese Geste war genauso wenig geplant wie der Hieb, mit dem sie Charlie Clough auf den schlammigen Boden gestreckt hatte, oder der spontane Schlag aufs Ohr, der Earl Dinsmore fällte. Der Koch wusste, wenn Sixpack irgendetwas andeuten wollte, würde sie das weit unzweideutiger kundtun als mit einer beiläufigen Berührung ihrer Brust. Außerdem kratzte Ketchums Wollflanellhemd bestimmt auf ihrer nackten Haut. Sie fanden Ketchum auf der Toilette mehr oder weniger so vor, wie Pam ihn wohl entdeckt hatte: Das Taschenbuch, in dem er gelesen hatte, lag offen auf einem seiner nackten Oberschenkel, von dem Gipsarm festgehalten, beide Knie hatte er weit gespreizt. In der Klosettschüssel schwammen leuchtend blutrote Schlieren im Wasser - als wäre Ketchum langsam verblutet.
»Bestimmt hat er innere Blutungen!«, rief Sixpack aus, doch der Koch sah, dass ein Füller mit roter Tinte in das Klosett gefallen war; offenbar hatte Ketchum den Stift dazu benutzt, gewisse Wörter zu umkringeln. »Ich hatte schon nachgespült, bevor ich gegangen bin«, sagte Pam gerade, als Dominic den Ärmel hochkrempelte, zwischen Ketchums Knien hindurch in die Kloschüssel griff und den Füller herausfischte. Dann spülte er nochmals. Dominic wusch Hände und Füller im Waschbecken und trocknete sie mit einem Handtuch ab. Jetzt erst bemerkte er Ketchums Erektion. Einer von Dominics sehnlichsten Wünschen nämlich Ketchum nie mit einer Erektion zu erleben - hatte ihn womöglich das Offensichtliche zunächst übersehen lassen. Natürlich hatte Sixpack sie nicht übersehen. »Tja, ich frage mich, was er wohl damit vorhat!«, sagte sie, während sie unter Ketchums schwere Arme griff. Es gelang ihr,
ihn auf dem Klositz in eine aufrechtere Position zu hieven, so dass er nicht mehr völlig eingequetscht dasaß. »Pack du ihn an den Fußknöcheln, Cookie, dann werd ich mit dem Rest schon fertig.« Das Buch, das um ein Haar dem Füller in die Kloschüssel nachgefolgt wäre, rutschte von Ketchums Oberschenkel zu Boden. Dostojewskis Der Idiot war für Dominic eine Überraschung. Wie Ketchum bei der Lektüre des Romans auf (oder neben) einem Klosett das Bewusstsein verlor, konnte er sich eher vorstellen als Sixpack, wie sie Ketchum auf dem riesigen, grün beleuchteten Bett daraus vorlas. Automatisch sprach Dominic den Buchtitel laut aus, was Pam prompt missverstand. »Du willst mir erzählen, dass er ein Idiot ist?«, sagte sie. »Wie hat dir das Buch gefallen?«, wollte der Koch von ihr wissen, während sie Ketchum
aus dem Bad schleppten. Als sie an der offenen Tür vorbeikamen, schlug Ketchums Kopf auch noch gegen den Türknauf. Sein Gips schleifte auf dem Boden. »Es handelt von irgendwelchen Scheißrussen«, antwortete Sixpack verächtlich. »Auf den Inhalt hab ich nicht weiter geachtet - ich hab's bloß dem da vorgelesen.« Der leichte Schlag gegen den Kopf hatte Ketchum zwar nicht vollends geweckt, ihn aber offenbar gesprächig gemacht. »Was diese Kaschemmen angeht, wo man einen Scheißärger kriegen kann, nur weil man irgendein überempfindliches Arschloch ansieht, da gab's damals in Berlin nichts, was an das Hell's Half Acre in Bangor herankam das hätt ich sonst gemerkt«, sagte Ketchum, seine Erektion so aufrecht und unübersehbar wie eine Wetterfahne. »Was weißt du schon von Maine?«, fragte ihn Pam, als ob Ketchum bei Bewusstsein wäre
und sie verstehen könnte. »Ich hab Pinette nicht umgebracht - das konnten sie mir nie anhängen!«, beteuerte Ketchum. »Das war nicht mein Stempelhammer.« Lucky Pinette war tot in seinem Bett aufgefunden worden, im alten Schleusenhaus am Androscoggin, gut drei Kilometer nördlich von Milan. Man hatte ihm den Schädel mit einem Stempelhammer eingeschlagen, wie er zur Kennzeichnung gefällter Baumstämme verwendet wird, und manche Flößer behaupteten, Lucky habe sich am selben Nachmittag bei den Sortierstellen am Fluss mit Ketchum gestritten. Ketchum hatte, was ihm ähnlich sah, die Nacht im Umbagog-House in Errol verbracht - mit einer schwachsinnigen Frau, die dort in der Küche arbeitete. Weder der Stempelhammer, mit dem wiederholt auf Pinette eingeschlagen wurde (und der auf seiner Stirn den Buchstaben H hinterlassen
hatte), noch Ketchums Hammer wurden je gefunden. »Wer hat Lucky denn umgebracht?«, fragte Sixpack, als sie und Dominic Ketchum auf das Bett fallen ließen. Seine standhafte Erektion schwankte wie ein Fahnenmast im Sturm. »Bergeron war's, jede Wette«, antwortete Ketchum. »Sein Stempelhammer sah genauso aus wie meiner.« »Und Bergeron hat auch nicht irgendeine geistig Zurückgebliebene aus Errol gevögelt!«, versetzte Pam. Ketchum lächelte nur, mit geschlossenen Augen. Der Koch widerstand dem Drang, ins Bad zurückzugehen und nachzusehen, welche Wörter Ketchum in Der Idiot umkringelt hatte - Hauptsache weg von der Dauererektion seines alten Freundes. »Bist du nun wach oder was?«, fragte Dominic Ketchum, der offenbar wieder komplett
weggetreten war - vielleicht stellte er sich aber auch vor, er wäre einer der Reisenden in einem Dritte-Klasse-Abteil im Zug von Warschau nach St. Petersburg. Ketchum hatte sich den Idioten erst kürzlich ausgeborgt, und der Koch hielt es für unwahrscheinlich, dass Sixpack im ersten Kapitel schon sehr weit gekommen war, ehe die Auf-dem-Klo-ZusammenklappenEpisode das unterbrochen hatte, was Ketchum sein Lieblingsvorspiel nannte. »Tja, dann geh ich wohl mal nach Hause«, sagte Dominic, als Ketchums endlich nachlassende Erektion das Ende des abendlichen Unterhaltungsprogramms anzuzeigen schien. Aber wohl nicht für Pam zum Koch gewandt, begann sie, ihr geborgtes Hemd aufzuknöpfen. Jetzt wird's unzweideutig, dachte Dominic Baciagalupo. Zwischen dem Fuß des Bettes und der Schlafzimmerwand stand Sixpack und schnitt ihm den Weg ab. Er würde über das
Bett und über Ketchum hinwegsteigen müssen, um an ihr vorbeizukommen. »Na los, Cookie«, sagte Pam. »Zeig mir, was du draufhast.« Sie schmiss das Flanellhemd aufs Bett, wo es zwar Ketchums Gesicht, nicht aber seinen halberigierten Penis bedeckte. »Sie war nur leicht zurückgeblieben«, nuschelte Ketchum unter dem Hemd, »und aus Errol war sie auch nicht, sondern aus Dixville Notch.« Er meinte wohl die Küchenhilfe im Umbagog-House, die Frau, die er an dem Abend gevögelt hatte, als in dem alten Schleusenhaus am Androscoggin Lucky Pinette mit dem Hammer erschlagen wurde. (Es mochte durchaus ein Zufall sein, dass weder Ketchums Stempelhammer noch die Mordwaffe je gefunden wurden.) Sixpack packte den Koch an den Schultern und drückte sein Gesicht zwischen ihre Brüste - das war jetzt eindeutig. Er wehrte sich mit einem Quasi-Heimlich-Handgriff, duckte sich
unter ihren Armen durch, um hinter sie zu gelangen, und verschränkte seine Hände unter ihrem Brustkorb, unter ihren ansehnlichen Brüsten. Die Nase schmerzhaft zwischen Pams Schulterblättern eingeklemmt, sagte Dominic: »Das kann ich nicht machen, Sixpack Ketchum ist mein Freund.« Sie löste sich mit Leichtigkeit aus seinem Griff. Ihr langer harter Ellbogen versetzte ihm einen Schlag auf den Mund, dass seine Unterlippe platzte. Dann nahm sie ihn in den Schwitzkasten, klemmte ihn in ihre Achselhöhle, neben die weiche Brust. »Du bist nicht sein Freund, wenn du zulässt, dass er Angel findet! Es zerreißt ihm das Herz, Cookie«, teilte Pam ihm mit. »Wenn du ihn die Leiche, oder was davon übrig ist, auch nur sehen lässt, bist du nicht Ketchums Freund!« Sie wälzten sich auf dem Bett, neben Ketchums zugedecktem Gesicht und seinem nackten, reglosen Körper. Plötzlich bekam der
Koch keine Luft mehr. Er griff um Sixpacks Schulter herum und schlug nach ihrem Ohr, doch sie lag unverrückbar auf ihm, mit dem Gewicht auf seinem Brustkorb; seinen Kopf, seinen Hals und seinen rechten Arm hatte sie fest im Griff. Der Koch konnte ihr nur noch plumpe linke Haken verpassen - er traf ihren Wangenknochen, die Nase, die Schläfe, dann noch mal das Ohr. »Scheiße, als Kämpfer bist du 'ne echte Niete, Cookie«, sagte Sixpack verächtlich. Sie rollte sich von ihm herunter und gab ihn frei. Dominic Baciagalupo sollte nie vergessen, wie er dalag, neben seinem schnarchenden Freund, und sich sein Brustkorb hob und senkte. Das gespenstische grüne Aquariumlicht fiel auf den keuchenden Koch; wer weiß, vielleicht machten sich die in dem trüben Wasser unsichtbaren Fische über ihn lustig. Pam hatte einen bh aufgehoben und zog ihn jetzt an. Sie drehte dem Koch den Rücken zu. »Dann geh wenigstens mit Danny hin, und zwar vor
Ketchum. Ihr beiden müsst Angels Leiche finden - bevor Ketchum auftaucht. Lass bloß nicht zu, dass Ketchum den Jungen sieht!«, rief sie. Ketchum nahm das Hemd von seinem Gesicht und stierte mit leerem Blick an die Zimmerdecke; der Koch setzte sich neben ihm auf. Pam hatte den bh angezogen und kämpfte wütend mit einem T-Shirt. Dominic erinnerte sich später auch daran: an Sixpacks Jeans, die ohne Gürtel tief an ihren breiten, knochigen Hüften hing, und an den offenen Hosenstall, durch den er einen Blick auf ihre blonden Schamhaare erhaschte. Sie hatte sich wirklich schnell angezogen, und jetzt hatte sie es auch eilig. »Verschwinde, Cookie«, befahl sie. Er warf einen Blick auf Ketchum, der die Augen geschlossen hatte und sich den Gips vors Gesicht hielt. »Hat Ketchum dich damals deine Frau sehen lassen, als er sie fand?«, fragte Pam den Koch.
Dominic Baciagalupo würde versuchen, diesen Teil zu vergessen - wie er vom Bett aufstand, aber Sixpack ihn nicht durchließ. »Antworte mir«, sagte sie zu ihm. »Nein, Ketchum hat sie mich nicht sehen lassen.« »Tja, weil Ketchum dein Freund war«, sagte sie und ließ den Koch vorbei. Er humpelte durch den Küchenbereich zur Tür. »Achte auf die Stufe, die zweite von oben«, erinnerte sie ihn. »Du solltest Ketchum bitten, reparieren«, sagte Dominic.
sie
zu
»Ketchum hat die Stufe entfernt, damit er hört, wenn jemand die Treppe raufkommt oder sich nach unten schleicht«, klärte Sixpack den Koch auf. Kein Zweifel, Ketchum hatte gute Gründe, Vorkehrungen zu treffen, dachte Dominic, als er die Tür öffnete. Die fehlende Stufe
erwartete ihn - er machte einen vorsichtigen großen Schritt. Auf der Treppe schlug ihm die deprimierende Musik aus dem Tanzsaal entgegen. Teresa Brewer sang gerade Till I Waltz Again with You, als der Wind die Tür aufstieß, die der Koch gerade geschlossen zu haben glaubte. »Scheiße!«, hörte er Pam rufen. Der Wind, oder vielleicht die Musik aus dem Tanzsaal, weckte Ketchums Lebensgeister, zumindest reichte es für eine letzte Bemerkung, ehe Sixpack die Tür zuknallte. »Da hat dich dein Scheißglück wohl verlassen, stimmt's, Lucky ?«, fragte Ketchum die stürmische Nacht. Der arme Pinette, dachte Dominic. Vielleicht war Lucky Pinette schon nicht mehr in der Lage, diese Frage zu hören - er meinte: als Ketchum sie das erste Mal gestellt hatte, falls er sie wirklich gestellt hatte. (Inzwischen hörte Lucky schon lange nichts mehr.)
Der Koch ging an den schäbigen Kneipen mit ihren kaputten, lückenhaften Leuchtreklamen vorbei. keine mind rj hrigen!, blinkte ihn die Leuchtschrift an. dr ttes bier Grat S!, blinkte ein anderes Schild. Kaum lagen die Leuchtreklamen hinter ihm, merkte Dominic, dass er seine Taschenlampe vergessen hatte. Er war sich ziemlich sicher, dass Sixpack eher ungnädig reagieren würde, wenn er deswegen zurückkäme. Der Koch schmeckte das Blut von seiner aufgeplatzten Lippe, und nachdem er die Hand zum Mund geführt hatte, waren auch seine Finger blutig. Doch das letzte bisschen Licht in Twisted River war schwach und wurde schwächer. Die Tanzsaaltür wehte zu (oder wurde zugeknallt), was Teresa Brewer ebenso abrupt verstummen ließ, als hätte Sixpack den schmalen Hals der Sängerin gepackt und zugedrückt. Als die Tanzsaaltür wieder aufwehte (oder aufgetreten
wurde), schmachtete Tony Bennett Rags to Riehes. Für Dominic stand außer Zweifel, dass unerträgliche Musik eine der Ursachen für die fortwährende Gewalt an diesem Ort war. Vor dem Saloon, wo sich die Beebe-Zwillinge geprügelt hatten, deutete nichts mehr auf eine Schlägerei hin. Charlie Clough und Earl Dinsmore hatten sich aus dem Schlamm aufgerappelt. Die ermordeten oder bewusstlosen Brüder Beaudette hatten sich von der alten Lombard-Lok zurückgezogen (oder waren weggetragen worden), die seit Ewigkeiten in der Gasse neben dem Tanzsaal stand und diesen mit großer Sicherheit überdauern würde. Dominic Baciagalupo ging in Schlangenlinien vorwärts, in der Dunkelheit hätte man sein Hinken leicht für den tapsigen Gang eines Betrunkenen halten können. Bei der Bar der vorwiegend von frankokanadischen Wanderarbeitern frequentierten Absteige
torkelte eine vertraute Gestalt aus dem Dunkeln auf Dominic zu, doch ehe er sicher sein konnte, dass es tatsächlich Constable Carl war, blendete ihn eine Taschenlampe. »Halt! Das heißt >Stopp
»Könnte ein Knie gewesen sein ... vielleicht auch ein Ellbogen«, spekulierte Constable Carl; seine Taschenlampe berührte beinahe Dominics blutende Unterlippe. Die Schnapsfahne des Constable war in der Luft so deutlich zu spüren wie das Sägemehl, das dem Koch im Gesicht brannte. Wie es der Zufall wollte, hatte jemand die Musik in dem Tanzsaal lauter gedreht. Die Quasidrehtür wurde wieder aufgestoßen, und Doris Day sang Secret Love, während die beiden Liebhaber von Indianer-Jane einander gegenüberstanden und der betrunkene Cowboy in aller Ruhe die Lippenverletzung des nüchternen Kochs studierte. In diesem Augenblick spie das Lieblingswirtshaus der frankokanadischen Wanderarbeiter unsanft eine der glücklosen Seelen dieser Nacht aus. Der junge, wie ein Kojotenwelpe jaulende Lucien Charest wurde nackt ins Freie geworfen und landete auf allen vieren in der matschigen Gasse. Rasch richtete der
Constable seine Taschenlampe verängstigten Frankokanadier.
auf
den
Die Tanzsaaltür knallte zu und würgte Doris Day ab - so unerwartet, wie die eigensinnige Tür zuvor Secret Love in die Nacht hinausgeschickt hatte -, und wieder herrschte Totenstille. Deutlich hörten Dominic Baciagalupo und Lucien Charest das nach Knöchelknacken klingende Geräusch, als Constable Carl seinen grotesken 45er-Colt spannte. »Herrje, Carl, nicht...«, sagte Dominic, als der Constable auf den jungen Frankokanadier zielte. »Schaff deinen nackten Franzosenarsch wieder ins Haus, wo du hingehörst!«, brüllte der Constable. »Ehe ich dir die Eier abschieße und den Pimmel gleich mit!« Auf allen vieren hockend, pisste Lucien Charest direkt auf den Boden. Die Pisslache
breitete sich rasch bis zu seinen schlammigen Knien aus. Der Frankokanadier drehte sich um und kroch, immer noch auf allen vieren, wie ein Hund in Richtung Wirtshaus, wo die Nichtsnutze, die den jungen Mann rausgeworfen hatten, ihn nun durch die Tür hineinzogen, als hinge sein nacktes Leben davon ab (was vermutlich der Fall war). Auf »Lucien! «-Rufe folgte französisches Kauderwelsch, zu schnell und aufgeregt, als dass der Koch oder der Constable irgendetwas hätten verstehen können. Sobald Charest wieder in der Kneipe in Sicherheit war, knipste Constable Carl seine Taschenlampe aus. Der absurde 45er-Colt war immer noch gespannt. Irritiert sah der Koch, dass der Colt, während der Cowboy ihn langsam entspannte, auf das Knie von Dominics gutem Bein gerichtet blieb. »Soll ich dich nach Hause bringen, kleiner Cookie?«, fragte Carl.
»Es geht schon«, antwortete Dominic. Beide sahen bereits die Lichter des Kochhauses oben auf dem Hügel. »Wie ich sehe, schiebt meine süße Jane heute Abend wieder Spätschicht bei dir«, sagte der Constable. Ehe sich der Koch eine gescheite Antwort überlegen konnte, fuhr Carl fort: »Ist dein Junge nicht bald alt genug, um sich selbst ins Bett zu bringen?« »Daniel ist alt genug«, antwortete Dominic. »Ich lasse ihn aber nachts lieber nicht allein, und er mag Jane irre gern.« »Da sind wir schon zwei«, sagte Constable Carl und spuckte aus. Da sind wir schon drei!, dachte Dominic Baciagalupo, hielt aber den Mund. Er musste auch daran denken, wie Pam sein Gesicht zwischen ihre Brüste gedrückt und ihn beinahe erstickt hatte. Er schämte sich und hatte das Gefühl, Jane untreu gewesen zu sein, weil Pam
ihn auch erregt hatte - auf eine seltsam lebensbedrohliche Weise. »Gute Nacht, Constable«, sagte der Koch. Er hatte schon ein paar Schritte gemacht, als der Cowboy ihn mit der Taschenlampe anleuchtete und dabei kurz den Weg vor ihm erhellte. »Gute Nacht, Cookie«, sagte Carl. Die Taschenlampe ging aus, aber der Koch spürte, dass der Constable ihm nachsah. »Für einen Krüppel bist du ziemlich gut zu Fuß!«, rief der Cowboy den dunklen Hügel hinauf. Auch das würde Dominic Baciagalupo nicht vergessen. Aus der Tanzhalle drang ein Songfetzen bis zu ihm, doch Dominic war inzwischen zu weit vom Ort entfernt, um den Text noch verstehen zu können. Nur weil er den Song schon so oft gehört hatte, wusste er, was es war - Eddie Fisher mit Oh My Papa -, und eine Weile später, das blöde Lied war längst verklungen, ertappte er sich dabei, wie er es vor sich hin sang.
Der Koch wurde das Gefühl nicht los, dass der Constable ihm nach Hause gefolgt war. Eine Zeitlang stand Dominic Baciagalupo am Fenster des dunklen Speisesaals und hielt nach einer Taschenlampe Ausschau, die aus dem Ort den Hügel heraufkam. Doch wenn der Cowboy plante, den Geschehnissen im Kochhaus auf den Grund zu gehen, wäre nicht einmal er dumm genug, die Taschenlampe zu benutzen. Dominic ließ das Verandalicht neben der Küchentür an, damit Jane den Weg zu ihrem Pick-up sehen konnte. Er stellte seine schlammigen Stiefel neben die von Jane an den Fuß der Treppe. Der Koch überlegte, ob er vielleicht aus einem anderen Grund länger im Erdgeschoss geblieben war. Wie sollte er Jane seine Lippenverletzung erklären, und sollte er ihr von seiner Begegnung mit dem Constable erzählen? Müsste Jane nicht erfahren, dass Dominic den Cowboy angetroffen hatte und dass sowohl Constable Carls Verhalten als
auch seine Gemütslage so rätselhaft und launisch waren wie eh und je? Der Koch konnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob der Constable irgendwoher wusste, dass Dominic gegenwärtig Janes »Galan« war, wie Ketchum es vielleicht formuliert hätte - in Anspielung auf die Liste der Wörter, die der Klosettleser einer anderen verbotenen Liebesgeschichte entnommen hatte. Dominic schlich in Socken nach oben allerdings knarrten die Stufen wegen seines Hinkens auf eine ganz charakteristische Weise, und er konnte nicht an seiner offenen Schlafzimmertür vorbeigehen, ohne dass Jane sich im Bett aufsetzte und ihn sah.
4 - Die gusseiserne Bratpfanne (Er sah dafür auf den ersten Blick, dass sie die Haare gelöst hatte.) Eigentlich hatte Dominic erst noch seine verletzte Unterlippe säubern wollen, doch die Indianerin musste gespürt haben, dass er etwas vor ihr zu verbergen suchte; sie warf ihre Cleveland-Indians-Mütze in den Flur und verfehlte den Koch nur knapp. Häuptling Wahoo landete kopfüber auf dem Boden, grinste aber weiter - es schien, als spähe der Häuptling mit irrem Blick durch den Flur, in Richtung Bad und Dannys Schlafzimmer. Im Badezimmerspiegel stellte der Koch fest, dass seine Unterlippe wohl genäht werden musste. Die Wunde würde zwar irgendwann auch von allein heilen, aber es würde schneller gehen und besser vernarben, wenn er sie nähen ließe. Nachdem er sich unter Schmerzen die Zähne geputzt hatte, träufelte er sich vorab ein
wenig Wasserstoffperoxid auf die Unterlippe erst als er sie trockentupfte, bemerkte er das Blut auf dem Handtuch. Sein Pech, dass morgen Sonntag war. Eher würde er Ketchum oder Jane seine Lippe nähen lassen, als an einem Sonntag diesen trotteligen Arzt aufzustöbern, noch dazu in dem Ort, an dessen unglückseligen Namen Dominic nicht einmal denken mochte. Der Koch trat aus dem Bad und ging hinüber in Daniels Zimmer. Dominic Baciagalupo gab seinem schlafenden Sohn einen Gutenachtkuss, wobei er, ohne es zu merken, auf der Stirn des Jungen einen Blutfleck hinterließ. Draußen auf dem Flur grinste ihn Häuptling Wahoo verkehrt herum an, wie um ihn daran zu erinnern, dass er aufpassen musste, was genau er Indianer-Jane erzählte. »Wer hat dich geschlagen?«, fragte sie ihn, als er sich im Schlafzimmer auszog. »Ketchum war außer Rand und Band - du
weißt doch, wie er drauf ist, wenn er nicht ganz bei sich ist und gleichzeitig redet.« »Cookie, wenn Ketchum dich geschlagen hätte, würdest du jetzt nicht hier stehen.« »Es war bloß ein Unfall«, beharrte der Koch, >Unfall< war eins seiner Lieblingswörter. »Ketchum wollte mich nicht verletzen - er hat mich nur mit dem Gips erwischt, ein dummer Unfall.« »Wenn er dich mit dem Gips geschlagen hätte, wärst du jetzt tot«, klärte Jane ihn auf. Sie saß im Bett, die Arme vor den Brüsten verschränkt, inmitten ihrer Haare, die ihr bis über die Taille hinunterflössen und ihre Brüste noch zusätzlich verbargen. Immer, wenn sie die Haare löste, bekam sie beim Nachhausekommen mächtig Ärger mit Constable Carl - falls der nicht schon im Tiefschlaf war. Deshalb sollte Jane jetzt lieber noch bleiben und, wenn überhaupt, erst
frühmorgens Dominic.
nach Hause fahren, dachte
»Heute Abend habe ich Carl gesehen«, sagte der Koch. »Carl hat dich auch nicht geschlagen«, stellte Jane fest, als er neben ihr ins Bett stieg. »Und anscheinend hat er auch nicht auf dich geschossen«, fügte sie hinzu. »Ich hab keine Ahnung, ob er über uns Bescheid weiß, Jane.« »Ich weiß es auch nicht«, sagte sie. »Hat Ketchum Lucky Pinette getötet?«, fragte der Koch. »Das weiß keiner, Cookie. Das ist uns schon ewig völlig schleierhaft! Warum hat Sixpack dich denn geschlagen?«, fragte ihn Jane. »Weil ich nicht mit ihr rummachen wollte, deshalb.« »Wenn du Sixpack gevögelt hättest, wäre ich
so auf dich losgegangen, dass du deine Unterlippe überhaupt nicht mehr wiederfinden würdest«, stellte Jane klar. Er lächelte, was der Lippe überhaupt nicht behagte. Als er vor Schmerz zusammenzuckte, sagte Jane: »Armes Baby - küssen fällt heute Nacht für dich aus.« Der Koch legte sich neben sie. »Es gibt auch noch andere Dinge als küssen«, erwiderte er. Sie schubste ihn auf den Rücken und legte sich auf ihn, ihr bloßes Gewicht drückte ihn ins Bett und raubte ihm den Atem. Mit geschlossenen Augen hätte der Koch sich wieder in Sixpacks Würgegriff gewähnt, deshalb ließ er die Augen weit offen. Als Indianer-Jane ein Bein über seine Hüften schwang und sich energisch rittlings auf ihn setzte, spürte Dominic, wie sich seine Lunge plötzlich füllte. Jane bestieg ihn mit einer Dringlichkeit, die wohl Sixpacks Attacke auf ihn geschuldet war, und sie hatte es eilig, ihn
in sich aufzunehmen. »Ich werde dir andere Dinge zeigen«, sagte die Indianerin und ruckte hin und her. Ihre Brüste fielen auf seinen Oberkörper, ihr Mund fuhr über sein Gesicht, ohne seine Unterlippe zu berühren, während sich ihre langen Haare nach vorn ergossen und über den beiden eine Art Zelt bildeten. Der Koch konnte zwar atmen, sich aber nicht rühren. Jane war zu schwer, sie ließ sich nicht bewegen. Außerdem hätte Dominic Baciagalupo nichts, aber auch rein gar nichts daran ändern wollen, wie sie auf ihm vor und zurück schaukelte... oder wie sie Schwung aufnahm (nicht einmal, wenn Indianer-Jane so leicht gewesen wäre wie Dominics verstorbene Frau Rosie und er selbst so groß wie Ketchum). Es war ein wenig wie Zugfahren, dachte sich Dominic - außer dass er nichts tun konnte, als sich fest an den Zug zu klammern, der in Wirklichkeit auf ihm fuhr.
Es war jetzt unwichtig, dass Danny überzeugt war, er habe im Bad Wasser laufen hören, und dass der Kuss auf seine Stirn (entweder von seinem Vater oder von Jane) real gewesen war. Unwichtig auch, dass der Junge den Kuss in einen Traum über Sixpack-Pam eingebaut hatte, in dem sie ihn mit leidenschaftlichen Küssen überschüttete - nicht unbedingt auf die Stirn. Und es war genauso unwichtig, dass der Zwölfjährige das seltsame Knarren kannte, das sein hinkender Vater auf der Treppe verursachte, denn dieses Hinken hatte er schon vor einiger Zeit gehört. Aber das Knarren jetzt war anders, und er kannte es nicht. (Beim Treppensteigen nahm sein Vater die Stufen immer mit dem guten Fuß und zog den lahmen Fuß, der weniger fest auftrat, nach.) Nur dieses neue und nicht enden wollende Knarren war jetzt wichtig und woher es nach Ansicht des ängstlichen, inzwischen
hellwachen Jungen kam. Es war eindeutig nicht nur der Wind, der an dem Obergeschoss des Kochhauses rüttelte - jede Jahreszeit hatte ihren eigenen Wind, und Danny kannte sie alle. Der verängstigte Junge stand leise auf und schlich mit angehaltenem Atem und auf Zehenspitzen zu der nur angelehnten Tür seines Zimmers hinaus auf den Flur. Da lag Häuptling Wahoo mit seinem irren, kopfüber stehenden Grinsen. Aber was war mit Jane passiert?, fragte sich der Junge. Wenn ihre Mütze im Flur herumlag, wo war dann ihr Kopf? Hatte der Eindringling (denn gewiss lief ein Räuber frei herum) Jane enthauptet - entweder mit einem Tatzenhieb oder, im Falle eines menschlichen Räubers, mit einem Beil? Während Danny vorsichtig durch den Flur schlich, erwartete er fast, Janes abgetrennten Kopf in der Badewanne liegen zu sehen. Als er an der offenen Badezimmertür vorbeikam,
ohne ihren Kopf zu entdecken, stand für den Zwölfjährigen fest, dass der Eindringling ein Bär sein musste, kein Mensch, und dass dieser Bär Jane gefressen hatte und sich jetzt über seinen Dad hermachte. Es gab nämlich keinen Zweifel, wo das laute Knarren und Stöhnen herkam - aus dem väterlichen Schlafzimmer. Der Junge hörte eindeutig ein Stöhnen (oder, schlimmer noch, ein Winseln), als er näher trat. Und als er wieder an der ClevelandIndians-Mütze vorbeikam, fürchtete er sich noch mehr. Was Danny Baciagalupo sah (genauer gesagt, was er zu sehen glaubte), als er das Schlafzimmer seines Dads betrat, war das, was er befürchtet hatte, sogar noch schlimmer noch größer und noch haariger, als der Junge sich einen Bären je vorgestellt hatte. Nur die Knie und Füße seines Vaters ragten unter dem Bären hervor, und was noch beängstigender war, sie bewegten sich nicht.
War es schon zu spät, um seinen Dad zu retten? Nur der Bär bewegte sich - das rundliche, bucklige Untier (dessen Kopf man nicht sah) brachte das Bett zum Schaukeln, und seine schwarz glänzenden Haare waren sowohl länger als auch üppiger, als Danny sich die Haare eines Schwarzbären je vorgestellt hatte. Der Bär verschlang Dannys Vater, jedenfalls kam es dem Zwölfjährigen so vor. Da er unbewaffnet war, hätte man vielleicht erwarten können, dass sich der Junge auf das Tier stürzte, das seinen Dad so wild und rasend angriff, und sei es nur, um gegen die Schlafzimmerwand geschleudert oder von den Krallen des Bären zerfleischt zu werden. Doch Familiengeschichten - vielleicht vor allem das, was man uns als Kind erzählt - bemächtigen sich unserer elementarsten Instinkte und durchdringen unsere tiefliegendsten Erinnerungen, besonders in Notsituationen. Danny griff nach der gusseisernen Bratpfanne,
als wäre sie seine Allzweckwaffe, nicht die seines Vaters. Die Pfanne war legendär, und Danny wusste genau, wo sie sich befand. Den Stiel mit beiden Händen umklammernd, trat der Junge an das Bett und zielte dorthin, wo er den Kopf des Bären vermutete. Er hatte schon ausgeholt (wie es ihm Ketchum einmal mit einer Axt vorgemacht hatte, achtete er darauf, dass seine Hüffen beim Ausholen mitschwangen), als er die nackten Sohlen zweier offensichtlich menschlicher Füße bemerkte. Die Füße befanden sich in Gebetsstellung, links und rechts von den nackten Knien seines Vaters, und Danny dachte, dass diese Füße genau wie die von Jane aussahen. Die indianische Tellerwäscherin war den ganzen Tag auf den Beinen, und einer Frau, die so schwer war wie sie, taten die Füße zwangsläufig oftweh. Nichts (so hatte sie dem Jungen erzählt) mochte sie lieber als eine Fußmassage. Danny hatte ihr mehr als einmal eine verabreicht.
»Jane?«, fragte Danny - mit leiser, zweifelnder Stimme -, doch die gusseiserne Bratpfanne setzte ihre Vorwärtsbewegung ungebremst fort. Offenbar hatte Jane gehört, dass der Junge ihren Namen rief, denn sie hob den Kopf und drehte sich zu ihm um. Deshalb erwischte die Pfanne sie mit voller Wucht an der rechten Schläfe. Dem Aufprallgeräusch, einem dumpfen, aber tiefen Gong, folgte ein Brennen, das Danny in den Händen spürte. Ein nachklingendes Prickeln zog sich durch beide Handgelenke und die Unterarme hinauf. Solange er lebte oder solange er sich daran erinnerte, sollte es für Danny Baciagalupo ein kleiner Trost sein, dass er den Ausdruck auf Janes hübschem Gesicht nicht sah, als die Pfanne sie traf. Ihre Haare waren so lang, dass sie einfach alles zudeckten. Janes mächtiger Körper erzitterte. Sie war zu massig, und ihre Haare waren zu glatt und
schön für einen Schwarzbären - das galt für dieses wie für ihr nächstes Leben, wohin sie ganz gewiss unterwegs war. Jane rollte vom Koch hinunter und stürzte zu Boden. Jetzt konnte man sie unmöglich mit einem Bären verwechseln. Ihre Haare hatten sich aufgefächert und lagen weit ausgebreitet da, Flügeln gleich, zu beiden Seiten ihres reglosen gewaltigen Torsos. Die großen schönen Brüste waren in ihre Achseln gesackt, die Arme griffen über den Kopf, als wolle Jane (sogar noch im Tod) das schwere Universum stützen. Doch so überwältigend ihre Nacktheit für einen unschuldigen Zwölfjährigen gewesen sein musste, am besten sollte sich Danny Baciagalupo an den entrückten Ausdruck in Janes weit geöffneten Augen erinnern. In Indianer-Janes toten Augen lag mehr als das im letzten Sekundenbruchteil des Lebens erfolgte Erkennen ihres Schicksals. Was hatte sie plötzlich in der unermesslichen Entfernung entdeckt?, fragte sich Danny. Doch was auch
immer Jane von der unvorhersehbaren Zukunft erblickt hatte, es hatte ihr offenbar Angst gemacht - vielleicht nicht nur ihr Schicksal, sondern ihrer aller Schicksal. »Jane«, wiederholte Danny. Diesmal war es keine Frage, selbst wenn das Herz des Jungen raste und ihm bestimmt viele Fragen durch den Kopf schössen. Auch schenkte Danny seinem Dad nicht mehr als einen flüchtigen Blick. War es die Nacktheit seines Vaters, die den Jungen so schnell wieder wegsehen ließ? (Vielleicht lag es an dem, wie Ketchum es nannte, »Kleiner-Mann-Aspekt« des Kochs; besagter Aspekt trat neben der toten Tellerwäscherin besonders deutlich hervor.) »Jane!«, schrie Danny zum dritten Mal, als hätte er erst begriffen, was er ihr angetan hatte. Rasch bedeckte der Koch Janes Geschlecht mit einem Kissen. Er kniete auf ihren überall verteilten Haaren und hielt sein Ohr an ihr stilles Herz. Danny umklammerte mit beiden
Händen die Pfanne, als schmerzten ihm von dem Nachhall des Schlages noch die Handflächen; womöglich würde das Prickeln in seinen Unterarmen nie wieder weggehen. Obwohl Danny Baciagalupo erst zwölf war, wusste er ganz genau, dass soeben der Rest seines Lebens begonnen hatte. »Ich dachte, sie wäre ein Bär«, sagte er zu seinem Vater. Dominic hätte nicht bestürzter dreinblicken können, wenn sich die tote Tellerwäscherin in diesem Augenblick in einen Bären verwandelt hätte. Dennoch erkannte der Koch, dass sein geliebter Daniel jetzt Trost brauchte. Zitternd stand der Junge da und umklammerte die Tatwaffe, als glaubte er, gleich werde ein richtiger Bär über sie beide herfallen. »Es ist verständlich, dass du Jane für einen Bären gehalten hast«, sagte sein Vater und schloss ihn in die Arme. Der Koch nahm seinem bibbernden Sohn die Bratpfanne weg und umarmte ihn erneut. »Es ist nicht deine
Schuld, Daniel. Es war ein Unfall. Niemand ist schuld.« »Wie kann niemand schuld daran sein?«, fragte der Zwölfjährige. »Dann ist es halt meine Schuld«, sagte sein Dad. »Es wird nie deine Schuld sein, Daniel. Es ist ganz allein meine. Und es war ein Unfall.« Natürlich dachte der Koch bereits an Constable Carl. In der Welt des Constable gab es keine Unfälle ohne persönliche Schuld. Im Gehirn, wenn man das so nennen konnte, des Cowboys zählten gute Absichten überhaupt nichts. Dich kannst du nicht retten, aber deinen Sohn kannst du retten, dachte Dominic Baciagalupo. (Und wie viele Jahre würde der Koch sie beide retten können?) So lange hatte Danny darauf gewartet, mit anzusehen, wie Jane ihren Zopf löste und ihre Haare herunterließ - ganz zu schweigen davon,
wie ofter geträumt hatte, ihre gewaltigen Brüste zu sehen. Und jetzt konnte er Jane nicht einmal angucken. »Ich habe Jane geliebt!«, platzte es aus dem Jungen heraus. »Natürlich hast du das, Daniel - das weiß ich doch.« »Hast du mit ihr Do-si-do gemacht?«, fragte der Zwölfjährige. »Ja«, antwortete sein Vater. »Ich habe Jane auch geliebt. Wenngleich nicht so, wie ich deine Mom geliebt habe«, fügte er hinzu. Warum war ihm diese Ergänzung wichtig?, fragte sich der Koch schuldbewusst. Dominic hatte Jane wirklich geliebt; vermutlich zollte er der Tatsache Tribut, dass jetzt keine Zeit war, um sie zu trauern. »Was ist mit deiner Lippe passiert?«, fragte der Junge. »Sixpack hat sie mir mit dem Ellbogen aufgeschlagen«, antwortete der Koch.
»Hast du auch mit Sixpack gemacht?«, fragte ihn sein Sohn.
do-si-do
»Nein, Daniel. Jane war meine Freundin - und nur Jane.« »Was ist mit Constable Carl?«, fragte Danny. »Wir haben noch viel zu tun.« Mehr verriet ihm sein Dad nicht. Und ihnen blieb nicht viel Zeit, das wusste der Koch. Nicht mehr lange, und draußen wurde es hell; sie mussten los. Das anschließende Durcheinander, ihre blanke Unbeholfenheit und die Hektik lieferten dem Koch und seinem Sohn später zahlreiche Gründe, die Nacht ihrer Abreise aus Twisted River noch einmal zu durchleben - allerdings hatten sie an die Einzelheiten ihres erzwungenen Aufbruchs unterschiedliche Erinnerungen. Für Danny war das Ankleiden der Toten - ganz zu schweigen davon, ihre Leiche die Treppe des Kochhauses
hinunterzuzerren und in ihren Pick-up zu hieven - eine herkulische Aufgabe. Auch begriff der Junge zunächst nicht, weshalb es seinem Vater so wichtig war, dass Jane korrekt gekleidet war, nämlich genau so, wie sie sich selbst angezogen hätte. Nichts durfte fehlen, nichts falsch sitzen. Die Träger ihres riesigen bhs durften nicht verdreht sein; der Bund ihrer gewaltigen Boxershorts durfte nicht umgeklappt sein; die Socken durften nicht auf links an ihren Füßen stecken. Sie ist doch tot! Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?, dachte Danny. Der Junge bedachte nicht, wie peinlich genau IndianerJanes Leiche bald untersucht werden könnte welche Todesursache der zuständige Arzt beispielsweise feststellen würde. (Ein Schlag gegen den Kopf, offenkundig, aber mit welchem Gegenstand - und wo war er?) Auch der ungefähre Todeszeitpunkt würde ermittelt werden. Offenbar wollte der Koch unbedingt den Eindruck erwecken, dass Jane zum
Zeitpunkt ihres Todes komplett bekleidet gewesen war. Und Dominic, der würde Ketchum ewig dankbar sein - schließlich hatte Ketchum auf einer seiner Sauftouren nach Maine eine Sackkarre für das Kochhaus organisiert. Die Sackkarre war praktisch, um die haltbaren Lebensmittel von den Lastwagen abzuladen, ebenso wie die Kartons mit Olivenöl und Ahornsirup - sogar Eierkartons und überhaupt alles Schwere. Der Koch und sein Sohn hatten Jane auf die Sackkarre geschnallt. So konnten die beiden sie in einer halbwegs aufrechten Position die Treppe im Kochhaus hinunterschaffen und sie stehend (beinahe senkrecht) zu ihrem Pick-up rollen. Allerdings war die Sackkarre keine Hilfe gewesen, als sie Indianer-Jane ins Fahrerhaus bugsieren mussten, was der Koch im Nachhinein den »herkulischen« Teil der Prozedur nannte - oder einen von mehreren
herkulischen Teilen. Das Tatwerkzeug, die gusseiserne Bratpfanne von zwanzig Zentimeter Durchmesser, packte Dominic Baciagalupo zu seinen wichtigsten Küchenutensilien nämlich seinen Lieblingskochbüchern. Der Koch wusste, dass er weder Zeit noch genügend Platz hatte, um seine Gerätschaften mitzunehmen. Die anderen Töpfe und Pfannen blieben im Kochhaus; die übrigen Kochbücher (und sämtliche Romane) ließ Dominic für Ketchum zurück. Danny blieb gerade noch Zeit, ein paar Fotos seiner Mom zusammenzuraffen, aber nicht die Bücher, in denen er sie aufbewahrte. An Kleidung packte der Koch nur das Nötigste für sich und Danny ein - für sich mehr als für seinen Sohn, weil der ohnehin bald aus allem herauswachsen würde, was er gerade trug. Das Auto des Kochs war ein 1952er-PontiacKombi - der sogenannte »Semiwoodie«
Chieftain Deluxe. Der letzte ganz mit Holz verkleidete »Woodie« wurde 1949 gebaut; der Semiwoodie hatte draußen Holzimitatverkleidung, die sich von der weinroten Karosserie abhob, und echtes Holz im Wageninneren. Die Sitzpolster im Inneren waren ebenfalls weinrot. Wegen Dominics lahmem rechtem Fuß hatte der Pontiac Chieftain Deluxe eine Automatikschaltung und war damit sehr wahrscheinlich das einzige Fahrzeug mit Automatikschaltung in ganz Twisted River -, so dass auch Danny den Wagen fahren konnte. Die Beine des Zwölfjährigen waren nicht lang genug, um ein Kupplungspedal ganz durchzudrücken, doch Danny hatte den Semiwoodie-Kombi schon auf Holzabfuhrstraßen fahren dürfen. Constable Carl patrouillierte dort nicht. Viele Jungs in Dannys Alter, sogar noch jüngere, fuhren auf den Seitenstraßen um den Phillips Brook und den Twisted River in Pkws und Pick-ups herum präpubertierende
Jugendliche ohne Führerschein, aber ziemlich gute Autofahrer. Angesichts der vielen Unwägbarkeiten bei ihrer Flucht aus Twisted River war es gut, dass Danny den Chieftain fahren konnte. Der Koch wollte vermeiden, gesehen zu werden, wie er durch Twisted River ging, zurück zum Kochhaus, nachdem er Jane in ihrem Pick-up zu Constable Carls Haus gebracht hatte. Wer um diese Zeit auf den Beinen war, würde Dominic Baciagalupo an seinem Hinken erkennen - und wenn man den Koch und seinen Sohn gemeinsam zu dieser unchristlichen Stunde durch den Ort gehen sähe, wäre das noch ungewöhnlicher und verdächtiger. Natürlich war Dominics Wagen der einzige weinrote Semiwoodie im Ort. Der 52erPontiac Chieftain würde womöglich nicht unbemerkt bleiben, aber er käme rascher durch die Siedlung als der hinkende Koch und er
würde nicht in der Nähe der Stelle gesichtet werden, wo Dominic Janes Pick-up abstellen wollte, nämlich vor Constable Carls Haus. »Bist du wahnsinnig?«, fragte Danny seinen Vater, als sie aus der Tür des Kochhauses traten - zum letzten Mal. »Warum bringen wir die Leiche zum Constable?« »Damit der besoffene Cowboy glaubt, er sei's gewesen, wenn er morgens aufwacht«, gab der Koch seinem Sohn zur Antwort. »Und falls Constable Carl wach ist, wenn wir dort ankommen?«, fragte der Junge. »Dafür haben wir einen Plan B, Daniel«, sagte sein Dad. Es nieselte leicht, beinahe unmerklich. Die langgezogene weinrote Motorhaube des Chieftain Deluxe glänzte. Der Koch benetzte seinen Daumen auf der Haube, dann griff er durch das offene Fenster auf der Fahrerseite und wischte den getrockneten Blutfleck von
der Stirn seines Sohnes. Als ihm sein Gutenachtkuss einfiel, wusste Dominic, dass es sein Blut war; er hoffte, dass es nicht der letzte Kuss war, den er Daniel geben würde, und dass Daniel in dieser Nacht kein Blut mehr abbekommen würde (wessen Blut auch immer). »Ich folge dir einfach, oder?«, fragte Dan seinen Dad. »Genau«, sagte der Koch, in Gedanken intensiv mit dem Plan B beschäftigt, und stieg in das Fahrerhaus von Janes Truck. Jane war gegen die Beifahrertür gesackt. Sie blutete zwar nicht, doch Dominic war froh, dass er den Bluterguss auf ihrer rechten Schläfe nicht sah. Janes Haare hingen nach vorn und bedeckten ihr Gesicht; die inzwischen zur Größe eines Baseballs angeschwollene Beule drückte innen gegen das Beifahrerfenster. Sie fuhren im Zweierkonvoi zu der Absteige mit Flachdach, in der Sixpacks sogenanntes
Apartment im ersten Stock lag. Im Rückspiegel von Janes Pick-up konnte der Koch, hinter dem Steuer des 52er-Pontiac, nur einen Teil des Gesichts seines Sohnes sehen. Die Außensonnenblende des Chieftain wirkte wie der tief in die Stirn gezogene Schirm einer Baseballmütze. Darunter sah man die Windschutzscheibenaugen des achtzylindrigen Kombis mit seinem Haifischzahn-Kühlergrill und der aggressiven Kühlerfigur. »Scheiße!«, sagte Dominic laut. Ihm war plötzlich Janes Cleveland-Indians-Mütze eingefallen. Wo war sie? Hatten sie Häuptling Wahoo im Flur oben im Kochhaus vergessen? Doch sie hielten schon vor Sixpacks Wohnung; auf den Straßen war keine Menschenseele gewesen, und die Tür des Tanzsaals hatte sich kein einziges Mal geöffnet. Jetzt konnten sie nicht mehr zurück zum Kochhaus. Danny parkte den Pontiac am Fuß der zu Pams
Apartment führenden Außentreppe. Der Junge stieg ins Fahrerhaus und quetschte sich zwischen die arme tote Jane und seinen Vater. Da war die fehlende Baseballmütze - Danny hatte sie auf dem Kopf. »Wir müssen doch Häuptling Wahoo bei ihr lassen, oder?«, fragte der Zwölfjährige. »Guter Junge«, sagte sein Dad, dem vor Stolz und Angst ganz warm ums Herz wurde. Bei seinem Plan B gäbe es für einen Zwölfjährigen so viel, woran er denken müsste. Der Koch brauchte die Hilfe seines Sohnes, um Indianer-Jane aus dem Fahrerhaus des Pick-ups bis zu Constable Carls Küchentür zu schaffen, die laut Jane nie verschlossen war. Janes Füße konnten dabei ruhig durch den Schlamm schleifen, denn der Constable würde nichts anderes erwarten, als dass Jane mit dreckigen Stiefeln nach Hause kam. Sie durfte nur nicht anderswo an den Boden kommen. Die Sackkarre hätte natürlich im Schlamm
Radspuren hinterlassen - und was hätte Dominic anschließend mit dem Ding gemacht? Sie in Janes Pick-up oder vor Constable Carls Tür stehenlassen? Sie fuhren in den tristen Ortsteil beim Sägewerk, wo auch die bei den frankokanadischen Wanderarbeitern beliebten Absteigen lagen. (Constable Carl wohnte gern nahe bei seinen Lieblingsopfern.) »Was schätzt du, was Ketchum wiegt?«, fragte Danny, nachdem sein Dad Janes Pick-up an dessen üblichem Platz geparkt hatte. Vater und Sohn standen nebeneinander auf dem Trittbrett des Trucks; Danny hielt Jane auf dem Beifahrersitz aufrecht, während sein Vater erst einmal Janes steifer werdende Beine aus der offenen Beifahrertür bugsierte. Doch wie weiter, nun, da ihre Füße auf dem Trittbrett standen? »Ketchum wiegt zirka hundert, hundertfünf Kilo«, sagte der Koch.
»Und Sixpack?«, fragte Danny. »Pam wiegt schätzungsweise etwa achtzig, aber höchstens 82 Kilo«, antwortete der Koch, der wegen Sixpacks Würgegriff noch etwa eine Woche lang einen steifen Nacken haben würde. »Und was wiegst du?«, fragte Danny. Dominic begriff, worauf diese Befragung hinauslief. Er ließ Indianer-Janes Füße in den Schlamm hinab, stellte sich dann neben sie auf den nassen Boden und hielt ihre Hüften, während Danny (der noch auf dem Trittbrett stand) ihr unter die Arme griff. Wir werden noch beide im Schlamm landen, mit Jane auf uns drauf!, dachte Dominic, sagte aber so beiläufig wie möglich: »Och, hab keine Ahnung, was ich wiege vermutlich so um die achtundsechzig.« (In Winterklamotten brachte er knapp Sechsundsechzig Kilo auf die Waage,
achtundsechzig hatte er noch nie gewogen.) »Und Jane?«, ächzte Danny und stieg von dem Trittbrett des Pick-ups auf den Boden. Vater und Sohn standen bereit, als die Leiche der Tellerwäscherin in ihre Arme sank. Janes Knie knickten ein, berührten aber den Schlamm nicht. Und der Koch und sein Sohn hatten zwar Mühe, Jane zu halten, doch sie fielen nicht hin. Indianer-Jane wog mindestens 135 Kilo vielleicht sogar 140 oder 145 -, obwohl Dominic Baciagalupo das lieber nicht so genau wissen wollte. Der Koch rang nach Luft, während er die Frau, deren »Galan« er gewesen war, zur Küchentür ihres fiesen Freundes schleppte; es gelang ihm, seine Stimme einigermaßen unbeteiligt klingen zu lassen, als er seinem Sohn zuflüsterte: »Jane? Och, Jane wiegt ungefähr genauso viel wie Ketchum, vielleicht ein bisschen mehr.« Zu ihrer Überraschung war Constable Carls
Küchentür nicht nur unverschlossen, sondern stand offen. (Vielleicht war der Wind schuld oder der Cowboy war beim Nachhausekommen so sturzbetrunken gewesen, dass er die Tür versehentlich offen ließ.) Das Rechteck, das sie von dem Küchenfußboden sehen konnten, glänzte feucht vom Nieselregen, der inzwischen eingesetzt hatte. Die Küche war schwach erleuchtet, mindestens eine Lampe brannte also, doch jenseits der Küche konnten sie nichts erkennen. Als Janes Füße den Küchenboden berührten, war Dominic zuversichtlich, die restlichen Meter allein bewältigen zu können; dass ihre Stiefel schlammig und der Fußboden feucht war, kam ihm entgegen. »Mach's gut, Daniel«, flüsterte der Koch seinem Sohn zu. Statt ihm einen Kuss zu geben, nahm der Zwölfjährige Janes Baseballmütze vom Kopf und setzte sie seinem Vater auf.
Dannys Schritte auf der schlammigen Straße verklangen, und der Koch schob Janes massigen Körper weiter in die Küche hinein. Er konnte nur hoffen, dass der Junge seine Anweisungen befolgte. »Wenn du einen Schuss hörst, geh zu Ketchum! Und wenn du länger als zwanzig Minuten im Pontiac auf mich gewartet hast - auch wenn kein Schuss fällt -, geh zu Ketchum!« Dominic hatte seinem Jungen eingeschärft: Wenn seinem Dad jemals - nicht nur in dieser Nacht - etwas zustoßen sollte, müsse Danny zu Ketchum gehen und diesem alles erzählen. »Und achte bei Pams Treppe auf die zweitoberste Stufe«, hatte der Koch hinzugefügt. »Wird Sixpack nicht auch da sein?«, hatte der Junge gefragt. »Sag ihr einfach, du musst mit Ketchum reden. Dann lässt sie dich rein«, hatte Dominic gesagt. (Er konnte nur hoffen, dass Pam Danny
einlassen würde.) Dominic Baciagalupo schob Indianer-Janes Leiche über den feuchten Küchenboden und lehnte sie dann vorsichtig gegen einen Schrank. Er hielt sie unter den Armen und ließ ihr enormes Gewicht auf die Arbeitsplatte sinken und von dort dann wie in Zeitlupe zu Boden gleiten. Als der Koch sich über sie beugte, fiel ihm die Cleveland-Indians-Mütze vom Kopf und landete verkehrt herum neben Jane. Dominic starrte Häuptling Wahoos irres Grinsen an, während er auf das typische Klicken wartete, das der 45er-Colt beim Spannen machte und mit dem er jeden Moment rechnete; dann würde Danny mit Sicherheit den Schuss hören, denn die Waffe war mehr als laut. Einen Schuss würde um diese Uhrzeit jeder im Ort hören, vielleicht sogar Ketchum, der seinen Rausch ausschlief. (Gelegentlich hatte Dominic den 45er Colt sogar vom Kochhaus aus gehört.)
Doch nichts passierte. Der Koch atmete wieder normal und beschloss, sich nicht umzublicken. Falls Constable Carl da war, wollte Dominic ihn nicht sehen. Lieber würde er sich vom Cowboy beim Hinausgehen in den Rücken schießen lassen. Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen, wobei er mit seiner verdrehten linken Stiefelspitze seine schlammigen Fußspuren verwischte. Auf der Straße vor dem Haus lag eine Holzplanke quer über einer Abflussrinne. Mit dieser Planke verwischte Dominic die Rillen, die Janes Stiefelabsätze auf dem mühevollen Weg von ihrem Pick-up zur Küchentür des Constable hinterlassen hatten. Dann legte der Koch die Planke an ihren Platz zurück und wischte sich an der nassen Stoßstange von Janes Truck den Schlamm von den Händen; der Dauerregen würde ihn anschließend abwaschen. (Der Regen würde auch seine und Dannys Fußspuren beseitigen.)
Keiner sah den Koch an dem leeren Tanzsaal vorbeihumpeln; die Brüder Beaudette (oder ihre Geister) hatten sich nicht wieder in die alte Lombard-Lok gesetzt, die als einsamer Wachtposten in der schlammigen Gasse nebenan stand. Dominic Baciagalupo überlegte, wie sich Constable Carl IndianerJanes Leiche erklären würde, wenn er am Morgen übernächtigt darüberstolperte. Womit er sie wohl geschlagen hatte?, würde der Cowboy vielleicht überlegen, schließlich hatte er sie schon öfter geschlagen. Aber wo war die Waffe, der stumpfe Gegenstand?, würde sich der Constable als Nächstes fragen. Vielleicht habe nicht ich sie geschlagen, würde der Cowboy später folgern - sobald er wieder einen klaren Kopf hatte oder spätestens wenn er erfuhr, dass der Koch und sein Sohn den Ort verlassen hatten. Bitte, Gott, schenk mir Zeit, dachte der Koch, als er das Gesicht seines Jungen hinter der nassen Windschutzscheibe des Chieftain
Deluxe sah. Danny wartete auf dem Beifahrersitz, als hätte er nie daran gezweifelt, dass sein Vater wohlbehalten aus Constable Carls Haus zurückkommen und sich hinters Steuer setzen würde. Zeit, diese unerbittliche Begleiterin ... Dominic Baciagalupo meinte nicht nur die Zeit, die sie brauchten, um hier und jetzt zu fliehen, sondern auch die, die nötig war, um seinem geliebten Sohn ein guter Vater zu sein, die Zeit, um zu erleben, wie sein Junge zum Mann heranwuchs. Der Koch betete, dass ihm diese Zeh vergönnt sein würde, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er das bewerkstelligen sollte. Auch als er sich hinters Steuer seines Kombis setzte, traf ihn keine Kugel vom Kaliber 45. Danny fing an zu weinen. »Ich habe immerzu gehorcht, ob der Schuss fällt«, sagte der Zwölfjährige, »Eines Tages, Daniel, wirst du ihn vielleicht doch noch hören«, sagte sein
Dad und umarmte ihn, ehe er den Pontiac startete. »Sagen wir Ketchum nicht Bescheid?«, fragte Danny. Was der Koch zu sagen hatte, mochte eines Tages durchaus wie ein Mantra klingen, aber er sagte es dennoch: »Uns fehlt die Zeit.« Einem langsam dahinrollenden Leichenwagen gleich nahm der weinrote Semiwoodie die Holzabfuhrstraße aus dem Ort. Während sie in südsüdöstliche Richtung davonfuhren (manchmal in Sichtweite des Twisted River), graute schon der Morgen. Am PontookStausee würde sie der Damm erwarten. Danach würden sie auf der Route 16 weiterfahren, die in Nord-Süd-Richtung am Androscoggin River entlang verlief. Wie viel Zeit genau ihnen blieb, hing davon ab, was sie gleich am Dead-Woman-Damm finden würden - und wie lange sie sich dort aufhalten
müssten. (Nicht zu lange, hoffte Dominic beim Fahren.) »Werden wir es jemals Ketchum erzählen?«, fragte Danny seinen Dad. »Aber ja«, antwortete der, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er Ketchum diese Nachricht zukommen lassen sollte - auf ebenso sichere wie unmissverständliche Weise. Der Wind hatte sich inzwischen gelegt, und der Regen ließ nach. Der von anderen Reifen zerfurchte Schlamm machte die Holzabfuhrstraße vor ihnen glitschig, doch jetzt ging die Sonne auf. Sie schien durch die Scheibe auf der Fahrerseite und erlaubte Dominic Baciagalupo einen strahlenden (wenn auch unrealistischen) Blick in die Zukunft. Nur wenige Stunden zuvor hatte sich der Koch noch Sorgen gemacht, was passieren würde, wenn sie Angels Leiche fänden - vor allem, wie sein geliebter Sohn Daniel auf den
Anblick des toten Kanadiers reagieren würde. In der Zwischenzeit hatte der Zwölfjährige seine Lieblingsbabysitterin getötet, und Vater und Sohn hatten sich mit ihrem Leichnam abgeplagt und Indianer-Jane die nicht unbeträchtliche Strecke vom Obergeschoss des Kochhauses zu ihrer fast endgültigen Ruhestätte bei Constable Carl befördert. Was auch immer der Koch und sein geliebter Sohn am Dead-Woman-Damm finden mochten, dachte Dominic voller Optimismus, wie schlimm könnte es schon sein? (Gestresst, wie er war, hatte der Koch die besagte Örtlichkeit in Gedanken ausnahmsweise bei diesem schrecklichen Namen genannt.) Als sich der Chieftain dem Pontook-Stausee näherte, sahen Dominic und Danny die Möwen. Auch wenn der Stausee fast zweihundert Kilometer vom Meer entfernt lag, waren um den Androscoggin River herum
immer Möwen - es war ein großes Gewässer. »In meiner Klasse ist ein Junge, der Halsted heißt«, sagte Danny ängstlich. »Ich glaube, ich kenne seinen Vater«, sagte der Koch. »Sein Dad hat ihm ins Gesicht getreten, obwohl er noch seine Flößerstiefel mit Nagelsohlen anhatte - jetzt hat der Junge Löcher in der Stirn«, berichtete Danny. »Das war garantiert der Halsted, den ich kenne«, antwortete Dominic. »Ketchum sagt, man müsste Halsted - also dem Vater – ein Sägemehlgebläse in den Arsch stecken und gucken, ob sich der Drecksack aufpusten lässt.« »Ketchum empfiehlt das Sägemehlgebläse für eine ganze Reihe Arschlöcher«, sagte der Koch. »Bestimmt wird uns Ketchum irre fehlen.«
Der Junge klammerte sich an sein Thema. »Bestimmt«, »Irrsinnig.«
pflichtete
sein
Vater
bei.
»Ketchum sagt, Hemlocktanne kriegt man im Leben nicht trocken.« Danny redete immer weiter. Der Zwölfjährige war offensichtlich nervös - nicht nur wegen des Dead-WomanDamms, sondern weil er nicht wusste, wohin sie danach fuhren. »Hemlockbalken eignen sich Brücken«, konterte Dominic.
gut
für
»Befestige dein Lastgeschirr möglichst dicht an der Last«, zitierte der Junge aus dem Gedächtnis und ohne ersichtlichen Grund. »Success Pond ist der größte verdammte Biberteich weit und breit«, fuhr Danny fort. »Willst du jetzt auf der Fahrt nur noch Ketchum zitieren?«, fragte ihn sein Dad. »Auf
der
Fahrt
wohin?«,
fragte
der
Zwölfjährige ängstlich. »Das weiß ich noch nicht, Daniel.« »Hartholz schwimmt nicht sehr gut«, sagte der Junge so dahin. Stimmt, aber Weichholz liegt ziemlich hoch im Wasser, dachte Dominic Baciagalupo. Bei der Trift, in der Angel untergegangen war, hatten Weichhölzer im Fluss gelegen. Und durch den Wind in der vergangenen Nacht waren womöglich einige der oberen Stämme abgetrieben worden und sammelten sich jetzt außerhalb der schwimmenden Sperre in den Überläufen zu beiden Seiten der Staumauer. Die Irrläufer, vor allem Fichten- und Kiefernstämme, würden die Aufgabe erschweren, Angel aus dem strudelnden Wasser zu holen. Der Staudamm hatte nicht nur eine zweite, höher gelegene Uferlinie (eine Hochwasserlinie), sondern auch den Sägewerksteich geschaffen; mit etwas Glück würden sie vielleicht dort Angels Leiche
finden, im ruhigeren Flachwasser. »Was für ein Mensch tritt sein eigenes Kind mit Flößerstiefeln ins Gesicht?«, fragte der verstörte Junge seinen Dad. »Keiner, den wir je wiedersehen werden«, antwortete Dominic. Das Sägewerk am DeadWoman-Damm sah verlassen aus, was aber nur daran lag, dass Sonntag war. »Erzähl mir noch mal, warum man ihn DeadWoman-Damm nennt«, sagte Danny zu seinem Vater. »Du weißt sehr genau, warum man ihn so nennt, Daniel.« »Ich weiß, warum du ihn nicht gern so nennst«, erwiderte der Junge rasch. »Mom war die tote Frau - das stimmt doch?« Der Koch parkte den 52er-Pontiac neben dem Ladesteg am Sägewerk. Dominic antwortete seinem Sohn nicht, doch der kannte die ganze
Geschichte ohnehin - »sehr genau«, wie sein Dad gesagt hatte. Sowohl Jane als auch Ketchum hatten sie dem Jungen erzählt. DeadWoman-Damm war nach seiner Mutter benannt worden, doch Danny gab keine Ruhe und wollte es immer wieder von seinem Vater hören - viel öfter jedenfalls, als der davon erzählen wollte. »Warum hat Ketchum einen weißen Finger? Was hat die Kettensäge damit zu tun?«, begann Danny. Er konnte einfach nicht still sein. »Ketchum hat mehr als einen weißen Finger, und du weißt, was die Kettensäge damit zu tun hat«, sagte sein Vater. »Die Vibration, erinnerst du dich?« »Ach ja, stimmt«, sagte der Junge. »Daniel, beruhige dich bitte. Lass uns das einfach hinter uns bringen und dann weiterfahren.«
»Wohin weiterfahren?«, rief der Zwölfjährige. »Daniel, bitte - ich bin genauso erledigt wie du«, sagte sein Vater. »Lass uns nach Angel suchen. Mal sehen, ob wir ihn finden, in Ordnung?« »Wegen Jane können wir nichts tun, oder?«, fragte Danny. »Leider nein«, sagte sein Dad. »Was wird Ketchum von uns halten?«, fragte der Junge. Das hätte Dominic auch gern gewusst. »Das reicht jetzt mit Ketchum.« Mehr fiel dem Koch nicht dazu ein. Ketchum wird wissen, was zu tun ist, hoffte sein alter Freund. Aber wie sollten sie Ketchum mitteilen, was passiert war? Sie konnten nicht bis neun Uhr morgens am Dead-Woman-Damm warten. Sie konnten nicht einmal halb so viel Zeit dafür aufwenden, Angel zu suchen! Alles hing davon ab, wann Constable Carl
aufwachte und Janes Leiche entdeckte. Anfangs würde der Cowboy bestimmt denken, er selbst sei der Schuldige. Und im Kochhaus gab es sonntags nie Frühstück; bei Dominic bekam man sonntags ein frühes Abendessen, weiter nichts. Erst im Laufe des Nachmittags würden die Küchenhilfen im Kochhaus eintreffen. Wenn sie dann merkten, dass der Koch und sein Sohn weg waren, würden sie es nicht zwangsläufig dem Constable erzählen. (Nicht sofort jedenfalls.) Und für den Cowboy gäbe es auch keinen Grund, gleich nach Ketchum zu suchen. Dominic konnte sich mittlerweile sogar vorstellen, bis neun Uhr morgens am DeadWoman-Damm auf Ketchum zu warten. Nach allem, was der Koch über Constable Carl wusste, sähe es dem Cowboy ähnlich, Janes Leiche zu verscharren und sie dann zu vergessen - aber nur bis er erfuhr, dass der Koch und sein Sohn verschwunden waren. Die meisten Menschen in Twisted River würden
annehmen, Indianer-Jane hätte den Ort mit den beiden verlassen! Nur der Constable wüsste, wo Jane war, und unter den gegebenen Umständen (dem verdächtigen heimlichen Begräbnis) würde der Cowboy Janes Leiche wohl eher nicht wieder ausgraben, um zu beweisen, was er wusste. Oder war das Wunschdenken? Constable Carl würde nicht zögern, Indianer-Jane zu verscharren, falls er glaubte, sie getötet zu haben. Wunschdenken von Seiten des Kochs wäre die Hoffnung, dass der Cowboy in diesem Fall zerknirscht genug sein würde, um sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. (Das wäre echtes Wunschdenken - von einem reumütigen Constable Carl zu träumen, als habe der Cowboy eine Ahnung davon, was Reue ist!) Rechts von den Staubrettern und dem Überlauf, außerhalb der schwimmenden Sperre, strudelte das Wasser im Uhrzeigersinn
gegen die Staumauer, ein paar vereinzelte Stämme (einige verirrte Rotkiefern und Lärchen zwischen lauter Fichten) kreisten im offenen Wasser. Dort konnten Danny und sein Dad keine Leiche entdecken. Wo das meiste Wasser durch den Überlauf floss, verkeilten sich an der Sperrvorrichtung die Stämme, doch in der dunklen Brühe war nichts Helleres zu entdecken. Vorsichtig überquerten der Koch und sein Sohn den Damm, der zum offenen Wasser auf der linken Seite der Sperre führte. Hier strudelten das Wasser und einige wenige Stämme gegen den Uhrzeigersinn. Ein Hirschlederhandschuh wirbelte im Wasser, doch beide wussten, dass Angel keine Handschuhe getragen hatte. In dem tiefen, dunklen Wasser trieben Rindenstücke; zu Dominics Enttäuschung und Erleichterung sahen sie auch dort keine Leiche. »Vielleicht hat es Angel ja rausgeschafft«,
sagte Danny, doch sein Dad wusste es besser. Noch nie war so ein junger Bursche unter treibende Baumstämme geraten und hatte es rausgeschafft. Es war inzwischen nach sieben Uhr, doch sie durften die Suche nicht aufgeben. Selbst die Familie, vor der Angel davongelaufen war, würde wissen wollen, was mit ihrem Jungen passiert war. Das andere Ende des Sägewerkteichs, weiter weg von der Staumauer, abzusuchen würde länger dauern, allerdings hätten sie dort einen besseren Stand. Je näher sie Damm und Sperranlage kamen, desto mehr Sorgen machten sich Vater und Sohn umeinander. (Sie trugen keine Flößerstiefel mit Nagelsohlen, sie waren nicht Ketchum - sie waren nicht mal Flößer der unerfahrensten Sorte. Sie waren schlicht und einfach keine Holzarbeiter.) Es wurde halb acht, bis sie Angels Leiche fanden. Der langhaarige Junge in seinem
rotweißgrün karierten Hemd trieb mit dem Gesicht nach unten im ufernahen Flachwasser - allein, kein einziger Baumstamm weit und breit. Danny musste sich nicht einmal die Füße nass machen, um die Leiche ans Ufer zu holen. Der Zwölfjährige hakte einfach einen abgefallenen Ast in Angels Schottenhemd und zog den Jungen zu sich heran, dann rief er nach seinem Vater. Gemeinsam hoben sie Angel ans Ufer. Verglichen mit der Plackerei, die sie mit Indianer-Jane gehabt hatten, war das ein Kinderspiel. Sie schnürten Angels Nagelstiefel auf und verwendeten einen davon als Eimer, um frisches Wasser an Land zu holen. Damit wuschen sie dem jungen Flößer den Schlamm und die Rindenstückchen von Gesicht und Händen; seine Haut schimmerte perlmuttfarben, mit einem leichten Blaustich. Danny fuhr dem toten Jungen mit den Fingern durch die Haare.
Er entdeckte auch als Erster einen Egel. Der hatte sich an Angels Hals festgesaugt, war etwa so lang und dick wie Ketchums seltsam schiefer Zeigefinger und von der Sorte, die die Einheimischen >Nordegel< nannten. Es war garantiert nicht der einzige Egel auf Angel, dachte der Koch. Er wusste auch, dass Ketchum Blutegel hasste. So wie sich alles entwickelte, würde Dominic seinem alten Freund den Anblick von Angels Leiche wohl nicht ersparen können, doch - mit Daniels Hilfe - ersparte er ihm hoffentlich zumindest die Blutegel. Um neun hatten sie Angel zu dem Ladesteg am Sägewerk geschafft, der wenigstens trocken war und teilweise in der Sonne lag und den man vom Parkplatz aus sehen konnte. Sie hatten den Leichnam entkleidet und fast zwanzig Egel entfernt. Dann hatten sie Angel mit seinem nassen karierten Hemd saubergerieben und den toten Jungen mit unauffälligen Kleidungsstücken des Kochs und
seines Sohnes neu eingekleidet. Ein T-Shirt, das Danny immer zu groß gewesen war, passte Angel gut; Dominics alte Latzhose rundete das Bild ab. Ketchum zuliebe - falls der je auftauchte - trug der Junge jetzt wenigstens saubere und trockene Klamotten. Gegen Angels perlgraue, bläulich getönte Haut konnten sie nichts machen; selbstredend konnte die schwache Aprilsonne dem toten Jungen nicht seinen natürlichen Teint zurückgeben, aber irgendwie sah Angels Haut zumindest warm aus. »Warten wir auf Ketchum?«, fragte Danny seinen Dad, dem er die Besorgnis anmerkte. »Nur noch ein paar Minuten«, antwortete der Koch. (Eins ließ sich über die Zeit sagen, wie Dominic wusste: Sie war unerbittlich.) Als der Koch Angels tropfnasse und schmutzige Klamotten auswrang, ertastete er in der linken Latzhosentasche des Kanadiers das Portemonnaie - nur eine billige Geldbörse,
Lederimitat, mit dem Foto einer hübschen, mollig wirkenden Frau unter einem Plastikfensterchen, das jetzt beschlagen war, weil es in dem kalten Wasser gelegen hatte. Dominic rieb das Plastik über seinen Hemdsärmel; als er die Frau deutlicher sah, war ihre Ähnlichkeit mit Angel offenkundig. Bestimmt war sie die Mutter des toten Jungen, ein wenig älter als der Koch, aber jünger als Indianer-Jane. Viel Geld war nicht in dem Portemonnaie - nur ein paar kleine Scheine, ausschließlich amerikanische Dollars (Dominic hatte erwartet, auch einige kanadische Dollars zu finden), und etwas, was wie die Visitenkarte eines Restaurants aussah, mit einem italienischen Namen. Was den Eindruck des Kochs bestätigte, dass Angel schon einmal in einer Küche gearbeitet hatte, auch wenn das auf der Liste seiner Berufswünsche vielleicht nicht ganz oben gestanden haben mochte.
Doch etwas anderes war nicht so, wie von Dominic Baciagalupo erwartet: Das Restaurant befand sich nicht in Toronto oder sonstwo in Ontario; es war ein italienisches Restaurant in Boston, Massachusetts, und der Name dieses Restaurants war eine noch größere Überraschung. Er bestand aus drei Wörtern, die Annunziata Saettas unehelicher Sohn gut kannte, weil seine Mutter sie immer mit einem bitteren Unterton geäußert hatte. »Vicino di Napoli«, hatte Nunzi gesagt - und damit die Gegend gemeint, in die sich Dominics Vater abgesetzt hatte -, und der Junge hatte an die Bergstädte und Provinzen »in der Nähe von Neapel« gedacht, aus denen sein Vater stammte (und in die er, nachdem er Mutter und Kind sitzengelassen hatte, angeblich wieder zurückgekehrt war). Und prompt fielen Dominic die Namen dieser Städte und Provinzen ein, die Annunziata im Schlaf genannt hatte - Benevento und Avellino. Aber war es denn möglich, dass sein
nichtsnutziger Dad nicht weiter als bis zu einem italienischen Restaurant in der Hanover Street geflohen war, die Nunzi »die Hauptstraße des Bostoner North End« genannt hatte? Denn laut der Visitenkarte in Angels Portemonnaie hieß das Restaurant Vicino di Napoli - eindeutig eine neapolitanische Gaststätte -, und es lag in der Hanover Street, Nähe Cross Street. Die Straßennamen waren Dominic aus seiner Kindheit so vertraut wie Nunzis oft wiederholte Empfehlung, Petersilie (prezzemolo) ans Essen zu geben, oder ihre Erwähnung von Mamma Anna's und dem Europeo, zwei anderen Restaurants in der Hanover Street. Für den Koch war nichts zu abwegig, um nicht glaubhaft zu sein - nicht an einem Tag, an dem der zwölfjährige Daniel die Geliebte seines Vaters mit derselben Bratpfanne erschlagen hatte, die der Koch früher einmal so legendär verwendet hatte. (Wer würde schon glauben, dass er seine inzwischen verstorbene Frau vor
einem Bären gerettet hatte?) Dennoch war Dominic nicht auf das letzte Dokument vorbereitet, das er in Angel Popes Portemonnaie fand. Wenn der Koch das richtig sah, war es eine Sommerfahrkarte für das Bostoner Straßen- und U-Bahn-Netz - ein »Sommerticket«, wie seine Mutter so etwas genannt hatte. Auf der Fahrkarte stand, dass ihr Inhaber im Sommer 1953 noch keine 16 Jahre alt gewesen war, und zum Beweis stand da Angels Geburtsdatum. Der Junge war am 16. Februar 1939 geboren, somit war Angel erst kürzlich 15 geworden. Der Junge musste also schon mit 14 von zu Hause fortgelaufen sein - falls er wirklich fortgelaufen war. (Und natürlich konnte man unmöglich wissen, ob der tote Junge tatsächlich aus Boston stammte, obwohl das Sommerticket und die Visitenkarte des Vicino di Napoli ein deutliches Indiz dafür waren.) Doch am meisten verblüffte Dominic Baciagalupo Angels richtiger Name - denn der
war gar nicht Angel Pope, sondern Angelù del popolo »Wer?«, fragte Danny, als sein Vater den Namen auf dem Sommerticket laut vorlas. Der Koch wusste, dass Del Popolo »des Volkes« hieß und dass Pope eine gängige Amerikanisierung des sizilianischen Nachnamens war. Del Popolo war zwar wahrscheinlich, aber nicht zwangsläufig sizilianischen Ursprungs, aber Angelù war auf jeden Fall ein sizilianischer Vorname. Hatte der Junge in einem sizilianischen Restaurant gearbeitet? (Mit 14 durfte man schon einen Teilzeitjob haben.) Aber warum war er weggelaufen? Das Foto im Portemonnaie zeigte, dass er seine Mom geliebt hatte. Doch seinem Sohn sagte der Koch nur:
»Anscheinend war Angel nicht der, als der er sich ausgegeben hat, Daniel.« Dominic ließ Danny einen Blick auf das Ticket werfen, das neben der Visitenkarte des Vicino di Napoli ihr einziger Anhaltspunkt war, falls sie Angelù Del Popolos Familie finden wollten. Aber im Augenblick hatten sie ein dringlicheres Problem. Wo zum Teufel steckte Ketchum?, fragte sich Dominic. Wie lange konnten sie es sich noch leisten, hier zu warten? Was wäre, wenn Constable Carl gar nicht so betrunken gewesen war? Und was wäre, wenn der Cowboy Indianer-Janes Leiche zwar gefunden, aber sofort gewusst hatte, dass er selbst ihr nichts angetan hatte, wenigstens nicht letzte Nacht? Welche schriftliche Nachricht an Ketchum konnte der Koch schon auf Angels Leichnam zurücklassen, wenn gar nicht sicher war, dass Ketchum als Erster herkam und Angel fand? Müsste die Nachricht nicht verschlüsselt sein?
Überraschung! Angel ist kein Kanadier! Und übrigens, Jane hatte einen Unfall! Keiner hat es getan - nicht einmal Carl! Tja, wie sollte der Koch so eine Nachricht zurücklassen? »Warten wir immer noch auf Ketchum?«, fragte Danny seinen Dad. Dessen Antwort klang ein wenig kleinlaut: »Nur noch ein paar Minuten, Daniel.« Auf dem Ladesteg des Sägewerks hörten sie den Song aus dem Radio von Ketchums übel zugemülltem Pick-up, noch ehe der Wagen auf der Abfuhrstraße zu sehen war - vielleicht sang Jo Stafford gerade Make Love to Me, aber Ketchum machte das Radio aus, bevor sich der Koch sicher sein konnte. (Ketchum war auf dem besten Weg, von seiner Motorsäge taub
zu werden. Das Radio in seinem Truck war immer überlaut, die Seitenfenster waren jetzt, wo »Frühling« war, wie man das hier nannte, meist runtergekurbelt.) Erleichtert sah Dominic, dass Sixpack nicht mitgekommen war; das hätte alles deutlich komplizierter gemacht. Ketchum parkte seine Rostlaube in diskreter Entfernung vom Pontiac. Er blieb im Fahrerhaus sitzen, sein weißer Gips lag auf dem Lenkrad, und er schaute an den beiden vorbei zu dem Steg, wo Angel im blassen Sonnenlicht lag. »Ihr habt ihn also gefunden«, stellte Ketchum fest. Er schaute weg, in Richtung Damm, als wollte er die Stämme an der schwimmenden Barriere zählen. Wie immer fuhr Ketchum neben naheliegenden auch allerlei verblüffende Dinge auf der Ladefläche seines Pick-upTrucks durch die Gegend, beispielsweise einen
selbstgebauten Schuppen, der Ketchums Gefährt zu einem Wanigan auf Rädern machte. Ketchum hatte seine Motorsäge dabei, samt einer Auswahl von Äxten und anderen Werkzeugen und, rätselhafterweise unter einer Segeltuchplane, knapp zwei Festmeter Brennholz - für den Fall, dass ihn das plötzliche und dringende Bedürfnis überkommen sollte, ein Freudenfeuer zu entzünden. »Daniel und ich können Angel hinten auf deinen Pick-up legen, wo du ihn nicht sehen musst«, bot Dominic an. »Warum könnt ihr Angel nicht bei euch im Chieftain mitnehmen?«, fragte Ketchum. »Weil wir nicht nach Twisted River zurückfahren«, sagte der Koch seinem alten Freund. Ketchum seufzte und blickte dann doch zu Angel hinüber. Der Flößer stieg aus seinem
Pick-up und ging zu dem Ladesteg; er hinkte, und Dominic fragte sich, ob er sich über ihn lustig machte. Ketchum hob den Leichnam des toten Jungen hoch, als wäre der ein schlafendes Baby, dann trug er ihn zum Fahrerhaus seines Pick-ups, wohin Danny bereits vorgelaufen war, um die Tür zu öffnen. »Ich schätze, ich kann ihn mir genauso gut jetzt ansehen, statt zu warten, bis ich ihn im Ort ausladen muss«, sagte Ketchum zu ihnen. »Er hat wohl deine Klamotten an?«, fragte er Danny. »Meine und Dads«, sagte der Zwölfjährige. Der Koch humpelte mit Angels nasser und schmutziger Kleidung zum Pick-up hinüber. Er legte sie im Fahrerhaus auf den Boden, zu Füßen des toten Jungen. »Angels Klamotten müssten mal gewaschen und getrocknet werden«, sagte er zu Ketchum. »Das soll Jane übernehmen«, sagte Ketchum
zu ihnen. »Jane und ich können Angel auch ein wenig säubern und ihm dann seine eigenen Klamotten wieder anziehen.« »Jane ist tot, Ketchum«, sagte der Koch. (Es war ein Unfall, wollte er hinzufügen, doch sein geliebter Daniel war schneller.) »Ich habe sie mit der Bratpfanne erschlagen die, mit der Dad auch den Bären geschlagen hat«, platzte es aus Danny heraus. »Ich dachte, Jane wäre ein Bär«, erzählte er Ketchum. Der Koch bestätigte die Geschichte, indem er sofort dem Blick seines alten Freundes auswich. Ketchum legte seinen guten Arm um Dannys Schultern und zog den Jungen an sich. Und der vergrub sein Gesicht, in Höhe von Ketchums Bauch, in demselben grün-blau karierten Flanellhemd, das auch Sixpack manchmal trug. Für den Zwölfjährigen gehörten die Körpergerüche von Ketchum und Sixpack ebenso selbstverständlich zu dem Hemd wie die kräftigen Körper der beiden.
Mit erhobenem Gips wies Ketchum auf den Pontiac. »Meine Güte, Cookie, ihr habt die arme Jane doch wohl nicht in dem Chieftain liegen, oder?« »Wir haben sie zu Constable Carl nach Hause gebracht«, sagte Danny. »Keine Ahnung, ob Carl in einem anderen Zimmer seinen Rausch ausschlief oder gar nicht zu Hause war, aber ich habe Jane auf den Küchenfußboden gelegt«, berichtete der Koch. »Mit etwas Glück findet der Cowboy ihre Leiche und glaubt, er wär's gewesen.« »Natürlich wird er glauben, er wär's gewesen!«, grollte Ketchum. »So wie ich ihn kenne, hat er sie vor einer Stunde verscharrt, oder er gräbt in diesem Moment das verdammte Loch. Doch wenn Carl hört, dass du und Danny den Ort verlassen habt, wird er glauben, er wär's nicht gewesen! Er wird denken, du wärst's gewesen, Cookie - wenn ihr beide nicht macht, dass ihr nach Twisted River
zurückkommt!« »Findest du, wir sollten es mit Bluffen versuchen?«, fragte Dominic. »Was gibt's da zu bluffen?«, fragte Ketchum zurück. »Für den Rest seines elenden Lebens wird der Cowboy sein Gedächtnis danach durchstöbern, wie und warum er Jane umgebracht hat - oder dich suchen, Cookie.« »Du gehst also davon aus, dass er sich an die letzte Nacht nicht erinnert«, sagte der Koch. »Das ist eine ziemlich gewagte Annahme, oder?« »Sixpack hat mir erzählt, du wärst gestern Abend bei uns gewesen«, entgegnete Ketchum seinem alten Freund. »Glaubst du ernsthaft, ich erinnere mich noch an deinen Besuch?« »Vermutlich nicht«, antwortete Dominic. »Aber du schlägst vor, dass ich alles riskiere.« Und als er alles sagte, ging sein Blick unwillkürlich zu Danny.
»Ihr fahrt zurück zum Kochhaus, und ich helfe euch beim Auspacken, dann ist alles wieder so wie immer, wenn die Küchenhilfen heute Nachmittag auftauchen. Und zur Abendessenszeit«, fuhr Ketchum fort, »schickst du Dot oder May - oder sonst eine dieser unfähigen Scheißsägewerksarbeiterfrauen - zu Constable Carl. Sie soll zu ihm sagen: >Wo bleibt Jane? Der Cookie dreht durch ohne seine Tellerwäscherin!< Das nenne ich einen Bluff! Und diesen Bluff gewinnst du mit links«, behauptete Ketchum. »Der Cowboy wird sich in die Hose machen. Der macht sich noch jahrelang in die Hose - während er darauf wartet, dass irgendein Hund Indianer-Janes Leiche ausbuddelt!« »Ich weiß nicht, Ketchum«, sagte der Koch. »Das ist ein Riesenbluff. So ein Risiko kann ich nicht eingehen, nicht mit Daniel.« »Wenn du verschwindest, gehst du ein
größeres Risiko ein«, sagte ihm sein alter Freund. »Scheiße, ich werd mich bestens um Danny kümmern, wenn der Cowboy dir die Rübe wegschießt.« Dannys Blick wanderte von seinem Vater zu Ketchum und wieder zurück. »Ich finde, wir sollten zum Kochhaus zurückfahren«, erklärte der Zwölfjährige dann. Doch der Koch wusste, dass Veränderungen und zwar jede Veränderung - seinem Sohn Angst machten. Natürlich war Daniel dafür, dazubleiben und zu bluffen; zu verschwinden das war eine Art Angst, die er noch nicht kannte. »Sieh es mal so, Cookie«, sagte Ketchum und zeigte mit dem weißen Gips (der so schwer war wie der 45er-Colt des Cowboys) auf seinen Freund, »falls ich mich irre und Carl dich erschießt, wird er es nicht wagen, Danny auch nur ein Haar zu krümmen. Aber falls ich recht habe und der Cowboy dich verfolgt,
könnte er euch beide töten - weil ihr beide auf der Flucht wärt.« »Tja, genau das sind wir, auf der Flucht«, sagte Dominic. »Ich bin kein Zocker, nicht mehr.« »Jetzt zockst du doch auch, Cookie«, sagte Ketchum. »Ein Risiko gehst du so oder so ein, stimmt's?« »Umarm Ketchum noch einmal, Daniel - wir müssen los«, sagte Dannys Dad. Diese Umarmung würde Danny Baciagalupo nie vergessen, auch nicht, wie seltsam er es fand, dass sein Vater und Ketchum einander nicht umarmten - schließlich waren sie alte Freunde, noch dazu sehr gute. »Es stehen ohnehin große Veränderungen bevor, Cookie«, versuchte Ketchum seinem Freund zu erklären. »Man wird nicht mehr lange Baumstämme auf dem Wasser transportieren. Die Dämme an den Dummer-
Teichen werden verschwinden, und auch der Damm hier wird nicht stehen bleiben«, sagte er und wies mit dem Gips auf die schwimmende Sperre, unterließ es aber, den Dead-Woman-Damm namentlich zu erwähnen. »Dann werden alle drei, der Dummer-Teich, Little Dummer und der Twisted River, einfach in den Pontook-Stausee fließen. Vermutlich werden die alten Anlegestellen im Androscoggin erhalten bleiben, aber man wird sie nicht mehr als Befestigungspunkte für Baumsperren benutzen. Und wenn dann das erste Feuer in West Dummer oder Twisted River ausbricht, glaubt ihr, irgendwer wird diese schäbigen ollen Siedlungen wieder aufbauen? Wer würde nicht lieber nach Milan oder Errol ziehen, oder sogar nach Berlin wenn man alt und gebrechlich genug ist?«, fügte Ketchum hinzu. »Du musst nur bleiben und dieses triste Kaff überdauern, Cookie - du mit Danny.« Doch der Koch und sein Sohn
waren schon zum Chieftain unterwegs. »Wenn ihr jetzt davonlauft, werdet ihr ewig davonlaufen!«, rief Ketchum ihnen nach. Er humpelte um seinen Truck herum, von der Beifahrer- zur Fahrerseite. »Warum humpelst du?«, rief der Koch ihm zu. »Scheiße«, antwortete Ketchum. »In Sixpacks Treppe fehlt eine Stufe, und ich Trottel hab's vergessen.« »Pass auf dich auf, Ketchum«, sagte Dominic noch. »Du auch, Cookie«, sagte Ketchum. »Ich frag nicht wegen deiner Lippe, die Sorte Verletzung kenne ich.« »Übrigens war Angel kein Kanadier«, klärte Danny Baciagalupo Ketchum auf. »Eigentlich hieß er Angelù Del Popolo, und er kam aus Boston, nicht aus Toronto.« »Dann fahrt ihr vermutlich dorthin?«, fragte
Ketchum die beiden. »Nach Boston?« »Angel hatte bestimmt eine Familie - jemand von denen muss doch erfahren, was ihm zugestoßen ist«, sagte der Koch. Ketchum nickte. Als er durch die Windschutzscheibe seines Pick-ups auf den aufrecht dasitzenden und nach vorn blickenden Angelù Del Popolo sah, wirkte der Junge im fahlen Sonnenlicht nicht nur lebendig, sondern so, als würde das Abenteuer seines Lebens erst beginnen und nicht schon zu Ende sein. »Angenommen, ich sage Carl, dass ihr Angels Familie die traurige Nachricht überbringt? Ihr habt doch das Kochhaus nicht so verlassen, als wärt ihr ein für alle Mal verschwunden, oder?«, fragte Ketchum. »Wir haben nichts mitgenommen, was jemandem auffallen würde«, sagte Dominic. »Man könnte meinen, wir kämen wieder.« »Angenommen, ich erzähle dem Cowboy, ich
sei überrascht, dass Indianer-Jane nicht bei euch war?«, fragte Ketchum. »Ich könnte sagen, an Janes Stelle wäre ich auch nach Kanada gefahren.« Danny merkte, wie sein Dad darüber nachdachte, ehe Ketchum fortfuhr: »Ich werde natürlich nicht verraten, dass ihr nach Boston gefahren seid. Vielleicht sollte ich besser sagen: >Ich an Janes Stelle wäre nach Toronto gefahren<. Was hältst du davon?« »Egal, was du sagst, sag bloß nicht zu viel«, schärfte ihm der Koch ein. »Ich glaube, wenn ich an ihn denke, dann immer noch als >Angel<, wenn das okay ist«, sagte Ketchum, als er in seinen Pick-up stieg. Er warf einen kurzen Blick auf den toten Jungen und schaute rasch wieder weg. »In meinen Gedanken bleibt er immer >Angel
ein Abenteuer begonnen hat - und inwieweit dieses unselige Abenteuer schon lange Zeit zuvor begonnen hatte, ehe Danny Baciagalupo Indianer-Jane mit einem Bären verwechselte -, konnten weder Ketchum noch der Koch sagen, allerdings wirkte Danny ausgesprochen »klar«. Ketchum wusste sehr wohl, dass er die beiden vielleicht zum letzten Mal sah, und er wollte dieser riskanten Phase des Abenteuers, auf das sich der Koch nun einließ, etwas Positives abgewinnen. »Danny!«, rief Ketchum. »Du musst wissen, dass auch ich Jane schon mal mit einem Bären verwechselt habe, und zwar mehr als einmal.« Doch Ketchum war keiner, der sich lange mit Positivem aufhielt. »Vermutlich hatte Jane nicht die Häuptling-Wahoo-Mütze auf, als es passierte«, sagte der Holzarbeiter zu Danny. »Nein, hatte sie nicht«, antwortete der Zwölfjährige. »Verdammt, Jane - so ein Mist!«, rief
Ketchum. »Jemand in Cleveland hat mir erzählt, die Mütze bringt Glück«, erklärte der Flößer dem Jungen. »Der Kerl sagte, Häuptling Wahoo sei eine Art Schutzgeist für Indianer.« »Vielleicht beschützt er ja jetzt Jane«, sagte Danny. »Verschon mich mit religiösen Sprüchen, Danny - behalt die Indianerin einfach so in Erinnerung, wie sie war. Jane hat dich wirklich geliebt«, sagte Ketchum dem Zwölfjährigen. »Halt sie in deiner Erinnerung in Ehren - mehr kannst du nicht tun.« »Du fehlst mir schon jetzt, Ketchum!«, rief der Junge plötzlich. »Oh, Scheiße, Danny... ihr haut jetzt am besten ab, falls ihr abhauen wollt«, sagte der Flößer. Dann ließ Ketchum den Motor an, bog auf die Abfuhrstraße in Richtung Twisted River und ließ den Koch und seinen Sohn ihre im
Vergleich zu seiner sehr viel längere und ungewissere Fahrt antreten - in ihr nächstes Leben, immerhin.
TEIL II BOSTON 1967 5 - Pseudonym Seit Constable Carl über die Leiche der indianischen Tellerwäscherin stolperte, waren fast genau 13 Jahre vergangen (eine Unglückszahl), und nicht einmal Ketchum wusste, ob der Cowboy den Koch und dessen Sohn im Verdacht hatte, die in derselben Nacht verschwunden waren. Wenn man den bestinformierten Klatschmäulern in dieser Ecke des Coos County - also entlang des gesamten Oberlaufs des Androscoggin -
glaubte, war verschwunden.
Indianer-Jane
mit
ihnen
Laut Ketchum störte es Carl, dass die Leute dachten, Jane sei mit dem Koch durchgebrannt, und zwar mehr, als ihn die Möglichkeit zu irritieren schien, dass er seine Freundin mit einem unbekannten stumpfen Gegenstand erschlagen hatte. (Die Tatwaffe wurde nie gefunden.) Und zweifellos glaubte Carl, Jane getötet zu haben, da er sich ihrer Leiche entledigt hatte. (Auch die Leiche war nie wieder aufgetaucht.) Trotzdem musste sich Ketchum jedes Mal, wenn sich ihre Wege kreuzten, bohrende Fragen des Cowboys anhören. »Hast du immer noch nichts von Cookie gehört?«, wollte Carl unweigerlich von Ketchum wissen. »Ich dachte, ihr zwei wärt Freunde.« »Cookie hat nie viel gesagt«, antwortete Ketchum darauf regelmäßig. »Ist für mich keine Überraschung, dass er sich nicht bei mir
meldet.« »Und was ist mit dem Jungen?«, fragte der Cowboy gelegentlich. »Was soll mit ihm sein? Danny ist bloß ein Kind«, antwortete Pseudonym Ketchum treuherzig. »Und Kinder schreiben nicht besonders viel, oder?« Doch Daniel Baciagalupo schrieb eine Menge - nicht nur an Ketchum. Schon zu Beginn ihrer Korrespondenz hatte er Ketchum anvertraut, er wolle Schriftsteller werden. »In dem Fall solltest du dich von dem ganzen katholischen Zeug weitgehend fernhalten«, hatte Ketchum erwidert, dessen Handschrift dem Jungen seltsam feminin vorkam. Danny hatte seinen Dad gefragt, ob seine Mom Ketchum auch ihre Handschrift beigebracht habe - neben dem Tanzen, vom Lesen ganz zu schweigen. »Das glaube ich nicht«, hatte Dominic nur
gesagt. Das Rätsel von Ketchums Schönschrift blieb ungelöst, auch machte sich Dominic über die Handschrift seines alten Freundes offenbar keine großen Gedanken, jedenfalls nicht so viele wie sein Sohn. In den 13 Jahren hatte Danny Baciagalupo, der angehende Schriftsteller, mehr mit Ketchum korrespondiert als sein Vater. Die Briefe, die Ketchum und der Koch tauschten, waren meist kurz und sachlich. Suchte Constable Carl nach ihnen? Das war es, was Dominic jedes Mal wissen wollte. »Davon kannst du ausgehen« war im Grunde alles, was Ketchum dem Koch dazu mitteilte, allerdings hatte Ketchum in letzter Zeit mehr zu sagen. Er hatte Danny und Dominic einen identischen Brief geschickt, und dieser Brief war maschinengeschrieben, eine weitere Neuerung. »Es braut sich etwas zusammen«, begann der Brief. »Wir sollten reden.«
Das war leichter gesagt als getan - Ketchum besaß kein Telefon. Er hatte sich angewöhnt, Dominic und den Jungen von einer Telefonzelle aus per R-Gespräch anzurufen; diese Telefonate endeten oft abrupt, wenn Ketchum verkündete, er friere sich dort oben die Eier ab. Zugegeben, es war kalt im Norden New Hampshires - und auch in Maine, wo Ketchum offenbar immer mehr Zeit zubrachte -, doch im Laufe der Jahre rief Ketchum fast nur noch in der kalten Jahreszeit an. (Vielleicht absichtlich, vielleicht fasste sich Ketchum gern kurz.) Weiter stand in Ketchums allererstem maschinengeschriebenem Brief an Danny und dessen Dad, der Cowboy habe eine »bedrohliche Andeutung« gemacht. Was nichts Neues war - Constable Carl war bedrohlich, und er machte ständig Andeutungen, wie Dominic und Danny bereits wussten -, doch diesmal war ausdrücklich das Wort »Kanada« gefallen. Laut Carl war der
Vietnamkrieg schuld daran, dass sich die Beziehungen zwischen den usa und Kanada verschlechtert hatten. »In Sachen Zusammenarbeit sind die kanadischen Behörden einen feuchten Dreck wert«, hatte der Cowboy zu Ketchum gesagt, was der so interpretierte, dass Carl auf der anderen Seite der Grenze immer noch Erkundigungen anstellte. 13 Jahre lang hatte der Polizist geglaubt, der Koch und sein Sohn seien nach Toronto gezogen. Falls der Cowboy sie suchte, dann immerhin nicht in Boston - noch nicht. Doch jetzt hatte Ketchum geschrieben, dass sich etwas zusammenbraute. Ketchums früherer Rat an Danny - falls der Junge Schriftsteller werden wolle, solle er sich weitgehend von dem ganzen katholischen Zeug fernhalten - war womöglich ein Missverständnis seitens Ketchums. Die Michelangelo School, Dannys neue Schule im
Bostoner North End, war eine Mittelschule, und zwar eine öffentliche. Die Kinder nannten die Schule »Mickey«, weil die Lehrer und Lehrerinnen irischer Abstammung, also »Micks«, waren, aber Nonnen waren keine darunter. Ketchum hatte wohl angenommen, die Michelangelo sei eine katholische Schule. (»Pass auf, dass sie dich keiner Gehirnwäsche unterziehen«, hatte er Danny geschrieben wen er mit sie meinte, blieb unklar, obwohl das Wort wohl irgendwie mit katholischem Zeug zusammenhing.) Doch Dan war unbeeindruckt (und auch nicht ansatzweise beeinflusst) von dem, was an der Mickey katholisch war; im North End fiel ihm von Anfang an hauptsächlich alles Italienische auf. Das Michelangelo School Center war häufig Schauplatz der Massenversammlungen gewesen, bei denen italienische Einwanderer die amerikanische Staatsbürgerschaft bekamen. Die überfüllten Mietshäuser mit fließendem, wenn auch nur kaltem Wasser, in
denen viele von Dannys Mitschülern wohnten, waren ursprünglich für irische Einwanderer erbaut worden, die vor den Italienern ins North End gekommen waren. Doch die Iren waren weggezogen, nach Dorchester und Roxbury, oder sie waren inzwischen »Southies«, Bewohner von South-Boston. Vor gar nicht langer Zeit hatte hier eine kleine Gemeinschaft portugiesischer Fischer gelebt - vielleicht waren noch ein oder zwei Familien in der Gegend um die Fleet Street übrig -, doch 1954, als Danny Baciagalupo und sein Dad eintrafen, war das North End fest in italienischer Hand. Der Koch und sein Sohn wurden nicht wie Fremde behandelt, jedenfalls nicht lange. Zu viele Verwandte wollten sich ihrer annehmen. Es gab zahllose Calogeros, massenhaft Saettas; alle möglichen Cousins und Nicht-richtigCousinen zählten die Baciagalupos »zur Familie«. Doch Dominic und Dan waren Familien nicht gewohnt, von Großfamilien ganz zu schweigen. Hatte es im Coos County
nicht zu ihrer Überlebensstrategie gehört, reserviert zu sein? Die Italiener kannten »reserviert« nicht; entweder bekam man von ihnen un abbraccio (eine Umarmung) oder eine Tracht Prügel. Die älteren Leute versammelten sich immer noch an den Straßenecken oder in den Parks, wo nicht nur die Dialekte Neapels und Siziliens zu hören waren, sondern auch die der Abruzzen und Kalabriens. Bei warmem Wetter lebte Jung und Alt im Freien, auf den schmalen Straßen. Viele dieser Einwanderer waren um die Jahrhundertwende nach Amerika gekommen - nicht nur aus Neapel und Palermo, sondern auch aus zahllosen italienischen Dörfern. Das Straßenleben, das sie dort zurückgelassen hatten, lebte im Bostoner North End wieder auf - in Form von Obst- und Gemüseständen unter freiem Himmel, von kleinen Bäckereien und Konditoreien, von Fleischmärkten, von freitäglichen Schubkarren mit frischem Fisch
auf der Cross und Salem Street, von Friseursalons und Schuhputzläden, von Sommerfesten und Festmahlen und in Form jener seltsamen religiösen Vereine, deren Fenster im Erdgeschoss mit den Gestalten von Schutzheiligen bemalt waren. Diese Heiligen zumindest fanden Dominic und Daniel Baciagalupo »merkwürdig«, auch wenn sie selbst seit 13 Jahren an der Frage scheiterten, was denn nun an ihnen genau italienisch oder katholisch war. Fairerweise müsste man sagen, dass Danny in Sachen italianita wohl nicht richtig »gescheitert« war - er versuchte immer noch, die reservierte Kühle aus dem Norden New Hampshires loszuwerden. Dominic hingegen würde diese Kühle wohl nie verlieren; er konnte zwar italienisch kochen, aber Italiener sein - das stand auf einem ganz anderen Blatt. Trotz Ketchums vermuteter Fehleinschätzung der Michelangelo als einer katholischen
Schule war es unfair von Dominic, Ketchum ewig vorzuhalten, er habe Danny die Idee in den Kopf gesetzt, »wegzugehen« und ein Internat zu besuchen. Das fand jedenfalls sein Sohn. Dabei hatte Ketchum in einem seiner frühen Briefe an Danny - in dieser wirklich mädchenhaften Handschrift - bloß erwähnt, der klügste »Kerl«, den er je gekannt habe, sei auf eine Privatschule in New Hampshire gegangen, in Küstennähe. Ketchum meinte Exeter, das nicht sehr weit nördlich von Boston lag - und damals konnte man noch den Zug nehmen, »den guten alten >Boston & Maine<«, wie Ketchum sagte. Von Bostons North Station aus fuhr der >Boston & Maine< auch in den Norden New Hampshires. »Teufel, bestimmt kann man vom North End zu Fuß zur North Station gehen«, schrieb Ketchum an Dan. »Sogar ein Kerl, der hinkt, sollte das schaffen, schätze ich.« (Das Wort Kerl tauchte immer häufiger in Ketchums Vokabular auf vielleicht lag es an Sixpacks Einfluss,
allerdings hatte Jane es ebenfalls benutzt. Danny und sein Dad verwendeten es auch beide.) Der Koch hatte eher unfreundlich auf das reagiert, was er Ketchums »Einmischung« in Daniels höhere Schulbildung nannte, worüber sich Dan mit seinem Vater prompt gestritten hatte. Unlogischerweise machte Dominic Mr. Leary, Dannys Englischlehrer in der siebten und achten Klasse auf der Mickey, keine Vorwürfe, dabei hatte dieser viel mehr als Ketchum damit zu tun, dass der Junge schließlich nach Exeter wechselte. Eigentlich hätte der Koch sich selbst die Schuld geben müssen, denn als Dominic erfuhr, dass Exeter (damals noch) eine reine Jungenschule war, ließ er sich plötzlich überreden, seinen geliebten Daniel im Herbst 1957 aufs Internat zu geben. Da war der Junge erst 15. Dominic würde seinen Sohn zwar schrecklich vermissen, doch nachts dafür ruhig
schlafen können, da er wusste (oder, wie Ketchum sagen würde, »sich der Illusion hingab«), dass sein Junge vor Mädchen sicher war. Dominic ließ Daniel nach Exeter gehen, weil er seinen Sohn »so lange wie möglich« von Mädchen fernhalten wollte, wie er Ketchum schrieb. »Tja, das ist dein Problem, Cookie«, schrieb sein Freund zurück. Allerdings. Bei ihrer Ankunft im North End war es noch kein offensichtliches Problem gewesen - da war Dan erst zwölf und nahm von Mädchen anscheinend keine Notiz -, doch dem Koch fiel auf, dass die Mädchen bereits von seinem Sohn Notiz nahmen. Unter den Cousinen und Nicht-richtig-Cousinen aus dem Saetta- und dem Calogero-Clan würde es bald einige zärtliche Cousinen geben, wie sich der Koch leicht vorstellen konnte - ganz zu schweigen von all den anderen Mädchen, die der Junge kennenlernen würde, denn das North
End war ein volkstümliches VierteL, in dem man irre viel Leute kennenlernte. Der Koch und sein Zwölfjähriger hatten noch nie zuvor an einem solchen Ort gewohnt. An jenem Aprilsonntag im Jahr 1954 hatten Vater und Sohn Schwierigkeiten gehabt, das North End überhaupt zu finden, und schon damals kam man dort leichter zu Fuß voran als mit dem Auto. (Den Pontiac Chieftain in diesem Viertel zu fahren und zu parken war eine Herausforderung gewesen - gewiss nicht so anstrengend wie der Transport von Indianer-Janes Leiche aus dem Kochhaus bis zu Constable Carls Küche, aber dennoch eine Herausforderung.) Als sie sich zu Fuß bis zur Hanover Street durchschlängelten - wobei sie im Vorbeigehen einen Blick auf die goldene Kuppel der Sumner Tunnel Authority erhaschten, die auf sie herabzustrahlen schien wie eine neue Sonne auf einen fremden Planeten -, sahen sie in der Nähe der Cross Street zuerst zwei andere Restaurants (das
Europeo und Mamma Anna's), ehe sie das Vicino di Napoli fanden. Es war später Nachmittag - die Fahrt aus dem Norden New Hampshires hatte lange gedauert -, doch der Tag war warm und sonnig gewesen, verglichen mit dem kalten Morgenlicht am Dead-Woman-Damm, als sie Angels bläuliche Leiche bei Ketchum gelassen hatten. Hier wimmelte es auf den Gehsteigen von Familien; die Leute redeten richtig miteinander, einige schrien sogar. (Am DeadWoman-Damm und in Twisted River hatten sie am Morgen ihrer Abreise nur die erschlagene indianische Tellerwäscherin, den ertrunkenen Jungen und Ketchum gesehen.) Seit sie den Pontiac abgestellt hatten und zu Fuß weitergegangen waren, war Danny zu aufgeregt gewesen, um zu sprechen. So etwas hatte er noch nie gesehen, außer im Kino. (In Twisted River gab es kein Kino. Gelegentlich
hatte Indianer-Jane den Jungen mit nach Berlin genommen, damit er sich einen Film ansah. Der Koch hatte erklärt, ihn würden keine zehn Pferde wieder nach Berlin kriegen, »höchstens in Handschellen«.) Als sie an jenem Aprilsonntag in der Hanover Street vor dem Vicino di Napoli stehen blieben, warf Danny einen Blick auf seinen Vater. Der Koch sah aus, als hätte man ihn in Handschellen ins North End geschleift. Oder vielleicht hatte er ein mulmiges Gefühl, weil er hier stand und seinen Schatten auf diese Restauranttür warf. Lastete auf dem Überbringer von Hiobsbotschaften ein Fluch?, fragte sich Dominic. Was wird aus dem Unglücksboten? Widerfährt ihm eines Tages noch Schlimmeres? Der Junge spürte, wie sein Dad zögerte, doch ehe Vater oder Sohn die Restauranttür öffnen konnten, öffnete ein alter Mann sie von innen. »Komme reine, komme reine!«, forderte er sie
auf. Dann packte er Danny am Handgelenk und zog ihn in den einladenden Duft der Gaststätte. Dominic folgte ihnen stumm. Der Koch sah auf den ersten Blick, dass der ältere Herr nicht sein verhasster Vater war. Er sah Dominic überhaupt nicht ähnlich und war zu alt, um Gennaro Capodilupo zu sein. Er war sowohl Oberkellner als auch Besitzer des Vicino di Napoli, was man ihm auch ansah, und er konnte sich nicht erinnern, Annunziata Saetta je begegnet zu sein (dabei hatte er sie sehr wohl gekannt, und er kannte auch jede Menge andere Saettas). Auch war dem alten Mann an jenem Sonntag nicht klar, dass er Dominics Vater, Gennaro Capodilupo, entlassen hatte; Gennaro, dieses Schwein, war im Vicino di Napoli Hilfskellner und ein echter Schürzenjäger gewesen. (In dem Restaurant hatten sich Nunzi und Dominics Frauenheld von einem Dad auch kennengelernt.) Doch gebort hatte der betagte Besitzer und Oberkellner von Annunziata
Saetta; auch von Rosina oder »Rosie« Calogero hatte er gehört. Skandale sind der Gesprächsstoff solcher pulsierender Viertel, wie Danny und sein Dad bald erfahren sollten. Das Vicino di Napoli war nicht groß, und die Tische mit den rot-weiß karierten Tischdecken waren klein. Gerade deckten zwei junge Frauen und ein Junge (etwa in Angels Alter) die Tische. Es gab eine Theke aus Edelstahl, hinter der Dominic einen gemauerten Pizzaofen und eine offene Küche entdeckte, in der gerade zwei Köche arbeiteten. Erleichtert stellte Dominic fest, dass keiner der beiden alt genug war, um sein Vater zu sein. »Die Küche ist noch nicht ganz so weit, aber Sie können sich setzen - eine Schluckchen trinken, vielleicht«, sagte der alte Mann und lächelte Danny an. Dominic griff in die Innentasche seiner Jacke nach Angelù Del Popolos Portemonnaie, das immer noch feucht war. Doch kaum hatte er es
herausgenommen, wich der Oberkellner vor ihm zurück. »Sind Sie eine Cop?«, fragte der Alte. Bei dem Wort Cop horchten die beiden Köche auf, die Dominic in der Küche bemerkt hatte, und kamen vorsichtig hinter der Theke hervor. Der Junge und die beiden Frauen, die die Tische deckten, unterbrachen ihre Arbeit und musterten Dominic ebenfalls. »Gewöhnlich nehmen Cops nicht ihre Kinder auf die Arbeit mit«, sagte einer der Köche dem Alten. Dieser Koch war über und über mit Mehl bestäubt, nicht nur die Schürze, auch seine Hände und Unterarme waren staubig weiß. (Wahrscheinlich der Pizzabäcker, dachte Dominic.) »Ich bin kein Cop, ich bin Koch«, sagte Dominic. Die beiden jüngeren und der alte Mann lachten erleichtert, die zwei Frauen und der Junge nahmen ihre Arbeit wieder auf. »Aber ich möchte Ihnen etwas zeigen«, fuhr Dominic fort. Der Koch fingerte an Angels
Portemonnaie herum. Er wußte nicht, was er ihnen zuerst zeigen sollte - das Ticket der Bostoner Verkehrsbetriebe mit Angelù Del Popolos Namen und Geburtsdatum oder das Foto der hübschen, aber molligen Frau. Er wählte das Straßenbahn- und U-Bahn-Ticket, doch noch ehe sich Dominic entschied, welchem der Männer er es zeigen wollte, sah der alte Mann das Foto in dem offenen Portemonnaie und nahm es Dominic aus den Händen. »Carmella!«, rief der Oberkellner. »Da war ein Junge«, fing Dominic an, während die zwei Köche das Foto unter dem Plastikfensterchen betrachteten. »Vielleicht ist sie seine Mutter.« Weiter kam Dominic nicht. Der Pizzabäcker schlug beide Hände vor das Gesicht, seine Wangen wurden schneeweiß. »Angelù!«, jammerte er.
»Nein! Nein! Nein!«, klagte der alte Mann, packte Dominic an beiden Schultern und schüttelte ihn. Der andere Koch (offenkundig der Küchenchef oder Chefkoch) presste sich die Hände aufs Herz, als wäre er abgestochen worden. Der Pizzabäcker, weißgesichtig wie ein Clown, berührte mit seinen mehlbestäubten Fingern Dannys Hand. »Was ist mit Angelù passiert?«, fragte er den Jungen so sanft, dass Dominic wusste, der Mann musste ein Kind in Daniels Alter haben oder gehabt haben. Beide Köche waren etwa zehn Jahre älter als Dominic. »Angel ist ertrunken«, sagte Danny allen Anwesenden. »Es war ein Unfall«, ergänzte sein Vater. »Angelù ware keine Fischer!«, klagte der Oberkellner.
»Es war ein Flößerunfall«, erklärte Dominic. »Der Junge ist bei einer Trift unter die Baumstämme geraten.« Die jungen Frauen und der Jugendliche in Angels Alter waren verschwunden - Danny hatte sie nicht gehen sehen. (Wie sich herausstellte, waren sie nur in die Küche geflüchtet.) »Angelù hat hier gearbeitet, nach der Schule«, sagte der alte Mann zu Danny. »Seine mamma, Carmella - sie arbeitet hier.« Der andere Koch war näher gekommen, hielt Dominic die Hand hin. »Antonio Molinari«, sagte der Chefkoch und schüttelte bekümmert Dominics Hand. »Dominic Baciagalupo«, erwiderte der Koch. »Ich war der Koch in dem Holzfällercamp. Das ist mein Sohn Daniel.« »Giuse Polcari«, sagte der alte Mann mit gesenktem Blick zu dem Jungen. »Keiner
nennt mich Giuseppe. Einfach nur Joe ist auch in Ordnung.« Polcari zeigte auf den Pizzabäcker. »Das ist mein Sohn Paul.« »Ihr könnt mich Dan oder Danny nennen«, sagte der Junge. »Nur mein Dad nennt mich Daniel.« Tony Molinari war zur Tür des Restaurants gegangen und musterte die Passanten auf der Hanover Street. »Da kommt sie«, sagte er. »Ich sehe Carmella!« Die beiden Köche flohen in ihre Küche und ließen die verstörten Baciagalupos mit dem alten Polcari zurück. »Ihr müsst es ihr sagen - ich kanne nichte machen«, sagte Giuse (oder einfach nur Joe). »Ich mache euch miteinander bekannt«, fuhr der Oberkellner fort und schob Dominic näher in Richtung Restauranttür; Danny hielt die Hand seines Dads. »Ihr Mann ist auch ertrunken - die beiden, das war eine große Liebe!«, erzählte ihnen der alte Polcari. »Aber er ware Fischer, die ertrinken oft.«
»Hat Carmella noch andere Kinder?«, fragte Dominic. Jetzt konnten alle drei sie sehen eine üppige Frau mit schönem Gesicht und pechschwarzem Haar. Sie war noch keine vierzig, vielleicht in Ketchums Alter oder etwas älter. Große Brüste, breite Hüffen, breites Lächeln - nur das Lächeln war breiter als das von Indianer-Jane, wie dem jungen Dan auffiel. »Angelù war ihr Ein und Alles«, antwortete Giuse. Danny ließ die Hand seines Dads los, weil der alte Polcari ihm etwas zusteckte. Es war Angels Portemonnaie, das sich feucht und kalt anfühlte; die Fahrkarte ragte schräg heraus. Danny klappte gerade das Portemonnaie auf und schob das Ticket wieder an seinen Platz, als Carmella Del Popolo zur Tür hereinkam. »Hey, Joe - bin ich spät dran?«, fragte sie den alten Mann vergnügt. »Du doch nicht, Carmella, du biste immer
pünktlich!« Vielleicht war das einer jener Augenblicke, die Daniel Baciagalupo zum Schriftsteller werden ließen - seine erste und zwangsläufig unbeholfene Vorahnung. Plötzlich sah der Junge die Zukunft seines Vaters vor sich und, wenngleich weniger deutlich, seine eigene. Zugegeben, Carmella war ein wenig älter und gewiss fülliger als die Frau auf dem Foto in Angels Portemonnaie, doch niemand würde behaupten, dass sie nicht mehr schön war. Mit zwölf mochte Danny noch zu jung sein, um Mädchen zu beachten oder die Mädchen waren zu jung, um seine Aufmerksamkeit zu erregen -, doch für Frauen interessierte sich der Junge bereits. (Für Indianer-Jane bestimmt - für Sixpack-Pam auf jeden Fall.) Carmella Del Popolo erinnerte Danny stark an Jane. Ihr olivbrauner Teint war Janes rötlichbrauner Haut nicht unähnlich; auch sie hatte eine leicht flache Nase, hohe Wangenknochen und dunkelbraune Augen -
wie bei Jane waren Carmellas Augen fast so schwarz wie ihre Haare. Und würde in Carmellas Herz nicht bald, genau wie bei Jane, Schwermut einziehen? Auch Jane hatte einen Sohn verloren, und Carmella hatte - wie Dominic Baciagalupo - bereits einen geliebten Ehepartner verloren. Nicht dass Danny in diesem Augenblick das leiseste Anzeichen bemerkte, dass sein Dad sich zu Carmella hingezogen fühlte oder sie sich zu ihm, dennoch wusste der Junge eins ganz genau: Angels Mutter war die nächste Frau, mit der sein Vater eine Beziehung eingehen würde - solange sie im North End vor Constable Carl sicher waren. »Du musst dich setzen, Carmella«, sagte Polcari, während er sich in Richtung Küche zurückzog, wo sich die anderen bereits versteckten. »Das hier sind dieser Koch und seine Sohn aus dem Norden - du weißt doch, Angelus Kumpels.«
Die Frau, die ohnehin schon guter Laune war, strahlte noch mehr. »Sie sind Dominica«, rief sie und nahm den Kopf des Kochs in ihre Hände. Als sie sich rasch zu Danny umdrehte, war Giuse Polcari schon zu den anderen Feiglingen verschwunden. »Und du musst Danny sein!«, sagte Carmella begeistert. Sie umarmte ihn fest - nicht so fest, wie ihn Jane manchmal umarmt hatte, aber fest genug, dass der Junge wieder an Jane denken musste. Jetzt erst wurde Dominic klar, warum in Angels Portemonnaie so wenig Geld gewesen war und warum sie unter den wenigen Hinterlassenschaften des toten Jungen fast nichts gefunden hatten. Angel hatte sein Gehalt seiner Mutter geschickt. Der Junge hatte Indianer-Jane gebeten, ihn zum Postamt mitzunehmen, und ihr erzählt, Versande nach Kanada seien kompliziert, in Wirklichkeit hatte er seiner Mom Geld überwiesen. Offensichtlich hatte er ihr auch treu und brav geschrieben, wenn sie wusste, dass der Koch
und sein Sohn sich mit ihrem Jungen angefreundet hatten. Unvermittelt fragte sie nach Ketchum. »Ist Mr. Ketchum bei euch?«, fragte Carmella Danny und hielt sein Gesicht in ihren warmen Händen. (Vielleicht trug dieser Moment der Sprachlosigkeit dazu bei, dass Daniel Baciagalupo Schriftsteller wurde. Diese Momente, in denen man weiß, dass man etwas sagen sollte, einem die richtigen Worte aber nicht einfallen - als Schriftsteller kann man diesen Momenten nicht genug Bedeutung beimessen.) Jetzt erst schien Carmella zu bemerken, dass sie die Einzigen im Speiseraum waren und auch in der Küche keiner zu sehen war. Die arme Frau deutete das so, dass man sie überraschen wollte. Vielleicht war Angelù zu einem unangekündigten Besuch gekommen? Versteckten die anderen ihren Liebling in der Küche und hielten darum totenstill? »Angelù!«, rief Carmella. »Bist du auch da
und hast Mr. Ketchum mitgebracht? Angelù?« Als sich Daniel Baciagalupo Jahre später an das Schriftstellerdasein gewöhnt hatte, kam er zu dem Schluss, dass das, was sich damals in der Küche zugetragen hatte, nur natürlich war. Sie waren keine Feiglinge, sondern nur Menschen, die Carmella Del Popolo liebten und es nicht ertrugen, sie leiden zu sehen. Doch damals war Danny entsetzt gewesen. Paul Polcari, der Pizzabäcker, hielt es nicht länger aus. »Angelù!«, jammerte er laut. »Nein! Nein! Nein!«, intonierte sein alter Vater. »Angelù, Angelù«, rief Tony Molinari leiser. Auch die jungen Frauen und der Knabe in Angels Alter stimmten den Namen des Jungen an. Diesen Chor hatte Carmella nicht erwartet; aus der Küche drangen so klägliche Laute, dass die arme Frau sich ratlos zu Dominic umdrehte, in dessen Miene sie aber nur Trauer
und Panik las. Danny konnte Angels Mom nicht ansehen - das wäre so gewesen, als würde er Indianer-Jane ansehen, eine halbe Sekunde ehe die Pfanne sie traf. Zum Abschied hatte der alte Polcari unter dem nächsten Tisch einen Stuhl hervorgezogen noch bevor er Carmella aufgefordert hatte, sich zu setzen -, und Carmella setzte sich weniger, als dass sie auf dem Stuhl zusammenbrach. Der olivbraune Schimmer wich aus ihrem Gesicht. Auf einmal hatte sie das Portemonnaie ihres Sohnes in Dannys kleinen Händen entdeckt, doch als sie danach griff und fühlte, wie nass und kalt es war, wankte sie zurück und sank auf den Stuhl. Dominic eilte zu ihr und hielt sie fest, kniete sich neben sie, legte einen Arm um ihre Schultern, und Danny kniete spontan zu ihren Füßen nieder. Sie trug einen schwarzen Seidenrock und eine hübsche weiße Bluse - bald würde sie mit
Tränen benetzt sein -, und als sie in Dannys dunkle Augen schaute, sah sie wohl ihren Sohn, wie sie ihn in Erinnerung hatte, denn sie zog den Kopf des Jungen in ihren Schoß und hielt ihn fest, als wäre er ihr verschwundener Angelù. »Nicht Angelù!«, rief sie. Einer der Köche in der Küche schlug jetzt rhythmisch mit einem Holzlöffel auf einen Nudeltopf. Wie ein Echo rief er: »Nicht Angelù!« »Es tut mir so leid«, hörte Dan seinen Dad sagen. »Er ist ertrunken«, sagte der Junge von Carmellas Schoß aus; er spürte, wie sie seinen Kopf noch fester packte, und wieder sah er die nahe Zukunft vor sich. Solange er bei seinem Dad und Carmella Del Popolo wohnte, würde er ihr Ersatz-Angelù sein. (»Du kannst dem Jungen nicht vorwerfen, dass er wegwill, ins
Internat«, sollte Ketchum eines Tages seinem alten Freund schreiben. »Wirf es mir vor, wenn du willst, Cookie, aber nicht Danny.«) »Nicht ertrunken!«, übertönte Carmella den Krach aus der Küche. Danny hörte zwar nicht, was sein Vater der Verzweifelten ins Ohr flüsterte, er spürte aber, wie ihr Körper von Schluchzern geschüttelt wurde, und es gelang ihm, seinen Kopf auf ihrem Schoß leicht zu drehen - so dass er die Trauernden aus der Küche kommen sah. Ohne Töpfe, Pfannen oder Holzlöffel, sie brachten nur sich selbst mit, die Gesichter tränenüberströmt. (Das Gesicht von Paul, dem Pizzabäcker, war außerdem mit Mehl bepudert.) Doch Daniel Baciagalupo hatte seine Phantasie und musste gar nicht hören, was sein Dad in Carmellas Ohr flüsterte. Das Wort Unfall gehörte bestimmt dazu - schließlich lebten sie in einer Welt voller Unfälle, wie der Junge und sein Dad schon wussten.
»Das sind gute Menschen«, sagte der alte Polcari gerade; es klang wie ein Gebet. Später erst wurde Danny klar, dass Joe Polcari nicht gebetet, sondern über den Koch und seinen Sohn »ause dem Norden« gesprochen hatte. Und tatsächlich begleiteten der Junge und sein Vater schließlich Carmella nach Hause. (Dabei mussten die beiden sie stützen, sie war ein paarmal einer Ohnmacht nahe - aber sie war bestimmt fast fünfzig Kilo leichter als Jane, und Carmella lebte noch.) Doch bevor sie an diesem Nachmittag das Vicino di Napoli verließen - als sein Kopf noch auf dem Schoß der verzweifelten Mutter lag -, hatte Daniel Baciagalupo einen anderen Schriftstellertrick begriffen. Er beherrschte diesen Kniff bereits, würde ihn aber beim Schreiben erst etliche Jahre später anwenden. Schriftsteller müssen sich distanzieren können, müssen Abstand gewinnen von diesem oder jenem emotionalen Augenblick, und das konnte Danny schon, mit gerade mal zwölf.
Den Kopf fest in Carmellas warmem Griff, setzte sich der Junge ab, entfernte sich schlicht aus diesem Tableau. Als blickte er vom Pizzaofen aus auf die Szene oder, mit mindestens so viel Distanz zu den Trauernden, als stünde er in der Küche, auf der anderen Seite der Theke, sah Danny, wie sich die Belegschaff des Vicino di Napoli um die sitzende Carmella und seinen knienden Dad versammelt hatte. Der alte Polcari stand hinter Carmella, eine Hand auf ihren Nacken gelegt, die andere auf sein Herz. Sein Sohn Paul, der Pizzabäcker, stand mit gesenktem Kopf in seiner Mehlaura neben Carmella - in perfekter Symmetrie zu Dominic, der zu ihrer anderen Seite kniete. Die beiden jungen Kellnerinnen, die bei Carmella in die Lehre gingen, knieten auf dem Boden direkt hinter Danny, der - von der Küche aus - sich selbst sah, den Kopf in Carmellas Schoß vergraben. Der andere Koch - der Küchenchef oder Chefkoch Tony
Molinari - stand ein wenig abseits, den Arm um die schmalen Schultern des Jungen gelegt, der etwa in Angels Alter war. (Das war der Hilfskellner, wie Danny bald erfahren sollte, und Hilfskellner würde auch Dannys erster Job im Vicino di Napoli sein.) In genau diesem traurigen Augenblick betrachtete Daniel Baciagalupo das gesamte Tableau aus der Ferne. Wie viele andere junge Schriftsteller auch würde er am Anfang in der Ich-Perspektive schreiben, und der gequälte erste Satz eines seiner frühen Romane würde sich (teilweise) auf diese Beinahe-Pietä an jenem Aprilsonntag im Vicino di Napoli beziehen. In den Worten des Jungautors: »Ich wurde Mitglied einer Familie, mit der ich überhaupt nicht verwandt war - lange bevor ich auch nur annähernd genug über meine eigene Familie wusste oder über das Dilemma, mit dem sich mein Vater in meiner frühen Kindheit konfrontiert sah.«
»Baciagalupo muss weg«, hatte Ketchum ihnen geschrieben. »Für den Fall, dass Carl nach euch sucht, solltet ihr euren Nachnamen ändern, nur um sicherzugehen.« Doch Danny hatte sich geweigert. Daniel Baciagalupo war stolz auf seinen Namen, er empfand sogar einen gewissen rebellischen Stolz auf das, was ihm sein Vater über die Geschichte des Namens erzählt hatte. All die Jahre, in denen ihn die Kids in West Dummer einen Spaghettifresser oder Itaker genannt hatten, hatten in Dan das Gefühl geweckt, sich seinen Namen verdient zu haben; weshalb sollte er jetzt, in dem Italienerviertel North End, den Namen Baciagalupo ablegen? Außerdem würde der Cowboy, falls er kam, einen Dominic Baciagalupo suchen, keinen Daniel. Dominic empfand da anders. Für ihn war Baciagalupo immer ein erfundener Name gewesen. Schließlich hatte Nunzi ihn so getauft - er war ihr Kuss des Wolfes gewesen, obwohl der Name Saetta eigentlich logischer
gewesen wäre oder wenn ihn seine Mutter Capodilupo genannt hätte, und sei es auch nur, um seinen verantwortungslosen Vater zu beschämen (»diese nichtse-nutzige Arscheloche Gennaro«, wie der alte Joe Polcari den notorischen Charmeur und entlassenen Hilfskellner später einmal nannte, der Gott weiß wohin verschwunden war). Und Dominic standen ziemlich viele Nachnamen zur Auswahl. Jeder in Annunziatas riesiger Familie wollte, dass er ein Saetta wurde, während die zahllosen Nichten und Neffen Rosies - von der engeren Familie seiner verstorbenen Frau ganz zu schweigen - darauf bestanden, dass er ein Calogero wurde. In diese Falle tappte Dominic nicht; er begriff sofort, wie beleidigt die Saettas wären, wenn er den Namen Calogero annahm, und umgekehrt. Dominics Spitzname im Vicino di Napoli, wo man ihn beinahe sofort als Assistenten von Chefkoch Tony Molinari und Pizzabäcker Paul Polcari
einstellte, war Gambacorta (»kurzes Bein«, eine liebevolle Anspielung auf sein Hinken), was rasch zu Gamba (nur »Bein«) abgekürzt wurde. Aber Dominic befand, dass für sein Leben außerhalb des Restaurants weder Gambacorta noch Gamba ein angemessener Nachname waren - nicht für einen Koch. »Wie wär's mit Buonvino?«, schlug der alte Giuse Polcari vor. (Das hieß »guter Wein«, doch Dominic trank keinen Alkohol.) Buonopane (»gutes Brot«) war Tony Molinaris Vorschlag, während Paul Polcari, der Pizzabäcker, für Capobianco (»weißer Kopf«) plädierte, weil er selbst wegen des Mehls meist überall weiß war. Aber für einen Mann mit Dominics nüchternem Temperament waren diese Namen zu albern. Schon an ihrem ersten Abend im North End hätte Danny vorhersagen können, für welchen Nachnamen sich sein Dad entscheiden würde. Als Vater und Sohn die Witwe Del Popolo zu
ihrem Backstein-Mietshaus in der Charter Street begleiteten - Carmella wohnte in einer Dreizimmerwohnung in der Nähe des alten Badehauses und des Copps-Hill-Friedhofs, ohne Fahrstuhl, und heißes Wasser gab es nur, wenn sie es auf dem Gasherd erhitzte -, sah der junge Dan weit genug in die Zukunft seines Vaters, um zu erkennen, dass Dominic Baciagalupo rasch in die Fußstapfen des ertrunkenen Fischers treten würde. Zwar hatten sie nicht die gleiche Schuhgröße, doch Carmella sollte eines Tages zu ihrer Freude feststellen, dass Dominic die Kleidung ihres verblichenen Ehemanns tragen konnte - der Koch und der glücklose Fischer waren beide eher schmächtig, genau wie Danny, der bald Angels ehemalige Klamotten tragen sollte. Natürlich brauchten Vater und Sohn Stadtkleidung. Die Leute in Boston kleideten sich anders als die im Coos County. Danny Baciagalupo, der Ketchums Rat bezüglich Namensänderung (zunächst) nicht befolgte,
war nicht überrascht, als sein Dad Dominic Del Popolo wurde (schließlich war er ein Koch »des Volkes«) - wenn auch noch nicht an diesem ersten Abend im North End. In Carmellas Küche stand eine Badewanne. Sie war größer als der Küchentisch, um den sich bereits die erforderlichen drei Stühle gruppierten. Auf dem Gasherd standen zwei große Nudeltöpfe voll Wasser, das immer heiß war, aber nicht kochte. Zum Essenkochen benutzte Carmella ihre Küche selten. Das heiße Wasser auf dem Herd brauchte sie zum Baden. Für eine Frau, die in einer Mietwohnung mit kaltem Wasser wohnte, war sie ausgesprochen reinlich und duftete herrlich; nur mit Angels Hilfe hatte sie die Gasrechnung bezahlen können. Damals gab es für junge Männer in Angels Alter im North End nicht genug Arbeit, oder nur stundenweise. Junge Männer, die kräftig genug waren, fanden im Norden, in Maine und New Hampshire, eher eine feste
Ganztagsstelle, doch die Arbeit dort oben konnte gefährlich sein, wie der arme Angel erfahren musste. Danny und sein Dad saßen mit Carmella an dem kleinen Küchentisch. Sie weinte, und die beiden erzählten der schluchzenden Mutter Geschichten über ihren ertrunkenen Sohn; unweigerlich kamen sie dabei auch auf Ketchum zu sprechen. Als Carmellas Tränen vorübergehend versiegten, gingen die drei, da sie inzwischen hungrig waren, zurück ins Vicino di Napoli, wo es sonntags abends nur Pizza oder einfache Pastagerichte gab. (Damals war für die meisten Italiener am Sonntag das Mittagessen die Hauptmahlzeit.) Auch schloss das Restaurant an Sonntagabenden früh. Sobald die Gäste gegangen waren, bereiteten die Köche ein Essen für das Personal zu. An den meisten anderen Abenden hatte das Restaurant recht lange offen, und die Köche verpflegten sich und das Personal nachmittags, vor dem
Abendessen. Der alte Besitzer und Oberkellner hatte damit gerechnet, dass die drei zurückkamen. Man hatte vier der kleinen Tische zusammengeschoben, und es war bereits für sie gedeckt. Sie aßen und tranken wie bei einem Leichenschmaus, hielten nur inne, um zu weinen - alle außer Danny weinten - und um auf den toten Jungen anzustoßen, den sie alle geliebt hatten. Danny und sein Dad rührten allerdings keinen Tropfen Wein an. Immer wieder wurde das Ave Maria gebetet, häufig im Chor, auch wenn es weder einen offenen Sarg gab noch eine nächtliche Totenwache. Ketchum wisse, dass Angel Italiener war, hatte Dominic den Trauernden versichert; der Flößer habe mit den Frankokanadiern »etwas Katholisches« arrangiert. (Danny hatte seinen Dad schräg angesehen, weil sie beide wussten, dass der Holzfäller nichts dergleichen getan hatte. Ketchum hatte alles Katholische, die
Frankokanadier eingeschlossen, so weit wie möglich von Angel ferngehalten.) Es war recht spät, als Tony Molinari fragte, wo Dominic und Danny die Nacht verbringen würden; bestimmt wollten sie nicht den weiten Weg zurück nach New Hampshire fahren. Wie er Ketchum gesagt hatte, war Dominic kein Zocker - nicht mehr -, doch er vertraute diesen Leuten und sagte ihnen (zu seiner und Dannys Überraschung) die Wahrheit. »Wir können nie wieder zurück - wir sind auf der Flucht«, sagte Dominic. Jetzt war Danny an der Reihe zu weinen. Sofort trösteten die beiden jungen Kellnerinnen und Carmella den Jungen. »Keine Wort mehr, Dominic - wir brauchen nicht wissen, warum oder vor wem du wegläufst!«, rief der alte Polcari. »Bei uns biste du sischer.« »Das überrascht mich nicht, Dominic. Jeder kann sehen, dass du eine Schlägerei hattest«, sagte Paul, der Pizzabäcker, und tätschelte mit
seiner mehligen Hand mitfühlend die Schulter des Kochs. »Deine Lippe sieht wirklich übel aus - und blutet übrigens immer noch.« »Vielleicht muss sie genäht werden«, sagte Carmella ehrlich besorgt. Doch Dominic schüttelte nur den Kopf. Er schwieg, aber alle erkannten in dem schüchternen Lächeln des Kochs seine Dankbarkeit. (Danny hatte ihn wieder von der Seite angesehen, doch der Junge bezweifelte nicht, dass sein Vater gute Gründe hatte, die Herkunft seiner Lippenverletzung für sich zu behalten.Ihre Flucht hatte nichts mit dem fragwürdigen Charakter und dem anormalen Verhalten von Sixpack-Pam zu tun.) »Ihr könnt bei mir wohnen«, bot Tony Molinari Dominic an. »Sie wohnen bei mir«, sagte Carmella zu Molinari. »Ich habe ein leeres Zimmer.« Ihr Angebot war unanfechtbar, denn sie meinte Angels Zimmer. Allein die Erwähnung des
Zimmers ließ Carmella erneut in Tränen ausbrechen. Als Danny und sein Dad wieder mit ihr in die Kaltwasserwohnung in der Charter Street zurückgingen, wies sie ihnen das größere Bett zu - in ihrem Zimmer. Sie würde in dem Einzelbett im Zimmer ihres verstorbenen Angelù schlafen. Die beiden hörten, wie Carmella sich in den Schlaf weinte - besser gesagt, wie sie es versuchte. Als das Weinen auch nach langer Zeit nicht aufhörte, flüsterte Dan seinem Vater zu: »Vielleicht solltest du zu ihr gehen.« »Das wäre unangebracht, Daniel. Ihr Junge fehlt ihr - vielleicht solltest du zu ihr gehen.« Danny Baciagalupo ging in Angels Zimmer. Carmella streckte dem Jungen ihre Arme entgegen, und er legte sich neben sie auf das schmale Bett. »An-ge-lú«, flüsterte sie ihm ins Ohr, bis sie endlich einschlief. Danny traute sich nicht, wieder aufzustehen, aus Angst, sie zu wecken. Er lag in ihren Armen und roch
ihren guten, sauberen Duft, bis auch er einschlief. Für den Zwölfjährigen war es ein langer und brutaler Tag gewesen - vor allem in Anbetracht der dramatischen Ereignisse der vorangegangenen Nacht -, und Danny war fraglos müde. Trug nicht vielleicht auch die Art, wie er am Ende dieses Tages einschlief, dazu bei, dass Danny Schriftsteller wurde? Am Abend desselben Tages, an dem er die mindestens 140 Kilo schwere indianische Tellerwäscherin getötet hatte, die auch noch die Geliebte seines Vaters war, fand sich Daniel Baciagalupo in der warmen Umarmung der Witwe Del Popolo wieder, jener üppigen Frau, die im neuen Leben seines Vaters bald Indianer-Janes Stelle einnehmen sollte - in der traurigen, aber (einstweilen) nicht enden wollenden Geschichte seines Vaters. Eines Tages würde der Schriftsteller um die Bedeutung fast gleichzeitig stattfindender, miteinander verbundener, aber verschiedenartiger
Ereignisse wissen - sie sind es, die eine Geschichte vorantreiben -, doch in dem Augenblick, als Danny in Carmellas lieblich duftenden Armen in den Schlaf hinüberglitt, dachte der Junge nur: Kann das denn Zufall sein? (Er war zu jung, um zu wissen, dass es in einem halbwegs anständig geplanten Roman keine Zufälle gibt.) Vielleicht hatten allein schon die Fotos seiner toten Mutter aus Danny einen Schriftsteller gemacht. Er hatte nur einige wenige aus dem Kochhaus in Twisted River mitnehmen können, und ihm würden auch die Bücher fehlen, in denen er ihre Fotos zwischen den Seiten aufbewahrte - besonders die Romane mit den Stellen, die Rosie unterstrichen hatte. Dank dieser Stellen konnte der Junge sich seine Mutter besser vorstellen, zusätzlich zu den Fotos. Und wenn er versuchte, sich an die im Norden zurückgelassenen Bilder zu erinnern, dann war das eine weitere Spielart davon, sich seine Mutter vorzustellen.
Nur wenige der Fotos, die er mit nach Boston gebracht hatte, waren Farbfotos, und sein Dad hatte Danny gesagt, die Schwarzweißbilder brächten das »tödliche Blau ihrer Augen«, wie Dominic es nannte, »unverfälschter« rüber. (Wieso »tödlich«?, fragte sich der spätere Schriftsteller. Und wie konnten die Schwarzweißfotos die blauen Augen seiner Mutter »unverfälschter« darstellen als die anderen mit ihren Kodak-Farben?) Rosie hatte dunkelbraunes, fast schwarzes Haar, aber eine erstaunlich helle Haut gehabt, dazu zarte, wie gemeißelte Gesichtszüge, die sie noch zierlicher wirken ließen, als sie ohnehin schon war. Als Danny dann all die Calogeros kennenlernte, darunter die jüngeren Schwestern seiner Mutter, stellte er fest, dass zwei seiner Tanten klein und hübsch waren, wie seine Mutter auf den Fotos, und die jüngste von ihnen, Filomena, ebenfalls blaue Augen hatte. Er konnte nicht anders, als sie ständig anzusehen - sie musste etwa so alt sein
wie seine Mutter bei ihrem Tod (Mitte bis Ende zwanzig, schätzte Danny). Doch ihm fiel auch auf, dass sein Vater dann stets darauf hinwies, Filomenas Augen hätten nicht das gleiche Blau wie die seiner Mom. (Vielleicht nicht tödlich genug, vermutete der Junge.) Danny fiel zudem auf, dass sein Dad kaum mit Filomena sprach. Dominic war ihr gegenüber fast unhöflich, er ignorierte sie geflissentlich und machte ihr nie Komplimente über ihre Kleidung. War es sein Schriftstellerblick, der Daniel Baciagalupo solche bezeichnenden Details bemerken ließ? Sah der Junge bereits so etwas wie ein sich herausbildendes Muster darin, dass sich sein Vater nacheinander zu IndianerJane und Carmella Del Popolo hingezogen fühlte - beides füllige Frauen mit dunklen Augen, also ein Gegensatz zu Rosie Calogero, wie ihn sich der Zwölfjährige größer nicht vorstellen konnte? Denn wenn Rosie für seinen Dad tatsächlich die Liebe seines Lebens
war, könnte es nicht sein, dass Dominic sich bewusst den Kontakt zu jeder Frau versagte, die ihr auch nur ein wenig ähnlich sah? Tatsächlich sollte Ketchum dem Koch eines Tages vorwerfen, Rosie unnatürlich treu geblieben zu sein, indem er sich immer nur Frauen ausgesucht habe, die ihr übertrieben unähnlich sahen. Offenbar hatte Danny Ketchum von Carmella geschrieben und erwähnt, dass sie üppig war, denn der Koch hatte in seinen Briefen an seinen alten Freund mit Bedacht weder die Figur seiner neuen Freundin noch deren Augenfarbe erwähnt. Dominic schrieb Ketchum fast nichts über Angels Mutter und seine aufkeimende Beziehung zu ihr. Auf Ketchums vorwurfsvollen Brief reagierte Dominic nicht einmal, doch ihn ärgerte die Kritik des Holzfällers an seinem angeblichen Frauengeschmack. Damals war Ketchum noch mit Sixpack-Pam zusammen - apropos Frauen, die das Gegenteil von Nicht-ganz-Cousine
Rosie waren! Wollte er sich an Pam erinnern, so musste Dominic nur einen Blick in den Spiegel werfen; die Narbe auf seiner Unterlippe war auch lange nach Sixpacks Attacke noch sichtbar. Dass Ketchum und Sixpack recht lange ein Paar blieben, erstaunte Dominic Del Popolo, vormals Baciagalupo. Doch sie blieben einige Jahre länger zusammen, als Dominic mit Indianer-Jane zusammen gewesen war - sogar etwas länger als der Koch mit Carmella Del Popolo, Angels fülliger, aber zauberhafter Mom. Als Vater und Sohn an ihrem ersten Morgen in Boston erwachten, war aus der kleinen Küche das aufreizende Geplätscher von Carmellas morgendlichem Bad zu hören. Aus Respekt vor ihrer Privatsphäre blieben Dominic und Danny in ihren Betten liegen, während Carmella ihre verführerisch klingenden
Waschungen vornahm; die beiden konnten nicht ahnen, dass sie einen dritten und einen vierten Topf mit Wasser auf den Herd gestellt hatte, es kochte schon fast. »Hier gibt's jede Menge heißes Wasser!«, rief sie aus der Küche. »Wer will als Nächster baden?« Weil er sich schon überlegt hatte, ob er wohl, wenn auch knapp, mit Carmella Del Popolo in die große Wanne passen würde, schlug der Koch etwas unsensibel vor, er und Daniel könnten sich ein Bad teilen - er meinte dasselbe Badewasser -, eine Vorstellung, die der Zwölfjährige abstoßend fand. »Nein, Dad!«, widersprach der Junge energisch von dem schmalen Bett in Angels Zimmer aus. Sie hörten, wie Carmella schwer und tropfend aus der Wanne stieg. »Ich kenne mich mit Jungs in Dannys Alter aus - sie brauchen ihre Privatsphäre!«, sagte sie. Ja, dachte Dan - ohne zu ahnen, dass er bald noch viel mehr Privatsphäre und Abstand von
seinem Dad und Carmella brauchen sollte. Sie würden zwar nicht lange gemeinsam im Kaltwasserapartment in der Charter Street mit der großen Badewanne in der kleinen Küche und dem aberwitzig kleinen (mit einem Vorhang statt einer Tür abgeteilten) Klosett wohnen - die sogenannte Toilette enthielt nur eine WC-Schüssel und ein winziges Waschbecken, über dem ein Spiegel hing. Aber die Wohnung, die sie danach bezogen, war kaum größer und bot auch nicht annähernd genug Privatsphäre für den Teenager Daniel Baciagalupo - dafür aber immerhin auch fließend heißes Wasser. Das Mietshaus, ebenfalls ohne Fahrstuhl, lag an dem späteren Wesley Place - gleich beim Caffe Vittoria -, und die Wohnung hatte nicht nur zwei Schlafzimmer, sondern auch ein großes Bad mit einer Wanne und einer Dusche (und einer richtigen Tür) und eine Küche mit genug Platz für einen Tisch samt sechs Stühlen.
Doch die Schlafzimmer lagen direkt nebeneinander; im North End gab es nichts Erschwingliches, was annähernd so geräumig gewesen wäre wie der erste Stock des Kochhauses in Twisted River. Und Danny war schon zu alt, um zu überhören, wie sein Vater und Carmella sich beim Liebesspiel bemühten, leise zu sein - erst recht, nachdem der Junge mit der blühenden Phantasie gehört und gesehen hatte, wie es sein Dad und IndianerJane trieben. Der Koch, Carmella und Danny, der sich zunehmend bewusst wurde, dass er als ErsatzAngel diente, hatten eine annehmbare Form des Zusammenlebens gefunden, die aber nicht von Dauer sein würde. Für den Jugendlichen sollte bald die Zeit kommen, da er zu seinem Dad ein wenig auf Distanz gehen musste - und als Danny älter wurde, fühlte er sich wegen eines anderen Problems noch unwohler. Hatte
ihm
früher
ein
präsexueller
Erregungszustand zu schaffen gemacht, der zunächst durch Jane und dann durch SixpackPam hervorgerufen worden war, so plagte den Teenager nun sein unstillbares Verlangen nach Carmella Del Popolo - die »Ersatz-Indianerin« seines Dads, wie Ketchum sie nannte. Dass Danny sich zu Carmella hingezogen fühlte, war ein quälenderes Problem als die fehlende Privatsphäre. »Du musst da weg«, schrieb Ketchum dem Jungen, obwohl Danny sein Leben im North End wirklich gefiel. Ja er war regelrecht begeistert davon, besonders verglichen mit seinem früheren Leben in Twisted River und ganz besonders mit der Schule der Paris Manufacturing Company. Auf der Michelangelo School gab man wenig auf die Bildung, die Danny Baciagalupo unter den Nichtsnutzen am Phillips Brook erworben hatte - diesen West-Dummer-Dödeln, wie Ketchum sie nannte. Die Schulleitung der
Mickey ließ Danny eine Klasse wiederholen; er war ein Jahr älter als die meisten seiner Klassenkameraden. Als der zukünftige Schriftsteller in der siebten Klasse seinem Englischlehrer Mr. Leary von Ketchums Idee mit dem Internat in Exeter erzählte, hielt dieser Danny Baciagalupo bereits für einen seiner allerbesten Schüler. In der achten Klasse war Danny dann mit Abstand Mr. Learys Lieblingsschüler. Etliche von Mr. Learys ehemaligen Schülern hatten nach der Mickey die renommierte Boston Latin School besucht. Ein paar waren auf die Roxbury Latin gegangen - eine etwas versnobte Anglo-Schule, wie der alte Ire fand. Zwei von Mr. Learys Ehemaligen waren auf die Milton gegangen, einer nach Andover, doch noch nie war einer von Mr. Learys Englischschülern in Exeter gewesen. Exeter lag weiter von Boston entfernt als die anderen guten Schulen, und Mr. Leary wusste, dass es eine sehr gute Schule war. Wäre das nicht ein
Erfolg für Mr. Leary, wenn man Daniel Baciagalupo in Exeter aufnehmen würde? Außer Danny machten sich die meisten Schüler der siebten und achten Klassen in der Mickey über Mr. Leary lustig. Der Junge hielt sich raus, wenn sein Lehrer verspottet wurde, da ihn diese und andere, schlimmere Schikanen an seine Erlebnisse auf der Schule in Paris erinnerten. Mr. Leary hatte vom Trinken ein rotes Gesicht und eine Nase, die aussah wie eine Kartoffel, die angebliche Lieblingsspeise seiner irischen Landsleute. Über seinen Ohren wuchsen wirre weiße Haarbüschel, wie Fell, doch davon abgesehen war Mr. Leary kahl - und oben auf dem Schädel hatte er eine ausgeprägte Delle. Er sah aus wie eine teilweise gerupfte Eule. »Als Kind«, erzählte Mr. Leary seinen Schülern, »hat man mir ein großes Wörterbuch auf den Kopf geschlagen, woher zweifellos meine innige Liebe zu Wörtern rührt.«
Die Schüler der siebten wie der achten Klasse nannten ihn »O«, da Mr. Leary das O' aus seinem Namen gestrichen hatte. Diese rüpelhaften Jungs schrieben zahllose O's an die Tafel, wenn Mr. Leary nicht im Klassenzimmer war. »O!«, riefen sie laut, aber nur hinter seinem Rücken. Warum das den ehemaligen Mr. O'Leary so quälte, verstand Danny nicht, auch störte ihn das fallen gelassene O' nicht sonderlich. (Man musste nur an Angel denken und an all das, was er aus seinem Namen gestrichen hatte. Glaubten diese Italienerkinder etwa, dass nur Iren gelegentlich versuchten, ihre Herkunft zu kaschieren?) Doch Mr. Leary hielt Daniel Baciagalupo vor allem deshalb für einen so ausgezeichneten Schüler, weil der Junge so gern schrieb. Und er schrieb und schrieb. In den siebten und achten Klassen der Mickey hatte Mr. Leary so
etwas noch nie erlebt. Der Junge schrieb wie besessen - oder wenigstens wie versessen. Klar, worüber Danny schrieb, verstörte Mr. Leary nicht selten, doch seine Geschichten von denen viele weit hergeholt waren, die meisten Gewalt und alle übermäßig viel Sex enthielten, was sich für sein Alter keineswegs geziemte - waren ausnahmslos gut geschrieben und anschaulich. Der Junge war ein geborener Geschichtenerzähler; Mr. Leary wollte ihm einfach nur helfen, die Grammatik und das restliche Handwerk des Schreibens zu meistern. In Exeter, so hatte Mr. Leary gehört, war man in Sachen Grammatik äußerst pingelig. Man legte dort besonders großen Wert auf Praxis - jeden Tag musste man über irgendetwas schreiben. Als Mr. Leary an die Zulassungsstelle in Exeter schrieb, erwähnte er nicht, welche Themen Dan in seinen Schreibversuchen behandelte. Exeter interessierte sich ohnehin
kaum für das sogenannte »kreative Schreiben«. Mr. Leary nahm an, dass man dort dem Essay höchste Priorität einräumte. Die Michelangelo School, an der Daniel Baciagalupo ein so herausragender Schüler war, liege in einem Viertel, wo hauptsächlich Italoamerikaner wohnten. (Mr. Leary achtete darauf, nicht das Wort Einwanderer zu verwenden, obwohl er das natürlich meinte.) Diese Leute neigten zu Faulheit und Übertreibung, wollte Mr. Leary Exeter vermitteln. Der junge Baciagalupo aber sei »anders als die anderen«. Wenn man diesen Italienern Glauben schenkte, so deutete Mr. Leary an, dann hatten sie alle mit Ratten (und anderem ekligem Ungeziefer) im Zwischendeck der Schiffe gehaust, die sie nach Amerika brachten, und waren allesamt Waisen oder sonst mutterseelenallein angekommen, mit nichts als ein paar jämmerlichen Lire in der Tasche. Und auch wenn viele der jungen Mädchen hübsch waren,
wurden sie als Frauen durchweg entsetzlich dick, weil sie zu viel Pasta aßen und ihren Appetit nicht zügelten. Letzteres, vermutete Mr. Leary, beschränkte sich nicht nur aufs Essen. Um ehrlich zu sein, diese Italiener waren nicht so fleißig wie frühere Einwanderer - die Iren. Mr. Leary teilte das den Zulassungsleuten in Exeter zwar nicht direkt mit, aber er ließ einige seiner Vorurteile durchscheinen, derweil er ein Loblied auf Daniel Baciagalupos Talente und seinen Charakter anstimmte und auch kurz die »Schwierigkeiten« erwähnte, mit denen der Junge »zu Hause« konfrontiert sei und fertig werden müsse. Es gebe einen alleinerziehenden Vater - »einen nicht sehr mitteilsamen Koch«, wie ihn Mr. Leary charakterisierte. Dieser Koch lebe mit einer Frau zusammen, laut Mr. Leary einer »Witwe, die eine Reihe von Schicksalsschlägen hinnehmen musste«; kurzum, wenn es je einen würdigen
Kandidaten für den beneidenswerten Status eines Vollstipendiaten gegeben habe, dann sei es Daniel Baciagalupo! Der raffinierte Mr. Leary war sich seiner Vorurteile nicht nur bewusst, er teilte sie Exeter auch bewusst mit. Ihm war daran gelegen, Bostons North End als eine Gegend darzustellen, aus der man Danny retten müsse. Mr. Leary wollte jemanden aus Exeter dazu bringen, vorbeizukommen und sich die Michelangelo School anzusehen selbst wenn dann offenbar würde, mit wie wenig Respekt man Mr. Leary dort behandelte. Wenn nämlich ein Mensch von der Stipendienkommission Daniel Baciagalupo in Gesellschaft dieser ungezogenen Jungen von der Mickey sah - und, was genauso wichtig war, den angehenden Schriftsteller in dem lauten, volkstümlichen Restaurant erlebte, in dem der Vater des Jungen und die tragische Witwe arbeiteten -, tja, dann ließe sich schlicht nicht übersehen, wie sehr Danny Baciagalupo aus seinem Umfeld herausstach. Und der
Junge stach heraus, doch Danny hätte überall herausgestochen, nicht nur im North End, aber das schrieb Mr. Leary nicht. Wie sich herausstellte, hatte er genug geschrieben. Sein Brief hatte die erwünschte Wirkung. »Unfassbar, dieser Kerl!«, rief vermutlich der Erste im Sekretariat von Exeter, der den Brief las (gemeint war Mr. Leary mit seinen zahlreichen Vorurteilen). Der Brief wurde an den nächsten Leser weitergereicht. Höchstwahrscheinlich lasen ihn jede Menge Menschen in Exeter, darunter auch genau der »Stipendiumsmensch«, auf den Mr. Leary es von Anfang an abgesehen hatte. Und dieser Mensch sagte zweifellos: »Das muss ich mir ansehen«, womit er nicht nur die Mickey und Mr. Leary meinte, sondern auch die Lebensumstände des unterprivilegierten Italoamerikaners Daniel Baciagalupo. Es gab noch viel mehr, was Mr. Leary nicht geschrieben hatte. Warum sollte man Exeter
mit der übersteigerten Phantasie des Jungen behelligen? Was war doch gleich dem Vater in einer dieser Geschichten widerfahren? Ein Bär hatte seinen Fuß gefressen - ihn für immer verkrüppelt -, doch irgendwie war es dem verstümmelten Mann gelungen, das Tier mit einer Bratpfanne in die Flucht zu schlagen! Und derselbe verkrüppelte Mann hatte seine Frau bei einem Squaredance-Unfall verloren. Es hatte im Freien auf einem Schiffssteg einen Squaredance gegeben, der Steg war eingestürzt, und sämtliche Tänzer waren ertrunken. Und der Mann, dessen Fuß vom Bären gefressen worden war, hatte überlebt, weil er nicht tanzen konnte! (Er beobachtete den Tanz nur aus der Ferne, wenn Mr. Learys Gedächtnis ihn nicht trog - das war alles völlig grotesk, aber gut geschrieben, wirklich gut geschrieben.) Es gab sogar einen Freund dieser fiktiven Familie, dem ein korrupter Polizist einen Hirnschaden zugefügt hatte. Das Opfer war ein
untypischer Holzfäller - »untypisch«, wie Mr. Leary fand, weil der Holzfäller als begeisterter Leser geschildert wurde. Und was noch unwahrscheinlicher war, der Polizist hatte ihn so übel zusammengeschlagen, dass der Mann das Lesen verlernt hatte! Und dann die Frauen in Daniel Baciagalupos Geschichten - Gott im Himmel, steh mir bei!, dachte Mr. Leary. Es gab da eine Indianerin aus einem dortigen Stamm - die Geschichte mit dem verkrüppelten Mann spielte in der Pampa, oben im Norden von New Hampshire, und es kam ein Tanzsaal vor, in dem nicht getanzt wurde. (Also wirklich, hatte Mr. Leary bei der Lektüre gedacht, wozu sollte das denn gut sein?) Doch die Geschichte war wie immer toll geschrieben, und die Indianerin wog 150 oder 180 Kilo, und ihre Haare reichten ihr bis über die Taille, was dazu führte, dass ein geistig zurückgebliebener Junge (der Sohn des Bärenopfers) auch die Indianerin für einen Bären hielt! Der unglückselige Schwachkopf
glaubte sogar, derselbe Bär sei zurückgekommen, um auch den Rest seines Dads zu fressen, dabei hatte die Indianerin in Wirklichkeit Sex mit dem Krüppel - und zwar in der Reiterstellung, jedenfalls musste Mr. Leary das annehmen. Doch als der Lehrer darüber eine Bemerkung machte (»Offenbar befand sich die Indianerin in der - äh - Reiterstellung«), sah ihn Danny Baciagalupo verständnislos an. Der junge Schriftsteller wusste nicht, was Mr. Leary meinte. »Nein, sie war einfach nur oben«, hatte Danny geantwortet. Der Lehrer hatte bewundernd gelächelt. In seinen Augen war Daniel Baciagalupo ein Rohdiamant, ein zukünftiges Genie; der Wunderknabe konnte einfach nichts verkehrt machen. Doch was mit der übergewichtigen Indianerin geschah, war grauenhaft. Der geistig behinderte Junge hatte sie erschlagen, und
zwar mit genau derselben Bratpfanne, die sein Vater als Waffe gegen den Bären verwendet hatte! Vor allem bei der Schilderung der nackten, toten Indianerin und wie sie tot dagelegen hatte, war der junge Baciagalupo auf der Höhe seiner Beschreibungskunst. Rasch hatte der umsichtige Vater ihr entblößtes Geschlecht mit einem Kissen bedeckt - vielleicht, um seinem verstörten Sohn ein weiteres Missverständnis zu ersparen. Doch der Junge hatte bereits mehr gesehen, als seine begrenzte Intelligenz verarbeiten konnte. Noch jahrelang verfolgte ihn das Bild der riesigen Brüste der Toten, die schlaff in ihre Achselhöhlen gesackt waren. Woher nahm der Kleine nur immer wieder solche Details!, fragte sich Mr. Leary. (Auch Mr. Leary ließ die nackte, tote Indianerin nun keine Ruhe mehr.) Doch warum sollte man Exeter mit diesen fragwürdigen Elementen von Dannys Phantasie verschrecken, die schon Mr. Leary
alarmierten? Solche extremen Details waren nichts weiter als Taktlosigkeiten, denen ein reiferer Schriftsteller eines Tages entwachsen würde. Beispielsweise die Frau, die ein Männerflanellhemd trug, aber keinen bh - sie missbrauchte den geistig zurückgebliebenen Jungen, nachdem sie ein ganzes Sechserpack Bier getrunken hatte! Weshalb sollte Exeter von dieser Figur erfahren? (Mr. Leary wünschte, er könnte sie vergessen.) Oder die Frau in einem der Mietshäuser mit kaltem Wasser in der Charter Street, unweit von dem Badehaus und dem Copps-Hill-Friedhof - Mr. Leary erinnerte sich, dass auch sie ziemlich große Brüste hatte. Das war eine andere Baciagalupo-Geschichte, und die Frau aus der Charter Street wurde als Stiefmutter des geistig behinderten Jungen bezeichnet, des Jungen aus der früheren Geschichte. Doch jetzt wurde er nicht mehr als geistig behindert bezeichnet. (In der neuen Geschichte hieß es, der Junge sei »schlicht und einfach versehrt«.)
Der Vater mit dem aufgefressenen Fuß hatte verwirrende Träume - sowohl von dem Bären als auch von der erschlagenen Indianerin. Angesichts der üppigen Formen der Stiefmutter des Versehrten Jungen hegte Mr. Leary den Verdacht, dass der Vater sich ganz besonders zu übergewichtigen Frauen hingezogen fühlte; natürlich war es sehr gut möglich, dass der junge angehende Schriftsteller vollschlanke Frauen verführerisch fand. (Allmählich spürte Mr. Leary den ungebetenen Reiz solcher Frauen am eigenen Leib.) Und die Stiefmutter war Italienerin, was geradezu einer Aufforderung an Mr. Leary gleichkam, seinen Vorurteilen freien Lauf zu lassen. Er suchte bei der Frau nach Zeichen von Faulheit und Übertreibung und stieß (zu seiner ungeheuren Zufriedenheit) auf ein perfektes Beispiel für den obenerwähnten »zügellosen Appetit«, den Mr. Leary Italienerinnen schon lange vorwarf: Die Frau
badete hemmungslos. Sie war dem Baden so verfallen, dass in ihrer Kaltwasserwohnung eine übergroße Badewanne stand, und zwar im Mittelpunkt der viel zu kleinen Küche, in der permanent vier mit Wasser gefüllte Nudeltöpfe köchelten - das Badewasser erhitzte die Frau auf dem Gasherd. Der Standort der Wanne sorgte für Probleme mit der Privatsphäre: Der Versehrte Stiefsohn der hemmungslosen Frau hatte in seine Zimmertür, die zur Küche hin aufging, ein Loch gebohrt. Welche weiteren Versehrungen es hinterließ, wenn der Junge seine nackte Stiefmutter ausspionierte - nun, das konnte sich Mr. Leary nur ausmalen! Und was den Ideenreichtum des jungen Baciagalupo bei Details anging: Als sich die wollüstige Frau die Achseln rasierte, ließ sie in einer Achselhöhle ein kleines, spatenförmiges Haarbüschel stehen, »wie der akkurat gestutzte Ziegenbart eines Fauns«,
hatte Dan geschrieben. »In welcher Achselhöhle?«, hatte Mr. Leary den angehenden Schriftsteller gefragt. »In der linken«, antwortete Danny, ohne einen Moment zu zögern. »Warum in der linken und nicht in der rechten?«, fragte der Englischlehrer. Der Junge sah nachdenklich drein, als rufe er sich eine ziemlich komplizierte Folge von Ereignissen in Erinnerung. »Sie ist Rechtshänderin«, antwortete Danny. »Mit der linken Hand kann sie nicht so geschickt mit dem Rasierer umgehen. Die rechte Achselhöhle rasiert sie mit der linken Hand«, erklärte er dem Lehrer. »Auch das sind hervorragende Details«, sagte Mr. Leary. »Ich finde, du solltest sie in der Geschichte unterbringen.« »Okay, wird erledigt«, sagte Dan. Er mochte
Mr. Leary und bemühte sich nach Kräften, den Englischlehrer vor den Schikanen der anderen Jungs zu beschützen. Die anderen Jungs ließen Danny in Ruhe. Klar gab es auf der Mickey auch Quälgeister, aber die waren nicht so rüde wie die an der Schule in Paris. Wenn sich im North End irgendein Rüpel mit Danny Baciagalupo anlegte, musste der nur seinen älteren Cousins Bescheid sagen. Dann wurde der Quälgeist von einem Calogero oder Saetta nach Strich und Faden verdroschen; die älteren Cousins hätten selbst die West-Dummer-Dödel verdreschen können. Was Danny schrieb, zeigte er einzig und allein Mr. Leary. Natürlich schrieb der Junge ausführliche Briefe an Ketchum, doch darin standen keine ausgedachten Geschichten. Niemand, der noch ganz bei Trost war, würde sich eine Geschichte ausdenken und versuchen, sie Ketchum unterzujubeln. Außerdem wollte Dan Ketchum vor allem sein
Herz ausschütten. Viele Briefe an ihn begannen mit dem Halbsatz: »Du weißt, wie sehr ich meinen Dad liebe, ja wirklich, aber...«, und so weiter. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm: Der Koch hatte seinem Sohn Dinge verheimlicht, und Danny war jetzt (besonders in der siebten und achten Klasse) alt genug, um selbst Dinge zu verheimlichen. Er war dreizehn zu Beginn der siebten Klasse, als er Mr. Leary kennenlernte; am Ende der achten Klasse war der junge Baciagalupo fünfzehn. Er war vierzehn und fünfzehn zu der Zeit, als er seinem Englischlehrer die Geschichten zeigte, die er sich immer zwanghafter ausdachte. Trotz Mr. Learys Bedenken, was die Themen also vor allem die sexuellen - betraf, fand der kluge irische Uhu für seinen Lieblingsschüler immer nur lobende Worte. Der junge Baciagalupo würde Schriftsteller werden, daran gab es für Mr. Leary überhaupt keinen
Zweifel. In Sachen Exeter drückte der Englischlehrer weiter die Daumen. Falls man den Jungen aufnahm, sagte sich Mr. Leary, wäre die Schule hoffentlich streng genug, um ihn vor den unappetitlicheren Auswüchsen seiner Phantasie zu retten. In Exeter war das Erlernen des Schreibhandwerks vielleicht so anstrengend und zeitaufwendig, dass aus Danny ein intellektuellerer Schriftsteller würde. (Doch was genau hieß das? Ein weniger kreativer Autor?) Mr. Leary wusste selbst nicht recht, was seine rätselhafte Theorie bedeutete (wenn Danny ein intellektuellerer Autor würde, machte ihn das vielleicht zu einem weniger kreativen Schriftsteller), falls das wirklich seine Theorie war, aber die Absichten des Lehrers waren gut. Mr. Leary wollte für den jungen Baciagalupo nur das Beste, und obwohl er nie auch nur ein Wort kritisiert hätte, das Dan geschrieben
hatte, lehnte sich der alte Englischlehrer einmal doch weit aus dem Fenster und machte einen gewagten Vorschlag. (Nun, so gewagt war der Vorschlag gar nicht, er kam Mr. Leary nur so vor.) Zufällig war das kurz vor der Schlammperiode in Dannys achtem Schuljahr, also im März 1957, als der Junge gerade erst 15 geworden war und wie sein Lehrer auf Nachricht aus Exeter wartete. Dass Mr. Leary den obenerwähnten »gewagten Vorschlag« machte, brachte Daniel Baciagalupo Jahre später dazu, eine eigene Version von Ketchums häufigem Ausruf niederzuschreiben. »Anscheinend passiert der ganze Scheiß immer in der Schlammperiode!«, beschwerte sich Ketchum regelmäßig, wogegen die Tatsache zu sprechen schien, dass der Koch und seine geliebte Cousine Rosie in der Schlammperiode geheiratet hatten und Dan kurz zuvor geboren worden war. (Natürlich gab es in Boston keine richtige Schlammperiode.)
»Danny?«, fragte Mr. Leary zögernd, fast so, als frage er sich, ob der Junge wirklich so hieß. »Später einmal, als Schriftsteller, solltest du dir eventuell ein Pseudonym überlegen.« »Ein was?«, fragte der Fünfzehnjährige. »Einen Künstlernamen. Manche Schriftsteller suchen sich einen eigenen Namen aus, statt unter ihrem echten Namen zu veröffentlichen. Das entsprechende Fremdwort heißt Pseudonym«, erklärte der Lehrer. Mr. Leary schlug das Herz bis zum Hals, denn der junge Baciagalupo wirkte, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen. »Baciagalupo muss weg, meinen Sie das?«, sagte Danny. »Es ist nur so, dass sich andere Namen leichter aussprechen und merken lassen«, teilte Mr. Leary seinem Lieblingsschüler mit. »Ich dachte mir, da ja dein Vater seinen Namen geändert hat - die Witwe Del Popolo ist
schließlich keine Baciagalupo geworden, oder? -, also, da dachte ich mir lediglich, du würdest vielleicht auch nicht so schrecklich an dem Namen Baciagalupo hängen.« »Ich hänge sehr daran«, sagte Danny. »Ja, das merke ich gerade - dann halte unbedingt an dem Namen fest!«, sagte Mr. Leary mit Nachdruck. (Er fühlte sich furchtbar; er hatte den Jungen nicht beleidigen wollen.) »Ich finde, Daniel Baciagalupo ist ein guter Name für einen Schriftsteller«, beschied der resolute Fünfzehnjährige seinem Lehrer. »Werden sich meine Leser nicht die Mühe machen, sich meinen Namen zu merken, wenn ich gute Bücher schreibe?« »Selbstverständlich, Danny!«, rief Mr. Leary. »Das mit dem Pseudonym tut mir leid, es war wirklich unsensibel von mir.« »Ist schon in Ordnung - ich weiß ja, dass Sie
mir nur helfen wollen«, meinte der Junge. »Wir müssten jetzt eigentlich jeden Augenblick etwas von Exeter hören«, sagte Mr. Leary hastig. Er wollte unbedingt das Thema wechseln und das Pseudonymdebakel hinter sich lassen. »Hoffentlich«, sagte Danny Baciagalupo ernst. Dan schaute wieder nachdenklicher drein, die finstere Miene war wie weggewischt. Mr. Leary, der aufgewühlt war, weil er seine Grenzen überschritten hatte, wusste, dass der Junge fast jeden Nachmittag nach der Schule im Vicino di Napoli arbeitete. Der wohlmeinende Englischlehrer ließ Danny ziehen. Wie so oft machte Mr. Leary nach dem Unterricht einige Besorgungen im Viertel. Er wohnte immer noch in der Gegend um die Northeastern University, wo er studiert und seine Frau kennengelernt hatte. Jeden Morgen
nahm er die U-Bahn bis zur Station Haymarket und nachmittags wieder nach Hause, doch seine wenigen Einkäufe tätigte er im North End. Er unterrichtete schon so lange an der Michelangelo School, dass ihn praktisch alle im Viertel kannten; er hatte sie oder ihre Kinder unterrichtet. Dass sie sich über ihn lustig machten - schließlich war er Ire -, hieß nicht, dass sie Mr. Leary nicht mochten, seine Verschrobenheiten amüsierten sie. Am Nachmittag seines nicht gut aufgenommenen »gewagten Vorschlags« machte Mr. Leary im Garten der St. Leonard Church halt, wo er sich wieder über das fehlende 's ärgerte - die Kirche müsste, fand der alte Englischlehrer, richtigerweise St. Leonard's Church heißen. Mr. Leary ging zum Beichten in die St. Stephen's, dort war das 's da, wo es hingehörte. St. Stephen's gefiel ihm einfach besser, es war dort einfach mehr wie in anderen katholischen Kirchen. St. Leonard war irgendwie italienischer - sogar das vertraute
Gebet im Kirchengarten hatte man ins Italienische übertragen »Ora sono qui. Preghiamo insieme. Dio ti aiuta.« (»Jetzt bin ich da. Lasset uns gemeinsam beten. Gott wird dir helfen.«) Mr. Leary betete, Gott möge Daniel Baciagalupo helfen, ein Vollstipendium für Exeter zu bekommen. Es gab noch etwas, was er an St. Leonard nie gemocht hatte, dachte Mr. Leary, als er den Garten verließ. Er hatte die Kirche nicht betreten; im Kircheninneren stand San Peregrine, ein Gipsheiliger, der einen Verband um das rechte Bein hatte. Mr. Leary fand die Statue abgeschmackt. Und noch etwas gefiel ihm an St. Stephen's besser, dachte sich der alte Ire, nämlich dass die Kirche gegenüber vom Prado stand, wo sich die älteren Herren bei gutem Wetter zum Damespielen trafen. Gelegentlich machte Mr. Leary halt und spielte auch eine Partie. Einige der alten Burschen waren richtig gut, aber über
die, die nicht Englisch gelernt hatten, ärgerte sich Mr. Leary; nicht Englisch zu lernen war für seinen Geschmack entweder nicht amerikanisch genug oder zu italienisch. Ein ehemaliger Schüler, der inzwischen bei der Feuerwehr arbeitete, rief dem alten Lehrer vor der Feuerwache an der Ecke Hanover und Charter Street etwas zu, und Mr. Leary blieb stehen, um mit dem kräftigen Kerl ein paar Worte zu wechseln. In keiner bestimmten Reihenfolge holte sich Mr. Leary dann in Barone's Pharmacy ein Medikament ab und schaute in derselben Straße in dem Schallplattenladen Tosti's vorbei, wo er sich gelegentlich ein neues Album kaufte. Wenn Mr. Leary eine italienische »Schwäche« hatte, dann waren es Opern; allerdings muss man fairerweise sagen, dass er auch den Espresso im Caffe Vittoria schätzte und den sizilianischen Hackbraten, den Danny Baciagalupos Dad im Vicino di Napoli zubereitete.
Mr. Leary erstand eine Kleinigkeit in der Konditorei Modern an der Hanover Street. Er kaufte einige Cannoli, die er für sein Frühstück mit nach Hause nahm - die Teigrollen waren mit gesüßtem Ricotta, Nüssen und kandierten Früchten gefüllt. Mr. Leary musste zugeben, dass er auch für diese italienischen Köstlichkeiten eine Schwäche hatte. Es behagte ihm nicht, die Hanover Street hinauf in Richtung Scollay Square zu blicken, obwohl er an jedem Schultag diese Richtung einschlug, um am Haymarket die U-Bahn nach Hause zu nehmen. Südlich der Station Haymarket stand das Casino Theatre, und ganz in der Nähe des U-Bahnhofs Scollay Square lag das Old Howard. Mr. Leary versuchte in beiden Etablissements immer, an den Premiereabenden die neuen Striptease-Shows zu sehen - ehe die Zensoren sie sahen und unweigerlich »säuberten«. Mr. Leary schämte sich dieser regelmäßigen Besuche in den Striptease-Clubs, obwohl seine Frau schon
lange tot war. Seiner Frau wäre es vermutlich egal gewesen, dass er sich Stripperinnen ansah, oder zumindest hätte ihr diese Zerstreuung weniger ausgemacht, als wenn er wieder geheiratet hätte - was nicht geschehen war. Doch Mr. Leary hatte einige der Stripperinnen so oftauftreten sehen, dass ihn manchmal das Gefühl beschlich, tatsächlich mit ihnen verheiratet zu sein. Er wusste genau, wo bei Peaches, der sogenannten Queen of Shake, der Leberfleck saß (wenn es denn ein Leberfleck war). Lois Dufee - deren Name, wie Mr. Leary glaubte, falsch geschrieben wurde - war 1,93 groß und hatte wasserstoffblonde Haare. Sally Rand tanzte mit Ballons, und eine andere Tänzerin benutzte Federn. Was genau er diese und andere Stripperinnen machen sah, war gewöhnlich das Thema seiner Beichten in St. Stephen's - dies und das wiederholte Geständnis, dass ihm seine Frau nicht fehlte, nicht mehr. Sie hatte ihm einmal
gefehlt, doch dieses Gefühl war verschwunden - so wie seine Frau. Seit Mr. Leary nach Exeter geschrieben hatte, schaute er regelmäßig, ehe er nachmittags das North End verließ, noch einmal in der Michelangelo School vorbei und sah nach, ob etwas in seinem Brieffach lag. Während er die Post durchsah, die später an diesem Tag eingetroffen war, sagte er sich im Stillen, er habe in St. Stephen's nun etwas Neues zu beichten - denn dass er dem jungen Baciagalupo ein Pseudonym vorgeschlagen hatte, lastete auf ihm so schwer wie eine Sünde. Aber was wäre Daniel Leary doch für ein guter Schriffstellername gewesen!, dachte der alte Ire. Dann sah er den perlgrauen Umschlag mit dem dunkelroten Schriftzug, und wie elegant dieser Schriftzug war! Glaubst du es endlich?, dachte Mr. Leary bei sich. Kein Gebet in einem Kirchhof war je vergebens - nicht einmal in diesem
ultraitalienischen Garten von St. Leonard. »Gott wird dir helfen - Dio ti aiuta«, sagte der listige alte Ire laut, auf Englisch und Italienisch (nur um ganz sicherzugehen), ehe er den Umschlag öffnete und den Brief des Stipendiumsmenschen aus Exeter las. Mr. Carlisle würde nach Boston kommen. Er wollte die Michelangelo School aufsuchen und Mr. Leary kennenlernen. Mr. Carlisle konnte es kaum erwarten, Daniel Baciagalupo kennenzulernen - und den Vater des Jungen, den Koch, ebenso wie die Stiefmutter des Jungen. Mr. Leary merkte, dass er vielleicht wieder einmal zu weit gegangen war, als er die Witwe Del Popolo Daniels »Stiefmutter« genannt hatte; seines Wissens waren der Koch und die kurvenreiche Kellnerin nicht verheiratet. Natürlich war Mr. Leary auch in manch anderer Hinsicht zu weit gegangen. Obwohl Dan seinem Englischlehrer erzählt hatte, sein
Dad zögere, den Jungen auf ein Internat zu lassen - und Carmella Del Popolo bei dem bloßen Gedanken daran sogar geweint habe -, hatte Mr. Leary die Unterlagen seines Lieblingsschülers bereits an die ehrwürdige Institution geschickt. Er hatte sogar einige andere Lehrer an der Mickey überredet, für den jungen Baciagalupo Empfehlungsbriefe zu schreiben. Mr. Leary hatte sich sozusagen in Daniel Baciagalupos Namen um die Aufnahme beworben - und zwar ohne den Vater des Jungen davon in Kenntnis zu setzen! Mr. Carlisle sprach in seinem Brief davon, dass die Familie eine Vermögensaufstellung einreichen müsse - wogegen der ziemlich unnahbare Koch Einwände haben mochte, wie Mr. Leary aufging. Er hoffte, nicht (wieder) so weit gegangen zu sein, dass sein Plan wie der mit dem Pseudonym völlig scheiterte. Das Pseudonym war ein peinlicher Fehler gewesen. O ja, dachte Mr. Leary, es ist Zeit, mehr zu beten! Doch dann nahm er mutig den Exeter-
Brief in die Hand, zusammen mit seinem kleinen Päckchen Gebäck aus der ModernKonditorei, und begab sich erneut in die Hanover Street - doch diesmal nicht in den Garten des Kirchhofs von St. Leonard, sondern ins Vicino di Napoli, wo er den jungen Baciagalupo wie auch den »ziemlich unnahbaren« Koch (wie Mr. Leary Dannys Dad innerlich nannte) und jene übergewichtige Frau, die Witwe Del Popolo, anzutreffen hoffte. Die üppige Kellnerin war einmal zu einem Elternabend gekommen; ihr verstorbener Sohn Angelù war als Siebtklässler ein offener, freundlicher Schüler in Mr. Learys Englischklasse gewesen. Angelù hatte nie zu den ungezogenen Jungs gehört, die Mr. Leary quälten, weil er das O' aus seinem Taufnamen gestrichen hatte. Der junge Del Popolo war auch recht gut im Lesen gewesen, hatte sich aber leicht ablenken lassen, wie Mr. Leary seiner Mutter mitteilte. Dann hatte Angelù die
Schule abgebrochen und war auf Arbeitssuche in den gottverlassenen Norden gegangen, wo er ertrunken war, genau wie schon sein Vater. (Eines der überzeugendsten Argumente dafür, auf der Schule zu bleiben, die Mr. Leary je gehört hatte!) Seit jenem Elternabend mit der Witwe Del Popolo hatte Mr. Leary gelegentlich von ihr geträumt. Wahrscheinlich träumte jeder Mann, der dieser Frau begegnet war, von ihr, vermutete der alte Englischlehrer. Dennoch war in seinen Beichten in der St. Stephen's Church mehrmals ihr Name aufgetaucht. (Wäre Carmella Del Popolo im Casino Theatre oder im Old Howard als Stripperin aufgetreten, wäre die Bude jeden Abend brechend voll gewesen!) Den Exeter-Brief steckte er in den Umschlag zurück, und in seiner Eile, möglichst rasch in das kleine italienische Restaurant zu kommen, das inzwischen (wie Mr. Leary wusste) eines
der beliebtesten Speiselokale im North End war, übersah der eulenhafte Ire, dass ihm einer der ungezogenen Jungs aus der Mickey mit Kreide ein riesiges weißes O' auf seinen marineblauen Trenchcoat gemalt hatte. Bei seinen früheren Besorgungen im Viertel hatte Mr. Leary den Trenchcoat nicht angehabt. Jetzt zog er ihn arglos über und machte sich eifrig, aber nervös auf den Weg, mit dem kalkweißen O' auf dem Rücken, das noch aus einem Block Entfernung so gut zu sehen war wie eine Zielscheibe. Als 1967 im Coos County Schlammperiode war, lebte der Schriftsteller Daniel Baciagalupo in Iowa City; in Iowa gab es einen richtigen Frühling, Schlammperioden waren hier unbekannt. Doch Danny, der 25 war und einen zweijährigen Sohn hatte - von seiner Frau war er gerade erst verlassen worden -, befand sich in einer seelischen
Verfassung, die ausgezeichnet zur Schlammperiode gepasst hätte. Außerdem steckte er gerade mitten in einem neuen Roman und versuchte sich daran zu erinnern, worüber sie sich damals im Vicino di Napoli in dem Moment unterhalten hatten, als Mr. Leary, den Brief von Exeter in seinem Jackett, energisch an die verschlossene Tür klopfte. (Das Personal beendete gerade seine nachmittägliche Mahlzeit.) »Es ist der Ire! Lasst ihn reine!«, rief der alte Polcari. Eine der jungen Kellnerinnen öffnete Mr. Leary die Tür - Dannys Cousine Elena Calogero. Sie war um die zwanzig, genau wie die Kellnerin, die Carmella half, Teresa DiMattia. Carmellas Mädchenname war DiMattia. Wie die Witwe Del Popolo gerne sagte, war sie eine »zweimal vertriebene Neapolitanerin« - das erste Mal, als sie mit ihrer Familie aus Sizilien (wohin ihre
Großeltern lange zuvor aus der Gegend um Neapel gezogen waren) ins North End ausgewandert war, und das zweite Mal, als sie einen Sizilianer geheiratet hatte. Gemäß ihrer eigenen seltsamen Logik hatte Carmella sich selbst noch weiter vertrieben, dachte der Schriftsteller Daniel Baciagalupo, denn Angelù war sizilianisch (für Angelo), und Carmella hatte sich mit Dominic eingelassen. Doch in dem Kapitel, an dem Danny gerade arbeitete und das er mit »Abreise ins Internat« überschrieben hatte, war er ins Schwimmen geraten und hatte das Wesentliche aus dem Blick verloren. Der zentrale Augenblick dieses Kapitels - als der Vater mit den Tränen kämpft und gleichzeitig seinem Sohn die Erlaubnis gibt, auf ein Internat zu gehen - wurde zu sehr aus der Perspektive des wohlmeinenden, aber aufdringlichen Englischlehrers des Jungen erzählt.
»Hi, Mike!«, hatte Tony Molinari an jenem Nachmittag im Restaurant gesagt. (Oder hatte Paul Polcari, der Pizzabäcker, Mr. Leary zuerst begrüßt? Der alte Joe Polcari, der früher mit Mr. Leary im Prado Dame gespielt hatte, redete den Lehrer immer mit Michael an genau wie mein Dad, erinnerte sich Danny Baciagalupo.) Für Danny war es ein schlimmer Abend zum Schreiben - vielleicht weil es diese Szene besonders in sich hatte. Seine Frau, die ihn soeben nach drei Jahren Ehe verlassen hatte, hatte zwar immer gesagt, sie werde nicht bleiben, aber er hatte ihr nicht geglaubt - er hatte ihr nicht glauben wollen, wie Ketchum betonte. Danny hatte Katie Callahan im Grundstudium an der University of New Hampshire kennengelernt. Er war im dritten Studienjahr gewesen und Katie im vierten, aber beide hatten sie in Aktzeichenkursen Modell gestanden.
Als Katie ihm mitteilte, dass sie ihn verließ, sagte sie: »Ich glaube immer noch an dich, als Schriftsteller, aber die einzige Gemeinsamkeit, die wir je hatten, bringt uns nicht sehr weit.« »Welche Gemeinsamkeit soll das sein?«, hatte er sie gefragt. »Uns macht es überhaupt nichts aus, uns vor Fremden und totalen Dumpfbacken nackt auszuziehen«, hatte sie ihm geantwortet. Vielleicht gehört das für Schriftsteller zum Beruf, dachte Danny Baciagalupo in dieser verregneten Frühlingsnacht in Iowa City. Er schrieb meistens nachts, wenn der kleine Joe schlief. Wirklich jeder außer Katie nannte den Zweijährigen Joe. (Wie der Oberkellner, nach dem er benannt worden war, war der Junge nie ein Joseph; der alte Polcari mochte Giuse lieber oder schlicht Joe.) Das mit dem Nacktsein vor Fremden und Dumpfbacken meinte Katie eher wörtlich - für ihre Person. Während Dannys viertem
Studienjahr in Durham, als Katie mit Joe schwanger war, hatte sie immer noch für Aktzeichenkurse Modell gestanden und schlief damals mit einem der Studenten. Jetzt, in Iowa City - kurz vor Dannys Masterabschluss in Kreativem Schreiben am Autorenworkshop der University of Iowa -, stand Katie immer noch für Aktzeichenkurse Modell, doch diesmal schlief sie mit einem Professor. Aber sie zog nicht deshalb weg, erzählte sie ihrem Mann. Sie hatte Danny vorgeschlagen, ihn noch vor Studienabschluss zu heiraten und ein Kind zu bekommen. »Du willst doch nicht nach Vietnam, oder?«, hatte sie ihn gefragt. Eigentlich hatte er damals gedacht, dass er doch nach Vietnam wollte - aber nicht etwa, weil er politisch für den Krieg war, auch wenn er nie so politisch werden würde wie Katie. (Ketchum nannte sie eine »Scheißanarchistin«.) Danny Baciagalupo fand, er sollte als Schriftsteller nach Vietnam;
er glaubte, er müsse den Krieg mit eigenen Augen sehen und wissen, wie das war. Sowohl sein Vater als auch Ketchum hatten ihm gesagt, diese Ideen seien nichts als ein Haufen Mist. »Ich hab dich nicht auf dieses verdammte Exeter gehen lassen, fort von mir, damit du in irgendeinem blöden Krieg stirbst!«, hatte Dominic geschrien. Ketchum hatte gedroht, Danny aufzusuchen und ihm ein paar Finger seiner rechten Hand abzuschneiden. »Oder gleich die ganze verdammte Hand!«, hatte Ketchum getobt, der sich in irgendeiner Telefonzelle die Eier abfror. Beide Männer hatten der Mutter des kleinen Dan versprochen, den Jungen nie in einen Krieg ziehen zu lassen. Ketchum drohte, sein Browning-Jagdmesser an Dannys rechter Hand zu testen, zumindest an den Fingern. Das Messer hatte eine dreißig Zentimeter lange
Klinge, die Ketchum immer sorgfältig schärfte. »Oder ich schiebe eine Schrotpatrone in meine Flinte und schieße dir aus nächster Nähe ins Knie!« Da akzeptierte Daniel Baciagalupo lieber Katie Callahans Vorschlag. »Mach schon, schwänger mich«, hatte Katie gesagt. »Ich heirate dich und kriege dein Kind. Erwarte aber bloß nicht, dass ich allzu lange bleibe ich bin keine Ehefrau, und ich bin auch kein Muttertier, aber wie man ein Kind kriegt, weiß ich. Es ist für einen guten Zweck - ein Mann weniger für diesen Scheißkrieg. Und du sagst, du willst Schriftsteller werden! Tja, dafür musst du doch wohl am Leben bleiben, stimmt's? Dumpfbacke!« Nie hatte sie ihn hinters Licht geführt, er wusste von Anfang an, woran er mit ihr war. Sie lernten sich kennen, als sie sich beide für einen Aktzeichenkurs auszogen. »Wie heißt du?«, hatte sie ihn gefragt. »Und was willst du
werden, wenn du groß bist?« »Ich werde Schriftsteller«, sagte Danny, noch ehe er ihr seinen Namen nannte. »Es genügt, zu fühlen, dass man, ohne zu schreiben, leben könnte, um es überhaupt nicht zu dürfen«, sagte Katie Callahan. »Was hast du gesagt?«, fragte er sie. »Das ist von Rilke, Dumpfbacke. Wenn du Schriftsteller werden willst, solltest du ihn lesen«, sagte sie. Jetzt ließ sie ihn sitzen, weil sie (Zitat Katie) »einen anderen dummen Jungen kennengelernt habe, der glaubt, er sollte nach Vietnam gehen - nur um es zu sehen, verdammt!«. Katie wollte den anderen Jungen dazu bringen, sie zu schwängern. Dann, eines Tages, würde sie weiterziehen, »bis dieser Scheißkrieg vorbei ist«. Irgendwann würde ihr die Zeit davonlaufen; mathematisch gesehen war die Zahl
Möchtegernsoldaten begrenzt, die sie auf diese Weise vor dem Krieg retten konnte. Männer wie Danny Baciagalupo nannte man »Kennedy-Väter«, weil Präsident Kennedy im März 1963 eine Präsidialverfügung erlassen hatte, wonach die Zurückstellung vom Wehrdienst für junge Väter erweitert wurde. Diese Regelung, dass man sich als Vater von der Einberufung zurückstellen lassen konnte, galt nicht lange, aber für den Schriftsteller Daniel Baciagalupo hatte es funktioniert. Er war von 2-S (Zurückstellung für Studenten) nahtlos zu 3-A gewechselt - Väter, die ihre Vaterschaft für ein Kind anerkannten, wurden zurückgestellt. Wer ein Kind hatte, musste nicht in den Krieg ziehen; später sollten die Dreckskerle auch diese Tür schließen, aber Danny war glatt hindurchmarschiert. Ob es auch noch bei diesem anderen »dummen Jungen« funktionieren würde, den Katie kennengelernt hatte - nun, das konnte zu diesem Zeitpunkt nicht einmal Katie sagen.
Jedenfalls ließ sie Danny sitzen, ob sie nun von diesem neuen Möchtegernsoldaten ein Baby bekam oder nicht, und unabhängig davon, wie viele Kinder sie für diese gute Sache noch bekommen würde. »Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe« waren Dannys so ziemlich letzte Worte an seine Frau, die nie eine richtige Ehefrau gewesen war und die kein Interesse mehr daran hatte, Mutter zu sein. »Wenn ich noch länger bleibe, Dumpfbacke, erinnert sich der Zweijährige später an mich«, hatte Katie gesagt. (Sie hatte ihr eigenes Kind tatsächlich »der Zweijährige« genannt.) »Er heißt Joe«, hatte Danny sie erinnert. Und dann hatte er gesagt: »Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe. Du bist nicht nur Kriegsgegnerin und sexuelle Anarchistin, sondern auch eine radikale Göre, die sich auf serielles Kinderkriegen für Kriegsdienstverweigerer spezialisiert hat - hab
ich das richtig verstanden?« »Schreib's dir auf, Dumpfbacke«, hatte Katie vorgeschlagen, und das waren ihre Abschiedsworte an ihren Mann: »Vielleicht klingt's schwarz auf weiß besser.« Sowohl Ketchum als auch sein Dad hatten ihn gewarnt. »Wenn ich dir ein paar Finger deiner rechten Hand abschneiden würde, wäre das langfristig gesehen bestimmt einfacher und schmerzloser«, hatte Ketchum gesagt. »Wie wär's mit deinem Abzugsfinger? Die ziehen dich garantiert nicht ein, wenn du keinen Abzug betätigen kannst.« Schon das erste Foto, das Daniel ihm gezeigt hatte, weckte Dominics Abneigung gegen Katie Callahan. »Sie sieht viel zu dünn aus«, bemerkte der Koch und musterte das Foto finster. »Isst sie überhaupt mal was?« (Das musste gerade er sagen!, hatte Danny gedacht. Danny und sein
Dad waren beide dünn, obwohl sie viel aßen.) »Hat sie wirklich so blaue Augen?«, fragte sein Vater. »Eigentlich sind ihre Augen sogar noch blauer«, antwortete Danny. Was haben diese unnatürlich kleinen Frauen nur an sich?, fragte sich Dominic damals und dachte an seine Doch-nicht-Cousine Rosie. War sein geliebter Daniel einer dieser kleinmädchenhaften Frauen verfallen, deren zierliche Erscheinung trog? Schon auf diesem ersten Foto erkannte der Koch in Katie den Typ Kindfrau, den manche Männer beschützen wollen. Doch Katie brauchte keinen Schutz; sie wollte auch nicht beschützt werden. Als sie sich das erste Mal begegneten, konnte der Koch sie nicht ansehen - genauso hatte er Dannys Tante Filomena behandelt (und so behandelte er sie immer noch). »Ich hätte dir die Fotos deiner Mutter nie zeigen dürfen«, sagte Dominic, als Danny ihm eröffnete, er
werde Katie heiraten. Vermutlich hätte ich irgendeine nette Dicke heiraten sollen!, dachte Daniel Baciagalupo unwillkürlich, statt an seinem Kapitel weiterzuschreiben. Doch der Vietnamkrieg ging weiter und weiter und wollte nicht enden. Nixon gewann 1968 die Wahl, weil er den Wählern versprochen hatte, den Krieg zu beenden, doch der Krieg sollte noch bis 1975 dauern. Am 23. April 1970 kassierte Präsident Nixon mittels einer eigenen Verfügung die Zurückstellung 3-A für junge Väter - für Kinder, die an oder nach diesem Tag gezeugt wurden. In den letzten fünf Kriegsjahren wurden weitere 23 763 amerikanische Soldaten getötet, und Daniel Baciagalupo musste schließlich erkennen, dass er Katie Callahan Dank schuldete - sie hatte ihm das Leben gerettet. »Und wenn sie wirklich eine serielle Gebärmaschine für Kriegsdienstverweigerer
war, na und?«, schrieb Ketchum an Danny. »Sie hat dir den Arsch gerettet, darauf kannst du einen lassen. Und ich hab damals keine Witze gemacht - wenn sie dich nicht gerettet hätte, hätte ich dir die rechte Hand abgehackt, damit sie dir nicht die Eier abschießen. Wenigstens einen oder zwei Finger.« Doch in jener Aprilnacht 1967, als es regnete und er zu schreiben versuchte, stellte sich Daniel Baciagalupo lieber vor, dass ihn sein Zweijähriger, der kleine Joe, gerettet hatte. Katie selbst hätte wahrscheinlich keiner retten können. Viele Jahre später las Daniel Prime Green: Remembering the Sixties, die Erinnerungen des Schriftstellers Robert Stone. »Mitte der 60er Jahre hatte das Leben den Amerikanern so viel gegeben, dass wir alle von den Möglichkeiten ein wenig berauscht waren«, schrieb Stone. »Die Lage geriet rasch außer Kontrolle, ehe wir sie definieren konnten. Ich glaube, diejenigen von uns, denen
die Veränderungen am meisten am Herzen lagen, die sich voll und ganz dafür einsetzten, wurden am stärksten betrogen.« Nun, auf Katie Callahan könnte das jedenfalls zutreffen, dachte Danny, als er diese Stelle las. Doch Robert Stone schrieb sein Buch nicht rechtzeitig, um Katie zu retten. Sie wollte nicht beschützt werden, und sie ließ sich nicht retten, aber was sie - neben ihrem gleichzeitig lasziven und scheinbar minderjährigen Aussehen - so anziehend und für Danny so überaus begehrenswert machte, war die Tatsache, dass Katie eine Rebellin war. (Außerdem hatte sie die Unruhe einer sexuellen Deserteurin; man wusste nie, was sie als Nächstes tun würde, weil Katie es selbst nicht wusste.) »Setzen Sie sich, Michael, setzen Sie sich essen Sie etwas!«, hatte der alte Polcari Mr. Leary mehrmals gedrängt, doch der Ire war zu
aufgeregt zum Essen. Er trank ein Bier, und dann ein, zwei Gläser Rotwein. Danny wusste: Der arme Mr. Leary konnte Carmella Del Popolo nicht ansehen, ohne an den spatenförmigen Ziegenbart eines Fauns zu denken, den sie beim Rasieren ihrer linken Achselhöhle möglicherweise ausgespart hatte. Und als Dominic in die Küche humpelte, um dem Englischlehrer eine Scheibe des von ihm so geschätzten sizilianischen Hackbratens zu holen, sah der angehende Schriftsteller Danny Baciagalupo, wie der alte Uhu das Hinken seines Dads mit ganz neuem, konsterniertem Blick verfolgte. Vielleicht hat ein Bär den linken Fuß des Kochs so zugerichtet!, dachte Mr. Leary wohl. Möglicherweise hatte es ja wirklich eine 150, 180 Kilo schwere Indianerin gegeben, deren Haare ihr bis über die Taille hingen! Mr. Leary hatte Exeter in noch einem Punkt belogen, nämlich bei der Neigung dieser Einwanderer zur Übertreibung. Hatte Mr.
Leary nicht geschrieben, der junge Baciagalupo sei »anders als die anderen«? Als Schriftsteller war Daniel Baciagalupo ein geborener Übertreiber! Und das war er auch noch in jener regnerischen Nacht in Iowa City, obwohl Danny nicht nur furchtbar abgelenkt, sondern immer noch ein wenig in Katie Callahan verliebt war. (Danny begriff erst allmählich, warum sein Vater jene Farbe ein tödliches Blau genannt hatte.) Wie hieß es doch noch in jenem Song von Johnny Cash? Danny hatte ihn vielleicht sechs oder sieben Jahre zuvor erstmals gehört. Oh, I never got over those blue eyes, I see them everywhere. Noch mehr Ablenkungen, dachte der Schriftsteller. Man könnte meinen, er wolle sich unbedingt von jenem Abend distanzieren sich von dem Abend mit dem braven Mr. Leary im Vicino di Napoli physisch entfernen.
Mr. Leary hatte ein drittes und viertes Glas Wein und den größten Teil des Hackbratens gebraucht, ehe er den Mut fand, den perlgrauen Briefumschlag aus der Innentasche seines Jacketts zu ziehen. Von der anderen Seite des Tisches aus sah Danny den dunkelroten Schriftzug; der Fünfzehnjährige kannte die Schulfarben von Exeter. »Und es sind nur Jungs, Dominic«, hatte Mr. Leary gesagt - die Worte klangen dem Schriftsteller noch immer in den Ohren. Mit einem Kopfrucken hatte der alte Englischlehrer auf das attraktive CalogeroMädchen (Dannys ältere Cousine Elena) und ihre überreife Freundin Teresa DiMattia gedeutet. Diese Mädchen hingen wie Kletten an Danny, wenn er sich nach der Schule hinten in der Küche umzog und in seine schwarze Hilfskellnerhose schlüpfte. »Lasst Danny ein wenig Privatsphäre, Mädels«, sagte Tony Molinari dann zu ihnen,
doch sie baggerten ihn dennoch unablässig an. Neben Mr. Leary hatte es Danny vielleicht auch diesen beiden Mädchen zu verdanken, dass sein Dad beschloss, ihn nach Exeter gehen zu lassen. Am schwersten fiel es ihm, über die Tränen in den Augen seines Vaters zu schreiben, als der sagte: »Nun, Daniel, wenn es, wie Michael sagt, eine gute Schule ist und wenn du unbedingt dorthin willst - tja, ich schätze, Carmella und ich könnten dich gelegentlich mal besuchen kommen, und du kommst gelegentlich am Wochenende heim nach Boston.« Bei den beiden gelegentlich hatte die Stimme seines Vaters gezittert. Daran erinnerte sich Daniel Baciagalupo in jener regnerischen Nacht in Iowa City, als er einfach nicht schreiben konnte, es aber dennoch weiter versuchte. Danny fiel auch wieder ein, wie er im Vicino di Napoli in die hinterste Ecke der Küche
gegangen war, damit sein Vater nicht sah, dass er selbst ebenfalls weinte - mittlerweile weinte auch Carmella, aber bei ihr war das ein Dauerzustand. Danny blieb noch einen Moment in der Küche, um ein Geschirrtuch anzufeuchten. Ohne dass Mr. Leary, der mit üblichem Enthusiasmus dem Rotwein zusprach, es merkte, wischte Danny den Trenchcoat seines Lehrers sauber. Das kreideweiße O' am Rücken ließ sich leicht auslöschen, leichter als der Rest dieses Abends. Nie würde Danny vergessen, wie er später in der Wohnung am Wesley Place des Nachts in seinem Zimmer lag und seinen Dad pausenlos weinen hörte - und Carmella, die mitweinte, während sie versuchte, ihn zu trösten. Schließlich hatte der Junge gegen die Wand zwischen ihren Schlafzimmern geklopft. »Ich liebe euch! Und ich komme oft nach Hause, jedes Wochenende, wenn ich kann!«
»Ich liebe dich!«, flennte sein Dad zurück. »Ich liebe dich auch!«, hatte Carmella gerufen. Tja, die Szene konnte er nicht schreiben - die würde er nie richtig hinbekommen, sagte sich Daniel. Das Kapitel »Abreise ins Internat« war Teil des zweiten Romans des fünfundzwanzigjährigen Schriftstellers. Seinen ersten Roman hatte er gegen Ende seines ersten Jahres am Autorenworkshop der University of Iowa beendet und einen Großteil seines zweiten und letzten Jahres mit der Überarbeitung verbracht. In seinem letzten Studienjahr an der University of New Hampshire hatte er das Glück gehabt, dass ihn ein writer-in-residence des Englischen Seminars einem Literaturagenten vorstellte. Und seinen ersten Roman kaufte der erste Verlag, dem er angeboten wurde. Es sollten etliche Jahre vergehen, bis Daniel Baciagalupo begriff, was für ein Glück er damals hatte.
Wahrscheinlich hatte kein anderer Student, der in jenem Jahr den Autorenworkshop abschloss, bereits einen Roman bei einem Verlag untergebracht. Einige der Studenten beneideten Danny deswegen. Doch er hatte nicht viele Freunde unter diesen Studenten; er war einer der wenigen, die verheiratet waren und ein Kind hatten, weshalb er auf ihren Partys kein Stammgast war. Danny hatte Ketchum von dem Buch geschrieben. Er hoffte, dass der Holzfäller es als einer der Ersten lesen würde. Der Roman würde nicht vor Dezember 1967 veröffentlicht werden, vielleicht auch erst im neuen Jahr, und obwohl er in New Hampshire spielte, versicherte Daniel seinem Dad und Ketchum, kämen sie nicht darin vor. »Er handelt weder von einem von euch beiden noch von mir - so weit bin ich noch nicht«, beruhigte er sie. »Kein Angel, keine Jane?«, hatte Ketchum gefragt. Er klang überrascht, vielleicht auch
enttäuscht. »Es ist kein autobiographischer Roman«, hatte Danny ihnen geantwortet, und das stimmte. Vielleicht hätte Mr. Leary den Roman »ziemlich unnahbar« genannt, wäre der Gute noch am Leben gewesen, um ihn zu lesen, doch Mr. Leary war verstorben. Als Daniel an jenen Abend im Vicino di Napoli dachte, als es um den Exeter-Brief ging, fiel ihm ein, dass auch der alte Giuse Polcari gestorben war. Das Restaurant war inzwischen zweimal umgezogen - zuerst in die Fleet Street, dann an den North Square (wo es jetzt noch war) -, und Tony Molinari und Paul Polcari wechselten sich als Oberkellner ab, gönnten sich so eine Auszeit von der Küche. Dominic mit seinem Hinkebein war als Oberkellner ungeeignet, sprang aber als Chefkoch oder Küchenchef ein und übernahm auch immer, wenn Paul Polcari Oberkellner war, den Posten des Pizzabäckers. Wie eh und je war Carmella die beliebteste
Kellnerin im Restaurant; und immer arbeiteten einige jüngere Frauen unter ihrer Aufsicht. In den Sommern, wenn Danny aus Exeter oder von der University of New Hampshire nach Hause kam - sprich: bis er Katie heiratete -, hatte er im Vicino di Napoli als Kellner gearbeitet, und wenn Paul oder Dominic mal einen freien Abend brauchten, sprang er als Pizzabäcker ein. Wäre Daniel Baciagalupo nicht Schriftsteller geworden, hätte er Koch werden können. In dieser Regennacht in Iowa, als er mit seinem zweiten Roman nicht besonders gut vorankam und der erste Roman noch nicht veröffentlicht war, war Danny so niedergeschlagen, dass er die Möglichkeit nicht ausschloss, irgendwann doch noch als Koch zu enden. (Falls das mit dem Schreiben nicht klappte, konnte er wenigstens kochen.) Für das kommende Studienjahr hatte Danny schon einen Job - als Dozent für kreatives Schreiben und einige andere
Lehrveranstaltungen, und zwar an einem kleinen, auf Geisteswissenschaften spezialisierten College in Vermont. Ehe er sich um diese Stelle bewarb, hatte er von dem College noch nie etwas gehört, doch mit einem Erstlingsroman, der demnächst bei Random House erscheinen würde, und einem Masterabschluss von einem renommierten Literaturinstitut wie dem von Iowa - nun, Danny würde College-Dozent werden. Der junge Schriftsteller war froh, nach Neuengland zurückzukehren. Sein Dad und Carmella fehlten ihm - und wer weiß, vielleicht bekam er sogar Ketchum häufiger zu sehen. Seit jenem schrecklichen Aprilsonntag, als der Junge und sein Dad aus Twisted River geflohen waren, hatte Danny Ketchum nur ein Mal gesehen. Ketchum war in Durham aufgetaucht, als Danny sein Studium an der University of New Hampshire begann. Der Holzfäller, er war damals Mitte vierzig, hatte Danny in seinem
Studentenwohnheim aufgesucht und mürrisch verkündet: »Dein Dad hat mir erzählt, du hättest nie gelernt, auf einer richtigen Straße zu fahren.« »Ketchum, in Boston hatten wir kein Auto wir haben den Chieftain noch in der Woche verkauft, als wir ankamen -, und in einem Internat wie Exeter hat man keine Zeit für Fahrstunden.« »Heiliger Dünnschiss!«, rief Ketchum. »Mit einem Studenten, der keinen Führerschein hat, will ich nichts zu tun haben!« Dann bekam Danny von Ketchum in dessen altem Pick-up Fahrstunden. Für einen jungen Mann, dessen Fahrkünste sich bisher auf Automatikwagen und auf die Holzabfuhrstraßen um Twisted River beschränkt hatten, war das ein hartes Stück Arbeit. In der guten Woche, die Ketchum in Durham blieb, wohnte er in seinem Truck »genau wie seinerzeit in den Wanigans«, sagte
der Holzarbeiter. Die Parkplatzwächter der University of New Hampshire verpassten ihm zweimal ein Knöllchen, als der Holzfäller auf der Ladefläche seines Pick-ups schlief. Ketchum gab die Knöllchen an Danny weiter. »Die kannst du bezahlen«, teilte Ketchum dem jungen Mann mit. »Die Fahrstunden sind gratis.« Danny ärgerte es, dass er den Holzfäller in sieben Jahren nur ein Mal gesehen hatte. Und mittlerweile waren sechs weitere Jahre vergangen. Wie kann man jemanden nicht sehen, der einem so viel bedeutet wie er?, dachte Daniel in Iowa, während der Frühlingsregen fiel. Noch unbegreiflicher war, dass sein Vater Ketchum in 13 Jahren kein einziges Mal gesehen hatte. Was war mit den beiden nur los? Doch Danny war nicht ganz bei der Sache - mit dem Kopf war er noch halb in dem Chaoskapitel, in dem er gerade herumpfuschte.
Der junge Schriftsteller machte einen Zeitsprung zu dem ersten Treffen seiner Familie mit Mr. Carlisle, dem Stipendiumsmenschen von Exeter, das ebenfalls im Vicino di Napoli stattgefunden hatte. Vielleicht hatte Danny auch Carmella für seine Aufnahme ins Internat zu danken, denn jemandem wie Carmella war Mr. Carlisle noch nie begegnet - jedenfalls nicht in Exeter, New Hampshire -, und der betörte Mann mochte sich gedacht haben: Wenn der junge Baciagalupo nicht nach Exeter kommt, sehe ich diese Frau vielleicht nie wieder! Später war Mr. Carlisle am Boden zerstört, weil Carmella Danny nicht begleitete, als der Junge zu einem ersten Besuch ins Internat kam. Dominic war ebenfalls nicht mitgekommen. Wie auch? In Boston war der 17. März nicht einfach nur St. Patrick's Day. (Die jungen Iren, die grünes Bier auf die Straßen kotzten, waren Mr. Leary jedes Jahr aufs Neue peinlich.) An diesem Datum war
auch noch der Evacuation Day, der im North End groß gefeiert wurde, weil die Geschütze, die die britischen Schiffe dazu zwangen, den Bostoner Hafen zu räumen, 1774 oder 1775 — Danny konnte sich das Jahr nie merken, tatsächlich war es 1776 gewesen -, auf dem Copps-Hill-Friedhof standen. Wenn man in Boston wohnte, bekam man am Evacuation Day schulfrei, genau wie am Bunker Hill Day. In jenem Jahr, 1957, fiel der Evacuation Day auf einen Sonntag. Montag war daher schulfrei, und Mr. Leary hatte Danny mit dem Zug nach Exeter begleitet. (An solchen Feiertagen konnten Dominic und Carmella unmöglich das Restaurant verlassen.) Die unkonzentrierten Gedanken des Schriftstellers waren wieder einmal vorgeprescht, zu der Zugfahrt mit Mr. Leary nach Exeter - und zum ersten Blick auf das altehrwürdige Internat. Mr. Carlisle hatte sie überaus freundlich empfangen, aber bestimmt schmerzlich bedauert, dass Carmella nicht mitgekommen
war. Sein Versprechen, häufig - an jedem nur möglichen Wochenende - nach Hause zu kommen, würde Danny nicht halten. Solange er in Exeter war, kam er nur selten nach Boston, höchstens an zwei Wochenenden im Schuljahr, und dann traf er Samstagabend auf dem Scollay Square seine Freunde aus Exeter, meist um sich die Stripperinnen im Old Howard anzusehen. Die Jugendlichen mussten sich für älter ausgeben, als sie waren, doch das ging leicht; an den meisten Abenden ließ man sie ein. Man musste den Damen gegenüber bloß respektvoll sein. An einem dieser Abende im Old Howard begegnete Danny zufällig seinem ehemaligen Englischlehrcr. Es war ein trauriger Abend. Für Mr. Leary mit seiner Vorliebe für Latein war es ein Errare-sumanum-est-Abend, ein »Irren ist menschlich«Abend, sowohl für den Lehrer selbst wie auch für seinen Lieblingsschüler. Apropos Zeitsprung! Eines Tages, vermutete Daniel
Baciagalupo, würde er über diesen tristen Abend (oder eine Variante davon) schreiben müssen. Seinen ersten Roman widmete er dem Iren. Wegen Mr. Learys Faible für alles Lateinische schrieb Danny: michael leary, in memoriam Von Mr. Leary hatte er zum ersten Mal die Formulierung in medias res gehört. Mr. Leary hatte Dannys Art zu schreiben mit den Worten gelobt, »als Leser« gefalle ihm, wie Danny seine Erzählungen häufig in der Mitte der Handlung statt an deren Anfang beginnen lasse. »Wie heißt so etwas - gibt es einen Begriff dafür?«, hatte der Junge unschuldig gefragt.
Und Mr. Leary hatte geantwortet: »Ich nenne es in medias res, Lateinisch für >mitten in die Dinge<.« Nun, genau da befand er sich zu diesem Zeitpunkt seines Lebens gerade, dachte Daniel. Er hatte einen zweijährigen Sohn, den er aus unerfindlichen Gründen nicht nach seinem Vater benannt hatte, und er hatte seine Frau verloren und noch keine andere Frau kennengelernt. Außerdem mühte er sich mit seinem zweiten Roman ab, während der erste noch nicht erschienen war, und er stand kurz davor, für seinen ersten Job, der nichts mit Kochen und nichts mit Küche zu tun hatte, wieder nach Neuengland zu ziehen. Wenn das kein in medias res war, dachte Daniel Baciagalupo, was dann? Und, um beim Latein zu bleiben: Als Danny das erste Mal nach Exeter kam, begleitete Mr. Leary den Jungen in loco parentis, also »an Stelle der Eltern«.
Vielleicht hatte er seinen Erstlingsroman deshalb Mr. Leary gewidmet. »Nicht deinem Dad?«, fragte Ketchum Danny. (Carmella sollte dem jungen Schriftsteller dieselbe Frage stellen.) »Vielleicht den nächsten«, antwortete er ihnen beiden. Sein Vater verlor nie ein Wort über die Widmung für Mr. Leary. Danny erhob sich von seinem Schreibtisch in Iowa City, um zuzuschauen, wie der Regen an den Fensterscheiben hinunterlief. Dann ging er zu dem schlafenden Joe und betrachtete ihn. So, wie er mit dem Kapitel vorankam, dachte der Schriftsteller, könnte er genauso gut ins Bett gehen. Doch er blieb meist lange auf. Wie sein Dad trank auch Daniel Baciagalupo nicht mehr; von dieser Angewohnheit hatte ihn Katie geheilt, eine Geschichte, an die er in einer Nacht, in der er beim Schreiben nicht vorankam, nur ungern dachte. Er wünschte sich auf einmal, Ketchum würde anrufen.
(Hatte Ketchum nicht gesagt, sie müssten reden?) Immer wenn Ketchum von einer dieser fernen Telefonzellen anrief, schien die Zeit stillzustehen. Wenn Daniel von Ketchum hörte, hatte er mit seinen inzwischen 25 Jahren immer wieder das Gefühl, er wäre zwölf und würde Twisted River gerade verlassen. Eines Tages würde der Schriftsteller sich das eingestehen: Es war kein Zufall, dass der Holzfäller an diesem regnerischen Aprilabend anrief. Wie üblich meldete sich Ketchum per R-Gespräch, und Danny nahm den Anruf an. »Scheißschlammperiode«, sagte Ketchum. »Verdammt, wie geht's dir?« »Du bist jetzt also unter die Tippsen gegangen«, sagte Danny. »Deine hübsche Handschrift wird mir fehlen.« »Das war nie meine Handschrift«, klärte Ketchum ihn auf, »sondern Pams. Sixpack hat
alle meine Briefe geschrieben.« »Warum?«, wollte Danny wissen. »Ich kann nicht schreiben!«, gestand Ketchum. »Ich kann auch nicht lesen - Sixpack hat mir alle eure Briefe vorgelesen, deine und die deines Dads.« Für Daniel Baciagalupo war das ein niederschmetternder Moment; in einer Liga, wie der junge Schriftsteller später urteilen würde, mit dem Augenblick, als er von seiner Frau verlassen wurde, aber mit ernsteren Konsequenzen. Danny dachte daran, wie er Ketchum sein Herz ausgeschüttet hatte, an alles, was er dem Mann geschrieben hatte ganz zu schweigen von dem, was Ketchum Pam erzählt haben musste, denn die Antwortbriefe stammten ja offenbar von Sixpack, nicht von Ketchum. Was bedeutete, dass Sixpack alles wusste! »Ich dachte, meine Mom hätte dir das Lesen
beigebracht«, sagte Danny. »Nicht so richtig«, erwiderte Ketchum. »Tut mir leid, Danny.« »Dann tippt Pam jetzt?«, fragte Danny. (Was wirklich nur schwer vorstellbar war; keiner der maschinengeschriebenen Briefe, die Danny und sein Vater von Ketchum bekommen hatten, hatte auch nur einen Tippfehler enthalten.) »Ich habe in der Bibliothek eine Dame kennengelernt, die zufällig Lehrerin ist, Danny. Sie hat die Briefe für mich getippt.« »Wo ist Sixpack?«, fragte Danny. »Tja, das ist irgendwie das Problem«, antwortete Ketchum. »Sixpack hat mich sitzenlassen. Du weißt ja, wie das ist«, ergänzte er. Ketchum wusste Bescheid, dass Katie Danny sitzengelassen hatte, dazu musste man kein Wort mehr verlieren.
»Sixpack hat dich verlassen?«, fragte Danny. »Das ist nicht das Problem«, antwortete Ketchum. »Mich überrascht nicht, dass sie mich verlassen hat, sondern dass sie so lange geblieben ist. Aber mich hat überrascht, dass sie beim Cowboy eingezogen ist«, fügte Ketchum hinzu. »Das ist das Problem.« Danny und sein Dad wussten, dass Carl nicht mehr Constable war. (Sie wussten auch, dass es den Ort Twisted River nicht mehr gab; er war niedergebrannt, und schon davor war er eine Geisterstadt gewesen.) Carl war jetzt Hilfssheriff von Coos County. »Willst du damit sagen, dass Sixpack dem Cowboy verraten wird, was sie weiß?«, fragte Danny. »Nicht sofort«, antwortete Ketchum. »Soviel ich weiß, hat sie keinen Grund, mich in die Pfanne zu hauen - oder dir und deinem Dad zu schaden. Wir haben uns durchaus im Guten
getrennt. Die Frage ist, was passiert, wenn Carl sie schlägt, denn das wird er garantiert machen. Oder wenn er sie rauswirft, denn lange behält er sie nicht. Du hast Sixpack eine Zeitlang nicht gesehen, Danny - mit ihrer Schönheit geht's in einem irren Tempo den Bach runter.« Daniel Baciagalupo zählte leise vor sich hin. Er wusste, dass Ketchum und Sixpack gleich alt waren und Carl genauso alt wie sie. Als Danny bei fünfzig angelangt war, schrieb er die Zahl auf- so alt waren die drei. Dass es mit Sixpack-Pams Aussehen bergab ging, konnte er sich denken und auch, dass der Cowboy sie eines Tages rausschmeißen würde. Und schlagen würde Carl sie garantiert, auch wenn der Hilfssheriff inzwischen trocken war. »Das musst du mir erklären«, sagte Danny zu Ketchum. »Wenn Carl ihr etwas Schlimmes antut - dann wird Pam es ihm erzählen. Verstehst du nicht,
Danny?«, fragte Ketchum. »Nur so kann sie ihm weh tun. All die Jahre hat er sich gefragt, was aus dir und deinem Dad geworden ist - all die Jahre hat er geglaubt, er hätte Jane getötet. Er kann sich nur nicht daran erinnern. Ich glaube, es hat ihn regelrecht verrückt gemacht - dass er sich nicht daran erinnert, sie umgebracht zu haben, aber glaubt, er wär's gewesen.« Zu erfahren, dass er Indianer-Jane nicht getötet hatte, wäre für den Cowboy eine Befreiung, wenn er ein besserer Mensch wäre. Und wenn Sixpack ein weniger rauhes Leben geführt hätte, würde sie vielleicht nicht in Versuchung geraten, ihr Wissen als Waffe einzusetzen. (Schlimmstenfalls würde Pam die Wahrheit einfach rausrutschen - entweder unabsichtlich oder wenn Carl sie verprügelte.) Doch Ketchum zählte nicht darauf, dass der Cowboy in seinem Inneren plötzlich so etwas wie Güte entdeckte, und der Flößer wusste, was für ein Leben Sixpack geführt hatte. (Er hatte dieses
Leben ebenfalls geführt, es war kein Zuckerschlecken gewesen.) Und der Cowboy hatte sich wirklich verrückt gemacht, aber nicht, weil er glaubte, Jane getötet zu haben; deswegen empfand er nicht einmal Schuldgefühle, und verrückt machte es ihn schon gar nicht. Ketchum hatte recht: Carl machte verrückt, dass er sich nicht daran erinnern konnte. Diese Erinnerung hätte der Cowboy genossen, das wusste Ketchum. Dass der Sheriff sich an nichts erinnerte, war der Grund, weshalb er schließlich mit dem Trinken aufgehört hatte. Als Ketchum vor Jahren Danny und seinem Dad von »dem neuen Abstinenzler im Coos County« erzählte, hatten der Koch und sein Sohn darüber gelacht, sie hatten regelrecht gejohlt. »Cookie muss aus Boston verschwinden damit fängt's an«, sagte Ketchum jetzt. »Und Del Popolo, den Namen sollte er auch ablegen. Ich werd's ihm sagen, aber du musst es ihm
auch klarmachen, Danny. Dein Dad hört nicht immer auf mich.« »Ketchum, hältst du es für unausweichlich, dass Pam Carl alles erzählt?« »So unausweichlich, Danny, wie die Tatsache, dass der Cowboy sie eines Tages verprügeln wird.« »O Gott!«, rief Danny plötzlich. »Was haben du und Mom eigentlich gemacht, während sie dir das Lesen beibringen sollte?« »Sprich mit deinem Dad, Danny - es ist nicht meine Aufgabe, dir das zu erzählen.« »Hast du mit ihr geschlafen?«, fragte ihn Danny. »Sprich bitte mit deinem Dad«, sagte Ketchum. Danny konnte sich nicht erinnern, von Ketchum jemals das Wort >bitte< gehört zu haben. »Weiß mein Dad, dass du mit ihr geschlafen
hast?« Danny ließ nicht locker. »Heiliger Dünnschiss!«, schrie Ketchum in die Muschel. »Was glaubst du denn, warum mir dein Dad die verfluchte Bratpfanne über den Kopf gezogen hat?« »Was hast du gerade gesagt?«, fragte ihn Danny. »Ich bin besoffen«, antwortete Ketchum. »Hör nicht auf mein Gequatsche.« »Ich dachte, Carl hätte dir mit seinem 45er eins über den Schädel gezogen.« »Teufel, wenn der Cowboy mir eins über den Schädel gezogen hätte, hätte ich ihn umgebracht!«, donnerte Ketchum. Als der Holzfäller das sagte, wusste Danny sofort, dass es stimmte. Ketchum hätte von niemandem einen Schlag auf den Kopf einfach so hingenommen, außer von Dominic.
»Ich sah, dass im Kochhaus Licht brannte«, begann Ketchum, der plötzlich müde klang. »Deine Mom und dein Dad waren spät auf und haben geredet und - damals noch - getrunken. Ich ging durch die Gittertür in die Küche. Ich wusste nicht, dass deine Mom deinem Dad an diesem Abend das mit mir erzählt hatte.« »Hab's verstanden«, sagte Danny. »Hast du nicht, nicht alles. Sprich mit deinem Dad«, wiederholte Ketchum. »Wusste Jane Bescheid?«, fragte Danny. »Scheiße, die Rothaut wusste alles.« »Ketchum?«, sagte Danny. »Weiß mein Dad, dass du nie lesen gelernt hast?« »Ich bemühe mich gerade, es nachzuholen«, sagte Ketchum trotzig. »Könnte sein, dass diese Lehrerin es mir beibringt. Hat sie wenigstens gesagt.« »Weiß Dad, dass du nicht lesen kannst?«,
fragte der junge Mann den alten Freund seines Vaters. »Einer von uns wird es ihm wohl erzählen müssen«, sagte Ketchum. »Cookie nimmt vermutlich an, irgendwas müsse Rosie mir doch beigebracht haben.« »Deshalb hast du also angerufen. Als du mir geschrieben hast: >Es braut sich etwas zusammen<, hast du das damit gemeint?«, fragte ihn Danny. »Einfach unfassbar, dass du diesen Blödsinn über den Scheißbären geglaubt hast«, sagte Ketchum. Die Bärengeschichte hatte es, in leicht abgewandelter Form, bis in Daniel Baciagalupos ersten Roman geschafft. Aber natürlich war nicht wirklich ein Bär in die Küche marschiert, sondern nur Ketchum. Und wäre die Bärengeschichte dem Jungen nicht eingetrichtert worden, hätte er das Stöhnen seines Vaters und Janes beim Liebesspiel vielleicht nicht als Geräusche eines Gemetzels
gedeutet und dann vielleicht auch nicht nach der gusseisernen Bratpfanne von zwanzig Zentimeter Durchmesser gegriffen - und Jane vielleicht nicht getötet. »Es gab also gar keinen Bären«, stellte Danny fest. »Verdammt, zu jedem beliebigen Zeitpunkt gibt es im Norden New Hampshires wahrscheinlich dreitausend Bären - ich habe schon etliche Bären gesehen. Ich hab ein paar erschossen. Aber wenn ein Bär durch die Fliegengittertür in die Küche gekommen wäre, hätte dein Vater sich und Rosie am besten dadurch retten können, dass die beiden sich in den Speisesaal zurückgezogen hätten - und zwar nicht im Laufschritt, auch nicht mit dem Rücken zum Bären, sondern indem sie einfach Augenkontakt behalten und ganz langsam rückwärts gegangen wären. Nein, du Blödmann, das war kein Bär, das war ich! Kein Mensch käme auf die Idee, einem Bären
mit einer beschissenen Bratpfanne aufs Maul zu schlagen!« »Hätte ich doch nie darüber geschrieben.« Mehr fiel Danny dazu nicht ein. »Da wäre noch etwas«, sagte Ketchum. »Es gibt da noch eine Art Schreibproblem.« »O Gott!«, sagte Danny wieder. »Wie viel hast du getrunken?« »Du klingst immer mehr wie dein Vater«, meinte Ketchum. »Ich will damit nur eins sagen: Du veröffentlichst ein Buch, stimmt's? Und hast du schon mal darüber nachgedacht, was es heißen könnte, wenn dieses Buch ein Bestseller wird? Wenn du plötzlich ein bekannter Schriftsteller bist, wenn dein Name und dein Foto in Zeitungen und Zeitschriften auftauchen - vielleicht kommst du irgendwann sogar ins Fernsehen!« »Es ist ein Debütroman«, sagte Danny abfällig, ganz Realist. »Die Erstauflage ist
klein, und es wird praktisch keine Werbung geben. Es ist ein literarischer Roman, wenigstens hoffe ich das. Äußerst unwahrscheinlich, dass er ein Bestseller wird!« »Denk drüber nach. Schließlich ist alles möglich, oder? Haben Schriftsteller, sogar die jungen, nicht manchmal Glück, wie andere Leute auch - oder Pech, je nachdem?« Diesmal wusste Danny, was kam - und zwar rascher als in Mr. Learys Klassenzimmer in der Mickey, als der alte Englischlehrer ihm seinen »gewagten Vorschlag« unterbreitet hatte, den Namen Baciagalupo eventuell abzulegen. Der Vorschlag mit dem Künstlernamen - da war er wieder. Ketchum war der Erste gewesen, der sowohl Danny als auch seinem Vater eine Variante davon unterbreitet hatte. Jetzt verlangte Ketchum von Dominic, den Namen Del Popolo abzulegen. »Danny?«, sagte Ketchum. »Bist du noch da? Wie nennt man das noch mal, wenn ein
Schriftsteller sich einen Namen aussucht, der nicht sein Taufname ist? Diese George Eliot hat das doch gemacht, oder?« »Das nennt man einen Künstlernamen. Wie zum Teufel hast du eigentlich die Lehrerin in der Bibliothek kennengelernt, wenn du nicht mal lesen kannst?« »Na ja, einige Autorennamen und Titel kann ich lesen«, antwortete Ketchum pikiert. »Ich kann Bücher ausleihen und jemanden suchen, der sie mir vorliest!« »Aha«, sagte Danny. Vermutlich hatte Ketchum das mit seiner Mutter gemacht anstatt lesen zu lernen. Wie hatte Ketchum das mit dem Vorlesen doch gleich genannt, Dominic gegenüber? Vorspiel nicht wahr? (Tatsächlich war das Dominics Formulierung gewesen, der hatte seinem Sohn diese lustige Geschichte nämlich erzählt.) »Ein Künstlername«, wiederholte Ketchum
nachdenklich. »Ich glaube, es gibt dafür noch eine andere Bezeichnung, klingt irgendwie griechisch.« »Ein Pseudonym«, sagte Danny. »Genau!«, rief Ketchum. »Ein Pseudonym. Nun, das brauchst du. Nur zur Sicherheit.« »Du hast nicht zufällig einen Vorschlag?«, fragte Daniel Baciagalupo. »Du bist der Autor, das ist deine Aufgabe«, teilte ihm Ketchum mit. »Ketchum passt aber irgendwie zu Daniel, stimmt's? Und es ist ein typischer alter Coos-County-Name.« »Ich denke drüber nach«, versprach Danny. »Dir fällt bestimmt etwas Besseres ein«, sagte Ketchum. »Verrat mir eins«, sagte Danny. »Wenn meine Mom damals nicht im Fluss gestorben wäre, in jener Nacht, wen von euch beiden hätte sie verlassen? Dich oder meinen Dad? Das kann
ich meinen Vater nicht fragen, Ketchum.« »Scheiße!«, rief Ketchum. »Ich hab dich deine Frau >einen Freigeist< nennen hören. Katie war eine Gesetzlose, eine Politradikale, eine verfluchte Anarchistin und eine kaltherzige Frau - du hättest es besser wissen müssen, Danny. Aber Rosie war ein Freigeist! Sie hätte keinen von uns verlassen, niemals! Deine Mom war ein Freigeist, Danny - eine wie sie habt ihr jungen Leute von heute nie gesehen! Scheiße!«, rief Ketchum wieder. »Manchmal stellst du die dümmsten Fragen - man könnte meinen, du wärst noch ein Student, der nicht mal anständig Auto fahren kann, oder ein Zwölfjähriger, dem dein Dad und Jane und ich noch einen Bären aufbinden könnten, wenn wir wollten. Sprich mit deinem Dad, Danny sprich mit ihm.« Es klickte in der Leitung, dann folgte das Freizeichen. Ketchum hatte die Verbindung unterbrochen und den jungen Schriftsteller mit
seinen Gedanken allein gelassen.
6 - In medias res Aus unerfindlichen Gründen stand in der Wohnung am Wesley Place das Telefon auf Carmellas Seite des Bettes. Danny war nun schon einige Jahre fort, zuerst im Internat und dann auf dem College, und wenn das Telefon klingelte, nahm der Koch nur ab, weil er hoffte, es sei Danny - und nicht jemand mit schlechten Nachrichten über ihn. (Doch meistens war Ketchum dran.) Carmella hatte Danny gesagt, er solle häufiger zu Hause anrufen. »Nur deinetwegen haben wir ein Telefon, das sagt mir dein Dad immer!« Danach rief der Junge brav häufiger an. »Müsste das Telefon nicht auf meiner Seite
des Bettes stehen?«, hatte Dominic Carmella gefragt. »Schließlich willst du nicht mit Ketchum reden, und falls Daniel dran ist - oder schlimmer noch, falls es schlechte Nachrichten über Daniel gibt -« Carmella ließ ihn nicht ausreden. »Falls es schlechte Nachrichten über Daniel gibt, will ich sie zuerst erfahren - damit ich sie dir erzählen und dich in den Arm nehmen kann, so wie du mich damals im Arm gehalten hast«, sagte sie ihm. »Das ist verrückt, Carmella«, entgegnete er. Doch so war es nun einmal. Und das Telefon blieb auf Carmellas Seite des Bettes. Wenn Ketchum sich per R-Gespräch meldete, nahm Carmella jedes Mal den Anruf an. »Hallo, Mr. Ketchum. Wann lerne ich Sie endlich kennen?«, sagte sie dann gewöhnlich. Und: »Ich würde Sie sehr gern eines Tages kennenlernen.« (Ketchum war nicht sehr gesprächig, jedenfalls nicht ihr gegenüber. Sie reichte den Hörer immer gleich an Dominic weiter - an »Gamba«, wie sie ihn zärtlich
nannte.) Doch in jenem Frühling im Jahr 1967, als deutlich wurde, wie trostlos Dannys Ehe war (diese furchtbare Frau, der liebe Junge hätte etwas Besseres verdient), und es mehr RGespräche als gewöhnlich aus dem hohen Norden gab (die meisten über den gefährlichen Polizisten), machte Ketchum Carmella zum ersten Mal Angst. Später dachte Dominic, dass Ketchum wahrscheinlich genau das beabsichtigt hatte. Als Carmella nämlich den alten Holzfäller mit dem üblichen Spruch am Telefon begrüßte - und den Hörer schon auf die andere Bettseite an Dominic weitergeben wollte -, sagte Ketchum plötzlich: »Ich weiß nicht, ob Sie mich wirklich kennenlernen wollen, denn die Umstände wären dann vermutlich nicht die besten.« Davon hatte Carmella eine richtige Gänsehaut bekommen. Sie war in jenem Frühling wegen der aktuellen Entwicklungen ohnehin schon
genug durcheinander gewesen, und nun hatte Mr. Ketchum ihr Angst gemacht. Carmella wünschte, Danny wäre so erleichtert wie sie, dass Katie ihn verlassen hatte. Es war eine Sache, den Mann zu verlassen, mit dem man zusammen war - dafür hatte Carmella durchaus Verständnis -, doch als Mutter das eigene Kind zurückzulassen war eine Sünde. Carmella war erleichtert, dass Katie gegangen war, denn ihrer Ansicht nach wäre Katie ohnehin keine richtig gute Mutter gewesen, selbst wenn sie geblieben wäre. Natürlich hatten Carmella und Dominic Katie Callahan nie gemocht; beide hatten im Vicino di Napoli genug Kunden ihrer Sorte erlebt. »Sie ist wahrlich stinkreich«, hatte Carmella zum Koch gesagt. »Nein, sie ist nicht stink-, sondern abgrundtief reich«, hatte dieser erwidert. Damit meinte er, dass das Geld ihrer Familie für die wilde junge Frau als Sicherheitsnetz fungierte. Sie konnte sich alle möglichen Verrücktheiten leisten,
weil das Geld sie notfalls auffing. Genau wie für Ketchum stand für Dominic fest, dass Katie Callahans sogenannter Freigeist ein Schwindel war. Danny hatte seinen Dad missverstanden; er dachte, der Koch könne Katie nur deshalb nicht leiden, weil sie Rosie so ähnlich sah, Dannys untreuer Mutter. Doch es lag nicht an Katies Aussehen, dass Dominic und Ketchum sie nicht mochten. Die beiden hatte von Anfang an das gestört, was an ihr nicht wie bei Rosie Calogero war. Katie war lediglich eine rebellische junge Frau mit einem Geldpolster im Hintergrund, »nichts weiter als ein sexueller Outlaw«, wie Ketchum sie genannt hatte. Rosie hingegen hatte sowohl einen Jüngling als auch einen Mann wirklich geliebt. Ihr Dilemma war gewesen, dass sie beide tatsächlich von Herzen geliebt hatte folglich steckten beide auch in einem Dilemma. Verglichen damit war Katie Callahan nur eine Schlampe, die herumvögelte. Schlimmer noch, aufgrund ihrer
vorgeblichen politischen Motive hatte Katie geglaubt, sie stünde über solchen Banalitäten wie Ehe und Mutterschaft. Carmella wusste, wie sehr Dominic darunter litt, dass Danny glaubte, seine Mutter sei eine genauso gesetzlose Kreatur wie Katie gewesen. Obwohl Dominic sich große Mühe gegeben hatte, Carmella die Dreiecksbeziehung mit Rosie und Ketchum zu erklären, musste sie zugeben, dass sie das genauso wenig verstand wie Danny. Carmella konnte nachvollziehen, wie es zu so etwas kommen konnte, aber nicht, weshalb die drei dem kein Ende gesetzt hatten. Das verstand Danny auch nicht. Außerdem nahm Carmella ihrem lieben Gamba übel, dass er dem Jungen das mit seiner Mutter nicht früher erzählt hatte. Danny war schon längst alt genug, um diese Geschichte zu erfahren, und es wäre besser gewesen, wenn sein Dad sie ihm vor jenem Telefonat mit Mr. Ketchum erzählt hätte, in dem die Katze endlich aus dem Sack gelassen
wurde. An dem Morgen, als Danny anrief, um darüber zu reden, hatte Carmella den Hörer abgenommen. »Secondo!«, sagte sie, als sie seine Stimme hörte. In all den Jahren, die Danny im Vicino di Napoli gearbeitet hatte, war das sein Spitzname gewesen. »Secondo Angelo« hatte ihn zuerst der alte Polcari getauft, »zweiter Angel«. Sie alle hatten darauf geachtet, ihn Angelo zu nennen, aber nie Angelù, und in Carmellas Gegenwart kürzten sie den Spitznamen zu Secondo ab - auch wenn Carmella Danny so sehr mochte, dass sie ihn oft ihren secondo figlio, ihren zweiten Sohn, nannte. Im Restaurantjargon heißt secondo auch der zweite (oder Haupt-)Gang, und so hatte sich dieser Name gehalten. Doch jetzt war Carmellas Secondo Angelo nicht in der Stimmung, mit ihr zu sprechen.
»Ich muss mit meinem Dad reden, Carmella«, sagte er. (Ketchum hatte den Koch gewarnt, dass Danny anrufen würde. »Tut mir leid, Cookie«, hatte sein Anruf begonnen. »Ich habe Scheiße gebaut.«) Als Danny an diesem Aprilmorgen anrief, wusste Carmella, dass er wütend sein würde, weil sein Dad ihm so vieles nicht erzählt hatte. Natürlich hörte sie vor allem Dominics Seite des Gesprächs, dennoch merkte sie, wie das Telefonat verlief - schlecht. »Es tut mir leid - ich wollte es dir bald erzählen«, fing der Koch an. Carmella hörte Dannys Antwort darauf, denn er brüllte durch den Hörer seinen Vater an. »Worauf hast du denn gewartet?« »Vielleicht darauf, dass dir so etwas passiert, damit du verstehst, wie schwierig es mit Frauen manchmal sein kann«, sagte Dominic.
Carmella verpasste ihm von der anderen Bettseite her einen Stoß in die Rippen. Das »so etwas« bezog sich natürlich darauf, dass Katie Danny verlassen hatte - als wäre diese von vornherein verkorkste Beziehung auch nur ansatzweise mit dem vergleichbar, was zwischen Rosie, Ketchum und Dominic abgelaufen war. Und warum hatten sie dem Jungen so lange buchstäblich einen Bären aufgebunden? Das verstand Carmella nicht, und sie erwartete schon gar nicht, dass Danny es verstand. Sie lag da und hörte zu, wie der Koch seinem Sohn von jenem Abend in der Kochhausküche erzählte, als Rosie gebeichtet hatte, dass sie mit Ketchum schlief - und dann, als sie beide betrunken waren, war Ketchum durch die Gittertür marschiert, und Dominic hatte seinem Freund mit der Bratpfanne eins übergebraten. Zum Glück war Ketchum an jeder Menge Schlägereien beteiligt gewesen und ging davon aus, dass es im Prinzip keinen
lebenden Menschen gab, der ihm nicht einen Schlag verpassen wollte. Ketchums Reaktion lief automatisch ab. Offenbar hatte er mit einem Unterarm die Pfanne abgelenkt, die sich in Dominics Hand leicht verschob, so dass ihn nur der gusseiserne Rand der Bratpfanne traf, und zwar mitten auf die Stirn, nicht an der Schläfe, wo selbst ein teilweise abgeblockter Schlag mit einer so schweren Waffe möglicherweise tödlich gewesen wäre. Es gab damals in Twisted River keinen Arzt, ja noch nicht einmal ein Sägewerk und einen sogenannten Sägewerksteich an dem, was später Dead-Woman-Damm genannt wurde, wo es, ebenfalls später, einen absoluten Volltrottel von Arzt geben sollte. Rosie hatte Ketchums Stirn auf einem der Esstische im Kochhaus genäht; dazu hatte sie den extradünnen Draht aus rostfreiem Edelstahl benutzt, mit dem der Koch gewöhnlich gefüllte Hähnchen und Puten verschnürte. Der Koch hatte den Draht vorher abgekocht und
dadurch sterilisiert, und Ketchum hatte während des ganzen Vorgangs wie ein Elchbulle gebrüllt. Dominic war ständig um den Tisch herumgehumpelt, während Rosie zu den beiden sprach. Sie war so wütend, dass sie beim Nähen richtig grob wurde. »Ich wünschte, ich könnte euch beide nähen«, sagte sie und sah dabei Dominic an, ehe sie beiden erläuterte, wie es von nun an ablaufen würde. »Wenn ihr beide auch nur ein einziges Mal gewalttätig werdet, verlasse ich euch alle beide - ist das klar?«, hatte sie den Männern erklärt. »Nur wenn ihr versprecht, einander nie wieder zu verletzen - nein, euch wie zwei Brüder immer umeinander zu kümmern -, dann werde ich keinen von euch je verlassen, nicht ehe ich sterbe«, teilte sie ihnen mit. »Ihr bekommt also jeder eine Hälfte von mir, oder ihr bekommt beide gar nichts von mir - in diesem Fall nehme ich Danny mit. Habt ihr das alles begriffen?« Die zwei merkten, dass es ihr bitterernst war.
»Vermutlich war deine Mutter zu stolz, um nach der Fehlgeburt wieder nach Boston zu gehen, und als meine Mutter starb, fand sie, ich sei zu jung, um allein gelassen zu werden«, hörte Carmella Dominic am Telefon zu Danny sagen. »Rosie hat wohl geglaubt, sie müsse sich um mich kümmern, und natürlich wusste sie, dass ich sie liebte. Bestimmt liebte sie mich auch, aber ich war für sie immer noch nur ein netter Junge, und als sie Ketchum kennenlernte - tja, er war in ihrem Alter. Ketchum war ein Mann. Ob wir wollten oder nicht, Ketchum und ich mussten uns damit abfinden, Daniel - wir liebten sie beide über alles, und auf ihre Art hat sie uns wohl auch beide geliebt.« »Was hat Jane davon gehalten?«, fragte Danny, da Ketchum gesagt hatte, die Indianerin habe alles gewusst. »Nun, genau das, was man von Jane erwartet hätte«, antwortete sein Dad. »Sie sagte, wir
seien alle drei Arschlöcher. Jane fand, wir alle gingen ein enormes Risiko ein - sie sagte, die Chance, dass es funktioniere, sei nicht größer als die, bei einer Lotterie einen Haupttreffer zu landen. Das fand ich auch, doch deine Mutter ließ uns keine Wahl - und Ketchum war schon immer ein größerer Zocker als ich.« »Du hättest es mir früher erzählen müssen«, sagte Danny. »Das weiß ich, Daniel - es tut mir leid«, hörte Carmella den Koch sagen. Später erfuhr Carmella von Dominic, was Danny daraufhin zu ihm gesagt hatte: »Das mit dem Bären nehme ich dir nicht übel, das war eine gute Geschichte«, sagte Danny zu seinem Dad, »aber da gibt es etwas anderes, wo du falsch liegst. Du hast mir erzählt, du hättest Ketchum im Verdacht, Lucky Pinette getötet zu haben. Du und Jane und die Hälfte der Jungs in West Dummer - das habt ihr mir erzählt.« »Ich glaube, Ketchum könnte ihn getötet
haben, Daniel.« »Und ich glaube, da irrst du dich. Lucky Pinette wurde in seinem Bett ermordet, im alten Schleusenhaus am Androscoggin. Als man ihn fand, war sein Kopf mit einem Stempelhammer eingeschlagen worden - so war es doch, oder?«, fragte der Schriftsteller Daniel Baciagalupo seinen Vater. »Genauso war's«, antwortete sein Dad. »Auf Lucky Pinettes Stirn fand man eine Delle in Form des Buchstabens H.« »Also kaltblütiger Mord, oder, Dad?« »Sah ganz danach aus, Daniel.« »Dann ist Ketchum nicht der Täter«, sagte Danny bestimmt. »Wenn es Ketchum so leichtgefallen wäre, Lucky Pinette im Bett zu ermorden, warum bringt er dann Carl nicht einfach um? Es gibt diverse Methoden, wie Ketchum den Cowboy töten könnte - falls Ketchum ein Mörder wäre.«
Dominic wusste, dass Daniel recht hatte. (»Vielleicht ist der Junge ja wirklich ein Schriftsteller!«, sagte der Koch, als er Carmella die Geschichte erzählte.) Denn wenn Ketchum ein Mörder wäre, hätte er den Cowboy bereits umgebracht. Ketchum hatte Rosie versprochen, sich um Dominic zu kümmern - beide hatten versprochen, sich umeinander zu kümmern -, und wie könnte er sich unter den gegebenen Umständen besser um Dominic kümmern, als indem er den Cowboy einfach erledigte - im Bett oder wo auch immer er Carl bei einem Nickerchen überraschen konnte. »Begreifst du denn nicht, Dad?«, hatte Danny gefragt. »Wenn Pam Carl alles erzählt und der Cowboy weder dich noch mich findet, warum sollte er dann nicht auf Ketchum losgehen? Schließlich wird er wissen, dass Ketchum alles weiß - Sixpack verrät es ihm ja!« Doch Vater wie Sohn kannten die Antwort
darauf. Falls der Cowboy auf Ketchum losginge, würde Ketchum ihn töten - was sowohl Ketchum als auch Carl klar war. Wie die meisten Männer, die Frauen schlagen, war der Cowboy ein Feigling; wahrscheinlich würde es Carl gar nicht wagen, auf Ketchum loszugehen, nicht einmal mit Gewehr und Zielfernrohr. Der Cowboy wusste, dass der Holzfäller, im Gegensatz zum Koch, schwer zu töten wäre. »Dad?«, sagte Danny. »Wann verschwindest du endlich aus Boston?« Daran, wie schuldbewusst und ängstlich sich Dominic im Bett umdrehte und sie ansah, musste Carmella gemerkt haben, welche neue Wendung das Gespräch genommen hatte. Sie hatten besprochen, dass Dominic Boston verlassen musste, doch der Koch konnte oder wollte Carmella nicht sagen, wann. Als Dominic Carmella zum ersten Mal alles erzählt hatte, stellte er eins von vornherein
klar: Falls Carl ihm jemals auf die Spur kam und der Koch wieder fliehen musste, konnte Carmella ihn nicht begleiten. Sie hatte ihren Mann und ihr einziges Kind verloren. Nur eins war ihr erspart geblieben - die beiden sterben sehen zu müssen. Falls Carmella mit Dominic floh, würde der Cowboy sie selbst zwar vielleicht nicht töten, aber sie würde mit ansehen müssen, wie der Koch umgebracht wurde. »Das lasse ich nicht zu«, hatte Dominic ihr deutlich gemacht. »Wenn dieses Arschloch aufkreuzt, verschwinde ich allein.« »Wieso könnt du und Danny nicht einfach zur Polizei gehen?«, hatte Carmella ihn gefragt. »Das mit Jane war schließlich ein Unfall! Kannst du der Polizei nicht klarmachen, dass Carl verrückt und gefährlich ist?« Jemandem, der nicht aus Coos County war, ließ sich das nur schwer erklären. Erstens, der Cowboy war die Polizei - oder das, was sich dort oben Polizei schimpfte. Zweitens war es
kein Verbrechen, verrückt und gefährlich zu sein - nirgendwo, aber schon gar nicht im Norden New Hampshires. Auch war es höchstens ein kleineres Vergehen, dass Carl Janes Leiche verscharrt oder sich ihrer sonst irgendwie entledigt hatte, ohne jemandem etwas zu sagen. Fest stand: Nicht der Cowboy hatte sie getötet, sondern Danny. Wenn der Koch damals einfach die Wahrheit gesagt hätte, irgendwem, vielleicht wären sie dann damit durchgekommen. (Dominic hätte auch einfach mit Daniel zurück nach Twisted River fahren können. Der Koch hätte einfach bluffen können, wie es Ketchum und Danny damals von ihm verlangt hatten.) Jetzt war es natürlich zu spät, der Zug war abgefahren. Als der Koch Carmella das alles erzählt hatte, war es noch früh genug in ihrer Beziehung gewesen, dass sie die Bedingungen akzeptiert hatte. Jetzt, wo sie ihn mehr als nur ein wenig liebte, bereute sie es. Ihn nicht zu begleiten, wenn Dominic aufbrechen müsste,
würde ihr sehr schwerfallen. Und natürlich wusste Dominic, wie sehr ihm Carmella fehlen würde - mehr, als ihm Indianer-Jane gefehlt hatte. Vielleicht nicht so sehr, wie Rosie ihm und Ketchum auch heute noch fehlte, doch der Koch wusste, dass Carmella etwas Besonderes war. Und je größer seine Liebe zu Carmella wurde, desto entschiedener war Dominic dagegen, dass sie mitkam. Während Carmella im Bett lag, dachte sie an die Orte im North End, die sie nicht mehr aufsuchen konnte, einmal, weil sie mit dem Fischer dort gewesen war, und dann - noch schmerzlicher -, weil sie bestimmte Ecken des Viertels mit bestimmten Dingen verband, die sie mit Angelù unternommen hatte. Wohin würde sie nicht mehr gehen können, nachdem Dominic (ihr lieber Gamba) sie verlassen hatte?, fragte sich die Witwe Del Popolo. Nachdem Angelù ertrunken war, ging Carmella nie wieder auf der Parmenter Street
spazieren - genauer gesagt, nicht mehr in der Nähe der ehemaligen Cushman School. Die Grundschule, auf der Angelù die ersten Schuljahre verbracht hatte, war abgerissen worden. (1955, vielleicht auch 1956, Carmella wusste es nicht mehr.) Auf dem Grundstück sollte eines Tages eine Bibliothek erbaut werden, doch Carmella würde an dieser Bibliothek nie vorbeigehen. Weil sie schon immer als Kellnerin gearbeitet hatte - und auch schon immer im Vicino di Napoli -, hatte sie vormittags meist frei. Wenn die Kinder mit der Cushman School Ausflüge ins Viertel unternahmen, hatte Carmella stets angeboten, sie zu begleiten, um die Lehrer zu entlasten. Aus diesem Grund ging sie auch nicht mehr in die Nähe der Old North Church, wo man ihr und Angelus Schulklasse den Kirchturm gezeigt hatte, den Nachkommen von Paul Revere 1912 restaurieren ließen. Es war eine Episkopalkirche - die Carmella als Katholikin sonst nicht besucht hätte -, und sie
war berühmt (hauptsächlich wegen der Rolle, die sie bei Paul Reveres Ritt gespielt hatte). Unter Glas in einem Schrein verwahrt, lagen außerdem Backsteine aus einer Gefängniszelle in England, in der amerikanische Pilgerväter eingesperrt gewesen waren. Aus zwei Gründen konnte Carmella nicht mehr an dem Mariners House am North Square vorbeigehen, was unpraktisch für sie war, denn es lag ganz in der Nähe des Vicino di Napoli. Doch es war das Wahrzeichen der Boston Port and Seamen's Society, die sich »dem Dienst an den Seefahrern« verschrieben hatte. Angelus Klasse hatte das Mariners House besucht, aber bei diesem Schulausflug war Carmella nicht mitgekommen, schließlich hatte sie einen Fischer an die See verloren. Es war schlicht albern, wie selbst ganz banale Erinnerungen an den Fischer und an Angelù sie heimsuchten, doch so war es nun einmal. Sie mochte das Caffe Vittoria sehr, mied aber
den Raum mit den Fotos des Boxers Rocky Marciano, weil sowohl der Fischer als auch Angelù den Schwergewichtschampion bewundert hatten. Und sie hatte mit Ehemann und Sohn im Grotta Azzurra in der Hanover Street gegessen, wo früher auch Enrico Caruso gespeist hatte. Das betrat sie nun auch nicht mehr. Der Fischer hatte ihr erzählt, noch nie sei ein Seemann in der Hanover Street ausgeraubt worden und das werde auch immer so bleiben; selbst die besoffensten Matrosen könnten unbehelligt vom Hafen zum Old Howard und wieder zurückgehen. Neben den StripteaseClubs gab es von den Matrosen frequentierte Spelunken und die Spielhallen am Scollay Square. (Das sollte sich alles ändern; sogar der Scollay Square würde verschwinden.) Doch die Welt, in der Carmella mit ihrem ertrunkenen Mann und ihrem ertrunkenen Sohn gelebt hatte - die Hanover Street von einem bis zum anderen Ende -, war für sie
heilig und fluchbeladen zugleich. Sogar die räuberischen Möwen über dem Haymarket erinnerten sie daran, wie sie dort samstags mit dem kleinen Angelù an der Hand die Leute beobachtet hatte. Jetzt betrachtete sie skeptisch das Restaurant an der Fleet Street, das einst Stella's geheißen hatte; wenn das Vicino di Napoli abends einmal geschlossen hatte, aß sie dort gelegentlich mit Dominic. Sie aßen auch im Europeo, Dominic bestellte gewöhnlich die frittierten Calamari, aber nie nach New Yorker Art. (»Keine Tomatensauce - für mich nur Zitrone«, sagte der Koch immer.) Würde sie dort auch nicht mehr essen gehen können, wenn ihr Gamba weg war?, fragte sich Carmella. Auf jeden Fall würde sie in eine kleinere Wohnung umziehen müssen. Ob es dort im Sommer so heiß wurde, dass sie es wie die alten Damen in dem Mietshaus in der Charter Street machen würde? Die trugen Stühle aus
ihren Wohnungen auf den Bürgersteig, weil es dort kühler war. Aus diesen Kaltwasserwohnungen hingen an den Heiligenfesten im Sommer Unmengen von Luftschlangen. Plötzlich musste Carmella daran denken, wie Angelù als kleiner Junge auf den Schultern seines Vaters gesessen hatte; die Hanover Street war wegen einer Prozession gesperrt worden. Es war das Fest des heiligen Rocco gewesen, erinnerte sich Carmella. Inzwischen sah sie sich nicht mehr gern Prozessionen an. 1919 war Giuse Polcari ein junger Mann gewesen. Er erinnerte sich noch an die Melasseexplosion, bei der im North End 21 Menschen ums Leben gekommen waren, darunter der Vater eines Jungen, den er gekannt hatte. »Er wurde totgekochte in Flutwelle aus heiße Melasse!«, hatte der alte Joe Danny erzählt. Wer die Explosion hörte,
dachte, die Deutschen kämen, obwohl der Krieg vorbei war, und dass der Bostoner Hafen bombardiert würde oder so was. »Ich hab ein ganzes Klavier in der Melasse treiben sehen!«, erzählte der alte Joe Polcari dem Jungen. In der Küche des Vicino di Napoli hing ein Schwarzweißfoto von Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, auf dem die beiden eingewanderten Anarchisten mit Handschellen aneinandergefesselt waren. Sacco und Vanzetti wurden wegen des Mordes an dem Zahlmeister und dem Wachmann einer Schuhfabrik in South Braintree auf den elektrischen Stuhl geschickt. Der alte Polcari wusste während seiner letzten Tage, als er geistig nicht mehr so frisch war, nicht mehr alle Einzelheiten, aber an die Protestmärsche konnte er sich noch erinnern. »Das wurde Sacco und Vanzetti angehängte! Ein Polizeispitzel im Knast in der Charlestown Street hat sie verpfiffen, und der Staat Massachusetts hat dem Spitzel freie Fahrt
zurück nach Italien spendierte«, hatte der alte Joe Danny erzählt. Es hatte eine Kundgebung für Sacco und Vanzetti gegeben, die in der Hanover Street im North End anfing und bis zur Tremont Street führte, wo die berittene Polizei die Demonstration aufgelöst hatte; es waren Tausende von Protestierenden gewesen, unter ihnen Joe Polcari. »Wenn du oder dein Sohn je ein Problem habt, Gamba, dann sag's mir«, hatte Giuse Polcari zu Dominic gesagt. »Ich kenne da eine paar Typen - die löse deine Problem für dich.« Der alte Polcari sprach von der Camorra, der neapolitanischen Variante der Mafia - nicht dass Dominic den Unterschied ganz verstanden hätte. Wenn er als Kind über die Stränge schlug, nannte Nunzi ihn einen camorrista. Dominic hatte aber den Eindruck, dass das North End, wo man Mafia und Camorra die Schwarze Hand nannte, weitgehend von der Mafia kontrolliert war.
Als Dominic Paul Polcari erzählte, dass der Cowboy eventuell nach ihm suchen würde, sagte Paul: »Wenn mein Dad noch lebte, würde er seine Camorra-Kumpel anrufen, aber ich hab da keine Kontakte.« »Ich kenne mich mit der Mafia auch nicht aus«, sagte Tony Molinari zu Dominic. »Und wenn sie dir ein Mal einen Gefallen tun, bist du ihnen verpflichtet.« »Ich will euch nicht in meine Probleme mit reinziehen«, sagte Dominic zu beiden. »Ich werde weder die Mafia noch die Camorra um Hilfe bitten.« »Der verrückte Cop wird doch nicht Carmella etwas antun, oder?«, fragte Paul Polcari den Koch. »Ich weiß es nicht - man muss Carmella aber in jedem Fall im Auge behalten«, antwortete Dominic. »Wir werden sie im Auge behalten, keine
Bange«, sagte Molinari. »Falls der Cowboy hierher, ins Restaurant, kommt - also, wir haben Messer, Hackebeile...« »Weinflaschen«, schlug Paul Polcari vor. »Denkt nicht mal an so was«, sagte Dominic. »Falls Carl meinetwegen hier aufkreuzt, ist er bewaffnet - ohne seinen 45er Colt würde er nirgendwohin gehen.« »Ich weiß, was mein Dad sagen würde«, behauptete Paul Polcari. »Er würde sagen: >Eine 4 5 er-Colt isse gar nix - nicht wenn man jemals versucht hat, mite eine von diesen Frauen anzubandeln, die als Näherinnen in der Hemdenfabrik arbeiten. Auch wenn sie nackte sind, haben sie Nadeln bei sich!<« (Joe Polcari meinte die Leopold-Morse-Fabrik in dem alten Prince-Macaroni-Gebäude; sein Sohn Paul sagte, Giuse müsse wohl ein derbes Weibsbild gebumst haben, das dort beschäftigt war, oder er hatte es versucht.)
Die drei Köche lachten. Sie gaben sich Mühe, den Hilfssheriff oben im Coos County zu vergessen. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Der alte Polcari hatte hundert Sprüche wie den über die Hemdennäherinnen gekannt. »Wisst ihr noch den von der Frau, die in der Nachtschicht in der Bostoner Wurstfabrik gearbeitet hat?«, fragte Dominic Paul und Tony. Die beiden Köche grölten. »Na klar, sie hat in der Abteilung für Fleischenthäutung gearbeitet«, sagte Paul Polcari. »Sie hatte so ein fieses Messerchen, mit dem man die Haut von den Wiener Würstchen schneiden kann!«, erinnerte sich Molinari. »Sie konnte deine Penis schälen, als war er 'ne Weintraube!«, riefen die drei Köche beinahe im Chor. Dann betrat Carmella das Restaurant, und sie hörten auf zu lachen.
»Noch mehr dreckige Witze?«, fragte sie die drei. Sie machten gerade Feuer im Pizzaofen und warteten, dass der Teig aufginge; es war erst früher Vormittag, doch die Marinarasauce köchelte schon. Carmella merkte, wie besorgt die drei plötzlich wirkten, und keiner konnte ihr in die Augen sehen. »Ihr habt über Carl geredet, stimmt's?«, fragte sie. Die drei waren wie Jungs, die man beim Wichsen ertappt hat. »Vielleicht solltest du tun, was Ketchum sagt, Gamba, vielleicht solltest du den Rat deines alten Freundes beherzigen«, sagte sie zu Dominic. Seit Ketchums Warnung waren zwei Monate vergangen, aber der Koch wollte Carmella immer noch nicht sagen, wann er gehen würde. Keiner von ihnen konnte jetzt ihren geliebten Gambacorta ansehen, den hinkenden Koch. »Vielleicht solltest du jetzt gehen, falls du wirklich gehst«, sagte Carmella zu Dominic. »Es ist fast Sommer«, verkündete sie plötzlich. »Haben Polizisten Sommerferien?«
Es war Juni, kurz vor dem letzten Schultag, wie alle wussten. Für Carmella war das eine schwere Zeit im Jahr. Auf einmal konnte sie nirgends im North End mehr hingehen. Überall hielten sich die Schulkinder auf, die keinen Unterricht mehr hatten; sie erinnerten Carmella an ihren Angelù primu, ihren ersten Angel. Der Sheriff war seit zwei sich zäh dahinschleppenden Monaten mit Sixpack zusammen. Stimmt, es war noch eine relativ neue Beziehung, aber - worauf Ketchum hingewiesen hatte - zwei Monate, in denen er keine Frau vermöbelte, waren für Carl eine lange Zeit. Der Koch konnte sich nicht daran erinnern, dass früher eine Woche vergangen wäre, ohne dass der Cowboy Indianer-Jane geschlagen hatte. Manches hatte Carmella ihrem lieben Gamba über dessen geliebten Daniel nie erzählt. Wie
es der Junge geschafft hatte, noch vor seiner Abreise nach Exeter flachgelegt zu werden, beispielsweise. Carmella hatte Danny mit einer ihrer Nichten ertappt, einem der DiMattiaMädchen, Teresas jüngerer Schwester Josie. Carmella war zur Arbeit im Restaurant aufgebrochen, hatte aber etwas vergessen und musste noch einmal in die Wohnung am Wesley Place zurück. (Heute wusste sie nicht einmal mehr, was sie vergessen hatte.) Es war Dannys freier Tag, an dem er nicht als Hilfskellner arbeiten musste. Dass er ein Vollstipendium für Exeter bekam, wusste er schon - vielleicht feierte er das. Natürlich wusste Carmella, dass Josie DiMattia älter als Danny war; wahrscheinlich hatte Josie die Initiative ergriffen. Und die ganze Zeit über hatte Dominic vermutet, dass Teresa DiMattia - oder ihre Freundin Elena Calogero, eine sehr zärtliche Cousine -Dannys Entjungferung übernehmen würde. Warum machte sich Gamba deswegen solche
Sorgen?, fragte sich Carmella. Wenn der Junge mehr Sex gehabt hätte - damit meinte sie während seiner Zeit als Schüler in Exeter -, hätte er sich später auf dem College vielleicht nicht so in die junge Callahan verknallt! Und wenn er ein paar Cousinen mehr gevögelt hätte - Calogeros und Saettas und auch jedes weibliche Mitglied der DiMattia-Familie -, hätte er womöglich eine geschwängert, die viel netter war als Katie! Weil aber Dominic so auf Elena Calogero und Teresa DiMattia fixiert war, nahm Carmella, als sie die Wohnung betrat und Danny auf ihrem Bett mit jemandem zugange sah, automatisch an, dass Teresa den verängstigt dreinschauenden Fünfzehnjährigen entjungferte. Natürlich war Danny verängstigt, weil Carmella sie dabei erwischt hatte! »Teresa, du Hure!«, rief Carmella. (Tatsächlich nannte sie das Mädchen troia nach jener berüchtigten Trojanerin -, doch das
Wort bedeutete Hure.) »Ich bin Josie, Teresas Schwester«, erwiderte das Mädchen pikiert. Sie war wohl sauer, dass ihre Tante sie nicht erkannt hatte. »Tja, da hast du recht«, antwortete Carmella. »Und wieso benutzt du unser Bett, Danny? Du hast doch dein eigenes Bett, du disgraziato...« »Meine Güte, eures ist größer«, sagte Josie zu ihrer Tante. »Und hoffentlich benutzt du ein Kondom!«, sagte Carmella zu Danny. Dominic benutzte Kondome; er hatte nichts dagegen, und Carmella war es so lieber. Vielleicht hatte der Junge die Kondome seines Vaters gefunden. In Sachen Kondome war die Welt völlig bescheuert, wie Carmella wusste. In Barones Apotheke versteckten sie die Kondome unter der Theke, wo man sie nicht sah. Wenn Jugendliche welche kaufen wollten, schiss der Apotheker sie zusammen. Doch alle
verantwortungsvollen Eltern, die Jungs in dem Alter hatten, schärften ihnen ein, Kondome zu benutzen. Und wo bitte sollten die Jugendlichen welche herbekommen? »War es ein Kondom von deinem Dad?«, fragte Carmella Danny, der ein Laken über sich gezogen hatte. Er schien tief beschämt, dass sie sie erwischt hatte. Die kleine DiMattia hingegen hatte nicht einmal ihre Brüste bedeckt. Sie saß einfach nur mürrisch und nackt da und schaute ihre Tante herausfordernd an. »Wirst du das beichten, Josie?«, fragte Carmella das Mädchen. »Wie wirst du das beichten?« »Ich habe die Kondome mitgebracht - Teresa hat sie mir gegeben«, sagte Josie, ließ aber die wichtigere Frage nach der Beichte unbeantwortet. Jetzt war Carmella richtig böse geworden. Was hatte sich diese troia Teresa nur dabei gedacht, ihrer kleinen Schwester Kondome zu
geben? »Wie viele hat sie dir gegeben?«, wollte Carmella wissen. Doch ehe das Mädchen antworten konnte, fragte sie Danny: »Hast du eigentlich keine Hausaufgaben zu machen?« Dann wurde Carmella offenbar klar, dass sie sich einer gewissen Heuchelei schuldig gemacht hatte, als sie Teresa so übereilt verurteilt hatte. (Musste man Teresa nicht vielmehr dankbar sein, dass sie ihrer Schwester Kondome gegeben hatte? Aber hatten genau diese Kondome Josie nicht erst in die Lage versetzt, Secondo zu verführen?) »O Mann, soll ich die jetzt zählen, oder was?«, fragte Josie ihre Tante. Sie meinte die Kondome. Der arme Danny sah aus, als wollte er einfach nur sterben vor Scham. »Also, ihr beiden, passt bloß auf - ich muss zur Arbeit«, sagte Carmella. »Josie!«, hatte Carmella noch gerufen, als sie die Wohnung verließ, kurz bevor sie die Tür zuknallte. »Du wäschst meine Laken und machst mein Bett,
sonst sag ich's deiner Mutter!« Carmella fragte sich, ob die beiden den ganzen Nachmittag und Abend gefickt hatten und ob sie genug Kondome dabeigehabt hatten. (Weil sie deswegen so durcheinander war, hatte sie vergessen, dass sie in die Wohnung zurückgekommen war, weil sie etwas vergessen hatte.) Ihr lieber Gamba hatte seinen Sohn vor Mädchen beschützen wollen - und wie hatte der Koch geweint, als Danny nach Exeter zog! Doch Carmella hatte es nie über sich gebracht, ihm zu erzählen, dass es nicht wirklich geholfen hatte, den Jungen fort auf ein Internat zu schicken. (Jedenfalls nicht so, wie Dominic gehofft hatte.) Auch war Dominic von der Liste von Colleges und Universitäten, die viele Exeter-Absolventen anschließend besuchten, übermäßig beeindruckt gewesen. Der Koch verstand nicht, warum Danny als Schüler nicht gut genug war, um von einer dieser
renommierten Ivy-League-Universitäten angenommen zu werden. Die University of New Hampshire war für Dominic eine Enttäuschung gewesen, genau wie die Noten seines Sohnes in Exeter. Doch für jemanden, der von der Mickey kam, war die Exeter Academy sehr schwer, und Dannys Begabung für Mathe und Naturwissenschaften hielt sich in Grenzen. Die Noten des Jungen waren vor allem deshalb nicht glänzend, weil er ständig schrieb. Mr. Leary hatte recht gehabt: Sogenanntes »kreatives Schreiben« war in Exeter nicht sehr hoch angesehen, aber das Schreibhandwerk schon. Und es gab auf dem Internat einzelne Englischlehrer, die für Danny in Mr. Learys Rolle geschlüpft waren - sie hatten die Erzählungen gelesen, die ihnen der junge Baciagalupo zeigte. (Und sie hatten ihm nie ein Pseudonym vorgeschlagen.) Das Einzige, was Danny neben dem Schreiben
in Exeter sonst noch tat, war laufen, und zwar wie besessen. Im Herbst machte er Geländeläufe, und im Winter und Frühling lief er in der Leichtathletikmannschaft. Er verabscheute die schulischen Pflichtsportarten, lief aber gern. In erster Linie war er Langstreckenläufer; das passte einfach zu seinem Körperbau, seiner schlanken Gestalt. Wettkämpfe bedeuteten ihm nicht viel. Er lief einfach gern, so intensiv und schnell er konnte, doch ob er dabei jemanden besiegte, war ihm egal. Vor seiner Zeit in Exeter hatte er nie Gelegenheit zum Laufen gehabt, und dort konnte er das ganzjährig tun. Im North End konnte man nirgends laufen, nicht wenn man lange Strecken mochte. Und in den Wäldern im Norden New Hampshires gab es keine sicheren Laufstrecken, denn zwischen den Bäumen konnte man leicht stolpern, und wenn man auf den Abfuhrstraßen lief, wurde man von den Holzlastern entweder von der Straße gedrängt oder gar
niedergemäht. Diese Straßen gehörten den Holzfirmen, und die Truckerarschlöcher - wie Ketchum sie nannte - fuhren so, als gehörten sie ihnen persönlich. (Natürlich wurde auch gejagt, es gab eine Saison fürs Bogenschießen und für Schusswaffen. Wenn man während der Jagdsaison versuchte, im Wald oder auf einer Holzabfuhrstraße zu laufen, riskierte man, von irgendeinem Jägerarschloch über den Haufen geschossen oder mit seinem Jagdpfeil durchbohrt zu werden.) Als Danny Ketchum von seinen Laufversuchen in Exeter schrieb, schrieb dieser dem Jungen zurück: »Teufel auch, Danny, wie gut, dass du nicht in Twisted River und Umgebung herumrennst. Wenn ich irgendwo im Coos County einen laufen sehe, denke ich mir, er hat was ausgefressen und will fliehen. Wenn man die meisten Typen erschießen würde, die man hier laufen sieht, würde man nicht viel falsch machen.«
Besonders gern mochte Danny die Hallenlaufbahn in Exeter. In der ThompsonCage-Sporthalle gab es eine Aschenbahn und darüber eine leicht geneigte hölzerne Laufbahn. Dort konnte Danny hervorragend über die Geschichten nachdenken, an denen er gerade schrieb. Danny merkte, dass er beim Laufen sehr klar denken konnte, besonders wenn er allmählich müde wurde. Als er Exeter mit einer Zwei in Englisch und Geschichte und einer Drei in so ziemlich allem anderen abschloss, sagte Mr. Carlisle zu Dominic und Carmella, vielleicht sei der Junge ja ein »Spätzünder«. Doch als Danny ein knappes Jahr nach dem Autorenworkshop in Iowa seinen ersten Roman veröffentlichte, entpuppte er sich eher als Frühzünder. Auf der University of New Hampshire in Durham waren Dannys Noten hervorragend gewesen; verglichen mit der Exeter Academy war das Studium an der unh für Danny leicht. Das Hauptproblem in Durham waren Katie
Callahan und alles, was mit ihr zusammenhing - sowohl in Durham wie auch später in Iowa City. Wenn Carmella oder ihr geliebter Gamba auf die junge Frau zu sprechen kamen, wurde ihnen regelmäßig fast schlecht, wie bei einer Vergiftung. »Und du, Gamba, hast dir wegen ein paar scharfer italienischer Mädels im North End Sorgen gemacht!«, warf ihm Carmella eines Tages an den Kopf. »Wenn es einen Grund zur Sorge gab, dann wegen dieses Eisbergs auf der University of New Hampshire!« »Eine eiskalte Fotze«, hatte Ketchum Katie genannt. »Es lag auch an seiner ganzen Schreiberei«, hatte Dominic Carmella entgegnet. »Dieses verdammte ständige Phantasieren kann Daniel unmöglich gutgetan haben.« »Du bist verrückt, Gamba«, antwortete Carmella. »Danny hat sich Katie nicht
ausgedacht. Und wäre es dir wirklich lieber gewesen, er wäre nach Vietnam gegangen?« »Ketchum hätte das verhindert«, sagte Dominic. »Ketchum hat das ernst gemeint, Carmella. Dann wäre Daniel ein Schriftsteller geworden, an dessen Schreibhand ein paar Finger fehlen.« Vielleicht wollte sie Mr. Ketchum lieber doch nicht kennenlernen, dachte Carmella im Stillen. Im Juni 1967 machte der Schriftsteller Daniel Baciagalupo seinen Master of Fine Arts am renommierten Autorenworkshop der University of Iowa. Mit seinem zweijährigen Sohn Joe brach der Autor beinahe sofort nach seinem Abschluss nach Vermont auf. Trotz seiner Probleme mit Katie hatte Danny Iowa City und den Autorenworkshop geliebt, doch im Sommer war es heiß in Iowa, und er wollte
sich Zeit nehmen, um in Putney, Vermont, wo das Windham College lag, eine Unterkunft zu finden. Außerdem musste er für den kleinen Joe eine ordentliche Tagesbetreuung organisieren und eine verlässliche Babysitterin finden - vielleicht war ja auch die eine oder andere von Dannys Studentinnen bereit, gelegentlich einzuspringen. Einem seiner Lehrer in Iowa (und niemandem sonst) erzählte er von der Idee mit dem Pseudonym - dem Schriftsteller Kurt Vonnegut, einem liebenswürdigen Mann und guten Dozenten. Vonnegut wusste auch von Dannys Schwierigkeiten mit Katie. Danny sagte Mr. Vonnegut nicht, weshalb er über ein Pseudonym nachdachte, sondern nur, dass er noch kein gutes gefunden hatte. »Es ist völlig egal, welchen Namen man nimmt«, sagte ihm Vonnegut. Und im Übrigen sei Familienleben im Coos County, Dannys erstes Buch, einer der besten Romane, die er je
gelesen habe. »Darauf kommt es an, nicht darauf, welchen Namen Sie benutzen«, sagte Mr. Vonnegut. Die einzige Kritik des Autors von Schlachthof 5 an dem jungen Schriftsteller betraf, wie er es nannte, ein Problem der Zeichensetzung. Mr. Vonnegut mochte Dannys viele Semikolons nicht. »Vermutlich kommen die Leute auch so dahinter, dass Sie studiert haben, das müssen Sie ihnen nicht unter die Nase reiben«, sagte er. Aber die Semikolons hatte Danny aus den Romanen des 19. Jahrhunderts übernommen, die in ihm überhaupt erst den Wunsch geweckt hatten, Schriftsteller zu werden. Er kannte die Buchtitel und die Namen der Autoren von den Romanen, die seine Mutter hinterlassen hatte den Büchern, die sein Vater Ketchum in Twisted River vermacht hatte. Gelesen hatte er sie allerdings erst in Exeter, und zwar besonders die Bücher von Nathaniel
Hawthorne und Herman Melville. Diese beiden Autoren schrieben lange, komplizierte Sätze; und sie waren echte Semikolonfans gewesen. Außerdem kamen beide aus Neuengland es waren Daniels Lieblingsautoren. Und naturgemäß sprach der englische Romancier Thomas Hardy Daniel Baciagalupo an, der schon mit 25 ein gerüttelt Maß an Schicksalsschlägen erlebt hatte. Von den Workshop-Studenten in Iowa war er der Einzige, dem diese alten Schriftsteller besser gefielen als die meisten zeitgenössischen. Allerdings mochte Danny Kurt Vonneguts Bücher, und als Mensch mochte er Vonnegut auch. Mit seinen Lehrern hatte Danny Glück, angefangen bei Michael Leary. »Sie werden jemanden finden«, sagte Vonnegut zu Danny beim Abschied in Iowa City. (Sein Dozent meinte wohl, dass Danny irgendwann die richtige Frau finden würde.)
»Und«, fügte er hinzu, »vielleicht meint der Kapitalismus es gut mit Ihnen.« Mit diesem Satz im Kopf fuhr Danny zurück nach Osten. »Vielleicht meint der Kapitalismus es gut mit uns«, sagte er auf dem Weg nach Vermont mehrmals zu dem kleinen Joe. »Du suchst dir am besten eine Unterkunft mit einem Gästezimmer für deinen Dad«, hatte Ketchum bei ihrem letzten Telefonat gesagt. »Auch wenn Vermont meiner Ansicht nach nicht weit genug weg von New Hampshire ist. Konntest du dir nicht irgendwo im Westen eine Stelle als Dozent suchen?« »Herrgott noch mal«, hatte Danny erwidert. »Vom Coos County nach Südvermont braucht man mit dem Auto ungefähr genauso lange wie nach Boston, oder? Und in Boston waren wir dreizehn Jahre lang weit genug weg!« »Vermont ist zu nah - ich weiß es einfach«,
sagte Ketchum, »doch zurzeit ist es für deinen Vater dort viel sicherer, als in Boston zu bleiben.« »Das sage ich ihm auch ständig.« »Ich ebenfalls, aber er hört überhaupt nicht auf mich«, sagte der Holzarbeiter. »Das liegt an Carmella«, meinte Danny. »Er hängt sehr an ihr. Er sollte sie mitnehmen - ich weiß, dass sie mitkäme, wenn er sie fragen würde -, aber das will er nicht. Ich finde, Carmella ist das Beste, was ihm je passiert ist.« »Sag so was nicht, Danny«, bat ihn Ketchum. »Du hast deine Mutter nicht gekannt.« Danny widersprach nicht. Er wollte nicht, dass der alte Holzfäller auflegte. »Tja, sieht so aus, als müsste ich Cookie mit Gewalt aus Boston rausholen, so oder so«, sagte Ketchum, nachdem er eine Weile
geschwiegen hatte. »Wie willst du das anstellen?«, fragte ihn Danny. »Wenn's sein muss, steck ich ihn in einen Käfig. Hauptsache, du findest ein Haus in Vermont, das groß genug ist, Danny, dann bringe ich deinen Dad dahin.« »Ketchum - du hast Lucky Pinette nicht umgebracht, oder?« »Natürlich nicht!«, schrie Ketchum in den Hörer. »Lucky war's nicht wert, ermordet zu werden.« »Manchmal glaube ich, Carl wäre es wert, ermordet zu werden«, dachte Daniel Baciagalupo laut; er stellte die Idee einfach in den Raum. »Das geht mir auch nicht aus dem Kopf«, gab Ketchum zu. »Ich würde nicht wollen, dass man dich erwischt«, sagte ihm Danny.
»Das ist nicht das Problem, das ich damit habe«, sagte der Waldarbeiter. »Ich schätze, Carl wäre es auch egal, wenn er erwischt würde - ich meine, nachdem er deinen Dad umgebracht hätte.« »Wo liegt das Problem dann?«, fragte Danny. »Mir wäre es lieber, wenn er zuerst versuchen würde, mich zu töten«, antwortete Ketchum. »Dann hätte ich nämlich kein Problem damit.« Genauso hatte sich Daniel das vorgestellt; das Dilemma war, dass der Cowboy zwar strohdumm, aber schlau genug war, um am Leben zu bleiben. Und er soft nicht mehr, was bedeutete, dass Carl sich einigermaßen unter Kontrolle hatte. Vielleicht hatte er Sixpack deshalb zwei volle Monate lang nicht geschlagen oder sich wenigstens einigermaßen zurückgehalten, so dass sie bei ihm geblieben war und ihm nicht erzählt hatte, was sie wusste.
Sixpack aber trank immer noch. Ketchum wusste, dass sie leicht jegliche Selbstkontrolle verlor, und das war auch ein Problem. »Etwas macht mir Sorgen«, sagte Danny zu Ketchum. »Du trinkst doch immer noch. Hast du keine Angst, dass du besoffen aus den Latschen kippst und dann kommt Carl und erledigt dich?« »Du kennst meinen Hund noch nicht, Danny ein braves Tier.« »Ich wusste gar nicht, dass du einen Hund hast«, gestand Danny. »Verdammt, ich brauchte jemanden, mit dem ich reden konnte, als Sixpack mich verlassen hat.« »Was ist mit der Frau, die du in der Bibliothek kennengelernt hast - die Lehrerin, die dir das Lesen beibringt?«, fragte Danny den Holzfäller.
»Sie bringt es mir zwar bei, aber sehr gesprächig ist sie dabei nicht«, sagte Ketchum. »Du lernst wirklich lesen?«, fragte Danny. »Ja - allerdings geht es langsamer voran, als Waschbärenscheiße aufzusammeln«, erklärte Ketchum. »Aber ich habe fest vor, dein Buch zu lesen, sobald es veröffentlicht wird.« In der Leitung blieb es eine Weile still, dann fragte Ketchum: »Wie läuft's mit dem Pseudonym? Ist dir schon eins eingefallen?« »Mein Künstlername ist Danny Angel«, sagte Daniel Baciagalupo steif. »Nicht Daniel? Dein Dad mag Daniel sehr. Angel finde ich prima.« »Dad kann mich immer noch Daniel nennen«, sagte Danny. »Danny Angel muss reichen, Ketchum.« »Wie geht's dem kleinen Joe?«, fragte Ketchum. Er merkte, dass der junge Autor auf
das Thema Pseudonym empfindlich reagierte. Auf dem Rückweg nach Osten fuhr Danny vor allem nachts, wenn der kleine Joe schlief. Er suchte sich immer ein Motel mit Pool und spielte fast den ganzen Tag mit Joe. Wenn sein zweijähriger Sohn schlief, hielt Danny im Motel ein Nickerchen; dann fuhr er wieder die ganze Nacht durch. Der Schriftsteller Danny Angel hatte beim Fahren jede Menge Zeit zum Nachdenken. Er konnte die ganze Nacht nachdenken. Doch trotz seiner beträchtlichen Phantasie konnte Danny sich einen Waldarbeiter wie Ketchum nicht recht in Boston vorstellen. Nicht einmal Danny Angel, geborener Daniel Baciagalupo, konnte sich ausmalen, wie der furchteinflößende Holzfäller sich dort benehmen würde. Dass sich das Windham College als eine ziemlich komische Einrichtung entpuppen sollte, machte Danny Angel nicht viel aus.
Sein Erstling, Familienleben im Coos County, bekam recht gute Kritiken und verkaufte sich in der gebundenen Ausgabe eher bescheiden. Der junge Autor verkaufte später die Taschenbuch - und auch die Filmrechte, allerdings wurde dieses Buch nie verfilmt und die beiden Folgeromane sollten eher gemischte Besprechungen bekommen und sich noch schlechter verkaufen. (Roman zwei und drei schafften es nicht einmal bis ins Taschenbuch, und die Filmrechte wollte ebenfalls niemand.) Doch all das kümmerte Danny nicht besonders, der sich in erster Linie bemühte, seinen Dad vor Schaden zu bewahren, und gleichzeitig versuchte, Joe ein guter Vater zu sein. Danny schrieb und schrieb einfach immer weiter. Er musste weiterhin an Colleges unterrichten, um sich und seinen kleinen Sohn über die Runden zu bringen, und dabei sagte er dem kleinen Joe immerzu: »Vielleicht meint der Kapitalismus es eines Tages gut mit uns.«
Es war nicht besonders schwer gewesen, in Putney ein Haus zu finden, das groß genug war, um auch Dannys Vater aufzunehmen und Carmella, falls sie je nach Vermont kommen würde. Es war ein ehemaliges Farmhaus an einer ungeteerten Straße, was Daniel gefiel, weil daneben ein Bach floss, den die Straße an einigen Stellen überquerte. Das Rauschen des Bachs erinnerte Daniel Baciagalupo an seine Heimat. Das Farmhaus stand ein paar Kilometer von dem Dorf Putney entfernt, das aus nicht viel mehr als einem Kramladen und einem Lebensmittelgeschäft namens Putney Food Co-op bestand, sowie einem kleinen Supermarkt mit Tankstelle schräg gegenüber der alten Papierfabrik an der Straße zum College. Als Danny die Papierfabrik zum ersten Mal sah, wusste er, dass sein Dad Putney nicht mögen würde. (Der Koch stammte aus Berlin in New Hampshire und konnte Papierfabriken nicht ausstehen.)
Windham College war ein architektonischer Schandfleck in einer sonst wunderschönen Umgebung. Der Lehrkörper bestand aus einigermaßen anerkannten und auch weniger anerkannten Professoren und Dozenten. Windham hatte keine nennenswerten wissenschaftlichen Meriten vorzuweisen, doch einige der Dozenten waren recht gut und hätten an besseren Colleges und Universitäten unterrichten können, wollten aber in Vermont leben. Zahlreiche Studenten hätten wohl gar nicht studiert, wenn der Vietnamkrieg nicht gewesen wäre; ein vierjähriges Collegestudium war für wehrfähige junge Männer die einfachste Garantie für eine Zurückstellung vom Wehrdienst. Windham war eins dieser Colleges mit Vierjahreskursen; es war keine besonders würdige Institution, doch ihr Fortbestehen war zumindest so lange gesichert, wie sich der Krieg hinzog - und Dannys erster Job außerhalb eines Restaurants war gar nicht so übel.
Danny hatte nicht viele Studenten, die sich ernsthaft fürs Schreiben interessierten, und die wenigen, die er hatte, waren für seine Ansprüche nicht begabt oder fleißig genug. In Windham konnte man sich glücklich schätzen, wenn sich die Hälfte der Studenten in einem Kurs wenigstens fürs Lesen interessierte. Doch als junger Autor, der sich glücklich schätzte, vor dem Vietnamkrieg gerettet worden zu sein, war Danny ein nachsichtiger Lehrer. Sein Ziel war, dass insbesondere die männlichen Studenten auf dem College blieben. Falls, wie Zyniker behaupteten, Windhams einzige Daseinsberechtigung darin bestand zu verhindern, dass ein paar junge Männer nach Vietnam mussten, hatte Danny Angel nichts dagegen. Er war so weit politisiert, dass er den Krieg verabscheute, und er war mehr Schriffsteller als Dozent. Danny war Windhams akademischer Ruf ziemlich egal. Für ihn war das Unterrichten nur ein Job - der ihm im Übrigen genug Zeit ließ, zu schreiben
und ein guter Vater zu sein. Sobald er mit Joe das alte Farmhaus an der Hickory Ridge Road bezogen hatte, schickte er Ketchum die neue Adresse. Ihn kümmerte nicht, wer dem Holzfäller jetzt seine Briefe vorlas; vermutlich war es die Frau aus der Bibliothek, die Lehrerin, die Ketchum das Lesen beizubringen versuchte. »Für Dad ist hier jede Menge Platz«, schrieb Danny dem Holzarbeiter. Der Schriftsteller fügte auch seine neue Telefonnummer bei sowie eine Wegbeschreibung, sowohl für Besucher aus dem Coos County als auch für solche aus Boston. (Es war fast Ende Juni 1967.) »Vielleicht kommst du ja zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli vorbei«, schrieb Danny an Ketchum. »Falls ja, verlasse ich mich drauf, dass du das Feuerwerk mitbringst.« Ketchum war ein großer Feuerwerksfan. Einmal war ihm beim Angeln ein Fisch immer
wieder entwischt. »Ich schwör's, das ist die größte verfluchte Forelle im Phillips Brook«, verkündete er, »und die schlauste.« Er hatte den Fisch - und eine beträchtliche Anzahl anderer Forellen - mit Dynamit in die Luft gejagt. »Aber bring kein Dynamit mit«, hatte Danny als ps geschrieben. »Nur das Feuerwerk.« Nach Boston, der ersten Etappe seiner Reise, brachte Ketchum nicht in erster Linie »Feuerwerk« mit. Der Bahnhof North Station lag in dem Teil des West End, der ans North End grenzte. Ketchum stieg aus dem Zug, ein Gewehr über der einen und einen Seesack aus Segeltuch über der anderen Schulter. Der Seesack sah schwer aus, aber nicht, wenn Ketchum ihn trug. Die Waffe befand sich in einem ledernen Futteral, aber jedem, der den Holzarbeiter sah, war klar, dass es eine Schrotflinte oder ein Jagdgewehr enthielt. So
wie sich das Futteral verjüngte, sah man, dass Ketchum den Lauf der Waffe in der Hand hielt und der Kolben über der Schulter lag. Der Junge, der nun Hilfskellner im Vicino di Napoli war, hatte gerade seine Großmutter zum Zug gebracht. Er sah Ketchum und rannte ihm voraus, den ganzen Weg ins Restaurant. Dieser Hilfskellner erzählte, Ketchum habe wohl »den Umweg genommen«, was hieß, dass der Holzfäller einen Blick auf den Stadtplan geworfen und sich für die einfachste Route entschieden hatte, die nicht unbedingt die schnellste war. Ketchum musste über die Causeway Street in die Prince Street gekommen sein, die dann die Hanover Street kreuzte - eine Art Umweg zum North Square, wo das Restaurant lag, doch der Hilfskellner bereitete sie alle darauf vor, dass der große Mann mit der Kanone unterwegs war. »Welcher große Mann?«, fragte Dominic den Kellnerlehrling.
»Ich weiß nur, dass er eine Kanone dabeihat er trägt sie über der Schulter!«, antwortete der Junge. Alle, die im Vicino di Napoli arbeiteten, waren gewarnt worden, dass der Cowboy im Anmarsch sein könnte. »Und er ist ganz bestimmt aus dem Norden - er sieht verdammt furchterregend aus!« Dominic wusste, dass Carl den 4 5 er-Colt nicht offen tragen würde. Der war zwar groß für eine Handfeuerwaffe, aber niemand trug einen Revolver über der Schulter. »Das klingt, als meintest du eine Schrotflinte oder ein Jagdgewehr«, sagte der Koch zu dem Hilfskellner. »Jesus Maria!«, sagte Tony Molinari. »Auf der Stirn hat er eine Narbe, als hätte ihm jemand mit einem Hackebeil den Schädel spalten wollen!«, rief der Junge. »Ist es Mr. Ketchum?«, fragte Carmella Dominic.
»Er muss es sein«, antwortete der Koch. »Der Cowboy kann es nicht sein. Carl ist groß und dick, sieht aber nicht besonders >furchterregend< aus, und er hat auch nicht viel vom hohen Norden an sich. Er sieht einfach wie ein Cop aus, egal, ob uniformiert oder in Zivil.« Der Kellnerlehrling redete immer weiter. »Er hat ein Flanellhemd mit abgeschnittenen Ärmeln an, und an seinem Gürtel hängt ein riesiges Jagdmesser, das ihm fast bis ans Knie reicht!« »Das muss das Browning sein«, sagte Dominic. »Es ist eindeutig Ketchum. Im Sommer schneidet er einfach die Ärmel von seinen alten Flanellhemden ab - jedenfalls von denen mit zerrissenen Ärmeln.« »Wozu soll das Gewehr gut sein?«, fragte Carmella ihren lieben Gamba. »Vielleicht erschießt er mich, bevor Carl dazu
Gelegenheit hat«, sagte Dominic, doch Carmella war nicht zum Scherzen aufgelegt, genauso wenig wie die anderen. Sie gingen zur Tür und zu den Fenstern und hielten nach Ketchum Ausschau. Es war die Zeit am Nachmittag, in der sie für sich waren und ihre Hauptmahlzeit einnahmen, ehe der abendliche Stress begann. »Ich lege für Mr. Ketchum ein Gedeck auf«, sagte Carmella. Die beiden jüngeren Kellnerinnen überprüften ihr Aussehen in einem Spiegel. Paul Polcari umklammerte mit beiden Händen eine Pizzaschaufel von der Größe eines riesigen Tennisschlägers. »Leg die Schaufel weg, Paul«, wies ihn Molinari an. »Du siehst albern aus.« »Er hat eine Menge Zeug in seinem Seesack vielleicht Munition«, sagte der Hilfskellner. »Möglicherweise Dynamit«, sagte der Koch. »So wie der Mann aussieht, wird er vielleicht
verhaftet, ehe er hier eintrifft!«, teilte der Junge allen Anwesenden mit. »Warum ist er hier? Warum hat er nicht vorher angerufen?«, fragte Carmella ihren Gamba. Der Koch schüttelte den Kopf; sie alle würden abwarten müssen, bis sie erfuhren, was Ketchum vorhatte. »Er kommt, um dich abzuholen, Gamba, nicht wahr?«, fragte Carmella den Koch. »Wahrscheinlich«, antwortete Dominic. Dennoch strich Carmella die kleine weiße Schürze über ihrem schwarzen Rock glatt; sie schloss die Tür auf und wartete dort. Jemand muss Mr. Ketchum doch begrüßen, dachte sie. Was soll ich in Vermont machen?, fragte sich der Koch im Stillen. Wen interessiert da die italienische Küche? Ketchum kam rasch zur Sache. »Ich weiß, wer Sie sind«, sagte er freundlich zu Carmella.
»Ihr Sohn hat mir Ihr Foto gezeigt, und Sie haben sich kaum verändert.« Und ob sie sich in den über 13 Jahren verändert hatte, die vergangen waren, seit das Foto in Angels Portemonnaie aufgenommen wurde! Carmella war jetzt knapp zwanzig Pfund schwerer, wie alle wussten, dennoch freute sie sich über das Kompliment. »Sind alle hier?«, fragte Ketchum die Anwesenden. »Oder ist jemand in der Küche?« »Wir sind alle hier, Ketchum«, antwortete der Koch seinem alten Freund. »Tja, dass du hier bist, sehe ich, Cookie«, sagte Ketchum. »Und deiner missbilligenden Miene nach zu urteilen, freust du dich nicht besonders, mich zu sehen.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, ging Ketchum einfach in den hinteren Bereich der Küche, bis sie ihn nicht mehr sahen. »Könnt ihr mich sehen?«, rief er.
Sie riefen alle zurück: »Nein!« - alle bis auf den Koch. »Tja, aber ich kann euch noch sehen - das ist ideal«, sagte Ketchum. Als er aus der Küche kam, hatte er das Gewehr aus seinem Futteral genommen; ausnahmslos alle, einschließlich des Kochs, wichen davor zurück. Das Gewehr roch irgendwie fremd - vielleicht lag es am Waffenöl und am ölfleckigen Lederfutteral -, doch da gab es noch einen anderen Geruch, etwas wirklich Fremdes (selbst für Köche, selbst im Gastraum und in der Küche eines Restaurants). Vielleicht war es der Geruch des Todes, denn Schusswaffen haben nur einen Zweck: zu töten. »Das hier ist ein Ithaca-Jagdgewehr vom Kaliber zwanzig - Einzelschuss, keine Sicherung. Es ist so schlicht und simpel, wie ein Gewehr nur sein kann«, sagte Ketchum. »Sogar ein Kind kann damit schießen.« Er klappte das Gewehr auf, so dass der Lauf in
einem Winkel von 45 Grad nach unten hing. »Es gibt keine Sicherung, weil man es vor dem Schießen mit dem Daumen spannen muss; es gibt auch keine Halbstellungsraste des Hahns«, fuhr der Waldarbeiter fort. Sie sahen fasziniert zu - alle außer Dominic. Was Ketchum über das Gewehr erzählte, kam ihnen spanisch vor, doch Ketchum wiederholte es geduldig immer wieder. Er zeigte ihnen, wie man es lud und wie man die leere Hülse herausnahm - er zeigte es ihnen immer und immer wieder, bis es sogar der Hilfskellner und die jungen Kellnerinnen hätten machen können. Dem Koch brach es das Herz, als er sah, mit welch gespannter Aufmerksamkeit Carmella dem alten Holzfäller zusah. Als Ketchum fertig war, hätte sogar Carmella das verdammte Gewehr laden und abfeuern können. Wie ernst die Vorführung war, begriffen alle erst, als Ketchum auf die zwei
Munitionssorten zu sprechen kam. »Das hier ist Schrot. Die Ithaca sollte permanent mit einer Schrotpatrone geladen sein.« Ketchum hielt Paul Polcari seine große Hand vor das mehlbestäubte Gesicht. »Von da hinten aus, wo ich in der Küche gestanden habe, würde der Schrot auf einem hier befindlichen Ziel ein etwa so großes Muster hinterlassen.« Allmählich begriffen sie, worum es ging. »Ihr müsst halt sehen, wie es sich entwickelt. Wenn Carl eure Geschichte glaubt - und ihr müsst ihm alle dieselbe Geschichte erzählen -, dann verschwindet er vielleicht wieder, ohne dass es zu einem Zwischenfall kommt. Dann muss nicht geschossen werden«, sagte Ketchum. »Welche Geschichte meinst du?«, fragte der Koch seinen alten Freund. »Nun, sie handelt davon, wie du diese Dame hier sitzengelassen hast«, sagte Ketchum und wies auf Carmella. »Was nicht einmal ein
Trottel tun würde, versteht sich, doch das hast du gemacht, und alle hier hassen dich deswegen. Wenn sie dich fänden, würden sie dich selbst gern umbringen. Hat jemand hier Schwierigkeiten, sich diese Geschichte zu merken?«, wollte Ketchum wissen. Alle schüttelten den Kopf, sogar der Koch, wenn auch aus einem anderen Grund. »Nur einer von euch muss hinten in der Küche sein«, fuhr Ketchum fort. »Ob der Cowboy das weiß, ist mir egal, er darf den Betreffenden nur nicht ganz sehen. Wer von euch hier hinten ist, kann mit Töpfen und Pfannen klappern, soviel er möchte. Wenn Carl ihn aber sehen will, und das wird er bestimmt, sagt der Betreffende einfach, er ist mit Kochen beschäftigt.« »Wer von uns soll denn mit der Flinte hinten in der Küche sein?«, wollte Paul Polcari wissen. »Das ist im Grunde egal, Hauptsache, jeder weiß, wie man mit der Ithaca umgeht«,
antwortete Ketchum. »Du bist dir vermutlich sicher, dass Carl hierherkommen wird?«, fragte ihn Dominic. »Das ist unvermeidlich, Cookie. Er wird hauptsächlich mit Carmella reden wollen, doch er kommt, um mit allen zu reden. Wenn er euch die Geschichte nicht abkauft und es Ärger gibt, dann erschießt ihn einer von euch«, sagte Ketchum zu ihnen allen. »Wie wissen wir, ob es Ärger geben wird?«, fragte Tony Molinari. »Woher wissen wir, ob er uns die Geschichte abkauft?« »Tja, seinen fünfundvierziger Colt werdet ihr nicht sehen«, antwortete Ketchum. »Ihr könnt mir glauben, dass er ihn dabeihat, aber dass es Ärger gibt, merkt ihr erst, wenn ihr die Kanone seht. Wenn Carl euch den Colt zeigt, will er ihn auch benutzen.« »Und dann schießen wir auf ihn?«, fragte Paul Polcari.
»Wer gerade in der Küche ist, sollte ihm vorher etwas zurufen«, empfahl ihnen Ketchum. »So etwas wie >He, Cowboy!< - nur damit Carl dorthin sieht.« »Ich könnte mir vorstellen«, sagte Molinari, »dass wir eine bessere Chance haben, einfach so auf ihn zu schießen - das heißt, ehe er in die Richtung des Schützen guckt.« »Nein, eigentlich nicht«, erklärte ihm Ketchum geduldig. »Wenn der Cowboy in deine Richtung sieht, und angenommen, du zielst auf seinen Hals, dann triffst du ihn in Gesicht und Brustkorb, in beides, und blendest ihn wahrscheinlich.« Der Koch sah Carmella an, weil er dachte, sie würde vielleicht ohnmächtig werden. Der Hilfskellner sah aus, als wäre ihm übel. »Wenn der Cowboy erst mal blind ist, muss man sich nicht mehr ganz so beeilen, wenn man die leere Hülse rausnimmt und das Flintenlaufgeschoss einlegt. Der Schrot
blendet ihn, doch mit dem Flintenlaufgeschoss verpasst man ihm den Fangschuss«, erklärte ihnen Ketchum. »Erst blendet man ihn, dann tötet man ihn.« Der Kellnerlehrling sprintete in Richtung Küche. Sie hörten, wie er in die extragroße Spüle kotzte, in der die Tellerwäscher Töpfe und Pfannen schrubbten. »Vielleicht sollte er besser nicht hinten in der Küche sein«, sagte Ketchum leise zu den anderen. »Teufel auch, im Coos County sind wir genau so mit Hirschen umgesprungen. Man leuchtet sie mit der Taschenlampe an, bis das Wild einen direkt ansieht. Zuerst der Schrot, dann das Flintenlaufgeschoss.« Doch jetzt hielt der Holzarbeiter inne, ehe er fortfuhr. »Bei einem Hirsch oder Reh reicht der Schrot, wenn man nahe genug dran ist. Bei dem Cowboy wollen wir keine unnötigen Risiken eingehen.« »Ich glaube nicht, dass wir jemanden töten können, Mr. Ketchum«, sagte Carmella. »Wir
wissen einfach nicht, wie man das macht.« »Ich hab's euch doch gerade gezeigt!«, entgegnete Ketchum. »Eine einfachere Flinte als die kleine Ithaca hab ich nicht. Ich hab sie beim Armdrücken in Milan gewonnen - du erinnerst dich doch noch, Cookie, oder?« »Und ob ich mich erinnere!«, antwortete der Koch seinem alten Freund. Es war etwas Ernsteres als ein Armdrücken daraus geworden, aber Ketchum hatte am Ende die Ithaca-Flinte gewonnen, das ließ sich nicht bestreiten. »Verdammt, ihr müsst einfach an eurer Geschichte arbeiten«, riet ihnen Ketchum. »Wenn die Geschichte nur gut genug ist, braucht ihr den Dreckskerl vielleicht gar nicht zu erschießen.« »Bist du den weiten Weg gekommen, um uns die Flinte zu bringen?«, fragte der Koch. »Die Ithaca hab ich ihnen gebracht, Cookie -
die ist für deine Freunde, nicht für dich. Ich bin hier, um dir beim Packen zu helfen. Auf uns wartet eine kleine Reise.« Dominic griff nach hinten, um Carmellas Hand zu nehmen - er wusste, dass sie hinter ihm stand -, doch Carmella war schneller. Sie schlang beide Arme um die Taille ihres Gamba und vergrub ihr Gesicht in seinem Nacken. »Ich liebe dich, aber ich will, dass du Mr. Ketchum begleitest«, sagte sie dem Koch. »Ich weiß«, sagte Dominic. Es hatte keinen Zweck, ihr oder Ketchum zu widersprechen. »Was ist sonst noch in dem Seesack?«, fragte der Hilfskellner. Der junge Bursche war aus der Küche zurückgekommen und sah jetzt ein wenig besser aus. »Feuerwerk, für den Vierten Juli«, antwortete Ketchum. »Danny hat mich gebeten, welches mitzubringen«, sagte er zu Dominic.
Carmella ging mit ihnen in die Wohnung am Wesley Place. Der Koch packte nicht viel ein, nahm aber die gusseiserne Bratpfanne von ihrem Haken im Schlafzimmer; Carmella wusste, dass die Pfanne für ihn vor allem symbolischen Wert hatte. Sie begleitete die beiden zu einem Mietwagenverleih. Die Männer würden mit dem Mietwagen nach Vermont fahren, und Ketchum würde anschließend das Auto nach Boston zurückbringen. Dann würde er in der North Station den Zug zurück nach New Hampshire nehmen. Ketchum wollte vermeiden, dass sein Pick-up ein paar Tage lang verschwunden war und Carl deshalb wusste, dass der Holzfäller fort war. Außerdem müsse er einen neuen Pick-up kaufen, erzählte ihnen Ketchum. Die weite Fahrt, die er und Dominic vor sich hatten, hätte Ketchums Truck wohl nicht geschafft. 13 Jahre lang hatte Carmella gehofft, Mr. Ketchum kennenzulernen. Jetzt hatte sie ihn
und seine gewalttätige Natur kennengelernt. Carmella war sofort klar, was ihr Angelù an diesem Mann bewundert hatte, und sie konnte sich unschwer vorstellen, wie Rosie Calogero (oder jede Frau ihres Alters) sich in ihn in jüngerem Alter hatte verlieben können. Doch jetzt hasste sie Ketchum, weil er ins North End kam und ihr ihren Gamba nahm; sogar das Hinken des Kochs würde ihr fehlen. Dann sagte Mr. Ketchum etwas, womit er sie sofort für sich gewann. »Wenn Sie eines Tages die Stelle sehen möchten, wo Ihr Junge umkam, wäre es mir eine Ehre, sie Ihnen zu zeigen«, sagte Ketchum zu ihr. Carmella kämpfte mit den Tränen. So sehr hatte sie die Stelle im Fluss sehen wollen, wo der Unfall geschehen war - aber nicht die Baumstämme. Sie wusste, die Stämme wären zu viel für sie. Nur das Flussufer, wo der Koch und Danny gestanden und zugesehen hatten, wie es passierte, vielleicht auch noch die genaue Stelle im Wasser - ja, das würde sie vielleicht
eines Tages sehen wollen. »Ich danke Ihnen, Mr. Ketchum«, sagte Carmella. Sie sah zu, wie sie einstiegen. Selbstverständlich saß Ketchum am Steuer. »Falls du mich je wiedersehen willst...«, fing Carmella an. »Ich weiß«, sagte der Koch, ohne sie dabei anzublicken. Verglichen mit dem Tag, als ihr Gamba sie verlassen hatte, war der Tag, als Carl in das Vicino di Napoli kam, für Carmella fast eine Bagatelle. Wieder war es Nachmittag und wieder zur Essenszeit des Personals, und es war Hochsommer - irgendwann im August 1967, als sie allmählich alle glaubten (oder hofften), der Cowboy werde gar nicht mehr kommen. Carmella sah den Cop zuerst. Er war genau so,
wie Gamba es ihr gesagt hatte: Auch wenn Carl keine Uniform trug, sah er aus, als hätte er eine an. Natürlich hatte Ketchum eine Bemerkung zu den Hängebacken gemacht und dazu, wie sich der Nacken des Cowboys in Speckfalten legte. (»Vielleicht haben ja alle Cops einen miesen Haarschnitt«, hatte Ketchum zu ihr gesagt.) »Einer von euch geht jetzt nach hinten in die Küche«, hatte Carmella befohlen und sich vom Tisch erhoben. Die Tür war abgeschlossen, und Carmella ging und schloss sie auf. Schließlich ging Paul Polcari in den hinteren Küchenbereich. In dem Augenblick, als der Cowboy das Restaurant betrat, wünschte sich Carmella, Molinari wäre in der Küche. »Sie sind wohl die Witwe Del Popolo?«, fragte der Hilfssheriff. Er zeigte ihnen allen seine Dienstmarke und sagte: »Massachusetts liegt zwar außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs - genau genommen liegt alles außerhalb vom
Coos County außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs -, aber ich suche jemanden, den Sie wohl alle kennen. Er muss einige Fragen beantworten - Dominic heißt er, ein kleiner Kerl, der hinkt.« Carmella fing an zu weinen; sie hatte zwar nah am Wasser gebaut, aber jetzt musste sie sich zwingen zu weinen. »Dieser Drecksack«, sagte Molinari. »Ich würd ihn umbringen, wenn ich wüsste, wo er ist.« »Ich auch!«, rief Paul Polcari aus der Küche. »Können Sie da rauskommen?«, rief der Hilfssheriff Paul zu. »Ich möchte jeden sehen.« »Ich bin mit Kochen beschäftigt!«, schrie Paul zurück und klapperte mit Töpfen und Pfannen. Der Cowboy seufzte. Sie alle wussten noch, wie der Koch und Ketchum Carl beschrieben
hatten; sie hatten gesagt, der Cop lächle pausenlos, doch es sei das unehrlichste Lächeln der Welt. »Hören Sie«, sagte der Cowboy zu ihnen, »ich weiß nicht, was der Koch Ihnen getan hat, aber mir muss er einiges erklären...« »Er hat sie sitzenlassen!«, sagte Molinari und zeigte auf Carmella. »Er hat ihren Schmuck geklaut!«, rief der Hilfskellner. Der Junge ist ein Trottel!, dachten die anderen. (Vielleicht war sogar der Cop klug genug, um zu wissen, dass Carmella nicht die Sorte Frau war, die Schmuck besaß.) »Ich hab Cookie nie für einen Schmuckdieb gehalten«, sagte Carl. »Seid ihr auch aufrichtig zu mir, Leute? Wisst ihr wirklich nicht, wo er ist?« »Nein!«, rief eine der jungen Kellnerinnen, als hätte ihre Kollegin auf sie eingestochen.
»Dieser Drecksack«, wiederholte Molinari. »Was ist mit Ihnen?«, rief der Cowboy in Richtung Küche. Paul hatte offenbar die Stimme verloren. Als die Töpfe wieder losklapperten, nahmen die anderen das als Zeichen, ein wenig von dem Cop abzurücken. Ketchum hatte ihnen eingeschärft, nicht wie eine Schar Hühner auseinanderzulaufen, sondern den nötigen Freiraum zwischen sich und dem Cowboy zu schaffen - damit der Schütze den Mistkerl richtig ins Visier nehmen konnte. »Ich würd ihn kochen, wenn ich ihn in die Finger bekäme!«, rief Paul Polcari. Die Ithaca hielt er in seinen mehligen und zitternden Händen. Er sah durch die Kimme den Lauf hinunter, bis er den Hals des Cowboys fand oder was unter Carls Mehrfachkinn davon zu sehen war. »Können Sie mal da rauskommen, damit ich Sie sehe?«, rief der Cop Paul zu und spähte in
die Küche. »Spaghettifresser«, murmelte der Cowboy. In diesem Moment erhaschte Tony Molinari einen Blick auf den Colt. Carl griff mit einer Hand in die Jacke, und Molinari sah das große, sperrig unter der Achsel des Hilfssheriffs hängende Holster und seine dicken Finger, die den Griff der langläufigen Handfeuerwaffe streiften. Der Griff des 45erColts war offenbar mit Bein eingelegt, möglicherweise von einem Hirschgeweih. Herrgott noch mal, Paul!, dachte Molinari, nun sieht dich der Cowboy schon an - jetzt schieß endlich! Carmella dachte zu ihrer Überraschung ebenfalls: >Jetzt schieß endlich! < Sie musste sich zusammenreißen, um sich nicht beide Ohren zuzuhalten. Paul Polcari war für diese Aufgabe schlicht ungeeignet. Der Pizzabäcker war ein lieber, sanfter Mann; jetzt fühlte sich seine Kehle an, als wäre sie von einer Handvoll Mehl verstopft. Er versuchte »He, Cowboy!« zu
sagen, doch die Worte kamen einfach nicht heraus. Und der Cowboy spähte immer noch in die Küche. Paul Polcari wusste, dass er gar nichts sagen musste. Er brauchte einfach nur abzudrücken, und Carl wäre geblendet. Aber Paul brachte es nicht über sich - genauer gesagt, er machte es nicht. »Tja, Mist«, sagte der Hilfssheriff. Er ging seitwärts in Richtung Restauranttür. Molinari war besorgt, weil der Cowboy von Pauls Position im hinteren Küchenbereich aus nicht mehr zu sehen war. Plötzlich griff Carl wieder in seine Jacke, und alle erstarrten. (Jetzt holt er den Colt raus!, dachte Molinari.) Doch dann sahen sie, dass der Cowboy nur ein Kärtchen aus seiner Jackentasche zog und es Carmella gab. »Rufen Sie mich an, wenn dieser kleine Krüppel Sie anruft«, sagte Carl zu ihr, und dabei lächelte er immer noch. Aus dem Krach der in der Küche zu Boden fallenden Töpfe und Pfannen schloss Molinari,
dass Paul Polcari da hinten ohnmächtig geworden war. »Du hättest in der Küche sein müssen, Tony«, sagte Carmella später zu Molinari, »aber ich kann dem armen Paul keinen Vorwurf machen.« Doch Paul Polcari machte sich Vorwürfe. Er brachte den Vorfall immer wieder zur Sprache. Und Tony Molinari brauchte fast eine Stunde, um die Ithaca von dem vielen Mehl zu säubern. Der Cowboy kam nicht wieder. Allein die Flinte in der Küche zu haben hatte vielleicht schon geholfen. Und die Geschichte, die Ketchum ihnen eingetrichtert hatte anscheinend hatte Carl sie geglaubt. Als die kritische Situation überstanden war, weinte Carmella und hörte gar nicht wieder auf. Alle nahmen an, dass sie wegen der schrecklichen Anspannung dieses Augenblicks weinte. Doch es hatte sie mehr getroffen, dass ihr Gamba sie verlassen hatte; Carmella
weinte, weil sie wusste, dass für Gamba die kritische Situation noch nicht überstanden war. Entgegen dem, was sie Ketchum gesagt hatte, hätte sie abgedrückt, wenn sie in der Küche gewesen wäre. Ein Blick auf den Cowboy und, wie Ketchum sie vorgewarnt hatte, die Art, wie der Cowboy sie angesehen hatte hatte Carmella davon überzeugt, dass sie hätte abdrücken können. Doch weder für sie noch einen der anderen würde diese Gelegenheit je wiederkommen. Tatsächlich fehlte Dominic Carmella Del Popolo mehr, als ihr der Fischer je gefehlt hatte, und Secondo fehlte ihr auch. Sie wusste von dem Loch, das der Junge damals in seine Zimmertür in der Wohnung in der Charter Street gebohrt hatte. Vielleicht badete sie sittsamer, seit sie von dem Loch wusste, doch Carmella hatte trotzdem zugelassen, dass Danny sie dabei beobachtete. Nach dem Tod
des Fischers und Angelus Weggang hatte lange Zeit niemand sie mehr angesehen. Als Dominic und Danny in ihr Leben traten, hatte Carmella eigentlich nichts dagegen, dass der Zwölfjährige sie in ihrer Badewanne in der Küche beobachtete; sie sorgte sich nur, welche Folgen ihr Anblick später für den Jungen haben könnte. (Damit meinte Carmella nicht Dannys Schriftstellern.) Viele Menschen waren von dem Namen, den der Schriftsteller Daniel Baciagalupo zu seinem Pseudonym machte, überrascht, erstaunt oder enttäuscht, aber Carmella Del Popolo war darüber zweifellos hoch erfreut. Als nämlich Familienleben im Coos County von Danny Angel erschien, war sich Carmella sicher, dass Secondo immer gewusst hatte, dass er ihr Ersatzsohn war - so sicher, wie alle im Vicino di Napoli (allen voran Carmella) wussten, dass niemand ihren innig geliebten, aber verstorbenen Angelù ersetzen konnte.
TEIL III WINDHAM COUNTY, VERMONT, 1983 7 - Benevento und Avellino Das Haus war alt und wegen seiner Nähe zum Connecticut River stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Wohnungen darin waren teils ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen, wenn auch nicht ausschließlich durch den Fluss; damals in den Sechzigern hatten ein paar Studenten des Windham College eine von ihnen verwüstet. Die ehemals billigen Wohnungen waren mittlerweile etwas teurer. Der Connecticut war saniert worden, wodurch der Ort Brattleboro sehr gewonnen hatte. Die
Wohnung des Kochs lag im ersten Stock, im hinteren Teil des in der Main Street gelegenen Hauses, mit Blick auf den Fluss. Morgens ging Dominic meist als Erstes hinunter in sein leeres Restaurant und die verwaiste Küche, um sich einen Espresso zu machen. Auch die Küche lag nach hinten und hatte einen schönen Blick auf den Fluss. Im Erdgeschoss hatte es schon immer irgendeinen Laden oder ein Restaurant gegeben. Gegenüber befanden sich ein Geschäft mit Militärklamotten und das örtliche Kino, das Latchis Theatre. Ging man auf der Main Street den Hügel hinunter am Latchis vorbei, kam man zur Canal Street und zum Markt, wo der Koch fast alle seine Einkäufe erledigte. Wenn man von dort in Richtung Ortsausgang weiterging, gelangte man zum Krankenhaus und zu einem Einkaufszentrum, und noch weiter draußen, an der Interstate 91, waren dann mehrere
Tankstellen und die üblichen Fast-FoodRestaurants. Wenn man jedoch auf der Main Street den Hügel hinauf nach Norden ging, kam man zum Book Cellar, einer recht guten Buchhandlung, wo der inzwischen berühmte Schriftsteller Danny Angel die eine oder andere Lesung und etliche Signierstunden abgehalten hatte. Der Koch hatte einige seiner Vermonter Freundinnen im Book Cellar kennengelernt, wo man Dominic Del Popolo, geborener Baciagalupo, als Mr. Angel kannte - Vater des gefeierten Romanciers und gleichzeitig Inhaber und Küchenchef des besten italienischen Restaurants weit und breit. Nachdem Daniel sich für dieses Pseudonym entschieden hatte, musste sich auch Dominic umbenennen. »Scheiße, vermutlich solltet ihr beide Angels werden, das ist doch klar«, hatte Ketchum gesagt. »Wie der Vater, so der Sohn - mit
allem, was dazugehört.« Doch Ketchum hatte darauf bestanden, dass der Koch auch seinen Vornamen ablegte. »Wie wär's mit Tony?«, hatte Danny seinem Vater vorgeschlagen. Es war der 4. Juli 1967, der Unabhängigkeitstag, und Ketchum hätte mit seinem Feuerwerk um ein Haar das Farmhaus in Putney niedergebrannt; der kleine Joe schrie, auch noch fünf Minuten nachdem der letzte Kracher gezündet worden war, wie am Spieß. Tony klang zwar leidlich italienisch, war aber erfreulich anonym, dachte Danny. Dominic seinerseits gefiel der Name, weil er Tony Molinari so gemocht hatte; keine drei Tage nach seinem Weggang aus Boston merkte der Koch bereits, wie sehr ihm Molinari fehlte. Auch Paul Polcari fehlte Tony Angel, vormals Dominic Del Popolo, vormals Baciagalupo und er hielt weiterhin große Stücke auf ihn, auch nachdem ihm zu Ohren gekommen war,
was einen Monat später, im August desselben Sommers, geschehen war. Tony Angel machte Ketchum und nicht Paul Polcari für das Malheur verantwortlich, dass der Cowboy das Vicino di Napoli lebend verließ. Der arme Paul hätte es unter keinen Umständen fertiggebracht abzudrücken. Es war Ketchums Schuld, fand der Koch, weil Ketchum allen im Restaurant erzählt hatte, es sei egal, wer von ihnen mit dem Gewehr hinten in der Küche stehen würde. Also wirklich! Wer sich mit Schusswaffen so gut auskannte wie Ketchum, hätte wissen müssen, dass es natürlich nicht egal war, wer zielte und abdrückte (oder auch nicht)! Dem lieben sanften Paul würde Tony Angel nie einen Vorwurf machen. »Du machst Ketchum zu viele Vorwürfe, wegen allem«, sagte Danny seinem Dad mehr als einmal, aber so war es halt. Wäre Molinari in der Küche gewesen, hätte
Dominic Del Popolo seinen Namen wieder in Dominic Baciagalupo ändern und zurück nach Boston gehen können, zu Carmella. Der Koch hätte nie Tony Angel werden müssen. Und der Schriftsteller Danny Angel, dessen vierter Roman sein erster Bestseller wurde (und dessen fünfter jetzt, 1983, bereits in mehr als dreißig Sprachen übersetzt worden war), hätte sich wieder Daniel Baciagalupo nennen können, was sein sehnlichster Wunsch war. »Verdammt, Ketchum!«, hatte der Koch zu seinem alten Freund gesagt. »Wenn Carmella mit deiner kostbaren Ithaca in der Küche gewesen wäre, hätte sie beide Schüsse auf Carl abgegeben, während er sie noch anglotzte. Selbst wenn der trottelige Hilfskellner dahinten gewesen wäre, jede Wette, er hätte abgedrückt!« »Tut mir leid, Cookie. Es waren deine Freunde, ich hab sie nicht gekannt. Du hättest mir sagen müssen, dass unter ihnen ein
Nichtschütze war - ein beschissener Pazifist!« »Hört auf, euch gegenseitig Vorwürfe zu machen«, forderte Danny sie mehrmals auf. Unterdessen würde es in einem Monat genau 16 Jahre her sein, dass Paul Polcari den Finger am Abzug von Ketchums Flinte gehabt und nicht abgedrückt hatte. Es hatte sich doch alles prima entwickelt, oder?, dachte der Koch, während er seinen Espresso schlürfte und auf den vor seinem Küchenfenster vorbeifließenden Connecticut River hinaussah. Früher einmal hatte man auf dem Connecticut Baumstämme befördert. Im Gastraum des Restaurants mit Blick auf die Main Street und das Kinoschild mit dem Namen des Filmes, der gerade im Latchis lief, hatte der Koch das große gerahmte Schwarzweißfoto eines Holzstaus in Brattleboro aufgehängt. Natürlich war das Foto schon viele Jahre alt; inzwischen wurde weder in Vermont noch in New Hampshire Holz auf dem Wasserweg
transportiert. In Maine hatte die Flößerei länger überdauert, weshalb Ketchum in den Sechzigern und Siebzigern dort so viel gearbeitet hatte. Doch die letzte Trift fand in Maine 1976 statt - sie begann am Moosehead Lake und führte den Kennebec River hinunter. Natürlich war Ketchum dabei gewesen. Per R-Gespräch hatte er den Koch aus irgendeiner Kneipe in Bath, Maine, angerufen, unweit der Mündung des Kennebec. »Das ist der Versuch, mich von irgendeinem Arschloch von Werftarbeiter abzulenken, bei dem es mir in den Fingern juckt, ihm ein wenig körperliches Leid zuzufügen«, fing Ketchum an. »Vergiss nicht, dass du aus einem anderen Bundesstaat kommst, Ketchum. Die dortigen Behörden werden für den Werftarbeiter Partei ergreifen.«
»Herrgott, Cookie - weißt du, was es kostet, Baumstämme auf dem Wasser zu transportieren? Und zwar ab der Stelle, wo man sie fällt, bis zum Sägewerk - etwa fünfzehn läppische Cent pro Cord, also gut dreieinhalb Festmeter! So billig ist eine Trift.« Der Koch hatte dieses Argument schon zu oft gehört. Ich könnte jetzt auflegen, dachte Tony Angel, blieb aber am Telefon - vielleicht aus Mitleid mit dem Werftarbeiter. »Es kostet dich sechs oder sieben Dollar pro Cord, wenn du Stämme über Land zum Sägewerk schaffst!«, rief Ketchum. »Die meisten Straßen in Neuengland sind ohnehin beschissen, und jetzt treiben sich nur noch diese Truckerarschlöcher darauf herum! Du glaubst vielleicht, das war jetzt schon eine Welt voller Unfälle, Cookie, aber stell dir einen überladenen Holztransporter vor, der umkippt und einen Pkw mit Skifahrern zerquetscht!«
Ketchum hatte recht gehabt. Es hatte einige schlimme Unfälle gegeben, an denen Holztransporter beteiligt waren. Egal, wo man früher im Norden Neuenglands herumfuhr, konnte man laut Ketchum nur durch einen Elch oder einen betrunkenen Autofahrer ums Leben kommen. Doch jetzt machten sich auf den Haupt- und Nebenstraßen die Lastwagen breit; die Truckerarschlöcher waren überall. »Dieses Scheißland!«, hatte Ketchum in die Muschel gebrüllt. »Ihm gelingt's immer irgendwie, etwas Billiges teuer zu machen und dabei etlichen Kerlen die Arbeitsplätze wegzunehmen!« Das Telefongespräch wurde abrupt beendet. Man hörte undeutlich, wie in der Kneipe in Bath ein Streit losbrach, gefolgt von einem heftigen Handgemenge. Zweifellos hatte jemand in der Kneipe Anstoß daran genommen, dass Ketchum das ganze Land verunglimpfte - sehr wahrscheinlich das zuvor
erwähnte Werftarbeiterarschloch. (»Irgendein Arschloch von Patriot«, wie Ketchum den Kerl später nannte.) Morgens, wenn er seinen Pizzateig zubereitete, hörte der Koch gern Radio. Nunzi hatte ihm beigebracht, einen Pizzateig immer zweimal gehen zu lassen, was eine alberne Angewohnheit sein mochte, die er aber beibehielt. Paul Polcari, ein hervorragender Pizzabäcker, hatte Tony Angel erzählt, zweimal sei besser als einmal, das zweite Mal sei aber nicht unbedingt notwendig. In der Küche des Kochhauses in Twisted River hatte dem Pizzateig des Kochs eine Zutat gefehlt, die er inzwischen für unerlässlich hielt. Vor langer Zeit hatte er den Sägewerksarbeiterfrauen - Dot und May, diesen alten Zimtzicken - gesagt, seiner Ansicht nach könnte die Kruste ein wenig süßer sein. Dot (diejenige, die ihn durch einen
Trick dazu gebracht hatte, sie zu begrabschen) sagte: »Du spinnst, Cookie - du machst den besten Pizzateig, den ich je gegessen habe.« »Vielleicht muss ein wenig Honig hinein«, hatte ihr der damalige Dominic Baciagalupo entgegnet. Allerdings hatte er gerade keinen Honig mehr, weshalb er stattdessen ein wenig Ahornsirup hineintat. Was keine gute Idee war - man schmeckte den Ahorn durch. Dann hatte er die Idee mit dem Honig vergessen, bis May ihn daran erinnerte. Als sie ihm das Honigglas reichte, hatte sie ihn absichtlich mit ihrer dicken Hüfte angerempelt. Der Koch hatte May ihre Bemerkung über Indianer-Jane nie verziehen - als sie sagte, sie und Dot seien nicht »indianisch genug« für ihn. »Hier, Cookie«, hatte May gesagt. »Honig für deinen Pizzateig.« »Ich hab's mir anders überlegt«, hatte er zu ihr
gesagt, doch in Wirklichkeit tat er keinen Honig in den Teig, weil er May die Genugtuung nicht gönnte. In der Küche des Vicino di Napoli hatte Paul Polcari ihm als Erstes sein Rezept für Pizzateig gezeigt. Außer Mehl, Wasser und Hefe hatte Nunzi immer ein wenig Olivenöl in den Teig gegeben, höchstens ein, zwei Esslöffel pro Pizza. Paul hatte dem Koch beigebracht, etwa genauso viel Honig wie Öl hinzuzufügen. Das Öl machte den Teig seidigglatt - wenn die Kruste dünn war, konnte man sie backen, ohne dass sie trocken und spröde wurde. Der Honig - wie er beinahe selbst herausgefunden hätte - verlieh der Kruste einen leicht süßlichen Beigeschmack, ohne dass man den Honig herausschmeckte. Tony Angel setzte selten einen Pizzateig an, ohne daran denken zu müssen, wie er beinahe selbst auf den Honig als Zutat seines Rezepts gekommen war. An die dicke Dot und die
noch dickere May hatte er schon seit Jahren nicht mehr gedacht. An jenem Morgen, als er in seiner Küche in Brattleboro an sie dachte, war er neunundfünfzig. Wie alt mochten die alten Zicken wohl sein?, fragte er sich. Bestimmt über sechzig. Er wusste noch, dass May eine ganze Menge Enkel hatte, von denen einige so alt waren wie ihre Kinder aus zweiter Ehe. Dann lenkte das Radio Tony von seinen Gedanken ab; er vermisste, was er für den Dominic in sich hielt, und das Radio erinnerte ihn an alles, was er vermisste. In Boston waren sowohl die Radiosender besser gewesen, die sie im Vicino di Napoli gehört hatten, als auch die Musik. In den Fünfzigern war die Musik schauderhaft gewesen, dachte der Koch, in den Sechzigern und Siebzigern wurde sie dann unfassbar gut; jetzt war sie wieder hart an der Grenze zu schauderhaft. Er mochte George Strait - Amarillo by Morning und You Look So Good in Love -, doch gerade an diesem Tag
hatte das Radio zwei Michael-Jackson-Songs am Stück gespielt (Bülte Jean und Beat It). Tony Angel konnte Michael Jackson nicht ausstehen. Der Koch fand, dass es unter Paul McCartneys Würde gewesen war, mit Jackson This Girl Is Mine aufzunehmen; den Song hatten sie auch gespielt, früher am Morgen. Jetzt lief Duran Duran - Hungry Like the Wolf. In Boston, in den Sixties, war die Musik wirklich besser gewesen. Sogar der alte Joe Polcari hatte zu Bob Dylan mitgesungen. Paul Polcari klopfte zu (I Can't Get No) Satisfaction auf den Nudeltopf, und neben den Rolling Stones und den vielen Dylan-Songs hatte es Simon and Garfunkel und die Beatles gegeben. Tony hatte es noch immer im Ohr, wie Carmella The Sound of Silence sang; sie hatten in der Küche des Vicino di Napoli zu Eight Days a Week, Ticket to Ride und We Can Work It Out zusammen getanzt; Penny Lane und Strawberry Fields Forever nicht zu vergessen. Die Beatles hatten alles verändert.
Der Koch machte in seiner Küche in Brattleboro das Radio aus. Er versuchte ohne Radiobegleitung All You Need Is Love zu singen, doch weder Dominic Del Popolo, vormals Baciagalupo, noch Tony Angel hatten je singen können, und es dauerte nicht lange, da ähnelte der Beatles-Song eher einem der Doors (Light My Fire), und die wiederum erinnerten den Koch höchst unerfreulich an seine ehemalige Schwiegertochter Katie. Sie war ein großer Fan der Doors, der Grateful Dead und von Jefferson Airplane gewesen. Irgendwie mochte der Koch die Doors und auch die Grateful Dead, doch Jefferson Airplane hatte ihm Katie mit ihrer GraceSlick-Imitation verleidet, besonders Somebody to Love und White Rabbit. Er erinnerte sich an einen Tag, kurz bevor Daniel mit Frau und Kind nach Iowa gezogen war. Daniel hatte Joe nach Boston gebracht, damit der Koch und Carmella auf ihn aufpassten, während er und Katie zu einem
Beatles-Konzert ins New Yorker Shea-Stadion fuhren; irgendjemand aus Katies piekfeiner Familie hatte ihnen die Tickets besorgt. Es war August, zu dem Konzert kamen über 50 000 Menschen. Carmella kümmerte sich sehr gern um den kleinen Joe - wie sein Vater war der Kleine im März geboren und somit gerade mal fünf Monate alt. Sowohl Katie als auch Daniel waren betrunken, als sie ins North End zurückkamen, um ihr Baby abzuholen. Sie mussten schon blau von New York aufgebrochen und die ganze Strecke bis nach Boston gefahren sein. Dominic wollte deshalb nicht zulassen, dass sie Joe mitnahmen. »Ihr fahrt mir nicht in diesem Zustand mit dem Baby noch bis nach New Hampshire hoch!«, sagte der Koch zu seinem Sohn. Das war dann der Moment, lasziv-schlampenhafte Version to Love und White Rabbit getanzt hatte - wie ein echter
als Katie ihre von Somebody gesungen und Vamp. Danach
konnten Carmella und der Koch Grace Slick nicht mehr ertragen. »Nun mach mal 'n Punkt, Dad«, hatte da Danny zu seinem Vater gesagt. »Wir sind noch total fahrtüchtig. Lass uns mit Joe losfahren hier in der Wohnung können wir ohnehin nicht alle schlafen.« »Das müsst ihr aber, Daniel«, sagte sein Vater. »Joe kann in unserem Zimmer schlafen, bei Carmella und mir, und du und Katie, ihr müsst euch halt irgendwie in deinem Zimmer in das Einzelbett quetschen - ihr seid ja beide schlank genug.« Danny war wütend, beherrschte sich aber. Katie hingegen fiel aus der Rolle. Sie ging ins Bad und pinkelte bei offener Tür, so dass alle sie hörten. Daniel warf seinem Dad einen Blick zu, der besagte: Tja, das hast du nun davon! Carmella ging in ihr Schlafzimmer und machte die Tür zu. (Der kleine Joe schlief dort bereits.) Als Katie aus dem Bad kam, war sie
nackt. Katie sprach Danny an, als wäre ihr Schwiegervater Luft. »Na komm. Wenn wir's schon in einem Einzelbett treiben müssen, lass uns loslegen.« Natürlich wusste der Koch, dass sein Sohn und Katie gleich darauf nicht wirklich lauten Sex miteinander hatten, aber das wollte Katie Dominic und Carmella weismachen; sie führte sich auf, als hätte sie minütlich einen Orgasmus. Sie und Danny waren so betrunken, dass sie den Alptraum des kleinen Joe später in der Nacht glatt verschliefen. Als Danny mit Frau und Kind am nächsten Tag aufbrach, wechselten der Koch und sein Sohn zum Abschied kein Wort; Carmella sah Katie nicht an. Doch kurz bevor der angehende Schriftsteller Daniel Baciagalupo mit seiner Familie nach Iowa zog, rief der Koch seinen Sohn an.
»Wenn du so weitersäufst, wirst du nie irgendwas Lesbares schreiben. Denn dann, mein Junge, wirst du dich am nächsten Tag nicht mehr an das erinnern, was du tags zuvor geschrieben hast«, sagte Dominic. »Ich habe mit dem Trinken aufgehört, weil ich mit Alkohol nicht umgehen konnte, Daniel. Vielleicht ist es ja genetisch bedingt vielleicht kannst du auch nicht mit Alkohol umgehen.« Tony Angel wusste nicht, was seinem Sohn später in Iowa City widerfahren war, aber etwas hatte dafür gesorgt, dass Daniel aufhörte zu trinken. Tony wollte auch gar nicht wissen, was seinem geliebten Jungen in Iowa widerfahren war, denn er war sicher, dass Katie etwas damit zu tun hatte. Als er fertig war und den Pizzateig sich selbst überlassen konnte, damit er in den großen, mit feuchten Geschirrtüchern abgedeckten
Schüsseln ein erstes Mal aufging, humpelte Tony Angel die Main Street zum Book Cellar hoch. Er mochte die junge Frau, die den Buchladen führte; sie war immer nett zu ihm und kam häufig zum Essen in sein Restaurant. Tony gab ihr gelegentlich eine Flasche Wein aus. Wenn er den Book Cellar betrat, machte er jedes Mal denselben Scherz. »Haben Sie heute irgendwelche Frauen da, die Sie mir vorstellen können?«, fragte Tony die Buchhändlerin immer. »Etwa in meinem Alter, vielleicht auch ein wenig jünger?« Der Koch mochte Brattleboro und dass er dort sein eigenes Restaurant hatte. In den ersten Jahren hatte ihm Vermont überhaupt nicht gefallen, oder besser gesagt hatte Putney mit seinem alternativen Touch ihm nicht gefallen. (»Putney ist eine Alternative zu einer richtigen Stadt«, sagte der Koch oft.) Das North End hatte Tony gefehlt - »irre
gefehlt«, wie Ketchum gesagt hätte -, und Putney war voller Möchtegernhippies und Aussteiger gewesen. Ein paar Kilometer außerhalb gab es sogar eine Kommune, in deren Namen das Wort clover, Klee, vorkam, doch der Rest fiel Tony nicht mehr ein. Eine reine Frauenkommune, meinte er zu wissen, und darum vermutlich nur von Lesben bewohnt. Und der Metzger (oder die Metzgerin) in der Putney Food Co-op schnitt sich andauernd; sich selbst ins Fleisch zu schneiden gehörte nicht zum Aufgabenbereich eines Metzgers, und das Geschlecht dieses Metzgers war für Tony »undefinierbar«. »Meine Güte, Dad, es ist eindeutig eine Metzgerin«, sagte Danny seinem Vater gereizt. »Das behauptest du, aber hast du sie mal nackt ausgezogen, nur um ganz sicherzugehen?«, fragte ihn sein Dad.
Dennoch hatte Tony Angel in Putney seine eigene Pizzeria aufgemacht, und obwohl sich der Koch regelmäßig über das Windham College beklagte - für ihn (der nie ein College von innen gesehen hatte) sah es nicht wie ein »richtiges« College aus, und alle, die dort studierten, waren ohnehin »Arschlöcher« -, lief die Pizzeria sehr gut, vor allem dank der Windham-Studenten. »Heiliger Dünnschiss, nenn sie bloß nicht Angel's Pizzeria oder sonst irgendwas mit Angel drin«, hatte Ketchum dem Koch geraten. Im Nachhinein hatte Ketchum ein zunehmend ungutes Gefühl dabei, dass Danny und sein Vater den Namen Angel gewählt hatten - falls Carl jemals daran denken sollte, dass der Tod des echten Angel zeitlich mit ihrem Weggang aus Twisted River zusammenfiel. Den Namen des kleinen Joe hatte übrigens Danny ausgewählt, obwohl er seinen Sohn ursprünglich nach dessen Großvater nennen wollte - Dominic jr. (Katie hatten weder
Dominic noch junior gefallen.) Danny hatte sich geweigert, dem kleinen Joe sein Pseudonym als Nachnamen zu geben. Joe war ein Baciagalupo geblieben und kein Angel geworden. Danny und der Koch erinnerten sich, dass Carl den Namen Baciagalupo nicht hatte aussprechen können; sie sagten Ketchum, wahrscheinlich könne der Cowboy ihn auch nicht buchstabieren – nicht mal, wenn sein fetter Arsch davon abhinge. Folglich war Joe immer noch ein Baciagalupo, ob es Ketchum nun passte oder nicht. Und jetzt fing Ketchum auch noch an, sich über den Namen Angel zu beschweren! Der Koch träumte oft von diesem Arschloch Gennaro Calogero, seinem durchgebrannten Vater. Tony Angel hatte immer noch die Namen der beiden Bergstädtchen im Ohr, die außerdem Provinzen waren und in der Nähe von Neapel lagen und die seine Mutter Nunzi im Schlaf gemurmelt hatte: Benevento und Avellino. Tony glaubte, dass sein Vater
wirklich in die Gegend um Neapel zurückgekehrt war, seine ursprüngliche Heimat. Doch eigentlich interessierte das den Koch nicht. Wie sollte es auch, schließlich hatte sein Vater ihn verlassen. »Mach keine Mätzchen und nenn deine Pizzeria bloß nicht Vicino di Napoli«, hatte Ketchum dem Koch eingeschärft. »Ich weiß, dass der Cowboy kein Italienisch kann, aber jeder Trottel könnte eines Tages dahinterkommen, dass Vicino di Napoli oder wie immer man das ausspricht, >in der Gegend von Neapel< heißt.« Und so hatte der Koch seine Pizzeria in Putney Benevento genannt, nach der Stadt oder Provinz, die Annunziata immer zuerst im Schlaf gemurmelt und die nur der kleine Dominic mitbekommen hatte. Der verfluchte Cowboy konnte unmöglich eine Verbindung zu Benevento herstellen. »Scheiße, jedenfalls klingt es italienisch, das
muss ich zugeben, Cookie«, hatte Ketchum gesagt. Die Pizzeria in Putney lag direkt an der Route 5, kurz vor der Abzweigung in der Ortsmitte, nach der die Route 5 an der Papierfabrik und einer Touristenfalle namens »Basketville« vorbei nach Norden führte. Das Windham College lag etwas weiter nördlich an der Route 5. Wenn man nach links abzweigte, da, wo der Putney General Store stand - und die Putney Food Co-op mit dem sich selbst verstümmelnden Metzger »undefinierbaren« Geschlechts -, kam man nach Westminster West. An dieser Straße lag auch die Putney School - eine auf das College vorbereitende Schule oder Prep School, von der Danny nichts hielt, weil sie seinen Exeter-AcademyAnsprüchen nicht genügte -, und an der Hickory Ridge Road, wo der Schriftsteller Danny Angel damals noch wohnte, gab es eine private Grundschule, die sich Grammar School nannte und Dannys Ansprüchen durchaus
genügte, so dass er Joe dorthin schickte. Joes schulische Leistungen dort reichten aus, um an der Northfield Mount Hermon angenommen zu werden - einer Prep School, an der Danny nichts auszusetzen hatte. Die nmh lag in Massachusetts, etwa eine halbe Autostunde südlich von Brattleboro und eine Stunde von Dannys Anwesen in Putney entfernt. Joe, der im Frühjahr 1983 dort die Abschlussklasse besuchte, sah seinen Dad und seinen Großvater ziemlich off. In der Wohnung des Kochs in Brattleboro gab es ein Gästezimmer, das immer für den Enkel bereitstand. Die Küche hatte der Koch herausgerissen (die Leitungen jedoch intakt gelassen) und an ihrer Stelle ein recht großzügiges Bad mit Blick auf den Connecticut River gebaut. Die große Badewanne erinnerte den Koch an die Wanne, die in Carmellas Küche in der Kaltwasserwohnung in der Charter Street
gestanden hatte. Tony war sich zwar nicht hundertprozentig sicher, dass Danny Carmella beim Baden beobachtet hatte, er hatte aber alle fünf Romane seines Sohnes gelesen, und in einem davon kam eine üppige Italienerin vor, die es genoss, ausgedehnt zu baden. Der Stiefsohn dieser Frau war in einem Alter, wo er gerade erst anfing zu masturbieren, und das tat er ausgiebig, während er seine Stiefmutter beim Baden beobachtete. (Der pfiffige Knabe hatte zu diesem Zweck ein Loch in die Badezimmerwand gebohrt, denn bequemerweise lag sein Zimmer gleich nebenan.) Weit häufiger als diese kleinen, ihm vertraut vorkommenden Details fielen dem Koch jedoch Dinge auf, die sich sein Sohn eindeutig ausgedacht haben musste. Auch wenn Carmellas Badewannenauftritt Wiedererkennungswert hatte, so beruhte die Figur der Stiefmutter in dem bewussten Roman garantiert nicht auf Carmella. Auch
entdeckte der Koch in Daniels Romanen höchstens oberflächliche Anklänge an sich selbst und an Ketchum. (In einem der Romane wurde beiläufig das gebrochene Handgelenk einer Nebenfigur erwähnt, in einem anderen Buch die Vorliebe des zweiten Protagonisten für den Ausspruch »Heiliger Dünnschiss!«.) Ketchum und Tony Angel hatten sich sogar mehrfach darüber unterhalten, wie auffallend es doch sei, dass in keinem einzigen von Dannys Romanen irgendeine Figur vorkam, in der sie ihren Daniel wiedererkannten. »Wo versteckt sich der Junge bloß?«, hatte Ketchum den Koch gefragt, denn sogar in Danny Angels viertem (und berühmtestem) Roman mit dem Titel Die Kennedy-Väter ähnelt die Hauptperson - die genau wie Danny dem Vietnamkrieg dank der Zurückstellung wegen Vaterschaft entging, die auch Danny nutzte - eigentlich kaum dem Daniel, den Ketchum und der Koch kannten und liebten.
Es gab eine Figur in Die Kennedy-Väter, die auf Katie beruhte - Caitlin, wie sie im Buch hieß -, ein elfenhaftes kleines Ding mit einer übergroßen Neigung zu serienmäßiger Untreue. Diese Caitlin rettet eine wahrlich unglaubliche Anzahl von Kennedy-Vätern vor dem Vietnamkrieg. Die Caitlin-Figur verschleißt mehrere Ehemänner mit der gleichen Beiläufigkeit, wie Katie wahrscheinlich - jedenfalls nahmen das der Koch und Ketchum an - Blowjobs verabreicht hatte, doch Caitlin war keineswegs Katie. »Sie ist viel zu nett«, sagte Tony Angel zu seinem alten Freund. »Das kann man wohl sagen!«, pflichtete ihm Ketchum bei. »Am Ende mag man sie sogar!« Am Ende mochten auch alle ihre Exmänner Caitlin - oder sie kamen nicht über sie hinweg, was auf das Gleiche hinauslief. Und was die vielen Kinder anging, die nach der Geburt von ihrer Mutter verlassen wurden, so erfuhr der
Leser nie, was sie von ihrer Mutter hielten. Der Roman schloss mit der Aufhebung der A3-Zurückstellung durch Präsident Nixon und der Aussicht auf noch weitere fünf Jahre Krieg. Die Caitlin-Figur verschwand sang- und klanglos; im letzten Kapitel der KennedyVäter war sie die verlorene Seele. Man ahnt nichts Gutes, als sie plötzlich alle ihre Exehemänner anruft und mit ihren Kindern sprechen will, die sich nicht an sie erinnern. Das ist das Letzte, was man von ihr mitkriegt und man bekommt Mitleid mit ihr. Ketchum und der Koch wussten ganz genau, dass Katie Daniel kein einziges Mal angerufen hatte, um mit Joe zu sprechen. Offenbar waren die beiden ihr einfach nicht wichtig genug, als dass sie auch nur erfahren wollte, wie es ihnen ging. Aber wer weiß, sagte Ketchum immer, vielleicht würde Danny ja von Katie hören, falls er je berühmt wurde. Doch als Die Kennedy-Väter erschien und
Danny tatsächlich berühmt wurde, hörte er immer noch nichts von Katie. Allerdings hörte er von einigen anderen Kennedy-Vätern. Die meisten Leserbriefe waren positiv. Wie Danny glaubte, verband solche Väter ein gemeinsames Schuldgefühl, weil sie alle irgendwann in ihrem Leben das Gefühl gehabt hatten, dass sie vielleicht nach Vietnam hätten gehen sollen oder sogar (so wie Danny) eigentlich hatten gehen wollen. Natürlich wussten sie inzwischen alle, wie glücklich sie sich schätzen konnten, dass sie nicht in den Krieg gezogen waren. Die Kritiker lobten den Roman als ein Werk, das eine neue Dimension aufzeige, wie der Vietnamkrieg Amerika dauerhaft geschädigt habe und wie das Land durch diesen Krieg auf lange Zeit geteilt worden sei. Die jungen Väter in dem Roman würden sich vielleicht als gute Väter entpuppen (oder auch nicht), und um zu erfahren, ob diese Kinder - diese »Fahrkarten raus aus Vietnam«, wie Danny sie nannte -
geschädigt waren, war es noch zu früh. Die meisten Kritiker hielten Caitlin für die bemerkenswerteste Figur des Buches und dessen eigentliche Heldin. Sie opfert sich, um das Leben dieser jungen Männer zu retten, auch wenn sie diese Männer - und möglicherweise auch ihre eigenen Kinder gebrochen zurücklässt. Doch Ketchum und den Koch machte das Buch stinksauer. Sie hatten sich einen Rundumschlag, eine Abrechnung mit Katie erhofft. Doch weit gefehlt. Stattdessen hatte Danny seine schauderhafte Exfrau zu einer verfluchten Heldin stilisiert! Mehrere Jahre nach Erscheinen des Buchs kam noch ein Brief von einem Kennedy-Vater, und Danny hob ihn auf und gab ihn seinem Sohn zu lesen. Es war im Frühling von Joes elftem Schuljahr, kurz nach seinem siebzehnten Geburtstag - der Junge hatte seit knapp einem Jahr den Führerschein. Auf Joes Anraten hatte
Danny den Brief auch seinem Dad und Ketchum gezeigt. Doch anders als Danny und Joe, die sich ausgiebig über den Brief unterhielten - darüber, was drinstand und was nicht -, reagierten Ketchum und der Koch sehr zurückhaltend, gerade weil sie wussten, dass Danny anders über Katie dachte als sie. Der Brief stammte von einem, wie der Verfasser schrieb, »alleinerziehenden Vater« aus Portland in Oregon, einem gewissen Jeff Reese. Der Brief begann mit den Worten: »Wie Sie bin ich ein Kennedy-Vater - einer von den dummen Jungs, die Katie Callahan gerettet hat. Ich weiß nicht genau, wie viele es von uns gibt. Ich kenne mindestens einen anderen neben Ihnen und mir, und dem schreibe ich auch. Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Katie sich selbst nicht retten konnte, sondern nur ein paar von uns dummen Jungs. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen, nur dass es eine versehentliche Überdosis war.« Eine Überdosis wovon,
schrieb er nicht. Vielleicht nahm Jeff Reese an, dass Danny wusste, welche Drogen Katie nahm, doch gemeinsam hatten sie nie härtere Drogen genommen, nur gelegentlich Marihuana geraucht - bei ihnen beiden hatten Alkohol und ein wenig Kiffen mehr als gereicht. (In dem Brief stand kein Wort zu Die Kennedy-Väter oder einem von Danny Angels anderen Romanen, doch die Vermutung lag nahe, dass Jeff Reese das Buch erst jetzt gelesen hatte. Vielleicht hatte er auch nur gerade so viel gelesen, um sich davon zu überzeugen, dass Caitlin und Katie nicht identisch waren. Auch schrieb Jeff Reese nicht, ob Katie Die Kennedy-Väter oder einen anderen von Danny Angels Romanen gelesen hatte; immerhin musste Katie gewusst haben, dass Daniel Baciagalupo zu Danny Angel geworden war, denn wie hätte Jeff Reese sonst den Bezug herstellen können?) Danny war daraufhin spontan nach Northfield Mount Hermon zu seinem Sohn gefahren. Die
alte James-Sporthalle war leer - es war gerade keine Ringersaison -, und sie setzten sich gemeinsam auf die schräge hölzerne Laufbahn und lasen den Brief über Joes Mutter immer und immer wieder. Vielleicht hatte der Junge ja geglaubt, eines Tages von seiner Mom zu hören; Danny dagegen hatte nie erwartet, von Katie zu hören, doch der Schriftsteller in ihm hatte gedacht, sie würde vielleicht Kontakt zu ihrem Sohn aufnehmen. Mit 17 sah Joe Baciagalupo oft aus, als könnte er eine Rasur vertragen, und seine Gesichtszüge waren bereits so ausgeprägt wie bei einem Zwanzigjährigen, gleichzeitig hatten sie aber auch etwas Erwartungsvolles und Offenes, was ihn kindlicher wirken ließ und seinen Vater an den »kleinen« Joe von früher erinnerte. Vielleicht sagte deshalb Danny zu ihm: »Tut mir leid, dass du keine Mutter hattest oder ich keine Frau gefunden habe, die diese Rolle für dich ausgefüllt hätte.«
»Aber es ist doch nicht nur eine Rolle, oder?«, fragte Joe seinen Dad. Er hielt immer noch den Brief in der Hand, in dem stand, dass seine Mutter an einer Überdosis gestorben war. Im Nachhinein dachte Danny, der 17-Jährige habe den Brief angesehen, als wäre er eine fremde Währung - eine exotisch aussehende Kuriosität, die ihm aber gegenwärtig nichts nützte. »Ich meine, ich hatte ja dich - du warst immer da«, fuhr Joe fort. »Und dein Dad, na ja, er ist für mich wie ein zweiter Dad. Und dann ist da noch Ketchum.« »Ja.« Mehr brachte Danny nicht heraus. Wenn er mit Joe sprach, wusste Danny manchmal nicht, ob er sich mit einem Kind oder mit einem erwachsenen Mann unterhielt. Dass er Joe verdächtigte, ihm Dinge zu verschweigen war das immer noch die gleiche uralte Angst, die er schon als Zwölfjähriger ständig verspürt hatte? Oder lag es an den vielen Dingen, die der Koch und Ketchum ihm verschwiegen hatten?
»Ich will mich nur vergewissern, dass es dir gutgeht«, sagte Danny zu Joe, doch der Siebzehnjährige - Kind, Mann oder beides wusste bestimmt, dass sein Vater mit gutgehen viel mehr meinte als nur gutgehen. Der Schriftsteller meinte damit, dass Joe Erfolg hatte, und auch, dass er sicher, im Sinne von in Sicherheit, war, als könnten regelmäßige Vater-Sohn-Gespräche Joes Sicherheit garantieren (die des Kindes oder des Mannes). Aber, so überlegte sich Danny eines Tages, vielleicht war dies die spezielle Last eines Schriftstellers - dass nämlich die Besorgnis, die er als Vater empfand, mit der analytischen Arbeit verschmolz, mit der er die Figuren seiner Romane gestaltete. An dem Tag, als er Joe den Brief über Katie zeigte, fiel Danny Angel auf, dass Katies Tod etwas Hinter-den-Kulissen-Mäßiges, etwas Unwirkliches hatte. Der distanzierte Bericht eines Unbekannten bewirkte, dass Katie eine literarische Nebenfigur wurde. Und wenn
Danny weiter mit ihr gesoffen hätte, hätte er genauso geendet - entweder in einem Unfall oder in einem Selbstmord, das Finale enttäuschenderweise hinter den Kulissen. Was das Trinken anging, so hatte sein Dad recht gehabt; ob man damit nicht umgehen konnte, war vielleicht wirklich, wie sein Vater es formulierte, »genetisch bedingt«. »Wenigstens hat er nichts über Rosie geschrieben - noch nicht«, schrieb Ketchum seinem alten Freund. Ehe der alte, inzwischen 66-jährige Holzfäller lesen lernte, hatten Tony Angel Ketchums Briefe besser gefallen. Die Frau, die Ketchum in der Bibliothek kennengelernt hatte Ketchum nannte sie immer nur »die Schullehrerin« -, na ja, ihr Unterricht hatte zwar gefruchtet, doch jetzt, wo Ketchum lesen und schreiben konnte, war er noch griesgrämiger als zuvor, und der Koch war
überzeugt, dass Ketchum nicht mehr so aufmerksam zuhörte wie früher. Wenn man nicht lesen kann, muss man zuhören; vielleicht hatte Ketchum auch die Bücher am besten verstanden, die er vorgelesen bekommen hatte. Jetzt beschwerte er sich über fast alles, was er las. Vielleicht fehlte Tony Angel auch Sixpacks Handschrift:. (Übrigens war Ketchum der Ansicht, auch der Koch sei griesgrämiger geworden.) Jedenfalls fehlte Danny Sixpack-Pams Einfluss auf Ketchum. Als Ketchum auf Pam angewiesen war, war er weniger einsam gewesen, als er Danny jetzt erschien, und Danny hatte Sixpacks Rolle als Mittlerin in seinem und Dominics Briefwechsel mit Ketchum längst akzeptiert. 1983 war Danny 41. Wenn Männer vierzig werden, fühlen sie sich meistens nicht mehr jung, aber Joe - der 18 war - wusste, dass er einen relativ jungen Dad hatte. Selbst die
Mädchen in Joes Alter auf der Northfield Mount Hermon (und auch jüngere) hatten dem Jungen gesagt, sein berühmter Vater sehe sehr gut aus. Schon möglich, dass Danny gut aussah, aber lange nicht so gut wie Joe. Der junge Mann war etwa zwanzig Zentimeter größer als sein Dad und sein Großvater. Katie, die Mutter des Jungen, war eine auffallend zierliche Frau gewesen, doch die Männer der Familie Callahan waren ausnahmslos groß nicht schwer, aber sehr groß gewachsen. Ihre Körpergröße gehörte zu ihrem »aristokratischen Auftreten«, wie der Koch erklärt hatte. Er und Carmella fanden die Hochzeit schauderhaft und hatten sich permanent brüskiert gefühlt. Es war eine aufwendige Angelegenheit gewesen, in einem noblen privaten Club in Manhattan - Katie war schon einige Monate schwanger -, und obwohl das Fest eine Stange Geld gekostet hatte, war das
Essen ungenießbar gewesen. Die Callahans legten keinen Wert auf gutes Essen. Sie gehörten eher zu der Sorte, die stundenlang an einem Eiswürfel lutschen konnte, zu viele Cocktails trank und sich mit massenhaft Horsd'oeuvres vollstopfte. Sie sahen aus, als hätten sie so viel Geld, dass sie aufs Essen verzichten konnten. So hatte es Tony Angel Ketchum gegenüber formuliert, der damals noch Stämme auf dem Kennebec flößte. Der Holzfäller hatte abgesagt, er sei in Maine zu beschäftigt. Doch in Wirklichkeit kam Ketchum nicht zur Hochzeit, weil der Koch ihn darum gebeten hatte. »Ich kenne dich, Ketchum - du nimmst dein Browning-Jagdmesser mit und eine Flinte. Dann bringst du jeden Callahan um, den du als solchen identifizieren kannst, Katie eingeschlossen, und dann machst du dich mit dem Browning über Dannys Finger her.« »Ich weiß, dass du meine Ansicht teilst,
Cookie.« »Ja, das stimmt«, gab der Koch zu, »und sogar Carmella ist unserer Meinung. Aber wir müssen Daniel seinen eigenen Weg gehen lassen. Die Callahan-Hure wird von irgendwem ein Kind bekommen, und dank dieses Kindes muss mein Kind nicht in diesen unseligen Krieg ziehen.« Und so war Ketchum in Maine geblieben. Später würde der Holzfäller sagen, zum Glück sei Cookie auf der Hochzeit gewesen. Als Joe immer mehr in die Höhe schoss, hätte der Koch vielleicht zu der Ansicht kommen können, sein geliebter Daniel könne unmöglich der Vater des Jungen sein. Schließlich hatte Katie jeden flachgelegt, der nicht bei drei auf den Bäumen war, sie hätte sich also genauso gut von einem anderen schwängern lassen und dann Daniel heiraten können. Doch die Hochzeit lieferte den Beweis, dass es in der Familie Callahan ein
Gen für große Männer gab, und Joe war Danny wie aus dem Gesicht geschnitten, nur dass der Scheitel seines Dads ihm gerade einmal bis zu den Schultern reichte. Joe hatte den Körperbau eines Ruderers, ruderte aber nicht. Aufgewachsen war er hauptsächlich in Vermont - der Junge war ein geübter Skiabfahrtsläufer. Sein Dad machte sich nicht viel aus Skisport; wenn überhaupt, zog er, als Läufer, Langlauf vor. Denn Danny ging weiterhin joggen, das half beim Denken und beflügelte seine Phantasie. Auf der Northfield Mount Hermon war Joe in der Ringermannschaft, er hatte aber auch nicht den Körperbau eines Ringers. Wahrscheinlich hatte Ketchums Einfluss Joe bewogen, sich fürs Ringen zu entscheiden, dachte der Koch. (Ketchum war zwar nur ein Kneipenschläger, aber Ringen kam Ketchums Lieblingskampfstil näher als Boxen. Gewöhnlich schlug Ketchum seine Gegner
erst, wenn er sie auf dem Boden hatte.) Als Ketchum zum ersten Mal einen von Joes Ringkämpfen an der nmh besuchte, hatte der Kneipenschläger den Sport nicht auf Anhieb verstanden. Joe hatte seinen Gegner durch einen Wurf zu Boden befördert, wo dieser nun auf der Seite lag, als Ketchum schrie: »Jetzt zuschlagen - nun schlag endlich zu!« »Ketchum«, sagte Danny, »zuschlagen ist nicht gestattet - das ist ein Ringkampf.« »O Mann, das ist der beste Zeitpunkt, einen Kerl zu schlagen«, sagte Ketchum, »wenn man ihn flach auf dem Boden liegen hat.« Später im selben Kampf hatte Joe seinen Kontrahenten fast in der Lage, wo er ihn haben wollte; Joe hielt den Hals des anderen Ringers in einem Halbnelson und kippte ihn gerade auf den Rücken. »Joes Arm ist auf der falschen Seite des Halses«, beschwerte sich Ketchum beim Koch.
»Man kann keinen würgen, wenn man den Arm hinten um seinen Nacken legt - man muss ihn vorne auf die Scheißkehle legen!« »Joe will den Burschen nicht würgen, sondern ihn auf den Rücken befördern, Ketchum!«, sagte Tony Angel seinem Freund. »Würgen ist unzulässig«, erklärte Danny. Joe gewann seinen Kampf, und als auch alle anderen Kämpfe vorbei waren, ging Ketchum hin, um dem Jungen die Hand zu schütteln. Dabei betrat Ketchum zum ersten Mal eine Ringermatte. Als der Waldarbeiter spürte, wie die Matte unter seinem Fuß nachgab, trat er rasch wieder auf den Parkettboden der Sporthalle, als wäre er auf etwas Lebendiges getreten. »Mist, da haben wir das erste Problem«, sagte Ketchum. »Die Matte ist zu weich - darauf kann man keinem richtig weh tun.« »Ketchum, man will seinem Gegner nicht weh
tun, sondern ihn nur schultern oder ihn nach Punkten besiegen«, erklärte Danny. Doch ehe sie sich's versahen, versuchte Ketchum Joe eine bessere Methode zu zeigen, wie man jemanden auf den Rücken warf. »Du wirfst ihn auf den Bauch und drehst ihm einen Arm auf den Rücken«, sagte Ketchum voller Enthusiasmus. »Dann hebelst du den Unterarm des Kerls ein wenig aus und stößt ihm den rechten Ellbogen aufs linke Ohr. Glaub mir, der dreht sich um - wenn er nicht will, dass seine ganze Schulter draufgeht!« »Man darf Arme nicht über einen Winkel von 45 Grad verdrehen«, klärte Joe den alten Holzfäller auf. »Aufgabegriffe und Würgegriffe waren früher einmal erlaubt, aber heutzutage darf man keinen durch Schmerz zwingen nachzugeben - das nennt sich Aufgabegriff -, und würgen darf man auch nicht mehr. So etwas ist heute nicht mehr zulässig.«
»Heiliger Dünnschiss - das ist genauso wie bei allem anderen!«, klagte Ketchum. »Sie knöpfen sich etwas vor, was mal gut war, und versauen es mit Vorschriften!« Doch als Ketchum sich noch ein paar von Joes Kämpfen angesehen hatte, fand er allmählich Gefallen am High-School-Ringen. »Teufel auch, ganz ehrlich, Cookie, zuerst dachte ich, so kämpfen nur Memmen. Doch wenn man sich erst mal dran gewöhnt hat, kann man sogar vorhersagen, wer den Kampf gewinnen würde, wenn er auf einem Parkplatz und ohne Mattenrichter stattfände.« Joe war überrascht, zu wie vielen Kämpfen Ketchum kam. Der alte Waldarbeiter fuhr kreuz und quer durch ganz Neuengland, um Joe und das nmh-Team ringen zu sehen. In Joes letztem Schuljahr hatten sie eine ziemlich gute Mannschaft. Während Joes vier Jahren auf der Northfield Mount Hermon sah Ketchum jedenfalls mehr Ringkämpfe des
Jungen als dessen Vater oder Großvater. Die Wettkampftage waren Mittwoch und Samstag. Tony Angels Restaurant in Brattleboro hatte mittwochs geschlossen, damit sich Tony auch mal Ringkämpfe seines Enkels ansehen konnte. Doch samstags hatte der Koch nie die Zeit dazu, und offenbar fanden die wichtigeren Kämpfe beispielsweise die Turniere gegen Saisonende - an Wochenenden statt. Danny Angel sah über die Hälfte der Kämpfe seines Sohnes, doch der Schriftsteller war oft beruflich unterwegs. Ketchum seinerseits fuhr zu fast allen Ringkämpfen Joes und erstattete den beiden anderen anschließend telefonisch Bericht. »Ihr habt einen guten Kampf verpasst«, begann er jedes Mal. Bevor Danny mit Die Kennedy-Väter einen Bestseller landete, hatte er keine Ahnung, dass
Buchverlage auch so etwas wie Presse- und Werbeabteilungen hatten. Jetzt, da seine Verlage seine Bücher bewarben, fühlte sich Danny verpflichtet, für die Bücher auch zu reisen. Und die Übersetzungen kamen gestaffelt und fast nie gleichzeitig mit den englischsprachigen Ausgaben heraus. Was bedeutete, dass kaum ein Jahr verging, ohne dass Danny irgendwo auf Lese- und Pressereise war. Außerhalb der Ringersaison und wenn sein Dad unterwegs war, verbrachte Joe die Wochenenden häufig bei seinem Großvater in Brattleboro. Manchmal ließen sich seine HighSchool-Freunde von ihren Eltern zum Essen in Tony Angels italienisches Restaurant einladen. Und gelegentlich half Joe in der Küche aus. Es war wie in alten Zeiten, aber auch wieder nicht, dachte der Koch, wenn er statt seines Sohnes seinen Enkel in der Küche arbeiten oder beim Auf- und Abräumen der Tische sah. Tony, vormals Dominic, machte sich klar, dass
er Daniel zu dessen Prep-School-Zeiten seltener gesehen hatte als jetzt Joe. Deshalb hatte die Beziehung des Kochs zu seinem Enkel eine gewisse bitter-süße Melancholie; wundersamerweise gab es zwischen Tony Angel und Joe ganz entspannte Phasen, in denen der Koch kein einziges Mal an dem Jungen herumkrittelte, so wie er es früher bei Daniel getan hatte. Inzwischen konnten die anderen Schüler in Joes Ringerteam Ketchum gut leiden. »Ist der harte Mann dort mit der Narbe dein Onkel?«, fragten sie Joe. »Nein, Ketchum ist ein Freund der Familie - er war mal Flößer«, antwortete ihnen Joe dann. Eines Tages fragte ihn der Trainer: »War der große Mann mit dem festen Händedruck früher mal Ringer? Irgendwie sieht er so aus.« »Nicht offiziell«, antwortete Joe. »Und woher stammt die Narbe?«, fuhr der
Trainer fort. »Die sieht echt heftig aus jedenfalls schlimmer als nach einem normalen Kopfstoß.« »Das war kein Kopfstoß, das war ein Bär«, stellte Joe klar. »Ein Bär?« »Fragen Sie Ketchum bloß nie«, riet Joe. »Es ist eine schreckliche Geschichte. Ketchum musste den Bären töten, was er gar nicht wollte. Im Grunde mag er Bären.« Offensichtlich ging Joe Baciagalupos Ähnlichkeit mit dem Schriftsteller Danny Angel über bloß Äußerliches hinaus. Doch Danny befürchtete, dass sein Sohn etwas Verwegenes an sich hatte, aber keine baciagalupomäßig verwegene Phantasie. Es hing auch nicht mit dem Ringen zusammen, das Danny nie interessiert hatte - und dem Koch wäre es nie in den Sinn gekommen, zu ringen, allein schon wegen seines Hinkens.
Dabei war Ringen sogar recht ungefährlich, sobald Joe sich besser damit auskannte. Nein, Joe hatte da eine Eigenheit, die weder von Danny noch von dessen Dad stammen konnte. Falls ein Katie-Callahan-Gen in dem Jungen aktiv war, dann vermutlich die Risikobereitschaft. Joe fuhr zu schnell Ski, er fuhr zu schnell Auto, und bei Mädchen hatte er es ebenfalls mehr als eilig; sein Vater hatte den Eindruck, dass Joe einfach zu viel riskierte. »Vielleicht ist das die Katie in ihm«, hatte Danny es gegenüber seinem Dad formuliert. »Vielleicht«, antwortete der Koch. Tony Angel mochte den Gedanken nicht, dass irgendetwas von dieser schauderhaften Frau in seinem Enkel steckte. »Er könnte es aber auch von deiner Mutter haben, Daniel. Schließlich war Rosie ein risikofreudiger Mensch - frag nur mal Ketchum.« In der Zeit, die er in seinem Leben damit
verbracht hatte, die Fotos seiner Mutter anzusehen, hätte Danny einen Roman schreiben können - aber es gab eine Unterbrechung, nämlich nachdem er die Wahrheit über seine Mom, Ketchum und seinen Vater erfahren hatte. Er hatte die Fotos seinem Dad geben wollen, doch Tony Angel hatte abgelehnt. »Nein, sie gehören dir - ich sehe Rosie auch so ganz deutlich vor mir, Daniel.« Sein Vater tippte sich an die Schläfe. »Hier oben.« »Vielleicht möchte Ketchum die Fotos haben«, sagte Danny. »Ketchum hatte seine eigenen Fotos von deiner Mutter, Daniel«, erwiderte der Koch. Im Laufe der Zeit hatte Ketchum Danny einige, aber keineswegs alle Fotos geschickt, die der Junge zwischen die Seiten der in Twisted River zurückgelassenen Romane gepresst hatte. »Hier, dieses Bild habe ich in einem ihrer Bücher gefunden«, stand dann
jeweils in Ketchums Begleitbrief. »Ich dachte, du solltest es haben, Danny.« Danny hatte die Fotos behalten, wenn auch nach einigem Zögern. Joe sah sie sich gern an. Möglicherweise hatte der Koch recht: Vielleicht hatte Joe seine Risikofreude oder Waghalsigkeit von seiner Großmutter geerbt, nicht von Katie. Wenn Danny die Fotos seiner Mutter betrachtete, sah er eine hübsche Frau mit strahlend blauen Augen, doch die betrunkene Rebellin, die mit zwei ebenfalls betrunkenen Männern auf dem schwarzen Eis des Twisted River Do-si-do getanzt hatte nun, diese Seite von Rosie Baciagalupo, geborene Calogero, war auf den Fotos, die ihr Sohn aufgehoben hatte, nicht zu sehen. »Behalte bloß seinen Alkoholkonsum im Auge«, hatte der Koch seinem Sohn eingeschärft - er meinte den von Joe. »Vermutlich geht er gelegentlich auf eine Party«, hatte Danny seinem Dad geantwortet,
»aber vor mir trinkt Joe nicht.« »Was Joe vor dir trinkt, ist auch nicht das, worüber wir uns Sorgen machen müssen«, sagte der Koch. Man musste also ein Auge auf Joes Trinkgewohnheiten haben, dachte der Schriftsteller Danny Angel. Was die genetische Mitgift seines Sohns anging, so wusste Danny über die Mutter des Jungen mehr, als ihm lieb war; Katie Callahan hatte gesoffen wie ein Loch. Und als sie und Danny noch zusammen gewesen waren, hatte Katie auch mehr als nur »gelegentlich« Marihuana geraucht - und auch mehr als nur »ein wenig« gekifft, wie Danny nur zu gut wusste. Man könnte behaupten, das Windham College habe schon vor Ende des Vietnamkriegs in den letzten Zügen gelegen. Sinkende Studentenzahlen und das Unvermögen, einen
Kredit zu tilgen, zwangen das College 1978 zur Schließung, doch Danny Angel spürte schon viel früher, dass Windham Probleme bekommen würde. 1972 kündigte er dort seine Stelle und nahm einen Lehrauftrag am Autorenworkshop der University of Iowa an. Noch hatte er Die Kennedy-Väter nicht geschrieben; Danny musste weiterhin unterrichten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, doch nirgendwo kam man als Dozent auch so gut zum Schreiben wie in Iowa. (Die Studenten waren engagiert und mit ihren eigenen Texten beschäftigt, somit hatten die Dozenten jede Menge Zeit zum Schreiben.) Während seiner zweiten Zeit in Iowa City veröffentlichte Danny seinen zweiten Roman und schrieb den dritten. Für Joe, der noch kein Teenager war, war Iowa City eine tolle Stadt mit recht guten Schulen (wie von einer Universitätsstadt nicht anders zu erwarten) und halbwegs lebendigen Wohnvierteln. Iowa City
war gewiss nicht das North End - schon gar nicht in puncto Restaurants -, aber Danny gefiel es, wieder da zu sein. Der Schriftsteller ließ seinem Dad die Wahl: Tony Angel konnte mit nach Iowa City kommen oder in Putney bleiben. Danny wollte das Farmhaus in Vermont behalten. Kurz bevor er das Angebot aus Iowa annahm und in Windham kündigte, hatte er das Anwesen an der Hickory Ridge Road, das er bisher gemietet hatte, gekauft, denn sein Vater sollte im Windham County bleiben können, sofern er das wollte. Der Koch machte seine Entscheidung von Carmella abhängig. In den fünf Jahren, seit er die Pizzeria Benevento in Putney betrieb, war er oft zum Einkaufen nach Boston gefahren. Das dauerte hin und zurück vier Stunden ziemlich lange »zum Einkaufen«. Dannys Dad behauptete, er müsse seine Würste für die Pizza im Fleischmarkt Abruzzese im North
End kaufen, und wenn er schon mal in seinem alten Viertel war, konnte er sich genauso gut mit Käse, Oliven und Olivenöl eindecken. Doch Danny wusste, dass sein Dad sich mit möglichst viel Carmella »eindecken« wollte. Den beiden war es nicht gelungen, einen klaren Schnitt zu machen. In das Benevento hatte der Koch sehr wenig investiert; verglichen mit seinen bisherigen Arbeitsstellen im Coos County wie auch in Boston war eine Pizzeria neben einem ArmeLeute-College ein relativ einfaches Unterfangen gewesen. Er hatte das Haus einem alternden Hippie abgekauft, der sich »Der Schildermaler« nannte; für Tony Angel sah er eher nach einem gescheiterten Kleinunternehmer aus, und im Ort kursierte das Gerücht, der Schildermaler sei für das falsch geschriebene Wort Theater (statt Theatre) am Latchis Theatre in Brattleboro verantwortlich; bisher fehlte das Geld dazu, den Fehler zu beheben. Kein Gerücht war,
dass die Frau des Schildermalers, eine angeblich exaltierte Töpferin, ihn kürzlich verlassen und ihrem unglücklichen Mann nichts weiter als ihren Brennofen dagelassen hatte, was den Koch auf die Idee mit dem gemauerten Pizzaofen brachte. Als Danny ihn einlud, nach Iowa City zu kommen, war Tony es ein wenig leid, sein eigenes Restaurant zu führen - eine Pizzeria war ohnehin nicht die Sorte Restaurant, die dem Koch vorschwebte -, und die Sache mit Carmella hatte sich weitgehend erledigt. Sich nur gelegentlich zu sehen, hatte sie dem Koch erzählt, gebe ihr das Gefühl, sich in einer unrechtmäßigen statt in einer legitimen Beziehung zu befinden. Der Begriff unrechtmäßig hörte sich für Tony so an, als hätte ihn Carmella vorher beim Beichten verwendet, was sie regelmäßig entweder in St. Leonard oder in St. Stephen's tat. (Das Beichten war auch so ein »katholisches Zeug«, mit dem sich der Koch nie hatte anfreunden
können.) Warum nicht einfach mal schauen, wie der Mittlere Westen so ist?, dachte Tony Angel. Wenn der Koch das Benevento jetzt verkaufte, bekäme er ein wenig Geld dafür - falls er aber abwartete, bis das Windham College vor die Hunde ging, wie von Danny prophezeit, würde sich wohl bald niemand mehr für eine Pizzeria in Putney interessieren. »Warum lässt du nicht einfach einen Brand in deinem Pizzaofen außer Kontrolle geraten und kassierst anschließend das Geld von der Versicherung?«, hatte Ketchum seinen alten Freund gefragt. »Hast du Twisted River abgefackelt?«, fragte der Koch zurück. »Teufel, als es brannte, war es eine Geisterstadt - es war nur noch ein Schandfleck, Cookie!« »Diese Häuser, darunter mein Kochhaus,
waren nicht nichts, Ketchum.« »Scheiße, wenn du so zu einem kleinen Feuerchen stehst, solltest du deinen Pizzaladen vielleicht wirklich verkaufen«, bemerkte der alte Freund des Kochs. Doch »klein« konnte man das Feuer nun wahrlich nicht nennen, das den Ort dem Erdboden gleichgemacht hatte. Ketchum hatte die Brandstiftung minutiös geplant. Er entschied sich für eine windstille Nacht im März, vor Beginn der Schlammperiode. Außerdem hatte Carl damals noch nicht aufgehört zu trinken, weshalb Ketchum damit durchkam. Der Hilfssheriff war unauffindbar; und selbst wenn man ihn gefunden hätte, hätte ihn sehr wahrscheinlich niemand wecken können. Bei dem Wind hätte Ketchum nur an einer Stelle Feuer zu legen brauchen, um den ganzen Ort und das Kochhaus niederzubrennen. Doch damit hätte er womöglich einen Waldbrand
verursacht - selbst in einem so feuchten Monat wie dem März, in dem immer noch viel Schnee lag. Ketchum hatte nichts dem Zufall überlassen. Den Wald mochte er, gehasst hatte er den Ort Twisted River und das Kochhaus. (In der Nacht, als Rosie starb, hätte sich Ketchum in der Küche des Kochhauses beinahe die Hand abgeschnitten; er hatte gehört, wie der Koch sich in den Schlaf weinte, während Jane bei dem kleinen Danny im ersten Stock geblieben war.) In der Nacht, als Twisted River brannte, hatte Ketchum bestimmt drei Kubikmeter Feuerholz in seinem Pick-up. Aus jeweils der Hälfte des Holzes baute er zwei Scheiterhaufen, einen an dem verlassenen Sägewerk, den anderen in der ehemaligen Kochhausküche. Beide Stapel setzte er im Abstand von wenigen Minuten in Brand und sah zu, wie sie noch vor dem Morgen niederbrannten. Er benutzte ein edles Lampenöl mit Fichtenduft, um das Holz in Brand zu setzen; Kerosin oder Benzin hätten
irgendwelche Spuren hinterlassen können, zumindest einen verräterischen Geruch. Doch von dem Lampenöl mit seinem unverdächtigen Fichtenduft hatte es keinerlei Rückstände gegeben, von dem gut abgelagerten Feuerholz ganz zu schweigen, das er zum Legen beider Brände benutzt hatte. »Weißt du was über den Brand in Twisted River letzte Nacht, Ketchum?«, hatte Carl ihn am nächsten Tag gefragt, nachdem der verkaterte Hilfssheriff zu den beiden Brandherden gefahren war. »Die Reifenspuren dort haben wie die von deinem Truck ausgesehen.« »Ich war ja auch da«, sagte Ketchum. »Es war ein Wahnnsinnsfeuer, Cowboy - das hättest du sehen müssen! Es hat so ziemlich die ganze Nacht durch gebrannt! Ich hab mir ein, zwei Bier geschnappt, bin hingefahren und hab's mir angesehen.« (In späteren Jahren würde Ketchum sagen, es sei ein Jammer, dass der
Hilfssheriff nicht mehr trank.) Die beiden kamen nicht gerade besser miteinander klar, seit Carl wusste, dass der junge Baciagalupo Indianer-Jane mit einer Bratpfanne getötet hatte und alles Übrige auch. Dass Janes Tod ein Unfall gewesen war, hatte der Hilfssheriff inzwischen begriffen; laut Ketchum verwand er ihren Tod relativ leicht, allerdings nahm er es Ketchum übel, dass der ihm nie die Wahrheit gesagt hatte. Nicht verwinden konnte der Cowboy, dass der Koch Jane gefickt hatte - zu einer Zeit, als Jane Carl »gehörte«. Deshalb wollte Carl den Koch töten, das hatte der Hilfssheriff dem Holzfäller unmissverständlich klargemacht. »Ich weiß, du sagst mir nicht, wo Cookie ist, Ketchum, aber eins kannst du dem kleinen Krüppel von mir ausrichten: Ich werde ihn finden«, sagte der Cowboy. »Und du solltest dich vorsehen, wenn du weißt, was gut für dich ist.«
»Ich sehe mich immer vor, Carl«, erwiderte Ketchum. Der erfahrene Holzarbeiter verlor kein Wort über seinen Hund, dieses »brave Tier«. Der Hund sollte eine Überraschung sein, falls der Cowboy ihm je ans Leder wollte. Tatsächlich aber wusste wohl jeder, der das ganze Jahr am oberen Androscoggin lebte (also auch Carl), dass Ketchum einen Hund hatte. Ketchum nahm das Tier in seinem Pickup überallhin mit. Was Ketchum geheim gehalten hatte, war, wie wild der Hund war. (Natürlich konnte nicht dasselbe brave Tier Ketchum 16 Jahre lang beschützen; der jetzige Wachhund musste der Sohn oder Enkel des ersten braven Tieres sein, das Ketchum sich nach Sixpack-Pams Abgang zugelegt hatte.) »Ich hab's euch gesagt«, sagte Ketchum zu Danny und seinem Dad. »New Hampshire liegt neben Vermont - für meinen Geschmack ist das ungemütlich nahe. Ich halte es für eine phantastische Idee, dass ihr beide nach Iowa zieht. Und dem kleinen Joe gefällt's dort mit
Sicherheit auch. Iowa - ist doch auch so ein Indianername, oder? O Mann, diese Indianer waren früher ja echt überall. Und dann seht euch bloß mal an, was ihnen dieses Land angetan hat! Da fragt man sich schon, welche Ziele unser Land verfolgt, nicht wahr? Nicht erst in Vietnam haben wir ein schlechtes Bild abgegeben. Und so, wie unser bescheuertes Land gerade vor die Hunde geht - tja, vielleicht sagen diese Indianer, die in Iowa und sonstwo unter der Erde liegen, dass wir irgendwann genau das kriegen, was wir verdienen.« Wie ließe sich Ketchums politisches Credo beschreiben?, überlegte der Koch, als er Brattleboros Main Street entlang vom Book Cellar zu seinem Restaurant zurückhumpelte. live free or die
Das stand in New Hampshire auf allen Autonummernschildern: Lebe frei oder stirb; es war zweifellos auch Ketchums Motto. Trotzdem fragte sich Tony Angel, ob sein alter Freund jemals wählen gegangen war. Der Waldarbeiter traute keiner Regierung und auch keinem, der damit etwas zu tun hatte. Für ihn gab es nur einen Grund dafür, Gesetze zu haben - oder sich auch nur an irgendwelche Regeln oder Vorschriften zu halten -, nämlich dass die Arschlöcher den vernünftigen Leuten zahlenmäßig überlegen waren. (Und natürlich galten die Gesetze nicht für Ketchum; er hatte immer ohne Regeln gelebt, wenn man von seinen eigenen absah.) Der Koch blieb stehen und schaute bewundernd den Hügel hinab auf sein eigenes Restaurant - das er schon immer hatte haben wollen.
avellino italienische küche Avellino war der Name des anderen Bergorts (und der anderen Provinz) in der Nähe von Neapel, den Nunzi immer als zweiten gemurmelt hatte. Auf dem Schild stand italienische küche, nicht ristorante Italiano aus dem gleichen Grund, weshalb sich Tony Angel als Koch sah und auch so bezeichnete, nicht als Küchenchef oder Chefkoch. Er würde immer nur ein gewöhnlicher Koch sein, dachte Tony; er hielt sich nicht für gut genug, um Chefkoch zu sein. In seinem Innersten war Dominic Baciagalupo - wie sehr ihm der Name Dominic fehlte! - ein einfacher Koch aus einem Holzfällercamp oder einem Sägewerksort. Tony Molinari war ein Küchenchef, dachte der Koch, und Paul Polcari auch. Tony Angel
hatte von beiden viel gelernt - mehr, als Nunzi ihm je hätte beibringen können -, doch der Koch hatte auch gelernt, dass er nie so gut werden würde wie Molinari oder Paul. »Du hast kein Händchen für Fisch, Gamba«, hatte Molinari ihm möglichst schonend beizubringen versucht. Das stimmte. Auf der Speisekarte des Avellino stand nur ein Fischgericht, und Meeresfrüchte servierte der Koch höchstens mit Pasta - und auch nur, falls er Calamari bekam. (Er dünstete sie lange, in scharfer Marinarasauce mit schwarzen Oliven und Pinienkernen.) In Brattleboro bekam er meist nur gefrorene Calamari, was in Ordnung war, und der zuverlässigste frische Fisch war Schwertfisch. Er bereitete ihn, das hatte er bei Tony Molinari gelernt, mit Zitrone, Knoblauch und Oliven zu - entweder unter dem Bratrost oder auf dem Grill -, und zwar mit frischem Rosmarin, wenn der Koch welchen hatte, oder mit getrocknetem Oregano.
Er machte keine dolci. Paul Polcari hatte ihn dezent darauf hingewiesen, dass der Koch auch kein Händchen für Nachspeisen hatte genauer gesagt, für italienische Nachspeisen, dachte Tony Angel. Gut beherrschte er den in Sägewerksorten und Holzfällerlagern üblichen Nachtisch - Pies und Cobblers, also Obstkuchen und -auflaufe. (Mit Blaubeeren und Äpfeln konnte man in Vermont nichts falsch machen.) Im Avellino bot der Koch auch einen Gang mit Obst und Käse an. Viele seiner Stammgäste zogen das einem Dessert vor. Der Blick auf sein Avellino hatte Tony Angel vorübergehend von Ketchums politischem Credo abgelenkt, doch als er sich hügelabwärts wieder in Bewegung setzte, nahm er seine Überlegungen wieder auf. Wenn es um das ging, was andere Fortschritt nannten Maschinen und alle möglichen anderen Apparate -, so hatte Ketchum etwas von einem Maschinenstürmer. Er trauerte nicht nur den
Triften nach, sondern behauptete sogar, die Holzfällerei habe ihm vor Einführung der Motorsäge besser gefallen! (Doch Ketchum war ein echter Schusswaffenfan, dachte der Koch - Knarren gehörten zu den Maschinen, denen der alte Waldarbeiter etwas abgewinnen konnte.) Ketchum war weder liberal noch konservativ libertär träfe es vielleicht am besten. Und freizügig war der Holzfäller auch, dachte Tony Angel, und (in jüngeren Jahren) außerdem liederlich und lasterhaft. Wieso musste der Koch jedes Mal, wenn er an Ketchum dachte, unweigerlich auch an Sex denken? (Der ehemalige Dominic Baciagalupo kannte natürlich den Grund; es deprimierte ihn nur immer, dass jeder Gedanke an Ketchum über kurz oder lang unweigerlich diese Wendung nahm.) Ketchum war außer sich gewesen, als Vater, Sohn und Enkel allesamt aus Iowa zurück
nach Vermont gekommen waren, dabei hatte sich der Autorenworkshop schon äußerst entgegenkommend gezeigt, als Dannys Zweijahresvertrag um ein weiteres Jahr verlängert wurde. Doch im Sommer 1975, Joe war zehn, kehrte die Familie ins Windham County zurück. Danny mochte sein altes Farmhaus in Putney. Sein Vater wollte auf keinen Fall dort einziehen. Der Vietnamkrieg war vorbei; Windham College lag nun ganz offensichtlich in den letzten Zügen. Außerdem hatte Tony Angel Putney nie gemocht. Während Danny weder mit seinem zweiten noch seinem dritten Roman Geld verdiente, hatte der Koch in Iowa genug gespart, um die alten Ladenräume mit der darüber liegenden Wohnung an Brattleboros Main Street zu kaufen. Noch im selben Jahr eröffnete er das Avellino. In der Zwischenzeit pendelte Danny zum Mount Holyoke College in South Hadley, Massachusetts. Es war der nächstgelegene Lehrauftrag, den der Autor fand, doch das
altehrwürdige und leicht biedere Mädchencollege war fast zwei Autostunden von Putney entfernt - eine lange Strecke für einen Pendler, besonders bei Schnee im Winter. Eine wichtige Rolle bei Dannys Entscheidung spielte die von ihm hochgeschätzte Grammar School, die Joe zu Fuß erreichen konnte und auf der er die achte Klasse beendete, ehe er auf die Northfield Mount Hermon wechselte. Kopfschüttelnd betrat der Koch sein Restaurant. Daniel ist doch ein echtes Landei, dachte er. Den Koch hatte das Bostoner North End endgültig zum Stadtmenschen gemacht, zumindest zu einem typischen North Ender. Daniel dagegen pendelte drei Jahre lang zum Frauencollege, bis 1978 Die Kennedy-Väter herauskamen und er dank des Erfolgs seines Romans nie wieder unterrichten musste. Natürlich war auf einen Schlag mehr Geld verfügbar, und der Koch hatte sich Sorgen
gemacht, welche Auswirkungen das auf Joe haben würde. Daniel war, als er mit 36 Jahren zum Bestsellerautor avancierte, alt genug gewesen, dass ihm weder der Ruhm noch der neue Wohlstand zu Kopfe stiegen. Joe dagegen war gerade einmal 13 gewesen, als er von einem Tag auf den anderen einen berühmten Vater hatte. Würde das nicht bei jedem Kind seines Alters unerwünschte Folgen zeitigen? Und dann waren da noch die Frauen, die Daniel verschliss - sowohl bevor er berühmt wurde als auch danach. Der Schriftsteller hatte mit einer seiner ehemaligen Studentinnen vom Windham College zusammengelebt, als er mit Tony und Joe nach Iowa City weiterzog. Die Frau mit dem Jungennamen und dem Schmollmund »Ich heiße Franky mit y« - war nicht mitgekommen. Gott sei Dank, dachte der Koch damals. Franky war ein verwahrlost aussehendes
kleines Ding, eine Art Wildfang. »Als ich zum ersten Mal mit ihr ins Bett ging, war sie schon nicht mehr meine Studentin«, hatte sich Danny gegenüber seinem Dad gerechtfertigt. Das stimmte, aber Franky war erst ein, zwei Jahre zuvor in einem seiner Schreibkurse gewesen; sie gehörte zu den vielen Studentinnen und Studenten am Windham College, die nie mehr aus Putney wegkamen. Sie studierten in Windham, machten einen Abschluss (oder brachen das Studium ab) und blieben trotzdem - sie wollten einfach nicht weg. Die junge Frau war eines Tages bei ihrem ehemaligen Dozenten vorbeigekommen und einfach geblieben. »Was macht Franky eigentlich den lieben langen Tag?«, hatte sein Dad Danny gefragt. »Sie versucht, Schriftstellerin zu werden«, sagte Danny. »Franky hängt einfach gerne
rum, und sie ist lieb zu Joe - er mag sie.« Franky machte ein wenig Flausputz und kochte gelegentlich - wenn man das kochen nennen konnte, dachte der Koch. Das wilde Mädchen lief die meiste Zeit barfuß herum selbst im Winter, wenn Daniel das zugige alte Farmhaus mit Holzöfen beheizte. (In Putney waren Holzöfen regelrecht Kult, wie Tony Angel aufgefallen war; es wurde sogar alternativ geheiztl Der Koch konnte den Ort einfach nicht ausstehen.) Franky hatte aschblondes strähniges Haar und ließ permanent die Schultern hängen. Sie trug komische, altmodische Kleider der Sorte, wie der Koch sie noch von Nunzi her kannte, nur dass Franky nie einen bh anhatte und ihre Achseln offensichtlich nicht rasierte. Sie war höchstens 22 oder 23, als sie mit Daniel und dem kleinen Joe zusammenlebte. Daniel dagegen war dreißig, als er wieder nach Iowa zog.
In Iowa City hatte es noch mehr junge Frauen im Leben des Schriftstellers gegeben, darunter eine seiner Workshop-Studentinnen, und auch wenn es jetzt gerade niemanden gab - und es keine langfristige Beziehung gegeben hatte, seit Danny Angel berühmt wurde -, so hatte Joe, als er ins Teenageralter kam, seinen Dad doch schon mit zahlreichen jungen Frauen erlebt. (Und auch mit drei oder vier deutlich älteren Frauen, dachte der Koch, darunter auch zwei von Daniels ausländischen Verlegerinnen.) Das Haus mit Grundstück in Putney war mittlerweile ein regelrechtes Anwesen geworden. Der Schriftsteller hatte das alte Farmhaus zu einem Gästehaus gemacht und für sich und Joe ein neues Haus gebaut, außerdem gab es noch ein freistehendes Gebäude, das Danny zum Schreiben nutzte. Sein »Schreibschuppen«, wie Daniel es nannte. Schuppen war gut!, dachte Tony Angel. Das Häuschen war nicht groß, hatte
aber immerhin ein kleines Bad, ein Telefon, einen Fernseher und einen kleinen Kühlschrank. Danny wohnte zwar gern auf dem Land, war aber alles andere als ein Einsiedler, daher das Gästehaus. In seinem Leben als Schriftsteller hatte er eine ganze Reihe Stadtmenschen kennengelernt, die ihn besuchten - darunter gelegentlich Frauen. Hatte sich Joe dadurch, dass er den wechselnden Frauenbekanntschaften seines Vaters ausgesetzt war, als Jugendlicher zu einer Art Prep-School-Playboy entwickelt?, fragte sich Tony Angel. Er machte sich Sorgen um seinen Enkelsohn - mindestens so große wie dessen Vater. Ja, es galt, den Alkoholkonsum des Achtzehnjährigen im Auge zu behalten, denn Joe hatte die verschmitzte Unbekümmertheit eines jungen Mannes, der gern mal über die Stränge schlug. Seit dem Vietnamkrieg durfte man in vielen
Bundesstaaten nun schon ab 18 Alkohol trinken, dahinter stand die Logik, dass Jugendliche wenigstens trinken dürfen sollten, wenn man sie schon in so zartem Alter zum Sterben schickte. Fast zehn Jahre nach Kriegsende, 1984, wurde das Trinkalter wieder auf 21 angehoben, doch heutzutage hatten viele junge Leute gefälschte Ausweise. Im Avellino bekam der Koch ständig welche zu sehen, und er wusste, dass sein Enkel keine Ausnahme war. Wirklich Sorgen machte dem Koch, dass Joe bei Mädchen so schnell aufs Ganze ging. Wenn man bei Mädchen zu schnell zu weit ging, konnte einen das in ebenso große Schwierigkeiten bringen wie das Trinken, wie der ehemalige Dominic Del Popolo, vormals Baciagalupo, aus eigener Erfahrung wusste. Es hatte ihn selbst in Schwierigkeiten gebracht und Daniel auch. Trotz
Carmellas
Vertuschungsversuchen
wusste Tony ganz genau, dass sie ihre Nichte Josie mit Daniel im Bett erwischt hatte; der Koch war sich sicher, dass sein Sohn mit mehr als einem der DiMattia-Mädchen gebumst hatte, noch dazu mit einer Saetta und der einen oder anderen Calogero! Doch Joe hatte Daniel mehr als einmal in Situationen erlebt oder gehört, die alles andere als jugendfrei waren und die Techtelmechtel seines Vaters mit seinen zärtlichen Cousinen weit in den Schatten stellten. Auch wusste Joes Großvater genau, dass sein Enkel mehr als nur ein paar Nächte im Schülerinnenwohnheim der nmh verbracht hatte. (Ein Wunder, dass der Junge noch nicht erwischt und von der Schule verwiesen worden war; doch was nicht war, konnte ja jetzt, im Frühlingssemester seines Abschlussjahres, noch werden!) Es gab Dinge, die Joes Vater nicht wusste, sein Großvater aber wohl. In der Panik seiner letzten Nacht in Twisted River hatte der Koch zum ersten Mal gebetet -
bisher war es bei diesem einzigen Mal geblieben. Bitte, Gott, gib mir Zeit, hatte Tony Angel, lang war's her, gebetet, als er das Gesicht seines Zwölfjährigen hinter der regennassen Windschutzscheibe des Chieftain Deluxe sah. (Danny hatte auf dem Beifahrersitz gesessen und gewartet, als hätte er nie daran gezweifelt, dass sein Vater wohlbehalten aus Constable Carls Wohnung zurückkommen würde, nachdem er IndianerJanes Leiche dort abgelegt hatte.) Egal, wie oft sich der Koch und Ketchum über Danny Angels Romane unterhielten - und nicht nur über das, was in ihnen stand, sondern auch, noch wichtiger, über das, was der Schriftsteller offenbar absichtlich wegließ -, eins fiel den beiden unweigerlich auf, nämlich wie sehr die Bücher von Dannys Ängsten handelten. Vielleicht ist das das Werk der Phantasie, dachte Tony, als er unter die feuchten Tücher spähte, die seinen Pizzateig bedeckten; der Teig war noch nicht so weit
aufgegangen, dass er ihn hätte durchkneten und runterdrücken müssen. Danny Angels Romane hatten viel mit den Unglücksfällen zu tun, die eintreffen könnten und vor denen er sich fürchtete. Oft handelten Dannys Geschichten von Alpträumen - insbesondere vom größten aller Alpträume für Eltern, nämlich ein Kind zu verlieren. In einem Danny-Angel-Roman gab es immer jemanden (oder etwas), der (oder das) Kinder oder ein Kind verhängnisvoll bedrohte. Junge Menschen waren in Gefahr - und zwar zum Teil gerade weil sie jung waren! Tony Angel war kein großer Leser mehr, auch wenn er (auf Empfehlungen Dannys und Ketchums) zahllose Romane im Book Cellar gekauft hatte. Er hatte Unmengen erste Kapitel gelesen und dann einfach aufgehört. Etwas an Ketchums Beziehung zu Rosie hatte dem Koch das Lesen regelrecht ausgetrieben. Die einzigen Romane, die er wirklich zu Ende las und zwar jedes Wort -, waren die seines
Sohnes. Tony war nicht wie Ketchum, der alles gelesen (oder vorgelesen bekommen) hatte. Der Koch kannte die schlimmsten Ängste seines Sohns: Daniel hatte eine Heidenangst davor, dass den ihm nahestehenden Menschen etwas zustoßen könnte; von diesem Thema war er wie besessen. Daher rührte die furchtsame Phantasie des Schriftstellers - von kindlichen Ängsten. Der Schriftsteller Danny Angel konnte nicht anders, als sich das Schlimmste vorzustellen, was in einer Situation passieren könnte. Irgendwie war der Sohn des Kochs als Schriftsteller - also in seiner Phantasie - mit 41 noch immer ein Kind. In der stillen Küche in seinem geliebten Avellino betete der Koch, dass ihm sein sehnlicher Wunsch erfüllt wurde, noch ein wenig länger zu leben. Er wollte seinem
Enkelsohn helfen, das Teenageralter zu überstehen. Vielleicht sind Jungs erst mit Ende 20 aus dem Gröbsten raus, überlegte Tony schließlich war Daniel 22 gewesen, als er Katie heiratete. (Womit er zweifellos Risikofreude demonstriert hatte!) Und wenn Joe dreißig werden musste, ehe er in Sicherheit war? Und falls Joe etwas zustoßen sollte, so betete der Koch darum, dass er noch lebte, um sich um Daniel zu kümmern; er wusste, wie viel Hilfe sein Sohn dann brauchen würde. Tony Angel starrte auf das stumme Radio. Fast hätte er es angemacht, nur um diese schauerlichen Gedanken zu verjagen. Er überlegte, Ketchum zu schreiben, statt das Radio einzuschalten, doch er machte keins von beidem, sondern betete einfach weiter. Das Beten war wie aus dem Nichts über ihn gekommen, und er wünschte, er könnte damit wieder aufhören. In der Küche, neben seinen Kochbüchern,
standen, chronologisch geordnet, verschiedene Ausgaben von Danny Angels Romanen. Danny wusste es zu schätzen, denn es gab für seine Romane keinen ehrenvolleren Platz als zwischen den Kochbüchern seines Dads. Doch der Anblick der Bücher seines berühmten Sohnes konnte den Koch nicht beruhigen. Der Koch wusste, nach Familienleben im Coos County hatte Daniel Die Mickey veröffentlicht, aber war das nun 1972 oder 1973 gewesen? Der erste Roman war Mr. Leary gewidmet gewesen, allerdings hätte die Zueignung in Anbetracht des Themas besser zum zweiten gepasst. Doch Danny hatte mehr oder weniger versprochen, seinen zweiten Roman seinem Dad zu widmen, und Wort gehalten. »Meinem Vater, Dominic Baciagalupo«, lautete die Widmung, was ein wenig verwirrend war, schließlich hieß der Autor Danny Angel - und Dominic nannte sich bereits Tony oder Mr. Angel.
»Ist das nicht irgendwie so, als ließe man damit die Pseudonymkatze aus dem Pseudonymsack?«, hatte sich Ketchum beschwert, doch es hatte sogar sein Gutes gehabt. Als Danny mit seinem vierten Roman berühmt wurde, war das Problem, dass er unter einem Pseudonym schrieb, schon längst entschärft. In der literarischen Welt wusste fast jeder, dass Danny Angel ein Pseudonym war, doch kaum jemand erinnerte sich an seinen richtigen Namen - oder es war den Leuten egal. (Mr. Leary hatte recht behalten, als er erwähnte, es gäbe Namen, die man sich leichter merken könne als Baciagalupo, und wie viele Menschen - selbst in der literarischen Welt - wussten, wie John le Carre wirklich hieß?) Dass Danny seine Entscheidung gegenüber Ketchum mit den Worten verteidigt hatte, er bezweifle, dass der Hilfssheriff in der literarischen Welt verkehre, kam nicht überraschend; selbst der Holzfäller musste
zugeben, dass der Cowboy kein großer Leser war. Außerdem hatte kaum jemand den Roman Die Mickey bei seiner Erstveröffentlichung gelesen. Erst als sein vierter Roman Danny berühmt machte und die Leser sich die früheren Bücher vornahmen, lasen alle Die Mickey. Eine - allerdings wichtige - Nebenfigur in Die Mickey ist ein verklemmter Ire, der an der Michelangelo School Englisch unterrichtet; der Roman konzentriert sich auf die letzte Begegnung des Protagonisten mit seinem ehemaligen Englischlehrer bei einer Striptease-Show im Old Howard Theatre. Nach Ansicht des Kochs war das ein zu unbedeutender Zufall, als dass man darauf ein ganzes Buch aufbauen konnte - die beiderseitige Scham und Verlegenheit des ehemaligen Schülers (der jetzt das Internat in Exeter besuchte und ein paar Freunde von dort dabeihatte) und der Figur, die eindeutig auf Mr. Leary beruhte. Wahrscheinlich hatte sich
diese Episode im Old Howard wirklich zugetragen, wenigstens glaubte das der Vater des Romanciers. Der dritte Roman erschien 1975, nachdem die drei aus Iowa zurück nach Vermont gezogen waren. Der Koch fragte sich, ob man nur in seiner Familie fälschlicherweise angenommen hatte, dass mit »zärtliche Cousinen« Cousinen gemeint waren, die an ihren Cousins sexuell interessiert oder mit ihnen verbandelt waren. Dannys dritter Roman hieß Zärtliche Sippschaft. Der Koch war erleichtert, dass sein Sohn diesen dritten Roman nicht seinen Cousinen aus den Familien Saetta und Calogero gewidmet hatte, weil die männlichen Mitglieder dieser Familien vielleicht nicht begriffen hätten, dass die Widmung als ironische Anspielung gemeint gewesen wäre. Die Geschichte drehte sich um die ersten sexuellen Erfahrungen eines Jungen in
Bostons North End; er wurde von einer älteren Cousine verführt, die als Kellnerin in dem Restaurant arbeitete, in dem der Junge manchmal als Hilfskellner aushalf. Die ältere Cousine in dem Roman war, wie der Koch wusste, eindeutig diesem Flittchen Elena Calogero nachempfunden - besser gesagt, die äußeren Merkmale dieser Figur trafen genau auf Elena zu. Doch sowohl Carmella wie auch der Koch waren sich ziemlich sicher, dass Daniel seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Carmellas Nichte Josie DiMattia gesammelt hatte. Der Roman könnte auch ein reines Phantasiegespinst oder Wunschdenken sein, vermutete der Koch. Doch manche Details machten dem Vater des Schriftstellers besonders zu schaffen, beispielsweise wie die ältere Cousine die Beziehung zu dem Jungen abbrach, als dieser aufs Internat ging. Die Kellnerin erzählte dem Knaben, eigentlich habe sie die ganze Zeit den Vater des Jungen
vögeln wollen - nicht den Jungen. (Über die Figur des Vaters erfuhr man in dem Buch wenig; recht vage wurde er als »neuer Koch« in dem Restaurant erwähnt, in dem sein Sohn Hilfskellner war.) Der verschmähte Junge reiste ab ins Internat, voller Hass auf seinen Vater, weil er sich vorstellte, dass die ältere Cousine früher oder später seinen Dad verführen würde. Das konnte doch wohl nicht wahr sein - das war ungeheuerlich!, dachte Tony Angel, während er in dem Buch nach der Stelle suchte, wo der Junge sich aus dem Fenster des anfahrenden Zugs lehnt, während sein Vater auf dem Bahnsteig der Bostoner North Station zurückbleibt. Plötzlich erträgt der Junge den Anblick seines Vaters nicht mehr und widmet seine Aufmerksamkeit der Stiefmutter. »Ich wusste, wenn ich sie das nächste Mal sah, hatte sie wahrscheinlich ein paar Pfund zugelegt«, schrieb Danny Angel.
»Wie konntest du über Carmella so was schreiben?«, hatte der Koch seinen Schriftstellersohn angebrüllt, als er diesen kränkenden Satz zum ersten Mal las. »Es ist nicht Carmella, Dad«, erwiderte Daniel. (Zugegeben, die Figur der Stiefmutter in Zärtliche Sippschaft mochte nicht Carmella sein, aber Danny Angel hatte den Roman ihr gewidmet.) »Vielleicht hat man als Angehöriger eines Schriftstellers einfach Pech«, hatte Ketchum dem Koch gesagt. »Sieh mal, wir ärgern uns, wenn Danny über uns schreibt oder über jemanden, den wir kennen, aber wir ärgern uns auch über ihn, wenn er nicht über uns oder nicht richtig über sich selbst schreibt - über sein wahres Ich, meine ich. Ganz zu schweigen davon, dass er aus seiner verfluchten Ex einen besseren Menschen gemacht hat, als sie's je war!« Das stimmte alles, dachte der Koch. An
Daniels Romanen fiel ihm auf, dass sie zwar autobiographisch, aber auch wieder nicht autobiographisch waren. (Danny sah das natürlich anders. Nach seinen literarischen Fingerübungen als Schüler, die er nur Mr. Leary gezeigt hatte - und diese Geschichten waren nichts weiter als eine verwirrende Mischung aus Autobiographie und Phantasie, beide überspitzt und für Danny heute beinahe ebenso »verwirrend«, wie sie es einstmals für den inzwischen verstorbenen Mr. Leary gewesen waren -, hatte der junge Romancier eigentlich gar nichts Autobiographisches mehr geschrieben, wie er meinte.) Der Koch fand die Stelle nicht, die er in Zärtliche Sippschaft gesucht hatte. Er stellte den dritten Roman seines Sohnes wieder ins Bücherregal und warf einen kurzen Blick auf den vierten - den »Ruhmbringer«, wie Ketchum ihn nannte. Tony Angel sah sich Die Kennedy-Väter nur ungern an - das Buch mit der falschen Katie, wie er es innerlich nannte.
Der Roman hatte seinen Sohn nicht nur berühmt gemacht, er war auch ein internationaler Bestseller und das erste Buch von Daniel, das verfilmt worden war. Fast alle fanden den Film gar nicht übel, auch wenn er längst nicht so erfolgreich wie der Roman war. Danny mochte zwar den Film nicht, hasste ihn aber auch nicht, wie er sagte, sondern wollte nur in keiner Weise in die Verfilmung involviert sein. Er sagte auch, er wolle nie ein Drehbuch schreiben und von keinem weiteren seiner Romane je die Filmrechte verkaufen - außer jemand schriebe vorher ein halbwegs ordentliches Drehbuch und gäbe es ihm zu lesen. Seinem Dad hatte der Schriftsteller erklärt, dass das Filmgeschäft genau umgekehrt funktioniere; grundsätzlich würden die Rechte für die Verfilmung eines Romans verkauft, bevor ein Drehbuchautor überhaupt mit dem Projekt befasst sei. Wenn er als Schriftsteller
darauf bestehe, ein fertiges Drehbuch zu sehen, ehe er den Verkauf der Rechte an seinem Roman auch nur in Betracht ziehe, sorge er mit ziemlicher Sicherheit dafür, dass nie wieder eines seiner Bücher verfilmt werde - jedenfalls nicht zu seinen Lebzeiten. »Offenbar hat Danny die Filmfassung von Die Kennedy-Väter doch gehasst«, hatte Ketchum dem Koch gesagt. Aber der Holzfäller und der Dad des Schriftstellers mussten aufpassen, was sie in Gegenwart des jungen Joe über Die KennedyVäter sagten. Danny hatte den Roman seinem Sohn gewidmet. Ketchum und der Koch waren immerhin zufrieden, dass das Buch nicht Katie gewidmet worden war. Natürlich wusste Danny, dass die beiden alten Freunde nicht gerade Fans seines berühmten vierten Romans waren. Es war nur natürlich, hatte eine von Daniels Verlegerinnen dem Koch erzählt - eine der
ausländischen, älteren Frauen, mit denen der Schriftsteller geschlafen hatte -, dass man jeden Roman, den Danny Angel nach Die Kennedy-Väter schrieb, dafür kritisieren würde, dass er nicht an den berühmten vierten Roman heranreichte, der ihm den Durchbruch brachte und zu einem Megaseller wurde. Dennoch tat sich Danny keinen Gefallen mit seinem fünften Roman, der sowohl derb als auch sexuell verstörend war. Und, wie mehr als ein Kritiker schrieb, der Autor hatte ein exzessives Faible für Semikolons; sogar im Titel hatte er eins untergebracht! Er war einfach dumm, dieser Titel - Die alte Jungfer; oder die keusche Tante hatte Daniel das Buch genannt. »Heiliger Dünnschiss!«, hatte Ketchum den Bestsellerautor angeschrien. »Hättest du dich nicht für eins von beiden entscheiden können?« In Interviews sagte Danny immer, der Titel spiele auf die Sorte altmodischer 19.-
Jahrhundert-Geschichten an, wie dieser Roman eine erzähle. »Blödsinn«, hatte der Koch seinem Sohn an den Kopf geworfen. »Bei dem Titel glaubt man, du könntest dich nicht entscheiden.« »Egal, wie die Dinger heißen mögen, sie sehen aus, als hätte jemand eine Fliege über dem Komma zerquetscht«, sagte Ketchum zu Danny über die vielen Semikolons. »Ich schreibe zwar nur Briefe an dich und deinen Dad, aber davon hab ich 'ne ganze Menge geschrieben, und ich glaube nicht, dass ich in all den Briefen zusammen so viele von den blöden Dingern verwendet habe wie du auf irgendeiner Scheißseite dieses Romans.« »Sie heißen Semikolons, Ketchum«, sagte der Schriftsteller. »Ist mir egal, wie sie heißen, Danny«, sagte der alte Holzarbeiter, »ich sag dir bloß, du benutzt zu viele davon!«
Was Ketchum und den Koch jedoch an Danny Angels fünftem Roman wirklich störte, war natürlich die verfluchte Widmung -»Katie, in memoriam«. Tony Angel konnte Ketchum dazu nichts weiter sagen als: »Diese Callahan-Fotze hat meinem Sohn das Herz gebrochen und meinen Enkel im Stich gelassen.« (Es war, wie Ketchum wusste, der falsche Zeitpunkt, seinen Freund darauf hinzuweisen, dass sie seinen Sohn dafür aus dem Krieg rausgehalten und ihm einen Enkel geschenkt hatte.) Ganz zu schweigen von dem, worum es in Die alte Jungfer; oder die keusche Tante ging, dachte der Koch, als er den Roman auf seinem Bücherregal in der Küche misstrauisch beäugte. Er spielte wieder im North End, doch diesmal machte der pubertierende Junge seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einer seiner Tanten - nicht mit einer älteren Cousine -, und die keusche Tante und alte Jungfer glich aufs
Haar Rosies jüngster Schwester, unglücklichen Filomena Calogero!
der
Bestimmt ist das nicht wirklich passiert!, hoffte der Koch, aber hatte sich Daniel einmal gewünscht, dass es passierte - oder war es beinahe passiert? Wieder einmal (wie in allen Romanen Danny Angels) waren die Beschreibungen sehr drastisch und glaubhaft, und die Schilderungen der sexuellen Eigenarten der zierlichen Tante des Jungen was für eine jämmerliche, vor Selbstmitleid zerfließende Frau! - waren für den Koch eine sehr schmerzliche Lektüre, jedes einzelne Wort. Kritiker verwiesen auch darauf, dass sich »der möglicherweise überschätzte Autor wiederholt«; Daniel war 39 gewesen, als sein fünfter Roman 1981 in die Läden kam, und die vielen herben Kritiken mussten ihn gekränkt haben, auch wenn er sich nichts anmerken ließ. Die Cousine in Zärtliche Sippschaft
erzählt dem Jungen, dem sie den Laufpass gibt, sie habe statt seiner schon immer mit seinem Vater schlafen wollen. Und die Titelfigur in dem Roman über die neurotische Tante verrät dem Jungen, jedes Mal, wenn sie mit ihm schlafe, stelle sie sich vor, dass sie mit seinem Vater Sex habe! (Was ist denn das für eine Selbstzerfleischung?, hatte sich der Koch gefragt, als er zum ersten Mal Die alte Jungfer; oder die keusche Tante las.) Vielleicht ist es ja wirklich geschehen, stellte sich jetzt der Mann vor, der den Dominic in sich vermisste. Rosies Schwester Filomena hatte er immer für komplett übergeschnappt gehalten. Er konnte sie nicht ansehen, ohne das Gefühl zu haben, dass sie ein groteskes Double von Rosie war - »Rosies Doppelgängerin«, wie er sie einmal gegenüber Ketchum genannt hatte. Doch seltsamerweise schien Daniel sich in Filomena verknallt zu haben; der Junge musste sie ständig ansehen, und offenbar sah er sie nicht als Tante. Hatte
die kapriziöse Filomena, die (wie der Koch annahm) immer noch unglücklich und ledig war, ihren in sie vernarrten Neffen tatsächlich ermutigt oder sogar erhört? »Warum fragst du Danny nicht einfach, ob die irre Tante ihm das Poppen beigebracht hat?«, hatte Ketchum dem Koch vorgeschlagen. Das war ein ordinärer Ausdruck aus dem Coos County, den der Koch nicht mochte. (Wenn er in Boston ein wenig genauer zugehört hätte, wie die Menschen um ihn herum redeten, wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass das Wort »poppen« auch im North End gang und gäbe war.) Eine Stelle in Die alte Jungfer; oder die keusche Tante jedoch hatte sowohl Tony Angel als auch Ketchum ausnehmend gut gefallen: nämlich die Hochzeit am Ende. Der Junge ist inzwischen erwachsen und heiratet seine College-Freundin - eine gleichgültige Braut und der echten Katie ähnlicher, als es
Caitlin in Die Kennedy-Väter je war. Außerdem hatte Danny die Callahan-Männer auf den Punkt genau getroffen - diese verkniffenen Patrizier und Republikaner, die, wie Danny glaubte, schuld daran waren, dass Katie eine gegen alle Regeln verstoßende Anarchistin geworden war. Sie war eine höhere Tochter aus reichem Haus, die sich ein neues Image als Radikale verpasst hatte, doch sie war eine Pseudorevolutionärin geblieben. Katies einzige Revolution war eine kleine, sexuelle gewesen. Ein Buch von Danny Angel stand noch nicht auf dem Küchenregalbrett im Avellino. Das war sein sechster, noch unveröffentlichter Roman. Doch der Koch hatte es fast fertiggelesen; ein Exemplar der Druckfahnen lag oben in seinem Schlafzimmer. Ketchum hatte ebenfalls ein Exemplar bekommen. Beide Männer standen dem Roman zwiespältig gegenüber, und keiner hatte es eilig, ihn zu Ende zu lesen.
Jenseits von Bangor spielt in einem Waisenhaus in den 1960er Jahren, als Abtreibungen noch strafbar waren. Praktisch derselbe Junge aus Danny Angels früheren Romanen - ein Junge aus Boston, der dann ein Internat besucht - schwängert zwei seiner Cousinen aus dem North End, eine, als er noch Schüler in Exeter ist (bevor er Auto fahren lernt), und die andere, nachdem er sein Studium begonnen hat. Natürlich studiert er an der University of New Hampshire. In dem Waisenhaus in Maine gibt es eine alte Hebamme, die Abtreibungen durchführt - eine äußerst mitfühlende Frau, die dem Koch wie eine seltsame Mischung aus dem lieben und sanften Paul Polcari (»Dieser verdammte Pazifist!«, wie Ketchum ihn nur nannte) und Indianer-Jane vorkam. Die erste Cousine, die nach Maine fährt, bringt das Baby zur Welt und lässt es zurück; ein Kind zu bekommen, aber nicht zu wissen, was
aus ihm wird, hat sie so mitgenommen, dass sie die andere schwangere Cousine beschwört, nur ja nicht ihrem Beispiel zu folgen. Dennoch fährt die zweite schwangere Cousine in dasselbe Waisenhaus nach Maine - nur will sie das Kind dort abtreiben. Das Problem liegt darin, dass die alte Hebamme vielleicht nicht mehr lange genug leben wird, um den Eingriff durchzuführen. Falls die junge, noch in der Ausbildung befindliche Hebamme die Ausschabung vornehmen müsste, hätte das für die Cousine vielleicht katastrophale Folgen. Denn die junge Hebamme beherrscht ihr Handwerk noch nicht gut genug. Ketchum und der Koch hofften, dass der Roman eine gute Wendung nehmen und der zweiten schwangeren Cousine nichts Schlimmes zustoßen würde. Doch da sie Danny Angels Romane kannten, schwante den beiden alten Lesern nichts Gutes. Und noch etwas bereitete ihnen Sorgen.
Vor über einem Jahr hatte Joe auf der Northfield Mount Hermon ein Mädchen in Schwierigkeiten gebracht. Weil er einen berühmten Vater hatte - für einen Schriftsteller hatte Danny Angel einen hohen Wiedererkennungswert - und weil Joe bereits das Thema von Dannys nächstem Roman kannte, hatte er seinen Vater nicht um Hilfe gebeten. Die Abtreibungsgegner demonstrierten vor den meisten Kliniken und Arztpraxen, in denen Abtreibungen vorgenommen wurden; Joe wollte nicht, dass sein Dad ihn und das bedauernswerte Mädchen an so einen Ort fuhr. Was, wenn einer dieser selbsternannten Anwälte des Rechts auf ungeborenes Leben seinen berühmten Vater erkannte? »Kluger Junge«, sagte Ketchum zu Joe, als Dannys Sohn ihm geschrieben hatte. Seinem Großvater hatte Joe auch nichts sagen wollen, aber Ketchum bestand darauf, dass der Koch sie begleitete.
Gemeinsam waren sie zu einer Abtreibungsklinik nach Vermont gefahren. Ketchum und der Koch saßen im Wagen des Kochs vorn; Joe und das traurige, verängstigte Mädchen hockten auf dem Rücksitz. Die Situation war doppelt peinlich gewesen, weil die beiden jungen Leute kein Paar mehr waren. Fast einen Monat bevor das Mädchen seine Schwangerschaff bemerkte, hatten sie sich getrennt, doch beide wussten, dass Joe der Vater des Kindes war. Was sie vorhatten, war richtig (wie der Koch und Ketchum fanden), aber es fiel ihnen schwer. Ketchum versuchte, sie zu trösten, stellte sich dabei jedoch - typisch Ketchum - recht ungeschickt an. Der Holzfäller sagte mehr, als er eigentlich wollte. »Eigentlich könnt ihr von Glück reden, Joe«, sagte er zu dem bedrückten Paar auf dem Rücksitz. »Als deinem Vater und einem Mädchen, das er kannte, das Gleiche passierte, waren Abtreibungen noch strafbar und alles andere als sicher.«
Hatte der alte Waldarbeiter vergessen, dass der Koch mit im Wagen saß? »Deshalb bist du also mit Danny und der kleinen DiMattia nach Maine gefahren!«, rief Tony Angel. »Hab ich mir's doch gedacht! Damals hast du behauptet, du wolltest ihnen den Kennebec zeigen - >den letzten großen Fluss, wo noch Flößerei betrieben wird<, wie du erzählt hast oder irgend so 'n Quatsch. Doch die kleine DiMattia war so dämlich, sie hat Carmella gesagt, du wärst mit ihr und Danny noch hinter Bangor gewesen. Und ich wusste, dass Bangor nicht mal in der Nähe des Kennebec liegt.« Ketchum und der Koch hatten sich den ganzen Weg bis zur Abtreibungsklinik gestritten; Demonstranten hatten davorgestanden, Joe hatte recht daran getan, seinen berühmten Vater dem nicht auszusetzen. Und auf der gesamten Rückfahrt - die Exfreundin und Joe verbrachten das Wochenende bei seinem
Großvater in Brattleboro - hatte Joe sie auf dem Rücksitz im Arm gehalten, während sie schluchzte und immer weiterschluchzte. Sie war bestimmt erst 16, höchstens 17. »Es wird schon wieder«, sagte der noch nicht siebzehnjährige Joe dem armen Mädchen immerzu. Das hofften Ketchum und der Koch auch. Und nun waren beide Männer mitten im letzten Kapitel von Jenseits von Bangor steckengeblieben Danny Angels Abtreibungsroman, wie man ihn später nennen sollte. Dem Koch war aufgefallen, dass die Figur, die den Jugendlichen (und dessen erste schwangere Cousine) nach Maine brachte, etwas von Ketchum hatte. Der Beschreibung nach erinnerte der freundliche ältere Mann den Koch außerdem an Tony Molinari, in dem Roman ist er der Küchenchef des Restaurants im North End, in dem die beiden schwangeren Cousinen als Kellnerinnen arbeiten. Doch wie der Mann mit dem Pick-up umgeht, in dem die
drei nach Maine fahren, brachte Tony Angel dazu, ihn insgeheim »die Ketchum-Figur« zu nennen. Die Ähnlichkeit mit Molinari war nur eine Tarnung, die Danny der Figur verpasst hatte, denn als er die letzte Fassung seines Abtreibungsromans schrieb, konnte er natürlich nicht ahnen, dass Ketchum seinem Dad bereits erzählt hatte, dass Danny die kleine DiMattia geschwängert und er selbst die beiden bald darauf in das Waisenhaus irgendwo jenseits von Bangor, Maine, gefahren hatte. Das Buch war den beiden von Danny Angel und seinem Dad so verehrten Köchen gewidmet, Tony Molinari und Paul Polcari »Un abbraccio für Tony M. und Paul P.«, hatte der Autor geschrieben und den beiden Männern damit ein gewisses Maß an Privatsphäre gegönnt. (»Eine Umarmung« von dem ehemaligen Hilfskellner und Sous-Chef im Vicino di Napoli.) Der Koch wusste, dass die beiden Chefköche sich inzwischen aufs
Altenteil zurückgezogen hatten; das Vicino di Napoli gab es nicht mehr, und ein anderes Restaurant mit einem anderen Namen hatte am North Square seinen Platz eingenommen. Tony Angel fuhr immer noch gelegentlich zum Einkaufen ins North End. Mit Molinari und Polcari traf er sich dann auf einen Espresso im Caffe Vittoria. Sie versicherten ihm immer, Carmella gehe es gut; sie schien mit einem anderen Kerl recht glücklich zu sein. Es wunderte den Koch nicht, dass Carmella, schön und liebenswert, wie sie war, einen anderen gefunden hatte. Jenseits von Bangor würde für Joe keine leichte Lektüre werden, wenn er endlich einmal zum Lesen käme; als Joe auf die Northfield Mount Hermon ging, hatte er schlicht keine Zeit, die Romane seines Vaters zu lesen. Soweit der Koch wusste, hatte sein Enkel nur ein Buch seines Dads gelesen: Die Kennedy-Väter natürlich - und sei es auch nur
in der Hoffnung, ein wenig über seine Mutter zu erfahren. (Wenn man Ketchums Einschätzung der Katie-Figur folgte, war das, was Joe aus dem Roman über seine Mutter erfuhr, »keinen Krümel Waschbärenkacke wert« - Originalton Ketchum.) Tja, hier bin ich nun - und mache mir wieder Sorgen um Joe, und wozu das dann wieder führt, dachte der Koch. Er linste unter die feuchten Geschirrtücher; sein Pizzateig konnte jetzt durchgeknetet werden. Danach feuchtete Tony Angel die Geschirrtücher wieder an und wrang sie anschließend etwas aus, ehe er die Schüsseln erneut abdeckte, um den Pizzateig ein zweites Mal aufgehen zu lassen. Er dachte, sein nächster Brief an Ketchum könnte wie folgt anfangen: »Es gibt so viele Gründe, mir Sorgen zu machen, dass ich nicht anders kann. Und lach nur, Ketchum! Ich habe nämlich gebetet!« Doch der Koch begann
diesen Brief gar nicht erst. Er fühlte sich seltsam erschöpft:, und er hatte den ganzen Morgen damit vergeudet, fast nichts zu tun - er hatte gerade mal seinen Pizzateig angesetzt und war zur Buchhandlung und zurück gehumpelt. Jetzt war es schon Zeit, einkaufen zu gehen. Das Avellino hatte keinen Mittagstisch, nur Abendessen. Tony Angel kaufte mittags ein; sein Personal traf am frühen Nachmittag im Restaurant ein. Der Koch war mit seiner Besorgnis nicht allein; auch Danny machte sich alle möglichen Sorgen. Aber keiner von beiden machte sich so große Sorgen wie Ketchum, obwohl schon fast Juni war - die Schlammperiode im Süden Vermonts war längst vorbei, und der Norden New Hampshires war schon seit Wochen schlammfrei. In den Wochen unmittelbar nach dem Ende der Schlammperiode war Ketchum normalerweise beinahe euphorisch. Doch nicht jetzt und eigentlich nicht seit der Koch samt Sohn und Enkel aus Iowa nach Vermont
zurückgekehrt war. Die drei auch nur in der Nähe New Hampshires zu wissen gefiel Ketchum gar nicht - vor allem nicht seinen alten Freund mit dem neuen und gewöhnungsbedürftigen Namen. Das Seltsame war, dass der Koch, obwohl er sich so viele Sorgen machte, darauf überhaupt keinen Gedanken verschwendete. Es war so viel Zeit vergangen - 16 Jahre, seit er aus Boston weggezogen war, und 29 seit seiner letzten, ereignisreichen Nacht in Twisted River. Dominic Del Popolo, vormals Baciagalupo, der jetzt Tony Angel hieß, machte sich wegen ganz anderer Dinge Sorgen als wegen eines wütenden alten Cowboys im Coos County. Der Koch hätte aber wegen Carl beunruhigt sein müssen, denn Ketchum hatte recht. Vermont lag gleich neben New Hampshire gefährlich nahe. Und der Hilfssheriff, der inzwischen 36 war, hatte sich zur Ruhe
gesetzt. Er hatte jetzt jede Menge Zeit, und dieser Cowboy war immer noch auf der Suche nach dem kleinen Krüppel, der ihm seine Indianer-Jane ausgespannt hatte.
8 - Toter Hund; oder: Erinnerungen an Mao's Hinter dem »Anwesen« des berühmten Schriftstellers - wie es die Einheimischen in Putney (und auch der Vater des Autors) gern nannten - stieg die Hickory Ridge Road fast zwei Kilometer lang an, wobei die Straße den Bach überquerte, teilweise aber auch seinem Lauf folgte. Die sogenannte Nebenstraße von Putney nach Westminster West war ungeteert, und etwa auf halbem Wege zwischen Danny Angels Grundstück in Putney und dem Haus seines besten Freundes in Westminster West führte eine lange, steile Auffahrt zu einer
hübschen Farm mit Pferden. Bei warmem Wetter - zwischen Mai, wenn er das Wasser in seinen Swimmingpool einließ, und Oktober, wenn er ihn winterfest machte - teilte Danny seinem Freund in Westminster West telefonisch mit, wann er zu einem Lauf aufbrach. Die Strecke war vier oder fünf Meilen lang, vielleicht auch sechs oder sieben; Danny war ein solcher Tagträumer, dass er nicht mehr darauf achtete, welche Strecken er beim Laufen zurücklegte. Offenbar konzentrierten sich die Tagträume des Schriftstellers auf die hübsche Farm am Ende der langen, steilen Auffahrt, denn dort wohnte eine ältere Frau mit schneeweißem Haar (und dem Körper einer Tänzerin von Mitte zwanzig). Vor einigen Jahren hatte Danny eine Liaison mit Barrett gehabt, so hieß die Frau. Sie war nicht verheiratet, auch damals nicht; die Beziehung der beiden hatte nichts Skandalöses gehabt. Und doch sah der Schriftsteller, etwa bei Meile zwei seiner
Laufstrecke, in seiner Phantasie immer seine eigene Ermordung voraus, an der Stelle, wo Barretts steile Auffahrt in die Straße mündete. Er würde die Straße entlanggelaufen kommen, wäre gerade seit einem Sekundenbruchteil an besagter Auffahrt vorbei, wenn Barrett in ihrem Wagen im Leerlauf und bei ausgeschaltetem Motor den Hügel hinunterglitt. Wenn er schließlich hören würde, wie die Reifen den losen Schotter von der Straße aufwirbelten, wäre es für ihn bereits zu spät, sich vor dem nahezu lautlosen Auto in Sicherheit zu bringen. Ein spektakulärer Tod für einen Geschichtenerzähler, hatte sich Danny gedacht - ein Automobil als Mordwaffe, mit der Exgeliebten des berühmten Schriftstellers am Steuer! Dass Barrett nicht vorhatte, das Leben des Schriftstellers zu beenden, spielte keine Rolle; es wäre eine großartige Story gewesen. Im
Übrigen hatte Barrett in ihrem Leben zahlreiche Affären gehabt und hegte (wie Danny glaubte) keinerlei Mordgedanken gegen ihre ehemaligen Geliebten. Der Autor bezweifelte, dass Barrett sich die Mühe machen würde, auch nur einen einzigen von ihnen zu überfahren. Sie konzentrierte sich voll und ganz auf die Pflege ihrer Pferde und die Erhaltung ihrer jugendlichen Figur. Wenn im Latchis in Brattleboro ein potentiell interessanter Film lief, lud Danny häufig Barrett ein, ihn ins Kino zu begleiten, und sie aßen dann im Avellino zu Abend. Dass Barrett vom Alter her viel eher zu Dannys Dad als zu Danny passte, war für den Koch ein Grund gewesen, seinem Sohn ins Gewissen zu reden. In letzter Zeit hielt Danny es häufig für nötig, seinem Vater in Erinnerung zu rufen, dass Barrett und er »nur Freunde« waren. Die ersten fünf oder sechs Meilen lief Danny mit einer Durchschnittszeit von sieben
Minuten pro Meile, die letzte Meile schaffte er in sechs Minuten. Er war 41, hatte nie Verletzungen gehabt und war immer noch schlank; mit seinen ein Meter siebzig wog er knapp 66 Kilo. (Sein Dad war etwas kleiner und wirkte vielleicht durch das Hinken noch kleiner, als er war.) Weil gelegentlich ein bissiger Hund die Nebenstraße nach Westminster West unsicher machte, hatte Danny beim Laufen immer zwei abgesägte Squashschläger dabei - nur die Schaffe. Wenn ihn unterwegs ein Hund angriff, hielt Danny dem Hund jeweils einen Schaft vor die Nase, bis der Hund sich darin verbiss. Dann schlug er mit dem anderen abgesägten Schaft zu, meist auf die Schnauze. Danny spielte gar nicht Squash. Sein Freund in Westminster West war der Squashspieler. Wenn Armando DeSimone einen seiner Squashschläger zerbrach, gab er ihn Danny, der den Schlägerkopf absägte, Schaft und Griff aber behielt. Armando war im North End
aufgewachsen, etwa ein Jahrzehnt bevor Danny und sein Dad dorthin zogen; wie der Koch fuhr Armando immer noch regelmäßig zum Einkaufen in sein geliebtes Boston. Armando und Danny bekochten einander gern. Auf dem Windham College waren sie im Fachbereich Englisch Kollegen gewesen, und als das College pleiteging, wurde Armando Lehrer an der Putney School. Seine Frau Mary hatte Joe an der Grammar School in Englisch und Geschichte unterrichtet. Als Danny Angel reich und berühmt wurde, verlor er einige seiner alten Freunde, aber nicht die DeSimones. Abgesehen von dem ersten hatte Armando alle Romane von Danny Angel im Manuskriptstadium gelesen. Er war der erste Leser von fünf der sechs Romane gewesen. So einen Freund verliert man nicht. Auf seinem Grundstück in Westminster West hatte Armando in einer alten Scheune einen Squashplatz bauen lassen. Er hatte davon
gesprochen, als Nächstes ein Schwimmbecken zu bauen, doch inzwischen schwammen er und Mary in Dannys Pool. Wenn es nicht regnete, joggte der Schriftsteller fast jeden Nachmittag zum Haus der DeSimones nach Westminster West. Anschließend fuhren Armando und Mary mit Danny zurück nach Putney. Sie schwammen alle im Pool, und Danny machte ihnen Drinks und kredenzte diese nach dem Schwimmen am Poolrand. Danny hatte vor 16 Jahren aufgehört zu trinken - was lang genug her war, dass er kein Problem mehr damit hatte, Alkohol im Haus zu haben oder seinen Freunden Drinks zu mixen. Und es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, ein Abendessen zu geben und keinen Wein anzubieten. Obwohl er sich noch gut erinnerte, wie er am Anfang die Gegenwart von Leuten, die Alkohol zu sich nahmen, nicht ertragen konnte. Damals, in Iowa City, war das ein Problem gewesen.
Was das zweite Leben des Schriftstellers in Iowa City betraf, mit seinem Dad und dem kleinen Joe - nun, das war ein weitgehend friedliches Zwischenspiel gewesen, sah man von den unliebsamen Erinnerungen an den ersten Aufenthalt dort mit Katie ab. Im Nachhinein, dachte Danny, kamen ihm diese letzten drei Jahre in Iowa City beinahe glücklich vor - Anfang der Siebziger, als Joe in die zweite, dritte und vierte Klasse ging und das Schlimmste, was ihm passieren konnte, ein Fahrradunfall war. In Iowa City waren sie damals in Sicherheit gewesen. Joe war sieben, als er mit Vater und Großvater wieder nach Iowa zog, und er war gerade einmal zehn, als sie nach Vermont zurückkehrten. Vielleicht war man in diesem Alter nun mal besonders sicher, spekulierte der Autor beim Laufen; womöglich hatte Iowa City nichts damit zu tun.
Die Kindheit und wie sie einen prägt - und darüber hinaus, wie man die Kindheit im Erwachsenenleben nachlebt -, das war sein Thema (oder seine Obsession), dachte der Schriftsteller Danny Angel beim Laufen. Seit er zwölf war, hatte er Angst um seinen Vater, und der Koch wurde immer noch gejagt. Wie schon sein Vater, wenn auch aus anderen Gründen, war Danny ein junger Vater tatsächlich war auch er ein alleinerziehender Vater (schon bevor Katie ihn verlassen hatte). Jetzt, mit 41, hatte Danny mehr Angst um Joe als um seinen Dad. Vielleicht brachte nicht nur das KatieCallahan-Gen Joe in Gefahr; auch glaubte Danny nicht unbedingt, dass die Tollkühnheit seines Sohns von seiner freigeistigen Großmutter stammte, dieser waghalsigen Frau, die auf dem spätwinterlichen Eis im Twisted River die Katastrophe heraufbeschworen hatte. Nein, wenn Danny den achtzehnjährigen Joe betrachtete, sah er sich selbst in diesem
gefährlichen Alter. Der Koch und Ketchum hatten aus Danny Angels Romanen viel herausgelesen (und einiges fälschlicherweise hineininterpretiert), dennoch hatten die beiden keine Ahnung von den diversen Gefahren, denen Danny nur knapp entkommen war nicht nur in seinem Leben mit Katie, sondern schon lange vor ihr. Es war nicht Josie DiMattia, die den fünfzehnjährigen Danny entjungfert hatte, ehe er nach Exeter ging; zwar mochte Carmella die beiden ertappt haben, aber es war nicht Josie, die schwanger geworden war. Ketchum hatte Danny tatsächlich nach Maine in das Waisenhaus gefahren, zu der hilfsbereiten Hebamme, aber mit dem älteren DiMattiaMädchen, Teresa. (Vielleicht hatte Teresa ihren jüngeren Schwestern so viele Kondome gegeben, dass sie vergaß, einige für sich selbst aufzuheben.) Und für Dannys erste sexuelle Erfahrung waren weder Teresa noch Dannys ebenfalls ältere Cousine Elena Calogero
verantwortlich - obwohl sich der Junge zu diesen älteren Mädchen viel mehr hingezogen fühlte als zu den Mädchen seines Alters, einschließlich Josies, die nur ein wenig älter war. Es hatte da noch eine ältere Cousine aus der Saetta-Familie gegeben, Giuseppina, die Danny verführt hatte, aber auch Giuseppina war nicht die Erste gewesen. Nein, für dieses lehrreiche und höchst prägende Erlebnis hatte Filomena gesorgt, die jüngste Schwester seiner Mutter. Da war Danny erst vierzehn. War Filomena Ende zwanzig oder vielleicht doch schon dreißig gewesen, als die Rendezvous mit ihrem jungen Neffen begannen? Das fragte sich Danny, als es auf die letzten zwei Meilen seines Laufs zuging. Es war noch Mai. Die Kriebelmücken waren schlimm, aber nicht bei seinem Lauftempo, das er jetzt noch beschleunigte. Beim Laufen pochten ihm sein Herzschlag und
sein Atem in den Ohren. Noch lauter, so kam es Danny vor, hatte sein Herz gepocht und noch heftiger waren seine Atemstöße gewesen, wenn er sich damals mit seiner wahnsinnigen Tante Filomena traf. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie hatte für Dannys Dad geschwärmt, doch der Koch hatte sie keines Blickes gewürdigt. Wie ihr Neffe sie anhimmelte - Danny konnte den Blick nicht von ihr wenden -, war das Filomena als annehmbarer Trostpreis erschienen? Sie war erst die zweite Frau in den Sippen der Saetta und Calogero gewesen, die studiert hatte, aber Filomena hatte noch etwas mit ihrer älteren Schwester Rosie gemeinsam, und zwar eine gewisse Eigenmächtigkeit in Bezug auf Männer. Filomena war noch kein Teenager gewesen - vielleicht 13, höchstens 14 -, als man Rosie nach Norden verbannte. Filomena hatte Rosie geliebt und bewundert - und erlebte dann, wie sie verstoßen und den jüngeren Mädchen der Familie als schlechtes
Vorbild präsentiert wurde. Man schickte Filomena auf die Sacred Heart, eine katholische Mädchenschule in der Nähe des Paul Revere House am North Square. Man hatte sie vor Jungen so gründlich abgeschottet, wie es menschlich und seelisch nur irgend ging. Während Danny Angel bei seinem langen Lauf das Tempo anzog, überlegte er, dass sich seine Tante Filomena vielleicht deshalb mehr für ihn, einen Jungen, interessiert hatte als für Männer. (Den Witwer ihrer Schwester selig ausgenommen - doch Filomena musste gewusst haben, dass der Koch für sie unerreichbar war, ein unerfüllbarer Traum.) Danny, der sich noch nicht rasierte, hatte die langen Wimpern seines Vaters und die helle, fast durchscheinende Haut seiner Mutter. Und bestimmt hatte es auf Filomena Eindruck gemacht, wie der erst Vierzehnjährige seine hübsche, zierliche Tante vergötterte. Laut Dannys Dad hatten Filomenas Augen nicht das
gleiche tödliche Blau wie die von Rosie; dennoch waren sie, von allem anderen ganz zu schweigen, gefährlich genug, um bei Danny bleibenden Schaden anzurichten. Zunächst einmal sorgte Filomena dafür, dass ihm alle Mädchen seines Alters uninteressant erschienen - bis er Katie kennenlernte. Der Koch und Ketchum hatten den voreiligen Schluss gezogen, dass Daniel in Katie etwas von seiner Mutter gesehen hatte. Doch es war eher die zornige junge Frau, die Kombination aus einer überbehüteten Jugend, Übermut und selbstzerstörerischen Impulsen, die der Junge in ihr gesehen hatte; Katie war eine jüngere, politischere Version seiner Tante Filomena. Der Unterschied zwischen beiden war, dass Filomena dem Jungen treu ergeben war, und ihre sexuellen Bemühungen, die jugendlichen Konkurrentinnen in Dannys Leben auszustechen, hatten durchschlagenden Erfolg. Da sie als Teenager ihre Sexualität nicht hatte ausleben können, war Filomena (mit Ende
zwanzig und Mitte dreißig) geradezu sexbesessen. Als Danny Katie Callahan kennenlernte, war ihr Sex beinahe schon egal; dass sie eine Menge Sex hatte, hieß nicht, dass sie Gefallen daran fand. Als Danny sie kennenlernte, betrachtete Katie Sex bereits als eine Art Verhandlungsmethode. In Dannys Internatsjahren nahm sich seine Tante Filomena fast jedes Wochenende ein Zimmer im Exeter Inn. Die Schäferstündchen in dem muffigen Backsteingebäude waren die eindeutigen Höhepunkte seines Lebens in Exeter und mit ein wichtiger Grund, weshalb der Junge an den Wochenenden so selten nach Hause ins North End fuhr. Freitag und Samstag waren die härtesten Abende im Vicino di Napoli, und Carmella und der Koch ackerten, während der Junge seine jugendliche Tante vögelte - gern in einem majestätischen Himmelbett, unter einem weiß durchscheinenden Baldachin. (Er war Langstreckenläufer; Läufer haben
Stehvermögen.) Mit beträchtlicher und lasterhafter Beihilfe Filomenas hatte Danny die Unabhängigkeit eines Erwachsenen erlangt - sowohl von seiner Familie als auch von seinem Umfeld an der Exeter Academy. Wie sollte sich der Junge da für Exeters Tanzveranstaltungen mit diversen Mädchenschulen interessieren? Wie sollte eine mit Argusaugen beaufsichtigte und züchtige Umarmung auf dem Tanzparkett je mit dem leidenschaftlichen und schweißtreibenden Kontakt konkurrieren, den er fast allwöchentlich mit Filomena pflegte - nicht nur all die Jahre in Exeter, sondern auch noch während der ersten zwei Studienjahre in Durham? Und die ganze Zeit über bemitleideten die Calogeros und Saettas die »arme Filomena«, die ihnen, hübsch, wie sie war, doch als ewiges Mauerblümchen erschien, nicht nur als keusche Tante, sondern als zukünftige alte
Jungfer. Sie hatten ja keine Ahnung, dass diese Frau sich sieben ausschweifende Jahre lang dem unersättlichen sexuellen Appetit eines Teenagers hingab, der im Begriff war, ein junger Mann zu werden. In den sieben Jahren, die seine Tante Filomena Dannys Sexualleben Dominicrte, machte sie die verlorene Zeit mehr als wett. Dass sie als Lehrerin in Sacred Heart unterrichtete - derselben katholischen Anstalt für junge Mädchen, in der man die junge Filomena unterdrückt hatte -, diente als perfekte Tarnung. All die anderen Calogeros, von den Saettas ganz zu schweigen, hielten Filomena für einen »traurigen Fall« - das waren die exakten Worte seines Vaters, wie Danny einfiel, während er immer schneller lief. Nach außen hin war Filomena ein Muster an Züchtigkeit und katholischer Verklemmtheit, aber - ach! wenn sie die Kleider ablegte! »Sagen wir einfach: Ich sorge dafür, dass bei
der Beichte keine Langeweile aufkommt«, erzählte sie ihrem betörten Neffen, für den Filomena einen Maßstab setzte; die jungen Frauen, die in Dannys Leben auf Filomena folgten, kamen an die erotischen Höchstleistungen seiner Tante nicht heran. Filomena war Mitte oder Ende dreißig - ihrer Ansicht nach zu alt, um Kinder zu kriegen -, als es darum ging, ob Danny nach Vietnam sollte (oder nicht). Ketchums Lösung hätte ihr eigentlich gefallen müssen; hätte Danny einen oder zwei Finger verloren, wäre er womöglich ein wenig länger bei seiner Tante geblieben. Filomena war verrückt, aber sie war keine Närrin und wusste, dass sie ihren geliebten Dan nicht ewig würde halten können. Katie Callahans Idee klang in ihren Ohren besser, mit Ketchums Plan konnte sie sich nicht anfreunden - schließlich, und auf ihre wunderliche Art, liebte Filomena ihren Neffen, und Katie war sie nie begegnet.
Hätte Filomena die höchst vulgäre junge Frau kennengelernt, hätte sie vielleicht doch für Ketchums Browning-Jagdmesser votiert, doch letztlich lag die Entscheidung nicht bei ihr. Filomena schätzte sich glücklich, in den sieben Jahren, die Dan ihr hörig war, die beinahe ungeteilte Aufmerksamkeit eines so vitalen jungen Mannes genossen zu haben. Dannys Tändeleien mit den Di-Mattia-Mädchen und etlichen seiner zärtlichen Cousinen störten sie nicht weiter. Filomena wusste, Danny würde immer zu ihr zurückkehren, mit frischem Elan. Diese unbeholfenen Flittchen konnten ihr nicht das Wasser reichen - jedenfalls nicht in den Augen des vernarrten Jungen. Selbst Katie würde nie die jüngere Filomena sein, die Danny sich ersehnt oder die er, anfangs, in ihr gesehen haben mochte. Filomena war jetzt Mitte bis Ende fünfzig, wusste der Schriftsteller. Er rannte noch schneller. Filomena hatte nie geheiratet; sie unterrichtete nicht mehr auf der Sacred Heart,
war aber immer noch Lehrerin. Dannys Buch mit dem Semikolon im Titel (Die alte Jungfer; oder die keusche Tante) war überall verrissen worden. Es hatte aber eine einzige positive Rezension gegeben, die Danny Angel viel bedeutete. In ihrem Brief schrieb Filomena: »Dein Roman hat mir ausgesprochen gut gefallen, wie von dir zweifellos beabsichtigt - eine großzügige Portion Hommage mit einem vertretbaren Anteil Missbilligung. Stimmt, ich habe dich ausgenutzt, wenn auch nur am Anfang. Ich war stolz darauf, dass du so lange bei mir geblieben bist, so wie ich jetzt stolz auf dich bin. Und falls ich es dir eine Zeitlang erschwert habe, diese unerfahrenen Mädchen zu genießen, tut es mir leid. Du musst aber lernen, eine klügere Wahl zu treffen, mein Lieber - jetzt, wo du ein wenig älter bist als ich damals, als sich unsere Wege trennten.« Den
Brief
hatte
sie
vor
zwei
Jahren
geschrieben - Die alte Jungfer; oder die keusche Tante war 1981 erschienen. Er hatte oftdaran gedacht, sie wiederzusehen, doch wie konnte Danny Filomena jetzt noch einmal begegnen, ohne sich unrealistischen Erwartungen hinzugeben? Ein Mann von Anfang vierzig, seine ledige Tante in den späten Fünfzigern - tja, was für eine Beziehung könnte wohl jetzt zwischen ihnen bestehen? Er hatte auch nicht gelernt, eine klügere Wahl zu treffen, wie Filomena empfohlen hatte. Vielleicht hatte er sich absichtlich gegen jede Frau entschieden, die auch nur ansatzweise eine gewisse Beständigkeit versprach. Und wie der Schriftsteller wusste, war er zu alt, um seiner Tante immer noch vorzuwerfen, dass sie ihn in die Erotik eingeführt hatte, als er noch zu jung war. Warum auch immer Danny sich nicht auf eine dauerhafte Beziehung einlassen mochte, es lag nicht an Filomena - jetzt nicht mehr.
Nun kam der Bissige-Hunde-Abschnitt von Dannys Lauf. Falls es Stress geben sollte, dann hier. In der schmalen, flachen Einfahrt, die von abgewrackten Fahrzeugen gesäumt war Schrottwagen, einigen fehlten die Reifen, Pick-ups ohne Motoren, ein auf der Seite liegendes, lenkerloses Motorrad -, hielt Danny nach dem Hund mit den zwei unterschiedlichen Augen Ausschau. Da tauchte der große Rüde auch schon aus einem türenlosen VW-Bus auf. Der HuskySchäferhund-Mischling raste auf die Straße kein Bellen, kein Knurren, ganz geschäftsmäßig. Abgesehen von dem Trappeln seiner Pfoten auf der Schotterstraße machte der Hund keinerlei Geräusch; er hechelte noch nicht einmal. Danny hatte ihn schon mit dem Schaft des Squashschlägers abwehren müssen, und er hatte sich mit dem ähnlich aggressiven
Besitzer des Tieres gestritten - einem jungen Typ, Mitte zwanzig, vielleicht einem der ehemaligen Studenten des Windham College, die nicht wegziehen wollten. Er sah aus wie ein Hippie, war aber kein Pazifist; womöglich war er einer der zahllosen jungen Männer in Putney und Umgebung, die sich »Tischler« nannten. (Falls ja, dann war er ein Tischler, der entweder nicht arbeitete oder immer zu Hause war.) »Passen Sie auf Ihren Hund auf!«, hatte Danny ihm beim vorigen Mal an der Einfahrt zugerufen. »Du kannst mich mal! Lauf doch woanders!«, hatte der Hippietischler zurückgebrüllt. Da war der nicht angekettete Hund wieder und schnappte nach dem Jogger. Danny wich auf die äußerste rechte Straßenseite aus und versuchte davonzulaufen, doch der HuskySchäferhund holte ihn rasch ein. Schräg gegenüber von der Einfahrt des Hippietischlers
blieb Danny stehen, worauf der Hund ebenfalls stehen blieb und ihn umkreiste, mit tief gesenktem Kopf und gebleckten Zähnen. Als sich der Hund auf seinen Oberschenkel stürzte, stieß Danny mit einem der abgesägten Squashschläger zu und traf ein Ohr; kaum packte der Husky-Schäfer den Schlägerschaft mit den Zähnen, schlug Danny das Tier, so fest er konnte, mit dem anderen Schaft auf die Schnauze und zwischen die Augen. (Das eine war das hellblaue Auge eines Sibirischen Huskys, das andere das dunkelbraune, durchdringendere Auge eines Deutschen Schäferhundes.) Der Hund jaulte auf und ließ den ersten Schaft los. Danny schlug ihm erst auf ein Ohr, dann auf das andere, worauf sich das Tier vorübergehend zurückzog. »Lass meinen Hund in Ruhe, du Scheißkerl!«, brüllte der Hippietischler. Er kam zwischen den beiden Reihen von Schrottautos seine Einfahrt entlang.
»Passen Sie auf Ihren Hund auf«, war Dannys einzige Reaktion. Er hatte schon wieder angefangen zu laufen, als er den zweiten Hund bemerkte; er sah dem ersten so ähnlich, dass Danny zuerst dachte, es wäre derselbe Hund. Plötzlich schnappten zwei Hunde nach ihm, und der zweite war immer in seinem Rücken. »Rufen Sie Ihre Hunde zurück!«, rief Danny dem Hippietischler zu. »Du kannst mich mal. Lauf doch woanders«, sagte der Typ, machte kehrt und ging wieder die Einfahrt zurück. Ob die Hunde Danny bissen oder nicht, war ihm egal. Die Hunde versuchten es, doch es gelang Danny, dem ersten Hund einen Schlägerschaff tief in den Rachen zu stoßen, und als der zweite Hund ihn gerade in die Wade beißen wollte, erwischte er ihn aus purem Glück am Kopf, direkt am Auge. Danny trat dem Hund, in dessen Hals der Schlägerschaft steckte, gegen die Kehle, und als das Tier kehrtmachte, schlug Danny es hinters Ohr. Es fiel, rappelte sich aber rasch
wieder auf. Der zweite Hund schlich davon. Jetzt, wo sich seine Hunde in die Einfahrt, auf ihr Territorium, zurückzogen, war von dem Hippietischler weit und breit nichts zu sehen. Als Danny das erste Mal ins Windham County gezogen war, hatte es auf der Nebenstraße zwischen Dummerston und der Putney School einen bissigen Hund gegeben. Danny hatte die Polizei gerufen - auch dieser Hundebesitzer war ähnlich aggressiv gewesen. Ein Polizist war gekommen, um mit dem Hundebesitzer zu reden, doch als der Hund den Beamten angriff, erschoss der ihn, gleich in der Einfahrt. »Was haben Sie zu dem Hundebesitzer gesagt?«, hatte Danny den Polizisten gefragt. (Jimmy hieß er, sie waren inzwischen befreundet.) »Ich hab ihm gesagt, er solle auf seinen Hund aufpassen«, hatte Jimmy geantwortet. Seither sagte Danny das immer, aber offenkundig fehlte ihm die Autorität des Polizisten. Jetzt lief er ohne weitere
Zwischenfälle zum Haus der DeSimones, aber es störte Danny, dass er sein Tempo auf den letzten Meilen hatte drosseln müssen. Er erzählte Armando von den beiden Hunden und dem Hippietischler. »Ruf deinen Freund Jimmy an«, riet Armando, doch Danny erklärte ihm, dass der Polizist wahrscheinlich gezwungen wäre, beide Hunde zu erschießen. »Warum töten wir nicht wenigstens einen von ihnen?«, schlug Armando vor. »Vielleicht begreift der Hippietischler dann, was Sache ist.« »Das finde ich übertrieben«, sagte Danny. Ihm war klar, was Armando mit seinem Vorschlag, einen der Husky-Schäferhunde zu töten, meinte. Der Hund der DeSimones war ein reinrassiger Deutscher Schäferhundrüde namens Rooster, Gockel. Wenn andere Rüden in der Nähe waren, hatte Rooster schon als Welpe den Brustkorb vorgestreckt und war steifbeinig und drohend herumstolziert - daher
der Name. Doch Rooster hatte nicht geblufft. Als erwachsenes Tier wurde er zum Hundekiller - Rooster hasste andere Rüden. Der eine der Hunde, die Danny angegriffen hatten, war auf jeden Fall ein Rüde. Bei dem zweiten Hund war sich der Schriftsteller nicht sicher, weil der ihn von hinten attackiert hatte. Armando DeSimone war nicht nur Dannys einziger »literarischer« Freund in Putney; er war ein echter Leser, und er und Danny stritten sich einigermaßen konstruktiv über ihre jeweilige Lektüre. Armando, der Danny an eine zivilisiertere Version von Ketchum erinnerte, war auch von Natur aus streitlustig. Danny neigte dazu, Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, was er immer wieder bedauerte. Menschen, die sich mit dem Schriftsteller anlegten oder stritten, gingen oft davon aus, er werde sich nie wehren; wenn Danny sich dann doch zur Wehr setzte allerdings erst nach der dritten oder vierten
Provokation -, waren sie erstaunt oder beleidigt. Danny hatte festgestellt: Gerade die Leute, die es sich angewöhnt hatten, ihn zu reizen oder zu quälen, reagierten immer empört, wenn ihnen klar wurde, dass der Schriftsteller darüber Buch geführt hatte. Armando führte nicht Buch. Wenn er angegriffen wurde, startete er einen Gegenangriff - beim ersten Mal. Danny fand das gesünder, besonders für einen Schriftsteller, doch er war von Natur aus nun mal kein Armande Und in dem ärgerlichen Fall der undisziplinierten Hunde ließ Danny Angel sich nur überreden, weil er Armandos Methode für besser hielt. (»Vielleicht begreift es der Hippietischler dann«, hatte Armando argumentiert.) Das ließ sich nur erreichen, wie der Schriftsteller hätte wissen müssen, wenn Rooster den Hippietischler biss. Doch so war Rooster nicht gestrickt; Rooster biss keine
Menschen. »Nur einen Hund, Armando, versprich es«, hatte seine Frau Mary gesagt, als sie zu dritt mit Rooster in dem Auto saßen und zu Dannys Haus zurückfuhren. »Sag das Rooster - er soll dir das versprechen«, entgegnete Armando. Er war Boxer gewesen, früher, als Colleges und Universitäten noch Boxmannschaften hatten. Armando fuhr, Danny saß auf dem Beifahrersitz des VW-Käfers. Die offenbar leidgeprüfte Mary saß mit dem hechelnden Deutschen Schäferhund auf der Rückbank. Mary schien häufig mit der Streitlust ihres Mannes zu hadern oder sich darüber aufzuregen, doch wie Danny wusste, waren Armando und Mary ein beeindruckendes Paar - im tiefsten Innern würden sie füreinander durchs Feuer gehen. Vielleicht war Mary Armando sogar ähnlicher als Armando selbst. Danny erinnerte sich an ihre Bemerkung, als
ein Lehrer entlassen worden war - ein ehemaliger Kollege von Mary an der Grammar School und später von Armando an der Putney School. »Weil Gerechtigkeit so selten ist, freut man sich umso mehr darüber«, hatte Mary gesagt. (Jetzt fragte sich Danny, ob Mary nur vorgab zu missbilligen, dass ihr Mann Rooster zum Scharfrichter bestimmt hatte.) Im Nachhinein hätte Danny Angel (zu seiner Verteidigung) nur anführen können, dass er der Ermordung des Hundes - auch wenn der Hund ihn angegriffen hatte - nicht leichten Herzens zugestimmt hatte. Doch wenn Armando im Spiel war, vor allem in Fragen moralischer Autorität, stimmte Danny irgendwie immer zu. »Ach, dieses Arschloch meinst du«, sagte Armando, als Danny ihnen die Einfahrt mit den Schrottwagen zeigte. »Du kennst ihn?«, fragte Danny.
»Du kennst ihn. Er war mal ein Student bei dir, ganz bestimmt.« »In Windham?« »Natürlich in Windham«, erwiderte Armando. »Ich hab ihn nicht erkannt. Ich glaube nicht, dass er je bei mir studiert hat«, sagte Danny zu seinem Freund. »Erinnerst du dich an alle deine mittelmäßigen Studenten, Danny?«, fragte ihn Mary. »Er ist einfach irgendein Hippietischler - oder Nichttischler, ganz wie man will«, sagte Danny, klang aber (selbst in seinen eigenen Ohren) nicht besonders überzeugt. »Vielleicht ist er ein Scbriftstellertischler«, schlug Armando vor. Danny war gar nicht auf die Idee gekommen, dass der junge Mann eventuell wusste, wer Danny Angel war. In Putney gab es fast genauso viele Möchtegernschriftsteller wie Hippies, die sich
Tischler nannten. (Die Feindseligkeit und der Neid, denen man als Schriftsteller in Vermont ausgesetzt war, gingen oft mit einer Hinterwäldlermentalität einher.) Ein Husky-Schäferhund-Mischling ist einem reinrassigen Deutschen Schäferhund meist nicht gewachsen, aber es waren zwei. Andererseits waren vielleicht auch keine zwei Hunde Rooster gewachsen. Danny stieg aus und kippte die Rückenlehne nach vorn, damit Rooster hinten aus dem VW springen konnte. Kaum hatte der Schäferhund mit seinen Vorderpfoten den Boden berührt, griffen ihn die beiden Mischlingshunde an. Danny stieg einfach wieder in den Volkswagen und sah zu. Rooster tötete den einen Hund so rasch, dass weder Danny noch die DeSimones feststellen konnten, ob der zweite ein Rüde oder ein Weibchen war; er war unter den VW-Käfer gekrochen, wo Rooster nicht an ihn herankam.
(Den ersten Hund hatte der Schäferhund am Hals gepackt und ihm mit ein paarmal Schütteln das Genick gebrochen.) Armando rief Rooster zu sich, und Danny ließ den Schäferhund wieder in den Käfer. Der Hippie- oder Schriftstellertischler war aus seinem Haus gekommen und betrachtete seinen toten Hund; er hatte noch nicht bemerkt, dass sich sein anderer Hund zitternd unter dem Kleinwagen befand. »Passen Sie auf Ihren Hund auf«, sagte Danny zu ihm, während Armando langsam zurücksetzte, über den verbliebenen Husky-SchäferhundMischling hinweg. Es ruckelte nur leicht, als eins der Vorderräder ihn überrollte, und dazu jaulte der Hund kurz auf. Das Tier erhob sich schwerfällig und schüttelte sich - er war auch ein Rüde, wie Danny nun auffiel. Er sah, wie der Hund zu seinem toten Kumpel ging und an dem Kadaver schnüffelte, während das HippieArschloch dem rückwärts aus der Einfahrt fahrenden VW-Käfer nachsah. Aber war es
das, was Mary (oder Armando) mit »Gerechtigkeit« meinte? Es wäre vielleicht doch besser gewesen, Jimmy anzurufen, dachte Danny, auch wenn der Polizist am Ende beide Hunde erschossen hätte. Jemand hätte den Hundebesitzer erschießen sollen, fand der Schriftsteller, das wäre eine bessere Geschichte gewesen. Mir würde manches an Vermont fehlen, falls ich je wegziehen müsste, dachte Danny Angel, doch am meisten würden mir Armando und Mary DeSimone fehlen. Er bewunderte ihre Bestimmtheit. Als die drei Freunde auf Dannys Anwesen in Putney im Pool schwammen, bewachte sie der Hundekiller von einem Deutschen Schäfer. Rooster schwamm nicht, trank aber kaltes Wasser aus einer großen Schüssel, die Danny ihm hingestellt hatte, während der Schriftsteller für Armando und Mary Gin
Tonics mixte. Im Nachhinein war das Dannys deutlichste Erinnerung an Rooster - der augenscheinlich zufrieden hechelnde Hund am tiefen Ende des Schwimmbeckens. Der große Schäferhund mochte kleine Kinder, hasste aber andere Rüden; das musste an irgendetwas in seiner Lebensgeschichte liegen, doch weder Danny noch die DeSimones wußten, woran. Eines Tages würde Rooster auf einer Nebenstraße getötet werden - überfahren von einem Auto, während er unbekümmert einem Schulbus nachjagte. Gewalt erzeugt Gegengewalt, wie Ketchum und der Koch bereits wussten und wie ein fast vergessener Hippietischler mit einem toten und einem noch lebenden Hund vielleicht eines Tages herausfinden würde. Danny wusste es nicht, doch das war sein letzter Lauf auf der Nebenstraße zwischen Putney und Westminster West. Sie lebten doch in einer Welt voller Unfälle, stimmt's?
Vielleicht war es in einer solchen Welt unklug, auf Konfrontationskurs zu gehen. Die Ehemänner der beiden arbeiteten nicht mehr in dem Fichtenholz-Sägewerk in Milan, sie waren Rentner. Vor ihnen lag eine Welt der Kleinmotorenreparaturen und anderer Bastelarbeiten. Die dicken Frauen der ehemaligen Sägewerksarbeiter - Dot und May, diese alten Zimtzicken - nutzten jede sich bietende Gelegenheit, egal, wie lange sie fahren mussten, um den Ort und ihre lästigen Männer zu verlassen. Rentner waren nervig, wie die beiden alten Frauen erfahren hatten; Dot und May waren sich selbst genug, sie brauchten keine andere Gesellschaft. Jetzt, wo Mays jüngere Kinder (und ihre älteren Enkel) noch mehr Kinder in die Welt setzten, war ihre Ausrede meistens, dass sie gebraucht werde, wenn gerade wieder eine Mutter (und irgendein Neugeborenes) aus dem
Krankenhaus nach Hause kam. Ganz egal, wo »zu Hause« war, Hauptsache, die zwei kamen aus Milan heraus. Dot saß immer am Steuer. Beide waren 68, zwei Jahre älter als Ketchum, den sie gelegentlich zu Gesicht bekamen Ketchum wohnte in Errol, weiter oben am Androscoggin River. Der alte Holzfäller erkannte Dot oder May nie (nicht dass er sie beachtet hätte, wenn er sie erkannt hätte), doch ihn übersah keiner. Ketchum galt als wilder Bursche, die Narbe auf seiner Stirn zeugte eindrücklich von seiner gewalttätigen Vergangenheit. Doch Dot hatte noch mal knapp dreißig Kilo zugelegt und May weitere 35; sie hatten weiße Haare, die im Norden typischen wettergegerbten Gesichter und futterten den ganzen Tag, so wie das in kalten Gegenden manche Leute machen, als wären sie ständig am Verhungern. Sie hatten den Norden New Hampshires auf der Straße nach Groveton durchquert, waren
durch Stark gekommen - einen Großteil der Strecke folgten sie dem Ammonoosuc -, und in Lancaster setzten sie über den Connecticut nach Vermont. Knapp unterhalb von St.Johnsbury stießen sie auf die Interstate 91 und folgten ihr dann nach Süden. Ihnen stand eine lange Fahrt bevor, doch sie hatten keine Eile. Mays Tochter oder Enkelin hatte in Springfield, Massachusetts, entbunden. Falls Dot und May rechtzeitig zum Abendessen eintrafen, würden sie sich an der Fütterung etlicher Kleinkinder beteiligen und anschließend saubermachen müssen. Dafür waren die beiden alten Frauen zu schlau - sie beschlossen, unterwegs irgendwo einzukehren. So konnten sie sich zu zweit ein ordentliches Abendessen gönnen und eine ganze Weile nach der Essenszeit in Springfield eintreffen; mit etwas Glück hatte dann schon jemand anders abgewaschen und die Kleinsten zu Bett gebracht. Etwa um die Zeit am Nachmittag, als die alten
Zimtzicken auf der I-91 an Mclndoe Falls vorbeifuhren, beendeten der Koch und sein Personal im Avellino ihre Mahlzeit. Wenn Tony Angel seinen Mitarbeitern ein gutes Essen vorgesetzt hatte und zusah, wie alle aufräumten und sich auf das Abendessen vorbereiteten, wurde ihm immer ganz wehmütig ums Herz. Dann dachte er an die Jahre in Iowa City in den Siebzigern, an dieses Intermezzo, diese Auszeit von ihrem Leben in Vermont, wie es der Koch und sein Sohn sahen. In Iowa City hatte Tony Angel als Sous-Chef in dem chinesischen Restaurant der Brüder Cheng in der First Avenue gearbeitet - die der Koch den »Boulevard von Coralville« nannte. Die Cheng-Brüder hätten vielleicht mehr Umsatz gemacht, wenn sie näher an der Innenstadt gewesen wären. Für Coralville war das Restaurant zu gehoben, man übersah es zwischen all den Fastfood-Schuppen und billigen Motels, doch die Brüder mochten die
Nähe zur Interstate, und an den Sportwochenenden, wenn eine der Mannschaften der University of Iowa ein Heimspiel hatte, lockte das Restaurant zahlreiche Auswärtige an. Für die meisten Studenten war es ohnehin zu teuer, es sei denn, ihre Eltern zahlten, aber die Dozenten an der Universität - für die Chengs die eigentliche Zielgruppe - hatten alle Autos und mussten sich daher nicht auf die Bars und Restaurants im Zentrum des Campus, in der Innenstadt, beschränken. Tony Angel hielt auch den Namen des Restaurants für eine weitere zweifelhafte Geschäftsidee - politisch desillusionierte Studenten wären vielleicht eher auf Mao 's angesprungen als ihre Eltern oder die auswärtigen Sportfans -, aber die Brüder Cheng sympathisierten sehr mit der damaligen Anti-Kriegs-Bewegung. Die öffentliche Meinung war umgeschwenkt und nun gegen den Krieg, zumal in einer Universitätsstadt.
Zwischen 1972 und 1975 fanden auf dem Campus der University of Iowa vor dem alten Kapitol zahlreiche Demonstrationen statt. Zugegeben, Mao's wäre in Madison oder Ann Arbor vielleicht besser angekommen. Am Boulevard von Coralville schmiss gelegentlich ein vorbeifahrender Patriot aus seinem rasch davonfahrenden Auto oder Pick-up einen Stein oder einen Backstein durch das Fenster des Restaurants. »Ein kriegerischer Farmer«, sagte dann Ah Gou Cheng abfällig. Er war der ältere Bruder. Im Schanghaier Dialekt bedeutete Ah Gou »Großer Bruder«. Er war ein phantastischer Küchenchef; seine Ausbildung hatte er im Culinary Institute of America gemacht, und er hatte von Jugend an in chinesischen Restaurants gearbeitet. Er war in Queens geboren und erst nach Long Island und von dort nach Manhattan umgezogen. Eine Frau, die er in einem Karatekurs
kennengelernt hatte, hatte Ah Gou nach Iowa gelockt, ihn dort aber verlassen. Da war Ah Gou bereits überzeugt, dass das Mao's es in Iowa City schaffen könnte. Ah Gou war gerade alt genug, um den Vietnamkrieg zu verpassen, aber nicht den Militärdienst; er war Armeekoch in Alaska gewesen. (»Vom Fisch abgesehen, gibt's da keine einheimischen Zutaten«, hatte er Tony Angel erzählt.) Ah Gou trug einen FuManchu-Bart und einen schwarzen Pferdeschwanz mit einer orangefarbenen Strähne darin. Ah Gou hatte seinen jüngeren Bruder genau instruiert, wie er um den Vietnamkrieg herumkäme. Zunächst einmal hatte der kleine Bruder nicht gewartet, bis er eingezogen wurde, sondern sich freiwillig gemeldet. »Sag einfach nur, du tötest keine anderen Asiaten«, hatte ihm Ah Gou eingeschärft. »Ansonsten gib dich betont kämpferisch.«
Der jüngere Bruder hatte gesagt, er würde jedes Fahrzeug fahren, überall, und für jeden kochen. (»Zeigt mir, wo's in die Schlacht geht! Ich fahre in einen Hinterhalt, ich koche während eines Granatwerferangriffs! Ich bringe nur keine anderen Asiaten um.«) Natürlich war es riskant - das Militär hätte ihn trotzdem nehmen können. Von den guten Instruktionen mal abgesehen, dachte Tony Angel, hätte sich der jüngere Cheng-Bruder gar nicht verrückt stellen müssen - er war tatsächlich nicht ganz dicht. Dass er seinen kleinen Bruder vor dem Vietnamkrieg gerettet hatte - und davor, andere Asiaten zu töten oder von ihnen getötet zu werden -, war für Ah Gou ein heikles Thema. Bei Mao's gab es klassische französische Küche oder eine Mischung asiatischer Kochstile, aber Ah Gou trennte die asiatischen und die französischen Zutaten - mit einigen
Ausnahmen. Bei Mao's wurden die Austern Rockefeiler mit Panko bestreut, japanischen Brotkrumen, und bei der Mayonnaise für seine Krabbenküchlein verwendete Ah Gou Traubenkernöl und Schalotten. (Das Krabbenfleisch wendete man in etwas gehacktem Estragon und in den japanischen Brotkrumen; anders als gewöhnliches Paniermehl wurde Panko im Kühlschrank nicht matschig.) Das Problem war - sie befanden sich in Iowa. Wo sollte Ah Gou hier Panko herbekommen, von Austern, Traubenkernöl und Krabben ganz zu schweigen? Da kam sein verrückter jüngerer Bruder ins Spiel. Er war der geborene Fahrer. Xiao Dee bedeutete im Shanghaier Dialekt »Kleiner Bruder«, und Xiao sprach man wie Shao aus. Einmal in der Woche fuhr Xiao Dee den Kühllaster der Gebrüder Cheng - samt zweier riesiger Gefrierschränke - nach Lower Manhattan und zurück. Tony Angel begleitete ihn auf diesen aufreibenden Touren.
Es dauerte 16 Stunden von Iowa City nach Chinatown, zu den Märkten in der Pell und der Mott Street, wo der Koch und Xiao Dee einkauften. Eine Frau aus einem Karatekurs hatte Ah Gou nach Iowa gelockt, bei Xiao Dee hingegen waren es gleich zwei Frauen, die ihn in New York und Umgebung um den Verstand brachten - eine in Rego Park, die andere in Bethpage. Im Grunde war es dem Koch egal, mit welcher Frau Kleiner Bruder etwas hatte. Tony Angel sehnte sich nach dem North End, und er mochte auch die kleine chinesische Gemeinschaft in Queens und auf Long Island; die Leute dort waren freundlich zu ihm und herzlich zueinander. (Dem Koch persönlich gefiel die Rego-Park-Freundin, die Spicy hieß, besser als die junge Frau aus Bethpage, deren Namen er sich weder merken noch aussprechen konnte.) Und Tony liebte es, in Chinatown einzukaufen - er mochte sogar die lange Rückfahrt nach Iowa auf der Interstate
80. Über Land wechselte sich der Koch mit Kleiner Bruder beim Fahren ab, aber in New York City überließ er das Steuer Xiao Dee. Dienstags nachmittags brachen sie in Iowa auf und fuhren die ganze Nacht durch; mittwochs, kurz vor dem morgendlichen Stoßverkehr, tauchten sie dann aus dem Holland Tunnel auf und fuhren durch die Hudson und die Canal Street weiter. Wenn dann der Markt begann, parkten sie bereits in Chinatown, irgendwo zwischen Pell und Mott Street. Die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag verbrachten sie jeweils in Queens oder auf Long Island, und am Donnerstagmorgen brachen sie noch vor dem Berufsverkehr wieder auf. An den Wochenenden war im Mao's immer viel los. Selbst die Austern, die Miesmuscheln und der frische Fisch aus Chinatown würden am Freitagabend noch frisch sein, mit ein wenig Glück sogar noch am Samstagabend. Nie hatte sich der Koch stärker gefühlt; zwar
hatte er in Iowa seinen neunundvierzigsten, fünfzigsten und einundfünfzigsten Geburtstag gefeiert, doch von dem Be- und Entladen von Xiao Dees Kühllaster hatte er nun Muskeln wie ein Möbelpacker. Sie hatten immer Unmengen schweres Zeug dabei: die Kisten Tsing-tao-Bier, das Fass mit Meerwasser samt den dampfenden Trockeneisblöcken für die Muscheln, die Bottiche mit zerstoßenem Eis für die Austern. Auf dem Rückweg hielten sie meist an einem Getränkemarkt in Indiana oder Illinois, um mehr Eis zu kaufen. Die Flunder, den Seeteufel, den Wolfsbarsch, den schottischen Lachs, die Jakobsmuscheln, die Garnelen, die Lap-Xuong-Wurst und sämtliche Krabben lagerten sie ebenfalls auf Eis. Während der ganzen Fahrt nach Westen schmolz und schwappte es im Lastwagen. Einer der Gefrierschränke roch immer nach Tintenfisch, den sie in gefrorenem Zustand transportierten. Die großen, braunen Steinguttöpfe mit eingelegtem Chinakohl
mussten in Zeitungen eingewickelt werden, damit sie nicht gegeneinanderstießen und zerbrachen. Laut Xiao Dee hieß es das Unglück herauszufordern, wenn man die getrockneten japanischen Anchovis auch nur in der Nähe der eingelegten chinesischen Enteneier lagerte. Einmal waren sie auf der Mississippibrücke bei East Moline ins Schlingern geraten, weil sie einem Bus ausweichen mussten, dem ein Reifen geplatzt war. Sämtliche Wohlgerüche Asiens begleiteten sie bis nach Hause. Die kaputten Gläser mit >Golden Boy<-Fischsauce für das grüne Thaicurry, die überall verteilten Reste der chinesischen Sojasauce und des >Formosa Pork Sungs die vielen gezackten Scherben der Flaschen mit süßer thailändischer Chilisauce der Marke Mae Ploy sowie rote und grüne Chilipasten. Der Laderaum schwamm in Sesamöl und Sojasauce, doch am längsten hielt sich der Geruch der Chili-Knoblauchsauce aus
Hongkong. Irgendwie hatte sich das Knoblaucharoma mit den intensiven Essenzen japanischer Bonito-Thunfischstücke und getrockneter chinesischer Garnelen vermengt. Noch wochenlang stieß man überall auf schwarze Shiitakepilze. Der Koch und Xiao Dee waren gleich nach Davenport von der I-80 abgefahren; sie wollten die hintere Tür des Lastwagens öffnen, um nach dem Beinahezusammenstoß über dem Mississippi das Ausmaß des Schadens zu inspizieren. Doch ein unbeschreiblicher Gestank hielt sie rechtzeitig davon ab: Etwas Undefinierbares suppte unter der Hintertür des Lastwagens durch. »Wonach riecht es?«, hatte Xiao Dee den Koch gefragt. Es war eine bräunliche Flüssigkeit mit Bierschaum darauf - so viel sahen beide. »Nach allem«, antwortete Tony Angel, kniete sich auf den Asphalt und schnupperte am
unteren Türrand. Eine Motorradstreife hielt neben ihnen, und der Polizist fragte, ob sie Hilfe brauchten. Kleiner Bruder bewahrte sämtliche Quittungen für ihre Einkäufe im Handschuhfach auf, für den Fall, dass sie angehalten und verdächtigt würden, gestohlene Ware zu befördern. Der Koch erklärte dem Polizisten, wie sie auf der Brücke abrupt dem außer Kontrolle geratenen Bus hatten ausweichen müssen. »Wir sollten vielleicht besser weiterfahren und den Schaden erst zu Hause in Iowa City begutachten«, sagte Tony. Der milchgesichtige, glattrasierte Xiao Dee nickte dazu - seinen schwarzen, glänzenden Pferdeschwanz hielt ein rosa Haargummi zusammen, eine kleine Aufmerksamkeit von Spicy oder der anderen Freundin. »Das riecht nach Chinarestaurant«, hatte der Polizist zu dem Koch gesagt.
»Es ist ein Chinarestaurant«, hatte Tony erwidert. Sowohl Kleiner Bruder als auch Tony merkten, dass der Cop die Schweinerei im Wageninneren sehen wollte. Da sie nun einmal angehalten hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Tür des Laderaums zu öffnen. Und da war Asien, oder zumindest sämtliche kulinarische Aromen des Erdteils: der Topf Litschis mit Mandelmilchgelee, der schockierend stechende Geruch des überall verteilten frischen Ingwers und die Misoblätter der Firma Mitoku Trading Company - Letztere als eine Art pilziger Belag auf Wänden und Decke des Kühllasters. Außerdem glotzte aus einer übelriechenden Lache von Sojasauce und dunkelbraunem Eis ein schauriger Seeteufel zu ihnen empor - wenn es hoch kam ein Anwärter auf den Titel »hässlichster Fisch der Welt«. »Allmächtiger, was ist das denn?«, fragte der Motorradpolizist.
»Ein Seeteufel, der Hummer des kleinen Mannes«, erklärte Xiao Dee. »Wie heißt Ihr Restaurant in Iowa City?«, wollte der Cop wissen. »Mao's«, antwortete Xiao Dee stolz. »Der Laden!«, rief der Polizist. »Da gibt's doch Sachbeschädigungen aus vorbeifahrenden Autos, oder?« »Gelegentlich«, gab der Koch zu. »Das liegt am Krieg«, versuchte Xiao Dee zu erklären. »Anscheinend sind die Farmer Falken.« »Es liegt am Namen!«, entgegnete der Cop. »Mao's - kein Wunder, dass Sie's mit Vandalismus zu tun kriegen. Wir sind hier im Mittleren Westen. Iowa City ist schließlich nicht Berkeley!« Wieder im Lieferwagen, der von nun an ewig wie der Markt von Chinatown an einem üblen
Morgen riechen würde - etwa während eines Streiks der Müllabfuhr in Lower Manhattan -, sagte der Koch zu Kleiner Bruder: »Weißt du, der Cop hat nicht ganz unrecht. Was den Namen betrifft, meine ich.« Xiao Dee putschte sich mit Schoko-EspressoKugeln auf, die er bei den Quittungen im Handschuhfach aufbewahrte und pausenlos in sich hineinstopfte, wenn er am Steuer saß weil er um jeden Preis hellwach bleiben wollte. Wenn der Koch auf der sechzehnstündigen Fahrt mehr als zwei oder drei von den Dingern zu sich nahm, hatte er bis zum nächsten Tag Herzrasen - und seine Eingeweide kündigten schlimmen Durchfall an -, als hätte er zwei Dutzend doppelte Espressi getrunken. »Was ist bloß los mit diesem Land? Mao ist doch nur ein Name!«, hatte Kleiner Bruder gerufen. »Seit zehn Jahren lässt sich dieses Land in Vietnam die Eier abschneiden! Was
hat Mao damit zu tun - das ist doch nur ein Name!« Das irritierende Haargummi, das ihm Spicy (oder das andere Mädchen) um den Pferdeschwanz gebunden hatte, hatte sich gelöst; Xiao Dee glich jetzt einer hysterischen Gewichtheberin, die ein komplettes Chinarestaurant durch die Gegend fuhr, ein Restaurant, in dem man garantiert an einer Lebensmittelvergiftung sterben würde. »Lass uns einfach heimfahren und den Wagen ausladen«, hatte der Koch vorgeschlagen und gehofft, Xiao Dee dadurch zu beruhigen. Tony Angel bemühte sich, das Bild des durch das Sesamöl schwimmenden Seeteufels zu vergessen und alles andere, was sonst noch im Laderaum des Lastwagens herumschwappte. Der Behälter mit Meerwasser war ausgelaufen, sämtliche Muscheln waren ruiniert. An diesem Wochenende würde es keine in Sake gedünsteten Miesmuscheln in schwarzer Bohnensauce geben. Auch keine Austern
Rockefeller. (Zu allem Überfluss hatte Ah Gou, als Xiao Dee und der Koch wieder in Iowa City eintrafen, bereits den Spinat gehackt und den Speck gewürfelt, also alles für die Austern Rockefeller vorbereitet.) Der Wolfsbarsch hatte unterwegs das Zeitliche gesegnet, doch der Seeteufel war noch zu gebrauchen - man nahm ohnehin nur die Schwanzflosse, und die servierte Ah Gou in Medaillons geschnitten. Der Koch hatte gelernt, beim Entgräten die Frische des schottischen Lachses zu prüfen; Ah Gou sagte, wenn sich die Gräten schwer herausziehen ließen, sei der Fisch noch ziemlich frisch. Die Lap-Xuong-Wurst, die frische Flunder und der gefrorene Tintenfisch hatten den Beinahezusammenstoß mit dem Bus gut überstanden, anders als die Garnelen, die Jakobsmuscheln und die Krabben. Ah Gous Lieblingsmascarpone und der Parmesan waren heil, doch alle anderen Käsesorten mussten weg. Die kleinen Aton-Matten aus
Bambus, mit denen man das Sushi rollte, hatten zu viel Sesamöl und Tsingtao-Bier aufgesogen. Noch monatelang spritzte Shao Dee den Wagen täglich ab, doch der roch auf ewig nach dem Beinahezusammenstoß über dem Mississippi. Er hatte die Zeit in Iowa City genossen, einschließlich der Fahrten mit Xiao Dee Cheng, dachte Tony Angel gerade. Jeden Abend standen im Avellino ein, zwei Gerichte auf der Speisekarte, die der Koch seiner Arbeit mit Ah Gou im Mao's verdankte. Im Avellino wies der Koch auf die französischen oder asiatischen Ergänzungen seiner Speisekarte hin, indem er schlicht »Etwas Asiatisches« oder »Etwas Französisches« auf die Karte schrieb. Auch das hatte er im Mao's von Ah Gou gelernt. In Notfällen, wenn noch vor Samstagabend sämtliche Fische (und alle Austern und sonstigen Muscheln) verdorben
waren, hatte der Koch auf Ah Gous Geheiß Pasta oder Pizza zubereitet. Dann stand »Etwas Italienisches« auf der Speisekarte. Wenn Fernfahrer von der Interstate im Mao's einkehrten, beschwerten sie sich regelmäßig. »Was'n das für 'n italienischer Mist? Ich dachte, ihr wärt 'n Chinarestaurant.« »Wir sind von allem etwas«, sagte dann Xiao Dee, der am Wochenende normalerweise den Oberkellner gab, während der Koch und Ah Gou in der Küche rackerten. Die Kellnerinnen waren eine Multikultitruppe rasend intelligenter asiatischer Studentinnen, von denen viele gar nicht aus Asien kamen, sondern aus Seattle oder San Francisco, Boston oder New York. Tzu-Min, Ah Gous relativ neue Flamme, war vor ein paar Jahren zum Jurastudium aus Taiwan an die University of Iowa gekommen, aber anschließend nicht in
die Heimat zurückgekehrt, sondern wegen Mao's, Ah Gous und des Jurastudiums in Iowa City geblieben. Donnerstags abends, wenn der überdrehte Xiao Dee noch mit den Nachwirkungen der Schoko-Espresso-Kugeln zu kämpfen hatte, sprang Tzu-Min als Oberkellnerin ein. Im Mao's hatten sie kein Radio gehabt, erinnerte sich Tony Angel, während er die Gedecke im Avellino kontrollierte, das an diesem Abend im Spätfrühling 1983 noch nicht ganz für die Gäste geöffnet war. Im Mao's hatte Ah Gou einen Fernseher in der Küche gehabt - die Ursache zahlreicher Schnittwunden an Fingern und anderer Unfälle mit Messern und Hackebeilen, wie der Koch glaubte. Doch Ah Gou hatte sich gern Sportübertragungen und Nachrichtensendungen angesehen. Manchmal wurden die Football- oder Basketballspiele der University of Iowa übertragen, dann wusste die Küche schon vorher, ob sie es nach dem
Spiel mit euphorischen oder niedergeschlagenen Gästen zu tun bekamen. Zu der Zeit verlor die Ringermannschaft der University of Iowa selten - noch viel seltener zu Hause -, und während dieser zweitägigen Wettkämpfe fand sich eine besonders aufgekratzte und hungrige Meute im Mao's ein. Daniel war mit dem kleinen Joe zu den meisten Ringerveranstaltungen in Iowa City gegangen, fiel dem Koch plötzlich ein. Vielleicht hatte der Erfolg des Ringerteams von Iowa Joe zum Ringen animiert, als er die Northfield Mount Hermon besuchte; sehr wahrscheinlich hatte Ketchums Ruf als Kneipenschläger nichts damit zu tun. In seiner Küche im Avellino hatte Tony Angel einen achtflammigen Garland-Gasherd mit zwei Backöfen und einem Bratrost. Außerdem hatte er einen dampfbeheizten Warmhaltetisch für die Hühnerbrühe. Wenn im Mao's Hochbetrieb geherrscht hatte, konnten sie an
einem Abend achtzig bis neunzig Personen bewirten, doch das Avellino war kleiner. Tony hatte selten mehr als dreißig oder vierzig Gäste am Abend - höchstens fünfzig. An diesem Abend bereitete der Koch eine Rotweinreduktion für die geschmorten Rinderrippen vor, und in dem Warmhaltetisch hatte er sowohl helle als auch dunkle Hühnerbrühe. In der Kategorie »Etwas Asiatisches« servierte er Ah Gous RindfleischSatayspieße mit Erdnusssauce und gemischten Tempura - ein paar Garnelen, grüne Bohnen und Spargelstücke. Es gab die üblichen Pastagerichte - unter anderem die Calamari mit schwarzen Oliven und Pinienkernen auf Penne - und zwei beliebte Pizzas, einmal mit Salami und Marinarasauce, zum anderen mit Pilzen und vier Käsesorten. Er hatte ein Brathähnchen mit Rosmarin im Angebot, das auf einem Bett aus Rucola und gegrilltem Fenchel serviert wurde, und eine gegrillte Keule vom Frühlingslamm mit Knoblauch
sowie ein Pilzrisotto. Greg, der junge Sous-Chef des Kochs, hatte in Manhattan die Kochschule an der Ninetysecond Street besucht und lernte schnell. Tony ließ Greg die Sauce Grenobloise für das Hähnchen-Paillard zubereiten, mit brauner Butter und Kapern - damit hatte der Abend auch »Etwas Französisches«. Und Tonys Lieblingskellnerinnen standen bereit, eine alleinerziehende Mutter samt ihrer Tochter, einer College-Studentin. Celeste, die Mutter, arbeitete schon seit 1976 für den Koch, und die Tochter, Loretta, war reifer als die Highschool-Kids aus Brattleboro, die er sonst als Kellnerinnen, Hilfskellner und Tellerwäscher anstellte. Loretta war älter als die meisten CollegeStudentinnen; in ihrem letzten Jahr auf der Highschool hatte sie ein Kind bekommen. Loretta war nicht verheiratet und hatte das Kind im Haus ihrer Mutter großgezogen, bis
der kleine Junge so alt war (etwa vier oder fünf), dass er Celeste nicht mehr in den Wahnsinn trieb. Dann hatte sich Loretta in einem Community-College in der Gegend eingeschrieben - das Pendeln war für sie etwas schwierig, aber sie hatte alle Kurse auf Dienstag, Mittwoch und Donnerstag gelegt. Von Donnerstagabend bis zum folgenden Dienstagmorgen war sie immer zu Hause in Brattleboro, wo sie nach wie vor mit ihrer Mom und ihrem Söhnchen wohnte. Seit der Koch mit Celeste schlief - erst seit einem guten Jahr, fast anderthalb -, war er mit diesem Arrangement sehr zufrieden. Tony Angel verbrachte nur zwei Nächte in der Woche bei Celeste und ihrem Enkel, der inzwischen in die erste Klasse ging, und an dem einen Abend, dem Mittwoch, blieb das Restaurant geschlossen. Wenn Loretta nach Brattleboro zurückkam, zog der Koch wieder in seine Wohnung. Im letzten Sommer war es schwieriger gewesen, da war Celeste drei, vier
Nächte am Stück oder sogar länger in Tonys kleiner Wohnung über dem Avellino geblieben. Sie war ein Rotschopf mit ganz bezaubernden Sommersprossen auf der Brust und recht drall, wenn auch beileibe nicht so korpulent wie Indianer-Jane oder Carmella. Mit fünfzig lag Celeste im Alter genau zwischen dem Koch und dessen Sohn Danny. In der Küche gab es zwischen ihnen keinen Austausch von Zärtlichkeiten - darauf legten sie beide Wert -, aber das gesamte Personal des Avellino (und natürlich auch Loretta) wusste, dass Tony Angel und Celeste ein Paar waren. Die ehemaligen Freundinnen des Kochs, die er in The Book Cellar kennengelernt hatte, waren mittlerweile weggezogen oder verheiratet. Tonys alter Scherz blieb nun ohne Folgen: Wenn der Koch die Buchhändlerin fragte, ob sie Frauen kenne, die sie ihm vorstellen könne, war dieser Scherz harmlos. (Sie tat es nicht oder sie wollte es nicht tun, nicht solange er mit Celeste
zusammen war. Brattleboro war eine Kleinstadt, und Celeste war dort beliebt.) In Iowa war es leichter gewesen, Frauen kennenzulernen, dachte Tony Angel. Zugegeben, er war jetzt älter, und verglichen mit Iowa City, wo Danny seinen Dad zu allen Partys des Autorenworkshops eingeladen hatte, war Brattleboro eine sehr kleine Stadt; diese Schriftstellerinnen wussten, wie man sich amüsierte. Danny hatte seine Workshopstudenten häufig ins Mao's eingeladen - nicht zuletzt zum chinesischen Neujahrsfest, das immer im Januar oder Februar gefeiert wurde; Ah Gou bot dann an drei Abenden nacheinander ein 10-Gänge-Menü zum Pauschalpreis an. Kurz vor dem chinesischen Neujahrsfest 1973 - es war das Jahr des Ochsen, wie dem Koch einfiel - war Xiao Dees Lkw in Pennsylvania kaputtgegangen, und Tony Angel und Kleiner Bruder hätten es um ein Haar nicht rechtzeitig
mit den Lebensmitteln zurück nach Iowa City geschafft. 1974 - im Jahr des Tigers, erinnerte sich Tony - hatte Xiao Dee Spicy überredet, sie nach Iowa City zu begleiten, die ganze Strecke aus New York City. Zum Glück war Spicy klein, dennoch wurde es im Fahrerhaus des Trucks eng, und irgendwo in Indiana oder Illinois kam Spicy dahinter, dass Xiao Dee etwas mit einer Frau in Bethpage hatte - »diese NassauCounty-Fotze«, wie Spicy sie nannte. Während der restlichen Fahrt hatte sich der Koch die Streitereien zwischen ihr und Xiao Dee anhören müssen. Die Erinnerungen an Iowa City und Mao's hatten Tony Angel irgendwie darauf gebracht, dass es dem Avellino an Anspruch fehlte, doch dem Koch gefiel an seinem Restaurant in Brattleboro, dass es relativ leicht zu führen war. Für echte Chefköche wie Ah Gou Cheng, Tony Molinari oder Paul Polcari mochte das
Avellino anspruchslos sein, doch der inzwischen neunundfünfzigjährige - Koch versuchte gar nicht erst, mit ihnen zu konkurrieren. Traurig war, dass Tony Angel seine alten Freunde und Mentoren nicht nach Vermont zu einem Essen im Avellino einladen mochte. Der Koch fand, dass sein Restaurant dieser Spitzenköche nicht würdig war, die ihm so viel beigebracht hatten - - obwohl sie wahrscheinlich gerührt gewesen wären oder sich geschmeichelt gefühlt hätten, auf der Speisekarte des Avellino ihren offenkundigen guten Einfluss zu entdecken, und gewiss hätten sie den Koch in seinem Stolz auf sein eigenes Restaurant bestärkt, das - wenn auch nur in Brattleboro - einen guten Ruf hatte. Da sich Molinari und Polcari zur Ruhe gesetzt hatten, hätten sie ihn nach Belieben in Vermont besuchen können; den Brüdern Cheng wäre es vermutlich schwerer gefallen, sich die Zeit zu nehmen.
Ah Gou und Xiao Dee waren wieder in den Osten gezogen, und zwar auf den klugen Rat der jungen chinesischen Anwältin Tzu-Min hin, die den Großen Bruder geheiratet hatte sie hatte ihm solide geschäftliche Ratschläge erteilt und war nie nach Taiwan zurückgekehrt. Connecticut lag näher an Lower Manhattan, wo Kleiner Bruder einkaufen musste. Es ergab keinen Sinn, wenn die Chengs sich totfuhren, nur weil sie in Iowa authentische chinesische Küche anbieten wollten. Anfangs hieß ihr neues Restaurant Baozi, chinesisch für »verpackt« oder »umwickelt«. (Der Koch musste an die goldgelben, mit Schweinefleisch gefüllten Frühlingsrollen und an die baozi denken, die Ah Gou immer am chinesischen Neujahrsfest machte: Die gedämpften Teigbälle wurden wie ein Sandwich aufgeschnitten und mit zerkleinerter, geschmorter Schweineschulter gefüllt, vermischt mit chinesischem 5Gewürze-Pulver.) Aber Tzu-Min war die
Geschäftsfrau der Familie Cheng; sie änderte den Namen des Restaurants in Lemongrass, was in Connecticut sowohl marktgängiger als auch verständlicher war. Eines Tages, dachte Tony Angel, fahren Daniel und ich vielleicht runter nach Connecticut und essen im Lemongrass; anschließend könnten wir irgendwo in der Gegend übernachten. Dem Koch fehlten Ah Gou und Xiao Dee, und er wünschte ihnen alles Gute. »Was ist los, Tony?«, fragte Celeste. (Der Koch weinte, ohne es zu merken.) »Nichts ist los, Celeste. Ich bin sogar sehr glücklich«, antwortete Tony. Er lächelte sie an, beugte sich über die Rotweinreduktion und schnupperte genießerisch. Er hatte einen frischen Rosmarinzweig in kochendem Wasser blanchiert, um dem Rosmarin das Öl zu entziehen, ehe er ihn in den Rotwein gab.
»Tja, aber du weinst«, stellte Celeste fest. »Erinnerungen, nehme ich an«, sagte der Koch. Auch Greg, der Sous-Chef, beobachtete ihn. Loretta kam aus dem Speiseraum in die Küche. »Schließen wir den Laden heute Abend auf, oder sollen die Gäste zusehen, wie sie einbrechen können?«, fragte sie den Koch. »Oh, ist es schon Zeit?«, fragte Tony Angel zurück. Offenbar hatte er seine Uhr oben im Schlafzimmer vergessen, wo die noch nicht zu Ende gelesenen Fahnen von Jenseits von Bangor lagen. »Weshalb weint er?«, wollte Loretta von ihrer Mutter wissen. »Das habe ich ihn auch gerade gefragt«, sagte Celeste. »Erinnerungen, nehme ich an.« »Gute, oder?«, fragte Loretta den Koch; sie nahm ein sauberes Geschirrtuch aus dem Regal und tupfte ihm die Wangen trocken.
Sogar der Tellerwäscher und der Hilfskellner, zwei Kids von der Highschool in Brattleboro, musterten Tony Angel besorgt. Der Koch und sein Sous-Chef hielten sich nicht sklavisch an ihre Posten, obwohl Greg normalerweise grillte, röstete und briet und Tony sich um die Saucen kümmerte. »Soll ich heute Abend Saucier sein, Chef?«, fragte Greg den Koch. »Es geht schon«, sagte Tony in die Runde und schüttelte den Kopf. »Werdet ihr denn nie von Erinnerungen heimgesucht?« »Danny hat angerufen - hab ich ganz vergessen«, teilte Loretta dem Koch mit. »Er kommt heute Abend vorbei.« »Stimmt, Danny klang, als hätte er einen aufregenden Tag hinter sich - für einen Schriftsteller«, sagte Celeste zu Tony. »Er ist von zwei Hunden angegriffen worden. Rooster hat den einen getötet. Er wollte zur üblichen
Zeit einen Tisch reservieren, aber nur für eine Person. Er meinte, Barrett hätte für die Hundegeschichte kein Verständnis. Er sagte: >Richte Paps aus, ich sehe ihn später.«« Der »Paps« stammte noch aus Iowa City - dem Koch gefiel das. Barrett war eigentlich aus England. Obwohl sie seit Jahren in den usa lebte, hatte Tony Angel den Eindruck, dass ihr englischer Akzent immer ausgeprägter wurde. Die Menschen in Amerika waren von englischem Akzent übermäßig beeindruckt, dachte der Koch. Vielleicht gab ein englischer Akzent vielen Amerikanern das Gefühl, ungebildet zu sein. Tony wusste, was sein Sohn mit dem Satz meinte, Barrett hätte für die Hundegeschichte kein Verständnis. Obwohl Danny beim Laufen mehrmals von Hunden gebissen worden war, gehörte Barrett zu den Tierfreunden, die immer für den Hund Partei ergriffen. (Es gab
keine »bösen« Hunde, nur böse Hundebesitzer; die Vermonter Polizei sollte nie einen Hund erschießen; wenn Danny nicht mit den abgesägten Squashschlägern herumlief, würden ihn die Hunde vielleicht gar nicht attackieren, und so weiter.) Doch der Koch wusste, dass sein Sohn beim Laufen die Squashschlägergriffe nur mitnahm, weil er gebissen worden war, als er sie nicht dabeihatte. Zweimal musste er genäht werden, aber nur einmal kriegte er die Spritze gegen Tollwut. Tony Angel war froh, dass sein Sohn ohne Barrett zum Essen kam. Den Koch irritierte, dass Daniel überhaupt mit einer Frau geschlafen hatte, die fast so alt wie sein eigener Vater war! Doch dass Barrett ihr Englischsein so betonte und glaubte, es gäbe keine bösen Hunde, irritierte Tony noch mehr. Na ja, musste man von einer Pferdenärrin nicht erwarten, dass sie eine unkritische Liebe zu Hunden hegte?, fragte sich der Koch.
Für seine Pizzas benutzte Tony Angel einen alten irischen Stanley-Holzbackofen. Er wusste, wie man die Ofentemperatur konstant auf 315 Grad Celsius hielt, ohne dass es im Rest der Küche zu heiß wurde, hatte aber zwei Jahre gebraucht, um dahinterzukommen. Als er gerade Holz nachlegen wollte, hörte er, wie Loretta die Restauranttür öffnete und die ersten Gäste in den Speiseraum ließ. »Es gab noch einen Anruf«, sagte Greg dem Koch. Tony hoffte, dass Daniel sich doch dafür entschieden hatte, zum Essen ins Avellino zu kommen, jedoch dagegen, Barrett mitzubringen. Aber die andere Nachricht war von Ketchum. Der alte Holzfäller hatte Greg in einem fort von der wundersamen Erfindung namens Faxgerät vorgeschwärmt. Weiß Gott, wann Faxgeräte erfunden worden waren, dachte der Koch, aber er hörte heute nicht zum ersten
Mal, dass Ketchum eins haben wollte. Danny hatte in New York, in der Herstellungsabteilung seines Verlags, ein primitives Faxgerät in Aktion erlebt. Laut Daniel, erinnerte sich sein Vater, war es ein klobiger Apparat, der schmierige Papierfetzen mit kaum lesbarer Schrift ausspuckte, doch das schreckte Ketchum nicht. Der Exanalphabet wollte, dass Danny und sein Dad sich Faxgeräte zulegten; danach wollte Ketchum sich eins besorgen, und sie könnten ruck, zuck Kontakt zueinander aufnehmen. Herr im Himmel, dachte der Koch, eine wahre Faxflut wird über mich hereinbrechen, ich werde stapelweise Papier kaufen müssen. Und es wird keine friedlichen Morgen mehr geben. Er genoss seinen Morgenkaffee und seinen Lieblingsblick auf den Connecticut River. (Wie der Koch war Ketchum Frühaufsteher.) Tony Angel hatte Ketchums Behausung in Errol nie gesehen, stellte sich aber etwas
Wanigan-Artiges vor - einen Trailer vielleicht oder auch mehrere Trailer. Möglicherweise ehemalige Wohnwagen, die nicht mehr fuhren - oder ein VW-Bus ohne Räder, mit einem Bollerofen drin. Unvorstellbar, dass Ketchum (mit 66 Jahren) erst kürzlich lesen gelernt hatte, aber jetzt ein Faxgerät haben wollte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er nicht einmal ein Telefon besessen! Der Koch wusste, warum er geweint hatte; seine »Erinnerungen« hatten nichts damit zu tun. Sobald Tony Angel die Idee gekommen war, mit seinem Sohn die Chengs in ihrem Restaurant in Connecticut zu besuchen, wurde ihm klar, dass Daniel das nie tun würde. Der Schriftsteller war ein Arbeitstier. Wie der Koch es sah, hatte eine Art Logorrhöe von seinem Sohn Besitz ergriffen. Tony hatte nichts dagegen, dass Daniel zum Essen allein ins Avellino kam, doch dass sein Sohn allein
war (und es wahrscheinlich bleiben würde), brachte den Koch zum Weinen. Um seinen Enkel Joe machte er sich Sorgen - weil jeder Achtzehnjährige Glück brauchte, um all den naheliegenden Gefahren zu entgehen. Doch dass sein Sohn Daniel ihm wie eine unendlich einsame, schwermütige Seele vorkam, tat dem Koch im Herzen weh. Er ist sogar noch einsamer und schwermütiger als ich!, dachte Tony Angel. »Tisch für vier«, sagte Loretta zu Greg. Und zum Koch: »Eine Pizza mit Pilzen, eine mit Salami.« Celeste kam in die Küche. »Danny ist da, allein«, informierte sie Tony. »Einmal Calamari mit Penne«, fuhr Loretta fort. Bei Hochbetrieb lieferte sie den beiden Köchen ihre Bestellungen schriftlich ab, aber wenn das Avellino fast leer war, genoss Loretta offenbar die lautstarke Darbietung.
»Der Vierertisch will keine Vorspeisen?«, fragte Greg. »Alle wollen den Rucolasalat mit Parmesan«, sagte Loretta. »Das wird euch gefallen.« Sie machte eine Kunstpause. »Ein HähnchenPaillard, aber ohne Kapern.« »O Gott«, meinte Greg. »Der Witz an der Sauce Grenobloise sind die Kapern.« »Gib dem Schwachkopf einfach die Rotweinreduktion mit Rosmarin - das schmeckt zum Hähnchen genauso gut wie zum Rinderschmorbraten«, sagte Tony Angel. »Davon wird das Hähnchen lila, Tony«, wandte sein Sous-Chef ein. »Du bist ein echter Purist, Greg«, sagte der Koch. »Na schön, dann gib dem Schwachkopf das Paillard mit etwas Olivenöl und Zitrone.« »Danny will sich überraschen lassen«, teilte Celeste Tony mit und beobachtete ihn genau.
Sie hatte den Koch auch schon im Schlaf weinen hören. »Na, das wird ein Spaß«, sagte der Koch. (Endlich ein Lächeln, wenn auch ein kleines, dachte Celeste.) May war eine gesprächige Beifahrerin. Während Dot fuhr - wobei ihr Kopf nickte, aber meist nicht im Takt des Gedudels, das gerade im Radio lief -, las May die Aufschriften der Straßenschilder laut vor, wie es Kinder tun, die gerade erst lesen gelernt haben. »Bellows Falls«, hatte May verkündet, als sie die entsprechende Abfahrt auf der I-91 passierten - vor einer guten Viertelstunde. »Wer möchte schon in Bellows Falls wohnen?« »Warste mal da?«, fragte Dot ihre alte Freundin. »Nö. Klingt nur scheußlich«, sagte May.
»Sieht langsam nach Abendessenszeit aus, oder?« »Ich könnte ein Häppchen vertragen«, gestand May. »Und zwar?« »Och, bloß 'n halben Bären oder 'ne ganze Kuh, schätze ich«, sagte May gackernd. Dot gackerte mit. »Sogar 'ne halbe Kuh würde jetzt prima schmecken«, verkündete Dot ernster. »Putney«, las May vor, als sie an dem Abfahrtschild vorbeikamen. »Was für 'n Name ist das denn? Indianisch klingt das nicht«, sagte Dot. »Nö. Nicht indianisch«, stimmte May zu. Sie näherten sich den drei Ausfahrten nach Brattleboro. »Wie wär's mit 'ner Pizza?«, sagte Dot. »brett-el-barro«, las May mit fast perfekter
Aussprache vor. »Eindeutig kein Indianername!«, stellte Dot fest, und die beiden alten Schachteln gackerten wieder. »In Brattleboro gibt's bestimmt 'ne Pizzeria, meinste nicht auch?«, fragte May ihre Freundin. »Sehen wir nach«, sagte Dot. Sie nahm die zweite Ausfahrt, die sie zur Main Street brachte. »The Book Cellar«, las May laut vor, während sie langsam an dem Buchladen zu ihrer Rechten vorbeifuhren. Als sie zur nächsten Ampel kamen und zu der Stelle, wo der Hügel steil anstieg, sahen sie das Kinoschild des Latchis Theatre. Dort liefen zwei Filme aus dem Vorjahr - ein Sylvester-Stallone-Doppelprogramm, Rocky in - Das Auge des Tigers und Rambo.
»Die Filme hab ich gesehen«, verkündete Dot stolz. »Du hast sie mit mir zusammen gesehen«, erinnerte May sie. Die beiden waren von dem Kinoschild am Latchis abgelenkt, und Dot saß am Steuer; Dot konnte nicht gleichzeitig fahren und beide Straßenseiten im Auge behalten. Wäre May nicht gewesen, ihre hungrige Beifahrerin und zwanghafte Schilderleserin, hätten sie das Avellino vielleicht komplett verpasst. Das Wort Avellino war eine harte Nuss für May; sie verhaspelte sich, brachte aber die Worte »italienische Küche« heraus. »Wo?«, fragte Dot. Sie waren schon daran vorbeigefahren. »Dahinten. Park irgendwo«, wies May ihre Freundin an. »Da stand >italienisch<, das weiß ich genau.« Ehe Dot sich wieder richtig aufs Fahren
konzentrieren konnte, hielten sie schon auf dem Parkplatz des Supermarkts. »Jetzt müssen wir den Weg zurücklatschen«, sagte sie zu May. Dot latschte nur ungern. Sie hatte einen schmerzhaften Ballenzeh, weshalb sie hinkte was May wiederum an Cookies Hinken erinnerte, so dass die alten Zimtzicken in letzter Zeit oft an ihn denken mussten. (Auch mochte ihr Gespräch über indianische Namen im Auto sie an die längst vergangene Zeit in Twisted River erinnert haben.) »Für 'ne Pizza oder zwei würd ich meilenweit und noch weiter laufen«, sagte May zu ihrer Freundin. »Jedenfalls für eine von Cookies Pizzas«, sagte Dot, womit sie beim Thema waren. »Oh, waren die leckerl«, rief May. Die beiden waren auf der falschen Straßenseite bis zum Latchis gewatschelt und fast überfahren
worden, als sie gedankenlos die Main Street überquerten. (Vielleicht war Milan fußgängerfreundlicher als Brattleboro.) Dot und May zeigten dem Fahrer, der sie beinahe überrollt hätte, den Stinkefinger. »Was wollte Cookie noch mal in den Pizzateig tun?«, fragte Dot May. »Honig!«, antwortete May, und beide gackerten los. »Aber er hat sich dagegen entschieden«, erinnerte sich May. »Ich frage mich, was seine geheime Zutat war«, sagte Dot. »Vielleicht hatte er gar keine«, meinte May achselzuckend. Vor dem großen Panoramafenster des Avellino waren sie stehen geblieben, und May mühte sich ab, den Namen des Restaurants auszusprechen. »Klingt jedenfalls echt italienisch«, befand Dot. Die beiden Frauen lasen die Speisekarte im Fenster. »Zwei verschiedene Pizzas«,
stellte Dot fest. »Ich bleib bei der Salami«, verkündete May. »Du kannst dich ruhig an den Pilzen vergiften.« »Cookies Pizzakruste war richtig dünn, man konnte also viel mehr Pizza essen und war doch nicht pappsatt«, erinnerte sich Dot. Im Restaurant beendete eine vierköpfige Familie gerade ihr Essen. Dot und May sahen, dass beide Kinder Pizza bestellt hatten. Ein gutaussehender, etwa vierzigjähriger Mann saß allein an einem Tisch neben der Schwingtür zur Küche. Er schrieb etwas in ein Notizbuch so ein kleines Notizbuch, wie es Studenten benutzten. Natürlich erkannten die beiden alten Frauen Danny nicht. Das letzte Mal hatten sie ihn mit zwölf gesehen, und jetzt war er ein ganzes Jahrzehnt älter als sein Vater damals, als Dot und May den Koch zuletzt gesehen hatten.
Als die beiden alten Frauen das Restaurant betraten, hatte Danny aufgeschaut, sich aber rasch wieder seinen Aufzeichnungen gewidmet. Womöglich erinnerte er sich nicht einmal, wie Dot und May 1954 ausgesehen hatten; 29 Jahre später hatte Danny nicht die geringste Ahnung, wer diese alten Zimtzicken waren. »Nur Sie beide, meine Damen?«, fragte Celeste die zwei. (Dot und May amüsierte es immer, wenn jemand sie für »Damen« hielt.) Sie bekamen einen Fenstertisch, unter dem alten Schwarzweißfoto eines Holzstaus in Brattleboro, der längst Geschichte war. »Früher wurden auf dem Connecticut Stämme geflößt«, sagte Dot zu May. »Seinerzeit wurde hier bestimmt eine Menge verarbeitet und produziert«, kommentierte May. »Sägewerke, vielleicht Papiermühlen auch Textilien, schätze ich.«
»In dieser Stadt gibt es ein Irrenhaus, hab ich gehört«, erzählte Dot ihrer Freundin. Als die Kellnerin kam und ihnen Wasser brachte, fragte Dot sie danach: »Ist die Klapse noch in Betrieb?« »Die heißt jetzt Erholungsheim«, erklärte Celeste. »Das ist ein windelweicher Name für 'ne Klapse!«, sagte May. Sie und Dot gackerten wieder, während Celeste die Speisekarten holen ging. (Sie hatte vergessen, den alten Scharteken mit dem Wasser Speisekarten mitzubringen. Dass der Koch geweint hatte, ließ Celeste keine Ruhe.) Ein junges Paar kam herein, und Dot und May beobachteten, wie eine jüngere Kellnerin Celestes Tochter Loretta - die beiden zu ihrem Tisch führte. Als Celeste mit den Speisekarten wiederkam, sagte Dot: »Wir nehmen beide die Pizza mit Salami.«
»Eine pro Person, oder teilen Sie sich eine?«, fragte Celeste. (Ein Blick auf die zwei verriet ihr die Antwort.) »Eine pro Person«, sagte May. »Möchten Sie einen Salat oder eine Vorspeise?«, fragte Celeste die alten Frauen. »Nö. Ich lass noch Platz Apfelkuchen«, antwortete May.
für
den
Dot sagte: »Bei mir läuft es vermutlich auf den Blueberry Cobbler hinaus.« Beide bestellten Coca-Cola - »die echte«, wie May gegenüber Celeste betonte. Für die bevorstehende Fahrt, von der Unmenge an Kindern und Enkelkindern ganz zu schweigen, wollten Dot und May möglichst viel Koffein und Zucker intus haben. »Ganz ehrlich«, sagte May zu Dot, »wenn meine Kinder und Enkel dauernd noch mehr Kinder kriegen, kannste mich in das sogenannte Erholungsheim einweisen.«
»Ich komm dich dann besuchen«, versprach ihre Freundin. »Falls die Pizza schmeckt«, ergänzte sie. In der Küche des Avellino hatte der Koch die alten Frauen vielleicht gackern hören. »Zweimal Salamipizza«, teilte ihm Celeste mit. »Wahrscheinlich zwei Interessentinnen für Kuchen und Cobbler.« »Wer ist das?«, wollte der Koch von ihr wissen. Normalerweise war er nicht so neugierig. »Einheimische?« »Zwei alte Zimtzicken, wenn du mich fragst egal, ob von hier oder auswärts«, sagte Celeste. Jeden Moment würde nun im Radio das Spiel der Red Sox übertragen werden. Boston spielte zwar zu Hause im Fenway Park, doch Greg hörte sich auf einem anderen Sender irgendeinen sentimentalen Quark an, der sich The Oldie-But-Goldie Hour nannte. Der Koch
hatte nicht richtig zugehört, doch gespielt wurde Surrealistic Pillow, das Album von Jefferson Airplane aus dem Jahr 1967. Als Tony Angel merkte, dass Grace Slick gerade Somebody to Love sang, wandte er sich mit ungewohnter Schärfe an seinen Sous-Chef. »Zeit für das Baseballspiel, Greg.« »Lass mich nur noch -«, begann der SousChef, doch Tony wechselte abrupt den Sender. (Alle hatten seine ungeduldige Stimme gehört und gesehen, wie wütend er die Hand nach dem Radio ausstreckte.) Der Koch brachte nicht mehr über die Lippen als: »Ich mag diesen Song nicht.« Achselzuckend sagte Celeste zu den anderen: »Erinnerungen, nehme ich an.« Nur eine dünne Wand und zwei schwingende Türflügel weiter befanden sich noch zwei alte Erinnerungen. Leider würde der Koch Dot und
May nicht so leicht loswerden wie den Song im Radio.
9 - Die unvorhersehbare Natur der Dinge Dort draußen am Boulevard von Coralville, in Sichtweite von Mao's, hatte es die Pizzeria The Greek's gegeben; Kalamata-Oliven und Fetakäse durften auf keiner Pizza fehlen. (Wie hatte es Dannys Dad damals formuliert: »Schmeckt nicht übel, ist aber keine Pizza.«) In der Innenstadt von Iowa City gab es einen pseudoirischen Pub, der sich O'Rourke's nannte - Poolbillardtische, grünes Bier am St. Patrick's Day, mit Bratwurst oder Fleischklößchen belegte Sandwiches. In Dannys Augen war O'Rourke's ausschließlich ein Treffpunkt für Studenten, eine wenig überzeugende Kopie der Bostoner Pubs
südlich des Haymarket, in der Nähe der Hanover Street. Der älteste dieser Pubs war das Union Oyster House, wo Muscheln serviert wurden und das eines Tages gegenüber einer Holocaust-Gedächtnisstätte stehen würde; aber es gab auch noch die Bell in Hand Tavern an der Ecke Union und Marshall Street - eine Bar, in der sich der minderjährige Daniel Baciagalupo und seine älteren Cousins aus den Familien Saetta und Calogero mit Bier betrunken hatten. Diese Kneipen waren zu nahe am North End, um der Aufmerksamkeit des Kochs zu entgehen. Eines Tages war er Daniel und seinen Cousins bis zum Bell in Hand gefolgt. Als der Koch seinen Sohn Bier trinken sah, hatte er den Jungen am Ohr aus der Bar gezerrt. Als der Schriftsteller Danny Angel im Avellino saß, in sein Notizbuch schrieb - und darauf wartete, dass ihn sein Dad, der Koch,
überraschte -, wünschte er, diese Demütigung im Bell in Hand, noch dazu vor seinen älteren Cousins, hätte dafür ausgereicht, ihm das Trinken abzugewöhnen, noch ehe er richtig damit begonnen hatte. Doch um damit aufzuhören, hätte es eines größeren Schrecks samt Demütigung bedurft als jenes Vorfalls in einer Bostoner Kneipe. Der kam dann auch, aber erst, als Danny schon Vater war. (»Wenn das Vatersein dich nicht Verantwortung lehrt«, hatte der Koch einmal zu seinem Sohn gesagt, »dann ist bei dir Hopfen und Malz verloren.«) Hatte Danny wie ein Vater gedacht, als er auf der Schreibmaschine eine Nachricht an den Hippietischler aufsetzte und dann auf der Nebenstraße in Richtung Westminster West gefahren war, um den Zettel in den Briefkasten des Hundebesitzerarschlochs zu stecken, ehe er weiter nach Brattleboro und zu seinem Überraschungsessen im Avellino fuhr? Hätte der Schriftsteller gewollt, dass sein Sohn Joe so etwas tat, wenn der sich in eine ähnliche
Fehde verstrickt hätte? »Es tut mir wirklich leid, dass Ihr Hund tot ist«, hatte Danny getippt. »Ich war wütend. Sie übernehmen keine Verantwortung für Ihre Hunde, und Sie sehen nicht ein, dass eine öffentliche Straße nicht Ihr privater Hundeauslauf ist. Doch ich hätte mich besser beherrschen müssen. Ich werde von nun an woanders laufen. Sie haben einen Hund verloren, ich meine Lieblingslaufstrecke. Irgendwann muss Schluss sein, okay?« Es war ein schlichtes Blatt Schreibmaschinenpapier. Seinen Namen hatte der Schriftsteller nicht daruntergesetzt. Falls Armando recht hatte - und das Arschloch ein Schriftstellertischler und/oder einer von Dannys ehemaligen Studenten aus Windham war -, wusste er natürlich längst, dass der Jogger mit den Squashschlägergriffen der Schriftsteller Danny Angel war. Doch Danny sah keinen Grund, das an die große Glocke zu
hängen. Er steckte das Blatt auch nicht in einen Umschlag, sondern faltete es nur doppelt und warf es dort, wo die von Schrottautos gesäumte Einfahrt in die Straße mündete, in den Briefkasten des Hundebesitzers. Als Danny jetzt im Avellino saß und schrieb, wusste er, was Armando sagen würde: »Mit Arschlöchern schließt man keinen Frieden«, oder so ähnlich. Doch Armando hatte keine Kinder. Machte das Armando weniger ängstlich? Allein die Vorstellung, dass ein Streit eskalieren könnte - nun, war das nicht eine der Hauptgefahren, vor denen man seine Kinder beschützen wollte? (In dem Notizbuch, in dem Danny vor sich hin kritzelte, stach in auffällig vielen unvollendeten Sätzen die Formulierung »eine namenlose Furcht« heraus.) Als Junge und als junger Mann hatte Danny immer gedacht, dass sein Dad und Ketchum hauptsächlich deswegen so unterschiedlich
seien, weil sein Dad Koch und weil Ketchum Flößer war - ein Holzfäller, robuster als seine Nagelstiefel, ein hitzköpfiger Holzarbeiter, der keiner Schlägerei aus dem Weg ging. Doch Ketchum und seine Kinder hatten keinen Kontakt mehr; er hatte sie bereits verloren. Ketchum war nicht zwangsläufig mutiger oder kühner als der Koch. Ketchum war kein Vater - nicht mehr; für ihn stand weniger auf dem Spiel. Erst jetzt begriff Danny, dass sein Dad ihn immer nach Kräften beschützt hatte. Dominic hatte als Vater beschlossen, Twisted River zu verlassen. Und der Koch und sein Sohn bemühten sich, den kleinen Joe zu beschützen. Ihre gemeinsame Angst um den Jungen hatte Danny und seinen Dad enger zusammengeschweißt. Auch in Iowa City hatte er sich seinem Vater nahe gefühlt, dachte der Schriftsteller (während ihres asiatischen Intermezzos, wie Danny ihren zweiten Aufenthalt in Iowa für
sich nannte). Die damalige Freundin seines Dads, seine längste Beziehung in jenen Jahren in Iowa City, hatte als Krankenschwester in der Notaufnahme des Mercy Hospital gearbeitet und war Chinesin. Yi-Yiing war in Dannys Alter - Anfang dreißig, fast zwanzig Jahre jünger als der Koch - und hatte in Hongkong eine Tochter in Joes Alter. Ihr Mann hatte sie nach der Geburt der Tochter verlassen - er hatte unbedingt einen Sohn haben wollen -, und Yi-Yiing hatte das Kind ihren Eltern anvertraut und sich im Mittleren Westen ein neues Leben aufgebaut. Der Krankenschwesterberuf war eine gute Wahl gewesen, genau wie Iowa City. Die Arzte im Mercy Hospital hatten Yi-Yiing für unentbehrlich erklärt. Sie hatte die Green Card, die Arbeitserlaubnis, erhalten und war auf dem besten Wege, auch die USStaatsbürgerschaft zu bekommen. Natürlich wurde Yi-Yiing gelegentlich ein »Schlitzauge« an den Kopf geworfen - von
Patienten mit Vorurteilen in der Notaufnahme oder aus einem vorbeibrausenden Auto heraus; das war das gängigste Schimpfwort. Doch es machte ihr nichts aus, für die Kriegsbraut eines Vietnamveteranen gehalten zu werden. Sie hatte ganz andere Sorgen und eine äußerst schwierige Aufgabe vor sich - nämlich ihre Tochter und ihre Eltern in die usa zu holen -, und sie nahm eine bürokratische Hürde nach der anderen. Yi-Yiing hatte ihre Gründe, dieses Ziel unbeirrt zu verfolgen. (Man hatte ihr gesagt, es wäre leichter, ihre Familie in die Vereinigten Staaten zu holen, wenn der Vietnamkrieg erst einmal vorbei sei; das sei »nur eine Frage der Zeit«, wie ihr von zuständiger Stelle versichert worden war.) Zu Tony Angel hatte Yi-Yiing gesagt, dies sei für sie nicht der geeignete Zeitpunkt, »eine romantische Beziehung« einzugehen. Das war vermutlich Musik in seines Vaters Ohren, dachte Danny damals. Wenn man Yi-Yiings heroisches Vorhaben bedachte, so war der
Koch für sie ein beruhigender und anspruchsloser Partner. Da ein so großer Teil seines Lebens untergegangen und in der Vergangenheit verschwunden war, war auch Tony Angel nicht gerade auf der Suche nach einer »romantischen Beziehung«. Dass Tonys Enkel im gleichen Alter wie Yi-Yiings Tochter war, weckte bei der Krankenschwester außerdem mütterliche Gefühle für den kleinen Joe. Danny und sein Dad mussten immer auch an Joe denken, wenn sie neue Frauen in ihr Leben ließen. Danny hatte Yi-Yiing gemocht - was zu einem großen Teil auch daran lag, wie rührend sie sich um Joe kümmerte -, heikel allerdings war, dass Yi-Yiing in Dannys Alter war und er sich zu ihr hingezogen fühlte. In diesen drei Jahren hatten Danny und sein Dad nacheinander drei verschiedene Häuser in der Court Street in Iowa City gemietet - alles Häuser von Professoren, die gerade ihr
Sabbatical nahmen. Die Court Street war eine baumbestandene, von großen zweistöckigen Häusern gesäumte Straße, eine Art Dozentenghetto. Außerdem war die Longfellow-Grundschule, in der Joe die zweite, dritte und vierte Klasse besuchte, von dort aus gefahrlos zu Fuß zu erreichen. Die Court Street lag ein wenig außerhalb der Innenstadt, und Danny musste nie an der Iowa Avenue vorbei, wo er früher mit Katie gewohnt hatte - jedenfalls nicht auf dem Weg zu oder von dem Englisch-Philosophie-Bau am Iowa River (dem sogenannten epb, wo der Autorenworkshop untergebracht war und Danny sein Büro hatte). So geräumig die Mietshäuser an der Court Street auch waren, Danny schrieb nicht zu Hause - hauptsächlich wegen Yi-Yiings unregelmäßiger Arbeitszeiten in der Notaufnahme des Mercy Hospital. Häufig schlief sie bis mittags im Zimmer des Kochs, dann kam sie in ihrem Seidenpyjama runter in
die Küche und machte sich etwas zu essen. Wenn sie nicht im Krankenhaus arbeitete, sah man Yi-Yiing nur in ihren aufreizenden Pyjamas aus Hongkong. Danny brachte Joe gern zu Fuß in die Schule und ging anschließend zum Schreiben in den Englisch-Philosophie-Bau. Wenn seine Bürotür zu war, wussten seine Studenten und Dozentenkollegen, dass er nicht gestört werden wollte. (Yi-Yiing war klein von Statur, aber erstaunlich stämmig, sie hatte ein hübsches Gesicht und langes, rabenschwarzes Haar. Sie besaß Unmengen von Seidenpyjamas in einer Vielzahl leuchtender Farben; Danny erinnerte sich, dass selbst ihre schwarzen Pyjamas zu leuchten schienen.) Dieser zusammenhanglos eingeschobene Gedanke - das verführerische Bild von YiYiing in ihrem leuchtenden Pyjama, wie sie schlafend auf dem Bett seines Vaters lag verfolgte ihn bis weit in den Vormittag und lenkte ihn hartnäckig vom Schreiben ab. Yi-
Yiing und ihre Pyjamas, oder deren betörende Allgegenwart, begleiteten Danny bis in den Englisch-Philosophie-Bau. »Mir ist unbegreiflich, wie du in einem so sterilen Gebäude schreiben kannst«, sagte der Schriftsteller Raymond Carver über das epb. Ray war damals Danny Angels Kollege im Autorenworkshop. »Es ist nicht so ... steril, wie du vielleicht glaubst«, sagte Danny zu Ray. Ein anderer Schriftstellerkollege, John Cheever, verglich das epb mit einem Hotel »für Kongresse und Tagungen«, doch Danny mochte sein Büro im dritten Stock. Morgens standen die Büros und Seminarräume des Autorenworkshops meist leer. Außer der Institutssekretärin war nie jemand da, und sie war gut darin, Nachrichten entgegenzunehmen und Anrufer - außer den kleinen Joe oder Dannys Dad - abzuwimmeln.
Von ästhetischen Gesichtspunkten einmal abgesehen gefallen Schriftstellern meistens die Orte, wo sie gut arbeiten können. Tagsüber, solange Joe sicher in der Schule war, liebte Danny das epb inzwischen geradezu. Im dritten Stock war es still, eine regelrechte Oase der Ruhe - vorausgesetzt, Danny ging im Laufe des Nachmittags wieder. Schriftsteller schreiben gewöhnlich nicht nur über Positives, oder?, dachte Danny Angel, während er im Avellino in sein Notizbuch kritzelte und ihm Iowa City nicht aus dem Kopf ging. »Das Baby auf der Straße«, hatte er geschrieben eventuell eine Kapitelüberschrift, aber dahinter steckte mehr. Er hatte »Das« durchgestrichen und stattdessen »Ein Baby auf der Straße« geschrieben, doch ihm gefiel keiner der Artikel, und rasch strich er das »Ein« ebenfalls durch. Etwas weiter oben auf derselben Seite des Notizbuchs fand sich ein weiterer Beleg für die Abneigung des Schriftstellers gegen
Artikel - »Der blaue Mustang« hatte er zu »Blauer Mustang« korrigiert. (Vielleicht sollte er es bei »Baby auf der Straße« bewenden lassen?) Wer die Miene des einundvierzigjährigen Schriftstellers sah, der merkte, dass es hier um etwas Wichtigeres und auch Schmerzhafteres ging als um die Suche nach einer Überschrift. Dot und May kam der bekümmert wirkende junge Schriftsteller merkwürdig attraktiv und vertraut vor; sie beobachteten ihn aufmerksam, während sie auf ihr Essen warteten. In Ermangelung von Schildern, die sie hätte vorlesen können, war May vorübergehend verstummt, doch Dot flüsterte ihrer Freundin zu: »Egal, was er da schreibt, Spaß macht es ihm nicht.« »Ich wüsste schon, wie ich dafür sorgen könnte, dass er Spaß hat!«, flüsterte May zurück, und beide Frauen verfielen wieder in ihr typisches Gegacker.
Zu diesem Zeitpunkt brauchte es einiges, um Danny vom Schreiben abzulenken. Der blaue Mustang und das Baby auf der Straße schlugen den Schriftsteller fast vollständig in ihren Bann; dass das eine oder das andere eine gute Überschrift abgeben könnte, war dabei Nebensache. Der blaue Mustang und das Baby auf der Straße setzten Dannys Phantasie in Gang, und sie bedeuteten ihm viel mehr als irgendeine Überschrift. Doch das auffällige Gegacker der beiden alten Frauen ließ Danny von seinem Notizbuch aufschauen, worauf Dot und May rasch wegsahen. Sie hatten ihn angeglotzt - so viel stand für Danny fest. Er hätte schwören können, dass er das eigentümlich hämische Lachen dieser dicken Frauen schon einmal gehört hatte. Aber wo und wann? Offenbar war es zu lange her, als dass Danny sich daran erinnern konnte, zumal ihn frischere, unauslöschliche Details nicht losließen, der rasende blaue Mustang und das
wehrlose Baby auf der Straße. Danny war weit entfernt von jenem Zwölfjährigen in der Kochhausküche, für den Dots und Mays Gegacker so alltäglich gewesen war wie Punkt, Komma und Strich. Der Schriftsteller widmete seine ungeteilte Aufmerksamkeit wieder dem Notizbuch; seine Phantasie kreiste um Iowa City, doch er war jener Zeit in Twisted River näher, als er ahnte. In ihrem ersten Jahr in der Court Street gewöhnten sich Danny, sein Dad und Joe allmählich an Yi-Yiing und ihre leuchtenden Pyjamas. Yi-Yiing hatte ihren Dienst im Krankenhaus so eingeteilt, dass sie meist zu Hause war, wenn Joe aus der Schule kam. Das war noch vor Joes Fahrradphase, und zu jener Zeit hatte Danny nur flüchtige Liebschaften, höchst selten einmal blieb eine Frau über Nacht. Der Koch brach immer nachmittags ins Mao's auf - wenn er nicht gerade mit Xiao Dee
Cheng auf dem Weg nach New York oder von dort zurück war. An den Abenden, an denen Tony Angel unterwegs war, blieb Yi-Yiing nicht in der Court Street. Ihre Wohnung in der Nähe des Mercy Hospital hatte sie behalten, vielleicht hatte sie schon immer gespürt, dass Danny sich zu ihr hingezogen fühlte, und wollte ihn nicht ermutigen. Ihre ganze Zuneigung galt dem Koch und dem kleinen Joe. Sie hatte Danny als Erste darauf angesprochen, dass Joe neuerdings mit dem Rad zur Schule fuhr. Mittlerweile waren sie alle in das zweite Haus in der Court Street umgezogen; dort waren sie der Muscatine Avenue mit ihrem Berufsverkehr zwar näher, doch von der Court Street aus gelangte man auf kleinen Seitenstraßen bis zur LongfellowGrundschule. Dennoch sollte Danny, so YiYiing, Joe ermahnen, nur ja immer auf dem Gehsteig zu bleiben - und beim Überqueren der Straße solle der Junge sein Rad unbedingt
schieben, sagte sie. »Hier werden andauernd Kinder angefahren, die mit dem Rad unterwegs sind«, sagte YiYiing zu Danny. Er versuchte, nicht zu beachten, welchen Pyjama sie gerade anhatte, und sich stattdessen lieber auf die Worte der erfahrenen Krankenschwester zu konzentrieren. »In der Notaufnahme kriege ich ständig welche zu sehen - erst gestern Nacht wieder ein Junge«, sagte sie. »War er nachts mit dem Fahrrad unterwegs?«, fragte Danny nach. »Als er auf der Dodge Street angefahren wurde, war es noch hell, er musste aber die ganze Nacht in der Notfallstation bleiben«, sagte Yi-Yiing. »Wird er wieder gesund?«, fragte Danny. Yi-Yiing schüttelte den Kopf; sie machte sich gerade einen Tee, und zwischen ihren Lippen klemmte wie eine Zigarette ein Streifen Toast.
Joe war krank aus der Schule nach Hause gekommen, und Danny hatte sich am Küchentisch installiert und geschrieben. »Sieh zu, dass Joe mit dem Rad auf dem Gehsteig bleibt«, sagte Yi-Yiing, »und wenn er in die Innenstadt will - oder ins Schwimmbad, in den Zoo oder in den Stadtpark -, dann sorg um Himmels willen dafür, dass er zu Fuß geht oder den Bus nimmt.« »In Ordnung«, sagte Danny. Yi-Yiing setzte sich zu ihm an den Tisch, mit dem Tee und dem Rest von ihrem Toast. »Wieso bist du zu Hause?«, fragte sie. »Ich bin doch heute da! Du kannst ruhig in dein Büro gehen und dort schreiben. Ich bin Krankenschwester, Danny, bei mir ist Joe in guten Händen.« »In Ordnung«, wiederholte Danny. Konnte Joe eigentlich noch sicherer aufgehoben sein?, fragte sich der Schriftsteller. Schließlich kümmerte sich eine Krankenschwester um ihn,
von den zwei japanischen Babysitterinnen ganz zu schweigen. Abends arbeiteten der Koch und seine Krankenschwester meist; dann blieb entweder Danny zu Hause, oder eine der japanischen Zwillingsschwestern passte auf Joe auf. Die Eltern von Sao und Kaori stammten aus Yokohama, doch die Zwillinge waren in San Francisco geboren und aufgewachsen. Eines Abends hatte der Koch sie aus dem Mao's mit nach Hause gebracht; er hatte Danny geweckt, um ihm die Zwillinge vorzustellen, dann hatte er Sao und Kaori in Joes Zimmer geführt, damit sie einen Blick auf den schlafenden Jungen werfen konnten. »Seht ihr?«, flüsterte Tony den Zwillingen zu, während Danny verstört und schlaftrunken in seinem Bett lag. »Dieses Kind ist ein Engel - absolut pflegeleicht.« Der Koch war dagegen, dass Danny Studenten aus seinem Workshop bat, auf Joe
aufzupassen. Dannys Studenten waren Schriftsteller - und folglich, wie Tony glaubte, mit den Gedanken oft woanders. »Junge Schriftsteller leben schließlich in ihrer Phantasie, nicht wahr?«, hatte der Koch seinen Sohn gefragt. (Wie Danny wusste, hatte sein Dad allem, was mit Phantasie zusammenhing, schon immer misstraut.) Außerdem hatten diese jungen Schriftsteller alle schon einen ersten Uniabschluss, und viele waren auch noch älter als die üblichen Graduierten. »Sie sind zu alt, um gute Babysitter zu sein!«, hatte der Koch erklärt. Diese Theorie war Danny neu, doch er mochte Sao und Kaori, die eineiigen Zwillinge - auch wenn er sie einfach nicht auseinanderhalten konnte. (Joe dagegen gelang es im Laufe der Zeit, und nur darauf kam es schließlich an.) »Die Yokohamas«, wie Danny die Zwillinge insgeheim nannte - als wäre Yokohama ihr Nachname -, waren Studentinnen, die nebenbei als Kellnerinnen im Mao's arbeiteten.
Iowa City bekam durch sie einen ausgesprochen asiatischen Touch - nicht nur für den Koch, sondern auch für Danny und den jungen Joe. Untereinander redeten die Zwillinge japanisch, was Joe mochte, doch Danny fand es irritierend. An den meisten Abenden aber, wenn Sao im Mao's kellnerte und Kaori auf Joe aufpasste (oder umgekehrt), wurde kein Japanisch gesprochen. Yi-Yiing gegenüber waren die Yokohamas zunächst respektvoll-distanziert. Ihr Krankenhaus-Dienstplan erlaubte ihr nur selten, gleichzeitig mit Sao oder Kaori zu Hause zu sein. Eher noch liefen sie einander im Mao's über den Weg, wo Yi-Yiing gelegentlich spät (und allein) zu Abend aß selten allerdings, denn sie zog die Nachtschicht in der Notaufnahme der Tagschicht vor. Eines Abends, Xiao Dee hatte als Oberkellner Dienst, hielt er Yi-Yiing irrtümlich für eine
neue Kellnerin. »Du bist spät dran!«, sagte er zu ihr. »Ich bin Gast. Ich habe einen reserviert«, entgegnete Yi-Yiing.
Tisch
»Mist - Sie sind Tonys Krankenschwester!«, sagte Xiao Dee. »Tony ist noch zu jung, er braucht keine Krankenschwester«, hatte Yi-Yiing erwidert. Später versuchte der Koch, Xiao Dee in Schutz zu nehmen. (»Er ist ein prima Fahrer, aber ein mieser Oberkellner.«) Doch Yi-Yiing reagierte beleidigt. »Für die Amerikaner bin ich Vietnamesin, und irgendein Schanghaier Trottel aus Queens hält mich für eine Kellnerini«, sagte sie zu Tony. Leider hörte eine der japanischen Zwillinge, die ja Kellnerin - und zu diesem Zeitpunkt auch Joes Babysitterin - war, zufällig YiYiings Bemerkung mit. »Was ist denn so
schlimm daran, Kellnerin zu sein?«, wollte Sao oder Kaori von der Krankenschwester wissen. Auch die japanischen Zwillinge hatte man in Iowa City schon für vietnamesische »Kriegsbräute« gehalten. In ihrer Heimatstadt San Francisco, hatte Sao oder Kaori Danny erzählt, könnten die meisten Leute Japaner und Vietnamesen auseinanderhalten, aber im Mittleren Westen offenbar nicht. Was sollte Danny, wenn er ehrlich war, zu diesem peinlichen Alle-in-einen-Topf-Werfen schon sagen? Schließlich konnte er selbst Sao und Kaori immer noch nicht auseinanderhalten! (Und nachdem Yi-Yiing das Wort Kellnerin so abfällig verwendet hatte, wurde die respektvolle Distanz der Yokohamas gegenüber der Krankenschwester aus Hongkong noch distanzierter.) »Wir sind alle eine glückliche Familie«, behauptete Danny später vor einer seiner
älteren Studentinnen. Youn war eine aus Seoul stammende Schriftstellerin, die im zweiten Jahr nach seiner Rückkehr nach Iowa City an Dannys Literaturworkshop teilnahm. Zu den Studenten gehörten damals auch ein paar, ebenfalls ältere, Vietnamveteranen und einige Autorinnen, die ihre literarische Laufbahn unterbrochen hatten, um zu heiraten, Kinder zu kriegen und sich scheiden zu lassen. Diese älteren Graduierten hatten den jüngeren Autoren, die gleich nach dem College an den Autorenworkshop kamen, etwas voraus: Die Alteren hatten Dinge erlebt, über die sie schreiben konnten; sie hatten etwas zu erzählen. Auf Youn traf das gewiss zu. Man hatte sie in Seoul zu einer Ehe gezwungen - »praktisch zwangsverheiratet«, wie sie es in dem Roman, an dem sie damals schrieb, zuerst formuliert hatte. Danny hatte sich an dem praktisch gestoßen.
»Entweder war es eine Zwangsheirat oder nicht, stimmt's?«, hatte er zu Youn gesagt. Ihre Haut war weiß wie Milch. Die schwarzen Haare trug sie kurz, dazu einen Pony, unter dem sie mit ihren großen dunkelbraunen Augen wie ein zartes Waisenkind aussah, obwohl Youn über dreißig war - genauso alt wie Danny. Ihre Bemühungen, ihren Nochehemann dazu zu bewegen, sich von ihr scheiden zu lassen (wenn sie sich selbst von ihm hätte scheiden lassen, hätte sie sich »endlosem koreanischem Behördenkram« aussetzen müssen), sorgten in ihrem noch unvollendeten Roman für eine immer verworrenere Handlung. Sofern man ihrer Lebensgeschichte oder ihrem Roman überhaupt Glauben schenken konnte, hatte der Schriftsteller Danny Angel gedacht. Als er sie kennengelernt und die ersten Kapitel gelesen hatte, wusste Danny nicht recht, ob er ihr trauen konnte - als Frau oder als
Schriftstellerin. Doch er mochte sie, von Anfang an, und sein aufkeimendes Interesse an Youn hatte wenigstens seine unschicklichen Phantasien reduziert, die sich um die Freundin seines Vaters und ihre zahllosen Pyjamas drehten. »Tja«, hatte der Koch zu seinem Sohn gesagt, nachdem Danny ihm Youn vorgestellt hatte, »wenn es in diesem Haus schon eine chinesische Krankenschwester und zwei junge Japanerinnen gibt, warum nicht auch eine koreanische Schriftstellerin?« Doch sie alle verheimlichten etwas, oder etwa nicht? Der Koch und sein Sohn jedenfalls behielten für sich, dass sie auf der Flucht waren. Bei der chinesischen Krankenschwester seines Dads hatte Danny den Eindruck, dass sie irgendetwas verschwieg. Und von seiner koreanischen Schriftstellerin wusste Danny, dass sie mit Bedacht vieles im Unklaren ließ und zwar nicht nur in ihrer Prosa.
An den japanischen Babysitterinnen gab es nichts auszusetzen. Sie waren dem kleinen Joe von Herzen zugetan, und mit dem Koch verband sie, durch die gemeinsame Arbeit in dem anspruchsvollen Chaos aus asiatischer und französischer Küche im Mao's, eine herzliche Kameradschaft. Nicht dass Yi-Yiings ausgeprägtes Interesse an Joe gespielt gewesen wäre - die Krankenschwester war wirklich eine gute Seele. Aber ihre Beziehung mit dem Koch war eine Art Kompromiss, vielleicht für beide. Tony Angel ließ sich schon lange nicht mehr ernsthaft auf Frauen ein, doch gleichzeitig ließ er nichts anbrennen; eigentlich hätte Yi-Yiing Tonys kurze Romanzen mit den durchreisenden Frauen, die er auf den Partys des Autorenworkshops kennenlernte, nicht akzeptieren dürfen, doch selbst das nahm die Krankenschwester hin. Yi-Yiing wohnte gern mit einem Jungen unter einem Dach, der so alt
wie ihre abwesende Tochter war; sie war froh, für irgendwen die Mutter zu spielen. Den Männerhaushalt des Kochs empfand Yi-Yiing vielleicht auch als unkonventionell, als Abenteuer - das sie wohl hinter sich lassen müsste, wenn ihre Tochter und ihre Eltern endlich zu ihr nach Amerika kamen. Den forschen jungen Ärzten im Mercy Hospital, die sich nach ihrer Situation erkundigten - War sie verheiratet? Hatte sie einen festen Freund? -, antwortete Yi-Yiing zu deren Überraschung immer: »Ich lebe mit dem Schriftsteller Danny Angel zusammen.« Offenbar gefiel ihr diese Antwort, und zwar nicht bloß, weil man sie anschließend in Ruhe ließ, denn nur gegenüber ihren engeren Freundinnen und Bekannten ergänzte YiYiing: »Also, in Wirklichkeit bin ich mit Dannys Vater zusammen. Er ist Koch im Mao's - nicht der chinesische.« Doch der Koch begriff, dass Yi-Yiing es nicht leicht hatte eine Frau von Anfang dreißig, die weit weg
von ihrer Heimat ein unbeständiges Leben führte und eine Tochter hatte, die sie nur von Fotos kannte. Jemand, der im Mercy Hospital arbeitete, sagte einmal auf einer Fete zu Danny: »Oh, ich kenne Ihre Freundin.« »Welche Freundin?«, hatte Danny gefragt; das war, bevor Youn in seinem Literaturworkshop auftauchte und (bald darauf) in das Haus an der Court Street zog. »Yi-Yiing sie Krankenschwester im -«
ist
Chinesin,
»Das ist die Freundin meines Dads«, sagte der Schriftsteller rasch. »Ach...« »Was ist nur mit Yi-Yiing los?«, hatte Danny später seinen Vater gefragt. »Offenbar denken manche Leute, sie sei mit mir zusammen.« »Ich stelle Yi-Yiing keine Fragen, Daniel, und
sie stellt mir keine«, bemerkte der Koch. »Und kann sie nicht phantastisch mit Joe umgehen?« Beide wussten sehr gut, dass Danny damals in Vermont genau dieses Argument ins Feld geführt hatte, als es um Franky ging, seine ehemalige Studentin am Windham College dennoch war es seltsam, dachte Danny. Hatte der Koch, der bald fünfzig wurde, mehr von einem Bohemien an sich als sein Sohn, der Schriftsteller (wenigstens bis Youn in das zweite Haus an der Court Street zog)? Und was stimmte eigentlich mit diesem Haus nicht? Es war groß genug für sie alle, daran lag es nicht. Es gab genug Räume, so dass jeder sein eigenes Schlafzimmer hätte haben können; Youn benutzte eines der Zimmer zum Schreiben und für ihre Siebensachen. Für eine Frau von über dreißig, die keine eigenen Kinder und eine undurchschaubare koreanische Scheidung hinter sich hatte -
wenigstens war sie in ihrem unvollendeten Roman »undurchschaubar«, wie Danny fand -, besaß Youn erstaunlich wenig Sachen. Hatte sie alles in Seoul zurückgelassen, nicht nur ihren offenbar furchterregenden Exmann? »Ich bin Studentin«, hatte sie zu Danny gesagt. »Das ist ja das Befreiende, wenn man wieder studiert - ich habe überhaupt keine Sachen.« Eine kluge Antwort, dachte Danny, doch er wusste nicht, ob er ihr glauben sollte. Im Frühjahr 1973, als Joe in die dritte Klasse kam, bewahrte der Koch auf der Veranda hinter ihrem Haus in Iowa City eine Kiste Äpfel auf. Von der Veranda aus sah man auf eine schmale, gepflasterte Gasse, die hinter der langen Reihe von Häusern verlief, deren Fassaden in Richtung Court Street zeigten. Die Gasse wurde offenbar ausschließlich von der Müllabfuhr benutzt. Nur gelegentlich fuhr langsam ein Auto vorbei und - häufiger, sogar
andauernd - Kinder auf Fahrrädern. Auf dem selten befahrenen Pflaster lag etwas Sand oder Kies, so dass die Kids auf ihren Fahrrädern rutschen üben konnten. Joe war in dieser Gasse einmal von seinem Rad gefallen. YiYiing hatte die Schürfwunde am Knie des Jungen gereinigt. Die Veranda mit Blick auf die Gasse ging von der Küche ab, und irgendetwas fraß die Äpfel, die der Koch dort draußen aufbewahrte - ein Waschbär, vermutete Danny zuerst, doch tatsächlich war es ein Opossum, und als Joe eines Abends auf die Veranda ging, um sich einen Apfel zu holen, und mit einer Hand in die Kiste griff, jagte ihm das Opossum einen Schreck ein. Es knurrte, zischte oder fauchte, was den Jungen so verängstigte, dass er nicht einmal genau wusste, ob ihn das primitiv aussehende Tier gebissen hatte. Danny fragte immer nur: »Hat es dich gebissen?« (Er untersuchte Joes Arme und
Hände zwanghaff nach Bissspuren.) »Ich weiß es nicht!«, heulte der Junge. »Es war weiß und rosa und sah schrecklich aus! Was war das?« »Ein Opossum«, wiederholte Danny immer wieder; er hatte es davonschleichen sehen. Opossums waren hässliche Tiere. Als Joe an diesem Abend einschlief, ging Danny in das Zimmer des Jungen und sah ihn sich noch einmal genau an. Er wünschte, YiYiing wäre zu Hause, doch sie hatte Dienst. Sie als gute Krankenschwester hätte sagen können, ob Opossums manchmal Tollwut hatten - so wie häufig die Waschbären in Vermont -, und sie hätte auch gewusst, was zu tun wäre, falls das Tier Joe gebissen hatte, doch Danny fand an dem perfekten Körper seines Sohnes nirgends einen Bissabdruck. Youn hatte in der offenen Tür des Kinderzimmers gestanden und beobachtet, wie
Danny nach Spuren eines Tierbisses suchte. »Würde Joe es nicht wissen, wenn er gebissen worden wäre?«, fragte sie. »Dazu war er zu erschrocken und zu verängstigt«, antwortete Danny. Youn musterte den schlafenden Jungen, als betrachte sie ein wildes oder unbekanntes Tier, und Danny fiel auf, dass sie Joe oft konsterniert und fasziniert ansah, als käme sie aus einer anderen Welt. Während Yi-Yiing einen Narren an Joe gefressen hatte, weil sie sich nach ihrer gleichaltrigen Tochter sehnte, betrachtete Youn Joe mit einer Art Verständnislosigkeit, als wäre sie noch nie in der Nähe von Kindern egal welchen Alters gewesen. Wenn man wiederum ihrer Geschichte (oder ihrem Roman) glauben konnte, so hatte sie ihren Mann dazu gebracht, in eine Scheidung einzuwilligen - und, was am wichtigsten war, diesen offenbar komplizierten Vorgang in die Wege zu leiten -, weil sie einfach nicht
schwanger wurde und kein Kind bekam. Denn das war die verwickelte Handlung ihres Romans: Ihr Ehemann nahm an, dass sie versuchte, schwanger zu werden, obwohl sie die ganze Zeit die Antibabypille nahm und ein Diaphragma verwendete, also alles unternahm, um nicht schwanger zu werden und kein Kind zu bekommen. Youn schrieb ihren Roman auf Englisch, nicht auf Koreanisch, und ihr Englisch war ausgezeichnet, wie Danny fand; auch die Handlung war gut, obwohl gewisse koreanische Eigenheiten verwirrend blieben. (Was genau hatte es mit dem koreanischen Scheidungsrecht auf sich? Warum dieses absurde Theater, so zu tun, als wolle sie schwanger werden? Zumal Youn nach eigenen Aussagen die Pille nur widerwillig genommen hatte.) Der Ehemann - letztlich der Exmann, wie Danny annahm - in Youns Roman war eine
Art Mischung aus Gangster und Geschäftsmann. Vielleicht war er ein gutbezahlter Auftragskiller, oder er beauftragte andere, subalterne Killer damit, die Drecksarbeit für ihn zu erledigen; bei seiner Lektüre von Youns unfertigem Roman hatte Danny das nicht herausgefunden. Dass der Ehemann gefährlich war - in Youns wahrem Leben und in ihrem Buch -, lag auf der Hand. Was die sexuellen Details betraf, konnte Danny nur spekulieren. Trotz Youns Versuchen, ihren Gatten zu dämonisieren, hatte man irgendwie Verständnis für ihn; der arme Mann hielt es für seine Schuld, dass seine durchtriebene Frau nicht schwanger wurde. Es war auch nicht hilfreich, dass Youn Danny nachts im Bett die übelsten Details ihrer erbärmlichen Ehe erzählte - insbesondere von dem unstillbaren Sexhunger ihres Mannes. (Er wollte dich ja auch schwängern, oder nicht?, hätte Danny sie am liebsten gefragt, ließ es
aber sein. Vielleicht war Sex aber auch für Youn und für ihren unseligen Mann eine lästige Pflichtübung gewesen. Die Einzelheiten ihres Romans und was sie Danny im Dunkeln erzählte, verschwammen in seiner Erinnerung - oder war es ohnehin austauschbar?) Müsste der fiktive Ehemann, der kaltblütige Killer und Geschäftsmann ihres Romans, nicht anders heißen als ihr richtiger Exmann?, hatte Danny Youn gefragt. Was wäre, wenn ihr ehemaliger Angetrauter ihren Roman las? (Mal angenommen, sie fände einen Verlag.) Würde er dann nicht erfahren, wie sie ihn hinters Licht geführt hatte, wie sie während ihrer Ehe alles darangesetzt hatte, nicht schwanger zu werden? »Mein früheres Leben ist vorbei«, antwortete ihm Youn dunkel. Jetzt schien sie Sex nicht mehr als Pflichtübung zu betrachten, obwohl Danny manchmal auch darüber ins Grübeln
kam. Mit ihren wenigen Habseligkeiten ging Youn außerordentlich penibel um. Ihre Toilettenartikel bewahrte sie sogar in dem winzigen Bad neben dem unbenutzten Zimmer auf, in dem sie schrieb, und ihre Kleidungsstücke im Schrank und in der einzigen Kommode besagten Zimmers. Als Youn einmal nicht da war, hatte Danny einen Blick in das Medizinschränkchen in ihrem Badezimmer geworfen. Dabei sah er ihre Antibabypillen - die sie sich in Iowa City hatte verschreiben lassen. Danny benutzte immer ein Kondom. Es war eine alte Angewohnheit - und keine schlechte, denn er hatte in der Vergangenheit gelegentlich mehr als eine Sexualpartnerin auf einmal gehabt. Doch Youn hatte ihm einmal, fast beiläufig, gesagt: »Danke, dass du Kondome benutzt. Ich habe in meinem Leben unendlich viele Antibabypillen geschluckt und
möchte nie wieder welche nehmen.« Und doch nahm sie welche, oder? Nun, wenn Dannys Dad Yi-Yiing keine Fragen stellte, warum sollte Danny von Youn Antworten auf alles erwarten? War nicht auch ihr Leben kompliziert gewesen? In diese gleichgültige Welt ungestellter oder unbeantworteter Fragen - die nicht nur Asiatinnen betrafen, sondern auch einige langjährige Geheimnisse zwischen dem Koch und seinem Schriftstellersohn - brach ein blauer Mustang ein und machte ihnen allen (wenn auch nur vorübergehend) die unvorhersehbare Natur der Dinge deutlich. Samstags morgens im Herbst, wenn das Footballteam der Universität Iowa ein Heimspiel hatte, hörte Danny die IowaKapelle spielen - ohne je zu wissen, wo. Wenn die Band im Kinnick Stadium probte, dort oben auf der anderen Flussseite, hätte er die Musik dann noch in so weiter Entfernung
hören können, in der Court Street, im Osten der Stadt? Es war ein strahlend schöner Samstag, und Danny hatte Eintrittskarten besorgt, um mit Joe zu dem Footballspiel zu gehen. Er war früh aufgestanden und hatte dem Jungen Pfannkuchen gebacken. Am Freitagabend hatte der Koch noch spät im Mao's gearbeitet, und am Samstagabend nach einem Footballspiel würde es noch später werden. An diesem Morgen lag Dannys Dad noch im Bett, genau wie Yi-Yiing nach ihrer Spätschicht im Mercy Hospital. Danny rechnete nicht damit, die Pyjama-Lady vor dem Mittag zu sehen. Joes Freund Max aus der dritten Klasse der Longfellow-Grundschule, ein Professorensohn aus der Nachbarschaft, hatte Yi-Yiing als Erster Pyjama-Lady genannt. (Der Achtjährige konnte sich Yi-Yiings Namen nicht merken.) Danny spülte sein und Joes Frühstücksgeschirr, während Joe draußen mit
Max spielte. Die beiden fuhren wieder in der Gasse hinter dem Haus Rad. Sie hatten ein paar Äpfel aus der Kiste auf der Veranda herausgenommen, aber nicht, um sie zu essen. Die Jungs benutzten die Äpfel als Slalomtore, wie Danny später erfuhr. Er mochte Max, aber der Knabe fuhr mit dem Rad in der ganzen Stadt herum; da Joe das nicht durfte, kam es zu Spannungen zwischen ihm und Danny. Max war ein leidenschaftlicher Sammler von Plakaten, Aufklebern und Aufnähern mit Bierwerbung. Dutzende davon hatte er Joe geschenkt, und Joe hatte Yi-Yiing überredet, diverse Biermarkenlogos auf seine Jeansjacke zu nähen; die Sticker klebte Joe auf den Kühlschrank, und die Poster hängte er in seinem Zimmer auf. Es war irgendwie komisch, fand Danny, und absolut harmlos, schließlich tranken die Achtjährigen ja kein Bier. Von dem Auto blieb Danny vor allem das
plötzliche Reifenquietschen in Erinnerung; er sah nur einen verschwommenen blauen Schatten hinter dem Küchenfenster vorbeiflitzen. Der Schriftsteller rannte auf die Veranda, von der er bisher gedacht hatte, dort wäre die einzige Gefahr für seinen Sohn ein Opossum. »Joe!«, schrie Danny, hörte aber keine Antwort - nur den Lärm, als der blaue Wagen am anderen Ende der Gasse ein paar Mülleimer umfuhr. »Mr. Angel!«, hörte Danny Max rufen. Der Junge stieg fast nie von seinem Rad, doch diesmal sah Danny ihn laufen. Etliche der als Slalomtore zweckentfremdeten Äpfel lagen zerquetscht in der Gasse. Danny sah die Räder der beiden Jungs auf dem Boden liegen, abseits der Fahrbahn; Joe lag in Embryonalstellung zusammengekrümmt neben seinem Rad. Danny erkannte, dass Joe bei Bewusstsein und offenbar mehr erschrocken als verletzt war.
»Hat er dich angefahren? Hat der Wagen dich angefahren?«, fragte er seinen Sohn. Dieser schüttelte rasch den Kopf, bewegte sich aber nicht weiter, sondern blieb einfach fest zusammengerollt liegen. »Wir sind gestürzt, als wir dem Mustang ausweichen wollten - er kam direkt auf uns zu«, sagte Max zu Danny. »Es war der blaue Mustang, der fährt immer zu schnell. Das muss eine Speziallackierung sein, es ist so ein komisches Blau.« »Du hast das Auto schon mal gesehen?«, fragte Danny. (Max kannte sich offensichtlich mit Autos aus.) »Schon, aber nicht hier, nicht in der Gasse«, sagte der Junge. »Hol die Pyjama-Lady, Max«, befahl Danny. »Du findest sie schon. Sie ist oben, bei meinem Paps.« Danny hatte seinen Dad noch nie »Paps« genannt; dass er das Wort nun
verwendete, hing wohl mit dem Schock dieses Erlebnisses zusammen. Er kniete neben Joe und traute sich fast nicht, ihn zu berühren. Der Junge bibberte. Er glich einem Fötus, der unbedingt wieder in den Mutterleib zurückwollte, dachte der Schriftsteller. »Joe? Tut dir irgendwas weh? Ist etwas gebrochen? Kannst du dich bewegen?« »Den Fahrer konnte ich nicht sehen. Es war nur ein Auto«, sagte Joe, der sich, von dem Zittern abgesehen, immer noch nicht bewegte. Wahrscheinlich hatte die Windschutzscheibe das Sonnenlicht reflektiert, dachte Danny. »Bestimmt irgendein Jugendlicher«, sagte Danny. »Es gab keinen Fahrer«, bekräftigte Joe. Später würde Max behaupten, den Fahrer nie gesehen zu haben, obwohl er den blauen Mustang schon ein paarmal durch die Gegend hatte rasen sehen.
»Pyjama-Lady!«, hörte Danny Max rufen. »Paps!« Der Koch hatte sich neben der schlaftrunkenen Yi-Yiing im Bett aufgesetzt. »Was meinst du, wer >Paps< ist?«, fragte er sie. »Vermutlich bin ich die Pyjama-Lady«, antwortete Yi-Yiing mit schläfriger Stimme. »Dann musst du Paps sein.« Als Yi-Yiing und der Koch erfuhren, dass Joe vom Rad gefallen war und ein Auto etwas damit zu tun hatte, gab es eine ziemliche Aufregung. Bestimmt würde Max nie vergessen, wie rasch die Pyjama-Lady barfuß zu der Unfallstelle gelaufen war, wo Joe mittlerweile saß und in den Armen seines Vaters hin- und herschaukelte. Der Koch brauchte wegen seines Hinkens länger; unterdessen hatte Youn die Arbeit an ihrem Roman unterbrochen, um zu sehen, was los war.
Die elegant gekleidete Dame vom anderen Ende der Gasse - deren Mülleimer der davonrasende blaue Mustang umgefahren hatte - näherte sich ängstlich. Sie war schon älter und gebrechlich, wollte aber nachsehen, ob die radfahrenden Jungs wohlauf waren. Wie Max hatte auch die würdevolle alte Dame den blauen Mustang schon früher in der Gegend gesehen - aber nie den Fahrer. »Was ist es für ein Blau?«, fragte Danny sie. »Kein gewöhnliches Blau - es ist zu blau«, lautete ihre Antwort. »Das ist eine Speziallackierung, Mr. Angel, hab ich Ihnen doch gesagt«, schaltete sich Max ein. »Dir ist nichts passiert, dir ist nichts passiert«, sagte Yi-Yiing immer wieder zu Joe. Sie tastete den Jungen am ganzen Körper ab. »Du hast dir doch nicht am Kopf weh getan, oder?«, fragte sie ihn; er schüttelte den Kopf.
Dann fing sie an, ihn zu kitzeln, vielleicht um sie beide abzulenken. An diesem Morgen war ihr Hongkonger Pyjama in einem fluoreszierenden Fischschuppengrün gehalten. »Es ist alles gut, nicht wahr?«, fragte Youn Danny. Die geschiedene Koreanerin wollte zurück an ihren Schreibtisch und weiterschreiben. Nein, es ist nicht alles »gut«, dachte der Schriftsteller Danny Angel - nicht solange der fahrerlose blaue Mustang frei durch die Gegend raste -, doch er lächelte sie (Youn war ebenfalls barfuß, trug aber ein T-Shirt und Jeans) und seinen besorgt wirkenden Vater an. Offenbar war der Koch im ersten Stock nackt in den Flur gehumpelt, ehe er merkte, dass er nichts anhatte, er trug nämlich nur eine von Dannys kurzen Sporthosen, die Danny oben aufs Treppengeländer gelegt hatte. »Willst du 'ne Runde joggen, Paps?«, fragte Danny seinen Dad. Das neue Wort kam beiden
merkwürdig selbstverständlich vor, als ob die Gefahr, der sie soeben entronnen waren, einen Wendepunkt oder einen Neuanfang in ihrer beider Leben und in dem des jungen Joe markierte. Vielleicht war es auch so. Der Polizist hieß Colby. »Officer Colby« nannte ihn der Koch in der Küche des Hauses in der Court Street nur - vielleicht aus spöttischem Respekt für jenen anderen Polizisten in seinem Leben, lang war's her. Von dem miesen Haarschnitt einmal abgesehen, hatte der junge Cop in Iowa City keinerlei Ähnlichkeit mit Carl. Colby hatte helle Haut, skandinavisch blaue Augen und einen sauber gestutzten blonden Schnauzer; er entschuldigte sich, dass er nicht früher auf Dannys Anruf wegen des rücksichtslosen Fahrers reagiert habe, doch an den Wochenenden, wenn die Footballmannschaff der Uni ihre Heimspiele hatte, sei die Polizei
immer sehr beschäftigt. Das Auftreten des Polizisten war freundlich und ernsthaft zugleich - Danny fand ihn auf Anhieb sympathisch. (Nebenbei bemerkte der Schriftsteller, wie aufmerksam der Polizist war; Colby hatte einen Blick für Details wie die Bieraufkleber am Kühlschrank.) Officer Colby erzählte Danny und seinem Dad, er habe bereits früher Meldungen über einen blauen Mustang erhalten. Wie Max gesagt hatte, sei der Wagen wahrscheinlich ein Spezialmodell, es gebe aber einige Unstimmigkeiten bei den Zeugenaussagen. Die Kühlerfigur war entweder der OriginalMustang oder - laut einer hysterischen Hausfrau auf dem Parkplatz eines Supermarkts in der Nähe der Kreuzung Fairchild und Dodge Street - die obszöne Variante eines Zentauren. Andere Zeugen wollten eindeutig ein Nummernschild aus einem anderen Bundesstaat erkannt haben, während ein Student, der mit seinem Motorrad von der
Dubuque Street gedrängt worden war, aussagte, der blaue Mustang habe zweifellos ein Kennzeichen aus Iowa. Wie Officer Colby dem Koch und seinem Sohn berichtete, lag keine Beschreibung des Fahrers vor. »Die Jungs mussten jeden Moment aus der Schule kommen«, sagte Danny dem Cop, der einen höflichen Blick auf seine Uhr geworfen hatte. »Sie können mit ihnen reden. Ich habe nur einen ungewöhnlichen Blauton gesehen.« »Darf ich das Zimmer Ihres Sohns sehen?«, fragte der Polizist. Eine merkwürdige Bitte, fand Danny, sah aber keinen Grund, ihr nicht zu entsprechen. Es dauerte nur einen Moment, und Colby äußerte sich nicht zu den Bierplakaten; dann gingen die drei Männer wieder in die Küche, um auf die Jungs zu warten. In der Gasse, wo der Mustang die beiden fast angefahren hätte, könne man laut Officer Colby »unter normalen Umständen« gefahrlos Rad fahren. Doch
offenbar teilte der Polizist Yi-Yiings generelle Bedenken, was Kinder auf Fahrrädern in Iowa City betraf. Es sei besser, wenn Kinder zu Fuß gingen oder den Bus nähmen - jedenfalls sollten sie mit dem Rad nicht ins Zentrum fahren. Immer mehr Studenten seien mit dem Auto unterwegs, viele davon seien neu in der Universitätsstadt, von den zahlreichen Auswärtigen an Sportwochenenden ganz zu schweigen. »Joe fährt nicht mit dem Rad ins Zentrum, nur hier in der Gegend, und er schiebt sein Rad immer über die Straße«, teilte Danny dem Polizisten mit, der das nicht recht zu glauben schien. »Nein, wirklich«, beharrte der Schriftsteller. »Bei Max, dem Nachbarsjungen, bin ich mir nicht so sicher. Max' Eltern sind da wohl liberaler - was Max und das Fahrradfahren angeht, meine ich.« »Da sind sie ja«, sagte der Cop. Er hatte die Gasse im Auge gehabt und nach Joe und Max
auf ihren Rädern Ausschau gehalten. Die beiden Achtjährigen schienen überrascht, Officer Colby in der Küche zu sehen; wie die typischen Drittklässler, die sie waren, und fast als tauschten sie eine geheime Botschaft, sahen sie zuerst rasch einander an und dann auf den Küchenboden. »Die Bierlaster-Kids«, sagte Colby. »Vielleicht solltet ihr beiden daran denken, dass der blaue Mustang überall in der Stadt gesichtet wurde.« Der Officer wandte sich an Danny und seinen Dad. »Das sind gute Jungs, aber sie lassen sich von den Bierlasterfahrern gern Aufkleber, Poster und diese Aufnäher schenken. Wenn ich die Jungs vor den Kneipen in der Innenstadt sehe, weise ich sie immer darauf hin, dass sie die Lokale nicht betreten dürfen, und gelegentlich muss ich ihnen verbieten, den Bierlastern von einer Kneipe zur nächsten zu folgen - mit dem Rad zumindest. Die Clinton und die Burlington
Street sind gefährlich.«
für
Radfahrer
besonders
Joe konnte weder seinen Dad noch seinen Großvater ansehen. »Die Bierlaster-Kids«, wiederholte der Koch. »Ich muss nach Hause«, sagte Max, und schwupps! war er weg. »Wenn ich die beiden im Stadtpark sehe«, fuhr Colby fort, »sage ich ihnen, hoffentlich fahrt ihr mit den Rädern nicht auf der Dubuque Street. Es ist sicherer, die Fußgängerbrücke hinter dem Studentenwerk zu nehmen und auf der Flussseite zu fahren, wo das Hancher Auditorium steht. Aber so braucht man wohl länger zum Park oder zum Zoo, stimmt's?«, fragte Officer Colby Joe. Der Junge nickte nur; er wusste, dass er aufgeflogen war. Sehr früh am nächsten Morgen, als Youn noch tief schlief und Yi-Yiing von ihrer Nachtschicht noch nicht nach Hause
gekommen war, ging Danny in Joes Zimmer und betrachtete den Achtjährigen, der inmitten einer Art »Bierschrein« schlief. »Wach auf«, sagte er zu seinem Sohn und schüttelte ihn leicht. »Ist es für die Schule nicht noch zu früh?«, fragte Joe. »Vielleicht gehst du heute nicht in die Schule«, sagte sein Vater. »Wir sagen einfach, du wärst krank.« »Aber ich fühl mich gut«, widersprach der Junge. »Steh auf und zieh dich an, Joe, dir geht's nicht gut«, sagte sein Dad. »Du bist tot - du bist schon gestorben.« Sie verließen das Haus ohne Frühstück und gingen zur Muscatine Avenue. Frühmorgens war immer viel Verkehr auf der Muscatine, die weiter vorn zur Iowa Avenue wurde, eine mehrspurige Schnellstraße mit
grasbewachsenem Mittelstreifen. Als Joe noch ein Baby war und dann ein Kleinkind und Danny mit Katie im unteren Apartment eines Zweifamilienhauses an der Iowa Avenue wohnte, hatte sich das junge Paar über den Verkehrslärm beklagt; die Häuser an dieser Straße waren damals vor allem gehobene Unterkünfte für ältere Semester oder finanziell bessergestellte Studenten im Grundstudium gewesen (darunter das Haus einer besonders wüsten Studentinnenverbindung, näher in Richtung Campus und Zentrum gelegen). Doch als Danny im Herbst 1973 mit seinem Sohn zur Iowa Avenue ging, waren die Häuser entlang der baumbestandenen Hauptstraße sogar noch teurer; hier wohnten nun Dozenten und wahrscheinlich auch einige ordentliche Professoren. »Ist das nicht die Straße, wo du mit Mom gewohnt hast?«, fragte Joe seinen Dad, als sie in Richtung Campus und Innenstadt gingen.
»Wo wir mit Mom gewohnt haben, wolltest du sagen - ja, das stimmt«, antwortete Danny. Zwischen den Querstraßen Johnson und Gilbert Street erkannte der Schriftsteller das einstöckige Haus mit den grauen Schindeln wieder, dessen Erdgeschossapartment er mit Katie und ihrem gemeinsamen Söhnchen geteilt hatte. Inzwischen war das Haus gestrichen worden - in den sechziger Jahren waren die Schindeln blassgelb gewesen - und diente wahrscheinlich als Einfamilienhaus. »Das graue?«, fragte Joe, weil sein Dad auf dem Gehsteig vor dem Haus stehen geblieben war, auf der Seite der Straße, auf der man in Richtung Zentrum fuhr. Jetzt hatte die Zahl der Autos zugenommen, die von der Muscatine in die Iowa Avenue drängten. »Ja, das graue.« Danny drehte dem Haus den Rücken zu und blickte auf die Avenue. Ihm fiel auf, dass man in den sechs Jahren seit seinem Auszug die Bepflanzung des
Mittelstreifens aufgehübscht hatte. »Opa hat gesagt, du magst die Iowa Avenue nicht - dass du nicht mal darauf fahren willst«, sagte Joe zu seinem Dad. »Das stimmt, Joe.« Sie standen dicht beieinander und betrachteten einfach nur den Verkehr. »Was ist los? Hab ich Hausarrest?«, fragte der Junge. »Nein, du hast keinen Hausarrest - du bist schon tot«, antwortete sein Vater. Danny wies auf die Straße. »Da draußen bist du gestorben, auf der Straße, und zwar im Frühjahr 1967. Du hattest noch Windeln an - du warst erst zwei.« »Hat mich ein Auto überfahren?«, fragte Joe. »Viel hat nicht gefehlt«, sagte sein Vater. »Aber wenn dich wirklich ein Auto überfahren hätte, dann wäre ich auch gestorben.« Eine Fahrerin auf der Fahrbahn stadtauswärts
sah sie auf der anderen Seite der Iowa Avenue stehen - Yi-Yiing, die gerade aus dem Mercy Hospital nach Hause in die Court Street unterwegs war. In Richtung Innenstadt fuhr einer von Dannys Kollegen aus dem Autorenworkshop, der Dichter Marvin Bell, an ihnen vorbei und hupte, doch weder Vater noch Sohn reagierten. Vielleicht standen Danny und Joe gar nicht auf dem Gehweg, mit Blick auf den Verkehr; vielleicht befanden sie sich wieder im Frühjahr 1967. Zumindest der Schriftsteller Daniel Baciagalupo, der sich noch kein Pseudonym ausgesucht hatte, war wieder dort. Danny hatte oft das Gefühl, dass er aus diesem Moment eigentlich nie richtig herausgekommen war. Im Avellino brachte Loretta dem Schriftsteller seine Überraschungsvorspeise. In der Kategorie »Etwas Asiatisches« hatte der Koch seinem Sohn Ah Gous Rindfleischsatay
zubereitet, gegrillte Fleischspieße mit Erdnusssauce. Es gab auch diverse TempuraGarnelen, grüne Bohnen und Spargel. Loretta brachte Danny auch Essstäbchen, zögerte aber, ehe sie sie ihm gab. »Benutzt du so was? Ich hab's vergessen«, sagte sie. (Der Schriftsteller wusste, dass sie log.) »Klar«, antwortete er ihr. Loretta rückte die Stäbchen immer noch nicht heraus. »Weißt du, was? Du bist zu viel allein«, erklärte sie. »Stimmt, ich bin zu viel allein«, sagte Danny. Sie flirteten miteinander, aber weiter gingen sie nie; allein die Vorstellung, miteinander zu schlafen, wo auch Lorettas Mom und Dannys Dad miteinander schliefen, war für beide schlicht unerträglich. Wenn Danny mit dem Gedanken spielte, stellte er sich jedes Mal vor, wie Loretta sagte: »Das wäre zu sehr, als hätten Bruder und
Schwester was miteinander oder so!« »Was schreibst du da?«, wollte Loretta wissen; solange sie die Stäbchen hielt, würde er sie weiter ansehen, dachte sie. 391 »Nur so ein Gespräch«, antwortete Danny. »So wie unseres gerade?« »Nein, es ist... anders«, sagte er. Loretta merkte, dass er mit den Gedanken nicht bei der Sache war; sie gab ihm die Stäbchen. Das Notizbuch lag offen auf dem Tisch, und Loretta hätte das Gespräch lesen können, an dem Danny gerade schrieb, doch er schien nervös zu sein deswegen, und sie wollte lieber nicht aufdringlich sein. »Tja, hoffentlich magst du die Überraschung«, sagte sie zu ihm. Der Koch wusste, dass Danny diese Speise immer im Mao's bestellt hatte - bestimmt
hundertmal. »Richte Dad aus, es ist genau das Richtige«, sagte Danny, als Loretta ging. Danny warf einen Blick auf den Satz in seinem Notizbuch. Die Formulierung sollte echt klingen, so wie ein Achtjähriger eine Frage an seinen Vater richten würde, ganz vorsichtig. (»Warum wärst du auch gestorben - wenn mich wirklich ein Auto überfahren hätte?«, hatte der Schriftsteller geschrieben.) Dot und May, die immer noch auf ihre Pizzas warteten, hatten Danny und Loretta nicht aus den Augen gelassen. Es machte sie richtig fertig, dass sie deren Gespräch nicht mitgehört hatten. »Die Kellnerin will ihn ficken, es gibt aber ein Problem«, meinte Dot. »Stimmt, er interessiert sich mehr für sein Geschreibsel!«, sagte May. »Was isst er da?«, fragte Dot ihre alte Freundin. »Irgendwas an 'nem Spieß«, antwortete May.
»Sieht nicht besonders appetitlich aus.« »Ich hab das dumpfe Gefühl, unsere Pizzas werden 'ne echte Enttäuschung.« »Tja, das würd mich gar nicht überraschen«, sagte May. »Ich fasse es nicht!«, flüsterte Dot. »Vor ihm steht Essen, und er hört immer noch nicht auf zu schreiben!« Doch das Essen war gut; Danny mochte die meisten Erinnerungen ans Mao's, und er hatte das Essen dort immer gemocht. Der Satz, den er geschrieben hatte, war auch gut - er funktionierte, befand Danny. Nur der Zeitpunkt stimmte nicht, und er wollte sich die richtige Stelle merken, um die Frage unterzubringen. Ehe er sich den Satayspießen zuwandte, kringelte der Schriftsteller den Dialog einfach ein und schrieb eine Notiz an sich selbst an den Rand. »Noch nicht«, schrieb Danny. »Erzähl zuerst
die Sache mit dem Spanferkel.«
10 - Lady Sky Der Frühling war in Iowa immer eine große Sache; die Felder trugen ein besonderes Grün, und die Kunst- und Literaturstudenten feierten ihn mit Spanferkel am Spieß. Als Student hatte Danny die meisten Partys des Autorenworkshops ausgelassen, doch jetzt wurde er von Katie zu den Künstlerpartys mitgeschleppt, die seiner Ansicht nach wesentlich wüster waren als die der Schriftsteller. Katie kannte jeden im Fachbereich Kunst, weil sie in den Aktzeichenkursen Modell stand - wie Danny früher in New Hampshire, mit dem Unterschied, dass er damals noch nicht verheiratet gewesen war. Danny war nicht wohl bei dem Gedanken, dass viele der älteren
Semester - von einigen Dozenten ganz zu schweigen - seine Frau nackt gesehen hatten; die meisten kannte Danny nicht einmal mit Namen. Das spezielle Spanferkelgrillfest, bei dem Katie ihn dabeihaben wollte, war schwer zu finden gewesen. Der kleine Joe weinte auf der ganzen Fahrt nach Tiffin auf der U.S. 6, doch Danny, der am Steuer saß, wollte partout nicht, dass Katie den Zweijährigen aus dem Kindersitz nahm. In Tiffin fuhren sie vom Highway ab, und kurz vor North Liberty merkten sie, dass sie sich verfahren hatten; entweder gab es die Buffalo Creek Road nicht, oder sie war nicht ausgeschildert, und bis sie das heruntergekommene Farmhaus endlich fanden, hatte Danny bereits reichlich Zeit gehabt, abfällige Bemerkungen über Kunststudenten loszuwerden (die unfähig waren, brauchbare Wegbeschreibungen zu geben, weil sie es entweder nicht so mit der Sprache hatten oder aber auf Abstraktion
standen). »Dir ist es doch sowieso egal, ob wir diese dämliche Farm finden oder nicht«, hatte Katie gesagt. »Du willst eh nie auf die Partys gehen, zu denen ich eingeladen werde.« »Ich will auch nie auf die Partys gehen, zu denen ich eingeladen werde.« »Was dich zu einer echten Spaßbremse macht, Dumpfbacke«, sagte Katie. Der Farmer versorgte seine Schweine frühmorgens und dann wieder nachmittags. Er wohnte in einem der motelähnlichen, aber teuren Ranchhäuser an der Rochester Avenue in Iowa City und vermietete seine baufällige Farm an vier schmuddelige junge Männer, Kunststudenten in höheren Semestern. Katie bezeichnete sie als Künstler - als hätten sie schon irgendetwas erreicht. Ihr Mann war da zynischer; für ihn waren die vier Studenten auf der Schweinefarm nichts als
drei malende Dilettanten und ein großkotziger Fotograf. Er wusste zwar, dass die malenden Dilettanten Katie alle in irgendeinem Aktzeichenkurs gezeichnet hatten, aber nicht, dass der großkotzige Fotograf sie nackt fotografiert hatte - mit dieser unerfreulichen Neuigkeit war Katie erst im Auto herausgeplatzt, als sie sich schon verfahren hatten -, so dass er nicht darauf gefasst war, in dem verwahrlosten Kunststudentenhaushalt neben Aktzeichnungen auch noch Aktfotos seiner Frau vorzufinden. In der Essküche des Farmhauses klebten an der Wand mehrere verschmierte Kohlezeichnungen, die Katie darstellen sollten. Der zweijährige Joe schien seine Mutter darauf nicht zu erkennen. »Hübscher Wandschmuck« war Dannys Kommentar dazu, und Katie quittierte ihn mit einem Achselzucken. Danny sah, dass ihr schon jemand ein Glas Wein in die Hand gedrückt hatte. Er hoffte, dass es auch Bier gab; Danny
musste immer fahren, und mit ein paar Bier intus fuhr er etwas besser. Im Wagen hatte er zu seiner Frau gesagt: »Ich wusste nicht, dass Fotografen ebenfalls zu Aktzeichenkursen Zutritt haben.« »Haben sie auch nicht«, antwortete Katie. »Das wurde privat arrangiert.« »Aha, arrangiert«, höhnte er. »O Gott, jetzt wiederholst du alles«, hatte sie gesagt, »wie dein verdammter Vater.« Während Danny vergeblich im Kühlschrank nach Bier suchte, sagte ihm Joe, er müsse mal aufs Klo. Da Joe noch nicht regelmäßig aufs Töpfchen ging, meinte Dannys Sohn damit, dass seine Windel gewechselt werden musste. Normalerweise weigerte sich Katie, in ihrer Handtasche Windeln mitzunehmen, doch da sie unbedingt zu dem Grillfest gehen wollte, hatte sie sich nicht beschwert - bis jetzt.
»Findest du nicht, es wird langsam Zeit, dass der Zweijährige aufs Töpfchen geht?«, sagte sie zu Danny und reichte ihm eine saubere Windel. Katie nannte Joe immer den Zweijährigen, was eindeutig abwertend gemeint war. In dem Bad im Erdgeschoss des Farmhauses gab es keinen Vorhang vor der Duschkabine, und der Fußboden war nass. Vater und Sohn wuschen sich in dem schmierigen Waschbecken die Hände, doch der Versuch, ein Handtuch zu finden, war ebenso vergeblich wie Dannys Suche nach einem Bier. »Wir können uns die Hände trockenwinken«, schlug Danny dem Jungen vor, worauf dieser seinem Vater zuwinkte, als wolle er sich verabschieden - das übliche Einhandwinken. »Probier mal, mit beiden Händen zu winken, Joe.« »Guck mal - Mommyl«, rief der Junge und zeigte auf die Fotos hinter seinem Vater. Über
dem leeren Handtuchregal waren ein schwarzweißer Kontaktabzug und ein halbes Dutzend Vergrößerungen mit Reißzwecken an die Wand gepinnt. Katie war nackt und hielt die Hände vor ihre kleinen Brüste, doch ihre Scham war unverhüllt; es wirkte, als seien die Hände am falschen Ort. Offenbar hatte sich jemand etwas dabei gedacht - es sollte ein wohlüberlegtes Statement sein, aber zu was?, fragte sich Danny. Und war es Katies Idee gewesen oder die des Fotografen, der Rolf hieß und einer der Bärtigen war? »Ja, die Frau sieht Mommy sehr ähnlich«, sagte Danny, doch seine Taktik ging nicht auf. Stirnrunzelnd sah sich Joe die Fotos nun genauer an. »Das ist Mommy«, stellte der Junge fest. »Glaubst du?«, fragte Danny, der seinen Sohn am Händchen genommen hatte und ihn aus dem verdreckten Badezimmer ziehen wollte.
»Ja, das ist Mommy«, antwortete Joe ernst. Danny goss sich ein Glas Rotwein ein; mangels Weingläsern nahm er ein Milchglas. Plastikbecher gab es auch keine. In einem der Küchenschränke fand er eine Kaffeetasse, die halbwegs stabil aussah - wenn auch nicht ganz kindersicher -, und gab Joe ein wenig Ginger Ale. Milch aus diesem Kühlschrank, falls welche da gewesen wäre, hätte er Joe nicht geben wollen, und das Ginger Ale war das einzige vorhandene Getränk, das das Kind eventuell mochte. Die Party fand draußen auf dem Rasen statt, neben dem Schweinepferch. Da es bereits später Nachmittag oder früher Abend war, nahm Danny an, dass der Farmer seine Schweine an diesem Tag bereits gefüttert hatte und wieder weggefahren war. Wenigstens die Schweine wirkten zufrieden und musterten die zweibeinigen Partygäste mit fast menschlicher Neugier; sie bekamen wohl nicht oft so viele
Künstler zu Gesicht. Danny fiel auf, dass keine anderen Kinder auf der Party waren, auch kaum Ehepaare. »Sind irgendwelche Dozenten da?«, fragte er Katie, die schon wieder ein volles Weinglas hatte. Er wusste, dass Katie gehofft hatte, Roger würde kommen. Roger war der Dozent, mit dem Katie zurzeit schlief und der die Fortgeschrittenenkurse im Aktzeichnen gab. Als Katie Danny ein paar Tage später eröffnete, dass sie ihn verlassen wollte, lief die Affäre mit Roger immer noch. »Ich dachte, Roger käme auch, aber er ist nicht hier«, stellte Katie enttäuscht fest. Sie stand neben Rolf, und Danny merkte plötzlich, dass der Satz nicht ihm, sondern dem bärtigen Fotografen galt. Roger hatte auch einen Bart, erinnerte sich Danny. Er wusste, dass Katie mit Roger schlief, doch erst jetzt kam ihm der Gedanke, dass sie womöglich auch mit Rolf schlief. Vielleicht machte sie gerade eine
Bartphasedurch, überlegte der Schriftsteller, während er sich gleichzeitig fragte, wie und wo die beiden die Fotos arrangiert hatten. »Hübsche Fotos«, sagte Danny zu Rolf. »Ach, du hast sie gesehen«, gab Rolf beiläufig zurück. »Du hängst ja überall«, sagte Danny zu Katie, die dafür wieder nur ein Achselzucken übrighatte. »Hast du deine Mom gesehen?«, wollte Rolf von Joe wissen und beugte sich dabei zu dem Kind hinunter, als wäre es schwerhörig. »Er redet noch fast gar nicht«, behauptete Katie, was schlicht gelogen war. Für einen Zweijährigen redete Joe ausgesprochen viel, bei Einzelkindern keine Seltenheit. Es mochte aber auch daran liegen, dass Danny, vielleicht weil er Schriftsteller war, andauernd mit dem Jungen sprach.
»Mommy ist doch hier«, sagte der Junge und zeigte auf Katie. »Nein, ich meine die Bilder«, erklärte ihm Rolf. »Sie sind im Badezimmer.« »Das ist Mommy«, beharrte Joe und zeigte wieder auf seine Mutter. »Verstehst du jetzt, was ich meine?«, fragte Katie den Fotografen. Danny ahnte noch nichts von Katies Plänen, einen weiteren dummen Jungen vor dem Vietnamkrieg zu retten; auch das würde sie ihm erst in ein paar Tagen eröffnen. Doch als Danny dann von Katies Absichten erfuhr, musste er daran denken, wie Rolf bei dem Grillfest mit dem kleinen Joe zu kommunizieren versucht hatte. Auch wenn Rolf durchaus dumm genug wirkte, um gerettet werden zu müssen, passte der Bart nicht recht zu dem, was Danny sich unter einem Jungen vorstellte. Danny würde den
»Jungen« nie kennenlernen, der Katies nächster Kennedy-Vater wurde, aber irgendwie stellte er ihn sich nicht bärtig vor. Die drei malenden Studenten umkreisten die Feuerstelle mit dem darüber brutzelnden Schwein. Danny und Joe standen daneben. »Wir haben das Scheißfeuer vor Sonnenaufgang angezündet«, sagte einer der Maler zu Danny. »Das Schwein ist immer noch nicht durch«, sagte ein anderer Maler; auch er hatte einen Bart, weshalb Danny ihn sich genauer ansah. Sie hatten »ein großes, prasselndes« Holzfeuer gemacht (wie der bärtige Maler sich ausdrückte), und als nur noch Holzkohle übrig war, hoben sie den Rost eines Doppelbetts auf die Feuerstelle, den sie zwischen anderem Müll in der Scheune gefunden hatten. Sie hatten das Schwein auf den glühend heißen Rost gelegt, doch jetzt gelang es ihnen nicht,
neues Holz darunterzuschieben, und bei dem Versuch, den Rost hochzuheben, zerfiel das halbgebratene Schwein in seine Einzelteile. Weil das Schwein so fürchterlich zugerichtet war, wollte Danny es Joe lieber nicht zeigen schließlich waren lebende Schweine anwesend. (Aber die Sauerei auf dem kokelnden Bettrost sah nicht wie ein richtiges Schwein aus - jedenfalls nicht mehr. Und für Joe schon gar nicht.) »Wir müssen halt warten, bis das Schwein durch ist«, teilte der dritte Maler Danny gelassen mit. Joe hielt die Hand seines Dads ganz fest. Der Junge traute sich nicht in die Nähe der schwelenden Feuerstelle; schlimm genug, dass da ein Loch im Boden war, aus dem Qualm kam. »Willst du dir die Schweine ansehen?«, fragte Joe und zerrte an der väterlichen Hand.
»Na klar«, sagte Danny. Anscheinend ahnten die eingepferchten Schweine nicht, dass eins von ihnen gerade gegrillt wurde. Sie guckten einfach nur durch den Lattenzaun auf die vielen Leute. Jeder Bewohner von Iowa, den Danny kannte, hatte immer betont, man müsse sich gegenüber Schweinen vorsehen. Angeblich waren Schweine sehr intelligent, doch die älteren konnten gefährlich werden. Der Schriftsteller fragte sich, wie man wohl die älteren von den jüngeren Schweinen unterschied - vielleicht einfach anhand der Größe. Doch die Schweine in dem Pferch sahen alle riesig aus. Das auf der Feuerstelle war bestimmt ein Spanferkel, dachte Danny, ein Schweinchen, keins von den gewaltigen Viechern. »Was hältst du von denen?«, wollte Danny von dem kleinen Joe wissen.
»Große Schweine!«, antwortete der Junge. »Stimmt«, sagte sein Dad. »Große Schweine. Fass sie nicht an, sie beißen nämlich. Streck die Hände nicht durch den Zaun, okay?« »Sie beißen«, wiederholte der Junge ernst. »Du kommst ihnen nicht zu nah, okay?«, sagte sein Vater. »Okay«, sagte Joe. Danny sah zu den drei Malern hinüber, die um die schwelende Feuerstelle herumstanden. Sie betrachteten nicht mehr das brutzelnde Schwein, sondern schauten in den Himmel hoch. Auch Danny sah nach oben. Am Horizont nördlich der Schweinefarm war ein kleines Flugzeug aufgetaucht. Es war im Steigflug - das Motorengeräusch war noch nicht zu hören. Die Schweinefarm lag südlich von Cedar Rapids, wo es einen Flugplatz gab; vielleicht war das Flugzeug dort gestartet. »Flugzeug. Kein Vogel«, hörte Danny Joe
sagen. Auch der Junge schaute nach oben. »Ja, ein Flugzeug. Kein Vogel«, wiederholte sein Dad. Rolf kam vorbei und goss mehr Rotwein in Dannys Milchglas. »Es gibt übrigens Bier - ich habe irgendwo welches in einer Wanne mit Eis gesehen«, sagte der Fotograf. »Du bist doch Biertrinker, stimmt's?« Danny fragte sich, woher Rolf das wusste; Katie musste es ihm gesagt haben. Er sah, wie der Fotograf ihr die Weinflasche brachte. Ohne nach oben zu sehen, wies Rolf mit der Flasche in Richtung Himmel, woraufhin Katie das Flugzeug beobachtete. Man konnte es jetzt hören, obwohl es sehr hoch flog - zu hoch für einen Agrarflieger, vermutete Danny. Rolf flüsterte Katie etwas ins Ohr. Irgendetwas geht hier vor, dachte Danny, doch damit meinte er nicht das Flugzeug, sondern Katie und Rolf. Dann fiel Danny auf, dass die drei
Maler an der Feuerstelle ebenfalls miteinander flüsterten; auch sie ließen das Flugzeug nicht aus den Augen. Joe wollte hochgehoben werden - vielleicht hatte ihn die Größe der Schweine eingeschüchtert. Zwei der Schweine waren schlammig rosa, doch die anderen hatten schwarze Flecke. »Die sehen aus wie rosaschwarze Kühe«, sagte Danny zu Joe. »Nein, das sind Schweine. Keine Kühe«, widersprach der Junge. »Klar«, sagte Danny. Katie kam zu ihnen. »Guck dir die Schweine an, Mommy«, sagte Joe. »Igitt«, sagte sie. »Behalt das Flugzeug im Auge«, sagte Katie zu ihrem Mann. Sie ging wieder, einen Schwall Marihuana hinter sich herziehend; offenbar hing der Geruch in ihren Haaren. Danny hatte sie nicht kiffen sehen nicht einen einzigen Zug -, doch sie hatte wohl
einen durchgezogen, während er Joe die Windeln wechselte. »Sag dem Kind, es soll das Flugzeug im Auge behalten«, sagte Katie im Gehen. Wie Katie Joe das Kind nannte, hörte sich irgendwie falsch an, dachte Danny. Als wäre Joe das Kind einer anderen, so hörte es sich an. Das Kleinflugzeug hatte inzwischen seine Flughöhe erreicht und schwebte hoch am Himmel, direkt über der Farm. Es schien langsamer zu fliegen, als hinge es genau über ihnen in der Luft, fast bewegungslos. »Wir sollen das Flugzeug im Auge behalten«, sagte Danny seinem kleinen Sohn und küsste ihn auf den Hals, während er selbst stattdessen seine Frau im Auge behielt. Sie hatte sich zu den um die Feuerstelle versammelten Malern gesellt; Rolf war auch dabei. Sie beobachteten das Flugzeug in gespannter Erwartung, doch weil Danny sie beobachtete, verpasste er den
Augenblick. »Kein Vogel«, hörte er Joe sagen. »Fliegt nicht. Fällt!« Als Danny schließlich hochsah, wusste er nicht recht, was da genau aus dem Flugzeug gefallen war, doch es sank schnell und kam direkt auf sie zu. Als sich der Fallschirm öffnete, johlten die Maler und Rolf. (Die Scheißmaler hatten zur Unterhaltung einen Fallschirmspringer engagiert, dachte Danny.) »Was fällt da vom Himmel?«, fragte Joe seinen Dad. »Ein Fallschirmspringer«, antwortete Danny. »Was für ein Zweijährige.
Springer?«,
sagte
der
»Ein Mensch mit einem Fallschirm.« Diese Antwort half dem Kleinen auch nicht weiter. »Ein was?« »Ein Fallschirm verhindert, dass der Mensch
zu schnell fällt - damit sich der Mensch nicht weh tut«, erklärte Danny, doch Joe umklammerte fest seinen Hals. Danny roch das Marihuana, ehe er merkte, dass Katie neben ihnen stand. »Wartet nur ab - nicht wegsehen«, sagte sie und entschwand wieder. »Irgendwas am Himmel«, sagte Joe. »Ein Fall... was?« »Ein Fallschirmspringer, ein Fallschirm«, wiederholte Danny. Joe schaute einfach mit offenem Mund zu, während der Fallschirm auf sie zutrieb. Es war ein großer Schirm in den Farben der amerikanischen Flagge. Die Brüste des Fallschirmspringers waren der erste Hinweis. »Es ist eine Frau«, stellte der kleine Joe fest. »Das stimmt«, sagte sein Vater. »Wo sind ihre Kleider geblieben?«, fragte Joe.
Alle sahen jetzt hin, sogar die Schweine. Danny hatte nicht mitbekommen, wann die Schweine die Fallschirmspringerin bemerkt hatten, doch jetzt ließen sie sie nicht mehr aus den Augen. Anscheinend waren sie es nicht gewohnt, dass fliegende Menschen auf sie herabfielen - ganz zu schweigen von dem riesigen Fallschirm, der inzwischen einen Schatten auf ihren Pferch warf. »Frau Himmel, Lady Sky!«, schrie Joe und zeigte auf die nackte Fallschirmspringerin. Als das erste Schwein quiekend davonlief, schnaubten alle anderen Schweine und rannten hinterher. In diesem Moment sah Lady Sky wohl, wo sie landen würde - im Schweinepferch. Die Fallschirmspringerin fing wütend an zu fluchen. Jetzt sahen sogar die Betrunkenen und Bekifften, dass sie nackt war. Scheißkunststudenten!, dachte Danny. Natürlich konnten sie nicht einfach nur eine
Fallschirmspringerin engagieren, sie musste auch noch nackt sein. Katie gab sich gleichgültig - gut möglich, dass sie neidisch war. Als sie merkte, dass die Fallschirmspringerin nackt war, wünschte Katie sich vielleicht an ihre Stelle. Wahrscheinlich passte es Katie gar nicht, dass sie auf dem Grillabend der Kunststudenten nicht das einzige Nacktmodell war. »O Gott, sie landet noch in dem beschissenen Schweinepferch!«, sagte Rolf gerade. Hatte er das jetzt erst gemerkt? Bestimmt hatte er mit Katie gekifft. (Rolf war garantiert dumm genug, um auf Rettung angewiesen zu sein wenn auch nicht vor dem Vietnamkrieg, wie Danny eines Tages denken würde.) »Halt du ihn«, sagte Danny zu seiner Frau und gab ihr den kleinen Joe. Die wutentbrannte Nackte flog direkt über ihnen. Danny versuchte, ihre Füße zu packen, doch sie trieb knapp und laut fluchend über ihn
hinweg und aus seiner Reichweite. Über ihnen allen, Menschen wie Schweinen, war langsam eine Vagina im Sinkflug hinweggeschwebt. »Jemand sollte ihr sagen, dass das für eine nackte Frau ein wenig schmeichelhafter Einflugwinkel ist«, sagte Katie gerade, wahrscheinlich zu Rolf, denn Joe hätte mit dieser Bemerkung nichts anfangen können. (Katie hatte dem Kind ohnehin nie viel zu sagen.) In dem Schweinepferch war es sehr matschig, doch Danny war auch schon in Schlamm gelaufen und wusste, dass man in Bewegung bleiben musste. Er achtete nicht darauf, wo die Schweine waren; am Beben des Bodens merkte er, dass sie ebenfalls liefen. Danny folgte einfach der sinkenden Frau. Als ihre Fersen den Boden berührten, rutschte sie durch die Mischung aus Schweinescheiße und Matsch, während ihr Fallschirm hinter ihr kollabierte. Sie fiel auf die eine Hüfte und
wurde vom Schirm seitlich auf den Bauch gezogen, ehe Danny sie einholen konnte. Sie war fast genauso überrascht, ihn zu sehen, wie sie beide von dem grässlichen Gestank und der Größe der Schweine überrascht waren. Ganz zu schweigen von dem ständigen Gegrunze. Ein Schwein trampelte bereits auf dem Fallschirm herum, doch als es den Schirm unter seinen Klauen spürte, schien das Tier in Panik zu geraten und verzog sich quiekend. Sie war groß, von amazonenhafter Statur, nahezu eine Riesin. Danny hätte sie nicht aus dem Pferch tragen können, sah aber, wie sie versuchte, sich aus dem Gurtzeug und von dem Fallschirm zu befreien, der sich nur schwer durch den Matsch schleppen ließ, und wenigstens dabei konnte er ihr helfen. Die nackte Fallschirmspringerin war über und über mit Schweinescheiße und Schlamm bedeckt. Als Danny sich mit dem Riemen abmühte, der zwischen ihren Brüsten verlief, streifte er aus Versehen mit dem Handrücken eine ihrer
schmutzigen Brustwarzen. Er merkte erst jetzt, dass er ein paarmal gestürzt und ebenfalls voller Schweinescheiße und Schlamm war. »Keiner hat mir erzählt, dass es eine Scheißschweinefarm ist!«, sagte die Fallschirmspringerin. Sie hatte nicht nur ganz kurz geschnittenes Kopfhaar, auch die Schamhaare waren bis auf einen senkrechten Streifen abrasiert; jedenfalls war sie oben wie unten rotblond. »Es sind eben Scheißkünstler«, sagte Danny zu ihr. »Ich habe mit dem Ganzen nichts zu tun.« An ihrer Narbe sah er, dass sie einen Kaiserschnitt hinter sich hatte. Sie mochte zehn Jahre älter als Danny sein, vielleicht Mitte dreißig. Augenscheinlich war sie einmal Bodybuilderin gewesen. Unter dem Dreck waren ihre Tätowierungen nicht zu erkennen,
aber sie war eindeutig nicht die Art von Nackedei, die sich die Kunststudenten vorgestellt hatten; vielleicht bekamen sie ja mehr, als ihnen lieb war, hoffte Danny. »Ich heiße Danny«, stellte er sich vor. »Amy«, sagte sie. »Danke.« Als sie den Fallschirm los war, legte Danny ihr die Hand aufs Kreuz und schob sie vor sich her. »Lauf zum Zaun«, sagte er. »Einfach weiterlaufen.« Auf dem ganzen Weg ließ er die Hand auf ihrer feuchten Haut. Ein Schwein stolperte an ihnen vorbei, als wolle es ein Wettrennen machen. Es verfolgte sie nicht, schien sogar eher vor ihnen davonzulaufen. Fast wären sie mit einem anderen Schwein zusammengestoßen, das in die Gegenrichtung unterwegs war. Vielleicht hatte ja der Fallschirm die Schweine irritiert und nicht die nackte Frau. »Lady Sky!«, hörte Danny Joe rufen.
Jemand anders nahm den Ruf auf: »Lady Sky!« »Vergiss nicht, mir die Scheißkünstler zu zeigen«, sagte Amy, als sie die Einfriedung des Pferchs erreichten. Sie kam ohne Hilfe über den Zaun. Danny sah sich überall nach Joe um, doch der Kleine war nicht bei Katie, die bei Rolf und den drei Malern stand. »Das sind die vier Typen, die du suchst«, sagte Danny zu Amy und zeigte auf sie. »Die dort neben der kleinen Frau - die Frau war aber nicht eingeweiht, nur die zwei Typen mit und die zwei ohne Bart.« Da glaubte Danny plötzlich die Stimme seines Sohnes hinter sich zu hören, der ruhig und nachdenklich sagte: »Das Schwein hier beißt nicht.« »Joe!«, rief der Schriftsteller und fuhr herum. »Ich bin doch hier, Daddy.«
Da erst merkte Danny, dass der kleine Joe bei ihm im Schweinepferch war. Der Junge stand neben einem der schwarzrosa Schweine; dieses war wohl eben noch gelaufen, denn es war deutlich außer Atem, auch wenn es jetzt ganz still dastand. Es drehte nur den Kopf in Richtung des Jungen, der das Ohr des Tieres gepackt hatte. Vielleicht genoss das Tier es, dass sein Ohr massiert oder leicht daran gezogen wurde. Wie auch immer, je mehr der Zweijährige das Ohr streichelte, desto mehr neigte das Schwein den Kopf in seine Richtung. »Schweine haben komische Ohren«, sagte der Junge. »Joe, komm sofort da raus«, sagte sein Dad. Er hatte wohl unwillkürlich lauter gesprochen, denn das Schwein riss ruckartig den Kopf in Dannys Richtung, als sei es über diese Unterbrechung seiner Ohrmassage äußerst ungehalten. Nur ein flacher Futtertrog stand
zwischen ihnen, und das Schwein zog die Schultern auf beiden Seiten seines gewaltigen Schädels hoch und stierte Danny an. Der wich nicht von der Stelle, bis er sah, dass Joe unbehelligt zwischen den Zaunlatten nach draußen geklettert war. Das Drama mit der Fallschirmspringerin und anschließend mit Joe hatte verhindert, dass Danny bemerkte, wie tief das Kleinflugzeug inzwischen kreiste. Pilot und Kopilot wollten wohl sichergehen, dass Amy gut gelandet war, doch Amy zeigte dem Flugzeug den beziehungsweise beide Stinkefinger, und das Flugzeug senkte wie zum Gruß die eine Tragfläche, ehe es in Richtung Cedar Rapids zurückflog. »Willkommen auf der Buffalo Creek Farm«, hatte Rolf die Fallschirmspringerin begrüßt. Leider hatte Danny diesen Moment ebenfalls verpasst - wie nämlich Amy den Fotografen an den Schultern gepackt und ihm eine Kopfnuss
auf Stirn und Nasenwurzel verpasst hatte. Rolf wankte rückwärts und ging unweit der Stelle zu Boden, wo Amy zuerst die Erde berührt hatte. Den bärtigen Maler streckte sie mit einer Links-Rechts-Kombination zu Boden. »Ich springe nicht auf Schweine!«, schrie sie die beiden noch stehenden Maler an. »Wer von euch Künstlern holt mir meinen Fallschirm da raus?«, fragte sie und zeigte auf den Schweinepferch. Inzwischen hatten sich die Schweine beruhigt, am Zaun versammelt und betrachteten wieder die Künstlerbagage, wobei ihre Schnauzen durch den Lattenzaun ragten. Das Schwein, dessen Ohr zu seiner offensichtlichen Zufriedenheit gestreichelt worden war, ließ sich von den anderen nicht mehr unterscheiden. Weit draußen im Dreck lag der zertrampelte, rotweißblaue Fallschirm wie eine in der Schlacht gefallene Kriegsflagge.
»Der Farmer hat uns verboten, den Schweinepferch zu betreten«, ergriff einer der Malerstudenten das Wort. Danny trug Joe zu Katie. »Du solltest ihn doch halten«, sagte er zu ihr. »Er hat mich vollgepinkelt, als du in den Pferch gestiegen bist«, sagte Katie. »Er hat eine Windel um«, teilte Danny ihr mit. »Trotzdem hab ich gespürt, wie nass er war.« »Du hast ihn nicht mal im Auge behalten.« Amy hielt den Maler, der gesprochen hatte, im Schwitzkasten. »Ich hol dir deinen Scheißfallschirm«, sagte Katie plötzlich zu ihr. »Du kannst da nicht rein«, widersprach Danny. »Sag du mir nicht, was ich tun kann oder nicht, du Held«, gab sie zurück. Katie war schon immer auf Konkurrenz aus gewesen. Zuerst hatte die nackte
Fallschirmspringerin die Aufmerksamkeit der Kunststudenten auf sich gezogen, dann hatte ihr Mann mit seiner waghalsigen Tat ihr die Schau gestohlen. Doch natürlich wollte Katie sich in erster Linie nackt ausziehen. »Ich will bloß nicht, dass Schweinescheiße an meine Klamotten kommt, wenn du keine Einwände hast«, sagte sie zu Danny. Dann reichte sie ein Kleidungsstück nach dem anderen dem einzigen Maler, den die schlammbesudelte Fallschirmspringerin nicht angefasst hatte. »Ich würde sie ja dir geben«, teilte sie Danny mit, »aber du bist von oben bis unten mit Scheiße beschmiert - du solltest dich mal sehen.« »Es wäre nicht gut, wenn dir vor Joe etwas zustoßen würde«, sagte Danny zu ihr. »Wieso?«, fragte sie. »Ein Zweijähriger vergisst so was. Nur du nicht - du Schriftstellerdepp.« Als er sie so nackt und trotzig sah, merkte
Danny, dass er jetzt genau das an Katie abstoßend fand, was ihn früher an ihr gereizt hatte. Ihre Schamlosigkeit hatte er mit sexueller Offenheit verwechselt; sie war ihm sexy und progressiv erschienen, dabei war Katie lediglich vulgär und unsicher. Was Danny einst an seiner Frau begehrenswert gefunden hatte, erfüllte ihn nun mit Abscheu er brauchte lediglich zwei Jahre, um das zu merken. (Seine Liebe zu ihr hielt ein wenig länger an. Weder Danny noch irgendein anderer Schriftsteller konnte das je erklären.) Er hatte Joe wieder ins Bad im Erdgeschoss getragen, damit sie beide sich säubern oder es wenigstens versuchen konnten. (Danny wollte Joe ersparen, mit anzusehen, wie seine nackte Mutter von einem Schwein verschlungen wurde; bestimmt würde sich der Zweijährige daran erinnern, wenn auch nicht sehr lange.) »Gibt
Mommy
Lady
Sky
ihre
Anziehsachen?«, fragte Joe. »Mommys Sachen würden Lady Sky nicht passen, mein Schatz«, antwortete Danny. Amy wollte nichts anziehen; den Scheißkünstlern sagte sie, sie wolle nur ein Bad nehmen. Pilot und Kopilot würden ihr Kleidung bringen - »das hoffe ich zumindest für sie«, sagte die Fallschirmspringerin. »Hoffentlich ist das Bad oben sauberer als das hier«, sagte Danny zu Amy, die hinter dem Maler, den sie ungeschoren gelassen hatte, die Treppe hinaufging. »Das würde mich wundern«, erwiderte Amy beim Weitergehen. »War das deine Frau, die Kleine, die meinen Fallschirm holen wollte?« »Ja«, antwortete Danny. »Die hat Schneid, stimmt's?«, rief Amy herunter. »Ja - so ist Katie«, sagte Danny. Er hatte vergessen, dass es im unteren
Badezimmer kein Handtuch gab, doch er musste unbedingt die Schweinescheiße von sich und dem kleinen Joe abwaschen. Dann waren sie halt nass, na und? Außerdem waren die Klamotten des Jungen aus unerfindlichen Gründen sauber geblieben; Joes Hose war ein wenig feucht, weil er wirklich wie verrückt in die Windel gepinkelt hatte. »Das Ginger Ale hat dir wohl geschmeckt, hm?«, fragte Danny den Jungen. Er hatte vergessen, sich von Katie eine saubere Windel geben zu lassen, doch wichtiger war, die Schweinescheiße von Joes Händen abzuwischen. Dannys Klamotten waren völlig verdreckt - und seine Laufschuhe waren hinüber. Wenn sich seine Frau komplett auszog, dann hätte ja wohl niemand etwas dagegen, wenn Danny für den Rest der Party nur in Boxershorts rumlief. Es war ein sonniger Frühlingstag - April in Iowa - und warm genug dafür.
»Das nennst du ein sauberes Handtuch?«, rief die Fallschirmspringerin oben. Danny zog sich und den kleinen Joe aus, und beide stiegen in die Dusche. Seife gab es keine, stattdessen nahmen sie viel Shampoo. Sie waren noch in der Duschkabine, als Katie in das untere Bad kam, samt ihren Klamotten und einem Handtuch. Sie war nicht so eingesaut, wie Danny erwartet hatte. »Wenn du in dem Dreck nicht rennst, fällst du auch nicht hin, du Dumpfbacke.« »Du bist also einfach zu dem Fallschirm gegangen und wieder zurück?«, fragte Danny. »Die Schweine haben dich in Ruhe gelassen?« »Die Schweine hatten eine Heidenangst vor dem Fallschirm«, sagte Katie. »Rückt beiseite, alle beide.« Sie kam zu ihnen unter die Dusche, und Danny wusch ihr die Haare. »Hat Mommy auch abgekriegt?«, fragte Joe.
Schweinekacka
»Jeder hat irgendwo abgekriegt«, sagte Katie.
Schweinekacka
Sie trockneten sich reihum mit dem Badetuch ab, und Danny legte Joe eine frische Windel um. Dann kleidete er den kleinen Jungen an, ehe er in seine Boxershorts stieg. »Mehr ziehst du nicht an?«, fragte ihn Katie. »Meine übrigen Klamotten spende ich der Farm«, antwortete Danny. »Die rühre ich nicht mehr an - sie bleiben da liegen.« Er wies auf den Kleiderhaufen auf dem nassen Fußboden. Katie schmiss ihren bh und ihr Höschen darauf. Sie schlüpfte in ihre Jeans; durch die weiße Bluse sah man ihre Brüste, besonders deutlich die Brustwarzen. »Mehr ziehst du nicht an?«, fragte Danny sie. Katie zuckte mit den Achseln. »Ich schätze, ich kann meine Unterwäsche auch der Farm spenden, wenn ich will.« »Ist bei dir alles ein Wettkampf, Katie?«
Doch er bekam keine Antwort. Sie öffnete die Badezimmertür und ließ Vater und Sohn mit dem Haufen Klamotten allein. »Meine Sandalen habe ich irgendwo verloren«, sagte sie zu den beiden. Draußen trank die Fallschirmspringerin ein Bier, nur mit einem um die Hüften geschlungenen Handtuch bekleidet. »Wo hast du das Bier gefunden?«, fragte Danny sie. Er hatte schon zu viel Wein auf leeren Magen getrunken. Amy zeigte ihm die Wanne voller Eis. Rolf saß auf dem Boden neben der Wanne und tauchte immer wieder seine Nase in das eisige Wasser. Er hatte alles vollgeblutet. Auch an seiner einen Augenbraue klaffte eine Wunde alles von Amys Kopfnuss. Danny nahm zwei Bier aus der Wanne und wischte die Flaschenhälse an seinen Boxershorts ab. »Das war eine phantastische Idee, Rolf«, sagte er zu dem Fotografen. »Schade, dass Amy nicht in
der Feuerstelle gelandet ist.« »Scheiße«, sagte Rolf und stand auf. Er war ein wenig wacklig auf den Beinen. »Keiner kümmert sich um das Schwein auf dem Grill, das ganze Tohuwabohu hat uns abgelenkt.« »Gibt es hier einen Flaschenöffner?«, fragte ihn Danny. »Irgendwo in der Küche muss einer sein«, antwortete Rolf. Der bärtige Maler, den Amy mit ihrer Links-Rechts-Kombination erwischt hatte, hielt sich ein nasses T-Shirt vors Gesicht, das er zwischendurch immer wieder ins Eiswasser tunkte. »Was macht das Spanferkel für Fortschritte?«, fragte ihn Danny. »O Gott«, rief der Maler und eilte Rolf in Richtung des qualmenden Erdlochs nach. Auf dem Esszimmertisch standen ein Kartoffelsalat, ein grüner Salat und eine Art
Nudelsalat, dazu der Wein und Spirituosen. »Findest du, dass irgendwas von dem Essen interessant aussieht?«, fragte Danny Joe. Er hatte in der Küche vergeblich einen Flaschenöffner gesucht und schließlich beide Bierflaschen am Griff einer Schublade geöffnet. Das erste Bier trank er sehr schnell, das zweite kaum langsamer. »Wo ist Fleisch?«, fragte Joe. »Das ist wohl noch auf dem Grill«, sagte sein Dad. »Komm, wir sehen mal nach.« Jemand hatte ein Autoradio eingeschaltet, damit sie draußen Musik hören konnten. Es lief Donovans Mellow Yellow. Rolf und der bärtige Maler hatten gemeinsam den Bettrost von der Feuerstelle gewuchtet, wobei sich der bärtige Maler die Hände verbrannt und Rolf daraufhin seine Jeans ausgezogen und als Topflappen benutzt hatte. Als Rolf sich die Jeans wieder anzog, bluteten seine Nase und
die Wunde über der Augenbraue immer noch. Einige Teile des Spanferkels waren vom Bettrost ins Feuer gefallen und verkohlt, doch es gab noch jede Menge Essbares, und es war auf jeden Fall gut durchgebraten - ja es sah sogar ausgesprochen durch aus. »Was ist das?«, fragte Joe seinen Dad. »Schweinebraten - du magst Schwein doch«, erinnerte Danny ihn. »Früher war es mal ein Schwein«, erklärte Rolf dem Zweijährigen. »Ein ziemlich kleines, Joe«, fuhr Danny fort. »Keines von deinen großen Freunden im Pferch.« »Wer hat es totgemacht?«, fragte Joe. Er bekam keine Antwort, doch das bemerkte Joe gar nicht - er wurde abgelenkt. Lady Sky beugte sich über das angekokelte Spanferkel auf dem Bettrost; der kleine Joe war sichtlich von ihr beeindruckt und schien damit zu
rechnen, dass sie sich wieder in die Lüfte erheben und davonfliegen würde. »Lady Sky«, rief der Junge. Amy lächelte ihn an. »Bist du ein Engel?«, fragte Joe sie. (Für Danny sah sie allmählich wie einer aus.) »Na ja, manchmal schon«, sagte Lady Sky. Auch sie wurde abgelenkt. Ein Auto bog in die lange Auffahrt zur Schweinefarm ein wahrscheinlich Pilot und Kopilot des kleinen Flugzeugs, dachte Danny. Amy warf einen zweiten Blick auf das Spanferkel. »Doch es gibt Tage, da bin ich bloß Vegetarierin«, sagte sie zu Joe. »So wie heute zum Beispiel.« Im Autoradio sang Merle Haggard I'm a Lonesome Fugitive; vermutlich hatte jemand den Sender gewechselt. Draußen auf dem Rasen hatte Katie allein - oder mit dem Weinglas - vor sich hin getanzt, doch jetzt blieb sie stehen. Alle warteten neugierig auf
den Piloten und seinen Kopiloten, und sei es nur, um zu sehen, was bei ihrer Ankunft passieren würde. Ehe die beiden Männer ausstiegen, ging Amy zu ihrem Wagen. »Du kannst mich mal, Georgie - und du kannst mich auch, Pete«, begrüßte sie die beiden. »Wir waren zu hoch, um die Schweine zu sehen, Amy. Als du gesprungen bist, konnten wir sie wirklich nicht sehen«, erklärte einer der Männer. Er reichte ihr etwas zum Anziehen. »Du kannst mich mal, Pete«, wiederholte Amy. Sie warf ihr Badetuch nach ihm. »Beruhig dich, Amy«, sagte der andere Mann. »Die Typen auf der Farm hätten uns sagen müssen, dass es hier Schweine gibt.« »Tja - das hab ich ihnen klargemacht, Georgie«, sagte Amy. Georgie und Pete musterten die Künstler unter den Gästen. Sie hatten wohl bemerkt, dass
Rolf blutete und der bärtige Maler sich immer noch ein nasses T-Shirt aufs Gesicht drückte. Bestimmt war Pilot und Kopilot klar, dass das Amys Werk war. »Wer ist in den Schweinepferch gerannt und hat dir geholfen?«, fragte Pete. »Seht ihr den kleinen Burschen in den Boxershorts? Der Vater des kleinen Jungen, das ist er«, sagte Amy. »Mein Retter.« »Danke«, sagte Pete zu Danny. »Wir wissen das sehr zu schätzen«, sagte Georgie. Angezogen sah Lady Sky kaum weniger beeindruckend aus als nackt, was auch daran lag, dass sie sich wie ein Mann kleidete - von der Unterwäsche abgesehen, die schwarz und knapp war. Amy trug ein blaues Arbeitshemd aus Jeansstoff, das sie in die Hose steckte, und eine Jeans mit Gürtel samt einer großen Schnalle; ihre Cowboystiefel hatten ein
Klapperschlangenmuster. Sie ging zu Danny, der den kleinen Joe im Arm hielt. »Falls du je in Schwierigkeiten steckst, komme ich wieder«, sagte Lady Sky zu dem Jungen. Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Stirn. »In der Zwischenzeit passt du auf deinen Daddy auf.« Katie tanzte wieder allein vor sich hin, beobachtete aber, was für einen Wirbel die Fallschirmspringerin um ihren Mann und ihr Söhnchen machte. Sie ließ die große Frau nicht aus den Augen. Im Radio lief ein Song von dem Rolling-Stones-Album Between the Buttons, aber Danny erinnerte sich nie, wie der Song hieß. Mittlerweile hatte er ein drittes Bier intus und widmete sich seinem vierten - und das auf den Rotwein und auf leeren Magen. Offenbar hatte wieder jemand den Sender gewechselt. Danny hatte zugesehen, wie Lady Sky seinen Sohn küsste, und gespürt, dass dieser Kuss eigentlich für ihn bestimmt war. Amy wusste wohl, dass man bei Eltern am
besten Eindruck schindet, wenn man zu dem geliebten Kind nett ist. Aber wer war sie überhaupt?, fragte sich Danny. Der Kaiserschnittnarbe nach zu urteilen war sie Mutter, und Danny fragte sich, ob einer der beiden Clowns neben ihr vielleicht ihr Mann oder ihr Freund war. »Kriegen wir was zu essen?«, fragte Georgie. »Glaub mir, Georgie, hier wollen wir nichts essen«, klärte ihn Amy auf. »Nicht mal Pete«, fügte sie hinzu, ohne ihn anzusehen, als könne man nicht zulassen, dass Pete seine eigenen Essensentscheidungen traf. Daraus schloss Danny, dass sie mit keinem der beiden schlief. Pilot und Kopilot passten zwar auf, als sie Fallschirm und Gurtzeug in den Kofferraum des Wagens packten, konnten aber nicht verhindern, dass sie dabei Schweinescheiße abkriegten. Amy nahm auf dem Fahrersitz Platz.
»Fährst du, Amy?«, fragte Georgie. »Sieht ganz so aus«, antwortete sie. »Ich steig hinten ein«, sagte Pete. »Ihr steigt beide hinten ein«, befahl Amy. »Ich hab heute schon genug Schweinescheiße gerochen.« Doch ehe die Männer einstiegen, sagte die Fallschirmspringerin: »Seht ihr die hübsche Kleine da drüben, die Tänzerin? Man sieht ihre Titten durch das Hemd - die meine ich.« Danny wusste, dass Georgie und Pete Katie schon bemerkt hatten, so wie die meisten Männer. »Klar seh ich sie«, sagte Georgie. »Was ist mit ihr, Amy?«, fragte Pete. »Falls mir mal etwas zustoßen sollte - falls sich mein Schirm nicht öffnet oder so was -, dann könnt ihr sie um alles bitten. Jede Wette, dass sie es tun würde.«
Pilot und Kopilot sahen einander irritiert an. »Wie meinst du das, Amy?«, fragte Pete. »Willst du damit sagen, sie würde ohne Klamotten aus einem Flugzeug springen, so was in der Art?«, fragte Georgie. »Damit will ich sagen, sie würde ohne Fallschirm aus einem Flugzeug springen«, antwortete Amy. »Hab ich recht, Süße?«, fragte sie Katie. Das würde Danny nie vergessen - wie sehr es Katie genoss, im Mittelpunkt zu stehen, egal, aus welchem Grund. Seine Frau hatte ihre Sandalen wiedergefunden, hielt sie jetzt in der einen Hand, das Weinglas in der anderen und bewegte die Füße - sie tanzte immer noch. »Tja, das hinge von den Umständen ab«, sagte Katie und wackelte im Rhythmus der Musik mit dem Kopf, »aber ausschließen würde ich es nicht, nicht grundsätzlich.« »Versteht ihr jetzt, was ich meine?«, fragte
Amy Georgie und Pete, als die beiden auf dem Rücksitz Platz nahmen. Dann fuhr die Fallschirmspringerin los, doch nicht ohne den Künstlern durchs Fenster nochmals den Stinkefinger zu zeigen. Patsy Cline sang im Radio, und Katie hörte auf zu tanzen; offenbar hatte wieder jemand den Sender gewechselt. »Ich will das Schwein nicht essen«, teilte Joe seinem Dad mit. »Auch gut«, sagte Danny. »Dann suchen wir uns was anderes.« Er trug den Jungen zu seiner Mutter. Katie wiegte sich nur noch auf der Stelle, als warte sie darauf, dass eine andere Musik gespielt würde. Sie war offensichtlich betrunken, roch aber nicht mehr nach Marihuana - sie hatte sich auch den letzten Hauch von Gras mit Shampoo aus den Haaren gewaschen. »Unter welchen Umständen würdest du ohne Fallschirm aus einem Flugzeug springen?«, fragte Danny seine Frau.
»Vielleicht um einer langweiligen Ehe zu entkommen«, antwortete Katie. »Da ich fahre, würde ich gern vor Einbruch der Dunkelheit los«, sagte er ihr. »Lady Sky ist ein Engel, Mommy«, sagte Joe. »Das bezweifle ich«, widersprach Katie. »Uns hat sie erzählt, manchmal sei sie ein Engel«, sagte Danny. »Diese Frau ist noch nie ein Engel gewesen«, sagte Katie. Auf dem Rückweg nach Iowa City kotzte Joe in seinen Kindersitz. Während der gesamten Fahrt auf dem Highway u.s. 6 war ihnen ein Polizeiwagen gefolgt. Danny hatte befürchtet, dass ein Rücklicht defekt oder er vielleicht Schlangenlinien gefahren war; er überlegte sich gerade, wie viel Alkoholkonsum er eingestehen sollte, falls die Streife ihn
kontrollierte, als der Sheriff am Boulevard von Coralville nach Norden abbog und Danny in Richtung Zentrum weiterfuhr. Er hatte keine Ahnung, wie viel genau er getrunken hatte, wusste aber, dass er in seinen Boxershorts auf den Sheriff nicht sehr überzeugend gewirkt hätte. Als Danny gerade dachte, er hätte es geschafft, übergab sich Joe. »Das war wahrscheinlich der Kartoffelsalat«, sagte Danny zu dem Kleinen. »Ist nicht so schlimm. In ein paar Minuten sind wir zu Hause.« »Lass mich sofort aussteigen«, sagte Katie. »Hier?«, fragte Danny. »Du willst von hier nach Hause laufen?« Er sah, dass sie sich schon die Sandalen angezogen hatte. Sie waren immer noch in der Innenstadt. »Wer hat denn gesagt, ich käme mit nach Hause?«, fragte sie ihn. »Oh«, sagte Danny.
Er hatte gesehen, wie sie in der Küche des Farmhauses kurz vor Einbruch der Dunkelheit telefoniert hatte - wahrscheinlich mit Roger, dachte Danny jetzt. An der nächsten roten Ampel fuhr er rechts ran, und Katie stieg aus. »Lady Sky ist wirklich ein Engel, Mommy«, sagte Joe zu ihr. »Wenn du meinst«, sagte Katie und warf die Tür zu. Danny wusste, dass sie keine Unterwäsche anhatte, aber was machte das schon, wenn sie sich mit Roger traf? Sechs Jahre später. Der morgendliche Berufsverkehr auf der Iowa Avenue hatte nachgelassen, und Yi-Yiing war schon längst wieder aus dem Krankenhaus zurück und zu Hause in der Court Street. (Bestimmt hatte sie dem Koch erzählt, dass sie Danny und den kleinen Joe so früh am Morgen auf der Iowa
Avenue gesehen hatte.) »Warum wärst du auch gestorben - wenn mich das Auto wirklich überfahren hätte?«, fragte der inzwischen achtjährige Joe seinen Vater. »Weil du mich eigentlich überleben solltest. Wenn du vor mir stirbst, bringt mich das um, Joe«, sagte Danny. »Warum erinnere ich mich nicht an sie?«, fragte der Junge. »Du meinst deine Mom?« »Meine Mom, die Schweine und was dann passiert ist - ich erinnere mich an gar nichts mehr«, antwortete Joe. »Und Lady Sky?«, fragte sein Vater. »Ich weiß noch, dass jemand vom Himmel fiel, wie ein Engel«, sagte der Junge. »Echt?«, fragte Danny. »Ich glaub schon. Du hast mir noch nie von ihr erzählt, oder?«, fragte Joe. »Nein.« »Was ist denn dann passiert? Also nachdem
Mom aus dem Wagen gestiegen ist?« Natürlich hatte Danny Joe eine bereinigte Version der Spanferkelparty erzählt. Nachdem er den Zweijährigen von der Farm nach Hause gefahren hatte, passierte weniger, weswegen sich der Schriftsteller weniger als Zensor hatte betätigen müssen. (Wohl weil Katie nicht mit ihnen gekommen war.) Am frühen Abend, kurz nach Einbruch der Dunkelheit hatten nur einige Passanten, aber keiner der Nachbarn den Schriftsteller gesehen, wie er in Boxershorts seinen zweijährigen Sohn in die Erdgeschosswohnung des Zweifamilienhauses an der Iowa Avenue trug. »Riechst du die Schweine noch?«, hatte der kleine Joe seinen Dad gefragt, als sie in dem Apartment waren. »Nur in meiner Erinnerung«, antwortete Danny.
»Ich rieche sie noch, weiß aber nicht, wo sie sind«, sagte der Junge. »Vielleicht riechst du das Erbrochene noch, mein Schatz«, sagte Danny. Er badete den Kleinen und wusch ihm noch einmal die Haare. Obwohl die Fenster offen standen, war es drinnen warm. Danny legte dem kleinen Joe eine Windel an und brachte ihn zu Bett. Falls es nachts kälter würde, könnte er dem Jungen später immer noch den Schlafanzug anziehen. Selbst als Joe längst schlief, bildete sich Danny ein, immer noch die Schweine oder die Kotze zu riechen. Er zog sich eine Jeans an, ging zum Auto, brachte den Kindersitz in die Küche und wusch das Erbrochene ab. (Wahrscheinlich wäre es ungefährlicher gewesen, Joe das Schweinefleisch essen zu lassen statt des Kartoffelsalats, dachte er.) Später duschte Danny und wusch sich noch einmal die Haare. Wahrscheinlich hatte er
nach dem Wein noch fünf Bier getrunken. Auf ein weiteres hatte Danny keine Lust, aber ins Bett wollte er auch nicht gehen, und er hatte zu viel getrunken, um ans Schreiben auch nur zu denken. Katie würde die Nacht über wegbleiben, das stand für ihn fest. Sie hatten noch Wodka - den Katie trank, wenn sie nicht wollte, dass ihr Atem nach Alkohol stank - und etwas Rum aus Barbados. Im Kühlschrank fand Danny eine Limette; er schnitt eine Scheibe davon ab, gab sie samt Eis in ein hohes Glas und füllte das Glas mit Rum. In sauberen Boxershorts setzte er sich damit im dunklen Wohnzimmer eine Weile ans offene Fenster und beobachtete den Verkehr auf der Iowa Avenue. Es war die Zeit im Frühling, wo einem die Frösche und Kröten besonders laut vorkommen - vielleicht weil sie uns den ganzen Winter über gefehlt haben, dachte Danny. Er fragte sich, wie sein Leben wohl verlaufen
wäre, wenn er statt Katie eine Frau wie Lady Sky kennengelernt hätte. Möglicherweise lagen die Fallschirmspringerin und er vom Alter her doch nicht so weit auseinander, wie er zuerst vermutet hatte. Vielleicht hatte sie schlimme Dinge erlebt, die sie älter aussehen ließen, als sie war, spekulierte er. (Damit meinte Danny nicht die Narbe von ihrem Kaiserschnitt, sondern Schlimmeres.) Später wachte Danny auf dem Klo auf, wo er mit einer Zeitschrift auf dem Schoß eingeschlafen war; das leere Glas mit der Limettenscheibe glotzte ihn vom Badezimmerboden aus an. Es war kühl geworden. Danny machte das Licht in der Küche aus, wo er sah, dass er mehr als ein Glas Rum getrunken hatte - die Flasche war fast leer -, er erinnerte sich jedoch nicht, dass er sich einen zweiten (oder dritten) Drink eingeschenkt hatte. Er sollte wohl besser noch mal nach Joe sehen,
bevor er ins Bett wankte, und vielleicht sollte er dem Jungen einen Schlafanzug anziehen, doch Danny fand, um das schlafende Kind anzukleiden, sei er jetzt zu ungeschickt. Stattdessen schloss er das Fenster im Kinderzimmer und vergewisserte sich, dass die Seitengitter des Kinderbetts oben waren. Selbst wenn die Gitter unten gewesen wären, hätte Joe nicht aus dem Bett fallen können, und außerdem war der Junge in einem Alter, wo er aus dem Bett kletterte, egal, ob die Gitter unten waren oder nicht. Manchmal waren sie nicht richtig gesichert, konnten verrutschen und der Junge sich die Finger einklemmen. Danny vergewisserte sich noch einmal, dass die Gitter auch wirklich oben und eingerastet waren. Joe lag auf dem Rücken und schlief fest, als Danny sich über das Seitengitter beugte und seinem Sohn einen Gutenachtkuss gab, was nicht einfach war bei der Menge, die er getrunken hatte - um ein Haar hätte er das Gleichgewicht verloren.
Er ließ Joes Schlafzimmertür offen, damit er den Jungen hörte, falls der aufwachte und weinte. Die Tür des Elternschlafzimmers ließ er ebenfalls offen. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte kurz nach drei Uhr morgens, als Danny endlich ins Bett ging. Katie war von ihrem Besuch bei Roger noch nicht zurück, sofern es überhaupt Roger war, den sie besuchte. Sobald Danny die Augen schloss, fing das Schlafzimmer an, sich zu drehen. Er schlief mit offenen Augen ein - wenigstens glaubte er das, weil seine Augen sich sehr trocken anfühlten, als er am nächsten Morgen von einer Männerstimme geweckt wurde. »Auf der Straße ist ein Baby!«, brüllte irgendein Trottel. Danny roch das Marihuana. Offenbar war er noch nicht richtig wach, denn er bildete sich ein, der schreiende Mann wäre bekifft. Doch der Grasgeruch kam von dem Kissen neben
ihm. Dort schlief die nackte Katie. Sie hatte die Decken abgeschüttelt, und ihre Haare rochen wieder nach Marihuana. (Danny hatte schon länger den Eindruck, dass Roger ständig kiffte.) »Wem gehört das Baby?«, rief der Mann. »Das Baby muss doch irgendwem gehören!« Gelegentlich drang aus der lärmenden Studentinnenverbindung weiter westlich an der Iowa Avenue oder aus dem Stadtzentrum irres Geschrei bis zu ihnen, aber nie während des morgendlichen Berufsverkehrs. »Baby auf der Straße!«, wiederholte der Irre mehrmals. Im Schlafzimmer war es kalt, wie Danny erst jetzt merkte. Er war bei offenem Fenster eingeschlafen, und Katie hatte es offenbar beim Nachhausekommen, wann immer das gewesen war, nicht zugemacht. »Es ist nicht unser Scheißbaby«, sagte Katie. Entweder lallte sie, oder sie sprach in ihr
Kissen. »Unser Baby ist bei uns im Bett, Dumpfbacke!« »Ach was?«, fragte Danny und setzte sich auf; sein Kopf pochte. Der kleine Joe war nicht bei ihnen in dem zerwühlten Bett. »Tja, vorhin war er's«, sagte Katie; sie setzte sich jetzt ebenfalls auf. Ihre Wangen waren ein wenig rauh oder gerötet - wie das eben so ist, wenn man jemanden küsst, der einen kratzenden Bart hat, mutmaßte Danny. »Das Kind hat wegen irgendwas gejammert, da hab ich es zu uns ins Bett geholt«, sagte Katie noch. Doch Danny war schon in den Flur gelaufen. Er sah, dass Joes Bettchen leer und die Gitter unten waren; Katie war so klein, dass sie die Gitter runterlassen musste, um den Jungen aus seinem Bett zu heben. Auf der Iowa Avenue staute sich der Verkehr bis weit nach Osten, bis zu dem Knick, wo sie
in die Muscatine Avenue übergeht -, als hätte es auf der Avenue einen Unfall gegeben, direkt vor dem Erdgeschossapartment. Danny lief in Boxershorts aus der Haustür. In seinem halbnackten Zustand war er für den Fahrer des schmutzig weißen Lieferwagens, der den stadteinwärts fahrenden Verkehr blockierte, offenbar ein glaubhafter Kandidat für die Rolle des pflichtvergessenen Vaters. »Ist das Ihr Baby?«, schrie der Fahrer Danny an. Der Franz-Joseph-Bart und die buschigen Koteletten des Mannes jagten dem kleinen Joe wohl genauso viel Angst ein wie sein permanentes Geschrei. Der Fahrer des Lieferwagens hatte Joe auf den grasbewachsenen Mittelstreifen der Iowa Avenue in die Enge getrieben, ohne ihn hochzuheben oder auch nur zu berühren. In seiner Windel und mit wackligen Beinchen stand Joe auf dem Gras; er war aus dem Haus und über den Bürgersteig auf die Fahrbahn getrottet, und der schmutzig weiße
Lieferwagen war das erste Fahrzeug gewesen, das ihn fast überfahren hätte. Jetzt lief eine Frau aus dem Auto hinter dem weißen Lieferwagen auf den Mittelstreifen und hob den Kleinen hoch. »Ist das dein Daddy ?«, fragte sie Joe und zeigte auf Danny in seinen Boxershorts. Joe plärrte los. »Das ist mein Junge - ich habe noch geschlafen«, sagte Danny. Er überquerte die Fahrbahn und betrat den Mittelstreifen, doch die Frau - mittleres Alter, Brille, Perlenkette (Genaueres zu ihr fiel Danny später nicht ein) schien nicht bereit, das Baby herzugeben. »Ihr Baby war auf der Straße, Mann - ich hätte es fast überfahren«, sagte der Fahrer des Lieferwagens. »Ich hab gerade noch die Windel bemerkt, die hat so weiß geleuchtet.« »Man hat nicht den Eindruck, als hätten Sie das Baby gesucht oder auch nur gemerkt, dass es weg war«, stellte die Frau fest.
»Daddy«, sagte Joe und streckte die Ärmchen aus. »Hat dieses Kind eine Mutter?«, wollte die Frau wissen. »Sie schläft - wir haben beide geschlafen«, antwortete Danny. Er nahm den Kleinen aus den zögernd ausgestreckten Armen der Frau. »Danke«, sagte Danny zu dem Fahrer des Lieferwagens. »Sie sind ja noch stockbesoffen, Mann«, erwiderte der Fahrer. »Ist Ihre Frau auch besoffen?« »Danke«, wiederholte Danny. »Man sollte Sie anzeigen«, sagte die Frau zu ihm. »Ja, das stimmt«, antwortete Danny, »aber tun Sie's bitte nicht.« Inzwischen hupten einige Autos, und Joe fing wieder an zu weinen. »Vom Haus aus konnte
ich den Himmel nicht sehen«, sagte der Junge schluchzend. »Du konntest den Himmel nicht sehen?«, fragte sein Dad. Sie überquerten Fahrbahn und Gehsteig und betraten das Haus, von einem Hupkonzert begleitet. »Ich konnte nicht sehen, ob Lady Sky runterkommt«, sagte Joe. »Du hast nach Lady Sky Ausschau gehalten?«, fragte sein Vater. »Ich konnte sie nicht sehen. Vielleicht hat sie mich gesucht«, sagte der Junge. Es war eine breite Straße; Danny wurde klar, dass sein Sohn von der Straße oder dem Mittelstreifen aus den Himmel sehen konnte. Er hatte gehofft, Lady Sky würde wieder zur Erde sinken - mehr steckte nicht dahinter. »Mommy ist zu Hause«, teilte Joe seinem Dad mit, als sie das Apartment betraten, das der
Zweijährige nur Ampartment nannte. Seit er sprechen konnte, war ein Apartment ein Ampartment gewesen. »Ja, ich weiß«, sagte Danny. Er sah, dass Katie wieder eingeschlafen war. Ihm fiel auch auf, dass die Rumflasche auf dem Küchentisch völlig leer war. Hatte er sie ausgetrunken, ehe er ins Bett gegangen war, oder hatte Katie den Rest geleert, als sie nach Hause kam? Er brachte Joe ins Kinderzimmer und wechselte die Windel. Danny konnte seinem Sohn nicht in die Augen sehen - er stellte sich vor, wie ihn die offenen Augen des Zweijährigen anstarrten, der in seiner leuchtend weißen Windel tot auf der Straße lag. »Und dann hast du aufgehört zu trinken, stimmt's?«, fragte der achtjährige Joe seinen Vater. Während Danny die ganze lange
Geschichte erzählte, standen beide mit dem Rücken zu dem Haus, in dem sie mit Katie gewohnt hatten, auf dem Bordstein. »Mit dem Rum war dieses Kapitel beendet«, sagte Danny. »Aber Mom hat nicht mit Trinken aufgehört, oder?«, fragte Joe seinen Dad. »Deine Mom konnte nicht aufhören, mein Schatz - wahrscheinlich trinkt sie immer noch«, antwortete Danny. »Und ich hab Hausarrest, stimmt's?«, fragte Joe. »Nein, du hast keinen Hausarrest - du darfst überallhin, zu Fuß oder mit dem Bus. Dein Fahrrad hat Hausarrest«, antwortete Danny dem Jungen. »Vielleicht schenken wir es Max. Der kann's bestimmt als Zweitrad verwenden oder als Ersatzteillager.« Joe schaute hinauf in das strahlende Blau des
Herbsthimmels. Aus dieser Klemme würde ihm kein plötzlich landender Engel heraushelfen. »Du hast Lady Sky nie für einen Engel gehalten, stimmt's?«, fragte der Junge. »Sie hat gesagt, manchmal sei sie ein Engel, und das habe ich ihr geglaubt«, antwortete Danny. Auf der Suche nach dem blauen Mustang fuhr Danny später ganz Iowa City ab, fand ihn aber nicht. Auch die Polizei spürte den gefährlichen Wagen nie auf. Doch jetzt an der Iowa Avenue legte Danny dem Achtjährigen einfach nur den Arm um die Schultern. »Sieh es mal so«, sagte er zu seinem Sohn. »Dieser blaue Mustang sucht immer noch nach dir. Als du - nur mit einer Windel bekleidet - vor sechs Jahren auf dieser Straße gestanden hast, steckte der blaue Mustang vielleicht im Stau. Vielleicht war er ein paar Autos hinter dem weißen Lieferwagen; vielleicht wollte dich der blaue Mustang schon damals erwischen.«
»Er sucht nicht wirklich nach mir, oder?«, fragte Joe. »Und ob er das tut!«, sagte sein Dad. »Der blaue Mustang hat es auf dich abgesehen deshalb musst du aufpassen.« »Okay«, sagte der Achtjährige. »Kennst du irgendwelche Zweijährigen?«, fragte Danny ihn. »Nein«, antwortete der Junge, »nicht dass ich wüsste.« »Nun, es wäre gut, wenn du einen kennenlernen würdest«, sagte sein Dad, »nur damit du weißt, wie du damals auf der Straße ausgesehen hast.« In diesem Moment kam der Wagen des Kochs angefahren und hielt rechts am Bordstein, wo Vater und Sohn standen. »Steigt ein, ihr beiden«, forderte Tony Angel sie auf. »Ich setze Joe an der Schule ab, dann nehme ich dich mit nach Hause.«
»Joe hat noch nicht gefrühstückt«, wandte Danny ein. »Ich hab ihm ein dickes Lunchpaket gepackt, die Hälfte kann er auf der Fahrt zur Schule essen, Daniel. Steigt ein«, wiederholte er. »Es gab einen - Vorfall.« »Was ist passiert, Paps?«, fragte Danny. »Offenbar ist Youn noch verheiratet«, antwortete der Koch, als Danny und Joe einstiegen. »Offenbar hat Youn eine zweijährige Tochter, und ihr Mann und ihre Tochter besuchen sie gerade - nur um mal nachzusehen, wie sie mit dem Schreiben vorankommt.« »Sie sind jetzt im Haus?«, fragte Danny. »Zum Glück kamen sie erst, als Youn schon auf war. Sie war schon in ihrem Zimmer und schrieb«, sagte der Koch. Danny konnte sich denken, wie sie ihr
gemeinsames Schlafzimmer zurückgelassen hatte - tadellos aufgeräumt, ohne eine Spur von sich zu hinterlassen, nur das perlgraue Nachthemd unter dem Kissen, vielleicht war es auch das beigefarbene. »Youn hat eine zweijährige Tochter?«, fragte Danny seinen Dad. »Joe soll sie sich ansehen.« »Bist du verrückt?«, sagte der Koch zu seinem Sohn. »Joe muss doch in die Schule.« »Youn ist verheiratet?«, fragte Joe. »Sie hat ein Kind?« »Sieht ganz so aus«, sagte Danny. Er dachte an den Roman, an dem Youn gerade arbeitete dass er fabelhaft geschrieben war, aber nicht alles einen Sinn ergab. Trotz der meist glasklaren Prosa war an dem Buch immer irgendetwas undurchsichtig gewesen. »Du gehst wohl besser in die Schule, mein Schatz«, sagte Danny. »Du kannst ein andermal ein zweijähriges Kind
kennenlernen.« »Aber du willst doch, kennenlerne«, sagte Joe.
dass
ich
eins
»Worum geht's da nun schon wieder?«, erkundigte sich der Koch. Ohne irgendwelche gegenteiligen Anweisungen abzuwarten, fuhr er weiter in Richtung Joes Schule. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte Danny. »Wie ist ihr Mann denn so? Ist er ein Gangster?« »Er ist Chirurg in Korea, hat er mir erzählt«, antwortete Tony Angel. »Eigentlich nimmt Kyung an einem Chirurgenkongress in Chicago teil, hat aber seine Tochter mitgebracht und sich gedacht, er könnte seine Frau überraschen - und Youn ein paar Tage lang auf ihr Töchterchen aufpassen lassen, während er die Konferenz besucht. Ziemliche Überraschung, stimmt's?« »Er heißt Kyung?«, fragte Danny. In dem
Buch, das Youn schrieb, hieß der Gangster und Ehemann Jinwoo. Danny vermutete, dass sie sich nicht nur diesen Teil der Geschichte ausgedacht hatte. Und dabei hatte er immer geglaubt, ihr Roman wäre zu autobiographisch! »Ihr Ehemann macht einen netten Eindruck«, sagte Tony Angel. »Dann lerne ich also Youns zweijährige Tochter kennen?«, fragte Joe, als er aus dem Wagen stieg. »Iss etwas«, sagte der Großvater zu seinem Enkel. »Ich habe schon in der Schule angerufen und gesagt, du kommst später.« »Klingt ganz so, als würdest du das kleine Mädchen eventuell kennenlernen, ja«, sagte Danny dem Jungen. »Aber wonach sollst du Ausschau halten?«, fragte er Joe, während der seine Lunchbox öffnete und einen Blick hineinwarf.
»Nach dem blauen Mustang«, antwortete Joe prompt. »Kluger Junge«, sagte sein Vater. Erst kurz vor der Court Street eröffnete der Koch seinem Sohn: »Yi-Yiing und ich haben beschlossen, dass ihr beiden euch als Paar ausgeben solltet.« »Weshalb sollten Yi-Yiing und ich ein Paar sein?«, fragte Danny. »Weil ihr etwa gleich alt seid. Wenn der Ehemann aus Korea in der Nähe ist, solltet ihr einfach so tun, als wärt ihr zusammen. Nicht einmal ein koreanischer Chirurg wird mich verdächtigen, mit seiner Frau zu schlafen«, sagte der Koch. »Ich bin zu alt.« »Wie sollen wir das machen?«, fragte Danny seinen Dad. »Überlass das Yi-Yiing«, schlug sein Vater vor.
Im Nachhinein, dachte Danny, war das So-tunals-ob nicht das Hauptproblem dieser improvisierten Täuschung gewesen. Yi-Yiing gab sich überzeugend als Dannys Freundin aus - aber nur solange Youns Mann sich in dem Haus in der Court Street aufhielt. Für Danny war der Chirurg aus Seoul ein lieber Mann, der zugleich stolz und ein wenig verlegen war, dass er seine Frau, die Schriftstellerin, überrascht hatte. Youn wiederum konnte nicht verhehlen, wie sehr sie sich freute, ihre Tochter Soo wiederzusehen. Die koreanische Schriftstellerin hatte Dannys Blick gesucht in der Erwartung, er würde ihr ein wenig Mut machen, und Danny hoffte, dass es ihm gelungen war. Er war sogar erleichtert, denn er hatte ohnehin schon mit mehr als den üblichen Schuldgefühlen daran gedacht, dass ihre Wege sich bald trennen würden. Bis zum Semesterende würde er auf jeden Fall in Iowa City bleiben, und er hatte sogar gebeten, den Autorenworkshop noch um ein
Jahr verlängern zu dürfen, doch gleichzeitig wusste Danny, dass er wohl nicht so lange in der Stadt bleiben würde, bis Youn ihren Roman beendet hätte. (Und als er später wieder nach Vermont ging, zog Youn tatsächlich, wie er erwartet hatte, zurück nach Seoul.) Der Chirurg, der nur wenige Tage in Chicago bleiben würde, küsste Frau und Tochter zum Abschied. Alle Vorstellungen und Verabschiedungen waren in der Küche des Hauses in der Court Street erfolgt, wo der Koch sich aufführte, als sei er der Hausherr, und Yi-Yiing hatte sich ein paarmal hinter Danny geschlichen, die Arme um ihn geschlungen und ihn an sich gezogen - einmal hatte sie ihn sogar auf den Nacken geküsst. Da es ein warmer Herbsttag war, hatte der Schriftsteller nur ein T-Shirt und Jeans an und spürte Yi-Yiings seidenen Pyjama an seinem Rücken. Diese Umarmungen sollten eine Vertrautheit zwischen ihnen beiden
demonstrieren, vermutete der Schriftsteller, der nicht wusste, welche Schlüsse Youn daraus zog oder ob Yi-Yiing und der Koch die koreanische Ehebrecherin von ihrem Plan unterrichtet hatten, dass Danny und die Hongkonger Krankenschwester sich als Paar ausgeben sollten. Die Tochter, Soo, war ein kleiner Engel. »Trägt sie denn keine Windeln?«, fragte Danny den Chirurgen, weil er an den zweijährigen Joe zurückdachte. »Mädchen werden früher sauber als Jungen, Schatz«, antwortete Yi-Yiing, wobei sie, wie Danny fand, das Wort Schatz übertrieben betonte - doch der Koch hatte gelacht, genau wie Youn. Später fragte sich Danny, ob vielleicht auch Youn erleichtert gewesen war, als die Beziehung zu ihrem Literaturdozenten so unvermittelt und glatt endete. (Was musste danach noch groß erklärt werden?) Die Tage, als der koreanische Arzt auf dem
Kongress in Chicago und die kleine Soo bei ihnen war, verliefen recht angenehm. Und Joe konnte mit eigenen Augen sehen, wie ahnungslos ein zweijähriges Kind wirklich war - was die Gefahren des Straßenverkehrs anging, klar, aber auch was aus dem Himmel fallende Engel betraf. Der Achtjährige erlebte hautnah, dass die kleine Soo wirklich alles glaubte. Das duftige Neglige unter dem Kissen auf Youns Seite des Bettes entpuppte sich als das beigefarbene, und Danny wartete einen geeigneten Augenblick ab, um es ihr zurückzugeben. Jetzt gab es in seinem Schlafzimmer keinerlei Spuren ihrer Anwesenheit mehr. Youn schlief mit ihrem Töchterchen in ihrem Schreibzimmer; beide waren klein genug, um in das Bett dieses Extragästezimmers zu passen, allerdings hatte Danny Youn vorgeschlagen, die kleine Soo in dem Extra-Extragästezimmer unterzubringen (in dem Youns Mann, wie Danny aufgefallen
war, allein geschlafen hatte). »Eine Zweijährige sollte nicht unbeaufsichtigt schlafen«, hatte Youn Danny geantwortet, dem klar wurde, dass er die Neugier falsch interpretiert hatte, mit der Youn Joe gemustert hatte. Sie hatte sich nur gefragt, welche Veränderungen sie bei ihrer Tochter im Alter zwischen zwei und acht Jahren erwarten konnte. (Für das, worüber sie schrieb und warum, würde es wohl nie eine zufriedenstellende Erklärung geben, nahm Danny an.) Als Kyung aus Chicago zurückkam und bald darauf mit seinem Töchterchen nach Seoul zurückflog, beeilte sich Youn, eine eigene Unterkunft zu finden, und im nächsten Semester wechselte sie in den Literaturworkshop eines anderen Dozenten. Ob sie ihren Roman beendete, war für den Autor Danny Angel bedeutungslos. Auch ob Youn den Roman eines Tages veröffentlichen
würde, spielte für Danny keine große Rolle, der aus erster Hand wusste, dass während ihrer Zeit in Iowa City ihr fiktives Leben äußerst erfolgreich gewesen war. Ein wenig länger Bestand hatte Yi-Yiings erfolgreicher Versuch, sich als Dannys Freundin auszugeben. Die Krankenschwester war zwar nicht kokett veranlagt, doch noch Monate nachdem sie so tun musste, als seien sie und Danny ein Paar, rieb sich Yi-Yiing gelegentlich im Vorbeigehen an dem Schriftsteller oder fuhr mit den Fingern oder ihrem Handrücken über seine Wange. Offenbar geschah das völlig unbewusst, denn sie hielt jedes Mal sofort instinktiv wieder inne, kaum dass sie damit begonnen hatte. Danny bezweifelte, dass der Koch es je mitbekam; falls Joe es bemerkte, schenkte der Achtjährige dem keine Beachtung. »Wäre es dir lieber, wenn ich im Haus normale Sachen anziehen würde?«, fragte Yi-
Yiing eines Tages Danny. »Ich meine, vielleicht reicht es allmählich mit den Pyjamas.« »Aber du bist doch die Pyjama-Lady - die bist und bleibst du«, antwortete Danny ausweichend. »Du weißt, was ich meine«, entgegnete YiYiing. Sie zog keine mehr an - oder sie schlief nur noch im Pyjama. Ihre normale Kleidung war eine zuverlässigere Barriere zwischen ihnen, und der gelegentliche Kontakt - wenn sie ihn im Vorbeigehen streifte, wenn ihre Fingerspitzen oder die Knöchel ihrer kleinen Hände ihn berührten - hörte auch bald auf. »Mir fehlen Yi-Yiings Pyjamas«, gestand Joe eines Morgens seinem Dad auf dem Schulweg. »Mir auch«, sagte Danny, doch inzwischen hatte der Schriftsteller schon etwas mit einer anderen Frau.
Als Youn aus ihrem Leben verschwunden war - besonders später, während ihres letzten Jahres in Iowa City, als sie in dem dritten Haus in der Court Street wohnten -, nahmen Vater und Sohn ihre vertrauten Gewohnheiten wieder auf, als wäre nichts geschehen. Das dritte Haus stand auf der anderen Seite der Court Street, in der Nähe der Summit Street, und dort traf sich Danny tagsüber zu diskreten Schäferstündchen mit der unglücklichen Frau eines Dozenten, der sie betrog. Auch die Gasse hinter dem Haus - wo Joe, dem Selbstmitleid nahe, zusehen musste, wie Max auf seinem »Zweitrad« rutschen übte - war aus ihrem Leben verschwunden, genau wie das Opossum. Die Yokohamas, Sao und Kaori, wechselten sich immer noch als Joes Babysitterinnen ab, und alle erwähnten Personen verspürten offenbar das gesteigerte Bedürfnis (oder war es Verzweiflung?), sich bei Mao's zu treffen.
Der Koch wusste schon im Voraus, wie sehr ihm die Brüder Cheng fehlen würden - fast so sehr, wie ihm Yi-Yiing fehlen würde. Danny würde der Gelegenheit nachtrauern, herauszufinden, wie es wäre, mit der Hongkonger Krankenschwester zusammen zu sein. Doch noch vor seiner Rückkehr nach Vermont schloss er mit etwas anderem ab. Als ihr Abenteuer in Iowa zu Ende ging, ging auch - endlich - der Vietnamkrieg zu Ende. Die Stimmung im Mao's war nicht auf einen glücklichen Ausgang eingestellt. »Operation Frequent Wind«, wie man die Evakuierung Saigons durch Hubschrauber nannte (»Operation noch mehr Bockmist« hatte Ketchum sie getauft), wurde zur fatalen Ablenkung während der Essensvorbereitungen in dem asiatisch-französischen Restaurant. Der Fernseher in der kleinen Küche entpuppte sich als Quell allgemeiner Wut. Geschäftlich gesehen, war der April 1975 im
Mao's ein schlechter Monat gewesen. Vier Mal waren aus fahrenden Autos die Scheiben eingeworfen worden eines der Wurfgeschosse war ein Betonbrocken von der Größe eines Hohlblocksteins und ein anderes ein Felsklumpen. »Verdammte patriotische Farmer!«, hatte Xiao Dee die Vandalen genannt. Er und der Koch hatten eine Einkaufstour nach New York ausfallen lassen, weil Xiao Dee überzeugt war, das Mao's werde systematisch angegriffen oder - nach dem Fall Saigons - belagert werden. Ah Gou gingen seine Lieblingszutaten aus. (Dank Tony Angels Hilfe gab es auf der Speisekarte ein paar italienische Gerichte mehr als üblich.) Den ganzen Sommer über desertierten die südvietnamesischen Soldaten in Scharen. Sie flüchteten samt ihren Familien nach Saigon, weil sie offenbar glaubten, dort würden die Amerikaner ihnen helfen, aus dem Land zu fliehen. In den letzten beiden Aprilwochen hatten die usa mit einer Luftbrücke 60000
Ausländer und Südvietnamesen außer Landes geschafft; weitere Hunderttausende würden bald, auf sich allein gestellt, versuchen müssen zu fliehen. »Das wird das reinste Chaos«, prophezeite Ketchum. (»Was hatten wir denn anderes erwartet?«, sagte der Holzfäller später.) Kümmerte uns überhaupt, was geschehen würde?, dachte Danny. Er und Joe hatten einen eigenen Tisch im Mao's, und Yi-Yiing hatte sich zum Abendessen zu ihnen gesellt. Ihre Schicht in der Notaufnahme hatte sie ausfallen lassen, weil sie erkältet war und die Kranken oder Verletzten nicht noch kränker machen wollte, wie sie Danny und Joe erklärte. »Schließlich werde ich ja schon euch zwei anstecken - und Paps«, sagte sie lächelnd. »Schönen Dank auch«, antwortete Danny. Joe lachte; er vergötterte Yi-Yiing. Später in Vermont würde ihm seine eigene Krankenschwester fehlen. (Und mir wird
fehlen, dass ich eine Krankenschwester für ihn habe, dachte Danny.) An einem Tisch saßen zwei Paare, drei Geschäftsleute an einem anderen. Für das Mao's war es ein ruhiger Abend, aber es war auch noch früh. Das mit Brettern zugenagelte Fenster verschönerte den Eingangsbereich auch nicht unbedingt, dachte Danny gerade, als eine der Yokohamas mit zitternder Unterlippe aus der Küche kam, das Gesicht so weiß wie ihre Schürze. »Dein Dad sagt, du sollst dir ansehen, was im Fernsehen läuft«, sagte die junge Japanerin. »Der Fernseher ist in der Küche.« Danny stand auf, doch als Joe ihn begleiten wollte, sagte Yi-Yiing: »Du bleibst wohl besser bei mir, Joe.« »Ja, du bleibst hierl«, befahl Sao oder Kaori dem Jungen. »Du darfst das nicht sehen!« »Ich will aber sehen, was es ist«, sagte Joe.
»Tu, was Sao sagt, Joe, ich bin gleich wieder da«, wies ihn sein Dad an. »Ich bin Kaori«, sagte der japanische Zwilling zu Danny und brach in Tränen aus. »Wieso hab ich das Gefühl, dass ihr Amerikaner alle >Schlitzaugen< in einen Topf werft?« »Was läuft im Fernsehen?«, fragte Yi-Yiing. Die beiden Paare hatten über etwas gelacht und Kaoris Ausbruch nicht mitbekommen. Doch die Geschäftsleute waren erstarrt; bei dem Wort Schlitzaugen duckten sie sich über ihr Bier. Ah Gous kluge Freundin Tzu-Min war an diesem Abend Oberkellnerin. Wegen der steinewerfenden Farmer war Xiao Dee so aufgebracht, dass man ihn nicht bedenkenlos aus der Küche lassen konnte. »Geh wieder in die Küche, Kaori«, forderte Tzu-Min das schluchzende Mädchen auf. »Hier draußen wird nicht geschluchzt.«
»Was läuft im Fernsehen?«, fragte Yi-Yiing sie. »Joe sollte es besser nicht sehen«, antwortete ihr Tzu-Min. Danny war schon in der Küche verschwunden. Dort war die Hölle los. Xiao Dee schrie den Fernseher an. Sao, die andere japanische Zwillingsschwester, übergab sich in die große Spüle, in der der Tellerwäscher später die Töpfe und Pfannen schrubben sollte. Ed, der Tellerwäscher, stand abseits; er war trockener Alkoholiker und Veteran des Zweiten Weltkriegs, wie zahlreiche verblasste Tätowierungen bezeugten. Zu einer Zeit, als keiner ihn haben wollte, hatten die Brüder Cheng ihm Arbeit gegeben, und Ed war ihnen treu ergeben, auch wenn er in der kleinen Küche in Coralville manchmal Klaustrophobie bekam und ihm die politischen Gespräche im Mao's fremd waren. Für fremde Länder hatte Ed nichts übrig; dass Amerika aus Vietnam
abzog, fand er völlig in Ordnung. Er war bei der Marine gewesen, im Pazifik. Jetzt kotzte eine japanische Zwillingsschwester in seine Spüle, und die andere heulte wie ein Schlosshund. (Ed dachte vielleicht, dass er ihre Verwandten getötet hatte; falls dem so war, tat es ihm nicht leid.) »Wie geht's denn so, Ed?«, fragte Danny den Tellerwäscher. »Zurzeit nicht besonders gut«, antwortete Ed. »Kissinger ist ein Kriegsverbrecher!«, brüllte Xiao Dee. (Henry Kissinger war, wenn auch nur kurz, im Fernsehen zu sehen gewesen.) Ah Gou, der gerade Schalotten hackte, schwang bei der bloßen Erwähnung des Namens Kissinger sein Beil, doch jetzt zeigte das Fernsehen wieder die durch Saigons Straßen rollenden feindlichen Panzer; sie näherten sich der amerikanischen Botschaft, zumindest sagte das eine namenlose Stimme. Man schrieb fast Ende April - das waren die letzten
Lufttransporte, es war der Tag vor der Kapitulation Saigons. Etwa siebzig amerikanische Hubschrauber waren zwischen dem ummauerten Hof der Botschaft und den vor der Küste liegenden US-Kriegsschiffen hin- und hergependelt; an diesem einen Tag wurden an die 6200 Menschen evakuiert. Die letzten Hubschrauber, die Saigon verließen, hatten den US-Botschafter und die zur Bewachung der Botschaft eingesetzten Marines an Bord. Wenige Stunden später kapitulierte Südvietnam. Doch nicht dieser Anblick war auf dem kleinen Fernseher in der Küche des Mao's nur schwer zu ertragen. Es gab nämlich mehr Menschen, die Saigon verlassen wollten, als Plätze in Hubschraubern. Hunderte würden im Hof der Botschaft zurückbleiben. Dutzende Vietnamesen klammerten sich an die Kufen der letzten beiden Hubschrauber. Als die Helikopter aufstiegen, fielen sie in den Tod. Das Fernsehen wiederholte diese Szenen
immer und immer wieder. »Die armen Menschen«, hatte der Koch gesagt, nur Sekunden ehe Sao sich in Eds Spüle übergab. »Das sind keine Menschen, jedenfalls nicht für die meisten Amerikaner, sondern Schlitzaugen!«, rief Xiao Dee. Ah Gou schaute auf den Bildschirm statt auf die Schalotten und schnitt sich das erste Glied des Zeigefingers seiner linken Hand ab. Die immer noch weinende Kaori fiel in Ohnmacht; der Koch schleppte sie vom Herd weg. Danny nahm ein Geschirrtuch und wickelte es fest um Ah Gous Oberarm. Die Fingerspitze von Großer Bruder lag in einer blutigen Pfütze zwischen den gehackten Schalotten. »Hol Yi-Yiing«, sagte der Koch zu Sao. Ed nahm ein nasses Tuch und wischte dem Mädchen damit übers Gesicht. Sao sah genauso leichenblass aus wie ihre ohnmächtige Zwillingsschwester, doch sie kotzte nicht mehr und schwebte wie ein
Gespenst in Richtung Gastraum. Als sie die Schwingtür zum Gastraum aufstieß, hörte Danny einen der Geschäftsleute sagen: »Was für ein irrer, abgefuckter Laden ist das hier eigentlich?« »Ah Gou hat sich den Finger abgeschnitten«, hörte er Sao zu Yi-Yiing sagen. Dann schwang die Tür zu, und Danny hörte nicht, wie oder was Sao, Tzu-Min oder YiYiing dem Geschäftsmann antwortete oder ob eine der Frauen überhaupt versuchte, ihm zu antworten. (An dem Abend, als Saigon fiel, war das Mao's ein irrer, abgefuckter Laden.) Wieder schwang die Tür zum Gastraum auf, und alle kamen in die Küche - Yi-Yiing mit Joe, Tzu-Min und Sao. Danny wunderte sich schon, dass die drei Geschäftsleute und die beiden Paare nicht auch dabei waren, allerdings wäre für die in der chaotischen Küche kein Platz mehr gewesen.
»Gott sei Dank haben sie alle Perlhuhn bestellt«, sagte der Koch. Die auf dem Boden liegende Kaori setzte sich auf. »Die beiden Pärchen kriegen Perlhuhn«, sagte sie. »Die Anzugträger haben Ravioli bestellt.« »Ich meine nur die Paare«, sagte Tony Angel. »Die werden als Erste bedient.« »Ich warne euch - es fehlt nicht viel, und die Geschäftsleute gehen wieder«, meldete sich Tzu-Min. Yi-Yiing fand Ah Gous Fingerspitze in den Schalotten. Xiao Dee schlang die Arme um Ah Gou, während ihm der Koch Wodka auf den Stumpf seines linken Zeigefingers goss. Großer Bruder schrie immer noch, als YiYiing Tony Angel die Fingerspitze hinhielt, und dieser goss auch darüber Wodka; dann drückte sie die Fingerspitze auf ihren angestammten Platz. »Halt sie einfach fest«,
sagte sie zu Großer Bruder, »und hör mit dem Gebrüll auf.« Zu Dannys Bedauern sah Joe fern. Der Zehnjährige schien von dem Bild der sich an die Hubschrauberkufen klammernden und dann abfallenden Menschen wie gebannt zu sein. »Was passiert mit ihnen?«, fragte der Junge seinen Dad. »Sie sterben«, sagte Danny. »In den Hubschraubern ist kein Platz mehr für sie.« Ed hustete und verließ die Küche durch die Hintertür. Dort befand sich eine von Lieferanten und der Müllabfuhr benutzte Gasse, und alle dachten, Ed wolle draußen nur eine Zigarette rauchen. Doch der Tellerwäscher verschwand auf Nimmerwiedersehen. Yi-Yiing nahm Ah Gou mit zur Schwingtür hinaus und durch den Gastraum; er hielt die abgetrennte Fingerspitze fest, doch da jetzt
Danny nicht mehr das um seinen Oberarm gewickelte Tuch festzog, blutete Großer Bruder stark. Tzu-Min begleitete die beiden. »Dann werde ich wohl doch alle in der Notaufnahme mit meiner Erkältung anstecken«, sagte Yi-Yiing. »Was geht hier vor, verdammt?«, rief einer der Geschäftsleute. »Arbeitet hier überhaupt noch wer, oder was?« »Rassist! Kriegsverbrecher! Faschistenschwein!«, schrie der blutende Ah Gou sie an. In der Küche sagte der Koch zu seinem Sohn und seinem Enkel: »Ihr seid jetzt meine SousChefs - wir sollten loslegen.« »Es sind nur zwei Tische besetzt, Paps, das kriegen wir hin, glaub ich«, erwiderte Danny. »Wenn wir die Geschäftsleute einfach nicht beachten, gehen sie vermutlich«, sagte Kaori.
»Hier geht niemand!«, rief Xiao Dee. »Ich werd ihnen zeigen, was das für ein irrer, abgefuckter Laden ist - und wehe, es gefällt ihnen nicht!« Er betrat den Gastraum durch die Schwingtür um den Pferdeschwanz das groteske rosa Band, das möglicherweise Spicy gehörte -, und selbst nachdem die Tür wieder zugefallen war, hörten sie ihn in der Küche immer noch. »Wollt ihr das beste Essen, das ihr je hattet, oder wollt ihr sterben?«, brüllte Kleiner Bruder. »Asiaten sterben, aber ihr könnt vorzüglich speisen!«, schrie er die Geschäftsleute an. »Das Perlhuhn wird mit Spargel und einem Risotto mit Austernpilzen und Salbeijus serviert«, erklärte der Koch Danny und dem jungen Joe. »Das Risotto bitte nicht auf die Teller klatschen.« »Wo sind die Perlhühner her, Paps?«, fragte Danny.
»Natürlich aus Iowa - fast alles, was nicht aus Iowa kommt, ist uns ausgegangen«, sagte ihm der Koch. »Wollen Sie sehen, wie Ihre Ravioli mit Pilzen und Mascarpone gemacht werden?«, fragte Xiao Dee die Geschäftsleute. »Da kommt Parmesan und weißes Trüffelöl rein! Das sind die besten verdammten Ravioli, die Sie je kriegen werden! Glauben Sie etwa, weißes Trüffelöl kommt aus Iowa?«, fragte er sie. »Wollen Sie in die Küche kommen und einen Haufen Asiaten sterben sehen? Sie sterben gerade im Fernsehen - wenn Sie zusehen möchten!«, schrie Kleiner Bruder. Tony Angel wandte sich an die japanischen Zwillinge. »Geht raus, und rettet die Geschäftsleute vor Xiao Dee«, befahl er ihnen, »und zwar ihr beide.« Der Koch begleitete die Yokohamas bis zum Gastraum, wo sie den zwei Paaren ihre Perlhühner brachten. »Ihre Pasta ist
unterwegs«, sagte Tony den Geschäftsleuten; er fragte sich, warum sich die Männer so ruhig Xiao Dees Tirade angehört hatten. Jetzt sah er, dass Kleiner Bruder das blutige Hackebeil mit in den Gastraum genommen hatte. »Wir brauchen dich in der Küche - dahinten brauchen wir dich wie verrückt! Ohne dich gehen wir zugrunde!«, redeten die japanischen Zwillinge auf Xiao Dee ein. Sie klammerten sich an ihn, achteten aber darauf, das blutige Beil nicht zu berühren. Die Geschäftsleute blieben einfach sitzen und warteten, sogar als der Koch (samt Xiao Dee, Kaori und Sao) wieder in der Küche verschwunden war. »Was trinken die Faschistenschweine?«, wollte Xiao Dee von den Yokohamas wissen. »Tsingtao«, antwortete ihm Kaori oder Sao. »Bringt ihnen mehr davon - sorgt für Biernachschub!«, befahl ihnen Kleiner Bruder. »Was gibt es zu den Ravioli, Paps?«, fragte
Danny. »Die Erbsen«, antwortete ihm der Koch. »Nimm den Schaumlöffel, sonst ist zu viel Öl mit dabei.« Joe hatte kein Interesse daran, Sous-Chef zu sein, solange das Fernsehen die Hubschrauber zeigte. Als das Telefon klingelte, hatte Joe als Einziger die Hände frei; er nahm den Hörer ab. Sie alle wussten, dass kein Kellner im Gastraum war, und sie dachten, dass vielleicht Yi-Yiing oder Tzu-Min aus dem Mercy Hospital anrief, um zu berichten, ob Ah Gous Finger gerettet werden konnte. »Es ist ein R-Gespräch, von Ketchum«, sagte Joe. »Sag, dass du es annimmst«, wies ihn sein Großvater an. »Ich nehme es an«, sagte der Junge. »Red du mit ihm, Daniel, ich bin beschäftigt«, bat der Koch. Doch als der Telefonhörer weitergegeben
wurde, konnten alle hören, was Ketchum zu sagen hatte - weit weg, in New Hampshire. »Dieses Scheißland...« »Hi, ich bin's - hier ist Danny«, sagte der Schriftsteller. »Tut es dir immer noch leid, dass du nicht nach Vietnam gegangen bist, Kumpel?«, donnerte Ketchum ihn an. »Nein, das tut mir nicht leid«, antwortete Danny, aber nicht schnell genug; Ketchum hatte schon aufgelegt. Überall in der Küche war Blut. Auf dem Bildschirm baumelten die verzweifelten Vietnamesen von den Hubschrauberkufen und fielen runter. Das Debakel wurde den ganzen Tag wiederholt - weltweit, vermutete Danny, während er mit ansah, wie sein zehnjähriger Sohn das Ende des Krieges sah, an dem sein Dad nicht teilgenommen hatte. Die japanischen Zwillinge beschwichtigten die
Geschäftsleute mit mehr Bier. Xiao Dee stand im Kühlraum, die Tür war offen. »Wir haben kaum noch Tsingtao, Tony«, sagte Kleiner Bruder. Er trat aus dem Kühlraum und schloss die Tür; dann fiel ihm auf, dass die Tür zur Gasse noch offen stand. »Was ist mit Ed passiert?«, fragte Xiao Dee. Vorsichtig betrat er die Gasse. »Vielleicht hat ihn irgendein beschissener patriotischer Farmer für einen von uns >Schlitzaugen< gehalten und ihn umgelegt!« »Ich glaube, der arme Ed ist einfach nach Hause gegangen«, sagte der Koch. »Ich hab in seine Spüle gekotzt, vielleicht liegt's daran«, sagte Sao. Sie und Kaori waren wieder in die Küche gekommen, um die Pasta für die Geschäftsleute abzuholen. »Darf ich die Glotze ausschalten?«, fragte Danny in die Runde. »Ja! Mach sie bitte aus!«, rief eine der
Yokohamas. »Ed ist weg!«, schrie Xiao Dee aus der Gasse. »Die Scheißpatrioten haben ihn entführt!« »Ich kann Joe nach Hause und ins Bett bringen«, bot die andere Zwillingsschwester Danny an. »Vorher muss der Junge essen«, sagte der Koch. »Du kannst doch noch eine Weile den Kellner machen, Danny, oder?« »Klar«, antwortete der Schriftsteller. Er wusch sich Hände und Gesicht und band sich eine saubere Schürze um. Als er den Speiseraum betrat, schienen die Geschäftsleute überrascht zu sein, dass er weder Asiate war noch übermäßig wütend wirkte. »Was ist da in der Küche los?«, fragte ihn einer der Männer zaghaft; er wollte unbedingt vermeiden, dass Xiao Dee ihn hörte. »Der Krieg geht zu Ende, im Fernsehen«,
klärte Danny sie auf. »Die Pasta schmeckt phantastisch, trotz allem«, sagte ein anderer Geschäftsmann zu Danny. »Kompliment an den Koch.« »Ich werd's ihm ausrichten«, versprach Danny. Später kamen ein paar Dozenten vorbei, und einige stolze Eltern luden ihre studierenden Kinder zum Essen ein, aber wer nicht bei den aufgebrachten Asiaten in der Küche des Mao's war, erfuhr an diesem Abend nicht unbedingt, dass der Krieg vorbei war oder wie er geendet hatte. (Das Filmmaterial wurde nicht überall und auch nicht sehr lange gezeigt, jedenfalls nicht im größten Teil Amerikas.) Ah Gou behielt seine Fingerspitze. Kaori oder Sao brachte den kleinen Joe an diesem Abend heim und steckte ihn ins Bett, und Danny fuhr mit Yi-Yiing nach Hause. Und sobald das Mao's geschlossen hatte, fuhr auch der Koch nach Hause.
Es gab einen peinlichen Augenblick - nachdem die diensthabende japanische Babysitterin weg war und bevor der Koch nach Hause kam -, als Joe im ersten Stock schlief und Danny mit der Krankenschwester aus Hongkong in der Küche allein war. Yi-Yiing trank nicht, genau wie Danny und sein Dad. Sie machte sich einen Tee, der angeblich gegen ihre Erkältung half. »Tja, nun sind wir endlich allein«, sagte YiYiing zu ihm. »Jedenfalls sind wir fast allein«, ergänzte sie. »Nur du, ich und meine verdammte Erkältung.« Das Wasser im Kessel kochte noch nicht, und Yi-Yiing verschränkte die Arme vor ihren Brüsten und musterte Danny. »Was ist?«, fragte der. »Du weißt schon, was«, antwortete sie ihm. Er senkte als Erster den Blick. »Was macht der Plan, deine Tochter und deine Eltern herzuholen? Immer noch so
verzwickt?«, fragte er sie. Da wandte sie sich ab. »Ich bin gerade dabei, mir das ganz langsam anders zu überlegen«, antwortete Yi-Yiing. Viel später erfuhr der Koch, dass sie nach Hongkong zurückgekehrt war und dort als Krankenschwester arbeitete. (Keiner von ihnen fand je heraus, was aus Kaori und Sao geworden war, den Yokohamas.) An diesem Abend, als der Krieg endete, nahm Yi-Yiing ihren Tee mit nach oben und ließ Danny in der Küche allein. Die Verlockung war groß, den Fernseher einzuschalten, doch stattdessen schlenderte Danny hinaus auf den Gehsteig der Court Street. Es war nicht sehr spät - noch weit vor Mitternacht -, doch die meisten Häuser in der Straße waren dunkel, oder es brannte nur noch Licht im ersten Stock. Danny stellte sich vor, dass die Leute im Bett lasen oder fernsahen. In etlichen Häusern in der Nähe erkannte Danny das fahle
Licht eines Fernsehgeräts - ein unnatürlicher blaugrün-blaugrauer Schimmer. Irgendwas stimmte mit dieser Farbe nicht. Ende April war es in Iowa warm genug, dass einige Fenster offen standen, und auch wenn Danny nicht genau verstand, was im Fernsehen gesprochen wurde, so identifizierte er doch das monotone Gerede als die körperlose Stimme der Nachrichten - oder bildete es sich jedenfalls ein. (Woran hätte Danny gemerkt, dass sich jemand eine Liebesgeschichte oder sonst einen Film angesehen hätte?) Falls die Sterne leuchteten, so sah Danny sie nicht. Drei Jahre hatte er in der Court Street gewohnt; hier zu wohnen hatte nichts Bedrohliches gehabt, von dem fahrerlosen blauen Mustang abgesehen, und jetzt zogen der Schriftsteller und seine Familie zurück nach Vermont. »Dieses Scheißland ...«, hatte Ketchum gesagt, war aber zu wütend oder
betrunken oder beides gewesen, um das weiter auszuführen. War es nicht ohnehin ein zu hartes Urteil? Danny hoffte es. »Pass bitte auf meinen Dad und meinen kleinen Sohn auf«, sagte der Schriffsteller laut, aber mit was oder wem redete er da eigentlich? Mit der Sternenlosen Nacht über Iowa City? Mit der einzigen wachen und ruhelosen Seele an der Court Street, die ihn hören mochte vielleicht Yi-Yiing, falls sie noch wach war? Danny trat vom Gehsteig auf die leere Fahrbahn, als wolle er den blauen Mustang provozieren, von ihm Notiz zu nehmen. »Tu bitte meinem Vater oder meinem Sohn nichts an«, sagte Danny. »Tu mir etwas an, wenn du jemandem etwas antun musst.« Doch wen gab es da draußen unter dem Sternenlosen Himmel, der auf sie aufpassen oder ihnen etwas zuleide tun würde? »Lady Sky?«, sagte der Schriftsteller fragend, doch Amy hatte nie behauptet, ein Vollzeitengel zu
sein, und er hatte sie seit acht Jahren nicht gesehen. Niemand antwortete.
11 - Honog Wo ist mein Gedächtnis geblieben?, dachte der Koch; er war fast sechzig und hinkte stärker als früher. Tony Angel kramte in seiner Erinnerung, zu welchen Märkten in Chinatown ihn Kleiner Bruder mitgenommen hatte. Kam Kuo lag an der Mott Street, Kam Man an der Bowery - oder war es umgekehrt? Ganz egal, befand der Koch; an die wichtigeren Dinge konnte er sich immer noch erinnern. Wie hatte Xiao Dee bei ihrem Abschied geweint, wie hatte Ah Gou die wiederangenähte Spitze seines linken Zeigefingers verdreht, um sich zum Weinen zu bringen. »She bu de!«, hatte Xiao Dee gerufen.
»She bu de!«, hatte Ah Gou geheult und die vernarbte und leicht schiefe Fingerbeere verdreht. Chinesische Einwanderer sagten zueinander she bu de, wie Xiao Dee dem Koch auf einer ihrer sechzehnstündigen Marathontouren nach oder aus Manhattan erklärt hatte, irgendwo auf der I-80. Man sagte she bu de, wenn man seine chinesische Heimat verließ und nach New York oder San Francisco aufbrach - oder an einen anderen fernen Ort, wo man seine Freunde aus Kindertagen und Familienangehörigen vielleicht nie wiedersehen würde. (Xiao Dee hatte Tony Angel erzählt, she bu de bedeute so etwas wie »Ich ertrage es nicht, loszulassen«. Man sagt es, wenn man sich von etwas nicht trennen will, was man hat.) »She bu de«, flüsterte der Koch in seiner geliebten Küche im Avellino vor sich hin. »Wie meinen, Boss?«, fragte ihn Greg, sein
Sous-Chef. »Ich hab mit meinen Calamari gesprochen«, sagte Tony. »Bei Tintenfischen ist es so, Greg, entweder kocht man sie nur ein wenig, oder man kocht sie ewig und drei Tage - irgendwas dazwischen, und sie sind Gummi.« Diesen Monolog über Tintenfisch hörte Greg nicht zum ersten Mal. »Hm-m«, machte der Sous-Chef. Die Calamari, die der Koch für seinen Sohn Daniel zubereitete, gehörten zu der EwigVariante. Tony Angel dünstete sie langsam mit geschälten Dosentomaten und Tomatenmark - und mit Knoblauch, Basilikum, Chiliflocken und schwarzen Oliven. Gegen Ende fügte er Pinienkerne und gehackte Petersilie hinzu, und er servierte den Tintenfisch auf Penne, mit noch mehr gehackter Petersilie bestreut. (Nie mit Parmesan, nicht zu Calamari.) Nach der Pasta würde Daniel nur einen kleinen Rucolasalat
bekommen, vielleicht mit ein wenig Ziegenkäse; der Koch hatte einen recht guten Vermonter chevre aus der Gegend. Doch in diesem Moment waren die Salamipizzas fertig, die der Koch aus seinem Stanley-Holzofen zog. (»She bu de«, flüsterte er dem alten irischen Ofen zu, worauf Greg ihm prompt den nächsten Blick zuwarf.) »Du weinst schon wieder - ist dir das klar?«, sagte Celeste zu Tony. »Willst du darüber reden?« »Das müssen die Zwiebeln sein«, antwortete der Koch. »Blödsinn, Tony«, sagte sie. »Sind das meine Salami für die alten Schnepfen da draußen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Celeste fort: »Wehe, es sind nicht meine Pizzas. So hungrig, wie die ollen Mädels aussehen, würden sie glatt Danny als Vorspeise essen.« »Nun nimm sie endlich mit«, sagte Tony
Angel zu Celeste. Er hatte die Penne schon in den Topf mit kochendem Wasser gegeben. Jetzt nahm er eine mit einem Schaumlöffel heraus und probierte sie, wobei er Celeste bei ihrem dramatischen Abgang aus der Küche nicht aus den Augen ließ. Loretta sah ihn prüfend an, als wolle sie einen Code entschlüsseln. »Was ist?«, fragte der Koch. »Geheimnisvoller Mann«, sagte Loretta. »Danny ist auch ein geheimnisvoller Mann, stimmt's?« »Du bist genauso dramatisch veranlagt wie deine Mutter«, antwortete der Koch lächelnd. »Sind die Calamari fertig, oder erzählst du ihnen deine Lebensgeschichte?«, fragte ihn Loretta. Im Speiseraum rief Dot: »He, die Pizza sieht aber dünn aus!« »Die ist echt dünn«, sagte May anerkennend.
»Unser Koch macht tolle Pizzas«, teilte Celeste ihnen mit. »Bei ihm werden sie immer dünn.« »Was tut er in den Teig?«, wollte Dot von der Kellnerin wissen. »Genau, was ist seine geheime Zutat?«, fragte May. »Ich weiß gar nicht, ob er eine hat«, antwortete Celeste. »Ich frag ihn mal.« Die beiden langten zu und beachteten sie nicht mehr. »Hoffentlich sind die Damen hungrig«, fügte Celeste hinzu, als sie sich zum Gehen wandte. Dot und May aßen einfach weiter; jetzt war nicht die Zeit zum Reden. Dannys Irritation wuchs, als er die Frauen essen sah. Wo hatte er Leute so essen sehen?, überlegte er. Bestimmt nicht in Exeter, wo es zwar nicht auf Tischmanieren ankam, aber das Essen scheußlich war. In Exeter stocherte man höchst misstrauisch in seinem Essen herum -
und man redete pausenlos, sei es auch nur, um sich von den Speisen abzulenken. Die alten Frauen hatten zusammen geredet und geflüstert (und wie Hühner gegackert), doch jetzt wechselten sie kein Wort mehr miteinander, sahen sich nicht einmal an. Die Unterarme auf den Tisch gelegt, beugten sie sich mit gesenktem Kopf über ihren Teller. Die Schultern hatten sie hochgezogen, als wollten sie einen Angriff von hinten abwehren, und Danny stellte sich vor, wenn er näher bei ihnen säße, würde er sie vielleicht stöhnen oder brummen hören - ein Geräusch, das so eng mit Essen verbunden war, dass es den Frauen nicht bewusst war und sie es schon lange nicht mehr hörten. Im North End hatte keiner so gegessen, dachte der Schriftsteller. Im Vicino di Napoli war eine Mahlzeit ein Fest, ein Ereignis, das zu Tischgesprächen animierte; die Menschen beschäftigten sich beim Essen miteinander.
Und im Mao's unterhielt man sich nicht nur beim Essen, man schrie. Und man teilte die Speisen miteinander, während diese beiden alten Schachteln ihre Pizzas offenbar voreinander abschirmten. Wie Hunde schlangen sie ihr Essen hinunter. Danny wusste, dass sie keinen Krümel übriglassen würden. »Auf die Red Sox kann man sich einfach nicht verlassen«, sagte Greg gerade, doch der Koch konzentrierte sich auf das ÜberraschungsTintenfischgericht für seinen Sohn; er hatte gar nicht mitbekommen, was während der Baseballübertragung passiert war. »Daniel mag besonders viel Petersilie«, sagte er gerade zu Loretta, als Celeste die Küche betrat. »Die beiden alten Schnepfen wollen wissen, ob es in deinem Pizzateig eine geheime Zutat gibt, Tony«, informierte Celeste den Koch.
»Und ob es die gibt - Honig«, antwortete Tony Angel. »Darauf wäre ich nie gekommen«, sagte Celeste. »Das ist ein echtes Geheimnis.« Draußen im Speiseraum fiel Danny Angel plötzlich ein, wo er Menschen so hatte fressen sehen, wie diese beiden alten Frauen ihre Pizzas runterschlangen, wie Tiere. So hatten die Wald- und Sägewerksarbeiter gegessen nicht nur im Kochhaus in Twisted River, sondern auch in den behelfsmäßigen Wanigans, wenn er und sein Vater die Holzfäller früher während einer Trift verpflegt hatten. Diese Männer aßen, ohne dabei zu reden; manchmal hatte selbst Ketchum kein Wort gesagt. Doch diese rabiat aussehenden Weiber konnten unmöglich Holzfäller gewesen sein, dachte Danny gerade, als Loretta seinen Gedankengang unterbrach. »Überraschung!«, rief die Kellnerin und stellte das Tintenfischgericht vor ihn hin.
»Ich hatte auf Calamari gehofft«, sagte Danny. »Ha!«, machte Loretta. »Ich sag's deinem Dad.« May hatte als Erste ihre Salamipizza aufgegessen, und wer sah, wie sie das letzte Stück auf Dots Teller beäugte, hätte sich vielleicht bemüßigt gefühlt, Dot zu warnen, dass sie ihrer alten Freundin nie ganz trauen sollte. »Anscheinend hat mir meine ein bisschen besser geschmeckt als dir deine«, sagte May. »Mir schmeckt meine ganz gut«, entgegnete Dot mit vollem Mund, während sie mit Daumen und Zeigefinger rasch den Rand des kostbaren letzten Pizzastücks packte. May schaute weg. »Endlich isst der Schreiberling was, und es sieht ziemlich lecker aus«, bemerkte sie. Dot grunzte nur und aß ihre Pizza auf. »Würdest du sagen, sie schmeckt fast so gut
wie die von Cookie?«, fragte May. »Nö«, sagte Dot und wischte sich über den Mund, »keine Pizza ist so gut wie die von Cookie.« »Ich sagte fast, Dot.« »Dicht dran vielleicht«, meinte Dot. »Hoffentlich haben die Damen noch genug Appetit für eine Nachspeise«, sagte Celeste. »Offenbar waren die Pizzas genau nach Ihrem Geschmack.« »Was ist die geheime Zutat?«, fragte May die Kellnerin. »Das erraten Sie nie«, sagte Celeste. »Bestimmt ist es Honig«, sagte Dot; sie und May gackerten wieder los, hörten aber auf zu gackern, als sie merkten, wie die Kellnerin sie ansah. (Es kam nicht sehr oft vor, dass Celeste sprachlos war.) »Moment mal«, sagte May. »Es ist wirklich
Honig, ja?« »Das hat der Koch jedenfalls gesagt - er tut Honig in seinen Teig«, antwortete Celeste. »Na klar, und als Nächstes wollen Sie uns weismachen, dass der Koch hinkt«, sagte Dot. Das fanden die beiden alten Schachteln nun wirklich zum Schießen; Dot und May konnten gar nicht aufhören, über den Witz zu gackern, doch Celestes verdutzte Miene entging ihnen nicht. (Sie sprach Bände: Jawohl, der Koch hinkte, und zwar gewaltig!) Danny hatte Fetzen ihres Gesprächs aufgeschnappt, ehe die beiden anfingen, unkontrolliert zu gackern. Er hatte gehört, wie Celeste etwas von Honig sagte, den sein Dad in den Pizzateig gab, und wie eine der beiden Alten sich über das Hinken des Kochs lustig machte. Danny wurde wachsam, wenn es um das Hinken seines Vaters ging; zu diesem Thema hatte er so viele Witze gehört, dass sie für ein ganzes Leben reichten, hauptsächlich
von den Dödeln aus West Dummer, in der hundsmiserablen Schule der Paris Manufacturing Company. Und warum sah Celeste plötzlich so bestürzt aus?, fragte sich Danny. »Hatten sich die Damen nicht für den Kuchen und den Cobbler interessiert?«, fragte die Kellnerin. »Moment mal«, wiederholte May. »Soll das heißen, der Koch hinkt?« »Er hinkt ein wenig«, antwortete Celeste zögerlich, hatte es aber praktisch bereits zugegeben. »Woll'n Sie uns verarschen?«, fragte Dot die Kellnerin. Celeste wirkte pikiert, aber auch beunruhigt; sie wusste zwar, dass etwas nicht stimmte, wusste aber nicht, was es war oder warum. Genauso wenig wie Danny, der auch beunruhigt aussah.
»Hören Sie, unser Koch hinkt, und er tut Honig in seinen Pizzateig - das ist doch keine große Sache«, sagte Celeste zu ihnen. »Für uns ist es vielleicht eine große Sache«, gab May zurück. »Ist er ein kleiner Kerl?«, fragte Dot. »Genau - und wie heißt er?«, fragte May. »Ich würde sagen, unser Koch ist von... schmächtiger Statur«, antwortete Celeste vorsichtig. »Er heißt Tony.« »Oh«, sagte Dot enttäuscht. »Tony«, wiederholte May kopfschüttelnd. »Sie können uns ein Stück Apfelkuchen und einen Blaubeer-Cobbler bringen«, sagte Dot der Kellnerin. »Die teilen wir uns«, ergänzte May. Damit hätte es enden können, wenn Danny nicht gesprochen hätte; seine Stimme brachte
Dot und May dazu, ihn sich genauer anzusehen. Zunächst war ihnen die äußerliche Ähnlichkeit des Schriftstellers mit seinem Vater als jungem Mann entgangen, aber Dannys Sprachgewandtheit erinnerte sowohl Dot als auch May an den Koch. In einem Ort wie Twisted River waren der Wortschatz des Kochs - und seine perfekte Aussprache aufgefallen. »Dürfte ich mich erkundigen, ob die beiden Damen hier aus der Gegend sind?«, fragte Danny die alten Zimtzicken. »Herr im Himmel, May«, sagte Dot zu ihrer Freundin. »Erinnert dich diese Stimme nicht an früher?« »An viel früher«, sagte May und musterte Danny unverwandt. »Und sieht er nicht auch noch genau wie Cookie aus?« Das Wort Cookie genügte, um Danny zu verraten, woher die beiden Alten kamen und
warum sie Celeste wegen des Honigs im Pizzateig und eines kleinen hinkenden Kochs so gelöchert hatten. »Du hast mal Danny geheißen«, sagte Dot zu ihm. »Hast du auch deinen Namen geändert?« »Nein«, antwortete ihnen der Schriftsteller zu rasch. »Ich muss den Koch hier kennenlernen«, sagte May. »Warum sagst du deinem Dad nicht, er soll mal rauskommen und uns hallo sagen?«, fragte Dot Danny. »Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen, wir müssen da einiges nachholen.« Celeste kam mit den Nachspeisen, die, wie Danny wusste, die Damen nur vorübergehend ablenken würden. »Celeste«, bat Danny, »würdest du Paps bitte ausrichten, dass ihn zwei alte Freundinnen
sprechen möchten? Sag ihm, sie sind aus Twisted River.« »Unser Koch heißt Tony«, sagte Celeste den alten Zimtzicken ein wenig verzweifelt. Sie hatte genug über Twisted River gehört, um zu hoffen, nie wieder etwas darüber zu hören. (Der Koch hatte ihr erzählt, an dem Tag, an dem Twisted River ihn einholte, wäre alles aus und vorbei.) »Euer Koch heißt Cookie«, sagte Dot der Kellnerin. »Sagen Sie ihm einfach, wir ersticken«, legte May nach. »Dann kommt er angerannt.« »Angehumpelt, wolltest du sagen«, korrigierte sie Dot, doch ihr Gegacker war nun gedämpft. Für Danny hörte es sich an, als hätten diese Frauen mit seinem Vater noch ein Hühnchen zu rupfen. »Du hast die gleiche arrogante Stimme wie dein Daddy«, sagte May zu Danny.
»Ist die Indianerin auch hier?«, fragte ihn Dot. »Nein, Jane ist... schon lange weg«, antwortete Danny. In der Küche waren Celestes Augen immer noch trocken, als sie an ihrer Tochter vorbeiging. »Bei der achtköpfigen Gruppe hätte ich ein wenig Hilfe gebrauchen können, Mom«, sagte Loretta zu ihr, »und dann kamen noch drei Paare rein, aber du hast ständig nur mit diesen alten Schnepfen gequatscht.« »Diese alten Schnepfen sind aus Twisted River«, sagte Celeste dem Koch. »Ich soll dir von ihnen ausrichten, dass sie ersticken ... Cookie.« Noch nie hatte Celeste bei Tony Angel so einen Gesichtsausdruck gesehen das hatte keiner von ihnen -, aber sie hatte ihn ja auch noch nie »Cookie« genannt. »Gibt es Schwierigkeiten, Boss?«, fragte der Sous-Chef. »Es war der Honig in der Pizza, stimmt's?«,
sagte Celeste. »Ich schätze, der Honig hat es verraten.« »Dot und May. Es ist zu Ende, mein Schatz«, sagte Tony Angel zu Celeste; sie fing an zu weinen. »Mom?«, sagte Loretta. »Ihr kennt mich nicht«, beschwor der Koch sie alle. »Und wohin ich jetzt gehe, werdet ihr nie erfahren.« Er nahm die Schürze ab und ließ sie zu Boden fallen. »Du übernimmst das Kommando, Greg«, sagte er zu dem SousChef. »Sie kennen deinen Nachnamen nicht, außer Danny plaudert ihn aus«, brachte Celeste heraus; Loretta hielt ihre schluchzende Mutter im Arm. Der Koch ging in den Speiseraum. Danny stand zwischen ihm und den beiden rabiaten Weibern. »Vom Namen Angel wissen sie nichts, Paps«, flüsterte Danny ihm zu.
»Nun, dafür muss man dankbar sein«, sagte Tony Angel. »Ein leichtes Hinken würd ich das nicht nennen - du vielleicht, May?«, fragte Dot ihre alte Freundin. »Hallo, Ladys«, sagte der Koch, trat aber nicht näher. »Das Hinken ist schlimmer geworden, wenn du mich fragst«, antwortete May Dot. »Wieso hast du deinen Namen geändert, Cookie?«, wollte Dot wissen. »Tony lässt sich leichter aussprechen als Dominic«, antwortete er, »klingt aber immer noch italienisch.« »Du siehst furchtbar aus, Cookie - du bist ja weiß wie die Wand!«, sagte May. »In der Küche kriege ich kaum Sonnenschein ab«, erwiderte der Koch. »Du siehst aus, als hättest du dich unter einem
Felsen versteckt«, befand Dot. »Wieso seid du und Danny so erschrocken, uns zu sehen?«, fragte ihn May. »Sie tun uns gegenüber immer so arrogant«, erinnerte Dot ihre Freundin. »Schon als Kind warst du ein arroganter kleiner Rotzlöffel«, sagte sie zu Danny. »Wo lebt ihr inzwischen?«, fragte der Koch die beiden. Er hoffte, dass sie in der Nähe wohnten - irgendwo in Vermont oder im Staat New York -, aber ihr Dialekt und allein schon ihr Aussehen verrieten ihm, dass sie immer noch im Coos County lebten. »In Milan«, antwortete May. »Ab und an sehen wir deinen Kumpel Ketchum.« »Nicht dass Ketchum uns grüßen würde oder so was«, sagte Dot. »Ihr wart alle immer dermaßen arrogant - ihr drei und die Indianerin!«
»Na dann ...«, begann der Koch; seine Stimme erstarb. »Ich habe viel zu tun, in der Küche.« »Zuerst wolltest du Honig in den Teig tun, dann wieder nicht. Dann hast du deine Meinung noch mal geändert, schätze ich«, sagte May zu ihm. »Das stimmt«, erwiderte der Koch. »Ich werd mal einen Blick in die Küche werfen«, sagte Dot plötzlich. »Den beiden glaub ich kein einziges Wort. Ich wird selber nachsehen, ob Jane noch bei ihm ist!« Weder Danny noch sein Dad machten Anstalten, sie aufzuhalten. May blieb einfach bei ihnen und wartete, während Dot die Küche betrat. »Da drin sind zwei heulende Kellnerinnen, ein junger Koch, so 'ne Art Hilfskellner und ein Junge, ein Tellerwäscher oder so - keine Indianerin«, verkündete Dot, als sie zurückkam. »O Mann, du siehst mir ganz so aus, als
würdest du deinen Schniepel wo reinstecken, wo du's besser nicht tun solltest, Cookie!«, sagte May. »Und du auch«, sagte sie zu Danny. »Hast du Frau und Kinder oder so?« »Keine Frau, keine Kinder«, antwortete Danny - wieder zu rasch. »Blödsinn«, sagte Dot. »Der lügt doch wie gedruckt!« »Und du vögelst wohl auch niemanden?«, fragte May den Koch. Der gab keine Antwort, sondern sah immer nur seinen Sohn Daniel an. In Gedanken waren sie weit weg, hatten diesen Augenblick im Avellino längst hinter sich gelassen. Wie rasch konnten sie aufbrechen? Wohin würden sie diesmal fliehen? Wie lange würde es dauern, bis diese alten Zimtzicken Carl über den Weg liefen, und was würden sie ihm erzählen, wenn sie ihm begegneten? (Carl wohnte in Berlin, Ketchum in Errol. Milan lag dazwischen.) »Wenn du mich fragst, bumst Cookie unsere Kellnerin - die ältere«, sagte Dot zu May. »Die
heult am meisten.« Der Koch machte einfach kehrt und steuerte auf die Küche zu. »Sag ihnen, das Essen geht aufs Haus, Daniel Gratispizza, Gratisnachtisch«, sagte er im Gehen. »Das musst du uns nicht sagen - wir haben es gehört«, sagte May zu Danny. »Warum bist du nicht einfach ein bisschen nett zu uns - schön, euch zu sehen, oder so was!«, rief Dot dem Koch nach, doch der war schon weg. »Du musst uns kein Essen ausgeben, Cookie!«, schrie Dot in Richtung Küche, ging ihm aber nicht nach. May legte Geld auf Dannys Tisch, zu viel für das Abendessen der beiden, doch Danny ließ sie gewähren. »Und den Kuchen und den Cobbler haben wir nicht mal gegessen!«, sagte sie ihm. May zeigte auf das Notizbuch. »Was bist du denn, der Scheißbuchhalter oder was? Du führst Buch, hm?«
»So ist es«, sagte er. »Du und dein Dad, ihr könnt mich mal«, sagte Dot zu ihm. »Cookie war immer ein dünkelhafter Kerl, und du warst immer ein dünkelhaftes Bürschchen!«, legte May nach. »Tut mir leid.« Danny wollte einfach nur, dass sie gingen, damit er sich auf das konzentrieren konnte, was er und sein Dad noch alles machen mussten, und darauf, wie viel oder wie wenig Zeit ihnen dafür blieb - angefangen damit, dass sie es Ketchum erzählten. Unterdessen war die Gruppe von acht Personen immer noch nicht bedient, und an einem anderen Tisch saßen drei verdutzt dreinschauende Paare. Alle hatten sie die Auseinandersetzung genau beobachtet, doch die war jetzt vorbei. Dot und May brachen auf. Beim Verlassen des Restaurants zeigten beide Danny den Stinkefinger. Einen verwirrenden
Moment lang - fast so, als wären die beiden nicht real oder als hätten sie nie den Weg ins Avellino gefunden - schienen die alten Damen nicht zu wissen, welche Richtung sie auf der Main Street einschlagen mussten. Dann fiel ihnen offenbar ein, dass sie weiter unten geparkt hatten, hinter dem Latchis Theatre. Als die alten Zimtzicken weg waren, wandte sich Danny an die verunsicherten und wartenden Restaurantgäste. »Man wird sich sofort um Sie kümmern«, behauptete er, ohne zu wissen, ob das auch nur halbwegs zutraf; bestimmt nicht, wenn Loretta und Celeste immer noch weinten, das wusste er. In der Küche war es schlimmer, als Danny erwartet hatte. Selbst der junge Tellerwäscher und der Hilfskellner weinten. Celeste war auf den Boden gesackt, Loretta kniete neben ihr. »Schrei mich nicht dauernd an!«, brüllte der Koch in den Telefonhörer. »Hätt ich dich nur nie angerufen, dann müsste ich dir jetzt nicht
zuhörenl« (Sein Vater telefonierte Ketchum, das war Danny sofort klar.)
mit
»Verrat mir, was ich sagen soll, Greg, und ich sag's ihnen«, versprach Danny dem Sous-Chef. »Da draußen ist ein Tisch mit acht und einer mit sechs Personen. Was soll ich denen erzählen?« Greg weinte in die Rosmarin-RotweinReduktion. »Dein Dad hat gesagt, das Avellino ist erledigt«, antwortete ihm Greg. »Das ist sein letzter Abend, hat er gesagt. Er bietet das Restaurant zum Verkauf an, wir können es aber bis dahin selbst führen - falls wir das irgendwie schaffen.« »Greg, wie sollen wir das verdammt noch mal schaffen?«, rief Celeste laut. »Ich hab ja nicht gesagt, dass wir's schaffen«, plärrte Greg. »Zunächst mal: weg mit den Red Sox«, sagte Danny und stellte einen anderen Radiosender ein. »Wenn ihr hysterisch
rumschreien wollt, solltet ihr hier hinten Musik laufen lassen - sonst kann euch jeder im Restaurant hören.« »Ja, ich weiß, du hast schon immer gesagt, Vermont liegt zu nahe an Scheiß-NewHampshire, Ketchum!«, schrie der Koch in den Hörer. »Warum erzählst du mir nicht mal zur Abwechslung was Brauchbares?« »Sag mir, was ich den Gästen erzählen soll«, forderte Danny den nennenden Sous-Chef auf. »Sag ihnen, sie sollen nichts Kompliziertes bestellen«, schlug Greg vor. »Sag ihnen, sie sollen nach Hause gehen, Herrgott noch mal!«, rief Loretta. »Nein, verdammt - sag ihnen, sie sollen bleiben!«, rief der Sous-Chef aufgebracht. »Wir schaffen das schon.« »Sei kein Arsch, Greg«, sagte die immer noch schluchzende Celeste.
Danny ging zurück in den Gastraum, wo sich die achtköpfige Gruppe bereits stritt zweifellos über die Frage, ob sie bleiben oder gehen sollten. Die drei Paare an dem Tisch für sechs waren anscheinend schicksalsergebener oder wenigstens eher bereit, noch zu warten. »Hören Sie«, sagte Danny zu allen, »es gibt eine Krise in der Küche - das ist kein Scherz. Ich würde Ihnen raten, entweder zu gehen oder etwas Unkompliziertes zu bestellen. Pizza beispielsweise oder ein Nudelgericht. Die Rindfleisch-Satayspieße sind übrigens hervorragend, die Calamari auch.« Er ging zum Weinregal, dem er ein paar gute Rotweinflaschen entnahm; auch wenn Danny Angel seit 16 Jahren keinen Alkohol mehr trank, kannte er immer noch die Namen der besseren Tropfen. »Der Wein geht aufs Haus«, verkündete er den Gästen und brachte auch Gläser. Um sich von Loretta oder Celeste einen Korkenzieher zu holen, musste er in die Küche zurück, und einer aus der größeren
Gruppe bat ihn zaghaft um ein Bier. »Na klar«, sagte Danny. »Ein Bier ist kein Problem. Ich empfehle Ihnen ein Moretti.« Wenigstens stand Celeste wieder, allerdings schien Loretta in besserer Verfassung zu sein. »Ein Moretti für die Achtergruppe. Allen anderen habe ich Wein spendiert - aufs Haus«, sagte Danny zu Loretta. »Kannst du die Flaschen entkorken?« »Ja, das kriege ich wohl hin«, erwiderte Loretta. »Ich kann arbeiten«, behauptete Celeste wenig überzeugend. »Du solltest deinen Dad vom Telefon weglotsen, ehe er einen Herzinfarkt kriegt«, sagte Greg zu Danny. »Ich ändere nicht schon wieder meinen Namen!«, schrie der Koch ins Telefon. »Ich verlasse mein Land nicht, Ketchum! Warum soll ich bitte emigrieren?«
»Lass mich mit ihm reden, Paps«, sagte Danny; er küsste seinen Vater auf die Stirn und nahm ihm den Telefonhörer aus der Hand. »Ketchum, ich bin's«, meldete er sich. »Dot und May!«, tobte Ketchum. »Die beiden würden sogar einen Haufen Waschbärenkacke volllabern! Sobald diese Miststücke Carl begegnen, weiß der, wo er euch findet!« »Wie viel Zeit bleibt uns, Ketchum?«, fragte Danny. »Eine sachliche Einschätzung würde mir reichen.« »Ihr hättet gestern abreisen sollen«, sagte ihm Ketchum. »Ihr müsst so schnell wie möglich das Land verlassen!« »Das Land?«, wiederholte Danny ungläubig. »Du bist ein berühmter Schriftsteller! Weshalb musst du in diesem Scheißland leben?«, wollte Ketchum wissen. »Schreiben kannst du schließlich überall, oder nicht? Und wie lange noch, bis sich Cookie aufs Altenteil
zurückzieht? Und kochen kann er schließlich auch überall - oder nicht? Achtet nur drauf, dass es kein italienisches Restaurant ist! Danach wird der Cowboy suchen. Und Cookie braucht einen neuen Namen.« »Dot und May haben den Namen Angel nie gehört«, sagte Danny zu Ketchum. »Aber Carl könnte ihn hören - wenn er euch beide suchen kommt, Danny. Ganz gleich, wie lange ihr weg seid, irgendwer kann dem Cowboy den Namen Angel einflüstern.« »Ich soll meinen Namen wohl auch ändern? Nun bleib aber auf dem Teppich, Ketchum ich bin Schriftsteller!« »Dann behalt ihn eben«, sagte Ketchum unwirsch. »Der Cowboy ist kein Leser, das geb ich zu. Aber Cookie darf nicht mehr Tony Angel heißen - sogar mit Dominic Baciagalupo wäre er besser bedient! Danny, lass ihn auf keinen Fall in einem Restaurant
mit einem italienischen Namen arbeiten, nicht mal im Ausland.« »Ich habe einen Sohn, Ketchum - er ist Amerikaner, weißt du noch?« »Joe wird in Colorado studieren«, erinnerte ihn Ketchum. Das wurmte Danny: Dass Joe nach Boulder auf die University of Colorado gehen wollte, war für seinen Dad eine gewisse Enttäuschung. Joe hätte auf bessere Unis gehen können, wie Danny fand. Er war der Ansicht, Joe wolle zum Skifahren nach Colorado, nicht wegen des Studiums; außerdem hatte der Schriftsteller gelesen, dass in Boulder wüste Partys gefeiert wurden. »Carl weiß nicht mal, dass du ein Kind hast«, gab Ketchum zu bedenken. »Wenn du außer Landes bist, kümmere ich mich um Joe.« »In Colorado?« »Eins nach dem anderen, Danny«, sagte Ketchum. »Verpisst euch aus Vermont, aber
dalli - du und dein Dad! Derweil kann ich mich um deinen Jungen kümmern - jedenfalls bevor er nach Colorado geht.« »Vielleicht können Paps und ich auch nach Colorado ziehen«, schlug Danny vor. »Da ist es ein wenig wie in Vermont, nehme ich an es gibt Berge, nur dass sie höher sind. Boulder ist eine Universitätsstadt, und Iowa City hat uns allen gefallen. In einer Universitätsstadt fallen Schriftsteller nicht weiter auf. Auch ein Koch würde in Boulder nicht weiter auffallen, oder? Es muss ja kein italienisches -« Ketchum unterbrach ihn. »Anscheinend hast du nicht mehr Hirn als ein Krümel Waschbärenscheiße, Danny! Ihr beide seid beim ersten Mal geflohen, jetzt müsst ihr weiterfliehen! Glaubst du, es kümmert Carl, dass ihr eine Familie seid? Der Cowboy hat keine Familie - er ist ein verdammter Killer, Danny, und er hat eine Mission!« »Ich werde dir unsere Entscheidung mitteilen,
Ketchum«, sagte Danny dem alten Freund seines Vaters. »Carl weiß einen Scheißdreck von fremden Ländern«, sagte Ketchum. »Teufel auch, Boston war für ihn nicht fremd genug. Glaubst du etwa, Colorado wäre für den Cowboy zu weit weg, um euch zu finden? Colorado hat viel von New Hampshire - da haben sie Schusswaffen, nicht wahr? In Colorado könnte man bewaffnet rumlaufen, und niemand würde zweimal hinsehen, hab ich nicht recht?« »Ich nehme es an«, sagte Danny. »Ich weiß, dass du uns liebst, Ketchum.« »Ich hab deiner Mom versprochen, mich um dich zu kümmern!«, schrie Ketchum; seine Stimme brach. »Tja, das machst du ja wohl auch«, sagte Danny, doch Ketchum hatte aufgelegt. Später erinnerte sich Danny an den Song, der gerade im Radio lief; es war Neil Youngs After the
Gold Rush, ein Song aus den Siebzigern. (Als Danny das Spiel der Red Sox weggedreht hatte, war er unabsichtlich bei Gregs OldieSender gelandet.) I was thinking about what a Friend had said. I was hoping it was a lie. Danny sah, dass sein Vater wieder in seinen Saucen rührte; dann begann der Koch, den Teig für, wie es schien, noch drei oder vier Pizzas auszurollen. Greg grillte etwas, doch der Sous-Chef hielt inne, um eine Schüssel aus dem Backofen zu nehmen. Keine der Kellnerinnen war in der Küche, doch der Hilfskellner füllte gerade zwei Brotkörbchen. Der Tellerwäscher wartete auf dreckiges Geschirr; der ernst wirkende Jugendliche las in einem Taschenbuch. Wahrscheinlich für die Schule, dachte Danny; heutzutage lasen junge Leute kaum noch aus eigenem Antrieb. Danny
fragte den Jungen, was er las. Der Tellerwäscher lächelte schüchtern und zeigte dem Schriftsteller die eselsohrige Billigausgabe eines Danny-Angel-Romans. Doch weil der Abend von Dots und Mays bedrohlichem Besuch im Avellino ein so schlimmer Abend war, fiel dem Schriftsteller später nie wieder ein, welches Buch der Junge damals las. Und der schlimme Abend war noch lange nicht zu Ende; für Danny fing er gerade erst an. »Sie werden jemanden finden«, hatte Kurt Vonnegut zu Danny gesagt, als der junge Schriftsteller Iowa City das erste Mal verließ; Katie hatte ihn kurz zuvor verlassen. Doch das war nicht geschehen - noch nicht. Danny nahm an, dass ihm noch Zeit blieb, jemanden zu finden. Er war erst 41 und hätte nie behauptet, es ernsthaft versucht zu haben. Glaubte er
wirklich, Lady Sky würde wieder in sein Leben fallen, nur weil er sie nicht vergessen konnte? Und was Vonnegut dem damals unveröffentlichten Schriftsteller noch gesagt hatte - nämlich »vielleicht meint der Kapitalismus es gut mit Ihnen« -, nun, als Danny von Putney nach Brattleboro fuhr, fragte er sich, wie Kurt das hatte wissen können. An dem Abend, als Dot und May im Avellino auftauchten, als klarwurde, dass Danny und sein Dad bald wieder wegziehen mussten, erstrahlte das Anwesen des berühmten Schriftstellers in Putney in hellem Lichterglanz. Jedem, der auf der Hickory Ridge Road vorbeifuhr, schienen die vielen Lichter - in jedem Zimmer, in jedem Gebäude - zu zeigen, wie gut es der Kapitalismus mit Danny Angel gemeint hatte. Wurde das Anwesen von Fans überrannt? War
auch noch das letzte Zimmer in dem alten Farmhaus (dem jetzigen Gästehaus) belegt - so wie offenbar das neue Haus, das Danny für sich und Joe hatte bauen lassen? Auch in dem sogenannten Schreibschuppen brannte Licht, als würden die Gäste sogar dort eine Party feiern. Doch Danny hatte nur das Küchenlicht im neuen Haus brennen lassen; in den anderen Zimmern (und den anderen Gebäuden) war alles dunkel gewesen, als er losfuhr. Die Musik war ein lautes Durcheinander; unterschiedliche Musik schallte aus dem Neubau und dem Gästehaus, und anscheinend stand jedes Fenster offen. Es war ein Wunder, dass noch niemand wegen des Lärms die Polizei gerufen hatte. Das Anwesen des Schriftstellers hatte zwar keine direkten Nachbarn, doch fast jeder, der vorbeifuhr, musste die Kakophonie hören. Danny hörte es und sah das gleißende Licht, noch ehe er in seine Auffahrt eingebogen war, wo er den
Wagen anhielt und Motor und Scheinwerfer ausmachte. Es waren keine Autos zu sehen, außer Joes Wagen (der in der offenen Garage stand, wo Joe ihn abgestellt hatte, als er das letzte Mal von der Uni nach Hause kam.) Vom Ende seiner Auffahrt aus sah Danny, dass sogar die Garagenbeleuchtung an war. Falls es Amy je einfallen sollte, anders als per Fallschirm aufzutauchen, dachte er, würde sie sich vielleicht so ankündigen. Oder war es ein Streich? Streiche waren nicht Armando DeSimones Stil. Außer Armando hatte Danny in Putney und Umgebung keine engen Freunde - und schon gar keine, die sich uneingeladen auf dem Grundstück des Schriftstellers breitmachen würden. Oder hatten Dot und May bereits Carl informiert? Aber die beiden alten Zimtzicken wussten gar nicht, wo Danny wohnte, und falls es dem Cowboy irgendwie gelungen wäre, Danny Angel zu finden, hätte der pensionierte Hilfssheriff nicht lieber im Dunkeln gewartet?
Bestimmt hätte der ehemalige Constable nicht sämtliche Lichter und die Musik angemacht; weshalb hätte Carl sich ankündigen sollen? Außerdem gab es keinen Anlass für eine Überraschungsparty - jedenfalls fiel dem Schriftsteller keiner ein. Vielleicht war es doch Armando, überlegte Danny, doch die Musikauswahl konnte unmöglich von Armando oder Mary stammen. Die DeSimones tanzten gern, sie mochten die Beatles. Doch das hier klang nach Achtzigerjahremusik - das Zeug, das Joe hörte, wenn er zu Hause war. (Danny hatte keine Ahnung, was für Musik da lief, aber es gab zwei verschiedene Sorten Krach - beide waren grässlich und passten überhaupt nicht zueinander.) Danny bekam einen Heidenschreck, als die Taschenlampe gegen die Scheibe auf der Fahrerseite pochte. Es war sein Freund Jimmy, der Polizist. Jimmy hatte wohl die Scheinwerfer seines Streifenwagens
ausgeschaltet, als er im Schritttempo in die Auffahrt gefahren war und hinter Dannys Wagen gehalten hatte; den Motor hatte er auch ausgemacht, doch Danny hätte ihn bei dem Krach sowieso unmöglich hören können. »Was ist mit der Musik, Danny?«, fragte Jimmy. »Ist ein bisschen laut, nicht? Ich finde, du solltest sie leiser stellen.« »Ich hab sie nicht angemacht, Jimmy«, sagte Danny. »Ich habe weder das Licht noch die Musik angemacht.« »Wer ist in deinem Haus?«, fragte der Polizist. »Keine Ahnung«, erklärte Danny. »Ich habe niemanden eingeladen.« »Vielleicht waren sie da und sind wieder weg soll ich mal nachsehen?«, fragte ihn Jimmy. »Ich komme mit«, antwortete Danny. »Hast du in letzter Zeit Post von einem durchgedrehten Fan bekommen?«, wollte
Jimmy wissen. »Irgendwelche Hassbriefe?« »Schon seit einiger Zeit nichts dergleichen«, antwortete Danny. Nur die üblichen religiösen Spinner und die Arschlöcher, die sich ständig über die »unschickliche« Sprache des Schriftstellers oder über die »anstößigen« Sexszenen beschwerten. »Heutzutage ist jeder ein Scheißzensor«, hatte Ketchum kommentiert. Sobald Jenseits von Bangor auf den Markt kam - sein sogenannter Abtreibungsroman -, mochte es eine Weile lang mehr Hassbriefe geben, das wusste Danny. Aber in letzter Zeit hatte er nichts Bedrohliches bekommen. »Niemand will dir etwas Böses - jedenfalls nicht, soviel du weißt, stimmt's?«, fragte Jimmy. »Es gibt da jemanden, der glaubt, er und mein Dad hätten noch eine Rechnung offen - und der ist gefährlich«, sagte Danny. »Aber der
kann es nicht sein.« Danny folgte dem Polizisten zuerst in die Küche des Neubaus. Kleinigkeiten stimmten nicht: Die Backofentür stand offen; eine Flasche Olivenöl lag flach auf der Anrichte, doch der Verschluss war zugeschraubt, und es war kein Öl ausgelaufen. Danny ging ins Wohnzimmer, schaltete die am lautesten wummernde Musik ab und bemerkte dabei, dass die Couchtischlampe auf dem Sofa lag, aber offenbar war nichts beschädigt worden. Die mutwilligen, aber kleinen Veränderungen deuteten auf Schabernack hin, nicht auf Vandalismus; der Fernseher war zwar an, lief aber ohne Ton. Obwohl Danny auf dem Weg ins Wohnzimmer, zur Quelle der einen Hälfte der Musik, durch das Esszimmer gekommen war, hatte er nur bemerkt, dass einer der Stühle am Esszimmertisch umgekippt worden war. Als Danny die Musik abdrehte, sagte Jimmy:
»Weißt du, wessen Hund das ist, Danny? Ich glaube, es ist der eine von zwei Hunden drüben auf der Nebenstraße nach Westminster West. Sie gehören Roland Drake. Den kennst du vielleicht - er war auf Windham.« Seit Danny dem Hund zuletzt begegnet war, hatte die Totenstarre eingesetzt - es war der von Rooster getötete Husky-SchäferhundMischling. Er lag lang ausgestreckt und mit für immer gefletschten Zähnen auf dem Esszimmertisch. Eine seiner gekrümmt erstarrten Hundepfoten lag wie ein Briefbeschwerer auf der Nachricht, die Danny dem Hippietischler geschrieben hatte. Auf Dannys getippte Worte »Irgendwann muss Schluss sein, okay?«, hatte der Hippie von Hand geantwortet. »Sag nichts - lass mich raten«, sagte der Autor zu dem Polizisten. »Bestimmt hat das Arschloch Fick dich, du kannst mich mal! oder so etwas geschrieben.«
»So ist es, Danny«, sagte Jimmy. »Offenbar kennst du ihn.« Roland Drake - das Arschloch!, dachte Danny. Armando DeSimone hatte recht gehabt. Roland Drake war auf dem Windham College Student in einem von Dannys Schreibseminaren gewesen, wenn auch nur kurz. Drake hatte den Kurs geschmissen, als Danny dem arroganten jungen Schnösel in seiner Sprechstunde erklärte, man bekomme wohl kaum gute Literatur hin, wenn man sie nicht überarbeite. Roland Drakes Texte waren immer hingeschluderte Rohfassungen - er hatte eine annehmbare Phantasie, war aber schlampig. Um Details oder die Sprache kümmerte er sich nicht weiter. »Ich steh auf Schreiben, nicht auf Überarbeiten«, hatte Drake Danny gesagt. »Mir gefällt nur das Kreative daran.« »Aber Überarbeiten ist Schreiben«, hatte Danny dem jungen Mann entgegnet.
»Manchmal ist die Kreativste daran.«
Überarbeitung
das
Hämisch grinsend, hatte Roland Drake Dannys Büro verlassen. Das war ihr einziges Gespräch gewesen. Damals war der junge Mann nicht so behaart gewesen; vielleicht hatte sich Drake in jüngeren Jahren noch nicht für das Hippiedasein entschieden. Und Danny fiel es schwer, Menschen wiederzuerkennen, die er lange nicht mehr gesehen hatte. Das war ein echtes Problem, wenn man berühmt war: Ständig begegnete man Leuten zum, wie man glaubte, ersten Mal, doch sie konnten sich an frühere Treffen erinnern. Wahrscheinlich hatte Drake es als zusätzliche Beleidigung empfunden, dass Danny ihn nicht wiedererkannt hatte. »Ja, ich kenne Roland Drake«, sagte Danny zu Jimmy. Dann erzählte er dem Polizisten die ganze Geschichte, auch den Teil, wie Rooster den Hund getötet hatte, der jetzt starr auf dem
Esstisch lag. An Dannys getippter Notiz erkannte Jimmy, dass der Schriftsteller versucht hatte, mit dem Hippiearschloch Frieden zu schließen. Der Schriftstellertischler, wie Armando ihn genannt hatte, wusste nicht, wann wirklich Schluss sein musste - genauso wenig wie Roland Drake wusste, dass Überarbeiten Schreiben war und dass es das Kreativste daran sein konnte. Danny und Jimmy gingen durch die anderen Zimmer, knipsten hier Lampen aus, machten da Ordnung. In Joes Bad war die Badewanne gefüllt worden. Das Wasser war kalt, doch es gab kein Chaos, keine Überschwemmung. In Joes Schlafzimmer war ein Foto seiner Ringermannschaft von dem Haken an der Wand genommen und (gegen ein Kissen gelehnt) an das Kopfende des Bettes gestellt worden. In Dannys Badezimmer hing eines seiner Sakkos auf einem Kleiderbügel an der Duschvorhangstange; in der ansonsten leeren
Wanne fand er seinen Elektrorasierer und ein Paar Abendschuhe. Sämtliche Handtücher stapelten sich am Fuß des Bettes in seinem Schlafzimmer. »Drake ist bloß ein Quälgeist, Danny«, sagte der Polizist. »Ein kleiner Scheißer mit einem Treuhandfonds als Sicherheitsnetz - solche Leute wagen es nie, echten Schaden anzurichten, weil sie wissen, dass letzten Endes ihre Eltern die Zeche zahlen mussten.« Die gleichen mutwilligen kleinen Störungen fanden sich überall, im ganzen Haus. Als sie in der Garage das Licht ausmachen wollten, fand Danny auf dem Fahrersitz von Joes Wagen eine Tube Zahnpasta; hinter der Sonnenblende klemmte eine Zahnbürste. Im Gästehaus, dem ehemaligen Farmhaus, gab es noch mehr dieser Dummejungenstreiche die Musik lief hier in voller Lautstärke und der Fernseher ohne Ton. Lampen waren umgekippt worden, den Küchentisch
schmückte eine Pyramide aus Lampenschirmen, etliche Bilder hingen verkehrt herum, und die Betten waren zerwühlt, als hätte jemand darin geschlafen. »Das ist zwar ärgerlich, aber in erster Linie kindisch«, sagte Danny zu dem Polizisten. »Sehe ich auch so«, erwiderte Jimmy. »Ich verkaufe das ganze Anwesen ohnehin«, sagte ihm Danny. »Hoffentlich nicht deswegen«, meinte Jimmy. »Nein, aber das erleichtert es mir«, antwortete Danny. Weil er wusste, dass er wegzog und das Anwesen in Putney verkaufen musste, empfand er Roland Drakes Verletzung seiner Privatsphäre vielleicht weniger als den Übergriff, der er war - aber nur bis Danny und Jimmy den Schreibschuppen des berühmten Schriftstellers betraten. Ja, alle Lampen brannten und ein paar Unterlagen lagen am falschen Ort, doch hier hatte Drake den Bogen
überspannt und echten Schaden angerichtet. Danny war zurzeit dabei, die Druckfahnen von Jenseits von Bangor Korrektur zu lesen. Von dem ständigen Bedürfnis des Schriftstellers, seine Texte zu überarbeiten - umzuschreiben, zu korrigieren -, zeugten eine Vielzahl von Anmerkungen und Fragen auf den Seitenrändern der Fahnen. Dieser Anblick, der belegte, dass Danny Angel ein Schriftsteller und Überarbeiter war, musste für einen gescheiterten Schriftsteller (einen Schriftstellerisch/er) wie Roland Drake unerträglich gewesen sein. Die Überarbeitungen in den Fahnen von Dannys kurz vor der Veröffentlichung stehendem Roman hatten Drake endgültig ausrasten lassen. Mit einem Filzstift, einem tiefschwarzen Permanentmarker, hatte Roland Drake auf dem Deckblatt der unkorrigierten Fahnen von Jenseits von Bangor herumgekritzelt, und auf
jeder Seite hatte er mit einem feinen roten Filzstift Kommentare abgegeben. Die Bemerkungen des Schriftstellertischlers waren zwar weder aufschlussreich noch durchdacht, doch Drake hatte sich die Zeit genommen, jede einzelne Seite zu besudeln; Jenseits von Bangor hatte über 400 Seiten. Danny hatte drei Viertel des Romans Korrektur gelesen und dabei - trotz seiner Neigung zum Überarbeiten - auf gerade einmal 15 oder 20 der Seiten Anmerkungen oder Fragen notiert. Roland Drake hatte sie durchgestrichen, die Korrekturen des Autors unleserlich gemacht. Es war eine mutwillige Sabotage, doch das hätte für Danny unter normalen Umständen gerade einmal zwei Wochen zusätzlicher Arbeit bedeutet, allerhöchstens, auch wenn Drakes Verwüstung der Druckfahnen mehr zu sein schien als ein nur symbolischer Angriff. Aber in dem Moment, wo der Koch und sein Sohn sich auf das Chaos einer neuerlichen Flucht einstellen mussten, konnte Roland
Drakes Anschlag auf Dannys sechsten Roman die Veröffentlichung von Jenseits von Bangor um einige Monate verzögern - vielleicht sogar um ein halbes Jahr. Der Roman sollte eigentlich im Herbst 1983 erscheinen. (Das war wohl illusorisch - eventuell würde das Buch erst im Winter 1984 erscheinen. Bei all den Umwälzungen in Dannys Leben würde er eine Weile brauchen, um sich an die Änderungen in den Fahnen zu erinnern und um das letzte Viertel des Romans Korrektur zu lesen.) »Den dämlichen Titel überarbeiten!«, hatte Drake tiefschwarz auf die Titelseite von Jenseits von Bangor gekritzelt. »Den getürkten Namen des Autors ändern!« Auch wenn die Kommentare des Schriftstellertischlers weder von großer Kompetenz noch von tiefschürfenden Erkenntnissen zeugten, so hatte Drake in dem ganzen Roman, und zwar in Rot, auf jeder der
über 400 Seiten eine Formulierung unterstrichen oder ein Wort umkringelt und eine kryptische Bemerkung hinzugefügt, wenn auch immer nur eine pro Seite. »Das ist Kacke!« oder »Überarbeiten!« waren die häufigsten, außerdem »Streichen!« oder »Hundemörder!«. Seltener kamen »Schwach!« und »Dürftig!« vor. Mehr als einmal hatte Drake »Langatmig!« über die ganze Seite geschmiert. Zweimal nur, aber unvergesslich für Danny, hatte Drake geschrieben: »Ich hab Franky auch gefickt!« (Vielleicht, überlegte sich der Bestsellerautor erst jetzt, hatte Drake wirklich mit Franky geschlafen; das könnte zu seiner feindseligen Haltung ihm gegenüber beigetragen haben.) »Sieh mal, Jimmy«, sagte Danny zu dem Polizisten und reichte ihm die beschmierten Druckfahnen. »O Mann ... bestimmt bedeutet das für dich Mehrarbeit«, sagte Jimmy beim Umblättern.
»>Den Mist würde nicht mal Year of the Dog drucken!««, las der Polizist laut vor und versuchte, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Jimmy schien immer zu leiden, wenn er etwas nicht verstand - er sah dann gleichzeitig untröstlich und verdutzt aus. Dieser Cop, der eine ganze Reihe Hunde erschossen hatte, besaß selbst die traurigen, schwermütigen Augen eines Labradors; der große und dünne Polizist mit dem länglichen Gesicht sah Danny fragend an, suchte nach einer Erklärung für Roland Drakes Furor. »Year of the Dog war eine kleine literarische Zeitschrift«, erklärte Danny. »Entweder wurde sie vom Windham College herausgegeben oder von irgendwelchen Studenten dort unabhängig verlegt - ich weiß es nicht mehr.« »Franky ist eine junge Frau?«, fragte Jimmy, der weitergelesen hatte. »Ja«, antwortete der Schriftsteller.
»Die junge Frau, die eine Zeitlang hier gewohnt hat - die ist es, oder?« »Genau die, Jimmy.« »>Du schreibst, als würdest du hinken!««, las Jimmy laut vor. »Also echt...« »Drake sollte seinen Hund selbst beerdigen, meinst du nicht auch, Jimmy?«, fragte Danny den Polizisten. »Ich bringe Roland seinen Hund zurück. Dann unterhalten wir uns ein wenig«, sagte Jimmy. »Du könntest eine einstweilige Verfügung erwirken...« »Ich brauche keine, Jimmy - ich ziehe ja weg«, erinnerte ihn Danny. »Ich weiß, wie man mit Roland reden muss«, sagte der Cop. »Pass bloß auf den anderen Hund auf, Jimmy der greift einen von hinten an.« »Ich erschieße ihn nicht, wenn es nicht sein
muss, Danny - ich erschieße Hunde nur, wenn's gar nicht anders geht«, sagte der Polizist. »Ich weiß.« »Kann man sich kaum vorstellen, dass einer deinem Dad was antun will«, meinte Jimmy. »Es kommt mir absurd vor, dass jemand mit dem Koch eine Rechnung offen haben sollte. Möchtest du mir davon erzählen, Danny?« Wieder war er an einer Wegkreuzung angekommen, dachte Danny. Was waren das eigentlich für Kreuzungen, diese verlockenden Möglichkeiten, den bisher eingeschlagenen Weg zu verlassen und scharf nach links oder nach rechts abzubiegen? Hatten Danny und sein Dad nicht die Gelegenheit gehabt, nach Twisted River zurückzukehren, als wäre Indianer-Jane nie etwas geschehen? Und dann war da natürlich der Fehler, Paul Polcari mit Ketchums Flinte in die Küche des Vicino di Napoli zu stellen - statt jemanden, der auch
tatsächlich abgedrückt hätte! Also, bot sich nicht jetzt eine neue Chance, dieser Bredouille zu entkommen? Erzähl Jimmy einfach alles! Von Indianer-Jane, von Sixpack-Pam, von Carl - von dem Hilfssheriff im Ruhestand mit seinem langläufigen 45erColt, diesem verfluchten Cowboy! Welchen anderen Ausweg gab es, wenn man Ketchum nicht bitten wollte, den Mistkerl umzulegen? Und Danny wusste, wenn er oder sein Dad Ketchum direkt darum bitten würden, würde Ketchum den Cowboy töten. Auch wenn er den im Bett liegenden Lucky Pinette nicht mit seinem Stempelhammer erschlagen hatte. Doch Danny sagte zu seinem Freund, dem Cop, nur: »Es geht um eine Frau. Vor langer Zeit hat mein Dad in einem Holzfällerlager mit der Freundin des dortigen Constable geschlafen. Später wurde dieser Constable zum County-Hilfssheriff - und seit er herausgefunden hat, was mit seiner Freundin
war, will er meinen Dad finden. Der Hilfssheriff ist inzwischen im Ruhestand, aber wir haben Grund zu der Annahme, dass er immer noch sucht - der Mann ist verrückt.« »Ein verrückter Excop... das ist nicht gut«, stellte Jimmy fest. »Er wird alt, das ist das Gute daran. Viel länger kann er nicht mehr suchen«, sagte Jimmy zu dem Polizisten, der nachdenklich wirkte - und argwöhnisch. Natürlich war das nicht die ganze Geschichte, wie der Polizist wahrscheinlich an der für den Schriftsteller untypisch vagen Erzählweise merkte. (Und welche Scherereien konnten Danny schon dafür drohen, dass er als Zwölfjähriger den Tod einer Frau verschuldet hatte, weil er sie für einen Bären hielt?) Doch Danny beließ es dabei, und Jimmy war klar, dass es seinem Freund lieber war, wenn das Ganze seine Angelegenheit und die seines Dads blieb. Außerdem musste man sich mit
einem toten Hund befassen; dem Polizisten kam diese Aufgabe, nämlich Roland Drake ordentlich die Leviten zu lesen, vermutlich dringlicher vor. »Hast du solche großen grünen Müllsäcke?«, fragte Jimmy. »Ich schaff dir den Hund vom Hals. Warum schläfst du nicht 'ne Runde, Danny? Wenn du willst, können wir ein anderes Mal über den verrückten alten Excop reden.« »Danke, Jimmy«, sagte Danny. Einfach so, dachte er, hatte er die Straßenkreuzung passiert. Es war nicht einmal eine echte Entscheidung gefallen, aber nun konnten der Koch und sein Sohn nur noch weiterfahren. Und wie alt war der Cowboy eigentlich? Carl war genauso alt wie Ketchum, der wiederum genauso alt wie Sixpack-Pam war. Der Hilfssheriff außer Dienst war 66, nicht zu alt, um einen Abzug zu betätigen - noch nicht. Von seiner Auffahrt aus sah Danny den
Rückleuchten des Streifenwagens auf der Hickory Ridge Road nach. Bis zu Roland Drakes Einfahrt mit den Schrottautos und dem verbliebenen Husky-Schäferhund-Mischling würde der Polizist nicht lange brauchen. Auf einmal wollte Danny unbedingt erfahren, was passieren würde, wenn Jimmy diesem Hippiearsch seinen toten Hund zurückbrachte. War es das dann? War irgendwann wirklich Schluss, oder setzte sich die Gewalt einfach immer fort - wenn einmal etwas mit Gewalt begonnen hatte? Danny wollte es wissen. Er stieg in sein Auto und fuhr die Hickory Ridge Road entlang, bis vor ihm die Rücklichter des Polizeiwagens aufflackerten; jetzt verlangsamte Danny die Fahrt. Er konnte den Streifenwagen nicht immer im Blick behalten, blieb ihm aber in einiger Entfernung auf den Fersen. Wahrscheinlich hatte Jimmy Dannys Scheinwerfer gesehen, wenn auch nur kurz. Bestimmt merkte der Polizist, dass ihm
jemand folgte; so wie Danny Jimmy kannte, ahnte der wohl auch, dass es sein Freund war. Doch Danny musste nicht sehen, was geschah, wenn der Cop in Roland Drakes Schrottplatz von einer Einfahrt einbog. Danny musste nur nahe genug sein, um den Schuss zu hören, falls einer fiel. Wie sich herausstellen sollte, hatten Danny und sein Dad mehr Zeit, als sie dachten, doch sie waren gut beraten, sich nicht darauf zu verlassen. Diesmal hatten sie auf Ketchum gehört. Denn hatte Ketchum nicht beim letzten Mal recht gehabt? Vermont war nämlich nicht weit genug von New Hampshire entfernt gewesen, genau wie der alte Holzarbeiter gesagt hatte. Wären Dot und May in Iowa City ins Mao's gestolpert? Unwahrscheinlich. Und natürlich fragte sich Danny, ob jemand aus dem Coos County den Koch und seinen Sohn in Boulder, Colorado, gefunden hätte,
wo Joe bald studieren würde. Auch unwahrscheinlich, doch Danny ließ sich überzeugen, dieses Risiko nicht einzugehen, obwohl es nicht leicht werden würde, das Land zu verlassen - nicht so, wie Ketchum es wollte, nämlich dauerhaft. (Ketchum hatte auch einen Vorschlag, wohin sie ziehen sollten.) Ketchum hatte den Koch und dessen Sohn am Morgen nach Dots und Mays verhängnisvollem Besuch im Avellino angerufen, er war verkatert oder erst halb nüchtern. Natürlich hatte Ketchum sie einzeln angerufen, doch irritierend war, wie er mit jedem von ihnen sprach, als wären Danny und sein Dad anwesend. »Dreizehn Jahre lang hat der Cowboy euch zwei in Toronto vermutet - weil er dachte, Angel käme daher, hab ich recht? Na klar hab ich recht!«, dröhnte Ketchum. O Gott, dachte der Koch in seiner geliebten Küche im Avellino, wo er sich einen extra
starken Espresso gemacht hatte und überlegte, warum Ketchum immer glaubte, schreien zu müssen, damit man auf ihn hörte. Laut Ketchum hatten Dot und May weniger Phantasie als ein Krümel Waschbärenkacke; zwar würden »diese Tratschtanten« dem Cowboy garantiert erzählen, was sie wussten, sich aber untereinander nicht einigen können, wie oder wann sie es ihm sagen sollten. Dot würde warten wollen, bis der Exhilfssheriff sich besonders abscheulich oder arrogant benahm, während May lieber andeuten würde, dass sie etwas wusste - bis Carl es um jeden Preis erfahren wollte. Kurzum, das Faible der alten Schachteln für bösartige Manipulationen würde Danny und seinem Dad vielleicht etwas Zeit verschaffen. Als Ketchum mit Danny telefonierte, wurde er präziser: »Also, passt mal auf, ihr zwei. Da Carl jetzt weiß, dass ihr nicht nach Toronto gezogen seid, sondern nach Boston - und er wird bald wissen, dass ihr anschließend nach
Vermont weitergezogen seid -, würde er euch nie in Toronto vermuten. Dort würde er euch zuallerletzt suchen - da solltet ihr hinziehen! In Toronto spricht man Englisch. Du hast dort doch einen Verlag, Danny, stimmt's? Und für einen Koch gibt es bestimmt jede Menge Arbeit - aber nicht in einem italienischen Restaurant, Cookie, sonst komme ich persönlich vorbei und erschieß dich, ich schwör's!« Ich bin nicht Cookie, hätte Danny fast gesagt, blieb aber stumm. Toronto war gar keine schlechte Wahl, dachte Danny Angel, während er Ketchums immer hysterischer werdenden Redeschwall über sich ergehen ließ. Danny war auf der einen oder anderen Lesereise dort gewesen. Es war eine gute Stadt, dachte er - wenn Danny sich überhaupt einmal über Städte Gedanken machte. (Der Koch war eher ein Stadtmensch als sein Sohn.) Kanada war Ausland, erfüllte
also Ketchums Kriterium, aber Toronto lag nahe genug an den Staaten, dass sie den Kontakt zu Joe aufrechterhalten konnten; von Toronto käme man problemlos nach Colorado. Aber selbstverständlich wollte Danny wissen, was Joe von der Idee hielt - und was der Koch zu Ketchums Vorschlag sagte. Kaum hatte Ketchum aufgelegt, klingelte Dannys Telefon wieder. Natürlich war sein Dad dran. »Wir werden nie unseren Frieden haben, solange dieser Irre ein eigenes Telefon hat, Daniel«, sagte der Koch. »Und falls er je ein Faxgerät kriegt, werden wir bis an unser Lebensende mit Großbuchstaben und Ausrufungszeichen bombardiert werden.« »Aber was hältst du von Ketchums Idee, Dad? Was hältst du von Toronto?«, fragte Danny. »Mir ist egal, wohin wir gehen - es tut mir nur leid, dass ich dich da mit reingezogen habe.
Ich wollte dich doch bloß in Sicherheit bringen!«, sagte der Koch; dann fing er an zu weinen. »Ich will nirgendwohin. Mir gefällt es hier!« »Das weiß ich auch - tut mir leid, Paps. Aber in Toronto wird es uns gutgehen, ganz bestimmt«, versicherte der Schriftsteller seinem Vater. »Ich kann Ketchum nicht bitten, Carl zu töten, Daniel, ich kann's einfach nicht.« »Ich weiß - und mir geht's genauso.« »Du hast doch einen Verleger in Kanada, oder, Daniel?«, fragte sein Dad. Zum ersten Mal klang dessen Stimme alt, beinahe betagt. Der Koch war zwar fast sechzig, doch etwas in seiner Stimme klang für Daniel älter: nicht bloß ängstlich, sondern fast gebrechlich. »Wenn du in Toronto einen Verleger hast«, fuhr sein Vater fort, »hilft er uns bestimmt, eine Bleibe zu finden, nicht wahr?«
»Sie - mein kanadischer Verleger ist eine Verlegen««, antwortete Danny. »Natürlich wird sie uns helfen, Paps, kein Problem. Und wir suchen uns etwas in Colorado, um Joe zu besuchen - und Joe kann uns besuchen kommen. Wir müssen uns diesen Umzug nicht unbedingt als dauerhaft, vorstellen - jedenfalls nicht gleich. Wir schauen erst mal, wie es uns in Kanada gefällt, einverstanden?« »Einverstanden«, sagte der Koch, weinte aber immer noch. Von mir aus könnte ich Vermont heute verlassen, dachte Danny. Er fühlte sich in Putney lange nicht so verwurzelt wie sein Dad im Avellino und in seinem Leben in Brattleboro. Nachdem Dot und May im Restaurant aufgetaucht waren - von Roland Drakes Besuch und dessen totem Hund auf dem Esstisch ganz zu schweigen -, hatte Danny das Gefühl, er könnte Vermont hinter sich lassen, ohne sich noch einmal
umzuschauen. Als Carl schließlich Dot und May, den beiden alten Zimtzicken, begegnete und nach Vermont fuhr, kam er zu spät. Mit Hilfe von Armando und Mary DeSimone hatte Danny inzwischen das Grundstück in Putney verkauft; an der Hickory Ridge Road gab es kein Schriftstelleranwesen mehr. Und Windham College, wo Danny Angel unterrichtet hatte, hatte jetzt einen anderen Namen (und eine andere Aufgabe) - es hieß nun Landmark College und war eine führende Einrichtung für Lernbehinderte. Als der Cowboy schließlich in Brattleboro auftauchte, gab es das Avellino nicht mehr - und wohin Greg, der Sous-Chef, auch verschwunden sein mochte, Carl fand ihn nicht. Auf Drängen des Kochs hatten Celeste und ihre Tochter Loretta (samt Lorettas Kind) die Stadt verlassen. Wieder einmal stand der Cowboy mit leeren Händen da, auch wenn sich Dot und May ganz offensichtlich den Mund fusselig geredet
hatten. War Carl vielleicht wirklich so ein Schwachkopf, wie Ketchum gelegentlich behauptet hatte? Hatte der Cowboy nicht mehr detektivisches Talent als der von Ketchum so gern strapazierte Krümel Waschbärenkacke? Oder war der Hilfssheriff im Ruhestand bei seinen ganzen Recherchen in Vermont einfach nur nicht auf den Namen Angel gestoßen? Ganz offensichtlich hatte sich der Cowboy in Brattleboro nicht in The Book Cellar nach dem Koch und dessen Sohn erkundigt! »Du wusstest, dass Cookie in Vermont war, das wusstest du die ganze Zeit, stimmt's, Ketchum?«, fragte Carl eines Tages den alten Holzfäller. »Cookie? Den gibt's noch?«, erwiderte Ketchum. »Ich hätte nie gedacht, dass so ein Hinkebein sich dermaßen lange halten würde du vielleicht, Carl?«
»Mach nur weiter so, Ketchum, mach nur weiter so«, sagte Carl. »Keine Bange, ich werd so weitermachen«, gab Ketchum zurück. Doch Danny konnte es kaum erwarten, aus Vermont zu verschwinden; nach dem Abend, an dem er und Jimmy den toten Hund auf seinem Esstisch gefunden hatten, wollte er einfach nur noch weg. An jenem Abend war er auf der Nebenstraße nach Westminster West nur bis zu Barretts langer, steiler Auffahrt gefahren. Dann hatte er zurückgesetzt und auf dem Grundstück der Tierfreundin gehalten. Danny wusste, dass Barrett früh schlafen ging und das Auto nicht bemerken würde, das in ihrer Auffahrt parkte so weit weg von ihrer Farm, dass nicht einmal ihre Pferde etwas mitbekämen. Außerdem hatte Danny Scheinwerfer und Motor ausgemacht. Er saß einfach nur mit offenen Scheiben in seinem Wagen und schaute in
Richtung Westminster West. Es war eine warme, windstille Nacht. Danny wusste, dass man in so einer Nacht einen Schuss kilometerweit hörte. Was er zunächst nicht wusste: Wollte er ihn denn hören? Und was genau würde es bedeuten, wenn er diesen Schuss hörte oder nicht hörte? Der Schriftsteller lauschte auf mehr als auf den Tod oder das Überleben von Roland Drakes zweitem, hinterrücks angreifendem HuskySchäferhund-Mischling. Mit 41 fühlte Danny sich wieder wie ein Zwölfjähriger; dass es angefangen hatte zu regnen, war keine Hilfe. Er erinnerte sich an die neblige Nacht, als er und sein Dad in dem Pontiac Chieftain Twisted River verlassen hatten - und daran, wie er in dem Kombi in der Nähe von Sixpack-Pams Wohnung gewartet hatte. Danny hatte auf den Schuss aus Carls 45er-Colt gehorcht, der bedeuten würde, dass sein Dad tot war. Hätte er diesen Knall gehört,
wäre der Junge unverzüglich die Treppe zu Sixpacks Wohnung hochgerannt, hätte sie angefleht, ihn hineinzulassen, und dann hätte sich Ketchum um ihn gekümmert. Das war der Plan gewesen, und Danny hatte seinen Teil der Abmachung erfüllt; er hatte bei strömendem Regen in dem Wagen gesessen und auf den Schuss gelauscht, der nie kam, obwohl Danny manchmal das Gefühl hatte, dass er immer noch darauf wartete. An der Nebenstraße nach Westminster West, dort, wo die Auffahrt seiner ehemaligen Geliebten von der Straße abzweigte, lauschte Danny Angel so konzentriert wie möglich. Er hoffte, diesen Schuss nie hören zu müssen den ohrenbetäubenden Knall aus dem 45erColt des Cowboys -, doch mit dem Gedanken an diesen Schuss ließ der Schriftsteller dem gefährlichen Was-wäre-wenn-Hang seiner Phantasie die Zügel schießen. Was wäre, wenn der Polizist Roland Drakes anderen Hund nicht erschießen musste - was wäre, wenn Jimmy
den Schriftstellertischler und seinen HuskySchäferhund-Mischling irgendwie überzeugen könnte, dass irgendwann wirklich Schluss sein musste? Würde das ein Ende der Gewalt oder der Androhung von Gewalt bedeuten? In diesem Moment wurde dem Schriftsteller klar, worauf er lauschte: auf nichts. Er hoffte, gar nichts zu hören. Diesen Nicht-schuss, der bedeuten würde, dass sein Dad in Sicherheit war - dass der Cowboy, so wie Paul Polcari, vielleicht nie abdrückte. Danny wollte nicht an das denken, was Jimmy ihm gesagt hatte - es betraf die Tube Zahnpasta und die Zahnbürste in Joes Wagen. Eventuell waren sie gar nicht von Roland Drake dort platziert worden und hatten mit Drakes Schabernack nichts zu tun. »Ich sag dir das nur ungern, Danny, aber ich habe jede Menge junge Leute erwischt, die in ihrem Auto Alkohol getrunken haben«, hatte der Polizist erzählt. »Und diese jungen Leute
haben häufig Zahnpasta und Zahnbürste griffbereit - damit ihre Eltern nicht an ihrem Atem merken, dass sie getrunken haben, wenn sie nach Hause kommen.« Doch Danny wollte lieber glauben, dass Zahnpasta und Zahnbürste zu Drakes kindischen Streichen gehörten. Dass sein Sohn betrunken Auto fuhr, mochte sich der Schriftsteller nicht vorstellen. War Danny abergläubisch (so wie die meisten Schriftsteller, die ihre Geschichten genau planen)? Danny dachte auch nicht gern an das, was Lady Sky zu Joe gesagt hatte. »Falls du je in Schwierigkeiten steckst, komme ich wieder«, hatte sie zu dem Zweijährigen gesagt und ihn auf die Stirn geküsst. Tja, aber nicht in einer so dunklen Nacht wie dieser, dachte der Schriftsteller. In einer so dunklen Nacht wie dieser sah kein Fallschirmspringer - nicht einmal Lady Sky -, wo man landen musste. Inzwischen hatte der Regen das bisschen Mondschein verwischt; Tropfen fielen durch
die offenen Seitenscheiben von Dannys Auto und rannen in Schlieren über die Windschutzscheibe, was die Dunkelheit für Danny noch undurchdringlicher machte. Bestimmt war der Polizist schon in Drakes Einfahrt, diesen Schrottplatz, abgebogen. Und was würde Jimmy dann machen?, fragte sich Danny. Einfach nur im Streifenwagen sitzen, bis Drake das Auto bemerkte und nach draußen kam, um mit ihm zu reden? (Und würde Roland dann allein herauskommen oder den Hund mitbringen, der einen hinterrücks anfiel?) Andererseits regnete es; aus Rücksicht auf den Hippietischler und wegen der vorgerückten Stunde war der Cop vielleicht aus seinem Wagen gestiegen und hatte an Drakes Tür geklopft. Bei diesem Gedanken klopfte es an die Beifahrertür von Dannys Auto, und eine Taschenlampe leuchtete dem Schriftsteller ins Gesicht. »Gott sei Dank - du bist es«, hörte er
Barrett sagen. Seine ehemalige, mit einem Gewehr bewaffnete Geliebte öffnete die Wagentür und rutschte auf den Sitz neben ihm. Sie hatte ihre kniehohen Stallgummistiefel und einen Regenponcho an. Beim Einsteigen hatte sie die Kapuze abgestreift, und ihre langen weißen Haare waren nicht geflochten - als wäre sie schon vor Stunden zu Bett gegangen und plötzlich geweckt worden. Barretts Schenkel waren nackt; unter dem Regenponcho trug sie nichts. (Danny wusste natürlich, dass Barrett nackt schlief.) »Hab ich dir gefehlt, Danny?«, fragte sie ihn. »Du bist aber spät auf, stimmt's?«, fragte Danny zurück. »Vor etwa einer Stunde musste ich einem meiner Pferde den Gnadenschuss geben - es war zu spät, um den verdammten Tierarzt zu holen«, erzählte ihm Barrett. Sie saß da wie ein Mann, mit gespreizten Knien. Der Karabiner, dessen Lauf auf den Boden zeigte,
lag zwischen ihren hübschen Tänzerinnenbeinen. Es war eine alte Remington-Repetierbüchse - eine .30-06 Springfield, wie sie Danny vor ein paar Jahren einmal erklärt hatte, als sie auf seinem Anwesen in Putney aufgetaucht war, auf der Hirschjagd. Barrett jagte dort immer noch Hirsche; auf dem Grundstück stand ein verwilderter Obstgarten, in dem Barrett mehr als einen Hirsch geschossen hatte. (Wie hatte der Koch sie genannt - eine »selektive« Tierfreundin, oder? Danny kannte mehrere von der Sorte.) »Das mit deinem Pferd tut mir leid«, sagte er ihr. »Das mit dem Gewehr tut mir leid - ich weiß, du magst keine Schusswaffen«, erwiderte sie. »Aber ich hab deinen Wagen nicht erkannt der ist wohl neu -, und wenn fremde Männer in der Auffahrt parken, sollte man gewisse Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.«
»Ja, du hast mir gefehlt«, log Danny. »Ich verlasse Vermont. Vielleicht wollte ich noch einmal die Erinnerungen auffrischen, ehe ich wegziehe.« Der letzte Teil stimmte. Außerdem konnte der Schriftsteller einer so selektiven Tierfreundin nicht die Geschichte von dem toten Hund erzählen - ganz zu schweigen davon, dass er hier saß und darauf wartete, zu hören, wie sich das Schicksal eines zweiten Hundes entschied -, jedenfalls nicht an einem so tristen Abend, wie Dot und May ihn heraufbeschworen hatten. »Du ziehst weg?«, fragte ihn Barrett. »Warum? Ich dachte, dir gefiele es hier - dein Dad ist doch ganz vernarrt in sein Restaurant in Brattleboro, stimmt's?« »Wir gehen beide. Wir sind ... einsam, schätze ich«, sagte Danny. »Erzähl mir mehr«, sagte Barrett; der Gewehrkolben lehnte an ihrem Schenkel, während sie Dannys Hand nahm und sie unter
ihren Poncho, zu ihren Brüsten führte. Sie war sehr klein - so zierlich wie Katie, wie Danny jetzt bewusst wurde -, und im silbrig gedämpften Mondlicht, in der fast völligen Dunkelheit des Wageninneren, leuchteten Barretts weiße Haare wie die Haare von Katies Geist. »Offenbar wollte ich mich verabschieden«, sagte Danny zu ihr. Das war nicht gelogen - er meinte es ernst. Wäre es nicht tröstlich, in den warmen Armen der grazilen älteren Frau zu liegen und an nichts anderes mehr zu denken? »Du bist lieb«, sagte Barrett zu ihm. »Für meinen Geschmack viel zu melancholisch, aber sehr lieb.« Danny küsste sie auf den Mund, von ihrem schlohweißen Haarschopf fiel ein gespenstischer Abglanz auf ihr schmales Gesicht, das sie ihm von unten entgegenstreckte, die blassgrauen und eiskalten Augen hatte sie geschlossen. So
konnte Danny aus dem offenen Wagenfenster an ihr vorbeischauen; er wollte auf keinen Fall Jimmys Streifenwagen verpassen, falls der auf der Straße vorbeifuhr. Wie lange mochte Jimmy brauchen, um einen toten Hund seinem Besitzer zurückzubringen und dem Hippiearschloch die ihm zugedachte Standpauke zu halten?, fragte sich Danny. Wäre der Polizist gezwungen gewesen, Drakes anderen Hund zu erschießen, hätte Danny den Schuss mit ziemlicher Sicherheit bereits gehört; er hatte die ganze Zeit die Ohren gespitzt, sogar während seines Gesprächs mit Barrett. (Sie zu küssen war besser, als zu reden; küssen war leiser. So konnte er den Schuss nicht überhören, falls einer fiel.) »Lass uns in mein Haus gehen«, murmelte Barrett und löste sich von ihm. »Ich hab gerade mein Pferd erschossen - ich brauch jetzt ein Bad.« »Klar«, sagte Danny, griff aber nicht nach dem
Zündschlüssel. Der Streifenwagen war nicht an Barretts Auffahrt vorbeigefahren, und es war kein Schuss gefallen. Danny versuchte, sich die beiden vorzustellen, Jimmy und Roland Drake. Vielleicht saßen der Polizist und der Hippie, der kleine Scheißer mit dem Treuhandfonds, am Küchentisch. Danny versuchte sich auszumalen, wie Jimmy den Husky-Schäferhund-Mischling tätschelte oder vielleicht die weichen Hundeohren kraulte - die meisten Hunde mochten das. Doch Danny wollte es nicht gelingen, deshalb zögerte er, den Motor anzulassen. »Was ist?«, wollte Barrett wissen. Der Schuss war lauter, als er erwartet hatte; obwohl Drakes Einfahrt drei oder vier Kilometer entfernt war, hatte Danny den Krach von Jimmys Waffe unterschätzt. (Danny hatte geglaubt, der Cop wäre mit einem 38erColt bewaffnet, aber da er sich mit Schusswaffen nicht auskannte, wusste er nicht,
dass Jimmy die 47jer-Wildey-Magnum bevorzugte, auch bekannt als Wildey Survivor.) Es gab einen gedämpften Knall sogar lauter als von dem 45er-Colt des Cowboys, wie Danny erst merkte, als Barrett in seinen Armen zusammenzuckte und ihre Finger nach dem Abzug ihres RemingtonGewehrs tasteten, ihn aber nur streiften. »Irgendein verdammter Wilderer - ich werd morgen früh Jimmy anrufen«, sagte Barrett. Ihre Anspannung war schon verflogen. »Warum Jimmy?«, fragte Danny sie. »Warum nicht den Wildhüter?« »Den Wildhüter kannst du vergessen - der Trottel hat Angst vor Wilderern«, antwortete Barrett. »Außerdem kennt Jimmy sämtliche Wilderer. Sie haben alle Angst vor ihm.« »Ach«, mehr brachte Danny nicht heraus. Er wusste rein gar nichts über Wilderer. Danny ließ den Motor an; er schaltete
Scheinwerfer und Scheibenwischer ein, und er und Barrett kurbelten die Scheiben des Wagens hoch. Der Schriftsteller wendete auf der Straße und fuhr die lange Auffahrt zur Pferdefarm hoch - ohne zu wissen, welches Stück des Puzzles fehlte, und ohne sicher zu sein, welcher Teil der Geschichte noch weiterging. Eins war klar, als Barrett neben ihm saß, ihren Karabiner inzwischen über den Schoß gelegt, so dass der kurze Lauf des leichten Gewehrs auf die Beifahrertür zeigte. Es war nie Schluss; die Gewalt nahm kein Ende.
TEIL IV TORONTO 2000 12 - Der blaue Mustang Von Rosedale, wo der Koch und sein Sohn, der Schriftsteller, zusammen ein zweistöckiges Haus bewohnten, zu dem Restaurant in der Yonge Street war es nicht besonders weit. Doch in seinem Alter - er war inzwischen 76 und wegen seines Hinkens, das sich im Laufe der vergangenen 17 Jahre auf hartem Großstadtpflaster merklich verschlimmert hatte, war Dominic Baciagalupo, der seinen alten Namen wieder angenommen hatte, ein ausgesprochen langsamer Fußgänger. Gerade humpelte der Koch den glatten Gehsteig entlang; der Winter war noch nie sein Freund gewesen. Und Dominic machte sich wegen der zwei neuen Häuser mit
Eigentumswohnungen Sorgen, die praktisch in ihrem Hinterhof errichtet wurden. Was wäre, wenn eins der beiden den Blick von Daniels Schreibzimmer auf den Uhrenturm des Summerhill-Spirituosenladens verstellen würde? »Wenn ich von meinem Schreibtisch aus den Uhrenturm nicht mehr sehen kann, sollten wir umziehen«, hatte Danny zu seinem Dad gesagt. Ob es sein Sohn nun ernst meinte oder nicht, fest stand, dass der Koch ungern umzog. Der Blick aus dem Haus am Cluny Drive interessierte Dominic nicht. Er hatte seit über sechsundfünfzig Jahren keinen Alkohol mehr angerührt; ob ein paar im Bau befindliche Häuser ihn daran hinderten, den SummerhillSchnapsladen zu sehen, war dem Koch völlig egal. Ob es Daniel deswegen etwas ausmachte, weil er wieder trank?, fragte sich Dominic. Und wie
lange noch würden diese Baustellen ein Schandfleck sein? (Dominic war in einem Alter, wo ihn jegliche Unordnung störte.) Doch er wohnte gern in Rosedale, und er mochte das Restaurant sehr, in dem er arbeitete. Dominic Baciagalupo mochte auch das Geräusch von Tennisbällen, das er in den warmen Monaten hören konnte, wenn die Fenster in ihrem Haus offen standen; der Koch und sein Sohn wohnten in Sicht- und Hörweite des Toronto Lawn Tennis Club, zu dem auch ein Pool gehörte, in dem im Sommer die Kinder laut und fröhlich planschten. In den Wintermonaten drang durch die geschlossenen Fenster das Rattern der Züge, die sich langsam durch Torontos Innenstadt schlängelten und die Yonge Street auf einer Eisenbrücke überquerten, die jetzt mit Weihnachtsbeleuchtung geschmückt war und das düstere Grau des frühen Nachmittags aufhellte.
Es war Dezember. Überall in der Stadt sah man festliche Lichter, opulente Dekorationen und Menschen auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken. Während Dominic dastand und darauf wartete, dass die Fußgängerampel an der Yonge Street grün wurde, fiel ihm plötzlich ein, dass Ketchum ja zu Weihnachten nach Toronto kommen würde. Auch wenn es nicht das erste Mal war, konnte sich der Koch doch nicht an das Bild des Holzfällers in der Großstadt gewöhnen, es war irgendwie widernatürlich. Seit Danny Angel und sein Dad das letzte Mal Weihnachten bei Joe in Colorado verbracht hatten, waren 14 Jahre vergangen. (Ketchum war die Fahrt von New Hampshire nach Boulder immer zu weit gewesen, und er weigerte sich standhaft zu fliegen.) Als Joe noch die Universität in Boulder besuchte, mietete Daniel zur Skisaison immer ein großes Blockhaus in Winter Park. Da die Straße von Grand Lake durch den Rocky
Mountain National Park im Winter gesperrt war, dauerte die Fahrt aus Boulder etwa zwei Stunden, man musste die Interstate 70 und den U.S. Highway 40 über den Berthoud Pass nehmen. Doch Joe fuhr fürs Leben gern Ski in Winter Park, und sein Dad verwöhnte ihn. (Jedenfalls glaubte das der Koch, während er wartete, dass die Ampel an der Yonge Street endlich umsprang.) Sie hatten in Colorado wunderschöne Weihnachtstage verbracht, doch das Haus in Winter Park war für Joe eine zu große Versuchung gewesen, besonders während der restlichen Skisaison, wenn Vater und Großvater wieder in Toronto waren. Natürlich ließ der junge Mann gelegentlich ein paar Seminare ausfallen - vielleicht sogar jedes Mal, wenn in den Bergen Neuschnee gefallen war. Allein die Skihänge in der Nähe hätten jeden Studenten gereizt, aber dass ihm ein Haus in Winter Park zur Verfügung stand, von wo aus er die Skilifte zu Fuß erreichen konnte,
war mit großer Sicherheit Joes Verderben gewesen. (Oh, Daniel, was hast du dir nur dabei gedacht?, grübelte Dominic Baciagalupo.) Endlich wurde die Ampel grün, und der Koch humpelte über die Yonge Street, wobei er auf die hirnlosen großstädtischen Autofahrer achtete, die verzweifelt nach einer Parklücke vor dem Summerhill-Spirituosenladen oder The Beer Store Ausschau hielten. Wie hatte sein Sohn, der Schriftsteller, diese Gegend doch noch genannt?, versuchte sich der Koch zu erinnern. Genau, jetzt fiel es ihm wieder ein. »Einkaufsviertel für Hedonisten«, hatte Daniel gesagt. Es gab dort ein paar schicke Märkte, das stimmte - hervorragendes Obst und Gemüse, frischen Fisch, ausgezeichnete Würste und Fleischsorten, aber alles völlig überteuert, wie der Koch fand -, und jetzt, in der Vorweihnachtszeit, kam es Dominic vor, als
ob jeder schlechte Autofahrer der Stadt Schnaps kaufen wollte. (Der Koch nahm seinem geliebten Sohn nicht übel, dass er wieder trank; Daniel hatte seine Gründe.) Vom Ontario-See fegte der eisige Wind die Yonge Street herauf, als Dominic sich mit seinen Handschuhen und dem Schlüssel an der verschlossenen Restauranttür abmühte. Die Kellner und das Küchenpersonal betraten die Küche von der Crown's Lane - der parallel zur Yonge Street verlaufenden Gasse hinter dem Restaurant -, doch der Koch hatte einen Schlüssel für die Vordertür. Er drehte dem Wind seinen Rücken zu und öffnete sie nach einigen Schwierigkeiten. Im Coos County waren die Winter kälter gewesen - und im Windham County in Vermont auch. Doch die klamme, durch Mark und Bein dringende Kälte des vom See herwehenden Windes erinnerte Dominic Baciagalupo daran, wie sehr er im Bostoner
North End gefroren hatte. Allerdings hatte ihn damals Carmella gewärmt, erinnerte er sich. Sie fehlte ihm - nur sie, nur Carmella -, doch keine Frau in seinem Leben zu haben störte Dominic seltsamerweise nicht. Nicht mehr, nicht in seinem Alter. Warum bloß fehlte ihm Rosie nicht?, fragte sich der Koch auf einmal. »Mittlerweile, Cookie«, hatte Ketchum gesagt, »gibt es manchmal Tage, an denen ich merke, dass sie mir nicht fehlt. Kannst du dir das vorstellen?« Ja, musste Dominic zugeben, durchaus. Oder war es die Spannung zwischen ihnen dreien oder Indianer-Janes strenges Urteil oder dass sie Daniel im Ungewissen gelassen hatten -, worauf Ketchum und der Koch verzichten konnten? Im Restaurant empfing Dominic der Geruch der »Muttersaucen«, wie sie der junge Küchenchef Silvestro nannte. Der Kalbsjus -
die Mutter aller Muttersaucen - war während des gestrigen Abendessens angesetzt worden. Man kochte ihn nicht nur ein-, sondern zweimal auf, ehe er schließlich reduziert wurde. Silvestros andere Muttersaucen waren eine Tomaten- und eine Bechamelsauce. Während Dominic Mantel und Schal aufhängte und halbherzig versuchte, seine durch Joes Lieblingsskimütze verstrubbelten Haare zu glätten, roch er irgendwie alle Muttersaucen auf einmal. »Den alten Profi« nannten sie ihn in der Küche, obwohl Dominic zufrieden war mit der Rolle als Sous-Chef des meisterlichen Silvestro, der als Saucier amtierte und sich um das Fleisch kümmerte. Kristine und Joyce waren für Suppen und Fisch zuständig - sie waren die ersten Köchinnen, mit denen der Koch je gearbeitet hatte -, und Scott machte das Brot und die Desserts. Dominic, der Fastrentner, fungierte in der Küche als Springer; in jeder Station übernahm er Vor-
und Nacharbeiten, sprang beispielsweise für Silvestro bei Saucen und beim Fleisch ein. In der Küche nannten sie Dominic auch »unser Mädchen für alles«. Er war viel älter als alle anderen - nicht nur älter als Silvestro, ihr Chefkoch, dieser Teufelskerl, von dem Dominic schwärmte. Silvestro war für ihn wie ein zweiter Sohn, dachte der Koch - was er aber seinem geliebten Daniel nie gesagt hätte. Dominic hatte sich auch gehütet, seine väterlichen Gefühle für den jungen Silvestro Ketchum gegenüber zu erwähnen - was wohl daran lag, dass der Waldarbeiter inzwischen ein erfahrener und penetranter Faxer war. Ketchum schickte dem Koch und seinem Sohn ständig Faxe über Gott und die Welt. (Manchmal vergaß er sogar, drauf zuschreiben, an wen das Fax gerichtet war!) Und Ketchums Faxe trafen zu jeder Tagesund Nachtzeit ein; um durchschlafen zu können, sahen sich Danny und sein Dad gezwungen, das Faxgerät in die Küche ihres
Hauses zu verbannen. Dass Ketchum gegenüber Silvestro Vorbehalte hatte, lag an dessen Namen: Für den Geschmack des alten Holzfällers klang der Name des jungen Chefkochs zu italienisch. Wenn Ketchum wüsste, dass sein Kumpel Cookie Silvestro als »zweiten Sohn« betrachtete, wäre das nicht gut, denn Dominic wollte nicht von noch mehr Faxen überschwemmt werden, in denen sich Ketchum auch noch darüber beschwerte. Ketchums übliche Klagen reichten völlig aus. ich dachte, du als halbrentner würdest in einem französischen restaurant arbeiten, cookie. du denkst doch nicht etwa daran, den namen des restaurants zu än dern, oder? hoffentlich nicht in irgendwas italienisches! dieser neue kerl, der junge chefkoch, den du erwähnst silvestro? ist das sein name? tja, klingt in meinen ohren nicht sehr französisch! das
restaurant heisst aber immer noch PATRICE, oder? Ja und nein, dachte Dominic. Und genau deshalb beantwortete der Koch Ketchums letztes Fax nicht. Der Besitzer und Oberkellner des Restaurants, Patrice Arnaud, war 58, also in Daniels Alter. Arnaud war in Lyon geboren, aber in Marseille aufgewachsen. Mit 16 hatte er eine Hotelfachschule in Nizza besucht. In der Küche des Patrice hing ein altes sepiabraunes Foto des jugendlichen Arnaud in weißer Kochkleidung, doch Arnauds Zukunft sollte im Management liegen; er hatte die Gäste im Speisesaal eines Beach Club auf den Bermudas beeindruckt und lernte dort den Eigentümer des altehrwürdigen Wembley Hotel in Toronto kennen. Als Dominic 1983 nach Toronto zog, war
Patrice Arnaud Manager des Maxim's - eines beliebten Cafes und angesagten Treffpunkts in der Gegend um Bay und Bloor Street. Das Maxim's war der dritte Anlauf für ein CafeRestaurant im müden alten Wembley Hotel gewesen. Für Dominic Baciagalupo, dem Ketchums ominöse Warnung noch in den Knochen saß, er müsse der Welt italienischer Restaurants völlig entsagen, waren Patrice Arnaud und das Maxim's eindeutig erste Wahl - und obendrein total unitalienisch. Das Maxim's war ausgesprochen französisch, Patrice hatte sogar seinen Bruder Marcel überredet, Marseille zu verlassen und dort Küchenchef zu werden. »Oh, aber das Schiff sinkt bereits, Dominic«, hatte Patrice den Koch gewarnt. Damit meinte er, dass sich Toronto im Eiltempo veränderte. Die zukünftigen Gäste würden mehr wollen als biedere Hotelrestaurants. (Nachdem die Brüder Arnaud das Maxim's aufgegeben hatten, wurde aus dem alten Wembley Hotel
ein Parkhaus.) Im folgenden Jahrzehnt arbeitete Dominic mit den Brüdern Arnaud in deren eigenem Restaurant in der Queen Street West - einer Gegend, die im Umbruch und zu der Zeit ein wenig heruntergekommen war. Doch das Bastringue florierte. Mittags wie abends hatten sie fünfzig Gedecke; Marcel war damals Küchenchef, und Dominic ging nur zu gern bei ihm in die Lehre. Es gab Foie gras, es gab frische Austern aus Frankreich. (Auch hier scheiterte der Koch an der Kunst der Dessertzubereitung - Marcels Tarte Tatin mit Calvados-Sabayon gelang ihm nie.) Das Bastringue - pariserisch für »Tanzsaal mit angeschlossenem Restaurant« - trotzte sogar der Rezession von 1990. Sie legten Wachspapier auf die Leinentischtücher und machten aus dem Restaurant ein Bistro - Steak mit Pommes, Miesmuscheln, gedünstet mit Weißwein und Porree -, aber ihr Mietvertrag
lief 1995 aus, nachdem sich die Queen Street West innerhalb eines Jahrzehnts von schäbig über hip bis hin zu ödem Mainstream gewandelt hatte. (Aus dem Bastringue wurde ein Schuhgeschäft, Marcel ging zurück nach Frankreich.) Dominic und Patrice Arnaud hielten zusammen; ein Jahr lang arbeiteten sie im Avalon, doch Arnaud sagte seinem Freund, dass sie »nur auf den richtigen Zeitpunkt warteten«. Patrice wollte wieder etwas Eigenes haben, und 1997 kaufte er ein insolventes Restaurant in der Yonge Street in Summerhill auf. Silvestro stammte zwar ursprünglich aus Italien, war aber ein Kalabrese, der in London und Mailand gearbeitet hatte; Arnaud legte wert auf Weitläufigkeit. (»Das bedeutet, dass man Neues lernen kann«, erklärte Patrice Dominic, als er sich für den jungen Silvestro als seinen nächsten Küchenchef entschied.) Und der Name des neuen Restaurants, Patrice
- wie hätte es Arnaud sonst nennen sollen? »Du hast es verdient«, sagte Dominic zu Patrice. »Dein Name muss dir nicht peinlich sein.« In den ersten Jahren hatte Patrice - der Name und, in geringerem Maß, das Restaurant funktioniert. Arnaud und der Koch brachten Silvestro einige von Marcels Klassikern bei: den Hummer mit Senf-Sabayon, die Fischsuppe aus der Bretagne, die EntenFoiegras-Terrine mit einem Löffel Portweingelee, den Heilbutt en papillote, das Côte de boeuf für zwei, die gegrillte Kalbsleber mit Speckstreifen, Perlzwiebeln und Balsamico-demi-glace. Selbstredend ergänzte Silvestro die Speisekarte mit seinen eigenen Gerichten Ravioli mit Weinbergschnecken und KnoblauchKräuterbutter, Kalbs-Scaloppine al limone, hausgemachte Tagliatelle mit Entenconfit und Steinpilzen, Kaninchen mit Polenta-Gnocchi. (Auch Dominic steuerte ein paar Gerichte zur
Speisekarte bei.) Das Restaurant in der Yonge Street 1158 war neu, aber nicht ausschließlich französisch - und in der Gegend auch nicht so erfolgreich, wie Arnaud gehofft hatte. »Es liegt nicht nur am Namen, aber der Name ist auch Mist«, sagte Patrice zu Dominic und Silvestro. »Ich habe Rosedale völlig falsch eingeschätzt - man braucht in dieser Gegend kein teures französisches Restaurant. Wir müssen lässiger und preiswerter werden! Unsere Gäste müssen zwei- oder dreimal die Woche zu uns kommen, nicht alle paar Monate.« Während der Weihnachtspause war das Patrice normalerweise geschlossen - dieses Jahr vom 24. Dezember bis zum 2. Januar, Zeit genug für die von Arnaud geplante Renovierung. Die Sitzbänke sollten abgebeizt und komplett neu gepolstert, die zitronengelben Wände frisch verputzt werden. Poster der alten Schifffahrtslinie sollten aufgehängt werden:
»Le Havre, Southampton, New York Compagnie Generale Transatiantique!«, hatte Patrice verkündet und ein paar ToulouseLautrec-Plakate der Moulin-Rouge-Tänzerin La Goulue und der Sängerin Jane Avril aufgetrieben. Fish 'n' Chips sollten die Speisekarte ergänzen, ebenso wie Beefsteak Tartar mit Pommes; die Preise für Speisen und Wein sollten um 25 Prozent sinken. Aus dem Restaurant sollte wieder ein Bistro werden, wie in den herrlichen Rezessionstagen des Bastringue, allerdings wollte Patrice den Begriff Bistro meiden. (»Das Wort Bistro ist dermaßen überstrapaziert, dass es nichts mehr bedeutet!«, erklärte Arnaud.) Restaurants müssen sich immer wieder neu erfinden, wusste Arnaud. »Aber was ist mit dem Namen?«, hatte Silvestro seinen Boss gefragt. Der Kalabrese hatte seinen eigenen Vorschlag, wie Dominic wusste.
»Ich finde, Patrice ist zu französisch«, hatte Patrice geantwortet. »Das ist zu old-school, klingt zu sehr nach altem Geld. Es muss weg.« Arnaud war klug und weltmännisch, er war lässig, aber charmant. Dominic mochte und bewunderte den Mann, doch diesen Teil der Veränderung fürchtete er - alles nur, um die Snobs in Rosedale zufriedenzustellen. »Ihr beide kennt ja meine Meinung«, sagte Silvestro mit einem aufgesetzt gleichmütigen Achselzucken; er war ein gutaussehender, selbstsicherer Mann, wie man sich einen Sohn wünschte. Der junge Küchenchef war fasziniert von dem Effekt des Milchglases in der unteren Hälfte des großen Panoramafensters mit Blick zur Yonge Street. Passanten auf der Straße verwehrte das trübe Glas die Sicht ins Restaurant; die Gäste an ihren Tischen waren vom Gehsteig aus nicht zu sehen. Doch die obere Hälfte der großen Glasscheibe war
durchsichtig; Restaurantgäste konnten das rote Ahornblatt auf der kanadischen Flagge über dem Summerhill-Spirituosenladen, konnten auf die andere Seite der Yonge Street und (eines Tages) die beiden noch im Bau befindlichen Wohnhochhäuser an dem zukünftigen Scrivener Square sehen. Der untere, milchige Teil der Scheibe wirkte wie ein Vorhang - so lautete Silvestros gewundene Begründung seines Namensvorschlags für das Restaurant. »La Tenda«, sagte Silvestro mit Gefühl. »Der Vorhang.« »Das klingt irgendwie unheilvoll«, hatte Dominic dem jungen Küchenchef gesagt. »In einem Restaurant, das so heißt, würde ich nicht essen wollen.« »Silvestro, ich finde, du solltest dir diesen Namen für dein allererstes eigenes Restaurant aufheben - wenn du Eigentümer und Chefkoch bist, was garantiert geschehen wird!«, meinte
Arnaud. »La Tenda«, wiederholte Silvestro zärtlich, und seine warmen braunen Augen füllten sich mit Tränen. »Es ist zu italienisch«, sagte Dominic dem schwärmerischen jungen Mann. »Es mag zwar kein rein französisches Restaurant sein, aber italienisch ist es auch nicht.« Was würde Ketchum sagen, wenn das ehemalige Patrice einen italienischen Namen bekäme?, dachte Dominic, der gleichzeitig begriff, wie absurd sein Argument war - vor allem von ihm, dessen sizilianischer Hackbraten und dessen Penne alla puttanesca nach Weihnachten auf der neuen, schlichteren Speisekarte stehen würden. Der verdutzte Patrice und der entsetzte Silvestro sahen ihn entgeistert an. Sie hatten ein Patt erreicht. Dominic dachte: Ich sollte Daniel bitten, sich einen Namen einfallen zu lassen, schließlich ist er Schriftsteller! In
diesem Moment brach Silvestro das Schweigen. »Was ist mit deinem Namen, Dominic?«, sagte der junge Küchenchef. »Nicht Baciagalupo!«, rief der Koch. (Wenn ihn der Cowboy nicht umbrachte, würde es Ketchum tun, das wusste Dominic.) »Apropos zu italienisch!«, sagte Arnaud liebevoll. »Ich meine die Bedeutung deines Namens, Dominic«, sagte Silvestro. Patrice Arnaud hatte die Bedeutung von Baciagalupo nicht erraten, obwohl die Wörter auf Französisch ähnlich waren. »>Kiss of the Wolf<«, sagte Silvestro langsam und betonte dabei Kiss und Wolf gleich stark. »Wolfskuss!« Arnaud erschauerte. Er war ein kräftiger, untersetzter Mann mit kurzgeschnittenen grauen Haaren und einem kultivierten Lächeln. Er trug dunkle Hosen mit makellosen Bügelfalten und stets ein elegantes Hemd ohne
Krawatte. Das Zeremonielle wirkte bei ihm ganz natürlich; der ebenso höfliche wie weise Gastronom begriff, was an Altmodischem bewahrenswert war, wusste aber auch sofort, wann man etwas ändern musste. »Tja, also - Kiss of the Wolf! -, warum hast du mir das verschwiegen, Dominic?«, fragte Arnaud seinen treuen Freund schelmisch. »Der Name ist verführerisch und modern zugleich, und er hat Biss!« Tja, Kiss of the Wolf hat wirklich Biss, dachte der Koch - doch Ketchums Kommentar zu dem Namen des neuen Restaurants würde anders ausfallen. Dominic mochte lieber nicht daran denken, was der alte Holzfäller sagen würde, sobald er davon Wind bekam. »Haufenweise Elchscheiße!«, würde Ketchum vielleicht ausrufen - oder Schlimmeres. War es nicht schon riskant genug, dass der Koch seinen richtigen Namen wieder angenommen hatte? Welche Gefahr bedeutete
es in einer Welt mit Internet, dass plötzlich wieder ein Dominic Baciagalupo aktiv war? (Wenigstens war Ketchum etwas erleichtert, als er erfuhr, dass Nunzi, auf dem Höhepunkt ihres phonetischen Zartgefühls, den Namen Baciodalupo zu Baciagalupo verschliffen hatte!) Doch wie sollte, realistisch betrachtet, ein Hilfssheriff im Ruhestand aus Coos County, New Hampshire, herausfinden, dass der Name des Restaurants Kiss of the Wolf in Toronto, Ontario, Kanada, die englische Übersetzung des phonetisch abgewandelten Phantasienamens Baciagalupo war? Und vergiss nicht, beruhigte sich Dominic - der Cowboy ist genauso alt wie Ketchum, nämlich 81! Wenn ich hier nicht in Sicherheit bin, werde ich es nie sein, dachte Dominic beim Betreten der schmalen, geschäff igen Küche des Patrice. Nun, es ist eine Welt voller Unfälle und Zufälle, oder? In solch einer Welt ändern sich nicht nur die Namen.
Nachgerade wünschte Danny Angel sich inständig, er hätte den Namen Daniel Baciagalupo nie aufgegeben, und zwar nicht, weil er wieder der unschuldigere Knabe und junge Mann von früher sein wollte - oder auch nur, weil Daniel Baciagalupo sein richtiger Name war, den ihm seine Eltern gegeben hatten -, sondern, weil der mittlerweile 58jährige Romancier glaubte, es sei ein besserer Name für einen Schriftsteller. Und je mehr er sich den sechzig näherte, desto weniger fühlte er sich wie ein Danny oder ein Angel; dass sein Vater all die Jahre auf dem Daniel bestanden hatte, ergab für den Sohn nun immer mehr Sinn. (Nicht dass es einem zu Hause arbeitenden, auf die sechzig zugehenden Schriftsteller immer leichtfiel, mit seinem 76 Jahre alten Dad zusammenzuwohnen. Die beiden konnten ein ausgesprochen streitbares Paar sein.)
Wegen der umstrittenen Präsidentschaftswahl in den usa - dem »Florida-Fiasko«, wie Ketchum es nannte, durch das George W. Bush AI Gore die Präsidentschaft »gestohlen« hatte - waren Ketchums Faxe häufig wutentbrannt. Gore hatte die Wahl nach Stimmen gewonnen. Die Republikaner hatten die Wahl gestohlen, das glaubten auch Danny und sein Dad, sie teilten jedoch nicht unbedingt Ketchums extremere Ansichten zum Beispiel, dass sie »als Kanadier besser dran« seien und dass Amerika sein Schicksal verdient habe. wo sind die attentäter, wenn man einen braucht? hatte Ketchum gefaxt. Das ging nicht gegen George W. Bush; Ketchum meinte, jemand hätte Ralph Nader töten sollen. (Gore hätte
Bush in Florida geschlagen, wäre Nader nicht als Spielverderber auf den Plan getreten.) Ketchum war der Meinung, man sollte den früheren Verbraucherschützer Ralph Nader fesseln und knebeln - »vorzugsweise in einem kaputten Autokindersitz« - und ihn im Androscoggin versenken. Während der zweiten Bush-GoreFernsehdebatte kritisierte Bush Präsident Clintons Einsatz von amerikanischen Truppen in Somalia und auf dem Balkan. »Ich glaube, unsere Truppen sollten nicht zur sogenannten Nationenbildung eingesetzt werden«, sagte der spätere Präsident. wollt ihr mal abwarten und herausfinden, wozu dieser kleine wichser unsere truppen noch einsetzen wird? wollt ihr wetten, dass »nationenbildung« NICHT dazu gehört?
hatte Ketchum gefaxt. Doch Danny freute sich nicht über Amerikas bevorstehende Schmach - schon gar nicht aus kanadischer Perspektive. Er und sein Dad hatten ihr Land nie verlassen wollen. Soweit es für einen international erfolgreichen Bestsellerautor möglich war, die Änderung seiner Staatsbürgerschaff nicht an die große Glocke zu hängen, hatte Danny Angel versucht, seine politische Einstellung herunterzuspielen, was allerdings nach der Veröffentlichung von Jenseits von Bangor 1984 schwieriger wurde. Sein Abtreibungsroman war eindeutig politisch. Bis Danny und sein Dad schließlich kanadische Staatsbürger wurden, mussten sie ein langwieriges Verfahren durchlaufen. Danny hatte sich als Freiberufler bezeichnet; der auf Einwanderungsrecht spezialisierte Anwalt, der ihn vertrat, hatte den Schriftsteller als jemanden charakterisiert, »der auf
Weltniveau kulturell tätig ist«. Danny verdiente genug Geld, um sich und seinen Vater zu unterhalten. Beide hatten die ärztliche Untersuchung bestanden. Solange sie mit Touristenvisa in Toronto lebten, mussten sie alle sechs Monate die Grenze überqueren, um ihre Visa verlängern zu lassen; auch ihren Antrag auf Erlangung der kanadischen Staatsbürgerschaft mussten sie in einem kanadischen Konsulat in den usa einreichen. (Das Konsulat in Buffalo war Toronto am nächsten.) Ein leitender Beamter des Einwanderungsministeriums hatte ihnen von der Einbürgerung im sogenannten Schnellverfahren abgeraten. Wozu die Eile? Der berühmte Schrift steller müsse doch wohl nicht dringend die Staatsbürgerschaft wechseln, oder? (Dannys Anwalt hatte ihn gewarnt: Kanadier mache Erfolg ein wenig misstrauisch; statt ihn zu belohnen, bestraften sie ihn lieber.) Ja, um übermäßige
Aufmerksamkeit zu vermeiden, hatten der Koch und sein Sohn den langsamsten nur möglichen Weg gewählt, als sie die kanadische Staatsbürgerschaft beantragten. Der Vorgang hatte vier, fast fünf Jahre gedauert. Doch jetzt, nach dem Florida-Fiasko, hatten die kanadischen Medien sich über den »abtrünnigen« Schriftsteller Danny Angel ausgelassen; da er sich schon vor über einem Jahrzehnt »von den Vereinigten Staaten losgesagt« habe, wurden dem Autor »prophetische Fähigkeiten« unterstellt jedenfalls stand das so in der Toronto Globe and Mail. Eher kontraproduktiv für ihn war, dass die Verfilmung von Jenseits von Bangor erst kurz zuvor - im Jahr 1999 - in die Kinos gekommen war und der Film 2000 zwei Oscars gewonnen hatte. Zu Beginn des Jahres 2001 wurde in einer Sitzung beider Häuser des USKongresses das Ergebnis der Präsidentschaftswahl im Wahlmännergremium
bestätigt. Da es nun einen amerikanischen Präsidenten geben würde, der gegen das Recht auf Abtreibung war, kam es für Danny und seinen Dad nicht überraschend, dass die liberale Einstellung des Schriftstellers zur Abtreibung wieder in den Nachrichten erwähnt wurde. Und Schriftsteller tauchten in Kanada häufiger in den Nachrichten auf als in den Vereinigten Staaten - nicht nur dessetwegen, was sie schrieben, sondern auch dessetwegen, was sie sagten und taten. Danny reagierte noch immer empfindlich auf das, was er in den amerikanischen Medien über sich las, wo er oft als »antiamerikanisch« bezeichnet wurde, sowohl wegen seiner Bücher als auch weil er nach Toronto ausgewandert war. In anderen Teilen der Welt - auf jeden Fall in Europa und Kanada - sah man den angeblichen Antiamerikanismus des Schriftstellers als etwas Gutes. In den usa schrieben die Medien, der im Ausland lebende Schriftsteller »verunglimpfe« das Leben in den
Vereinigten Staaten in seinen Romanen. Außerdem war berichtet worden, der in Amerika geborene Autor sei nach Toronto gezogen, »um dadurch Position zu beziehen«. Doch als Romancier fühlte sich Danny zunehmend unwohl dabei, wenn man ihn wegen seiner vermeintlich antiamerikanischen Haltung verurteilte oder lobte. Natürlich konnte er nicht verraten - schon gar nicht der Presse -, warum er wirklich nach Kanada gezogen war. Stattdessen sagte Danny, nur zwei seiner sieben Romane könne man halbwegs politisch nennen; er war sich bewusst, dass er sich mit dieser Aussage in die Defensive brachte, doch es stimmte. Dannys viertes Buch, Die Kennedy-Väter, war ein Vietnamroman - und wurde als Protest gegen diesen Krieg gelesen. Das sechste, Jenseits von Bangor, war ein Bildungsroman - nach Auffassung mancher Kritiker eine Polemik für das Recht auf Abtreibung. Doch was war an den anderen
fünf Büchern politisch? Zerrüttete Familien; belastende sexuelle Erlebnisse; diverse Verluste der Unschuld, alle mit Reue und Trauer verbunden. Diese Geschichten handelten ausnahmslos von kleinen, häuslichen Tragödien - keine einzige verurteilte die Gesellschaft insgesamt oder eine spezifische Regierung. In Danny Angels Romanen war der Bösewicht - falls es einen gab - häufiger die menschliche Natur als die Vereinigten Staaten. Ein Aktivist war Danny nie gewesen. »Alle Schriftsteller sind Außenseiter«, hatte Danny Angel einmal gesagt. »Ich bin nach Toronto gezogen, weil ich gern Außenseiter bin.« Doch niemand glaubte ihm. Dass der weltberühmte Schriftsteller die Vereinigten Staaten ablehnte, war außerdem eine bessere Story. Danny fand, sein Umzug nach Kanada sei von der Presse hochgespielt, die vorgeblich
politische Ebene einer rein privaten Entscheidung übertrieben dargestellt worden. Aber noch mehr störte ihn, dass man seine Romane trivialisiert hatte. Danny Angels Werk war nach jedem nur denkbaren autobiographischen Krümel durchstöbert worden; man hatte seine Romane seziert und zu Tode analysiert, um die in ihnen verborgenen virtuellen Memoiren aufzustöbern. Doch was hatte Danny anderes erwartet? In den Medien war das wahre Leben wichtiger als die Fiktion; die Teile eines Romans, die zumindest auf persönlicher Erfahrung beruhten, waren für die Öffentlichkeit interessanter als jene Teile, die sich der Autor »nur« ausgedacht hatte. War nicht in jedem Stück Literatur das, was dem Schriftsteller oder einer ihm nahestehenden Person wirklich widerfahren war, irgendwie authentischer, nachweislich wahrer als alles, was man sich ausdenken konnte? (Eine
weitverbreitete Ansicht, obwohl der Beruf eines Schriftstellers gerade darin bestand, eine Geschichte auf wahrhaftige Weise von A bis Z zu erfinden - wie Dannys subversives Argument lautete, wann immer sich ihm die Gelegenheit bot, das Erfundene am Schreiben von Literatur zu verteidigen -, denn Geschichten aus dem wahren Leben waren nie so vollständig, so in sich geschlossen, wie es Romane sein konnten.) Doch wer waren Danny Angels Leser oder die jedes anderen Schriftstellers, die das Erfundene in der Literatur verteidigten? Studenten in Seminaren für kreatives Schreiben? Nicht mehr ganz junge Frauen in Buchclubs, denn waren nicht die meisten Mitglieder von Buchclubs nicht mehr ganz junge Frauen? Wer sonst interessierte sich mehr für Ausgedachtes als für das sogenannte wahre Leben? Offenbar nicht die Leute, die Danny Angel interviewten; die erste Frage, die man ihm immer stellte, lautete, was in diesem
oder jenem Roman »echt« war. Beruhte die Hauptfigur auf einer realen Person? War die denkwürdigste (also die katastrophalste, niederschmetterndste) Begebenheit des Romans wirklich jemandem passiert, den der Autor kannte oder gekannt hatte? Aber hatte Danny es nicht geradezu auf diese Frage angelegt? Man nehme nur sein letztes Buch, Baby auf der Straße; was hatte Danny denn erwartet, wie die Medien damit umgehen würden? Mit diesem Roman, seinem siebten, hatte er vor ihrer Abreise aus Vermont begonnen. Im März 1987 hatte Danny das Manuskript fast fertig. Joe war Ende März gestorben. In Colorado war noch keine Schlammperiode gewesen. (»Scheiße, es war fast Schlammperiode«, sagte Ketchum später.) Es war Joes letztes Studienjahr in Boulder; er war gerade 22 geworden. Das Absurde war, dass Baby auf der Straße immer von dem Tod eines geliebten Einzelkindes gehandelt hatte.
Doch in dem von Danny fast fertiggestellten Roman stirbt der Kleine noch im Windelalter ein Zweijähriger, der auf der Straße überfahren wird, ganz ähnlich wie es dem kleinen Joe damals auf der Iowa Avenue beinahe widerfahren wäre. In dem unvollendeten Roman geht es darum, dass die Danny-Figur und die Katie-Figur, wie der Koch und Ketchum wohl gesagt hätten, an dem Tod des Kindes zerbrechen und anschließend getrennte, aber in den Untergang führende Wege gehen. Natürlich veränderte sich der Roman. Nach dem Tod seines Sohnes schrieb Danny Angel über ein Jahr lang nicht mehr. Nicht das Schreiben an sich war schwer, wie Danny seinem Freund Armando DeSimone gestand, sondern sich etwas vorzustellen. Immer wenn Danny versuchte, sich irgendetwas vorzustellen, sah er nur vor sich, wie Joe gestorben war; außerdem stellte er sich ständig die kleinen Details vor, die anders hätten sein
können, diese unendlich kleinen Details, die hätten bewirken können, dass sein Sohn am Leben geblieben wäre. (Wenn Joe nur das gemacht hätte, statt...; wenn der Koch und sein Sohn zu der Zeit nicht gerade in Toronto gewesen wären ...; wenn Danny ein Haus in Boulder statt in Winter Park gekauft oder gemietet hätte ...; wenn Joe nie Ski fahren gelernt hätte ...; wenn sie, Ketchums Rat folgend, nie nach Vermont gezogen wären...; wenn eine Lawine die Straße über den Berthoud Pass verschüttet hätte ...; wenn Joe zu betrunken gewesen wäre, um zu fahren, statt völlig nüchtern zu sein ...; wenn der Beifahrer ein anderer junger Mann gewesen wäre, nicht dieses Mädchen...; wenn Danny nicht verliebt gewesen wäre...) Gab es denn etwas, was sich ein Schriftsteller nicht vorstellen konnte? Was hatte sich Danny nicht alles vorgestellt, und sei es nur, um sich zu quälen? Danny konnte Joe nicht wieder lebendig machen; was
seinem Sohn widerfahren war, konnte er nicht ändern, wie ein Schriftsteller einen Roman umschreiben kann. Als das Jahr zu Ende war und Danny Angel es endlich über sich brachte, noch einmal zu lesen, was er in Baby auf der Straße geschrieben hatte, kam ihm der Unfalltod des Zweijährigen in Windeln, mit dem das Buch einmal begonnen hatte, von den anschließenden Qualen der Eltern ganz zu schweigen, fast belanglos vor. War es nicht schlimmer, wenn ein Kind beim ersten Mal dem Tod von der Schippe sprang und heranwuchs - nur um etwas später zu sterben, als junger Mann in der Blüte seiner Jahre? Und die Geschichte auf diese Art schlimmer zu machen - die Ereignisse also noch herzzerreißender -, machte das den Roman nicht besser! Zweifellos, wie Danny glaubte. Er hatte Baby auf der Straße von Anfang bis Ende umgeschrieben. Das hatte weitere fünf, fast sechs Jahre gedauert.
Was nicht überraschte: Das Thema des Romans änderte sich nicht. Wie sollte es auch? Danny hatte erlebt, was es bedeutete, wenn man ein Kind verlor; dass die Details andere waren, machte kaum etwas aus. Baby auf der Straße erschien 1995, elf Jahre nach jenseits von Bangor und acht Jahre nach Joes Tod. In der überarbeiteten Fassung wächst der Zweijährige zu einem draufgängerischen jungen Mann heran; er stirbt in Joes Alter, mit 22, noch als Student. Die Polizei geht davon aus, dass es ein Unfall war, es könnte aber auch Selbstmord gewesen sein. Anders als Joe ist die Figur in Dannys siebtem Roman zum Zeitpunkt seines Todes betrunken; außerdem hat er massenweise Barbiturate geschluckt. Er bekommt ein Schinkensandwich in die Luftröhre und erstickt an Erbrochenem. Tatsächlich Studienjahr
war Joe in seinem letzten weniger draufgängerisch als
vorher. Seinen Alkoholkonsum hatte er unter Kontrolle. Er fuhr schnell Ski, hatte aber keine Unfälle. Offenbar war er auch ein guter Autofahrer, denn in den ganzen vier Jahren in Colorado bekam er keinen einzigen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens. Selbst bei den Frauen war er weniger draufgängerisch jedenfalls war das seinem Großvater und seinem Dad so vorgekommen. Natürlich hatten sich der Koch und sein Sohn immerzu Sorgen um den Jungen gemacht, doch während seines Studiums hatte Joe ihnen kaum Anlass zur Sorge gegeben. Und auch seine Noten waren gut - besser als vorher auf der Northfield Mount Hermon. (So wie viele ehemalige Internatsschüler behauptete Joe immer, das College sei leichter.) Als Romancier hatte sich Danny Angel große Mühe gegeben, die selbstmordgefährdete Hauptfigur in Baby auf der Straße so zu gestalten, dass sie Joe möglichst wenig ähnelte. Der junge Mann in dem Buch ist ein
sensibler Künstlertyp. Er ist gesundheitlich angeschlagen - von Anfang an scheint ihm ein früher Tod beschieden zu sein -, und er ist kein Sportler. Der Roman spielt in Vermont, nicht in Colorado. Nach der Überarbeitung ist die unberechenbare Mutter des Jungen nicht unberechenbar genug, um als Katie durchzugehen, allerdings hat sie, genau wie ihr todgeweihter Sohn, ein Alkoholproblem. In der überarbeiteten Fassung hört die DannyFigur, der trauernde Vater, zwar nicht auf zu trinken, ist aber kein Alkoholiker. (Er ist wegen seines Alkoholkonsums nie gefährdet oder arbeitsunfähig, sondern nur depressiv.) In den ersten Jahren nach Joes Tod versuchte der Koch gelegentlich, seinen Sohn zu überreden, mit dem Trinken wieder aufzuhören. »Wenn du's sein lässt, fühlst du dich besser, Daniel. Irgendwann wirst du dir wünschen, du hättest nicht wieder damit angefangen.«
»Nur zu Recherchezwecken, Paps«, erzählte Danny seinem Dad, doch diese Antwort war nicht mehr plausibel - nicht nachdem er Baby auf der Straße umgeschrieben hatte und das Buch seit fünf Jahren fertig war. In dem neuen Roman, an dem Danny jetzt schrieb, tranken die Hauptpersonen nicht; Danny trank nicht um der »Recherche« willen - das hatte er nie getan. Doch der Koch bekam mit, dass Danny nicht exzessiv trank. Er genehmigte sich vor dem Abendessen das eine oder andere Bier - den Geschmack von Bier hatte er immer gemocht und zum Essen höchstens ein, zwei Gläser Rotwein. (Ohne den Wein konnte er nicht einschlafen.) Dem Koch war klar, dass sein Daniel nicht mehr ein so starker Trinker war wie früher. Dominic bekam auch mit, wie melancholisch sein Sohn weiterhin war. Nach Joes Tod bemerkte Ketchum, dass Dannys Melancholie
ein Dauerzustand geworden war. Das fiel selbst den Journalisten auf, die ihn interviewten, und generell allen, die ihm zum ersten Mal begegneten. Ihn überraschte nicht, dass man ihm in vielen Interviews zu Baby auf der Straße und zum zentralen Thema des Romans - dem Tod eines Kindes - sehr persönliche Fragen stellte. In jedem Roman gibt es Stellen, die dem Autor unerträglich nahegehen, weil sie Teile seines Lebens berühren, über die er lieber nicht sprechen würde. Genügte es nicht, dass Danny alles unternommen hatte, um die autobiographischen Bezüge zu verwischen? Er hatte aufgebauscht, er hatte übertrieben, er hatte die Geschichte bis an die Grenzen der Glaubwürdigkeit überzeichnet - er hatte seinen Figuren, die er so glaubwürdig wie möglich gestaltet hatte, die schrecklichsten Dinge widerfahren lassen. (»Sogenannte echte Menschen sind nie so komplett wie vollständig
der Phantasie entsprungene Figuren«, hatte der Romancier wiederholt erklärt.) Doch die Journalisten hatten ihn fast nichts über die Handlung und die Figuren in Baby auf der Straße gefragt, sondern hauptsächlich wissen wollen, wie er mit dem Tod seines Sohnes »umging«. Hatte die Tragödie, die dem Schriftsteller »im wirklichen Leben« widerfahren war, ihn die Bedeutung der Literatur neu überdenken lassen - das Gewicht, die Geltung, den relativen Wert des »nur« Ausgedachten? Derlei Fragen machten Danny schier wahnsinnig, doch er erwartete zu viel von den Journalisten; den meisten fehlte die Phantasie, sich vorzustellen, dass irgendetwas Glaubhaftes in einem Roman »komplett ausgedacht« war. Und diejenigen Journalisten, die sich selbst schriftstellerisch betätigten, waren Anhänger von Hemingways leidigem Diktum, man solle nur über das schreiben, was man kenne. Was war das für ein Blödsinn?
Romane sollten von Menschen handeln, die man kennt? Wie viele realistische, aber lähmend langweilige Romane waren diesem albernen und völlig uninspirierten Ratschlag zu verdanken? Aber hätte Danny nicht voraussehen müssen, dass die Interviewfragen zu Baby auf der Straße zwangsläufig in Richtung Privatsphäre gehen würden? Selbst Leute, die Dannys Romane nicht kannten, hatten von Joes tödlichem Unfall gehört. (Der Cowboy allerdings offenbar nicht, wie Ketchum erleichtert feststellte.) Und wie vorauszusehen, gab es auch die üblichen Storys über das draufgängerische Leben von Prominentenkindern - was in Joes Fall ungerecht war, denn Joe war an dem Unfall offenbar nicht schuld und hatte auch nichts getrunken. Doch auch das hätte Danny vorhersehen können: Bevor nachgewiesen wurde, dass Alkohol keine Rolle gespielt hatte, meldeten sich schon Medienvertreter zu Wort,
die davon ausgingen, dass es so war. Gleich nach dem Unfall - und später wieder, als Baby auf der Straße erschien - hatte sich Dominic zunächst bemüht, seinen Sohn vor dessen Fanpost abzuschirmen. Danny hatte seinem Dad die Lektüre überlassen und akzeptiert, dass der Koch entschied, welche Briefe er sehen sollte und welche nicht. Und so ging der Brief von Lady Sky verloren. »Du hast ein paar sonderbare Leser«, hatte sich der Koch eines Tages beklagt. »Und wie viele deiner Fans dich in ihren Briefen mit Vornamen anreden, als wärt ihr Freunde! Mir würde das auf die Nerven gehen - wenn lauter Unbekannte so tun, als würden sie einen kennen.« »Nenn mir ein Beispiel, Paps«, hatte Danny erwidert. »Tja, ich weiß auch nicht«, hatte Dominic gemeint. »Ich hab nämlich mehr Post
weggeschmissen, als ich dir gezeigt habe. Letzte Woche kam ein Brief - was weiß ich, vielleicht war sie eine Stripperin. Jedenfalls hieß sie wie eine Stripperin.« »Und zwar?«, hatte Danny seinen Dad gefragt. »>Lady Sky<«, hatte der Koch geantwortet. »Klingt für mich nach einer Stripperin.« »Ich glaube, ihr richtiger Name ist Amy«, hatte Danny gesagt und versucht, ruhig zu bleiben. »Du kennst sie?« »Ich kenne nur eine Lady Sky.« »Das tut mir jetzt leid, Daniel - ich dachte einfach, sie wäre durchgeknallt.« »Was hat sie geschrieben, Paps, weißt du das noch?« Natürlich hatte der Koch nicht mehr alle Details im Kopf, nur dass die Frau anmaßend und gestört gewirkt habe. Sie hatte irgendeinen
Quatsch darüber geschrieben, wie Joe sie vor Schweinen beschützt hätte und dass sie nicht mehr fliege, als hätte sie früher mal fliegen können. »Wollte sie eine Antwort von mir?«, fragte Danny seinen Dad. »Weißt du noch, woher der Brief kam?« »Tja, da war bestimmt ein Absender - alle wollen, dass du ihnen antwortest!«, rief der Koch. »Ist ja in Ordnung, Paps, ich mach dir keine Vorwürfe«, sagte Danny. »Vielleicht schreibt sie ja noch mal.« (Was er nicht glaubte, und das tat ihm von Herzen leid.) »Ich hatte ja keine Ahnung, dass du von einer Person namens Lady Sky hören wolltest, Daniel«, sagte der Koch. Irgendetwas musste mit Amy geschehen sein, dachte Danny, aber was? Man sprang nicht grundlos nackt aus Flugzeugen.
»Für mich stand fest, dass sie verrückt ist, Daniel. Sie schrieb, sie hätte ebenfalls ein Kind verloren. Ich dachte, ich erspare dir solche Briefe lieber. Davon gab es eine ganze Menge.« »Vielleicht solltest du mir diese Briefe zeigen, Dad«, sagte Danny. Nachdem er erfahren hatte, dass Lady Sky ihm geschrieben hatte, bekam Danny noch ein paar Briefe von Fans, die ebenfalls Kinder verloren hatten, konnte aber keinen einzigen dieser Briefe beantworten. Diese Menschen konnte er nicht trösten, das wusste Danny, weil er einer von ihnen war. Er fragte sich off, wie Amy damit fertig geworden war. Danny glaubte, dass es ihn in seinem neuen Leben ohne Joe nicht viel Überwindung gekostet hätte, nackt aus einem Flugzeug zu springen. In Danny Angels Schreibzimmer im zweiten
Stock des Hauses am Cluny Drive gab es außer dem Fenster mit Blick auf den Uhrenturm des Spirituosenladens noch ein Oberlicht. Der Raum war einmal Joes Schlafzimmer gewesen, das den ganzen zweiten Stock einnahm und ein eigenes Bad hatte, mit Dusche, aber ohne Wanne. Für einen Studenten wie Joe genügte eine Dusche, aber der Koch hatte sich über die extravagante Größe des Schlafzimmers gewundert - von dem erstklassigen Blick ganz zu schweigen. War das nicht eine Verschwendung, da Joe in den Staaten studierte und nur selten nach Toronto kam? Doch Danny hatte dafür plädiert, Joe das beste Zimmer zu geben, weil sein Sohn dann vielleicht öfter nach Hause käme. Dass dieser Raum isoliert im zweiten Stock lag, machte es außerdem zum abgeschiedensten Zimmer des Hauses, und da - aus Sicherheitsgründen - kein Zimmer im zweiten Stock ohne Feuertreppe sein durfte, hatte Danny eine bauen lassen.
Daher hatte das Zimmer einen eigenen Eingang. Als Joe starb und Danny das Schlafzimmer des Jungen zu einem Schreibzimmer umbaute, ließ er die Habseligkeiten seines Sohnes, wo sie waren; nur das Bett hatte er entfernen lassen. Joes Kleidung blieb im Schrank und in der Kommode, sogar seine Schuhe standen an ihrem alten Platz, alle mit offenen Schnürsenkeln. Wenn Joe ein Paar Schuhe auszog, hatte er nie zuerst die Schnürsenkel gelöst. Er hatte die Schuhe immer von den Füßen getreten, und die Senkel blieben fest geschnürt, mit einem Doppelknoten wie bei einem kleinen Jungen, bei dem sie ständig aufgehen. Danny hatte Joes Schuhe immer für ihn aufgeknotet, wenn er irgendwo auf sie gestoßen war. Es dauerte noch einige Monate nach Joes Tod, bis Danny Joes letzte Schnürsenkel aufgeknotet hatte. Mit Joes Ringer- und Skifotos an den Wänden
war das sogenannte Schreibzimmer ein regelrechter Schrein für den toten Jungen. Der Koch hielt es für masochistisch von seinem Sohn, ausgerechnet dort zu schreiben, doch Dominics Hinken hinderte ihn daran, regelmäßig im zweiten Stock nach dem Rechten zu sehen; auch wenn Daniel weg war, bemühte sich Dominic nur selten dorthinauf. Da das Bett weg war, würde dort kein anderer schlafen - offenbar wollte Danny das so. Als Joe noch lebte und nach Toronto zu Besuch kam, hörten Dominic und Danny es immer, wenn der Junge seine Schuhe wegschleuderte, die dann wie zwei Steine über ihnen zu Boden fielen - und danach das dezente Knacken der Holzdielen, wenn Joe barfuß oder in Socken oben umherging. In den drei Schlafzimmern im ersten Stock hörte man auch die Dusche im zweiten. Jedes der Zimmer im ersten Stock hatte sein eigenes Bad, und Dannys und das des Kochs lagen an entgegengesetzten Enden des langen Flurs, so
dass Vater und Sohn eine gewisse Privatsphäre hatten, weil das Gästezimmer zwischen ihnen lag. Dieses Gästezimmer und das dazugehörige Bad waren erst kürzlich für Ketchums allweihnachtlichen Besuch auf Vordermann gebracht worden. Durch die offene Tür fiel Vater und Sohn die Vase mit frischen Blumen auf, die die Putzfrau auf die Kommode im Gästezimmer gestellt hatte. Im Spiegel der Kommode sah man den Strauß noch einmal, so dass es vom Flur aus schien, als stünden dort zwei Sträuße. (Nicht dass Ketchum selbst ein Dutzend Sträuße in seinem Zimmer bemerkt oder gewürdigt hätte, dachte der Koch.) Insgeheim schwärmte die Putzfrau wohl für Ketchum, dachte Danny, obwohl sein Vater behauptete, Lupita würde den Holzfäller wegen seines Alters bemitleiden. Die Blumen seien ein Hinweis darauf, wie nahe Ketchum für sie dem Tod sei, behauptete Dominic - »so
wie man Leuten Blumen aufs Grab stellt«. »Das ist nicht dein Ernst«, sagte Danny seinem Dad. Und doch war das mit den Blumen und Lupita rätselhaft. Die mexikanische Putzfrau stellte keinem anderen Gast Blumen aufs Zimmer, dabei war dieses Zimmer sogar ziemlich oft belegt - nicht nur über Weihnachten. Salman Rushdie, der Schriftsteller, gegen den eine Fatwa verhängt worden war, stieg dort manchmal ab, wenn er in Toronto zu tun hatte, genau wie andere Schriftstellerfreunde Danny Angels aus Europa oder den usa. Armando und Mary DeSimone zum Beispiel kamen mindestens zweimal im Jahr nach Toronto und wohnten dann immer am Cluny Drive. Auch viele ausländische Verlegerinnen und Verleger Dannys hatten schon in diesem Gästezimmer geschlafen. Die meisten Bücher in dem Zimmer waren Übersetzungen von Danny Angels Romanen. Auch hing darin ein
gerahmtes Werbeplakat für die französische Ausgabe von Baby auf der Straße und im angrenzenden Bad ein übergroßes Poster der deutschen. Doch Blumen standen in den Augen der Putzfrau nur Ketchum zu. Lupita war eine verletzte Seele und erkannte unweigerlich, wenn anderen Leid zugefügt worden war. Dannys Schreibzimmer in der zweiten Etage konnte sie nicht putzen, ohne zu weinen, dabei war Lupita Joe nie begegnet; in den Jahren, als Joe in Colorado studiert hatte, war er immer nur kurz zu Besuch gekommen, ganz abgesehen davon, dass Danny und Dominic damals das »mexikanische Wunder« (wie der Koch es ausdrückte) noch gar nicht kennengelernt hatten. Damals hatten sie eine ganze Reihe Putzfrauen gehabt, mit denen sie unzufrieden waren. Sie hatten Lupita erst relativ kürzlich entdeckt, dennoch rührten diese beiden traurigen Herren, die einen Sohn beziehungsweise Enkel
verloren hatten, sie sichtlich. Dem Koch sagte sie, sie mache sich Sorgen, ob Danny damit fertig werde, doch zu Danny sagte sie nur: »Ihr Junge ist im Himmel - viel höher als im zweiten Stock, Senor Angel.« »Ihr Wort in Gottes Ohr, Lupita«, hatte Danny erwidert. »Enfermo?«, erkundigte sich Lupita immer wieder nicht nach dem sechsundsiebzigjährigen Koch, sondern nach seinem depressiven achtundfünfzigjährigen Sohn. »Nein, ich bin nicht krank, Lupita«, antwortete ihr Danny jedes Mal. »Yo solo soy un escritor.« (»Ich bin nur ein Schriftsteller« - als erklärte das seinen in ihren Augen erbärmlichen Zustand.) Auch Lupita hatte ein Kind verloren; mit Danny konnte sie nicht darüber reden, aber sie hatte es dem Koch erzählt. Einzelheiten erfuhr
er nicht, und der Vater des Kindes, ein Kanadier, wurde nur beiläufig erwähnt. Falls Lupita jemals einen Ehemann gehabt hatte, so hatte sie auch ihn verloren. Danny glaubte nicht, dass es in Toronto viele Mexikaner gab, aber wahrscheinlich würden bald mehr kommen. Mit ihrer glatten braunen Haut und den langen schwarzen Haaren wirkte Lupita alterslos, doch Danny und sein Dad nahmen an, dass ihr Alter irgendwo zwischen dem ihren lag. Sie wirkte nicht unförmig, war aber deutlich übergewichtig, wenn auch nicht das, was man abfällig fett nennen würde. Weil Lupita ein hübsches Gesicht und die Angewohnheit hatte, ihre Schuhe unten im Erdgeschoss zu lassen, und barfuß oder auf Strümpfen durch die oberen Stockwerke schlich, sagte Danny einmal zu seinem Vater, Lupita erinnere ihn an Indianer-Jane. Dominic war anderer Meinung und schüttelte über diese
Behauptung nur den Kopf. Entweder wollte Dannys Dad die offensichtliche Ähnlichkeit zwischen Lupita und Jane nicht wahrhaben, oder Dannys Erinnerung an die indianische Tellerwäscherin führte ihn in die Irre - so wie Schriftsteller häufig von ihren Erinnerungen irregeführt werden. Am späten Nachmittag, wenn der Koch im Patrice mit Essensvorbereitungen beschäftigt war, verließ Danny sein Schreibzimmer im zweiten Stock oft genau zu der Zeit, wenn die letzten Sonnenstrahlen durch das Oberlicht fielen. An diesem grauen Dezembernachmittag schien keine Sonne, deshalb fiel es Danny leichter, sich von seinem Schreibtisch loszureißen. Das bisschen Restlicht aus dem Westen drang kaum bis in den Flur des ersten Stocks. Auf Socken stapfte Danny in Dominics Zimmer. Wenn der Koch nicht da war, ging sein Sohn oft in dessen Zimmer, um
sich die Fotos anzusehen, die dort an fünf Pinnwänden hingen. Im Zimmer seines Dads stand ein altmodischer Schreibtisch mit Schubladen, und Danny wusste, dass darin noch Hunderte weiterer Fotos lagen. Mit Lupitas Hilfe hängte Dominic die Schnappschüsse an den Pinnwänden laufend um; keins der Fotos wurde je weggeworfen, sondern jedes kam fein säuberlich wieder in eine der Schubladen. Auf diese Weise waren die Fotos immer wieder wie neu, und wenn sie an den Pinnwänden erneut zur Schau gestellt wurden, deuteten nur die zahllosen, beinahe unsichtbaren Nadellöchlein auf einen früheren Einsatz hin. Auf den Pinnwänden überlappten sich die Fotos in einem für Danny nicht nachvollziehbaren Muster, für das entweder sein Dad oder Lupita verantwortlich war denn Danny wusste, dass sein Dad das Aufund Umhängen unmöglich allein
hinbekommen hätte. Um oben an die Pinnwände zu gelangen, musste man auf eine Sofalehne oder auf einen Stuhl klettern, was für den gehbehinderten Dominic schwierig war. (Wenn er an Lupitas Gewicht und ihr geschätztes Alter dachte, kamen Danny auch Zweifel, ob sie auf einem Sofa oder einem Stuhl balancieren sollte.) Trotz seiner beachtlichen Phantasie begriff Danny Angel die Logik des Bilderarrangements nicht; es war weder chronologisch noch ästhetisch. Auf einem uralten Schwarzweißfoto tanzte ein verblüffend jung wirkender Ketchum mit Indianer-Jane in der Küche des Kochhauses, an die sich Danny noch genau erinnerte. Dass dieses Schwarzweißbild direkt neben einem farbigen von Danny mit Joe (als Kleinkind) in Iowa hing, war rätselhaft; Danny wusste allerdings, dass auch Katie eigentlich auf diesem Foto war, nur hatte der Koch sie geschickt und komplett mit einem Foto von
Carmella und Paul Polcari abgedeckt, die vor dem Pizzaofen im Vicino di Napoli standen; dieses Bild hatte entweder Tony Molinari oder Giuse Polcari geknipst. Und so überlagerte Vermont Boston, oder umgekehrt - das Avellino und das Mao's waren für Dominic anscheinend austauschbar -, und die asiatischen Gesichter aus dem IowaIntermezzo des Kochs tauchten neben aktuelleren Bewohnern Torontos auf. Bilder der ersten Tage im Maxim's, gefolgt von dem Bastringue in der Queen Street West, hingen neben einem Foto von Ketchum in dem einen oder anderen seiner Wanigan-artigen Pick-upTrucks oder neben einem von Joe als CollegeStudenten in Colorado - gern auf Skiern oder bei einem Mountainbike-Rennen. Und es gab sogar ein Bild von Joes Freund Max aus Iowa City, der (samt Joe) beinahe in der Gasse hinter dem Haus an der Court Street von dem rasenden blauen Mustang totgefahren worden wäre. Das Porträtfoto der beiden Achtjährigen
hing seltsamerweise neben dem des jungen Meisterkochs Silvestro, den seine weiblichen Sous-Chefs Joyce und Kristine links und rechts auf die Wange küssten. War es möglich, fragte sich Danny, dass die meisten Fotos nicht nur von Lupitas plumpen Händen, sondern auch nach ihrem unbedarften Plan an die Pinnwände geheftet wurden? Falls Lupita die Schnappschusscollagen fast ganz in Eigenregie übernommen hatte und falls der Koch an der Gesamtgestaltung kaum beteiligt war, dann würde das die scheinbare Beliebigkeit der Arrangements erklären. (Es würde außerdem erklären, warum nie ein Foto von Ketchum in die Schubladen wanderte, seit Lupita bei ihnen arbeitete.) Wie war es dem 83-jährigen Holzfäller gelungen, bei einer mexikanischen Putzfrau von Mitte sechzig einen so nachhaltig romantischen Eindruck zu hinterlassen?, überlegte Danny. Dem Koch schien allein von
dem Gedanken schlecht zu werden; Lupita konnte Ketchum höchstens zwei-, dreimal begegnet sein. »Es muss daran liegen, dass Lupita eine so glühende Katholikin ist!«, hatte Dominic ausgerufen. Wie Danny wusste, glaubte sein Dad, wenn eine Frau nicht verrückt war und sich zu Ketchum hingezogen fühlte, konnten dahinter nur Aberglaube oder andere absurde Gründe stecken. Inzwischen war Danny nach unten in sein Schlafzimmer gegangen und zog jetzt seine Sportkleidung an. In dem Zimmer gab es keine Fotos von Joe; Danny hatte auch ohne Bilder seines toten Sohnes schon genug Schlafstörungen. Außer wenn er abends zum Essen oder ins Kino ging, verließ Danny selten das Haus am Cluny Drive, und sein Dad arbeitete an den meisten Abenden. Unter Vorruhestand verstand Dominic, dass er jeden
Abend, und selbst wenn das Patrice rappelvoll war, gegen halb elf, elf nach Hause ging; das war für ihn Ruhestand genug. Wenn Danny auf Lesereise oder aus anderen Gründen nicht in der Stadt war, ging der Koch ins Schlafzimmer seines Sohnes - nur um sich in Erinnerung zu rufen, was hätte sein können, wenn Joe nicht gestorben wäre. Dominic Baciagalupo litt darunter, dass die einzigen Fotos im Schlafzimmer seines geliebten Sohns solche von der Drehbuchautorin Charlotte Turner waren, die 15 Jahre jünger als Daniel war - und wow, so sah sie auch aus. Charlotte war erst 27, als sie Daniel kennenlernte - 1984, da war er 42. (Das war, kurz nachdem der Koch und sein Sohn nach Kanada gezogen waren. Jenseits von Bangor war gerade erst veröffentlicht worden, und Joe beendete sein erstes Studienjahr in Colorado.) Charlotte war nur acht Jahre älter als Joe, und sie war eine sehr jung aussehende 27-Jährige gewesen.
Inzwischen war sie eine sehr jung aussehende Dreiundvierzigjährige, überlegte der Koch. Dominic schmerzte es, die Fotos von Charlotte zu sehen und darüber nachzudenken, wie sehr er die junge Frau mochte; in den Augen des Kochs wäre Charlotte die perfekte Ehefrau für seinen einsamen Sohn gewesen. Doch abgemacht war abgemacht. Charlotte hatte Kinder haben wollen - »Nur ein Kind, wenn du darauf bestehst«, hatte sie zu Danny gesagt -, und Danny hatte versprochen, ihr eins zu schenken. Es gab nur eine Bedingung. (Nun, vielleicht war das Wort Bedingung nicht ganz zutreffend - vielleicht war es eher eine Bitte gewesen.) Würde Charlotte damit warten, bis Joe seinen Studienabschluss gemacht hatte? Damals hatte Joe noch drei Jahre auf der Universität von Colorado vor sich, doch Charlotte war einverstanden gewesen; wenn Joe sein Studium abschloss, würde sie erst dreißig sein. Sie und Daniel hatten einander sehr geliebt. Sie waren sehr glücklich
zusammen gewesen, und die drei gemeinsamen Jahre waren für sie wie im Flug vergangen. Mit 27 verkündete Charlotte Turner gern und emphatisch, sie habe ihr »ganzes Leben lang« in Toronto gelebt. Was wichtiger war: Sie hatte nie mit jemandem zusammengelebt - und keinen festen Freund länger als ein halbes Jahr gehabt. Als sie Danny kennenlernte, wohnte sie im Haus ihrer verstorbenen Großmutter in Forest Hill. Ihre Eltern wollten es verkaufen, doch Charlotte überredete sie, es an sie zu vermieten. Zu Lebzeiten ihrer Großmutter war das Haus voller altem Krempel gewesen, doch Charlotte hatte das Mobiliar auf einer Auktion verkauft und das Erdgeschoss zu ihrem Büro und einem kleinen Filmvorführraum umbauen lassen; oben, wo es nur ein Bad gab, hatte sie aus drei kleineren, praktisch nie benutzten Zimmern ein großes Schlafzimmer gemacht. Charlotte kochte nicht, und dafür, Gäste zu bewirten, war das Haus ungeeignet - die uralte
Küche ihrer Großmutter hatte sie unverändert gelassen, weil sie ihr völlig ausreichte. Keiner von Charlottes Kurzzeitfreunden hatte je eine Nacht in dem Haus verbracht - Danny war der Erste -, und Charlotte zog nie richtig zu Danny an den Cluny Drive. Dominic hatte angeboten auszuziehen. Er sah sich als potentiellen Eindringling in die Privatsphäre seines Sohnes, und Dominic wollte unbedingt, dass Daniels Beziehung mit Charlotte funktionierte. Doch Charlotte wollte Dannys Dad auf keinen Fall »zwangsräumen«, wie sie es formulierte - nicht vor der Hochzeit, die (über zwei Jahre im Voraus) für Juni 1987 geplant war, gleich nach Joes Studienabschluss. Joe sollte Dannys Trauzeuge werden. Damals schien es klug, mit der Hochzeit zu warten - und damit, dass Charlotte schwanger wurde und es im Haus ein Baby gab. Danny hatte Joe, wie er sich ausdrückte, durch die
Studienzeit »geleiten« wollen. Doch es gab Menschen in Toronto, die Charlottes Beziehungsgeschichten kannten; sie hätten vielleicht darauf gewettet, dass eine zwei Jahre in der Zukunft liegende Hochzeit eher unwahrscheinlich war oder dass die junge Drehbuchautorin nach einer ihrer vielen l.a.Reisen einfach nicht zurückkehren würde. In den drei kurzen Jahren, die sie zusammen gewesen waren, hatte Charlotte nur selten Kleidungsstücke in Dannys Schlafzimmerschrank zurückgelassen, auch wenn sie häufiger in dem Haus am Cluny Drive übernachtete als Danny in Forest Hill. Allerdings ließ sie ihre Toilettenartikel und ihre zahlreichen Kosmetika in Dannys Bad. Charlotte und Danny waren beide Frühaufsteher, und während Charlotte sich morgens kämmte und schminkte - sie hatte unglaublich schöne Haut, wie dem Koch wieder einfiel -, machte Danny das Frühstück. Anschließend nahm Charlotte in der Yonge
Street die U-Bahn bis St. Clair; von dort ging sie zu Fuß zu ihrem Haus in Forest Hill, wo sie einen langen Arbeitstag verbrachte. Charlotte sagte immer, sie wolle auch nach ihrer Hochzeit ein Büro außerhalb des Hauses am Cluny Drive behalten. (»Außerdem ist hier gar nicht genug Platz für meine ganzen Klamotten«, erklärte sie Danny. »Selbst wenn dein Dad dann ausgezogen ist, brauche ich für meine Kleider wenigstens ein Büro - wenn nicht sogar ein ganzes Haus.«) Charlottes Kleidung konnte einen auf falsche Gedanken bringen, dachte Dominic oftbesonders wenn er Fotos von ihr sah. Doch genau wie Danny bei seinen Romanen war Charlotte bei ihren Drehbüchern ein Arbeitstier - auch was die von ihr vorgeschlagene Adaption des Romans Jenseits von Bangor betraf, weswegen sie und Danny sich überhaupt kennengelernt hatten. Charlotte wusste alles über Danny Angels
eiserne Regeln zum Verkauf von Filmrechten an seinen Romanen; sie hatte die Interviews gelesen, in denen Danny erklärte, jemand müsse eine »halbwegs ordentliche« Adaption schreiben, ehe er als Autor bei einem Buch überhaupt wegen der Filmrechte verhandelte. Charlotte war einen Kopf größer als Daniel und damit von Körpergröße und Alter her näher bei Joe als bei dessen Dad. Sie hatte eingewilligt, eine erste Drehbuchfassung »auf gut Glück« zu schreiben. Weder würde Geld den Besitzer wechseln, noch würden Filmrechte vergeben werden; falls Danny ihr Skript nicht gefiele, hätte sie halt einfach Pech gehabt. »Bestimmt haben Sie schon eine Idee, wie man aus dem Roman einen Film macht«, hatte Danny bei ihrer ersten Begegnung gesagt. Sie hatten sich zum Abendessen im Bastringue verabredet, wo Danny damals wohl an drei oder vier Abenden in der Woche aß.
»Nein, ich will das einfach machen, ich weiß nur noch nicht, wie.« Mit ihrer dunkel gerahmten Brille wirkte Charlotte sehr gelehrt, doch ihr Körper sah gar nicht aus, als gehörte er zu einem Bücherwurm; sie war nicht nur groß, sondern hatte auch üppige Kurven. (Bestimmt war sie ein paar Pfund schwerer als Daniel, erinnerte sich der Koch.) Eigentlich war sie zu groß, um ein rosa Kleid tragen zu können, hatte Danny an jenem ersten Abend gedacht, noch dazu mit dem farblich abgestimmten rosa Lippenstift, aber Charlotte hatte eben geschäftlich viel in l.a. zu tun; schon 1984 sah sie mehr nach l.a. als nach Toronto aus. Ihre erste Drehbuchfassung von Jenseits von Bangor hatte Danny wirklich gut gefallen - gut genug, dass er Charlotte Turner die Filmrechte an seinem Roman für einen Dollar verkaufte, einen kanadischen Dollar, der damals etwa 75 US-Cent wert war. An späteren Drehbuchfassungen hatten sie gemeinsam
geschrieben, so dass Danny selbst erlebte, wie hart Charlotte arbeitete. Damals lag Dannys Schreibzimmer im Erdgeschoss des Hauses am Cluny Drive, wo jetzt sein Fitnessraum war. Dort und im Haus ihrer Großmutter in Forest Hill hatten Charlotte und er gearbeitet. Bis der Film endlich in die Kinos kam, sollten noch 15 Jahre vergehen, doch das Drehbuch zu Jenseits von Bangor war nach vier Monaten fertig; zu der Zeit waren Charlotte Turner und Danny Angel bereits ein Paar. In Dannys Schlafzimmer, das ebenso sehr ein Schrein für Charlotte war wie das Schreibzimmer im zweiten Stock einer für Joe, hatte der Koch oft gestaunt, wie sorgfältig Lupita die vielen gerahmten Fotografien der erfolgreichen Drehbuchautorin abstaubte und wie blitzblank sie sie putzte. Die meisten dieser Fotos waren aus den drei Jahren, in denen Daniel und Charlotte zusammen gewesen waren; viele der Fotos stammten aus ihren kurzen Sommermonaten am Huron-See.
Wie viele Familien aus Toronto besaßen auch Charlottes Eltern eine Insel in der Georgian Bay; angeblich hatte Charlottes Großvater die Insel bei einem Pokerspiel gewonnen, andere behaupteten, er habe sie gegen ein Auto eingetauscht. Da Charlottes Vater todkrank war und ihre Mutter (eine Arztin) sich bald zur Ruhe setzen wollte, würde Charlotte die Insel, die in der Nähe von Pointe au Baril Station lag, schon vorzeitig übernehmen. Daniel hatte diese Insel sehr gemocht, erinnerte sich der Koch. (Dominic hatte die Georgian Bay nur ein Mal besucht; er fand es dort schauderhaft.) Die einzigen Fotos von Charlotte, die auf den Pinnwänden im Schlafzimmer des Kochs immer wieder mal auftauchten, waren die von ihr mit Joe. Der Koch bewunderte, wie Charlotte Joe vorbehaltlos ins Herz geschlossen hatte, und Joe bekam mit, wie glücklich sein Vater mit ihr war; Joe hatte Charlotte von Anfang an gemocht.
Charlotte fuhr nicht gern Ski, fand sich aber mit den Winterwochenenden und den Weihnachtsferien in Winter Park ab, wo der Koch in der Blockhütte phantastische Abendessen zauberte. Die Restaurants in Winter Park waren nicht schlecht, gut genug für Joe und seine Studentenfreunde zumindest, aber den Ansprüchen des Kochs genügten sie nicht, und Dominic Baciagalupo genoss es, seinen Enkel zu bekochen, der für seinen (und auch Dannys) Geschmack viel zu selten nach Kanada kam. Das letzte Licht des späten Dezembernachmittags hatte sich inzwischen völlig verflüchtigt; in den Fenstern spiegelten sich bereits die dunkle Nacht und die hellen Lichter der Großstadt, als Danny sich jetzt auf die Matte in seinem Fitnessraum legte. Weil es sein Schreibzimmer gewesen war, ehe es zum Fitnessraum wurde - und weil Danny mit
zunehmendem Alter immer häufiger nur noch bei Tageslicht schrieb -, hingen an den Fenstern keine Vorhänge. In den Wintermonaten war es häufig dunkel, wenn er endlich zum Trainieren kam, doch Danny war es egal, ob ihn jemand an den Fitnessgeräten oder beim Hanteltraining sah. Schon als es noch sein Arbeitszimmer gewesen war, und nicht erst, seit er es als Fitnessraum benutzte, war er in diesem Zimmer fotografiert und interviewt worden, weil er Journalisten nicht in den zweiten Stock hochließ. Gleich nach ihrem Einzug, hatte Charlotte erklärt, werde sie im Fitnessraum Vorhänge oder Jalousien anbringen, aber weil die Hochzeit mit allem Drum und Dran abgesagt wurde, waren die Fenster in diesem Raum unverändert geblieben. Es war ein seltsamer Fitnessraum, weil immer noch Bücherregale die Wände säumten; auch nachdem Danny seinen Schreibtisch in Joes ehemaliges Zimmer verlegt hatte, waren viele seiner
Bücher in diesem Raum im Erdgeschoss geblieben. Wenn Danny und sein Dad am Cluny Drive Dinnerpartys gaben, diente der Fitnessraum als Garderobe; die Gäste legten ihre Mäntel über die Handläufe des Laufbands, auf den Stepper oder den Heimtrainer und auch auf die Hantelbank. Außerdem gab es in diesem Zimmer immer ein paar Klemmbretter, einen Stapel leeres Schreibmaschinenpapier und jede Menge Stifte. Manchmal machte sich Danny Notizen, wenn er spätnachmittags auf dem Heimtrainer saß oder wenn er auf dem Laufband trainierte. Das viele Laufen hatte seine Knie ruiniert, doch auf dem Laufband konnte er immer noch ziemlich schnell gehen, und wenn er auf dem Heimtrainer radelte oder den Stepper benutzte, schadete das seinen Knien nicht. Für einen Achtundfünfzigjährigen war Danny halbwegs gut in Schuss; er war immer noch
relativ schlank, hatte aber ein paar Kilo zugelegt, seit er wieder angefangen hatte, Bier und Rotwein zu trinken - wenn auch in Maßen. Wäre Indianer-Jane noch am Leben gewesen, hätte sie Danny gesagt, für jemanden, der so leicht sei wie er, seien sogar ein paar Bier und ein, zwei Gläser Rotwein zu viel. (»Tja, beim Thema Feuerwasser war die Rothaut echt rigoros«, sagte Ketchum off; er hielt nicht viel von Mäßigung, nicht mal mit 83.) Wieder einmal wussten sie nicht, wann genau Ketchum zu Weihnachten kommen würde, dachte Danny, während er auf dem Stepper ein angenehmes Tempo anschlug; Ketchum hatte die Angewohnheit, immer unangemeldet aufzutauchen. Für jemanden, der Danny oder seinem Dad wöchentlich ein Dutzend Faxe schickte und außerdem zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit anrief, war Ketchum äußerst verschwiegen, was seine Reisen anging - nicht nur bei seinen weihnachtlichen Besuchen in Toronto, sondern auch bei seinen
Jagdausflügen anderswo in Kanada. (Diese Jagdausflüge - nicht die nach Quebec, sondern die in den Norden Ontarios - führten Ketchum gelegentlich auch nach Toronto.) Ketchum fing im September an zu jagen, wenn im Coos County die Bärensaison begann. Der alte Waldarbeiter behauptete, die Schwarzbärenpopulation in New Hampshire liege bei gut über 5000 Tieren und die jährliche Bärenabschussquote betrage »nur etwa fünf- oder sechshundert Viecher«; die meisten Bären wurden in den nördlichen und mittleren Regionen des Bundesstaates und in den White Mountains geschossen. Ketchums Spürhund für die Bärenjagd, das obenerwähnte »brave Tier« - beziehungsweise inzwischen wohl dessen Enkel oder Urenkel -, durfte ihn ab der zweiten Septemberwoche bis Ende Oktober auf der Jagd begleiten. Der Hund war eine Kreuzung, die Ketchum einen Walker Bluetick nannte. Er war groß
und langgliedrig wie ein Walker Foxhound, hatte aber das Fell des Bluetick Coonhound weiß mit blaugrauen Tupfen und Flecken - und dessen überlegene Schnelligkeit. Ketchum bezog seine Walker Blueticks von einem Züchter in Tennessee; er suchte sich immer einen Rüden aus, den er Hero nannte. Der Hund bellte nie, knurrte aber im Schlaf -Ketchum behauptete zwar, der Hund schlafe nie -, und wenn Hero einen Bären jagte, stieß der Walker Bluetick immer ein klagendes Jaulen aus. In New Hampshire überschnitt sich die Bärenjagdsaison mit der Vorderladersaison für Hirsche - nur kurz, von Ende Oktober bis zur zweiten Novemberwoche. Die normale Jagdsaison für Hirsche dauerte bis Anfang Dezember, doch sobald Ketchum im Coos County einen Hirsch erlegt hatte (immer mit dem Vorderlader), brach er in Richtung Norden nach Kanada auf, wo die Hirschjagdzeit mit regulären Schusswaffen
früher endete. Es war dem alten Holzfäller nie gelungen, den Koch für die Hirschjagd zu begeistern; Dominic mochte weder Schusswaffen noch den Geschmack von Wildbret, und da er hinkte, fand er den Wald beschwerlich. Doch als Danny und sein Dad nach Kanada gezogen waren und nachdem Danny Charlotte Turner kennengelernt hatte, wurde Ketchum auf Charlottes Insel im Huron-See eingeladen. In dem Sommer, als sie gerade frisch zusammen waren, kam auch der Koch in die Georgian Bay. Bei dieser Gelegenheit - auf Turner Island, im August 1984 - überredete Ketchum Danny, es mit der Hirschjagd zu versuchen. Dominic Baciagalupo fand das ihm aufgezwungene rustikale Leben in den Sommerhäusern auf den Inseln furchtbar Charlottes Familie benutzte 1984 immer noch ein Plumpsklo. Sie hatten zwar mit Propangas
betriebene Lampen und auch einen Propangaskühlschrank, doch Wasser mussten sie mit dem Eimer aus dem See holen. Außerdem hatte Charlottes Familie das Haupthaus und die zwei angrenzenden Schlafhütten mit den ausgemusterten Sofas, dem angeschlagenen Geschirr und den unbequemsten Betten ausstaffiert, die sie vor geraumer Zeit in ihrem Stadthaus ausrangiert hatten; schlimmer noch, der Koch verdächtigte die Inselbewohner in der Georgian Bay, ihren Sparsamkeitsfimmel mit Traditionsbewusstsein zu rechtfertigen. Alles Neumodische wie elektrischer Strom, heißes Wasser oder Toiletten mit Wasserspülung war irgendwie verpönt. Doch am meisten missfiel dem Koch das Essen. Das Lebensmittelangebot auf dem Festland - vor allem das sogenannte frische Obst und Gemüse - beschränkte sich auf das Nötigste, und was die Leute auf ihren Grills
brieten, wurde verkohlt.
bis
zur
Unkenntlichkeit
Bei seinem ersten und einzigen Besuch auf Turner Island blieb Dominic höflich und machte sich sogar in der Küche nützlich, doch am Ende jenes langen Wochenendes kehrte der Koch erleichtert nach Toronto zurück und schwor sich, nie wieder über diese lästigen Felsen zu hinken oder auch nur einen Bootssteg in Pointe au Baril Station zu betreten. »Das ist nichts für Cookie - hier erinnert ihn zu viel an Twisted River«, hatte Ketchum Danny und Charlotte erklärt, nachdem Dominic in die Stadt zurückgefahren war. Auch wenn der Holzfäller das sagte, um seinen alten Freund zu verteidigen, so reagierte Danny anfänglich kaum anders als sein Dad, mit dem einzigen Unterschied, dass Danny und Charlotte davon sprachen, welche Veränderungen sie vornehmen würden,
spätestens wenn Charlottes Vater dereinst nicht mehr lebte und ihre Mutter nicht mehr ins Boot steigen oder die zerklüfteten Felsen von der Anlegestelle zum Haupthaus hinaufgehen könnte. Danny schrieb seine Bücher nach wie vor auf einer altmodischen elektrischen Schreibmaschine; er besaß ein halbes Dutzend ibm Selectrics, die ständig repariert werden mussten. Für seine Schreibmaschinen brauchte er Strom. Charlotte wollte heißes Wasser schon lange träumte sie von luxuriösen Dingen wie einer Außendusche und einer Badewanne in Übergröße -, von mehreren Klosetts ganz zu schweigen. Ein wenig Elektrowärme wäre auch nett, wie Danny und Charlotte fanden, weil es hier im Norden selbst im Sommer nachts manchmal kühl wurde, und schließlich würden sie bald ein Baby bekommen. Außerdem wollte Danny einen »Schreibschuppen« bauen, wie er das nannte,
wobei er vermutlich an die umgebaute Scheune dachte, in der er in Vermont geschrieben hatte, und Charlotte wollte eine riesige, mit Fliegengitter geschützte Veranda errichten, damit man trockenen Fußes und unbehelligt von den Mücken, die nach Einbruch der Dunkelheit eine Plage waren, vom Haupthaus zu den beiden Schlafhütten kam. Mit anderen Worten, Danny und Charlotte hatten auf der Insel einiges vor - so wie bei Verliebten üblich. Seit sie ein kleines Mädchen war, hatte Charlotte die Sommer auf der Insel genossen; und Danny schwärmte für die Insel wegen des Lebens mit Charlotte, das er sich hier vorstellte. Pläne, Pläne, Pläne - wir schmieden Pläne für die Zukunft, als würde diese Zukunft garantiert eintreffen! Und das verliebte Paar wartete nicht darauf, dass Charlottes Vater
starb oder ihre Mutter körperlich nicht mehr in der Lage war, die Entbehrungen des Lebens auf einer Insel im Huron-See auf sich zu nehmen. Im Lauf der nächsten zwei Jahre bekamen Danny und Charlotte Strom, Spülklosetts und Heißwasser - sogar Charlottes Außendusche und ihre extra große Badewanne, von der gewaltigen Veranda ganz zu schweigen. Es gab auch noch ein paar andere, von Ketchum vorgeschlagene »Optimierungen«, wie er sich ausdrückte. Im Sommer 1984 war Ketchum muntere 67 gewesen - jung genug, um selbst noch den einen oder anderen Plan zu schmieden. In jenem Sommer hatte Ketchum den Hund mitgebracht. Von der Sekunde an, als das brave Tier seine Pfoten auf den Hauptanleger der Insel setzte, war es so wachsam wie ein Eichhörnchen gewesen. »Hier muss irgendwo ein Bär sein - Hero kennt sich mit Bären aus«, sagte Ketchum. Am Nacken des Hundes stand eine Fellkante steil ab; der Hund klebte wie ein
Schatten an Ketchum. Hero war kein Hund, den man tätscheln wollte. Ketchum war kein Sommermensch; er angelte nicht und alberte nicht mit Booten herum. Der ehemalige Flößer schwamm nicht gern. Ketchum stellte sich Georgian Bay und Turner Island im Herbst und in den langen Wintern vor, und wenn im Frühling das Eis brach. »Hier gibt's bestimmt jede Menge Hirsche«, erklärte er, sobald er aus dem Boot gestiegen war. Er blieb noch eine Weile auf dem Bootssteg stehen, ehe er seine Sachen aufhob. Er schien in der Luft nach Bären zu schnuppern, genau wie sein Hund. »Indianerland«, stellte Ketchum anerkennend fest. »Na ja, wenigstens war es das mal - bevor die verdammten Missionare sich dranmachten, die Scheißwälder zu christianisieren.« Als Junge hatte er die alten Schwarzweißfotos einer schwimmenden Faserholzsperre in Gore Bay gesehen, auf Manitoulin Island. Das
Holzgeschäft um die Georgian Bay herum hatte wohl gegen 1900 seinen Höhepunkt erreicht, aber Ketchum kannte die Geschichte der Region, und er hatte sich die jährlichen Holzeinschlagzyklen eingeprägt. (In den Herbstmonaten fällte man die Bäume, baute die Straßen und bereitete die Bäche für die Trift im Frühjahr vor - alles vor dem ersten Schneefall. Im Winter fällte man noch mehr Bäume, und man beförderte die Stämme auf Wagen oder Schlitten über den Schnee bis an den Rand eines Gewässers. Im Frühjahr ließ man die Stämme dann auf Bächen und Flüssen in die Bucht treiben.) »Aber spätestens in den neunziger Jahren hattet ihr alle eure Wälder in die Staaten geflößt - hab ich recht?«, fragte Ketchum Charlotte. Charlotte, die er mit seiner Frage überrumpelte, wusste es nicht, Ketchum aber schon. Schließlich war die Holzfällerei überall gleich.
Die großen Wälder waren gefällt worden, dann hatte man die Sägewerke entweder abgebrannt oder abgerissen. Oder, wie Ketchum es formulierte: »Die Sägewerke sind aufgrund purer Vernachlässigung verschwunden.« »Vielleicht ist der Bär auf einer Nachbarinsel«, sagte Ketchum und schaute sich um. »Auf dieser Insel kann der Bär nicht sein, sonst wäre Hero noch aufgeregter.« (Auf Danny und Charlotte wirkte der schlanke Hund so aufgeregt, als wäre ein Bär bereits auf dem Bootsanleger.) Wie sich herausstellte, war in diesem Sommer ein Bär auf Barclay Island. Der Bär hätte in null Komma nichts nach Turner Island hinüberschwimmen können - wie Danny und Ketchum herausfanden, konnten sie selbst die Strecke sogar durchwaten -, dennoch tauchte der Bär nie auf ihrer Insel auf, vielleicht weil er Ketchums Hund gewittert hatte. »Brennt das Fett auf dem Grill weg, nachdem
ihr ihn benutzt habt«, riet ihnen Ketchum. »Stellt den Müll nicht raus, und bewahrt das Obst im Kühlschrank auf. Ich würde euch ja Hero dalassen, doch der muss auf mich aufpassen.« In der Nähe der Hintertür stand eine unbewohnte Blockhütte, das erste Gebäude, das seinerzeit auf Turner Island gebaut worden war. Charlotte zeigte sie Ketchum. Die Fliegengitter waren ein wenig zerrissen, und ein Doppelstockbett war erst getrennt und später Seite an Seite zusammengenagelt worden; eine extra breite Matratze lag darauf, die seitlich über die Bettrahmen ragte. Die Decke auf dem Bett war von Motten zerfressen, und die Matratze war schimmlig; seit Charlottes Großvater nicht mehr auf die Insel kam, hatte dort keiner mehr übernachtet. Es war seine Hütte gewesen, erzählte Charlotte, und nach dem Tod des alten Mannes hatte kein anderes Mitglied der Familie Turner
mehr die heruntergekommene Hütte betreten, in der es, laut Charlotte, spukte (wenigstens hatte sie das als Mädchen geglaubt). Sie zog einen abgewetzten schmutzigen Läufer beiseite, um Ketchum die verborgene Falltür im Fußboden zu zeigen. Die Hütte stand auf Betonpfählen, kaum höher als Schlackenbetonsteine - es gab kein Fundament -, und unter der Falltür, etwa einen Meter tiefer, war nichts als blanke Erde. Da rundherum Kiefern standen, waren Kiefernnadeln unter die Hütte geweht, was der Erde einen trügerisch weichen und bequemen Anschein gab. »Wir wissen nicht, wozu Opa die Falltür benutzt hat«, erklärte Charlotte Ketchum, »vermuten aber, dass er hier sein Geld versteckt hat, weil er ein Zocker war.« Hero schnupperte in dem Loch im Boden, während Ketchum fragte: »War dein Großvater Jäger, Charlotte?«
»Aber ja!«, rief Charlotte. »Nach seinem Tod haben wir endlich seine Flinten weggeschmissen.« (Ketchum verzog das Gesicht.) »Tja, das hier ist ein Kühlloch zur Fleischlagerung«, sagte ihr Ketchum. »Bestimmt war dein Großvater im Winter hier.« »Ja, genau!«, rief Charlotte beeindruckt. »Wahrscheinlich nach der Hirschsaison, wenn die Bucht zugefroren war«, überlegte Ketchum laut. »Ich schätze, wenn er einen Hirsch geschossen hat - also eure Mounties haben bestimmt gehört, wenn jemand schoss, bei der Stille, die hier im Winter bei dem vielen Schnee herrschen muss. Und wenn sie dann vorbeikamen und ihn fragten, was er geschossen hat, hat dein Opa euren Polizisten bestimmt irgendeinen Bären aufgebunden. Dass er zum Beispiel am Kopf eines Eichhörnchens vorbeigeschossen hat, weil ihn
der dauernde Lärm verrückt machte, oder dass Hirsche an seinen Lieblingszedern knabberten, weshalb er über ihre Köpfe hinwegschießen musste, um sie zu vertreiben. Und die ganze Zeit lag der Hirsch da unten in dem Loch, über dem er auch ausgeweidet worden war, damit kein Blut auf den Schnee tropfte ... Verstehst du, worauf ich hinauswill, Charlotte?«, fragte Ketchum. »Dieses Loch hier ist der Kühlraum eines Wilderers! Ich hab's euch doch gesagt hier in der Gegend gibt's 'ne Menge Hirsche, jede Wette.« In dieser heruntergekommenen Blockhütte hatten Ketchum und Hero übernachtet, mochte es da spuken oder nicht. (»Teufel auch, wo ich gewohnt habe, hat's fast überall gespukt«, hatte Ketchum gesagt.) Die neueren Schlafhütten gefielen dem alten Waldarbeiter nicht; zu dem zerrissenen Fliegengitter sagte Ketchum: »Wenn man nicht von der einen oder anderen Mücke gestochen wird, merkt man ja kaum, dass man im Wald ist.« Und in diesem
hinteren Bereich der Bucht hielten sich auch die Eistaucher lieber auf, weil hier weniger Boote unterwegs waren; auch das hatte Ketchum noch an seinem ersten Tag herausgefunden. Er mochte den Ruf des Eistauchers. »Außerdem ist Hero ein übler Furzer - du willst doch wohl nicht, dass er deine Schlafhütten verpestet, Charlotte?« Schließlich fand Charlotte die Vorstellung nicht mehr schockierend, dass ihr Opa ein Wilderer gewesen war. Er war mittellos und alkoholkrank gestorben; Spielschulden und Whiskey hatten ihn zur Strecke gebracht. Jetzt endlich hatte die Falltür im Boden ihr Geheimnis gelüftet, was Ketchum ziemlich rasch dazu brachte, seine Optimierungen vorzuschlagen. Dem alten Flößer kam nie der Gedanke, dass Charlotte nicht einmal im Traum daran gedacht hatte, in den eisigen Wintermonaten auf ihrer geliebten Insel zu wohnen, wenn der meist aus ein und derselben Richtung wehende Wind fortwährend die
Bäume durchbog, wenn sich auf der zugefrorenen Bucht die Schneemassen türmten und, abgesehen von dem einen oder anderen Eisangler und den Irren, die mit ihren Schneemobilen über den See rasten, weit und breit keine Menschenseele war. »Das Haupthaus ließe sich ohne großen Aufwand winterfest machen«, fing Ketchum an. »Nach Einbau der Spülklos sollte man unbedingt zwei Abwassersysteme installieren ein offizielles und ein kleineres, von dem keiner etwas zu wissen braucht. Vergesst die kleineren Hütten im Winter; die zu heizen wäre zu teuer. Bleibt einfach im Haupthaus. Ein wenig Heizstrom reicht aus, um zu verhindern, dass das Klo und die Spüle und deine große Badewanne, Charlotte, zufrieren. Man muss nur die zu der kleinen Klärgrube führenden Rohre gegen Kälte isolieren. So kann man im Klo nachspülen und das Spülwasser aus der Küche ablaufen lassen
- und sogar die Wanne leeren. Man kann nur kein Wasser aus dem See hochpumpen oder Wasser erhitzen - jedenfalls nicht in einem mit Propangas betriebenen Boiler. Man muss ein Loch ins Eis schlagen und das Wasser mit Eimern nach oben tragen; das Badewasser erhitzt man auf dem Gasherd, genau wie das Geschirrspülwasser. Natürlich schläft man im Haupthaus - und die meiste Wärme kommt von dem Holzofen. In deinem Schreibschuppen brauchst du ebenfalls einen Holzofen, Danny, mehr aber auch nicht. Der hintere Teil der Bucht, der dem Festland am nächsten liegt, friert zuerst zu; die Lebensmittel schafft man auf einem Schlitten heran, den man an ein Schneemobil hängt, und genauso bringt man den Müll wieder in die Stadt. Verdammt, man könnte auf Schneeschuhen vom Festland rüberlaufen«, sagte Ketchum. »Von der Hauptfahrrinne nach Pointe au Baril Station sollte man sich aber tunlichst fernhalten. Ich schätze, die Rinne
friert nicht fest genug zu.« »Aber warum sollten wir im Winter hier rauskommen?«, fragte Danny den alten Waldarbeiter. Charlotte guckte Ketchum nur verständnislos an. »Warum kommen wir nicht diesen Winter hierher, Danny?«, fragte Ketchum den Schriftsteller. »Dann zeige ich dir, warum es dir hier gefallen könnte.« Ketchum meinte nicht Winter im engeren Sinn. Er meinte die Hirschsaison im November. Das erste Mal, dass sich Danny und Ketchum zur Hirschjagd in Pointe au Baril Station trafen, war das Eis noch nicht dick genug, dass sie die Bucht vom Festland nach Turner Island zu Fuß überqueren konnten; nicht einmal auf Schneeschuhen oder Langlaufskiern wäre das sicher gewesen, und Ketchums Schneemobil wäre unweigerlich gesunken. Neben dem Schneemobil und einer umfangreichen Schlechtwetterausrüstung hatte
Ketchum die Gewehre dabei, aber Hero zu Hause gelassen - genauer gesagt bei SixpackPam. Sixpack hatte selbst ebenfalls Hunde, die Hero »duldete«, wie Ketchum sagte. (Er sagte auch, die Hirschjagd sei für Hunde »unpassend«.) Dass sie in diesem Winter nicht auf Charlottes Insel konnten, war unwichtig. Der Bauhandwerker würde mit all den Umbauten erst im darauffolgenden Sommer fertig werden; Ketchums kluge Optimierungen für den Winter mussten also auch so lange warten. Der Handwerker, Andy Grant, war ein »Kerl von hier«, wie Ketchum das liebevoll nannte. Charlotte war sogar mit ihm aufgewachsen sie waren Sandkastenfreunde. Andy hatte nicht nur vor ein paar Jahren für Charlottes Eltern das Haupthaus renoviert, sondern auch erst kürzlich nach Charlottes Vorgaben die beiden Schlafhütten umgebaut. Andy Grant erzählte Ketchum und Danny, wo
es in der Gegend um Bayfield Hirsche gab, und Ketchum kannte bereits einen gewissen LeBlanc, der sich »Jagdführer« nannte. LeBlanc zeigte Ketchum und Danny ein Gebiet nördlich von Pointe au Baril, in der Nähe des Byng Inlet und des Still River. Doch Ketchum war egal, wo er jagte; hier gab es überall Hirsche. Zuerst war Danny wegen der Waffe, die Ketchum für ihn ausgewählt hatte, ein wenig beleidigt gewesen, einer Winchester Ranger, die Mitte der Achtziger in New Haven, Connecticut, hergestellt wurde, kurz bevor man die Produktion einstellte. Es war ein sogenanntes Vorderschaffrepetiergewehr vom Kaliber 20, was Ketchum »eine Pumpgun« nannte. Anfangs kränkte es Danny, dass es sich bei der Flinte um ein Jugendmodell handelte. »Lass dir deswegen keine krummen Eier wachsen«, sagte Ketchum zu ihm. »Für einen
Anfänger ist das ein prima Gewehr. Wenn man anfängt zu jagen, dann möglichst unkompliziert. Ich habe schon Kerle gesehen, die sich die Zehen abgeschossen haben.« Vermutlich Dannys Zehen zuliebe wies Ketchum den Anfänger an, immer drei Schuss in der Winchester zu haben - einen in der Kammer und noch zwei in dem Röhrenmagazin. »Vergiss nie, wie viel Schuss du dabeihast«, schärfte ihm Ketchum ein. Danny wusste, dass die ersten beiden Patronen mit Schrot gefüllt waren; die dritte war ein Flintenlaufgeschoss, das Ketchum den »Fangschuss« nannte. Es war unsinnig, mehr als drei Patronen zu laden, ganz gleich, wie viel Munition die Waffe aufnahm. »Wenn du einen vierten oder fünften Schuss brauchst, hast du dein Ziel schon verfehlt«, erklärte Ketchum Danny. »Dann ist der Hirsch längst über alle Berge.«
Abends fiel es Danny schwer, Ketchum aus der Bar von Larry's Tavern rauszuhalten. Larry's Tavern war auch ein Motel und lag südlich von Pointe au Baril Station, an der Route 69. Die Motelwände waren so dünn, dass man hören konnte, wenn im Nebenzimmer gevögelt wurde. »Irgend so 'n Truckerarschloch und 'ne Nutte«, verkündete Ketchum am ersten Abend. »Ich glaube kaum, dass es in Pointe au Baril Nutten gibt«, sagte Danny. »Dann ist es ein One-Night-Stand«, erwiderte Ketchum. »Die klingen jedenfalls nicht, als wären sie verheiratet.« An einem anderen Abend vernahmen sie länger anhaltendes Geschrei und Gestöhne, offenkundig von einer Frau. »Die hört sich anders an als die von letzter Nacht und der Nacht davor«, stellte Ketchum fest. Wer auch immer die Frau war, sie gab einfach
keine Ruhe. »Ich komme! Ich komme!«, wiederholte sie permanent. »Stoppst du mit, Danny? Könnte ein Rekordversuch sein«, sagte Ketchum, doch dann ging er nackt in den Flur und klopfte an die Tür, hinter der gerade der längste Orgasmus der Welt stattfand. »Hör zu, Kumpel«, sagte der alte Flößer. »Sie lügt, das steht fest.« Der junge Mann, der die Tür öffnete, nahm eine drohende Haltung an und schien kampfbereit, doch der Kampf - wenn man ihn so nennen wollte - war in null Komma nichts vorbei. Ketchum nahm den Burschen in den Schwitzkasten, ehe der mehr als einen oder zwei Schläge austeilen konnte. »Ich hab nicht gelogen«, rief die Frau aus dem dunklen Zimmer, doch mittlerweile glaubte ihr nicht mal mehr der junge Mann. So hatte sich Danny seinen Jagdausflug mit Ketchum nicht vorgestellt. Was die Hirsche
betraf, für den ersten Hirsch, den Danny in Bayfield erlegte, brauchte er alle drei Schuss auch den Fangschuss. »Tja, sterben ist manchmal nicht so leicht, Danny, das sollte ein Schriftsteller wissen« war Ketchums einziger Kommentar. Ketchum schoss seinen Hirschbullen beim Byng Inlet, mit einem Schuss aus seinem Gewehr, Kaliber 12. In der nächsten Hirschsaison in Ontario schössen sie noch zwei Bullen - beide am Still River -, und inzwischen waren auch die sogenannten Optimierungen auf Charlottes Insel fertig, und damit war alles winterfest gemacht. Ketchum und Danny kehrten Anfang Februar nach Pointe au Baril Station zurück, als das Eis auf der Bucht in Festlandnähe über einen halben Meter dick war. Sie folgten der Schneemobilpiste ab Payne's Road, aus Pointe au Baril hinaus, und fuhren über das Eis und die Schneeverwehungen zur hinteren Anlegestelle und zu Opas Hütte.
Die Hirschsaison war vorbei, aber Ketchum hatte sein Gewehr mitgebracht. »Nur für den Fall.« »Für welchen Fall?«, fragte ihn Danny. »Wir wildern keine Hirsche, Ketchum.« »Für den Fall, dass sich irgendein anderes Viech hier herumtreibt«, antwortete Ketchum. Später sah Danny, dass Ketchum zwei Wildsteaks auf dem Grill briet, den Andy in Charlottes neuer vergitterter Veranda an das Propangas angeschlossen hatte. Im Winter war die Veranda mit Brettern vernagelt, damit kein Schnee hereingeweht wurde, weil dort die Sommermöbel und zwei Kanus lagerten. Danny ahnte nicht, dass Ketchum auch seinen Bogen mitgebracht hatte. Danny hatte vergessen, dass Ketchum auch mit dem Bogen jagte und die Saison für Bogenschützen in New Hampshire drei Monate dauerte; Ketchum hatte also eine
Menge Übung. »Das ist Wilderei«, Holzfäller auf.
klärte
Danny
den
»Die Mounties haben keine Schüsse gehört, oder?«, fragte Ketchum. »Es ist und bleibt Wilderei, Ketchum.« »Wenn man nichts hört, ist es eher nichts, Danny. Ich weiß, dass Cookie kein Fan von Wildbret ist, aber ich finde, so schmeckt es ziemlich gut.« Danny mochte die Hirschjagd eigentlich gar nicht - jedenfalls nicht das Töten -, war aber gern mit Ketchum zusammen, und in jenem Februar 1986, als sie ein paar Nächte in dem Haupthaus auf Turner Island verbrachten, fand Danny heraus, wie herrlich der Winter in der Georgian Bay war. Von seinem neuen Schreibschuppen aus sah Danny eine vom Wind gebeugte Kiefer; sie
war so krumm, dass sie ab einer bestimmten Höhe fast waagrecht wuchs. Als Neuschnee fiel und man beinahe von einem »Whiteout« sprechen konnte - man also nicht mehr unterscheiden konnte, wo das Festland aufhörte und die zugefrorene Bucht anfing -, fiel Danny Angel auf, wie beharrlich sich das Bäumchen an sein unsicheres Überleben klammerte. Gebannt saß Danny in seinem Schreibschuppen und ließ die windgebeugte Kiefer nicht aus den Augen; er stellte sich sogar vor, wie es wäre, einen ganzen Winter lang auf dieser Insel im Huron-See zu leben. (Natürlich war ihm klar, dass Charlotte es nicht länger als ein Wochenende ausgehalten hätte.) Ketchum kam in den Schreibschuppen. Er hatte aus dem See Wasser geholt und es in ein paar Nudeltöpfen auf dem Gasherd zum Sieden gebracht. Er erkundigte sich, ob Danny
das erste oder zweite Wannenbad nehmen wollte. »Siehst du den Baum, Ketchum?«, fragte ihn Danny und zeigte auf die kleine Kiefer. »Du meinst wohl den, den der Wind krumm und schief geweht hat«, sagte Ketchum. »Ja, genau den«, antwortete Danny. »Woran erinnert der dich?« »An deinen Dad«, sagte Ketchum, ohne zu zögern. »Der Baum ist praktisch Cookies Ebenbild, aber er hält's aus, Danny - genau wie dein Dad. Cookie hält's aus.« Im November 1986 gingen Ketchum und Danny in der Gegend um Pointe au Baril auf die Hirschjagd - es war ihre dritte und letzte gemeinsame Jagdsaison -, und im Januar 1987 »campten« sie, wie sie es nannten, auch auf Turner Island. Weil Danny darauf bestand, und
zu Ketchums großer Bestürzung fand außerhalb der Saison keine Jagd mit Pfeil und Bogen mehr statt. Statt seines Bogens brachte Ketchum Hero mit - samt seiner Flinte (nur für alle Fälle), aus der nie ein Schuss abgefeuert wurde. Danny hielt den Ruf des Jagdhundes als Furzer für übertrieben; in jenem Januar nahm Ketchum den Hund wieder als Vorwand, um in Opas ungeheizter Blockhütte zu übernachten. Da das Haupthaus so gründlich winterfest gemacht worden war, fand es der alte Waldarbeiter dort nun ein wenig zu warm (und zu behaglich). Er sagte, er sehe nachts gern seinen Atem - wenn er überhaupt etwas sehen könne. Es gab dort weder Strom noch Propangaslampen, und Danny hatte keine Vorstellung davon, was Ketchum nachts in Opas Hütte sah. Wenn Ketchum zu Bett ging, nahm er eine Taschenlampe mit, trug sie aber wie eine Keule; Danny sah nie, dass er sie anknipste.
Im Sommer war Ketchum nur ein einziges Mal auf Charlottes Insel gewesen, und zwar an dem Wochenende, als auch der Koch mitgekommen war. Charlotte erfuhr nie, dass Ketchum damals auch ein Gewehr dabeigehabt hatte, aber Danny wusste es. Er hatte gehört, wie Ketchum an der Hintertür eine Klapperschlange erschoss. Charlotte war gerade mit dem Boot nach Pointe au Baril Station unterwegs und hörte den Schuss nicht. »Klapperschlangen stehen unter Naturschutz sind vom Aussterben bedroht, glaube ich«, sagte Danny zu Ketchum. Der hatte die Schlange schon enthäutet und die Schwanzrassel abgeschnitten. Im Sommer ließ Charlotte ihr Boot bei Desmasdon's warten, der Werft, wo im Winter die Boote ins Trockendock verholt wurden. Als Danny jetzt zusah, wie Ketchum der Schlange die Haut abzog, fiel ihm ein Poster bei Desmasdon's ein, auf dem die
verschiedenen Schlangenarten Ontarios abgebildet waren, darunter die zu den Zwergklapperschlangen zählende Massasauga. Diese Klapperschlangen standen wirklich unter Naturschutz, wie Danny Ketchum klarmachen wollte, doch der Waldarbeiter fiel ihm ins Wort. »Hero ist schlau genug, um sich nicht von einer verdammten Schlange beißen zu lassen, Danny, ihn muss ich nicht beschützen«, fing Ketchum an. »Aber bei dir und Charlotte bin ich mir nicht so sicher. Ihr latscht über die ganze Insel - ich hab euch gesehen! -, quatscht dabei miteinander und achtet nicht drauf, wo ihr hintretet. Verliebte halten weder nach Klapperschlangen Ausschau, noch horchen sie nach ihnen. Und du und Charlotte, ihr wollt doch ein Kind, nicht wahr? Nicht die Klapperschlangen müssen geschützt werden, Danny.« Damit schnitt Ketchum mit seinem Jagdmesser der Schlange den Kopf ab. An einem Stein leerte er das Gift aus den Zähnen
und schleuderte den Kopf aus der Hintertür in die Bucht. »Fischfutter«, sagte er. »Manchmal bin ich ein echter Umweltschützer.« Die Schlangenhaut schmiss er auf das Dach von Opas Hütte, wo die Sonne sie trocknen würde, »wenn die Möwen und Krähen sie nicht vorher holen«. Die Vögel holten sie sich und veranstalteten dabei früh am nächsten Morgen einen solchen Radau, dass Ketchum in Versuchung geriet, erneut seine Flinte abzufeuern, diesmal um die Möwen und Krähen vom Dach der Blockhütte zu verscheuchen. Doch weil er wusste, dass Charlotte den Schuss hören würde, bewarf er die Vögel mit Steinen. Er sah einer Möwe nach, die mit den Resten der Schlangenhaut davonflog. (»So kommt nichts um«, wie Ketchum den Zwischenfall später Danny schilderte.) An dem Tag kam die Polizei in ihrem Boot vorbei, um sich nach dem Gewehrschuss vom
Vortag zu erkundigen. Ob ihn jemand gehört habe? Auf Barclay Island hatten Leute gesagt, sie glaubten, auf Turner Island einen Schuss gehört zu haben. »Ich hab ihn auch gehört«, erklärte Ketchum, womit er die Aufmerksamkeit der beiden jungen Mounties gewann. Ketchum erinnerte sich sogar an die Uhrzeit, und zwar beeindruckend präzise, behauptete aber, der Schuss sei ganz bestimmt auf dem Festland abgegeben worden. »Klang für mich nach einem Kaliber zwölf«, sagte der erfahrene Waldarbeiter, »aber Schüsse können über Wasser sowohl verstärkt als auch verzerrt werden.« Die beiden Mounties nickten angesichts dieser weisen Beurteilung; die schöne, aber nichtsahnende Charlotte nickte ebenfalls. Dann war Joe gestorben, und Danny hatte auch das letzte bisschen Interesse am Töten verloren. Und als Danny und Charlotte sich trennten, stellten Danny und Ketchum ihre winterlichen Fahrten nach Turner Island ein.
Doch etwas an Pointe au Baril Station ließ Danny keine Ruhe, auch wenn er nicht mehr dorthin fuhr. Und seine Trennung von Charlotte verlief so zivilisiert, dass sie ihm sogar anbot, ihre Sommerinsel mit ihm zu teilen, obwohl sie nicht mehr zusammen waren. Vielleicht könne er ja im Juli hinfahren und sie im August, schlug sie vor. Schließlich habe er auch Geld in die Umbauten gesteckt. (Charlottes Angebot kam von Herzen; es ging nicht ums Geld.) Doch Danny hatte nicht für den Sommer in der Georgian Bay geschwärmt. Mit ihr war er so gern dort gewesen - mit Charlotte wäre er überall gern gewesen -, doch dann verschwand sie aus seinem Leben, und wenn er später an den Huron-See dachte, dann vor allem an die windgebeugte Kiefer im Winter. Wie könnte er Charlotte um Erlaubnis bitten, ihn aus seinem ehemaligen Schreibschuppen im Winter einen Blick auf dieses Bäumchen werfen zu lassen - auf die vom Wetter
zerzauste Kiefer, die er jetzt nur noch in seiner Phantasie sah? Und wie hätte Danny noch einmal Vater werden können, nachdem er Joe verloren hatte? An dem Tag, als Joe starb, wusste er, dass er auch Charlotte verlieren würde, weil er beinahe sofort spürte, dass sein Herz es nicht aushalten würde, noch ein Kind zu verlieren; weder die Angst davor noch dieses furchtbare Ende würde er je wieder ertragen. Und Charlotte wusste es auch - sogar noch ehe er den Mut aufbrachte, es ihr zu gestehen. »Du bist nicht mehr an dein Versprechen gebunden«, sagte sie ihm, »auch wenn es bedeutet, dass ich wieder auf die Suche gehen muss.« »Du solltest auf die Suche gehen, Charlotte«, sagte er. »Ich kann es einfach nicht.« Bald darauf hatte sie einen anderen geheiratet. Einen netten Kerl - Danny hatte ihn
kennengelernt und mochte ihn gern. Er arbeitete in der Filmbranche, ein in l.a. lebender französischer Regisseur. Und er war ungefähr in Charlottes Alter. Sie hatte inzwischen ein Baby, ein kleines Mädchen, und erwartete ein zweites - eins mehr, als Danny ihr versprochen hatte. Charlotte hatte zwar ihre Insel in der Georgian Bay behalten, war aber aus Toronto weggezogen und wohnte jetzt in Los Angeles. Im September kam sie immer zum Filmfestival nach Toronto zurück, und Anfang Herbst richtete es Danny immer so ein, dass er die Stadt eine Weile verließ. Sie telefonierten noch miteinander - immer rief Charlotte ihn an, nie umgekehrt -, aber wahrscheinlich war es für beide einfacher, wenn sie sich nicht über den Weg liefen. Charlotte Turner war hochschwanger mit ihrem ersten Kind, als sie im März 2000 für Jenseits von Bangor den Oscar für die beste
Drehbuchadaption bekam. Danny und sein Dad hatten die Oscarverleihung im Fernsehen mitverfolgt. (Sonntags abends war das Patrice immer geschlossen.) Charlotte in Toronto auf dem Bildschirm zu sehen, während sie in l.a. den Oscar in Empfang nahm, war natürlich nicht dasselbe, wie sie wirklich zu sehen. Der Koch und Danny wünschten ihr alles Gute. Es war einfach Pech. »Schlechtes Timing, stimmt's?«, hatte Ketchum gesagt. (Wäre Joe drei Monate später gestorben, hätte Danny Charlotte wahrscheinlich schon geschwängert gehabt. Es war wirklich schlechtes Timing gewesen.) Joe und dieses Mädchen (sie war ebenfalls im letzten Studienjahr an seiner Uni) hatten in Boulder mehrere Seminare zusammen besucht, und mit der gemeinsamen Fahrt nach Winter Park hatte Joe sich vielleicht selbst ein verspätetes Geburtstagsgeschenk gemacht.
Wie ihre gemeinsamen Freunde erzählten, schliefen Joe und das Mädchen damals erst seit kurzem miteinander. Das Mädchen fuhr zum ersten Mal allein mit Joe nach Winter Park, allerdings erinnerten sich sowohl Danny als auch sein Dad, dass sie in den Weihnachtsferien davor zusammen mit anderen Kommilitonen von Joe - Mädchen und Jungs, die einfach nur Freunde waren - ein paar Nächte in der Skihütte verbracht hatte. Schließlich war es ein großes Haus, und Charlotte zufolge, die altersmäßig Joe und seinen Kumpels näher war als Danny, konnte man unmöglich sagen, wer mit wem schlief. Sie waren so viele, und anscheinend waren sie alle Freunde fürs Leben. Während dieser letzten Weihnachtsferien in Colorado hatten die jungen Leute die Matratzen aus ihren Zimmern geholt und im Wohnzimmer zusammengelegt, wo anschließend alle aneinandergekuschelt vor dem Kamin eingeschlafen waren.
Doch trotz der vielen Leute und des Hochbetriebs unter den Duschen - zu Dannys und Dominics Überraschung duschten einige der Mädchen gemeinsam - war dem Koch und seinem Sohn bei dieser jungen Frau etwas Besonderes aufgefallen. Charlotte hatte es nicht bemerkt. Es war nur ein kurzer Augenblick gewesen, und vielleicht steckte auch gar nichts dahinter, doch nachdem Joe mit dem Mädchen gestorben war, ging es dem Schriftsteller und dem Koch nicht mehr aus dem Kopf. Sie war hübsch und zierlich gewesen, fast elfenhaft, und natürlich hatte Joe seinem Vater und Großvater gegenüber betont, er habe Meg in einem Aktzeichenkurs kennengelernt, wo sie Modell gestanden hatte. »Ein Blick auf die Kleine ist nicht genug - das reicht bei weitem nicht«, sagte der Koch kurz nach jenen Weihnachtsferien zu Ketchum. Es
ging
nicht
nur
darum,
dass
Meg
Exhibitionistin war (denn das war sie offenbar). Genau wie es Danny damals bei seiner ersten Begegnung mit Katie ergangen war, musste man nur einen Blick auf Meg werfen, und schon tat es einem fast körperlich weh, sie nicht weiter anzusehen. »Das Mädchen ist eine echte Ablenkung«, sagte Danny zu seinem Dad. »Sie bringt Ärger«, erwiderte der Koch. Die beiden älteren Männer schlenderten durch den Flur im ersten Stock des Hauses in Winter Park. Der Seitenflügel mit den Gästezimmern war L-förmig und ging von diesem Flur ab architektonisch so merkwürdig gestaltet, dass man beim Vorbeigehen unwillkürlich einen kurzen Blick hineinwarf, weshalb Danny und Dominic sofort die leichte Unruhe bemerkten. Vielleicht hätten sich ihre Köpfe wegen des schrillen Gekreisches fröhlicher junger Frauen auch automatisch in diese Richtung gedreht schließlich hörten der Koch und sein Sohn
dieses Geräusch nicht jeden Tag. Meg und ein anderes Mädchen tauchten gerade aus einem der Gästezimmer auf, beide in Badetücher gehüllt. Sie hatten nasse Haare offenbar kamen beide direkt aus der Dusche und liefen ungelenk zur Tür eines anderen Zimmers, in dem das andere Mädchen auch sofort verschwand, während Meg allein im Flur des Gästeflügels stand, als Joe um die Ecke des L bog. Alles passierte so schnell, dass Joe Danny und Dominic gar nicht bemerkte, und auch Meg sah die beiden nicht. Sie sah nur Joe, der sie auch sah, und ehe sie in das Gästezimmer huschte und die Tür hinter sich schloss - wonach aus dem Zimmer noch mehr schrilles Kreischen ertönte -, hatte Meg für Joe ihr Badetuch aufgeschlagen. »Sie hat ihre kleinen Titten für ihn geschüttelt!«, schilderte der Koch später die Episode gegenüber Ketchum. »Sie ist eine echte Ablenkung« war alles, was
Danny damals dazu eingefallen war. Es war, was Charlotte eine »beiläufig dahingeworfene Bemerkung« genannt hätte damit war, in einem Drehbuch, irgendein nebensächliches Dialogstück gemeint -, doch nach dem Unfall, bei dem Joe und Meg getötet wurden, blieb das Wort Ablenkung hängen. Warum waren die beiden beispielsweise nicht angeschnallt gewesen? Hatte ihm das Mädchen einen geblasen? Wahrscheinlich schon; als man die Leiche fand, stand Joes Hosenstall offen, und sein Penis guckte heraus. Er war aus dem Wagen geschleudert worden und sofort tot gewesen. Meg hatte weniger Glück gehabt. Als man das Mädchen fand, lebte sie zwar noch, doch Kopf und Hals standen in einem unnatürlichen Winkel ab; sie war zwischen Brems- und Gaspedal eingeklemmt worden. Sie starb noch im Krankenwagen, auf dem Weg ins Krankenhaus.
Was Joe und Meg bewogen hatte, zwei Tage lang Seminare zu schwänzen und nach Winter Park zu fahren, schien auf den ersten Blick ziemlich offensichtlich zu sein; doch dass es zwei Tage lang pausenlos geschneit hatte, war nicht der Hauptgrund. Außerdem war es ein für Ende März typischer Schnee gewesen, feucht und schwer - darauf konnte man nur langsam Ski fahren, und die Sichtverhältnisse auf dem Berg waren tückisch. Und dem Zustand der Skihütte in Winter Park nach zu urteilen - bevor die Putzfrau herbeieilte und versuchte, Ordnung zu schaffen -, hatten Joe und das Mädchen die meiste Zeit im Haus verbracht. Zum Skifahren waren sie offenbar kaum gekommen. Vielleicht bedeutete es nicht mehr als andere jugendliche Experimente, aber offenbar hatte das junge Paar sich einen Spaß daraus gemacht, in jedem Bett des Hauses zu schlafen. Natürlich blieben einige Fragen offen. Wenn sie nicht zum Skifahren in Winter Park waren,
warum hatten sie mit der Rückfahrt nach Boulder bis zum Abend des zweiten Tages gewartet? Joe wusste, dass die Bergwacht bei Lawinengefahr für gewöhnlich den u.s. Highway 40 über den Berthoud-Pass zwischen Mitternacht und Tagesanbruch sperrte. Bei so schwerem und nassem Schnee - und weil die Lawinengefahr zu der Zeit hoch war - hatte es Joe wohl nicht riskieren wollen, am nächsten Morgen vor Tagesanbruch aufzubrechen, wenn oberhalb des Berthoud-Passes vielleicht noch Lawinensprengungen vorgenommen wurden. Natürlich hätte das Paar warten können, bis es am nächsten Morgen hell wurde, doch vielleicht hatten Joe und Meg gedacht, nach zwei Tagen Blaumachen sollten sie wieder an die Uni. Als sie in Winter Park aufbrachen, schneite es heftig, doch auf dem u. s. 40 in Richtung der Interstate 70, eigentlich einem stark befahrenen Highway, herrschte kaum Verkehr. (Nun, es war ja auch an einem Werktag, und in
den meisten Schulen und Colleges waren die Frühlingsferien bereits vorbei.) Am höchsten Punkt des Berthoud-Passes mussten Joe und Meg den Schneepflug überholt haben; der Mann am Steuer des Räumfahrzeugs erinnerte sich an Joes Wagen, hatte allerdings nur den Fahrer gesehen. Vielleicht hatte der Mann die Beifahrerin nicht sehen können, weil der Blowjob schon im Gange war. Doch Joe winkte dem Pflugfahrer zu, und der winkte zurück. Nur Sekunden später bemerkte der Schneepflugfahrer den anderen Wagen - der in die Gegenrichtung unterwegs war, von der I70 herkam, und der Fahrer des Pflugs hielt ihn für einen »verdammten Raser aus Denver«. Dieser Fahrer war nämlich für die Wetterbedingungen - es herrschte fast ein Schneesturm - viel zu schnell unterwegs. Nach Einschätzung des Pflugfahrers fuhr Joe vorsichtig, dem Unwetter und dem glatten Schnee auf der Straße angemessen.
Wohingegen der Wagen aus Denver - falls er wirklich aus Denver kam - auf der Passhöhe ins Schleudern geriet. Der Fahrer des Schneepflugs betätigte zwar die Lichthupe, doch der andere Wagen bremste nicht. »Er war nichts als ein verschwommener blauer Fleck«, erklärte der Schneepflugfahrer bei seiner polizeilichen Aussage. Auf die Frage, was für ein Blau es gewesen sei, gab der Mann zu: »Bei dem vielen Schnee bin ich mir da ziemlich unsicher«, doch Danny stellte sich immer einen ungewöhnlichen Blauton vor eine Speziallackierung, wie Max das genannt hatte. Jedenfalls verschwand das geheimnisvolle Auto einfach. Den Fahrer hatte der Mann im Schneepflug nicht gesehen. Anschließend fuhr der Pflugfahrer weiter bergab in Richtung der I-70, und dort stieß er auf das Wrack neben dem u.s. Highway 40, Joes auf dem Dach liegenden Wagen. Es hatte
kein anderes Fahrzeug die Strecke passiert, sonst hätte der Schneepflugfahrer es gesehen, weshalb seine Deutung der Schleuderspuren im Schnee wahrscheinlich zutraf. Der andere Wagen war - mit durchdrehenden Reifen und seitlich wegdriftendem Heck - von der bergauf führenden auf die bergab führende Fahrbahn gerutscht, auf der ihm Joe entgegenkam. An den Spuren im Schnee sah der Fahrer des Pfluges, dass Joe gezwungen gewesen war, die Fahrbahn zu wechseln, um einen Frontalzusammenstoß zu vermeiden. Doch es hatte keinen Kontakt der beiden Fahrzeuge gegeben; sie hatten die Fahrbahn gewechselt, ohne einander zu touchieren. Der Fahrer des Schneepflugs wusste, auf einer nassen, verschneiten Straße kann sich ein bergauf fahrender Wagen wieder fangen, wenn er ins Rutschen kommt - man nimmt den Fuß vom Gas, schon wird das Auto langsamer und rutscht nicht mehr. Doch Joes Wagen fuhr natürlich einfach weiter; er stieß gegen die
weich aussehende Schneewehe, unter der die Leitplanke auf der steil abfallenden Seite der u.s.40 begraben war, an einer Stelle, wo die den Pass hinaufkommenden Fahrer nicht gern nach unten schauen. An der Stelle geht es sehr tief bergab, doch die weich aussehende Schneewehe war festgedrückt und hartgefroren; Joes Auto prallte von der Schneewehe zurück auf die u. s. 40, wo es umkippte. An den Schleuderspuren sah der Fahrer des Pflugs, dass Joes Wagen auf dem Dach den steilsten Abschnitt des Highways hinuntergerutscht war. Fahrertür und Beifahrertür hatten sich geöffnet. Wie hatte doch einer von Danny Angels Interviewern die Frage gestellt? »Wenn man bedenkt, wie langsam Ihr Sohn fuhr und dass er nicht mit dem anderen Wagen zusammenstieß - würden Sie da sagen, Mr. Angel, dass Ihr Sohn und die junge Frau diesen Unfall aller Wahrscheinlichkeit nach überlebt hätten, wenn sie angeschnallt
gewesen wären?« »Aller Wahrscheinlichkeit nach«, hatte Daniel wiederholt. Die Polizei konnte sich nicht vorstellen, dass der Fahrer des anderen Wagens Joes und Megs Notlage nicht bemerkt hatte; obwohl er ins Schleudern geraten war, musste der »Fahrer aus Denver« mitbekommen haben, was mit Joes Auto passiert war. Doch der Fahrer (oder die Fahrerin) hielt nicht an. Wenn überhaupt, hatte das andere Auto, laut dem Schneepflugfahrer, sogar noch beschleunigt als wollte es den Unfallort möglichst schnell verlassen. Über den eigentlichen Unfall sprachen Danny und sein Dad kaum, doch der Koch wusste natürlich, was sein Sohn dachte. Für jeden Phantasiebegabten gesellte sich zum Verlust eines Kindes noch ein besonderer Fluch. Dominic begriff, dass sein geliebter Daniel seinen geliebten Joe immer und immer wieder
verlor - vielleicht sogar jedes Mal auf andere Weise. Außerdem würde sich Danny fragen, ob in dem zweiten Wagen überhaupt ein Fahrer saß, denn es war ganz bestimmt der blaue Mustang. All die Jahre hatte dieses Killerauto nach Joe gesucht. (Zur Zeit des Unfalls am Berthoud-Pass waren seit dem Beinaheunfall in der Gasse hinter dem Haus an der Court Street in Iowa City fast 14 Jahre vergangen. Max - der den blauen Mustang mehr als einmal gesehen hatte - und der achtjährige Joe hatten damals geschworen, es gebe keinen Fahrer.) Es war ein fahrerloser blauer Mustang, und er hatte eine Mission. So wie Danny vor seinem inneren Auge einmal seinen überfahrenen Zweijährigen in Windeln auf der Iowa Avenue gesehen hatte, so hatte der Schneepflugfahrer aus Winter Park Joe vorgefunden - tot auf der Straße.
13 - Wolfsküsse Um 19 Uhr 30 an einem Samstagabend - es war der 23. Dezember, der letzte Tag, ehe das Restaurant über Weihnachten zumachte - war das Patrice rappelvoll. Arnaud strahlte und begrüßte alle, Tisch für Tisch, als gehörten sie zur Familie. Die Begeisterung des Eigentümers war ansteckend. Alle Gäste wurden über die im Restaurant bevorstehenden Änderungen informiert; im neuen Jahr erwarte sie eine ungezwungenere Atmosphäre und eine schlichtere Speisekarte. »Und niedrigere Preise!«, versprach Arnaud, während er Hände schüttelte und Wangenküsse verteilte. Wenn das Restaurant wieder öffnete, würde es sogar einen anderen Namen haben. »Kein Patrice mehr«, verkündete Arnaud und schwebte von Tisch zu Tisch. »Den neuen Namen vergisst man nicht so leicht. Er hat Biss, finde ich!«
»Das neue Restaurant heißt Biss?«, fragte Ketchum den Franzosen misstrauisch. Der alte Holzfäller wurde immer schwerhöriger, besonders auf dem rechten Ohr, und Arnaud stand auf Ketchums rechter Seite. (An diesem Abend war es laut und der Laden proppenvoll.) Zu viele Gewehrschüsse, dachte Danny Angel. Ketchum war, wie er es nannte, »schusstaub«, doch der Schriftsteller wusste, dass Ketchum auf beiden Ohren motorsägentaub war. Es wäre wahrscheinlich egal gewesen, in welches Ohr Patrice gesprochen hätte. »Nein, nein - es heißt nicht Biss, sondern Kiss of the Wolf!«, rief Arnaud laut genug, dass Ketchum den Namen mitbekam. Danny und der Holzfäller hatten einen Zweiertisch am Fenster mit Blick auf die Yonge Street - beziehungsweise auf das, was oberhalb der Milchglasscheibe davon zu sehen war. Als der Restaurantbesitzer zum
Nachbartisch entschwebt war, musterte Ketchum Danny durchdringend. »Ich hab gehört, was der Froschfresser gesagt hat«, begann der alte Flößer. »Ein verdammter Wolfskuss! Scheiße auch - klingt wie ein Name, den sich nur ein Schriftsteller ausdenken konnte.« »Ich war's nicht«, entgegnete Danny. »Es war Silvestros Idee, und Patrice hat sie gefallen. Dad hatte auch nichts damit zu tun.« »Haufenweise Elchscheiße«, stellte Ketchum lakonisch fest. »Ihr Kerle führt euch auf, als wolltet ihr gefasst werden!« »Niemand findet uns wegen des Restaurantnamens«, sagte Danny »Sei nicht albern, Ketchum. Der bringt den Cowboy nicht auf unsere Spur.« »Carl sucht euch immer noch - mehr sag ich dazu nicht, Danny. Ich hab keine Ahnung, warum ihr dem Cowboy helfen wollt, euch zu
finden.« Danny schwieg; er fand es abwegig, dass Carl jemals Kiss of the Wolf mit dem Namen Baciagalupo in Verbindung bringen könnte. Der Hilfssheriff im Ruhestand sprach kein Italienisch! »Ich habe Wölfe gesehen. Und ihre Beute auch«, sagte der alte Waldarbeiter zu Danny. »Ich verrate dir jetzt mal, wie ein Wolfskuss aussieht: Ein Wolf reißt dir die Kehle auf. Wenn ein Rudel dich oder ein anderes Viech verfolgt, bringen sie dich immer irgendwie dazu, dass du dich ihnen zuwendest, und einer ist immer dabei, der dir schließlich die Kehle aufreißt - darauf haben sie's abgesehen, auf die Kehle. Wolfsküsse sind alles andere als schön!« »Was möchtest du essen?«, fragte Danny, um das Thema zu wechseln. »Ich bin hin- und hergerissen«, antwortete
Ketchum. Er hatte eine Lesebrille auf ausgerechnet! -, doch die ließ ihn nicht wie einen Gelehrten aussehen. Die Narbe von der gusseisernen Pfanne war zu markant, sein Bart zu buschig. Das karierte Hemd und die Fleeceweste sahen zu sehr nach Twisted River aus, als dass Ketchum auch nur einen Hauch von städtischem Flair an sich gehabt hätte von gehobener Gastronomie ganz zu schweigen. »Ich dachte an die gegrillten Lammkoteletts nach französischer Art oder die Kalbsleber mit Yukon-Frites«, sagte er. »Was zum Henker sind Yukon-Frites?« »Große Kartoffeln«, antwortete Danny. »Kartoffeln der Sorte Yukon Gold, in dicke Stücke geschnitten.« »Auch das Côte de boeuf stach mir ins Auge«, sagte der Holzfäller. »Das Côte de boeuf ist für zwei«, klärte ihn Danny auf.
»Genau darum isses mir aufgefallen«, sagte Ketchum. Er hatte mit Steam Whistle vom Fass angefangen, war dann aber auf Alexander Keith aus der Flasche umgestiegen; das Ale haute ein wenig mehr rein. »Heiliger Dünnschiss!«, rief Ketchum plötzlich. »Hier gibt's einen Wein für hundertachtundsechzig Dollar!« Danny sah, dass es ein Barolo Massolino aus dem Piemont war. »Den nehmen wir«, sagte er. »Wenn du zahlst«, meinte Ketchum. In der Küche ging es wie üblich drunter und drüber. Der Koch half Scott bei den Profiteroles, die mit Karamelleis und einer Bitterschokoladensauce serviert wurden; außerdem bereitete Dominic die Croutons und die Rouille für Joyce und Kristines Fischsuppe zu. Davor war der Koch mit den Tagliatelle zu den Kalbsscaloppine beschäftigt gewesen, und heute Abend wurde zu der Pasta auch
Silvestros Entenconfit gereicht. Doch die Tagliatelle hatte Dominic gemacht, lange bevor es im Restaurant (und in der Küche) hektisch wurde; außerdem hatte er eine Rotweinreduktion mit Rosmarin angesetzt. An diesem Samstagabend war es in der Küche lauter als sonst, weil Dorotea, die neue Tellerwäscherin, einen Gips am linken Handgelenk (samt Daumen) hatte und ständig die Pfannen fallen ließ. Es wurden Wetten darüber abgeschlossen, was Ketchum bestellen würde. Silvestro hatte auf das Tagesgericht gesetzt, ein Cassoulet, doch Dominic sagte, kein normaler Waldarbeiter würde freiwillig Bohnen essen - nicht wenn es Alternativen gäbe. Der Koch prophezeite, Ketchum werde das Côte de bceuf für zwei nehmen; Joyce und Kristine meinten, wahrscheinlich werde der alte Flößer die Lammkoteletts und die Leber bestellen. »Oder er teilt sich das Côte de boeuf mit
Daniel und nimmt außerdem die Lammkoteletts oder die Leber«, spekulierte Dominic. Der Stiel der Pfanne mit der Rotweinreduktion lag warm in seiner Hand. Irgendetwas daran lenkte den Koch ab, aber er kam nicht dahinter, was es war. In letzter Zeit hatte er bemerkt, dass seine alten Erinnerungen deutlicher - das heißt lebendiger - waren als die neueren, falls das überhaupt möglich war. Beispielsweise erinnerte er sich auf einmal daran, dass Rosie etwas zu Ketchum gesagt hatte, kurz nachdem oder bevor sie alle drei aufs Eis gingen. Aber hatte Ketchum zuerst gesagt: »Gib mir deine Hand«? Der Koch glaubte es, war sich aber nicht sicher. Rosie hatte ganz klar und deutlich gesagt: »Nicht die Hand - das ist die falsche Hand.« Rasch hatte sie für ein wenig Abstand zwischen sich und Ketchum gesorgt, aber war das vor oder sogar bei dem verdammten Do-si-
do gewesen? Dominic erinnerte sich, aber irgendwie auch nicht, was daran lag, dass er besoffener gewesen war als Rosie und Ketchum. Egal; worum ging es bei dieser Sache mit der falschen Hand überhaupt?, fragte sich der Koch. Ketchum wollte er lieber nicht darauf ansprechen. Außerdem, dachte Dominic, würde sich der dreiundachtzigjährige Holzfäller überhaupt noch an Einzelheiten dieser lange zurückliegenden Nacht erinnern? Schließlich trank Ketchum immer noch! Einer der jüngeren Kellner wagte die Prognose, Ketchum würde gar nichts zu essen bestellen. Er hatte bereits drei Steam Whistles vom Fass und zwei Keiths intus; der alte Holzfäller konnte unmöglich noch Platz für ein Abendessen haben. Doch der junge Kellner kannte Ketchum nicht. Patrice kam auf einen Sprung in die Küche. »Oh, la, lá, Dominic!«, sagte er. »Was hat
dein Sohn denn zu feiern? Danny hat den Barolo Massolino bestellt!« »Ich mach mir keine Sorgen«, antwortete der Koch. »Daniel kann es sich leisten, und man kann sich darauf verlassen, dass Ketchum das meiste davon trinkt.« Es war ihr letzter Abend in der Küche vor den langen Ferien; alle schufteten, aber alle waren guter Laune. Doch Dominic wusste immer noch nicht, warum er so abgelenkt war; er tastete immer wieder nach dem vertrauten Stiel der warmen Pfanne. Was ist los?, überlegte er. Was stimmt hier nicht? Im Schlafzimmer des Kochs in dem Haus am Cluny Drive rückten die Pinnwände mit den zahllosen Fotos die gusseiserne Bratpfanne von zwanzig Zentimeter Durchmesser fast in den Hintergrund (oder aus dem Gedächtnis). Doch diese Pfanne hatte die Grenzen von USBundesstaaten überquert und, vor nicht allzu langer Zeit, eine Grenze zwischen zwei
Ländern; diese Pfanne gehörte zweifellos in das Schlafzimmer des Kochs, auch wenn ihre einst legendären Schutzkräfte inzwischen wahrscheinlich (wie Carmella einmal vermutet hatte) nur noch symbolischer Natur waren. Die gusseiserne Pfanne hing direkt hinter der Tür in Dominics Schlafzimmer, wo man sie fast nicht bemerkte. Warum nur hatte der Koch so beharrlich an sie gedacht - wenigstens seit Ketchum (wie üblich unangemeldet) zu Weihnachten eingetroffen war? Dominic ahnte nicht, dass auch Danny in letzter Zeit an die alte Bratpfanne gedacht hatte. Die Pfanne hatte etwas Dauerhaftes; sie war unverändert. Die verdammte Pfanne hing einfach im Schlafzimmer seines Vaters. Für Danny war sie eine ständige Mahnung, aber woran gemahnte sie ihn? Gut, es war die Pfanne, mit der er IndianerJane erschlagen hatte; als solche hatte sie Dannys und Dominics Flucht in Gang gesetzt.
Mit derselben Pfanne hatte Dominic einem Bären eine verpasst - so jedenfalls die Legende. In Wirklichkeit hatte Dannys Dad mit dieser gusseisernen Pfanne Ketchum eins übergezogen, nicht einem Bären. Doch Ketchum war zu zäh, er ließ sich nicht töten (»Nur Ketchum kann Ketchum töten«, hatte der Koch erklärt.) Auch darüber hatten Danny und sein Dad nachgedacht: Selbst mit 83 Jahren konnte nur Ketchum Ketchum töten. Gerade kam der junge Kellner wieder in die Küche. »Der große Mann will das Côte de boeuf für zwei!«, verkündete er ehrfurchtsvoll. Dominic rang sich ein Lächeln ab; als Patrice ein wenig später in die Küche platzte, um ihm zu sagen, sein Sohn habe eine zweite Flasche Barolo Massolino bestellt, lächelte er erneut. Nicht einmal ein Côte de boeuf für zwei und zahllose Flaschen Barolo könnten Ketchum umbringen, wie der Koch wusste. Das konnte
nur Ketchum und Ketchum ganz allein. In der Küche war es so heiß, dass sie die Hintertür zur Gasse öffneten - nur einen Spaltbreit -, obwohl es ein sehr kalter Abend war und ein ungewöhnlich starker Wind die Tür mehrmals aufstieß. Bei eisigen Temperaturen versammelten sich in der Crown's Lane, der Gasse hinter dem Restaurant, Obdachlose. Der Abluftventilator des Restaurants blies warme Luft in die Gasse - die auch noch gut roch. In der Hoffnung auf eine warme Mahlzeit ließ sich gelegentlich ein Obdachloser an der Tür zur Küche blicken. Der Koch vergaß immer wieder, ob Joyce oder Kristine die Raucherin war, aber eine der jungen Köchinnen wurde einmal von einem hungrigen Obdachlosen erschreckt, als sie in der Gasse eine Zigarette rauchte. Seitdem wusste das gesamte Küchenund Restaurantpersonal, dass sich dort Obdachlose
aufhielten auf der Suche nach Wärme und vielleicht einem Happen zu essen. (An dieser Tür wurden auch die Lieferungen abgeladen, allerdings nur tagsüber.) Als Dominic erneut loszog, um die Tür zu schließen, die der bitterkalte Wind wieder mal aufgestoßen hatte, stand da der einäugige Pedro - der beliebteste Obdachlose im Restaurant Patrice, weil Pedro nie vergaß, dem Koch (oder den Köchen) ein Lob für das Essen auszusprechen, das man ihm gegeben hatte. Eigentlich hieß er Ramsay Farnham, doch die Familie Farnham - eine altehrwürdige Torontoer Familie, berühmte Kunstmäzene hatte ihn verstoßen. Ramsay, der inzwischen Ende vierzig oder Anfang fünfzig war, hatte die Farnhams wiederholt dem öffentlichen Gespött preisgegeben. Das Fass zum Überlaufen brachte Ramsay auf einer improvisierten Pressekonferenz während einer ansonsten belanglosen kulturellen Veranstaltung, indem er verkündete, sein Erbe
einem Aidshospiz in Toronto spenden zu wollen. Außerdem behauptete er, er schreibe gerade seine Memoiren fertig, in denen er erkläre, weshalb er sich ein Auge geblendet habe. Er sagte, während seines gesamten Erwachsenenlebens habe er seine Mutter begehrt, und auch wenn er weder tatsächlich Sex mit ihr gehabt noch seinen Vater ermordet habe, so habe er doch beides gewollt. Deshalb habe er sich nur ein Auge geblendet, das linke, und sich in Pedro umbenannt - nicht in Odipus. Niemand wusste, ob sich hinter Pedros Augenklappe eine leere Höhle verbarg oder ein völlig intaktes linkes Auge oder warum er als neuen Namen Pedro gewählt hatte. Er war sauberer als die meisten Obdachlosen; seine Eltern wollten zwar nichts mit ihm zu tun haben, aber vielleicht gab es andere, mitfühlende Mitglieder der Familie Farnham, die Ramsay (alias Pedro) erlaubten, gelegentlich ein Bad zu nehmen und seine
Klamotten zu waschen. Er war natürlich verrückt, hatte aber eine erstklassige Bildung genossen und konnte sich außerordentlich gut ausdrücken. (Seine Memoiren waren entweder ein ewig unvollendetes Werk, oder aber er hatte noch kein Wort davon geschrieben.) »Einen guten Abend wünsche ich, Dominic«, begrüßte der einäugige Pedro den Koch, während der sich mit der windgebeutelten Küchentür abmühte. »Wie geht's, Pedro?«, fragte der Koch. »An einem so kalten Abend wäre eine warme Mahlzeit vielleicht genau das Richtige für dich.« »Ich habe gerade mit ähnlichen Gedanken gespielt, Dominic«, gab Pedro zurück, »und obwohl mir bewusst ist, dass der Ventilator nur äußerst ungenaue Hinweise liefert, ist mir heute Abend etwas Besonderes aufgefallen etwas, was nicht auf der Speisekarte steht -, und wenn mich meine Nase nicht trügt, hat
sich Silvestro wieder einmal selbst übertroffen, mit einem Cassoulet.« Dominic hatte noch nie erlebt, dass Pedros Nase ihn trog. Der Koch brachte dem Obdachlosen eine großzügige Portion Cassoulet und warnte ihn davor, sich an der Auflaufform zu verbrennen. Pedro revanchierte sich mit dem Angebot, die Küchentür - nur ein klein wenig - mit dem Fuß offen zu halten. »Es ist eine Ehre, die Aromen der Küche des Patrice aus erster Hand riechen zu dürfen, ohne Abluftventilator, unverfälscht«, ließ Pedro Dominic wissen. »Unverfälscht«, wiederholte der Koch im Stillen, doch zu Pedro sagte er: »Weißt du, wir ändern unseren Namen - nach Weihnachten.« »>Nach Weihnachten« ist aber ein merkwürdiger Name für ein Restaurant, Dominic«, antwortete der Obdachlose
nachdenklich. »Nicht jeder feiert Weihnachten. Die Ente ist übrigens vorzüglich - und die Wurst ein wahres Gedicht!« »Nein, nein - wir nennen das Restaurant doch nicht >Nach WeihnachtenKiss of the Wolf
aufgegessene Cassoulet zurück, wobei die Auflaufform über den Teller mit dem Stück Ente und der Wurst rutschte. (Der Koch verbrannte sich an der Auflaufform die Daumen.) »Kiss of the Wolf kann kein Pornofilm sein«, widersprach Dominic, doch Pedro zog sich in die Gasse zurück und schüttelte die mächtige Mähne, dass sein grauer Bart erbebte. »Mir wird gleich übel«, sagte Pedro. »Den Film werde ich nie vergessen - er war ekelhaft! Er handelt nämlich nicht von Sex mit Wölfen, Dominic...« »Ich will gar nicht wissen, wovon er handelt!«, wehrte der Koch ab. »Bestimmt liegst du mit dem Titel falsch!«, rief er dem Obdachlosen nach, der in der dunklen Gasse verschwand. »Manche Dinge kann man einfach nicht vergessen, Dominic!«, rief Pedro. Der Koch sah ihn schon nicht mehr. »Träume von Inzest,
seine Mutter zu begehren - schlechter Oralsex!«, schrie der Wahnsinnige. Der Wind verwehte seine Worte, die man aber trotz des tiefen Brummens des Ventilators noch verstand. »Hat Pedro das Cassoulet nicht geschmeckt?«, fragte Silvestro, als der Koch den halbvollen Teller und die Auflaufform in die Küche zurückbrachte. »Ein Name hat ihn irritiert«, mehr brachte Dominic nicht heraus. Doch er fand, dass der Zwischenfall kein gutes Omen für Kiss of the Wolf war - selbst wenn sich Pedro bei dem Titel des schrecklichen Pornofilms irrte. Später fanden weder der Koch noch sein Sohn einen Pornofilm, der Kiss of the Wolf hieß. Nicht einmal Ketchum hatte einen solchen Film je gesehen, und Ketchum behauptete, alles gesehen zu haben - wenigstens alles Pornographische, was es in New Hampshire zu sehen gab.
»Den Titel hätte ich mir bestimmt gemerkt, Cookie«, sagte Ketchum. »Ich bin mir sogar sicher, dass ich ihn dir geschickt hätte. Aber was passiert darin so Besonderes?« »Ich weiß nicht, was darin passiert - und ich will's auch gar nicht wissen!«, rief der Koch. »Ich will nur wissen, ob es ihn gibt!« »Hoppla, lass dir deswegen keine krummen Eier wachsen«, sagte Ketchum. »Allem Anschein nach gibt es ihn nicht, jedenfalls noch nicht«, teilte Danny seinem Dad mit. »Du weißt doch, dass Pedro spinnt das weißt du doch?« »Natürlich weiß ich das, Daniel!«, rief der Koch. »Aber der arme Pedro klang so überzeugt, dass es sich plausibel anhörte.« An diesem Samstagabend vor der Weihnachtspause - dem letzten Abend, an dem das Patrice noch Patrice hieß - hatten Danny und Ketchum drei Flaschen Barolo Massolino
bestellt. Wie Dominic zu Arnaud gesagt hatte, trank Ketchum den größten Teil des Weins, doch Ketchum hatte auch mitgezählt. »Du behauptest zwar, du trinkst zwei Bier und ein, zwei Gläser Rotwein zum Abendessen, Danny, heute Abend hattest du aber vier Gläser Wein. Nach zwei Bier sind selbst drei Gläser Wein für einen kleinen Kerl wie dich ziemlich viel.« Ketchum klang überhaupt nicht vorwurfsvoll - er wollte nur etwas richtigstellen -, doch Danny fühlte sich angegriffen. »Ich wusste gar nicht, dass du für mich mitzählst, Ketchum.« »Sag so was nicht, Danny«, sagte der Holzfäller. »Es ist nun mal meine Aufgabe, mich um euch Kerle zu kümmern.« Ketchum hatte sich darüber beklagt, dass Danny die Haustür am Cluny Drive beim Nachhausekommen häufig abzuschließen
vergaß. Doch das mochte auch daran liegen, dass der Koch meist später als sein Sohn nach Hause kam und nicht gern mit dem Schlüssel herumhantierte und die Haustür lieber erst kurz vor dem Zubettgehen abschloss. »Aber Wein macht müde, stimmt's, Danny?«, hatte der Waldarbeiter gefragt. »Wahrscheinlich ist das Haus meistens nicht abgeschlossen, wenn du nachts einschläfst ehe dein Dad heimkommt.« »Haufenweise Elchscheiße, wie du sagen würdest, Ketchum«, hatte Danny erwidert. So machte man es nun mal in Toronto, erklärten der Koch und sein Sohn dem Flößer. Danny und sein Dad hatten einander schon aus dem Haus ausgesperrt, was ausgesprochen lästig war. Wenn sie jetzt ausgingen, schlossen sie das Haus am Cluny Drive nicht ab; erst wenn beide abends wieder im Haus waren, schloss derjenige die blöde Tür ab, der zuletzt ins Bett ging.
»Der Rotwein macht mir ein wenig Sorgen, Danny«, hatte Ketchum dem Schriftsteller gesagt. »Nach Rotwein schläfst du wie ein Murmeltier - du hörst gar nichts.« »Wenn ich nur Bier trinke, mache ich die ganze Nacht kein Auge zu«, entgegnete Danny. »Das klingt schon etwas besser, finde ich«, mehr hatte Ketchum dazu nicht gesagt. Doch der Rotwein war nicht das Hauptproblem. Klar, gelegentlich trank Danny mehr als ein, zwei Gläser, und davon wurde er müde. Aber der Wein spielte bei dem Verhängnis nur eine Nebenrolle, und der neue Name des Restaurants hatte gar nichts damit zu tun. Das Problem war - nach all ihren Bemühungen, dem Cowboy zu entwischen, samt den ominösen Namensänderungen, die sich als sinnlos erwiesen -, dass Carl Ketchum einfach gefolgt war.
Der Cowboy hatte sich Ketchum schon früher an die Fersen geheftet, doch danach war er so klug gewesen wie zuvor. Carl war dem Holzfäller zweimal auf dessen Jagdausflügen nach Quebec gefolgt, in einem Winter sogar die ganze Strecke bis nach Pointe au Baril Station; der jüngere Mann, mit dem Ketchum dort übernachtete, war vermutlich irgendein Hinterwäldler aus Ontario, nahm er an. Der Cowboy hatte keine Ahnung gehabt, wer Danny war oder was Danny machte. Carl hatte sogar gemutmaßt, Ketchum sei vielleicht »schwul« und der jüngere Mann der Geliebte des alten Holzfällers! Bei diesen Ausflügen war kein kleiner hinkender Kerl aufgetaucht, und Carl hatte es im Grunde aufgegeben, Ketchum zu folgen. Ein Wort sollte alles ändern - dieses eine Wort und die Tatsache, dass Ketchum und der Cowboy ihre Autoreifen bei derselben Firma
in Milan wechselten. Reifen, besonders Winterreifen, waren im Norden New Hampshires wichtig. Twitchell's hieß die Firma, zu deren Kunden Ketchum und der Cowboy gehörten, allerdings war der Schmiermaxe, der das entscheidende Wort aussprach, ein Kanadier namens Croteau. »Sieht aus wie Ketchums Karre«, hatte Carl zu ihm gesagt - das war etwa eine Woche vor Weihnachten, und der Cowboy hatte bemerkt, dass Ketchums Pick-up in Twitchell's Werkstatt auf der Hebebühne stand. Croteau wechselte alle vier Reifen. »Jau«, sagte Croteau. Dem Exhilfssheriff fiel auf, dass der Kanadier Ketchums Spikereifen abnahm und durch Winterreifen ohne Spikes ersetzte. »Hat Ketchum einen Insidertipp bekommen, dass es ein milder Winter wird?«, wollte Carl von Croteau wissen.
»Nö«, antwortete Croteau. »Er mag nur das Geräusch nicht, das Spikes auf der Interstate machen, und von hier nach Toronto fährt er hauptsächlich Interstate.« »Toronto«, wiederholte der Cowboy, doch nicht dieses Wort sollte alles ändern. »Ketchum macht die Spikes wieder drauf, sobald er nach Weihnachten wieder zu Hause ist«, erzählte Croteau dem Hilfssheriff, »aber für die Autobahn braucht man keine Spikes auf den Interstates reichen gewöhnliche Winterreifen.« »Ketchum fährt über Weihnachten nach Toronto?«, fragte Carl den Kanadier. »Solange ich zurückdenken kann«, antwortete Croteau, was nach Carls Schätzung noch nicht sehr lange war. Croteau war Anfang zwanzig; Reifen wechselte er erst, seit er die Highschool beendet hatte. »Hat Ketchum in Toronto eine Freundin?'«,
fragte Carl. »Oder vielleicht einen Freund?« »Nö«, antwortete Croteau. »Ketchum sagt, er hat da oben Familie.« Das Wort Familie änderte alles. Der Hilfssheriff wusste, dass Ketchum keine Familie hatte - jedenfalls nicht in Kanada. Und was er an Familie hatte, hatte der alte Holzfäller verloren; jeder wusste, dass Ketchum und seine Kinder zerstritten waren. Ketchums Kinder lebten in New Hampshire, das war Carl bekannt. Ketchums Kinder waren längst erwachsen, hatten eigene Kinder, aber sie waren nie aus dem Coos County weggezogen. Sie hatten nur alle Verbindungen zu Ketchum gekappt. »Ketchum kann keine Familie in Toronto haben«, erklärte der Cowboy dem dussligen Kanadier. »Tja, das hat Ketchum aber gesagt - er hat Familie da oben in Toronto.« Croteau ließ sich
nicht beirren. Später fand es Danny rührend, dass der alte Holzfäller ihn und seinen Dad als seine Familie betrachtete; und doch hatte das Carl auf ihre Spur gebracht. Dem Cowboy fiel außer dem Koch niemand ein, den Ketchum uneingeschränkt gemocht hätte - oder dem er so nahestand wie einem engen Verwandten. Auch war es dem Excop nicht schwergefallen, Ketchums Pick-up unbemerkt zu folgen. Dieser Truck verbrannte eine Menge Benzin; eine schwarze Abgaswolke hüllte die nachfolgenden Fahrzeuge ein, und Carl hatte klugerweise einen unauffällig aussehenden Geländewagen mit Winterreifen gemietet. In jenem Dezember auf den Interstates im Nordosten der usa - sie fuhren über Buffalo nach Kanada, über die Peace Bridge - war der Wagen des Cowboys so nichtssagend wie nur irgend möglich. Als ehemaliger Polizist wusste Carl schließlich, wie man Leute beschattete.
Der Cowboy wusste auch, wie man ein Haus wie das am Cluny Drive überwachte. Es dauerte nicht lange, und er war mit den Gewohnheiten der beiden vertraut und auch mit denen von Ketchum. Natürlich war dem Cowboy klar, dass Ketchum nur zu Besuch da war. Auch wenn es Carl in den Fingern juckte, alle drei zu töten, wollte er es wahrscheinlich nicht riskieren, sich mit dem alten Holzfäller anzulegen; Carl wusste, dass Ketchum bewaffnet war. Das Haus war nie abgeschlossen, tagsüber nicht und auch abends nicht - nicht ehe der Koch nach Hause gehumpelt kam und ins Bett ging. Für den Cowboy war es ein Kinderspiel gewesen, in das Haus einzudringen und sich gründlich umzusehen; daher wusste Carl, wer in welchem Zimmer schlief. Doch es gab Dinge, die er nicht wusste. Die einzige Schusswaffe im Haus war die in dem Gästezimmer, wo Ketchum schlief, das
stand für Carl fest. Für jemanden wie Ketchum war es eine seltsame oder zumindest simple Waffe, wie der Cowboy fand - ein Winchestergewehr, Kaliber 20. (Eine beschissene Kinderflinte, dachte Carl.) Woher hätte der Exhilfssheriff auch wissen sollen, dass die Winchester Ranger Ketchums Weihnachtsgeschenk für Danny war? Der alte Holzfäller hielt nichts von Geschenkpapier, und die geladene Pumpgun lag unter Ketchums Bett - genau da hätte auch der Cowboy eine Waffe versteckt. Carl kam nie auf die Idee, dass Ketchum die Pumpgun nicht wieder mit nach New Hampshire nehmen würde, wenn er zurück ins Coos County fuhr, wann auch immer das sein mochte. Der Cowboy wollte einfach abwarten, bis Ketchum verschwand - und dann zuschlagen. Carl erwog mehrere Möglichkeiten. Er hatte die Tür zur Feuertreppe in Dannys Schreibzimmer im zweiten Stock
aufgeschlossen; falls Danny nicht merkte, dass die Tür offen war, könnte der Cowboy auf diesem Weg das Haus betreten. Falls Danny es aber sah und sie wieder verriegelte, könnte Carl das Haus durch die nicht abgeschlossene Vordertür betreten - irgendwann abends, wenn der Koch und sein Sohn nicht da waren. Dem Cowboy war aufgefallen, dass Danny nach dem Abendessen sein Schreibzimmer im zweiten Stock nicht mehr betrat (was am Bier und am Rotwein lag; wenn der Schriftsteller getrunken hatte, wollte er nicht einmal im selben Zimmer mit seinem Buch sein). Egal, ob Carl das Anwesen über die Feuertreppe oben betrat oder durch die Vordertür marschiert kam, er konnte sich gefahrlos in diesem Zimmer im zweiten Stock verstecken. Der Cowboy musste nur darauf achten, sich möglichst wenig zu bewegen, bis der Koch und sein Sohn eingeschlafen waren. Carl hatte bemerkt, dass der Fußboden knarrte, genau wie die Treppe hinunter zum ersten
Stock. Doch der Cowboy würde nur Socken an den Füßen haben. Zuerst würde er den Koch töten, überlegte sich Carl - dann den Sohn. Carl hatte die gusseiserne Bratpfanne im Schlafzimmer des Kochs hängen sehen; natürlich wusste der Cowboy von Sixpack, dass mit dieser Pfanne Indianer-Jane getötet worden war. Carl hatte mit dem Gedanken gespielt, wie lustig es wäre, im Schlafzimmer des Kochs stehen zu bleiben, nachdem er ihn erschossen hatte, und darauf zu warten, dass Junior seinem Dad mit der blöden Pfanne zu Hilfe kam! Nun, falls das geschähe, hätte der Cowboy nichts dagegen. Für Carl zählte nur, alle beide zu töten und wieder in den usa zu sein, bevor die Leichen entdeckt wurden. (Mit ein wenig Glück war der Cowboy schon vorher wieder im Coos County.) Der alte Sheriff machte sich ein wenig Sorgen wegen der mexikanischen Putzfrau, deren Kommen und Gehen unberechenbarer war als das des Kochs - oder als die nicht minder
regelmäßigen Gewohnheiten seines Schriftstellersohns. Verglichen mit Lupita, die plötzlich auftauchte, um eine Waschmaschine anzuwerfen oder sich zwanghaft über die Küche herzumachen, war selbst Ketchums Tagesablauf einigermaßen gleichförmig. Der Holzfäller verbrachte täglich zwei Stunden in einem Tae-Kwon-Do-Studio an der Yonge Street. Das Studio hieß Champion Centre, und Ketchum war zwei Jahre zuvor zufällig darauf gestoßen; der Cheftrainer war ein ehemaliger iranischer Ringer und heutiger Boxer und Kickboxer. Ketchum sagte, er wolle seine »Trettechnik« verbessern. »Herrje«, hatte der Koch geklagt. »Weshalb sollte ein dreiundachtzigjähriger Mann einen neuen Kampfsport lernen wollen?« »Das ist eher eine Mischung verschiedener Kampfsportarten, Cookie«, erklärte ihm Ketchum. »Dabei geht's um Boxen und Kickboxen - und um Raufen auch. Ich
interessiere mich bloß für neue Methoden, um einen Kerl zu Boden zu kriegen. Wenn ich ihn erst mal am Boden habe, weiß ich schon, was ich mit ihm machen muss.« »Aber warum, Ketchum?«, rief der Koch. »In wie viele Schlägereien willst du denn noch verwickelt werden?« »Genau darum geht's ja, Cookie - von wollen kann keine Rede sein. Man muss bereit sein!« »Herrje«, wiederholte Dominic. Danny kam es vor, als sei Ketchum ständig und schon immer mit Kriegsvorbereitungen beschäftigt. Ketchums Weihnachtsgeschenk an den Schriftsteller, die Winchester Ranger, mit der Danny drei Hirsche erlegt hatte, schien das noch zu unterstreichen. »Was soll ich denn mit einem Gewehr, Ketchum?«, hatte Danny den alten Holzfäller gefragt.
»Zugegeben, ein großer Jäger bist du nicht, Danny, und vielleicht schießt du nie wieder einen Hirsch«, begann Ketchum, »aber jeder Haushalt sollte eine Flinte haben.« »Jeder Haushalt«, wiederholte Danny. »Na schön, vielleicht besonders dieser Haushalt«, räumte Ketchum ein. »Du musst eine leicht handhabbare, rasch einsetzbare Waffe griffbereit haben - eine, mit der du garantiert nicht danebenschießt, wenn es drauf ankommt.« »Wenn es drauf ankommt«, wiederholte der Koch und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Ich weiß nicht, Ketchum«, sagte Danny. »Nimm die Flinte einfach, Danny«, gab der Holzfäller zurück. »Und achte darauf, dass sie immer geladen ist - schieb sie unter dein Bett, da liegt sie sicher.«
Die ersten beiden Schuss waren Schrotpatronen, wie Danny wusste - der dritte war das Flintenlaufgeschoss. Er hatte die Winchester dankbar angenommen - nicht nur Ketchum zuliebe, sondern auch weil er wusste, dass es seinen Vater ärgern würde. Danny konnte Ketchum und seinen Dad gut gegeneinander ausspielen. »Meine Güte«, fing der Koch wieder an. »Jetzt, wo ich weiß, dass wir ein geladenes Gewehr im Haus haben, werde ich keine Minute mehr schlafen!« »Ich hab nichts dagegen, Cookie«, sagte Ketchum. »Ich würde sogar sagen, das wäre ideal- wenn du keine Minute mehr schläfst, meine ich.« Gewehrkolben und Vorderschaff der Winchester Ranger waren aus Birkenholz, die Gummischaftkappe lag jetzt an Dannys Schulter. Danny musste sich eingestehen, dass er gern zuhörte, wenn sein Dad und Ketchum
sich stritten. »Verdammt noch mal, Ketchum«, sagte der Koch gerade. »Eines Nachts steh ich noch auf, weil ich pinkeln muss, und werde von meinem eigenen Sohn erschossen - weil er mich für den Cowboy hält!« Danny lachte. »Nun macht mal 'n Punkt, ihr zwei - es ist Weihnachten! Lasst uns versuchen, fröhliche Weihnachten miteinander zu verbringen«, sagte der Schriftsteller. Doch Ketchum war nicht fröhlich gestimmt. »Danny wird dich schon nicht erschießen, Cookie«, sagte der Holzfäller. »Ich will nur, dass ihr bereit seid!« »in-uk-schuk«, sagte Danny manchmal im Schlaf. Charlotte hatte ihm beigebracht, wie man das indianische Wort aussprach; oder sollte man in Kanada eher Inuit-Wort sagen? (Danny hatte auch schon den Begriff Inuk-
Wort gehört, wusste aber nicht, was richtig war.) Charlotte hatte das Wort Inuksuk oft gesagt. Als Danny am Morgen des zweiten Weihnachtstags aufwachte, überlegte er, ob er Charlottes Foto über dem Kopfende seines Bettes abhängen oder vielleicht gegen ein anderes Foto austauschen sollte. Auf dem Bild stand die tropfnasse Charlotte in einem Badeanzug da, die Arme um den Oberkörper geschlungen; sie lächelte zwar, sah aber verfroren aus. Im Hintergrund erkannte man die Hauptanlegestelle der Insel - wo Charlotte gerade geschwommen war -, doch näher an ihrer hochgewachsenen Gestalt, zwischen ihr und dem Steg, stand der geheimnisvolle Inuksuk. Diese spezielle Steinfigur hatte zwar eine halbwegs menschliche Gestalt, sah aber nicht wirklich wie ein Mensch aus. Vom Wasser aus hätte man ihn irrtümlich für eine Navigationsmarke halten können; manche Inuksuit (das war die Pluralform) waren
Navigationshilfen, aber dieser nicht. Zwei große, übereinandergelegte Felsbrocken stellten je ein quasimenschliches Bein dar. Eine Art Felsbrett oder -platte verkörperte vielleicht Hüften oder Taille der Gestalt. Vier kleinere Felsbrocken bildeten einen dickbäuchigen Oberkörper. Das Wesen, wenn es denn menschliche Züge aufweisen sollte, hatte grotesk verkürzte Arme; die Arme waren so absurd kurz wie die Beine überproportional lang. Bei dem Kopf, wenn es sich denn um einen Kopf handelte, dachte man an permanent zerzauste Haare. Die Steinfigur war ähnlich verkrüppelt wie die winterund windgepeitschten Kiefern auf den Inseln in der Georgian Bay. Das Steingebilde reichte Charlotte nur bis zur Hüfte, und aufgrund der Perspektive des Fotos - mit Charlotte im Vordergrund - wirkte der Inuksuk sogar noch kleiner, als er war. Allerdings schien er auch unzerstörbar zu sein; vielleicht lag das Wort Danny deshalb beim Aufwachen auf den
Lippen. Auf diesen Inseln standen zahllose Inuksuit und noch viel mehr an der Route 69, zwischen Perry Sound und Pointe au Baril, wo Danny, wie er sich erinnerte, ein Schild mit der Aufschrift first nation, ojibwa-territorium gesehen hatte. Nicht weit von den Sommerhäuschen an der Moonlight Bay, in der Danny eines glühend heißen Tages mit Charlotte im Boot herumgetuckert war, standen beim Indianerreservat Shawanaga Landing etliche eindrückliche Inuksuit. Aber was genau waren sie?, fragte sich der Schriftsteller jetzt, als er am Morgen nach Weihnachten im Bett lag. Keiner wusste, wer den Inuksuk auf Turner Island gebaut hatte. In dem Sommer, als die beiden Schlafhütten errichtet wurden, hatte in Andy Grants Bautrupp ein Schreiner aus dem Indianerreservat gearbeitet. Danny fiel ein, dass in einem anderen Sommer einer der
Männer, und zwar der, der die Propanflaschen zur Insel brachte, ein Boot hatte, das First Nation hieß. Er hatte Danny erzählt, er sei ein reinblütiger Ojibwa, was Charlotte aber für »unwahrscheinlich« hielt; Danny hatte sie nicht gefragt, woher ihre Skepsis rührte. »Vielleicht hat dein Opa euren Inuksuk gebaut«, hatte Danny zu Charlotte gesagt. Vielleicht hatten die diversen Indianer, die im Lauf der Jahre auf Turner Island gearbeitet hatten, das Steingebilde wieder aufgebaut, wenn die Steine runtergefallen waren. »Die Steine fallen nicht runter«, sagte Charlotte. »Und Opa hatte mit unserem Inuksuk nichts zu schaffen. Ein Eingeborener hat ihn gebaut - er wird nie umfallen.« »Aber was genau bedeuten die Inuksuk?«, fragte Danny sie. »Sie verkörpern Ursprung, Respekt, Dauerhaftigkeit«, antwortete Charlotte, doch
das war zu vage, um den Schriftsteller in Danny Angel zufriedenzustellen; er wusste noch, wie erstaunt er gewesen war, dass Charlotte sich mit einer so diffusen Erklärung zufriedengab. Und was ein bestimmter Inuksuk bedeutete »Tja, Scheiße«, wie Ketchum dazu gesagt hatte, »das hängt wohl davon ab, welche Rothaut man fragt.« (Ketchum glaubte, manche Inuksuit seien einfach nur bedeutungslose Steinhaufen.) Danny spähte unter sein Bett nach der Winchester. Gemäß Ketchums Anweisungen lag das geladene Gewehr in einem offenen Futteral; laut Ketchum durfte der Reißverschluss des Futterals nicht zugezogen sein, »weil auch der trotteligste Eindringling einen Reißverschluss hört«. Natürlich lag auf der Hand, welchen trotteligen Eindringling Ketchum meinte - einen dreiundachtzigjährigen Exhilfssheriff, der die
weite Strecke aus dem verdammten New Hampshire gekommen war! »Und soll sie gesichert sein?«, hatte Danny Ketchum gefragt. »Oder lasse ich sie entsichert?« Wenn man den ein wenig vor dem Abzugsgehäuse liegenden Knopf betätigte, um die Waffe zu entsichern, hörte man ein leises Klicken, doch Ketchum hatte Danny geraten, die Waffe gesichert zu lassen. Der alte Holzfäller begründete das so: »Wenn der Cowboy das Klicken beim Entsichern hört, ist er schon zu nah.« Danny sah das Foto von Charlotte mit dem Inuksuk hinter ihr an, dann die Flinte unter seinem Bett. Vielleicht verkörperten die Steingebilde und die Winchester Ranger beide Schutz - die Waffe einen konkreteren. Danny war nicht unglücklich darüber, das Gewehr zu haben, auch wenn er das Gefühl hatte, dass Weihnachten immer irgendwelche morbiden Gedanken mit sich brachte - manchmal von
Ketchum ins Rollen gebracht (beispielsweise mit der Winchester), dann wieder von Danny oder seinem Dad. So konnte man dem Koch vorwerfen, an diesem Heiligabend eine Abwärtsspirale der Schwermut angestoßen zu haben. »Denkt doch nur mal«, hatte Dominic zu seinem Sohn und Ketchum gesagt. »Wenn Joe noch lebte, wäre er jetzt Mitte dreißig - und hätte wahrscheinlich eigene Kinder.« »Joe wäre älter als Charlotte, als ich sie kennenlernte«, stimmte Danny ein. »Außerdem, Daniel«, sagte sein Vater, »wäre Joe nur zehn Jahre jünger, als du warst - bei Joes Tod, meine ich.« »Es reicht! Hört bloß auf mit dem Scheiß!«, rief Ketchum. »Und wenn Indianer-Jane noch lebte, war sie heute verdammte vierundachtzig! Ich bezweifle, dass sie überhaupt mit uns reden würde - bestimmt
nicht, wenn wir es nicht irgendwie schaffen, uns erbaulicheren Themen zuzuwenden.« Doch gleich am nächsten Tag hatte Ketchum Danny die Flinte geschenkt - nicht unbedingt erbaulicher als ihre zentralen Gesprächsthemen oder als ihre alles beherrschende Obsession -, und der Koch hatte sich, ganz plötzlich und ohne Vorwarnung, über die »morbiden Widmungen« in Dannys Büchern beklagt. Richtig, Baby auf der Straße enthielt (wie zu erwarten) die Widmung: »Meinem Sohn Joe in memoriam«. Es war die zweite Widmung für Joe und die insgesamt dritte in memoriam. Dominic fand das deprimierend. »Ich kann's nicht ändern, wenn dauernd Leute sterben, die ich kenne, Paps«, hatte Danny erwidert. Derweil hatte Ketchum an der Winchester das Vorderschaffrepetieren demonstriert, dass die
ausgeworfenen Gewehrpatronen nur so durch die Gegend flogen. Eine der scharfen Patronen (ein Flintenlaufgeschoss) verschwand in dem leeren Verpackungspapier anderer Geschenke und war eine Zeitlang nicht mehr auffindbar, doch Ketchum lud und leerte die Waffe, als wollte er eine ganze Horde Angreifer niedermähen. »Wenn wir lange genug leben, werden wir zu Karikaturen unserer selbst«, sagte Danny jetzt laut vor sich hin, als schreibe er es gerade auf (was er nicht tat). Wenn er im Bett lag, betrachtete er weiterhin wie gebannt das Foto von Charlotte mit dem geheimnisvollen Inuksuk - wenn er sich nicht gerade verrenkte und unter sein Bett sah, wo das geladene Gewehr versteckt war. Es war der zweite Weihnachtstag, in Kanada Boxing Day genannt. Ein Schriftsteller, den Danny kannte, gab da immer eine Party. Alle
Jahre wieder kaufte der Koch zu Weihnachten Outdoorbekleidung für Ketchum - entweder bei Eddie Bauer oder bei Roots -, und Ketchum trug sein neues Outfit auf der Boxing-Day-Party. Dominic war ein verlässlicher Helfer in der Küche; Küchen, egal, welche, waren stets sein zweites Zuhause. Danny mischte sich unter seine Freunde, bemüht, sich von Ketchums politischen Ausbrüchen nicht in Verlegenheit bringen zu lassen. Aber eigentlich gab es für Danny nie Anlass, peinlich berührt zu sein nicht in Kanada, wo die antiamerikanischen Tiraden des alten Holzfällers sehr gut ankamen. »Irgendein Kerl wollte, dass ich in einer Radiosendung auftrete«, erzählte Ketchum Danny und seinem Dad, als der Koch sie von der Party nach Hause fuhr. »Herrje«, sagte Dominic wieder. »Glaub ja nicht, du wärst ein guter Fahrer, nur
weil du nüchtern bist, Cookie - am besten lässt du Danny und mich die Konversation bestreiten, während du deine Aufmerksamkeit dem chaotischen Verkehr widmest.« In dieser Nacht hätte der Cowboy alle drei umbringen können, doch Carl war ein Feigling; das Risiko wollte er nicht eingehen, nicht mit Ketchum im Haus. Der Exhilfssheriff wusste weder, dass die Flinte jetzt unter Dannys und nicht unter Ketchums Bett lag, noch, wie viel der alte Holzfäller auf der Party getrunken hatte. Wahrscheinlich hätte sich der Cowboy den Weg in das riaxis freiscbießen können, ohne dass Ketchum aufgewacht wäre. Danny wäre auch nicht aufgewacht. Es war einer der Abende, wo aus den angeblichen ein, zwei Gläsern Rotwein zum Essen in Wirklichkeit vier oder fünf geworden waren. Nachts wurde Danny einmal wach und dachte, er werfe besser einen Blick unters Bett, um sich zu vergewissern, dass die Flinte noch da war; dabei fiel er mit einem dumpfen Wumm
aus dem Bett, was weder sein Dad noch der schnarchende Holzfäller hörten. Nach Weihnachten blieb Ketchum nie lange in Toronto. Ein Jammer, dass er Hero nicht mitgebracht und den Hund - aus welchem Grund auch immer - bei dem Koch und seinem Sohn gelassen hatte, als er zurück in die Staaten fuhr. Carl hätte weder das Haus am Cluny Drive betreten noch sich in dem Schreibzimmer im zweiten Stock verstecken können, falls Hero, das brave Tier, dort gewesen wäre. Doch der Hund war im Coos County, bei Sixpack-Pam - deren Hunde er terrorisierte, wie sich herausstellte -, und Ketchum brach früh am nächsten Morgen nach New Hampshire auf. Als Danny (noch vor seinem Dad) aufstand, fand er den Zettel, den Ketchum auf dem Küchentisch zurückgelassen hatte. Zu Dannys Überraschung war er sauber getippt. Ketchum war nach oben ins Schreibzimmer gegangen
und hatte dort die Schreibmaschine benutzt, aber Danny hatte weder das Knarren der Dielen über seinem Schlafzimmer noch die knarrenden Treppenstufen gehört. Und weder ihn noch den Koch hatte das Klappern der Schreibmaschine geweckt - kein gutes Zeichen, wie ihnen der alte Holzfäller hätte sagen können. Doch in Ketchums Nachricht stand nichts dergleichen. von euch kerlen hab ich jetzt erst mal genug! mir fehlt mein hund, und den hole ich jetzt ab. wenn ich wieder zu hause bin, werdet ihr mir auch fehlen! halt dich beim rotwein zurück, danny. ketchum Carl war froh, als er Ketchums Pick-up abfahren sah. Bestimmt wurde der Cowboy allmählich ungeduldig, doch er wartete, bis die mexikanische Putzfrau gekommen und wieder
gegangen war; damit hatte sich auch dieses Problem erledigt. Nun, wo das Gästezimmer leer war- nach Lupitas Einsatz war es so gut wie neu-, stand für Carl fest, dass Ketchum nicht wiederkommen würde. Doch der Cowboy musste noch eine weitere Nacht warten. Am Abend des 27. Dezember aßen der Koch und sein Sohn zu Hause. Dominic hatte beim Metzger eine Kielbasa-Wurst entdeckt, sie in Olivenöl gebräunt und anschließend samt gehacktem Fenchel, Zwiebeln und Blumenkohl in einer Tomatensauce mit zerdrückten Fenchelsamen geschmort. Zu diesem Eintopf reichte der Koch einen warmen, frischen Laib Rosmarin-Oliven-Brot und einen grünen Salat. »Das hätte Ketchum gefallen, Paps«, bemerkte Danny. »Tja, also - Ketchum ist ein guter Mensch«, sagte Dominic zum Erstaunen seines Sohns.
Da Danny nicht wusste, wie er reagieren sollte, versuchte er es mit weiteren Komplimenten über den Kielbasa-Eintopf; er deutete an, die Speise könnte vielleicht auf die schlichtere, bistromäßige Speisekarte im neuen Kiss of the Wolf passen. »Nein, nein«, widersprach der Koch, »Kielbasa ist zu rustikal - sogar für das Kiss of the Wolf.« Worauf Danny nur entgegnete: »Es schmeckt gut, Dad. Ich finde, du könntest es auch bei Hof auftischen.« »Ich hätte es für Ketchum kochen sollen - für ihn hab ich es nie gemacht«, sagte Dominic. Am letzten Abend seines Lebens aß der Koch mit seinem geliebten Daniel in einem portugiesischen Lokal in der Nähe von Little Italy. Es hieß Chiado und war eins von Dominics Lieblingsrestaurants in Toronto. Arnaud hatte ihn mal dorthin eingeladen, als
sie beide noch im Stadtzentrum an der Queen Street West arbeiteten. An diesem Donnerstagabend, dem 28. Dezember, aßen Danny und sein Dad Kaninchen. Während Ketchums Weihnachtsbesuchs hatte es geschneit und geregnet - alles war gefroren und getaut und dann wieder gefroren. Als der Koch und sein Sohn schließlich vom Chiado ein Taxi nach Hause nahmen, schneite es zur Abwechslung mal wieder. (Dominic fuhr nicht gern in der Innenstadt.) In dem verharschten alten Schnee auf der Feuertreppe im Freien waren die schwachen Schuhabdrücke des Cowboys schon tagsüber kaum zu sehen gewesen; jetzt, wo es dunkel war und schneite, lagen Carls Spuren ganz und gar unter Schnee. Der Excop hatte seinen Parka und die Stiefel ausgezogen. Er hatte sich auf das Sofa in Dannys Schreibzimmer gelegt, den 45er-Colt an seinen Brustkorb gepresst - so wie er sich die weiteren Ereignisse vorstellte, brauchte der alte Sheriff kein Holster.
Aus der Küche drangen die Stimmen des Kochs und seines Sohns bis zu Carl, allerdings werden wir nie erfahren, ob er ihr Gespräch verstand. »Mit achtundfünfzig solltest du eigentlich verheiratet sein, Daniel. Du solltest mit deiner Frau zusammenleben, nicht mit deinem Vater«, sagte der Koch. »Und was ist mit dir, Paps? Würde dir eine Frau nicht auch guttun?«, fragte Danny. »Ich hatte meine Chancen, Daniel. Mit sechsundsiebzig würde ich mich vor einer Frau lächerlich machen - und mich ständig bei ihr entschuldigen!«, sagte Dominic. »Wieso das denn?«, fragte ihn Danny. »Gelegentliche Inkontinenz, vielleicht. Weil ich furze, auf jeden Fall - außerdem rede ich im Schlaf«, gestand der Koch seinem Sohn. »Du solltest dir eine Frau suchen, die
schwerhörig ist - wie Ketchum«, schlug Danny vor. Beide mussten lachen; bestimmt hörte der Cowboy ihr Gelächter. »Ich habe das ernst gemeint, Daniel. Du solltest dir wenigstens eine Freundin suchen, eine richtige Gefährtin«, sagte Dominic, als sie nach oben gingen und an den Treppenabsatz im ersten Stock kamen. Noch vom zweiten Stock aus hörte Carl das charakteristische Hinken des Kochs auf der Treppe. »Ich habe Freundinnen«, wandte Danny ein. »Ich rede nicht von Groupies, Daniel.« »Ich habe keine Groupies, Paps, das ist vorbei.« »Dann halt junge weibliche Fans. Vergiss nicht, ich habe deine Fanpost gelesen...« »Solche Briefe beantworte ich nicht, Dad.« »Dann eben junge - wie heißen sie doch gleich? - >Lektoratsassistentinnen< vielleicht?
Und junge Buchhändlerinnen, Daniel ... ich habe dich mit der einen oder anderen gesehen. Im Verlagswesen gibt es so viele junge Leute!« »Junge Frauen sind viel eher Singles«, gab Danny zu bedenken. »Die meisten Frauen meines Alters sind entweder verheiratet oder Witwen.« »Was hast du gegen Witwen?«, fragte sein Vater. (Daraufhin lachten beide wieder, diesmal kürzer.) »Ich suche keine feste Beziehung«, sagte Danny. »Das merke ich. Warum nicht?«, wollte Dominic wissen. Sie standen an verschiedenen Enden des Flurs im ersten Stock, jeder an seiner Schlafzimmertür. Sie sprachen laut; bestimmt hörte der Cowboy jedes Wort. »Ich hatte auch meine Chancen, Paps«, sagte Danny.
»Ich will doch nur dein Bestes, Daniel«, antwortete der Koch. »Du warst ein guter Vater - der beste«, sagte Danny. »Du warst auch ein guter Vater, Daniel...« »Das hätte ich noch besser machen können«, warf Danny rasch ein. »Ich liebe dich!«, sagte Dominic. »Ich liebe dich auch, Dad. Gute Nacht.« Danny ging in sein Zimmer und machte leise die Tür zu. »Gute Nacht!«, rief der Koch aus dem Flur. Die guten Wünsche kamen von Herzen; man kann sich fast vorstellen, dass der Cowboy versucht war, ihnen ebenfalls eine gute Nacht zu wünschen. Doch Carl lag reglos über ihnen und gab keinen Mucks von sich. Wartete Carl noch eine volle Stunde, nachdem er gehört hatte, wie sie sich die Zähne putzten?
Wahrscheinlich nicht. Träumte Danny wieder von der sturmgebeugten Kiefer auf Charlottes Insel in der Georgian Bay - genauer gesagt von dem Blick aus seinem früheren Schreibschuppen auf dieses zähe Bäumchen? Wahrscheinlich. Bat der Koch in seinen Gebeten um mehr Zeit? Wahrscheinlich nicht. Unter den gegebenen Umständen und so, wie Dominic Baciagalupo nun einmal war, bat der Koch wohl kaum um viel - sofern er überhaupt betete. Wenn es hoch kam, verlieh Dominic vielleicht seiner Hoffnung Ausdruck, dass sein einsamer Sohn »jemanden fand« - mehr nicht. Knarrten die Dielen über ihnen unter dem Gewicht des dicken Cowboys, als Carl endlich beschloss zu handeln? Sie hörten es jedenfalls nicht; oder falls Danny etwas hörte, bildete er sich im Schlaf vielleicht ein, Joe wäre aus Colorado nach Hause gekommen. Da der Cowboy nicht wusste, wie dunkel es nachts in dem Haus sein würde, hatte er die
vom Schreibzimmer nach unten führende Treppe mit geschlossenen Augen ausprobiert. Er hatte auch gezählt, wie viele Schritte im Flur des ersten Stocks bis zum Schlafzimmer des Kochs führten. Und Carl wusste, wo der Lichtschalter war - direkt hinter der Tür, gleich neben der gusseisernen Pfanne. Wie sich herausstellte, ließ Danny immer ein Licht an - auf der Treppe von der Küche in den ersten Stock, so dass es im Flur recht hell war. Der Cowboy tappte auf seinen Socken leise durch den Gang zum Schlafzimmer des Kochs und öffnete die Tür. »Überraschung, Cookie!«, sagte Carl und knipste das Licht an. »Zeit zu sterben.« Vielleicht hörte Danny das, vielleicht auch nicht. Doch sein Dad setzte sich im Bett auf, blinzelte in das plötzliche grelle Licht, und dann sagte er mit sehr lauter Stimme: »Wieso hat das so lange gedauert, du Vollidiot? Du bist wohl dümmer als ein Haufen
Hundescheiße - genau wie Jane immer gesagt hat.« (Das hörte Danny ganz bestimmt.) »Du kleiner Scheißkerl, Cookie!«, schrie Carl. Das hörte Danny auch; er kniete schon auf dem Boden und zog die Winchester aus dem offenen Futteral unter dem Bett. »Dümmer als ein Haufen Hundescheiße, Cowboy!«, rief sein Dad. »So dumm bin ich nicht, Cookie! Denn du stirbst jetzt!«, brüllte Carl. Er hörte nicht, wie Danny die Waffe entsicherte oder wie er barfuß durch den Flur lief. Der Cowboy zielte mit seinem 45er-Colt und traf den Koch ins Herz. Dominic Baciagalupo wurde gegen das Kopfende seines Bettes geschleudert; er war sofort tot, auf seinen Kissen. Dem Exhilfssheriff blieb keine Zeit, das seltsame Lächeln des Kochs zu begreifen, das die weiße Narbe auf seiner Unterlippe in die Länge zog, und nur Danny verstand, was sein Dad gesagt hatte, kurz bevor ihn der Schuss traf. »She bu
de«, brachte Dominic noch heraus, wie es ihm Ah Gou und Xiao Dee beigebracht hatten »Ich ertrage es nicht, loszulassen.« Natürlich war das für Carl Chinesisch. Als er herumfuhr und den nackten Mann in der Tür sah, begriff er wohl halbwegs, warum der Koch mit einem Lächeln auf den Lippen gestorben war. Dominic wusste nicht nur, dass das Gebrüll seinen Sohn retten würde; er wusste auch, dass sein Freund Ketchum Daniel eine bessere Waffe als die gusseiserne Pfanne besorgt hatte. Und vielleicht glomm in den Augen des Cowboys in letzter Sekunde so etwas wie Wiedererkennen auf, als er sah, dass Danny bereits mit Ketchums Winchester auf ihn zielte dem vielgeschmähten Jugendgewehr. Der lange Lauf von Carls Colt zeigte immer noch auf den Boden, als ihm die erste Ladung Schrot aus der Kaliber 20 die halbe Kehle wegriss; der Cowboy wurde nach hinten gegen
den Nachttisch geschleudert, wo die Glühbirne der Lampe zwischen seinen Schulterblättern zerbarst. Dannys zweite Schrotladung zerfetzte, was von Carls Kehle übrig war. Das Flintenlaufgeschoss, der sogenannte Fangschuss, war eigentlich unnötig, aber Danny - jetzt aus kürzester Entfernung - jagte den dritten und letzten Schuss in Carls Hals, als zöge die klaffende Wunde die Kugeln an wie ein Magnet. Wenn man Ketchum glauben konnte - oder falls er es nicht nur bildlich gemeint hatte, als er darüber sprach, wie Wölfe ihre Beute töten -, waren dann die drei Schüsse aus der Winchester Ranger nicht genau so, wie Wolfsküsse sein sollten, nämlich alles andere als schön? Der immer noch nackte Danny ging nach unten. Von dem Telefon in der Küche aus rief er die Polizei an und sagte, er werde die Haustür offen lassen, man werde ihn im ersten
Stock bei seinem Vater finden. Sobald er die Tür aufgeschlossen hatte, ging er wieder nach oben in sein Schlafzimmer und zog sich eine alte Jogginghose und ein Sweatshirt an. Danny überlegte, ob er Ketchum anrufen sollte, doch es war spät, und es gab keinen Grund zur Eile. Als er das Schlafzimmer seines Dads wieder betrat, ließen sich die Wolfsküsse nicht übersehen, die den Cowboy zerfetzt hatten der so zermatscht dalag, als hätte ihn ein Schlauch ausgespritzt -, aber Danny bedauerte nur kurz, dass er Lupita so eine Schweinerei hinterließ. Der blutgetränkte Bettvorleger, die blutbespritzten Wände, die blutigen Fotos auf der Pinnwand über dem zersplitterten Nachttisch - nun, damit würde Lupita fertig werden, das stand für Danny fest. Er wusste, dass ihr schon Schlimmeres widerfahren war: Sie hatte ein Kind verloren. Ketchum hatte recht gehabt, was den Rotwein betraf, dachte der Schriftsteller, als er sich neben seinen Vater auf das Bett setzte. Hätte
er nur Bier getrunken, hätte er den Cowboy vielleicht ein paar Sekunden früher gehört; dann hätte Danny womöglich das Feuer eröffnet, ehe Carl den Abzug betätigte. »Mach du dir deswegen keine Vorwürfe, Danny«, sagte Ketchum später zu ihm. »Der Cowboy ist mir gefolgt. Darauf hätte ich vorher kommen müssen.« »Mach du dir deswegen keine Vorwürfe, Ketchum«, entgegnete ihm Danny, doch Ketchum tat es natürlich trotzdem. Als die Polizei kam, waren alle Nachbarhäuser hell erleuchtet, und eine Menge Hunde bellten; normalerweise war es um diese nachtschlafende Zeit in Rosedale sehr still. Die meisten Menschen, die in der Nähe wohnten, hatten noch nie so laute und beängstigende Schüsse gehört - einige Hunde bellten bis zum Morgengrauen. Doch als die Polizei kam, wiegte Danny ganz ruhig den Kopf seines Dads auf seinem Schoß, sie lagen zusammen
auf den blutgetränkten Kissen am Kopfende des Bettes. Später schrieb der junge Detective der Mordkommission in seinem Bericht, der Schriftsteller habe wie angekündigt im ersten Stock des Hauses auf sie gewartet und seinem ermordeten Vater offenbar etwas vorgesungen oder ihm ein Gedicht aufgesagt. »She hu de«, sagte Danny immer wieder seinem Dad ins Ohr. Weder der Koch noch sein Sohn hatten je herausgefunden, ob Ah Gous und Xiao Dees Übersetzung aus dem Mandarin einigermaßen korrekt war - also ob she hu de wirklich »Ich ertrage es nicht loszulassen« bedeutete -, aber was machte das schon? Der Schriftsteller glaubte, dass er seinem Vater »Ich ertrage es nicht, loszulassen« sagte, dem Vater, der seinen geliebten Sohn fast 47 Jahre lang vor dem Cowboy beschützt hatte; so lange war es her, dass sie gemeinsam Twisted River verlassen hatten.
Jetzt endlich - jetzt, wo die Polizei da war fing Danny an zu weinen. Er begann gerade loszulassen. Ein Krankenwagen und zwei Polizeiwagen parkten mit blinkenden Lichtern vor dem Haus am Cluny Drive. Die ersten Polizisten, die das Schlafzimmer des Kochs betraten, kannten die von Danny telefonisch übermittelte Kurzversion der Ereignisse: Es habe einen Einbruch gegeben, und der bewaffnete Eindringling habe den Vater des berühmten Schriftstellers erschossen; anschließend habe Danny den Eindringling erschossen. Doch bestimmt steckte mehr dahinter, dachte der junge Detective der Mordkommission. Der Beamte hatte größten Respekt vor Mr. Angel, und angesichts der Umstände wollte er dem Schriftsteller die erforderliche Zeit geben, sich zu beruhigen. Doch was die - mehrmals und aus solcher Nähe abgefeuerte - Pumpgun angerichtet hatte, war so verheerend, bestimmt spürte der Detective, dass es zu dem Einbruch, dem
Mord und den Vergeltungsschüssen des berühmten Autors eine wichtige Vorgeschichte gab. »Mr. Angel?«, fragte der junge Detective. »Wenn Sie bereit sind, Sir, würde ich gern von Ihnen hören, wie sich das hier zugetragen hat.« Dannys Tränen waren eigenartig, er weinte, wie ein Zwölfjähriger weinen würde - als hätte Carl seinen Dad in ihrer letzten Nacht in Twisted River erschossen. Danny bekam kein Wort heraus, doch er zeigte auf etwas; es befand sich in der Nähe der Tür zum Schlafzimmer seines Vaters. Der junge Detective verstand ihn falsch. »Ja, ich weiß, Sie standen dort in der Tür, als Sie geschossen haben«, sagte der er. »Jedenfalls beim ersten Schuss. Dann sind Sie auf ihn zugegangen, nicht wahr?« Danny schüttelte heftig den Kopf. Ein anderer junger Polizist hatte die gusseiserne Pfanne
bemerkt, die dicht hinter der Tür im Zimmer hing - ein ungewöhnlicher Platz für eine Bratpfanne -, und er tippte mit dem Zeigefinger gegen den Pfannenboden. »Ja!«, stieß Danny zwischen zwei Schluchzern hervor. »Bringen Sie die Pfanne her«, sagte der Detective. Danny ließ seinen Vater nicht los - er wiegte den Kopf des Kochs weiter auf seinem Schoß -, griff aber mit der rechten Hand nach der gusseisernen Pfanne von zwanzig Zentimeter Durchmesser, und als sich seine Finger um den Stiel schlossen, ließen seine Tränen nach. Der junge Detective wartete; er merkte, dass diese Geschichte ihre Zeit brauchte. Mit der rechten Hand hob Danny die Pfanne, dann legte er das schwere Ding auf das Bett. »Ich fange mit der gusseisernen Pfanne von zwanzig Zentimeter Durchmesser an«, begann
der Schriftsteller schließlich, als hätte er eine lange Geschichte zu erzählen - eine Geschichte, die er gut kannte.
TEIL V COOS COUNTY, NEW HAMPSHIRE, 2001 14 - Ketchums linke Hand Ketchum war auf der Bärenjagd gewesen. Er hatte seinen . Pick-up nach Wilson Mills in Maine gebracht, und er und Hero waren mit einem Suzuki atv zurück nach New Hampshire gefahren - die Grenze hatten sie etwa parallel zu den Half Mile Falls am Dead Diamond River überquert, wo Ketchum einen großen Schwarzbären erlegte, ein Männchen. Seine Waffe der Wahl für Bären war das kurzläufige
leichte Gewehr, das Dannys Freundin Barrett (vor Jahren) am liebsten bei der Hirschjagd verwendet hatte: eine Remington.30-06 Springfield, ein Karabiner, den Ketchum »meine zuverlässige alte Repetierbüchse« nannte. (Das Modell wurde seit 1940 nicht mehr gebaut.) Trotz des Geländewagens hatte Ketchum gewisse Probleme, den Bären über die Grenze zu schaffen. »Sagen wir einfach, Hero musste ein gutes Stück zu Fuß gehen«, wie Ketchum später Danny erzählte. Mit »gehen« meinte Ketchum wohl, dass der Hund den ganzen Weg laufen musste. Doch es war das erste Wochenende der Bärensaison, an dem Jagdhunde gestattet waren; das brave Tier war überdreht genug, dass es ihm nichts ausmachte, hinter Ketchums Geländewagen herzulaufen. Mit Ketchum und dem toten Bären an Bord war nämlich für Hero in dem Suzuki kein Platz mehr gewesen.
»Es könnte schon dunkel sein, wenn Hero und ich am Montag nach Hause kommen«, hatte Ketchum Danny gewarnt. Während des verlängerten Wochenendes war der alte Holzfäller nicht aufzufinden oder zu erreichen; Danny versuchte es nicht einmal. Telefon und Faxgerät hatte Ketchum nach und nach akzeptiert, doch ein Handy würde sich der ehemalige Flößer - er war inzwischen 84 - nie anschaffen. (Es war nicht so, dass es 2001 in den Great North Woods viele Handys gegeben hätte.) Außerdem hatte Dannys Flug aus Toronto Verspätung; als er endlich in Boston landete und Danny einen Wagen gemietet hatte, wurde aus der geplanten gemütlichen Tasse Kaffee mit Paul Polcari und Tony Molinari ein improvisiertes Mittagessen. Ehe Danny und Carmella Del Popolo das North End verließen, war es früher Nachmittag. Natürlich waren die Straßen besser in Schuss als 1954, als der Koch und sein zwölfjähriger Sohn die Reise in
die Gegenrichtung angetreten hatten, aber von Bostons North End bis in den Norden New Hampshires war es immer noch »ein ordentliches Stück« (wie Ketchum sagen würde), und es war später Nachmittag, als Danny und Carmella auf der Route 16 dem Oberlauf des Androscoggin entlang bis Errol hinauffuhren. Als sie am Pontook-Stausee vorbeikamen, erkannte Danny die Dummer Pond Road - die ehemalige Holzabfuhrstraße -, doch zu Carmella sagte er nur: »Morgen kommen wir mit Ketchum wieder hierher.« Carmella nickte; sie schaute die ganze Zeit aus dem Seitenfenster auf den Fluss hinaus. Etwa 15 Kilometer später sagte sie: »Das ist ein mächtiger Fluss.« Danny war froh, dass sie den Fluss nicht im März oder April gesehen hatte; während der Schlammperiode schwoll der Androscoggin zum reißenden Strom an. Ketchum hatte Danny geraten, am besten im
September zu kommen - vor allem Carmella zuliebe. Die Chancen standen gut, dass das Wetter hielt, die Nächte wurden kälter, es gab keine Mücken mehr, und für Schnee war es noch zu früh. Doch Coos County lag so weit im Norden, dass das Laub sich schon Ende August verfärbte. An diesem zweiten Montag im September sah es hier oben bereits aus wie im Herbst, und spätnachmittags wurde es schon empfindlich kühl. Ketchum hatte sich Sorgen gemacht, wie Carmella im Wald zurechtkommen würde. »Ich kann sie fast die ganze Strecke fahren, aber um an die richtige Stelle am Flussufer zu gelangen, muss sie ein Stückchen zu Fuß gehen«, hatte Ketchum gesagt. Vor seinem inneren Auge sah Danny die Stelle, die Ketchum meinte - eine Erhebung mit Blick auf das Flussbecken vor der Biegung. Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, wie sehr sich alles verändert hatte -
das Kochhaus stand nicht mehr, und der Ort Twisted River war niedergebrannt. Doch Dominic Baciagalupo hatte weder gewollt, dass seine Asche dort verstreut würde, wo das Kochhaus gestanden hatte, noch in der Nähe des Ortes. Der Koch hatte gewünscht, dass seine Asche im Fluss versenkt wurde, in dem Becken, wo seine Doch-nicht-Cousine Rosie unter das splitternde Eis gerutscht war. Es war fast genau die Stelle, wo Angelù Del Popolo unter die Baumstämme geraten war. Und natürlich war Carmella deshalb hier; 34 Jahre (wenn Danny richtig gerechnet hatte) waren vergangen, seit Ketchum Carmella nach Twisted River eingeladen hatte, und jetzt war sie da. »Wenn Sie eines Tages die Stelle sehen möchten, wo Ihr Junge umkam, wäre es mir eine Ehre, sie Ihnen zu zeigen«, hatte Ketchum damals gesagt. Carmella hatte unbedingt das Flussbecken sehen wollen, wo der Unfall geschehen war, aber nicht die Stämme; sie
wusste, die Baumstämme würde sie nicht ertragen. Nur das Flussufer, wo ihr geliebter Gamba und Danny gestanden und gesehen hatten, wie es passiert war - und vielleicht die genaue Stelle, wo ihr Angelù, ihr Ein und Alles, wieder aufgetaucht war. Ja, eines Tages würde sie das vielleicht sehen wollen, hatte Carmella damals gedacht. »Ich danke Ihnen, Mr. Ketchum«, hatte sie an jenem Tag gesagt, als der Holzfäller den Koch in Boston abholte. Und zu Dominic: »Falls du mich je wiedersehen willst -« »Ich weiß«, hatte der Koch erwidert, ohne sie dabei anzusehen. Jetzt, wo Danny die Asche seines Vaters nach Twisted River 579 brachte, hatte Ketchum darauf bestanden, dass der Schrift steller Carmella mitnahm. Als Danny Angelus Mom kennenlernte, waren dem Zwölfjährigen ihre großen Brüste, die breiten Hüften, das breite Lächeln aufgefallen - und er hatte gewusst,
dass nur Carmellas Lächeln größer und breiter war als das von Indianer-Jane. Carmella war mindestens so alt wie Ketchum, wenn nicht sogar etwas älter; sie musste inzwischen Mitte achtzig sein. Sie war komplett weißhaarig sogar die Augenbrauen waren weiß, ein auffälliger Kontrast zu ihrem südländischen Teint und ihrer offensichtlich stabilen Gesundheit. Carmella war ausgesprochen mollig, aber dennoch femininer, als Jane je gewesen war. Und egal, wie glücklich sie mit dem neuen Kerl in ihrem Leben war - Paul Polcari und Tony Molinari wurden nicht müde zu betonen, dass sie es war -, so hatte sie doch ihren Nachnamen behalten, vielleicht aus Pietät ihrem Mann, dem Fischer, und ihrem einzigen Kind gegenüber, die beide ertrunken waren. Auf der langen Fahrt nach Norden hatte Carmella weder um ihren geliebten Angelù geweint noch mehr als einen Kommentar zum Tod des Kochs abgegeben. »Ich habe meinen
lieben Gamba schon vor Jahren verloren, Secondo - jetzt hast auch du ihn verloren!«, hatte Carmella mit Tränen in den Augen erklärt. Aber sie hatte sich rasch wieder gefangen, und auf der restlichen Strecke gab Carmella durch nichts zu erkennen, dass sie auch nur daran dachte, wohin sie unterwegs waren und warum. Carmella verwendete für Dominic weiterhin seinen Spitznamen Gamba - so wie sie Danny Secondo nannte, als wäre Danny (in ihrem Herzen) immer noch ihr Ersatzsohn; offenbar hatte sie ihm längst verziehen, dass er sie in ihrer Badewanne ausspioniert hatte. Es wäre ihm natürlich nicht in den Sinn gekommen, so etwas heute noch mal zu machen, doch das sagte er Carmella nicht; stattdessen entschuldigte er sich ausdrücklich für sein damaliges schlechtes Benehmen. »Blödsinn, Secondo - vermutlich habe ich mich geschmeichelt gefühlt«, entgegnete ihm
Carmella mit einer wegwerfenden Geste ihrer dicken Hand. »Ich hatte nur Angst, dass mein Anblick schlechte Folgen für dich haben würde und du dich deswegen dein Leben lang zu dicken, älteren Frauen hingezogen fühlen könntest.« Daraufhin fühlte sich Danny beinahe bemüßigt zu beteuern, dass er sich durchaus nicht zu solchen Frauen hingezogen fühle (und nie gefühlt habe), obwohl in Wahrheit - nach der außergewöhnlich zarten Katie - viele der Frauen in seinem Leben recht drall gewesen waren. Gemessen an den Hungerhaken in der aktuellen Frauenmode, dachte Danny, war sogar Charlotte - unbestreitbar die Liebe seines Lebens - übergewichtig. Wie sein Dad war auch Danny klein, und wenngleich er nicht auf Carmellas Kommentar reagierte, so fragte er sich doch, ob er sich vielleicht wirklich bei Frauen wohler fühlte, die größer und stämmiger waren als er. (Was
gewiss nichts damit zu tun hatte, dass er Carmella in der Badewanne ausspioniert oder Indianer-Jane mit einer Pfanne getötet hatte!) »Bist du eigentlich mit jemandem zusammen in einer festen Beziehung, meine ich«, fragte Carmella, nachdem sie etwa zwei Kilometer geschwiegen hatten. »Keine feste Beziehung«, antwortete Danny. »Wenn ich mich nicht verzählt habe, bist du fast sechzig«, sagte Carmella. (Danny war 59.) »Dein Dad hat sich immer gewünscht, dass du mit einer Frau zusammen bist, die zu dir passt.« »Das war ich auch, aber sie hat mich verlassen«, teilte Danny ihr mit. Carmella seufzte. Sie hatte ihre Melancholie mitgebracht und sie, ebenso wie ihre unausgesprochene Skepsis Danny gegenüber, seit Boston nicht abgelegt. Letztere war Danny so wenig entgangen wie Carmellas
angenehmer Duft - entweder ein mildes und dezentes Parfüm oder ein anderer Duft, der so natürlich und verlockend war wie der von frischgebackenem Brot. »Außerdem«, fuhr Danny fort, »hatte mein Dad auch keine feste Beziehung - nicht, als er in meinem Alter und älter war.« Nach einer Pause, in der Carmella abwartete, ergänzte Danny: »Und Paps war nie mit einer Frau zusammen, die so gut zu ihm passte wie du.« Wieder seufzte Carmella, als wollte sie zugleich ihre Freude wie ihren Unmut kundtun - sie war unzufrieden, weil es ihr nicht gelungen war, das Gespräch in die von ihr gewünschte Richtung zu steuern. Offenbar grübelte sie darüber nach, was mit Danny nicht stimmte. Jetzt wartete Danny darauf, was sie als Nächstes sagen würde; er wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie das heiklere Thema ansprach, was mit seinen Büchern nicht stimmte.
Auf der ganzen Fahrt aus Boston fand er Carmellas Konversation geistlos - ihre altersbedingte Selbstgerechtigkeit war deprimierend. Erst verhedderte sie sich in ihren Gedankengängen, dann machte sie Danny für ihre Verwirrung verantwortlich und warf ihm vor, ihren Ausführungen entweder nicht die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken oder sie absichtlich zu verwirren. Sein Dad, das wurde Danny klar, war geistig noch vergleichsweise klar geblieben. Auch wenn Ketchum von Tag zu Tag tauber und in seinen Schmähreden immer ausfallender wurde - und obwohl der alte Holzfäller im gleichen Alter wie Carmella war -, verzieh Danny ihm automatisch. Schließlich war Ketchum schon immer etwas verrückt gewesen. War der frühere Flößer nicht schon als junger Mann griesgrämig und unlogisch gewesen?, dachte Danny im Stillen.
In diesem Moment fuhren sie im harten Licht des Spätnachmittags an dem kleinen Schild der Androscoggin tierpräparation vorbei. »Meine Güte - >Elchgeweihe zu verkaufen<«, las Carmella laut vor, bemüht, dem Schild noch mehr Details zu entnehmen. (Auf der ganzen Fahrt nach Norden hatte sie alle naselang »Meine Güte« gesagt, dachte Danny irritiert.) »Möchtest du anhalten und ein ausgestopftes totes Tier kaufen?«, fragte er sie. »Falls wir's noch vor Einbruch der Dunkelheit schaffen!«, antwortete Carmella lächelnd; sie tätschelte liebevoll sein Knie, und Danny schämte sich, weil sie ihm auf die Nerven ging. Als Kind und als junger Mann hatte er sie geliebt, und für ihn stand fest, dass sie ihn ebenfalls liebte - seinen Dad hatte sie regelrecht vergöttert. Doch inzwischen fand Danny sie anstrengend und hatte sie ursprünglich gar nicht mitnehmen wollen. Es war Ketchums Idee gewesen, ihr zu zeigen, wo
Angel gestorben war; Danny merkte, dass er Ketchum gern für sich allein gehabt hätte. Zu sehen, wie die Asche seines Dads im Twisted River versank, wie es der Koch gewollt hatte, war Danny wichtiger, als Ketchum zu helfen, sein Versprechen einzulösen, indem er Carmella die Stelle am Flussbecken oberhalb der Biegung zeigte, wo Angelù umgekommen war. Danny kam sich kleinlich vor, weil er Carmella als Belastung und Ablenkung betrachtete; er kam sich schäbig vor, glaubte aber zum ersten Mal, dass Paul Polcari und Tony Molinari es ernst meinten. Carmella musste wirklich zufrieden sein - mit dem neuen Kerl und ihrem Leben. (Dass sie so langweilig war, ließ sich nur damit erklären, dass sie glücklich war!) Aber hatte Carmella nicht drei geliebte Menschen verloren, den Koch mitgezählt darunter ihr einziges Kind? Wie konnte Danny, der selbst sein einziges Kind verloren hatte, Carmella nicht als mitfühlende Seele
sehen? Danny wollte nur nicht mit Carmella zusammen sein - nicht in diesem Augenblick, wo ihn die doppelte Aufgabe voll in Anspruch nahm, die Asche seines Vaters zu versenken und mit Ketchum zusammen zu sein. »Wo sind sie?«, fragte Carmella, als sie sich dem Ort Errol näherten. »Wo sind was?«, sagte Danny. (Sie hatten sich gerade über Tierpräparation unterhalten! Ob sie wissen wollte, wo die toten ausgestopften Tiere waren?) »Wo sind Gambas sterbliche Überreste, wo ist seine Asche?« »In einem unzerbrechlichen Gefäß, einem Behälter - aus Plastik, nicht aus Glas«, antwortete Danny etwas ausweichend. »Bei deinem Gepäck, im Kofferraum des Wagens?«, fragte Carmella nach. »Ja.« Danny wollte ihr nichts Genaues über
den Behälter verraten - was das Gefäß ursprünglich einmal enthalten hatte und dergleichen. Außerdem fuhren sie gerade in den Ort - wenn man ihn so nennen wollte -, und solange es noch hell war, wollte Danny sich orientieren und sich umsehen, damit er am Morgen Ketchum schneller fand. »Wir sehen uns Dienstag in aller Frühe«, hatte der alte Holzfäller gesagt. »Was heißt >in aller Frühe«, fragte Danny. »Vor sieben, spätestens«, sagte Ketchum. »Vor acht, wenn wir Glück haben«, entgegnete Danny. Danny hatte so seine Bedenken, wie sehr in aller Frühe Carmella aufstehen und voll einsatzfähig sein würde - zumal sie ein paar Kilometer außerhalb übernachten würden. In Errol gab es keine angemessene Unterkunft für sie, wie Ketchum Danny versichert hatte. Der Holzfäller hatte ein Resort Hotel in Dixville Notch empfohlen.
Nach Dannys und Carmellas ersten Eindrücken von Errol hatte Ketchum recht. Sie nahmen die Straße nach Umbagog, vorbei an einem Gemischtwarenladen, der auch ein Schnaps- und Weinladen war; am östlichen Ortsende führte eine Brücke über den Androscoggin, und direkt westlich der Brücke war eine Feuerwache, wo Danny den Wagen wendete. Auf dem Rückweg durch den Ort kamen sie an der Grundschule von Errol vorbei, die ihnen auf der Hinfahrt entgangen war. Es gab auch ein Restaurant, das Northern Exposure hieß, doch das schönste und ansehnlichste Gebäude in ganz Errol war ein Sportgeschäft namens L. L. Cote. »Sehen wir uns doch da drin mal um«, schlug Danny Carmella vor. »Falls wir's noch vor Einbruch der Dunkelheit schaffen!«, sagte sie wieder. Carmella war einer der ersten erotischen Reize seines Lebens gewesen. Wie hatte aus ihr eine alte, sich
ständig gebetsmühlenartig wiederholende Frau werden können?, dachte Danny. Beklommen betrachteten beide das Schild an der Tür des Sportgeschäfts. bitte keine geladenen verkaufsraum
schusswaffen
im
»Meine Güte«, sagte Carmella wieder; vor dem Eintreten zögerten sie, wenn auch nur kurz. L. L. Cote verkaufte Schneemobile und Geländefahrzeuge; die zahlreichen toten, ausgestopften einheimischen Tiere im Verkaufsraum ließen darauf schließen, dass der hiesige Präparator genug zu tun hatte. (Bär, Hirsch, Luchs, Fischmarder, Elch, Stachelschwein, Stinktier - ein Haufen »Viecher«, wie Ketchum gesagt hätte - neben
all den Enten und Raubvögeln.) Es gab mehr Schusswaffen als andere Waren im Sortiment. Vor einer solchen Zurschaustellung von Tötungswerkzeugen schauderte Carmella zurück. Eine große Auswahl an BrowningJagdmessern ließ Danny vermuten, dass Ketchum seines hier erstanden hatte. Es gab auch eine ganze Menge geruchseliminierender Kleidung, die Danny Carmella zu erklären versuchte. »Damit Jäger nicht wie Menschen riechen«, sagte Danny. »Meine Güte«, sagte Carmella. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ein alter Mann sie misstrauisch. Für einen Verkäufer sah er mit seinem Browning-Messer am Gürtel und der korpulenten Gestalt merkwürdig aus. Der Bauch 585 hing ihm über die Gürtelschnalle, und sein rotschwarzes Flanellhemd glich dem,
das Ketchum gewöhnlich trug - was man von der Tarn-Fleeceweste des Verkäufers nicht behaupten konnte. (Ketchum würde ums Verrecken keine Tarnklamotten anziehen. »Wir sind schließlich nicht im Krieg«, hatte er einmal gesagt. »Und die Viecher schießen nicht zurück.«) »Ich könnte eventuell eine Wegbeschreibung gebrauchen«, sagte Danny zu dem Verkäufer. »Wir müssen die Lost Nation Road finden, aber erst morgen früh.« »Die heißt nicht mehr so - schon lange nicht mehr«, erwiderte der Verkäufer, der immer misstrauischer wurde. »Man hat mir gesagt, sie ginge von der Straße zum Akers Pond ab -«, begann Danny, doch der Verkäufer unterbrach ihn. »Das stimmt, aber sie heißt nicht Lost Nation so nennt sie fast keiner mehr, heutzutage.« »Hat die Straße denn einen neuen Namen?«,
fragte Danny. Der Verkäufer beäugte Carmella auf unangenehme Art. »Sie hat keinen Namen - da gibt's nur ein Schild, auf dem irgendwas über Reparaturen von Kleinmotoren steht. Sie geht als Erste von der Akers Pond Road ab, kann man gar nicht verfehlen«, sagte der alte Mann, aber ermutigend klang das nicht. »Na ja, wir finden sie bestimmt«, meinte Danny. »Danke sehr.« »Zu wem woll'n Sie denn?«, fragte der Verkäufer, der immer noch Carmella anglotzte. »Mr. Ketchum«, antwortete Carmella. »Ketchum würde sie Lost Nation Road nennen!«, sagte der Verkäufer mit Nachdruck, als wäre nun endlich geklärt, was mit dem Straßennamen nicht stimmte. »Erwartet Ketchum Sie?«, fragte der alte Mann Danny.
»Ja, allerdings, aber nicht vor morgen früh«, wiederholte Danny. »Ich würde Ketchum keinen Besuch abstatten, wenn er mich nicht erwartet«, sagte der Verkäufer. »Würde ich an Ihrer Stelle nicht machen.« »Noch mal danke«, sagte Danny zu dem Alten und nahm Carmellas Arm. Sie wollten L. L. Cote verlassen, doch der Verkäufer hielt sie auf. »Nur eine Rothaut würde Lost Nation Road sagen«, behauptete er. »Das beweist es!« »Beweist was?«, fragte ihn Danny. »Ketchum ist kein Indianer.« »Ha!«, höhnte der Verkäufer. »Auch 'n Halbblut ist ein Indianer!« Danny spürte, wie Carmellas Empörung zunahm - fast so körperlich wie ihr auf seinem Arm lastendes Gewicht. Er hatte sie schon
beinahe aus der Tür des Sportgeschäfts bugsiert, als der Verkäufer ihnen etwas nachrief. »Dieser Ketchum ist ein untergegangenes Volk für sich!«, rief der Verkäufer. Dann, als hätte er sich eines Besseren besonnen, ergänzte er mit einer gewissen Besorgnis: »Sagen Sie ihm nicht, dass ich das gesagt habe.« »Vermutlich kauft Ketchum hier von Zeit zu Zeit ein, stimmt's?«, fragte Danny; er genoss es, dass der fette alte Verkäufer auf einmal Angst zeigte. »Sein Geld ist genauso gut wie jedes andere, oder?«, sagte der Verkäufer mürrisch. »Ich werd's ihm ausrichten«, versprach Danny und geleitete Carmella zur Tür hinaus. »Ist Mr. Ketchum Indianer?«, fragte sie Danny, als sie wieder im Auto saßen. »Keine Ahnung, vielleicht teilweise«, antwortete Danny. »Ich hab ihn nie gefragt.«
»Meine Güte - ich habe noch nie einen bärtigen Indianer gesehen«, sagte Carmella. »Jedenfalls nicht im Film.« Sie verließen den Ort auf der Route 26 westwärts. Es gab da etwas, was sich Errol Cream Barrel & Chuck Wagon nannte, und einen offenbar tadellos gepflegten Campingplatz samt Trailerpark namens Saw Dust Alley. Sie kamen auch an der Umbagog Snowmobile Association vorbei. Das war's dann so ziemlich mit Errol. Danny bog an der Akers Pond Road nicht ab, sondern merkte sich nur, wo sie war. Bestimmt würden sie Ketchum am Morgen problemlos finden - Lost Nation hin oder her. Kurze Zeit später, es wurde gerade dunkel, fuhren sie an einer von einem hohen Zaun begrenzten Wiese vorbei. Natürlich las Carmella das Schild am Zaun laut vor: »>Bitte den Bison nicht belästigen« - also, meine
Güte, warum sollte jemand so etwas tun?«, fragte sie, wie üblich entrüstet. Sie sahen aber keinen Bison - nur den Zaun und das Schild. Das Resort Hotel in Dixville Notch hieß The Balsams - in der warmen Jahreszeit eine Bleibe für Wanderer und Golfspieler, wie Danny annahm. (Und im Winter zweifellos für Skifahrer.) Es war riesig und an einem Montagabend weitgehend menschenleer. Danny und Carmella waren im Speisesaal praktisch allein. Nachdem sie das Essen bestellt hatten, seufzte Carmella tief. Sie trank ein Glas Rotwein, Danny ein Bier. Seit dem Tod seines Dads trank er keinen Rotwein mehr, obwohl Ketchum ihm wegen seines Entschlusses, nur noch Bier zu trinken, regelmäßig zusetzte. »Jetzt musst du nicht mehr aufhören, Rotwein zu trinken!«, hatte Ketchum ihn angeschrien. »Ist mir egal, wenn ich nicht mehr schlafen kann«, hatte Danny ihm entgegnet.
Nachdem sie geseufzt hatte, schien Carmella zunächst die Luft anzuhalten, ehe sie sprach. »Es versteht sich wohl von selbst, dass ich alle deine Bücher gelesen habe - und zwar mehr als ein Mal«, fing sie an. »Wirklich?«, fragte Danny und gab sich ahnungslos, welchen Verlauf dieses Gespräch nehmen würde. »Natürlich!«, rief Carmella. Weshalb ist jemand, der so glücklich ist, so böse auf mich?, dachte Danny, als Carmella fortfuhr: »Oh, Secondo - dein Dad war so stolz auf dich, dass du ein berühmter Schriftsteller bist und alles.« Jetzt war Danny dran mit Seufzen; er hielt ein, zwei Sekunden lang den Atem an. »Und du?«, fragte er sie, diesmal nicht so beiläufig. »Na ja, deine Geschichten und manchmal die Personen, die darin vorkommen, sind so - wie heißt das Wort doch gleich? - unappetitlich«,
begann Carmella. Dann aber musste sie in Dannys Miene etwas entdeckt haben, was sie verstummen ließ. »Ich verstehe«, sagte er. Vielleicht sah Danny sie an, als wollte sie ihn interviewen, als wäre sie irgendeine Journalistin, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatte, und was auch immer Carmella wirklich von seinen Büchern halten mochte, auf einmal wollte sie es ihm lieber nicht sagen - nicht ihrem lieben Secondo, ihrem Ersatzsohn -, denn hatte das Leben ihn nicht ebenso sehr gebeutelt, wie es sie gebeutelt hatte? »Erzähl mir, was du gerade schreibst, Secondo«, platzte es plötzlich aus Carmella heraus, und sie schenkte ihm ein warmes Lächeln. »Du lässt dir mal wieder ziemlich viel Zeit zwischen zwei Büchern, nicht wahr? Verrat mir, was du im Schilde führst. Ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, was als Nächstes kommt!«
An der Bar sahen sich ein paar Männer noch eine Footballübertragung an, doch da waren Carmella und Danny bereits auf ihre Zimmer gegangen. Im Vertrauen auf seinen leichten Schlaf ließ Danny die Vorhänge offen - das Licht am frühen Morgen würde ihn wecken. Er brauchte sich eigentlich keine Sorgen zu machen, wie er Carmella am nächsten Morgen in die Gänge bringen sollte. Denn selbst wenn sie sich verspäteten, würde Ketchum auf sie warten, das wusste Danny. Er lag bei eingeschalteter Nachttischlampe im Bett, und dort, auf dem Nachttisch, stand auch die Dose mit der Asche seines Vaters. Es war seine letzte Nacht mit der Asche des Kochs, und er betrachtete sie - als würde sie jeden Moment anfangen zu reden oder ihm irgendeinen Hinweis auf die letzten Wünsche seines Vaters geben. »Tja, Paps, du hast zwar gesagt, dass du es so
haben wolltest, aber hoffentlich hast du deine Meinung nicht geändert«, sagte Danny laut. Die Asche befand sich übrigens in einem ehemaligen Behälter für Arnos' New York Steak Spiee - eine Gewürzmischung, die laut Zutatenliste Seesalz, Pfeffer, Kräuter und andere Gewürze enthielt und die der Koch offenbar in seiner schicken Lieblingsfleischerei in Toronto bei ihnen um die Ecke gekauft hatte, weil auf dem Etikett der Name Olliffe stand. Danny hatte sich des Inhalts weitgehend, aber nicht komplett, entledigt. Nachdem er die Asche seines Vaters hineingetan hatte, war noch Platz gewesen, um auch etwas von der Gewürzmischung zurückzuschütten, was Danny auch getan hatte. Wenn ihn ein amerikanischer Zollbeamter nach dem Behälter befragt - oder ihn geöffnet und daran geschnuppert - hätte, hätte es immer noch wie Steakgewürz gerochen. (Der Pfeffer hätte den Zöllner vielleicht sogar zum Niesen gebracht!)
Doch Danny hatte die Asche des Kochs durch den amerikanischen Zoll geschmuggelt, ohne kontrolliert zu werden. Jetzt setzte er sich im Bett auf, öffnete den Behälter und schnupperte vorsichtig an dessen Inhalt. Da Danny wusste, was er enthielt, hätte er den Inhalt nicht auf ein Steak streuen mögen, aber es roch dennoch nach Pfeffer, Kräutern und Gewürzen - der Inhalt sah sogar wie zerbröselte Kräuter mit diversen Gewürzen aus, nicht wie die Asche eines Menschen. Wie passend, dass die sterblichen Überreste eines Kochs in einer Dose Arnos' New York Steak Spiee untergebracht waren! Dominic Baciagalupo, dachte sein Sohn, der Schriftsteller, hätte sich darüber womöglich köstlich amüsiert. Danny machte seine Nachttischlampe aus und lag nun im Dunkeln im Bett. »Letzte Chance, Paps«, flüsterte er in das stille Zimmer. »Wenn du keinen anderen Vorschlag machst, geht's
zurück nach Twisted River.« Doch die Asche des Kochs, wie auch die Kräuter-und-GewürzMischung, blieb stumm. Einmal hatte Danny Angel zwischen zwei Romanen elf Jahre verstreichen lassen zwischen Jenseits von Bangor und Baby auf der Straße. Erneut brachte ihn ein Todesfall in der Familie in Verzug, allerdings hatte Carmella unrecht, wenn sie behauptete, der Schriftsteller lasse sich mal wieder »ziemlich viel Zeit zwischen zwei Büchern«. Seit der Veröffentlichung seines letzten Romans waren erst sechs Jahre vergangen. So wie auch nach Joes Tod fand Danny den Roman, an dem er gerade schrieb, nach der Ermordung des Kochs auf einmal belanglos. Doch dieses Mal kam er gar nicht auf die Idee, das Buch zu überarbeiten - er warf es einfach weg, komplett. Und er hatte fast sofort einen neuen und völlig anderen Roman begonnen.
Das neue Buch entstand nach den Monaten, in denen man ihm den letzten Rest seiner Privatsphäre genommen hatte; der Roman glich einer Landschaft, aus der sich der Nebel ganz plötzlich und vollständig verzog. »Der Medienrummel war grauenhaft«, hatte Carmella beim Abendessen freimütig gesagt. Doch diesmal hatte Danny mit dem Medienrummel gerechnet. Schließlich war der Vater eines berühmten Schriftstellers umgebracht worden, und der Autor persönlich hatte den Mörder erschossen - wenn auch unbestritten in Notwehr. Mehr noch, Danny Angel und sein Dad waren fast 47 Jahre lang auf der Flucht gewesen. Der international bekannte Bestsellerautor hatte die Vereinigten Staaten verlassen und war nach Kanada gezogen, aber nicht aus politischen Gründen genau wie Danny immer behauptet hatte, ohne die wahren Umstände zu verraten. Selbstredend sagten etliche Journalisten in
Amerika, der Koch und sein Sohn hätten sofort zur Polizei gehen müssen. (Hatten sie nicht mitbekommen, dass Carl damals die Polizei war?) Natürlich zeigte sich die kanadische Presse empört darüber, dass »amerikanische Gewalt« dem berühmten Autor und seinem Vater über die Grenze gefolgt war. Im Nachhinein bezog man sich dabei vor allem auf die Waffen an sich - sowohl auf den monströsen 45er-Colt des Cowboys als auch auf Ketchums Weihnachtsgeschenk für Danny, die Winchester Pumpgun, die dem Sheriff die Kehle zerfetzt hatte. Auch machte man in Kanada ein Riesentheater, weil der Schriftsteller keinen Waffenschein für sein Gewehr hatte. Letzten Endes wurde gegen Danny deswegen aber keine Anklage erhoben. Ketchums Geschenk wurde konfisziert, und damit hatte es sich. »Dieses Gewehr hat dir das Leben gerettet!«, hatte Ketchum Danny angeblafft. »Und es war ein Geschenk, Herrgott noch mal! Wer hat es
konfisziert? Ich schieß ihm die Eier ab!« »Lass gut sein, Ketchum«, sagte Danny. »Ich brauche kein Gewehr, jetzt nicht mehr.« »Du hast doch Fans - und auch das Gegenteil, wie immer man solche Leute nennt -, oder nicht?«, gab Ketchum zu bedenken. »Darunter sind bestimmt ein paar Viecher, da geh ich mit dir jede Wette ein.« Die Frage, die Danny von den amerikanischen wie den kanadischen Medien am häufigsten gestellt wurde, lautete übrigens: »Werden Sie darüber schreiben?« Er hatte sich angewöhnt, auf diese oft gehörte Frage frostig zu reagieren. »Nicht sofort«, sagte Danny immer. »Und wirst du darüber schreiben?«, hatte ihn auch Carmella beim Abendessen gefragt. Statt die Frage zu beantworten, sprach er lieber über das Buch, an dem er gerade schrieb. Er
kam gut voran, ja er schrieb so schnell wie der Wind - die Wörter ließen sich nicht bremsen. Das würde wieder ein langer Roman werden, doch Danny glaubte nicht, dass er fürs Schreiben viel Zeit brauchen würde. Warum es ihm so leichtfiel, wusste er nicht; vom ersten Satz an kam die Geschichte wie von selbst. Er las Carmella den ersten Satz vor. (Später wurde Danny klar, welch ein Narr er gewesen war, als er erwartet hatte, sie damit zu beeindrucken!) »>In dem geschlossenen Restaurant, nach Feierabend, arbeitete der Sohn des verstorbenen Kochs - der einzige noch lebende Angehörige des Maestros - in der dunklen Küche.<« Und aus diesem verrätselten Anfang hatte Danny den Titel des Romans entworfen: Das dunkle Restaurant. Für den Schriftsteller war Carmellas Reaktion so vorhersehbar gewesen wie ihr ganzes Gespräch. »Handelt er von Gamba?«, fragte sie.
Nein, versuchte er ihr zu erklären; der Roman handelte von einem Mann, der im Schatten seines berühmten Vaters stand, eines Meisterkochs, der kürzlich gestorben war und seinen einzigen, bereits über sechzigjährigen Sohn als einsame und unauffällige Seele zurückließ. Auf den Rest der Welt macht dieser Sohn einen leicht zurückgebliebenen Eindruck. Sein Leben lang hat er mit seinem Vater zusammengewohnt, als Sous-Chef in dem Restaurant gearbeitet, das der renommierte Koch berühmt gemacht hat. Der nun auf sich allein gestellte Sohn hat noch nie zuvor seine Rechnungen selbst zahlen, noch kein einziges Mal seine Kleidung selbst kaufen müssen. Auch wenn ihn das Restaurant weiter beschäftigt, vielleicht weil man dem verblichenen Koch nachtrauert, ist der Sohn ohne die väterliche Anleitung als Sous-Chef praktisch nicht zu gebrauchen. Bald würde ihm das Restaurant wohl oder übel kündigen oder ihn zum Tellerwäscher degradieren
müssen. Der Sohn findet jedoch heraus, dass er den Geist des toten Kochs »kontaktieren« kann, indem er nachts in der Küche kocht, was das Zeug hält - aber erst nach Schließung des Restaurants. Und so rackert der Sohn dort nach Feierabend unermüdlich und bringt sich heimlich die Rezepte seines Dads bei - alles, was der Sous-Chef zu lernen versäumt hat, als der große Koch noch am Leben war. Und wenn er ein Rezept zur Zufriedenheit seines Dads gemeistert hat, berät der Geist des verstorbenen Kochs seinen Sohn in praktischeren Fragen - wo er seine Kleidung kaufen, welche Rechnungen er zuerst bezahlen und wie oftund von wem er das Auto warten lassen soll. (Seines Vaters Geist hat, wie der Sohn rasch merkt, manche Dinge vergessen beispielsweise dass sein leicht zurückgebliebener Sohn nie Auto fahren gelernt hat.)
»Gamba ist ein Geist?«, rief Carmella. »Ich hätte den Roman wohl auch Der geistig zurückgebliebene Sous-Chef nennen können«, sagte Danny sarkastisch, »hielt aber Das dunkle Restaurant für einen besseren Titel.« »Secondo, die Leute könnten es für ein Kochbuch halten«, warnte ihn Carmella. Tja, was sollte er dazu sagen? Bestimmt würde niemand Danny Angels neuen Roman für ein Kochbuch halten! Danny erzählte nichts mehr über das Buch; um Carmella zu besänftigen, verriet er ihr, wem er es widmete. »Meinem Vater Dominic Baciagalupo - in memoriam.« Das wäre dann die zweite Widmung für seinen Vater, was die Gesamtzahl der In-memoriamWidmungen auf vier erhöhte. Wie zu erwarten, brach Carmella in Tränen aus. In ihren Tränen lag eine gewisse Geborgenheit, sie waren vertraut und tröstlich; Carmella wirkte fast glücklich, wenn sie weinte, oder wenigstens wurde ihr Unmut über Danny durch ihre
Trauer ein wenig gemildert. Als Danny jetzt im Bett lag, ohne große Hoffnung, einschlafen zu können, fragte er sich, warum er sich so bemüht hatte, Carmella klarzumachen, was er schrieb. Warum hatte er sich so ins Zeug gelegt? Klar, sie hatte danach gefragt, sie hatte sogar behauptet, sie könne es kaum erwarten zu erfahren, worum es in dem nächsten Buch ging! Doch da Danny schon lange Geschichtenerzähler war, wusste er, wie man das Thema wechselt. Während er sich - ganz sachte - in den Schlaf treiben ließ, stellte Danny sich den Sohn (den dilettantischen Sous-Chef) in der Küche nach Feierabend vor, wo ihm der Geist seines Vaters Anweisungen erteilte. So ähnlich wie Ketchum, ehe er lesen lernte, erstellt der Sohn Listen von Wörtern, die er sich nur mühsam merken kann; in dieser Nacht befasst sich der Sohn wie besessen mit Pasta. »Orecchiette«, notiert er sich, »heißt >Ohrchen<. Sie sind
klein und scheibenförmig.« Nach und nach wird der Sous-Chef zum Koch - falls es nicht zu spät ist, falls ihm das Restaurant seines toten Vaters mehr Zeit zum Lernen lässt! »Far-falle«, schreibt der leicht zurückgebliebene Sohn, »heißt >Schmetterlinge<, aber mein Dad nannte sie auch Fliegen, wie die Fliegen, die man sich um den Hals bindet.« Im Halbschlaf war Danny bei dem Kapitel angelangt, wo der Geist des Kochs ein sehr persönliches Wort an seinen Sohn richtet. »Ich wollte unbedingt, dass du heiratest, eigene Kinder hast. Du wärst ein großartiger Vater! Aber dir gefällt die Sorte Frau, die...« Die was?, dachte Danny. Zu dem Personal des verwunschenen Restaurants war eine neue Kellnerin gestoßen; sie ist genau »die Sorte Frau«, vor der der Geist des Kochs seinen Sohn warnen möchte. Doch endlich war der Schriftsteller eingeschlafen; jetzt erst hörte die
Geschichte auf. Die polizeilichen Ermittlungen zur Schießerei in Toronto waren beendet; sogar die vorlautesten Medienrüpel gaben endlich Ruhe. Schließlich lag das Blutbad knapp neun Monate zurück - nicht ganz so lange, wie eine Schwangerschaft dauerte. Nur in Dannys Post wurde die Debatte fortgesetzt - in den Beileidsbriefen und deren Gegenteil, wie auch immer man sie nennen mochte. Danny las zwar jedes einzelne Wort, doch den Brief, auf den er wartete, hatte er weder bekommen, noch rechnete er ernsthaft damit, je wieder von Lady Sky zu hören. Was Danny nicht davon abhielt, von ihr zu träumen - von dem vertikalen rotblonden Schamhaarstreifen, der leuchtend weißen Narbe ihres Kaiserschnitts, den Geschichten hinter ihren Tätowierungen. Der kleine Joe hatte ihr den Namen einer Superheldin gegeben, aber war
Lady Sky tatsächlich eine Kriegerin - oder war sie einmal eine gewesen, in einem früheren Leben? Danny konnte sich nur vorstellen, dass Amy einmal ein ganz anderes Leben geführt hatte. Musste einem nicht etwas widerfahren sein, bevor man nackt aus einem Flugzeug sprang? Und was kann einem noch widerfahren, nachdem man gesprungen ist?, fragte sich Danny. Dass Amy ihm einmal, nach Joes Tod, geschrieben hatte und dass auch sie ein Kind verloren hatte - das war eine der verpassten Anschlüsse des Lebens, nicht wahr? Warum sollte sie ihm je wieder schreiben, da er ihr nie zurückgeschrieben hatte? Doch in der schwindenden Hoffnung, je wieder von Amy zu hören, hatte Danny seine Post gelesen, jeden einzelnen Brief - aber keinen einzigen beantwortet. Danny wusste nicht einmal, was er von ihr hören wollte, doch er konnte sie nicht vergessen.
»Falls du je in Schwierigkeiten steckst, komme ich wieder«, hatte Lady Sky dem kleinen Joe versprochen und den Zweijährigen auf die Stirn geküsst. »In der Zwischenzeit passt du auf deinen Daddy auf.« So viel zu den Versprechen von Engeln, die aus dem Himmel fallen, allerdings musste man fairerweise zugeben, dass Amy ihnen gesagt hatte, sie sei nur »manchmal« ein Engel. Tatsächlich, und das hielt sich in Dannys Träumen besonders hartnäckig, stand Lady Sky nicht immer als Engel zur Verfügung - jedenfalls nicht in jener verschneiten Nacht, als Joe und das wilde Blowjob-Girl bei ihrer Fahrt über den Berthoud-Pass dem blauen Mustang begegneten. »Ich würde dich gern wiedersehen, Amy«, sagte Danny Angel in seinem unruhigen Schlaf laut, doch niemand hörte ihn im Dunkeln - nur die Asche seines Vaters. In dem Drama, das in jener Nacht in dem Hotelzimmer aufgeführt wurde, war für die Asche des Kochs - die in
der Dose mit Arnos' New York Steak Spiee ruhte - offenbar nur eine stumme Rolle vorgesehen. Danny schreckte aus dem Schlaf auf; das frühmorgendliche Licht erschien ihm zu hell. Er dachte, er sei für das Treffen mit Ketchum schon spät dran, doch da irrte er sich. Danny rief Carmella in ihrem Hotelzimmer an. Er war überrascht, wie hellwach sie klang, als hätte sie seinen Anruf erwartet. »Die Badewanne ist viel zu klein, Secondo, aber irgendwie ging es doch«, sagte Carmella. Als er zum Frühstücken nach unten kam, wartete sie in dem riesigen und fast leeren Speisesaal auf ihn. Ketchum hatte recht gehabt, als er vorschlug, sie sollten im September kommen; dem Nordosten der Vereinigten Staaten stand ein Bilderbuchtag bevor. Schon als Danny und Carmella so früh am Morgen The Balsams
verließen, strahlte die Sonne, und der Himmel war von einem leuchtenden und wolkenlosen Blau. Ein paar abgefallene Ahornblätter hinterließen auf der Akers Pond Road rote und gelbe Tupfer. Danny und Carmella hatten im Hotel mitgeteilt, dass sie noch eine zweite Nacht in Dixville Notch bleiben würden. »Vielleicht leistet uns Mr. Ketchum heute zum Abendessen Gesellschaff«, sagte Carmella im Auto zu Danny. »Vielleicht«, antwortete Danny; er bezweifelte, dass Ketchum sich in The Balsams wohl fühlen würde. Das Hotel wirkte überdimensioniert, auf Tagungen ausgerichtet; Ketchum war kein Tagungsmensch. Rasch kamen sie zu dem Schild mit der Aufschrift Reparatur von Kleinmotoren und einem Pfeil, der in eine unauffällige Schotterstraße zeigte. »Ihr findet mich am Ende der Straße.« Mehr hatte Ketchum Danny nicht gesagt, allerdings zeigte kein
Verkehrsschild an, dass es sich um eine Sackgasse handelte. Als Nächstes kam das Schild mit der Warnung (in derselben ordentlichen Schrift) Vorsicht vor dem hund. Doch da waren weder Hund noch Haus oder Autos. Vielleicht sollte das Schild sie auf eine Möglichkeit vorbereiten - dass sie nämlich mit großer Sicherheit auf einen Hund träfen, falls sie der Straße folgten, doch dann wäre es für eine Warnung zu spät. »Ich glaube, ich kenne den Hund«, sagte Danny, um Carmella zu beruhigen. »Er heißt Hero und ist eigentlich kein bissiger Hund, das wäre mir sonst aufgefallen.« Die Straße ging weiter und wurde schmaler, bis sie so schmal wurde, dass man nicht mehr wenden konnte. Vielleicht ist es doch die falsche Straße, dachte Danny. Vielleicht gab es doch noch eine Lost Nation Road, und der verrückte alte Verkäufer in dem Sportgeschäft hatte sie absichtlich falsch informiert;
jedenfalls mochte er Ketchum eindeutig nicht, doch der alte Holzfäller war für viele Leute, selbst für völlig normal wirkende Menschen, schon immer ein rotes Tuch gewesen. »Sieht aus, als ginge es da vorn nicht mehr weiter«, sagte Carmella und stemmte die dicken Hände auf das Armaturenbrett, als wolle sie einen bevorstehenden Aufprall abmildern. Doch der Weg endete auf einer Lichtung, die eher einer Müllkippe glich vielleicht war es aber auch ein Friedhof für herrenlose Pick-ups und Wohnwagen. Viele der Pick-ups waren zerlegt und ausgeschlachtet worden. Überall auf dem Gelände verteilt standen diverse Schuppen und Baracken. Eine davon war eine Blockhütte, die offenbar als Räucherkammer diente; aus den Ritzen drang so viel Qualm, dass die ganze Bude aussah, als würde sie jeden Moment in Flammen aufgehen. Eine kleinere, weniger diffuse Rauchsäule stieg aus dem Ofenrohr eines Wohnwagens auf - ein ehemaliger
Wanigan, wie Danny erkannte. Wahrscheinlich stand in dem Wanigan ein Holzofen. Danny machte den Motor aus und horchte nach dem Hund. (Er hatte vergessen, dass Hero nicht bellte.) Carmella kurbelte das Seitenfenster herunter. »Anscheinend brät Mr. Ketchum etwas«, sagte sie schnuppernd. Da auf einer Wäscheleine zwischen zwei Wohnwagen ein straff gespanntes Bärenfell hing, nahm Danny an, dass der enthäutete Bär in der Räucherkammer war - von »Braten« konnte also keine Rede sein. »Ich kenne einen, der meine Bären für mich zerlegt, wenn ich ihm etwas von dem Fleisch abgebe«, hatte Ketchum Danny erzählt, »aber meistens, besonders wenn es warm ist, räuchere ich den Bären vorher.« Dem strengen Geruch nach zu urteilen wurde da mit Sicherheit ein Bär geräuchert, dachte Danny. Vorsichtig öffnete er die Fahrertür, immer auf
der Hut vor Hero, weil er annahm, der Hund verstünde sich vielleicht als Wächter des Bären. Doch weder aus einer der Hütten noch hinter einem von etlichen Autowracks tauchte ein Hund auf. »Ketchum!«, rief Danny. »Wer will das wissen?«, hörten sie Ketchum rufen, ehe sich die Tür des Wanigan mit dem Ofenrohr öffnete. Rasch stellte Ketchum das Gewehr beiseite. »Ihr seid ja weniger spät dran, als ihr vorher vermutet hattet!«, rief er ihnen freundlich zu. »Schön, Sie wiederzusehen, Carmella«, sagte er dann beinahe galant. »Es ist schön, Sie zu sehen, Mr. Ketchum«, sagte sie. »Kommt doch auf einen Kaffee rein«, forderte Ketchum sie auf. »Und bring Cookies Asche mit, Danny - ich will sehen, in was du sie abgefüllt hast.«
Auch Carmella war auf den Behälter neugierig. Ehe sie den Wanigan betraten, mussten sie an dem stechend riechenden Bärenfell auf der Leine vorbei, und Carmella schaute weg; der Kopf hing noch an dem Pelz, aber mit der Nase nach unten, fast bis auf den Boden, und eine helle Blutblase hatte sich gebildet und war geronnen. Wo das Blut aus den Nasenlöchern getropft war, glich es nun einer an dem Kopf des toten Tieres hängenden Christbaumkugel. »Arnos' New York Steak Spiee«, las Ketchum laut vor, während er die Dose in der Hand hielt. »Tja, eine wirklich gute Wahl. Wenn du keine Einwände hast, Danny, kippe ich die Asche in ein Glasgefäß - den Grund wirst du sehen, wenn wir da sind.« »Nein, keine Einwände«, sagte Danny. Er war sogar erleichtert; er hatte sich nämlich überlegt, dass er die Gewürzdose aus Plastik gern behalten würde.
Ketchum hatte den Kaffee so gemacht, wie man ihn früher in den Wanigans aufkochte. Er hatte Eierschalen, Wasser und gemahlenen Kaffee in eine Röstpfanne gegeben und alles auf dem Holzofen zum Kochen gebracht. Angeblich banden die Eierschalen den Kaffeesatz; man konnte den Kaffee abgießen, und der größte Teil des Satzes blieb in der Pfanne bei den Eierschalen. Der Koch hatte diese Methode als unsinnig verworfen, aber Ketchum machte seinen Kaffee immer noch so. Er war stark und wurde von Ketchum mit Zucker serviert, ob man Zucker haben wollte oder nicht - stark, süß und ein wenig sämig, »wie türkischer Kaffee«, bemerkte Carmella. Sie versuchte krampfhaft, sich nicht in dem Wanigan umzusehen, doch das verblüffende (wenn auch gutorganisierte) Chaos war zu verlockend. Danny, typisch Schriftsteller, stellte sich lieber vor, wo das Faxgerät stand, statt es zu suchen. Doch ihm fiel nebenbei auf, dass das Innere des Wanigan im Grunde nichts
weiter als eine große Küche war, wo ein Bett stand, in dem Ketchum (vermutlich) schlief umgeben von Gewehren, Pfeilen und Bögen und einem Haufen Messern. Danny nahm an, dass es noch andere Waffen gab, die er nicht sah, wenigstens die eine oder andere Handfeuerwaffe, denn der Wanigan fungierte auch als Waffenlager - als rechne Ketchum damit, eines Tages angegriffen zu werden. Fast versteckt zwischen all den Gewehren und Flinten, dort, wo sich der Walker Bluetick wohl am heimischsten fühlte, lag ein mit Zedernspänen gefüllter Leinensack. Carmella stöhnte auf, als sie Hero auf dem Hundebett liegen sah, auch wenn die Wunden des Jagdhundes zwar auffällig, aber nicht besonders schwer waren. Die Klauen des Bären hatten auf seiner weißen, blaugrau gesprenkelten Flanke Spuren hinterlassen. Die Blutung war inzwischen gestillt, und die Wunden an Heros Hüffe waren verschorft, doch der Hund hatte über Nacht in sein Bett
geblutet; er sah aus, als wäre er starr vor Schmerzen. »Ich hatte gar nicht gemerkt, dass Hero ein halbes Ohr fehlte«, sagte Ketchum. »Gestern hat er so geblutet, dass ich dachte, das Ohr wäre noch da. Erst als die Blutung am Ohr nachließ, sah ich, dass es zur Hälfle weg war!« »Meine Güte -«, setzte Carmella an. »Solltest du ihn nicht zum Tierarzt bringen?«, fragte Danny. »Hero ist kein Freund von Tierärzten«, sagte Ketchum. »Auf dem Weg zum Fluss bringen wir Hero bei Sixpack vorbei. Pam hat irgendeine Schmiere, die man bei von Klauen verursachten Wunden aufträgt, und für das Ohr habe ich ein Antibiotikum. Und das geschieht dir recht, nicht wahr, Hero?«, fragte Ketchum den Hund. »Ich hab's dir ja gesagt du warst zu weit vor mir! Dieser Trottelhund hat den Bären gestellt, als ich noch nicht in
Schussweite Carmella.
war!«,
erklärte
Ketchum
Mehr als »Das arme Tier« brachte sie nicht heraus. »Oh, das wird schon wieder - ich gebe ihm einfach von dem Bärenfleisch zu fressen!«, meinte Ketchum. »Wir sollten los«, sagte er zu Danny und nahm die Remington .30-06 Springfield von der Wand; er legte den Karabiner über einen Unterarm und ging in Richtung Wanigantür. »Komm, Hero«, rief er dem Hund zu, der sich von seinem Hundebett aufrappelte und hinter ihm herhumpelte. »Wozu die Waffe? Wie's aussieht, hast du deinen Bären schon«, sagte Danny. »Wirst du schon sehen«, sagte Ketchum nur. »Sie werden doch nichts schießen, oder, Mr. Ketchum?«, fragte ihn Carmella. »Nur wenn da ein Viech ist, das geschossen
werden muss«, antwortete Ketchum. Dann wechselte er das Thema und sagte zu Danny: »Vermutlich hast du noch nie einen kopflosen gehäuteten Bären gesehen. In diesem Zustand gleicht ein Bär einem Menschen. Kein Anblick für Sie, schätze ich«, fügte er, an Carmella gewandt, rasch hinzu. »Bleib!«, sagte Ketchum plötzlich zu Hero, und der Hund blieb neben Carmella stehen, die genauso abrupt anhielt. Wie eine riesige Fledermaus hing der gehäutete Bär in der Räucherkammer über der qualmenden Feuerstelle. Ohne Kopf sah der Bär wirklich wie ein Mensch aus - nicht, dass der Schriftsteller je einen gehäuteten Menschen gesehen hätte. »Verschlägt einem irgendwie den Atem, nicht wahr?«, sagte Ketchum zu dem sprachlosen Danny. Als Ketchum und Danny aus der Räucherkammer kamen, standen Carmella und der Jagdhund wie angewurzelt an genau
derselben Stelle, wo die anderen beiden sie zurückgelassen hatten, als könnte nur ein heftiger Wetterumschwung die Frau und den Hund dazu bewegen, ihren Standort zu überdenken. »Na komm, Hero«, sagte Ketchum, und brav folgte Carmella dem Jagdhund zu dem Pick-up, als hätte der alte Flößer auch mit ihr gesprochen. Ketchum hob Hero auf die Ladefläche des Trucks. »Du musst es Sixpack nachsehen, Danny«, sagte Ketchum, als sie in das Fahrerhaus seines Pick-ups stiegen, wo Carmella in der Mitte mehr als ihren Anteil Platz einnahm. »Pam möchte euch beiden etwas sagen«, fuhr Ketchum fort. »Sixpack ist kein schlechter Mensch und will vermutlich nur sagen, dass es ihr leid tut. Es war ja mein Fehler, dass ich nicht lesen konnte, wie ihr wisst. Ich habe Pam nie vorgeworfen, dass sie Carl erzählt hat, was wirklich mit Indianer-Jane geschehen ist. Es war das Einzige, was sie gegen den Cowboy in der Hand hatte, und er hat sie dazu gebracht,
dass sie es benutzte.« »Ich habe Sixpack auch nie einen Vorwurf gemacht«, sagte Danny. Er versuchte, Carmellas Miene zu deuten, die leicht beleidigt wirkte. In dem Fahrerhaus stank es; vielleicht hatte der Gestank Carmella beleidigt. »Es dauert ohnehin nicht sehr lange - Sixpack muss sich um Hero kümmern«, meinte Ketchum. »Hero erträgt Pams Hunde schon kaum, wenn er nicht so übel zugerichtet ist. Könnte ein interessanter Morgen werden.« Sie verließen die Straße, an der für die Reparatur von Kleinmotoren geworben wurde, doch Danny bezweifelte, dass Ketchum das Schild aufgestellt oder jemals die Kleinmotoren anderer Leute repariert hatte; vielleicht flickte er nur seine eigenen Maschinen, doch Danny fragte nicht. Der Gestank war penetrant; er musste von dem Bären stammen, aber warum war der Bär im Fahrerhaus gewesen? »Wir haben jemanden getroffen, der dich
kennt - einen Verkäufer bei L. L. Cote«, sagte Danny zu Ketchum. »Ach ja? War das ein netter Kerl, oder darf ich annehmen, dass ihr dem einen Arsch begegnet seid, der da arbeitet?« »Ich glaube, genau den haben wir getroffen, Mr. Ketchum«, sagte Carmella. Der grässliche Gestank ließ nicht nach; zweifellos war der Bär im Fahrerhaus gewesen. »Dicker Kerl, hat dauernd Tarnklamotten an dieses Arschloch?«, fragte Ketchum. »Genau der«, bestätigte Danny. Von dem Bärengestank wurde ihm speiübel. »Anscheinend hält er dich für einen Halbindianer.« »Tja, ich hab keine Ahnung, was ich bin - oder jedenfalls, was meine fehlende Hälfte ist!«, donnerte Ketchum. »Ist mir recht, wenn ich Halbindianer bin - oder meinetwegen auch Dreiviertelrothaut! Die Indianer sind hier eine
Lost Nation, ein untergegangenes Volk, was mir auch recht ist!« »Der Bursche glaubt offenbar, dass deine Straße nicht mehr Lost Nation Road heißt«, sagte Danny dem alten Holzarbeiter. »Ich sollte den Kerl häuten und mit meinem Bären räuchern!«, rief Ketchum. »Aber wissen Sie, was?«, fragte er Carmella versöhnlicher. »Was denn, Mr. Ketchum?«, fragte sie verschüchtert zurück. »Der Kerl würde nicht so gut schmecken wie mein Bär!«, grölte Ketchum und lachte. Sie bogen in die Akers Pond Road ein und fuhren in Richtung Highway. Danny hielt das neue Glas mit der Asche seines Dads fest auf dem Schoß; das alte, jetzt leere Plastikgefäß klemmte zwischen seinen Füßen auf dem Boden des Fahrerhauses. Das Glasgefäß war größer, es war von der Asche des Kochs samt der Kräuter-und-Gewürz-Mischung nur zu
zwei Dritteln gefüllt. Auf dem Etikett las Danny, dass es einmal Apfelsaft enthalten hatte. Ketchum fuhr zu dem gepflegten Trailerpark an der Route 26, kurz hinter Errol - dem Campingplatz Saw Dust Alley, wo Six-packPams Trailer stand. Bei Sixpacks Zuhause handelte es sich um zwei miteinander verbundene Wohnwagen, sie standen auf Hohlblocksteinen und waren halb von einem Gemüsegarten umgeben. Ein Zwinger hielt die Hunde aus dem Garten fern, und eine große, mit Scharnieren versehene Klappe von der Sorte, wie sie Katzen gewöhnlich benutzen, erlaubte es Pams Hunden, ungestört vom Zwinger in den Trailer und zurückzulaufen. »Ich hab versucht, Pam klarzumachen, dass selbst ein erwachsener Mensch durch die verdammte Hundeklappe eindringen kann, allerdings schätze ich, dass sich das niemand trauen würde«, sagte Ketchum zu Carmella und Danny. Hero machte einen aggressiven
Eindruck, als Ketchum ihn von der Ladefläche hob. »Lass dir keine krummen Eier wachsen«, riet Ketchum dem Hund. Danny und Carmella hatten die in ihrem Garten kniende Sixpack übersehen. Sie war im Knien fast so groß wie die stehende Carmella. Pam erhob sich - wacklig und auf einen Rechen gestützt. Jetzt erst fiel Danny wieder ein, wie groß sie war - nicht dick, aber mit kräftigen Knochen und fast so hoch aufgeschossen wie Ketchum. »Was macht deine Hüfte?«, fragte Ketchum sie. »Wenn du kniest und dann aufstehst, tut ihr das vermutlich nicht besonders gut.« »Meiner Hüfte geht es besser als deinem armen Köter«, antwortete ihm Sixpack. »Komm her, Hero«, sagte sie zu dem Jagdhund, und er trottete zu ihr. »Hast du den Bären ganz allein erledigt, oder hat es dieses Jägerarschloch irgendwann geschafft, ihm einen Schuss zu verpassen?«
»Das Hundearschloch war zu weit vor mir. Als Hero zu dem Bären kam, war ich noch nicht in Schussweite!«, beklagte sich Ketchum wieder. »Der olle Ketchum ist auch nicht mehr so schnell wie früher, stimmt's, Hero?«, sagte Sixpack zu dem Hund. »Ich hab den verdammten Bären doch erschossen«, meinte Ketchum gereizt. »Kein Scheiß - ist ja wohl klar!«, sagte Pam. »Wenn nicht, war dein Hund jetzt nämlich tot!« »Wegen dem Ohr gebe ich Hero ein Antibiotikum«, sagte Ketchum zu Sixpack. »Ich dachte, du könntest ein bisschen von dieser Schmiere auf seine Risswunden tun.« »Das ist keine Schmiere, sondern Sulfonamid«, korrigierte ihn Sixpack. Die Hunde im Zwinger waren hektisch und aufgeregt die meisten waren
Promenadenmischungen, allerdings sah einer nach einem reinrassigen Deutschen Schäferhund aus. Den hatte sich Hero ausgeguckt, trotz des Zauns zwischen ihnen. »Tut mir leid, dass du jetzt hier sein musst, Danny«, sagte Sixpack-Pam. »Und mir tut leid, welche Rolle ich dabei gespielt habe, auch wenn es schon so lange her ist«, fügte sie hinzu, und dabei sah sie Carmella direkt an. »Ist schon okay«, sagte Danny zu Sixpack. »Es ließ sich wohl nicht verhindern.« »Wir alle haben uns nahestehende Menschen verloren«, fügte Carmella hinzu. »Ich hatte mal ein Auge auf Cookie geworfen«, sagte Sixpack und sah dabei wieder Danny an. »Aber er wollte nichts von mir wissen. Das hat mich wohl unter anderem geärgert.« »Du warst scharf auf Cookie?«, fragte Ketchum. »Wird ja allmählich Zeit, dass ich
das erfahre!« »Ich sag's gar nicht dir - ich sag's ihm!«, sagte Sixpack und zeigte auf Danny. Und dann zu Ketchum: »Und dir sag ich auch nicht, dass es mir leid tut.« Ketchum trat mit seinem Stiefel in den Boden. »Tja, Scheiße, wir kommen später am Vormittag und holen den Hund wieder ab könnte auch Nachmittag werden.« »Ist egal, wann ihr zurückkommt«, entgegnete Pam. »Hero ist bei mir in guten Händen - ich hab nicht vor, mit ihm auf Bärenjagd zu gehen!« »Du kriegst bald etwas Bärenfleisch von mir«, sagte Ketchum mürrisch. »Wenn's dir nicht schmeckt, kannst du's immer noch an die Köter verfüttern.« Bei dem Wort Köter zeigte Ketchum in Richtung Zwinger, worauf ihn Sixpacks Hunde wieder anbellten. »Ist das nicht wieder mal typisch, Ketchum,
dass du mir Ärger mit meinen Nachbarn einbrockst?« Pam wandte sich an Carmella und Danny, als sie fortfuhr: »Könnt ihr euch vorstellen, dass er das einzige Arschloch ist, das meine Hunde regelmäßig zur Raserei bringt?« »Ich kann's mir vorstellen«, sagte Danny lächelnd. »Maul halten, die ganze Bande!«, schrie Sixpack ihre Hunde an; alle hörten auf zu bellen und schlichen sich von dem Zaun weg, bis auf den Schäferhund, der immer noch die Schnauze gegen den Zaun drückte und Hero anstarrte, der zurückstarrte. »Ich an deiner Stelle würde die beiden Kerle voneinander trennen«, sagte Ketchum zu Pam und zeigte dabei auf Hero und den Schäferhund. »Als müsste ich mir das ausgerechnet von dir sagen lassen!«, sagte Sixpack.
»Scheiße«, erwiderte der Holzfäller. »Ich bin im Truck«, sagte er zu Danny. »Bleib!«, befahl er Hero, ohne den Hund anzusehen; wieder erstarrte Carmella zur Salzsäule. Das Alter hatte es mit Sixpack nicht gut gemeint. Sie war so alt wie Ketchum, lief aber immer noch als angsteinflößende Wasserstoffblondine herum. Auf ihrer Oberlippe hatte sie eine Narbe, die Danny unbekannt vorkam. Sehr wahrscheinlich hatte ihr der Cowboy diese neue Narbe verpasst, dachte er. (Auch ihr Hüftschaden ließ sich womöglich auf Carl zurückführen.) Als Ketchum sich in sein Fahrerhaus verzogen und das Radio eingeschaltet hatte, sagte Sixpack zu Danny und Carmella: »Ich liebe Ketchum immer noch, müsst ihr wissen, auch wenn er mir nicht viel verzeiht - und er kann ein abscheuliches Arschloch sein, wenn er einem Fehler vorwirft und die Art, wie man
nun einmal ist.« Danny konnte nur nicken, und Carmella war und blieb eine Salzsäule; es gab eine kurze Pause, ehe Pam fortfuhr: »Rede mit ihm, Danny. Sag ihm, er soll sich nichts antun zunächst mal nicht seiner linken Hand.« »Was ist mit Ketchums linker Hand?«, fragte Danny. »Frag Ketchum«, antwortete Sixpack. »Is nich mein Lieblingsthema. Mich hat er mit dieser linken Hand jedenfalls nie berührt!«, rief sie. Der alte Holzfäller kurbelte auf der Fahrerseite seines Pickups die Scheibe herunter. »Halt um Himmels willen einfach die Klappe, Sixpack, und lass sie gehen!«, schrie er; Pams Hunde fingen wieder an zu bellen. »Dass es dir leidtut, hast du ihnen doch schon gesagt, oder?«, rief Ketchum ihr zu. »Komm, Hero«, sagte Sixpack zu dem Jagdhund. Dann machte sie kehrt und
verschwand im Trailer, gefolgt von dem humpelnden Hero. Es war erst kurz nach sieben Uhr morgens, und kaum waren Danny und Carmella zu Ketchum in den Pick-up gestiegen, hörten Sixpacks Hunde auf zu bellen. Auf der Ladefläche des Pickups lagen fast zwei Festmeter Brennholz; über das Holz hatte Ketchum eine stabil aussehende Plane gebreitet, und unter der Plane lag seine Flinte. Falls jemand dem Pick-up-Truck folgte, würde er das in dem Holzstapel versteckte alte Remington-Repetiergewehr nicht sehen. Doch der Bärenmief im Fahrerhaus ließ sich nicht verstecken. Im Radio lief ein Song von Kris Kristofferson aus den Siebzigern. Danny hatte den Song und den Sänger schon immer gemocht, doch nicht einmal Kris Kristofferson an einem herrlichen Morgen konnte den Schriftsteller von dem penetranten Gestank in Ketchums Truck
ablenken. This could be our last good night together; We may never pass this way again. Als Ketchum den Pick-up auf die Route 16 steuerte, wo nun auf der Fahrerseite des Wagens der Androscoggin River parallel zu ihnen floss, griff Danny über Carmellas Schoß hinweg und machte das Radio aus. »Was hör ich da über deine linke Hand?«, fragte er Ketchum. »Du denkst doch nicht immer noch daran, sie abzuschneiden, oder?« »Scheiße, Danny«, antwortete Ketchum. »Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke.« »Meine Güte, Mr. Ketchum -«, begann Carmella, doch Danny ließ sie nicht ausreden. »Warum die linke Hand, Ketchum?«, fragte Danny. »Du bist doch Rechtshänder, stimmt's?«
»Scheiße, Danny - ich hab deinem Dad versprochen, es dir nie zu erzählen!«, sagte Ketchum. »Auch wenn ich vermute, dass Cookie es wahrscheinlich komplett vergessen hatte.« Danny hielt die Asche des Kochs in beiden Händen und schüttelte sie. »Was sagst du dazu, Paps?«, fragte Danny die stumme Asche. »Dad erhebt keinen Einspruch, Ketchum.« »Scheiße - deiner Mom hab ich's auch versprochen!«, rief Ketchum. Danny fiel ein, was Indianer-Jane ihm erzählt hatte. In der Nacht, als seine Mutter unter dem Eis verschwand, hatte sich Ketchum im Kochhaus ein Hackebeil gegriffen. Er stand einfach in der Küche, die linke Hand auf ein Schneidebrett gelegt, das Hackebeil in der Rechten. »Lass es«, hatte Jane dem Flößer gesagt, doch Ketchum hatte nur immer seine linke Hand auf dem Schneidebrett angestiert und sich womöglich vorgestellt, sie wäre nicht
mehr da. Jane hatte Ketchum dort stehen lassen und sich um Danny und seinen Dad gekümmert. Als Jane später wieder in die Küche kam, war Ketchum weg gewesen. Jane hatte überall nach der linken Hand des Holzfällers gesucht; irgendwo würde sie sie finden, das stand für Jane fest. »Ich wollte nicht, dass du oder dein Vater sie findet«, hatte sie Danny damals gesagt. Manchmal, besonders wenn Ketchum betrunken war, hatte Danny beobachtet, wie er seine linke Hand ansah; so hatte er auch den Gips an seinem rechten Handgelenk betrachtet, nachdem Angel unter die Baumstämme geraten war. Jetzt fuhren sie stumm neben dem Androscoggin her, bis Danny endlich sagte: »Was du meinem Dad oder meiner Mom versprochen hast, ist mir egal, Ketchum. Ich frage mich nur eins: Falls du dich selbst gehasst hast - wenn du dir eine echte Lektion
erteilen oder dich zur Rechenschaff ziehen wolltest -, warum wolltest du dir dann nicht deine gute Hand abschneiden?« »Meine linke Hand ist meine gute Hand!«, rief Ketchum. Carmella räusperte sich, was an dem grässlichen Bärengestank liegen mochte. Ohne den einen oder den anderen Mitfahrer anzusehen, sprach Carmella stattdessen zu dem Armaturenbrett des Trucks - oder vielleicht zu dem stummen Radio - und sagte: »Erzählen Sie uns bitte die Geschichte, Mr. Ketchum.«
15 - Tanzende Elche Dass Ketchum die Geschichte seiner linken Hand zuerst für sich behielt, überraschte Danny nicht. Als sie im Pick-up am Pontook-
Staudamm vorbei die Dummer Pond Road entlangfuhren - und Danny die ihm von damals vertraute Ableitung in die Felder bemerkte -, war klar, dass Ketchum eigene Pläne verfolgte. Die Geschichte, die enthüllte, welche seltsame Logik den alten Holzfäller dazu gebracht hatte, seine linke als seine »gute« Hand zu betrachten, würde warten müssen. Außerdem fiel Danny auf, dass Ketchum an der ehemaligen Holzabfuhrstraße nach Twisted River vorbeirauschte. »Fahren wir aus irgendeinem Grund nach Paris?«, fragte der Schriftsteller. »Nach West Dummer«, korrigierte Ketchum, »oder was davon übrig ist.«
ihn
»Nennt es überhaupt noch jemand West Dummer?«, fragte Danny. »Ja, ich«, antwortete Ketchum. Als sie die neue Brücke über den Phillips Brook überquerten, waren sie auf einmal auf
Dannys altem Schulweg, wenn Indianer-Jane ihn gefahren hatte. Damals war ihm die Fahrt von Twisted River nach Paris schier endlos vorgekommen; jetzt flogen Zeit und Straße dahin, nur nicht der Bärengestank. »Lass dir deswegen keine krummen Eier wachsen, Danny, aber die Paris Manufacturing Company School - das eigentliche Schulhaus steht immer noch«, warnte ihn Ketchum. »Dort verbrachte der junge angehende Schriftsteller einige prägende Jahre - in denen er überwiegend nach Strich und Faden verdroschen wurde«, erläuterte er Carmella, die offenbar Schwierigkeiten hatte, sich die krummen Eier vorzustellen. Wahrscheinlich kämpfte Carmella nur gegen ihre Übelkeit an; von der Kombination aus holpriger Straße und widerwärtigem Mief war ihr wohl schlecht geworden. Danny, dem auf jeden Fall speiübel war, gab sich Mühe, die Bärenhaare zu ignorieren, die im
schlingernden wurden.
Pick-up
herumgewirbelt
Sogar mit einer Knüppelschaltung schaffte es Ketchum, sozusagen nur mit der rechten Hand zu fahren. Sein linker Ellbogen ragte aus dem Fahrerfenster, wobei die Finger seiner linken Hand nur immer kurz und wie zufällig das Lenkrad touchierten, das Ketchum mit der rechten Hand fest umklammert hielt. Jedes Mal, wenn er schalten musste, tastete Ketchums rechte Hand nach dem Knauf an dem langen, gebogenen Schaltknüppel - in der Gegend von Carmellas Knien. Währenddessen übernahm Ketchums linke Hand mit lockerem Griff kurz das Steuer, aber nur gerade die ein, zwei Sekunden, die seine rechte zum Schalten brauchte. Wenn Ketchum Auto fuhr, war das eine recht flüssige Angelegenheit, so natürlich und beiläufig wie das Flattern seines Barts im Fahrtwind. (Wäre das Fahrerfenster nicht offen
gewesen, dachte Danny, hätten er und Carmella sich ganz bestimmt übergeben müssen.) »Warum hast du den Bären nicht auf die Ladefläche gepackt?«, wollte Danny von Ketchum wissen. Der Schriftsteller fragte sich, ob das mit irgendeinem Jagdritual zusammenhing, dass der erlegte Bär im Fahrerhaus des Trucks transportiert worden war. »Ich war doch in Maine, wie du weißt«, sagte Ketchum. »Den Bären hab ich zwar in New Hampshire geschossen, musste dann aber nach Maine ein- und wieder ausfahren. Auf meinen Nummernschildern steht New Hampshire. Wäre der Bär auf der Ladefläche meines Pickups gewesen, hätte mich in Maine irgendein Wildhüter oder Polizist angehalten. Mein Jagdschein gilt nur für New Hampshire«, erklärte Ketchum. »Wo war Hero?«, fragte Danny.
»Hero lag hinten im Pick-up - und blutete heftig«, sagte Ketchum. »Lebende Viecher bluten mehr als tote, weil das Herz noch pumpt«, erklärte er Carmella, die versuchte, ein Würgen zu unterdrücken. »Ich hab den Bären einfach mit deinem Sicherheitsgurt angeschnallt, Danny, und ihm eine Mütze über die Ohren gezogen. Der Kopf von dem Biest saß zwar ein bisschen tief zwischen den Schultern - Bären haben keinen besonders ausgeprägten Hals -, aber vermutlich sahen wir aus wie zwei bärtige Kerle auf einer Spritztour!« Ketchum musste in dem Fahrerhaus größer gewirkt haben als der tote Bär, dachte Danny. Von weitem waren der Bart und die langen Haare des Waldarbeiters genauso schwarz wie der Pelz des Schwarzbären; das Grau darin sah man erst aus der Nähe. Durch die Windschutzscheibe von Ketchums Pick-up, besonders wenn man mit einiger Geschwindigkeit an ihnen vorbeifuhr, hatten
Ketchum und der Bär wahrscheinlich wie zwei junge Männer mit Vollbärten ausgesehen, jünger jedenfalls, als Ketchum tatsächlich war. »Teufel auch, das Blut hab ich vom Sitz gewischt«, sagte der Flößer, als der Truck das Ortsschild von Paris passierte. »Allerdings frage ich mich, wie lange der Mief anhält. Bären stinken echt eklig, stimmt's?« Ketchum schaltete in den ersten Gang runter, wobei er mit der rauhen rechten Hand kurz Carmellas Knie streifte. »Ich will Sie nicht befummeln, Carmella«, sagte er zu ihr. »War nicht meine Idee, dass mein Schaltknüppel zwischen Ihren Beinen steckt! Das nächste Mal setzen wir Danny in die Mitte.« Danny sah sich überall nach dem dampfbetriebenen Sägewerk um, doch vergeblich. Früher hatte man Hartholzabschnitte den Phillips Brook hinunter nach Paris getriftet; die Paris Manufacturing Company aus Paris, Maine, hatte Toboggans
hergestellt, erinnerte sich der Schriftsteller. Aber wo war das alte Sägewerk? Was war aus dem Pferdestall und den Werkzeugläden geworden? Es hatte eine Kantine und eine Herberge gegeben - eine Schlafbaracke für 75 Mann, dachte Danny - und ein (für damalige Verhältnisse) recht elegantes Haus für den Geschäftsführer des Sägewerks. Als Ketchum den Truck anhielt, sah Danny, dass nur noch das Schulgebäude stand. Das Holzfällerlager war verschwunden. »Was ist aus Paris geworden?«, fragte Danny und stieg aus. Er hörte den Phillips Brook; der Bach klang noch genau wie früher. »West Dummer!«, blaffte Ketchum. Er ging zu dem kleinen Hügel, wo die Schlafbaracke gestanden hatte. »Ich weiß auch nicht, warum sie mit dem Abriss bis neunzehnsechsundneunzig gewartet haben und als sie endlich mit den Planierraupen kamen, haben sie hundsmiserable Arbeit
geleistet!«, brüllte der Holzfäller. Er bückte sich, hob einen verrosteten Topf und eine rostige Pfanne auf und schlug sie gegeneinander. Danny folgte ihm, Carmella blieb zurück. »Sie haben es planiert?«, fragte Danny. Er sah jetzt spitze Metallteile, irgendwelche Sägewerksreste, wie Knochenstücke aus der Erde ragen. Der Pferdestall war eingestürzt und nur noch ein Steinhaufen; die Schlafbaracke für 75 Mann war zur Hälfte verbuddelt. Trümmer der Etagenbetten, bei denen man unwillkürlich an Kinderbetten dachte, lagen im niedrigen Kriechwacholder verstreut. Wie ein ausgehöhltes Skelett stand ein alter Waschtisch herum; wo das Waschbecken gewesen war, gab es nur noch ein leeres, rundes Loch. Man sah sogar den rostigen Rumpf einer Lombard-Lok - auf die Seite gekippt, der Dampfkessel durch die ebenso zerstörerische wie sinnlose Kraft der Planierraupe eingedellt. Die Lombard ragte
aus einem Gestrüpp von Himbeerbüschen; sie glich dem geschändeten Kadaver eines Dinosauriers oder einer anderen ausgestorbenen Spezies. »Wenn man einen Ort loswerden will, sollte man ihn abbrennen!«, schimpfte Ketchum. Carmella trottete in einigem Abstand hinter ihnen her und blieb immer wieder stehen, um die Kletten der Seidenpflanzen von ihren Stadtschuhen zu klauben. »Ich wollte, dass du dieses Dreckskaff zuerst siehst, Danny - es ist eine Sünde und eine Schande, dass sie es nicht einmal ordentlich beseitigt haben! In West Dummer waren sie schon immer dümmer als Hundescheiße!«, rief der alte Holzfäller. »Warum steht das Schulhaus noch?«, fragte Danny. (Allein bei der Erinnerung daran, wie ihn die Kinder aus West Dummer gepeinigt hatten, hätte Danny die Paris Manufacturing Company School am liebsten sofort niedergebrannt.)
»Keine Ahnung«, antwortete Ketchum. »Das Schulhaus wird wohl noch irgendwie für Freizeitsport genutzt. Gelegentlich sehe ich hier Skilangläufer - und natürlich andauernd Leute mit Schneemobilen. Ich hab gehört, dass diese Energiearschlöcher überall auf den Bergkämmen diese verfluchten Windmühlen aufstellen wollen. Über hundert Meter hohe Turbinen, die Rotorblätter sind fast fünfzig Meter lang! Um die zu bauen und zu unterhalten, müssen geschotterte Zufahrtsstraßen angelegt werden, zehn Meter breit - was, wie jeder Trottel weiß, heißt, dass sie eine etwa fünfundzwanzig Meter breite Schneise in den Wald schlagen müssen, nur um die Straße zu bauen! Diese Türme machen dann einen Mordskrach und schleudern Unmengen Eis durch die Gegend; wenn es Schnee oder Eisregen oder gefrierenden Nebel gibt, müssen sie die Dinger abschalten. Und wenn das Sauwetter vorbei ist und sie die dämlichen Windmühlen wieder anwerfen,
wird das an den Rotorblättern festgefrorene Eis bis zu zweihundertfünfzig Meter weit geschleudert! Das Eis löst sich in Platten, die ein, zwei Meter lang sind, aber keine zwei Zentimeter dick. Solche Platten können einen Kerl oder einen ganzen Elch glatt durchschneiden! Und dann gibt's obendrauf die roten Blinklichter, als Warnung für die Flugzeuge. Ist wie ein schlechter Witz, dass diese Energiearschlöcher derselbe Haufen hirnrissiger Umweltschützer sind, die früher immer behauptet haben, die Flößerei mache die Flüsse und die Wälder kaputt. Oder es sind die Kinder dieser Scheißumweltschützer!« Plötzlich hörte Ketchum auf zu brüllen, weil er Carmella weinen sah. Sie hatte sich etwas von dem Pick-up entfernt; entweder hatten ihr die Himbeerbüsche den Weg versperrt, oder der Schutt des planierten Holzfällercamps hatte sie aufgehalten. Weil Ketchum sich so lautstark echauffiert hatte, konnte Carmella den Phillips Brook weder gehört noch das Wasser gesehen
haben. Die umgekippte Lombard-Lok, ein für sie beängstigend fremder Anblick, hatte sie offenbar erschreckt. »Bitte, Mr. Ketchum«, sagte Carmella, »könnten wir uns ansehen, wo mein Angelù ums Leben gekommen ist?« »Klar können wir das, Carmella - ich habe Danny nur einen Teil seiner Vergangenheit gezeigt«, sagte der alte Flößer barsch. »Schriftsteller müssen doch ihre Vergangenheit kennen, nicht wahr, Danny?« Mit einer abrupten Handbewegung ging er wieder in die Luft: »Die Kantine, das Haus des Sägewerkschefs - alles plattgemacht! Und hier war irgendwo ein kleiner Friedhof. Sogar über den Friedhof sind sie mit dem Bulldozer drüber!« »Wie ich sehe, haben sie den Apfelgarten stehenlassen«, bemerkte Danny und zeigte auf die wild wuchernden Bäume, um die sich seit Jahren niemand mehr gekümmert hatte.
»Ohne ersichtlichen Grund«, sagte Ketchum, der den Garten keines Blickes würdigte. »Nur die Hirsche fressen diese Äpfel. Ich habe hier 'ne ganze Menge Hirsche erlegt.« (Zweifellos waren in West Dummer sogar die Hirsche dümmer als Hundescheiße, dachte Danny. Vermutlich stand so ein dummer Hirsch einfach rum, fraß Äpfel und wartete darauf, geschossen zu werden.) Sie stiegen wieder in den Pick-up, und Ketchum wendete; diesmal setzte sich Danny in die Mitte, den Schaltknüppel zwischen den Beinen. Carmella kurbelte die Scheibe des Beifahrerfensters herunter und schnappte nach Frischluft. Der Truck hatte in der Sonne gestanden, und es wurde immer wärmer; der Gestank des toten Bären lastete auf ihnen wie eine schwere, übelriechende Decke. Danny hielt die Asche seines Dads auf dem Schoß. (Gern hätte er an der väterlichen Asche geroeben - wer weiß, vielleicht half der Duft von Steakgewürzen ja gegen den Bärengestank
-, doch Danny hielt sich zurück.) Auf der Straße von Paris nach Twisted River bei der Wasserscheide zwischen dem Phillips Brook, der nach Südwesten in den Ammonoosuc und dann in den Connecticut floss, und dem Twisted River, der sich nach Südosten in den Pontook und später in den Androscoggin ergoss - hielt Ketchum seinen übelriechenden Truck erneut an. Er zeigte aus dem Fenster in die Ferne auf etwas, was wie eine lange, flache Wiese aussah. Vielleicht war es im Frühling ein Sumpf, doch im September war es eine trockene Fläche, wo hohe Gräser und ein paar niedrige Kiefern wuchsen und junge Ahornschösslinge Wurzeln schlugen. »Als sie früher den Phillips Brook gestaut haben«, begann der Flößer, »war hier ein Tümpel, doch der Bach wurde schon lange nicht mehr gestaut. Es ist kein Tümpel mehr schon lange nicht mehr -, aber man nennt ihn immer noch Moose-Watch Pond. Beim
Tümpel haben sich früher die Elche versammelt, und die Waldarbeiter kamen, um sie zu beobachten. Jetzt kommen die Elche nachts hierher und tanzen dort, wo der Tümpel war. Und wer von uns noch lebt - das sind nicht mehr viele -, der kommt, um den Elchen beim Tanzen zuzusehen.« »Sie tanzen?«, sagte Danny. »Allerdings. Es ist eine Art Tanz. Ich hab sie gesehen«, sagte der alte Holzfäller. »Und diese Elche, die da tanzen, sind zu jung, um sich noch an die Zeit zu erinnern, als hier ein Tümpel war! Sie wissen's einfach, irgendwie. Die Elche sehen aus, als wollten sie den Tümpel zurückholen«, erzählte Ketchum. »In manchen Nächten komme ich her, um sie tanzen zu sehen. Manchmal überrede ich Sixpack, mich zu begleiten.« Jetzt waren keine Elche da - nicht an einem strahlenden, sonnigen Septembermorgen -, es gab aber keinen Grund, Ketchum nicht zu
glauben, dachte Danny. »Deine Mom war eine gute Tänzerin, Danny - das weißt du doch. Ich schätze, die Rothaut hat's dir erzählt«, sagte Ketchum noch. Als Ketchum weiterfuhr, sagte Carmella nur: »Meine Güte - tanzende Elche!« »Wenn ich in meinem ganzen Leben nichts anderes gesehen hätte als tanzende Elche, wäre ich glücklicher gewesen«, erklärte Ketchum. Danny blickte ihn an; die Tränen des Holzfällers versickerten rasch in seinem Bart, doch Danny hatte sie gesehen. Jetzt kommt die Geschichte mit der linken Hand, ahnte der Schriftsteller. Die bloße Erwähnung von Dannys Mutter - oder dem Tanzen - hatte in Ketchum etwas ausgelöst. Aus der Nähe wirkte der Bart des alten Flößers grauer; Danny konnte den Blick nicht von Ketchum abwenden. Er dachte, Ketchum wolle nach dem Schaltknüppel greifen, als
dessen starke rechte Hand Dannys linkes Knie packte und schmerzhaft drückte. »Was guckst du denn?«, fragte ihn Ketchum schroff. »Ich würde kein Versprechen brechen, das ich deiner Mom oder deinem Dad gegeben habe, aber es ist nun mal eine verdammte Tatsache, dass manche Versprechen, die man in seinem erbärmlichen Leben gibt, einander widersprechen - so wie ich Rosie außerdem noch versprochen habe, dass ich dich immer lieben und mich um dich kümmern würde, falls der Tag käme, wo dein Dad das nicht mehr tun könnte. Ein Tag wie dieser beispielsweise!«, rief Ketchum; nun hielt seine linke Hand das Lenkrad fester und länger als bisher beim Schalten. Schließlich gab seine rechte Pranke Dannys Knie frei - Ketchum fuhr wieder mit rechts. Der linke Ellbogen des Holzfällers ragte aus dem Fenster, als wäre er mit dem Fahrerhaus verwachsen; die inzwischen entspannten Finger von Ketchums linker Hand berührten
das Lenkrad nur beiläufig, als er auf die alte Holzabfuhrstraße nach Twisted River einbog. Sofort wurde die Straße schlechter. In eine Geisterstadt führt kaum Verkehr, und Twisted River lag auch nicht auf dem Weg zu einem anderen Ort; niemand hielt die Abfuhrstraße instand. Das erste Schlagloch, durch das der Truck fuhr, ließ die Klappe des Handschuhfachs aufspringen. Der angenehme Geruch von Gewehröl drang heraus und überlagerte kurz den penetranten Bärenmief. Als Danny die Hand ausstreckte, um die Klappe wieder zu schließen, sah er darin eine große Flasche Aspirin und eine Pistole in einem Schulterholster. »Beides Schmerzmittel«, kommentierte Ketchum beiläufig, als Danny das Handschuhfach zumachte. »Ohne Aspirin und eine Waffe würde ich nie aus dem Haus gehen.« Auf der Ladefläche des Pick-ups, und zwar auf
dem Holzstapel unter der Plane - neben der Remington .30-06 Springfield - lagen, wie Danny wusste, auch noch eine Motorsäge und eine Axt. In einer Scheide über der Sonnenblende auf der Fahrerseite klemmte ein dreißig Zentimeter langes Browning-Messer. »Warum sind Sie immer bewaffnet, Mr. Ketchum?«, fragte Carmella. Vielleicht erwischte sie Ketchum mit dem Wort bewaffnet auf dem falschen Fuß, denn in jener lange zurückliegenden Nacht war er weder bewaffnet noch gewappnet gewesen, als der Koch und dessen Doch-nicht-Cousine Rosie sich auf den zugefrorenen Fluss begaben und auf dem eisigen Parkett einen Squaredance tanzten. Und genau jetzt - in dem nach Bär stinkenden Pick-up - musste Ketchum Rosie vor Augen gehabt haben. Danny bemerkte, dass Ketchums verwilderter Bart schon wieder tränenfeucht war. »Ich habe ... Fehler gemacht«, begann der
Flößer; er sprach stockend, gepresst. »Damit meine ich nicht nur Fehleinschätzungen oder dass ich etwas versprochen habe, was ich nachher nicht halten konnte, sondern echte Aussetzer.« »Du musst die Geschichte nicht erzählen, Ketchum«, sagte Danny, doch der war jetzt nicht mehr zu bremsen. »Liebende sagen einander Dinge - du verstehst schon, Danny -, nur damit der andere ein gutes Gefühl hat, was eine bestimmte Situation angeht, auch wenn die Situation eben nicht gut ist oder die beiden kein gutes Gefühl haben sollten«, fuhr Ketchum fort. »Liebespaare stellen ihre eigenen Regeln auf, als wären diese willkürlichen Regeln so bewährt und zweckmäßig wie die Regeln, an die sich alle anderen zu halten versuchen - wenn du verstehst, was ich meine.« »Eigentlich nicht«, antwortete Danny. Ihm fiel auf, dass die Abfuhrstraße zu dem ehemaligen
Ort Twisted River überschwemmt worden war - vor Jahren schon -, und jetzt war der holprige Fahrweg von Flechten und Moosen überwuchert. Nur die Abzweigung nach links zum Kochhaus - war noch intakt, und die nahm Ketchum. »Mit meiner linken Hand habe ich deine Mom berührt, Danny, nie mit der rechten Hand - mit der ich andere Frauen berührt hatte und noch berühren würde«, sagte Ketchum. »Stopp!«, rief Carmella. (Wenigstens hatte sie nicht »Meine Güte« gesagt, dachte Danny; er wusste, dass Ketchum nicht aufhören würde, nicht jetzt, wo er einmal angefangen hatte.) »Das war die erste Regel - ich war ihr linkshändiger Liebhaber«, erklärte Ketchum. »Für uns beide gehörte meine linke Hand ihr es war Rosies Hand, somit meine wichtigste, meine gute Hand. Es war meine sanftere Hand - die Hand, die am wenigsten wie ich war«, sagte Ketchum. Es war die Hand, die weniger
zugeschlagen hatte, dachte Danny, und ihr linker Zeigefinger hatte nie einen Abzug betätigt. »Verstehe«, sagte Danny. »Stopp, bitte«, flehte Carmella. (War das ein Würgreiz oder weinte sie?, überlegte Danny. Er war nicht auf den Gedanken gekommen, dass Carmella nicht die Geschichte aufhalten wollte, sondern den Pick-up.) »Du sagtest, es gab einen Aussetzer. Was war denn der Fehler?«, fragte Danny den alten Holzarbeiter. Doch jetzt kamen sie auf die Kuppe des Hügels, wo das Kochhaus gestanden hatte. Genau in diesem Moment - in dem rumpelnden, übelkeiterregenden Truck - sahen sie auf einmal das trügerisch ruhige Flussbecken vor sich und unterhalb des Beckens die Flussbiegung, wo Rosie und Angel untergegangen waren. Carmella
schnappte beim Anblick des Wassers hörbar nach Luft. Für Danny war es ein Schock, dass dort nichts zu sehen war - kein einziges Brett des Kochhauses war übriggeblieben -, und was den Blick vom Hügel auf den Ort betraf: Da war kein Ort. »Der Fehler?«, rief Ketchum. »Es gab jedenfalls einen Aussetzer! Wir alle waren besoffen und krakeelten, als wir aufs Eis gingen, Danny - das weißt du doch, oder?« »Ja, Jane hat es mir erzählt«, sagte Danny. »Und ich sagte, das glaub ich zumindest, ich sagte zu Rosie: >Gib mir deine Hand.< Das hab ich zu ihr gesagt, ich schwör's«, erklärte Ketchum. »Aber weil ich betrunken war und Rechtshänder bin, griff ich instinktiv mit der rechten Hand nach ihr. Ich trug deinen Vater, aber er wollte auch auf dem Eis herumschlittern, deshalb setzte ich ihn ab.« Endlich hielt Ketchum den Truck an.
Carmella stieß die Beifahrertür auf und übergab sich in das Gras; die arme Frau würgte immer weiter, während Danny den umgestürzten Schornstein des Kochhauses betrachtete. Wo früher der Pizzaofen gestanden hatte, reichten die Backsteine nur noch höchstens einen Meter hoch. »Aber deine Mutter kannte unsere Regeln«, fuhr Ketchum fort. »Rosie sagte: >Nicht die Hand - das ist die falsche Hand.< Und sie tanzte weg von mir, sie wollte meine rechte Hand nicht nehmen. Dann rutschte dein Vater aus und fiel hin, und ich schob ihn über das Eis - wie einen menschlichen Schlitten -, konnte aber deine Mutter nicht einholen. Ich hab sie nicht festgehalten, Danny, weil ich mit der rechten Hand nach ihr gegriffen hatte - der schlechten. Verstehst du?« »Verstehe«, sagte Danny, »es kommt mir aber wie eine Kleinigkeit vor.« Doch der Schriftsteller sah es plastisch vor sich - wie die
Entfernung zwischen seiner Mom und Ketchum unüberwindlich wurde, erst recht als die Baumstämme aus den Dummer-Teichen flussabwärts rasten und auf das Eis im Flussbecken prallten, wo sie rasch an Fahrt gewannen. Carmella, die kniete, sah aus, als würde sie beten; sie sah auf die Stelle im Fluss, wo ihr geliebter Angelù gestorben war. Die Aussicht auf das Flussbecken hier war bei weitem die beste in Twisted River, weshalb der Koch das Kochhaus dort hatte bauen lassen. »Hack dir nicht die linke Hand ab, Ketchum«, sagte Danny. »Bitte nicht, Mr. Ketchum«, bat Carmella. »Wir werden sehen« war alles, was Ketchum dazu sagte. »Wir werden sehen.« Im Spätherbst des Jahres, in dem er Twisted River in Brand gesetzt hatte, war Ketchum mit einer Hacke und etwas Grassamen dorthin
zurückgekommen. In dem ehemaligen Ort Twisted River säte er nichts, doch wo einst das Kochhaus gestanden hatte - und überall auf dem mit Brandasche bedeckten Hang oberhalb des Flussbeckens -, harkte Ketchum Asche und Erde zusammen und verteilte die Grassamen. Er hatte einen Tag gewählt, für den Regen angesagt war; am nächsten Morgen war der Regen zu Schneeregen geworden, und den ganzen Winter über lagen die Grassamen unter dem Schnee. Im Frühling wuchs dann Gras, und wo früher das Kochhaus gestanden hatte, war jetzt eine Wiese. Nie hatte jemand das Gras gemäht, das hoch war und wogte. Ketchum nahm Carmella am Arm, und gemeinsam gingen sie durch das hohe Gras den Hügel hinunter, dorthin, wo früher die Ortschaft gewesen war. Danny folgte ihnen; er trug die Asche seines Dads und - weil Ketchum darauf bestanden hatte - den Remington-Karabiner. In dem Ort Twisted River stand nichts mehr, sah man von dem
einsamen Wachtposten in der schlammigen Gasse neben dem ehemaligen Tanzsaal ab, der alten Lombard-Dampflok. Der Brand musste so glühend heiß gewesen sein, dass die Lombard dauerhaft geschwärzt war verschont von Rost, aber nicht von Vogelscheiße, doch sonst kohlrabenschwarz. Die stabilen Schlittenkufen waren intakt, doch die Planierraupenketten waren verschwunden vielleicht waren sie als Andenken mitgenommen oder auch vom Feuer verzehrt worden. Wo der Fahrer gesessen hatte - vorn in der Lok, über den Schlittenkufen -, sah das seit langem unberührte Lenkrad aus, als wäre es jederzeit einsatzbereit (falls noch ein Fahrer leben würde, der wüsste, wie man damit lenkte). Wie vom Koch prophezeit, hatte die uralte Lok den Ort überdauert. Ketchum führte Carmella näher zum Flussufer, doch auch an einem so trockenen und sonnigen Septembermorgen kamen sie keine zwei Meter an den Rand des Wassers heran;
das Flussufer war gefährlich glitschig, der Boden ein einziger Morast. Obwohl die Dummer-Teiche nicht mehr gestaut wurden, floss das Wasser oberhalb des Flussbeckens schnell - sogar im Herbst -, und der Twisted River trat häufig über die Ufer. Näher am Fluss spürte Danny den Wind im Gesicht; er kam vom Becken her, als werde er von den Dummer-Teichen flussabwärts geweht. »Wie ich vermutet hatte«, sagte Ketchum. »Wir kommen nicht nahe genug ans Wasser, um Cookies Asche im Fluss zu verstreuen. Der Wind bläst die Asche zurück und uns ins Gesicht.« »Deshalb die Flinte?«, fragte Danny. Ketchum nickte. »Deshalb auch das Glasgefäß«, sagte er. Er nahm Carmellas Hand und wies mit ihrem Zeigefinger in die Ferne. »Nicht ganz auf halber Strecke zum anderen Ufer, aber fast in der Mitte des Flussbeckens da sah ich Ihren Sohn unter die Stämme
rutschen«, erzählte ihr der Flößer. »Ich schwör's, Danny, es war höchstens eine Armlänge von der Stelle entfernt, wo deine Mom durchs Eis brach.« Die drei schauten aufs Wasser hinaus. Am anderen Ufer des Twisted River sahen sie einen Kojoten, der sie beobachtete. »Gib mir den Karabiner, Danny«, sagte Ketchum. Der Kojote schien auffällig durstig zu sein und trank gierig aus dem Fluss; das Tier beobachtete sie immer noch, aber ohne Scheu. Etwas stimmte nicht mit ihm. »Bitte erschießen Sie Ketchum«, bat Carmella.
ihn
nicht,
Mr.
»Wenn er tagsüber nicht vor uns davonläuft, muss er krank sein«, erklärte ihr der Waldarbeiter. Danny reichte ihm den Karabiner. Der Kojote saß am gegenüberliegenden Ufer und beobachtete sie immer teilnahmsloser; es schien fast, als führte das Tier Selbstgespräche.
»Wir sollten heute nichts töten, Mr. Ketchum«, sagte Carmella. Ketchum senkte die Waffe, hob einen Stein auf und warf ihn in Richtung Kojote ins Wasser, doch das Tier zuckte nicht einmal. Es wirkte apathisch. »Das Viech ist eindeutig krank«, stellte Ketchum fest. Der Kojote trank noch einen großen Schluck Wasser, dabei sah er sie nicht einmal mehr an. »Seht nur, wie durstig er ist er stirbt an irgendwas.« »Ist gerade Jagdzeit für Kojoten?«, fragte Danny den alten Holzfäller. »Kojoten darf man immer jagen«, sagte Ketchum. »Sie sind schlimmer als Waldmurmeltiere - sie sind Ungeziefer. Die taugen zu rein gar nichts. Für Kojoten gibt es keine Abschussquote. Vom ersten Januar bis Ende März darf man sie sogar nachts jagen, so dringend will der Staat diese Viecher loswerden.«
Doch Carmella war nicht überzeugt. »Heute will ich nichts sterben sehen«, bekräftigte sie. Ketchum sah, wie sie Kusshände über das Wasser warf, entweder um die Stelle zu segnen, wo ihr Angelù untergegangen war, oder um dem Kojoten ein langes Leben zu wünschen. »Mach deinen Frieden mit dieser Asche, Danny«, sagte der Waldarbeiter. »Du weißt doch, wo du das Glas in den Fluss werfen sollst?« »Ich habe meinen Frieden gemacht«, sagte Danny. Er küsste zum Abschied das Apfelsaftglas mit der Asche des Kochs darin. »Fertig?«, fragte Danny den Schützen. »Wirf einfach«, antwortete Ketchum. Carmella hielt sich beide Ohren zu, und Danny warf das Glas - fast bis in die Mitte des Flussbeckens. Ketchum hob den Karabiner und wartete, bis es wieder an die Wasseroberfläche kam; ein Schuss aus der Remington ließ das
Apfelsaftglas zersplittern und verteilte so Dominic Baciagalupos Asche im Twisted River. Als der Schuss ertönte, duckte sich am anderen Ufer der Kojote, wich aber unbegreiflicherweise nicht von der Stelle. »Du erbärmliches Drecksviech«, rief Ketchum zu dem Tier. »Wenn du nicht genug Verstand hast, um zu fliehen, dann bist du jetzt schon halb tot. - Verzeihung«, sagte der alte Holzfäller leise zu Carmella. Die Flinte Ketchums »zuverlässige alte Repetierbüchse« - funktionierte tadellos. Er schoss dem Kojoten in den Schädel, als das Tier sich wieder vorbeugte, um zu trinken. »Das hätte ich mit Carl machen sollen«, meinte Ketchum, ohne Carmella anzusehen. »Dazu war jederzeit Gelegenheit gewesen. Ich hätte den Cowboy abknallen sollen wie irgendeinen Schädling. Tut mir leid, dass ich es nicht getan habe, Danny.«
»Ist schon okay, Ketchum«, sagte Danny. »Ich habe immer verstanden, warum du ihn nicht einfach töten konntest.« »Aber ich hätte es tun sollen!«, rief der Holzfäller zornig. »Nur meine beschissene Moral hat mich davon abgehalten!« »Moral ist nicht beschissen, Mr. Ketchum«, hob Carmella an, doch als sie den toten Kojoten ansah, sagte sie kein Wort mehr; der Kojote lag reglos am Flussufer, und seine Nasenspitze hing ins fließende Wasser. »Mach's gut, Paps«, sagte Danny zu dem strömenden Fluss. Er wandte sich davon ab und sah hoch zum grasbewachsenen Hügel, auf dem das Kochhaus gestanden hatte - und wo er Indianer-Jane, die Geliebte seines Vaters, für einen Bären gehalten hatte, mit katastrophalen Folgen. »Mach's gut, Cookie!«, rief Ketchum aufs Wasser hinaus.
»Dormi pur«, sang Carmella und bekreuzigte sich; abrupt wandte sie dann dem Fluss, in dem Angel unter den Stämmen verschwunden war, den Rücken zu. »Ich brauche jetzt einen kleinen Vorsprung«, sagte sie zu den beiden Männern und machte sich langsam auf den Rückweg durch das hohe Gras, den Hügel hinauf - ohne sich noch ein einziges Mal umzusehen. »Was hat sie gesungen?«, wollte Ketchum von Danny wissen. Es war aus einer alten Caruso-Aufnahme, erinnerte sich Danny. Quartetto Notturno - ein Wiegenlied aus einer Oper. Danny hatte vergessen, wie die Oper hieß, doch das Wiegenlied hatte Carmella bestimmt dem kleinen Angelù vor dem Einschlafen vorgesungen. »Dormipur«, wiederholte Danny für Ketchum. »>Schlafe rein.<« »Rein?«, wiederholte Ketchum fragend.
»Das heißt vermutlich >Schlaf gut<«, sagte Danny. »Scheiße«, sagte Ketchum dazu nur und trat in den Boden. »Scheiße«, wiederholte er. Die beiden Männer sahen zu, wie Carmella mühsam den Hügel erklomm. Das hohe, wogende Gras reichte ihrer untersetzten, bärenhaften Gestalt bis an die Hüften, und der Wind kam von hinten, vom Fluss, und ließ die Haare von ihrem gesenkten Kopf abstehen. Als Carmella auf der Hügelkuppe ankam, wo das Kochhaus gestanden hatte, beugte sie sich vor und stützte beide Hände auf die Knie. Eine oder zwei Sekunden lang - nicht länger, als Carmella brauchte, um Atem zu schöpfen - sah Danny in ihrem breiten, vornüber gebeugten Körper eine gespenstische Ähnlichkeit mit Indianer-Jane. Es schien, als wäre Jane an den Ort ihres Todes zurückgekehrt, um sich von der Asche des Kochs zu verabschieden. Ketchum hatte das Gesicht zur Sonne erhoben.
Die Augen hielt er geschlossen, bewegte aber die Füße - nur kleine Trippelschrittchen, in keine bestimmte Richtung, als laufe er über treibende Baumstämme. »Sag's noch mal, Danny«, sagte der alte Flößer. »Schlaf gut«, sagte Danny. »Nein, nein - auf Italienisch!«, befahl Ketchum. Er hielt die Augen noch immer geschlossen und bewegte die Füße; Danny wusste, dass der Flößer nur versuchte, nicht unterzugehen. »Dormipur«, sagte Danny. »Scheiße, Angel!«, rief Ketchum. »Ich hab doch gesagt: >Beweg deine Füße, Angel. Du musst die Füße bewegen!< So 'ne Scheiße.« Es war für Sixpack-Pam ein zutiefst verwirrender Morgen gewesen. Sie arbeitete gern früh in ihrem Garten - sogar noch ehe sie
die Hunde fütterte oder Kaffee kochte und so lange ihre Hüffe mitmachte. Zuerst war Ketchum gekommen und hatte auf seine unnachahmliche Art alles durcheinandergebracht, und sie hatte das Sulfonamid auf Heros Wunden getan - alles noch bevor sie ihre eigenen Hunde gefüttert und sich einen Kaffee gemacht hatte. Wegen Ketchums mutwilliger Störung ihres Tagesablaufs und weil sie den armen, übel zugerichteten Hund versorgen musste, schaltete Sixpack den Fernseher ein wenig später als gewöhnlich ein, aber immer noch früh genug. Zum Teil war sie ja selbst schuld, dachte Pam: Schließlich hatte sie darum gebeten, Danny und diese Italienerin zu sehen, die Cookies Geliebte gewesen war - die Ersatz-IndianerJane, wie Sixpack Carmella insgeheim nannte. Pam hatte mit ihnen ihren Frieden machen wollen, doch jetzt war sie hin- und hergerissen. Sie hatte es als Schock
empfunden, dass Danny heute fast dreißig Jahre älter war als sein Vater damals - das heißt, als Sixpack den kleinen Koch zum letzten Mal gesehen hatte. Und jetzt erst, nachdem Pam sich bei Danny und Carmella entschuldigt hatte, wurde ihr klar, dass sie eigentlich von Ketchum Vergebung wollte; auch das war irritierend. Außerdem musste sie weinen, als sie Heros Wunden versorgte, als wären es Ketchums Wunden, die sie vergeblich zu heilen versuchte. In genau diesem verwirrenden Augenblick - auf dem Höhepunkt ihrer bittersten Enttäuschung, wie Sixpack glaubte - schaltete sie den Fernseher ein. Auch die Welt würde sie gleich überwältigen, doch das wusste Sixpack nicht, als sie die Verwüstung sah, die das erste entführte Passagierflugzeug angerichtet hatte; der American-Airlines-Flug Nummer 11 aus Boston war in den Nordturm des World Trade Center gerast, wo das Flugzeug ein klaffendes
Loch in das Hochhaus gerissen und es in Brand gesetzt hatte. »Das muss ein kleines Flugzeug gewesen sein«, sagte jemand im Fernsehen, doch das glaubte Sixpack-Pam nicht. »Sieht das wie ein Loch von einem kleinen Flugzeug aus, Hero?«, fragte Sixpack den verletzten Walker Bluetick. Der stoische Jagdhund ließ Sixpacks Schäferhundrüden nicht aus den Augen, der mit ihm unter dem Küchentisch war, und reagierte nicht auf Pams Frage. (Weil Hero mit Ketchum zusammenlebte, war es für ihn Routine, angesprochen zu werden; der Hund wusste, dass Ketchum keine Reaktion erwartete.) Pam schaute sich weiter die Nachrichten über den Flugzeugabsturz an. Im Fernsehen sah es aus, als wäre es auch in New York ein strahlend sonniger Tag - kein Tag von der Sorte, an dem ein Pilot Probleme mit den Sichtverhältnissen hat, dachte Sixpack.
Sixpack bereute, dass sie zugegeben hatte, sie habe »mal ein Auge auf Cookie geworfen« war das nicht ihre Formulierung gewesen? Pam hätte sich ohrfeigen können, weil sie das innerhalb von Ketchums verminderter Hörweite gesagt hatte. Jedes Mal, wenn sie dachte, mit ihrer Beziehung ginge es bergauf, wenn auch nicht mit Riesenschritten, sagte Sixpack, so kam es ihr vor, genau das Falsche - und wenn nicht sie, dann Ketchum. Sie hatte zahlreiche Männer verlassen oder war von ihnen verlassen worden, doch dass es mit ihr und Ketchum aus war, hatte sie am härtesten getroffen - selbst wenn Sixpack berücksichtigte, dass Carl sie beinahe umgebracht hatte, als sie ihn verließ. Der Hilfssheriff hatte sie nachts auf einem Steg vergewaltigt - auf dem Bootsanleger des Success Pond. Danach hatte ein Paar, das zufällig Zeuge des Vorfalls geworden war, sie in das Androscoggin Valley Hospital nach Berlin gebracht, wo sie sich ein paar Tage lang
erholen konnte. Anschließend hatte Pam im selben Krankenhaus eine Stelle bekommen, die ihr gefiel; sie arbeitete als Putzfrau, vorwiegend nachts, wenn ihre Hunde schliefen. Sich mit den Patienten zu unterhalten war für Pam ein gutes Mittel gegen Selbstmitleid. In kleinen, akkuraten Buchstaben stand auf ihrer Krankenhauskluft das Wort hygiene. Sixpack bezweifelte, dass die Patienten sie für eine Krankenschwester oder Pflegerin hielten, sie glaubte aber, dass sie dennoch für manche ein Trost war - so wie manche Patienten für sie. Sixpack-Pam wusste, dass sie um einen Hüftgelenkersatz nicht herumkam, und wenn ihre Hüfte weh tat, dachte sie jedes Mal daran, wie der Cowboy sie auf dem Bootsanleger gebumst hatte - wie er ihr Gesicht auf eine Bootsklampe gedrückt hatte, daher die Narbe auf ihrer Oberlippe. Doch am schlimmsten war, dass sie Ketchum gesagt hatte, er solle Carl tatsächlich umbringen. Das war besonders
schlimm, weil Sixpack damals nicht gewusst hatte, wie sehr Ketchum schon seit Jahren glaubte, er hätte den Cowboy umbringen sollen. (Und als der Exhilfssheriff Cookie erschoss, nahmen Ketchums Selbstvorwürfe kein Ende.) Pam bereute es auch, dass sie Ketchum je erzählt hatte, was Carl nach jenem fatalen Frontalzusammenstoß auf der Route 11 gemacht hatte - also auf der Straße von Berlin nach Groveton, wo der Highway neben dem Dead River verlief. Zwei nicht angeschnallte Teenager waren frontal auf einen Putentransporter geprallt. Die Puten waren bereits tot; sie waren schon vorher »weiterverarbeitet« worden, wie man das in der Putenzuchtbranche nennt. Der Lkw-Fahrer überlebte, erlitt aber eine Nackenverletzung und verlor kurz das Bewusstsein; als er wieder zu sich kam, sah er die beiden toten Teenager vor sich. Den Jungen, der am Steuer saß, hatte die Lenksäule durchbohrt, und das in den
Beifahrersitz eingeklemmte Mädchen war enthauptet worden. Carl war der erste Polizist am Unfallort und hatte - laut dem Fahrer des Putentransporters - das tote enthauptete Mädchen betatscht. Carl behauptete, der Trucker sei nicht ganz bei Trost, schließlich habe er sich eine Nackenverletzung zugezogen und sei ohnmächtig geworden, und als er wieder zu sich kam, habe er offensichtlich Wahnvorstellungen gehabt. Doch der Cowboy hatte Pam die Wahrheit erzählt. Klar hatte er die Titten des kopflosen Mädchens befummelt, und wennschon - sie war schließlich tot, oder? Worauf Ketchum - nicht zum letzten Mal gesagt hatte: »Ich sollte den Cowboy einfach umbringen.« Zu Hero und ihrem Deutschen Schäferhund sagte Pam jetzt: »Ihr zwei solltet aufhören, euch ständig so anzuglotzen.« Es war kurz nach neun Uhr morgens - genau 18 Minuten
nachdem das erste Passagierflugzeug in den Nordturm geflogen war -, als der zweite entführte Flieger, der ebenfalls in Boston gestartete United-Airlines-Flug Nummer 175, in den Südturm des World Trade Center raste und explodierte. Beide Gebäude standen in Flammen, als Sixpack zu den versammelten Hunden sagte: »Wenn ihr mir erzählt, das war noch ein Kleinflugzeug, dann frag ich euch, was ihr zu eurem Hundefutter getrunken habt.« Hero leckte versuchsweise ein wenig Sulfonamid-Pulver von seinen Kratzwunden, doch der Geschmack brachte den Hund schnell davon ab. »Schmeckt das nicht lecker?«, fragte Pam den Jagdhund. »Leck es ruhig ab, Hero, ich hab noch mehr.« Ganz ohne Vorwarnung - und offenbar von langer Pfote vorbereitet - stürzte sich Hero auf den Schäferhund; unter dem Küchentisch begann eine wüste Keilerei, ehe Sixpack die
Hunde mit der Wasserpistole trennen konnte. Die Pistole hatte sie immer mit Geschirrspülmittel und Zitronensaft gefüllt, und diese Mischung spritzte sie beiden Hunden in die Augen - das war ihnen zuwider. Pam war auf allen vieren unter den Küchentisch zu den Streithähnen gekrochen, und jetzt schmerzte ihre Hüfte, und sie war nicht in der Stimmung, sich Präsident Bush anzuhören, der um 9 Uhr 30 auf dem Bildschirm erschien und sich aus Sarasota, Florida, zu Wort meldete. Sixpack hasste George W. Bush nicht so abgrundtief, wie Ketchum ihn hasste, doch sie hielt den Präsidenten für einen feixenden Hohlkopf und ein unterbelichtetes Papasöhnchen und teilte Ketchums Auffassung, Bush wäre selbst in der kleinsten Krise so nutzlos wie feuchte Kacke. Wenn beispielsweise zwei kleine Hunde aneinandergerieten, behauptete Ketchum, würde Bush die Feuerwehr rufen und sie
bitten, einen Schlauch mitzubringen; dann würde der Präsident in sicherer Entfernung von den kämpfenden Hunden warten, bis die Feuerwehrleute kamen. Am besten an dieser Einschätzung gefiel Pam, dass Ketchum erklärte, der Präsident würde gleich wichtigtuerisch herumlaufen und so tun, als hätte er eine Aufgabe - sobald die Feuerwehrleute mit dem Schlauch eingetroffen waren und vorausgesetzt, es war noch etwas von den Hunden übrig, die sich in der Zwischenzeit vielleicht schon gegenseitig zerfleischt hätten. Getreu diesem Porträt erklärte Präsident Bush im Fernsehen, das Land habe »offenbar einen terroristischen Anschlag« erlitten. »Nein, echt?«, fragte Sixpack den Präsidenten auf dem Bildschirm. Wie es typisch ist für Menschen, die allein leben (die Hunde nicht mitgerechnet), redete Pam mit den Leuten im Fernsehen - als könnten die sie hören, so wie
ihre Hunde. Inzwischen hatte die amerikanische Zivillufffahrtbehörde faa die New Yorker Flughäfen geschlossen, und das Hafenamt von New York und New Jersey hatte sämtliche Brücken und Tunnel in New York und Umgebung sperren lassen. »Worauf warten die blöden Wichser noch?«, fragte Sixpack die Hunde. »Sie sollten alle Flughäfen dichtmachen!« Zehn Minuten später legte die faa den Flugbetrieb auf allen US-Flughäfen still; es war das erste Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten, dass der Luftverkehr landesweit eingestellt wurde. »Habt ihr gesehen?«, sagte Sixpack zu den Hunden. »Anscheinend hört mir jemand zu.« (Wenn auch nicht Ketchum und bestimmt nicht die Hunde.) Sixpack hatte einen sauberen Schwamm in kaltem Wasser getränkt und wusch dem Schäferhund Spülmittel und Zitronensaft aus
den Augen. »Danach bist du dran«, versprach Pam Hero, der sie und den Schäferhund teilnahmslos ansah. Drei Minuten später stürzte der AmericanAirlines-Flug Nummer 77 in das Pentagon, worauf eine riesige Rauchfahne emporstieg; zwei Minuten danach evakuierte man das Weiße Haus. »Ach du dickes Ei!«, sagte Sixpack zu den Hunden. »Sieht immer mehr so aus, als wäre da offenbar ein terroristischer Anschlag im Gange, was meint ihr?« Sie hielt gerade Heros Kopf auf dem Schoß und wusch seine Augen aus, als um 10 Uhr 05 der Südturm des World Trade Center einstürzte. Nachdem der Turm auf die Straßen gekracht war, trieb eine immer größer werdende Wolke aus Staub und Schutt von der Einsturzstelle fort; Menschen rannten durch die Staubschwaden. Fünf Minuten später stürzte ein Teil des Pentagons ein - zum gleichen Zeitpunkt, als
der ebenfalls entführte Flug Nummer 93 der United Airlines im Somerset County, Pennsylvania, südöstlich von Pittsburgh, zu Boden krachte. »Ich frage mich, wohin der wohl unterwegs war, Hero«, sagte Sixpack zu dem Hund. Der Deutsche Schäferhund hatte sich hinter Pams Rücken geschlichen, und Hero wurde unruhig, weil er ihn nicht mehr sah; das wiederum ließ Sixpack aufmerken. Rasch griff sie nach hinten, bekam eine Handvoll Haut mit Fell zu fassen und drückte zu, so fest sie konnte, bis sie den Schäferhund aufjaulen hörte und spürte, wie der Hund sich losriss. »Wehe, du schleichst dich noch mal an mich ran!«, sagte Sixpack, als der Schäferhund sich durch die Hundetür hinaus in den Zwinger verzog. Als Nächstes wurde im Fernsehen bekanntgegeben, dass das Gebäude der Vereinten Nationen geräumt worden war -
ebenso wie das Außenund das Justizministerium sowie die Weltbank. »Wie's aussieht, rennen die ganzen wichtigen Kerle los und bringen sich in Deckung«, sagte Sixpack zu Hero. Der Hund musterte sie misstrauisch, als grüble er über ihr widersprüchliches Verhalten nach: Zuerst streicht sie mir eine eklige gelbe Schmiere auf die Wunden, dann spritzt sie mir dieses beißende, brennende Zeug in die Augen, und am Schluss versucht sie, es wieder abzuwischen - und, ach ja, wo steckt eigentlich dieser hinterhältige Scheißer von einem Schäferhund? »Lass dir keine krummen Eier wachsen, Hero, ich tu dir schon nicht weh«, versprach Pam dem Jagdhund, doch der musterte sie unvermindert misstrauisch. Wer weiß, vielleicht rechnete sich Hero gegen einen Bären bessere Chancen aus. Um 10 Uhr 24 meldete die faa, sämtliche
Transatlantikflüge in die usa seien nach Kanada umgeleitet worden. »Hey, einfach genial!«, sagte Sixpack dem Fernseher. »Den Plan hätte ich vielleicht schon vor Monaten in die Tat umgesetzt! Habt ihr etwa gedacht, die Kerle, die diese ersten beiden Flugzeuge gesteuert haben, stammen aus Boston?« Doch der Fernseher reagierte nicht. Vier Minuten später stürzte der Nordturm des World Trade Center ein; jemand sagte, der Turm scheine sich von oben nach unten zu schälen, als hätte sich eine Hand mit einem Messer an einem langen Gemüse zu schaffen gemacht. »Falls das nicht das Ende der Welt ist, so ist es auf jeden Fall der Anfang von so etwas Ähnlichem«, sagte Sixpack zu den Hunden. (Hero sah sich immer noch überall nach dem bescheuerten Schäferhund um.) Um 10 Uhr 54 räumte Israel alle seine diplomatischen Vertretungen. Sixpack dachte, sie sollte sich das notieren. Ketchum sagte
immer, die Israelis seien die Einzigen, die wussten, was Sache sei; wenn die Israelis alle Botschaften dichtmachten, hieß das, dass die muslimischen Extremisten, diese militanten Islamisten, die entschlossen waren, die Juden auszulöschen, ihren Religionskrieg mit einer Attacke auf die Vereinigten Staaten begannen - denn ohne die usa gäbe es Israel schon lange nicht mehr. In der feigen, sogenannten demokratischen Welt habe nämlich kein anderer Staat den Mumm, für die Israelis einzutreten - jedenfalls sagte das Ketchum, und Sixpack übernahm ihre politischen Ansichten größtenteils von dem libertären alten Holzfäller. (Ketchum bewunderte die Israelis und kaum jemanden sonst.) Sixpack hatte sich oft gefragt, ob Ketchum halb Indianer und halb Jude war, weil er regelmäßig damit drohte, nach Israel auszuwandern. Pam hatte Ketchum mehr als einmal sagen hören: »Vielleicht könnte ich mich nützlicher machen, wenn ich statt auf die
armen Hirsche und Bären auf diese Hamasund Hisbollah-Ärsche schieße!« An jenem Morgen forderte New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani die Einwohner dringend auf, zu Hause zu bleiben; außerdem ordnete er eine Evakuierung der Stadt südlich der Canal Street an. Inzwischen wunderte sich Pam, dass Ketchum und die beiden anderen fast den ganzen Vormittag dafür brauchten, die Asche des kleinen Kochs zu verstreuen. Doch da Sixpack Ketchum kannte, nahm sie an, dass er darauf bestanden hatte, Danny die von ihm so genannte »Zerstörungswut« zu zeigen, mit der man Paris - oder West Dummer, daran hielt Ketchum eisern fest - dem Erdboden gleichgemacht hatte. Und entweder auf der Fahrt nach oder auf dem Rückweg aus Paris würde Ketchum bestimmt anhalten, um eine Scheißlobrede auf die verwirrten, rührenden Elche zu halten, die am Moose-Watch Pond mit ihren mageren Ärschen wackelten.
Es versetzte Pam einen Stich, wenn sie daran dachte, wie selten sie Ketchums regelmäßige Einladungen angenommen hatte, ihn zu seinen nächtlichen Ausflügen zu den tanzenden Elchen zu begleiten. (Sixpack war der Ansicht, dass die Elche nur ziellos »herumtapsten«.) Auch dachte Pam mit Bedauern daran, dass sie nur selten bei einem von Ketchums »Campingausflügen« (wie sie sie nannte) zu dem grasbewachsenen Hügel mitgegangen war, auf dem einmal das Kochhaus gestanden hatte. Sie wusste, für Ketchum war das heiliger Boden, und er mochte nichts lieber, als dort die Nacht zu verbringen. Ketchum stellte einfach ein Zelt auf und schlief in einem Schlafsack, doch sein Schnarchen hielt Pam die halbe Nacht wach, und auf dem harten Untergrund tat ihr ihre Hüfte weh. Außerdem zeltete Ketchum am liebsten dort draußen, wenn es kälter wurde - besonders wenn Schnee gefallen war. Und bei dem kalten Wetter fing Sixpacks Hüfte an zu pochen.
»Du bist es doch, die ihre Hüftgelenksoperation dauernd verschiebt«, gab Ketchum zurück, wenn Sixpack ihm wegen der schmerzenden Hüfte absagte; Sixpack bereute auch, dass sie die Operation immer wieder verschoben hatte. Und wie konnte sie erwarten, dass Ketchum ihre lange zurückliegende Beziehung wiederaufnahm, wenn sie nicht mal mit ihm zelten ging, wenn er sie darum bat? Als sie vorschlug, sich stattdessen in Berlin einen Film anzusehen, hatte Ketchum nur die Augen verdreht. Sixpack wusste, was Ketchum von Filmen und von Berlin hielt. »Lieber bleib ich zu Hause und sehe Hero beim Furzen zu«, sollte das heißen. Sie wollte, dass Ketchum sie heiratete, das wurde ihr auf einmal klar. Aber wie sollte sie das hinkriegen? Kurz nach Mittag, Ketchum und die beiden anderen waren inzwischen schon den
gesamten Vormittag weg (und Pam auf sie und den Rest der Welt außerordentlich sauer), gab die US-Einwanderungsbehörde bekannt, man habe für die amerikanischen Grenzen zu Kanada und Mexiko die höchste Alarmstufe ausgerufen. Ob die Grenzen geschlossen würden, sei aber noch nicht entschieden. »Die Fanatiker sind keine Kanadier!«, schrie Sixpack sinnloserweise die Hunde an. »Die Terroristen sind keine Mexikaner!« Den ganzen Vormittag hatte sie sich zusammengerissen, doch jetzt flippte Sixpack aus. Hero verschwand durch die Hundetür nach draußen in den Zwinger, inzwischen offenbar überzeugt, dass der Schäferhund verglichen mit Pam das kleinere Übel war. Als Ketchum samt Danny und Carmella endlich eintraf und seinen leidgeprüften Hero (»das brave Tier«) mit Pams Hunden (inklusive den tückischen Deutschen Schäferhund) im Außenzwinger sah, zog er
daraus den Schluss, Pam habe seinen verletzten Jagdhund vernachlässigt. »Bestimmt liegt Pam auf der faulen Haut und guckt sich jeden Dreck an, der gerade in der Glotze läuft«, schimpfte der ewig kritische Ketchum. »Hoppla«, sagte Danny zu Carmella und, an Ketchum gewandt: »Du solltest nett zu Sixpack sein, Ketchum. Ich finde sogar, du solltest sie heiraten - oder wenigstens wieder mit ihr zusammenziehen.« »Heiliger Dünnschiss!«, schrie Ketchum und knallte die Fahrertür des Trucks zu. Sofort fingen Pams Hunde wieder an zu bellen, nur Hero blieb stoisch. Sixpack kam aus der Küche durch die Trailertür. »Das Land wird angegriffen!«, kreischte Pam. »Bush fliegt in der Air Force One durch die Gegend - bestimmt versteckt sich der Feigling! Alle Israelis sind nach Hause gegangen, um sich zu verteidigen! Das ist der Anfang vom Ende der Welt!«, schrie
Pam Ketchum an. »Und dir launischem Arschloch fällt nichts Besseres ein, als meine Hunde verrückt zu machen!« »Die heiraten?«, sagte Ketchum zu Danny. »Weshalb sollte ich mit ihr zusammenleben wollen? Kannst du dir vorstellen, jeden Tag zu einer mit einem solchen Dachschaden nach Hause zu kommen?« »Aber es stimmt!«, klagte Sixpack. »Sieh's dir selber an, Ketchum - es ist im Fernsehen!« »Im Fernsehen!«, wiederholte Ketchum und blinzelte Carmella zu, was Sixpack zweifellos den Rest gab. »Wenn's in der Glotze ist, muss es natürlich wahrer sein als fast alles andere.« Doch weder Sixpack noch Ketchum hatten groß darüber nachgedacht, wo sie sich befanden - nämlich in einem ordentlichen, penibel gepflegten Trailerpark, auf dem Campinglatz Saw Dust Alley, wo viele Hausfrauen mit kleinen Kindern wohnten,
dazu einige ältere Männer und Frauen (Rentner oder Arbeitslose) und ein paar Jugendliche, die hinter dem Rücken ihrer berufstätigen Eltern die Schule schwänzten. Aber auch Ketchum ahnte offensichtlich nicht, wie viele Menschen seinen Wortwechsel mit Pam mitgehört hatten, und weder Ketchum noch Sixpack waren darauf vorbereitet, welche Vielzahl unterschiedlicher Ansichten es unter den Bewohnern des Trailerparks gab, die den ganzen Vormittag wie gebannt vor ihren Fernsehgeräten gehockt hatten. Bedachte man, dass die Wände der Trailer hauchdünn waren und viele dieser Leute im Laufe des Tages miteinander über die aktuellen Ereignisse gesprochen hatten, vertraten sie erstaunlich viele verschiedene Meinungen zu dem, was einige für den Auftakt zum Armageddon hielten. Und jetzt war dieser notorische Streithammel grölend in ihre kleine Gemeinschaft geplatzt, und das berühmte Großmaul (denn Ketchum war in Errol
tatsächlich berühmt) schien von den neuesten Nachrichten nichts mitbekommen zu haben. »Hast du denn nichts gehört, Ketchum?«, fragte ihn ein alter Mann. Er ging gebückt, mit einem fast rechtwinkligen Knick im Rücken, die Hosenträger schlabberten um seine knochigen Schultern, die spillerigen Arme ragten aus einem weißen ärmellosen Unterhemd, das er an diesem warmen Septembertag zu einer rot-schwarzen wollenen Jagdhose trug. »Bist du das, Henry?«, fragte ihn der Holzfäller. Ketchum hatte den alten Sägewerker nicht mehr gesehen, seit das Sägewerk in Paris geschlossen war. Henry hielt die linke Hand hoch, an der Daumen und Zeigefinger fehlten. »Klar bin ich's, Ketchum«, sagte er. »Im Nahen Osten herrscht Krieg, der Krieg zwischen Muslimen und Juden- und hier hat er soeben auch angefangen, Ketchum.« »Der hat schon vor langer Zeit angefangen«,
sagte Ketchum dem Sägewerker. »Was ist los?«, fragte er dann Sixpack. »Das versuch ich dir doch dauernd zu sagen!«, schrie Pam. Eine junge Frau mit einem Baby im Arm erklärte Ketchum: »Es ist ein Terroranschlag, kein Flughafen ist mehr sicher. Sie wurden alle geschlossen.« Zwei Jugendliche, Brüder, die gemeinsam die Schule schwänzten, standen barfuß herum; sie trugen Jeans, in der Mittagssonne aber keine Hemden. »Hunderte, vielleicht Tausende von Leuten sind tot«, sagte einer zu Ketchum. »Leute sind aus Wolkenkratzern gesprungen!«, rief der andere. »Der Präsident ist verschollen, keiner weiß, wo er ist!«, sagte eine Frau mit zwei kleinen Kindern. »Na, wenigstens eine gute Nachricht!«, befand
Ketchum. »Bush ist nicht verschwunden, er fliegt nur herum, aus Sicherheitsgründen. Hab ich dir doch gesagt«, warf Sixpack ein. »Vielleicht waren's die Juden - damit wir glauben, die Araber wären's gewesen!«, rief ein junger Mann mit Krücken. »Wenn dein Hirn kaputt ist, helfen auch keine Krücken«, entgegnete Ketchum. »Heiliger Dünnschiss - lass mich mal einen Blick in die Glotze werfen«, sagte er zu Sixpack. (Der ehemalige Flößer, mittlerweile ein eifriger Leser, war wohl der einzige Bewohner Errols, der keinen Fernseher besaß.) Sie folgten Pam in ihre Küche - nicht nur Ketchum und Danny, der Carmella am Arm hielt, sondern auch Henry, der alte Sägewerker mit den Fingerstummeln, und zwei der jungen Mütter. Der
Mann
mit
den
Krücken
war
davongehumpelt. Die beiden Brüder krakeelten draußen in der Nähe des Zwingers. Nachdem sie mit den Hunden ein paar Nettigkeiten ausgetauscht hatten, sagte einer von ihnen: »Sieh dir diesen Köter mit dem einen Ohr an - der war in 'nem Kampf.« »Was für ein Kampf«, sagte der zweite Junge. »Bestimmt mit einer Katze.« »Was für eine Katze!«, meinte der erste Junge anerkennend. In Pams Küchenfernseher war immer und immer wieder der Augenblick zu sehen, als Flug Nummer 175 in den Südturm des World Trade Center krachte - und natürlich der Einsturz des Süd- und dann des Nordturms. »Wie viele Menschen waren in diesen Türmen, wie viele Polizisten und wie viele Feuerwehrleute befanden sich unter den Hochhäusern, als sie einstürzten?«, fragte Ketchum, bekam aber keine Antwort; für solche Statistiken war es noch zu früh.
Um 13 Uhr 04 meldete sich Präsident Bush von dem Luftwaffenstützpunkt Barksdale in Louisiana und versicherte, sämtliche erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen würden ergriffen - einschließlich der Ausrufung der höchsten Alarmstufe für alle amerikanischen Truppen weltweit. »Tja, schon fühlen wir uns alle verdammt viel sicherer!«, sagte Ketchum. »Eins steht fest«, sagte Bush im Fernsehen. »Die Vereinigten Staaten werden diejenigen aufspüren und bestrafen, die für diese feige Tat verantwortlich sind.« »O Mann«, sagte Ketchum. »Klingt für mich, als sollten wir uns als Nächstes davor fürchten.« »Aber sie haben uns angegriffen«, sagte die junge Frau mit dem Kleinkind im Arm. »Müssen wir da nicht mit gleicher Münze heimzahlen?« »Das
sind
Selbstmordattentäter«,
sagte
Ketchum. »Wie zahlt man denen mit gleicher Münze heim?« Um 13 Uhr 48 verließ Präsident Bush an Bord der Air Force One Barksdale und flog zu einem anderen Stützpunkt nach Nebraska. »Noch mehr Herumgefliege«, kommentierte Sixpack. »Wie viele Kriege wird dieser Volldepp anzetteln, was meint ihr?«, fragte Ketchum in die Runde. »Nun mach mal 'n Punkt, Ketchum - er ist der Präsident«, sagte Henry. Ketchum griff nach der verstümmelten Hand des alten Sägewerkers. »Hast du schon mal einen Fehler gemacht, Henry?«, fragte er ihn. »Den einen oder anderen«, antwortete dieser; jeder sah die beiden Stummel. »Tja, dann wart's mal ab, Henry«, sagte Ketchum. »Diese Dumpfbacke im Weißen
Haus ist der Falsche für diesen Job - wart's nur ab, wie viele Fehler dieser Schwanzlutscher machen wird! Solange dieses Häufchen Mäusekot das Sagen hat, wird es noch eine Myriade von Fehlern geben!« »Eine was?«, sagte Sixpack; sie klang verängstigt. »Eine Myriade!«, schrie Ketchum. »Eine unendlich große Menge, zahllose«, erklärte ihr Danny. Sixpack sah elend aus, als hätte man jedes Selbstvertrauen aus ihr herausgeprügelt. »Vielleicht möchtest du heute Nacht gern den Elchen beim Tanzen zusehen«, sagte sie zu Ketchum. »Vielleicht könnten wir beide zusammen mit Danny und Carmella - heute zelten gehen. Oben am Kochhaus wird es eine schöne Nacht werden, und wir beide, Ketchum, könnten noch ein paar zusätzliche Schlafsäcke auftreiben, nicht wahr?«
»Scheiße«, sagte Ketchum. »Wir haben's hier mit einem nicht erklärten Krieg zu tun, und du willst den Elchen beim Tanzen zusehen! Heute Nacht nicht, Sixpack. Außerdem müssen Danny und ich noch ein paar ernste Dinge besprechen. Im The Balsams drüben in Dixville Notch gibt's doch bestimmt eine Bar und eine Glotze, oder?«, fragte er Danny. »Ich will nach Hause«, sagte Carmella. »Ich will zurück nach Boston.« »Heute Nacht nicht«, wiederholte Ketchum. »Die Terroristen haben's nicht auf Boston abgesehen, Carmella. Zwei der Flugzeuge sind in Boston gestartet. Wenn sie Boston angreifen wollten, hätten sie es längst getan.« »Morgen fahre ich dich zurück nach Boston«, sagte Danny zu Carmella; er konnte Sixpack nicht ansehen, die völlig verzweifelt wirkte. »Lass mir den Hund hier - ich kümmer mich um Hero«, sagte Pam zu Ketchum. »Im The
Balsams sind Hunde nicht gestattet - und du solltest dort übernachten, Ketchum, weil du was trinken wirst.« »Solange du zahlst«, sagte Ketchum zu Danny. »Natürlich zahle ich«, sagte Danny. Alle Hunde waren durch die Hundetür in den Trailer gekommen und drängten sich in der Küche. Seit Ketchums »eine Myriade!«- hatte keiner mehr gebrüllt, was die Hunde angesichts der vielen Menschen, die sich in Sixpacks kleiner Küche drängten, ganz konfus machte. »Lass dir keine krummen Eier wachsen, Hero morgen komme ich wieder«, sagte Ketchum zu dem Jagdhund. »Hast du heute nicht Nachtdienst im Krankenhaus?«, fragte er Sixpack. »Den kann ich verschieben«, sagte sie teilnahmslos. »Sie mögen mich im Krankenhaus.«
»Tja, Scheiße - ich mag dich auch«, sagte Ketchum verlegen, doch Sixpack schwieg; sie hatte ihre Chance verpasst, dachte sie. Pam konnte nichts weiter tun, als ihren schmerzenden Körper schützend zwischen die beiden Kinder (die zu einer der jungen Frauen gehörten) und den völlig übergeschnappten Schäferhund zu schieben. Sixpack wusste, dass sie größere Chancen hatte, die Kinder vor dem bissigen Hund zu schützen, als Ketchum zu überreden, wieder mit ihr zusammenzuleben. Der Flößer hatte zwar angeboten, ihre Hüftgelenksoperation zu bezahlen - in diesem piekfeinen Krankenhaus in der Nähe von Dartmouth -, doch Pam hatte den Verdacht, dass Ketchums Großzügigkeit vor allem von seinem schlechten Gewissen herrührte, weil er den Cowboy nicht getötet hatte, und nicht daher, dass er immer noch etwas für sie empfand. »Alle raus. Ich will meine Küche wiederhaben, und zwar sofort«, sagte Sixpack plötzlich. Sie
wollte nicht vor einem Haufen Fremder zusammenbrechen. Alle bis auf eine von Pams Tölen, wie Ketchum sie nannte, marschierten zur Hundetür hinaus, ehe ihnen Sixpack »Ihr nicht« nachrufen konnte. Doch die Hunde waren den Alle-raus-Befehl gewohnt und verschwanden schneller als die beiden Frauen mit ihren Kindern oder der alte Henry, der ehemalige Sägewerker mit den Fingerstummeln. Nur der wahnsinnige Deutsche Schäferhund und Hero ignorierten Pams Kommando und hielten in verschiedenen Ecken der Küche die Stellung; sie hatten ein Macho-Patt erreicht. »Keinen Stress mehr von euch beiden«, sagte Pam zu ihnen, »sonst prügle ich euch windelweich.« Doch sie hatte schon angefangen zu weinen, und ihrer Stimme fehlte das gewohnte Feuer. Die beiden Hunde hatten keine Angst mehr vor ihr; sie spürten, wenn eine andere Kreatur sich geschlagen gab.
Die drei waren bereits unterwegs ins Motel, als Ketchum in dem nach Bär stinkenden Pick-up das Autoradio anmachte; Danny saß wieder in der Mitte und Carmella möglichst nahe an dem offenen Beifahrerfenster. Es war noch nicht 15 Uhr, doch Bürgermeister Giuliani hielt bereits eine Pressekonferenz ab. Als jemand ihn nach der Anzahl der Toten fragte, sagte Giuliani: »Ich glaube, darüber sollten wir nicht spekulieren - es sind mehr, als wir alle ertragen können.« »Das trifft es wohl ziemlich gut«, sagte Danny. »Und du trägst dich mit dem Gedanken, wieder hierherzuziehen - stimmt's?«, fragte Ketchum plötzlich Danny. »Hab ich dich nicht sagen hören, es gäbe für dich eigentlich keinen triftigen Grund mehr, in Kanada zu bleiben, und dass es dich wieder in dein Heimatland zieht? Hast du dich nicht kürzlich mir
gegenüber beklagt, du fühltest dich eigentlich nicht als Kanadier - und schließlich bist du hier geboren, du bist wirklich Amerikaner, oder etwa nicht?« »Wird wohl so sein«, antwortete Danny; ihm war klar, dass er bei Ketchums Befragungen vorsichtig sein musste. »Ich wurde hier geboren, und ich bin Amerikaner. Zwar habe ich die kanadische Staatsbürgerschaft, doch ich bin dadurch nicht Kanadier geworden«, fuhr er energischer fort. »Tja, was wiederum zeigt, wie dumm ich bin ich bin nämlich einer dieser begriffsstutzigen Kerle, die glauben, was sie lesen«, sagte der alte Flößer listig. »Weißt du, Danny, ich mag zwar lange gebraucht haben, um lesen zu lernen, aber heutzutage lese ich ziemlich gut und gar nicht wenig.« »Worauf willst du hinaus, Ketchum?«, fragte ihn Danny.
»Ich dachte, du wärst Schriflsteller«, antwortete Ketchum. »Irgendwo habe ich gelesen, du hieltest Nationalismus für einengend^ Ich glaube, du sagtest so etwas wie, alle Schriftsteller seien >Außenseiter< und du sehest dich als jemanden, der von außen hineinschaut.« »Das habe ich tatsächlich gesagt«, gab Danny zu. »Allerdings war es ein Interview - es gab einen Kontext...« »Scheiß auf den Kontext!«, rief Ketchum. »Wen kümmert's, dass du dich nicht als Kanadier fühlst? Wen juckt's, ob du Amerikaner bist? Als Schriftsteller solltest du Außenseiter sein - du solltest draußen bleiben und von draußen reinschauen.« »Du meinst, ein Exilant«, sagte Danny. »Dein Land geht vor die Hunde - und zwar seit geraumer Zeit«, teilte ihm Ketchum mit. »Du kannst das besser erkennen und besser darüber
schreiben, wenn du in Kanada bleibst - das weiß ich genau.« »Wir wurden angegriffen, Mr. Ketchum«, sagte Carmella leise; sie war nicht mit dem Herzen bei der Sache. »Gehen wir vor die Hunde, weil wir angegriffen wurden?« »Was zählt, ist, wie wir mit dem Anschlag umgehen«, antwortete Ketchum. »Wie wird Bush reagieren? Kommt es nicht vor allem darauf an?«, fragte er Danny, doch der war Ketchums Pessimismus nicht gewachsen. Schon immer hatte Danny die Fähigkeit des ehemaligen Flößers unterschätzt, die Dinge bis zum schlimmstmöglichen Ende zu durchdenken. »Bleib in Kanada«, forderte ihn Ketchum auf. »Wenn du im Ausland lebst, siehst du, was drüben in den ollen usa stimmt und was nicht und zwar klarer und deutlicher.« »Ich weiß, dass du das glaubst«, sagte Danny.
»Die armen Menschen in den Türmen...«, begann Carmella, verstummte aber. Auch Carmella war Ketchums Pessimismus nicht gewachsen. Um vier Uhr nachmittags saßen die drei in der Bar des Hotels The Balsams und sahen fern, als der Sprecher auf cnn sagte, es gebe »ernstzunehmende Hinweise« darauf, dass der saudiarabische Extremist Osama bin Laden, der verdächtigt werde, 1998 die Bombenangriffe auf zwei amerikanische Botschaften koordiniert zu haben, in die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon verwickelt sei - der Sprecher berief sich dabei auf »neue und konkrete« Informationen. Anderthalb Stunden später, nachdem Ketchum vier Bier und drei Schnäpse getrunken hatte und während Danny noch an seinem dritten Bier saß, meldete cnn, laut den US-Behörden könne das in Pennsylvania abgestürzte
Flugzeug drei mögliche Ziele gehabt haben: Camp David, das Weiße Haus oder das Kapitol in Washington. Carmella, die noch an ihrem zweiten Glas Rotwein nippte, sagte: »Ich tippe auf das Weiße Haus.« »Meinst du wirklich, ich sollte Sixpack heiraten?«, wollte Ketchum von Danny wissen. »Versuch doch mal, mit zusammenzuleben«, schlug Danny vor.
ihr
»Tja, das hab ich versucht - ein Mal«, erinnerte ihn Ketchum. »Ich fasse es nicht, dass Sixpack Cookie vögeln wollte! - Oh, Verzeihung!«, fügte er, aus Rücksicht auf Carmella, hinzu. Die drei gingen in den Speisesaal und nahmen ein üppiges Abendessen zu sich. Dass Danny beim Bier blieb, erzürnte Ketchum, doch zusammen mit Carmella leerte er zwei
Flaschen Rotwein, und Carmella zog sich früh zurück. »Es war ein schwieriger Tag für mich«, sagte sie, »doch ich möchte Ihnen dafür danken, Mr. Ketchum, dass Sie mir den Fluss gezeigt haben - und für alles andere.« Carmella nahm an, dass sie Ketchum am Morgen nicht mehr sehen würde, und sie hatte recht; selbst wenn er getrunken hatte, stand Ketchum früh und immer früher auf. Beide Herren boten an, Carmella zu ihrem Zimmer zu begleiten, doch davon wollte sie nichts wissen; sie ließ die zwei im Speisesaal allein, wo Ketchum umgehend die nächste Flasche Rotwein bestellte. »Ich werd dir nicht helfen, sie zu leeren«, teilte Danny ihm mit. »Ich brauche deine Hilfe nicht, Danny«, erwiderte Ketchum. Wenn man, wie Danny, ein Fliegengewicht war und nur Bier trank, hatte man das Problem, keinen Durst mehr zu haben, noch
ehe man sich betrunken fühlte. Doch Danny war entschlossen, sich von Ketchum nicht zu Rotwein verleiten zu lassen. Danny war immer noch der Meinung, der Rotwein habe bei der Ermordung seines Vaters eine Rolle gespielt. An dem Tag, an dem die Asche des Kochs im Twisted River verstreut worden war, wollte Danny nicht das Gedenken an jene schreckliche Nacht mit Füßen treten, in der Carl Dannys Dad umgebracht und Danny alle drei Schuss aus der Winchester Ranger auf ihn abgefeuert hatte. »Du musst dich gehenlassen, Danny«, sagte Ketchum gerade. »Werd kühner.« »Ich bin Biertrinker, Ketchum - bei Rotwein passe ich.« »Herrgott noch mal - ich Schriftsteller!«, sagte Ketchum.
meine
als
»Als Schriftsteller?«, fragte Danny. »Ständig sparst du die düstereren Themen
aus«, sagte ihm Ketchum. »Du hast so eine Art, beim Schreiben das Wesentliche auszusparen und dich in den Randbereichen herumzudrücken.« »Ach ja?«, fragte ihn Danny. »Und ob! Wenn's unangenehm wird, hältst du dich raus«, stellte Ketchum fest. »Du musst deine Nase in die schlimmsten Ecken stecken und dir alles vorstellen, Danny.« Für Danny klang das damals weniger nach einer literarischen Kritik als nach einer Einladung, die Nacht im Fahrerhaus von Ketchums Pick-up zu verbringen - oder in der Räucherkammer bei dem gehäuteten, geräucherten Bären. »Was ist mit dem Bären?«, fragte Danny unvermittelt. »Geht das Feuer in der Räucherkammer nicht aus?« »Och, fürs Erste ist der Bär genug geräuchert, morgen kann ich das Feuer wieder anmachen«,
antwortete ihm Ketchum ungeduldig. »Eine Sache noch - na gut, zwei Sachen. Erstens, in meinen Augen bist du kein Stadtmensch. Ich glaube, das Land ist die richtige Umgebung für dich - als Schriftsteller, meine ich«, sagte Ketchum nun sanfter. »Zweitens - was aber meiner Ansicht nach sogar wichtiger ist kannst du jetzt auf dein Scheißpseudonym verzichten. Ich kann mich durchaus erinnern, dass du einmal vehement gegen einen Künstlernamen warst, und nun ist es, finde ich, an der Zeit, wieder deinen eigenen Namen anzunehmen. Für deinen Vater warst du immer Daniel, und ich habe dich mal sagen hören, Daniel Baciagalupo sei ein guter Name für einen Schriftsteller. Natürlich wirst du für mich Danny bleiben, aber, ich wiederhole, als Schriftsteller solltest du Daniel Baciagalupo sein.« »Ich kann mir denken, was meine Verleger davon halten werden«, meinte Danny. »Sie werden mich daran erinnern, dass Danny
Angel ein berühmter Bestsellerautor ist. Sie werden mir sagen, Ketchum, dass ein unbekannter Schriftsteller namens Daniel Baciagalupo nicht so viele Bücher verkaufen wird.« »Ich sage dir nur, was für dich als Schriftsteller gut ist«, bemerkte Ketchum beinahe lässig. »Mal sehen, ob ich dich richtig verstanden habe«, sagte der Schriftsteller leicht gereizt. »Ich soll mich wieder in Daniel Baciagalupo umbenennen; ich soll in Kanada auf dem Land leben; ich soll mich gehenlassen - sprich, als Schriftsteller kühner sein«, zählte Danny brav auf. »Langsam kapierst du's, glaube ich«, sagte Ketchum. »Hast du sonst noch was zu empfehlen?«, fragte Danny. »So weit ich zurückdenken kann, waren wir
eine Weltmacht im Niedergang«, sagte Ketchum geradeheraus; er meinte es ernst. »Wir sind eine >Lost Nation<,3 Danny. Hör auf, deine Zeit zu verplempern.« Die beiden Männer musterten einander über ihre jeweiligen Gläser hinweg - Danny zwang sich sowohl weiterzutrinken als auch, weiter Ketchum anzusehen. Danny liebte den alten Holzfäller, doch Ketchum hatte ihn gekränkt; darin war er wirklich gut. »Also, ich freue mich darauf, dich Weihnachten zu sehen«, sagte Danny. »Ist ja jetzt nicht mehr lange hin.« »Vielleicht nicht dieses Jahr«, sagte Ketchum. Danny wusste, dass er einen Schlag von Ketchums kräftiger rechter Hand riskierte, dennoch griff er nach dessen linker Hand und drückte sie auf den Tisch. »Lass es - tu's bitte nicht«, sagte Danny, doch Ketchum entzog ihm seine Hand mit Leichtigkeit.
»Mach du nur deinen Job, Danny«, sagte ihm der alte Flößer. »Du machst deinen Job, und ich mach meinen.«
TEIL VI POINTE AU BARIL STATION, ONTARIO, 2005 16 - Lost Nation Seit drei Wintern verbrachte der Schriftsteller Daniel Baciagalupo - der wieder den Namen trug, den ihm der Koch und Cousine Rosie gegeben hatten - die Monate Januar und Februar sowie die ersten beiden Märzwochen auf Turner Island in der Georgian Bay. Die Insel gehörte immer noch Charlotte, Dannys früherer großer Liebe, aber Charlotte und ihre kleine Familie hatten kein Interesse daran,
mitten im Winter den zugefrorenen See zu überqueren oder auf den eiskalten schneebedeckten Felsen herumzuklettern, da zogen sie Los Angeles vor. Danny hatte das Anwesen sogar noch weiter umgebaut - nicht nur gemäß Ketchums Optimierungsvorschlägen. Andy Grant hatte Heizkabel an die Entsorgungsleitungen geklebt, die im Winter benutzt wurden. Dieselben Leitungen waren außerdem mit Spezialfolie isoliert und mit einer eis- und wasserundurchlässigen Membran verkleidet worden. Danny hätte fließend heißes Wasser haben können, wenn er die zur Bucht führende Wasserleitung auf ähnliche Weise beheizt und isoliert hätte, doch dann wäre auf Andy noch viel mehr Arbeit zugekommen - von der Verlegung des Warmwasserboilers ins Haupthaus ganz zu schweigen, damit diese Rohre nicht zufroren. Für Danny war es da leichter, ein Loch in das Eis auf dem See zu hacken und das Wasser mit einem Eimer ins
Haus zu schleppen. Das lief zwar auf eine Menge Hacken und Schleppen hinaus, aber wie Ketchum gesagt hätte -: und wennschon? Es gab nicht nur das Eis zu hacken; es musste auch eine Menge Holz gespalten werden. (Ketchums Motorsäge war dabei eine große Hilfe.) In den zehn Wochen, die Danny sich dort aufhielt, spaltete er das gesamte Brennholz für den darauffolgenden Winter und es blieb noch genug für Charlotte und ihre Familie übrig, für die Sommerabende, an denen es kühl genug war, um ein Feuer zu machen. Neben dem Holzofen im Haupthaus gab es einen mit Propan beheizten Kamin im Schlafzimmer und einen elektrischen Heizkörper im Bad, außerdem hatte Andy Grant die Lücken zwischen den Fußbodenbalken mit Glaswolle isoliert. Das Haupthaus war inzwischen wintertauglich, und in Dannys Schreibschuppen stand ein zweiter
Holzofen, auch wenn es dort keine Wärmedämmung gab; die Hütte war so klein, dass sie keine brauchte, und Danny packte gegen die Außenwände des Schuppens Schnee, der verhinderte, dass der Wind unter das Gebäude blies und den Fußboden auskühlte. Außerdem legte Danny jeden Abend ein paar dicke Holzscheite in den Ofen im Haupthaus, und am nächsten Morgen musste er nur Holz nachlegen und den Rauchabzug ganz öffnen. Dann stapfte er rüber in seinen Schreibschuppen, wo er im Holzofen Feuer machte. Seiner ibm-Schreibmaschine machte er nur ein einziges Zugeständnis: Er deckte sie nachts mit einer Heizdecke ab, weil sonst das Schmiermittel einfrieren würde. Während der Schreibschuppen warm wurde, hackte Danny ein Loch in das Eis auf dem See und trug ein paar Eimer Wasser nach oben ins Haupthaus. Ein Eimer genügte meist, um einen Tag lang auf der Toilette nachzuspülen; ein zweiter
reichte fürs Kochen und den Abwasch. Charlottes übergroße Badewanne fasste leicht vier bis fünf Eimer, einschließlich der zwei, die auf dem Ofen erhitzt (fast zum Kochen gebracht) werden mussten, doch Danny nahm erst gegen Ende des Tages ein Bad. Jeden Morgen ging er zur Arbeit in seinen Schreibschuppen, von dem Anblick der windgebeugten Kiefer inspiriert - dem Bäumchen, das ihn und Ketchum an den Koch erinnert hatte. Danny schrieb täglich bis zum frühen Nachmittag; die wenigen verbleibenden Stunden Tageslicht wollte er für seine Hausarbeiten nutzen. Es gab immer Holz zu spalten, und fast täglich fuhr Danny aufs Festland. Wenn er kaum Müll von der Insel schaffen und nur wenige Einkäufe erledigen musste, machte sich Danny mit Langlaufskiern auf den Weg. Die Skier, Skistöcke und einen kleinen Transportschlitten bewahrte er neben
der Hintertür in Opas unbeheizter Hütte auf (wo es möglicherweise spukte und in der Ketchum und Hero früher gern gewohnt hatten - und wo Charlottes Großvater, der listige Wilderer, unter der Falltür im Boden sein illegal erlegtes Wild versteckt hatte.) Von dem hinteren Steg auf der Insel quer über die Shawanaga Bay zum Festland war es ein Katzensprung und von dort auch nicht viel weiter die South Shore Road entlang bis Pointe au Baril Station. Um den Oberkörper trug Danny ein Gurtgeschirr, und zwischen seinen Schulterblättern hing ein Ring mit einem Karabinerhaken, der das Zugseil mit dem Transportschlitten verband. Wenn er viel Müll nach Pointe au Baril Station schaffen oder größere Einkäufe machen musste, nahm Danny natürlich das Schneemobil oder das Polar-Propellerboot. Andy Grant hatte den Schriftsteller gewarnt, er brauche sein eigenes Schneemobil und ein
Propellerboot. In den Wintermonaten konnte man meistens das Boot benutzen, es sei denn, die Temperatur kletterte über den Gefrierpunkt; dann klebte der Schnee manchmal am Rumpf und das Propellerboot glitt nicht mehr richtig über das schneebedeckte Eis. In diesem Fall kam das Schneemobil zum Einsatz. Doch wenn Danny Anfang Januar auf Charlottes Insel eintraf, war das Fahrwasser vor Pointe au Baril Station meist offen - und in der Seeenge namens Brignall Banks Narrows trieben häufig Eisschollen. Anfang Januar war das PolarPropellerboot unverzichtbar und manchmal dann wieder ab Mitte März. (In manchen Jahren brach die Eisdecke in der Bucht schon sehr früh auf, doch das war eher selten.) Das Propellerboot glitt problemlos über Eis, Schnee und offenes Wasser - und sogar über im Wasser treibende Eisbrocken. Es schaffte 160 km/h, doch so schnell fuhr Danny nie damit. Angetrieben wurde das Boot von einem
Flugzeugmotor und einem einzelnen, am Heck montierten Propeller. Es hatte auch eine beheizbare Kabine, und gegen den Lärm halfen Ohrenschützer. Als es darum ging, Turner Island während dieser zehn kältesten Winterwochen für Danny bewohnbar zu machen, war das Propellerboot die teuerste Neuanschaffung gewesen, doch Andy Grant und der Schriftsteller hatten sich die Kosten geteilt. Andy benutzte es für seine Arbeit, und zwar nicht nur im Dezember, wenn die Bucht allmählich zufror, sondern auch von Mitte März, bis das Eis endgültig verschwand - was meist Ende April der Fall war. Vor Beginn der Schlammperiode verließ Danny die Georgian Bay am liebsten wieder; wenn in der Bucht das Eis brach, war für ihn der Reiz dahin. (Um die Georgian Bay herum gab es fast keinen Schlamm - dazu war die Gegend zu felsig; doch für Daniel Baciagalupo war die Schlammperiode ebenso sehr ein Gemütszustand wie eine erkennbare Jahreszeit
in Neuengland.) Da Charlottes Familie das Schlafzimmer im Haupthaus nur sporadisch als Gästezimmer nutzte, bewahrte Danny einen Teil seiner Winterkleidung das ganze Jahr dort im Schrank auf: die Stiefel, seinen wärmsten Parka, die Thermohose und seine Skimützen. Natürlich waren die Sommerutensilien von Charlotte und ihrer Familie überall - jeden Winter hingen neue Fotos an den Wänden -, aber Dannys Schreibschuppen ließ Charlotte unangetastet. Sie hatte nur ein paar Fotos von Ketchum mit dem Koch und zwei oder drei von Joe gefunden und im Schuppen aufgehängt - vielleicht damit sich Danny zu Hause fühlte, obwohl sie ihm auch so schon das Gefühl gab, auf der Insel herzlich willkommen zu sein. Charlottes französischer Mann war offensichtlich der Koch der Familie, denn er hinterlegte Danny immer Zettel zu allfälligen
neuen Küchengeräten. Danny hinterließ ihm ebenfalls Zettel, und alle Jahre wieder tauschten sie Geschenke aus - Kleinigkeiten für die Küche und diverses Kochzubehör. Die erst kürzlich renovierten Schlafhütten - wo Charlotte, ihr Mann und die Kinder im Sommer übernachteten - waren für Danny im Winter selbstverständlich tabu. Diese Unterkünfte blieben verschlossen, Strom und Propan waren abgestellt und die Rohrleitungen geleert worden. Doch jeden Winter spähte Danny mindestens einmal durch die Fenster auf einer privaten Familieninsel in der Shawanaga Bay waren Vorhänge überflüssig. Der Schriftsteller wollte nur einen Blick auf die neuen Fotos an den Wänden werfen und sehen, welche neuen Bücher und Spielzeuge die Kinder bekommen hatten; damit verletzte er doch sicher nicht ihre Privatsphäre, oder? Und aus dieser winterlichen und distanzierten Perspektive machte Charlottes Familie auf Danny Baciagalupo einen glücklichen
Eindruck. Inzwischen hatten die Zettel, die er mit dem Regisseur austauschte, Charlottes immer spärlichere Anrufe von der Westküste fast ganz ersetzt, und im September verließ Danny immer noch Toronto, weil er wusste, dass Charlotte und ihr Mann dann zum Filmfestival in der Stadt waren. Ketchum hatte dem Schriftsteller geraten, auf dem Land zu leben. Für den alten Flößer war Danny kein Stadtmensch gewesen. Nun, gerade mal zehn Wochen auf Turner Island konnte man eigentlich nicht auf dem Land leben nennen; auch wenn Danny mittlerweile viel auf Reisen war, wohnte er dennoch den größten Teil des Jahres in Toronto. Aber von Anfang Januar bis Mitte März waren die einsame Insel in der Shawanaga Bay und der Ort Pointe au Baril Station sehr isoliert. (Wie Ketchum es ausdrückte: »Bei Schnee fallen einem die Birken besonders auf.«) Im Winter lebten in
Pointe au Baril gerade einmal 200 Menschen. Kennedy's, wo es Lebensmittel und Haushaltswaren zu kaufen gab, hatte in den Wintermonaten unter der Woche meist geöffnet. Draußen an der Route 69 gab es das Restaurant The Haven, wo Alkohol ausgeschenkt wurde und ein Billardtisch stand. Im Haven hatte man ein Faible für Weihnachtskränze, und man stellte Weihnachtsmänner zuhauf zur Schau außerdem einen Barsch mit roter Zipfelmütze. Während die Schneemobilfahrer am liebsten Chicken Wings, Zwiebelringe und Pommes aßen, hielt sich Danny bei seinen seltenen Besuchen dort an die Sandwiches mit Schinken, Salat und Tomaten und an den Coleslaw. Auch Larry's Tavern lag außerhalb an der Route 69 - Danny und Ketchum hatten dort bei ihren Jagdausflügen in der Gegend um Bayfield und Pointe au Baril übernachtet -,
allerdings kursierte ein Gerücht, wonach Larry's demnächst weichen müsse, um Platz für den neuen Highway zu machen. Die Route 69 wurde ständig verbreitert, doch noch war die Shell-Tankstelle in Betrieb; angeblich konnte man in Pointe au Baril nur an der Shell-Tankstelle Pornohefte kaufen. (Keine besonders guten, wenn man Ketchum Glauben schenkte.) In dieser Jahreszeit konnte es dort durchaus trist sein, und es gab kaum Gesprächsthemen, sah man von der alljährlichen Feststellung ab, dass das Hauptfahrwasser nie mehr als ein, zwei Wochen lang zufror. Und den ganzen Winter ergingen sich Buschtelefon und Lokalnachrichten in grausigen Einzelheiten der zahlreichen Verkehrsunfälle auf der Route 69. In diesem Winter hatte sich schon eine Massenkarambolage mit fünf Autos ereignet, genau an der Kreuzung mit der Go Home Lake Road oder unweit von Little Go Home Bay Danny konnte die beiden nie
auseinanderhalten. (Die Ortsansässigen, die das ganze Jahr hier lebten und nicht wussten, dass er ein berühmter Autor war, hielten Danny Baciagalupo einfach für irgendeinen beknackten Amerikaner.) Natürlich herrschte in dem Schnaps- und Weinladen an der Route 69, gegenüber dem Laden für Angelzubehör, immer Betrieb, genau wie in der Krankenstation von Pointe au Baril. Dort hatte kürzlich der Fahrer eines Krankenwagens Danny angehalten, der mit seinem Schneemobil unterwegs war, und ihm von dem Schneemobilfahrer erzählt, der in der Shawanaga Bay durch die Eisdecke gebrochen war. »Ist er ertrunken?«, fragte Danny den Mann. »Man hat ihn noch nicht gefunden«, antwortete der Krankenwagenfahrer. Vielleicht würden sie den Schneemobilfahrer erst finden, wenn irgendwann Mitte April die
Eisdecke aufbrach, dachte Danny. Laut dem Krankenwagenfahrer hatte es in Honey Harbour auch »ein Prachtexemplar von einem Frontalzusammenstoß« gegeben sowie einen angeblich »blitzsauberen Auffahrunfall« in der Nähe von Port Severn. Das Landleben im Winter war eine harte Angelegenheit: vom Schnee verschleiert, von Alkohol angetrieben, gewalttätig und hektisch. Diese zehn Wochen, die Danny in der Nähe von Pointe au Baril Station verbrachte, waren eine geballte Ladung Landleben; Ketchum hätte das vielleicht nicht genügt, doch für Danny reichte es aus. Für den Schriftsteller waren diese zehn Wochen genau die erforderliche Dosis Landleben - egal, ob Ketchum dies hätte gelten lassen oder nicht. Das dunkle Restaurant, der achte und letzte Roman von »Danny Angel«, erschien 2002, sieben Jahre nach Baby auf der Straße. Was Danny Ketchum prophezeit hatte, traf
weitgehend ein - seine Verleger beklagten sich nämlich, von dem Buch eines unbekannten Schriftstellers namens Daniel Baciagalupo ließen sich unmöglich so viele Exemplare verkaufen wie von einem neuen Roman Danny Angels. Doch Danny machte seinen Verlegern klar, dass Das dunkle Restaurant das allerletzte Buch sei, das er unter dem Namen Angel veröffentlichen werde. Auch nannte er sich von da an in allen Interviews nur noch Daniel Baciagalupo; immer und immer wieder erzählte er die Geschichte der Umstände, die ihn als jungen Mann und angehenden Schriftsteller gezwungen hatten, ein Pseudonym anzunehmen. Es war weder ein Geheimnis gewesen, dass es sich bei Danny Angel um einen Künstlernamen handelte, noch, dass der Autor eigentlich Daniel Baciagalupo hieß - das Warum war das Geheimnis gewesen.
Der Unfalltod des Sohnes des Bestsellerautors - von der Ermordung seines Vaters und den anschließenden tödlichen Schüssen auf dessen Mörder ganz zu schweigen - hatte Schlagzeilen gemacht. Danny hätte darauf bestehen können, dass Das dunkle Restaurant Daniel Baciagalupos Erstlingsroman wurde; seine Verleger hätten zähneknirschend eingewilligt, Klagen hin oder her. Aber Danny reichte es, dass sein nächster Roman (sein neunter) Daniel Baciagalupos erster war. Das dunkle Restaurant wurde wohlwollend aufgenommen und überwiegend positiv besprochen - man lobte den Autor für seine heutzutage nachgerade seltene »Zurückhaltung«. Vielleicht störte den Schriftsteller das überstrapazierte Wort Zurückhaltung, auch wenn es lobend gemeint war. Was Ketchum von Das dunkle Restaurant hielt, würde Danny nie erfahren, doch Zurückhaltung hatte in Ketchums Wortschatz nie eine tragende Rolle gespielt -
jedenfalls nicht in der Kategorie von ihm bewunderter Tugenden. Hätte Danny Angels letzter Roman Ketchums Forderung erfüllt, Danny solle sich gehenlassen, sprich: als Schriftsteller kühner sein? (Danny glaubte das offenbar nicht.) »Ständig sparst du die düstereren Themen aus«, hatte Ketchum zu ihm gesagt. Hieß das im Falle von Das dunkle Restaurant möglicherweise, dass es Danny wieder geschafft hatte, sich bei der Beschreibung des sanften Sous-Chefs und seiner nächtlichen Bemühungen, sich selbst die Fähigkeiten seines illustren Vaters beizubringen, erneut »in den Randbereichen herumzudrücken«, wie es Ketchum so wenig freundlich formuliert hatte? (Danny war offenbar dieser Ansicht; denn hätte er sonst nicht stolz den Namen Daniel Baciagalupo auf den neuen Roman gesetzt?) »Sein subtilstes Werk«, hatte ein Rezensent begeistert über Das dunkle Restaurant
geschrieben. In Ketchums unsubtilem Wortschatz tauchte das Wort subtil nie als Lob auf. »Sein symbolträchtigster Roman«, hatte ein anderer Kritiker kommentiert. Es ließ sich natürlich unmöglich herausfinden, wie Ketchum das Wort symbolträchtig kommentiert hätte, aber für den Schriftsteller stand fest, was der furchtlose Flößer gedacht hätte: Symbolismus, Subtilität und Zurückhaltung konnten nur bedeuten, dass Danny sich raushielt, »wenn's unangenehm wird«, wofür ihn Ketchum bereits kritisiert hatte. Und hätte Ketchum Dannys Antwort auf die politischen Fragen gefallen, die ihm während der Presse- und Lesereisen für Das dunkle Restaurant immer wieder gestellt wurden? (2005 musste er immer noch politische Fragen beantworten - und einige Presse- und Lesereisen ins Ausland für die Übersetzungen
von Das dunkle Restaurant standen erst noch an.) »Ja, das ist wahr - ich wohne weiterhin in Kanada und werde hier wohnen bleiben«, hatte Danny gesagt, »auch wenn der Grund dafür, dass ich die Vereinigten Staaten verlassen habe, ausgeräumt wurde, wie es ein alter Freund meiner Familie einmal formuliert hat.« (Das war natürlich Ketchum gewesen, der im Zusammenhang mit dem verblichenen Cowboy mehr als einmal den Begriff ausgeräumt benutzt hatte.) »Nein, es ist nicht wahr, dass ich, wie Sie sagen, >aus politischen Gründen< nicht in den usa lebe«, hatte Danny immer wieder erklärt, »und ich habe nicht die Absicht - nur weil ich in Kanada lebe und kanadischer Staatsbürger bin -, nicht mehr über Amerikaner zu schreiben oder über meiner Ansicht nach typisch amerikanisches Verhalten. Man könnte sogar argumentieren, dass ich im Ausland lebe
- zumal in Kanada, das direkt an die usa grenzt -, ermöglicht es mir, Amerika deutlicher zu sehen oder zumindest aus einer etwas weniger amerikanischen Perspektive.« (Bestimmt hätte Ketchum die Quellen des Schriftstellers für diese Antwort erkannt, auch wenn der kämpferische Holzfäller nicht zwangsläufig damit einverstanden gewesen wäre, wie diplomatisch Danny meist mit den Fragen umging, die sich um seine politische Opposition zu seinem Geburtsland drehten.) »Das lässt sich noch nicht sagen«, antwortete der Schriftsteller immer auf die Frage, wie sich die Anschläge vom n. September und Präsident Bushs Vergeltung für diese Anschläge auf die Vereinigten Staaten ausgewirkt hätten; auf die Frage, wie sich die Kriege in Afghanistan und im Irak entwickelten; auf die Frage, ob Kanada in eine Rezession oder eine Depression mit hineingezogen würde. (Denn die usa würden doch rasch in eine, oder in beide,
hineinrutschen, nicht wahr? Darauf wollten kanadische Journalisten in der Regel hinaus.) Es war beinahe vier Jahre her, seit Ketchum die usa als »eine Weltmacht im Niedergang« bezeichnet hatte. Als was würde der alte Flößer sie nun bezeichnen? In Kanada kriegte Danny immer politischere Fragen zu hören. Kürzlich hatte ein Journalist des Toronto Star ihn förmlich mit politischen Fragen bombardiert. Traf es nicht zu, dass die Vereinigten Staaten »militärisch maßlos überfordert« waren? Hatte sich die Bundesregierung nicht eine »gewaltige Schuldenlast aufgebürdet«? Und würde der Schriftsteller gern etwas zu Amerikas »aggressiver kriegstreiberischer Natur« sagen? War die »ehemalige Heimat« des Bestsellerautors, wie der kanadische Journalist die Vereinigten Staaten nannte, nicht ein Land »auf dem absteigenden Ast« ? Wie lange noch, fragte sich Danny, würden die
Antworten auf diese und andere Unterstellungen in die Kategorie »Das lässt sich noch nicht sagen« fallen? Er wusste, dass er mit dieser Antwort nicht ewig durchkommen würde. »Ich brauche Zeit, um etwas zu verarbeiten - als Schriftsteller, meine ich«, leitete Danny seine Ausführungen gern ein. »Außerdem schreibe ich Literatur - und das heißt, dass ich nie über die Anschläge vom n. September schreiben werde, allerdings werde ich diese Ereignisse möglicherweise einmal verwenden, wenn sie schon eine Weile zurückliegen, und dann nur im Kontext einer von mir selbst erdachten Geschichte.« (Auf dieses ebenso ausweichend wie vage formulierte schriftstellerische Manifest hätte Ketchum vielleicht mit einem Kraftausdruck aus der Kategorie »Haufenweise Elchscheiße« reagiert.) Schließlich hatte Danny zu Protokoll gegeben, dass es sich bei der US-Präsidentschaftswahl des Jahres 2000 - die Bush von Gore
»gestohlen« hatte - tatsächlich um »Diebstahl« handelte. Und wie hätte der Schriftsteller nicht zu der Neuauflage 2004 Stellung beziehen können, als Bush John Kerry mit einer fragwürdigen Taktik und aus den schlimmsten denkbaren Gründen geschlagen hatte? Dannys Ansicht nach war John Kerry ein zweifacher Held - zuerst im Vietnamkrieg, später wegen seiner Proteste dagegen. Doch Kerry habe das Missfallen von Amerikas großmäuligen Patrioten erregt, die entweder dumm oder stur genug seien, um diesen schauderhaften Krieg immer noch zu verteidigen. Den Medien hatte Danny gesagt, er müsse im Zusammenhang mit seinem früheren Heimatland gelegentlich an Samuel Johnsons vielzitierten und von ihm selbst hochgeschätzten Satz »Patriotismus ist die letzte Zuflucht eines Schurken« denken. Bedauerlicherweise hatte er es nicht dabei belassen. Gelegentlich hatte sich der Schriftsteller dazu hinreißen lassen, zu sagen -
wobei er wie Ketchum geklungen hatte -, was die Wahl 2004 anginge, sei nicht nur George W. Bush der Schurke, sondern jeder amerikanische Wähler, der »dümmer als Hundescheiße war«, John Kerry sei nicht Patriot genug, um Präsident der usa zu werden. Diese Bemerkungen wurden gern zitiert - vor allem das mit den »großmäuligen Patrioten« und natürlich »dümmer als Hundescheiße«. Es stimmte, der Schriftsteller Daniel Baciagalupo hatte unter dem Pseudonym Danny Angel acht Romane verfasst und veröffentlicht, und Danny und sein Vater waren aus den Vereinigten Staaten geflohen und nach Kanada ausgewandert - um einem Wahnsinnigen zu entkommen, der sie beide umbringen wollte, einem irren Excop, der am Ende tatsächlich Dannys Dad umgebracht hatte. Doch für den größten Teil der Welt sah es so aus, als habe sich Daniel Baciagalupo aus politischen Gründen entschlossen, in Kanada zu bleiben.
Danny wiederum war die ständigen Dementis allmählich leid; außerdem war es einfacher, sich wie Ketchum aufzuführen. In seiner Rolle als Ketchum hatte Danny eine aktuelle Umfrage kommentiert: Die Zahl der Amerikaner, die ihren hemmungslosen Hass über die mögliche Einführung der Schwulenehe zum Ausdruck gebracht hatten, war doppelt so hoch wie die Zahl derjenigen, die auch nur eine gelinde Besorgnis über den Ausgang des Irakkrieges zu Protokoll gaben. »Wie Bush auf die Schwulen eindrischt, ist reaktionär und verwerflich«, hatte der Schriftsteller erklärt. (So ein Kommentar festigte Dannys politischen Ruf noch; markige Sprüche á la Ketchum ließen sich prima zitieren.) An dem Kühlschrank in seiner Küche in Toronto hing eine Liste mit Fragen an Ketchum. Doch wie eine Liste sah das Ganze nicht aus, da Danny die Fragen nicht ordentlich untereinandergeschrieben hatte. Es
waren viele mit Klebestreifen an den Kühlschrank gepappte Zettelchen. Weil Danny jeden Zettel datiert hatte, glich die Kühlschranktür einer Art Chronik zum Fortgang des Irakkrieges. Bald würde der Kühlschrank voll sein. Selbst die antiamerikanischsten kanadischen Freunde des Schriftstellers hielten seine Kühlschrankpolitik für eine sinnlose und kindische Fingerübung. (Und für eine Verschwendung von Klebestreifen.) Und in demselben Jahr, als Im dunklen Restaurant herauskam, 2001, hatte Danny sich angewöhnt, einen patriotischen CountrymusikSender aus den Staaten zu hören. Den Sender fand Danny nur spätnachts; er vermutete, dass das Signal am deutlichsten war, wenn der Wind über den Ontario-See in Richtung Norden wehte. Tat Danny das etwa, um sich in eine Wut auf seine »ehemalige Heimat« hineinzusteigern?
Nein, keineswegs; Danny wünschte bloß, er könnte Ketchums Reaktion auf die miese Countrymusik hören. Er sehnte sich danach, den alten Holzfäller sagen zu hören: »Ich verrate dir mal, was mit diesem strunzdummen Patriotismus nicht stimmt: Er ist die pure Selbsttäuschung! Er verkörpert lediglich das amerikanische Bedürfnis, zu gewinnen.« Hätte Ketchum nicht vielleicht etwas in der Art gesagt? Und jetzt, wo der Irakkrieg schon fast zwei Jahre dauerte, hätte Ketchum nicht auch dagegen gewettert, dass die meisten Amerikaner zu schlecht informiert waren, um zu begreifen, dass dieser Krieg lediglich von dem sogenannten Krieg gegen den Terror ablenkte aber kein Teil dieses vielbeschworenen Krieges war? Al-Qaida aufspüren und vernichten - damit hatte Danny kein Problem. »Findet und vernichtet die verdammte Hamas und die
Hisbollah gleich mit, wenn ihr schon mal dabei seid!«, hatte Ketchum getobt -, aber Saddams Irak war eine säkulare Tyrannei gewesen. Ob die meisten Amerikaner den Unterschied verstanden? Bis wir dort auftauchten, gab es im Irak keine al-Qaida, oder? (Danny wuchs das Ganze rasch über den Kopf, politisch gesehen; er war sich seiner Sache nicht so sicher, wie es Ketchum gewesen war. Und Danny las auch weniger Zeitung als Ketchum.) Was hätte der wütende Waldarbeiter aus dem Coos County gesagt, als die Vereinigten Staaten im Mai 2003 das Ende der »Hauptkampfhandlungen« bekanntgaben, keine zwei Monate nach Kriegsbeginn? Eine verlockende Überlegung. Die Fragen an Dannys Kühlschrank mochten eine Erinnerung an den Wahnsinn des Krieges sein, doch der Schriftsteller rätselte selbst, warum er eine derart platte Auflistung erstellt
hatte; sie diente nur dem Zweck, ihn zu deprimieren. Danny konnte sich denken, was Ketchum über die unabhängig voneinander abgegebenen, aber ähnlich klingenden Dementis des USAußenministers Colin Powell und des britischen Premierministers Tony Blair (die im Mai 2003 hoch und heilig versichert hatten, Geheimdiensterkenntnisse über irakische Massenvernichtungswaffen seien weder verfälscht noch aufgebauscht worden, um den Angriff auf den Irak zu rechtfertigen) gesagt hätte: »Zeigt mir die Waffen, Kerle!« Gelegentlich trug Danny die Fragen an Ketchum dem Hund vor. (»Sogar der Hund«, hätte Ketchum möglicherweise gelästert, »ist schlau genug, um zu wissen, wie sich dieser Krieg entwickeln wird.«) In der nächsten Schlammperiode wurde Daniel Baciagalupo 63. Er war ein Mann, der sein einziges Kind und seinen Vater verloren hatte,
und er lebte allein - noch dazu war er Schriftsteller. Natürlich redete Danny mit dem Hund und las ihm vor. Hero wiederum schien sich über Dannys exzentrisches Verhalten nicht zu wundern. Der ehemalige Jagdhund war es gewohnt, dass man mit ihm sprach; meistens war es nicht so schlimm, wie von einem Bären in die Mangel genommen zu werden. Das Alter des Hundes war unklar. Ketchum hatte sich nur vage darüber geäußert, wie alt dieser spezielle Hero war - also wie viele Generationen seit jenem ersten »braven Tier« vergangen waren, dessen Platz der jetzige Hero einnahm. An Heros Schnauze gab es mehr graue Haare als früher, doch in dem weißgetupften, blaugrauen Fell des Walker Bluetick gingen die a/fmbedingten grauen Haare unter. Und dass Hero lahmte, ließ sich nicht nur auf sein fortgeschrittenes Alter
zurückführen. Die Kratzwunden von dem Bärenangriff waren zwar vor langer Zeit verheilt, auch wenn die Narben noch deutlich zu sehen waren, aber die Hüfte, wo der Bär Hero mit den Klauen erwischt hatte, war auf Dauer lädiert. Auch das übel zugerichtete, größtenteils fehlende Ohr war verheilt, doch das Narbengewebe war schwarz und ohne Fell. Wer Hero zum ersten Mal sah, fand am befremdlichsten, dass ihm ein Augenlid fehlte - nicht auf der schlechten Seite, der mit dem halben Ohr. Das Lid war Hero bei seiner letzten Auseinandersetzung mit Pams Deutschem Schäferhund abhandengekommen, obwohl Hero - laut Pam - in diesem Entscheidungskampf um die Herrschaft im Zwinger die Oberhand behalten hatte. Sixpack war gezwungen gewesen, den Schäfer einschläfern zu lassen, was sie aber Hero nicht nachtrug. Nach Pams eigener Einschätzung hatten sich die beiden Hunde schon immer und aus tiefstem Herzen gehasst.
Für den Schriftsteller war der vom Kampf gezeichnete Jagdhund eine lebende Erinnerung an das Coos County, wo man tödlichem Hass generell freien Lauf lassen durfte. (So wie anderswo auch, dachte Danny, wann immer er zufällig einen Blick auf die >Fragen an Ketchum< an seiner Kühlschranktür warf.) Im Januar 2004 war die Anzahl der seit Beginn des Krieges im Irak gefallenen US-Soldaten auf 500 gestiegen. »Teufel auch, fünfhundert ist gar nichts - das ist doch erst der Anfang«, glaubte Danny den alten Holzfäller sagen zu hören. »In wenigen Jahren sind wir bei fünftausend angelangt, und dann wird uns irgendein Arschloch weismachen wollen, Frieden und Stabilität warteten gleich um die Ecke.« »Was hältst du davon, Hero?«, hatte Danny den Hund gefragt, der sofort sein intaktes Ohr aufstellte. »Hätte unser gemeinsamer Freund nicht interessante Dinge zu diesem Krieg
erzählt?« Danny merkte, wann der Hund zuhörte und wann er tatsächlich schlief. Wenn Hero nur vorgab zu schlafen, folgte einem das lidlose Auge, aber wenn der Hund wirklich tief und fest schlief, schweiften Pupille und Iris des ständig offenen Auges in unbekannte Fernen; die milchig weiße Kugel schaute ins Nichts. In Toronto schlief der ehemalige Jagdhund in der Küche auf einem mit Zedernspänen gefüllten Hundebett mit Reißverschluss. Anders als Danny früher gedacht hatte, waren Ketchums Geschichten über Heros Furzen nicht übertrieben gewesen. Wenn Hero auf dem Hundebett lag, war sein Lieblingskauspielzeug die alte Scheide von Ketchums größtem Browning-Jagdmesser dem dreißig Zentimeter langen Monstrum, das der Flößer immer hinter der Sonnenblende auf der Fahrerseite seines Pick-ups aufbewahrt hatte. Die Scheide, die das Öl von Ketchums
Schleifstein aufgesogen hatte, roch vielleicht immer noch nach dem erschossenen Bären, der einmal in dem Fahrerhaus des Trucks gesessen hatte; da Hero so neurotisch an der angeknabberten Messerscheide hing, hielt Danny das für wahrscheinlich. Das lange Browning-Messer selbst erwies sich als weniger nützlich. Danny hatte das Messer in ein Geschäft für Küchenzubehör gebracht, wo man vergeblich versuchte, es zu schärfen; in dem Bemühen, die letzten Reste von Ketchums Schleiföl zu entfernen, hatte Danny das Messer mehrmals in den Geschirrspüler getan, was die Klinge hatte stumpf werden lassen. Jetzt war das Messer stumpf und ölig, und Danny hatte es in einer gut sichtbaren, aber unerreichbaren Ecke seiner Küche aufgehängt, und dort prangte es jetzt, wie ein zeremonielles Schwert. Ketchums Gewehre waren ein anderes Thema. Danny hatte sie nicht behalten wollen - nicht
in Toronto. Er hatte sie Andy Grant gegeben, mit dem Danny jeden November auf die Hirschjagd ging. Nachdem er Carl getötet hatte, fiel es Danny leichter, Hirsche zu schießen, allerdings weigerte er sich, ein Jagdgewehr zu benutzen. (»Nie wieder«, hatte er zu Andy gesagt.) Stattdessen nahm er Ketchums Remington .30-06 Springfield. In einem Waldgebiet, selbst auf halbwegs kurze Distanz, war es schwieriger, mit diesem kostbaren Sammlerstück einen Hirsch zu treffen, doch der Rückstoß des Karabiners und der Hall der kurzläufigen Büchse in seinem Ohr - war anders als in Dannys Erinnerungen an das Jagdgewehr. Andy Grant kannte die Gegend um Bayfield wie seine Westentasche; er hatte schon als Junge dort gejagt. Doch meist nahm Andy Danny auf die Hirschjagd in ein Gelände mit, das diesem vertrauter war: in die Gegend westlich des Lost Tower Lake, zwischen Payne's Road und Shawanaga Bay. Unweit der
winterlichen Schneemobilpiste, und manchmal in Sichtweite des hinteren Stegs auf Charlottes Insel, gab es eine natürliche Schneise praktisch ein Wildwechsel für Hirsche. Deshalb konnte Danny, wenn er im November jagte, immer über das graue Wasser hinweg auf sein Winterdomizil blicken. Oberhalb der Shawanaga Bay gab es auf dem Festland Stellen, von wo man den hinteren Bootssteg von Turner Island sah - sogar das Dach von Opas Hütte, auf das Ketchum einmal die Haut der von ihm erschossenen Klapperschlange geworfen hatte. Bei diesen Jagdausflügen im November stieg Danny immer in Larry's Tavern ab. Dort in der Bar hatte er auch das Gerücht gehört, dass man Larry's verkaufen werde, sobald der neue Highway in ihre nördlichen Breitengrade vorgedrungen sei. Weshalb sollte Danny, so wie die alten Männer in der Bar, fordern, man solle Larry's verschonen? Weder die Kneipe noch das Motel erschienen dem Schriftsteller
erhaltenswert, auch wenn er nicht leugnen konnte, dass beide Teile des Etablissements für diese Gegend lange einen (wenn auch vorwiegend selbstzerstörerischen) Zweck erfüllt hatten. Und sobald Danny im Winter auf Charlottes Insel eintraf, lieh Andy Grant ihm immer Ketchums Remington. (»Falls Viecher auftauchen«, wie Ketchum gesagt hätte.) Andy ließ Danny auch ein paar volle Ladestreifen da. Hero erkannte den Karabiner unweigerlich wieder. Das war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen der Jagdhund mit dem Schwanz wedelte. Die Remington .30-06 Springfield war Ketchums bevorzugte Waffe bei der Bärenjagd gewesen und erinnerte Hero bestimmt an das Jagdfieber - oder an seinen früheren Herrn. Zwei Jahre hatte Danny gebraucht, um dem Hund das Bellen beizubringen. Zu knurren,
furzen und im Schlaf zu schnarchen waren Hero angeboren - falls er diese unschönen Künste nicht von Ketchum übernommen hatte -, aber gebellt hatte Hero noch nie. Während seiner frühesten Bemühungen, Hero zum Bellen zu ermutigen, fragte sich Danny manchmal, ob der alte Holzfäller etwas gegen Bellen gehabt hatte. Ein kleiner Park mit Spielplatz, etwa so groß wie ein Football-Spielfeld, lag in der Nähe von Dannys Haus in Rosedale und grenzte direkt an die zwei neuen Gebäude mit Eigentumswohnungen am Scrivener Square, die - wie es das Glück wollte - Dannys Blick auf den Uhrenturm des Summerhill-Schnapsund Weinladens nicht verdeckten. Der Schriftsteller ging drei- oder viermal am Tag mit Hero in dem Park Gassi - meist war das Tier angeleint, falls zufällig ein Deutscher Schäferhund oder irgendein anderer Hund in dem Park herumlief, der Hero an Sixpacks Schäfer erinnern mochte.
In dem Park machte Danny Hero vor, wie man bellt; er gab sich Mühe, so echt wie möglich zu klingen, doch Hero blieb unbeeindruckt. Nachdem das ein Jahr lang so gegangen war, fragte sich Danny, ob Hero Bellen bei Hunden vielleicht für eine Schwäche hielt. Andere Leute, die in dem kleinen Park ihre Hunde ausführten, waren von Heros dürrem räudigem Aussehen irritiert und weil er sich anderen Hunden gegenüber ungewöhnlich reserviert gab. Dann waren da noch die Narben, die steife Hüfte - von dem schräg und bedrohlich dreinblickenden Auge ganz abgesehen. »Das liegt nur daran, dass Hero ein Lid verloren hat - er guckt Ihren Hund nicht böse an oder so was«, versuchte Danny die ängstlichen Hundebesitzer zu beruhigen. »Was ist mit seinem Ohr?«, fragte ihn eine junge Frau mit einem hirnlosen Spaniel im Schlepptau. »Och, das war ein Bär«, erklärte Danny.
»Ein Bär!« »Und die Hüfte von dem armen Tier - diese furchtbaren Narben?«, hatte ein schnauzbärtiger Mann verstört gefragt. »Derselbe Bär«, sagte Danny. In ihrem zweiten Winter auf Charlottes Insel fing Hero an zu bellen. Danny hatte das Propellerboot auf dem Eis in der Nähe des vorderen Stegs abgestellt; er entlud gerade seine Einkäufe, während Hero auf dem Steg auf ihn wartete. Danny probierte noch einmal, den Hund anzubellen, doch im Grunde hatte er es aufgegeben. Zu beider Überraschung wurde Dannys Bellen erwidert; es war ein Echo aus der Richtung von Barclay Island. Als Hero dieses Echo hörte, bellte er. Natürlich gab es auch zu Heros Bellen ein Echo; der Jagdhund hörte einen Hund zurückbellen, der ihm gespenstisch ähnlich klang. Das ging über eine Stunde lang so weiter Hero stand auf dem Steg und bellte sich selbst
an. (Wäre Ketchum da gewesen, dachte Danny, hätte der den Jagdhund wahrscheinlich erschossen.) Was habe ich da nur erschaffen?, fragte er sich, doch nach einer Weile verstummte Hero. Von nun an bellte der Hund normal; er bellte Schneemobile an, und er bellte, wenn er in der Ferne gelegentlich das nach Flugzeug klingende Motorgeräusch eines Propellerboots hörte. Er bellte, wenn auf dem Festland ein Zug pfiff - und, weniger häufig, beim Quietschen der Reifen der großen Langstreckenlaster auf der Route 69. Und was Eindringlinge anging, die er hätte anbellen können - nun, in diesen Winterwochen gab es keine; nur Andy Grant ließ sich ab und zu blicken (und wurde von Hero prompt angebellt). Niemand hätte behauptet, Ketchums Jagdhund wäre normal - oder auch nur annähernd normal -, doch das Bellen trug viel dazu bei,
dass Heros einohriges, stier dreinblickendes Gesicht nicht mehr ganz so unheimlich wirkte. Jedenfalls hatten die anderen Leute, die mit ihren Hunden im Scrivener Square Gassi gingen, nun deutlich weniger Angst vor dem Jagdhund - und seit das Tier bellte, knurrte es seltener. Ein Jammer, dass Danny nichts gegen Heros lautloses Furzen und sein geräuschvolles Schnarchen tun konnte. Allmählich wurde Danny klar, dass er gar nicht gewusst hatte, was es bedeutete, einen Hund zu haben. Je mehr er mit Hero redete, desto seltener dachte er darüber nach, was Ketchum über den Irak gesagt hätte. Wurde man unpolitischer, wenn man einen Hund hatte? (Nicht dass Danny je ein ausgesprochen politischer Mensch gewesen wäre, nicht so wie Katie oder Ketchum.) In politischen Fragen ergriff Danny durchaus Partei; er hatte auch politische Ansichten. Aber er war nicht antiamerikanisch eingestellt, ja er fühlte sich nicht einmal als Auslandsamerikaner! Die
Welt, wie sie sich in groben Umrissen auf seinem Kühlschrank in Toronto darstellte, kam dem Autor immer unwichtiger vor. Die Welt war immer weniger das, worüber Daniel Baciagalupo nachdenken wollte - schon gar nicht, wie Ketchum es formuliert hätte, als Schriftsteller. Auf der Route 69, Nähe Horseshoe Lake Road, hatte es einen Unfall gegeben. Ein Vollidiot am Steuer eines Hummer hatte den Anhänger eines Viehtransporters von hinten gerammt und dabei sich und etliche Rinder umgebracht. Es war in Dannys erstem Winter auf Charlottes Insel gewesen, und seine Putzfrau hatte ihm von diesem Unfall erzählt. Sie war Indianerin, gehörte also der First Nation an, wie man heute sagte - eine junge Frau mit schwarzen Haaren und Augen, einem hübschen Gesicht und großen, kräftig aussehenden Händen. Einmal pro Woche holte Danny sie mit dem Propellerboot von der Shawanaga Landing Indian Reservation ab
und brachte sie am Ende des Tages auch wieder dorthin zurück; sie wohnte aber mit ziemlicher Sicherheit nicht dort. Shawanaga Landing selbst wurde hauptsächlich in den Sommermonaten genutzt, als Campingplatz und als Tor zur Bucht. Die Leute aus dem Reservat wohnten in dem Dorf Shawanaga im Hinterland, allerdings lebten einige Menschen der First Nation das ganze Jahr über in Skerryvore - wenigstens hatte Andy Grant das Danny erzählt. (Zu beiden Orten führte eine auch im Winter geöffnete Straße; mit dem Schneemobil kam man jedenfalls immer durch.) Die junge Putzfrau schien gern in dem PolarPropellerboot zu fahren. Danny brachte ihr immer ein zweites Paar Ohrenschützer mit, und als sie Hero kennengelernt hatte, fragte sie, warum der Jagdhund sie nicht auf der Fahrt begleiten könne. »Das Propellerboot ist für Hundeohren zu laut - na ja, jedenfalls für sein eines Ohr«, erklärte ihr Danny. »Wie gut
Hero mit dem lädierten Ohr hört, weiß ich gar nicht.« Doch die Putzfrau hatte ein Händchen für Hunde. Sie schlug Danny vor, Hero ihre Ohrenschützer aufzusetzen, wenn er nach Shawanaga Landing fuhr, um sie abzuholen, oder wenn er ohne sie nach Turner Island zurückfuhr. (Erstaunlicherweise hatte der Hund nichts dagegen.) Und wenn die Putzfrau mit ihnen im Propellerboot war, saß Hero auf ihrem Schoß und sie hielt ihm mit ihren großen starken Händen beide Ohren zu - auch das überwiegend fehlende Ohr. Danny hatte noch nie erlebt, dass sich Hero bei jemandem auf den Schoß setzte. Der Walker Bluetick wog 25 oder 30 Kilo. Treu folgte der Hund der jungen Frau, wenn sie ihren Putzarbeiten nachging, so wie Hero überall auf der Insel bei Danny blieb, wenn er allein dort war. Wenn Danny die Motorsäge benutzte, ging der Hund auf sichere Distanz.
(Dass Hero das von Ketchum gelernt hatte, stand für Danny fest.) Wo die junge Frau aus der First Nation tatsächlich lebte, war und blieb mysteriös - nie sah Danny jemanden in Shawanaga Landing auf sie warten oder ein Fahrzeug, das sie auf dem Weg zum oder vom Bootsanleger weg benutzt haben könnte. Danny hatte sie nur einmal gefragt, die Antwort der jungen Putzfrau aber für nebulös beziehungsweise für einen Scherz gehalten. »Ojibwa-Territorium«, hatte sie gesagt. Danny hatte nicht gewusst, was die Frau aus der First Nation damit meinte - vielleicht gar nichts. Er hätte Andy Grant fragen können, woher sie wirklich kam - Andy hatte Danny den Kontakt zu ihr vermittelt -, doch er hatte es auf sich beruhen lassen. Ojibwa-Territorium genügte ihm als Antwort. Und den Namen der jungen Frau hatte der Schriftsteller sofort wieder vergessen, falls er
ihn je gehört hatte. Zu Beginn des ersten Winters, in dem sie für ihn arbeitete, hatte er einmal bewundernd zu ihr gesagt: »Sie sind unermüdlich.« Damit meinte er, wie sie das Eis aufgehackt und wie viele Eimer Wasser sie aus dem See geholt und für ihn ins Haupthaus gestellt hatte. Die junge Frau lächelte; ihr gefiel das Wort unermüdlich, tireless. »So dürfen Sie mich nennen - bitte nennen Sie mich so«, hatte sie ihn gebeten. »Tireless?« »So heiße ich«, hatte die Frau aus der First Nation geantwortet. »Genau das bin ich nämlich.« Danny hätte Andy Grant auch nach ihrem richtigen Namen fragen können, doch die Frau wollte Tireless genannt werden, und auch das war Danny recht. Von seinem Schreibschuppen aus sah er Tireless manchmal, wie sie dem Inuksuk ihre
Ehrerbietung erwies. Sie verbeugte sich nicht förmlich vor der Steinfigur, sondern wischte respektvoll den Schnee von ihr ab und bezeigte damit eine Art Hochachtung oder Huldigung. Sogar Hero schien die Heiligkeit dieses Augenblicks zu spüren und wahrte bei diesen Gelegenheiten eine merkwürdige Distanz zu Tireless. An dem einen Wochentag, wenn Tireless zum Putzen kam, arbeitete Danny genauso gut wie an den Tagen, wenn er mit Hero allein war; die Putzfrau lenkte ihn nicht ab. Es machte ihm auch nichts aus, den schlafenden (und furzenden und schnarchenden) Hero nicht wie gewohnt bei sich im Schreibschuppen zu haben. Wenn Tireless ihre Arbeit im Haupthaus beendet hatte, sah der Schriftsteller sie manchmal plötzlich neben der vom Wind gebeugten kleinen Kiefer stehen. Nie berührte sie das krumme Bäumchen; sie stand einfach nur wie ein Wachtposten neben ihm, und Hero stand neben ihr. Dabei sahen weder die
Putzfrau noch der Jagdhund jemals zu Danny herein. Wenn er zufällig aufschaute und sie neben der vom Wetter gebeutelten Kiefer stehen sah, wandten ihm sowohl der Hund als auch die junge Frau den Rücken zu; offenbar spähten sie hinaus auf die zugefrorene Bucht. Dann pochte Danny gegen das Fenster, und Tireless kam mit Hero in den Schreibschuppen. Danny verließ den Schuppen (und seine Arbeit), während Tireless dort putzte, was nie lange dauerte - höchstens so lange, wie Danny brauchte, um sich im Haupthaus eine Tasse Tee zu machen. Sah man von Andy Grant ab - und den Senioren und Stammgästen, denen Danny gelegentlich in der Bar von Larry's Tavern, im Restaurant The Haven oder im Einkaufsladen begegnete -, war die indianische Putzfrau der einzige Mensch, zu dem Danny während seiner Winter auf der Insel in der Georgian Bay Kontakt hatte. Und in den zehn Wochen,
die der Schriftsteller dort war, sahen Danny und Hero Tireless jeweils nur einmal pro Woche. Als Danny eines Tages im Ort war und zufällig Andy Grant über den Weg lief, erzählte er ihm, wie gut sich die junge Frau machte. »Hero und ich sind ganz begeistert von ihr«, sagte er. »Sie ist ausgesprochen unkompliziert, und man hat sie gern um sich.« »Klingt, als wolltest du sie heiraten«, sagte Andy zu dem Schriftsteller. Es war scherzhaft gemeint, doch Danny merkte, dass er - wenn auch nur kurz ernsthaft darüber nachdachte. Später im Propellerboot - noch ehe Danny den Motor anließ oder Hero die Ohrenschützer aufsetzte - fragte er den Hund: »Findest du, ich sehe einsam aus, Hero? Bestimmt bin ich ein wenig einsam, hm?« In der Küche von Dannys Haus am Cluny
Drive wurde die Politik an der Kühlschranktür immer öder, je weiter das Jahr 2004 voranschritt. Möglicherweise war Politik schon immer langweilig gewesen, und Danny hatte es jetzt erst bemerkt. Verglichen mit der privateren und komplexeren Geschichte, die er in seinem neunten Roman entwarf, kamen ihm die Fragen an Ketchum jedenfalls banal und kindisch vor. Wie immer begann er mit dem Ende seiner Geschichte. Danny hatte nicht nur den, wie er glaubte, letzten Satz geschrieben, sondern auch eine ziemlich ausgereifte Vorstellung von der Handlung des neuen Romans - seinem ersten, den er als Daniel Baciagalupo schrieb. Langsam und Schritt für Schritt arbeitete er sich rückwärts durch die Handlung nach vorn, bis zu der Stelle, wo das Buch seiner Ansicht nach beginnen sollte. So war er schon immer vorgegangen: Er entwarf die Handlung einer Geschichte von hinten nach vorn, verfasste folglich das erste Kapitel zuletzt. Wenn Danny
schließlich beim ersten Satz ankam - also an dem Zeitpunkt, wo er den ersten Satz des Buches zu Papier brachte -, waren oft zwei oder mehr Jahre vergangen, doch inzwischen kannte er die gesamte Story. Von diesem ersten Satz strömte das Buch vorwärts - oder, für Danny selbst, rückwärts bis zu der Stelle, wo er angefangen hatte. Und ebenfalls wie immer fiel mehr und mehr von dem ab, was als Dannys politische Seite galt, je tiefer er in den Roman eintauchte. Zwar waren Dannys politische Positionen echt, doch er hätte bereitwillig eingeräumt, dass er jeder Form von Politik argwöhnisch gegenüberstand. War er nicht auch deshalb Schriftsteller geworden, weil er die Welt auf eine betont subjektive Art und Weise sah? Und Geschichtenschreiben war nicht nur das, was Daniel Baciagalupo am besten konnte - er tat auch nichts anderes. Er war Handwerker, kein Theoretiker; er war Geschichtenerzähler, kein Intellektueller.
Doch ob er wollte oder nicht, Danny musste immer wieder an die beiden amerikanischen Hubschrauber in Saigon denken - daran, wie sich diese armen Menschen an die Hubschrauber klammerten - und an die Hunderte verzweifelter Südvietnamesen, die man im Hof der US-Botschaft zurückließ. Der Schriftsteller zweifelte nicht daran, dass er so etwas (oder etwas Ähnliches) auch im Irak zu sehen bekommen würde. Die Schatten Vietnams, dachte Danny - typisch für sein Alter, denn der Irak war kein zweites Vietnam. (In dieser Beziehung war Daniel Baciagalupo ein echtes Kind der Sixties, und daran würde sich auch nichts mehr ändern.) Ohne große Überzeugung sprach Danny zu dem gähnenden Hund, der ansonsten aber keinerlei Reaktion zeigte. »Ich wette mit dir um eine Schachtel Hundekuchen, Hero: Alles wird noch viel schlimmer werden, ehe es ein klein wenig besser wird.« Hero, der Bärenjäger, reagierte nicht einmal auf das
Wort Hundekuchen; er fand Politik genauso langweilig wie Danny. Die Welt war doch so wie immer, oder? Wer von ihnen würde je etwas daran ändern, wie die Welt funktionierte? Ein Schriftsteller ganz gewiss nicht; Heros Chancen, die Welt zu verändern, waren genauso groß wie Dannys. (Zum Glück verschwieg das Danny Hero, er wollte den edlen Hund nicht beleidigen.) An einem Dezembermorgen des Jahres 2004, nachdem die letzte (und schon wieder vergessene) Frage an Ketchum an die Tür von Dannys Kühlschrank geklebt worden war, fand Lupita - die äußerst treue und leidgeprüfte mexikanische Putzfrau - den Schriftsteller in seiner Küche vor, wo Danny saß und schrieb. Das irritierte Lupita, die für die Ordnung im Haushalt zuständig war und sehr entschiedene Ansichten zu dem Thema hatte, für welche Tätigkeiten die einzelnen Zimmer gedacht
waren. Lupita nahm es, wenn auch widerwillig, hin, dass im Fitnessraum, wo keine Schreibmaschine stand, Klemmbretter und ein angebrochener Stapel Schreibmaschinenpapier herumlagen. Die Unmengen von Zetteln, die überall im Haus klebten, waren für sie ein Quell ständigen Ärgers, den sie aber unterdrückte. Die politischen Fragen an Mr. Ketchum an der Kühlschranktür las Lupita, wenn überhaupt, mit schwindendem Interesse; die mit Klebestreifen befestigten Belanglosigkeiten störten Lupita, weil sie sie daran hinderten, die Kühlschranktür sauberzuwischen. Die Arbeit in Dannys Haus am Cluny Drive hatte Lupita bisher einen Kummer nach dem anderen eingebracht. Dass Mr. Ketchum Weihnachten nicht mehr nach Toronto kam, ließ die mexikanische Putzfrau regelmäßig, und besonders gegen Ende des Jahres, in
Tränen ausbrechen, und bei ihren Bemühungen, das Schlafzimmer des verstorbenen Kochs nach der Schießerei zu säubern und wieder herzurichten, wäre sie vor Kummer fast gestorben. Natürlich war das blutgetränkte Bett entfernt und die Tapete ausgetauscht worden, aber Lupita hatte jeden blutbespritzten Schnappschuss an Dominics Pinnwänden einzeln saubergewischt. Außerdem hatte sie den Fußboden so gründlich geschrubbt, dass sie dachte, ihre Knie und Handballen müssten gleich anfangen zu bluten. Sie hatte Danny überredet, auch die Vorhänge auszuwechseln, sonst hätte sich der Geruch von Schießpulver in dem Mordzimmer gehalten. Man beachte, dass die beiden Frauen, zu denen Danny in dieser Phase seines Lebens den beständigsten Kontakt hielt, Putzfrauen waren, auch wenn Lupitas Einfluss auf ihn zweifellos größer war als der von Tireless. Auf Lupitas Drängen hin hatte Danny auch das Sofa in
seinem Schreibzimmer im zweiten Stock entsorgt, und zwar nur, weil Lupita behauptete, der Abdruck des Körpers des abscheulichen Sheriffs darauf sei (für sie) immer noch deutlich sichtbar. »Ich kann ihn immer noch da liegen sehen, wie er darauf wartet, dass Sie und Ihr Dad einschlafen«, hatte Lupita zu Danny gesagt. Natürlich hatte Danny das Sofa entsorgt, obwohl der Abdruck von Carls dickem Körper für ihn nie zu sehen gewesen war, doch kaum hatte Lupita das behauptet, ertappte Danny sich dabei, wie er sich das ebenfalls einbildete. Für Lupita war das erst der Anfang. Danny erinnerte sich, dass Lupita eine tiefgreifende Veränderung vorschlug, kurz nachdem Hero zu ihm gezogen war. Diese Pinnwände mit der gesammelten Familiengeschichte der Baciagalupos die Hunderte von überlappenden Fotos, die der Koch aufgehängt hatte, und in Dominics Schreibtischschubladen
lagen noch mehrere hundert andere -, nun, man kann sich denken, was die mexikanische Putzfrau davon hielt. Es sei doch sinnlos, hatte Lupita erklärt, diese besonderen Fotos in einem Zimmer auszustellen, wo sie niemand sehe. »Sie sollten in Ihrem Schlafzimmer hängen, Mr. Schriftsteller«, hatte Lupita zu Danny gesagt. (Sie hatte sich plötzlich angewöhnt, ihn entweder so oder »Senor Schriftsteller« zu nennen, wann genau, war Danny entfallen.) Und daraus folgte natürlich, dass die Fotos von Charlotte verschwinden mussten. »Das schickt sich nicht mehr«, hatte Lupita zu Danny gesagt; sie meinte, er solle nicht mehr mit diesen nostalgischen Fotos von Charlotte Turner im selben Zimmer schlafen, die inzwischen verheiratet war und eine eigene Familie hatte. (Lupita hatte einfach das Kommando übernommen, ohne ein Wort des Widerspruchs von Mr. Schriftsteller.)
Jetzt ergab es Sinn. Das Schlafzimmer des verstorbenen Kochs diente als zweites Gästezimmer; es wurde kaum genutzt, erwies sich aber als besonders nützlich, wenn ein Paar mit Kind (oder Kindern) zu Besuch kam. Anstelle von Dominics Doppelbett standen da nun zwei Einzelbetten. In diesem entlegenen Gästezimmer - am anderen Ende des Flurs, von Dannys Schlafzimmer aus betrachtet wirkte die Hommage für Charlotte angemessener, wenn man bedachte, was aus Dannys Beziehung zu ihr geworden war. Es ergab auch Sinn, dass Danny jetzt in einem Zimmer schlief, wo Fotos der näheren und erweiterten Familie hingen - darunter auch einige Schnappschüsse von Joe, Dannys totem Sohn. Danny musste Lupita für diese Neuerung dankbar sein. Sie war für die Pinnwände zuständig, sie wählte die neuen und wiederverwendeten Fotos aus, die in Dannys Schlafzimmer hängen sollten. Einoder zweimal in der Woche sah sich Danny die
Bilder auf den Pinnwänden genauer an, nur um herauszufinden, was Lupita wieder verändert hatte. Gelegentlich erhaschte man auf den Fotos einen Blick auf Charlotte - meist waren es Bilder von Charlotte mit Joe. (Irgendwie hatten sie Lupitas unergründlichen Radar passiert.) Und natürlich gab es jede Menge Fotos von Ketchum (sogar ein paar neue) und von Dannys junger Mutter mit seinem noch jüngeren Dad. Diese lange gehüteten Schnappschüsse von Cousine Rosie waren samt Hero und Ketchums Waffen in Dannys Besitz gelangt - die Motorsäge nicht zu vergessen. Die alten Fotos waren nie dem Sonnenlicht ausgesetzt worden, da sie zwischen den Seiten von Rosies geliebten Büchern gesteckt hatten, die ebenfalls in Dannys Besitz gelangt waren, nun, da der alte Holzfäller sie nicht mehr lesen konnte. Wie viele Bücher Ketchum angesammelt hatte! Und wie viele mehr mochte er gelesen haben?
An diesem Dezembermorgen im Jahr 2004, als Lupita Danny beim Schreiben in der Küche ertappte, feilte er gerade an ein paar Szenen, die er sich am Anfang seines Romans vorstellen konnte - sogar schon an einzelnen Sätzen. Jedenfalls kam er dem Beginn des ersten Kapitels näher, doch wo genau er anfangen sollte - wie beispielsweise der erste Satz lauten sollte -, entzog sich ihm. Er schrieb in ein schlichtes Notizbuch mit Spiralheftung und liniertem Papier; Lupita wusste, dass der Schriftsteller einen ganzen Stapel solcher Notizbücher in seinem Schreibzimmer hatte, wo er (das stand für sie fest) gefälligst schreiben sollte. »Sie schreiben in der Küche«, sagte die Putzfrau - was an sich ein schlichter Aussagesatz war, an dem Danny aber eine gewisse Schärfe auffiel. Wegen Lupitas kritischen Untertons klang ihre Bemerkung, als hätte sie eigentlich gesagt: »Sie vögeln in der Auffahrt (und zwar am helllichten Tag).«
Danny war über den indirekten Rüffel ein wenig konsterniert. »Schreiben würde ich das nicht nennen, Lupita«, verteidigte er sich. »Ich mache mir nur ein paar Notizen zu dem, was ich schreiben werde.« »Egal, was Sie machen, Sie machen es in der Küche.« Lupita ließ nicht locker. »Stimmt«, bestätigte Danny zögernd. »Ich könnte vermutlich oben anfangen - sagen wir im zweiten Stock, in Ihrem Schreibzimmer, wo Sie gerade nicht schreiben«, sagte die Putzfrau. »Das wäre prima«, erwiderte Danny. Lupita seufzte, als wäre die Welt für sie ein ständiger Quell von Kummer und Leid - was bisher ja auch stimmte. Er nahm hin, wie schwierig sie sein konnte, und auch, dass sie im Haushalt das Zepter schwang. Danny
wusste, dass man bei Menschen, die wie seine Putzfrau ein Kind verloren hatten, toleranter sein, dass man ihre Autorität anerkennen musste. Doch bevor Lupita die Küche verließ um sich ihrer für sie von der Abfolge her verkehrten (wenn nicht gar grundfalschen) ersten Aufgabe des Tages zu widmen -, sagte Danny zu ihr: »Würden Sie heute bitte den Kühlschrank säubern, Lupita? Werfen Sie einfach alles weg.« Lupita war nicht leicht zu überraschen, doch jetzt stand sie da wie vom Schlag getroffen. Sie riss sich zusammen und öffnete die Tür des Kühlschranks, den sie erst kürzlich geputzt hatte; er war praktisch leer. (Wie fast immer, wenn Danny nicht gerade eine Dinnerparty gab.) »Nein, ich meine die Tür«, sagte Danny. »Bitte machen Sie sie komplett sauber. Schmeißen Sie alle Zettel weg.« An diesem Punkt verwandelte sich Lupitas
Missfallen in Sorge. »?Enfermo?«, fragte sie Danny plötzlich. Ihre dicke braune Hand fühlte ihm die Stirn, die der erfahrenen Hausfrau überhaupt nicht fiebrig vorkam. »Nein, ich bin nicht krank, Lupita«, teilte Danny ihr mit. »Ich bin es nur leid, dass ich mich ständig von Wichtigerem ablenke.« Für den Schriftsteller, der, wie Lupita wusste, kein junger Hüpfer mehr war, war es eine schwierige Zeit des Jahres. Für Menschen, die einen Angehörigen verloren hatten, war Weihnachten die schlimmste Zeit überhaupt, daran zweifelte die Putzfrau nicht im Geringsten. Umgehend kam sie Dannys Aufforderung nach. (Sie begrüßte sogar die Gelegenheit, ihn beim Schreiben zu stören, da er es am falschen Ort tat.) Mit Freuden riss Lupita die Zettelchen von der Kühlschranktür; das verdammte Klebeband würde länger dauern, das wusste sie und schabte mit ihren Fingernägeln an den Plastikresten herum.
Außerdem würde sie die Tür mit einer antibakteriellen Lösung reinigen, doch das hatte Zeit. Es ist kaum anzunehmen, dass die Putzfrau je auf den Gedanken gekommen wäre, dass sie gleichsam eine Obsession von Danny wegwarf, nämlich seine Fixierung auf Ketchums vermutete Kommentare zu Bushs Stümperei im Irak; doch genauso war es. Vielleicht war sich Danny - irgendwo tief im Inneren - bewusst, dass er in diesem Augenblick wenigstens ein wenig von der Wut losließ, die er seinem ehemaligen Land gegenüber empfand. Ketchum hatte Amerika eine verlorene Nation, eine Nation im Niedergang, genannt, doch Danny wusste nicht, ob diese Einschätzung gerecht war - oder ob sie schon jetzt zutraf. Für Daniel Baciagalupo als Schriftsteller zählte nur, dass seine ehemalige Heimat für ihn eine verlorene Nation war. Seit Bushs Wiederwahl
hatte sich Danny damit abgefunden, dass Amerika für ihn verloren war und dass er - von diesem Augenblick an - bis ans Ende seiner Tage ein in Kanada lebender Außenseiter sein würde. Während Lupita sich an der Kühlschranktür zu schaffen machte, ging Danny in den Fitnessraum und rief im Kiss of the Wolf an. Er hinterließ eine recht detaillierte Nachricht auf dem Anrufbeantworter und bat, ihm für jeden Abend, an dem das Restaurant noch geöffnet war, einen Tisch zu reservieren - also bis Patrice und Silvestro am ersten Weihnachtstag schlossen. Lupita hatte recht gehabt: Weihnachten war für Danny immer schwierig. Zuerst hatte er Joe und das Weihnachten in Colorado verloren, dann war Dannys Dad abgeknallt worden. Und seit dem ebenfalls unvergesslichen Weihnachtsfest 2001 erinnerte Weihnachten Danny immer daran, wie er erfuhr, dass er auch Ketchum verloren hatte.
Danny war nicht Ketchum; er war nicht einmal »wie« Ketchum, auch wenn es Phasen gegeben hatte, in denen Danny sich bemüht hatte, wie der alte Holzfäller zu sein. Und wie er sich bemüht hatte! Doch das war nicht Dannys Job - um das Wort Job im Sinne Ketchums zu verwenden. Dannys Job war es, Schriftsteller zu sein, was Ketchum schon lange vor Danny verstanden hatte. »Du musst deine Nase in die schlimmsten Ecken stecken und dir alles vorstellen, Danny«, hatte Ketchum ihm gesagt. Daniel Baciagalupo versuchte es; wenn er schon nicht Ketchum sein konnte, dann konnte er ihn wenigstens heroisieren. Also wirklich, dachte der Schriftsteller, wie schwer konnte das sein, aus Ketchum einen Helden zu machen? »Tja, sterben ist manchmal nicht so leicht, Danny, das sollte ein Schriftsteller wissen«, hatte Ketchum zu ihm gesagt, als Danny drei Schüsse gebraucht hatte, um seinen ersten
Hirsch zu erlegen.
17 - Ausgenommen Ketchum Scheiße, damals hätte ich wissen müssen, was Ketchum meinte, dachte Danny an dem Tag, als Lupita wie verrückt um ihn herumputzte. (Stimmt, er hätte es wissen müssen.) Danny hatte eine leise Ahnung, was Ketchum vorhatte. Es war um das amerikanische Erntedankfest herum, im November 2001. Danny war mit seiner Hausärztin zum Abendessen verabredet - natürlich im Kiss of the Wolf. Sie waren kein Liebespaar, einfach nur sehr gut befreundet. Erin Reilly, so hieß die Arztin, hatte Danny einmal (lange bevor er nach Kanada zog) einen Fanbrief geschrieben; daraus war eine Brieffreundschaft entstanden, und mittlerweile hatte sie den Schriftsteller bei einigen Romanen in medizinischen Fragen
beraten. Erin war fast so alt wie Danny. Sie hatte zwei erwachsene Kinder, die selbst schon eigene Kinder hatten, und kürzlich hatte ihr Mann sie wegen ihrer Sprechstundenhilfe verlassen. »Ich hätte es kommen sehen müssen«, hatte Erin gelassen zu Danny gesagt. »Beide haben mich sicher hundertmal am Tag und unabhängig voneinander gefragt, wie's mir geht.« In Dannys Leben in Toronto war Erin so etwas wie das weibliche Pendant zu Armando DeSimone damals in Vermont geworden. Danny und Armando schrieben sich noch, doch Armando und Mary kamen nicht mehr nach Toronto. Mit dem Auto war ihnen die Fahrt zu weit, und Flugreisen waren für sie aufgrund ihres Alters (und ihres Temperaments) zu beschwerlich. »Die Deppen von der Flughafensecurity haben mir sämtliche Schweizer Armeemesser weggenommen, die
ich je besessen habe«, hatte sich Armando bei Danny beklagt. Erin Reilly war eine passionierte Leserin, und wenn Danny ihr eine medizinische Frage stellte - egal, ob sie ihn selbst betraf oder ob er wegen einer Romanfigur recherchierte -, wusste Danny die langen und detaillierten Antworten der Ärztin zu schätzen. Erin las auch gern lange und detailreiche Romane. An jenem Abend hatte Danny im Kiss of the Wolf zu der Ärztin gesagt: »Ein Freund von mir hat schon seit langem immer wieder den Drang, sich die linke Hand abzuhacken, weil sie ihn einmal im Stich gelassen hat. Wird er verbluten, wenn er sie sich tatsächlich abhackt?« Erin war eine hochaufgeschossene Frau mit einem Storchenhals, kurzgeschnittenem grauem Haar und haselnussbraunen Augen, die einen durchdringend ansahen. Sie ging völlig in ihrer Arbeit und in dem jeweiligen Roman
auf, den sie gerade las, wobei sie ihre Umwelt völlig ausblendete - eine Manie, die sie in Dannys Augen noch liebenswerter machte. Für die Welt um sie herum konnte sie erschreckend blind sein - ähnlich wie der Koch, der sich mit der Zeit in Sicherheit gewiegt und sich eingeredet hatte, der Cowboy habe die Suche nach ihm aufgegeben. Klar hätte Erin »es kommen sehen müssen« nämlich das Techtelmechtel ihres Mannes mit ihrer Sprechstundenhilfe. Dannys Ansicht nach hätte jedoch nicht die wiederholte Frage nach ihrem Befinden Erin stutzig machen sollen, sondern etwas ganz anderes. Erin hatte ihrem Mann Viagra verschrieben - sie hätte wissen müssen, wie viel er von dem Zeug nahm! Doch genau das gefiel Danny an Erin ihre völlige Unschuld, die ihn an all das erinnerte, was sein Vater nicht hatte sehen wollen, und auch das hatte Danny gefallen. »Dieser... Freund mit seinem Drang, sich die linke Hand abzuhacken«, sagte Dr. Reilly
langsam. »Bist du das, Danny, oder ist es eine deiner Romanfiguren?« »Weder noch. Es handelt sich um einen alten Freund von mir«, erklärte ihr Danny. »Ich würde dir seine Geschichte erzählen, Erin, wenn sie nicht sogar für dich zu lang wäre.« Danny wusste noch, was Erin und er an diesem Abend gegessen hatten. Sie hatten die Garnelen mit Kokosmilch und grüner Currybrühe bestellt und als Vorspeise die Malpeque-Austern mit Silvestros Champagner-Schalotten-Mignonette. »Erzähl mir alles, Erin«, hatte Daniel wie schon so oft zu ihr gesagt. »Lass kein Detail aus. Erspar mir nichts.« Worauf Erin lächelte und an ihrem Wein nippte. Sie bestellte gern eine Flasche teuren Weißwein, trank aber nie mehr als ein, zwei Gläser und spendierte den Rest der Flasche Patrice, der ihn dann glasweise verkaufte. Patrice revanchierte sich, indem er Erin hin und wieder zum Wein
einlud. Auch Patrice Arnaud war Dr. Reillys Patient. »Also, Danny, dann woll'n wir mal«, hatte Erin an diesem Novemberabend 2001 begonnen. »Wahrscheinlich würde dein Freund nicht verbluten - nicht wenn er seine Hand am Gelenk abschnitte, mit einem glatten Schnitt und einer scharfen Klinge.« Für Danny stand fest, dass Ketchum ein scharfes Werkzeug benutzen würde - sei es das Browning-Messer, eine Axt oder sogar seine Motorsäge. »Aber dein Freund würde viel Blut verlieren - aus Speichen- und Ellenarterie würde es richtig spritzen, das sind die beiden wichtigen Adern, die er durchtrennen würde. Doch dein unglücklicher Freund stünde vor ein paar Problemen - das heißt, falls er wirklich sterben will.« Erin zögerte, ehe sie weitersprach. »Will dein Freund sterben, oder will er nur die Hand loswerden?«, fragte sie dann.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Danny. »Ich dachte immer, es gehe nur um die Hand.« »Tja, dann könnte er seinen Willen bekommen«, sagte Erin. »Du musst wissen, diese Arterien sind sehr elastisch. Sobald sie durchtrennt sind, ziehen sie sich wieder in den Arm zurück, wo sie von dem umgebenden Gewebe zusammengedrückt werden, wenigstens bis zu einem gewissen Grad. Die Muskeln in den Arterienwänden würden sich sofort zusammenziehen und so den Durchmesser der Arterien verringern und den Blutverlust vermindern. Unser Körper ist erfinderisch, wenn's ums Überleben geht. Bei deinem Freund kämen zahlreiche Mechanismen ins Spiel, die verhindern würden, dass er verblutet.« Erin machte wieder eine Pause. »Was hast du?«, fragte sie Danny. Daniel Baciagalupo überlegte immer noch, ob Ketchum sich tatsächlich umbringen wollte oder nicht. In all den Jahren war Danny bei
dem ständigen Gerede über die linke Hand nie auf die Idee gekommen, dass Ketchum möglicherweise schlimmere Absichten hatte. »Ist dir schlecht oder was?«, fragte Dr. Reilly Danny. »Nein, nein«, sagte Danny. »Er würde also nicht verbluten, meinst du?« »Die Thrombozyten würden ihn retten«, antwortete Erin. »Thrombozyten oder Blutplättchen sind winzige Blutteilchen, nicht einmal richtige Zellen; es sind so eine Art Zellflocken, die im Blutkreislauf zirkulieren. Unter normalen Umständen sind Blutplättchen winzige, glatte, nichthaflende Teilchen. Wenn sich dein Freund aber die Hand abschneidet, legt er das Endothel frei, also die innerste Arterienwandschicht, was zu der Ausschüttung eines Proteins namens Kollagen führt - das auch von Schönheitschirurgen verwendet wird. Wenn die Blutplättchen auf das frei liegende Kollagen treffen, machen sie eine drastische Verwandlung durch. Aus den glatten Plättchen
werden klebrige Partikel mit spitzen Fortsätzen. Sie sammeln sich und bleiben aneinander kleben - sie bilden einen Pfropf.« »Eine Art Gerinnsel oder Klumpen?«, fragte Danny mit seltsam heiserer Stimme. Er konnte nichts essen, weil er nicht schlucken konnte. Irgendwie stand für ihn fest, dass Ketchum sich umbringen wollte. Sich die linke Hand abzuhacken war nur die Methode seiner Wahl. Natürlich machte Ketchum seine linke Hand dafür verantwortlich, dass ihm Rosie damals entglitt. Aber Rosie war schon seit Jahrzehnten tot. Danny wurde klar, dass Ketchum sich offenbar die Schuld daran gab, Carl nicht getötet zu haben. Ketchum machte sich den Tod seines Freundes Dominic zum Vorwurf und zwar dem ganzen Ketchum. Seiner linken Hand konnte man nicht vorwerfen, dass der Cowboy den Koch erschossen hatte. »Zu viele Details beim Essen?«, fragte Erin. »Ich bin gleich fertig. Die Gerinnung kommt
etwas später, daran sind ein paar andere Proteine beteiligt. Kurz und gut, es entsteht tatsächlich ein Pfropf, der die Arterie verschließt. Das würde den sonst enormen Blutverlust deines Freundes aufhalten und ihm das Leben retten. Man stirbt nicht, wenn man sich die Hand abschneidet.« Doch Danny kam sich vor wie ein Ertrinkender; er sank und sank. (»Tja, sterben ist manchmal nicht so leicht, Danny, das sollte ein Schriftsteller wissen«, hatte der alte Holzfäller zu ihm gesagt.) »Okay, Erin«, sagte Danny, doch seine Stimme klang seltsam fremd, auch für ihn. »Nehmen wir an, mein Freund will sterben. Angenommen, er will sich zwar die linke Hand abschneiden, aber eigentlich will er sterben. Was dann?« Die Ärztin schlang ihr Essen hinunter; sie musste ein Weilchen kauen und schlucken, während Danny wartete. »Das ist einfach«,
sagte Erin nach einem weiteren Schlückchen Wein. »Weiß dein Freund, was Aspirin ist? Er nimmt einfach ein paar Aspirin.« »Aspirin«, wiederholte Danny wie betäubt. Er sah den Inhalt des Handschuhfachs von Ketchums Pick-up vor sich, als stünde die Klappe noch offen und als hätte Danny nie den Arm ausgestreckt und sie zugemacht - da waren die kleine Pistole und die große Flasche Aspirin. »Beides Schmerzmittel«, hatte Ketchum sie beiläufig genannt. »Ohne Aspirin und eine Waffe würde ich nie aus dem Haus gehen«, hatte er gesagt. »Aspirin blockiert gewisse Teile des Vorgangs, der die Blutplättchen aktiviert«, sagte Dr. Reilly gerade. »Wissenschaftlich gesprochen bedeutet das: Aspirin verhindert die Blutgerinnung. Wenn dein Freund nur zwei Aspirintabletten
im Körper hätte, würde die Gerinnung sehr wahrscheinlich zu spät einsetzen, um ihn noch zu retten. Und wenn er unbedingt sterben wollte, könnte er das Aspirin mit etwas Schnaps hinunterspülen; aufgrund eines völlig anderen Vorgangs verhindert auch Alkohol, dass die Plättchen aktiviert werden und verklumpen. Zwischen Aspirin und Alkohol käme es zu einem echten Synergieeffekt, der die Blutplättchen wirkungslos machte - sie würden nicht aneinanderhaften. Mit anderen Worten: keine Gerinnung. Dein einhändiger Freund würde sterben.« Als Erin merkte, dass Danny, ohne zu essen, auf seinen Teller starrte, verstummte sie. Bemerkenswert war auch, dass er sein Bier kaum angerührt hatte. »Danny?«, sagte seine Ärztin. »Ich wusste nicht, dass er ein echter Freund ist. Ich dachte, es wäre bestimmt eine Romanfigur und du hättest Freund nicht wörtlich gemeint. Es tut mir leid.«
An diesem Novemberabend war Danny vom Kiss of the Wolf nach Hause gelaufen. Er hatte Ketchum so schnell wie möglich anrufen wollen, ungestört. Es war eine kalte Nacht in Toronto. So spät im Herbst hatte es im Coos County, New Hampshire, wohl schon etliche Male geschneit. Ketchum faxte kaum noch. Er rief Danny auch nicht mehr oft an - lange nicht so oft, wie Danny ihn anrief. An jenem Abend hatte er das Telefon ewig klingeln lassen. Danny hätte auch Sixpack angerufen, hatte aber ihre Telefonnummer nicht, und ihren Nachnamen hatte er noch nie gewusst - genauso wenig wie Ketchums Vornamen, falls der alte Holzfäller überhaupt einen hatte. Er beschloss, Ketchum ein Fax zu schicken und ihn unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand um Sixpacks Telefonnummer zu bitten - für den Fall, dass es irgendwann mal einen Notfall geben sollte und Danny Ketchum
nicht erreichte. ich brauche keinen nachspioniert!
aufpasser,
der
mir
Als Danny morgens erwachte und die Treppe herunterkam, hatte Ketchum schon zurückgefaxt. Doch nach ein paar weiteren Faxen und einem unerfreulichen Telefonat rückte Ketchum Six-packs Nummer heraus. Erst im Dezember desselben Jahres, 2001, nahm Danny endlich all seinen Mut zusammen und rief Sixpack an, die am Telefon ziemlich einsilbig blieb. Ja, sie und Ketchum waren im Herbst ein paarmal zum Moose-Watch Pond gefahren und hatten den Elchen beim Tanzen zugesehen - oder beim »Herumtapsen«, wie Sixpack sagte. Ja, sie war auch mit Ketchum »beim Camping« gewesen, doch nur einmal, während eines Schneesturms, und wenn ihre
Hüfte sie nicht die ganze Nacht wach gehalten hätte, dann hätte Ketchums Schnarchen das übernommen. Auch hatte Danny in dem Jahr kein Glück bei dem Versuch, Ketchum zu überreden, Weihnachten in Toronto zu verbringen. Ketchum, so unabhängig wie eh und je, hatte sich nicht festlegen wollen: »Vielleicht komm ich vorbei, aber eher nicht.« Und dann war auch schon die Zeit da, vor der es Daniel Baciagalupo inzwischen graute wenige Tage vor Weihnachten, kurz vor dem ersten Jahrestag der Ermordung seines Dads. Er hatte im Kiss of the Wolf allein zu Abend gegessen und vor sich hin geträumt, als Patrice elegant und diskret, wie es seine Art war, an Dannys Tisch, trat. »Du hast Besuch«, sagte Patrice ungewöhnlich ernst. »Aber seltsamerweise an der Küchentür.« »Besuch für mich? In der Küche?«, fragte Daniel.
»Eine großgewachsene, kräftig aussehende Person«, sagte Patrice mit unheilschwangerer Stimme. »Sieht nicht wie eine Leseratte aus kein gewöhnlicher Fan.« »Aber warum an der Küchentür?«, fragte Danny. »Sie sagte, sie sei nicht schick genug angezogen, um durch die Vordertür zu kommen«, antwortete ihm Patrice. »Sief«, sagte Danny. Wenn es doch Lady Sky wäre! »Ich musste zweimal hinsehen, um mich zu vergewissern«, sagte Patrice schulterzuckend. »Aber es ist eindeutig eine Sie.« In der Gasse hinter dem Restaurant hatte der einäugige Pedro die großgewachsene Frau erspäht. Er war so liebenswürdig gewesen, ihr den Lieferanteneingang zur Küche zu zeigen. Der ehemalige Ramsay Farnham hatte zu Sixpack-Pam gesagt: »Auch wenn es nicht auf
der Speisekarte steht, gibt es um diese Jahreszeit hier häufig Cassoulet - das ich wärmstens empfehle.« »Ich will keine milde Gabe«, sagte ihm Sixpack. »Ich suche nach einem Kerl, Danny heißt er - ein berühmter Schrift steller.« »Danny arbeitet nicht in der Küche - das war sein Dad«, teilte ihr Pedro mit. »Ich weiß - ich komme nun mal lieber durch die Hintertür«, sagte Pam. »Der Laden sieht verdammt edel aus.« Da zeigte sich so etwas wie Herablassung in Pedros Miene, vielleicht ein Reflex aus seinem früheren Leben in der Hautevolee Torontos. »So edel ist er nun auch wieder nicht«, befand er. Außerdem haderte Ramsay immer noch mit der Namensänderung seines Lieblingsrestaurants; auch wenn keiner ihn je gesehen hatte, Kiss of the Wolf würde für Pedro immer ein Pornofilm sein.
In der Gasse hielten sich noch andere Obdachlose auf; sie hielten Distanz zu Sixpack. Man könnte vielleicht sagen, dass der einäugige Pedro nur ein halber Obdachloser war. Die anderen Menschen in der Gasse waren vor Pam auf der Hut. Trotz ihres rustikalen Hinterwäldleraufzugs sah Sixpack nicht wie eine Obdachlose aus. Sogar der einäugige Pedro sah den Unterschied. Er klopfte an den Lieferanteneingang des Kiss of the Wolf. Joyce, eine der weiblichen Sous-Chefs, öffnete die Tür, und ehe sie hallo sagen konnte, schob er Sixpack schon an ihr vorbei in die Küche. »Sie will zu Danny«, sagte der Einäugige. »Keine Angst - sie ist keine von uns.« »Ich kenne Danny, und er kennt mich«, sagte Sixpack rasch zu Joyce. »Ich bin kein Groupie oder so was.« (In diesem Jahr war Pam 84 geworden. Joyce hätte sie wohl kaum für ein Groupie gehalten - nicht einmal für das
Groupie eines Schriftstellers.) Kristine lief zu Patrice, während Joyce und Silvestro Sixpack begrüßten. Als Patrice schließlich Danny in die Küche holte, hatte Silvestro Pam bereits überredet, das Zweierlei aus Foie gras und Entenconfit mit einem Glas Champagner zu kosten. Als Danny Sixpack sah, wurde ihm angst und bange. Sixpack war nicht Lady Sky, und Danny vermutete, dass etwas nicht stimmte. »Ist Ketchum bei dir?«, fragte Danny, wohl wissend, dass Ketchum durch die Vordertür gekommen wäre, ganz gleich in welchen Klamotten. »Zwing mich nicht zu reden, Danny - nicht hier, und zuerst muss ich was essen und trinken«, sagte Sixpack. »Scheiße, ich bin den ganzen Tag mit diesem furzenden Hund herumgefahren - wir haben nur zum Pinkeln und zum Tanken gehalten. Ketchum hat gesagt, ich soll die Lammkoteletts bestellen.«
Und die bekam Sixpack auch. Gemeinsam aßen sie an Dannys Stammtisch beim Fenster. Pam hielt die Lammkoteletts beim Essen mit den Fingern, die Serviette hatte sie in den offenen Kragen von einem von Ketchums Flanellhemden gestopft. Als sie aufgegessen hatte, wischte sie sich die Hände an ihren Jeans ab. Sixpack trank zwei Steam Whistles vom Fass und eine Flasche Rotwein; statt eines Nachtischs ließ sie sich die Käseplatte bringen. Ketchum hatte ihr eine sehr präzise Wegbeschreibung zu Dannys Haus mitgegeben und sie gewarnt, falls sie zur Abendessenszeit käme, fände sie Danny wahrscheinlich im Kiss of the Wolf. Der Holzfäller hatte Sixpack auch den Weg zu dem Restaurant beschrieben. Doch als Sixpack einen Blick in das Restaurant warf - sie war groß genug, um über die Milchglashälfte des Panoramafensters sehen zu können -, hielten wohl einige der übertrieben schick gekleideten
Restaurantgäste sie davon ab, einfach einzutreten. Stattdessen hatte sie einen Hintereingang gesucht. »Heros Hundebett hab ich in die Küche gelegt - er ist es schließlich gewohnt, in Küchen zu schlafen«, sagte Pam. »Ketchum hat mir gesagt, ich soll einfach reingehen, weil du die Bude nie abschließt. Hübsches Haus. Ich hab meine Sachen in das Schlafzimmer getan, das von deinem am weitesten entfernt liegt— das mit den vielen Fotos von der schönen Frau. Wenn ich da einen meiner Alpträume kriege, wecke ich dich vielleicht nicht auf.« »Hero ist hier?«, fragte Danny. »Ketchum sagte, du brauchtest einen Hund, aber von meinen kriegst du keinen«, sagte Sixpack. »Hero ist zu anderen Hunden nicht besonders nett - meine Hunde werden ihm keine Träne nachweinen.« »Du bist den weiten Weg gefahren, um mir
Hero zu bringen?«, fragte Danny. (Dem natürlich klar war, dass hinter Six-packs Besuch mehr steckte.) »Ketchum sagte, ich müsse dich persönlich sprechen. Keinen Anruf, keinen Brief und kein Fax - nichts von dieser ganzen Kinderkacke«, antwortete Sixpack. »Ketchum war's anscheinend wichtig, weil er alles aufgeschrieben hat. Außerdem ist noch mehr Krempel da, den du haben sollst - liegt alles in seinem Track.« »Du bist mit Ketchums Pick-up hier?«, fragte Danny. »Der Truck ist nich für dich, mit dem fahr ich wieder zurück«, sagte Pam. »Der ist nichts für die Stadt, Danny - außerdem würdest du ihn eh nicht wollen, weil er immer noch stinkt, als hätte 'n Bär reingeschissen.« »Wo ist Ketchum? Was ist passiert?«, wollte Danny wissen.
»Wir sollten mit dem Hund Gassi gehen oder so was«, schlug Sixpack vor. »Damit wir unter uns sind, meinst du?«, fragte Danny. »Herrgott noch mal, Danny, manche Leute hier wurden schon hochnäsig geboren!«, sagte Sixpack. An diesem Abend war das Kiss of the Wolf gut besucht; seit der Namensänderung und dem neuen Bistro-Konzept von Patrice war das Restaurant abends meist brechend voll. Manchmal fand Danny, die Tische stünden zu dicht zusammen. Als er und Sixpack aufbrachen, schien sich Pam wegen ihrer kaputten Hüfte aufstützen zu wollen, doch bald merkte Danny, dass sie sich absichtlich auf den Nebentisch stützte, wo ein Paar saß, das sie während des gesamten Essens angeglotzt hatte. Als Prominenter war Danny es gewohnt - und nahm es fast nicht mehr wahr -, dass Leute ihn anstarrten, aber Pam
hatte offenbar etwas dagegen. Sie kippte die Wein- und Wassergläser des Paares um; als Sixpack plötzlich ihr Gleichgewicht wiedergewann, schlug sie dem sitzenden Herrn ihren Unterarm ins Gesicht. Zu der verdutzt dreinblickenden Frau an dem verwüsteten Tisch sagte sie: »Das hat er davon, dass er mich angeglotzt hat - als würden meine Titten raushängen oder so was.« Ein Kellner und ein Hilfskellner eilten herbei, um den Schaden zu beheben, während Patrice elegant und diskret zu Danny huschte und ihn unter der Tür umarmte. »Wieder ein unvergesslicher Abend absolut unvergesslich, Daniel!«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Die Hintertür ist halt eher mein Ding«, sagte Sixpack bescheiden zu dem Besitzer des Kiss of the Wolf. Als sie an der Yonge Street darauf warteten, dass die Fußgängerampel grün wurde, sagte
Danny zu Sixpack: »Sag's mir einfach, verdammt noch mal! Sag mir alles. Lass kein Detail aus.« »Lass uns erst nachsehen, wie's Hero geht, Danny«, erwiderte Sixpack. »Ich übe noch, was ich sagen muss. Wie du dir denken kannst, hat Ketchum mir haufenweise Anweisungen hinterlassen.« Es stellte sich heraus, dass Ketchum etliche Seiten mit »Anweisungen« in einem Umschlag in das Handschuhfach seines Pick-ups gelegt hatte. Die Klappe des Handschuhfachs hatte offen gestanden, damit Pam den Umschlag nicht übersah, der unter Ketchums Pistole steckte. (»Ein besserer Briefbeschwerer war gerade nicht zur Hand«, wie Sixpack sagte.) Jetzt sah Danny, dass Ketchums Truck in der Auffahrt des Hauses am Cluny Drive stand, als hätte Ketchum seine Meinung geändert und sei doch zu einem Weihnachtsbesuch vorbeigekommen. Hero schien sein Hundebett
zu bewachen und knurrte Sixpack und Danny an - eine mürrische Begrüßung. Pam hatte ihm schon die Scheide von Ketchums BrowningMesser in sein Hundebett gelegt; vielleicht als eine Art Schnuller, dachte Danny. Er hatte das lange Browning-Messer auf der Küchenablage entdeckt und rasch wieder weggeschaut. Die ganze Küche stank nach Heros Fürzen womöglich das ganze Erdgeschoss des Hauses. »Herrje, was ist denn mit Heros Auge?«, fragte Danny Pam. »Kein Lid mehr. Erzähl ich dir später. Aber glotz nicht, es ist ihm so schon peinlich genug«, sagte Sixpack. Danny sah, dass sie Ketchums Lieblingsmotorsäge in den Fitnessraum gebracht hatte. »Was soll ich mit der Motorsäge?«, fragte er Pam. »Ketchum sagte, du sollst sie haben«, antwortete Sixpack. Vielleicht um das Thema zu wechseln, fuhr sie fort: »Wenn ich raten
müsste, würd ich sagen, Hero muss mal kacken.« Sie gingen mit Hero in den Park. Überall um sie herum glitzerte die Weihnachtsbeleuchtung. Als sie zurückkamen, setzten sie sich an den Küchentisch, während sich der Jagdhund, offenbar absichtlich, in einiger Entfernung hingelegt hatte und sie nun beobachtete. Pam hatte sich etwas Whiskey in ein Schnapsglas gegossen. »Ich weiß, dass du weißt, was ich dir jetzt erzählen werde, Danny - nur das Wie weißt du noch nicht«, begann sie. »So wie ich es sehe, beginnt die Geschichte mit deiner Mutter - und das alles nur, weil Ketchum deine Mum gevögelt hat, statt lesen zu lernen, hab ich recht?«, sagte Sixpack. »Tja, egal - hier kommt das Ende.« Als sie nachher gemeinsam den Pick-up
entluden, war Danny froh, dass Sixpack erst so spät zu erzählen begonnen hatte. Sie hatte ihm Zeit gegeben, sich darauf einzustellen, und während Danny gewartet hatte zu erfahren, was mit Ketchum geschehen war, hatte er sich schon einige der Details vorgestellt - wie das Schriftsteller eben so tun. Bestimmt hatte Ketchum noch ein letztes Mal die Elche beim Tanzen beobachten wollen, so viel war Danny klar; und bestimmt hatte der alte Waldarbeiter Sixpack dieses Mal nicht eingeladen, ihn zu begleiten. Da es an jenem Tag lange geschneit hatte und die Nacht entsprechend kalt werden würde - ein gutes Stück unter dem Gefrierpunkt -, hatte Ketchum zu Sixpack gesagt, für ihre Hüffe sei Camping auf dem Kochhaushügel jetzt wohl nicht das Richtige, aber vielleicht wolle sie ja am nächsten Morgen zu einem Frühstück im Freien vorbeikommen. »Ziemlich kalte Stelle für ein Frühstück,
oder?«, hatte sie ihn gefragt. Schließlich war die erste Dezemberhälfte bereits um, und die längste Nacht des Jahres stand bevor. Der Twisted River fror nur selten vor Januar zu, doch was hatte sich Ketchum nur dabei gedacht? Aber (berichtete Pam Danny) sie hatten schon früher an derselben Stelle gefrühstückt. Ketchum genoss es immer, ein Feuer zu machen. Er legte ein paar Kohlen beiseite und bereitete den Kaffee so zu, wie er ihn mochte - in der Röstpfanne, mit gemahlenem Kaffee und Eierschalen, für das Wasser schmolz er ein wenig Schnee. Er briet ein paar Hirschsteaks und pochierte drei oder vier Eier auf dem Feuer. Sixpack hatte sich bereit erklärt, ihn dort zum Frühstück zu treffen. Doch der Plan ergab keinen Sinn, und Pam wusste das. Sixpack hatte einen Blick in Ketchums Pick-up geworfen, in dem weder Zelt noch Schlafsack lagen. Falls Ketchum im
Freien übernachten wollte, hatte er vor zu erfrieren - oder bei laufendem Motor im Fahrerhaus seines Trucks zu schlafen. Außerdem hatte Ketchum Hero bei Pam gelassen. »Ich glaube, die Kälte macht auch Heros Hüfte zu schaffen«, hatte er ihr gegenüber behauptet. »Das war mir neu«, sagte Sixpack zu Danny. Und als Sixpack am nächsten Morgen auf dem Kochhaushügel auftauchte, wusste sie sofort, dass Ketchum kein Frühstück im Freien geplant hatte. Es kochte kein Kaffee, nichts brutzelte. Es brannte auch kein Lagerfeuer. Ketchum saß da, gegen die Reste des eingestürzten Schornsteins gelehnt, als bestünde das Kochhaus in seiner Vorstellung weiterhin und er säße mittendrin in der warmen Stube. Hero war zu seinem Herrn gelaufen, aber kurz vor der Stelle, wo Ketchum auf dem schneebedeckten Boden saß, abrupt stehen
geblieben. Pam sah, wie sich Heros Nackenhaare sträubten und der Hund plötzlich auf steifen Beinen weiterstakste, um den alten Holzfäller herum. »Ketchum!«, hatte Sixpack gerufen, aber keine Antwort erhalten; nur Hero hatte den Kopf umgedreht und sie angesehen. »Ich konnte nicht zu ihm hingehen - ganz lange nicht«, erzählte Sixpack Danny. »Er war hinüber, das stand fest.« Weil es am Vortag geschneit hatte, sah Pam genau, wie Ketchum vorgegangen war. In dem frischen Schnee gab es eine Blutspur, der Sixpack den Hügel hinunter bis zum Fluss folgte. Oberhalb des Ufers standen ein paar große Baumstümpfe, und sie sah, dass Ketchum von einem den Schnee weggewischt hatte. Das warme Blut war in den Baumstumpf gesickert, und Ketchums Axt steckte so fest in dem Holz, dass Pam sie nicht herausziehen konnte. Ketchums linke Hand war unauffindbar; anscheinend hatte er sie in den
Fluss geworfen. Da Danny mitbekommen hatte, an welcher Stelle im Fluss Ketchum auf das Apfelsaffglas mit der Asche des Kochs geschossen hatte, konnte er sich denken, wohin genau Ketchum seine linke Hand geworfen hatte. Doch bestimmt war es dem alten Mann schwergefallen, wieder den Kochhaushügel hinaufzugehen. An der breiten roten Spur im Schnee sah Pam, wie stark Ketchum geblutet hatte. »Als sie früher auf dem Phillips Brook noch Hartholz getriftet haben«, erzählte Sixpack Danny, »hab ich mal gesehen, wie Ketchum für den Eigengebrauch ein wenig Brennholz geklaut hat. Also, er hat bloß etwas Faserholz aus dem Stapel genommen - diese eins zwanzig langen, dünnen Stämmchen waren ja nicht der Rede wert. Doch ich hab gesehen, wie Ketchum knappe zwei Festmeter davon in weniger als einer halben Stunde zu Kleinholz
gespalten hat! So würde niemand das Zeug wiedererkennen, falls man es irgendwann in seinem Pick-up entdecken sollte. Ketchum hat einfach den Stiel seiner Axt gepackt einhändig, wie ein kleines Beil - und die Stämmchen der Länge nach gespalten, und dann noch mal und noch mal, bis er die eins zwanzig langen Scheite zu halb so langem Anmachholz zerhackt hatte! Ich hab nie erlebt, dass er mit der Axt ausholen musste. Er war so stark, Danny, und so präzise - er hat die Axt einfach mit einer Hand geschwungen, als war sie ein verdammter Hammerl Diese Penner von der Paris Manufacturing Company haben nie kapiert, wie ihr Faserholz verschwand! Ketchum sagte immer, diese Arschlöcher wären zu sehr damit beschäftigt, in Maine Toboggans zu bauen - da haben sie fast das gesamte Hartholz hingeschafft. Diese Schwachköpfe in Paris haben nie herausgefunden, wo ihr Faserholz hinkam.« Ja, Ketchum konnte einen ein Meter zwanzig
langen Hartholzstamm einhändig zerteilen. Danny hatte gesehen, wie der Waldarbeiter seine Axt schwang. Und nachdem er sich die Hand abgehackt hatte, blieb ihm noch genug Kraft, um den Hügel hinaufzugehen, wo er sich hinsetzte, den Rücken an die Reste des Kochhausschornsteins gelehnt. Neben ihm stand eine Flasche Whiskey, berichtete Sixpack; Ketchum hatte sie fast ausgetrunken. »Sonst noch was?«, fragte Danny Sixpack. »Ich meine - war noch was neben ihm auf dem Boden?« »Ja - eine große Flasche Aspirin«, antwortete ihm Pam. »In der Flasche waren noch jede Menge Aspirintabletten. Ketchum hatte mit Schmerzmitteln nicht viel am Hut, aber er hat wohl ein paar Tabletten genommen, gegen die Schmerzen - bestimmt hat er sie mit dem Whiskey runtergespült.« Doch wahrscheinlich hatte Ketchum die Schmerzen genossen; wie Danny wusste,
dienten der Whiskey und die Tabletten einzig und allein dem Zweck, dass Ketchum nicht aufhörte zu bluten; mit Leuten, die einen Job zu erledigen hatten und ihn verbockten, hatte der Holzfäller wenig Nachsicht. (Nur Ketchum konnte Ketchum töten, stimmt's?) »Ketchum hat sich nie verziehen, dass er Cookie nicht retten konnte«, sagte Sixpack zu Danny. »Und davor - nachdem dein Sohn gestorben war, Danny - hatte Ketchum das Gefühl, dich nicht beschützen zu können. Ihm blieb nur übrig, sich zwanghaft mit deinen Romanen zu beschäftigen.« »Genau wie ich«, sagte der Schriftsteller zu Pam. »Genau wie ich.« Sixpack blieb nicht bis Weihnachten. Nachdem sie Ketchums Gewehre nach oben in Dannys Schlafzimmer getragen hatten (Pam bestand darauf, dass alle Schusswaffen unter
Dannys Bett lagen, weil Ketchum es so gewollt hatte) und die Kisten mit Rosies Büchern in Dannys Schreibzimmer, warnte Sixpack Danny, sie sei Frühaufsteherin. »Wie früh?«, fragte er sie. Als Danny am nächsten Morgen aufwachte, waren Ketchums Pick-up samt Sixpack verschwunden. Sie hatte ihm noch Kaffee gemacht und von Hand einen mehrseitigen Brief geschrieben, auf dem Schreibmaschinenpapier, das in seinem Fitnessraum lag. Sixpacks Handschrift war Danny aus den Jahren vertraut, als sie für Ketchum, der damals noch Analphabet gewesen war, dessen Briefe verfasst hatte. Danny hatte vergessen, wie gut Pam schrieb weit besser, als sie sprach, noch dazu ohne Rechtschreibfehler. (Danny fragte sich, ob das daher kam, dass sie Ketchum so viel laut vorgelesen hatte.) Sixpacks Brief enthielt natürlich Anweisungen
für den Umgang mit Hero, doch der größte Teil des Briefes war privater, als Danny erwartet hatte. Wie von Ketchum empfohlen, würde sie sich im Dartmouth Hitchcock Hospital das Hüftgelenk ersetzen lassen. In Saw Dust Alley, dem gepflegten Trailerpark an der Route 26, hatte sie einige neue Freundschaften geschlossen - durch die Anschläge vom 11. September hatte sie etliche ihrer Nachbarn kennengelernt. Henry, der alte Sägewerker aus West Dummer, dem ein Daumen und ein Zeigefinger fehlten, würde sich während Pams Krankenhausaufenthalt um deren Hunde kümmern. (Henry hatte sich auch erboten, die Hunde zu versorgen, während Sixpack mit Ketchums Truck nach Toronto und zurückfuhr.) Auch im Androscoggin Valley Hospital in Berlin, wo Sixpack immer noch nachts als Reinigungskraft arbeitete, hatte sie mittlerweile einige Freundschaften geschlossen; als sie Ketchums Leichnam auf
dem Kochhaushügel fand, hatte sie ihre Freunde im Krankenhaus angerufen. Danny erfuhr, dass Sixpack fast den ganzen Morgen bei Ketchum gesessen und seine verbliebene Hand gehalten hatte, die rechte - »die einzige, mit der er mich je berührt hat«, wie es Sixpack in ihrem Brief formulierte. Pam schrieb Danny, in den Büchern, die einmal seiner Mutter gehört hatten, werde er zwischen den Seiten einige Fotos finden. Sixpack war es schwergefallen, die Fotos von Rosie nicht zu verbrennen, allerdings hatte Pam mehr als nur ihre Eifersucht überwunden. Sixpack räumte ein, sie glaube inzwischen, Ketchum habe den Koch sogar noch mehr geliebt als einstmals Rosie. Damit könne Sixpack leben - trotz der Sache mit der linken Hand. Außerdem, schrieb Sixpack, habe Ketchum gewollt, dass Danny diese Fotos seiner Mutter bekam. »Ich weiß, es geht mich nichts an«, schrieb
Pam weiter an Danny, »aber ich würde an deiner Stelle in dem Zimmer im zweiten Stock schreiben und schlafen. Ich finde, da oben ist es so friedlich - und es ist das beste Zimmer im Haus. Aber - lass dir deswegen keine krummen Eier wachsen, Danny - bestimmt bist du mit Geistern vertraut, und zwar nicht zu knapp. Vermutlich ist es eine Sache, in einem Zimmer mit einem Geist zu arbeiten, aber etwas ganz anderes, im selben Zimmer mit einem zu schlafen. Ich weiß es nicht, weil ich mich bewusst dagegen entschieden habe, Kinder zu bekommen. Meine Philosophie lautete, mich immer von den Dingen fernzuhalten, die ich nicht zu verlieren wagte ausgenommen Ketchum.« Die Wörter ausgenommen Ketchum notierte sich Danny auf einen Zettel und klebte ihn auf eine seiner unmodernen ibm-Selectric-nSchreibmaschinen in dem Zimmer im zweiten Stock, das er sich mit Joes Geist teilte. Dem Schriftsteller gefiel die Formulierung
ausgenommen Ketchum; vielleicht konnte er sie einmal verwenden. All das war jetzt über drei Jahre her. Sein antikes Faxgerät, das immer noch in der Küche stand, hatte Danny nur deshalb nicht weggeworfen, weil Sixpack ihm gelegentlich ein Fax schickte und er zurückfaxte. Pam musste inzwischen 88 oder 89 sein - genauso alt, wie Ketchum jetzt wäre, wenn er noch lebte -, doch ihre Faxe ließen den literarischen Pep vermissen, den sie früher in ihren Briefen an den Tag gelegt hatte. Je älter Sixpack wurde, desto kürzer fasste sie sich. Wenn sie etwas gelesen oder in den Fernsehnachrichten gesehen hatte - und vorausgesetzt, es fiel in die Dümmer-alsHundescheiße-Kategorie menschlicher Blödheit -, faxte sie es Danny. Pam lieferte dann jedes Mal Ketchums vermutlichen OTon-Kommentar dazu mit, und Danny zögerte nie, in seinem Antwortfax die
Schriftstellerversion des Flößerjargons zu verwenden. Doch Danny oder Sixpack interessierte nicht nur, was Ketchum eventuell über den Irakkrieg oder das nicht enden wollende Chaos im Nahen Osten gesagt hätte, sondern, was Ketchum über alles gesagt hätte. Danny und Sixpack wollten die Stimme des alten Holzfällers hören. So versuchen wir, unsere Helden am Leben zu erhalten; deshalb erinnern wir uns an sie. Mitte Februar war der Schneesturm von Westkanada her über den Huron-See gefegt, doch als er die Inseln in der Georgian Bay erreichte, drehte der Wind, der Schnee aber fiel einfach weiter. Jetzt wehte der Wind aus südlicher Richtung, vom Parry Sound bis in die Shawanaga Bay. Von seinem Schreibschuppen aus sah Danny nun nicht
mehr, wo die Bucht aufhörte und wo das Festland begann. Wegen dieses Whiteouts glichen die Tannen dort, wo das Festland sein musste, einer Fata Morgana schwebender Bäume - oder es sah so aus, als wüchsen die Bäume aus dem Wasser heraus. Der Wind peitschte kleine Schneespiralen himmelwärts Wirbel, die aussahen wie Minitornados aus Schnee. Manchmal, wenn der Wind nordwärts blies, längs durch die ganze Shawanaga Bay, entstanden echte Tornados - so ähnlich kannte man sie auch im Mittleren Westen der usa oder in den kanadischen Prärien, wie Danny wusste. (Andy Grant hatte ihn gewarnt, er solle vor ihnen auf der Hut sein.) Tireless hatte Danny auf dem Handy angerufen. Heute wolle sie keine Inselputzfrau sein; es sei keine gute Idee, mit dem Propellerboot rauszufahren, nicht bei so schlechter Sicht. Erst vor wenigen Jahren, erzählte Tireless Danny, habe bei ähnlichen Sichtverhältnissen irgendein Depp aus Ohio
auf den O'Connor Rocks sein Propellerboot auf Grund gesetzt, nur ein wenig nordwestlich der Moonlight Bay. (Danny musste dort vorbei, wenn er Tireless in der Shawanaga Landing Indian Reservation abholte.) »Was ist dann mit diesem Deppen aus Ohio geschehen?«, fragte Danny. »Man hat den armen Trottel erfroren aufgefunden - steif wie ein Brett«, erzählte ihm Tireless. »Ich hole Sie morgen oder übermorgen ab, sobald der Sturm sich gelegt hat«, sagte Danny. »Ich rufe Sie an, oder Sie rufen mich an.« »Geben Sie Hero einen Kuss von mir«, sagte sie. »Ich küsse Hero eher selten«, antwortete Danny. »Zumindest nicht freiwillig.« »Sie sollten ihn häufiger küssen«, empfahl
Tireless. »Ich glaube, Hero wäre netter zu Ihnen, wenn Sie ihn häufiger küssen würden.« Im Schreibschuppen hatte Hero den ganzen Morgen lang gefurzt, was das Zeug hielt seine Darmwinde erreichten fast die Stärke des Schneesturms, den Danny aus seinem Fenster beobachtete. An diesem Morgen geriet der Schriftsteller nicht in Versuchung, seine Beziehung zu dem Jagdhund zu vertiefen. »Mein Gott, Hero!«, hatte Danny während dieses übelriechenden Morgens mehrmals ausgerufen, doch es war nicht das richtige Wetter, das Tier vor die Tür zu schicken. Und trotz der anhaltenden Flatulenz des Hundes war der Schriftsteller mit seiner Arbeit gut vorangekommen; Danny näherte sich langsam, aber sicher dem Beginn seines ersten Kapitels. Gewisse Sätze fielen ihm nun als Ganzes ein, komplett; sogar die Zeichensetzung machte einen unverrückbaren Eindruck. Wenn zwei solche Sätze nacheinander geboren wurden,
wenn einer direkt nach dem anderen ans Licht kam, war der Schriftsteller von seiner Arbeit besonders fasziniert. Das erste Doppel dieses Morgens hatte er auf ein Blatt Papier geschrieben und die Seite mit einer Heftzwecke an die rauhe Kiefernholzwand seines Schreibschuppens gepinnt. Danny sah immer wieder auf diese Sätze, las sie mehrmals durch. »Was den Fluss betraf, der floss einfach weiter, was sollen Flüsse sonst tun - sonst tun. Unter den Baumstämmen trieb der Leichnam des jungen Kanadiers, und der Fluss stieß ihn hin und her - hin und her.« Die Wiederholungen gefielen Danny. Er wusste, das war Material für das erste Kapitel, aber diese Passage gehörte an das Kapitelende - es klang eindeutig nicht nach Anfang. Danny hatte die Formulierung Unter den Baumstämmen umkringelt, die, wie der Schriftsteller fand, keine üble
Kapitelüberschrift wäre. Doch der Schwerpunkt des ersten Kapitels schien auf dem Koch zu liegen; der Schwerpunkt lag eigentlich nicht auf dem Jungen, der unter die Stämme gerutscht war. »Man brauchte in Gegenwart des Kochs nur >die Vergangenheit oder >die Zukunft< zu sagen, schon runzelte er die Stirn«, schrieb Daniel Baciagalupo. Er hatte noch andere einzelne Sätze über den jungen Koch; für Danny waren sie so etwas wie Markierungen oder Wegweiser, die ihm bei der Orientierung halfen, während er das erste Kapitel verfasste. Ein anderer Satz lautete: »Der Koch fand, der Twisted River besitze nicht genug Biegungen, um seinen Namen - Gewundener Fluss - zu verdienen.« Natürlich gab es noch viel mehr über den Koch; es nahm kein Ende. »Der Koch sah den Flößer mit dem gebrochenen Handgelenk ans Ufer kommen, die Flößerstange in der unversehrten Hand«, schrieb Danny.
Im ersten Kapitel würde viel aus der Perspektive des Kochs erzählt werden, stellte sich der Schrift steller vor - so wie später aus der Perspektive seines zwölfjährigen Sohnes. »Der Koch wusste nur zu gut, dass tatsächlich der junge Kanadier unter die Baumstämme geraten war«, schrieb Daniel Baciagalupo. Es gab auch einen Satz über den Koch, den er unvollendet ließ - wenigstens vorerst. »Der Koch wirkte stets besorgt, als rechnete er ständig mit den unwahrscheinlichsten Katastrophen« - weiter wollte sich Danny mit diesem Satz fürs Erste nicht befassen, er würde ihn an einem anderen Tag beenden müssen. Im Augenblick genügte es, all diese Gedanken über den Koch auf ein einzelnes Blatt zu tippen und die Seite an die Wand des Schreibschuppens zu heften. »In einem Ort wie Twisted River blieb nur das Wetter unverändert«, hatte Danny auch geschrieben; das könnte als erster Satz des Kapitels funktionieren, doch der Schriftsteller
wusste, dass er noch mehr draufhatte. Dennoch würde er diesen Satz über das Wetter aufheben und an anderer Stelle verwenden. »Jetzt war wieder Schlammperiode, und der Fluss führte Hochwasser«, schrieb Daniel Baciagalupo ein besserer Anfangssatz, aber nicht das, wonach der Schriftsteller suchte. Alles, was mit der Figur namens Ketchum zusammenhing, war fragmentarischer. Nichts über sie fiel Danny in ganzen Sätzen ein noch nicht. Da gab es zwar einen Splitter wie »Ketchum war schon Schlimmeres passiert, als sich bei einer Trift das Handgelenk zu brechen...«, eine Formulierung, die Danny gefiel, doch noch war ihm schleierhaft, wie sich der Satz entwickeln würde. Ein anderes Fragment über Ketchum war »ein erfahrener Mann, der sich mit den Tücken einer Trift auskannte«. Danny wusste, dass er diese Stelle verwenden konnte und würde, nur über das Wo war er sich nicht im Klaren - vielleicht in der Nähe eines noch ungewissen Satzes, laut
dem Ketchum auf dem Rücken lag »wie ein angeschwemmter Bär«. Doch auch diese Fragmente landeten an der Wand des Schreibschuppens, wo sie mit Heftzwecken neben den anderen Markierungen oder Wegweisern befestigt wurden. Zu diesem Zeitpunkt sah der Schriftsteller die Figur des Angel deutlicher als die des Ketchum - obwohl für Daniel Baciagalupo feststand, dass Ketchum im Gegensatz zu Angel eine Hauptfigur war. (Vielleicht die Hauptfigur, dachte Danny.) In diesem Moment - zeitgleich mit einer neuen Welle giftiger Hundefürze - klingelte Dannys Handy erneut. »Buenos dias, Senor Schriftsteller«, sagte Lupita. »Buenos dias, Lupita«, sagte Danny. Die mexikanische Putzfrau rief nicht oft an. In den zehn Winterwochen, die Danny auf der
Insel in der Georgian Bay verbrachte, kümmerte sich Lupita um das Haus am Cluny Drive. Sie öffnete und las die Post des Schriftstellers, sie hörte die Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter ab, sie warf auch einen Blick auf das Faxgerät. Einmal pro Woche erstellte Lupita eine Liste mit Dingen, die Danny ihrer Ansicht nach wissen musste im Grunde das, was nicht warten konnte, bis er nach Toronto zurückkam. Diese Liste wichtiger Anliegen faxte sie an Andy Grants Büro in Pointe au Baril Station. Danny ließ Lupita immer ein paar Scheckbücher mit unterschriebenen Blankoschecks da, damit sie während seiner Abwesenheit seine Rechnungen bezahlte. Vor allem genoss die Putzfrau es offensichtlich, dass sie die Post des Schriftstellers lesen durfte und entscheiden, was wichtig war - und was nicht. Zweifellos kam das Lupitas Stolz entgegen - ihrem Gefühl, einen enormen Einfluss, ja eine beinahe managerhafte
Kontrolle über das häusliche Leben des Bestsellerautors zu haben. Danny wusste, dass Lupita jede sich bietende Gelegenheit ergriffen hätte, um auch das Kommando über sein desolates Privatleben zu übernehmen. Falls sie Töchter gehabt hätte, hätte sie diese mit Danny bekannt gemacht. Lupita hatte allerdings Nichten; deren Fotos ließ sie dreist auf der Küchenanrichte liegen und rief dann von zu Hause Danny an, um ihm mitzuteilen, sie habe ein paar Fotos »verloren«, die ihr am Herzen lägen. Ob er sie vielleicht irgendwo gesehen hatte? »Lupita, die Fotos liegen auf der Anrichte in meiner Küche - wo Sie sie offenbar absichtlich hingelegt haben«, antwortete er ihr. »Die dunkelhaarige Schönheit in dem pinken Top, die mit dem herrlichen Lächeln und der makellosen Haut? Übrigens meine Lieblingsnichte, Mr. Schriftsteller.«
»Lupita, sie sieht wie ein Teenager aus«, gab Danny zu bedenken. »Nein, sie ist älter - ein wenig«, gab Lupita zurück. Einmal hatte Lupita zu ihm gesagt: »Heiraten Sie bloß keine Schriftstellerin. Sie beide würden sich nur gegenseitig runterziehen.« »Ich werde niemanden heiraten - niemals«, sagte er. »Warum rammen Sie sich nicht gleich einen Dolch ins Herz?«, fragte sie ihn. »Bald werden Sie Umgang mit Prostituierten pflegen! Dass Sie mit dem Hund reden, weiß ich - ich hab Sie gehört!«, sagte sie. Wenn Lupita ihn in Pointe au Baril anrief, war sie wegen irgendetwas irritiert, das wusste Danny. »Was gibt's, Lupita?«, fragte er sie übers Handy. »Schneit es in Toronto? Wir haben hier oben einen ziemlichen Schneesturm - Hero und ich sitzen fest.«
»Bei dem bedauernswerten Hund weiß ich es nicht, aber ich glaube, Sie sitzen gern fest, Mr. Schriftsteller«, sagte Lupita. Offenbar lag ihr etwas anderes am Herzen; sie hatte nicht wegen des Wetters angerufen. Manchmal war Lupita davon überzeugt, dass Menschen das Haus am Cluny Drive beobachteten, was gelegentlich sogar stimmte. Schüchterne Fans, jedes Jahr ein paar - leicht fanatische Leser, die hofften, einen Blick auf den Schriftsteller zu erhaschen. Vielleicht auch zwielichtiges Mediengesindel - worauf die wohl hofften? (Vielleicht auf noch eine Schießerei mit zwei Toten.) Irgendein kanadisches Revolverblatt hatte einen Stadtplan von Toronto mit den Domizilen Prominenter veröffentlicht; darauf war auch Dannys Haus am Cluny Drive eingezeichnet. Nicht oft, vielleicht einmal im Monat, kam ein Autogrammjäger an die Tür; Lupita scheuchte sie fort, als wären es Bettler.
»Man bezahlt ihn dafür, dass er Bücher schreibt, nicht signiert!«, sagte die Putzfrau dann. Irgendein Medienkretin hatte allen Ernstes über Lupita geschrieben: »Die Freundin des öffentlichkeitsscheuen Autors, die offenbar mit ihm zusammenlebt, ist eine untersetzte Latina - eine ältere Frau mit ausgeprägtem Beschützerinstinkt.« Darüber konnte Lupita gar nicht lachen; sowohl untersetzte wie ältere empfand sie als zutiefst kränkend. (Was Lupitas Beschützerinstinkt anging, der war ausgeprägter denn je.) »Jemand sucht nach Ihnen, Senor Schriftsteller«, informierte ihn Lupita jetzt über sein Handy. »Ich würde zwar nicht so weit gehen, sie eine Stalkerin zu nennen - noch nicht -, doch sie ist entschlossen, Sie zu finden, das kann ich Ihnen versichern.« »Wie entschlossen?«, fragte Danny.
»Ich würde sie nicht reinlassen!«, rief Lupita. »Und ich hab ihr natürlich nicht verraten, wo Sie sind.« »Natürlich nicht«, wiederholte Danny. »Was wollte sie denn?« »Hat sie nicht gesagt - sie war sehr von oben herab. Sie guckt regelrecht durch einen hindurch - wenn Blicke töten könnten, wie man so sagt! -, und sie hat frech angedeutet, sie wisse, wo Sie sind. Ich glaube, sie hat nach mehr Informationen geangelt, aber ich habe den Köder nicht geschluckt«, schloss Lupita stolz. »Wie denn frech angedeutet?«, fragte Danny. »Sie war ungewöhnlich gut informiert«, sagte Lupita. »Sie fragte, ob Sie da oben auf der Insel wären, wo sie mal mit dieser Drehbuchautorin gewohnt hätten! Ich sagte: >Was für eine Insel?< Sie hätten mal sehen sollen, wie sie mich da angeschaut hat!«
»Als wüsste sie, dass Sie gelogen haben?«, fragte Danny. »Genau!«, rief Lupita. »Vielleicht ist sie ja eine Hexe!« Doch jeder Fan Danny Angels wusste, dass er mit Charlotte Turner zusammengelebt hatte und dass sie im Sommer zur Georgian Bay gefahren waren; irgendwo hatte jemand sogar geschrieben, der angeblich öffentlichkeitsscheue Schriftsteller verbringe seine Winter auf einer entlegenen Insel im Huron-See. (Jedenfalls war sie im Winter »entlegen«.) Falls die Frau eine Leserin von Danny Angel war, hatte sie im Grunde nur gut geraten; es bedeutete wohl kaum, dass die Frau, die ihn suchte, Hexenkräfte besaß. »Wie sah diese Frau denn aus, Lupita?«, erkundigte sich Danny, der versucht war, seine Putzfrau zu fragen, ob sie vielleicht einen Reisigbesen entdeckt oder um die ungewöhnlich gut informierte Frau herum
Qualmgeruch oder das Knistern eines Feuers wahrgenommen habe. »Sie sah wirklich furchterregend aus!«, behauptete Lupita. »Mächtige Schultern - wie ein Mann! Sie war gewaltig!« »Gewaltig«, wiederholte Danny und musste dabei an seinen Dad denken. (Er war eindeutig dessen Sohn - Wiederholungen lagen ihm im Blut.) »Sie sah aus, als würde sie in einem Fitnesscenter wohnen«, erläuterte Lupita. »Mit der möchte man sich lieber nicht anlegen, glauben Sie mir.« Danny lag das Wort Bodybuilderin auf den Lippen, doch er schluckte es herunter. Lupitas gesammelte Eindrücke ließen vor Dannys innerem Auge plötzlich Lady Skys Geist auftauchen, denn hatte Amy nicht ausgesehen, als wohnte sie in einem Fitnesscenter? Hatte nicht Lady Sky glatt durch einen
hindurchgesehen? (Wenn Blicke töten könnten, na klar!) Und war Amy nicht gewaltig gewesen? Irgendwie passte der Ausdruck von oben herab nicht zu Lady Sky, doch da mochte Lupita durchaus etwas falsch interpretiert haben. »Hatte sie irgendwelche Tätowierungen?«, fragte Danny. »Mr. Schriftsteller, es ist Februar!«, rief Lupita. »Ich habe sie draußen, in der Kälte, stehen lassen. Sie sah aus wie eine Polarforscherin!« »Konnten Sie ihre Haarfarbe erkennen?«, fragte Danny. (Amy war rotblond gewesen, erinnerte er sich; er hatte sie nie vergessen.) »Sie trug einen Parka - mit Kapuze1.«, rief Lupita. »Ich konnte nicht mal erkennen, welche Farbe ihre Augenbrauen hatten!« »Aber groß war sie.« Danny ließ nicht locker. »Nicht nur breitschultrig, sondern groß
gewachsen, stimmt's?« »Die würde Sie überragen!«, rief Lupita. »Sie ist eine Riesin!« Es war sinnlos, Lupita zu fragen, ob sie irgendwo einen Fallschirm bemerkt hätte. Danny überlegte krampfhaft, was er sonst noch fragen könnte. Zunächst war ihm Lady Sky damals älter als er selbst vorgekommen, doch später war er sich nicht mehr so sicher; vielleicht standen sie sich altersmäßig näher, als er gedacht hatte. »Wie alt war diese Frau, Lupita?«, fragte Danny. »Würden Sie schätzen, dass sie ungefähr in meinem Alter war - oder vielleicht ein wenig älter?« »Jünger.« Lupita klang überzeugt. »Nicht viel jünger, aber auf jeden Fall jünger als Sie.« »Oh«, sagte Danny, dem man die Enttäuschung anhörte. Dass er sich vorgestellt hatte, Amy könne wieder aus dem Himmel fallen, ließ Danny verzweifeln. Wunder gibt es
nur einmal. Lady Sky hatte ja selbst gesagt, sie sei nur manchmal ein Engel. Doch Lupita hatte das Wort entschlossen verwendet, um die geheimnisvolle Besucherin zu beschreiben; Lady Sky hatte jedenfalls entschlossen gewirkt. (Und wie hatte der kleine Joe sie geliebt!) »Nun denn, wer auch immer sie sein mag«, sagte Danny am Telefon zu Lupita, »heute wird sie hier nicht auftauchen - nicht bei diesem Schneesturm.« »Eines Tages taucht sie da auf, oder sie kommt wieder hierher - ich weiß es einfach«, warnte ihn Lupita. »Glauben Sie an Hexen, Mr. Schriftsteller?« »Glauben Sie an Engel!«, fragte Danny zurück. »Die Frau sah zu gefährlich aus, um ein Engel zu sein«, wandte Lupita ein. »Ich werde die Augen offen halten«, versprach
Danny. »Und Hero sag ich, sie ist ein Bär.« »Es wäre weniger gefährlich, einem Bären zu begegnen, Senior Schriftsteller«, sagte Lupita. Gleich nach dem Ende ihres Telefonats ertappte Danny sich bei dem Gedanken, dass Lupita - sosehr er sie mochte - eine abergläubische alte Mexikanerin war. Glaubten Katholiken an Hexen?, fragte sich der Schriftsteller. (Danny wusste nicht, was Katholiken glaubten - und schon gar nicht, was speziell Lupita glaubte.) Ihn ärgerte, dass er beim Schreiben gestört worden war; außerdem hatte Lupita versäumt, ihm zu sagen, wann sie die Riesin in Toronto gesehen hatte. Heute Morgen vielleicht - oder doch schon letzte Woche? Eben noch hatte er Kurs gehalten und die Struktur seines ersten Kapitels geplant. Dann hatte ihn ein absurder Anruf völlig aus dem Konzept gebracht; jetzt ließ er sich sogar vom Wetter ablenken. Der Inuksuk war unter dem Schnee begraben.
(»Kein gutes Zeichen«, konnte Danny Tireless fast sagen hören.) Und Danny ertrug es nicht, die vom Wind gebeugte kleine Kiefer anzusehen. Heute ähnelte das krumme und schiefe Bäumchen zu sehr seinem Vater. Es schien nicht viel zu fehlen, und die Kiefer ginge zugrunde, so wie sie sich unter der Schneelast im Sturm duckte. Wenn Danny nach Südosten schaute - in Richtung Pentecost Island, zur Mündung des Shawanaga River -, sah er nur weiße Leere. Es gab keine Grenzlinie, die anzeigte, wo der wirbelnde weiße Himmel endete und wo die schneebedeckte Bucht begann; es gab keinen Horizont. Schaute er nach Südosten, war Burnt Island unsichtbar - verschwunden, im Sturm verlorengegangen. Ganz im Osten konnte Danny von dem Festland nur die Wipfel der höchsten Bäume ausmachen. Wie der Horizont war auch das Festland verschwunden. Auf einer Landzunge stand die Hütte eines Eisanglers; vielleicht hatte der Schneesturm
die Hütte weggeweht, oder sie war (so wie alles andere) schlicht nicht mehr zu sehen. Danny dachte, er sollte vielleicht besser ein paar zusätzliche Eimer Wasser aus dem See ins Haupthaus schleppen, solange er den See noch sah. Das letzte Loch, das er ins Eis gehackt hatte, war inzwischen von Neuschnee bedeckt; Danny und Hero mussten aufpassen, nicht durch die dünne Eisschicht über diesem Loch zu brechen. Es war unsinnig, eine Fahrt in den Ort zu wagen - Danny konnte irgendwas aus der Kühltruhe auftauen. Heute würde er auch aufs Holzhacken verzichten. Im Freien pikte der vom Wind getriebene Schnee Hero in sein ständig offenes, lidloses Auge; der Hund wischte sich immer wieder mit der Pfote übers Gesicht. »Nur vier Eimer, Hero - nur zwei Gänge zur Bucht und zurück«, sagte Danny zu dem Jagdhund. »Wir bleiben nicht lange draußen.« Doch gerade als Danny zum zweiten Mal zwei Eimer aus der Bucht
zog, legte sich der Wind abrupt und komplett. Jetzt sank der Schnee in größeren und weicheren Flocken zu Boden. Die Sicht war nicht besser, doch es war nun angenehmer, draußen zu sein. »Kein Wind, kein Schmerz, Hero - was hältst du davon?«, fragte Danny den Walker Bluetick. Heros Stimmung hatte sich merklich gebessert. Danny sah dem Hund nach, der hinter einem Roten Eichhörnchen herrannte, dann zog er noch zwei Eimer Wasser (also insgesamt sechs) aus der Bucht. Jetzt hatte er im Haupthaus mehr als genug Wasser, um den Sturm zu überstehen, ganz gleich, wie viel Schnee noch fallen mochte. Und was machte es schon, wie lange der Schneesturm anhielt? Er musste keine Straßen frei räumen. In der Kühltruhe lag jede Menge Wildbret. Zwei Steaks sahen nach zu viel Fleisch aus, aber eins war vielleicht nicht genug für ihn Danny beschloss, zwei aufzutauen. Er hatte
jede Menge Paprika und Zwiebeln und ein paar Champignons; daraus konnte er eine Gemüsepfanne machen, dazu vielleicht noch einen kleinen grünen Salat. Für das Wild bereitete er eine Marinade zu - Joghurt und frischgepressten Zitronensaft mit Kumin, Kurkuma und Chili. (Diese Marinade kannte er aus dem Mao's.) In dem Ofen im Haupthaus legte Danny Holz aufs Feuer; wenn er die marinierten Wildsteaks neben den Holzofen legte, würden sie bis zum Abendessen auftauen. Es war erst Mittag. Danny gab Hero frisches Wasser und machte sich einen kleinen Mittagsimbiss. Der Schneesturm hatte Danny von seinen gewohnten nachmittäglichen Pflichten entbunden; mit ein wenig Glück konnte er weiter im Schreibschuppen arbeiten, wo sein erstes Kapitel auf ihn wartete. Nur das Furzen des Hundes würde ihn ablenken. »Unter
den
Baumstämmen«,
sagte
der
Schriftsteller laut zu Hero, testete die Formulierung als mögliche Kapitelüberschrift. Es war ein guter Titel für ein Anfangskapitel, dachte Danny. »Na komm, Hero«, sagte er zu dem Hund, doch kaum hatten sie das Haupthaus verlassen, als wieder Dannys Handy klingelte - der dritte Anruf des Tages. An den meisten Tagen, die er im Winter auf Charlottes Insel verbrachte, klingelte das Telefon überhaupt nicht. »Es ist der Bär, Hero«, sagte Danny zu dem Hund. »Was wollen wir wetten, dass die große Bärin unterwegs ist?« Doch der Anruf war von Andy Grant. »Ich dachte, ich hör mal, was bei euch los ist«, sagte Andy. »Wie übersteht ihr den Sturm, du und Hero?« »Hero und ich überstehen ihn ganz gut - wir haben es sogar richtig gemütlich«, sagte ihm Danny. »Ich taue gerade etwas von dem Hirsch auf, den wir zuasmmen geschossen
haben, Andy.« »Du hast also nicht vor, einkaufen zu gehen?«, fragte ihn Andy. »Ich habe nicht vor, irgendwohin zu gehen«, antwortete Danny. »Das ist gut«, sagte Andy. »Bei dir herrscht doch bestimmt Whiteout, oder?« »Völliger Whiteout«, bestätigte Danny. »Ich kann Burnt Island nicht sehen - ich sehe nicht mal das Festland.« »Nicht mal vom hinteren Bootssteg?«, fragte ihn Andy. »Keine Ahnung«, antwortete Danny. »Hero und ich machen uns einen ziemlich faulen Tag. Bis zur Hintertür haben wir uns noch nicht getraut.« Es gab eine lange Pause - lange genug, dass Danny auf dem Display seines Handys nachsah, ob die Verbindung noch stand.
»Du und Hero, ihr solltet vielleicht doch mal rausgehen und schauen, was ihr von dem hinteren Anleger aus sehen könnt, Danny«, empfahl Andy Grant dem Schriftsteller. »Ich würde an deiner Stelle vielleicht zehn, fünfzehn Minuten warten - und dann rausgehen und einen Blick riskieren.« »Wonach soll ich denn Ausschau halten, Andy?«, fragte Danny. »Nach einer Besucherin«, antwortete ihm der Handwerker. »Jemand sucht dich, Danny, und sie scheint wild entschlossen, dich zu finden.« »Wild entschlossen«, wiederholte Danny. Sie war auf der Krankenstation in Pointe au Baril aufgetaucht und hatte sich nach dem Weg nach Turner Island erkundigt. Die Krankenschwester hatte sie zu Andy geschickt. Jeder im Ort wusste, dass Andy Grant den prominenten Schriftsteller, so gut es ging, vor
unliebsamen Besuchern schützte. Die große, kräftige Frau hatte weder ein eigenes Propellerboot noch ein Schneemobil. Sie hatte nicht einmal Skier dabei - nur Skistöcke. Ihr Rucksack war gewaltig; außerdem waren ein Paar Schneeschuhe daran festgeschnallt. Falls sie mit dem Auto nach Pointe au Baril gekommen war, dann in einem Mietwagen, den sie inzwischen schon wieder abgegeben hatte. Vielleicht hatte sie die Nacht in Larry's Tavern oder in irgendeinem Motel in der Nähe des Parry Sound verbracht. Sie konnte unmöglich in einem Rutsch die ganze Strecke von Toronto nach Pointe au Baril Station gefahren sein - nicht an diesem Vormittag, nicht bei diesem Schneesturm. Der Schnee hatte die Georgian Bay zugedeckt, von Manitoulin Island bis Honey Harbour, und Andy zufolge sollte es auch die ganze kommende Nacht schneien. »Sie sagte, sie kennt dich«, erzählte Andy dem
Schriftsteller. »Falls sich aber herausstellen sollte, dass sie nur ein verrückter Fan oder irgendeine durchgedrehte Autogrammjägerin ist, hat sie in dem Rucksack genug Platz für alle acht Bücher von dir - gebundene wie Taschenbuchausgaben. Andererseits ist der Rucksack so groß, da würde auch ein Gewehr reinpassen.« »Woher kennt sie mich - wann und wo ist sie mir begegnet?«, fragte Danny. »Sie hat nur gesagt: >Wir kennen uns schon ewig.< Du erwartest doch keinen Besuch von einer wütenden Exfreundin, oder, Danny?« »Ich erwarte niemanden, Andy.« »Die Dame sieht wirklich kräftig aus, Danny.« »Wie groß Baciagalupo.
ist
sie?«,
fragte
Daniel
»Sie fällt in die Kategorie Riesin«, antwortete Andy. »Hände wie Pranken - ihre Stiefel sind
größer als meine. Wir beide würden problemlos zusammen in ihren Parka passen; wahrscheinlich wäre auch noch Platz für Hero.« »Dann sieht sie also aus Polarforscherin?«, riet Danny.
wie
eine
»Jedenfalls hat sie die richtigen Klamotten für dieses Wetter an«, sagte Andy. »Thermohose, Handschuhe für Schneemobilfahrer - und ihr Parka hat eine mächtig große Kapuze.« »Ihre Haarfarbe hast du wohl nicht gesehen.« »Nö - nicht unter der Kapuze. Ich war mir nicht mal sicher, welche Augenfarbe sie hat.« »Und wie alt würdest du sie schätzen?«, fragte Danny. »War sie etwa in meinem Alter - oder ein wenig älter?« »Nö«, sagte Andy wieder. »Sie ist viel jünger als du, Danny. Wenigstens was ich von ihr sehen konnte. Sie ist total gut in Form.«
»Wie hast du bei ihren vielen Klamotten denn gemerkt, dass sie in Form war?«, fragte Danny. »Sie kam in mein Büro, wollte einen Blick auf meine Karte der Bucht werfen«, antwortete ihm Andy. »Während sie Turner Island auf der Karte suchte, hab ich ihren Rucksack hochgehoben - ich hab ihn nur kurz angehoben und sofort wieder auf den Boden gestellt. Der Rucksack wiegt gut und gerne dreißig Kilo, Danny, also ungefähr so viel wie Hero, und als sie wieder ging, hat sie ihn sich auf den Rücken geschwungen, als wär's ein Handtuch.« »Klingt wie eine Person, der ich einmal begegnet bin«, sagte Danny, »aber ihr Alter passt nicht. Wenn es tatsächlich die Frau ist, die ich meine, könnte sie nicht >viel jünger< als ich sein, wie du sagst.« »Da könnte ich mich täuschen«, entgegnete ihm Andy. »Menschen altern unterschiedlich,
Danny. Manche Leute scheinen sich gar nicht zu verändern; andere hingegen erkennt man nicht wieder, wenn man sie nach einer Weile wiedersieht.« »Oh, es ist schon eine ganze Weile her - falls sie diejenige ist, die ich meine«, sagte Danny. »Es ist fast vierzig Jahre her! Sie kann es nicht sein«, fuhr er fort, und er klang verärgert über sich selbst. Danny wagte nicht zu hoffen, dass es Lady Sky war. Ihm wurde auch klar, wie viel Zeit schon vergangen war, seit er etwas gehofft hatte. (Er hatte einmal gehofft, dass seinem geliebten Joe nichts Schlimmes zustoßen würde. Er hatte auch gehofft, dass sein Dad den Cowboy lange überleben würde und dass Ketchum friedlich sterben würde - im Schlaf, mit zwei unversehrten Händen. Daniel Baciagalupos Bilanz in Sachen Hoffnung war ausbaufähig.) »Danny, es ist dumm, zu glauben, man könne auch nur erraten, wie jemand nach vierzig
Jahren aussieht«, sagte Andy. »Manche Menschen verändern sich stärker als andere mehr will ich gar nicht sagen. Hör mal, soll ich nicht einfach mal rüberkommen? Wahrscheinlich könnte ich sie auf meinem Schneemobil einholen. Dann könnte ich sie den restlichen Weg mitnehmen, und wenn sie dir nicht gefällt - oder wenn sie nicht die Person ist, an die du gerade denkst -, würde ich sie wieder zurück nach Pointe au Baril bringen.« »Nein, Hero und ich kommen schon klar«, sagte Danny. »Falls sie nicht von alleine wieder geht und ich Hilfe brauche, kann ich dich immer noch anrufen.« »Du und Hero solltet jetzt besser zum hinteren Anleger gehen«, sagte ihm Andy. »Sie ist schon vor einiger Zeit aufgebrochen, und sie macht große Schritte.« »Na schön, dann wollen wir mal. Danke, Andy«, sagte Danny.
»Bist du dir sicher, dass ich nicht vorbeikommen oder sonst irgendwas für dich tun soll?«, fragte der Handwerker. »Ich suche den ersten Satz meines ersten Kapitels«, antwortete der Schriftsteller. »Du hast nicht zufällig einen ersten Satz für mich in petto, oder?« »Damit kann ich nicht dienen«, sagte Andy Grant. »Ruf mich einfach an, falls es mit dieser Frau Ärger gibt.« »Es wird keinen Ärger geben«, erwiderte Danny. »Nimm für alle Fälle die alte Remington mit, wenn du zum Steg gehst - und sorg dafür, dass sie sie auch sieht, okay?« »Okay«, antwortete Danny. Wie immer war Hero aufgeregt, wenn Ketchums Springfield-Karabiner auf einen Spaziergang mitgenommen wurde. »Mach dir
keine falschen Hoffnungen, Hero«, sagte Danny zu dem Hund. »Wahrscheinlich ist sie kein Bär.« Auf dem breiten Weg zum Schreibschuppen lag der Schnee kniehoch, auf dem schmalen Pfad von dort durch den Wald zum hinteren Bootssteg war er etwas niedriger. Als der Schriftsteller an seinem Schreibschuppen vorbeikam, sagte er laut: »Ich komme wieder, erstes Kapitel. Bis bald, erster Satz.« Hero war schon vorgelaufen. Es gab einen windgeschützten Zedernhain, wo sich ein kleines Hirschrudel über Nacht niedergelassen hatte. Entweder hatte Hero die Hirsche aufgeschreckt, oder sie waren weitergezogen, als der Wind nachließ. Hero schnupperte überall; wahrscheinlich lag Hirschdung unter dem Schnee. Wo sich die Hirsche zwischen den Zedern zusammengedrängt hatten, war der Schnee eingeebnet.
»Sie sind fort, Hero, du hast sie verpasst«, sagte Danny zu dem Jagdhund. »Die Hirsche sind jetzt auf Barclay Island oder auf dem Festland.« Der Hund wälzte sich in dem Schnee, wo das Rudel gelegen hatte. »Achtung, Hero, wenn du dich in Hirschkacke wälzt, verpasse ich dir ein Bad - mit Shampoo und allem Drum und Dran.« Hero hasste es, gebadet zu werden; Danny war auch nicht begeistert von der Aussicht, den widerspenstigen Hund waschen zu müssen. In seinem Haus in Toronto wusch Lupita das Tier. Anscheinend genoss sie es, Hero dabei auszuschimpfen. (»Na, Sefior Macho - wie gefällt es dir, nur ein Augenlid zu haben? Das hast du nun vom Kämpfen, Mr. Macho, geschieht dir ganz recht.«) Auf dem Dach von Opas Hütte, der weder der Schriftsteller noch der Hund mehr als einen beiläufigen Blick schenkten, lag der Schnee bestimmt einen Meter hoch. Wenn es in dieser
Hütte schon früher gespukt hatte, dann spukte es dort jetzt noch mehr. Weder Danny noch Hero hätte es auf eine Begegnung mit Ketchums Geist ankommen lassen; falls der alte Holzfäller ein Geist war, dann wäre die Hütte des Wilderers genau der richtige Ort für ihn. Die Schneeverwehungen auf dem hinteren Anleger reichten Danny bis zu den Oberschenkeln. Auf der anderen Seite der Bucht konnte man trotz Whiteout Teile des Festlands erkennen, doch das Ufer war nicht als durchgehende Linie sichtbar. Es gab keine fixen Orientierungspunkte, an denen Danny hätte festmachen können, wo genau die Schneemobiltrasse hinter Payne's Road auf die Bucht traf, doch vom Anleger aus erahnte er wenigstens schemenhaft die Hütte des Eisanglers, die dem Sturm standgehalten hatte; bei den Sichtverhältnissen würde die Schneeschuhläuferin die Bucht schon zur Hälfte überquert haben, ehe Danny sie sah.
Was hatte der kleine Joe am Tag des Spanferkelgrillens gesagt? »Flugzeug. Kein Vogel.« Und dann hatte Danny, der statt des Kleinflugzeugs Katie beobachtete, Joe sagen hören: »Fliegt nicht. Fällt!« Dann erst hatte Danny sie gesehen: die Fallschirmspringerin, die im freien Fall durch den Himmel sauste, ehe sich Sekunden später ihr Fallschirm öffnete. Immer deutlicher war Amy zu sehen gewesen. Zuerst wurde klar, dass es sich um eine Fallschirmspringern handelte; dann, ganz plötzlich, dass sie nackt war. Und erst als Danny im Schweinepferch - in all dem Schlamm und der ganzen Schweinescheiße neben ihr stand, war ihm klargeworden, wie groß Amy war, wie massiv! Jetzt spähte Danny aus zusammengekniffenen Augen über die Bucht und in den fallenden Schnee, als wartete er darauf, dass wieder ein kleines Flugzeug am Horizont auftauchte oder dass sich wieder ein rot-weiß-blauer Fallschirm öffnete.
Wer auch immer sie sein mochte, diesmal würde sie nicht nackt sein, das wusste der Schriftsteller. Doch er wusste auch, dass sie ganz plötzlich da sein würde - so, wie ein Engel aus dem Himmel auf die Erde fällt. Danny hielt angestrengt nach ihr Ausschau, wusste aber, dass die Frau in dem Whiteout unvermittelt auftauchen würde, wie von Zauberhand. In dem einen Augenblick würde nichts zu sehen sein, und im nächsten würde sie die halbe Bucht bereits hinter sich gelassen haben und unaufhaltsam auf sie zukommen einen raumgreifenden Schritt nach dem anderen. Danny hatte nicht bedacht, dass Hero ein Jäger war; der Jagdhund hatte noch ein gutes Ohr und eine sehr gute Nase. Ein Knurren hob im Brustkorb des Hundes an, Heros Bellen war zunächst gedämpft und blieb ihm halb im Hals stecken. Draußen, auf der gefrorenen Bucht, war niemand zu sehen, doch der Jagdhund wusste, dass sie immer näher kam. Nur
Sekunden bevor Danny sie sah, bellte der Hund mit Macht los. »Aus, Hero - vertreib sie nicht«, sagte Danny, dem natürlich klar war, dass nichts sie vertreiben konnte, wenn sie Lady Sky war. Als Danny sie sah, war die Schneeschuhläuferin in vollem Lauf, sie rannte praktisch. Bei dem Tempo und mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken war sie mächtig ins Schwitzen geraten. Zur Abkühlung hatte sie den Reißverschluss des Parkas geöffnet; die Kapuze, die sie vom Kopf gezogen hatte, lag auf den breiten Schultern. Danny sah ihre rotblonden Haare; sie waren ein wenig länger, als die Fallschirmspringerin sie damals getragen hatte. Danny konnte verstehen, dass sowohl Lupita als auch Andy Grant sie jünger geschätzt hatten; Amy sah wirklich jünger als Danny aus, wenn auch nicht viel jünger. Als sie den Anleger erreichte, hörte Hero endlich auf zu bellen.
»Du willst doch nicht etwa auf mich schießen, oder, Danny?«, fragte ihn Amy. Doch der Schriftsteller, der in Sachen Hoffnung nicht viel Glück gehabt hatte, konnte ihr nicht antworten. Danny konnte nicht reden, und er konnte den Blick nicht von ihr wenden. Weil es schneite, vermischten sich die Tränen auf Dannys Gesicht mit dem Schnee; er wusste vermutlich gar nicht, dass er weinte, doch Amy sah seine Augen. »Oje, Moment - warte mal - ich komm ja schon«, sagte sie. »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, musst du wissen.« Sie warf ihren Rucksack samt den Skistöcken auf den Steg, kletterte über die Felsen und nahm, sowie sie fest auf dem Steg stand, ihre Schneeschuhe ab. »Lady Sky«, sagte Danny; mehr brachte er nicht heraus. Er spürte, wie er innerlich zerschmolz. »Ja, ich bin's«, sagte sie und umarmte ihn; sie zog sein Gesicht an ihren Oberkörper. Es
schüttelte ihn durch und durch. »O Mann, du bist ja noch kaputter, als ich dachte«, sagte Amy zu ihm, »aber jetzt bin ich da, und ich habe dich - das wird schon wieder mit dir.« »Wo hast du nur gesteckt?«, stotterte er schließlich. »Ich hatte ein anderes Projekt in Arbeit, zwei sogar«, antwortete sie ihm. »Die sich als Zeitverschwendung entpuppt haben. Aber ich habe an dich gedacht - schon seit Jahren.« Es störte Danny nicht, wenn er jetzt Lady Skys »Projekt« war. Er konnte sich denken, dass sie eine ganze Reihe Projekte betreut hatte, nicht nur zwei. Und wennschon?, dachte der Schriftsteller. Bald wurde er 63; Danny wusste, dass er kein Hauptgewinn war. »Vielleicht war ich früher gekommen, wenn du Mistkerl meinen Brief beantwortet hättest«, sagte ihm Amy. »Deinen Brief habe ich nie gesehen. Mein Dad
hat ihn gelesen und weggeworfen. Er hielt dich für eine Stripperin.« »Das ist schon ewig her - noch vor der Fallschirmspringerei«, sagte Amy. »War dein Dad je in Chicago? Seit Chicago habe ich nicht mehr gestrippt.« Danny fand das urkomisch, doch ehe er den Irrtum aufklären konnte, sah Lady Sky sich Hero genauer an, der verdächtig an Amys abgelegten Schneeschuhen schnüffelte. »He, du«, sagte Amy zu dem Hund. »Wenn du an meinen Schneeschuhen das Bein hebst, hast du vielleicht gar kein Ohr mehr - oder keinen Pillermann.« Hero wusste, wenn man mit ihm sprach; der Hund warf Amy aus seinem lidlosen Auge einen bösen, irren Blick zu, rückte aber von den Schneeschuhen ab. Etwas in Amys Tonfall hatte ihn offenbar an Sixpack erinnert. Ja, in diesem Augenblick hatte Lady Sky auch Danny an Sixpack erinnert - an die junge Sixpack, an die Sixpack aus längst vergangenen Zeiten, als sie mit Ketchum
zusammengelebt hatte. »Herrje, du zitterst ja fürchterlich - hoffentlich geht die Flinte nicht los«, sagte Amy. »Ich habe auf dich gewartet«, sagte Danny zu ihr. »Ich habe gehofft.« Sie küsste ihn; sie hatte einen Kaugummi mit Minzgeschmack im Mund, doch das störte ihn nicht. Sie war warm und verschwitzt, aber nicht außer Atem - nicht einmal von dem Schneeschuhlaufen. »Gibt's hier irgendwas, wo man reingehen kann?«, fragte Amy. (Man sah auf den ersten Blick, dass Opas Hütte unbewohnbar war - es sei denn, man war Ketchum oder ein Geist. Von dem hinteren Anleger aus konnte man die anderen Gebäude unmöglich sehen, auch wenn gerade kein Schneesturm herrschte.) Danny hob ihre Schneeschuhe und die Skistöcke auf, wobei er darauf achtete, dass die Mündung des Karabiners auf den Steg zeigte, und Amy schulterte den großen Rucksack. Hero lief wie
zuvor voran. Sie machten am Schreibschuppen halt, damit Danny ihr seinen Arbeitsplatz zeigen konnte. Der kleine Raum roch immer noch nach den üblen Hundefürzen, doch der Holzofen war nicht ausgegangen - in dem Schuppen war es so heiß wie in einer Sauna. Amy zog ihren Parka und ein paar Kleidungsschichten aus, die sie unter dem Parka trug, bis sie nur noch ihre Thermohose und ein T-Shirt anhatte. Danny sagte ihr, er habe einmal geglaubt, dass sie älter sei als er - oder dass sie vielleicht gleich alt seien -, aber wie war es möglich, dass sie jetzt jünger wirke? Damit meinte Danny nicht jünger als damals auf der Schweinefarm in Iowa, sondern dass sie weniger gealtert war als er - woran das, ihrer Meinung nach, liege? Amy erzählte ihm, sie habe ihren kleinen Sohn verloren, als sie viel jünger gewesen war, noch ehe Danny sie als Fallschirmspringerin
kennenlernte. Amys einziges Kind war gestorben, als es zwei Jahre alt war - so alt wie der kleine Joe zur Zeit der Grillparty. Durch diesen Tod war Amy gealtert, und das hatte man ihr noch etliche Jahre danach angesehen. Inzwischen war Amy zwar nicht über den Tod ihres Sohnes hinweg - über einen Verlust wie diesen kommt man nie hinweg, und ihr war klar, dass Danny das ebenfalls wusste. Aber nach so vielen Jahren steht einem der Verlust nicht mehr so deutlich ins Gesicht geschrieben. Vielleicht sehen einem andere Menschen den Tod eines Kindes nach sehr langer Zeit nicht mehr an. (Joes Tod lag noch nicht so lange zurück; wer Danny kannte, stellte fest, dass er dadurch merklich gealtert war.) »Wir sind mehr oder weniger gleich alt«, sagte Amy. »Ich bin seit zwei Jahren sechzig, glaube ich - wenigstens sage ich das den Typen, die fragen.«
»Du siehst wie fünfzig aus«, erklärte Danny. »Willst du mich anbaggern, oder was?«, fragte ihn Amy. Sie las die Sätze und Satzfragmente aus dem ersten Kapitel - die Zeilen, die er mit Heftzwecken an die Holzwände des Schreibschuppens gepinnt hatte. »Was ist das?«, fragte sie. »Das sind Sätze oder Satzteile, die mir schon mal vorausgeeilt sind; jetzt warten sie darauf, dass ich sie einhole«, antwortete er ihr. »Das sind alles Zeilen aus meinem ersten Kapitel nur den ersten Satz habe ich noch nicht gefunden.« »Vielleicht helfe ich dir beim Suchen«, sagte Amy. »Ich bleibe eine Weile hier. Ich habe keine anderen Projekte.« Danny hätte wieder weinen können, doch in diesem Moment klingelte sein Handy - zum vierten verdammten Mal an diesem Tag! Natürlich war es ein Kontrollanruf von Andy Grant.
»Ist sie schon da?«, fragte Andy. »Und wer ist sie?« »Sie ist diejenige, auf die ich gewartet habe«, antwortete ihm Danny. »Sie ist ein Engel.« »Manchmal«, korrigierte ihn Lady Sky, als er das Telefonat beendet hatte. »Diesmal aber schon.« Was hätte wohl der Koch zu seinem Sohn gesagt, wenn ihm Zeit geblieben wäre, einige richtige letzte Worte zu sagen, ehe ihm der Cowboy ins Herz schoss? Dominic hätte höchstens der Hoffnung Ausdruck verliehen, sein einsamer Sohn möge »jemanden finden« mehr nicht. Jetzt hatte Danny sie gefunden; genau genommen hatte sie ihn gefunden. Wenn er an Charlotte und jetzt an Amy dachte, so hatte Danny - wenigstens in diesem Aspekt seines Lebens - Glück gehabt. Manche Leute finden nie auch nur einen Menschen für sich; Daniel Baciagalupo dagegen hatte zwei gefunden.
Die letzten Jahre hatte Amy in Minnesota gelebt, erzählte sie ihm. (»Wenn du meinst, dass es in Toronto kalt ist, zieh mal nach Minneapolis«, sagte sie zu ihm.) Amy hatte sich in einem Club namens Minnesota Storm ein wenig als Ringerin versucht. Sie hatte sich mit »etlichen Ringern herumgetrieben, die früher mal im Team der Uni von Minnesota aktiv waren«, sagte sie - was sich Danny nicht so recht vorstellen konnte. Amy Martin - Martin war ihr Mädchenname gewesen, den sie »vor Jahren« wieder angenommen hatte - war Kanadierin. Sie hatte lange in den Vereinigten Staaten gelebt und war amerikanische Staatsbürgerin geworden, doch »im Grunde ihres Herzens« war sie Kanadierin geblieben und hatte immer nach Kanada zurückkehren wollen. Danny wollte wissen, weshalb sie überhaupt in die Staaten gezogen sei. »Wegen eines Typs, den ich kennengelernt hatte«, antwortete ihm
Amy achselzuckend. »Dann kam mein Sohn dort zur Welt, deshalb dachte ich, ich sollte bleiben.« Ihre politische Einstellung beschrieb sie als »inzwischen weitgehend desinteressiert«. Sie war es leid, wie wenig Amerikaner über den Rest der Welt wussten - oder wie wenig sie wissen wollten. Nach zwei Amtszeiten würde die verfehlte Politik der Bush-Regierung wahrscheinlich das Land (und den Rest der Welt) in einem schlimmen Chaos zurücklassen. Damit meinte Amy Martin, es wäre höchste Zeit, dass endlich ein Held auf einem Pferd angeritten käme, aber was könnte ein Held auf einem Pferd schon ausrichten? Viel würde sich nicht verändern, sagte Lady Sky. Sie war in einem Land auf die Erde gefallen, das nicht an Engel glaubte; und doch hatten die Bibelfreaks dort sich eine der beiden großen Parteien unter den Nagel gerissen. (Bei den Bibelfreaks würde sich nie viel ändern.)
Außerdem gab es noch die, wie Amy sie nannte, »Arschgeigen-Fraktion des Landes« die Danny als das Dümmer-als-HundescheißeElement kannte, die aggressiven Patrioten -, und die waren zu festgefahren in ihren Ansichten oder zu ungebildet (oder beides), als dass sie über ihre Nasenspitze, das ständige Fahnengeschwinge und das nationalistische Getöse hinausschauten. »Die Konservativen sind eine ausgestorbene Gattung«, sagte Lady Sky, »sie wissen es nur noch nicht.« Als Danny schließlich Amy das Haupthaus gezeigt hatte - die große Badewanne, das Schlafzimmer und die Wildsteaks, die er zum Abendessen auftaute -, hatten sie herausgefunden, dass sie, zumindest politisch betrachtet, unter einer Decke steckten. Zwar wusste Amy mehr über Danny als er über sie, doch nur, weil sie jedes Wort gelesen hatte, das er je geschrieben hatte. Sie hatte auch fast die ganze »Scheiße« gelesen, die über ihn geschrieben worden war. (Wenn es um
Medien ging, verwendeten sie beide instinktiv den Begriff Scheiße, steckten also auch in ihrer Einschätzung der Medien unter einer Decke.) Vor allem wusste Amy, wann und wie er seinen Sohn Joe verloren hatte - und wann sein Dad gestorben war und unter welchen Umständen. Er musste ihr von Ketchum erzählen, über den sie gar nichts wusste, und auch wenn ihm das schwerfiel - außer mit Sixpack redete Danny nicht über ihn -, merkte er plötzlich, dass er den alten Holzfäller durchs Erzählen zum Leben erweckte, genau wie in seinem Roman, und so sprach er lange über den im Entstehen begriffenen Roman und das erste Kapitel, das ihm immer wieder entglitt. Sie erhitzten das Seewasser in den Nudeltöpfen auf dem Gasherd fast zum Siedepunkt, und als ihre beiden Körper in der großen Badewanne lagen, war sie randvoll; dass jemand irgendwann mal die Riesenwanne ausfüllen könnte, war für Danny unvorstellbar
gewesen, denn nicht einmal als Schriftsteller hatte er sich je eine Riesin darin vorgestellt. Amy erzählte ihm die Geschichte ihrer zahllosen Tätowierungen. Das Wann, Wo und Warum der Tattoos fesselte Dannys Aufmerksamkeit - sowohl in der warmen Wanne als auch anschließend im Bett in dem Schlafzimmer mit dem propanbeheizten Kamin. Vierzig Jahre zuvor hatte er sich Amys Tattoos nicht genau angesehen - weder, als sie mit Schlamm und Schweinescheiße bespritzt, noch danach, als sie nur mit einem Badetuch bekleidet gewesen war. Damals, fand Danny, wäre es ungehörig und unerwünscht gewesen, sie anzustarren. Jetzt betrachtete er sie eingehend von Kopf bis Fuß. Viele von Amys Tätowierungen hatten mit Kampfsport zu tun. Sie hatte Kickboxen in Bangkok probiert; eine Zeitlang hatte sie in Rio de Janeiro gelebt und dort an einer erfolglosen Ultimate-Fighting-Tour für Frauen
teilgenommen. (Einige dieser brasilianischen Tussis seien härter als die thailändischen Kickboxer, sagte Lady Sky.) Tätowierungen haben immer ihre eigenen Geschichten, und Danny wollte sie alle hören. Doch die für Amy wichtigste war der Name Bradley; so hießen ihr Sohn und ihr Vater. Den Jungen hatte sie Brad oder Bradley gerufen, und nach seinem Tod hatte sie den Vornamen des Jungen auf ihre rechte Hüfte tätowieren lassen - genau auf die Stelle, wo Amy den Jungen als kleines Kind getragen hatte. Als sie darüber sprach, wie sie den Verlust ihres kleinen Sohns ertragen hatte, wies Amy Danny darauf hin, dass ihre Hüften der stärkste Teil ihres starken Körpers waren. (Was Danny nicht bezweifelte.) Amy freute sich, dass Danny kochen konnte, denn sie konnte es nicht. Das Wild war gut, allerdings reichte die Menge nicht ganz.
Danny hatte ein paar Kartoffeln in ganz dünne Scheiben geschnitten und sie mit den Zwiebeln, Paprikastücken und Champignons in der Pfanne angebraten, so dass Amy und er nicht hungern mussten. Nach dem Hauptgang gab es grünen Salat, weil der Koch Danny beigebracht hatte, dass dies die »feine« Art war, Salat zu servieren - auch wenn das in Restaurants fast nie geschah. Danny war regelrecht begeistert darüber, dass Lady Sky Bier trank. »Ich hab vor langer Zeit gemerkt«, sagte sie zu ihm, »dass ich sämtliche Alkoholika genauso schnell trinke wie Bier - also bleibe ich am besten beim Bier, wenn ich mich nicht umbringen will. Und mich umbringen zu wollen hab ich so ziemlich hinter mir«, ergänzte Amy. Das habe er auch so ziemlich hinter sich, sagte Danny. Er habe sich inzwischen an Heros Gesellschaft: gewöhnt, trotz des Furzens, außerdem kümmerten sich zwei Putzfrauen um
ihn; die wären alle von ihm enttäuscht, wenn er sich umbrächte. Amy hatte ja eine der Putzfrauen kennengelernt, und wenn das Wetter mitspielte, würde sie wahrscheinlich morgen oder übermorgen Tireless kennenlernen. Übrigens nannte Amy Lupita einen besseren Wachhund als Hero; Lady Sky war sich sicher, dass sie und die mexikanische Putzfrau gut miteinander auskommen würden. »Ich habe kein Recht darauf, glücklich zu sein«, sagte Danny zu seinem Engel, als sie in dieser ersten Nacht eng umschlungen einschliefen. »Jeder hat das Recht, ein bisschen glücklich zu sein, du Scheißkerl«, entgegnete Amy. Ketchum hätte gefallen, wie Lady Sky das Wort Scheißkerl benutzte, dachte der Schriftsteller. Diese Wortwahl wäre ganz nach Ketchums Geschmack gewesen, was Danny -
im Schlaf - wieder zu seinem Roman führte, den er im Traum ausbrütete. Amy Martin und Daniel Baciagalupo hatten noch einen Monat auf Charlotte Turners Insel in der Georgian Bay vor sich; das war ihre Kennenlernphase in der Wildnis, ehe ihr gemeinsames Leben in Toronto begann. Wir können uns nicht immer aussuchen, wie wir einander kennenlernen. Manchmal stürzen Menschen unvermittelt in unser Leben - als fielen sie aus dem Firmament oder als gäbe es einen Direktflug zwischen Himmel und Erde genauso abrupt, wie wir Menschen verlieren, von denen wir einmal dachten, sie würden immer Teil unseres Lebens bleiben. Der kleine Joe war tot, doch in Daniel Baciagalupos Leben verging kein Tag, an dem er sich nicht voller Liebe an ihn erinnerte. Der Koch war in seinem Bett ermordet worden, doch nicht der Cowboy hatte zuletzt gelacht, sondern Dominic Baciagalupo. Ketchums
linke Hand würde in Twisted River ewig weiterleben, und Sixpack hatte gewusst, was mit dem Rest ihres alten Freundes zu tun war. Und eines Tages Mitte Februar war ein aus Westkanada kommender Schneesturm über den Huron-See gefegt und hatte die gesamte Georgian Bay zugedeckt. Als Danny und Lady Sky am nächsten Tag aufwachten, hatte sich der Sturm gelegt. Es war ein strahlender Morgen. Danny ließ den Hund raus und machte Kaffee; als er Amy eine Tasse ans Bett brachte, sah er, dass sie wieder eingeschlafen war. Lady Sky hatte eine lange Reise hinter sich, und das Leben, das sie geführt hatte, hätte jeden erschöpft. Danny ließ sie schlafen. Er fütterte den Hund und schrieb Amy einen Zettel, auf dem nicht stand, dass er dabei war, sich in sie zu verlieben. Er teilte ihr einfach mit, dass sie ja wisse, wo sie ihn finde - in seinem Schreibschuppen. Danny dachte, dass er später
frühstücken würde, wann immer Lady Sky wieder wach wurde. Er würde sich einen Kaffee mit in seinen Schreibschuppen nehmen und dort den Holzofen anzünden; in dem Ofen des Haupthauses hatte er schon ein Feuer gemacht. »Komm schon, Hero«, sagte der Schriftsteller, und gemeinsam gingen sie in den frischgefallenen Schnee hinaus. Danny freute sich, als er sah, dass die seinem Vater ähnelnde, windgebeugte kleine Kiefer den Sturm überlebt hatte. Nicht mit der Ketchum-Figur sollte das erste Kapitel beginnen, befand Daniel Baciagalupo es war besser, diese Figur noch eine Weile verborgen- und dem Leser vorzuenthalten. Manchmal brauchen die wichtigsten Figuren eines Buchs ein wenig Tarnung. Es wäre besser, dachte Danny, wenn das erste Kapitel und der Roman - mit dem untergegangenen
Jungen anfinge. Dieser Angel, der nicht der war, der er zu sein schien, war ein guter Köder; erzählerisch gesprochen, war Angel ein Aufhänger. Mit dem jungen Kanadier (der gar kein Kanadier war) wollte der Schriftsteller beginnen. Jetzt dauert es nicht mehr lange, glaubte Daniel Baciagalupo zu spüren. Aber wann auch immer er diesen ersten Satz fand - nun gab es in seinem Leben auch eine Person, die ihn unbedingt lesen sollte! »Ob legal oder nicht, ob mit oder ohne ordnungsgemäße Papiere«, schrieb Danny, »Angel Pope war über die kanadische Grenze nach New Hampshire gekommen.« Ganz okay, dachte der Schriftsteller, aber als Anfang taugt der Satz nicht - der Trugschluss, wonach Angel die Grenze überquert hatte, kam später. »Danach hatte der Androscoggin auf drei
Meilen ein Gefälle von siebzig Metern; bei den Sortierstellen in Berlin dann teilten zwei Sägewerke den Fluss«, schrieb Danny. »Durchaus denkbar, dass der junge Angel Pope aus Toronto dorthin unterwegs war.« Ja, klar, dachte der Schriftsteller, schon etwas ungeduldiger. Doch diese letzten beiden Sätze waren zu speziell für einen Anfang; er heftete sie zu den anderen an die Wand, ehe er diesen Satz hinzufügte: »Die Lücke zwischen den wie ein Teppich flussabwärts treibenden Stämmen schloss sich über dem jungen Kanadier; nicht einmal eine Hand oder ein Stiefel tauchten noch kurz aus dem braunen Wasser auf.« Beinahe, dachte Daniel Baciagalupo. Sofort tauchte ein anderer Satz auf - als würde der Twisted River selbst den Sätzen gestatten, an die Oberfläche zu treiben. »Das ständige Pochen der Flößerstangen gegen die Stämme wurde kurz von den Rufen der Flößer unterbrochen, die gerade Angels Stange
entdeckt hatten - etwa fünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo der Junge verschwunden war.« Auch nicht schlecht, dachte Danny, aber zu geschäftig für einen Anfangssatz; in diesem Satz steckten zu viele Ablenkungen. Vielleicht lenkte ihn schon allein der Gedanke an Ablenkungen ab. Die Überlegungen des Schriftstellers eilten voraus - zu weit voraus -, zu Ketchum. Der neue Satz hatte etwas ausgesprochen Parenthetisches: »(Nur Ketchum kann Ketchum töten.)« Den würde er garantiert behalten, dachte Danny, aber er gehörte auf keinen Fall in ein erstes Kapitel. Danny schlotterte in seinem Schreibschuppen. Das Feuer in dem Holzofen heizte den kleinen Raum nur langsam auf. Normalerweise hackte Danny draußen in der Bucht ein Loch ins Eis und holte ein Paar Eimer Wasser herauf, während der Schreibschuppen warm wurde; an diesem Morgen hatte er das ausfallen lassen. (Später an diesem herrlichen Tag würde ihm
Lady Sky bei diesen Aufgaben helfen.) In diesem Moment, ohne dass er auch nur daran dachte - vielmehr hatte Daniel Baciagalupo gerade die Hand ausgestreckt, um Hero hinter dessen gutem Ohr zu kraulen -, fiel ihm der erste Satz zu. Der Schriftsteller merkte, wie er sich in sein Sichtfeld schob, als tauchte er aus den Tiefen des Wassers auf; der Satz kam in Sicht wie das Apfelsaftglas, das mit der Asche seines Dads kurz auf der Oberfläche des Sees geschaukelt hatte, bevor Ketchum darauf schoss. »Der junge Kanadier - er war höchstens fünfzehn - hatte zu lange gewartet.« O Gott - jetzt geht's wieder los - ich fange an!, dachte der Schriftsteller. Er hatte so viel verloren, was ihm lieb gewesen war, doch Danny wusste, dass Geschichten Wunder waren - sie ließen sich einfach nicht aufhalten. Er hatte das Gefühl,
dass das große Abenteuer seines Lebens erst begann - so musste sich sein Vater gefühlt haben, in den Nöten und Qualen seiner letzten Nacht in Twisted River.
Impressum Letzte Nacht in Twisted River von John Irving (Autor) Preis: EUR 26,90 Gebundene Ausgabe: 832 Seiten Verlag: Diogenes; Auflage: 1 (20. Mai 2010) Sprache: Deutsch ISBN-10: 325706747X ISBN-13: 978-3257067477 Originaltitel: Last Night at Twisted River
ebook Erstellung - Mai 2010 - TUX Ende