Cover DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Bernd Diksen, Leere Hände
Kriminalroman
Als die MUK eintrifft, liegt ...
6 downloads
248 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Cover DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Bernd Diksen, Leere Hände
Kriminalroman
Als die MUK eintrifft, liegt die Tote in ihrem Sarg. Nur konnte sie sich kaum selbst da hineingebettet haben. Else Bäumler war über siebzig, stark gehbehindert und herzkrank. Außerdem hat sie Würgemale, und ihre Geldkassette ist leer, wenn auch nicht gewaltsam geöffnet. Ohne sich von mysteriösen Umständen beirren zu lassen, fragen die Kriminalisten vor allem: Wer könnte ein Motiv gehabt haben? Frau B. war unbeliebt, soviel steht fest. Der Schwiegersohn belügt sie, da gibt es keinen Zweifel. Ein Maurerlehrling hat sich aus der Kassette „bedient“, das gibt er sofort zu. Der Obduktionsbefund weist Herztod aus … Trotzdem: Hauptmann Draht sagt sich, in Särgen stirbt man nicht.
Bernd Diksen
Leere Hände
Verlag Das Neue Berlin
IN SÄRGEN STIRBT MAN NICHT weiß Hauptmann Draht
„Unvorstellbar“, sagte Dr. Köhler, und man konnte ihn durchaus verstehen, wenngleich es auch wieder nicht unvorstellbar war; schließlich sahen wir es vor uns. Es war mehr ungewöhnlich. Die Tote lag in einem Sarg. Nur konnte sich die alleinstehende, über siebzig Jahre alte Else Bäumler kaum selbst da hineingebettet haben – wenn sie auch mit gefalteten Händen und irgendwie angemessen ordentlich ruhte, als habe sie ihr irdisches Dasein zufrieden abgeschlossen, bereit, sich nun ganz dem unbekannten ewigen Leben zu widmen; sie hatte deutliche Würgemale am Hals. „Unvorstellbar“, wiederholte der alte Herr kopfschüttelnd und mit heiserer Stimme. Er meinte damit nicht nur die ungewöhnliche Situation, denn Tote, auch in Särgen, mußte er in langer Berufspraxis genug gesehen haben. Es war die Tatsache, daß die stattliche Frau Bäumler, ein halbes Menschenleben lang seine Patientin, eines unnatürlichen Todes gestorben sein mußte. Und deswegen waren auch wir hier. Für uns als Morduntersuchungskommission waren gerichtsmedizinischer Befund und Ergebnis der gesetzlich vorgeschriebenen Obduktion entscheidend. Doch eine vorläufige Zeitangabe konnte im Augenblick schon eine Hilfe sein. „Die ungefähre Todeszeit würde mich interessieren.“ 7
Dr. Köhlers wache Augen musterten mich durch dicke Brillengläser. Er sah auf seine goldene Taschenuhr und legte sich vorsichtig auf die gestrigen Abendstunden fest. „Vor zehn bis fünfzehn Stunden also“, rechnete er mir vor. „Wie Sie sehen, ist die Leichenstarre trotz der empfindlichen Kühle im Zimmer voll ausgebildet.“ Dazu nickte er bekräftigend, während er der Toten ein Fieberthermometer unter die Achsel zwängte. „Zimmer ist allerdings geprahlt.“ Das Zimmer war die Abstellkammer, vollgepfropft mit Regalen, und es roch heftig nach Bohnerwachs. Der Sarg, dessen Deckel am Kopfende lehnte, wirkte nicht nur deshalb deplaciert. Es war ein Prachtstück aus dunkel gebeizter Eiche, mit kunstvollen Schnitzereien und umlaufenden Hohlkehlen fast überladen, dazu blanke, golden glänzende Beschläge. Und der Ausschlagstoff, auch wenn er kaum die vorgetäuschten Seidenfasern enthielt, um geschickt aufgewertetes Papier handelte es sich fraglos auch nicht. Es war, wie es einer meiner Mitarbeiter treffend formulierte, der Sarg für einen Menschen, der noch im Tode Wert auf Standesunterschiede legt. Dr. Köhlers Gedanken kreisten offenbar um den gleichen Punkt. „Den hat sie schon mindestens seit dreißig Jahren“, sagte er beinahe anerkennend und fügte in einer seine Generation kennzeichnenden Zeitrechnung hinzu: „Ist noch Friedensware.“ Ich verkniff mir die Bemerkung, daß wir jetzt auch keinen Krieg führten, sondern im Gegenteil die längste Friedensepoche dieses Jahrhunderts genießen dürften. „Sie haben recht: ein merkwürdiges Stück Inventar. Darin landen wir ohnehin noch früh genug.“ Dem konnte er nicht widersprechen. Er las vom Thermometer die Körperwärme der Toten ab, überlegte kurz, 8
wobei er über die Brillengläser hinweg seine ehemalige Patientin musterte, und nickte dann vor sich hin, was bestätigen sollte, daß er sein Urteil aufrechtzuerhalten gedachte. „Mehr kann ich kaum für Sie tun.“ Er ließ das Schloß seiner altertümlichen Tasche einschnappen und knöpfte seinen Übergangsmantel zu. „Eine Kleinigkeit vielleicht noch“, widersprach ich, was er mit leisem Befremden registrierte. „Die Tote war lange Jahre Ihre Patientin – hatte sie ein bestimmtes Leiden?“ Ich stieß die Tür auf, um ihn hinauszubegleiten. Er ging mit trippelnden Schritten voran, drehte sich dann aber nochmals um und sagte: „Nun ja, sie war herzkrank, ziemlich fortgeschrittene Angina-pectoris, viel Zeit war ihr ohnehin nicht mehr beschieden … sie konnte auch nur noch am Stock gehen … Rheuma, verstehen Sie?“ Da er mich dabei ansah, nickte ich zustimmend und bestätigte höflich das uralte Wissen um die leidigen Alterserscheinungen. „Also, wenn die Würgemale nicht wären …“, fuhr er zögernd fort, ließ den Satz unvollendet und bekräftigte statt dessen entschieden: „Aber es sind welche!“ „Sie werden sich kaum irren“, stimmte ich auch dem höflich zu, drückte mich gegen die Flurwand, um den alten Herrn vorbeizulassen, und achtete darauf, daß er nicht über die Kreidestriche auf dem Fußboden trat. Einige Sekunden sah ich ihm nach, wie er, klein und gebeugt, die Treppe hinunterstieg. Ich überlegte tatsächlich, wie oft er wohl schon diesen Weg gegangen war, daß er ihn kaum jemals wieder gehen würde. Unten mußte er etwas zu dem am Treppenanfang postierten Hauptwachtmeister gesagt haben, denn der hob die Hand an die Mütze, um anschließend forschend zu mir hinaufzublicken. Er 9
hatte die Aufgabe, Neugierige fernzuhalten. Im Erdgeschoß befand sich ein Lebensmittelselbstbedienungsladen nebst Lagerräumen, und der plötzliche Tod der alten Frau konnte schon dadurch nicht lange geheim bleiben. Nicht ausgeklammert dabei der mysteriöse Fundort der Toten – in Särgen stirbt man nicht. Wieder im Flur, wandte ich mich zur Küche, weniger aus übertriebener Rücksicht vor den Genossen der kriminaltechnischen Abteilung, die in Wohn- und Schlafzimmer ihre Pflicht taten. In der Küche saß seit fast zwei Stunden der siebzehnjährige Maurerlehrling Rudi Recker, der die Tote heute morgen gegen drei Viertel sieben Uhr entdeckt hatte. Ich wußte bisher kaum mehr, als daß er zu dem genannten Zeitpunkt sein Werkzeug hatte holen wollen; er modernisierte hier nach Feierabend das Badezimmer. Damit war er nicht überfordert; die hellblauen Kacheln, die eine neue Einbauwanne umrahmten, saßen sauber und ordentlich. Von Sauberkeit am Arbeitsplatz hingegen schien er wenig zu halten, sein Werkzeug lag wild verstreut, wo es ihm gerade aus der Hand gefallen war, den Fußboden überzog ein dünner Film aus Mörtelresten, und die alte Wanne, von eisenhaltigem Wasser häßlich gelb verfärbt, zierte als Relikt unten den Hof. Rudi mußte sie einfach durch die Fensteröffnung geschoben haben. Das Fenster selbst fehlte übrigens, im Treppenhaus stand ein neues, größeres. Statt des Fensters hielt eine schmutzige Zeltplane dessen Funktion notdürftig aufrecht, ein Umstand, der entscheidende Bedeutung an den Geschehnissen haben konnte. Der Siebzehnjährige wirkte nicht eben intelligent, auch von Schönheit konnte keine Rede sein, im Gegenteil, das 10
Gesicht über dem gedrungenen Körper mußte schlicht häßlich genannt werden. Es lag vor allem an zu großen Ohren, einem struppigen Haarwuchs und außergewöhnlich kräftigen Zähnen, die zu weit auseinander standen. Er saß gekrümmt auf einem Hocker neben dem Abwaschtisch und stellte das einzige unordentliche Element im Raum dar. Die Küche war peinlich sauber, die veralteten Möbel wie auch das Fußbodenlinoleum, das freilich schon brüchig und vor Herd und Ausguß fast durchgetreten war. Dr. Köhler hätte es vielleicht erneut zu dem Kommentar verleitet, auch das Linoleum sei noch Friedensware. Vom Alter her durfte es stimmen. „Das dauert aber!“ empfing Rudi Recker mich vorwurfsvoll und etwas plump vertraulich. Seine Stimme klang erstaunlich alt, er schien auch erkältet zu sein. Von seiner Warte aus hatte er natürlich nicht unrecht. Irgendwo auf einer Baustelle würde sein Lehrausbilder längst über den vermeintlichen Bummelanten wettern. „Wir bringen das gleich in Ordnung“, versprach ich und verkniff mir die Bemerkung, daß sich mancher immer nur dann auf seine Arbeitsmoral besinnt, wenn er von uns beansprucht wird. Ich lehnte mich an den Küchenschrank, winkte ab, als er sich erheben wollte, und sagte: „Wir müssen noch einmal kurz zusammenfassen: Sie fanden also heute morgen die tote Frau Bäumler?“ „Hab’ ich doch alles schon erzählt!“ „Aber doch nicht mir.“ Dieses Argument leuchtete ihm ein. Er begann eine durchaus zufriedenstellende Schilderung der näheren Umstände, die vorläufig damit endete, daß er, als sich niemand auf sein Klingeln, Klopfen und Rufen gemeldet hatte, einfach über die an der Hauswand lehnende Leiter in das Badezimmer eingestiegen war. 11
„Gut, nur … Nun lag ja die Tote nicht im Bad.“ „Schon“, gab er zögernd zu, um sich sofort zu ereifern: „Ja doch, klar, aber … alles war so still, verstehen Sie, irgendwie kam’s mir ulkig vor, weil doch die Alte …“ „Sie meinen Frau Bäumler!“ „Wen sonst? Jedenfalls kroch sie jeden Morgen Punkt sechs aus dem Bett; konnte man Züge nach abfahren lassen. Und deshalb dachte ich ja anfangs auch, wenn die denkt, die kann mich verladen, von wegen sich stur stellen, da läuft se aber ins Abseits.“ „Und weiter?“ Er sah mich irgendwie treuherzig an. „Na ja, und weil’s noch immer so still blieb, leise bin ich nämlich bestimmt nicht gewesen, da dachte ich, Mensch, dachte ich, hier fault doch irgendwo ’ne Kartoffel vor sich hin! Hab’ ich mich eben umgesehen … Was hätt’n Sie denn gemacht?“ „Vermutlich auch nach dem Rechten gesehen“, gab ich zu. „Übrigens läßt sich Ihr Weg an den hinterlassenen Mörtelspuren rekonstruieren, von der genauen Reihenfolge mal abgesehen.“ Er musterte grinsend seine zerschrammten Gummistiefel, deren Größe nicht recht mit seinem Lebensalter harmonierte. „Kein Wunder“, meinte er unbekümmert, „bei dem Dreck?“ „Wo gingen Sie zuerst ’rein?“ „Ja doch! Warten Sie … Ja, erst über’n Flur ins Wohnzimmer und dann … Nee, halt mal! Da sah ich dann ihren Krückstock vorm Bücherschrank liegen. Sie nannte das Ding ja vornehm ‚Gehhilfe‘, aber deswegen ist es doch bloß ’n lackierter Knüppel mit’n Griff dran.“ Er wartete vergeblich auf eine Bestätigung dieser Weisheit und erläuterte dann in seiner wahrhaft rustikalen Art weiter, daß er 12
nun überlegt habe, seit wann denn die Alte – Frau Bäumler natürlich – einen Schritt ohne das Ding mache? „Aber sie war nirgends zu sehen, und da wurde mir denn so richtig komisch um die Rosette. Konnte sie ja eigentlich bloß im Schlafzimmer sein, ist direkt daneben. Na, ich klopfe also an, war aber nischt zu machen, kein Pieps von innen; ja, ich klinke also auf, schiele ’rin, aber das Bett war leer.“ „In welchem Zustand befand es sich?“ „Zustand?“ Erneut grinste er, kapierte aber rasch. „Na ja, so zerwühlt wie meins am Morgen war es nicht. Aber drin muß jemand gelegen haben. Oder wenigstens drauf.“ „Dürfte stimmen“, bekannte ich. Es deutete einiges darauf hin, daß sich Frau Bäumler kurz einmal hingelegt hatte, vermutlich bei einem Anzeichen von Schwäche, auf dem Nachtschränkchen lagen griffbereit verschiedene Medikamente. „Kommen wir zur Hauptsache.“ Die Hauptsache sei, murrte Rudi Recker vor sich hin, daß er nichts mehr zu rauchen habe. Ich reichte ihm Zigarette und Feuer. „Ich bin zurück zum Flur, habe hier in die Küche reingesehen … auch nichts. Dann habe ich noch mal gerufen, eigentlich schon gebrüllt, aber die meldete sich eben nicht. Ja, und dann blieb nur noch die Kammer. Aber als ich die Bescherung sah, so im Dämmerlicht … Mann, mir hat’s bald die Beine weggesemmelt!“ Im Klartext hieß letzteres, daß er sich mächtig erschrocken hatte. Ohne Frage wäre es vielen anderen nicht anders ergangen. „Erzählen Sie ruhig weiter.“ „Ruhig, ruhig!“ Er machte sich steif auf seinem Hocker. „Soll ich Ihnen sagen, was ich dachte? Soll ich? Ja? Also, ich dachte, die haben dich aber sauber verfugt. Anstatt Bescheid zu sagen, lassen sie dich mitten in ’ne Behelfsleichenhalle platzen. Nee, so was!“ 13
„Wer ‚die‘?“ „Was weiß denn ich, wer das war. Und sicher wäre ich getürmt, wenn ich nicht unten gerade die Frau Zauner hätte rumoren hören. Die kommt immer vor sieben, wegen der Milch, die muß sie ja reinnehmen.“ „Muß sie.“ Kleine Zugeständnisse fördern Bereitschaft. „Ich also ’runter zu ihr“, schilderte Rudi plastisch, ich jedenfalls konnte mir sein Tempo gut vorstellen, „und was denken Sie? Die dachte doch tatsächlich zuerst, ich spinne schon am frühen Morgen. Verging ihr schnell, als wir vorm Sarg standen.“ Deutlich schwang Triumph mit, daß nicht nur ihn die plötzliche Konfrontation mit dem Tod erschreckt hatte. Aber Frau Zauner, eine füllige Endfünfzigerin, war nicht nur von der Tatsache an sich beunruhigt worden, wie Rudi Reckers unverändert burschikose Darstellung bewies. „Aber wie wir so standen, meinte sie auf einmal, irgend etwas stimme hier doch nicht, so was gebe es einfach nicht. Nämlich, wenn die Alte … die Frau Bäumler meine ich natürlich“, korrigierte er sich hastig, „wenn sie also sozusagen normal eingesargt worden wäre, dann hätten die Friedhofsfritzen erstens den Deckel draufgeknallt, und zweitens stände der Sarg überhaupt nicht mehr hier in der Wohnung, sondern ordentlich in der Leichenhalle. Sagte sie. Und dann hat sie die Polizei angerufen, und mir“, schloß er mit einer beinahe verständlichen Mischung aus Wichtigtuerei und Wut, „mir hat sie kommandiert, mich nicht von ihrer Seite zu rühren.“ „Eine umsichtige Frau“, lobte ich ernsthaft und wußte nicht, daß ich mein Urteil schon eine halbe Stunde später würde einschränken müssen. Eigentlich war ich bereit, meinen Zeugen Recker vorerst zu entlassen, als es hinter mir an die Tür klopfte, 14
obwohl sie halb offenstand. Ich brauchte nicht einmal den Kopf zu wenden, um zu wissen, daß es nur Leutnant Novy sein konnte. Ich fand Novy, unumwunden ausgedrückt, etwas schwierig. Nach meiner Überzeugung lag das hauptsächlich an seinem mitunter krankhaften Ehrgeiz, besser oder zumindest so gut zu sein wie alte Hasen. Bieg ihn hin, es lohnt sich, hatte mir unser Chef vor etwa einem Jahr empfohlen, als er den kaum Achtundzwanzigjährigen meiner Abteilung zuwies. Und nach der fachlichen Qualifikation war das völlig berechtigt. Novy hatte Schulen und Sonderlehrgänge durchweg mit Auszeichnung absolviert, erwies sich bald als unglaublich diensteifrig, scheute keinerlei Anstrengung, urteilte meist zuverlässig. Ein Genie aus der Retorte, faßte meine Frau ihr Urteil sehr schnell und, wie ich glaubte, treffend zusammen. „Es geht zuwenig Wärme von ihm aus.“ Und wirklich, selbst seine Scherze klangen immer etwas aggressiv, ihm gelang weder sanfte Ironie noch jene Nuancierung von Spott, die nicht verletzend, sondern anregend ist. Selbst sein Äußeres schien mir nur darauf bedacht, sich abzuheben. Entgegen jeder Mode hielt er sein glattes Blondhaar auf Streichholzlänge, streng gescheitelt, wie ein preußischer Fahnenjunker; trotz des Angebots geschmackvoller Brillenfassungen trug er eine geradezu beleidigend billige Nickelbrille, die gut von seinen Großeltern stammen konnte. Leutnant Novy also stand in der Tür, sagte steif, als müsse er zu seinem tiefsten Bedauern eine Geheimkonferenz in der entscheidenden Phase stören: „Einen Moment bitte, Genosse Hauptmann“, und trat in das Halbdunkel des Korridors zurück. Ich bedeutete Rudi Recker, einen 15
Augenblick zu warten, und schloß die Tür hinter mir. „Wir sind ohnehin gleich fertig.“ „Bißchen optimistisch, fürchte ich“, sagte Novy und hielt mir die Abzüge zweier Fingerabdrücke in Augenhöhe entgegen. „Was soll’s? Die stammen doch von der gleichen Person. Soviel sehe ich selbst im Dämmerlicht.“ „Stimmt, es sind die gleichen Daumen, und zwar der linke. Dieser hier“, er überreichte mir den ersten, „fand sich auf dem Deckel einer Geldkassette, und dieser“, er gab mir den zweiten, „findet sich dutzendweise im Badezimmer. Genauer gesagt: auf vielen Wandfliesen, auf der Badewanne, an Werkzeugen. Es wimmelt davon. Und ich wüßte nur eine Person, die sie dort hinterlassen hat.“ „Ich auch“, knurrte ich enttäuscht. „Und die Kassette, die ist ausgesprochen leer!“ Sieh an, dieser naive Bengel! „Laßt euch deswegen nicht von der Arbeit abhalten.“ „Die Genossen sind soweit fertig, möchten allerdings noch einmal in die Küche.“ „Nichts dagegen“, sagte ich und wandte mich ab. Rudi saß noch immer auf dem Hocker und wich meinem Blick aus; vermutlich hatte er gelauscht. „Gehen wir mal ins Wohnzimmer“, sagte ich leichthin, es war ein matter und überflüssiger Versuch, ihm Sicherheit vorzuspielen. In Wirklichkeit ärgerte ich mich über mich selbst. Auch das Wohnzimmer war alte Pracht. Der Sarg hätte sich, zumindest vom Stil her, gewissermaßen nahtlos eingefügt. Lauter Möbel, wie sie der gehobene Mittelstand um die dreißiger Jahre bevorzugt hatte: schwere Eiche mit Nußbaum, viele Rundungen, klobige Füße, hier und dort Schnitzwerk. Es fehlte auch nicht der obligatorische 16
Rauchtisch mit Platte aus gehämmertem Kupferblech, flankiert von Sesselungetümen mit brüchig gewordenem Lederbezug. Auf mich wirkte alles etwas melancholisch, man war inzwischen klare Linien gewohnt. Ungemütlich wiederum konnte man das Zimmer eigentlich auch nicht nennen, nur eben verstaubt, irgendwie weit weg. Halb ist es Gewohnheit, halb wohl auch eine Art Selbstverständlichkeit, ich setzte mich hinter den Schreibtisch. Auch er entsprechend wuchtig, und dennoch, es saß sich eigentlich angenehm dahinter. Beinahe abgezirkelt genau auf der Mitte der Platte stand die Kassette, ein handelsübliches graugespritztes Stahlfach. Lehrling Rudi war, vorsichtig geworden, gleich neben der Tür stehengeblieben; er mußte entschieden etwas von der neuesten Entwicklung erlauscht haben. Sein Blick, mit dem er die beiden Genossen von der Technik bei ihrem Abgang verfolgte, war beinahe tückisch. Ich deute auf den runden Wohnzimmertisch. „Nimm dir einen Stuhl und komm her.“ Das „Du“ kam ganz unwillkürlich, der Bengel hatte mich enttäuscht und war mir trotzdem vertrauter geworden. Er gehorchte widerstrebend, vermied, als er endlich auf dem hochlehnigen Stuhl thronte, jeden Blick auf die Kassette, womit er ungewollt bestätigte, was ohnehin sicher war. Kleine Sünder lohnen keine Umwege. „Wie mögen wohl deine Fingerabdrücke auf diese Kassette gekommen sein?“ Dabei klopfte ich mit einem Knöchel mahnend auf den Hohlkörper, in dem zu allem Überfluß der Schlüssel steckte. „Fingerabdrücke?“ „Ganz recht.“ „Meine?“ 17
„Ja, deine.“ „Und woher woll’n Sie so genau wissen, daß es meine sind?“ „Fliesen, auch Kacheln geben geradezu klassische Fingerabdrücke her. Lackierte Krückstöcke übrigens auch, und“, ich wies lächelnd auf seinen Stuhl, „von Möbeln lassen sie sich auch sauber übertragen.“ Er besah sich tatsächlich fragend seine Hände, die recht verarbeitet aussahen; bei der Arbeit schonte er sich offensichtlich nicht. „Wieviel also?“ Er druckste noch einige Sekunden, schielte mich prüfend an und sah schließlich ein, daß nun aller Spaß ein Ende hatte. Verärgert griff er in die obere Außentasche seiner verwaschenen Manchesterjacke, riß seinen blauumhüllten Ausweis heraus und knallte ihn auf den Schreibtisch. Es bedurfte nur eines bedeutsamen Blickes, daß er ihn wieder an sich nahm und mir gleich darauf grämlich einen gefalteten Hundertmarkschein zuschob. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. „Ist das alles?“ „Mehr war ja nicht drin.“ „Und wo haben wir den Schlüssel gefunden?“ „Überhaupt nicht, der steckte.“ Er sah fast gekränkt aus. „Wenn Sie denken, ich bin ein Spitzbube …“ Er brach ab, stierte an mir vorbei, was ich im ersten Augenblick für kindischen Trotz hielt. Aber als ich den Kopf wendete, sah ich Leutnant Novy im Türrahmen zum Schlafzimmer lehnen. Fraglos hatte er schon länger mitgehört. „Für den Tatbestand des Diebstahls“, schaltete er sich ein, „hat man uns schon die unglaublichsten, manchmal ausgesprochen abenteuerliche Umschreibungen angeboten. Darf man fragen, ob Sie mit einer Neuheit aufwarten können?“ 18
Diesmal war es reiner Trotz: „Das ist mein Lohn!“ „Es scheint“, sagte Novy dazu, „wir haben es hier mit einem Spaßvogel zu tun.“ Diese Redewendung war erstens auch alles andere als neu, und zweitens mißfiel sie mir diesem Jungen gegenüber. Ich erkundigte mich ähnlich herablassend, ob Novy seine Tätigkeit im Schlafzimmer als beendet ansehen könne. „So ziemlich, ich wollte auch nur …“ „Und ich liebe exakte und möglichst abgeschlossene Arbeiten.“ Ohne mich erneut umzusehen, wußte ich, daß er mit Achselzucken quittierte; am lauten Türschließen ließ sich seine Verstimmung ablesen. Rudi begann sofort ohne Aufforderung, mir gestenreich auseinanderzusetzen, daß just die hundert Mark sein noch ausstehender Arbeitslohn wären. Zwanzig Stunden seien noch offen gewesen, je Stunde fünf Mark, wobei er noch verdammt billig wäre, könne sich ein Blinder ausrechnen. „Und die Pfennige hätte ich nie mehr gesehen!“ Die Preise waren mir geläufig, hin und wieder brauchte auch ich einen Handwerker. Manche hatten nicht nur den sprichwörtlich goldenen Boden unter den Füßen, sondern schon eine goldene Nase. Dennoch rügte ich: „Ob nun fünf Mark Stundenlohn, verlangt von einer Rentnerin, unbedingt billig oder gar edel sind, wollen wir dahingestellt sein lassen – eine Selbstbedienung oder Selbstkassierung rechtfertigt das jedenfalls nicht.“ „Wenn sie mir doch nischt gegeben hat, gestern abend?“ „Wann gestern abend?“ „Na, so um sechse ’rum! Ist doch lange genug, bis sechse ochsen, nicht?“ Wieder einmal wartete er, bis ich 19
bestätigte, daß freiwillige Sonntagsarbeit nicht zu verurteilen sei, und empörte sich: „Sagt mir frech, sie hätte kein Geld im Haus. Die und kein Geld! Nee, die war bloß sauer, weil ich das Fenster nicht mehr eingesetzt habe.“ „Wäre besser gewesen“, sagte ich abwesend. Was immer sich hier abgespielt hatte, eine Leiter und ein notdürftig verhangenes Fensterloch waren ideale Einstiegsbedingungen. Während ich diesen Überlegungen nachhing, durchquerte Leutnant Novy das Wohnzimmer, wobei er mich keines Blickes würdigte; er mimte den rastlos Beschäftigten. Hätte ich ihn angesprochen, würde er sicherlich aufmerksam und höflich reagiert haben, einem neutralen Beobachter würde keine Spannung zwischen uns auffallen. Es war einfach seine Art. Sicher aber war ich mir, daß Novy auch diesmal die Wohnzimmertür vernehmlich geschlossen hätte, wäre er nicht beim Öffnen mit dem Genossen von der Treppenhauswache zusammengeprallt. „Die Tochter der … der Verstorbenen ist unten, Genosse Hauptmann“, meldete der Oberwachtmeister leise, als sei ihm die Störung peinlich. „In Begleitung ihres Mannes.“ „Wieso das?“ fragte Novy sofort, und eben dieses reibungslose Übergleiten versöhnte mich immer wieder mit ihm. Selbstverständlich hätten wir die Hinterbliebenen zum frühest möglichen Zeitpunkt informiert, aber hier hatte es eine undichte Stelle gegeben, wenn es freilich auch immer ungewiß war, ob ein zum Schweigen verpflichteter Zeuge auch wirklich schwieg. „Hilft nichts“, sagte ich, „bringen Sie sie hoch.“ Gleichzeitig erhob ich mich, und etwas wie Heiterkeit erfaßte mich: Rudi Recker sprang ebenfalls prompt auf; 20
ihm wäre im Augenblick sicher der grimmigste Lehrausbilder willkommen gewesen. Ein schmerzlich abschiednehmender Blick traf noch den Hundertmarkschein, dann gingen wir zur Tür. „Was hättest du eigentlich gemacht, wenn mehrere Geldscheine, eine größere Summe also, in der Kassette gelegen hätten?“ Was ohnehin nicht auszuschließen war, dachte ich bei mir. „Na, nischt“, antwortete Rudi, ohne zu überlegen, denn den einen Hundertmarkschein hätte er ja zumindest eingesteckt. „Bist du da sicher?“ Er kratzte sich im Nacken, sah mich treuherzig an, grinste endlich freimütig und meinte: „Also eigentlich, wenn ich so drüber nachdenke …“ „Das war wenigstens aufrichtig. Und nun noch mal ab in die Küche.“ „Was denn – noch nicht fertig?“ „Bißchen Papierkram noch.“ „Ich habe nischt zu roochen!“ „Kein Problem, junger Mann, unter uns handelt ein Konsum damit.“ „Da braucht man Kleingeld, Chef!“ Ich mag die Anrede Chef nicht sonderlich, diesmal verzieh ich sie großmütig. Und hier bot sich die Gelegenheit für eine kleine Falle. „Na, die können sicher auch große Scheine wechseln.“ Rudis Reaktion brachte mich zu der felsenfesten Überzeugung, daß in der Kassette tatsächlich nur der eine Hundertmarkschein gewesen sein konnte. „Sie geben ihn mir zurück?“ „Geht schlecht, Junge, ist auch nicht mein Eigentum.“ Ich griff in meine Zigarettenschachtel, verspürte selbst 21
Verlangen nach Nikotin, unterdrückte es aber und reichte Rudi drei Stück. „Bißchen wenig, Chef.“ „Dauert ja nicht mehr lange.“ Im Flur, der nur durch die Ornamentscheiben in den oberen Dritteln der Zimmertüren erhellt wurde, wartete das Ehepaar Sturm. Ihnen gegenüber, durch die Länge des Korridors getrennt, stand breitbeinig Leutnant Novy vor der geschlossenen Kammertür, durch die leise Geräusche drangen; noch immer taten die Techniker ihre Pflicht. Rudi Recker mußte zwangsläufig dicht an Sturms vorbei, und ich überhörte keineswegs die leise, aber unverkennbar abfällige Frage Frau Sturms an ihren Mann: „Was sucht denn der hier?“ Herr Sturm umfaßte leicht ihre Schultern, während Zeuge Recker betont schlaksig in der Küche verschwand; offenbar erwiderte er die Gefühle der Tochter Else Bäumlers. „Aber, Kind“, sagte Sturm, „der baut doch Mutters Bad um“, stockte und zog seine Frau tröstend an sich; eine Geste, der man die traurige Wahrheit entnehmen konnte, daß die alte Frau nun nicht mehr in den Genuß eines Bades komme. Ich reichte beiden die Hand, bekundete unser Beileid und gab zu: „Sie sehen mich etwas überrascht.“ „Sie uns nicht minder.“ Sturms Antwort reizte mich. „Verdammt“, wandte ich mich an Novy, „warum schraubt hier niemand mal eine neue Glühbirne ein? Man sieht sich ja kaum.“ „Das dürfte wenig sinnvoll sein“, klärte mich Herr Sturm auf, „die Flurleitungen müssen erneuert werden. Aber wir müssen doch sicher nicht hier stehenbleiben?“ „Natürlich nicht. Bitte, kommen Sie.“ 22
Das Ehepaar blieb, als ich die Wohnzimmertür schloß, wie Fremde, wie ungebetene Gäste, neben der Tür stehen. Fremd indessen war ich hier, die Blicke der beiden verrieten es mir. Ich schätzte Frau Sturm auf Anfang Dreißig und hatte mich selten so verschätzt; sie war zweiundvierzig. Schwarzes, glatt hängendes Haar umrahmte ein blasses, faltenloses Gesicht, beherrscht von großen, dunklen Augen. Wahrscheinlich unterstrichen durch die schlichte Trauerkleidung, wirkte sie ungemein zerbrechlich. Und eigentlich störte mich nur etwas, daß ihr keinerlei Tränenspuren anzusehen waren. Herrn Sturm schien zu mißfallen, daß ich seine Frau eingehend musterte, er schob sich langsam in den Vordergrund. Er war einen Kopf größer als sie, machte einen gepflegten und intelligenten Eindruck, letzteres nicht nur wegen seiner hohen Stirnglatze. Auch an ihm störte mich etwas, nämlich seine untadelig blanken, schwarzen Halbschuhe; draußen herrschte diesiges Nieselwetter. Ich deutete auf die Sesselgruppe und fragte: „Es interessiert mich, wer Sie informiert hat.“ „Frau Zauner natürlich“, sagte Sturm unwillig, „obwohl das eigentlich Sache anderer Instanzen wäre.“ „Und darf man fragen, was sie zu berichten wußte?“ „Nichts als die Tatsache, daß …“ Leutnant Novys Eintritt unterbrach ihn. Er brachte unser Tonbandgerät, stellte es auf den Schreibtisch und setzte sich. Ehe er die Aufnahmetaste drückte, sah er mich fragend an. Ich wandte mich erneut an das Ehepaar: „Sie sind doch einverstanden, daß wir unser Gespräch aufzeichnen?“ „Aufzeichnen? Aus welchem Grund denn?“ 23
„Es erspart uns Nachfragen, und außerdem, immer Ihre Zustimmung vorausgesetzt, läßt es sich für das Protokoll verwenden.“ „Nachfragen? Protokoll? Und wenn wir uns weigern, Herr … Herr …?“ „Entschuldigen Sie … Draht, Hauptmann Draht, Bezirksbehörde. Und um auf Ihre Frage zu antworten: Eine Weigerung hätte lediglich zur Folge, daß der Genosse Leutnant Novy sich der Mühe des Stenografierens unterziehen müßte.“ „Ich verstehe das alles nicht“, begehrte Sturm weiter auf. „Hier stimmt doch etwas nicht! Hauptmann! Und vom Bezirk!“ Obwohl es ganz natürlich klang, war mir diese Reaktion nicht spontan genug, sie war irgendwie abgewogen, berechnet. Sie machte mich mißtrauisch. So naiv konnte ein erwachsener Mensch nicht sein, daß er beim Tod eines alten, herzkranken Menschen mehr als einen Arzt und, falls vorhanden, trauernde Hinterbliebene erwartet – nicht aber ein Polizeiaufgebot. „Gewisse Umstände geben Anlaß zu einer sorgfältigen Untersuchung der Todesursache Ihrer Schwiegermutter.“ „Was für Umstände, um Himmels willen!“ Das klang echter. „Wir sind MUK.“ Die Bestürzung, mit der sich das Ehepaar ruckartig anstarrte, war allerdings kaum gespielt. „Ja aber … Mordkommission? Das ist doch …“ Ich hob beschwichtigend beide Hände. „Sie übersehen, daß im Grunde die Betonung auf Unfall-Untersuchungskommission liegt. Wir sind nun einmal, zum Glück übrigens …“, ich verhielt kurz – Hinterbliebene 24
durften einen tödlichen Unfall kaum als Glück empfinden –, „viel häufiger mit der Klärung von Unfallursachen beschäftigt als mit Tötungsdelikten.“ „Ein Unfall?“ Herr Sturm schien eher ungläubig als betroffen. „Wir werden es klären.“ Sturm faßte seiner Frau leicht auf das Knie und fragte: „Aber wir dürfen sie doch sehen?“ Und, ganz fürsorglicher Ehegatte, zu seiner Frau: „Oder … möchtest du vielleicht lieber nicht?“ Auch das klang ganz normal. „Ich muß Sie trotzdem um etwas Geduld bitten, wahrscheinlich bis morgen früh.“ „Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Mutter …“ Es war Frau Sturm, die aufbegehrte, wenn sie auch das Wort obduzieren nicht aussprach. Ihre Stimme überraschte mich nicht, sie war ihrem zarten Äußeren angepaßt, sie klang angenehm. „Es wird sich nicht umgehen lassen“, bedauerte ich, „ebenso einige Fragen nicht, deren Beantwortung uns sehr von Nutzen sein kann.“ „Fragen? Was für Fragen?“ Herr Sturm erkundigte sich widerstrebend. „Nun“, sagte ich und bemühte mich, arglos zu wirken, „etwa über Gewohnheiten Ihrer Frau Schwiegermutter.“ „Gewohnheiten?“ Frau Sturm betupfte sich die Augen. „Mein Gott, sie war ein Mensch wie jeder andere.“ Ich behielt meine durch Rudi geweckten Zweifel für mich. „Aber vielleicht können Sie etwas über ihr Verhältnis zu den Nachbarn sagen? War es gut, herzlich, oder ging es über ‚Guten Tag‘ und ‚Guten Weg‘ nicht hinaus?“ Frau Sturm zögerte sichtlich. „Ich glaube … also ich möchte sagen, sie lebte sehr zurückgezogen.“ 25
„Sie war stark gehbehindert“, erinnerte ich sie, „und Behinderte sind im allgemeinen in erhöhtem Maß auf nachbarschaftliche Hilfe angewiesen.“ „Sie hatte ja den alten Recker.“ Ihr Einwand, bei Erwähnung des Namens Recker, klang erneut abfällig. „Recker, soso. Und sonst hatte sie keine Bekannten? Könnte es sein, daß sie Besuche empfing? Niemand lebt doch ganz für sich allein.“ Als beide darauf schwiegen, mahnte ich vorsichtig: „Wahrscheinlich war Ihre Mutter in der Stunde ihres Todes nicht allein. Wer könnte bei ihr gewesen sein?“ Herr Sturm musterte mich vorwurfsvoll, fast aggressiv. „Aber das müßten Sie doch wissen, Herr Hauptmann! Wer immer zu Besuch gewesen sein sollte, er muß Ihnen doch das Ableben meiner Schwiegermutter gemeldet haben!“ So logisch der Einwand war, irgendwie gefiel es mir nicht. „Ich sagte ‚wahrscheinlich‘, es ist also vorläufig nichts als eine schwach begründete Theorie.“ Damit sagte ich zwar bewußt die Unwahrheit, hoffte aber, das Ehepaar aus seiner mir unverständlichen Reserve zu locken. Rascher als vermutet, zeigte diese Taktik Erfolg; Frau Sturm überlegte: „Vielleicht war Frau Beck hier? Aber … dann müßte Mutter doch schon gestern …“ „Wer ist Frau Beck?“ unterbrach ich schnell. „Eine alte Freundin, zumindest eine gute Bekannte. Sie wohnt in Bennbach, einem Nachbarstädtchen. Soviel ich weiß, besuchten sie sich ab und zu gegenseitig; entweder brachte der Sohn Frau Beck nach hier, oder er holte Mutter mit dem Wagen ab. Aber dann …“ „Ja? Bitte, sprechen Sie weiter.“ „Ich meine nur, dann müßte in der Küche noch das schmutzige Kaffeegeschirr stehen. Mutter hatte in letzter 26
Zeit die Gewohnheit, es irgendwann am nächsten Vormittag abzuwaschen, solange die Schmerzen noch erträglich waren. Aber das ist jetzt sicher ohne Belang?“ „Wir werden sehen“, sagte ich unbestimmt und tat, als fragte ich nur weiter, weil es zu meinen Pflichten gehörte: „Da wir alles sorgfältig registrieren und protokollieren müssen – kennen Sie die Vermögenslage Ihrer Mutter?“ Sie überlegte etwas zu lange, ein scheuer Blick zu ihrem Mann schien um Rat zu bitten. „Genau kann ich das wirklich nicht sagen, sie war uns gegenüber darin sehr verschwiegen.“ „War sie das, was man vermögend nennen könnte?“ „Vielleicht?“ „Und was meinen Sie, kannte irgend jemand ihre wahre Vermögenslage? Oder ihre Gewohnheiten?“ „Gewohnheiten? Der alte Recker bestimmt, der ist hier ein und aus gegangen, solange ich eigentlich denken kann. Aber ihre Geldverhältnisse? Das glaube ich nicht. Ich sagte doch schon, Mutter tat damit immer geheimnisvoll.“ Dann seufzte sie voller Selbstvorwurf: „Wären wir doch nur gestern hergefahren, wie das ursprünglich geplant war.“ Ich nickte ihr mitfühlend zu; Formulierungen, die mit wäre, wenn und hätten beginnen, kannten wir aus ähnlichen Situationen zur Genüge. Im Grunde aus diesem Mitgefühl heraus erkundigte ich mich, ob man längere Zeit nicht zu Besuch gewesen sei. Ja, wann eigentlich war man zuletzt hiergewesen? Vor zwei, drei oder vier Wochen? „Sechs Wochen, glaube ich“, sagte sie endlich unsicher, mehr zu ihrem Mann, der bereitwillig dazu nickte. „Wären wir doch bloß gefahren!“ Hinter mir hüstelte Novy, natürlich hatte auch er einen Widerspruch erkannt. Ich warf ihm einen warnenden 27
Blick zu; er reagierte auf seine nette Art, er begann im mittelsten Schreibtischfach zu kramen. Sturms quittierten diese Tätigkeit nach Temperament verschieden; er beobachtete Novys Treiben mit spürbarer Abneigung, während sie nun wohl erst richtig die Bedeutung unserer Anwesenheit zu ahnen begann. „Mein Gott, sagen Sie um Himmels willen, was das alles zu bedeuten hat. Was ist mit meiner Mutter passiert?“ „Es tut mir wirklich leid, aber auch ich kann noch nichts Endgültiges sagen.“ Das klang nach Geheimnistuerei, war aber zumindest die halbe Wahrheit.. „Ja, aber …“ „Sie müssen sich noch etwas gedulden“, unterbrach ich sie und hoffte, man werde die darin versteckte Bitte, die gewünschte Geduld außerhalb dieser Wohnung aufzubringen, nicht überhören. Herr Sturm kleidete seine rasche Auffassungsgabe in überflüssige Ironie. „Dann stören wir jetzt hier eigentlich nur?“ Novy mißfiel das gründlich. „Der Tod einer Schwiegermutter ist ja nicht unbedingt eine Katastrophe“, murmelte er allzu deutlich. Sturm nahm den Fehdehandschuh unverzüglich auf, was er besser unterlassen hätte. „Eine unangebrachte, um nicht zu sagen: taktlose Bemerkung, Herr Leutnant!“ Sie waren sich vom ersten Augenblick an unsympathisch, eine Gefühlsregung, die zumindest Novy hätte unterdrücken müssen. Ich lenkte in vorgezeichnete Bahnen: „Vielleicht sollten Sie inzwischen die Formalitäten bei den Behörden erledigen, Herr Sturm?“ Er nickte und erhob sich bereitwillig, während Frau Sturm sichtlich zögerte. Ihr Blick war auf die Kassette 28
gerichtet, und dieser Blick war keineswegs traurig. Ihre Frage an mich hingegen war eine halbe Provokation. „Verzeihung, aber … kann hier etwas verlorengehen?“ „Wie darf ich das verstehen?“ „Muttchen hatte immer so viel Bargeld im Haus, obwohl ich ihr stets dringend geraten habe …“ Sie schluchzte verhalten, was mir aber jetzt ganz und gar nicht angebracht schien. Ich wartete vergebens auf die dringenden Ratschläge einer besorgten, um Geld besorgten Tochter; ich hatte das enttäuschende Gefühl, sie würde liebend gern den Pegelstand der Kassette prüfen und den Inhalt einstecken. Ich verschwieg, daß der Stahlbehälter völlig leer war, und erkundigte mich beiläufig: „Wieviel etwa pflegte ihre Mutter in der Wohnung aufzubewahren?“ „Nie unter dreitausend Mark, eine Marotte, aber sie war davon ja nicht abzubringen.“ Ich hatte etwas Mühe, mich nicht zu verraten, es bedurfte nicht Novys „Aha!“. Die Auskunft eben, sehr bestimmt und ohne Zögern, konnte bedeuten, daß mich ein siebzehnjähriger Bengel, um mit dessen Worten zu reden, sauber „verfugt“ hatte. „Dreitausend“, wiederholte ich abwesend, als stimme alles auf Heller und Pfennig, und ich zweifelte nicht an der Richtigkeit ihrer Auskunft; ältere Menschen haben nicht selten den Ehrgeiz, für die unabwendbar näher rückende Stunde ihres Todes materiell vorzusorgen. „Ja“, sagte Frau Sturm ohne Scheu, „vielleicht auch mehr, und weil doch dieser Recker hier in der Wohnung war, da dachte ich … vielleicht sollte man …“ Sie konnte von ihrem Platz aus den in der Kassette steckenden Schlüssel fraglos nicht sehen, und ich gab die Versicherung, daß wir baldigst alles prüfen und 29
ordnungsgemäß protokollieren würden. „Und was den Rudi Recker angeht, so ist seine Anwesenheit ganz einfach darauf zurückzuführen, daß er Ihre Mutter heute morgen fand.“ Ich verabschiedete mich etwas kühl. Volle oder leere Kassette, diese ungehemmte Abneigung gegen alles, was Recker hieß – denn augenscheinlich richtete sie sich nicht nur gegen Rudi –, gefiel mir nicht. Als ich mich wieder umwandte, saß Novy unschuldig hinter dem Schreibtischungetüm und putzte emsig seine Brillengläser. „Wir haben auch noch ein Wörtchen miteinander zu reden“, knurrte ich ihn an. „Es wird in diesem Fall noch viel zu reden geben.“ „Aber keinen Unsinn, wenn ich bitten darf.“ „Es dürfte keineswegs Unsinn sein, wenn wir Herrn Sturms Aussagen und sein Verhalten sorgfältig analysieren. Überhaupt, wir hätten Fingerabdrücke nehmen sollen.“ „Können wir jederzeit nachholen, etwas Rücksicht muß man schließlich auch nehmen. Hingegen würde mich doch sehr interessieren, was und wieviel Frau Zauner nun wirklich Sturms am Telefon verraten hat.“ „Zum Beispiel, wo man die Tote fand?“ „Richtig, zumindest Herrn Sturms Reaktionen könnten streckenweise gespielt gewesen sein.“ „Er hat irgendwie Dreck am Stecken“, versicherte Novy überzeugt, ehe er nach unten zu Frau Zauner ging. Bei seiner raschen Rückkehr war diese Überzeugung zu einem Teil geschmolzen. Frau Zauner hatte kategorisch bestritten, auch nur mit einer Silbe den Fundort der Leiche erwähnt zu haben. Mit Novy betrat Oberleutnant Kemmberg erstaunlich behutsam das Zimmer. Man muß dies extra unterstreichen, weil er die Körpergröße eines Basketballspielers und das 30
Gewicht eines Schwergewichthebers hatte; er konnte Türen selten ungebückt passieren. Seine Hände waren ausgesprochene „Klosettdeckel“, und so nützlich sie auch sein konnten, wußte er manchmal nicht so recht, wohin damit, weshalb er sie häufiger als andere in die Hosentaschen zwängte. Eine weitere Eigenart war seine Vorliebe für Stiefel, seine besondere aber, sich sehr geradezu auszudrücken, ohne eigentlich unhöflich zu werden. Kemmberg, Leiter der hiesigen Abteilung K, hatte uns gerufen und mit den Worten empfangen, daß so etwas die Welt noch nicht gesehen habe. Fast selbstverständlich hatte ich darum ersucht, ihn als Ortskundigen mir für die weiteren Ermittlungsarbeiten freizustellen, und das erwies sich als kein schlechter Griff, wenn er natürlich auch nicht zaubern konnte. Vor etwa einer Stunde hatte ich ihn angewiesen, sich in der spärlichen Nachbarschaft umzusehen; zum Zeitpunkt des Todes der Frau Bäumler konnten durchaus einige Bürger Beobachtungen von Wert gemacht haben. „Nun?“ fragte ich. „Nichts.“ Seine Stimme, falls er sie nicht dämpfte, dröhnte wie eine Buschtrommel. „Und das hat so lange gedauert?“ forschte Novy, der sich wie selbstverständlich wieder hinter den Schreibtisch klemmte. „Nichts finden dauert länger“, beschied Kemmberg ihn. „Und dann wollte ich auch jemandem so lange als möglich aus dem Weg gehen. – Wer hat ihn überhaupt benachrichtigt?“ „Sie meinen Sturm?“ Er nickte ohne Begeisterung. „Bin mit ihm zusammen zur Schule gegangen. Gleiche Klasse, manchmal sogar gleiche Bank.“ 31
Ich fand das interessant. „Es war aber nicht die rechte Liebe zwischen Ihnen, wie?“ „Eigentlich doch. Als Knabe war er munter und patent, jedenfalls vom Standpunkt eines Knaben aus, und ein helles Köpfchen. Und später, als er hier beim alten Bäumler, dem verstorbenen Ehemann der Toten, Elektriker lernte, war er das, was man landläufig einen Kumpel nennt. Hauptsächlich …“ Er zögerte unbehaglich, lachte dann dröhnend und brummte, es sei ja sowieso alles vergeben und vergessen. „Wie das damals eben so war, er konnte immer was auftreiben, Fressalien vor allem, Tabak und sogar richtige Zigaretten. Das hat er sich bei dem alten Bäumler abgeguckt, der hat damals mächtig geschoben. Ich glaube, Siegfried Sturm wird ihn auch ohne Skrupel ganz schön beklaut haben. Eigentlich war das komisch.“ „Was war komisch?“ „Nicht in dem Sinn, daß es was zu lachen gab. Aber man mußte doch annehmen, daß mit den alten Geschäftemachern und sonstigen Händlern nun endlich Schluß sei. Doch die lebten tatsächlich weiter, besser als …“ „Das hatte vorwiegend ökonomische Gründe“, unterbrach Novy. „Ach, das haben Sie als Sechzehnjähriger mit knurrendem Magen gewußt?“ Kemmberg winkte gelangweilt ab. „Was aber den Siegfried Sturm angeht – wir verstanden uns immer weniger, wichen uns aus und endeten schließlich als Gegner. Und wißt ihr, warum?“ „Woher eigentlich?“ fragte Novy sanft. Kemmberg scheuerte sich ausgiebig am Hals, brummte, daß er da wahrhaftig eine dämliche Frage gestellt hätte, blinzelte mir zu: „Der grüne Heinrich da bringt mich noch mal auf die Palme!“ 32
„Mich auch. Halten Sie mir oben einen Platz frei“, sagte ich. Novy wäre nicht Novy gewesen, hätte er nicht auf seine Art reagiert. Er strafte uns sozusagen mit Verachtung, wenn er ihr auch einen Anstrich von Diensteifer gab; er begann in einer ledernen Briefmappe aus dem mittelsten Schreibtischfach zu blättern. „Ich höre weiter zu.“ Kemmberg dröhnte: „Weil ich zur Volkspolizei ging! Ich sei total bescheuert, erstens überhaupt und zweitens, wenn das mal andersherum komme, und lange könne sich der Schwindel sowieso nicht halten, und ich hinge wie viele andere an einem starken Ast. Na, solche Diagnosen sind den meisten inzwischen gründlich vergangen.“ „Herrn Sturm auch?“ „Da bin ich mir gar nicht so sicher. Damals jedenfalls, als sich unsereiner noch mit Grammatik und Bewußtseinsbildung herumschlug, zog er eine Art Hauptgewinn, die Marion, Bäumlers einziges Kind, seine jetzige Frau.“ Er schüttelte den Kopf, als begreife er Marions Geschmack und Wahl noch immer nicht. „Wahrscheinlich habe ich dem auch noch Vorschub geleistet.“ Ich schmunzelte anzüglich. „Waren Sie auch ein bißchen hinter ihr her?“ „Nee, nee, ich kam da ziemlich zu Beginn meiner Tätigkeit einer undurchsichtigen Sache auf die Spur, wenn’s auch mehr Zufall war, von Perfektion konnte noch keine Rede sein. Jedenfalls hing Siegfried mit drin. Unangenehm, seinen ehemals besten Kumpel zu vernehmen und nach Möglichkeit zu überführen. Es ging um Pferde, eine der üblichen Schiebergeschichten. Irgend etwas muß aber den alten Bäumler bewogen haben, sich einzumischen und das Unternehmen in einen Firmenauftrag umzufunk33
tionieren, wahrscheinlich war der Gewinn lukrativ genug. Zwar wurde nichts aus dem Geschäft, aber der alte Fuchs schaffte es mit vermutlich bestochner Rückendeckung, daß alle mit dem bekannten blauen Auge davonkamen. Bäumler und Siegfried stellten darauf wohl fest, daß sie ganz gut zueinander paßten, und so wurde Marion der Kitt dieser Verbindung.“ „Gleiche Interessen bringen die Menschen nun mal näher.“ „Genau! Sie“, er wischte mit seiner Pranke durch die Luft, die Bewegung galt der Kammer, „die Frau Bäumler, wetterte allerdings heftig gegen diesen Schwiegersohn, war ihr nicht standesgemäß genug. Siegfrieds Vater war, ehe er als Landser irgendwo in Nordfinnland fiel, bloß gewöhnlicher Fabrikarbeiter gewesen. Ihr wäre ein Baron, selbst ein total verarmter und schwindsüchtiger, lieber gewesen. Aber der Alte hatte schon den richtigen Riecher. Siegfried entpuppte sich als verdammt geschäftstüchtig, Chefmanieren mußten ihm angeboren gewesen sein. Er begriff auch genau zur rechten Zeit, woher und wohin der Wind immer stärker wehte. Zum Entsetzen seiner Schwiegermutter reihte er – der alte Bäumler war da schon tot – den Betrieb sofort in die erste PGH ein, machte seinen Ingenieur und ist heute in verantwortlicher Stellung beim Tiefbaukombinat in der Bezirkshauptstadt. Vielleicht wohnt er sogar in Ihrer Nähe. Na, meinen Segen hat er.“ „Mit Vorbehalten, wenn ich nicht irre.“ Mit der müden Floskel, ob er unser interessantes Gespräch kurz unterbrechen dürfe, enthob Novy den Oberleutnant einer Antwort. „Du darfst!“ Allein seine betonte Lässigkeit bewies mir, daß er etwas von Bedeutung entdeckt hatte, es zu34
mindest glaubte. Er schob mir wortlos die aufgeklappte Schreibmappe entgegen, auf einem scheinbar leeren Briefbogen, der obersten Seite eines Blockes, lag bedeutungsvoll seine Lupe. Frau Bäumler mußte als letztes einen Brief an ihre Tochter geschrieben haben, die ersten Worte waren stark durchgedrückt. Mit einiger Sicherheit war anzunehmen, daß sie einen Kugelschreiber benutzt hatte, der zu Beginn nur widerwillig Flüssigkeit gespendet haben mußte. „Liebe Marion“, las ich halblaut vor, „heute muß ich Dir endlich …“ Bis dahin war das Geschriebene ohne Mühe zu entziffern. Nichts daran schien ungewöhnlich, Frauen, besonders ältere und alleinstehende, pflegten ihre Post gern Sonntag nachmittags zu erledigen. Vormittags füllte Hausarbeit die Stunden, lenkte ab, erst später kam die Einsamkeit und damit der Drang, wenigstens auf dem Papier eine Art Kontakt herzustellen. „Das Datum ist wichtig“, meinte Novy etwas lebhafter. Es war das gestrige, und gestern war Sonntag gewesen. „Wo aber befindet sich das Original?“ Novy war in seinem Element. „Mit oder ohne Umschlag? Wir haben hier nichts dergleichen entdeckt.“ „Briefe kann man in den nächsten Kasten werfen“, sagte Kemmberg. „Darauf wäre ich nie gekommen“, erwiderte Novy und sah zum Fenster hinaus. „Gestern war, falls das überhaupt möglich ist, unser Wetter noch abscheulicher und vor allem feuchter. Bei diesem Herbstweiter und dem kümmerlichen Zustand der hiesigen Fußwege hätte sich ein stark gehbehinderter Fußgänger gräßlich verschmutzte Schuhe geholt. Die Schuhe der Toten aber stehen sauber geputzt und ausgerichtet in der Kammer.“ „Schuhe kann man putzen.“ 35
„Stiefel auch, sogar solche Marke Geigenkasten.“ Kemmbergs Stiefel waren nicht nur schmutzig, sie waren schlicht dreckig. Er musterte sie, brubbelte etwas von Leuten, die gut reden hätten, weil sie sich in Sesseln herumdrücken, und gab zu: „Na schön, eins zu eins. Wird aber nicht der Endstand sein.“ „Davon bin ich restlos überzeugt.“ „Wo ist eigentlich der nächste Briefkasten?“ fragte ich Kemmberg. Kemmberg, hier in dieser Stadt von etwa zehntausend Einwohnern geboren und groß geworden, letzteres eigentlich im doppelten Sinn, mußte tatsächlich überlegen; wo hing hier draußen einer dieser gelblackierten Eisenkästen? Er trat an eins der beiden Fenster. „Drüben am Bahnhof doch sicher.“ Ich stellte mich an das andere Fenster, sah hinüber zum etwa zweihundert Meter entfernten Bahnhof, einer der zahlreichen Backsteinbauten, und vermutete laut: „Dann könnte es doch sein, daß jemand sie gesehen hat. Uhrzeiten sind immer von Nutzen.“ „Mehr als ein gutes Dutzend Familien wohnen hier draußen nicht, und der Bahnhof ist weit außerhalb der Stadt.“ „Dann“, warf Novy streitsüchtig ein, „kann man doch wohl kaum von einer günstigen Lage für dieses Geschäft hier sprechen, was wiederum mit der gepriesenen Geschäftstüchtigkeit sowohl des alten Herrn Bäumler als auch dessen Schwiegersohn Sturm schwerlich in Einklang zu bringen ist.“ „Einklang! Einklang!“ Oberleutnant Kemmberg protestierte energisch. „Erstens nämlich hatte Bäumler mitten in der Stadt eine Zweigwerkstatt, vornehmlich für Reparaturen an Elektrogeräten. Und zweitens hatte er 36
sich auf die ländliche Umgebung konzentriert. Das hier, die Wohnung, war früher nichts als Büro und etwas Lagerraum, unten befanden sich das Geschäft und noch eine Werkstatt. Die meiste Zeit thronte der Alte hier oben und herrschte autoritär über Lehrlinge und Gesellen.“ Das erinnerte mich an einen ganz bestimmten Lehrling; dieser rührige Rudi Recker würde an der nächsten halben Stunde vielleicht keine rechte Freude haben. Dreitausend Mark – mindestens auch noch! – waren zwar keine überwältigende Beute, konnten aber angesichts des wahrscheinlich gewaltsamen Todes der alten Frau besondere Bedeutung gewinnen. Aus dieser Überlegung heraus sagte ich: „Dreitausend Mark können für einen Lehrling ein Vermögen sein.“ Das käme auf die jeweilige Vermögenslage an, widersprach Novy auch hier. „Die Behauptung über den vermutlichen Kassetteninhalt stammt von einer Person, die sechs Wochen lang diese Wohnung nicht betreten hat oder betreten haben will, was erst noch zu beweisen wäre.“ „Na, sag’s schon.“ Ich kannte ihn schließlich. „Nebenan im Schlafzimmer, wie ich vorhin schon mitteilen wollte“, den kleinen Seitenhieb war er sich schuldig, „finden sich weitaus lohnendere Objekte. Im Wäscheschrank! Das ist ja eine fast mystische Marotte älterer Leute. Da liegt zum Beispiel Schmuck, alte bis sehr alte Münzen, die bei der um sich greifenden Sammelwut einen beträchtlichen Wert darstellen dürften. Ferner wohlgeordnet Kontoauszüge nebst einem unbenutzten Scheckheft, der letzte Auszug übrigens vom Mittwoch vergangener Woche.“ Er nahm die Brille ab, was die Bedeutung seines anschließenden Seufzers unterstreichen sollte. „Ich wünschte tatsächlich, es wäre der von meinem Konto.“ 37
„Mir neu, daß du völlig mittellos bist.“ „Wenigstens du solltest das Gehalt eines Leutnants kennen, zumindest nicht überschätzen – knappe Siebzigtausend lassen sich davon jedenfalls nicht zusammensparen.“ Das und einige Ergebnisse der beiden Techniker, die sie uns mitteilten, ehe sie das Haus verließen, um die Spurenauswertung an die einzelnen Labors weiterzuleiten, machte das Verbrechen nur noch undurchsichtiger. „Noch mal den Recker“, entschied ich. Rudi betrat das Zimmer mit der Forschheit eines geltungssüchtigen Artisten. Sie verebbte sehr rasch, als er sich einem Dreiergespann gegenübersah, das keinen Applaus zu spenden bereit war. Er wirkte nun wie ein Verehrer, der seine Auserwählte besonders schwungvoll begrüßen will und dabei über die Türschwelle stolpert. „Setz dich!“ Er tat es widerstrebend. „Mal kurz und präzise: Was hast du gestern abend gemacht?“ „Nischt!“ schmetterte er ohne Überlegung. Mißtrauen, fast Tücke glitzerte in seinen braunen Augen, als er dabei von unten herauf Kemmberg anstierte; offenbar gab er ihm die Schuld, daß aus dem angekündigten bißchen Papierkram vorerst nichts wurde. „Aber, aber“, sagte Novy tadelnd, leider auch herablassend, „nichts kann man gar nicht tun. Irgend etwas tut der Mensch immer, bewußt oder unbewußt. Essen zum Beispiel, schlafen, trinken, träumen, gehen, sitzen, liegen, um nur das Primitivste zu nennen. Im übrigen waltet hier ein Mißverständnis – man hofft zu erfahren, wo Sie den gestrigen Abend verbrachten, nicht wie.“ „Welche Zeit denn? Und wann is’n das überhaupt, abends?“ 38
„Das ist, ganz simpel formuliert, die Zeitspanne zwischen Nachmittag und Nacht.“ Ohne Zweifel drückte Rudi mit seinem Blick zu mir die Frage aus, ob Novy etwa immer so dämlich quatsche. Dann bequemte er sich: „Eigentlich wollte ich tanzen fahren, aber ich habe den verdammten Zug verpaßt.“ „Mit einem Zug zum Tanzen?“ Mir erschien das als zu dürftige Ausrede, in einer Stadt wie dieser hier mußte es doch sonntags Tanzveranstaltungen geben. „Ich mach’ mir nischt aus den Weibern hier.“ „Wohl eher umgekehrt“, brummte Oberleutnant Kemmberg sehr verhalten vor sich hin, eine gewisse Geringschätzung war dennoch nicht zu überhören. Ich überging es zunächst. „Schön, und wann fuhr der Zug?“ „Kurz vor sieben.“ „Und was trieben wir, als wir nun glücklich den Zug verpaßt hatten?“ „Nischt!“ krähte Rudi, und seine Opposition galt Novy. Als der nicht reagierte, fügte er maulend hinzu: „In’n Wartesaal bin ich, hab’ zwei Bier getrunken, bißchen rumgestanden, und dann ab nach Hause. Was’n weiter?“ „Schön, aber du mußtest doch hier an diesem Haus vorbei. Um welche Uhrzeit, möglichst genau, war der Rückweg?“ „Genau? Keine Ahnung, bißchen nach halb acht. Und vorbei muß man hier auch nicht, bin aber hier lang. Bei solchem Mistwetter wie gestern und im Sonntagsstaat kann man nicht hintenrum, lauter Modder und ooch zu duster.“ „Und du hast nicht zufällig nach den Fenstern hier gesehen? Brannte noch Licht?“ „Und ob ich geguckt habe! Wegen der habe ich doch den Zug verpaßt!“ 39
„Brannte Licht?“ „Warten Sie mal … Klar, im Schlafzimmer! Und natürlich unten im Konsumschaufenster.“ „Und dir ist weder zu diesem Zeitpunkt noch später irgend etwas aufgefallen?“ „Wie denn? Bin vor lauter Grimm ins Bett. Im Fernsehen war auch bloß Quatsch, so’n Ariengesinge, hat mich überhaupt nicht gekratzt, und außerdem …“, er grinste ausgesprochen zutraulich, „die Oma, die setzt sich zwar jeden Abend vor den Kasten, aber nach spätestens zehn Minuten schnarcht sie, daß die Milch in der Küche sauer wird.“ „Oma? Wohnst du bei deinen Großeltern?“ „Klar“, sagte er halb verwundert und halb trotzig, als gäbe es für Kinder keine andere Lösung, als eben bei den Großeltern zu wohnen und aufzuwachsen. Er nickte faul irgendwo hinter sich: „Gleich drüben.“ Kemmberg erläuterte mir die dürftige Ortsangabe; die alten Reckers bewohnten eins der wenigen alten Häuser in der Parallelstraße. „Besser gesagt, Parallelweg. Das Grundstück grenzt übrigens an dieses, die Rückseiten …“ „Gehört ja auch der Alten!“ platzte Rudi dazwischen. „Laß mich gefälligst ausreden!“ fuhr Kemmberg ihn an. „Man kann es gleich durch die Gärten erreichen. Übrigens, der Bengel hier ist nicht das einzige Kind drüben. Wieviel seid ihr eigentlich?“ „Sieben.“ „Alles Enkelkinder?“ fragte ich erstaunt. „Nö, sind wir bloß drei.“ Auf die Frage, ob er denn keine Eltern habe, erntete ich ein gleichmütiges Achselzucken und die Antwort, seine Mutter käme hin und wieder zu Besuch, seinen Vater hingegen habe er nie gesehen. 40
„Eine andere Frage: Du mußt die Tote doch gut gekannt haben? Was ist dein Eindruck von ihr? Bitte ohne Umschweife.“ „Sie war eine eingebildete, geizige alte Krähe.“ „Reiß dich zusammen, ja?“ „Brauchen Sie bloß Großvater zu fragen, der kann Ihnen vielleicht Geschichten erzählen! Dauernd kam sie an, konnte angeblich kaum krauchen, aber Großvater betteln, das konnte sie. ‚Ach, Herr Recker, würden Sie wohl mal so gut sein … könnten Sie mir wohl den kleinen Gefallen tun … ich hätte da eine Kleinigkeit … einer gebrechlichen Frau helfen, die Ihnen so viel Gutes angedeihen ließ …‘ Na, und in der Tour eben.“ „Und dein Großvater?“ „Hat’n Sprachfehler, kann nich nee sagen.“ Ich wechselte jäh das Thema. „Und wieviel hast du nun aus der Kassette genommen?“ Die Frage überrumpelte ihn weniger, als daß sie seinen Trotz weckte. „Was haben Sie bloß immer mit der lausigen Blechschachtel? Gibt’s nischt Wichtigeres, wo doch die Alte abgemurkst …“ „Wieviel!“ „Wissen Sie doch – was drin war.“ „Also mindestens dreitausend.“ Rudi stierte uns der Reihe nach an, als wollte er sich vergewissern, daß wir ihn nur kräftig auf den Arm zu nehmen gedachten, dann entfuhr ihm das kühne Urteil: „Ihr habt wohl ’ne Macke!“ Kemmberg hatte ihn blitzschnell im Genick gepackt, schüttelte ihn und donnerte: „Nicht pampig werden, Bürschchen!“ Novy hingegen lehnte sich erwartungsvoll zurück: Macke, so deutete sein ahnungsvoller Gesichtsausdruck 41
an, dürfte über die bekannte Hutschnur gehen. Ging es eigentlich auch, aber diese spontane Frechheit konnte ein Beweis von Unschuld sein, falls ich den Bengel nicht ganz gehörig unterschätzte. Rudi riß sich los und wich schleunigst aus Kemmbergs Reichweite. Ich sagte: „Wir wissen aber von Herrn und Frau Sturm, daß Frau Bäumler ständig mindestens dreitausend Mark im Hause hatte.“ „Sturm! Sturm!“ ereiferte sich Rudi. „Gestern abend konnte sie mir nischt geben, weil sie angeblich nischt da hatte. Heute morgen lag ’n Hunderter drin, und jetzt sollen’s plötzlich dreitausend gewesen sein … dreitausend, du lieber Himmel!“ Er klatschte sich mit der flachen Hand unglaublich derb an die Stirn. „Vielleicht hat’s der Sturm selber geklaut.“ Ich versuchte es anders. „Paß auf! Du sagst selbst, Frau Bäumler war geizig.“ „Gar kein Ausdruck, Chef!“ „Gut“, bekannte ich und registrierte Kemmbergs bedächtiges Kopfnicken; der Geiz der Toten mußte stadtbekannt gewesen sein. „Was aber pflegen auf Geld versessene Leute gern zu tun?“ „Anderen nischt geben.“ Das sei zwar auch richtig, stimmte ich schmunzelnd zu. „Aber sie haben noch andere Gewohnheiten, solche Geizhälse. Unter anderem die, daß sie verliebt im Sparbuch blättern oder, wenn sie ihr Geld zu Hause horten, es häufig zählen. Teils aus Freude an den Scheinen, teils aus Furcht, es könnte etwas abhanden gekommen sein.“ „Meinetwegen jeden Tag dreimal.“ Kemmberg grollte verhalten, und Novy tat, als wundere ihn von nun an überhaupt nichts mehr. Ich schränkte nur ruhig ein: „Das wäre zwar ein Musterbeispiel, 42
aber es genügt, wenn wir uns auf einen Wochenabstand beschränken. Unterstellen wir aber der Toten diese Eigenart, so würde sie spätestens nach einer Woche den Verlust ihres Geldes bemerken müssen. Das leuchtet doch ein?“ „Die hätte aber ’n Faß aufgerissen!“ „Nach einer Woche also“, sagte ich, gab zu, daß ein Bestohlener zweifelsohne keine Freudensprünge machen werde, und ließ die Falle zuklappen. „Womit wir uns schön im Kreis gedreht hätten – Herr Sturm nämlich war seit sechs Wochen gar nicht mehr in dieser Wohnung.“ Rudis Antwort war drastisch – unmißverständlich, er tippte sich wortlos an die Stirn. „Jetzt reicht es aber“, verkündete Kemmberg beängstigend leise. „Mir erst! Von wegen sechs Wochen!“ Rudi fuchtelte wild mit beiden Armen. „Vorgestern meinen Sie wohl, nich? Vorgestern! Oder nee, halt mal … heute is ja schon Montag. Freitag war’s! Freitag abend war der Sturm hier. Von wegen sechs Wochen!“ „Und du willst ihn gesehen haben?“ fragte ich skeptisch. Rudi grinste anzüglich. „Und wie, Chef! Das war nämlich so: Ich hatte vergessen, vom Fenstersturz die Länge zu messen, sollte doch ’n größeres Fenster einsetzen, steht ja draußen auf’m Flur. Na ja, und um die Al … Frau Bäumler nicht so spät noch zu stören, hätte sowieso bloß was zu meckern gehabt, bin ich eben gleich draußen die Leiter ’rauf.“ Oberleutnant Kemmberg war, das ließ sich nicht übersehen, irgendwie voreingenommen. „Der Bengel lügt“, sagte er und wandte sich an Rudi: „Wenn ich mich nicht ganz und gar irre, ist das Bad auf der Hofseite. Und da 43
sich normale Menschen nicht im kalten und zugigen Badezimmer unterhalten, kannst du wohl durch Wände sehen?“ „Nö“, krähte Rudi triumphierend, „aber Herr Sturm mußte grade mal pinkeln, als ich draußen hing. Was sagen Sie nu?“ Für Sekunden sagten wir nichts, dann ermahnte ich ihn: „Es ist dir klar, daß wir das nachprüfen? Ja? Die möglichen Folgen einer falschen Aussage auch? Gut. Dann …“ „Kann ich jetzt endlich mein Werkzeug einpacken?“ unterbrach er mich; er schien zu ahnen, daß seine Beobachtung von Wert sein konnte und sein eigener Wert damit gestiegen war. „Du kannst.“ Ich gab ihm die Hand. „Natürlich sehen wir uns demnächst wieder, vorher noch einen kleinen Rat: Solltest du in nächster Zeit durch größere Geldausgaben auffallen, dann …“ Kemmberg, der ihn zum Bad begleitete, würzte Rudis Abgang mit dem weisen Spruch: „Denke dran, Freundchen, Lügen haben noch immer kurze Beine.“ „Machen wir eine erste ‚Bestandsaufnahme‘“, schlug Novy erwartungsgemäß vor, als Kemmberg zurückkehrte. Er hatte dafür eine Methode, die etwas bürokratisch, keineswegs aber unwirksam war. Er schrieb eine bestimmte Frage auf die linke Seite seines Notizbuches, Antworten, gleich ob sie belastende oder entlastende Momente enthielten, auf die rechte. Die ergänzte er gewissenhaft und beliebig, Stunden oder Tage später, nach Auftauchen der gleichen Frage. „Einverstanden, zuerst aber möchte ich noch einen Blick auf die Schätze im Schlafzimmer werfen.“ 44
Der Schlafraum, man konnte den schmalen Raum nicht Zimmer nennen, enttäuschte durch eine spartanische Möblierung. Das Bett, ein ehemals weißlackiertes Eisengestell, könnte einer Krankenhausrenovierung zum Opfer gefallen sein. Es paßte genau vor das Fenster. Ein Nachtschränkchen und eine schmucklose Truhe nahmen die Türseite und ein allerdings gewaltiger Schrank die andere Seite ein. Ein transportabler Kachelofen vervollständigte das Mobiliar. Der Schrank erwies sich als prall gefüllt, vor allem mit Bett- und Tischwäsche. Hinter einem Stapel Handtüchern hatte Novy einen schlichten Holzkasten entdeckt; er stand auf der Truhe. Der Inhalt war einige Tausender wert, ich kenne mich da nicht so genau aus, die Schätzung war Sache von Fachleuten. Aber ich erinnerte mich einer Zeitungsannonce, wo ein Sammler für einen Golddukaten dreitausend Mark bot, und davon fand ich gleich drei. Eine Sammlerin indessen, etwa aus Freude an den kleinen Kunstwerken oder gar aus Leidenschaft, war Frau Bäumler nicht gewesen. Zu systemlos, eigentlich nur durcheinander, lagen die Münzen in dem Kistchen von doppelter Größe eines Lexikons; für sie waren sie nichts als eine lohnende Kapitalanlage, bei Höchstgebot abzustoßen. Wir gingen zurück, ich rieb mir fröstelnd die Hände, das Wohnzimmer kühlte mehr und mehr aus. Novy saß sofort wieder am Schreibtisch, das Notizbuch vor sich, und sah mich herausfordernd an. „Beginnen wir mit Rudi“, schlug ich vor. „Was ist von seinen Aussagen zu halten?“ „Von seiner grauenhaften Ausdrucksweise abgesehen“, antwortete Novy, noch ehe er die Frage schriftlich 45
formulierte, „würde ich ihr einen hohen Wahrheitsgehalt zugestehen.“ Kemmberg schnob heftig durch die Nase. „Drücken Sie sich doch bitte verständlich aus. Zugestehen, Wahrheitsgehalt!“ „Und vorsichtiger“, fügte ich hinzu. „Was wissen wir schon? Was er uns erzählt hat, natürlich. Und das wirft gleich verschiedene neue Fragen auf: Hat er selbst die Frau erwürgt, als sie ihm die Lohnzahlung verweigerte? Möglich zwar, aber doch kaum wahrscheinlich. Ferner: Stimmt seine Angabe über den Inhalt der Kassette? Vergessen wir nicht, daß er durchaus Zeit gehabt hätte, eine eventuell hohe Summe in Sicherheit zu bringen; Frau Zauner kam bekanntlich später als er.“ „Für ihn aber spricht die Tatsache, daß an der Kassette nur seine eigenen Fingerabdrücke entdeckt wurden“, engagierte sich Novy. „Ich habe noch keinen Dieb gekannt, der säuberlich jeden Abdruck von einer geplünderten Kasse oder von einem Geldschrank entfernt, nur seine eigenen nicht. Kommen wir lieber zur Hauptsache!“ „Sturm!“ sagte ich. „Genau! Der Mann lügt, und er wird das nicht grundlos tun. Selbst wenn wir Rudis Behauptung, ihn am vergangenen Freitag beobachtet zu haben, mit allen Vorbehalten betrachten, so bleibt doch Sturms Kenntnis vom Umbau des Badezimmers seltsam. Rudi begann erst am vergangenen Samstag mit seiner Arbeit, Sturm hingegen will sechs Wochen nicht hiergewesen sein. Woher wußte er davon?“ „Es gibt Briefe, Telefone“, warf Kemmberg ein. „Natürlich“, sagte ich, „nur, und das können Sie nicht wissen, Siegfried Sturm klärte gleich zu Anfang seine Frau auf, daß Rudi Recker anwesend sei, weil er eben das 46
Bad renoviere. Mit Sicherheit hätte Frau Bäumler nur mit ihrer Tochter telefoniert und nur an sie geschrieben, mithin wäre sie genau informiert gewesen. Denn das Verhältnis Sturms zu seiner Schwiegermutter dürfte kühl wie eh und je gewesen sein – ein Elektroingenieur, der seit langem weiß, daß Lichtleitungen in der Wohnung seiner Schwiegermutter dringend der Auswechslung bedürfen und sich einen Teufel darum kümmert, kann wohl kaum ein freundschaftliches Verhältnis zu ihr unterhalten haben.“ Novy nickte fast begeistert. „Und um noch einmal auf die Kassette einzugehen: Frau Bäumler kann das Geld auch weder verliehen noch auf ihr Konto eingezahlt haben. Für ersteres spricht, daß keine Quittung vorhanden ist, und das bei ihrem Geiz! Einzahlungen wiederum müßten sich in Kontoauszügen niederschlagen.“ Kemmberg grinste. „Man könnte fast mit Rudi reden: ‚Was haben Sie nur immer mit der ollen Blechschachtel?‘“ „Wir suchen ein Motiv!“ sagte Novy spitz. „Und ich meine Tabakspfeife, was? Wer sagt denn, daß Geld in der Schachtel war, daß überhaupt ein Zusammenhang besteht? Beides braucht doch nichts miteinander zu tun zu haben.“ „Natürlich nicht“, gab ich zu, „aber die Frage kann auch lauten: Galt das Geschehen hier einzig der Frau, und das Geld wäre so etwas wie Lohn der Angst, oder war es umgekehrt – ein Dieb wird überrascht und tötet.“ „Einspruch!“ rief Novy. „Wenn wir auch die genaue Todeszeit noch nicht kennen, starb Frau Bäumler doch weit vor einer Zeit, die sich für Einsteigediebe lohnt. Und was eigentlich sollte einen überraschten Einbrecher bewogen haben, sein Opfer in einen Sarg zu betten …“ 47
„Das gleiche trifft auf einen vorsätzlichen Mörder zu“, unterbrach ich. „Zugegeben. Aber warum nun sollte ein Einbrecher, einigermaßen bei Verstand, sofern man bei diesen Brüdern überhaupt von Verstand reden kann, solche lohnende Objekte wie wertvolle Münzen nicht eingesteckt haben? Zeit hätte er doch genügend gehabt! Nein, nein, für diesen Widerspruch gibt es nur einen einigermaßen plausiblen Grund.“ „Sturm“, sagte ich erneut. „Ich fürchte, ja.“ „Sagen wir, du hoffst es.“ „Ich hoffe, einen Fall zu klären oder zumindest dabei mitzuwirken. Jawohl, Sturm! Er konnte bequem alles liegenlassen, er erbt es ohnehin.“ „Seine Frau garantiert noch vor ihm, was aber vielleicht auf das gleiche herauskommt, sie scheinen in Einträchtigkeit zu leben. Und da sie von seinem Auftauchen am Freitag nichts wußte oder so tat, braucht sie auch von einem erneuten Besuch am Sonntag nichts gewußt zu haben oder ebenfalls so zu tun. Soweit will ich dir folgen, aber dann mehren sich die Ungereimtheiten. Ohne dem Obduktionsergebnis vorgreifen zu wollen – ich erinnere nur an die erleuchteten Fenster, von denen Rudi sprach.“ „Aber genau das untermauert meine Theorie!“ Novy notierte rasch diese Frage. „Gegen sieben brannte hier im Wohnzimmer volles Licht. Zwischen halb und um acht aber nur in der Küche oder … in der Kammer! Wohlgemerkt zwischen halb und um acht, der möglichen Todeszeit. Das könnte bedeuten, daß sich Frau Bäumler nach neunzehn Uhr zu Bett legte, von Geräuschen getrieben wieder aufstand und dem Täter in die Arme lief. Es kann ebenso bedeuten, daß sie von ihrem Mörder hier oder im 48
Schlafzimmer überrascht wurde, der sie dann – unerfindlich, aus welchen Erwägungen – zwischen halb und um acht in den Sarg bettete – und das, ohne einen einzigen Fingerabdruck zu hinterlassen.“ „Spekulationen“, brummte Kemmberg. „Wer ist noch nicht wieder aufgestanden, weil er in der Küche etwas vergessen hatte? Sei es auch nur, um nach dem Gas- oder Wasserhahn zu sehen?“ „Und warum tat sie das im Dunkeln? Warum ließ sie nicht wenigstens im Schlafzimmer Licht brennen?“ „Aus Geiz“, sagte Kemmberg ungerührt; ich hatte ihn in Verdacht, Novy bewußt zu reizen. Ich schüttelte ablehnend den Kopf. „Ich denke, ihr irrt euch beide. Halten wir es eurer beneidenswerten Gesundheit zugute. Frau Bäumler litt“, ich griff mir unwillkürlich an die Herzgegend, „an Angina pectoris, bedingt durch Durchblutungsstörungen der Herzkranzgefäße. Das zum einen. Zum anderen, lieber Novy, sie ging ja gar nicht zu Bett, sie legte sich nur oben auf das Federbett, garantiert bei Licht. Ich vermute, sie fühlte einen Anfall nahen. Solch ein Anfall kommt nicht plötzlich, man spürt ihn vorher. Eine Unruhe, eine unbestimmte Angst, die sich zur Todesangst steigert. Möglich, daß nun tatsächlich jemand klingelte oder einfach durch das Fenster einstieg – möglich aber auch genau umgekehrt, nämlich Anfall infolge eines Besuchers. Freilich, das kompliziert die Geschichte noch mehr …“ Ich schüttelte auch dazu den Kopf. „Nein, das sind wirklich Spekulationen, halten wir uns an Tatsachen.“ „Also an nichts.“ Novy ärgerte sich. „Red keinen Blödsinn!“ verwies ich ihn scharf und deutete auf den scheinbar leeren Briefbogen. „Mit Hilfe der Chemie wird unser Labor den Inhalt schon entziffern.“ 49
„Vielleicht steht da nur drin, daß hier ein Maurerstift die Wohnung entsetzlich verschmutzt!“ „Das wäre doch schön? Ein Beweis nämlich, daß Herr Sturm tatsächlich innerhalb der letzten Woche hiergewesen sein muß, schon könnten wir ihn einer Lüge überführen.“ Ich sah auf die Uhr. „Ich würde sagen, zu verhungern brauchen wir nicht unbedingt; außerdem könnte ich mir einen gut durchwärmten Raum im Augenblick ideal vorstellen. Gehen wir essen. Und dann werden wir Rudis Großvater aufsuchen. Der alte Herr, häufig von Frau Bäumler eingespannt, kann mehr über Bekanntschaften und Umgang oder Gewohnheiten Frau Bäumlers wissen als die eigene Tochter. Wohnt man erst einige Dutzend Kilometer auseinander, tritt zwar keine direkte Entfremdung ein, aber Kontakte und Informationen werden doch spärlicher.“ „Es wäre ja auch nicht auszuschließen, daß die alte Dame, die, gelinde gesagt, keine sehr umgängliche Person gewesen sein soll, sich Feindschaften zugezogen hat.“ „Zum jetzigen Zeitpunkt ist für uns überhaupt kein Motiv auszuschließen, sei es nun eine Affekthandlung oder eine vorsätzliche Tat.“ „Ich weiß nicht recht“, gab Novy zu bedenken, „wer immer der abendliche Besucher gewesen ist, er müßte doch den erbärmlichen Zustand der Frau erkannt haben? Vorausgesetzt, deine Theorie von einer Herzattacke stimmt. Das aber hieße, daß der Täter – und von einem solchen werden wir wohl ausgehen müssen – entweder im Dunkeln die Frau überraschte oder brutal den Schwächezustand ausnutzte. Letzteres wieder hieße, daß wir uns nach Bekannten von Frau Bäumler umsehen müssen, einen Fremden würde sie kaum zu später Stunde eingelassen haben.“ 50
„Der alte Recker“, sagte Kemmberg, „war ihr kein Fremder und kannte auch ihre Gewohnheiten.“ „Ein alter Mann, der sich seit Jahrzehnten um sie kümmerte? Was sollte der plötzlich für ein Motiv gehabt haben?“ „Wer hatte überhaupt eins?“ „Das herauszufinden ist eben unsere Aufgabe – damit sage ich wohl kaum etwas Neues. Im übrigen warten wir Obduktionsbefund und Spurenauswertung ab, ohne deshalb die Hände in den Schoß zu legen.“ Ich wandte mich an Kemmberg, den der Hunger schon an die Tür getrieben hatte. „Müßte längst Rentner sein, der Opa Recker, wie?“ „Wahrscheinlich.“ Kemmberg hob unentschieden seine mächtigen Schultern. „Sicher doch, wenn er sich auch noch nicht zur Ruhe gesetzt hat. Er arbeitet beim VEAB, hat mit Schlachtvieh zu tun.“ „Schlachtvieh? War da nicht schon etwas heute?“ „Pferde“, erinnerte Novy sofort. „Du lieber Himmel!“ dröhnte uns Kemmberg an. „Das war zu einer Zeit, als man hier noch den Mond mit der Stange übers Firmament geschoben hat. Da ist der“, ein Armrudern galt Novy, „noch mit zerrissenen Hosen herumgestolpert.“ Er grinste breit und erzählte uns etwas von Buletten, zu denen man jene Gäule von damals verarbeitet hätte. „Allerdings, der Herr Schütze handelt auch heute noch mit Vieh, jetzt zum Nutzen des VEAB und der Allgemeinheit, wenn auch für ihn bestimmt noch einiges nebenbei abfällt. Aber Sie wollen ihn doch deswegen nicht hiermit in Verbindung bringen?“ „Weder deswegen noch überhaupt. Wir wollen, wie ich schon vorschlug, uns mit dem alten Herrn Recker beschäftigen.“ 51
„Vorrangig sollten wir uns mit Herrn Sturm befassen“, nörgelte Novy. „Warum nicht? Aber wieso wir?“ „Verstehe – ‚Leutnants an die Front‘, nicht wahr?“ „Genau, mein Bester. Die Leutnants, so hieß es bei den Preußen, sind das Rückgrat der Armee.“ „Der Polizei scheinbar auch.“ „Warum denn nicht? Kommt nur auf Geist und Ziel an.“
52
ABENDSTUND HAT GOLD IM MUND orakelt Rudi Recker
Schon das zweite Bier schmeckte mir sauer, ganz neue Erfahrung für einen Maurer. Aber dreitausend Piepen, du lieber gottverdammter Himmel! Schön, ich hatte sie nicht, selbst den beschissenen Hunderter konnte ich in den Schornstein schreiben. Aber Opa predigte immer: Ob du es warst oder nicht, ist ganz und gar nebensächlich, für die bist du es erst einmal eher als jeder andere. „Warum denn eigentlich“, hatte ich gefragt. Seine Antwort war stets die gleiche. Weil du Recker heißt, mein Junge. Als Steppke war mir freilich nicht aufgefallen, daß er diesen ekelhaften Satz traurig-grimmig aussprach. Aber recht hatte er, immer. Wenn ich als krummbeiniger, rotznäsiger Knirps mit anderen Kindern spielen wollte und Muttilein ihr Herzblatt schleunigst fortriß, war mir das noch gar nicht so aufgefallen. Aber im Kindergarten war es nicht mehr zu übersehen. Im Kindergarten war ich, weil auch Oma damals noch auf Maloche gehen mußte, wie überhaupt die ganze Familie. Von der Zahl her hätten wir, die Reckers, bequem ein kleines Kraftwerk in Schwung halten können. Wenn ich, Rudi Recker, damals mal die Hosen naß hatte, was einem Drei- oder Vierjährigen im Eifer des Gefechts ja passieren konnte, war ich gleich ‚ein altes Ferkel‘. Pißte sich dagegen das verhätschelte Söhnchen eines Tierarztes oder das Töchterchen von sonst wem 53
ein, kam bloß der milde Vorwurf, so etwas mache man doch nicht, man sei doch schon groß. Höchstens noch, daß der Sünder sich schämen sollte. Eigentlich hätte ich mich auf Arbeit wenigstens noch sehen lassen müssen, aber erstens krochen wir zur Zeit weit außerhalb und obendrein am entgegengesetzten Ende der Stadt in einer Baugrube herum, zweitens lohnte es sich auch nicht mehr so recht und drittens wegen des Hunderters: ‚Hatte der Teufel das Kalb geholt, sollte er die Kuh ruhig auch noch mitnehmen‘. War einer von Opas Sprüchen, dafür hatte er eine Schwäche; aber bei ihm sagten sie selten das gleiche aus wie bei anderen Leuten. Er war überhaupt viel gescheiter, als er aussah oder ihn mancher Nachbar einschätzte. Er las auf seine alten Tage beinahe unheimlich viel, schnell freilich nicht. Als sechstes Kind einer Tagelöhnerfamilie auf so einem Rittergut hatte er oft Dringenderes zu tun gehabt, als in die Dorfschule zu wandern. Schule war allerdings für mich auch kein reines Vergnügen gewesen, war da auch bloß ’n Recker. Trotzdem war ich der einzige aus unserer Sippe, der die zehnte Klasse geschafft hatte; allerdings mußte mir Opa fast jeden Tag gut zureden wie einem kranken Hund. Jetzt, auf Arbeit, sah die Sache schon erträglicher aus. Ich hieß zwar immer noch Recker, konnte aber ranklotzen und hatte keine Angst, daß mir die Pfoten schmutzig wurden. An diesem Montag jedenfalls verbrauchte ich keine volkseigene Handwaschpaste, ich wollte mich im Schnellimbiß am Markt von der Kripo erholen. Ein Glück, daß Opa noch unterwegs war, von Arbeitsbummelei hielt er absolut nichts. Zurück konnte er noch nicht sein, meist kam er abends oder spät in der Nacht. 54
Aber das Bier schmeckte nicht. Außerdem kümmerte sich kein Mensch mehr als gewöhnlich um mich, unsereiner wurde nicht einmal Hauptperson, wenn man es tatsächlich war. Ich schnappte gegen sechzehn Uhr meinen Rucksack mit dem Werkzeug und schob ab, nach Hause. Schön konnte man unsere Bleibe, ein ans solidere Nachbarhaus angelehntes Häuschen, wahrhaftig nicht nennen. Eigentlich war es schade, daß auch die alte Bäumlern nichts mit ins Grab nehmen konnte, die alte Bude hätte ich ihr von Herzen gegönnt. Zugegeben, der Rat der Stadt hatte Opa schon vor einiger Zeit eine Neubauwohnung angeboten, die er mit fadenscheinigen Gründen ablehnte. Auf unseren Protest hatte er wütend wie selten erklärt: „Und was glaubt ihr, was dann passiert? Die Hälfte geht uns aus dem Weg, die andere sieht uns kaum. Ist irgendwo etwas kaputt, fehlt ’nem Kind ’n Spielzeugeimer oder hat’s ’nen Platten am Luftroller, wer war’s dann – einer von Reckers natürlich. Wer auch sonst, nich? Nee, nee, wir bleiben hier.“ Und zu mir sagte er: „Was denkst du, warum du Maurer lernst? Nich bloß, um anderen Leuten feine Häuschen hinzusetzen; wirst ja wohl eins für uns schaffen, Hände sind wir genug zum Helfen.“ Und so trottete ich mißvergnügt zu der Bruchbude, nichts Böses ahnend, latschte durch den düsteren Flur, dessen Fußboden mit gewöhnlichen Ziegelsteinen gepflastert war, die besonders vor den Türen und der Treppe mächtig ausgetreten waren, hörte eine Männerstimme und glaubte zunächst, Oma säße vorm Fernseher und mache ein Nickerchen. Aber wenn ein Tag erst mal verkorkst angefangen hat, gibt’s nichts mehr zu löten. Auf Opas Stammplatz, einem durchgesessenen Ohrensessel neben der Küchentür, thron55
te dieser Hauptmann Draht, der aber noch ganz erträglich war. Bißchen hintenrum und so, aber so ist die Kripo ja nun mal. Ohne Schlips und Kragen, dafür in einen zünftigen Manchesteranzug gesteckt, hätte er gut und gern einen vorbildlichen Kumpel abgegeben. Mochte der Henker wissen, was man von dem Bebrillten, diesem Leutnant Novy, halten sollte. Er hockte wie hingeborgt auf einem der vier Stühle und glotzte begehrlich unseren Regulator über der Couch an, der sicher mehr Jahre auf dem Buckel hatte als er Monate. An dem Monstrum war alles verschnörkelt, der Kasten, der Perpendikel, das Zifferblatt und die römischen Zahlen. Kemmberg fehlte, was mich erleichterte. Seine Skepsis mir gegenüber war nicht ganz von ungefähr, richtiger, dem Namen Recker gegenüber. Einigen aus unserer fast unübersichtlichen Familie hatte er schon zu Freiheitsstrafen verholfen, meist auf Bewährung, nur mein Cousin Konrad hatte einrücken müssen. Alles beherrschend aber stand meine Großmutter im niedrigen Zimmer, sie sah erfreulich böse aus. Klarer Fall, daß die Herrschaften was von Opa wollten. Bei solchen Gelegenheiten konnte sie zur Wildsau werden. Sie war auch nicht schüchtern, wenn es uns betraf. Sie war ’n Unikum. Nicht groß, dafür aber dick, eigentlich fett. In friedlicher Stimmung gab sie ihr letztes Hemd, war sie aber gereizt oder in Wut, mußte man sich entweder fürchten und verkrümeln oder, das aber möglichst heimlich, feixen. Das lag vor allem an ihrem Gebiß. Zähne hatte sie wie ein alterndes Pferd, groß, gelb und schräg, nur nicht mehr so vollständig. Sie war, so hatte Großvater ein für allemal festgelegt, „eine Seele von Rindvieh“, die höchste Stufe seiner Anerkennung. „Wieso bist du denn schon da?“ herrschte sie mich 56
sofort an. Recht hatte sie, gewöhnlich kam ich erst nach siebzehn Uhr. „Die da“, knurrte ich und kreiste mit dem Kopf, „hatten mich seit früh in der Mache.“ „Was?“ Sie schrie beleidigt auf, was sich aber bei ihrer ewig heiseren Stimme nicht sehr gefährlich anhörte, und stemmte die ungemein kräftigen Arme in jene Gegend, von der allein sie oder Allah wußte, daß dort ihre Hüften waren. „Frau Recker“, sagte Hauptmann Draht – Draht! Hoffentlich war er wenigstens ein bißchen auf Draht! –, „Ihr Enkel …“ Er wandte sich zwischendurch an mich und befahl streng wie’n Pauker: „Und du gehst besser in ein anderes Zimmer.“ Er kannte Omas Dickkopf nicht. „Der bleibt hier!“ Wahrscheinlich enttäuschte es sie, aber der Hauptmann gab ausgesprochen liebenswürdig nach. „Wie Sie wünschen, Frau Recker.“ Dabei blinzelte er mir verschwörerisch zu, was wohl heißen sollte: Wir beide wissen ja sowieso Bescheid. „Um aber auf meine Frage zurückzukommen: Wann haben Sie vom Tod Ihrer Nachbarin gehört?“ „Weiß nicht, die Postfrau hat’s mitgebracht.“ „Und Sie sind nicht hinübergegangen?“ „Wozu?“ Oma tat gleichgültig. „Anteilnahme weckt der plötzliche Tod der alten Dame – immerhin Ihre Hauswirtin – wohl nicht?“ „Das fehlte noch!“ trompetete Oma erschreckend aufrichtig. „Ich konnte sie ebensowenig riechen wie sie mich, das ist alles.“ Dann schluchzte sie auf, aber das war bloß Wut. „Dame! Wenn ich das schon höre. Genauso hat sie sich aufgespielt, die Dame! Was war ich denn für die? ’ne Schlampe, die sage und schreibe elf Kinder 57
in die Welt gesetzt hat!“ „Hör doch auf damit!“ Ich hatte Sorge, sie kramte, wie das bei diesem Thema unweigerlich passierte, nach dem einzigen Orden, den sie je erhalten hatte, dem sogenannten Deutschen Mutterkreuz. „Du sei still! Ich sage sowieso nichts mehr. Fragen Sie meinen Mann, der kannte sie. Und wie!“ „Bei diesem Verhältnis ist es erstaunlich“, das sagte natürlich der Leutnant, „daß Ihr Mann der Frau Bäumler so überaus hilfreich zur Seite stand.“ Der Punkt war wund, denn auch Großvater wurde hitzig, wenn Oma ihm deswegen Vorwürfe machte; er krieche der Alten in den Hintern, war ihre ständige Klage. „Wissen Sie“, antwortete Oma merklich gedämpft, „das hing irgendwie mit dem alten Bäumler zusammen. Der hatte uns damals, kurz vorm Krieg, nach hier geholt. Und wir waren heilfroh, vom Dorf und dem Rittergut wegzukommen. Das reine Glück war’s sogar, können Sie glauben. Die Bude hier …“, ihre umfassende Armbewegung war danach, „war damals auch nicht viel besser als jetzt, im Gegenteil, aber bei Schellberg hausten wir überm Pferdestall. Wie später die Flüchtlinge. Dagegen war das hier ’n Schloß, können Sie glauben!“ Ob sie es glaubten oder nicht, der Hauptmann nickte jedenfalls. „Und dann muß mal irgendwann etwas vorgefallen sein, was Genaues weiß ich nicht, da fragen Sie man meinen Mann. Nicht mal mir“, sie drosch sich anklagend gegen ihren gewaltigen Busen, „hat er es erzählt, bloß immer so drum ’rum.“ „Nun ja“, sagte Hauptmann Draht dazu, mehr nicht. Es klang wie sein Einverständnis, daß ein Mann nicht unbedingt alles seiner Frau auf die Nase binden muß. 58
Dann machte er dem Theater ein Ende. Er sah auf seine Uhr, entlockte sich ein erschrecktes „Oje“, sprang auf, was man bei einem Sechzigjährigen so springen nennt, und sagte raffiniert: „Wir verplaudern uns. Alles sehr interessant, doch kommen wir schnell noch einmal auf den gestrigen Tag zurück. Ihr Mann ging früh gegen halb fünf zum Viehverladen, drüben am Bahnhof. Und dann?“ „Was weiß ich?“ Nun wurde Draht doch ungeduldig. „Frau Recker! Es muß Ihnen doch einleuchten, daß Ihr Mann, der drüben bei Frau Bäumler ein und aus ging, Aussagen von Bedeutung machen kann. Vielleicht war er auch gestern …“ „Gestern war er Vieh verladen“, unterbrach Oma ihn resolut und raunzte mich an: „Oder hast’n gesehn?“ Ich winkte bloß sauer ab. „Der Rudi war ja auch arbeiten“, fuhr sie fort, als drehten andere bloß immerfort Däumchen. Und dann begann sie die enorme Wichtigkeit von Großvaters Arbeit zu schildern. Die bestand aber man bloß darin, schlachtreifes Vieh, Kühe oder Schweine, Kälber oder manchmal auch Hammel, mit mehr oder weniger Spektakel in Waggons zu scheuchen und anschließend geduldig auf den Zug zu warten, an den die Waggons angehängt wurden. Der Rest seiner Aufgabe war mitzuzuckeln bis zum Schlachthof, meist Dresden. Oma freilich machte daraus langschweifig einen Beruf, den eben nur ein Mann von Großvaters Qualitäten übernehmen und ausführen konnte. „Und wann erwarten Sie Ihren Mann zurück?“ War ’n Spaßvogel, der Herr Hauptmann. Fragte völlig ernst, als habe ihn Omas Story mächtig beeindruckt. „Das ist ganz und gar unbestimmt“, machte sie sich noch wichtiger. „Kann heute abend sein, mitten in der 59
Nacht oder erst morgen.“ Der Abschied war wie im Film. Beide gaben Oma und mir die Hand, Novy öffnete die Tür, Hauptmann Draht aber tat nebensächlich: „Ach ja, sagen Sie, Sie können doch die Hinterseite des Hauses drüben überblicken. Vom Fenster oder vom Hof aus. Ja? Können Sie sich zufällig erinnern, ob in Frau Bäumlers Wohnung gestern abend, so gegen acht etwa, irgendein Fenster erleuchtet war?“ „Und ob ich das kann!“ brüstete sich Oma. „Kurz nach acht, ja! Da war ich noch mal aufm Klo, und das war knapp nach acht, weil gerade die Operettenmelodien im Fernsehen angefangen hatten. Da brannte Licht in der Küche.“ „Das kann uns sehr nützlich sein“, sagte der Hauptmann, aber er war eben doch auch ein hinterhältiger Kerl. Noch beiläufiger erkundigte er sich: „Da war Ihr Enkelsohn Rudi schon zu Hause, nicht wahr?“ „Ja, natürlich.“ Dann endlich gingen sie, begleitet von Oma, die sich wegen einer vielleicht nützlichen Beobachtung schon halb als Mordaufklärer zu fühlen schien. Kaum war sie zurück, fiel sie mit Fragen über mich her, von denen eine immer alberner als die andere war. Halb aus Notwehr schilderte ich die Ereignisse drüben bei der Alten – niemand bei uns hatte sie je anders genannt –, soweit ich sie überblicken konnte. Oma lauschte hingerissen, schüttelte mal ungläubig den Kopf oder nickte mal eifrig. Die hundert Mark wollte ich natürlich unterschlagen, aber in Schwung geraten, konnte ich mich nicht mehr bremsen. Omas Andacht erlosch wie vor einigen Wochen unsere Bildröhre. Ihre Lautstärke indessen steigerte sich. „Wie kann man bloß so dämlich sein, Junge! Hundert Mark 60
klauen! Von einer Toten!“ Und da platzte ich auch noch heraus: „Inzwischen sind’s dreitausend geworden.“ „Drei …“ Sie plumpste in den Ohrensessel, der das gerade noch so überstand, und glotzte mich verdattert an. Worte fehlten ihr erst einmal. Und dann fing sie tatsächlich an zu heulen, leise und darum echt. Machte mich wütend. „Aber ich habe sie nicht!“ Sie winkte bloß ab – Reckers sind immer zuerst verdächtig – und fragte, weil ich mich bückte und meinen linken Schuh neu band: „Wo willst du denn noch hin?“ „’raus! Bloß ’raus hier.“ Inzwischen war es halb sechs geworden, und das bedeutete mit Sicherheit, daß Konrad, tagsüber als Kraftfahrer daran gehindert, jetzt schon einige Gläschen gekippt hatte. Und angesäuselt war er ein Ekel, besonders gegen mich. Ich war schon im Flur, als sie die alberne Frage hinter mir herkrähte: „Wie hat sie denn ausgesehen?“ „Wie schon! Wie ’ne Tote eben aussieht.“ Darauf wunderte sie sich. „Na, wenn man sie doch umgebracht hat, kann sie doch nicht wie ’ne andere Tote ausgesehen haben.“ „Hat sie aber.“ War tatsächlich komisch. „Und sie hat wirklich richtig im Sarg gelegen?“ „Na ja doch. Sogar mit gefalteten Händchen.“ Sie schüttelte den Kopf und haderte aufgebracht: „So ist das, aber genau so. Wenn sonst jemand so zu Tode kommt, wird der irgendwo im Chausseegraben oder in einem Dreckloch gefunden – die alte Hexe drüben, die liegt schön ordentlich in ihrem feinen Sarg.“ Draußen nieselte es noch immer verdrießlich vor sich hin, und so hüpfte ich schleunigst zum Bahnhof hinüber. Aber auf dieser von Traktoren zerfahrenen Straße patsch61
te man bloß in die nächste Pfütze, wenn man einer ausweichen wollte. Und von den uralten Kastanien knallten unverschämt große Tropfen, genau immer mir ins Genick. Zum Bahnhof wäre ich übrigens auch bei schönstem Sonnenschein marschiert, wo sollte man hier draußen sonst hin? Auch Umwege erübrigten sich für uns, wir waren sozusagen Anlieger der Reichsbahn und leiteten davon das Recht ab, zu beliebiger Zeit die Gleisanlagen zu überqueren. Und seit Bahnhöfe Häuser der offenen Türen sind, fällt kein Mensch, der den Bahnsteig entlangbummelt, mehr auf. Man kann ohne Hemmungen an sämtlichen Diensträumen vorbeitrudeln, ohne daß, wie es früher gewesen sein soll, ein übergeschnappter Bahnbeamter herausstürzt und wilde Reden schwingt. Normalerweise hätte ich auch bloß ’n gelangweilten Blick durch das hell erleuchtete Fenster der Aufsicht geworfen, und mir wäre es egal gewesen, ob der Mann mit der roten Mütze arbeitet oder sich bloß in der Nase bohrt. Heute schien mir jemand die Beine festzuhalten. Der Mensch da drin lehnte am Fernschreiber und sprach mit Hauptmann Draht. Zu verstehen war natürlich nichts, aber es mußte, weil er dauernd auf den Briefkasten draußen deutete, mit dem Ding zusammenhängen. Komisch, sobald ich den Hauptmann sah oder bloß an ihn dachte, brannten mir die hundert Mark in der Tasche, obwohl ich sie gar nicht mehr besaß; ich machte schleunigst, daß ich weiterkam. Und mit wem prallte ich in der Tür zum ewig verqualmten Wartesaal zusammen? Mit dem Herrn Genossen Leutnant Novy. Ich wich mehr aus Verzweiflung als aus Höflichkeit zurück, dieser Tag endete wohl so gräßlich, wie er begonnen hatte. Novy lächelte still vergnügt. „Solch ein Tag macht 62
Durst, wie?“ Besonders deine Visage, dachte ich, griente, ich weiß nicht wie, und huschte hinein ins Menschengetümmel. Das konzentrierte sich wie immer in den Abendstunden hauptsächlich um die Theke, erst recht, seit der neue Gaststättenleiter Barhocker aufgestellt hatte. Es waren auch immer dieselben Gesichter, und ich wunderte mich kein bißchen, daß hinten in der äußersten Ecke, direkt neben dem gewaltigen Kachelofen, zwei von Großvaters Arbeitskollegen saßen, es war ihr Stammplatz. Arbeitskollegen stimmte nicht ganz, Großvater nannte sie auch nie so, sie waren Aufkäufer von Schlachtvieh, volkseigene Viehhändler sozusagen. Beide waren kurz vorm Rentenalter, aber noch verdammt rüstig und ewig auf Achse. Nur abends trafen sie sich regelmäßig hier, weil es in ihrem Büro vielleicht noch labbrigen Tee, bestimmt aber kein Bier gab. Sagte Großvater. Den einen konnte ich prima leiden, war ’n Gemütsmensch. Gustav Richter hieß er, war ziemlich groß, um die Hüften herum ein bißchen zu dick, und sein Gesicht paßte überhaupt nicht zur Figur. Es war klein, mager, irgendwie eingefallen; er sah immer aus, als wollte er jeden Augenblick abkratzen. Den zweiten am Tisch konnte ich dagegen nicht riechen. Ein Männchen, mickrig und dürr, dafür im Gesicht aufgedunsen. Ihm hingen mehr Haare aus den Nasenlöchern als vom Kopf. Er war Junggeselle, nuschelte, wenn er getrunken hatte – und das war eigentlich immer –, und glotzte dabei, als erwartete er Applaus für seine Blödeleien. Cloppenburg soff sich, so behauptete Großvater, eben durch den Rest seines Lebens. Na, und wer sollte 63
solch einen Kerl auch heiraten? Herr Richter winkte mir zu, am Tisch waren noch zwei Plätze frei. Natürlich kannten sie mich, manchmal hatte ich schon beim Verladen geholfen. „Ist er schon zurück?“ erkundigte er sich in seinem ostpreußischen Dialekt, breit und ein bißchen ulkig. Er meinte Großvater. „Ach wo!“ Ich klemmte mich möglichst lässig auf einen Stuhl und dachte, daß mir als Hauptperson in einer merkwürdigen Geschichte Aufmerksamkeit gebühre. Aber sie wußten, weil sie den ganzen Tag kreuz und quer durch den Kreis gondelten, noch gar nichts vom Tod der Alten. Statt dessen fragte mich Herr Richter hoffnungsvoll: „Du kannst doch skaten?“ Weil ich nicht einmal das richtig konnte, verlor er umgehend jedes Interesse an mir und ließ die Karten auf die Tischplatte flattern. Cloppenburg glupschte mich niederträchtig an, seine Stimme kratzte wie Omas selbstgestrickte Pullover vorm ersten Waschen. „Aber Bier trinken, das kannste doch?“ „Klar!“ Darauf feixte er und bestellte auf die hier übliche Art. Er hob in Richtung Theke drei Finger und wartete, bis die Bedienung davon Notiz nahm. Eine Runde bestand bei den Kollegen Viehhändlern aus Bier und doppelten „Klosterbrüdern“. Ich würgte das Zeug möglichst mannhaft hinunter, mußte trotzdem husten und mir Cloppenburgs hämisches Grinsen gefallen lassen. Umgehend bestellte er die nächste Runde; der Jux war ihm ein paar Mark wert. Ich wollte schon verduften, als Herr Schütze kam, der Dritte im Bunde, so ’ne Art Oberviehhändler. Er war, sagte Großvater, ohne Zweifel der Tüchtigste des Klee64
blattes, aber Großvater vermutete auch hartnäckig, daß mit Schütze nicht alles seinen rechten Gang gehen könne. Angefangen hatte er mit einem alten Opel, solch einem viereckigen Kasten, den nacheinander ein F 9, ein Wartburg, ein Moskwitsch abgelöst hatten, bis er zur Zeit bei einem Polski Fiat gelandet war. Schütze war bestimmt auch schon über fünfzig, wirkte aber verflucht kräftig und war es sogar. Aber er war auch brutal. Heute war er so friedfertig, daß er mir sogar die Hand reichte, sich leutselig nach Großvater erkundigte und sich mit einem Gesichtsausdruck setzte, der deutlich aussagte: So, Leute, unser Heu hätten wir mal wieder eingefahren. Herr Richter kam lebhaft auf sein zur Zeit dringlichstes Problem zurück, wenn er auch fast brüllen mußte, weil draußen eben der Sechsuhrzug eindonnerte. „Zeit für’n Skat?“ „Aber immer!“ „Na, na“, sagte Herr Richter in seiner ulkigen Mundart, während die Karten schon wild zwischen seinen Händen hin- und hertaumelten, „ich kenne da einen, der hatte nicht mal am Sonntagabend Zeit.“ „Geschäfte gehen vor“, brummte Schütze kurz angebunden, nahm seine Karten auf und lehnte sich zurück. Irgendwie schien er plötzlich nicht mehr in Stimmung. Noch plötzlicher legte sich eine schwere Hand auf meine linke Schulter – ich saß mit dem Rücken zum Eingang und dachte voller Grimm bloß: Polizei! –, und Großvater fragte streng: „Was treibst du dich hier ’rum?“ „Schon zurück?“ Mehr und die rein mechanische Frage, ob mit dem Transport alles in Ordnung gegangen sei, brachten die Skatbrüder an Interesse nicht auf. Großvater sah allerdings auch aus wie immer. Klein und gebückt, das zerfurchte Gesicht stoppelig, um seine dürre Gestalt 65
hing verloren der betriebseigene Regenmantel und auf dem krummen Buckel sein schäbiger Rucksack, schlaff und wie verwelkt. Er winkte müde ab, als ich aufspringen wollte, nahm sich wortlos einen Stuhl vom Nebentisch und setzte sich bedächtig zwischen Cloppenburg und Schütze; wenn er selbst auch nicht spielte, kiebitzen tat er ganz gern. „Die alte Bäumlern ist tot!“ platzte ich einfach ’raus, irgendwann mußte ich das doch mal los werden, verdammt noch mal! Und weil mir schien, daß sogar Großvater kaum darauf reagierte – die Skatfans sowieso nicht, die machten gerade Karo ohne dreien –, sagte ich lauthals: „Ermordet ham se se!“ Kinder, das wirkte! Man brauchte den Leuten bloß mit’m saftigen Mord zu kommen, und schon wurden sie hellwach. Cloppenburg, der in seinem Halbschlaf das Spiel ohne dreien gewagt und schon so gut wie verloren hatte, packte in berechnender Verwirrung seine restlichen Karten zwischen die abgelegten, Herr Richter sah mich strafend an und warnte grollend, ich solle bloß keine Bolzen raushauen, denn wer würde schon so ’n altes Weib umbringen. Schütze sah mich zwar auch an, aber sein Blick aus ewig geröteten Augen war mir gar nicht geheuer. Großvater nahm seine anspruchslose Kassenbrille ab und fragte mich streng: „Zuviel getrunken, was?“ „Na, da soll doch der Affe kegeln!“ Und ich schnurrte los: wie ich die Alte im Sarg entdeckt, was die Polizei angestellt hatte. Ich brachte hier und da leichte Ausschmückungen an und verschwieg nur eins, die verdammte Kassette. Dafür walzte ich die Verlogenheit des sauberen Herrn Sturm gehörig aus, machte Andeutungen, die ihn halb zum Mörder, zumindest aber zu einem 66
Lumpenhund stempelten. Obwohl das Thema, so fand ich, trotz mancher Zwischenfrage erst zu einem Teil erschöpft war, versuchte es der skatbesessene Herr Richter auch schon wieder vom Tisch zu verbannen. „Was ist denn nun, spielen wir Karten, oder spielen wir nicht?“ Schütze benahm sich komisch. Er musterte ihn abwesend, stand dann plötzlich auf, schmiß seine Karten achtlos auf den Tisch, murmelte, daß er doch tatsächlich etwas Dringendes vergessen habe, und ging los. „Bis morgen dann!“ „Dringendes! Genau wie gestern nach dem Verladen.“ Richter grinste anzüglich. „Muß es wirklich nötig haben! Seine Alte ist nämlich zur Kur.“ Für ihn gab es eben nichts Wichtigeres als nach Feierabend geruhsam einige Runden Skat. Auch Großvater benahm sich für meinen Geschmack enttäuschend. Immerhin war die alte Bäumlern lange Jahre seine Chefin gewesen, und wenn er ihr auch nicht gerade besonders grün gewesen war, hatte er ihr doch kaum eine Bitte abgeschlagen. Doch dann fiel mir ein, daß gerade er bloß froh sein konnte, schließlich war er nicht mehr der Jüngste, und zuviel Arbeit war schon immer ungesund. Das schien zu stimmen. Großvater nahm die Tageszeitung, auf der Schütze gesessen hatte, glättete sie, prüfte das Datum und begann darin zu blättern. Herr Richter, der bestimmt insgeheim gehofft hatte, Großvater werde nun endlich einmal mitspielen, ramschte mißmutig die Karten zusammen und verstaute sie in einer seiner vielen Innentaschen. Er trug stets eine abgetragene Joppe über einem nicht weniger schäbigen Jackett. Alles sah nach einem Aufbruch in Unzufriedenheit 67
aus, und doch fing es genau in den wenigen Sekunden, als Cloppenburg durch den ganzen Saal gequäkt hatte: „Lieschen! Zahlen!“, erst richtig an. Großvater gab’s unvermittelt einen Ruck, er stierte auf die untere Ecke der aufgeschlagenen Zeitungsseite und röchelte halb erstickt: „Das … das gibt’s doch nicht?“ „Steht’s schon drin?“ Cloppenburg beugte sich hastig vor; sollte er etwa so eine Meldung übersehen haben? Großvater antwortete zunächst nicht. Er schüttelte ungläubig den Kopf, schob die Brille hoch und wieder ’runter. Dann endlich nickte er entschlossen, und schließlich sprach er es aus: „Das hier sind genau meine Zahlen!“ Unglaublich, wie rasch jeder solche Zauberworte versteht. „Mensch!“ stöhnte Cloppenburg aufrichtig neidisch. „Zeig mal deinen Tipschein!“ verlangte Herr Richter. „Schleppe ich doch nicht dauernd mit mir ’rum … Sind aber meine Zahlen … seit Jahren meine Zahlen …“ Ich bekam wahnsinniges Herzklopfen; vor ein paar Stunden noch Ärger wegen eines lächerlichen Hunderters, und jetzt Aussicht auf eine unvorstellbare Summe, denn bei sechs Richtigen … du lieber Himmel! Und wenn es bis jetzt noch niemand so recht glauben wollte, Opa überzeugte alle Zweifler einzigartig. Er drehte sich zur Theke und rief heiser: „Lieschen! Eine Lage was Anständiges. Doppelt!“ Es wurden noch wer weiß wieviel Lagen etwas „Anständiges“. Und genau deshalb, weil nämlich Großvater ganz selten trank und schon gar nicht mit anständigen und damit teuren Schnäpsen um sich schmiß, war binnen Minuten der ganze Wartesaal restlos überzeugt. Staunen mußte ich auch, wieviel Freunde Großvater doch hatte – von wegen Reckers hintendran! Fortwäh68
rend kamen welche, klopften ihm auf die Schulter oder gratulierten vertraulich auf andere Art; die Runde wurde immer gewaltiger, meine Augen dagegen immer kleiner. Ehe ich einschlief, dachte ich nur mit reinster Schaden- und Vorfreude an den „drahtigen“ Hauptmann. So, dachte ich, von wegen nicht viel Geld ausgeben. In spätestens vier Tagen fährt der Rudi mit einem nagelneuen Moped mit’m Haufen Extras dran immer an der Polizei vorbei. Auf und ab und hin und her …
69
LEUTNANTS AN DIE „FRONT“! opponiert Leutnant Novy
Zugegeben, Siegfried Sturm war mir höchst unsympathisch, aber das konnte und durfte kein Grund für einen Verdacht mit allen seinen Konsequenzen sein. Für mich bestand nicht der geringste Zweifel, daß er wissentlich die Unwahrheit gesagt hatte, er mußte gute Gründe haben, seinen Besuch am Freitag zu unterschlagen. Welche, galt es umgehend zu erforschen. Natürlich konnte auch ein etwas primitiver Geist wie Rudi Recker gelogen haben, aber doch kaum planmäßig, eher impulsiv und unbedacht, wenn auch seine erstaunliche Pfiffigkeit nicht zu übersehen war. Wiederum aber war ich überzeugt, daß Sturm, wäre ihm Rudis Aussage bekannt gewesen, mit plausibler Begründung seinen Besuch zugegeben hätte. Und er hätte die harmloseste Erklärung vorlegen können, Frau Else Bäumler konnte weder streiten noch bestätigen. Doch Genosse Wilfried Draht setzte während der halbstündigen Autofahrt zur Bezirksstadt meinen überzeugendsten Theorien ein ebenso wirksames wie unangenehmes Mittel entgegen, er schwieg einfach. Und so verstummte auch ich allmählich, wahrscheinlich hatte ich ihn heute ausreichend verärgert. Doch später, als wir uns nach Erledigung aller notwendigen Gänge trennten, griff er von sich aus mein Thema auf. „Natürlich, er verbirgt uns etwas, der Herr Sturm. Aber das kann eine ganz banale Erklärung finden – eine 70
Frauengeschichte zum Beispiel. Allzu häufig ist bei unseren Nachforschungen eine zweite Frau im Spiel. Selbstverständlich, da er uns nun einmal ins Schußfeld geraten ist, werden wir ihn daraus erst wieder entlassen, wenn er mit unserem Fall nicht das geringste zu schaffen hat.“ Ich sah auf die Uhr. „Kurz vor zwanzig Uhr … Falls Frau Bäumler ihren Brief gestern tatsächlich noch eingeworfen hat beziehungsweise durch einen uns noch nicht Bekannten hat einwerfen lassen, müßte er heute eingetroffen sein.“ Er schien mir unentschlossen. „Ich weiß nicht recht, zumindest Frau Sturm trauert doch wohl, wenn ihre Mutter infolge ihres Gesundheitszustandes auch jeden Tag mit dem Ende rechnen mußte. Und darüber mußte sich Frau Sturm durchaus im klaren gewesen sein. Dennoch ist für sie der Tod plötzlich gekommen.“ „Sturm wird“, sagte ich hartnäckig, „den Brief umgehend vernichten, falls er für ihn Nachteiliges enthält.“ „Das kann schon längst geschehen sein, und außerdem wollte das Labor uns bis morgen früh den Text vollständig vorlegen.“ „Manchmal ist morgen zu spät.“ „Manchmal ja“, stimmte er zu, nachdenklich, fast melancholisch. „Dein Eifer in Ehren, aber blind schadet er bekanntlich nur. Unterstellen wir tatsächlich, daß ein Tötungsverbrechen begangen wurde, bei dem – mit Fragezeichen versehen! – eine gewisse Geldsumme die Hauptrolle spielt. Wer aber sagt uns, daß nicht ein gänzlich Fremder, der in gar keiner Beziehung zur Toten steht, der Täter gewesen ist? Es wird nicht nur Frau Sturm bekannt gewesen sein, daß Frau Bäumler die Marotte hatte, sich mit Bargeld einzudecken. Ein Geheimnis unter dreien ist bekanntlich erst sicher, wenn zwei davon tot sind.“ 71
„Ich finde, du komplizierst die Sache.“ „Und du vereinfachst sie. Die wahren Ursachen können noch ganz woanders, viel tiefer liegen.“ „Um so besser wäre, wenn wir Sturm als Täter ausschließen könnten, und das eben rasch. Was gäbe es für Einwände, wenn ich ihn jetzt aufsuche, um seine Fingerabdrücke einzuholen?“ Wilfried lächelte müde. „Sicher, seine Reaktion darauf wäre interessant. Unschuldige wehren sich aus wesentlich anderen Gründen dagegen als Schuldige, letztere mitunter auch gar nicht, sie wissen oder glauben, daß sie nicht die geringste Spur hinterlassen haben.“ „Ich versuch’s also.“ Es schien ihm nicht ganz recht zu sein, schließlich stimmte er zu. „Aber keine Extravaganzen!“ Dann lächelte er erneut unfroh. „Oder tauschen wir?“ „Wenn es sein muß?“ „Schon gut“, sagte er. Ich sah ihm nach, wie er in den strömenden Regen hinausging, den Mantelkragen hochgeschlagen, den rechten Fuß leicht nachziehend. Seit er, vor Jahren eine Zugentgleisung miterlebte, zog er, freilich nur nach besonders anstrengenden und langen Tagen, den rechten Fuß etwas nach. Er stieg draußen in den wartenden Wagen der Staatsanwaltschaft, und ich beneidete ihn wahrhaftig nicht; die Obduktion war noch für heute abend angesetzt. Gewiß, wir stimmten manchmal nicht überein. Ich glaubte, er hielt mich für zu ehrgeizig, ja, ich spielte sogar mit dem albernen Verdacht, er habe Furcht, mir als dem Jüngeren und nach letzten Erkenntnissen Geschulten seinen Platz abtreten zu müssen. Klar war ich ehrgeizig, vielleicht auch zu überzeugt von mir. Und dann hatten wir eine ziemlich unterschiedliche Einstellung zur Kriminalität schlechthin. 72
Hauptmann Draht war gelernter Flugzeugbauer, durfte nach der Lehre bei der ehemaligen ‚Arado‘ deren Produkte fliegen, allerdings im Krieg. Gefangenschaft, Augenöffnen irgendwo in Kasachstan, ein ganz normaler Lebenslauf für viele seiner Generation. Später, nach der Heimkehr, jener Auftrag, der ihm anfangs imponierte, ihn aber bald stiller werden ließ, ehe er sich durchbiß – zur Polizei zu gehen, aufzubauen, auszubauen. Teils war es Einsicht, teils Disziplin; aber manchmal handelte er noch heute, so jedenfalls empfand ich es, wie damals die Volkspolizisten handeln mußten, ungeschult im Grunde, nach Gewissen und Überzeugung zwar, aber irgendwie, als verstünden sie Triebkräfte, aus denen Vergehen und Verbrechen geboren werden. Menschen eben, die erlebt hatten, daß man einen anderen wegen eines Stückes Brot, einem Platz im letzten Fluchtfahrzeug einfach umlegte. Und diesen Maßstab unterstellte ich ihm gelegentlich, er schien sogar Mitleid mit Tätern zu empfinden, die ohne Überlegung handelten, Affekttäter, Mörder aus ungehemmter Eifersucht etwa. Aber er hatte mich schnell durchschaut. „Verstehe schon“, hatte er einmal gesagt, „für dich besteht der Reiz deines Berufes in der Überführung möglichst raffinierter Verbrecher, keine Alltagsgeschichten. Kreaturen, die gewissenhaft planen, kein Alibi vergessen, Verdacht auf andere wälzen, miese Typen also. Schön, die gibt es vereinzelt noch, aber es gibt absolut keine Universalgenies mehr. Alle Spezialgebiete, für die wir voll ausgebildete Könner einsetzen, müßte dieser Mensch beherrschen, und das kann er nicht, ist uns also schon deshalb stets unterlegen …“ Schön, wenn auch Sturm kein Genie war, intelligent genug schien er mir zu sein. Es war nicht nur die Antipathie, 73
die mein Vorgehen diktierte, es war eben auch der Drang, einem wie ihm unsere Überlegenheit schnell und gründlich zu beweisen. Entschlossen startete ich nach Gallow, einem Vorort, in dem Sturms ein Zweifamilienhaus besaßen. Auf der schnurgeraden neuen Ausfallstraße nach Süden überholte mich ein Polski Fiat, dessen Fahrer keinerlei Rücksicht kannte. Er überholte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, schwenkte unverschämt spitzwinklig wieder ein und verdreckte wegen eines fehlenden Spritzgummis meine Windschutzscheibe mit jenem üblen Gemisch aus Schmutzwasser und Straßendreck, der einen bei Dunkelheit für Sekunden zum Blindfahrer macht. Die Zulassungsnummer war nicht zu enträtseln. Als ich nach einiger Sucherei Sturms Haus gefunden hatte, sah ich die Schlußlichter eines Autos um die nächste Straßenecke biegen, und ein Gefühl sagte mir, es handelte sich just um den Polski Fiat. Das Haus Zetkinstraße 74, ein Bau älteren Datums, quadratisch, an einer Seite mit Veranda, wirkte unbewohnt; aus keiner Ritze schimmerte Licht, Hof und Veranda waren gleichfalls unbeleuchtet. Hingegen stand das flache Einfahrtstor weit offen, ein verschwommener Klotz weit hinten entpuppte sich als ein Wartburg Tourist. Ich tastete mich unsicher auf den kleinen Hof, geriet unversehens in eine Blumenrabatte, stolperte über Begrenzungsdrähte, entdeckte aber auch an der Rückseite des Gebäudes kein Licht in einem der Fenster. Mit Hilfe der Taschenlampe, die ich mir aus dem Wagen holte, fand ich wenigstens in der offenen Veranda zwei Wohnungsklingeln. Die Überzeugung, es sei ohnehin niemand zu Hause, ließ mich forsch und anhaltend läuten. Aber überra74
schend drang prompt von innen matter Lichtschein, Türen schlugen zu, und ich wurde von grellem Licht übergossen. Sekunden später stand ich einem beängstigend hochgewachsenen Jungen gegenüber, der die übliche Tracht trug: Hosen, die das Gesäß straff umspannten, dafür weit um Waden und Knöchel schlackerten, dazu ein pulloverartiges Hemd mit Schnürverschluß, grellgelb und lang wie ein Minikleid. Den dürren Hals zierte ein goldenes Kettchen mit Anhänger, der ein großes H darstellen mochte. Auch seine Haartracht war die übliche. „Und?“ Auch diese Art von Begrüßung war „in“. „Guten Abend“, grüßte ich mit Betonung und hielt gleichzeitig meinen Dienstausweis vor. Er warf kaum einen Blick darauf. „Ich hätte gern Herrn Sturm gesprochen, es ist dringend.“ „Daddy“, er sagte mit ebenso tiefer wie gelangweilter Stimme tatsächlich Daddy, „ist nicht da.“ Und damit wollte er auch schon wieder die Tür schließen, als durch die angelehnte Zimmertür Frau Sturms Frage drang, was es denn gäbe. „Polizei.“ Der junge Mann, denn achtzehn Jahre mochte er schon sein, gefiel sich in einem Tonfall, als wäre ich ein zudringlicher Sammler von Altpapier. Frau Sturm kam hastig näher, neben der Latte von Sohn sah sie aus wie seine kleine Schwester. „Sie?“ fragte sie abweisend. „Ich hoffte Ihren Mann … kleines Versäumnis passiert.“ Auch ich war befangen, trauernde Frauen sind kein faires Angriffsobjekt. „Hab’s ihm schon zu erklären versucht, daß Daddy nicht da ist“, bemerkte der Herr Sohn. „Ich hatte mit Ihrer Mutter gesprochen.“ Es lohnte nicht, sich mit einem unausgegorenen Jüngling über all75
gemeingültige Höflichkeitsnormen zu streiten, schon gar nicht über Showgehabe, das er wahrscheinlich für Kühnheit oder Beweis von Unabhängigkeit hielt. „Ist trotzdem nicht da.“ Er schob ab, lässig redend, lässig gehend, ein vermeintlicher Sieger in ausgetretenen Filzlatschen, denn so weit ging seine Verachtung herkömmlicher Sitten nun wieder nicht, daß er auf bewährte Bequemlichkeiten verzichtete. „Mein Mann ist wirklich unterwegs. Er mußte unbedingt … als heute morgen …“ Ein Schluchzen, das entfernt dem Seufzer eines Kindes glich, welches sein „Böckchen“ überwunden hat, blockierte ihre Stimme. „Ja, heute morgen, als die schreckliche Nachricht kam, mußte ich meinen Mann erst rufen lassen. Er war über Nacht draußen am Stausee, wir haben dort einen Bungalow. Er glaubte, in der Eile vergessen zu haben abzuschließen.“ Sie sah auf ihre zierliche Armbanduhr. „Er muß aber jeden Augenblick kommen, müßte eigentlich längst zurück sein. Vielleicht … kann ich Ihnen nicht helfen?“ Durchaus möglich, dachte ich, wich aber aus: „Ich weiß nicht recht … aber ich kann es auch auf morgen verschieben, ungern allerdings.“ Ich sah nun auch auf die Uhr und brachte harmlos eine meiner Fragen an. „Sie haben nicht zufällig Post von Ihrer Mutter bekommen?“ Ihr Befremden war echt. „Eine sehr merkwürdige Frage.“ Also nichts. „Entschuldigen Sie“, sagte ich und leitete den vermeintlichen Rückzug ein, „Ihr Mann scheint sich wirklich zu verspäten. Aber … würde ich Ihren Bungalow bei Nacht finden?“ Sie traute mir soviel Spürsinn zu, beschrieb mir, wenn auch zögernd vor Mißtrauen, den Weg sehr anschaulich, 76
und ich hatte plötzlich das seltsame Gefühl, sie gönnte ihrem Ehemann Ungelegenheiten oder gar Ärger, besonders zu später Stunde. Ziemlich nachdenklich über diese Feststellung, verabschiedete ich mich, nachdem ich auch noch nebenbei erfahren hatte, daß der Wartburg im Hof der Familie gehörte. Herr Sturm pflegte meist einen Dienstwagen gleichen Typs zu benutzen, gestern übrigens auch, weil er auf einer Baustelle nach dem Rechten sehen sollte, wo Kollegen seiner Abteilung die elektrische Anlage installierten. Und noch etwas, eine versäumte Frage, gab Anlaß zum Nachdenken. Sollte wirklich niemand Sturms über die Begleitumstände des Todes der Frau Bäumler informiert haben? Sollte niemand von gewaltsamer Tötung gesprochen haben, während sie die Formalitäten erledigten? Gab es nicht Wichtigtuer genug? Aber nichts, keine Frage danach, keine Silbe. Obwohl ich, wie Tausende, im Sommer an diesem Stausee gewesen war, bestätigte sich erneut die alte Erfahrung, daß sich eine bekannte Landschaft zur Nachtzeit bis zur völligen Fremdheit zu verändern scheint. Die auf der noch unbefestigten Uferstraße auf und nieder wogenden Scheinwerferkegel erzeugten ein unbestimmtes Gefühl von Unsicherheit, und auch die Erinnerung, etwa an markante Punkte oder Bauwerke, erwies sich als recht unzuverlässig. Sie stimmte in kaum einem Punkt noch mit den gespeicherten Tatsachen überein. Und dabei war erst ein knappes Vierteljahr seither vergangen. Zwar hatten schon im Sommer vereinzelt flache Häuschen das satte Grün der Kiefernwälder unterbrochen, aber inzwischen war die zaghafte Initiative zum Bauen einem wahren Bauboom gewichen. Bungalowskelette 77
begannen den Strand zu säumen, die in ihrer Halbfertigkeit die nächtliche Agonie verstärkten. Dennoch fand ich Sturms Bungalow, der bereits bezugsfertig war, ohne große Schwierigkeiten, durch einen unverhofften Wegweiser: Vor seinem Wochenendparadies parkte einträchtig neben dem beigefarbenen Wartburg Tourist, den Sturms schon am Morgen benutzt hatten, ein Polski Fiat. Ich stellte meinen Wagen etwa fünfzig Meter entfernt ab, ging zurück und notierte mir als erstes die Zulassungsnummer des Fiat. Der schneeweiß verputzte Bau mußte, soviel ließ sich sogar im Dunkel erkennen oder doch zumindest ahnen, ein Heidengeld verschlungen haben. Wie in der Stadtwohnung schimmerte auch hier durch keins der Fenster Licht. Zögernd, aber mit größter Wachsamkeit ging ich um das flache Gebäude herum, stieß gegen eine ausgewachsene Kiefer, fluchte, entdeckte dann schließlich Licht in einem Kellerfenster, das wie ein überdimensionales Bullauge aussah und durch ein kitschig verschnörkeltes Gitter gesichert war. Durch eine Entlüftungsklappe hörte ich Stimmen, ohne jedoch eins der gesprochenen Worte verstehen zu können. Siegfried Sturm hatte gelogen, und das ließ sich noch immer durch Fakten am sichersten belegen. Ich wähnte mich sicher genug, umgehend zu überprüfen, was mir notwendig erschien. Der Tourist war nicht abgeschlossen, was mich bei der Sorglosigkeit vieler Bürger nicht verwunderte. Meine Überlegung schien mir logisch: Wenn Sturm am Sonntagabend die Wohnung seiner Schwiegermutter durch das ungesicherte Badezimmerfenster betreten hatte, mußten an seinen Schuhen Mörtelreste haftengeblieben sein, und dann wurden sich auf der Fußmatte oder den Pedalen 78
feinste Rückstände finden lassen. Auf jeden Fall mußte Sturm die Wohnung durch das Bad und über die Leiter verlassen haben, Rudi Recker hatte heute morgen die Eingangstür von innen verschlossen vorgefunden. Wie wertvoll ein Nachweis von Zementmörtel allerdings wirklich sein würde, ließ sich schwer abschätzen, Sturms Baustellenbesuch am gestrigen Sonntag konnte jede Hoffnung zerstören. Nachdem ich genug „Material“ in einen Plastbeutel gekratzt hatte, saß ich einige Minuten nachdenklich und frierend in diesem fremden Wagen, leuchtete spielerisch hier und dorthin, bis mein Blick auf dem Kilometerzähler haftenblieb. Auch das war eine Möglichkeit. Ich suchte und fand im Handschuhfach das Fahrtennachweisbuch. Ein Vergleich mit der letzten Eintragung und dem Kilometerstand kündigte die nächste Enttäuschung an. Von gestern bis zum jetzigen Zeitpunkt waren nur zweiundachtzig Kilometer geleistet worden, unmöglich konnte Sturm mit diesem Wagen einen Abstecher zu seiner Schwiegermutter gemacht haben. Unmöglich? Je einfacher ein Trick, um so leichter fallen die meisten darauf herein. Und der primitive Trick, Schwarzfahrten zu vertuschen, indem man einfach die Tachometerwelle löste, war so alt wie der Kilometerzähler selbst. Ich zwängte mich in eine anstrengende und komplizierte Lage, um hinter das Armaturenbrett zu langen, verwünschte die Konstrukteure des Wagens, entdeckte aber überrascht, daß sowohl die Überwurfmutter wie auch die letzten zehn Zentimeter der Antriebswelle frei von jener Schmutzschicht waren, wie sie an unzugänglichen Fahrzeugteilen charakteristisch sind. Eine weitere Prüfung ergab, daß Handschuhe benutzt worden waren, was wiederum eine etwaige Reparatur durch eine Werkstatt 79
ziemlich sicher ausschloß. Kein Autoschlosser hätte sich für solch knifflige Arbeiten Handschuhe übergestreift. Hier hatte einfach jemand schmutzige Finger befürchtet, kaum wohl Abdrücke vermeiden wollen. Das alles war recht hübsch, nur hatte ich vor lauter Entdeckerfreude meine Umwelt völlig außer acht gelassen, wurde aber umgehend wieder daran erinnert. Eine Stimme grollte plötzlich hinter mir: „’raus hier, du Drecksack!“ „Schön ruhig bleiben“, sagte ich arglos und versuchte, dem grob geäußerten Verlangen Folge zu leisten. Ich hatte einige Mühe, mich rückwärts aus dem Wagen zu zwängen, und überlegte dabei, ob ich die Wahrheit oder eine halbwegs glaubwürdige Ausrede zur Begründung für meinen Eingriff anführen sollte. Jede Überlegung erwies sich als überflüssig. Absolut unverhofft traf mich ein fürchterlicher Hieb ins Genick, und ich nahm einen nie für möglich gehaltenen intensiven Schmerz auf den durchnäßten Sandboden mit. Als ich zu mir zurückfand, dominierten zwei Empfindungen. Ich fror jämmerlich, und irgend etwas Motorisiertes schien unabwendbar auf mich zuzurasen. Ich lag, was das widerwärtige Zittern erklärte, auf der vorderen Sitzbank des Wartburgs und kam mir ebenso lächerlich wie bedauernswert vor, letzteres überwiegend. Besonders, als meine Erinnerung an die Schlappe einsetzte. Feine Sache, da war man bei der Ausbildung auf alle nur denkbaren Varianten eines Angriffs auf Leib und Leben vorbereitet worden, hatte die raffiniertesten und wirkungsvollsten Abwehrgriffe eingepaukt bekommen und selbstverständlich den Begriff Leichtsinn aus dem Wortschatz gestrichen, und nun lag man da. Ich durfte 80
das Fazit ziehen, daß man sich bei der Ausbildung etwas gedacht hatte; vielleicht sollte man diesem oder jenem hin und wieder ins Genick dreschen. Urplötzlich verstummte dieser scheußliche Motor, die einsetzende Stille aber war ähnlich grausam. Gleich darauf vernahm ich Herrn Sturms beschwörende Stimme: „Ein fataler Irrtum, Herr …“ „Polizeimeister Triebel“, antwortete eine kräftige Männerstimme hilfreich, um sofort einzuhaken: „Irrtum? Was heißt hier Irrtum? Der Bürger, der mich alarmiert hat, sprach von einem Autodieb!“ „Jaja“, versicherte Sturm eifrig, „das dachten wir zunächst, mußten wir sogar denken, aber … bitte, sehen Sie selbst.“ Endlich gelang es mir, die Augen zu öffnen. Der Bungalow und vereinzelte Kiefern waren grell angeleuchtet, die Innenbeleuchtung des Wartburgs spendete mildes Licht. Dann verdunkelte eine Gestalt in Uniformregenmantel mein Blickfeld, ein weißer Sturzhelm stieß irgendwie auf mich zu, und während ich mit einem leichten Anfall von Übelkeit kämpfte, sagte die Stimme unter dem Helm: „Ja, aber, das ist doch … .“ „Sage ich doch, ein scheußlicher Irrtum! Der Herr ist Leutnant Novy von der Kriminalpolizei.“ Sturms Stimme war keineswegs von Nervosität geprägt. „Ja, aber …“, wiederholte Triebel, wackelte vorsichtig auf meinem Bauch herum und forschte: „Können Sie mich verstehen, Genosse Leutnant?“ „Und wie!“ murmelte ich mühsam; die üblichen Filme waren der reinste Schwindel. Da schüttelte sich der Verdroschene dreimal, rieb sich, Grimassen schneidend, das Genick und schoß sofort wieder munter um sich. Mir war weiter übel und schlapp. 81
„Was ist denn nun wirklich Fakt hier?“ herrschte Triebel Sturm an. Umschweifig erläuterte Sturm, daß er sich mit einem Kunden in der Kellerbar aufgehalten und über die Möglichkeiten der Installation einer Anlage in dessen Haus gesprochen habe. Dieser Gast nun, an dessen Namen er sich nicht erinnere, habe die Toilette im Parterre aufsuchen müssen. „Ja, und mein Besucher mußte mit Erstaunen registrieren, daß an meinem Wagen ein Unbekannter hantierte. Habe ich ahnen können, daß der Herr so hitzköpfig und aggressiv ist? Ehrenwort, ich wollte ihn zurückhalten, aber er ließ sich nicht. Er sei von Berufs wegen an harte Bandagen gewöhnt, gewissermaßen auf gewisse Brutalität angewiesen …“ Meister Triebel unterbrach gereizt: „Berufsbedingte Brutalität? Was, zum Teufel, versteht man darunter?“ „Er hat, soviel konnte ich seinen Andeutungen entnehmen, mit Vieh zu tun.“ Und dann konnte er sich einen prächtigen Seitenhieb nicht verkneifen. „Kann man sich doch vorstellen, daß ein Ochse mal mit einem kräftigen Hieb zur Vernunft gebracht werden muß, nicht wahr?“ Diese Anzüglichkeit trieb mich hoch, aber ich schaffte es noch, mich zu beherrschen. „Erzählen Sie ruhig weiter.“ Er lächelte hintergründig. „Natürlich nahm er an, daß jemand den Wagen zu stehlen beabsichtigte. Was soll man denn denken, wenn man einen Unbekannten zu nächtlicher Stunde unter dem Armaturenbrett hantieren sieht? Er war felsenfest überzeugt, daß das Zündschloß kurzgeschlossen werden sollte.“ Triebel musterte mich zweifelnd, obwohl er sich ganz gut zusammenreimen konnte, daß ich mir das Wageninnere aus guten Gründen genau angesehen hatte. Wir kannten 82
uns einigermaßen; während der Sommerhitze waren wir uns hier auch außerdienstlich begegnet. „Sie sollten sich in Adlershof bewerben“, empfahl ich Sturm. „Wie bitte?“ „Abteilung Kinder fernsehen, Meister Nadelöhr. Der muß schon dauernd Märchen wiederholen, über Neuschöpfungen würde er sich bestimmt riesig freuen.“ „Sie unterstellen mir doch nicht etwa …“ „Erraten“, sagte ich. „An den Namen Ihres Gastes erinnern Sie sich also nicht?“ „Bedaure. Und wenn, würde ich ihm nur Schwierigkeiten bereiten.“ „Die kriegt er gewiß.“ Ich verschwieg, daß ich die Zulassungsnummer notiert hatte, und fragte Triebel; „Sie müßten doch Namen und Anschrift des Bürgers vermerkt haben?“ Er hob bedauernd die Schultern. „Er erstattete telefonisch Anzeige und legte auf, als ich danach fragte.“ Ich schob mich aus dem Wagen und stand unsicher endlich wieder auf eigenen Füßen. Sturm übernahm die Initiative, Angriff ist die beste Verteidigung. „Und nun möchte ich doch endlich einmal erfahren, was das nun eigentlich zu bedeuten hat, Herr Leutnant! Sie schleichen sich auf mein Grundstück, manipulieren an meinem Wagen herum …“ „Es ist ein Dienstwagen“, unterbrach ich erneut. Meister Triebel griff sich hastig an den Sturzhelm, streifte die Stulpenhandschuhe über und meinte eilig: „Herrje! Wagen! Ich habe doch nach einem Streifenwagen gerufen.“ Er musterte Sturm kritisch, fragte mehr der Form halber, ob ich ihn noch benötige, konstatierte, daß von einem abzutransportierenden Autodieb weit und breit 83
keine Spur sei, grüßte knapp und schleuderte Sekunden später mit seinem Motorrad verwegen über den sandigen Weg davon. „Und wie nun weiter?“ Sturms Sicherheit wuchs in dem Maß, wie sich das Motorengeräusch verlor. Ich versuchte angestrengt, meine verschmutzte Hose zu säubern, was ihn zu der ironischen Aufforderung veranlaßte: „Ich habe ein Bad im Haus.“ „Na fein.“ Ich folgte ihm ins Haus. Die Inneneinrichtung des großflächigen Zimmers, das wir betraten, nachdem wir eine gewaltige Diele durchquert hatten, offenbarte einen unerwarteten Mangel an Komfort; vermutlich war Herrn Sturm etwas die Puste ausgegangen. Eine wahre Augenweide allerdings war die mit Klinkerplatten verkleidete Treppe in die Kellerräume, und im Badezimmer funkelten hellblaue Kacheln, Spiegel und chromblitzende Armaturen. Man merkte gleich, daß der Bauherr in einschlägiger Branche beschäftigt war. Sturm begann mit aufdringlicher Hingabe an mir herumzubürsten, während ich mir die Hände wusch. Meine Einwände dagegen wehrte er mit der lahmen Versicherung ab, er fühle sich mitschuldig. Als er gar noch versuchte, einen mindestens drei Tage alten Schmierfleck vom Mantelärmel abzuscheuern, wurde ich energisch. „Lassen Sie endlich den Zirkus!“ Kaltschnäuzig schlug er vor: „Na schön, wie Sie wünschen, vergessen wir die ganze Geschichte.“ „Sie sollten sich Ihre Hände auch gründlich reinigen“, sagte ich. „Wieso? Leiden Sie an ansteckenden Krankheiten?“ „Keine Ahnung. Aber ich muß Sie bitten, uns Ihre Fingerabdrücke zur Verfügung zu stellen.“ 84
Er musterte mich wachsam. „Haben Sie dazu das Recht?“ „Aber Herr Sturm!“ sagte ich mild. „Merkwürdige Praktiken. Ihr Vorgesetzter sprach doch von einem Unfall. Wessen also wollen Sie mich verdächtigen? Denn darauf läuft doch Ihr Verlangen letzten Endes hinaus?“ Mach man weiter so, dachte ich. Auch er wollte mir, genau wie seine Frau, weismachen, daß ihm auch nicht das geringste über die mysteriösen Umstände des Todes seiner Schwiegermutter zu Ohren gekommen sei. „Nicht unbedingt. Zugegeben, es gibt einige Ungereimtheiten. Und da kann es für Sie nur von Vorteil sein, wenn wir Sie anhand Ihrer Fingerabdrücke ausschließen können.“ Achselzuckend wusch er sich die Hände, trocknete sie übertrieben sorgfältig ab und spottete, während ich Finger um Finger abrollte: „Können Sie sich vorstellen, daß Sie den verkehrten Baum anbellen?“ „Aber sicher, Herr Sturm.“ „Das beruhigt mich ungemein“, gestand er im gleichen Tonfall. „Falls Sie es nicht schon wissen oder erraten haben, ich konnte meine Schwiegermutter ebensogut leiden wie sie mich, überhaupt nicht also. Dennoch sollten Sie sich auch an anderer Stelle umsehen. Vielleicht müssen Sie dazu nur einige Schritte tun, etwa fünfzig Meter vom Haus meiner Schwiegermutter.“ „Und an wen denken Sie da?“ „An Reckers zum Beispiel“, antwortete er gelassen. „Gewiß, sind alles brav arbeitende Menschen, wenigstens sieht es so aus, von gelegentlichen Auswüchsen abgesehen. Aber“, schloß er penetrant überheblich, „es sind und bleiben eben Reckers.“ „Interessant – und wessen eigentlich sollte ich jemanden aus der Familie Recker verdächtigen?“ 85
„Nun, Mithilfe an einem Unfall etwa?“ Die Umschreibung war eindeutig, er mußte ziemlich genau wissen, wie seine Schwiegermutter gestorben war. Das versprach ein Gegner von Format zu werden. Er sah betont sorgfältig auf seine Uhr und bekannte, daß er sich nach Schlaf sehne, nichts sei doch wohl so eilig, daß es nicht noch bis morgen Zeit hätte? „Eben“, stimmte ich zu, „freuen wir uns gemeinsam auf unser Wiedersehen … Der Name Ihres Besuchers ist Ihnen inzwischen nicht eingefallen?“ „Bei allem guten Willen, nein.“ „Und ein Brief von Ihrer Schwiegermutter ist heute auch nicht zufällig eingetroffen?“ „Schreiben Tote Briefe?“ Ich mußte lächeln. „Ihre Schwiegermutter ist schließlich nicht seit Tagen verstorben, Herr Sturm.“ „Gewiß, gewiß“, stimmte er bereitwillig zu, „aber ich erwähnte ja schon das gespannte Verhältnis zwischen uns. Die Frage müßten Sie schon an meine Frau richten.“ Der folgende Tag bescherte uns Nebel übelster Sorte, und ähnlich undurchsichtig schien sich der Fall Else Bäumler weiterzuentwickeln. Getreu dem fatalen Prinzip, daß Lehrer oder Lehrmeister spukhaft pünktlich immer dann auftauchen, wenn man Streiche oder Pfusch geliefert hat, wußte Genosse Wilfried Draht bereits bestens Bescheid; VP-Meister Triebel hatte pflichtgemäß besondere Vorkommnisse gemeldet. „Ungeduld ist aller Laster Anfang“, kommentierte er lakonisch und sehr frei meinen Bericht, den ich stehend und noch im Mantel ableistete. Er saß auf der Schreibtischkante, einen Schnellhefter in der Hand. Aus diesem 86
zog er den ersten von mehreren Bogen; es mußte sich schon einiges angesammelt haben. „Setz dich wenigstens erst mal!“ „Augenblick“, sagte ich, „schnell mal die KfzRegistratur anrufen. Möchte doch zu gern wissen, wer dieser mysteriöse ‚berufsbedingte Schläger‘ ist.“ Nach Erledigung des Telefonats studierte ich den Inhalt jenes Briefes, den Frau Bäumler am Sonntag geschrieben und vermutlich auch abgeschickt hatte. Er war fast lückenlos enträtselt. Aus ihm ging hauptsächlich hervor, daß sie ihren ‚sauberen‘ Herrn Schwiegersohn, den sie auch sonst mit erstaunlichen Kraftausdrücken belegte, am Sonntag mit dieser ‚stadtbekannten Hure‘ Inge Denkewicz gesehen habe. Und wörtlich stand zu lesen: „Du kennst dieses blonde Biest ja noch, sie war ja früher mal Friseuse im Geschäft Deines Onkels. Mein Gott, diese Schande! Aber dieser Mensch hat ja nie Rücksicht auf meinen Ruf genommen, bringt mich ins Gerede …“ und so weiter. „Na bitte“, stellte ich mit voreiliger Befriedigung fest, „hat Sturm also doch gelogen. Wir wissen ja nun, daß er zumindest am Sonntag ganz in der Nähe seiner Schwiegermutter gewesen sein muß.“ „Einen Dreck wissen wir“, kanzelte Wilfried mich ab. „Die alte Frau kann sich genausogut geirrt haben.“ „Diese Inge Denkewicz wohnt ja nicht aus der Welt.“ „Klingt schon besser.“ „Bestätigt aber sie oder ein anderer Zeuge das, so hätte Sturm noch immer gelogen.“ Wilfried Draht musterte mich, als befürchte er, der gestrige Abend hätte ernste Folgen bei mir hinterlassen. „Kunststück, wo die eigene Frau danebenstand, als er sechs Wochen Abwesenheit bestätigte.“ 87
Ich deutete auf den Briefbogen. „Und wo wäre das Original geblieben?“ „Auch die Post geht manchmal seltsame Wege“, sagte Draht und reichte mir den nächsten Ergebnisbericht. „Die Schuhspuren konnten leidlich brauchbar bestimmt werden. Es handelt sich um Abdrücke von Gummistiefeln der Marke Elbit, wahrscheinliche Größe dreiundvierzig. Nur … es sind mindestens zwei verschiedene, erkennbar an Verschleiß und Gangart.“ „Haut doch hin!“ „Hältst du Siegfried Sturm für so geschmacklos, daß er in Gummistiefeln seine Geliebte besucht, ganz abgesehen einmal davon, daß letzteres noch nicht bewiesen ist?“ „Er soll aber eine Baustelle inspiziert haben – und sollte er das in schmucken Halbschuhen getan haben?“ „Da ist was dran. Wird sich überprüfen lassen.“ Er machte sich eine Notiz. „Kämen wir zum Obduktionsbefund. Hier, lies mal.“ Er forderte mich so bedeutungsvoll auf, daß sicher war, auch hierbei gab es Komplikationen. Extrakt des umfangreichen Schriftstückes war dann auch, daß Frau Bäumler während eines schweren Angina-pectorisAnfalles, der mit großer Wahrscheinlichkeit zum Myokardinfarkt geführt hätte, gewürgt worden war. Typische Würgespuren im Kehlkopfbereich, allerdings nur von Daumen und Zeigefinger einer rechten Hand. Der Griff traf genau den „idealen“ Punkt, Eindrücke auch nur schwach, fehlende Fingernagelspuren lassen auf einen Täter schließen, der kurzgeschnittene Nägel bevorzugt … Tod trat durch Erwürgen ein, wenn auch angenommen werden muß, daß obduzierte Person ohne äußere Gewalteinwirkung an Herz-Kreislauf-Versagen innerhalb weniger Minuten verstorben wäre. 88
„Tja“, sagte Draht nach einer Weile nachdenklich, „eine seltene Duplizität, eine fast seltsame Überschneidung.“ Er glitt von der Schreibtischkante und ging unruhig einige Schritte auf und ab. „Der Myokard- oder volkstümlich Herzinfarkt führt zwar keineswegs stets zum Tod, aber im Fall der alten und schwerkranken Frau Bäumler dürfen wir uns getrost auf das Urteil der Gerichtsmediziner verlassen. Nur ist mir einfach unbegreiflich, daß jemand eine schon ums Leben ringende Frau noch würgt. Wer immer der späte Besucher war, er hätte in aller Ruhe auf das Ende warten können. Und dann noch eins …“, er blätterte in seiner Akte, „sie muß sogar noch aufgestanden sein! Während eines Anfalles, dessen Begleiterscheinungen krampfartige Schmerzen hinter dem Brustbein, Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr zum Gehirn infolge Durchblutungsstörungen der Herzkranzgefäße und vor allem eine grausame Todesangst sind! Unvorstellbar, um einmal Doktor Köhler zu zitieren.“ „Entschuldige, aber wieso muß sie das?“ „Weil sich, neben Rückständen aller möglichen Pflegemittel und Speisereste, unter einem ihrer Fingernägel ein Hautrest fand, menschliche Haut wohlgemerkt. Und das deutet wieder ziemlich sicher auf Abwehrreaktionen ihrerseits hin. Hätte aber ein wenn auch nur schwacher Kampf stattgefunden, müßte ihr Bett anders, zerwühlter ausgesehen haben.“ „Manchmal verletzt man sich ungewollt selbst.“ „Nee, nee, Frau Bäumler hatte die Blutgruppe B, der Hautrest aber weist die Blutgruppe A Rh-positiv auf.“ „Ausgerechnet A! Und auch noch Rh-positiv. Die Häufigkeit dieser Blutgruppe beträgt bei uns etwa vierzig Prozent.“ 89
„Na bitte, kommen runde sechzig Prozent als vermutlicher Täter nicht in Frage.“ „Tröstlich, wie?“ Wilfried, der ziemlich übernächtig wirkte, winkte müde ab; zu Späßen war er nicht in Form. „Blieben die Fingerabdrücke. Gesichert wurden bisher nur die von Frau Bäumler selbst, von Rudi Recker und von Frau Zauner. Auffällig wäre vielleicht ein häufig abgenommener Abdruck, der am rechten Daumen eine halbkreisförmige Narbe aufweist. Aber …“ Er strich sich über die Stirn, warf noch einen Blick auf den entsprechenden Bericht und prophezeite: „Wahrscheinlich werden diese Abdrücke vom alten Recker stammen, sie tauchen vornehmlich in Küche, Flur und auch im Bad auf. Auch an der Wohnungstür wurden sie gefunden. Na, das wird sich klären lassen, der alte Mann war ja häufig genug dort, wie wir hörten.“ „Und sonst nichts?“ Er lächelte gutmütig. „Weiß schon, der Herr Sturm. Dazu brauchen wir nicht einmal die Auswertung abzuwarten. Schon möglich, daß er Handschuhe trug, solche fanden sich auch. Aber die kann die Tote selbst, der Gasmann oder Rudi oder weiß der Himmel wer hinterlassen haben. Immerhin, es waren Lederhandschuhe, überprüfen wir zunächst die Handschuhe Frau Bäumlers, irgendwelche charakteristischen Merkmale hat jeder Handschuh. Bemerkenswert ist dabei allerdings, daß dieser Jemand auch die Badezimmertür von innen berührt haben muß, und das gleich mit allen fünf Fingern der linken Hand.“ „Und am Sarg selbst absolut nichts?“ „Absolut. Auch keine Spur eines Handschuhs.“ „Und, das fiel mir übrigens im Bett ein, am Lichtschalter im Schlafzimmer?“ 90
„Kippschalter, kann man mit dem Ellenbogen betätigen …“ Draht blätterte in den Auswertungen und schob nachdenklich die Unterlippe vor. „Gute Frage. Da sich daran keinerlei Spuren von Papillarlinien fanden, könnte sich die Theorie bestätigen, daß Frau Bäumler nicht im Schlafzimmer getötet wurde und der Täter später die Beleuchtung ‚umsichtig‘ löschte. Notiere gleich dazu die Frage, ob etwa morgens, als Rudi kam, das Licht noch brannte.“ Ich hatte schon mehrere Fragen aufgeschrieben, als das Telefon unsere Überlegungen unterbrach. Wilfried meldete sich etwas grämlich, sah mich aber beim Abhören der Meldung immer bedeutungsvoller an. Allein, wie er den Hörer ablegte, langsam und irgendwie gefühlvoll, ließ auf eine Überraschung schließen. „Schütze hieß dein Mann“, sagte er dann, „Richard Schütze. Wohnhaft in Zörnbeck, etwa acht Kilometer vom Tatort entfernt. Den Namen hatten wir doch schon, nicht?“ Ich mußte unwillkürlich schlucken; ein dicker Hund, wahrhaftig. Schütze und Sturm kannten sich seit mindestens zwei Jahrzehnten, und mir wollte er einreden, daß es sich um einen zufälligen Interessenten für Nebenarbeiten handelte? „Und nun sag bloß noch mal, daß mit dem ‚stürmischen Siegfried‘ alles in Ordnung ist!“ „Wer tut das denn? Nur muß sein undurchsichtiges Benehmen nicht unbedingt mit dem Tod seiner Schwiegermutter zusammenhängen. Beide, sowohl Sturm als auch Schütze, können Nachforschungen befürchten, die in zweifelhaften Geschäften ihre Ursache haben. Die alte Erfahrung also, daß bei Aufklärung eines Kapitalverbrechens gleichzeitig weniger schwere Gesetzesverletzungen aufgedeckt werden. Im übrigen steht bisher nur fest, 91
daß Schütze Eigentümer des Wagens ist, der gestrige Benutzer dagegen muß nicht er gewesen sein.“ „Muß nicht, muß nicht! Aber wenn er es war, warum verschwieg Frau Sturm mir, daß sie kurz vor mir auch ihn zum Bungalow verwiesen hat? Weil sie ihm den Weg nämlich gar nicht zu beschreiben brauchte, denn Schütze kennt ihn mit Sicherheit.“ „Durchaus möglich. Aber das ändert nichts an der Kardinalfrage – Sturm dürfte mit ebensolcher Sicherheit gewußt haben, daß seine Schwiegermutter bald das Zeitliche segnen würde, und sich in Geduld fassen. Wozu sich also noch mit einem Verbrechen belasten?“ „Na, dann schließen wir uns doch seiner Meinung an, daß einer aus der Sippe Recker …“ „Laß die Albernheiten“, unterbrach er mich schroff, sagte aber nach einigen Sekunden nachdenklich: „Immerhin, zumindest der alte Recker, um den du dich nachher ohnehin einmal kümmern mußt, kann von Frau Bäumlers Marotte gewußt haben, sich mit übermäßig viel Bargeld einzudecken. Warum sollte er Dritten gegenüber das verschwiegen haben? Und sei es nur, um sich darüber lustig zu machen. Übrigens … auch unser Genosse Kemmberg scheint mir in diesem Punkt nicht gerade objektiv zu sein. Weißt du zufällig dazu eine Erklärung?“ Ich hob unentschlossen die Schultern; ich wollte nicht antworten. Er sah mich ein bißchen komisch an, ehe er sagte: „Es gab und gibt wohl auch noch den Spruch: ‚Einmal in Verschiß, immer in Verschiß.‘ Hört sich nicht sehr gesittet an, trifft aber den Kern unwahrscheinlich genau. Und so ähnlich stelle ich mir das Urteil bornierter Leute über Reckers vor.“ Er sah auf seine Uhr. „Es wird allmählich Zeit. Unterrichte den Genossen Kemmberg über den Stand der Dinge, 92
besprich dich mit ihm und fahre anschließend nach Bennbach zu Herrn Beck, dem Sohn der Freundin von Frau Bäumler. Genosse Kemmberg hat das schon arrangiert. Zu allem Unglück können wir Frau Beck nicht so einfach erreichen, sie ist gestern morgen verreist. Höchstwahrscheinlich weiß sie noch gar nichts von der Tragödie.“ Ich nickte. Reine Routinefragen sind nun einmal nicht das Salz der kriminalistischen Suppe. „Und dieses Fräulein Inge Denkewicz?“ „Na sicher doch, nur sollten wir das Kemmberg überlassen.“ „Und was wäre gegen ein ‚Interview‘ mit Herrn Schütze einzuwenden?“ Wilfried lächelte hintergründig. „Gar nichts. Um aber keine Pferde scheu zu machen – deine Gefühle für ihn werden ja nicht gerade freundschaftlicher Natur sein –, solltest du dabei auch Kemmberg soweit wie möglich die Initiative überlassen. Ich“, er angelte dabei nach seinem Trockenrasierer, „werde mich anschließend etwas im VEB Tiefbaukombinat umsehen. Man wird dort schließlich eine Meinung über Herrn Sturm haben.“ „Um keine Pferde scheu zu machen, wie?“ „Genau.“ Oberleutnant Kemmbergs Laune war so miserabel, daß Leute mit eigennützigen Wünschen oder gar lahmen Beschwerden ihm heute besser aus dem Weg gingen. Ein Einbruch in eine Gaststätte war, wenn auch nicht gerade normal, so doch im Grunde auch nicht aufregend, und die Tatsache an sich brachte den Hünen Kemmberg auch nicht in Rage. Es waren vielmehr die beinahe karnevalistisch unbeschwerten Begleitumstände. „Stellen Sie sich das mal vor“, wütete er mich an, ohne mich zu meinen, „die schließen den Bierkeller nicht 93
ab, durch den man von draußen in den Gastraum gelangen kann. Und der Gipfel, obendrein gegen alle Vorschriften, die lagern auch noch die Tageseinnahmen in einer Schublade mit einem von diesen primitiven Konfektionsschlößchen, zu denen jeder handelsübliche Schlüssel paßt. Und das Schärfste – in diesem ‚Geldschrank‘ lag auch noch der Ersatzschlüssel für die Eingangstür, damit sich der Dieb den beschwerlicheren Rückweg über den Bierkeller ersparen konnte!“ Ich wollte zur Sache kommen, aber er wütete unbeirrbar weiter: „Und wir rennen dann, schreiben ellenlange Protokolle … Aber ich weiß schon, wer das Früchtchen war. Sechzehn Jahre alt ist der Bengel, faul und großfressig und zu allem Überfluß der Neffe des Gaststättenleiters. Aber diesmal“, verkündete er entschlossen, „geht es nicht glatt und reibungslos über die Bühne wie schon einmal. Weit kommt der sowieso nicht. Und was hat er nun eigentlich davon? Nichts, genaugenommen. Haut ein paar Tage lang mächtig auf die Pauke, verkutscht einen Haufen Geld mit Taxis, und spätestens, wenn die anderthalbtausend Märker futsch sind, taumelt er uns irgendwo, abgerissen und blank wie’n neues Auto, in die Arme. Das war dann was, o Herr!“ „Bringt nur Scherereien“, bestätigte ich höflich, womit ich aber nur meine Ungeduld übertünchte, „doch wir haben …“ Aber in ihm mußte sich allerhand Ärger über vermeidbare Delikte angestaut haben. Er unterbrach mich polternd: „Die Versicherungen sollten Prämien für umsichtiges Verhalten aussetzen. Kam doch vor paar Tagen ein Bürger und meldete den Diebstahl seines Mopeds, ’ne ‚Schwalbe‘ war’s. Ich frage ihn, ob er es gesichert hatte. Sagt der ganz entrüstet: Wozu? Er wäre ja bloß mal 94
schnell ein Paar Stiefelchen für seine Tochter einkaufen gegangen, und nie sei bei ähnlichen Anlässen auch nur das Geringste passiert. Klar, wir haben es gefunden, im Harz, kein Benzin mehr im Tank. Und damit ärgert man sich Jahre seines Lebens herum. Die sogenannte Kleinkriminalität – hört sich doch beinahe harmlos an, nicht? Sie haben es dagegen beinahe gut!“ „Na, na“, sagte ich, „Mord ist ja auch kein Kavaliersdelikt.“ „Aber immer noch leichter zu klären als ’n Mopeddiebstahl. Kriegen Sie mal ’raus, wer das Moped genommen und es dann irgendwo weit entfernt abgestellt hat.“ „Zugegeben“, gestand ich ein, „aber das sind doch im Augenblick nicht unsere Hauptsorgen.“ Ich berichtete, was sich inzwischen ergeben hatte. Mehr notgedrungen schilderte ich mein spätes Zusammentreffen mit Sturm und den tätlichen Angriff, hinter dem wahrscheinlich Schütze steckte. „Schütze? Was mag denn den zu nächtlicher Stunde auf die weite Reise getrieben haben?“ „Genau das müßte man schleunigst rauskriegen. Im übrigen ist nur sicher, daß es sein Pkw war.“ „Verspricht ja ein reichhaltiges Programm heute zu werden.“ „Oh, das ist noch nicht alles. Da wäre noch dieses Fräulein Denkewicz und nicht zuletzt Opa Recker, von unvorhergesehenen Überraschungen ganz abgesehen. Na ja, Leutnants sind nun mal für Kleinarbeit zuständig.“ „Oberleutnants auch“, murmelte Kemmberg und dachte bestimmt an seinen Mopedbesitzer. „Aber was mich eigentlich schon länger beschäftigt, man müßte auch die Möglichkeit bedenken, daß es sich um zwei 95
Täter handeln könnte. Eine so schwere Leiche allein in einen Sarg zu legen, ohne Spuren zu hinterlassen?“ „Dabei fällt Ihnen hoffentlich Schütze ein?“ „Ich übersehe ihn jedenfalls nicht.“ „Wir werden ihn in Kürze befragen.“ Ich erhob mich und sagte: „Wo finde ich Herrn Beck?“ „Im Porzellanwerk Bennbach, acht Kilometer von hier. Er ist Meister in der Porzellanmalerei.“ „Kümmern Sie sich inzwischen um Schütze?“ „Kann sich als zeitraubend erweisen, Genosse Novy. Vieh wird zwar am Schreibtisch gehandelt, gekauft aber letzten Endes in Ställen, auf Weiden oder sonstwo. Wegen der Einteilung in Güteklassen A, B oder meinetwegen Ypsilon. Wenn ich Pech habe, klappere ich wegen des Herrn Schütze den halben Kreis ab. Vielleicht aber …“, er rieb sich überlegend die mächtigen Hände, „haben wir doch wenigstens darin Glück. Ich dächte, heute hier und da mit Schweinen beladene Fahrzeuge gesehen zu haben, ein sicheres Zeichen eigentlich, daß auch heute Vieh verladen wird. Da hätten wir dann praktischerweise alle beisammen.“ „Wen – alle?“ „Na, Schütze und auch den alten Recker.“ Und dann wiederholte er in plötzlicher Erinnerung: „Recker, Mensch! Wissen Sie eigentlich schon?“ „Was soll ich wissen!“ „Hat ’n Sechser in ‚Sechs aus neunundvierzig‘, stellen Sie sich das vor! Nach allen bisherigen Erfahrungen bedeutet das auch fast immer eine sechsstellige Summe. Na, jedenfalls hat es diesmal keinen verkehrten getroffen, Reckers können einen warmen Regen sicher verteufelt gut gebrauchen.“ Er machte eine kleine Pause und gestand freimütig: „Ich übrigens auch.“ 96
Nicht bloß du, dachte ich, sagte aber: „Dann dürfte es eine recht optimistische Vermutung sein, den Glückspilz heute beim Viehverladen anzutreffen. Abgesehen davon, daß er ohnehin Rentner ist.“ Das Porzellanwerk Bennbach, gegenüber einem Eichenwald gelegen, stellte die obligatorische Mischung aus alt und neu dar, etwa im Verhältnis eins zu drei. Der vordere, veraltete Teil bestand aus einer engen Schlucht, flankiert von düsteren Klötzen mit ebenso regelmäßig angeordneten wie zu kleinen Fenstern; es erinnerte irgendwie an einen Gefängnistrakt, nur daß die Gitter fehlten. Der neue Komplex mochte vor fünf Jahren noch als Muster auf einem Reißbrett gelegen haben, er verkörperte den inzwischen auch schon obligatorisch gewordenen Baustil aus Glas und Beton, schneeweiß gestrichen; geradezu vorbildlich säumten Blumen- und Sträucheranlagen die Betonstraßen. Natürlich hatte man auch ein Pförtnerhaus nicht vergessen, das wie ein schmucker Bungalow aussah. Der Pförtner, einarmig und sonnigen Gemüts, war schwer beschäftigt, einen etwa zehnjährigen Bengel zu besänftigen, der hartnäckig sofort nach seiner Mutter verlangte, weil ein riesiger Haufen Kohlen zu Hause angekommen sei. Mich stufte er, nachdem er meine Legitimation geprüft hatte, als Befugten ein, wies mir den Weg und versicherte, daß er den Kollegen Beck sofort telefonisch informieren werde. Er hielt Wort. Bereits nach etwa hundert Metern verbummelten Fußmarsches kam mir ein Mann in weißem Kittel entgegen, sah mich fragend an, und als ich ihm zunickte, begrüßte er mich mit rauher, heiserer Stimme. 97
Irgendwie war er mir sympathisch. Vielleicht lag das nur an seinem streng kurzgehaltenen Haar; an seiner Figur sicher weniger. Er war, ohne Kemmbergs Gardemaß ganz zu erreichen, ausgesprochen groß, dabei aber mitleiderregend dürr. „Wohin gehen wir am besten?“ fragte er vor sich hin und entschied dann: „Am besten in den Speisesaal, da hält sich um diese Tageszeit keine Menschenseele auf.“ Er hatte sich geirrt. In einer durch tropenähnliche Gewächse abgeschirmten Ecke lümmelten zwei Burschen von höchstens sechzehn Jahren und pafften wild um die Wette. Es genügte ein einziger Blick des Meisters Beck in Richtung Ausgang, um sie zum Aufbruch zu bewegen. Im übrigen hegte ich den Verdacht, daß er mich mit voller Absicht in genau diesen Saal geführt hatte; Ausstattung und Architektur hätten sich notfalls auch für ein Interhotel geeignet. Als wir uns in der ‚Tropenecke‘ niedergelassen hatten, fragte ich ihn ziemlich direkt: „Sie wissen ungefähr, worum es geht?“ „Offiziell weiß ich nur, daß die Kriminalpolizei mich zu sprechen wünscht.“ „Und inoffiziell?“ Er lächelte dünn. „Hier spricht sich ein Verkehrsunfall ebenso rasch herum wie ein Waldbrand. Und da im Werk nicht nur Einheimische, sondern Kollegen und vor allem Kolleginnen aus dem ganzen Umkreis arbeiten … Ihr Kommen dürfte im Zusammenhang mit dem Mord an der mir sehr gut bekannten Frau Bäumler stehen.“ „Mit der Formulierung ‚Mord‘ wollen wir etwas vorsichtig umgehen, Herr Beck. Sagen wir, Frau Bäumler starb eines unnatürlichen Todes.“ „Ist das ein bemerkenswerter Unterschied?“ 98
„Durchaus. Wir zählen dazu ebenso Selbstmord wie Unfalltod. Aber zur Sache – Sie sind einer der letzten, der Frau Bäumler lebend gesehen und gesprochen hat.“ „Könnte sein“, gab er etwas unentschlossen zu, „und es könnte auch sein, daß ich Ihnen etwas zum Nachdenken anbieten kann.“ Und er fügte eilig hinzu: „Wahrscheinlich, nein, sicher hätte ich mich von selbst bei Ihnen gemeldet.“ „Dann frisch von der Leber weg. Ich bin ganz Ohr.“ Offenbar war seine Leber nicht ganz in Ordnung, er zauderte. „Man soll sich ja eigentlich hüten, einen bestimmten Verdacht anzuheizen …“ Ich spürte fast, wie er sich einen innerlichen Ruck gab, ehe er ausführlicher wurde. „Also gut, und um es kurz zu halten: Am Sonntag holte ich, wie häufig in den letzten Jahren, Frau Bäumler mit dem Wagen ab. Sie und meine Mutter sind alte Bekannte oder Freundinnen, falls es so etwas in ihren Kreisen überhaupt gibt.“ „Sie betonen das sehr augenfällig, Herr Beck.“ „Nicht ohne Grund, Herr Leutnant. Sie sind … Pardon, sie waren ein Herz und eine Seele, solange es um Kritik an den jetzigen Zuständen oder um Lobgesänge auf die ach so herrlichen alten Zeiten ging. Das war ja fast eine sakrale Zeremonie, nicht nur schlechthin Übereinstimmung. Andererseits konnte sich meine Mutter herzhaft über ihre ‚Freundin‘ mokieren, wenn sie uns wieder verlassen hatte.“ „Ein herbes Urteil, Herr Beck.“ „Ich würde auch lieber ein günstigeres abgeben. Natürlich achte ich meine Mutter, wahrscheinlich liebe ich sie, wie man eben seine Mutter liebt, aber verstehen kann ich sie nicht. Schön, wir hatten früher ein gutgehendes Café, aber …“, er lächelte verlegen, was ihn erfreulich jungenhaft machte, „jetzt komme ich wohl ins Tausendste?“ 99
„Durchaus nicht. Eine treffende Charakterisierung hat schon ihren Stellenwert. Naturgemäß interessiert mich allerdings dabei mehr Frau Bäumler.“ „Else Bäumler“, wiederholte er nachdenklich, als müsse er von nun an jedes Wort sorgsam abwägen, „war, auf einen verständlichen Nenner gebracht, schlichtweg hochmütig, arrogant und ihr Leben lang der unerschütterlichen Überzeugung, besser und wertvoller zu sein als das Gros der Mitmenschen; irgendwie fühlte sie sich wohl auch in ihrer wahren ‚Größe‘ verkannt. Nehmen Sie“, fuhr er, immer eifriger werdend, fort, „als gravierendes Beispiel ihr Verhältnis zu dem alten Herrn Recker. Ich weiß nicht … ist er Ihnen bekannt?“ Ich nickte. „Gut. Aber sehen Sie, obwohl der alte Mann, der wohl stramm auf die Siebzig losmarschiert oder sie schon überschritten hat, wie aus einer Art Untertänigkeit vergangener Epochen für Frau Bäumler so ziemlich alle Schmutzarbeiten und häufig genug Besorgungen erledigte, und sicher nur für ein mageres Trinkgeld, hatte sie doch nichts als Verachtung für ihn übrig. Er war für sie ein Prolet, was sie noch mit jener überlieferten Betonung aussprach, die jeden körperlich arbeitenden Menschen zu einer Art Halbaffen abqualifiziert.“ „Worin könnte die Ursache für diese, wie Sie es formulierten, Untertänigkeit zu suchen sein, Herr Beck?“ Er zündete sich ein Zigarillo an, hob unentschlossen die schmächtigen Schultern und mutmaßte zögernd: „Vermutlich in seiner Herkunft; abhängiger und herumkommandierter Landarbeiter, Dienen und Gehorchen gewohnt. Und kleine Gefälligkeiten pflegten frühere Herren zwar nicht besonders zu honorieren, gelegentlich aber doch gnädig zu bemerken. Allerdings …“ „Ja?“ 100
„Manchmal habe ich mich auch gefragt, ob es irgendeinen dunklen Punkt im Leben des Alten gegeben hat, von dem Frau Bäumler wußte.“ „Sie meinen Erpressung?“ Ich konnte mir nicht helfen, Becks Urteil schien mir zu einseitig, um nicht zu sagen böswillig. „Gute Seiten hatte Frau Bäumler offenbar gar nicht?“ „Ich wüßte keine. Selbstverständlich war sie höflich und konnte liebenswürdig, meinetwegen sogar herzlich wirken, aber dahinter steckte nach meiner Überzeugung nichts als kühle Berechnung oder sogar gelegentlicher Zwang, im Umgang mit Behörden zum Beispiel. Man wird so zuvorkommender bedient, und wer einen alten Mann höflich bittet, die Kohlen in den Keller zu bringen, hat wohl mehr Aussicht auf Erfolg als jemand, der befiehlt oder gar schnauzt.“ „Wie war ihr Verhältnis zur Tochter? Und zum Enkelsohn?“ Er wurde ironisch. „Da Marion von ihr abstammte, war sie natürlich von Geburt an zu etwas Besserem bestimmt. Sie hat die Verbindung mit Siegfried Sturm nie verwunden.“ „Was hielt sie denn von ihrem Schwiegersohn?“ „Prolet“, antwortete er knapp. „Im ‚alten‘ Sinn natürlich.“ „Aber sicher. Sturm ist eben der Mann ihrer Tochter und Vater ihres Enkels, sonst nichts.“ Ich hielt das für den Schlußsatz und bedankte mich angemessen. „Moment, Moment!“ Er hob abwehrend beide Hände. „Das Wichtigste kommt ja erst noch! Vorgestern, als ich Frau Bäumler abholte, zum fälligen Kaffeekränzchen, was für einen Menschen wie mich eine arge 101
Zumutung war, nicht das Abholen, sondern die Anwesenheit dabei …“ „Konnten Sie sich nicht drücken?“ Er lächelte grimmig. „Wenn es sich einrichten ließ – ja. Deswegen war ich immer froh, wenn man sich bei Frau Bäumler traf, sie hatten da so eine Art Wechselrhythmus. Mich brauchten sie gewissermaßen als Gegenpol, forderten bewußt meinen Widerspruch heraus, um mir an Hand ihrer verstaubten Ansichten zu beweisen, wie traurig und sinnlos das Leben jetzt sei.“ Er winkte regelrecht angewidert ab. „Es empörte sie, daß einfache Arbeiter Autos besitzen, gute Lokale besuchen, Theater und Oper, alles Dinge, die nur anständigen Bürgern zustanden. Und das wiederum waren für sie selbstredend wohlhabende Kaufleute, Fabrikbesitzer, eben alles, was früher auf Geld und Namen pochen konnte.“ „Nun kommen Sie aber mindestens ins Hundertste“, sagte ich, aber lächelte ihn dabei aufmunternd an. „Pardon“, sagte Herr Beck gehorsam, „bleiben wir bei der Sache. Bei dieser Fahrt nämlich, etwa in Höhe der Abzweigung zum Ausflugslokal ‚Heidehof‘, parkte neben dem dort wuchernden Birkengehölz ein Wartburg Tourist. Ich habe kaum einen Blick drauf verschwendet, aber Frau Bäumler verstummte ziemlich plötzlich. Sie blickte sich nach dem Tourist um, solange sie ihn nur sehen konnte, und schwieg auch den Rest des Weges. Ihre Erregung oder ihren Ärger erkannte ich daran, daß sie häufig ihren Stock heftig aufstieß.“ „Ich ahne etwas.“ Er nickte bedeutsam. „Sicher, da Sie Nachforschungen anstellen … Jedenfalls hatte sie Sturm – sie nannte ihn selten beim Vornamen – in dem Tourist erkannt, 102
vermutlich auch das Mädchen oder die Frau bei ihm. Mit deren Namen kann ich allerdings nicht dienen.“ Meine Bemerkung, daß mir der Name schon geläufig sei, irritierte ihn. „Na, wenn Sie alles schon wissen …“ „… dann säßen wir uns kaum gegenüber“, unterbrach ich beschwichtigend, „sprechen Sie ruhig weiter.“ „Frau Bäumler drohte mit fürchterlichen Konsequenzen für Sturm. Und wie sie es äußerte, das war Schadenfreude in Vollendung. ‚Keinen Pfennig wird der Mensch von mir erben!‘ Ich vermute, sie war nicht eben mittellos.“ „Kann man schwerlich behaupten.“ „Übrigens wollte sie noch am gleichen Abend, am Sonntag also, ihre Tochter brieflich über die Affäre ihres Gatten unterrichten; nun, da sie Sturms Schamlosigkeit mit eigenen Augen gesehen habe. Vermutlich ist ihr schon vorher etwas darüber zu Ohren gekommen.“ „Interessant, Herr Beck …“ „Das ist noch immer nicht alles“, unterbrach er mich. „Vor einigen Tagen hätte sich Sturm von ihr fünftausend Mark borgen wollen. Offenbar hat er sich beim Bau seines Bungalows übernommen.“ „Vor einigen Tagen, sagten Sie – könnte das am Freitag gewesen sein?“ „Freitag? Warten Sie mal … ja, doch! Sie sagte ‚vorgestern‘.“ „Sie sagten ferner, er wollte. Demnach hatten seine Bemühungen nicht den erhofften Erfolg?“ Herr Beck lächelte spöttisch. „Darüber schwieg sie sich zwar aus, aber ich wette meinen Trabant gegen eine leere Brauseflasche, daß er nur um eine Erfahrung reicher abziehen mußte.“ Er erhob sich mit einem Blick auf die Uhr. „Es scheint, ich war Ihnen von Nutzen?“ 103
„Wahrscheinlich“, gab ich vorsichtig zu, und Herr Beck verabschiedete sich recht herzlich. Während wir gemeinsam den Speisesaal verließen, seufzte er: „Meine Mutter wird hoffentlich nicht zusammenklappen, sie weiß bestimmt noch nichts vom … Wie sagten Sie doch? Unnatürlicher Tod, nicht? Sie ist gleich gestern früh nach Thüringen gereist, zu meiner Schwester.“ „Bleibt sie lange?“ „Nur drei Tage, morgen abend wollte sie zurück sein.“ Ich ließ mir für alle Fälle ihre Adresse geben und dachte, als ich Herrn Beck beschleunigten Schrittes davongehen sah: Ein brauchbarer Zeuge, wie es scheint. Oberleutnant Kemmberg hatte recht behalten: Viehverladung stimmte. Ich fand ihn in einem von der langgestreckten Viehhalle abgeteilten Aufenthaltsraum, wo er mitten zwischen vier frühstückenden Kollegen saß. Zu meinem Erstaunen fehlte auch der alte Recker nicht, er ging wie üblich seiner Arbeit nach. Kemmberg kam mir rasch entgegen und flüsterte: „Bin auch eben erst ’rein.“ Er kannte die Anwesenden durch die Bank. Ohne seine Stimme im auf- und abschwellenden Lärm dämpfen zu müssen, stellte er mir formlos die Anwesenden vor. Ich lernte einen Betriebsteilleiter kennen, der Scymanzik hieß und blaß und wie nicht dazugehörig am Stirnende eines wachstuchbeschlagenen Tisches saß. Weiter einen Kollegen Gustav Richter, der sich mit Kemmberg duzte und den Eindruck erweckte, nicht einmal durch einen plötzlichen Ausbruch aller eingestallten Tiere aus seiner satten Ruhe zu bringen zu sein. Von Richard Schütze war ich eigentlich enttäuscht, was aber wohl auf Konto meiner Eitelkeit ging. Man 104
stellt sich einen Menschen, der einen erfolgreich „behandelt“ hat, einigermaßen bedeutend vor, ein Muskelbündel in den besten Jahren etwa. Schütze war zwar von kräftiger Statur und sah nicht zimperlich aus, aber er wirkte müde und niedergedrückt. „Wir kennen uns ja“, erwiderte ich sein mürrisches Kopfnicken. „Wüßte nicht, woher.“ „Wird geklärt“, versicherte ich schwungvoll. Neben ihm, auf einem unbequemen Eckplatz, hockte Dietrich Recker, der mir auch reichlich verdrossen vorkam. Er saß krummbucklig, als drücke ihn die Last des plötzlichen Geldsegens zu Boden. Überhaupt war die ganze Stimmung merkwürdig gedrückt. Genaugenommen sahen bis auf Gustav Richter alle danach aus, als frören sie. Aber an der Temperatur konnte es wahrhaftig nicht liegen, ein transportabler Kachelofen neben der Tür – eine bemerkenswert teure Tür, die vermutlich auf einem komfortableren Bau irgendwo übriggeblieben war – verbreitete so viel Hitze, daß die eiserne Fülltür glühte. Nur für die Befragung einzelner Personen war der Raum mehr als ungeeignet, andererseits konnte man schlecht verlangen, daß man die Verladung stoppte oder auf eine spätere Stunde verlegte. Wie in einer Art Gedankenkurzschluß fragte ich drauflos: „Weil wir so schön beisammen sind – wo waren Sie alle am Sonntagabend zwischen sieben und neun Uhr?“ Die Reaktion war angemessen, ablehnende Gesten und Mimik überwogen. Am raschesten begriff Herr Scymanzik die Tragweite, zugleich überraschte er mit einer klangvollen Tenorstimme: „Was soll denn das, meine 105
Herren? Ist etwas im Zusammenhang mit unserem Betrieb nicht in Ordnung? Und einer Untersuchung wert?“ Kemmberg hüstelte. „Vielleicht sollte man vorher eine andere Frage klären.“ Er deutete auf mich und sagte weiter: „Der Genosse Leutnant Novy und ich stellen Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Tod der euch doch sicher bekannten Frau Bäumler an.“ „Ja, aber!“ Scymanziks Protest kam prompt, er war ganz entschieden energischer, als er aussah. „Was haben denn wir damit zu tun?“ „Höchstwahrscheinlich nichts“, versicherte Kemmberg und lächelte kumpelhaft dazu, ehe er gemütlich dröhnte: „Ihr seht mir eigentlich alle zu harmlos aus.“ „Danach dürfte es wohl kaum gehen.“ Ich nickte dem Bereichsleiter anerkennend zu. „Immerhin könnte einer von Ihnen eine Beobachtung gemacht haben, die ihm selbst vollkommen nebensächlich erscheint. Meinetwegen sogar lächerlich.“ „Bei diesem Sachverhalt“, verwahrte sich Scymanzik und ging mir allmählich doch auf die Nerven, „war Ihre erste Frage falsch formuliert und sogar kränkend – so fragt man doch wohl Tatverdächtige nach ihrem Alibi.“ Kemmberg bereinigte die entstehende Spannung auf seine Weise. Er angelte sich einen abseits stehenden Stuhl, der früher in einem Gartenrestaurant gute Dienste geleistet haben mochte, setzte sich forsch neben Richter und fragte: „Na, wie wär’s? Mach ’n Anfang.“ Der nickte, schluckte einen Bissen herunter, um erst einmal eine Gegenfrage anzubringen: „Was ist denn nun überhaupt los? Die Leute faseln von Mord, Rudi erzählt was von erwürgen und berauben – Scheißhausparolen oder was?“ „Das wollen wir ja grade klären, Gustav.“ 106
„Na, dann klärt man. Und was uns angeht, von wegen Sonntag abend, da gibt’s nicht viel zu reden. Ungefähr bis Viertel acht haben wir Vieh verladen und sind anschließend ’rüber in die Bahnhofskneipe. Und das ist auch schon alles.“ Ja, und daß sie dabei noch Glück gehabt hätten, der Gaststättenleiter sei manchmal überpünktlich und schließe mitunter weit vor zwanzig Uhr, obwohl an der Tür deutlich lesbar angeschlagen stehe, daß … „Dann haben Sie also kurz nach zwanzig Uhr die Gaststätte wieder verlassen?“ fragte ich sofort. Die Frage brachte mir ein mitleidiges Lächeln ein. Bevor er antwortete, blinzelte Herr Richter aber erst Kemmberg an, der mit einem uninteressierten Schulterzucken reagierte. „Wenn man erst mal drin sitzt“, offenbarte mir Richter, „und hat ’n Skatblatt in der Hand, kann’s Morgengrauen werden, weil Ottokarl, was der Kneiper ist, sich mit an den Tisch drängelt und munter mitdrischt. Na ja, und dann kloppen wir eben und ekeln uns lagenweise Schnaps und Bier ’runter, weil ja so’n Kneiper privat machen kann, was er will, von wegen der Polizeistunde. Hauptsache, die Tür ist abgeschlossen.“ „Skat spielt man zu dritt, höchstens zu viert“, sagte ich. „Wir waren auch nur zu dritt – Willy, Herbert und ich.“ „Herbert?“ Offenbar waren die Kollegen doch nicht vollzählig versammelt. Richter winkte ab. „Der Herbert, das ist Cloppenburg – hat vorher bestimmt nichts von Wert gesehen und danach schon gar nicht mehr, nicht mal die Straße.“ „Und ich“, mischte sich Scymanzik entschlossen ein, „war bereits halb acht zu Hause, können Sie meine Familie fragen.“ Er federte regelrecht hoch, klatschte in die Hände und empfahl: „Auf geht’s, Leute! Standgelder 107
sieht wohl bloß die Reichsbahn gern.“ Erst dann wendete er sich an mich. „Das war’s doch wohl?“ „Kaum“, sagte ich. „Eben“, bestätigte Richter, „Willy müssen Sie fragen.“ Er stieß seinem Kollegen Schütze derb in die Seite. „Du bist doch noch vor acht wieder verschwunden.“ „Na und? Ich kann doch wohl gehen, wann ich will. Oder?“ Er warf sein Frühstückspapier achtlos in die Ofenecke. „Und was soll ich eigentlich gesehen haben? Was denn, zum Teufel?“ „Vielleicht Frau Bäumler!“ Er musterte mich vorsichtig und schüttelte den Kopf. „Bei dem Hundewetter soll die Alte draußen gewesen sein? Und überhaupt, wenn Sie über die Näheres wissen wollen, dann ist Dietrich die richtige Adresse. Der kannte die Alte ja wohl am besten, und außerdem … mit in die Kneipe ist er auch nicht gekommen.“ „Nee“, sagte Richter breit, „unser ‚Millionär‘ ist bei seinen verladenen Rindviechern geblieben. Ist auch nötig, Rindviecher zu beaufsichtigen, nicht bloß die vierbeinigen.“ Der alte Recker nickte matt, fummelte seine Brille zurecht und korrigierte leise: „War drüben, stimmt schon, bei den Waggons. Bloß einmal bin ich zur Aufsicht gegangen, um zu fragen, wann mein Güterzug kommt oder ob er Verspätung hat.“ „Und wann kam er?“ „Bald“, meinte der Alte lakonisch. „Hab’ nicht auf die Uhr gesehen.“ „Na“, brummte Kemmberg gemütlich, „für einen glücklichen Gewinner machste einen reichlich trüben Eindruck.“ „Noch hab’ ich’s nicht.“ 108
„Dafür aber einen ausgewachsenen Kater“, warf Richter erklärend in die lahme Debatte, schmunzelte und gestand: „Mir krabbelt auch so’n Tierchen über den Buckel. Haben ja gestern feiern müssen, nicht?“ „Dagegen hilft nur Arbeit“, entdeckte Scymanzik stramm. „Es tut mir ja leid, aber wir halsen uns dicken Ärger auf, wenn wir nicht zur festgesetzten Zeit die Verladung abschließen, das muß auch die Polizei verstehen.“ „Tut sie“, sagte ich, war aber alles andere als zufrieden. „Aber vielleicht kann der Kollege Schütze noch für ein paar Minuten bleiben?“ „Einverstanden.“ Herr Scymanzik nickte eifrig, ein fehlender Mann schien ihm immer noch das kleinere Übel zu sein. Vielleicht auch galt sein Nicken dem Kollegen Richter, der den Raum nicht verließ, ohne Schütze vertrauensvoll auf die Schulter geklopft zu haben. „Ach“, wandte ich mich nochmals an Scymanzik, „wann ungefähr, glauben Sie, wird Ihre Arbeit beendet sein?“ „In zwei Stunden etwa.“ „Und wann ginge dann der Transport ab?“ Er hob die Schultern. „Können nochmals zwei Stunden vergehen.“ „Dann“, sagte ich zu Dietrich Recker, der noch einige Kohlen nachlegte, „würde ich mich anschließend gern mit Ihnen über Frau Bäumler unterhalten. Am besten drüben in ihrer Wohnung. Einverstanden?“ Recker nickte und schlurfte auf anscheinend zu großen Gummistiefeln davon. „Ich habe schon glücklichere Gewinner gesehen“, brummte Kemmberg ihm nach. Der Alte wirkte wahrhaftig nicht wie ein Mensch, der den Rest seines Lebens aller materieller Sorgen ledig ist, obwohl er bis dato ganz sicher jeden Groschen hatte dreimal umdrehen müssen. 109
„Geld allein macht eben doch nicht glücklich“, leierte ich eine Binsenweisheit vor mich hin und überfiel den wartenden Schütze mit der nun schon obligatorischen Frage: „Und wo waren Sie am Sonntagabend nach zwanzig Uhr?“ Die Wirkung entsprach keineswegs der Erfahrung; Schützes Selbstbewußtsein wuchs in dem Maße, wie sich seine Arbeitskollegen entfernten. „Ach? Sie wollen mich doch nicht etwa mit dem Tod der alten Bäumlern in Verbindung bringen?“ „Noch nicht, Herr Schütze. Ganz sicher aber mit einer anderen Angelegenheit.“ „Da bin ich aber neugierig.“ „Ich wäre an Ihrer Stelle lieber vernünftig und vor allem aufrichtig. Wo also hielten Sie sich am Sonntagabend auf?“ Schütze, obwohl sehr wachsam, tat gleichmütig: „Wo schon – zu Hause, in Zörnbeck, keine acht Kilometer von hier.“ „Aber erst nach zwanzig Uhr!“ „Na und? Vor halb neun war ich auch bestimmt nicht zu Hause.“ „Wie, für acht Kilometer benötigen Sie eine halbe Stunde mit dem Wagen?“ Schütze schnob wie amüsiert durch die Nase und wandte sich an Kemmberg, der breitbeinig vor der Tür stand: „Seit die Reichsbahn eingeführt hat, zehn Minuten vor Nahen eines Zuges die Schranken zu schließen, ist ’ne halbe Stunde fast ’n Rekord. Schließlich muß ich drei Übergänge passieren. Sie kennen das ja!“ Kemmberg nickte, als habe er jeden Abend den gleichen Ärger, antwortete aber warnend: „Es läßt sich spielend überprüfen, ob zur fraglichen Zeit Züge die Strecke passierten.“ 110
„Sicher“, sagte Schütze achselzuckend. „Und Zeugen dafür, daß Sie halb neun ankamen, haben Sie leider auch nicht – oder irre ich mich?“ Schütze musterte mich und grinste tatsächlich. „Drei Schweine, aber die können ja nicht reden, nicht mal davon, daß ich sie gefüttert habe. Nach neun allerdings kann ich mit einem ganzen Dutzend Zeugen aufwarten, soviel mindestens saßen in der Kneipe.“ „Wohnen Sie denn ganz allein? Keine Frau, kein Kind?“ „Beides, Herr Leutnant. Die Frau ist bloß zur Kur, und der Junge macht was Ähnliches.“ „Was heißt das nun wieder?“ „Ist bei der Fahne“, sagte Schütze. „Mhm“, gab ich zurück, „könnte ja alles stimmen, warum nicht? Aber wie war das gestern abend? Um den gleichen Zeitraum etwa?“ „Ähnlich wie vorgestern, ist nun mal wenig Abwechslung aufm Dorf.“ „Hören Sie mal gut zu, Herr Schütze! Daß Sie mich auf den Arm nehmen wollen, gut. Besser gesagt, nicht gut. Nur müssen Sie sich nicht wundern, wenn ich mich nach den Gründen für Ihr Verhalten frage … Übrigens, die Zulassungsnummer Ihres Wagens haben Sie doch sicher im Kopf?“ Er nannte sie mir ohne Zögern. „Was hätten Sie denn für eine Erklärung anzubieten, daß ein Fiat 125 p mit genau dieser Zulassungsnummer gestern abend runde siebzig Kilometer entfernt am Rande eines künstlichen Sees stand?“ Schütze verfügte ohne Zweifel über eine Schlagfertigkeit, die von langer „Schulung“ zeugte. „Wahrscheinlich haben Sie sich verguckt, Nummer oder Zahlen kann man schnell mal verwechseln. Oder haben Sie auch mich gesehen? Oder jemand anders?“ 111
Kemmberg grummelte etwas von Unverfrorenheit, die sich über Jahrzehnte halte, und herrschte ihn an: „Sie sagten eben, der gestrige Abend glich dem vorgestrigen, was auch im Zeitpunkt Ihres Aufbruchs aus der üblichen Wartesaalrunde stimmen wird. An einige Namen von Bürgern, die Ihre Aussage bestätigen würden, können Sie sich doch unschwer erinnern?“ „Montags Ruhetag“, gab Schütze zur Antwort. Ich beendete das Theater. „Aber Sie haben doch sicher keine Einwände, wenn wir Ihre Blutgruppe feststellen lassen.“ „Doch“, antwortete er tatsächlich, zog, während ich mit einiger Mühe die Ruhe bewahrte, seinen Personalausweis aus einer vollgestopften Brieftasche und reichte ihn mir. „Ganz hinten steht sie drin, bei uns allen übrigens, wegen der Ersten Hilfe, falls uns mal ein wild gewordener Ochse auf die Hörner nimmt.“ „A Rh-positiv“, las ich mit Betonung und reichte den Ausweis zurück mit der Bemerkung, daß wir uns ganz gewiß bald wiedersähen. Er nickte erstaunlich zustimmend und verließ mit polternden Gummistiefeln den für meine Begriffe überheizten Raum. „Machen Sie, was Sie wollen“, prophezeite Kemmberg hinter ihm her, „die beiden, Sturm und er, hocken immer noch zusammen, und beide müssen verdammt gewichtige Gründe für ihre Schwindeleien haben.“ „Höchstwahrscheinlich“, bestätigte ich abwesend und notierte mir einige Fragen, wovon die wesentlichste war, eine Gegenüberstellung zwischen Herrn Schütze und Sturm vorzunehmen, die mir noch erfolgversprechender schien als mit dessen Frau Marion. „Eigentlich“, sagte ich dann, „sollte eine Zulassungsnummer als Beweismit112
tel gelten. Nur beweist sie eben nicht, wer den fraglichen Wagen gerade benutzt hat, wenn …“ „… man bei ebendieser Ermittlung eins über den Schädel gezogen bekommt“, ergänzte Kemmberg erbarmungslos. Ich mußte mir gewaltig auf die Zunge beißen; außerdem hatte ich noch eine Unterlassungssünde zu gestehen. „Man hätte, um ganz sicherzugehen, die Reifenabdrücke des Fiat konservieren sollen, aber wer hat schon an eine solche Entwicklung denken können?“ „Sie“, sagte Kemmberg noch erbarmungsloser, „denn Sie sind ja hinter Sturm wie besessen her.“ „Quatsch“, wehrte ich ab, aber es klang wohl nicht sehr überzeugend. Als wir wenige Minuten später vor Frau Bäumlers Wohnungstür ankamen, sah ich Kemmberg verwundert an. Von drinnen dröhnten unüberhörbar wuchtige Hammerschläge. Der Oberleutnant drosch auf die Klinke, die von ausgezeichneter Qualität sein mußte. „Abgeschlossen der Laden!“ Er trommelte mit beiden Fäusten gegen die Türfüllungen. „Da hört doch wohl jede Gemütlichkeit auf! Ich habe Wachen eingeteilt, und hier klopft jemand vielleicht einen verborgenen Safe aus der …“ Unvermittelt war nur ein schwacher Ausdruck für die Plötzlichkeit, mit der mitten in seinem Wutausbruch die Tür aufgerissen wurde. Finster, aber zu allem entschlossen, stand ein Hauptwachtmeister vor uns, einen kurzstieligen Fäustel in der Hand. „Was, zum Teufel, geht hier vor?“ donnerte ihn Kemmberg an. „Ich … ich“, stotterte der Genosse Hauptwachtmeister zunächst, faßte sich aber rasch: „Genosse Oberleutnant, 113
ich melde, daß ich das fehlende Badezimmerfenster einsetze.“ Hauptsächlich, so setzte er gemütlicher hinzu, weil es auch in bewachten Wohnungen scheußlich ziehe, wenn kalte Luft kubikmeterweise eindringen könne. Kemmberg brubbelte besänftigt: „Es gibt doch tatsächlich noch Leute, die selbständig denken und handeln.“ Aber selbst dieses sehr mäßige Lob erschien ihm zuviel. „Bloß an die alte Regel, daß an einem Tatort nichts verändert werden darf, haben Sie wohl nicht gedacht?“ Der Genosse winkte mit seinem Werkzeug ab. „Falls da jemals Spuren gewesen sein sollten, so hat die längst der Regen abgewaschen.“ Nach etwa einer Stunde, die wir mit der Suche nach sämtlichen Lederhandschuhen innerhalb der Wohnung und der Stallungen verbrachten, erschien bereits Dietrich Recker. Er stand vor der Tür wie ein um Almosen Bittender vergangener Zeiten, in einem verschmutzten Regenmantel und seinen zu großen Gummistiefeln. Über dem zerfurchten Gesicht saß eine Schirmmütze, die ehemals zu einer Feuerwehruniform gehört haben mochte. Ich erläuterte ihm, weswegen wir ihn gern hier in der Wohnung sprechen wollten. „Sehen Sie sich bitte genau in allen Räumen um. Sie kennen die Wohnung, ist irgend etwas anders als sonst? Gibt es Gegenstände, die nicht hineingehören? Oder fehlen? Lassen Sie sich Zeit.“ „Hab’ nicht viel. Muß doch den Transport …“ „Kümmern Sie sich nicht darum, Herr Recker, den kann auch jemand anders begleiten. Notfalls einer unserer Genossen.“ Der Alte schlurfte durch die einzelnen Zimmer und vergaß nie, einen vorhandenen Abtreter zu benutzen. Erst 114
im Wohnzimmer fiel ihm etwas auf. „Die Geldkassette“, sagte er und deutete auf das Schrankungetüm, „sie stand immer neben den Büchern in der untersten Reihe.“ „Wie? Einfach so? Nicht weggeschlossen? Oder versteckt?“ „Sie war so“, antwortete er schlicht. Die nächste Frage tat mir fast leid. „Und … wußten Sie, was diese Kassette enthielt? Papiere etwa oder Geld?“ „Viel Geld“, sagte er ehrlich. Dann fügte er hinzu: „So war sie nämlich, sie klagte und protzte.“ Und sofort fiel ihm sein wohl brennendstes Problem ein. „Ja, wegen dem Geld, also die Sache mit Rudi …“ „Machen Sie sich um Himmels willen deshalb den Kopf nicht heiß.“ Ich winkte ab, um ihm zu demonstrieren, wie unerheblich Rudis Eigenmächtigkeit im Zusammenhang mit Frau Bäumlers Tod war. Aber er war wie besessen; was wir ihn auch fragten, er kam unweigerlich mit seiner rauhen Stimme darauf zurück. Im Bad verweilte er etwas länger, aber ich war sicher, daß er hauptsächlich die Arbeit seines Enkels begutachtete. Als ich auf die Kammer deutete, fragte er unbehaglich: „Hier auch?“ „Selbstverständlich. Hier sogar besonders …“ Ich stieß die Tür auf und gab den Blick auf den leeren Sarg frei. „Wir hoffen von Ihnen zu erfahren, ob der jetzige Zustand der normale war.“ Recker stand Sekunden wie in Andacht, sah sich aber kaum um, sondern blickte immer nur in den Sarg, dessen eingedrückte Innenausstattung unschwer erkennen ließ, daß ein Körper darin gelegen hatte. Er, der die Tote jahrzehntelang gekannt hatte, mochte sich bei einiger Phantasie und nach den Berichten Rudis am besten vorstellen, wie sie so dagelegen hatte. 115
„Nun“, fragte ich drängend, „alles wie sonst?“ Er schüttelte den Kopf und nahm, als stände er nun tatsächlich vor einer Verstorbenen, langsam die Mütze ab. „Der Deckel“, sagte er, „war immer drauf.“ „Sicher, sicher, Herr Recker. Ich meinte etwas anderes, sehen Sie sich den Sarg ganz genau an!“ Er blickte hin oder tat so, schüttelte aber nur stumm den Kopf. „Aber, Mann! Der ist doch wie frisch poliert, kein Staubkörnchen.“ „So war er immer.“ „Was? Wollen Sie damit sagen, daß Frau Bäumler auch den Sarg und nicht nur die Möbel täglich entstaubt hat?“ „Sie war nun mal so“, wiederholte er. Es war im Grunde absolut nichts von Wert zu erfahren, allmählich packte mich Unmut. „Nun hören Sie mal, Herr Recker, entweder hat Sie die Geschichte doch sehr mitgenommen, oder … fühlen Sie sich nicht wohl?“ „Ja, wirklich“, gestand er, „ich fühle mich richtig elend.“ Kemmberg brummte verständnisvoll, daß eine ausgedehnte Feier nun mal die bekannten Schmerzen im Gefolge habe. „Aber zum Glück vergehen die ja schnell.“ Der Alte nickte. „Wissen Sie, ich trinke sonst eigentlich nie.“ „Der Anlaß heiligt die Mittel“, kommentierte Kemmberg frei. „Ich muß wieder ’rüber, aber … die Sache da mit Rudi …“ Kemmberg wurde beinahe väterlich: „Nun laß mal endlich gut sein, Opa! Der Bengel hat sich den Umständen entsprechend ganz gut gehalten.“ Es war nichts zu machen. Was wir ihn auch abwechselnd fragten über Besucher, Gäste, außergewöhnliche 116
Begebenheiten, wir bekamen nur ein dürftiges Resultat. Gewiß, hier und da seien Besucher gewesen, Launen hatte sie gehabt, viel Wünsche, ja. „Aber was ist Ihr Standpunkt? Was war sie nach Ihrer Meinung – und die müssen Sie sich in all den Jahren einfach gebildet haben – für ein Mensch?“ Die Antwort klang naiv. „Kein besonders guter.“ „Aber dann war doch Ihr Verhalten ihr gegenüber ein glatter Widerspruch, um nicht zu sagen Widersinn! Sie hielten nichts von ihr und bedienten sie doch von hinten und von vorn.“ „Ich hab’s ihm doch versprochen.“ „Wem ihm?“ „Na, dem Meister, dem alten Bäumler.“ „Aber warum?“ „Weil …“ Er suchte angestrengt nach Worten, setzte sich, wie um die Frist zu verlängern, die Mütze wieder auf und meinte: „Er war eben eigentlich immer gut zu mir, wissen Sie? Nicht wie’n Freund, nein, das nicht, aber gerecht. Und solange er lebte, brauchte ich nicht einmal Miete zu zahlen. Und in den schlechten Zeiten, im Kriege und besonders danach, es fiel eben immer ein bißchen für uns ab. Freilich“, und dabei lächelte er spärlich, „das war auch nicht reine Nächstenliebe; schließlich hatten wir ’n Haufen Kinder, die schon mal mit anpackten … Ich muß nun aber wirklich ’rüber.“ Wir sahen ihm nach, wie er quer über den von Regenpfützen blinkenden Hof schlurfte, sahen ihn um die Ecke der ehemaligen Werkstatt verschwinden und weiter hinten zwischen ungehindert wucherndem Unkraut wieder auftauchen, ehe er durch das halboffene, verklemmte Türchen endgültig in seinem Häuschen unseren Blicken entkam. Irgendwie erinnerte er mich in Gang und Haltung, 117
wohl hervorgerufen durch die Kleidung, an einen schiffbrüchigen Fischer, der eben noch mit Mühe den rettenden Hafen erreicht. „Der hätte auch besser nicht gewonnen“, stellte Kemmberg weniger gefühlvoll, aber eigentlich treffend fest. „Zu spät gewonnen“, korrigierte ich so heftig, daß Kemmberg mich erstaunt musterte. Er hob seine mächtigen Schultern und blickte nachdenklich durchs Fenster. Ich begann in den Schubkästen des altmodischen Küchenschrankes zu kramen. „Kein Stäubchen an Sarg und Möbel, aber dieser Küchenschrank ist ein regelrechter Müllabladeplatz!“ Da türmten sich henkellose Tassen, Bindfadenknäule, Korkenzieher, leere Tüten, Medizinflaschen, Schraubenzieher, uralte Lottoscheine, gebündelt, Kerzen, Gewürzpackungen und so weiter. In dieser Minute waren wir der Lösung ganz nahe gewesen, aber gerade in dieser Minute schrillte die Wohnungsklingel. Kemmberg öffnete und stand Herrn Sturm gegenüber. „Darf man eintreten?“ „Bitte“, hörte ich Kemmberg sagen. „Was treibt dich hierher?“ „Ein bestimmtes Papier …“ Sturm unterbrach sich, blickte mir wachsam entgegen, als ich aus der Küche kam. „Sie?“ fragte er leidlich beherrscht. Er streifte verwirrt seine Lederhandschuhe ab und legte sie auf die Flurgarderobe. „Um was für ein Papier handelt es sich?“ Ich ließ ihm keine Zeit. „Eine Versicherungssache. Sie müßte im Bücherschrank zu finden sein. Darf ich mich einmal umsehen?“ 118
„Unter unseren Augen, ja“, antwortete ich und begleitete Sturm ins Wohnzimmer, während Kemmberg in der offenen Tür stehenblieb; er traute seinem einstigen Schulfreund nicht über den Weg. Sturm blätterte durchaus zielstrebig in einem Schnellhefter und entnahm ihm eine Versicherungspolice. Er blickte kaum auf, als ich mich nach dem Namen seines gestrigen Besuchers erkundigte. „War es Schütze?“ „Möglich, warum nicht?“ „Nun halt aber mal die Luft an“, dröhnte Kemmberg los. „Das war so sicher Schütze, wie ich Kemmberg heiße. Und weil er es war, liegen irgendwo faule Eier in der Kiste!“ „Dann suche sie“, gab Sturm so verdammt sicher zurück, daß ich begann unsicher zu werden. Aber ich wurde gleich darauf wieder voll entschädigt, als er die Versicherungspolice mit einem herablassenden „Sie gestatten doch?“ zu falten begann, um sie einzustecken. „Ich gestatte nicht, Herr Sturm. Vorerst bleibt hier alles an Ort und Stelle, und Sie wissen sicher längst, warum.“ Er preßte wie nach einem Schock die Lippen aufeinander, doch er verstand sich ausgezeichnet zu beherrschen. Achselzuckend gab er mir den Bogen zurück – es handelte sich um eine bemerkenswert hohe Lebensversicherung – und wandte sich an Kemmberg: „Du kannst den Herrn Leutnant nicht zufällig umstimmen?“ Kemmberg deutete nur an sich vorbei zur Wohnungstür. „Das war’s dann wohl.“ Sturm mußte tatsächlich etwas durcheinander sein, er vergaß nach seinen Handschuhen zu greifen, was sowieso erfolglos gewesen wäre. Ich hatte sie längst eingesteckt. 119
Er ging grußlos, das schwache Kopfnicken konnte ebensogut seinen eigenen Gedanken oder Nöten gelten. „Würden Sie ihm bitte nachfahren?“ fragte ich Kemmberg, der grimmig lächelte. „Vielleicht trifft er sich noch mit Schütze?“ „Wahrscheinlich könnte man ihm auch voraus fahren.“ „Möglich. Es konnte auch sein, daß er sein ‚zweites Arbeitsverhältnis‘ aufsuchte.“ Schwache Hammerschläge im Bad, mit denen sich der Genosse Hauptwachtmeister wieder in Erinnerung brachte, lenkten meine Aufmerksamkeit rasch auf die drängenden Probleme; ich studierte die Versicherungspolice und nahm mein Notizbuch. Frage: Motiv gleich Versicherungssumme? Wenn ja, warum hatte Sturm die Police nicht am Sonntagabend mitgenommen? Frage: Wußte St. von seiner sogenannten Enterbung? Etwa durch den letzten Brief Frau Bäumlers? Oder hatte er schon früher Kenntnis davon? Jede Frage gebar eine neue. War nämlich Motiv gleich Versicherungssumme, erklärte sich der heutige Besuch damit, daß er vom Inhalt des Briefes vielleicht doch nichts wußte. Aber warum wandte er sich in seinen ohne Zweifel bestehenden Geldschwierigkeiten nicht an seine Frau? Und was verband ihn mit Schütze, warum stritten sie ihr Treffen ab? Fragen, nichts als Fragen.
120
ACHTUNDVIERZIG STUNDEN ANGST verbringt Marion Sturm
Sie hätten es ihm nicht sagen dürfen. Noch nicht. Er kam mitten in der Nacht wie oft, allzuoft in den letzten Monaten, mit Ausreden und Begründungen, die ebenso stereotyp wie verlogen waren. Auch jemand, der ehrgeizig in immer höhere Positionen strebt wie Siegfried, muß nicht dauernd halbe Nächte arbeiten. Ich war aufgewacht, einfach aufgeschreckt, wie in böser Vorahnung. Er saß auf meiner Bettkante und sah mich mit einem Gesichtsausdruck an … Nichts mehr von jener Fürsorge, von Mitgefühl oder gar Liebe, mit der er mich umgeben hatte, als wir von Mutters Totenbett heimkehrten, ohne sie gesehen zu haben. Ich hatte mich geschämt, als er im Bett zärtlich wurde, und doch die unsinnige Hoffnung genährt, es könnte werden wie früher. Und auch noch heute morgen, nach dem so selten gewordenen gemeinsamen Frühstück, hatte er sich verabschiedet wie ein Mann, der seiner Frau zumindest die Achtung nicht verweigert. Und nun war Haß in seinem Blick. Der Wecker war kurz nach zwei. „Es ist spät!“ „Vielleicht zu spät!“ In seiner Stimme war keine Hoffnungslosigkeit, sondern nur Drohung. „Mein Gott – was ist denn passiert?“ „Bis jetzt eigentlich noch nichts, aber …“ „Wenn Mutter …“ 121
„Sterben müssen wir alle“, unterbrach er mich rücksichtslos, und das war nicht nur eine seiner trivialen Redensarten, das klang auch nicht nach Trost. Es war Zufriedenheit, daß zumindest er noch lange zu leben hoffte. „Wie kannst du nur so gemein reden, jetzt, wo Mutter gerade …“ „Ach, die Unschuld vom Lande! Von meinem Standpunkt aus jedenfalls hat es sie so erwischt, wie sie es verdient.“ „Siegfried! Daß du dich nicht schämst … Ein Unfall …“ Wieder schnitt er mir das Wort ab. „Unfall? Tu doch bloß nicht so. Das war ein Mord, mein schönes Kind.“ Und er wiederholte, um mich zu quälen: „Sie ist ermordet worden, deine liebe Frau Mama. Oder sollte dir nicht schon vorgestern aufgefallen sein, wie merkwürdig dich manche Bekannten gemustert haben? Beileidsbezeigungen mit anschließendem Getuschel.“ Natürlich waren mir auch gewisse Dinge aufgefallen, allein das Polizeiaufgebot und die angekündigte Obduktion. Aber niemand hatte etwas Direktes gesagt, und ich hatte seit Sonntag die Wohnung nicht mehr verlassen. Und wenn ich mir auch nicht vorzustellen vermochte, daß irgend jemand ein solch abscheuliches Verbrechen an Mutter begangen hatte, Siegfrieds brutale Offenheit brachte mir die Gewißheit, daß es so gewesen sein mußte. Aber es war merkwürdig: Diese plötzliche Gewißheit machte mich nicht unglücklicher. Und noch etwas geschah – ich begann mir vorzustellen, daß nicht irgend jemand, sondern Siegfried zum Verbrecher geworden sein könnte. Wie in Abwehr richtete ich mich etwas auf und mußte mich zwingen, ihn nicht prüfend anzugucken. 122
Auch er schwieg und starrte grübelnd vor sich hin. Hin und wieder sah er sich im Zimmer um, als ahne oder befürchte er, unser gemeinsames Schlafzimmer nie mehr wiederzusehen, in dem noch jene Möbel standen, die aus der beinahe legendären Zeit stammten, die Siegfried unbekümmert und frohlockend die ‚Zeit des fröhlichen Schiebens‘ nannte. Vater noch hatte die Möbel lange vor unserer Hochzeit besorgt, augenzwinkernd und generös; für einen Handwerksmeister mit Materialreserven gab es damals in dieser Hinsicht keinerlei Schwierigkeiten. „Woran denkst du?“ fragte Siegfried unvermittelt. „An früher“, sagte ich gehorsam. Sein Lächeln war kalt. „Deine Mutter hat ein Testament hinterlassen“, sagte er ohne Übergang. „Das ist doch wohl ganz natürlich, sie war immer eine sehr umsichtige Frau.“ „Eine alte, geizige Ziege war sie!“ Ich muß so entsetzt ausgesehen haben, daß er nervös aufsprang. Er nestelte eine Zigarette aus einer zerknautschten Packung und übertrat rücksichtslos eine weitere Schranke; nie war im Schlafzimmer geraucht worden. „Entschuldige“, murmelte er mechanisch, „aber … Herrgott, ich bin in Schwierigkeiten. Deine Mutter hat ausdrücklich bestimmt, daß mir persönlich auch nicht ein Pfennig ihrer Hinterlassenschaft zugute kommen darf.“ Damit hatte Mutter in eigentlich unverständlicher Schadenfreude immer gedroht, aber für ganz ernst hatte ich es doch nie genommen. Dennoch glaubte ich Siegfried aufs Wort, jedoch versuchte ich ihn zu beruhigen; wir Frauen sind oft inkonsequent. „Woher willst du das eigentlich wissen? Es war doch noch gar keine Testamentseröffnung.“ 123
„Woher, woher!“ wütete er. ‚Die‘ – damit konnte er nur die Polizei meinen – „wissen und können alles, wenn sie nur wollen. Und sie wollen, mein Kind, verlaß dich drauf!“ Er sah auf mich herab, strich sich über die Augen und bat plötzlich: „Ich brauche aber Geld, Marion. Nur du kannst mir noch helfen, und … es muß schnell sein!“ „Wieso brauchst du denn jetzt mitten in der Nacht viel Geld?“ „Wieso, Herrgott! Ich brauche es eben.“ Übernervös lief er einige Schritte vor den Betten auf und ab, blieb ruckartig stehen und sagte mit erzwungener Höflichkeit: „Natürlich muß es nicht in dieser Stunde sein, natürlich nicht. Aber im Laufe des Tages … und frage doch nicht so naiv! Was glaubst du, was ich für Ausgaben hatte? Unser Bungalow zum Beispiel …“ Diesmal unterbrach ich ihn. „Dein Bungalow meinst du doch wohl.“ Er stutzte nicht einmal. „Du lieber Himmel, das sind doch nun wirklich Haarspaltereien. Schön, du warst dagegen, aber trotzdem … dein Bungalow, mein Bungalow, also wirklich!“ Und da sagte ich es. „Hierher kannst du sie ja unmöglich mitbringen.“ Es kam ihm so unverhofft, daß er seine Betroffenheit nicht mehr verbergen konnte. Wäre mir nicht so jämmerlich zumute gewesen, ich hätte lachen mögen. Ich wußte oder fühlte vielleicht auch nur, daß er eigentlich nur darüber verärgert war, daß er diese Liebschaft nicht geschickter vor mir hatte verbergen können. Doch wie immer bekam er sich rasch wieder unter Kontrolle; früher hatte ich ihn wegen dieser Fähigkeit bewundert. „Was soll das? Und seit wann gibst du etwas auf das Gerede der Leute?“ 124
„Es ist kein bloßes Gerede.“ Seit Monaten wußte ich von seinem Verhältnis mit der Denkewicz, dafür hatten „gute“ Freunde schon gesorgt. Er winkte überheblich ab. Nie zuvor hatte ich ihn gehaßt wie in diesem Augenblick. Warum gab er nicht zu, was alle wußten? Ich wollte heftig werden, aber ich starrte wie hypnotisiert auf seine Hände. Ich wußte, wie brutal die zupacken, kannte auch seine Art, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, seinen Weg nach oben. „Wo …“, quälte ich mir ab, „wo warst du Sonntag abend?“ Er war nie begriffsstutzig gewesen, nur klang seine Reaktion in diesem Augenblick doppelt gemein. „Baden“, höhnte er. Aber er bereute seine Niederträchtigkeit sofort; auf solche Art konnte er seinem Ziel keinen Schritt näher kommen, und dieses Ziel hieß Geld. Nie eigentlich während unserer Ehe hatte ich einen echten Überblick über seine Einnahmen und Ausgaben gehabt, und das ließ sich nicht nur mit seinem widersprüchlich anmutenden Gebaren in Geschäftsdingen erklären. Er konnte ebenso mit dem Pfennig geizen wie großspurig Hunderter weggeben, wie er eben seinen Vorteil dabei einschätzte. Natürlich kannte ich die Höhe seines Gehaltes, aber damit allein konnte er seinen Lebensstil nicht rechtfertigen, es hätte einfach nicht gereicht. Bisher hatte ich immer vermieden, darüber bis zu Ende nachzudenken. Nur mit halber Aufmerksamkeit hörte ich mir seine Aufzählung unaufschiebbarer Arbeiten an, die er gestern angeblich hätte erledigen müssen. Und doch, trotz aller gewonnener Distanz, tat es mir weh, als er abschließend auftrumpfte: „Ja, auch einen gewissen Abstecher habe ich mir erlaubt. Genügt das nun?“ 125
Ich erwiderte darauf nichts, und er war gekränkt. „Natürlich nicht, wie ich dich kenne, aber …“, er sah mich dabei sonderbar wissend, nein, eher triumphierend an, „falls du eben andeuten wolltest, ich hätte die Frau Mama … Irrtum, mein Schatz. Wir waren ja mindestens sechs Wochen nicht mehr bei ihr, nicht wahr? Sonst hätten wir ja den Herrn Hauptmann belogen.“ Und dann ohne Übergang, im Befehlston: „Also regele das bitte, spätestens übermorgen früh brauche ich das Geld!“ „Aber wie soll ich denn …?“ „Es wird dir schon etwas einfallen“, sagte er und ging zur Tür. „Wir, und ich betone das ausdrücklich, schlittern sonst mit einiger Sicherheit in eine mehr als peinliche Situation. Du sowohl als ich.“ „Aber …“ „Man sollte, wenn man in der Abteilung Materialverwaltung eines Betriebes sitzt, nichts unbesehen unterschreiben“, belehrte er mich. „Und darum bin ich ziemlich sicher, daß ich das Geld von dir bekomme. So oder so.“ „Ich … ich hasse dich!“ Er zuckte die Schultern, öffnete die Tür, und seine letzten Worte ekelten mich an. „Deine Sache. Ich bin da allerdings toleranter und würde dir auch dringend empfehlen, für die nächste Zeit eine, sagen wir, ergebene Ehefrau zu spielen.“ Beklommen lauschte ich den in kurzen Abständen klappenden Türen und wußte, daß er das Haus mitten in der Nacht wieder verlassen hatte. Sicher wartete sie schon im Bungalow. Mir war, als sei ich verprügelt worden. Obwohl ich wegen Mutters Tod Urlaub hatte, fuhr ich, von Unruhe getrieben, am späten Vormittag zum Betrieb. 126
Erstmals hatte ich das Gefühl, hier nicht wie sonst ein bißchen zu Hause zu sein. Ich ging über den langen Flur der Steinbaracke wie eine Fremde, eine Bittstellerin etwa, die sich einer Ablehnung schon gewiß ist. Unter dem Vorwand, etwas Persönliches aus meinem Schreibtisch zu benötigen, ging ich zu meinem Arbeitsplatz. In Wahrheit befürchtete ich ganz etwas anderes. Aber ich bemerkte nichts Außergewöhnliches. Meine beiden Kolleginnen waren wie immer, nur fürsorglicher, mitfühlender in Worten und Blicken – oder waren sie schon mitleidig? Auch Siegfried traf ich nicht, ich fragte auch niemanden nach ihm. Er würde, wie eigentlich fast immer, unterwegs auf irgendeiner Baustelle sein. Trotzdem wich die Unruhe, dieses gräßliche Gefühl, es käme Unheil auf mich zu, nicht. Diese unbestimmte Furcht verstärkte sich noch, je näher ich unserer Wohnung kam. Es half auch nichts, daß ich alles auf eine nervliche Überbelastung nach den letzten traurigen Ereignissen schob. Ja, ich war so verrückt oder voller Angst, nochmals umzukehren und zum Staatlichen Notariat zu fahren, um mich vorsichtig nach den Formalitäten der Testamentsregelungen zu erkundigen. Bei aller korrekten Höflichkeit einer jungen Notarin wurde ich dabei das erbärmliche Gefühl nicht los, sie sähe in mir jemanden, der nur auf den Tod seiner Mutter gewartet habe, um möglichst rasch in den Genuß der Hinterlassenschaft zu kommen. Als ich endlich gegen vierzehn Uhr müde und irgendwie mit der Hoffnung auf ein Wunder die Wohnung betrat, vermißte ich den Jungen, seit langem erstmals bewußt. Er war, wie die meisten seines Alters, von einer für meine Begriffe schrecklichen Selbständigkeit, die 127
mich ängstigte. Er hatte seine Freunde, Neigungen, Hobbys und sicher auch Verpflichtungen; ich hatte mich sonst auch kaum dafür interessiert. Nur gerade jetzt hätte ich gern jemanden um mich gehabt. Siegfried mußte während meiner Abwesenheit zu Hause gewesen sein, auf seinem Schreibtisch herrschte ein ganz und gar unübliches Durcheinander. Sonst pflegte selbst ein bißchen Unordnung ihn krankhaft aufzuregen. Sogar ein Schraubenzieher lag dabei, was nur unterstrich, daß er selber auch ziemlich durcheinander gewesen sein mußte; Werkzeuge mußten unbedingt auf ihren Platz im Werkzeugkasten zurück. Etwa eine Stunde verbrachte ich mit mechanisch verrichteten Hausarbeiten, brühte mir Kaffee auf, setzte mich schließlich damit ins Wohnzimmer und dachte mich immer fester in einen seit langem reifenden Entschluß hinein – Scheidung. Obwohl meine Gedanken immer wieder vom Bild meiner toten Mutter unterbrochen wurden – gräßliche Vorstellungen von der Obduktion drängten sich dazwischen –, überkam mich endlich eine spürbare Entkrampfung. Ich begann mir auszumalen, wie ich nach einer Trennung von Siegfried leben könnte. Was mich dann aber doch wieder in die alte Unruhe zurückdrängte, mußte mit dem Schreibtisch zusammenhängen. Immer häufiger zwang es mich, wie unter fremdem Willen, die Unordnung zu betrachten, besonders den ungewohnten Schraubenzieher. Wozu hatte er ihn überhaupt gebraucht? Fast wollte ich ihn wegräumen, einfach aus Gewohnheit, vielleicht auch Gehorsamkeit. Aber dann erinnerte ich mich immer wieder seines abscheulichen Benehmens während der Nacht, und ich ließ die Unordnung sein. 128
Auf einmal hätte ich hellauf lachen mögen. Ich hörte ihn sagen, er werde das Geld, diese nicht gerade geringe Summe, auf jeden Fall erhalten. Mit Sicherheit, so oder so. Und was wurde aus dieser großsprecherischen Sicherheit, wenn ich umgehend auf Scheidung drang? Ich war Alleinerbin, nicht einmal den Jungen hatte Mutter eingeschlossen, sicher einzig deswegen, weil Siegfried über dessen Erbteil hätte verfügen können. Und mehr noch, die übliche Teilung der innerhalb einer Ehe geschaffenen Werte machte ihn noch ärmer als jetzt. Doch diese Genugtuung wich rasch einer Bestürzung. So oder so? Mit Sicherheit? Mit Sicherheit kam er ans Ziel, wenn er mich … wenn ich … Der Gedanke bohrte und bohrte. Es war eigentlich unfaßbar, aber es war logisch. Verstört lief ich sinnlos hin und her, rang die Hände, es war wie in einer Filmszene; aber ich konnte den Gedanken nicht mehr abschütteln. Die Dämmerung schließlich versetzte mich in Panik. Ich hatte die Hand schon am Lichtschalter und zuckte zurück, als wäre er glühend. So oder so! Plötzlich drangen mir Worte von Siegfried ins Bewußtsein, deren Bedeutung mir als Tochter eines Elektromeisters zwar nicht ganz fremd, aber doch im Grunde unverständlich gewesen war. Was mir damals prahlerisch, lediglich als Mittel zum Zweck geklungen hatte, nahm heute furchteinflößende Gewißheit an. Ich konnte mich nicht mehr genau an alles Gesagte erinnern, wußte aber noch sehr gut, daß die Erdverbindung eines Körpers eine entscheidende Rolle spielte, wenn Wasser mit Strom in Verbindung geriet, und daß es entscheidend war, ob man auf Dielen oder Beton stand. Jedenfalls, so hatte er sich damals ausgedrückt, könne es 129
bei bestimmten Voraussetzungen hübsche – er hatte tatsächlich hübsche gesagt – Unfälle geben. Mit tödlichem Ausgang. Ich kannte genügend Protokolle aus dem Bereich Arbeitsschutz über leichtfertigen Umgang mit Strom und den manchmal tödlichen Folgen. Meine aufgewühlte Phantasie redete mir ein, er habe vielleicht damals schon eine bestimmte Drohung eingebaut, damals, als er mich nur beeindrucken wollte. Inzwischen war er längst Ingenieur, und sein Wissen war ja nicht nur im Hinblick auf die Nützlichkeit dieser Materie gewachsen. Die Dunkelheit kroch lauernd durch die Wohnung, wie zur Bekräftigung prasselten Regenschauer gegen die Fensterscheiben. Mit zitternden Händen und auch einem Anflug von Bedauern zündete ich drei von sechs wunderhübschen Zierkerzen an und stellte den Leuchter auf den Couchtisch; die Beleuchtung hatte etwas grotesk Festliches an sich. Ob es Angst war oder einfach der Drang, mich zu betäuben, ich trank ziemlich hastig einige Gläser Wein. Sie erzielten die gewünschte Wirkung, für geraume Zeit wurde ich ruhig, fast gelassen. Mehr noch, ich begann zu träumen, erinnerte mich an früher, rief mir ins Gedächtnis zurück, wie es damals angefangen hatte. Eigentlich hatte ich Siegfried überhaupt nicht gemocht, seine Art nicht und schon gar nicht sein Äußeres, welches unserem damaligen Ideal so gar nicht entsprach. (Wir schwärmten für schneidige Leutnants, nicht für ausgehungerte Stifte in lächerlichen Anzügen.) Aber Vater war nicht nur anderer Meinung, er war auch hartnäckig. Er forderte zwar nicht kategorisch eine Ehe mit Siegfried, als der seine Gesellenprüfung mit Erfolg absolviert hatte, aber er brachte geschickte Argumente, denen ich 130
schließlich erlag. Oder mich opferte. Freilich kann man sie nur verstehen, wenn man die Nachkriegszeiten miterlebt oder miterlitten hat. Sein gewichtigstes war, daß er, als Mitläufer einer als Verbrecherhaufen entlarvten Partei, einen Schwiegersohn aus der Arbeiterklasse als Dokumentation seiner Verbundenheit mit ebendieser Klasse ausgezeichnet gebrauchen könnte. Und er war weitblickend genug, zu wissen, daß, selbst wenn man alle selbständigen Handwerker ausrotten würde – er gebrauchte tatsächlich diesen Ausdruck –, man doch weiterhin Elektriker benötigen werde wie das tägliche Brot. „Und warum sollte uns ein talentierter Siegfried Sturm nicht diesen Gefallen tun? Die sogenannte Liebe oder das, was man in seiner Jugend dafür hält, kommt später von ganz allein.“ Das alles und das ständige Herausstreichen von Siegfrieds Tüchtigkeit weckte dann doch mein Interesse, wenn auch Mutter aus ihrer gegenteiligen Meinung kein Hehl machte. Wie meist setzte Vater seinen Kopf durch, und er behielt auch recht darin, daß Siegfried Geschäftssinn und Voraussicht hätte. Aber Vater konnte diese Fähigkeiten seines Schwiegersohns nur kurze Zeit ausnutzen; er starb bald nach unserer Hochzeit, als sei er zufrieden mit diesem, seinem letzten, „Geschäft“. Irgendwann schlief ich bei diesem Kramen in der Vergangenheit ein. Als ich zitternd vor Kälte erwachte, sah ich angewidert die leere Weinflasche stehen, und die hübschen Kerzen waren zu mißgestalteten Stummeln heruntergebrannt. Ich entzündete an ihnen die restlichen drei und bettete mich erschöpft und verkatert unter drei Decken auf die Couch. Lange lag ich wach, grübelte, lauschte furchtsam auf jedes Geräusch im Haus und lebte 131
eigentlich nur noch, weil mir sterben noch schwerer schien. Ich sehnte nichts als den hellen Tag herbei. Und dann wurde es schließlich Tag, zögernd und widerstrebend, doch wirkte die Wohnung weniger unheimlich. Ich wusch mich kalt, verzichtete auf die gewohnte Dusche und leistete mir nicht einmal den Genuß einer Tasse Kaffee; ich hätte den Elektroherd oder einen Tauchsieder benutzen müssen. Ganz plötzlich wußte ich auch, was ich tun würde: zur Polizei gehen, zu diesem Hauptmann Draht. Die Angst hatte mich besiegt.
132
UNSER TÄGLICH BROT stöhnt Hauptmann Draht
Wir baten Siegfried Sturm, so unauffällig in unseren Wagen umzusteigen, daß es für alle, die dem Betriebseingang zustrebten, wie die Einladung zu einem verabredeten Ausflug oder der Antritt einer fälligen Dienstreise wirken konnte. Natürlich zeigte er keine Begeisterung, und ich mahnte nachdrücklich: „Sie werden doch sicher kein Aufsehen erregen wollen?“ Mit den Worten, daß dies nicht in seinem Interesse liege, stieg er in den Wartburg. Ehe er in jene häufig zu beobachtende Haltung aus Trotz und mit Gleichmut getarnter Unsicherheit verfiel, bemerkte er noch gespielt forsch: „Sie werden sicher Gründe für Ihr Vorgehen haben.“ Und ob, mein Junge, dachte ich, sogar in zwei gänzlich voneinander unabhängigen Ermittlungsverfahren. Während der letzten beiden Nächte hatten Experten begonnen, sich intensiv mit seiner ihm unterstellten Material- und Kontenbewegung im Betrieb zu befassen. Und es stand schon jetzt fest, daß diese Maßnahme ihre volle Berechtigung hatte, wenn vielleicht auch noch Wochen vergehen würden, ehe sich ein lückenloses Bild ergab. Viel wichtiger aber waren die Ergebnisse zum Fall Else Bäumler. Genosse Kemmberg, der uns auf unseren Wunsch für die weiteren Ermittlungsarbeiten zugeteilt 133
worden war, hatte uns über die Befragung der ledigen Inge Denkewicz informiert, die Labors waren mit gewohnter Ausdauer zu einigen entscheidenden Ergebnissen gekommen, und auch wir waren nicht untätig gewesen. Nur eins paßte absolut nicht ins Bild, Sturms Blutgruppe war nicht A, sondern Null. Erfolglos waren auch die Nachforschungen nach weiteren Kontaktpersonen zu Frau Bäumler vom Sonntag geblieben. Selbst am Samstag hatte sie nach Aussagen von Rudi Recker weder Besuch empfangen noch die Wohnung verlassen. „Bloß mir immer auf die Pfoten geguckt“, hatte er in seiner Art gesagt, „sogar Milch mußte ich ihr aus’m Konsum unten holen. Bloß Opa war am Sonnabendnachmittag da, hat ’n Badeofen und den anderen Krempel entrußt.“ Kemmberg hatte sich nochmals den Kollegen Schütze vorgenommen, ohne nennenswerten Erfolg allerdings, sah man von dessen Blutgruppenbestimmung und Einzug seiner drei Paar vorhandenen Gummistiefel ab. Nach Kemmbergs Meinung befand sich Schütze in einer ziemlichen Klemme. Leider bereiteten gerade die Schuhspuren den Spezialisten die größten Sorgen, da außer jenen, die der alte Recker am Badeofen und Rudi im ganzen Zimmer hinterlassen hatten, alle noch möglichen direkt vom Fenster zur Tür führten, und die hatte Rudi am Morgen mit seinen eigenen bis zur völligen Unkenntlichkeit überlagert … „Na dann!“ Ich nickte Novy zu, er solle Sturm hereinführen, als das Telefon klingelte. Novy nahm im Vorbeigehen den Hörer ab, horchte und hielt dann die Sprechmuschel zu. „Besuch für uns – Frau Marion Sturm wünscht uns dringend zu sprechen.“ 134
„Sieh an.“ Ich überlegte kurz. „Warum nicht, lassen wir ihrem Herrn Gemahl ruhig noch etwas Zeit zur Besinnung.“ „Wir lassen bitten“, sagte Novy wie ein gut geschulter Diener ins Telefon und legte auf. „Entweder“, prophezeite er, „kommt die Sache jetzt richtig ins Rollen, oder wir werden mit den Zornesausbrüchen einer tiefgekränkten Ehefrau konfrontiert.“ „Geh an deinen Platz“, sagte ich nur. Marion Sturm wirkte krank, ja sogar elend; irgendwie erinnerte sie mich an Stendhals Gefangenenwärter aus „Rot und Schwarz“, der mit seiner schleimig-mitleidigen Stimme immerfort von einem armen Vögelchen geleiert hatte. „Ich“, begann sie unsicher und nestelte übernervös an den Griffen einer schwarzen Handtasche aus Lackleder, setzte sich erst dann auf den angebotenen Stuhl, sagte: „Es ist …“ und verstummte erneut. Natürlich vermutete ich, daß sie bereits wußte, daß ihr Mann bei uns ist, vielleicht sogar von unseren Nachforschungen im Betrieb. „Sie können hier ganz offen sprechen“, ermunterte ich sie, während Novy noch rasch in der Art eines liederlichen Junggesellen, der überraschend Besuch erhält, verstohlen die Tassen vom Frühstückskaffee in den Schrank räumte, wo sie erst recht nichts zu suchen hatten. Sie sah mich mit ihren großen Augen drängend an, offenbar hoffte sie, daß ich die Führung übernahm. Aber da ich nicht wußte, worum es ihr wirklich ging, nickte ich ihr nur aufmunternd zu, bot ihr eine Zigarette an, die sie aber ablehnte. Und was sie dann endlich sagte, ging uns im Grunde gar nichts an. „Ich bin auf dem Weg, die Scheidung einzureichen.“ 135
„Tja“, sagte ich gedehnt, ich brauchte sogar einige Sekunden zur Sammlung, „das ist, wenn … nun, sagen wir, wenn Sie in uns auch so etwas wie Mitschuldige sehen, eine rein private Angelegenheit. Ich kann Ihnen da weder zu- noch abraten.“ Ersteres noch eher, fügte ich in Gedanken hinzu. „Ich hätte mich schon längst dazu entschließen sollen“, bekannte sie, mehr zu sich selbst, bat dann doch um eine Zigarette, die sie ungeschickt anrauchte. Aber als hätte das bißchen Nikotin jäh alle Hemmungen und Bedenken vernichtet, berichtete sie erstaunlich fließend von ihren Sorgen, Qualen, der Forderung ihres Mannes und seinen Angriffen gegen die Tote und sprach eigentlich nichts anderes aus als die massive Anklage, ihr Mann könnte nun auch noch nach ihrem Leben trachten. Ich schwieg geraume Zeit, während Novy mit seiner Brille spielte und damit seine Zweifel an einigen Dingen verriet. „Um etwas chronologisch vorzugehen, Frau Sturm – wozu, glauben Sie, braucht Ihr Mann ganz kurzfristig dreißigtausend Mark?“ „Ich … ich weiß es nicht.“ „Und worauf stützt sich Ihr Verdacht, er sei am Tod Ihrer Mutter nicht unschuldig? Nur auf Gefühle?“ „Aber er war doch Sonntag bis spät unterwegs!“ „Aber, aber Frau Sturm, wenn wir alle Sonntagsausflügler, die bis spät unterwegs sind, eines schweren Verbrechens verdächtigen wollten …“ „Die waren ja auch nicht alle in Mutters Nähe, als sie ermordet wurde“, unterbrach sie mich spitz, aber logisch. Ich lächelte. „Entschuldigen Sie, natürlich nicht. Immerhin bestreitet er doch aber, sie besucht zu haben. Hingegen bestritt er nach Ihren Worten nicht, sich vom 136
Nachmittag bis in die halbe Nacht bei einem Fräulein … der Name ist Ihnen geläufig?“ „Diese Denkewicz“, stieß sie heraus; abfällig, eifersüchtig. „Fräulein Inge Denkewicz“, verwies ich mit etwas Schärfe, „ist eine arbeitsame junge Frau, gegen die nicht das geringste vorliegt und über deren Liebesleben wir nicht zu befinden haben. Immerhin, in ihrer von allen Seiten bestätigten ruhigen Lebensweise könnte, ohne nun gleich voreilige Schlüsse ziehen zu müssen, ein Punkt liegen, der Ihre wohl doch nur rein emotionelle Überzeugung untermauern könnte … Sie wissen von ihrem fünfjährigen Jungen?“ Frau Sturm nickte gezwungen höflich. „Der Vater ist übrigens nicht Ihr Mann, wenn Sie das etwas trösten kann. Allerdings, um ebendiesen ihren Sohn zur Nacht zu versorgen, trennten sich Fräulein Denkewicz und Ihr Mann etwa von achtzehn Uhr dreißig bis zwanzig Uhr dreißig.“ „Und wo … wo war er da?“ „Seinen“, ich betonte das bedeutungsvoll, „Angaben zufolge reparierte er während dieser Zeit das Kabel für die ausgefallene Armaturenbeleuchtung am Wagen, was etwa eine Stunde in Anspruch genommen haben soll, und anschließend … nun ja, sei er herumgebummelt.“ „Also doch“, flüsterte Frau Sturm. Jetzt konnte Novy nicht anders, er mußte sich einmischen; hier ging es um sein Paradepferd, die klassische Kriminalität. „Begehen Sie keine Voreiligkeit, Frau Sturm. Es ist eine alte Weisheit, eigentlich schon Notwendigkeit, daß jemand, der ein schweres Verbrechen, das schwerste überhaupt, plant – und um ein solches würde es sich bei Ihren Befürchtungen fraglos handeln –, sich um ein möglichst unantastbares Alibi bemüht. Etwa 137
der Aufenthalt in einer überfüllten Gaststätte, irgendwelche Zufallspassanten … Gott, darin hat es schon die unwahrscheinlichsten Anstrengungen gegeben. Ganz anders verhielte es sich natürlich bei einer Affekthandlung. Was“, er preschte wie beiläufig vor, „könnte denn Ihren Mann bewogen haben, Ihre Mutter überhaupt aufzusuchen?“ „Geld natürlich“, war die lapidare Antwort. „Und hätte er mit Erfolg rechnen können?“ „Kaum.“ „Warum also sollte er?“ „Um …“ Sie verstummte beklommen; allmählich wurde ihr bewußt, wohin Angst und Haß sie zu treiben begannen. „Geld“, überbrückte ich eine Verlegenheitspause, „hat Ihr Mann jedenfalls dringend benötigt, wozu, wissen Sie nicht … Übrigens, ganz nebenbei, haben Sie heute zufällig Ihre Arbeitsstelle aufgesucht?“ Sie verneinte leicht besorgt, und daraus ließ sich vieles entnehmen. Zum Beispiel, daß ich nicht ohne Grund eine Verbindung zwischen Arbeit und Geldforderung herstellte, denn daß eine Ehefrau nicht merkt oder zumindest ahnt, wenn ihr Mann beträchtlich über seine Verhältnisse lebt, lasse ich mir nicht einreden. Sie verschwieg uns also etwas, worüber sie sich zumindest Gedanken machte oder hätte machen müssen. Ich erhob mich und versprach, auf ihre Hauptsorge eingehend: „Was nun die von Ihnen geäußerte Befürchtung betrifft, es könnten an den elektrischen Anlagen Manipulationen vorgenommen worden sein, so werde ich selbstverständlich veranlassen, daß sich einer unserer Fachleute gründlich bei Ihnen in der Wohnung umsieht. Einverstanden? Wenn ich auch, das verhehle ich Ihnen nicht, Ihre Sorge für übertrieben halte.“ 138
„Ich schließe mich dem voll an“, bekannte Novy fast beschwingt, aber er sagte das wohl kaum, um sie zu beruhigen, „und möchte Sie, wenn Sie gestatten, auf die statistisch untermauerte Tatsache hinweisen, daß Tötungsdelikte unter Verwendung von elektrischer Energie in unserem Staat äußerst selten sind. Das liegt weit weniger an mangelnder fachlicher Qualifikation – und das trifft ja auch auf Ihren Gatten nicht zu – als an dem Umstand, daß ein solcher Täter technische Veränderungen vornehmen und sie auch wieder beseitigen muß. Das heißt im Klartext, er muß nach vollbrachter Tat den Ort seines Verbrechens nochmals aufsuchen, falls er nicht zur Familie gehört natürlich, um den vorherigen Zustand wiederherzustellen. Dies ließe sich kaum bewerkstelligen, ohne Spuren zu hinterlassen, ganz abgesehen davon, daß Spuren um so unvermeidlicher werden, je aufwendiger die vermeintliche Raffinesse wird. Hinzu käme noch, daß ein Tod infolge Stromeinwirkung immer als solcher identifiziert werden kann.“ „Aber tot wäre man trotzdem“, antwortete sie entwaffnend logisch und wiederholte ihre Bitte: „Ich wäre trotzdem sehr beruhigt, wenn … aber Sie können mir ja nicht Tag für Tag einen Experten schicken.“ Da könne sie ganz beruhigt schlafen, tröstete Novy trocken, ihrem Gatten werde es mit einiger Wahrscheinlichkeit in nächster Zeit an Gelegenheiten mangeln. Ich gab mir Mühe, ihr auch etwas Tröstliches zu sagen. „Aber Sie haben doch einen fast erwachsenen Sohn.“ Sie lächelte sehr dünn. „Ach, der Junge! Der geht wie viele seiner Altersgenossen am liebsten eigene Wege, und die führen nur noch recht selten durch unsere Wohnung. Einesteils bin ich manchmal darüber froh, Sie verstehen, 139
wegen der offensichtlichen Zerrüttung meiner Ehe, andererseits …“ Sie hob resignierend die schmalen Schultern, um erst jetzt, und wie mir schien, betroffen, auf Novys „Trost“ einzugehen. „Keine Gelegenheit? Wie soll ich das … was bedeutet das, Herr Hauptmann?“ „Knapp und aufrichtig vorerst nur, daß er vorläufig festgenommen ist.“ „O mein Gott! Aber warum denn?“ Ich wußte nicht recht, ob diese Reaktion der Angst vor dem unvermeidlichen Gerede der Leute entsprang oder ob sie sich in ihren Gefühlen zu ihrem Mann doch sehr irrte. Ich begleitete sie zur Tür und fragte in dem Ton, den man unsere „Masche“ nennt: „Frau Sturm, warum erwähnten Sie Leutnant Novy gegenüber eigentlich nicht, daß am Montagabend kurz vor ihm ein Herr Schütze nach Ihrem Mann fragte?“ „Montag abend? Da hatte ich wirklich andere Sorgen, und er hat sich ja auch gar nicht danach erkundigt.“ „Danke.“ Ich schloß die Tür hinter ihr und befahl Novy: „Sofort Kemmberg informieren, wir brauchen den Herrn Schütze.“ „Soll er hierherkommen?“ Ich dachte kurz nach. „Nein, du fährst hin. Ich fürchte, wir haben versäumt, auch die Familie Beck nach ihren Blutgruppen zu befragen. Oder sie zu besorgen. Der Hautrest kann durch einen dummen Zufall unter Frau Bäumlers Fingernagel geraten sein.“ „Aber Schütze hat Blutgruppe A Rh-positiv! Und gelogen hat er auch! Von wegen, ich hätte die Wagennummer falsch notiert! Warum tut er das? Doch nicht ohne Gründe.“ „Auch Opa Recker hat die verlangte Blutgruppe ..“ 140
„Das ist ja der Mist“, unterbrach mich Novy wütend, „jeder ist Träger der fraglichen Blutgruppe, nur der Hauptverdächtige nicht.“ „Jaja“, sagte ich und lächelte, „so mancher Traumberuf entpuppt sich als bloße Schinderei, wie?“ Siegfried Sturm wirkte schon wieder leicht überheblich, sein Lächeln war beflissen, seine Höflichkeit, mit der er für den angebotenen Stuhl dankte, einem kostbaren Geschenk gleich. Er hatte sich tadellos in der Gewalt. „Ich glaubte schon, Sie hätten mich vergessen“, sagte er verbindlich zu mir, als hätten wir uns zu einer Party verabredet und versäumt, ihn abzuholen. „Wer könnte Sie vergessen!“ Sturm nickte Novy zu. „Nun ja, Sie haben etwas gegen mich, kann man nach der Panne am Bungalow ja auch verstehen.“ Panne sei zwar originell, bekannte Novy, indessen wären die Gründe für seine, gelinde gesagt, Reserviertheit denn doch tieferer Natur. Er vergewisserte sich mit einem Blick zu mir, daß ich vorläufig gegen eine Fortführung unter seiner Regie nichts einzuwenden hatte, und kam zum Thema: „Wir haben einige Fragen an Sie. Vorrangig eine für uns und für Sie besonders wichtige – was taten Sie am Sonntagabend zwischen neunzehn und zwanzig Uhr dreißig?“ „Sprachen wir nicht schon darüber?“ „Nehmen Sie getrost an, wir glauben zumindest nicht an Ihren Spaziergang, das Wetter war nicht eben ideal dafür.“ „Wie wollen Sie das beweisen?“ So ging das nicht. „Hören Sie!“ herrschte ich ihn an. „Sie sollten das hier nicht mit einer heiteren Quizsendung verwechseln, verstanden?“ Gleichzeitig entnahm ich einer 141
Schublade ein Paar graue Lederhandschuhe und wies sie ihm vor. „Sind das Ihre?“ Er betrachtete sie wachsam. „Ja, das heißt … ich glaube nicht, obwohl ich ein ähnliches Paar vermisse.“ „Es sind Ihre, Herr Sturm!“ hakte Novy sofort ein. „Es sei denn, Sie pflegen geliehene oder gestohlene Handschuhe zu tragen.“ „Und wenn es meine wären?“ „Dann darf ich Sie zunächst darüber aufklären, daß auch jeder Handschuh charakteristische Merkmale aufweist, die äußerst selten denen anderer gleichen. Der Abdruck dieses linken Handschuhs aber wurde mit absoluter Sicherheit in der Wohnung Ihrer Schwiegermutter sichergestellt.“ „Das wäre doch nur natürlich, Herr Leutnant. Wir waren doch am Montag …“ „… nicht in jenem Raum, wo er abgenommen wurde.“ Sturm war ohne Zweifel intelligent, leider aber der überheblichen Ansicht, vor anderen darin einen Vorsprung zu haben, besonders vor uns; er demonstrierte es, indem er lässig ein Bein über das andere schlug. „Aber Sie erinnern sich doch, daß wir, meine Frau und ich, vor rund sechs Wochen dort waren, Herr Hauptmann. Selbstverständlich muß ich meine Abdrücke dann schon hinterlassen haben. Wo wurden sie denn gefunden?“ „Darauf kommen wir schon noch. Im übrigen rate ich Ihnen, schleunigst von Zuflüchten und durchsichtigen Ausreden Abstand zu nehmen, auch das Alter von Abdrücken läßt sich einigermaßen bestimmen. Ganz abgesehen einmal davon, daß man sich Handschuhe zur Begrüßung und nicht erst bei Kaffee und Kuchen auszieht. Also?“ Es war wohl nicht so sehr die Überzeugungskraft als vielmehr eine Flucht nach vorn. „Schön, ich war tatsächlich am Sonntagabend bei meiner Schwiegermutter.“ 142
„Wir sind ganz Ohr.“ Was nun kam, war eine wohlüberlegte Darstellung. „Ich … ich war mit der Rückzahlung eines Darlehens in Verzug geraten …“ Ich unterbrach sofort: „Wem schuldeten Sie Geld?“ „Aber das ist doch unwesentlich.“ „Im Gegenteil.“ „Einem … einem Herrn Schütze. Ein alter Bekannter.“ „Aha“, sagte Novy, „der ‚berufsbedingte‘ Grobian.“ Sturm warf ihm einen undefinierbaren Blick zu. „Diesen Zwischenfall sollten wir doch nun wirklich vergessen. Ja, am Sonntag also. Er drängte, es sei die letzte Frist, oder er wollte einklagen. In meiner Stellung … Also entschloß ich mich schweren Herzens, wie Sie mir glauben dürfen, meine Schwiegermutter um den Gefallen zu bitten.“ „Genauer! Uhrzeit, Gespräch und so weiter.“ Sturm hob die Schultern. „Uhrzeit? Kurz nach sieben, würde ich sagen.“ „Weiter! Wie war der Empfang?“ „Wie schon! Nicht eben überschwenglich, Herr Leutnant.“ „Läßt sich denken, zumal sie ja wußte, weshalb Sie kamen.“ „Wie meinen Sie das?“ „Sie hatten doch schon am vergangenen Freitag keinen Erfolg.“ „Freitag?“ „Dafür gibt es Zeugen, Herr Sturm! Und zum letztenmal, lassen Sie Umwege und Ausschmückungen. Die Frage, warum Sie bisher geleugnet haben, werden Sie uns ohnedies noch glaubwürdig begründen müssen.“ Das sei doch leicht einzusehen, beschwor er uns. Der Schock über den plötzlichen Tod, die bald durchsickern143
den Gerüchte über ein Verbrechen, dann Rücksicht auf seine schwer erschütterte Frau und und und. „Glaubwürdig“, sagte ich, „aber lassen wir das vorerst. Sie klingelten also. Kam Ihre Schwiegermutter so ohne weiteres nach unten? Sie müssen ja an der hinteren Eingangstür geklingelt haben. Oder stand sie offen?“ „Nein, sie fragte oben aus dem Küchenfenster und kam erst, als ich Schwierigkeiten vorschob, die Marion unausweichlich bekommen würde, den Grund könnte ich nicht von unten nach oben zurufen. Ja, und dann mußte ich reden und reden, mir die gehässigsten Ausfälle anhören, ehe sie mir endlich die gewünschte Summe lieh.“ „Wieviel war das?“ „Fünftausend“, kam die Antwort so glatt, daß dies der aus der Kassette fehlende Betrag sein konnte. „Ich übergab sie dem gegen acht auf mich wartenden Schütze und … ja, das war’s.“ Ich nickte ihm zu, und er lehnte sich erleichtert aufatmend zurück; seine versteckte Freude währte aber nur Sekunden. „Leider muß ich Ihnen sagen, daß wir Zweifel an Ihrer Darstellung anmelden müssen. Oder deutlicher: Wir glauben Ihnen von dieser harmlosen Version kein Wort, mit Ausnahme der Tatsache, daß Sie zur Tatzeit in der Wohnung waren.“ „Natürlich habe ich keine Zeugen“, begehrte er auf. „Wie kommen Sie darauf?“ fragte Novy höchst erstaunt. „Es gibt stumme Zeugen, beispielsweise erwähnten wir schon Ihre Handschuhabdrücke. Auch fehlende stumme Zeugen können reden, was glauben Sie? Sehen Sie, bei dem miesen Verhältnis zwischen Ihrer Schwiegermutter und Ihnen muß es doch höchst nachdenklich stimmen, daß sie nicht auf einen Schuldschein bestanden haben sollte, wahrscheinlich sogar mit einem gepfeffer144
ten Zinssatz. Es fand sich aber nichts, was dem auch nur ähnlich gesehen hätte. Und ehe Sie sich in der Behauptung sonnen, wir könnten ihn vielleicht übersehen haben, darf ich Ihnen versichern, daß wir nicht einmal Staubkörnchen mißachtet haben, wie Sie noch begreifen werden.“ „In der Tat!“ Sturm gab sich sofort reuig, daß er etwas vergessen haben sollte. „Sie fühlte sich unvermittelt nicht gut, leider wohl wegen der Aufregung, die mein Besuch heraufbeschwor, und legte sich rasch etwas nieder. Selbstverständlich hatten wir vereinbart, das Schriftstück in den nächsten Tagen auszufertigen.“ „Das“, sagte ich und ging nicht weiter auf das Thema ein, „hätte sie kaum hindern können, Papier stand zumindest für eine provisorische Niederschrift ausreichend zur Verfügung. Aber Herzanfall stimmt, das sagt der Obduktionsbefund aus.“ „Na bitte.“ „Diesen Ton wünsche ich nicht mehr zu hören“, fuhr ich auf; selbstgefällige Lügner widern mich an. „Dem Befund nach wurde Ihre Schwiegermutter während eines Herzanfalls erwürgt. Verstehen Sie, einfach erwürgt!“ „Sie … Sie glauben doch nicht etwa, daß ich …“ Sturm sprang auf, und mir schien diese impulsive Reaktion irgendwie echt, zumindest hervorragend gespielt. Aber hatte Sturm bisher nicht genügend Proben schauspielerischen Könnens abgegeben? „Setzen Sie sich wieder hin, Mann! Und dann denken Sie mal logisch. Nach Ihrer eigenen Darstellung waren Sie mit Ihrer Schwiegermutter allein in der Wohnung, jedenfalls erwähnten Sie keinen etwaigen weiteren Besucher, und ich zweifle wohl mit Recht, daß Sie vor Zeugen um eine größere Geldsumme gebettelt hätten. 145
Was würden Sie denn an unserer Stelle aus diesem Tatbestand schlußfolgern?“ „Aber ich schwöre …“ „Und davon lassen Sie gleich ganz und gar die Finger. Aber eine andere Frage: Sie können sich doch erinnern, woher Ihre Schwiegermutter das Geld nahm? Oder richtiger: woraus?“ „Wahrscheinlich aus der Kassette.“ „Mußten Sie mit geschlossenen Augen stehen?“ „Sie schickte mich eigens für diesen Moment nach nebenan, in die Küche“, behauptete Sturm gekränkt. „Als wenn das nun nötig gewesen wäre!“ „Sie lügen!“ „Ich muß aber doch sehr bitten …“ „Nein, ich! Und zwar zum letztenmal! Wir haben sehr gewichtige Argumente, um Sie dessen zu bezichtigen, Herr Sturm. Zum Beispiel müßten Sie während des ganzen Aufenthaltes Handschuhe getragen haben, weder im Wohnzimmer noch in der Küche fand sich ein Fingerabdruck von Ihnen. Wie erklären Sie sich das?“ „Ganz einfach, ich trug tatsächlich Handschuhe, vielleicht sogar jene dort auf Ihrem Schreibtisch.“ „Davon sind wir überzeugt.“ „Am Ende sind Sie auch noch Handschuhfetischist?“ fragte Novy. „Wie Sie überhaupt befremdliche Neigungen entwickeln, offenbar als Attribut einer vermeintlich hohen Intelligenz, wie? Warum zum Beispiel ließen Sie hundert Mark in der Kassette zurück? Vergessen?“ „Wieso vergessen; ich sagte doch, daß meine Schwiegermutter …“ ich unterbrach mit einem heftigen Faustschlag auf die Schreibtischplatte und brüllte fast: „Schluß damit. Und damit Sie begreifen, wie unendlich unsere Geduld schon 146
war, jetzt einige Fakten, die Sie, und nur Sie, uns erklären werden. Erstens: Warum befanden sich die Fingerabdrücke Ihrer Schwiegermutter nicht auf der Kassette? Zweitens: Wie kamen sämtliche fünf Abdrücke, die zweifelsohne von Ihren Handschuhen stammen, auf die Innenseite der Badezimmertür, wo Sie ja nicht gewesen sind, außer am Freitag, aber dann wären sie bei den Maurerarbeiten niemals so wunderbar erhalten geblieben. Und schließlich die Frage, auf welchem Wege haben Sie Wohnung und Haus verlassen?“ Er begriff sofort und brachte es fertig zu lächeln. „Ich sehe tatsächlich“, bekannte er, „man kann Ihnen nichts vormachen.“ Er überhörte Novys krampfartigen Husten und erklärte: „Um die ganze Wahrheit zu sagen, ich habe mich selbst aus der Kassette bedient, als sich meine Schwiegermutter wegen eines nahenden Anfalls bereits auf das Bett gelegt hatte. Ja, und die Abdrücke im Bad lassen sich leicht erklären, ich habe kurz einmal hineingeschaut und dabei natürlich die Tür angefaßt.“ Ich winkte verärgert ab, auf die Beantwortung meiner weiteren Frage konnte ich getrost verzichten. Rudi hatte die Haustür unverschlossen gefunden; die Wohnungstür konnte er aus dem simplen Grund nicht von außen öffnen, weil dort statt der Klinke nur ein starrer Knopf vorhanden ist. Sturm hatte sie nur ins Schloß zu ziehen brauchen. Nein, noch war ihm nicht entscheidend beizukommen. „Und warum haben Sie eigentlich keinen Arzt gerufen?“ Auch dafür wußte er eine Entschuldigung. „Ach, wissen Sie, solche Anfälle waren in letzter Zeit bei ihr nicht selten, gingen aber immer rasch vorüber. Wer konnte denn ahnen, daß es diesmal ernster war?“ 147
„Ahnen nicht, aber hoffen.“ „Das ist eine Unterstellung!“ „Kaum – oder wozu brauchen Sie dringend dreißigtausend Mark?“ „Woher …?“ Ich gab Novy mit dem Kopf einen Wink, er nickte zufrieden, hantierte kurz an der rechten Schreibtischseite, zwei-, dreimal klickte es leise, dann hob Sturm verwirrt den Kopf. Die Stimme seiner Frau klang durch das Zimmer: „Er verlangte mitten in der Nacht dreißigtausend Mark von mir, ganz kurzfristig.“ „Na?“ „Das ist ja … unglaublich! Die eigene Frau fällt mir in den Rücken.“ „Wozu brauchen Sie es, war die Frage.“ Er war zumindest in dieser Sache ahnungslos, wenn er sich auch ausgerechnet haben mußte, daß wir ihn näher unter die Lupe nehmen würden. „Eine rein private Angelegenheit, ein geschäftlicher Mißerfolg.“ Ruckartig erhob er sich und brachte uns mit kaum glaublicher Arroganz beinahe aus der Fassung; und wir waren immerhin einiges gewohnt. „So“, sagte er, „damit habe ich nun wirklich alles gesagt, nichts verschwiegen und nichts hinzugefügt, wie es so schön amtlich heißt. Ich gebe zu, in einigen Dingen nicht korrekt gehandelt zu haben, diese Schuld kann ich nicht leugnen, aber ich halte es für meine selbstverständliche Pflicht, alles wieder in Ordnung zu bringen.“ Selbst Novy, auch nicht frei von gelegentlicher Gespreiztheit in seinen Formulierungen, putzte in ungläubigem Staunen seine Brillengläser. Dann aber konterte er mit gleicher Münze, und ich ließ ihm bereitwillig den Vortritt. 148
„Pflicht! Selbstverständliche auch noch! Schuld und Wiedergutmachung, was für hehre Worte, verehrter Herr Sturm. Und wie beliebten Sie Ihre Handlungsweise zu klassifizieren? Nicht korrekt gehandelt! Ihre Bescheidenheit muß uns ja förmlich beschämen, von Ihrer Geständnisbereitschaft ganz zu schweigen. Schade, daß man einige Abstriche machen muß. Ich erinnere mich bedauernd daran, daß Sie noch vor kurzem jemandem aus der weitverzweigten Familie Recker die Schuld für die Vorgänge bei Ihrer Schwiegermutter aufzuhalsen versuchten, obwohl Sie als einziger wußten, wer zum Beispiel die Kassette plünderte. Ja, und dann vergessen Sie beharrlich die ‚Kleinigkeit‘, daß Ihre Schwiegermutter nicht sanft entschlafen ist, sondern erwürgt wurde.“ „Aber ich schwöre …!“ „Hatten wir schon“, unterbrach Novy ihn geringschätzig, um sofort zum Kern zurückzukommen. „Was nun aber Ihren Wunsch angeht, uns möglichst rasch wieder zu verlassen – um Pflichten zu erfüllen, wie wir hörten –, so wird Ihnen der Genosse Hauptmann eine herbe Enttäuschung bereiten müssen. Es ist beileibe keine Schande, Intelligenz zu beweisen, ganz im Gegenteil, aber es wird unbedingt kritisch, wenn sich diese mit Arroganz paart; können Sie übrigens schon bei Goethe nachlesen: Wahre Größe gibt sich bescheiden.“ „Ich glaube, Sie mißverstehen mich.“ „Ganz im Gegenteil – Sie uns. Oder sollte Ihnen entgangen sein, daß in Ihrem Arbeitsbereich, vorrangig im Materiallager für Installationen, eine Überprüfung stattfindet?“ „Gott“, versuchte er zu bagatellisieren, „eine Inventur.“ „Aber keine gewöhnliche, Herr Sturm. Sie wird von unseren Fachleuten durchgeführt, und die lassen sich 149
weder von Phrasen täuschen noch von fingierten Belegen. Auch nicht von Auslieferungsanweisungen, die Ihre Frau blindlings oder auch im Vertrauen auf Ihre Redlichkeit unterschrieben hat. Das Ergebnis verrät schon jetzt, daß Ihre Vorgesetzten Ihnen voll vertrauen. Nein, vertrauten, denn inzwischen ist es ins Gegenteil umgeschlagen. Sie selbst wissen am besten, was von Ihnen im Namen des Betriebes in dunkle Kanäle geliefert und an Schwarzarbeit geleistet wurde, wobei leider alle volkswirtschaftlichen Normen außer acht gelassen wurden. Menschen wie Sie, Herr Sturm, müssen ganz einfach in unserer Gesellschaftsordnung scheitern, bedauerlicherweise oft genug noch zu spät.“ Sturm zeigte Wirkung, seine Stimme war leise. „Soll das heißen, daß ich hierbleiben muß?“ „Genau das!“ Ich übernahm wieder die Regie, um zu verhindern, daß Novy sich in eine Art Entlarvungsekstase, verbunden mit einem politischen Referat, steigerte. „Die vollständige Aufdeckung kann sich noch Tage, wenn nicht Wochen hinziehen.“ Sturm faßte sich, erwartungsgemäß möchte ich sagen, ziemlich rasch wieder. „Man kann aber doch jeden Schaden wiedergutmachen, finanziell zumindest.“ „Wie denn?“ „Meine Schwiegermutter war nicht arm … wirklich kein Problem.“ Ich schnipste mit den Fingern zu Novy hin, wieder hantierte er, es klickte, und erneut vernahmen wir Marion Sturms Stimme: „Ich bin auf dem Weg, die Scheidung einzureichen.“ „Lassen Sie auch diese Hoffnung fahren“, empfahl ich dem schweigenden Sturm, „Sie wissen, Ihre Frau ist Alleinerbin. Im übrigen müßte Ihnen auch bekannt sein, daß 150
selbst die sofortige Rückerstattung veruntreuter Gelder in keinem Fall eine strafrechtliche Verfolgung verhindern kann.“ Sturms Wut entlud sich auf seine Frau. „So ist das also! Ich bin in Schwierigkeiten, und da läßt man sich als Frau natürlich scheiden. Vergessen alles, was ich für sie getan habe. Sie war ja schon immer geizig und kühl berechnend, genau wie ihre Mutter; sieht aus wie ein hilfsbedürftiger Engel und ist …“ Ich schnitt ihm das Wort ab: „Das sind Argumente für den Scheidungsrichter.“ Ich nickte Novy zu. Er kam hinter dem Schreibtisch vor und trat zu Sturm, der sich ebenfalls erhob. „Sie sind vorläufig festgenommen, Herr Sturm.“ Als Novy ihn zur Tür dirigierte, erkundigte ich mich: „Übrigens, vermissen Sie nicht Ihre Gummistiefel?“ Jetzt verlor Sturm seine bisher gezeigte Überheblichkeit vollends. „Die haben Sie? Ich dachte, ein Kollege hätte sie aus dem Wagen genommen.“ „Trugen Sie die nicht am Sonntagabend?“ „Ja, das schon, der Weg da draußen ist bei solchem Wetter eine wahre Zumutung.“ „Aber, aber, hatten wir nicht einen Wagen? Leute wie Sie schonen doch nur ihren eigenen, ein Betriebsfahrzeug kann doch ruhig verrotten, wen juckt das schon?“ Weil Sturm darauf verbissen schwieg, fuhr ich fort: „Ich will Ihnen meine Ansicht darüber nicht vorenthalten, vielleicht regt Sie das zum Nachdenken an. Sie stellten den Wagen aus dem einfachen Grund irgendwo ab und gingen zu Fuß, weil Sie nicht gesehen oder beobachtet zu werden wünschten. Was wiederum bedeutet, daß Sie gar nicht mit einem Entgegenkommen Ihrer Schwiegermutter in Gelddingen rechneten. Aber lassen wir das vorläufig, 151
Kleinarbeit ist unsere Spezialität, und so werden wir Ihnen eben jeden Schritt nachweisen müssen.“ „Aber ich habe sie nicht umgebracht! Glauben Sie mir doch!“ Als Novy zurückkam, sah er mir an, daß ich genau über Sturms beschwörende Beteuerung nachdachte; sie konnte noch immer ebensogut stimmen wie die Schutzbehauptung eines Täters sein. Wer gibt schon gern einen Mord zu? Novy machte es sich zunächst einfach. „Und wie nun weiter?“ „Mit Kaffee“, sagte ich abwesend. Erst seine Spöttelei, ob ich auch auf den Kaffeesatz Wert legte, veranlaßte mich, laut zu denken: „Also er ging zu Fuß, er trug Handschuhe – der Vorsatz ist nicht zu übersehen. Wenn uns schon die Untersuchungsergebnisse von allen Gummistiefeln vorlägen, könnten wir einen großen Schritt weiter sein. Mörtel ist nicht gleich Mörtel, Kies nicht gleich Kies, und Substanzen, die hier haftengeblieben sind, muß es dort überhaupt nicht geben. Trotzdem … Sturm muß ein zweites Mal in die Wohnung eingedrungen sein, eben durch das verhängte Badezimmerfenster …“ „… und dann, im Wohnzimmer, überraschte ihn seine Schwiegermutter“, unterbrach mich Novy eifrig. „Und genau da fällt der Pudel ins Wasser! Wenn auch mit den Uhrzeiten, wann die Lampen brannten, nicht allzuviel anzufangen ist, jedenfalls nicht mit Rudis Angaben, bleiben Ungereimtheiten. Hat sie ihn an der Kassette überrascht und er sie erwürgt, so hätte zumindest der Transport der Leiche Spuren hinterlassen, Schleifspuren zum Beispiel. Aber kein Schimmer davon. Und warum zum Teufel sollte er sie in den Sarg gebettet haben? In ihr 152
Renommierstück? Er stand ihr, trotz aller Differenzen, weltanschaulich näher, als er es selbst weiß oder glaubt. Hinzu käme der Hautrest unter dem rechten Mittelfinger der Toten. Sie hatte, wahrscheinlich aus abgöttischer Liebe zu ihrem Geld, noch die Kraft, sich zu wehren.“ „Und wie nun weiter? Leisten wir uns die Großzügigkeit, Sturms Darstellung zu glauben – sein Ausspruch, er habe seine Schwiegermutter nicht umgebracht, klang doch irgendwie echt –, dann bleibt ja nur noch eine Variante.“ Ich war ziemlich k. o. und bewunderte eigentlich Novys Eifer. „Sehr schön. Und welche?“ „Ein anderer Täter! Einer, der alte Frauen erwürgt, nichts raubt, weil ja ein Herr Sturm sich schon bedient hatte, ein Mensch, der die Blutgruppe A Rh-positiv und ein Motiv hat, das vermutlich in den Sternen zu suchen ist.“ „Na prima, und genau den müssen wir rasch finden. Fang mit Schütze an, irgendwie hängt er mit drin. Und dann Becks, auch die alte Dame. Möglich, daß dieser verdammte Hautfetzen aus Versehen unter Frau Bäumlers Fingernagel geraten ist und alle Bedeutung verliert.“ „Und was machst du inzwischen?“ „Nachdenken. Und viel telefonieren. Mir ist, als hätte ich eine Idee.“ „Und die wäre?“ „Weiß selbst nicht genau, wohin es führt“, wich ich aus. „Aber laß dich deswegen nicht aufhalten.“ Es paßte ihm gar nicht, seine Aufbruchsworte waren ein unverständliches Murren.
153
KREISVERKEHR räsoniert Oberleutnant Kemmberg
Größenwahnsinn gab es zu allen Zeiten, und man muß nicht die gesamte Menschheitsgeschichte durchforsten, um Beweise dafür zu finden; man trifft sie häufig genug. An diesem Freitagmittag saß einer aus dieser Kategorie vor mir: Konrad Recker, Kraftfahrer beim VEB Kohlehandel. In einem Anfall von Geltungsdrang, berauscht von exquisiten Getränken, hatte er in der vergangenen Nacht mit einigen Kumpanen die Einrichtung einer kleinen Konsum-Gaststätte demoliert. Leider hatten auch die beiden weiblichen Bedienungskräfte seiner Großzügigkeit nicht widerstehen können, hatten mitgetrunken und somit dem Krawall gewissermaßen noch Vorschub geleistet. Bis zu einem gewissen Grad konnte ich den Fünfundzwanzigjährigen sogar verstehen. Manche Vorurteile halten sich zäher als Akazien im Orkan. Und nun hatte Konrad Recker, urplötzlich so etwas wie Teilhaber an einem bemerkenswerten Lottogewinn, es den lieben Mitmenschen einmal richtig zeigen wollen. Und natürlich hatte er nicht versäumt, nach vollendeter Schlacht zu grölen, das „bißchen“ Schaden ginge selbstverständlich auf seine Kosten. Von der nächtlichen Hochstimmung war nichts geblieben; er hockte verkatert und kleinlaut auf dem Stuhl und wartete mit Sicherheit nur auf die Aufforderung, schleunigst wieder zu verschwinden. 154
Nach einigen herzhaften Bemerkungen und der strengen Anweisung, sich erstens gründlich auszuschlafen und zweitens am kommenden Montag pünktlich neun Uhr sich wieder hier einzufinden, entließ ich ihn schließlich. Bis dahin hoffte ich von der Konsumverwaltung eine genaue Aufstellung der Kosten zu erhalten, das Weitere würde sich schon finden. Billig würde es auf keinen Fall werden und ohne Strafe nicht über die Bühne gehen. Während ich noch grübelte – irgendwie hatte ich ein ungutes Gefühl –, klopfte es bescheiden an der Tür, als wartete draußen ein weiterer Sünder. Auf mein lahmes „Herein“ schlenderte Leutnant Novy ins Zimmer, begrüßte mich wie einen lange vermißten Bekannten, um sofort nach dem Kollegen Schütze zu fragen; man erhoffe wichtige Details zur Aufklärung von ihm. „Mist“, sagte ich, ohne zu ahnen, daß er noch eine Rolle spielen sollte, „ist einfach nicht aufzutreiben, dieser Schütze. Moment“, ich griff zum Telefon, „ich versuch’s zum zehntenmal.“ Aber weder der zuständige ABV noch der Betriebsteilleiter konnten die gewünschte Auskunft geben. Scymanzik klagte mit seiner klangvollen Stimme, daß er rein gar nichts mehr verstünde. Laut Plan und sonstigen Abmachungen müßte Kollege Schütze diese und jene Genossenschaften abgrasen, den fälligen nächsten Transport zusammentreiben, aber der Mensch sei wie vom Erdboden verschwunden und dabei bisher die Zuverlässigkeit in Person. Wir ließen uns überzeugen, daß der Mann auch so seine Sorgen hatte, und fuhren zunächst einmal nach Bennbach. Der Meister der Porzellanbemalungskunst, Beck, den wir diesmal hinter einem Zeichenbrett antrafen, das eigentlich auch eine Staffelei sein konnte, 155
brauchte geraume Zeit, unser Anliegen nicht als einen verfrühten Karnevalsscherz aufzufassen. „Ob Frau Bäumler mich was?“ „Sie haben schon richtig gehört“, versicherte Novy. „Zur Aufklärung der Umstände des Todes der Frau Bäumler interessiert uns tatsächlich, ob die alte Dame Sie, natürlich versehentlich, gekratzt oder auf ähnliche Art verletzt hat. Zum Beispiel in der Enge des Wagens … Ja, ich könnte mir vorstellen, daß Frau Bäumler unterwegs, als sie ihren Schwiegersohn mit seiner Geliebten entdeckte, sich impulsiv an Ihnen … nun ja, festklammerte oder so.“ „Oder so“, echote Beck, besah sich seine Hände, die makellos sauber waren, keine Spur einer Verletzung aufwiesen, allerdings manikürt zu sein schienen. Anschließend schob er beide Hemdsärmel hoch, entdeckte gleich uns auch dort keine Spur eines Kratzers, schüttelte verständnislos den Kopf. „Danke schön, Herr Beck. Wissen Sie zufällig Ihre Blutgruppe?“ Statt einer Antwort zeigte er uns die letzte Seite seines Personalausweises, und wir lasen: A Rh-positiv. „Prächtig“, kommentierte Novy und verabschiedete sich etwas frostig. Seine Mutter war von Herrn Beck recht treffend geschildert worden. Zunächst entpuppte sie sich als eine jener Frauen im Rentenalter, die sich noch mit Hingabe pflegen, blondieren und überhaupt alle Kosmetika geschickt zu nutzen wissen. Sie war auch keineswegs untätig. Vielleicht war es nur angeborener Geschäftssinn, daß sie die obere Etage eines geräumigen Hauses in eine Fremdenpension verwandelt hatte, wahrscheinlicher aber hatte 156
neben finanziellen Erwägungen die Einsicht den Ausschlag gegeben, daß der Kasten für sie und den noch ledigen Sohn als einzige Bewohner dem Amt für Wohnraumlenkung ein gigantischer Dorn im Auge sein mußte. Herr Beck, der seine Mutter sehr realistisch eingeschätzt hatte, erfüllte seine Pflichten ihr gegenüber anscheinend eisern; er hatte sie telefonisch über unser mögliches Kommen informiert. Und so empfing sie uns überaus freundlich mit den Worten: „Ich darf Ihnen versichern, daß meine Freundin Else weder zu kratzen noch gar zu beißen pflegte. Wenigstens mich nicht.“ Novy rang sich eine artige Verbeugung ab, und sie bat uns in ihr Prachtzimmer, welches ähnlich nostalgisch möbliert war wie das der Frau Bäumler, nur war es mindestens doppelt so groß. Der Reihe nach bot sie uns Sessel, Wodka, Bier und Kaffee an; wir lehnten aus reinem Zeitmangel alles ab, sogar den Kaffee. Als täte ihr der lächelnde Empfang angesichts des traurigen Anlasses plötzlich leid, seufzte sie anklagend, es sei doch schrecklich, was ihrer besten Freundin widerfahren war. „Sie sagen es“, stimmte Novy zu und brachte es fertig, sie mit gnädige Frau anzureden. Ihre Gegenfrage irritierte ihn sichtlich. „Sind Sie polnischer Abstammung?“ „Wieso?“ Ich sah ihn erstmals etwas außer Fassung. Im Nachbarland, so mußten wir uns belehren lassen, gäbe es auch heute noch zahlreiche Männer, die diese Art von Höflichkeit pflegten, ja sogar den Handkuß für unerläßlich hielten. Sie schwärmte minutenlang von ihren Auslandsreisen, die sie jährlich unternehme, ein Vergnügen, das sie sich leider erst in spätem Alter leisten könne. 157
Von Wert erfuhren wir leider nichts, sah man davon ab, daß die Schilderung des letzten Kaffeekränzchens mit ihrer „liebsten“ Freundin doch erheblich von der ihres Sohnes abwich. Vollends uninteressant wurde sie für uns, als auch sie ihre Blutgruppe nachweisen konnte: AB. Gegen sechzehn Uhr lag im Volkspolizei-Kreisamt noch immer keine Meldung über Schützes Aufenthaltsort vor. Sicher war nur, daß er mit dem Wagen am Morgen sein Heimatdorf verlassen hatte, völlig normal. „Verdammt“, fluchte ich aufgebracht, „der Kerl kann sich doch nicht mitsamt Auto in Luft aufgelöst haben? Am Ende müssen wir noch eine Fahndung einleiten! Aber wie begründen wir die, he?“ Novy hockte auf einem Stuhl und schwieg vor sich hin; offenbar war auch er mit seinem Latein am Ende. Und was er dann schließlich von sich gab, haben vor ihm schon Tausende als letzte Zuflucht benutzt. Er sagte abwesend: „Ich weiß nicht, irgendwo müssen wir einen Fehler gemacht haben. Mir ist Ihr Jugendfreund Sturm wahrhaftig nicht sympathisch, aber …“ „Was aber? Und wo ist der Fehler?“ Er zögerte, was auch ein ganz seltener Zug an ihm war. „Wo …? Vielleicht schon am Tatort?“ „Gehen wir doch hin!“ „Fahren wir lieber“, sagte er. Wir hinterließen, wo wir zu finden sein würden, und fuhren los. Versiegelte Wohnungen, in naßkalten Jahreszeiten scheußlich ausgekühlt, haben wenig Anheimelndes an sich. An Novy konnte ich keinerlei Empfindungen registrieren, er benahm sich wie der pünktlich zum Arbeitsbeginn erscheinende Chef eines mittleren Betriebes, der 158
zunächst sämtliche Zimmer inspiziert, ob auch alles in gewohntem Zustand ist. Dann wußte er allerdings auch erst einmal nicht weiter. Er klemmte sich hinter das Monstrum von Schreibtisch, murmelte etwas von Saukälte und holte aus der Brusttasche seines modischen Wildledermantels einen ganzen Packen Fotografien. Er blätterte ziemlich lustlos darin herum, verweilte einen Augenblick bei einer der Aufnahmen, welche die Tote in ihrem ungewöhnlichen Sterbebett zeigte, und legte dann die Fotos aller verwertbaren Schuhabdrücke wie ein Ansichtskartenverkäufer säuberlich nebeneinander. „Mein Herr Vorgesetzter“, räsonierte er dann, „geruht eine Idee zu haben, über die er nicht spricht. Noch nicht jedenfalls. Sollte es mit ’nem Haufen Rennerei verbunden sein, wird er mich freudig einweihen.“ Es war eine Art Eifersucht, stellte ich bei mir fest, aber sie beflügelte ihn irgendwie. Seine ganze Aufmerksamkeit galt auf einmal jenen Fotografien, auf denen die Spuren Rudis vom Flur ins Wohn- und weiter ins Schlafzimmer führten. „Der Mensch muß wahrhaftig geschwebt sein“, behauptete er unvermittelt. „Sturm trug nach eigenen Angaben Gummistiefel, hinterließ aber weder im Flur noch im Wohnzimmer Abdrücke.“ „Er kann sie beseitigt haben“, warf ich ein. „Wahrscheinlicher aber ist, daß Frau Bäumler ihn mit den verschmutzten Dingern gar nicht über die Schwelle ließ, er könnte also auch auf Strümpfen gegangen sein.“ „Stimmt auch wieder. Nur …“ Schrill wimmerte die Wohnungsklingel dazwischen, und draußen stand, weißbekittelt und mit einem turbanähnlichen Kopftuch, Frau Zauner. „Ein Leutnant Novy wird am Telefon verlangt, unten im Büro.“ 159
„Da hat einer Sehnsucht nach Konversation mit einem gebildeten Menschen“, scherzte er, aber es klang doch recht überzeugt. Wir stiegen die Treppe hinunter, Novy gab seiner Verwunderung Ausdruck, daß Frau Zauner zur Mittagsstunde noch im Geschäft war, und erntete den Stoßseufzer, daß die gestrige Abrechnung nicht stimme. Sie war taktvoll genug, uns das Büro zu zeigen und sich dann selbst in einer entfernten Ecke zu beschäftigen. Das Büro, klein und düster, war eher ein zusätzliches Warenlager als ein geeigneter Platz für ungestörte Abrechnungsarbeiten. Novy meldete sich und blinzelte mir dann zu; am anderen Ende sprach Genosse Draht. Was er mitzuteilen hatte, ließ Novy abwechselnd sieghaft lächeln und dann wieder die Stirn runzeln. Obwohl ich nicht viel mithören konnte, entnahm ich Novys hastigen Notizen doch einige bemerkenswerte Tatsachen. „Sehen wir uns heute noch? Soll ich noch zurück? Oder hier übernachten?“ schloß er das Gespräch. „Bleiben“, entschied Draht merkwürdig entschlossen. „Und alles nochmals auf die neuen Aspekte überprüfen. Bericht später vom VPKA aus.“ Als wir wieder oben im kalten Wohnzimmer standen, leistete sich Novy eine Gefühlsäußerung, die ich an ihm noch nicht beobachten konnte; er rieb sich zufrieden die Hände. „Lehmspuren“, begeisterte er sich, „Beharrlichkeit und Können führen eben doch zum Ziel. Lehm, wie er hier nirgends, dafür aber auf der von Sturm tatsächlich besuchten Baustelle anzutreffen ist. Hier“, meinte er wegwerfend, „gibt es ja nur Pjossek.“ „Was ist das?“ 160
„Dürftiger Sandboden, Mensch. Jedenfalls nannte mein Großvater, der aus Ostpreußen stammte, das Zeug so. Eins aber steht nun fest: Sturm muß, ganz wie wir vermuteten, die Wohnung hier ein zweites Mal betreten haben, und zwar durch das Badezimmer, denn dort fanden sich die Lehmreste. Damit dürfte sicher sein, daß er auch beim zweiten Besuch die Stiefel im Bad zurückließ.“ „Wobei die Frage ist, ob aus Umsicht oder ganz einfach, weil er ungestört ans Geld wollte. Was aber wiederum bedeutet, daß Frau Bäumler zu diesem Zeitpunkt noch lebte.“ „Und ihn überrascht hat!“ „Möglich“, gab er zu, sonderbarerweise ohne seine gewohnte Euphorie, die er sonst immer an den Tag legte, wenn es darum ging, Sturm zu überführen. „Möglich aber auch, daß er nicht allein war. Hier“, er schlug sein Notizbuch auf, wies auf eine unleserliche Notiz und sagte, „die Laborfritzen haben nämlich noch etwas herauskristallisiert, wenn der Ausdruck auch absolut nicht paßt.“ „Und was, wenn man fragen darf?“ „Exkremente von einem Wiederkäuer!“ „Von einem was?“ „Auf deutsch: Kuhscheiße.“ Er sah mich übertrieben bedeutungsvoll an. „Und wer hatte an jenem Abend mit Kühen zu tun?“ Ich tat ihm den Gefallen. „Schütze.“ „Genau!“ „Nun mal langsam! Schütze – stimmt! Aber erstens nicht nur Schütze, sondern eine ganze Anzahl anderer Personen. Zum Beispiel jeder, der Vieh ablieferte, jeder, der es verladen half, Recker zum Beispiel auch …“ „Recker!“ unterbrach er mich. „Die gleichen Argumente wie der liebe Herr Sturm!“ 161
„Zugegeben, er hätte die Rückstände auch am Samstag, als er den Badeofen reparierte, hinterlassen haben können …“ Erneut unterbrach er mich: „Und er ist am Sonntag mit seinen Viehwaggons wenige Minuten nach zwanzig Uhr abgefahren. Zur gleichen Zeit aber brannte noch Licht in dieser Wohnung. Stimmt aber Sturms Darstellung, dann müßte ein uns gänzlich Unbekannter die Tat begangen haben. Warum aber? Die Kassette war ja leer.“ „Dieser Umstand kann ihm dann ja gar nicht bekannt gewesen sein, ganz abgesehen davon, daß er beachtliche Werte unbeachtet ließ.“ „Stimmt auch wieder.“ „Hier ist jemand sowohl mit den Örtlichkeiten als auch mit dem Umstand vertraut gewesen, daß Frau Bäumler eben Bargeld im Übermaß zu horten pflegte. Aber es bleibt die Kardinalfrage: Was fand er vor, eine tote oder eine lebende Frau Bäumler?“ „Und warum dann die ganze Geschichte mit dem Sarg?“ „Möchte ich auch gern wissen.“ „Halten wir uns lieber an die Realitäten“, verlangte ich, „nämlich an Schütze. Wenn mir auch keineswegs einleuchten will, warum jemand, der von einem anderen Geld zu bekommen hat, sich an einem Verbrechen beteiligen sollte, wo ihm der Weg über das Gericht unbedingt zu seinem Recht verhilft.“ Novy nickte, überlegte kurz und fragte dann ganz sanft: „Trotzdem – wie kommt Kuhscheiße aufs Dach?“ Als wir in die triste Nebenstraße zu Reckers einbogen, goß es zur Abwechslung in Strömen. Das schmalbrüstige Haus wirkte wie ausgestorben, was mich einigermaßen 162
verwunderte; auch das ungute Gefühl stellte sich wieder ein. Manche Leute feiern einen Totogewinn tagelang, einige rasteten nicht eher, bis der Geldsegen wieder verdunstet ist wie Wasser unter ägyptischer Sonne. Ich sollte mich auch nicht geirrt haben. Die einzige in dem von einer Stehlampe nur dürftig beleuchteten Wohnzimmer war die alte Oma Recker. Sie lag, ein ansehnlicher Berg Mensch, das Gesicht zur Wand gedreht, auf einer nagelneuen schreiendgrünen Couch, die einzig sichtbare Veränderung im Raum, abgesehen von einer Batterie Flaschen mit mehr oder weniger hochprozentigen Getränken. Ansprechbar schien die alte Frau nicht zu sein, sie weinte im Gegenteil still vor sich hin, wendete nur widerwillig den Kopf, und erst als sie uns erkannte, richtete sie sich etwas auf. „Ach, Sie!“ war ihr ganzer Kommentar, und doch hörte ich eine gewisse Erleichterung heraus. Darauf ließ sie sich wieder zurückplumpsen, sah uns nun aber wenigstens an. „Sehr fröhlich geht es bei Großgewinnern anscheinend auch nicht immer zu“, konstatierte Novy nicht zu Unrecht und starrte interessiert den alten Regulator an. „Wo steckt denn Ihr Mann?“ fragte ich sachlich und mit unwillkürlich gedämpfter Stimme. Trotzdem fuhr sie regelrecht zusammen, und die Frage nach dem Alten mußte das Stichwort für neue Tränen gewesen sein. Endlich schluchzte sie: „Im Krankenhaus.“ „Hoppla“, entfuhr es mir; selbst ungewöhnlich rüstige Rentner schmiß also das Glück um, sofern man Glück mit viel Geld gleichsetzen wollte. „Das tut mir wirklich leid, hoffentlich ist es nichts Ernsthaftes?“ „Ach“, grollte sie unwirsch, ihre gewöhnliche Kampfeslust brach sich Bahn, „dem fehlt doch nischt nich!“ Sie 163
wuchtete sich hoch, versuchte mit wilden Handbewegungen ihr zerzaustes Haar zu bändigen und schnauzte mich tatsächlich an: „Hätten Sie bloß den Konrad, diesen Lumpen, noch länger eingebuchtet! Nämlich anstatt sich nach Hause zu scheren und sich auszuschlafen oder wenigstens hier weiterzusaufen“ – sie wies mit einer Mischung von Anklage und Stolz auf die herumstehenden Alkoholvorräte –, „was macht er? Geht prompt in die nächste Kneipe und betrinkt sich! Könn’ Se sich vorstellen, wie der hier ankam?“ Natürlich konnte ich das, und so nickte ich bekümmert. „Und überhaupt, was fragen Sie so hintenrum? Sie sind doch Polente, Sie müßten doch besser wissen als ich, was nu eigentlich ganz genau passiert ist.“ „Wir sind wahrhaftig ahnungslose Engel.“ Aber auch Engel erwies sich als Stichwort für Tränen, sie heulte wieder los. Doch der Sinn ihrer Worte war mehr als dunkel: „Das isser jetzt vielleicht schon.“ „Wer zum Teufel“, wurde ich ungemütlicher, „ist was? Der Saufbruder Konrad?“ Ihre Fähigkeit, von Jammer auf Offensive umzuschalten, war ganz erstaunlich. „Quatsch, Konrad! Dem is weiter nischt passiert, außer ’n paar Schrammen und Beulen. Aber der Rudi!“ Und dann erfuhren wir langatmig die Gründe für ihre Verfassung. Rudi hatte vom Großvater Geld für ein Zweisitzermoped bekommen, hatte es, noch ohne Fahrerlaubnis, brav nach Hause geschoben. Aber dann war der betrunkene Konrad erschienen, hatte sich des Mopeds bemächtigt, Rudi unter Androhung von Prügel auf den Sozius gezwungen, um ihm und sich selbst zu beweisen, 164
was für ein glänzender und kühner Kraftfahrer er doch sei. Das Resultat war, so niederträchtig es klingt, eigentlich ganz normal. Auf schnurgerader Landstraße war Konrad gegen einen Baum gerast. Und wie oft bei solchen Unfällen trug der Soziusfahrer die schwersten Verletzungen davon. „Und darum ist Opa im Krankenhaus“, schloß Frau Recker und fiel um wie ein Zweizentnersack. Schnaufend richtete sie sich aber sofort wieder auf. „Was woll’n Sie eigentlich von ihm?“ „Fragen stellen, Frau Recker, ist unsere Hauptbeschäftigung“ „Immer noch wegen der da drüben?“ „Immer noch.“ „Is die gar nich wert.“ „Darüber wollen wir uns lieber eines Urteils enthalten“, sagte ich, und dann fiel mir ein, daß sie uns wahrscheinlich auch helfen konnte. „Frau Recker – können Sie sich erinnern, ob Ihr Mann, ehe er drüben den Badeofen reinigte und dem Rudi etwas zur Hand ging, vorher in der Viehhalle war? Ich meine am Samstag.“ „Klar war er das, muß er ja.“ „Erklären Sie uns bitte, warum?“ Novy war endlich wieder hellwach. Oma Recker musterte ihn mitleidig, hier war ein Thema, in dem sie ihm überlegen war. „Weil“, sagte sie eifrig, „das Vieh schon am Tag vor der Verladung angeliefert wird, größere Posten jedenfalls. Gab ’n schönes Gedränge, wenn alle auf einmal kämen. Deswegen haben sie doch die neue Halle gebaut, Mann! Da braucht man eben bloß so ’ne Brücke auf Rädern an die Waggons schieben und das Vieh hineinscheuchen.“ „Und Ihr Mann kontrolliert die Halle jeden Morgen?“ 165
„Bloß wenn er da ist“, gab sie ihm Dunst. „Manchmal wird ja so’n Vieh über Nacht krank, oder sie verletzen sich gegenseitig, dann muß mein Mann natürlich ’n Tierarzt oder ’n Abdecker rufen.“ „Da arbeitet Ihr Mann ja mehr als mancher junge.“ „Hat ja auch freie Tage, so schlimm isses nich. Und meistens geht zu den Wochenenden Konrad mit. Saufen“, fügte sie bitterböse hinzu, „kostet nämlich Geld.“ „Und war er letzten Samstag auch …?“ Ich brachte den Satz tatsächlich nicht zu Ende. „Ja sicher doch.“ Wir verabschiedeten uns ziemlich hastig. „Saufen kostet Geld“, ahmte Novy Frau Recker nach, kaum daß wir im Wagen saßen. „Und brutal genug ist er auch, der Konrad. Und Kuhmist wird er auch mit herumgeschleppt haben. Und wir …“ Das Funktelefon meldete sich. Ich riß den Hörer ab, meldete mich und hörte, damit das Maß voll wurde, daß Schütze zu Hause sei, und das wahrscheinlich schon seit einigen Stunden. Natürlich traf ich den Verkehrten. „Ich werde Sie zur Beförderung vorschlagen“, brüllte ich und knallte den Hörer zurück. „Was regt uns denn nun schon wieder auf?“ Novy brachte es fertig zu grinsen. „Was! Was! Da hat dieser Schafskopp von einem ABV nichts anderes zu tun, als in einem Dorf von höchstens dreißig Häusern nur darauf zu achten, wann ein von uns dringend gebrauchter Bürger nach Hause kommt, und merkt das erst ein paar Stunden später.“ Ich nahm Richtung auf das Dorf. Konrad Recker saß entweder unter Obhut der Genossen von der Verkehrs166
polizei vor einem Arzt, balancierte mit geschlossenen Augen und vorgestreckten Händen auf einen Gegenstand zu oder war schon beim Protokoll im VPKA. Er saß sicher. Den Schafskopf nahm ich kaum zehn Minuten später zurück. Selbstverständlich hatte sich der ABV auf die Einfahrt zu Schützes Grundstück, auf dessen Ankunft mit dem roten Polski Fiat konzentriert, aber nicht an die Möglichkeit gedacht, daß Schütze weder mit dem Wagen noch durch das Einfahrtstor kommen könnte. Richard Schütze empfing uns wie ein verteidigungsbereiter Bauer zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Er stand auf dem trübe beleuchteten Gang zwischen den Koben eines Schweinestalles, auf eine Mistforke gestützt. Selbst im Dämmerlicht erkannte man, daß er angetrunken war; sein Blick war trübe wie die einsam von der Decke baumelnde Birne. Er besaß einen kleinen Bauernhof, von dem nur noch das Wohnhaus aus roten Klinkern in Schuß war. Eine den Hof zur Rückseite begrenzende Scheune verfiel sichtbar, eine der Stallungen hatte man zur Garage umfunktioniert. Mit einer vom Alkohol erzeugten „Tapferkeit“ fragte Schütze: „Was führt die Herren bei diesem Mistwetter in meine Kate?“ „Vielleicht will ich Schmerzensgeld eintreiben“, sagte Novy viel zu sanft; wahrscheinlich kochte er innerlich. „Ei, ei, wofür denn das?“ „Das klären wir noch bis in die letzte winzigste Einzelheit“, versicherte ihm Novy. „Ganz sicher auch, was Sie am letzten Sonntag zwischen neunzehn Uhr dreißig und einundzwanzig Uhr getrieben haben. Im Augenblick erwarten wir zuerst Ihre Erklärung, was Sie heute so alles vollbracht haben.“ 167
„Wie es einem Sozialisten geziemt, habe ich gearbeitet.“ „Den Ton lassen Sie ganz schnell sein, Herr Schütze. Im übrigen, was würden Sie sagen, wenn Ihr Chef eine gänzlich gegenteilige Ansicht vertritt?“ Seine künstliche Tapferkeit riß ihn fort. „Vielleicht“, höhnte er, „war ich auf der Suche nach passenden Gummistiefeln? Meine drei Paar stehen ja bei euch ’rum!“ „Nicht ohne Grund“, sagte ich scharf. „Und nun hat aller Spaß ein Ende. Ziehen Sie sich was Gescheites an, und kommen Sie mit!“ „Aber … warum denn?“ „Zur Klärung eines Sachverhaltes.“ „Können wir das nicht hier …?“ „Das hätten wir vor drei Tagen gekonnt“, sagte ich. „Und nun kommen Sie.“ „Aber ich kann nicht den Hof allein lassen! Meine Frau ist zur Kur … Sie können mich doch nicht einfach verhaften?“ Die „Tapferkeit“ floh überstürzt. „Wer spricht von verhaften? Und was den Hof angeht, dessen Sicherheit können Sie zunächst einmal uns anvertrauen, es wird bestimmt niemand etwas stehlen.“ „Und dazustellen gleich gar nicht“, gab Novy seinen Senf dazu. Er kapitulierte überraschend schnell, als er in meinem Dienstzimmer saß. Es genügte die knappe Aufklärung über Sturms Verhaftung und dessen Erklärung über den Zusammenhang mit Schützes Anwesenheit in unmittelbarer Nähe des Tatortes. „Der konnte noch nie die Schnauze halten“, fluchte Schütze und murmelte dann: „Also deswegen habe ich ihn nirgends gefunden heute.“ 168
„Wieso haben Sie ihn denn überhaupt gesucht?“ „Weil … Himmel Arsch, ich hatte Angst!“ „Erstens“, sagte Novy, „verschonen Sie uns bitte mit Kraftausdrücken. Zweitens: Wovor hatten Sie Angst? Und drittens: Angst haben Sie wohl bloß vor Tieren nicht, wie? Da gehn Sie doch ’ran, was?“ Schütze sah ihn beinahe verächtlich an. „Sie mögen ja ’n guter Kriminaler sein, aber von Vieh haben Sie keine Ahnung.“ „Zur Sache“, mußte ich einschreiten, „und am besten schön der Reihe nach, Herr Schütze. Was haben Sie zu Protokoll zu geben? Beginnen Sie mit Sonntag abend.“ „Da gibt’s nicht viel zu reden, mein Geld wollte ich endlich haben, mußte mir schon selbst was für den Wagen dazuborgen.“ Er hob die kräftigen Schultern. „Daß Sturm es sich von seiner Schwiegermutter besorgen wollte, hatte er mir zwar gesagt, aber wie er mit der Alten klarkam, war ja nicht mein Bier.“ „Im Grunde mag das stimmen … aber erzählen Sie erst mal weiter.“ „Viel mehr war’s nicht, ehrlich! Er hat mir ’s Geld tatsächlich gebracht.“ „Wann? Uhrzeit? Aber genau! Immerhin hatten Sie sich zu einer vorher festgelegten Zeit verabredet.“ „Na, halb acht doch, am Bahnübergang, wie’s ausgemacht war.“ „Sie lügen zwar“, konstatierte Novy ungerührt, „aber erst mal weiter. Warum fuhren Sie am Montagabend zu Sturm? Sie hatten doch Ihr Geld, für Sie war alles in Ordnung. Und“, er konnte tatsächlich laut werden, „kommen Sie mir ja nicht wieder mit der faulen Ausrede, Sie wären nicht dort gewesen!“ 169
Dieses Thema gefiel Schütze natürlich überhaupt nicht, er fuhrwerkte sich wild mit den schweren Händen durch das kurzgeschnittene Haar und beschwor uns: „Herrgott, ja, ich geb’s ja zu, aber …“ „Warum, wurde gefragt!“ „Verstehen Sie doch, Sonntag abend bringt er mir das Geld, geborgt von seiner Schwiegermutter, Montag abend hört man so auf halb nüchternem Magen, daß die Alte am gleichen Sonntagabend abgemurkst worden ist … Ich wollte doch da nicht mit hineingezogen werden!“ „Wie konnten Sie das, wenn Sie lediglich am Bahnübergang, also gute zweihundert Meter vom Tatort entfernt, Ihr Geld in Empfang genommen haben. Für Sie hätte es bei Ihrer Darstellung nur eine Sorge geben können, ja müssen – nämlich uns zu unterrichten.“ „Ich hatte einfach Angst …“ Aber Novy hatte ihn gut in der Zange. „Hören Sie mal, Sie Muster eines Angsthasen – wir wollen den Gegenbeweis, nämlich Ihren Hieb in mein Genick, erst einmal ausklammern –, vielleicht haben Sie vorhin versehentlich vergessen zu erwähnen, daß Sie, wegen des Sauwetters zum Beispiel, mit Ihrem Freund Sturm zusammen in Frau Bäumlers Wohnung waren?“ „Hat der Hund das etwa behauptet?“ „Wenn Sie auch vorwiegend mit Tieren zu tun haben, so wollen wir doch Ihren Freund denen nicht gleichsetzen.“ „Sagen Sie, Herr Schütze“, mischte ich mich gezielt ein, weil Novy nun einmal nicht aus seiner Haut konnte, „warum decken Sie eigentlich Ihren Freund? Oder den Kumpan aus alten Zeiten? Was wissen Sie denn, was er über Sie ausgesagt hat?“ „Ich hab’ scheußlichen Durst“, antwortete er, und das durfte man glauben. 170
Mit der durchaus anzüglich gemeinten Bemerkung, daß ich Bier leider nicht vorrätig hätte, zumindest nicht hier, reichte ich ihm eine Cola, die er gierig halb leer trank, und dann überraschte er uns gehörig. „Ich habe doch bloß die Leiter gehalten, ehrlich.“ „Na also“, seufzte ich erleichtert. Dieses erste Zugeständnis Schützes bedeutete unmißverständlich, daß Sturm zweimal in der Wohnung seiner Schwiegermutter gewesen sein mußte. „Wir hören!“ „Ja, das war so …“, begann er zögernd, trank erst noch die andere Hälfte, um dann fließender zu reden, „er kam paar Minuten vor halb acht, nur ohne Geld. Der alte Drachen hätte ihn ausgelacht. Sag’ ich: Ich muß mein Geld haben, sonst bin ich Dienstag aufm Gericht. Sagt er: Wie soll ich es denn machen, Mensch! Sag’ ich: Mir doch egal, bieg sie irgendwie ’rum, schieb Marion vors Loch. Sagt er: Die Alte läßt mich doch gar nicht mehr ’rein. Oder warte mal … Hier überlegte er und sagte dann: Müßte ich höchstens über die Leiter im Hof, oben fehlt das Badezimmerfenster. Sag’ ich: Worauf wartest du dann noch? Sagt er: Die Leiter ist ’n wackliges Ding, müßte einer halten.“ Er zuckelte an der leeren Flasche, und ich gab ihm noch eine; vermutlich hätte ich ihm, damit er weiter munter blieb, auch ein Bier gegeben. Er trank hastig, sein Brand mußte beträchtlich sein. „Bin ich eben mitgegangen, Mist verdammter.“ „Soweit scheint es glaubwürdig“, sagte ich, „nur, als Sie nun unten standen … Sie blieben doch unten?“ „Ja, natürlich …“ „Trugen Sie Gummistiefel?“ „Ja, ich kam doch …“ „Brannte irgendwo Licht im Haus?“ 171
„Ja, nach vorn ’raus, ein Fenster …“ „Wie lange blieb Sturm in der Wohnung?“ „Drei, vielleicht fünf Minuten.“ „Was dachten Sie sich dabei?“ „Ging ziemlich schnell, wo sie doch vorher …“ „Was schlössen Sie daraus?“ „Daß … daß er vielleicht … geklaut …“ Die Fragen prasselten förmlich auf ihn herab, ihm blieb keine Zeit zur Besinnung. Novy und ich waren gut aufeinander abgestimmt. „Was hörten Sie für Geräusche aus der Wohnung?“ „Gar keine …“ „Aber das Fenster fehlte doch!“ „Wirklich, war ganz still.“ „Wunderte Sie das nicht?“ „Doch, aber …“ „War Sturm nach diesen drei bis fünf Minuten verändert? Aufgeregt etwa?“ „Bißchen schon.“ „Wie erklärte er das?“ „Gar nicht, habe nicht gefragt.“ „Brannte dann immer noch das Licht oben?“ „Ja, war wohl ihr Schlafzimmer …“ „Wann gab Sturm Ihnen das Geld?“ „Erst im Wagen, weil ich ja zählen …“ „Fuhren Sie dann sofort ab? Welche Uhrzeit?“ „Sofort, etwa … vielleicht zehn vor acht …“ „Fuhr Sturm mit Ihnen?“ „Aber nein, er hat doch selbst …“ „Sahen Sie ihn seinen Wagen besteigen?“ „Nein, ich …“ „Wo parkte sein Fahrzeug?“ „Weiß ich nicht, vielleicht am Bahnhof …“ 172
Und dabei blieb er, obwohl wir alles noch zweimal durchpaukten. Ganz entschieden bestritt er, was wir ihm nicht nachweisen konnten: daß er die Wohnung betreten und sich am Verbrechen mitschuldig gemacht hatte. „Schön“, sagte ich ziemlich erschöpft, „und nun erklären Sie uns bitte noch, warum Sie am Montagabend den Genossen Leutnant tätlich angegriffen haben.“ „Sturm“, sagte er matt; er mußte ganz schön fertig sein. „Verfallen Sie zu guter Letzt nicht wieder in alte Gewohnheiten, Mann! Nach Sturms Aussage hat sein ihm angeblich zunächst unbekannter Besucher …“ „Nicht doch“, unterbrach mich Schütze, „ich meinte … ich wollte sagen, daß er mich dazu aufgehetzt hat. Er nämlich hatte jemanden in seinem Wagen gesehen und mich gebeten, mir den Dieb da draußen vorzunehmen.“ „Feiner Kumpel, was? Zumindest wird er doch geahnt haben, daß es kein Dieb war?“ „Bestimmt, habe ich hinterher auch begriffen. Da sagte er nämlich feixend, ob ich wüßte, wem ich da eins übergebraten hätte. Weil ich’s wirklich nicht wußte, ich kannte den … den Herrn Leutnant ja gar nicht, hat er’s mir dann erklärt. So und so, ja, und nun saß ich richtig in der Tinte, und deswegen …“ „Verstehe“, bekannte Novy großmütig, gähnte herzhaft und vollendete Schützes Bekenntnis, „deswegen hielten Sie hübsch brav den Mund. Na ja.“ „Und wo waren Sie heute?“ „Wo schon! Den Sturm habe ich gesucht, aber nicht gefunden. Wollte wissen, was denn nun Fakt ist. Laufen Sie mal dauernd mit dem Gefühl durch die Gegend, verhaftet zu werden. Bloß ging mir gegen Mittag die Karre kaputt, ’n neues Auto. Ja, da habe ich, weil ich auf den nächsten Bus warten mußte, mir einen angesoffen, und 173
anschließend hat mich ’n Bekannter bis nach Hause mitgenommen. Bin gleich hinten durch den Obstgarten ’rein.“ Nun ja, dachte ich, teilen kann sich auch ein ABV nicht, und ich nahm den Schafskopf vollends zurück. „Machen wir Schluß für heute.“ „Und ich?“ Schützes Frage war uns verständlich. „Sie halten sich morgen zu unserer Verfügung“, ordnete ich an. „Bei einer Gegenüberstellung mit Sturm werden wir sehen, was von Ihrer Darstellung der Ereignisse zu halten ist. Jetzt können Sie erst einmal gehen.“ „Aber wir haben morgen Verladung, gleich früh.“ „Na und? Da finden wir Sie ja auch. Oder?“ „Natürlich, ja, stimmt.“ Während wir uns für den Heimweg rüsteten – Novy übernachtete bei mir, denn Fremdenzimmer waren in unserem Städtchen Mangelware –, orakelte er: „Soll ich Ihnen mal verraten, was Genosse Draht morgen früh sagen wird, wenn wir unsere mageren Ergebnisse nicht mehr für uns behalten können? ‚Na und‘, wird er sagen, ‚fangen wir eben von vorn an, bloß entschieden gründlicher.‘“ „Womit er nichts Verkehrtes anordnet“, entgegnete ich müde, „aber für mager kann er unser heutiges Ermittlungsergebnis nicht halten. Hat Schütze sich überwunden, uns die volle Wahrheit zu sagen …“ „… dann wird’s vollends duster hinter den Kulissen“, unterbrach er mich schnoddrig. „In drei bis fünf Minuten, selbst wenn man solche Zeitangaben mit der Kneifzange anfassen sollte, kann Sturm unmöglich die Kassette geplündert, seine Schwiegermutter getötet, sie pietätvoll in die letzte ‚Ruhestätte‘ gebettet, alle Spuren beseitigt und 174
sogar noch am Sarg Staub gewischt haben! Und das alles, ohne das geringste Geräusch zu verursachen.“ „Stimmt. Aber es könnte bedeuten, daß sie schon tot war, als er zum zweitenmal kam …“ Novy wurde regelrecht wieder munter. „Nonsens“, unterbrach er mich, „warum hat er dann das Geld nicht gleich an sich genommen?“ „Vielleicht hatte er etwas vergessen, etwas, was ihn unbedingt verraten mußte? Zum Beispiel …“ „… die Tote in den Sarg zu betten, wie?“ Einen Augenblick reute mich die Einladung zur Übernachtung. „Nun aber bitte sachlich bleiben, wenn Sie auch übermüdet sind. Und außerdem, was streiten wir uns noch? Ich befehle Nachtruhe!“ Aber er konnte es einfach nicht lassen. Noch auf dem Flur murmelte er vorsichtig vor sich hin: „Es gibt noch eine dritte Möglichkeit, Genosse Oberleutnant.“ „Vielleicht sogar zehn, aber die dritte Variante, auf die Sie vermutlich anspielen, hat durchaus etwas für sich.“ „Nicht wahr? Sturm kann seinem zweiten einen dritten Besuch haben folgen lassen.“ „Genau. Denken wir nur an Oma Reckers Aussage, daß noch nach zwanzig Uhr in der Küche Licht brannte. Und Schütze trennte sich etwa zehn Minuten davor von Sturm.“ Als wir die Wache passierten – es war kurz nach Mitternacht – begegnete uns ein vom Streifendienst zurückkehrender Oberwachtmeister, der eben vom Wachhabenden Lottoscheine mit den Worten zugesteckt bekam: „Hier, hab’s nicht vergessen – wir sehen uns ja vor Montag nicht.“ Dem Genossen mußte das Glück jedenfalls noch nie hold gewesen sein, er murrte grimmig: „Hoffentlich 175
kommen nicht wieder solch dämliche Zahlen wie letztens. Sieben, acht, neun, zehn – das paßt doch bloß zum Fußballplatz, Mensch!“ „Sorgen haben die Leute!“ maulte Novy. „Wieso?“ fragte ich erstaunt. „Machen Sie sich nichts aus Fußball?“ „Aus Fußball schon, aber nichts aus Glücksspielen.“
176
MORGENDÄMMERUNG registriert Hauptmann Draht
Meine „Helden“ wirkten am Morgen ausgesprochen müde; eben angekommen, hatte ich sie um halb sieben holen lassen. Ich hatte den gestrigen Tag zwar nicht, wie gewünscht, für den Fall Else Bäumler nutzen können, im Grunde waren nur einige Telefonate geführt worden, aber auch die hatten mir zu denken gegeben. Nachdem ich mir das Band über Schützes Vernehmung angehört hatte, sagte ich nicht: „Noch mal von vorn, nur gründlicher“, sondern: „Nach Marx ist das Verbrechen die erste, bewußteste, roheste und zugleich unfruchtbarste Empörung gegen unmenschliche Zustände.“ Novy riß die Augen auf. „Und das auf nüchternen Magen!“ „Von wegen“, knurrte Kemmberg gutmütig, „den halben Kühlschrank haben Sie leergefuttert.“ Novy, der mich besser kannte als Kemmberg, wirkte dennoch unvermittelt wach; es war nicht meine Art, mich in Zitate zu retten, wenn ich nicht weiter wußte. Er lehnte sich gegen die Heizungsrippen unterm Fenster und nörgelte zunächst instinktiv ablehnend: „War gestern Politschulung?“ Es arbeitete in ihm, er begann warm zu werden. „Empörung … roh … unmenschlich!“ Er federte sich von dem Heizkörper ab, und ich sah ihm seine Absicht förmlich an; er hätte sich liebend gern an die Stirn getippt. „Was soll das? Empörung gegen 177
unmenschliche Zustände! Das hat doch Marx im Zusammenhang mit der sprunghaft steigenden Kriminalität im vorigen Jahrhundert analysiert!“ „Aber im Prinzip stimmst du ihm wohl doch zu?“ „Ist ja auch paar Nummern größer als ich.“ „Folglich ist das Verbrechen also eine Empörung gegen unmenschliche Zustände.“ Er wurde beinahe wütend, was man auch selten erlebte. „Wer, ich flehe dich an, sollte sich hier so unmenschlich behandelt fühlen, daß er einen Mord aus Auflehnung begehen muß! Oder einen Raubmord sogar?“ „Es gibt“, kam ich zum Kern, „zum Beispiel Legionen eingebildeter Kranker, es wimmelt von Leuten, die sich klüger und besser dünken als andere – und es kann Menschen geben, die sich einbilden, unmenschlich behandelt zu werden, sich übergangen oder zur Seite geschoben fühlen.“ „Dann könnte derjenige also sämtliche Behörden bis zum Staatspräsidenten mit Eingaben und Beschwerden derartig bombardieren, daß sie ihn in Watte packen, bloß um Ruhe zu haben!“ „Erstens würden sie das nicht, und zweitens … die bestehenden Vorbehalte oder was weiß ich wären damit auch nicht beseitigt, höchstens noch angehoben.“ Novy weigerte sich zu verstehen. „Ich muß passen.“ „Ein Festtag“, kommentierte Kemmberg aufgekratzt. „Wie wär’s, wenn wir weitermachten? Zum Beispiel mit einer Gegenüberstellung, also Sturm und Schütze frontal?“ „Wird geschehen, aber … haben wir wirklich ohne Fehl und Tadel gearbeitet? Zum Beispiel in puncto Alibi.“ Ich winkte ab, weil Novy seinen Einwand anbringen wollte. „Ja doch, Sturm kann etwa vierzig Minuten nicht nachweisen. Aber wir haben doch noch mehr. Schön, drei von Schützes Arbeitskollegen saßen zur Tatzeit beim 178
Skat, können sich gegenseitig entlasten und hätten auch noch den Wirt in petto. Schütze selbst, darin stimme ich mit euch überein, hatte keinen sichtbaren Grund, sich an einem Verbrechen zu beteiligen oder es selbständig zu begehen. Wie aber ist es mit den Reckers, von Rudi einmal abgesehen? Konrad? Der Alte?“ „Natürlich Reckers!“ fuhr Novy wie erwartet auf; aber ich kannte inzwischen den Grund für seine Emotionen. „Der gondelte nachweislich zwanzig Uhr vier mit seinen drei Viehwaggons in Richtung Dresden ab. Woher will der Mann die Zeit genommen haben? Zehn vor acht oder meinetwegen auch nur Viertel vor acht befanden sich Schütze und Sturm am oder sogar noch im Haus. Rechnet man die Tat selbst, bildhaft vorgestellt die ganzen Umstände, An- und Abmarsch … du lieber Himmel, der Greis kann doch nicht hexen, selbst wenn er noch so rüstig ist.“ Ich lächelte ihn freundlich an. „Nachweislich, mein lieber Novy, fuhren nur die Waggons pünktlich zwanzig Uhr vier mit dem Nahgüterzug 2652, kurz ‚Nahgüter Dresden‘ genannt.“ „Das wird sich ja wohl überprüfen lassen!“ „Sicher. Und genau deshalb wird Genosse Kemmberg nach unserer Besprechung zum Verschiebebahnhof Markeberg fahren. Ich habe gestern mit der dortigen Dispatcherzentrale gesprochen und um die Zusammenstellung bestimmter Fakten gebeten, bisher aber keine Antwort erhalten. Ganz abgesehen davon, daß es besser ist, die Gegebenheiten von uns an Ort und Stelle zu prüfen.“ „In Ordnung“, sagte Kemmberg und überlegte dann laut: „Der alte Recker, ich weiß nicht, was sollte der bloß für ein Motiv gehabt haben?“ „Keine Ahnung“, bekannte ich trocken. „Und ist auch gar nicht die Frage. Sie sollen nur Überprüfer, Unterlas179
sungssünden korrigieren, das ist alles. Übrigens Sünden – was ich da über Konrad Recker hören muß, ist auch so ein Ding. An den Mann hatte anfangs niemand gedacht, mich eingeschlossen. Na, am besten, wir hören ihn uns einmal an. Lassen sie ihn vorführen, oder tun Sie’s am besten selbst.“ Kemmberg ließ pfeifend Atemluft ab, stürmte an mir vorbei, und mir war, als murmelte er: „Heiliger Bimbam.“ Auch Novy kraulte sich verlegen im Genick und bemühte sich, ein unbeteiligtes Gesicht aufzusetzen. „Ist was?“ „Was soll sein?“ fragte er ungemein zahm. Kemmberg enthob ihn einer umständlichen Erklärung, er knallte die Tür zu und dröhnte: „Entlassen haben die Brüder von der Verkehrspolizei Konrad Recker, einfach wieder laufenlassen! Stellt euch das mal vor! Lassen ihn laufen mit sage und schreibe achtzehntausend Mark in bar in der Tasche!“ „Es ist nicht verboten, mit achtzehntausend Mark spazierenzugehen, es entspricht auch unseren Rechtsnormen, einen Straffälligen bis zur Urteilsverkündung und darüber auf freiem Fuß zu belassen. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß die VK Recker entlassen hat, wenn er zu eurer Verfügung gehalten werden sollte.“ „Wir hatten … wir waren … verdammt spät geworden gestern.“ „Zwar keine Entschuldigung, aber … na, fahren wir eben gleich mal hin. Er müßte nach seinen strapaziösen ‚Partys‘ noch fest schlafen. Hingegen wünsche ich mir von euch beiden etwas mehr Munterkeit, klar?“ Das Wetter hatte über Nacht umgeschlagen. Es war etwas neblig, und leichter Frost steckte in dem von Feuchtigkeit 180
gesättigten Boden; vor allem aber war es nicht mehr dieses kribbelig, mürrisch oder mitunter melancholisch machende Wetter. Und es war Wochenende, fünf Tage waren verstrichen. Diesmal platzten wir in eine Frühstückstafel, die den Ausdruck nur vom überreich gedeckten Tisch her rechtfertigte. Nicht weniger als fünf Kinder im Alter zwischen etwa vier und vierzehn Jahren quirlten rund um den Tisch, und Oma Reckers strenge Befehle, sich ja hinzusetzen, fruchteten überhaupt nichts. Es war eine so muntere Gesellschaft, daß die alte Frau unser Klopfen überhörte und erst ihr Schelten unterbrach, als wir einige Sekunden in der offenen Tür gestanden hatten. „Sie schon wieder?“ „Sie müssen schon entschuldigen“, sagte ich, „aber manchmal sind wir gezwungen, ungebeten zu erscheinen. Es geht auch nur um einige Fragen an Ihren Enkel Konrad. Schläft er noch?“ Die Kinder, teils mit Stullen in der Hand, beäugten uns je nach Temperament scheu oder neugierig. „Was soll’n das? Der ist doch bei euch, den habt ihr doch!“ „Wie bitte“, entfuhr es mir, aber es gelang mir noch, den Vergeßlichen zu mimen. „Ja, richtig! Sie müssen entschuldigen, Frau Recker, aber wir kommen von außerhalb und sind nicht so ganz auf dem laufenden, wie mir scheint.“ Nach einigen nichtssagenden Wünschen fürs Wochenende zerrte ich Novy nach draußen. „Wird eine Freundin haben“, vermutete er laut und lustlos, „soll in dem Alter vorkommen.“ „Mach jetzt bloß keine Witze. Los!“ Wir stiegen in den Wagen, wo ich sofort Verbindung mit dem VPKA 181
aufnahm. „Konrad Reckers Aufenthaltsort ermitteln, Erkundigungen bei Arbeitskollegen und so weiter über eine Bekannte einziehen, kurz, stellen Sie fest, wo der Kerl steckt.“ „Warum haben wir die Oma nicht gefragt? Großmütter sind klug und weise!“ „Offenbar im Gegensatz zu dir“, antwortete ich gereizt; irgendwie schwante mir Unheil, wie meine eigene Großmutter bei bösen Vorahnungen zu formulieren pflegte. „Und nun fahr doch endlich los!“ „Selbst einem Taxifahrer muß man das Ziel angeben.“ „Zum Bahnhof natürlich!“ „Selbstverständlich, zum Bahnhof natürlich! Wohin auch sonst?“ Einen Moment schien er verstimmt, aber er fing sich wie gewohnt rasch. „Was versprichst du dir davon? Seit Montag abend wissen wir, daß der Güterzug pünktlich zwanzig Uhr vier abgefahren ist.“ „Aber wir wissen nicht, wann er angekommen ist, in Markeberg zum Beispiel.“ „Das zu ermitteln, dürfte doch Kemmbergs Aufgabe sein.“ „Schon, aber ich frage mich, rein theoretisch, warum etwa der alte Recker genau an diesem Sonntagabend ein Verbrechen begangen haben könnte …“ Novy wollte mich unterbrechen. „Ja doch; ich sprach doch von einer Theorie. Mann!“ Aber wir fanden beim Fahrdienstleiter nichts, was diese Theorie unterstützt hätte. Der Zug war Viertel vor acht eingelaufen, hatte vier Waggons Kohle und drei Waggons Zement ausrangiert, die drei Viehwagen angekoppelt und war abgedampft; abgedieselt konnte man nicht 182
gut sagen. Das ließ sich an Hand diverser Belege einwandfrei feststellen. Das alles erfuhren wir ganz exakt, während der Fahrdienstleiter bald hier telefonierte, dort Fernschreiben ablas, zwischendurch die rote Dienstmütze mehrmals aufund absetzte und zweimal hinaus auf den Bahnsteig eilte, um vorbeidonnernde Güterzüge in Augenschein zu nehmen. Den Mann konnte man um seine Arbeit auch nicht gerade beneiden. „Soviel ich weiß“, nutzte ich einige ruhige Minuten, „hatten Sie am vergangenen Sonntag Spätdienst. Können Sie sich daran erinnern?“ „Stimmt, ja.“ Er hörte sich meine Fragen aufmerksam an, dachte auch nicht lange nach, sondern gab erfreulich flott Auskunft: „Der Lottokönig … eh, der alte Recker? Sicher, der war hier, hat sich nach der Abfahrtszeit erkundigt, wegen Verspätung und so. Aber daran ist nichts Ungewöhnliches, im Gegenteil, das machen sie alle so, manchmal fährt ja auch ein anderer mit, wenn Recker frei hat oder krank ist. Denn bei Verspätung … wer wird sich schon bei Mistwetter unnötig bei den Waggons aufhalten? Meist gehen sie dann eben noch in den Wartesaal.“ „Können Sie sich erinnern, wann er bei Ihnen nachfragte?“ „Mhm – wie man weiß, wollen Sie das möglichst auf die Sekunde wissen, nicht? Aber …“, er dachte angestrengt nach, „nach acht ja ganz gewiß nicht, und vor halb acht auch kaum, kurz davor hatten sie ja erst die Verladung abgeschlossen. Also irgendwann dazwischen.“ „Versuchen Sie das bitte zu präzisieren! Wann kam dann der Güterzug? Da mußten Sie doch ’raus? Oder?“ 183
„Richtig, ja!“ Er schob heftig die rote Dienstmütze hin und her. „Also muß er … Klar doch, Nachrichten war’n gerade, das Radio läuft bei mir immer. Ich würde sagen … ungefähr fünf oder auch sieben Minuten nach halb acht.“ „Blieb er lange – oder sagen wir länger?“ „Nein, nein, konnte er ja nicht, der Zug kam doch pünktlich. Er stand zwar noch ein bißchen an der Tür herum, aber höchstens ein paar Minuten. Ja, und weiter kann ich Ihnen beim besten Willen darüber nichts sagen. Daß er seine Pfeife rauchte, interessiert Sie doch wohl kaum?“ „Nein, aber schnell noch eine andere Frage: Wann werden heute die beladenen Waggons abgeholt oder wie das in Ihrer Fachsprache heißt?“ Er wußte es aus dem Kopf. „Elf Uhr zehn, mit dem G 1713.“ Draußen sah mich Novy fragend an. „Und nun? Was hilft uns das?“ „Wir werden sehen.“ „Und wo, bitte?“ „Weiß ich nicht, fahren wir erst mal zur Dienststelle, vielleicht hat Kemmberg Neuigkeiten.“ Von dort erreichten wir ihn ohne Mühe telefonisch in Markeberg; er hatte sich in der Dispatcherzentrale eingenistet. Er berichtete vorsichtig und gedämpft; vermutlich war er nicht allein. „Ich habe mit dem Zugführer des Nahgüterzugs vom Sonntag gesprochen. Der Mann erinnert sich genau, den Transportbegleiter der Viehwaggons neben seinen Waggons gesprochen zu haben, Namen weiß er natürlich nicht. Scheint auch eine Sackgasse zu werden, Genosse Hauptmann.“ „Bleiben Sie dort, wir kommen vielleicht nach, oder Sie erhalten andere Weisungen. Bitte suchen Sie noch 184
nach weiteren Zeugen. Schließlich fällt ein Nichtuniformierter nachts auf einem großen Verschiebebahnhof doch auf!“ „Geht klar!“ Ganz und gar daneben aber ging die Suche nach Konrad Recker. Der VEB Kohlehandel meldete den Verlust – sie sagten Diebstahl – eines betriebseigenen Moskwitschs, der ungesichert in einer Garage abgestellt gewesen war, deren Tür allerdings nur ein primitives Schloß aufwies, mit jedem gebogenen Nagel zu öffnen. „Falls das auch auf Reckers Konto geht … Der Kerl muß doch völlig durchgedreht sein! Eben erst einen saftigen Verkehrsunfall hinter sich, klaut der sich einen Pkw und rast schon wieder durch die Gegend? Ohne Papiere, ohne Fahrerlaubnis? Der ist größenwahnsinnig, der denkt wohl, mit ordentlich Geld in der Tasche kann man für ewige Zeiten alle Puppen tanzen lassen!“ „Mich interessiert mehr“, sagte ich auf diesen Gefühlsausbruch Novys nachdenklich, „warum der Alte dem Konrad so viel Bargeld gegeben hat. Schließlich kennt er seinen Enkel doch gut genug, er weiß, daß der Bursche trinkt.“ „Und … wenn er es gar nicht von seinem Großvater hätte?“ „Überlege ich auch schon. Aber wir fanden in der Wohnung der Toten keinen einzigen Anhaltspunkt dafür, daß er der Täter gewesen sein könnte. Und außerdem müßte Frau Bäumler dann noch ein weiteres Versteck für erhebliche Summen gehabt haben.“ „Er kann alle Spuren, Fingerabdrücke und so weiter, säuberlich entfernt haben, Zeit hätte er die ganze Nacht gehabt, denn sein Alibi kennen wir noch gar nicht.“ 185
„Erst nachdenken, mein Bester! Damit wären unweigerlich auch alle anderen Fingerabdrücke, jedenfalls der größte Teil, vernichtet gewesen. Ich will dir so weit folgen, daß er es vielleicht auf die Kassette abgesehen hatte. Die aber leer war, wie wir von Sturm wissen.“ „Was wiederum Konrad nicht wissen konnte. Wäre doch durchaus vorstellbar, daß ihn die alte Dame überraschte und er sie zum Schweigen brachte, um sich vor einer Anzeige zu schützen.“ Ich fand diese Lösung zu einfach. „Alle diese Argumente träfen aber auch auf den Alten zu.“ „Aber um Himmels willen“, beschwor mich Novy, „mal ganz davon abgesehen, daß Großvater Recker wahrscheinlich doch wohl unterwegs war, warum sollte er ausgerechnet am Sonntagabend in die Wohnung eingedrungen sein? Er, der jeden Tag beliebig Zutritt hatte? Opa Recker, der vielleicht im Augenblick reichste Mann der Stadt?“ „Auch er wußte weder, daß es aus der Kassette nichts mehr zu holen gab, noch daß er einen hohen Lottogewinn erzielen würde. Aber er konnte sich, wie sich vielleicht beweisen lassen wird, ein fast unantastbares Alibi zimmern, sofern er keinem Zufallszeugen begegnete.“ Novy hörte gar nicht mehr zu. Er blickte an mir vorbei, nahm die Brille ab, kaute abwechselnd auf beiden Bügelenden und fragte einfach so vor sich hin: „Und wenn er es doch schon wußte? Das mit dem Lottogewinn?“ Ich spürte genau, irgendwie war er mir jetzt um Längen voraus. Dennoch gebot die Logik: „Dann hätte er doch gleich gar keinen Grund für ein Verbrechen gehabt!“ „Komm“, sagte Novy nur, „ich glaube, ich hab’s.“ Eine knappe Stunde später zwangen uns nie geschlossenen Schranken zum Halt in einer sich ständig verlängernden 186
Kraftwagenschlange. Das Wetter war unverhofft die Freundlichkeit selbst, von Nebel keine Spur mehr, dafür schien die Sonne, matt zwar, wie die späte Herbstsonne sich gibt, doch durch die Scheiben des Wagens täuschte sie Wärmekraft vor. Wummernd näherte sich vom Bahnhof her eine V 2000 und schien nur mühsam die angekoppelte Last von der Stelle zu bringen. Aber schon in Höhe des Übergangs wuchs die Geschwindigkeit mit jeder Achsumdrehung. Dann klopften sie auf einem Schienenstoß vorbei, Waggon um Waggon, mitten unter ihnen zwei mit Rindern beladen, die man durch die dreiviertel geschlossenen Schiebetüren gut erkennen konnte. „Da fährt er hin“, murmelte Novy mit klassischem Einschlag. Die Schranken blieben noch geschlossen, als der letzte Waggon längst unter einer Hunderte von Metern entfernten Straßenüberführung verschwunden war. „Wenn man es schon eilig hat!“ „Wir haben Zeit“, versicherte ich und mußte mich dann auf das Funktelefon konzentrieren. Die Meldung betraf die Aufenthaltsermittlung Konrad Reckers. Ein aufmerksamer Gastwirt in einer Ortschaft, etwas über fünfzig Kilometer entfernt, hatte die Polizei verständigt, daß bei ihm ein offensichtlich schon angetrunkener Bürger zwei Bier und einen doppelten polnischen Wodka getrunken hatte, anschließend einen Moskwitsch bestieg und weiterfuhr. Hervorgehoben wurde, daß sich Konrad Recker einer vorläufigen Festnahme tätlich widersetzt hatte. „Meine Rede“, kommentierte Novy, während vor uns ein Schnellzug über die Gleise raste, „total aus den Fugen vom Geldsegen.“ „Wird alles aufgerechnet“, entgegnete ich beinahe melancholisch; das gewohnte Gefühl von Befriedigung oder 187
gar Triumph bei Aufklärung eines Verbrechens wollte sich diesmal nicht einstellen. Die Schranken glitten unhörbar aufwärts, und Novy startete mit den Worten: „Na, dann werden wir wohl müssen, wie?“ Und das war die richtige Formulierung, wir mußten.
188
LEERE HÄNDE bekennt Dietrich Recker
Ich wußte, daß es gleich soweit sein würde, und sah doch bloß hinter der Schlange Kesselwaggons auf dem Nebengleis ein Paar hohe Wildlederschuhe und graue Hosenbeine, die Schritt um Schritt das Ende bedeuteten. Mein Ende, denn ich wußte – oder fühlte, sagt man wohl –, zu wem Schuhe und Hose gehörten. Trotzdem blieb ich auf dem Bündel Stroh sitzen, durch den Spalt der viertel offenen Tür spürte ich seltsam warm die müde Herbstsonne. Und dann kam er um den letzten Waggon herum, irgendwie ein Fremdkörper in seinem hellen Wintermantel und dem Hut. So lief man hier nicht herum, mitten im scheinbaren Durcheinander eines Verschiebebahnhofes, wo Dieselloks unablässig hin und her brummen, dazwischen noch einige der guten alten Dampfloks zischen und fauchen. Wo fast dauernd Waggons aufeinanderpoltern, Personen- oder Schnellzüge durchfahren, Hemmschuhe aufkreischen und durch die vielen Lautsprecher scheinbar unsinnige Kommandos schallen. Und nun stand er vor mir, aber ich empfand ihn nicht einmal als Feind. Es war gut, daß er hierherkam, nicht nach Hause. „Da sind Sie also“, sagte ich. „Ja, da bin ich.“ „Der Konrad, nicht?“ 189
„Nein“, sagte er und zog ein ganzes Bündel Lottoscheine aus der Manteltasche, „nicht Konrad. Das hier, Herr Recker. Seit Jahren immer die gleichen Zahlen. Sieben, acht, neun, zehn, dreißig, vierzig, neunundvierzig. Und es sind Frau Bäumlers Zahlen gewesen.“ Ich nickte wie von selbst. „Ja, diese verrückten Zahlen. Und ich dachte immer bei mir, wenn die Alte darauf tatsächlich mal groß rauskommt, dann kann ebensogut die Welt untergehen. Aber die Kugeln hatten es so gewollt, und ich … Ich hätte es nicht tun sollen. Und es hat uns auch kein Glück gebracht.“ „Solche Dinge bringen selten Glück.“ „Sagen Sie das nicht, Herr Hauptmann. Man kann es nachlesen, daß die meisten Vermögen durch Betrügereien, Raub und schlimmere Verbrechen erworben wurden.“ „Aber nicht bei uns.“ Er sah mich mitleidig an – oder bildete ich mir das nur ein? – und streckte die Hand aus, wollte mir wohl aus dem Waggon helfen. „Nein, bitte nicht!“ Hier war ich mit ihm allein, niemand würde dazwischenreden, vielleicht dummes Zeug plappern. „Lassen Sie uns hier sprechen, hier und nicht woanders. Bin ja zum letztenmal bei den Tieren. Mancher mag’s ja komisch finden oder sogar darüber lachen, aber ich hab’ meine Arbeit gern gemacht. Ja, hier war ich gern, im Betrieb meine ich. Da war ich ’n Kollege, nicht bloß ’n Recker.“ „Ich fürchte, Sie leiden an einem Komplex.“ Hätte er nicht sagen sollen, davon konnte er kaum etwas verstehen, und irgendwie paßte es nicht zu dem Bild, das ich mir von ihm machte. Aber ich mußte ja antworten. „Leiden, gelitten, ja, so nennt man das wohl. Bloß, ob Sie’s begreifen können? Sie schleppen keinen abfällig ausgesprochenen Namen mit sich herum, nein, Sie sind 190
Hauptmann, ein Kriminaler, und kein schlechter. Sie sehen auch nicht vertrottelt aus, mußten auch bestimmt nicht als Kind mit meist viel zu großen und zerrissenen Klamotten herumlaufen, wurden nicht schief angesehen und hin und her geschubst. Sie hatten wohl auch kaum eine ewige Rotznase, die man am Ärmel abwischt, weil man so’n Luxus wie’n Taschentuch nicht hat und die Eltern keine Zeit für solche Nebensächlichkeiten haben.“ Obwohl ich sah, daß der Herr Hauptmann fröstelte, stopfte ich mir die Tabakspfeife und zündete sie an. „Vielleicht auch die letzte“, sagte ich. „Unsinn! Auch im …“ Er sprach’s nicht aus, aber ich verstand schon. Zuchthaus wollte er sagen. Oder Strafvollzug, wie sie’s jetzt nennen. Aber er verstand nichts, und das konnte er gar nicht. „Bleiben wir bei der Sache“, verlangte er, wie er es wohl schon hundertmal gefordert hatte, „ich finde es nicht sonderlich gemütlich hier. Also bitte!“ „Jaja, Herr Hauptmann, bloß da gibt’s eigentlich nicht viel zu sagen. Sie wissen’s ja, ich habe die Frau Bäumler umgebracht. Hier“, ich zeigte ihm meine schmutzigen Hände, „damit habe ich’s getan. Erwürgt, verstehen Sie? Einfach so am Hals erwürgt.“ „Und Sie haben eine Sterbende erwürgt!“ Was sollte das? Sterbende? „Nee, nee, das glaube ich dem Herrn Hauptmann ja nun nicht. Sehen Sie, als …“ Er unterbrach mich. „Schildern Sie den Hergang doch der Reihe nach. Genau betrachtet, muß Ihr Besuch beim Fahrdienstleiter am Sonntagabend ihre Tat ausgelöst haben, denn dessen Radio lief.“ „Stimmt, Sie haben’s rausgekriegt. Da fing’s an. Es traf mich wie’n Donnerschlag, ein … ein … Ich kann’s 191
einfach nicht beschreiben. Jedenfalls kamen die sogenannten Glückszahlen durch, und es waren genau der Alten ihre Zahlen, diese blödsinnigen Zahlen. In meinem Kopf war bloß immer der Gedanke, daß nun ausgerechnet sie einen Berg Geld gewinnen würde. Sie, die viel mehr besaß, als sie je noch brauchen konnte. Und ich kannte ja ihre Zahlen auswendig, der Gang zur Post bis mitten in der Stadt war ihr viel zu weit. Mußt’ eben ich immer erledigen. Na ja, manchmal hat’s auch Mutter übernommen oder der Konrad, der fuhr ja am Tag paarmal am Postamt vorbei.“ Ja, sie hatten es rausgekriegt, vielleicht nur wegen der vielen anderen Tippscheine. Ich mußte ihn einfach fragen: „Die Scheine da in Ihrer Tasche – ich hätte sie wohl alle mitnehmen müssen?“ Ehrlich war er, der Herr Hauptmann. „Es hätte unsere Arbeit bedeutend erschwert, zumindest verzögert. Aber mal weiter.“ „Gleich, gleich. Nämlich das mit den gesammelten Scheinen, das paßte ganz genau zu ihr. Sie bestand ja nur aus Geiz und Geldgier, sie hatte wohl gehofft, es gibt eines Tages, wie früher, wieder Bücher für zweihundert getippte Scheine. Bücher, die sie nie gelesen hat, solche sozialistischen. Gewöhnlich hat sie sie zu irgendwelchen Anlässen verschenkt – vor Jahren hatte sie nämlich oft gleich mehrere Tips abgegeben –, und die meisten hab’ wohl ich. Zu Weihnachten und so.“ „Und dort, im Küchenschrank, lag auch der letzte Schein? Einfach so?“ „Einfach so. Warum auch nicht? Mehr als ’n paar Dreier hat sie nie geschafft. Doch, doch, er lag obendrauf. Und nun wußte ich, daß es auf dieses Stückchen Papier ’ne Menge Geld geben würde, wo sie doch schon drauf saß.“ 192
„Wie denn, Sie kannten Frau Bäumlers Vermögenslage?“ „Ganz genau sogar. Geprahlt hat sie damit vor mir, bloß damit ich nie vergaß, wieviel tüchtiger sie war und daß sie höher stand als ich.“ Ich sah es dem Herrn Hauptmann an, daß er sich solch ein Verhalten nicht vorstellen konnte. Wie sollte er auch? Denn wie sagte man bei uns, den einfachen Leuten? ‚Wenn der Barmer nichts hat, besitzt der Prahlhans schon gar nichts.‘ „Ich höre gern weiter“, mahnte er. „Jaja … ich weiß nicht, wie von selbst kam der Wunsch, diesen einen Schein zu besitzen. Irgendwie konnte ich gar nichts dagegen machen, das bohrte und bohrte und lockte – und dann bin ich eben losgegangen.“ „Können Sie sich an die Uhrzeit erinnern?“ „Muß ziemlich genau um acht gewesen sein. Ich hatte noch mit dem Zugführer gesprochen, weiß gar nicht mehr, was, wußte bloß immer, daß kaum zweihundert Meter entfernt ein Vermögen lag. Es war ja für mich ganz einfach, ungesehen auf den Hof zu kommen. Und da stand die Leiter.“ „Brannte Licht in Frau Bäumlers Wohnung?“ „Aber nein! Alles war dunkel. Und ich wußte ja, daß sie abends zwischen sieben und acht zu Bett geht. Sie schläft, dachte ich, und doch hat’s mich gewundert.“ „Wieso das?“ „Weil … na ja, sie konnte doch auch die Gewinnzahlen gehört oder schon die Ziehung im Fernsehen verfolgt haben, nicht? Da hätte sie vor Aufregung doch nicht schlafen können …“ „Moment“, bremste er und schien überrascht, „das würde ja bedeuten, daß Sie nicht mit dem Vorsatz kamen, sich gewaltsam in den Besitz des Scheines zu setzen!“ 193
„Weiß ich selbst nicht. Ich wußte bloß, diesen einen Schein mußt du ganz einfach haben. Aber weil doch eben kein Licht brannte, auch im Wohnzimmer nicht, das hätte man durch die Oberlichter der Türen gesehen, da dachte ich: Um so besser, sie wird gar nichts merken.“ „Aber sie hat Sie bemerkt!“ „Das war viel später. Ich kam durchs Badezimmer ganz leicht in die Küche. Im Korridor hatte ich ein Weilchen gelauscht, aber es blieb alles still. Und der Schein lag da wie immer.“ „Fanden Sie ihn im Dunkeln?“ „Hätte ich gekonnt, aber ich mußte ja den richtigen haben, nicht? Nee, ich hatte für’n Moment Licht angeknipst, ’ne Minute vielleicht oder zwei. Bloß dann, als ich aus der Küche wieder ’raus war, da … da ging plötzlich die Wohnzimmertür auf, das Licht an, und sie stand vor mir wie … wie’n Gespenst. Und wie sie aussah! Gar nicht mehr feine Dame. Vollständig angezogen, aber mit zerzausten Haaren. In der einen Hand den verdammten Stock, die andere aufs Herz gepreßt. War ihr ständiger Vorwand, ihre Herzgeschichte, damit man sie ja von vorn und hinten bediente.“ „Sie nahmen also an, Frau Bäumler spielte Theater?“ „Aber sicher, das kannte ich doch seit Jahren.“ „Und doch irrten Sie sich diesmal gehörig, Recker! Frau Bäumler simulierte keineswegs. Sie können es natürlich nicht wissen, aber sie hatte gerade eben einen Anfall überstanden. Ihr Schwiegersohn, Herr Sturm, war nämlich ungefähr eine halbe Stunde vor Ihnen dagewesen, und es hat eine aufregende Szene gegeben. Ihr plötzliches Auftauchen löste den zweiten, lebensbedrohlichen Herzanfall aus.“ 194
„So?“ Der Herr Hauptmann ließ mir keine Zeit, darüber nachzudenken, war eben doch nur ’n Büromensch, das hier draußen war nichts für ihn. „Weiter, Recker! Frau Bäumler stand also völlig überraschend in der Tür. Was geschah dann?“ „Eigentlich wollte ich ihr alles erklären, kam aber gar nicht dazu. ‚Sie Verbrecher, Sie!‘ keuchte sie los, richtig widerlich schrill, ‚Ich werde Sie dahin bringen, wohin Sie gehören – hinter Gitter! Wer weiß, wie oft Sie mich schon bestohlen haben! Das ist wohl der Dank dafür, daß Sie und Ihre Familie nur Gutes von mir erfahren haben?‘ Sie ließ mich gar nicht zu Wort kommen, schließlich wollte sie. mir mit dem Stock eins überziehen und schrie dabei: ‚Noch so ein hinterhältiger, nichtswürdiger Schuft!‘ Hat mich trotz ihres Geschreis bißchen gewundert, aber wenn’s ihr der Sturm schon vorher gegeben hat? Und überhaupt, Sie wußte gar nicht, worum es ging, und doch beschimpfte sie mich wie ’ne Wahnsinnige … bis ich ihr den Lottoschein zeigte. Am nächsten Tag hätte sie ihn ja vermißt, nicht?“ „Wie, Sie hofften, daß sie ihn freiwillig abgibt?“ Das brachte der Herr Hauptmann vielleicht komisch ’raus! Und das war’s ja auch gewesen. Tatsächlich, ein bißchen in dieser blödsinnigen Hoffnung war ich losgetappt, wo ich sie doch so genau kannte! „Gebettelt hab’ ich wie’n Kind nach ’ner Tüte Bonbons. Sie hatte doch übergenug, und ich war immer nur ’n armer Hund gewesen. Es war die Chance, den Kindern ein besseres Fortkommen zu ermöglichen. Ich selber … Gott, was brauche ich schon noch? Aber … sie lachte! Lachte mich bloß aus – so schlimm kann der Anfall wegen dem Sturm-Siegfried nicht gewesen sein. Spucke traf mich im Gesicht, als sie wieder loslegte. ‚Dreck soll gefälligst 195
Dreck bleiben! Heutzutage ist sowieso schon alles auf den Kopf gestellt, nächstens wird gar noch einer aus der Bande Recker Bürgermeister oder Professor oder sonstwas! Sie waren immer Knecht und weiter nichts. Und Ihre Brut …‘ – sie sagte wirklich Brut, als wär’n wir Ungeziefer …“ Mir wurde plötzlich heiß, ich mochte nicht mehr reden, aber ich mußte ja, es mußte ’raus. „Sie sollte nicht so weiter umgehen mit mir, aufhören sollte sie. Sie sollte doch wenigstens einmal Herz zeigen und nicht bloß eins haben, weil’s nun mal zum Leben gebraucht wird – und da bin ich ihr an die Gurgel, weil sie auch noch auf mich zukam, so röchelnd, als würde sie vor Wut ersticken. Aber sie wollte ja doch wohl bloß den Gewinnschein haben.“ „Es war eben nicht Wut, Recker.“ So richtig glaubte ich ihm immer noch nicht, schließlich war er nicht dabeigewesen. „Dann sehen Sie mal hier, Herr Hauptmann“, sagte ich und schob meinen Wollschal zur Seite, „ein richtiger Kratzer, nicht? Das war sie, und darum, weil sie noch so viel Kraft hatte, will mir das mit dem schweren Herzanfall nicht in den Kopf.“ Oder … vielleicht doch? Es ging ihr doch um ihr über alles geliebtes Geld? „Glauben Sie es ruhig. Was geschah aber weiter?“ „Sagte ich schon, gewürgt habe ich sie, im Korridor, bis … bis sie wegsackte, einfach so wegsackte. Und da lag sie dann, rührte sich nicht mehr, schimpfte nicht, verhöhnte mich nicht mehr. Sie war stumm, endlich. Ich aber hatte den großen Gewinn.“ Irgendwie schien mir der Herr Hauptmann nach dem letzten Satz verändert, er schwieg vor sich hin, sah mich aber prüfend an. Überhaupt war ringsum eine beklemmende Stille, der ganze Bahnhof kam mir wie erstarrt vor, sogar die Kühe hinter mir standen unbeweglich. Und 196
dazu dieser kühlere, nicht mehr so teilnehmende Blick des Hauptmanns etwas unter mir; ich hatte wohl etwas Verkehrtes gesagt. „Mhm“, sagte er schließlich, „und nun erklären Sie mir doch mal, warum Sie die Tote in den Sarg gebettet haben? Irgendwie will es mir nicht zu Ihren bisherigen Schilderungen passen.“ Ich war fast froh, daß er wieder etwas sagte. „Och doch, Herr Hauptmann, das paßt schon. Denn wissen Sie, sogar dieses Monstrum hat sie mir häufig als Beweis ihrer gehobenen gesellschaftlichen Stellung vorgehalten. Eben ein Sarg für feine Leute, ‚für Menschen mit Kultur und Bildung‘. Kein wurmstichiges Pappelholz mit ’n paar Pappverzierungen, in dem unsereiner verscharrt wird. Wut war’s, richtige kochende Wut oder auch Rache, daß ich sie in ihren verdammten Sarg für feine Leute gepackt habe. Und alles, was ich seit Jahren auf dem Herzen hatte, habe ich ihr dabei erzählt, richtig höhnisch oder wie man das nennt. Es war wie ’ne Wohltat, ihr alles an den Kopf zu werfen, wenn Sie das verstehen.“ „Vielleicht“, sagte der Hauptmann, doch ich spürte genau, daß er weiter reserviert blieb, und er ließ mich auch schnell wissen, warum. „Nur sind Sie bemerkenswert umsichtig zu Werke gegangen. Wir fanden am Sarg keinen einzigen Fingerabdruck, Sie müssen sie fein säuberlich entfernt haben, und das läßt keinen anderen Schluß als sorgfältige Überlegung zu.“ Ich nickte matt. „Stimmt schon, hinterher hab’ ich mir Gedanken gemacht. Aber man sieht’s ja oft im Fernsehen, wie sie sich bei so was verhalten. Und ehe Sie auch danach fragen – bereuen tue ich’s auch nicht, nee. Sie hat, was sie verdient. Schlucken Sie mal ein halbes Leben, was so’n Weib einem alles hinwirft.“ 197
„Warum eigentlich, fragen wir uns. Sie erhalten Rente, arbeiten zusätzlich unter alles anderem als bequemen Bedingungen, werden entsprechend entlohnt, keiner aus Ihrer großen Familie ist das, was man wirklich asozial nennen müßte, wenn auch besonders Konrad in den letzten Tagen mächtig aus dem Rahmen gefallen ist – warum also diese fast sklavische Abhängigkeit?“ „Ach, das ist eine lange Geschichte …“ Ich mußte mich unterbrechen, weil auf dem Nebengleis ein Schnellzug vorbeiratterte. „Und eigentlich geht alles auf den Meister Bäumler zurück, der uns damals kurz vorm Krieg vom Rittergut holte; seine besten Gesellen waren nämlich alle schon eingezogen. Und er war so ziemlich der erste Mensch, der mich anständig behandelte. So’n bißchen gönnerhaft oder so war er ja, aber niemals grob und gemein. Nicht mal Miete brauchten wir bei ihm zahlen. Freilich, weil ich das nicht brauchte, kam er öfter mit Überstunden, Botengängen, kleineren Aufträgen für die Kinder – wir hatten ja elf davon – und eben all so was. Sonnabends die Straße fegen war auch unsere Sache, was ja sonst die Stifte anging, aber die hatten wegen der dußligen Hitlerjugend kaum Zeit. Ja, Jauchegruben leeren und Garten umgraben, Unkraut rupfen, machten alles wir. Aber das war nicht halb soviel Schinderei wie die Arbeit aufm Rittergut Schellberg; dessen Verwalter, Buschmann hieß er, war Ihnen vielleicht ’n Aas. Und das ist eben nach seinem Tod so geblieben, man ist halt ans Dienen und Gehorchen gewöhnt.“ Er begriff’s nicht, fragte aber sicher auch nicht aus Höflichkeit weiter: „Na gut, aber das erklärt doch nicht, warum Sie nach Bäumlers Tod diese Anhänglichkeit auf seine Witwe übertrugen?“ 198
„Anhänglichkeit? Nee, Herr Hauptmann, das war wohl eher Abhängigkeit. Nicht bloß, weil sie bald nach dem Tod des Meisters kam und Miete verlangte, sie jammerte, ihr Geld reiche nicht hinten und nicht vorn, und dabei saß sie drauf! Es ging ihr auch gar nicht um die Mietgroschen, nee, die wollte bloß, daß wir ihr weiter alle Arbeit abnehmen.“ „Aber Sie hätten doch ablehnen und Miete zahlen können! Und notfalls, bei überhöhter Forderung, staatliche Organe in Anspruch nehmen können. Die Zeiten waren doch vorüber!“ „Die ja, aber die anderen kamen. Elf Kinder, dazu nun schon einige Enkel, ’n paar ohne zahlende Väter, die irgendwohin verschwanden. Von der Hand in den Mund haben wir gelebt. Zum Verschieben hatten wir nichts, wohl aber die Bäumlern. Und so fiel für uns manches ab: getragene Kleider und Wäsche, die Mutter umarbeitete, für die Kinder was zu futtern, ihren Garten überließ sie uns noch dazu …“ „Das können wir uns später in Ruhe anhören“, unterbrach er mich, „aber ich verhehle Ihnen nicht, daß mir Ihr Verhalten Frau Bäumler gegenüber nach wie vor unverständlich ist.“ Ich muß wohl etwas gelächelt haben, denn er musterte mich ziemlich böse. „Und nun kommen Sie.“ „Gleich, bin gleich fertig. Da war nämlich … also einmal war sie furchtbar nett zu uns, scheißfreundlich. Das war wohl Ende der fünfziger Jahre, beim Geldumtausch. Können Sie sich erinnern?“ „Sicher, Oktober siebenundfünfzig. Genau am dreizehnten.“ „Wird wohl so sein“, sagte ich, aber er konnte nun mal gut etwas austüfteln, oder war’s Erfahrung? 199
„Kann mir den Rest denken“, sagte er, „sie hatte ein bißchen sehr viel Bargeld zu Hause, und Sie hatten eine für diesmal höchst willkommene große Familie, nicht?“ „Stimmt, Herr Hauptmann!“ „Und daran hat Frau Bäumler Sie gelegentlich erinnert, weil ja nicht der Sinn der Sache war, daß unredlich erworbene Gelder unangetastet blieben.“ „Stimmt auch. Freilich, das allein war’s nicht. Sie fing bald an zu kränkeln, konnte keine weiten Wege mehr erledigen, mußte am Stock gehen – und ein bißchen Mitleid hat unsereiner schließlich auch, eher zuviel.“ Er nickte, und ich verstand im Zischen einer Dampflok nur, daß er etwas von Solidarität sagte, von falscher. Weiter hörte ich gar nicht zu, ich sah, wie er sich die kalten Hände rieb, und besah mir meine eigenen, sah die unzähligen Riefen, Quer- und Längsfalten, Narben, Schmutz und sonst nichts. Der Herr Hauptmann sah mich etwas verständnislos an und fragte: „Was ist denn? Haben Sie sich verletzt?“ Ich schüttelte den Kopf, starrte weiter auf meine Hände und lächelte bitter, vielleicht auch wehmütig. „Es ist, wie es immer war – leere Hände. Und ausgerechnet ein Mensch wie dieser Herr Sturm darf sie nun weit aufhalten.“ „Wenn Sie das trösten kann, auch Herr Sturm wird mit leeren Händen dastehen. So, und nun kommen Sie aber.“ „Jaja, ist wohl soweit. Und dabei wollte ich noch …“ „Was wollten Sie noch?“ „Es ist nämlich, weil ja nun die Reckers auch noch einen Mörder in der Familie haben … Das bin ich doch, nicht?“ „Ich fürchte, man muß es so nennen. Aber Sie wollten doch etwas anderes?“ 200
„Ja, das ist … Wissen Sie, zu Ihnen hab’ ich Vertrauen … Nein, nein!“ rief ich, weil er etwas unwillig dreinschaute; ich wollte ihm nicht schmeicheln. „Sie sollen fortziehen, alle, weit weg, vielleicht wieder aufs Land. Is ja alles viel anders jetzt da. Könnten Sie sich darum kümmern?“ „Ich kann es versuchen, sicher. Aber auch Sie selbst werden ausreichend Gelegenheit haben, Ihre Angehörigen umzustimmen.“ Würde ich nicht, aber ich sagte nur: „Gut, das ist gut. Werden es aber nicht leicht haben, das viele Geld, das schon fort ist. Muß man doch ersetzen, nicht?“ „Darüber zerbrechen Sie sich jetzt nicht den Kopf. Vielleicht ist Frau Bäumlers Tochter Marion, als die Erbin, nicht ganz so hartherzig wie ihre Mutter und verzichtet. Natürlich nur auf das bereits Verbrauchte.“ „Wäre gut, ja, obwohl ich doch ihre Mutter … umgebracht habe. Weiß sie es schon?“ „Nein, aber sagen müssen wir ihr es ja. Vielleicht versteht sie Ihre Beweggründe, es gibt da eine Theorie, die besagt, daß einzig die Umstände bestimmen, ob jemand eine Straftat begeht oder nicht.“ Das gefiel mir. „Da ist was Wahres dran, nicht?“ Seine Antwort konnte mich nicht mehr enttäuschen. „Vielleicht, nur muß man dann auch fragen, wer oder was jene Umstände erst einmal geschaffen hat, die zum Verbrechen führen.“ „Nee, nee, Herr Hauptmann“, widersprach ich, „ist schon was dran. Die Umstände wollten es, daß ich ’n armer Hund war und ’n Haufen Kinder habe. Sie werden’s einem alten Mann ja nicht verübeln, aber so richtig ist hier auch noch nicht alles.“ „Wir wissen, daß noch viel zu tun ist.“ 201
„Wenden wie ’ne abgetragene Joppe kann man die Menschen ja nicht, aber schön wär’s doch. Sehen Sie, man glaubt gar nicht, wieviel Leute mich höflich und scheißfreundlich behandelt haben, seit ich als Großgewinner galt. Leute, die mich sonst gar nicht gesehen haben, selbst wenn ich vor ihnen stand. War ich vielleicht schöner geworden? Minister oder irgend ’n hohes Tier? Nee, Geld hatte ich, viel Geld!“ „Aber es gehörte Ihnen nicht.“ „Das wußte ja niemand, Herr Hauptmann. Nee, nee, am Geld hat’s gelegen. Das muß man haben, oder hier oben“, ich tippte mir an die Stirn, „hier oben muß was sitzen. Und dann …“ „Lassen wir das jetzt, es wird höchste Zeit.“ „Ach, war ja auch nichts.“ Ich erhob mich gehorsam, deutete auf meinen guten alten Rucksack, der hinter mir an der Tür hing, fragte: „Den kann ich doch mitnehmen?“ Fragte auch noch: „Was wird denn nun aus den Begleitpapieren? Und aus dem Vieh? Der Zug wird bald abfahren.“ „Das wird ein Genosse der Transportpolizei übernehmen.“ „Das ist gut.“ Ich nickte ihm zu, tätschelte eine der Kühe im Vorbeigehen und zwängte mich mit hämmerndem Herzschlag durch den Türspalt.
202
HEIMWEG
Ich war so wenig auf eine Flucht des alten Mannes gefaßt, daß Sekunden verstrichen, ehe ich um die zwei Waggons herumhastete. Recker hatte in unglaublich kurzer Zeit mehr als fünfzig Meter Vorsprung gewonnen und bewegte sich auf einem der wenigen freien Gleise vorwärts; taumelnd stolperte er über die Schwellen einer sich nähernden orangefarbenen Rangierlok entgegen. Im ersten Augenblick schob ich sein Verhalten auf körperliche Schwäche, bis ich blitzartig begriff: Es war Todesangst! Warnend schrie die Signalhupe der Lok auf, es klang wie gequält oder sogar verwundert; jeder Lokomotivführer ist daran gewöhnt, daß ständig Eisenbahner, besonders Rangierer, irgendwo Gleise überqueren oder streckenweise als Gehweg benutzen. Dann schrie auch ich, gleichzeitig mit dem Aufschrei der Notbremsen, aber da riß der Stahlkoloß den Alten auch schon unter sich, und ich konnte nicht anders, ich preßte mir die Hand vor die Augen. Ich wußte, wie Dutzende Tonnen Stahl mit unzähligen Ecken und Kanten einen überrollten Menschen zurichten. Aus dem Führerstand sprang der Lokführer und sah verstört unter sein eisernes Ungetüm. Hinter mir brüllten unvermittelt einige der eingepferchten Kühe, während in diesem Moment aus der nahen Wagenmeisterei Novy geeilt kam, einen gefalteten Bogen in der Hand. 203
Ich stand noch immer wie angeschraubt, sah zwei Genossen der Transportpolizei quer über die Gleise auf die stehende Lok zuhasten, nachdem sie zuvor einen zusammengestellten Güterzug auf allen vieren unterquert hatten, wunderte mich über die rasche Reaktion und empfand es zugleich als normal. Vermutlich war das Unglück von einem Stellwerker beobachtet worden, der sofort die Transportpolizei alarmiert hatte. Novy stutzte, als er mich genauer ansah, fragte aber trotzdem: „Hat er gestanden?“ „Ja.“ „Ja, und … wo ist er denn?“ Ich deutete schwerfällig auf die Diesellok. „Dort drunter.“ Auch Novy brauchte seine Sekunden. Dann sagte er nur: „Mann!“ Irgendwie schien mir das als Nachruf trotzdem passend. Unter dem Eindruck der Tragödie verlief unsere Fahrt auf den ersten Kilometern schweigend. Neben mir, im Rücksitz des Wartburgs, bemühte sich Kemmberg, der seinen Wagen gleich heute morgen zurückgeschickt hatte, mir genügend Raum für etwas Bequemlichkeit zu schaffen, während Novy tat, als erforderten die Straße und der Verkehr seine volle Konzentration. Endlich sagte ich zu Kemmberg: „Er bat mich, dafür zu sorgen, daß seine Familie die Stadt verläßt, ihm schwebte eine Rückkehr aufs Land vor.“ Kemmberg schob nachdenklich die Unterlippe vor. „Wahrscheinlich die beste Lösung.“ „Lösung …“, wiederholte ich grübelnd. „Im Nachhinein betrachtet, war sie eigentlich ganz einfach.“ 204
„Ja“, warf der immer aufmerksame Novy sofort ein, „wenn man eine Ahnung vom Motiv gehabt hätte! Aber wer sollte auf einen simplen Lottoschein kommen, obwohl ich schon am Dienstag ein ganzes Bündel davon in der Hand gehalten hatte?“ „Konrad Recker jedenfalls war sehr schnell dahintergekommen.“ „Und erpreßte seinen eigenen Großvater?“ „Anders ist es nicht zu erklären. Und die angekreuzten Zahlen konnte man sich spielend merken. Sieben, acht, neun, zehn zum Beispiel. So jubelt es ja bei jedem spannenden Mannschaftsspiel von den Rängen. Nun ja“, schloß ich mit einem Gedankensprung, „er hat ja alles gestanden“, und dachte: überstanden auch. „Oh“, wandte Novy ein, „wir waren auch so dicht vorm Ziel, immerhin hätte Recker anführen können, daß er selbst Frau Bäumlers Zahlen benutzt hätte, weil sie es einmal vergessen hätte. Wäre schwer nachzuweisen gewesen. Aber ich habe hier …“, er tippte andeutungsweise auf seine Brust, „die Aussage eines Rangierers, Genosse Kemmberg hat ihn aufgestöbert. Dieser Mann konnte sich sehr gut daran erinnern, Recker am Sonntagabend bereits vor Eintreffen des Nahgüterzuges gesehen zu haben. Recker, der sich, wie auch andere Transportbegleiter, häufig in Wagenmeistereien oder anderen beheizten Betriebsgebäuden aufhielt, teils um sich die Wartezeit zu verkürzen oder einfach nur aufzuwärmen, war vielen Eisenbahnern bekannt. Schließlich übte er seine Tätigkeit seit Jahren aus und mußte fast immer Markeberg passieren.“ „Wenn ich ergänzen darf, Genosse Hauptmann“, sagte Kemmberg, „ich habe die genauen Ankunfts- und Abfahrtszeiten des fraglichen Güterzuges vom Sonntag. Er 205
rangierte auf vier weiteren Bahnhöfen und traf erst nach zweiundzwanzig Uhr in Markeberg ein.“ Ich nickte halb abwesend, ehe ich sagte: „Und Dietrich Recker, der sich in den Zugbewegungen bestens auskannte, benutzte nach seiner Tat den einundzwanzig Uhr abfahrenden Eilzug nach Markeberg, der bis dahin nirgends mehr hält, und überholte so den Güterzug.“ Eigentlich war damit alles gesagt. Wir schwiegen lange Zeit. „Macht, was ihr wollt, irgendwie tut mit der alte Mann leid.“ Novy sprach sehr langsam. „Das sollte es aber nicht. Na, ich verstehe, Sie hätten lieber einen anderen Täter überführt.“ Oberleutnant Kemmberg war zu ahnungslos. „Gar nichts verstehen Sie!“ sagte Novy. Unsere Blicke trafen sich im Rückspiegel, als ich einwarf: „Aber vielleicht ich?“ „Vielleicht …“, wich er zunächst aus, aber wie immer kehrte er auch diesmal nicht auf halbem Weg um. „Wir waren zu Haus auch acht Kinder, und wo immer ein Nachbar Klagen hatte, er kam unweigerlich zu uns, weil eben nur einer von uns Scheiben eingeschlagen oder Kaninchen geklaut haben konnte.“ Ich nickte ihm nachdenklich zu, ich kannte ja die Ursache für seine manchmal unerklärliche Arroganz. „Aber du mußt trübe Kindheitserfahrungen nicht als Komplexe ein Leben lang mit herumschleppen.“ „Wie ein Dietrich Recker“, sagte er leise.
206
Klaus Möckel Drei Flaschen Tokaier Kriminalroman DIE Reihe etwa 192 Seiten, etwa 2,– Mark
LESEPROBE Ich sitze im Bett, meine Möbel, das heißt die meiner Wirtin, grinsen mich an, meine Kleider liegen unordentlich herum, trübes Tageslicht fließt durchs Fenster, und die Tür steht einen Spalt offen. Durch den Türspalt schaut ein Kopf herein, runde Augen und ’ne leicht nach oben tippende Nasenspitze, strähniges, blondes Haar, das die Ohren bedeckt: Klette grient mich an. „Mensch, pennst du, ich klopfe und klopfe, elf durch, und du schläfst wie’n Murmeltier, hast wohl heut nacht noch ’ne Puppe aufgegabelt?“ Er schiebt sich ganz ins Zimmer, schließt die Tür hinter sich, sieht mich gespannt an. „Einen Dunst hast du hier drin, einen Weindunst, mach bloß das Fenster auf, sonst fliegt dir bei der ersten Zigarette die Bude in die Luft. Da denkt man, dem ist ’n Mißgeschick passiert, macht sich Sorgen, dabei fläzt er sich im Bett ’rum. Warst wohl zu geizig, mit uns zu teilen.“ Ich kann das alles noch nicht richtig einordnen. Dieser Sturz vom Birnbaum, Annes Hände und dann das hier. Ein scheußlicher Traum, aber je mehr ich in die Wirklichkeit zurückkehre, desto scheußlicher wird auch die. Ich fühle mich von Klette überfallen, ich hätte gern noch schlafen wollen. Obwohl es mir etwas besser geht als heute morgen. Der Brummschädel ist fast weg, ich spüre 207
den Alkohol kaum noch. Trotzdem finde ich: Das Grienen des Kleinen ist wenig angebracht. Die Erinnerung an Zierau ist wieder da, und in mir sitzt die Angst. Aber ich zwing mich zur Ruhe. „Mach schon das Fenster auf“, knurre ich, „und gib mir ’nen Glimmstengel. Meine sind alle.“ Klette geht zum Fenster und öffnet es. Dann holt er umständlich ein silbernes Zigarettenetui aus der Innentasche seines Jacketts, hält es mir aufgeklappt hin. Das ist seine Art großzutun, ein wertvolles Etui und darin ’ne noble Sorte, Lord oder Peer oder so was; er kauft sie, soviel ich weiß, nicht hier, seine Alten kriegen jede Menge Pakete. Für Karo ist es schick, Karo zu rauchen, Klette, an und für sich treuherzig und bescheiden, raucht am liebsten Pall Mall. Ich schwing mich widerwillig aus dem Bett, nehme mir eins von den Stäbchen, laß mir auch noch Feuer geben. Ich schiebe ein paar Klamotten zur Seite, die auf einem Stuhl liegen, und setze mich mechanisch hin. Mir ist flau, hundsmiserabel ist mir. Aber ich bin nun froh, daß der andere überraschend gekommen ist. „Ihr habt wohl lange gewartet heut nacht?“ frage ich lauernd. „Gegen drei Uhr bin ich weg. Ich wollt noch länger warten, aber Müller hat uns ’rausgeschmissen. Die andern drängten schon ’ne ganze Weile, sie meinten, du hättest uns versetzt. Karo war mächtig sauer. War ja auch ’n starkes Stück. Die Wette jedenfalls hast du verloren.“ „Die Wette, die Wette. Und wenn was schiefgelaufen ist, verdammt noch mal? Kam keiner von euch Idioten auf die Idee, daß was schieflaufen könnte?“ „Klar, kamen wir. Nina war die erste, die sagte, du hättest dich erwischen lassen. Aber was hätten wir machen sollen? Wir hatten außerdem ganz schön getankt, 208
die Mädchen schliefen schon halb. Deshalb bin ich ja jetzt da, will wissen, was wirklich los war. Hat dich der Alte etwa tatsächlich geschnappt?“ „Nein“, antworte ich sarkastisch, „der Alte hat mich nicht geschnappt. Ganz im Gegenteil …“ „Na, Gott sei Dank!“ ‚Gott sei Dank‘ – fast muß ich lachen. Aber es ist nur ein Anflug von Galgenhumor. Die Angst sitzt dahinter, die Angst. „Kein Grund zur Erleichterung“, stoß ich verzweifelt, hektisch hervor, „beim besten Willen nicht. Es ist nämlich ’ne Sache passiert, die du dir mit aller Phantasie nicht ausmalen kannst. Was unglaublich Gemeines ist passiert. Und ich steck mittendrin.“ Und froh, daß ich endlich reden kann, daß ich endlich was tun kann, mir dieses Bleigewicht von der Seele zu schaffen, platz ich heraus mit dem, was geschehen ist. Das heißt, ich knall ihm hin, was ich, Jörg Paulsen, von dieser furchtbaren Geschichte weiß, was ich gesehen habe und woran ich mich zu erinnern glaube. Ich spreche und spreche, erst stockend, dann flüssiger, schließlich wie ein Wasserfall. So wie ich’s sonst nie kann. Und Klette hört zu. Er setzt sich bei meinen Worten ganz von selber auf das Bett, in dem ich gerade noch liege, und sperrt die Ohren auf. Mit einem Gesicht, als wär ich noch dun wie gestern abend oder hätte im Oberstübchen nicht bloß eine, nein, gleich ein Dutzend Schrauben locker. Als ich endlich fertig bin, fertig und ausgepumpt, sitzen wir beide ’ne Weile da und sagen kein Wort. Er schaut mich nicht an, ich schau ihn nicht an. Dann fragt er zweifelnd: „Er ist tot, der Zierau, umgebracht, sagst du?“ „So tot, wie ein Toter nur sein kann. Einer hat ihm eins drüber gegeben. Als ich ihn fand, lebte er bestimmt schon ’ne Weile nicht mehr.“ 209
„Du hättest es der Polizei melden müssen.“ „Mensch, Klette“, sag ich bittend, „begreif doch. Wie will ich denen beweisen, daß ich nichts damit zu tun habe. Wo ich die ganze Nacht da drin war. Keiner von euch würde das tun, keiner. Die würden doch denken, ich hätt ihn im Suff erledigt. Weil er mich beim Klauen erwischt hat oder so. Jetzt dagegen sind sie vielleicht schon hinter dem Richtigen her. Ihr müßt nur dichthalten, du, Karo und die andern. Dann kann mir kein Mensch was. Dann hab ich so wenig damit zu schaffen wie ihr alle.“ Klette schaut mich nachdenklich an und sagt: „Aber wer es wirklich war und warum, ich meine, du hast keinen Verdacht?“ „Was für ’nen Verdacht. Ich hab den Alten ein Jahr lang nicht gesehen. Vielleicht einer, der hinter seinen Moneten her war.“ „Ja, wie sollst du’s denen beweisen“, murmelt Klette und bleibt sitzen. Ich aber spring auf, ich hab’s plötzlich eilig. Klar, daß es für mich gut wäre zu wissen, wer Zierau niedergeschlagen hat und wie alles passiert ist, aber bevor ich mir darüber den Kopf zerbreche, muß ich den anderen endlich Bescheid geben. Was auch immer mit Karo und Annekathrin ist, ich muß an die beiden ’ran. Oder Klette soll das machen, während ich mit Müller und dem Intelligenzler rede. Ich verschwinde ins Bad, reiß mir die Schlafanzugjacke ’runter, schwappe mir ein paar Handvoll kaltes Leitungswasser ins Gesicht und über die Brust. Einmal kurz gegurgelt, dann flüchtig abgetrocknet und zurück ins Zimmer. Wo Klette nach wie vor unbeweglich auf dem Bett hockt und mich, während ich die Hose überstreife, leise fragt: „Und du bist dir sicher, daß dich jemand eingeschlossen hat?“ „Aber …“, sage ich. 210
„Du warst … ich meine, wir hatten ganz schön gekübelt.“ „Was soll das heißen?“ „Warum sollte dich Zierau eingeschlossen haben, ohne ein Wort zu sagen, und vor allem, weshalb und wann hat er die Kellertür stillschweigend wieder geöffnet?“ „Das weiß ich nicht.“ Ich zucke hilflos die Achseln. „Die ganze Geschichte klingt eigenartig und unwahrscheinlich“, sagt Klette. Ich spreche einen Gedanken aus, den ich schon früher mal hatte, aber unbewußt wieder verdrängt habe. „Und wenn es gar nicht Zierau war, der mich eingeschlossen hat …“ „Sondern?“ „Der …“, ich zögere, „der Mörder.“ Wir blickten uns an; dieses Wort, so auf ein tatsächliches Ereignis bezogen, klingt ungewohnt und häßlich. „Und nach der Tat hat er dich dann freundlicherweise wieder ’rausgelassen.“ Ich weiß keine Erwiderung. „Ich denke, es war alles dunkel im Haus, als du kamst, die Fenster und Türen waren zu.“ „Ich hab ja auch keine Erklärung“, erwidere ich verzweifelt. „Niemand außer uns wußte, daß du zu dem Alten wolltest.“ „Niemand“, gebe ich zu. Klette läßt den Blick nicht von mir, in seinen Augen ist ein sonderbares Glitzern. „Das klingt wirklich alles unwahrscheinlich“, wiederholt er. „Kleiner“, sage ich fast bittend, „du glaubst doch nicht etwa …“ „Ich hab mal von einem gelesen, der war betrunken und hat seine Katze erschlagen. Am nächsten Morgen ist 211
er überall nach dem Lumpen ’rumgerannt, der ihm das angetan hatte. So was ist furchtbar, aber das gibt’s.“ Ich merke, wie ich bleich werde. So ein verdammtes Zeug zu quatschen, so ein hirnverbranntes. „Das kann doch nicht dein Ernst sein“, schrei ich, „so was kannst du doch nicht im Ernst denken …“
Erscheint demnächst im Verlag Das Neue Berlin
212
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1976 Lizenz-Nr.: 409-160/105/76 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 229 0 DDR 2,- M