K. M. O’Donnell
Jagd in die Leere Science Fiction Roman
Fischer Taschenbuch Verlag
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K. M. O’Donnell
Jagd in die Leere Science Fiction Roman
Fischer Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe Fischer Taschenbuch Verlag November 1974 Umschlagillustration: Eddie Jones Umschlagtypographie: Jan Buchholz/Reni Hinsch Titel der Originalausgabe: ›The Empty People‹ Ins Deutsche übertragen von Werner Fuchs und Ronald M. Hahn
Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main © 1974 by Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main »The Empty People« © 1969 by Barry N. Malzberg Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Printed in Germany ISBN 3 436 01847 3
Zuerst war Delia da, die Frau. Sie suchte… Liebe? Sie kannte die Liebe nicht – konnte sie nicht kennen –, denn dort, wo normalerweise Liebe sein sollte, war nichts als Leere. Dann kam der Dichter, der nur seine Aufgabe erfüllen wollte, aber nicht wußte wie. Alle seine Anstrengungen wurden abgelehnt – aber er konnte nicht damit aufhören, es zu versuchen. Rogers war der Dritte im Bunde, der Teil über allen anderen Teilen, die die Ganzheit ausmachten. Und dann war da noch Archer – und das Ding in seinem Hirn… Dieses Ding… was war es? Konnte es Einfluß auf das Schicksal der Welt nehmen?
Für Edward L. Ferman Für Harry M. Harrison Für Robert P. Hoskins Für Frederik Pohl
Für meine Tochter Stephanie Jill Für meine Eltern, Michael und Celia Malzberg
Eins
DRINNEN: Sie hieß Delia, und sie hatte ein Leben gelebt. Ein vernünftiges, wohlbehütetes Leben war es gewesen, und es hatte so ungefähr vierzig Jahre gedauert – bis dann eines Tages die Fremden kamen. Was das Ende jenes Lebens bedeutete, das sie gekannt hatte. Die einzige Frage danach beinhaltete immer dasselbe: Delia würde nicht in einem Vakuum leben. Andernfalls, dachte sie, ist alles vorbei. Die Fremden kamen folgendermaßen: Sie fuhr gerade den Wagen rückwärts aus der Einfahrt, wendete ihn auf dem Bürgersteig, damit sie in die Stadt fahren und ihre donnerstäglichen Besorgungen machen konnte, als im nächsten Augenblick die Luft voller Feuer war. In ihrer Nähe und weiter entfernt, über der ganzen Stadt befand sich ein Flammenmeer – und sie war in dessen Mitte gefangen. Sie konnte fühlen, wie ihre Lungen von einer scheußlichen Hitze versengt wurden, und die erste Frage, ja die einzige Frage überhaupt, war die, warum sie nicht starb. Warum schrumpfte sie nicht einfach zusammen, verkohlte und verschwand? Alles andere war unwichtig, wenn sie nur dieses eine herausfand. Aber die Antwort sollte ihr noch lange Zeit verborgen bleiben. Sie taumelte aus dem Wagen, um nach der Ursache Ausschau zu halten, als das Feuer plötzlich, als sei die Welt eine Kerze, die man gelöscht hatte, verschwunden war. Die Luft schien grau, einige Rauchfäden stiegen ziellos in den Himmel. Dann kamen die Schiffe. Sie kamen ohne Vorankündigung: Zunächst war überhaupt nichts; dann waren sie plötzlich in der Luft und begannen um sie herum auf der Straße zu landen. Sie waren winzig, hatten etwa die Ausmaße
von Kleinwagen, so daß sie zu Hunderten aufsetzen konnten und doch kaum Platz in Anspruch nahmen. Delia sah sich um, aber außer ihr befand sich niemand auf der Straße. Nur die Schiffe. Und sie. In dem am nächsten stehenden Schiff – sie erinnerten entfernt an Feldflaschen, diese Schiffe, und nachdem sie gelandet waren, herrschte einige Zeit tiefes Schweigen, als ob sie sich erst akklimatisieren wollten oder gar herauszufinden versuchten, wer Delia war – öffnete sich eine Luke und heraus schaute ein behelmtes Etwas und richtete einen Lichtstrahl auf sie. Sie versuchte zu erkennen, was sich hinter der Lichtquelle befand, denn was sie auch unternahm, hier war sie auf sich selbst angewiesen. Es war nicht zu ertragen; es schien, als konzentrierte sich alles Licht in dem einzigen, messerscharfen Strahl, der ihr entgegenzuckte. Deshalb blickte sie zu Boden, auf die vertrauten Steine und den Rasen ihrer Hofeinfahrt, und überlegte sich blödsinnigerweise, was ihr Mann wohl davon halten würde, wenn er nach Hause kam. Ob er es akzeptieren würde, daß diese Zugereisten in ihre Nachbarschaft kamen und auf solche Weise wertvolles Eigentum zerstörten? Sicher, diese Marsianer – das war die einzig echte Erklärung: Sie kamen aus dem Weltraum oder so – waren nun im Begriff, die Erde zu übernehmen. Oder sie wollten es zumindest versuchen. Das bringt die Angelegenheit wieder in Ordnung, dachte Delia. Wenn es allen passierte, machte es auch nichts mehr aus, daß es gerade ihr passierte. Diese Gedanken stärkten sie ein wenig. Trotzdem, wo waren die anderen Leute? Sollte ein solches Ereignis nicht alle auf die Straßen bringen? Was, zum Teufel, sollte sonst noch an einem Donnerstagmorgen in Mahopac geschehen? »Du«, vernahm sie die Stimme des Behelmten, »du dort drüben, komm her!«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will nicht. Ich will hierbleiben.« »Wenn du nicht kommst… holen wir dich.« »Ich will trotzdem nicht!« Sie spürte einen leichten Druck auf ihren Gliedern, dann setzte ihr Bewußtsein für einen Augenblick aus; als sie wieder klar denken konnte, stand sie neben dem Schiff, und das Ding mit dem Helm schaute sie direkt an. Es befanden sich keine Augen hinter der Sichtscheibe; soviel sie erkennen konnte, als sie durch das klare Glas starrte, war dort überhaupt nichts. Keine Gesichtszüge. Etwas Faltiges. Und dennoch… »Hat ganz gut geklappt«, sagte das Wesen, »wenn man die Probleme in Betracht zieht. Du transportierst wirtschaftlich.« »Was tue ich?« »Du transportierst gut. Mach dir darüber keine Sorgen. Das ist unsere Angelegenheit, nicht deine.« »Was jetzt?« »Jetzt«, sagte das Wesen, beinahe aufmunternd, »nehmen wir dich mit und tun das, was getan werden muß. Selbstverständlich. Oder dachtest du etwa, daß wir die Dinge so lassen können, wie sie momentan sind?« Sie versuchte sich gegen das, was nun kam, zu wehren. Dann, als sie spürte, wie Kraftwellen auf sie einwirkten, ballte sie die Fäuste und kämpfte wimmernd gegen den Druck an, aber es war sinnlos. Sie wurde angehoben – diesmal bei vollem Bewußtsein – und in das Schiff geworfen; auf einen Platz, der so schmal war, daß sie nur eng angeschmiegt an das behelmte Ding sitzen konnte. Das Wesen schlug die Luke zu und startete das Schiff, indem es an einer Art Schaltpult hantierte. Es stieg mit erschreckender Geschwindigkeit, und als sie aus dem Fenster sah, konnte sie erkennen, daß die ganze Stadt mit Feuer bedeckt war; die anderen Schiffe hoben sich ab kleine Punkte davon ab. Dann sanken sie in einem sanften Bogen
hinab, auf eine Stelle zu, von der sie annahm, sie müsse in der Nähe des Times Square liegen. Der Times Square in New York City. »Geht ganz einfach«, sagte das Ding. »Zieht man die technischen Probleme in Betracht, so sind wir ganz gut über die Runden gekommen. Das hatten wir natürlich erwartet.« »Woher kommt ihr? Was geht hier eigentlich vor?« Was sie sich immer ins Gedächtnis zurückrufen und woran sie immer festhalten mußte, war die Tatsache, daß sie eine Hausfrau war – mm ja, vielleicht nicht gerade eine der ärmsten, aber alles in allem eine einfache Hausfrau – und daß dies ein Traum sein mußte. Alles an ihm war so banal, daß nur Hausfrauen oder Geschäftsleute ihn träumen konnten. Die Realität hätte viel detaillierter und eindringlicher sein müssen: Nicht wie die schwache Erinnerung an einen Comic Strip, den sie vor langer Zeit überflogen hatte. Wenn sie all das als Traum ansah und sich immer höflich und gesittet verhielt, würde alles ganz einfach vorübergehen. »Wir kommen von einem anderen Stern«, sagte das Wesen. »Dies hier ist eine Invasion der Erde durch die Eroberer von X’Ching. Ursprünglich hatten wir lediglich vor, alle eure Männer zu töten und die Frauen zum Zwecke unserer teuflischen Vorhaben zu entführen. Sie sollten ab Gebärmaschinen unsere ausgedehnten Farmen bevölkern. Aber das waren nur provisorische Pläne, die zum großen Teil davon abhingen, wie groß der Widerstand sein würde, den man uns entgegensetzte. Da es so aussieht, ab hätten wir unser Ziel mit einem Minimum an Schwierigkeiten erreicht«, fuhr das Ding fort und senkte seinen Helm über das Schaltpult, auf dem das Feuer zu sehen war, »würde ich sagen, daß wir wahrscheinlich in der gleichen Weise weitermachen werden. Natürlich wollen wir keine Gewalt anwenden, solange kein Anlaß dazu besteht.
Im Grunde sind wir kein brutales Volk, nur etwas expansionistisch und imperialistisch veranlagt.« »Ich werde also entführt?« fragte Delia. »Genau.« »Ab einzige?« »Nein. Ich habe dir bereits gesagt, daß wir alle Frauen mitnehmen. Du bist für meine persönlichen Bedürfnisse abgestellt.« »Wo sind denn die anderen?« fragte sie. »Wieso befand sich eigentlich niemand auf der Straße? Wieso bin ich alleine hier? Wohin sind all die anderen Schiffe geflogen? Warum sieht es jetzt so aus, als sei ich der einzige Mensch auf der Welt?« »Da bin ich überfragt«, sagte das Wesen und hantierte an seinem Schaltpult, was zur Folge hatte, daß das Schiff an Höhe verlor. Erschreckend schnell durchstieß es mehrere Luftschichten, und dann gab es einen schwachen Stoß. Durch das Fenster sah Delia, daß sie sich auf einem von der Umwelt abgeschlossenen Gebiet befanden, einem Landstreifen, der von gewaltigen Mauern umgeben war. Sie befanden sich in einem Innenhof; kleine Flammen waren in der Luft, die gegen unsichtbare Widerstände zu stoßen schienen. Sie bemerkte, wie langsam Staub in das Schiff eindrang. Ich bin verrückt, dachte sie, ich habe den Verstand verloren. Entweder bin ich verrückt oder tot. »Weder noch«, sagte das Wesen. »Wir, die Eroberer aus X’Ching, sind natürlich reine Telepathen, weshalb ich jederzeit deine Gedanken lesen kann. Du bist nicht verrückt, und du bist auch nicht tot. Du befindest dich auf dem Planeten Erde, und zwar in New York City – und für diese Nacht werden wir dich in einer Zelle unterbringen. Dasselbe werden wir mit Milliarden anderen machen. Welcher Art sind eigentlich die sexuellen Beziehungen eures Volkes, wenn ich fragen darf?« »Ein Teil dringt in den anderen ein«, erwiderte sie. »So was Doofes«, sagte das Ding mit dem Helm und führte sie durch
die Einstiegsluke in das, was offenbar ein in aller Eile gebauter Hinterhof war, den man irgendwie mitten in Manhattan geschaffen hatte. Etwa auf der Wall Street? Oder dem Times Square? Es mußte sich jedenfalls um einen Stadtteil handeln, in dem sie zuvor schon hundertmal gewesen war. Aber es kam ihr vor, als würde sie ihn jetzt zum erstenmal sehen. »Mit dir haben wir etwas Besonderes vor«, sagte das Wesen, indem es ihr einen sanften Stoß in den Rücken verpaßte und sie so zwang, im Laufschritt vor ihm herzustolpern. Sie kamen zu einer Zellenreihe, die mit vergitterten Türen versehen war. Es öffnete die nächste Tür, schob Delia hinein, schloß sie wieder und machte sich an der Verriegelung zu schaffen. Nun war sie endgültig gefangen. Als das Ding fertig war, umfaßte es mit seinen Extremitäten zwei Gitterstangen und steckte seinen Kopf herein, was seinem Aussehen eine gewisse Aufgewecktheit – um nicht zu sagen Pfiffigkeit – verlieh. »Es gilt noch viele andere aufzuspüren«, sagte es. »Du wirst sicher entschuldigen, daß ich dich jetzt allein lasse. Wir werden später zurückkommen, um Einzelheiten zu besprechen. Ich schlage vor, daß du dich inzwischen ruhig verhältst, Spekulationen möglichst vermeidest und deine psychischen Bedürfnisse einschränkst. Dort, hinter dir, befindet sich eine Reihe von Büchern zu deiner Unterhaltung; abgesehen davon werden wir gelegentlich vorbeischauen. Viel Spaß in deiner neuen Umgebung.« Damit beendete das Wesen die Unterhaltung recht förmlich und stapfte von dannen. Zunächst verspürte Delia das Bedürfnis zu schreien, aber das würde nichts nützen. Das Wesen hatte gesagt, es sei telepathisch veranlagt, und das hieß, daß es keinen Gehörsinn besaß. (Stimmte das? Sie schien sich da an irgend so etwas erinnern zu können.) Falls es telepathisch war, würde es ohnehin wissen, was sie fühlte, und sich wahrscheinlich einen Dreck um ihr Geschrei kümmern. Und zweitens war Schreien nicht
die Methode, die dazu diente, auch nur die kleinste Veränderung herbeizuführen. Es war alles eine Frage der Anpassung. Nein, das hieße diese Sachlage zu akzeptieren. Sie war eine Hausfrau aus der Vorstadt mit zuviel Zeit und Energie für Ausschweifungen gewesen: jetzt blieb ihr nichts mehr zu tun übrig. Offenbar war das der Preis, den sie für ihre Verderbtheit zu zahlen hatte. Sie hatte wahrscheinlich irgendeine Droge genommen und litt nun unter einer starken halluzinatorischen Wirkung. Wenn der Rausch nachließ, würde sie in ihrem Bett liegen, in kalten Schweiß gebadet, zu den Flecken an der Decke emporstarren und, auf den leeren Platz neben sich blickend, sich überlegen, wann James wohl nach Hause käme. Das war es: Man verbringt zwanzig Jahre, indem man die besten Teile seiner selbst unbenutzt läßt (sie hatte sich oft, zu oft, gesagt, daß es genau das war, was ihr passierte), und wenn ein gewisser Punkt überschritten ist, ist es zu spät. Wieder war das Ärgerliche an diesem Alptraum seine Banalität – war das wirklich das Beste, was sie tun konnte? War es das wirklich? Nach alldem, was sie erlebt hatte – obwohl das meiste schon lange Zeit zurücklag und wahrscheinlich nicht mehr zählte – und mit der ganzen Qual, die sie manchmal aus ihrem Innern emporsteigen fühlte, und die sie zu dem stummen Wehklagen veranlaßte, von dem sie annahm, daß es das Leitmotiv des Lebens in der Vorstadt sein müsse, mit all dem – hätte sie da nicht etwas Besseres anfangen können? Vor vielen Jahren – und das war von Bedeutung – hatte sich ein Junge zwischen ihre Brüste gedrängt, hatte unaussprechliche Dinge mit ihnen angestellt und ihr, stöhnend vor Leidenschaft, das Gefühl gegeben, die begehrenswerteste Frau zu sein, die er je getroffen hatte. Die völlige Irrelevanz dieses Geständnisses blieb noch lange in ihr haften, selbst dann noch, als viele andere Erinnerungen längst verblaßt waren. Sicher, es hatte sie
sehr stolz gemacht, dem Jungen ein solches Geständnis zu entlocken. All die anderen gelegentlichen Abenteuer, die sie gehabt hatte, als James außer Haus gewesen war (unglaublicherweise hatte es auch zwei gegeben, die stattgefunden hatten, als er daheim gewesen war und das gleiche mit irgend jemand anderem anstellte), waren Männer gewesen, die sie als die schärfste Frau der Nachbarschaft angesehen hatten. Wie war sie nur in so etwas hineingeraten? Oder vielleicht waren die Pilze an allem schuld. Ihr war klar, daß Pilze die kindischsten Zwangsvorstellungen freisetzten. Ja, sie erinnerte sich vage daran, vor nicht allzu langer Zeit über Pilze gesprochen zu haben, was sie mit leichter Neugier erfüllt hatte; vielleicht hatte sie mit Pilzen angefangen, weil sie als ungefährlich galten. (Roh mag ich sie aber nicht gerne, dachte sie blödsinnigerweise; sie müssen mit viel Butter in einer Pfanne über offenem Feuer geröstet werden.) Sie hätten Kinder haben sollen. Wäre sie in der Lage gewesen, Kinder zu haben (wäre sie nur nicht so verdammt unfruchtbar gewesen), hätte sie nicht diese ganze Energie für weiß-Gott-was für eine geistlose Modeerscheinung aufgebracht und Halluzinogene genommen, um so in diesen Schlamassel zu geraten. »Ein Teil dringt in den anderen ein«, sprach sie gegen die Wand. Ja, das war die beste Beschreibung des Geschlechtsaktes. Nicht etwa, daß dies schon alles gewesen wäre – es gab bei sexuellen Aktivitäten noch viel mehr, was mit dem Eindringen nichts zu tun hatte, aber es kam trotzdem nahe an den idealisierten Sinn heran. Ihr allererster Geschlechtsverkehr war vielleicht vor dreißig Jahren gewesen. Sie hatte im Augenblick des Eindringens geweint, schade. Nun, jetzt wußte sie es besser. Sie war sich da nahezu sicher. Weil diese Gedanken sie nicht weiterbrachten – man mußte sagen, daß diese Halluzinationen erheblichen Widerstand
leisteten und anhielten –, begab sie sich in den hinteren Teil der Zelle, um die Bücher anzuschauen, die man ihr dagelassen hatte. Sie standen in zwei übereinanderliegenden Fächern, alles Taschenbücher mit schreiend bunten Titelbildern, die sie zuerst gleichgültig wahrnahm. Sie wurde neugierig, als sie sah, daß sie nur zwei Themen zum Gegenstand hatten: Sex und Science Fiction. Sie konnte das an den Titeln der Bücher erkennen: Invasion aus dem All, Aufstand der Roboter, Palast der Lust, Sündige mit mir, Piraten zwischen Erde und Venus, Rakete zwischen Schenkeln, Die Fleischfarm, Stützpunkt der Außerirdischen und so weiter. Nachdem sie in einige der Bücher hineingesehen hatte, stellte sie fest, daß sie genau das enthielten, was sie erwartet hatte: Die Science-Fiction-Bücher schienen mit Nichtigkeiten über Außerirdische oder Flüge in den Weltraum – mit dem idiotischsten Zeug also, das man sich vorstellen kann – angefüllt zu sein; die Pornos waren widerlichster Dreck. Es war keine Frage; anders konnte man diese Bücher nicht klassifizieren. Die beiden, die sie oberflächlich durchblätterte, schienen voll zu sein von Peitschen und Perversitäten. Aber es gab eben immer noch Leute, die so etwas mochten. Eines der Science-Fiction-Bücher – jenes mit dem Titel Invasion aus dem All – interessierte sie etwas mehr; sie blätterte es schnell durch, da sie ohnehin nichts anderes zu tun hatte. Es handelte von einer Gruppe Außerirdischer – aus einem anderen Sonnensystem oder etwas ähnlichem –, die eines Morgens zu Tausenden auf der Erde gelandet waren, weil sie einfach keinen Lebensraum mehr hatten, der Mensch das Universum mit Atomwaffen »vergiftete«, und weil diese Wesen obendrein noch durch und durch böswillig waren. In der Tat war es ihre Hauptbeschäftigung, böswillig zu sein. Das Buch beschrieb, wie verschiedene einfache Erdenmenschen von diesen Fremden festgenommen und gefangengesetzt wurden; nebst
einer ganzen Reihe von Rückblenden, die dem Leser ihre Lebensgeschichten darlegten, so daß er sich mit ihnen identifizieren konnte. Delia fand es lächerlich, daß die Leute, die geradewegs von der Straße weg oder aus dem Bett heraus in ein Verließ geworfen wurden, nichts Besseres zu tun hatten, als über ihr ganzes bisheriges Leben nachzudenken. Sie hätten wenigstens angeekelt, verärgert oder in panischen Schrecken versetzt werden müssen. Aber nicht diese Leute, nein, diese nicht; nichts spielte für sie eine größere Rolle als die unwichtigen Dinge aus ihrer Vergangenheit. Und zu allem Übel war ihr Leben auch unglaublich langweilig gewesen: ein vollkommener Querschnitt durch die Menschlichkeit; mit Geschichten, erzählt aus der Sicht eines Priesters, eines Lehrers, einer Hure, eines Industriekapitäns, eines Wermutbruders und eines Hockeyprofis. Es schien, daß alle in ihrem Leben nur an Sex gedacht hatten – am meisten der Priester, der sich als Brutstätte der Geilheit entpuppte. Es war ein blödes Buch. Eines der blödesten, das sie je in den Händen gehalten hatte, und die Umstände, unter denen sie es betrachtete, überwältigten sie plötzlich, ließen sie in Schweiß ausbrechen und machten sie müde. Sie warf das Buch auf den Zellenboden und setzte sich auf die Matratze in der Ecke, weil es sonst absolut nichts für sie zu tun gab. Die Banalität der Sache, murmelte sie wieder, als ob es das einzig Sinnvolle wäre, was sie mit ihr selbst verband. Aber sie würde nicht zu weinen anfangen. Würde sie weinen, würde sie zugeben, daß alles real war – und das konnte doch nicht sein. So saß sie lange Zeit da, starrte ausdruckslos die Wand an und wartete darauf, daß die Behelmten zurückkämen und ihr erzählen würden, was sie mit ihr anzustellen gedachten.
Zwei
DRAUSSEN: Lange Zeit waren die Metastasen in Archers Gehirn gewachsen, bevor man sie entdeckte. So was Dummes. Pech für James Archer. Zuerst – es gibt immer ein zuerst; nur das Leben selbst läßt einen Ursprung vermissen – tat er die Kopfschmerzen als Folge von Überarbeitung ab, führte sie zurück auf die Dinge, die die Schweinehunde ihm jeden Tag antaten, jeden Tag im Büro, auf die zweimal wöchentlichen Unannehmlichkeiten, die er mit Delia unter der Bettdecke hatte. Dann, als seinem Gedächtnis idiotische Fehler unterliefen (auf dem Weg zur Arbeit kaufte er an verschiedenen Plätzen drei Päckchen Zigaretten und wunderte sich dann, wann, zum Teufel, er angefangen hatte zu rauchen), tippte er auf Nervenschwäche. Und schließlich, als er Delia in dem Restaurant angriff und ihr ins Gesicht sagte, er wisse, daß sie mit dem Oberkellner schlafen wolle, stellte er sich vor, es könnte eine leichte Paranoia sein. Das letztere war hart, immerhin. Ein Ehefrauen-Ankläger war Archer nicht. Er hatte seine eigenen Probleme. Er kam auf dem Heimweg in einem Taxi wieder zu sich; zwei dienstbeflissene Streifenpolizisten neben sich, und Delia, zusammengekauert auf dem Vordersitz. »Entschuldigung«, sagte er, als er sich in der Lage fühlte, überhaupt etwas zu sagen. »Ich glaube, ich stand heute unter ziemlich starkem Druck.« »Druck?« sagte der jüngere Polizist. »Das ist mehr als Druck, mein Lieber. Sie suchen wohl besser einen Arzt auf. Ich habe Leute wie Sie in allen Altersstufen und Stadien erlebt, aber
wenn sie anfangen, ihre Frauen in aller Öffentlichkeit zu verprügeln, wird es zuviel. Geben Sie mir da nicht recht?« Archer glaubte das auch. Er nahm sich vor, am nächsten Tag qualifizierten ärztlichen Rat einzuholen. Als er, zusammengesunken in dem Taxi sitzend, darüber nachdachte, erwartete er mit Sicherheit, als verrückt eingestuft zu werden, daß man ihn einige Monate oder Jahre in ein ruhiges Sanatorium einliefern würde, bis er genug Pillen geschluckt hatte, um seine Sinne wiederzufinden. Aber das war eben eine der Strafen dafür, daß man im zwanzigsten Jahrhundert lebte. Es war die Hölle. Man mußte sich mit der Tatsache abfinden, daß Verrücktwerden ein normaler Schritt auf dem Weg zur geistigen Gesundheit sein konnte. »Jedenfalls bist du gut versichert, Delia«, murmelte er, wobei ihm egal war, ob die Polizisten zuhörten oder nicht. Die Police schließt eine Provision bei mentaler Krankheit ein; die Gesellschaft versichert einen umfassend. Natürlich muß man sich ein bißchen wundern, wenn dein Arbeitgeber dich für den Fall, daß du verrückt werden solltest, versichert hat, aber das Spiel ist zu weit vorangeschritten, um sich jetzt Gedanken darüber zu machen, nicht wahr? Richtig schlimm wurde es erst, als Perkins, der Hausarzt, keine fünf Minuten nachdem Archer zur Untersuchung gekommen war, sofort mittels einer kleinen Lampe, deren Lichtstrahl er auf seine Pupillen richtete, es feststellte. Es war der totale Schrecken, mehr konnte man dazu nicht sagen. Kaum hatte Perkins gesehen, was zu sehen war, legte er die Lampe in eine Schreibtischschublade zurück und sagte zu Archer, er könne sich anziehen. Dabei zuckte er mit den Schultern und murmelte etwas von Pech. Was von Archer in jenem Augenblick vor allen anderen Dingen Besitz ergriff, war das Gefühl, betrogen worden zu sein; es war nicht gerecht, daß sein komplexer Zusammenbruch von einem Klumpen in seinem Schädel herrührte. Das machte jede
Bedeutung zunichte. Es war – alles in allem – die verfluchteste Sache, die ihm je passiert war. Alles, was Perkins sagen wollte, war, daß der Klumpen irgendwo im vorderen Gehirnlappen saß, keinesfalls in der Nähe des Großhirns – noch nicht –, aber groß genug war und genügend Ausläufer hatte, um die Verbindung zum Großhirn herzustellen. Er mußte schon seit einem Jahr oder länger dort sitzen, und Perkins sagte, daß das alles außerhalb seiner Kompetenzen läge. Er wuchs buchstäblich von Minute zu Minute. »Der Teufel soll Sie holen«, sagte Archer blödsinnigerweise, schüttelte den Kopf und überlegte, wie er es Delia beibringen konnte, die natürlich im Wartezimmer saß und Frauenzeitschriften las. »Ist das nicht eine verdammte Scheiße?« Perkins sagte, er glaube, daß dies heutzutage gewöhnlicher sei, als er vielleicht annehmen würde, verbreiteter als wirkliche Geisteskrankheiten. Dann wurde Archer mit einigen Sachen und etwas Glück und Unterstützung der Krankenkasse ins Krankenhaus geschafft, wo man in der Lage war, ihn am nächsten Morgen als ersten zu operieren. Das war an einem Donnerstag; dem letzten Donnerstag im Monat März, und sogar in den klimatisierten Korridoren war es erstickend heiß an diesem Tag, dem heißesten 27. März seit vielen Jahren. Delia, die abwechselnd in der Rezeption saß oder unruhig auf und ab ging, konnte das Unheil förmlich riechen, das zusammen mit den staubigen Rückständen in der Luft hing, die die Klimaanlage – nach dem Winter nun wieder in Gebrauch – die Korridore entlangblies. Man machte keine Untersuchung, keine Tests und keine intravenösen Injektionen, um Archer aufzupäppeln, der immerhin schon dreiundfünfzig war und auch nicht mehr gerade das beste Herz hatte. Es war alles furchtbar ernst. Delia
wurde das Gefühl nicht los – das sie letzte Nacht so stark überkommen hatte –, daß in wenigen Augenblicken die Lautsprecher angeschaltet würden, und der Tod ihres Gatten beiläufig mit Worten bekanntgegeben würde, die von Hintergrundmusik untermalt wurden. Und man würde alle Fenster in den Korridoren verriegeln, damit sie sich nicht hinauslehnen und schreien konnte. Natürlich fanden sie es sofort, als sie die Schädeldecke öffneten, und es war sogar noch schlimmer, als Perkins gesagt hatte. Wäre Archer bei Bewußtsein gewesen – er konnte es jetzt nicht mehr sein, wie in diesem Augenblick aus diesem Roman hervorgeht – würde er einen letzten Verzweiflungsschauer über die physische Existenz dessen, was er für einen Komplex, ein psychisches Leiden gehalten hatte, erlebt haben. Dort war es, langsam schwellend, direkt neben der öligen Grauen Masse: Der eine, der große, hatte sich dermaßen tief im Gehirn verwurzelt, daß ihnen bewußt wurde, daß sie, falls sie ihn entfernten, sie Archers Verstand und Erinnerungsvermögen vollständig mitentfernen würden. Alles, was man da noch machen konnte, war, mit dem Kopf zu nicken und den Schädel wieder zu schließen, genauso wie man über einem Topf, der bis zum Rand mit einer ekelhaften Flüssigkeit gefüllt ist, den Deckel schließt. Dann brachten sie ihn wieder zurück, in die Abteilung für Halbprivatpatienten, ließen die Jalousien herunter und warteten darauf, daß er aufwachte. Falls er überhaupt aufwachte. Zwei Monate oder etwas weniger, sagten sie zu Delia, während sie in einer Traube um sie herumstanden; zwei hinter ihr, bereit sie aufzufangen, bevor sie auf den Boden schlug. Und um die Berufsethik nicht zu durchbrechen, sagen wir Ihnen lieber, daß die letzten Wochen schrecklich sein werden. Delia nahm es schwer. Sie fiel nicht in Ohnmacht, weil ihr das in einundvierzig Jahren nicht passiert war und es nun auch
keinen Grund gab, um damit anzufangen; aber sie ertrug die Nachricht aufgrund dieser einen kleinen Leistung keineswegs leichter. Nicht nur, daß sie Archer gern hatte, sie hatte mit ihm die fünfzehn erfülltesten Jahre ihres Lebens verbracht, die im Anschluß an ein sehr schwieriges Vorspiel kamen (alles ist ein Vorspiel, hatte sie gedacht, bevor sie ihn heiratete, um dann zu lernen, daß es bei gewissen Dingen so etwas wie ein Ende gibt). Nicht nur, daß die Szene im Restaurant der Anfang wirklicher Angst gewesen war: Es war mehr als das. Es hatte mit der Tatsache zu tun, daß die unabänderliche Art seines Sterbens, die ihn, wie es schien, auf ein Häufchen Elend reduzierte, das vom Tode nicht erlöst wird – der Tod würde zu langsam sein –, unerträglich schien. Früher war er ein geduldiger Liebhaber gewesen, ein sorgsamer Ernährer, immer herzlich, auch in schlechten Zeiten, und er hatte ihr ein gutes Jahrzehnt gegeben, bevor sie beide das Interesse aneinander verloren. Na ja, als er früh herausgefunden hatte, daß sie frigide war, brachte er auch nicht mehr Gefühl auf, als unbedingt nötig war, und wurde langsam zu einem Mann, den sie vielleicht nicht geheiratet hätte, aber dies – dieser Krebs – war weder sein Fehler noch ihrer beider Fehler, noch irgend jemands Fehler; er war von niemandem verursacht worden. Genau wie Archer fühlte auch Delia eine dumpfe Wut aufsteigen, die, wenn man sie erst einmal hatte, kein anderes Gefühl mehr zuließ; es gab keinerlei Konsequenzen. So hörte sie den Ärzten zu, mit einem ruhigen, bestimmten Starrsinn, der nur durch ihr Kopfschütteln zum Ausdruck kam und die Ärzte perplex machte, als sie herausfanden, daß es nicht nur eine auferzwungene Haltung von ihr war, daß sie nicht zu weinen anfing. Sie hatte nicht die Absicht zu weinen. Was sie suchte, war eine andere Ansicht.
Drei
DRINNEN: Der Dichter war im Begriff eine Villanelle zu schreiben. Auf irgendeine Weise sollte sie das Gefühl widerspiegeln, das er eben erlebte; dieses Gefühl der schwindenden Möglichkeiten: Wie es war, dort zu sein, wo er in dieser Welt war, die gänzlich aufgeplatzt, wie Blut durch die zerrissenen Hälften seiner Leiche rann. Aber er hatte nicht die Geduld dazu; die Arbeit, die Reime zu finden und zu ordnen, machte ihn krank. So entschied er sich für eine Form, die überhaupt keinen Namen hatte; eine Form, die er natürlich DELLA nannte, weil gleich ihr alles eingezwängt, schmal und kalt, kalt, kalt war. Sie traf ihn wie Eis auf der ausgeliehenen Ebene des Bewußtseins; um ihn gewickelt wie ein Netz, hatte sie ihn zu ihrem fischähnlichen Innersten geführt, aber dort war nichts. Je weiter er vordrang, desto tiefer wurde die Dunkelheit. Delia, Delia, Delia, hatte er geschrien, als die letzten Wasser gefroren und den Kanal blockierten. Oh, sie wußte. Sie wußte. Sie wußte… Dann versuchte er die Wörter zu ordnen: Zerrissen, Horn, Jubel und brennen, so daß sie, Zeile für Zeile aufeinanderfolgend, durch ein System von fünfundzwanzig Zeilen wiederkehrten. Er wählte die Wörter mehr oder weniger nach dem Gefühl, aber er versuchte auch etwas Sinn hineinzubringen. »… Zerrissen zu sein Auf dem Horn
Dann: Jubelschreie. Plötzliches Brennen: Und das Horn hören. Das Jubelgeschrei, Das ferne Brennen, Ist endlich zerrissen Das Jubelgeschrei Der Schmerz des Brennens: Komm in das Horn Das Feuerhorn Das Knochenhorn…« Und so weiter. Er hatte mehr als nur das geschrieben, aber bevor er das Ende der Seite erreichte, hatte er vor Ekel ein Aaah ausgestoßen und alles zerrissen (zerrissen), es ziellos in alle Winkel des Zimmers verstreut; dann war er gegangen, auf der Suche nach einer neuen Schlacht, die wahrere Lyrik enthielt. Die Sache war nur die, daß er Gedichte überhaupt nicht mochte. Er verstand sie auch nicht. Etwas Hartes und Verächtliches in ihm erschütterte sein Schreiben, legte verborgene Sinne frei. Vor langer Zeit hatte er sich ein bißchen mit Bildhauerei beschäftigt und Klavier gespielt, keines von beiden sehr gut, aber damit war er dem, was er jetzt tat, am nächsten gekommen, obwohl er nicht genau wußte, was – zum Teufel – er eigentlich machte. Delia oder gar nichts. »Verstehe ich nicht«, brummte er; werde es nie verstehen und fände es nicht gut, wenn ich es könnte. Verstehe nicht, was hier überhaupt los ist – natürlich macht das so oder so nicht allzuviel aus. Wie die Idee der Villanelle selbst. Er hatte sie aus einem alten Buch, das im Regal gestanden hatte. Es war voller Instruktionen über das Schreiben in verschiedenen Formen, und auch einige Beispiele waren darin angeführt. Er
hatte gedacht, daß es besonderen Spaß machen könnte, es DELLA zu nennen, was der Hure noch ziemlich schmeichelte. Aber es machte keinen Spaß. Es hatte mit Spaß überhaupt nichts zu tun. Soviel über Villanellen. Aber nach einiger Zeit kam er darauf zurück, weil es wirklich keinen anderen guten Weg gab, die Zeit totzuschlagen, und wenn man sich echt hinsetzte, war es nur eine Frage der Disziplin; man mußte alles von sich werfen und neu anfangen, so, als hätte man in seinem Leben zuvor nie etwas anderes gemacht. Wer hatte gesagt, daß jedes Gedicht so geschrieben werden soll, als hätte es vorher nie eines gegeben? Wer es auch immer gewesen war, der alte Hurensohn hatte sich sicher etwas dabei gedacht. Wenn er sich erst einmal entschlossen hatte, sich hinzusetzen, um das verdammte Ding herunterzuschreiben und von da an alles sich selbst zu überlassen, würden sich die Dinge schon entwickeln. Aber der Haken an der Sache war: Was, zum Teufel, machte er hier? Und was würde es lösen? Nun, das war egal; das waren Fragen der Wächter; preise sie und iß die Sachen, die sie durch die Luke am unteren Ende der Tür reinschaufeln – egal wie sie schmecken –, weil es wichtig ist, bei körperlichen Kräften zu bleiben und weiterzumachen, wenn ich dir das mal sagen darf. Die Wächter würden ihn die Antworten zu gegebener Zeit wissen lassen. Und im Augenblick hatte er seine Arbeit. Das war sehr wichtig. Es wurde ihm nun klar, daß die ersten Konzepte alle verdammt falsch gewesen waren, weil sie konstruiert waren (er konnte Lyrik eben nicht ausstehen!), wie alle anderen verdammten Dinge auch. Er hatte direkt von Anfang an nicht die wesentliche, unbestimmbare, unteilbare Identität seines Selbst erfaßt, weil er einfach nicht den Mumm dazu gehabt hatte. Jetzt hatte er ihn, dem Himmel und den Wächtern sei Dank. Nein, es hatte keinen Sinn, etwas zu konstruieren, man
konnte überhaupt nichts von dieser elenden Kacke verwenden; man mußte ohne große Umschweife auf den Kern der Sache vorstoßen, ob es sich um ein Gedicht drehte oder um etwas zu essen oder – Gott behüte – man ein Mädchen aufs Kreuz legte; man mußte sich auf ein Objekt konzentrieren und all das verdammte Zeug drumherum in den Brennpunkt ziehen. Die ersten Konzepte waren eher »poetisch« als lyrisch gewesen, wie es in all den Büchern stand; er war mit fliegenden Fahnen zur schöngeistigen Ausdrucksweise übergelaufen, nur weil er nicht genug Mumm in den Knochen gehabt hatte, um an sich runterzuschauen und zu sagen: So bin ich, hier steh ich, mein Lieber. Die Bücher hatten ihm echt weitergeholfen, daran gab es keinen Zweifel. Aber das lag alles in der Vergangenheit – sechs Wochen? Sechs Monate? Wer wußte das schon? –, und jetzt hatte er seinen Weg gefunden. Tatsächlich nahm die Sache langsam Formen an, er würde den Wächtern in den nächsten Tagen ein ausgezeichnetes Gedicht übergeben. Es würde ihnen beweisen, daß er nicht irgendwer war, mit dem man herumalbern konnte; oh nein, das war er nicht im geringsten. Das Gedicht würde seine Beziehung zu ihnen klären – das hieß, falls es überhaupt so etwas wie eine Beziehung klarzustellen gab. Und überhaupt: Wer, zum Teufel, waren sie? Das war die Frage. Einen Augenblick lang war er gewesen, wer er war, das tuend, was man von ihm erwartete, aber bereits im nächsten war er in diesem verdammten Zirkus; saß er in einer Zelle und versuchte, Gedichte zu schreiben und sich mit den Büchern zu beschäftigen, die sie ihm zurückgelassen hatten. Mein Gott, war das eine beschissene Situation. Wie eine Invasion der Erde aus dem Weltraum, wobei die fremden Wesen den Menschen die Erinnerung nehmen und zu Robotern ohne jeglichen Sinn für die Vergangenheit machen. Er hatte einst einen ähnlichen Film gesehen, und jedesmal, wenn er jetzt daran dachte, überkam
ihn ein Frösteln. Es ergab schon einen Sinn, wenn man die Sache so betrachtete. Was war denn, wenn dies eine Invasion der Erde war und er der letzte Überlebende, den sie zu ihrem Vergnügen, ohne Erinnerungsvermögen, in einer Zelle festhielten? Oder – was noch schlimmer war – wenn alle zwei oder drei Milliarden Menschen (oder wie hoch die Bevölkerungsziffer, zum Teufel noch mal, gerade sein mochte – man war ja heutzutage nie in der Lage, den neuesten Stand der Entwicklung zu kennen) in Einzelzellen steckten, irgendwo, jeder mit Büchern und Nahrungsmitteln und so, und mit ihrem jeweilig größten Talent die Wächter unterhielten; Pächter und Chinesen und Politiker und Schauspielerinnen und Huren und Schwachsinnige und Zeitungsverkäufer und Zuhälter, alle unter der Erde wie in Honigwaben lebend. Das wäre was. Das wäre nun wirklich mal was, wenn es wahr wäre. Aber er konnte sich mit diesen Gedanken nicht so recht anfreunden. Falls es stimmte, so bedeutete das, daß sein Fall nichts Außergewöhnliches war, daß sie von ihm und dem, was er tat, nicht einmal besondere Notiz nahmen; dann gab es nichts, womit er vor ihnen brillieren konnte. Er zog es vor, sich die Sache so vorzustellen: daß er der letzte Überlebende war. Nicht daß es nett war, von jedem, den man geliebt oder gehaßt hatte, zu denken, er sei tot; aber so war es eben. Und da er sich an niemanden, den er jemals gekannt hatte, erinnern konnte – und noch weniger an diejenigen, die er geliebt oder gehaßt hatte –, war das in bester Ordnung. Besser jedenfalls als die andere Möglichkeit. Vielleicht wurden die Wächter in kurzer Zeit seiner müde, gaben ihm seine Erinnerungen zurück und schickten ihn hinaus, um die Erde zu bevölkern, während sie in ihren Raumschiffen die Erde wieder verließen. Sie mußten ihn natürlich mit einer Frau versorgen, falls sie so etwas vorhatten, aber er glaubte, daß sich das schon arrangieren lassen würde. Er hoffte nur, daß sie anständige Titten hatte. Nach alldem,
was er hier durchgemacht hatte, verdiente er es bestimmt, etwas anderes als matschige Hängetitten serviert zu bekommen. Das erste, was er tun würde, wenn sie ihn und sie hinaus in das Gras setzten, wäre eine anständige Handvoll davon zu grapschen und in den Mund gleiten zu lassen. Das würde großartig sein, er könnte Zungenspiele veranstalten. Sie würde vielleicht sogar mit ihm reden. Nicht daß er das verdammt gut fand, wenn sie redete; er hoffte, daß die nächste Frau, die er haben würde – falls er noch einmal eine haben würde – schlau genug war, um im Bett die Klappe zu halten. Er erinnerte sich vage daran, daß es früher einmal eine Frau gegeben hatte, die es nicht hatte lassen können, im Bett die ganze Zeit über zu reden, während sie wie eine Klette an ihm klebte. Es hatte ihn wirklich total bekloppt gemacht, gar keine Frage. Allerdings, um das Thema nicht zu wechseln, war da noch das Gedicht. Es ging nun wirklich ganz gut; er hoffte, sie würden etwas von Ästhetik verstehen – oder wenigstens genug Grips haben, um zu würdigen, wie er das Baby gewickelt hatte. »Ich hör das Horn Das Feuerhorn Das Knochenhorn. Das Feuer zu hören Den Knochen zu fühlen. Das Horn zu fürchten. Den Knochen zu verkleiden Mit Horntönen Läßt das Feuer emporlodern. Das lodernde Feuer Der eingekleidete Knochen Das geschlagene Horn…«
Ja, das ging: Auf diese komprimierte Art und Weise ging es wirklich. DELLA, die Hure – wer immer sie auch war – kam ihm wirklich entgegen; und das auf der ganzen Linie. Später konnte er einige neue Wörter hineinbringen, die Strophen auf vier oder gar fünf Zeilen erweitern, so lange daran herumbasteln, bis es gut klang, und er würde dann bis ins Innerste vorstoßen, um den Schweinehunden auf den Korridoren etwas geben zu können, wohinter er sich stellen konnte. Es war alles nur eine Frage der Geduld; er würde sich die ganze Zeit über damit beschäftigen müssen und sich durch nichts ablenken lassen (weil es nichts gab, auf das er zurückblicken konnte) – nur damit durfte er sich beschäftigen. Es hing natürlich alles von den Wächtern ab, aber falls sie so weitermachten wie bisher, war alles in Ordnung. Er wußte, daß er, wenn er ein gutes Gedicht schrieb, etwas in der Hand haben würde, was ihm die Möglichkeit gab, die Lage zu kontrollieren. Das konnte ihn hier hinausbringen, und das war das beste, was er unternehmen konnte. Er hätte natürlich auch Romane oder Briefe schreiben können, aber genau betrachtet, waren Romane ziemlich blöde, und natürlich war auch niemand da, dem er hätte Briefe schreiben können. Also blieb halt nur das Gedicht übrig.
Natürlich würde das auch niemand lesen, niemand außer den Wächtern, aber es war zumindest so etwas wie ein Anfang. Und ein Gedicht war, wie es in einem der Bücher gestanden hatte, etwas Endgültiges; es existierte losgelöst von allen Situationen, die es geschaffen hatten. Jenes Buch hatte wirklich Hand und Fuß, das stand außer Zweifel; was er wirklich über Gedichte dachte, war natürlich etwas anderes, denn er wollte sich nicht auf sie versteifen, weder jetzt noch jemals. In einem anderen Buch hatte gestanden, ein Gedicht
habe die Konstanz, Substanz und Ausstrahlungskraft einer Sonne: ein Gedicht zu erschaffen hieß demnach, etwas aus einem Lebenszentrum herauszubrechen. Das sprach ja von einem höllischen Einfühlungsvermögen, wenn man so was sagte. Man mußte es sich merken. Auf jeden Fall brachte es einen vom Nachdenken ab. Das war die Hauptsache, denn er dachte verdammt viel nach. Es war, als hätte er sein ganzes Leben lang für dieses eine Werk geübt, und nun sei es ihm ein leichtes, es auszuführen. Deshalb arbeitete er weiter, schlief zwischendurch und aß die Mahlzeiten, die sie unter der Tür durchschoben – das Essen glich nichts, an das er sich zu erinnern vermochte, was der Beweis dafür war, daß sie ihm das Gedächtnis genommen hatten. Nach dem, was er wußte, hätte es Steak und Bier sein können. Er überlegte, ob es sich lohnen würde, ein Buch darüber zu schreiben, wenn er je hier herauskäme, das hieß, falls es dann noch jemanden gab, der es würde lesen können. Ganz sicher würde es aber wohl nichts schaden, wenn er einen saftigen Leserbrief an irgendeine Zeitung schrieb.
Natürlich kamen sie schließlich, um nach ihm zu sehen. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen. Er konnte sie draußen vor der Tür hantieren hören (Klappergeräusche und ein entferntes Klirren), dann öffnete sich die Tür und zwei von ihnen schauten ihn an. Sie waren natürlich formlos. Sie waren nur. Es gab keine Möglichkeit zu beschreiben, was nicht beschrieben werden konnte; das war einer der Vorteile, die ein Dichter hat, weil er diesen Unterschied auf der Stelle erkennt, was gewisse Identifizierungsschwierigkeiten verschwinden läßt. »Komm«, sagte er-sie-es.
»Jetzt? Ich fühle mich hier ganz wohl. Natürlich gibt es nicht viel zu tun, aber ich beschäftige mich, und in der Zwischenzeit kann man sich immer aufs Schlafen freuen.« »Jetzt«, sagte der Wächter. »Wir haben jetzt keine Zeit für schöngeistige Reden. Gehen wir.« »Ich habe noch nicht einmal das Gedicht fertig, das ich für euch schreibe. Kann ich nicht noch etwas Zeit haben, um es fertigzustellen? Ich bin bald soweit.« »Komm jetzt«, sagte der andere Wächter, etwas kürzer angebunden und viel bestimmter. »Die Gedichte können warten. Alles kann warten. Wir möchten mit dir reden.« So ging er eben mit. Was hätte er auch anderes tun sollen? Er stand auf und reckte seine Glieder, und weil er sich in letzter Zeit so wenig bewegt hatte, war er etwas überrascht, daß sie noch da waren. Dann drehte er sich hinter den Wächtern einigermaßen elegant um seine eigene Achse und folgte ihnen durch die Tür und die Korridore. Dies war der erste Blick, den er von der Außenwelt erhaschte, seit er hergebracht worden war und sie ihm die Erinnerung genommen hatten. Er hatte den Eindruck, in einem unendlich geräumigen Gebäude eingeschlossen zu sein; die Decken befanden sich etwa fünfzehn bis zwanzig Meter über ihm; die Wände, ziemlich weit voneinander entfernt, und dort schmal, wo sie hinter seiner Zelle zusammenliefen, ragten in einer Entfernung von fünf bis sieben Metern vor ihm auf. Es war ein verdammt großes Gebäude, das sie da hatten, und die Anzahl der Leute, die sie hier hineinstecken konnten, schien unbegrenzt. Zum Teufel, so wie es aussah, hatten sie wirklich alle zwei, drei Milliarden hier in Einzelzellen untergebracht; nichts sprach dagegen. Aber es würde die Situation überhaupt nicht ändern. Sie brachten ihn zu einem kleinen Raum, der am Ende eines Korridors lag und beförderten ihn hinein. Ein anderer Wächter wartete im hinteren Teil des Raums auf ihn. Ein grinsender
Wächter, wenn man von Abstraktionen sagen kann, daß sie grinsen können. Dieser hier hatte eine weitaus stärkere Ausstrahlung als die anderen. Er war es, der ihn zu dem Stuhl führte und ihm sagte, er könne sich setzen. »Wir wollen mit dir reden«, sagte das Ding. »Es besteht überhaupt kein Grund dafür, daß man dir wehtut, wenn du vernünftig bist«, sagte es. »Es gibt bestimmte Aufgaben, von denen wir wollen, daß du sie für uns ausführst«, sagte es. »Es gibt da eine Frau«, sagte es.
Vier
DRINNEN: Rogers; Gott, der ihn allen unseren Generationen als Vorfahr und uns allen als Stammvater gab, segne seinen Namen: Rogers, Er, der Einzige und Alleinige, begann zu schreien… er schrie und schrie, tausend Jahre lang. Dieser einzige, vom Schöpfer gezeugte Sohn, war echt in Schwierigkeiten. Rogers schrie tausend Jahre lang, schrie seinen Schmerz hinaus, eingeschmiegt in Laken, die so kalt wie Feuer waren und so weich wie Tannenzapfen; und die Versucher kamen, um seine Augen und seine Nase zu bedecken und um Papierfetzchen fallen zu lassen, die sich sanft auf seine Zunge senkten, als er nach Luft rang. Verflucht sollten sie sein, jene Versucher; es war nicht nett von ihnen, ihre Teufel zu senden, die sich koboldhaft durch seine Trommelfelle bohrten; ihn in seine armen, leidenden Wangen kniffen – die Wangen unseres Erlösers –, und als er sich umdrehte und ihnen trotzdem vergab, war es, als redete er gegen Wände. Die Zeiten waren schrecklich, schrecklich; die Erde war still und tief, und in ihrem gräbernen Herzen durchfocht Rogers, der Träger des Samens, die letzten Augenblicke vor der Entscheidung: Tat sich wahrhaftig die Ewigkeit vor uns auf – oder war es nur das altbekannte dumme Zeug? Er versuchte sich zu erheben, wurde jedoch von etwas zurückgehalten, das so stark wie Eisendraht war. Er schrie, diesmal aber nur im Interesse der ungeborenen Generationen; er war rücksichtsvoll genug, nie an sich selbst zu denken. Versuchte dann zu gehorchen; versuchte, die Worte zu sagen, die seiner Qual ein Ende bereiten würden, vergaß sie aber
irgendwo zwischen der Hitze und dem Eis, wanderte davon, fühlte sein Selbst sterben; lag dann still, und sie kamen in den Raum – seinen Raum – um ihn zu untersuchen; zogen das Leinentuch von seinem eingefallenen Gesicht, so daß er den süßen Gestank seiner Sterblichkeit riechen konnte, tätschelten ihn sachte hier und da und erzählten ihm, daß es ihm so gut ging, wie man nur eben erwarten konnte. Die Schweinehunde – ihre Gesichter scharf in dem schwindenden Licht des Raumes – kamen, um sich über ihn lustig zu machen. Aber es gab einige unter ihnen, die Mitleid kannten. Er fühlte die Nässe der Tränen, und was die Mitleidigen anbelangte, sie sollten ein leichteres Schicksal erleiden, wenn ihre Namen am Tage des Jüngsten Gerichts verlesen wurden. Cum spiritu sanctu, nebenbei gesagt. Fühlte dann die Nadeln in sich eindringen, eine nach der anderen unter seine Haut, und dann die Wutanfälle, einen nach dem anderen, in feierlicher Reihenfolge. Ein anderes Mal arbeiteten die jungen Teufelchen mit ihren Handflächen an ihm. Verflucht bis in alle Ewigkeit, kamen sie einzeln in dieses Tal der letzten Möglichkeit, während Rogers, seinem Gedächtnis sei gedient und seine Wundmale gefeiert, sie um sich versammelte und sich der Nacht hingab. Andere Male war es schwer, aber dies war lächerlich. Niemand würde das ruhig hingenommen haben. Angeschmiegt an das Herz des Raumes, auf der Erde, nahe der Sonne, versuchte er vergeblich, das Netz zu fassen, das im Begriff war, die Geräusche und Gerüche seines Sterbens zu absorbieren; das Netz, das ihn einwickelte und sein wütendes und hilfloses Selbst festhielt. Sogar die Göttlichen können wüten; wir wissen das jetzt; wir wissen es, dennoch mindert das nicht ihren Heiligenschein. Rogers wartete und wartete darauf, daß das Tor, das Tor seines Vaters, dem Gesegneten im suchenden Geist, sich öffnete und daß der letzte Test begann.
Etwas später: ein Augenblick plötzlicher Einsicht. Sie kamen nun immer häufiger zu ihm, und das war der sicherste Nachweis für das Ende, das auf ihn zukam. Schneller, immer schneller und schneller liefen die Augenblicke zusammen, und es war jetzt nur eine Frage der Zeit, einer sehr knappen Zeit, bis es zur Totalität wurde und emporstieg. Rogers seufzte. Er saß – zu jener Zeit – rittlings auf einer Sonne, die zwanzigtausend Meilen durchmaß, einer Sonne, die einst ihre Kinder durch die Zeiten gestreut hatte, nun aber am Ende angelangt war; ein sterbender, ungeheurer Hochofen, der nach verbrauchtem Gas stank und taumelnd seine Bahn am Himmel zog, seinem endgültigen Untergang entgegen. Wie Rogers wartete die Sonne darauf, auf das Ende, weil sie nichts anderes tun konnte. Aber im Gegensatz zu Rogers war sie von Anfang an auf diesem Weg gewesen; wogegen Rogers, auf die lange Bank geschoben und übersprungen, in diesen wirklich bodenlosen Abgrund versetzt worden war. Nein: er gehörte in das Herz eines Gestirns. Oder etwa nicht? Die Sonne war weder heiß noch kalt; ihre Umwandlungsprozesse waren in der letzten Phase vor dem Erlöschen ins Stocken geraten, waren zum letzten, ehernen Halt gekommen. Kein Blut rann durch diesen Stern. Trotzdem konnte Rogers, nackt und bis zum Skelett abgemagert, mit keuchenden Lungen, die die verbrauchte Luft einsogen und wieder ausstießen, nichts passieren, solange er in einer Stellung verhielt und sich nicht bewegte; der Himmel behütete ihn wie seinen Schützling. Jetzt, da sein Werk vollbracht und nur ein beherrschender Einfluß vor ihm war, saß er mit dem Rücken gegen eine düster aufragende Wand gelehnt und beobachtete die entfernten Tänzer, wie sie in das Gesicht der Nacht, der schwülstigen Nacht, entschwebten. Sicher wird es lange dauern, dachte er. Eine höllische Wartezeit. Und worauf wartete er? Wer weiß schon, worauf er
wartet oder wer kommen wird, oder was er für eine Rolle spielt. Jene, die dafür verantwortlich sind, daß sich das Universum selbstgefällig in seiner Bahn dreht, wissen sie es? Begründen sie ihr Vorhaben? Zwei Insekten krochen über die ehrlichen, alten Wangen des Gesegneten. Er hob eine Hand, um sie wegzuschnippen, ohne ihnen wehzutun; er wollte nur vermeiden, daß sie ihn ins Gesicht stachen. Aber als er sie mit dem Zeigefinger berührte, starben sie und fielen mit einem leisen Klatschen zu Boden. Es tat ihm leid, weil er es haßte, irgend etwas zu töten. Er war feinfühlig. Seine Gewalt würde Universen vorbehalten sein. Wann, zum Teufel, kommen sie? Aber der Schlaf, egal wie, würde leichter sein, auch das mußte er glauben. Er war jetzt halb zu Hause (und folglich auch halb kaputt), und mit diesem Wissen und der Versicherung, daß es nichts gab, was sie ihm antun konnten, konnte er zufrieden sein. Es gab nichts, was sie ihm antun konnten, das so schrecklich war wie das, was er immer wieder nachts im Angstschweiß flüchtig gesehen hatte. Es war alles schon dagewesen. Und so trieb er weiter und sprach sich selbst gut zu, weil es ihn vom Denken abhielt, und er wiederholte die geheimen Worte immer wieder. Raum mußte also dann Raum sein, und die sich entfaltende Welt war Zeit, und in alldem mußte eine Ordnung sein, eine Absicht, ein Ende. Die Zeit ist unendlich; das hatten sie einst geschrieben. Die Zeit besitzt ein HalbLeben wie Blut, und sie fließt und fließt und fließt den Abfluß hinunter. Wenn sie hinunterfließt, dann ist das Universum ein Grab – und ich sein Chronometer, sein Straßenwächter; und eines Tages, wenn sie aufgehört hat, werde ich auch unter den Steinen liegen. Sie stirbt gerade jetzt, gerade in diesem Moment. Sie stirbt rechts und links von mir und in meinem Inneren, und mit jeder Sekunde fließt der Strom schwächer und
wird trüber. Wie er in Dunkelheit gerinnt, so wie alle Flüsse einer endgültigen Auflösung zustreben, so werde auch ich im Jenseits zur Ruhe kommen. Sicher, sagte sein Mentor, der nun zum erstenmal mit ihm sprach, mit voller Stimme. Sein ansteigendes und fallendes Organ brach das lange Schweigen und fühlte die Höhle des Selbst. Sicher glaubst du das selbst nicht. Erinnere dich an das erstemal. Dies ist alles schon früher einmal geschehen, wie du weißt. »Die anderen Male waren anders«, sagte er. »Es hatte damals noch nicht einmal angefangen. Ich wußte nichts.« Wie könntest du das wissen? Du erinnerst dich ja noch nicht einmal daran. »Ich erinnere mich. Ich erinnere mich an alles; ich trage alles in mir. Es war nicht dasselbe.« Du wußtest nicht mehr, als du jetzt weißt. Rufe dir dies ins Gedächtnis zurück. Das ist als Konstante bekannt. Und du dachtest, es wäre vorbei. Schau. Schau nur, was passiert. Wo bist du? Hat es das erstemal nicht gereicht? »Es ist nicht das erstemal. Es ist schon das zweitemal.« Bist du sicher? Bist du sicher, daß es nicht das fünfte oder zehnte – oder wiederum das erstemal ist? Wie kannst du dir über den Fortgang so sicher sein? Wo bist du? Wer bist du? Kannst du antworten? »Ruhe jetzt!« sagte er, nachdem er genug gelitten hatte, nachdem er die Folterungen seines Mentors erfahren hatte. »Genug, genug! Fahr zur Hölle, ja.« Du sitzt rittlings auf einer sterbenden Sonne und denkst, das Reservoir der Zeit läuft aus. Tür jede Sonne, die stirbt, brechen eine Million neue zu unsteter, verschwenderischer Wanderschaft auf; neues Leben sprießt an allen Ecken und Enden des Universums aus Altem, Verwestem. Die Lebenskraft wird sich entfalten. Erinnere dich daran, du. Ja, erinnere dich
daran. Verwechsle nicht deine eigenen, persönlichen Probleme mit denen des Universums. »Geh weg!« sagte er. »Sei still jetzt!« Ich bin immer weg. Verstehst du? Ich existiere nicht wirklich. Nur hinter der Schranke des Selbst, das die Summe der Nichtexistenz darstellt. Ich werde auf dich warten, Rogers. Ich werde immer warten. Es gibt keinen Verzicht ohne mich: den Bejahrten. Selbst die erschöpften Eingeweide der Zeit können mich niemals ausstoßen. Und der Mentor ging. Ließ Rogers allein. Und jetzt: ohne Gedanken. Fötusartig zusammengekugelt und in dieser Stellung mit trüben Augen den kalten Glanz musternd, der in seine Haut einsickerte, wartete und wartete Rogers auf der sterbenden Sonne darauf, daß der Sensenmann kam und ihn abholte. Sühne, natürlich, es wird noch lange dauern. Und sterben, sterben, dachte er schwach, sterben und mit allem fertig sein. Aber der nachlassende und anschwellende, der sich verlangsamende und schneller werdende Puls seines schlagenden Herzens blieb stark in ihm, und er wußte, daß er durchhalten würde. So ging es weiter. Wie es weitergehen sollte.
Fünf
DRINNEN: Nachdem er ihnen wieder und wieder erklärt hatte, daß er nicht gewillt sei, das zu tun, was sie von ihm verlangten, daß er überhaupt nichts tun würde, daß er keinen Anteil haben wollte an ihren verdammten Manipulationen, begann die Sache wirklich ungemütlich zu werden. Bereits der Anfang ihrer mehr oder weniger freundlichen Erklärung über das, was er für sie tun sollte, war nicht eben sanft gewesen, aber jetzt wußte der Dichter, daß er sich in einer ziemlich schlechten Situation befand, von der er hoffte, daß sie sich, wenn er sie überstand, schnell von jenem Reich der Illusion in die Realität zurückverwandeln würde. Sie begannen ihn zu bearbeiten. Sie kamen zu ihm mit Nadeln und Drähten – den einfachen Dingen zuerst –, drückten sie unter seine Fingernägel und in seine Hinterbacken, wo sie ein teuflisches Picken an seinen Körperöffnungen auslösten. Es war allerdings kein Vergleich zu dem, was später kam, es war geradezu eine Kleinigkeit. Ein Dichter hält das sehr gut durch, dachte er, als er sich selbst einredete, dies alles sei lediglich eine Testsache. Wenn er schnell nachgeben würde, würden sie seine Fähigkeit zur Lösung der Aufgaben, die sie ihm stellen würden, noch einmal überprüfen und ihn doppelt schnell töten. Er schloß die Augen und dachte darüber nach, wie es wohl sein würde, wenn ein paar Frauen – und nicht diese verdammten Wächter – dies mit ihm anstellen würden, und stand es relativ gut durch, obwohl es nicht einfach war. Aber irgendwann auf halbem Weg zwischen dem Anfang und den wirklich ernsthaften Sachen hatte sich seine Stimmung
gewandelt; anfangs hatte er beschlossen, nur so lange auszuhalten, um in ihnen die Ansicht festzusetzen, daß er vertrauenswürdig sei, daß er nicht nur gute Gedichte schreiben, sondern auch ein gehöriges Maß Schmerzen ertragen konnte und somit würdig sei, für sie zu arbeiten. Aber die Prügel, die sie ihm am laufenden Band verabreichten, der Schmerz, der durch seinen ganzen Körper ging, brachte ihn dazu, von seinem Standpunkt abzulassen. Er fühlte, daß er ernsthaft wütend wurde. Sie hatten kein Recht, ihn so zu behandeln. Sie waren die Wächter, und sie hatten sein Leben kontrolliert, solange er sich zurückerinnern konnte (und auch wahrscheinlich jene Zeit seines Lebens, von der er nichts mehr wußte), aber irgendwo mußte eine Grenze sein. Der Dichter war selbst überrascht. Er hatte nie gewußt, daß er solche Gefühle in sich gehabt hatte – sicher nicht diesen angesammelten Zorn. Woher kam das nur? »Warte«, sagte einer der Wächter über ihm, und der Schmerz ließ ein bißchen nach, wurde zu einer empfindungslosen, dunklen Ebene, auf der er schwebte, die Augen auf den Himmel gerichtet. »Im Augenblick reicht es. Sprich: Wirst du nun zuhören? Wirst du deine Rolle spielen?« »Warum?« sagte der Dichter, überrascht darüber, daß er überhaupt noch eine Stimme besaß, metallenen Glanz zwischen den Lippen, der seine Kehle ausdörrte und zusammenzog. »Welche Rolle spielen?« »Das haben wir dir erzählt. Es geht um eine Frau.« »Keine Frau«, sagte der Dichter. »Keine Frauen. Das ist meine Bedingung. Frauen sollen niemals etwas hiermit zu tun haben.« »Willst du noch mehr?« »Was mehr? Mehr Folter?« »Dies ist keine Folter«, sagte der formlose Wächter geradeheraus.
»Dies ist lediglich Erziehung, die Grundpädagogik, die die Zellen an den Schmerz gewöhnten. Dies ist es, was du lernst. Wir halten nichts von der Folter. Wir glauben, daß man unter Druck einsichtig wird. Die Kausalität der Not ist es, an die wir glauben. Wirst du vernünftig sein? Daß es so nicht für immer weitergehen kann, weißt du.« »Ich habe euch Gedichte geschrieben. Was wollt ihr noch?« »Wer hat nach Gedichten verlangt? Wer hat dir die Idee eingepflanzt, daß wir an Gedichten interessiert seien?« »Wer hat denn alle diese verdammten Gedichtbände in meiner Zelle gelassen? Wofür sind sie da?« »Ah«, sagte der Wächter. Er schien erfreut. »Du interpretierst das falsch. Du hieltest diese Bücher für eine Anweisung, nicht für eine Erniedrigung. Da kann man nichts machen.« »Was, zum Teufel, wolltet ihr, daß ich tue?« »Nachdenken«, sagte der Wächter. »Ich habe nachgedacht. Ich habe nichts anderes getan, als nachzudenken, seit all dies begonnen hat.« »Nein«, sagte der Wächter sanft, »du hast nicht nachgedacht. Das war bloß Energieverschwendung. Du hieltest deine Fehlleistung für Traurigkeit. Das passiert uns immer öfter mit unseren Subjekten. Da kann man wirklich nichts machen.« Dann war ein Schmerz unter des Dichters Haut, der hinaufwuchs zu seinem Nacken und ihn zittern ließ. Der Wächter starrte auf einen Punkt irgendwo über seinem Kopf, dann sagte er: »Ist das genug?« »Genug von was?« »Davon?« »Nein«, sagte der Dichter, »ich will es nicht tun. Es tut mir leid, aber ich will keine Verwicklungen mit Frauen. Es gibt nichts, was das wert wäre. Ich will euch ein anderes Gedicht schreiben, aber das ist alles, was ich tun kann. Vielleicht sollte ich mich mit Sonetten beschäftigen.«
»In Ordnung«, sagte der Wächter, »das reicht.« »Wie bitte?« »Du wirst es niemals lernen. Leute wie du lernen es nie. Wir werden jetzt zu einer anderen Methode übergehen. Zum Wahnsinn. Aber natürlich wird auch das nichts nützen.« Das Licht erlosch. Das Zimmer war verschwunden. Plötzlich lag der Dichter nicht mehr flach auf dem Rücken auf einer Pritsche, und auch die Drähte und Röhren, die in ihn hineinführten und aus ihm herauskamen, waren verschwunden. Er war auf einer Fläche, die sich irgendwo befand, stand im Sand, unter dem staubigen Licht zweier quadratischer Sonnen, die sich langsam über seinem Kopf bewegten. Da war ein lauer Wind, der von irgendwo hinten Blätter und Schlamm gegen ihn warf, aber so weit er sehen konnte, gab es nichts als Sand. Er bestimmte das Bild der Umgebung. »Du«, sagte eine Stimme. »Du da. Wer bist du?« »Niemand eures Schlages.« »Komm her. Mach die Sache nicht schlimmer als sie ist. Wie heißt du?« »Ich bin der Dichter.« »Nur der Dichter? Du hast keinen Namen?« »Nicht daß ich wüßte.« »Wieso?« »Ich habe keine Vergangenheit. Ich habe keine Erinnerung. Man hat mich von wo-auch-immer weggeholt und in eine Zelle gesperrt. Die Wächter. Dann gaben sie mir Gedichte zu lesen. Und letztlich endete es damit, daß sie mich folterten. Das ist alles, was ich darüber weiß, was ich bin.« »Warum?« »Warum? Warum nicht? Weil da nichts anderes ist. Weil, wie ich glaube, sie allen Menschen die Erinnerung nahmen und sie in Zellen sperrten, als sie die Erde okkupierten.« »Warum?«
»Warum was?« »Warum steckten sie sie in Zellen? Warum stahlen sie ihre Erinnerungen?« Der Dichter fühlte Wind an seinem Rücken. Sandkörnchen sprangen gegen jene Stelle seines Nackens, an der die Wächter ihre Apparate angeschlossen hatten. »Weil sie Angst vor uns haben«, sagte er. »Das ist das einzige, was ich mir vorstellen kann.« »Warum?« »Warum sie Angst vor uns haben? Weil wir stärker und besser sind als sie. Weil wir mehr wissen. Weil wir Macht haben. Sie haben die Maschinen, aber wir haben die Macht.« Die Stimme wechselte zu einem beinahe freundlichen Plauderton. Es schien, als käme sie aus einer geringen Entfernung, so, als wispere sie hinterlistig nahe des Dichters Ellenbogen. »Warum wolltest du es ihnen nicht zeigen?« fragte sie. »Was hattest du vor ihnen zu beweisen?« »Ich wollte ihnen zeigen, daß ich auch Gedichte schreiben kann. Gute Gedichte. Ich wollte ihnen beweisen, daß wir Subjekte sind, keine Objekte. Ich wollte ihnen beweisen, daß…« »Ja?« »Es ist nicht wichtig«, sagte der Dichter wütend. »Warum?« »Warum! Warum! Warum! Wieso ist es wichtig? Warum fragst du ewig warum? Um was geht es hier? Ist dies ein Verhör? Warum kannst du nicht mal etwas sagen?« »Warum?« fragte die Stimme. »Hör auf!« schrie der Dichter. »Hör auf! Hör auf!« Er vergegenwärtigte sich plötzlich, an welchem obskuren Ort er sich befand: Er stand bis zu den Knöcheln im Sand. Die Sandkörner gruben sich den Weg in seine Schuhe und der Wind peitschte, heulte hinter ihm und über seinem Kopf. Es gab einen klaren Himmel und zwei
Sonnen und eine Stimme, die aus der Nähe und aus der Ferne kam, hinein und hinaus aus allen Räumen seines Seins, und er wußte nicht, was hier vor sich ging. Das war der Punkt, von dem er – zum Teufel – nicht wußte, welche Bedeutung er hatte. Die Stimme stellte Fragen, für die er keine Antworten hatte. »Laß mich allein!« sagte er zu der Stimme. »Geh weg. Verschwinde.« Er fühlte sich blasiert, weil er nun die Situation auf die Spitze getrieben hatte. Das Ding war es nicht wert, daß man ihm Aufmerksamkeit schenkte. Wußte man erst einmal, wer die Stimme war und worauf sie hinauswollte, hatte man schon gewonnen. Er hatte absurderweise das Verlangen zu kichern. Es war kindisch. Es war wie jenes alte Spiel. Einst – er erinnerte sich dessen jetzt klar, was bedeutete, daß sie ihm sein Gedächtnis nicht vollständig genommen hatten, sondern nur bestimmte Erinnerungen. Sie betrogen ihn nur, um ihn zur Aufgabe zu zwingen – als er acht Jahre alt gewesen war, hatten sie ein Spiel gespielt, er und einige Freunde, in einer verlassenen Garage. Es war eine ganz andere Art von Spiel gewesen, nicht das übliche Doktorspiel, das – egal wie man es spielte – schon deshalb langweilig war, weil niemand wußte, was die Mädchen daran so lustig fanden. Es war ein Spiel, das Fragen hieß. Einer von ihnen wurde jeweils dazu auserwählt als Es in einem Kreis zu sitzen; die anderen stellten der Reihe nach Fragen. Es ging etwa so los: Wie heißt deine Mutter? Oder: Wie geht es dir heute? Und Es antwortete, was es wollte. Dann fragte der nächste im Kreis: Warum? Wenn Es geantwortet hatte, dann fragte der nächste Warum? Es versuchte wieder zu antworten, und in dieser Art ging es weiter, neun oder zehn Warums lang, bis Es entweder zu lachen oder zu weinen begann – was ganz egal war –, und die Herumsitzenden in schallendes Gelächter ausbrachen. Der Witz war, daß niemand das Warum je endgültig beantworten konnte. Die Antworten wurden immer absurder. Es konnte nur
dadurch Punkte sammeln, indem es solange Antworten gab, wie es welche hatte, aber selbst die besten Spieler mußten früher oder später aufgeben. Der Dichter rief sich ins Gedächtnis zurück, daß er unter den besten Es gewesen war, weil es gewöhnlich vierzehn oder fünfzehn Fragen bedurft hatte, um ihn zu erledigen. Er hatte es mittlerweile gelernt, hierbei die schlagfertigsten Antworten zu geben. Aber manche dieser Es hatten das Spiel wirklich sehr tragisch genommen. Für jemanden, der sich nicht unter Kontrolle hatte, war es halt nicht das Wahre. Wenn er sich recht erinnerte, ging das Spiel etwa so. F. Wie heißt du? A. Das weißt du. F. Warum? A. Weil ihr mich alle kennt. F. Warum? A. Weil wir Freunde sind. F. Warum? A. Weil wir uns lange kennen. F. Warum? A. Weil wir es halt waren. F. Warum? A. Weil – F. Warum? A. Weil. F. Warum? A. F. Warum? A. F. Warum, warum, warum? Besonders gut war dieses Spiel mit den Kindern, die neu hinzugezogen waren, weil man ihnen nie die Regeln erklärte. Sie erfuhren nur, daß das Spiel Fragen hieß und sie die Ehre
hätten, Es zu sein. Aber früher oder später gibt es in jeder Nachbarschaft keine neuen Kinder mehr. So hatten sie untereinander weitergespielt; irgendwie, ganz egal, wie vertraut es ihnen war, waren Variationen nie so lustig wie das Original, aber doch verlor das Spiel nie seine Boshaftigkeit, seine Verwirrung und seinen eigentümlichen Schrecken für den Befragten. Es war schon lustig – wirklich wahnsinnig lustig – wie einem ab und zu Dinge einfielen, von denen man angenommen hatte, sie wären längst vergessen. Aber das paßte sicherlich hier hinein; sie spielten Fragen mit ihm, und er war Es.
Sobald er die Sache so sah, gab es natürlich keinen Grund, warum es ihm überhaupt unangenehm sein sollte. »Zum Teufel mit dir!« schrie er der Stimme zu, fühlend, wie der Sand in seinen Mund flog und dort einen Geschmack wie Holzkohle hinterließ. »Ich weiß, was du machst. Du kannst mich nicht für dumm verkaufen! Ich bin kein Es!« »Warum?« sagte die Stimme. »Warum bist du das nicht? Was denkst du denn, was du bist? Was denkst du wohl, was das hier ist?« »Ist mir egal! Verstehst du das? Ich kümmere mich nicht mehr darum!« »Warum?« »Weil es keine Rolle spielt; es spielt überhaupt keine Rolle, nichts ist mehr wie es war, nur…« »Nur was?« »Es hat keinen Sinn!« »Nichts hat Sinn, Es«, sagte die Stimme kalt, und plötzlich kam sie nicht mehr länger aus dem Himmel oder gar aus der Richtung seines Ellenbogens, sondern war in ihm, lief schnell
über seinen Arm bis hoch zum Ohrläppchen, drang dann in das Trommelfell ein und bestürmte ihn nun irgendwo von innen. »Der einzige Sinn ist der, den du dir selbst ausdenkst. Weißt du das nicht? Kannst du dich wenigstens daran festhalten?« Der Dichter hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend; ja, jetzt hatten sie ihn am Kragen, und Schmerzen durchzuckten seinen Körper, und die Sonnen gingen jetzt auf, heiß und gleißend, und er mußte noch immer daran festhalten, an dem einen Ding, das alles in der Balance hielt, ihn geistig gesund hielt: Die Tatsache, daß es keine Rolle spielte. Aber gerade in dem Augenblick, in dem er versuchte die Worte zu sagen, sie den Sonnen entgegenbrüllen wollte, fühlte er die Stimme in seinem Innern wie eine Schraubzwinge, und er wußte, daß er sie nicht sagen würde; er wußte, daß in ihnen nicht mehr Sinn war als in irgend etwas anderem. O ja, das war es; wenn man nirgendwo war und nichts eine Rolle spielte, dann war sogar ein Einverständnis nutzlos, und man mußte wieder von vorn anfangen. Man mußte wieder am Anfang beginnen, weil es niemals ein Nichts gab. Oh, da lag der Hase im Pfeffer; man mußte zu den Ursprüngen zurückkehren. »Nun verstehst du es«, sagte die Stimme. Er verstand es; er verstand alles. Er vermutete in diesem Augenblick, daß er wußte, wer er war und was sie mit ihm anstellten; worauf es hinauslaufen würde und was der wahre Sinn von alldem war. Er erkannte sogar, daß dies überhaupt keine Wüste war, nicht unbedingt; es konnte genausogut etwas anderes sein, vielleicht ein gottverdammtes Raumschiff. Oder vielleicht bewerkstelligten sie etwas mit den Drähten in seinem Kopf, was in ihm den Eindruck erweckte, diese Szenerie sei Wirklichkeit. Er hatte irgendwo von solchen Dingen gelesen, und wenn diese Wächter so weit fortgeschritten waren, um – wie er vermutete – eine Invasion der Erde durchzuführen und jedermanns Gedächtnis zu manipulieren, dann waren sie sicher
auch clever genug, einen Menschen Bilder sehen und Stimmen hören zu lassen, während er in Wirklichkeit auf einem Tisch lag und einige Instrumente in seinem Schädel hatte. »Hundesöhne«, murmelte er. Und: »Ich wollte ihnen nur ein Gedicht schreiben.« Solange das noch da war und er daran festhalten konnte, konnte er auch die ganze Sache durchstehen. Irgendwie. »Und jetzt kannst du es nicht mehr«, sagte die Stimme. Aber dann wiederum, wer zum Teufel war er? Und was hatte es mit diesem Spiel, Fragen genannt, auf sich? Soviel er wußte, hatte er in seinem Leben nie ein Spiel wie dieses gespielt – er wußte ja, verdammt noch mal, nicht einmal seinen Namen und mußte darüber nachgrübeln, was ein Es sein konnte. Wiederum konnte es aber doch sein, daß das alles war, was er darstellte und dieses Spiel hier Fragen war; vielleicht schlief er und träumte alles, weil er das Spiel gespielt hatte. Wer, zum Teufel, war er? Was, zum Teufel, ging hier vor? Was stellten sie mit ihm an? Die Stimme sagte: Warum? Ich weiß nicht, kreischte er, und er kreischte jetzt wirklich; daran gab es keinen Zweifel. Eine Stimme bestürmte ihn von allen Seiten, und er war sich höllisch sicher, daß diese Stimme nicht losgelöst von einem Körper existierte. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß überhaupt nichts, ich dachte, daß man Gedichte schreiben könnte und dann sei auch schon Schluß, aber ihr wollt keine Gedichte, nicht? In Wirklichkeit wolltet ihr sie gar nicht haben. Nun denn, zum Teufel mit euch und zum Teufel mit eurer gottverfluchten Wüste; verflucht seien eure Absichten, und verflucht sei die Zeit, die ihr habt. Ich bin, was ich bin, und mein Schädel gehört mir, und außerhalb davon gibt es gar nichts, und sie werden mich nie berühren; ich bin stärker, ich bin ihnen überlegen, ich bin mächtiger, ich, ich, ich… Ich bin… Ich bin nicht AM STERBEN!
Als er die Augen öffnete, lag er auf einem Tisch. Er lag auf einem Tisch und starrte auf die beiden Glühbirnen an der Decke – die Glühbirnen, die er für Sonnen gehalten hatte, ja, sich das eingebildet hatte – und zitterte und zuckte. Als die Wächter sich über ihn beugten, versuchte er, sie anzuspucken, was ihm aber mißlang; er konnte noch nicht einmal den Kopf bewegen, obwohl er durch nichts behindert wurde; so groß waren seine Schwierigkeiten. Vier oder fünf Wächter standen um ihn herum, formlos und unbeschreibbar wie immer, aber er fühlte das Mitleid, das sie mit ihm hatten. Als er den nächststehenden anschaute, bemerkte er den ersten Gefühlsausbruch, den er je bei einem Wächter gesehen hatte. Dieser Wächter war etwas kleiner als die anderen, und er blickte zurück. Und der Dichter fühlte, daß der Wächter so etwas wie ein Spiegel war, ein Spiegel seiner selbst. Indem er tief in die Gesichtszüge dieses einen blickte, konnte er einen Mann sehen, einen kleinen Mann mit verzerrten Gliedmaßen. Er lag auf dem Rücken und seine Augen, seine Augen, waren zu grotesker Größe angeschwollen, die in keinem Verhältnis zu seinem übrigen Gesicht stand. Und sie starrten, starrten mit der perfekten, gefrorenen Vulgarität eines Wahnsinnigen. Der Wächter nickte. »Das ist alles sehr schwierig«, sagte er. »Die Risiken sind immer groß, egal was man tut. Ich warnte dich. Ich warnte sogar sie.« Der Dichter sagte nichts. Er atmete schwer und unregelmäßig, sprechen schien ganz außer Frage zu stehen. Alle seine Anstrengungen waren in starkem Maße darauf ausgerichtet, dieses Abbild von ihm selbst, das er für einen Augenblick in den Augen des Wesens gesehen hatte, in die Ecke zu treiben, festzuhalten. Aber es gelang ihm nicht. Es war zu tief drinnen.
»Wirst du nun mit uns zusammenarbeiten?« fragte der Wächter. Seine Stimme klang müde; es war, als ob die ganze Erschöpfung und das ganze Elend, das der Dichter in seiner Villanelle zum Ausdruck hatte kommen lassen wollen – und wie nutzlos das gewesen war! – dieses Wesen überkommen hatte. »Wirst du unserem Befehl Folge leisten?« Der Dichter versuchte, sich auf dem Gestell zu strecken, fühlte jedoch, wie seine Schultern eine Idee zur Seite glitten, dann packten seine Hände die Tischkante, so daß ein Fallen unmöglich war. Er schluckte. Er befeuchtete seine Lippen. Er versuchte vernünftig zu sein. Es war wichtig, vernünftig zu sein, weil man sich daran festhalten konnte, wenn alles andere versagte. Abgesehen davon stand das Schicksal der Welt auf des Messers Schneide. »Ja«, sagte er schließlich. Und dann löschten sie alle Lichter und ließen ihn dort. In der geschmolzenen Dunkelheit, die mit flackernden Lichtpunkten angereichert war, stellte er sich vor, er könnte sie lachen hören. Aber das war unmöglich. Die Wächter lachten nie.
Sechs
DRAUSSEN: Nun, zur Zeit von William Archers Zusammenbruch – die zufälligerweise noch nicht allzulange zurücklag – lebte ein Arzt in der Schweiz; ein sehr seltsamer, hauptsächlich-vonGerüchten-umgebener-aber-selten-gesehener Arzt, dem vor vielen Jahren in den Vereinigten Staaten die Lizenz entzogen worden war, der aber nun eine Klinik für Gehirngeschädigte leitete, in der – die Wörter geheimnisumwittert und populär drücken es gleichermaßen aus – Wunder vollbracht wurden. Diese Klinik war sehr exklusiv und enorm teuer, und man sagte, daß dort die Patienten mit beidem – mit Skalpell und Worten – behandelt würden, so daß sie lebten und haßten, liebten und fürchteten – und wieder gehen lernten. Weil er eine erfolgreiche Praxis und eine stadtbekannte Ehe aufgegeben hatte, um sich ganz dieser Klinik zu widmen; weil er nicht einmal gegen die Anschuldigungen gekämpft hatte, die in den Medizinerkreisen seiner Heimatstadt gegen ihn erhoben wurden; weil er sich geweigert hatte, Artikel über seine Arbeitsmethoden in der Klatschpresse veröffentlichen zu lassen; weil einige Jahre zuvor ein bebilderter Report in einer der auflagenstärksten Illustrierten erschienen war (von einem Reporter, der sich als Gehirnpatient irgendwie in die Klinik eingeschmuggelt hatte); wegen all dem, in Verbindung mit einer Haltung der Öffentlichkeit gegenüber, die eine Beachtung der Konsequenzen völlig vermissen ließ, spottete die Medizinervereinigung über diesen Arzt und verleumdete seine Arbeitsmethoden, machten bei Kongressen hinter vorgehaltener Hand darauf aufmerksam, daß er ein Versager
und Querulant sei. Und das geschah nicht ganz ohne einen scheelen Seitenblick auf das viele Geld, das er, wie es die Gerüchte wissen wollten, verdiente. Nach einiger Zeit hörten die Illustrierten auf, Artikel über diesen Arzt zu bringen. Die Heilungschancen in der Klinik nahmen enorm zu, und als das geschehen war, fand der Arzt sich in einer neuen Position wieder; er wurde – in der Tat – so etwas wie ein Mythos. Hunderte von Menschen lebten in den Städten Amerikas, die jetzt plötzlich für sich in Anspruch nahmen, von ihm »geheilt« worden zu sein – eine berühmte Schauspielerin sagte in einem Fernsehinterview, daß er vor drei Jahren Metastasen aus ihrem Kopf entfernt habe und es ihr damit möglich gemacht hatte, ihre Karriere beim Film fortzusetzen. Ein Senator brachte seinen sterbenden Sohn inkognito in die Schweiz, wurde aber dort auf dem Flughafen erkannt und somit davon abgehalten, die Klinik aufzusuchen; sein Sohn starb drei Tage später. Und so weiter. Das war der Grund, weshalb der Arzt dann zu einem Beschwerdeobjekt anderer Ärzte wurde, deren Gefühl der Verzweiflung ab und zu ihre Intelligenz oder ihr Festhalten an den strikten Prinzipien der Medizinerkreise überwog. In gewissen Kreisen wurde er schließlich so bekannt, daß sein Name in Nachtlokalen in den Pointen dreckiger und verunglimpfender Witze auftauchte; was ihm bescheinigte, daß er sogar im Exil ein echter Amerikaner geworden war. Weil sie sich auf diesem Niveau befand und in der Gesellschaft verkehrte, in der der Name dieses Arztes bekannt war (und den sogar die Freunde einiger Freunde aufgesucht hatten), dachte Archers Frau sofort an ihn, als man ihr die Diagnose über den Zustand ihres Gatten übergab. Sie rief ihn direkt in der Schweiz an – sie war halt so eine Frau – mit der vollen Absicht, ihm diesen Fall zu übergeben. Und – obwohl
es dort erst sechs Uhr morgens war – gelang es ihr. Es gab überhaupt keine Schwierigkeiten oder eine Erklärung für den Erfolg, den Arzt derart zugänglich gemacht zu haben. Vielleicht wußte er etwas. Aber dieser Roman hat nicht ihn zum Thema. Als er grunzend den Hörer abnahm, erklärte sie ihm die Tatsachen so kurz und bündig wie möglich; ohne dabei ihren Schmerz oder Schrecken zu verschweigen. Sie bat ihn, sich um ihretwillen des Falls anzunehmen, falls er es nicht für Archer selbst tun mochte. Sie machte Versprechungen. Er sagte, daß er nicht an Versprechungen dieser Art interessiert sei, sondern lediglich an diesem Fall. Dann nannte er ihr eine Summe, die einen völlig gesunden und bei geistigem Bewußtsein befindlichen Archer hätte erblassen lassen. Sie sagte, daß sie dies für seine Dienste angemessen hielt und sie beide, so oder so, bereit wären, seine Forderung zu akzeptieren. Der Arzt sagte, daß er über keine eigenen Transportmittel verfüge, und daß es, da es nötig sein werde mit dem Flugzeug zu kommen, auch eine Spesenrechnung geben werde. »Einverstanden«, sagte Delia, »ich stehe das schon durch.« Das wichtigste sei jetzt, daß er schnellstens käme. Dann ging sie in das Zimmer ihres Gatten – er war in eine flaumige, weiße Masse gehüllt, die wenige Zentimeter unterhalb seines Halses begann und seinen Schädel umschloß – setzte sich zu ihm, rauchte Zigaretten, trommelte vierzehn Stunden lang geistesabwesend mit der flachen Hand auf den Tisch, aß die Mahlzeiten der Krankenhausküche und erzählte Archer – der natürlich nicht in dem Zustand war, daß er sie verstehen konnte –, daß es keinen Grund zu irgendwelcher Sorge gab. Der Morgen dämmerte schon, als ein gespenstisch aussehender kleiner Mann, dem das linke Ohr fehlte und der
einen deformierten rechten Fuß besaß, ohne Begleitung ankam und ihr sagte, daß er der Arzt sei, den sie erwarte. Sein Bein sah etwas seltsam und verwirrend aus, da sich eine sorgfältige Anordnung von Drähten unterhalb seiner Wade befand, die aus irgendwelchen Gründen in allen Farben leuchteten und leicht vibrierten, wenn er in Bewegung war. Delia sagte ihm, daß sie sich freue, ihn zu sehen und stellte ihren Gatten vor, weil sie es nicht hätte ertragen können, dem Arzt zu sagen, daß Archer ihn eh nicht wahrnehmen würde. Die anderen Ärzte – und davon gab es viele; Perkins kannte die besten Männer auf diesem Gebiet – hatten sich natürlich von der Angelegenheit distanziert, sobald Delia das Kommen des Arztes angekündigt hatte. Vorher hatten sich um Archer zwei Privatschwestern, ein Assistenzarzt und Perkins, der diesen Fall übernommen hatte, gekümmert. Delia gab dem Arzt gerade eine zusammenfassende Darstellung der Tatsachen dieser verzweifelten Lage, als Perkins eintrat. Sie bat ihn ohne Umschweife um seine Mitarbeit. Perkins blieb, ohne dem anderen Arzt die Hand zu schütteln. Als sie fertig war, sagte der Arzt, daß er sich die Sache auf der Stelle gründlich ansehen werde, aber gemäß seinen Arbeitsmethoden auf jeden Fall wünsche, dabei allein gelassen zu werden. Also schickte Delia die Schwestern hinaus, nahm Perkins am Arm und ließ den Arzt mit dem Patienten allein. Dort blieb er einige Zeit: Als er herauskam, sagte er, daß der Fall gänzlich hoffnungslos sei; zu weit fortgeschritten, sogar für seine beachtlichen Fähigkeiten. Er schlug demzufolge vor, daß man Archers Körper mit Morphium und sogar Heroin – in stetig steigenden Dosierungen – vollpumpen solle. »Wenigstens wird ihn das ein wenig träumen lassen«, sagte er. »Es wird ihn beschäftigen und kann nur eine Verbesserung des jetzigen Zustandes bedeuten. Sie wissen, daß ich ein Mann bin, um dessen Person sich Mythen ranken, aber dies ist kein
Fall für einen Empiriker; dieser Mann stirbt in katatonischem Stupor und muß wenigstens innerlich am Leben gehalten werden.« Delia, die weder zu weinen anfing noch blaß wurde oder sonst eine der üblichen Reaktionen zeigte (auf die Perkins sich schon vorbereitet hatte, um sie zu behandeln), packte bloß das Handgelenk des Arztes und sagte: »Sie müssen etwas tun. Sie sind unsere letzte Hoffnung. Unsere einzige Hoffnung. Verstehen Sie?« »Letzte Hoffnungen, Mrs. Archer, sind gut für Christen oder andere Religiöse der westlichen Welt. Auf keinen Fall bin ich ein Mystiker dieser Art; ich glaube nicht, daß der Glaube Berge versetzen kann, ganz und gar nicht. Wenigstens nicht, nachdem ein endgültiges Urteil wie dieses gesprochen worden ist.« »Nein«, sagte sie. »Ich bin schon zu weit gegangen, um jetzt noch aufgeben zu können. Ihre Religion kümmert mich nicht; was zählt, ist, daß Ihnen eine Menge Geld gegeben wird und Sie diesen Mann retten müssen.« »Warum?« fragte der Arzt, und seine listigen, klugen, runden Augen blinzelten langsam und schienen in die Höhlen zurückzuweichen. Seine linke Hand strich wie zufällig über die Stelle, an der sein linkes Ohr sich hätte befinden müssen. Und er sagte: »Das Honorar wurde mir ohne Rücksicht auf die Resultate garantiert. Davon abgesehen: Was macht es für einen Unterschied? Was ist so Besonderes an diesem Mann? Sterblichkeit ist die einzige Konstante, wissen Sie; es ist sowieso alles relativ. In hundert Jahren wird es nur eine etwas niedrigere Zahl auf einem Grabstein sein, nichts Erschreckendes. Sie müssen einige Perspektiven kultivieren. Keiner kann mit hoffnungslosen Fällen arbeiten, wenn er es nicht von Anfang an getan hat.« »Er ist mein Mann«, sagte sie. »Und er verdient auf andere Art und Weise zu sterben. Ein Mann sollte so sterben, wie er
gelebt hat. So hat er nie gelebt.« Der Arzt zuckte die Schultern. »Sie haben recht«, sagte er. »Aber es ist völlig hoffnungslos. Der Fall ist zu weit fortgeschritten. Zwei Monate, oder selbst zwei Wochen früher hätte noch etwas getan werden können. Aber die Sache blieb sich zulange selbst überlassen. Wahrscheinlich dachte er nur, er würde verrückt – aber was jetzt zuschlägt, ist der Teufel mit der gesamten Hölle.« »Vor zwei Monaten wußten wir noch nichts davon. Wir konnten es möglicherweise nicht einmal ahnen. Was werden Sie unternehmen?« Der Arzt schürzte die Lippen und pfiff einige Zeit gedankenverloren vor sich hin. »Ich könnte ihn natürlich mitnehmen, aber das hätte wenig Sinn. Ich könnte in einem solchen Fall sowieso nur die Funktion eines gewöhnlichen Krankenpflegers übernehmen; als Aufseher fungieren. Und das würde die anderen Patienten bedrücken. Ich habe im Augenblick neunzehn davon, und sie wissen, daß ich den Ruf habe, niemals absolut hoffnungslose Fälle anzunehmen. Es würde den Geist meiner Klinik töten.« »Dann tun Sie hier etwas.« »Warum nicht?« fragte Perkins, der die ganze Zeit über auf dem Bett gesessen und auf Archers wächserne Füße geklopft hatte, die den Farbschimmer von Plastikfrüchten aufwiesen. »Welchen Unterschied macht es, wenn Sie es versuchen?« »Der Unterschied ist, daß es hoffnungslos ist. Einfach und vollkommen hoffnungslos.« »Dann waren all die Gerüchte wahr, die ich gehört habe«, sagte Perkins provozierend. »In Wirklichkeit sind Sie gar nicht in der Lage zu operieren. Ihre Patienten sind ein Haufen alter Weiber mit Kopfschmerzen, Exzentriker mit Nierensteinen und Wirtschaftsbosse mit Gicht. Sie nehmen ihnen die Sorgen mittels des Scheckbuches aus dem Kopf.« »Das ist nicht wahr!«
»Es ist doch so«, sagte Perkins kalt. »Sie wissen sehr wohl, daß die Staatliche Ärztekammer meine Vorbildung und meine Zeugnisse genauestens überprüft hat, nur weil ich zufälligerweise in diesem Zimmer sitze, engagiert in etwas, das man berufsmäßige Konsultation nennen könnte. Nun, vielleicht haben Sie einen Anlaß für Ihre Worte nach alldem. Es ist nun mal so, daß ich bei Staatskommissionen nicht gut angeschrieben bin, verstehen Sie?« Der Arzt faßte wieder nach seinem nichtexistenten Ohr. Ein leichtes Zittern war in seinem Arm. Delia ließ ihn nachdenken und sagte dann: »Bitte. Bitte, Doktor. Ich weiß, daß es etwas gibt, das man tun kann. Irgend etwas. Tun Sie es nicht für ihn oder für mich. Tun Sie es für sich selbst.« Delia war eine leidenschaftliche Frau, Perkins ein berechnender Mann. Beide konnten leicht überzeugen als sie jünger waren, und sogar jetzt existierte noch der Widerhall der Kraft. Vielleicht hatte der Arzt dies von Anfang an erkannt und sein Unbehagen lediglich vorgetäuscht, vielleicht gab er auch nur nach. Das spielt keine Rolle; es spielt keine größere Rolle als der Name des Arztes – den anzugeben ich mich weigere – oder die Einzelheiten der Beschäftigung, der Archer nachgegangen war, und die mit viel Wohlwollen als fragwürdig bezeichnet werden konnte. Weder kommt Delias beiläufig fortgesetzter Ehebruch mit Perkins zur Sprache, noch spielt Perkins’ Mut (er nahm von sich bis zum Ende an, er sei »mutig«) eine Rolle. Das einzig Relevante – wirklich – war das, was der Arzt anschließend sagte, indem er eine Zigarette aus seiner Hosentasche hervorholte, sie mit beiden Händen zwischen die Lippen klemmte, sie anzündete und den Rauch durch den Raum blies, hauptsächlich in Archers Richtung.
»In Ordnung«, sagte er. »Es stimmt. Es gibt da eine Art Experimentalmethode, die schon geraume Zeit in meinem Kopf herumspukt. Etwas, das neue Verbindungen mit einbezieht. Aber ich habe es noch nicht ausprobiert, nicht einmal an einem Affen. Ich hatte nicht die Zeit dazu. Noch nicht einmal an einem Hund, trotz all der Erkenntnisse, die daraus hätten erwachsen können. Ich habe es an einigen Vögeln versucht, aber Vögel haben ohnehin einen solch geringen Verstand, daß es überhaupt nichts bewiesen hat. Es könnte gelingen, aber wahrscheinlich wird es das nicht. Es ist nichts als Theorie, daß wir auf andere Teile als den Hirnstamm und die Gehirnverbindungen einwirken können.« »Tun Sie es«, sagte Delia. »Sie verstehen mich nicht. Der Vorgang würde die Metastasen herauslösen, er würde aber auch andere Dinge genauso herauslösen. Wahrscheinlich würde Ihr Mann danach so etwas wie einen Verstand behalten, allerdings sind einige Nebenwirkungen nicht auszuschließen. Schreckliche Dinge. Das Risiko ist zu groß; die Unsicherheitsfaktoren… wahrscheinlich wäre er nicht mehr menschlich. Ganz sicher wäre er nicht mehr Ihr Mann.« »Jetzt habe ich keinen Mann. Falls ihm danach nur ein Teil seines Selbst bleiben wird, wäre bereits einiges erreicht. Tun Sie es.« »Warum nicht?« fragte Perkins, zuerst Archer und dann dessen Frau anblickend. »Warum, zum Teufel, denn nicht? Es gibt wirklich keine andere Alternative, oder?« »Es schließt ein sehr kompliziertes Zusammentreffen gewisser Gehirnhemisphären mit ein; eine Entfernung aller betroffenen Teile und eine wirkliche ›Wiederverdrahtung‹ der verbleibenden Teile. Das Gehirn ist eine Maschine; dies ist eine Frage der Wiederzusammensetzung.« Der Arzt hustete und atmete unregelmäßig, als etwas Rauch die falsche
Richtung nahm und zu ihm zurückkehrte. »Andererseits ist das Gehirn kein sehr leistungsfähiger Mechanismus. Unglücklicherweise nicht. Das kompliziert die Angelegenheit.« »Wäre er eine Maschine, würde er nicht länger mein Mann sein.« »Warum nicht?« fragte Perkins wieder, diesmal mehr zu sich selbst als zu den anderen redend. »In der Tat, warum nicht? Nehmen Sie ihn total auseinander. Machen Sie ein Puzzle aus ihm und fügen Sie die Einzelteile wieder zusammen.« »Ich brauchte Hilfsmittel. Ausrüstungsgegenstände aller Art. Und Assistenten. Ich bezweifle sehr stark, daß ich in diesem Krankenhaus Assistenten finden werde.« »Doch«, sagte Delia, »Sie werden. Wir werden Ihnen die Hilfe verschaffen, die Sie benötigen. Und Sie werden das ganze Krankenhaus selbst als Hilfsmittel haben. Sie werden ihm assistieren, nicht wahr?« Die Frage galt Perkins. »Ach du Schreck! Ja. Ja, natürlich. Um keinen Preis der Welt würde ich diese Gelegenheit verpassen wollen.« »Sie wissen, was man über mich denkt«, sagte der Arzt. »Und Sie wissen, wie groß meine Chancen sind.« »Das ist egal. Entscheidend ist doch, was ich von Ihnen denke. Ich verschaffe Ihnen alles, was Sie brauchen.« Der Arzt sah hinüber zu Archer, warf die Zigarette auf den Boden und drückte sie mit dem Absatz aus. »Mir ist das alles gleich«, sagte er. »Alles gleich. Und Ihnen auch, nicht wahr?« »Ja.« »Sie und ich haben letzten Endes nicht allzuviel zu verlieren. Sie besorgen mir den Raum, die Hilfe, die Drogen und die Werkzeuge, die ich brauche – und ich werde mein Bestes versuchen. Aber ich trage keine Verantwortung, da ich als
Fachmann keinen Grund zu der Annahme habe, daß die Operation gelingen kann.« »Ich übernehme die Verantwortung.« »Ich übernehme sie auch, Delia«, sagte Perkins rasch und stand auf. »Sie soll sie nicht alleine tragen. Ich wußte, wie hoffnungslos der Fall war, bevor ich ihn in diese Klinik überwies. Aber ich habe ihn trotzdem hierhergeschickt und ließ ihn auseinandernehmen. Also, zum Teufel mit mir, und zum Teufel mit der Ärztekammer.« »Sie geben auf diese Frau acht«, sagte der Arzt umsichtig. »Ab und zu. Aber darauf kommt es nicht an, nicht wahr?« »Nein«, sagte Delia und stieß Perkins’ Arm beiseite. »Darauf kommt es überhaupt nicht an. Es hat mit nichts mehr etwas zu tun. Das liegt hinter mir.« »Ah ja«, sagte der Arzt. »Nun gut, das wäre das. Es stimmt, wir sind hier nicht an Geschichte interessiert. Ich möchte, daß Sie mir für die Operation Ihre Hilfe zukommen lassen. Ich möchte, daß Sie das Bindeglied zwischen mir und diesem Krankenhaus darstellen, mir Assistenten besorgen, meine Privatsphäre schützen, und ich möchte, daß Sie Ihre Verbindungen spielen lassen, um abzusichern, daß ich mit dem gehörigen Respekt behandelt werde. Und daß meine Anweisungen befolgt werden. Anderenfalls…« »Ich werde es versuchen«, sagte Perkins. »Nur versuchen? Dieser Mann hier in dem Bett hat auch nur versucht. Sehen Sie ihn sich jetzt an.« »Es geht nicht anders. Ich werde tun, was ich kann. Schließlich«, sagte Perkins, und seine Stimme klang jetzt in dem engen Privatzimmer erschreckend laut, »habe ich nie viel auf die verdammte Ärztekammer gegeben. Meiner Ansicht nach ist sie verdammt viel zu reaktionär und wird im allgemeinen als Macht des Guten weit überschätzt. Nahezu alle
wertvollen Neuerungen, die wir je hatten, wurden von ihr abgeblockt. Ganz eindeutig.« »Nun«, sagte der Arzt, und eine leichte Spur von Befriedigung, die ihn den Fall für Augenblicke ganz vergessen ließ, schwang in seiner Stimme mit, »nun, das gibt uns wenigstens etwas, worüber wir uns einmal unterhalten können.«
Sieben
DRINNEN: Einmal hatte Delia geglaubt, sie sei schwanger. Sie hatte Schmerzen und Krämpfe im Unterleib gehabt, und jeden Morgen war ihr übel geworden; und an einem bestimmten Morgen fühlte sie sich derart schlecht, daß James auf der Stelle einen Krankenwagen rufen wollte, um sie ins Hospital zu bringen. Sie hatte die Arme öffnen müssen und seine arme, abhängige Gestalt lange, lange Zeit halten müssen, um ihn zu beruhigen und davon zu überzeugen, daß mit ihr alles in Ordnung war und es nur die allgemeinen Schwierigkeiten waren, die Frauen haben. Und vielleicht noch ein bißchen Depression dazu; jedenfalls nichts, worüber er sich Sorgen zu machen brauchte. Das war die Hölle gewesen, weil James, trotz all seiner guten Vorzüge, doch ein schwerer Mann war, und sein Gewicht, das im Bett auf sie drückte, hatte ihr Schmerzen bereitet. Wichtiger war aber natürlich, daß sie niemals ihren Einfluß opferte; sie hatte teuer dafür bezahlt, hatte ihre Ehe darauf aufgebaut, und falls sie jetzt zusammenbrach, könnte alles damit vergehen. Alles. Nichtsdestotrotz blieb die Tatsache, daß sie schwanger sein könnte, daher erlaubte sie ihm, am selben Tag eine Verabredung mit einem Arzt auszumachen, obgleich sie sich bereits bedeutend besser fühlte, als sie sich zum Aufstehen gezwungen hatte und ihn sie durch das Zimmer führen ließ, um einige Dinge zu überprüfen. Der Arzt, den sie aufsuchten, war der Ansicht, daß die äußerlichen Zeichen auf eine Schwangerschaft hinzudeuten schienen und schickte sie auf
der Stelle zu einem Frauenarzt. Im Taxi schmiegte sich James eng an sie, blickte ihr mit Verehrung in die Augen und sagte: »Meinst du, wir haben es wirklich geschafft? Meinst du, daß das wirklich möglich ist? Oh, Delia, wenn es nur möglich wäre – es könnte uns beiden weiterhelfen.« Sie legte ihm einen Finger über die Lippen und täuschte dadurch vor, daß sie nicht wollte, daß der Taxifahrer mithörte; in Wirklichkeit war sie geradezu froh darüber, weil sie verblüfft war, ja verblüfft: Nach dem, was der andere Arzt ihr vor längerer Zeit über ihren Zustand erzählt hatte, war es ganz einfach unmöglich, daß sie schwanger war. Aber so war es: Das Leben konnte, wie es schien, alles überwinden, was sich ihm in den Weg stellte, wenn man nur genug achtgab. Sie erlaubte James, ihre Finger zu streicheln und leise Worte zu flüstern, die sich wie Dankgebete anhörten, und als er sie in die Praxis des Frauenarztes geleitete, tat er das mit dem geistesabwesenden Wohlwollen eines jungen und wohlhabenden Mannes, der seine Braut zum erstenmal der Öffentlichkeit vorstellt. In seinem Benehmen war augenblicklich ein penibler und anmaßender Aspekt gewesen, den sie bei ihrem Mann nicht für möglich gehalten hätte. Sie hatte nie gedacht, daß die Möglichkeit einer Schwangerschaft eine solche Wirkung auf ihn haben könnte. Anscheinend versetzte die Möglichkeit, einen Erben zu bekommen, den armen Mann in ein Hochgefühl, obwohl sie ihm aufgrund von beträchtlichen Erfahrungen dieser Art hätte sagen können, daß es ganz egal war, ob man einen Erben hatte oder nicht; wenn man tot war, war man tot, und der Rest war bloß ein Versuch, dieses Grauen zu verdrängen, bloß ein Versuch, die Illusion aufzubauen, daß es nicht so war. Im Empfangsraum warteten sie eine ganze Weile mit einer scheinbar unendlich großen Gruppe von gleichaussehenden, hochschwangeren Frauen, die ständig von der Eingangshalle in die inneren Räume gingen und
zurückkamen; die meisten von ihnen hatten einen verblüfften und glasigen Ausdruck in den Augen. Delia hatte den Eindruck, daß die Bäuche idiotischerweise, nicht nur das Wichtigste, sondern – wie es schien – zu ihrem einzigen Daseinsgrund überhaupt geworden waren. Die Gesichter, im allgemeinen gezeichnet und vertrocknet, schienen auf irgendeine bestimmte Geisteshaltung fixiert – vielleicht suchte man eine Erklärung – als die Frauen sich hin und wieder abwesend ansahen und ihre Bäuche streichelten. Ihre Gliedmaßen selbst schienen dünn, fast wie in einer Parodie. Mein Gott, dachte Delia, ist es das, worauf alles zuführt? Ist das alles, was einen ausmacht? Nur ein Bett zu sein für einen Fötus. Es war unmöglich, daß sie schwanger war, aber falls sie es dennoch war, wußte sie, daß sie nie darüber hinwegkommen würde. Inzwischen lugte James mit unheimlicher Faszination zu den Frauen hinüber, rieb seine Knie und fragte sie ein ums andere Mal, wie sie sich fühle und ob sie nicht sehe, daß sie alle trotz ihres Zustandes schön aussahen; an einer Schwangerschaft sei irgend etwas absolut Unformelles. Etwas Erhöhendes. Nach einiger Zeit sagte ihnen die Sprechstundenhilfe, eine große, blonde Frau, die genauso schwanger schien wie der Rest, daß sie nun an der Reihe seien. Sie saßen einige Minuten in einem kahlen, metallenen Untersuchungszimmer. Man gab Delia ein weißes Tuch, und die Sprechstundenhilfe sagte, sie solle es wie die anderen tragen, egal wie sie sich fühle, und James stand neben dem Stuhl und tätschelte mit seinen Fingern das Metall, bis sie meinte, in hysterisches Schreien ausbrechen zu müssen. Jedoch gelang es ihr, ihre ganze Überzeugungskraft gebrauchend, ihn zum Verlassen des Zimmers zu bewegen, wobei sie ihm sagte, daß sie dann weniger nervös sei. Er ging, nicht ohne die Türe zuzuschlagen, und endlich kam der Arzt herein. Es war ein dünner, gelber Mann mit Brille, an dessen
Hals ein Stethoskop hing und dem das linke Ohr fehlte. Er befahl ihr, sich hinzulegen und sich zu entspannen. Sie tat es, so gut sie konnte, und war, auf dem Rücken liegend, fasziniert von den runden, fluoreszierenden Birnen, die in einer Art und Weise von der Decke hingen, die an Genitalien erinnerte, während er unterhalb ihrer Taille Dinge zu tun begann, die nicht gedruckt werden können, die sie veranlaßten, sich stöhnend zu winden. So etwas war ihr noch nie passiert: James hatte sie noch nie so erlebt. Es war, als ob dieser Arzt mit seinem Metallwerkzeug eine Reihe von Dingen mit ihr machte, die ihr die Möglichkeiten, die sie lange unterdrückt hatte, schwach bewußt machten; er war im Begriff, Ebenen zu entdecken, von denen selbst James keine Ahnung hatte… es war natürlich alles eine Folter, aber eine Folter auf die raffinierteste und daher zarteste Art. Mehr als alles andere fühlte Delia, daß sie lernte; etwas gänzlich Neues geschah mit ihr unter den pulsierenden Lampen; etwas, das weit jenseits ihrer Vorstellungsgrenze lag. Nach einiger Zeit sagte der Arzt, daß sie aufstehen könne, und sie tat es; dann bot er ihr einen Stuhl an, nahm die Brille ab, legte sein Stethoskop beiseite, schien die Drähte an seinem Bein in Ordnung zu bringen und setzte sich auf den Untersuchungstisch. Seine Beine baumelten, während er sie fast unheilvoll ansah. »Nichts«, sagte er. »Was? Was soll das heißen?« »Das heißt, daß dort unten absolut nichts ist. Es gibt nicht den geringsten Hinweis auf eine Schwangerschaft. Es ist natürlich notwendig, die Tests für den Bericht zu machen, und ich werde sie durchführen, aber ich sage Ihnen schon jetzt, daß Sie nicht schwanger sind.« »Mir war heute morgen übel. Ich konnte kaum stehen. Mein Mann dachte, ich hätte alle Symptome.«
»Ich bin kein praktischer Arzt und kann deshalb nicht über Symptome spekulieren«, sagte der Arzt mit hoher Stimme. »Ich als Gynäkologe und Geburtshelfer kann Ihnen nur sagen, daß Sie meine spezielle Hilfe nicht benötigen. Sie sind nicht schwanger. Bei Ihnen ist keine Ausweitung oder Brustwarzenverfärbung – wie sie bei einer Schwangerschaft typisch sind – festzustellen. Dort unten ist nichts, was mir beweist, daß Sie schwanger werden könnten. Ich sage Ihnen das deshalb so offen, damit Sie sich nichts vormachen. Ich habe für Leute, die sich in Selbsttäuschungen gefallen, nämlich nichts übrig. Man muß sich eben mit den Tatsachen abfinden, verstehen Sie?« »Wie meinen Sie das?« sagte sie, indem sie die Beine übereinanderschlug und zum ersten Mal in dem Laken würdevoll auszusehen versuchte. Aber es war unmöglich, sie konnte ihn nicht ansehen. In der Tat stand der Arzt schon wieder auf, rückte seine Brille zurecht und nahm das Stethoskop vom Tisch, um es wieder um seinen Hals zu hängen. »Es gibt keinen Beweis dafür, daß ich schwanger werden könnte? Das kann ich nicht verstehen. Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen.« »Ich meine genau das, was ich gesagt habe. Verstehen Sie? Von meiner Untersuchung ausgehend, kann ich nur sagen: Dort unten kann ich nichts erkennen. Keinen Hinweis. Nichts, nichts, nichts, Madam«, sagte der Arzt und lehnte sich fast freundlich gegen sie, wobei er die Hand auf ihren entblößten Schenkel legte; dieser Kontakt war grauenerregend, rief aber beinahe augenblicklich eine pulsierende Wärme hervor, der sich Delia nicht zu entziehen vermochte. »Ich schlage vor, Sie bringen Ihrem Gatten diese Nachricht so schonend wie möglich bei. Und Sie selbst probieren am besten einmal aus, ob Sie sich nicht besser fühlen werden,
wenn Sie sich für den Rest des Tages entspannen. Falls keine Besserung eintreten sollte, kann ich Sie nur bitten, mich morgen anzurufen. Ich werde mich dann um einen kompetenten praktischen Arzt oder Internisten bemühen. Oder um jemand anderen. Aber es ist für mich nutzlos, Sie durch meinen Beruf auf falsche Gedanken zu bringen. Sie sind nicht schwanger. Dort unten ist nichts. Es ist nichts im Innern. Sie werden jedoch Ihren Urin in diese kleine Phiole abgeben, die dort auf dem Tisch steht, und sie, wenn Sie rausgehen, meiner Assistentin übergeben, so daß wir die Testformalitäten erledigen können. Das wäre alles. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.« Er ging, und sie saß lächerlich in der Ecke und starrte mit Bestürzung, die langsam in Ärger umschlug, auf die winzige Phiole. Und dann, mit einem plötzlichen Ruck in ein noch weniger hoffnungsvolles Gefühl, erlaubte sich Delia, einige sensible Augenblicke lang zu weinen. Sie zwang sich weitgehend und mit immer stärker werdender Absicht zum Weinen, bis sie sich besser fühlte. Als sie herauskam und sich wieder einigermaßen in der Gewalt hatte, sagte sie James, daß es nur ein Verkennen der Symptome gewesen war, daß der Arzt ihr gesagt hatte, daß sie nicht schwanger sei, obgleich natürlich kein Grund gegen den Versuch sprach, diesen Zustand herbeizuführen. Sie konnten auf jeden Fall eine Menge Spaß bei diesen Versuchen haben. James legte den Arm um sie und sagte, daß das alles wunderbar in Ordnung wäre; keine Enttäuschung. Worauf es ankam, war, daß sie an die Wurzel der Schwierigkeiten kamen. Auf dem Weg hinaus übergab sie die Phiole nicht der Assistentin. Und, abgesehen von bestimmten Stimmungen, die sie unvorbereitet und überhaupt ohne jeglichen Grund überkamen, dachte sie nie wieder an den Arzt und auch nicht an das, was er gesagt hatte. Das Leben war ohnehin schwer genug. Es war etwas zu schwer. Abgesehen davon wäre ein
Kind einer Katastrophe gleichgekommen. Zu jeder Zeit. Das war gar keine Frage. James erinnerte sich jedoch an den Arzt und sprach gelegentlich von ihm, immer in einer witzelnden Art und immer darauf zurückkommend, was James seine »Deformation« nannte.
Das war der Situation, in der sie sich jetzt befand, am nächsten gekommen. Nicht daß die Ähnlichkeit groß war, aber es war der einzige Fixpunkt. Der eine, der sagte, daß er zu ihrem Fragensteller ernannt worden sei, war ein kleiner, pedantischer Fremder, der mehr oder weniger wie der Rest aussah, aber dessen Beherrschung ihrer Sprache bis in die kleinsten Nuancen absolut perfekt war. Wichtiger noch: Er schien ihren Dialekt und ihre Charaktereigenschaften zu kennen; er gebrauchte dieselben Wörter wie sie, und auch im gleichen Kontext. Weil Delia ab und zu einen etwas archaischen Slang gebraucht hatte, um einen Punkt für sich zu buchen – Ich komme mir vor, als wäre ich im Knast, hatte sie einmal gesagt –, tat er es auch, und das war absolut entmutigend. Wenn er soviel über sie wußte, auf einer Grundlage, wo Kontakt praktisch ausgeschlossen war, war es erschreckend, über das Wissen dieser Wesen, die sich selbst die X’Ching nannten, auch nur nachzudenken. Andererseits könnte alles immer noch ein Traum sein, und sie reagierte nur auf dessen verlängerte Stärke. Aber sie zweifelte daran. Mit jedem Tag schien es weniger ein Traum zu sein. In der Tat: Es kam ihr verdammt real vor. Der Fragensteller kam jeden Morgen vorbei und setzte sich zwei oder drei Stunden zu ihr in die Zelle. Die meiste Zeit unterhielten sie sich, obgleich der Fragensteller auch nicht abgeneigt war, die Zeit in Schweigen verstreichen zu lassen.
Es sah nicht so aus, als sei ihm das eine oder andere lästig. Sie wußte das, weil sie gelegentlich auf stur geschaltet und sich geweigert hatte, mit ihm überhaupt etwas zu tun zu haben. Er hatte sie aber nicht gedrängt, sondern saß ihr nur ruhig und spöttisch gegenüber und sah aus dem Fenster. Nach einiger Zeit war er zu den Büchern hinübergegangen und hatte begonnen, sie flüchtig zu lesen, wobei er gelegentlich in sich hineinlachte. Was immer sie auch tat, es schien für ihn in bester Ordnung zu sein. Deshalb gab sie das Schweigen auf: Sprechen war leichter. Die Gespräche, die sie führten, waren nicht uninteressant, und wenn sie erst einmal auf ihn einging, wurden sie zum amüsantesten Teil des Tages. Darüber hinaus gab es wenig, worauf man sich freuen konnte. Sie verbrachte die Nachmittage schlafend oder die Bücher durchblätternd, und dann, nach dem Mittagessen, eskortierten sie drei von ihnen – es waren immer drei, obwohl sie sich dessen nicht ganz sicher sein konnte – auf den Innenhof, wo sie ihr sagten, sie könne sich eine Weile bewegen… und dann zogen sie sich zurück. Die ersten paar Tage hatte sie verzweifelt versucht, eine Art Ausgang zu finden, aber die Mauern des Innenhofes waren auf beiden Seiten fünfzehn oder zwanzig Meter hoch – und der Korridor, ein geradeausführender Gang von immenser Länge, führte nirgendwo hin. Sie war ihn eines Abends keuchend hinuntergerannt, einen Kilometer oder mehr, und er war so endlos wie immer gewesen. Die Leere hatte sie derart schockiert, daß sie Angst bekam, sie könnte nicht mehr in ihre Zelle zurückfinden, und die Fremden sie hätten suchen und zurückbringen müssen. Danach hatte sie keinen Gedanken mehr an Flucht verschwendet. Nach einigen Tagen suchte sie auch nicht mehr nach anderen Menschen. Es waren keine außer ihr da. Ihre Zelle war die einzige Nische entlang der langen, kahlen Wand.
So begann sie nach einiger Zeit mit steifen Turnübungen, mit Gymnastik, an die sie sich noch schwach aus ihrer Collegezeit erinnerte, rannte ein wenig, und manchmal – zur Hölle damit – legte sie sich auf den Steinboden, sah den Mond an und strampelte mit den Beinen. Einmal streifte sie sogar für eine Übung ihre Kleider ab; die Steinplatten waren weich und das Wetter mild. Tatsache war, daß das Wetter immer mild und das Klima völlig gleichbleibend war. Ihre Nacktheit hatte offenbar wenig Wirkung auf ihre Fänger (nichts hatte irgendeine Wirkung auf sie). Sie kamen nicht, und nach einiger Zeit zog sie sich wieder an und ging zurück in ihre Zelle. Sie ließen sie immer in ihre Zelle zurückgehen, wenn sie fertig war. Die Türe war von außen sehr leicht zu öffnen; sie war nur für denjenigen verschlossen, der sich in der Zelle befand. Abends las sie wieder, aber meistens nur wenig. Es gab ganz einfach nichts anderes zu tun. Es war nicht abzuwenden, daß die Befragungen wichtig für sie wurden; sie waren ein Mittel, um die Zeit totzuschlagen. Es war der Fremde gewesen, der erwähnt hatte, es seien »Befragungen«, und er selbst sei der »Fragensteller«. Sie zog vor, diese Befragungen als Konversationen oder gelegentliche Flucht ins Bedeutungslose zu interpretieren! Aber der Fremde erzählte ihr unaufhörlich, warum er hier sei und was er tue. »Du mußt verstehen«, sagte er während einer der ersten Sitzungen, »wir können zu jeder Zeit mit dir machen, was wir wollen. Du mußt verstehen, daß du alles tun würdest, was wir heute wünschen, wenn wir dich dazu zwängen. Aber das ist unglücklicherweise nicht mit unseren Absichten zu vereinbaren… oder mit den deinen. Bevor du mit uns zusammenarbeiten kannst, mußt du in einen Zustand der Selbsterkenntnis gebracht werden. Du mußt gewisse Charakteristika der Einsicht, die für deine Aufgaben relevant sind, an den Tag legen. Ich bin hier, um dich zu befragen und
dir zu helfen, dieses Stadium zu erreichen. Und du bist hier, um mit mir zusammenzuarbeiten. Falls du das nicht tust, wird eben alles etwas länger dauern. Wir haben keine Zeitwahrnehmung in dem Sinne, wie du sie dir vorstellst. Es gibt hier auch keine Zeit; in fünfzig Jahren wirst du genau so alt oder jung sein wie jetzt. Falls wir so lange brauchen werden, um dir zu helfen und dich auf deinen Weg zu schicken. Das Schlüsselwort zu unserer Beziehung heißt Geduld, und du wirst herausfinden, daß alles viel besser geht, wenn du geduldig bleibst, innerlich jegliche Hoffnung auf eine Zukunft aufgibst und dein Leben hier so nimmst, wie es ist. Ich weiß, daß diese Denkweise in deinem Vokabular Existentialismus heißt. So primitiv diese Vorstellung auch ist – ihr Menschen erfaßt noch nicht einmal den Begriff Resignation – ich denke, daß sie hier am nützlichsten ist.« Normalerweise war er nicht so barsch. Eigentlich war er nach dieser einen langen Erklärung auch nie wieder so offen: Gewöhnlich kreisten ihre Unterhaltungen um triviale Aspekte von Delias Kindheit oder um ihre Ansichten über abstrakte Dinge oder ihre Reaktion auf die Situation. Der Fragensteller war sehr sympathisch. Er stellte nur Fragen, um ihr weiterzuhelfen: Delia sprach dann ausführlich über alles, was ihr einfiel. Zu einem frühen Zeitpunkt in ihrer Beziehung fragte sie ihn einmal, ob der springende Punkt der war, daß sie sich alles von der Seele redete. Er bejahte. Er würde nichts unternehmen, um sie zu leiten oder zu führen, weil alles, was sie sagte, interessant war, einen Teil ihrer Entwicklung darstellte und demzufolge notwendig war. Er suchte nach nichts Besonderem; sie würde das erforderliche Stadium auf ihre Art und wann sie wollte, ohne Zwang durch ihn, erreichen. Seine Hauptpflicht war es, in ihrer Nähe zu sein, um zu prüfen, wann
sie diesen Punkt erreicht hatte; sie konnte schließlich nicht alleine so weit kommen. »Trotzdem«, fügte er hinzu, »ist es nützlich, nicht zu vergessen, daß dies eine Befragung ist und ich der Fragensteller bin; es hat keinen Sinn, diese einfache Tatsache zu verschleiern. Ich möchte nicht, daß du durch ein Außerachtlassen dieser fundamentalen Einsicht vom rechten Weg abkommst.« Es war zu jener Zeit, als die Sache mit der Schwangerschaft ihr wieder so stark in den Sinn kam. Sie hatte Jahre nicht mehr daran gedacht. Trotzdem, jetzt fiel ihr die Sache wieder ein. Nichts, nichts, nichts, hatte der Arzt gesagt, dort unten ist überhaupt nichts, nichts. Hier war es jetzt dasselbe, nur, daß das Nichts draußen war und die Luft – eher mehr noch als das Ding in ihrem Inneren – einer Schwangerschaft glich. Das war genau das, was sie fühlte, als ob außerhalb von ihr nichts existierte und nichts, dessen sie fähig sein könnte. Das gab den ins Gedächtnis zurückgerufenen Worten des Arztes eine düstere Prophezeiung, die vorherzusagen schien, daß dies alles mit ihr einst geschehen sollte. »Das, was mit dir geschehen sollte?« fragte der Wächter. »Daß ich weggeschleppt und in eine Situation versetzt werden würde, die nicht tolerierbar ist und die ich nicht verstehen kann. Ich kann überhaupt nichts begreifen. Ich könnte übrigens die einzige Person auf der ganzen Welt sein. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum das so ist und was dies alles zu bedeuten hat. Ich habe nicht einmal das Gefühl der Würde empfunden bei dem Gedanken, daß ich der letzte Mensch bin, weil alles so total bedeutungslos ist. Ich nahm an, daß nichts in mir ist, statt dessen ist nichts draußen. Es ist ein Wunder, daß ich überhaupt noch geistig normal bin.« »Warum? Warum ist geistige Normalität ein Wunder?«
»Weil ich immer ein sehr einfacher Mensch gewesen bin. Einfache Gedanken, einfache Bedürfnisse, einfache Hoffnungen«, erwiderte sie. »Den Großteil meiner Stärke zog ich aus dem Zusammensein mit anderen in Situationen, bei denen ich fühlte, daß ich sie kontrollierte. Jetzt ist mir das alles genommen, und ich bin nicht verrückt geworden. Vielleicht kommt das daher, weil in meinem Inneren außer einer Leere nichts ist, was mich verrückt machen könnte. Vielleicht hängt es damit zusammen.« »Die Sache mit dem Kind ist äußerst interessant. Wolltest du ein Kind? Warst du bestürzt, als der Arzt dir sagte, es wäre nichts in dir? Hast du es irgendwie als eine persönliche Beleidigung aufgefaßt?« »Nein, nein – überhaupt nicht«, sagte sie. »Wir konnten keine Kinder bekommen, weil James steril war. Wir fanden das, nachdem wir drei Jahre verheiratet waren, heraus. Er nannte mich frigide und war der Meinung, ich würde im Bett nicht auf ihn ansprechen – weil ihm die Ärzte das gesagt hatten; und ich sei so kalt ihm gegenüber, weil ich keine Brutmaschine sein wolle. Er sagte, ich wäre nur feige und wolle es nur auf die Kinder abschieben. Aber das war nicht die Wahrheit. Es war nicht der Grund. So würde ich nie empfunden haben – so nicht. Es war mir einfach nicht wichtig. Sie müssen mir glauben, daß ich kein…« »… kein Feigling war?« »Nein. Nein, natürlich nicht. Ich selbst wollte nie Kinder haben. Es war fast eine Erleichterung, als wir herausfanden, daß es nicht ging. Wenn schon etwas war, dann kam es aus der anderen Richtung; weil James fühlte, daß Geschlechtsverkehr nutzlos war. James sah es als eine Art mechanischen Akt an, als Bedürfnis seines Organismus’. Er ging so schnell wie möglich daran, normalerweise sogar ohne vorher oder nachher darüber zu reden. James verstand nie, daß Sex ein bißchen
mehr ist als nur eine Reaktion auf Bedürfnisse. Einmal erzählte er sogar, sein Organismus benötige Spülungen. Das war alles, was es für ihn bedeutete, ein Großreinemachen.« »Und dir hat das nicht gefallen, Delia? Du wolltest, daß es mehr als das wäre?« »Natürlich fand ich es nicht gut«, erwiderte sie. »Wie könnte es mir gefallen haben? Ich bin eine normale Frau – ich war eine normale Frau. Ich hatte normale Reaktionen und normale Wünsche, und ich hätte Sex sehr gut finden können. Aber er gab mir niemals eine Chance. Er gab sich selbst niemals eine Chance.« »Nun, warum regt dich dann die Sache mit dem Arzt, der dir gesagt hat, dort unten wäre nichts, so sehr auf – wenn du doch keine Kinder gewollt hast?« »Es regt mich nicht auf!« »Warum hast du es unter diesen Umständen erwähnt? Sicherlich würdest du in deiner jetzigen Situation etwas Dramatischeres zu erzählen haben. Es sei denn, die Sache bedeutet dir wirklich etwas.« »Ich möchte nicht darüber reden«, sagte sie gereizt. »Warum nicht?« »Ich habe genug davon. Ich habe genug von Ihnen. Die ganze Situation macht mich krank. Ich glaube nicht, daß es überhaupt irgend einen Sinn ergibt. Ich möchte, daß Sie mich allein lassen.« »Du weißt, daß ich jeden Morgen bei dir sein muß.« »Dann seien Sie still und lesen Sie Bücher, oder Sie setzen sich und tun irgend etwas. Aber lassen Sie mich in Ruhe; ich sagte Ihnen schon, daß ich nicht gesonnen bin, das hinzunehmen. So kann ich nicht mehr weiterleben.« »Man stelle sich vor. Was du nicht verstehen kannst, Delia, ist, daß wir alle Zeit dieser Welt zur Verfügung haben. Tatsache, wir haben überhaupt keinen Zeitbegriff. Du kannst
uns nicht aushungern. Du mußt unseren Weg gehen oder überhaupt keinen, aber wir sind eine Konstante. Es tut mir furchtbar leid, aber so ist das eben nun einmal.« Danach hörte Delia auf, über die Schwangerschaft und über alle persönlichen Dinge zu reden. Sie durchlebte eine Periode von vier oder fünf Morgen, an denen sie dem Fragensteller überhaupt nichts sagte, seine Anwesenheit im Zimmer überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Sie versuchte, ihren Beschäftigungen nachzugehen, als wäre er überhaupt nicht da; sie las ihre Bücher, ging auf und ab und sah aus dem Fenster. Sie posierte für ihn vor dem Fenster, indem sie mit den Armen in die Seiten gestemmt dastand und so das Profil ihrer Brüste zeigte. Sie hatte keine Ahnung, was das unter diesen Umständen bedeutete, aber das war sowieso egal. Er machte sich nichts daraus. Es war, als ob, wie er gesagt hatte, sie soviel Zeit hatten, um alles innerhalb der Einzelheiten der Beziehung, die sie mit ihr planten, völlig aufzubrauchen, so daß nichts einen Unterschied machte. »Also gut«, sagte sie am sechsten oder siebten Morgen, als er hereinkam, »genug davon. Sagen Sie mir jetzt – was Sie von mir wollen?« »Wir wollen, daß du ein Stadium erreichst, in dem du in der Lage bist, die Aufgaben, die wir für dich vorbereitet haben, in einem optimalen Zustand vorzuführen. Wir wollen…« »Ja«, sagte sie, »das weiß ich mittlerweile. Aber warum? Warum muß ich in einem bestimmten Zustand sein, um die Aufgaben zu lösen? Warum erzählt ihr mir nichts darüber? Ich bin einigermaßen intelligent. Es wird mir nicht weh tun.« »Du wirst wieder ungeduldig. Vielleicht wäre es das beste für dich, wenn wir heute morgen nicht redeten. Du kannst wieder deine Bücher lesen, und ich kann mich hinsetzen und dich in aller Ruhe betrachten. Das trifft sich auch mit einigen deiner
Absichten. Wir sind kein unneugieriges Volk. Wir müssen dich kennenlernen.« »Ich will die Bücher nicht lesen«, sagte sie. »Sie sind saudumm; Sie sagen mir gar nichts. Verstehen Sie denn nicht, daß ich hier allmählich irre werde?« »Ach, Delia, Delia«, sagte der Fragensteller. Er kam zu ihr herüber und legte seine Gliedmaßen erschreckenderweise auf ihre Schultern. Sie hatte damit gerechnet, daß der körperliche Kontakt sie erschauern lassen würde, aber es war nicht so, ganz und gar nicht… Einmal, als sie gerade im Meer geschwommen war, hatte sie ein toter Fisch, der auf der Oberfläche dahingetrieben war, am Gesicht berührt, und auch das hatte sie nicht entsetzt; dies war dieselbe Art von Kontakt. Ein kalter, stählerner, nicht ganz unwillkommener Druck gegen sie, der sie zurückführte, zurück zur Nacktheit, zurück zur Körperlichkeit; das war alles, was er bewirkte. »Diese Art von Zurschaustellung entfernt dich von unserem Objektiv«, sagte der Wächter. »Ich dachte nicht, daß du deine Kontrolle verlieren würdest – nicht mit deiner Vorgeschichte. Nicht auf eine so erschreckende Weise.« »Was wollen Sie von mir?« fragte sie. »Was kann ich tun, was ich noch nicht getan habe?« Der Fragensteller schüttelte den Kopf mit einer Geste, die so vertraut wie verblüffend war; sie erinnerte sich, wie James das gelegentlich getan hatte, wenn ihm etwas mißfiel: Manchmal, um die Wahrheit zu sagen, war es überhaupt keine Geste der Mißbilligung gewesen, sondern ein nervöser Tick. Bei langen Autofahrten begann er oberhalb des Halses zu zittern, sein Kopf schwang vor und zurück, (was, wie er sich ausdrückte, »Highway-Müdigkeit« war), was sie dermaßen nervös machte, daß sie darauf bestand, daß er den Wagen stoppte, wo immer sie sich gerade befanden. Dann hielten sie am Rande der Highway, manchmal eine halbe Stunde lang, und beobachteten
durch den Rückspiegel, wie sich hinter ihnen Scheinwerfer näherten; das dumpfe, an Insekten erinnernde Summen der vorbeischleichenden Wagen. Und die ganze Zeit jenes Zittern, die verzerrte Ankündigung der Leere. Hier war es dieselbe Sache. Sie setzte sich auf ihre Schlafstelle und sah auf ihre Hände: Das war alles zuviel; es war einfach nicht fair. Seit langem schon hatte sie die Hoffnung aufgegeben, daß dies alles ein Traum war, aber dennoch gab es immer noch Grenzen für das, was man mit ihr machen konnte. Sie fühlte, wie ihre Schultern zitterten, und dann, zum ersten Mal seit es geschehen war, bemerkte sie, daß sie weinte. Sie schwelgte, sich der Tatsache bewußt, daß sie beobachtet wurde, mutlos in diesem Wissen. Sie verdiente es. Sie verdiente es, ein Objekt zu sein. Der Fragensteller beobachtete Delia, bis sie von ganz alleine aufgehört, ihr Gesicht getrocknet und erkannt hatte, daß sie nicht länger weinen sollte. Es gab nichts, was des Weinens wert war. Dann zuckte er mit den Schultern – es war die spontanste menschliche Geste, die sie je gesehen hatte – und öffnete die Tür ihrer Zelle. »Das ist nicht gut«, sagte er. »Das ist wirklich überhaupt nicht gut. Du hältst deine Entwicklung auf und leistest nichts, außer jenen netten tragischen Hang zu füttern, der zum Teil Delia, aber hauptsächlich Wunsch ist.« »Ich dachte, ihr hättet Zeit genug«, sagte sie. »Wir haben Zeit. Wir sind Zeit. Aber… du hast sie nicht.« »Was also? Ich werde also hier sterben. Wir werden hier dreißig Jahre lang so weitermachen, bis meine Brüste verwelken, und dann werde ich bereit sein, Ihnen zu folgen, und das wird dann das Ende von allem sein. Ich bin einundvierzig. Habe ich Ihnen das schon gesagt? Wie lange kann ich noch weitermachen, selbst wenn ich Glück habe? Fünfzig Jahre, höchstens? Das ist nichts im euch.«
»Fünfzig Jahre wären in der Tat nichts, Delia. Aber für dich wäre es alles. Nein, wir müssen etwas tun, was die ganze Angelegenheit beschleunigt. Wir wollten es dir selbst überlassen, weil es besser für dich gewesen wäre, es dich wertvoller gemacht hätte. Aber wenn das nicht gelingt, werden wir zu anderen Maßnahmen greifen müssen.« »Was?« »Unsere Zeit ist nicht von Interesse«, sagte der Fragensteller. »Wir nehmen die Zeit nicht wahr; wir erleben sie nicht, deshalb ist sie für uns bedeutungslos. Genau wie der Begriff Orgasmus für dich bedeutungslos gewesen sein muß. Für euch ist die Zeit die einzige Realität, die reine Dimension, in der ihr lebt und die alle Schrecken verkörpert. Du kannst nicht verschwenderisch mit ihr umgehen.« »Ich bin aber gekommen«, sagte sie. »Ich kam immer, wenn er meine Brüste bearbeitete!« »Macht nichts. So vieles von dem, was wir tun, kann nur durch dich zustande gebracht werden, daß die Zeit beginnt, uns etwas von deiner eigenen Bedeutung vermuten zu lassen.« »Ich kam, wenn er an meinen Brustwarzen spielte«, fuhr sie fort. »Meine Brustwarzen sind sehr empfindlich. Ich wußte, was es heißt, Sex zu haben. Sie haben kein Recht…« »Ach, Delia!« unterbrach der Wächter. »Wir sind die ganze Zeit über vernünftig gewesen. Du bist einfach kein vernünftiger Mensch. Sei’s drum. Das ist nicht verboten. Wir können auch auf diesem Gebiet tätig sein.« »Schauen Sie…« »Keine Freiübungen«, sagte der Fragensteller und ging, die Tür hinter sich schließend. Zu essen war auch nichts da. Als die Dämmerung kam und sie das Licht ausschaltete, war es ihr fast unmöglich einzuschlafen. Aber schließlich schlief sie doch. Das Einschlafen war ihr immer leicht gefallen, sie wußte, wie man Schlaf fand, wußte,
wie man jene zarte Widerspenstigkeit kultivierte, die Unheil so hartnäckig wie Hoffnung umschloß. Sie fiel in einen unruhigen Schlaf, und während dieses Schlafes hatte sie einen Traum. Sie lag auf ihrem Bett – ihrem eigenen Bett, ihrem Ehebett – und James lag, wie immer, neben ihr, auf dem Rücken ausgebreitet in tiefem Schlummer, den Mund geöffnet und nach Luft schnappend, seine Hände schwach zu Fäusten geballt, sein ganzes Gesicht von der Starre geebnet, die eine Milchglasscheibe besaß. Es waren nur seine Augen, groß und eingefallen in der Mitte seines Gesichts, die seine Züge überhaupt bestimmten. Es war James im ungünstigsten Moment, und in diesem Schlaf fühlte Delia, wie ein Schreckensschauer sie durchlief; der alte Nachthorror, der sie immer dann überkam, wenn sie aufwachte, um sich hinter dem riesigen, grauen Kopfbrett neben ihrem Mann liegend wiederzufinden. Das es so enden würde. Daß sie dahin kommen würde. Dann geschah etwas Seltsames. Anstatt sich nun von ihm wegzudrehen, wie sie es immer tat, und seine Existenz dadurch zu ignorieren, daß sie die Stirn gegen die Wand drückte, fühlte Delia zusammen mit dem gewohnten Gefühlsumschwung ein heftig stechendes Verlangen. Sie fügte sich James nur vor dem Schlafengehen, manchmal mit Anteilnahme, öfters ohne – aber niemals mitten in der Nacht, wenn der Schlaf all seine Gewandtheit und damit seine Anziehungskraft genommen hatte. Sie versuchte, sich tiefer in sich zurückzuziehen und vor ihren geschlossenen Augen diese arktischen Visionen erscheinen zu lassen, die sie gewöhnlich freimachten und emporhoben, selbst während der Umarmung mit ihrem Mann. Aber dieses Mal kamen sie nicht; sie fand die weiche Tatsache seiner Anwesenheit hinter ihr in zunehmendem Maße unwiderstehlich und dann zwingend. Schließlich war sie nicht mehr in der Lage, von ihm wegzubleiben; sie drehte sich
langsam herum, legte die Arme um ihn und zog sein graues, verwirrtes Gesicht an sich und schmiegte es an ihre Brüste. Sie rieb seinen Nacken und stöhnte ihm schwach ins Ohr, er solle aus seinem Kokon herauskommen und in sie eindringen. »Ficke mich«, sagte sie in diesem Traum. »Fick mich, James; man kann wirklich nicht von mir erwarten, so weiterzuleben, weißt du.« Sie wußte nicht, was sie tat. Sie konnte nicht verstehen, wie ihr so etwas passieren konnte. Hinter allem war das spöttelnde, im Hinterhalt liegende Wissen, daß sie träumte. Die ganze Nachtszene war durchsetzt, war in einem Schmelztiegel mit dem äußeren Durcheinander vereint, und doch hielt es sie nicht auf; sie zog seinen keuchenden, stöhnenden Mund an ihr Fleisch und brachte Leben in ihn, und das alles um so stärker, weil sie sich selbst benommen fühlte, irgendwie in der Schwebe zwischen Schlaf und Wachsein, weder ganz sicher, wo sie sich befand, noch von der Wirklichkeit ihres eigenen Fleisches überzeugt, als es undeutlich um ihn wogte und sich an ihn drängte. Sie fühlte, wie seine Zähne begannen in sie einzudringen, was sie überzeugte, daß sie real war, daß sie wirklich existierte; dies geschah mit ihr. Aus Dankbarkeit rief sie seinen Namen, und er antwortete, indem er ihr ins Ohr bellte, ihr Ohrläppchen zwischen die Zähne nahm und sanft hineinbiß; sein Atem roch nach Schlaf, als er sich an sie schmiegte. Jetzt stöhnte er, oh, dieser Schweinehund! Delia, Delia, komm zu mir. Sie antwortete mit einigen kurzen Stößen ihres Unterleibs und drückte sich an ihn, dann, in der vertrauten, rechtfertigenden Art, glitten seine Hände von ihrer Taille hinauf zu ihren Brüsten, streiften kurz über sie und wanderten dann wieder auf die Taille hinunter. Sie erlaubte sich, auf diese Weise entkleidet zu werden, die Bewegungen waren immer
linkisch, weil die Kleider und Bettdecken wie ein durchweichter Klumpen an seinen Händen zu haften schienen. Sie hätte ihn verfluchen können, weil er dermaßen ungeschickt war, weil er im Bett unaufhörliches Pech hatte, beruhigte sich aber, um ihre eigenen Gefühle zu verstärken. Schließlich hatte er sie von ihren Kleidern befreit und widmete sich ihr intensiver. Dann träumte sie, daß James sie fickte; zum zehntausendstenmal oder öfter wurde diese lästige Verbindung unternommen, und ihr Fleisch umschloß ihn mit der Erschöpfung totalen Wissens, während in der Umarmung so etwas wie Endgültigkeit lag. Doch diesmal war es anders. Die Vereinigung war so stürmisch, daß es schien, als flösse elektrischer Strom zwischen ihnen. Sie keuchte und fühlte sich ganz eng an ihn gedrückt. Plötzlich waren die Bettdecken weg, hinuntergeschleudert bis zu ihren Knöcheln, und sie taten es unbedeckt, offen sichtbar für die Decke, die Fenster und alle Winkel des Zimmers. War sie bis zu diesem Augenblick immer scheu gewesen, so wollte sie jetzt, daß es zu sehen war. Selbst wenn Mörder durch den Kamin in ihr Zimmer gekrochen wären und Taschenlampen auf sie gerichtet hätten, hätte sie mit Inbrunst, mit offener Darlegung gekreischt und ihre Lichtfinger willkommen geheißen. Sie war jetzt ganz über und in ihm, wirklich am Eindringen. Etwas Unmögliches geschah in diesem Bett: Sie begehrte ihn, begehrte den Schwanz – sie genoß es, großer Gott! Sie ging ganz aus sich heraus, jetzt war sie nicht gelangweilt, sondern hatte ein Gefühl, das weit darüber lag, und sie umfing den Bastard und rief seinen Namen immer wieder. Er lag eng in ihrer Umarmung und die Verbindung wurde immer heftiger. Sie stießen gegeneinander und – und sie brachten es zu Ende. Es endete mit einigen überwältigenden, schwingenden Bewegungen, und dann nahm sie die nachwirkende Erregung voll ein, durchfuhr sie wie ein Stromstoß und ließ sie ziemlich
geschafft, ihn aber noch immer eng an sich haltend, zurück. Schnell drückte sie ihn enger an sich, um ihn zu erfreuen, um ihm zu danken, um ihm von der Wohltätigkeit seines Samens zu erzählen. Sie hob ihre Lippen an seine und küßte ihn sanft. Dann öffnete sie die Augen, um seine rasierten Wangen, die über ihr in der Schwebe verharrten, sehen zu können. Die Wangen eines Bastards, aber im Augenblick waren sie zart. Sein Mund. Der sanfte, verlangende Mund, der abwechselnd Worte und Vergnügen hervorbrachte. Alles von ihm. Eben James. Nichts Außergewöhnliches, aber trotzdem, sie war bei ihm. Dieses eine Mal. Sie sah sein Gesicht. Es war ihr Gesicht. Ihr Gesicht: Ihre Augen, ihr Mund, der an sie gedrückt war; ihre Nase, die wohlbekannten Fältchen und schwachen Grübchen auf ihren Wangen, die Fingerzeige des Aktes unter ihren Augen; es war ihr Gesicht, ihres, ihres, wieder und wieder in einer Million ferner, unbekannter, zerbrochener Spiegel erkannt, und als sie den Mund öffnete, um diese schreckliche Erkenntnis hinauszuschreien, senkte sich das Gesicht über sie, und der Mund öffnete sich erdrückend auf dem ihren. Es nahm sie gänzlich in Anspruch, zog ihren Mund auf jenen, zog sie hinein; unter dem Druck konnte sie nur keuchen und wimmern, dann konnte sie nicht einmal mehr das. Der Druck nahm immer mehr zu, und der auf ihr liegende Körper fickte sie, fickte sie offen. Ohne Hoffnung stieß sie ihre Proteste aus, versuchte dagegen anzukämpfen, fühlte Schmerz, als sich ihre Brüste mit den anderen trafen, fühlte Schmerz, als sich die Brustwarzen und deren identische Gegenüber gegeneinander preßten… Delia verlor gnädigerweise vollständig die Besinnung. Aber zu spät.
Sie lag in Eis. Ihre Augen waren auf die Decke gerichtet; eine brennende Helligkeit war hinter den Lidern, das Summen von Insekten umgab sie. Nach einiger Zeit öffnete sie die Augen und sah den Fragensteller über sich, der traurig auf sie hinabschaute. Sein Gesicht war von Spannung gezeichnet. »Verstehst du?« fragte er. »Ja«, sagte sie. »Oh Gott, ja! Ich verstehe.« »Es tut mir leid. Diese Methoden…« »Ich verstehe!« schrie sie. »Diese Methoden sind nicht richtig – selbst für Leute wie dich nicht. Sie sind unentschuldbar. Aber was sollen wir machen? Wir sind nur Kundschafter, keine Wissenschaftler. Unsere Aufgabe ist zu handeln, nicht Überlegungen anzustellen. Zuviel Technik schränkt die geistige Gesundheit ein, sogar bei uns.« »Ja.« »So sind wir auch gefangen. Gefangen von derselben Zeit, die dich tötet. Töten, gefangennehmen: Da gibt es keinen Unterschied. Nur eine Art ewige Finsternis.« »Werden Sie doch nicht so verdammt pathetisch«, erwiderte sie. »Der Teufel soll Sie trotzdem holen. Ja, ja, ja!« »Aber du mußt verstehen.« »Oh, das tue ich. Daran führt gar kein Weg vorbei.« »Ich glaube, daß du einsehen wirst, daß alles nun etwas schneller geht«, sagte der Fragensteller gelassen. »Für dich und für uns. Das ist erfreulich.« »Klar.« »Wir müssen beide härter arbeiten.« Das brachte sie zum Weinen, deshalb drehte sie sich auf den Bauch und drückte den Kopf nach unten; es war besser, wenn er es nicht sah. Es war besser, man sah sie nicht. Nicht hier. Nicht jetzt. Aber später…
Acht
DRINNEN: Etwas war unabänderlich in Rogers’ Leben getreten. Er wußte, daß es früher oder später hatte so kommen müssen. Letzten Endes währte nichts ewig. Jetzt war er nicht mehr allein. Wo immer er auch war: Die Sonne, die ihn gefangen hielt, war durch eine Menge von Geschöpfen bevölkert worden; sie kamen und gingen ohne sichtbare Regelmäßigkeit in Gruppen, gestikulierten lässig, trugen kleine Pakete und hielten gelegentlich inne, um ihm zuzuwinken. Dieses Winken war der einzige Beweis dafür, daß er nicht unsichtbar war; ansonsten hatten sie sehr wenig mit ihm zu tun. Sie näherten sich höchstens bis auf zwanzig Meter jener Stelle, an der er sich befand, und schienen ständig mit ihren eigenen Unternehmungen beschäftigt. Entweder plapperten sie miteinander oder hasteten zu den Scherben, von denen er annahm, daß es sich dabei um Andenken handelte, obgleich es hier auf diesem Planeten – soweit er sehen konnte – keinen einzigen Gegenstand gab, der einer längeren Beschäftigung wert war. Es war sehr verwirrend. Es stimmte: Standen sie in sicherer Distanz von ihm, so taten sie gelegentlich mehr, als ihm nur zuzuwinken. Einmal warf jemand etwas nach ihm, von dem er vermutete, daß es ein Stein gewesen war. Bei genauerem Hinsehen jedoch bemerkte er, daß es sich um eine Art Puppe handelte; eine menschliche Figur, geschaffen aus einer Substanz, die er nicht zu bestimmen vermochte. Mit etwas Phantasie konnte man die Figur männlich nennen, aber so ganz sicher war Rogers sich dabei nicht.
Sie schienen über ihn zu reden, soweit er das beurteilen konnte. Ihr Getuschel, wenn sie sich zu Gruppen zusammenfanden, wurde des öfteren durch kurze Blicke in seine Richtung unterbrochen. Aber alle seine Beobachtungen endeten gleich: Er wußte nicht, was zum Teufel da vorging. Er hatte das auch nicht gewußt, als es angefangen hatte. Dort, wo er sich befand, gab es kein Zeitempfinden und keine Intervalle zwischen Schlaf und Wachsein – nur ein langes, trostloses, ausgedehntes Warten. Er erinnerte sich daran, daß er die fremden Besucher gesehen hatte, als er einmal nach langem Meditieren hinaus auf das Gelände gesehen hatte. Das bedeutete offenbar, daß sie erst kürzlich hier angekommen waren. Er war sich nicht sicher, wie sie gekommen waren, denn es gab keinerlei Anzeichen für Weltraumschiffe oder dergleichen. Andererseits gab es in einer Entfernung von etwa hundert Metern einen Hügel, der ihm die Sicht versperrte – es war sehr gut möglich, daß sie ihre Fahrzeuge dahinter abgestellt hatten. Zweifellos war das so. Aus verschiedenen Gründen hoffte er inständig, daß dies so war; daß diese Wesen verteidigungsfähige Fortbewegungsmittel verwendet hatten, um hierher zu kommen. Falls sie das nicht getan hatten, bedeutete das, daß das Wesen der Dinge sich vollkommen von dem System, das er sorgfältig und qualvoll aufgebaut hatte, unterschied. Und das würde gänzlich niederschmetternd sein. Rogers zweifelte stark daran, ob er noch einmal zum Anfang zurückkehren wollte, um die Einzelheiten auf andere Art und Weise zusammenzufügen. Es war einfach nicht der Mühe wert. Die Dinger waren in ihrem Aussehen entfernt humanoid, aber nicht völlig; obgleich sie nur rund siebzig Zentimeter groß waren, Arme, Beine und Köpfe besaßen, stellten sie doch keine verkleinerten Menschen dar, sondern glichen eher deren Karikaturen. Ihre Glieder waren auf groteske Weise verkürzt; sie waren nur wenig mehr als Stummel, die aus den Körpern
ragten, und auch die Köpfe waren winzig. Nur die Rümpfe schienen Festigkeit und Gewicht zu haben. Indem er sie betrachtete, stellte er fest, daß sie dicken Holzbrettern, die mit knorrigen Auswüchsen an den Kanten herumhumpelten, mehr als allem anderen glichen. Entweder hatten sie eine gesprenkelte Haut, die dem Aussehen eines seltenen, vielleicht sogar einzigartigen Leidens nahe kam, oder sie trugen eine besondere Kleidung. Wie dem auch war, ihre Farbe jedenfalls glich der von Kotze… es gab keine andere Möglichkeit, diese vielfarbigen Fasern zu charakterisieren, die ungeordnet durcheinanderliefen und gelegentlich Kleckse oder Ranken bildeten. Die ganze Zeit über trugen die Wesen etwas in ihren »Händen«; möglich, daß es Puppen waren, wie die eine, die sie nach ihm geworfen hatten. Es konnte aber auch sein, daß es was war, das man für Notizbücher hätte halten können. Wenn sie nichts in den Händen hielten, liefen sie herum und umklammerten einander. Sie stellten nicht gerade das dar, nach dem sich Rogers am meisten sehnte. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er sogar das Gefühl, daß er im Notfall sogar recht gut ohne sie auskommen konnte. Nichtsdestoweniger ging es nicht an, daß er gegen ihre Anwesenheit protestierte, denn letzten Endes gehörte er ja überhaupt nicht hierher. Man hatte ihn hier abgesetzt (Wie? Wer? Wann? Aus welchem Grund?), um eine gewisse Zeitspanne abzuwarten, bis etwas Interessantes geschah. Er hatte auf diesem Terrain wenige Rechte. Für ihn war es nichts weiter als eine Abnormitätenschau. Dennoch, es war wirklich so, als ob ein Haufen verfluchter Touristen (und das war es, wonach er gesucht hatte, plötzlich kam er darauf: Sie waren Touristen) die ganze Zeit hier herumschlenderte, um ihn und den Ort, an dem er sich befand, zu studieren, und ihm das einzige nahm, was ihn bislang aufrecht gehalten hatte: die Würde seiner
Lage. Es gab keine verdammte Isolation mehr, keine private Sphäre. Wie konnte von einem Mann erwartet werden, daß man ihn verehrte, wenn er die ganze Zeit prüfenden Blicken ausgesetzt war? Er war schließlich kein Schauspieler. So kam Rogers zu der Überzeugung, daß er ihnen die Genugtuung nicht geben würde; er würde es ganz anders anpacken. Er würde aufhören, sich selbst den Seligen zu nennen, und er würde aufhören, seiner Anwesenheit auf dieser Sonne religiöse Bedeutung beizumessen. Das war ganz und gar eine Privatangelegenheit. Er würde ab jetzt nur noch hier herumhängen und sich so uninteressant wie möglich geben. Vielleicht würden sie dann seiner überdrüssig und die ganze Situation löste sich in Wohlgefallen auf. Andererseits war es natürlich möglich, daß alles ganz anders kommen würde. Es gab einfach keinen Weg, die Situation richtig einzuschätzen, obgleich Rogers sich etwas besser fühlte, als er aufhörte, sich selbst als Märtyrer und seinen Zustand als wichtig zu betrachten. So war es eben doch nur eine Frage des Verhaltens. Vielleicht hatte er nur eine Art Kulturschock erlitten. Es war kurz nachdem er seine Entscheidung getroffen hatte, alle Ekstase, alle Bedeutung fallenzulassen, die das erste Wesen ihm zugesprochen hatte. Es schlich sich heran, nur eines von ihnen, das sich von der Gruppe, die in einem Kreis herumstand, entfernt hatte, und nun der Stelle, an der Rogers lag, ziemlich nahe kam. Es winkte müßig und hatte wegen des Bauschutts einige Mühe, auf seinen kurzen, plumpen Beinen stehenzubleiben. Aus der Nähe sah Rogers, daß die Dinger wirklich halb so schlimm aussahen, wie er gedacht hatte. Sie sahen verbaut aus (was schließlich nicht ihre Schuld war; warum es ihnen also übelnehmen?), die Gesichtszüge wirkten sonderbarerweise erfreulich vertraut. Das Gesicht des Wesens hatte die Färbung eines halbgegessenen Apfels, und es hatte die Offenheit und Freimütigkeit von Gesichtern, von denen
sich Rogers vorstellte, daß sie in beiläufigen Episoden auftreten. Das Wesen schien ergreifenderweise zu tanzen, als es sich bis auf wenige Meter der Stelle näherte, an der er sich befand. Es starrte ihn an, dann stieß es etwas, das es in der Hand hielt, vor. »Was zu essen?« fragte es. Das Dargebotene schien einer Backpflaume nicht unähnlich, obwohl die Schale eine grünliche Färbung aufwies und keine Runzeln hatte; es war jedoch keine Traube, das war sicher. Nicht viele Trauben haben eine spitze Form. »Nein, danke«, sagte Rogers. »Ich kann nicht essen.« »Es ist ganz gut. Du wirst es mögen.« Das Wesen nahm einen Bissen und schluckte geistesabwesend. »Ich esse das immer. Bei jedem Anlaß.« »Laß es dir schmecken.« »Bist du gerne hier? Was stellst du mit der ganzen Zeit an, die du hast?« »Ich denke«, erwiderte Rogers. »Meistens.« »Das würde ich auch tun«, sagte das Wesen. »Aber worüber denn?« »Über weniger als du dir vorstellst. Was machst du an diesem Ort?« »Oh, ich dachte, ich komme mal rüber und sag guten Tag. Freundlich zu sein ist nichts Schlimmes. Warum sollten wir – aufgrund von Mißverständnissen – Feindseligkeiten zwischen uns wachsen lassen; das habe ich auch denen dort drüben gesagt. Deshalb sagten sie, wenn du willst, dann geh hinüber und sei freundlich.« »Das meine ich nicht«, sagte Rogers. »Ich meine, was machst du hier auf dieser Sonne? Oder ist es ein Planet?« »Oh«, sagte das Wesen gewollt herzlich. »Das ist etwas anderes. Wir warten nur, nichts weiter. Wir warten darauf, daß diese Sache geschieht.« »Und was soll das sein?«
»Dasselbe, worauf auch du wartest.« »Ja. Aber worauf warte ich denn?« Das Wesen biß wieder in die Traube/Backpflaume. »Oh, dessen sind wir uns noch nicht sicher«, sagte es. »Sie haben es uns noch nicht gesagt. Aber es wird angenommen, daß es etwas Großes ist; etwas, worauf sich wirklich zu warten lohnt. Wir werden es wissen, wenn es soweit ist.« »Mit wem soll diese Sache geschehen?« fragte er. »Nun«, erwiderte das Wesen, indem es die Reste der Frucht in seine winzigen Hände einschloß und sie geschickt in einer Spalte seiner Robe unterbrachte, »man nimmt an, daß es mit dir geschehen wird. Wenn du schon mal danach fragst.« »Das habe ich mir gedacht.« »Es ist eine der Hauptattraktionen unserer Besichtigungsreise. Deshalb haben wir hier unseren ersten Aufenthalt eingelegt. Andererseits können wir hier nicht ewig warten, weißt du? Deshalb hoffe ich stark, daß es bald passiert.« »Wer wird es tun?« Das Wesen schien ein böses Gesicht zu machen. »Das wissen wir einfach nicht«, sagte es dann. »Das ist ja der ganze Schlamassel. Sie sagen einem auf diesen Besichtigungsreisen überhaupt nichts. Nachdem man für das Ticket bezahlt hat, packen sie einen und nehmen einen mit. Für einen einzelnen gibt es keine Extrawurst.« »Nun, und was geschieht, wenn diese Sache nicht stattfindet? Wenn alles ein übler Scherz ist? Bekommt ihr dann eine Rückvergütung?« »Du meinst, man könnte in uns falsche Vorstellungen über das, was uns erwartet, geweckt haben?« »So ähnlich.« »Du meine Güte, ich hoffe nicht. Ich weiß einfach nicht. Ich glaube, wir würden es dann selbst machen müssen. Aber ich
bin mir nicht sicher. Ich habe mit dem Arrangement nichts zu tun. Ich bin nur ein Verbraucher.« »Wer ist für diese Arrangements verantwortlich?« bohrte Rogers weiter. »Niemand, den du hier siehst. Es sind die Arrangeure der Besichtigungsreise. Aber sie sind alle zu Hause.« »Und wo ist dieses Zuhause?« Er hielt die Frage für sehr raffiniert. »Ist es hier irgendwo in der Nähe? Oder ist es weiter draußen?« »Oh, nein«, sagte das Wesen. »Ich werde bestimmt nicht mit dir darüber reden. Sie haben mich gewarnt. Sie sagten, wir sollten von dir wegbleiben, weil du immer Fragen und noch mehr Fragen stellen würdest.« »Und was ist mit dir? Stellst du etwa keine Fragen? Wo bleibt hier die Gerechtigkeit?« »Aber ich habe das Recht dazu«, sagte das Wesen verdrießlich. »Ich bin auf einer Besichtigungsreise.« Es wandte sich ab. »Ich muß jetzt gehen. Wiedersehn.« »Du willst nicht hierbleiben?« »Oh, nein. Abgesehen davon, wollen sie alle wissen, wie du bist; deshalb muß ich jetzt zurück und es ihnen erzählen.« »Alle wollen das wissen?« »Wir haben Lose gezogen«, sagte das Wesen. »Ich habe verloren.« Dann schlich es auf Zehenspitzen weg von ihm. Danach war es für Rogers fast unmöglich, in sich den Heiligen, den Seligen, den Nachfolger des wahren Erlösers zu sehen. Es war schwerlich möglich, an dieser Art Anschauung festzuhalten, wenn er bloß ein Ausstellungsstück war. Dieser erschreckenden Selbstsicherheit beraubt, glaubte er im selben Augenblick, wahrhaftig verrückt geworden zu sein; sein ganzes Weltbild geriet ins Wanken, nur die Besuche erfolgten jetzt regelmäßig. Als das erste der Wesen ihn besucht hatte, war eine wichtige Schwelle überschritten worden; von nun an
kamen sie die ganze Zeit über zu ihm; wenigstens drei oder viermal am »Tag«. (Rogers war trotz seines Größenwahns ein rational denkender Mensch; er versuchte, in Begriffen wie Tagen zu denken; er war dazu in der Lage, weil er jeden neuen Gefühlszustand einen »Tag« nannte, da seine Gefühlszustände ihn regelmäßig und zyklisch überkamen. Wenn sein Schmerz sich in Wut verwandelte oder seine Verachtung nacktem Schrecken Platz machte, wußte er, daß genug Zeit vergangen war, um auf seinem inneren Kalender eine Markierung vorzunehmen. Das war der Vorteil einer labilen Gemütsverfassung). Sie kamen einzeln oder in Gruppen vorbei, um mit ihm zu reden. Die Unterhaltungen glichen alle mehr oder weniger der ersten – was bedeutete, daß sie ganz schön verrückt waren –, da die Fremden scheinbar irgendeiner Anordnung zufolge nichts Wesentliches über sich selbst und das Ereignis, auf das Rogers und sie warteten, enthüllen durften. Aber sie waren einigermaßen entgegenkommend. Sie verhielten sich in der Tat recht einschmeichelnd, boten ihm immer wieder die Trauben/Backpflaumen an, bis er schließlich eine nahm und herausfand, daß sie nicht schlecht schmeckten. Der Ärger war nur der, daß er nicht in der Lage war, sie zu schlucken. Nach diesem einen Mißerfolg beschloß er, nie wieder den Versuch zu unternehmen, etwas zu essen. Sie schienen um Rogers’ Gesundheit besorgt, wollten, daß er in guter Kondition für eine Art Finale blieb, und er stand gleichermaßen mit ihnen allen auf gutem Fuß, was besonders angenehm war. Er konnte sich nicht erinnern, jemals Schwierigkeiten wegen irgend jemandes Protektion bekommen zu haben. Die Wesen legten ihm gegenüber überhaupt keine Feindseligkeit an den Tag, obwohl ein paar darauf anspielten, die Organisatoren der Besichtigungsreise könnten eine falsche Vorstellung über das abgegeben haben, was tatsächlich mit
ihm geschehen sollte und welcher Art seine Persönlichkeit war. »Viel Ärger und hohe Ausgaben«, sagte einmal einer von ihnen, »für – wie es aussieht – dürftige Ergebnisse. Das läßt einen die Glaubwürdigkeit der Veranstalter in Frage stellen. Trotzdem, dir kann man kaum die Schuld in die Schuhe schieben. Für etwas, das nicht stattfindet, kann man dich nicht verantwortlich machen.« Es blinzelte, eine Geste, die das Gesicht des Wesens konzentriert erscheinen ließ und ihm unbegründeterweise Form und Haltung gab und eine Absicht beinhaltete. Sie waren nicht so schlimm, wenn man ihre persönlichen, besonderen Eigenheiten kannte. Aber sie waren willkürlich austauschbar, was jegliche Frage einer persönlichen Verbindung ausschloß. Sie sahen alle gleich aus, und auch ihre Persönlichkeiten waren nahezu die selben: lustig, schlicht im Gemüt, etwas schrullig, salbungsvoll und darauf bedacht, jede Information, die ihre Vergangenheit betraf, für sich zu behalten. Und so liefen alle diese schablonenhaften Unterhaltungen auf das gleiche Ergebnis hinaus. Trotzdem waren sie eine Art Gesellschaft für ihn, und das seltsame an der Sache war, daß Rogers nicht allzulange brauchte, um festzustellen, daß sie ihm gefielen. Es gab im übrigen wenig zu tun – abgesehen von seinem Fieberwahn, der sich als recht eintönig herausstellte, wenn man es genauer betrachtete –, und es überraschte ihn jetzt, wie er es geschafft hatte, auf anderem Wege mit den Dingen fertig zu werden, jetzt, wo er Gesellschaft und etwas Ablenkung hatte. Kurz gesagt, sie waren erfreuliche Kreaturen, und sie schienen ihn mindestens so zu mögen wie er sie. Er mußte ganz einfach die Einbildung überwinden, sich selbst den Heiligen und seligen Erlöser zu nennen, und auch die Angewohnheit, stark religiöse Bedeutung in Dinge hineinzuinterpretieren, nur weil er
verwirrt und gekränkt war. Rogers erkannte das nun immer klarer. Auf jeden Fall hatte er all diesen mystischen Unsinn hinter sich. Er wurde langsam erwachsen und mit sich einig: Sein Name war Rogers, und er befand sich auf einem rauhen Flecken in einem isolierten Sektor des Universums. Er war sich nicht sicher, woher er gekommen war, was er hier zu suchen hatte und was mit ihm geschehen sollte, aber trotz alledem war er immer noch ein Mensch. Was hieß, daß er eine Art Vergangenheit hatte und ebenso eine Reihe von Zielen. Und das schlug dieses ganze gebetvolle Zeug, aus welchem Blickwinkel man es auch immer betrachtete. Das wichtigste war nun, im Brennpunkt zu bleiben; das war es, was die Wesen ihm dauernd sagten. Und er glaubte es. Man mußte den Dingen vertrauen, die auf lange Sicht einen Sinn ergaben, das war die einzige Möglichkeit, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Davon abgesehen: Wer, zum Teufel, wollte überhaupt der Erlöser sein? Was, zum Teufel, gab es überhaupt zu erlösen? Alles war weg. So verfolgte Rogers diesen Weg, verbrachte eine unbestimmte Zeit (Tage konnte er jetzt nicht mehr ausmachen, da seine Stimmung sich zu sanftem Wohlwollen erhoben hatte und sich nicht mehr veränderte), indem er immer zufriedener mit sich selbst wurde, weil er letzten Endes die Dinge so etwa in den Griff bekam. So konnte seine Bestürzung auch nicht größer sein, als die Wesen sich nach einiger Zeit aufstellten (alles in allem mochten es etwa fünfzig gewesen sein), nacheinander an ihm vorbeischritten und ihm sagten, daß ihr Aufenthalt nun abgelaufen sei und sie nicht länger bleiben könnten; daß es ihnen sehr leid täte, sie jetzt aber auch noch andere Orte besuchen müßten, und da anscheinend nicht viel passieren wollte, sie nun ihre Verluste dadurch einschränkten, daß sie gingen.
»Es wird ohnehin nichts geschehen«, sagte jedes von ihnen mit hoher, piepsender Stimme. Rogers war wütend. Er faßte es als eine persönliche Beleidigung auf. Er sagte ihnen, daß, wenn es irgend etwas zu tun gäbe, um die Angelegenheit zu beschleunigen, er es selbstverständlich tun würde. Er wies sie darauf hin, daß er nicht nur nicht verantwortlich für ihr Mißgeschick sei, sondern ihre Mißstimmung in vielen Punkten teilte. Er war genauso gespannt darauf wie sie, daß etwas passierte. Er bot jeden noch so kleinen Dienst an, der aus ihrer Reise einen Erfolg machen konnte. Er wollte sie nicht enttäuschen. Auch wollte er sich nicht für ihren Verlust verantwortlich fühlen. Was die Wesen anbelangte, so zeigten sie sich in dieser Situation von ihrer besten Seite. Sie waren freundlich, hilfsbereit. Sie waren sogar weniger zaghaft als gewöhnlich, indem sie eine ehrliche Gefühlsverbindung zeigten, als eines nach dem anderen an ihm vorbeiging und dabei die Stummelarme schwenkte. Aber sie sagten gerade heraus, daß sie ihm nicht den geringsten Vorwurf machten. Wie könnten sie auch? Sie hatten seinen Willen zur Zusammenarbeit gesehen. – Nichtsdestoweniger war die Tatsache, daß dieser Teil der Besichtigungsreise ein absoluter Reinfall gewesen war, nicht zu verhehlen, und sie waren nun an einem Punkt angelangt, wo die Verluste drastisch eingeschränkt werden mußten. Den Wesen tat das leid, aber es gab andere und bessere Dinge, auf die man sich freuen konnte, Dinge, die man ihnen garantiert hatte. Sie versprachen, auf jeden Fall auf dem Rückweg vorbeizuschauen, wenn es ihnen möglich war; vielleicht würde das, was hier geschehen sollte – was immer es auch sein mochte – gerade zu diesem Zeitpunkt beginnen. Aber ihr Entschluß stand fest. Sie ließen ihm einen Vorrat der Backpflaumen/Trauben zurück, legten ihn in einem Halbkreis einige Meter vor ihm ab,
nur für den Fall, daß er sich dazu entschloß, einen neuen Essensversuch zu machen. Rogers erklärte ihnen, daß es besser für ihn sei, wenn er den Versuch nicht unternahm, aber sie waren der Meinung, daß er die Nahrung ja als Andenken ansehen könne. Ihre Fortbewegungsmittel ständen hinter dem Hügel, teilten sie ihm weiterhin mit, deshalb würden sie ihn jetzt verlassen und sich einschiffen. Sie nickten und verbeugten sich sogar. Dann verließen sie ihn.
Rogers konnte es nicht glauben. Als er keine Motorengeräusche hörte oder Flammenzungen am Himmel sah, kam er zu dem Entschluß, daß alles ein ausgemachter Bluff gewesen sein mußte, vielleicht mit der Absicht, die entscheidenden Handlungen früher herbeizuführen. Vielleicht kauerten sie erheitert hinter dem Hügel, bereit, zu passender Zeit hervorzuströmen und ihn zu umarmen. Dann, wenn die Lage für ihn wirklich ungemütlich geworden war. Aber sie strömten nicht hervor. Sie kamen nicht und kamen nicht, und eine unvorstellbar lange Zeitspanne verstrich. Er wurde zu dem Schluß gezwungen, daß sie die Wahrheit gesagt hatten. Ob sie immer noch auf der Sonne waren, war unerheblich. Sie waren weg; sie würden ihn nicht wieder besuchen. Es würde keine Unterhaltungen mehr geben, keine weiteren Fragen, keine Unsicherheit darüber, wann wirklich was passierte. Weil nichts geschehen würde. Oh, es war zuviel – viel zuviel! Rogers, der Selige, geheiligt werde sein Name und allen nachfolgenden Generationen weitervermittelt; Rogers, der zeitlos Geliebte: Rogers, der mit der Sackleinwand Bekleidete, der metaphorische Aufschrei; seine Augen, seine gesegneten Augen senkten sich, und er begann zu weinen; er weinte tausend Jahre lang, und während
die Sonne unter ihm aufging und die sich in ewiger Bewegung befindenden Sterne in ihrer Weisheit auf andere, fruchtbringendere Beschäftigungen zustrebten, vollbrachte er unseren Ruhm.
Neun
DRAUSSEN: Sie operierten am nächsten Morgen. Drei der ansässigen Chirurgen drohten aus Protest die Arbeit niederzulegen, falls man fortfahren würde, aber Perkins focht es trotzdem durch. Irgendwie – niemals erzählte er jemandem, nicht einmal Delia, was er getan hatte – brachte er es fertig, und sie gingen hinein, Perkins, der Arzt und zwei Internisten, die ohnehin schon Schwierigkeiten mit der Krankenhausverwaltung hatten. Und eine ganze Herde von Krankenschwestern, die einer anderen Gewerkschaft angehörten und im Notfall sagen konnten, daß sie nur Befehle ausgeführt hatten, ansonsten aber keine Ahnung von dem gehabt hätten, was in Wirklichkeit vor sich gegangen war. Sie hatten den größten Operationssaal im Gebäude zur Verfügung; sie hatten Lampen jeder Art und Größe. Die Klimaanlage arbeitete auf vollen Touren, und es standen sogar zwei Krankenpfleger mit Eimern herum, falls etwas Heilloses geschehen sollte. Während Delia an ihrem gewohnten Platz in der Rezeption wartete – das Mädchen dort versuchte ihr ein Gespräch aufzuzwingen, woran sie jedoch nicht interessiert war – arbeiteten sie achtzehn Stunden an Archer. Dann schlossen sie seinen Schädel wieder und rollten den Kranken hinaus, der bis an die Nase mit Florgaze umhüllt war. Sein Kopf wies viele Schnittwunden auf und obskure Schläuche, die ab und zu sanft über Teile seines Gesichts streiften, mündeten in seinen Körper und führten aus ihm heraus. Zu dieser Zeit war das Krankenhaus so gebaut, daß die einzelnen Krankenfälle, durch einen Gang, der am
Empfangsraum vorbeiführte, zu den Operationstischen hin-, und von ihnen weggerollt wurden. So bekam Delia die Gelegenheit zu einem raschen Blick. Obwohl gleichermaßen von Schläuchen und Personal umgeben, gab es doch keinen Zweifel daran, daß die Gestalt auf dem Tisch dort ihr Mann war. Und es schien, als atme er. Als sie das sah, setzte sie sich in einem Schwächeanfall auf eine der glatten Couches und versuchte das Gleichgewicht zu bewahren, während sie einer Reihe von Seufzern nachgab, die scharfe, verzweifelte Schreie hätten sein können, aber nicht eindeutig als solche zu erkennen waren. Der Arzt selbst kam nach kurzer Zeit zurück, wobei er sich abwesend die Hände rieb und den Kopf schüttelte. Er sah nicht erschöpft aus, aber er wirkte beschäftigt. »Ich weiß nicht«, sagte er, bevor sie überhaupt etwas gefragt hatte. »Es war sehr interessant. In einigen Beziehungen hat es geklappt; in anderen lief es so, wie wir angenommen hatten; im ganzen überhaupt nicht so sehr gut. Das Problem war das Fehlen einer echten Zusammenarbeit. Ich hatte keine geschickten Hilfen zur Hand, nur Tölpel. In erster Linie stand Perkins allen Tölpeln voran. Ein schwerfälliger, spannungsgeladener, gefährlicher Mann, dessen Zuneigung zu Ihnen seinem Charakter nur unerfreuliche Komplexe aufgeladen hat, mit denen er nicht fertig wird.« »Wird er aufwachen? Werde ich mit meinem Mann reden können? Ist er dort?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung.« »Wird er leben?« fragte sie weiter. Der Arzt überlegte einen Augenblick und machte die schon charakteristische Geste nach dem Ohr, das nicht vorhanden war. »Ja«, sagte er schließlich. »Er wird leben. Ich kann das einigermaßen garantieren. Er wird atmen, Nahrung zu sich nehmen, ausscheiden, und sein Zustand wird sich verbessern.
Wenigstens was den physiologischen Standpunkt anbelangt. Ansonsten kann ich nichts sagen. Es gibt da eine Art Determinismus, auf den ich nicht einwirken kann. Wir haben bereits darüber gesprochen, bevor ich diese närrische und zum Scheitern verurteilte Sache versucht habe.« Es ist möglich, daß Delia von dem, was er sagte, nichts verstand. »Werden Sie einige Zeit an seiner Seite bleiben?« »Nein. Im Gegensatz zu Ihrem hochgeschätzten Perkins werde ich nicht einmal freiwillig bei Ihnen bleiben. Ich werde nicht einmal zum Schlafen kommen, da ich noch heute nacht heimreisen werde. Ich habe nichts mehr damit zu tun. Es kommt nicht im geringsten mehr auf mich an. – Es liegt«, fügte er hinzu, und es schien, als hätte sich seine ganze Stimmung in Verwirrtheit gewandelt, »eher in den Händen Gottes, wer immer das auch sein mag. Ehrlich – das hat jetzt nichts mehr mit Wissenschaft zu tun – und hatte es auch nie, meine arme Delia. Wissenschaft ist darin überhaupt nicht enthalten, bloß billiges Geschwätz, billige Tricks, faule Ausreden; ein Augenblinzeln hier, etwas Herumgehopse da, alles nur auf ein Ende ausgerichtet, das drastischste, weil wir ihm keinen Namen geben. Aber genug. Genug hiervon.« Dann berührte er sie, nur ein einziges Mal – ein widerwilliger Klaps, ohne Wärme, ohne echte Bedeutung dahinter –, und entfernte sich schnell von ihr, leicht humpelnd; ein einfältiger, linkischer, dummer Mann mit Drähten, die ihm vom Knie herabbaumelten und einem (wegen dem fehlenden Ohr) sonderbar geneigten Kopf. Je weiter er sich von Delia entfernte, desto älter erschien er ihr. Er hat noch nicht einmal nach Geld gefragt, dachte sie leer, obwohl er sogar gesagt hatte, daß die Bezahlung nach getaner Arbeit zu erfolgen hat. Ich muß daran denken, ihn sofort zu bezahlen. Das wird dann alles in Ordnung bringen. Wenn ich ihn bezahle, wird die Operation erfolgreich gewesen sein.
Sie bildete sich ein, man rolle Archers Bett den Gang hinunter und sie vernehme das Quietschen, höre das Geräusch seiner eigenen Schritte hinter sich, obgleich das unmöglich war. Er wurde wahrscheinlich gerade wieder mit den Kabeln verbunden. Und dann, nach hinten blickend, sah sie Perkins. Er kam den Korridor entlang und hielt auf sie zu. Sein Mund stand weit offen. Er sah aus wie ein Mann, der nach langer, langer Zeit endlich einen Blick von außen in die Hölle selbst geworfen hatte. Er stolperte blindlings auf sie zu, mit den Händen wild in der Luft gestikulierend, die Augen weit aufgerissen und starr, eingesäumt von seinem Gesicht, und ohne die Absicht, auf das Leuchten ihrer Augen einzugehen. »Gott«, sagte Perkins, »Gott!« Und dann, ohne ersichtlichen Grund, ließ sie zu, daß er sie umarmte. Das Gleiten seiner Hände über ihren Körper, das verschmelzende Echo seiner Stimme in ihrem Haar…
Zehn
DRINNEN: Es hatte mit dieser Frau zu tun. Sie hatte vor, irgendwohin zu gehen, und es war seine Aufgabe (seine Dichteraufgabe), sie davon abzuhalten. Die Wächter machten sehr detaillierte Angaben, was ihr Aussehen anbelangte und zu welchen persönlichen Eigenheiten sie neigte; über die Orte, an denen sie sich auf dem Weg, wohin auch immer sie ging, aufhalten könnte – aber sie hatten nichts über ihr Vorhaben zu sagen. Darüber erfuhr er kein Wort von ihnen. Den einzigen Punkt, den sie klärten, war der, daß es seine Aufgabe war, sie zu erwischen, sie aufzuhalten. Allerdings nicht vor dem wirklichen Ende. Auch darüber waren sie sehr ausführlich. Wenn er in die Lage kam, sie irgendwo auf ihrem Weg aufzuhalten würde das in keiner Weise gut sein. Für sie. Er hatte ihr auf den Fersen zu bleiben und sie wissen zu lassen, daß auch er auf dem Plan war, durfte sie aber nicht vor dem wirklichen Ende einfangen. Es würde einer Jagd ähneln, erklärten sie. Er, der Sucher, würde den Weg des Opfers des öfteren kreuzen, aber anstatt ihm ein Ende zu bereiten, würde er sie entkommen lassen. Der Dichter wollte wissen, ob dies eine Art Spiel war, das zur Belustigung der Wächter diente. Sie verneinten; ihr Vorhaben wäre ernst gemeint. Darüber hinaus wollten sie ihm nichts weiteres erklären. Nach dem, was mit ihm geschehen war, befand er sich nun im Zustand eines krampfhaften Willens zur Zusammenarbeit. Der Mist war nur der, daß sie die Dinge jetzt etwas leichter für ihn machten als zu der Zeit, in der er angenommen hatte, daß Lyrik die
Antwort seines Problems sei. Sie ließen ihn immer noch gehörige Zeit allein, und wenn sie bei ihm waren, überschütteten sie ihn mit Einzelheiten, sagten, was sie von ihm verlangten und waren dabei kaum liebenswürdiger als vorher. Es war, als hätte er keinerlei Beziehungen zu ihnen. Nicht daß er irgendeine Beziehung gewünscht hätte. Er wollte alleine gelassen werden, um sein Schicksal in Ruhe zu überdenken. Wenn er sein Ziel nicht mit dem Schreiben von Gedichten erreichen konnte, würde er es dadurch erreichen, indem er einer Frau folgte; das machte für ihn keinen Unterschied. Das wichtigste an der Sache war, daß er sich gegenüber Würde und ein Gefühl der Selbstachtung aufrecht erhielt. Das war für die Wächter zwar ohne Bedeutung, aber es war ja so, daß sie sehr wenigem von dem, was er sagte, eine Bedeutung beimaßen. Nur einmal versuchte er, es ihnen direkt darzulegen. Er fragte den Wächter, der ihm die Einzelheiten erklärt hatte, was es mit der Frau konkret auf sich hatte. Warum man von ihm erwartete, daß er sie verfolgte? Warum er nicht etwas weiter gehen und sie töten könne, wenn er sie gefunden hatte, um so der Sache ein Ende zu machen? »Unwichtig«, sagte der Wächter. »Das hat dich nicht zu interessieren. Du wirst so handeln, wie es dir vorgeschrieben wurde.« »Ich habe nicht gesagt, daß ich das nicht tun werde. Aber worauf kommt es euch an? Man erwartet von mir, daß ich ihre Verfolgung aufnehme, mich an ihre Fersen klebe, und jedesmal, wenn ich sie eingeholt habe, wieder laufen lasse. Wo liegt hier der Hase im Pfeffer? Wenn man von mir erwartet, sie zu fangen, warum soll ich diesen Job dann nicht zu einem Ende führen? Und wenn ich sie wieder laufen lassen soll, warum ist diese Jagd dann so wichtig?« »Es gibt genügend Gründe dafür.«
»Ist es ein Spiel? Ist es etwas, das euch amüsieren soll? Mißverstehen Sie mich nicht«, sagte er schnell, »es ist mir vollkommen recht; es macht mir nichts aus, euch zu erfreuen, wenn das alles sein soll, worauf es hinausläuft. Aber sollte ich nicht genauer informiert sein? Wäre dann der Spaß für euch nicht größer? Ich will mein Bestes geben, um euch zufriedenzustellen.« »Nein.« Eine Endgültigkeit, die keine Hoffnungen übrigließ, lag in dieser negativen Zurückweisung. »Die Frau verfolgt ebenfalls eine Absicht, verstehst du?« sagte der Wächter, und das war alles, was der Dichter aus ihm herausbekommen konnte. Dennoch gab es eine gute Seite an den neuen Beziehungen zwischen ihm und seinen Bewachern; um ihn auf seine zukünftige Tätigkeit vorzubereiten, mußten sie ihm einiges sagen (natürlich nur das Allernötigste), und zwar über sich selbst, ihre Abstammung und ihre besonderen Absichten auf der Erde. Es waren nicht viele Informationen, aber der Dichter begriff schnell – Teufel, man mußte schon eine gewisse Intelligenz haben, wenn man unter diesen Burschen am Leben bleiben wollte – und es gelang ihm, einige solide Fakten zwischen den Zeilen herauszulesen. Die Wächter waren die Invasoren der Erde. Sie kamen von irgendeinem Planeten, der um einen Stern kreiste, der Millionen Lichtjahre von der Sonne entfernt war. Obwohl sie nicht die einzigen außerirdischen Geschöpfe im Universum waren – es gab Tausende von Rassen, um genau zu sein – so waren sie doch die intelligentesten, hatten die älteste Geschichte und die am weitesten fortgeschrittene Technologie. Und dank ihrer besonderen Geistesgaben, wußten sie auch am meisten über Ordnung, was sie in die Lage versetzte, sie auch aufrechtzuerhalten. Deshalb wurden sie auch die Wächter genannt.
Zur Erde waren sie gekommen, weil ihre Beobachtungen sie davon überzeugt hatten, daß die auf ihr lebende Rasse gefährlich geworden war und mithin das Universum beschmutzte. Als ersten Schritt der Okkupation und der Überwältigung der Erdbewohner hatten sie ein gedächtnislöschendes Gerät angewandt, das jedermann die Erinnerung nahm. Dann hatten sie die Leute in einem ausgeklügelten System von Gefängniszellen eingesperrt, die sie errichtet hatten. Diese Zellen stellten lediglich eine Übergangslösung dar, weil man sich noch überlegte, was mit den Leuten anzufangen sei. Der Dichter stellte sich die Frage, ob die meisten Menschen bei der Invasion getötet worden waren, aber dazu gab man ihm keinen Hinweis. Was immer mit dieser Frau los war, sie war wichtig, das hatte er bereits herausgefunden. Es erschien albern, daß eine derart mächtige und kluge Rasse wie die der Wächter, die sogar gedächtnislöschende Apparate besaß und mit ihren Fähigkeiten ohne Schwierigkeit einen ganzen Planeten zu erobern und die Bevölkerung einzusperren vermochte, jemand wie ihn, den Dichter, brauchte, um (Himmel!) eine Frau zu jagen. Aber die Sache schien sie einigermaßen zu beunruhigen – natürlich nur bis zu einem Grad, wo man sagen konnte, die Wächter hätten irgendwelche Gefühle – und diese Beunruhigung schien die Tatsache mit einzubeziehen, daß die Frau selbst etwas jagte; etwas, das die Wächter nicht finden konnten. Das war der Grundzusammenhang. Auch wenn er recht interessant war, hatte er immer noch den einen Fehler, daß er keinen Sinn ergab. Andererseits war es natürlich auch möglich, daß sie ihm genau das gesagt hatten, was er hatte hören wollen. Um ihn ruhig und funktionsfähig zu halten. Das war ein Punkt, über den man nachdenken mußte. Die Jagd sollte in New York stattfinden, und nachdem sich die Wächter vergewissert hatten, daß er unterwiesen, mit den
Gegebenheiten vertraut war und man ihm selbst trauen konnte (obwohl der Dichter wußte, daß man ihm trauen konnte, denn für ihn gab es keine Unklarheiten mehr), würden sie ihn dort freilassen. Die Frau war bereits mit einem kurzen, notwendigen Vorsprung abgesetzt worden. Weil es wenig Sinn hatte, nur sie beide allein auf einem Gebiet von achthundert Quadratkilometern agieren zu lassen, würden die Wächter gewisse ausgewählte Einwohner – das war ihre eigene Phrase, »gewisse ausgewählte Einwohner« – in verschiedenen Teilen der Stadt stationieren, um jene Orte und Gebäude auszustaffieren, an und in die sich der Jäger und die Gejagte begeben würden, und die ansonsten einen menschlichen Hintergrund abgeben sollten. Die Wächter ließen sich nie ganz genau darüber aus, ob sie für diese Aktion die Menschen wiederbeleben oder ganz einfach welche aus den Zellen holen würden. Die ganze Angelegenheit konnte genausogut imaginativ sein. Die Diskussionen und Unterweisungen gingen einige Zeit weiter. Außer daß die Wächter ihm immer wieder sagten, was sie von ihm verlangten (und dabei besonderen Nachdruck darauf legten, daß er der Frau vor dem wirklichen Ende kein Leid antun durfte), enthielten die Sitzungen wenig Neues für ihn. Und dann, eines Tages, als der Dichter einmal mehr begonnen hatte, alle Hoffnungen aufzugeben; als er sich zu der Ansicht durchgerungen hatte, daß diese Sitzungen nur eine ausgeklügelte Beschäftigungstherapie waren, damit er nicht mehr die Gelegenheit hatte, Gedichte zu schreiben, holten sie ihn zum erstenmal aus der Zelle und führten ihn auf den Hof hinaus. Dazu benutzten sie ein Gerät, das einen Durchgang in die Mauer brannte. Sie führten ihn über ein weites Feld zu einem kleinen Gebäude, wo allein in einem riesigen Raum ein anderer Wächter, in Begleitung eines Assistenten, saß.
Der Dichter glaubte, daß dieser Wächter zu den Obersten gehörte, obwohl man sich da nie ganz sicher sein konnte. Nach seiner langen Gefangenschaft hatte ihn der Anblick des freien Feldes in seinen Bann gezogen. Dort wuchs frisches Gras, und ein paar Tiere, die wie Pferde aussahen, ihnen aber nicht völlig glichen, grasten darauf. Ein frischer Geruch war in der Luft. Es war wie einer jener Morgen, an denen man nach einer langen, durchzechten Nacht aufwacht und draußen, in der Ferne, eine Reihe neuer Chancen wahrnimmt… obwohl man weiß, daß nur Erschöpfung und Schamgefühl diesen Eindruck hervorrufen. Es war alles ganz beachtlich, wenn man bedachte, daß er in New York noch nie dergleichen erblickt hatte, daß die Luft in seiner Zelle so stickig geworden war, daß er vor Schmerzen oft gekeucht hatte. »Hallo«, sagte jener Wächter. Er war formlos wie alle anderen, aber ein Quentchen größer, und er machte eine Bewegung, der der Dichter entnahm, daß man von ihm erwartete, daß er sich setzte. Der Dichter setzte sich also. Er hatte schon lange gelernt, daß es keinen Zweck hatte, sich mit diesen Schweinehunden herumzustreiten. Wenn sie setzen sagten, dann setzte man sich eben. »Wie fühlst du dich?« fragte der Wächter. »Oh, mit mir ist alles in Ordnung. Nicht schlecht.« »Etwas besser seit deinem Erlebnis?« »Welchem Erlebnis?« konterte er. »Die Fragen. Dem halluzinatorischen Druck, den wir ausübten.« »Oh, ja«, sagte der Dichter. »Viel besser, danke. Ich kenne jetzt die Antwort. Jetzt wird es keine Probleme mehr geben. Überhaupt keine, das kann ich versprechen.« »Gut. Wir sind mit deinem Verhalten in der letzten Zeit nicht unzufrieden. Du hast ein Höchstmaß an
Kooperationsbereitschaft gezeigt seit dem ersten grundlegenden Mißverständnis.« »Danke schön.« »In der Tat sind wir fast soweit, dich zu einer kleinen Jagd freizulassen.« »Gut«, sagte der Dichter. »Ich hatte damit gerechnet, daß es bald soweit sein würde. Das ist sehr nett von Ihnen.« »Wir rechneten damit, daß du bereits ungeduldig sein würdest. Ihr Menschen seid so unruhig. Es wird dir gut tun, wenn du dich wieder einmal bewegen und den meisten Aktivitäten deines früheren Lebens nachgehen kannst. Ich wünsche nur eines klarzustellen, bevor du auf freien Fuß gesetzt wirst. Es handelt sich um einen Punkt, der dir bisher vielleicht noch nicht mit dem nötigen Nachdruck zur Kenntnis gebracht wurde. Er ist sehr wichtig für uns.« »Das weiß ich.« »Wirklich? Nun, wir legen sehr großen Wert darauf. Von deinen Aktivitäten und denen der Frau, die du jagen wirst, hängt mehr ab, als du wahrscheinlich ahnst. Sie sind ziemlich wichtig.« »Ich weiß.« »Die ganze Angelegenheit mag dir verworren und unklar erscheinen, das ist ziemlich sicher. Alles Schwierige und Bedrohliche erscheint euch Menschen verwirrend und unklar; ihr seid eben so veranlagt. Überhaupt, dies darf deine Jagd nicht beeinflussen. Das geringste Abweichen vom vorgeschriebenen Pfad wird streng bestraft werden.« »In Ordnung«, sagte der Dichter leicht verunsichert, weil der Tonfall des Wächters sich verändert hatte, ja eine Bedrohlichkeit beinhaltete, mit der er nicht in Berührung kommen wollte. »Also klar dann. Keinen Ärger. Wir handeln nicht mit Träumen oder grundlosen Phänomenen, mußt du wissen. Du hast uns auf die niedrigsten Stufen der
Angleichung geführt und, vorteilhaft für dich, alles als Traum oder Halluzination ausgelegt. Aber das ändert nicht, was wir sind.« »Was seid ihr?« verlangte er zu wissen. »Unsere Anstrengungen mit dir waren gänzlich darauf ausgerichtet, daß du uns völlig ernst nimmst. Würdest du sagen, daß wir Erfolg gehabt haben?« »Oh, ja«, sagte der Dichter. »Habt ihr. Habt ihr.« Der Wächter überlegte eine kleine Ewigkeit hin und her. »Du wirst schließlich einen Punkt erreichen, an dem diese Frau nicht mehr fliehen kann. Wo sie – hoffentlich – ihr Ziel vergessen hat, zusammenbrechen und in den Brunnen ihres eigenen Hasses, ihrer eigenen Selbstverachtung fallen wird. Dann kannst du sie töten wie du willst, mit jeder Waffe, die du gerade zur Hand hast. Aber du darfst sie in keinem Fall anrühren, bevor sie diesen Punkt erreicht hat.« »Ich verstehe.« »Du darfst sie nicht anrühren. Du darfst mit ihr unter keinen Umständen verhandeln. Du wirst nur der Hebel sein, der sie auf Trab hält: ein abstrakter, nicht zu berechnender Faktor, bösartig und überaus feindselig. Hast du das begriffen?« »Ja, man hat es mir schon einmal gesagt.« »Die Frau verfolgt ein bestimmtes Ziel. Es ist unbedingt notwendig, daß sie es völlig aufgibt; aus Hoffnungslosigkeit. Du bist der Grund dieser Hoffnungslosigkeit. Du wirst für sie ein Objekt totaler Bedrohung darstellen.« »Ja.« »Du mußt hundertprozentig am Drücker bleiben. Das ist der Schlüssel zu dieser Situation.« »In Ordnung«, sagte der Dichter. »In Ordnung.« »Wenn du alles richtig spielst, kannst du bis zu einem gewissen Grad zufriedenstellend belohnt werden. Vielleicht lassen wir dich sie ficken; sie sieht nicht übel aus, wie ich
hörte. Wenn du allerdings scheiterst, wird man dich entsprechend behandeln. Dann wirst du sie ganz sicher ficken dürfen. Ist das klar?« »Ihr sagtet das bereits«, sagte der Dichter müde. »Ihr habt mir das alles schon einmal gesagt. Sie brauchen es mir nicht noch einmal zu erklären. Ich bin einigermaßen intelligent. Ich habe alles behalten.« »Das wäre dann alles«, sagte der Wächter. Zwei von den anderen traten an seine Seite und ergriffen sein Hände; um das Gleichgewicht zu behalten, stolperte er zurück, aus ihrer Reichweite. »Ich will dich noch einmal, und diesmal endgültig, daran erinnern«, sagte der Wächter, »daß uns das alles sehr wichtig ist. Weit wichtiger, als du es dir wahrscheinlich vorstellen kannst. Es hängt sehr viel von dir ab. Viel zuviel. Das ist nicht gut, aber wir haben keine Alternative.« Der Dichter wollte etwas sagen – er wollte tatsächlich fragen, warum diese Wächter, die doch sonst alles in der Welt fertigbrachten, ihn brauchten, um diese Aufgabe zu erfüllen –, aber da hatten sie ihn auch schon draußen und hetzten ihn, hetzten ihn über das Feld, durch das hohe Getreide, den staubigen Duft, den ganzen Weg zurück zu seiner Zelle. Sie ließen ihn nach etwa einer Stunde frei. Er nahm das Buch mit, in dem stand, wie man ein Gedicht schreibt, weil es gut für einige Heiterkeitsausbrüche sorgen konnte, und auch das schmale Bändchen über Balladen, weil er die dummen Reimpaare gern hatte und die Art, wie die Leute auf den Bildern darin angezogen waren und dachten. Auch nahm er ein zweites Paar Socken mit, weil man Schweißfüße bekommt, wenn man viel herumstreift. Auf dem Weg nach draußen übergaben sie ihm eine 38er Automatic und eine Schachtel Patronen, die er in seine Manteltasche steckte. Dann benutzten sie wieder die Maschine, um einen Gang durch die Wand zu
schneiden. Hinter ihm verschloß sich die Mauer wieder. Er blickte an einem bewölkten Morgen auf New York, von einem sehr hohen Punkt aus, der nur die Cloisters sein konnte (nanu, wieso konnte er sich daran erinnern?). Er fühlte, daß die Luft voller Regentropfen war, die sanft auf ihn herabfielen. Südlich der Washington Bridge (Washington Bridge?) begann der Nebel sich zu heben, und er konnte durch den Staub die unförmigen Umrisse von Lower Manhattan ausmachen, das schmutzig, von der untergehenden Sonne beschienen dalag. (Washington Bridge? Lower Manhattan?). Mit großem Erstaunen und Demut, in den Händen das Geschenk, das ihm die Wächter gemacht hatten, begann der Mann namens James, der ein Dichter gewesen war, sich langsam seinen Weg durch die Steine in Regionen festeren Bodens zu bahnen, in Richtung auf die Frau, die auf ihn wartete. Er kam sich wichtig vor.
Elf
DRINNEN: Da war dieser Mann, wie es schien, und er war dort draußen irgendwo – obwohl sie sich darüber nicht ganz im klaren waren. Ihre Aufgabe war es, ihn zu retten. Ihr Fragensteller war nie sehr mitteilungsfreudig, was das Aussehen dieses Mannes betraf oder dem, was er gerade tat, oder in welchem Zustand er war. Aber sie wußten genau über seine Bestimmung Bescheid. Wenn sie ihn gefunden hatte, würde sie sofort wissen, wer er war und wo er gewesen war. Es hatte irgend etwas mit dem Inneren Raum zu tun, obwohl sie nie ganz verstand, was das eigentlich war; je näher sie sich selbst kommen würde, sagte der Fragesteller, desto leichter würde sie ihn finden. Es würde ihre Aufgabe sein, ihn wiederzubeleben. Und das so bald wie möglich. Die Dinge liefen natürlich viel besser; nach dem, was mit ihr geschehen war, kamen sie und der Fragensteller wunderbar miteinander aus. (Und wer konnte schon sagen, ob sie es allein soweit gebracht hätte; vielleicht wäre sie aber auch ohnehin reif dafür gewesen, und jetzt brach alles heraus; sickerte alles aus diesem Inneren Raum hervor?). Er war fast nett, als er ihr mitteilte, was sie tun müsse, was man von ihr verlangte. Sie mußte diesen Mann aus der Lage herausmanövrieren, in der er steckte, und ihn irgendwie retten; ihre Anwesenheit alleine würde wahrscheinlich schon ausreichen, falls sie Glück hatte. Es würde allerdings ein Hindernis geben. Nicht alle Mächte des Universums waren auf Seiten des Rechts, weshalb zu erwarten war, daß es jemanden gab, der versuchen würde, sie von ihrer Aufgabe abzuhalten. Ein Mann wahrscheinlich; er
würde von ihrem Vorhaben wissen und alles tun, was in seiner Macht stand, um sie zu behindern. Sie würde ihn sich vom Halse halten müssen, während sie versuchte, den anderen zu retten. Es hing von ihrer Cleverness und ihrem Scharfsinn, vor allem aber von ihrer Fähigkeit, Selbstmitleid zu vermeiden, ab. Es war zu dumm, daß sie nicht einfach hinausgehen konnte zu dem Mann, den sie retten sollte, und den Job verrichten, aber das Leben ist nun mal nicht gerecht. Wie immer auch die Lage ist: Es wird bestimmt etwas gegen einen geplant. Delia befand sich nicht in der richtigen Stimmung, um den Fragensteller auszuquetschen. Sie wußte, wohin das beim ersten Mal geführt hatte. Nach dem, was mit ihr geschehen war, befand sie sich in einem Zustand krampfhaften Eifers, den Fragensteller zufriedenzustellen. Das Blöde an der Sache war nur, daß die Dinge auf diese Weise kaum weniger verwirrend waren. Nachmittags und abends wurde sie immer noch alleine gelassen und machte immer noch ihre Turnübungen, morgens sprach sie mit ihm, wobei sie mit Einzelheiten von dem, was man von ihr erwartete, überschüttet wurde. Aber die morgendlichen Gespräche lehrten sie nichts, trotz der Tatsache, daß der Fragensteller einmal gesagt hatte, daß ihm wirklich leid täte, was sie hatte durchmachen müssen. Ohne daß es etwas mit der Serie von Schocks zu tun hatte, hatte sich die Sache auf ihr Nervensystem ausgewirkt. »Du bist wirklich recht feinfühlig«, sagte der Fragensteller. »Das ist ziemlich ungewöhnlich, sogar für eure Rasse.« Alles was sie wollte, war, alleingelassen zu werden, um in Frieden körperlich zu verfallen; sie würde ihnen keine Schwierigkeiten mehr machen. Als Gegenleistung wünschte sie sich, daß sie schnell voranmachen würden, um die Dinge zu einer Art Ende zu bringen. Sie versprach sich immer wieder, daß sie nicht mehr an James denken würde (oder an Sex), oder darüber, wie alles gewesen war; das lag jetzt alles hinter ihr. Von
Wichtigkeit war jetzt nur, eine Frau zu bleiben und dieses Gefühl der Weiblichkeit zu bewahren. Einmal erzählte sie ihre Gedanken sogar dem Fragensteller. Das war in einem offenherzigen Augenblick, nachdem er seit einiger Zeit nicht mehr den Eindruck gemacht hatte, als wäre ihm ihre Fragerei lästig. Aber es hatte ihn ganz kalt gelassen. »Natürlich bist du eine Frau«, hatte er gesagt. »Physische Maßstäbe weisen das nach. Aber das ist uns gleich. Wir versuchen einfach nicht, über Dinge in Begriffen zu denken, die solch banale Unterscheidungen beinhalten.« Aber für Delia gab es Grenzen. Sie steckte noch immer voller Neugier, und sie war immer noch nach allen physischen Kriterien eine Frau. So hatte sie einmal versucht, ihm die Frage direkt zu stellen. Sie fragte ihn konkret, was mit dem Mann, den zu retten von ihr erwartet wurde, geschehen sollte. Und was sie tun sollte, falls der Verfolger sie erwischte, bevor sie den Mann erreicht hatte? Der Fragensteller, der gerade gewisse kleinere Details über die geistige Haltung, die sie während der Suche entwickeln sollte, erklärt hatte, blinzelte und sagte: »Das spielt keine Rolle. Folge den Anweisungen, die ich dir gebe. Das weitere wird sich von selbst entwickeln.« »Ich weiß. Ich weiß, daß es so sein wird. Aber was bedeutet das alles? Ihr wollt von mir, daß ich einen Mann finde und mich vor einem anderen, der mich jagen wird, in acht nehme… und was soll das alles? Wenn ich verfolgt werde… warum will man mich aufhalten?« »Es ist nur eine Frage der Geduld.« »Ist es eine Art Wettstreit? Wollt ihr von mir, daß ich euch unterhalte? Ist es ein Spiel?« »Was ist das?« fragte er plötzlich. »Oh, verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte sie, des Fragenstellers unbekannte Kräfte plötzlich fürchtend. »Es
macht mir nichts aus. Das ganze Leben ist ein Spiel. Aber wäre es nicht fairer, wenn ich darüber Bescheid wüßte?« »In keiner Weise.« »Wollen Sie mir nicht einmal sagen, wie er aussieht? Damit ich mich von ihm fernhalten kann?« »Der Verfolger wird auf sich selbst aufpassen«, sagte der Fragensteller. Es gab jedoch eine Seite, die an dieser neuen Beziehung vorteilhaft war; um sie für ihren Auftrag zu »unterweisen« (ihr Wort), war der Fragensteller gezwungen gewesen, ein wenig über sich selbst, sein Volk und die Gründe, warum sie diesen Planeten ausgewählt hatten, zu erzählen. Es gab natürlich nicht viel, was aus ihm herauszuholen war, aber Delia war in der Lage, gewisse intuitive Rückschlüsse zu ziehen – sie war schließlich eine Frau; das konnten sie ihr nicht nehmen –, und sie war in der Lage, aus den Bemerkungen, die der Fragensteller gelegentlich am Rande fallen ließ, ein aufschlußreiches Bild zusammenzusetzen. Wie ihr Einblick sie von Anfang an glauben gemacht hatte, waren die X’Ching, von denen der Fragensteller ein Verwaltungsbeamter war, gekommen, um die Erde zu erobern. Sie kamen von irgendwo aus dem Sonnensystem, vom Mars oder sonstwoher, und sie waren die ältesten Bewohner aller Planeten, die um die Sonne kreisten. Wegen ihrer hohen Intelligenz – oder trotz dieser Intelligenz – waren sie bösartige, feindselige Wesen, die die anderen Planeten überwachten. Nichts war ihnen wichtiger, als ihre Führungsrolle im Sonnensystem aufrechtzuerhalten, indem sie jede Rasse unterdrückten, die das Potential zu besitzen schien, ihnen ihren Rang streitig zu machen. Aus diesem Grund hatten sie eines Morgens die Erde überschwemmt und wirklich die ganze Menschheit getötet. Sie waren ganz von Bösartigkeit erfüllt, Wesen des Teufels – obgleich der Fragensteller taktvoll bemerkte, daß dies nicht bedeutete, daß sie keine Gefühle
besäßen. Sie wußten selbst sehr genau, was sie waren; aber sie waren nun mal so. »Wir haben nichts Persönliches gegen euch«, auf diese Weise stellte er es dar. So waren sie zur Erde gekommen, diese X’Ching, weil ihre Beobachtungen sie davon überzeugt hatten, daß es an der Zeit war, den Erdenmenschen endlich mal zu zeigen, wer der Herr im Hause war; unglücklicherweise war es dabei nicht zu vermeiden gewesen, daß es Tote gegeben hatte. Andererseits konnte man mit derart gefährlichen Wesen auch kaum anders umspringen. Als ersten Schritt bei der Übernahme der Erde hatten sie neunundneunzig Prozent der Menschen auf der Stelle getötet und die verbliebenen dreißig Millionen eingesperrt. Diese waren gelegentlich bei besonders teuflischen Vorhaben dahingeschlachtet worden. Gegenwärtig war Delia einer der vier oder fünf am Leben gebliebenen Menschen. Sie hatte erfahren, daß der Rest hatte getötet werden müssen. Sie konnte das zwar nicht verstehen, aber der Fragensteller war nicht gewillt, ihr das näher zu erklären. Was auch immer mit dem Mann los war, den zu finden man von ihr verlangte, er schien ganz schön wichtig zu sein, soviel konnte sie jetzt schon sehen. Es schien sonderbar, daß eine Rasse wie die der X’Ching, mit all ihrer Boshaftigkeit und Fähigkeit, Milliarden abzuschlachten, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken, jemanden wie sie brauchten, um eines einzigen Mannes habhaft zu werden. Aber es stellte sich nach und nach heraus, daß dies ein Thema war, das den Fragensteller aus der Fassung bringen konnte. Dieser eine Mann, den sie suchen sollte, konnte anscheinend nicht von den X’Ching gefunden werden. Es war etwas an ihm, das nur ein Mensch erreichen konnte. Soweit und nicht weiter konnte sie theoretisch vorankommen, obwohl es alles bestätigte, was sie von Anfang an vermutet hatte; von dem Augenblick an, in dem man sie aus ihrem Vorgarten
weggeschnappt und an diesen Ort gebracht hatte. Sie nahm an, daß es letzten Endes auch James erwischt haben mußte, wenn er nicht unwahrscheinliches Glück gehabt hatte. Ein Verlust. Andererseits – Delia sah sich gern als scharfsinnige Frau – gab es keinen Grund, anzunehmen, daß man ihr nicht genau das erzählt hatte, was sie hatte hören wollen, um sie zufrieden und funktionsfähig zu halten. Sie waren eine schlaue Rasse und der Fragensteller ein kluges Exemplar, wenn man in Betracht zog, auf welche Art und Weise man sie bisher behandelt hatte. Sie würde also in der Gegend von New York nach diesem Mann suchen, und der Verfolger würde ebenfalls zur Stelle sein, irgendwo hinter ihr. Da es sinnlos sein würde, nur sie, den Verfolger und die Zielperson auf einer Fläche von achthundert Quadratkilometern agieren zu lassen, würden die X’Ching ihre speziellen Kräfte einsetzen, um eine Entnahme von Stichproben aus der Bevölkerung – so drückten sie sich aus, »eine Entnahme von Stichproben aus der Bevölkerung« – überall an verschiedenen Stellen der Stadt auszusetzen, um die Orte, an denen sie den Mann suchen sollte, mit Personal zu versehen und um in ihr das Gefühl zu erwecken, daß die Menschheit weiterbestehe. Der Fragensteller machte nie klar, ob diese Leute Halluzinationen sein würden (sie glaubte, daß sie es sein mußten, wo doch alle tot waren), aber das war eine Frage, der sie ohnehin nicht weiter nachgehen wollte. Sie war es nicht wert. Es gab so wenig Sinn, was es wert war, nun, da sie sich endlich selbst zu der Einsicht durchgerungen hatte, die man ihr hatte zu eigen machen wollen. Der Fragensteller besuchte sie weiterhin jeden Morgen in diesem neuen, freundschaftlichen Rahmen – erzählte ihr immer wieder, daß sie einen Mann finden, ihn befreien und das eine oder andere mit ihm tun mußte – und dann eines Tages, als sie gerade zu der Überzeugung gelangt war, daß sie nur ein weiteres Mal
zum Narren gehalten wurde und daß es wirklich bis in alle Ewigkeit so weitergehen würde, holten der Fragensteller und ein paar schwer zu beschreibende Assistenten sie aus der Zelle und führten sie den langen, langen Gang hinunter, zu einem Zimmer, das ganz am Ende des Korridors lag und in dem ein riesiger und majestätischer X’Ching auf einem Thron saß. Im Gang roch es nach Knochen und Bauschutt; sie bildete sich ein, sie könne verwesende Körper riechen. Plötzlich bemerkte sie, daß sie torkelte. Sie bat den Fragensteller keuchend, sie zu stützen. Er hielt sie sanft, in entgegenkommender Weise, mit dem mitfühlenden Griff eines Freundes. Der X’Ching auf dem Thron sah genauso aus wie der Fragensteller, nur daß er etwas größer war und andere Farbflecke im Gesicht aufwies. Er begrüßte sie mit »Hallo« und beorderte die beiden anderen hinaus, ließ sie die Türe schließen und machte eine drehende Bewegung mit dem Tentakel. »Du siehst ganz gut aus«, sagte er. »Hab keine Angst. Leg dich auf den Bauch, streck dich aus und entspanne dich.« »Danke schön«, sagte sie, sich niederkauernd. »Leg dich flach hin.« »So?« »Genau. Wie fühlst du dich?« »Sehr gut, wirklich.« »Besser, seit deinem kleinen Erlebnis?« »Viel besser«, erwiderte sie. »Nicht, daß ich euch dafür wirklich dankbar sein könnte.« Sie gewöhnte sich an die Fliesen, wobei sie eine schlüpfrige Nässe an ihrem Bauch emporkriechen fühlte; es war unmöglich, aber es schien Sperma zu sein. Der Gedanke daran versetzte sie in Zuckungen, ließ sie auf die Füße springen. Der Fragensteller kicherte unmerklich und beugte sich dann vor.
»Gut«, sagte der X’Ching. »Sehr gut. Du darfst stehen. Wir sind nicht im geringsten mit dir unzufrieden, Delia. Du hast dich in letzter Zeit zur Zusammenarbeit bereit gezeigt. Und im relativen Sinn durchaus in realistischer Weise.« »Freut mich.« »Um die Wahrheit zu sagen, wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem mein Mitarbeiter glaubt, daß wir dich zu einer kleinen Suche freilassen können. Was hältst du davon?« »In Ordnung. Das finde ich ausgezeichnet.« »Das hoffe ich auch. Wir sind ein unruhiges Volk; wie du schon gemerkt haben wirst, haben wir für Stockungen nichts übrig. Deshalb ist es gut zu wissen, daß die Dinge endlich in Angriff genommen werden können. Stimmt es nicht, Delia?« »Genau.« »Ich möchte nur noch eine Sache klarstellen, bevor wir dich auf den Weg schicken«, sagte der X’Ching. »Ja. Fahren Sie fort.« »Es ist ungeheuer wichtig. Es hängt mehr davon ab, als du dir in deinen kühnsten Träumen ausmalen kannst. Der Mann, den du suchen wirst, ist sehr tatkräftig. Er ist wirklich sehr tatkräftig. Das darf von dir nicht zu gering eingeschätzt werden.« »Das wurde mir gesagt.« »Auch wenn du es nicht verstehst, hat die energische Art, mit der wir dir unsere Absichten aufgezwungen haben, einen Sinn. Aber du hattest nicht die nötige Geduld. Du verlangst einfache Antworten, einfache Wendungen. Aber es gibt keine einfachen Antworten, verstehst du?« »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« »Keiner weiß das je. Aber was will man machen? Dies ist keine Halluzination, weißt du«, sagte der X’Ching scharf. »Ich habe, als du am Anfang zu uns gekommen bist, erkannt, daß es nur dein Glaube an deine eigene Verrücktheit gewesen ist, der
dich vor dem Wahnsinn bewahrt hat. Wir ließen dir diesen Glauben als Stütze, weil es bis zu einem gewissen Grad notwendig war. Aber jetzt ist das nicht mehr so. Es würde sehr gefährlich sein, mit dieser Denkweise fortzufahren. Sehr gefährlich.« »Ich glaube nicht mehr daran, daß ich träume«, sagte sie lustlos. »Gut. Du wirst viele Male den Punkt der totalen Erschöpfung erreichen und versuchen, dich dann durch Schizophrenie davon zu befreien, indem du dir einredest, daß alles gar nicht existiert. Aber es wird existieren, sogar der Schmerz und der Schreck, der durch deinen Körper zieht. Die Kugeln, die der Verfolger in dich jagen will, sind nicht unwirklich. Wenn sie dich treffen, werden sie dich töten, und du wirst genauso tot sein, wie irgendein anderer auch.« »Ja. O ja.« »Du darfst dich selbst nie aufgeben. Du darfst dich dem Verfolger niemals stellen. Du wirst immer wieder versucht sein, dies zu tun, aber du darfst es nicht; du mußt die Flucht fortsetzen. Begreifst du das?« »Ja, das begreife ich. Der Fragensteller hat mich darüber informiert.« »Aha, du nennst ihn den Fragensteller, nicht wahr? Schön; dieser Name ist so gut wie jeder andere. Dieser Mann, auf den du stoßen wirst, verfolgt gewisse Absichten. Es ist lebenswichtig, daß du ihn davon abbringst. Du mußt dich ihm entgegenstellen, ihn ganz und gar zerstören.« »Ja.« »Und du darfst auf keinen Fall daran glauben, daß sich alles nur um eine Halluzination handelt. Dies hier geschieht. Es geschieht wirklich. Das ist der Schlüssel zu allem.« »In Ordnung«, sagte sie nochmals. »In Ordnung, so wird es geschehen.«
»Wenn du Erfolg hast, wirst du bis zu einem gewissen Grad belohnt werden. Auf welche Art, wirst du sehr schnell herausfinden. Falls du den Mann nicht findest und erlöst, wird dir gleichermaßen Gerechtigkeit widerfahren. Habe ich mich klar ausgedrückt?« »Sehr klar.« »Dann werde ich dich freilassen. Du wirst in deine Zelle zurückkehren und mitnehmen, was du brauchst. Soweit es deiner Person von Nutzen ist. Dann wird dir eine kurze Botschaft auf einem Blatt Papier übergeben werden, und du wirst freigesetzt. Wir freuen uns auf einige erregende Erlebnisse.« Der X’Ching nickte, und plötzlich waren der Fragensteller und andere hinter ihr, umfaßten ihre Taille und führten sie sanft aus dem Thronzimmer. Delia wollte etwas sagen. Es schien ihr unlogisch, daß diese Rasse, die alles auf der Welt machen konnte, die die unbestrittenen Herren des Sonnensystems waren, so etwas wie sie brauchten, um ihre Arbeit zu erledigen. Aber man hatte sie schon aus dem Zimmer geführt und brachte sie zum letztenmal in ihre Zelle.
Augenblicke später war sie frei. Es gab nichts, was des Mitnehmens wert gewesen wäre, deshalb führten sie sie durch den langen Gang zu einem Ausgang, öffneten ihn für sie, schlossen ihn hinter ihr und ließen sie draußen stehen. Sie blickte an einem trüben Morgen von einem niedriggelegenen Punkt aus auf New York; sie war irgendwo in der Battery, die hier unter den Meeresspiegel abfiel, und betrachtete die Wolkenkratzer, die sich im Norden befanden. Sie spürte Regen in der Luft Nördlich des Empire State Buildings begann der Nebel eben aufzubrechen, und sie konnte
sehen, wie die Sonne sich unter der Wolkendecke hervorkämpfte und sie erschöpft anstrahlte, so, wie sie es an tausend anderen Morgen getan hatte. Betroffen von der Parallelität des Ganzen, weil es genauso war, als sei sie zu früh aufgestanden, fühle sich krank und hätte sich von James’ Seite weg in den Garten gestohlen und durch ihre Freiheit verblüfft, begann Delia langsam ihren Weg durch das knöcheltiefe Wasser, auf festere Erde zu, dem Mann entgegen, den sie befreien sollte. Sie sah noch einmal auf die Botschaft, die man ihr in die Hand gedrückt hatte. Meide ihn. Finde ihn. Schließ dich uns an.
Zwölf
EIN ZWISCHENSPIEL: Delia und Perkins hatten ein Verhältnis. Das heißt, Delia nannte es so; Perkins, bis aufs Äußerste vorsichtig, war der Ansicht, daß es ein »Verstehen« war. Während Archer gelähmt und in tiefer Bewußtlosigkeit in seinem Krankenzimmer lag, Flüssigkeit in und aus seinem Schädel tröpfelte, hatte Delia – eine völlig normale, gesunde Frau mit Wünschen und Gefühlen – immer noch ein Leben zu leben. Es war anzunehmen, daß sie jemand anderen benötigen würde. So sah es jedenfalls Perkins. Außerdem war er schon immer von ihr angezogen worden. Beim ersten Mal, als sie und Archer in seine Praxis gekommen waren (das war vor zehn Jahren gewesen), hatte er in ihr eine dermaßen attraktive und begehrenswerte – und in einem Käfig gefangene – Frau gesehen, daß seine Lebensphilosophie, das Junggesellenleben sei eines der schönsten, ins Wanken geraten war. Es war lächerlich, aber so war es nun mal. Er hatte nie die Absicht gehabt zu heiraten – bis er sie gesehen hatte – und da außerehelicher Sex zu nichts Gutem führte – hatte er sich vorgenommen, niemand anders zu heiraten. Denn in seinen Augen gab es niemanden, der so war wie Delia. So war zu erwarten gewesen, daß in dieser Zeit der großen, tragischen Anspannung Delia und er zusammenfinden würden. Es war ja auch nichts Unrechtes daran. Er hatte sich lediglich als Freund ihrer angenommen, hatte sich als Fels, an den sie sich klammern konnte, angeboten – und so, wie die Dinge ihren Lauf nahmen, lagen sie gewiß außerhalb seiner unmittelbaren Kontrolle. Es hatte einfach so kommen müssen.
Es lag ihm fern, aus einer Situation wie dieser Nutzen zu schlagen. Außerdem kümmerte sich niemand mehr um Archer als er. Er würde auf keinen Fall etwas unternehmen, um dem Mann wehzutun. Abgesehen davon, konnte man Archer gar nicht wehtun. Denn Archer war nahezu klinisch tot. Er lag in einem großen weißen Zimmer, und nur seine schwachen Atemzüge zeugten davon, daß er sich gegenüber dem Tod immer noch behauptete. Er hatte zu dem, was draußen vor sich ging, absolut keine Beziehung. Hätte er auch nur für einen Augenblick gewußt, daß sein Hausarzt seine Frau vögelte – na, wenn schon – Archer würde als erster erkannt haben, was die Stunde geschlagen hatte. Perkins wäre unter normalen Umständen nie in eine solche Sache verwickelt worden, aber hier war zur Abwechslung alles vollkommen sicher. Perkins war seit dreißig Jahren Arzt. Und aus beruflicher Erfahrung, seinem Fachwissen und vielen Krankengeschichten wußte er, daß Archer es keinesfalls überstehen würde. Nichts konnte ihm helfen. Er würde zehn Tage oder zehn Jahre lang flach atmend in seinem Bett liegen; die vielfarbigen Flüssigkeiten würden pulsierend in ihn hinein- und aus ihm herausfließen, und dann würde er sterben. Es gab für ihn nichts mehr zwischen dem Jetzt und dem Augenblick seines Todes zu erleben; nur ein mühseliger Weg führte dorthin, unter Wasser, kauernd. Deshalb hatte Perkins keine Gewissensbisse über seinen »verständigen« Kontakt mit Delia. Abgesehen davon nutzte er Delias Lage ja nicht aus. Hätte sie es nicht ebenso gewünscht wie er, hätte sie ihm ja von vornherein die kalte Schulter zeigen können. Kein Zweifel, das hätte sie. Aber sie hatte es eben nicht getan, und er war vorsichtig und sacht vorgegangen, weil er ein Gentleman war und eine plumpe Annäherung beleidigend gewirkt hätte. Alles war in Ordnung; sie hielten einander fest und kamen sich soweit entgegen, wie sie nur konnten. Die Zukunft war so abstrakt wie die Vergangenheit…
Teufel nochmal. Sie genossen den Augenblick. Was hätten sie auch sonst tun sollen? So ähnlich sah Perkins die Sache, und seine Rechtfertigung war bei weitem nicht die schlechteste. Delia war es andererseits nie richtig möglich, sich sorgenfrei zu fühlen. Perkins hatte die ganze Sache mit seinem Ausbruch von Schuldgefühlen nach der Operation begonnen, indem er zu ihr gesagt hatte, daß es ihm in gewisser Weise vorzuwerfen sei, daß er dem Arzt erlaubt hatte, sich des Falles anzunehmen. Er hatte sie um Verzeihung gebeten. Er hatte Delia nie wirklich eine Chance gegeben. Er hatte von Anfang an gesagt, daß – vom psychiatrischen Standpunkt aus gesehen – das Alleinsein während dieser Zeitspanne für sie am schrecklichsten sein würde, daß sie einen anderen Begleiter brauchen würde; einen, dem sie vertrauen könne, der die Situation verstehen würde, ohne groß Fragen zu stellen. Delia hatte sich nicht gewehrt, weil sie nicht überschnappen wollte. Sie hatte nichts gegen Tragödien, aber Tragödien, die einen körperlich zerstören, waren für sie eine andere Sache. Wenn man eine vernünftige Frau war, brauchte es keine Grenzen der Vernunft zu geben. Es hatte einige gemeinsame Dinners gegeben, und einmal war es zu einem Austausch von Zärtlichkeiten in Perkins’ Wagen gekommen, nur oberhalb der Gürtellinie, bis zwei Uhr morgens – weil sie keine Teenager mehr waren, hatten sie sich vorgenommen, die Sache nicht im Auto, sondern richtig zu machen; außerhalb des Hauses. Demnach war das Hotel unvermeidlich gewesen. Es wäre auch unfreundlich gewesen, Perkins nach allem, was er für sie getan hatte, zurückzuweisen. Und weil er ihr seine Gefühle gebeichtet und ihr alles erzählt hatte. Keine andere Frau, hatte er gesagt, hatte er haben wollen, keine andere Frau. So lagen sie also hier, tra-la-la, am frühen Morgen, auf Zimmer 216 eines Hotels im Stadtzentrum, rauchten
Zigaretten. Der Duft der Liebe (Perkins bestand darauf, es Liebe zu nennen, aber Delia war sich da nicht so sicher) war auf ihren Körpern getrocknet, und sie waren noch zu überwältigt von der Ekstase, um einschlafen zu können. Delia merkte, wie das alte Gefühl wieder in ihr aufstieg, das Gefühl, das sie schon so oft, aber noch nie in diesem Zusammenhang erlebt hatte, und weil sie es nicht ertragen konnte, daran zu denken, mußte sie sprechen. Das einzige Thema, über das sie reden konnten, die einzig wirkliche Verbindung, die sie hatten… Nun, wenn man es sich richtig überlegte… »Zeigen sich an ihm überhaupt keine Veränderungen?« fragte sie ruhig. »Keine«, sagte Perkins und drückte seine Zigarette vorsichtig im Aschenbecher aus. Dann schlug er mit der Faust auf das Kopfkissen ein, um die Stelle, auf die er seinen Kopf zu plazieren gedachte, zu glätten. »Keine Spur. Überhaupt nichts.« »Ich dachte, er hätte mich heute nachmittag vielleicht gesehen. Als ich eintrat, drehte sich sein Gesicht der Tür zu, und seine Wimpern zuckten deutlich. Ich war sicher, daß er wußte, daß ich hereinkam.« »Ein Wunschtraum, was sonst. Ich bin sicher, daß er durch deine Gefühle hervorgerufen wurde. Es gibt keinen Hinweis dafür, daß er bei Bewußtsein ist; er zeigt keinerlei Reaktionen. Gewebespannung ist nicht vorhanden. Seine Reflexe sind gedämpft. Keine Behandlung zeigt einen Erfolg. Es gibt nichts.« Sie haßte ihn, wenn er so redete, aber sie konnte es verstehen. Die ursprüngliche Grundlage ihres Verhältnisses war gewesen, daß er der Arzt war… ihr Arzt. »Liegt er im Sterben?« »Nein«, sagte Perkins und streckte seine Hand aus, um ihren Schenkel zu tätscheln. »Ganz und gar nicht. Nahezu klinisch tot, verbleibt er in einem Zustand körperlicher Gesundheit.«
»Dann kann es noch lange so weitergehen?« »Das weiß niemand. Es kann diese Nacht aufhören. Ich glaube nicht, daß es noch lange so weitergeht. Es wird ein physischer Verfall einsetzen. Danach kann alles sehr schnell gehen. Weiß das Kreislaufsystem, was vorgeht? Ich denke schon. Und eines Tages werden es und das Verdauungssystem einfach aussetzen…« »Willst du, daß er stirbt?« fragte sie, sich seiner Hand nicht widersetzend, ihr es aber auch nicht leicht machend. Sie nahm sein Handgelenk in beide Hände, zog seine Hand sanft nach oben und hielt, sie auf ihren Bauch pressend, inne. »Nein. Natürlich nicht. Natürlich nicht.« »Das würde dir so passen. Dann hättest du überhaupt keine Probleme mehr.« »Es wäre mir wirklich lieber, wenn er tot wäre«, erwiderte Perkins wütend. »Dann könnten wir heiraten. Oder könnten wir das nicht?« Sie kicherte nichtssagend und kitzelte sein Kinn. »Nein, das könnten wir nicht«, sagte sie. »Du willst nicht heiraten – und ich auch nicht. Wir wollen nur auf diese Weise weitermachen. Es ist sehr praktisch.« »Das habe ich nicht gesagt.« »Ich weiß, daß du das nicht gesagt hast. Du brauchst es gar nicht auszusprechen. Du weißt«, sagte sie plötzlich verwundert, »daß es recht ungewöhnlich ist, was ich jetzt mache. Bevor dies alles geschah, hätte ich es selbst nicht geglaubt. – Wir waren verheiratet, und damit hörte die Sache auf. Es gibt Grenzen in meinem Verhalten, die ich, wie mir scheint, nie in Angriff genommen habe.« »Macht es dir Spaß?« fragte er und kniff ihr zärtlich in den Bauch. »Ja?« »Dir denn?« »Du weißt, daß ich dich liebe.«
»Du sagst, du liebst mich. Na und? Mein Mann hat mich auch geliebt, und er liegt immer noch dort, im Sterben. Kann das irgend etwas verändern?« »Es gibt nichts, was wir tun können. Sei realistisch, Delia. Einmal muß das Ende anfangen.« Sie rückte näher an ihn heran, legte abwesend ein Bein über seinen Körper und schmiegte sich an ihn. »Solange wir nicht vergessen, wer wir sind«, meinte sie, »und was wir tun, vermute ich, daß alles in Ordnung ist.« »Ja.« »Was glaubst du, geht in ihm vor? Träumt er? Denkt er? Kann er sich vorstellen, was wir machen könnten?« »Ich glaube nicht, daß in deinem Mann überhaupt etwas vor sich geht«, sagte Perkins. »Und ich glaube, daß dieses Urteil ein sicheres Urteil ist.« »Wie traurig«, sagte Delia flüsternd und zog ihn willig an sich. »Wie furchtbar traurig. Er war an allem immer so interessiert. Wie schrecklich ist die Vorstellung, daß es nichts gibt, womit er sich beschäftigen kann!« Und sie fanden das lustig; sie fanden es sehr lustig und lachten; sie lachten so lange und herzlich, daß es für die nächsten Augenblicke unmöglich war, eine Nummer zu schieben. Keuchend brachen sie übereinander zusammen; die Oberfläche ihrer Haut war naß von Schweiß. Delia wußte, daß sie sich lange, lange Zeit später noch, wenn sie sich wieder alles ins Gedächtnis zurückrief, wegen dieser ganzen Sache schrecklich fühlen würde. Der Gedanke allein reichte schon aus, um sich sofort schrecklich zu fühlen. Es gab keinerlei Rechtfertigung für das, was sie tat. Trotzdem, was zum Teufel sollte sie denn sonst mit sich anfangen? Sie war schließlich eine Frau mit normalen Gefühlen.
Dreizehn
DRINNEN: Diesmal war er der Hure wahrhaftig auf den Fersen. Er wußte es, weil er an kleinen Spuren bemerkte, daß sie diesen Weg gegangen war – kleine Fetzchen eines Papiertaschentuchs lagen auf dem Bürgersteig; ein kaum wahrnehmbarer Parfümgeruch hing in der Luft – und innerlich fühlte er, wie die Erwartung in ihm anstieg. Er hatte sie bereits zweimal vorher in die Enge getrieben; aber das war nichts gewesen im Gegensatz zu dem, was ihr jetzt bevorstand. Diesmal würde es wirklich klappen. James wußte, daß jetzt die Zeit gekommen war, die ihn in die Lage versetzte, es zu tun. Es einfach zu tun, indem er die Kugeln in sie hineinjagte und ihr beim Sterben zusah. Er hatte sie bereits zweimal geschnappt, sie aber beide Male wieder laufenlassen, genauso, wie es die Wächter ihm befohlen hatten. Beim erstenmal war es in einem U-Bahn-Kiosk gewesen. Sie war in vollem Lauf weggerannt, hatte ihn irgendwie überlistet und hätte ihm auch ohne große Mühe entkommen können. Nur hatte er das verdammte Klappern ihrer Absätze auf der Treppe nach unten entschwinden gehört. Er war herumgewirbelt und hatte hinter ihr hergeschrien. Und dann hatte sie vor ihm gestanden und ihn angestarrt. Ihr Mund hatte in Nuttenmanier geschmollt, ihre Augen waren dunkel gewesen, und sie hatte die Hände zitternd gegen die Brust gedrückt. Dann hatte er die Pistole aus der Manteltasche gezogen. Es wäre so leicht gewesen, so leicht; ein echtes Vergnügen, sie mit einem einzigen Schuß niederzustrecken
und sie kreischend die Treppe hinunterfallen zu sehen. Jeder Schrei ein wahrer Ohrenschmaus für ihn… —Aber er hatte sich umgedreht und war abgehauen. Er hatte es nicht getan. Es war genauso, wie die Wächter gesagt hatten: Eine Zeit würde kommen, wo sie nicht mehr dazu fähig war, wegzurennen und dann würde er sie erwischen. Aber diesmal war es noch nicht an der Zeit gewesen, nicht dieses Mal, und er hatte sie laufen lassen, hatte gehört, wie das Rumpeln der sich nähernden U-Bahn ihre Schreie erstickte. Das zweite Mal hätte er sie fast in einer Spiel halle auf der 42nd Street erwischt. Von all diesen verdammten Orten hatte sie sich ausgerechnet diesen hier als Versteck ausgesucht. Sie hatte an einem Flipper gespielt. Damals hatte er seit drei Tagen ihre Fährte verloren gehabt, und war zu dem Schluß gekommen, daß sie vielleicht die Stadt verlassen hatte. Aber dann gerade als er die Spielhalle betreten hatte, um selbst ein Spielchen zu wagen – hatte sie vor ihm gestanden, mit ihren verdammten weißen Fingern an den Flipperknöpfen, einem Aschenbecher voller Kippen und schwelenden Zigaretten neben sich. Es wäre wunderschön gewesen, sie inmitten dieser verqualmten Bude zu erschießen: vom ästhetischen Standpunkt aus gesehen, hätte es keinen besseren Ort geben können, um sie umzublasen. Aber wieder einmal hatte sie ihn gesehen und wieder hatte sie jenen Schrei ausgestoßen, der ihn von seinem Vorhaben abhielt. Sie wollte zu gern leben. Sie wollte abhauen. So hatte er sie eben laufen lassen. Er hatte seine Hand von der Pistole, die er in der Manteltasche hatte, genommen und sich eine Zigarette angesteckt, war auf einen Hocker geklettert um selbst ein Spiel zu machen. Die Hure hatte sich schnell aufgerafft, ihren Mantel übergeworfen und war gerannt. Aber diesmal war es anders. Diesmal war es das dritte Mal. Er würde sie auf Gedeih und Verderb umbringen und der
Sache ein Ende bereiten. Was danach geschehen würde, wußte er nicht – er konnte sich nicht vorstellen, welche Aufträge sie sonst noch für ihn hatten –, aber er hatte das Spiel, die Jagd und überhaupt alles zum Kotzen über. Er mußte sie in eine Bar treiben, dann hineingehen und ihr sagen, daß sie zehn Minuten hatte, um abzuhauen und sich einen Vorsprung zu verschaffen. Wenn sie losrannte, dann würde er ihr dreißig Sekunden geben um die Bar zu verlassen, dann würde er sie umlegen. Er würde sie geradewegs auf der verdammten Straße liegen lassen, und wenn die Wächter kamen, um ihn abzuholen (er war sicher, daß sie das taten), würde er ihnen erklären, daß sie es gewollt hatte, es wirklich gewollt hatte; daß sie diesen Ausdruck im Gesicht gehabt hatte. Diese Fotze! Worin lag überhaupt der Sinn, sie jedesmal entkommen zu lassen? Man erwartete von ihm, daß er sie daran hinderte, jemanden zu treffen. Das war die vorgegebene Lage. Aber sie hielt nach niemandem Ausschau. Sie hatte überhaupt kein Ziel! Sie trieb sich lediglich in der ganzen Stadt herum – genau wie er – und schneite in Hotels, Kinos und Bowlingbahnen hinein, um sich die Zeit zu vertreiben. Sie hatte keine erkennbaren Absichten. Sie war genauso gelangweilt und von der Situation angewidert wie er. Und sie hatte außerdem Angst (er hatte überhaupt keine Angst), so daß ihre Qual größer war als die seine. Das hieß, daß ihre Ermordung nichts als ein Gnadenakt sein würde. Er hatte sich alles genau ausgerechnet; er konnte in keiner Hinsicht verlieren. Während den sechs Tagen und Nächten der Jagd hatte er nicht geschlafen, keine Minute, weil es unmöglich vorauszusehen war, wo sie sich aufhalten konnte oder was in ihrem Schädel vor sich ging. Von ihr nahm er dasselbe an. Seit dem Augenblick, wo er sie zum erstenmal gesehen und sie, in diesem Moment des Zusammentreffens, gespürt hatte, wer er war, hatte es keinen Augenblick der Ruhe
mehr gegeben. Nach ihrer zufälligen Begegnung, dem Zusammentreffen ihres Schocks und ihrer Flucht, hatte es überhaupt keinen Frieden mehr gegeben. Nun, es war an der Zeit, endlich eine Lösung zu finden. Es wurde höchste Zeit, daß sie es hinter sich brachten. Es war jetzt immerhin alles in Ordnung. Es war gut. Nach alldem würde es die Sache fast wert sein, was er durchgemacht hatte, wenn er in der Bar auf die Hure zuging, ihr sagte, wer er war und was er mit ihr zu tun gedachte. Es würde die Erschöpfung, die Niedergeschlagenheit, den Haß (was ihm alles hart zugesetzt hatte) wie ein Nichts erscheinen lassen; es würde einen reinigenden Effekt haben, wenn er endlich seine Chance bekam, es zu Ende zu bringen. Am überraschendsten war, daß er sie wirklich haßte. Die Wächter hatten nicht erwähnt, daß er ein solches Gefühl gegen sie entwickeln würde: Er hatte sich vorgestellt, daß es eine freudlose Jagd auf ein neutrales Objekt sein würde, ermüdend und langweilig. Aber als er sie das erstemal gesehen hatte, hatte er den vertrauten Impuls des Tötenwollens verspürt, genau wie die Wächter es vorausgesagt hatten. Er mußte es diesmal tun. Er verachtete sie; sie war für alles verantwortlich. Von dem Moment an, als er sie sah, hatte er gewußt, daß er sie haßte. Nun mußte er sie in der Bar in die Enge treiben. Er hatte die Spur aufgenommen, war schneller und schneller durch den Schnee gelaufen und jetzt – bei Gott – wußte er, daß sie dort drinnen war. Er wußte gleichzeitig, was sie dort drinnen tat, und er wußte, daß es nichts gab, was ihn davon abhalten konnte, es jetzt zu tun. Was später mit ihm geschehen würde, war allerdings ein Problem. Gar keine Frage. Aber er mußte sich hinterher damit auseinandersetzen. Vielleicht würden sie ihn zu gegebener Zeit einfach töten. Er war jetzt vor der Bar; eine ganz gewöhnliche verstaubte Reihe von Fenstern lag vor ihm; eine ganz gewöhnliche Reihe von Stühlen an der Theke und einige vereinzelte Tische. Das einzig
Ungewöhnliche an dieser Bar war, daß es die Bar war; sie war hier drin. Er spähte vorsichtig hinein, umgeben von seinem in der Kälte gefrierenden Atem, und fühlte dabei den stärker werdenden Druck der Pistole gegen die Rippen. Sie lehnte über ein Glas gebeugt an der Bar und sprach mit einer der verdammten Prothesen der Wächter, einem Barmixer. Oh, sie hatten wahre Glanztaten mit dem Bevölkern der Stadt durch ihre Zombies vollbracht, das war klar – vorausgesetzt, die Wächter hatten die Wahrheit gesagt, als sie meinten, daß sie die Menschen wiedererwecken würden, um sie als Statisten einzusetzen. Die Stadt war voller Leute: Barmixer, Hotelangestellte, Polizisten, Jugendliche, weibliche Teenager. Die gesamten Einzelheiten städtischen Lebens waren vorhanden, perfekt bis ins kleinste Detail; teuflisch, frech und anmaßend. Es war alles so realistisch, daß James sich vorstellte, daß alles, was mit ihm geschehen war, wirklich nichts anderes als eine Halluzination darstellte. Vielleicht war er unverletzt in die furchteinflößende, vertraute Kammer New York zurückgeworfen worden, auf daß er hier noch ein paar weitere Stunden seines gräßlichen Lebens verbringen konnte. Aber noch immer besaß er kein umfangreiches Erinnerungsvermögen. Und außerdem waren die Gesichter und Handlungen dieser Leute tot: Eine steife Schwerfälligkeit lag in ihren Bewegungen und in ihrer Sprache, was den Anschein der Lebendigkeit Lügen strafte. Einmal, bei einem kurzen Wortwechsel mit einem Verkehrspolizisten über Herumstreunerei, hatte James die Hand ausgestreckt, um sie dem Polizisten auf die Schulter zu legen. Der Mann war vor seinen Augen zerbröckelt. Er war zu einer Art grauen Pulvers geworden, das der Wind langsam weggeblasen hatte. Es war eine unheimliche Sache gewesen, und in dem New York, an das er sich erinnern konnte, hätte ein solcher Vorfall sicherlich eine Unmenge von Neugierigen
angelockt. Aber es war überhaupt nichts geschehen; die Menschen waren schnell in beiden Richtungen an ihm vorbeigehastet, als sei nichts vorgefallen. Das überzeugte James davon, daß die Wächter auch ausführten, was sie vorgaben. Er kam zu dem Entschluß, von nun an niemanden mehr zu berühren. Ausgenommen natürlich das Mädchen. Sie beide waren die einzigen lebenden Wesen in dieser Stadt. Ja, er glaubte, daß an ihren Bewegungen nichts außergewöhnlich oder ungeschickt war. Als sie sich beim ersten Mal gegenüberstanden, hatten ihre Augen mit einer Furcht und Verlegenheit geflackert, die der seinen ziemlich nahe kam. Das Mädchen, dieses Mädchen, hatte in einer Stadt, in der die Starrheit herrschte, gezittert. Er mußte sie finden und ausschalten. Dazu war er entschlossen. Er zuckte die Schultern, rückte die Pistole etwas bequemer, und dann, mit hochgezogenen Schultern, öffnete er die Tür der Bar und trat ein, dabei immer wieder murmelnd: Ich werde es tun. Ich werde es tun. Es muß in allem einmal ein Ende geben, und diesmal, diesmal… Die Hure war über die Theke gebeugt, abgestützt mit beiden Armen und umklammerte ein Glas. Er konnte die weiche Haut ihres Nackens und das Zittern ihrer Waden sehen, als sie die Beine übereinanderschlug und den Kopf wandte, von einer Seite zur anderen sah und ihn dennoch nicht bemerkte. Aber die Art, wie sie auf dem Barhocker saß, die Art, wie sie sich auf etwas Unsichtbares einzustellen schien, ließ James vermuten, daß sie wußte, daß er hier war. Der Barmixer – ein kleiner Mann – saß ebenfalls auf einem Hocker, unten, am Rand der Theke. Er hielt die Hände zusammengepreßt und die Augen auf den Fußboden gerichtet. Noch einer von ihnen, dachte James; sie sparen Betriebskosten, indem sie sie nur einsetzen, wenn sie gerade auf der Bühne eine Rolle zu spielen haben. Dieser Gedanke veranlaßte ihn,
schrill zu kichern, und dabei sah er, wie die Frau zitterte und langsam auf seine Anwesenheit reagierte. Aber sie drehte sich nicht um; er schaffte es nicht, sie zum Umdrehen zu bewegen. Er ging ganz nahe an sie heran und näherte seinen Mund ihrem Ohr. Er berührte sie fast, genoß den geringen Abstand, der zwischen ihnen verblieb. »Hallo, Delia«, sagte er. Das war ihr Name; sie hieß Delia. Die Frau bewegte sich nicht. Ihre Finger klammerten sich ignorant um ihren Drink, und er stand verblüfft da und dachte: Ich könnte sie berühren; jetzt könnte ich sie berühren. Er war schockiert von dem plötzlichen Gefühlsumschwung, der sich seiner bemächtigte und der ihn, als er vorüber war, seltsamerweise erfrischt und emporgehoben zurückließ. Er war in der Lage, diese Situation zu kontrollieren. Diesmal. Für immer. »Ich hätte dich beinahe verfehlt«, sagte er. »Hätte nicht gedacht, daß du dich an einem Ort, der so offensichtlich ist wie dieser, verkriechen würdest. Du warst nachts sehr leichtfüßig, Baby. Du bist ganz schön schnell.« Sie sagte immer noch nichts, hob statt dessen das Glas an die Lippen und trank langsam. Er fühlte, wie die Wut in ihm hochstieg. Es gab keine Möglichkeit, dieser Hure näher zu kommen; er konnte nichts anderes tun als sie töten. Damit kam das Zittern und Schütteln zurück, das geeignet war, ihn von seinen Absichten abzulenken. Im ganzen Raum existierte nur das Geräusch seiner Stimme; stupide, vertraut, allgegenwärtig, das ihm die Rückversicherung gab, daß er für sie immer noch da war, daß er die Situation beherrschte. Er fragte spöttisch, ob sie nervös sei und ob sie zu der Sorte von Alkoholikerhuren gehöre, wie er sie kenne. Dann sagte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend: »Komm schon, rennen wir weiter. Schließlich ist es an der Zeit, daß wir unsere kleine Verfolgungsjagd wieder aufnehmen.«
Das war es: Er würde sie von dem Hocker herunterscheuchen, sie in Sicherheit wiegend durch die Türe schicken. Und dann würde er sie abknallen. Sie auf der Flucht erschießen. So mußte man denen beikommen. Dann drehte sie sich um, drehte sich um, um ihn anzusehen. Er sah ihr Gesicht zum ersten Mal aus nächster Nähe. Sicher, sie hatten sich schon früher gegenübergestanden und dabei einige Blicke gewechselt, aber dies war das erste Mal, daß er die Gelegenheit hatte, sie sich gründlich anzusehen. Er tat es. Er sah das Gesicht, das einst schön gewesen war und nun bloß darauf eingestellt schien, die verflossene Schönheit wieder in Erinnerung zu bringen: die verbissenen Lippen, die dunklen Augen (jetzt unsagbaren Verlust ausdrückend), das leicht zitternde Kinn, als sie ihn ansah und bemerkte, was er mit der Pistole in seiner Tasche machte. Diese Frau war in den Vierzigern, und der Verfall, der Verschleiß der Jahre, hatten sich tief in ihre Gesichtszüge eingegraben –, sogar die Zähne waren davon nicht verschont geblieben. In ihrem Gesicht sah er all die Anstrengungen, die sie gemacht hatte, um nicht alt zu erscheinen, und die das Maß ihres Versagens angaben. Er fühlte, wie ihn ungewollt Mitleid überkam, weil die Frau alles unternommen hatte und trotzdem nicht hübscher geworden war. Nun war es sowieso zu spät für solche Dinge. Die Auswirkungen ihrer Flucht waren ebenfalls sichtbar. Erschöpfung hatte sich in ihrem Gesicht niedergeschlagen. Sie war gerannt und gerannt, und das hatte sie noch mehr mitgenommen als ihn. Neben all diesen Dingen sah er die Verwirrung in ihren Augen, und er begann zu verstehen, daß es ihr vielleicht genauso zumute war wie sie aussah. Sie hatte keine Ahnung, was sie zu tun im Begriff war. Sie wußte nicht, was los war. Sie wußte nicht, worauf alles hinauslief. Oh ja, sie litt; sie litt, es war ihr eine Qual. Er fühlte, falls er sich ihr unter diesen Bedingungen nähern konnte; falls er ihrem
Schmerz mit dem seinen begegnen konnte; falls er ihr, wie er es wollte, sagen konnte, daß sie beide gleich waren; dann würde alles auf dieselbe Sache hinauslaufen, und es gab überhaupt keinen Unterschied. Er könnte die Anfänge einer Bekanntschaft durchsetzen, es konnte einen Augenblick des Verstehens geben. Aber die Schwierigkeit war, daß es nicht klappen würde, sogar wenn dieses Vertrauen zwischen ihnen bestand, wären da immer noch die Flucht und der Drang und der Wahn und die Pistole. In seiner Tasche, am Ende aller Korridore. Er war verdammt, dem Untergang preisgegeben. Und sie auch. Wenn sie für einen Augenblick gewußt hätten, was zum Teufel mit ihnen geschehen war (und durch wen), wären sie vielleicht in der Lage gewesen, sich zu einem Ort jenseits der Realität durchzuringen. Aber es war nicht zu schaffen. Der Gedanke ließ ihn erstarren. Er konnte alles ertragen, bloß kein Mitleid. Mitleid würde alle seine Absichten hinwegwischen. Aber es existierte trotzdem. »Nein«, sagte sie dann, vielleicht weil sie dieselben Gefühle hatte. Hatte sie die? »Ich werde es nicht tun. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Ich habe nichts zu verlieren. Ich werde noch eine Weile hierbleiben.« »Oh, Baby«, sagte er mit einem plötzlichen Anflug von Mitleid und mit der Absicht, daß sie begriff. Wenn man es auf jene gewisse Art sah, war sie sein einziger Freund; der einzige, der möglicherweise wußte, wie ihm zumute war. »Du mußt vernünftig sein«, sagte er. »Du hast deinen Drink gehabt. Wir haben nun gesprochen. Jetzt wird es Zeit, wieder zu gehen.« Er wollte, daß sie endlich ging. Er wollte sie nicht mehr töten. Das zu tun war ihm außerordentlich schnell – erschreckend schnell – aus dem Sinn gekommen. Wie könnte er sie auch töten?
Er sagte: »Du hast fünf Minuten, klar, bevor ich dir folgen muß. So ist das nun mal, Baby – wir müssen uns danach richten.« Gerede hin, Gerede her. Er war so nahe daran, Gefühle zu zeigen, wie die Umstände es erlaubten. Dann versuchte er zu lächeln, weil er sie nicht in Schrecken versetzen wollte. Er nahm die Hand von der Pistole. »Du weißt, daß ich diese Regeln nicht aufgestellt habe. Ich habe mit ihnen überhaupt nichts zu schaffen. Wir sitzen beide im gleichen Boot. Sie quälen mich genauso wie dich. Es ist nur eine Jagd, aber es wäre besser, wenn du jetzt gingst. Es wäre wirklich besser.« Er registrierte, daß sie den Barmixer, der aufgestanden war und nun zu ihnen herunterkam, ansah. Aus den Augenwinkeln versuchte er die Bedeutung des Flackerns ihrer Augen einzuschätzen. Flehte sie den Mann mit den Augen um Hilfe an? Wenn ja, wäre es schlimm. Er solle keine Dritten mit hineinziehen, hatten die Wächter ihm zu verstehen gegeben. Dann erkannte er, daß ihrem Blick die nackte Angst zugrunde lag. Der Barmixer war von seinem Hocker geklettert, bevor sie es gesehen hatten. Er kam mit dem üblichen, latschenden Gang aller Prothesen auf sie zu, fummelte an seiner Krawatte und hielt den Blick auf eine Stelle hinter ihnen gerichtet. Die Frau zitterte leicht. Instinktiv legte er einen Finger auf ihre Schulter – es war Deltas Schulter – und streichelte sie, um sie damit zu beruhigen. »Nein«, sagte er. »Mach dir wegen dem da keine Sorgen. Er will nur auf Nummer sicher gehen, weil er denkt, daß wir seinen Laden mit einem Kontakthof verwechseln oder etwas ähnliches. Schau, es ist besser, wenn du dich auf den Weg machst. Ich mache dir einen Vorschlag. Ich gebe dir sieben Minuten Vorsprung. Mehr kann ich nicht tun. Ich könnte mir in der Zwischenzeit selbst einen Drink genehmigen.«
»Jaah«, sagte der Mixer schwer, wobei er die Schürze enger um seine Hüften schnürte und die Hände, mit den Handflächen nach oben, auf die Theke legte. »Seht her, ihr beiden. Wenn hier etwas im Gange ist, will ich damit nichts zu tun haben. Es ist mir auch völlig egal. Aber ihr macht es mir nicht leicht. Warum wackeln Sie nicht woanders mit Ihrem Arsch, meine Dame? Ihr Arsch ist sicherlich recht hübsch, aber dies hier ist nicht die Sorte von Bar, die…« »Du Hurensohn«, sagte die Frau. James erkannte, daß sie sich in einer weitaus schlechteren Lage befand als er. Einerseits glaubte sie, daß der Barmixer ein lebendes Wesen war, zum anderen hatte sie ihre Selbstbeherrschung verloren. Dazu gab es keinen Grund, insbesondere nicht, seitdem er beschlossen hatte, sie nicht zu töten. Aber sie konnte sich nicht zurückhalten. »Du blöder Hurensohn, wirst du wohl die Fresse halten? Verschwinde, aber plötzlich! Was weißt du überhaupt? Hast du etwa eine Ahnung, was hier im Gange ist?« James wollte sie beruhigen. Er lächelte so freundlich wie er konnte und hob seinen Kopf, um ihr zu zeigen, daß er nichts Böses gegen sie im Schilde führte. Er blickte die Attrappe an, maß sie, maß die Präzision der Arbeit, die man für sie aufgewendet hatte. Aber das Ding verduftete nicht. Es stand da und begann – durch irgendeinen technischen Trick – zu erröten. »Sieh mal«, sagte James, »keine Einmischung Dritter, klar? Das hier geht nur Delia und mich etwas an. Nur uns beide. Delia ist müde«, sagte er zu ihr, um ihr sein neues Verständnis zu zeigen, in der Hoffnung, daß sie es bemerken würde. »Delia will nicht länger fliehen. Und James? James ist auch müde. Wir haben uns abgehetzt und das Spiel gespielt. Aber jetzt steht’s uns bis zum Hals. Wir haben die Schnauze voll. Delia, als ich dich durch das Fenster sah, als du mir in diesem gräßlichen Raum gegenüberstandest, wurde mir zum erstenmal bewußt, daß ich dich nicht töten kann. Du bist auch ein reales
Wesen, vielleicht das einzige außer mir, das einzige existierende natürliche Individuum.« Er begann zu schreien. »Delia, wir müssen mit alldem aufhören! Wir müssen alles stoppen! Der Plan, den wir erfüllen, wenn wir so weitermachen, ist schäbig genug. Du mußt mich als das, was ich bin, akzeptieren. Du mußt akzeptieren, wie ich bin, und ich werde dir gegenüber dasselbe tun. Vielleicht wird dieser Weg ein Anfang sein. Delia, sieh mich an! Bitte, sieh mich an!« Jetzt war es heraus, und er war sich nicht einmal völlig sicher, was er eigentlich gesagt hatte. Nie zuvor hatte er mit ihr gesprochen, und ganz gewiß nicht auf diese Weise. Jetzt, indem er beobachtete, wie sie darauf reagierte, beobachtete, wie ihr halbgeöffneter Mund sich vor Überraschung schloß, fühlte er bereits den inneren Zwang, seine Worte zu widerrufen. Was habe ich gesagt? Was bin ich im Begriff zu tun? Aber es gab nichts, was es zu widerrufen galt; er hatte es ausgesprochen. Es war gegenständlich. »Du«, sagte sie, ihn ansehend, »du warst die ganze Zeit hinter mir her. Oh Gott! Wie kindisch. Alles ist kindisch, auf der niedrigst-möglichen Stufe. Gott, ist das alles, was mit dir los ist? Läuft alles nur darauf hinaus? Ist das alles, was der Mörder jetzt sagen kann?« »Ich hatte nichts mit ihm zu tun«, sagte sie, auf den Mixer deutend. »Aber er hat mir mehr geschadet als du, weil er nicht viel sagen wollte. Das ist die Erhabenheit des Schweigens. Aber du: du und ich. Wir haben überhaupt nichts davon gewußt, nicht wahr, James?« »Nein«, sagte er. »Nein, das haben wir nicht. In Ordnung, vergiß es. Ich hatte keinen Grund, das zu sagen, was ich gesagt habe.« Er fühlte, wie die alte Wut wieder in ihm hochstieg. Die Hure war unmöglich; man konnte nicht mit ihr verhandeln; es
hatte seine Richtigkeit, daß sie das Opfer war, weil sie nichts anderes verdiente. »Gehen wir also zu dem Punkt zurück, an dem wir angelangt waren«, sagte er. »Du hast sieben Minuten Vorsprung. Nicht mehr. Geh raus. Los, hau ab jetzt! Mach schon!« Er fühlte, wie seine Hände zitterten. Er brauchte keine Pistole; in diesem Augenblick hätte er keine Pistole gebraucht, um sie zu töten. Er würde es mit den Händen tun. Hier in dieser Bar. Aber er wollte sich nicht dazu provozieren lassen, nicht von ihr. Es war alles nur eine Frage der Selbstbeherrschung. Er war mehr als Dreck wert. Es mußte so sein. »Seht beide mal her«, sagte die Kunstfigur. »Tragt das draußen aus. Ich hab keine Ahnung von dem, was hier läuft, und ich will auch gar nichts davon wissen. Aber ich will euch folgendes sagen; ich…« »Ich bin kein Fels«, sagte Delia. »Ich bin nicht aus Stein. Der Sache muß ein Ende bereitet werden. Die Qualen müssen aufhören, deine und meine. Aber ich sage dir, daß es so nicht weitergeht. So nicht. Ich werde nicht gehen. Ich werde auch nicht mehr rennen. Du kannst mich erschießen, meinetwegen kann das dann das Ende sein. So sehe ich es, James. Ich meine das wirklich so. Es muß enden.« »Du bist doch aus Stein«, sagte er und berührte die Pistole in seiner Tasche. »Du bist vollständig aus Stein, genau wie diese Kreatur dort hinter der Theke… siehst du sie? Siehst du ihre Augen? Ich werde dir zeigen, wer hier nicht menschlich ist. Ich werde dir das völlig klar machen.« »Verdammte Hure!« schrie er, zog die Pistole heraus und richtete sie auf den Barmixer. »Sieh mich an! Sieh mich jetzt an!« Elegant hob er die Waffe und brachte sie auf Augenhöhe. Sein Gesicht war zu einer Maske erstarrt. Er traf den Mixer über dem linken Auge und dann in den Hals.
»Jetzt kannst du sehen, was Stein ist«, sagte er und trat zurück. Der zusammenfallende Kopf des Mixers schwang langsam nach hinten und fiel dann mit einem dumpfen Schlag auf den Tresen; Staubteilchen schienen von seinem Nacken aus in die Luft zu steigen. Dann, während er sie beobachtete, sah er, wie Tränen in ihre Augen schossen. Er sah zu, wie sie es aufnahm, wollte miterleben, wie sie das begriff, was er schon lange wußte. Er wollte nur, daß sie erkannte und ein wenig Toleranz und Verständnis dafür zeigte, was man mit ihnen angestellt hatte. In diesem Augenblick geschah etwas mit dem Kopf, der Kopf… Der Kopf, schnell anschwellend, rollte über den Tresen und fiel dann hinter ihm zu Boden. Nur der Körper blieb als unförmige Masse über der Theke liegend, die Hände immer noch bewegend, zurück. An der Stelle, an der der Kopf gesessen hatte, begann ein neuer zu wachsen. Er war winzig, hatte nur wenige Zentimeter Umfang, aber er wurde zusehends größer, wuchs mit einer Reihe von ruckartigen Stößen, und aus der bloßen Masse wurde ein Gesicht, das sie mit hohlen, drohenden Augen anstarrte. Die Frau war verschwunden, weggegangen. Er war völlig allein. Der Kopf reproduzierte einen Mund, und der Mund sprach Worte, die ihm bekannt waren. »Du kannst dich nicht darüber hinwegsetzen. Es hat keinen Zweck, es zu versuchen. Die Hurensöhne werden dich jederzeit erwischen.« Der Kopf richtete sich auf dem Hals auf und sah ihn an. Es war sein Kopf und es waren seine Augen. Der Mund wirkte grausam und zusammengepreßt unter der gewölbten, kalkweißen Stirn. Ein Auge zuckte ständig. Der Mund wurde zu einer sich bewegenden Obszönität, die sich anschickte, ihn zu grüßen, ihn zu berühren, ihn zu küssen… »Das bin ich!« kreischte er. »Guter Gott, so sehe ich für sie aus! So denken sie über mich! Sie sehen in mir ein…«
»Mein Gott«, sagte die Frau neben ihm. »Mein Gott, mein Gott. Ich habe das nicht…« »So sehen sie es! Das bin ich gewesen! Siehst du es in diesem Gesicht, Delia? Sie halten uns für Tiere; sie denken, wir seien Küchenschaben, die die Erde verseuchen. Sie haben kein Verständnis, sie haben keine Ahnung – sie sollten es wissen, sie sollten sich bewußt sein, daß wir Menschen sind…« Er hörte auf zu reden, denn die Frau hörte ihm nicht zu. Sie hatte ihm nichts zu sagen. Sie war so perplex, daß sie nicht antworten konnte; genau wie er, aber im Gegensatz zu ihm zeigte sie noch Rückgrat. Mit einer Reihe von ruckartigen Bewegungen war sie weg von der Theke, ergriff instinktiv ihre Handtasche, und während er sie beobachtete – während sie beide ihr zusahen –, stieß sie die Türe auf und ging in die Nacht hinaus. Er versuchte ihr nachzurufen, versuchte, sie aufzuhalten und ihr alles zu erklären, aber sie war weg. Er hörte sie auf dem Bürgersteig keuchen und wußte in diesem Augenblick, daß er mit ihr reden mußte, eine Verbindung herstellen mußte. In diesem Moment des Schreckens dachte James, daß er das Verbrechen, das sie mit ihm vorhatten und die Bedeutung von allem durchschaut hatte. Er mußte mit ihr reden. Sie war die einzige, die alles verstehen würde. Vielleicht gelang es ihnen gemeinsam, den Kreis zu durchbrechen. Aber sie war verschwunden. Die Prothese, deren Äußeres nun völlig seine Gestalt angenommen hatte, sah ihn an und grinste. »Einen Drink?« fragte sie freundlich. James knurrte. Er stolperte durch die Tür, auf der Suche nach ihr, auf der Suche nach Beistand, auf der Suche nach einer Verbindung, die das Ende des Unverständnisses bedeuten konnte.
Vierzehn
DRINNEN: Schließlich kehrten die Touristen zurück. Sie kamen ohne Fanfaren, langsam erschienen sie auf dem Hügel. Der eine, mit dem er öfters gesprochen hatte – das heißt, Rogers nahm an, daß es derjenige war, weil er sich unformell und vertraut benahm; andererseits glichen sie einander natürlich völlig –, hatte ihn herzlich begrüßt. Er teilte ihm mit, daß sie auf der Rückreise waren und bei ihm ihre allerletzte Zwischenstation machten, bevor sie sich auf den Heimweg begeben würden. Er schien enttäuscht, daß Rogers die Hoffnung aufgegeben hatte, daß irgendwann irgend etwas mit ihm geschehen würde. Es war für Rogers eine lange und harte Zeit gewesen, was man ihm wahrscheinlich ansah. »Dazu gibt es keinen Grund«, sagte das Wesen fröhlich. »Ich glaube, daß wir diesmal alles richtig machen werden.« »Was bedeutet das?« »Das bedeutet, daß wir jetzt alles verstehen. Es wird alles nach Plan ablaufen. Wir werden auf jeden Fall die ganze Zeit über bei dir bleiben.« »Was wird geschehen?« »Du weißt, daß ich dir das nicht sagen kann«, sagte der Tourist tadelnd. »Aber glaube mir, wir haben diese Neuigkeit aus erster Hand. Und sie ist eine todsichere Sache. Ich garantiere, daß wir diesmal nicht eher abreisen, bevor alles vorüber ist. Und wir werden direkt dabei sein.« »Werde ich noch hier sein, wenn alles vorüber ist?«
»Natürlich.« Der Tourist kicherte. Anschließend wollte er nichts mehr dazu sagen. Er entfernte sich und schloß sich der Gruppe an, die sich etwa fünfzig Meter weiter weg befand. Diesmal lagen die Dinge ganz anders. Die Fremden waren nicht annähernd so konversationsfreudig wie bei ihrem ersten Besuch. Tatsache war, daß sie ihn die meiste Zeit mieden und unter sich blieben. Rogers hätte es nichts ausgemacht, sich mit ihnen zu unterhalten. Nun, wo sie zurück waren, war das Gefühl der Niedergeschlagenheit und des Größenwahns wieder schwächer geworden. Er mußte einiges an Anziehungskraft besitzen, wenn er wichtig genug war, der erste und letzte Haltepunkt einer großen Rundreise zu sein. Aber dennoch mieden sie ihn. Sie lehnten die meisten seiner Kontaktaufnahmeversuche ab. Sogar die Trauben/Backpflaumen gab es nicht mehr. (Die, die sie ihm dagelassen hatten, waren mit der Zeit verfault.) Es war so, als ob dieser Trip, diese Touristen, alles nur Geschäft war. Trotzdem war das immer noch besser als die anderen zehn Wege zur Hölle – das war alles, was es dazu zu sagen gibt. »Könnt ihr mir nicht einen kleinen Tip geben?« fragte er seinen Bekannten, als dieser ihm einen seiner gelegentlichen Besuche machte. »Nur daß es diesmal geschehen wird und wir bis zum wirklichen Ende bei dir bleiben werden. Reicht dir das nicht?« »Es ist eine große Hilfe.« »Das könnte sein«, sagte das Wesen rätselhaft. »Es könnte schon sein. Das kann man nie genau sagen.« »Und was geschieht anschließend?« »Das kommt darauf an. Darüber werde ich mir jetzt noch keine grauen Haare wachsen lassen. Es wird für niemanden einen großen Unterschied machen, wenn alles getan ist.« »Werde ich am Leben bleiben oder sterben?«
»Das kommt darauf an. Das sind die beiden Seiten einer Medaille, oder nicht? Rein formell gesehen. Wo liegt der Unterschied? Jeder ist entweder das eine oder das andere. Meinst du nicht auch?« »Ja.« »Ich versichere dir«, sagte der Fremde, »daß keiner von uns dich auch nur einen Augenblick lang bedauern wird, wenn alles vorüber ist.« Damit mußte er sich zufriedengeben. Der Himmel schien zu pulsieren, schien sich jetzt in Intervallen zu erhellen und zu verdunkeln – und Rogers glaubte, daß dies ein Hinweis dafür war, daß die Dinge geschehen würden. Gelegentlich war ein hohles, blechernes Geräusch in der Luft, als ob große Flugzeuge weit über ihm dahinzögen und sich dabei nach Vogelmanier das Gefieder putzten. Da es nicht viel gab, auf das er sich freuen konnte, wartete er. Vielleicht kam nun alles zu einem Ende. Wie es auch immer aussehen mochte, es würde hundertprozentig besser sein als alles andere. Keine Frage.
Fünfzehn
DRINNEN: Es war nicht gut. Sie verstand es überhaupt nicht. Keinen einzigen Augenblick während der vergangenen sechs Tage hatte sie auch nur einen Bruchteil von dem verstanden, was sich um sie herum abspielte. Und jetzt war sie müde und kaputt. Noch immer rannte sie weiter. Der Verfolger war hinter ihr her. Und er hatte eine Pistole. Alles andere war irrelevant. Sie nahm an, daß er sie töten würde, falls sie nicht ständig weiterrannte. Darüber hatte man sich ihr gegenüber sehr ausführlich ausgelassen. Während der drei Male, die sie sich gegenübergestanden hatten (das heißt, in Wirklichkeit hatten sie sich kaum mehr als gestreift), hatte sie seine Gesichtszüge genau in Augenschein genommen. Sie hatte in ihnen seine Überzeugung gespürt. Ja, er war in der Lage zu töten. Er war fähig dazu. Ihr blieb nur das Weiterrennen übrig. Anfangs hatte sie angenommen, daß es eine Suche werden würde (und ihr Verfolger nur die Triebfeder dazu war), aber es hatte nicht allzulange gedauert (genaugenommen nicht mehr als fünf oder sechs Stunden), bis sie den Betrug und die Lügen erkannt hatte. Der Fragensteller hatte sie die ganze Zeit über angelogen. Dies hier war keine Suche. Dies hier war eine Jagd – und sie war das Wild. Ein Mann war hinter ihr her, der sie töten wollte. Die Aufgabe, jemand anderen zu finden und zu retten, war nur der Köder, um die Sache interessant zu machen… für diejenigen, die die Jagd beobachteten. Es gab gar keinen anderen Mann, niemanden, der auf Befreiung wartete. Es gab nur diese fürchterliche Qual, die ohne einmal
auszusetzen weiter und weiter ging, jenseits der Möglichkeit auf Hoffnung. Während der vergangenen sechs Tage hatte sie keine Minute geschlafen. Zweimal hatte sie in Hotels haltgemacht, um die Chance wahrzunehmen und einige Minuten auszuruhen. Aber beide Male, nachdem sie es sich in den Zimmern bequem gemacht hatte, hatte sie die Angst, der Verfolger käme herein, übermannt, so daß sie sich einzubilden begann, Füße durch den Eingang verschwinden zu sehen und klappernde Absätze auf der Feuerleiter zu hören. Als sie mit geschlossenen Augen dalag, hatte sie die schreckliche Vision, daß er hereinkam, seine Waffe auf sie richtete, sie tötete und dann ihre Leiche schändete. Dieser Schock war so tief, daß sie schweißüberströmt aufgestanden war und auf der Stelle das Hotel verlassen hatte. Es war die Sache nicht wert. Es konnte sie einfach nicht wert sein. Nur der Verfolger vermochte den Preis zu zahlen. Er war hinter ihr her – und er würde sie töten. Als der dritte Tag zu Ende war und sie die Ausmaße des ganzen üblen Betruges voll erkannt hatte, als sie wußte, daß es keinen Mann gab, den sie retten sollte, hatte sie die U-Bahn hinaus nach Coney Island genommen. Die Geräusche der Autos in den Straßen waren in den frühen Morgenstunden noch kaum wahrnehmbar. Die Fenster waren mit Schmutz und Schneematsch bedeckt, und sie konnte nicht sehen, was draußen vor sich ging. Ganz allein in einem Waggon, in sich zusammengekauert, versuchte sie, alle Möglichkeiten durchzuspielen. Sie wußte, daß sie den Mann, den zu finden man ihr aufgetragen hatte, nicht auf Coney Island treffen würde. Sie hätte ihn auch sonst nirgendwo gefunden, einfach weil er nicht existierte. (Aber der Fragensteller hatte gesagt: »Das wichtigste ist, daß du einen Punkt erreichst, eine Stufe des Wissens, in der du in einem gewissen Zustand sein wirst. Nur dann kann die Suche
erfolgreich sein.« Sie hatte ihm das sogar geglaubt und war in den Winter hinausgegangen, auf die Insel.) Als sie im Schnee stand und auf die Pappsterne blickte, die sich vom schmalen Band des Himmels abhoben, wurde ihr bewußt, daß ihr ziemlich alles egal war. Es konnte ruhig etwas passieren. Von ihr aus sogar etwas Gewaltsames. Etwas, das einen Weg aufzeigte. An der Stilwell Avenue stieg sie aus, ging die Treppen hinunter und stieß geradewegs auf eine Bergund Talbahn. Es begann zu schneien, und ein höllischer Wind blies. Hoch über der See stand Delia ganz allein da, vergrub die Hände in ihren Taschen und machte sich auf den Weg nach Osten, auf die Uferpromenade zu, in Richtung des Ozeans. Verbinde Fleisch und Meer, rief etwas in ihr, und finde Ruhe durch diese uralte Vereinigung. Oh, das war schön; das war einfach großartig, außer daß es fünf Grad unter Null war und der Schnee ihr die Tränen in die Augen trieb. Je weiter sie sich von der U-Bahn-Station entfernte, desto weniger Sinn schien alles zu haben. Bedeutungslos, bedeutungslos, tonte es in ihrem Innern. Sie kam an einem verlassenen Pferderundlauf vorbei. Das Geschirr hing über einem Felsen, leise im Wind klappernd. Sie ging die schiefe Ebene zur Uferpromenade hinauf, blickte hinaus auf den Ozean und dann nach hinten auf das Festland. Sie bemerkte den Verfolger. Er schien äußerst geduldig; er mußte einige Waggons hinter ihr gesessen haben und achtete nun besonders darauf, die Entfernung zwischen ihnen nicht zu verringern, nachdem sie ausgestiegen waren. Er stand, in seinen Mantel gehüllt, in der Nische einer mit Brettern verrammelten Limonadenbude. Delia wußte, daß er sie hier draußen, auf diese Distanz, nicht sehen konnte. Er mußte warten, bis sie ihm über den Weg lief, weil er ihre Gestalt im Schneegestöber aus den Augen verloren hatte. Diese Erkenntnis erzeugte in Delia die ersten Anzeichen von Mitleid. Er war auch ein Opfer. Sie waren beide Opfer. Sie
trugen ein undurchschaubares und sinnloses Spiel unter den prüfenden Blicken von Wesen vor, deren Absichten nicht erkennbar waren, die das alles wahrscheinlich bloß zu ihrem Vergnügen inszenierten. Vielleicht wurden sie doch nicht beobachtet, und niemand amüsierte sich über sie. Vielleicht hatte man das alles nur ersonnen, um den beiden letzten Menschen der Erde eine Beschäftigung zu geben. So gesehen ergab das zumindest mehr Sinn als alles andere. Obwohl diese Theorie erschreckend war. Übelkeit überkam sie. Sie kämpfte dagegen an und schnappte röchelnd nach Luft, dabei ein Geräusch verursachend, das einem Peitschenschlag glich. Da sie fürchtete, damit ihren Standort verraten zu haben, trat sie schnell an die Bretterwand eines Eiskremstandes zurück und preßte ihr Halstuch gegen den Mund. Als sie vorsichtig Ausschau hielt, ob er reagiert und ihre Verfolgung aufgenommen hatte, sah sie, daß der Mann sich auf der Straße umdrehte und langsam, kopfschüttelnd in entgegengesetzter Richtung davonging. Er ging weg. Er fror. Er fror und war müde. Als sie seine Gestalt entschwinden und durch eine vertrackte Lichtbrechung des Schneegestöbers das Watscheln und die grotesken Proportionen eines Zwerges annehmen sah, wußte sie, daß sie erledigt war. Sie mutmaßte, daß der Fragensteller und die X’Ching sich auf einen Augenblick wie diesen vorbereitet hatten. Sie wußte nun, daß der Mann, hinter dem sie her war und der Mann, der hinter ihr her war, zwei Abstraktionen desselben unklaren Musters waren – nur, daß der eine nicht aufzufinden war, während der andere, sein finsterer Bruder, mit ihr ging. Das war der einzige formale Unterschied. Sie hätten ein und derselbe sein können. In der Tat, das konnte der Schlüssel sein. Vielleicht waren sie beide ein und derselbe; und wenn der Verfolger schließlich seine Faust hob, um sie in die Ewigkeit hinüberzubefördern, würde ein Grinsen seine ausgezehrten Gesichtszüge erhellen,
und er würde sagen: Sag mal, Schwester, hast du nach mir gesucht? Willst du etwas von mir? Schade. Ich bin die ganze Zeit mit dir zusammengewesen. Nun, ich glaube, daß du etwas von mir wolltest, weil das genau die richtige Stelle trifft… und dann würde er sie töten. Ja, das ergab wirklich einen Sinn; der Fragensteller und seine Vorgesetzten (er war ein Verwaltungsassistent, hatte er gesagt; deshalb mußte er schon über Vorgesetzte verfügen) würden so vorgehen. Aber das war nicht eben lustig. Das war ganz und gar nicht lustig. Sie dachte, daß sie wieder zu weinen anfangen würde, aber die Verkrampfung ging vorüber, und sie fühlte eine neue Kälte in sich emporkriechen. Sie wußte, es gab das Objekt ihrer Suche überhaupt nicht, und wahrscheinlich hatte die Mission des Verfolgers ebensowenig Zweck. Sie konnte die Ausmaße des Scherzes, den man mit ihnen beiden trieb, nur vermuten: Adam und Eva in der Hölle, hinausgeschickt, um ohne Hoffnung herumzuwandern und einander in Fetzen zu schlagen, das Ende jeden Ergebnisses, das Ende jeder Möglichkeit. Aber das änderte die Situation nicht: Sie war noch immer die Person, die sie gewesen war. Alles andere war egal. Sie war Delia, die gleiche Delia, deren Körper sie einundvierzig Jahre lang bewohnt hatte. Diese Delia stand dem Terror mit Anmut gegenüber – oder hatte sich selbst davon überzeugt, daß sie es tun würde, falls sie es mußte. Das konnten sie einem nicht nehmen; sie konnten einem alles nehmen, angefangen von den Absichten bis hin zum Gedächtnis, aber was man hatte, war man, und das war alles. Wenn man auch sonst nichts hatte, das hatte man. Man hatte seine Identität. Sie würde weitermachen. Sie würde das Spiel spielen. Sie würde jagen und dem Verfolger aus dem Weg gehen – und irgendwann, irgendwann in allernächster Zeit würde der Verfolger sie einholen und seine Pistole heben. Da er wirklich Mordabsichten hegte, konnte sie etwas lernen. Es lohnte sich, darauf zu warten. In
diesem Augenblick fühlte Delia, daß sie wahrscheinlich überleben würde, falls sie diese Stimmung der Neugier bis zum Ende aufrecht erhalten konnte. Sie war dem Spiel voraus. Oder nicht? Langsam ging sie durch den Schneesturm zurück, auf die U-Bahn zu, schüttelte den Kopf und versuchte, die schiefe Ebene hinabzugehen. Sie stolperte und fiel den halben Weg hinunter. Sie hatte sich den Knöchel leicht verstaucht. Er schwoll merklich an und ließ sie hinken, als sie weiterging und sich wankend auf die Surf Avenue zubewegte. Offenbarungen sind in Streßmomenten wunderbar, dachte sie; sie sind einfach großartig, nichts ist besser als sie. Aber dann gehen die Momente vorbei, und man findet sich in derselben Misere, derselben Qual wieder. Sie überlegte, ob es einen Weg geben mochte, es mit dem Verfolger aufzunehmen. Wenn sie sich ihm nähern konnte und sich ihm verständlich machen, daß das, was sie verband, viel tiefer und bedeutungsvoller war als eine bloße Verfolgung; daß es statt dessen etwas so wichtiges zwischen ihnen gab, daß es den Beginn einer Hoffnung ausmachen konnte – wenn er doch nur versuchen würde, es so zu sehen wie sie. Als sie sich halb kriechend die schlüpfrigen Stufen zu den UBahn-Schienen hinaufarbeitete, kam sie zu dem Schluß, daß es überhaupt keinen Zweck hatte; der Verfolger würde sich entweder als Schöpfung ihres Unterbewußtseins oder als der Mann, den sie suchte, entpuppen – und in jedem Fall würde er ihr gewalttätig begegnen. Es würde einen Mord geben, Schmerzen; es gab keinen Weg, der daran vorbei führte. Sie hatten alles berechnet und manipuliert. Sie war die Kugel in einem Flipper, auf dem Weg nach unten, auf dem Weg dorthin, wo sie hergekommen war. Auf dem leeren Bahnsteig (keine Zuggeräusche unter ihr oder um sie herum) kam ein Mann aus der Dunkelheit und berührte ihren Mantel mit seiner Hand. Sie zitterte und trat instinktiv an
die Wand zurück, hob dann den Kopf, um ihn anzusehen. Er war ausdruckslos. (Er hatte keine Gesichtszüge.) Es gab keine Möglichkeit, ihn zu beschreiben, außer daß seine Arme Funken sprühten und er sie tief in die Nische preßte, in die sie zurückgewichen war. »Delia«, sagte der Mann leise. Sie sagte nichts, aber er mußte ihr Zittern gespürt haben, das sich durch die Falten ihres Mantels fortsetzte, denn sein Griff erschlaffte, als er sich vorbeugte und ihr zuflüsterte: »Keine Sorge. Ich werde dir nichts tun. Es gibt nichts, wovor du dich zu fürchten brauchst.« »Lassen Sie mich alleine«, sagte sie und erkannte, daß sie die Worte geschrien hatte. »Bald, Delia. Wir sind nicht zufrieden.« »Zufrieden mit was?« »Mit deinem Auftritt. Mit dem, was du tust. Mit dem, was los ist.« »Was wollen Sie? Ich versuche es ja«, sagte sie. »Was könnt ihr von mir noch verlangen? Ich weiß nicht einmal, wo ich suchen soll. Warum quält ihr mich? Quält ihn. Wie kann ich etwas tun, wenn er dauernd hinter mir her ist.« »Er hat sich dazu verpflichtet«, sagte der Mann leise. »Du nicht. Wir haben Gründe, anzunehmen, daß du in keiner Weise loyal handelst, Delia.« »Ich weiß nicht einmal, wo ich hingehen soll«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wo ich suchen soll. Wie kann ich zu irgend etwas verpflichtet sein?« Sie fühlte den idiotischen Impuls, in Wut zu geraten. »Ihr solltet froh sein, daß ich es noch immer versuche«, sagte sie. »Ich hätte schon längst aussteigen können. Ich hätte mich in jenen Ozean dort hinten stürzen können, dann wäre euer wunderhübsches Spiel zu Ende gewesen – ein für allemal.« »Er hat das auch nicht getan.«
»Er hat auch ein Ziel. Er weiß, wen er sucht. Er kann mich sehen, wann immer er will.« »Das kannst du auch. Du weigerst dich nur, es zu versuchen.« Das Ding, das sie hielt – und es war ein Ding, davon war sie jetzt überzeugt; die Kleidung, nur eine Hülle, die die Konturen verdeckte, ließen es obskur dumm erscheinen, Gott allein mochte wissen, was sich darunter verbarg –, drängte sie an die Mauer zurück und sagte: »Man hat dir gesagt, daß es nur eine Frage der Einstellung ist. Eine Frage, wie der Punkt zu erreichen ist, an dem du erkennen wirst. Du hast die Sache nicht weiterverfolgt, Delia. Wir machen uns Sorgen über das, was nun geschieht.« Sie hörte das schwache Rumpeln eines entfernten Zuges, der sich langsam näherte. Weil sie wußte, daß er bald den Bahnsteig erreichen würde, daß Leute (Leute?) darin sein würden und daß sie aufs neue flüchten würde, gab sie ihrer Wut nach. Sie mußte es einfach. »Warum macht ihr das nicht selbst?« sagte sie. »Warum braucht ihr uns, um es für euch zu tun? Warum braucht ihr Marionetten?« Sie fühlte einen leichten, dann stärker werdenden Druck gegen ihre Kehle und erkannte, daß das Ding sie sanft würgte. Der Druck nahm kaum wahrnehmbar bis zur Schmerzstufe zu, ließ aber dann nach. Sie atmete heiser, rang förmlich nach Luft und versuchte, das hinter dem Mantelkragen verborgene Gesicht zu erkennen. »Das«, sagte das Ding, »geht dich nichts an. Ich bin nur gekommen, um dich zu warnen, Delia. Wir sind mit dir nicht zufrieden. Wir sind nicht darüber erfreut, wie die Dinge sich entwickeln. Der Verfolger macht seine Sache gut. Mehr kann nicht von ihm verlangt werden. Aber du…« »Der Verfolger hätte mich vor zehn Minuten auf der Strandpromenade töten können. Statt dessen lief er weg.«
»Er lief nicht weg. Er ging. Es ist nicht seine Aufgabe, dich zu töten. Er hat nur dafür zu sorgen, daß der Druck bis zu einem gewissen Grad aufrecht erhalten wird. Er ist nur ein Kulissenschieber. Du hingegen bist der Handlungsträger.« Der Zug wurde jetzt lauter; vielleicht war er nur noch eine Station entfernt. Sie konnte das Mahlen der Räder hören. Es klang wie berstendes Eis. »Was soll ich denn eurer Meinung nach tun?« fragte sie. »Ihn suchen.« »Wen suchen?« »Den Mann, den du retten sollst.« »Wo? Wie?« »Es ist kein Problem des Ortes, Delia«, sagte das Ding. »Es ist eines der Motivation. Ich denke nicht, daß wir geneigt sind, dich noch einmal zu warnen. Dies wird unsere letzte Aussprache sein. Danach wird es keine mehr geben.« »Und was dann?« »Dann wirst du dich aufmachen und ihn suchen.« »Was ist, wenn ich mich weigere? Wenn ich nicht auf zufriedenstellende Weise den Anforderungen entspreche?« »Dann wirst du zu dem Ort zurückgehen müssen, von dem man dich geholt hat. Aber diesmal wird es keine Unterhaltungen mehr geben, keine Bücher und keine Turnübungen. Nur Abstraktionen.« »Denken Sie, daß mir das jetzt noch etwas ausmachen würde?« »In der Tat glaube ich das«, sagte das Ding. »Ich bin der Ansicht, daß dich das sehr hart treffen würde, wirklich. Ich kann mir keine effektivere Drohung vorstellen, wenn du dies hier als Unterhaltung mit drohendem Charakter ansehen willst.« Der Zug fuhr jetzt ein. Das Ding entfernte sich von ihr und bewegte sich auf die Treppe zu, noch tiefer in seinen Mantel
gehüllt. Sein Gesicht war aus dieser Entfernung und im Schneegestöber nur noch als Eisblock auszumachen. Es war möglich, daß es ihr zugenickt hatte, aber Delia war sich nicht sicher. Sie streckte einen Arm aus, um ihm ein Zeichen zu geben, um ihm etwas mitzuteilen. Sie wollte ihm die Wahrheit sagen, die Tatsache klarstellen, daß sie nicht weitermachen würde, daß sie nicht wußte, wen sie suchen sollte, daß sie es nicht länger hinnehmen konnte, aber die Zugtüren schwangen auf, und gefühllos stieg sie in einen der hellerleuchteten Wagen. In dieser Leere, den ganzen Weg zurück zur Stadt, durch die stille, steinerne Hölle, rang sie die Hände und dachte: Sie haben recht, sie haben recht; du bist nicht die Person, die du zu sein glaubst. Du existierst nicht. Du bist bloß eine Abstraktion für ihre Absichten; deshalb existierst du nicht. Seltsamerweise beruhigte sie dieser Gedanke, diese Gedanken in Zusammenhang mit dem Schütteln des Waggons – wenn man nicht existierte, gab es wahrscheinlich nichts, was einen unmittelbar anging –, und im Halbschlaf eingelullt, nahm sie auf dem ganzen Weg in die Innenstadt von Manhattan Gedankenbilder wahr, die schnell vorüberhuschten. Formlose Gedankenbilder, Bilder verlorengegangener Zeit. Das war prächtig – es war alles sehr vorteilhaft –, aber es änderte nichts an der Grundsituation. Der Verfolger, welche grundlegenden Vorbehalte er auch hatte, war noch immer hinter ihr her. Und sie wußte, zum Teufel noch mal, nicht, was sie tun sollte. Mit dem wenigen Geld, das man ihr gegeben hatte, hielt sie sich jetzt in einem der billigen Hotels in der Gegend der Vierzigsten Straße auf und verbrachte die meiste Zeit des Tages damit, ziellos in den Straßen umherzuwandern. Durch Nachrichten, die über Lautsprecher durchgegeben wurden, erfuhr sie, daß es Ärger in der Stadt gab. Attentate waren an der Tagesordnung. Zwei Tage nach ihrem Ausflug nach Coney Island war sie in eine Spielhalle gegangen, wo er
sie fast erwischt hatte. Die Rufe durch das Megaphon, die Illusion des Reizes, die durch die Türen zu dringen schien, hatten in Delia eine Art kindliche Erwartung hervorgerufen. Sie war nur hineingegangen, um sich alles einmal anzusehen, hatte sich aber schließlich doch dabei ertappt, wie sie einige Spielchen an den farbigen, flackernden Automaten spielte. Als sie die Kugeln ziellos über die Spiegelfläche jagen sah, war sie davon überzeugt, endlich etwas gefunden zu haben, was noch sinnloser war als das, was in ihrem Innern vor sich ging. An Politik war sie nicht interessiert, deshalb waren die Attentäter, wer immer sie auch waren und wen immer sie umgebracht hatten, nicht wichtig für sie; das wußte sie selber nur zu gut. Fast hätte er sie geschnappt. Das war das dümmste von allem, sein Leben in einer imaginären Spielhölle an einem Flipperautomaten zu beenden, während ein Aufseher unbeschäftigt herumfluchte; es wäre mehr als passend gewesen, aber so sinnlos. Aber sie hatte zufällig nach links gesehen, nachdem sie sich ein Freispiel erkämpft hatte und ungeschickt versuchte, sich mit einer Hand eine Zigarette anzustecken und die andere am Knopf zu lassen, um die Kugel im Spiel zu halten, als sie ihn sah. Er war praktisch schon neben ihr; seine Augen wanderten durch den ganzen Raum, sahen dann in die ihren, und in diesem erschreckenden Augenblick des Zusammentreffens wurde ihr klar, daß sie so gut wie tot war. Es war alles vorbei. Sie hatte nicht das getan, was man von ihr verlangt hatte. Die X’Ching wußten das, und sie wußte es auch. Jetzt würde er sie abschlachten, um der Sache ein Ende zu bereiten. Sie war dumm gewesen, oh, war sie dumm gewesen. Nun würde sie alles bezahlen. Aber sie mußte diesen Schritt tun. Man hatte ihr gesagt, daß sie ihn tun müsse, und weil sie Delia war, tat sie ihn. Schnell trat sie von dem Automaten zurück,
ergriff ihr Taschenbuch und bewegte sich, den Mann aus den Augenwinkeln musternd, auf den Ausgang zu. Sie wußte, daß sie tot sein würde, ehe sie die Tür erreicht hatte, aber man mußte es immerhin versuchen. Das war alles, was das Leben ausmachte. Versuchen. Er schien einen Moment wie erstarrt, als sie das tat. Sie vermied es, ihn anzusehen, kniff die Augen zusammen und zählte die letzten schnellen Schritte ihres Lebens: fünf, vier, drei, da war es; jetzt mußte es geschehen, zwei, eins, der Teufel soll den Wächter holen, null, Feuer… … und sie war immer noch am Leben, immer noch herrlich unnötigerweise am Leben. Während sie das Klicken und Klappern der Automaten hinter sich hörte, war sie durch die Tür und weg. Er hatte sie nicht umgebracht. Er hatte sie nicht erschossen. Sie war immer noch lebendig; sie funktionierte. Er hatte sie nicht töten wollen, nicht dieses Mal. Er wollte, daß sie lebte. Sie waren keine Verbündeten, nicht ganz, aber sie waren auch keine Feinde. Es gab jetzt einen Pakt zwischen ihnen; ein Verstehen. Er wollte nicht, daß sie tot war. Er war nicht ihr Bruder. Aber der Wächter auch nicht. Er wollte sie lebendig. Vor ihm. Rennend. Sie bemerkte, daß sie wegen jedermann, der hinter ihr ging, wegen dem Sonnenstrahl, der blaß auf den schmutzigen Bürgersteig vor ihr schien, wegen all dem weinte. Sie unternahm nichts dagegen, denn sie hatte es verdient. Aber das konnte dem Rennen keinen Einhalt gebieten: Sie mußte jetzt rennen, und so tat sie es und blieb so selten wie möglich auf ihrem Zimmer, weil sie Interesse bekunden mußte, indem sie sich durch die Straßen der Stadt bewegte, dem Verfolger immer ein bißchen voraus. Dem Moment des Weinens war ein Augenblick der Aufheiterung nachgefolgt, aber er war vorübergegangen. Jetzt, wo sie den Tränen freien Lauf ließ, waren es Tränen einer anderen Art; es war
Frustration, nichts anderes. Sie konnte den Mann nicht finden, den sie finden sollte. Es gab keinen Hinweis dafür, daß er existierte oder wo man ihn finden konnte oder was sie tun konnte. Die Hauptsache war, daß sie ihn finden wollte. Die X’Ching hatten sie vollkommen mißverstanden, denn war es nicht in ihrem eigenen Interesse, daß sie ihn so schnell wie möglich fand? Was konnte sie sonst gewinnen; sogar wenn der Verfolger sie nicht töten würde? Er konnte sie allein durch seine Verfolgung fürchterlich verletzen. Sie mußte ihnen das klar machen. Aber da war niemand. Es war niemand da, um zu verstehen. Deshalb, weil eine Nacht heranrückte, in der sie nicht wußte, wo sie hingehen sollte (und weil sie nicht mehr verstehen konnte, was mit ihr geschah) und ob es einen Unterschied machte oder nicht, weil sie ganz alleine war und verzweifelt eine Möglichkeit suchte, sich in Gesellschaft von anderen Leuten zu betrinken, ging sie in eine kleine Bar in einer Seitenstraße, an die sie sich schwach erinnerte. Sie bestellte beim Barmixer einen Cocktail. Dann noch einen. Und einen weiteren. Und dann kam der Verfolger herein.
Sechzehn
DRINNEN: Die Hure – nur war sie nicht länger die Hure; sie war nur eine Frau – rannte und rannte; sie stolperte durch den Schnee, ungeschickt wie ein neugeborenes Lamm, erlangte aber immer wieder das Gleichgewicht und rannte weiter. Die Hure war auf dem Weg nach Gott-weiß-wohin, und James mußte sie erwischen. Diesmal war es nicht das Werk der Wächter, sondern ein menschlicher Impuls. Er wollte sie nicht töten. Er wollte sie nicht einmal ängstigen, er wollte nur mit ihr reden. Er mußte ihr alles verständlich machen. Wenn es nicht klappte, mußte er ihr wenigstens zu verstehen geben, daß das, was er tat, nichts mit ihr zu tun hatte. Und da war noch die Angelegenheit mit dem Barmixer. Zum erstenmal ahnte er die Ausmaße der Sache, die mit ihnen geschah; der Barmixer war der Schlüssel. Falls er sein eigenes Abbild gewesen war, wie er vermutete, und keine Ausgeburt seiner Hysterie, dann klärte das genau, was zwischen ihnen und den Wächtern im Gange war. Andererseits war es möglich, daß er sich gänzlich irrte. Er konnte sich darüber nicht ganz sicher sein, denn es gab nichts, über das man sich völlig sicher sein konnte. In der Zwischenzeit mußte er zu der Frau gelangen, mußte mit ihr reden. Er mußte ihr begreiflich machen, was hier vor sich ging. Aber es war schwer, ihr in diesem Schneegestöber auf den Fersen zu bleiben. Zur Hölle mit ihr, zur Hölle damit, zur Hölle mit allem. Zwei oder drei Mal hätte er sie fast aus den Augen verloren, und dann war sie um eine Ecke verschwunden. Als er selbst das Ende des Häuserblocks
erreicht hatte, hatte er das entschieden dumpfe Gefühl gehabt, sie verloren zu haben. Dann sah er sie wieder, wie sie weit entfernt die Straße hinunterrannte, wahllos in schmalen Seitengäßchen untertauchte und hastig entschwand. Aber sie war noch nicht verschwunden. Er hatte noch immer die Chance, näher an sie heranzukommen. Er rannte. Er rannte und sie rannte; beide rannten sie ungeschickt durch den Schnee, und er hatte keinen blassen Schimmer, was sie schließlich sagen würde, wenn er sie eingeholt hatte. Zuerst galt es, sie davon zu überzeugen, daß er sie nicht umbringen wollte; er hatte dieses Vorhaben längst aufgegeben. Er wollte lediglich die Lage mit ihr besprechen. Aber wie konnte er das anstellen? »Es tut mir leid, dir sagen zu müssen, daß man eine große Sauerei mit uns angestellt hat. Setzen wir uns doch und diskutieren darüber.« Oder vielleicht: »In Wirklichkeit will ich dich überhaupt nicht umbringen. Es gibt da einige Dinge, die du verstehen mußt, bevor wir weitermachen.« Oder: »Hör mal zu, wir müssen begreifen, was hier eigentlich gespielt wird, bevor wir irgendwas anderes machen.« Nein, so würde es nicht hinhauen. Aber immer noch rannte er benommen und leer im Kopf hinter ihr her, seine Ziele genauso unbekannt wie seine Vergangenheit. Als sie die Eight Avenue erreichten, wandte sie sich nach links. Den Abstand etwas verringernd, konnte er nun ausmachen, daß sie schnell und zitternd in Richtung Stadtzentrum ging. Es war offensichtlich, daß sie ihn nicht abschütteln konnte, aber es war ebenso offensichtlich, daß sie das jetzt auch selbst kapiert hatte. Ihr Laufen mäßigte sich zu einem schnellen Gehen. Er konnte den Abstand noch mehr verringern. Dann, einer Eingebung folgend, hielt er inne. Anstatt durch einen Sprint aufzuschließen, hielt er etwa einen halben Häuserblock Abstand zu ihr und verlangsamte sein Tempo, bis er sich ihrer
Geschwindigkeit angepaßt hatte. Er wollte sie jetzt noch nicht einholen, sondern sich erst einmal durch eine langsamere Art der Fortbewegung erholen und sie hoffnungsvoll in dieselbe dumpfe Ruhe zurückfallen lassen, die er verspürt hatte, seit er aus der Bar gerannt war. Dann würde er sich ihr nähern. Die Hauptsache war jetzt, daß sie ihm nicht mehr entwischen konnte. Das war alles, worauf es ankam. James nahm die Pistole aus der Manteltasche, warf sie weg und schob mit dem Fuß Schnee darüber. Er brauchte sie nicht mehr. Er würde ihr unbewaffnet gegenübertreten, wie ein Strohmann beim Bridge. Das war das beste. Keine Waffe – kein Terror. Als sie die 43rd Street erreichte, brach sie wieder nach links aus, was ihn plötzlich von der Idee besessen sein ließ, er könne sie aus den Augen verlieren. Ihr Streifzug war vorherbestimmt. Er rannte wieder los und bog gerade noch rechtzeitig um die Ecke, um sehen zu können, wie sie ein Hotel betrat und in der Empfangshalle verschwand. Sie ging nach Hause. Er folgte ihr, spurtete die Treppenstufen hinauf, drei mit einem Schritt nehmend, um keuchend in die Halle zu kommen. Sie war nicht da. Eine alte Attrappe saß in einer Nische hinter einer Schreibmaschine, eine grüne Sonnenblende auf der Stirn, dünne, knorrige Finger in der Schwebe über den Tasten. Sie gähnte ihn an. »Eine Frau«, sagte James, »eine Frau ist gerade hier reingekommen. Wo ist sie hingegangen?« »Welche Frau? Keine gesehen.« »Die, die vor ungefähr einer Minute reinkam. Sie kam von der Straße aus rein. Ich wüßte gerne ihre Zimmernummer.« Die Attrappe schielte ihn an. »Hab keine Frau gesehen«, sagte sie mit einer Spur von Gerissenheit. »Sitz nur hier und tipp das Namensverzeichnis ab, das ist alles. Ich schau nich inner Gegend herum. Werd dafür auch nicht bezahlt.«
»Komm schon«, sagte James, indem er seine Brieftasche hervorzog und einen Fünfer auf den Schaltertisch vor die Figur, diese Prothese legte. Sie hatten ihm jede Menge Geld gegeben; das war also kein Problem, war nie eins gewesen. »Wo ist sie?« Die Prothese steckte einen durchsichtigen Arm aus und schob den Geldschein von sich weg. Sie lächelte ein schlaues, vieldeutiges Lächeln. »Nun, du weißt, Sohn«, sagte sie leise, »daß wir dir die Sache nicht erleichtern können. Teufel auch, selbst wenn ich dir sagen würde, wo das Mädchen ist, würde dir das überhaupt nichts nützen. Wenn du sie finden willst, mußt du sie schon selber suchen.« Sie faltete den Fünfer fast ehrfurchtsvoll und gab ihn zurück, wobei sie mit der Banknote wedelte. »Du denkst nur noch an sie, Sohn«, sagte sie. »Kann sein, daß du eines Tages einen Tobsuchtsanfall bekommst.« Dann rückte sie ihre Sonnenblende auf der Stirn zurecht und wandte sich wieder der Schreibmaschine zu. James ging weg und versuchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Er versuchte cool zu bleiben; er versuchte über den Dingen zu stehen. Mit der Zeit wurden die Prothesen recht finster, etwas schien sie zu pikieren. Aber jetzt mußte er die Frau finden. Er dachte an sie. Er konzentrierte sich. Er und sie waren aneinander geschmiedet; sie war nur eine Verlängerung seines eigenen Zustandes, sie beide die Erweiterung eines anderen Zustandes. Wenn er sie finden wollte, konnte er das auch, weil es keinen Platz gab, an dem sie sich verstecken konnte, außer in den Gängen seines eigenen Bewußtseins; sie war in ihm enthalten, er deutete sie an, nahm sie vorweg. Sie zu kennen, hieß nur, sich selbst zu kennen: Wenn er sich zuvorkommen und sich selbst verstehen konnte, konnte er Delia finden. Die Prothese hatte recht. Sie alle
hatten recht. Sie alle hatten überall die Wahrheit gesagt, sogar die Wächter. Und jetzt wußte er alles. Alles. Er versuchte seinen Schrecken zu kontrollieren, und nach dem unverzüglichen Übergang wurde er ruhig. Die Frau war auf Zimmer 816. Er wußte alles. Es gab keine Fragen mehr. Sie war die letzten sechseinhalb Tage auf Zimmer 816 gewesen, ihre Miete betrug fünfundzwanzig Dollar die Woche. Darin inbegriffen waren ein Herd und ein kleiner Kühlschrank, der fast leer war, bis auf – ja, das war es – einen halben Laib Brot, zwei Tomaten und eine ungeöffnete Büchse Bier. Das Bett stand an der hinteren Wand, diagonal durch den Raum, an der hinteren Wand, und die Bezüge waren schon dunkel vor Schmutz, weil das Hotel für diesen Preis ihr Bett nicht frisch bezog, und es ihr ohnehin gleichgültig war, weil sie zu oft außerhalb des Zimmers war, um frische Bettbezüge zu benötigen. Des weiteren hatte sie blonde Haare an der Fotze. Die meisten waren dunkelbraun, aber einige waren noch immer blond; sie hatten nie die Färbung verloren, die sie ihrem Schamhaar vor zwanzig Jahren auf die Anregung hin, nur mal zu sehen, wie es aussah, verliehen hatte. Sie hatte es beinahe vergessen, aber er wußte es. Er wußte es, weil sie es wußte. Sie hatte auch große Brustwarzen, leicht nach außen gerichtet, aber sie waren ziemlich eindrucksvoll in ihrer Fülle, und es war unmöglich, sie ganz in den Mund zu bekommen, obwohl, weiß Gott, ihr Mann es oft genug versucht hatte. Hinter sich glaubte er die Prothese kichern zu hören. Er wollte nicht den Fahrstuhl benutzen – in Fahrstühlen konnte allerhand passieren, besonders wenn man auf dem Weg nach oben war –, deshalb entschied er sich für die Treppe, nahm wieder zwei oder drei Stufen gleichzeitig, hielt nicht auf den Treppenabsätzen an, eilte durch das dunkle Treppenhaus nach oben, passierte verschiedene Stockwerke, ließ sich treiben, als wäre er eine Thrombose in einem wracken menschlichen
Körper auf dem Weg von der Wade zum Gehirn, stolperte durch den Staub und die Abfallhaufen auf den Treppenabsätzen. Er erreichte das achte Stockwerk und suchte ihr Zimmer. Er war nicht einmal außer Atem. Aber es gab natürlich keinen Grund, warum er das hätte sein sollen. Er bog nach rechts ab und ging an den Türen vorbei, überquerte den Korridor und klopfte an die vierte, über der die Zahl 816 stand. Es gab überhaupt keinen Grund, warum er es hätte sein sollen. Er klopfte an die Tür. Drinnen war alles ruhig. Das war ausgezeichnet. Er klopfte wieder. Er hatte jetzt alle Zeit der Welt. Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür.
Siebzehn
DRINNEN: »Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte der Tourist zu Rogers. »Es fängt jetzt tatsächlich an. Mach dir keine Sorgen; wir werden dich nicht verlassen.« Mit gekreuzten Beinen saßen sie kreisförmig um ihn herum, und indem sie mit ihren winzigen Armen ihre Knie umfaßten, starrten sie mit zunehmender und zitternder Erwartung auf ihn. Derart umringt von ihnen, kam es Rogers vor, als befände er sich in einer Grube mit kaltem Feuer, so unergründlich brannten ihre Augen.
Achtzehn
DRINNEN: Es hatte keinen Sinn mehr, wegzulaufen; sie war fertig. Abgesehen davon wünschte sie sich zu sterben, wie sie nur etwas in ihrem Leben gewünscht hatte. Der Verfolger kannte jetzt alle die Tricks, und er war würdiger als sie. Einerseits hatte er sich an die Anweisungen gehalten, andererseits hatte er sich besorgt gezeigt. Er war interessiert. Er war tüchtig. Er tat nur seine Pflicht. Nachdem sie einige Zeit das Ohr gegen die Tür gepreßt hatte, um dem Klopfen zu lauschen, zuckte sie die Schultern und öffnete die Tür, sah, im Rahmen stehend, auf die ihr gegenüberstehende Gestalt. »Du möchtest es wohl erledigen«, sagte sie, die Arme ausbreitend und auf die Kugel wartend, die sie zerschmettern würde.
»Hallo«, sagte er, sie zum ersten Male näher betrachtend, sie beinahe mit Muße musternd, die blauen Ringe unter ihren Augen, das in einer hohen Welle aus der blanken Stirn zurückgekämmte Haar, die Art und Weise, in der sie die Hände öffnete und schloß und ihn anstarrte. »Darf ich reinkommen?« fragte er. »Du willst reinkommen? Glaubst du, daß das wirklich notwendig ist?« »Ja.« »Du kannst mich auf der Stelle töten. Es würde weniger Schmutz verursachen. Warum soll das Blut den Raum
beschmutzen? Dann kann er nicht sofort wieder vermietet werden.« »Ich will dich nicht umbringen«, sagte er leise. »Oh? Wirklich nicht? Wie interessant. Und warum nicht?« »Ich habe es einmal getan«, erwiderte er einsilbig, »aber ich werde es nicht mehr tun. Es ist ganz einfach so. Ganz plötzlich verstehe ich die Situation. Ich will dich nicht töten. Ich würde nur mich selbst umbringen.« Sie sah ihn an, sah ihn jetzt wirklich zum ersten Mal, und für einen Augenblick nahm er an, daß jetzt bereits eine echte Verbindung zwischen ihnen aufkeimte, aber dann verhüllte sich ihr Blick, und er stellte fest, daß es noch nicht soweit war; sie war bloß überrascht. Sie hielt ihn für einen Lügner, sie glaubte nicht ein Wort von dem, was er gesagt hatte. »Schau«, sagte er, sein Jackett öffnend und die Innentaschen nach außen stülpend, seine Kleider vorzeigend, »keine Waffe.« Er zog die Taschen seiner Hose heraus, wobei einige Münzen (Wer brauchte jetzt noch Geld?) auf den Boden des Korridors niederprasselten und stopfte sie zurück. »Nichts«, sagte er, »ich habe die Pistole draußen weggeworfen. Ich bin unbewaffnet.« »Dann wirst du mich mit deinen Händen erwürgen.« »Nein. Das habe ich nicht vor. Du verstehst mich nicht. Ich will dich nicht umbringen.« »Nein, du verstehst nicht«, erwiderte sie, der Sache scheinbar überdrüssig; dann drehte sie sich um und ließ ihn hinter sich in das Zimmer folgen. »Ich möchte, daß du mich umbringst. Ich mache mir keine Gedanken mehr darüber. Wirklich nicht.« »Dann willst du den Tod«, sagte er. »Ich verstehe das. Genau das ist ihre Art zu arbeiten. Sie bringen dich soweit, daß du sterben willst.« »Natürlich wünsche ich mir den Tod«, sagte sie, sich auf das Bett setzend und die Beine übereinanderschlagend. Er war
völlig überrascht von ihrer Selbstsicherheit, aber das paßte auch in das Bild. »Willst du ihn nicht? Will ihn nicht jeder?« »Ja«, sagte er, »aber nicht jetzt, nicht in diesem Augenblick.« »Nachdem du mich umgebracht hast«, sagte sie matt, »werden sie dich ebenfalls töten.« »Ja«, sagte er, »aber das ist nicht der Grund dafür, daß ich dich nicht töten will. Ich habe andere Gründe dafür.« »Ich verstehe nicht.« »Hör mir zu«, sagte er beharrlich. »Ich will nichts davon hören«, sagte sie. »Ich will nichts von dem hören, was du zu sagen hast. Und ich will schon gar keine Geständnisse hören. Ich will nicht hören, wie leid es dir tut, weil ich, hörte ich dir zu, zu weinen begänne. Ich bin einundvierzig Jahre alt, ich habe Übergewicht und ich war vor einiger Zeit krank, man hat mich eine Zeitlang mißbraucht, aber ich kann kreischen wie ein Schulmädchen. Willst du es hören?« »Nein«, sagte James, »das will ich nicht.« »Dann bring mich besser um. Oder verschwinde. Ich will mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen und auch nichts mehr davon hören.« »Ich gedachte keine Verschwörung anzuzetteln. Ich bin nicht hochgekommen, um über so etwas zu sprechen. Es waren alle Arten der Hoffnungslosigkeit, wenn du verstehst, was ich damit meine… Sie haben alle Karten in der Hand. Sie kontrollieren alles. Da gibt es etwas, das ich dir begreiflich zu machen habe.« »Geh doch zum Teufel!« sagte sie, stand auf und schlug ihre Fäuste gegen seinen Bauch. Sie prallten voneinander zurück, die Berührung war wie ein betäubender Zusammenstoß von Fleisch auf Fleisch, der James einen Moment lang mit der Begierde nach einem Mord erfüllte. Er konnte es nicht ertragen, von ihr berührt zu werden. Sie durfte das nicht wieder
tun. Wußte sie denn nicht… Er stellte fest, daß seine Hände sich rhythmisch öffneten und schlossen. »Entschuldige«, sagte sie nach einer Weile und wandte sich von ihm ab, »ich mag es auch nicht, von anderen berührt zu werden. Es ist für uns beide das gleiche. Warum verschwindest du nicht oder tötest mich, damit es zu Ende ist. Nur keine Hemmungen.« »Faß mich nicht an«, sagte er. »Schon gut. Ich sagte, daß es mir leid tut.« »Faß mich nicht an, hörst du? Ich möchte von dir nicht berührt werden.« »Okay, okay.« »Hör mir zu«, sagte James, er kam näher, stellte sich neben sie und starrte aus dem Fenster. Von hier aus sah man über einen grauen, weiten Hofgarten. In großer Entfernung spielten zwei Jungen zwischen den Mülltonnen Verstecken, mit ihren dünnen Stimmen jeweils den anderen rufend. Alles, dachte er verwundert, mein Gott, sie verlieren keine Wette. Sie haben an alles gedacht, alles ausstaffiert. »Bei mir waren es die Wächter«, sagte er, »ausdruckslose Männer, die weder Form noch Substanz hatten. Sie sperrten mich in eine Zelle, zusammen mit einem Stapel von Gedichtbänden – und ich schrieb Gedichte für sie.« »Oh?« »Ich sagte«, wiederholte er ungehalten, »daß es die Wächter waren. Wer – zum Teufel – war es bei dir?« Sie schluchzte. »Die X’Ching. So nannten sie sich, und so sollte ich sie nennen.« »Wie sahen sie aus?« »Scheußlich.« »Wie?« »Scheußlich, sagte ich. Wie Zwerge mit kurzen fetten Armen und Beinen.« »Und was wollten sie?«
»Sie sagten, sie hätten die Erde einkassiert und würden alle Menschen ausradieren, ausgenommen ein paar Leute zur Reserve. Für ein Experiment. Ist es das, was du wissen willst? Oder hast du ihnen das alles erzählt und arbeitest mit ihnen zusammen? Sprich.« Sie dachte einen Moment nach. Er konnte merken, wie ihr Erinnerungen durch den Kopf gingen; es ging ihr genauso. »Ich dachte, ich hätte lange Zeit geträumt«, sagte sie schließlich. »Es war wie die schlechten Filme, von denen man hört, die man sich aber nie ansieht. Aber es ging weiter, und ich merkte, daß es kein Traum war. Es war doch keiner, oder? Das ist doch alles Wirklichkeit, nicht wahr?« »Nein«, sagte er, »das ist es nicht.« »Das ist es nicht?« »Weiter. Erzähl weiter.« »Sie waren die X’Ching«, sagte sie monoton. »Sie hatten Angst vor der Erdbevölkerung, deshalb rotteten sie alle aus; alle, bis auf mich und ein paar andere. Sie hielten mich in einer Zelle gefangen und der Fragensteller sprach mit mir. Ich durfte Gymnastik machen und hatte Bücher, und dann erzählten sie mir davon, daß ich jemand finden müßte. Einen Mann. Es wurde von mir erwartet, daß ich etwas tat. Einer würde da sein, der mich verfolgen würde. Der Verfolger. Du. Und so ging ich hinaus, um zu sehen…« »Du hast ihn nicht gefunden.« »Nein«, sagte sie gelangweilt. »Ich habe ihn nicht gefunden. Aber du hast mich gefunden. Warum erzähle ich dir alles überhaupt? Was geht hier vor?« »Hör nicht auf. Erzähl mir alles, was du über die Sache weißt. Was weißt du über mich?« »Daß man von dir erwartet, mich zu verfolgen und zu bedrohen. Daß du mich auf Trab hältst. Mich dazu bringst, diesen Mann zu finden. Aber ich bin müde und fühle mich schlecht, und ich möchte, daß du mich tötest, weil es keinen
Unterschied macht, wenn du das tust. Das ist alles, was ich zu sagen habe«, sagte sie. »Ich bin am Ende. Ich will, daß du gehst.« »Bei mir waren es die Wächter.« »Wächter?« »Sie waren ebenfalls Erd-Invasoren, aber anstatt die Menschen auszurotten, nahmen sie ihnen nur das Erinnerungsvermögen und steckten sie in Zellen. Sie ließen mir Gedichtbände zum Lesen.« »Das sagtest du schon.« »Aber ich habe alles gesagt«, sagte James, er heulte auf und schlug seine Faust gegen die Wand. »Verstehst du das nicht? Alles ist gesagt worden. Sie erzählten mir, daß du draußen seist, um einen Mann zu finden. Daß es meine Aufgabe sei, dir auf den Fersen zu bleiben; dich zu bedrohen und wieder zu bedrohen und endlich zu töten. Aber wir können es dadurch nicht aus der Welt schaffen. Das können wir nur, wenn wir uns aussprechen. Ich sage dir, wenn wir so weitermachen, können wir jetzt dem ganzen Spuk ein Ende machen.« »Warum?« sagte sie. »Warum es beenden? Sie brauchen uns nur aufzuspüren und uns beide zurückzuholen. Und ich würde lieber tot sein.« »Nein«, sagte er mit Nachdruck. »So muß es nicht unbedingt kommen. Sie können uns nicht finden, und sie können uns nicht wegschleppen. Wenn wir erst einmal verstehen, was hier wirklich vorgeht, können sie uns nichts mehr anhaben. Ich weiß, was läuft. Ich weiß es jetzt.« »Wunderbar«, sagte sie ausdruckslos, und er sah, daß ihre Augen flach geworden und in ihre Höhlen zurückgetreten waren; das Gesicht wirkte nun steinern: Er war ihr noch kein bißchen nähergekommen. Nichts von dem, was er gesagt hatte, war für sie von Bedeutung. Aber er mußte weitermachen, eben weil er es jetzt erkannt hatte, aber damit begann auch der
Wahnsinn, der endgültige Wahnsinn, der Wahnsinn reinsten Wassers, der sie beide aus dem Geschehen hinausschleudern würde, hinein in eine Sphäre, wo sie beginnen konnten, nur beginnen konnten, einen Sinn in die Sache hineinzubringen, indem sie die Fragmente des Irrsinns zusammensetzten. »Wir müssen wirklich aufhören«, sagte er. »Es füllt einen nur mit Machtphantasien und psychischen Verdrängungen. Es ist das gleiche wie Masturbation, nur schlimmer, weil man noch nicht einmal das Gefühl einer potentiellen Verbindung untereinander hat, und dann in einer Patsche wie dieser sitzt.« Schaudernd, weil er es nicht tun wollte, und fühlend, wie sein Grauen auf das ihrige traf, streckte er die Hand aus und umfaßte ihr Kinn, wobei ihre Augen wieder ausdruckslos wurden. Sie sah ihn mit der Wildheit eines Tieres an, das sich in einer Fallgrube gefangen hatte, die Augen brachen einen entfernten Lichtschein, der Atem ging kurz und stoßweise. Sein Gesicht senkte sich über das ihre, als versuche er, sie zu küssen, hielt dann aber einige Zentimeter über ihr in der Bewegung inne und blickte in die unergründliche Tiefe ihres Gesichts. Sie versuchte verzweifelt, durch Drehen und Wenden ihres Kopfes seinem Griff zu entkommen, aber er drang mit dem Daumen in ihren Mund, ohne ihr wehtun zu wollen, nur um sie in Schranken zu halten. Sie stöhnte und bewegte sich nicht mehr, ihr Körper krümmte sich und sah jetzt so unbeholfen aus wie ihr entstellter Kiefer; ihre Schultern zitterten leicht, ihre Augen schlossen sich, ihr Hals war steif und angespannt. »Schau mich an«, sagte er. »Schau es dir an. Sieh es umfassend und klar.« Sie seufzte wieder, und es durchlief sie ein starkes Schaudern. Dann öffnete die Frau ihre Augen und sah ihn an. Jeder sah den anderen.
Neunzehn
DRINNEN: »Sieh nur«, rief einer der Touristen in einem hohen, pfeifenden Tonfall, »es geht jetzt los. Es geht jetzt wirklich los. Seht, seht, seht ihn euch an.« Ein Kichern setzte im Rund der Manege ein und ein Fußgetrappel – und Rogers sah, wie sie sich langsam in seine Richtung in Bewegung setzten, die Lippen geringschätzig bewegend. Aber das konnte ihn nicht berühren. Von den Zehenspitzen bis zu den Fingerkuppen, von den Lippen bis zu den Händen, von den Hüften bis zu den Haarspitzen brannte Rogers. Er fühlte das Feuer. Er fühlte, wie es in ihm loderte. Die Hitze wuchs…
Zwanzig
DRINNEN: Dann sah sie ihn, wie es ihr nicht gelungen war, ihn während den ganzen sechs Tagen ihres Lebens zu sehen, während all den Nächten ihrer Vergangenheit, an die sie sich nur schwach erinnerte. Sie sah ihn, als ob sie diesen Gesichtszügen zum ersten Mal gegenüberstände, aber es war nicht das erste Mal. Es war nichts Fremdes daran, weil es schon tausendmal an allen möglichen Orten geschehen war und jetzt wieder geschah. Sie war geistig gesund und sah ihn an und es gab nichts, wogegen sie ankämpfen konnte. Nein, das war echt, es war absolut echt. Sie sah ihn: Sein Gesicht, das ihr Gesicht war, mit Augen, die die ihrigen waren, stumme Lippen, die an diesen kranken Schädel geklebt waren, die Augen aufblickend und leuchtend, Spiegel; an dieser Stelle fühlte sie, daß sie sich selbst sehen konnte, diese Vorstellungen tauchten in ihr auf, aber diejenigen, die gaben, waren gleichzeitig auch die, die nahmen. Sie waren dasselbe. Es gab keinen Unterschied, und indem sie das erkannte, geriet sie mit dem Traum in Konflikt, den sie in allen Nächten ihres Lebens geträumt hatte. Es gab kein Ausweichen; nichts dergleichen: Es war er, und er war er, und er war auch gleichzeitig sie. Es gab nur diese Totalität, sie beide, und das konnte nur heißen… Und dann schrie sie.
Einundzwanzig
DRAUSSEN: Archer zuckte zusammen und wechselte die Position. Er stöhnte schwach, aber niemand hörte ihn.
DRINNEN: Nachdem sie aufgeschrien hatte, wimmerte sie ein einziges Mal, wie ein Hund, und fiel schwer in seine Arme. Als sie so gegen ihn lehnte und ihr ganzes Gewicht auf eine Stelle in der Nähe seines Magens drückte, sah es so aus, als würde sie nie wieder weggehen, aber James fühlte die Anzeichen eines Kampfes in ihrem Körper; wirklich, eine starke innere Erregung. Und dann begann alles wieder von vorn: Sie bewegte sich, sie entschlüpfte ihm und glitt… weg. Sie sah ihn an. »Siehst du?« sagte er zu der Gestalt. »Siehst du, was sie uns angetan haben? Kannst du das abschätzen?« Seine Stimme klang in dem geräumigen Zimmer hohl und schwach. »Ja«, antwortete ihm die Gestalt. »Sie wußten es die ganze Zeit. Sie wußten, was sie taten. Aber weißt du es? Können wir der Sache ein Ende machen? Nein. Wir haben nichts gelernt.« Die Gestalt schaute ihn an. Sie schien zu blinzeln. Die Luft war ekelhaft schwül und drückend; ein unangenehmer Geruch war in ihr. »Das macht keinen Unterschied«, sagte die Gestalt. »Warum? Warum? Jetzt wissen wir es. Jetzt kann es aufhören. Jetzt können wir…«
»Nein«, sagte die Gestalt. »Nein, du bist auf einem völlig falschen Weg. Es macht keinen Unterschied. Wir sind derart korrumpiert, daß die meisten von uns jenseits aller Hoffnung sind. Es muß so weitergehen. Sie taten es. Wir können mit der Realität nicht mehr fertigwerden. Verstehst du das?« »Nein, nein, nein!« James verteidigte sich, weil er verstanden hatte; er konnte die Sachlage nicht mehr verkennen. »Nein, es muß nicht so sein; das kannst du mit mir nicht machen. Ich sah. Ich sah…« »Du…« sagte die Gestalt, die er umklammerte, die sich in seinem Griff wand. »Du.« »Was?« »Hör doch auf«, sagte die Gestalt und befreite sich, starb und löste sich zwischen seinen Händen auf, ihn auf ewig haltlos und verwirrt im letzten kleinen Winkel seines Bewußtseins zurücklassend. »Macht«, murmelte er, »Macht, Macht…«
DRINNEN: »Es geht los! Es geht los!« schrien sie erfreut, und Rogers, dessen Körper wegen des Feuers angespannt war, das in seinem Inneren loderte und brauste, sah die Gestalt auch; sah die Gestalt des einen, der kam, um ihn zu holen. Sie kam aus den Flammen, aus genau dem Feuerkreis, der in seinem Inneren tobte, und dann war sie draußen, sah ihn an, grüßte ihn mit jenem altvertrauten, verschwörerischen Blinzeln. In diesem Moment verstand Rogers alles. Er sah alles. Er wußte, wer die Touristen waren und was sie vorhatten und wo er war und wer er war und auf was er gewartet hatte. Die Erleuchtung kam mit einer solchen Schnelligkeit und Gänze, daß es beinahe wie ein Hauch war; ein Hauch, der die tausend Seile zerriß, die ihn festhielten und ihn schlaff und erlöst atmend zurückließ. Dann
erwartete er den Arm, der sich ihm entgegenstreckte. »Ich habe lange gewartet«, sagte er dankbar zu der Gestalt. »Oh, Gott, du glaubst nicht, wie lange ich gewartet habe.« »Das ist jetzt in Ordnung«, flüsterte die Gestalt ihm zu. »Es ist in Ordnung, in Ordnung, weil jetzt alles vorbei ist. Hältst du das für möglich?« »Endgültig?« fragte er, sich wundernd wie ein Kind. »Alles vorbei? Es ist alles vorbei?« »Ja«, sagte die Gestalt und schuf das Messer, zeigte es ihm und senkte es und – – tötete den Hundesohn dort, wo er stand, und das Messer glitt durch sein Fleisch, traf auf kreischende Knochen und es – – riß ihn auseinander, wo er lag, das glaubst du wohl besser, und er schrie nur einmal, beobachtete, wie die Wände über ihm zusammen fielen und dann klumpte sich alles, was in ihm war, zusammen und danach – – schrie er, mit reiner Freude erfüllt, weil es endlich vorüber war und er es wert gewesen war; er hatte gewartet und es hatte alles – – gerechtfertigt und der Bastard lag zu Füßen der Gestalt und nun gab es nur noch eine Sache, die er – – tun mußte; er kroch kraftlos zu der Wand und hob seine Kehle den Glassplittern entgegen und – – fühlte, wie das Blut hinauslief. Er war tot und – – das Messer drang ganz tief ein und – – Er war tot und – – Er war tot und – – Sie war tot und alles hatte ein Ende.
Epilog
»Oh, ihr Schweinehunde, ihr habt ein Schlachtfeld aus mir gemacht. Zu lange habt ihr ein Schlachtfeld aus mir gemacht, und ich kann das nicht mehr länger hinnehmen.« Archer, in seinem Bett aufgerichtet, starrte mit blinden Augen, schreckliche Klarheit und Überzeugung schwang in seiner Stimme mit. Es schien, als spräche er zu einer Versammlung, obwohl zur Zeit natürlich niemand im Zimmer war, da mittlerweile Schichtwechsel gewesen war und die Schwestern, die Nachtschicht hatten, wie üblich irgendwo dumm herumlungerten. »Es ist alles außer Kontrolle, ihr habt mich nur als Arena gebraucht, aber was habt ihr getan, ihr habt meine Träume betrogen, ihr habt die Gerechtigkeit genommen.« Er gestikulierte. »Ihr müßt verstehen, ich habe besseres verdient als das: diese Banalität, dieser Horror, diese Leere«, sagte er und legte eine unnachgiebige Haltung in seine Worte. Und als er das gesagt hatte, alles gesagt hatte, was er jemals hatte sagen wollen, fiel er mit einem erstaunten Seufzer zur Seite, und an dem kleinen bißchen Würde festhaltend, das er verdiente, starb er augenblicklich und ganz unzeremoniell.