Raumschiff Monitor Landung auf der Raumstation 1. Wo ist der Professor? „Ich versteh das nicht“, maulte Micha. „Wir sind...
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Raumschiff Monitor Landung auf der Raumstation 1. Wo ist der Professor? „Ich versteh das nicht“, maulte Micha. „Wir sind pünktlich gewesen. Zwei Tage hocken wir nun hier...“ „... und die, die uns eingeladen haben, lassen sich nicht blicken“, vollendete sein älterer Bruder Henri mißmutig. „Na und? Was kümmert uns das?“ seufzte deren Schwester Tati behaglich. Sie war aus dem Swimmingpool geklettert. Jetzt rückte sie ihre Luftmatratze in die Sonne. Als sie sich ausgestreckt und die Augen geschlossen hatte, murmelte sie: „So ein Ferienparadies - einfach traumhaft.“ Tati - eigentlich Tatjana - war nur ein Jahr jünger als Henri. Wenn es aber galt, eine Lage zu beurteilen, sprach sie oft am vernünftigsten. Monton, am Golf von Biskaya, oberhalb einer Steilküste jener weiten atlantischen Bucht zwischen der gebirgigen Nordküste Spaniens und der flachen Westküste Frankreichs gelegen, war diesmal der Ferienort der Geschwister. Die Umgebung bestand aus einem großen Park mit herrlichen alten Bäumen, Blumenrondells, Brunnen, Statuetten, Grotten, einem gepflegten Golfplatz, einer „Trimm-dich- Wiese“ mit modernsten Sportgeräten und dem erst in diesem Frühjahr angelegten Swimming-pool. Wenn man nicht auf der Luftmatratze liegen wollte, konnte man auf Stühlen an runden Tischen sitzen wie in einem Gartenrestaurant, sich in buntgestreiften Hollywoodschaukeln räkeln oder von erhöht stehenden Bänken aus in den Fischer- und Segelsporthafen Monton hinuntersehen, weit übers Meer oder hinauf in den hohen, silbrigen Himmel. Das war einfach ferienhaft! So hatte Tati sich's gewünscht. Das der Graf von Monton - übrigens kein Mann mit Helmbusch und Schwert, sondern eine Seifenfabrikant - nicht da war und auch sein Neffe Marcel noch nicht, das kümmerte Tati wenig. Henris Schulfreunde Prosper und Gérard würden noch früh genug kommen. Die ließen sich keine Einladung entgehen. Es genügte ihr, daß sie und ihre Geschwister von Madame Claire, der Wirtschafterin, auch in Abwesenheit der Gastgeber herzlich empfangen worden waren. Es genügte ihr genauso wie dem vierten Feriengast, dem schwarzen Zwergpudel Loulou, der die drei auf Reisen stets begleitete. Loulou lag im Schatten und ließ seine rosa Zunge heraushängen, die aussah wie ein kleines Stück gekochten Schinkens. Er fühlte sich so recht pudelwohl. Doch Tatis jüngerer Bruder fing wieder an zu jammern: „Einen Tag lebe ich mal ganz gerne so wie 'n Rentner im Kurpark. Aber dann will ich was erleben. Ein großes Abenteuer - oder wenigstens ein paar lumpige kleine Abenteuer hintereinander!“ „Diesmal sollst du mit Sommersprossen nach Hause kommen - und nicht so käsebleich wie voriges Mal nach dem Besuch in der Unterwasserstadt“, sagte Tati, ohne die Augen zu öffnen. Henri lachte. Er saß mit gekreuzten Beinen auf dem Rasen, pendelte mit dem Oberkörper hin und her und ließ einen Wasserball auf seinem Kopf hüpfen. Jede Robbe im Zirkus hätte ihn um seine Kunstfertigkeit beneidet. „Tati hat recht“, meinte er. „An Abenteuern haben wir mehr erlebt als sämtliche Schüler Europas zusammen.“ „In Marac!“ rief Micha hitzig. „In Marac, aber nicht in diesem langweiligen Monton hier!“ „Von Marac aus“, berichtete Henri. „Im Hochmoor von Marac haben wir Professor Charivari getroffen, unseren Freund, der uns zuerst so unheimlich war ... Dort haben wir seine unterirdische Geheimstation entdeckt ... Von da aus sind wir mit Raumschiff Monitor' ins All und zur Unterwasserstadt gestartet. Aber du weißt, daß der Professor die Station in Marac zerstört hat, weil ihm der Platz an den Todesklippen zu unsicher wurde. Jetzt sitzt er in seiner Versuchsstadt auf dem Meeresgrund, an der tiefsten Stelle des Atlantischen Ozeans. Seine Brüder beherrschen die geheimen
Basen im Pazifik und am Mondpol, vorausgesetzt: Man hat inzwischen nicht neue, größere Pläne verwirklicht.“ „Du meinst, in Marac ist nichts mehr zu holen?“ fragte Micha aufmerksam. Henri beendete seine Kopfballnummer. Er ließ den Ball einfach über den Rasen trudeln, streckte sich aus und sagte: „Genau das meine ich! Sonst hätten wir bestimmt einen leisen Wink gekriegt. Daß unser Freund Marcel seinen Onkel beschwatzt hat, uns hierher einzuladen - zwanzig Kilometer von der vernichteten alten Geheimstation entfernt -, wird seinen Grund haben. Sicher hat Marcel Verbindung mit dem Professor. Ich schätze, wir sollen nicht mehr nach Marac, damit uns keiner über irgend etwas ausfragen kann!“ „So ist es!“ ertönte eine Stimme über den Geschwistern. Wuff, waff ... ! machte der Pudel. Er war so erschrocken, daß er sich noch im Liegen überschlug. Tati fuhr hoch, wie von einer Schlange gebissen. Auch Henri stand blitzschnell auf. Nur Micha hockte noch am Boden, aber wie erstarrt. Aus der dichten, vielfach verästelten Krone eines uralten niedrigen Baums sprang Marcel auf den weichen Rasen herab. Er trug einen schicken schwarzen Traningsanzug mit weißen Streifen. Der Neffe des Grafen von Monton war nicht zu verkennen: spindeldürr, flachshaarig, das Brillengestell mit den riesigen kreisrunden Gläsern auf der Nase. Für die Gefährten - aber auch für den schon erwähnten Professor Charivari - galt Marcel als ein Wunder an Wissen, Beobachtungsgabe und Urteil. Er interessierte sich nicht nur für die neuesten Ergebnisse der menschlichen Forschung auf allen Gebieten, er konnte das meiste sogar erklären und sich vieles mit bewundernswertem Scharfsinn zusammenreimen. Besonders wegen der letzten Fähigkeiten nannten ihn seine Freunde Superhirn. „Ein schwarzer Trainingsanzug!“ rief Tati lachend. „Schwarz! Typisch für dich! Siehst aus wie Hamlet, der Prinz von Dänemark!“ - Tati verstand außer von ihrem geliebten Ballett auch viel vom Theater. Auch der kleine Micha hatte die Sprache wiedergefunden. Er sprang auf. „Seit wann bist du unter die Baumaffen gegangen?“ rief er wütend. „Wir mopsen uns hier auf dem Rasen, langweilen uns, und du du...“ „Ich mache mir eben einen Spaß daraus, euch zu belauern“, antwortete Superhirn grinsend. „Na, Kinder, ihr kennt doch meine Scherze!“ Er blickte sich um. „Gérard und Prosper sind noch unterwegs?“ „Scheint so“, erwiderte Henri. Er grinste nun auch, als er sagte: „Hauptsache, du bist da! Wie du gekommen bist: als Rauch aus dem Schornstein - und wann: vor drei, zwei Tagen oder eben erst jetzt - das soll uns schnuppe sein! Wichtig ist, daß wir dich leibhaftig vor uns haben. Und daß wir dich tüchtig ausquetschen können!“ „Ja! Weshalb sind wir hierher eingeladen worden?“ fragte Micha sofort. „Sollten wir wirklich nicht mehr nach Marac? Professor Charivari weiß doch, daß wir seine Geheimnisse nicht verpfeifen! Ich habe das ganze Jahr über dichtgehalten in der Schule! Keinen Piep habe ich über die Mond- und Meeresstationen gesagt! Nichts davon, daß wir allein im Raumschiff Monitor rumgekurvt sind und was wir sonst noch alles erlebt haben!“ „Verschwiegen wie ein Grab!“ sagte Superhirn mit tiefer Stimme; er furchte die Stirn und blinzelte Micha über die Ränder seiner riesigen Brillengläser hinweg an. „Bildest dir wohl etwas darauf ein, daß du nichts ausgepetzt hast, was? Ich finde, das ist eine Selbstverständlichkeit. Schließlich hat uns unser lieber Professor Doktor Charivari mehr Vertrauen geschenkt als manchen seiner erwachsenen Raumfahrt-Mitarbeiter!“ „Und trotzdem fürchtete er, wir könnten in Marac plappern!“ erboste sich Micha. „Das meintest du doch auch, als du wie Fallobst aus dem Baum gesaust kamst!“ Jetzt mußten die anderen lachen. Der Pudel, auf den Fröhlichkeit immer ansteckend wirkte, sprang voller Wiedersehensfreude an Superhirn hoch.
„Nun macht's euch erst einmal wieder gemütlich“ sagte Superhirn. Er setzte sich ins Gras. Die Geschwister folgten seinem Beispiel. Auch Loulou. Er blickte den spindeldürren jungen so gespannt an, als wollte er dasselbe wissen wie die anderen. „Über eine Pariser Adresse hat mir Professor Charivari schon vor Monaten einen verschlüsselten Brief geschrieben“, erklärte Superhirn. „Verschlüsselt insofern, als er in unverfänglichen Worten anfragte, wo wir uns denn in den nächsten, also in diesen Ferien träfen.“ „Aha!“ sagte Tati. „Daraus hast du geschlossen, daß ihm der alte Schauplatz nicht recht sein würde!“ Superhirn nickte. „Das war nicht schwer zu erraten! Die Frage klingt doch recht eigenartig, nicht? Besonders wenn man bedenkt, daß Marac schon fast ein zweiter Heimatort für uns war! Charivari wußte das!“ „... und trotzdem stellte er sich ahnungslos“, überlegte Henri laut. „Hin! Leuchtet mir ein! In Marac hat man den Professor für einen gutmütigen alten Kauz gehalten, einen Gelehrten, der das Alter von Gesteinen bestimmt. Der Bauer Dix wird ihn bestimmt vermissen, und wenn wir nach Marac kämen, würde er uns immer wieder fragen, ob wir von Charivari etwas gehört hätten! Für Micha wäre es bestimmt schwer, dauernd ,nein' zu sagen - oder bestimmt nicht, Herr Dix!“ Tati nickte und bestätigte: „Micha sieht man an der Nasenspitze an, ob er die Wahrheit sagt!“ „Das ist es nicht allein!“ gab Superhirn zu bedenken. „Aber vergeßt nicht: Auch wir, dazu noch Prosper und Gérard, sind zweimal recht plötzlich von der Bildfläche verschwunden: bei den geheimen Starts mit Raumschiff Monitor aus der Seegarage vor dem Hochmoor. Falls uns der Professor wieder so rasch riefe, und wir müßten ein drittes Mal bei Nacht und Nebel aus Marac raussausen, nützte uns gewiß keine noch so stichhaltige nachträgliche Ausrede mehr. Aus diesen Gründen schrieb ich Professor Charivari über die angegebene Pariser Adresse, wir würden uns in Monton bei meinem Onkel treffen. Seine Einladung hatte ich längst und auch die Erlaubnis, euch und Prosper und Gérard hier einzuquartieren.“ „Moment, Moment“, unterbrach Micha verwirrt. „Du meinst, Professor Charivari könnte uns wieder brauchen? Wir müßten plötzlich wieder wegsausen? Womit denn? Hier ist doch kein Raumschiff Monitor, oder? Hast du die Gegend nach einer neuen Geheimbasis schon abgesucht? Klar! Deshalb bist du erst mal überall rumgeschlichen! Du wolltest uns mit einer Nachricht überraschen!“ Superhirn lachte und gab zu: „Gar nicht so dumm. Stimmt! Ich habe Madame Claire gesagt, sie soll euch nicht verraten, daß ich längst da sei. Ich habe so getan, als wollte ich euch verblüffen, nur so aus Albernheit. Die gute Frau hat zwar den Kopf geschüttelt, aber sie hat's geglaubt. Jungenstreiche!“ Er kicherte. Doch schnell wurde er wieder ernst: „Ich habe eine Nachricht für euch“, betonte er. Aber dieser Nachricht fehlt die Ergänzung, die nach des Professors Andeutung hier in Monton sein müßte. Also habe ich mich umgesehen. Bei der Suche wollte ich ungestört sein, zweitens wollte ich euch keine halbe, sondern eine ganze Meldung bringen!“ Superhirn zog einen zerknitterten Brief aus der Brusttasche seines Trainingsanzugs. „Hier, lest selber“, sagte er. „Das ist der letzte Brief, der mich über die Pariser Adresse erreichte!“ Henri und Tati steckten die Köpfe zusammen. Micha reckte sein Kinn abwechselnd über die linke Schulter des Bruders und über die rechte der Schwester. Halblaut las Henri folgenden Inhalt vor: „Viel Vergnügen im schönen Monton. Oft bin ich dort auf den höchsten Felsberg gestiegen, um mir die verlassene alte Fischerkirche anzusehen. Durch das kunstvoll verglaste Südostfenster dringt vormittags das Sonnenlicht wie ein scharfer goldener Strahl. Manchmal habe ich eine meiner Gesteinsproben unter diesen Strahl gehalten. Selbst wertlose, wenn auch hübsche Stücke schienen sich dabei in Juwelen aus Ali Babas Schatzkammer zu verwandeln.“ „Märchen!“ maulte Micha. „So etwas Albernes! Denkt der Professor, ich bin immer noch so dämlich wie damals, als er mich zum erstenmal sah?“ Auch Tati war ratlos. „Das klingt nach Erinnerung. Hm! Wirklich! Scheint weiter nichts zu sein. Aber Superhirn, du sprachst was von Ergänzung dieser angeblichen Nachricht!“ „Lies den letzten Satz!“ erklärte Superhirn ernst. „Vielleicht findet ihr in Monton etwas, das ihr auch in den Sonnenstrahl der kleinen Fischerkirche
halten könnt“, murmelte Tati. Sie blickte auf. „Soll das etwa der ganze Hinweis sein?“, fragte sie. „Tja.“ Superhirn zuckte die Achseln. „Ich dachte. Und wenn ich ehrlich bin: Ich denke es noch. Ein Mann wie Professor Charivari verliert keine Zeit, wie ein Urlaubsreisender in schönen Erinnerungen zu schwelgen! Andererseits...“ „Andererseits?“ wiederholte Henri wachsam. „Ich war zwei Tage bei der verlassenen Kirche auf dem Felsen“, berichtete Superhirn. „Sowie an den beiden Vormittagen der erste Sonnenstrahl das bezeichnete Fenster erreichte, hopste ich wie eine Kirchenmaus an der gegenüberliegenden Wand herum. Ich habe jede Stelle abgeklopft, über die der Strahl gewandert ist - so lange, bis er verschwand.“ „Du dachtest, der Strahl würde auf eine Ritze, ein Loch oder eine Nische weisen, in der eine Ergänzungsnachricht verborgen sein könnte!“ begriff Henri. Superhirn nickte. „Aber ich fand nichts. Und eigentlich hatte ich auch nichts anderes erwartet.“ „Wieso?“ fragte Micha gedehnt. „Ha, ich weiß!“ rief Tati. „Wahrscheinlich, weil ein Mann wie Professor Charivari niemals zweimal mit den gleichen Mitteln arbeitet!“ „Du verdienst einen Orden“, erklärte Superhirn grinsend. „Du kannst nicht nur tanzen, kochen und ärgerlich sein - du kannst auch kombinieren! Sicher, ganz sicher hast du recht! Das letzte Mal benützte Charivari den Schatten eines Kamingitters, um uns auf einen verborgenen Gegenstand und ein Dielenbrett aufmerksam zu machen. Das mit dem Sonnenstrahl wäre im Grunde nichts anderes.“ Henri rieb sich das Kinn. „So wäre der Brief an dich vielleicht doch nichts anderes als ein - hm - ein Feriengruß?“ fragte er langsam. „Ich fürchte“, murmelte Superhirn. „Aber ich will keine Ferien ohne Geheimnisse!“ klagte Micha. „Ich langweile mich hier grün und gelb!“ „Und ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als mich mal eine Zeitlang gründlich zu langweilen“, murmelte Tati. Superhirn lächelte, als er sagte: „Langeweile ist längst nicht das, was du darunter verstehst, Tati!“ Er wurde unterbrochen, denn am Rand des Swimmingpools läutete das Telefon: Als Tati den Hörer am Ohr hielt, richtete sie sich ruckartig auf. Ihre Augen wurden groß. „Wer ist da? Hallo!“ Sie lauschte. Ihr Gesicht drückte wachsendes Erstaunen aus. Die anderen beobachteten das Mädchen gespannt. „Ja“, sagte sie verwirrt. „ja, gut! Ich werde es Superhirn sagen. Aber wer...“ Sie unterbrach sich, wackelte hilflos mit dem Hörer in der Luft und richtete ihren Blick auf Superhirn. „Aus! Der Mann hat aufgelegt!“ „Du solltest mir was mitteilen?“ fragte Superhirn. Tati - noch etwas benommen - legte den Hörer zurück auf die Gabel. „Ja“, erklärte sie, wobei man ihr ansah, daß sie sich bemühte, den Wortlaut der Nachricht wiederzugeben: „Er hat behauptet, Gérards Vater zu sein. Und er sagte: Superhirn soll aufpassen, daß der Wasserball nicht platzt, falls wir einen haben.“ „Na, wir haben doch einen!“ rief Micha. Tati sah den jüngeren Bruder von der Seite her an. „Meinst du, das weiß ich nicht?“ fragte sie fast verächtlich. „Aber solche dämlichen Nachrichten gibt doch kein ernsthafter Mensch per Telefon durch!“ „Außerdem ist Gérard noch gar nicht hier“, ergänzte Henri. „Aber davon mal abgesehen: Gérards Vater, genau wie Prospers, ist uns bekannt. Gérard und Prosper gehen ja in meine Klasse, und die Väter haben öfter bei uns angerufen, um nach ihren Sprößlingen zu fragen.“ Tati nickte. „Eben! Aber die Stimme, die ich hier am Ohr hatte, war nicht die von Gérards Vater!“ Superhirn legte sich auf den Bauch, stützte das Kinn in die Hände und betrachtete den vierfarbigen Wasserball. „Das ist doch ein ganz gewöhnliches Ding aus einem Kaufhaus? Habt ihr was Besonderes an ihm bemerkt? Ist er schwerer? Oder habt ihr ihn unterwegs mal für ein Viertelstündchen vermißt?“
„Nein!“ sagte Henri entschieden. „Ich hatte ihn ohne Luft, also zusammengefaltet, im Rucksack. Da ist kein Mensch drangewesen. Der Ball ist weder ausgetauscht worden, noch kann jemand einen Zettel oder was auch immer - hineingetan haben. Und seit Tati ihn hier aufgepustet hat, war er nur in den Händen von uns dreien.“ „Die beiden Nächte, die wir in der Villa Monton verbracht haben“, fügte Tati hinzu, „verliefen ungestört. Hätte jemand versucht, in die Gästekammern einzudringen, würde Loulou wie verrückt gebellt haben!“ Micha nahm den Ball und entfernte den Stöpsel. Blupp! machte es. Schschschsch! entwich die Luft. Micha quetschte die zusammengefaltete Hülle mit den Händen. Er betrachtete sie dabei genau. „Nichts drin, nichts dran!“ murrte er. Henri blickte forschend auf Superhirn und forderte ihn auf: „Willst du dir die Wasserballhülle nicht mal ansehen?“ „Nein“, erwiderte Superhirn zum Erstaunen aller. „Ich glaube, dieser Wasserball, so, wie er da ist, hat überhaupt nichts mit der Sache zu tun. Er diente nur als Tarnwort in der sonderbaren Meldung.“ „Möglich!“ rief Tati lebhaft. „Kinder, da fällt mir ein: Der Mann am Telefon meinte, wir sollten darauf achten, daß der Wasserball nicht zu früh platzt, falls wir einen haben!“ Superhirn sprang rasch auf. Er verschränkte die Arme auf dem Rücken und ging mit gesenktem Kopf am Schwimmbecken auf und ab. „Zu früh“, murmelte er. „Hm - das ist ein Schlüssel: ´Falls wir einen haben' - das mag auch etwas bedeuten. Nun, wir haben einen, aber an dem ist nichts. Das rieche ich. Der Nachrichtenvermittler rechnet offenbar damit, daß wir uns Gedanken machen. Wie, wenn das bedeuten sollte: ... falls ihr n o c h einen Ball bekommt ...?“ „Mensch“, staunte Henri. „Immer wieder beweist du uns, daß du deinen Spitznamen nicht zu Unrecht trägst! Vielleicht bringen Gérard und Prosper einen zweiten Wasserball mit, einen, den man ihnen unterwegs irgendwie in die Hände gespielt hat und der die erwähnte Ergänzungsnachricht Professor Charivaris enthält!“ „Kann sein“, gab Superhirn zu. Er lächelte Micha an und sagte: „Die komische Telefonwarnung zeigt uns jedenfalls: Wir sind wieder mitten in einem neuen Geheimnis drin!“ 2. Großes Rätselraten Micha war über Superhirns Erklärung begeistert. Auch Henris Augen leuchteten vor Spannung. „Wenn doch Gérard und Prosper schon hier wären!“ meinte er ungeduldig. Nur Tati gefiel die Sache nicht. Die Geschwister saßen jetzt mit Superhirn auf der Terrasse des Wohnhauses unter dem vorgezogenen Dach. Sie genossen den Platz hoch über dem Meer. Die freundliche Wirtschafterin hatte ihnen Kaffee und Kakao zubereitet und eine große Silberschale mit selbstgebackenen Keksen hingestellt. „Der Anruf zeigt, daß wir bespitzelt oder beschattet werden begann Tati. „Das ist eine miese Sache. Ich mag es nicht, daß man uns nachspioniert. Auf solche Weise will ich nicht in Geheimnisse hineingezogen werden.“ Superhirn runzelte die Stirn und stimmte dem Mädchen zu: „Du hast recht, Tati. So was liegt mir auch nicht. Nur, verwechsle unsere Freundschaft mit dem Professor nicht mit Geheimbündelei - und halte die Leute, die für ihn arbeiten, nicht gleich für Dunkelmänner. Es sind sicher glaubwürdige Vertrauensleute. Keine lichtscheuen Zuträger, sondern sehr vorsichtige Informanten“ „Wer gibt sich schon dazu her, Informant zu sein!“ sagte Tati verächtlich. Superhirn antwortete lachend: „Ich hoffe, du meinst das nicht grundsätzlich! Damit würdest du unzähligen Menschen bitter unrecht tun. Denn, lassen wir mal Professor Charivari einen Augenblick beiseite: Wir leben im sogenannten Informationszeitalter. Auch Schulunterricht zum Beispiel ist Information!“ „Ach, Kinder, eßt lieber Kekse!“ knautschte Micha mit vollem Mund. „Superhirn wird superlangweilig!“ „Im Gegenteil, hoffe ich“, widersprach der spindeldürre Junge grinsend. „Unsere Zivilisation kommt
ohne Informationen, ohne Informationsdienste nicht mehr aus. Angefangen beim Telefondienst: Der informiert dich von der Zeitansage bis zur Wettervorhersage über alles mögliche. Die Zeitansage ist kein Luxus, wenn es gilt, einen bestimmten Zug zu erreichen. Und auf dem Land ist der Bericht Aktuelles aus dem Gesundheitswesen' berufsnotwendig, wenn nicht gar lebenswichtig bei Seuchengefahr. Denk nur an Landwirte, Inhaber von Jagdrevieren oder auch nur an gewöhnliche Hundebesitzer.“ Henri nickte zustimmend. „Und die vielen Service-Wellen im Radio hat man bestimmt auch nicht zum Spaß eingerichtet. Da werden fortwährend Straßenzustandsberichte, Mitteilungen über Stauungen auf Autobahnen sowie Umleitungshinweise durchgegeben.“ „Alles unerläßliche Informationen!“ betonte Superhirn. „Es werden schon Autoradios gebaut, die sich für Durchsagen automatisch einschalten. Und die Seefahrt braucht ihre eigenen Meldungen, die Wirtschaft ist auf den Börsenbericht angewiesen, der Sportler will wissen, wie die Schneeverhältnisse in den Bergen sind, der Reisende möchte was über die Lage auf den Flughäfen hören, zum Beispiel bei Streiks.“ „Ihr wißt genau, daß ich das alles nicht meine“, unterbrach Tati ärgerlich. „Ich meine Geheimschnüffler! Alle, die heimlich in irgendeinem Nachrichtendienst stehen. Ober solche Leute liest man dauernd etwas in den Zeitungen. Und für ihre Auftraggeber, denen sie nützen, sind das auch Vertrauenspersonen.“ „Sie denkt wahrscheinlich an staatliche Sicherheitsdienste“, half Henri. „Und an Wirtschaftsspionage!“ Superhirn nickte. „Was das erste betrifft, so gibt es darüber zwei Ansichten“, behauptete er. „Die Staatsschutz-Organisationen arbeiten sicherlich mit Mitteln, die gerissen und teilweise niederträchtig sind. Wir brauchen dabei nicht mal an Erpressung, Mord und Totschlag zu denken. Ich glaube, das machen die Spionagefilme zu billig. Die Abhör-, Ablichtungs- und sonstige Methoden - und alles, was dazu gehört - das reicht dem ehrlichen Zeitgenossen schon. Aber während viele Experten darin eine Gefahr sehen, sehen andere darin sogar die Gewähr für ein gewisses Maß an öffentlicher Sicherheit.“ „Sicherheit? Für wen?“ fragte Tati staunend. „Für den Weltfrieden, ob du's glaubst oder nicht“, entgegnete Superhirn. „Wenn eine Militärmacht durch ihr geheimes Nachrichtensystem darüber informiert ist, daß die andere über eine Rüstung und Organisation verfügt, wird sie sich hüten, sie anzugreifen. Viele frühere Kriege sind vom Zaun gebrochen worden, weil der Angreifer die Kraft des Gegners unterschätzt hat - mangels ausreichender Information. Und nur der beginnt einen Krieg, der ihn zu gewinnen hofft. Ich will damit die modernen Nachrichtendienste nicht verteidigen. Es wäre schön, wenn man sie nicht bräuchte!“ „Und was sagst du zur Wirtschaftsspionage?“ wollte Henri wissen. „Die ist doch nun wirklich eine Schweinerei sondergleichen! Da schleichen sich gemietete Agenten in ein Autowerk ein, oder in ein Versandhaus, und berichten der Konkurrenz, wie's dort gemacht wird - also das Know-how.“ „Weniger aus vorbedachter Gemeinheit, sondern um wirtschaftlicher Vorteile willen“, erwiderte Superhirn. „Aber das kann man nicht dulden!“ rief Tati. „Auf keinen Fall“, versicherte Superhirn. „Ich wollte euch ja auch nur die Gründe klarmachen!“ Micha mit seinen zehn Jahren der Benjamin unter ihnen, hatte von all dem immerhin so viel verstanden, daß er etwas unsicher fragte: „Professor Charivari ist doch aber für eine Welt, in der so was nicht mehr zu sein braucht! Oder?“ Superhirn und Henri mußten lachen. „Charivari ist sogar noch für viel mehr“, erklärte Superhirn. „Deswegen möchte ich meinen, daß wir seine Verbindungsmänner nicht zu fürchten haben. Im Gegenteil. Das war's eigentlich, was ich Tati klarmachen wollte. Aber jetzt genug davon.“ „Mensch, da fällt mir was ein!“ rief Henri wie elektrisiert. „In deinem Brief von Charivari, Superhirn, steht doch: Vielleicht findet ihr in Monton etwas, das ihr auch in den Sonnenstrahl in der kleinen Fischerkirche halten könnt!' Vielleicht war der Telefonanruf die Ergänzungsnachricht: Wir
sollen unseren Wasserball in den Sonnenstrahl halten! Na klar! Weshalb hat der Anrufer denn gesagt: ´Achtet darauf, daß er nicht zu früh platzt!´? Wann könnte denn ein prall gefüllter Wasserball platzen, he? Wenn man ihn zu lange der Sonne aussetzt!“ Superhirn schüttelte den Kopf. „Im Freien, in stechender Mittagssonne platzt ein Wasserball vielleicht - aber doch nicht im Vormittagssonnenstrahl, der durch ein Fenster in die kühle Fischerkirche bricht! Das Fensterglas dort oben ist kein Brennglas. Ich habe es genau geprüft. Nein, Wasserball ist nur ein Tarnwort für etwas, das wir noch zu erwarten haben. Ich wette: Das nächste Ereignis gibt uns den Reim auf Brief und Telefonat. Bis dahin müssen wir uns gedulden.“ Wuff! machte der Pudel. Waff, wuff! Er sprang zum rechten Terrassengeländer. Dort war auch die Wendeltreppe, die außen entlang in den Park hinabführte. Micha flitzte Loulou nach. „Hurra!“ schrie er. „Gérard und Prosper sind da! Ha, und sie haben was mit, das die Lösung ist! Das da - das komische Ding, das müssen wir in die Fischerkirche bringen!“ „Welches?“ riefen Tati und Henri wie aus einem Mund. Zusammen mit Superhirn beugten sie sich über das Seitengeländer. Von unten grinste der stämmige Gérard herauf. Die Stirn seines runden Kopfes glänzte vor Schweiß. Der im Gegensatz zu ihm besonders schlaksig wirkende Prosper schien erschöpft zu sein. Geschafft, Freunde!“ krächzte er. „Ein Glück, daß wir endlich da sind! Jetzt ein Glas Wasser. Die Fahrt war wirklich alles andere als ein Honiglecken.“ Tati kringelte sich vor Lachen. „Das glaube ich. Hättet ihr euch nicht lieber auf einem Mühlrad hierhergerollt? Was ist denn das für ein Ungetüm?“ Sie meinte den fahrbaren Untersatz, mit dem die beiden gekommen waren. „Ein Tandem“, erklärte Superhirn grinsend. „Ein Doppelfahrrad! Zwei Räder, zwei Paar Pedale, zwei Sättel und eine Lenkstange - das alles an nur einem Rahmen! Hintermann auf diesem Ding möchte ich nicht sein!“ „Ich auch nicht“, seufzte Prosper. „Aber es war Gérards Idee, und ihr wißt: Gérard hat einen Dickschädel. Er denkt, er kriegt einen Lorbeerkranz von seinem Radfahrklub, wenn er das alte Ding wieder zu Ehren bringt!“ Henri wandte sich seinem jüngeren Bruder zu. „Sag mal, Micha, dich hat wohl eine Tüte voll Mücken gestochen! Meinst du, dieses Monstrum von Fahrzeug hätte was mit Professor Charivari zu tun?' „Warum nicht?“ antwortete Micha. „Das - das ulkige Doppelrad ist so auffällig! Und Superhirn hat mal gesagt, wen man 'n Geheimnis klären will, muß man auf alles Besondere achten!“ „Richtig“, feixte Superhirn. „Aber dann müßte Charivari den beiden das Vehikel untergejubelt haben - und nicht Gérards Radfahrerklub! Meinst du, wir sollen das Ding mit einem Flaschenzug zur Fischerkirche hochhieven - und den Sonnenstrahl durchs Fenster etwa auf die Klingel fallen lassen?“ „Na, warum nicht?“ verteidigte sich Micha. „Dadurch könnte zum Beispiel ein Tonband im Klingelgehäuse ausgelöst werden, das uns neue Anweisungen gibt.“ Superhirn stutzte einen Augenblick. „Gar nicht so dumm!“, murmelte er. „Ich meine, an der Idee ist etwas dran, aber bestimmt nicht, was das Tandem betrifft.“ Tati, Henri und Loulou waren die Wendeltreppe hinuntergesprungen. Begrüßungsworte und Begrüßungsgebell klangen wild durcheinander. Gérard sagte auf Henris Frage verblüfft: „Mein Vater soll angerufen haben? Quatsch! Der ist in Afrika. Habt ihr was von Professor Charivari gehört?“ fragte er dann. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und wuchtete zusammen mit Prosper das Doppelrad gegen einen Baumstamm. Auch für Prosper schien im Nu die Anstrengung der Fahrt vergessen zu sein. „Hat sich der Professor gemeldet?' fragte er. „Steckt er noch immer in seiner geheimen Unterseestadt? Ich kann's kaum erwarten, ihn wiederzusehen!“ „Der Reihe nach!“ beantwortete Superhirn die Fragen der zwei gerade angekommenen Freunde. „Nur so viel: Ich denke, ihr werdet nicht enttäuscht werden. Aber was ich wissen möchte: Habt ihr auf eurer Fahrt irgend etwas Auffälliges bemerkt? Hat euch jemand unterwegs einen Zettel zugesteckt,
eine unverständliche Parole genannt - oder einen Wasserball verkauft?“ Gérard und Prosper sahen sich an. Sie wußten schon: Superhirn pflegte zwar sonderbare, aber niemals unwichtige Fragen zu stellen. Schließlich antwortete Gérard: „Kann mich nicht entsinnen, was Auffälliges bemerkt zu haben. Ist was im Gange?“ „Ja“, erwiderte Henri. „Aber das erzählen wir euch beim Abendbrot. Erst müßt ihr euer Quartier beziehen. Madame Claire hat das hölzerne Gartenhaus für euch vorgesehen!“ Im Gartenhaus war's womöglich noch schöner, als in den Mansardenzimmern, die Tati mit Micha und Loulou mit Henri und Superhirn bewohnten. Eine Lebensbaumhecke überragte die eine Seitenwand des Gartenhauses. Der einst wohlgepflegte Küchengarten glich einem Dschungel; die Bruchsteinmauer dahinter - sie trennte Obstplantage und Weinhang vom übrigen Grundstück - war schief und bemoost. Neben dem Gartenhaus lag ein geborstener Leiterwagen im kniehohen Gras. „Hier darf man nicht Raumfahrer, Ballettänzer oder Geheimnissucher sein“, meinte Tati. „In diesem Winkel lohnt sich nur ein Beruf: Maler!“ „Oder Siebenschläfer!“ ergänzte Gérard grinsend. „Huah.“, gähnte Prosper. „So müde, wie wir sind. Allerdings muß ich zugeben, daß meine Kehrseite schonungsbedürftiger ist als mein Kopf. Zur Rückfahrt benutze ich lieber ein Tretauto als das verflixte Tandem!“ Später - es dunkelte schon - saßen alle auf der überdachten Terrasse, blickten auf die Leuchtfeuer, Blinklichter und Positionslampen in der Bucht von Monton und tauschten Erinnerungen an vergangene Ferienabenteuer aus. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um Professor Charivari. Das war kein Wunder. Durch ihn hatten die Gefährten in vergangenen Ferienzeiten tolle Weltraum- und Tiefseeabenteuer erlebt. Im Hochmoor bei dem zwanzig Kilometer entfernten Seebad Marac waren sie dem kahlschädeligen, strippenbärtigen Professor Doktor Brutto Charivari zum ersten Mal begegnet. Und nur sie hatten erfahren, wer der Mann wirklich war: Der Chef einer geheimen unterirdischen Superraumfahrtstation und ein Wissenschaftler, der die Ideen einiger der kühnsten Zukunftsforscher bereits in die Tat umgesetzt hatte. In seinen Versuchsstationen, ob auf dem Meeresgrund, ob auf dem Mond, waren seine Leute längst dabei, der Menschheit völlig neue Lebensräume zu erschließen. Merkwürdige Umstände hatten Henri, Tati, Micha, Superhirn, Gérard und Prosper - und nicht zuletzt den Zwergpudel Loulou - in die geheime, mittlerweile vernichtete Raumfahrtbasis unter dem Hochmoor geführt. Von der Unterwassergarage bei Marac aus waren sie mit dem Raumschiff Monitor gestartet, zur Verfolgung meuternder Wissenschaftler, zum Besuch der atlantischen Tiefseestadt Charivaria, in der sie nicht nur atemberaubende Neuerungen gesehen, sondern auch eine Reihe von grauenhaften Überraschungen erlebt hatten. Doch überstandene Schrecknisse verlieren mit der Zeit ihre Wirkung und dienen dann um so mehr munterem Geplauder. 3. Post aus dem Nichts Doch die Geschwister und ihre Freunde mußten sich gedulden. Erst am übernächsten Tag traf Superhirns Prophezeihung ein. Dieses Eintreffen geschah wortwörtlich: denn die Überraschung kam mit der Post. Morgens waren alle sechs mit Loulou nach Monton hinuntergegangen, um sich die malerischen, plump wirkenden Fischerboote und die um so rassigeren Sportjachten anzusehen. Als sie gegen Mittag die hochgelegene Villa Monton wieder erreichten - dem Pudel hing die Zunge zum Hals heraus -, kam ihnen die freundliche, dicke Wirtschafterin in der Halle entgegen. „Post für euch! Briefe für Tati, Henri und Micha - und ein Päckchen für Marcel!“ Während Tati einen Brief ihrer Mutter - und Henri ein an ihn und Micha adressiertes Kuvert mit den
Schriftzügen des Vaters ausgehändigt bekamen, war Superhirn mit seinem Päckchen bereits verschwunden. Erst beim Mittagessen fiel den anderen Superhirns Abwesenheit auf. Sein Platz war leer. Teller, Glas und Messer waren blank und unbenutzt. „Er hat wohl keinen Hunger“, meinte Micha. „Oder der Pudel hat ihn gefressen“, frotzelte Prosper. „Mensch, Micha - hast du nichts gemerkt? Superhirn ist gar nicht erst mit uns auf die Terrasse gekommen!“ „Klar! Er verschwand gleich mit seiner Post!“ sagte Gérard. „Die dicke Madame gab ihm doch auch einen Brief!“ „Ein Päckchen!“ berichtigte Tati. „Madame Claire reichte ihm ein Päckchen, bevor sie mir und Henri die Briefe der Eltern gab! Das habe ich genau gesehen!“ jetzt sagte Henri: „Klar! Und ob! Kommt, wir suchen ihn! „ Die Gruppe stob durch alle Räume der Villa, die ihnen zugänglich waren. Madame Claire kam verwundert aus der Küche und fragte: „Sucht ihr Marcel? Der ist im Garten!“ Loulou, sonst eben kein Gebrauchshund, betätigte sich als Spürnase. Er führte die Gefährten stracks zum Gartenhäuschen, in Gérards und Prospers Quartier. Dort drinnen, im Halbdunkel unter einem fast blinden Fenster, lag Superhirn rücklings auf Gérards Schlafsack. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und blickte angespannt zu den Dachsparren empor. „Studierst du Fledermäuse?“ fragte Henri atemlos. „Ich überlege“, entgegnete Superhirn, ohne sich zu rühren. „Das fehlende Glied in der Informationskette ist da!“ Nun wurden die anderen sehr aufgeregt. „Wie? - Was denn? - Welches? - Woher weißt du das? - Was für eins!“ scholl es durcheinander. „Eine Kugel!“ erklärte Superhirn. Er richtete sich auf und zog eine würfelförmige Schachtel unter einer Falte des Schlafsacks hervor. „Eine Kugel, kleiner als ein Tischtennisball - nur schwerer. Sie kam in dieser Schachtel per Post, eingewickelt in gewöhnliches Packpapier. Die Marken tragen den Stempel von Lyon.“ „Und der Absender? Lag wenigstens ein Zettel dabei?“ fragte Prosper. „Der Name des Absenders ist völlig verwischt“, sagte Superhirn. „Ich nehme an, absichtlich. In der Schachtel lag nur die Kugel, sonst nichts. Ich überlege die ganze Zeit, wie ich das Ding in einen Zusammenhang mit dem Brief und mit dem Telefonanruf bringen kann.“ „Laß mal sehen!“ rief Micha ungeduldig. Trotz des matten Tageslichts, das in der Hütte herrschte, glänzte die Kugel milchig gelb. Superhirn ließ sie von Hand zu Hand gehen. „Eine Murmel“, meinte Tati. „Eine schön geschliffene, seltsame Murmel.“ „Ich komme mir vor wie der Froschkönig“, murmelte Gérard, das Gebilde in der Hand wiegend. „Ganz schön schwer.“ ,Tatsächlich!“ bestätigte Prosper. „Sehr schwer sogar. Ist das ein Edelstein?“ „Zeig mal.“ Henri griff danach. Er war ein wenig enttäuscht. „So schwer ist dieses komische Dingsbums nun auch wieder nicht. Superhirn, könnte es nicht sein...“, er zögerte, „... daß Charivari uns die Kugel geschickt hat, um uns und anderen vorzutäuschen, er sei wieder in Kanada oder in Amerika auf Gesteinssuche?“ Er schwenkte die Kugel. „Man kann nicht hindurchschauen. Aber man sieht Schleier!“ Superhirn meinte: „Daß Charivari uns irreführen will, glaube ich nicht. Man läßt seine Weltpläne nicht im Stich, um in irgendeinem Indianergebiet nach Steinen zu forschen, die da vermutlich schon längst als Souvenirs an Fremde verkauft werden. Wenn ich eine Kugel zugeschickt bekomme, muß ich von der Kugel ausgehen - und von nichts anderem.“ „Einleuchtend“, murmelte Henri. „Ist denn wirklich keine Gebrauchsanweisung dabei?“ fragte Micha. Alle lachten, nur Superhirn nicht. „Doch! Wenigstens etwas Ähnliches: Vor Witterungseinflüssen
schützen! Hier, es wurde mit einem Gummistempel auf den Deckel der Schachtel gedruckt. Auf anderen Kästchen steht: ,Vorsicht, Glas' - oder sonst was dieser Art. Dem gewöhnlichen Betrachter fällt da nichts auf, Und vielleicht paßt dieser Hinweis besser zu Brief und Telefonat als jede Überlegung, die Kugel auf gut Glück herumtrudeln zu lassen!“ Er hatte das kaum ausgesprochen, als die Kugel Michas Hand entglitt und über den schrägen Fußboden zur Tür hinausrollte. Wuff ... ! Mit einem Satz war der Pudel hinterher. „Loulou!“ schrie Tati. „Komm her! Laß ab! Bring sie Frauchen sofort her!“ Aber den Pudel ärgerte offenbar, daß das runde Ding ein ganz klein wenig zu groß für seine Schnauze war - vor allem zu schwer! So stupste er die Kugel mit der Schnauze wie wild hin und her - und als die Freunde aus dem Gartenhaus hinter dem Pudel hergesaust kamen, war sie weg. „Um Himmels willen!“ ächzte Superhirn. Ihm war etwas eingefallen, Seine Nase war plötzlich kreideweiß. „Was hast du denn?“ fragte Tati erschrocken. Auch die anderen hörten auf, die weggerollte Kugel zu suchen. Sie starrten Superhirn an. Die Augen hinter seinen dicken runden Brillengläsern weiteten sich. „Ich begreife . . .“, murmelte er heiser. „Ich begreife jetzt den Zusammenhang! Im Brief schrieb Charivari, wir würden sicher etwas finden, was wir vor den Sonnenstrahl in der verlassenen Fischerkirche halten könnten! Die Kugel ist dieses Etwas'!“ „Hm! Aber warum hat er uns nicht einfach ein Tonband geschickt?“ fragte Prosper. Superhirn warf einen kurzen Blick auf Prosper: „Eben! Erst denken, dann sprechen! Ich Idiot habe auch gegen diesen Grundsatz verstoßen. Es scheint, als hätte mich Charivari diesmal überschätzt! Selbst Micha war nicht dumm, als er vermutete, in eurer Tandem-Klingel könnte das Rätsel stecken und als er meinte, wir sollten das Vehikel in die alte Kirche schleppen. Professor Charivaris Brief meint die Kugel, die wir in den Sonnenstrahl halten sollen. Jedenfalls, mir ist das jetzt völlig klar!“ „Los, dann suchen wir sie!“ rief Tati ungeduldig. „Halt!“ gebot Superhirn. „Du vergißt den Anruf, der zwischen Brief und Kugelsendung lag. Die Stimme am Telefon sagte, wir sollten den Wasserball nicht zu früh platzen lassen, falls wir einen haben'. Mir war gleich klar, daß der Ball ein Tarnwort für etwas anderes war!“ „Wofür?“ fragte Prosper verständnislos. „Na, Mensch, für die Kugel!“ rief Henri. Er patschte sich vor die Stirn. „Der Beweis ist der Aufdruck auf der Schachtel: Vor Witterungseinflüssen schützen!“ „Heißt das - heißt das...“, fragte Tati mit bebender Stimme, „... wir sollten die Kugel in der Schachtel lassen, bis wir in der Kirche angelangt wären, um sie in den Sonnenstrahl vor das bestimmte Fenster zu halten?“ Dumpf sagte Superhirn: „Ja! Wer Professor Charivari und seine ungewöhnlichen Einfälle kennt - für den ist jeder Irrtum ausgeschlossen!“ „Aber was soll uns denn die Kugel verraten - da oben in der alten Kirche?“ rief Micha. „Ob sie ein getarnter Bild- oder Tonrekorder ist, der nur in dem Gemäuer funktioniert?“ „Das ist jetzt gleichgültig!“ sagte Superhirn hastig. „Erst müssen wir sie finden und schnellstens in die Schachtel zurücktun. Sonst platzt sie uns womöglich unter den Händen, bevor wir den Kirchenfelsen erreicht haben. Los! „ Die Gefährten begannen wie die Wilden zu suchen. Daß der Pudel die Kugel zur Tür hinausgestupst hatte, darüber gab es keinen Zweifel. Aber es konnte kein unübersichtlicheres Gelände geben als den verwilderten Küchengarten rings um die Hütte und den Schuppen. Wohl führte ein schmaler Pfad etwas bergab zu einer Steintreppe in Richtung des Parks und der Villa, aber links und rechts war das kniehohe Gras durchsetzt von Brennesseln, die teilweise sogar mehr als hüfthoch waren. Micha, der auf der Suche der Länge nach in diese Nesseln hineinplumpste, heulte laut auf. „Schadet dir gar nichts!“ rief Prosper. „Warum hast du die Kugel fallen lassen? Und warum hast du auf den dummen Köter nicht aufgepaßt!“
„Hier!“ schrie Micha auf einmal. „Ich habe sie!“ Alle schlurften durch das Unkraut eilig zu ihm hin. Aber es war nur ein rostiger, an einer Stelle noch blanker Dosendeckel. Enttäuscht ließ Micha das Ding fallen. Eine Weile schwiegen die Gefährten mutlos, so daß man nur das Schnüffeln des Hundes hörte. Loulou suchte eifrig - aber es fragte sich wahrhaftig, wonach. Die Kugel hatte sein Hundehirn bestimmt längst vergessen. „Man müßte eine Wünschelrute oder so was Ähnliches haben“, meinte Henri. Wenn man nur wüßte, worauf diese verwünschte Kugel anspricht!“ Alle sahen Superhirn erwartungsvoll an. „Was, meinst du, geschieht mit dem Ding, wenn wir es heute nicht mehr finden?“ fragte das Mädchen bange. „Es zerplatzt“, murmelte der spindeldürre Junge. „Wartet eine Sekunde.“ Er lief in das Gartenhaus und kam mit der Schachtel zurück. Er öffnete den Deckel. „Da!“ „Ich denke, es lag keine Nachricht dabei?“ wunderte sich Gérard. „Es gibt Sachen, die für sich selber sprechen“, brummte Superhirn. „Wenn man einen Dreihunderttausendtonnen-Tanker sieht, kann man sicher sein, daß er nicht von einer Taschenlampenbatterie angetrieben wird.“ Aus dem Kästchen hatte er einen Ballen schwarzes Papier gezogen. Aber war das wirklich Papier? „Eine Schutzfolie“, erklärte Superhirn. „Ehrlich gesagt, ich habe das nicht gleich begriffen. Es gibt ja neuerdings so viele Arten von Verpackungsmaterial. Erst hier draußen, beim Suchen, erinnerte ich mich an die sonderbare Verpackung. In diese Schutzfolie und in dieses zerdrückbare Kästchen hätte ich die Kugel zurücktun müssen - bis zu dem Augenblick, in dem wir das Kirchenfenster erreicht haben würden!“ Er biß sich auf die Lippen und fügte hinzu: „Ich bin ein Esel! Gérard und Prosper haben recht! Ich verdiene die Bezeichnung Superhirn nicht mehr! Diesmal hat mich der gute Professor überschätzt!“ „Was heißt denn das?“ rief Tati ermunternd. „Alle bedeutenden Männer tippen mal daneben! Liest du keine Zeitung?“ „Wir gehen jetzt mal ganz systematisch und gründlich vor!“ entschied Henri. „Wir teilen uns in zwei Gruppen und kämmen das Gelände durch.“ Doch die Freunde suchten bis zum Abend. Ob sie nun, soweit das wegen der Brennesseln ging, über den Boden krochen, ob sie mit den Harken aus dem Schuppen durch das Unkraut streiften, ob sie vom Dach des Gartenhauses oder von der Mauer her versuchten, etwas Blinkendes in dem KüchengartenDschungel zu erspähen - jede, aber auch jede Mühe blieb ohne Ergebnis. „Ob die Kugel vielleicht schon längst lautlos zerplatzt ist?' fragte Gerard. „Das glaube ich nicht“, meinte Superhirn. „Es wäre zumindest unwahrscheinlich, daß uns Professor Charivari nicht eine gewisse Sicherheitszeit gelassen hätte. Aber ob diese Sicherheitszeit noch die ganze Nacht und vielleicht noch einen Vormittag einschließt - dafür möchte ich meinen Kopf auf keinen Fall verwetten!“ Prosper rieb sich das Kinn. Er überlegte. „Wer sagt, daß die Kugel lautlos platzt?“ überlegte er. „Charivari mag auch dafür vorgesorgt haben. Aber es könnte was Unvorhergesehenes auf die Kugel einwirken, das sie wie eine Bombe explodieren läßt l“ Superhirn brummte: „Ich laß mich pensionieren, Prosper! Dein Gedanke verrät mehr Superhirn als alles, was ich vorhin zusammengesponnen habe! Wir müssen also auch in der Nacht weitersuchen!“ 4. „Achtung! Hier Raumstation Monitor“!“' Vom Meer wehte eine tüchtige Brise. Schwarze Wolken flogen rasch über Park und Villa Monton, von Zeit zu Zeit kam der Mond hervor und warf gespenstische Schatten. „Ich kann mir nicht helfen“, wisperte Gérard. „Hier ist's mir unheimlicher als in einem von Charivaris Raumschiffen!' „Ja! Und die Unterseestadt war ein Kurort gegen diesen Park in der Nacht“, murmelte Prosper.
Die Gefährten stapften mit Taschenlampen um das Gartenhaus herum. Kurz vor dem Abendessen war ein Gärtnerehepaar gekommen und hatte mit Madame Claire Arbeitszeiten für die nächsten Tage ausgemacht. Die Leute waren zum Glück bald wieder gegangen, doch am Vormittag wollten sie zurückkommen. Bis dahin mußte die Kugel gefunden sein.. . Als Superhirn, Henri, Tati und Micha die Wirtschafterin im Bett glaubten, schlichen sie hinunter. Die beiden Freunde warteten schon. Der Zwergpudel beteiligte sich an der Suche nach einem Gegenstand, den er längst vergessen hatte. Doch Tati wollte das Tierchen nicht allein in der Mansarde lassen. „Ich hatte gehofft, die Kugel würde im Dunkeln leuchten, etwa wie ein Glühwürmchen“, meinte Henri. „Oder wie eine Puppe Mama schreien“, spottete Tati „Wartet mal...“ Superhirn leuchtete vom Gartenhaus aus über den schmalen, abschüssigen Pfad, der auf die Treppenstufen zuführte. „Sicher ist sie dort hinuntergerollt!“ Er ging den ziemlich festgetretenen Weg entlang und richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf den Felsboden unterhalb der letzten Stufe. „Hier, eine Vertiefung, eine Regenabflußrinne Er wendete sich nach links, dem Rand des Steilhangs zu. „Dahin führt die Rinne!“ stellte er fest, indem er die Lampe schwenkte. „Wenn's regnet, fließt das Wasser über den Hang in die Bucht.“ Die anderen waren ihm gefolgt. „Denkst du, die Kugel ist über den Pfad und die Treppe gehopst - und von der Rinne aufgefangen worden?“ fragte Micha. „Und in ihr weitergerollt?“ fügte Prosper hinzu. „Dann wäre sie über die Kante des Steilhangs gesaust und die Felsen entlanggekurvt - bis hinunter nach Monton“, überlegte Gérard. „Na, wenn ihr das mal gut bekommen ist!“ „Ich frage mich, wie es dem Ort bekommen könnte“, sagte Prosper. Er sprach wie von einer Zeitzünderbombe. Am Hang zur Bucht, wo die Rinne endete, war ein Schutzgeländer angebracht. Vorsichtig beugten sich alle darüber. „Also eine Glühwirkung scheint die Kugel nicht zu haben - vorausgesetzt, sie hätte sich etwa im Felsgestrüpp verfangen“, bemerkte Henri. „Ich sehe nichts!“ Superhirn hatte das erstaunlich knautschsichere Kästchen mit, um die Kugel, falls man sie fände, sofort wieder in die schwarze Isolierfolie zu wickeln und in den Behälter zurückzutun. „Halt mal einen Augenblick“, bat er Gérard. „Und gib mir deine Lampe!' Gérards Stabscheinwerfer war das stärkste und schärfste Licht, das sie hatten. Während Gérard das Kästchen nahm, leuchtete Superhirn den Hang hinunter. Auch er hegte die leise Hoffnung, die Kugel könne irgendwo aufblitzen. Neben ihm beugten sich die anderen über das Geländer. Da ertönte eine Stimme: „Wer ist da?“ Wuff! Waff! bellte Loulou. Und ein anderes Geräusch! Gérard war das Kästchen die Böschung hinuntergefallen. „ Still!“ rief Micha mit gedämpfter Stimme. Doch schon rief die Stimme wieder. „Kinder! Was macht ihr denn da?“ In der Villa Monton war ein Licht angegangen. Man sah Madame Claires Schatten am Fenster ihres Zimmers. Wie auf Kommando knipsten die Gefährten ihre Taschenlampen aus. Superhirn rief sofort: „Es ist gut, Madame Claire!“ Er versuchte die Wirtschafterin zu beruhigen. „Alles in Ordnung! Wollte meinen Freunden nur mal die Nachtstimmung über der Bucht zeigen! Wir passen schon auf!“ Madame Claire schloß beruhigt das Fenster. Sie vertraute dem Neffen ihres Chefs, so wie alle, die Superhirns Intelligenz und Wissen, sein ausgeprägtes Gefühl für Verantwortung und seine Kameradschaftlichkeit kannten. Von den Eltern der Gefährten bis zu einem Wissenschaftler vom Range Professor Doktor Brutto Charivaris, ganz zu schweigen von den Geschwistern und den Freunden selber- jeder verließ sich getrost auf Superhirn.
„Kommt ins Gartenhaus!“ sagte Superhirn. „Wir haben getan, was wir konnten. Ist die Kugel wirklich über den Hang gerollt, und hat sie sich im Felsgestrüpp verfangen, so wäre es unsinnig und lebensgefährlich, sich nachts abzuseilen, um sie zu suchen.“ Sie kauerten sich alle auf Gérards und Prospers Schlafsäcke. Micha hielt Loulou im Arm. „Wenn wir die Kugel wirklich in den Sonnenstrahl in der Fischerkirche halten sollten“, begann Henri, „und der Professor, wo immer er sein mag, merkt, daß wir es nicht tun, wird er uns sicher eine zweite schicken. Vielleicht weiß er bereits durch irgendeinen seiner Vertrauensleute, was uns mit dem vermaledeiten Ding passiert ist!“ Düster klang Prospers Stimme aus dem Dunkel: „Ich erinnere noch einmal daran: Die Kugel gehörte in die Schutzfolie und in das besondere Kästchen! Irgendwas, möglicherweise Luftelektrizität, Bodenstrahlen, Erdgasausströmung, Quetschung usw. könnten das Ding auf ungeahnte Weise hochgehen lassen!“ Er sprach jetzt nicht mehr wie von einem Sprengkörper von der Größe einer Handgranate, sondern wie von einer Megatonnenbombe. „Du meinst, Marac und Monton, die ganze Küste, ach, was sag ich, halb Frankreich finden sich morgen früh als Wolke im Himmel wieder?“ scherzte Gérard, Doch es klang ziemlich gepreßt. „Quatsch!“ rief Tati. „Regt Loulou mit diesem Unsinn nicht auf. Ich meine Micha“, verbesserte sie sich verwirrt. „Professor Charivari wird der Post eine Kugel anvertrauen, die außerhalb der Verpackung zur Riesenbombe werden könnte! Ha! Daß ich nicht lache! Heutzutage muß jeder damit rechnen, daß Post geöffnet wird, auch in einer Demokratie. Schließlich gibt es überall Feinde. Nicht wahr, Superhirn?“ Doch Superhirn schwieg. Er war zu tief in seine Überlegungen versunken. Dann schliefen alle ein. Als Superhirn aufwachte, erfüllte fahler Dämmerschein das Innere des Gartenhauses. Die Gefährten kauerten mit geschlossenen Augen auf den Schlafsäcken, zurückgelehnt, Rücken und Köpfe gegen die Wandbretter gestützt, als säßen sie in einer unbequemen Reisekutsche. Als Superhirn aufstand, regte sich Tati. Sie blinzelte - und war sofort hoch. „Weck Henri und Micha“, flüsterte Superhirn. „Wir gehen hinauf, waschen uns und ziehen uns um. Noch vor dem Frühstück suchen wir weiter nach der Kugel.“ Als die vier mit dem Pudel zurückkamen, waren auch Gérard und Prosper munter. Die beiden hatten sich in der Waschküche der Villa Monton erfrischt. Gérard rubbelte sich gerade die Haare trocken. „Was nun?“ fragte er. Prosper machte ein Gesicht, als wolle er nicht glauben, daß er noch mit dem Füßen auf dem Erdboden stand. „Na, wenn bis jetzt nichts passiert ist, können wir die Kugel ruhig sausen lassen“, meinte er. Doch Superhirn stapfte unbeirrt durch das hohe Kraut. „He“, rief Tati plötzlich. „Wo ist der Hund?“ „Wo soll er sein, so klein, wie er ist?“ foppte Gérard. „Er hat sich in einem Blumenkelch verkrochen!“ „Es ist, als hätte er sich aufgelöst!“ rief Micha. „Eben hat er noch an meinem Fuß geschnüffelt, und schwupp - war er weg!“ „Und er ist nicht ins Gras gehopst!“ behauptete Tati. „Was machst du denn da?“ Ihre Frage galt Micha, der plötzlich auf allen vieren am Gartenhaus entlangkroch. „Hier ist ein Loch, ein kleiner Eingang!“ meldete Micha. „Ich höre Loulou husten!“ Wie ein Blitz kam Superhirn angesaust. Das Unkraut klatschte nur so um seine Knie. „Wo ist ein Loch?“ rief er. „Hier, neben der Gartenhaustür!“ meldete Tati. „So 'n kleiner hufeisenförmiger Extraeingang. Zwerge bitte Nebeneingang benutzen! - so sieht das aus!“ Superhirn blickte auf eine dünne, verrostete Kette, die aus dem etwa flaschenhohen, kaum mehr als zweihandbreiten, bogenförmig ausgesägten „Nebeneingang“ rechts von der großen Tür herausragte. „Eine eingebaute Hundehütte“, stellte er fest. „Drinnen im Gartenhaus wirkt sie wie ein Tischkasten; das Ding, auf dem Gérards Fotoapparat, seine Schmöker und seine Kaugummis liegen.“ „Na und?“ fragte Prosper. „An dieser Kette hat sicher mal so ein kleiner, kläffender Spitz gelegen,
einer von der Sorte, wie man sie hier zu Dutzenden sieht!“ „Ja!“ meinte Henri. „Als der Küchengarten noch in Schuß war! Bei Regen und in der Nacht ist das Biest in die eingebaute Hundehütte gekrochen. Was ist daran so sonderbar?“ Die Antwort, wenn auch auf seine Weise, gab Loulou. Sein Kopf erschien in der Öffnung - nein, zuerst sah man etwas anderes, etwas, das der Pudel vor sich herstupste: Es war eine Kugel! Ihrer Größe nach hätte man nicht folgern können, es sei die verlorengegangene. Jene nämlich war kleiner als ein Tischtennisball gewesen - und diese hier war so groß wie eine mittlere Weihnachtsbaumkugel. Aber das merkwürdige matte Schillern ließ selbst Micha nicht daran zweifeln: Das mußte die Kugel sein, die sie so lange gesucht hatten und die sich außerhalb der Isolierfolie und des Spezialkästchens verändert, das hieß hier zunächst einmal: vergrößert hatte. Superhirn hob sie rasch auf. „Das ist sie!“ sagte er voller Bestimmtheit. „Seltsam! Sie spiegelt einerseits - ich sehe mein Gesicht gewölbt, aber wie in einem Zerrspiegel -, andererseits scheint sie in ihrem Inneren Bilder einzufangen. Bilder vom Himmel! Ich sehe ein Flugzeug! Ja, eine Passagiermaschine der Air France!“ „Zeig mal!“ forderte Micha ungeduldig. Alle streckten ihre Hände aus, um nach der Kugel zu greifen. Doch Superhirn hielt sie mit rascher Bewegung hoch. „Schnell, ins Haus!“ rief er ungewöhnlich aufgeregt. Und er stürzte fast in die Gartenhütte. Die anderen folgten ihm. Superhirn drehte sich mit der Kugel wie auf einer heißen Herdplatte. So hatten ihn die Freunde noch niemals gesehen. „Wir müssen was tun!' schrie er. „Die Kugel dehnt sich weiter aus! In der Sonne, in meiner Hand, ist sie fühlbar größer geworden! Mensch, Gérard, daß du das Kästchen verlieren mußtest!' „Was würde das jetzt nützen?' verteidigte sich der stämmige Junge. „Die Kugel paßte ja nicht mehr hinein!“ „Aber die Schutzfolie hätte noch ausgereicht!“ rief Superhirn. Er nahm Prospers Windjacke vom Haken, wickelte die Kugel sorgfältig darin ein und legte sie unter den Schlafsack. „So, da ist es wenigstens dunkel. Wäre das Ding nicht in der Hundehütte gewesen und wäre die Nacht nicht gekommen, so hätten wir jetzt vermutlich einen unheimlichen Fußball am Bein!“ „Oder einen Wasserball!“ erinnerte Henri ernst. „Denk an den Anruf: Stichwort Wasserball! Vielleicht war das ein Hinweis darauf?“ „Daß die Kugel so groß wie ein Wasserball wird!“ ergänzte Tati. „Und dann erst zerplatzt!“ ließ Micha sich atemlos hören. „Was machen wir nun?“ fragte Prosper. „Zieh dir feste Schuhe an“, sagte Superhirn. „Gérard, du auch! Wir klettern sofort zur Fischerkirche hoch!“ „Noch vor dem Frühstück?“ fragte Gérard. „Du kannst ja bei Madame Claire bleiben und essen, bis du platzt!“ schimpfte Henri. „Hauptsache, die Kugel platzt nicht, bevor wir oben sind!“ Superhirn nahm die Windjacke behutsam auf, in die der geheimnisvolle Gegenstand eingewickelt war. Tati hatte sich draußen noch einmal umgesehen. „Mir ist alles klar“, berichtete sie. „Loulou hat die Kugel gestern rausgestupst; sie ist unter der offenen Eingangstür durchgerutscht, in die kleine Sandmulde daneben gerollt - und von da aus in die eingebaute Hundehütte. Die Haupttür hat keine Sperre mehr. Als wir rausliefen und suchten, haben wir sie bis an die Hauswand gestoßen, wodurch das Loch verdeckt war.“ „Sicher, so war's!“ stimmte Henri zu. Haha! Micha hat die Kugel fallen lassen, Loulou hat sie in das komische Versteck gestupst. Dafür haben sie beide als erste wieder den richtigen Riecher gehabt!' „Der Winter hat's genommen, der Frühling hat's gebracht!“ sagte Superhirn in spöttischer Ungeduld. „Darüber können wir uns später unterhalten! Seid ihr fertig? Dann los!“ Um neun Uhr morgens erreichten die Freunde die einsame Fischerkirche hoch über der Bucht und
hoch Über dem gräflichen Anwesen und der Bergstraße von Monton. Der Pfad hinauf war so verwittert und verwildert, daß sich das kleine Gebäude nicht einmal mehr als Ausflugsziel lohnte. Die einzigartige Schönheit des Platzes, die unverwechselbare Merkwürdigkeit des Baus und die kaum zu Übertreffende Aussicht über die Küstenfelsen, die Bucht mit ihren malerischen Ufern, Dörfern, Fischer- und Sporthäfen, vor allem aber über die glitzernde See, auf der weit entfernt die riesigen Tanker zogen – das alles lockte wegen seiner Unbequemlichkeit niemand mehr an diesen Platz. In früheren Zeiten, als es noch keinen Seewetterdienst, kein System von automatischen Blinkfeuern, Leuchtschildern und anderen Hinweislichtern gab, keinen Funk und keine Motoren, waren die Fischerfrauen an sturmverdunkelten Tagen zu dieser Kirche emporgestiegen, um für ihre Männer, Brüder, Söhne und Väter zu beten. Hier auf dem höchsten Platz über den Klippen, standen sie und hielten Ausschau nach den Booten ihrer Männer. Und oft hatten sie ganze Nächte lang hier oben ausgeharrt. Das alles hat sich längst geändert. Wenn die Frauen heute für ihre Angehörigen beteten, so taten sie es in der bequem erreichbaren Hafenkirche Saint Pierre de Monton. Dennoch war das alte Gebäude oberhalb der Steilküste zwar verlassen, aber nicht verfallen. Das Dach war dicht, die Tür saß gut in den Angeln. Kein Fenster zeigte einen Sprung. Im Inneren stand nichts als eine roh gehobelte Holzbank, und der Fußboden war sauber. Die Freunde hatten für all das keinen Blick. Sie hatten es eilig, denn die Kugel hatte sich beim Aufstieg - trotz der schützenden Windjacke - noch weiter vergrößert. Als Superhirn den Stoff von ihr nahm, glich sie einem goldrot schimmernden Luftballon. „Mensch, die reißt dir den Kopf ab, wenn sie platzt“, japste Prosper erschrocken. „Rückt die Bank nach vorn, schnell“, sagte Superhirn, zu den Fenstern hochblickend. „Die Sonne fällt noch ziemlich flach ein. Aber ich muß es jetzt schon versuchen...“ Als er mit dem „Ballon“ auf die herbeigeschobene Bank gestiegen war, fügte er hinzu: „Am besten, ihr geht alle hinaus!“ „Kommt nicht in Frage!“ rief Henri. „Weil Prosper Angst um seine Eselsohren hat, sollen wir uns verkriechen? Beim Aufstieg habe ich die ganze Zeit nachgedacht: Es ist ausgeschlossen, daß Professor Charivari uns mit diesem Ding in Gefahr bringt! Es ist überhaupt nicht seine Art, jemanden ohne Not zu gefährden!“ „Denke ich auch!“ murmelte Superhirn. Jäh wurde seine ganze Aufmerksamkeit von einer Erscheinung in Anspruch genommen. „Ich sehe etwas!“ hallte seine Stimme durch den kahlen Kirchraum. „Wieder deine eigene Fratze?“ fragte Gérard. Superhirn ging auf den Spott des Freundes nicht ein. „Der Spiegeleffekt schwindet. In der Kugel ist was los! Ich sehe das Gesicht des Professors!“ Henri und Tati kletterten zu Superhirn auf die Bank. „Der Professor?“ schrie Prosper. „In dem Ballon?“ Er reckte den Hals und vollführte wahre Bocksprünge, um etwas zu sehen. „Es ist, als hätte ich einen runden Fernsehapparat in den Händen!“ meldete Superhirn. „Vielleicht ist es einer!“ meinte Gérard. „Nein!“ rief Superhirn. „Ich weiß jetzt, was diese Kugel ist: ein Hologramm. Das Ding hat ein winziges gitterähnliches Punktmuster. Die kleinen Punkte werden bei der Herstellung mit Laserstrahlen aufgezeichnet. Wenn man das richtige Licht hindurchfallen läßt, entsteht das Aufgezeichnete als ein körperliches Bild wieder! Deswegen mußten wir auch diesen bestimmten Sonnenstrahl suchen, weil er das richtige Licht hat!“ „Ein Bildfunk-Empfangsgerät?“ staunte Micha. „Das Hologramm ist eine eingefrorene Bildnachricht“, murmelte Superhirn. „Aber dieses eingefroren' darfst du nicht wörtlich nehmen, Micha. Ich meine damit, es ist ein starres Bild. Hologramme sind eigentlich die Wiedergabe von bestimmten Lichtwellenmustern. Bei der Herstellung teilt man das Licht eines Lasers (genauer: eines einfarbigen Lichtverstärkers) in zwei Strahlen. Der erste fällt auf eine Person, einen Gegenstand oder eine Schrift - und wird von diesen
angestrahlten Objekten auf eine Fotoplatte zurückgeworfen. Der zweite fällt direkt auf die Fotoplatte. Dabei entsteht das Lichtwellenmuster, das Hologramm! Wird das dann später vom Licht der gleichen Farbe wie bei der Aufnahme durchstrahlt, so werden die Lichtstrahlen so gebeugt, daß sie die festgehaltenen Objekte wieder sichtbar werden lassen.“ „Man sieht hinter der Kugelhaut, was längst vorher auf genommen wurde?“ vergewisserte sich Gérard. Superhirn nickte kurz. Er hielt den Kugelball hoch, so das die Sonneneinstrahlung nicht durch seinen Kopf verdeckt wurde. Tati und Henri, die neben ihm auf der Bank standen, sahen das Bild jetzt so gut wie er. Im Vordergrund der Innenseite wie unter eine gekrümmten Farbfolie schien sich ein greulicher Anblick auszubreiten. Es war, als hätte die Kugel ein menschliches Ungeheuer eingefangen. Und wäre Professor Charivari den Beobachtern nicht als ihr bester Freund bekannt gewesen - sie wären von der Bank gesprungen und schreiend ins Freie gelaufen. im Flimmern des Sonnenlichts entwickelte sich immer deutlicher das Gesicht. Erst flackerte es. Es schien, als strebten Nase, Kinn und Stirn in verschiedene Richtungen. Die Mundpartie zog sich ganz widerwärtig in die Breite, während die Ohren die Schläfen und Wangen einzudrücken drohten. Als Superhirn das Bild richtig ins Licht gedreht hatte, machte er kaum einen menschlicheren Eindruck: Der spitze Schädel war völlig kahl. Die Augenbrauen wirkten wie zwei starke, dunkle Striche, unter denen die Augen fast verschwanden. Das Auffallendste aber waren der dünnsträhnige, lange Kinnbart und die bartlosen, eingefallenen Wangen unter hohen Backenknochen. „Warum hören wir nichts? Warum spricht der Professor nicht?“ rief Micha. „Hast du nicht begriffen?“ sagte Henri unwillig. „Das ist kein gewöhnliches Fernsehgerät! Die Kugel zeigt uns ein Bild. Wenn Superhirn sie etwas dreht, sehe ich auch eine Tafel mit starrer Schrift. Aber keinen Film! Und Ton liefert das Hologramm nicht!“ .Dreh doch mal die Schrifttafel!“ rief Prosper, der hinter der Bank auf Zehenspitzen stand und seinen langen Hals reckte. „Superhirn, was erkennst du?“ „Hier Professor Doktor Brutto Charivari“, las Superhirn laut ab, „ich hoffe, Superhirn hat alles folgerichtig kombiniert. Hier habt ihr meine Nachricht!“ „Was für eine Nachricht?“ fragte Gérard, vor Spannung schnaufend. Superhirn las die folgenden Sätze vor: „Ich befinde mich auf meiner neuen Raumstation im Weltall.“ „Raumstation!“ jubelte Micha. „Mal was anderes! Was ganz, ganz Großes! Nicht mehr Bodenstation, Unterwasserstadt oder Stützpunkt auf dem Mond!“ Superhirn verfolgte die Schrift im Innern der ballonähnlichen Kugel mit Argusaugen. „Die Orbitalstation heißt Monitor - nach dem ersten Raumschiff, in dem ihr manches Abenteuer bestanden habt. Sie kreist ständig um die Erde, nicht nur ein paar Monate wie die gewöhnlichen Besatzungen in ihren Weltraumlabors. Sie ist mit den üblichen Mitteln der Astro-Technik nicht zu orten - und außerdem unangreifbar. Kein Unbefugter weiß von ihrer Existenz, weil die Radarwellen aufgesogen und nicht zurückgeworfen werden. Unsere Station ist auch kein Versuchsobjekt mehr. Hier wird geforscht und produziert. Hier wird nicht mehr nur beobachtet, sondern Einwirkung auf die Erde genommen.“ „Das verstehe ich nicht!“ maulte Micha. „Wart´s ab!“ zischte Tati. Superhirn, auf die Schrift blickend, murmelte etwas von „Himmelserkundung, Ausbeutung der Sonnenenergie, Vermessung der Wüsten, Beseitigung von Umweltverschmutzung, Friedenslenkung, Kriegsverhinderung“ und anderem, das für Micha langweilig war. Aber das nächste ließ ihn aufhorchen: „Geht noch heute nachmittag nach Monton. Bereitet Euch auf eine Reise vor. Steigt in den letzten Waggon auf dem alten Verladebahnhof für Austern...“ „Weiter!“ forderte Gérard mit vor Spannung bebender stimme. Austern-Verladebahnhof? Ja und? Und?“ „Und!“ rief Superhirn wütend. „Wie soll ich das je erfahren? Siehst du nicht, daß meine Hände leer
sind?“ Ja! Er hielt die Arme wohl noch ausgestreckt - aber er hielt keine Kugel mehr. Auf seinen leicht gekrümmten Handflächen lag nur noch etwas Staub. „Wo - wo ist die Ku-kugel - dieser Ba-ba-ballon?“ stammelte Prosper. Die anderen blickten sich entgeistert an. „Geplatzt“, schimpfte Superhirn. Er stieg von der Bank. „Lautlos geplatzt. Wie eine Seifenblase! Hat sich in Staub aufgelöst, ohne daß ich das geringste gespürt habe! Charivari hat nicht damit gerechnet, daß die Kugel so lange ungeschützt den Witterungseinflüssen ausgesetzt sein könnte. Vielleicht bestand sie aus einem der modernen Kunststoffe, die im Licht zerfallen. Nun, kein Fremder dürfte ja auch nur ein Stück des Hologramms finden! Denn jedes Stück hätte das ganze Bild gezeigt - wenn auch mit eingeengtem Einblickwinkel.“ „Jetzt stehen wir hier, wie bestellt und nicht abgeholt“, ärgerte sich Gérard. „Auf was für 'ne Reise sollen wir uns vorbereiten? Und wohin sollen wir steigen? In einen Eisenbahnwagen auf dem Austern-Verladebahnhof? Wir sind doch keine Nahrungsmittel!“ Für Superhirn antwortete Henri, der mit Tati ebenfalls von der Bank gesprungen war: „Ich schätze, die Reise, auf die wir uns gefaßt machen Sollen, läuft auf eine Einladung hinaus!“ „Einladung?“ wiederholte Gérard. „Wohin?“ „Na, in die Weltraumstation!“ begriff Micha. Begeistert schrie er: „Klar! Wohin sonst? In Charivaris neue Raumstation Monitor!“ 5. Ab Austernbahnhof ins All? So schnell sie konnten, liefen, kletterten und rutschten die sechs mit dem Hund den verwilderten Zickzackpfad zur Villa Monton hinunter. „Wenn das wirklich eine Einladung zur Raumstation war“, keuchte Henri, der sich dicht hinter Superhirn hielt, „wie kommen wir dann dahin? Doch nicht mit einem Güterwagen der Austernfischerei!“ Superhirn lachte und antwortete nur: „Bestimmt nicht!“ „Ob das wieder eine getarnte Nachricht war, wie die in dein Telefonanruf?“ ließ Henri nicht locker. „Wir werden sehen“, gab Superhirn zurück. Vielleicht kriegen wir noch einen Hinweis, einen, der uns völlige Klarheit gibt!“ Henri rief den anderen Superhirns Vermutung zu ohne zu ahnen, daß das mehr eine Hoffnung des gescheiten Freundes war. Superhirn rechnete im Grunde mit keiner Botschaft mehr. Er war davon überzeugt, daß er von jetzt an ganz auf seinen Verstand angewiesen war ... Auf der Straße am Fuße des Fischerbergs stand vor dem Eingang zum Park der Wagen des Supermarktes im Ort. Es war ein großer Lieferwagen. Zu bestimmten Zeiten in der Woche erschien er vor einsamen Anwesen, um vom Scheuerlappen bis zum Frischfisch alles überhaupt nur Denkbare für Haushalt und Küche anzubieten. Die Seitenwand des Wagens war heruntergeklappt und hatte sich in eine Art Ladentisch verwandelt. Davor sah man Madame Claire, die soeben Verschiedenes in zwei große Einkaufstaschen stopfte. „Ssst!“ Prosper blieb stehen. Auch die anderen verharrten. „Was ist denn?“ fragte Henri. „In dem Supermarktauto, könnte eine Vertrauensperson des Professors sitzen! Ich meine, er hat längst heraus, daß uns die Kugel geplatzt ist!“ „Und du willst dir in dem rollenden Laden eine neue ,Holo-Kugel' kaufen?“ feixte Gérard. „Bitte dann vergiß aber nicht, das Ding in eine Schutzfolie wickeln und in ein Patentkästchen stecken zu lassen!“ „Ich werde sogar sagen, daß du der Idiot warst, der beides verloren hat!“ murrte Prosper. „Macht euch nicht lächerlich!“ mahnte Tati. Doch auch Micha gab keine Ruhe.
„Wir können ja mal hingehen, ein paar Bonbons verlangen“, schlug er vor. „Wenn der Verkäufer uns nichts anderes gibt, na, dann haben wir uns eben geirrt.“ Superhirn schüttelte den Kopf. Aber er ließ dem Jüngeren seinen Willen. ,Ach, da seid ihr ja!“ rief Madame Claire erleichtert. „Ich habe mich schon gewundert! So spät zu Bett - und dann noch vor dem Frühstück auf die Wanderschaft!“ Sie lachte. „Nennt ihr das Ferien?“ „Na, aber gerade!“ betonte Superhirn, als sei das das Selbstverständlichste der Welt. „Die Nacht war herrlich, und den Sonnenaufgang hätten Sie sehen sollen, Madame! So was hat man in der Stadt nicht!“ „Sehr richtig“, murmelte Gérard. mit einem Gesicht, als habe er seinem Magen den Befehl gegeben, nicht zu knurren. „Dafür wird euch das Essen jetzt um so besser schmecken“, meinte Madame Claire, wobei sie lächelte. „Ich habe vorsorglich einen Imbiß bereitgestellt!“ „Prima!“ rief Prosper. Doch er schielte erst einmal zu den weißbekittelten Leuten, einem Mann und einer Frau, die im Inneren des Wagens hinter dem heruntergeklappten Ladentisch standen. Micha verlangte Bonbons - und er bekam sie zu seiner Enttäuschung auch. Da fiel der Blick der Verkäuferin auf Prosper, „Und du?“ fragte sie. „Siehst nicht aus, als hättest du Appetit auf Bonbons! Ein Glas Gurken gefällig?“ Prosper kramte wie wild in seiner Tasche. „J-j-ja - ein G-g-glas Gurken!“ stammelte er erwartungsvoll. Er legte ein paar Münzen auf die Platte - und bekam einen gewölbten, mit einem Metalldeckel versehenen Glasbehälter voller kleiner Gürkchen. „Hier, du kriegst noch Geld heraus!“ rief die Verkäuferin. Tati nahm es, denn Prosper strebte mit seinem Schatz bereits durchs Gartentor. „Meint er wirklich, das sei auch so eine Sichtkugel?“ flüsterte Henri. „Der narrt sich doch selber!“ „Er hat sich in die Idee versteift!“ bestätigte Superhirn mit unterdrücktem Lachen. Doch Micha schwor darauf: „Die Frau war eine Vertrauensperson! Sie hat so vertraulich geguckt! Und das Gurkenglas ist gewölbt!“ „Pssst!“ mahnte Gérard. Er trug Madame Claires Einkaufstasche und schwenkte mit ihr in Richtung des Hauses ab. Die anderen liefen zur Gartenhütte. Prosper hockte auf dem verrotteten Leiterwagen und hielt das Glas in die Sonne. Ich seh was!“ rief er. „Professor Doktor Gurkiwurki mit seinen Gurkinauten, Gurkingenieure, Gurko-Laboranten, Gurkographen, alle in der Weltgurkenstation Gurkitor, wie?“ spottete Superhirn. „Nein, da schillert was! Zwischen den Gurken schillert was!“ beharrte Prosper. „Ja, er hat recht!“ schrie Micha, kaum daß er Prosper erreicht hatte. „Zeig mal!“ sagte nun auch Henri interessiert. Superhirn blieb stirnrunzelnd stehen. „Es ist nicht wissenschaftlich, ein Phänomen nach dem anderen zu erwarten, und zwar blindlings sozusagen über den Daumen der Phantasie! Das haben die alten Goldsucher in Amerika so gemacht, und sie sind dabei verhungert! Einbildung ist ein schlechter Detektiv!“ „Aber der Professor bringt alles fertig!“ verteidigte Micha Prosper und sein Gurkenglas. „Sicher nicht alles!“ ergriff Tati Superhirns Partei. „Was ich da sehe, sind ganz gewöhnliche Gurken!“ „Und gestern hast du eine ganz gewöhnliche Murmel in der Hand gehabt!“ rief Prosper wütend. „Stimmt“, beschwichtigte Superhirn. „Nur muß man die Zeichen richtig deuten. Die Kugel war an mich adressiert, und ihr waren zwei Hinweise vorausgegangen. Wenn das Supermarkt-Auto von Wichtigkeit gewesen wäre, hätte es der Professor in seiner Nachrichtenschrift noch vor der Aufforderung erwähnt, uns auf eine nachmittägliche Abreise vorzubereiten. Schon vom zeitlichen Ablauf her! Außerdem hat die Frau dir das Gurkenglas mehr aus Spaß angeboten, weil du - im Gegensatz zu Micha - keine Bonbons kaufen wolltest und sie trotzdem so scharf angepeilt hast!
Ebenso hätte sie sagen können: Willst du ein halbes Kilo Erdbeeren haben?“ Da ertönte Gérards Stimme: „He, Kinder! Kommt zum großen Frühstück! Madame Claire hat Kakao aufgewärmt!“ „Gib her, Prosper“, sagte Tati lachend. „Die Schiller-Gurken werden wir uns jetzt schmecken lassen!“ Und sie marschierten alle zur Terrasse. Als sie zum Imbiß auch die Gurken verzehrten, lenkte Prosper ein: „Hm! Ich sehe, Superhirn hat wieder mal recht. Mir ist nicht so, als würde ich Geheimsender oder in Essig gelegte Roboter verschlucken. Und was da im Glas rumschwimmt, ist nichts als die übliche Gurkenbrühe. Es ist mir jetzt auch klar, weshalb uns der Professor zum Austern-Verladebahnhof schickt! In dem abgestellten Waggon wird die nächste Nachricht sein!“ „Klar, was die Reise betrifft!“ stimmte Henri zu. „Wahrscheinlich werden wir erfahren, wo das Boot anlegt, das uns mitnehmen, aufs Meer hinausfahren und zu einem wartenden Raumschiff bringen soll!“ „Aha!“ brummte Gérard, heftig mit Weißbrot und Käse beschäftigt. Micha stellte seine Kakaotasse hin und wischte sich den Kakaorand am Mund ab. „Aber wenn wir einfach abschwirren - was sagen wir Madame Claire? Die Wahrheit darf sie doch nicht wissen!“ Listig fügte er hinzu: „Und es heißt doch immer: Kinder dürfen nicht lügen!“ Tati biß sich auf die Lippen. Ja, Michas Frage war ein Volltreffer, peinlich für die Großen. Alle blickten wieder auf Superhirn. Der dünne Junge, der so leicht um keine Antwort verlegen war, rückte heftig an seiner Brille. Da half ihm Tati aus der Klemme. „Man ist nicht verpflichtet, alles zu sagen, was man weiß“, erklärte sie. „Es gibt auch Dinge, die man aus guten Gründen verschweigt.“ Superhirn warf Tati einen dankbaren Blick zu. „Du sagst es! Also ist es völlig selbstverständlich, daß wir unser Ziel keinem Menschen auf die Nase binden. Für Madame Claire machen wir eine Busfahrt auf die Ponyfarm bei Fleur au Tranc; sie gehört dem Vater meines Freundes Richard. Ich rufe Richard nachher an.“ „Und ich wasche unser schmutziges Zeug und hänge es im Trockenkeller an die Leine“, sagte Tati. „Wir lassen unser Hauptgepäck hier, zum Zeichen, daß wir wiederkommen. Das Tandem können wir sowieso nicht mitnehmen.“ „Mehr als vier, fünf Tage wird uns Charivari sowieso nicht auf der Raumstation behalten“, vermutete Henri. „Dazu ist er viel zu vorsichtig.“ Bereits um fünfzehn Uhr waren die Gefährten mit dem Pudel unten im Ort. Sie trugen Jeans und Pullis oder Trainingsanzüge und nur das nötigste Gepäck. Das, was sie unbedingt brauchten, hatten sie in Rucksäcke und Badebeutel gestopft. Für einen Start zu Charivaris Weltraumstation war bestimmt alles Notwendige vorhanden. „Gut, daß wir unsere Ansichtskarten für zu Hause schon geschrieben haben“, sagte Tati, als sie dem alten Verladebahnhof zuwanderten. „Und ich glaube, Madame Claire ist ganz froh, uns eine Weile los zu sein.“ „Bin neugierig, was für eine Nachricht wir in dem abgestellten Eisenbahnwagen finden werden“, murmelte Gérard. „Vielleicht Tauchflossen, Kappen, Schutzbrillen - möglicherweise auch Atemgeräte. Charivari könnte eine Unterwasser-Abschußrampe in der Bucht haben!“ „Zu der wir schwimmen sollten?“ fragte Prosper. Superhirn schüttelte den Kopf. „Ihr wißt, Charivaris neue Raumschiffe brauchen keine Rampen. Es sind Mehrzweckschiffe, die sowohl als Tiefsee-, Überwasser-, Luft- und Weltraumfahrzeuge funktionieren. Start und Landung gehen ohne den altmodischen Aufwand vonstatten. Ich denke mir das so: Wir sollen uns im abgestellten Eisenbahnwagen verstecken. Bei Anbruch der Dunkelheit kommt ein Astronaut des Professors, der uns abholt. Er wird uns in einem Schlauchboot dorthin bringen, wo in der Finsternis ein Monitor-Raumschiff wie ein normales Seeschiff vor Anker liegt. Natürlich unbeleuchtet „Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Raumschiff und einer Raumstation - außer daß
die Raumstation größer ist?“ fragte Micha. „Das hast du heute morgen schon gehört“, erinnerte Henri. „Du kennst die ersten Weltraumlabors doch aus den Fernsehübertragungen!“ „Halt!“ unterbrach Superhirn. So wird Charivaris Orbitalstation bestimmt nicht aussehen: torpedooder libellenförmig mit den starren, mühlenähnlichen Flügeln, den Sonnenpaddeln und dem komischen Sonnenschirm! Die Skaylab-Station dient hauptsächlich immer noch dazu, die Wirkung des Alls auf die Insassen zu erproben. Wie uns die Schrift in der Kugel mitteilte, ist Charivari längst darüber hinaus. Wenn ich ihn recht verstanden habe, ist er bereits dabei, aus dem Weltraum Nutzen zu ziehen. Seine Station ist eine kreisende Himmelsstadt - und danach wird sie auch aussehen. Aber das werden wir ja bald wissen.“ Prosper blieb stehen und starrte nach vorn. Staunend fragte er: „Was ist denn da los? Mir scheint, da ist die Welt mit Brettern vernagelt!“ Zuletzt waren die Freunde neben den Schienen hergegangen, und sie hatten auch ein altes Schild gesehen: „Zum Austernbahnhof“. Aber nun waren sie um eine Kurve gebogen - und sahen vor sich eine Bretterwand. „Es ist was mit Farbe draufgeschmiert“, entdeckte Henri. „Ob das schon die Nachricht für uns ist?“ „Unsinn!“ rief Tati. „Der Professor wird geheime Botschaften an Bretterwände kleckern lassen! Da steht ganz einfach Gesperrt' drauf. Da, schaut!“ „Außer Betrieb!“, las Gérard. „Na klar! Austern werden in Kühlautos abtransportiert!“ „Ja! Das sind die riesigen, silberfarbenen Lastwagen, die man so oft auf den Landstraßen sieht“, sagte Prosper. „Das hätten wir uns denken können! Wir hätten wissen müssen, daß hier nichts mehr los ist!“ „Das habe ich längst gewußt“, gab Superhirn lachend zu, „Meinst du, Charivari würde uns sonst gerade hierherbestellt haben? Übrigens ist hier die Welt nicht mit Brettern vernagelt. Man kann um das Hindernis herumgehen!“ „Oooh“ machte Micha staunend. „Da sind ja noch mehr Brennesseln als im Küchengarten bei der Villa Monton! Ich finde, das sieht eher nach einem Unkraut-Verladebahnhof aus!“ Tati nahm den Pudel auf den Arm. Sie stiegen eine wacklige Holztreppe hoch und wanderten über die verwitterte Bahnsteigrampe. „Mindestens seit zwei Jahren nicht benutzt“, bemerkte Gérard. „Woran siehst du das, an der Bahnhofsuhr?“ fragte Henri. „Die Güterwagen sehen aus, als hätte schon Noah die Tiere darin zu seiner Arche gebracht“, witzelte Tati. „Und Methusalem hat zur Abfahrt gepfiffen!“ feixte Prosper. „Kaum zu glauben! In diesen eckigen kleinen Rostkästen soll man Austern nach Paris transportiert haben? Höchstens ihre Bärte!“ „Bärte?“ fragte Micha verständnislos. „Die Auster ist eine Muschel-Art, ein schalengeschütztes Weichtier“, warf Superhirn ein, „aber sie wächst mit sogenannten Byssusfäden auf dem Meeresboden fest, und zwar seltsamerweise meist mit ihrer linken Seite. Diese Fäden nennt man auch Bärte. Natürlich werden sie nicht gegessen, denn von Austern verzehrt man ja nur das Innere aus den Schalen.“ Er spähte umher. „Seht mal - die alte Lok da drüben auf dem Abstellgleis!“ rief Prosper. „Die hat ihren letzten Schnaufer längst getan!“ brummte Gérard. Ich kann mir nicht helfen: Das alles paßt nicht gerade zu einem Weltraumabenteuer!“ „Es paßt mehr zu Prospers Gurken!“ sagte Henri. „Die Gurken sind euch ins Gehirn gestiegen!“ rief Prosper. Ain mal neugierig, wie viele ich davon noch zu hören kriege!“ Entschlossen sprang er von der Rampe und stapfte unter Umgehung der größten Brennesselkolonie auf einen kuriosen alten Personenwaggon zu. „Sind die Austern auch zweiter oder erster Klasse gefahren?“ spottete Gérard. „Nee, aber an die Güterzüge waren immer auch Eisenbahnwagen für Personenverkehr angehängt“, gab Prosper humorlos zurück. „Das kannst du dir zusammenreimen! Stünden sonst hier solche
Waggons herum?“ „Hm“, meinte Tati. „Ich denke nicht, daß Charivari uns in so einer stinkigen, alten Austernkiste auf Rädern rumkriechen lassen wollte! Er wird einen Personenwagen gemeint haben!“ „Den letzten!“ erinnerte Superhirn. „Den hintersten am Ende der Gleise!“ Zwischen den Schienen, Weichen und den auf verschiedenen Abzweigungen geschobenen Waggons wuchs nicht nur Unkraut; viele reichlich verwilderte Büsche machten das alte Bahngelände sehr unübersichtlich „Hier ist die Schiene zu Ende!“ meldete Micha aufgeregt. „Und hier steht ein Personenwagen.“ Von der bröckligen Bahnsteigkante aus erkletterte er die Plattform und verschwand im Inneren. „Siehst du da was?“ rief Prosper begierig. „Nichts!“ meldete er nach draußen. „Da sind sogar die Bänke rausgenommen. Habe nichts gesehen als Wände, Fenster und Türen!“ Waff! Wuff! Auch der Zwergpudel schien enttäuscht zu sein. Gérard prüfte die alte Lok. Henri lief ungeachtet der Brennesseln zwischen den Güter- und Personenwagen herum. „Der Heizkessel läßt sich öffnen!“ verkündete Gérard. „Aber da steckt Professor Charivari nicht drin. Und der Dampfreglerhebel sitzt fest wie eine Maus in der Falle. Nee, hier ist nichts zu holen...“ „Hier auch nicht!“ hörte man Henris ärgerliche Stimme. „Dieser Personenwagen ist abgeschlossen, und die Fenster sind blind!“ Superhirn war auf eine vergessene Bauleiter gestiegen, die am Bahnhofshäuschen lehnte. Nun konnte er das ganze Rangier- und Depotgelände jenseits der Hauptschienen überblicken. „Ganz dort hinten“, rief er, „auf dem seitlichen Nebengleis, vor dem Prellbock, steht noch ein Waggon! Tati nahm Loulou wieder auf den Arm. Alle stapften über rostige Schienenschwellen, durch das hohe Unkraut und um die verwilderten Büsche herum auf die angegebene Stelle zu. „Hier braucht man wahrhaftig einen Kompaß!“ meinte Henri. Schließlich erreichten sie den von Superhirn entdeckten Personenwagen. Henri, Gérard, Prosper und Micha stürzten darauf zu. „Die Türen sind abgeschlossen!“ rief Gérard. „Verflixt! jetzt macht mir die Sache aber bald keinen Spaß mehr!“ „Die Klinken lassen sich nicht mal bewegen!“ schnaufte Micha. „Hm! Aber der Wagen ist anders konstruiert als die übrigen!“ bemerkte Superhirn. „Er hat keine Plattformen mehr. Die Abteile sind von der Seite her zu erreichen. Die Fenster der Türen, an denen ihr gerüttelt habt, sind blind. Mir scheint, nicht vor Alter!“ Er stieg auf die Waggonstufe vor der mittleren Tür - und öffnete sie. „Das ging ja wie geschmiert!“ meinte Tati staunend, die hinter ihm stand. „Und hat sich da nicht was bewegt?“ Gleich trat Micha zwei Schritte zurück. „Bewegt?“ fragte er argwöhnisch. „Ein Mann?“ „Ein Gespenst!“ witzelte Gérard und grinste dabei. „Quatsch! Mach Micha keine Angst!“ herrschte Tati ihn an. „Euch wäre auch nicht wohl, wenn ihr Gespenstern begegnen würdet, wette ich! Nein, da hat sich was Blinkendes zur Seite geschoben!“ „Eine Schleusenwand!“ vermutete Superhirn. Furchtlos kletterte er in den Wagen hinein. Von innen tönte seine Stimme vergnügt, fast begeistert: „Kinder, das ist er! Das ist Charivaris Waggon! Schnell! Kommt nach!“ Das ließen sich die anderen nicht zweimal sagen. Sie drängten sich in das Innere des Eisenbahnwagens. Aber war das überhaupt einer? „Die Wände schimmern so komisch!“ sagte Henri. „Ich sehe keine Fenster, keine Türklinken, nichts, was nach Bahn aussieht!“ „Wir sind in einer Flugzeugkabine!“ stammelte Prosper verblüfft, „Aber wo - wo ist die Pilotenkanzel?“
Plötzlich erklang von irgendwoher, ja eigentlich von überallher der schaurig dröhnende Befehl: „Hinsetzen!“ Wuff! Wuff! Erschrocken bellend, sprang der Pudel von Tatis Arm. „Halt ihn fest, Micha!“ befahl Tati. Sie warf sich in einen der bequemen, modernen Sessel. „Micha, du kommst mit Loulou neben mich!“ Doch da die Lehnen wie riesige halbe Eierschalen gebaut waren, konnte sie nicht sehen, ob der jüngste ihrer Aufforderung folgte. „Alles an Bord?“ ertönte die schaurige Stimme. Sie kam offensichtlich durch mehrere eingebaute Lautsprecher. „Alles an Bord!“ rief Prosper. Er hatte Tatis an Micha gerichtete Worte gehört und nahm an, daß jeder in einem der sechs Sessel sag. Neben ihm hatte Gérard Platz genommen. Vor den beiden machten es sich Henri und Superhirn bequem. Tati befand sich in der letzten Zweisitz-Reihe. Und Micha und Loulou - so nahmen alle an - ebenfalls. Das Licht wirkte auch ungünstig auf die Augen, nachdem sie eben noch durch hellen Sonnenschein gewandert waren. Alle Wände des röhrenförmigen Gebildes, in dem sie sich jetzt befanden, schimmerten schwach. Es war, als befände man sich in einer riesenhaften, besonders eigenartigen Mattglühlampe, die auf „Notausgangbeleuchtung“ herabgeschaltet war. Aber das Licht war nicht rot oder gelb, sondern silbrig. „Willkommen an Bord des Zubringers zur Monitor-Raumstation“, ertönte die Stimme durch die unsichtbaren Lautsprecher. „Ihr werdet ferngesteuert. Ihr braucht auf nichts zu achten. Seht euch nicht nach Instrumenten, Apparaten oder Geräten um. Es ist zwecklos. Ihr werdet außer den Sesseln nichts, aber auch gar nichts im Inneren der Raumkapsel bemerken. Alle Aggregate befinden sich in den Wänden. Es gibt auch keine Sichtmöglichkeit nach außen. Wundert euch nicht. Der Flug wird kurz sein. Ihr startet schon. . . „ Da ertönte Tatis gellender Schrei: „Micha! Micha ist nicht mit!“ 6. Entsetzen Das war wirklich ein schlechter Start! „Auch der Hund fehlt!“ rief Prosper. „He, Superhirn! Halt die Rakete an! Sag, was los ist! Man muß uns hören! In den Wänden sind verborgene Mikrofone!“ Daran konnte kein Zweifel sein: Prospers Antwort auf die Sprechfunkfrage „Alles an Bord?“ war von der Fernsteuerungsstelle verstanden worden. Doch gerade Prosper hatte voreilig die Bestätigung gegeben. „Zu spät!“ brüllte Gérard. „Hast du nicht begriffen? Wir starten! Wir sind gestartet!“ Doch Tati kümmerte das alles nicht. Sie war so aufgeregt, daß sie gegen jede Einsicht verlangte: „Superhirn! Bring das Schiff zum Stehen! Lenk es zurück auf den Bahnhof! Ich kann Micha nicht allein lassen! Superhirn! Tu doch was!“ In dem unheimlichen, aus den Wänden dringenden Lichtschimmer lief Henri durch die Kabine. „Die Schiebetür ist zu! Hermetisch verschlossen! Es ist weder eine Klinke noch ein Drücker, Drehknopf oder sonst irgendein Öffnungshebel dran! Himmel! Loulou muß noch mal rausgesaust sein und Micha hinterher, um ihn zu fassen - im gleichen Augenblick hat die Stimme des Unsichtbaren angefragt, und Prosper, der Trottel, hat prompt gekräht: Alles an Bord!' Darauf hat sich die Tür automatisch geschlossen, und der ferngesteuerte Start ist erfolgt! Micha und Loulou hocken jetzt vermutlich völlig verdutzt in den Brennesseln auf dem Austernbahnhof und sehen uns in den Wolken verschwinden!“ „Und die Stimme, die da angefragt hat, war eine Maschinenstimme“, behauptete Gérard. „Sicher ist sie nur auf bestimmte Anfragen und Antworten programmiert!“ .Nein!“ rief Tati. „Das war keine scheppernde Automatenstimme, wie wir sie aus Charivaris Großraumschiffen kennen! Das war eine menschliche Stimme! Dieselbe, die ich neulich am Telefon
gehört habe! Die sogenannte Vertrauensperson des Professors hat uns in Monton beschattet, und sie leitet wahrscheinlich auch von irgendwoher unseren Aufstieg!“ „Das bezweifle ich!“ widersprach Superhirn entschieden. „Charivaris Gewährsleute werden aus Sicherheitsgründen keinerlei Zusammenhänge kennen. Der Mann, der uns aus Lyon die Kugel geschickt hat, kannte deren Bedeutung nicht, und er wußte ganz sicher nicht, was ich damit anfangen sollte. Der Telefonanrufer hatte sicher auch keine Ahnung vom Sinn seiner Durchsage. Und wenn wir wirklich von einem Vertrauensmann im Küstengebiet ferngesteuert werden, so hatte der lediglich den Teilauftrag, diese Zubringer-Rakete starten zu lassen, nachdem wir sie betreten hatten.“ Prosper rieb sich heftig die Nase. Er überlegte eine Sekunde und fragte: Aber wieso denn diese Umstände?“ „Ich sagte: aus Sicherheitsgründen!“ rief Superhirn. „Ich wette, unter Charivaris Gewährsleuten auf der Erde kennt einer den anderen nicht! Wäre ein einziger voll eingeweiht, so könnte er möglicherweise unbefugten Personen auch alles gleich vollständig verraten! Ich denke, unser Starthelfer sitzt in einer provisorischen Lenk- und Kontrollstation auf einer Felsinsel in der Bucht. Er hat keinen Sichtfunk ins Innere dieses Zubringers, er überwacht und steuert über Impulsempfänger und Impulsgeber alle Geräte, die sich in den Wänden unserer Röhrenkapsel befinden!“ Tati tastete verzweifelt die festverschlossene Schiebetür ab. „Ich kann's nicht glauben, daß wir gestartet sind!“ begann sie aufs neue zu jammern. „Mir ist, als ob ich träume! Der verlassene Austern-Verladebahnhof - das Unkraut - die rostigen Schienen und die alten Waggons . Wir sind doch in einen abgestellten altmodischen Eisenbahnwaggon gestiegen.“ Sie wiederholte schreiend: „In einen abgestellten altmodischen Eisenbahnwaggon!“ Henri tastete ebenfalls an den Wänden umher. Er war genauso in Sorge um Micha und natürlich auch um den kleinen Hund, doch er bemühte sich, besonnen zu bleiben. „Wenn der Mann, der uns fernsteuert, auch keinen Blick zu uns hereinwerfen kann, so muß er wenigstens das Bahngelände vielleicht über einen geheimen TV-Außensender - geprüft haben. Er hat auch die Waggontür ferngeöffnet, und zwar für uns. Andere, die sich zufällig hier herumgetrieben hätten, wären niemals in dieses getarnte Zubringerschiff reingelassen worden!“ „Stimmt!“ Superhirn war plötzlich auffällig schweigsam. „Nun sag doch endlich was!“ rief ihm Tati zu. „Ich glaubte bisher, du weißt immer alles! Diesen Sommer scheinst du unter der Hitze gelitten zu haben! Ich halt´s für ausgeschlossen, daß wir mit den ollen Wagenwänden um uns herum, mit den rostigen Rädern, mit den komischen Puffern und dem albernen gewölbten Waggondach einen Weltraumstart gemacht haben sollen! Wie stellst du dir das eigentlich vor, Superhirn?“ Noch ehe er antworten konnte, fuhr sie außer sich fort: „Wir sind in eine ganz blöde Falle gelaufen! Jemand, der weiß, daß wir mit Charivari befreundet sind, hat uns zum Narren gehalten! Er hat uns angerufen und uns die Kugel zugeschickt! Und wir, wir sind ihm auf den Leim gehopst! Dies hier ist nichts als ein frisierter Wagen, wahrscheinlich mit einem Einbau vom Rummelplatz in Monton! Bestimmt sitzen wir eingesperrt noch immer zwischen den Brennesseln! Und Loulou hat den Braten gerochen und ist vorher rausgesaust! Hunde sind manchmal schlauer als Menschen! Micha sah, wie der Hund sich benahm, und sprang schnell hinterher. Bevor er uns zurufen konnte ´Ich traue dem Frieden nicht!´, hat der unbekannte Witzbold den Laden dichtgemacht.“ Superhirn hatte sich inzwischen eilig, aber gründlich umgesehen. Er hatte die Wände nicht nur mit den Händen geprüft, sondern vor allem mit den Augen - und mit dem Köpfchen! Jetzt sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ: „Wenn wir uns über unsere Lage klar werden wollen, dürfen wir nicht wild drauflos vermuten! Dies ist kein - wie Tati es nennt - frisierter alter Eisenbahnwagen. Jedenfalls nicht mit Mitteln vom Rummelplatz in Monton! Und hier hinein hat uns nie und nimmer ein Witzbold gewiesen! Es sei denn, dieser Witzbold hätte sich seinen Scherz eine unglaubliche Menge Geld kosten lassen!“ Tati preßte ihr Ohr an die Schiebetür. „Wenn uns jemand hier reingelockt hat, wird er wohl einen Knüppel in der Hand gehabt haben, um Micha wegzujagen!“ Auch Prosper suchte in der unheimlichen Kabine nach einem Beweis für „Raumfahrt“ oder „Betrug“.
Aber er wußte in seiner Verwirrung nicht, wo er anfangen sollte. Er stieß während seiner ziellosen Suche mit Gérard so heftig zusammen, daß beide hinfielen. Superhirn hatte wieder unentwegt auf die schimmernde Innenhülle geblickt. Er wandte sich um und herrschte seine Freunde an: „Benehmt euch nicht wie gerade eingefangene Affen, die der Tierfänger in eine Kiste gestopft hat!“ mahnte er scharf. „Setzt euch jetzt mal auf eure Plätze, so schwer´s euch fallen mag, und hört mir genau zu: Ich habe schon gesagt, daß Tatis Witzbold-Vermutungen falsch sind. In der Holo-Kugel sah ich einwandfrei den Professor. Die Schrift war klar und nicht zu mißdeuten. Sie wies uns in dieses kleine Zubringer-Raumschiff, das zur Tarnung in den alten Waggon eingebaut worden war. Ihr wißt, was für technische Möglichkeiten Charivari hat. Meint ihr, ich hätte mich so einfach verladen lassen, wie Tati in ihrer Aufregung glaubt?“ „Aber woher willst du wissen, daß wir gestartet sind?“ verteidigte sich das Mädchen. „Ich habe keinen Ruck verspürt, ich habe keine Treibstoffdüse donnern hören! Dein angeblicher WeltraumZubringer hat nicht mal leise vibriert!“ „Auch nicht, als ihr aufgeregt herumgetobt seid!“ betonte, Superhirn. „Das müßte dich nachdenklich machen! Wäre das ein innen verkleideter gewöhnlicher Eisenbahnwagen, so würde sein Boden allein unter Gérards Elefantengetrampel erbebt sein!“ „Freunde, ja - das stimmt!“ staunte Prosper. „Was Superhirn alles merkt! Darauf wäre ich in der Eile nicht gekommen!“ „Aber, aber wie war das dann mit dem Start?“ fragte Gérard, nachdem er seinen vor Verwunderung aufgerissenen Mund endlich wieder zugeklappt hatte. „Mit der Waggonhülle - oder ohne sie? Meinst du, das Zubringerschiff hat sie abgesprengt? Davon müßten wir doch etwas bemerkt haben! Da hat Tati recht, meine ich. Ich komme mir auch nicht so vor, als schwirrte ich dem Weltall entgegen.“ Superhirn sah auf seine Armbanduhr. „Aber du kannst dich darauf verlassen, wette ich! Es ist eine Viertelstunde vergangen. Das ist die Zeit, die gewöhnliche, herkömmliche Raumkapseln brauchen, um die Erdumlaufbahn zu erreichen. Dieser Zubringer wird schneller gewesen sein. Wo auch immer die große Weltraumstation Charivaris ist - wir werden bald da sein!“ „Mit dem Eisenbahnwagen um uns herum!“ rief Tati zornig. „Wie bei uns die Glühlampe Wärme erzeugt, die nichts nützt und die man in zusätzliches Licht umwandeln will, weil sie den meisten Strom verbraucht“, sagte Superhirn, „so bemüht sich Professor Charivari seit Jahren darum, Lärm in nutzbare Energie, in Lärmenergie, umzusetzen. In seiner Versuchsstadt auf dem Meeresboden gelang ihm das bereits. Was wir gemacht haben - oder was mit uns gemacht wurde - war ein Leisestart mit dem neuesten Monitor-Treibstoff, der uns ja auch nicht unbekannt ist! Die Waggonhülle ist natürlich lautlos zu einem Nichts zusammengefallen - und wir sind mit dem Zubringer davongeschwebt.“ „Und Micha sitzt auf dem Bahnhof und reibt sich die Augen!“ rief Tati schrill. „Und - und - Loulou, der hustet sich vor Angst die Kehle aus seinem Schnäuzchen!“ „Achte lieber darauf, daß du dir nicht vor Angst die Kehle aus dem Schnäuzchen hustest“, sagte Henri. Aber er sagte es freundlich und gefaßt. „Micha ist kein Dummkopf, auch wenn er von uns allen der jüngste ist. Er wird sich erinnern, was er mit Professor Charivaris Erfindungen schon alles erlebt hat!“ „Er wird warten!“ meinte Tati verzagt. Er wird sich die Augen aus dem Kopf gucken und den Hals verrenken! Und bei jedem Schatten am Himmel, sei's ein Flugzeug oder eine Möwe, wird er denken: Jetzt kommen sie zurück! Superhirn hat den Zubringer kehrtmachen lassen.“ „Und wenn's dunkel wird? Oder wenn ein Gewitter kommt?' unkte Gérard. Er sah auf einmal nicht nur schwarz, sondern sogar bedrohliche Wolken und knatternde Blitze. „Dann läuft er mit bibbernden Knien zu Madame Claire! Na, was wird die sagen! Sie wird ihn doch aushorchen, wie es kam, daß er den Bus versäumt hat! Und sie ruft am Ende bei Superhirns Freund an! Ho, nein, das gefällt mir nicht. So dumm ist Madame Claire nicht, daß sie Michas Aufregung nicht merkt! Ich glaube auch kaum daß der Kleine immerfort schwindeln kann! Ich sehe schon eine Polizeifahndung nach uns anlaufen!“ Wieder wurde Tati sehr unruhig. „Gibt's denn keine Möglichkeit, umzukehren?“ fragte sie Superhirn. Superhirn schüttelte den Kopf. „Hier ist nichts zu machen“, erklärte er. „Dieses Zubringerschiff
verzichtet auf jede, aber auch jede Selbstbedienung. Ich denke mir, daß der Professor zum Beispiel neu verpflichtete Gelehrte oder Techniker in solchen Zubringern zu seiner Weltraumstation holt. Er läßt die Zubringer fernsteuern, damit die Fahrgäste nicht unerwünschte Kurse fliegen - oder womöglich ganz und gar abhauen. Aber seid beruhigt: die Fahrt wird gleich zu Ende sein!“ „Fahrt...“, seufzte Prosper. „Ich merke nur davon nichts. Ich spüre weder eine Aufwärtsbewegung noch eine Winkeldrehung der Kapselspitze himmelwärts!“ „Wir sehen ja auch nichts draußen“, erklärte Superhirn. „Sicher hat der Professor Aufstiegsbahn und Antrieb so abgestimmt, daß die Fliehkraft mit dem Antriebsdruck zusammen eine Kraft ergibt, die unsere Körper genau nach unten drückt. Wir meinen, das ist noch die Schwerkraft - aber es ist etwas anderes!“ „Ich will nicht wissen, was da alles einwirkt“, unterbrach Tati gereizt und besorgt. „Ich will wissen, warum sich die Stimme von vorhin nicht mehr meldet! In der Weltraumstation müßte man doch unsere Unterhaltung abhören können! Man müßte uns längst zurückgelenkt haben, um Micha nachzuholen.“ Superhirn hatte sich schon die ganze Zeit darüber Gedanken gemacht. Doch er hatte geschwiegen, um Tati nicht noch mehr zu verängstigen. Ihm war klar: Mikrofone brauchte er nicht zu suchen. Die gesamte Innenhülle nahm Stimme und Geräusche auf. Genau wie die Anweisung vorhin von überallher gekommen war. Und er hatte anfangs, während der allgemeinen Aufregung, an mehreren Stellen mit der Nase an der Wand geklebt und scharf und deutlich - wenn auch gedämpft - gefordert: „Fernsteuerung, bitte melden! Wir gaben Abfahrtbereitschaft zu früh! Ein Passagier fehlt! Achtung, Achtung! Hier Zubringer aus Waggontarnung Verladebahnhof Monton! Bitte melden: Fernsteuerung, melden!“ Er hatte sogar immer an den Wänden entlang angerufen, den Professor selbst, die Weltraumstation aber ohne Erfolg. Als Superhirn jetzt schwieg, ahnte Tati sofort die schreckliche Wahrheit: Hier war auch der Klügste ihrer Gruppe ratlos! „Wenn...“, sie schluckte, „wenn nun alles so ist, wie du meinst: Könnte Micha nicht in letzter Sekunde hinausgelockt worden sein? Vielleicht haben wieder einmal Mitarbeiter des Professors gemeutert! Es ist denen ja bekannt, daß wir in einigen Dingen besser Bescheid wissen, als sie selber - wegen all der Zufälle damals! Nun haben sie erfahren, wir sind in Monton - vielleicht ist das Vertrauensnetz auf der Erde doch nicht so dicht gewesen, wie wir dachten -, und nun wollen sie Micha aushorchen! Den Fernsteuerer auf seiner Felseninsel in der Bucht haben sie womöglich schon geschnappt - und nun lassen sie uns fünf in diesem Zubringer-Gefängnis zum Mars sausen!“ Alle schwiegen. Es war, als verbreite sich Eiseskälte in dem Raumflugkörper. „Pi-pi-piratenfalle!“ stotterte Prosper erschrocken. „D-d-das wird es sein!“ 7. Wo die Zukunft schon Wirklichkeit ist Superhirn teilte die Besorgnisse der anderen nicht, soweit sie Meuterer oder Piraten betrafen. Aber ihn beunruhigte der Zwang zur Untätigkeit in diesem Zubringer. Außerdem sorgte er sich um Micha auf der Erde. Er wußte ja nicht, was der Junge der Wirtschafterin erzählen würde. Vor allem war die herrschende Funkstille - wenn nicht gar unheimlich, so doch zumindest ärgerlich, Tati schwieg, Henri schwieg, Prosper und Gérard hegten weiterhin im Flüsterton die wildesten Vermutungen. Plötzlich ertönte eine fröhlich Jungenstimme: „Na? Worauf wartet ihr noch? Wollt ihr nicht aussteigen?“ Der Frage schloß sich lebhaftes, freudiges Gebell an: Wuff, wuff, waff, waff! „Micha! Loulou!“ Tati sprang auf. Prosper hopste auf den Sessel und starrte über die gewölbte Lehne. Gérard kam nur langsam hoch. Doch es schien, als wolle er gleich wieder in die Knie gehen. Henri stürzte fast über Superhirns Füße. „Ist das denn möglich?“ stammelte er. Die Kabinenschiebetür des Zubringer-Raumschiffs war offen! Und im Rahmen stand - Micha! Er grinste von einem Ohr zum anderen.
Der Zwergpudel hatte sich an ihm vorbeigezwängt und war auf Tati zugeschossen. Sie nahm ihn rasch auf den Arm und liebkoste ihn. Die Erleichterung verschlug ihr die Sprache. Schließlich rief sie: „Wie hast du die Tür aufgekriegt, Micha?“ Und auf einmal kam ihr ein Verdacht: „Ach! Du hast sie vorhin zugeschoben! Es hat dir Spaß gemacht, uns hier drinnen zappeln zu lassen, wie? Und inzwischen bist du über den ollen Bahnhof gestromert und auf der Lok herumgeklettert? Na, warte!“ .Micha hat uns in diesem komischen Ding hier eingesperrt?“ japste Prosper. „Du, das ist 'n starkes Stück! Mensch, was meinst du, weiche Angst deine Schwester hatte. Wir dachten außerdem, wir flögen schon im All herum.“ „Du kleiner Teufelsbraten!“ brummte Gérard ärgerlich. „Aber nun. Nichts wie raus! Zurück zu Madame Claire! „Was? Zurück wollt ihr?“ erklang eine zweite Stimme - tief und freundlich, ja, man konnte fast sagen: melodisch und sanft. Hinter Micha erschien eine lange, hagere Gestalt in einem weißen, sonderbar abgesteppten Trainingsanzug. Der Mann war kahlschädelig; von seinem Kinn hing ein langer, dünner, lackschwarzer Strippenbart herab. „Professor Charivari!“ begrüßte Superhirn freudestrahlend den Mann. „Das habe ich mir doch beinahe gedacht!“ „Wie - wie kommen Sie denn auf den Austernbahnhof ?“ fragte Prosper verwundert. Tati setzte verblüfft den Pudel ab. Gérards Augen weiteten sich zur wahren Suppentellergröße. Henri kicherte in sich hinein. Genau wie Superhirn hatte er das Wichtigste längst begriffen. „Du bist nicht mehr im Eisenbahnwaggon auf dem Austernbahnhof von Monton“, sagte Charivari zu Prosper. „Ich hätte auch keine Zeit dazu, dort aus den Brennesseln zu wachsen, ähnlich wie der Geist aus der Flasche.“ Lächelnd begrüßte er Tati: „Du bist noch größer und hübscher geworden, seit ich dich das letzte Mal sah! Gérard scheint mir stämmiger - und Prosper länger. Henri ist auch gewachsen! Na, und Superhirn? Was macht die Weisheit?“ „Sie hätte beinahe etwas gelitten in der letzten halben Stunde!“ antwortete der spindeldürre Junge grinsend. Er drückte an seiner großen Brille und ergriff die Hand des Professors. „Willkommen, Freunde!“ rief Professor Doktor Brutto Charivari. „Herzlich willkommen! Wie freue ich mich, euch hier begrüßen zu können!“ „Entschuldigung“, sagte Tati verwirrt. „Wenn Superhirns Geist nicht gelitten hat, dann aber meiner um so mehr! Wo sind wir willkommen? Und was heißt: ´...hier begrüßen zu können´? Was, bitte, bedeutet ´hier´?“ Betont deutlich - fast triumphierend - erwiderte der Professor: „Hier - das ist meine große Weltraumstation! Willkommen also in der Weltraumstation Monitor!“ „Wir sind . ..“ Prosper konnte es nicht fassen. „Wir sind in einer Weltraumstation? Wirklich im Weltall? Ja, aber...“ Gérard nahm ihm das Wort aus dem Mund: „Aber wie kommen Micha und Loulou hierher? Die waren uns doch unten auf der Erde von der Schippe gehopst? Wir sind ohne sie gestartet!“ „Ich dachte - sie säßen noch in Monton zwischen den Brennesseln! Oder...“ Hilflos blickte Tati zwischen Charivari und Superhirn hin und her. „Bestimmt, Irrtum ausgeschlossen!“ versicherte Prosper. „Micha und Loulou sind in Monton geblieben!“ Darüber mußte nun auch Tati lachen. Loulou strich ja um ihre Füße herum, und Micha, der „Vergessene“, stand vor ihr! „Na ja!“ rief Micha. „Ich bin aus dem Zubringer gesprungen, weil der Hund rausgehopst war und ich ihn einfangen wollte. Ihr seid ohne mich gestartet. Das stimmt. Und ich habe einen gehörigen Schreck gekriegt. Plötzlich aber stieg einer von Professor Charivaris Weltraum-Männern aus einem anderen getarnten Waggon. Der hat mich und Loulou mitgenommen!“
„Der Fernsteuerer?“ fragte Superhirn rasch. Es versteht sich, daß gerade er die genauen Einzelheiten wissen wollte. .Ja!“ bestätigte Professor Charivari: „Der Spezial-Orbital-Navigator Körner. Er sollte euch mit seiner Einmann-Steuerungskapsel zur Weltraumstation bugsieren. Mit dieser Steuerungskapsel kann man übrigens ein ganzes Geschwader von Zubringern lenken. Nur ist die Kapsel nicht für Passagiere eingerichtet, nicht mal für einen Zehnjährigen und einen Zwergpudel. In dem engen Raum hat der Pudel herumgestrampelt und dabei den Notschalter ´Alarm - Funkstille!´ gestreift. Das ist ein Berührungsschalter, der sonst nur angetippt wird, wenn Abhörgefahr von fremder Seite besteht. Er hat automatisch den Funkverkehr zu und von euch - und zu mir und von mir - stillgelegt.“ „Und?“ drängte Superhirn gespannt. „Der Orbital-Navigator hatte euch die ganze Zeit im Visier. Er konnte aber nicht in den Zubringer hineinsehen. Er hörte euch nicht mehr - auch mich nicht -, und er begriff in der Eile nicht, was der Pudel angerichtet hatte. So überholte er euch, nahm euch gewissermaßen ins Schlepp, um eher hier zu sein.“ „Damit Sie uns über Orbital-Sprechfunk Bescheid sagen könnten?“ fragte Superhirn. „Ach, und hier haben Sie erst rausgekriegt, was geschehen war! Der Pudel wird Ihnen das wohl kaum verraten haben!“ „Ich brauchte Micha nur zu fragen, wo Loulou herumgestrampelt hat“, erzählte Charivari. „Na, nun seid ihr hier - und die Überraschung ist jetzt um so größer!“ Er ging zum Ausstieg. Die Gefährten drängten sich in der kleinen Luke. Sie konnten es kaum erwarten, den ersten Blick in Charivaris Weltraumstation zu werfen. Zu ihrer Verwunderung sahen sie Zeltdach-Konstruktionen, hochstöckige Schwarzglasbauten, ein weites Werksgelände hinter grüner Rasenfläche - scheinbar unter einem golden durchsonnten künstlichen Himmel. Sonderbar! Wie kam das? Im Weltall war's doch von Natur aus stockdunkel! zwischen Hallen, die wie Flugzeughangars wirkten, wimmelten Männer in verschiedenfarbigen Kombinationen herum wie auf einem Flugzeugträger. „Kinder, hier ist's ja so hell wie...“, staunte Prosper. „Ich sehe da ganz hinten eine Menge Raumschiffe parken! Es sieht aus, als wären wir im Freien, auf der Erde! Ich dachte, wir wären in einer eng begrenzten Weltraumstation gelandet. Durch eine Schleuse sind wir in eine richtige kleine Stadt gekommen . . .“ „Das seid ihr auch“, erklärte der Professor. „Das, was wie ein Himmel aussieht, ist durch eine spiegelnde Decke begrenzt. Seht ihr die roten Kästchen? Von da führen Preßluftlifts in die höher liegenden Abteilungen. Ebenso, wie man per Schnellfahrstuhl unter dieses mit Rasen bepflanzte Lande-, Werkhallen- und Freizeitfeld in andere Teilstationen gelangen kann. - Auch die Horizontlosigkeit täuscht. Wir sind in einem von Wänden umgebenen Großraum. Es ist meinen Mitarbeitern gelungen, künstliches Licht, ähnlich dem der Sonne, zu erzeugen. Es wird durch elektrische Lichtbögen in Röhren erzeugt, die Edelgasmischungen enthalten. In kleineren Verhältnissen werden solche Lampen zum Beispiel längst für die Projektionsgeräte in Kinos verwendet: Man nennt sie Xenon-Hochdruck-Entladungslampen. „ Gérard murmelte: „Hin! Ich war ja auf manches gefaßt. Und trotzdem habe ich mir vorgestellt, man würde hier gleich Wände mit Leuchttafeln sehen, Luken, Leitern, Geräte, Sichtschirme, Kameras, und so weiter - alles, was zu einer richtigen Weltraumstation gehört!“ „Du willst sagen, zu einer veralteten“, erklärte Professor Charivari lachend. „Nun, zunächst einmal ist meine Weltraumstation Monitor' viel, viel größer, als es den Wissenschaftlern auf der Erde auch nur im Traum einfallen könnte, so etwas in diesem Ausmaß zu bauen. Sie ist ein vielverzweigtes Gebilde mit einem zentralen Hauptteil, dazu sternförmig angegliederten Nebenrümpfen und einer Reihe von Auslegern. Und natürlich verfügen wir in allen Abteilungen über künstliche Schwerkraft, genau wie im Zubringer. Daher wußtet ihr auch nicht, ob ihr nur eingesperrt wart oder durch den Weltraum saustet!“
„Aber ihre Station müßte doch von Erdsternwarten oder Raumschiffen geortet werden, wenn sie so groß ist“, fragte Tati verwundert. „Ich habe ein besonderes Material für die Außenwände benutzt“, erklärte Charivari, „nämlich Absorbit. Absorbit verschluckt jede Strahlung. Wird die Station angepeilt, dringt kein Echo zurück. Auch Radar wird absorbiert. Deshalb kann auf fremden Radarschirmen nichts erscheinen. Für mich hat das noch den Vorteil, daß die verschluckten Strahlungen, auch die des Weltalls, unsere Stationsaußenwände erhitzen. Ich führe die Wärme in die Kraftwerke - und wandle sie dort in elektrischen Strom um.“ „Und was schützt vor Zusammenstößen mit Raumflugkörpern von der Erde?“ fragte Superhirn. Der Professor erwiderte: „Wir bestrahlen sie mit Schwerewellen, wenn sie uns zu nahe kommen. Das fremde Raumschiff verhält sich dann so, als ob es für einen Augenblick stärker von der Erde angezogen würde. Dadurch verändere ich seinen Kurs. Die Besatzung des betroffenen Raumschiffs merkt das meistens gar nicht.“ „Dann müssen sie aber bereits in großer Entfernung abgelenkt werden!“ meinte Superhirn. „Natürlich“, gab der Professor zu, „aber Bahnberechnungen sind für unsere Computer ein Kinderspiel, auch auf größere Entfernungen! Wir überwachen automatisch alle Bahnen, die nahe an unserer Station vorbeiführen. Dann können wir die Ablenkung in aller Ruhe steuern. Es genügt ja auch, wenn das fremde Raumschiff nur ein paar hundert Meter von uns entfernt vorbeizieht. Sehen kann uns die Besatzung nicht, und es ist ja stets nur eine sekundenschnelle Bewegung.“ „Wieso das?“ wollte Henri wissen. „Ganz einfach“, sagte der Professor. „Alle Raumschiffe werden nach Osten gestartet, weil sie dann die Geschwindigkeit der Erddrehung dazugeschenkt bekommen. Diese Station läuft aber in westlicher Richtung um. Unsere Geschwindigkeit in bezug auf die Erde liegt bei nahezu 28.000 Kilometer in der Stunde. Andere Raumschiffe kommen uns mit ungefähr der gleichen Geschwindigkeit entgegen. Dann ist das wirklich nur so etwas wie ein Vorbeihuschen.“ Henri blickte zu den Zeltdächern und Hangars. „Unsere Raumschiffe!“ begeisterte er sich. Alle unsere - ich meine - Ihre Raumschiffe! A-Monitor, Monitor, Raumschiff Meteor, Raumschiff Rotor...“ „Da sind noch mehr!“ rief Prosper. Charivari nickte. Doch dann sagte er: „Nur in einem muß ich euch enttäuschen: Was ihr da seht, sind nicht die alten Schiffe, die ihr kennt. Es ist eine neue, um sieben Stück vergrößerte Flotte. Und jedes einzelne heißt Monitor - mit einem Buchstaben vor dem Namen.“ Der Professor sprach ein paar Worte in seinen Siegelring, der ein Mini-Sprechfunkgerät verbarg genau wie seine einem Trainingsanzug ähnelnde Bekleidung innen mit winzigen Empfangstransistoren und widerstandsfähigen, stark leuchtenden Melde- und Warnlämpchen gespickt war. Hier handelte es sich um die verbesserte Ausführung des Befehlsanzugs, den die Gefährten schon kannten. Der Professor war dadurch seine eigene wandelnde Kontrollzentrale. Von den Hallen her näherte sich ein Luftkissenbus. Der Fahrer war der Orbital-Navigator Körner, der den Zubringer gelotst und Micha und Loulou im letzten Augenblick noch aufgestöbert hatte. „Na, da ist ja alles noch einmal gutgegangen“, begrüßte der Navigator lächelnd die Kinder. Er sprach mit einem österreichischen Akzent. (Charivaris Wissenschaftler und Techniker kamen aus allen Teilen der Erde.) „Laßt uns zum Gästehaus fahren“, forderte Charivari die Gruppe auf. Er stieg mit den Gefährten und dem quietschvergnügten Zwergpudel in den Bus. Sie sausten auf ein rechteckiges Gebilde zu, das von fern wie ein Swimmingpool aussah. Aber es war ein Fahrstuhl. Er war in die weite Rasenfläche eingebaut und führte „tiefer“ in die Weltraumstation hinein. Das Gästehaus stand in einer Gegend, die wie eine Fußgängerzone in irgendeiner Stadt auf der Erde aussah. Aber die Läden“ waren Labors und Büros, Archive und Bibliotheken. Der Professor führte die Geschwister und ihre Freunde in vorbereitete Zimmer. „Tati erhält ein Appartement für sich“, sagte er. „Micha kann mit Loulou in den Raum daneben ziehen - und ihr anderen sucht euch aus, wo ihr wohnen wollt.“
Gérard wählte ein größeres Zimmer mit Vorraum und Bad für sich, und Prosper, Superhirn und Henri mieteten sich Wand an Wand mit ihnen ein. Jetzt erfrischt euch erst einmal - und kommt dann hinunter ins Restaurant!“ sagte der Professor. „Kinder“, staunte Gérard. „Ich kann's noch nicht fassen! Kaum sind wir auf dem Verladebahnhof zwischen Brennesseln herumgekrochen, kaum sind wir aus der vermaledeiten Zubringerkiste raus und schon fühlt man sich wieder wie im Schlaraffenland!“ Micha wollte natürlich so schnell wie möglich zum Essen. Als alle endlich geduscht und angezogen waren, sausten sie im Fahrstuhl hinunter. Wieder - wie schon in der Tiefseestadt - konnten sie bei Tisch jede Speise, jedes Getränk automatisch ordern. Ein Knopfdruck auf der Speisekarte genügte. Hier brauchte man weder Madame Claire noch das Supermarktauto aus Monton. Als Micha die dritte Portion Eis verzehrt hatte, drängte der Professor zum Aufbruch. Mit einem Lift vor dem Gästehaus sausten sie wieder hoch, diesmal in einen matt erleuchteten Raum, dessen Decke einem gewölbten Sternenhimmel glich. „Unser Planetarium“, erläuterte Charivari. „Ihr seht die Sterne so deutlich, wie sie nur unsere schärfsten Außenkameras wiedergeben können. Wir haben den Vorteil, keine Wolken über uns zu haben - wie zum Beispiel die Erdsternwarten. Und keine Lufthülle stört!“ „Vermessen Sie die Himmelskörper?“ fragte Superhirn. „Das auch, ja!“ bestätigte Charivari. „Aber ich tue noch mehr: Ich suche mir die Sterne heraus, die mir aus vielen anderen Gründen besonders wichtig sind.“ Er führte die Gäste zu einem Gerät, an dem einige Männer beschäftigt waren. Sie trugen praktische, ebenfalls sportlich wirkende Anzüge. „Das sind meine ADVs“, stellte er zwei von ihnen vor. „Astro-Daten-Verarbeiter Don Ramiro und O'Hara. Und das Gerät ist eine Art Computer. Aber es ist ein besonderer Computer: Nicht die Männer, sondern die Sterne füttern ihn! Ja, Tati, guck nicht so ungläubig! Die Sterne erzählen! Sie teilen dem Apparat mit, aus was für Stoffen, ob aus fester Materie oder Gasen, sie bestehen.“ Micha öffnete staunend den Mund. Er wollte gerade fragen, doch Superhirn kam ihm bereits mit der Erklärung zuvor: „Die Sterne reden natürlich nicht mit Stimmen - so wie bei einer KindergartenTheater-Aufführung zu Weihnachten! Das, was sie ausstrahlen oder was als ,Echo' der Sonnenstrahlen von ihnen zurückkommt, gelangt als Information in dieses Gerät!“ „Stimmt!“ bestätigte der Professor. „Das Licht gibt uns wichtige Aufschlüsse über das, was ein Himmelskörper enthält. Die Zusammensetzung des Lichts wird hier untersucht. Was sich an Informationen festhalten läßt, geben Don Ramiro und Mister O'Hara an die Auswertungsabteilung weiter. Dort wird alles sorgfältig gesammelt, was wir über einen bestimmten Himmelskörper herausgefunden haben - natürlich auch seine Bahn, damit wir ihn jederzeit wiederfinden können.“ „Und was machen Sie dann?“ erkundigte sich Prosper. „Ich hebe dieses Wissen zunächst einmal auf, bis es gebraucht wird“, sagte Charivari. „Himmelskörper könnten wichtige Rohstoffquellen für die Menschheit werden, wenn die irdischen Vorräte einmal zu Ende gehen sollten. Kometen, zum Beispiel, bestehen unter anderem aus dem Erdgas Methan, aus Wasserstoff und aus Ammoniak. Methan und Wasserstoff sind ausgezeichnete Energieträger, aber auch Grundstoffe für die Kunststoffindustrie. Ammoniak wird für Düngemittel gebraucht, mit denen mehr Nahrungsmittel für die Menschheit gewonnen werden sollen. Asteroiden enthalten viele wertvolle Metalle. Der Weltraum hat unendlich vieles zu bieten, was wir auswerten könnten. Wenn ich Nickel und andere Metalle aus den Asteroiden hole, brauche ich nicht einmal die Erde durch Bergwerke zu verschandeln!“ „Ja, aber da muß man doch erst einmal rankommen“, sagte Henri zweifelnd. „Gewiß“, bestätigte der Professor wieder, „aber das ist im Grunde auch nicht unmöglich. Ich muß die entsprechend starken Raketen haben. Die trage ich mit meinen Raumschiffen zu den Kometen oder Asteroiden. Dort werden sie angesetzt. Nun brauche ich nur noch im richtigen Augenblick zu zünden. Dann werden diese Himmelskörper zur Erde hingedrängt! Sind sie erst einmal nahe, kann man sie in eine Umlaufbahn um die Erde steuern und in aller Ruhe ausbeuten. Ich könnte Asteroiden sogar in der
Antarktis abstürzen lassen. Dort würde man sie in aller Ruhe zum Teil im Tagebau abbauen können wie jedes andere Vorkommen unter dem Erdboden. Professor Charivari zeigte den Freunden sodann die ökologische Überwachungsstation. Hier stellte er einige Mitglieder des wissenschaftlichen Teams vor: „Meine Ökologen!“ sagte der Professor. „Die überlegen sich schon, was man alles mit dem Wasserstoff aus dem Weltraum anfangen kann. Es ist außerordentlich viel. Du weißt ja, Superhirn, wenn ich Wasserstoff verbrenne, erhalte ich Wasser und Wärme. Mit der Wärme kann man elektrischen Strom erzeugen. Und der wird für den Umweltschutz sehr, sehr wichtig werden. Wir brauchen zum Beispiel viel elektrischen Strom, wenn wir Abfall wieder in Rohstoff für die Industrie zurückverwandeln wollen. Auch werden die Menschen dafür sorgen müssen, daß Luft und Wasser nicht mehr mit allen möglichen Schmutzstoffen oder sogar Giften verseucht werden. Technisch ist das alles möglich, aber dafür muß eine völlig neue Industrie aufgebaut werden, die ihr euch in allen Einzelheiten vielleicht gar nicht richtig vorstellen könnt. Man kann sogar den gefürchteten Smog auflösen, der sich oft über den Städten bildet. Dafür gibt es ganz spezielle Kraftwerks-Kühltürme, deren warme Dämpfe so hoch steigen, daß. sie diese Schicht von gefährlichen Gasen durchbohren. Damit kommt wieder eine Luftbewegung in Gang, die die Dunstglocke zerteilt. Aber wir müssen auch versuchen, daß erst gar kein Smog mehr entsteht. Wir von hier oben können das alles überwachen und Alarm schlagen, wenn eine smogverdächtige Wetterlage entsteht. Wir können auch die Behörden verständigen, wenn irgend jemand irgendwo Öl oder Gifte ins Meer oder in die Flüsse gießt. Wir können von hier aus sogar messen, wieviel Schmelzwasser in den Atlantik strömt. So können wir voraussagen, ob der Sommer sich verspäten wird. Die Landwirte können sich danach richten, aber auch vielleicht die Urlauber. Was Wissenschaftler voraussagen und was man daraufhin alles tun kann, ist so phantastisch, daß ich selbst manchmal nicht weiß, ob ich meinen eigenen Hoffnungen trauen darf. So. Aber nun geht für ein paar Stündchen ins Hotel. Später gibt es etwas sehr Wichtiges zu besprechen.“ 8. Geheimauftrag Als sich die Freunde ein paar Stunden ausgeruht hatten, ließ sie der Professor durch seinen italienischen Sekretär, Dr. Bossini, in seine Chefzentrale holen. Staunend blickte sich Micha um. „Ich komme mir hier vor wie auf einem Fernsehturm“, meinte er. „Ja, fast wie in einem Dreh-Restaurant!“ „Fehlen nur die Tische und Stühle und natürlich die Kellner!“ ergänzte lächelnd Professor Charivari. „Der scheinbare Ring von Fenstern an der Rundwand besteht natürlich aus Bildschirmen. Sie erlauben mir Einblick in alle Abteilungen.“ Er nahm an seinem Tasten-Schreibtisch Platz. Die Gäste setzten sich in bequeme Knautschsessel. Loulou sprang vertrauensselig auf Charivaris Schoß. Doch der Herr der großen Raumstation hatte nichts gegen den kleinen Kerl. Während er sprach, kraulte er ihn zärtlich zwischen den Ohren. „Also“, sagte er, „ich habe euch nicht nur zum Spaß aus Monton ins Weltall geholt. Superhirn wird das längst gewußt haben. Ich habe euch erzählt, daß wir im Gegensatz zu den bisherigen Orbitalstationen, in denen zweckfreie Forschung betrieben wurde, zweckgebunden arbeiten. Das heißt in unserem Fall einfach ausgedrückt: Wir beobachten die konkreten Sorgen und Nöte der Menschheit. Und wir setzen unsere Mittel bereits direkt, wenn auch von der Erdbevölkerung unbemerkt, zur Behebung von Katastrophen ein - oder zur Verhinderung drohenden Unheils.“ „Auch zur Verhinderung von Kriegen?“ fragte Prosper. „Genau das meine ich“, antwortete Charivari. Und wie zur Bekräftigung drückte er ein paar Tasten auf seinem Schreibtisch, worauf vor ihm auf einer Mattscheibe mehrere Reihen Leuchtschrift sichtbar wurden. „Dies anstelle von Akten“, erklärte er. Und nun berichtete er ausführlich. Er sprach so lange, daß der Pudel auf seinem Schoß einschlummerte. Tati, Gérard und Prosper wurde das Ganze allmählich langweilig. Es ging immer um einen „General, der eigentlich gar keiner war“, ja, der sich neuerdings sogar zum Präsidenten gemacht hatte und in Afrika sein Unwesen trieb. Warum erzählte Charivari das seinen Gästen?
Superhirn, Henri und Micha hörten jedoch um so aufmerksamer zu. Micha hatte das Wort „Unwesen“ gehört. Das kam ihm gespenstisch vor. Und alles Gespenstische interessierte ihn sehr. „Dieser Präsident von eigenen Gnaden“, sagte Professor Charivari gerade, „ist - man glaubt es kaum - vor einigen Jahren noch Bananensortierer gewesen. Wie meine Vertrauenspersonen mitteilen, hat er mehrere Autodiebstähle in Hamburg auf dem Gewissen. Vom Handel mit gestohlenen Autos hat er dann auf den Waffenschmuggel umgesattelt. Vorübergehend verlor sich dann seine Spur. Plötzlich aber tauchte er in Afrika wieder auf, schloß sich einer Revolte in der westafrikanischen Küstenprovinz Katherinia an, entmachtete mit einer Gruppe von Verbrechern und Abenteurern die rechtmäßige Regierung und ernannte sich selber zum Präsidenten. Jetzt bedroht er vier afrikanische Nachbarstaaten: Er will eine Tagung mit den Staats- und Ministerpräsidenten sowie mit den Außenund Verteidigungsministern dieser Länder herbeiführen. Dabei will er diese Männer erpressen, ein Bündnis mit ihm einzugehen, was aber auf eine Unterwerfung hinausläuft. Er, der Usurpator, möchte letzten Endes die alleinige Macht über den afrikanischen Erdteil.“ „Die übliche Masche“, meinte Superhirn zu den Ausführungen des Professors. „Solche größenwahnsinnige Gestalten hat es immer gegeben, auch die Ohnmacht der Geschädigten aber ich will dem sauberen Herrn einen Strich durch die Rechnung machen.“ „Welches Druckmittel hat er denn eigentlich für seine Erpressung?“ fragte Superhirn. „Warum greifen die Großmächte nicht ein? Und was tun die Vereinten Nationen?“ „Das ist es ja gerade“, seufzte Charivari. „Du hast eben bemerkt: Die übliche Masche! Ja, das kann man sagen! Hier kommt etwas dazu: Atomare Erpressung. Er behauptet, Atombomben zu haben.“ „Quatsch!“ murmelte Henri. „Es ist tatsächlich Quatsch!“ betonte Charivari, indem er sich vorbeugte. „Aber der verbrecherische Bursche handelt nach dem üblen Grundsatz: Scheinbare Macht ist auch Macht! Die großen Staaten sind in der Zwickmühle. Sie glauben zwar nicht daran, aber sie wissen es auch nicht genau: Hat er nun Atombomben - oder hat er sie nicht? Selbst wenn man es für unwahrscheinlich hält, muß man an die verhängnisvollen Folgen eines Irrtums denken. Eine einzige, kleine Atombombe im Besitz dieses Verbrechers könnte schlimmes Unheil anrichten und durch eine Kettenreaktion zur Vernichtung eines großen Teils der Menschheit führen. Deshalb halten sich sogar die bisherigen Atommächte zurück. Man versucht sogar, den Erpresser an den Verhandlungstisch zu bekommen. Bisher ergebnislos. Der Präsident von eigenen Gnaden, General Alec Glory, wird immer dreister.“ ,Alec Glory?“ überlegte Superhirn laut. „Wohl ein Engländer?“ „Ein Deutscher“, sagte Charivari. „Bananen-Bubi hat man ihn in der Hamburger Markthalle genannt. Mit Nachnamen heißt er angeblich Rumpel. Daraus soll er erst Ruhm gemacht haben - und schließlich wurde das englische Wort Glory daraus.“ „Und was haben wir mit dem sauberen Herrn zu tun?“ erkundigte sich Superhirn gespannt. Der Professor hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt. Nun beugte er sich plötzlich vor. „Ihr sollt die Tagung mit den Regierenden der bedrohten Nachbarstaaten platzen lassen! Ihr werdet eingreifen und den Herrn Präsidenten wieder zum Bananen-Bubi machen! Lieber soll er sonstwo Bananen sortieren als die Welt in einen Krieg stürzen.“ Jetzt wurden auch Prosper und Gérard hellwach. Und Tati rief: „Aber Micha und ich bleiben hier! Und Loulou auch!“ „Gerade Micha soll nicht hierbleiben“, widersprach der Professor. „Ich möchte, daß er mit Superhirn in einem zielprogrammierten Klein-Monitor hinunterfährt. Die beiden sollen die Konferenz sprengen.“ „Sprengen?“ rief Tati entsetzt. „Auseinandertreiben“, beschwichtigte Charivari. „Und zwar ohne Gewalt! Nur mit List - und ein paar harmlosen kleinen Tricks . . Tati hatte wohl ein dutzendmal „Nein, kommt gar nicht in Frage!“ gesagt, und sie hatte sogar mehrere Mal mit dem Fug aufgestampft, um ihrer Weigerung Nachdruck zu verleihen. Micha - in der Höhle des Löwen? im Palast eines Machtwahnsinnigen? Das wollte sie nie und nimmer dulden!
Micha und Superhirn mußten daran denken, als sie bereits am folgenden Tag durch die Gänge des Regierungsgebäudes von Katherinia City schlichen - der Tagungsstadt, die Bananen-Bubi in seinem Hochgefühl des Besitzers der Macht umbenannt hatte. Sie hieß jetzt Bubianca. Und es störte den selbsternannten General-Präsidenten nicht, daß sich die Zeitungen der ganzen Welt darüber lustig machten. Keinen Diktator hat es jemals gestört, daß man andernorts über ihn lachte. Hauptsache, in seiner Umgebung lachte keiner! Dem wäre es schlecht bekommen! Und die hinter ihm stehende Verbrecherorganisation störte der Spott der Welt am allerwenigsten. Die herumeilenden Sekretäre, Minister, die Dolmetscher, Presseleute und Botschafter - und wer und was auch immer die vielen dunkel- und hellhäutigen Herren in den feinen Anzügen oder kostbaren Stammesumhängen waren -, niemand bemerkte Superhirn und Micha. Kein Wunder, die beiden waren - unsichtbar! Sie trugen zwar keine Tarnkappen, die es nur in Märchen, Sagen und Wunschträumen gibt. Sie hatten auch nur Trainingsanzüge und gewöhnliche Turnschuhe an. Aber das, was die Unsichtbarkeit bewirkte und das Wagnis möglich machte, war eine Erfindung des Professors - nämlich optische Konverter. Die hatten selbst Tati überzeugt, und sie hatte endlich ihr Einverständnis zu der wichtigen Blitztour gegeben. Jeder der beiden jungen trug einen dieser optischen Konverter, an einem Hosengürtel befestigt. Die Dinger waren flach wie Pocketkameras. Aus ihnen ragten Doppeldrähte und Temperaturfühler, mit denen die Konverter den der jeweiligen Temperatur entsprechenden Luftbrechungsgrad erzeugten. Dadurch waren Superhirn und Micha in den Augen der Fünfstaatenversammlung - Luft! Ebenso wie das programmierte Mini-Monitor-Raumschiff mittels eines Riesenkonverters unsichtbar in der Nähe der draußen abgestellten Staatsautos „parkte“. Professor Charivari hatte Micha aus zwei Gründen gewählt: Einmal, weil er klein und flink war. Zweitens, weil der brutale General-Präsident eine Schwäche hatte - er konnte keinem Kind etwas zuleide tun. Das war im Falle einer Panne wichtig. Superhirn war mit, um darauf zu achten, daß Micha keinen Unfug mit dem Konverter anstellte. Als die beiden Jungen den großen Sitzungsraum erreichten, schwang ein spitznasiger, sommersprossiger Mann in Adjutantenuniform soeben eine Glocke. Dieser Bursche war ohne Zweifel der Hauptkumpan des Präsidenten. Wer der Präsident war, daran bestand schon auf den ersten Blick kein Zweifel. Bananen-Bubi saß in einer Phantasieuniform, die von Rot und Gold nur so strotzte, in einer Art Thronsessel. Nach dem Glockengebimmel herrschte überall im Saal gedrücktes Schweigen. Man sah die sorgenvollen Mienen der Konferenzteilnehmer. Superhirn hatte Micha gerade noch zugewispert: „Paß auf! Ich habe ein Thermometer an der Wand gesehen. Wegen der Klimaanlage herrschen hier nur 19 Grad! Faß nicht mit deinen schwitzenden Händen an die Temperaturfühler deines Konverters! Wenn der Konverter eine andere Temperatur bekommt als die Luft im Saal, wirst du als Umriß sichtbar! Und vergiß nicht: Auch wenn wir unsichtbar bleiben, greifbar sind wir immer Wir sind zwar durch den Luftbrechungsgrad unsichtbar, aber wir haben uns nicht in Luft aufgelöst wie Märchengestalten!“ Schon ertönte des Präsidenten herausfordernd unverschämte Stimme. Er sprach in Englisch, und er sprach so langsam, daß Superhirn im Wisperton übersetzen konnte: „Meine Herren Kollegen, meine ehrenwerten Freunde, die mit mir das Bündnis eingegangen sind . . .“ Es erhob sich ein teils erstauntes, teils bestürztes und unwilliges Gemurmel. Niemand hatte bisher einen Vertrag unterschrieben! Auch die plumpe Anrede schien den Staatsmännern nicht zu gefallen. Doch Präsident Bubi fuhr ungerührt fort. „Ich höre, Sie zollen mir Beifall. Um so besser. Dann können wir es kurz machen. Wie Sie wissen, stehen alle vier Nachbarstaaten unter meinem Atomschutz. Die Unterschrift unter die Brüderschaftsverträge, die mir die Würde des Oberhaupts der Union einräumen, ist also nur noch Formsache.“ „Frechheit!“ entfuhr es Micha. Doch die nun aufkommende Empörung unter den Konferenzteilnehmern ließ Michas Ausruf untergehen.
Der Adjutant des Präsidenten schwang die Tischglocke. Und Bananen-Bubi höhnte: „Wer Lust hat, sich die Sache zu überlegen, wird genügend Zeit zum Nachdenken in meinen Gefängnissen dafür bekommen!“ Einige der Teilnehmer gingen unter Protest zum Ausgang - aber dort standen plötzlich schwerbewaffnete Soldaten. „Ha, ha!“ lachte der Herrscher von eigenen Gnaden. „Sie sehen, das sind keine Hotelboys! Also los. Ich will zum Golfspielen. jetzt wird unterschrieben! Und zwar fix, fix!“ „Los!“ raunte Superhirn. Unsichtbar, wie er war, rannte Micha um den Hauptkonferenztisch herum, auf den Präsidentenstuhl zu. In der Hand hielt er eine Spraydose, die Charivari ihm mitgegeben hatte. In dieser Dose befand sich Angsthasen-Spray. Wer es einatmete - und mochte er eben noch der brutalste, verwegenste, mutigste Kerl gewesen sein -, fürchtete sich plötzlich vor einer winzigen Maus. Es war eine Verbesserung jenes Mittels, das die Gefährten früher bei den Raumpiraten erfolgreich eingesetzt hatten. „Wer mich nicht anerkennt“, rief der ehemalige Banariensortierer in seiner albernen Paradeuniform, „der wird mit Blut statt mit Tinte unterschreiben müssen!“ Micha drängte sich am Adjutanten vorbei, doch der hatte sich erhoben. Sein Stuhl glitt zurück - und Micha direkt vor den Bauch. Die Lehne drückte die Temperaturfühler in den optischen Konverter hinein, und augenblicklich stieg die Temperatur des Apparates auf Michas Körperwärme. Das waren etwa 37 Grad Celsius! Im Sitzungsraum aber, und darauf hatte Superhirn warnend hingewiesen, herrschten wegen der Klima-Anlage nur 19 Grad. So veränderte sich der Luft-Brechungswert, der den Kleinen bisher geschützt hatte. Und der Tyrann Alec Glory, ehedem Bananen-Bubi, sah plötzlich einen Schatten auf sich zuspringen. „Was ist das?“ brüllte er. „Wache! Hier hat sich ein Zwerg eingeschlichen! Ein Agent! Fangt ihn!“ Und schon packte er mit seinen gewaltigen Pratzen selber zu und erwischte Michas Arm. „Au!“ schrie der Kleine auf. „Ich habe ihn!“ donnerte der Präsident. „Er entwischt mir nicht!“ Rings um die beiden entstand ein Getümmel, woraus die Temperatur in unmittelbarer Nähe des Konverters weiter stieg. Micha wurde sichtbar! „Ein Junge!“ stammelte Bananen-Bubi fassungslos. „Wo kommt der her? Wer hat ihn eingeschmuggelt? Ich werde den Betreffenden an den Galgen bringen!' Da gelang es Micha, sich loszureißen. Und ehe der Präsident ihn aufs neue packen konnte, machte es Schschschschscht! Und er hatte eine Ladung Angsthasen-Spray im Gesicht! Die Wirkung war mehr als verblüffend. Der riesige Bursche begann sich auf der Stelle zu drehen. Erst stieß er noch einige drohende Worte aus. Er gab auch noch ein paar großsprecherische, ja, großmäulige Befehle. Aber dann brach der Mut des Mannes wie ein Kartenhaus zusammen. Micha fühlte ein Zupfen an seinem Arm. Es war Superhirn. „Weg hier!“ tönte seine Stimme an Michas Ohr. „Weg von der Menge! Zum Eingang, los!“ Sogleich wurde auch Micha für die Leute wieder unsichtbar, denn Superhirn und er standen im Wirkungsbereich der Klimaanlage, abseits der anderen. Sie beobachteten gespannt, was der eben noch so größenwahnsinnige Bursche machen würde. „Warum sind hier so viele Männer?“ wimmerte der Präsident plötzlich gänzlich verstört. „Was wollen die von mir? Ich habe ihnen nichts getan! Die paar Bananen, die ich in Hamburg geklaut habe, könnt ihr mir nicht anrechnen, nein, nein! Und für die Autodiebstähle habe ich meine Strafe abgesessen! Ihr könnt meine Entlassungspapiere sehen. Bitte, bitte, laßt mich doch frei.“ Er rang flehentlich die Hände. Schnell trat ein beherzter Mann an den Platz des Präsidenten. Er wandte sich an die Versammlung: „Mister Alec Glory scheint geistesgestört zu sein! ja, Sie sehen, er ist wohl schwachsinnig geworden.“ Das war allerdings nicht zu übersehen, denn der eben noch so selbstherrliche Bursche kroch wie ein
Kind, das noch nicht laufen kann, unter dem Tisch herum. Der Redner, ein höherer General und Feind des Usurpators, nutzte die Lage unverzüglich aus: „Die Sitzung ist geschlossen!“ rief er. „Ich rate den Anwesenden, sich schnellstens in ihre Länder zu begeben und auf die Bildung einer neuen Regierung in Katherinia City zu warten!“ Jetzt wollten die Wachsoldaten in den Saal dringen, doch Superhirn empfing sie mit einer gehörigen Dosis Angsthasen-Spray. Die Männer warfen ihre Waffen weg. Der Chef der Garde greinte: „Ich will auch wieder ganz artig sein - ich will ganz, ganz artig sein!“ Der Adjutant, kreidebleich, wollte sich an den Fenstern entlang zu einer Seitentür schleichen, doch er wurde von Freunden des Generals überwältigt. „Sie rufen den Flugplatz an und lassen dort die Wachen zurückziehen!“ erklärte der General jetzt. „Wer nicht unverzüglich seine Waffen ablegt, kommt ins Gefängnis!“ Die Reporter und Korrespondenten stürzten aus dem Saal, um ihren Redaktionen und Studios in der Welt die verblüffenden Neuigkeiten mitzuteilen. Das letzte, was sie von dem umherkrabbelnden Bananen-Bubi hörten, war: „Ich habe nie eine Atombombe geschält, immer nur Bananen! Ich habe keine Atombanane! Ich habe geschwindelt!“ Dies bestätigten noch am selben Tag die Wissenschaftler aus dem Atomforschungszentrum in einer Pressekonferenz, „Das genügt!“ meinte Superhirn kichernd beim Anblick des Präsidenten. „Die Ratten, die bisher zu dem Kerl gehalten haben, werden sich schleunigst verkriechen. Nach allem besteht hier nicht mehr die geringste Gefahr eines Machtkampfes!“ Er und Micha drückten sich hinaus ins Freie. „Wo ist das Mini-Raumschiff?“ keuchte Micha. „Hinter den drei großen Palmen, zwischen den Zierbüschen!“ erwiderte Superhirn. Sie tasteten an dein ebenfalls noch unsichtbaren Fahrzeug herum. Superhirn erwischten den LukenÖffnungskontakt. „Rein!“ befahl er. „Wir nehmen Funk mit Charivari auf. Der Monitor' ist rückprogrammiert! Er findet sein Ziel von selber!“ Auf dem Landeplatz der Orbitalstation wurden Superhirn und Micha fast wie Olympiasieger empfangen. „Wir bekamen die komische Versammlung auf dem Bildschirm zu sehen!“ berichtete Henri lachend. Junge, Micha, das hast du fabelhaft gemacht!“ „Geheimagent Micha!“ witzelte Gérard. „Schade, daß die Sache nicht in ein Geschichtsbuch kommen kann!“ „Geschichtsbuch!“ feixte Prosper. „Unsinn! Einen Film müßte man danach drehen!“ Tati runzelte die Stirn. Der Professor wurde auf einmal sehr ernst: „In Geschichtsbüchern würde so eine HintertreppenStory der Zeitgeschichte höchst unglaubwürdig klingen. Sogar in einer gut redigierten Tages- oder Wochenzeitung. Menschliche Worte reichen nicht aus, um den Unfug mancher Staatsstreiche zu schildern. Präsident Alec Glory, ehemals Bananen-Bubi, entmachtet! Das wäre höchstens eine Schlagzeile für die Sensationspresse. Zum Kopfschütteln für den Leser. Leider aber auch zum Kopfverlieren für den, der an solchen Unglaublichkeiten beteiligt war. Hm, und so was verfilmt? Die Zuschauer würden ihr Eintrittsgeld zurückverlangen bzw. den Fernseher abstellen!“ Die weiteren Nachrichten von der Erde verrieten den Freunden in der Weltraumstation, daß Bananen-Bubi mit seinen Kumpanen hatte fliehen können, aber auch, daß in den betroffenen fünf afrikanischen Staaten wieder Frieden herrschte. Dagegen hatte Charivari bald Sorgen mit seiner Raumstation. Wieder rief er die Gefährten in seine Chefzentrale. „Ich muß euch eine betrübliche Mitteilung machen“, erklärte er. „Gern hätte ich euch noch einige Tage hierbehalten. Nicht nur, um euch Abwechslung zu verschaffen, weil ihr meine bewährten jungen Freunde seid. Ich habe ja die Hoffnung, ja fast die Gewißheit, daß Superhirn eines fernen Tages in meine Fußstapfen tritt; daß er meine Vorhaben nicht nur zu Ende führt - denn der
Fortschritt kennt kein Ende -, sondern den Aufgabenkreis erweitert. Und ihr anderen, wenn ich mal von Loulou absehe ...“, er lächelte, „... würdet Superhirn gewiß dabei unterstützen. Leider ist im Augenblick ein kritischer Zustand eingetreten. Das Absorbit, die Schutzhülle um meine Station, hat sich verändert, sie erfüllt ihren Zweck nicht mehr vollauf. Ich muß die Raumstation weiter weg von der Erde verlagern, damit ich die Reparatur durchführen kann, ohne dabei geortet werden zu können.“ „Sie wollen auf eine andere Bahn?“ begriff Superhirn. Charivari nickte. „Ich gehe auf eine Sonnenbahn - auf der ich erst in dreizehn Monaten wieder in Erdnähe gelange. Ich habe es immer wieder durchdacht: Es ist das vernünftigste, euch vor der Kursänderung wieder nach Monton zu schicken.“ Gérard, Prosper, Henri, Micha - selbst Tati - zogen enttäuschte Gesichter. Der Pudel verstand von allem sowieso nichts. Superhirn antwortete mit ruhiger Stimme. „Vor Ihren Sorgen müssen unsere Wünsche zurückstehen. Das ist klar! Wir können uns ja auch nicht beklagen! Haben wir nicht wieder genug erlebt?“ Der Professor stand auf. Er blinzelte Micha zu. „Natürlich feiern wir erst einmal Abschied im Automatenrestaurant.“ Wuff! Waff! bellte der Pudel freudig, als habe er dies nun auch verstanden. Die Gefährten kamen vom Austern-Verladebahnhof zur Villa Monton herauf, so, wie sie vor nicht allzu langer Zeit hinuntergeeilt waren. Das Gärtnerehepaar sah sich kaum nach ihnen um. Und Madame Claire rief: „Als ob ich eure Heimkehr geahnt hätte! Ich habe einen großen Korb süßer Kirschen für euch!“ Sie stieß einen Schrei aus, als sie die Kirschen auf die Terrasse brachte: Der Korb wurde ihr von unsichtbaren Händen weggenommen! Und wie von Geisterkraft bewegt, stand er auf einmal auf dem Tisch. „Ich bin wohl ein bißchen durcheinander wegen der Hitze“, murmelte Madame Claire. Doch kaum war sie im Haus verschwunden, als Superhirn scharf befahl: „Micha! Mach dich gefälligst sichtbar! Es ist nicht anständig von dir, daß du das Konverter-Gerät, ohne den Professor zu fragen, mitgenommen hast!“ Micha tauchte verlegen „aus dem Nichts“. Tatsächlich trug er das Gerät am Gürtel. Superhirn nahm es ab und warf es in hohem Bogen über die Terrassenbrüstung den Felshang hinunter, ins Meer. „So was brauchen wir nicht!“ sagte er nachdrücklich. „Finde ich auch!“ bestätigte Tati. „So, nun lassen wir uns aber die Kirschen schmecken.“ Am Abend, als die Sterne am Himmel flimmerten, saßen die Gefährten wieder auf der Terrasse. Superhirn blickte zum Himmel empor. „Der Professor wird auf seinem Reparaturkurs bis an die Marsbahn gelangen“, meinte er. „Aber eines Tages wird er wiederkommen“, murmelte Henri. Prosper, Gérard und Micha schwiegen. Es schien, als seien sie traurig. Da sagte Tati überzeugt: „Sicher wird Professor Charivari wiederkommen! Ganz gewiß! Er wird uns nicht vergessen!“
Ende