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Weitere Titel des Autors: Shaman Bond 20 615 Bd. 1 Wächter der Menschheit 20 623 Bd. 2 Krieg der Wächter Weitere Bände in Vorbereitung
Über den Autor: New-York-Times-Bestsellerautor Simon R. Green hat an der University of Leicester Literatur und Geschichte studiert. Er schreibt für Film und Fernsehen ebenso wie fürs Theater, wo er ab und an sogar die Bühne als Schauspieler betritt. Den deutschen Lesern ist Green durch die erfolgreiche SF-Serie Todtsteltzer bekannt. Green lebt derzeit in England.
Simon R. Green
KRIEG DER WÄCHTER Aus dem Englischen von Axel Franken und Susanne Picard
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 20 623
1. Auflage: August 2010
Vollständige Taschenbuchausgabe Bastei Lübbe Taschenbuch in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG Deutsche Erstausgabe Für die Originalausgabe: Copyright 쑕 2008 by Simon R. Green, all rights reserved Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Daemons are forever« Originalverlag: Roc, New American Library, a divison of Penguin Group USA Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright 쑕 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln Textredaktion: Dr. Frank Weinreich Lektorat: Ruggero Le`o Titelillustration: Arndt Drechsler, Rohr Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Satz: Urban SatzKonzept, Düsseldorf Gesetzt aus der Baskerville Druck und Verarbeitung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-404-20623-0
Sie finden uns im Internet unter www.luebbe.de Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Menschen sind sterblich, aber Dämonen sind unvergänglich
Mein Name ist Bond. Shaman Bond. Der total geheime Geheimagent. Einst war alles, was zwischen der Welt, die Sie kennen, und den Mächten der Finsternis stand, meine Familie. Durch unsere goldene Rüstung stark und mächtig, bekämpften wir um Ihretwillen die Monster und beschützten Sie vor ihnen. Von klein auf wurde jedes Mitglied unserer Familie dazu erzogen, unter größter Geheimhaltung den guten Kampf zu kämpfen. Damit Sie nie erfahren mussten, in was für einer gefährlichen Welt Sie wirklich leben. Ich war ein Frontagent, mit der Lizenz zum Treten in übernatürliche Ärsche. Ihr Ritter ohne Furcht und Tadel, der die Wölfe von Ihrer Tür fernhielt. Und dann fand ich heraus, dass alles eine Lüge war. Meine Familie beschützte die Welt nicht – wir regierten sie, aus dem Dunkel heraus. Und die prächtige goldene Rüstung, die aus uns so viel mehr als Menschen machte, forderte einen geheimen Preis, der zu furchtbar war, um ihn weiter zu zahlen. Also brachte ich meine Familie zu Fall. Und für meine Sünden übertrugen sie mir die Leitung. Um die Familie zu führen und ihre Ehre wiederherzustellen. Mein wahrer Name ist Eddie Drood. Ich bin die letzte Hoffnung der Welt. Und die Welt, sie steckt in großen Schwierigkeiten.
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Kapitel Eins
Ganz normale Tage Die Welt ist nicht das, wofür Sie sie halten. Teufel auch, nicht mal London ist das, wofür Sie es halten. Hinter jeder Ecke gibt es Monster, in jedem Schatten lauern Kreaturen und es finden mehr finstere Verschwörungen und geheime Kriege statt als es Dämonen in der Hölle gibt. Natürlich erfahren Sie nie etwas davon, weil die Drood-Familie überall Frontagenten hat, die die Lage unter Kontrolle halten und dafür sorgen, dass alle nett zueinander sind. Sind sie es nicht, töten wir sie. Wir halten nichts von zweiten Chancen; wir halten etwas davon, die Brände auszutreten, bevor sie sich ausbreiten können. Meine Familie kümmert sich seit fast zweitausend Jahren darum, dass die Welt ein sicherer Ort ist. Wir sind sehr gut darin. Und dann entdeckte ich die Wahrheit hinter den Lügen, und nichts ergab mehr Sinn. Als ich das letzte Mal meine nette kleine Wohnung in London besuchte, mein Zuhause in angemessener Entfernung von meinem Haus, schien mein Leben noch einen gewissen Sinn zu ergeben. Ich war ein erfahrener Frontagent, samt Tarnname und Tarnidentität und der wunderbaren goldenen Rüstung, die mich zu so viel mehr als einem Menschen machte. Ich ging hin, wo die Familie mich hinschickte, tat, was mir gesagt wurde, und nie wäre es mir auch nur in den Sinn gekommen, Fragen zu stellen. Es war mein Job, die Welt vor dem zu beschützen, was an finsteren und niederträchtigen Mächten in der jeweiligen Woche gerade ein paar hinter die Löffel brauchte, und ich war dafür bekannt, dass ich diesen Job auch erledigte, egal welche Komplikationen er mit sich bringen mochte. Ich wusste, wer die Guten und wer die Bösen waren. 9
Nichts wusste ich. Meine Wohnung lag in Knightsbridge; ein gemütliches Apartment in einer wirklich netten Gegend, wo niemand wusste, wer ich wirklich war. Ich verdiente genug, um ein sowohl stilvolles als auch sorgenfreies Leben zu führen, und keiner belästigte mich. So sah mein Leben aus, noch vor wenigen Monaten. Bis eines Tages, ohne Vorwarnung, die Familie mich grundlos zum Vogelfreien erklärte und ich mich auf die Flucht begeben musste, um mein Leben zu retten. Auf der Suche nach Antworten fand ich die schreckliche Wahrheit über meine Familie und die Welt heraus, und seitdem ist nichts mehr, wie es einmal war. Und jetzt war ich wieder hier in London und neben mir saß die wilde Waldhexe Molly Metcalf, während ich mein neues Auto durch die zumeist menschenleeren Straßen lenkte. Es war früh am Morgen, die Sonne gerade erst aufgegangen, die Vögel sangen sich die kleinen Herzen aus dem Leib und in der Luft lag diese erwartungsfrohe Alles-kann-passieren-Atmosphäre, die von allen großen Städten am Beginn des Tages ausgeht. Molly Metcalf, Anarchistin, Terroristin und eine ganze Anzahl anderer -istinnen, die damit zu tun hatten, den maßgeblichen Regierungsstellen Scherereien zu machen, rekelte sich zufrieden auf dem Beifahrersitz und trommelte auf dem Armaturenbrett mit beiden Händen einen Rhythmus, um das Breed 77-Album zu begleiten, das über die Musikanlage des Wagens lief. Eine Frau wie eine kleine und zerbrechliche China Doll mit kurz geschnittenen schwarzen Haaren, riesigen dunklen Augen und großen Brüsten. Sie trug einen schwarzen, hautengen einteiligen Lederanzug, dazu ein Hexenmesser, das an einer langen Silberkette um ihren Hals hing. Molly gehörte früher zu den Bösen . . . Sie gehörte vermutlich immer noch dazu, je nach dem, wie man es betrachtete. Wir haben eine Menge gemeinsamer Vergangenheit und versuchten früher sogar einige Male, uns gegenseitig umzubringen, wenn wir auf verschiedenen Seiten einer Mission gelandet waren. Inzwischen 10
unterhalten wir eine feste Beziehung und ich wäre in schwerer Bedrängnis, wenn ich sagen müsste, wen von uns das mehr überraschte. Ich, ich bin nur ein weiteres Gesicht in der Menge, dazu ausgebildet, unauffällig mit ihr zu verschmelzen. Und ich habe noch nie im Leben einen Wodka-Martini – geschüttelt, nicht gerührt! – bestellt. Unter völliger Missachtung von Ampeln, Verkehrsvorschriften und jeglichen Formen von Anstandsregeln für den Straßenverkehr ließ ich den neuen Wagen durch die Straßen donnern. Genau genommen war es allerdings gar kein neuer Wagen. Meinen geliebten Hirondel hatte ich während meiner Zeit auf der Flucht aufgeben und zerstören müssen, aber ich hatte den Waffenmeister, unseren Familienexperten für Waffen und anderes Agentenspielzeug, dazu bewegen können, mich mit einem neuen Satz Räder zu versorgen. Ich fuhr jetzt ein liebevoll restauriertes 1933er-Viereinhalb-Liter-Bentley-Cabrio mit Stoffverdeck in Renngrün mit Lederinterieur und einem AmherstVilliers-Kompressor unter der langen, glänzenden Motorhaube. Der Wind schlug nach meinen Haaren, während wir dahinbrausten, und ich schaltete öfter, als streng genommen nötig war, nur um anzugeben. Es war eine großartige grüne Bestie von einem Auto, höllisch elegant und gelassen glamourös auf jene Art, die moderne Autos nicht einmal mehr anstreben. Ich knallte den nächsten Gang rein, trat aufs Gas, und der Bentley schoss vorwärts wie ein Jagdhund, den man von der Leine gelassen hatte. Molly jauchzte vor Freude und genoss die Geschwindigkeit und die Beschleunigung. »Das ist ein Wahnsinnswagen, Eddie! Wo hast du ihn geklaut?« »Er hat einmal meinem Onkel Jack gehört«, schrie ich über das Dröhnen des Motors zurück. »Damals in den Fünfzigern, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, als er in Osteuropa tätig war und ohne Rücksicht auf Verluste Buschfeuer austrat. 11
Es heißt, er habe persönlich drei Weltkriege verhindert und um ein Haar selbst einen ausgelöst, als er mit der Frau eines Politikers im Bett erwischt wurde. Und seiner Geliebten. Onkel Jack ging in der Folge natürlich zu schnelleren und protzigeren Wagen über, aber seine Zuneigung zu diesem hier hat ihn nie verlassen, und deshalb hat er ihn jahrelang in Schuss gehalten. Selbstverständlich hat er ihn mit Spezialanfertigungen vollgepackt; als Waffenmeister der Familie musste er immer das beste Spielzeug haben.« »Was zum Beispiel?« Ich grinste. Ich musste einfach. »Kugelsicheres Chassis, kugelsichere Scheiben, mit Silikon-Gel gefüllte Reifen, die nicht plattzukriegen sind, Maschinengewehre vorn und achtern, die zweitausend Explosivnadelgeschosse pro Minute abfeuern können. EMP-sicher, zauberspruchsicher, fluchsicher, dazu all die üblichen versteckten Extras. Die Bedienungsanleitung ist so dick wie das Londoner Telefonbuch. Als Kinder studierten wir sie früher alle eifrig in der Bibliothek und träumten von dem Tag, wo wir Frontagenten sein und solche Autos fahren würden. Ach und übrigens – versuch nicht, den Zigarettenanzünder zu benutzen: Flammenwerfer.« »Klasse! Lass ihn uns ausprobieren!« »Lieber nicht. Wir sollen keine Aufmerksamkeit erregen, schon vergessen? Warte, bis wir eine Politesse sehen. Oder einen Straßenpantomimen.« Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder in London zu sein und durch die vertrauten Straßen zu fahren, nachdem so viel passiert war. Die Straßen sahen noch genauso aus, und ohne Zweifel lebten die Menschen ihr alltägliches Leben weiter, als ob sich nichts geändert hätte. Aber es hatte sich alles geändert. Jetzt, wo die Familie weg vom Fenster war, war die ganze Welt für jeden zu haben, auch wenn es noch niemand wusste. Meine Familie leitete die Welt nicht mehr, und der einzige Grund, weshalb die Welt sich noch nicht zerfleischte, um das neue 12
Machtvakuum auszufüllen, war – dass alle maßgeblichen Mächte darauf warteten, dass die anderen losschlugen. »Warum fahren wir nochmal in deine alte Wohnung?«, fragte Molly. »Das hab ich dir doch schon gesagt. Und wenn du noch ein Mal Sind wir schon da? fragst, dann drücke ich den Knopf für den Schleudersitz!« »Dieses Auto hat keinen Schleudersitz!« »Es könnte einen haben. Das weißt du nicht.« »Rede mit mir, Eddie! Du erzählst mir nie, was du denkst!« »Hey, ich bin an dieses ganze Beziehungskistending nicht gewöhnt, okay? Wenn du als Frontagent arbeitest, lernst du ziemlich schnell, dass du niemandem vertrauen kannst.« »Nicht einmal denjenigen, die dir nahe stehen?«, fragte Molly und betrachtete mich ernst mit ihren großen dunklen Augen. »Denen ganz besonders nicht. Bei einem Feind weißt du immer, woran du bist; verraten können dich nur Freunde und Menschen, die du liebst.« Ich holte tief Luft und starrte durch die Windschutzscheibe. »Falls ich die Familie führen werde – und es sieht so aus, als bliebe mir keine andere Wahl, weil sonst niemand da ist –, dann muss ich im Herrenhaus wohnen. Und sei es auch nur, weil es immer noch viel zu viele Familienmitglieder gibt, denen ich nicht gefahrlos den Rücken zuwenden kann. Die Wahrheit mag befreiend sein, aber niemand hat behauptet, dass man dafür dankbar sein muss. Ich muss Herr der Lage sein. Aber wenn ich schon wieder in diesem zugigen alten Gebäudekomplex leben muss, dann will ich einige meiner Lieblingssachen bei mir haben. Nur ein paar Sachen, die mir wichtig sind, damit sich das Herrenhaus wenigstens wie ein Zuhause anfühlt.« »Häng dich nie an Besitztümer!«, sagte Molly energisch. »Das sind nur Gegenstände, und Gegenstände kann man immer kriegen.« 13
»Du hast keinen einzigen sentimentalen Knochen im Körper, was?« »Hätte ich einen, würde ich ihn mir operativ entfernen lassen. Ich sehe immer nach vorn und nie zurück.« »Nun ja«, meinte ich. »Aber du lebst ja auch in einem Wald. Was würdest du denn ins Herrenhaus mitnehmen? Deinen Lieblingsbaum?« »Du vergisst, Eddie, dass ich eine Hexe bin! Ich könnte mich dafür entscheiden, den ganzen Wald mitzubringen.« Ich beschloss, das Thema zu wechseln, bevor sie sich in die Idee verrannte. Bei Hexen kann man nie wissen. »Und«, sagte ich so beiläufig, wie ich konnte, »wie kommst du mit der Familie zurecht? Wirst du von allen anständig behandelt? Was hältst du von den mächtigen und mysteriösen Droods, jetzt, wo du die Möglichkeit gehabt hast, uns persönlich und aus der Nähe zu erleben?« »Schwer zu sagen«, meinte Molly. Die Musik hatte aufgehört; ich hatte die Geschwindigkeit gedrosselt, und auf einmal schien es sehr still im Bentley zu sein. Molly förderte eine kleine, silberne Schnupftabakdose aus der Luft zutage, schnupfte eine Prise von etwas Grünem und Leuchtendem, nieste unordentlich und ließ die Dose wieder verschwinden. »Die meisten aus deiner Familie sprechen nicht mit mir. Entweder, weil sie denken, ich hätte dich auf Abwege gebracht, oder weil ich in der Vergangenheit so viele Pläne deiner Familie vereitelt habe. Dabei habe ich doch gar nicht so wahnsinnig viele von euren Leuten getötet! Sie müssen darüber hinwegkommen und nach vorn blicken – damals war damals, und heute ist heute. Na schön, dann habe ich früher halt die schwarzen Künste praktiziert, Aufruhr verbreitet, Aliens entführt und Vieh verstümmelt; ich war eben jung! Ich musste mich austoben! Das ist doch kein Grund, schreiend wegzulaufen, wenn ich mich nur mit den Leuten unterhalten will!« »Sie kennen dich eben nicht so gut wie ich«, sagte ich be14
ruhigend. »Hast du denn gar keine Freundschaften geschlossen?« »Dein Onkel Jack ist in Ordnung«, räumte Molly widerstrebend ein. »Aber er hat immer in der Waffenkammer zu tun. Und Jacob ist ein guter Gesellschafter. Für einen Geist. Und ein alter Lustmolch! Aber abgesehen von den beiden gibt es nur kalte Schultern und gehässige, anzügliche Bemerkungen gerade noch in Hörweite. Ein paar davon waren echt richtig unfreundlich.« Ich nahm die Augen gerade lange genug von der Straße, um ihr einen wirklich ernsten Blick zuzuwerfen. »Bitte sag mir, dass du sie nicht getötet hast!« »Natürlich nicht! Ich habe sie in Sachen verwandelt.« »Was für . . . Sachen?« Molly lächelte reizend. »Erinnerst du dich noch daran, wie wir letzte Woche Fasan zu essen hatten und du bemerktest, dass eigentlich gar keine Jagdzeit dafür ist?« Ich umklammerte das Lenkrad so fest, dass meine Fingerknöchel weiß wurden. »O mein Gott! Du hast doch nicht –« »Selbstverständlich habe ich nicht! Entspann dich, Eddie! Du kannst manchmal so naiv sein! Ich habe sie bloß alle in Kröten verwandelt und sie für eine Weile im Steingarten ausgesetzt, um ihnen Gelegenheit zum Nachdenken zu geben. Es geht ihnen wieder gut. Bis auf eine leichte Neigung, nach vorbeikommenden Fliegen zu schnappen.« Ich seufzte schwer. Mir schien, als täte ich das viel öfter, seit Molly in mein Leben getreten war. »Falls es dir ein Trost ist: Die meisten Familienmitglieder sind mit mir auch nicht warm geworden«, gestand ich ihr. »Sie respektieren dich«, sagte Molly. »Nur weil sie Angst vor mir haben. Ich habe ihr kostbares Herz vernichtet, den Ursprung ihrer wunderbaren goldenen Rüstung. Der einen Sache, die sie zu etwas Besserem als alle anderen machte. Ich habe bewiesen, dass das Herz böse und 15
die Rüstung eine Scheußlichkeit war, aber noch mehr hassen sie mich dafür, dass ich sie gezwungen habe, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Dass wir nicht die Guten sind und es auch seit Jahrhunderten schon nicht mehr gewesen sind. Obendrein fühlen sich jetzt alle hilflos und verwundbar ohne ihre Rüstung, wehrlos angesichts der zahlreichen Feinde der Familie.« »Du hast ihnen doch neue silberne Torques versprochen, neue Rüstungen. Alle applaudierten und jubelten dir zu! So war es, ich war dabei.« »Die Begeisterung des Augenblicks. Nein, falls ich die Familie führen werde, muss ich es von der Front aus tun. Ich muss sie dazu beflügeln, wieder großartig zu sein; muss mich mit Taten beweisen, nicht bloß mit Worten und guten Absichten. Ich muss beweisen, dass ich würdig bin, die Familie zu führen!« »Es deiner Familie beweisen«, fragte Molly, »oder dir selbst?«
Knightsbridge war eine sehr stille und kultivierte Gegend, in der niemand wusste, wer ich war oder was ich tat. Man kannte mich nur als Shaman Bond, einen finanziell unabhängigen Mann, der es vorzog, für sich zu bleiben, nie irgendwelchen Ärger zu machen und immer daran zu denken, am richtigen Tag seinen Müll rauszustellen. Deshalb war es, als ich mich meiner ruhigen und abgelegenen Wohngegend näherte, auch eine gewisse Überraschung für mich, so viele Leute in den Straßen herumlaufen zu sehen, die nicht dorthin gehörten. Ich entdeckte Spione und Agenten aus einem Dutzend verschiedener Länder und Organisationen, die alle eifrig vorgaben, ganz normale Leute zu sein und ihren ganz normalen Beschäftigungen nachzugehen. Aber einen Drood kann man nicht zum Narren halten. Ich verlangsamte den Wagen und sah mir die Sache genauer an. Die Zeichen waren nicht gut. Jeder Zugang zu meiner Woh16
nung wurde von Leuten beobachtet, die nicht einmal hätten wissen dürfen, wo sie war. Nachrichten verbreiten sich rasch in Geheimdienstkreisen. Ich konnte also nicht einfach zu meiner Wohnung fahren und parken; das hätte alle möglichen Unannehmlichkeiten nach sich ziehen können. Ich musste irgendwie in meine alte Bleibe schlüpfen, ein paar Habseligkeiten zusammenraffen und schleunigst wieder das Weite suchen, ohne dass jemand überhaupt mitbekam, dass ich da gewesen war. Ich lenkte den Wagen in einiger Entfernung von meiner Wohnung an den Straßenrand und hielt an. Molly schaute mich fragend an. Ich machte sie unauffällig auf ein paar der Feinde aufmerksam, hielt sie davon ab, einen sofortigen Präventivschlag zu landen, und überredete sie dazu, ruhig sitzen zu bleiben, während ich die Lage mithilfe des Blicks einer genaueren Untersuchung unterzog. Genau wie mein alter Halsreif gestattete auch mein neuer silberner Torques es mir, viel mehr von der Welt, so wie sie wirklich ist, zu sehen, als es mit den beschränkten Sinnen der Menschheit möglich ist. Die Welt ist ein viel größerer Ort, als den meisten Menschen klar ist, voll der Seltsamen und Schrecklichen, die ungesehen und ungeahnt neben ihnen existieren. Da war ein Elbenpaar, groß und stolz und hochmütig. Elben leben jetzt woanders und tauchen nur in unserer Welt auf, wenn sie eine Chance sehen, uns übers Ohr zu hauen oder uns einen Tritt zu verpassen, wenn wir schon am Boden liegen; das ist heutzutage alles, was ihnen noch geblieben ist. Da waren Aliens: Graue und Echsenähnliche sowie ein paar Wesen, deren Gestalt überhaupt keinen Sinn ergab. Sie wandeln wirklich unter uns – Touristen, meistenteils – und wenn sie Anstalten machen, aufmüpfig zu werden, versohlt die Familie ihnen normalerweise einfach den Hintern und schickt sie nach Hause. Hier und da trieben Gespenster vorbei, gefangen in sich wiederholenden Zeitschleifen. Und es gab Geschöpfe, die durch 17
Wände gingen oder an ihnen hinaufkletterten oder oben am Himmel schwebten. Viel zu viele, als dass es sich bloß um einen Zufall handeln konnte. Nachrichten verbreiten sich rasch in der übernatürlichen Gemeinschaft. Ich stellte den Blick ab. Man kann sich die Welt nicht lange anschauen, wie sie wirklich ist: Der menschliche Verstand hat nicht das nötige Rüstzeug, um damit klarzukommen. Zum Glück konnte keiner von denen mich sehen, solange ich den Torques trug. Sie mussten darauf warten, dass ich mich zu erkennen gab. Ich grinste. Es war an der Zeit, eine der wirklich ganz speziellen Besonderheiten des Bentleys zu erproben. »Eddie, was hast du vor?«, fragte Molly. Ich lächelte sie glückstrahlend an. »Mach dich auf was gefasst, Süße! Jetzt werde ich dir mal zeigen, was alles in diesem Auto steckt.« Ich trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch und ließ die Kupplung los: Der Motor heulte auf wie ein Wolf auf der Jagd und der Bentley brauste vorwärts. Während ich die Gänge malträtierte, schossen wir in wenigen Sekunden an der Hundertermarke vorbei, dann legte ich den versteckten Schalter um und haute die Maschine in den Overdrive. Die fürchterliche Beschleunigung presste Molly und mich in die Sitze, und um uns herum verschwamm die Welt, als wir sie hinter uns ließen. Der Bentley durchbrach die Mauern der Welt und ganz plötzlich waren wir irgendwo anders. Befreit von den gewöhnlichen Beschränkungen von Zeit und Raum raste der Bentley durch die Dimensionen; Tage und Nächte flimmerten wie stroboskopische Erscheinungen. Sterne leuchteten in auf der Erde nie gesehenen Konstellationen an Nachthimmeln eines Anderswo. Da waren seltsame Klänge und strahlende Lichter und eine Stadt, die mit einer Million unmenschlicher Stimmen sang. Anblicke und Ausblicke, substanzlos und nicht greifbar, flackerten auf und erloschen, während wir wie eine Kugel durch sie hindurchschossen; doch ob sie oder 18
wir die Geisterbilder waren, ist wahrscheinlich reine Ansichtssache. Molly schrie und kreischte vor Entzücken, und nur die Notwendigkeit, mich aufs Lenken zu konzentrieren, hielt mich davon ab, es ihr gleichzutun. Trunken vor Geschwindigkeit und vernarrt ins Tempo bretterten wir durch die Dimensionen, bis ich das Zeichen sah, nachdem ich Ausschau gehalten hatte, und scharf nach rechts zurück in unsere Realität abbog. Verschiedene Welten dopplerten an uns vorbei, als ich in die Eisen stieg. Als der Bentley schließlich zitternd zum Stehen kam, saßen wir in der Garage unter meiner Wohnung. Ich stellte schnell den Motor ab und nahm die Hände vom Lenkrad. Sie zitterten, und das nicht nur in freudiger Erregung: Abstecher durch angrenzende Dimensionen zu machen, ist immer eine riskante Sache. Man kann nie sagen, was einen dort vielleicht bemerkt und beschließt, einem nach Hause zu folgen. Auf etwas unsicheren Beinen stieg ich aus dem Auto und überprüfte es gründlich, um sicherzugehen, dass wir keine unerwünschten Anhalter aufgegabelt hatten. Meine besondere Aufmerksamkeit ließ ich dabei dem Fahrgestell zukommen. Auch Molly war schon ausgestiegen; sie tanzte um das Auto herum und vollführte Faustschläge in der Luft. »Das war fantastisch! Lass es uns nochmal machen! Was war das?« »Eine Abkürzung«, antwortete ich, während ich argwöhnisch unter die vordere Stoßstange spähte. »Du nimmst mich auf die tollsten Fahrten mit, Eddie!« Ich richtete mich auf und sie schlang die Arme um mich und drückte mich an sich. Ich ließ es zu. »Willkommen in meiner Garage!«, sagte ich. »Sie ist klein, aber schäbig. Und jetzt komm nach oben und schau dir meine Wohnung an. Versuch bitte, nicht zu unterwältigt zu sein – es kann eben nicht jeder in einem Wald wohnen!«
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Ich musterte die Tür zu meiner Wohnung sorgfältig. Es schien alles normal zu sein. Nichts war nicht am richtigen Platz, aber die Tür war nicht verschlossen. Das konnte ich erkennen. Und ich schließe immer hinter mir zu, wenn ich weggehe. Geheimagenten können es sich wirklich nicht leisten, solche Sachen zu vergessen. So stand ich also in sicherer Entfernung von meiner Tür und betrachtete sie nachdenklich, während Molly mich betrachtete. »Was ist los?« »Jemand ist hier gewesen.« »Deine Feinde?« »Eher meine Familie. Nachdem sie mich für vogelfrei erklärt hat, hat die Matriarchin mit Sicherheit ein Team hierher geschickt, um meine Wohnung auf den Kopf zu stellen und nach Belastungsmaterial gegen mich zu suchen. Und meine Familie geht in solchen Dingen nie subtil vor.« »Du denkst, sie haben eine versteckte Bombe zurückgelassen?« »Nein. Eine Falle würde ich sehen. Es ist wahrscheinlicher, dass sie nur alles demoliert haben, um eine Nachricht zu hinterlassen. Das hätte ich jedenfalls getan, als ich noch Frontagent war.« Ich holte tief Luft, stieß die Tür auf und ging hinein. Sie hatten mein Zuhause tatsächlich demoliert – und waren dabei sehr gewissenhaft vorgegangen. Sämtliche Möbel waren umgekippt, sofern sie nicht zertrümmert waren. Sie hatten die Teppiche herausgerissen, um die Dielen aufstemmen zu können. Meine Besitztümer waren in der ganzen Wohnung herumgeworfen worden, alle Schubladen herausgezogen und ausgeleert und ihr Inhalt überall verstreut worden. Meinen Computer hatten sie zerlegt, um an die Festplatte zu kommen, den Bildschirm eingeschlagen. Selbst die Poster hatten sie von der Wand gerissen und zerfetzt. 20
In jedem Zimmer war es dasselbe; nichts war verschont geblieben. Im Schlafzimmer hatten sie sogar die Laken vom Bett gezerrt, die Matratze aufgeschnitten und durchwühlt. Und auf die Wand über dem Kopfende hatte jemand VERRÄTER gesprüht. Das Wort traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Eine kalte Faust schloss sich um mein Herz, und ich konnte nur noch nach Luft schnappen. Molly kam herein, stellte sich neben mich und sah das Wort an der Wand. Sie nahm meinen Arm und drückte ihn an sich. »Ach Eddie, es tut mir so leid! Ich bin sicher, dass das hier vorher eine ganz reizende Wohnung war!« »Ich war nie ein Verräter«, sagte ich und erkannte meine eigene Stimme nicht wieder. »Ich war der Einzige, der dem treu geblieben ist, was die Familie eigentlich sein sollte.« »Das weiß ich doch, Eddie. Lass uns hier weggehen!« »Schon in Ordnung«, sagte ich. »Schon in Ordnung.« Das war es zwar nicht, aber ich ließ mich von ihr wegführen.
Wieder im Wohnzimmer, schaute ich mich um und versuchte, mir einen Reim auf das Durcheinander zu machen. Sie hatten gar nicht einmal so viel kaputt gemacht – wahrscheinlich weil ihnen die Zeit gefehlt hatte. »Die haben wirklich ganze Arbeit geleistet!«, stellte Molly fest. Sie gab sich alle Mühe, nicht auf irgendwelche Sachen zu treten; das war zwar unmöglich, aber allein für den Versuch liebte ich sie. »Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte ich. »Ich habe es zu meiner Zeit als Frontagent schlimmer getrieben, wenn ich den Unterschlupf irgendeines Schurken auseinandernahm, um nach Hinweisen oder Beweismaterial zu suchen. Oder auch nur, weil ich es konnte. Damals gehörte alles dazu. Aber . . . Die kosmische Gerechtigkeit ist scheiße. Glaubst du an Karma, Molly?« 21
»Karma nich sagen«, antwortete Molly munter. »Hast du dich nicht mal mit dem Gedanken getragen, irgendwelche Schutzvorrichtungen um deine Bleibe herum anzubringen?« Ich schnaubte verächtlich. »Ich habe Tonnen von den verdammten Dingern; du hättest bessere Chancen, in Bill Gates’ privates Pornoversteck als in meine Wohnung einzubrechen! Aber nichts, womit meine Familie nicht fertig würde. Ich habe eben nie gedacht, dass ich mich einmal vor meiner eigenen Familie schützen müsste.« Molly runzelte die Stirn. »Müssten denn die Nachbarn nichts gehört und die Polizei gerufen haben?« »Die Menschen hören nie einen Drood bei der Arbeit«, erwiderte ich. »Und wenn doch, dann sorgen wir dafür, dass sie es wieder vergessen.« »Selbstverständlich zu ihrem eigenen Besten!« »Größtenteils ja. Ah, ich verstehe – das war ironisch gemeint! Tut mir leid, im Aufspüren von Ironie bin ich oft nicht besonders gut.« »Du und deine ganze Familie«, brummte Molly. »Was?« »Nichts. Was meinst du, was sie wohl hier gesucht haben?« »Das Übliche«, sagte ich. »Gegenstände der Macht, unerlaubte Grimoires und verbotene Texte, Informationen, zu denen ich keinen Zugang gehabt haben sollte. Möglicherweise sogar Aufzeichnungen über gezahlte Summen von außerhalb der Familie – alles, womit sie mich verdammen, unter Druck setzen oder erpressen könnten. Meine Familie hat es schon immer vorgezogen, aus einer Position der Stärke heraus zu verhandeln. Idioten! Als ob ich irgendetwas so Wichtiges einfach hier rumliegen lassen würde, damit es jeder finden kann.« »Stimmt!«, pflichtete Molly mir bei und grinste schelmisch. »Wo bewahrst du eigentlich dein wirklich geheimes Zeugs auf, Eddie? Deine peinlichen Fotos von dir als Kind, deine alten Teenagerschwarmliebesbriefe und deine persönlichen unan22
ständigen Filme? Gibt es da irgendwelche Lieblingsstücke, die du vielleicht mitnehmen möchtest? Ich kann sehr tolerant sein . . .« »Ich habe keine solchen Sachen«, erwiderte ich mit einiger Würde. Molly seufzte und schüttelte den Kopf. »Für einen Geheimagenten hast du ein sehr behütetes Leben geführt. Aber keine Angst, Eddie; ich werde deine Pornografie sein.« Ich lächelte. »Und da sagen die Leute, heutzutage gäbe es kein romantisches Gesäusel mehr.«
Ich brauchte nicht lang, um die wenigen Dinge aufzusammeln, die ich mitnehmen wollte. Ein paar lädierte alte Meister Petz und die Seeziege-Bücher, die ich als Kind am liebsten gemocht hatte. Ein gerahmtes Foto meiner Eltern, aufgenommen unmittelbar bevor sie fortgingen, um bei einem letzten Auftrag für die Familie zu sterben. Neugierig betrachtete Molly das Foto. »Sie sehen so jung aus«, sagte sie schließlich. »Nicht mal so alt wie wir jetzt. Ungefähr im selben Alter wie meine Eltern, als sie von den Droods ermordet wurden.« »Wir haben so viel gemeinsam«, sagte ich und warf das Foto zusammen mit den Büchern in eine Tragetasche. »Ich verspreche dir: Ich werde die Wahrheit darüber herausfinden, was wirklich mit deinen Eltern passiert ist – und mit meinen.« »Wenn du willst«, meinte Molly. »Ich hab’s dir ja schon gesagt: Ich halte nichts davon, zurückzublicken.« Ich rettete ungefähr ein Dutzend meiner Lieblings-CDs aus dem Durcheinander auf dem Boden. (Molly zog die Grenze bei allen meinen Enya-Alben, was mir ein bisschen gemein vorkam. Ich habe ja schließlich auch nichts dagegen, wenn sie ihre Iron Maidens im Auto abspielt.) Und das . . . war es. Ich schaute um mich, aber es gab sonst nichts, was ich mitnehmen wollte. 23
Ich blickte nach unten auf die Tragetasche: Nicht viel vorzuweisen für ein Leben. »Ich hatte schon ein paar wirklich gute Tage hier«, sagte ich. »Aber sicher doch!«, meinte Molly. »Ich wette, du warst an den Wochenenden ein richtiger Partylöwe!« »Nein«, entgegnete ich. »Ich habe so gut wie nie Leute mit hierher gebracht. Denn die Leute kannten mich nur als Shaman Bond, und das hier war der einzige Ort, wo ich Eddie Drood sein konnte. Die Familie sieht es nicht gerne, wenn Frontagenten zu gute Freunde oder dergleichen haben: Enge Freundschaften könnten unsere Loyalität der Familie gegenüber verwässern. Und man kann ohnehin nie jemandem wirklich nahestehen, wenn das gemeinsame Leben auf einer Lüge beruht. Agenten an der Front führen einsame Leben, das müssen wir. Denn wenn man jemanden gern hat, dann will man ihn nicht in Gefahr bringen.« »Und deine Familie hat das unterstützt?«, fragte Molly. »Selbstverständlich! Sie wollte, dass die Familie das Wichtigste in unserem Leben ist, damit wir nie in Versuchung kämen, uns von ihr abzuwenden. Ich hatte mehr Freiheit als die meisten, und dennoch unterwarf ich mich der Familienrichtlinie – bis zu dem Punkt, wo sie sich gegen mich wandte. Ich hatte Freunde, aber ich konnte ihnen nie etwas erzählen, was mir wichtig war. Ich hatte Verhältnisse, aber ich hatte nie Beziehungen. Es war nicht gestattet. Alles, was ich hatte, war die Arbeit.« »Wenn du mir jetzt weinerlich kommst«, sagte Molly bestimmt, »werde ich dir eine runterhauen, und die wird dir wehtun! Ich hab’s dir doch gesagt: Nie zurückblicken! Alles, was du dort zu sehen bekommst, sind Fehler, Misserfolge und verpasste Gelegenheiten. Konzentriere dich aufs Hier und Jetzt! Du führst deine Familie, du hast die besten Sachen zum Spielen und du hast mich! Was könnte sich ein sterblicher Mann noch mehr wünschen?« 24
»Meine Enya-CDs.« »Die erste Ohrfeige ist unterwegs.« Wir lachten beide. Ich nahm sie in die Arme und drückte sie fest an mich. Sie schmiegte ihr Gesicht an meine Schulter und fuhr mir mit den Händen über den Rücken. Ich beugte meinen Kopf über ihren und atmete tief den Duft ihres Haares ein. Ich hatte das Gefühl . . . ewig so bleiben zu können. Aber ich hatte Dinge zu erledigen. »Meine Welt war früher so unkompliziert«, sagte ich. »Ich wusste, wer ich war und was ich war und was ich mit meinem Leben anfangen sollte.« »Nein«, widersprach Molly, ohne ihren Kopf von meiner Schulter zu heben. »Du dachtest nur, du wüsstest es. Willkommen in der echten Welt, Eddie! Abscheulicher Ort, nicht wahr?« »Nein«, widersprach ich. »Sie hat dich in sich.«
Wir verließen die Wohnung und begaben uns nach unten in den umschlossenen Hof – und blieben prompt stehen, als uns zu Bewusstsein kam, dass das schmiedeeiserne Tor weit offen stand. Ich blickte hinaus auf die Straße, und eine ganze Armee schwer bewaffneter und gepanzerter Männer erwiderte meinen Blick. Molly kam zu mir und stellte sich dicht neben mich. Zwei schwarze Kampfhubschrauber erfüllten den frühen Morgen mit ihrem Lärm, während sie oben in Stellung gingen. Ich hob den Kopf und straffte die Schultern. Erste Regel eines Frontagenten: Niemals Angst zeigen. Ich schlenderte zum offenen Tor hinüber, um mir die Sache genauer anzuschauen. Es mussten mindestens fünfzig Bewaffnete sein, anonym in Körperpanzerung und Helmen mit dunklen Visieren, von denen jeder Einzelne seine überdimensionierte Waffe genau auf mich gerichtet hatte. Automatische Waffen, die neuesten Modelle – sie wollten kein Risiko eingehen. Ich sah die Straße 25
hoch und runter: Sie hatten beide Enden mit gepanzerten Fahrzeugen blockiert. Verängstigte Gesichter spähten durch geschlossene Fenster die Straße hoch und runter: Im kultivierten Knightsbridge erwartete man keine Anblicke wie diesen. Eine gepanzerte Gestalt kam vor, um mir entgegenzutreten, wobei sie allerdings einen Sicherheitsabstand einhielt. Der Mann schob sein Visier gerade so weit hoch, dass er ein elektrisches Megaphon darunter bekam. »Edwin Drood, Molly Metcalf! Wir befehlen Ihnen, sich zu ergeben. Der Nichtbefolgung dieses Befehls wird mit aller gebotenen Gewalt begegnet werden.« Ich schaute Molly an. »Und? Wie möchtest du das gern spielen?« Sie lächelte liebreizend. »Ach, wie üblich, denke ich. Jeden Einzelnen mit extremer Brutalität und Unerfreulichkeit heimsuchen, plötzlich und gemein und überall.« »Eine Frau nach meinem Geschmack!«, lobte ich. »Ergeben Sie sich oder sterben Sie!«, donnerte der Wortführer durch sein Megaphon. »Ich muss doch sehr bitten!«, sagte ich mit einem vernichtenden Blick zu ihm. »Wir unterhalten uns hier! Wir werden in einem Moment für Sie da sein.« Ich wandte mich wieder Molly zu. »Es widerstrebt mir ein wenig, mich hier draußen auf einen Nahkampf mit ihnen einzulassen; mitten im Freien, umgeben von unschuldigen Zuschauern.« Molly zuckte die Achsel. »Den Ort haben die ausgesucht. Wir könnten zum Bentley rennen, nehm’ ich an, und über eine deiner Abkürzungen von hier abhauen, aber mit dem Abhauen hab ich’s eigentlich nicht so.« »Geht mir genauso«, sagte ich. »Es hat die ach so starke Tendenz, einen falschen Eindruck zu erwecken. Diese Drecksäcke müssen daran erinnert werden, was es heißt, einen Drood herauszufordern.« »Und die wilde Waldhexe, Liebling!« 26
»Wenn Sie sich nicht noch in dieser Minute ergeben . . .« Ich musste lachen. »Der kennt uns nicht besonders gut, was? Was glaubst du, wer die sind?« »Protzige Zurschaustellung von Stärke, noch protzigere Waffen und kein Funke gesunder Menschenverstand in dem ganzen Haufen . . . muss Manifestes Schicksal sein. Die Ich-Kann-NichtGlauben-Dass-Sie-Keine-Faschisten-Sind-Brigade. Truman muss wieder die Kurve gekriegt haben. Wer hätte gedacht, dass er immer noch sauer auf uns ist, bloß weil wir seine unterirdische Basis zerstört und seine gesamte widerliche Organisation in alle Winde zerstreut haben?« »Allmächtige Sektenführer mit Gottheitswahn sind in der Beziehung oft sonderbar«, stimmte ich ihr zu. Der Wortführer warf sein Megaphon auf den Boden und kam steifbeinig nach vorn, um uns gegenüberzutreten. Molly und ich drehten uns um. Wir starrten ihn gedankenvoll an, und er blieb jählings stehen. Er achtete geflissentlich darauf, seine Automatikwaffe nicht auf uns zu richten. Noch nicht jedenfalls. »Hören Sie«, sagte er in dem gezwungenen Tonfall eines Menschen, der versucht, unter sehr schwierigen Umständen vernünftig zu sein. »Wir wissen beide, dass Sie Ihre goldene Rüstung nicht mehr haben, Eddie. Kein Drood hat sie noch. Wenn ich meinen Männern befehlen muss, das Feuer zu eröffnen, werden Sie von so vielen Kugeln durchlöchert werden, dass Ihre Familie Ihre Leiche als Sieb benutzen kann. Sie werden so viel Blei in sich haben, dass Ihr Sarg als Giftmüll deklariert und sogar Ihre DNA in Einzelteilen enden wird. Wenn Sie sich also bitte einfach vernünftig verhalten würden und sich ergeben, dann könnten wir alle von hier verschwinden!« »Ich finde, Sie haben es mit diesen Metaphern ein bisschen zu weit getrieben«, sagte ich. »Am Ende hat er’s eindeutig vermasselt«, meinte Molly zu mir. 27
»Niemand hat heutzutage mehr richtig gute schurkische Drohungen drauf«, pflichtete ich ihr bei. »In den alten Tagen konnte ein wahrer Schurke dir mit einem bloßen Lächeln das Blut in den Adern gefrieren lassen!« »Ha, ich konnte mit einem einzigen unheilvollen Blick die Leute dazu bringen, sich in die Hosen zu machen!«, sagte Molly. »Tut uns leid«, sagte ich zu dem Wortführer. »Wir verhalten uns nicht vernünftig. Oder, Schatz?« »Ganz bestimmt nicht!«, bekräftigte Molly. »Ist schlecht fürs Image. Hey, was wollen wir wetten, dass ich diesen Kriecher in irgendeine rotztriefende Kreatur verwandeln kann, bevor er den Befehl geben kann, das Feuer zu eröffnen?« »Sie können es nicht mit einer ganzen Armee aufnehmen!«, sagte der Wortführer. Seine Stimme wurde ein klein wenig hysterisch. »Es sind extreme Maßnahmen genehmigt worden!« »Nun«, meinte ich, »das hört man immer gerne! Dann brauchen wir uns nicht zurückzuhalten. Ich zähle siebenundfünfzig Bewaffnete, Molly.« »Wahrscheinlich halten sich noch mehr versteckt, als Verstärkung«, sagte Molly. »Er scheint mir so einer von der hinterhältigen Art zu sein. Schön zu wissen, dass sie uns wenigstens ernst nehmen.« »Wer sind Sie eigentlich?«, fragte ich den Wortführer unverblümt und beugte mich vor, um durch sein dunkles Visier zu spähen. »Ihre Stimme kommt mir bekannt vor . . .« »Codename Alpha!«, blaffte er, wobei er tatsächlich ein bisschen zurückschreckte. »Werden Sie jetzt friedlich mitkommen oder nicht?« »Oh, ganz bestimmt nicht!«, erwiderte Molly. »Wir haben einen Ruf, dem wir gerecht werden müssen.« Ich deutete auf die beiden schwarzen Helikopter, die über uns schwebten und uns die Haare mit ihrem Abwind zausten. »Die zwei da oben kann ich wirklich nicht gutheißen, Alpha. 28