Amélie Nothomb Kosmetik des Bösen Roman Aus dem Französischen von Brigitte Große
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Amélie Nothomb Kosmetik des Bösen Roman Aus dem Französischen von Brigitte Große
Diogenes Umschlagfoto: Ken Kaminesky, ›Portrait of a Woman Wearing Mask‹ Copyright © Ken Kaminesky Corbis
Die Originalausgabe erschien 2001 bei Albin Michel S. A., Paris, unter dem Titel ›Cosmétique de l'ennemi‹ Copyright © 2001 by Éditions Albin Michel S.A. Copyright © 2004 Diogenes Verlag AG Zürich ISBN 3 257 06393 8
Ein wildfremder, aufdringlicher Typ spricht den Geschäftsmann Jérôme Angust in der Wartehalle eines Flughafens an. Jérôme möchte ihn abschütteln, zunächst höflich, dann immer deutlicher – er wird sogar richtig boshaft –, doch der andere, der sich als Textor Texel vorstellt, gibt nicht auf. Er will ihm sein Leben erzählen, das Leben eines Menschen, der aufgrund seiner Häßlichkeit von Kindheit an ausgeschlossen wurde. Und Jérôme Angust muß zuhören, ob er will oder nicht. Tatsächlich ist die Lebensgeschichte von Textor Texel auch für Jérôme interessant. Jérôme hat nämlich etwas mit Textor gemeinsam: Beide haben Dreck am Stecken. Der eine – Textor – brüstet sich damit, der andere – Jérôme – möchte es mit aller Gewalt vertuschen. Ein Roman über das Gewissen – über seine befreiende und seine zerstörerische Kraft.
AMÉLIE NOTHOMB, 1967 in Kobe geboren, hat ihre Kindheit und Jugend als Tochter eines belgischen Diplomaten in Japan und China verbracht. Seit zwölf Jahren schreibt sie wie besessen. In Frankreich erstürmt sie seit Erscheinen ihres Erstlings Die Reinheit des Mörders mit jedem neuen Buch die Bestsellerlisten. Für Mit Staunen und Zittern erhielt sie den Grand Prix de l'Académie Française. Amélie Nothomb lebt in Brüssel und Paris.
Amélie Nothomb
Kosmetik des Bösen Roman Aus dem Französischen von Brigitte Große
Diogenes
Die Originalausgabe erschien 2001 bei Albin Michel S. A., Paris, unter dem Titel ›Cosmétique de l'ennemi‹ Copyright © 2001 by Éditions Albin Michel S.A. Umschlagfoto: Ken Kaminesky, ›Portrait of a Woman Wearing Mask‹ Copyright © Ken Kaminesky Corbis
Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 2004 Diogenes Verlag AG Zürich www.diogenes.ch 150/04/52/1 ISBN 3 257 06393 8
Kosmetik: Er strich sich mit der flachen Hand die Haare glatt – wenn er seinem Opfer kunstgerecht begegnen wollte, mußte er gut aussehen. Jérôme Angusts Nerven waren schon angespannt, als die Hostessenstimme ankündigte, der Flug würde wegen technischer Probleme um unbestimmte Zeit verschoben. Das hat mir grade noch gefehlt, dachte er. Er haßte Flughäfen, und die Aussicht, sich in diesem Wartesaal länger, ja für unabsehbare Zeit aufhalten zu müssen, brachte ihn endgültig auf. Er zog ein Buch aus der Tasche und stürzte sich grimmig in die Lektüre. »Guten Tag, der Herr«, sprach ihn jemand förmlich an. Er hob kaum den Kopf und erwiderte den Gruß mit mechanischer Höflichkeit. Der Mann setzte sich neben ihn. »Diese ewigen Verspätungen, nicht wahr?« »Ja«, murmelte er. »Wenn man wüßte, wie lange es dauert, dann könnte man sich wenigstens darauf einstellen.«
Jérôme Angust nickte. »Gutes Buch?« fragte der Unbekannte. Muß mir jetzt auch noch dieser Schwätzer ein Ohr abkauen? grollte Jérôme. »Mhm«, antwortete er mit einer Miene, die deutlich sagte: Lassen Sie mich in Ruhe! »Sie Glücklicher! Ich kann unterwegs überhaupt nicht lesen.« Und deshalb mußt du Leuten, die es können, den letzten Nerv töten, stöhnte Jérôme innerlich auf. »Ich hasse Flughäfen«, fuhr der Mann fort. (Ich auch, dachte Jérôme, und zwar zunehmend.) »Naive Menschen vermuten, hier seien Reisende anzutreffen. Ein sentimentaler Irrtum! Wissen Sie, was für eine Spezies sich hier aufhält?« »Störenfriede?« knurrte Jérôme, der weiter zu lesen vorgab. »Nein«, sagte der andere, der das offenbar nicht auf sich bezog. »Höhere Angestellte auf Geschäftsreise. Dabei verdient die Geschäftsreise ihren Namen gar nicht, im Grunde genommen ist sie die Negation des Reisens. Man sollte Ortswechsel dieser Art eher Händlerverschickung nennen. Fänden Sie das nicht auch viel treffender?« »Ich bin auf Geschäftsreise«, betonte Angust in der Annahme, der Unbekannte würde sich für seinen Fauxpas entschuldigen. »Das hätten Sie nicht zu erklären brauchen, Monsieur, das sieht man.« »Jetzt werden Sie aber unverschämt!« brauste Jérôme auf.
Da die Regeln der Höflichkeit nun schon verletzt waren, beschloß er, sich auch nicht mehr daran zu halten. »Sie haben anscheinend nicht begriffen, mein Herr, daß ich keine Lust habe, mich mit Ihnen zu unterhalten.« »Warum?« fragte der Fremde unschuldig. »Weil ich lese.« »Nein.« »Wie bitte?« »Sie lesen nicht. Sie glauben es vielleicht, aber Lesen ist etwas anderes.« »Hören Sie, ich habe nicht die geringste Lust, mir Ihre tiefschürfenden Betrachtungen über das Lesen anzuhören. Sie gehen mir auf die Nerven. Und wenn ich nicht lese, will ich mich trotzdem nicht mit Ihnen unterhalten.« »Den wahren Leser erkennt man auf den ersten Blick. Hier ist jedenfalls keiner, Monsieur, keiner, der wirklich liest. Nur Sie sind da.« »Wenn Sie wüßten, wie ich das bedaure! Vor allem, seit Sie auch da sind.« »Jaja, das Leben ist voll von solchen kleinen Ärgernissen, sie machen es so sinnlos. Derlei Widrigkeiten beweisen die Absurdität unserer Existenz besser als jedes metaphysische Problem.« »Ihre Groschenphilosophie können Sie sich sonstwo ...« »Ich bitte Sie, mein Herr, werden Sie doch nicht ausfallend!« »Sie sind ausfallend, Sie ... «
»Texel. Textor Texel.« »Was verzapfen Sie da?« »Sie werden zugeben, daß es leichter fällt, sich mit jemandem zu unterhalten, wenn man seinen Namen kennt.« »Aber ich sage Ihnen doch, daß ich mich nicht mit Ihnen unterhalten will!« »Warum so aggressiv, Monsieur Jérôme Angust?« »Woher wissen Sie meinen Namen?« »Der steht auf dem Anhänger Ihrer Reisetasche. Wie Ihre Adresse.« Angust seufzte. »Gut, also, was wollen Sie?« »Nichts. Reden.« »Ich hasse Leute, die reden wollen.« »Tut mir leid. Sie werden mich kaum daran hindern können, es ist nicht verboten.« Der Belagerte stand auf und suchte sich fünfzig Meter weiter einen Platz. Vergebens – der Belagerer folgte ihm und setzte sich daneben. Jérôme wechselte wieder, diesmal auf einen freien Stuhl zwischen zwei Personen, und wähnte sich schon in Sicherheit. Den anderen schien das nicht zu stören – er pflanzte sich vor ihm auf und setzte seinen Ansturm fort. »Haben Sie Ärger im Beruf?« »Was reden Sie da, vor den Leuten?« »Wo ist das Problem?« Angust stand noch einmal auf und kehrte auf seinen alten Platz zurück. Wenn er sich schon von diesem Quälgeist plagen lassen mußte, dann wenigstens nicht vor Publikum. »Haben Sie Ärger im Beruf?« wiederholte Texel.
»Sie brauchen mir gar keine Fragen zu stellen. Ich antworte sowieso nicht.« »Warum?« »Ich kann Sie nicht am Reden hindern, weil es nicht verboten ist. Und Sie können mich nicht zum Antworten zwingen, weil das nicht Vorschrift ist.« »Sie haben mir aber gerade geantwortet.« »Um von nun an darauf zu verzichten.« »Dann erzähle ich Ihnen von mir.« »Ich wußte es!« »Wie ich schon sagte, heiße ich Texel. Textor Texel.« »Tut mir leid.« »Daß mein Name so merkwürdig klingt?« »Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.« »Dabei ist er gar nicht so merkwürdig. Es ist ein Name wie jeder andere, er verrät meine holländische Herkunft. Klingt doch gut, Texel, oder was meinen Sie?« »Nichts.« »Mit Textor ist das natürlich nicht so einfach. Obwohl ein gewisser Adel daraus spricht. Wußten Sie, daß es einer der zahlreichen Vornamen Goethes war?« »Der Arme.« »So schlimm ist Textor nun auch wieder nicht.« »Nein, aber etwas mit Ihnen gemein zu haben, und sei es bloß ein Vorname.« »Man könnte meinen, Textor sei häßlich, aber wenn man es recht bedenkt, ähnelt es dem Wort ›Text‹, und das ist doch tadellos. Wovon könnte
Ihrer Ansicht nach der Vorname Textor abgeleitet sein?« »Geißel? Strafe?« »Haben Sie sich womöglich etwas vorzuwerfen?« fragte der Mann mit einem seltsamen Lächeln. »Absolut nicht! Es gibt eben keine Gerechtigkeit – immer trifft es die Unschuldigen!« »Wie dem auch sei, Ihr Vorschlag ist völlig aus der Luft gegriffen. Textor kommt von ›Text‹.« »Wenn Sie wüßten, wie egal mir das ist!« »Das Wort ›Text‹ stammt vom lateinischen Verb texere, weben. Das heißt, der Text ist zuallererst ein Gewebe aus Worten. Interessant, nicht wahr?« »Sie heißen also Weber?« »Ich denke eher an die zweite, höhere Bedeutung: Schreiber, derjenige, der den Text webt. Schade, daß ich mit einem solchen Namen nicht Schriftsteller geworden bin.« »In der Tat. Dann würden Sie mit Ihrem Geschwätz bloß Papier vergeuden statt der Zeit wildfremder Menschen.« »Der Name ist gar nicht schlecht. Das eigentliche Problem liegt in der Verbindung zwischen meinem Vor- und meinem Nachnamen. Es läßt sich nicht leugnen, daß Textor Texel scheußlich klingt.« »Wie geschaffen für Sie.« »Textor Texel ...«, fuhr der Mann fort und betonte dabei die schwierige Artikulation dieser Abfolge von x und t. »Ich wüßte gern, was meine Eltern sich dabei gedacht haben.« »Fragen Sie sie doch!«
»Meine Eltern sind gestorben, als ich vier Jahre alt war, und haben mir diese geheimnisvolle Identität hinterlassen wie eine Botschaft, die ich noch zu entziffern habe.« »Aber ohne mich, wenn's geht!« »Textor Texel ... Mit der Zeit, wenn man sich an die Aussprache dieser komplexen Lautfolge gewöhnt hat, findet man sie gar nicht mehr so mißtönend. Letztendlich besitzt dieser einzigartige Name sogar einen gewissen Wohlklang: Textor Texel, Textor Texel, Textor ...« »Wollen Sie noch lange so weitergurgeln?« »Der Linguist Gustave Guillaume behauptete jedenfalls: ›Was dem Ohre schmeichelt, schmeichelt auch dem Geist.‹« »Was macht man gegen Menschen Ihres Schlages? Sich in der Toilette verbarrikadieren?« »Das wäre nutzlos, werter Herr. Wir befinden uns auf einem Flughafen, da sind die Toiletten nicht schalldicht. Ich würde Sie zu diesen Örtlichkeiten begleiten und durch die Tür weiter mit Ihnen sprechen.« »Warum tun Sie das?« »Weil ich Lust dazu habe. Ich tue immer, wozu ich Lust habe.« »Und ich hätte große Lust, Ihnen eine reinzuhauen.« »Keine Chance, das wäre ungesetzlich. Was ich am Leben schätze, sind solche erlaubten Schikanen. Sie sind um so amüsanter, als die Opfer nicht das Recht haben, sich zu wehren.«
»Haben Sie keine höheren Ziele im Leben?« »Nein.« »Ich schon.« »Das ist nicht wahr.« »Was wissen Sie denn?« »Sie sind Geschäftsmann. Ihre Ziele lassen sich in Geld beziffern. Das ist billig.« »Jedenfalls behellige ich andere nicht damit.« »Sicher fügen Sie irgend jemand Schaden zu.« »Selbst wenn das stimmen sollte – wer sind Sie, mir das vorzuwerfen?« »Texel. Textor Texel.« »Das sagten Sie bereits.« »Ich bin Holländer.« »Ein Flughafen-Holländer – die Billig-Version des fliegenden Holländers.« »Der fliegende Holländer war ein Anfänger. Ein naiver Romantiker, der für Frauen schwärmte.« »Ach, und Sie schwärmen für Männer?« »Ich schwärme für alles, was mich inspiriert. Sie inspirieren mich sehr. Den Geschäftsmann nimmt man Ihnen nicht ganz ab. Sie strahlen eine unwillkürliche Freiheit aus, die mich berührt.« »Machen Sie sich bloß keine Hoffnungen: Ich bin nicht frei.« »Das glauben Sie. Aber es ist der Welt, in der Sie leben, noch nicht gelungen, den Jungen in Ihnen zu töten, der die Fenster zum Universum aufreißt, weil ihn die Neugier fast umbringt. In Wahrheit brennen Sie auf mein Geheimnis.« »Menschen Ihres Schlags sind immer davon über-
zeugt, daß man sich für sie interessiert.« »Und das Dumme ist: Sie haben recht.« »Na los, versuchen Sie mich zu unterhalten. Dann vergeht wenigstens die Zeit.« Jérôme klappte sein Buch zu und verschränkte die Arme. Dann richtete er den Blick erwartungsvoll auf seinen Quälgeist, als wäre der ein Entertainer. »Mein Name ist Texel. Textor Texel.« »Ist das ein Refrain oder was?« »Ich bin Holländer.« »Wie sollte ich das vergessen?« »Wenn Sie mich dauernd unterbrechen, kommen wir nicht weiter.« »Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit Ihnen überhaupt weiterkommen will.« »Wenn Sie wüßten! Ich gewinne bei näherer Bekanntschaft. Ein paar Anekdoten aus meinem Leben, und Sie sind davon überzeugt. Zum Beispiel habe ich als Kind jemanden umgebracht.« »Wie bitte?« »Da war ich acht. In meiner Klasse gab es einen Jungen namens Franck. Er war charmant, nett, hübsch, fröhlich. Nicht der Klassenbeste, aber gut in der Schule, vor allem im Turnen, was bei Kindern seit jeher als Maßstab der Beliebtheit gilt. Alle fanden ihn toll.« »Außer Ihnen natürlich.« »Ich fand ihn unerträglich. Man muß dazu sagen, daß ich schmächtig war und eine Niete im Turnen und keine Freunde hatte.« »Sieh an«, grinste Angust. »So jung und schon so
unbeliebt!« »Nicht daß ich es nicht versucht hätte, ich bemühte mich verzweifelt darum, gemocht zu werden, nett und lustig zu sein. Aber es gelang mir nicht.« »Das ist auch so geblieben.« »Dafür verabscheute ich Franck um so mehr. Damals glaubte ich noch an Gott. An einem Sonntagabend begann ich im Bett zu beten. Ein teuflisches Gebet: Stundenlang flehte ich mit all meiner Kraft zu Gott, er möge den Jungen, den ich so sehr haßte, töten.« »Ich ahne Böses.« »Am nächsten Morgen betrat die Lehrerin das Klassenzimmer. Mit Leichenbittermiene und Tränen in den Augen verkündete sie, Franck sei in der Nacht an einem unerklärlichen Herzversagen gestorben.« »Und Sie dachten natürlich, das wäre Ihre Schuld.« »Es war meine Schuld. Wie hätte das Herz dieses kerngesunden Jungen ohne meine Einmischung versagen sollen?« »Wenn das so einfach wäre, wäre die Welt ziemlich menschenleer.« »Die Klasse begann zu heulen. Gemeinplätze wie ›Die Besten trifft's immer zuerst‹ machten die Runde. Klar, dachte ich, wenn es nicht um die Ausschaltung des Besten gegangen wäre, hätte ich mir beim Beten nicht soviel Mühe geben müssen.« »Ach so. Und jetzt meinen Sie, einen direkten Draht nach oben zu haben? Sie bilden sich ganz schön viel ein!« »Mein erstes Gefühl war Triumph: Ich hatte es ge-
schafft! Franck würde mir nicht mehr mein Leben vermiesen. Doch dann wurde mir klar, daß ich durch seinen Tod nicht beliebter geworden war. Im Grunde hatte sich nichts geändert, ich war das blöde Blag geblieben, das keiner mochte. Und ich hatte gedacht, ich brauchte nur freie Bahn, um mich durchzusetzen. Ein fataler Irrtum! Franck geriet in Vergessenheit, aber ich rückte nicht auf seinen Platz vor.« »Kein Wunder! Charisma kann man Ihnen nicht unbedingt nachsagen.« »Ich bekam Gewissensbisse. Womöglich hätte ich mein Verbrechen gar nicht bereut, wenn ich in der Gunst meiner Mitschüler aufgestiegen wäre – ein verstörender Gedanke. Jedenfalls hatte ich den Eindruck, daß Franck für nichts und wieder nichts gestorben war, und das tat mir leid.« »Und seither müssen Sie harmlose Menschen auf Flughäfen mit Ihren Schuldgefühlen quälen?« »Warten Sie, so einfach ist das nicht! Ich schämte mich, ohne zu leiden.« »Wahrscheinlich war in Ihnen trotz allem noch ein Rest gesunder Menschenverstand, der Ihnen sagte, daß Sie keine Schuld an seinem Tod traf.« »Sie irren. Ich zweifelte nicht daran, daß dieser Mord mein Werk war. Nur war mein Gewissen darauf nicht vorbereitet. Was bringen Erwachsene denn Kindern bei? ›Grüß schön‹ und ›Bohr nicht in der Nase!‹ Niemand sagt einem, daß man seine Mitschüler nicht umbringen darf. Hätte ich Bonbons aus dem Regal gemopst, wären meine Schuldgefühle größer gewesen.«
»Warum sind Sie eigentlich heute noch so felsenfest davon überzeugt, Franck auf dem Gewissen zu haben, wo Sie doch, wie Sie sagten, gar nicht mehr an Gott glauben?« »Es spielt keine Rolle, ob Gott existiert oder nicht, denn nichts ist stärker als ein vom Glauben beseelter Geist. Der Glaube verlieh meinem Gebet die Macht, ein Leben zu zerstören. Diese Kraft ist mir abhanden gekommen.« »Da bin ich aber froh!« »Mein nächster Mord fiel mir jedenfalls schwerer.« »Ach! Es geht noch weiter?« »Nur der erste Tote zählt. Das ist ja das Problem mit der Schuld: daß sie nicht mitwächst. Im allgemeinen wiegen hundert Morde nicht schwerer als einer. Und hat man einmal getötet, ist nicht mehr einzusehen, warum man es nicht hundertmal tun sollte.« »Wie wahr. Man gönnt sich ja sonst nichts.« »Sie nehmen mich nicht ernst, merke ich. Sie machen sich über mich lustig.« »Nun ja, wenn man bedenkt, was Sie schon Mord nennen, gewinnt man nicht den Eindruck, es mit einem großen Gangster zu tun zu haben.« »Sie haben recht, ich bin kein großer Gangster. Ich bin nur ein bedeutungsloser kleiner Krimineller.« »Ihre hellsichtigen Momente gefallen mir.« »Sehen Sie: Ich habe bloß zwei Menschen ermordet.« »Das ist in der Tat recht mäßig. Wo bleibt Ihr Ehrgeiz, Monsieur?«
»Ganz Ihrer Meinung. Eigentlich bin ich zu Höherem berufen. Doch der Dämon der Schuld hat mich daran gehindert, groß herauszukommen.« »Der Dämon der Schuld? Ich dachte, das war bloß ein bißchen Reue wegen nichts und wieder nichts.« »Was den Mord an Franck betrifft, ja. Die Schuld ergriff erst später von mir Besitz.« »Nach dem zweiten Mord? Und wie haben Sie den hingekriegt? Mit Hexerei?« »Sie tun mir Unrecht mit Ihrem Spott. Nein, ich wurde in dem Moment schuldig, da ich meinen Glauben verlor. Aber ich weiß ja nicht einmal, ob Sie überhaupt an Gott glauben.« »Nein. In meiner Familie war keiner gläubig.« »Komisch, daß Leute vom Glauben immer wie von einer Erbkrankheit sprechen. Meine Eltern waren auch nicht gläubig; ich glaubte trotzdem.« »Und jetzt haben Sie sich Ihren Eltern angeglichen und glauben an nichts mehr.« »Ja, seit dem Unfall. Ein mentaler Unfall, der nicht hätte passieren müssen, aber mein ganzes Leben bestimmt hat.« »Sie reden daher wie einer, dem ein Ziegelstein auf den Kopf gefallen ist.« »So ungefähr war es auch. Ich war zwölfeinhalb und wohnte bei meinen Großeltern. In dem Haus gab es drei Katzen. Ich mußte sie immer füttern. Ich mußte Fischkonserven öffnen und deren Inhalt mit Reis mischen. Vor dieser Tätigkeit empfand ich einen tiefen Abscheu. Von Geruch und Aussehen des Dosenfischs wurde mir schlecht. Es reichte auch
nicht, ihn mit einer Gabel zu zerzupfen, er mußte richtig in den Reis hineingearbeitet werden, weil die Katzen ihn sonst nicht fraßen. Also mußte ich die Pampe mit den Händen zusammenmanschen: Ich schloß jedesmal die Augen, wenn ich die Finger in diesen Brei aus zerkochtem Reis und Fischabfällen steckte, dessen Konsistenz mich so maßlos anwiderte, und wurde dennoch jedesmal fast ohnmächtig.« »So weit kann ich Ihnen folgen.« »Jahrelang bin ich dieser Aufgabe gewissenhaft nachgekommen, bis eines Tages das Unvorstellbare geschah. Ich war, wie gesagt, zwölfeinhalb, als ich zum ersten Mal die Augen öffnete und den Matsch ansah, den ich für die Katzen zubereitete. Ich würgte, aber ich schaffte es, nicht zu erbrechen. Und plötzlich, ohne zu wissen warum, steckte ich mir eine Handvoll davon in den Mund und schluckte ihn hinunter.« »Uäääh.« »Aber nein! Eben nicht! Ich hatte den Eindruck, noch nie etwas Delikateres geschmeckt zu haben. Ich, dieses magere Kind, das ständig Mätzchen machte bei Tisch, das man zum Essen regelrecht zwingen mußte, ich leckte mir nach diesem Fraß die Lippen. Und beobachtete mich fassungslos dabei, wie ich immer weiter aß, wie ich von diesem klebrigen Fischhaschee eine Handvoll nach der anderen verschlang. Bestürzt sahen die Katzen ihr Futter in meinem Bauch verschwinden. Doch mein Entsetzen war noch viel größer: Ich erkannte, daß es zwischen
ihnen und mir keinen Unterschied gab. Aber ich spürte genau, daß das nicht mein Wille war, sondern eine höhere, höchste Macht mich zum Essen gezwungen hatte. Ich ließ kein Fitzelchen Fisch in der Schüssel zurück. Die Katzen mußten an diesem Abend fasten. Sie waren die einzigen Zeugen meines tiefen Falls.« »Ich finde Ihre Geschichte eher komisch.« »Die Geschichte ist entsetzlich. Sie hat mir meinen Glauben geraubt.« »Merkwürdig, obwohl ich nicht an Gott glaube, kann ich in der Vorliebe für Katzenfutter keinen hinreichenden Grund erkennen, an seiner Existenz zu zweifeln.« »Nein, mein Herr, ich hatte keine Vorliebe für Katzenfutter! Es war ein innerer Feind, der mich zum Essen zwang. Und dieser Feind, der bis dahin geschwiegen hatte, erhob sich nun tausendmal mächtiger als Gott, so daß ich den Glauben verlor, nicht an die Existenz Gottes, aber an seine Macht.« »Also glauben Sie immer noch an Gott?« »Ich beschimpfe ihn dauernd.« »Wieso beschimpfen Sie ihn?« »Um ihn zu einer Reaktion zu zwingen. Aber das ist zwecklos. Er hat kein Rückgrat, keine Würde. Selbst Menschen sind nicht so schlaff wie er. Er taugt einfach nichts. Sehen Sie? Jetzt beschimpfe ich ihn schon wieder, und er schweigt.« »Was soll er denn machen? Blitze schleudern vielleicht?« »Sie verwechseln ihn mit Zeus, Monsieur.«
»Na gut. Soll er Ihnen also Heuschrecken auf den Hals hetzen oder das Rote Meer über Ihnen zusammenschlagen lassen?« »Nur zu, spotten Sie ruhig. Aber Sie sollten wissen, daß es sehr hart ist, wenn man die Nichtigkeit Gottes und im Gegenzug dazu die Allmacht des inneren Feindes erfährt. Da warst du immer überzeugt, daß ein gütiger Souverän über dein Leben wacht, und siehst dich plötzlich unter der Knute eines boshaften Despoten, der sich in deinen Innereien eingenistet hat.« »Kommen Sie, so schlimm ist es auch wieder nicht, Katzenfutter zu essen.« »Ist Ihnen das schon passiert?« »Nein.« »Dann haben Sie keine Ahnung. Es ist grauenhaft, Katzenfutter zu essen. Erstens, weil es scheußlich schmeckt. Zweitens, weil man sich dafür haßt. Man steht vor dem Spiegel und sagt zu sich selbst: Hat dieser Rotzlöffel doch tatsächlich die ganze Katzenschüssel leergefressen! Und weiß sich von einer widerlichen dunklen Macht besessen, die in den Eingeweiden haust und brüllt vor Lachen.« »Satan?« »Nennen Sie es, wie Sie wollen.« »Mir doch egal. Ich glaube nicht an Gott, also glaube ich auch nicht an den Teufel.« »Ich glaube an den Feind. Die Beweise für die Existenz Gottes sind läppische Haarspaltereien, die Beweise für seine Macht sind noch kläglicher. Die Beweise für die Existenz des inneren Feindes sind
enorm und die für seine Macht erdrückend. Ich glaube an den Feind, weil ich ihm tagtäglich und allnächtlich begegne. Der Feind ist es, der von innen heraus alles zerstört, wofür es sich zu leben lohnt. Er ist es, der dir den Verfall vor Augen führt, den jede Wirklichkeit in sich trägt. Er ist es, der deine und deiner Freunde Niedertracht ans Licht zerrt. Er ist es, der dir an einem wunderbaren Tag einen trefflichen Grund zu leiden liefert. Er ist es, der dir den Ekel vor dir selbst einflößt. Er ist es, der deinem Blick in das hinreißende Gesicht einer Unbekannten den Tod enthüllt, der solcher Schönheit innewohnt.« »Und der, der dich in einer Abflughalle mit seinem lästigen Gelaber vom Lesen abhält?« »Ja, für Sie ist er das. Womöglich existiert er gar nicht außerhalb Ihrer selbst. Sie sehen ihn neben sich sitzen, aber vielleicht sitzt er in Ihnen drin, im Kopf, im Bauch, und hindert Sie so am Lesen.« »Nein, werter Herr. Ich habe keinen inneren Feind. Ich habe im Moment nur einen sehr realen, äußeren Feind, nämlich Sie.« »Wenn Sie das so sehen möchten, bitte. Ich weiß jedenfalls, daß er in mir ist und mich zum Schuldigen macht.« »Schuldig woran?« »Daß ich seine Machtergreifung nicht zu verhindern wußte.« »Und deshalb lassen Sie mich nicht in Ruhe, bloß weil Sie vor dreißig Jahren Katzenfutter gegessen haben? Sie sind eine Pest, Monsieur! Es muß doch Ärzte geben für so was wie Sie!«
»Ich bin nicht hier, um mich kurieren zu lassen, ich bin hier, um Sie zu infizieren.« »Macht Ihnen das Spaß?« »Ich bin ganz begeistert davon.« »Und mich mußte es treffen!« »Pech für Sie, mein Lieber.« »Freut mich, daß Sie das auch so sehen.« »Ich bin davon überzeugt, daß Sie es nicht bereuen werden. Pech ist manchmal heilsam.« »Diese Manie von Leuten, die einem den letzten Nerv töten und das auch noch rechtfertigen! Xu Lun nennt das die Rede der Mücke: Nicht nur, daß sie dich sticht, was schon unangenehm genug ist, sie muß dir auch noch ihr Bsssbsss ins Ohr säuseln – und du kannst sicher sein, daß sie so was sagt wie: Es ist doch nur zu deinem Besten. Wenn sie wenigstens stumm stechen könnte!« »Die Analogie mit der Mücke ist gelungen: Danach wird es jucken.« »Es gibt also ein Danach? Welch Hoffnungsschimmer am Horizont! Darf ich fragen, wann Sie abzureisen gedenken?« »Wenn ich meine Mission erfüllt habe.« »Das heißt, Sie wollen mich zu allem Überfluß auch noch missionieren? Gibt es denn kein AntiMessias-Gesetz? Ich kann auf Ihre Belehrungen verzichten, werter Herr.« »Da haben Sie recht. Nur auf die Infektion können Sie nicht verzichten.« »Seit wann braucht jemand, dem es gutgeht, eine Krankheit?«
»Erstens geht es Ihnen nicht gut. Sie wissen genau, daß bei Ihnen einiges im argen liegt. Deshalb brauchen Sie die Krankheit. Von Pascal stammt ein Text mit dem wunderbaren Titel: Gebet zu Gott um den rechten Gebrauch der Krankheiten. Denn es gibt einen rechten Gebrauch der Krankheiten. Doch dazu muß man krank sein. Ich bin hier, um Ihnen diese Gnade zu schenken.« »Zu liebenswürdig, Monsieur. Behalten Sie Ihr Geschenk, ich könnte mich als undankbar erweisen.« »Sehen Sie, ich bin Ihre einzige Möglichkeit, von Ihrem Leiden zu genesen, und zwar aufgrund des unvergleichlichen Satzes: Ohne Krankheit keine Heilung.« »Und wovon muß ich Ihrer Meinung nach genesen?« »Warum belügen Sie sich selbst? Ihnen geht es sehr schlecht, Jérôme Angust.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Ich weiß so vieles.« »Ach, Sie arbeiten für den Geheimdienst?« »Meine Dienste sind den Geheimdiensten zu geheim.« »Und was sind Sie dann?« »Mein Name ist Texel. Textor Texel.« »Jetzt geht das wieder los!« »Ich bin Holländer.« Jérôme Angust hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. Nun hörte er nur noch das Geräusch im Innern seines Schädels: Es ähnelte dem entfernten, vagen Brummen in Metro-Stationen, wenn gerade
kein Zug fährt. Nicht unangenehm. Die Lippen seines Quälgeists bewegten sich weiter. ›Ein Schwachsinniger ‹, dachte das Opfer. ›Der redet weiter, auch wenn er weiß, daß ich ihn gar nicht hören kann. Logorrhöe wahrscheinlich. Was lächelt der so siegessicher? Ich bin doch der Sieger, weil ich nicht mehr höre, was er sagt. Eigentlich müßte ich lächeln. Aber ich lächle nicht, und er lächelt immer noch. Warum ?‹ Ein paar Minuten verstrichen. Bald begriff Angust, warum Texel lächelte: Seine Arme begannen zu schmerzen, erst kaum merklich, doch bald unerträglich. Jérôme hatte sich nie lang genug die Ohren zugehalten, um diesen Schmerz zu kennen. Dem Folterer neben ihm dagegen war der zunehmende Krampf bei seinen Opfern zweifellos geläufig. ›Ich bin nicht der erste, den er stundenlang vollblubbert. Ich bin nicht der erste, der sich unter seinem spöttischen Blick die Ohren zuhält. Sein Lächeln zeigt, daß er daran gewöhnt ist. Er weiß, daß ich es nicht mehr lange aushalte. Der Dreckskerl! Was es für abartige Typen gibt!‹ Ein paar Minuten später hatte er das Gefühl, seine Schultern würden gleich auskugeln: Es tat zu weh. Mit einem Ausdruck der Erleichterung ließ er entmutigt die Arme sinken. »Tja«, sagte der Holländer bloß. »Das ist bei Ihren Opfern wohl immer so.« »Selbst wenn Sie der erste gewesen wären, hätte ich das vorausgesehen. Die Kreuzigung – Sie haben sicher schon davon gehört: Woran meinen Sie, daß
der Gekreuzigte leidet und stirbt? An den harmlosen Nägeln in seinen Händen und Füßen? Nein, an den erhobenen Armen. Anders als manche Säuger wie das Faultier ist der Mensch für diese Haltung nicht gemacht; wenn man ihm lang genug die Arme hochhält, ist er am Ende tot. Na gut, ich übertreibe ein bißchen. Wenn man ihn allzu lange an den Armen aufhängt, kann er ersticken. Sie wären also nicht gestorben. Aber es wäre Ihnen nicht gutgegangen. Sie sehen: Sie können mir nicht entkommen. Ich überlasse nichts dem Zufall. Warum glauben Sie, daß ich mir Ihr Gehör ausgesucht habe? Nicht nur, weil es legal ist; sondern vor allem, weil die Ohren wehrlos sind. Über das Auge wacht das Lid. Die Nase kann man sich lange zuhalten, um sich vor unangenehmen Gerüchen zu schützen, ohne daß es weh tut. Die Zunge schont man durch Fasten und Abstinenz. Vor Berührung ist man vom Gesetz gefeit: Wenn Sie angegriffen werden, können Sie die Polizei rufen. Der Mensch hat nur eine Schwachstelle: das Ohr.« »Falsch. Es gibt Ohropax.« »Ja, Ohropax – die schönste Erfindung des Menschen. Sie haben aber keine in Ihrer Reisetasche, oder?« »Auf dem Flughafen ist eine Apotheke. Ich werde mir gleich welche besorgen.« »Mein armer Freund, konnten Sie sich nicht denken, daß ich deren gesamten Ohropax-Vorrat aufgekauft habe, bevor ich Sie ansprach? Ich sagte Ihnen doch, daß ich nichts dem Zufall überlasse.
Wollen Sie nicht wissen, was ich sagte, während Sie sich die Ohren zuhielten?« »Nein.« »Macht nichts, ich werde es Ihnen trotzdem mitteilen. Ich sagte, der Mensch ist eine Zitadelle, deren Tore die Sinne sind, und das Gehör ist das am schlechtesten bewachte. Daher Ihre Niederlage.« »Eine Niederlage ohne Sieg im gegnerischen Lager. Ehrlich gesagt, verstehe ich nämlich nicht, was Sie dabei gewinnen.« »Ich gewinne. Seien Sie nicht so ungeduldig. Wir haben Zeit. Flugzeugverspätungen sind endlos. Ohne mich hätten Sie weiter so getan, als würden Sie in Ihrem Buch lesen. Wo ich Ihnen so viel zu geben habe!« »Den Pseudo-Mord an Ihrem Klassenkameraden und die Katzenfutter-Story ... Glauben Sie im Ernst, daß sich irgend jemand für so einen Quatsch interessiert?« »Wenn man eine Geschichte erzählt, fängt man am besten mit dem Anfang an, oder? Also, mit zwölfeinhalb habe ich infolge der Aufnahme von Katzenfutter meinen Glauben verloren und einen Feind gewonnen: mich, oder, um genauer zu sein, den unbekannten Gegenspieler, den jeder von uns im Dunkel seiner Eingeweide beherbergt. Das hat mich verwandelt. Bis dahin war ich das blasse, magere Waisenkind, das still bei seinen Großeltern lebte. Nun war ich voller Qualen und Ängste und begann wie ein Verrückter zu essen.« »Immer aus dem Katzennapf?«
»Auch aus der Schüssel meiner Großeltern. Wenn mich etwas abstieß, stürzte ich mich drauf und verschlang es.« »Und in Holland gibt es wahrlich genug ekelhaftes Essen!« »Richtig. Ich aß auch viel.« »So dick sind Sie gar nicht.« »Alles von der Angst verbrannt. Ich habe mich seit der Pubertät nicht geändert: Immer noch schleppe ich dasselbe Bündel Schuldgefühle mit mir herum, das ich damals entdeckte.« »Woher stammen die denn?« »Meinen Sie, daß Menschen, die an ihren Schuldgefühlen kranken, dafür ein ernsthaftes Motiv brauchten? Mein innerer Feind erstand aus dem Katzenfutter; er hätte genausogut von etwas anderem kommen können. Wenn es das Schicksal will, daß man zum Schuldigen wird, muß man sich nicht unbedingt etwas zuschulden kommen lassen. Die Schuld bahnt sich mit allen Mitteln ihren Weg. Das nennt man Prädestination. Noch eine holländische Erfindung übrigens: der Jansenismus.« »Ja, wie Erdnußbutter und andere Perversitäten.« »Ich liebe Erdnußbutter.« »Das wundert mich nicht.« »Ich liebe vor allen Dingen den Jansenismus. Eine derart ungerechte Lehre mußte mir ja gefallen. Endlich eine Theorie, die zu derselben offenen Grausamkeit fähig war wie die Liebe.« »Nicht zu fassen! Da sitze ich auf einem Flughafen fest, und wer belästigt mich: ein Jansenist!«
»Wer weiß, vielleicht ist das auch Prädestination. Gut möglich, daß Ihr gesamtes bisheriges Leben nur das eine Ziel hatte: mich hier zu treffen.« »Ich kann beschwören, daß dem nicht so ist!« »Wie kommen Sie dazu, so etwas zu behaupten?« »Da ist mir in meinem Leben schon Bedeutsameres widerfahren.« »Zum Beispiel?« »Darüber will ich nicht mit Ihnen sprechen.« »Das ist ein Fehler, Jérôme Angust. Ich werde Ihnen jetzt einen wichtigen Grundsatz verraten. Es gibt nur eine einzige legale Möglichkeit, mich zum Schweigen zu bringen: mit mir zu sprechen. Vergessen Sie das nicht. Es könnte Ihre Rettung sein.« »Und wovor, wenn ich fragen darf?« »Das werden Sie schon noch sehen. Erzählen Sie mir von Ihrer Frau!« »Woher wissen Sie, daß ich verheiratet bin? Ich trage keinen Ring.« »Sie haben es mir eben verraten. Erzählen Sie mir also von Ihrer Frau!« »Auf gar keinen Fall.« »Warum nicht?« »Ich habe nicht die geringste Lust, Ihnen von ihr zu erzählen.« »Daraus schließe ich, daß Sie sie nicht mehr lieben.« »Ich liebe sie!« »Nein. Liebende sind unerschöpflich in ihrer Begeisterung für das Objekt ihrer Liebe.« »Was wissen Sie denn davon! Ich bin mir sicher,
daß Sie niemanden lieben.« »Doch.« »Dann schießen Sie los, seien Sie unerschöpflich in Ihrer Begeisterung für das Objekt Ihrer Liebe!« »Ich liebe eine hinreißende Frau.« »Was tun Sie dann hier? Ich finde es unverzeihlich, daß Sie nicht bei ihr sind. Sie verschwenden Ihre Zeit lieber mit wildfremden Menschen, statt mit ihr zusammenzusein?« »Sie liebt mich nicht.« »Und Sie verschwenden Ihre Zeit damit, wildfremde Menschen zu belästigen, statt sie zu verführen?« »Habe ich schon versucht.« »Dann versuchen Sie es noch einmal.« »Es ist sinnlos.« »Weichei!« »Es würde nichts nützen, das weiß ich genau.« »Und Sie behaupten, sie zu lieben?« »Sie ist tot.« »Oh.« Jeder Ausdruck wich aus Jérômes Gesicht. Er verstummte. »Als ich sie kennenlernte, lebte sie noch. Ich sage das nur, weil es Männer gibt, die Frauen erst lieben können, wenn sie tot sind. Es ist ja auch so viel leichter, eine Frau zu lieben, die man nie lebendig erlebt hat. Ich liebte sie aber gerade, weil sie so lebendig war. Sie war viel lebendiger als die anderen. Auch heute ist sie noch lebendiger als die anderen.« Schweigen.
»Schauen Sie doch nicht so bestürzt drein, Jérôme Angust!« »Sie haben recht. Ihre Frau ist tot? Alles halb so wild!« »Ich habe nie behauptet, daß sie meine Frau war.« »Ein Grund mehr, das Ganze nicht tragisch zu nehmen.« »Finden Sie es komisch?« »Moment, Sie haben gerade gesagt, ich soll nicht so bestürzt dreinschauen.« »Ein bißchen mehr Sinn für Nuancen wäre nicht schlecht.« »Ich sage gar nichts mehr.« »Ihr Pech. Ich habe diese Frau vor zwanzig Jahren kennengelernt. Ich war zwanzig, sie auch. Es war das erste Mal, daß ich mich für ein Mädchen interessierte. Davor war ich ausschließlich von meinem Schuldkomplex besessen. Ich betrieb Nabelschau, war mir selbst genug, analysierte mich, stopfte alle möglichen Scheußlichkeiten in mich hinein und studierte deren Auswirkungen auf meinen Organismus; ich wandte mich immer mehr von der Außenwelt ab. Meine Großeltern waren gestorben und hatten mir ein bißchen Geld hinterlassen, nicht soviel, daß ich reich gewesen wäre, aber genug für jahrelange schlechte Ernährung. Ich kapselte mich ab. Meine Tage waren der Lektüre Pascals und der Suche nach abseitigen Speisen gewidmet.« »Und die drei Katzen?« »Ohne Nachkommenschaft verstorben. Ein paar Monate lang lebte ich von den Fischkonserven, die
meine Großeltern für sie gebunkert hatten. Als die Schränke und die holländische Langeweile nicht mehr genug hergaben, ging ich fort. Ich ließ mich in Paris nieder, in der Nähe der Metrostation PortRoyal.« »War das französische Essen denn schlecht genug für Sie?« »Doch, doch. Man ißt nicht gut in Paris. Ich fand immer etwas, das mich begeisterte. Und ich habe die schönste Frau der Welt dort getroffen.« »Das wird jetzt aber ein bißchen banal. Lassen Sie mich raten: in den Jardins du Luxembourg?« »Nein. Auf dem Friedhof.« »Ach, auf dem Père-Lachaise. Hätt ich mir denken können.« »Nein, auf dem Friedhof von Montmartre. Es ist doch bedeutsam, daß ich sie inmitten von Leichen fand.« »Ich kenne diesen Friedhof nicht.« »Er ist der schönste in Paris. Viel weniger los als auf dem Père-Lachaise. Ein Grab hatte es mir besonders angetan. Ich weiß nicht mehr, wer dort liegt. Auf der Grabplatte die Gestalt eines Mädchens, hingegossen, das Gesicht nach unten. Seine Züge werden auf ewig unbekannt bleiben. Man sieht nur die keusche, halbnackte Figur, ihren anmutig geschwungenen Rücken, den kleinen Fuß, den zierlichen Hals. Sie ist völlig von Grünspan überzogen wie durch einen Epilog des Todes.« »Makaber.« »Nein, entzückend. Um so mehr, als bei meiner
ersten Begegnung mit ihr eine lebendige Frau mit der gleichen Figur davorstand und sie betrachtete. Von hinten gesehen, hätte man schwören können, daß es sich um dieselbe Person handelte – als wäre eine junge Frau in dem Wissen, daß sie bald sterben würde, hierhergekommen, um auf ihrem künftigen Grab ihr Ebenbild zu bewundern. Als ich sie ansprach, habe ich sie natürlich sofort gefragt, ob sie dafür Modell gestanden hat. Ich war ihr auf den ersten Blick zuwider.« »Wie gut ich sie verstehen kann!« »Inwiefern?« »Mir waren Sie auch gleich zuwider. Außerdem war die Frage nicht sehr geschmackvoll.« »Warum? Das Grünspan-Mädchen war hinreißend.« »Gut, aber es lag auf einem Grab.« »Na und? Der Tod hat doch nichts Obszönes. Jedenfalls fand das lebendige Mädchen mich offenbar daneben und würdigte mich keiner Antwort. Aber ich hatte ihr Gesicht gesehen. Und davon habe ich mich nie wieder erholt. Es gibt nichts Unbegreiflicheres auf der Welt als Gesichter, oder besser bestimmte Gesichter: eine Komposition von Zügen und Blicken, die mit einemmal zur einzigen Wirklichkeit werden, zum bedeutendsten Rätsel des Universums, die man hungrig und durstig betrachtet, als wäre eine unabweisbare Botschaft in sie eingeschrieben. Ich will Sie nicht mit Einzelheiten langweilen. Wenn ich Ihnen jetzt erzähle, daß sie braune Haare hatte und blaue Augen, was stimmt,
hilft Ihnen das auch nicht weiter. Es gibt nichts Öderes als die obligatorische Beschreibung der Heldin, bei der sie in allen Farben geschildert wird – als ob das irgend etwas über sie aussagte. Wenn sie blond und braunäugig gewesen wäre, hätte das auch nichts geändert. Die Schönheit eines solchen Antlitzes beschreiben zu wollen ist so sinnlos und dumm wie der Versuch, das Unsagbare einer Kantate oder Sonate in Worte zu fassen. Vielleicht könnte aber eine Kantate oder Sonate dieses Gesicht beschreiben. Das Unglück jener, die einem solchen Wunder begegnen, ist, daß sie danach für alles andere verloren sind.« »Ausnahmsweise kann ich Sie diesmal verstehen.« »Doch hier endet schon die Gemeinsamkeit, weil Sie sicher nicht verstehen können, was man empfindet, wenn man vom Antlitz seines Lebens abgewiesen wird. Sie haben nämlich das, was man ein angenehmes Äußeres nennt. Sie wissen nicht, was es heißt, durstig vor dem Wasser zu stehen, das so schön und heilversprechend vor einem liegt, und kein Recht zu haben, die Lippen hineinzutauchen. Du bist durch die Wüste gegangen, aber das Wasser verweigert sich dir, und zwar aus dem einzigen Grund, daß du nicht nach seinem Geschmack bist. Als ob Wasser das Recht auf einen eigenen Geschmack hätte! Eine Frechheit! Dir steht es zu, nach dem Wasser zu dürsten, nicht umgekehrt!« »So spricht ein Frauenschänder.« »Sie wissen gar nicht, wie recht Sie damit haben.« »Wie bitte?«
»Zu Beginn unseres Gesprächs habe ich Sie darauf hingewiesen, daß ich immer tue, worauf ich Lust habe. Das war schon vor zwanzig Jahren so.« »Auf dem Friedhof?« »Was entrüstet Sie so, der Ort oder die Tat?« »Alles.« »Es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich jemanden begehrte. Diese Gelegenheit durfte ich nicht verpassen. Ohne Vergewaltigung wäre es mir lieber gewesen.« »Der Konjunktiv macht es nur noch schlimmer.« »Sie haben recht. Ich habe sie gern vergewaltigt.« »Es ging um den Modus, nicht um den Sinn.« »Man kann den Modus nicht verändern, ohne den Sinn zu verändern. Außerdem ist es wahr: Ich bereue nichts.« »Sie sind von Schuldgefühlen zerfressen, weil Sie Katzenfutter zu sich genommen haben, aber eine Vergewaltigung macht Ihnen nichts aus?« »Nein, weil die Vergewaltigung im Gegensatz zum Katzenfutter gut war. Auf dem Friedhof von Montmartre sind lauter Grabmäler, die aussehen wie gotische Kathedralen, mit Tür, Längsschiff, Querschiff und Apsis. Vier Menschen von mäßiger Leibesfülle können darin leicht aufrecht stehen. Wir waren zu zweit, ich nicht dick, sie schlank wie eine Gerte. Ich habe sie in eins dieser Mausoleen geschleppt und ihr den Mund zugehalten.« »Und sie vergewaltigt?« »Nein, ich habe sie dort zwischengelagert, um sie zu verstecken. Es war etwa siebzehn Uhr. Der Fried-
hof würde bald geschlossen werden. Ich hatte mich schon immer gefragt, was wohl passieren würde, wenn ich eine ganze Nacht auf dem Friedhof eingesperrt wäre. Jetzt weiß ich es. Ich hielt also mein künftiges Opfer mehr als eine Stunde lang an mich gepreßt. Sie wehrte sich, aber sie war nicht sehr muskulös. Ich genoß es, ihre Angst zu riechen.« »Muß ich mir das anhören?« »Es bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig, mein Bester. Genau wie ihr. Friedhofswärter gingen vorbei und trieben verspätete Besucher zur Eile an. Bald war nichts anderes mehr zu hören als der Atem der Toten. Ich nahm meine Hand von ihrem Mund und sagte, sie könne ruhig schreien, wenn sie wolle, es würde ihr doch nichts nützen, weil keiner sie hören würde. Sie war ein kluges Mädchen und krakeelte nicht.« »Ach, so ist das. Ein kluges Mädchen läßt sich brav vergewaltigen.« »Nein, nein. Sie versuchte mir zu entkommen. Und wie schnell die rennen konnte! Ich zwischen den Gräbern hinter ihr her. Ich fand das toll. Schließlich sprang ich sie an und warf sie zu Boden. Ich spürte ihr wütendes Entsetzen, das hat mir gefallen. Es war Oktober, die Nächte waren schon kalt. Ich nahm sie auf dem toten Laub. Ich war noch unberührt, sie nicht. Die Luft war frisch, mein Opfer wehrte sich, der Ort war phantastisch, mein Opfer bezaubernd. Ich habe es genossen. Was für eine Erinnerung!« »Warum muß ich mir das alles anhören?« »Im Morgengrauen habe ich sie wieder in einer
dieser Miniaturkathedralen versteckt. Ich wartete, bis die Wärter den Friedhof aufgeschlossen hatten und ein paar Leute durch die Alleen gingen. Dann sagte ich zu ihr, wir würden jetzt gemeinsam hinausgehen, und wenn sie es wagte, auch nur den leisesten Mucks zu machen, würde ich ihr die Fresse polieren.« »Sehr galant!« »Hand in Hand verließen wir den Friedhof. Sie bewegte sich wie eine Tote.« »Dreckiger Leichenschänder!« »Wieso? Ich habe sie doch am Leben gelassen.« »Äußerst großzügig von Ihnen!« »Als wir draußen in der Rue Rachel standen, fragte ich sie nach ihrem Namen. Sie spuckte mir ins Gesicht. Ich sagte zu ihr, ich liebte sie viel zu sehr, um sie Spucke zu nennen.« »Sie sind ja ein echter Romantiker!« »Ich nahm ihr die Geldbörse ab, aber es war kein Ausweis drin. Ich sagte ihr, es sei illegal, ohne Papiere herumzulaufen. Sie meinte, ich könnte sie ja zur nächsten Polizeiwache bringen und anzeigen.« »Die Frau hatte Humor.« »Mir war völlig klar, worauf sie hinauswollte.« »Tatsächlich? Sie sind ja ein ganz schön helles Köpfchen.« »Mir scheint, Sie wollen mich irgendwie beleidigen.« »Meinen Sie ? Das wäre doch sicher unstatthaft !« »Ich habe sie gefragt, wo ich sie hinbringen kann. Sie sagte, nirgends. Komisches Mädchen, finden Sie nicht?«
»Ja, in der Tat, ein merkwürdiges Opfer, das sich weigert, mit seinem Schänder Freundschaft zu schließen.« »Sie hätte trotzdem merken können, daß ich sie liebte!« »Wo Sie es ihr auf eine so zärtliche Art bewiesen haben!« »Bei der erstbesten Gelegenheit ist sie mir entwischt. Diesmal gelang es mir nicht, sie einzuholen. Die Stadt verschluckte sie. Und ich fand sie nicht wieder.« »Wie schade. Wo die Geschichte doch so schön begonnen hatte!« »Ich war außer mir vor Liebe und Glück.« »Welchen Grund hatten Sie, glücklich zu sein?« »Endlich war etwas Großes in meinem Leben geschehen.« »Etwas Großes? Gemeine Notzucht!« »Ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gebeten!« »Was wollen Sie denn von mir?« »Daß Sie mir zuhören.« »Dafür gibt es Psychologen.« »Warum sollte ich zu einem Psychologen gehen, wenn es auf Flughäfen nur so wimmelt von Leuten, die nichts anderes zu tun haben, als mir zuzuhören?« »Taub sollte man sein.« »Ich suchte das Mädchen überall. Anfangs war ich viel auf dem Friedhof von Montmartre, weil ich hoffte, sie würde wiederkommen. Aber sie tauchte dort nie mehr auf.« »Schon erstaunlich, wie wenig dem Opfer daran
lag, zum Ort seiner Qualen zurückzukehren.« »Ja, als ob es eine unangenehme Erinnerung für sie gewesen wäre.« »Meinen Sie das ernst?« »Ja.« »Sie sind wirklich so krank zu glauben, es hätte ihr gefallen können?« »Es ist doch schmeichelhaft, vergewaltigt zu werden. Das beweist, daß jemand bereit ist, meinetwegen das Gesetz zu übertreten.« »Das Gesetz! Das führen Sie ständig im Munde! Meinen Sie, die Unglückliche hätte ans Gesetz gedacht, während Sie ... ? An Ihnen sollte sich einmal jemand vergehen, dann würden Sie es begreifen.« »Liebend gern. Nur leider scheint niemand dieses Bedürfnis zu haben.« »Wundert mich nicht.« »Bin ich so häßlich?« »Geht so. Das ist nicht das Problem.« »Was ist denn das Problem?« »Merken Sie nicht, wie Sie sich Menschen nähern? Das geht bei Ihnen anscheinend nicht ohne Gewalt. Die erste Frau, die Sie begehren, vergewaltigen Sie. Und wenn Sie mit jemandem, mit mir zum Beispiel, sprechen wollen, drängen Sie sich auf. Das ist auch Notzucht, nicht ganz so widerlich natürlich, aber irgendwie schon. Haben Sie nie erwogen, so etwas wie eine menschliche Beziehung mit jemandem aufzubauen, der das auch will?« »Nein.«
»Ach so.« »Was würde mir das bringen?« »Viel.« »Ein bißchen konkreter, wenn's geht.« »Probieren Sie es aus, Sie werden schon sehen.« »Zu spät. Ich bin vierzig Jahre alt, und noch nie hat mich jemand gemocht. Nicht mal zu Kameradschaft oder einem bißchen Sympathie hat es gereicht, ganz zu schweigen von Freundschaft oder gar Liebe.« »Dann strengen Sie sich an! Bemühen Sie sich, andere zu gewinnen!« »Warum sollte ich mich anstrengen? Ich bin auch so zufrieden. Die Vergewaltigung hat mir gefallen; Sie zum Zuhören zu zwingen gefällt mir. Anstrengungen nimmt man nur auf sich, wenn man mit seinem Schicksal hadert.« »Und was Ihre Opfer davon halten, kümmert Sie überhaupt nicht?« »Ist mir völlig egal.« »Das habe ich befürchtet: Sie sind unfähig, sich in andere einzufühlen. Typisch für Menschen, die als Kind nicht geliebt wurden.« »Verstehen Sie jetzt, warum ich nicht zum Psychologen gehe, wo ich Sie an der Hand habe?« »Das sind doch höchstens Ansätze.« »Ich glaube tatsächlich, daß meine Eltern mich nicht geliebt haben. Sie starben, als ich vier war, und ich kann mich nicht an sie erinnern. Aber sie haben sich umgebracht, und ich kann mir schwer vorstellen, daß man sich umbringt, wenn man sein Kind liebt. Als man sie fand, hingen sie Seite an Seite im
Wohnzimmer am Dachbalken.« »Und warum haben sie sich umgebracht?« »Es gab keinen Abschiedsbrief. Sie haben nichts hinterlassen. Meine Großeltern haben es nie verstanden.« »Eigentlich müßte ich Sie jetzt bedauern, aber mir ist nicht danach.« »Sie haben recht. Mitleid mit mir ist nicht am Platze.« »Frauenschänder erwecken in mir nur Abscheu.« »Ich habe eine Frau vergewaltigt – reicht das schon, um mich zum Frauenschänder zu stempeln?« »Was glauben Sie denn? Daß man eine gewisse Opferquote erreicht haben muß, um diesen Titel zu verdienen? Das ist wie bei Mördern: Eine Leiche genügt.« »Sprache ist doch etwas Seltsames. Eine Sekunde vor der Tat war ich noch ein Mensch; eine Sekunde danach bin ich ein Frauenschänder.« »Mir graut davor, daß Sie das komisch finden könnten.« »Immerhin war ich ein Frauenschänder von beispielhafter Treue. Ich habe nie eine andere Frau berührt, geschweige denn vergewaltigt. Es war die einzige sexuelle Beziehung meines Lebens.« »Da wird sich Ihr Opfer aber bedanken.« »Sonst fällt Ihnen nichts dazu ein?« »Daß ein Perverser Ihrer Sorte kein Geschlechtsleben hat, wundert mich nicht.« »Finden Sie diese Keuschheit nicht romantisch?« »Sie sind der unromantischste Mensch, den man
sich vorstellen kann.« »Ich teile diese Ansicht nicht. Aber was soll's. Ich fahre mit meiner Geschichte fort. Irgendwann gab ich es auf, den Friedhof von Montmartre zu besuchen, weil ich begriffen hatte, daß das der letzte Ort war, wo dieses Mädchen hingehen würde. Von da an irrte ich durch Paris, auf meiner immer besesseneren Suche nach jener Frau. Ich habe die Stadt methodisch durchkämmt, Bezirk für Bezirk, Viertel für Viertel, Metrostation für Metrostation.« »Die berühmte Nadel im Heuhaufen... « »Jahre vergingen. Ich lebte immer noch von meinem Erbe. Außer für Miete und Essen gab ich kein Geld aus. Ich brauchte keine Zerstreuung; wenn ich nicht gerade schlief, streifte ich durch Paris, eine andere Beschäftigung gab es für mich nicht.« »Hatten Sie keine Angst vor der Polizei?« »Nein. Das Opfer hat mich nicht angezeigt, vermute ich.« »Das war ein Fehler.« »Und außerdem paradox: Nicht der Verbrecher wurde gesucht, sondern das Opfer.« »Warum?« »Aus Liebe.« »Wenn man sieht, was manche Leute unter Liebe verstehen, möchte man kotzen.« »Vorsicht: Wenn Sie sich auf dieses Terrain wagen, müssen Sie mit einem Vortrag über die Liebe rechnen.« »Erbarmen!« »Na gut, ausnahmsweise. Vor zehn Jahren, das
heißt, zehn Jahre nach der Vergewaltigung, spazierte ich den Boulevard de Ménilmontant entlang durchs 20. Arrondissement, verzehrte gerade einen Hotdog vom feinsten – und was sehe ich? Sie! Ganz ohne Zweifel. Ich hätte sie unter vier Milliarden Frauen wiedererkannt. Sexuelle Roheit knüpft Bande. In den zehn Jahren war sie nur noch schöner, zarter, ergreifender geworden. Ich begann hinter ihr herzulaufen. Kann einem eigentlich etwas Dümmeres widerfahren, wenn man nach zehn Jahren in der Wüste endlich die Herzallerliebste wiederfindet, als daß man an einer heißen Wurst mit Senf kaut? Natürlich habe ich mich bei der Verfolgung verschluckt.« »Sie hätten den Hotdog ja wegwerfen können.« »Sind Sie noch ganz bei Trost? Da sieht man, daß Sie die Hotdogs vom Boulevard de Ménilmontant nicht kennen: Die wirft man nicht weg. Hätte ich es getan, hätte ich der Dame meines Herzens darob gezürnt, und meine Liebe hätte ihre Reinheit verloren. Unbewußt hätte ich ihr den Verlust der Wurst nicht verziehen.« »Die schwindelerregende Tiefe dieses Gedankengangs wollen wir jetzt aber nicht ausloten.« »Ich bin der einzige, der ehrlich genug ist, solche Dinge auszusprechen.« »Bravo! Und wie ging es weiter?« »Sehen Sie, meine Geschichte beginnt Sie zu fesseln. Ich wußte, früher oder später packt es Sie. Können Sie sich vorstellen, was mein Herzblatt vorhatte?« »Sich einen Hotdog zu kaufen.«
»Nein! Die Hotdog-Bude liegt genau gegenüber dem Père-Lachaise – dahin wollte sie. Ich hätte es mir denken können: Den Friedhof von Montmartre hatte ich ihr vergällt, also mußte sie sich einen anderen suchen. Die Vergewaltigung konnte ihre vornehme Neigung für Nekropolen nicht schmälern. Der Friedhof von Montparnasse ist häßlich, also hat sie sich den Père-Lachaise ausgesucht, der grandios wäre, wenn es dort nicht so von Lebenden wimmelte.« »Was Vergewaltigungen entschieden erschwert.« »Genau! Wo kommen wir denn hin, wenn man seine Triebe nicht einmal mehr auf Friedhöfen befriedigen kann?« »Ist eben alles nicht mehr wie früher, guter Mann.« »Ich verfolgte sie also zwischen den Gräbern. Da wurden Erinnerungen wach, kann ich Ihnen sagen! Sie bog in einen ansteigenden Weg ab. Ihr Gang war anbetungswürdig, wie der eines wachsamen Tiers. Als ich mit dem Hotdog fertig war, holte ich sie ein. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Ich sagte: ›Guten Tag! Können Sie sich noch an mich erinnern?‹ Sie verneinte höflich und entschuldigte sich dafür.« »Wie ist es möglich, daß sie Sie nicht erkannte? Hatten Sie sich in den zehn Jahren so verändert?« »Keine Ahnung. Ich bin an Äußerlichkeiten nicht interessiert. Aber wissen Sie was: So erstaunlich ist das gar nicht. Woran erinnert man sich bei einem Frauenschänder? Wohl nicht unbedingt an sein Gesicht. Es lag so viel Liebe in meinem Blick, daß
sie mich offenbar für liebenswürdig hielt. Sie lächelte mich an. Dieses Lächeln! Es zerriß mir schier das Herz. Wo wir uns denn begegnet seien, fragte sie. Ich sagte, sie solle raten. Sie sagte: ›Ich bin so oft mit meinem Mann unterwegs, daß ich mir die Gesichter der Leute, die ich treffe, unmöglich alle merken kann.‹« »Sie war also verheiratet.« »Wir plauderten ein bißchen. Mit großem Charme bezwang sie ihre Schüchternheit. Das lustige war, daß ich immer noch nicht wußte, wie sie mit Vornamen hieß. Ich wollte sie nicht danach fragen, da sie ja erraten sollte, wer ich war. Schließlich sagte sie: ›Ich komm einfach nicht drauf.‹« »Und was bekam die kleine Maus dann zu hören?« »Texel. Textor Texel.« »Hätt ich mir denken können.« »›Der Name sagt mir nichts‹, sagte sie und hat sich noch einmal entschuldigt. Ich fügte hinzu, daß ich Holländer sei. Die Höflichkeit, mit der sie mir zuhörte, war reizend.« »Und dann hat sie die volle Breitseite abgekriegt: das Katzenfutter, den Tod Ihres Mitschülers, den Jansenismus? Dem armen Mädchen blieb auch nichts erspart.« »Nein. Ein Wunder geschah: Sie schien sich zu erinnern. ›Aber natürlich, Monsieur Texel!‹ rief sie. ›Das war in einem Restaurant in Amsterdam, ich hatte meinen Mann zu einem Geschäftsessen begleitet!‹ Mir war zwar die Tatsache, daß ihr Mann Geschäftsessen hatte, irgendwie zuwider, aber ich
durfte die unverhoffte Gelegenheit, ihr Vertrauen zu gewinnen, nicht ungenutzt verstreichen lassen.« »Unfaßbar, daß sie in Ihnen nicht ihren Aggressor erkannte!« »Warten Sie. Sie überrumpelte mich mit der Frage, wie es meiner Frau gehe, einer gewissen Lieve, mit der sie sich auf besagtem Geschäftsessen vor drei, vier Jahren so gut unterhalten habe. Ausgezeichnet, sagte ich, und daß wir jetzt zusammen in Paris lebten.« »Ihre Geschichte wird allmählich zur Schmierenkomödie!« »Darauf lud sie uns zum Tee ein, meine Frau und mich. Stellen Sie sich das einmal vor: von seinem Opfer zum Tee eingeladen zu werden! Das war so was von unpassend, daß ich sofort zugesagt habe. Das gute war, daß ich auf diese Weise an ihre Adresse kam, wenn auch nicht an ihren Namen, von dem sie ja dachte, ich wüßte ihn.« »Und sind Sie hingegangen?« »Ja, nach einer schlaflosen Nacht. Ich war so unsagbar glücklich, sie wiedergefunden zu haben, daß ich mir gar keine Sorgen machte. Außerdem hoffte ich nun endlich zu erfahren, wie sie hieß. Aber als ich am nächsten Tag bei ihr klingelte, stand kein Name an der Tür. Sie öffnete mir. Ihr Gesicht strahlte auf und verdüsterte sich gleich wieder. ›Wo haben Sie denn Lieve gelassen?‹ wollte sie wissen. Ich behauptete, meine Frau sei krank. Sie führte mich ins Wohnzimmer und ging Tee kochen. Ich stellte fest, daß sie kein Dienstmädchen hatte und
daß es mir ganz gelegen kam, mit ihr allein zu Hause zu sein.« »Hatten Sie etwa die Absicht, sie noch einmal zu vergewaltigen?« »Man sollte nie versuchen, etwas so Vollkommenes zu wiederholen. Das kann nur eine Enttäuschung geben. Obwohl, wenn sie es mir angeboten hätte ...« »Dann wäre es keine Vergewaltigung gewesen.« »Tadellose Logik. Wissen Sie, meine allerdings sehr beschränkte Erfahrung läßt mich vermuten, daß Sex mit dem Einverständnis des anderen an Würze verliert.« »Sie sprechen wie ein Blinder von der Farbe.« »Versetzen Sie sich doch in meine Lage! Ich habe ein einziges Mal gebumst, und das war eine Vergewaltigung. Ich kenne vom Sex nur die Gewalt. Was bleibt denn davon übrig, wenn Sie die Gewalt abziehen?« »Liebe, Lust, Genuß ...« »Ja, abgeschmacktes Zeugs halt. Ich habe mich von Tabasco genährt, und Sie schlagen Haferschleim vor?« »Ich habe Ihnen gar nichts vorgeschlagen!« »Sie übrigens auch nicht, ich meine, von ihr kam kein Angebot.« »Womit sich Ihre Frage erübrigt.« »So ist es. War schon komisch, als mein Opfer mir in diesem hübschen Wohnzimmer so höflich und charmant den Tee servierte. ›Noch ein Täßchen, Herr Texel?‹ – ›Nennen Sie mich doch Textor.‹ Das
brachte sie leider auch nicht auf die Idee, mir ihren Vornamen zu verraten. Sie fragte: ›Wie gefällt Ihnen Paris?‹ Wir plauderten kultiviert. Und ich labte mich an ihrem Gesicht.« »Ich kann es immer noch nicht glauben, daß sie so ahnungslos war.« »Warten Sie. Einmal sagte sie etwas Lustiges und brachte mich damit zum Lachen. Ich lachte aus vollem Hals. Da sah ich auf einmal, wie der Ausdruck aus ihrem Gesicht wich. Ihr Blick wurde kalt, sie starrte auf meine Hände, als würde sie sich auch an sie erinnern. Offenbar habe ich ein besonderes Lachen.« »Offenbar haben Sie bei der Vergewaltigung gelacht! Das ist die Krönung!« »Ja, die Krönung des Glücks. Mit eisiger Stimme sagt sie: ›Sie sind das.‹ – ›Ja, ich bin das‹, sage ich. ›Schön, daß Sie mich nicht vergessen haben.‹ Daraufhin sieht sie mich erst lange voller Haß und Entsetzen an. Nach einem unendlich langen Schweigen sagt sie schließlich: ›Sie sind es wirkliche Ich sage: ›Anderer Friedhof, zehn Jahre später. Ich mußte immer an Sie denken. Seit zehn Jahren bin ich nur damit beschäftigt, Sie zu suchen.‹ – ›Seit zehn Jahren bin ich damit beschäftigt, Sie aus meinem Gedächtnis zu tilgen‹, sagt sie. ›Hat nicht geklappt‹, sage ich. Sagt sie: ›Es ist mir gelungen, Ihr Gesicht zu vergessen, aber Ihr widerwärtiges Lachen hat die Erinnerung wieder lebendig werden lassen. Ich habe nie darüber gesprochen, weder von Ihnen noch von dem, was Sie mir angetan haben, weil ich das Ganze
begraben wollte. Ich habe geheiratet und mich ständig zu einem übertrieben normalen Leben gezwungen, um gegen den Wahnsinn anzukämpfen, in den Sie mich stürzten. Warum müssen Sie ausgerechnet jetzt wieder in meinem Leben auftauchen, wo ich schon fast geheilt war?‹« »Stimmt, warum eigentlich?« »›Aus Liebe‹, sagte ich. Ihr wurde schlecht.« »Kann ich verstehen.« »Ich sagte: ›Ich liebe Sie. Ich habe nie eine andere Frau begehrt oder gar berührt als Sie. Ich habe nur ein einziges Mal in meinem Leben Liebe gemacht, und zwar mit Ihnen.‹ Sie darauf, ›Liebe machen‹ sei etwas anderes. Sage ich: ›Ich habe mit Ihnen ständig innere Zwiegespräche geführt. Werde ich jetzt endlich Antworten bekommen?‹ – ›Nein‹, sagt sie und daß ich gehen soll. Was ich natürlich nicht tat. ›Beruhigen Sie sich doch‹, sage ich, ›ich werde Sie sicher nicht noch einmal vergewaltigen.‹ – ›Nein‹, sagt sie, ›sicher nicht. Wir sind nämlich nicht auf dem Friedhof, sondern bei mir zu Hause. Und ich würde nicht eine Sekunde zögern, die Messer, die ich besitze, auch zu benutzen.‹ Ich sage: ›Deswegen bin ich ja hier.‹« »Wie bitte?« »Das hat sie auch gesagt. Ich sage: ›Es gab zwei Gründe, warum ich Sie wiedersehen wollte: Erstens, um Ihren Namen zu erfahren, und zweitens, um Ihnen Gelegenheit zur Rache zu geben.‹ Sie sagt: ›Aus beidem wird nichts. Und jetzt raus hier!‹ Ich sage: ›Ich gehe nicht, wenn ich nicht kriege, was mir
zusteht.‹ Sie sagt, daß mir überhaupt nichts zusteht. Ich frage: ›Haben Sie gar nicht den Wunsch nach Rache?‹ Sie sagt: ›Ich wünsche Ihnen nur das Allerschlimmste, aber ich mach mir damit nicht die Finger schmutzig. Das einzige, was ich will, ist, daß Sie für immer aus meinem Leben verschwinden.‹ Ich sage: ›Würde es Ihnen nicht guttun, mich zu töten? Dann wären Sie mich mit einem Schlag los.‹ Sagt sie: ›Es würde mir überhaupt nicht guttun, und mit den ganzen Scherereien, die daraus folgten, würden Sie sich nur noch tiefer in mein Leben fräsen.‹« »Warum hat sie denn nicht die Polizei gerufen?« »Ich hätte sie nicht gelassen. Aber offensichtlich war das sowieso nicht ihre Absicht: Sie hatte zehn Jahre Zeit, die Polizei zu informieren, und hat es nicht getan.« »Und warum nicht?« »Sie wollte mit niemandem darüber sprechen, weil sie hoffte, daß die Vergewaltigung so aus ihrem Gedächtnis verschwinden würde.« »Und am Ende mußte sie sich eingestehen, daß das ein Fehler war, weil der Vergewaltiger sie wiederfand.« »Ich wollte von dieser Ablaßjustiz nichts wissen. Ich wollte Gerechtigkeit aus erster Hand, aus ihrer Hand, sie sollte mich töten.« »Sie wollten von ihr getötet werden?« »Ja. Ich brauchte das.« »Sie sind ja wahnsinnig!« »Finde ich nicht. Wahnsinnige sind für mich Menschen, die sich unbegreiflich verhalten. Mein
Verhalten kann ich Ihnen in allen Einzelheiten erklären.« »Da sind Sie aber der einzige.« »Das genügt mir vollkommen.« »Wenn Sie unbedingt sterben wollen, um Ihre Tat zu sühnen, warum richten Sie sich dann nicht selbst?« »Was soll das sentimentale Gewäsch? Erstens wollte ich nicht sterben, sondern getötet werden.« »Das läuft auf dasselbe hinaus.« »Genausogut könnte man Ihnen beim nächsten Mal, wenn Sie Liebe machen wollen, sagen: ›Machen Sie sich's doch selber, das läuft auf dasselbe hinaus.‹ Und woher haben Sie das mit der Sühne? Das hieße ja, daß ich die Vergewaltigung bereue, wo das doch der einzige Akt in meinem Leben war, der diesen Namen verdient.« »Wenn Sie sich keinerlei Vorwürfe machen, warum wollten Sie dann von ihr getötet werden?« »Ich wollte, daß auch sie ihr Teil bekommt. Ich wollte, was jeder Verliebte will: Gegenseitigkeit.« »Dann wäre es doch logischer gewesen, von ihr vergewaltigt zu werden.« »Sicher. Aber man sollte von niemandem Unmögliches verlangen. Darauf durfte ich nicht hoffen. Von ihr getötet zu werden war eine Ersatzlösung.« »Das ist doch lächerlich – als ob Sex und Mord gleichwertig wären.« »Und doch wird von herausragenden Gelehrten genau das behauptet.« »Das Schlimmste an Ihnen ist, daß Sie bis in Ihre
geistigen Entgleisungen hinein so anmaßend sind.« »Wie auch immer, dieses Gespräch ist sinnlos, weil sie mich nicht töten wollte. Dabei war ich ziemlich beharrlich. Ich fand hundert Argumente, sie zu überzeugen – alle abgeschmettert. Am Ende fragte ich sie, ob ihr Glaube sie vielleicht daran hinderte, sich zu rächen. Darauf sie, sie habe gar keinen. Sage ich: ›Na, sehen Sie wenn man keinen Glauben hat, kann man docg tun was man will.‹ Sagt sie: ›Ich will Sie aber nicht töten. Ich will, daß Sie für alle Ewigkeit im Gefängnis schmoren, wo Sie niemandem mehr Böses zufügen können und die Zellengenossen Ihnen das Leben zur Hölle machen.‹ Ich frage: ›Und warum wollen Sie das nicht selbst tun? Warum delegiern Sie Ihre Wünsche?‹ Sagt sie: ›Ich bin von Natur aus nicht gewalttätig.‹ Sage ich: ›Sie enttäuschen mich.‹ Sagt sie: ›Das freut mich.‹« »Sie machen mich fertig mit Ihrem ewigen ›Sage ich, sagt sie, sage ich, sagt sie …‹« »Genau so verpetzt Adam der Feigling, Eva in der Genesis, als Gott ihn nach der Sache mit dem Apfel fragt. Arme Eva.« »Da sind wir ausnahmsweise mal einer Meinung.« »Das sind wir viel mehr, als Sie ahnen. Dann frage ich: ›Und was schlagen Sie vor?‹ Sie sagt: ›Daß Sie für immer aus meinem Leben verschwinden.‹ Sage ich: ›So können wir uns doch nicht trennen!‹ Sagt sie: ›Wir können und werden es auch.‹ Sage ich: ›Auf gar keinen Fall. Dazu liebe ich Sie zu sehr. Ich möchte, daß etwas passiert.‹ Sagt sie: ›Ich spucke auf Ihre Wünsche.‹ Sage ich: ›Das hätten Sie jetzt
nicht sagen dürfen. Das ist nicht nett.‹ Sie lachte nur.« »Dazu hatte sie auch allen Grund.« »Ich sage: ›Sie enttäuschen mich.‹ – ›Sie sind gut!‹ sagt sie. ›Erst vergewaltigen Sie mich, und dann soll ich auch noch Ihren Erwartungen entsprechen ?‹ Ich sage: ›Und wenn ich Ihnen dabei helfen würde, mich zu töten? Sie werden sehen, wie gut wir zusammenarbeiten können!‹ – ›Ich werde gar nichts sehen‹, sagt sie, ›Sie werden gehen, und zwar sofort.‹ Ich sage: ›Sie haben doch vorhin was von Messern gesagt. Wo sind die denn?‹ Sie gab keine Antwort. Ich ging in die Küche und fand ein großes Messer.« »Warum versuchte sie nicht zu fliehen?« »Ich hielt sie mit einer Hand fest. Mit der anderen drückte ich ihr das Messer in die Hand, die Klinge auf meinen Bauch gerichtet. Ich sage: ›Nur zu!‹ Sie: ›Niemals! Damit bereite ich Ihnen einen viel zu großen Gefallene Ich sage: ›Tun Sie's nicht für mich, tun Sie's für sich!‹ Sagt sie: ›Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich keine Lust dazu habe.‹ Sage ich: ›Dann tun Sie es eben lustlos, nur um mir eine Freude zu machen.‹ Sie lacht und sagt: ›Bevor ich Ihnen eine Freude mache, sterbe ich liebere – ›Vorsicht‹, sage ich. ›Ich könnte Sie beim Wort nehmen.‹ Sagt sie: ›Sie jagen mir keine Angst mehr ein, Sie armer Irrer!‹ Ich sage: ›Ist Ihnen nicht klar, daß das Messer zu etwas gut sein muß ? Blut muß fließen, verstehen Sie?‹ Sie sagt: ›Nichts muß müssen.‹ – ›Doch, es muß‹, sage ich und nehme ihr die Waffe ab. Da hat
sie begriffen, aber zu spät. Sie versuchte noch, sich zu wehren. Vergebens. Sie war nicht sehr stark. Ich stieß ihr die Klinge in den Bauch. Sie hat gar nicht geschrien. Ich sage: ›Ich liebe Sie. Ich wollte nur wissen, wie Sie heißen.‹ Im Fallen murmelt sie noch mit verzerrtem Gesicht: ›Merkwürdige Art, Leute nach ihrem Namen zu fragen.‹ Sie war selbst beim Sterben sehr kultiviert. ›Los!‹ sage ich, ›sagen Sie ihn mir!‹ Sagt sie: ›Da sterbe ich lieber!‹ Das waren ihre letzten Worte. Vor lauter Wut habe ich mit dem Messer ihren Schoß aufgeschlitzt. Doch das war verlorene Liebesmüh, sie hatte gewonnen: Sie war gestorben, ohne daß ich ihren Namen erfahren hatte.« Ein Schweigen trat ein. Jérôme Angust sah aus, als hätte er einen Schlag auf den Kopf bekommen. Dann setzte Textor Texel seinen Bericht fort: »Als ich ging, nahm ich das Messer mit. Ich hatte ungewollt das perfekte Verbrechen begangen. Niemand außer dem Opfer hatte mich kommen sehen. Ich scheine auch nicht genug Spuren hinterlassen zu haben, als daß man mich hätte finden können. Daß ich immer noch frei bin, beweist es. Am nächsten Tag las ich in der Zeitung endlich die Antwort auf meine Frage: In der Wohnung, die ich ja schon kannte, sei eine Isabelle XY tot aufgefunden worden. Isabelle! Ich war entzückt.« Wieder Schweigen. »Ich habe das Mädchen besser gekannt als jeder andere. Ich habe sie vergewaltigt, was schon nicht schlecht ist; ich habe sie ermordet, was die beste Methode ist und bleibt, jemanden bis ins Mark
kennenzulernen. Mir fehlte nur ein einziges, entscheidendes Puzzle-Teilchen: ihr Name. Diese Lücke war für mich unerträglich. Zehn Jahre lang befand ich mich in der Situation eines Lesers, der besessen ist von einem Meisterwerk, das vielleicht den Schlüssel zu seinem Leben enthält und diesem Sinn geben könnte, aber dessen Titel er nicht kennt!« Schweigen. »Und da entdeckte ich den Titel dieses wunderbaren Kunstwerks: ihren Namen. Und was für ein Name! Ich muß gestehen, daß mir in all den Jahren die Vorstellung, daß die Dame meines Herzens womöglich Sandra, Monique, Raymonde oder Cindy hieß, ziemlich zu schaffen machte. Uff, ein letztes Uff, ihr Name war entzückend, melodiös, liebenswürdig und perlend wie Quellwasser. Ein Vorname ist nicht nichts, hat der unglückliche Luc Dietrich einmal gesagt. Man hat schon so viel zu lieben, wenn man nur den Namen der Geliebten kennt. Und ich kannte nicht nur ihren Namen, sondern auch ihr Geschlecht und ihren Tod!« »Das nennen Sie: jemanden kennen?« fragte Angust mit abgrundtiefem Haß in der Stimme. »Ich nenne das sogar: jemanden lieben. Isabelle wurde mehr geliebt und besser gekannt als irgend jemand.« »Von Ihnen jedenfalls nicht.« »Von wem denn sonst?« »Geht es denn nicht in Ihren Schädel, Sie Wahnsinniger, daß jemanden kennen heißt: mit ihm leben, mit ihm sprechen, mit ihm schlafen, und nicht: ihn
vernichten?« »Oh, là, là, jetzt kommen aber die ganz großen, ernsten Gemeinplätze aufmarschiert. Als nächstes sagen Sie vermutlich: ›Sich lieben heißt gemeinsam in die gleiche Richtung blicken.‹« »Halten Sie den Mund!« »Was haben Sie denn, Jérôme Angust? Sie ziehen ja so ein Gesicht!« »Das wissen Sie ganz genau!« »Spielen Sie doch nicht den Sensiblen! Seien Sie froh, daß ich Ihnen die Details erspart habe. Du liebe Güte, was sind das für zartbesaitete Wesen, die noch niemanden ermordet haben!« »Wußten Sie, daß der 24. März 1989 ein Karfreitag war?« »Und? Sie halten mich doch für ungläubig.« »Ich bin es. Sie nicht. Das Datum war kein Zufall!« »Doch, ich schwör's! Solche Zufälle gibt es.« »Ich war mir sicher, daß der Schweinehund, der das getan hat, mystische Gründe dafür hatte. Ich weiß nicht, was mich davon abhält, Ihnen den Hals umzudrehen.« »Warum nehmen Sie sich das Schicksal einer Unbekannten, die seit zehn Jahren tot ist, eigentlich so zu Herzen?« »Hören Sie auf mit dem Theater! Seit wann sind Sie mir schon auf den Fersen?« »Was für ein Narzißmus! Als wäre ich hinter Ihnen hergewesen!« »Zuerst versuchen Sie mir weiszumachen, Sie hätten Spaß daran, sich x-beliebige Leute auszu-
suchen, die Sie dann vollabern können.« »Was stimmt.« »Ach ja. Und deren Frauen haben Sie auch alle ermordet?« »Wie? Sie waren der Mann von Isabelle?« »Als ob Sie das nicht wüßten!« »Und ich rede von Zufällen!« »Es reicht! Sie haben vor zehn Jahren die Frau getötet, die mein ein und alles war. Und finden Mittel und Wege, mich noch mehr zu zerstören, indem Sie mir nicht nur deren Ermordung schildern, sondern auch, wie Sie sie zehn Jahre vorher vergewaltigt haben, wovon ich bis heute nichts wußte.« »Was sind Männer doch für Egoisten! Hätten Sie genauer hingesehen, dann wäre Ihnen aufgegangen, was sie vor Ihnen verbarg.« »Ich sah das Kaputte in ihr. Sie wollte aber nicht darüber sprechen.« »Und das war Ihnen ganz recht.« »Sie wollen mir Moral predigen?« »Immerhin schreite ich mutig zur Tat.« »Ja, wahrhaftig, es gehört schon gewaltiger Mut dazu, eine zarte junge Frau zu schänden und zu ermorden.« »Und was ist mit Ihnen? Sie wissen, daß ich Isabelle getötet und vergewaltigt habe. Und tun – nichts.« »Was sollte ich denn tun?« »Vor ein paar Minuten wollten Sie mir noch den Hals umdrehen.« »Ist es das, was Sie bezwecken?«
»Ja.« »Diesen Gefallen werde ich Ihnen nicht tun. Ich rufe die Polizei.« »Sie sind ein Jammerlappen! Arme Isabelle! Das hat sie nicht verdient!« »Vergewaltigung und Mord hat sie noch viel weniger verdient.« »Immerhin handle ich konsequent. Und Ihnen fällt nichts Besseres ein, als nach der Polizei zu rufen. Die Rache anderen zuzuschieben.« »Ich schließe mich Isabelles Entscheidung an.« »Schönrednerei! Isabelle war schließlich das Opfer. Sie hatte das Recht, mich nicht zu bestrafen. Diese Freiheit steht Ihnen nicht zu. Vergeben kann nur der Gekränkte.« »Von Vergebung kann keine Rede sein. Es geht darum, nicht selbst zu richten.« »Hört die schönen Worte des braven Bürgers, der nur seine Feigheit kaschieren will!« »Sie haben schon mein Leben zerstört. Ihretwegen werde ich es nicht auch noch im Knast beenden.« »Wie gut durchdacht das alles ist! Bloß kein Risiko eingehen! Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um. Ach, Isabelle, wie leidenschaftlich hat der Mann Sie geliebt, mit dem Sie verheiratet waren!« »Ich lehne die Todesstrafe ab.« »Wichser! Es geht um Liebe, und er tritt auf wie in einer Talkshow.« »Gegen die Todesstrafe Stellung zu beziehen erfordert mehr Mut, als Sie denken.« »Wer redet denn von der Todesstrafe, Sie Trottel?
Vermutlich lehnen Sie Diebstahl auch ab; aber Sie wären doch sicher nicht so blöd, eine Brieftasche voller Dollars liegenzulassen, wenn Sie sie auf der Straße finden. Also packen Sie die Gelegenheit beim Schopf, Sie Wurm, Sie!« »Das ist doch nicht vergleichbar. Wenn ich Sie töte, bringt mir das meine Frau auch nicht wieder.« »Es würde aber das dumpfe Grummeln in Ihren Eingeweiden besänftigen, es wäre eine Erleichterung für Sie!« »Nein.« »Was fließt eigentlich durch Ihre Adern? Kamillentee?« »Ich brauche Ihnen nichts zu beweisen, Monsieur. Ich hole jetzt die Polizei.« »Und Sie glauben wirklich, daß ich noch da bin, wenn Sie wiederkommen?« »Ich hatte genug Zeit, Sie zu beobachten. Ich kann Sie sehr genau beschreiben.« »Nehmen wir an, ich werde geschnappt. Was würde dann passieren, Ihrer Meinung nach? Sie haben nichts gegen mich in der Hand, außer dem, was ich Ihnen erzählt habe. Niemand sonst hat das gehört. Und ich habe nicht die Absicht, es vor der Polizei zu wiederholen. Kurz und gut: Sie haben keinen Beweis.« »Die Spuren von vor zehn Jahren.« »Es gibt keine, das wissen Sie nur zu gut.« »Sie müssen irgend etwas am Tatort verloren haben, ein Haar oder eine Wimper.« »Vor zehn Jahren gab es noch keine solchen DNA-
Tests. Seien Sie vernünftig, lieber Freund. Ich möchte nicht verhaftet werden, und ich glaube auch nicht, daß das passiert.« »Ich verstehe Sie nicht. Sie wollen doch unbedingt Ihre Strafe – warum nicht offiziell und legal?« »Weil ich an diese Gerechtigkeit nicht glaube.« »Schade. Es gibt nämlich keine andere.« »Und ob es eine andere gibt: Sie gehen mit mir zur Toilette und begleichen Ihre Rechnung.« »Auf der Toilette?« »Sie wollen doch auch nicht verhaftet werden. Also bringen Sie mich besser dort um, wo es keiner sieht.« »Wenn Ihre Leiche gefunden wird, gibt es tausend Leute, die bezeugen können, daß wir uns vorher lang und breit unterhalten haben. Sie waren ja so diskret, als Sie mich angesprochen haben.« »Ich sehe mit Freude, daß Sie zu erwägen beginnen, ob es nicht doch machbar wäre.« »Nur um Ihnen die Unsinnigkeit Ihrer Pläne vor Augen zu führen.« »Dabei übersehen Sie eine Kleinigkeit, die Ihnen die Aufgabe sehr erleichtern dürfte: Ich werde keinerlei Widerstand leisten.« »Etwas begreife ich nicht an dieser Geschichte: Warum wollen Sie unbedingt von mir erledigt werden? Was haben Sie davon?« »Sie haben es vor ein paar Minuten selbst gesagt: Ich brauche die Strafe.« »Verstehe ich nicht.« »Da gibt es auch nichts zu verstehen.«
»Das ist doch nicht normal! Auf dieser Welt laufen genug Verbrecher herum, die sich ihrer Strafe entziehen wollen. Das erscheint mir viel einleuchtender.« »Die haben keine Schuldgefühle.« »Sie haben doch behauptet, Sie bereuten es nicht, meine Frau vergewaltigt zu haben.« »Korrekt. Weil ich es gut fand. Aber es war scheußlich, sie zu ermorden. Deshalb mache ich mir große Vorwürfe.« »Das heißt, wenn es Ihnen Spaß gemacht hätte, sie zu ermorden, hätten Sie keine Gewissensbisse.« »So bin ich nun mal.« »Das ist Ihr Problem, werter Herr. Das hätten Sie sich früher überlegen sollen.« »Wie hätte ich denn vorher wissen können, daß es mir keinen Spaß machen würde? Um herauszufinden, ob man etwas mag oder nicht, muß man es erst probieren.« »Sie reden darüber wie übers Essen.« »Jedem seine Moral. Ich messe alles Handeln an der Elle des Genusses. Für mich ist der Rausch der Leidenschaft das höchste Lebensziel, das keiner Rechtfertigung bedarf. Ein Verbrechen ohne Lust dagegen ist sinnlos böse, eine gemeine Umweltverschmutzung. Unentschuldbar.« »Was das Opfer denkt, ist Ihnen egal?« »Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum – ist Ihnen das ein Begriff?« »Nein.« »Hätte ich mir denken können. Er ist der Theo-
retiker des Egoismus. Der andere existiert nur zu meinem Vergnügen.« »Na wunderbar. Menschen, die so denken, sollte man einsperren.« »›Wahre Moral spottet der Moral.‹ Sagt Pascal. Es lebe der Jansenismus!« »Das widerwärtigste an Ihnen ist, daß Sie für Ihr elendes sadistisches Handeln auch noch intellektuelle Motive vorschieben.« »Wenn Sie mich so widerwärtig finden, töten Sie mich doch!« »Ich will nicht.« »Wie wollen Sie das wissen? Haben Sie es schon probiert? Womöglich finden Sie es wunderbar.« »Ihre Moral wird nie die meine sein. Sie sind komplett verrückt.« »Diese Manie, jeden, den man nicht versteht, als verrückt abzutun! Pure geistige Trägheit!« »Wenn einer Probleme mit seinen Schuldgefühlen hat und deshalb verlangt, daß ich ihn umbringe, ist bei dem eine Schraube locker. Sie haben vorhin behauptet, ein Wahnsinniger wäre jemand, dessen Verhalten unerklärlich ist. Also, Ihr Wunsch nach Strafe ist unerklärlich: Er paßt absolut nicht zu Ihrer Moral des reinen, harten Egoismus.« »Da bin ich mir nicht so sicher. Ich bin ja noch nie getötet worden. Vielleicht ist das sehr wohltuend. Man sollte nicht über Gefühle urteilen, die man nicht kennt.« »Nehmen wir an, es wäre unangenehm. Man kann dann nicht mehr zurück.«
»Und wenn schon, es dauert doch nur einen Augenblick. Und danach ... « »Danach?« »Danach gilt dasselbe: Ich war noch nie tot. Wer weiß, vielleicht ist es ja grandios.« »Und wenn nicht?« »Ach, mein Lieber, früher oder später werde ich es ohnehin erfahren. Sie sehen: Das Ganze ist genausogut durchdacht wie die Wette von Pascal. Ich kann nur gewinnen und habe nichts zu verlieren.« »Das Leben vielleicht?« »Kenne ich schon. Total überschätzt.« »Und wie erklären Sie sich, daß viele Menschen so daran hängen?« »Die haben hier Freunde, Menschen, die sie lieben. Ich habe das nicht.« »Und warum sollte ausgerechnet ich, der Sie in höchstem Maße verabscheut, Ihnen diesen Gefallen erweisen?« »Um Ihren Wunsch nach Rache zu befriedigen.« »Falsch kalkuliert. Wären Sie zwei Tage nach dem Mord damit angekommen, hätte ich Sie garantiert fertiggemacht. Aber Sie mußten doch damit rechnen, daß mein Haß nach zehn Jahren abgekühlt ist.« »Wäre ich zwei Tage nach der Tat damit angekommen, hätte ich ein Polizeiverhör riskiert. Außerdem gefällt mir der Abstand von zehn Jahren besonders gut, weil auch zwischen der Vergewaltigung und dem Mord zehn Jahre lagen. Ich bin ein Verbrecher mit Sinn für Jahrestage. Darf ich Ihre Aufmerksamkeit auf das heutige Datum lenken?«
»Heute ist ... der 24. März!« »Sie haben nicht daran gedacht?« »Ich denke jeden Tag daran, Monsieur, nicht nur am 24. März.« »Ich hatte die Wahl zwischen dem 4. Oktober, dem Tag der Vergewaltigung, und dem 24. März, dem Tag des Mordes. Und dachte mir, um Vergewaltigung geht es bei uns beiden sicher nicht.« »Da bin ich aber erleichtert.« »Die Chancen auf Mord stehen besser. Eine Übereinstimmung aller drei Daten wäre mir natürlich am liebsten. Das hätte wirklich Klasse: Im Abstand von zehn Jahren jeweils am 4. Oktober oder am 24. März! Leider ist das Leben nicht so vollkommen, wie wir es uns wünschen.« »Armer Irrer.« »Sie sagten, Ihr Haß sei nach zehn Jahren abgekühlt. Da können Sie sich ganz auf mich verlassen: Ich fache ihn schon wieder an.« »Geben Sie sich keine Mühe. Ich werde Sie nicht ermorden.« »Das werden wir noch sehen.« »Da gibt es nichts zu sehen.« »Waschlappen! « »Das ärgert Sie, ja?« »Sie können ein solches Verbrechen doch nicht ungesühnt lassen!« »Wer sagt mir überhaupt, daß Sie es waren? Sie sind krank genug, das Ganze zu erfinden.« »Sie zweifeln daran?« »Absolut. Sie haben keinerlei Beweis für Ihre Be-
hauptungen.« »Das ist doch die Höhe! Ich kann Ihnen Isabelle aufs genaueste beschreiben.« »Das sagt gar nichts.« »Ich kann Ihnen intime Einzelheiten schildern.« »Daraus läßt sich nur ableiten, daß Sie näher mit ihr bekannt waren, nicht aber, daß Sie sie vergewaltigt und ermordet haben.« »Ich kann beweisen, daß ich sie ermordet habe. Ich weiß sehr genau, in welcher Position Sie die Leiche gefunden haben und wo sich die Messerstiche befanden.« »Solche Details hätten Sie auch vom wahren Mörder erfahren können.« . »Sie treiben mich noch in den Wahnsinn!« »Nicht mehr nötig.« »Warum sollte ich mich eines Verbrechens bezichtigen, das ich nicht begangen habe?« »Ach, kommen Sie, ein Geisteskranker Ihrer Sorte! Vielleicht, weil es Ihnen Spaß macht, von mir getötet zu werden.« »Vergessen Sie nicht, daß diesem Bedürfnis mein Schuldgefühl zugrunde liegt.« »Wenn das stimmte, würden Sie sich nicht so damit brüsten. Der Gewissensbiß ist ein Zeichen geistiger Schwäche.« »Sie zitieren ja Spinoza!« »Sie sind nicht der einzige Gebildete auf der Welt, mein Herr!« »Ich mag Spinoza nicht.« »Das war klar. Ich schätze ihn sehr.«
»Ich befehle Ihnen, mich zu töten!« »Daß Sie Spinoza nicht mögen, ist für mich kein hinreichender Grund.« »Ich habe Ihre Frau vergewaltigt und ermordet!« »Sagen Sie das zu jedem Pechvogel, den Sie sich auf dem Flughafen krallen?« »Sie sind der erste, der einzige, dem ich dieses Schicksal zugedacht habe.« »Danke, zuviel der Ehre! Nur leider glaube ich Ihnen das nicht: Das Räderwerk läuft zu rund, als daß es das erste Mal sein könnte. Das riecht nach gewerblicher Quälerei.« »Merken Sie denn nicht, daß Sie auserwählt sind? Ein Jansenist wie ich würde es niemals hinnehmen, von jemandem getötet zu werden, dessen Frau er nicht vergewaltigt und ermordet hat.« »Wen wollen Sie mit einem so abstrusen Argument eigentlich überzeugen?« »Dieser Drückeberger! Versucht sich einzureden, daß ich nicht der Mörder sein kann, bloß um mich nicht töten zu müssen!« »Tut mir leid. Aber solange Sie mir keinen handfesten Beweis für Ihre Tat liefern, sehe ich keinen Anlaß, Ihnen zu glauben.« »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen! Sie hoffen auf einen handfesten Beweis, mit dem Sie zur Polizei gehen können. Weil Sie sonst nichts gegen mich in der Hand haben. Tut mir leid, Schlappschwanz, es gibt kein Corpus delicti. Vor der Polizei stünde Ihr Wort gegen das meine. Ich will Gerechtigkeit aus Ihrer Hand oder gar nicht. Schreiben Sie sich das ein
für allemal hinter die ... « »Rache an einem Irren, der sich als Mörder ausgibt – was hat das mit Gerechtigkeit zu tun? Sie behaupten ja auch, Ihren Mitschüler umgebracht zu haben, wo Sie es bei einem Stoßgebet bewenden ließen; diese Sorte Mörder macht mir nichts vor.« »Und die Tatwaffe? Die hat mir wohl der Mörder angedreht. Warum beharren Sie eigentlich auf solchen an den Haaren herbeigezogenen Absurditäten, wo doch die Wahrheit so einfach ist?« »Ich bin auf dem Flughafen und erfahre, daß mein Flugzeug sich verspätet. Jemand setzt sich neben mich und quatscht mich voll. Nach weitschweifigen Geständnissen enthüllt er mir in einem Nebensatz, daß er vor zwanzig Jahren meine Frau vergewaltigt und sie vor zehn Jahren ermordet hat. Und Sie erwarten, daß ich das so schlucke?« »Ja. Ihre Version ist allerdings ziemlich lückenhaft.« »Was Sie nicht sagen.« »Wann haben Sie erfahren, daß Sie am 24. März nach Barcelona fliegen sollen?« »Das geht Sie nichts an.« »Sie wollen nicht? Dann sage ich es Ihnen. Vor zwei Monaten erhielt Ihr Chef einen Anruf aus Barcelona, in dem es um interessante Märkte ging und um eine Hauptversammlung am 24. März. Sie können sich wahrscheinlich denken, wer der Anrufer war, der so katalanisch ist wie Sie und ich und von zu Hause, aus Paris, telefonierte.« »Der Name meines Chefs?«
»Jean-Pascal Meunier. Glauben Sie mir noch immer nicht?« »Ich glaube, daß Sie ein ziemliches Ekel sind. Aber das wußte ich bereits.« »Ein tüchtiges Ekel, nicht wahr?« »Sagen wir lieber, ein ziemlich gut informiertes.« »Ich bleibe bei tüchtig – Sie dürfen die Flugzeugverspätung nicht vergessen.« »Wie? Das waren auch Sie?« »Kapieren Sie's endlich, Blödmann?« »Wie haben Sie das denn hingekriegt?« »Wie bei Ihrem Chef – Anruf genügt. Aus einer Telefonzelle am Flughafen. Ich sagte, daß an Bord eine Bombe versteckt sei. Wahnsinn, was man heutzutage mit einem simplen Anruf alles anrichten kann!« »Sie wissen, daß ich Sie dafür anzeigen müßte?« »Weiß ich. Und? Selbst wenn die Polizei Ihnen glaubt, würde ich mit einer saftigen Geldstrafe davonkommen.« »Einer gewaltigen Geldstrafe, werter Herr.« »Und das bißchen Kohleabdrücken wäre für Sie eine angemessene Vergeltung für die Vergewaltigung und Ermordung Ihrer Frau?« »Sie haben wirklich an alles gedacht, Sie Dreckskerl.« »Ich sehe mit Freuden wieder bessere Gefühle in Ihnen aufkeimen.« »Warten Sie. Was hat Ihnen die Verspätung denn genützt?« »Wenn Sie nur einmal Ihr Gehirn einschalten würden! Es muß Ihnen doch auch klar sein, daß
unser Gespräch nirgendwo anders hätte stattfinden können als im Wartesaal eines Flughafens. Ich mußte Sie festnageln. Und Sie konnten nicht weg, weil Sie das Flugzeug nehmen mußten.« »Dann kann ich ja jetzt gehen, wo der Schwindel aufgeflogen ist.« »Der Schwindel ist aufgeflogen. Aber den Menschen, der Ihr Leben zerstört hat, können Sie jetzt nicht mehr laufenlassen.« »Und warum sind Sie so lang drum herumgeschlichen? Warum haben Sie sich ewig mit Ihren Katzenfutter-Geschichten verzettelt, statt gleich anzukommen und zu sagen: ›Ich bin der Mörder Ihrer Frau‹?« »Weil das so nicht ging. Ich bin ausgesprochen formalistisch. Ich handle im Sinne einer strengen jansenistischen Kosmetik.« »Wie kommen Sie denn jetzt auf Schönheitspflege?« »Kosmetik ist die Lehre von der universellen Ordnung, die allerhöchste, weltbeherrschende Moral, Sie Ignorant, Sie. Was kann ich dafür, wenn dieses wunderbare Wort von einem einzigen Berufsstand für sich reklamiert wird? Es hätte gegen die Regeln der Kosmetik verstoßen, Sie von Anfang an einzuweihen, daß Sie erwählt sind. Sie sollten es spüren, und dazu mußte ich Sie zunächst in einen heiligen Rausch versetzen.« »Sagen wir lieber, zum Nervenbündel machen.« »Da haben Sie nicht ganz unrecht. Wenn man einen Erwählten von seiner Mission überzeugen will,
geht man tatsächlich über die Nerven. Sie müssen vibrieren, damit er wirklich reagiert, mit seiner Wut, nicht mit dem Verstand. Ich finde Sie übrigens immer noch viel zu verkopft. Ich rede mit Ihrer Haut, verstehen Sie?« »Keine Chance: Ich bin nicht so leicht zu manipulieren, wie Sie hofften.« »Sie glauben immer noch, ich wollte Sie manipulieren. Dabei zeige ich Ihnen nur Ihren natürlichen Weg, Ihr kosmetisches Schicksal. Sehen Sie, ich bin schuldig. Nicht alle Verbrecher haben Schuldgefühle, aber wenn sie welche haben, denken sie an nichts anderes mehr. Der Schuldige sucht seine Strafe wie das Wasser das Meer, wie der Gekränkte die Rache. Wenn Sie sich nicht rächen, Jérôme Angust, werden Sie unerfüllt bleiben, Sie werden Ihre Erwähltheit nicht auf sich genommen haben, Sie werden Ihrem Schicksal nicht begegnet sein.« »Wenn man Ihnen so zuhört, könnte man meinen, Sie haben sich nur deshalb so aufgeführt, um endlich bestraft zu werden.« »Da ist was dran.« »Das ist beknackt.« »Jedem der Verbrecher, den er verdient.« »Könnten Sie nicht einfach eine dieser gewissenlosen Bestien sein, die morden, ohne sich anschließend stundenlang erklären und rechtfertigen zu müssen?« »Hätten Sie es lieber gesehen, wenn Ihre Frau von einem solchen Bulldozer vergewaltigt und ermordet worden wäre?«
»Ich hätte es lieber gesehen, wenn sie überhaupt nicht vergewaltigt und ermordet worden wäre. Aber wo es nun einmal passiert ist – ja, mir wäre eine anständige Bestie lieber gewesen als so ein Geisteskranker wie Sie.« »Ich wiederhole es, mein lieber Jérôme Angust: Jedem der Verbrecher, den er verdient.« »Als ob meine Frau das verdient hätte! Was Sie da sagen, ist infam!« »Doch nicht Ihre Frau. Sie!« »Das ist noch infamer! Warum hat es dann sie getroffen statt mich?« »Das ›es‹ amüsiert mich.« »Das amüsiert Sie? Das ist die Höhe! Warum grinsen Sie übrigens wie ein Vollidiot? Was gibt's da zu lachen?« »Kommen Sie, beruhigen Sie sich!« »Da gibt's nichts zu beruhigen. Ich halte Sie nicht mehr aus!« »Dann bringen Sie mich um! Sie gehen mit mir zur Toilette, schmettern meinen Kopf gegen die Wand, und wir reden nicht mehr darüber.« »Diese Freude mache ich Ihnen nicht. Ich hole jetzt die Polizei, Monsieur. Es muß eine Möglichkeit geben, Sie dingfest zu machen. Vor zehn Jahren war die DNA-Analyse noch nicht so weit, heute ist sie es. Garantiert haben Sie ein Haar oder eine Wimper am Tatort verloren. Das wird reichen.« »Gute Idee. Holen Sie doch die Polizei! Und Sie glauben, daß ich dann noch da bin?« »Sie kommen mit.«
»Meinen Sie, ich hätte Lust dazu?« »Ich befehle es Ihnen.« »Ist ja rührend. Und welches Druckmittel haben Sie gegen mich?« Zufällig gingen just in dem Moment zwei Polizisten vorbei. Jérôme rief : »Polizei! Polizei!« Die beiden hörten es und kamen, ebenso zahlreiche Gaffer. »Verhaften Sie diesen Mann«, sagte Angust und zeigte auf Texel. »Welchen?« fragte einer der Polizisten. »Den da!« sagte Jérôme und wies noch einmal auf den lächelnden Textor neben ihm. Die Gesetzeshüter sahen erst einander, dann Angust verdutzt an, sie dachten anscheinend: Der tickt wohl nicht richtig. »Ausweis bitte«, sagte der eine. »Was? Meinen?« ereiferte sich Jérôme. »Fragen Sie doch den!« »Ihren Ausweis!« wiederholte der Mann mit Nachdruck. Kleinlaut reichte Angust ihm den Paß. Die beiden studierten ihn eingehend und gaben ihn dann mit den Worten zurück: »In Ordnung, wir drücken noch mal ein Auge zu. Aber unterlassen Sie solche Dummheiten in Zukunft!« »Und ihn wollen Sie nicht kontrollieren?« beharrte Jérôme. »Seien Sie froh, daß Sie nicht pusten müssen, bevor Sie ins Flugzeug steigen.« Dann zogen die Bullen ab und ließen Angust mit seiner hilflosen Wut allein. Die Leute schauten ihn
an, als ob er meschugge wäre. Texel begann zu lachen. »Na, hast du's endlich begriffen?« fragte er. »Seit wann duzen wir uns? Ich kann mich nicht erinnern, daß wir zusammen Schweine gehütet hätten.« Der Holländer schrie vor Lachen. Die Zuschauer drängten näher an sie heran, jeder wollte möglichst gut sehen und hören. Da platzte Angust der Kragen. Er sprang auf und schrie: »Genug geglotzt? Der nächste, der glotzt, kriegt was aufs Maul!« Anscheinend wirkte er glaubwürdig, denn die Gaffer trollten sich, und wer in der Nähe saß, suchte das Weite. Niemand wagte sich mehr an sie heran. »Bravo, Jérôme! Eine Wucht! In unserer ganzen Zeit als Schweinehüter hab ich dich nie so erlebt.« »Ich verbiete Ihnen, mich zu duzen!« »Komm schon, nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben, darfst du mich auch duzen.« »Kommt nicht in Frage.« »Jetzt kenne ich dich schon so lange!« Jérôme sah auf die Uhr: »Keine zwei Stunden.« »Seit Ewigkeiten.« Angust sah dem Holländer lange forschend ins Gesicht. »Ist Textor Texel ein Pseudonym? Sind Sie mit mir zur Schule gegangen?« »Erinnerst du dich an einen Mitschüler, der mir ähnlich sah?« »Nein, aber es ist auch schon lange her. Sie haben
sich sicher verändert.« »Und warum wurde ich deiner Meinung nach nicht verhaftet?« »Keine Ahnung. Gute Beziehungen vielleicht.« »Und was hat die Leute wohl veranlaßt, dich anzustarren wie einen Geisteskranken?« »Die Reaktion der Bullen.« »Du hast wirklich nichts kapiert.« »Was gibt's da zu kapieren?« »Daß neben dir keiner sitzt.« »Wenn Sie sich für den großen Unsichtbaren halten, wie kommt es dann, daß ich Sie sehe?« »Du bist der einzige. Ich kann mich auch nicht sehen.« »Ich begreife nur eines nicht: Inwiefern der sibyllinische Nonsens, den Sie verzapfen, Sie berechtigt, mich zu duzen. Ich verbitte mir das, Monsieur!« »Als dürfte man sich selbst nicht duzen!« »Wie meinen?« »Du hast schon richtig verstanden. Ich bin du.« Verständnislos stierte Jérôme den Holländer an. »Ich bin du«, wiederholte Textor. »Ich bin der Teil von dir, den du nicht kennst, der dich aber nur zu gut kennt. Ich bin der Teil von dir, den du so angestrengt übersiehst.« »Es war ein Fehler, die Polizei zu rufen. Ich hätte die Psychiatrie verständigen sollen.« »Du machst dauernd Fehler. Du bist dir vollkommen fremd. Dabei habe ich dir von Anfang an goldene Brücken gebaut. Schon als ich vom inneren
Feind sprach, habe ich dir zu verstehen gegeben, daß ich vielleicht außerhalb deiner Vorstellung gar nicht existiere, sondern bloß eine Ausgeburt deines Gehirns bin. Worauf du mir von oben herab zur Antwort gabst, du hättest keinen inneren Feind. Armer Jérôme, du hast den zudringlichsten inneren Feind, den es gibt, nämlich mich.« »Sie sind nicht ich, mein Herr. Sie heißen Textor Texel, sind Holländer und eine Nervensäge erster Güte.« »Und auf welche Weise sollten mich diese herausragenden Qualitäten daran hindern, du zu sein?« »Identität, Nationalität, persönliche Geschichte, körperliche und geistige Merkmale – das alles macht Sie zu jemandem, der nicht ich ist.« »Du Guter, wenn du dich über so läppische Kriterien definierst, bist du aber ein recht schlichtes Gemüt. Das ist mal wieder typisch für das menschliche Gehirn: sich auf Einzelheiten zu konzentrieren, um das Wesentliche zu übersehen.« »Ihre Katzenfuttergeschichten und der ganze Mystikmist sind sowieso Lichtjahre von mir entfernt.« »Gewiß. Du mußtest mich ja auch sehr verschieden von dir entwerfen, um dich davon zu überzeugen, daß du es nicht gewesen sein kannst – daß der Mörder deiner Frau auf jeden Fall jemand anderer war als du!« »Schweigen Sie!« »Bedaure. Ich schweige nicht mehr. Ich habe schon zu lange geschwiegen. Und ich muß dazu sagen, daß
das Schweigen in den letzten zehn Jahren immer unerträglicher geworden ist.« »Ich will nichts mehr von Ihnen hören.« »Du zwingst mich doch zum Reden! Die unbezwingbaren Mauern, die du in deinem Kopf gebaut hast, geben nach: Sie halten nicht mehr. Sei froh, daß dir zehn Jahre Unschuld gewährt worden sind. Als du heute morgen aufstandest und dich für die Reise nach Barcelona fertigmachtest, lasen deine Augen im Kalender: 24. März 1999. Keine Alarmglocke schrillte in deinem Kopf, um dich zu warnen, daß dein Mord sich zum zehnten Mal jährte. Nur mir konntest du es nicht verhehlen.« »Ich habe meine Frau nicht vergewaltigt!« »Stimmt. Du hattest nur sehr große Lust darauf, als du sie vor zwanzig Jahren auf dem Friedhof von Montmartre zum ersten Mal gesehen hast. Nachts träumtest du davon. Zu Beginn unseres Gesprächs habe ich zu dir gesagt, ich tue immer, wozu ich Lust habe. Ich bin der Teil von dir, der sich nichts versagt. Ich habe dir diesen Traum geschenkt. Kein Gesetz verbietet Phantasien. Einige Zeit später lerntest du Isabelle auf einer Party kennen. Dort sprachst du sie zum ersten Mal an.« »Woher wissen Sie das?« »Weil ich du bin, Jérôme. Du fandest es komisch, dich so zivilisiert mit einer Frau zu unterhalten, die du im Traum vergewaltigt hattest. Du gefielst ihr. Du bist ein Mann, den Frauen mögen, sofern du mich verbergen kannst.« »Sie sind der Wahnsinnige. Sie haben meine Frau
getötet und versuchen sich jetzt einzureden, daß ich der Mörder bin, um sich reinzuwaschen.« »Und warum habe ich dann Stunden zugebracht, meine Schuld darzulegen?« »Weil Sie durchgeknallt sind. Es ist sinnlos, im Gebaren eines Irren Logik zu erwarten.« »Sprich nicht so schlecht über mich! Du solltest nicht vergessen, daß ich du bin.« »Wenn Sie ich sind, aus welcher eigenartigen Laune heraus hätte ich Sie dann als Holländer erschaffen sollen?« »Als Ausländer unterscheide ich mich mehr von dir. Das habe ich dir schon gesagt.« »Und warum ausgerechnet Holländer und nicht Patagone oder Bantu?« »Jedem der Ausländer, den er verdient – für Patagone oder Bantu hat's eben nicht gereicht.« »Und woher Ihr manischer Jansenismus, wo ich doch an rein gar nichts glaube?« »Das zeigt nur, daß es einen verdrängten Teil mit einem Hang zur Mystik in dir gibt.« »O nein, bloß kein psychoanalytischer Ramsch aus der Grabbelkiste!« »Wie wütend du wirst, wenn man zu unterstellen wagt, du hättest etwas verdrängt!« »Die Verdrängung ist die Mülltonne des 20. Jahrhunderts: Da stopft man alles rein.« »Und heraus springt ein typischer Mörder des 20. Jahrhunderts: du.« »Nehmen wir zwei Sekunden lang an, daß Ihre Hirngespinste wahr sind: Ihr Verbrecher ist peinlich,
pathetisch, grotesk.« »Jedem der Verbrecher, den er verdient – das habe ich dir schon vor ein paar Minuten gesagt. Mein armer Jérôme, es tut mir leid, aber in dir ist kein Platz für Jack the Ripper oder Landru. In dir ist nur Platz für mich.« »In mir ist kein Platz für Sie!« »Schwer zu verdauen, hm? Ich weiß.« »Wenn ich Ihnen glauben müßte, wäre ich Doktor Jekyll, der sich gerade in Mister Hyde verwandelt.« »Bilde dir bloß nichts ein! Du bist lange nicht so gut wie Doktor Jekyll, darum ist das Scheusal, das in dir steckt, auch lange nicht so atemberaubend wie die blutrünstige Bestie Hyde. Du bist nicht der besessene große Gelehrte, bloß ein kleiner Geschäftsmann, wie es viele gibt – das Beste an dir war deine Frau. Und seit zehn Jahren ist das einzig Positive an dir, daß du Witwer bist.« »Warum haben Sie Isabelle getötet?« »Komisch: Eben noch wolltest du mir nicht glauben, daß ich der Mörder bin. Aber seit ich dir die Schuld zurückgegeben habe wie eine heiße Kartoffel, nimmst du mir das mühelos ab und fragst mich sogar, warum ich sie umgebracht habe. Jetzt wärst du zu allem bereit, Hauptsache, du wirst von deiner Unschuld überzeugt.« »Antworten Sie: Warum haben Sie Isabelle getötet?« »Ich antworte nicht auf falsch gestellte Fragen. Es müßte heißen: Warum habe ich meine Frau getötet?« »Für diese Frage besteht kein Grund.«
»Du glaubst immer noch nicht, daß ich du bin?« »Nie und nimmer.« »Sonderbar, diese Ich-Religion: ›Ich bin ich, nichts als ich und nichts anderes als ich. Ich bin ich, also bin ich nicht der Stuhl, auf dem ich sitze, und nicht der Baum, den ich betrachte. Ich unterscheide mich deutlich vom Rest der Welt, ich bin auf die Grenzen meines Körpers und meines Geistes beschränkt. Ich bin ich, also bin ich nicht dieser Herr, der vorbeikommt, vor allem wenn dieser Herr der Ansicht ist, der Mörder meiner Frau zu sein.‹ Komisches Glaubensbekenntnis!« »Ja, wirklich sehr komisch, hahaha.« »Ich frage mich, wie ihr das mit dem Denken anstellt, du und deinesgleichen. Das muß euch doch durcheinanderbringen, so ein mentaler Strom, der fließt, wohin er will, und in jeden Menschen eindringen kann. Und dennoch kommt dieses Denken aus deinem kleinen Ich. Das ist zum Fürchten, weil es deine inneren Mauern bedroht. Gott sei Dank haben die meisten Menschen eine Abhilfe gefunden: Sie denken nicht. Warum auch? Sie lassen denken, von Philosophen und Dichtern, weil sie meinen, Denken sei deren Beruf. Das ist um so praktischer, als man die Schlußfolgerungen nicht ernst nehmen muß. Da kann ein großartiger Philosoph vor dreihundert Jahren das Ich für hassenswert erklären oder ein wunderbarer Dichter des letzten Jahrhunderts behaupten, Ich sei ein anderer – das ist ja ganz hübsch, darüber diskutiert man in den Salons, aber es tangiert nie die beruhigende Gewißheit: Ich bin ich,
du bist du, und jeder bleibt bei sich.« »Ein Beweis, daß ich nicht Sie bin: Ihr Mundwerk läuft wie geschmiert.« »Das kommt davon, wenn man dem inneren Feind zu lange das Maul stopft: Schafft er es endlich, das Wort zu ergreifen, gibt er es nicht mehr her.« »Noch ein Beweis, daß ich nicht Sie bin: Als ich mir vorhin die Ohren zuhielt, hab ich Sie nicht mehr gehört.« »Darin bist du doch geübt: Du hast mich zig Jahre lang nicht gehört, ohne dir die Ohren zuzuhalten.« »Noch ein Beweis, daß ich nicht Sie bin: Ich habe keinen Schimmer von Jansenismus und solchem Zeugs. Sie sind viel gebildeter als ich.« »Nein, ich bin nur der Teil von dir, der nichts vergißt. Das ist der einzige Unterschied. Wenn die Leute ein Gedächtnis hätten, würden sie sich von lauter Sachen reden hören, von denen sie meinten, keinen Schimmer zu haben.« »Noch ein Beweis, daß ich nicht Sie bin: Ich hasse Erdnußbutter.« Textor barst fast vor Lachen. »Daß du das als Beweis anführst, mein Lieber, ist sehr aufschlußreich!« »Aber wahr. Mir graust davor. Was sagen Sie jetzt? Das paßt Ihnen gar nicht, oder?« »Ich werde dir etwas sagen: Der Teil von dir, der behauptet, daß er Erdnußbutter haßt, ist derselbe, der nach den Hotdogs vom Boulevard de Ménilmontant giert, aber es nie wagen würde, sich einen zu kaufen.«
»Was erzählen Sie da?« »Ein Herr, der zu Geschäftsessen geht, wo BabySteinbutt an Gemüsejulienne und ähnliches Chichi serviert wird, tut grundsätzlich so, als wüßte er nichts von dem Proll in sich, der davon träumt, sich den Wanst mit all den Schweinereien vollzuschlagen, von denen der Herr nur mit Abscheu spricht, mit Erdnußbutter zum Beispiel und mit den Hot-dogs vom Boulevard de Ménilmontant. Du warst oft mit deiner Frau auf dem Friedhof Père-Lachaise. Sie mochte die schönen Bäume, die sich von den Toten nährten, und die Gräber der geliebten jungen Mädchen. Du mochtest eher den Duft der brutzelnden Würste von nebenan. Natürlich wärst du lieber im Erdboden versunken, als dir das einzugestehen. Doch ich bin der Teil von dir, der sich nie versagt, worauf er wirklich Lust hat.« »Was für ein Unsinn!« »Du solltest das nicht verleugnen. Immerhin verbirgst du da einen sympathischen Zug.« »Ich verberge überhaupt nichts, Monsieur.« »Hast du Isabelle geliebt?« »Ich liebe sie immer noch wie ein Wahnsinniger.« »Und überläßt einem anderen das Privileg, sie getötet zu haben?« »Das ist doch kein Privileg!« »Doch. Wer sie getötet hat, hat sie am meisten geliebt.« »Nein! Falsch geliebt.« »Falsch, aber mehr.« »Niemand hat sie mehr geliebt als ich.«
»Das sage ich doch die ganze Zeit.« »Lassen Sie mich raten: Sie sind ein besessener Sadist, der über jeden Witwer, dessen Frau ermordet wurde, eine Akte anlegt. Ihre Leidenschaft besteht darin, den Unglücklichen zu verfolgen, um ihn von seiner Schuld zu überzeugen, als ob er nicht schon genug zu leiden hätte.« »Komm, Jérôme, das wäre doch dilettantisch! Richtig quälen kann man nur, wenn man sich auf ein einziges Opfer, einen Auserwählten beschränkt.« »Dann geben Sie wenigstens zu, daß Sie und ich nicht identisch sind.« »Das habe ich nie behauptet. Ich bin der Teil von dir, der dich zerstört. Bei allem, was wächst, wächst auch die Fähigkeit zur Selbstzerstörung. Das bin ich.« »Sie langweilen mich.« »Dann halt dir doch die Ohren zu.« Angust tat wie geheißen. »Hast du's gemerkt? Es funktioniert nicht mehr.« Jérôme preßte fester. »Sei doch nicht so stur! Nebenbei bemerkt: So erlahmst du viel schneller. Ich habe es dir schon gesagt: Warum reckst du die Arme hoch? Das sieht ja aus, als ob einer mit dem Revolver auf dich zielte. Man muß sich die Ohren von unten zuhalten, Ellbogen an die Brust. In dieser Position hält man sehr lange durch. Wenn du das vorhin schon gewußt hättest! Ich frage mich auch, warum du es nicht wußtest, aber das ist jetzt nicht mehr wichtig.« Matt ließ Angust die Arme sinken.
»Da siehst du, daß du ich bist. Die Stimme, die du hörst, kommt aus deinem Kopf. Du kannst vor meinen Worten nicht davonlaufen.« »Ich habe jahrzehntelang gelebt, ohne Sie zu hören. Ich werde ein Mittel finden, Sie zum Schweigen zu bringen.« »Wirst du nicht. Es gibt kein Zurück mehr. Was hast du am Freitag, den 24. März 1989, um 17 Uhr gemacht? Oh, ich weiß, die Polizei hat dir diese Frage bereits gestellt.« »Und denen stand es auch zu.« »Bei dir steht mir alles zu.« »Wenn Sie wissen, daß die Polizei mir diese Frage stellte, müssen Sie auch die Antwort kennen.« »Ja: Du warst bei der Arbeit. Ihr Vertrauen muß recht groß gewesen sein, daß sie dir dieses schwache Alibi abgenommen haben: Er kann es noch gar nicht glauben, der arme Mann ist doch völlig fertig und am Boden zerstört.« »Sie können mir alles einreden, nur nicht, daß ich Isabelle ermordet habe.« »Dein Mangel an Stolz ist bemerkenswert. Da werden dir schon zwei Rollen angeboten, die des unschuldigen Opfers und die des Mörders, und du beschließt, mit alldem lieber nichts zu tun zu haben!« »Ich beschließe nichts, ich halte mich nur an die Fakten.« »Die Fakten? Daß ich nicht lache! Du wagst es, mir ins Gesicht zu sagen, daß du dich erinnerst, den ganzen Nachmittag im Büro verbracht zu haben?«
»Ja, ich erinnere mich genau!« »Dein Fall ist ja schwieriger, als ich dachte.« »Und was soll ich von Ihnen halten? Sie wechseln die Versionen wie die Hemden! Wie war das noch mit dem langen Gespräch, das Sie mit Isabelle geführt haben wollen?« »Du hast noch viel mehr fiktive Unterredungen mit ihr gehabt. Wenn man liebt, spricht man in Gedanken mit dem geliebten Menschen.« »Und was Sie mir aus Ihrer Vergangenheit erzählten, der Tod Ihrer Eltern, der geistige Mord an Ihrem Mitschüler, die Katzenfuttergeschichte – was ist damit?« »Du warst bereit, alles mögliche zu erfinden, um dich glauben zu machen, daß ich ein anderer bin.« »Das ist mir zu einfach. Mit dem Argument können Sie die unwahrscheinlichsten Dinge erklären.« »Das ist normal. Ich bin dein diabolischer Teil. Und der Teufel weiß auf alles eine Antwort.« »Das macht ihn nicht unbedingt glaubhafter. Apropos, das mit der Reise nach Barcelona – ist das nun auf Ihrem Mist gewachsen?« »Nein, nein. Genausowenig wie die Verspätung. Ich habe weder bei deinem Chef noch beim Flughafen angerufen.« »Wozu dann diese Lügen?« »Um dich zu knacken. Wenn du mich da getötet hättest, wären dir diese peinlichen Enthüllungen erspart geblieben.« »Und warum am Flughafen?« »Wegen der Verspätung. Du warst für unbestimmte
Zeit zum Warten gezwungen, also endlich einmal wirklich frei. Menschen wie du werden erst in Momenten des Unvorhergesehenen und Leeren empfänglich. Dazu kam das Datum, der zehnte Jahrestag, der heute früh dein Unbewußtes streifte. Da warst du bereit, die Augen zu öffnen. Jetzt ist es zu spät: Der Virus hat deinen mentalen Computer infiziert. Deshalb hörst du mich auch, wenn du dir die Ohren zuhältst.« »Dann erzählen Sie mir, was passiert ist!« »Hast du es auf einmal eilig!« »Wenn ich Isabelle getötet habe, möchte ich wenigstens wissen, warum.« »Weil du sie geliebt hast. Jeder tötet, was er liebt.« »Ich komme also nach Hause und ramme meiner Frau mehrmals ein Messer in den Bauch, nur so, ohne Grund?« »Aus keinem anderen Grund als der Liebe, die alles mit sich ins Verderben reißt.« »Hübsche Phrasen, nur daß sie für mich keinen Sinn ergeben.« »Für mich, den du in dir hast, aber schon. Man sollte sich da nichts vormachen: Selbst der verliebteste Mann – gerade er – verspürt irgendwann einmal, vielleicht auch nur für einen Moment, den Wunsch, seine Frau umzubringen. Ich bin dieser Moment. Den meisten gelingt es, diesen Aspekt ihres unterirdischen Wesens so weit auszublenden, daß sie glauben, es gäbe ihn nicht. Dein Fall ist spezieller: Du bist dem Mörder, der in dir steckt, noch nie begegnet. Ebensowenig wie dem heimlichen Hot-
dog-Esser und dem Mann, der nachts von Vergewaltigungen auf Friedhöfen träumt. Dank eines mentalen Unfalls stehst du ihm heute Auge in Auge gegenüber. Und was tust du? Du glaubst ihm erst einmal nicht.« »Sie haben keine handfesten Beweise für Ihre Behauptungen. Warum sollte ich Ihnen also Glauben schenken?« »Handfeste Beweise sind so plump und dumm, daß sie den Glauben eher erschüttern sollten als festigen. Was sagst du dazu: Am Freitag, den 24. März 1989, kommst du um siebzehn Uhr unerwartet nach Hause. Isabelle ist nicht sehr überrascht, aber sie findet dich sonderbar. Und das aus gutem Grund: Zum ersten Mal begegnet ihr Textor Texel. Das bist du und doch nicht du. Dich mögen die Frauen – mich nicht. Du bist Isabelle an diesem Tag zuwider, sie weiß nicht, warum. Du sagst kein Wort, stierst sie bloß an mit diesem perversen, besessenen Blick, meinem Blick. Du umarmst sie – sie entwindet sich angewidert. Du versuchst es noch einmal. Sie weicht zurück, um dir ihre Weigerung deutlich zu zeigen. Sie setzt sich aufs Sofa und schaut dich nicht mehr an. Du hältst es nicht aus, daß sie mit Textor Texel nichts zu schaffen haben will. Du gehst in die Küche und nimmst das größte Messer. Sie ist gar nicht mißtrauisch, als du dich ihr näherst. Du stichst mehrmals zu. Die ganze Zeit über fällt kein einziges Wort.« Schweigen. Schließlich sagte Jérôme hartnäckig: »Ich kann mich daran nicht erinnern.«
»Was heißt das schon! Ich kann es jedenfalls.« »Vorhin haben Sie mir noch eine ganz andere Version aufgetischt. Ich bin gespannt auf Ihre dritte, vierte ... « »Ich habe dir Textor Texels Version erzählt, die der von Jérôme Angust nicht widerspricht. Du warst deiner Frau an diesem Tag zuwider, weil sie das Monster in dir erkannte, das sich an Träumen von Vergewaltigungen ergötzt. Deine Version ist ein Stummfilm, in meiner ist der stumme Dialog zwischen Textor Texel und Isabelle untertitelt. Außerdem lasse ich Adam und Eva auftreten. Das paßt, weil es in der Genesis auch zwei Versionen gibt. Kaum ist der Erzähler mit dem Bericht vom Sündenfall fertig, fängt er noch einmal von vorn an und erzählt die Geschichte anders. Fast so, als hätte er Spaß daran.« »Ich nicht.« »Pech für dich. Nach dem Mord gingst du zurück ins Büro, das Messer hattest du bei dir. Und wurdest still und heimlich wieder zu Jérôme Angust. Nun war alles gut. Du warst glücklich.« »Zum letzten Mal in meinem Leben.« »Um zwanzig Uhr gingst du nach Hause wie einer, der sich aufs Wochenende freut.« »Ich öffnete die Tür und entdeckte die Bescherung.« »Die du schon kanntest: Du hattest sie schließlich angerichtet.« »Ich brüllte vor Entsetzen und Verzweiflung. Die Nachbarn kamen angelaufen. Sie riefen die Polizei.
Beim Verhör war ich wie vor den Kopf geschlagen, total verblödet. Der Schuldige ist nie gefunden worden.« »Wenn ich dir doch sage, du hast das perfekte Verbrechen begangen!« »Das perverseste überhaupt, ja.« »Du bist lustig. Blas dich bloß nicht so auf! Da hält sich der kleine Angestellte, der eben erfahren hat, daß er der Mörder seiner Frau ist, auf einmal für ein verkommenes Subjekt – das ist der reine Größenwahn. Du bist nichts weiter als ein Amateur, vergiß das nicht.« »Sie, Sie, ich hasse Sie, egal ob Sie ich sind oder nicht!« »Immer noch Zweifel? Los, nimm dein Handy, ruf deine Sekretärin an!« »Was will ich denn von ihr?« »Tu, was ich dir sage!« »Ich will es wissen!« »Wenn du so weitermachst, ruf ich sie an.« Angust nahm sein Handy heraus und wählte eine Nummer. »Catherine? Jérôme hier. Ich störe doch nicht?« »Sie soll in der linken untersten Schublade deines Schreibtischs unter dem Haufen Papiere nachsehen.« »Könnten Sie mir bitte einen Gefallen tun und in der linken untersten Schublade meines Schreibtischs nachsehen, unter dem Papierstapel? Ich warte, danke, ja, ich bleib dran.« »Und was, meinst du, wird die liebe Catherine dort finden?«
»Keine Ahnung. Ich habe die Lade nicht mehr geöffnet seit ... Hallo, ja, Catherine? Ah. Vielen Dank. Ich habe es vor einiger Zeit verlegt. Verzeihen Sie bitte die Störung. Bis bald!« Angust beendete die Verbindung. Er war aschfahl. »Tja«, sagte Textor lächelnd, »das Messer. Seit zehn Jahren liegt es dort, ganz hinten in der Lade. Tadellos gemacht übrigens, Kompliment. Deine Stimme klang völlig unbewegt. Catherine hat bestimmt nichts gemerkt.« »Das beweist gar nichts. Sie haben das Messer dort versteckt.« »Ja, das war ich.« »Sie gestehen es also!« »Ich habe es doch schon lange gestanden.« »Sie haben gewartet, bis Catherine ihren Platz verließ, dann sind Sie in mein Büro geschlichen ... « »Hör auf damit! Ich bin du. Ich habe es nicht nötig, heimlich in dein Büro zu schleichen.« Angust verbarg seinen Kopf in den Händen. »Wenn Sie ich sind, warum kann ich mich dann an das, was Sie erzählen, nicht erinnern?« »Nicht nötig. Ich bewahre dein Verbrechen an deiner Statt im Gedächtnis.« »Gab es noch andere?« »Reicht dir das nicht?« »Sie dürfen mir nichts verheimlichen.« »Nur mit der Ruhe! Du hast außer Isabelle niemanden in deinem Leben geliebt. Also hast du auch nur sie getötet. Du fandest sie auf einem Friedhof und brachtest sie an den Ort eurer ersten Begegnung
zurück.« »Ich kann es nicht glauben. Ich liebte Isabelle mehr, als Sie sich vorstellen können.« »Ich weiß. Meine Liebe war ja dieselbe. Und wenn du es nicht glauben kannst, mein lieber Jérôme, denk dran, daß es ein äußerstes, unfehlbares Mittel gibt, meine Behauptungen zu überprüfen.« »Und zwar?« »Siehst du das nicht selbst?« »Nein.« »Immerhin bitte ich dich schon seit geraumer Zeit darum.« »Sie zu töten?« »Ja. Wenn du mich getötet hast und noch am Leben bist, weißt du, daß dich am Tod deiner Frau keine Schuld trifft.« »Aber an Ihrem.« »Man muß etwas wagen im Leben.« »Ja, in dem Fall das Leben.« »Das ist ein Pleonasmus. Wagen heißt Leben. Man kann nichts wagen außer dem Leben. Und wenn man es nicht wagt, lebt man nicht.« »Wenn ich es wage, sterbe ich!« »Wenn du es nicht wagst, stirbst du um so eher.« »Sie scheinen mich nicht zu verstehen. Wenn ich Sie töte und Sie nicht ich sind, verbringe ich den Rest meines Lebens im Gefängnis.« »Wenn du mich nicht tötest, verbringst du den Rest deines Lebens in einer Folterkammer: deinem Hirn, das nicht aufhören wird, dich mit der Frage zu quälen, ob du nun deine Frau getötet hast oder nicht.«
»Aber ich wäre wenigstens frei.« Textor brüllte vor Lachen. »Frei? Du? Frei? Du fühlst dich frei? Dein Leben zerstört, die Arbeit – nennst du das frei? Und das war erst der Anfang. Wie willst du denn frei sein, wenn du ganze Nächte damit zubringst, den Verbrecher in dir zu jagen? Wovon, meinst du, wärst du frei?« »Das ist ein Alptraum«, sagte Angust. »Ja, es ist ein Alptraum, aber es gibt einen Ausweg. Und zwar nur einen. Der ist dafür sicher.« »Wer auch immer Sie sind, Sie haben mich in die auswegloseste Situation gebracht, die man sich denken kann.« »Dahin hast du dich ganz allein gebracht, mein lieber Freund.« »Hören Sie endlich mit diesen Vertraulichkeiten auf, das ist ja unerträglich!« »Ach, Monsieur Jérôme Angust ist sich wohl zu gut für das Du?« »Sie haben mein Leben verpfuscht. Reicht Ihnen das nicht?« »Daß Menschen immer andere anklagen müssen, ihr Leben zerstört zu haben! Wo sie das doch selbst so gut können, ganz ohne fremde Hilfe.« »Schweigen Sie.« »Du schätzt es nicht, wenn man dir die Wahrheit sagt, hm? Im Grunde weißt du genau, daß ich recht habe. Du weißt, daß du deine Frau getötet hast. Du fühlst es.« »Ich fühle nichts!« »Wenn du nicht den geringsten Zweifel hättest,
wärst du jetzt nicht in diesem Zustand.« Texel begann zu lachen. »Sie lachen?« »Du müßtest dich sehen. Dein Leiden ist kläglich.« Angust barst vor Haß. Eine tobende Kraft schoß wie ein Geysir aus seinen Eingeweiden hoch bis in Nägel und Zähne. Er sprang auf und packte seinen Feind am Revers. »Sie lachen noch immer?« »Ich frohlocke!« »Fürchten Sie den Tod nicht?« »Und du, Jérôme?« »Ich fürchte mich vor gar nichts mehr.« »Das wurde aber auch Zeit.« Angust stieß Texel gegen die nächste Wand. Die Zuschauer kümmerten ihn nicht. In ihm war nur noch Platz für seinen Haß. »Sie lachen noch immer?« »Du siezt mich noch immer?« »Krepier!« »Endlich!« jauchzte Textor. Angust nahm den Kopf seines Feindes in die Hände und rammte ihn gegen die Wand. Wieder und wieder ließ er den Schädel krachen und schrie: »Frei! Frei! Frei!« Und noch einmal und noch einmal. Er jubilierte. Als Texels schwarze Birne platzte, war Jérôme zutiefst erleichtert. Er ließ den Kadaver fallen und ging.
Am 24. März 1999 beobachteten Passagiere, die auf ihren Abflug nach Barcelona warteten, einen unglaublichen Vorfall. Das Flugzeug hatte schon fast drei Stunden Verspätung, als einer der Reisenden plötzlich von seinem Platz aufsprang und mit seinem Kopf immer wieder gegen eine Wand des Wartesaals rannte. Er war von einer so außerordentlichen Gewalt getrieben, daß niemand es wagte, sich ihm entgegenzustellen. So fuhr er fort, bis daß der Tod eintrat. Die Augenzeugen dieses unerhörten Selbstmords hoben vor allem ein Detail hervor: Jedesmal, wenn sein Kopf an die Wand schlug, habe der Mann gebrüllt, und zwar: »Frei! Frei! Frei!«
ZENTAUR 2004·09·22