Uta Schaffers Konstruktionen der Fremde
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Uta Schaffers Konstruktionen der Fremde
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spectrum Literaturwissenschaft / spectrum Literature Komparatistische Studien / Comparative Studies
Herausgegeben von / Edited by Angelika Corbineau-Hoffmann · Werner Frick
Wissenschaftlicher Beirat / Editorial Board Sam-Huan Ahn · Peter-Andre´ Alt · Aleida Assmann · Francis Claudon Marcus Deufert · Wolfgang Matzat · Fritz Paul · Terence James Reed Herta Schmid · Simone Winko · Bernhard Zimmermann Theodore Ziolkowski
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Uta Schaffers
Konstruktionen der Fremde Erfahren, verschriftlicht und erlesen am Beispiel Japan
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit Unterstützung des Fördervereins japanisch-deutscher Kulturbeziehungen e.V., Köln (JaDe).
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13: 978-3-11-018862-2 ISBN-10: 3-11-018862-7 ISSN 1860-210X Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort Die Arbeit wurde im Mai 2005 von der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Habilitationsschrift im Bereich Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik anerkannt. Von ihrem ausgewählten Gegenstand her berührt die Untersuchung punktuell auch japanologische Aspekte. Ich habe mich bemüht, in dieser Hinsicht fachlichen Rat und Unterstützung einzuholen; etwaige Unstimmigkeiten habe ich selbst zu verantworten. Im Falle der Verwendung japanischer Termini werden diese in Minuskeln und kursiv gedruckt, es sei denn, es handelt sich um Begriffe, die im deutschen Sprachraum bereits im allgemeinen Sprachgebrauch Verwendung finden (wie z.B. „Geisha“). Japanische Personennamen werden nach der in Japan üblichen Reihenfolge mit dem Nachnamen zuerst angegeben. Nur bei Nennung des Vor- und Nachnamens wird der Nachname zudem in Kapitälchen gesetzt, so etwa auch im Literaturverzeichnis. Vielen ist dafür zu danken, dass dieses Buch entstehen konnte. An erster Stelle soll Prof. Dr. Erich Schön genannt werden, der meine Arbeit in jeder Hinsicht aufmerksam und kritisch sowie geduldig und freundschaftlich begleitet hat; dafür möchte ich ihm ausdrücklich danken. Bereichernde und herausfordernde Anregungen verdanke ich zudem Prof. Dr. Hugo Aust. Fachlichen Rat in japanologischen Fragen und stete Ermutigung fand ich bei Prof. Dr. Franziska Ehmcke; Prof. Dr. Simone Winko hat sich in mehr als einer Hinsicht für mich und diese Arbeit eingesetzt. Das Forschungskolloquium am Lehrstuhl für deutsche Literatur und ihre Didaktik hat einzelne Phasen der Entstehung der Arbeit begleitet, stellvertretend möchte ich Gesine Boesken für die genaue und kritische Lektüre danken. Dem Literaturarchiv der Stiftung Akademie der Künste, namentlich Frau Franka Köpp, sowie Frau Eva Moreau als Rechtsinhaberin danke ich für die freundliche Unterstützung im Zusammenhang mit der Einsicht in und die Publikation aus einigen Manuskripten Bernhard Kellermanns und Walter Ruprechter für den aufschlussreichen Austausch im Zusammenhang mit der Japan-Reise Gerhard Roths. Als wegweisend erwies sich mein Aufenthalt in Japan und meine Tätigkeit als Gastforscherin am Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Philosophischen Fakultät der Keio-Universität in Tôkyô. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal der Keio-Universität sowie den Kolleginnen und Kollegen am
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Vorwort
Institut für ihre großzügige und freundliche Unterstützung und die vielfältigen fachlichen Anregungen danken. In meiner Familie fand ich stets die nötige Ermutigung und Hilfe, um das Projekt fortsetzen zu können. In den Jahren der Entstehung dieses Buches hat sich ganz besonders der Dialog mit meinem Mann, Andreas Niehaus, als inspirierend erwiesen, der mir fachlich und menschlich unermüdlich und mit der nötigen Portion Humor zur Seite stand. Ihm möchte ich diese Arbeit gerne widmen. Gent, 2006
Uta Schaffers
Inhaltsverzeichnis Vorwort ........................................................................................................................... V 1
Einleitung ........................................................................................................... 1
2
Fremde und Fremderfahrung ................................................................. 21
2.1 2.2 2.3
Die Kategorie Fremde ....................................................................................... 22 Exotismus ............................................................................................................ 28 Fremdwahrnehmung und Fremderfahrung ................................................... 32
3
Die Fremde als Sehnsuchtsraum: Japan im Werk Bernhard Kellermanns ............................................ 40
3.1 3.1.1 3.1.2
Einführung .......................................................................................................... 40 Reisen, Schreiben, Lesen ................................................................................... 40 Die japanbezogenen Werke Bernhard Kellermanns .................................... 55
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6
Ein Spaziergang in Japan – Der Reisende als Zuschauer ................................ 58 Themen und Gestaltungsform ......................................................................... 58 Struktur und Konzeption ................................................................................. 66 Erwartungen und Vorstellungsbilder ............................................................. 78 Der Reisende als Zuhörer ................................................................................. 83 Der Reisende als Zuschauer ............................................................................. 85 Die Fremde auf der Bühne ............................................................................... 95
3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6
Sassa yo Yassa – Der Gast als Lernender und Vermittler ........................... 101 Einführung ........................................................................................................ 101 Struktur und Konzeption ............................................................................... 103 Bilder und Imaginationen ............................................................................... 114 Wahrnehmungseindrücke ............................................................................... 121 Lernen durch Zusehen – Zusehen als Kunst .............................................. 122 Authentizität und Fiktion: Darstellungsstrategien ...................................... 124
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Inhaltsverzeichnis
3.4 Abenteurer – Der Gestrandete in der feindlichen Fremde ......................... 132 3.4.1 Einführung ........................................................................................................ 132 3.4.2 Konkrete Fremde und abstrakte Heimat ..................................................... 137 3.4.3 Konkrete Heimat und abstrakte Fremde ..................................................... 143
4
Die Fremde als Lebens- und Erfahrungswelt: Briefe aus Japan in die Heimat ........................................................... 149
4.1 4.2
Einführung ........................................................................................................ 149 Als Fremde in der Fremde – Das Briefmaterial ......................................... 164
Exkurs 1: Überlegungen zu: interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität ......................................................................................... 171 4.3 Briefe aus der Fremde ..................................................................................... 189 4.3.1 Funktionen des Schreibens ............................................................................. 190 4.3.2 Das Gespräch mit den Daheim-Gebliebenen ............................................. 193 4.4 Japan in den Briefen aus der Fremde ........................................................... 199 4.4.1 Der Vermittlungsstil ........................................................................................ 202 4.4.2 Lektüre, Erwartung und Erfahrung .............................................................. 205 4.4.3 Mitteilungen über Japan .................................................................................. 211
5
In der Fremde lesen ................................................................................. 219
5.1
Einführung ........................................................................................................ 219
5.2
Lesen in der Fremde ........................................................................................ 238
5.3 Die Fremde lesen ............................................................................................. 251 5.3.1 Die Fremde als ‚Lesestoff‘ .............................................................................. 254 5.3.2 Der ‚Leseprozess‘ ............................................................................................. 269
Exkurs 2: Überlegungen zu: Fremde – Verstehen? InterkulturelleHermeneutik und interkulturelles Lernen ................... 278 5.4 Die ‚fremde Schrift‘ ......................................................................................... 299 5.4.1 Fremdheit (in) der Sprache und Schrift ....................................................... 299 5.4.2 ‚Schriftmythen‘ ................................................................................................. 311 5.4.3 Ästhetisierung und Mystifizierung der ‚fremden Schrift‘ .......................... 323
Inhaltsverzeichnis
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IX
Zusammenfassung und bildungspragmatische Überlegungen ............................................................................................... 340
Literatur ....................................................................................................................... 346 Verzeichnis der Quellen ...................................................................................... 346 Sekundärliteratur ..................................................................................................... 352 Register ......................................................................................................................... 391
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Einleitung Begegnungen
„Berliner Zuschauer. Berlin, den 4. August. [...] Die drei Aerzte von der Japanesischen Gesandtschaft besuchten am Sonnabend Nachmittag die Simonsche Apotheke in der Spandauerstraße. Sie erschienen daselbst in Begleitung des Dolmetschers der Gesandtschaft und nahmen mit lebhaftem Interesse Kenntniß von den Einrichtungen der beiden getrennten Officinen, der allopathischen und homöopathischen, so wie des Laboratoriums. Außen auf der Straße hatte sich eine solche Masse Neugieriger angehäuft, daß zur Freihaltung der nöthigen Passage reitende Schutzmänner in Thätigkeit sein mußten.“ (Neue Preußische Zeitung, Nr. 180, vom 5. August 1862)1 Die Neue Preußische Zeitung berichtete interessierten Lesern der Rubrik „Berliner Zuschauer“ im Juli und August des Jahres 1862 fast täglich über jeden Schritt der Mitglieder der ersten japanischen Delegation in Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt hatte man in Deutschland bereits viel über Japan gehört, über das Land, das sich erst 1853/54, nach einer über 200 Jahre anhaltenden Periode der nahezu vollständigen Abschottung vom Ausland (ab 1639), dem Handel und dem Kontakt mit westlichen Ländern öffnete.2 In den Folgejahren schloss sich ein reger Import westlichen Gedankengutes in den Bereichen Erziehung, Militär, Politik, Recht, Medi_____________ 1 2
Vgl. auch Zobel 2002, 26f. Der amerikanische Commodore Matthew Perry tauchte am 8. Juli 1853 mit einem Geschwader von vier Schiffen zum ersten Mal an der japanischen Küste auf. Am 15. Februar 1854 kam er zum zweiten Mal, diesmal mit sieben Schiffen, und erzwang nach mehrwöchigen Verhandlungen den ersten japanisch-amerikanischen Handelsvertrag. Unter der Androhung von Kriegshandlungen wurden diese ersten Verträge mit Amerika 1858 noch erweitert. Diese Erweiterung beinhaltete u.a. die zusätzliche Öffnung japanischer Häfen und wichtiger Städte für den Handel zwischen den USA und Japan, was für Japan große innenpolitische Probleme nach sich zog, da der Zugang der Ausländer in diese Städte mit Sorge und Argwohn betrachtet wurde. Außerdem pochten nun auch andere Länder auf ihr ‚Recht‘, einen ebenso exklusiven Zugang zu dem Land mit ähnlich günstigen Verträgen wie die USA zu erhalten. Die japanische Delegation von 1861/62 kam nun nach Europa mit dem schwierigen Auftrag, bei den Vertragspartnern einen Aufschub der Öffnung dreier großer Städte zu erreichen. Daneben nutzten die Delegierten ihre Reise, um sich über Wissenschaft und Technik in Europa zu informieren sowie für einen Besuch bei der Präsentation Japans auf der Weltausstellung 1862 in London. Vgl. Zobel 2002, 1-16. Ein Bericht über die Reise aus japanischer Sicht findet sich in den Aufzeichnungen eines Teilnehmers, FUKUZAWA Yukichi [1898] 1971, 145-163. Zum Japanbild in der deutschen Presse vgl. auch Mathias-Pauer in: Kreiner (Hg.) 1984, 121-132.
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1 Einleitung
zin, Wissenschaft und Forschung sowie Kunst und Literatur an. Nach 1854 begann eine zunehmende Reisetätigkeit, der Ausbau der Handelsbeziehungen sowie die Einladung westlicher Experten auf den verschiedensten Gebieten durch die japanische Regierung, was den Aufenthalt vieler Deutschsprachiger in Japan bzw. Japaner im Ausland mit sich brachte. Zwar gab es bereits aus der Zeit, als das Land christlichen Missionaren offen stand (1543 bis 1639) Nachrichten aus Japan, und der Bericht Engelbert Kaempfers prägte das europäische Japanbild bis ins 19. Jahrhundert hinein,3 aber erst nach der Öffnung waren die ersten Kulturkontakte zwischen Japan und Deutschland „unmittelbar lebensweltlich: Das Fremde war plötzlich und schockartig präsent.“ (Höppe 2000, 2) So riefen schon die Mitglieder der ersten preußischen Gesandtschaft in Japan im Jahr 1860 ein ähnliches Interesse in der Öffentlichkeit hervor wie zwei Jahre darauf die „Japanesen in Berlin“ (Zobel 2002, 1). Graf Friedrich Albrecht zu Eulenburg, der Leiter der Ostasienexpedition, berichtet in einem Brief an die Familie seines Bruders: „Alles stürzte aus den Häusern, um uns anzustaunen und helles Gelächter begleitete uns straßenweise. Wir müssen ihnen doch grade so komisch vorkommen, wie Japaner uns in Berlin erscheinen würden.“ (zu Eulenburg [1860] zit. n. Stahncke (Hg.) 2000, 103).4 Im Jahr 1998 berichtet Uwe Schmitt seinen Lesern in seinem mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichneten Artikel Wer aus dem Staunen herauskommt, muß gehen. Über einen Selbstversuch in Japan oder: Was eine Kultur aus einem macht von seinen Erfahrungen als Auslandskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Tôkyô: „Es hat wohl seine Gründe, weswegen man sich selbst in keinem anderen Land so rasch aus den Augen verliert und seine Form vergißt wie in Japan. Das Erlebnis überwältigender Fremdheit ist es nicht. Sie mag ja auch anderswo zu verkraften sein, wo sie _____________ 3
4
Kaempfer, Engelbert: Geschichte und Beschreibung von Japan. Aus den Originalhandschriften des Verfassers herausgegeben von Christian Wilhelm Dohm. 2 Bde. Lemgo 1777 und 1779. Kritische Ausgabe: ders.: Heutiges Japan Hg. v. Wolfgang Michel und Barend J. Terwiel. München 2001. Vgl. dazu u.a. Osterhammel in: Brenner (Hg.) 1989, 235f. sowie Vollhardt in: von Ertzdorff; Giesemann (Hgg.) 2003, 521-541. Zur Rezeption Kaempfers in der europäischen Aufklärung vgl. Kapitza 2001. Die erste preußische Gesandtschaft in Japan, die am 04.09.1860 in Edo (heutiges Tôkyô) anlandete, kam mit handfesten handels- und machtpolitischen Interessen: Neben dem Wunsch einer Markierung der preußischen Vormachtstellung in Bezug auf Österreich sollte es zu einem Abschluss von Handelsverträgen zwischen Japan und Preußen sowie seinen Verbündeten (mehr als vierzig Staaten des Deutschen Zollvereins und drei Hansestädte) kommen. Die Vertragsverhandlungen erwiesen sich als ausgesprochen schwierig und führten nicht in jeder Hinsicht zum gewünschten Erfolg (vgl. Zobel 2002, 7ff. sowie Kreiner in: ders. (Hg.) 40ff.; zu der Aufgabe der Expedition, „überseeische Territorien“ für „preußische Ansiedlungen“ zu finden, ebd., 42).
1 Einleitung
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nicht solche Furchen ins Selbstbewußtsein gräbt. [...] Nirgendwo sonst fordert eine Nation damit heraus, so fremd und so reich zu sein.“ (Schmitt [1997] 1998, 293) Die beiden Mitteilungen aus der deutschen Presse spiegeln bzw. reflektieren eine Wahrnehmung der anderen, der japanischen Kultur und ihrer Angehörigen. In dem Bericht der Neuen Preußischen Zeitung aus dem Jahr 1862 ist diese Wahrnehmung von Staunen und Distanz geprägt. Für die „Masse Neugieriger“ handelt es sich um den ersten unmittelbaren Kontakt mit der japanischen Kultur,5 und so werden die Japaner in Berlin zum Schaustück: Ein Menschenauflauf bildet sich, jeder möchte sie mit eigenen Augen sehen, es geht um die Befriedigung von Neugier und Sensationslust. Uwe Schmitt hingegen lebte sieben Jahre lang als Deutscher in Japan, das Land und seine Menschen waren Gegenstand seines Schreibens. Das ‚Eigene‘ ist inzwischen Teil der Betrachtung und Beschreibung der anderen Kultur geworden. Die berichtete Erfahrung von Fremdheit bezieht sich hier sowohl auf die Erfahrung (in) der anderen Kultur als auch auf die verstörende Erfahrung, das vermeintlich Eigene in der Fremde „aus den Augen“ zu verlieren und sich selbst fremd zu werden.6 Konstruktionen Auch nach vielen Jahren des intensiven Kulturkontaktes, im Zeitalter der Massenmedien, des Tourismus und der sogenannten Globalisierung wird Fremdheit zwischen der deutschen und der japanischen Kultur als eine zentrale Kategorie im Rahmen der Beschreibung herangezogen. Offensichtlich machen Menschen in der Begegnung mit anderen Kulturen7 trotz _____________ 5 6
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Zur Darstellung von ‚Erstkontakten‘ vgl. Daus in: Gernig 2001, 94-116. Die sich im Zitat von Uwe Schmitt außerdem andeutende irritierende Erfahrung der Fremdheit Japans, die darauf basiert, dass sich diese Gesellschaft als eine fernöstliche und kapitalistische nicht mit den gängigen und hierarchisierenden Wahrnehmungs- und Einordnungskategorien europäischer Positionen fassen lässt, ist mehrfach beschrieben worden, vgl. z.B. Jarman 1998 oder Nagatani; Edgington (eds.) 1998. Im Zusammenhang mit der Entstehung und den Besonderheiten des japanischen Kapitalismus ist eine Auseinandersetzung mit dem Werk Max Webers fruchtbar. Hier bieten sich der japanischen und deutschen Forschung Anhaltspunkte, „mit denen sich die Entwicklung der japanischen Gesellschaft im Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne präziser“ beschreiben lässt. (Mommsen; Schwentker in: dies. (Hgg.) 1999, 12; auch wenn sich Weber in seinen religionssoziologischen Studien mit Japan konkret insgesamt auffallend wenig befasst [vgl. Weber 1998, 432-449]). Vgl. dazu sowie zur Weber-Rezeption in Japan und einer kritischen Revision von Webers japanbezogenen Schriften u.a. Mommsen; Schwentker (Hgg.) 1999 und Schwentker 1998. Zum Begriff Kultur vgl. Kapitel 4, Exkurs 1: Überlegungen zu: interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität.
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aller Informiertheit nach wie vor Fremderfahrungen. Der Begriff der Fremderfahrung verweist darauf, dass Menschen in bestimmten Zusammenhängen die Erfahrung von Fremde machen bzw. bestimmte Erfahrungen als Fremderfahrungen verbuchen. Hier deutet sich ein aktiver und ‚schöpferischer‘ Anteil des Einzelnen bei der Kennzeichnung einer Erfahrung als Fremderfahrung an. Eine weitergehende Betrachtung des Begriffs Fremd/Fremde zeigt die Kategorie Fremdheit insgesamt als ein ‚Interpretament der Andersheit‘ (vgl. Kapitel 2). Fremdheit ist kein objektives Merkmal einer Person, einer Sache oder einer Situation, sondern eine Zuschreibung durch das Subjekt und Ausdruck einer Beziehungsdefinition. (Im Folgenden soll bei der Verwendung der Begriffe ‚Fremde/s‘ und ‚Eigenes‘ der Einfachheit halber auf eine besondere Kennzeichnung, die den Zuschreibungscharakter der Begriffe markieren würde, weitestgehend verzichtet werden.). Der Begriff der Fremdheitskonstruktion, der in der vorliegenden Arbeit auch Verwendung findet, soll in diesem Zusammenhang den Blick auf den Prozess der ‚Herstellung‘ von Fremdheit lenken, der sich zunächst unter bestimmten kollektiven, individuellen, kulturspezifischen und historischen Paradigmen und Einflüssen in der unmittelbaren Wahrnehmung und Erfahrung des Subjekts vollzieht. Konstruktivistische Ansätze in den Sozialund Kulturwissenschaften verweisen auf die aktive Rolle des Menschen bei der Herstellung von jeweils subjektiv so empfundenen ‚Wirklichkeiten‘. Sie „sehen den Menschen als einen aktiven, eingreifenden und Realitätsmuster generierenden Beobachter, Teilnehmer und Akteur, der die Wirklichkeiten konstruiert, die zu ihm passen.“ (Reich in: Hug (Hg.) 2001, 356) Diese „Wirklichkeiten“ oder Wirklichkeitsauffassungen und -deutungen sollen hier jedoch nicht als willkürliche, beliebige und subjektivistische Konstruktionen und als letztlich nicht mehr kommunizierbar aufgefasst werden.8 Das Subjekt steht immer schon in einem historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext und ist Teil von Interaktionen und Verständigungsgemeinschaften. Seine Weltwahrnehmung, seine Konstruk_____________ 8
Diese Auffassung wird insbesondere mit dem Radikalen Konstruktivismus im Gefolge von Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld und den damit verbundenen theoretischen Implikationen in Verbindung gebracht (dazu: vgl. Einführung in den Konstruktivismus 20026; zur Diskussion des Begriffs Konstruktion aus konstruktivistischer Perspektive vgl. Schmidt in: Fischer; ders. (Hgg.) 2000, 80ff.). Reich macht darauf aufmerksam, dass innerhalb der Vielfalt der konstruktivistischen Ansätze im deutschsprachigen Raum dem Radikalen Konstruktivismus momentan ein sozialer oder kulturalistischer Konstruktivismus gegenübersteht, „für den eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze [...] bereitstehen.“ (Reich in: Hug (Hg.) 2001, 367) Zur Breite der Theoriebildung und zur Relevanz konstruktivistischer Ansätze für den aktuellen sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurs vgl. ebd., 356-376. Zur Kritik der „Entwertung der Wirklichkeitserfahrung“ in der postmodernen Theoriebildung und zur „neuen Sehnsucht nach Wirklichkeit“ vgl. das Sonderheft Merkur (2005): Wirklichkeit! Neue Wege in die Realität. Hg. v. Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel.
1 Einleitung
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tionen sowie seine Handlungen vollziehen sich auf der Basis von und in bewusster sowie unbewusster Auseinandersetzung mit diesen Kontexten.9 Verschriftlichung von Erfahrungen Die Verwendung des Terminus Konstruktion soll in der vorliegenden Untersuchung insbesondere auch das Gewordensein und das Werden, den kreativ-prozesshaften, entwerfenden Charakter von bestimmten Wahrnehmungen, Be-Schreibungen und Zu-Schreibungen im Zusammenhang mit der Verschriftlichung von Erfahrungen aus einer als fremd empfundenen Kultur markieren: (Fremdheits-)Konstruktionen und Konstruktionen der Fremde vollziehen sich nicht nur in individuellen Wahrnehmungen und Erfahrungen; sie vollziehen und manifestieren sich insbesondere auch in der Verschriftlichung dieser Wahrnehmungen und Erfahrungen in Texten, wobei die Schreibenden sowohl eine aktive und gestaltende Rolle einnehmen als auch gleichzeitig auf bereits bestehende Archive (sprachliche Formen, Benennungen, Bilder etc.) zurückgreifen, bzw. an diese gebunden sind: Menschen, die sich für einen gewissen Zeitraum in einer anderen Kultur aufhalten, kommen als Reisende, Handelnde, Berater, Flüchtlinge, Abenteurer, Forscher,...;10 diese Menschen verschriftlichen in vielen Fällen ihre Erfahrungen. Sie tun dies in Form von Briefen, Tagebüchern, Berichten, Erzählungen, etc. Die Formen des Schreibens sind, ebenso wie die damit verbundenen Funktionen, vielfältig und von historischer Ausprägung. Die dabei entstehenden Texte sind teils eher privater, teils eindeutig öffentlicher Natur. Die Schreibenden erzählen von ihren Erlebnissen, beschreiben ihre Wahrnehmungen und Eindrücke, sie schreiben über die _____________ 9
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Die oben kurz skizzierte Auffassung von der Konstruktionsaktivität von Individuen in spezifischen Kontexten steht der Auffassung dieses Begriffs in den sozial-kulturell begründeten konstruktivistischen Ansätzen nicht fern (vgl. auch den interaktionistischen Konstruktivismus bei Reich (1998) sowie dessen Ausführungen in: Fischer; Schmidt (Hgg.) 2000, 97-111). Die konstruktivistische Theoriebildung hält in manchen Aspekten für die der Untersuchung zugrunde liegenden Fragestellungen durchaus interessante Perspektiven bereit, so dass hier gewisse Anschlussmöglichkeiten bestehen bzw. gesucht werden, wenn auch nicht allen konstruktivistischen Prämissen gefolgt werden kann (vgl. dazu auch Kapitel 2.3: Fremdwahrnehmung und Fremderfahrung). An gegebenen Stellen wird auf terminologische und inhaltliche Abgrenzungen hinzuweisen sein. Die mit diesen Aufenthalten in der anderen Kultur verbundene Form der Existenz, die u.a. geprägt ist durch die Begegnung mit ungewohnten Auffassungen von Normalität sowie durch Prozesse des Wahrnehmens, Erfahrens, Kennenlernens, Verarbeitens und des Einrichtens in ungewohnten Lebenszusammenhängen, soll im Folgenden der Einfachheit halber zusammenfassend mit dem Begriff Reisen bezeichnet werden. (Zu mehrjährigen Aufenthalten in der Fremde vgl. insbesondere Kapitel 4 Die Fremde als Lebens- und Erfahrungswelt: Briefe aus Japan in die Heimat).
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1 Einleitung
andere Kultur und ihre Angehörigen, sie vermitteln ihr Bild über die anderen – ein Bild, das manchmal neu und ungewohnt ist, das oft genug aber bereits vorstrukturierte und vorgegebene Bilder re-konstruiert.11 Der Begriff Bild beinhaltet in diesem Zusammenhang mehrere Dimensionen. Er verweist auf eine Einheitsperspektive, die die Komplexität eines Sachverhaltes reduziert, formt und gestaltet. Diese Einheitsperspektive wird „wesentlich durch die Verdichtung bestimmter Symbole, Bilder und fremdkultureller Attribute bestimmt“ (Gernig 2002, 502). Die Art der Gestaltung evoziert und verweist auf eine ästhetische Wahrnehmungshaltung. Ein Bild, etwa das von einer anderen Kultur, ist das Ergebnis einer Konstruktion. Es gewinnt Gestalt aus Elementen der kollektiven Wissensbestände und der Imagination des Individuums.12 An der Konstruktion beteiligt sind außerdem kulturell und historisch tradierte, in den jeweiligen öffentlichen Diskursen13 vorherrschende Vorstellungen und Stereo_____________ 11
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Der Begriff der Rekonstruktion wird innerhalb der konstruktivistischen Ansätze verstanden „als das Entdecken schon von anderen erfundener Wirklichkeiten oder von Ressourcen“ (Reich in: Hug (Hg.) 2001, 360). Vgl. auch Neubert; Reich; Voß in: Hug (Hg.) 2001, 261, die das „Lernen als Rekonstruktion“ als „Lernen als Entdecken“ bzw. „Prozess des NachErfindens“ kennzeichnen. Vgl. dazu auch: von Foerster in: Einführung in den Konstruktivismus 20026, 41-88). In der vorliegenden Untersuchung soll mit Re-Konstruktion bzw. re-konstruieren insbesondere die Wiederherstellung bereits bestehender, tradierter Bilder über die andere Kultur in Texten bezeichnet werden, die einen neuen, verändernden Blick auf die Kultur eher verhindert als initiiert. Der Begriff der Rekonstruktion beinhaltet beide Dimensionen: Einerseits ist das „Entdecken“ bereits vorhandener Ressourcen Grundvoraussetzung, um „überhaupt sinnvoll kulturelle Kontexte erschließen zu können.“ (Neubert; Reich; Voß in: Hug (Hg.) 2001, 261; siehe auch die Konzeption des Vorverständnisses bei Gadamer als vorstrukturierte Verstehensfähigkeit; vgl. Kapitel 5: Fragestellungen und Grundannahmen einer Interkulturellen Hermeneutik); andererseits kann dies möglicherweise auch die Entwicklung neuer Perspektiven behindern (vgl. ebd.). Der stärkeren Betonung dieses Aspekts des Begriffs soll im Folgenden durch die divergierende Schreibweise Rechnung getragen werden. Vgl. dazu u.a. Harth in: Kubin (Hg.) 1995, 23ff. Die vorliegende Arbeit profitiert von den Erkenntnissen und Perspektiven der neueren Imagologie, dennoch ist sie im engeren Sinne nicht im Rahmen der komparatistischen Bildforschung anzusiedeln; sie versteht sich aber durchaus als den Arbeitsgebieten der interkulturellen Literaturwissenschaft zugehörig, wie sie von Mecklenburg (2003) beschrieben werden (vgl. ders. in: Wierlacher; Bogner (Hgg.) 2003, 436). Zur Forschungsrichtung der komparatistischen Imagologie, ihrem Gegenstandsfeld und neueren Perspektiven vgl. u.a. Dyserinck; Syndram (Hgg.) 1988, O‘Sullivan 1989 sowie Schwarze in: Nünning (Hg.) 1998. Trotz der unter Diskurstheoretikern intensiv geführten und breit angelegten Diskussion des Begriffs Diskurs, bleibt dieser recht vage. Theorien im Gefolge Michel Foucaults betonen die bedeutungskonstituierende und regulierende Macht der Diskurse, die dadurch bestimmt sind, „daß sie sich auf je spezielle Wissensausschnitte (Spezialdiskurse) beziehen, deren Grenzen durch Regulierung dessen, was sagbar ist, was gesagt werden muß und was nicht gesagt werden kann, gebildet sind“ (Gerhard et al. in: Nünning (Hg.) 1998, 96; zu Foucault vgl. auch White 1986, 268-303). (Spezial-) Diskurse befinden sich, obwohl sie im Vollzug oft genug als abgeschlossene Gebilde erscheinen, in ständigem Fluss und sind nie abgeschlossen, weder zeitlich noch inhaltlich. Durch ihre scheinbare (überzeitliche) Gültigkeit erweisen sie sich jedoch als wirkungs- und definitionsmächtig. Hayden White kenn-
1 Einleitung
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type. Rieger et al. (1999) weisen außerdem darauf hin, dass die Bilder des Anderen ein „Effekt unterschiedlicher Wissenstechniken und der damit verbundenen Repräsentationsformen [sind]“ (ebd., 13f.). Diese „Bilder des kulturellen Gedächtnisses“ stehen bereit für weitere Begegnungen mit dem Anderen, „[a]ufgearbeitet durch die unterschiedlichen Archivierungstechniken und die entsprechenden medialen Vermittlungsprozesse“ (ebd., 14). Auf der Ebene der konkreten Texte konstituieren sich diese Bilder in Sprache, in Form von Erzählungen, Inszenierungen, Berichten, Beschreibungen, ... . Die für die Verschriftlichung gewählte Form der Texte hat dabei wesentlichen Einfluss auf die Darstellung insgesamt sowie auf den Grad der Meta- bzw. Eigenreflexion. Sie unterliegt gewissen kulturspezifischen Traditionen, spiegelt Intertextualitäten14 und bildet den Rahmen, der die inhaltliche, sprachliche und formale Gestaltung regelt. Michail M. Bachtin zeigt in seiner Untersuchung zur Typologie des ästhetischen Wortes (als konkrete soziale Äußerung), dass die Sprache „in jedem gegebenen Moment ihrer Genese [...] in sozioideologische Sprachen [gespalten ist]: Sprachen von sozialen Gruppen, ‚Berufssprachen‘, ‚Gattungssprachen‘, Sprachen der Generationen usw.“ (Bachtin 1979, 165) Bestimmte „Momente“ der Sprache (lexikologische und syntaktische, aber auch semantische), sind nach Bachtin mit bestimmten Gattungen „verwachsen“: „Mit den einzelnen Momenten der Sprache verbindet sich das spezifische Aroma der jeweiligen Gattungen: sie verwachsen mit den spezifischen Standpunkten, Vorgehensweisen, Denkformen, mit den Nuancen und Akzenten der jeweiligen Gattungen.“ (ebd., 180f.) Die Normen und die Funktionen der Textgestaltung bestimmen im jeweiligen historischen Moment, was gesagt werden kann und wie es gesagt werden kann.15 _____________
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zeichnet den Diskurs folgendermaßen: „Ein Diskurs bewegt sich ‚auf und ab‘ zwischen überkommenen Kodierungen von Erfahrung und dem untergeordneten Gewirr von Phänomenen, die sich der Einordnung in konventionalisierte Begriffe von ‚Realität‘, ‚Wahrheit‘ oder ‚Möglichkeit‘ widersetzen. Er bewegt sich auch ‚hin und her‘ [...] zwischen alternativen Weisen, diese Realität zu kodieren, von denen manche bereitgestellt sein mögen durch die Diskurstraditionen“ (White 1986, 11). Letztlich wird unter Diskurs ein recht weites Spektrum gefasst, das von konkreten sprachlichen Äußerungen bis hin zu einer sehr großzügigen Auffassung reicht, die unter Diskursen sowohl die Rede als auch Wissensbestände, politische Bewegungen und Ideologien sowie Handlungsvollzüge versteht (vgl. Matsuki in: Levinson; Ember (eds.) 1996, 351). In der vorliegenden Untersuchung soll Diskurs als eine spezifische Form kultureller Praktiken, als Prozess der Verständigung zwischen bestimmten, auf Zeit bestehenden Verständigungsgemeinschaften verstanden werden, der sich in verschiedener Weise materialisieren kann. Zu Intertextualität vgl. auch Kapitel 3.2.1 Themen und Gestaltungsform. In dieser Auffassung zeigt sich eine Parallele zur Foucault’schen Diskursanalyse und ihrer Konzeption der Materialität von Diskursen: „Diskurse sind auf Medien angewiesen, die in ihrer je spezifischen materiellen und sozialen Eigenart Bedingungen des Aussagens darstel-
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1 Einleitung
Die Vermittlung einer, bereits im Moment des Erlebens durch individuelle und kollektive Archive vorstrukturierten, (Fremd-)Erfahrung in Texten durchläuft also durch die Gestaltung im Rahmen einer bestimmten Form mehrere Filter, bis sie die Lesenden in den Händen halten: In der gestaltenden Transformation der Erlebnisse in Sprache wird der Vorgang der Konstruktion und Bedeutungszuweisung zum Programm. Verschriftlichung bedeutet also nicht etwa authentische Wiedergabe individueller Erlebnisse und Erfahrungen, sondern die Um- und Ausgestaltung sprachlicher Formen, Konventionen und Topoi:16 „Doch das lebendige Wort steht seinem Gegenstand keineswegs identisch gegenüber. [...] So findet jedes konkrete Wort (die Äußerung) jenen Gegenstand, auf den es gerichtet ist, immer schon sozusagen besprochen, umstritten, bewertet vor und von einem ihn verschleiernden Dunst umgeben oder umgekehrt vom Licht über ihn bereits gesagter, fremder Wörter erhellt. Der Gegenstand ist umgeben und durchdrungen von allgemeinen Gedanken, Standpunkten, fremden Wertungen und Akzenten.“ (ebd., 169)17
Erlesen von Erfahrungen Der Rezeptionsvorgang selbst stellt wiederum einen sinnsuchenden und bedeutungsgebenden aktiven Prozess dar, der den vermittelten Bildern weitere hinzufügt: Die Rezipienten/innen ‚erlesen‘ die vermittelten und beschriebenen Erfahrungen und Bilder aus der und über die andere Kultur und fügen diese wiederum ihrem ‚Erfahrungsschatz‘ hinzu; sie schlie_____________ 16
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len und die Rezeption beeinflussen, noch lange bevor der Autor etwas sagen wollte.“ (Sarasin 2003, 37). Die Bedeutung sprachlicher Topoi in der Beschreibung der anderen Kultur kann in ihrer – auch emotionalen – Wirkung auf die (Re-)Konstruktion bestimmter Bilder oder mentaler Repräsentationen kaum überschätzt werden (vgl. zu diesem Kontext insbesondere Pekar 2003, 31-38; zum erweiterten Topos-Begriff vgl. Bornscheuer 1976). Dies gilt bis zu einem gewissen Grade auch für Formen der Verschriftlichung, die konventionell wie eine Wirklichkeitswiedergabe wirken, bzw. aufgrund von Gattungsobligatorien eine solche einklagbar machen (etwa das Protokoll oder die Beschreibung); vgl. in diesem Zusammenhang etwa die Untersuchung von Marina Münkler (2000) über Die Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts, in der Münkler den Einfluß „gattungskonstitutive[r] Dominanten der Wissensvermittlung empirischen Wissens“ (ebd.) und den Einfluss der herrschenden Diskurse auf die Verschriftlichung des Gesehenen untersucht. Vgl. zudem Hanke in: Fischer; Schmidt (Hgg.) 2000, 373-383. Dies ist die immanente Dialogizität des Wortes: „Das Wort wird im Dialog als seine lebendige Replik geboren, es erlangt seine Form in der dialogischen Wechselwirkung mit dem fremden Wort im Gegenstand. Der Entwurf des Gegenstandes durch das Wort ist dialogisch.“ (Bachtin 1979, 172) Das Wort steht aber nicht nur im Umfeld des bereits Gesagten, sondern ist „gleichzeitig vom noch ungesagten, aber notwendigen und vorweggenommenen Wort der Replik bestimmt. So vollzieht sich jeder lebendige Dialog.“ (ebd., 172f.). Vgl. dazu auch Grübel in: Bachtin 43f. sowie Lachmann 1990, 69ff.
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ßen die beschriebenen und erlesenen Erfahrungen an ihr Weltwissen an und verleihen ihnen eine neue Bedeutung im Kontext der eigenen Phantasietätigkeit.18 Die Form der Verschriftlichung hat dabei insofern auf den Rezeptionsprozess Einfluss, als die genretypischen Spielregeln, soweit sie den Rezipienten/innen bekannt sind, die Lesehaltung und den Leseprozess wesentlich vorstrukturieren.19 In der konkreten Begegnung mit der anderen Kultur erweisen sich die erlesenen Erfahrungen dann als ausgesprochen prägend, sowohl für die Wahrnehmung als auch für eine etwaige Verschriftlichung.20 Die ‚Fremde Japan‘ Die Wahrnehmung der japanischen Kultur durch Deutsche und die sich anschließende Beschreibung des Erlebens in verschiedensten Genres, wurde für die vorliegende Untersuchung exemplarisch als Untersuchungsgegenstand ausgesucht. Die oben kurz angedeutete historische Situation, in der sich die Begegnung der deutschen und der japanischen Kultur ab 1853/54 vollzog, sowie die auch nach rund 150 Jahren des Austausches und Lernens über die andere Kultur immer noch auffällige Präsenz der Begriffe Fremd/e und Fremdheit im öffentlichen Diskurs über Japan21 lassen diese Wahl sinnvoll und ergiebig erscheinen. Die Wahrnehmung und Erfahrung Japans durch Deutsche als fremd, also die Konstruktion der Andersheit als Fremdheit, ist durch bestimmte inhaltliche Aspekte gestaltet und vorstrukturiert. Im Verlauf der Geschichte der Begegnung der japanischen und der deutschen Kultur haben sich konkrete, teilweise erstaunlich stabile Elemente der (Fremd-)Beschreibung etabliert, die im historischen und zeitgenössischen (literarischen) Diskurs zum festen Repertoire gehören.22 Informationen, Legenden, Referenzbe_____________ 18
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Vgl. in diesem Kontext die in der Lese-Psychologie entwickelte konstruktivistische Theorie des Lesens (etwa: Christmann; Groeben in: Franzmann et al. (Hgg.) 1999, 145-223) sowie Kapitel 3.1.1 Reisen, Schreiben, Lesen, in dessen Verlauf dieser Themenkomplex anhand des Genres der (literarischen) Reisebeschreibung exemplarisch näher betrachtet wird. Vgl. auch die Konzeption der dialogischen Orientierung der Genres bei Bachtin (dazu: Kowalski in: Bachtin 1986, 530f. Außerdem: Aust (in: Bredel et al. (Hgg.) 2003, 530): Lesen im Bann der Textsorten. Vgl. Kapitel 3.2.3 Erwartungen und Vorstellungsbilder und Kapitel 4.4.2 Lektüre, Erwartung und Erfahrung. Vgl. dazu auch: Hijiya-Kirschnereit in: Japan und Europa 1993, 9ff. Ich verweise für diesen Zusammenhang auf das 2003 erschienene Werk von Thomas Pekar: Der Japan-Diskurs im westlichen Kulturkontext (1860–1920). Reiseberichte – Literatur – Kunst. München 2003. Die Bilder und Topoi des westlichen Japan-Diskurses werden dort in ihren Traditionslinien materialreich systematisiert und kontextualisiert; zudem leistet Pekar hier einen Überblick über den „Stand der Forschungen zum ‚Japan-Bild‘ und zur
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ziehungen zwischen Texten, Topoi, Kunstrichtungen und Modeerscheinungen haben diesen Diskurs geprägt, und so begeben sich die Reisenden auf die Suche nach der durch bereits vorhandene Bilder vorstrukturierten ‚Fremde Japan‘, re-konstruieren und re-inszenieren diese Bilder in ihren Texten23 und fügen manchmal auch neue Bilder hinzu. Texte über die ‚Fremde Japan‘ Die ‚Fremde Japan‘ wurde zum Gegenstand zahlreicher Beschreibungen, die sich in den verschiedensten Textsorten präsentieren und die unter den unterschiedlichsten Umständen und Bedingungen entstanden: Expediti_____________
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‚Japan-Rezeption‘“ (ebd., 334-356; vgl. auch den Aufsatz desselben Autors: Der JapanDiskurs um 1900. Ein Skizzierungsversuch in: Gebhard (Hg.) 2000, 227-255). Das ‚Repertoire‘ der Japanbeschreibung durch Deutsche in einer spezifischen historischen Situation erschließt sich in der vorliegenden Arbeit exemplarisch in Kapitel 3, insbesondere in Kapitel 3.2.1 Themen und Gestaltungsform. Obgleich eine differenzierte Betrachtung einzelner europäischer Perspektiven auf Asien grundsätzlich notwendig ist, kann an dieser Stelle nur in aller Kürze auf einige Facetten des europäischen Japan-Bildes hingewiesen werden. Es wurde u.a. entscheidend von Engelbert Kaempfer (1651–1716) und Philipp Franz von Siebold (1796–1866) geprägt, die als Ärzte im Dienst der Niederländisch-Ostindischen Kompanie tätig waren. Außerdem gilt der Reisebericht des schwedischen Botanikers Carl Peter Thunberg (1743–1828) als einflussreich (vgl. Jung 2002). Das europäische Japan-Bild beinhaltet u.a.: Japan als Paradies-Insel (wie überhaupt Asien insbesondere für die Dichter der Jahrhundertwende die Symbiose und die Gleichwertigkeit allen Seins verkörperte) sowie Japan als Vorbild (etwa in Jesuitendramen, von denen sich ca. 40 mit Japan befassen; vgl. Heuvers 1965, 90. In den jesuitischen Märtyrerdramen wird jedoch auch die Christenverfolgung in Japan ab 1614 verarbeitet; zu der Rolle der Jesuiten für die kulturellen Kontakte mit Ostasien sowie den Jesuitendramen vgl. Schuster 1988, 27-100). Es beinhaltet außerdem die Funktionalisierung Japans als Möglichkeit der Europa-Kritik, bzw. -Reflexion (vgl. z.B. Matthias Claudius: Nachricht von meiner Audienz beim Kaiser von Japan; Claudius 1964, 131148) bis hin zu den Bildern des 20. Jahrhunderts von Japan, etwa das von General de Gaulle, der den japanischen Ministerpräsidenten als „Vertreter für Transistorradios“ bezeichnete (vgl. zum modernen Japan-Bild: Schmitt 1999, 16ff.). Der Topos von der ‚Gelben Gefahr‘ und seine unklare Bestimmung verweist darauf, wie wenig zwischen den Ländern China und Japan differenziert wurde und wird, wenn es darum geht, Klischees und Stereotype zu transportieren (zu ‚negativen Japan-Topoi‘ vgl. Pekar 2003, 190-207). Diesen Bildern im Verlauf der historischen Entwicklung im Einzelnen nachzugehen, kann und soll nicht die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung sein. Grundlegendes zum Japan-Bild in der westlichen Welt findet sich außer in den o.g. Quellen noch bei Kapitza 1990, bei Breger 1990 sowie bei Kreiner in: Japan und Europa 1993, 18-27. Im Jahr 2004 ist zudem der erste Band eines insgesamt dreibändigen Werkes von William McOmie erschienen, der das Bild Chinas und des Westens von Japan zunächst bis ins Jahr 1841 in chronologischer und thematischer Perspektive darstellt (McOmie (ed.) 2004). Dyserinck spricht in diesem Zusammenhang von der Wirkungsmacht der Bilder, die „infolge der Tatsache, daß sie in mitteilbaren bzw. zu dekodierenden Formen festgelegt sind – zu jeder Zeit abgerufen und reaktiviert werden können.“ (Dyserinck in: ders.; Syndram (Hgg.) 1988, 26).
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onsteilnehmer, Handelsreisende und deutsche Berater der japanischen Regierung berichteten in privaten und öffentlichen Briefen von ihren Erfahrungen, Zeitschriften schickten ihre Mitarbeiter auf die Reise mit der Verpflichtung, regelmäßig Artikel zu liefern. Forschungsreisende verfassten Abhandlungen, Weltreisende schickten Postkarten und Briefe, Autoren verarbeiteten ihre Erfahrungen in Erzählungen und Romanen. Im Gefolge des Japonismus und des Exotismus der Jahrhundertwende in Kunst und Literatur beauftragten renommierte Verlage wie der von Paul Cassirer in Berlin ihre Autoren, sich auf den Weg zu machen und dem Publikum ein weiteres Exemplar des so beliebten Genres der literarischen Reisebeschreibung vorzulegen. Die Fülle des Materials, das aus der Kulturbegegnung allein auf deutscher Seite entstand, ist kaum überschaubar.24 Für die vorliegende Untersuchung wurde Material ausgewählt, das insofern exemplarische Gültigkeit hat, als es u.a. bestimmte Aspekte im Schwerpunkt veranschaulicht sowie über sich selbst hinausweist. Da nicht etwa ein Überblick über verschiedene Darstellungsformen in einer spezifischen historischen Situation gegeben werden soll, wird den Fragestellungen im Folgenden exemplarisch nachgegangen – die genauere Betrachtung eines begrenzten, ausgewählten Textkorpus steht im Mittelpunkt des Interesses. Für die vorliegende Untersuchung war es wünschenswert, eine gewisse Bandbreite an Genres vorzustellen, die aufgrund ihrer Gattungsobligatorien jeweils differente formale Vorgaben und Einengungen, aber auch Gestaltungsmöglichkeiten und -freiräume zur Verfügung stellen.25 Das Interesse richtet sich hierbei sowohl auf den Rahmen, den das Genre in einer bestimmten historischen Situation vorgibt, als auch auf die konkrete Nutzung dieses Rahmens für die Darstellung der Erfahrungen aus der Fremde durch die Schreibenden. _____________ 24
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Vgl. die einschlägige Bibliographie von Hadamitzky und Kocks 1990ff. sowie: Deutschsprachige Schriften zu Japan 1477–1945, eine vierteilige Mikrofiche-Edition, erschienen im Saur Verlag, die rund 3000 Werke aus den Bereichen Geschichte, Religion, Philosophie, Bildende Kunst, Musik, Literatur, etc. umfasst. Vgl. auch Pekar 2003. Überblicksdarstellungen zur japanbezogenen deutschen Literatur finden sich u.a. ebd. sowie in Schuster 1977; 1988, Günther 1988, Kloepfer in: Harth (Hg.) 1994, 242-260 und Gebhardt 2003, 255-281. Informationstexte, wie etwa Forschungsberichte oder Reiseführer sowie Texte zur Landeskunde und ethnographische Monographien wurden dabei aber nicht aufgenommen. Zu den Genrekonventionen und den Darstellungsformen der ethnographischen ‚Repräsentation‘ fremder Kulturen gibt es inzwischen eine Fülle von Studien, vgl. zu diesem Kontext Bachmann-Medick in: dies. (Hg.) 20042, 30ff. sowie u.a. Geertz 19996, Sperber 1989, Berg; Fuchs (Hgg.) 19993 und Braun; Weinberg (Hgg.) 2002. Diese Studien zeigen, dass auch für die Ethnographie das gilt, was Hayden White für die Geschichtsschreibung konstatierte: „Tropische Rede ist der Schatten, vor dem jeder realistische Diskurs zu fliehen sucht. Diese Flucht ist jedoch vergeblich; denn die Tropen stellen den Prozeß dar, durch den jeder Diskurs die Gegenstände konstituiert, die er lediglich realistisch zu beschreiben und objektiv zu analysieren behauptet.“ (White 1986, 8).
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Fragestellungen Im Mittelpunkt der Untersuchung steht also zunächst einmal der konkrete Text und somit die Frage: Wie wird von den Erfahrungen und Erlebnissen in der anderen Kultur erzählt, welche Darstellungsmittel wählt der oder die Schreibende um Fremderfahrungen zu vermitteln? In diesem Zusammenhang werden auch Fragen nach narrativen Strukturen und dem Spannungsfeld bzw. der Gleichzeitigkeit von Authentizitätsversicherung und Fiktionalisierung in der Darstellung evident.26 Damit verbunden sind die Fragen was, wovon wird erzählt, welche Auswahl wird getroffen? Sowie welches Bild von der anderen Kultur wird in dem Text entworfen? Als ein Kriterium der Auswahl der Themen und der als berichtenswert eingestuften Sinneseindrücke und Erlebnisse dient insbesondere die Differenz zur eigenen Kultur, wodurch das Bild des Anderen vor allem auf dieser Grundlage konstruiert wird. Dieses Bild soll aber im Folgenden nicht primär im Hinblick auf seinen Bezug zu einer möglichen Wirklichkeit untersucht werden, da ein solcher Versuch in erster Linie weitere Bilder und Wirklichkeitskonstruktionen hinzufügen würde. Die Kultur als solche ist ebenso wie die Wahrnehmung und das Erleben des Reisenden nur schwer, wenn überhaupt fassbar; dennoch wird es mancherorts auch zu Thesen hinsichtlich der Schreibenden sowie in Bezug auf die hinter den Bildern stehenden kulturellen Phänomene kommen.27 Darüber hinaus soll bei der Untersuchung des Materials an gegebenen Stellen der Frage nach möglichen Lesehaltungen und Wirkungen nachgegangen werden, die die Darstellungsweisen bei den Rezipienten und Rezipientinnen dieser Texte _____________ 26
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Diese Fragen sind insbesondere bei den Textsorten von Interesse, die einem gewissen Faktizitätsanspruch unterliegen, wie etwa Reisebeschreibungen. Vgl. z.B. den Ansatz von Friedrich Wolfzettel (in: von Ertzdorff; Giesemann (Hgg.) 2003, 3-31), der mythische Strukturen im Reisebericht untersucht. Wolfzettel geht dabei zunächst auch auf die konträre Diskussion über die „Anwendung strukturaler und narrativer Kategorien“ auf dieses Genre ein (vgl. ebd., 3-13). Insbesondere die Entwicklung der Diskussion um das Verhältnis von Narrativität, Fiktionalität und Faktizität im Reisebericht wird dort in einer kurzen Zusammenschau pointiert dargestellt (vgl. ebd.). Zu dieser Diskussion vgl. auch den 2004 erschienenen Tagungsband des Zentrums für Vergleichende Geschichte Europas (ZVGE), herausgegeben von Bauerkämper; Bödeker und Struck, mit dem Titel Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute. Zur Problematik der Erwartung eines ‚Realitätsgehaltes‘ speziell in Reisebeschreibungen vgl. auch Opitz 1997. Vgl. auch Herbert Uerlings: Poetiken der Interkulturalität. Haiti bei Kleist, Seghers, Müller, Buch und Fichte 1997. In seiner Untersuchung stellt Uerlings auch die Frage: „Gibt es überhaupt ein Haiti jenseits des Diskurses? Gewiß. Aber wo?“ (ebd., 6), und weist darauf hin, dass eine Aufteilung in ‚europäische Imagination‘ und ‚lateinamerikanische Wirklichkeit‘ aufgrund der Komplexität des Verhältnisses kaum möglich sein dürfte. In Bezug auf Japan kann außerdem darauf hingewiesen werden, dass manche europäische Imaginationen Eingang in den japanischen Selbstbeschreibungsdiskurs, die sogenannten nihonjinron, finden; vgl. dazu Gebhardt in: Gebhard (Hg.) 2000, 221ff.
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initiieren könnten. Auch hier können jedoch nur Hinweise gegeben werden, die sich insbesondere auf die den Texten ‚eingeschriebenen‘ möglichen Lektüreformen und Gebrauchsweisen stützen und die sich an einen „Modell-Leser“ (Eco 19992, 20) richten. Diese materialisieren sich etwa in spezifischen „Gattungssignalen“, „textimmanenten Instruktionen“ (ebd., 21) oder in „Paratexten“ (Genette 1993, 11)28 oder sie können aus dem historischen Kontext oder den ökonomischen Bedingungen geschlossen werden. Rückschlüsse auf eine individuelle Lektürepraxis historischer Leser sind jedoch kaum möglich.29 Zeiträume Ein Überblick über die letzten rund 150 Jahre der Kulturbegegnung und die daraus entstandenen Texte ist einerseits nicht zu leisten, andererseits ist die Ergiebigkeit eines solchen Vorhabens auch anzuzweifeln. In Kapitel 3 und 4 der Arbeit finden deshalb besonders die Jahre zwischen 1878 und 1911 Beachtung.30 Der Zeitraum des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ist in mehrfacher Hinsicht für die Untersuchung ergiebig: Die spezifische historisch-politische Situation Japans, von der erzwungenen Öffnung bis hin zur Anerkennung durch die westlichen Staaten (ca. 1920), wird begleitet durch eine und korreliert mit einer besonderen Aufmerksamkeit des Westens für Japan. Der Exotismus der Jahrhundertwende gründet in der kulturhistorischen Verfasstheit Deutschlands, die u.a. geprägt ist durch das Wilhelminische Zeitalter, die Folgen der Industrialisierung, den Ausbau des Monopolkapitalismus und die Periode des Imperialismus. Japan avancierte neben anderen Ländern in dieser historischen Situation zu einer spezifischen, geeigneten und benö_____________ 28 29
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Zur Lektüre von Paratexten und weiteren „‚metasprachlichen‘ Formulierungen vor bzw. nach dem Text [...] und im Text selbst“ vgl. Aust in: Bredel et al. (Hgg.) 2003, 529f. Vgl. dazu insbesondere Kapitel 3.1.1 Reisen, Schreiben, Lesen. In der vorliegenden Untersuchung wird die Kategorie Text, anders als in einigen postmodernen und konstruktivistisch geprägten literaturtheoretischen Ansätzen, nicht gänzlich entsubstantialisiert. Er ist mehr als eine „nützliche Illusionierung [...]“, als ein „Impuls“ oder „Orientierungsanlaß“ (Scheffer 1992, 27ff.) für die Zuschreibungsprozesse der Rezipienten/innen. Texte enthalten Hinweise zu ihrem Gebrauch durch Leser/innen, die aufgrund von kulturspezifischen Prozessen der Lesesozialisation und literarischen Sozialisation über – durchaus verschiedene Grade von – konventionalisierte(n) Gebrauchsweisen verfügen, also auf die im Text enthaltenen Hinweise antworten. Insofern sind auch die mit dem Lesevollzug verbundenen Prozesse des Verstehens und der Bedeutungskonstruktion nicht beliebig oder willkürlich. Zur Bedeutung von Leser- und Textfaktor bei der Bedeutungskonstitution von literarischen und nicht-literarischen Texte vgl. insbesondere Christmann; Schreier in: Jannidis et al. (Hgg.) 2003, insbes. 268-273. Einige der zusätzlich herangezogenen Texte können diesen Zeitraum noch überschreiten.
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tigten Projektionsfläche für Wünsche und Sehnsüchte, die innerhalb der eigenen Kultur nicht mehr verwirklichbar erschienen.31 Im Bereich der Kunst entstand Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris der Japonismus; japanische Kunst diente westlichen Künstlern als Mittel, neue Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen zu entwickeln.32 Dieser ‚Trend‘ wurde nicht zuletzt durch die Auftritte Japans auf den Weltausstellungen ab 1862 verstärkt,33 wobei erst mit der Präsentation Japans im Jahr 1873 in Wien der außerordentliche Erfolg beim Publikum und die große Aufmerksamkeit begründet wurde, die Japan auch auf den folgenden Ausstellungen zuteil werden sollte (vgl. Baumunk in: Japan und Europa 1993, 45ff.).34 Neben der Rezeption japanischer Ästhetik im Bereich der bildenden Künste sowie zahlreichen Ausstellungen mit japanischer Kunst erschienen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert einflussreiche Publikationen westlicher Autoren über Japan, die eine Wende im Bild des Westens über Japan markieren:35 Bestimmte Elemente der Kulturbeschreibung, die sich vorher noch im Fluss befanden, werden festgeschrieben. Diese Elemente werden exemplarisch in Kapitel 3 Die Fremde als Sehnsuchtsraum: Japan im Werk Bernhard Kellermanns aufgezeigt und kontextualisiert: Der Autor bewegt sich mit seinen japanbezogenen Schriften keineswegs in einem unbeschriebenen Raum. Die Texte stehen in vielschichtigen Wechselbeziehungen zu vorhergehenden und nachfolgenden Texten; sie partizipieren am kulturellen Gedächtnis und prägen dieses
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Vgl. insbesondere die Untersuchung Wolfgang Reifs (1975), der neben psychologischen Ursachen des Exotismus auch politische und soziale in den Blick nimmt. Er kennzeichnet den Exotismus als „nicht auf die Sphäre künstlerischer Produktion beschränkt [...], sondern [als] eine besondere Ausprägung des Eskapismus, einer Fluchtbewegung also, die nach Mitteln und Wegen sucht, um sich den Folgen der zivilisatorischen Entwicklung zu entziehen.“ (Reif 1975, 10). Er sieht den Exotismus in „einem direkten Verhältnis zur technischen und industriellen Entwicklung“ (ebd.). Zum Exotismus vgl. außerdem Kapitel 2.2 Exotismus. Zum Japonismus vgl. u.a. Delank 1996, 11ff.; Siemer 1999, insbesondere 287ff.; Gebhard (Hg.) 2000; Wichmann 1980; von Felbert in: Fischer et al. (Hgg.) 1987, 8-99; Berger 1980 sowie Berger in: Exotische Welten. Europäische Phantasien 1987, 192-202. Zur Bedeutung der frühen Photographie für den Japonismus der Jahrhundertwende vgl. außerdem Gernig 2002, 498-515 sowie Delank in: Gebhard (Hg.) 2000, 255-283. In den vorangegangenen Jahren fanden nur wenige japanische Kunstwerke Eingang in die ersten Weltausstellungen ab 1851 in London. Volker Barth weist noch darauf hin, dass sich japanische Ausstellungsobjekte bei der Exposition Universelle de 1867 in Paris als große „Verkaufsschlager“ erwiesen (vgl. ders. in: Bayerdörfer; Hellmuth (Hgg.) 2003, 152). Zu nennen wären hier etwa Lafcadio Hearn oder Pierre Loti u.a. Zum „Aufbruch“ von Autoren der Jahrhundertwende nach Asien und den geistes- und mentalitätsgeschichtlichen Hintergründen vgl. insbesondere Günther 1988.
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im Weiteren.36 Diesen Zeitraum überschreitend wird darüber hinaus in Kapitel 5 auf Texte zurückgegriffen, die den letzten Jahren des 20. und dem Beginn des 21. Jahrhunderts entstammen. Seit etwa 1995 zeichnet sich eine neuerliche Wende in der Wahrnehmung Japans durch den Westen ab. Diese gründet u.a. auf dem Ende der Bubble Economy (der spekulativen Aufblähung der Wirtschaft in den 80er Jahren), den anhaltenden Konjunkturflauten und der strukturellen Krise der Wirtschaftsmacht Japan,37 auf dem Erdbeben in Kôbe sowie dem Giftgasanschlag durch die Aum Shinrikyô auf die U-Bahn in Tôkyô – Ereignisse, die eine hohe massenmediale Aufmerksamkeit nach sich zogen und den öffentlichen Diskurs über Japan erneut anstießen.38 Es wird zu zeigen sein, dass die einmal festgeschriebenen Topoi sich als sehr resistent erweisen und die tradierten Elemente der Kulturbeschreibung ihre Gültigkeit teils bis heute behaupten. Vorgehen Einführend werden in Kapitel 2 zunächst kurz die Kategorie Fremde als relationale Konstruktion, die individuellen, kollektiven und historisch sowie kulturell tradierten Deutungsmustern unterliegt, der Exotismus als affektive Wahrnehmungsform des Fremden und als kulturhistorisches Phänomen sowie Prozesse der Konstruktion von Wahrnehmungen und Erfahrungen als Fremdwahrnehmungen und -erfahrungen näher betrachtet. Neben der begriffskritischen und begriffsnormierenden Funktion dieses Kapitels wird hier eine konzeptuelle Diskussion eröffnet, die sich in den beiden in den Textkorpus eingefügten Exkursen noch fortsetzt. In Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit wird dann das japanbezogene Werk eines einzelnen Autors als Untersuchungsgegenstand zugrunde gelegt: Betrachtet werden drei Werke Bernhard Kellermanns (1879–1951), der 1907 ein halbes Jahr in Japan verbrachte und der für sein japanbezogenes Werk verschiedene Genres als Rahmen wählte, um seine Erfahrungen einer lesenden Öffentlichkeit zu vermitteln. Für die vorliegende Untersuchung wurden folgende Texte ausgewählt, die den japanbezogenen Diskurs der Zeit exemplarisch widerspiegeln und weiterschreiben: Eine _____________ 36 37 38
In Kapitel 3.2.1 Themen und Gestaltungsform werden in diesem Zusammenhang kurz einige Ansätze der Intertextualitäts-Diskussion dargestellt. Vgl. dazu Pohl; Mayer (Hgg.) 19982, 278ff. Vgl. auch Gebhard 2003, 255ff. In Bezug auf aktuelle Filmproduktionen vgl. das Forschungsprojekt Interkulturelle Begegnungen im Spiegel von Literatur und (Fernseh)film – Ein japanisch-deutscher Vergleich (vgl. Gössmann; Mrugalla (Hgg.) 2001, 469-522 sowie Gössmann in: Seifert; Weber (Hgg.) 2002, 90-108).
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literarische Reisebeschreibung, ein sachbezogener Text über japanische Tänze sowie, in Abgrenzung zu diesen eher realitätsbezogenen Texten, eine Erzählung, in der Japan den Hintergrund bzw. die Kulisse für die Darstellung einer spezifischen Form der Fremderfahrung bildet. Durch die Vielfalt der von Kellermann gewählten Textformen können einerseits verschiedene genrespezifische Musterbildungen und damit verbundene Darstellungsstrategien beleuchtet werden, so etwa die prägnanten Erzählinstanzen, die die ‚Fremde Japan‘ vermitteln: der narrativ berichtende Flaneur (der Reisende), der bezeugende Gast (als lernender Betrachter der japanischen Tänze) sowie der Gestrandete in der Erzählung. Andererseits können auch mögliche Funktionen der einzelnen Texte und Textformen für die Lesenden in den Blick genommen werden. Zum Zeitpunkt, als Bernhard Kellermann seine Reise nach Japan unternimmt, ist die Erwartung, dort der Fremde par excellence zu begegnen, immer noch sehr groß. Gleichzeitig hat die forcierte Begegnung der Kulturen in Japan ebenso ihre Spuren hinterlassen, wie in dem Bewusstsein der deutschen Reisenden, deren Japan-Bilder inzwischen durch viele aktuelle Berichte, durch die Rezeption von Literatur sowie durch den Japonismus in der Kunst angereichert sind. Gerade diese spannungsvolle historische Situation macht die Beschäftigung mit seinem japanbezogenen Werk reizvoll. In diesem Kontext werden auch noch einmal die drei Referenzbereiche Reisen (Erfahren), Schreiben und Lesen in ihrer gegenseitigen Bedingtheit in den Blick genommen (vgl. Kapitel 3.1). In Kapitel 3.2 wird u.a. der Frage nach der künstlerischen Überformung einer Kultur im Prozess der Konstruktion eines Sehnsuchtsraums nachgegangen, die sich auf tradierte Vorstellungsbilder sowie auf intertextuelle Bezüge gründet und diese weiterträgt; zudem stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Fiktionalität und Faktizität im Rahmen der literarischen Reisebeschreibung Ein Spaziergang in Japan von 1910. In diesem Kontext werden auch mögliche, durch bestimmte Darstellungsstrategien initiierte Nutzungsformen des Textes durch die Lesenden exemplarisch reflektiert. Die Ästhetisierung der auditiven und visuellen Sinneseindrücke des Reisenden in der Verschriftlichung und die Funktionalisierung dieser im Kontext der Fremdheitskonstruktion stehen dann im Mittelpunkt des Interesses. Anschließend kann gezeigt werden, wie anhand der Darstellung des traditionellen japanischen Theaters der Bühnenraum zum kulturellen Erfahrungsraum avanciert. Erst hier findet der Reisende endlich das ihm in seinem Vorverständnis vertraute Japan, erst hier versöhnen sich die aus den kulturellen Archiven genährten Erwartungen mit den Erfahrungen. In der Beschreibung dieses Raums sowie der damit verbundenen Elemente wird die ‚Fremde Japan‘ auch für die Lesenden wieder re-konstruiert.
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In seinem Werk Sassa yo Yassa. Japanische Tänze (1911) findet Bernhard Kellermann zu einer Darstellungsform, in der ein Ich-Erzähler als ideale Vermittlergestalt die Lesenden in die Welt des japanischen Tanzes einführt (Kapitel 3.3). Diese Kunstform steht dabei, wie schon das traditionelle japanische Theater im Spaziergang von 1910, stellvertretend für die ganze Kultur bzw. für eine typisierende Konstruktion dieser Kultur, wobei hier die Konstruktion durch die Information ihre Beglaubigung erfährt. Die Informationen über den japanischen Tanz werden in diesem Werk anhand von Literarisierungs- und Fiktionalisierungsstrategien an Interessierte weitergegeben, was die Möglichkeit vielfältiger Gebrauchsweisen des Textes im Rezeptionsprozess eröffnet. Den literarisierenden Elementen innerhalb des Werks, das tradierte europäische Imaginationen über Japan bedient und evoziert, wird deshalb nicht zuletzt im Kontext der Strategien zur Informationsvermittlung an die Lesenden genauer nachgegangen, so etwa im Zusammenhang mit der Konstruktion einer ethnographischen Situation. Die Betrachtung der Erzählung Abenteurer (ca. 1911) fokussiert eine literarische Bearbeitung der Erfahrung von Fremde (Kapitel 3.4). Aufgrund der ausgewiesenen Fiktionalität des Textes sind direkte Bezüge zu einer erfahrenen Wirklichkeit kein Kriterium des Schreibens mehr und auch keine Erwartung im Rahmen der Rezeption. In der Erzählung wird vielmehr eine Polarisierung der Kategorien Eigenes und Fremdes durch die Ausgestaltung des Wahrnehmungsbereichs des Protagonisten konstruiert. Die Figur des Abenteurers, der als ein Gestrandeter, als ein Abenteurer am Ende seines Abenteuers konzipiert wird, erlebt die konkrete Fremde als bedrohlich und feindselig; dies führt zu einer gänzlich anderen Darstellung des europäischen Sehnsuchtsraums Japan, als in den anderen japanbezogenen Werken Bernhard Kellermanns. Erst als die Heimat, die zunächst als Sehnsuchtsraum des Protagonisten gelten kann, zu einer konkreten, letztlich tödlichen Erfahrung wird, kann die Fremde endlich als (trügerischer) Sehnsuchtsraum aufscheinen. In Kapitel 4 liegt der Schwerpunkt auf der Untersuchung einer spezifischen Textsorte in einer bestimmten historischen Situation: Der private Brief aus der Fremde, der an Freunde und Angehörige in der Heimat geschrieben wird, steht im Mittelpunkt des Interesses dieses Teils der Arbeit. Im Verlauf der Betrachtung des Briefs als Medium der Mitteilung aus der Fremde wird noch einmal evident, wie sehr das Medium das Mediatisierte prägt, die Auswahl des Mitzuteilenden beeinflusst und dem Mitgeteilten seine Form gibt. Zur Veranschaulichung der Differenzen in der Darstellung des Erlebens von Fremdheit im privaten Brief und im öffentlichen, hier literarischen Text, wird einleitend kurz auf das Werk Max Dauthendeys (1867–1918) verwiesen (Kapitel 4.1). Max Dauthendey schrieb im
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Verlauf einer Weltreise, während derer er sich im Jahr 1906 auch für einen Monat in Japan aufhielt, zahlreiche Briefe an seine Frau, Annie Dauthendey. Der Wandel des Status des Erlebten, der im privaten Brief recht hoch ist, wird in einer vergleichenden Betrachtung exemplarisch aufgezeigt. Als Quellenmaterial für die weitere Untersuchung dienen dann die privaten und posthum veröffentlichten Briefsammlungen von Georg Michaelis (in Japan von 1885–1889), von Albert und Lina Mosse (in Japan von 1886–1889) sowie von Wilhelm und Emma Schultze (in Japan von 1879–1881). Keine dieser Personen schrieb ‚von Berufs wegen‘. Es waren zwei Juristen, ein Arzt sowie zwei ‚Hausfrauen‘ (vgl. Kapitel 4.2). Einige weitere Quellen, die allerdings nur am Rande Beachtung finden, werden jeweils im Verlauf der Ausführungen genauer vorgestellt und kontextualisiert. Die besondere Lebenssituation der Schreibenden als ‚Fremde in der Fremde‘ bildet den Anlass für einige Überlegungen zu: interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität, die anhand des Materials illustriert werden. Dieser erste Exkurs beinhaltet neben einer Reflexion des vieldiskutierten Begriffs Kultur u.a. auch eine Diskussion des Konzepts der kulturellen Identität. Die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Briefsammlungen geben Einblicke in Prozesse der Fremderfahrung, der Fremdstellung von Neuem, Unvertrautem und der Fremdwerdung von Vertrautem. Vor dem Hintergrund der spezifischen Funktionen der Textsorte Brief (re-) etablieren die Schreibenden fortwährend die Beziehung zum ‚Eigenen‘ und positionieren sich in Bezug auf das ihnen Fremde (Kapitel 4.3). Die mögliche Nutzungsform der Texte durch die Lesenden (hier die konkreten Adressaten) wird von den Schreibenden selbst im Prozess des Schreibens implizit oder explizit mitreflektiert und dominiert das Schreiben. Dies wird auch im Zusammenhang mit der Darstellung der ‚Fremde Japan‘ evident (Kapitel 4.4). Auch hier bilden das Ich, das Ich und Du sowie der Moment des Schreibens die Filter, durch die die Darstellung der anderen Kultur und des eigenen Erlebens in dieser Kultur läuft. Es ist dabei nicht zuletzt die Schnittmenge der gemeinsamen Erfahrungen, die das Schreiben konstituiert, wobei diese gemeinsamen Erfahrungen unter anderem auf Lektüren über die ‚Fremde Japan‘ gründen, die nun mit dem eigenen, konkreten Erleben abgeglichen werden. Am Beispiel des Teehauses, eines unerlässlichen Elements einer jeden Japan-Beschreibung, wird darüber hinaus gezeigt, wie für die Briefeschreibenden (und damit auch für die Adressaten/innen) aus einem Sehnsuchtsraum ein konkreter Erfahrungsraum wird. In Kapitel 5 richtet sich der Fokus zunehmend grundsätzlicher auf das Phänomen Sprache: Die Komponenten Lesen und Schrift werden als inhaltliche Momente analysiert. Dabei stehen die bildhafte Verwendung des
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Begriffs Lesen sowie die Funktionalisierung der ‚fremden Schrift‘ im Rahmen der Fremdheitskonstruktion im Mittelpunkt des Interesses. Die Fremde erweist sich im Verlauf dieses Kapitels als Gegenstand, Ort, Anlass und Wirkung des Lesens. Sinnfällig wird hierbei, dass Reisen durch die Fremde dem Lesen gleichen kann (nicht nur metaphorisch, sondern auch als Modellierung der Erfahrung nach dem Muster aus der kulturellen Tradition sowie als Muster der Wahrnehmungsorganisation), so wie – hier metaphorisch gesehen – das Lesen auch dem Reisen entsprechen kann. Das Kommunikationsmedium Schrift wiederum steht in den Texten paradoxerweise als Inbegriff der Unverstehbarkeit. Im Verlauf dieses Kapitels werden auch aktuellere Texte über die ‚Fremde Japan‘ herangezogen, wobei verschiedene Genres in die Untersuchung Eingang finden. Die Texte partizipieren an den Prätexten, schreiben diese weiter oder schreiben sie auch neu bzw. treten in einen offenen Dialog mit ihnen. Es kann gezeigt werden, dass zentrale Topoi im Zusammenhang mit der Konstruktion der ‚Fremde Japan‘ in Texten dabei unbeschadet erhalten bleiben oder in aktuellere Begrifflichkeiten überführt werden. In Kapitel 5.1 steht zunächst der Roman Der Plan (1998) von Gerhard Roth im Mittelpunkt der Betrachtung, anhand dessen das Problemfeld eröffnet und strukturiert wird: Aspekte des Zusammenhangs zwischen Reisen, Aufzeichnen, Schreiben und Lesen, Prozesse der Ver- und Entschlüsselung der wahrgenommenen Zeichen, die Verwendung des Begriffs ‚Lesen‘ sowie die Konzeption des Protagonisten als der Lesende par excellence finden hier Raum. In der Analyse der Figur des ‚Lesenden‘ kann dann auch die Überführung des Metaphernkomplexes ‚Die Fremde lesen‘ in eine konkrete Wahrnehmungshaltung in der ‚Fremde Japan‘ aufgezeigt werden. Anschließend wird zunächst noch einmal die Beziehung zwischen Reisen und Lesen unter einer weiterführenden Perspektive aufgegriffen (Kapitel 5.2): Mögliche Funktionen des Lesens von Literatur in der Fremde und auf Reisen werden anhand der Konzeption der literarischen Figur des Lesenden reflektiert. Ergänzend werden noch die Tagebücher des Ethnologen Bronislaw Malinowski (1884–1942) hinzugezogen, dessen persönliche Aufzeichnungen wichtige Hinweise für die zugrunde gelegte Fragestellung enthalten. Der Roman Der Plan dient dann neben weiteren Texten und Textformen auch als Untersuchungsmaterial für eine Systematisierung und exemplarische Betrachtung der Verwendung des Begriffs Lesen in Texten über die ‚Fremde Japan‘ (Kapitel 5.3: situativ: Die Fremde lesen; gegenständlich: Die Fremde als Lesestoff; vollziehend: Der Leseprozess). Zunächst wird die Zuweisung von Schrift-, Zeichen- und Textcharakter zu bestimmten kulturellen Phänomenen in Bezug auf damit verbundene Prozesse der Ver-
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1 Einleitung
rätselung und der Fremdheitskonstruktion genauer untersucht. Lesen als Tätigkeit, der Leseprozess, steht in den Texten dann in bildhafter Verwendung für verschiedene, teils durchaus differierende Formen der Wahrnehmung der Fremde und des Umgangs mit dem Fremden. Es sind nicht zuletzt Verstehenshaltungen und Verstehensprozesse, die in die Metapher ‚die Fremde lesen‘ gefasst werden, wobei ‚Verstehen‘ in diesem Kontext verschiedenste Dimensionen beinhaltet: Erkenntnisse gewinnen, Sinn zuschreiben, Bedeutung konstruieren, etc. An dieser Stelle werden einige zentrale Aspekte der Diskussion um das sogenannte Fremdverstehen bzw. das interkulturelle Verstehen in einer kritischen Zusammenschau dargestellt (Exkurs 2: Überlegungen zu: Fremde – Verstehen? Interkulturelle Hermeneutik und interkulturelles Lernen). Neben einer Reflexion der Begriffe Verstehen und Bedeutungskonstruktion werden aktuelle Fragestellungen und Grundannahmen einer Interkulturellen Hermeneutik skizziert und erläutert. Die bildungspragmatische Relevanz der theoretischen Reflexionen und Debatten wird anhand ausgewählter ‚Stolpersteine‘ und/oder ‚Wegbereiter‘, die den Prozess des interkulturellen Verstehens begleiten können, geprüft. In diesem Zusammenhang werden insbesondere Ziele und Konzepte des interkulturellen Lernens, die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und Empathie als Teil des sozialen Handelns sowie Wertung und Anerkennung als theoretische aber auch als konkrete gesellschaftliche und pädagogische Probleme diskutiert. Kapitel 5.4 widmet sich dann einem konstituierenden Element in der Beschreibung und Konstruktion Japans als Fremde. Das japanische Schriftsystem hat in den Darstellungen deutscher Reisender sowie in literarischen Texten über die ‚Fremde Japan‘ eine feste Funktion im Rahmen der Ästhetisierung und Mystifizierung der japanischen Kultur. So werden nach einführenden Überlegungen zu verschiedenen Ebenen der Fremdheit (in) der Sprache und Schrift, einige ‚Mythen‘ über die jeweils ‚fremde Schrift‘ – die chinesische und japanische sowie die Alphabetschrift – in vergleichender Perspektive vorgestellt. Abschließend richtet sich das Interesse dann auf die Frage, wie nun das fremde Schriftsystem ‚gelesen‘ wird. Die Darstellungen reichen von Klagen über Kränkungen durch die ungewohnte und verstörende Position als Illiterate in einer von Schrift dominierten Umwelt bis hin zu Zuweisungen sekundärer Schriftfunktionen, die sich auf die verstärkte Wahrnehmung der Materialität des Schriftsystems und dessen Kontext gründen, und die den Raum für Projektionen sowie für Ästhetisierung und Mystifizierung einer ganzen Kultur öffnen: Japan und die japanische Kultur als das immer schon ganz Andere.
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Fremde und Fremderfahrung
Ist die Rede von der Fremdheit zwischen den Kulturen, so verweist diese Begriffsverwendung in aller Regel auf Differenzen bzw. Differenzerfahrungen. Das Verhältnis von Eigenem (hier: der vertrauten Kultur) und Fremdem (der anderen Kultur) wird in dichotomischer Gegenüberstellung gestaltet: Das Fremde trägt stets das Eigene als Abgrenzungsbegriff in sich und vice versa. Im (human-)wissenschaftlichen Diskurs richtet sich die Perspektive nun insbesondere auf die Funktion der Begriffe und der Kategorie der/die/das Fremde und Fremdheit sowie auf das interdependente Verhältnis von Eigenem und Fremden in den unterschiedlichsten Kontexten.1 Im Verlauf der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Kategorie haben viele Forschungsrichtungen ihr je eigenes Begriffsinstrumentarium entwickelt, ihre eigenen Herangehensweisen gewählt und ihre je eigenen Konsequenzen aus den Ergebnissen gefordert.2 Von einer Inflation zu sprechen könnte schon fast als euphemistisch gelten. Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Begrifflichkeiten werden methodische Positionen markiert, korrekte und weniger korrekte politische und soziale Einstellungen offenbart – man könnte sagen, Glaubens_____________ 1
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Vgl. z.B. die Xenologie, die sich u.a. „mit den unterschiedlichen Erscheinungsformen und Einschätzungen kultureller Fremdheit und des Fremden [beschäftigt ...,] der Konstitution von Fremdheitsprofilen und Fremdheitskonstruktionen sowie den unterschiedlichen Formen und Funktionen von Stereotypen, Vorurteilen, Xenophobie. Leitbilder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung sind neben den zentralen Konzepten der Fremdheit und der Kultur v.a. Alterität und Alienität, Aneignung und Assimilation, Distanz, Fremdverstehen, Interkulturalität, Multikulturalismus und Toleranz.“ (Bredella et al. in: dies. (Hgg.) 2000, Xf.). Alois Wierlacher hat eine chronologische und im Anschluss auch systematisierende Aufstellung zu diesem Problemfeld geleistet; vgl. Wierlacher in: Wierlacher (Hg.) 1993, 19-112. Vgl. etwa die philosophische Perspektive, so bei Emmanuel Lévinas (Lévinas 19944; 19933) sowie die Studien zur Phänomenologie des Fremden von Bernhard Waldenfels (ders. 19992, 1998). Julia Kristeva (1990) schreibt – u.a. mit Rückgriff auf Sigmund Freuds Schrift Das Unheimliche von 1919 –: „Auf befremdliche Weise ist der Fremde in uns selbst: Er ist die verborgene Seite unserer Identität, der Raum, der unsere Bleibe zunichte macht, die Zeit, in der das Einverständnis und die Sympathie zugrunde gehen.“ (Kristeva 1990, 11). Die (auch problematischen) Konsequenzen dieses Ansatzes zeigt u.a. Anette Hammerschmidt auf (1997 vgl. ebd. 101ff.). Innerhalb der Soziologie sind etwa Georg Simmel (1908), der den ‚bleibenden Fremden‘ untersucht, und Alfred Schütz (1944), der die Begegnung zwischen ‚Ich‘ und ‚Du‘ als anthropologisches Phänomen betrachtet und eine Theorie des Fremdverstehens entwickelt hat, zu nennen.
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2 Fremde und Fremderfahrung
bekenntnisse im weitesten Sinne abgelegt.3 Die Kategorie Fremde lässt sich jedoch nur mit einer Zugangsweise fassen, die einer Perspektivenpluralität und -integration Raum gibt und die versucht, einen offenen Blick für die verschiedenen Ebenen, die diese Kategorie beinhaltet, zu bewahren.
2.1 Die Kategorie Fremde Da die vorliegende Arbeit keineswegs einen neuerlichen Beitrag zum weiten Feld der xenologischen Forschung darstellen soll, wird im Folgenden auf einen Text von Corinna Albrecht (1997) zurückgegriffen, die in ihrem Aufsatz Der Begriff der, die, das Fremde. Zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Thema Fremde – ein Beitrag zur Klärung einer Kategorie eine Zusammenstellung von sieben Bausteinen einer Definition der Kategorie geleistet hat.4 Diese Bausteine, die relationale, axiologische, handlungsorientierte und wertende Ebenen der Kategorie berücksichtigen, sollen im Folgenden kurz dargestellt werden, wobei auf einzelne Aspekte, die für die vorliegende Untersuchung von besonderer Relevanz sind, auch intensiver eingegangen wird.5 Entscheidend und Konsens in der Forschung ist die von Albrecht als erster Baustein angeführte „Relationalität der Kategorie Fremde“ (Albrecht in: Bizeul et al. (Hg.) 1997, 85). Obwohl das Fremde in der unmittelbaren, unreflektierten Wahrnehmung als eine Eigenschaft der damit in Verbindung gebrachten Person oder Sache verstanden wird, ist diese Kategorie viel eher der Ausdruck einer komplexen Beziehung: In welchem Verhältnis sehe ich mich selbst zu einer Person, Sache oder Situation? In welchem Verhältnis steht diese Person, Sache oder Situation zu der augenblicklichen Umgebung? Ob jemand oder etwas als fremd bezeichnet wird, ist abhängig davon, was als Eigenes wahrgenommen und was dem Anderen zugeschrieben wird (vgl. ebd., 85f.). Die „Dialektik von Eigenem und Fremdem“ (ebd., 86) besteht dann darin, dass das, was als das Eigene und als das Fremde wahrgenommen _____________ 3 4
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Zu dieser Diskussion vgl. auch Uerlings 1997, 6ff. Albrecht hat insbesondere die Erkenntnisse der Interkulturellen Germanistik und des Forschungsbereichs Deutsch als Fremdsprache nutzbar gemacht. Als grundlegende Vertiefung möchte ich noch auf den Abschnitt 3 Das Andere und das Fremde in dem Aufsatz von Alois Wierlacher verweisen: Wierlacher in: Wierlacher (Hg.) 1993, 62-74. Vgl. ergänzend Albrecht et al.: Auswahlbibliographie zur Grundlegung einer kulturwissenschaftlichen Fremdheitsforschung. In: Wierlacher (Hg.) München 1993, 501-545. Vgl. etwa Kapitel 2.2 Exotismus sowie in Kapitel 4, Exkurs 1: Überlegungen zu: interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität und in Kapitel 5: Exkurs 2: Überlegungen zu: Fremde – Verstehen? Interkulturelle Hermeneutik und interkulturelles Lernen.
2.1 Die Kategorie Fremde
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und bezeichnet wird, sich in wechselseitiger Abhängigkeit und Abgrenzung herausbildet und nie abgeschlossen ist, sondern immer wieder neu reflektiert und konstruiert wird. Der dritte Baustein, die Kennzeichnung von Fremdheit als „Interpretament der Andersheit“ (ebd., 86) rekurriert auf einen Aufsatz von Harald Weinrich (1993 [1985]) über Fremdsprachen als fremde Sprachen: „Was sodann die gesellschaftlich-kulturellen Merkmale der Andersheit betrifft, so können wir allgemein die gleiche Beobachtung wie bei den naturhaftkörperlichen Merkmalen machen. [...] Auch hier können wir feststellen, daß Fremdheit nicht notwendig aus der Andersheit folgt und erst durch Interpretation aus ihr entsteht. Fremdheit, so können wir zusammenfassend sagen, ist ein Interpretament der Andersheit.“ (Weinrich in: Wierlacher (Hg.) 1993, 131)
Das sogenannte „Fremdheitsprofil“ konstituiert sich „in Abhängigkeit von Eigenschaften der Person oder des Gegenstands und [6] der jeweiligen Beobachterperspektive“ (Albrecht in: Bizeul et al. (Hg.) 1997, 87) und besteht aus der Summe bestimmter wahrgenommener Merkmale einer Person, einer Sache oder einer ganzen Kultur. Dietrich Krusche (1983), auf den dieser Begriff zurückgeht, verweist auf den virtuellen, nicht-realen Charakter dieses Profils (vgl. Krusche 1983, 32). Fremdheitsprofile werden nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Wahrnehmung und Beschreibung der anderen Kultur evident und wirkungsmächtig. „Das Interpretament fremd als kollektives Deutungsmuster“ (Albrecht in: Bizeul et al. (Hg.) 1997, 87), der fünfte Baustein, kennzeichnet die Kategorie als kulturell tradiertes, kollektives Wahrnehmungsmuster, das historischen Wandlungen unterliegt. Obgleich die Deutung fremd durch das Subjekt auch von der persönlichen Geschichte sowie der individuellen Wahrnehmungshaltung abhängig ist, ist diese Interpretation aber auch fest verankert in der kulturellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit des Subjekts. Die Kultur gibt – durchaus wandelbare – Deutungsrahmen und verschiedene Modelle der Wahrnehmung und Funktionszuschreibung vor, die dem Einzelnen meist gar nicht bewusst sind, seine Interpretation und Konstruktion aber entscheidend bestimmen.7 In Bezug auf die ‚Fremde _____________ 6 7
[Alle Hervorhebungen innerhalb der wörtlichen Zitate wurden durch die jeweiligen Verfasser und Verfasserinnen vorgenommen, Ausnahmefälle werden besonders gekennzeichnet: [Hervorh. U.S.]] Stefan Rieger et al. (1999) gehen diesem Phänomen mit den Begriffen „Inszenierung und Archiv“ nach: „Befindet sich die Inszenierung im Prozeß der Bildfindung für das Eigene und das Fremde, so sind diese Bilder immer auch auf die Einspeisungen des Wissens und damit auf das Archiv bezogen. Geformt ist dieses Inventar aus Techniken des Wissens und seiner Repräsentation in der Wissenschaft, aber auch in populären Kontexten wie dem frühen Unterhaltungsfilm.“ (Rieger et al. in: dies. (Hgg.) 1999, 14 sowie ebd., 14-19). Vgl. auch die Ergebnisse des Forschungsprojektes Interkulturelle Begegnungen im Spiegel von Literatur und (Fernseh)film – Ein japanisch-deutscher Vergleich –, erschienen in: Gössmann; Mrugalla (Hgg.) 2001, 469-522 sowie in Seifert; Weber (Hgg.) 2002, 90-108. Gernig weist darauf hin, dass
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2 Fremde und Fremderfahrung
Japan‘ soll diesen kollektiven Anteilen der Fremdheitswahrnehmung und -konstruktion anhand des literarischen Diskurses bzw. anhand des öffentlichen Diskurses, wie er sich in verschiedenen Textformen spiegelt, nachgegangen werden. Mit dem Begriff „Fremdheitskonstruktionen“ (ebd., 91) beschreibt Corinna Albrecht in Anlehnung an Peter Horn8 die Tatsache, dass Andere oder anderes zum normativ Fremden9 erklärt werden können bzw. erklärt werden. Sie verwendet den Begriff damit in einer anderen als der für die vorliegende Untersuchung gültigen Sichtweise. Wierlacher spricht in diesem Zusammenhang von einer „intentional gesteuerte[n] Fremdstellung von Menschen, Kulturen, Subkulturen oder Sachen, die deren Ansehen und Selbstwert zu schwächen, pervertieren oder liquidieren“ sucht. Dieser Prozess beruht nicht selten auf Projektion von Verdrängtem in diese/s postulierte Fremde, das oder die in der Folge ausgegrenzt und oft auch beherrscht und unterdrückt wird bzw. werden. (Wierlacher in: Wierlacher (Hg.) 1993, 74ff.) Um Begriffsverwirrungen zu vermeiden, soll im Folgenden der Begriff der Fremdstellung bevorzugt werden, um das beschriebene Phänomen zu bezeichnen. Albrecht betont in ihren Ausführungen die verhaltenssteuernde Wirkung des letzten der hier angeführten Bausteine einer Kategorie Fremde, der affektiv besetzten individual- und sozialpsychologischen Wahrnehmungsmuster, unter die sie die Xenophobie, den Ethnozentrismus sowie den Exotismus, der in Kapitel 2.2 noch genauer beschrieben werden wird, fasst. Die Xenophobie bewertet das Fremde grundsätzlich als eine Bedrohung. Sie ist aus (sozial-) psychologischer Sicht eine unangemessene Furchtreaktion vor allem Fremden; unangemessen deshalb, da sie erkennen lässt, dass sich eine entwicklungsnotwendige Reifung des Menschen nur unzulänglich oder gar nicht vollzogen hat.10 Es ist zu beobachten, dass _____________
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solche kollektiven Archive kein „feststehendes Bedeutungsrepertoire“ darstellen, da sie jeweils von Individuen in bestimmten historischen Momenten unterschiedlich aktualisiert werden (vgl. Gernig in: dies. (Hg.) 2001, 291f.). Horn, Peter: Fremdheitskonstruktionen weißer Kolonisten. In: Wierlacher (Hg.) 1987, 405-418. Der Begriff geht zurück auf: Ohle, Karlheinz: Das Ich und das Andere. Grundzüge einer Soziologie des Fremden. Stuttgart 1978. „Unbekanntes weckt vielfach Angst; entsprechende Erfahrungen sind, wie das Fremdeln von Säuglingen anzeigt, anthropologische Konstanten. Die Erfahrung des Kleinkindes, daß Fremdes an Trennung gemahnt, bleibt eine Quelle von Angst- und Schuldgefühlen, deren Abwehr durch Xenophobie, durch die Vermeidung des Fremden, ermöglicht werden soll. Doch vor aller Erkenntnis richtet sich gegen das unbekannte Fremde ausschließlich der abwehrende Effekt. Jahre später wendet sich das heranwachsende Kind [...] dem Unbekannten als dem zu erkennenden Abenteuerlichen zu, weil dieses dem Menschen Bewährungsmöglichkeiten offeriert, die seine Kräfte wecken und seine Selbstverwirklichung fördern.“ (Wierlacher in: Wierlacher (Hg.) 1993, 39). Zur entwicklungspsychologischen Perspektive vgl. Spitznagel in: Bredella; Christ (Hgg.) 1996, 25-28.
2.1 Die Kategorie Fremde
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Xenophobie im gesellschaftlichen und politischen Diskurs immer wieder auch in dem Sinne instrumentalisiert wird, als sie als ‚natürliche‘ Reaktion deklariert und mithin als Rechtfertigung und/oder Entschuldigung für fremdenfeindliches Verhalten genutzt wird (vgl. Albrecht in: Bizeul et al. 1997, 90f.). Damit im Zusammenhang steht auch der Ethnozentrismus, der die andere Kultur und ihre Angehörigen als der eigenen Kultur unterlegen bewertet: Das eigene Werte- und Normensystem wird zur Beschreibungsfolie, zum Verstehensrahmen und zum Bewertungsmaßstab für andere Kulturen. Zumeist führen Furcht und Verunsicherung zu einer Verabsolutierung des Eigenen auf Kosten des Fremden. Georg Auernheimer (19952) bezieht sich u.a. auf die Perspektive Adornos et al. (1968), wenn er Ethnozentrismus, als eine „verhältnismäßig konstante mentale Struktur“ (Adorno et al. 1968, 89) kennzeichnet. Zudem verweist er auf die Unfähigkeit des Ethnozentrikers, „individuierte Erfahrungen zu machen“ (vgl. Auernheimer 19952, 144ff.).11 Über die hier dargestellten Bausteine für eine Definition der Kategorie der, die, das Fremde hinaus, die sich wechselseitig bedingen und ergänzen, soll noch kurz auf den Aspekt der Zeitlichkeit verwiesen werden, der insbesondere in der Begegnung verschiedener Kulturen von Relevanz ist. Ortfried Schäffter (1991) geht in seinem Aufsatz über Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit näher auf den Begriff der Eigenzeit ein:12 „Damit ist gemeint, daß ein Sinnkosmos seinem eigentümlichen Entstehungszusammenhang und Entwicklungsrhythmus unterworfen ist, aus dem heraus sich die jeweils äußere Welt konstituiert und aus dem er seine besondere Bedeutung erhält. Jedes autonome Sinnsystem – sei es eine Person, soziale Gruppe, gesellschaftliche Institution oder kulturelle Einheit – verfügt somit über ihre eigene Vergangenheit, besondere Gegenwart und spezifische Zukunft. Daher sind sie einander vor allem in bezug auf ihre ‚Temporalität‘ fremd: Sie existieren in verschiedenen Eigenzeiten, was zur Folge hat, daß sie in gegenseitigem Kontakt eine Verschränkung ihrer divergenten Geschichten, d.h. eine ‚Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem‘ hervorrufen.“ (Schäffter in: Schäffter (Hg.) 1991, 12)
Die verschiedenen Eigenzeiten, die zwischen größeren kulturellen Systemen spürbar werden, wobei die westlich-lineare Zeitordnung zumeist als Ausgangs- und Zielbewegung zum Maß- und Messstab erhoben wird, führen immer wieder zu ethnozentrisch fundierten Fremdstellungen. Dies wird insbesondere in Bezug auf die Modernitätsdiskussion relevant.13 Im _____________ 11 12 13
Zum Syndrom der autoritären Persönlichkeit vgl. u.a. Spitznagel in: Bredella; Christ (Hgg.) 1996, 28-30. Der Begriff der Eigenzeit geht zurück auf: Nowotny, Helga: Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Frankfurt 1989. Ich möchte hier kurz auf den Abschnitt „Kulturdifferenz als Modernitätsdifferenz“ in dem Werk von Georg Auernheimer (19952, 114-123) verweisen. Schäffter zeigt in seinem Auf-
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2 Fremde und Fremderfahrung
Kontext der Entdeckungsfahrten sowie der Weltreisen wurde und wird die Differenz zwischen Kulturen immer wieder als Zeitdifferenz konstruiert: Die Reise in die Fremde führt für die Reisenden in die eigene Vergangenheit, entweder in ein ‚Goldenes Zeitalter‘ oder in eine Zeit des tiefen Dunkels, der Unkenntnis, der mangelnden Zivilisierung und der Barbarei. Zeitlichkeit, einmal konkret verstanden als unterschiedliche Bedeutung von Zeit, kulturell unterschiedlich geprägte Zeiten (wie etwa ‚Arbeitszeit‘) und divergierende ‚Zeitgefühle‘, bestimmen vielfach den Rhythmus des Lebens und können somit Ursache für mannigfaltige Konflikte und Irritationen bei der Begegnung zwischen Menschen aus sehr unterschiedlichen Kulturräumen sein:14 „Tokio d. 17.6.86. Geliebte Eltern! [...] Bisher kann der Brief eigentlich von nichts anderem handeln als von der Langsamkeit, Langsamkeit und nochmals der Langsamkeit der Japaner aller Berufs- und Gesellschaftsklassen. Wie es unter den Gebildeten als gänzlich unfair gilt irgend eine Gemütsbewegung äußerlich im Geringsten zu zeigen, so erscheint auch das niedere Volk gänzlich phlegmatisch und in seinen Bewegungen so gemessen, daß es einen Europäer und namentlich einen mit semitischem Blut begabten geradezu aus der Haut treiben kann.“ (Mosse, Albert [1886] 1995, 122)15
Ohne Ausnahme verweisen alle Erklärungs- und Definitionsansätze über das Fremde, von den philosophischen über die psychologischen, soziologischen bis hin zu den kompilatorischen immer wieder darauf, welch unmittelbare Konsequenzen insbesondere das unhinterfragte Bild vom Fremden für den konkreten Umgang damit und für die konkreten Begeg_____________
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satz auch eindrücklich die politische Dimension der Kategorie Fremdheit in ihrer Funktion für bestimmte gesellschaftliche Ordnungskonzepte auf (vgl. Schäffter in: Schäffter (Hg.) 1991, 14ff.). Helga Nowotny weist noch auf einen weiteren Aspekt im Zusammenhang mit der Eigenzeit hin, nämlich auf den Wunsch, „Verfügungsgewalt und Eigentum über etwas zu haben, das selbst verfügbar bleiben muß: Eigenzeit.“ (Nowotny 1993, 131). Zur Vergleichbarkeit von gesellschaftlichen Zeitlichkeitsregelungen vgl. etwa SHIMADA Shingo in: Seifert; Weber (Hgg.) 2002,71-90. Albert Mosses Frau, Lina Mosse, versuchte sich mit dem anderen Lebens- und Arbeitstempo ihrer japanischen Dienstboten im Alltag zu arrangieren: „Aber das stört mich schon garnicht mehr; das ist nun hier mal so Sitte; die Leute sind an ein regelrechtes Hintereinanderarbeiten absolut nicht gewöhnt, was vielleicht im Klima und der schwächlichen Konstitution begründet sein mag. [...] Wenn ich dies nun als japanische Eigentümlichkeit anerkenne und ebenso, daß ich vielleicht jede Sache 25mal sagen muß, ehe sie geschieht, so kann ich sonst mit den Dienstboten recht zufrieden sein. Es sind gute Menschen, die entschieden Interesse zeigen.“ (Mosse, Lina [1886] 1995, 165) Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die Dimension der Ausübung von Macht hinweisen, wenn es darum geht, wer in einer Beziehungskonstellation das Tempo und den Rhythmus bestimmt. Helga Nowotny schreibt dazu: „Spätestens seit der Analyse der Konflikte um die Zeit wird deutlich, daß Zeit eine zentrale Dimension von Macht darstellt, die sich äußert in Zeitordnungen, die Prioritäten und Geschwindigkeiten, Anfang und Ende, Inhalt und Form der in der Zeit zu erfüllenden Tätigkeiten vorschreiben.“ (Nowotny 1993, 108)
2.1 Die Kategorie Fremde
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nungen haben kann. Nicht zuletzt diese Tatsache macht es notwendig, dass der Begriff und die Kategorie im gesellschaftlichen und vor allem im erzieherischen Kontext weiterhin intensiv reflektiert werden. Tzvetan Todorov (1985) zeigt mit seiner Typologie der Beziehung zu anderen (ebd., 221), dass der jeweilige Umgang mit dem Fremden nicht etwa einfach oder eindimensional aus einem Kennen oder Nicht-Kennen, einem Lieben oder Nicht-Lieben erklärbar ist, weshalb auch eine Reduktion der Beschäftigung mit dem Fremden auf ‚Informationen und Kennenlernen‘, wie es vielfach in unterrichtlichen Konzepten der Fall ist, nicht ausreicht. Man muss „mindestens drei Achsen unterscheiden, auf denen man die Problematik der Alterität anordnen kann. Auf der ersten haben wir das Werturteil (eine axiologische Ebene): [...] Auf der zweiten haben wir die aktive Annäherung an den anderen bzw. die Distanzierung von ihm (eine praxeologische Ebene): [...] Drittens kann ich die Identität des anderen kennen oder nicht kennen (das wäre die epistemologische Ebene); [...] Zwischen diesen drei Ebenen bestehen zwar Relationen und Affinitäten, aber es gibt keine strengen Implikationen; man kann also keine auf eine andere reduzieren und auch keine von der anderen her vorausberechnen. [...] Das Kennen impliziert nicht das Lieben oder umgekehrt; und keines von beiden impliziert die Identifikation mit dem anderen oder ist in dieser impliziert. Erobern, Lieben und Erkennen sind autonome und in gewisser Hinsicht elementare Verhaltensweisen.“ (Todorov 1985, 221)
Eine Bewusstmachung insbesondere der „Relationalität der Kategorie Fremde“ sowie der Tatsache, dass die Wahrnehmung von Fremdheit auf einer Interpretation einer Situation, Person oder Sache zu einem bestimmten Zeitpunkt basiert („Fremdheit als Interpretament der Andersheit“), ist auf epistemologischer Ebene unerlässlich: Nicht nur dem vermeintlich Fremden muss begegnet werden, auch dem Eigenen und den eigenen (persönlichen und auf kollektiven Archiven basierenden) Mustern des Umgangs damit, den Mustern der Deutung und der Konstruktion sowie deren Grundlagen. Auf eine spezifische Form solcher Muster wird in der vorliegenden Arbeit anhand des gewählten Untersuchungsgegenstandes exemplarisch eingegangen. Im Folgenden soll der Exotismus, der die Fremde als besonderen Reiz bewertet und der für die vorliegende Untersuchung insbesondere im Kontext des literarischen Diskurses der Jahrhundertwende von Interesse ist, näher betrachtet werden.
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2 Fremde und Fremderfahrung
2.2 Exotismus Der Exotismus gilt als eine besondere Spielart des epistemologischen Imperialismus. Es liegt eine reduzierte Wahrnehmung des Fremden vor, das zur Projektionsfläche für jeweils von Gesellschaft und Epoche abhängigen Wunschvorstellungen wird. Diese Form der Wahrnehmung idealisiert und/oder negiert Aspekte des Fremden, die diese Wunschprojektion stören könnten. Sie ist ebenso traditionell gebunden wie hartnäckig und wird nicht zuletzt von der Werbe- und Tourismusindustrie festgeschrieben, was ihre Resistenz gegenüber Informationen im Zeitalter der Massenmedien eindrücklich unter Beweis stellt.16 Exotismus rekurriert vielerorts auf ‚Rasse‘, um bestimmte Differenzen zu behaupten und zu legitimieren. Als besonders geeignete Projektions-‚Flächen‘ erweisen sich bestimmte Landstriche und vor allem Frauen aus bestimmten Kulturen – hier wird die geographische Fremde dann mit der ‚Fremde(n) Frau‘ zu einer Einheit. Insofern hat Exotismus auch mit Sinnlichkeit und Erotik zu tun, da die Begrenzungen und Begradigungen der christlich-abendländischen Kultur insbesondere im Bereich des Sexuellen Wünsche sanktionieren. Als Beispiel sollen kurz die Ver(w)irrungen des Diplomaten Hans Anna Haunhorst zitiert werden, der sich von 1910 bis 1911 in Japan aufhielt, und der sich, zumindest in der Verschriftlichung seiner Erlebnisse, bemerkenswert unbekümmert um die gesellschaftliche Realität der Kultur, in der er zu Gast war, zeigt.17 Haunhorst entdeckt bei einem Besuch im Hause eines westlichen Kollegen eine junge japanische Frau mit Namen Haru, die bei diesem lebt und die (edel verbrämte) sexuelle Wünsche in ihm wachruft. Nach einigen Schachzügen gelingt es Haunhorst, die junge Frau in sein Domizil zu bewegen und sich nun seinen exotisierenden Phantasien (und Handlungen) hinzugeben; dies gelingt ihm um so besser, da beide keine gemeinsame Sprache sprechen, was die Projektionen innerhalb des gege_____________ 16
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U.a. folgende Veröffentlichungen erweitern den Blick nicht zuletzt auch auf die Tradierungen sowie den Bereich der Bildenden Kunst: Santaolalla (Hg.) 2000. Koebner; Pickerodt (Hgg.) 1987; Pickerodt in: Exotische Welten. Europäische Phantasien. 1987, 60-66; Pollig in: ebd. 1987, 16-26; Kubin (Hg.) 1995; Hijiya-Kirschnereit 1988. Das Phänomen des Exotismus wird im Verlauf der Ausführungen noch genauer auf die jeweiligen Untersuchungsgegenstände bezogen werden. Hans Anna Haunhorst war von 1910–1911 sechs Monate im diplomatischen Dienst an der Botschaft in Tôkyô tätig. Sein Buch Das Lächeln Japans erschien zum ersten Mal 1936. Unter dem Titel Versunkenes Japan wurde es 1948 noch einmal aufgelegt; die spätere Ausgabe wurde von den gröbsten nationalistischen und völkischen Anteilen befreit (vgl. Krebs 1992, 7f.). Das Buch ist von seiner durch ‚Innerlichkeit‘ und ‚künstlerische Gesinnung‘ getragenen Verachtung für die Zeichen europäischer Kultur geprägt, von seinem Verhältnis zu einer japanischen Geliebten sowie durch Beleidigungen des japanischen Kaiserhauses.
2.2 Exotismus
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benen Machtverhältnisses für ihn wesentlich vereinfacht und goutierbarer macht: „Ich stürzte grußlos an ihm [dem japanischen Hausdiener] vorbei und sah – sah dich, wie du wie Benten, die lichte Göttin deines Volkes, in stillem Glanze zwischen den düster-schweren Ritterpanzern zweier alter Samurais standest, die finster drohend den Eingang zum Innern bewachten. Die helle Sonne schien von draußen durch die durchsichtigen Soshis – und doch war mir, als würde mein Haus von innen heraus von einem noch stärkeren, magischen Glanze erhellt. [...] Ich nahm dich, lächelnd fast wie du, bei der gleichen kleinen, wundertätigen Hand, die mir noch eben die Augen in Andacht geschlossen hatte, und führte dich wortlos, um des Kusses leises Fortweben nicht von den Lippen zu scheuchen, in das Innere des Hauses hinein, dir die Räume zu weisen, die dir, mein zartes Traumglück, zu kurzer Heimat werden sollten.“ (Haunhorst 1936, 125f.) „Tagelang haben meine Augen einen eifersüchtigen Kampf um ihre Alleinherrschaft gegen das immer heftiger aufsiedende Begehren des Blutes geführt, das seine ewigen Rechte verlangte. Sie mußten unterliegen, wenn anders nicht ich selbst ihrer tyrannischen Despotie erliegen wollte. Und auch diese erdentstammte Sprache verstandest du, O‘Harou‘ San, ohne deren unverlierbare Laute ja weder du noch ich geworden wären.“ (ebd., 131f.)
„Das Interesse am Fremden ist egozentrisch“, wie Anette Hammerschmidt im Zusammenhang mit dem Exotismus schreibt (Hammerschmidt 1997, 50). Auf ähnlichen Funktionalisierungen basiert auch das Konzept des Guten oder Edlen Wilden, das, wie auch die Robinsonaden, eine besondere Ausprägung des Exotismus ist: „Man sieht einen ebenso bizarren wie subtilen Fremden Gestalt gewinnen, der nichts anderes als das alter ego des einheimischen Menschen ist, das sowohl seine persönlichen Unzulänglichkeiten als auch die Verderbtheit der Sitten und Institutionen enthüllt.“ (Kristeva 1990, 145)18 Der Exotismus als kulturspezifisches und kulturhistorisches Phänomen19 hat in seinen jeweiligen bildnerischen, musikalischen und literarischen Produkten in Bezug auf unterschiedliche Länder und Kulturen jeweils divergierende Diskurse des Exotismus hervorgebracht. So konstituierte sich der exotistische Diskurs über Asien im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in Europa oberflächlich gesehen eher positiv,20 während er in Bezug auf Afrika imperialistische, kolonialistische und rassistische Einstellungen und Handlungen legitimierte.21 Neben der sogenannten _____________ 18 19 20 21
Zur Fiktion des Edlen Wilden und ihrer Tradition vgl. u.a. Hammerschmidt 1997, 27ff. sowie White 1986, 177-231. Vgl. dazu Trauzettel in: Kubin (Hg.) 1995, 3ff. Zum Exotismus in der europäischen Japan-Rezeption vgl. Wuthenow in: Maler (Hg.) 1990, 19-35 sowie Siemer 1999, 287-309. Vgl. auch 4.1 Einführung. Vgl. dazu die umfangreiche Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, herausgegeben von Alexander Honold und Klaus R. Scherpe (2004).
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2 Fremde und Fremderfahrung
Asienbegeisterung, die etwa im Japonismus in der Kunst ihren Ausdruck fand, existierte um die Jahrhundertwende in Deutschland auch ein ganz anderes Bild Japans, das in den militärischen Erfolgen des Landes (etwa im Chinesisch-Japanischen Krieg von 1894/95 und im RussischJapanischen Krieg von 1904/05) sowie in den schnell erfolgreichen Bemühungen Japans, den Anschluss an die westlichen Industrienationen zu finden, gründete: Japan als das ökonomisch und machtpolitisch Bedrohliche.22 Exotismus und Japonismus, die Beschwörung des ‚alten‘, vormodernen Japan, kann in diesem Zusammenhang bis heute auch als Gegenkonstruktion verstanden werden. Insofern müssen exotistische Konstruktionen nicht nur als psychologische (vgl. Brie 1920) und gesellschaftliche Phänomene verstanden werden, sondern auch als solche, die bestimmten Interessen, etwa politischen und ökonomischen, imperialistischen und rassistischen, dienen. Viele Autoren der Jahrhundertwende, die exotistische Werke vorlegten, bezogen jedoch damit auch durchaus Stellung gegen Imperialismus und Kolonialismus (vgl. Reif 1975, 29). Der exotistische Diskurs der Jahrhundertwende war insgesamt weniger von der Verständigung über die andere Kultur geprägt; vielmehr war es eine vornehmlich intellektuelle Auseinandersetzung mit sich selbst, in der es um Aspekte wie Bewusstseinserweiterung bzw. -erneuerung sowie um neue philosophische und religiöse Perspektiven ging.23 Darüber hinaus wurden auch konkret sinnliche Sehnsüchte sanktionsfrei in einen entfernten Raum und einen Kontext projiziert, der scheinbar frei von westlichchristlichen und daraus entstehenden moralischen Restriktionen war. ‚Dort‘ wurden sie dann stellvertretend ausgelebt. Wolfgang Reif (1975) kennzeichnet den Exotismus vor allem der Literaten der Jahrhundertwende in seiner grundlegenden Untersuchung als eine spezifisch europäische Existenzform, eine Fluchtbewegung, die ein Umkehrbild der eigenen, von Restriktion, Komplexität und Uniformität gekennzeichneten Kultur entwirft: „Sein [der Exotist] negativer Realitätsbezug schlägt sich in der Projektion eines Bildes der Gegenwart nieder, das von einer bis zu leidenschaftlichem Haß gesteigerten Ablehnung bestimmt ist.“ (Reif 1975, 13) Dem jeweiligen Sehnsuchts- bzw. Projektionsbild dagegen „liegen die Kompensationserlebnisse schrankenloser Entfaltung, überschaubarer Einfachheit oder Ursprünglichkeit und der Außergewöhnlichkeit zugrunde. [...] Der Exotist hat den scheinbar paradoxen Glauben, die durch die Entfremdung _____________ 22 23
Vgl. für diesen Zusammenhang auch die Untersuchung des Bildmediums Postkarte durch Sepp Lienhart: ‚Niedliche Japaner‘ oder Gelbe Gefahr? Westliche Kriegspostkarten 1900–1945. Münster u.a. 2005. Richard Hamann und Jost Hermand zeigen in ihren Ausführungen zu Imperialismus und Innerlichkeit, wie sehr diese scheinbar gegensätzlichen Pole aufeinander verweisen bzw. miteinander verbunden sein können (vgl. Hamann; Hermand 1960, 14-32).
2.2 Exotismus
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verlorengegangene Heimeligkeit der Nähe im geheimnisvollen Dunkel der Fremde wiederzufinden.“ (ebd.). Nicht nur in der Anfangsphase des Exotismus in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende24 wird, als spezifische Ausprägung dieser Wahrnehmungsform, eine essentielle Wesensgleichheit aller Menschen und Völker behauptet: „Wie wenig fremd mir diese Welt doch ist; der Europäer bedarf kaum einer Umstellung seiner selbst, um sich verstehend in sie hineinzuversetzen. [...] Mehr und mehr erlebe ich auf indisch, sehe ich die Welt und das Leben im Lichte der geistigen Sonne Hindustans.“ (Keyserling 1919, 244; 337)
Dieser anthropologische Universalismus insbesondere der Reiseliteraten dieser Zeit25 gründet jedoch nicht auf dem Versuch oder der Zielvorstellung, Menschen anderer Kulturen zu verstehen,26 sondern erlaubt es erst, _____________ 24
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Ein großer Teil der exotistischen Literatur der Jahrhundertwende besteht aus erzählender Literatur, die zumeist im Zusammenhang mit einer authentischen Reiseerfahrung entstand. Zur literarhistorischen Periodisierung des Exotismus vgl. Reif 1975, 22ff. Einen Forschungsbericht zum Exotismus in der (Reise-)Literatur liefert auch Brenner 1990, 549ff. Wolfgang Reif (1975) schreibt über die literarische Gestaltung des exotistischen Verfahrens: „[Hierbei] wird das Negativbild nicht selten ausgespart. Die ästhetische Ausmalung des Positivbildes erfolgt hier mit den Mitteln der Mythisierung und der Verfremdung. Mythisierung bedeutet zugleich Vergrößerung und Vereinfachung der Gegenstände. Der Begriff der Verfremdung [...] bezeichnet die Absicht, die dem gesteigerten Erleben korrespondierenden Wirkungen des Außergewöhnlichen zu erzeugen. Diesem entsprechen vor allem die Wirkungen des Fremdartigen und Bizarren, deren Skala vom Monströs-Häßlichen bis zum Ästhetisch-Sublimen reicht, sowie des Geheimnisvollen und des Wunderbaren. Die Tendenz zum Außergewöhnlichen wirkt sich oft in einem ausgeprägten Sensualismus aus.“ (ebd., 13f.). Mit seiner Ästhetik des Diversen (1908) richtet sich Victor Segalen u.a. gegen diesen Universalismus, indem er eine essentielle Wesensverschiedenheit und Fremdheit (vor dem Hintergrund seines Erlebens in China und auf Tahiti) sowie die Notwendigkeit der Akzeptanz dieser konstatiert. Zu Segalens Exotismuskonzeption, die neben einer Kritik und Neukonzeption der exotistischen Wahrnehmungshaltung auch Reflexionen über eine Ästhetik (als Form der – literarischen – Mitteilung) beinhaltet, vgl. u.a. Geiger in: Kubin 1995, 43-82 sowie Nell 2001, 270ff. Schon nach der Überzeugung der europäischen Aufklärung ist der Mensch immer und überall derselbe: „[d]ie Vielfalt der Erscheinungsformen menschlichen Handelns und Lebens ist nach dieser ‚aufklärerischen‘ Ansicht bekanntlich in der Einheit universaler Bestimmungen der conditio humana aufgehoben.“ (Straub 1999, 33) Somit wäre auch ein interkulturelles Personenverstehen denkbar, da gewisse anthropologische Universalien als Grundvoraussetzung eines solchen Verstehens angenommen werden. Auch Dilthey setzt in seiner Psychologie noch eine allgemeine Natur des Menschen, die ein Verstehen der Lebensäußerungen eines anderen ermöglicht: „Die Möglichkeit, ein Fremdes aufzufassen, ist zunächst eines der tiefsten erkenntnistheoretischen Probleme. Wie kann eine Individualität eine ihr sinnlich gegebene fremde individuelle Lebensäußerung zu allgemeingültigem objektiven Verständnis sich bringen? Die Bedingung, an welche diese Möglichkeit gebunden ist, liegt darin, daß in keiner fremden individuellen Äußerung etwas auftreten kann, das nicht auch in der auffassenden Lebendigkeit enthalten wäre. Dieselben Funktionen und Bestandteile sind in allen Individualitäten, und nur durch Grade ihrer Stärke unterscheiden
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2 Fremde und Fremderfahrung
die Reise in die Fremde literarisch als Reise ins eigene Ich zu verarbeiten und zu gestalten. Um die Fremde oder die Angehörigen der anderen Kultur geht es auch in dieser Ausprägung des Exotismus nicht. Dennoch verschwindet die Fremde als Fremde nicht einfach, sondern bleibt der Projektionsraum, die Szenerie für diese Entwürfe und muss aus diesem Grund auch als eine solche konstruiert werden. Asien, vor allem Japan, wird u.a. zum Projektionsraum der Reise zum ‚ästhetischen Ich‘: „Wie sehr ich bereits Japaner bin! Ihre Sinne sind die meinigen geworden, wie selbstverständlich wende ich die Kategorien ihrer Ästhetik an, bemerke und beachte ich tausenderlei, was mir sonst niemals auffällt; vom Denker scheine ich mich ganz und gar zum Augenmenschen verwandelt zu haben.“ (Keyserling 1919, 632f.)
Afrika hingegen bereitet den Raum für die Reise in die dunkle Seite des Ich, in das Heart of Darkness.27
2.3 Fremdwahrnehmung und Fremderfahrung Die Zuschreibung der Kategorie Fremd vollzieht sich bereits im Moment der Wahrnehmung, die in engem Zusammenhang mit der Erfahrung steht.28 So ist es für die Annäherung an den Begriff der Fremderfahrung unerlässlich, zunächst kurz auf die Wahrnehmung einzugehen.
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sich die Anlagen der verschiedenen Menschen. Dieselbe äußere Welt spiegelt sich in ihren Vorstellungsbildern.“ (Dilthey 19746 333f.) Auf dieser Grundlage ist auch ein SichVersenken und Verwandeln möglich, da eine grundlegende Fremdheit zwischen Menschen gar nicht bestehen kann. Diesem Universalismus steht der Sprach-, Kultur- und Kontextrelativismus gegenüber. Vgl. dazu auch in Kapitel 5: Exkurs 2: Überlegungen zu: Fremde – Verstehen? Interkulturelle Hermeneutik und interkulturelles Verstehen. Joseph Conrad: Heart of Darkness. [Erstdruck: 1899] London 1902. Zur Ebene der sogenannten „innersubjektiven Fremderfahrung“, vgl. auch Hammerschmidt 1997 sowie Freud 19897 [1919]: „denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.“ (ebd., 264). Zur ‚dunklen Seite‘ Asiens im Zusammenhang mit Spiritismus und Okkultismus vgl. auch Kapitel 5.4.3. In dem mit „Der eigentümliche Vorrang der Wahrnehmung“ überschriebenen Abschnitt kennzeichnet Bernhard Waldenfels die Wahrnehmung als den „Urmodus der sinnlichen Anschauung; denn alle direkte Vergegenwärtigung in Erinnerung, Erwartung und Phantasie meint etwas, das gegenwärtig war, sein wird oder sein könnte und das nur in der Wahrnehmung leibhaftig selbstgegenwärtig ist;“ (Waldenfels in: Krings et al. (Hgg.) 1974, 1670).
2.3 Fremdwahrnehmung und Fremderfahrung
33
Wahrnehmung Vertreter/innen des (Radikalen) Konstruktivismus, der seine Thesen auf der Grundlage von Forschungen aus dem Bereich der Kybernetik (Heinz von Foerster) sowie der Neurophysiologie und der Biologie (Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela) gebildet hat, konstatieren, je nach Ausprägung, dass der/die Wahrnehmende entweder keine ontische Wirklichkeit vorfindet oder aber keinen Zugang zu dieser bekommt. ‚Wirklichkeit‘ wird durch das Subjekt konstruiert – die wahrgenommene Welt ist von dem wahrnehmenden Subjekt nicht zu trennen. Fischer (2000) formuliert als unhintergehbare Prämisse des Konstruktivismus: „1. Wir können eine von uns als unabhängig gedachte Welt prinzipiell nicht erkennen.“ (Fischer in: ders.; Schmidt (Hgg.), 16). Entsprechend richtet sich ihr Interesse auf die Prozesse des Wahrnehmens bzw. der Konstruktion von Wirklichkeit(en) und nicht auf den Gegenstand der Wahrnehmung, da nach dieser Auffassung niemand wissen kann, wie die ‚Wirklichkeit‘ außerhalb der sie wahrnehmenden Subjekte beschaffen ist: „2. Wir erzeugen die uns bekannte Welt mit Hilfe mentaler Operationen (inferentieller Prozesse), mit Hilfe unserer Begriffe – d.h., die Idee von einer gegenüber unseren Vorstellungen unabhängigen Welt (Ontologie bzw. Metaphysik) ist obsolet.“ (ebd.).29 In der Perspektive des sozial-kulturellen Konstruktivismus verbinden sich im Zusammenhang mit dem Prozess der Wirklichkeitskonstruktion drei Komponenten: Körper und Gehirn, Geschichte und Diskurs sowie Wirklichkeitsmodell und Kultur (vgl. Schmidt in: Pörksen 2002, 172).30 In der Philosophiegeschichte hat der Zweifel an einer gesicherten Wahrheit von Wahrnehmung und Erkenntnis schon seit der Antike Tradition. Dieser Skeptizismus drückt sich in der Gegenwart im Zweifel an der naturwissenschaftlichen Erkenntnis aus, und der Frage, ob die Überein_____________ 29
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Von Interesse ist für den Radikalen Konstruktivismus also eher die Frage nach dem Weg, den das Subjekt gehen muss, um jeweils subjektiv relevante Ziele in der Wirklichkeit, in der Welt zu erreichen (vgl. von Glasersfeld in: Einführung in den Konstruktivismus 20026, 39). Wenn wir einen Weg gefunden haben, dieses Ziel zu erreichen, ohne mit Hindernissen zu ‚kollidieren‘, dann ist diese Lösung ‚viabel‘, d.h. sie scheint „in ihren jeweiligen kulturellen Kontexten als passend.“ (Neubert; Reich; Voß in: Hug 2001, 260; zur Viabilität vgl. auch von Glasersfeld in: Einführung in den Konstruktivismus 20026, 23ff.). Zur subjektiv so empfundenen ‚Wirklichkeit‘ der Individuen aus Sicht des Konstruktivismus vgl. Siegfried J. Schmidt: „Die kognitive Welt, die wir intuitiv als Wirklichkeit erleben, ist ein viables, soziales Konstrukt, das im kognitiven Bereich jedes einzelnen Individuums erzeugt wird.“ (Schmidt 1992, 100) Realität wird gekennzeichnet als „ein Bereich von Beschreibungen/Repräsentationen, kein Ensemble objektiver Gegenstände. Jede Beschreibung schließt aber notwendig einen Beobachter ein [...] Der Beobachter ist die letztmögliche Bezugsgröße für jede Beschreibung.“ (Schmidt in: Einführung in den Konstruktivismus 20026, 152). Vgl. auch die neueren Ergebnisse der Wahrnehmungspsychologie, z.B. im Zusammenhang mit Wahrnehmung und Gedächtnis, etwa bei Goldstein 2002.
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2 Fremde und Fremderfahrung
stimmung zwischen Beobachtetem und einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit nicht mehr mit Glauben und Systemsetzungen durch Subjekte zu tun hat als mit objektiver Erkenntnis. Im Unterschied zum Radikalen Konstruktivismus wurde in der philosophischen Tradition jedoch noch eine Trennung zwischen wahrnehmendem Subjekt und dem Wahrgenommenen, also einer ontischen Welt der Dinge, vorgenommen, auch wenn es „zu den Stilkonventionen der philosophischen Welt, in der wir aufgewachsen sind, gehört, Wirklichkeitspostulate jenseits der Sprache (oder wenigstens: jenseits des Bewusstseins) als ›metaphysisch‹ (als ›jenseits der Reichweite von Wissenschaft liegend‹, dekretiert das Oxford Dictionary of Philosophy) abzukanzeln.“ (Gumbrecht in: Bohrer; Scheel (Hgg.) 2005, 751)31 Im Folgenden soll ein kurzer Blick auf einen Teilaspekt der philosophischen Diskussion des Wahrnehmungsbegriffs geworfen werden, da sich dort Hinweise finden, die für den vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung sind.32 Bernhard Waldenfels (1974) verweist in seinem Artikel „Wahrnehmung“ im Handbuch philosophischer Grundbegriffe darauf, dass sich jede Wahrnehmung auf eine Begegnung, also auf etwas ‚Gegebenes‘, dem das Subjekt sich zuwendet, das von ihm registriert und aufgenommen wird, zurückführen lässt. Natürlich ist ein solches ‚Gegebenes‘ „nicht punktuell gegen anderes abgesetzt, sondern bildet einen Kernbereich, der mehr oder weniger bestimmt über sich hinausweist auf Horizonte des Mitgegebenen und Gebbaren“ (Waldenfels in: Krings et al. (Hgg.) 1974, 1673). Diese aktuelle Begegnung ist nicht nur umgeben von anderen möglichen Begegnungen, sondern auch „durchsetzt mit latenten Erinnerungen, Erwartungen und Phantasievorstellungen.“ (ebd., 671) „Kioto, Kiotohotel, 27. April 1906 [...] Wenn ich nicht Japan in der Erinnerung hätte, wie es aus der Ferne zu Hause auf mich immer so schön wirkte, könnte ich es jetzt beinah langweilig und traurig nennen. Es ist so leise, daß man sich umsieht, wo eigentlich Japan ist, und so farblos, daß man enttäuscht wie in einem grauen Nebel von Norddeutschland zu leben scheint.“ (Dauthendey 1930, 146)
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Zu dieser Diskussion sowie „Über eine neue Sehnsucht nach Substantialität“ vgl. ebd., 751-762. Zur Kritik am Konstruktivismus und Rückkehr zu der Auffassung, „die uns umgebende Realität als etwas objektiv Gegebenes, von Denken und Sprache weitestgehend Unabhängiges zu verstehen“ vgl. Willaschek in: Bohrer; Scheel (Hgg.) 2005, 772. Vgl. auch Waldenfels 2000, 45-110. In Bezug auf Wahrnehmung sowie in Bezug auf Erfahrung können die Ausführungen der Komplexität insbesondere der philosophischen Diskussion im Rahmen dieser Arbeit nicht gerecht werden. So sollen nur einige relevante Aspekte herausgegriffen und in einer Zusammenschau näher fokussiert werden. Zu Theorie der Fremderfahrung innerhalb der Philosophie vgl. insbesondere Bernhard Waldenfels 19983, 19992 sowie 1998. Zur Interkulturellen Fremderfahrung vgl. im Besonderen in Kapitel 4, Exkurs 1: Überlegungen zu: interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität.
2.3 Fremdwahrnehmung und Fremderfahrung
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Auch aufgrund dessen, dass die Wahrnehmung in einem komplexen Verhältnis zur ‚gegebenen Wirklichkeit‘ steht, – „es ist uns mehr gegeben als wir meinen und wir meinen mehr, als uns gegeben ist;“ (Waldenfels in: Krings et al. (Hgg.) 1974, 1672) – wird etwas Gegebenes immer als etwas wahrgenommen, ebenso wie etwas immer als etwas verstanden wird.33 Es wird, nach Waldenfels, „in einem bestimmten Sinn aufgefaßt“ (ebd., 1671).34 Erfahrung Der aktiv-kreative Aspekt der Wahrnehmung, etwas Gegebenes als etwas aufzufassen, ihm also Sinn zuzuschreiben und es mit Bedeutung zu versehen, wird insbesondere auch für die Erfahrung geltend gemacht: „Denn jede Erfahrung enthält eine Interpretation.“ (Rehbein 1997, 28) Gemeinhin scheinen die Begriffe Fremdwahrnehmung und Fremderfahrung fast synonym verwendet zu werden.35 Der Begriff der Erfahrung, wie er in der vorliegenden Untersuchung aufgefasst wird, meint aber eher etwas, das in gewisser Weise der Gegenwärtigkeit, wie sie der Wahrnehmung innewohnt, enthoben ist. Zwar erfahre ich etwas instantan, ich könnte also den Moment, in dem ich eine Erfahrung mache, benennen (‚ErfahrungenMachen‘). Auf eine Erfahrung kann man aber auch zurückgreifen, sie wird reflektiert,36 insofern geht sie in den Besitz über (‚Erfahrungsschatz‘) und führt dadurch zu Urteilen. Nach Kant ist Erfahrung gleichbedeutend mit einer Erkenntnis (der Objekte) durch Wahrnehmung. Kant scheidet also die Wahrnehmung von der Erfahrung dadurch, dass erst eine Beurteilung
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Zum Verstehensbegriff vgl. in Kapitel 5, Exkurs 2: Überlegungen zu: Fremde – Verstehen? Interkulturelle Hermeneutik und interkulturelles Lernen. Ohne sich auf eine tiefergehende Reflexion des ‚Sinns‘ einzulassen, soll an dieser Stelle nur kurz die von Waldenfels angeführte Auffassung Husserls wiederholt werden: „Sinn oder Bedeutung, [...] sind keine mysteriösen Entitäten, sondern die Art und Weise, wie wir uns auf den Gegenstand beziehen.“ (Waldenfels in: Krings et al. (Hgg.) 1974, 1671). Zu Sinn in hermeneutischen und funktionalistischen Ansätzen vgl. u.a. Fulda in: Handbuch der Kulturwissenschaften; Bd. 1, 2004, 251-256. Zur Entfaltung des Bedeutungsbegriffs im Blickfeld unterschiedlicher wissenschaftlicher Zugriffe vgl. Aust 1983, 140ff., zum Bedeutungsbegriff in der Literaturwissenschaft vgl. insbesondere Jannidis; Lauer; Martinéz; Winko in: dies. (Hgg.) 2003, 3-33. Zu Bedeutung in der hermeneutischen Diskussion vgl. auch Assmann in: dies. (Hg.) 1996, 12ff. Zur Begriffsverwirrung in Bezug auf Wahrnehmung und Erfahrung, etwa bei Locke, Kant u.a., vgl. Kambartel in: Ritter (Hg.) Bd. II. 1972, 612f. „Rationales und Sinnliches durchdringen sich immer schon in der Erfahrung.“ (Waldenfels in: Krings et al. (Hgg.) 1974, 1672).
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2 Fremde und Fremderfahrung
aus der Wahrnehmung eine Erfahrung werden lässt.37 In Hans Blumenbergs Die Lesbarkeit der Welt (20005) heißt es: „Erfahrung gilt als die disziplinierteste Form von Weltumgang, weil sie auf geradem Weg zum Urteil und damit zu jenen vorläufigen Endgültigkeiten führt, aus denen die Geschichte von Theorien und Wissenschaften besteht“ (ebd., 2). (Alltags-) Erfahrungen werden auch im nichtwissenschaftlichen Kontext für Individuen zur Grundlage von subjektiv so empfundenen Erkenntnissen und Urteilen, die jedoch oft genug Beurteilungen, Konstruktionen, Deutungen sind. Johann Friedrich Herbart formuliert den prägenden Einfluss von Erfahrungen für das eigene Leben, verweist aber zugleich auch auf die Grenzen, die sich mit diesen verbinden: „Erfahrung, obgleich unsere Lehrerin durchs ganze Leben, gibt dennoch nur ein äußerst kleines Bruchstück eines großen Ganzen.“ (Herbart 19133, 145). Erfahrungen gründen auf Wahrnehmungen und prägen die weiteren Wahrnehmungen. Nicht das Fremde oder die Fremde wurde also wahrgenommen und erfahren, korrekter Weise müsste man davon sprechen, etwas als Fremde(s) wahrgenommen und als Fremderfahrung verbucht bzw. beurteilt oder gedeutet zu haben. Diese ‚Fremderfahrungen‘ wiederum beeinflussen und verändern die bisherigen eigenen Erfahrungen: „Die Fremderfahrung impliziert ein Fremdwerden der eigenen Erfahrung, da diese im Zusammenstoß mit dem Fremden ihre Selbstverständlichkeit einbüßt.“ (Waldenfels 1998, 43) Die Art und Weise, wie etwas als etwas gedeutet wird, mit welchen Interpretationen eine Erfahrung versehen wird und zu welchen Urteilen sie führt, ist historischen Wandlungen unterworfen. Dies betrifft insbesondere auch den Bereich der Wahrnehmung und Erfahrung von kultureller Fremde etwa durch Reisen in ferne Länder, wobei hier die massiven Veränderungen in den Möglichkeiten der Erfahrung zentrale Bedeutung gewinnen. Die Art und Weise wie sich die sinnliche Wahrnehmung vollzieht, wie sie gedeutet und in eine Erfahrung transformiert wird, ist aber nicht zuletzt auch davon bestimmt, in welchem Wahrnehmungs- und Erfahrungsraum sie stattfindet: Die Wahrnehmung des Anderen in der kulturellen Ferne vollzieht sich unter anderen Prämissen als im vertrauten Rahmen der eigenen Kultur. Der Rückgriff auf vertraute Referenzmuster ist im ‚Raum des Anderen‘ nicht mehr so einfach möglich, die selbstverständliche Stabilität dieser Muster ist in Frage gestellt – und wird unter Umständen genau aus diesem Grund umso entschlossener re-konstruiert. _____________ 37
Vgl. Grimm, Jacob &Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. III. Leipzig 1862, 793. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie wird genauer auf die problematische Einordnung der Auffassung Kants verwiesen (vgl. Kambartel in: Ritter (Hg.) Bd. II. 1972, 611f.). Im Folgenden wird im Zusammenhang mit Wahrnehmung und Erfahrung auch der Begriff ‚Erleben‘ verwendet.
2.3 Fremdwahrnehmung und Fremderfahrung
37
Peter Brenner (1989) ist in seiner Abhandlung über Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts der historischen Dimension von Erkenntnisinteresse, Wahrnehmung und Erfahrung sowie Darstellung der Fremde bereits intensiv nachgegangen; an dieser Stelle sollen deshalb einige kurze Hinweise genügen. Vilém Flusser nimmt am Beispiel der Mobilität mehrere Dimensionen der Veränderung der (Fremd-) Erfahrung in den Blick: Die veränderten Bedingungen und Möglichkeiten der Mobilität, die daraus resultierende andere Art des Umgangs mit möglichen Erfahrungen und die Relevanz der Beziehung, in die sich der einzelne Mensch zu diesen Erfahrungen setzt: „Anders gesagt: Damals war die Welt unerfahrbar, weil wir nicht weit genug fahren konnten, um sie ganz zu durchfahren. Die Schuld lag bei uns Fahrenden und nicht bei der Sache.[38] Jetzt, da wir uns auf einige ganz wenige, uns hautnah angehende Erfahrungen zu konzentrieren versuchen, jetzt, da wir nicht mehr ausfahren, um zu entdecken, sondern eher das uns Angehende auskosten wollen, kommen wir auf die umgekehrte Begrenzung. Jede konkrete Erfahrung ist von einem zahllosen Schwarm von Standpunkten umgeben, und wir können keine völlig auskosten, so viele Standpunkte wir auch einnehmen mögen.“ (Flusser 1994, 83)
Globalisierung, neue Wanderungsbewegungen, Massentourismus und Massenmedien haben die Welt scheinbar verkleinert, viele Erfahrungen in der Fremde ermöglicht und die Qualität der Erfahrungen verändert. Herbert Jost (in: Brenner (Hg.) 1989) beschreibt in diesem Zusammenhang die Entwicklungen des Reisens seit dem 19. Jahrhundert, die sich aufgrund der technischen, sozialen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungen vollzogen haben, und Peter Brenner kennzeichnet die (post)moderne Wahrnehmungsform heutiger Reisender folgendermaßen: „Hier kommen die Tendenzen in der neuzeitlichen Entwicklung der Wahrnehmungsformen des Fremden zu einem Ende: Das Fremde wird künstlich hergestellt, indem es aus einer einheitlich werdenden Welt willkürlich herausgehoben und singularisiert wird. Es befriedigt keinen Erkenntnis-, sondern nur noch einen Reizbedarf, den die monotone Vereinheitlichung der Welt hervorgerufen hat. Diese Wahrnehmungsform ist nicht mehr auf Empirie angewiesen, da sie ihre Gegenstände auch erfahren kann, ohne ihnen gegenüberzutreten. Die unmittelbare Erfahrung kann durch beliebige andere Medien ersetzt werden. Die Frage, ob der Reisende lügt, stellt sich nicht mehr: Die Standardisierung der Gegenstände seiner Erfahrung läßt ihm keine Wahl, als die Wahrheit zu sagen – eine
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[Hans Blumenberg zeigt, inwiefern schon im 17. Jahrhundert der „Standort des Weltbetrachters in Bewegung geraten [ist ...] Dadurch wird Erfahrung zum weiträumigen Prozeß, der durchlaufen sein will und Verkürzungen nicht verträgt. Man darf sagen: Dem, was die Welt ist, wird das Grundverhalten der Reise zum angemessenen Typus, zum Muster, unter dem ›das Leben‹ selbst und als ganzes begriffen werden kann.“ (Blumenberg 20005, 108).]
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2 Fremde und Fremderfahrung
Wahrheit freilich, die keiner mehr hören will, weil sie jeder schon kennt.“ (Brenner in: ders. (Hg.) 1989, 39)39
Bekannt sind diese „Gegenstände der Erfahrung“ aus den Massenmedien, die neue Arten der Sekundärerfahrungen aufgrund neuer Formen der Präsentation und Konstruktion von Wirklichkeiten und neuer Formen der Wahrnehmung ermöglichen. Dies betrifft insbesondere den Sehsinn: Das Fernsehen etwa erlaubt eine scheinbar unmittelbare Wahrnehmung, eine Teilnahme am (Welt-)Geschehen, ohne die mit jeder Teilnahme ja ursprünglich verbundene Übernahme von Verantwortung für das Geschehen einzufordern.40 An dieser Stelle könnte man die Frage stellen, ob denn eine Sekundärerfahrung, etwa durch Lesen oder Fernsehen, als Erfahrungs-Wert suspekt ist, da sie nicht auf unmittelbarer Anschauung und konkretem Erleben gründet oder ob sie nicht vielleicht doch eine ganz eigene Autorität besitzt. Die Wertschätzung oder das Hinterfragen solcher Sekundärerfahrungen ist wohl historisch gebunden: Hans Blumenberg zeigt dies in Bezug auf die Rivalität von Bucherfahrung (das Primat des ‚Buchs der Bücher‘) und Welterfahrung als ein „Phänomen kultureller Spätzeit“ (Blumenberg 20005, 11). Das Primat des Fernsehens als Vermittlungsinstanz von Realität für die heutige Mediengesellschaft illustriert Ryszard Kapuściński anhand des folgenden Beispiels: „Paul kann die Welt gar nicht mehr anders sehen als durchs Fernsehen, ja die andere, nicht televisionäre Welt existiert für ihn gar nicht, ist nicht real, eine Illusion. Daher will er sie gar nicht erst kennenlernen. Er war zwei Monate in
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Das Ende des Reisens wird für die Gegenwart vielfach konstatiert oder doch zumindest das Ende dessen, was das Reisen ursprünglich auszumachen scheint, etwa Entdeckung, Neuigkeit, Fremdheit, Zeit, Unberechenbarkeit und Wahrnehmungsfähigkeit. Gert Mattenklott zeigt in seinen Ausführungen zu den inneren Reisen, dass „der Reisende die gesamte Komplexion als ein Denkmal [bewahrt]: als Reisevorstellung.“ (Mattenklott 1982, 210). Diese Vorstellung, so könnte man ergänzen, wird nach wie vor im Reisetext wieder als eine gelebte und beschriebene Erfahrung (re-)konstruiert. Neuere und insbesondere weiter gefasste Perspektiven birgt die Untersuchung von Kati Stammwitz (2000) über den postkolonialen Reisebericht. In dieser Studie wird das ‚Ende des Reisens‘ sowie der ‚Tod der Reiseliteratur‘ als eurozentrische Vorstellung entlarvt; Stammwitz betrachtet in diesem Zusammenhang neue Formen des Schreibens über neue Formen des Reisens (ebd., 38ff.) und Wahrnehmens von Autoren/innen, die zum großen Teil aus ehemaligen Kolonien stammen. Vgl. Kapuściński 2000, 187f. sowie den Essay von Susan Sontag über die Kriegsfotografie: Das Leiden anderer betrachten 2003. Uta Brandes fragt in diesem Zusammenhang: „Was hat sich denn wirklich für uns verändert durch die selbstverständliche Möglichkeit, unendliche Bilder aus jedem Winkel der Welt und des Universums zur Verfügung zu haben? Verfügen wir über diese Form des Sehens noch, ist sie als Erkenntniserweiterung erfahrbar, oder entsteht so etwas wie eine neue Beliebigkeit oder aber eine andere Form der Selektion, wenn alle Bilder unterschiedslos auf einem Niveau unseren Sehsinn erreichen.“ (Brandes; Busch in: Sehsucht 1995, 15).
2.3 Fremdwahrnehmung und Fremderfahrung
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Warschau, doch die Stadt hat er nicht gesehen. Welche Stadt? Die existiert doch gar nicht, denn sie wurde nicht von CNN gezeigt.“ (Kapuściński 2000, 185)41
Anderen zugänglich werden (Fremd-)Erfahrungen erst wenn sie dargestellt, in irgendeiner Form zum Ausdruck gebracht werden.42 Die in den folgenden Kapiteln zugrunde gelegten Texte entstanden alle vor dem Hintergrund eigener konkreter Erfahrungen der jeweiligen Schreibenden und waren begleitet oder vorbereitet durch verschiedenste Formen der Sekundärerfahrung, etwa durch vorbereitende Lektüre. Auf den Einfluss dieser Sekundärerfahrungen auf die konkreten Wahrnehmungen und die Verarbeitung dieser in Texten, wird an gegebenen Stellen näher eingegangen werden.
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Zum „Fernsehen als Realitätsmaschine“ vgl. Hörisch in: Bohrer; Scheel (Hgg.) 2005, 980988. Vgl. Turner, Victor M.; Bruner, Edward M. (eds.): Anthropology of Experience. Urbana; Chicago 1986.
3 Die Fremde als Sehnsuchtsraum: Japan im Werk Bernhard Kellermanns 3.1 Einführung 3.1.1 Reisen, Schreiben, Lesen In der Kurze[n] Selbstbiographie von Bernhard Kellermann,1 geschrieben im Sommer 1945, heißt es: „1907 unternahm ich eine Reise um die Erde und verbrachte ein halbes Jahr in Japan.“ (Kellermann 1952 [1945], 65).2 Diese Reise, der noch weitere nach Amerika und Asien folgten,3 wurde Bernhard Kellermann durch die Investition des Verlegers Paul Cassirer ermöglicht, der wie viele andere Verleger seiner Zeit die literarische Reisebeschreibung förderte. Literarische Reisebeschreibungen standen zu Beginn des 20. Jahrhunderts hoch im Kurs; die Auflagenzahlen wuchsen, bekannte Autoren reisten in immer fernere Gegenden, um dem Drang des Publikums nach Beschreibungen fremder Kulturen nachzukommen.4 Dieser Boom lässt sich für einen Zeitraum verzeichnen, in dem es, wie Wolfgang _____________ 1
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Bernhard Kellermann, dessen Werk weitgehend in Vergessenheit geraten ist, wurde insbesondere durch seinen Roman Der Tunnel (1913) bekannt. Kellermann arbeitete während des Ersten Weltkriegs als Kriegsberichterstatter und avancierte in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem populären Schriftsteller. 1926 wurde er Mitglied in der Preußischen Dichterakademie, 1933 durch die Nationalsozialisten von dort ausgeschlossen. Nachdem er 1945 Vizepräsident des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands wurde, blieb er in der sowjetischen Besatzungszone. Ab 1949 Volkskammerabgeordneter, erhielt er 1950 den Nationalpreis der Deutschen Demokratischen Republik und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Akademie der Künste. Bereits 1904 erschien sein erster (neuromantisch-impressionistischer) Roman Yester und Li in Leipzig. In der vorliegenden Untersuchung werden nur seine japanbezogenen Werke Beachtung finden. Zu Kellermann vgl. u.a.: Chołuj 1991, 12-15, Ilberg 1959, Kraus 1930, Scholz 1994, Treuheit in: Flessner (Hg.) 2000 und Tschörtner 1991, 53-60. Vgl. auch Anger 1960, 5. Bernhard Kellermann reiste gemeinsam mit dem Maler Karl Walser nach Japan (vgl. Kapitel 3.3.3 Bilder und Imaginationen). Neben der Weltreise von 1907 folgten 1913 eine Reise nach Nordamerika, 1926 eine Reise durch Asien und 1928 nach Moskau. Im literarischen Nachlass von Bernhard Kellermann finden sich neben den hier genannten Werken noch insgesamt 12 Werkmanuskripte, die als Reisebeschreibungen gekennzeichnet sind. Außerdem spiegeln sich seine Erfahrungen in zahlreichen Reden und Aufsätzen (vgl. Anger 1960). Schon vorher verbrachte Bernhard Kellermann viel Zeit im Ausland, aus dem etwa neunmonatigen Aufenthalt auf der Isle Quessant entstand das Werk Das Meer (erschienen 1910). Zu Reiseberichten über Japan vgl. insbesondere Pekar 2003, 137ff.
3.1 Einführung
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Reif (1989) aufzeigt, im eigentlichen Sinne nichts mehr zu ‚entdecken‘ gab. Die Welt war umkreist, sie war erfasst und so weit es eben ging kolonialisiert und europäisiert. Was die Suche nach dem kulturell Fremden dennoch reizvoll erscheinen ließ, kann auf die bereits beschriebene, von konkreten Erfahrungen und Erkenntnissen doch relativ unabhängige Wahrnehmungsweise des Fremden, den Exotismus, zurückgeführt werden: Einzelne Elemente anderer Räume und kultureller Erscheinungsformen werden zu Intarsien für einen fiktiven Sehnsuchtsraum.5 Obgleich also im globalen Kontext die Entdeckungsfahrten ihre Bedeutung im Sinne von Neuentdeckung, Erforschung und Eroberung verloren hatten und 1885 mit der Kongokonferenz6 die Verwertungs- und Aufteilungsbestrebungen des imperialistischen Europas kaum noch Raum fanden, an dem sie weiter ausgelebt werden konnten,7 hatte natürlich der Einzelne nach wie vor die Möglichkeit, individuell für sich die Fremde zu entdecken und zu erfahren und seine Sehnsüchte in diese zu projizieren. Er konnte dies je nach Mitteln unmittelbar als Reisender tun oder vermittelt als Lesender verschriftlichter Erfahrungen in der Fremde. Machte man sich als Reisender auf den Weg in die – immer schon konstruierte – Fremde, so war dieser Weg vorgeprägt und begleitet von bestimmten historisch bedingten, kollektiven und individuellen Erwartungen, von ‚Sehnsuchtsbildern‘, die sich im Verlauf der Reise einer Konfrontation mit einer anderen Wirklichkeit stellen mussten. Das war sicher nichts historisch Neues; neu war jedoch, dass die konkret erfahrene Wirklichkeit in der Fremde nun aber Versatzstücke beinhaltete, die aus der eigenen Kultur bekannt waren: Technisierung, Europäisierung, Zerstörung der Naturräume, die Begegnung mit Angehörigen der eigenen Kultur – all das wollte man doch eigentlich hinter sich lassen.8 Nun muss aber das, was man erlebt, nicht immer das sein, wovon man erzählt. Die Reisenden hatten verschiedene Möglichkeiten bei der Verschriftlichung ihrer Erlebnisse etwa mit einer enttäuschenden oder desillu_____________ 5 6 7
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Zum Exotismus vgl. auch Kapitel 2.2 Exotismus. Die sogenannte „Kongokonferenz“, auch „Berliner Konferenz“ genannt, war eine internationale Zusammenkunft zur Abgrenzung kolonialer Machtbereiche in Afrika. Vgl. Reif in: Brenner (Hg.) 1989, 435. Unter Wilhelm II. bemühte sich Deutschland (nicht zuletzt auch auf Druck der Großindustrie) dann aber noch einmal recht rege, Anschluss an den aggressiven Imperialismus zu gewinnen und Deutschlands Stellung als ‚Weltreich‘ durch kriegerische und gewaltsame Aktionen zu manifestieren. 1955 schreibt Claude Lévi-Strauss: „Nie wieder werden uns die Reisen, Zaubertruhen voll traumhafter Versprechen, ihre Schätze unberührt enthüllen. Eine wuchernde, überreizte Zivilisation stört für immer die Stille der Meere.“ Und über die Funktion von Reiseberichten schreibt er: „so verstehe ich die Leidenschaft für Reiseberichte, ihre Verrücktheit und ihren Beruf. Sie geben uns die Illusion von etwas, was nicht mehr existiert und doch existieren müßte, damit wir der erdrückenden Gewißheit entrinnen, daß zwanzigtausend Jahre Geschichte verspielt sind.“ (Lévi-Strauss 1991, 30f.).
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sionierenden Erfahrung umzugehen. Insbesondere für Reisende, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Japan aufmachten, stellte die sichtbare Adaption westlicher Kultur, die ihnen dort begegnete, erst einmal eine Enttäuschung dar, da sie dem exotischen Sehnsuchtsraum Japan, wie er ihnen vorschwebte, so gar nicht entsprach – wie sich ja überhaupt eine konkrete Erfahrung mit einer exotistischen Erwartung per definitionem nicht vertragen kann.9 In den Texten der Reisenden, die sie für die lesende Öffentlichkeit Zuhause verfassten, zeigen sich unterschiedliche Verarbeitungsweisen dieser Erfahrung: Manche schwiegen ganz einfach über die Spuren der Verwestlichung Japans, transportierten ungeachtet ihrer Erlebnisse ein unversehrtes (Wunsch-)Bild der Kultur zu den Lesern. Andere konstruierten ein ‚Verlorenes Paradies‘, das sie emotionsgeladen betrauerten.10 Damit gingen oft wütende Anklagen gegen die eigene europäische Kultur einher, die ja Schuld an dieser Misere sei, ganz so, als seien die Japaner und Japan mit Gewalt nun doch noch kolonialisiert worden. Die eigene Kultur wurde mit Befremden wahrgenommen, die eigene Person in einer Form von Selbststilisierung und Selbstexotisierung als besonders empfindsam gekennzeichnet. Die Kritik am Eigenen präsentiert sich hier nicht mehr als Subtext, sondern wird als Statement eines ‚hellsichtigen‘ und erfahrenen Zeitgenossen formuliert: „Wenn ich in den Straßen deutscher Städte die Larven sehe, die kaum mehr Menschenantlitz sind, und auf deren Leere nichts geschrieben steht als Gewinn und Verlust, dann will ich im stillen Raume einen Holzschnitt deines Utamaro von der Wand nehmen und mich vertiefen in die leidenschaftslos harmonischen Züge feinstentwickelten Menschentums.“ „Könntest Du, heilige japanische Erde, doch auch all den Schlamm von dir schleudern, den jene Europäerwelt an ethischer und geschmacklicher Verkommenheit in deine Hafenstädte und Handelszentren eingeschleppt hat!“ (Haunhorst 1936, 12; 39)
Aufgrund einer imperialistischen Grundhaltung (sowie einer gewissen Borniertheit) ließen sich einige Schreibende dazu hinreißen, das Motiv der Enttäuschung explizit zu offenbaren: Das eigene ästhetische Empfinden wurde gestört, das Bild, das man in sich trug, war mit dem Verhalten der Menschen nicht kompatibel, und das empfand man als ausgesprochen ärgerlich: _____________ 9 10
Die Erwartungsenttäuschung, die Formulierung dieser sowie die neuerliche (Re-) Konstruktion eines Sehnsuchtraumes für die lesende Öffentlichkeit wird im Weiteren exemplarisch noch genauer betrachtet werden. Das Bild von Japan als ‚Paradiesinsel‘ sowie der Topos des ‚Verlorenen Paradieses‘ hat in der europäischen Japanwahrnehmung eine lange Tradition, vgl. u.a. Breger 1990, 28ff.; Hijiya-Kirschnereit 1988, 8ff. sowie Kreiner in: Japan und Europa 1993, 18.
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„Bedauerlich ist, daß die Japanerin vielfach durch Puder und Schminke versucht, ihren gelben Teint zu verbergen, und vergeblich den Versuch macht, wie eine Europäerin auszusehen. Das will und wird ihr nie gelingen. Könnte man doch diese Leute davon überzeugen, wie weit besser ihnen dieser gelbe Teint steht, wie weit malerischer sie in ihrem Nationalkostüm aussehen, das sie leider nur allzu oft mit den neuesten europäischen Modekleidern zu vertauschen lieben.“ (Neustadt 1913, 16)11
Bernhard Kellermann thematisierte durchaus den Einfluss der europäischen Kultur auf Japan. Ironie und damit Distanzierung bestimmen in diesem Kontext seine Darstellungsweise:12 „Seit Commodore Perry vor etwa fünfzig Jahren mit seinen men of war in der großen Bai von Yedo erschien, einige Schiffe in den Grund rannte [sic!] und in aller Freundschaft Amerikas Wunsch, Handelsverbindungen mit Japan anzuknüpfen, ausdrückte, ist Yokohama jener Platz, wo der Westen die Segnungen seiner Kultur, Strohhüte, Hosen, Fahrräder, Nähmaschinen, Pastoren etc. ablagert. Am Hafen entlang zieht sich das europäische Viertel, [...] Auch eine Kirche steht dort; denn wenn die Engländer und Amerikaner umziehen, nehmen sie immer gleich ihre Kirche mit.“ (Kellermann 1922, 23f.)
Ein explizites Nachdenken über das Zusammentreffen ursprünglich recht differenter Kulturen und die damit verbundenen Veränderungen in Japan, die sich zu diesem Zeitpunkt vollzogen, findet sich nur sehr selten. Dem stand nicht zuletzt die Ästhetisierung der Erfahrungen, wie sie ja für den literarischen Reisebericht des beginnenden 20. Jahrhunderts als Gattungsobligatorium gelten kann, entgegen.13 Selbst wenn solche Versuche bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts (eher zaghaft) stattfanden, wurden die Zeichen europäischer Kultur nicht als etwas dargestellt, was zu einer größeren Vertrautheit führte. Sie wurden eher als aufgesetzte Verzierungen charakterisiert, die in einer fremden Umgebung befremden: „und doch ist seine Fremdartigkeit so überwältigend, daß ich wie betäubt bin. Wieviel europäische Kleidung, westliche Gegenstände und Einrichtungen ich auch sehen mag, nichts erinnert mich an unsere Welt.“ (Sieburg 1939, 51)14
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Ebenfalls Verlag Paul Cassirer, 1. Brief datiert auf 1911. Die Japanischen Reisebriefe von Arthur Neustadt, erschienen 1913, sind in mannigfacher Hinsicht ein Beispiel für den Unmut, den ein Reisender immer dann auszudrücken vermag, wenn das Objekt seiner Betrachtung sich den ‚gerechten‘ Ansprüchen des Europäers auf das Erleben von Pittoreskem verweigert. Neben vielem anderen sind sie darüber hinaus ein beredtes Beispiel für die mangelnde Kenntnis der Kultur, die Naivität und Dummheit mancher Reisender sowie für die mangelnde Qualität vieler dieser Texte, die u.a. daraus entsteht. Kellermann wurde öfters als „europamüde“ bezeichnet (vgl. etwa Ilberg 1959, 32). Dies zeigt sich in seinem japanbezogenen Werk explizit in der Bewertung des Einflusses des europäischen Theaters auf das japanische (vgl. Kapitel 3.2.6 Die Fremde auf der Bühne). Vgl. dazu Basil Hall Chamberlains „Einführung“ in sein Werk: Chamberlain 1912, 7-15, hier 11ff. Das Werk von Friedrich Sieburg Die stählerne Blume von 1939 ist jedoch keines der Bücher über Japan, die sich nur exotisierenden Phantasien hingeben. Der Autor, der dem konser-
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Das was man erlebt, kann sich dadurch, wie man davon erzählt oder berichtet, verändern: Die Erwartungsenttäuschung, der sich die Reisenden vielleicht noch ausgesetzt sahen,15 wurde aufgrund solcher und anderer Darstellungsmittel für die Lesenden abgefedert. Die Fremde konnte ihre Funktion behalten, sie blieb in der exotisierenden Darstellung der konstruierte Raum, auf den vom Lesesessel aus Phantasien und Sehnsüchte projiziert werden konnten. Der größte Teil der Lesenden konnte sich eine gelebte Erfahrung in der ‚Fremde Japan‘ sicherlich nicht leisten. Die Kosten für solche Reisen waren immens, und so fand „[d]ie Begegnung mit dem Fremden [...] zu einem guten Teil über die Sphäre des Konsums“ (Geyer; Hellmuth in: Bayerdörfer; Hellmuth (Hgg.) 2003, XVIII) und die Erfahrung von Fremde ganz überwiegend im Medium des Lesens statt; insofern bedeutet Erfahrung der Fremde hier: Lesen:16 Stefan Zweig charakterisiert in seiner Einleitung zu Lafcadio Hearns Japanbuch (1911) diesen als „Helfer und Freund“, dessen Schreiben unentbehrlich ist für die „Vielen, denen es nicht gegeben war, Japan zu erleben, die nur immer in stummer, sehnsüchtiger Neugier nach Bildern greifen und mit Entzücken die kostbaren Zierlichkeiten in Händen halten, um sich aus so schwankendem Gerüst von Tatsachen einen farbigen Traum des fernen Landes aufzubauen“ (Zweig in: Hearn 1920, 1).
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vativen Lager zuzurechnen ist, berichtet auch von der politischen und militärischen Lage Japans. Der langjährige FAZ-Korrespondent Uwe Schmitt erklärt Sieburg zu einem seiner Vorbilder und schreibt: „Sieburgs von der Zeit aufgedrängten Irrtümer, die gelegentlich etwas saure ‚Blu-Bo‘-Verzückung, der Militärmaschinen-Kitsch in seinem Buch [...] verblassen hinter seiner fabelhaften Beobachtungsgabe und Sprachgewalt.“ (Schmitt 1998, 294) Es gibt jedoch auch Stimmen, die das Werk Sieburgs wesentlich kritischer werten und es als „latent gewaltverherrlichend“ (Kloepfer in: Harth (Hg.) 1994, 244) kennzeichnen; vgl. auch Opitz (1997) zu Sieburgs Reisebericht Neues Portugal. Bildnis eines alten Landes von 1937 (Opitz 1997, 116; 126). Immer abhängig davon, mit wie viel Vorwissen sie sich auf die Reise begaben. Viele Reisende waren gut vorbereitet und sich der Veränderungen, die sich in der japanischen Alltagswelt spiegelten, bewusst. Insofern waren die formulierten Erwartungsenttäuschungen oft genug ein Zugeständnis an die herrschende Lesererwartung und sind gerade in diesen Jahren zum unbedingten Topos einer jeden Reisebeschreibung aus Japan avanciert. Die Enttäuschung beschränkt sich jedoch zumeist auf die Hafenstädte, wie etwa Yokohama. Im Anschluss daran ‚entdecken‘ die Erzähler dann durchaus das ‚wahre‘ Japan, (re-)konstruieren also das gesuchte Bild. Zum komplexen Verhältnis der drei „Referenzbereiche“ der Reiseliteratur „– bereiste Realität, reisender Schriftsteller und Leser –“ vgl. Opitz 1997, 72f., hier 72: „Der Reisebericht beruht zwar auf der Annahme, daß die sprachlichen Bilder den Leser in einen Zustand zu versetzen vermögen, der vor und jenseits der Sprache liegt und dem direkten Erlebnis zumindest adäquat ist. Das ist jedoch nur möglich durch die der Sprache eigenen Fähigkeit, den Text gleichsam über sich selbst hinaus zu naturalisieren und in Analogie zur Alltagserfahrung als Wirklichkeit auszugeben.“ Zur (auch historischen Dimension der) Sekundärerfahrung vgl. Kapitel 2.3 Fremdwahrnehmung und Fremderfahrung.
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Das Lesen und das Buch, beides ist hier Surrogat: „Man liest über etwas, weil man es selbst nicht haben und anschauen kann.“ (Blumenberg 20005, 38) Die fehlende unmittelbare Erfahrung kann ersetzt oder kompensiert werden durch eine vermittelte, angelesene Erfahrung – das Lesen von literarischen Reisebeschreibungen gehört sicherlich dazu. Die Lesenden erfahren also die Fremde oder etwas über die Fremde, ohne da gewesen zu sein. Waren aber die Reisenden da? Inwiefern ist nicht auch die beschriebene unmittelbare Erfahrung nur auf der Textebene inszeniert? „Der Reisende ist ein Gauner. Bin ich jemals der, für den ich mich ausgebe, gibt mir der Ortswechsel das Recht, mich zu äußern? Reisender, Erbschleicher, du machst Erwartungen zu Geld: ‚Uns kam die Idee, über unsere Reise im voraus zu schreiben, sie vorteilhaft zu verkaufen und die Erträge zur Überprüfung der Korrektheit unserer Beschreibungen zu verwenden.‘ (Mérimée, o.J., S.14). Das ist die Fiktion jeder Reise, denn für jeden gibt es nur eine; jeder erkennt für sich allein die Dinge, auf die er stößt. Man muß nicht hingehen, um dagewesen zu sein.“ (Grivel in: Gumbrecht; Pfeiffer (Hgg.) 1988, 633)
TAWADA Yoko17 schreibt in Wo Europa anfängt: „Ich schrieb immer einen Reisebericht vor der Reise, damit ich während der Reise etwas daraus zitieren konnte. Denn als Reisende war ich oft sprachlos. Dieses Mal war es besonders günstig, daß ich meinen Bericht vor der Reise geschrieben hatte. Ich hätte sonst nicht gewußt, was ich von Sibirien hätte erzählen können. Ich könnte natürlich auch aus meinem Tagebuch zitieren, aber um ehrlich zu sein: das erfand ich nach der Reise, weil ich unterwegs keines geschrieben hatte.“ (Tawada 1991, 70)
Und Rudyard Kipling berichtet in einem Brief an die Zeitung Pioneer in Lahore, Indien im Jahr 1889: „Sehr gegen meinen Willen – denn ich hatte die Absicht, ›Japan‹ aus einem Führer abzuschreiben, während ich mich der Kochkünste des Oriental in Kobe erfreute – wurde ich in eine Rikscha und den Regen gezerrt und zu einem größtenteils aus prunkvoll gemaserten Holz erbauten Bahnhof befördert.“ (Kipling [1889] 1990, 89).18 Auch für den Fall, dass das unmittelbare Erleben der Reisenden nicht fingiert ist: Das, was die Reisenden auf ihren Fahrten erlebten, muss nicht das sein, wovon sie erzählen oder berichten. Dadurch, dass sie davon erzählen und wie sie davon erzählen, entsteht etwas Neues: Es entsteht u.a. ein Bild von einer Kultur, ein Bild, das einen vielschichtigen Prozess durchlaufen hat. Teilaspekte einer Kultur wurden von dem Reisenden wahrgenommen, erfahren und verschriftlicht; die Lesenden rezipieren _____________ 17 18
Differenzen in der Schreibung des Vornamens der Autorin (Yoko/Yôko) resultieren daraus, dass diese im deutschsprachigen Kontext auf das Längungszeichen verzichtet. Im Folgenden wird auf diese Schreibweise zurückgegriffen. Vgl. auch Pfister in: Foltinek et al. (Hgg.) 1993, 112 sowie, zu der Bedeutung imaginärer Reisen, Gert Mattenklott 1982, 188ff.: Vorgestellte Reisen – Reisevorstellungen.
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diese Verschriftlichung vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungswelt. Was bleibt von dem Erleben, was bleibt von der Kultur? Die Verschriftlichung
Wahrnehmung, Erfahrung und Verschriftlichung von Fremderfahrung unterliegen insbesondere auch historischen Wandlungen, die eng mit den Veränderungen der Mobilität und der erlebten Wirklichkeit zusammenhängen. Ryzard Kapuściński reflektiert in diesem Zusammenhang seine Rolle als Auslandskorrespondent und als Schreibender in einer modernen, globalisierten Welt: „Es ist schwierig, in einer Welt so gewaltiger und tiefgreifender Veränderungen zu schreiben. [...] Der Blick des Schreibenden irrt über ständig neue, unbekannte Landschaften, seine Stimme geht unter im Tosen der rasenden Lawine der Geschichte“ (Kapuściński 2000, 12) „Das Bild der modernen Welt hat den Charakter einer Collage: Verschiedene rationale Elemente bilden ein irrationales Ganzes. Eine Collage – das ist vielleicht die einzige Methode, die moderne Welt in ihrer verblüffenden, gewaltigen, wachsenden Differenzierung zu beschreiben und darzustellen.“ (ebd., 147)19
Die historischen Veränderungen des Reisens und der Wahrnehmung ziehen, wie vielfach beschrieben, entsprechend auch einen Wandel in der Art der schriftlichen Bearbeitung dieser Erfahrungen nach sich. Insbesondere die Wahl des Schreib-Rahmens, des Genres, sowie die konkrete Ausgestaltung des Rahmens, sind davon betroffen. Die Schreibenden antworten mit ihrer Darstellungsweise auf historische, soziale, mentalitätsgeschichtliche und politische Veränderungen und Zustände sowie auf die Erwartungen und Bedürfnisse der Leserschaft. Eine Folge der „Entindividualisierung des Erlebens“ im Reisen ist z.B. der „Niedergang der Reisetagebücher“ (Jost in: Brenner (Hg.) 1989, 492).20 Diese werden durch eher sachzugewandte Texte wie Reisehandbücher oder Reiseprospekte ersetzt, die sicherstellen, dass das vorgegebene Schema der Erfahrung von den einzelnen Reisenden auch bedient wird – die Deutung des Erlebnisses, wird sozusagen gleich mitgeliefert, der ‚Erfahrungsschatz‘ ist sprachlich und bildlich vorstrukturiert. Aber nicht nur Reisetagebücher, auch andere _____________ 19 20
Auch im Rahmen literarischer Darstellungsformen, wie etwa der ‚Ethnopoesie‘ Hubert Fichtes, gewinnt die Collage an Bedeutung (vgl. Böhme 1992, hier: 393-395). Diese Form der Darstellung findet ein neues Forum, sozusagen ein Come-back, auf privaten Internet-Seiten, auf denen wieder eine große Zahl an Reisetagebüchern veröffentlicht wird, wie überhaupt das Medium Internet privaten, nicht-professionellen Schreibformen eine ideale Publikationsplattform bietet, die in erstaunlichem Maße genutzt wird. Ich danke Gesine Boesken für diesen und weitere Hinweise.
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Formen des Reiseberichts verblassen und werden durch pragmatischere Textformen im Sinne von Ratgeber- bzw. Informationsliteratur ersetzt. Allerdings gibt es trotz aller Bestattungsreden nach wie vor Reisende, die ihre Erlebnisse und Erfahrungen für die Leser und Leserinnen in einer Form präsentieren, die an die Traditionen der sentimental journey, der Reisetagebücher, -reflexionen und -biographien erinnert.21 Die Erfahrungen werden in eine Beziehung zum eigenen Leben gesetzt, beschrieben und interpretiert. Horst M. Müllenmeister (2000) konstatiert, dass es „immer noch [...] eine ehrgeizige und lohnende, eine schwierige, aber lustvolle Aufgabe“ sei, Reiseberichte zu schreiben und formuliert Fragen und Erwartungen an eine solche Reiseliteratur im dritten Jahrtausend. (Müllenmeister in: von Ertzdorff (Hg.) 2000, 503) Reisen und Schreiben sind auf sehr vielfältige und vielschichtige Weise miteinander verbunden. Das Schreiben über die Reise kann beispielsweise der eigentliche, pragmatische Anlass der Reise sein. Dann wird die Notwendigkeit des Schreibens und die Vorstellung über das zu Schreibende sehr dominant das Erleben bestimmen: Die intendierte, an einen festen Rahmen gebundene Vermittlung des Wahrgenommenen konstituiert das Wahrnehmen. Das Schreiben wiederum begleitet dann das Wahrnehmen und vollzieht sich zunächst, anders als das Schreiben, das erst nach der Reise einsetzt, fragmentarisch und raffend, eine erste Auswahl wird getroffen, Notizen entstehen. Diese Schreibsituation wird jedoch oft als unbefriedigend gewertet, da das Schreiben weder den Ansprüchen einer vollständigen Aufzeichnung des Erlebten, noch denen eines gestaltenden und reflektierenden Schreibens gerecht werden kann.22 Teilweise wird die Existenz von Aufzeichnungen sogar geleugnet.23 Bereits im 18. Jahrhundert zieht der Zweifel an der Verlässlichkeit und der Integrität des Gedächtnisses Erfindungen wie die des Portefeuilles _____________ 21 22
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Hartmut von Hentig beispielsweise in seinem Buch Fahrten und Gefährten. Reiseberichte aus einem halben Jahrhundert 2000. Vgl. auch den Bericht Walter Ruprechters (2003) über die Wahrnehmungs- und Protokollierungshaltung Gerhard Roths, aus dessen Reise nach Japan im Jahr 1996 der 1998 veröffentlichte Roman Der Plan entstand: „Schon den Weg zur Station hat er notierend und nach allen möglichen Dingen fragend zurückgelegt, wie heißt diese Pflanze und jener Vogel, was macht der Mann gerade und warum trägt die Frau am Werktag einen Kimono? [...] und in der ersten Zeit in Japan habe ich Roth auch nie anders erlebt als arbeitend, das heißt beobachtend, fragend, notierend und fotografierend. Roth hatte sich offenbar zu der professionellen Haltung entschlossen, die er mit der Zeit dann gelockert hat, vielleicht weil er merkte, dass diese Vorentscheidung ihm selbst ein bisschen im Wege stand, die Umgebung persönlicher aufzunehmen. Das mag auch mit der Fülle der Daten und Eindrücke zu tun gehabt haben, vor der in einem so fremden Land wie Japan eine protokollarische Registratur einfach versagen muss.“ (Ruprechter in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 111). Zu Gerhard Roth vgl. insbesondere Kapitel 5 In der Fremde lesen. Vgl. etwa Max Dauthendey. Näheres dazu in Kapitel 4.1 Einführung.
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3 Die Fremde als Sehnsuchtsraum
nach sich, mit dessen Hilfe man offenbar simultan zum Erleben auf Reisen Protokolle anfertigen konnte (vgl. Hartmann in: Bausinger et al. (Hgg.) 1991, 152f.). Das Verhältnis zwischen Reisen und Schreiben erschöpft sich jedoch nicht auf der Ebene der technischen Bewältigung. Hartmut von Hentig reflektiert neben dem äußeren Anlass, der das Schreiben über oder während einer Reise initiieren kann, eine innere Notwendigkeit, die ebenso das Erleben beeinflusst, indem sie die Wahrnehmung schärft und intensiviert: „Warum wird eine Reise aufgezeichnet? Die Aufzeichnung dient nicht in erster Linie dazu, das Erlebte festzuhalten, sie bringt es vielmehr hervor: die Bereitschaft zur inneren Aufmerksamkeit.“ (von Hentig 2000, X) Darin ist außerdem der Gedanke enthalten, den Charles Grivel (1988) formuliert und der auf die Synchronisierung von Wahrnehmung und Beschreibung (Konstruktion) verweist: „Meine Reise ist ein Ereignis der Feder. Ist sie etwas anderes als die Erzählung, die ich daraus mache?“ (Grivel in: Gumbrecht; Pfeiffer (Hgg.) 1988, 616) Reisen, Wahrnehmen, Erfahren und Schreiben sind hier auf das Engste miteinander verflochten. Im Gegensatz zu einem „Nicht-wissen des Reisenden als Beweggrund des Schreibens“ (Grivel in: Gumbrecht; Pfeiffer (Hgg.) 1988, 622) fordert ein pragmatischer Schreibanlass wie etwa eine Auftragsarbeit zum Zwecke der Publikation, kein tastendes Schreiben, bei dem sich die Sprache der Wahrnehmung verweigert und bei dem diese Verweigerung zum eigentlichen Gegenstand des Schreibens wird. Wahrnehmen, Erfahren und die schriftliche Bearbeitung dieser Erfahrung, die gewissen Gesetzen unterliegt, bilden vielmehr die pragmatischen Eckpunkte einer solchen Reiseund Schreibsituation. Die literarische Reisebeschreibung (in einer bestimmten historischen Situation) etwa ist ein Genre, das dem Reisenden einen deutlichen Rahmen für sein Schreiben vorgibt und das verschiedene Gattungsobligatorien bereithält und einfordert.24 Sie unterliegt einem sehr spezifischen Spannungsfeld: Als Reisebeschreibung soll sie Authentisches berichten, Authentisches über die andere Kultur und Authentisches über das eigene Erleben des Schreibenden. Gefragt sind also die Vermittlung von Sachinformationen, die Wiedergabe von Sinneseindrücken, Erlebnissen und _____________ 24
Zum Genre der literarischen Reisebeschreibung bzw. dem literarischen Reisebericht, der mit neuen subjektiven und ästhetischen Ausdrucksformen „den Reisebericht alter Art seit etwa 1750 [verdrängt bzw. überformt]“ (Wolfzettel in: von Ertzdorff; Giesemann (Hgg.) 2003, 12) vgl. u.a. Günther 1988, 237ff. sowie Reif in: Brenner (Hg.) 1989. Auf eine zusammenfassende Überblicksdarstellung und Systematisierung der Gattung Reiseliteratur und/oder bestimmter Untergruppen sowie historischer Ausprägungen dieser soll im Folgenden verzichtet werden. Ich verweise dafür auf die grundlegenden Darstellungen von u.a. Brenner (Hg.) 1989, Brenner 1990, Fuchs; Harden (Hgg.) 1995, Honold; Scherpe (Hgg.) 2000.
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Gefühlen sowie darüber hinaus die distanzierte Reflexion des eigenen Wahrnehmungs- und Erlebnisschemas, bzw. des eigenen Verstehensversuches durch den Schreibenden.25 Die literarische Reisebeschreibung soll aber auch unterhalten. Sie soll erzählen, ablenken, fesseln, Neugierde wekken. Sie muss also sowohl den Ansprüchen des informatorischen Lesebedürfnisses als auch denen des phantasieanregenden und evasorischen, sogar des identifikatorischen Lesens gerecht werden. Um dies einzulösen bedienen sich die Schreibenden verschiedenster Techniken fiktionalen Erzählens wie Figurenzeichnung, wörtliche Rede, Spannungsaufbau, Tempusgestaltung etc., aber auch der berichtenden Form zur Informationsvermittlung und einer Vielzahl an Authentizitätsnachweisen und Beglaubigungsformeln deren stärkste das ›Ich war da‹ ist: „Ich bin hingefahren; ich habe des Recht darüber zu sprechen. Eine Reise macht die Rede glaubhaft, sie eignet sich gut für die Unterhaltung.“ (Grivel in: Gumbrecht; Pfeiffer (Hgg.) 1988, 631)26 Das ‚Ich‘ wird in der Verschriftlichung bzw. ist im Text dann die erzählende Instanz, die – als mediale Figur – mit der Darstellung ihres Erlebens die Authentizität der Schilderungen beglaubigt.27 Das Lesen Das Ergebnis des Erfahrens und Erlebens sowie all dieser Bearbeitungsstufen im Rahmen der Verschriftlichung wird nun, je nach Reflexionsbereitschaft und auch -möglichkeit der Lesenden, als mehr oder weniger authentische Beschreibung einer Reise und einer Kultur, etwa Japan, rezipiert und u.U. als stellvertretende Erfahrung mit der Fremde verbucht. Obgleich die exemplarische Untersuchung einer konkreten Textgestalt den Schwerpunkt des Vorhabens darstellt, soll der Blick an gegebenen Stellen aber noch auf eine weitere Dimension gelenkt werden: Die mögliche Nutzung der Texte durch die Lesenden. Weiter oben wurde bereits _____________ 25
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Diese Forderung wird insbesondere an die aktuelle literarische Reisebeschreibung angelegt, auch wenn dieses Genre in Deutschland, im Gegensatz etwa zu Großbritannien, kein besonders hohes Ansehen genießt und in den letzten Jahren auch nur wenige dieser Reisebeschreibungen im deutschen Sprachraum erschienen sind, die keine Übersetzungen darstellen. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass ihre Stellung zwischen Authentizität und Fiktionalität nur schwer zu bestimmen ist und dass das leichte Spiel mit diesen verschiedenen Elementen sich den hiesigen Einordnungsbedürfnissen sowohl der Literaturwissenschaftler/innen als auch der Leserschaft widersetzt. Darüber hinaus dient das „Ich war da“ aber auch noch der Selbststilisierung des Schreibenden, wie etwa bei Goethes Italienischer Reise: „Auch ich war in Arkadien!“ (Goethe 1978, 7). Vgl. Opitz 1997 sowie Kapitel 3.2.2 Struktur und Konzeption.
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angemerkt, dass die durch das Medium Text vermittelte Erfahrung von Fremde einen großen Raum einnahm und wohl immer noch einnimmt.28 In welcher Weise können nun die Rezipienten/innen die literarisch vermittelte Erfahrung von Fremde und aus der Fremde nutzen und aufgrund welcher Lesebedürfnisse und Interessen?29 Welche Rolle spielt die Ebene der Informationen aus der anderen Kultur und inwieweit dient der Text als Ausgangsmaterial für Projektionen und Phantasien der Lesenden? Ausgangspunkt der Überlegungen ist hier die in der Lese-Psychologie entwickelte konstruktivistische Theorie des Lesens,30 die Lesen versteht als: „Sinnbildung aus dem Text unter Anschluß des Gelesenen an die Realität des Rezipienten, an seine Erfahrungen und sein Weltwissen.“ (Schön in: Roters et a. (Hgg.) 1999, 196). Textverstehen gründet danach auf einer aktiven Auseinandersetzung des Subjekts mit dem Text. Im Prozess der Bedeutungskonstruktion treten die Textvorgabe und das Vorwissen, das Weltwissen sowie das Sprachwissen der Lesenden in Interaktion, wobei die Zielvorstellungen, die Erwartungen und die Kompetenzen der Lesenden diesen Prozess maßgeblich beeinflussen.31 Neben den vielfach beschriebenen Teilprozessen, anhand derer sich der Prozess des Lesens und der aktiven (Re-)Konstruktion der Textbedeutung vollzieht,32 sind auch motivationale und emotionale Faktoren (Wertorientierungen, Interessen ...) von Relevanz. Damit hängt auch die Bereitschaft zusammen, über_____________ 28
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Vgl. dazu u.a. Erb 2002, 4-18, wenn auch sowohl die eigenen Erfahrungen mit der Fremde, als auch die Sekundärerfahrungen über andere Medien natürlich deutlich an Gewicht gewonnen haben – insbesondere das Fernsehen dominiert in diesem Kontext als Medium der Sekundärerfahrung. Es soll an dieser Stelle noch kurz darauf hingewiesen werden, dass Lesen in mehrfacher Hinsicht immer auch ‚Erfahrung‘ von Fremde oder Fremdem ist. Literatur gilt gemeinhin als der Ort der Fremderfahrung par excellence. Fremdheit kann uns in literarischen Texten auf den verschiedensten Ebenen begegnen: Ungewohnte Protagonisten, seltsame Figuren und Typen, andere Zeiten, andere Orte, andere Kulturen. Darüber hinaus auch neue oder ungewohnte Arten zu erzählen, ästhetische Experimente oder fremde Sprachen etc. Tilman Fischer zeigt in seinen Ausführungen zu Georg Forsters Gattungsreflexionen über die Reisebeschreibung, dass Forster in seinen Rezensionen und Abhandlungen diverse Lesebedürfnisse („Zwecke des Lesens“) des Lesepublikums erkannte und legitimierte, die sich mit der Rezeption dieses Genres verbinden können. Vgl. Fischer in: DVjs 2002, 577-608, hier: 587ff. Zur Bandbreite möglicher Rezeptionshaltungen bei der Lektüre von Reisebeschreibungen vgl. auch Osterhammel in: König et al. (Hgg.) 1989, 20. Vgl. Christmann; Groeben in: Franzmann et al. (Hgg.) 1999, 145-223. Vgl. ebd., S. 146 sowie Aust in: Bredel et al. 2003, 525-535. Die Arbeiten der Empirischen Literaturwissenschaft zeigen außerdem die hohe Bedeutung der tradierten und erlernten (kulturspezifischen) Konventionen, die die Rezeption und Interpretation von literarischen Texten bestimmen. Vgl. Viehoff 1998, 12. Neben dem grundlegenden Verstehen auf Wort-, Satz- und Textebene ist der Aufbau einer kohärenten mentalen Repräsentation der Bedeutung des Textes, die situative Textrepräsentation, zentral. Vgl. Christmann; Groeben in: Franzmann et al. (Hgg.) 1999, 148-172 sowie Christmann; Schreier in: Jannidis et al. (Hgg.) 2003, 246-286.
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haupt Leseprozesse aufzunehmen sowie die Fähigkeit, Leseprozesse entsprechend den jeweiligen Textanforderungen zu gestalten und sie auf diese abzustimmen.33 Das Wissen um Gattungskonventionen spielt in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Die (nicht immer bewusst aktualisierte) Kenntnis der ‚Spielregeln‘ einzelner Gattungen bzw. Genres, die als „Konstrukte [...] im Bewußtsein ihrer Leser existieren“ (Wenzel in: Nünning 1998, 178), strukturiert die Lesehaltung vor und initiiert Strategien der Bedeutungskonstruktion, die dem Gegenstand angemessen oder unangemessen sind.34 Genres „lassen sich durchaus auch als konventionalisierte, z.T. auch normierte ‚Skripts‘ auffassen, die den Lesevorgang locken, lenken und ‚einbetten‘, aber natürlich auch düpieren, sobald sie – absichtlich oder ungewollt – inwendig nicht einlösen, was sie auswendig versprechen.“ (Aust in: Bredel et al. (Hgg.) 2003, 530) Sie machen den Lesenden Angebote, die diese auf vielfältige Weise nutzen können.35 So besteht u.a. die Möglichkeit, eher realitätshaltige Informationstexte zur Phantasieanregung zu gebrauchen: Erich Schön (1999) zeigt z.B. in seinem Artikel Lesen zur Information, Lesen zur Lust – schon immer ein falscher Gegensatz, dass die Eignung von Reisebeschreibungen, hier auch Karten und geographischen Angaben, „als Lieferanten von Material für die Handlungsphantasien der [meist männlichen36] Leser [...] vermutlich der wesentliche Grund für den Erfolg dieser Bücher, vielleicht sogar für die Existenz ganzer Genres [ist].“ (Schön in: Roters et al. (Hgg.) 1999, 195)37 Gerade die „Realitätskompatibilität“ und die „Realitätshaltigkeit“ (ebd., 196) der Informationen und Inhalte der Reisebeschreibungen, die, wie noch gezeigt werden wird, durch zahlreiche Beglaubigungsstrategien und Authentizitätsnachweise unterstrichen wird, lässt zu, dass die Lesenden Raum und Material für eigene Phantasien finden, die in der Lektüre des Textes ihren Ausgangspunkt haben. Solche Phantasien können Handlungsphantasien _____________ 33 34
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Vgl. Hurrelmann in: dies.; Groeben (Hgg.) 2002, S. 278f. Dies wird insbesondere im interkulturellen Kontext evident, in dem erlernte Lesestrategien, die durch bestimmte Genresignale aktualisiert und initiiert werden, u.U. zu ‚Missverstehen‘ oder auch verstehenshemmenden Lesevollzügen führen können (vgl. dazu Schaffers 1999, 98-103 sowie dies: Reading cultural difference. Diese Sichtweise geht zurück auf Wilhelm Voßkamp, der literarische Gattungen als Institutionen eigener Art beschreibt (vgl. Voßkamp in: Hinck (Hg.) 1977, 27-42, bes. 30). Auf die Geschlechtsspezifik der Leseweisen und Lektüreinteressen kann im Folgenden, wenn überhaupt, nur marginal eingegangen werden. Vgl. zur ‚Zusammenarbeit‘ von Information und Phantasie bei der Rezeption von Reiseliteratur auch Osterhammel in: König et al. (Hgg.) 1989: „Die Einbildungskraft ist nicht nur und vielleicht nicht einmal im Regelfall eine vom Empirischen abhebende Phantasie, die künstliche, utopische Welten entwirft; sie wird gerade dann tätig, wenn aus fragmentarischen Realzeugnissen – seien es Objekte, seien es Texte – das Ganze einer nicht durch den Augenschein wahrgenommenen Welt rekonstruiert werden soll.“ (ebd., 10).
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3 Die Fremde als Sehnsuchtsraum
sein (›was hätte ich getan ..., ich würde hier aber ..., wie stelle ich mich dieser Gefahr, ...‹) oder Wunschphantasien bzw. -projektionen, die eigene unerfüllte Wünsche etwa erotischer Art oder Machtphantasien auf bestimmte ‚Objekte der Begierde‘ oder in bestimmte Räume übertragen.38 Christoph Hennig spricht im Zusammenhang mit der Lokalisierung bestimmter Imaginationen im Raum von einer „Geographie des Imaginären“: „Phantasien werden an imaginären Orten angesiedelt, die man auf fiktionalen Reisen erreicht. [...] Imagination belebt und koloriert unsere inneren Landkarten.“ (Hennig 1997, 95) Diese imaginären Orte existieren durchaus außerhalb der Vorstellungswelt der Subjekte – nur in anderer Weise. Gerade in dieser letztgenannten Hinsicht sind Mitteilungen aus der Fremde von Bedeutung, wobei die Fremde in der jeweiligen historischen Situation und für einzelne Subjekte immer eine andere ist und woanders angesiedelt wird. Die Fremde ist per definitionem weit genug vom Eigenen entfernt, um ungestört zum Handlungs- und Projektionsraum der Lesenden – auch im Sinne des Exotismus – zu werden. Die Vermittlung der Fremde durch einen Schreibenden aus der eigenen Kultur lässt sie jedoch realitätskompatibel werden, bietet Identifikationsanlässe sowie Abgrenzungsanlässe (die im Leseprozess genauso bedeutend sind) und ordnet somit, wenn die Darstellung gelungen ist, genügend Material für die Phantasietätigkeit der Lesenden: „Bereitet euch im Stillen eine japanische Woche voll zarter Farbenpracht und Ideologie. Wandert in diesen Tagen, die so mild sind, als rieselte der Duft ungezählter Blüten in der Luft, durch kleine bunte Gassen, die von kleinen lächelnden Männchen in blauen Gewändern belebt sind. [...] Lest die drei wundervollen Bücher Lafcadio Hearns. [...] kauft euch bei Reclam die Sammlung japanischer Märchen und Gedichte. Kurz, pflegt euch eine Woche und haltet euch von der Unsauberkeit des berliner Betriebs fern.“ (Schickele [1908], 291-193)
Diese Funktion des Genres gerät in der Betrachtung und Bewertung der einzelnen Werke leicht in den Hintergrund, da der Frage nach dem Wie der Darstellung der anderen Kultur und der Frage, ob die Darstellung der Kultur auch gerecht wird, mehr Gewicht zugesprochen wird. Jedoch scheint der Versuch einer Zusammenführung beider Perspektiven durchaus ergiebig: Das Wie und das Was der Darstellung unterliegt, wie gezeigt, zahlreichen Vorgaben und durchläuft mehrere Filter, es wird aber auch bestimmt durch die Phantasietätigkeit und das Leserbewusstsein der Schreibenden. In der Rezeption durch die Lesenden arbeiten dann sozusagen die Phantasie von Lesenden und Schreibenden Hand in Hand. _____________ 38
Zu Gefühlen der Lust und der Unlust (bzw. der Lust an der Unlust) beim Lesen sowie den dargestellten und den bewirkten Affekten bei der Rezeption bestimmter Literaturformen vgl. Winko 2003 sowie Anz 1998 und Anz in: Maiwald; Rosner (Hgg.) 2001, 9-35.
3.1 Einführung
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Die Sinneseindrücke Um den Forderungen der Leserschaft nach möglichst lebendiger, lebensnaher und authentischer Darstellung, in der Unmittelbarkeit suggeriert werden kann, gerecht zu werden, nimmt die Wiedergabe von Sinneseindrücken einen großen Raum in fast allen Texten und Textformen ein, die von Erfahrungen mit und Erlebnissen in der Fremde berichten. Die Reisenden sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen die Fremde und die Vermittlung sinnlicher Wahrnehmungen an die Lesenden unterstreicht die Authentizität des Berichteten: Der Körper, die Leiblichkeit, wird als unhintergehbare Instanz konstruiert und eingesetzt, die Anziehendes und Abstoßendes, Fremdes und Vertrautes erkennt;39 die Verschriftlichung benennt und vermittelt im Anschluss die Konstruktion und Wertung des Anderen, die auf den sinnlichen Wahrnehmungen beruht. Max Dauthendey schreibt von seiner Reise durch Japan an seine Frau Annie: „Es ist eine kluge, empfindsame Stille über dem Land, in dem die Augen allein das meiste Geräusch machen, weil sie so viel schöne, kostbare Dinge hier malen und erfinden.“ (Dauthendey [1906] 1930, 145f.) und Bernhard Kellermann schreibt in Ein Spaziergang in Japan: „Ich bin einmal hier und, verstehst du mich, gedenke einen gehörigen Schluck Japan zu nehmen.“ (Kellermann 1922, 14)40 Der Rezipient wird hier indirekt eingeladen, im Nachvollzug der Erlebnisse des Reisenden nun lesend ebenfalls einen „gehörigen Schluck Japan“ zu goutieren, die Fremde sozusagen genießend einzuverleiben. Dadurch, dass sich hier Körper und Schrift aufeinander beziehen, wird die Intimität zwischen Text und Leser verstärkt, denn der Leser muss sich schließlich auf die ‚Reise‘ einlassen, damit das Schreiben seinen Zweck erfüllt: Das Einlassen auf diesen Pakt zwischen Text und Leser ist die Voraussetzung und die Grundbedingung für den Genuss, den der Reisetext und die in diesem konstruierte Fremde den Lesenden bereiten kann. Der Wiedergabe der visuellen Wahrnehmung kommt in diesem Kontext eine besondere Bedeutung zu:41 vor allem sehen die Reisenden die Fremde (als eine solche). Charles Grivel schreibt über das Sehen in der Fremde, das Sehen auf Reisen: „Wenn er reist, läßt er sich von der Begier_____________ 39 40 41
Vgl. auch Gernig in: dies. (Hg.) 2001, 13-30. Zur Theorie der Leiblichkeit und zur Phänomenologie des Leibes vgl. Waldenfels 2000. Auf die spezifisch impressionistischen Stilmerkmale der Texte, etwa die synästhetischen Stilzüge in Dauthendeys und Kellermanns Werk, wird im weiteren Verlauf der Ausführungen noch näher eingegangen. Geyer und Hellmuth (in: Bayerdörfer; Hellmuth (Hgg.) 2003) konstatieren für das 19. Jahrhundert überhaupt eine „Sucht nach dem Visuellen, die [dieses ...] wie ein Leitmotiv durchzog“ (ebd., XVI).
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3 Die Fremde als Sehnsuchtsraum
de des Auges leiten. [...] Denn das Sehen (des Wirklichen?) erzeugt spürbare Unruhe – sehen ohne zu wissen, sehen ohne Sprache, immer aus großer Entfernung, in der Fremde.“ (Grivel in: Gumbrecht; Pfeiffer (Hgg.) 1988, 621) Der beschriebene Blick des Reisenden bekommt Gewicht, alle anderen Sinneseindrücke werden diesem Blick untergeordnet, arbeiten ihm sozusagen zu.42 Die Lesenden sehen mit den Augen des Reisenden, sie folgen seinen Blicken. Sehen ermöglicht Orientierung in einer verwirrenden Welt: „das Sehen war und ist in diesem Verständnis ein Vermögen, die Welt zu ordnen, der Welt habhaft zu werden. Dabei ist das Bündnis von Sehen, Erkennen, Wissen und Handeln von zentraler Bedeutung – für die Realitätsmächtigkeit der Wahrnehmung ebenso wie für deren diskursive Begründung.“ (Brandes; Busch in: Sehsucht 1995, 16) Deshalb kommt dem Auge, dem Sehsinn, der in der westlichen Kultur nach wie vor als primäres Erkenntnisorgan gilt, in der Wahrnehmung der Fremde eine wichtige Funktion zu: Über die reine Wiedergabe visueller Eindrücke, also den Versuch, diese in Sprache zu transformieren, hinaus, bedeutet: ‚Ich sehe, was ich sehe, und davon will ich Euch erzählen‘ auch ein Versichern von Authentizität43 und eine Konstruktion von Wirklichkeit. Die Versicherung ‚Ich habe es mit eigenen Augen gesehen‘ und sei es noch so kurios, fremdartig und merkwürdig, konnte mit der staunenden Gläubigkeit der Zuhörenden rechnen. Heute übernimmt diese Funktion eher die mediale Vermittlung, etwa über Fotografie oder Fernseh- und Videobilder. Hier glaubt man und nimmt für wahr, was man mit eigenen Augen auf dem Bildschirm sieht. Manchmal ersetzt die vermittelte Wahrnehmung sogar die Wirklichkeit, obgleich die mannigfaltigen Möglichkeiten der technischen und kontextuellen Manipulation hinlänglich bekannt sind oder sein sollten. Darüber hinaus gilt auch für den Reisebericht, was Kerstin Gernig im Kontext der Funktion der frühen Photographie im europäisch-japanischen Kulturtransfer formuliert, nämlich dass: „dem Betrachter [oder hier: dem Leser; U. S.] suggeriert wurde, die Welt zu erleben, während er doch nur ihre Darstellung vor sich hatte.“ (Gernig 2002, 503) _____________ 42 43
Vgl. auch die „Kunst des Schauens“ bei Victor Segalen sowie seine Versuche, mit synästhetischen Darstellungsmitteln „verschiedene[n] Sinneseindrücke synästhetisch zu einer, wie man heute sagen würde, ‚ganzheitlichen‘ Sicht zu verbinden.“ (Geiger in: Kubin 1995, 73). Nicht nur innerhalb der (literarischen) Reiseberichte hat das Sehen als Authentizitätsnachweis ein so hohes Gewicht. Clifford Geertz zeigt auf, dass dies ebenso für die – dem literarischen Diskurs recht nahe stehende – Wissenschaft der Ethnologie gilt: „What does the ethnographer do? – he writes.“ (Geertz 1973, 19) Geertz verweist außerdem darauf, dass die Fähigkeit des Ethnographen, sein Lesepublikum davon zu überzeugen, dass er das Beschriebene mit eigenen Augen gesehen habe und das Gesehene nur so und nicht anders wahrgenommen werden konnte und musste, entscheidend dafür ist, dass die Lesenden das Gelesene auch glauben (vgl. Geertz 1988, 4f.).
3.1 Einführung
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In der weiteren Untersuchung der Texte von Bernhard Kellermann soll u.a. der Versuch unternommen werden, der von ihm gewählten Darstellung seines Blicks auf die ‚Fremde Japan‘ auf die Spur zu kommen. Diese Darstellung wird in einigen der im Folgenden kurz beschriebenen Textformen exemplarisch betrachtet werden. Dabei ist zunächst von Interesse, was er als sehenswert in seine Beschreibung aufnimmt: Welchen Wahrnehmungs- und Konstruktionsschemata könnte diese Auswahl unterliegen, wodurch wurden sie geprägt oder vorstrukturiert? Welche Bilder, welche Imaginationen werden reproduziert? Welche Lesarten, welche Leserphantasien werden initiiert? Die Ästhetisierung der Sinneseindrücke durch Reproduktion von bekannten und/oder durch die Hinzufügung neuer Bilder soll hierbei noch besondere Beachtung finden. Der Akt der Verschriftlichung im Rahmen verschiedener Gattungsvorgaben gestaltet das Gesehene – es wird nicht nur über die Sinneseindrücke, sondern auch zu den Sinneseindrücken erzählt. Die dadurch entstehende (An-)Ordnung‘ und ‚Bezeichnung der verwirrenden Eindrücke aus der Fremde verleiht diesen neben Kohärenz auch Sinn und Bedeutung, die im Leseprozess noch ergänzt und modifiziert werden.44 3.1.2 Die japanbezogenen Werke Bernhard Kellermanns Aus der etwa fünfmonatigen Japanreise Bernhard Kellermanns entstanden sechs unmittelbar darauf bezogene Texte:45 Ein Spaziergang in Japan. Berlin: Paul Cassirer 1910; Sassa yo Yassa. Japanische Tänze. Lichtdrucke und Aetzungen nach Studien von Karl Walser. Berlin: Paul Cassirer 1911; Meine Reisen in Asien. Ran-Klein-Tibet-Indien-Siam-Japan. 1.-6. Auflage Berlin: S. Fischer 1940; Japanisches Volksleben. 8-seitiges Typoskript. Ohne Datum. (Kellermann-Nachlass bei der Stiftung der Akademie der Künste, Berlin); Unvergessliches aus Asien. 18-seitiges Typoskript. 1931. (Kellermann-Nachlass bei der Stiftung der Akademie der Künste, Berlin); Abenteurer (Der Stoker) [„Der Stoker“ = gestr. im überlieferten Manuskript]. In: Ders.: Schwedenklees Erlebnis. Roman. Erzählungen. Berlin: Volk und Welt (1958) 19764, 238-270. _____________ 44 45
Zur Bedeutung und zum Beitrag des Erzählens bei der Sinn- und Kohärenzbildung des Subjekts in seiner Relation zur Welt vgl. insbesondere Fulda in: Handbuch der Kulturwissenschaften; Bd. 1, 2004, 251-266. Kleinere Texte, wie etwa der Artikel im Berliner Tageblatt vom 28.4.1910: „Madame Butterfly. Eine harmlose kritische Betrachtung“ oder „Im Reich der aufgehenden Sonne“ in: Arena (1909–1911) werden nur in jeweils relevanten Zusammenhängen Erwähnung finden.
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3 Die Fremde als Sehnsuchtsraum
Ein Spaziergang in Japan von 1910 kann als die eigentliche und eigenständigste Gestaltung seiner Reiseerlebnisse gelten. Dieses Werk war überaus erfolgreich und erreichte eine Auflage von 25.000 Exemplaren. In dem Werk Sassa yo Yassa, das ebenfalls mehrfach nachgedruckt wurde, greift Kellermann auf einzelne Personen, Orte und Motive des Spaziergangs zurück, die dann den Rahmen für seine Ausführungen über den japanischen Tanz bilden. Beide Texte werden im Weiteren noch genauer betrachtet werden. Meine Reisen in Asien erschien 1940 und berichtet über Reiseerfahrungen in den verschiedensten asiatischen Ländern (die Reisen durch den Iran, Tibet, Indien, Siam und Kambodscha machte der Autor in den Jahren 1927 und 1928). Der Abschnitt über Japan nimmt 75 Seiten ein und bildet den Abschluss dieser Ansammlung von Reiseerlebnissen. Die japanbezogenen Ausführungen sind eine wortgetreue Wiedergabe einzelner Abschnitte aus dem Spaziergang und Sassa yo Yassa, wobei die ausgewählten Teile in geschickter Weise zu einem neuen Ganzen geordnet werden. Die Teile 1-9 stammen aus dem Spaziergang, Teil 10 ist ein Gelenkkapitel, das in der zweiten Hälfte bereits Textteile aus Sassa yo Yassa beinhaltet; die Teile 11–20 bestehen aus einer kompletten Übernahme einzelner Kapitel aus diesem Werk. Durch diese Zusammenstellung finden die beiden zentralen Themen Bernhard Kellermanns, das japanische Theater und der japanische Tanz, über die noch zu schreiben sein wird, Eingang in die Reisen in Asien und bilden hier eine Ganzheit im Rahmen eines Werkes. Von den beiden angeführten Typoskripten gilt Unvergessliches aus Asien als ein Vortrag. Das Typoskript trägt den handschriftlichen Vermerk „Schlesische Funkstunde 3. Sept. 31“ (von fremder Hand) und wird im Findbuch von Sigrid Anger unter der Rubrik „Reden, Interviews“ aufgeführt.46 Kellermann stellt in diesem Vortrag Aussagen vor, die aufgrund des Darstellungsstils Allgemeingültigkeit beanspruchen und die „Orient und Okzident“ miteinander kontrastieren. So beginnt er mit dem persischem Sprichwort: „Die Eile kommt vom Teufel“ und stellt diesem das westliche: „Time is money“ gegenüber: „Der Orient ist Ruhe und Ausgeglichenheit, der Okzident ewige Hast und Unruhe.“ (Kellermann 1931, 1) Im weiteren Verlauf werden Beispiele für den kulturspezifischen Umgang mit Zeit angeführt. Die subsummierende Bezeichnung u.a. der Japaner mit dem Kollektiv-Singular „der Asiate“ ist für den Vortrag Programm: „Der Asiate liebt die Genüsse des Lebens. Er schwelgt in ihnen wie ein Kind in Süssigkeiten, er bewundert und schätzt ohne jeden Zweifel den Reichtum.“ (ebd., 4) Diese und ähnliche allgemeine Aussagen von „den Asiaten“ werden mit einzelnen Beispielen aus den verschiedensten Ländern _____________ 46
Vgl. Anger 1960, 60, Nr. 156.
3.1 Einführung
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sowie Anekdoten und Erlebnissen ‚belegt‘. Kellermann zeichnet für den Vortrag ein Bild von Asien und „den Asiaten“, das sehr an die Suche nach dem verlorenen Paradies erinnert.47 Der Text Japanisches Volksleben wird von Sigrid Anger als Reisebeschreibung charakterisiert.48 Obwohl keine weiteren Hinweise auf den Schreibanlass oder den Rahmen hindeuten, scheint die Zuordnung „Reisebeschreibung“ – betrachtet man die anderen Werke Kellermanns – aus verschiedenen Gründen nicht recht schlüssig: Es ist zwar eine Art inhaltlicher Rahmen erkennbar, der Text gibt aber keinen Weg wieder, weder räumlich noch einen Lern- oder Verstehensweg des Schreibenden. Es gibt kein erzählendes, reflektierendes oder berichtendes Ich, sonst ein wesentliches konstituierendes Merkmal der Reisebeschreibungen Kellermanns. Ein vermittelndes Subjekt wird sprachlich nicht mehr explizit konstituiert, weshalb es nur noch feststehende Äußerungen, Informationen und allgemeine (oder verallgemeinernde) Ausführungen gibt, deren Gültigkeit nicht mehr in Frage gestellt werden. Auf diese Weise werden Aussagen über eine Kultur und ein Volk als Erkenntnisse mitgeteilt. Es könnte sich hier eher um einen Artikel für ein Zeitung oder ein ähnliches Organ, vielleicht sogar um einen Vortrag handeln, auch wenn sich darauf kein direkter Hinweis, wie etwa eine Anrede, finden lässt. Der erste Satz markiert den Erkenntnisrahmen, der die Auswahl der auf den acht Seiten behandelten Gegenständen bestimmt: „Man erkennt ein Volk an seiner Arbeit und an seinen Vergnügungen.“ (Kellermann o.J., 1) Entsprechend dem Stil des ganzen Textes, der keinen Raum für Reflexionen bzw. Fragen lässt, wird schon rasch nach Beginn der Ausführungen das Fazit des Autors im Hinblick auf den Charakter des japanischen Volkes gezogen: „Die Japaner sind eines der fleissigsten Völker, die den Erdball bewohnen. Sie sind gleichzeitig eines der lebenslustigsten, ihre Lebenstüchtigkeit steht im Verhältnis zu ihrer Fähigkeit, das Leben zu geniessen.“ (ebd., 2) Das Typoskript zeichnet folgendes Bild der japanischen Menschen: Sie sind ein fleißiges Volk, das sich gerne amüsiert und Feste feiert. Sie lieben ihr Land, haben ein inniges Verhältnis zur Natur und eine Leidenschaft für das heiße Bad. Außerdem pflegen sie einen eher lockeren Umgang mit der Religion und haben eine reiche Theatertradition. Der Text Japanisches _____________ 47
48
Viele der Anekdoten, die hier ausgestaltet werden, finden sich in auch in dem Band Meine Reisen in Asien. Ran-Klein-Tibet-Indien-Siam-Japan von 1940, so etwa die Geschichte des „Freundes“ Mohamed Aga aus Isfahan, der als Besitzer der ausgeliehenen Wagen für eine Etappe von „Isfahan zum Persischen Golf“ (Kellermann 1940, 36ff.) unter widrigen Umständen mitreiste. Diese Anekdote soll im Rahmen des Vortrags die Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit „des Asiaten“ illustrieren. „Japanisches Volksleben. Reisebeschreibung. o.O., o.Z.; Masch. 8 Bl., 8 S.“ (Anger 1960, 28, Nr. 37). Ich möchte an dieser Stelle der Stiftung Archiv der Akademie der Künste in Berlin, namentlich Frau Franka Köpp, für die freundliche Unterstützung danken.
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3 Die Fremde als Sehnsuchtsraum
Volksleben wird an entsprechenden Stellen der Untersuchung noch genauer hinzugezogen werden. In der Erzählung Abenteurer zeigen sich interessante Variationen des Themas Japan bzw. Erfahrung von Fremde in Japan, auf die noch näher einzugehen sein wird (vgl. Kapitel 3.4). Im Jahr 1912 erscheint schließlich im Verlag Hans Bondy in Berlin eine Übersetzung des bedeutenden Werks von Basil Hall Chamberlain: Allerlei Japanisches. Notizen über verschiedene japanische Gegenstände für Reisende und andere 49 durch Bernhard Kellermann. Das Werk Chamberlains war Kellermann wohl bereits vor seiner eigenen Reise bekannt, denn er schreibt in dem Vorwort: „Das vorliegende Werk Basil Hall Chamberlains hat mir bei meinem Aufenthalt in Japan unschätzbare Dienste geleistet. Es hat mich wie ein allezeit liebenswürdiger und verlässiger Berater durch das neue und das alte Japan geführt, sodaß der Gedanke in mir entstand, es weiteren Kreisen zugänglich zu machen.“ (Kellermann in: Chamberlain 1912, 5)
3.2 Ein Spaziergang in Japan – Der Reisende als Zuschauer 3.2.1 Themen und Gestaltungsform „Auf der Ebene des Textes hat eine neue, eine andere Reise begonnen. Im literarischen Reisetext rekonstruieren wir nicht die Reise, sondern schicken Figuren und Zeichen auf die Reise.“ 50 „Nicht eine einmalige, individuelle Reise wird verschriftlicht, sondern sprachliche Formen werden auf eine als authentisch ausgewiesene Reise geschickt.“ 51
Der Spaziergang von 191052 stellt, wie bereits erwähnt, die umfassendste und auch bekannteste schriftliche Bearbeitung der Japanreise Bernhard Kellermanns dar. Wolfgang Reif (1989) bezeichnet dieses Werk in seiner kritischen Betrachtung als einen „Typus von Reisebeschreibung, den man mit dem stilgeschichtlichen Etikett ‚impressionistisch‘ versehen kann.“ Weiterhin schreibt er: „Auch was die Art der Wahrnehmung, das Reiseverhalten und das Kompositionsschema betrifft, kann man Kellermanns _____________ 49 50 51 52
Erstausgabe: Chamberlain, Basil Hall: Things Japanese. 1890. Heinrichs 1993, 27. Opitz 1997, 221. Im Folgenden wird die Ausgabe von 1922 zugrunde gelegt.
3.2 Ein Spaziergang in Japan – Der Reisende als Zuschauer
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Ein Spaziergang in Japan als typisches Beispiel einer impressionistischen Reisebeschreibung ansehen.“ (Reif in: Brenner (Hg.) 1989, 441) Reif untermauert diese Aussage, indem er auf den Japonismus des Impressionismus (in Musik, bildenden Künsten und Literatur) sowie auf die Ausklammerung von politischen und sozialen Themen hinweist. Die Darstellungsform spiegele eine „auf Improvisation und eine scheinbar flüchtige, am spontanen Erleben orientierte Konzeption“. Dabei werde sowohl der Text und die geschilderten Eindrücke als auch die Japanerinnen und Japaner „den kulinarischen Gelüsten Europas gleichsam als exotische Delikatesse serviert.“ (Reif in: Brenner (Hg.) 1989, 440f.) Reif schließt sich den Vorlagen des Titels und der Verlagswerbung an, indem er mit ihnen darin übereinstimmt (freilich mit anderer Bewertung dessen), dass der Titel die „Haltung des reisenden Autors exakt wieder[gibt]. Als Flaneur[53] und ohne vorgefaßte Reiseziele will er Japan auf sich einwirken lassen, jederzeit offen für neue Reize und Überraschungen, die ihm der Augenblick zuträgt.“ (ebd., 438) In einer zeitgenössischen Rezension aus dem Hamburger Fremdenblatt, die als Werbeschrift des Verlags für den Spaziergang in die Ausgaben von Sassa yo Yassa aufgenommen wurde,54 heißt es: „Kellermann streift durch Japan [in der Ausgabe von 1911 heißt es weiter: „und schon im Titel seines Buches betont er, dass er selbst gar nicht mehr vorhatte“] als sorgenloser, leicht empfänglicher, leicht begeisterter Flaneur. Nippons Städte mit ihren Straßenzügen aus leichtem Holzwerk, die Straßen mit den schimmernden hieroglyphenbemalten Lampions, mit ihrem ewigen Gekrabbel und Geklapper der Menschen auf ihren Holzschuhen, das bunte farbige Gewirr der Sonnenschirme aus Papier, die Zimmer in den Gasthöfen und Teehäusern mit Fenstern und Schiebetüren aus Papier, die Tänzerinnen in den Teehäusern und die Geishas, die ihn mit ihren bemalten Puppengesichtern neugierig und schmeichlerisch umkrabbeln wie kleine, zierliche Mäuschen – all‘ das wird Kellermann ein entzückendes Panorama auf kleinen Spielzeuginseln, auf denen jeder Tempel, jede kleine Handwerkstätte, die Jinrikasha-Kulis [sic!] und noch die winzigen Zwergbäumchen verführerische Dinge zum Bestaunen sind ... Es ist kein Buch voll östlicher wilder Leidenschaft, voll phantastisch kühner Märchen: vielleicht weil Japans Wesen trotz aller Beweglichkeit ein Wesen der Verschwiegenheit ist, vielleicht auch nur, weil Kellermann nichts als flanieren wollte. Er tut’s als lächelnder Europäer, tut’s als Künstler und Impressionist, der die fremde Kultur durch hohe Kultur [sic!] der eigenen Darstellung schimmern läßt.“
In dieser Rezension sind bereits viele der Themen und Elemente angesprochen, die Kellermann für seine Reisebeschreibung aufgreift. Dieser _____________ 53 54
Zum Flaneur vgl. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1983. Zu dem Konzept des flâneurs bei Benjamin und der flânerie im hier besprochenen Werk Kellermanns vgl. Goebel 2001, 116ff. sowie ders. 1998, 377-391. Gesichtet in den Ausgaben von 1911 und 1922, hier nur leicht variiert.
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‚Katalog‘ ist keineswegs ungewöhnlich, der Verfasser bedient sich hier aus einem Themen-Pool, auf den selbst in modernen Büchern über Japan immer wieder gern zurückgegriffen wird:55 Ankunft: Erwartung, Traum und Wirklichkeit; Religion allgemein, besonders Tempel; Teehäuser; Theater und Tänze; der Berg Fuji;56 die als typisch geltenden japanischen Kiefern und/oder Fichten sowie die Kirschblüte; das japanische Essen; die japanischen Frauen (besonders: Geisha, Tänzerinnen und Prostituierte); Größenrelationen: sowohl Körperrelationen als auch Relationen von Gegenständen, Räumen, etc.; Märchen und Geheimnis. Das japanspezifische Themenrepertoire wird angereichert durch solche, die für jede Reisebeschreibung wichtig und gestaltbildend sind: Mobilität (Eisenbahnfahrten, Schiffsfahrten oder, in modernerer Zeit, Flüge), Reisen im Land (der Reisebericht im Reisebericht), Begegnungen mit einzelnen Menschen (oft genug als Repräsentanten der so genannten Nationalkultur oder des ‚Nationalcharakters‘ illustriert oder als Kulturvermittler konstruiert bzw. funktionalisiert), etc. Die Existenz eines solchen Pools strukturiert die Konstruktion der ‚Fremde Japan‘ in mehrfacher Hinsicht vor. Auf der Ebene der Wahrnehmung und Erfahrung gibt er den Reisenden Schemata an die Hand, die ihnen helfen, in der unvertrauten Fremde Dinge, Situationen oder Eindrücke ‚wiederzuerkennen‘. Insofern gibt er Sicherheit und Halt. Ist er jedoch allein bestimmend für die Wahrnehmung, kann er Offenheit für Neues und Anderes auch blockieren, indem die Re-Konstruktion nicht etwa zur Basis für Neuentdeckungen und neue Erfahrungen in der anderen Kultur wird, sondern sich lediglich in Selbstversicherung und Bestätigung vertrauter Bilder erschöpft. Der hier nur in seinen wichtigsten Bestandteilen wiedergegebene Themenkatalog antizipiert zudem die Lesererwartung und spiegelt diese gleichzeitig wider; er zielt auch auf dieser Ebene auf ein Wiedererkennen, diesmal jedoch durch die Lesenden. Er muss aber nicht zuletzt auch als vorstrukturierend für den Prozess des Schreibens verstanden werden. Der Themenkatalog offenbart auf inhaltlicher Ebene Referenzbeziehungen, die zwischen Texten über Erlebnisse und Erfahrungen in Japan, gleich _____________ 55
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Victor Segalen betont schon im Jahr 1908 in seinen Aufzeichnungen zum „Exotismus als Ästhetik des Diversen“, in denen er seine Gegenkonzeption zum zeitgenössischen Exotismus der Reiseliteratur entwirft, seinen Überdruss in Bezug auf die festgelegten Themenkataloge oder Intarsien der gängigen Kulturbeschreibung: „Alles, was das Wort Exotismus an Mißbrauchtem und Abgestandenem enthält, über Bord werfen. Es von seinen fadenscheinigen Kleidern befreien: von den Palmen und Kamelen, dem Tropenhelm, der schwarzen Haut und der gelben Sonne.“ (Segalen [1908] 1983, 41) Im Jahr 1918 notiert er: „Unter den verwegenen Worten ‚exotische Literatur‘, ‚Exotismuseindrücke‘ ... vereinte und vereint man noch immer das ganze protzige Flitterwerk einer Rückkehr aus dem Lande eines Negerkönigs; die unverdauten Mitbringsel jener, die wer weiß woher zurückkommen“ (ebd., 112). Sein Überdruss findet Ausdruck in der Bezeichnung Pierre Lotis und anderer als „Zuhälter des Exotismus.“ (ebd., 55). Zum Motiv des Fuji-san in der deutschsprachigen (Reise-)Literatur vgl. Schauwecker in: Paul (Hg.) 1987, 99-124.
3.2 Ein Spaziergang in Japan – Der Reisende als Zuschauer
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welcher Textsorte, bestehen. Diese Intertextualitäten können neben anderem Folge und/oder Ursache der Vorstrukturierung von Wahrnehmung und Gestaltung sein. Die Debatten um den Begriff und die Theorie der Intertextualität gehören seit den 80er Jahren zum festen Repertoire literaturwissenschaftlicher und literaturtheoretischer, aber auch textlinguistischer und (sprach-) philosophischer Diskussionen. Eine Einigung in Bezug auf die inhaltliche Dimension des Begriffs und das Erkenntnisinteresse, das sich damit verbindet, konnte bisher noch nicht erreicht werden, da die vorliegenden Konzepte von Intertextualität auf zu unterschiedlichen theoriebildenden Voraussetzungen basieren.57 Innerhalb der Literaturwissenschaft kann als kleinster gemeinsamer Nenner angenommen werden, dass „man unter Intertextualität die Beziehungen [versteht], die zwischen Texten, in der Regel einem Textexemplar und seinen Prätexten, bestehen.“ (Weise in: Klein; Fix (Hgg.) 1997, 39) Gerda Haßler (1997) verweist auf die Abgrenzung von Intertext und Diskurs, indem sie unter „Intertext einen konkreten Text [versteht], der in einer sehr differenzierten Weise sinnkonstitutiv für den aufnehmenden Text werden kann.“ (Haßler in: dies. (Hg.) 1997, 26) Intertextualität wird im Folgenden als Potential möglicher Wechselbeziehungen zwischen konkreten Texten gefasst sowie als die im jeweiligen konkreten Text aufzufindende Gestaltung von Referenzbeziehungen auf _____________ 57
Bis heute gibt es keine eigene Theorie der Intertextualität. Die Diskussionen in diesem Feld sind ausufernd und changieren zwischen dem sehr weiten Ansatz Julia Kristevas, in dem sich ein Text in ein unendliches Textuniversum (la Bibliothèque général) einschreibt und dort nur als Kreuzungspunkt, quasi als Schnittstelle aufscheint (vgl. u.a. Kristeva in: Ihwe (Hg.) 1982, 345-375), und einem eher traditionellen Pol, der unter Intertextualität nicht „die universelle Vernetztheit von Texten, sondern eine ausweisbare Relation zwischen zwei oder mehreren Texten“ (Heinemann in: Klein; Fix (Hgg.) 1997, 24) versteht. Manfred Pfister (in: Broich; Pfister (Hgg.) 1985, 11-30) hat eine kritische Aufarbeitung und Diskussion der Intertextualitätstheorien der 80er Jahre vorgelegt. In diesem Zusammenhang hat er auch die Differenzen aufgezeigt, die zwischen dem poststrukturalistischen Ansatz von Kristeva und anderen und dem Prinzip der Dialogizität bei Bachtin bestehen, auf dessen Werk sich Kristeva wesentlich beruft: Die zwei Dimensionen des ‚Dialogs‘ bei Bachtin (›Autor/Leser‹ und ›Wort bzw. Rede als Text/andere Texte‹) reduzieren sich bei Kristeva auf die eine, die Textdimension, da ‚Text‘ als ein Gesellschaft und Geschichte umfassendes Zeichensystem gesetzt wird (im Vergleich dazu: Bachtin in: ders. 1979, 349-357; vgl. auch Grübel in: Bachtin 1979, 42-51; zur Auseinandersetzung mit Kristevas Theorie der intertextualité ebd., 61f. sowie Todorov 1995). Renate Lachmann, die den Intertextualitätsbegriff im Kontext der Memoria-Diskussion aufgreift – „Das Gedächtnis des Textes ist seine Intertextualität“ (Lachmann 1990, 35) – hat die unterschiedlichen Dimensionen der Diskussionen um die Intertextualität aufgezeigt bzw. diese zusammenfassend systematisiert. Lachmann unterscheidet zwischen einer literatur- bzw. kulturkritischen, einer theoretischen und einer deskriptiven Ebene in den Debatten (vgl. Lachmann 1990, 56f.).
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inhaltlicher, formaler und sprachlicher Ebene.58 Die Referenzen können mehr oder weniger deutlich und offen oder auch verdeckt sein.59 Mit der Konstatierung von Referenzbeziehungen ist noch keine Aussage darüber verbunden, ob diese im Prozess der Produktion und Rezeption60 jeweils intentional oder unbewusst hergestellt und/oder gesucht werden, ob sie notwendiger oder zufälliger Natur sind oder ob sie sich aus der Wahl des Genres ergeben. Der Rahmen, den die gewählte Textsorte vorgibt, hat wesentlichen Einfluss auf die Herstellung von und den Umgang mit Wechselbeziehungen zwischen Texten, auch hier wieder sowohl auf der Ebene der Produktion als auch auf der Ebene der Rezeption. Manfred Pfister (1993) zeigt im Zusammenhang seiner Darstellung des Reisebericht als Intertext, dass auch die Ebene der Erfahrung (die konkrete Reise) durch die Referenzbeziehungen von Texten geprägt ist:61 „Reisen _____________ 58
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Wobei sich nach Bachtin jeder „Monolog in einen übergeordneten Dialog“ einbettet. „Jede Äußerung entsteht so im Zusammenhang des bereits Gesagten und im Hinblick auf Nochzu-Sagendes als Mittelglied einer zeitlichen Triade“ (Grübel in: Bachtin 1979, 44f.). Zur Intertextualität auf der Ebene des Wortes, bzw. zur ‚Dialogizität des Wortes‘ vgl. Bachtin (1979): „Das Entwerfen des Gegenstandes durch das Wort wird durch die dialogische Wechselwirkung mit verschiedenen Momenten seines sozial-verbalen Erkennens und Beredens im Gegenstand noch komplexer. Auch die künstlerische Abbildung, das ‚Bild‘ des Gegenstandes, ist von diesem dialogischen Spiel verbaler Intentionen, die sich in ihm treffen und verflechten, durchdrungen, kann sie nicht übertönen, sondern muß sie im Gegenteil aktivieren und organisieren“ (Bachtin 1979,170). Bachtin hat „sein Dialogizitätstheorem [explizit] vom Wort auf den Text übertragen“ (Lachmann 1990, 56; vgl. auch Lachmann (Hg.) 1982). Vgl. die Formen der Intertextualität wie etwa das Zitat, die Montage von Textteilen, das Plagiat oder die Satire, etc., aber auch Übersetzungen. In diesem Zusammenhang vgl. auch Gérard Genette, der den Versuch unternimmt, die verschiedenen möglichen (impliziten und expliziten) Bezüge zwischen Texten systematisch zu ordnen und sie in „fünf Typen von Transtextualität“ zu fassen (vgl. Genette 1993, 9-18). Renate Lachmann (1990, 38f.) zeigt, dass der Folgetext den Prätexten mit dem Gestus der „Partizipation“ (der Teilhabe an den Texten der Kultur), der „Tropik“ (dem Bemühen um Abgrenzung gegen die Macht der sich einschreibenden Vorläufertexte) oder dem Gestus der „Transformation“ (Aneignung vorgängiger Texte) begegnen kann. Insbesondere der Gestus der „Tropik“, der auf Harold Bloom (20032) zurückgeht, enthält das Potential, Texte neu- und weiterzuschreiben. Vgl. auch Renate Lachmann, die zwischen einer Produktions- und einer Rezeptionsintertextualität unterscheidet (vgl. Lachmann 1990, 57) und die die Funktion der intertextuellen Bezüge für die Sinnkonstitution untersucht. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Murath in: Fuchs; Harden (Hgg.) 1995, 3-19. Bei Murath entsteht der weite Begriff der Intertextualität aus dem ‚raumgreifenden‘ Konzept des Begriffs von Text: „So ‚liest‘ der Reisende fremde Landschaften und unbekannte Bräuche, indem er auf eigene Intertexte zurückgreift und diese neu kombinierend appliziert, denn die Bedeutung einer Kultur ist die Bedeutung, die wir ihr verleihen.“ (ebd., 5). Intertext wird hier nicht, wie bei Haßler (vgl. dies. (Hg.) 1997, 26) als ein konkreter Text, ein Prätext, verstanden, der sinnkonstitutiv für den aufnehmenden Text werden kann, sondern als ‚Text zwischen Texten‘. Die Studie von Kati Stammwitz (2000) geht u.a. der interessanten Frage nach, wie in postkolonialen Reiseberichten auf der Ebene der Erfahrung (in
3.2 Ein Spaziergang in Japan – Der Reisende als Zuschauer
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folgt Kanonbildungen, die selbst auf Texten beruhen und in diesen fortgeschrieben werden.“ (Pfister in: Foltinek et al. (Hgg) 1993, 113) In einer Art Typologie führt Pfister Beispiele für bewusste (etwa huldigende oder kritisch-dialogische) sowie verdrängte und/oder negierte Intertextualität im Reisebericht an. Trotz der, der Reisebeschreibung per Gattungsobligatorium zunächst immanenten, Negation der Intertextualität62 ist diese ein wichtiges Merkmal der Gattung und muss zudem im Kontext der Untersuchung fiktionaler Anteile der Texte Beachtung finden. Es wird nun jede Reisebeschreibung zu hinterfragen sein, wie sie mit bereits bestehenden Elementen oder Intarsien einer Kulturbeschreibung umgeht. Bedient und reproduziert sie diese Schemata oder geht sie darüber hinaus, eröffnet neue Sichtweisen, reflektiert eigene Wahrnehmungsweisen und räumt dem Anderen einen größeren Platz ein? Bernhard Kellermann, so zumindest in der Bewertung von Wolfgang Reif, fand nicht aus dem Korsett des gängigen Wahrnehmungs- und Beschreibungskatalogs hinaus: „Der Blick kehrt immer wieder zu den Motiven zurück, die ihm als typisch japanisch gelten.“ (Reif in: Brenner (Hg.) 1989, 439) Im Folgenden sollen exemplarisch einige Elemente und ihre Verknüpfung aus dem Themenrepertoire herausgegriffen und ihre Ausgestaltung durch Bernhard Kellermann kurz vorgestellt werden. „Japan, das Land der sonderbaren und unglaublichen Dinge“ (Kellermann 1922, 5) wird zwar nicht durchgängig, aber dennoch in Verbindung mit einzelnen Motiven immer wieder als ein phantastisches Märchenreich konstruiert.63 Der Topos von der ‚Kleinheit‘, also die Ausgestaltung der Größenrelationen, lässt Japan zu dem Land Lilliput aus Gullivers Reisen 64 werden: „Alles war so klein, so zierlich, unwirklich und fremd. Und ich saß mitten darin wie ein unförmiger Riesenklotz, der alles in Trümmer schlagen mußte, sobald er sich erhob.“ (ebd., 12) Dieser Topos trägt mit am stärksten zu der Literarisierung oder Fiktionalisierung des Landes bei65 _____________
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Form von Reisewiederholung; ebd., 104ff.) sowie auf der Ebene der Verschriftlichung auf imperialistische und nicht-europäische Prätexte Bezug genommen wird. Zum Zusammenhang von Zugänglichkeit von Welt, Wahrnehmung, Erfahrung und Lesen vgl.: Blumenberg 19892, 9-17 sowie Kapitel 5.3 Die Fremde lesen. „Als Gattung der ‚Autopsie‘ bringt sich der Reisebericht im 18. Jahrhundert erstmals auf den Begriff eines theoretischen Selbstverständnisses, und das heißt eben als Gattung der negierten Intertextualität.“ (Pfister in: Foltinek et al. (Hgg) 1993, 110). Vgl. auch Günther 1988, 36-40. Obgleich Gulliver auf seinen Reisen kurz nach Japan kommt (3. Teil, 11. Kapitel; vgl. Swift 1958, 334ff.), verbinden sich die hier angesprochenen Assoziationen und Phantasien doch eher mit seinen Erlebnissen in Lilliput. Zum Stereotyp von Japan als „Zwergenland“ vgl. auch Günther (1988). Zum „Topos der Kleinheit und Kindlichkeit“ im westlichen Japan-Diskurs, vgl. Pekar 2003, 213ff. In Kellermanns Informationstext Japanisches Volksleben taucht dieser Topos auch wieder auf, hier allerdings dient er einem ganz anderen Zweck: Der Vergleichskontext
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3 Die Fremde als Sehnsuchtsraum
und findet sich in vielerlei Ausgestaltung, so z.B. im Jahr 1926 im Chanson von Kurt Tucholsky: „Da ist ein Land – ein ganz kleines Land – / Japan heißt es mit Namen. / Zierlich die Häuser und zierlich der Strand, / zierlich die Liliputdamen. / Bäume so groß wie Radieschen im Mai. / Turm der Pagode so hoch wie ein Ei – / Hügel und Berg / klein wie ein Zwerg. / Trippeln die zarten Gestalten im Moos, / fragt man sich: Was mag das sein? / In Europa ist alles so groß, so groß – / und in Japan ist alles so klein.“ (Tucholsky 1975 (1926), Bd. IV, 551f.)66
Analogien aus dem Tierreich und ihre an die Groteske gemahnende Ausgestaltung erinnern an märchenhafte und/oder phantastische Erzählungen: „und in den Booten waren braune, schlitzäugige, fremde Menschen. Sie trugen Mäntel aus Stroh, flache Strohkegel auf dem Kopf, [...] Rasch wie die Katzen stiegen sie an Bord, und da die Strohmäntel starr und steif waren, sah es so aus, als ob ein Rudel von Stachelschweinen das Fallreep heraufklettere.“ (Kellermann 1922, 5f.)67 „Unsere Kuli bellten wie kleine Hunde. Hai! Hai! Und besonders mein Alterchen kläffte drollig, wie ein kleines heiseres Hündchen. Dann passierten wir ein Tor und bogen in _____________
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ist in diesem Fall die wirtschaftlichen Konkurrenzsituation von Europa und Japan: „Er [‚der Japaner‘] ist klein und muss seine Beine ganz ordentlich schwingen, um Schritt halten zu können mit dem grossen Stiefel des Europäers. Seine Hände sind klein, beweglich und viel geschickter als die des Europäers, und so kommt es, dass seine Finger sich doppelt so rasch bewegen. Von früh bis nacht sind diese Millionen kleiner rascher Hände auf den japanischen Inseln in fieberhafter Bewegung. Sie schnitzeln, hämmern, [...] und schaben, um gegen die europäische Maschine bestehen zu können.“ (Kellermann o.J. 1f.) „Der Europäer“ mit seinen großen Stiefeln steht vielleicht noch für Gulliver, „der“ bzw. „die Japaner“ wirken hier aber eher wie fleißige, unermüdliche Heinzelmännchen. Außer dem Topos der Kleinheit und Kindlichkeit geht Pekar weiteren Topoi nach, die in der Beschreibung Japans in Texten resistent und scheinbar unverzichtbar weiter transportiert werden: Dem Topos der Andersartigkeit und Gegensätzlichkeit, dem der Einzigartigkeit, dem der Unverständlichkeit sowie dem Alt-Japan-Topos. Als negative Topoi analysiert er den der Nachahmung, den der Oberflächlichkeit sowie den der Unmoral (vgl. Pekar 2003, 141-227). Kerstin Gernig geht einzelnen „Topoi der Darstellung“ in Bernhard Kellermanns Reisebericht näher nach (Gernig in: Schlesier; Zellmann (Hgg.) 2003, 61-73). Nachdem sich die Geisha und der junge, kräftige Matrose kurz im Wald zurückgezogen haben, heißt es: „Und eine Geisha streichelt das Moos, / in den Augen ein Flämmchen, ein Schein ... / in Europa ist alles so groß, so groß – / und in Japan ist alles so klein.“ Die sexuellen Großmannsphantasien, die dieses Chanson in der Begegnung der Geisha mit dem Matrosen ebenfalls spiegelt, lassen sich in vielen Beschreibungen männlicher Reisender in Japan wiederfinden, wenn auch weniger explizit und oftmals in Stil und Szenerie exotistisch verbrämt. Das Chanson erschien erstmals am 30.11.1926 in der Weltbühne unter dem Verfassernamen Theobald Tiger. Gustav Spieß, ein Mitglied der ersten preußischen Gesandtschaft in Japan (1860–1862), schreibt in seinen Reise-Skizzen über die Bekleidung zweier japanischer Offiziere: „Beide kleideten sich später zum Schutze gegen den heftigen Regen in eigentümliche Überzieher von Reisstroh (was ihnen das Aussehen von Stachelschweinen gab) [...] Es kostete uns Mühe, bei dieser komischen Vermummung ernst zu bleiben.“ (Spieß [1864] zit. n. Stahncke (Hg.) 2000, 115) Hier werden die unbekannten Bekleidungssitten eher zum Anlass einer Anekdote, als zu Elementen der Konstruktion eines märchenhaften Geschehens.
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die Märchenstadt[68] ein.“ (ebd., 71) Dass diese Analogien außerdem ein – gelinde gesagt – unangemessenes Menschenbild zum Zwecke einer ästhetisierenden Gestaltung transportieren, muss hier wohl kaum weiter erwähnt werden. Die Lesenden wähnen sich gemeinsam mit dem Reisenden in einer Märchenstadt, in der „herrliche[n] Hexenmeister“ (ebd., 11) oder „Zauberinnen“ (Kellermann 1922, 17) die Besucher unterhalten: „Hier sitze ich nun und harre der märchenhaften Dinge, die kommen sollen.“ (ebd., 47) Wenn der Tag geht, erwachen die Träume des Europäers, die er schon so oft über Asien geträumt hat: „Aber sobald es dunkel wurde, wimmelte die Straße von hellen Laternen und erwachte zu einem phantastischen bunten Leben wie die Städte in den Märchen von Tausend und Eine Nacht.“ (ebd., 135)69 Ein „Märchenreich“ hält viele Geheimnisse bereit. Zu den für den gebildeten europäischen Reisenden provozierendsten Geheimnissen werden die japanischen und chinesischen Schriftzeichen stilisiert, die in den Straßen und im Alltagsleben allgegenwärtig sind und die ihn immer aufs Neue als ‚Analphabeten‘ in diesem Reich kennzeichnen. „Phantastische Ideogramme“, „verwirrende Schriftzeichen“ begegnen dem Reisenden auf Schritt und Tritt. Es scheint, als behielten sie ihr Geheimnis für sich, vielmehr ist es jedoch so, dass die geheimnisvollen Zeichen wesentlich zum Inventar des Märchenreichs gehören. Sie dürfen somit gar nicht dekodiert werden.70 Das Märchen als Gestaltungsform erlaubt es dem Schreibenden, Phantasien und Sehnsuchtsräume ungehindert auszudrücken und zu kreieren; auch Bernhard Kellermann beschwor im Prozess der Verschriftlichung seiner Reise immer wieder explizit das Märchenreich oder nahm märchenhafte Elemente in seinen literarischen Reisebericht auf. Für die Lesenden stellt die märchenhafte Form den Raum für die phantasiehafte Überschreitung realer Handlungsbeschränkungen dar bzw. für das phantasiehafte Ausleben der in der eigenen Lebenswelt sanktionierten lustvol_____________ 68 69
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[Die „Märchenstadt“ ist der Tokioter Bordellbezirk, das Yoshiwara.] Schon in Lafcadio Hearns Glimpses of Unfamiliar Japan von 1907 findet sich der Fremde nach seiner Ankunft in Japan „thinking of fairyland“ (ebd., 21). Neben dem Märchenreich gilt auch der Traum als ein solcher ‚Ort‘, an dem sich der Reisende wähnt, sobald er japanischen Boden betritt: „Kein Vergleich und keines unserer Maße wird diesem sowohl blumenhaften wie stählernen Lande gerecht. Wie gründlich man auch seine [...] europäisch gekleidete Gegenwart betrachtet haben mag, nie wird man ganz frei von dem Gefühl, eine Traumwelt durchwandert, einen Traum erlebt und Traumluft geatmet zu haben. Denn es ist ja nicht erwiesen, daß alle Träume aus flüchtigem und entweichendem Stoff gemacht sein müssen.“ (Sieburg 1939, 7). Auch diese Form von Wahrnehmungsdeutung findet sich bei Hearn: „somehow the experience gives me the sensation of being asleep; it is so soft, so gentle, and so queer withal, just like things seen in dreams.“ (Hearn 1907, 107). Zur Funktion des Schriftsystems in der Fremdheitskonstruktion vgl. Kapitel 5.4.3 Ästhetisierung und Mystifizierung der ‚fremden Schrift‘.
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3 Die Fremde als Sehnsuchtsraum
len Bedürfnisse, insbesondere auch erotischer Art. Hier gehen Märchen, Erotik und Exotik dann die Verbindung ein, die das Genre für die Lesenden so reizvoll macht. Da jedoch das Lesemuster Erwachsener für eine wirklich befriedigende Phantasietätigkeit über das Märchenhafte hinaus auch eine „fortschreitende[ ] Anpassung an das Realitätsprinzip“ (Schön in: Roters et a. (Hgg.) 1999, 196) verlangt, muss der Spaziergang als Textform idealer Weise märchenhafte Züge mit realitätskompatiblem Material vereinigen.71 Diese Zusammenführung gelingt Kellermann durchaus in seiner Gesamtkonzeption des Textes, die nun genauer betrachtet werden soll. Zu diesem Zweck werden zunächst die Struktur des Werks sowie das Was und das Wie der Gestaltung in einem Überblick dargestellt. Dazu gehört auch die Wiedergabe des Plots, der in der erzählerischen Abfolge Kohärenz und Überschaubarkeit sowie Spannung(ssteigerung) und Entspannung, Interessenbindung und Identifikationsmöglichkeiten bereitsstellen soll. 3.2.2 Struktur und Konzeption Struktur In der Makrostruktur zeigt der Spaziergang in Japan eine Aufteilung in fünf größere Abschnitte, wobei die Einführung (Ah, da sind wir ... ; S. 5–14) und der Ausklang des Werks (Nachschrift; S. 270–272) vergleichsweise kurz gestaltet sind. Die anderen drei Abschnitte (The Beaten Track, S. 15–122; Eine kleine japanische Stadt, S. 123–216 und Wie die japanischen Götter wohnen, S. 217–269) sind, dem impressionistischen Kompositionsschema folgend, wiederum in 30 kurze Unterabschnitte unterteilt, die jeweils auch mit einer illustrierenden Überschrift versehen sind. Der erste Abschnitt (Ah, da sind wir ...; S. 5–14) gestaltet die Ankunft: Ein neugieriger Blick fängt erste Eindrücke von Menschen, Alltagsszenen, Straßen und Natur ein. Wie in einem Brennspiegel finden sich hier bereits viele Elemente aus dem oben beschriebenen Themenkatalog: ein Teehaus, Geisha, Tänzerinnen, Musik, Größenrelationen. _____________ 71
In Bezug auf die Entwicklung und Ausprägung der exotistischen Reisebeschreibung des beginnenden 20. Jahrhunderts soll hier noch einmal auf die Gebundenheit dieses Genres an die kulturhistorische Verfasstheit des deutschen Lesepublikums, geprägt durch das Wilhelminische Zeitalter und die Industrialisierung, verwiesen werden. Wilhelm Voßkamp zeigt das Zusammenspiel von „Möglichkeiten (zeitlich begrenzter) Bedürfnisbefriedigung für bestimmte Leser (Schichten, Gruppen)“ mit dem Freisetzen neuer Bedürfnisse durch historische Ausprägungen literarischer Gattungen und Genres auf. (Voßkamp in: Cramer (Hg.) 1983, 40).
3.2 Ein Spaziergang in Japan – Der Reisende als Zuschauer
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Die Einführung des Abschnitts The Beaten Track (S. 17–23) beschreibt eine Eisenbahnfahrt nach Yokohama und beinhaltet Reflexionen über die Landschaft, über die Begegnung Europa/Amerika und Japan sowie Bahnhofsszenen.72 In „Yokohama“ (S. 23–30) wird die Europäisierung Japans kurz angesprochen, ein ausgiebigeres Durchstreifen der Straßen findet Raum. Nach einer ersten Begegnung mit dem japanischen Theater (S. 30– 41) schildert der Autor Erlebnisse in der Hauptstadt Tôkyô (S. 41–77): Teehäuser, die Kirschblüte, Tempelfeste, einen Besuch des Theaters Kabuki-za sowie des Bordellbezirks Yoshiwara. „Die westliche Hauptstadt“ (S. 77–80), Kyôto, ist das nächste Reiseziel. Dort nimmt der Reisende an diversen Festen („Matsuri“) und anderen interessanten Ereignissen teil: einem „Kirschblütentanz“, dem großen Umzug der Geisha im Kyôtoer Stadtteil Gion („Die heidnischen Göttinnen“) sowie an Tempelfesten und einer Theateraufführung (S. 80–110). Kapitel 12 (S. 110–121) beschreibt eine ‚Reise in der Reise‘, die in die Provinz führt. Dieses Kapitel führt auf eine zentrale Einheit des Spaziergangs hin, die in dem Abschnitt Eine kleine japanische Stadt gestaltet ist, und die sich bis einschließlich Kapitel 25 erstreckt; dieser Abschnitt soll im Folgenden näher betrachtet werden. Kellermann schildert in Kapitel 12 zunächst noch handfeste Probleme, die sich in Japan (auch aufgrund der politischen Verhältnisse) während einer Reise in die Provinz ergeben können: Sprachprobleme aufgrund der Dialekte, Überwachung in verbotenen militärischen Zonen, etc. Mit der Einführung zu Eine kleine japanische Stadt (S. 125–135) treten diese Anteile der Beschreibung in den Hintergrund, und es beginnt die Erzählung eines Aufenthaltes in der Provinzstadt Miyazu. Dieser Abschnitt ist durch die Begegnung mit Menschen gekennzeichnet, die in der Beschreibung Charakter und Kontur gewinnen. Das Schreibende Ich wird als Teil einer kleinen Gemeinschaft inszeniert, in der nacherzählenden Darstellung schwingt Melancholie und Sehnsucht mit: „Ich habe hier die schönste Zeit meines Aufenthalts in Japan verlebt, und ich will von ihr erzählen wie von einem Freund“ (Kellermann 1922, 125). _____________ 72
Kellermann nimmt mit der Titulierung dieses Abschnitts explizit auf das Werk Isabella Birds Bezug und konterkariert seine ‚moderne‘ Art des Reisens auf ‚ausgefahrenen Geleisen‘ mit der dort dargestellten: Die Reiseschriftstellerin Isabella Bird (1831–1904) bereiste Japan in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf recht eigenwillige Weise, indem sie 2.300 Kilometer von Nordhonshû nach Hokkaidô auf dem Pferd, zu Fuß oder in der jinrikisha zurück legte: „From Nikkô northwards my route was altogether off the beaten track, and had never been traversed in its entirety by any European.“ (Bird [1881] 2000, IX). Ihre Erlebnisse schildert sie in Briefen an ihre Schwester Henrietta und einige Freunde; die Briefe sind in dem Werk: Unbeaten Tracks in Japan. An Account of Travels in the Interior Including Visits to the Aborigines of Yezo and the Shrine of Nikko (2 Bde. London; New York 1881, dt. Jena 1882) zusammengestellt.
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Über die Darstellung des Lebens in der Stadt und in einem Gasthof, zusammen mit der Familie des Wirtes, hinaus, beinhalten die Schilderungen in diesem Abschnitt wiederum wie in einem Mikrokosmos die zentralen Themen der Konstruktion der ‚Fremde Japan‘ durch westliche Reisende: Teehäuser, Frauen, Theater, Essen, Sitten, Straßenszenen, etc. Obgleich die Konzeption dieser Einheit (die Exemplarizität und die Überschaubarkeit des Handlungsrahmens) durchaus Raum und Gelegenheit geben, einen Verstehensvorgang zu schildern und zu initiieren, der tiefer geht als die Reproduktion vorgegebener Schemata, reproduziert und rekonstruiert jedoch gerade dieser Teil der Reisebeschreibung noch am ehesten die tradierten Topoi der Beschreibung Japans. Als Grund dafür kann auf inhaltlicher Ebene gelten, dass das Schreibende Ich in dem Mikrokosmos der „kleinen Stadt“ explizit nach dem sucht bzw. das zu finden vorgibt, was als das alte Japan bezeichnet wird. Die Bezeichnung ‚altes Japan‘ meint im zeitgenössischen (und durchaus auch im heutigen) Diskurs noch am ehesten das Bild, das sich die Europäer vom vormodernen Japan machen, versehen mit allen exotistischen Projektionen und Intarsien.73 Die vorhandenen Differenzen in der Darstellung zu den vorhergehenden und den nachfolgenden Abschnitten bestehen also nicht in neuen oder intensiveren Erfahrungen und deren Darstellung, sondern lediglich darin, dass das Schreibende Ich jetzt nicht mehr nur unbeteiligter Beobachter ist, sondern sozusagen ein ‚beteiligter Beobachter‘.74 Das ihm Fremde bleibt auf inhaltlicher Ebene zwar fremd (die Distanz in der Wahrnehmung und der Bewertung wird nicht überwunden), jedoch findet auf sprachlicher Ebene eine Aufhebung der Distanz statt, die dazu in einem merkwürdigen Kontrast steht: „All diese Kuchen [die entweder als „entsetzlich zu essen“ (ebd.) dargestellt oder erst gar nicht probiert werden] wurden in großen Mengen hergestellt, denn wir
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Vgl. auch die beiden Japan-Entwürfe Lafcadio Hearns: Einmal das ‚alte Japan‘, das er in dem Ort Matsue, seinem ersten Aufenthaltsort in Japan, situiert, und dann das ‚neue Japan‘, das aus einer Art Infizierung mit dem industrialisierten Westen insbesondere in den großen Hafenstädten entstanden ist. Das Bild des ‚alten Japan‘ kann als ästhetischer Gegenentwurf zu dem ‚neuen Japan‘ bezeichnet werden, dessen Darstellung insbesondere der kritischen Bewertung westlicher Kultur und Zivilisation geschuldet ist (vgl. Siemer 1999, 140). Thomas Pekar (2003) subsummiert dieses Bild („Alt-Japan“) unter die mit dem Japan-Diskurs verbundenen Topoi und entfaltet die damit verbundenen Imaginationen (vgl. ebd., 172-190). Noch in den Tôkyô-Essays von Stephan Wackwitz (1996) finden sich Spuren dieses Topos: „In diesem Sinne schließt sich der postmoderne Autor durchaus an das Paradigma der Moderne von Hearn bis Kellermann an, wo der fragwürdigen Globalpräsenz des hochentwickelten Westens die vermeintliche Authentizität des moralisch unverdorbenen Lebens in der japanischen Tradition entgegengesetzt wurde.“ (Goebel 2001, 168). Dennoch wird auch hier der Fremdbeobachter nicht zum Selbstbeobachter.
3.2 Ein Spaziergang in Japan – Der Reisende als Zuschauer
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exportierten sie. [...] Ein anderer wichtiger Exportartikel waren unsere getrockneten Sardinen und Tintenfische. Fische, nichts als Fische, ja in unserer Hauptstraße roch es immerzu wie in einer Heringsbraterei.“ (Kellermann 1922, 127).
Die Distanz zwischen dem Reisenden und den Einwohnern der Stadt wird aber trotz dieser – stilistischen – Inszenierung von Gemeinschaft auch auf der Ebene des berichteten Geschehens letztlich nicht aufgehoben, sein Auftauchen ruft jedes Mal die gleichen befremdeten, erstaunten Blicke hervor: „Ich konnte nie die Stadt betreten, ohne von einer Menge Leute angestarrt und angesprochen zu werden. Scharen von Kindern folgten mir, aber sie liefen weg, sobald ich mich umdrehte, sie fielen vor Schreck um, und die kleinsten heulten.“ (ebd., 130) Die Konstruktion von Fremdheit etwa in den Begegnungen mit den Menschen und eine gleichzeitige Aufhebung von Distanz sind in der sprachlichen Darstellung offenbar durchaus vereinbar. Die Grenze zwischen Außen und Innen wird im raumbezogenen Ordnungskonzept der Darstellung nun durch den Gasthof sowie das Zimmer des Schreibenden Ichs gebildet. Die Familie des Wirtes und die Dienstboten gehören durchaus in dieses Innen. Die Besucher hingegen kommen von außerhalb, wobei Kellermann das Schreibende Ich als integralen Bestandteil der Gemeinschaft im Gasthaus inszeniert:75 „Es war schön, diese fremden Menschen zu beobachten, [...] Sie betrachteten die Steine, die zum Schmuck dalagen, unser roter Blütenstrauch versetzte sie in schwärmerisches Entzücken. Einer nach dem anderen hockte bewundernd vor meiner kleinen Zwergfichte“ (ebd., 150f.). Beginnend mit Kapitel 19 (S. 178–184) kommt ein weiteres zentrales Thema zur Darstellung: Die intensive Auseinandersetzung mit dem japanischen Theater, wofür das Theater der kleinen Stadt den Rahmen und den Erzähl- bzw. Erläuterungsanlass bildet. Einzelne Stücke, Informationen zur Bühnentechnik, Traditionen, Formen des Dramas, Darstellungsmittel, Schauspieler, all das findet hier seinen Raum. Kapitel 25: „Sayonara, Sayo-nara“ (S. 215–216) beschreibt dann den melancholischen Abschied von der kleinen Stadt.76 _____________ 75
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Diese Inszenierung von Gemeinschaft wird in dem Band Sassa yo Yassa. Japanische Tänze aufgegriffen und fortgeführt; vgl. Kapitel 3.3.2 Struktur und Konzeption. Aus einem Brief seines Begleiters Karl Walser vom 31. Mai 1908 (sowie vier Postkarten vom 21.5.1908) überschrieben mit „Miyazu, araky [sic!] hotel“, geht hervor, dass die beiden Reisenden sich eine Zeit lang in dieser Stadt und in einem Gasthof dieses Namens („Araki-ya“, Kellermann 1922, 135) aufgehalten haben. Kellermanns Suche nach dem ‚alten Japan‘ sowie seine Ausgestaltung dieser Suche – Verdichtung des Topos in Form einer Verortung im Mikrokosmos einer kleinen Stadt – gründen in einer spezifischen Diskurstradition und schreiben diese fort (vgl. auch Hearns ‚Matsue‘, Kap. 3.2.2, Fußnote 73). Der Journalist Horst Eliseit nun schreibt im Jahr 1969 (im Folgenden zitiert aus der 2. Auflage 1971) diese Tradition in einem offenen Dialog mit dem Prätext in dem Buch Japan – eine Herausforderung der Welt weiter. Als Hauptaufgabe sei-
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Der letzte große Abschnitt des Spaziergangs (Wie die japanischen Götter wohnen) präsentiert als Vervollständigung des Themenkatalogs der literarischen Reisebeschreibung aus Japan Eindrücke von verschiedenen Tempelanlagen, berühmten Orten, einer Schiffsreise sowie einige Begegnungen mit japanischen Frauen. In der Nachschrift (S. 270–272) wird ein letzter Blick auf Japan gestaltet. Dieser letzte Blick wird nun aus einer anderen Position auf das Land geworfen, als der des ersten Blicks, zu Beginn seiner Reise: „und ich ging mit einem Gefühl eitler Genugtuung einher: ich kannte ja nun diese Leute ein wenig, ich wußte, wie sie lebten“ (ebd., 270). Die Grenze zwischen Eigenem und Fremdem liegt nun am Hafen von Yokohama: „Hier begann Europa. Und ich war froh, daß es begann. Denn Japan war trotz allem nicht meine Heimat. Ich war entzückt über meinen Tisch, über mein Bett, über die anspruchslosen Rüpel von Europäern und Amerikanern, die weder grüßten noch schlürften, noch sprachen, höchstens ausspuckten. Die zeremonielle und seelische Verschwendung der Japaner würde mich bankerott machen, hier lebte man billig. Europa verpflichtet zu nichts.“ (ebd., 270)
Das Fazit der Reise, räumlich-zeitlich situiert auf dem Schiff, das sich von der japanischen Küste entfernt, bedient wieder den Topos von dem fernen Märchenland, das man vielleicht betreten, in dem man vielleicht eine Weile bleiben kann, das man aber nie verstehen wird: „und als der Chinese zum ersten Mal das [sic!] Gong schlug zum Tee, war Japan schon außer Sicht. [...] Und während mich Sehnsucht nach jenem merkwürdigen Lande ergriff, wurde mir klarer und klarer, daß ich es nicht im geringsten verstanden hatte.“ (ebd., 272)
_____________ nes Schreibens bezeichnet Eliseit die Darstellung und Würdigung des „avantgardistischen Japan, ein Japan, das die übrigen Völker [in Fortschritt, Wirtschaft und Wissenschaft] ‚herausfordert‘.“ (ebd., 21) Darüber hinaus möchte er jedoch auch über den Preis des „Fortschreitens“, über das „Entschwinden“ berichten. Um den seiner Ansicht nach vom Verschwinden bedrohten Aspekten der japanischen Kultur nachzugehen, fährt er in den Ort, in dem schon Kellermann seine ‚Suche‘ und sein ‚Finden‘ situiert, nach Miyazu. Nun avanciert Kellermanns Konstruktion ‚Miyazu‘ zur Messlatte, an der die Höhe des Preises, den eine Kultur für ihre Modernisierung zu zahlen hat, gemessen wird: „Ich bin dabei Spuren gefolgt, die vor mehr als einem halben Jahrhundert ein äußerst prominenter Schriftsteller jener Tage [...] Bernhard Kellermann in einem seiner Bücher hinterlassen hat. [...] Als ich das erstemal nach Miyazu kam [...] dachte ich: wie wird das Städtchen sich wohl verändert haben seit Kellermanns Zeiten? Wie wird Kellermanns Ryokan sich darbieten, wird es überhaupt noch existieren, wie wird die Teehausstraße sein, wie die Gesellschaft der Geishas, wie der verborgene Tempel in den Bergwäldern, wie das Leben der Fischer? [...] Was ist noch zu finden von Kellermanns Miyazu? Etwas davon will ich zeigen, gleichsam als Zwischenspiel zu dem ‚herausfordernden‘ Japan; ein wenig zeigen von diesem ‚romantischen‘ Land und Leben“ (ebd., 22; zu Eliseit vgl. auch Kapitel 4.4.2 Lektüre, Erwartung und Erfahrung).
3.2 Ein Spaziergang in Japan – Der Reisende als Zuschauer
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So bleibt der Sehnsuchtsraum für die Lesenden letztendlich unangetastet und kann weiter als Projektionsfläche für europäische Träume aus dem Lesesessel dienen.77 Konzeption Die hier in einem Überblick dargestellte Struktur des Spaziergangs umfasst zentrale Stationen einer Reise durch Japan sowie die wesentlichen thematischen Elemente, die von einer solchen Reisebeschreibung zum Zeitpunkt ihres Erscheinens erwartet wurden. Obgleich das Werk durchaus Informationen über die Kultur sowie Reflexionen über die Begegnung der Kulturen bereithält, so ist dies doch keineswegs die Grundintention oder bestimmend für die Konzeption des Werks. In dieser Hinsicht ist die folgende Kritik Wolfgang Reifs (1989) durchaus berechtigt: „Was ihn einzig und allein bewegt, ist das Bedürfnis, seinem vorgefaßten verklärten Bild eines alten Japan auf die Spur zu kommen.“ (Reif in: Brenner (Hg.) 1989, 440) Reif attestiert Bernhard Kellermann außerdem einen „ästhetischen Imperialismus“ (ebd.).78 Diesen Aspekten der Kritik Reifs soll hier auf inhaltlicher Ebene nicht widersprochen werden.79 Bewertungen wie die folgende lassen jedoch unter anderem eine explizite Differenzierung zwischen der tatsächlichen Reise und dem Akt der Verschriftlichung der Erlebnisse, also der literarisierenden Nach-Gestaltung der Japanreise im Rahmen einer literarischen Reisebeschreibung, vermissen: „Das Schema wird ohne innere Spannung und Steigerung zum Leerlauf, dem die Leere des blasierten ‚Weltmanns‘ und seine Unfähigkeit zu einer Begegnung mit der fremden Kultur entsprechen.“ (ebd., 439) Bernhard Kellermann tritt in seiner Darstellung zwar als Protagonist und Ich-Erzähler auf, und es gehört zu den Spielregeln des Genres Reisebericht, das Erlebnisfeld des _____________ 77
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Die Funktion, die die Konstruktion eines Sehnsuchtsraumes auch für den Schreibenden selbst haben kann, zeigt Rolf J. Goebel in seinem Artikel über den Flaneur (s.a.u.): „In Kellermanns Japan, the flâneur still seems to be able to survive, if only in an obviously idealized, orientalist space. [...] in Kellermanns depiction of Tokyo, although it was written more than half a century later than Poe’s story [The Man of the Crowd], the Western visitor can still cultivate the pose of the leisurely flâneur.“ (Goebel 1998, 383). Zum Versuch einer Verortung von Kellermanns Werk zwischen einem „ästhetischen Imperialismus“ und seinem Interesse an „der alltäglichen Wirklichkeit des großstädtischen Lebens in seiner Differenz zum westlichen Kultur-Kolonialismus“ sowie einem partiell kolonialkritischen Diskurs vgl. Goebel 2001, 113-119; hier: 114. Reif greift hier eine Kritik auf, die bereits von Richard Hamann und Jost Hermand in ihrer Darstellung zum Zusammenhang von Imperialismus und Innerlichkeit angeführt wurde und die Ein Spaziergang in Japan als „snobistisch“ bezeichnen (die Autoren datieren das Werk dabei fälschlicherweise in das Jahr 1906; Hamann; Hermand 1960, 30).
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3 Die Fremde als Sehnsuchtsraum
Ich-Erzählers auf das des Autoren zu beziehen;80 im Folgenden soll jedoch zwischen diesem Ich-Erzähler und dem Erleben Bernhard Kellermanns sowie seiner Vorbereitung auf und seinem Zugang zu der anderen Kultur, die weiter unten thematisiert werden sollen, differenziert werden. Diese Differenzierung bringt es mit sich, dass im Verlauf der Untersuchung das Erzählende Ich als „Reisender“ bezeichnet werden wird, um der hier vorliegenden spezifischen Ausprägung des Genres der literarischen Reisebeschreibung sowie der Gesamtkonzeption des Werkes und den damit verbundenen Literarisierungsstrategien gerecht zu werden.81 Die Konzeption des Spaziergangs ist über die Genrevorgaben hinaus nicht zuletzt auch durch die Publikationsbedingungen, den Publikumsgeschmack, die zeitgenössische Stilrichtung sowie durch die Vorgaben des Auftraggebers bestimmt: Bernhard Kellermann erfüllt mit der Gesamtkonzeption die Erwartungen sowie die Lesebedürfnisse und -interessen einer größeren Leserschaft, die diese Form der literarischen Reisebeschreibung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit Vorliebe rezipiert. Diese Tatsache dürfte insbesondere für seinen Verleger Paul Cassirer, den Finanzier der Reise, von einiger Relevanz gewesen sein – Ein Spaziergang in Japan war eine Auftragsarbeit, die Kellermann „Paul Cassirer in Freundschaft gewidmet“ hat. (Kellermann 1922, 3). Cassirer gilt als einer der großen Förderer impressionistischer Kunst,82 und auch die Reisebeschreibung Kellermanns weist impressionistische Züge auf. Die impressionistische Stilrichtung als Stiltendenz der Jahrhundertwende83 bietet einen reichen Fundus an Darstellungsformen, die das Erleben in der Fremde sprachlich gestaltbar machen: Die Aufwertung und Ästhetisierung der Sinneseindrücke, die Betonung ihrer Flüchtigkeit und _____________ 80 81 82
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Im Gegensatz etwa zum Roman, in dem wir das Auftreten fiktiver Personen erwarten, als deren Erlebnisfeld wir das Geschehen auffassen. (vgl. Hamburger 19873, 62). Vgl. auch Opitz 1997, 10. Vgl. Kennert 1996, 12. Paul Cassirer (1871–1926) gründete 1898 mit seinem Vetter Bruno Cassirer in Berlin den Kunstsalon Cassirer, dem eine Verlags- und Kunstbuchhandlung angeschlossen war, und förderte als Kunsthändler insbesondere impressionistische Künstler. Bernhard Kellermann war mit Paul Cassirer beruflich eng verbunden, und er traf sich regelmäßig mit Heinrich Mann, Wedekind, Liebermann, Barlach u.a. in dessen Kunstsalon, der sich innerhalb weniger Jahre zu einem der bedeutendsten künstlerischen Zentren Berlins entwickelte. Cassirer führte ab 1901 nach dem Zerwürfnis mit seinem Vetter den Kunsthandlungszweig des Verlags allein weiter und etablierte 1908 den Literaturverlag „Paul Cassirer“. 1916 wurde seine Verlagsproduktion in Berlin eingestellt, da er aufgrund einer öffentlichen Verlautbarung seiner pazifistischen Einstellung kurzzeitig in Haft kam. 1918 kehrte er nach einem Aufenthalt in Bern nach Berlin zurück und nahm die Verlagsproduktion wieder auf. Nach seinem Freitod 1926 lief der Verlagsbetrieb weiter, bis er 1933 nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten aufgelöst wurde. Zum Verlag Paul Cassirer vgl. u.a. Brühl 1991, 177-192. Zum Impressionismus vgl. Hamann; Hermand 1960.
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der Fokus auf Details und Nuancen im Impressionismus in Kunst und Literatur führen zur Ausformung bestehender und zur Entwicklung neuer Präsentationsformen sinnlicher Wahrnehmungseindrücke, auf deren Bedeutung und Funktion im Rahmen literarischer Reisebeschreibungen bereits hingewiesen wurde. Die im Impressionismus vorherrschende subjektivistische Haltung lässt außerdem Raum für das ganz persönliche Erleben, die ganz eigene Bewertung der Fremde durch das Erzählende Ich. Abschließend soll noch gezeigt werden, dass Bernhard Kellermann durchaus zwischen der Konzeption einer literarischen Reisebeschreibung und der Vermittlung von Informationen über eine andere Kultur differenzierte. Zu diesem Zweck ist es sinnvoll der Frage nachzugehen, was Kellermann eigentlich über Japan wusste, als er sich auf die Reise begab, und wie sich seine Auseinandersetzung mit der japanischen Kultur gestaltete. Kellermann hatte sich offenbar durchaus auf seine Reise vorbereitet, so trug er nach eigenen Angaben das Werk Things Japanese von Basil Hall Chamberlain bei sich (vgl. Kellermann in: Chamberlain 1912, 5). Im Spaziergang finden sich Hinweise, dass ihm das handbook for travellers in Japan von John Murray nicht unbekannt war, jedoch können diese Angaben zunächst nur für den Ich-Erzähler, also auf textinterner Ebene, Gültigkeit beanspruchen.84 Darüber hinaus waren ihm die Werke Lafcadio Hearns vertraut, dessen Bücher in deutschen Übersetzungen großen Erfolg hatten.85 Im Kontext der Auseinandersetzung Kellermanns mit der japani_____________ 84
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Vgl. Kellermann 1922, 260. Murrays Handbuch galt als umfassender und informierender Reiseführer, der neben Detailkarten und einem Übersichtsplan Informationen darüber enthielt, was als sehenswert galt. Das Handbuch berichtete ebenso über gute Plätze zum Fischen und Jagen wie über die Staatsreligion Shintô oder die verschiedenen Ausprägungen des Buddhismus. Murray, John: A handbook for travellers in Japan including the whole empire from Yezo to Formosa. 3rd edition revised and rewritten by B. H. Chamberlain and W. B. Mason. London 1891. Vgl. Kellermann 1922, 223 und 228. Insbesondere Hugo von Hofmannsthal nahm das Werk Hearns begeistert auf; vgl. etwa von Hofmannsthal in: Hearn 1921, 4-8. Zu Hugo von Hofmannsthal und Asien vgl. Zelinsky in: Bauer et al. (Hgg.) 1977, 508-567 sowie Pekar 2003, 263-268. Japanische Literatur, Philosophie und Poetik wurde gerade um die Jahrhundertwende in Deutschland in vielfacher Weise, in Übersetzungen und Abhandlungen, rezipiert. Vgl. dazu sowie speziell zu Lafcadio Hearn: von Felbert in: Fischer et al. (Hgg.) 1987, 85ff. sowie Schuster 1977 und Pekar in: Gebhard (Hg.) 2000. Das Werk von Lafcadio Hearn hatte großen Einfluss darauf, dass der Topos vom ‚Goldenen Zeitalter‘ in Bezug auf das ‚alte‘, also das vormoderne Japan, immer wieder aufgegriffen wurde (vgl. Pekar in: Gebhard (Hg.) 2000, 232 sowie Siemer 1999, 122ff.). Stefan Zweig schreibt in seiner Einleitung zu einer Werkauswahl Lafcadio Hearns: „Als Erster und Letzter zugleich hat er uns und dem Japan von heute, das sich mit beängstigender Eile von sich selber fortverwandelt, einen Traum vom alten Nippon festgehalten, den die Nachfahren später so lieben werden wie wir Deutschen die Germania des Tacitus.“ (Zweig in: Hearn 1920, 1). Dieser Einfluss Hearns ist auch im japanbezogenen Werk Bernhard Kellermanns spürbar.
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schen Kultur soll exemplarisch seine Beschäftigung mit dem historischen Wörterbuch von Basil Hall Chamberlain betrachtet werden, das er für den deutschsprachigen Raum übersetzte. Wie bereits erwähnt, schreibt Kellermann in dem „Vorwort des Übersetzers“, dass er das Werk Chamberlains während seines Aufenthaltes in Japan bei sich hatte und dass es ihm gute Dienste geleistet habe. Allerlei Japanisches (so der deutsche Titel), ein alphabetisch geordnetes Nachschlagewerk zu bestimmten Aspekten der japanischen Kultur, erschien in deutscher Sprache im Jahre 1912 in Berlin, also fünf Jahre nach Kellermanns Reise nach Japan und zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung des Spaziergangs. Das Werk beträgt in dieser Ausgabe fast 600 Seiten und sein Verfasser gilt als einer der bedeutenden frühen Japanologen. Die Kenntnis dieses Werkes sowie die offenkundig ernsthafte Auseinandersetzung damit zeigen, dass Bernhard Kellermanns Wahrnehmung Japans sich nicht aufgrund von Unwissenheit und Blindheit auf eine ästhetizistische Suche nach dem alten Japan beschränkte. So schreibt er im Vorwort zu Allerlei Japanisches: „‚Things Japanese‘ bedeuten eine Entschleierung Japans, das uns die subjektiven Schilderungen von Reisenden aller Art so interessant und verführerisch entstellten. Eine Entschleierung, ohne daß dabei Japan Gefahr läuft an Merkwürdigkeit und Interesse einzubüßen. Im Gegenteil, ich glaube, daß dieses einzigartige Land um so eigentümlicher und anziehender wird, je klarer und wahrer wir es sehen lernen.“ (Kellermann in: Chamberlain 1912, 5)
Die Ausführungen Basil Hall Chamberlains selbst zum Thema ‚Ver- und Entschleierung Japans‘ gestalten sich ausgesprochen differenziert. Chamberlain geht in seiner „Einführung“ auf die Suche der Europäer nach dem ‚alten Japan‘ ein, womit diese die Japaner, die sich um den Anschluss an den Westen bemühten, immer wieder gerne brüskierten. Dieser Suche stellt Chamberlain das Japan gegenüber, wie es sich zur Zeit der MeijiRestauration (1868–1911) entwickelt. Chamberlain behält in seiner Darstellung beide Kulturen und ihre gegenseitige Wahrnehmung im Blick und spielt mit dem Topos vom Märchenland und den Größenrelationen, um die Spannung zwischen den Kulturen in der spezifischen historischen Situation auszudrücken: „Zudem erschien ja unsere europäische Welt von Gedanken, Unternehmungen, ungeheuren wissenschaftlichen Errungenschaften den Japanern als eine ebensolche Welt von Wundern wie Alt-Japan uns. Hier aber liegt indessen die Verschiedenheit. Alt-Japan war für uns eine delikate, kleine Wunderwelt von Sylphen und Feen. Europa und Amerika, mit ihren Eisenbahnen, mit ihren Telegraphen, ihrem riesenhaften Handel, ihren gigantischen Armeen und Flotten, ihren endlos angewandten Techniken, die auf Chemie und Mathematik beruhen, war für die Japaner eine Wunderwelt von mächtigen Genien und Zauberern.“ (Chamberlain 1912, 10)
3.2 Ein Spaziergang in Japan – Der Reisende als Zuschauer
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In seiner Analyse geht Chamberlain auf die Zwänge und Gegebenheiten einer neuen Rolle Japans in einer Weltgemeinschaft ein, die nach strengen und teils unfairen Regeln spielt: „Denn Japan muß ja fortfahren, sich immer mehr und mehr zu modernisieren, wenn die Basis seiner neuen Entwicklung stark bleiben soll, wenn seine rasch wachsende Ambition es befriedigen und sein Finanzminister auskommen soll. [...] Die Japaner müßten in der Tat blind sein, wenn sie nicht sähen, daß ihre größte Sicherheit für dauerhaften Frieden und Erfolg in der Stärke liegt und in dem Bestreben, nicht zu verschieden vom Reste der Menschheit zu sein; denn der Mob der westlichen Völker wird Exzentrizität der Erscheinung nicht mehr tolerieren als gewöhnliche Rowdies.“ (ebd., 10f.)
Eben diese Paradoxie in der Wahrnehmung Japans durch den Westen weist er ironisierend an den schriftlich niedergelegten Forderungen zahlreicher Japan-Reisender nach: Einerseits muss Japan als Märchenland herhalten, andererseits darf es aber nicht zu verschieden sein, damit es in der Gemeinschaft der industrialisierten Nationen einen festen Platz findet. Ein Zuviel an Andersheit steht einer Konstruktion von Fremdheit, die ihre spezifische Funktion im Rahmen einer exotisierenden Bedürfnisbefriedigung inne hat, entgegen. Japan soll in jedem Fall so bleiben, wie es in der Vorstellungswelt der Europäer konstruiert ist – nur sollten vielleicht einige ‚kleinere Veränderungen‘ vorgenommen werden: „‚Beschützen sie [so lässt Chamberlain einen fiktiven Reisenden sprechen], ich flehe sie an, Ihre Musik vor dem Untergang. Erhalten Sie sie wie sie ist, so interessant für den Forscher, so wunderbar, trotz allem was die Spötter sagen mögen. Nur zu einer Kleinigkeit möchte ich Ihnen raten: harmonisieren Sie Ihre Musik. Das würde ja ihren Charakter ein wenig verändern. Aber niemand würde das bemerken und die Wirkung wäre nur vorteilhaft.‘ “ (ebd., 11)
Chamberlain erklärt das ‚alte Japan‘, wie es auch Kellermann in der „kleinen Stadt“ inszeniert, für tot und konstatiert: „Europas Vorstellungen vom fernen Osten sind sehr primitiv.“ (ebd., 14) Kellermann differenzierte offenbar zwischen dem informierenden Schreiben über Japan und dem Bedienen von Phantasien über Japan86 – eine Differenz, auf die auch _____________ 86
Bernhard Kellermann kann jedoch sicher nicht als wirklicher Kenner der japanischen Kultur gelten, wie es sich auch in den von ihm verfassten ‚Informationstexten‘ Japanisches Volksleben und Unvergessliches aus Asien zeigt. Zumindest aber kann festgehalten werden, dass es sich für ihn um zwei unterschiedliche Schreibweisen mit unterschiedlichen Funktionen handelt. Auch in seinen eher informierenden Textsorten hat Kellermann auf den Band von B. H. Chamberlain zurückgegriffen. So berichtet er in dem Manuskript Japanisches Volksleben über die japanische Leidenschaft für das heiße Bad und den beliebten Besuch der heißen Quellen (onsen). In diesem Zusammenhang heißt es: „Die Badeorte mit ihren heissen Quellen sind bis auf den letzten Platz besetzt, und die Leidenschaft geht so weit, dass viele wochenlang im Wasser bleiben und sich einen Stein in den Schoss legen, damit sie im Schlafe nicht fortgetrieben werden.“ (Kellermann o.J., 5) Bei Chamberlain heißt es unter dem Stichwort „Baden“: „Zuweilen wächst sich ihre Lust an dem einfachen Luxus zu na-
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Chamberlain hinweist, der jedoch einen anderen Schreibauftrag als Kellermann verfolgte: „Aber Japan selbst ist unser Thema und nicht Europas Phantasien darüber. Wir haben sie nur berührt getreu unserem allgemeinen Plane Gedanken anzudeuten, die der Leser sich selbst ausmalen möge. Er wird Muße zu solchen Betrachtungen finden, wenn er in seinem Jinrikisha dahinrollt, oder in einem einsamen Gasthause zwischen den blütenbedeckten Hügeln sitzt und wartet, bis ihm die zierliche Magd einen Fingerhut voll Tee kredenzt.“ (ebd., 15)
Die konkrete Auseinandersetzung Bernhard Kellermanns mit dem Land und seiner Kultur soll hier nicht bewertet, sondern nur exemplarisch angedeutet werden. Da man aber mit einigem Recht behaupten kann, dass seine Schilderung Japans im Spaziergang eher zur Verschleierung denn zur Entschleierung beigetragen hat, hat Kellermann offenbar durchaus zwischen seiner Aufgabe, eine literarische Reisebeschreibung zu konzipieren und seiner Auseinandersetzung mit dem Land unterschieden. Diese Differenzierung zwischen einer ästhetischen Nachgestaltung einer Kultur oder einzelner Elemente einer Kultur zum Zwecke der Unterhaltung und einer auf Authentizität angelegten Darstellung spiegelt sich auch in einer harmlose[n] kritischen Betrachtung, die er im Zusammenhang mit einer Aufführung der Oper Madame Butterfly im Berliner Tageblatt vom 28. April 1910 veröffentlicht hat. Bernhard Kellermann beginnt seinen Artikel mit der Beschreibung der amüsierten Reaktion zweier japanischer Zuschauer auf die Operninszenierung und fährt dann fort: „Weshalb amüsierten sie sich so prächtig, daß sie glänzten vor Vergnügen? Das ist rasch gesagt, Alles erschien ihnen – – Aber bevor ich ausspreche, als was ihnen alles erschien, muß ich nochmals betonen, daß es mir ferne liegt, die Inszenierung der Oper zu kritisieren. Sie ist erschöpfend, und die prinzipielle Frage, ob es nötig ist, ein exotisches Stück mit minutiöser, realistischer Ausgestaltung zu geben, verneine ich. Es ist nicht nötig. Das Kolorit, eine Einstimmung, das ist alles, was erforderlich ist, und in dieser Hinsicht wird die Oper der Aufgabe vollkommen gerecht.“ (Kellermann 1910)
Das Amüsement, welches sich einstellt, wenn ein Angehöriger einer Kultur die Inszenierung der ihm eigenen Kultur im Rahmen einer exotistischen und ästhetisierenden Nachgestaltung durch Andere erlebt, ist Kellermann nicht unbekannt; so berichtet er seinen Lesern auch von seiner _____________ hezu unglaublichen Extremen aus. In Kawarayu [...] bleiben die Badenden einen Monat lang und länger im Wasser, mit einem Stein im Schoß, um im Schlaf nicht fortzuschwimmen.“ (Chamberlain 1912, 61). Diese Anekdote von den steinbeschwerten Badenden taucht in vielen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts als Kuriosität immer wieder auf. Zurückzuführen ist dieses Gerücht u.U. auf ein onsen , das in der Nähe des Bades Kawarayu in der Präfektur Gunma gelegen ist. In diesem onsen, dem Kirizume-Onsen, gibt es für die Kurenden die Möglichkeit, ein „langes Bad“ (nagayu) zu nehmen, bei dem man mehr als fünf Stunden in der heißen Quelle verbringt.
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belustigten Reaktion auf die Aufführung des Kaufmanns von Venedig, der er in Kyôto beiwohnte. Kellermann geht den Ursachen der Ausbrüche von Fröhlichkeit der beiden Japaner im Verlauf seines Artikels nach, indem er zunächst einmal sich selbst als einen „Japaner“ und somit als kompetenten Zuschauer stilisiert, der die Verfremdung der ‚eigenen‘ (angeeigneten) Kultur aufdecken und mit kenntnisreichem Amüsement kommentieren kann: „Wir Japaner aber, das heißt die beiden Japaner im Parkett und ich, wir sahen die Sache mit anderen Augen an und amüsierten uns vom Anfang bis zum Ende.[87] Auf der anderen Seite empfanden wir das Stück auch tiefer[88]“ (ebd.). Kellermann vollzieht hier einen (scheinbaren) Perspektivenwechsel und erreicht damit gleichzeitig eine Selbststilisierung als Japan-Kenner, die ihn dazu berechtigt, die naive Aneignung der japanischen Kultur auf der europäischen Bühne aufzudecken. Indem er deren Verfälschung auf der Bühne minutiös anhand der Ausstattung, der Kostüme sowie der Körpersprache und Gesten der Sänger/innen nachweist, inszeniert Kellermann sich selbst als kompetenten und weltgewandten Experten, dessen Kenntnisse auf eigener Anschauung beruhen. Hier nimmt Kellermann also eine Position ein, die viele Kritiker seiner literarischen Reisebeschreibung in Bezug auf sein Werk auch eingenommen haben: Eine ästhetische und ästhetisierende Darstellung einer anderen Kultur, die bestimmten Gesetzen und Funktionalisierungen folgt und unterliegt, wird vom Standpunkt einer scheinbar sach- und wirklichkeitsbezogenen Position aus an den mit dieser Position verbundenen Maßstäben gemessen und kritisiert.89 _____________ 87
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[„Den ganzen ersten Akt hindurch kamen wir nicht aus dem Vergnügen heraus. [...] Die Farben waren nicht richtig, die Struktur der Bäume, die Architektur des Tempeltors oben und des Hauses im Vordergrund. Der Garten war verwahrlost und entstellt, ganz als ob ihn ein Europäer seit Jahren gemietet habe. [...] Wir hatten nie zuvor eine solch merkwürdige Hochzeitsgesellschaft gesehen. Aber wie benahm sie sich! Alle hüpften drollig von einem Bein aufs andere und glaubten nun sich echt japanisch zu bewegen.“ (ebd.)]. [„Als aber Butterflys Dienerin, Suzuki, ein paarmal so rührend die Herrin anflehte: Chocho-San, Chocho-San [sic!] – was fühlten wir da? Es war die Stimme unseres Vaterlands, die wir hörten, aus all den harten, fremden, barbarischen Worten hörten wir plötzlich einen Koselaut – und wir verstanden ihn, nur wir!“ (ebd.) Grade an dieser Stelle zeigt sich, wie sehr die beiden japanischen Zuschauer, so es sie denn überhaupt gegeben hat, für die Darstellung der ‚kompetenten Rezeption‘ Kellermanns funktionalisiert werden, indem ihnen so problemlos dieselben Empfindungen unterstellt werden. Der scheinbare Perspektivenwechsel Kellermanns, der nur auf Grundlage einer Fremderfahrung stattfinden kann, bringt wiederum Aneignung und Assimilation unter das nun neu und in Abgrenzung zum Rest der Zuschauer als Eigenes definierte hervor.] In dem oben angeführten Zitat zeigt sich jedoch, dass sich Kellermann dieses Bruchs in seiner Argumentation durchaus bewusst ist; er verhehlt nicht, dass er eigentlich über etwas anderes, nämlich seine eigene Kompetenz und Erfahrung spricht, auch wenn er in der Art, wie er darüber spricht, diese beiden Ebenen wieder vermengt.
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3 Die Fremde als Sehnsuchtsraum
3.2.3 Erwartungen und Vorstellungsbilder Der schreibende Reisende oder der reisende Dichter ist immer schon dort, wo er hin will, weiß es nur noch nicht – und der Leser ebensowenig. Auf solche Weise vereint, erleben beide das Abenteuer des Reisens, Schreibens und Lesens.90 Wir reisen in der wirklichen und der imaginären Welt zugleich, wenn wir als Touristen unterwegs sind.91
In seinem Spaziergang in Japan entwirft Bernhard Kellermann einen, bei seiner ersten Begegnung mit dem Land recht naiven Reisenden, der mit Neugier und klischeehaften Vorstellungen versehen den großen Schritt in das fremde Märchenreich wagt. Die vorweggenommene Exotisierung geht so weit, dass Japan außerhalb der Erzählungen, Berichte, Bilder und Bücher kaum als existent angenommen wird: „Ich aber fing an, mich mehr und mehr zu wundern: dieses Japan, von dem man so viel gehört und gesehen hat, es existierte also wirklich.“ (Kellermann 1922, 6)92 Und ist es so, wie es sich der Europäer erträumte und ausmalte? Die Vorstellung des Reisenden wird abgerufen und durch die genaue Anordnung spezifischer Japan-Requisiten als vorgeprägt gekennzeichnet, die alle miteinander in einem kleinen überschaubaren Rahmen Platz finden. Dieses Japan en miniature, das der Reisende hier selbstironisierend präsentiert, könnte vielleicht auf einem Porzellanteller oder einer Vase abgebildet sein: „Ich hatte gedacht, es würde sich als eine Reihe flacher Inseln präsentieren – sonnige Gärten, Blumen, Teehäuser, kleine Tänzerinnen, in der Mitte steht der Fujiyama, man fährt hin, man ist da.“ (ebd., _____________ 90 91 92
Heinrichs 1993, 19. Hennig 1997, 96. Inwiefern es sich bei diesem Einstieg in die Reisebeschreibung bereits um einen Topos handelt, der auf einer bewusst wahrgenommenen und ausgestalteten Intertextualität beruht, kann hier nicht eindeutig entschieden werden. Bereits Rudyard Kipling wählte 1889 in seinem ersten Brief aus Japan diese Form der Einleitung, allerdings noch stärker ironisch gebrochen: „Mr. Oscar Wilde vom Nineteenth Century ist ein vollmundiger Lügner! Vor kurzem schrieb er einen Artikel über den ‚Niedergang des Lügens‘. Mit einem Blinzeln in seinem dreisten Auge behauptete er unter anderem, es gebe keine Gegend namens Japan – sie sei aus Fächern und Bilderbüchern erschaffen worden, wie er selbst aus Keramik und Stückchen bunten Tuchs. Glauben Sie nichts, was Mr. Oscar Wilde Ihnen erzählt. Heute morgen, nach den Kümmernissen der schlingernden Nacht, zeigte das Bullauge meiner Kabine mir zwei große graue Felsen mit grünen Streifen und Zierleisten, gekrönt von zwei verkümmerten schwarzblauen Kiefern“ (Kipling [1889], 1990, 42). Kipling bezieht sich hier auf Wildes Essay The Decay of Lying, der im Jahr 1889 im Magazin The Nineteenth Century erschien. Im Jahr 1995 schreibt Cees Nooteboom in seiner Reisebeschreibung: „was ich letztlich tun werde, ist, nachzuschauen, ob es Japan überhaupt gibt, so als würde ein Zuschauer im Kino in die Leinwand steigen, um sich zu den Hauptfiguren an den Tisch zu setzen.“ (Nooteboom 1997, 47).
3.2 Ein Spaziergang in Japan – Der Reisende als Zuschauer
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5) Die hier angeordneten Intarsien werden von Kellermann im weiteren Verlauf seiner Schilderung in den Themenkatalog seiner eigenen Reisebeschreibung aufgenommen. Die Fremde, die der Reisende nun mit den eigenen Sinnen und nicht nur vermittelt erfährt, wird in der Beschreibung gleich wieder zur ‚tradierten‘ Fremde, wie sie die Buchautorität und die Autorität der bildnerischen Darstellungen immer schon vermittelt haben: Das Bild wird überprüft, in der Eigenkonstruktion schreibend erneut hergestellt und durch diese Re-Konstruktion wiederum in die Buchautorität rückgeführt. So etwa in der Szenerie, die er bei dem ersten Besuch des Reisenden in einem Teehaus ausstaffiert: „Diese schönen gemalten Geschöpfe, die sich im Kreise niederkauerten, der fremde Raum, das Gärtchen, die Musikinstrumente und hundert Kleinigkeiten, Sächelchen und Schälchen, all das versetzte mich in Entzücken.“ (ebd., 10) „Entzücken“ und Befriedigung stellen sich ein, jetzt, da die Vorerwartung bedient wurde, wie ja überhaupt der Diskurs über das Pittoreske mit entsprechenden Gefühlsausdrücken begleitet werden muss. Die japanische Wirklichkeit, wie sie sich den Reisenden darbot, war nicht immer kompatibel mit den Bildern, die die Europäer mitbrachten und die vielleicht auch in den Köpfen der Leserschaft spukten: Die Fremderfahrung bestand darin, dass sich die Fremde nicht als die bekannte, die tradierte Fremde präsentierte. Die Enttäuschung, die, wie bereits erwähnt, im Hinblick auf die Europäisierung in den Reisebeschreibungen dieser Jahrzehnte schon zu einem Topos avancierte, formuliert Kellermann explizit in Bezug auf den Eindruck, den die Landschaft auf den Reisenden macht: „Merkwürdigerweise sah es ganz anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte. [...] Was ich sah, war ein düsteres Gebirge, das nach und nach Form bekam, sich zerteilte und uns die große Pracht von Tsuruga öffnete. Weder Sonne, noch blühende Gärten. Es regnete, und am Gestade lag ein elendes Nest, grau, flach, kaum zu sehen.“ (ebd., 5)
Über die Formulierung der Enttäuschung hinaus wird aber die eigene Vorstellung später durchaus selbstreflektierend als Imagination, als Vorstellungsbild erkannt und mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die als eine solche neu erfahren wird:93 _____________ 93
Rolf J. Goebel schreibt über die Form der Wahrnehmung, die dem Flaneur zu eigen ist, und die sich auch hier spiegelt: „On the one hand, the flâneur seeks to perceive things from the point of view of the ‚native‘ and even allows the forgein signs to undermine his subjective preconceptions and the universalistic claims of European values. On the other hand, his self-consciously aestheticist predisposition produces the meaning of the forgein sights as a rhetorical effect of his own cultural memory. The reflection on his dialectic of hermeneutic prejudgments and startingly new encounter constitutes a particulary selfcritical element in the non-European dislocation of flânerie.“ (Goebel 1998, 379). Zur Rezeption japanischen Stils, insbesondere der Holzschnitttechnik, sowie einzelner Motive aus
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3 Die Fremde als Sehnsuchtsraum
„Die eigentümliche Struktur der Fichten, wie von Bomben zerfetzte Fichten, vereinzelte Bambushaine ... all das war echt japanisch, aber im großen und ganzen meilenweit von meiner Vorstellung der japanischen Landschaft entfernt.“ (ebd., 17)
Hier findet also im Text die Korrektur eines Bildes statt; eine Strategie, die nicht zuletzt der Authentizitätsversicherung des beschriebenen Erlebens dient. Bereits die Sprachverwendung „japanische Landschaft“ verweist darauf, dass hier nicht die Natur Japans gesucht wurde, sondern ein vorstrukturierter Naturausschnitt, eine Szenerie wie sie sich in den Landschaften der Maler präsentierte.94 Die Erwartungen vieler Reisender wurden aus der in Europa stark rezipierten Quelle der japanischen Kunst gespeist, bzw. aus dem europäischen Diskurs über die japanische Kunst: „Schon aber erkannte man die japanischen Dächer, und auch jene charakteristischen Baumsilhouetten, wie die Japaner sie mit ein paar Pinselstrichen hintuschen, säumten die Berge.“ (ebd., 5) Diese Bilder werden als Folie über das Erleben gelegt,95 ein ‚Wiedererkennen‘, etwa der ukiyo-e, der japanischen Holzschnittkunst, findet statt:96 „Das gab ein herrliches Bild. Dieser schräge, graue Regen, die braune Landschaft, die eilende Gruppe mit den großen Papierschirmen; die Schirme stülpten sich im Wind um, flache, runde Strohhüte rollten am Boden. Eine Szene, die mich an einen Holzschnitt des Hiroshige erinnerte.“ (ebd., 171)97 _____________ 94 95 96
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der japanischen Kunst vgl. Pekar 2003, 227ff. sowie Winko in: Jahrbuch 1994, 171ff. und insbesondere Wichmann 1980. Zur Sprachgeschichte des Begriffs ‚Landschaft‘ vgl. Hennig 1997, 58 sowie insbesondere Hard in: Großklaus; Oldemeyer (Hgg.) 1983, 139-167. Zur Geschichte der Landschaftsmalerei vgl. Schneider 1999. „Der Reisende ist jemand, der ein Gemälde anschaut. Was er prüfend betrachtet, das ist für ihn ein Bild. Aber wovon ist es ein Bild, das Geheimnis welcher Wirklichkeit stellt es dar?“ (Grivel in: Gumbrecht; Pfeiffer (Hgg.) 1988, 618). Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Günther 1988, 31ff. In dem 1965 erschienenen Werk von Adolf Muschg Im Sommer des Hasen basiert die Exklusivität der Rolle des Ich-Erzählers im Rahmen eines „Geisha-Abends“ gerade auf der Bild-Ähnlichkeit der ihm zugeteilten Unterhaltungskünstlerin: „Ihr Körper, den ich später taktvoll besaß, entsprach in seiner kindlichen Schmalhüftigkeit dem Bild, das ich mir aus Holzschnitten davon hätte machen können.“ (Muschg 1965, 282). Die konjunktivische Sprachverwendung deutet zwar auf eine Reflexion und mögliche Auflösung solcher Wahrnehmungsschemata des Fremden hin, letztlich setzt sich diese aber nicht durch, sondern das Bild wird in der literarischen Darstellung re-etabliert. Vgl. u.a. auch Pekar in: Japanstudien 1996, 24. Im Jahr 1999 beschreibt Ludwig Harig in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seine Suche nach den acht Landschaftsbildern am Biwasee und den Spuren der Novellen Max Dauthendeys (vgl. dazu Kapitel 4.4.2 Lektüre, Erwartung und Erfahrung). Dabei begleiten ihn die Holzschnitte Hiroshiges, die dieser zu den Ansichten herstellte: „Fast ein Dutzend Mal betrachten wir die Ansichtskarte mit dem Holzschnitt von Hiroshige, vergleichen das Bild mit der Wirklichkeit, die Kunst mit der Natur.“ (Harig 1999, II).
3.2 Ein Spaziergang in Japan – Der Reisende als Zuschauer
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Orvar Löfgren verweist in seiner History of Vacationing (1999) auf die historische Dimension der Suche nach dem Pittoresken, die sich als Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reisens etablierte: „The eighteenth-century pioneers of modern tourism developed the kind of virtual reality called the picturesque: a certain way of selecting, framing, and representing views. It taught tourists not only where to look but also how to sense the landscape, experience it, [...] In the making of the tourist quest for the picturesque in the late eighteenth century, art played a key role in teaching the pioneers where to look and how to look in the landscape. And there was a desire to teach nature to imitate art. The ‚paintability‘ of the landscape came into focus, drawing on the new developments in landscape painting during the sixteenth and eighteenth centuries, but the making of the picturesque was also shaped by an ongoing dialogue between many arts: aesthetics, literature, music, and – not least – gardening.“ (Löfgren 1999, 19)
Die durch die Rezeption von Kunst beeinflusste Wahrnehmung reflektiert der Dichter und Maler Max Dauthendey in einem Brief an seine Frau vom 23. April 1906 folgendermaßen, wobei er sich hier seinem eigenen Wahrnehmungsschema gegenüber offen und hellsichtig zeigt: „Schöne braune Falken sind von den zierlichen Wäldern an unser Schiff gekommen und fressen vom Wasser, und alles schwebt so graziös im Morgennebel wie die Bilder auf Fächern, die man immer gemalt und gestickt sieht, und die Felsen und Berge wirken so ruhig wie ausgebrannte Aschenhaufen. Sonderbar, wenn man ein Land durch seine Künstler kennenlernt, sieht man alle Dinge künstlerischer und ohne Materie, wie die Phantasie eines herzlichen Menschen.“ (Dauthendey (1906) 1930, 142f.)98
Viele Reisende haben diese Landschaften, nachdem sie sie wiedergefunden haben,99 malerisch nachgestaltet, manche haben sie auch in Worten nachgezeichnet: „The task of the tourist was to track down these paintable landscapes and lift them out of the duller surroundings, fixing them as pictures, then represent them in sketches, watercolors, and words.“ (Löfgren 1999, 21)100 Auch Dauthendey gestaltete den oben zitierten, in dem Brief an seine Frau geschilderten Wahrnehmungseindruck in dem Versepos Die geflügelte Erde. Ein Lied der Liebe und der Wunder um sieben Meere (1910) sprachmalerisch nach: _____________ 98
Stamm verweist auf „das dem Jugendstil inhärente Ideal einer Entstofflichung und Entmaterialisierung“, das sich für Dauthendey insgesamt in Japan darbietet: „aber die Entmaterialisierung, die er in Japan vorfindet, ist für ihn Voraussetzung für den gesteigerten Kunstcharakter der Wirklichkeit, den er an Japan bewundert.“ (Stamm in: Gebhard (Hg.) 2000, 69). 99 Zur Bedeutung des Gedächtnisses bei der Wahrnehmung und Konstruktion von ‚Landschaft‘, vgl. Wittkamp 2004. 100 Zum Zusammenhang von Landschaft in der Literatur und in der Malerei vgl. u.a. Wittkamp 2001.
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„Es war zur frühen Morgenstunde; allmählich erst hob sich der Nebel über Inseln in der Runde. Vom Nebel wie zerstückt erschienen Schwarzkiefern, weitgeästet und tief in sich gebückt. Und ein paar große Vögel zogen Kreise; das war der erste leise Anblick von Japan nach der langen Reise. – Mit schwarzer Tusche auf weißes Silber gemalt, erschien der Schwarzkiefer Gestalt, Und die Vögel, die, ohne zu schreien, im Nebel aus- und einflogen und ihr Spiegelbild dunkel im Wasser nachzogen, erschienen auf der Nebelhaide, Wie japanische Malereien auf Porzellan oder Seide. Und wie auf weißem Papier, bemalte sich mehr und mehr die dunkle Inselwelt im Nebel hier.“ (Dauthendey 1910, 290f.)
Bernhard Kellermann, in dessen Leben Literatur und Kunst, Bild und Wort eng verbunden waren,101 setzte den aufgefundenen Bildern weitere hinzu, die teilweise starr und leblos einen visuellen Eindruck in einem Wort-Bild erstarren lassen: „Diese in Wasser und Schmutz der Reisfelder stehenden Leute, dralle Mägde mit aufgeschürzten Kleidern, ein Tuch um den Kopf gebunden, flache Strohhüte auf dem Kopf, Strohmatten als Regenmäntel auf dem Rücken, sind die charakteristischste Staffage der japanischen Landschaft. Sie stehen das ganze Jahr in diesen großen Spiegelscheiben, heute, morgen und in hundert Jahren.“ (Kellermann 1922, 21)102
Wie u.a. Christoph Hennig (1997) zeigt, ging es bei der touristischen Betrachtung von Landschaften schon im 18. Jahrhundert nicht in erster Linie um naturwissenschaftliche Erkenntnis oder auch nur um sinnliche Erfahrung jenseits des ästhetischen Kanons der jeweiligen Zeit und Kultur (vgl. ebd., 54). Hennig ordnet die Landschaftswahrnehmung durch die Reisenden einem Prozess der Fiktionalisierung der Erfahrung zu, der nicht erst mit der Verschriftlichung beginnt, sondern, wie gezeigt werden konnte, bereits mit der bzw. vor der eigentlichen sinnlichen Wahrnehmung. _____________ 101 Vgl. seine Jahre im Kunstverein Paul Cassirers in Berlin sowie seine kurze Tätigkeit als Zeichenlehrer und sein Wunsch als Maler zu reüssieren: „Anfangs war ich von dem Wunsch beseelt, Maler zu werden, widmete mich aber sehr früh der Literatur.“ (Kellermann [1945] 1952, 65) Darüber hinaus kann seine Wahrnehmung durchaus auch durch seinen Reisebegleiter, den Maler Karl Walser, beeinflusst worden sein (vgl. Kapitel 3.3.3 Bilder und Imaginationen). 102 Vgl. auch Cees Nooteboom (1997) in seiner Reisebeschreibung Japan II: Endlose Kreise: „Dies ist es. Der Fluß, das Mädchen, der Fischer, die Brücke, die japanischen Hügel am anderen Ufer. Damit beginnt es bereits: Weshalb sollte man japanische Hügel japanische Hügel nennen? Ist das nicht Fiktion? Vielleicht, doch ich erkenne sie von Darstellungen auf kakemonos und Wandschirmen wieder [...] Das Mädchen in seiner Schuluniform sitzt am Ufer und liest, ich wüßte gern, was. Es ist so in sein Buch vertieft, daß man meinen könnte, es sei in der Landschaft festgewachsen, genauso wie auch der Fischer bereits hundert Jahre im Wasser steht, eine Silhouette im schnellfließenden Fluß. Mädchen, Fischer, Hügel, Fluß“ (Nooteboom 1997, 196f.).
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Rudyard Kipling schrieb im Jahr 1892 in seinem vierten Brief aus Japan an die Zeitung Pioneer in Lahore, Indien: „Viel besser ist es, seine Bilder über die ganze Welt zu verteilen; sie zu besuchen, wie das Schicksal es erlaubt. Dann kann niemand sie stehlen oder entstellen, und kein Wechselfall des Glücks einen Verkauf erzwingen; Sonne und Unwetter wärmen und lüften die Galerie kostenlos, und – trotz allem, was über ihre Derbheit gesagt wurde – die Natur ist kein schlechter Einrahmer. Das Wissen, daß man vielleicht nicht lange genug lebt, um einen bestimmten Schatz ein zweites Mal zu sehen, lehrt die Augen, schnell zu sehen, solange das Licht anhält; und der Besitz einer solchen Galerie erzeugt eine sehr feine Geringschätzung für Anstreich-Ausstellungen und die beschmierten Dinger, die man Bilder nennt.“ (Kipling [1892] 1990, 311f.).
3.2.4 Der Reisende als Zuhörer Wie bereits angedeutet, ist die Wiedergabe der verschiedensten Sinneseindrücke für eine literarische Reisebeschreibung insgesamt konstituierendes Merkmal, wobei das impressionistische Darstellungsschema diesen noch ein besonderes Gewicht zukommen lässt. Das gilt auch für Höreindrücke: Bestimmte Geräusche bzw. ihre Bewertung können, werden sie wiedererkannt bzw. kontextualisiert, ein Gefühl von Vertrautheit hervorrufen: „All dieses Gezappel und Getrippel, diese Tausende von Holzschuhen, die klapperten und schabten und zusammen eine Art von Konzert gaben, [...] und überall trappeln und läuten die Holzschuhe in der gleichen Weise. Dieser Lärm ist so charakteristisch für Japan, wie es das ewige Bimmeln des Droschkenpferdglöckchens für Paris ist, das den Spaziergänger dort durch alle Straßen begleitet. Merkwürdigerweise klingen diese beiden Laute ähnlich, ja zuweilen vollkommen gleich. Die Holzschuhe singen.“ (Kellermann 1922, 22; 25)
Die Beschreibung von Höreindrücken aus dem Bereich der Musik als spezifischer Ausdrucksform einer anderen Kultur trägt jedoch in der vorliegenden Reisebeschreibung – aber auch in zahlreichen anderen Äußerungen über die japanische Kultur103 – stark zur Fremdheitskonstruktion und hier zudem zur Degradierung bei. Bernhard Kellermann wählt in diesem Zusammenhang wiederum Analogien aus dem Tierreich, auf die er zurückgreift, um Merkwürdigkeiten zu markieren, ein Märchenreich zu konstruieren und/oder Geringschätzung auszudrücken: „Die Samisenen[104] wurden gestimmt, die Trommel dröhnte, und plötzlich brach der unbeschreiblichste Lärm los, den ich in meinem ganzen Leben gehört habe. Dieser Lärm mußte meilenweit das Land erschüttern. Die Samisenen klirrten, die Trommel donnerte, die Stimmen der Musikantinnen zeterten, eine fremde, wilde,
_____________ 103 Vgl. Kapitel 3.3.4, 4.4.3 und 5.1. 104 [Samisen oder shamisen: Ein gitarrenartiges dreisaitiges Instrument mit sehr langem Hals.]
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rasende Musik, vermischt mit dem Miauen und Schreien von wilden Tieren, Panthern und Leoparden. Mein Ohr, dem diese asiatische Musik vollkommen fremd war, hörte damals nichts als Getöse, und gewiß wäre ich in diesem Augenblick vor Lachen gestorben, wenn nicht die Tänzerinnen meine Aufmerksamkeit völlig gebannt hätten.“ (ebd., 11)
Obgleich hier angedeutet wird, dass dem Reisenden zum Zeitpunkt der Erfahrung die japanische Musik „vollkommen fremd“ war, geht diese Relativierung doch sehr in dem allgemeinen Zetern, Lärmen und Klirren unter. „Quieken und Schrillen, das die Haut schaudern macht“ (ebd., 53) sind neben „Geplärr“ die Bezeichnungen, die der Schreibende den Lesenden als Repräsentanten für die japanische Musik anbietet.105 Die Unterschiede in der Wirkung der Musik auf die japanischen Zuhörer und den Europäer unterstreicht noch die Fremdheit und Differenz, die zwischen ihnen unverrückbar zu bestehen scheint: „Er [der Sänger] reckte den Kopf in die Höhe, wie ein Hahn, der kräht, die Adern seines Halses schwollen zum Zerspringen an, er kniff die Augen zusammen, er verdrehte sie und stieß eine Reihe von Lauten aus, die zuweilen an das Gejammer einer Katze erinnerten oder das Heulen eine Hundes, der Musik hört. Der Samisenspieler ließ dann und wann einen Gluckslaut hören, als ob ihm übel würde – jub! jub! – oder er rief wie ein Kutscher, der sein Pferd antreibt. Diese Musik war kaum zu ertragen, aber die Japaner lauschten hingerissen, und sicherlich sang der Sänger von dem Schicksal, das sich den sorglos spielenden Kindern näherte, denn zuweilen zogen alle Leute papierne Taschentücher aus den Ärmeln, schneutzten sich und trockneten sich die Augen.“ (ebd., 62) „Er singt hübsch – zum erstenmal gefällt mir der Gesang wirklich – aber das Publikum zischt, und auf der Galerie werden Stimmen laut; er zieht sich eilig zurück.“ (ebd., 109)
Hier dienen die Tieranalogien nicht zuletzt auch dazu, die japanische Musik aus dem Bereich der Kunst in den der Natur zu verweisen.106 Dennoch gibt es auch im Spaziergang Momente, in denen das Fremde mit dem Eigenen kontrastiert wird und sich kurzfristig die scheinbar so klaren Relationen und Wertungen verschieben. Nach einer feucht-fröhlichen Verbrüderung, die der Reisende in dem kleinen Gasthof mit einigen japanischen Offizieren erlebt und während der sentimental und Sake-geschwängert viel von Völkerverständigung und gegenseitiger Wertschätzung die Rede ist, kommt es zu folgender Szene: _____________ 105 Er tut dies nicht zuletzt im Gefolge Basil Hall Chamberlains, der in seinem Werk Things Japanese schreibt: „Musik – wenn es erlaubt ist, dieses Wort auf den Lärm und das Gequieke der Orientalen anzuwenden“ (Chamberlain 1912, 392). 106 Vgl. auch schon den Reisebericht der Isabella Bird: „Der Gesangsvortrag war im höchsten Grade marternd. Mir erschien er beinahe wie das Geheul einer Hyäne, untermischt mit häufigen halb unterdrückten Kehllauten, ein Geblök, das einem japanisch musikalisch gebildeten und in der Kritik bewanderten Publikum wundervoll erklingen mag, für einen Europäer aber ohrzerreißend ist.“ (Bird 1886, Bd. II, 163)
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„Dann sangen wir. Die Offiziere sangen mit geschlossenen Augen und zurückgebeugtem Kopf die Nationalhymne und miauten – o – o – ieo – es war einfach lächerlich. Hierauf mußte ich singen. Ich sang die ‚Wacht am Rhein‘, ich tat mein Bestes, das große Deutschland und der Krieg von 1870/71 lag in meinem Gesang. Aber während meines Vortrages erschien mir plötzlich Gesang und Melodie barbarisch im Vergleich zu dem Raffinement und der Eigentümlichkeit des japanischen Liedes, und zum erstenmal ahnte ich etwas von der Schönheit und Kunst der japanischen Musik und des japanischen Gesanges.“ (ebd., 152)
Hier wird für einen kurzen Moment das Eigene fremd – allerdings etabliert sich in der Reisebeschreibung diese neue Wahrnehmungsweise nicht, und später finden sich wieder ähnlich befremdete Äußerungen über die japanische Musik. Insofern kann hier auch nicht von einem Lern- oder Verstehensprozess gesprochen werden, eher von dem Aufblitzen einer Ahnung, deren Leuchtkraft sich wieder wie ein Funke verliert.107 In der Beschreibung der Musik der anderen Kultur spiegelt sich ein unangefochtener Herrschaftsanspruch westlicher Musik sowie die Unfähigkeit, eurozentrische Positionen zu verlassen und Offenheit für ungewohnte Höreindrücke zu entwickeln.108 3.2.5 Der Reisende als Zuschauer Das Auge als Erkenntnisorgan Bernhard Kellermann gestaltet in seiner Darstellung der Begegnung eines Reisenden mit einer anderen Kultur das Auge als Erkenntnisorgan. Dabei kommt die zweifache Zuschreibung, die sich mit diesem Motiv verbindet, zum Tragen: Das Auge gilt als Fenster zur Welt und es gilt zugleich als Spiegel der Seele, insofern hat es eine Mittlerfunktion zwischen Innen und Außen. ‚Richtiges‘ Sehen führt zu Erkenntnis und Verstehen. _____________ 107 Welche Auswirkungen diese unbefangenen Bewertungen solch wichtiger Elemente einer Kultur wie die Musik haben können, kann hier nicht beurteilt werden. Aber es ist wohl zu viel der Ehre für Bernhard Kellermann, wenn Albrecht Klopefer in seiner Rezension eines Buches über japanische Musik schreibt: „Es wird wohl an Beschreibungen wie dieser liegen, daß die Musik Japans in deutschen Ohren keinen allzu hohen Stellenwert genießt. Und vielleicht sind es gerade solche Urteile – und Vorurteile –, wie sie Bernhard Kellermann bei seinem ‚Spaziergang in Japan‘ dem deutschen Publikum in masochistischer Genüßlichkeit ausbreitet [...], die Silvain Guignard angeregt haben, jetzt mit seinem Buch ‚Musik in Japan‘ eine Aufsatzsammlung vorzulegen, die sich bemüht, ein umfassendes und objektiveres Bild des gegenwärtigen und historischen japanischen Musiklebens zu vermitteln.“ (Kloepfer 1997 in: ). Hier sollten wohl gewichtigere Hörende bemüht werden, wie etwa Basil Hall Chamberlain, dessen Einschätzung der japanischen Musik in Kellermanns Ausführungen ziemlich exakt widergespiegelt ist (s.o.) 108 Vgl. dazu: Reese in: Japan und Europa 1993, 56-65.
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Der Reisende bemüht sich darum, tiefer in die Gastkultur einzudringen und in den Augen der Menschen zu lesen: „Ich sehe ihm in die glänzenden Pechaugen, in denen ich noch nicht zu lesen verstehe“ (Kellermann 1922, 7). Er wirft einen Blick in das „Herz“ des Landes: „Das ganze Leben Japans liegt hier vor den Augen ausgebreitet, und man sieht in Japans Herz, das so alt und so nobel ist, wie durch ein Fenster in ein Haus.“ (ebd., 25) Die mögliche Erkenntnis, die sich hier andeutet, wird dadurch relativiert, dass der Blick durch ein Fenster in ein Haus immer nur einen Ausschnitt präsentiert; die Distanz bleibt bestehen, auch wenn der Blick ins Herz Intimität und Nähe suggeriert.109 In der „Nachschrift“ begründet der Reisende seine im Gegensatz zu den Neuankömmlingen größere Gewandtheit und Routine, mit der er sich in der japanischen Stadt bewegt u.a. damit, dass er „einen Blick in ihr [der Japaner] Herz geworfen“ hat (ebd., 270).110 Gleichzeitig teilt er mit, dass er das Land „nicht im geringsten verstanden“ hat (ebd., 272), was in der Sekundärliteratur auch explizit dem Autor des Textes bestätigt wird: „Man kann Kellermann getrost beim Wort nehmen, wenn er seine Reisebeschreibung in einem Anflug zugleich von Selbsterkenntnis und Koketterie mit dem Satz beschließt: ‚Und während mich Sehnsucht [...] ergriff, wurde mir klarer [...] daß ich es nicht im geringsten verstanden hatte.‘ “ (Reif in: Brenner 1989, 440) Der „Blick ins Herz“ ist also sprachliches Klischee, reines Ausdrucksschema. Die Versicherung, nichts verstanden zu haben, muss jedoch darüber hinaus als unerlässlicher Teil der Konstruktion Japans als Fremde und Sehnsuchtsraum gewertet werden – der Topos des Nicht-Verstehens oder der Unverstehbarkeit 111 ist innerhalb der Texte ein konstituierendes Merkmal, das für die Konstruktion der ‚Fremde Japan‘ insgesamt zentrale Bedeutung hat. Für das hier untersuchte Genre gilt: In dem Moment, in dem der Schreibende das Ergebnis eines etwaigen Verstehensprozesses vermittelt, fällt ein großer Teil des Leseanreizes weg, den das Genre ganz wesentlich ausmacht – Geheimnisse, die gelüftet werden, nehmen der Phantasie den Raum für freie Projektionen. Das soll allerdings, wie bereits gezeigt, nicht bedeuten, dass konkrete Informationen nicht durchaus auch _____________ 109 Vgl. Goebel (2001): „Damit verweist er auf die für den Flaneurblick typische Präsentation der Wirklichkeit als visuelles Spektakel, wobei die implizierte Bühnenmetapher in jene Sprachfigur des Interieurs hinübergleitet, die auch Benjamin benutzt.“ (ebd., 116). Vgl. außerdem Goebel 1998: „If Benjamin suggests, that for the flâneur the streets of Paris turn into the domestic familiarity of a residential apartment, [...], Kellermann employs a similar metaphor; acting as an insider, he experiences the Japanese reality as a precious and enticing interior“ (ebd., 381). 110 Der Ausdruck „Blick ins Herz“ kann hier allgemein eine Annäherung, ein Verstehen bildhaft ausdrücken; er kann sich auch im Besonderen auf den Bereich des Gefühlslebens beziehen. 111 Zum „Topos der Unverständlichkeit“ vgl. Pekar 2003, 159-172.
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lustvolles Phantasieren der Lesenden begünstigen. So wie das dunkle Geheimnis Raum für phantasievolle Projektionen bietet, stellen Informationen und Ausstattung u.a. Material für die Phantasietätigkeit der Lesenden bereit.112 Erst die Vereinigung beider Dimensionen – Märchenhaftes, Traumhaftes, Geheimnisvolles sowie konkrete realitätskompatible Informationen, Requisiten und Beschreibungen – bereiten für die erwachsenen Lesenden den Boden zur Befriedigung phantasiegesteuerter und phantasiesteuernder Lesebedürfnisse. Dennoch werden von dem Reisenden auch Verstehensprozesse thematisiert, so nimmt er z.B. für sich in Anspruch, für die Ästhetik des Landes bzw. das ästhetische Empfinden der Bevölkerung einen Blick entwickelt zu haben: „Die ‚Himmelsbrücke‘ enttäuschte mich beim ersten Anblick. [...] Ich sah Amano-hashidate häufig, es war hübsch und drollig, es gefiel mir, ohne einen besonderen Eindruck auf mich auszuüben, aber mehr und mehr verstand ich, welche Besonderheiten die Augen der Japaner bestachen, und so wurde die ‚Himmelsbrücke‘ für mich ein Schlüssel zum Verständnis des raffinierten landschaftlichen Geschmackes dieses Volkes.“ (Kellermann 1922, 168)
Hier wird jedoch die rationale Rekonstruktion eines Wahrnehmungsschemas formuliert, nicht etwa eine sinnliche Erfahrung. Man könnte auch sagen: Rational hat der Reisende verstanden, was Japaner an einer spezifischen Anordnung (in) der Landschaft als schön empfinden, in seiner eigenen – europäischen – sinnlichen Wahrnehmung ist dieses Empfinden aber (noch?) nicht angekommen. Ein solcher Perspektivenwechsel zieht zumindest eine gewisse Würdigung des Anderen nach sich. Mit dieser Art des Sehens inszeniert sich der Reisende darüber hinaus nicht zuletzt auch als etwas Besonderes, als jemand, der sich von den gewöhnlichen Touristen unterscheidet, die eine ‚vulgäre‘ Form der Wahrnehmung und Aneignung der Fremde wählen, die Fotografie: „Nur die Fremden hatten als Gäste Kiotos keine Ursache, sich anständig zu betragen, sie benahmen sich so flegelhaft wie zu Hause. Die Amerikanerinnen kletterten rudelweise über die Bambusbarrieren, zerrissen sich Röcke und Hosen, einerlei, pflanzten sich vor den Geishas auf und hielten ihnen den Kodak wie einen Revolver eine Spanne weit vors Gesicht, tick! Dabei waren sie nicht einmal hübsch, schlechte Jahrgänge, ich würde mich schämen, fools.“ (ebd., 98)
Die Konstruktion des Fotografierens als Realitätsversicherung, als Möglichkeit, sich die Fremde zu eigen zu machen, aber auch als Form der interkulturellen Kontaktaufnahme, ist insbesondere im Zusammenhang _____________ 112 Vgl. Schön in: Roters et al. (Hgg.) 1999, 192; Schön kennzeichnet als „wichtige Funktion von Information“ folgendes: „Faktizität – auch nur vermeintliche – dient dazu, ein Interesse zu camouflieren, das in Wahrheit darauf aus ist, diese Information als Lieferant von Phantasiematerial zu benutzen.“ (ebd.) Siehe auch Kapitel 3.3.3 Bilder und Imaginationen.
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mit der Begegnung Japan – Europa interessant und wird in zahlreichen Texten und verschiedenen Textformen motivisch bearbeitet.113 In der hier zitierten Beschreibung des Verhaltens der Amerikanerinnen spiegelt sich aber bereits die Verachtung derjenigen, die die Authentizität des Wahrnehmungseindrucks suchen und bewahren wollen, denjenigen gegenüber, die den Moment technisch festhalten und reproduzieren möchten. Eine Verachtung, die sich insbesondere die Europäer gegenüber den japanischen Reisenden gönnen.114 Urs Widmer findet in seinem Roman Die gelben Männer (1976) zu folgendem Bild, das diese Geringschätzung der technisch vermittelten Wahrnehmungsform in der Fremde/auf Reisen mit dem Topos vom Japaner als Automat, als MaschinenMensch, verknüpft: „Ich stand auf, ging schwankend durch die Küche zum Faß und goß mir mein Glas voll. ‚In Japan werden jetzt Japaner gebaut‘, rief ich, ‚die haben ihren Fotoapparat nicht mehr über dem Bauch hängen. Sie haben ihn in sich eingebaut. Wenn sie mit den Augen zwinkern, gibt es ein Bild. Jeden Abend ziehen sie sich den belichteten Film aus dem Arschloch und schauen, wie der Tag gewesen ist.‘ “ (Urs Widmer: 1976, 81)
Der Mensch betrachtet den Menschen In Ein Spaziergang in Japan steht insgesamt das Verstehen einer Kultur und ihrer Angehörigen nicht im Vordergrund. Das wird auch deutlich, wenn man sein Augenmerk auf die Begegnung, das gegenseitige Betrachten der Menschen richtet. Das Auge wird häufig auch als „primärer Kontaktsinn“ _____________ 113 Vgl. etwa den 2001 in Deutschland erschienenen Roman von Susanna Jones Wo die Erde bebt (im Original: The Earthquake Bird; London 2000). Die erste Begegnung der Britin Lucy Fly mit dem Japaner Teiji ist durch die Kamera vermittelt: „Dann fotografierte er das Bild, einschließlich meiner Füße. Ich blieb in dieser Stellung stehen, und er hob den Kopf und sah mich an. Er sah mir forschend ins Gesicht, als könnte er nicht ganz das finden, was er wollte. Er führte die Kamera wieder ans Auge und visierte mich durch den Sucher an, wie ein Kind, das durch eine leere Klopapierrolle späht, um die Welt einmal anders zu sehen. Und die Kamera klickte und blitzte. Das waren die ersten Bilder, die er von mir aufnahm. Ich habe sie nie zu sehen bekommen. Dieser Augenblick war so intim, dass ich wusste, es würde ihm zwangsläufig eine noch größere Intimität folgen. [...] Meine Füße und mein Gesicht waren jetzt in seiner Kamera. Er hatte mich in sich aufgenommen, und der nächste Schritt war nahe liegend, wenn auch schamlos.“ (Jones 2001, 20). 114 Orvar Löfgren beschreibt in seiner History of Vacationing das Verhältnis des Touristen zu den „anderen“ Touristen: „In the long history of modern tourism one element is striking. The main tourist attraction tends to be those other tourists. We devote a lot of time and energy to observing and commenting on fellow travelers. [...] Some travelers have always needed to set themselves apart from others – from tourists. And almost as soon as the word tourist appeared at the start of the nineteenth century, it began to carry derogatory overtones“ (Löfgren 1999, 262). Christoph Hennig beschreibt weitere „Strategien, nicht Tourist zu sein“ (Hennig 1997, 20ff.).
3.2 Ein Spaziergang in Japan – Der Reisende als Zuschauer
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bezeichnet.115 Dennoch ist das Ergebnis eines Blickes auf den Anderen nicht immer Kontakt. Tatsächlich führen im Spaziergang die Blicke des Reisenden auf die anderen Menschen sehr selten zu einem Kontakt im eigentlichen Sinne, noch seltener zu so etwas wie einer Beziehung. Und so werden die ‚Spiegel der Seele‘, die Augen der Japaner und Japanerinnen, getreu der Konstruktion und Aufrechterhaltung der Fremdheit zwischen den Kulturen als mit Blendscheiben versehen beschrieben, in denen sich der Reisende höchstens selbst spiegeln kann: „Selbst ihre Augen sahen lackiert aus.“ (Kellermann 1922, 82)116 Aus den Augen der Japanerinnen spricht kein Leben, was nicht Wunder nimmt, da sie oft nicht als Personen wahrgenommen werden: „Dann waren sie plötzlich kleine schlichte Mädchen, liebliche winzige Puppen, die mich mit ihren dunklen liderlosen Augen ansahen.“ (ebd., 11) Die Augen der Prostituierten in Yoshiwara spiegeln keine Seele: „Meistens aber hoben sie nur die weißgeschminkten Gesichter, zogen die gemalten Brauen in die Höhe und sahen mich aufmerksam mit den dunklen, glänzenden lidlosen Augen an“ (ebd., 73). Sie sind nur Spiegel der Wunschvorstellungen des Reisenden, wie etwa die Augen der Huren in Yamada: „und wandten mir ihre dunklen, heißen Augen zu.“ (ebd., 264) „Dunkle“ und „brennende“ Augen versprechen sexuelle Erlebnisse, drücken sinnlich-sexuelle Anziehungskraft aus: „Ich beobachtete auch von meinem Vorhang aus oft lange jenes schöne Mädchen mit den märchenhaft feinen Brauen, und oft ruhten seine großen, brennenden, dunklen Augen lange Zeit auf mir, ohne Erstaunen, ohne Neugierde zu verraten; sie betrachtete mich ebenso aufmerksam wie ich sie.“ (ebd., 236) Allerdings entsteht auch hier kein Kontakt. Bei einem Besuch der Tempelstadt Nara in einem Gasthaus beschreibt Kellermann dann ein „kleines hübsches Abenteuer“ mit einer Japanerin.117 Der Reisende begegnet täglich einer jungen Frau, die er sehr anziehend findet und mit der der erste Kontakt auch wieder über die Augen stattfindet: „Aber erst am letzten Abend meines und ihres Aufenthaltes wagte ich es, sie anzusprechen, obwohl wir uns täglich begegneten; denn sie wohnte dicht neben mir und oft sahen wir uns in die Augen, wir verbrachten viele Stunden auf unserer gemeinsamen Galerie.“ (ebd., 255) Beide finden nicht zu einer wirklichen gemeinsamen Sprache, aber das ist bei amourösen Abenteuern kein weiteres _____________ 115 Vgl. Pekar in: Japanstudien 1996, 18. 116 Thomas Pekar (2003) zeigt, dass darüber hinaus insbesondere auch die Augenstellung der Japaner im westlichen Japan-Diskurs „als primärer Marker physischer und, daran angeschlossen, kultureller Differenz fungierte.“ (ebd., 151). 117 Diese „kleinen Abenteuer“ waren unbedingter Bestandteil exotistischer Literatur der Zeit, somit auch der Reisebeschreibungen aus Japan, wobei dieser Topos wohl insbesondere männlichen Schreibenden vorbehalten war.
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Hindernis, für exotisierende Wahrnehmungsformen des anderen Geschlechts sogar Grundvoraussetzung – jede Verständigung könnte hier den Projektionsraum und damit das Vergnügen einschränken: „Ach, wir sprachen wenig, und bald gingen mir die Worte aus, aber es gibt eine Sprache, die Mann und Frau verstehen, wo auch immer sie zusammentreffen mögen, und in dieser Sprache verständigten wir uns sehr gut.“ (ebd., 255) An dieser Stelle soll noch einmal auf Hans Anna Haunhorst verwiesen werden, der für die Beschreibung seiner Beziehung zu einer japanischen Kurtisane auf ähnliche Worte zurückgreift: „Tagelang haben meine Augen einen eifersüchtigen Kampf um ihre Alleinherrschaft gegen das immer heftiger aufsiedende Begehren des Blutes geführt, das seine ewigen Rechte verlangte. Sie mußten unterliegen, wenn anders nicht ich selbst ihrer tyrannischen Despotie erliegen wollte. Und auch diese erdentstammte Sprache verstandest du, O‘Harou’ San, ohne deren unverlierbare Laute ja weder du noch ich geworden wären.“ (Haunhorst 1936, 131f.)
Die Blicke des Reisenden markieren in der Darstellung nicht eine beginnende Interaktion, sie führen nicht zu interkulturellen Kontakten, in der der eine den anderen wahrnimmt und befragt, von ihm lernt und diesen versteht.118 Bernhard Kellermann lässt den Reisenden als Zuschauer, als distanzierten Betrachter und Beobachter auftreten. Der Blick auf den Menschen bekommt in diesem Zusammenhang die Funktion, die Wahrnehmung von Fremdheit zu markieren und gleichzeitig Fremdheit und Befremden auszudrücken. Die Einführung des Reisenden in das fremde Land, das Japan für ihn ist und auch bleibt, beginnt mit seinen ersten Schritten an Land. Bei diesen ersten Schritten wird stellvertretend eine Begegnung mit einem Japaner geschildert. Die Schilderung ist ins Präsens gesetzt, wie um den Eindruck der Unmittelbarkeit der Begegnung zu erhöhen und um ihr ein besonderes Flair zu verleihen:119 „Hier geht ein Mann mit einem großen leuchtenden Papierschirm über die Straße. Was gibt es da weiter zu sehen? Er bleibt stehen und sieht mich an. Sein Gesicht ist fremd, die Aufmerksamkeit und Neugierde in seinem Blick, ja selbst die gebeugte Körperhaltung in dem blauen Kimono ist fremd.“ (Kellermann 1922, 6f.) Von hier aus folgen die Lesenden dem Blick des Angekommenen über eine Straßenszene bis hinein in das erste Teehaus, wo das Tempus wieder in das erzählende Präteritum wechselt. Das Teehaus wird zum Ort einer interkul_____________ 118 Vgl. Näheres bei Pekar in: Japanstudien 1996, 17-31. 119 Die Schilderung von ‚Erstkontakten‘ ist seit jeher in Entdeckerberichten und Reisebeschreibungen von großer Bedeutung. Die Schreibenden verwendeten viel Sorgfalt auf die Ausgestaltung dieser Situation, und die Darstellung dieser ersten Begegnung kann vielfach als programmatisch für den weiteren Verlauf der Begegnung zwischen den Kulturen gelten (vgl. u.a. Daus in: Gernig 2001, 94-116).
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turellen Begegnung und einer interkulturellen Kommunikation der besonderen Art: Eine „alte Japanerin mit einem dicken Kopf, braun und plump wie eine Glocke“ (ebd., 8) nimmt den Gast in Empfang: „Zuerst sprachen wir nichts. Die Alte mit dem Bronzekopf starrte mich mit offenem Munde erstaunt, fast erschrocken an, und plötzlich brach sie in ein lautes, lustiges Lachen aus. Ebenso rasch war sie wieder still und betrachtete mich von neuem mit einer dummdreisten Aufmerksamkeit. Jeden Knopf sah sie an. So hockten wir eine Weile und beglotzten einander.“ (ebd., 9)
Der darauf folgende ‚Dialog‘ ist nicht nur deshalb fiktiv, da er stilistischer Einschub ist, sondern beide Parteien sprechen zu einem fiktiven Partner, wobei der eine die andere nicht versteht und umgekehrt. Dem Lesenden erschließt sich folgerichtig nur die Rede des Reisenden, die Frau bleibt fremd, ihre Äußerungen verschlossen, ihre Gestalt grotesk. Die einzige Verständigung, die stattfindet, ist das gegenseitige Befremden. Die gegenseitige Betrachtung von ‚Okzident und Orient‘ wird noch in einem anderen Kontext – herausgehoben aus der Intimität dieser ersten Begegnungen – im Zusammenhang mit einer Eisenbahnfahrt inszeniert. Eisenbahn und Eisenbahnfahrten spielen insgesamt eine wichtige Rolle in Reisebeschreibungen, die in dieser historischen Situation entstehen. Sie markieren Moderne und Mobilität,120 erlauben es, den Blick schweifen zu lassen und die Landschaften und Städte wie in einem Film an sich vorbeilaufen zu lassen.121 Außerdem bieten sie (engen) Raum für die Begegnung der Kulturen.122 Speziell für Reisebeschreibungen der Jahrhundertwende über Japan bekommen sie noch eine andere Qualität, indem sie wahlweise die Überlegenheit der westlichen Kultur bezeichnen können oder als _____________ 120 In aktuellen Reiseberichten und auch literarischen Texten über das Reisen oder Erfahrungen in der Fremde übernimmt diese Funktion oft das Fliegen. So wird z.B. auch die Ankunft in Japan nicht mehr über das Einlaufen des Schiffes, sondern über den Landeanflug auf Narita gestaltet. Die Funktion dieser Ankunfts-Gestaltung ist aber in der Regel immer dieselbe: Es geht um die erste Markierung kultureller Differenz, die erste Erwartungsenttäuschung und/oder -erfüllung oder das erste Staunen. In dem Krimi von Suzanne Visser etwa, in dem eine Gruppe ausländischer Ermittler eine Mordserie in Tôkyô in Zusammenarbeit mit der japanischen Polizei aufklären muss, wird das fremde Land im Landeanflug über eine neugierige Lektüre und den ersten visuellen Wahrnehmungseindruck eingeführt, zwei bedeutende Erfahrungsmomente in der Begegnung mit der Fremde: „Bertus Hogenelst schlägt das Buch zu und betrachtet den häßlichen Umschlag. Grellbunte Fische und Bierdosen schweben in der heiteren Landschaft eines Zengartens. Bertus’ Ohren schmerzen, denn das Flugzeug hat zur Landung angesetzt. [...] In dem Moment reißt ein Loch in der Wolkendecke auf, und ein Teppich aus Feldern wird sichtbar. Schnell kommt die Flikkendecke auf ihn zu und immer mehr Details werden sichtbar. Ach, denkt er, die Dachpfannen sind hier blau.“ (Visser 2001, 10). 121 Vgl. Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München; Wien 1977. 122 Vgl. z.B. TAWADA Yoko: Bilderrätsel ohne Rätsel. In: dies.: Nur da wo du bist da ist nichts. Tübingen 19973, 7-62.
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Symbol für Japans Fortschrittswillen und Fortschrittstüchtigkeit gewertet werden. Die Gefühle des Hochmuts einiger Angehöriger der westlichen Welt ironisiert Kellermann in folgender Beschreibung: „Es saßen noch einige Europäer und Amerikaner im Waggon, mit eiskalten Gesichtern unter den Reisemützen, die zuweilen die Eingeborenen mit einem Blick kühler Neugierde streiften, und deren Mienen recht deutlich verkündeten, daß sie die Verfasser dieses Expresszuges seien und nur aus Gnade in diesem lächerlichen Lande reisten. Nur aus purer Großmut erlaubten sie es den Japanern, in Strümpfen auf den Polstern herumzuhocken! O, und die Japaner verstanden dies recht gut. So oft sie über ein Paar dieser ausgestreckten Beine in karierten Hosen steigen mußten, verbeugten sie sich und gaben hübsch acht.“ (ebd., 19f.)
In der weiteren Beschreibung wird ein umgekehrter Blick für die Lesenden eingefangen: Ein Japaner blickt von außen durch ein Fenster in diese westlich geprägte Welt und auf die Gesichter der Europäer: dort Verachtung und Hochmut, hier Neugier und Ehrfurcht: „Dann fuhr der Zug an, das Getrippel und Gezappel verschwand, die Rufe erstarben, und nur noch ein Kuli stand am Geleise und starrte mit ehrfurchtsvoller Neugierde in die europäischen Gesichter in den Fenstern.“ (ebd., 22) Das Ersterben der Geräusche, die inszenierte Stille richtet die Aufmerksamkeit des Lesenden auf diesen Moment, auf den Blick des Japaners in die Gesichter des Westens. Der Blick auf den Anderen ist, wenn er nicht heimlich und versteckt seinen Weg findet, etwas, das zwar Distanz konstatieren und auch zum Ausdruck bringen kann, aber als offene, unverhohlene Handlung ist solch ein Blick etwas höchst Distanzloses. Diese Distanzlosigkeit ist ein entscheidendes Merkmal des männlichen Blicks auf die Frau, der voyeuristische Züge trägt. Der Tokioter Bordellbezirk Yoshiwara war ein Ort, an dem die Männer Frauen besichtigen konnten, an dem die zur Ware degradierten Frauen in einer Art Verkaufsausstellung präsentiert wurden: „In einem Gemach hing über einem auffallend mit Blumen geschmückten jungen Ding ein Zettel und ich fragte Oshima, was darauf stände. ‚ Just new arrived‘, sagte er, ‚sie ist eine Jungfrau‘.“ (Kellermann 1922, 73) Michael Stein schildert in seiner Kulturgeschichte über Japans Kurtisanen eindrücklich die Lebensbedingungen der Mädchen und Frauen in den Vergnügungsvierteln, die sich, wie es zu erwarten stand, deutlich von den exotistischen Beschreibungen der Reisenden unterschieden: „Die Unterschiede zwischen Kurtisane und Dirne verwischten sich jedoch in den Vergnügungsvierteln; [...] Patron und Kundschaft sahen in den Rangstufen nur Güte- und Preisklassen der wie Ware feilgebotenen Mädchen des Amüsiergewerbes. Die Grenze zwischen Kurtisanen und Dirnen verlief innerhalb des gleichen Hauses und war nur an der Fertigkeit in Gesang, Tanz und Musizieren abzulesen. Hier konnten die [... Kurtisanen] einstweilen noch glänzen, während die Dirnen wie Schaufensterpuppen hinter Bambusgittern straßenseitig zur Schau gestellt
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wurden; vorbeiflanierende Käufer wählten sich aus den Käfigen die Mädchen aus, nach denen es sie gelüstete.“ (Stein 1997, 402)123
Der europäische Reisende möchte nichts hören (oder sehen), was seinen visuellen Genuss trüben könnte: „Hier nämlich saßen tausende von schönen Mädchen in goldenen Käfigen, geputzt, inmitten von Pracht und Glanz, wie Blumen in der Sonne. Es ist falsch zu sagen: Käfige; Missionare reden so. Es sind Kemenaten, deren Vorderwand durchbrochen ist, das ist alles. Die Stäbe sind viereckige Holzstangen, eine Spanne weit von einander entfernt, so daß die Gemächer offen vor den Blicken darliegen. Diese Räume sind zumeist vergoldet [...] und [mit] Malereien geschmückt. Oft meisterhafte Arbeiten. [...] So waren diese Gemächer.“ (Kellermann 1922, 71f.)
Nicht nur die Räume liegen offen vor den Blicken der Besucher. Offenbar waren die Mädchen und Frauen, jeglicher Intimität beraubt, den Blicken der Kunden preisgegeben: „Der scharfe Konkurrenzdruck raubte den Dirnen den letzten Rest von Schamgefühl und Würde, wie aus den beliebten ukiyoe – Farbdrucken aus dem Milieu ersichtlich ist: Mit geschürztem Kimono und gespreizten Beinen boten sich etliche den Voyeuren dar, nur um nicht unverkauft übrig zu bleiben.“ (Stein 1997, 402)
Die ‚Flaneure‘ lassen sich in der Verkaufschau viel Zeit: „Und ich ging Gasse auf und Gasse ab und besah mir diese jungen Schönheiten und suchte nach der Schönsten.“ (Kellermann 1922, 264) Diese Haltung ist in ihrer männlichen Schaulust im Besonderen eine imperialistische: Sie kolonialisiert sozusagen die Fremde in Gestalt des anderen Geschlechts, nimmt sie zuerst über den Blick in Besitz und degradiert sie zum Objekt der eigenen (Besitz-) Wollust.124 Entsprechend dem Programm, das dem gesamten Spaziergang zugrunde liegt, wird auch das Yoshiwara wieder wie eine Märchenstadt konstruiert, in der sexuelle, exotistische und voyeuristische Phantasien Entfaltungsmöglichkeiten finden: „Da und dort war eine Schönheit damit beschäftigt, sich zu putzen wie ein Kätzchen. [...] Oh Yoshiwara, du bist ein Märchen aus schönen Mädchen, Gold, Musik, Blütenduft und Mondschein, du bist Indien und das Paradies der Türken, und keine westliche Phantasie wäre imstande dich zu erträumen!“ (ebd., 72; 74)
Im Sinne der Realitätskompatibilität und Realitätshaltigkeit ist es aber auch von Bedeutung, dass den Phantasien der männlichen Leser nicht nur Blütenduft und Mondenschein als Ausstattungsmaterial zur Verfügung gestellt wird. Und so konkretisiert und entzaubert der Reisende ein wenig _____________ 123 Obgleich sich diese Ausführungen auf die Edo-Zeit (1603–1868) beziehen, hatten sich die Zustände um 1907 für die Frauen nur geringfügig verändert. Vgl. hierzu Stein 1997, 495ff. 124 Vgl. zum eurozentrischen männlichen Blick auf die ‚fremde Frau‘ auch MAE in: Reader: Frauen – Literatur – Politik. 1986, 110-126.
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rüde den Traum von der reinen Tausendundeinen Nacht mit dem Nachsatz: „Du bist – alles in allem – ein preisgekröntes Bordell!“ (ebd.) Das Yoshiwara war ein Ort, der die Phantasie der europäischen Besucher stets anregte, und er findet in zahlreichen Werken europäischer Schreibender seinen festen Platz. In der Erzählung Die Segelboote von Yabase im Abend heimkehren sehen aus Max Dauthendeys Novellensammlung Die acht Gesichter am Biwasee (1911) geht Hanake mit ihrer Magd ins Yoshiwara, wo „sich die Liebe natürlich und schandlos [verkauft] ... und [sie] blieb hundert Nächte, um hundertmal ihren Leib zu verkaufen, wie sie es den Göttern versprochen hatte, um sich dadurch freizukaufen von dem Gehorsam gegen den Sohn des Himmels.“ (Dauthendey 1987, 25; 28)125 Die Erzählung beinhaltet eine malerische, farbenprächtige Beschreibung der „Gemächer“ und der Mädchen und Frauen des Bezirks: „Wie dreißig weiße Perlen, in einer Reihe aufbewahrt in einer goldenen oder roten Truhe, leuchten perlweiß die eirunden gepuderten Mädchengesichter in jedem Gemach. Mal sitzen da dreißig in eisvogelblauen Gewändern, mit regenbogenfarbigen Schmetterlingen bestickt, mal fünfzig in schwarzen Gewändern, darunter die Schleppen von rosa-, grün- und blauseidenen Gewändern abgestuft vorschauen.“ (ebd., 27)
In den schon erwähnten Japanischen Reisebriefen Arthur Neustadts von 1913 zitiert dieser die Beschreibung Max Dauthendeys des Yoshiwara und schließt an: „So erzählt Max Dauthendey, und fast jeder Kommentar ist überflüssig. In kurzen Worten entwirft er sein anschauliches Bild der Yoshiwara, daß mir zu sagen kaum etwas übrigbleibt.“ (Neustadt 1913, 173) An dieser Stelle wird die Grenze zwischen Fiktion (Novelle) und Faktizität (Reisebericht) endgültig und explizit aufgehoben. Die poetische Sprache der Erzählung drückt die für den Reisebericht gültige Wirklichkeit so gut aus, dass der ‚Berichtende‘ der Erzählung nichts mehr hinzuzufügen (oder wegzulassen) hat.126 _____________ 125 Über „Exotik als Raum relativer Rassenschönheit“ bei May Dauthendey vgl. GrießhaberWeninger 2000, 223-261, speziell zu Exotik und Erotik sowie Yoshiwara: ebd., 240ff. 126 Die Gestaltung des Yoshiwara in der Novelle Dauthendeys lehnt sich eng an seine malerische und exotisierende Schilderung des Bezirks in dem lyrischen Reisebericht Die geflügelte Erde von 1910 an, hebt sich aber qualitativ positiv von dieser etwas geschwätzigen und aufdringlichen Beschreibung ab. Dauthendey besuchte das Yoshiwara auf seiner Weltreise im Mai 1906. Ebenso wie Kellermann gestaltet er den Bordellbezirk als Märchen- oder Traumreich, reich gespickt mit Tier- und Pflanzenanalogien: „Sitzen diese winzigen Frauen. Wie die Schar von weißen Mäusen, Maus bei Maus, schau’n sie aus den Goldgehäusen auf die Menschenmassen in den Straßen / Stets ein Strauß von hundert Mädchenaugen lugt aus jeder langen goldnen Gitterzelle in die lampenhelle Nacht hinaus / Unbewegt wie ein Zug von roten Fischen, die im Goldfischglase auf den Tischen stehen, lassen sie die Pracht der blumigen Seiden, wie die Fische ihre Schuppen, sehen. / [...] Zu dem hellen Liebesmarkt, wo die Frauen, wie Kaninchen zart und auch selbstverständlich, aus den
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3.2.6 Die Fremde auf der Bühne In der Verschriftlichung seiner Reiseerfahrungen in Ein Spaziergang in Japan literarisiert Bernhard Kellermann seine Erlebnisse und Eindrücke auf den verschiedensten Ebenen:127 Neben spezifischen Darstellungsmitteln, auf die insbesondere im Zusammenhang mit Sassa yo Yassa noch genauer einzugehen sein wird, geschieht dies, wie bereits ausgeführt, durch die Fiktionalisierung des Landes als Märchenreich. Darüber hinaus ist in diesem Kontext Kellermanns raumgreifende Auseinandersetzung mit dem japanischen Theater von Interesse. Wie sehr die Kultur und ihre Angehörigen zur Literatur werden, zeigt sich u.a. darin, dass das ‚alte‘ und mithin für Kellermanns Auffassung das wahre Japan sich für den Betrachter insbesondere auf der Bühne darstellt. Nur der kleine Bühnenausschnitt, das im Theater Wahrgenommene, wird zum ungestörten Modell für das dem Europäer in seinem Vorverständnis vertraute Japan. Die für das Bild von Japan notwendigen Requisiten, Akteure, Bühnenbilder, Gesten und Erzählungen, das ganze Kaleidoskop des europäischen Erwartungshorizontes, ist hier wie in einem Mikrokosmos versammelt, bis hin zu der für den Reisenden nur schwer zu ertragenden Musik. Und nun kann der Zuschauer dieses Kaleidoskop nach Herzenslust drehen, immer wird sich ihm das lang gesuchte – und in der erfahrenen Realität von dieser selbst immer wieder schmerzhaft durchbrochene – Japan seiner Träume präsentieren: „Obwohl das Theater schon deutlich die Spuren des Verfalls trägt – besonders in den großen Städten – ist es doch noch die einzige Stätte, die Teehäuser vielleicht ausgenommen, die, von alten künstlerischen Traditionen beseelt, Pracht und Größe des klassischen Japan widerspiegelt. Eine Abendröte, deren verlöschendes Feuer die rote Glut und blendende Schönheit eines Sonnentages zurückruft, während schon die graue Dämmerung herabsinkt. Die vergangene Kultur eines genialen Volkes, unvergleichlich in ihrer Geschlossenheit und ihrem Reichtum, die Geschichten, Götter und Gespenster, Sitten und Kostüme leben auf den dürftigen Bühnen wie in einem Zauberspiegel vor dem Auge des Zuschauers wieder auf und erwachen durch die raffinierte Kunst der Darstellung zu einem erschütternd greifbaren Leben.“ (Kellermann 1922, 197)
Der europäische Zuschauer, der die traditionellen japanischen Theaterformen genießt, muss den Sprung zwischen Bild und erfahrener Wirklichkeit nicht kitten, er muss keine Brücken schlagen. Das Geschehen auf der _____________ goldnen Ställen schauen, / Kam ich wie ein Bär aus dem unbeholfenen Europa her unter Staunen“ (Dauthendey 1910, 389f.). 127 Zur Frage der Literarisierung in den Reiseberichten des frühen 20. Jahrhunderts vgl. Reif in: Brenner (Hg.) 1989, 449ff. Reif weist darauf hin, dass der den impressionistischen Reisebericht ablösende neuromantische Typus noch deutlichere Spuren der Poetisierung und Fiktionalisierung zeigt.
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Bühne steht ihm stellvertretend für die gesamte Kultur, für das Ganze der Kultur, und dies nicht nur im Sinne eines Konzentrates, einer künstlerischen Überformung, sondern auch im Sinne von Alltagskultur: „Die ganze Kultur eines alten Volkes entrollt sich in der Reihe lieblicher und grauenhafter, stets faszinierender Bilder. Zeremonien, Trachten, phantastische Pracht. Tänzerinnen in wattierten Gewändern, mit Kronenreifen und kleinen klirrenden Blüten aus Gold in den Haaren, Frauen in weiten Hosen, Edelleute in großkarrierten [sic!], sonderbaren Trachten, ein Fürst, in die Farben des roten Feuers gekleidet, die mich noch stundenlang nachher blenden“ (ebd., 66).
Hier muss das traditionelle japanische Theater nicht nur als Repräsentantin der ganzen (konstruierten) Kultur herhalten, sondern wird darüber hinaus als Erziehungsanstalt inszeniert, die die Quelle für eine Art ‚Volksmentalität‘ darstellt: „Wenn das japanische Volk heute das liebenswürdigste und erzogenste Volk ist, so ist das gewiß zum großen Teil dem Einflusse der Bühne zuzuschreiben, die dem Volke unaufhörlich die herrlichsten Beispiele von Seelengröße und Menschenwürde vorführt.“ (ebd., 201) Das Theater als Erfahrungsraum Das Theater wird darüber hinaus in mehrfacher Hinsicht als kultureller Erfahrungsraum präsentiert, der sich für ethnologische Studien eignet: Der Reisende schaut nicht nur dem Geschehen auf der Bühne zu, sondern erweitert den Bühnenraum, der dann den gesamten Zuschauerraum umfasst: „Ich hatte reichlich Gelegenheit, die japanischen Sitten, Eintreten, Begrüßungen, Niedersitzen, Abschiednehmen, zu beobachten.“ (Kellermann 1922, 40) „Und nicht nur das Spiel facht mein Erstaunen stets aufs neue an. Auch der Raum, in dem ich mich befinde, die Zuschauer, die Pausen, alles.“ (ebd., 67) „Die nächste Szene zeigte den Gerichtshof der Edelleute. [...] Ich hörte gar nicht darauf, sondern betrachtete das Publikum, das Theater.“ (ebd., 107) „Oder ich trat in einer Pause ein und das Theater war voller Tumult, Kinder liefen umher, Ausrufer schreien, und das war für mich so viel wie eine Szene auf der Bühne.“ (ebd., 184)
Das Verhalten der japanischen Zuschauer wird ebenso interpretiert wie die Stücke, so etwa in dem Moment, in dem die Zuschauer gegen das deutsche Ergriffenheitspostulat in dramatischen Situationen verstoßen: „Der fröhliche laute Lärm des Zwischenaktes zeigte mir, wie rasch sich die Menschen mit fremden Schicksalen abfinden.“ (ebd., 38) Aber auch der Zuschauer selbst ist integraler Bestandteil des Bühnenraumes und
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wird – Mensch betrachtet den Menschen – bei seinem „Debüt“, dem Gebrauch der Essstäbchen, beobachtet: „Ich habe meinen kleinen Ofen, Tee in Hülle und Fülle, all jene Leckerbissen, und ein halbes Hundert von Zuschauern um mich her, die ein rührendes Interesse für das Debüt dieses weißen, ungelenken Ungeheuers in der Handhabung von Stäbchen zeigen.“(ebd., 67f.) Die Darstellung und das Betrachten von Szenen im weitesten Sinne als Form der stellvertretenden Kulturvermittlung ist keineswegs neu.128 Schon Engelbert Kaempfer berichtet davon im Zusammenhang mit seiner Audienz beim japanischen ‚Kaiser‘129 in „Jedo“ [Edo], im heutigen Tôkyô, im Jahr 1691: „Wie der Kaiser zuerst beŷ dem frauen Zimmer, für und weiter von Unß gesessen, veränderte Er den platz und setzte sich zur seiten nähest beŷ unß hinter der Hangen Matte: hiesse unß unser Cappa oder Ehren Kleid ablegen und aufricht sitzen, damit er unß könnte unter augen sehen; bald aufstehen und spatzieren, bald mit einander complimentiren, dan tantzen, springen, truncken Mann spielen, Japanisch sprechen, Hollandisch lesen, Mahlen, singen, die Mantel bald umb bald wieder ab legen, worunter ich folgendes lied anstimmete: (1 / Ich gedencke meiner Pflicht, / an den eussersten der Erden. / Schönste! die mir nicht kann werden / liebste die mein Hertze bricht. [...] Solche Kurtzweil und andere ohnzehlbahre affen streiche, musten wir unß gefallen lassen auf des Kaisers Verlangen auszuüben [...] Da wir dan also 2 stunden lang, wie wohl allezeit mit freundlichem Zumuthen geübt worden, wurde von geschornen Dienern jedem ein tischlein mit Japonischem anbissen, und stat der Messer, 2 stöcklein vorgesetztet, wovon ein weniges genossen“ (Kaempfer (Buch 5, Kapitel 12) 2001, 429f.).130
_____________ 128 Dabei ist zu bedenken, dass in dieser Situation der Kulturvermittlung und Kulturbegegnung beide Pole der Begegnung, Darsteller und Zuschauer, sich in einer gesicherten (getrennten), klar definierten Position befinden. Die Rollen sind eindeutig, es bestehen keine weiteren Unsicherheiten. Auch John Dewey vertrat in einem Brief an seine Frau vom 22.02.1919 die Auffassung, dass das Theater ein Ort des Lernens über die Kultur und ihre Geschichte sein kann: „I won’t try to describe the dramas, except to say that the way to study Japanese history and tradition would be to go to the theatre with someone to interpret“ (Dewey [1919] 1920, 26). 129 Gemeint ist hier der Shôgun Tokugawa Tsunayoshi (1646–1709). Der japanische Kaiser, der Tennô Higashiyama (1675–1709) residierte damals in Kyôto. Die Europäer hielten den Tennô zu dieser Zeit für so etwas wie einen „buddhistischen Papst“ (Schwebell (Hg.) 1981, 42). 130 Kaempfers Werk erschien posthum zunächst in englischer Sprache im Jahr 1727; Übersetzer war der Schweizer Johann Caspar Scheuchzer, der es „nach Gutdünken erweiterte [...] und an vielen Stellen ziemlich frei gestaltete“ (Kaempfer 2001, Vorwort, vii). In den Jahren 1777 und 1779 erschien es in zwei Bänden erstmals in deutscher Sprache. Christian Wilhelm Dohm (1751–1820) gab die Bände unter dem Titel Engelbert Kämpfer, Geschichte und Beschreibung von Japan. Aus den Originalhandschriften des Verfassers herausgegeben von Christian Wilhelm Dohm in Lemgo heraus. Dohm stützte sich auf die Übersetzung Scheuchzers und „brachte Kaempfers Deutsch in eine, an das zeitgenössische Empfinden angepasste Form. Da er überdies die von Scheuchzer vorgenommenen Umarbeitungen [und Abbildungen] übernahm, wurde letztlich auch hier dem Leser nur eine entstellte Version präsentiert.“
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Goethe bezieht sich ausdrücklich auf diese Beschreibung Kaempfers, wenn er für die „Einimpfung“ der deutschen Sprache in Polen im Anschluss an die Eroberung des Landes die Etablierung mehrerer umherziehender Theatergesellschaften vorschlägt: „Wir lesen bei Kämpfer daß der japanische Kaiser sich sehr unterhalten gefunden als ihm die Holländer ihre gewöhnlichen Reverenzen, Begegnungen und täglichen Handlungen vorgespielt. Wenn man nun dem ungebildetern Volke, mit Erfindung und Geist, teils seine eigene Sitte und Unsitte, teils die gebildetere Sitte der herrschenden Nation darstellte, dergestalt daß die Handlung schon als Pantomime verständlich wäre und die Sprache sich nur als Komplement hinzufügte, so würde schon manches gewonnen sein.“ (Goethe 1986, 21)131
Die Darbietung der Kultur bzw. das Besehen derselben auf umgrenztem (Bühnen-)Raum in dem Spaziergang in Japan erleichtert im vorliegenden Text aber nicht etwa ein etwaiges Verstehen und initiiert auch keine Annäherung; im Gegenteil, es vergrößert die Distanz, die der Reisende zwischen sich und die japanische Kultur legt: „All das ist mir fremd, ich verstehe es nicht. Ich bin Millionen Meilen von Europa entfernt, auf einer anderen Erde. Das sind Wesen mit anderen Gehirnen und einem anderen Herzen.“ (Kellermann 1922, 66). Der Reisende konstatiert jeweils dann Nicht-Verstehen, bedient also den Topos des ‚Nicht-Verstehens‘, wenn er sich in einer gesicherten Situation befindet (im Theater oder, beim Fazit seiner Reise, auf dem Schiff, das ihn wieder nach Europa bringt) sowie wenn er seine emotionale Nähe und Verbundenheit mit der Kultur eingesteht (seine Liebe zum japanischen Theater bzw. die Sehnsucht, die sich nach dem Verlassen Japans sofort einstellt; vgl. ebd., 272). Folgerichtig wird all das, was die Theatererfahrung vertrauter machen, näher bringen könnte, wie etwa modernere oder europäische Elemente, vehement abgelehnt: „Über das moderne Schauspiel ist nichts zu sagen. Es ist auf die niedrigste Stufe herabgesunken, eine szenische Illustration von Kolportageromanen.“ (ebd., 212) In diesen modernen Stücken gibt es eine Vielzahl an europäischen Requisiten und europäischer Ausstattung, die von Kellermann in ihrer Wirkung als „lächerlich und unerquicklich“ (ebd.) bezeichnet werden. Und nicht nur das, das europäische Theater als solches wird als ‚verdorbenes‘ mit dem ‚reinen‘ (traditionellen) japanischen kontrastiert: „Ich habe oft, wenn ich in Strümpfen über die Matten ging und mich bücken mußte bei den Durchgängen, an die Theater Europas gedacht, an ihren barbari-
_____________ (Kaempfer 2001, Vorwort, vii). Im Jahr 2001 erschien die kritische Ausgabe der Werke Engelbert Kaempfers, die anhand des deutschen Japan-Manuskripts von Kaempfer vorgenommen wurde und die auch hier zugrunde gelegt wird. 131 Johann Wolfgang von Goethe: Vorschlag zur Einführung der deutschen Sprache in Polen. Um eine höhere Kultur der niederen Klassen zu bewirken. In: ders Bd. 4.2. Hg. v. Klaus H. Kiefer u.a.. München; Wien 1986, 20-23.
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schen Pomp und luxuriösen Komfort, nein, all das hatten wir nicht. Unser Theater war sowohl von Schwindel als von Luxus entblößt, dafür aber hatten wir etwas, was die europäischen Theater nicht hatten, nämlich das g r o ß e G e h e im n i s. [sic!]“ (ebd., 179)
Wie sehr sich der Europäer gegen die Inbesitznahme seines Sehnsuchtsraumes durch die Moderne und eine sich wandelnde japanische Kultur stemmt, zeigt sich auch in folgender Szenerie, über die der Reisende am Ende seines Aufenthaltes in Japan philosophiert: „Mir schien das Stück wie ein Symbol: es war das alte Japan, und die Schneeflocken, die es zudeckten, waren die neuen Ideen, die vom Westen kamen, jede einzelne Flocke eine klare, kalte, nüchterne, europäische Idee.“ (ebd., 272)132 Bühnenraum als Kulturraum Auf der Bühne also findet sich endlich ungebrochen das gesuchte und mithin vertraute fremde Japan, die europäische Imagination des ‚alten Japan‘, das sich in etwa schon in der Gestaltung der Szenerie der kleinen Stadt spiegelte.133 Und so werden die wichtigsten, informativsten und längsten Passagen über das traditionelle Theater im Kontext des alten Theaters des kleinen Städtchens angesiedelt: Beschreibungsraum, Erlebnis- und Lehranstalt für den Reisenden – streng nach dem Prinzip der Exemplarizität werden hier die zentralen Aussagen platziert. Ein solcher Raum, anhand dessen exemplarisch das Vorstellungsbild einer Kultur rekonstruiert wird, könnte, so sollte man annehmen, das Schreiben über eine Kultur erleichtern, zumal die Requisiten, die räumliche Ordnung, die Akteure und der Inhalt begrenzt sind: Überschaubar, geordnet, ästhetisch, und in Worte zu fassen – mithin so ganz anders als die Kultur außerhalb _____________ 132 Wie sehr diese europäische Inbesitznahme der Haltung vieler Japaner in den Jahren des Umbruchs widersprach, zeigt folgende Einschätzung Basil Hall Chamberlains: „Unser Rat [an den „Globetrotter“] ist der: Was du auch tun magst, lasse dich niemals vor Japanern der neuen Richtung über jene alten, seltsamen und herrlichen Dinge aus, welche deine echteste Bewunderung erwecken. Es gibt zweifellos hier und dort noch altmodisch denkende Personen, denen die buddhistische Frömmigkeit wertvoll ist; [...] und selbst solche, die das mittelalterliche lyrische Drama aufführen. Aber all das ist nichts als Brackwasser. Im allgemeinen gesprochen haben die erzogenen Japaner ihre Vergangenheit abgetan.“ (Chamberlain 1912, 8) Kellermann widmet den lyrischen Stücken immerhin acht Seiten in seiner Reisebeschreibung. 133 Auch Victor Segalen begab sich auf die Suche nach dem ‚alten China‘, wobei der den „Exotismus des Raumes“ mit dem „Exotismus der Zeit“ verbindet (vgl. dazu auch Brie 1920). Segalen suchte jedoch weniger das ‚vertraute Fremde‘, also die Bestätigung und ReKonstruktion eines vorhandenen und tradierten Bildes, sondern das extrem Andere, das er nach dem Fall der Monarchie in China dort nicht mehr zu finden vermeinte. Segalen begab sich auf seiner Suche nach dem ‚alten China‘ auf archäologische Entdeckungsreisen. Vgl. dazu Geiger in: Kubin (Hg.) 1995, 61ff.
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dieses Raumes, in der empirischen Wirklichkeit. Aber gerade an dieser Stelle reflektiert das Schreibende Ich den Prozess der Vermittlung und entlässt die Lesenden aus der Illusion der Unmittelbarkeit. Der Schreibende inszeniert sich als Regisseur der Darstellung: „Was ich hier sah war so wunderbar, so unerhört schön – ich werde versuchen es zu erzählen.“ (Kellermann 1922, 30). Der begrenzte Bühnenraum präsentiert sich mit einer Vielfalt an Wahrnehmungseindrücken, die kaum zu bewältigen ist: „Es gab tausenderlei zu sehen, auf der Bühne, rings um mich her. Ich sah mit hundert Augen und alles gleichzeitig. So aber kann ich es ja nicht erzählen.“ (ebd., 31) – Ein Problem, das in dieser Weise etwa bei Straßenszenen nicht formuliert wird. Hier erfolgt vielmehr eine Inbesitznahme der Situation. Souverän, als unbeteiligter distanzierter Beobachter ist der Reisende Herr seiner Sinne: „Das erste, was ich in einer neuen Stadt tue, ist, daß ich sie regelrecht in Besitz nehme. Ich beginne mit dem Pflaster sozusagen, besuche eine kleine Kneipe, sitze wie ein Einheimischer auf einem Brückengeländer und betrachte neugierig die vorbeihastenden Fremden“(ebd., 25).134
Offensichtlich gibt Kellermann die von Walter Benjamin beschriebene von Machtmotiven und Schaulust bestimmte Haltung des Flaneurs,135 die er für seine Darstellung der Reise wählt, für die Schilderung des japanischen Theaters kurzzeitig auf. Der Kulturraum Japan wird ihm in seiner Haltung als Flaneur zu einem überschau- und beherrschbaren und mithin beschreibbaren Raum, während sich der Bühnenraum unübersichtlich, vielgestaltig und ungeordnet präsentiert. Der Schreibende selbst muss mit ordnender Hand eingreifen und inszeniert sich als Vermittler zwischen der Welt des Theaters und den Lesenden.136 _____________ 134 Wer hier die „Fremden“ sind, lässt sich nicht erschließen. Aus seiner Position als Europäer in Japan können die Japaner gemeint sein. Da die Szene in Yokohama angesiedelt ist und vorher die Rede von anderen Reisenden war, könnten die „Fremden“ hier ebenso gut die sein, die, wie der Schreibende selbst, fremd in dieser Szenerie, in dieser Stadt sind. 135 Goebel weist auf die Ähnlichkeiten zwischen Benjamins flâneur in Paris und dem Reisenden Kellermanns in Japan hin: „Even Kellermann’s choice of vocabulary is strikingliy similar to Benjamin’s. If the Parisian flâneur is attracted to the sensuous feeling of floor tiles, Kellermann begins ‚mit dem Pflaster sozusagen.‘ “ (Goebel 1998, 381). Im Zusammenhang mit der Literarisierung der Reise ist auch der Hinweis von Sigrid Weigel von Bedeutung, dass der Flaneur „immer schon ein literarisches bzw. ein Schriftkonzept“ ist. (Weigel 1990, 212) Die Haltung des Flaneurs trägt die schöpferische Produktivität einer literarischen Ausgestaltung des Wahrgenommenen bereits in sich. Zur Wahrnehmung moderner Stadtlandschaften vgl. auch Gleber in: Brenner (Hg.) 1989, 463ff. 136 Die Reisebeschreibung Bernhard Kellermanns sowie die Schilderungen Max Dauthendeys über das japanische Theater machten durchaus auch ganz konkrete Aspekte des japanischen Theaters – so etwa den Blumenweg (hanamichi) – in Deutschland bekannt (Dauthendey 1909; vgl. dazu Pekar 2003; Pekar weist darauf hin, dass es ungewiss sei, „[i]nwieweit Rein-
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Insbesondere die ausführliche Wiedergabe der den Dramen oder lyrischen Szenen zugrunde liegenden Handlungen und Geschichten soll den Lesenden ein lebendiges Bild der Kultur und der Mentalität des japanischen Volkes vermitteln. Und dies, ohne dass die mehrfache Verfremdung – Erzählungen und Mythen in Form einer ästhetischen Stilisierung durch die dramatische Gestaltung, weitergegeben in Form einer literarischen Reisebeschreibung – explizit oder implizit formuliert bzw. reflektiert würde. Ausgerechnet dasjenige, was so viele Stufen der Verfremdung (und Sublimierung) durchlaufen hat, wird den Lesenden als das Wahre, das Eigentliche und das Authentische einer Kultur präsentiert. Hier findet eine Form der Bewertung einer Kunsterscheinung statt, die in zweierlei Hinsicht ästhetische mit außerästhetischen Kriterien vermengt: Der künstlerische Wert des traditionellen Theaters wird einerseits durch die Wertschätzung des ‚alten Japan‘, genauer: seiner Konstruktion, gesteigert. Andererseits wird das Theater als ‚Beleg‘ nationaler Eigenarten aufgefasst und zu deren Illustration benutzt. Darüber hinaus gilt offenbar auch für den Spaziergang in Japan von Bernhard Kellermann, dass die Konstruktion der Fremde als Sehnsuchtsraum einerseits eine authentische Zeugenschaft verlangt, dass die erfahrene Wirklichkeit der Kultur aber andererseits das Erleben und die Phantasie der Lesenden nicht allzu sehr stören darf. Dies ist der Grund, weshalb die Darstellung der Kultur viele Stufen der Verfremdung und Literarisierung durchlaufen muss, um sie über den Umweg der vermittelten Erfahrung wieder als Bild zu präsentieren. In dieser Weise vereinigen sich in dem hier untersuchten Text sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene die Verfügbarmachung eines märchenhaften Projektionsraumes mit der Präsentation ausreichend realitätsbezogenen Phantasiematerials, womit u.a. der große Erfolg dieses Genres, aber auch dieses konkreten Textes bei der Leserschaft eng zusammenhängt.
3.3 Sassa yo Yassa – Der Gast als Lernender und Vermittler 3.3.1 Einführung Im Jahr 1911 erschien ebenfalls im Verlag Paul Cassirer der Band Sassa yo Yassa. Japanische Tänze von Bernhard Kellermann. Dieser Band, der viele Zeichnungen und Studien von Karl Walser enthält, die japanische Frauen und Mädchen abbilden, dient hauptsächlich der Erläuterung und Illustra_____________ hardt seine Ideen zur Umgestaltung der Bühne auch von Max Dauthendey übernahm“ (ebd., 211).
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tion verschiedener Tänze und der Wiedergabe der Atmosphäre in den japanischen Teehäusern, in denen diese Tänze durch die Geisha zur Unterhaltung der Gäste aufgeführt werden. Es würde an dieser Stelle zu weit gehen, genauer auf die Rolle der Geisha innerhalb der japanischen Gesellschaft einzugehen (ich verweise für diesen Zusammenhang auf die umfassende Untersuchung von Michael Stein [1997])137 oder etwa das durch Exotismus, Projektion und männliches Wunschdenken transportierte Bild der Geisha im europäischen Kontext138 mit einer rekonstruierten Lebenswirklichkeit der Mädchen und Frauen in der jeweiligen historischen Situation Japans abzugleichen. An gegebenen Stellen soll die Darstellung Bernhard Kellermanns aber auf die ihr zugrunde liegenden Imaginationen hinterfragt werden. Einführend soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass eine bestimmte Klasse japanischer Geisha auch noch in dem hier relevanten Zeitraum der Meiji-Zeit (1868–1911) Künstlerinnen von einigem Rang und Bewahrerinnen traditioneller Künste waren,139 wie es Stein insgesamt für die Klasse der Kurtisanen in der Geschichte Japans beschreibt: „Kurtisanen waren Künstlerinnen und etliche von ihnen zählten zu den besten, die Japan hervorbrachte. [...] sie tradierten nahezu das gesamte Volksliedgut Japans, sie inspirierten und förderten etliche klassische Kunstgattungen, trugen Wesentliches bei zur Erhaltung der traditionellen Instrumentalmusik und Tanzkunst, und selbst Japans Nationalhymne geht mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das Repertoire von Kurtisanen zurück. Man kann den hohen Rang des Künstlertums der japanischen Kurtisanen eigentlich nur unterschätzen, weil außer indirekten Zeugnissen und der bis heute zu bewundernden Kunst der Geisha nichts davon erhalten blieb.“ (Stein 1997, 15)
Es gab in der Darbietung der Tanzkunst durch die Geisha, die einzeln oder in Gruppen ausgeführt und mit Gesang und Musik begleitet wurde, _____________ 137 Zur genauen Beschreibung der Klasse der japanischen Kurtisanen, ihrer Vielfalt, ihrer Künste und Geschichte vgl. Stein 1997, 13ff.: „Um dem Mißverständnis vorzubeugen, dieses Buch beschreibe eine Art Geschichte der Prostitution in Japan, soll gleich zu Anfang die grundlegende Frage geklärt werden, wie der europäische Begriff ‚Kurtisane‘ auf Japan, einen fernen und fremden Kulturkreis, anzuwenden ist.“ (ebd., 13) Das Werk von Stein bringt eine Klärung in die mannigfaltigen männlichen Phantasien über die japanischen Unterhaltungskünstlerinnen, vor allem die japanische Geisha: „Das wichtigste Merkmal japanischer Kurtisanen war ihr Künstlertum. [...] Die eigentümliche Kombination von Künstlertum und Gunstgewerbe, die das Kurtisanentum demnach definiert, kann in bestimmten Fällen und Epochen durchaus als eine Spielart der Prostitution betrachtet werden; oft waren die Grenzen tatsächlich fließend. Um den Kurtisanen aber gerecht zu werden, sollte man auch die Gründe berücksichtigen, die zu der erotischen Kehrseite ihres Künstlertums führten, und das Dilemma aufzeigen, in das sie in dem widersprüchlichen Geflecht von eigenem künstlerischem Anspruch, religiösen Vorstellungen, männlichem Wunschdenken und ökonomischer Abhängigkeit gerieten.“ (ebd., 13f.). 138 Vgl. dazu insbesondere auch Pekar 2003, 288ff. 139 Vgl. Stein 1997, 513.
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natürlich qualitativ eine große Spannbreite, und welche anderen Gunstbezeugungen mit der Aufführung noch verbunden waren, hing von der jeweiligen historischen Situation und auch dem Ort ab, an dem sich der Raum oder das Etablissement der Darbietung befand. Häufig bildeten Teehäuser den Rahmen für die Aufführung der Tänze, so auch in Sassa yo Yassa. Der Besuch eines Teehauses konnte die unterschiedlichsten Zwecke verfolgen, dazu gehörte durchaus auch das Genießen der Künste der Geisha, ohne dass der Gast weitere Absichten verfolgen musste. Die folgende von Stein (1997) beschriebene Szenerie illustriert vielleicht noch am ehesten das Ambiente, das Kellermann für sein Buch über japanische Tänze als Kulisse der Anschauung wählt: „Das Publikum von Yanagibashi[140] hingegen liebte jene Art von Unterhaltung, die nicht erst seit der Meiji-Zeit als die typischste Form des japanischen Nachtlebens gilt: Gut essen, sich mit viel Sake anheitern, sich dabei von hübschen Mädchen bedienen und unterhalten lassen, Tanz und Gesang genießen oder auch selbst dabei mittun, um Alltag, Ärger und Verdruß im Reiswein zu ertränken. Und Geisha, die für den musischen Teil und das Verwöhnen der Kunden zuständig sind, haben damit, auch ohne intime Leistungen, eine sinnvolle berufliche Aufgabe zu erfüllen“ (ebd., 514).
3.3.2 Struktur und Konzeption Der Tanz ist ein Geschehen für Auge und Ohr und für die Zuschauer gilt es, Augen und Ohren offen zu halten, die Sinne zu schärfen und sich den Eindrücken hinzugeben. Wie aber soll nun, im Anschluss an eine solche Wahrnehmungssituation, davon erzählt werden? Im weiteren Verlauf der Darstellung soll zunächst die Konzeption und die Struktur des Werks von Bernhard Kellermann im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, womit ebenfalls ein Überblick über den inhaltlichen Aufbau verbunden ist. Sassa yo Yassa ist einerseits ein Werk, das den Lesenden Informationen über einzelne japanische Tänze vermittelt, die ihnen zugrunde liegenden Fabeln, eine bestimmte Form von Teehauskultur und die Arbeitswelt sowie den möglichen Werdegang einer bestimmten Klasse von Geisha. Diese Anteile stehen im Werk – auch explizit – stellvertretend für die japanische Kultur als Ganzes. Andererseits ist es aber auch die Geschichte eines Erfahrungsprozesses: Der Ich-Erzähler, ein Fremder in Japan, wird in einer exklusiven Situation zum eingeweihten Zuschauer und unterzieht sich einem mühsamen Lern- und Erkenntnisprozess. Diese Erzählerfigur vermittelt nun die Fabeln der Tänze sowie die Geschichte des Erfahrungsprozesses einem heimischen lesenden Publikum, das sich auf diese _____________ 140 [Ehemaliges Amüsierviertel in Tôkyô, gelegen am Sumida-Fluss].
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Weise auch auf ein identifizierendes Lesen141 einlassen kann. In diesem Zusammenhang lassen sich im Text Fiktionalisierungsstrategien nachweisen, auf die noch genauer einzugehen sein wird.142 Der Text partizipiert also durchaus an verschiedenen Genres und kann von den Lesenden in verschiedener Weise gebraucht werden: Welchen Pakt sollen die Lesenden mit dem Text schließen? Sollen sie ihre Aufmerksamkeit auf die vermittelten Informationen richten und diese im Sinne von kultureller ‚Wirklichkeit‘, Faktizität und Nachweisbarkeit rezipieren und prüfen oder sollen sie den „Fiktionsvertrag“ (Eco 19992, 103) unterzeichnen, also den ‚Wirklichkeitssinn‘ unterdrücken und dafür den ‚Möglichkeitssinn‘ aktivieren? Im konkreten Lesevollzug muss das nicht immer eindeutig entschieden werden. Obgleich es sich bei dem hier besprochenen Text ausgewiesenermaßen um einen Informationstext handelt, dessen ‚Rahmenhandlung‘ (s.u.) als authentisch beglaubigt wird, kann man ihm mit einer ähnlichen Lesehaltung begegnen, die Umberto Eco für fiktive Texte beschreibt: „Wie es scheint, suspendieren wir unsere Ungläubigkeit, wenn wir fiktive Geschichten lesen, nur in bezug auf einige Dinge und nicht auf andere.“ (ebd., 106), nur dass im vorliegenden Fall u.U. der Anspruch an Authentizität und Faktizität nur an einige Aspekte der Darstellung herangetragen wird und nicht an andere – oder, wie Opitz in Bezug auf die Reiseliteratur schreibt: „Bei Reiseliteratur werden die ‚Faktizitätsversicherungen‘ geglaubt, soweit das für die Lektüre und die dabei ablaufenden psychischen Prozesse notwendig ist.“ (Opitz 1997, 232) Die Nachprüfbarkeit der Informationen über die kulturellen Phänomene etwa ist zwar durchaus von Relevanz, die Nachprüfbarkeit der vermittelnden ‚Rahmenhandlung‘ jedoch keineswegs. Der Text selbst stellt für beide Gebrauchsweisen Strukturen zur Verfügung und spielt mit den _____________ 141 Zu verschiedenen Formen der „Identifikation“ im Leseprozess, die sich im Verlauf der individuellen Lesebiographie verändern und entwickeln können („Substitution, Projektion, Empathie“), vgl.: Schön in: Lange; Steffens (Hgg.) 1995, 99-127. Der Text bietet, wie noch zu zeigen sein wird, Raum für verschiedene Formen der Identifikation. 142 Vgl. Kapitel 3.3.6 Authentizität und Fiktion: Darstellungsstrategien. Hayden White schreibt in Bezug auf die Parallelen von Geschichtsschreibung (als Vermittlung historischer Fakten und Informationen) und Dichtung: „Man kann von einer historischen Interpretation genauso wie von einer dichterischen Fiktion sagen, sie wolle sich ihren Lesern als eine plausible Darstellung von Welt darbieten, indem sie sich implizit auf jene ‚prägenerischen Plotstrukturen‘ [...] oder archetypischen Formen von Geschichten [...] stützt, die die Modalitäten des literarischen Repertoires einer gegebenen Kultur ausmachen. Man kann von Historikern genauso wie von Dichtern sagen, daß sie einen ‚Erklärungseffekt‘ [...] dadurch erreichen, daß sie in ihre Erklärungen Bedeutungsschemata [...] einbauen, die jenen expliziter formulierten Bedeutungsschemata in der Literatur der jeweiligen Kultur, der sie angehören, ähnlich sind.“ (White 1986, 74f.).
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Grenzen von Faktizität und Fiktionalität, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.143 Kellermann hat seinen Ausführungen über die japanischen Tänze einen Dreischritt zugrunde gelegt, der die oben angeführte Grundkonzeption ideal transportiert: Eine ‚Binnenerzählung‘, die sich der detaillierten Darstellung einzelner Tänze widmet, wird von einem einführenden Kapitel, das die Lesenden in das Thema und vor allem die gewünschte Atmosphäre der Darstellung begleitet, sowie von einem erläuternden Ausklang, der den Erfahrungsprozess in den Mittelpunkt stellt, rahmend umschlossen.144 Auch in Sassa yo Yassa greift der Autor darüber hinaus wieder auf das aus dem Spaziergang bekannte impressionistische Kompositionsschema zurück, indem er, neben der Einführung, die keine explizite Überschrift erhält, 15 kurze Abschnitte bildet, von denen der größte Anteil (zwölf Kapitel) die Binnenerzählung umfasst, was sich hier aus der Darstellung verschiedener Tänze, denen jeweils ein Abschnitt gewidmet ist, ergibt. Einleitend werden die Lesenden in eine ihnen fremde Welt eingeführt (S. 5-12), zu der das Schreibende Ich in gewisser Weise schon gehört. Er ist zwar noch Gast, Fremder auch wohl, gleichzeitig ist er aber schon Teil einer kleinen überschaubaren Gemeinschaft. Damit wird das Schreibende Ich, das im Folgenden als der Gast bezeichnet wird, zu einer idealen Vermittlergestalt, sozusagen Gelenkstelle und Angehöriger zweier Welten: Vertraut genug, um teilzunehmen, zu erfahren und ‚hinter die Kulissen zu blicken‘ – fremd genug, um mit den Augen der Daheimgebliebenen zu
_____________ 143 Die Ebene der Rezeption scheint also, wie oben angedeutet, in Bezug auf die Konstituierung von Fiktionalität und Faktizität entscheidend zu sein (vgl. auch Zipfel 2001, 229-278). Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass die Kenntnis des „Fiktionsvertrags“ auch bei erwachsenen Lesern/innen nicht so ohne weiteres vorausgesetzt werden kann, vgl. Eco 103ff. Zur Entwicklung des Fiktionsbewusstseins vgl. Nickel-Bacon 2003, 4-13 sowie Spinner in: Beisbart et al. (Hgg.) 1993, 55-64. Auch die durch die Grundgedanken des Radikalen Konstruktivismus beeinflusste Literaturwissenschaft befasst sich mit dem Themenkomplex „Fiktion und Wirklichkeitskonstruktion“ (Hejl in: Watzlawick; Krieg (Hgg.), 101f.) und postuliert, dass es „eine konstruktivistische Position erlaubt, die Beziehung zwischen Wirklichkeit, Fiktion und Bedeutung zu klären“ (ebd., 102). Eine tatsächliche ‚Klärung‘ oder Etablierung neuer Einsichten, die über die bekannten konstruktivistischen Paradigmen hinausgingen, kann jedoch auch dort nicht unbedingt aufgefunden werden. Auf die Problematik eines „gesicherten Realitätsbegriffs“ (Aust in: Bredel et al. (Hgg.) 2003, 530) ist auch von anderer Seite bereits vielfach verwiesen worden. 144 Die Begriffe Rahmen und Binnenerzählung sollen im Hinblick auf Literarisierungsstrategien und die dreischrittige Konzeption bewusst Verwendung finden, im Weiteren aber aus ihrem spezifischen Verwendungszusammenhang gelöst und auf das hier vorliegende Werk bezogen und dahingehend modifiziert werden (so ist etwa das erzählende Ich in Rahmenund Binnenerzählung identisch).
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schauen, sich zu wundern und das Bemerkenswerte mitzuteilen.145 Diese Konstruktion stützt die Authentizität der nachfolgenden Szenerie im Teehaus und die Ausführungen des Schreibenden Ichs über seine Erlebnisse sowie den japanischen Tanz und erleichtert die Identifikation der Lesenden mit dem Gast, die entsprechend Handlungsphantasien entwickeln können.146 Vor Augen Stellen Bei der Betrachtung der sprachlich-formalen Textkonstituenten wird bereits auf den ersten Seiten des einleitenden Abschnitts deutlich, dass sich der Autor bestimmter Mittel zur Herstellung der Hypotypose (oder: evidentia, der Augenscheinlichkeit)147 bedient. Umberto Eco verweist in seinem Kongressbeitrag Les sémaphores sous la pluie148 darauf, dass die „Tradition die Techniken der verbalen Darstellung des Raumes (wie aller anderen visuellen Erfahrungen) unter dem Namen der Hypotypose oder evidentia [rubriziert], die bisweilen gleichgesetzt, bisweilen als verwandt beschrieben wird mit der illustratio, der demonstratio, der ekphrasis oder descriptio, der enárgeia usw.“ (Eco 2003, 189). Er beschreibt die Hypotypose nicht als rhetorische Figur,149 sondern als „ein semantisch-pragmatisches Phänomen und somit ein Musterbeispiel für interpretierende Mitarbeit. Nicht so sehr Darstellung als vielmehr Technik zur Stimulierung des Lesers, sich eine visuelle Darstellung zu konstruieren, sich ein Bild zu machen.“ (ebd., 210) Auf der Ebene der Wirkungsästhetik dient sie außerdem dazu, den Lesenden mit Überzeugungskraft die Anschaulichkeit und Glaubwürdigkeit des erzählten Geschehens zu vermitteln.150 _____________ 145 Zu einer anderen Form einer „interkulturell organisierte[n] Erzählerinstanz“, diesmal als Ich-Erzählerin in fiktiven Briefen, vgl. Gutjahr in: dies. (Hg.) 2002, 61ff. sowie dies. in: Benthien; Velten (Hgg.) 2002, 345-369. 146 Als Identifikationsform wird neben der Substitution (s.u.) insbesondere die Projektion motiviert. In der Projektion wird eine literarische Figur zur „Hohlform“ für das Selbst des/r Lesenden: „Derart kann er phantasiehaft sein eigenes Selbst mit seiner gesamten kognitiven und affektiven Befindlichkeit in der Situation jenes Protagonisten realisieren, dessen Platz er damit einnimmt. Und in dieser Position kann er z.B. seine eigenen Bedürfnisse mit den Handlungsmöglichkeiten jenes Protagonisten ausleben.“ (Schön 1990b, 258). 147 Zum Begriffsfeld und zum ‚Hypotypose-Vokabular‘ sowie zum Verhältnis von Hypotypose und evidentia vgl. auch Campe in: Neumann (Hg.) 1997, 208-225. 148 Eco 2003, 189-212. 149 „Dies erlaubt mir zu sagen, daß folglich die Hypotypose als besondere rhetorische Figur nicht existiert“. (Eco 2003, 193) 150 Vgl. auch Ueding; Steinbrink 1994, 284-286, die in Bezug auf die evidentia vermerken, dass diese sowohl die Ratio als auch die Affekte anspricht; hier gilt die evidentia als allgemeines Mittel zur Ausschmückung der Rede und zur Steigerung des Ausdrucks. Zur Anschaulich-
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Auf der Ebene der Textbeschaffenheit können nun bestimmte technische Mittel aufgefunden werden, die dem Zweck der Herstellung der Hypotypose dienen. In Bezug auf die Darstellung des Raums untersucht Eco als Verfahren zur Herstellung der Hypotypose deskriptive und narrative Techniken: Denotation, minutiöse Beschreibung, Aufzählung, Akkumulation sowie Beschreibung mit Verweis auf die persönliche Erfahrung des Adressaten. In der Rhetorik werden u.a. die translatio temporum als sprachliches Vergegenwärtigungsverfahren, gedankliche Differenzierungsverfahren, die Übertragung der lokalen Abwesenheit in die lokale Anwesenheit sowie die fictio personae genannt, um evidentia herzustellen. Bernhard Kellermann wählt sowohl für die Einführung als auch für die Binnenerzählung als bestimmendes Tempus das Präsens. Diese translatio temporum erfolgt zu Beginn des Werks unvermittelt und suggeriert Unmittelbarkeit und Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und ‚mündlicher‘ Mitteilung; es soll den Lesenden das Geschehen mit Worten glaubhaft vor Augen stellen und erleichtert darüber hinaus die Beschreibungen. Erst für den zweiten Teil des Rahmens, der noch einmal drei Kapitel umfasst, (ab S. 110) wechselt das Tempus dann in das Präteritum. Auf einzelne von Kellermann eingesetzten Verfahren wird an gegebenen Stellen noch hingewiesen. Intimität und Vertrautheit Wie anteilig schon in Ein Spaziergang in Japan wird in der Einführung auf sprachlicher Ebene eine Gemeinschaft des Gastes mit der gastgebenden Kultur und ihren Angehörigen hergestellt sowie eine gewisse Geläufigkeit gestaltet, mit der dieser an der Lebensform der Kultur partizipiert und selber zum Gastgeber wird; einzig das Schuhwerk markiert hier noch die Verschiedenheit der Kulturen: „Ich lade Nao-san ein, den jungen Wirt des Gasthofs, und den Großvater, die kleinen trippelnden Mägde machen unser Boot zurecht, und wir stoßen ab. Unsere Gunka ist wohnlich eingerichtet, wir haben Kissen und Matten, Teegeschirr und einen kleinen Feuertopf; selbst für eine halbe Stunde wollen wir nicht unsere Lebensweise unterbrechen. Vor der Matte steht unser Schuhwerk in einer genauen Reihe, zwei Paar Getas und meine Schuhe, und auf der Matte selbst kauern wir.“ (Kellermann 1911, 6)
Parallel zu der Intimität der Situation, die hier textintern gestaltet wird, kann sich außerdem über eine spezielle Form von Intertextualität auch Vertrautheit zwischen einigen Lesenden und den Figuren, dem Ort und _____________ keit (in) der Literatur und zum historischen Wandel der Darstellungsstile, vgl. die grundlegende Untersuchung von Gottfried Willems 1989.
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der Erzählerinstanz einstellen: Denjenigen, die bereits Ein Spaziergang in Japan gelesen haben, ist dies alles nicht neu. Sie erkennen die „kleine japanische Stadt“ als den Ort, an dem der Reisende im Spaziergang das ‚alte Japan‘ wiederzufinden glaubte und deren Theater den Rahmen für die Erläuterungen zum japanischen Drama bildete. Auch Nao-san und der Großvater gehören als Wirte des Gasthofs, in dem der Gast abgestiegen ist, zum bekannten Personenrepertoire. Sie galten und gelten als Repräsentanten des Japan, das der Reisende gesucht und das der Autor für seine Leserschaft nachgestaltet hat. Der Ich-Erzähler, hier der Gast genannt, kann außerdem mit dem Reisenden aus dem Spaziergang gleichgesetzt werden. Auch für den idealen Leser ist die Situation somit nicht gänzlich neu und fremd, auch er verfügt über ein wenig Geläufigkeit und Wissen: Er war auf seinen ‚Lese-Reisen‘ bereits an diesem Ort und kann an frühere (Lese-)Erfahrungen anknüpfen. Im günstigsten Fall findet hier also auch auf textexterner Ebene ein Wiedererkennen statt, das auf textinterner Ebene in der Re-Konstruktion vertrauter Bilder über die Fremde Relevanz erhält: Der ideale Lesende ‚erschaut‘ die ihm bekannten Orte. Umberto Eco beschreibt in Bezug auf die Herstellung von Hypotypose bei der Darstellung von Raum die Technik der „Beschreibung mit Verweis auf persönliche Erfahrungen des Adressaten“ (Eco 2003, 205). Der/die Adressat/in muss in den Rezeptionsprozess präexistente Erfahrungen und Erkenntnismuster einbringen, um zu ‚sehen‘, was die Worte darstellen. Eco zeigt, dass die Lesenden nicht unbedingt auf eine authentische persönliche Körpererfahrung angewiesen sind, um solche Erkenntnismuster einzubringen, sondern: „Die Hypotypose kann sich die Erinnerung, die sie braucht, um sich zu realisieren, auch schaffen.“ (ebd., 207) Die Lesenden können dann im Moment des Lesens so tun als ob, als ob sie schon einmal gesehen hätten, was ihnen im Text als zu Sehendes vorgestellt wird. Für den vorliegenden Text könnte ergänzt werden, dass der ideale Lesende den dargestellten Ort tatsächlich schon einmal gesehen, besser: erlesen hat, und zwar nicht in einer vorgängigen konkreten Körpererfahrung, sondern in einer vorgängigen Leseerfahrung und Imagination. Der Autor hält sich weitgehend an den örtlichen Rahmen und stellt so auf den verschiedensten Ebenen Vertrautheit und Intimität her. Die Herstellung von Intimität auf der Ebene der Darstellungsmittel schafft eine größere Nähe zwischen Lesenden, Schreibendem und Dargestelltem, sie spiegelt darüber hinaus aber auch ein Stück weit die Intimität der Situation im Teehaus. Zudem verstärkt die Anwesenheit von Ort, Figuren und Erzählerinstanz sowohl in der literarischen Reisebeschreibung als auch in dem Informationstext über japanische Tänze die Authentizität beider Werke, die sich nun gegenseitig beglaubigen.
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Struktur Die Einführung der Lesenden in die Welt des japanischen Tanzes erfolgt unmittelbar, wobei das Präsens hier der Vergegenwärtigung der Situation dient:151 „Es ist Abend. Ich trete durch eine meiner drei offenen Zimmerwände ins Freie und atme die feuchte, duftende Luft ein. Der Himmel ist tiefblau, die blühenden Büsche beginnen im Mondlicht blasse Schatten zu werfen, die Zikaden schrillen und feilen, und weit draußen am Bai glitzert die Welle. Der Abend ist schön und erweckt in mir die Lust, zu den Tänzerinnen zu gehen.“ (Kellermann 1911, 6)
Die konkretisierende Detaillierung, die Auflösung der Szene in sinnliche Details, setzt Augenzeugenschaft voraus und dient wiederum der Herstellung der evidentia, der Augenscheinlichkeit: Die malerische, exotische Szenerie breitet sich vor den Augen der Lesenden aus; der Duft der Fremde, ihre Farben, die Geräusche der Zikaden, all das lädt ein, sich neben dem Naturschauspiel einem Schauspiel anderer Art zu widmen – es erweckt in mir die Lust, zu den Tänzerinnen zu gehen. Dies ist fast schon ein Versprechen: Nicht minder pittoresk wird es sein, eben so viel Sinnenfreude werden die Tänzerinnen zu geben haben.152 Beschaulichkeit und Ruhe prägen den Weg zum Vergnügungsviertel. Zu hören ist zunächst nur das Knarren der Ruder: „Wir legen an, lautlos, und lautlos schreiten wir durch schlafende, totenstille Gassen. Plötzlich aber wird es tageshell, Lärm, Lachen, Gesang: die Teehausstraße!“ (ebd., 8). Das Fiebern, Wimmeln, Klappern des Amüsierviertels, das Leben, das hier herrscht wird mit der ruhigen Idylle des Gasthauses und der Bootsfahrt kontrastiert. Mit allen Sinnen nimmt der Gast dieses Leben in sich auf und vermittelt es in Form einzelner Impressionen an die Leser: Verkäufer, Kinder, Handwerker, Freudenhäuser:153 _____________ 151 Die translatio temporum steht hier außerdem in Zusammenhang mit einer vergegenwärtigenden Ortsbeschreibung; diese wird an anderer Stelle noch durch Anwesenheit ausdrückende Adverbien des Ortes unterstrichen, die den entfernt liegenden Geschehensort mit dem Ort der Rede identifizieren („Da sitzt er, ...“; Kellermann 1911, 6). 152 Eco problematisiert im Zusammenhang mit der konkretisierenden Detaillierung bzw. minutiösen Beschreibung die Frage der Quantität: Wie viel Konkretisierung ‚verträgt‘ ein Text, damit ein Bild überhaupt entstehen kann, damit es aber nicht durch zu viele Details wieder zerfällt bzw. gar nicht erst zusammengesetzt werden kann? Obgleich hier keine Regel gesetzt werden kann und der Zerfall eines Bildes durchaus in der Wirkungsabsicht des Textes liegen kann, kann doch gesagt werden, dass „Hypotypose dann vorliegt, wenn gerade so viel gesagt wird, wie nötig ist, um den Adressaten zu einer Mitarbeit zu bewegen, in der er die Leerstellen auffüllt und Einzelheiten aus eigener Initiative ergänzt. Anders gesagt, die Hypotypose muß nicht so sehr etwas sichtbar machen, sie muß vielmehr Lust darauf machen, etwas zu sehen.“ (Eco 2003, 199). 153 Hier wird die „östlich wilde Leidenschaft“ angedeutet, die sich laut der Rezension im Hamburger Fremdenblatt in Ein Spaziergang in Japan nicht wiederfinden lässt (vgl. Sassa yo Yassa 1911, 136). Diese Beschreibung des Nachtlebens in den japanischen Vergnügungsvierteln wird sehr ähnlich in dem Typoskript Japanisches Volksleben gestaltet, dort allerdings
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„Diese Chayas sind Teehäuser, Tanzhäuser und Freudenhäuser, und in allen ist auf Wunsch alles zu haben, sie alle sind Stätten der Lust, Schönheit und Jugend. Jeden Abend zünden sie ihre geheimnisvollen Lampen an, und in jeder Nacht fiebert die Teehausstraße in all den tausend Städten Japans wie heute. Denn sie ist der heiße trunkene Traum einer jeden schlafenden japanischen Stadt. Unser Teehaus aber heißt Yamanaka, das Innere des Berges, und liegt am Ende der Straße.“ (ebd., 12)
Mit der impliziten Aufforderung, diese exotische Welt gemeinsam mit dem Gast zu betreten und zu genießen, schließt die Einführung.154 Der zentrale Teil der Ausführungen, der am meisten Informationen enthält und in dem einzelne japanische Tänze vorgestellt und erläutert werden – hier mit ‚Binnenerzählung‘ bezeichnet – beginnt mit dem ersten bezeichneten Kapitel („Yamanaka“, S. 13–20), mit dem Betreten des Teehauses. Der Lesende folgt sozusagen den Schritten des Gastes und sieht mit seinen Augen. Anhand eines Dialogs, der nach dem Eintritt in das Teehaus stattfindet, erfährt der Leser etwas über maneki neko die heranwinkende Katze.155 Zuträger dieser Geschichte ist der junge Wirt, der auch im zweiten Teil des Rahmens als wichtiger Vermittler dargestellt ist. Die Art, wie die kurze Geschichte eingeführt wird, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass den Lesenden Authentizität, Unmittelbarkeit und Erlebnisnähe suggeriert werden soll: „Und er erzählt mir eine kleine Geschichte, die ich hier anfügen will, da wir doch noch etwas warten müssen, bis die Tänzerinnen sich geschmückt haben oder aus der Nachbarschaft herbeigerufen werden.“ (ebd., 16) Kapitel zwei (S. 21–28) stellt drei Tänzerinnen vor, die sich hinsichtlich ihres Alters (die jüngste ist zwölf),156 ihres Äußeren und ihrer Charak_____________ mit der Funktion, die Charakterisierung des japanischen Volkes als „eines der fleissigsten Völker, die den Erdball bewohnen“ und als eines der „lebenslustigsten“ (Kellermann o.J., 2) zu illustrieren. 154 Durch die sprachlich-formalen Textkonstituenten evoziert der Text im einleitenden Teil insbesondere die Substitution als Identifikationsform, die eine „teilweise Ersetzung bestimmter Personen und Werte der eigenen sozialen Welt durch die Protagonisten der fiktionalen bzw. jedenfalls literarischen Welt [bezeichnet], während man ‚als man selbst‘ die Teilnahme am fiktiven Geschehen in der Phantasie erfährt. Substitution bedeutet also nur einen in der Phantasie vollzogenen Austausch der umgebenden Welt“ (Schön 1990b, 255f.). Die Lesenden können quasi als sie selbst am Geschehen teilnehmen. 155 Diese ist auch heute noch in vielen Geschäftshäusern Japans zu finden. Zumeist ist es eine kleine Porzellanfigur, die die japanische Geste des Heranwinkens nachbildet. Die Figur soll Glück und finanziellen Wohlstand bescheren. Aus diesem Grunde findet sie sich oft vor den Türen von Geschäften. 156 „Fukuko ist der Liebling aller, eine kleine Canaille und dabei Champion im Trommelschlagen. Sie trommelt ganze Gewitter. Sie ist auch eine Meisterin im Tanzen. Ihre Stimme ist rauh, sie kläfft wie ein Hund, sobald man sie anspricht, für gewöhnlich aber knarrt sie wie ein Frosch, denn sie kaut stets ein Stück Gummi.“ (Kellermann 1911, 27) Nach Michael
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termerkmale unterscheiden, und die genau beschrieben werden. Es sind die „Lieblingstänzerinnen“ des Gastes, der die Leser/innen an seinen Vorlieben teilhaben lässt und physiognomische Beschreibungen mit Informationen über Kleidung, Bräuche und Etikette verflicht. Mit der Darstellung der drei Tänzerinnen werden drei ‚Typengestalten‘ geschaffen, eine Darstellungsstrategie, auf die der Autor in allen seinen Werken über Japan immer wieder zurückgreift, so auch in dem Abschnitt über „Die Geisha“ (S. 29–43).157 Hier werden allgemeine Informationen über den Stand, den Werdegang und den Alltag der japanischen Geisha vermittelt,158 ebenso wie Sitten, Gebräuche, Kleidung sowie Kontakte zur Kundschaft. Exemplarisch für verschiedene Schicksale werden mögliche Lebensverläufe herauskonturiert und anhand von Namen bekommen diese typisierten Schicksale für einen kurzen Moment auch ein Gesicht: „Die Jahre sind vergangen und was ist aus ihnen geworden? Pflaumenkern hat den Fuß aus dem Schmutz gezogen und einen Schirmfabrikanten geheiratet, Pflaumenblatt dagegen widerfuhr ein selteneres Glück, [...] Weißer Schnee hat ein lustiges Leben geführt, einige Liebeleien hat sie gehabt, eine ernste Leidenschaft mit einem schönen Schauspieler, dann starb sie plötzlich im Alter von 23 Jahren.“ (ebd., 38f.)
Nach diesem allgemein-informativen Abschnitt beginnt die Darstellung einzelner Tänze (Kapitel vier bis Kapitel 12). Ein Aspekt, der das Sprechen und Schreiben über den japanischen Tanz wesentlich erleichtert, ist seine Nähe zum Theater.159 Fast jedem Tanz liegt eine Erzählung oder Mythe zugrunde, die nacherzählt werden kann: _____________ Stein handelte „es sich bei Kurtisanen mehrheitlich um – nach heutigem Verständnis – Kinder und Jugendliche, zwischen 12 und allenfalls 24 Jahren alt“ (Stein 1997, 9). 157 Gernig zeigt auf, in welcher Weise sich in bestimmten historischen Momenten ein Typenkanon entwickelt und inszeniert wird, und konstatiert: „Die Auswahl individueller Beispiele geht dabei eine enge Symbiose mit der Behauptung der Repräsentativität ein. Genau dieses Postulat steht am Anfang der Typenbildung.“ (Gernig in: dies. (Hg.) 2001, 279) Diese Typen-Konstruktion wird u.a. auch in (literarischen) Texten wie etwa Reisebeschreibungen transportiert und manifestiert (Gernig spricht hier auch von einer Kanonisierung und Inszenierung durch intertextuelle und intermediale Verweiszusammenhänge): „Rhetorisch zeichnen sich derartige Beschreibungen durch Tropen der Defizienz (zu kurz), durch Ontologisierungen (angeborene Liebenswürdigkeit), Generalisierungen (ewiges Lächeln) sowie Topoi der Fremdartigkeit (eigentümliche Grazie) aus“ (ebd., 284). 158 Die Angaben Kellermanns haben nur für eine bestimmte Klasse in einer bestimmten historischen Situation Gültigkeit. 159 „Da die Übergänge fließend sind, ist der aus dem Kult erwachsene, häufig von Gesang oder Rezitation begleitete Tanz nicht immer klar von dramatischen Darbietungen zu trennen. So spielt der Tanz in Nô und Kabuki eine bedeutende Rolle.“ (Lewin 19812, 464) Nô: Klassische, lyrische Bühnenkunst (Beginn etwa in der Muromachi-Zeit, 1333–1573); Kabuki: Bürgerliches Theater der Edo-Zeit (1603–1868), besteht hauptsächlich aus Schauspiel, Musik und Tanz. Näheres vgl. Ortolani 1990, 85-199.
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„Während eines oder mehrere Mädchen tanzen, spielen andere die samisen und singen die Fabel; denn die japanischen Tänze illustrieren fast immer eine Geschichte, sie sind nicht bloße Arabesken. Hieraus erklärt sich der intime Zusammenhang, der stets zwischen dem Tanze und dem Drama bestand.“ (Chamberlain 1912, 510)
Entsprechend gestaltet sich das Darstellungsschema: Die Fabel des Tanzes wird nacherzählt, die Musikbegleitung wird (ungnädig) kommentiert und die Posen, die Haltung, die Bewegungen der jeweiligen Tänzerin, ihre Umsetzung der Geschichte in Körpersprache werden beschrieben. Hierbei wird das ‚spezifisch Japanische‘ der Umsetzung stets bezeichnet und hervorgehoben, zumeist versteht der Gast hierunter eine besondere Zurückhaltung anstelle einer weiträumigen Ausgestaltung: „Der japanische Tanz verbietet realistische Darstellung und mildert sie zu bloßen flüchtigen Andeutungen, die im Rhythmus sanfter Bewegungen und entzückender Posen verschwinden.“ (Kellermann 1911, 53) Erläuternde Dialoge zwischen dem Gast und dem Vermittler sowie die Beschreibung, einzelner Sitten wie etwa das Einschenken des Sake, runden wahlweise die Darstellung ab. In Kapitel neun („Sanja no mai“, S. 68–79) wird das Personenrepertoire noch einmal erweitert: Als Zuschauer kommen der Bootsmann und der Koch des Hotels hinzu, außerdem gesellen sich noch einige Tänzerinnen zu den anderen: „einige dummglotzende Mongolenköpfe sind darunter, die mir nicht gefallen, und eine süße, kleine Kinderleiche.[160]“ (ebd., 71) Der Ich-Erzähler, ganz zahlender Gast und unbefangener Europäer, der Menschen auf unvertraute Physiognomien reduziert und in genehm oder weniger genehm einteilt, sorgt dafür, dass sein ästhetisches Empfinden nicht länger gestört wird:161 „Ich wende mich an Nao-san, und er _____________ 160 [Der Begriff „Leiche“ findet hier möglicher Weise in der ursprünglichen Bedeutung von der eines Körpers (evtl. von der eines Aussehens oder einer Gestalt überhaupt) Verwendung, was eine Reduktion auf die ‚geistlose‘ Körperlichkeit implizieren könnte. (Vgl. Grimm, Jacob & Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. VI. Leipzig 1865, Sp. 613).] 161 Auch diese – durchaus unbefangen niedergeschriebene – Haltung findet sich in zahlreichen Berichten über einen Aufenthalt in Japan. Zumeist sind es hier Männer, die ihren kritischen Blick auf die Physiognomien von Frauen werfen und diese dann in erwünscht oder unerwünscht kategorisieren. Vgl. dazu u.a. Sigrid Weigel 1990, besonders 118-148, die innerhalb des männlichen Diskurses über den weiblichen und den fremden Körper Strukturanalogien konstatiert und analysiert. Vgl. auch die Beschreibung des „Geisha-Abends“ in Adolf Muschgs Werk Im Sommer des Hasen (1965), bes. S. 280-282. Ein besonders schillerndes Beispiel in diesem Zusammenhang ist wieder Hans Anna Haunhorst, in dessen Ausführungen der Geist der Zeit unverhohlen mitschwingt: „Schon bald hatte ich allerdings in Japan das Gefühl, zwei durchaus, fast wie Rassen verschiedenen Typen gegenüberzustehen, die doch ein und demselben Volke angehörten. Der eine Typus, der des niederen Volkes, war mir vom ersten Tage an unverständlich und ist es auch geblieben. Nichts konnte mich an Frauen dieser Schichten entzücken, weder der kurz gehaltene, gepreßte Wuchs, noch der runde Schädel mit dem breiten, an den Backenknochen weitestgedehnten Gesicht, nicht dessen
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richtet einige Worte an die Mädchen, und ohne Zögern oder üble Mienen erheben sich sofort all die dummglotzenden Mongolenköpfe und gehen, nur die kleine, süße Kinderleiche darf sitzen bleiben.“ (ebd., 72) Mit Kapitel elf und Kapitel zwölf (S. 101–109) endet die Binnenerzählung: „Die Samisenen spielen zum Schlußtanz, der jedesmal getanzt wird, bevor der Abend schließt. [...] Die Geishas tanzen alle zusammen in einer Reihe – sassa yo yassa! [...] Sassa yo yassa! klingt es durch das ganze Haus, die Teehausstraße.“ (ebd., 107) Der Ausklang des zwölften Kapitels führt wieder zurück zum Beginn des Buches: „Wir steigen ins Boot, und unter endlosem: Seiyonara! O yasumi nasei! (Leben Sie wohl! Geruhen Sie wohl zu schlafen!) stößt der Nachen ab. Das Ruder wühlt in flüssigem Feuer, die Sterne glitzern am dunkelblauen Himmel, die kleine Gruppe mit dem leuchtenden Lampion verliert sich zwischen den Schatten der grauen, niedrigen Häuser, deren Dächer im Mondlicht schimmern. Morgen früh, wenn ich aufwache, werden die kleinen Tänzerinnen um meine Polster herumknien, „O heijo, o heijo“ zwitschern und sich nach meinem Befinden erkundigen.“ (ebd., 109)
Ein Tempuswechsel führt von der inszenierten Unmittelbarkeit des Abends im Teehaus hinüber zu einem von dieser Szenerie distanzierten, reflektierenden sowie erzählenden Abschnitt, in dem die Lesenden einleitend etwas über die Motivation des Schreibenden erfahren, sich so intensiv mit dem japanischen Tanz auseinander zu setzen (Kapitel 13).162 Neben der Ambition des Gastes wird auch sein Lern- und Erkenntnisprozess dargestellt, darauf wird später im Zusammenhang mit den Darstellungsstrategien noch genauer einzugehen sein.163 In Kapitel 14 wird von einem _____________ fast brutal gesunde Hautfarbe, nicht der übergangslose kurze Hals. Ganz anders stand es schon um die Frauen der japanischen Oberschicht. Weit feiner gezüchtet, fand ich bei ihnen doch häufig einen, wenn auch nur zu mäßiger Höhe, so doch oft fast steil aufstrebenden Wuchs.“ (Haunhorst 1936, ). Vgl. im Zusammenhang mit „narrativen und ikonographischen Inszenierungen des Anderen“ sowie konkreten anthropologischen Systematisierungsversuchen über Vermessungen und Beschreibungen des menschlichen Körpers: Gernig in: dies. (Hg.) 2001, 272-296. Die oben zitierte Beschreibung Haunhorsts spiegelt die von Gernig so bezeichnete, rassentypologisch und -ideologisch geprägte „Trias von Erkenntnisinteresse, Darstellungskonvention und individuellem Geschmack“, die die Konstruktion des Anderen in den ethnographischen Repräsentationen diese Zeit so maßgeblich prägt (ebd., 278; vgl. hier auch das von Gernig ausführlich besprochene Werk von C. H. Stratz Die Rassenschönheit des Weibes von 1901, der sich u.a. der Beschreibung ‚der‘ japanischen Frau widmet). 162 Sie erfahren etwas von seiner Passion, die ihn „auf viele Jahre hinaus finanziell ruiniert [hat], das weiß ich ja, aber ich bereue es nicht. Eine Leidenschaft hatte mich erfaßt, ich mußte dieses Schweben der schlanken Mädchen sehen, dieses Vibrieren des Fächers, ich mußte die Trommel hören und die kleinen drolligen Schreie der Tänzerinnen. Auch der Geruch der Teehäuser, die sauberen Matten, die fremden Zeremonien, all das verlockte mich.“ (Kellermann 1911, 110). 163 Vgl. Kapitel 3.3.6 Authentizität und Fiktion: Darstellungsstrategien.
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Fest in dem Gasthaus berichtet, in dessen Verlauf „einige alte Samuraitänze“ aufgeführt werden. Die Schilderungen erinnern stark an die Beschreibungen Bernhard Kellermanns aus der Welt des Theaters, wie sie aus dem Spaziergang bekannt sind. Die das Werk abschließende „Nachschrift“ (S. 131–134) enthält allgemeine Reflexionen über den japanischen Tanz sowie seine Entstehung und Bedeutung in der Kultur des Gastlandes. In informativer Manier werden diese Reflexionen des Verfassers wiederum im Präsens – hier als Kennzeichen einer Ergebnispräsentation – dargestellt. 3.3.3 Bilder und Imaginationen Der im Zusammenhang mit Ein Spaziergang in Japan bereits beschriebene Themenkatalog bildet auch für Sassa yo Yassa wieder einen reichen Fundus, aus dem sich der Verfasser des Textes bedient. Neue Perspektiven scheinen nicht auf, obgleich es sich um eine andere, eher informative Schreibintention handelt. In den beiden Teilen des Rahmens bilden Teehaus, Geisha, Theater und Tänze den Schwerpunkt, aber es finden durchaus auch Impressionen von Straßenszenen, Ankunft (hier: in der Welt des Teehauses), Alltag und Naturbeschreibungen ihren Platz, wenn auch auf dem sehr viel kleineren Raum weniger Seiten. Die Anordnung einzelner Motive zur Konstituierung eines Märchenreichs ist nicht mehr ganz so augenfällig wie noch im Spaziergang, fehlt aber auch in dem Werk über japanische Tänze nicht: Die Kulis „stampften wie junge Pferde auf ihren braunen Waden, als sie anhielten.“ (Kellermann 1911, 118), die Tänze entstehen „vor unseren Blicken wie auf einer Zauberbühne.“ (ebd., 54); die Geschichte, die der jeweilige Tanz erzählt „aber ist, ganz wie der Tanz, ein kleines, zartes Märchen.“ (ebd., 61). Und natürlich fühlt sich auch der Gast wie im Märchen, was in diesem Fall aus der großen Aufmerksamkeit resultiert, die ihm durch die jungen Frauen zuteil wird: „Ich nehme eine Zigarette aus der Tasche, schon hat Kojako sie mir weggenommen, um sie für mich in Brand zu stecken. Ja, ich muss sagen, hier gilt man noch etwas. Hier ist man von einer Aufmerksamkeit umgeben wie ein Fürst in den Märchen. Es ist unmöglich, einen Schritt allein zu machen, und wenn mich die Lust anwandelt, einen kleinen Spaziergang in den Hof hinunter zu unternehmen, so werde ich von zwei, drei Tänzerinnen begleitet. Es hilft kein Widerspruch. [...] Alle drei werden sie mich stützen, führen, mir den Weg zeigen, obgleich ich doch recht gut sehe und man übrigens von Sake nicht so rasch trunken wird.“ (ebd., 77f.)
Auch in Sassa yo Yassa wird also das Bild vom Märchenreich wieder bedient, hier allerdings entsteht ein Märchenreich, in dem die Requisiten
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schon deutlicher an der Realität orientiert sind: Der Mann als Mann und zahlender europäischer Gast „gilt noch etwas“. Die Sehnsüchte, die hier den Ort ihrer Erfüllung finden, sind handfester, realitätsbezogener: Der Gast ist nicht mehr Gulliver im Lande Lilliput, er ist nun Fürst in einem exotischen Reich.164 Teehäuser und Geisha Das Teehaus, von Kellermann im Spaziergang als „das Wesentliche“ (ebd., 8) bezeichnet und unverzichtbarer Bestandteil einer jeden Reisebeschreibung, die durch Japan führt, wird in der westlichen Welt gemeinhin als zweideutiger Ort konstruiert und rezipiert, der alle Intarsien des Exotischen und Fremden, die sich mit Japan verbinden, beherbergt: Die Geisha und alle mit dieser ‚Figur‘ verbundenen Imaginationen der fremden Weiblichkeit, die Musik, die Ausstattung, die ritualisierte Alltagskultur, die kunstvoll künstliche Esskultur, die mit Nahrungsaufnahme wenig gemein zu haben scheint etc. Max Dauthendey erschafft in seiner Erzählung Von Ishiyama den Herbstmond aufgehen sehen165 für die Geschichten des Teehausmädchens Hasenauge eine Atmosphäre, die sehr an die pittoreske Stimmung und die Kulisse in Sassa yo Yassa erinnert: „Stellt euch vor, wir hätten eben in einem der kleinen Gemächer, im ersten Stock des Teehauses, auf den geglätteten Strohmatten des Fußbodens, auf dünnen, nur fingerdicken seidenen Kissen an der Diele Platz genommen. Die Schiebefenster zum See sind weit offen. Hinter dem roten Lackgeländer der kleinen Veranda liegt die Seeflut. Zu beiden Seiten der Fenster zischeln Wassereschen. Ihre Blätter sind in der Abenddämmerung lang und schmal und flirren wie Libellenschwärme vor dem perlmuttfarbigen Seeglanz. [...] Vor dir auf der Diele stehen offene Lackschachteln. [...] Elfenbeinerne Eßstäbe liegen wie lange Damenhutnadeln daneben; und ›Hasenauge‹, welche dir Gesellschaft leisten soll, verpflichtet sich, dir eine ihrer Geschichten vom aufgehenden Mond zu erzählen, ehe das Essen
_____________ 164 Das Motiv des europäischen Mannes als Fürst im asiatischen Märchenreich, der von jungen Frauen umhegt wird und Sonderrechte genießt, findet sich auch noch in dem 1965 erstmals erschienenen Roman von Adolf Muschg Im Sommer des Hasen. Der Ich-Erzähler berichtet von einem Geisha-Abend: „Ich durfte mir sagen, daß ich als Prinz des Festes nach Märchenbrauch auf das schönste Mädchen Anrecht hatte.“ (Muschg 1965, 280). 165 In: Dauthendey 1987, 101. Die Sammlung Die acht Gesichter am Biwasee, der die Erzählung Von Ishiyama den Herbstmond aufgehen sehen zugehört, entstand in kurzer Zeit zwischen dem 24. Februar und dem 15. März 1910 und erschien erstmals 1911 in München, also fast zeitgleich mit Kellermanns Ein Spaziergang in Japan und im gleichen Jahr wie Sassa yo Yassa. Dauthendey befand sich zwischen 1905 und 1906 auf einer Weltreise, in deren Verlauf er 1906 in Japan den Biwasee sah, dessen „Acht Ansichten“ (das Motiv der Acht Ansichten entstammte ursprünglich aus China) unter anderem von Utagawa Hiroshige (1797–1858; auch: Andô Hiroshige) in seinen Holzschnitten bearbeitet wurden. Dauthendey waren diese Holzschnitte wahrscheinlich bekannt (vgl. auch Kapitel 4.1. Einführung).
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kalt ist [...] Dabei sollst du dazwischen von den zwei Eßstäbchen, die sie ergreift, und aus der dünnen Porzellanschale, die sie mit Reis und anderen Speisen füllt, von ›Hasenauge‹ selbst wie ein Kind immer mit ein paar Bissen gefüttert werden“ (Dauthendey 1987, 101f.).166
Das Teehaus bildet die Kulisse, in der sich das – oft genug operettenhaft konstruierte – Geschehen abspielt und in der der Fremde in die geheimnisvoll-exotische Welt Japans eingeführt wird. Dennoch wird die Beschreibung des Erlebens im Teehaus fast nie explizit mit sexuellen Anspielungen versehen, so auch nicht im vorliegenden Band. Eine solche Kulisse kann aber dennoch als eigentliches Material dienen, an dem sich die Phantasie der Lesenden entzündet, oder wie Erich Schön schreibt: „Solches Spielmaterial ist nötig für die lustvolle Bearbeitung von Wunschphantasien, die bewußt werden können, aber nicht müssen.“ (Schön in: Roters et al. (Hgg.) 1999, 193) Das Teehaus hat aber im Rahmen des exotistischen Diskurses noch weitere Funktionen, auf die Michael Siemer (1999) verweist: Der Tee-Raum ist zum einen „Ausdruck einer traditionellen Spiritualität und symbolischen Antithese zur Industrialisierung, zum anderen ist der Tee-Raum der Inbegriff einer japonistischen Haltung, die dieses alte Japan erhalten will. [...] Industrialisierung und Tee-Raum sind nur die Antipoden desselben [exotistischen] Bezugssystems.“ (ebd., 295f.). Die japanische Geisha ist in ihrer Wahrnehmung im europäischen Kontext ganz Bild geworden. In diesem Bild versammeln sich Imaginationen von Weiblichkeit gepaart mit den Stereotypen, die der europäische Mann für die asiatische Frau bereithält167 und die so ganz anders sind als die, die er beispielsweise für die afrikanische Frau vorbehält: _____________ 166 Die Beschreibung von Formen der Nahrungsaufnahme und ortsüblichen Speisen nimmt in Reisebeschreibungen und Reiseerzählungen traditionell einen gewichtigen Platz ein. Volker Mertens (2001) zeigt, inwiefern Darstellungen von Nahrungsgewohnheiten der Abgrenzung und der Fremdheitskonstruktion dienen können. Über solcherlei Darstellungen können ethnische Stereotypisierungen und/oder Diffamierungen transportiert werden. Andererseits können manche Sitten, wie hier in der Erzählung Dauthendeys das Füttern des Gastes, aber auch im Rahmen einer Konstruktion eines ‚paradiesischen‘ Zustandes Anwendung finden. Auch Mertens verweist auf einen Reisebericht, in dem der Mönch Odorico von Pordenone im Jahr 1330 von der Gewohnheit eines reichen Chinesen berichtet, sich bei Tisch von fünf jungen Mädchen füttern zu lassen, die ihm die Speisen „wie einem Spätzchen“ in den Mund legen. Der Mönch missbilligt dieses Verhalten jedoch als „Zeichen von Unselbständigkeit“ und „Gleichförmigkeit des Wohllebens“. (Mertens in: Gernig (Hg.) 2001, 46f.). 167 Hyunseon Lee, die die Bedeutung der „Madame Butterfly“ als „interdiskursives und intermediales, aber auch [...] global-populäres Diskursmaterial“ (Lee 2001, 187) hervorhebt und näher untersucht, nennt für die mediale, stereotype Darstellung der Ostasiatinnen als „(Kollektiv-) Symbol“ u.a.: „Und vor allem Madame Butterfly, also ‚Geisha im Kimono‘ (= gehorsame, sanfte, erotische Asiatin).“ (ebd., 190) Zu weiteren Intertextualitäten vgl. Schuster 1977, 60. Zur Geisha aus ethnologischer Sicht vgl. neben Stein 1997 Dalby 1985.
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„[Sie ist] die exotische, verführerische, hingebungsvoll kalte und maskenhafte Liebedienerin, deren Treue so schwer wiegt wie ein Schmetterling. [...] Sie ist erotisches Weltkulturerbe, die ewig lockende Geisha, die servile Domina, ach, ihre grazile Figur macht den Weißen Lust ohne die Angst vor dem Verschlungenwerden, die schwarze Frauen verbreiten. Loti, Puccini und ihre Epigonen haben diese schöne, verworfene Puppe, die ohne christliche Moral auskommt wie eine Kirschblüte ohne Duft, dem Stereotyp des Samurai als Theaterweib zugesellt und der europäischen Männerphantasie übereignet. Und das Wesen lebt zäh. (Schmitt 1999, 221)168
Und wie bei allen Imaginationen gibt es notwendige Bestandteile, die das Bild erst zu einem ‚richtigen‘ Bild machen. Bei der Geisha gehört dazu wesentlich die Kleidung, die den Rahmen für das Gemälde stellt: „Sie trug einen silbrig-grauen Kimono, auf dessen weichem Fluß eingewebte zarte, gleichsam eben vom Stamm gelöste Bambusblätter wie schmalstrahlige kleine Sterne zu schwimmen schienen. Mit fliederweißem Schaumgeriesel säumte der wie der Blütenkelch einer Winde sich leicht umwölbende Rand des Gewandes den schlanken Hals“ (Haunhorst 1948, 122).
Der Kimono war ein zentrales Requisit des Japonismus der Malerei der Jahrhundertwende. In Ermangelung japanischer weiblicher Modelle wurden europäische Frauen in Kimono, gemeinsam mit anderen japanischen Gegenständen, dargestellt.169 Jedoch wird auch hier deutlich, wie wenig die künstlerische Aneignung dieses Kleidungsstücks mit seiner tatsächlichen Funktion und Gestalt gemein hatte: Europäische Künstler imaginierten den Kimono als exotische Gewandung, die laszive Körperhaltung und verführerische Posen ermöglicht und unterstreicht. Diese Umdeutung des Kimono in ein ‚Negligé‘170 fand aber hauptsächlich dann statt, wenn er den Körper europäischer Frauen (kaum) verhüllte. Zur Konstruktion des Idealbildes der asiatischen Frau gehörte und gehört im Gegensatz dazu wesentlich die Diszipliniertheit des Körpers und nicht etwa entblößte _____________ 168 Pierre Lotis Roman Madame Chrysanthème (1887) gab u.a. die Vorlage für Puccinis Oper Madame Butterfly. Insbesondere diente als Vorlage: Belasco, David; Long, John Luther: Madame Butterfly. Japanische Tragödie in einem Akt. Boston 1928 (entstanden 1895, uraufgeführt 1900). Zur Rolle von Lotis Roman als „Begründung des westlichen Geisha-Schemas“ vgl. Pekar 2003, 294ff. Zum Einfluss Lotis auf das Japanbild in Europa im Zusammenhang mit Exotismus, Japonismus und Ästhetizismus vgl. Gernig 2000 sowie Goebel 2001. Zu „Opern, Operetten und exotischen Schauspielen“ vgl. Schuster 1977, 112ff. sowie Pekar 2003, 302ff. Bücher wie z.B. Japaner Mädel von Felix Baumann (Berlin 1908) transportieren die Imaginationen auf eher pseudowissenschaftliche Weise. Baumann betont, er habe sich „bemüht, die ‚kleinen japaner Mädel‘ auch in natura so eingehend als möglich zu studieren; somit hoffe ich, daß es mir gelungen ist, ein getreues, erschöpfendes und dabei dezentes Quodlibet der japanischen Frauenwelt zu geben – mit ehrlicher Sympathie für die kleinen Musmes, Nesans, Geishas usw.“ (ebd., 3). 169 Vgl. Schuster in: Gernig (Hg.) 2001, 219ff. 170 Vgl. Schuster in: Gernig (Hg.) 2001, 219.
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Körperlichkeit und Laszivität.171 Dies zeigt sich auch in den Beschreibungen der Prostituierten in den Bordellbezirken wie Yoshiwara. Erotisch anziehend waren die ‚fremden Frauen‘ Asiens grade aufgrund der körperlichen Diszipliniertheit und der vielbeschworenen Kunst der Andeutung. Sobald nun die japanische Frau ihre traditionelle Kleidung durch einen europäischen Stil ersetzt, verliert das Bild seinen Rahmen, was bei den europäischen Betrachtern Unmut hervorruft.172 Das Pittoreske der Geisha konstituiert sich wesentlich über die kunstvolle Kleidung sowie die nicht minder kunstvolle und aufwändige Frisur, ihre Gesten und ihre anmutige Körperhaltung. Bernhard Kellermann konstruiert, wie gezeigt werden konnte, in seinem Spaziergang in Japan das Land und seine Einwohner insgesamt als Sehnsuchtsraum, der kaum einen europäischen Traum außer Acht lässt. In Sassa yo Yassa gelingt es ihm dagegen, den drei Tänzerinnen eine Kontur zu verleihen, durch die sie zumindest ein Stück weit unabhängig von den europäischen Imaginationen und Idealisierungen stellenweise als Personen aufscheinen. Jenseits der leblosen Bilderwelten bekommen die Tänzerinnen Charakter und Persönlichkeit, auch wenn sie letztlich Typengestalten bleiben. Dennoch spielen Bilder und Imaginationen eine wichtige Rolle für die Darstellung der Frauen/Tänzerinnen. Diese Darstellung ist keineswegs unabhängig von bestehenden Archiven und Intertextualitäten und führt sie weiter fort. Bilder Augenfällig zeigt sich den Lesenden die Geisha als Bildwerk in den Illustrationen von Karl Walser (1877–1943). Der schweizerische Maler, Graphiker, Bühnenbildner (bei Max Reinhardt und Hans Gregor) und Buchillustrator hatte ebenso wie sein Bruder, der Schriftsteller Robert Walser, enge Kontakte zu dem Literaten- und Künstlermilieu um Paul und Bruno _____________ 171 Dazu gehört auch die zurückhaltende Köpersprache, vgl. weiter unten, die Beschreibung der Tänze durch Bernhard Kellermann. 172 Dieser Unmut wurde übrigens – wenn auch aus anderen Gründen – von vielen Japanern geteilt. So berichtet der japanische Autor MORI Ôgai in seinem Deutschlandtagebuch (1884– 1888) von dem Brief eines Freundes, der sich über die neue Mode äußert: „Von Ishiguro ist ein Brief gekommen. Er schreibt darüber, daß in Japan jetzt der europäische Stil modern sei und die Frauen in ihren Kleidern, nett gesagt, Pfauen und, weniger nett gesagt, europäischen Tintenfässern ähneln.“ (Mori [1884–1888] 1992, 178) Der Exotismus bzw. der umgekehrte Exotismus in der Mode Europas/Deutschlands und Japans schon im 17. Jahrhundert sowie die jeweiligen Reaktionen darauf spiegeln die Prestigeträchtigkeit, die die Aneignung des Fremden in bestimmten Ausprägungen und in bestimmten sozialen Gruppen erlangen kann.
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Cassirer und arbeitete seit 1899 als Buchgestalter für den Verlag Bruno Cassirer. Sein Talent als Buchillustrator wurde hoch geschätzt, und so hat Walser wichtige Ausgaben für den Cassirer-Verlag illustriert.173 Aufgrund einer privaten Tragödie, die Karl Walser in eine tiefe Depression stürzte und in Schwierigkeiten mit der Polizei brachte,174 beschloss der Verleger Paul Cassirer ihn für eine Weile aus Berlin zu entfernen und sandte ihn gemeinsam mit Bernhard Kellermann nach Japan.175 Interessanter Weise gibt es in keinem Werk Kellermanns über seine Japanreise einen Hinweis auf diesen Reisebegleiter. Informationen darüber lassen sich nur Werken über Karl Walser entnehmen. Bernhard Echte (1995) weist darauf hin, dass die Beziehung zwischen den beiden Reisenden alles andere als harmonisch war,176 dies war vielleicht einer der Gründe, weshalb Kellermann darüber schwieg. Andererseits hätte ein Reisebegleiter für die Lesenden die Illusion, für den Schreibenden die Selbststilisierung des Reisenden in der Fremde, der dort ganz auf sich gestellt seine Erfahrungen sammelt, doch sehr gestört und in der Gesamtkonzeption der Darstellung irritiert. Wie aus einem Brief an seine Schwester Fanny vom 31. Mai 1908 hervorgeht, war Karl Walser von Japan offenbar sehr beeindruckt. Neben den obligaten Klagen über den Niedergang der japanischen Kultur und die zunehmende Europäisierung bzw. Amerikanisierung, die, wie gezeigt, zum unbedingten Repertoire einer jeden Mitteilung aus Japan in diesen Jahren gehörten, idealisiert und idyllisiert er Land und Menschen. Die Erlebnisse und Eindrücke in Japan verarbeitete er in Bildern und Zeichnungen, die er nach seiner Rückkehr in verschiedenen deutschen Städten ausstellte.177 Für die Herausgabe des Bandes Sassa yo Yassa lieferte er insgesamt 27 Studien, die japanische Mädchen und Frauen in verschiedenen Situationen, Haltungen und Posen darstellen. Die Radierungen wurden wahrscheinlich nach Zeichnungen angefertigt, einige davon sind koloriert. Die schnellen Bleistiftskizzen heben sich in Ausführung und Ausdruck positiv von den kolorierten Zeichnungen ab. Die kolorierten Zeichnungen stellen _____________ 173 Vgl. Brühl 1991, 238. 174 Eine damalige Lebensgefährtin erschoss sich, nachdem sich Karl Walser von ihr getrennt hatte. 175 Vgl. Echte; Meier (Hgg.) 1990, 187. Es gibt eine Diskrepanz in den Angaben über das Jahr der Japan-Reise Kellermanns (1907) und der Walsers (1908). Beide Jahresangaben tauchen sowohl in der Sekundärliteratur zu der jeweiligen Person als auch in Selbstzeugnissen auf (vgl. den Brief Walsers an seine Schwester Fanny vom 31.5.1908 sowie die vier Postkarten an Lisa Walser vom 21.5.1908. Beide Zeugnisse wurden mir freundlicher Weise von Herrn Bernhard Echte zur Verfügung gestellt.). U.U. hängt diese Irritation mit dem Beginn der Weltreise Kellermanns im Jahr 1907 zusammen. 176 Der Bruder Karl Walsers, Robert Walser, hat 1926 in der Geschichte von den beiden Reisenden den Konflikt zwischen Kellermann und Walser ironisch ausgestaltet (vgl. Walser, Robert 1978, 403-405). Vgl. Echte 1995, 38f. 177 Zu diesen Werken, vgl. Echte 1995 sowie 1997.
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die Frauen auf seltsam leblose Weise, fast schon als Kostümfigurinen dar, während die Bleistiftskizzen mehr Individualität zeigen und wie kleine Momentaufnahmen wirken. Eine Zeichnung ist mit dem Namen einer der drei Tänzerinnen – Ichiko – versehen, eine andere stellt offenbar einen Tanz der Jüngsten dar. Im intermedialen Verhältnis von Bild und Text illustrieren alle Studien gleichzeitig den Text und bestehen darüber hinaus als eigenständige kleine Kunstwerke unabhängig von diesem.178 An manchen Stellen gehen Zeichnung, Sprache und Inhalt des Textes eine Verbindung ein, die sowohl durch die Anordnung Text/Bild als auch explizit durch den Text hergestellt wird. Auf den Seiten 61 und 62 wurde folgendem Text eine (kolorierte) Porträtskizze einer Tänzerin von Karl Walser aus dem Jahr 1908 gegenübergestellt (die allerdings wenig Stilähnlichkeiten mit den hier beschriebenen Formen der japanischen Malerei aufweist): „Ich habe stets mit einer Art abergläubischen Staunens jene hingehauchten Bildwerke betrachtet, die die Türen von Tempeln, Wandschirme, Kasten etc. schmükken. Es ist kaum etwas zu sehen, kaum etwas Farbe, kaum eine Form, ein Blatt, ein Bambusstab, ein Stiel, nichts. Und doch ist es unvergeßlich köstlich; das Spiel der Hand eines Meisters, der glückliche Moment eines Pinsels. Ich werde nicht mehr jene Woge vergessen, die ich auf einer Schiebetür in einem Tempel in Kioto sah, es war ja keine Woge, es war nur die Linie einer Woge, und ich, der ich das Meer kenne, sah das ganze Meer in dieser schlichten Linie. An diese zarten, herrlichen Ornamente erinnerte mich der Tanz der Fichte.“ (Kellermann 1911, 60f.)
Überhaupt wird von dem Schreibenden immer wieder die Seelenverwandschaft von japanischem Tanz und japanischer Malerei herausgestellt, was nicht zuletzt auch den Genuss des ‚Wiedererkennens‘ des europäischen Gastes spiegelt.179 In diesem Wiedererkennen werden Personen zu Skizzen und Bildern, und sie erfahren aufgrund dieses Bedienens eines Erwartungsschemas Zuneigung und Anerkennung: „Zuerst liebte ich Kojako, aber als ich Ichiko erblickte, wandte ich ihr meine Liebe zu, denn sie erschien mir wie eine schmale Mondsichel. Sie ist imstande, all die feinen Linien und verrenkten Posen der japanischen Meisterholzschnitte in einem einzigen Lächeln, einer einzigen Bewegung zu vereinigen.“ (ebd., 24).
Der Betrachter liebt nicht das Neue und Andere, sondern er liebt die Erwartungserfüllung.
_____________ 178 Ich danke Cordula Molsen-Theile für das anregende Gespräch über die Illustrationen Karl Walsers. 179 Zu Formen der Thematisierung von Malerei in Texten vgl. Bleckmann in: Eicher; ders. (Hgg.) 1994, 29-59 sowie Eicher in: ebd., 11-29.
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3.3.4 Wahrnehmungseindrücke Die Darstellung visueller Wahrnehmungseindrücke nimmt in Bernhard Kellermanns japanbezogenen Werken einen breiten Raum ein. Dabei arbeitet er mit folgenden Dimensionen: Versprachlichung einer (im zeitlichen Kontext durchaus als kollektiv zu kennzeichnenden) bildhaften Erwartung, genährt aus den Archiven der eigenkulturellen Tradierung in Form von bildender Kunst und Sprache; Überprüfung der Erwartung anhand des sinnlichen Erlebens des Reisenden, also entweder Bestätigung der Erwartungsbilder durch ‚Wiedererkennen‘ durch den Reisenden, d.h. (Re-)Konstruktion von erwartungserfüllenden und stimmigen Bildern mit malerisch-pittoresken Stimmungen im Text, oder: Konstruktion neuer Bilder, die gerade aufgrund der – beglaubigten – vorhergehenden sinnlichkörperlichen Überprüfung der Erwartungen durch den Reisenden Autorität gewinnen. Gegenüber den auditiven Wahrnehmungseindrücken reduziert sich das Darstellungsrepertoire auf die bereits aus dem Spaziergang bekannten Stereotype: Auch im hier besprochenen Werk findet er bestenfalls zu ironisierenden und parodierenden Einlässen: „Im kältesten Monat, kan,[180] muß die kleine Geisha im frühesten Morgengrauen bei offener Tür in den Frost und Nebel hinaussingen, bis die Sonne aufgeht. Dadurch verliert sie vollkommen die Stimme. Sie wird heiser, sie spricht nicht mehr, sie kreischt, sie singt nicht mehr, sie miaut und schreit, und somit ist sie für den japanischen Gesang geeignet.“ (Kellermann 1911, 31)
Sowohl für das japanische Theater als auch für den Tanz gehört Musik zu den grundlegendsten konstituierenden Faktoren. Bedenkt man, dass die Beschreibung dieser beiden Kunstformen ein zentraler Bestandteil von Kellermanns japanbezogenem Werk und seiner überhöhenden Konstruktion Japans als Reich der Kunst und Ästhetik ist, so scheint es recht erstaunlich wie sehr er die japanische Musik aus diesem Gesamtzusammenhang löst. Wie bereits gezeigt werden konnte, dient die Wiedergabe von Höreindrücken insbesondere der Konstruktion einer inkommensurablen kulturellen Differenz sowie einer Degradierung der anderen kulturellen Ausdrucksformen. Ethnozentrismus und kulturelle Herrschaftsansprüche – hier im Bereich der Musik – scheinen sich also bei den Hörgewohnheiten weniger leicht durch exotistische Projektionen ‚bezaubern‘ und besänftigen zu lassen als bei den Blicken auf das Fremde. Diesen Blicken wird im Folgenden noch einmal etwas genauer nachzugehen sein.
_____________ 180 [Jap. für: die kälteste Jahreszeit].
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3.3.5 Lernen durch Zusehen – Zusehen als Kunst Getreu dem Topos von den Augen als Spiegel der Seele sowie vor dem Hintergrund der Physiognomik werden den Lesenden die drei unterschiedlichen Charaktere der Tänzerinnen, die sich auch in ihrer jeweiligen Darstellung der Tänze spiegeln, anhand der Augengestalt illustriert: Kojako: „Sie ist gereift, Erfahrung und Weisheit, sie lächelt klug mit ihren braunen, sanften Augen, die ohne Lider zu sein schienen.“ (Kellermann 1911, 23) „Ichiko ist zierlich, ihre Züge sind edler als die Kojakos, sie hat ein feingezeichnetes Profil, und ihre Augen, die wie Pechtropfen glänzen, stehen auffallend schräg gegeneinander.“ (ebd., 24) Fukuko: „Ihr Kopf ist rund, die Backenknochen sind stark herausgedrückt, die Backen aufgeblasen, Simpelfransen hängen ihr bis herab auf die großen runden Augen, die immer fiebrisch und wild glühen.“ (ebd., 27)
Die Augen dienen auch im vorliegenden Text darüber hinaus als Erkenntnisorgan. Deutlicher als im Spaziergang wird in Sassa yo Yassa das Zusehen als eine Kunst gestaltet, die Erkenntnis ermöglicht und gleichzeitig Kenntnis voraussetzt. Das Lernen über die andere Kultur und ihre Erscheinungsformen findet hier wesentlich über das ‚richtige‘ Zusehen statt, das genau und aufmerksam selbst kleine, angedeutete Zeichen wahrnehmen muss, denen der Zeichenvorrat der Sprache nur mit Mühe gerecht werden kann:181 „Überdies gibt diese Beschreibung ein zu klares Bild. Jene absonderlichen Bewegungen sind so kurz und flüchtig, daß sie jeder oberflächliche Beobachter übersehen müßte.“ (ebd., 53) „Aber diese Andeutungen fügen sich rhythmisch in den sanften Fluß des Tanzes ein und werden nie zu wirklichen Darstellungen. Dem Uneingeweihten würden sie nur wie sonderbare und groteske Tanzfiguren ohne weitere Bedeutung erscheinen.“ (ebd., 98)
Erkenntnis durch Zusehen verlangt also auch Kenntnis. Der Zuschauende muss in dem Bild, das er betrachtet, lesen können, um es richtig zu interpretieren. Und so wird der Gast zum Vermittler für die Lesenden, der den Blick auf das Wesentliche eines sprachlich vermittelten Bildes lenkt: „Schöne Posen und sanfte, entzückende Bewegungen. Nichts erinnert an die Darstellung einer Schlacht, die Genda wiedergibt. Nur ein einziges Mal stampft
_____________ 181 Nach Gert Mattenklott beruht die „Kunst des Sehens, durch die es vom natürlichen Hingucken unterschieden ist, [...] auf dem Vermögen, wegblicken zu können. [...] Die Kunst des Sehens, das ist die List der kleinen Silberblicke, die den Winkel immer wieder etwas erweitern oder verschieben: ein Stück über jenen Sektor hinaus, den wir bewußt sehen wollen.“ (Mattenklott 1982, 79).
3.3 Sassa yo Yassa – Der Gast als Lernender und Vermittler
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er[182] leise mit der Ferse auf. Vielleicht sieht ein Japaner im Spiel des Fächers all die Tausende von Rossen und Reitern und das Schlachtengetümmel, von dem die Ballade singt, vielleicht sieht er in einer Bewegung des Armes, daß Genda dahinsprengt, und in den schönen, ruhigen Augen der Tänzerin vielleicht den Heldenmut Gendas und seinen Sieg.“ (ebd., 128)
Folgerichtig präsentiert der Gast am Ende des Bandes über die japanischen Tänze den Lesenden das Ergebnis seiner langen und intensiven Beobachtungen, die ihn zu der Frage nach den Quellen des japanischen Tanzes geführt haben: „Je länger ich das japanische Volk beobachtete und je mehr mein Auge für sein absonderliches und fremdes Gebaren geschult wurde, desto eindringlicher drängte sich mir der Gedanke auf, der eine Lösung dieser Fragen zu enthalten schien. Ich sah das japanische Volk in seinen Theatern, bei seinen religiösen Festen, bei seiner Arbeit und in seinen Häusern, und p l ö t z l i c h e n t d e c k t e i c h i n a l l e m d e n T a n z. [sic].“ (ebd., 132) „Oder wenn du die feierlichen Zeremonien der Japaner beobachtest, ihre Verneigungen, das Reichen einer Schale, das Entgegennehmen eines Geschenkes, wenn du siehst, wie ein Japaner nur sitzt, ist nicht selbst das eine Art Tanz, ein stiller, gebundener Rhythmus, sagst du nicht zu dir: hier sitzt ein Tänzer?“ (ebd., 134)
In dieser Konzeption nähert sich der Gast mit seinen Verstehensbemühungen der ganzen Kultur, indem er sich einer künstlerischen Ausdrucksform, dem Tanz, zuwendet. In der Betrachtung findet er dann in allem, was er sieht, die Figur des Tanzes, dieser wird Ausgangs- und Zielpunkt seiner Verstehensbemühungen, wobei das Hinsehen hier, im Gegensatz zu dem Wahrnehmungsschema des Flaneurs im Spaziergang, durchaus ein anspruchsvolles, suchendes und intentionales ist. Aus einzelnen Beobachtungen werden allgemeine Schlüsse über ‚das japanische Volk‘ gezogen: „In welch hohem Maße dieses Volk von künstlerischen Instinkten durchdrungen ist, zeigt sich darin, daß es eine so einfache und alltägliche Beschäftigung wie die des Wäschebleichens, zum Thema eines Tanzes wählen konnte.“ (ebd., 55) „Und die Ursache für die Allgemeinheit des Tanzes, die Liebe für ihn und die Geschicklichkeit ist die: d i e s e s V o l k i s t e i n V o l k v o n T ä n z e r n. [sic]“ (ebd., 134)
Auch die Fabeln und Mythen, die den Tänzen zugrunde liegen, scheinen mithin die Seele des Volkes widerzuspiegeln: „Die Geschichte dieses Tanzes ist höchst merkwürdig und echt japanisch, denn wie sollte ein anderes Volk soviel Phantasie mit solcher Naivität verbinden können?“ (ebd., 68)183
_____________ 182 [Thema ist hier die tänzerisch dargestellte Erzählung des Prinzen Genda von der Schlacht am Fluss Uji, wobei die Tänzerin Ichiko den Genda darstellt.] 183 In diesem Zusammenhang soll darauf hingewiesen werden, dass die Mythe des Verbergens und des Wiederauftauchens der Sonnengöttin Ama-terasu Oho-mi-kami, die dem hier von
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Wie schon für die Darstellung und Bewertung des traditionellen japanischen Theaters durch Bernhard Kellermann gezeigt werden konnte, zeigt sich auch hier wieder, dass eine spezifische Kunstform einer Kultur einer typisierend nationalkulturellen Konstruktion (von ‚dem‘ japanischen Volk, seiner wesensmäßigen Eigenart) zugeordnet wird.184 Diese Zuordnung bringt es mit sich, dass sowohl die Kunstform als auch die Kultur, der diese entstammt, nur auf der Grundlage bereits sehr konkreter vorstrukturierter Vorstellungsbilder betrachtet und gedeutet werden bzw. werden können. 3.3.6 Authentizität und Fiktion: Darstellungsstrategien Ethnographische, literarische und künstlerische Botschaften sind eben nicht nur Funktionen von Authentizität, sondern auch von leserorientierter Überzeugungskraft.185
Der Band Sassa yo Yassa ist ein Werk über japanische Tänze und muss sich daher (noch) stärker den Erwartungen der Lesenden an Authentizität des Dargestellten, Informationsgehalt und sachliche Richtigkeit stellen als dies für die Reisebeschreibung gilt. Die Darstellung in dem hier untersuchten Werk ist jedoch, wie gezeigt werden konnte, nicht auf berichtende oder erläuternde Informationen über einen Teilausschnitt einer anderen Kultur beschränkt. Diese sind vielmehr in einer Weise präsentiert, die Unmittelbarkeit, Erlebnis und Sinnlichkeit suggeriert, wobei eine besondere kompositorische Sorgfalt erkennbar wird: Die Lesenden werden Teil eines intimen, exklusiven Geschehens, wobei das Schreibende Ich (auf der in_____________ Kellermann gemeinten Tanz zugrunde gelegt wird, sich in der Übersetzung der Ursprungsmythe von Karl Florenz etwas anders ausgestaltet als in der andeutenden, leisen tänzerischen Darstellung und der von Kellermann gelieferten Fabel zu dem Tanz. Entgegen dem exotistischen europäischen Bild von der Sanftheit und Reinheit der japanischen Mythen und Fabeln lockt nicht die Schönheit und die Kunst der Tänzerin die Sonnengöttin aus ihrem Versteck hervor, sondern das Lachen der Götter, als diese Ama no Uzume (die Tänzerin) beobachten. Diese „hängte sich den Himmlischen Keulenbärlapp vom Himmlischen Kagu-Berge als ein Handstützband um, und machte sich [die Blätter] des Himmlischen trefflichen Spindelbaumes zum Kopfschmuck [...] und legte ein Schallbrett vor die Tür der Himmlischen Felsenwohnung und stampfte darauf, daß es ertönte, und tat als ob sie in Besessenheit eine göttliche Inspiration habe, zog die Warzen ihrer Brüste heraus und zog den Saumband ihres Gewandes bis an die Scham herab. Da schütterte das Gefilde des Hohen Himmels und die achthundert Myriaden Götter alle zusammen lachten.“ (Florenz 1919, 39f.). 184 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Syndram in: Dyserinck; Syndram (Hgg.) 1988, 229243. 185 Bachmann-Medick in: dies. (Hg.) 20042, 51.
3.3 Sassa yo Yassa – Der Gast als Lernender und Vermittler
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haltlichen Ebene des Textes) aufgrund seiner Sachkenntnis und seiner Beziehungen als Kulturvermittler fungiert. Lassen sich auf inhaltlicher Ebene vielfach Authentizitätsnachweise finden, die die Autorität des Schreibenden Ichs beglaubigen, wie etwa bestimmte kompetente Zuträger, Informationen über den Lernprozess des Schreibenden, geläufiger Umgang mit Sitten und Gebräuchen, etc., finden sich auf formaler Ebene, der Ebene der schreibenden Vermittlung der Kenntnisse, hingegen eher Strategien, die auf Literarisierung und Fiktionalisierung verweisen. Dazu gehören u.a. die Makrostruktur des Textes (zweiteiliger Rahmen sowie Binnenerzählung), die Synchronisierung der Zeit durch das bestimmende Tempus, die Einführung eines überschaubaren Figurenrepertoires, das der ideale Leser wiedererkennen kann, vielfach dialogische Struktur, etc. Die Vermittlung von Sach- und Hintergrundinformationen über den gewählten Teilausschnitt der anderen Kultur findet in der Gesamtkonzeption induktiv statt: Eine eingeführte Person oder Situation bildet etwa den Anlass, allgemein etwas über die Sitte des Teetrinkens oder die kulturspezifischen Regeln der Rechnungsbegleichung zu vermitteln, ein spezielles kakemono186 wird zum Gesprächsanlass zwischen den Beteiligten, die bis zu einem gewissen Grade vertraut gewordene Unterhaltungskünstlerin tanzt einen bestimmten, ihrem Charakter entsprechenden Tanz,187 und so fort. Der Autor geht aber stellenweise auch deduktiv vor, etwa im Rahmen der Ausführungen über die japanische Geisha. Hier werden ausdrücklich exemplarische Schicksale konstruiert, um etwas Allgemeines darzustellen: „Der Teehausbesitzer wird sie die Erste, die Reichste nennen, oder er wird sie heißen Umeka, der Wohlgeruch der Pflaume [...] ‚Weißer Schnee‘ oder ‚Schildkrötenfichte‘ wird alsdann an die Gasthäuser und reichen Leute der Stadt einen Einführungsbrief senden“ (Kellermann 1911, 34f.). Die Illusion eines realen Schicksals oder einer konkret erlebten Situation wird in diesem Fall nicht aufrechterhalten oder intendiert. Für beide Vorgehensweisen kann aber festgehalten werden, dass die Berücksichtigung des Interesses der Lesenden und die Antizipation von Lesebedürfnissen wohl bestimmend für die gewählte Darstellungsform gewesen sein dürfte, denn auf diese Weise gelingt eine Verbindung von Information (deren sachliche Richtigkeit hier nicht weiter beurteilt werden soll) und Unterhaltung sowie Phantasieanregung. Es ist bemerkenswert, dass an entscheidenden Stellen des Werks die Authentizitätsnachweise in literarisierender Form präsentiert werden. Lite_____________ 186 Ein Bild, das in speziellen, dafür vorgesehenen Nischen eines traditionellen japanischen Raumes aufgehängt und entsprechend der Jahreszeiten oder besonderer Anlässe ausgewechselt wird. 187 Wobei die Tänzerin durch ihre Persönlichkeit den Tanz charakterisiert und der Tanz mit seiner Fabel die Tänzerin.
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rarisierend soll hier nicht im Sinne von unwahr oder erfunden verstanden werden. Ob Bernhard Kellermann im Verlauf seiner Reise bestimmte Beziehungen aufgenommen hat oder an bestimmten Orten länger verweilte, ob manche Szenen so oder anders stattgefunden haben, soll hier nicht zur Debatte stehen. Insofern werden auch Fragen nach ‚erlebt oder nichterlebt‘, ‚konkrete Erfahrung oder nicht‘ weder diskutiert noch entschieden.188 Der Begriff Literarisierung bezieht sich hier eher auf die Darstellungsform, also auf die Komposition des Textes, sowie auf die dadurch vermittelte implizite Aufforderung an die Lesenden, sich auch emotional auf das Geschehen einzulassen. Der Fokus richtet sich somit eher auf die Wechselwirkung von Gestaltung und Rezeption in der vorliegenden Textgestalt, einer Mischform, die Informationen über einen Teilausschnitt einer anderen Kultur in einen unmittelbar erzählenden Rahmen einbettet. Exemplarisch soll dieses Vorgehen des Autors anhand des im zweiten Teil des Rahmens, insbesondere in Kapitel 13 „In Araki-ya“ (S. 110–116), nachvollzogenen Lernprozesses des Gastes illustriert werden. Konstruktion einer ethnographischen Situation Dieser Lernprozess wird folgendermaßen geschildert: Der Gast drückt nach zahlreichen Besuchen im Teehaus der wohlbekannten kleinen Stadt seinen Wunsch aus, mehr über den japanischen Tanz zu erfahren. Der Wirt, Nao-san, stellt einige Räume seines Gasthauses zur Verfügung. Kojako, eine der drei Tänzerinnen, kommt nun regelmäßig gemeinsam mit ihrer Lehrerin in das Gasthaus: „Dann begann die Lehrerin, eine Blinde, den Text des Tanzes so lange herzusagen, bis Nao-san ihn niedergeschrieben hatte.“ (ebd., 112) Im Anschluss folgt eine mühsame Übersetzungsarbeit. „Nachdem mir Nao-san den Tanz verständlich gemacht hatte, begann Kojako ihn zu tanzen. Wie schön und ernst sie tanzte! Sie tanzte wie im Teehaus, mit der gleichen Aufmerksamkeit. Sie erschien dann unendlich schön, wie eine Priesterin ihrer Kunst. Und sie wurde nicht müde, ihn wieder und wieder mit dem gleichen Ernste zu wiederholen.“ (ebd., 115)
Dieser Prozess wird wieder von vielen Zuschauern und Neugierigen begleitet. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die geschilderte Szene als Darstellung einer ethnographischen Situation mit allen notwendigen Be_____________ 188 Sie stehen hier auch insofern nicht im Mittelpunkt des Interesses, da jede Erfahrung der Fremde, zweifellos aber jede schriftliche Verarbeitung von Fremderfahrung immer schon Fiktionalisierung, Interpretation und Deutung in sich trägt. Vgl. u.a. Jardine, Alice: The Demise of Experience: Fiction as stranger than truth? In: Docherty (ed.) 1993, 433-443.
3.3 Sassa yo Yassa – Der Gast als Lernender und Vermittler
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standteilen:189 Das Erkenntnisinteresse richtet sich zwar nicht auf das Erfassen und Verstehen einer ganzen Lebensform, der befragte Teilausschnitt dieser Kultur und das Ergebnis der Befragung wird allerdings im Anschluss und als Konklusion der Ausführungen durchaus als stellvertretend für das Ganze einer Kultur, so wie es der Gast versteht, präsentiert.190 Als Feldforscher findet das Schreibende Ich Unterstützung durch die Zuträgerinnen oder Informantinnen (die Tänzerin Kojako und die blinde Lehrerin) und durch den Vermittler Nao-san. Auch die Zuschauer, die diesen Prozess umrahmen, fehlen nicht. Der Gast (als Feldforscher) wurde in seiner Doppelrolle als Fremder und Kenner schon mehrfach beschrieben. Im Folgenden sollen daher die Vermittlerfigur (der Wirt), die blinde Zuträgerin sowie der ideale Zuschauer, der Großvater (der Vater des Wirtes), näher in den Blick genommen werden. Vermittler und Zuträger Nao-san, der junge Wirt, spielt in Sassa yo Yassa eine wichtige Rolle, da er gemeinsam mit dem Gast sozusagen die Fugenstelle zwischen den beiden Kulturen herstellt: Nur über diese schmale Brücke verläuft die verbale Kommunikation mit den Angehörigen der japanischen Kultur.191 Wie gestaltet sich nun der Übertragungsprozess der Fabeln der Tänze, die einen so großen Raum im vorliegenden Band einnehmen? Die Lehrerin erzählt die Geschichte, dann erfolgt die schriftliche Fixierung: „Nao-san schrieb zuerst den Tanz in Ideogrammen nieder, dann in lateinischen Buchstaben, dem Laut nach, und hier begann unsere gemeinschaftliche Arbeit. Mein Japanisch war mehr als unzulänglich und Nao-sans Englisch war nicht viel besser. Aber mit Hilfe einiger Wörterbücher kamen wir nach stundenlanger Arbeit zurecht.“ (ebd., 112) „Nao-san übersetzte. Es kostete ihn große Anstrengung. Sein Kopf wurde ganz weich, nach einiger Zeit sahen seine Augen betrunken aus, nach einigen Stunden wahnsinnig. Gott erbarme sich, Nao-san, du wirst den Verstand verlieren. Aber Nao-san lächelte stets auf meine Frage, ob er müde sei, knetete seinen weichen Kopf und entschuldigte sich wegen seines ‚poor English‘. Jede Bemerkung, die ich machte, mußte er den anderen übersetzen, denn sie waren neugierig zu hören, was der Fremde mit seinem weißen Gesicht zu ihren Tänzen sagte.“ (ebd., 114)
_____________ 189 Hier findet in gewissem Sinne eine Annäherung der Literatur an die Wissenschaft, die Ethnologie, statt. Zur umgekehrten Annäherung des wissenschaftlichen (ethnologischen) Diskurses an den literarischen Diskurs über den Prozess der (Selbst-)Reflexion der Verschriftlichung, vgl. u.a. Katschthaler in: Lichtmann et al. (Hgg.) 1996, 67ff. 190 S.o. Kapitel 3.3.5: Lernen durch Zusehen – Zusehen als Kunst. 191 Abgesehen von einigen wenigen Versuchen des Schreibenden Ichs in der Sprache des Gastlandes, die auch im Spaziergang geschildert werden.
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Eine solche Aufzeichnungssituation war im Kulturkontakt zwischen Europa und Japan nicht ungewöhnlich. Viele Texte über Japan entstanden auf diese Weise, zumal die Arbeiten oft von Kaufleuten geschrieben wurden, die des Japanischen nur sehr ansatzweise mächtig waren. Die beschriebene Szene gemahnt außerdem an eine ideale ethnographische Situation, da offenbar ein oral tradiertes Kulturgut niedergeschrieben und damit festgehalten und unabhängig vom Gedächtnis tradierbar gemacht wird. Auf den ersten Blick könnte der Eindruck entstehen, dass damit eine ausgesprochen literale Kultur zu einer oralen stilisiert wird, gäbe es nicht die zahlreichen Hinweise des Verfassers auf seine Unfähigkeit, die chinesischen und japanischen Schriftzeichen zu dekodieren.192 Im Zusammenhang mit der zentralen Zuträgerin wird die Vermischung von Authentizitätsnachweisen und literarisierenden Elementen in dieser Konstruktion einer ethnographischen Situation noch am deutlichsten sichtbar:193 Fundus und Quelle für eine nicht enden wollende Flut an Geschichten, Fabeln und Mythen, die den Tänzen zugrunde liegen, ist eine blinde Lehrerin, die folgendermaßen beschrieben wird: „Die Lehrerin sprach langsam und blinzelte häufig. Sie hatte ein großes blindes Auge und ein zusammengekniffenes kleines. Zuweilen steckte sie den Finger in den Mund und rüttelte an ihrem langen gelben Zahn.“ (ebd., 113)
Diese Beschreibung ist der einzige Hinweis auf das äußere Erscheinungsbild der Lehrerin, wobei insbesondere der lange gelbe Zahn bei den deutschen Lesenden Assoziationen mit einer Hexe aus einem Märchen hervorrufen dürfte. Dasselbe Attribut ist wohl auch dafür verantwortlich, dass sich in den Lesenden intuitiv das Vorstellungsbild von einer alten Frau entfaltet. Dieser Eindruck wird noch durch ihren großen Wissensschatz, ihre Position als Lehrerin und die Ehrfurcht, die ihr die anderen entgegenbringen, unterstützt. Es sind in der europäischen Tradition, in den europäischen kulturellen Archiven, insbesondere die Älteren, denen in klischeehafter Zuschreibung die Rolle der verlässlichen Zuträger und Zuträgerinnen von überliefertem Wissen zugewiesen wird: „In der älteren Volkskunde und insbesondere in der historischen Erzählforschung war kaum ein Topos so verbreitet wie dieser: Wolle einer etwas Tüchtiges aus dem Volke herausholen, so müsse er sich an die Ältesten im Dorfe wenden. In deren Köpfen ruhe jeweils eine Bibliothek des kollektiven Erfahrungswissens,
_____________ 192 Auf die Funktion dieser so oft betonten Unzulänglichkeit des Schreibenden wurde schon im Zusammenhang mit dem Spaziergang verwiesen (vgl. Kapitel 3.2.1 Themen und Gestaltungsform). Vgl. auch Kapitel 5.4 Die ‚fremde Schrift‘. 193 Klaus R. Scherpe verweist darauf, dass „in der zeitgenössischen [um die Jahrhundertwende; 19./20. Jh.] Beschreibungspoetik die Grenzen zwischen exotistischen und ethnographischen Deskriptionen oft nicht genau zu markieren [waren].“ (Scherpe in: Honold; Scherpe (Hgg.) 2000, 33).
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die ältesten Geschichten müßten notwendigerweise in den grauesten Gehirnen gespeichert sein.“ (Schenda 1993, 147)
Diese Funktion als Speicher kollektiven kulturellen Wissens erfüllt die Lehrerin zur Befriedigung des Gastes ganz ausgezeichnet. Sie erweist sich als unerschöpfliche Quelle für die den Tänzen zugrunde liegenden Mythen, Erzählungen und Possen: „Es gibt ungefähr 200 Tänze (so wurde mir gesagt) und die wenigsten davon sind gedruckt, sie leben in vielen tausend Köpfen von Tänzerinnen und Lehrerinnen ein sicheres Dasein. [...] Zuweilen rannte sich die Erzählerin in einem endlosen Romane fest, und wir konnten sie mit aller Gewalt nicht mehr davon abbringen. Welch ein Gedächtnis sie hatte! Sie rezitierte endlose Zwiegespräche, die bis auf die kleinsten Kleinigkeiten ausgeschmückt waren.“ (Kellermann 1911, 112; 114)
Eine blinde Frau als Traditionsträgerin ist in der japanischen Kultur nichts ungewöhnliches. Blinde Menschen haben „seit dem 13. Jahrhundert [...] eine besondere Rolle in der japanischen Kultur gespielt – so wirksam, daß 1976 der Schriftsteller MATSUDA Osamu die Behauptung wagte: „‚Den Blinden und der Blindheit in Japan nachgehen heißt die Sehenden Japans, ja Japan überhaupt verstehen.‘“ (zit. n. Fritsch 1996, 9) Blinde Menschen sind in Japan insbesondere auch als Träger und Überlieferer kultureller Werte bekannt und geschätzt.194 Rudolf Schenda zeigt, dass es auch in Europa Berichte über blinde Erzähler gibt, die über einen immensen Fundus an Erzählmaterial verfügen.195 Diese Erzähler wurden von Feldforschern ‚entdeckt‘ und ihr Erzählgut wurde aufgezeichnet.196 Aufgrund solcher Assoziationen, die vor dem Hintergrund des (literarischen) Weltwissens der Lesenden entstehen können, kann die geschilderte Lern- und Erkundungssituation trotz märchenhafter Elemente auf die Lesenden überzeugend wirken.
_____________ 194 „Die Entstehung und Überlieferung eines der größten literarischen Werke, des monumentalen Heike-monogatari-Epos, geht auf Blindentradition zurück, und weite Bereiche der Musik sowie der Naturheilkünste wurden von ihr geprägt. [...] Ermöglicht wurde der große Wirkungsbereich der Blinden durch die Monopolisierung ihrer Berufe und durch den Zusammenschluß in gildenartigen Organisationen.“ (Fritsch 1996, 9). 195 „Und selbstverständlich war Strömberg ein Weiterträger von Geschichten, die er ohne literarisches Medium mündlich von Seeleuten und anderen Erwachsenen gehört hatte. Mit seinem guten Gedächtnis ist dieser Blinde ein Zeuge nicht nur für das Funktionieren auraloraler Transmission (vom Ohr zum Mund), sondern auch für die geistige Kraft sensorisch deprivierter Menschen.“ (Schenda 1993, 137). 196 Vgl. Schenda 1993, 136ff. sowie ders. Erzählen und Feldforschung, 1993, 239-262.
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Zuschauer In Ein Spaziergang in Japan ist das Zusehen einerseits illustrativ für die Haltung der Distanz gegenüber der fremden Kultur. Im Zusammenhang mit dem Theater weist das Zusehen aber darüber hinaus und gibt dem Reisenden die Möglichkeit, sein Vorverständnis und seine Erwartungshaltung zu bestätigen, sozusagen das Bild, das er sich von der Kultur gemacht hat, auf der Bühne wiederzusehen. Auch in Sassa yo Yassa spielt das Zusehen eine wichtige Rolle, ist aber für den Gast eher Mittel der Erkenntnis und der Verstehensbemühungen. Das Zuschauen wird in der hier untersuchten Szene wieder in mehrfacher Weise gestaltet: Der Gast, der den Tänzerinnen zuschaut, die Einheimischen, die dem Fremden zuschauen, und so fort. Die ethnographische Situation wiederum ist wie eine Szene im Theater gestaltet: Sie findet auf einer Art Bühne statt, die von Zuschauern umrahmt ist; die Schiebetüren des Raumes, in dem sich die Beteiligten versammeln, stehen nach allen Seiten hin offen:197 „Die ganze Familie sah uns zu. Es waren oft zwanzig Personen, denn außer der Familie saßen noch die Mägde da, der Koch, der Hausbursche und Nachbarn. Sie saßen auf der Schwelle des anstoßenden Raumes, und nur die Großmutter und die junge Frau des Wirtes kamen auf meine Bitte hin zuweilen herein. Natürlich war auch Kintaro, die ‚Sardine‘, dabei; er hockte wie ein kleiner Frosch am Boden und stützte das Gesicht in die Hände, während Nao-sans Geschwister abseits saßen, ohne sich zu bewegen.“ (Kellermann 1911, 112f.)
Zum idealen Zuschauer wird schon auf den ersten Seiten des Bandes der Großvater stilisiert: „Da sitzt er, die Hände in die Ärmel zurückgezogen, wie die Japaner es tun, um die Arme ausruhen zu lassen, und blickt hinauf zum o tzuki sama, dem erhabenen Mond, und die Haltung seines geschorenen Kopfes, die Linie des Nackens, die Ruhe seiner Pose, alles verrät den Meister im Betrachten und die Übung eines Lebens im Hinsehen.“ (ebd., 6f.)
Weisheit und Ruhe spiegeln sich hier, Weisheit, die nicht zuletzt durch die „Übung eines Lebens im Hinsehen“ erlangt wurde. Der Alte ist ein Meister der Kunst, in der sich auch der Gast übt: „Der Großvater, der Meister im Zusehen, sitzt noch immer und betrachtet.“ (ebd., 47) Er lässt sich nicht ablenken von den Vergnügungen und steht stellvertretend für das, was die Menschen des Westens mit fernöstlicher Kontemplation und Ausgeglichenheit verbinden: „Es ist spät in der Nacht. Nao-san kichert, der Koch lacht, der Bootsmann mit dem kupferroten Schädel blinzelt _____________ 197 Auch hier, wie schon bei der Betrachtung der Kultur im Theaterraum (vgl. Kapitel 3.2.6 Die Fremde auf der Bühne), vollzieht sich der Lern- und Erkenntnisprozess wieder aus einer ‚gesicherten‘ Position heraus. Der Erkenntnisraum, die Beteiligten und die Rolle des Lernenden sind klar definiert und nicht dem Chaos des unvertrauten Alltagslebens unterworfen.
3.3 Sassa yo Yassa – Der Gast als Lernender und Vermittler
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schläfrig. Nur der Großvater sitzt ruhig und gesammelt wie am Anfang.“ (ebd., 101) Die an dem Lernprozess aktiv oder passiv Teilnehmenden sind – wie im Theater – zugleich Zuschauer und Zuhörer. Zuschauer sind sie, indem sie die merkwürdige Situation mit dem Fremden betrachten, indem sie den Tänzen zusehen und den Bemühungen Nao-Sans, der dabei angelegentlich das Gesicht verzieht. Zuhörer sind sie, indem sie den Erzählungen der blinden Lehrerin lauschen. Und auch hier wird der Großvater wieder als ein Meister der gesammelten und konzentrierten Wahrnehmung dargestellt: „Der Großvater aber liebte es, lange Stunden in einem verborgenen Winkel für sich allein zu sitzen und zu lauschen.“ (ebd., 113) Auch die Großmutter (die Mutter des Wirtes) zeigt dieses konzentrierte Verhalten, allerdings spiegelt es bei ihr weniger Weisheit als Naivität und distanzlose Faszination: „Ich mußte oft über die Großmutter, deren Zähne schwarz gebeizt waren, lächeln. Sie saß stundenlang mit offenem Munde, ohne Bewegung, und starrte der Erzählerin ins Gesicht. Sie blickte direkt in den Mund der blinden Lehrerin hinein, dahin, wo die Worte herkamen.“ (ebd., 113)
Hier scheint die Vermittlung nicht den Weg „Von Mund zu Ohr“198 zu nehmen, sondern direkt ‚ins Auge‘. All diese Faktoren verstärken den Eindruck von einer Theater-Szene, wobei auch das Erzählen, wie Rudolf Schenda zeigt, eine große Nähe zum Theater aufweist: „Erzählen bedeutet nicht nur: einen irgendwie strukturierten, nicht alltäglichen Text von einer gewissen Länge hervorzubringen und ihn aus dem Bereich der ‚langue‘ in den der ‚parole‘ zu bringen, einen Text, den wir dann irgendwann auf dem Papier fixiert sehen. – oder auch nicht. Erzählen ist zumeist das Vortragen dieses Textes vor einem Publikum, also ein Akt der Performanz und folglich mit einer Stegreif-Theateraufführung vergleichbar. Die Sprechweise der ErzählerInnen schmiegt sich dabei den wechselnden HeldInnen-Rollen und dem jeweiligen Zuhörerkreis an.“ (Schenda 1993, 201)199
Wie schon in Ein Spaziergang in Japan wählt Bernhard Kellermann einen Teilausschnitt einer Kultur, (dort das Theater, hier der Tanz und die zugrunde liegenden Fabeln) um ein bestimmtes Vorverständnis von dieser Kultur bestätigt zu finden und noch weiter zu befestigen. Das Vorverständnis wird als Erkenntnis und Konklusion aus seinen Erfahrungen dargestellt. Der Gast liest ebenso wie der Reisende in den jeweils ausgewählten Kulturprodukten, um daraus eine Interpretation für das Ganze der japanischen Kultur zu konstruieren, die jedoch die Fremdheit dieser _____________ 198 Vgl. Schenda 1993. 199 Zum Zusammenhang von Theater und Erzählen bezieht sich Schenda noch auf Maja Bośković-Stulli, die das „Zeichensystem des Theaters mit dem eines öffentlichen Erzählvortrags verglichen“ hat (Schenda 1993, 202).
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keineswegs reduziert. Hier sind es die Fabeln der Tänze und der Tanz selbst, die zum Bild und zum Erklärungsmodell für die Kultur werden, und die Kultur, so wie sie im Vorverständnis als Bild existiert, wird zum Erklärungsmodell für die Ausprägung der Tänze. Das lässt wenig Raum für Neues. Die japanische Kultur wird in Sassa yo Yassa nicht – wie noch im Spaziergang – über Fiktionalisierung und Literarisierung einer konkreten Erfahrung als Sehnsuchtsraum konstruiert. Vielmehr findet hier der vorkonstruierte und vorstrukturierte Sehnsuchtsraum seine Bestätigung durch Informationen, die über Literarisierungsstrategien präsentiert und im Sinne des Sehnsuchtsraums interpretiert werden. Im Verhältnis zu der literarischen Reisebeschreibung Ein Spaziergang in Japan ist der Projektionsraum für die Wunschphantasien der Lesenden kleiner und umgrenzter. Er ist aber insgesamt aufgrund der bestehenden europäischen kulturellen Archive, Imaginationen und Intertextualitäten eindeutiger konnotiert, wenn auch in der Darstellung Kellermanns so gut wie keine erotischen Anspielungen zu finden sind. Die Überschaubarkeit des Projektionsraumes auf inhaltlicher Ebene sowie die Komposition des Textes, die für die Lesenden unterschiedlichste Formen des Gebrauchs anbietet, präsentiert den Lesenden zum einen eine Fülle an konkret beschriebenem Phantasiematerial (Informationen), zum anderen die Möglichkeit der affektiven Teilnahme am Geschehen, womit der Informationstext auch zum Ausgangspunkt einer lustvollen Bearbeitung von Wunschphantasien werden kann.
3.4 Abenteurer – Der Gestrandete in der feindlichen Fremde 3.4.1 Einführung Bernhard Kellermann hat in seinem Werk die ‚Fremde Japan‘ nur in der Erzählung Abenteurer in einer Weise verarbeitet und gestaltet, die keine expliziten Bezüge zu seinen eigenen Erfahrungen und seiner Reise herstellt. Handlung und Figuren sind fiktiv, es gibt keinerlei Authentizitätsnachweise, die als Beglaubigungsstrategien dienen oder die Spekulationen über gelebte Erfahrungen Raum lassen würden. Im Mittelpunkt der Erzählung steht das Schicksal des Protagonisten Harris, dessen Wahrnehmungsbereich durch die gewählte Erzählperspektive (weitgehend personale Erzählsituation) zur Darstellung kommt. Die Darstellung von Informationen über die andere Kultur sowie die Beschreibung konkreter eigener Erlebnisse stehen nicht mehr im Vordergrund: Der direkte Bezug des Geschriebenen zu einer erfahrenen Wirklichkeit ist, im Gegensatz zu den eher faktualen Textformen, kein Kriterium des Schreibens mehr und auch
3.4 Abenteurer – Der Gestrandete in der feindlichen Fremde
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keine Erwartung im Rahmen der Rezeption. Kellermann nutzt den Raum der fiktionalen Erzählung vielmehr, um die Themen Fremde und Fremderfahrung, Eigenes (hier: Heimat) und Fremdes, aus der Perspektive einer einzelnen Figur bzw. in ausgeprägter Perspektivität zu bearbeiten und die Polarisierung dieser Kategorien in den Vordergrund zu stellen. Die ‚Fremde Japan‘ wird dabei als exemplarischer Ort funktionalisiert und gestaltet und gewinnt deutlich andere Züge und Dimensionen als in dem Rahmen, den die literarische Reisebeschreibung vorgibt. Die ‚Fremde Japan‘ wird zu einem Ort der Fremdheit par excellence; die Elemente der Kulturbeschreibung werden, soweit sie überhaupt noch aufgegriffen sind, zu Elementen der erzählerischen Ausgestaltung der Kategorie Fremdheit. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass der Wahrnehmungsbereich des Protagonisten erzähltechnisch in den Mittelpunkt gestellt wird, insbesondere seine Wahrnehmung und Konstruktion der Fremde sowie seine emotionalen Reaktionen auf die Erfahrungen in dieser Fremde. Ein solcher Rahmen bietet andere Möglichkeiten der Ausgestaltung einer Fremderfahrung als eine Reisebeschreibung, wobei sich der Fokus nicht auf das Äußere der Kultur oder die Sinneswahrnehmungen eines Subjekts in dieser richtet, sondern viel stärker auf das Innere, die emotionale Antwort einer Figur auf diese. Somit ist der Autor von dem etwaigen Anspruch einer ohnehin illusorischen Objektivität im Zusammenhang mit der Darstellung von Fremde und Fremderfahrung entlastet, denn die Perspektivität einer fiktiven Figur ist jetzt Programm. Er ist nicht mehr kompetenter und verantwortlicher Vermittler, sondern verschwindet sozusagen hinter seiner Figur und ihrem Empfinden und Agieren. Bei den Lesenden kann diese Gestaltungsform von Beginn an eine andere Rezeptionshaltung als bei den bisher beschriebenen Textformen hervorrufen. Die personale Erzählsituation begünstigt einen Perspektivenwechsel der Lesenden im Sinne einer Identifikation mit dem Protagonisten (als mögliche Erfahrung einer fremden Identität und deren Schicksal) bzw. einer Abgrenzung von diesem.200 Die Illusion der Unmittelbarkeit wird diesmal also nicht in Bezug auf die Teilnahme am ‚realen‘ Geschehen erzeugt, wie noch in Sassa yo Yassa, sondern in Bezug auf die Nähe zur Figur und ihrer Wahrnehmungswelt sowie ihrer Reaktionen auf das Geschehen.201 _____________ 200 An dieser Stelle soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die alltagssprachlich so bezeichnete „Identifikation“ mit literarischen Figuren verschiedene Entwicklungsstufen durchläuft bzw. idealer Weise durchlaufen kann und nicht zuletzt auch von kognitiven und emotionalen Kompetenzen der Lesenden sowie deren Lesepraxis abhängig ist. Vgl. in diesem Zusammenhang Schön in: Lange; Steffens (Hgg.) 1995, 99-127. 201 „Mit Hilfe dieser sogenannten personalen Medien tarnt sich im personalen Roman die Mittelbarkeit jedes epischen Vorganges mit dem Anschein objektiver Unmittelbarkeit.“ (Stanzel 198711, 43).
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Im Folgenden soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, wie die Polarisierung von Fremdem und Eigenem und wie Fremderfahrungen in der Wahrnehmungswelt einer fiktiven Figur konstruiert werden und zur Darstellung kommen. Zuvor erfolgen jedoch noch einige zusammenfassende Angaben zu Entstehung, Inhalt und Kontextualisierung der Erzählung. Die Erzählung Abenteurer wurde der vierten Auflage des 1958 erstmals erschienenen, in Berlin publizierten Bandes Schwedenklees Erlebnis. Roman. Erzählungen (1976) hinzugefügt.202 Die 30 maschinengeschriebenen Seiten weisen handschriftliche Korrekturen auf und befinden sich ebenso wie ein Blatt mit handschriftlichen Notizen im Nachlass Bernhard Kellermanns in Berlin.203 Der genaue Entstehungszeitpunkt ist nicht bekannt, allerdings hat der Autor die Erzählung bereits 1911 öffentlich gelesen.204 Der Abenteurer „Er hat die Schiffe und die Männer gekannt. Sie waren von Deptford, von Greenwich, von Erith aus in See gegangen – die Abenteurer und Siedler; königliche Schiffe und Schiffe der Handelsleute; Kapitäne, Admirale, die finsteren ‚Schleichhändler‘ des Ostens und die bestallten ‚Generäle‘ der Flotten der East India Company. Goldsucher oder solche, die dem Ruhm nachjagten, sie alle waren auf diesem Strom hinausgefahren, das Schwert in der Hand und oft die Fackel, Boten der Stärke dieses Landes, Bringer eines Funken vom heiligen Feuer. Welche Größe trieb nicht mit der Ebbe jenes Flusses in das Rätsel der unbekannten Welt hinaus!“ 205
In dem überlieferten Manuskript der Erzählung wurde der Titel Der Stoker gestrichen, im Typoskript findet sich als Betitelung dann Abenteurer. Abenteurer gibt es viele in der Literatur. Sie fahren aus in die Fremde, entdecken neue Länder, erschließen Handelswege, begehen Heldentaten oder versuchen einfach zu überleben. Die Lesenden verlassen die Abenteurer nicht selten wenn die unmittelbare Gefahr überstanden und die Figur sich bewährt hat: „Viele Erzählhandlungen enden, wenn das Unbekannte erforscht, das Ziel erreicht ist und Hilflose, seien sie unterdrückt, schiffbrüchig, ausgesetzt oder von Wilden gefangen, dem Untergang entrissen _____________ 202 203 204 205
Außerdem wurde die Erzählung in Sinn und Form, H. 3. (1976, S. 461-480) gedruckt. Vgl. Anger 1960, 21. Vgl. Kellermann 1976, 416. Conrad [1902] 1977, 8f.
3.4 Abenteurer – Der Gestrandete in der feindlichen Fremde
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sind.“ (Daemmrich 19952, 4) In der Fortsetzung oder in der Phantasie der Lesenden kann das Abenteuer dann weitergehen. Die Erzählung Abenteurer von Bernhard Kellermann beginnt an einem Punkt, von dem viele Geschichten nicht mehr erzählen: Sie zeigt den Lesenden einen Gestrandeten, einen Abenteurer am Ende seines Abenteuers: Die Handlung der Erzählung ist im Jahr 1910, etwa fünf Jahre nach dem Russisch-Japanischen Krieg (1904/05) angesiedelt. Erzählt wird vom Schicksal eines Engländers mit Namen Harris, der nach einem mehrjährigen Aufenthalt in der Fremde (Russland, China) in Yokohama gestrandet ist. Ohne Bleibe, ohne Hoffnung auf Besserung seiner Situation und zudem ohne Erinnerung an sein bisheriges Leben und das, was ihn in die jetzige Lage brachte, sucht Harris bei den in Yokohama befindlichen Europäern nach Hilfe. Er wird sowohl von diesen als auch von den Japanern abgewiesen und gedemütigt. Verzweifelt versucht er eine Heuer auf einem Schiff zu bekommen, das ihn fort aus der ihm feindlich und bedrohlich scheinenden Fremde und zurück in die Heimat bringen kann. Harris, der Abenteurer am Ende seines Abenteuers, entspricht nicht den Typengestalten aus den gängigen Erzählungen: „Der Figurenbau [des Abenteurers] betont physische Kraft, die Fähigkeit, völlig unerwartete Hindernisse zu überwinden, Charakterzüge der Rechtschaffenheit, Zuverlässigkeit und Treue. [...] Der Abenteurer besteht [...] jede Gefahr erfolgreich und gewinnt Ansehen oder Ruhm.“ (Daemmrich 19952, 4) Ein solcher war er nie. Er war ein Kriegsgewinnler, der Kompagnon eines Amerikaners, der wohl eher der Definition des Abenteurers aus der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751–1780) entsprach: „AVENTURIER, sub. m. dans le Commerce, se dit d’un homme sans caractere & sans domicile, qui se mêle hardiment d’affaires, & dont on ne sauroit trop se défier.“ ([Art. Aventurier] in: Encyclopédie (1966))206 Harris folgt dem Amerikaner Beck, der „sofort, als der RussischJapanische Krieg ausbrach, ein großes Geschäft, ein Geschäft auf jeden Fall gewittert“ hat, und bringt seine Ersparnisse in dieses Geschäft ein (Kellermann 19766, 252f.). Sie verkaufen Alkohol und „ein Mädchen, Luise aus Wien“ (ebd., 253) an die russischen Offiziere. In China, der nächsten Station ihres Abenteuers, betätigen sie sich wieder als Zuhälter („und hier verwirklichte Beck sein Ideal: er gründete sich einen Harem. Das Geschäft war erstklassig und sie lebten beide wie Fürsten.“ (ebd., 254) Dann verfällt Harris dem Opium. Im Zusammenhang mit dem Abenteurer und dem Imperialismus weist Sabine Kleine-Roßbach auf den Nutzen des Abenteurers für den Imperialismus hin (vgl. Kleine-Roßbach in: Glaser; dies. (Hgg.) 2002, 11). In der vorliegenden Erzählung zeigt sich _____________ 206 Vgl. Kleine-Roßbach in: Glaser; dies. (Hgg.) 2002, 7.
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zudem der Nutzen des Imperialismus für den Abenteurer und hier entfaltet sich auch die Kritik am Imperialismus und Kolonialismus, der so vielen ‚Abenteurern‘ Raum gab, ihren Neigungen, ihrer Habgier und ihrer Zerstörungswut nachzugeben. „Europa, das hierhergekommen war zu diesen Asiaten und wieder wegfuhr, wenn es ihm beliebte.“ (Kellermann 19766, 244)207 Endlich kann Harris als „Stoker“, als Heizer, auf dem englischen Dampfer Cambridge anheuern und glaubt sich gerettet. Der nun beginnende zweite Teil der Erzählung ist ausschließlich im Inneren des Schiffes, in der Kabuse der Heizer bzw. in dem unmenschlich heißen und stickigen Heizraum situiert. Der Arbeitsalltag der Heizer, die Routine in der alles verbrennenden Hitze sowie die Schikanen durch den Maschinisten werden eindrücklich beschrieben. Im Mittelpunkt stehen die übermenschlichen Anstrengungen der Heizer, Harris’ Kampf gegen die Erschöpfung, seine Entbehrungen und sein körperlicher und geistiger Verfall. Während der harten Arbeit an Bord kehren nach und nach die Erinnerungen an sein bisheriges Leben in der Fremde zurück: An seine Zeit als Geschäftemacher im Russisch-Japanischen Krieg und in China sowie an seine Opiumsucht, die ihn Geld und Erinnerungen gekostet hat. Mit steigender Hitze als Folge der Jahreszeit und der Route des Schiffes verliert Harris mehr und mehr die Gewalt über seinen Körper und sein Bewusstsein. In dieser Not und Verwirrung kehren auch die Erinnerungen an Frau und Kind in der Heimat wieder. Kurz vor der möglichen Erlösung aus der Gluthitze ist Harris mit seinen Kräften am Ende und geht durch einen Sprung ins Meer seinem Tod entgegen. In der Darstellung des Endes des Abenteurers _____________ 207 Vgl. auch Reif 1975, 22, der in diesem Zusammenhang zudem den ‚immoralistischen Typus‘ beschreibt, „der sich bis zu einem ästhetisierenden Kult des Grausamen und der übermenschlichen Ruchlosigkeit steigert.“ (ebd.). Joseph Conrad gestaltet mit dem Elfenbeinhändler Kurtz eine Figur, die der Gier nach Macht, Finsternis und Besitz in der Fremde nachgegeben hat: „[Kurtz] kam mir wieder in den Sinn, wie er damals auf der Bahre lag und seinen Mund gierig aufriß, als wollte er die ganze Welt samt ihrer Menschheit verschlingen [...] ein Schatten, der unersättlich nach äußerem Prunk, nach furchtbarer Wirklichkeit lechzte;“ (Conrad 1977, 174). Reif weist darauf hin, dass exotistische Literatur nicht pauschal „einer mehr oder weniger unterschwelligen Tendenz zum Imperialismus“ verdächtigt werden kann (Reif 1975, 29). In einigen Fällen nimmt diese Literatur auch „den Charakter einer Parteinahme an, die gegen Erscheinungen des Kolonialismus und des Imperialismus Stellung bezieht.“ (ebd.; vgl. auch Bitterli 1973, 18ff.). Dafür könnte im vorliegenden Falle auch sprechen, dass Kellermann einen Engländer als Protagonisten entworfen hat, was u.U. als Form der Bezichtigung des britischen Imperialismus gedeutet werden kann. Auch in Kellermanns Erzählung Jang-tsze-kiang (1934), die in China angesiedelt ist, ist es ein „etwas merkwürdiger Engländer“ (ebd., 5), der, dem Alkoholismus verfallen, die Verachtung der Asiaten (hier eines japanischen Besatzungsmitglieds) auf sich zieht: „Der Zweite Offizier der ‚Tschung-King‘ dagegen, ein blutjunger Japaner, folgte dem Abtransport mit einem Lächeln letzten Verachtens. Ich beobachtete ihn genau. Er sah ganz Europa, das er haßte, in diesem betrunkenen Engländer.“ (ebd., 9).
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wechselt der Autor die vorherrschende Erzählperspektive und erreicht zudem durch ein kurzfristiges Verlassen des sprachlogischen Tempus der Narration ins Präsens wiederum den damit verbundenen Effekt der Unmittelbarkeit und Vergegenwärtigung: „Gegen halb zwei kam ein Mann, vollkommen nackt, leise die Treppe hinaufgeschlichen wie ein Dieb. Dieser Mann glüht. Dieser Mann brennt. Seine Hand und seine Füße glühen, sein Kopf, seine Augen, aus seinen gesträubten Haaren fuhr Glut, und er stieß beim Atmen Feuer aus. Der glühende Mann tastete zuerst vorwärts, stutzte aber, als er die glühende Zigarette in der Dunkelheit bemerkte, und wandte sich zum Stern. Er schwang sich neben der englischen Flagge, die lose herabhing, auf die Reling, streckte die Arme aus und ließ sich rücklings fallen. Ohne Laut.“ (Kellermann 19764, 269)
Struktur der Betrachtung Die Erzählung Abenteurer soll für die folgende Untersuchung in zwei Abschnitte gegliedert werden. Teil eins bildet der Abschnitt, der die Zeit vor der Heuer umfasst und der hauptsächlich am Hafen und im Hafenviertel Yokohamas angesiedelt ist (S. 238–248). Teil zwei (S. 248–269) beschreibt die Zeit nach der Heuer, auf dem Schiff. Den Erzählraum bildet hier insbesondere der Heizraum im tiefen Inneren des Dampfers. In beiden Teilen werden die Elemente Heimat (Eigenes) und Fremde aus der Perspektive des Protagonisten thematisiert. Diese Elemente werden stark polarisierend gestaltet: So befindet sich Harris in Teil eins in der Fremde, die sich ihm konkret darbietet und in der er ums Überleben kämpft, während die Heimat, als einziger Rettungsanker, als Sehnsuchtsraum erscheint. In Teil zwei sieht sich Harris mit dem Betreten des Schiffes als in der Heimat angekommen. Er glaubt sich gerettet. Die Heimat wird nun zur konkreten (tragischen) Erfahrung, während die Fremde zunehmend als Erinnerung und Traum aufscheint. Heimat und Fremde als konkrete bzw. abstrakte (Erfahrungs-)Räume sollen in ihrer Ausgestaltung sowie ihrer Funktion im weiteren Vorgehen genauer betrachtet werden. 3.4.2 Konkrete Fremde und abstrakte Heimat Die Lesenden begegnen Harris im Hafen von Yokohama in einer verzweifelten Situation. Er ist ein Gestrandeter, ein Abgewiesener, ausgestoßen aus jeder Gemeinschaft, ausgestoßen sogar aus seinem eigenen Leben, an das ihm jede Erinnerung fehlt: „Ja, wenn er nur hätte denken können! Denken! Denn seine Armut, sein Hunger, all das war ja nicht sein Leiden. Seine Verzweiflung war, daß er seit Wochen – wie
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vielen wußte er nicht – seit er von Hongkong herübergekommen war – wie?, auch das wußte er nicht –, all seine Erinnerungen an sein früheres Leben verloren hatte. Seinen Namen wußte er, ein paar Nichtigkeiten und daß etwas geschehen mußte mit ihm, wenn er hier in der Hitze nicht verenden wollte.“ (Kellermann 19764, 242)
Die Menschen, denen er sich zugehörig fühlt, weisen ihn ab, als er sie um Hilfe bittet: Im Seemannsheim ist kein Platz für ihn und der reiche Europäer zeigt Harris, dass sozialer Status und Schicht ebenso unüberwindbare Gräben schaffen kann wie kulturelle Differenz: „Und Harris stieg zuversichtlich die Stufen zur Terrasse hinauf, blieb aber plötzlich stehen. Der dicke Herr nämlich blickte über das Zeitungsblatt hinüber zu ihm her. Er trug einen krumm sitzenden Kneifer, und über die Gläser des Kneifers blickten seine kleinen, scharfen Augen auf Harris, mit jenem regungslosen Blick, mit dem ein Gentleman im Orient sich einen heruntergekommenen Europäer vom Halse hält. Dieses Paar Augen, das unvermittelt über der Zeitung aufgetaucht war wie zwei Revolvermündungen, erschreckte Harris.“ (ebd., 241)
So scheint ihm denn die Rückkehr in seine Heimat, an die er so gut wie jede Erinnerung verloren hat, die einzig mögliche Rettung: „Er wollte heim nach England, er mußte heim, das war es!“ (ebd., 242)208 Heimat wird hier als verheißungsvoller Sehnsuchtsraum gestaltet, der insbesondere als Idee von Heimat Bestand erhält.209 Insofern handelt es sich hier um eine Form der umgekehrten Exotisierung: Nicht das Fremde, sondern das ursprünglich Eigene wird exotisiert, in dem Sinne, als das Objekt der Wünsche idealisiert wird und die Aspekte, die der Idealisierung entgegenstehen, negiert werden.210 Jede konkrete Erfahrung mit dem, was Harris _____________ 208 In manchen Zügen erinnert sein Schicksal an die Figur des Donkin in Joseph Conrads Erzählung Der Nigger von der ‚Narzissus‘ [1897], zu dem ein Schiffskamerad sagt: „ ‚ Verdammich, wenn du nicht eine ganze Portion elender aussiehst als ein gestrandeter Heizer‘ “ (Conrad 2002, 23). Auch Donkin sucht eine Möglichkeit heim nach England zu kommen („ ‚ Na ja, es ist doch ‛ne Heimreise. Ob schlimm oder gut, is’ mir ganz egal‘ “ (ebd., 21), nachdem er in der Fremde, in Indien, eine Weile elend, ‚ganz unten‘ vegetierte: „Vierzehn Tage lang hatte er sich dann an Land im Eingeborenenviertel herumgetrieben, um Schnaps gebettelt und gehungert, auf Kehrichthaufen geschlafen und war im Sonnenschein umhergeirrt“ (ebd., 22). Die Frustration dieser Figur entlädt sich dann im Weiteren jedoch in feigem, intrigantem und aufsässigem Verhalten, das große Unruhe in die Mannschaft des Schiffes auf schwieriger Fahrt bringt. 209 Die sich hier abzeichnende starke Polarisierung von Heimat und Fremde, von Eigenem und Fremdem setzt sich auch in der Figur Harris fort. Harris ist sich durch seinen Gedächtnisverlust selbst fremd geworden, er hat sein ‚Eigenstes‘, seine Erinnerungen und seine Persönlichkeit verloren. Diese Form der innersubjektiven Fremderfahrung wird letztlich in dem Moment evident, in dem er sein Eigenes wiederfindet: „Harris wurde von einem mystischen Entsetzen ergriffen. Er stand da, die Hände in den Hosentaschen und redete. Aber das war ja gar nicht er, der redete, das war ein anderer Harris, der noch Namen und Erinnerungen im Kopfe hatte. Hatte er sich in zwei Teile gespalten?“ (Kellermann 19764, 247). 210 Vgl. Kapitel 2.2 Exotismus.
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als der Heimat zugehörig deutet, wie etwa die Europäer in Japan, steht dieser Idealisierung eigentlich entgegen. Gleichzeitig verstärkt dies aber die Sehnsucht nach der Heimat. Der abstrakte, durch die verlorenen Erinnerungen eigentlich unbekannte Ort wird zur Projektionsfläche für Sehnsüchte und Bedürfnisse. Die Heimat ist somit ein Ort, der eigentlich gar nicht erreicht werden darf, um seine Funktion nicht zu verlieren. Und so zerbricht Harris auch folgerichtig an der konkreten Erfahrung dessen, was er als Heimat ansieht, und noch bevor er die eigentliche Heimat überhaupt erreicht. Die Umkehrung der Elemente Sehnsuchtsraum und Erfahrungsraum findet ihren Fortgang in der Gestaltung der Wahrnehmung und Erfahrung der Fremde, hier Japan, durch den Protagonisten. So intensiv wie Harris die Heimat als Sehnsuchtsraum empfindet und phantasiert, so sehr ist ihm die Fremde – nun als konkreter Erfahrungsraum – entmystifiziert: „Schanghai, Hongkong – wie Harris all diese Namen haßte, die so pompös klingen und etwas ganz alltägliches bedeuten.“ (ebd., 259). Die Fremde ist eben am Ende eines Abenteuers eine andere als zu Beginn. Gleichzeitig mit dem Unbekannten hat die Fremde ihr exotisches Flair und ihren Reiz eingebüßt. Sie ist alltäglich, sie ist sogar hassenswert geworden. Und Yokohama als die konkrete Fremde, die ihm kein Obdach und keine Güte bietet, ist nur noch bedrohlich und feindlich. In Ein Spaziergang in Japan wird Japan als das dem Reisenden fremde und fremdbleibende, aber deshalb auch faszinierende Land beschrieben, das reich an Kultur, Kunst und freundlichen Menschen ist. Speziell Yokohama, die Stadt, die in literarischen Reisebeschreibungen über Japan ein Ort der Ankunft und der Verheißungen der Fremde ist, der fast noch zu viel des Eigenen, Europäischen beherbergt, wird durch die Verzweiflung der Figur Harris in der Erzählung Abenteurer zu einem Ort der Enttäuschung, der Hoffnung auf Abfahrt und der Verheißungen der Heimat. Der Protagonist der Erzählung nimmt die Fremde als Bedrohung wahr und empfindet sie auch körperlich-sinnlich als eine solche. Symbolisch steht dafür die Hitze Yokohamas. Die Hitze ist für die gesamte Erzählung ein zentrales Element, das Zerstörung und Zersetzung hervorbringt und das regelrecht in Harris eindringt.211 Von der vielbesprochenen pittoresken Natur Japans sowie der Synästhesie der impressionistischen Darstellungsweise in den Reiseberichten bleibt nur noch die Hitze als der zentrale sinnliche Wahrnehmungseindruck: „Zuweilen blieb er stehen und betrachtete ohne Gedanken seinen Schatten, der blauschwarz und scharf neben ihm kauerte. Aber wenn Harris dorthin blicken
_____________ 211 Siehe oben: „Dieser Mann glüht. Dieser Mann brennt. Seine Hand und seine Füße glühen, sein Kopf, seine Augen, aus seinen gesträubten Haaren fuhr Glut, und er stieß beim Atmen Feuer aus.“ (Kellermann 19764, 269).
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wollte, woher der Schatten kam, so war es, als gieße man ihm flüssiges Blei in die Augen: das war die Sonne Yokohamas im Juli.“ (ebd., 238)
Das Alltagsleben in Japan, das Leben in den Straßen Yokohamas, präsentiert sich den Lesenden des literarischen Reiseberichtes als exotisch, geheimnisvoll und vielversprechend. Der Reisende im Spaziergang kann zu Beginn seiner Reise die Wahrnehmungseindrücke noch nicht differenzieren. Als durch die Straßen streifender Flaneur sieht er zunächst überall das gleiche:212 „Die Gassen sind alle gleich, die Häuser sind alle gleich flach und niedrig und grau. In jeder Gasse geht derselbe Mann mit dem großen Papierschirm, in den Türen stehen dieselben geputzten Kinder. Auch die Menschen scheinen hier alle gleich zu sein. Und ringsum wimmeln die gleichen phantastischen Ideogramme auf den Papierlaternen.“ (Kellermann 1922, 7)
Diese Wahrnehmung des Immer-Gleichen entsteht aus einer Unkenntnis, die nicht zuletzt auch die Arroganz des Fremden spiegelt, der die Nuancen nicht erkennt. Diese Wahrnehmungsform wird aber in der Nachschrift, nach Beendigung der Reise und der Rückkunft nach Yokohama, durch eine geläufige und routinierte ersetzt.213 Eine sehr ähnliche Straßenszene entwirft Kellermann auch im Abenteurer aus der Perspektive des Protagonisten. Das gleiche Inventar und das gleiche Wahrnehmungsschema spiegeln nun nicht mehr distanziertes Staunen, sondern Überdruss, Bedrohung, Abwehr und Abwertung: „Diese Straßen kamen Harris alle gleich vor. Es waren die gleichen Papierhäuser, dieselben Kaufläden, dieselben Weiber, Männer und Kinder, dasselbe Geklapper und Gewimmel überall, und überall dieselben Verbeugungen und das gleiche Gegacker. [...] An allen Straßenecken standen die gleichen Rikschakulis und leierten ihm die ewig gleichen Fragen ins Ohr: [...] so daß Harris Lust hatte, ihnen Fußtritte zu versetzen. Zuweilen vergaß er ganz, was er hier in den Straßen wollte; was er sah, was er hörte, hängte sich in seinem geschwächten Gehirn fest und ließ ihn nicht mehr los; er betrachtete einen Kaufmann, der vor seinem Kohlebecken kauerte und die Pfeife rauchte, er sah ein paar geputzten Tänzerinnen nach, die in einer Jinriksha dahinrollten, die ein schwitzender, bellender Kuli zog; er starrte regungslos auf den Haarschopf eines Kindes, der wie ein Pinsel auf dem rasierten Schädel stand.“ (Kellermann 19764, 239)
Die distanzierte Haltung des Flaneurs erlaubt genießendes Staunen. Harris jedoch kann sich nicht mehr gegen die Sinneseindrücke wehren, er kann keine Distanz mehr aufrecht erhalten und die ihm fremden Eindrücke
_____________ 212 Vgl. auch Goebel 1998, 381. 213 Diese ist in Sassa yo Yassa noch durch eine kenntnisreiche Wahrnehmungsform fortgeführt, die es dem Gast erlaubt, einen bestimmten Teilausschnitt der Kultur tiefer zu erfahren und zu vermitteln.
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machen ihn wehrlos und aggressiv. In Anlehnung an Vilém Flusser214 könnte man hier darauf schließen, dass Harris keinen Standort in der Fremde hat, der ihm Schutz bietet, so dass der Abenteurer nicht über das „Sprungbrett ins Abenteuer“ verfügt: „Meine Wohnung, dieses Netz von Gewohnheiten, dient dem Auffangen von Abenteuern und dient als Sprungbrett in Abenteuer.“ (Flusser 1994, 27f.) Am ‚Abenteuer Fremde‘, das der Reisende im Spaziergang mit „einem gehörigen Schluck“215 goutiert, kann die fiktive Figur Harris nur scheitern, denn sie ist in jeder Hinsicht unbehaust, heimat- und wohnungslos. Die Darstellung der Menschen bewegt sich in der Erzählung im Rahmen überlieferter, auch rassenideologischer Stereotype. In der Konzeption der Figur Harris findet eine Wahrnehmungsform des Fremden seine Ausgestaltung, die homogenisierend und ethnozentristisch einem unverhohlenen und ohnmächtigen Rassismus Raum gibt. So werden etwa die Japaner in seiner Wahrnehmung zu „den Gelben“, oder sie werden als „gelbhäutig“ bezeichnet.: „Wie er sie haßte, diese gelbhäutigen Affen! Alles, was gelb und schlitzäugig war, von Suez bis hinauf nach Wladiwostok, haßte er, der hier in der Sonne verendete.“ (Kellermann 19764, 245) Diese trotzige Abwehr des Anderen findet ihren Nährboden in der Zurückweisung, die Harris durch jeden, an den er sich wendet, erfährt, so auch durch die Japaner, die in seinen Augen Zeichen des ihm Eigenen an sich tragen: „Zuletzt entdeckte er einen europäisch gekleideten Japaner, der rote Glacéhandschuhe trug. Und gerade diese Glacéhandschuhe zogen Harris an. Er trat hastig näher, aber als er schon die Hand ausstreckte, um die Schulter dieses gelben Gentleman zu berühren, riß er sich zurück. Nein, nie wieder würde er so tief sinken und einen Farbigen um ein Almosen bitten. Einmal, ein einziges Mal in seinem Elend hatte er es getan. [...] Aber siehe, dieser höflich lächelnde Asiate verwandelte sich, sobald er verstanden hatte, in einen hochmütigen Europäer mit kaltblickenden Augen und drehte ihm den Rücken zu.[216] Nein, dieses Volk von Geizhälsen war nur wert, bestohlen zu werden! Und er, Harris, bestahl sie auf seine Weise.“ (ebd., 240)
Zurückgestoßen von jedermann nimmt Harris Zuflucht in einen Rassismus, der die „Farbigen“ noch unter sich selbst, der doch eigentlich ganz unten steht, ansiedelt. Dieser Rassismus wird im Rahmen der Erzählung nicht explizit bewertet. Er beruht auf durchaus gängigen, hierarchischen rassenideologischen und -typologischen Kanonisierungen, die sich im zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs insbesondere in ethnologi_____________ 214 Vgl. ausführlicher Kapitel 4, Exkurs 1: Überlegungen zu: interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität. 215 Vgl. Kellermann 1922, 14. 216 [Die Polarisierung Asien – Europa spiegelt an dieser Stelle noch einmal das Sehnsuchtsbild, dass Asien vor der Europäisierung ursprünglich, rein und noch nicht korrumpiert gewesen ist.]
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schen und anthropologischen Schriften finden.217 Motiviert (und dadurch auch kommentiert) wird er nur durch die Polarisierung ‚Eigenes – Fremdes‘ im Bewusstsein des Protagonisten sowie durch seine Not als Heimatloser, von allen Ausgestoßener und ohnmächtiger Mensch, der in seinem verzweifelten Zustand nur noch Hass und Wut in sich trägt. Auf der Ebene des Geschehens unterscheiden sich die Reaktionen auf Harris bei Europäern und Japanern in keiner Weise: Niemand nimmt ihn auf, weder das vermeintlich Eigene noch das vermeintlich Fremde. Von der Märchenwelt mit ihren geheimnisvollen Zeichen, die der Autor in seinem literarischen Reisebericht gestaltete, scheint nichts übrig zu sein. Geblieben ist nur eine feindliche, unverständliche Lebenswelt: „Oh, nur fort aus dieser schrecklich unverständlichen Welt.“ (ebd., 245) Diese Unfähigkeit zu dekodieren, zu verstehen, sich zu orientieren und vor allem handelnd zu gestalten, mündet in Hass und in das Bedürfnis zu entkommen. Betrachtet man die Ausgestaltung der ‚Fremde Japan‘, des Ortes, der Natur, der Menschen und der Alltagskultur im Vergleich zu den anderen japanbezogenen Werken Kellermanns, so gewinnt man auf den ersten Blick den Eindruck, als habe der Autor die Form der fiktionalen Erzählung dazu benutzt, um eine Kehrseite der Fremde zu gestalten. Es ist jedoch so, dass Bernhard Kellermann mit der Konstruktion der Figur Harris und deren verzweifelter Situation einen Raum geschaffen hat, der es erlaubt, mit Hilfe der personalen Erzählsituation und der erlebten Rede eine gänzlich andere Wahrnehmungsweise der Fremde darzustellen und zu artikulieren. Nicht die Kehrseite der Fremde (hier der ‚Fremde Japan‘) wird ausgestaltet, sondern die Kehrseite der Fremdwahrnehmung und Fremderfahrung. In seiner Not und seiner Schwäche verfügt der Protagonist nur noch über stereotype Wahrnehmungsformen, und der Ethnozentrismus des Protagonisten erlaubt es ihm nicht, individuierte Erfahrungen zu machen.218 So wird Japan für Harris, anders als für den Reisenden oder den Gast, zu der ‚bedrohlichen Fremde‘. Entsprechend bricht aus ihm auch der Wunsch hervor, diese feindliche, unbarmherzige Fremde zu verlassen: „Hundert Schritte weiter brach ihm der kalte Schweiß aus den Poren, und er schlug plötzlich in seiner Hilflosigkeit die Hände vors Gesicht und schluchzte: ‚Fort, fort, weit fort von hier!‘ “ (ebd., 241)
_____________ 217 Vgl. Gernig in: dies. (Hg.) 2001, 273-296. 218 Vgl. Kapitel 2 Fremde und Fremderfahrung.
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3.4.3 Konkrete Heimat und abstrakte Fremde „Da saß er, tief unten in diesem Dampfer, und niemand konnte ihm etwas anhaben! Er war geborgen, verschanzt hinter Eisenplatten. Es war Europa, wo er sich befand, er war schon zu Hause!“ (ebd., 249)
Harris hat die Fremde mit ihren Bedrohungen hinter sich gelassen, er hat sie ausgesperrt, hinter „Eisenplatten“ hat er sich „verschanzt“. Er ist da angekommen, wo er seine Zugehörigkeit, sein Zuhause vermutet, in Europa.219 Als Zeichen für Europa dienen in der vorliegenden Erzählung Zeichen der Industrialisierung und des Fortschritts: Eisen, Technik, Rauch, Fabriken, und vor allem die Dampfer.220 Und mit diesen Zeichen hat Europa auch den Hafen von Yokohama erreicht: „Und da lagen all die anderen mit ihren Verdecken, Masten, zwischen denen sich die Drähte der Marconi-Telegraphie spannten, mit ihren Kaminen, über denen die Hitze zitterte. Rudel von kleinen Dampfern, Tugs, Frachtkähnen wimmelten um die großen Postschiffe herum. Rauch wirbelte empor, gelber, weißer, brauner, schwarzer, grauer Rauch, der sich zusammenballte und den ganzen Hafen in eine schmutziggelbe Wolke einhüllte. Die Krane und Winden rasselten unaufhörlich, Stimmen schrien. Rauch und Lärm aber heimelten Harris an. Das war Europa! [...] Plötzlich ließ der ‚Prinzregent Luitpold‘ ein kurzes Brummen hören, ein Tug winselte, in der Ferne pfiffen Fabrikpfeifen.“ (ebd., 245f.)
Joseph Conrad gestaltete etwa 10 Jahre vor der Entstehung von Kellermanns Erzählung in Der Nigger von der ‚Narzissus‘ (1897) die Ankunft des _____________ 219 In seinem neuromantisch-impressionistischen, ›lyrischen‹ Roman Das Meer von 1910 wird der Abschied des Ich-Erzählers von der kargen, archaisch ursprünglichen Insel und ihren Bewohnern motivisch sehr ähnlich gestaltet: „Da lauschte ich: hörst du die Maschinen pumpen? Durch die Vibration hindurch, durch all die Stockwerke und Korridore hindurch, hörst du das große Stahlherz pochen? Das war Europas Herz, Europas, woher ich kam! Und plötzlich strömte die ruhige Kraft der Maschinen, die da drunten unter mir sangen, in mich über und erfüllte mich mit Stärke und unermeßlicher Zuversicht. Ich goß mein Glas voll und summte mir ein Lied.“ (Kellermann 1949, 512) Allerdings befindet sich der IchErzähler, anders als Harris, hier nicht im Heiz- oder Maschinenraum, im „Stahlherz“, sondern er hört es nur durch die Stockwerke pochen, so dass dieses ihm auch nicht Kraft und Leben raubt, sondern ihn „mit Stärke und unermeßlicher Zuversicht“ erfüllen kann. Zum Roman Das Meer, der nach einem viermonatigen Aufenthalt des Autors auf der Insel Ouessant (Bretagne) im Jahr 1907 entstand, vgl. insbesondere Le Gallo 1999, 417-432. 220 Zwischen 1880 und 1914 entstehen in Deutschland im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs (v.a. der Entwicklungen in der Großchemie, der Stahlindustrie und im Maschinen- und Motorenbau sowie der überseeischen Handelsinteressen) und den Notwendigkeiten, die sich aus der Situation Deutschlands als Ursprungs- und Transitland für Auswanderer ergeben, wichtige Reedereien und Werften. Auf diesen werden die größten und schnellsten Handelsschiffe und Luxusdampfer gebaut sowie eine deutsche Flotte, als Herausforderung der Royal Navy Großbritanniens.
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aus Indien kommenden Schiffes im Hafen von London als eine Ankunft im Europa der Industrialisierung, das gezeichnet ist von Hässlichkeit, Elend der Massen, Schmutz und Lärm: „In weiter Ferne standen hohe Fabrikschornsteine anmaßend in einer Gruppe zusammen und sahen das Schiff vorübergleiten. Sie wirkten wie eine verstreute Schar schlanker Riesen, die sich unter schwarzen Rauchwolken prahlerisch großtaten. [...] Voraus hing eine große opalisierende Wolke am niedrigen Himmel, die von Millionen schweißbedeckter Stirnen aufzusteigen schien. Lange Schwaden dunstigen Rauchs durchzogen sie mit fahlen Streifen. Darum klopfte es im Takt von Millionen Herzen, und ein ungeheures klagendes Murmeln kam daraus hervor – das Murmeln von Millionen Lippen, die beteten, fluchten, seufzten, spotteten –, das unaufhörliche Murmeln der Torheit, des Bedauerns und der Hoffnung, das von den Massen der angsterfüllten Welt ausströmt. Die Narzissus drang in diese Wolke ein, und die Schatten wurden tiefer. Von allen Seiten tönten der Klang von Eisen, das Geräusch mächtiger Schläge, Kreischen und Brüllen. Auf dem trüben Strom trieben schwarze Schuten schweigend dahin. Ein planloses Gewirr schmutziger Mauern ragte verschwommen aus dem Qualm, beängstigend und düster, wie ein Bild der Zerstörung.“ (Conrad 2002, 187f.)
Es ist dieses Europa, in dem auch Harris angekommen ist und es ist dieses Europa, das ihn letztlich das Leben kostet; und so erweist sich Harris Vorstellungsbild von Heimat als Schimäre – ein ähnliches Trugbild wie vielleicht früher die Fremde mit ihren Verlockungen. Die Heimat nimmt ihn nicht auf, bietet ihm nicht die ersehnte Geborgenheit und Sicherheit. Wie schon durch den reichen Europäer in Yokohama wird Harris wiederum auf seinen Platz verwiesen – nach ganz unten. Weder seinen niedrigen sozialen Status noch die Hitze hat Harris wirklich hinter sich gelassen. Er ist überall derselbe, in der Fremde wie in der Heimat: „Die Hitze drang durch die Verdecke in die Kabinen [...] Die Hitze drang tief in die zweite Kajüte, in die Kajüten der Steuerleute, noch tiefer in die Vorratskammern. Tiefer in die Maschinenhalle [...] Unter den Maschinen aber lagen die Kessel und unter den Kesseln, fünf Stockwerke unter Deck, der Heizraum, der wie ein brennender Stollen glühte. Und da drunten waren die Stoker, an die niemand dachte und die die Passagiere niemals sahen.“ (Kellermann 19764, 261)
Dem Tod geht er dann als einem Befreier entgegen, als letzter Ausweg aus einer inhumanen Situation, die Spiegel einer inhumanen Gesellschaft ist: Ganz unten, im Raum der Heizer, verknüpft sich Gesellschaftskritik mit der Kritik an den Folgen der Industrialisierung und des technischen Fortschritts, indem der Preis, den diejenigen, die ‚ganz unten‘ stehen, zahlen müssen, anschaulich gemacht wird.221 Die Heimat als konkreter Erfah_____________ 221 Bernhard Kellermann hat in seinem Werk die Elemente Dampfer, Heizraum, Heizer auch an anderer Stelle motivisch ausgestaltet: In dem Roman Das blaue Band, erschienen 1938 in Berlin, verarbeitet er diese Motive unter etwas anderen Vorzeichen. Der Roman beschreibt die Fahrt des Dampfers „Kosmos“, der als berühmtes und in seiner Größe und Leistungskraft beeindruckendes Transportmittel zwischen den Kontinenten kreuzt und entspre-
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rungsraum, in der er sich zunächst angekommen wähnt, bietet dem Protagonisten nichts anderes als die Fremde: Zurückweisung, Elend, Einsamkeit und Demütigung. Auch findet er keinen wirklichen Kontakt zu den anderen Heizern, es bildet sich keine Gemeinschaft in der gemeinsamen Not. Von den anderen Figuren der Erzählung gewinnt lediglich der Maschinist in seiner Funktion als Bedrohung für Harris an Kontur222 sowie Josua, der Afroamerikaner. Dieser ist der einzige, der sich dem System in Gestalt des Maschinisten entgegenstellt und Anteilnahme für Harris entwickelt. In der Gestaltung der Figur Josua offenbart sich das ganze Repertoire zeitgenössischer Vorurteile und Stereotype, die in der Erzählung nicht überwunden oder kontrastiert werden. Diese Stereotype spiegeln – hier insbesondere in ihrer scheinbar wohlwollenden Tendenz – rassistische Grundgestimmtheiten und europäische Imaginationen wider. Josua ist ein „Neger“, der „Niggeramerikanisch“ spricht, ständig singt und Bä_____________ chend eine illustre Schar von Gästen beherbergt. Die Kosmos soll auf ihrer Fahrt den Rekord bei der Überquerung des Ozeans brechen und damit das „Blaue Band“ erringen. (Ein Wettbewerb mit historischem Hintergrund: Im September 1900 etwa treten der Dampfer ›Kaiser Wilhelm der Große‹ von der Reederei Norddeutsche Lloyd und der Dampfer ›Deutschland‹ von der Hapag-Reederei von New York aus zu einer Wettfahrt um das ‚Blaue Band‘ gegeneinander an. Dieses ist ein zwar inoffizieller aber sehr prestigereicher und werbewirksamer Titel für die schnellste Atlantiküberquerung.) In dem Bestreben, diesen Rekord einzufahren, schlagen Kapitän und Offiziere alle Warnungen und alle möglichen Hindernisse in den Wind und führen damit Schiff und Passagiere in den Untergang. Die Heizer werden angetrieben durch das Versprechen auf eine Belohnung. Nicht der persönliche Antrieb eines Einzelnen, der sich aus Verzweiflung und Sehnsucht einer unmenschlichen Anstrengung stellt, steht hier also im Vordergrund. Vielmehr ist es die Gier der Menschen, ihr bedenkenloser Drang, die Möglichkeiten, die die Technik eröffnet, für den eigenen Ruhm rücksichtslos auszunutzen. Das „Fort! Fort!“ in Das blaue Band steht nicht für den Wunsch, der Fremde zu entfliehen, sondern für das Vorwärtsstreben der Menschheit, für ihren blinden Glauben an die Leistung und die Technik: „Der Mensch von heute! Vorwärts! Vorwärts? Fort! Fort! Fort! Niemals war der Mensch kühner als in unseren Tagen“ (Kellermann 1938, 194). Den Roman und die Erzählung verbindet jedoch, dass hier wie dort der einzelne Mensch nichts zählt. Die Arbeiter sind lediglich Teil der Maschine, wenn sie ausfallen, werden sie ersetzt: „Im Heizraum standen die Reihen von Heizern, überströmt von Schweiß und speisten die Feuer, sobald die Glocke schrillte. Sie waren in eine Art von Raserei geraten. [...] Ein Heizer stürzte ohnmächtig zusammen, schon sprang ein anderer für ihn ein. Am Vormittag war ein Feuermann ins Hospital geschafft worden und kurze Zeit darauf an Herzkrämpfen gestorben. Niemand erfuhr etwas davon, und niemand kümmerte sich auch darum. Fort, fort, fort! Die Tunnels, in denen die Wellen der Schiffsschrauben liefen, donnerten.“ (ebd., 318). Klaus Treuheit schreibt im Zusammenhang mit Kellermanns Erfolgsroman Der Tunnel (1913) über die Funktion, die der Autor der Darstellung der Technik in seinem Werk zuweist: „Kellermann verklärt oder verherrlicht nirgends die Technik oder den Fortschritt – freilich auch nicht die Vergangenheit – vielmehr ist sie ihm Katalysator moralisch-menschlichen Konfliktpotentials.“ (Treuheit in: Flessner (Hg.) 2000, 108). 222 „Der Maschinist bewegte die Eisenkrücke, als wolle er auf Harris einschlagen, aber plötzlich stellte er sie weg und sagte ganz ruhig: ‚In Hongkong schmeiße ich dich hinaus!‘ “ (Kellermann 19764, 257).
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renkräfte hat. Er bekämpft das Feuer, das naturhafte Element, das Harris letztlich zerstört, wie einen Feind, und es kann ihm, dem ‚naturhaften Schwarzen‘, nichts anhaben: „Der Neger glänzte am ganzen Körper wie mit Fett eingerieben. [...] Josua sprach unaufhörlich in seinem breiten, halb unverständlichen Niggeramerikanisch, und es war ihm ganz einerlei, ob ihm jemand zuhörte oder nicht. Er sprach mit den Kohlen und drohte der Glut im Heizloch mit der Faust. ‚Ich will dir’s zeigen, Josua wird dir schon zeigen, was ein Feuer ist.‘ Dann sang er wieder“ (Kellermann 19764, 258f.). „Er betrachtete die Feuer als seine persönlichen Feinde und geriet mehr und mehr in Raserei. Unter Schmährufen schleuderte er die Kohlen in die Glut, und er tanzte, nackt wie er war, in grotesken Sprüngen vor den Feuern und heulte dazu.“ (ebd., 264).
In seinem animistischen Glauben an die Beseeltheit des Feuers erinnert Josua an den Heizer auf dem Flussdampfer, mit dem Kapitän Marlow in das Herz der Finsternis (1902) eindringt: „Und zwischendurch mußte ich noch auf den Wilden aufpassen, der heizte. Er war ein veredeltes Exemplar; er konnte einen Kessel bedienen. Er arbeitete dort unter mir, und auf mein Wort, ihm zuzusehen war so possierlich, wie es der Anblick eines Hundes ist, der, mit Hosen und Federhut bekleidet, auf seinen Hinterbeinen geht. [...] und was er wußte, war folgendes: sollte das Wasser in jenem durchsichtigen Ding verschwinden, so würde der böse Geist in dem Kessel vor großem Durst zornig werden und fürchterliche Rache nehmen. So schwitzte er und feuerte und beobachtete ängstlich das Glas (um den Arm hatte er einen improvisierten Talisman aus Lumpen gewickelt, und ein Stück polierten Knochens, so groß wie eine Taschenuhr, stak ihm flach in der Unterlippe).“ (Conrad 1977, 86f.)223
Da sich das, was Harris zunächst als ein Stück Heimat empfand, als Täuschung und Enttäuschung entpuppt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als seiner Sehnsucht einen weiteren Raum zu eröffnen, der aus dem Inneren des Schiffes hinaus in die Ferne weist und der ihm zum Ziel und Antrieb wird: _____________ 223 Die Zeichen des „Wilden“ sind bei dem Heizer Josua verdichtet auf seine naturhafte Körperlichkeit, seinen animistischen Glauben als Triebkraft seiner Tätigkeit, seine Selbstgespräche und seinen Tanz und Gesang. Auch James Wait, der Nigger von der ‚Narzissus‘, entspricht nicht mehr dem „Wilden“ aus dem Herz der Finsternis, aber auch er, der Außenseiter unter der weißen Bordmannschaft, trägt noch Zeichen eines solchen an sich: „Im Schein der Lampe sah man seinen erhobenen Kopf, ein mächtiges Haupt mit tiefen Schatten in einem eingefallenen, gequälten Gesicht, das, mitleiderregend und brutal zugleich, wie eine Maske wirkte; die tragische, geheimnisvolle und abstoßende Maske einer Negerseele. [...] Plötzlich begann der Neger wild mit den Augen zu rollen, daß nur noch das Weiße zu sehen war.“ (Conrad 2002, 31; vgl. auch Kellermann 19766, 251: „Harris zögerte, aber der Neger rollte die Augen und sagte überzeugt: ‚Finest whisky of de world.‘ “ ).
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„Bei jeder Schaufel, die er in das unersättliche Feuer warf, dachte er: Das gibt Dampf, die Maschine arbeitet, die Schraube dreht sich, vorwärts! – jede Schaufel ist ein Schritt näher. Und oft dachte er die ganze Schicht nichts anderes als: Ein Schritt näher – ein Schritt näher. Heim! Heim!“ (Kellermann 19764, 262)
In der Konzeption seiner Erzählung parallelisiert Kellermann nun die zurückkehrende Erinnerung an Frau und Kind, die zum Symbol der Heimat von Harris werden, mit der Steigerung der Hitze, die ihn letztlich tötet, sowie mit dem Verlust seiner körperlichen und geistigen Kraft: Je näher Harris seinem Ziel kommt, umso mehr verlässt ihn die Kraft, umso verwirrter wird sein Geist, umso deutlicher werden zunächst aber auch die Erinnerungen an Frau und Kind. Der Kampf um die Heimat kann aber nicht gewonnen werden. So entgleiten Harris die Erinnerungen wieder und übrig bleiben nur noch Halluzinationen, bis das Feuer auch diese verschlingt. Der Abenteurer sucht nicht mehr nach dem Abenteuer, er sucht nach Vertrautheit, Heimat und nach Gnade, die ihm allegorisch in Gestalt seiner Frau im Feuer erscheint, die sich ihm dann aber endgültig entzieht: „Harris starrte aber in das Feuer. ‚Komm heraus, Grace‘, sagte er leise und zärtlich flüsternd. Aber das Feuer war Feuer und blieb Feuer, ein Meer von Feuer, das fauchte und züngelte und zu brausen anfing. Grace erschien nicht mehr.“ (Kellermann 19764, 267)
Die Fremde scheint in Teil zwei der Erzählung auf zweierlei Weise auf. Zunächst als konkreter Erfahrungsraum, in dem der Protagonist ein eigenes Leben hatte, das er als Geschäftemacher im Russisch-Japanischen Krieg aktiv gestaltete. Diese konkrete Fremde stiehlt ihm aber auch seine Heimat und seine Erinnerungen, indem er dort dem Opium verfällt: „Im Opium ging alles unter, sein Verstand und sein Geld. [...] Er versuchte sich vorzustellen, wie seine Frau und sein Kind aussahen – aber ihr Bild war vollkommen ausgelöscht in seinem Gedächtnis. Das Opium hatte alles verwischt.“ (ebd., 254) „Er sah jene kleine Chinesin vor sich, die ihm die Opiumpfeife anrauchte: gelb, wie aus Wachs, mit Pechaugen, sah sie aus, die schwarzen Haare von unvergeßlicher Schwärze über die Schläfen gespannt.“ (ebd., 266)
Parallel zu dem Verlust seiner geistigen Kraft und seines Bewusstseins im Inneren des Schiffes224 wandelt sich die konkret erfahrene und entmystifizierte Fremde aber auch wieder in einen Sehnsuchtsraum. Das Trügerische dieses Sehnsuchtsraums bleibt jedoch greifbar, denn es handelt sich um die Erinnerung an einen Opiumtraum, in dem sich die Verheißungen _____________ 224 Das Bewusstsein wurde ihm in der Fremde durch das Opium geraubt; hier nun, in der Heimat, als die er den Dampfer zunächst empfindet, raubt ihm das Feuer, dass er dort heizen muss, sein Bewusstsein.
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und Exotisierungen der Fremde spiegeln und der sie gleichzeitig als solche entlarvt: „Man denke sich eine weite, unendlich weite Ebene aus schneeweiß schillernden, sanften Wolken. Über diese Wolken schritt er, und er sank nicht tiefer als bis an die Knöchel in diese weißen, weichen Wolken ein. Aber aus dieser Wolkenfläche, halb versenkt, ragten zierliche chinesische Tempel, über denen wieder runde Wölkchen schwebten. Auf der Veranda tanzten Chinesinnen, und alle sahen schön aus wie Engel. Kam er näher, so öffneten sie die Kleider, nahmen die kleinen, runden Brüste in die Hände und winkten ihm mit dem Kopf und sangen mit heller, süßer Stimme: Komm! Und er ging hinein. Unendlich groß war die Anzahl der in die Wolken halbversunkenen Tempel, und die Genüsse, die die Tänzerinnen boten, waren unbeschreiblich. ‚Wie schön war es!‘ schrie Harris und feuerte.“ (ebd., 267)
Bernhard Kellermann gestaltet in seiner Erzählung Abenteurer die Erfahrungen und Erlebnisse eines Verlierers, der irgendwann den Verheißungen der Fremde erlag. Diese Figur scheitert an der konkreten Erfahrung dieser Fremde, was zu Entidealisierung, Entmystifizierung, Abwehr und Hass führt. Gleichzeitig präsentiert sich dem Protagonisten die Heimat als neuer Sehnsuchtsraum, der für ihn Ausweg und vermeintliche Rettung wird. Die desillusionierende konkrete Erfahrung mit dem, was der Protagonist als Heimat ansieht, beantwortet er durch eine weitere Verschiebung des Sehnsuchtsraums Heimat in eine unerreichbare Ferne, symbolisiert durch seine Erinnerungen an Frau und Kind. Indem er diese Heimat auch noch verliert, scheint noch einmal die Fremde mit ihren Verlockungen als Opiumtraum auf, bevor er endgültig scheitert. Hat ihn das Leben in der Fremde die Erinnerungen gekostet, so kostet ihn die Rückkehr in die Heimat das Leben.
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Die Fremde als Lebens- und Erfahrungswelt: Briefe aus Japan in die Heimat 4.1 Einführung „Briefe zählen zu den unmittelbarsten Texten des Lebens“ 1
Öffentlicher Text und privater Brief „Kioto. Kiotohotel, 27. April 1906. Süße liebe Mieze, weiße feine Whitecow, der feine Regen da draußen ist so lieb wie Deine feinen lieben Gedanken, die ich auf mich zeitlebens niederrieseln fühle. [...] Gestern abend 7 Uhr kamen wir hier an. [...] Ich war in Kobe schon erstaunt, wie viele Kirschbäume die Stadt hat. [...] Sonst aber finde ich die Städte hier alle ebenso grau und müde wie bei uns, vielleicht sind die feinen Japaner im Herzen noch viel, viel, viel müder als unsere müdesten Großstadtleute; [...] Vorläufig scheint mir das ganze Leben in Japan noch unsichtbar, weil ich aus dem üppigen China und Indien komme. Meine Augen sind noch an die Tropenhelle gewöhnt und an die drückende Kraft der Sonne dort. Hier ist es, wie in Würzburg, europäisch in der Luft, und ich sehe noch schwer die feinen Züge. Wenn ich nicht Japan in der Erinnerung hätte, wie es aus der Ferne zu Hause auf mich immer so schön wirkte, könnte ich es jetzt beinah langweilig und traurig nennen. Es ist so leise, daß man sich umsieht, wo eigentlich Japan ist, und so farblos, daß man enttäuscht wie in einem grauen Nebel von Norddeutschland zu leben scheint. Ich muß noch abwarten, bis ich mich nach ein paar Tagen an den Norden gewöhnt habe. [...] Bis jetzt habe ich das schöne Japan nur in zwei Theatern in Kobe und in den Läden hier gesehen. [...] Auf den Straßen sind alle grau und dunkel, bescheiden wie Mäuse, nur die Kinder, die noch nicht laufen können, stecken in lustigen Farben voll Blumen und Tieren und mit Gold gestickt. Für meinen Geschmack sehen mir alle Japaner zu irdisch aus.“ (Dauthendey [1906] 1930, 145-147)
Max Dauthendey (1867–1918) litt wie viele andere Autoren der Jahrhundertwende unter einer Europa- und Zivilisationsmüdigkeit und sehnte sich in diesen Jahren, in denen die Begeisterung für den ‚Fernen Osten‘ in Deutschland ihren Höhepunkt erlebte, nach Asien.2 Dem Dichter, dessen _____________ 1 2
Baumann 1980, 722. Die Asienbegeisterung um die Jahrhundertwende in Deutschland wurde recht schnell durch ein Gegenbild, das ebenso von tradierten Stereotypen geprägt war, kontrastiert. Beide Pole – Asienbegeisterung und ‚Asiendenunziation‘ – existierten durchaus auch gleich-
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Werk von starker sinnlicher Anschaulichkeit und synästhetischem Stil geprägt ist,3 galt nicht zuletzt Japan als Sehnsuchtsraum, auf den er seine Wünsche und Vorstellungen von Kunst, schöner Landschaft und enger Verbundenheit von Mensch und Natur projizierte. Tatsächlich erlebt und erfahren hat Max Dauthendey Japan im Jahr 1906. Er kam im Verlauf seiner ersten Weltreise4 am 23. April 1906 in Nagasaki an, bereits am 24. Mai verließ er das Land am Hafen von Yokohama. Dieser kurze Aufenthalt inspirierte ihn u.a. zu einem seiner berühmtesten Werke, der Novellensammlung Die acht Gesichter am Biwasee (1911). Des Weiteren hat er seine Erlebnisse in der Reisebeschreibung Die geflügelte Erde. Ein Lied der Liebe und der Wunder um sieben Meere (1910) verarbeitet, ein episches Gedicht in freien Langzeilen, das autobiographische Züge enthält und stark exotisierend die Stationen seiner Weltreise ‚besingt‘.5 Im Verlauf seiner Reise schrieb Dauthendey außerdem zahlreiche Briefe an seine Frau Annie _____________ 3
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zeitig (vgl. auch Kapitel 2.2 Exotismus sowie u.a. Günther 1988, 41ff.). Zur Beziehung Max Dauthendeys zu Asien, insbesondere Japan, vgl. Schuster 1977, 66ff. Ulrike Stamm verweist auf Dauthendeys „entschiedenen Willen zur Modernität“ in Bezug auf literarische Techniken und ästhetische Theorien sowie auf die „stilistischen Innovationen“, die u.a. sein Werk prägen. Dem gegenüber steht jedoch „eine oft sentimentale und nostalgisch-gefärbte Weltsicht [...], die in naiver Weise versucht, die Brüche der Moderne durch den Entwurf idealisierter Welten zu überwinden.“ (Stamm in: Gebhard (Hg.) 2000, 59). In seiner Rezension zur Herausgabe von Dauthendeys Briefen an seine Freunde Ein Herz im Lärm der Welt im Jahr 1933 bescheinigt Walter Benjamin diesen eine „Exotik des Jugendstils. [...] Daher dann das Paradoxon des Jugendstils, in dem ein hoher idealistischer Elan sich nur in üppigen und schwelgerischen oder morbiden und gebrochenen Situationen und Stimmungen zum Ausdruck bringen kann“ (Benjamin [1933] 1972, 384). Sie dauerte von Ende Dezember 1905 bis August 1906 und führte ihn nach Ägypten, Indien, China, Japan und Amerika. Diese Reise war organisiert und gehörte zu den sogenannten ‚Cookparties‘, einer Ostasien-Gesellschaftsreise der Agentur Cook. Thomas Cook organisierte im 19. Jahrhundert in England sehr erfolgreich verschiedenste Reiseangebote. 1846 organisierte Cook seine erste kommerzielle Reise nach Schottland, 1872 bot er die erste Weltreise an. Im Jahr 1854 entstehen in Berlin Reisebüros, die sich am Konzept von Thomas Cook orientieren (vgl. Jost in: Brenner (Hg.) 1989, 494). Im April 1914 begab sich Max Dauthendey auf seine zweite Weltreise. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird er auf Sumatra festgehalten und kann die Insel nicht mehr verlassen. Er stirbt am 29. August 1918 in Malang auf der Insel Java. Vgl. auch die kurze Novelle Die Auferstehung allen Fleisches in: Lingam. Zwölf asiatische Novellen (1909). Darüber hinaus preist er noch in seiner autobiographischen Schrift Der Geist meines Vaters (1912) die Schönheiten der japanischen Landschaft, die er mit der Würzburgs vergleicht. Das umfangreiche Gesamtwerk Max Dauthendeys, das sowohl Gedichte als auch Dramen und Erzählungen umfasst, kann hier nicht weiter Beachtung finden. Mit seinem japanbezogenen Werk befassen sich u.a. Wendt 1936 (Neudr.: 1966); Seyfarth 1960; Gieselberg 1969; Schuster 1977; Reif 1975; Griesshaber-Weninger 1998; Han 1995; Mahr 1999; Nakagome 1991, Buch 1991, 115ff. sowie Stamm in: Gebhard (Hg.) 2000, 59-82. In den Heften der Dauthendey-Gesellschaft erschien im Jahr 2003 eine kleine Zusammenstellung der japanbezogenen Schriften Dauthendeys (vgl. Roßdeutscher 2003).
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Dauthendey, geb. Johanson, die in dem Band Mich ruft dein Bild. Briefe an seine Frau von 1930 veröffentlicht sind.6 Der oben zitierte Brief vom 27. April 1906 formuliert recht unmittelbar ein Erleben, das von Erwartungsenttäuschung geprägt ist.7 Die vorherigen Stationen seiner Reise, Indien und China, haben Dauthendey stark beeindruckt: Üppige, ungewohnte Sinneseindrücke visueller Art, Licht und Farben haben seine Sinne gereizt und seine Erwartungen und Wünsche befriedigt. Und nun ist er in Japan, in dem Land, dem seine Sehnsucht galt und das im zeitgenössischen exotistischen Diskurs eine feste Funktion übernommen hat: Auf Asien insgesamt, aber auch auf Japan wurden die Träume von Naturverbundenheit, Sinnenfreude gepaart mit Unschuld sowie Ganzheitlichkeit (ein weibliches Gegenbild zu der männlich geprägten westlichen Zivilisation)8 projiziert. Besonders Japan wurde als Kultur stilisiert und konstruiert, die, von Geistigkeit und Künstlertum durchdrungen, phantastisch-märchenhaft auf einer Paradiesinsel mehr träumt als existiert: Der Reisende nach Japan trat eine Reise in sein eigenes ‚ästhetisches Ich‘ an.9 Was Dauthendey vorfindet, erlebt er jedoch als müde, grau und farblos, langweilig und traurig. Was vielleicht noch schlimmer ist: Es erinnert ihn an Zuhause. Insofern kann hier von einer doppelten Enttäuschung ausgegangen werden. Einmal erfüllt Japan nicht die Verheißungen und Versprechungen, es ist nicht „so wie es aus der Ferne zu Hause auf mich immer so schön wirkte“. Die exotistische Erwartung, genährt aus Kunst, kulturellen Archiven und zeitgenössischem Diskurs wird mit der Erfahrung einer Wirklichkeit konfrontiert, die diesen Erwartungen nicht standhält. Abgesehen von der vergeblichen Suche nach der erwarteten ‚Fremde Japan‘ beklagt der Briefschreiber aber auch den Mangel an Fremde insgesamt. Die Fremde darf nicht so sein wie das Eigene, sie muss, um ihre Funktion zu erfüllen, Dimensionen beinhalten, die das Fremderleben steuern und der Fremdheitskonstruktion Nahrung verschaffen. Ortfried Schäffter (1991) hat eine Typologie möglicher inhaltlicher Ausdifferenzierungen des Fremderlebens vorgeschlagen, die er als „Erfahrungsmodi des _____________ 6
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Einige der Briefe finden sich außerdem in: Sieben Meere nahmen mich auf (Hg. v. Hermann Gerstner 1987). Jeweils ein weiterer Brief, der nicht in diesen Bänden aufgenommen ist, ist abgedruckt in: Westermanns Monatshefte, Bd. 148, II, H. 887. 74. Jg. Braunschweig 1930, 480f. sowie in Dauthendey 1996, 9. Einige befinden sich noch im Städtischen Archiv in Würzburg. Vgl. auch den Brief vom 26. April 1906 aus Kyôto an seine Schwester: „Alles ist hier umgekehrt wie man sich bei uns vorstellt. Japan ist eine große Alltagswelt voll Eisenbahnen, Telegraphenstangen, und grauen Straßen und dunkel gekleideten Menschen.“ (Dauthendey [1906] 1996, 9). Vgl. zu den Traditionen der „Weiblichkeit des Orients und Japans“ Pekar 2003, 274. Vgl. Kapitel 2.2 Exotismus.
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Fremderlebens“ bezeichnet (Schäffter in: Schäffter (Hg.) 1991, 14). Ein erster Erfahrungsmodus ist durch ein räumliches Grundkonzept gekennzeichnet: „Das Fremde als das Auswärtige, das Ausländische, d.h. als etwas, das sich jenseits einer räumlich bestimmbaren Trennungslinie befindet.“ (ebd.) Diese topographischen (Grenz-)Linien, die die jeweiligen Räume markieren,10 markieren ebenso die Grenze zum anderen, das sich dort auch als anders präsentieren muss. Max Dauthendey hat die Grenze überschritten, den eigenen Ort verlassen und den anderen Ort betreten, aber die Überschreitung einer klaren Trennungslinie manifestiert sich nicht deutlich genug in einer spürbaren, sinnlich wahrnehmbaren Veränderung: „Hier ist es wie in Würzburg, europäisch in der Luft, [...] daß man enttäuscht wie in einem grauen Nebel von Norddeutschland zu leben scheint.“ Hier werden nicht nur Analogien formuliert, die es der Adressatin erleichtern könnten, bestimmte Beschreibungen nachzuvollziehen, sondern das Fremde weist offenbar Züge des Eigenen auf und dies erschwert die Fremdheitskonstruktion und die Exotisierung durch den Schreibenden. Als weitere inhaltliche und strukturelle Dimension von Fremderleben und Fremderfahrung beschreibt Schäffter „Das Fremde als Fremdartiges, z.T. auch im Sinne von Anomalität“ (Schäffter in: Schäffter (Hg.) 1991, 14).11 Diese Dimension gibt Raum für mannigfaltige Phantasien und Projektionen, die historisch besonders im Zusammenhang mit dem raumbezogenen Deutungsmuster reizvoll zu sein scheinen: In der mittelalterlichen Völkerkunde zeigen die Erdprospekte sogenannte Monstrengalerien, wie sie etwa auf der Ebstorfer Weltkarte auftauchen oder auf einer Weltkarte zum Apokalypsenkommentar des asturischen Mönchs und Schriftstellers Beatus von Liébana (Ende des 8. Jh.), der sogenannten Apostel-Karte aus Burgo de Osma (1086).12 Die Beschreibung von Physiognomien, von _____________ 10 11
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Zur Bedeutung des Raumes im Zusammenhang mit Vertrautem und Fremdem vgl. auch: Waldenfels 1985, 194-211 sowie ders. 19992. Zu ›Raum‹ als ein Konstrukt, das handelnd erst hergestellt wird, vgl. Löw in: Handbuch der Kulturwissenschaften; Bd. 1, 2004, 46-60. Außerdem führt er als weitere Dimension auf: „Das Fremde als das noch Unbekannte“ (Schäffter in: Schäffter (Hg.) 1991, 14). Dieser Dimension ist die Möglichkeit inhärent, Unbekanntes vertraut zu machen, während „Das Fremde als das letztlich Unerkennbare“ (ebd.) jedes Vertrautwerden ausschließt. Die Dimension des „Fremde[n] als das Unheimliche“ (ebd.) wiederum verweist darauf, dass ursprünglich Vertrautes plötzlich fremd sein kann. Schäffter rekurriert in diesem Zusammenhang auf die sogenannte ‚innersubjektive Fremderfahrung‘ (vgl. dazu u.a. auch Hammerschmidt 1997 sowie Kristeva 1990 und Freud 19897 [1919]). Zu literarischen Inszenierungen möglicher Dimensionen des Fremden vgl. Gutjahr in: dies. (Hg.) 2002, 47-69. Die Ebstorfer Weltkarte entstand um 1240 im niedersächsischen Benediktinerkloster Ebstorf (verbrannt: 1943). Vgl. z.B. auch die Erdkarte des Richard de Haldingham in der Kathedrale von Hereford (Herefordshire), entstanden zwischen 1276 und 1283 sowie Hartmann Schedels Nürnberger Chronik von 1493 (Liber Chronicarum), die 21 Erdrandsiedlernationen zeigt und porträtiert. Diese Chronik, die auch nach der Entdeckung Amerikas weiter Verbreitung fand, tradiert die über Plinius d. Ä. im VII. Buch seiner Naturalis historia,
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Körpern und Ausdruck, die damit verbundenen Attribuierungen und gewählten Analogien offenbaren, wie fremd und seltsam der menschliche Leib in seinem doch relativ begrenzten Ausgestaltungsrepertoire empfunden wird, bzw. wie dieses Repertoire überschritten und angereichert werden kann13 und welch unreflektierten Ängste, Überlegenheitsphantasien und rassistischen Grundgestimmtheiten hier mitschwingen. Auch die Reisenden des 19. Jahrhunderts erleben das Andere noch als das Fremdartige und Kuriose: „Yosemite, Cal. 31. May 1878. Meine Lieben! [...] Max und Käthe zum besonderen Vergnügen will ich erzählen, daß wir auf der Eisenbahnfahrt viele Indianer gesehen haben in den verrücktesten Costümen, auch hier wohnen einige dicht bei uns. Sie sind sehr klein, haben lange schwarze Haare und braune plattgedrückte Gesichter. Manche Männer sehen wirklich zum Fürchten aus. Von New York bis Salt Lake waren alle Kellner, Diener etc., auf der Bahn wie in den Hôtels, Schwarze. Denkt Euch der Schreck, wenn plötzlich solche rabenschwarze Hand die weiße Kaffeetasse vor Euch hinsetzt oder solch krausköpfiger Neger die weißen Zähne zeigt, wenn er Euch etwas fragt.“ (Schultze, Emma [1878] in: Hesekiel (Hg.) 1980, 39f.)
Max Dauthendey beschreibt in seinen Briefen durchaus Unterschiede in den Physiognomien von Europäern und Japanern – diese bedienen den bekannten Topos vom Lande Lilliput: „Sechs Doktoren sind an Bord gekommen und untersuchen, sechs kleine bescheidene und kluge Japanerlein, einer so groß wie der andere, als ob die kleine Erde hier alle Menschen nach einem Modell machen ließe.“ (Dauthendey [1906] 1930, 142), insgesamt jedoch ist er enttäuscht, alle Japaner sehen ihm „zu irdisch“ aus. Tatsächlich suchten Reisende in Japan nach der extremen Fremdheit, und noch im Jahr 1939 schreibt Friedrich Sieburg in Die stählerne Blume: „Sekundenlang ist mir, als sei ich auf einen fremden Planeten geraten, dessen Bewohner uns durch ihre Fernrohre einiges abgeguckt haben, ohne darum _____________
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und über die Collectanea rerum memorabilium des Solinus zu Augustinus und Isidor von Sevilla gelangte Kunde von den Wundervölkern am Erdrand, die vom Klerus begierig aufgegriffen wurde (vgl. Perrig in: Koebner; Pickerodt (Hgg.) 1987, 33f.; ebenso Pollig in: Exotische Welten 1987, 16-26, hier 17; vgl. auch: von den Brincken 1992 sowie Kleinschmidt 2002). Ein ‚Monstrum‘ ist „das Produkt einer Mischung verschiedener Arttypen [...], dessen Bestandteile als arttypisch erkennbar bleiben und dessen Ganzes eine Anomalie darstellt.“ (White 1986, 225). Alexander Perrig weist darauf hin, dass bis ins 18. Jahrhundert alles und jeder ‚Monstrum‘ hieß, „was aus dem Rahmen des dem Europäer Vertrauten herausfiel“: Menschliche und tierische ‚Missgeburten‘, Menschen mit anderem Wuchs, Gliedern, Behaarung, Menschen die „durch Mangel an dezenter Bekleidung und westlichen Sitten oder durch Fremdheit der Sprache oder der Wohn- und Ernährungsweise Befremden erzeugte[n].“ (Perrig in: Koebner; Pickerodt (Hgg.) 1987, 41) Vgl. dazu auch die Beiträge in: Gernig (Hg.) 2001 sowie Weiler in: Stanzel (Hg.) 1999, 97-118. Vgl. auch die Gestaltbildungen in modernen Science-Fiction Filmen und eben solchen Fernseh-Serien, die sich wiederum als ‚Monstrengalerien‘ präsentieren.
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aber ihren Stern zu verlassen. Vielleicht ist dies alles nur geträumt“ (Sieburg 1939, 51).14 Das in dem Brief an seine Frau unmittelbar ausgedrückte Erleben verund bearbeitet Dauthendey vier Jahre später in seiner lyrischen Reisebeschreibung, dem gut 500 Seiten langen Werk Die geflügelte Erde. Ein Lied der Liebe und der Wunder um sieben Meere von 1910. In diesem Werk (re-) konstruiert, gestaltet und kontextualisiert er seine Erlebnisse und Wahrnehmungen aus der Fremde sprachlich und inhaltlich in freien Langversen mit End- und Binnenreimen.15 Die zeitliche Distanz zwischen der unmittelbaren Niederschrift des Erlebens im Brief und der Bearbeitung für die Veröffentlichung wandelt das Erleben in einen erinnerten Eindruck. Der Brief selbst wird zu Material: Er wird, ebenso wie kleine Souvenirs, einige selbst gemalte Bilder sowie Postkarten als Erinnerungshilfe genutzt:16 „17. Februar 1906, abends 8 Uhr. [...] Ich sende die vielen Postkarten an Dich, [...] denn der frische Eindruck, mit dem sie geschrieben sind, wird sie mir später für meine Arbeit wichtig machen.“ (Dauthendey [1906] 1930, 101) Beim Schreiben des privaten Briefes stehen noch die Erlebnisse, die frischen Eindrücke sowie die konkreten Wahrnehmungen und Empfindungen im Vordergrund. Sie sind es, die unmittelbar mitgeteilt, abgebildet werden sollen. Der Akt des Schreibens als konzipierende Vermittlung des Erlebten rückt in den Hintergrund, erschöpft sich in der Niederschrift und der Mitteilung. Bei der sprachlichen und konzeptuellen Bearbeitung _____________ 14
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Dennoch findet sich auch in der Reisebeschreibung Friedrich Sieburgs noch der anthropologische Universalismus, der auch den Exotismus der Jahrhundertwende kennzeichnete: „Sonne, Nacht, Regen und Wind gehen über jedes von Gott geschaffene Land hinweg, wie Lächeln und Schmerzschatten jedes Menschengesicht heimsuchen. Innere und äußere Landschaft, innere und äußere Witterung sind denn auch das, was jedes Reiseziel, sei es auch noch so fremdartig, zur Heimat macht und jedem Wanderer, wie weit er auch den Stab setze, Vertrauen in seine eigene Art einflößt.“ (Sieburg 1939, 8f.). Auch in diesem Reisebericht zeigt sich, dass die Konstruktion von Fremdheit einem Universalismus nicht nur nicht entgegenstehen muss, sondern sogar Bestandteil eines solchen sein kann. Ingrid Schuster verweist auf das Vorbild für Dauthendeys Konzeption: Alfons Paquet: Auf Erden. Ein Zeit- und Reisebuch in fünf Passionen. Düsseldorf 1906 (vgl. Schuster 1977, 70). Parallelen in der Darstellung lassen Rückschlüsse auf eine solche Nutzung der Briefe zu, auch wenn es Dauthendeys eigener Stilisierung des Schreibaktes als ‚sinnliches Nacherleben‘ im Austausch mit seiner Frau widerspricht: „Ich hatte auf der Weltreise unterwegs keine Notizen gemacht, was ich niemals auf Reisen tue, hatte mich durch keine Bücher auf die Reise vorbereitet, las auch nach meiner Heimkehr nicht die Briefe durch, die ich unterwegs geschrieben hatte, sondern hielt mich nur an mein und ihr [Annie Dauthendeys] Auge, an unsere inneren und äußeren Augen, mit denen ich die große Reise nochmals nachreiste“ (Dauthendey 1913, 256). Etwaige Vorlagen werden dementsprechend bagatellisiert: „Nur einige Photographien und Ansichtspostkarten und nur kleine Geschenkerinnerungen, die ich von jedem Ort unterwegs für meine Frau mit nach Hause genommen hatte, nur diese winzigen Stückchen Wirklichkeit halfen mir zwei Jahre lang nochmals die sieben Meere und ihre Wunder in einer Dichtung aufleben zu lassen.“ (ebd.). Vgl. dazu auch Dauthendey, Annie 1933, 9.
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des Erlebten für die Veröffentlichung, etwa im Rahmen einer literarischen oder lyrischen Reisebeschreibung, werden dann die niedergeschriebenen Erlebnisse und Eindrücke zu Material. Es ist jetzt die unmittelbare und authentische Wiedergabe des Erlebten, die im Prozess des Schreibens, Konzipierens und Gestaltens in den Hintergrund rückt: Das Erleben wird für das Schreiben funktionalisiert. Hans Jürgen Heinrichs schreibt in seinem Essay Die geheimen Wunder des Reisens (1993): „Die Arbeit am Text beginnt da, wo der Brief längst geschrieben ist und die Beziehung zwischen mir und dem Erlebten schon etwas Fiktives bekommen hat, sich verwischt, neu gestaltet wird: jetzt liegt alles, fast alles, in meiner Feder“ (Heinrichs 1993, 101).
Dennoch spiegelt auch der Brief nicht ‚die Wirklichkeit‘ oder auch nur die authentische Wahrnehmung des Schreibenden. Ein Brief ist, neben anderem, die Mitteilung eines Eindrucks, eines Erlebens, einer Wahrnehmung an einen (relativ) klar bezeichneten Adressaten. Er ist aber – ebenso wie der für eine größere Öffentlichkeit bearbeitete Text – unter bestimmten Voraussetzungen gestaltet. Die Darstellung im Rahmen eines Briefes unterliegt jedoch anderen Funktionen, Vorgaben und Bedingungen, die weiter unten in ihrem Einfluss auf die Darstellung des Erlebens in der Fremde näher hinterfragt werden sollen.17 Die Bearbeitung des Erlebten im Rahmen einer Reisebeschreibung als öffentlicher (literarischer) Text konstruiert das Erleben im Sinne einer bestimmten stilistischen und inhaltlichen Gesamtkonzeption neu und deutet es nun unter einem Gesichtspunkt, von dem aus den vergangenen und verblassten bzw. eventuell blassen Eindrücken frische Farben aufgetragen werden. In dem epischen Langgedicht Max Dauthendeys wird etwa dessen Lebensphilosophie zu einem wichtigen Ausgangspunkt der Deutung bzw. der Gesamtkonzeption der Darstellung. Dies führt u.a. dazu, dass die Müdigkeit der Menschen, der leise, farblose, graue Wahrnehmungseindruck, den er im eingangs zitierten Brief beschreibt, so umgedeutet wird, dass er mit den exotistischen Sehnsuchtsbildern der lesenden Öffentlichkeit (sowie denen des Autors) kompatibel bleibt: Der in den Briefen unmittelbar geschilderte enttäuschende Eindruck bekommt im Kontext dieser Philosophie eine ganz eigene, besondere Bedeutung verliehen:18 _____________ 17 18
Vgl. Kapitel 4.3 Briefe aus der Fremde. „Ich mache im literarischen oder essayistischen Text nur eine weitergehende Bewegung als im Brief, was überhaupt nicht bedeutet, daß ich nicht wieder auf die Ebene des Konkreten, des unmittelbar Erlebten zurückkomme. Aber dies steht dann im Zusammenhang mit einer Form, die sich losgelöst hat vom Erlebnis, die eine allgemeinere Wahrheit als das im Brief Mitgeteilte beansprucht, einer Idee folgt, ein Eigenes sein will.“ (Heinrichs 1993, 95). In diesem Zusammenhang muss auch der sich in Dauthendeys Werk zu findende anthropologische Universalismus gedeutet werden, der Bestandteil seiner Lebensphilosophie ist.
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„Mir erschienen die Japaner von allen Erdwesen die, Welche auserlesen und voller Ehrgeiz dem Reiz einer peinlichst geordneten Weltseele dienen, und sie sind alle ihr Leben lang zum Wettstreit bereit In der Unterwürfigkeit vor des Allebens Hoheit. Jedes echten edlen Japaners Ich ist das All. Dem All allein gilt sein Dasein wie ein einziger unendlicher Fußfall. Ich suchte in Japan von der ersten Stunde an das Lächeln, das wir an den Japanern loben. Ich suchte vom ersten bis letzten Tag, aber mir scheint, Das Lächeln hat er heut daheim nur für sein Haus noch aufgehoben. Das Lächeln heut nicht leicht mehr auf der Straße lag. [...] Aber aus dem Japaner strahlt ein unsichtbares Lächeln, das sich wie die reine Luft am Morgen ihren Weg schafft, [...] Die Seelenaugen der Japaner stehlen sich zu den zarten Blumenfiguren des Feldes, zu den Wäldern und Landschaften hin, Sie gehen auf darin in der Spur der Natur, in einer lächelnden Luft am friedlichsten Sinn; ein Grashalm, der eine Mücke wiegt, Gibt jedem Japaner ein Lebensstück, bei dem sein demütig Auge angeregt still liegt. Und die beschauliche Stille wird ihm zu seiner Seligkeit die Brücke.“ (Dauthendey 1910, 294)
Die Lebensphilosophie Dauthendeys ist stark von seinem Interesse an und seinen Vorstellungen von Asien geprägt. Christliches, buddhistisches und taoistisches Gedankengut19 vereinigt sich in seinem Denken, das u.a. von den polaren Begriffen „Weltferne“ und der „Weltnähe“ bestimmt ist.20 Beide Dimensionen des Lebens sind jedoch in Dauthendeys Vorstellungswelt ewig, allgegenwärtig und gleichzeitig, sie sind eine „dialektische Einheit“ (Han 1995, 27). Darüber hinaus ist die „Allbeseelung“ der Dingwelt und das Liebesverhältnis zwischen Mann und Frau, sowohl idealistisch, als auch als konkreter körperlicher Akt, bestimmend für seine Lebensphilosophie, denn im Liebesakt findet der Mensch Zugang zu den Dingen der Welt und zum Weltall. Die Liebe ist das, was alle Völker der Erde vereint, und auch dieser Gedanke spiegelt sich in seiner Reisebeschreibung wider:21 _____________ 19 20 21
Die Rezeption des Taoismus, die 1824 in Europa begann, fand, ebenso wie die Asienbegeisterung insgesamt, um die Jahrhundertwende ihren Höhepunkt (vgl. von Felbert in: Fischer (Hgg.) 1987, 92 sowie Schuster 1977, 147-177 und Reif 1975, 103ff.). „Weltferne“ bezeichnet hier den Mittelpunkt des Lebenskreises im Weltall, das Unabänderliche, „Weltnähe“ die Peripherie des Lebenskreises, das äußere Leben, die wandelbaren Erscheinungen, das sich Verändern-Wollende. Die Idee von der „Weltfestlichkeit“ schließlich, die das Weltall als Festlichkeit begreift, wobei der Mensch und das Leben des Menschen Teil dieses Festes ist, rundet die Lebensphilosophie Dauthendeys ab, der sich durchaus als Vermittler und Künder dieser neuen Philosophie für das deutsche Volk verstand. Zu den Bezügen zur asiatischen Weltanschau-
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„Die Liebe vom Mann zum Weib ist rings um die Erd’ eine Einheit, die Liebe ist die einzige Gottheit, die mit ihrer leidenschaftlichen Gebärde die Menschen leben und Sterben heißt. Diese Liebe ist der rote Faden im Labyrinth der sieben Meere, der niemals abreißt [...] Alle Völker bauen um die Liebe ihre Herde, allen Völkern lehrt sie der Weisheit vornehme Gebärde, Und allen Völkern gräbt sie ihr Grab in die gleiche Erde.“ (Dauthendey 1910, 372)
‚Den Japanern‘ wird in der lyrischen Reisebeschreibung die Rolle zugewiesen, Aspekte dieser Lebensphilosophie zu verkörpern. Dauthendey selbst beschreibt diese (Re-)Konstruktion des Erlebens und Wahrnehmens in einem sinnsuchenden, bedeutungsgebenden und sprachlich-gestalterischen Prozess als Schicksal des Künstlers, bei dem die „Wirklichkeit“ mit den „Unwirklichkeitsbildern“ versöhnt werden muss:22 „Und wenn ich an japanische Bilder dachte, mußte ich mir gestehen, daß auch die japanischen Künstler und Dichter mehr Farben, als die Wirklichkeit täglich hat, sehen. Denn der Künstler wird ja nie am Leben satt und muß mit seiner großen Sehnsucht vergehen [...] Der Künstler muß den Unwirklichkeitsbildern frönen, die mit ihm reden, lachen, weinen, stöhnen, die in der Künstlerseele kommen und gehen, Und sich mit der Wirklichkeit nur im Kunstwerk versöhnen;“ (ebd., 308)
Nicht immer führt aber eine solche künstlerische Bearbeitung des Erlebens, der Wirklichkeit, auch gleichzeitig zu einer Form und Darstellungsweise, die das Erleben seiner Alltäglichkeit enthebt, die es zur Chiffre formt, damit es so – für die Lesenden – eine Relevanz erhält, die über diejenige des konkreten Erlebnisses hinausweist. Die von Dauthendey gewählte sprachmalerische Ausgestaltung der Reiseerlebnisse in lyrischer Form erweist sich als Korsett, durch das die Schilderungen in ewig gleichem Rhythmus dahinplätschern – dies führt dazu, dass die Genauigkeit der Darstellung und die reichhaltigen Facetten der Wiedergabe von _____________
22
ung und Philosophie vgl. Schuster 1977, 66ff.; Han 1995 sowie insbesondere Stamm in: Gebhard (Hg.) 2000, 61ff. Zur Bedeutung Asiens für die Inhalte der Lebensphilosophie um die Jahrhundertwende vgl. Günther 1988, 215ff. Zu Erwartung, Wahrnehmung und Erfahrung Japans durch Dauthendey vgl. auch Stamm in: Gebhard (Hg.) 2000, 66-70. Stamm verweist auch auf den Umdeutungsprozess Dauthendeys, in dem die in den Briefen thematisierte Enttäuschung, die das Land seinen Sinnen bereitet, im Zusammenhang mit einer „Ästhetik der Reduktion“ (ebd., 70) eine eigene Bedeutung erhält: „Insofern weist diese japanische Welt voraus auf eine abstrakte, bildlose Kunst.“ (ebd.).
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Sinneswahrnehmungen als Geschwätzigkeit empfunden werden.23 Als Beispiel soll hier kurz ein Ausschnitt seiner Beschreibung eines Kirschblütentanzes angeführt werden: „Die Lautensaiten lallen, als ob aus den Lüften, den weiten, wie flaumige Federn die Kirschblüten fallen. Die kleinen Holztrommeln tönen, Holzstäbe mit Taktschlägen klappern, als ob Quellen glucksen, als ob selbst Holz und Steine sich freudig regen, Und gesellen ihr Lied zum Aufschwellen der Kirschblüten und zu der Kirschenäste Wiegen. Und die achtzehn Musikantinnen singen, Als ob ihnen gemurmelte Herzenswünsche halblaut von den Herzen entfliegen. Indes ihrer Instrumente Chor, wie Bienengesumm eines Kirschbaumes, Einlullte dein Ohr, tritt auf jeder Seite, auf dem Empor, ein Zug blau und rosig gekleideter Mädchen hervor.“ (ebd., 326)
Die von Heinrichs (1993) geforderte pointierende Überformung und Kontextualisierung einzelner Erlebnisse oder Wahrnehmungseindrücke, die u.a. die ästhetische Qualität des Reisetextes kennzeichnet (vgl. ebd., 106), sucht der Lesende in Die geflügelte Erde von 1910 vergeblich. Der Abschnitt über seinen Aufenthalt in Japan (S. 287–422) ist eine genaue Ausgestaltung der Chronologie seiner Reise, wie sie sich auch in den Briefen an seine Frau spiegelt. Die Erlebnisse werden in aller Ausführlichkeit in Verse gesetzt.24 Christiane C. Günther (1988) weist darauf hin, dass die wiedergegebene Chronologie der gesamten Reiseerlebnisse außerdem „der Cookschen Abhandlung der Sehenswürdigkeiten des jeweiligen Landes entspricht.“ (ebd., 254)25 Dieser Versuch, einen chronologisch exakten, detailgetreuen und auch informativen Reisebericht als Epos über eine Weltreise anzulegen, das Eindrücke, Erlebnisse und Wahrnehmungen poetisierend und exotisierend in Verse setzt sowie das Anliegen, dies zudem mit einer Darlegung der eigenen Lebensphilosophie zu vereinigen, kann als misslungen bezeichnet werden. Das lyrische Ich ist als Vermittlungsinstanz nicht stark genug, um die Lesenden mit auf die Reise zu nehmen: Es spiegelt und interpretiert Wahrnehmungen und Empfindun_____________ 23 24
25
Mahr (1999) vermerkt hierzu: „Das Werk ist unausgeglichen. Aufblitzende Genauigkeit verliert sich in endlosem Palaver. Der erhoffte Erfolg blieb aus.“ (ebd., 25). So beginnt die Beschreibung des Kirschblütentanzes in einem Brief aus Kyôto vom 27. April 1906 an seine Frau folgendermaßen: „Eben komm ich aus dem Theater vom Kirschblütentanz zurück. Es war wundervoll. Die ganze Cookparty war entzückt, auch die Damen. [‚Cookparty‘ wurde damals die knapp zehnköpfige europäische Reisegruppe genannt]. Die Musik war, als ob Dein Götzle sie komponiert hätte, und der Gesang auch“ (Dauthendey [1906] 1930, 147). Auch zu diesem Zeitpunkt findet sich also bereits die von Jost konstatierte „Entindividualisierung des Erlebens“ im Reisen (Jost in: Brenner (Hg.) 1989, 492). Vgl. auch Kapitel 3.1.1 Reisen, Schreiben, Lesen.
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gen in seiner eigenen Seele und im Kontext einer Lebensphilosophie, kann jedoch an kaum einer Stelle einen identifizierenden Leseakt motivieren. Dennoch fand der Text durchaus sowohl von Seiten der Leser/innen als auch in der Fachwelt Beachtung. Klaus R. Scherpe schreibt: „Was das ethnologische Interesse angeht, so ist der weltreisende und weltbeschreibende Autor – 1910 erscheint sein exotistisches Versepos und Gesamtkunstwerk Die geflügelte Erde – keineswegs zu unterschätzen. Seine laut- und wortmalenden ‚Studien‘, die auf den ersten Blick wie ein Remake der ‚malenden Poesie‘ des 18. Jahrhunderts anmuten, setzten ein volkskundliches, politisches und geographisches Studium der fremden Länder ebenso voraus wie den professionellen Umgang mit den neuen Wahrnehmungstechniken.“ (Scherpe in: Honold; Scherpe 2000, 35f.)26
Eine Bewertung des Werks aus heutiger Sicht stößt sich aber unvermeidlich an der schwärmerischen und exotisierenden Haltung des Schreibenden. Auch Dauthendey greift auf den bestehenden Themenkatalog der zeitgenössischen Japanbeschreibung zurück und bedient die Erwartungen der Leserschaft. Kaum ein Mosaikstein zur (Re-)Konstruktion des Sehnsuchtsraums Japan fehlt, bis hin zu dem kleinen ‚harmlosen Abenteuer‘ mit einer Geisha, das jeder männliche Japan-Reisende erlebt;27 die Topoi und Stereotype (Größenrelationen, das Bild von der japanischen Frau, ...) werden unbeschadet weitergetragen. Dennoch zeigt Dauthendey, dessen einmonatiger Aufenthalt in Japan organisiert und vorstrukturiert war, auch Seiten des Landes, die andere impressionistische Reiseberichte verschweigen,28 so etwa die Auswirkungen des japanisch-russischen Krieges oder Schaukämpfe von weiblichen Sumo-Ringern. Bei dieser Darstellung gewinnt die Anschaulichkeit der Schilderung von Sinneswahrnehmungen eine neue ‚Qualität‘: „Das schwitzende Fett auf jedem Kämpferinnengesicht und auf den Leibmuskeln wurde von den ringenden Fäusten umpackt. Aber das Fett entglitt und man hörte fortwährend, wie im Takt, Das hohle Schlagen von Handflächen auf Rücken, Schenkel, Magen und von nackter Sohle den klatschenden Schritt. [...] Und beide sich am Boden wälzten, ähnlich zwei weißen Fettstücken, dabei vor Wut rauchend und wie Katzen pfauchend. [...]
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27 28
Margarita Gieselberg (1969) situiert Dauthendeys Wahrnehmungsschema zum Zeitpunkt seiner Weltreise „zwischen dem subjektiven Sich-Anverwandeln fremden Kulturguts und dessen wissenschaftlichem Studium.“ (ebd., 285). Zu seiner tatsächlichen Kenntnis der japanischen Kultur und der japanischen Literatur, vgl. ebd., 286ff. Die Gesamtkonzeption des Werks, die auch das Motiv der Sehnsucht nach seiner Frau in der Heimat beinhaltet, lässt eine Konkretisierung der Begegnung jedoch nicht zu. Vgl. dazu auch Pekar 2003, 270.
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Und trug ihren Kampfgeruch unter meinem Nasenbein. Und ich brauchte viel kölnisch’ Wasser auf meinem Taschentuch, um mich von ihrer Muskel-Inbrunst zu befrein.“ (Dauthendey 1910, 414f.)
Dauthendeys eigentliche Stärke, die er in den Erzählungen Die acht Gesichter am Biwasee entfaltet, zeigt sich erst in der Reduktion. Die impressionistischen Novellen erzählen acht Liebesgeschichten, die eng mit den Jahreszeiten und den Landschaften verwoben sind. Der japanische Landschaftsraum als Ort der Handlung, die Gestaltung des exotischen Reizes der Landschaft, der Menschen und der japanischen Kultur, all dies ist stark von Dauthendeys Vorstellung von Asien und seiner Idee vom asiatischen Lebens- und Naturgefühl geprägt und entstand vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in Japan.29 Die Erzählungen enthalten aber nur noch Spuren des eigenen Erlebens, so tauchen zwar einzelne Versatzstücke aus der geflügelten Erde auf, diese sind aber auf das Wesentliche reduziert. Dauthendey bedient sich einzelner Eindrücke aus seiner Reise und deren Beschreibung in dem Versepos und nutzt diese entweder als Kulisse für das Geschehen30 oder als Ausgangspunkt einer Geschichte.31 Obgleich er in den Novellen eher ein Gegenbild der eigenen Kultur zeichnet als ein von ernsthafter inhaltlicher Auseinandersetzung geprägtes Bild der anderen Kultur, verzichtet er in seinen Novellen auf die gängigsten Klischees und Topoi, die er für die Reisebeschreibung noch aus_____________ 29
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Ingrid Schuster betrachtet in ihrer Untersuchung u.a. die sogenannten „Japanischen Erzählungen“ als eine neue Form der Erzählprosa, die aus der Erfahrung ‚eigener Anschauung‘ entstanden (vgl. Schuster 1988, 265ff.). Die Schreibenden wählten Japan zum Schauplatz und verarbeiteten eigene Erfahrungen, eigenes (vermeintliches) Faktenwissen sowie die Aspekte der japanischen Kultur, die für die den jeweiligen Erzählungen inhärente Botschaft relevant schienen (die Erzählungen Dauthendeys selbst sind freilich – bis auf die Titel und die acht Naturschönheiten – alle „dauthendeysche Erfindung. Alles glücklich erlogen.“ (Dauthendey [1918] 1933, 21). Neben Max Dauthendey sollen an dieser Stelle noch stellvertretend Rudolf Lindau, Hugo Rosenthal-Bonin und Emma Brauns genannt werden, die bereits in den ersten Jahren nach der Öffnung nach Japan kamen. Die Beschreibungen aus Kyôto und Nikkô in: Das fliehende Abendrot zu Seta (Dauthendey 1987, 121-136). Das Wildgänsezimmer im Tempel von Kyôto (vgl. Dauthendey 1910, 334) oder „Der alte Baum am Biwasee“ (ebd., 348f.) in: Die Abendglocke des Miideratempels hören (Dauthendey 1987, 57-68). Auch berichtet er in dem Abschnitt Die acht Seebilder beim Miideratempel (Dauthendey 1910, 349f.) von einem „fleißigen japanischen Weiblein“, die in einem Teehaus Süßigkeiten verkauft und die ihm von den acht Schönheiten des Biwasees erzählt – wobei nicht nur aufgrund des Sprachproblems diese Szene als ‚Inszenierung‘ oder Literarisierung im eigentlichen Sinne eingeschätzt werden muss. Mahr identifiziert als Dauthendeys „wichtigste Quelle“ acht Landschaftsbilder (omi-hakkei; omi: Name der Provinz), die die acht schönsten Blickpunkte auf den See darstellen und die auf eine chinesische Tradition zurückgehen. Die Acht Ansichten wurden, wie bereits kurz erwähnt, etwa von Hiroshige als Holzschnitte dargestellt; vgl. Mahr 1999 sowie Harig 1999. Zu literarischen Quellen und Intertextualitäten vgl. Schuster 1977, 75ff. Zum „erzählerischen Programm“ der acht Geschichten vgl. Stamm in: Gebhard (Hg.) 2000, 70ff.
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gestaltet. Insgesamt setzt er in seiner Novellensammlung um, was er in seinem Buch Gedankengut aus meinen Wanderjahren (1913) als dasjenige formuliert, was die europäischen von den japanischen Künstlern lernen können: „mit möglichst wenig Worten in der Dichtung eindringlich viel sagen“ (Dauthendey 1925, Bd. 2, 349).32 Die bisher exemplarisch untersuchten, für die Öffentlichkeit konzipierten und publizierten Textformen ließen Rückschlüsse auf den zeitgenössischen literarischen und exotistischen Diskurs über die ‚Fremde Japan‘ sowie über die, den jeweiligen Textsorten inhärenten Vorgaben und Ausdrucksmöglichkeiten der schriftlichen Gestaltung und Bearbeitung der Fremderfahrung sowie der Fremdheitskonstruktion zu. Gattungskonvention, öffentlicher, zeitgenössischer Diskurs, die Notwendigkeit einer einheitlichen Gesamtkonzeption, Intertextualität sowie die jeweilige Funktion der gewählten Darstellungsform bilden neben den individuellen und kollektiven Wahrnehmungsweisen der Schreibenden die Filter, durch die die Erfahrungen mit und die Darstellung von der als fremd empfundenen Kultur laufen. Das Schreiben in zeitlicher Distanz und im Rahmen einer bestimmten Gattungskonvention formt die Gesamtheit des Erlebens und Empfindens sprachlich-stilistisch zu etwas Neuem – das Erlebnis wird Text: „jetzt liegt alles, fast alles, in meiner Feder“ (Heinrichs 1993, 101). Welche Möglichkeiten, Begrenzungen und Konventionen bietet nun der private Brief, der, der nicht für eine Veröffentlichung bestimmt ist, sondern der sich an einen bekannten, vertrauten Leser richtet, um Erfahrungen aus und mit der Fremde zu versprachlichen und mitzuteilen? Der private Brief aus der Fremde in die Heimat Im Folgenden sollen Briefe im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, die, soweit dies überhaupt feststellbar ist, nicht auf eine Publikation hin angelegt waren. Als Material wurden insbesondere drei Briefsammlungen ausgewählt: Die Briefe von Georg Michaelis,33 die von Albert und Lina Mosse34 sowie die von Emma und Wilhelm Schultze.35 Geschrieben wurden _____________ 32 33 34 35
Die Novellen sollen an dieser Stelle nicht weiter untersucht werden, da der Fokus im Folgenden auf dem privaten Brief als Ausdrucksform liegt. Zu einzelnen Erzählungen dieser Sammlung vgl. Kapitel 5. Becker (Hg.) 2001. Mosse 1995. Hesekiel (Hg.) 1980. Ergänzend werden noch Briefe und Tagebuchaufzeichnungen von Erwin Bälz hinzugezogen (Bälz, Toku (Hg.) 1931) sowie einige Briefe Max Dauthendeys und die eines japanischen Studenten, MATSUMURA Jinzo, der sich zwischen 1886 und 1887 in Würzburg und Heidelberg aufhielt (Gimmler; Masuda (Hgg.) 2001). Die Briefzeugnisse Matsumuras wurden zunächst aus dem Altjapanischen ins Englische übersetzt. Der
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sie in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von Männern und Frauen, die sich für längere Zeit von Zuhause verabschiedeten, um aus beruflichen oder familiären Gründen nach Japan zu gehen. Veröffentlicht wurden die Briefe erst sehr viel später, von Nachkommen sowie von der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens (OAG) Tôkyô.36 Die brieflichen Mitteilungen sind an jeweils genau bezeichnete Adressaten gerichtet oder dazu bestimmt, im engeren Familienkreis – einer kleinen, vertrauten Öffentlichkeit – weitergereicht zu werden. Es gibt im Bewusstsein der Schreibenden eine klare Abgrenzung zwischen dieser Form der Öffentlichkeit, die vielleicht als „private Öffentlichkeit“ bezeichnet werden kann, und einer größeren Öffentlichkeit, die ein anderes Schreiben einfordern würde: „Tokio d. 21. Februar 1887. Liebe Mutter! Ich bin zwar müde, und wenn Du mir versprichst, meine Briefe nicht drucken zu lassen, will ich Dir sogar gestehen, daß ich ‚hundemüde‘ bin. Wie ich auf den Gedanken komme, daß meine epistolaren Leistungen dem Setzer verfallen könnten? Nun, gestern kam uns das Buch des Herrn Böckmann über seine Reise nach Japan in die Hände, in welchem er seine Briefe an seine Frau für die staunende Mitwelt in der Reichsdruckerei hat vervielfältigen lassen, und seit ich das Gelächter gehört habe, welches dieses gloriose Druckwerk hier hervorruft, wo die Leute sitzen, welche für eine Urteilsfällung kompetent sind, peinigt mich der Gedanke: ‚Herr Gott, wenn dermaleinst meine Enkelkinder meine Briefe drucken ließen, welche posthume Blamage!‘ Seitdem bin ich ängstlich und befangen, und bitte Dich daher, das ‚hundemüde‘ lieber zu streichen.“ (Mosse, Albert [1887] 1995, 227) „Entschuldigt bitte das unlogische Hin- und Herspringen in diesem Brief. Es ist schon spät und ich habe heut schon ziemlich viel geschrieben. Ich beabsichtige ja auch nicht ihn à la Böckmann drucken zu lassen.“ (Mosse, Lina [1887] 1995, 233f.)
Auch Georg Michaelis, dessen erste Briefe von seiner Reise nach Japan (allerdings verändert und gekürzt) in der christlich-sozialen Zeitung Der Reichsbote abgedruckt wurden, war von der Veröffentlichung seiner Briefe, _____________
36
deutsche Herausgeber, Hartmut Gimmler, schreibt im Vorwort, er habe diese dann „ins Deutsche übertragen (nicht übersetzt!), wobei ich mir ausreichend Freiräume genommen habe.“ (Gimmler 2001, 3) Diese „Freiräume“ (soweit ersichtlich mit Kursivdruck gekennzeichnet) bestehen nach Aussagen des Herausgebers in Kommentaren, Hinzufügung von Bemerkungen und Kapitelüberschriften, der Tilgung einiger Sätze sowie einer neuen Gliederung. Eine solche mehrfache Bearbeitung der Briefzeugnisse führt dazu, dieselben nur unter Vorbehalt als authentische Äußerungen zu verstehen, zumal auch nicht ganz offensichtlich ist, was der Herausgeber mit „übertragen (nicht übersetzt!)“ meint. Dennoch geben sie vielleicht ein ungefähres Bild einer Fremderfahrung eines japanischen Studenten, der sich am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland aufhält. Einige Äußerungen sollen deshalb an gegebener Stelle die der Deutschen in Japan kontrastieren oder spiegeln. Auf die Gründe, die zur Herausgabe der Briefe führten, wird im Einzelnen noch eingegangen werden; vgl. Kapitel 4.2. Als Fremde in der Fremde – Das Briefmaterial.
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die durch Verwandte in Schlesien veranlasst worden war, peinlich berührt und unterband diese recht schnell.37 Die Veröffentlichung von (auch privaten) Reisebriefen aus Japan hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchaus bereits Tradition. Nach der erzwungenen Öffnung der japanischen Häfen durch Commodore Matthew Perry im Jahr 1853/54 wurden bereits 1855 erste private Aufzeichnungen von Teilnehmern dieses Unternehmens veröffentlicht.38 Der ersten preußischen Expedition nach Japan, die dem Ausforschen von Handelschancen galt, folgten ebenso rasch Berichte von Teilnehmenden.39 Ingrid Schuster (1988) verweist darauf, dass das heimische Lesepublikum insbesondere so bezeichnete private Aufzeichnungen von Reisenden schätzte, die als die vermeintlich ersten Angehörigen der eigenen Kultur dieses geheimnisvolle Land besuchten. Diese Textform wurde selbst den aufwändigen Prachtausgaben der offiziellen Berichte vorgezogen, und so fanden die ‚privaten Reisebriefe‘, die in den Zeitungen veröffentlicht wurden, regen Zuspruch: „Für die Teilnehmer an dieser ‚Ostasien-Expedition‘ Preußens waren sogar Nebensächlichkeiten des japanischen Landes und Lebens von Interesse – exotische Details, die es sich lohnte, den zuhause Gebliebenen mitzuteilen.“ (Schuster 1988, 263) Um das im Weiteren herangezogene Material in dieser Grauzone zwischen privat und öffentlich noch einmal genauer zu situieren, muss betont werden, dass es nicht der vielfach beschriebenen Textsorte Reisebriefe zugerechnet werden kann.40 Reisebriefe im engeren Sinne zeichnen sich dadurch aus, dass sie als Brieffolgen in regelmäßigen Abständen nach Hause geschickt werden und bereits auf eine Veröffentlichung hin angelegt sind, worauf ihre rasch erfolgende Publikation verweist.41 Diese Texte verwenden die Briefform im „uneigentlichen Sinne“ und haben eine ganz _____________ 37
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„Es ist mir übrigens höchst unbehaglich, daß alle meine Briefe, auch die nicht drauf eingerichteten, abgedruckt werden. Diese eingehende Publikation lag gar nicht in meiner Absicht. Ich höre nur indirect davon durch dich u. Hering’s Angehörige. [...] Hoffentlich hören inzwischen die Publikationen der Briefe auf; der Gedanke daran nimmt mir die Harmlosigkeit beim Schreiben.“ (Michaelis [1886] 2001, 174; 180). Vgl. auch Becker (Hg.) 2001, 63. Für die multifunktionale Gattung Brief scheint eine eindeutige Zuordnung zu den beiden Polen ‚Privat versus Öffentlich‘ im Folgenden nicht angemessen. Vielmehr muss der jeweils intendierten Adressatenschaft im Einzelnen genauer nachgegangen werden. Die Publikation der Briefe geschah entgegen der ausdrücklichen Anweisung Perrys, der Wert darauf legte, dass nur offizielle Versionen den Weg in die Öffentlichkeit fänden. In Auszügen in: Stahncke (Hg.) 2000. Zu den Berichten der Teilnehmer vgl. auch Stumpp 2002, 516-522. Es wird noch zu zeigen sein, dass sich in den Briefsammlungen jedoch einzelne Zeugnisse befinden, die von den Schreibenden selbst als ‚Reisebeschreibung‘ bezeichnet werden; vgl. Kapitel 4.4 Japan in den Briefen aus der Fremde. Vgl. Nickisch 1991, 115.
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eigene Funktion, die Inhalt und Konzeption bestimmt, wie etwa die von Reinhard Nickisch folgendermaßen gekennzeichnete: „Zeitkritisch denkende Geister erkannten sehr schnell, wie ausgezeichnet sich die Form der beliebten Reisebriefsammlungen für publizistische Zwecke, als Vehikel für gesellschaftliche und politische Kritik, gebrauchen ließ. Die Wiedergabe von Reiseerlebnissen und Natureindrücken ging dabei Hand in Hand mit kritischen Reflexionen und/oder ironisch-satirischen Schilderungen – ja die Form der Reisebriefe diente vielfach nachgerade zur Tarnung für die primär kritischen Intentionen eines Autors.“ (Nikisch 1991, 115)42
Bevor die Funktionen des Briefeschreibens aus der Fremde sowie die Darstellung der ‚Fremde Japan‘ in den Briefzeugnissen genauer untersucht werden, sollen noch einige Hinweise auf das zugrunde gelegte Material sowie die spezifische Lebenssituation der Schreibenden gegeben werden.
4.2 Als Fremde in der Fremde – Das Briefmaterial Georg Michaelis In der sorgfältig edierten, mit zahlreichen Hintergrundinformationen und Anmerkungen versehenen Ausgabe der schriftlichen Dokumente von Georg Michaelis (1857–1936), dem späteren Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten, aus dessen Jahren in Japan (1885–1889), wurden neben Tagebucheintragungen, diplomatischen Schriften und Abschriften von Zeitungsartikeln, auch 121 Privatbriefe von Georg Michaelis, hauptsächlich an seine Mutter aber auch an Geschwister, veröffentlicht. Im Anschluss an ein Jurastudium und die Promotion zum Dr. jur., ging Michaelis 1885 als Rechtslehrer an die Schule des Vereins für deutsche Wissenschaften in Tôkyô. Bert Becker kennzeichnet Michaelis als „Typus des konservativen preußischen Assessors [...] noch vom Geist seiner farbentragenden und schlagenden Studentenverbindung, aber vor allem von einer tiefen christlichen Religiosität geprägt“ (Becker (Hg.) 2001, 15). Dies zeigt sich u.a. in einem unverhohlenen, politisch und religiös motivierten Antisemitismus, der sich auch gegen seinen Kollegen Albert Mosse richtet, der zudem andere politische Ziele in Japan verfolgte als Michaelis selbst. Die Äußerungen von Michaelis bewegen sich im Rahmen des antisemitischen Diskurses des Deutschlands des 19. _____________ 42
Zum Reisebrief vgl. Nikisch 1991, 113ff.
4.2 Als Fremde in der Fremde – Das Briefmaterial
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Jahrhunderts,43 auch offenbaren die Briefzeugnisse, dass er innerhalb der ‚deutschen Kolonie‘44 in Japan durchaus zur Ausgrenzung und Fremdstellung der Familie Mosse beigetragen hat. Michaelis war mit seiner Mutter, die ihren Mann früh verlor und auf sich allein gestellt sieben Kinder aufziehen musste, eng verbunden. Von väterlicher und mütterlicher Seite wurde er christlich erzogen, insbesondere die Erziehung der Mutter war sehr religiös und von großer Strenge. Die emotionale Nähe zur Mutter und ein Gefühl der Verantwortung für ihr Schicksal prägen die Briefe, die er an diese richtete und die stets sehr persönlich gehalten sind. Michaelis schrieb regelmäßig und achtete darauf, keinen Posttag zu versäumen. So dokumentieren seine Briefe seine Ansichten über Land und Leute, seine Erfahrungen, seine Entwicklung in dem fremden Land, Erlebnisse und Beziehungen innerhalb der deutschen Kolonie in Tôkyô und Yokohama sowie seine Kommentare zu den zeitpolitischen Geschehnissen in Deutschland und Japan. Im Sommer 1886 unternahm Michaelis zusammen mit Julius Scriba und Alexander Freiherr von Siebold eine Reise nach Yesso (Hokkaidô) und auf die drei Kurileninseln Kunashiri, Shikotan und Iturup (Etorofu). Diese Reise wurde ausführlich in einem Tagebuch aufgezeichnet.45 Michaelis blieb bis zu seiner Abreise trotz einer spürbaren Annäherung an die japanische Kultur von der Überlegenheit der eigenen Kultur überzeugt, seine positiven Urteile _____________ 43 44
45
Dazu und zur Funktion des Antisemitismus im Kontext von Nationalismus und Antiliberalismus sowie Modernitätskritik vgl. Becker (Hg.) 2001, 37ff. Der Begriff deutsche Kolonie in Japan hat sich für die Gruppe der Deutschen im Japan der Meiji-Zeit, die fast ausschließlich in Tôkyô oder Yokohama wohnte, fest etabliert und soll auch im Weiteren Verwendung finden. Diese Bezeichnung entspricht durchaus dem Lebensgefühl der dort Anwesenden, die sich zwar nicht in einer de facto Kolonisationssituation befanden, deren Wahrnehmungen und Sprachgebrauch jedoch deutlich von dem zeitgenössischen kolonialistischen Diskurs beeinflusst waren. In dem autobiographischen Roman Kontorrock und Konsulatsmütze von A. R. Weber aus dem Jahr 1886 (zuerst unter dem „Schriftstellernamen“ Solano veröffentlicht; vgl. Meißner 1940, 36) beschreibt der Verfasser die Situation der Angehörigen dieser deutschen Kolonie recht farbenprächtig. Die Wirkung der spezifischen Lebenssituation auf das Sozialverhalten stellt er folgendermaßen dar: „Wonach man in Europa so häufig vergeblich sucht, nach Menschen, welche ihre Eigenart nicht nur unverändert festhalten, sondern in allen Teilen ausbilden und mit der Macht ihrer ganzen Persönlichkeit zum Ausdruck bringen, war hier nicht nur nichts ungewohntes, sondern die Regel. Jeder verlangte, genommen zu werden, wie er sich gab und bei der beschränkten Anzahl der anwesenden Fremden mußte man entweder auf jeden näheren Umgang verzichten, oder sich diesen Ansprüchen fügen.“ (Weber [1886] 1981, 61f.). Vgl. auch die Beschreibung des englischen ‚Übersee-Klubs‘ durch Rudyard Kipling in seinem zweiten Brief aus Japan aus dem Jahr 1892 (zweite Reise); Kipling [1892] 1990, 276ff. Informationen dazu sowie zu diversen Kolonisierungsambitionen von deutscher Seite, die sich auch noch in Michaelis Wahrnehmungsweise von Land und Leuten und seinen Äußerungen spiegeln, vgl. Becker (Hg.) 2001, 46ff. Die Tagebucheintragungen finden hier nur am Rande Beachtung, die Briefe an seine Familie stehen im vorliegenden Zusammenhang im Vordergrund des Interesses.
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beschränken sich entweder auf Aspekte aus den Bereichen Kunst und Geschichte oder auf die Entwicklungen, die darauf hindeuten, dass Japan die von Michaelis konstatierte Modernitätsdifferenz aufholt und sich Europa annähert, ohne es nur ‚nachzuäffen‘. Die Bedeutung der Edition besteht laut Herausgeber darin, dass die Briefe einen Spiegel der japanischen Geschichte jener Zeit sowie die Denkhaltung und Wertvorstellungen der deutschen preußischen Beamtenschaft offenbaren. Außerdem präsentieren sie „sich als wesentliche Quelle für den deutschen Einfluß während der intensivsten Phase der Adaption westlicher Modelle durch Meiji-Japan [...] Drittens geben die Briefe und Tagebuchnotizen beeindruckende landeskundliche Beobachtungen in Japan wieder.“ (Becker (Hg.) 2001, 15f.)46 Albert und Lina Mosse Albert Mosse kam im Mai 1886 gemeinsam mit seiner Frau Lina (Carolina) und zwei Töchtern im Alter von zwei und einem Jahr in Yokohama an und nahm kurze Zeit später seine Tätigkeit als beratender Jurist bei der japanischen Regierung in Tôkyô auf.47 Die Familie blieb bis 1889 in Japan, während dieser Zeit wurden noch zwei Söhne geboren. Das gesellschaftliche Leben der Mosses war in die ausländische Gemeinde in Japan eingebunden, auch wenn es unter den einzelnen Nationalitäten oder auch innerhalb der Gruppe der Deutschen in Japan zu manchen Spannungen kam.48 Kontakte zur japanischen Bevölkerung gab es für Lina Mosse hauptsächlich über Dienstboten im eigenen Haus sowie zu höhergestellten Persönlichkeiten durch offizielle Anlässe, zu denen sie gemeinsam mit ihrem Mann eingeladen wurde. Albert Mosse reiste einige Male in offizieller Mission und in Begleitung durch Teile des Landes, beklagte aber dabei, kaum mit der Bevölkerung in Kontakt zu kommen und aufgrund der eigenen mangelnden Sprachfähigkeit sowie der „Unzulänglichkeit“ der einheimischen Dolmetscher auch keine Kontakte herstellen zu können. Seine _____________ 46
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Nach seiner Rückkehr nach Deutschland heiratete Michaelis und machte Karriere als politischer Beamter innerhalb der preußischen Bürokratie. Er wurde am 14. Juli 1917 zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten ernannt, hatte dieses Amt allerdings nur 100 Tage inne. „Michaelis scheiterte vor allem an seiner Unerfahrenheit im Umgang mit einem selbstbewußter agierenden Reichstag und wegen schwerer politischer Fehler im kritischen Kriegsjahr 1917.“ (Becker (Hg.) 2001, 56). Vgl. dazu Kraus 1999, 208ff. Die anwesenden Ausländer – Engländer, Franzosen, Deutsche, Amerikaner sind die Nationen, die von Mosse erwähnt werden – haben deutliche Machtinteressen. So ist z.B. die Frage, welches Rechtssystem in Japan abgebildet wird, von „nationalem Interesse“, die Einflüsse anderer Staaten sollen möglichst zurückgedrängt werden.
4.2 Als Fremde in der Fremde – Das Briefmaterial
167
Schilderungen der Begegnungen mit dem Beamtenapparat (Regierungsbeamten) sind von Ungeduld geprägt, da er die juristischen Neuerungen nicht seinen Wünschen gemäß vorantreiben konnte. Die Briefe der Eheleute Mosse sind an die große und vielfach verzweigte Familie in Deutschland gerichtet. Die Schreiben sind einerseits geprägt von Privatem wie Alltagssorgen, Krankheiten, Kindern etc. Andererseits handeln sie von Mosses Tätigkeit als Berater, der gesellschaftlichen und politischen Situation in Japan in dieser Umbruchzeit sowie den fremden Sitten und Gebräuchen. Aus den Briefen ist eine ausgesprochen starke Verbindung mit der Familie ablesbar.49 Da sie jüdischen Glaubens sind, ist ihr Verhältnis zu Deutschland durch den damals herrschenden Antisemitismus stark getrübt. So entbehren sie weniger die Heimat, die sich ihnen als zweifelhaft darstellt, als vielmehr die Familie. Aufgrund ihres jüdischen Glaubens wird den Mosses auch ein Heimisch-werden in der deutschen Kolonie in Japan erschwert, in der ebenfalls antisemitische Strömungen spürbar sind.50 Aufgrund dessen sind sie in mehrfacher Hinsicht ‚Fremde‘, da sie von den Angehörigen der eigenen Nation aufgrund des latenten oder offenen Antisemitismus weder in Deutschland, noch in der deutschen Gemeinde in Japan, zufriedenstellend integriert sind: „Tokyo d. 30.11.86 [...] Wir verkehren zwar mit den meisten hier ansässigen Deutschen, es scheint aber als ob der Antisemitismus sich den ewigen Juden zum Vorbild genommen hätte und dauernd rund um die Erde herumwanderte, denn auch hier ist er plötzlich aufgetaucht. Natürlich nur unter den lieben Deutschen; unsere schlitzäugigen Adoptiv-Landsleute wissen bis jetzt Gott sei Dank noch nichts davon.“ (Mosse, Lina [1886] 1995, 297) „Mein Gott, was rennt die Zeit! Die Hälfte unserer Verbannung ist bereits vorüber. Wir denken mit Freuden an die Rückkehr in unser geliebtes Stiefvaterland, – und doch wird mir manchmal bange bei diesem Gedanken. Wie werden wir uns wieder zurechtfinden in den uns erwartenden engen Verhältnissen? Ist bei unseren heimischen antisemitischen Strömungen ein Erfolg in der mir nun einmal ans Herz gewachsenen Karriere zu erwarten?“ (Mosse, Albert [1887] 1995, 333)
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Zur Familiengeschichte der Mosses und deren Bedeutung für das deutsch-jüdische Bürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. Kraus 1999, zu dem Familienzweig der Mosses in Berlin ebd., 200-241. Vgl. die Anmerkungen zu Georg Michaelis. Nicht nur religiöse, sondern durchaus auch politische Erwägungen prägen auch die Ablehnung Albert Mosses durch den Abgesandten des Allgemeinen evangelisch-protestantischen Missionsvereins, Wilfrid Spinner, der sich von 1885–1891 in Japan aufhielt, und der am 23.06.1886 in seinem Tagebuch notierte: „Wie wenig man sich auf ihn [AOKI Shûzô; Botschafter und Außenminister] als den Förderer des Christentums in Japan verlassen kann, beweist, daß er zum Entwurf der Japanischen Verfassung einen Juden aus Berlin [...], Landrichter Mosse, herkommen ließ, der, soviel man sich erzählt, bereits die rechte Hand ITÔs [ITÔ Hirobumi; Ministerpräsident] geworden [ist]. Zwei unserer Juristen (RUDORFF und MICHAELIS) sind diesem neuen Konkurrenten nicht besonders gewogen.“ (Hamer 2002, 103f.). Zum jüdischen Selbstverständnis und Engagement Albert Mosses vgl. Kraus 1999, 329.
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Neben den Briefen nach Deutschland gibt es auch zahlreiche Briefe, die sich die Eheleute im Verlauf der Reisen Albert Mosses gegenseitig geschrieben haben. Alle Briefe sind in einem unterhaltsamen, humorvollen und einfühlsamen Ton geschrieben und gewähren einen interessanten Einblick in das Leben der Familie und ihre Jahre in Japan. In Albert Mosses Briefen wird mit der Zeit eine Ermüdung und Frustration spürbar, da seine beruflichen Bemühungen in Japan nicht immer vorbehaltlos und sofort angenommen und umgesetzt wurden. Er führt das – obgleich er sich vielfach dafür einsetzt, daß die Gegebenheiten des Landes berücksichtigt werden – letztendlich auf eine ‚mangelnde Reife‘ der Japaner zurück. Hier bewegt sich Albert Mosse durchaus im zeitgenössischen imperialistischen und kolonialistischen Diskurs, der geprägt ist von der Überzeugung einer Modernitätsdifferenz,51 die es von Seiten der Japaner aufzuholen gilt. Die Briefe wurden für die hier zugrunde gelegte Sammlung 1995 von der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens als „sehr wertvolle historische Quelle“ herausgegeben und mit einer umfangreichen Einleitung über Albert Mosses Lebenswerk und die Entwicklung des japanischen Rechts in der Meiji-Zeit versehen.52 Die Herausgeber betonen, dass die Briefe ein „Licht auf die damaligen Verhältnisse sowie auf das alltägliche Leben von Ausländern im Japan der Meiji-Zeit (1868– 1912), auf ihr Bewußtsein sowie auf ihren Bewußtseinswandel“ werfen (Sakai 1995, 10). Emma und Wilhelm Schultze Die Briefe von Emma und Wilhelm Schultze wurden 1980 von der Enkelin, Toska Hesekiel, herausgegeben. Dr. Wilhelm Schultze bekam am 30.09.1874 einen Ruf an die Universität Tôkyô, am 20.12. desselben Jahres trat er seine Stelle an. Bei einem sogenannten ‚Heimaturlaub‘ 1878 traf er Emma Wegschneider, vier Monate später war die Hochzeit und kurz darauf begann die gemeinsame, dreieinhalbjährige Zeit in Tôkyô. Während der Zeit in Japan wurden zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, geboren. Auch Schultzes nahmen am gesellschaftlichen Leben der deutschen Kolonie in Tôkyô teil und verbrachten ihren Aufenthalt bis auf wenige Situationen in einer Art ‚Inseldasein‘ mit nur wenig Kontakt zu den Menschen des Gastlandes. Die Briefe sind hauptsächlich von Emma Schultze an ihre Familie gerichtet und von ausgesprochen privater und persönlicher _____________ 51 52
Vgl. auch Georg Michaelis, der die Bewertung der japanischen Gesellschaft ebenfalls vor diesem Hintergrund vornimmt. Die Originale befinden sich im Leo Baeck Institute in New York.
4.2 Als Fremde in der Fremde – Das Briefmaterial
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Natur. Wilhelm Schultze schrieb einige wenige Briefe aus Pflichtgefühl, die Korrespondenz gehörte offenbar mehr in den Aufgabenbereich seiner Frau. Emma Schultze ging als junge und noch recht unerfahrene Ehefrau mit ihrem über zehn Jahre älteren Mann nach Japan; diese Situation prägt den Inhalt vieler Schreiben, die insbesondere von häuslichen Angelegenheiten berichten. Sie nahm ihr Leben in Japan sehr positiv gestimmt und mit viel Neugierde auf, entbehrte aber insbesondere den Rat und den Rückhalt ihrer Mutter schmerzlich und war auch die treibende Kraft, die die Rückkehr der Familie nach Deutschland durchsetzte. Nach Angabe der Herausgeberin erbte diese von ihrem Vater „ein abgegriffenes Lederetui [...], in dem alle Briefe, nach Nummern geordnet, enthalten waren, die meine Großmutter in den Jahren 1878–81 aus Tokio an ihre Eltern in Berlin geschrieben hat. Auch einige Briefe meines Großvaters waren dazwischen.“ (Hesekiel 1980, 11) Die Enkelin hat „alles, was mir daraus interessant erschien, abgetippt, um es für die Nachkommen zu erhalten.“ (ebd.). Es gibt inzwischen auch eine englischsprachige Übersetzung der Briefe (v.a. aus medizin- und kulturgeschichtlichem Interesse), ein deutscher Verlag konnte jedoch nicht gefunden werden, weshalb die Briefe von der Enkelin im Selbstverlag herausgegeben wurden. Weiteres Material Zusätzlich zu den hier vorgestellten Briefsammlungen soll an gegebenen Stellen noch auf einzelne Briefe Max Dauthendeys an seine Frau zurückgegriffen werden. Dauthendeys Briefe an Annie Dauthendey sind, ebenso wie etwa seine lyrische Reisebeschreibung und viele seiner Gedichte, angefüllt mit sehnsüchtigen Seufzern nach seiner Frau, überschwänglicher Zärtlichkeit und der Beschwörung von Harmonie und Gemeinsamkeit in der Beziehung. Dieser Duktus muss jedoch im Kontext seiner Lebensphilosophie (s.o.) mehr als Idee denn als gelebte Beziehung verstanden werden. Offenbar war die Ehe nicht immer so harmonisch, wie es der Stil der Briefe vermuten lässt.53 Die Situation, in der Dauthendey seine Briefe _____________ 53
Vor seiner ersten Weltreise hatte Dauthendey Differenzen mit seiner Frau und ging eine Beziehung zu der Malerin Gertrud Rostosky ein. Dauthendey ist viel unterwegs, ist er Zuhause, reist seine Frau Annie selbst oft in Europa umher (vgl. Geibig 1992, 139 sowie Mahr in: Brunner et al. 1993, 48ff.). Der Ton der Briefe kann sich auch schlagartig ändern, etwa wenn den Reisenden (wieder einmal) Geldsorgen plagen und er die erwartete Geldanweisung nicht rechtzeitig zur Tilgung seiner Schulden erhalten hat: „Yokohama, The Grand Hotel, 18. Mai 1906. Dumme Würzburger Muldegans, was läßt mich dann so im Stich! Hast mir doch immer vor der Reis’ versichert, Geld ist das wenigste, jetzt macht mich die Geldnot halb taub und lahm. Ich bin erkältet, das Klima wechselt fortwährend, ich hatte Sonnenstich und bin wieder wohl, aber ich kann mir nix kaufen, habe überall
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verfasste, unterscheidet sich deutlich von der der Angehörigen der deutschen Kolonie. Dauthendey befand sich auf einer organisierten Weltreise, er war Dichter und Maler und reflektierte seine Wahrnehmungen bereits auf eine Verschriftlichung hin: „Er reiste als Beobachter, er wollte Augenblicke in Verse umsetzen. Er speicherte Momentaufnahmen, noch ohne zu wissen, wie sie sich entwickeln würden. Er schaute den fremden Menschen in die Augen, auf die Hände, beobachtete ihren Gang. Er malte sich Schicksale aus. Erst später setzte er das Beobachtete in Texte um.“ (Mahr 1999, 27)54
Es gab Momente, in denen er das Reisen als „Arbeit“ empfand: „aber ich glaube, ich kann es [das Reisen] doch lassen, weil ich eine liebe Mulde zu Hause habe. Und weil ich trotz der Reisegewohnheit doch immer das Reisen schmutzig und scheußlich finde; mir bleibt das Reisen immer eine Arbeit.“ (Dauthendey [1906] 1930, 139) Die halbjährige Weltreise durch fünf Länder hielt denn auch wenig Muße bereit, sich länger auf einen Ort oder ein Erlebnis zu konzentrieren, und Dauthendeys Klage über die Abstumpfung seiner Wahrnehmungsfähigkeit klingt recht modern: „FujiyaHotel, 8. Mai 1906, abends neun Uhr [...] Es wird mir jetzt beinahe langweilig, das Schönste zu sehen, es reizt kaum noch.“ (ebd., 152) Erwin Bälz (1849–1913), der sich von 1876–1905 als Professor für Medizin an der Medizinischen Fakultät der Kaiserlichen Universität Tôkyô aufhielt,55 beschreibt im Jahr 1876 seine Eindrücke über die ‚modernen‘ Weltreisenden in seinem Tagebuch: „Ich habe in diesem Jahr unendlich viel Neues gesehen, so vieles, was mir Freude machte [...] und ich habe alles so gesehen, daß wahrer Genuß daraus entspringt. Manchen begegnete ich auf meinem Wege, die weit mehr sahen als ich, die mit Schiff und Bahn die Erde umreisen, rastlos, hastend, von einem Ziel zum andern jagend oder besser gejagt, einen frischen Eindruck, noch ehe er zum Bewußtsein gelangt, durch frischeren verdrängend, übersättigt, körperlich angegriffen, geistig verwirrt, urteilslos, aber über alles urteilend, nichts gründlich kennend, aber alles kennen wollend. Es ist eben zu viel. [...] Wie habe ich sie bedauert, die bei ihrer Ankunft in Japan müde von den Herrlichkeiten der halben Welt nun unter Seuf-
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Schulden, [...] Das ganze Japan war mir versauert, weil ich kein Geld bei meiner Ankunft fand“ (Dauthendey [1906] 1930, 153f.). Dauthendeys Selbststilisierung im Zusammenhang mit seiner Haltung als Reisender widerspricht diese Einschätzung allerdings (vgl. auch Kapitel 4.1): „Ich fühlte mich während der Reise um den Globus auch keinen Augenblick als Schriftsteller reisen. Wohl hatte ich jene Fahrt mit dem Gedanken angetreten, später einmal eine Dichtung über die Wunder der Erde schreiben zu wollen. Aber während der Reise enthielt ich mich jeden Gedankens an das künftige Buch. Und ich glaube, ich bewahrte mir dadurch einen möglichst unbefangenen innerlichen Blick, indem ich jedes übertriebene berufsmäßige Aufnehmenwollen beim Reisen ausschaltete, wie ich das auch bei Erlebnissen immer zu tun versuche.“ (Dauthendey 1913, 256f.). Zu Bälz vgl. Vianden in: Kulturvermittler 1990, 99-122 sowie Möller 1990.
Exkurs 1: Interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität
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zen und Stöhnen auch noch die andere Hälfte gehen müssen. Mir blieb diese Übersättigung erspart“ (Bälz [1876] 1931, 41f.).
Menschen wie etwa die Familien Mosse und Schultze oder auch Erwin Bälz lebten in einer anderen Erfahrungssituation als diese bedauernswerten Weltenbummler56 und waren sich dieser Situation nicht nur in Bezug auf die eigene Lebensgestaltung, sondern auch in Bezug auf die Wahrnehmung der anderen Kultur durchaus bewusst. So schreibt Albert Mosse in recht juristischem Sprachduktus am 24. Juni 1886 an seine Familie: „Wir geniessen unseren schönen Garten und verlassen unser Terrain höchstens, um die nöthigsten Besuche zu machen. Lina’s Urtheil über Japan ist etwas – rasch; es gibt kaum ein Land, dessen Verhältnisse so schwer zu übersehen sind, als dieses. Ich bescheide mich deshalb vorläufig zu hören, möglichst alle Theile: das Urtheil kann erst gefällt werden, wenn die Akten geschlossen sind.“ (Mosse, Albert [1886] 1995, 125)57
Die Familien mussten eine andere Situation, eine andere Form der interkulturellen Fremderfahrung bewältigen, als die Weltreisenden. Sie mussten ihr Leben – wenn auch nur für den absehbaren Zeitraum einiger weniger Jahre – in einer ihnen zunächst sehr fremden Kultur einrichten.
Exkurs 1: Überlegungen zu: interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität Die Begegnung mit der anderen Kultur wurde von vielen Angehörigen der deutschen Kolonie in Japan auf das Unvermeidbare beschränkt, d.h. auf die Lebenssituationen, die nicht europäisiert werden konnten. So wurde etwa die Landschaft durchaus positiv bewertet und auch gesucht. In Bezug auf die Architektur lernte man die Vorteile für die klimatischen Verhältnisse zu schätzen, aber wo immer sich die Möglichkeit ergab, wurde die eigene Umgebung europäisiert. So verhinderten z.B. Teppiche auf den _____________ 56
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Kipling schreibt auf seiner Anreise nach Japan an Bord eines mit Hilfssegeln ausgerüsteten Dampfers, auf dem er mit anderen Weltreisenden unter der Seekrankheit leidet: „Globetrotter sind extreme Kosmopoliten: Ihnen wird überall schlecht.“ (Kipling [1889] 1990, 41). Zu den ‚modernen‘ Formen des Reisens im 19. Jahrhundert vgl. Jost in: Brenner (Hg.) 1989, 490-507. Lina Mosse hat die angemahnte Vorsicht in Bezug auf Aussagen über die andere Kultur anscheinend internalisiert, denn noch im zweiten Jahr ihres Aufenthaltes schreibt sie: „Übrigens stehe ich für die absolute Richtigkeit nicht ein, da ich nicht in denselben Fehler verfallen will, wie jener Engländer, der, nachdem er einen Deutschen gesehen hatte, behauptete, alle Deutschen seien rothaarig.“ (Mosse, Lina [1887] 1995, 236) Dass nicht alle Deutsche in Japan über ein solches Bewusstsein über die Vorläufigkeit mancher Aussagen verfügten und sehr unbefangen Aussagen über ‚die Japaner‘ und Japan machten, wird anhand der Briefe von Georg Michaelis zu zeigen sein, obgleich auch er sich in seiner Eigendefinition von den Weltreisenden explizit absetzte.
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tatami, dass man sich die Schuhe ausziehen musste, was die Europäer zu dieser Zeit immer wieder als Zumutung formulierten. Japanisches Essen wurde wenn möglich gemieden, der eigene Koch wurde europäisch instruiert und von Zuhause wurden Kisten mit Wein, Fleisch etc. erbeten. Kam es zu offiziellen japanischen Mahlzeiten, so wurden diese eher durchlitten als genossen. Trotz all dieser Bemühungen, die eigene Umgebung möglichst europäisch zu gestalten, bewegten sich die Familien aber doch in einer ungewohnten, ihnen zunächst völlig fremden Lebenswelt. Die Notwendigkeit, sich in einer anderen Kultur einzurichten und dort zu leben, kann die verschiedensten Ursachen haben und unterschiedliche Bewältigungsstrategien nach sich ziehen: Emigration aufgrund von gewaltsamer Vertreibung, Lebensumstände, die nicht mehr zu ertragen sind – die Gründe für unfreiwilliges Verlassen des lebenslang Vertrauten sind vielfältig und sollen an dieser Stelle nicht im Einzelnen angeführt werden. Die hier untersuchten Zeugnisse stammen von Menschen, die mehr oder weniger freiwillig, aus beruflichen oder familiären Gründen, ihr gewohntes Lebensumfeld verließen und sich dem Neuen stellten bzw. stellen mussten. Sie hatten auch finanziell die Möglichkeit, möglichst viel Eigenes mit in die Fremde zu nehmen. Dennoch fordert jede Konfrontation mit einer anderen Kultur, die nicht in die lockere Urlaubsatmosphäre gebettet ist und touristisch genossen werden kann, sondern die gelebt und bewältigt werden muss, von Menschen Anpassungsleistungen auf den verschiedensten Ebenen. Kulturschock In der Begegnung von Vorstellungsbild und Wirklichkeit, wie sie sich dem Einzelnen darbietet, gewinnt – anders vielleicht als bei Durchreisenden – die Wirklichkeit mit ihren Anforderungen die Oberhand: Von den ersten, von Pragmatismus geprägten Orientierungsleistungen, die sich auf die schlichte Bewältigung des Alltags beziehen, beginnt ein langer Weg, auf dem bis dahin Vertrautes an Gültigkeit verliert, Eigenes in Frage gestellt wird, Fremdes zu eigen gemacht und neuerlich fremd wird.58 Die zunächst _____________ 58
Es gibt aus dem Bereich der Soziologie, insbesondere aus dem US-amerikanischen Sprachraum, zahlreiche Untersuchungen, die etwa Phasenmodelle der Eingliederung in eine neue Kultur erstellen; die Interkulturelle Pädagogik wendet sich diesem Aspekt unter der Fragestellung einer möglichen Integrationsleistung auf Grundlage eines dynamischen Identitätskonzepts zu. Untersuchungen über Heimatverlust, Exil und interkulturelle Kommunikation werden hier relevant. All diese Untersuchungen und Modelle gehen von bestimmten, klar umrissenen Bedingungsfeldern aus und beziehen sich auf beobachtbare empirische Phänomene: „Wie reagieren Menschen – als Individuen und als Gruppen – auf einen Kul-
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verstörende Konfrontation mit dem Anderen/Fremden wird oft als Kulturschock bezeichnet und u.U. als recht massiver Angriff auf alle Selbstverständlichkeiten erfahren: „In der Fremde gewinnen solche Differenzen eine eigene Schärfe. Die Sinnhaftigkeit der Wirklichkeit ist dem Individuum nicht äußerlich; sie trifft es, wie sich zeigt, wenn die Ordnungsstruktur nur schwer oder gar nicht erfaßt werden kann, vielmehr in seinem Selbstverständnis und kann zu Persönlichkeitsstörungen führen, die von mäßiger Angst bis zu Depersonalisierungserlebnissen reichen. Daß die Desorientierung innerhalb einer fremden Wirklichkeit als Paradebeispiel solcher Verwirrung herhalten kann, wofür der Begriff ‚Kulturschock‘ steht, entspricht auf der Phänomenebene der radikaleren Fremderfahrung in einer völlig unbekannten Umgebung, in der schlagartig gewohnte Muster zwischenmenschlicher Beziehungen, der Situationsdeutung und des Weltbildes nicht mehr greifen. [...] Deshalb ist die Fremderfahrung in fremdkulturellen Zusammenhängen radikaler, weil sie auch das Selbstverständlichste, das sich hinter der alltäglichen Normalität verbirgt, in Frage zu stellen vermag und die Identität des einzelnen miterfaßt.“ (Hammerschmidt 1997, 135)
In den Briefen des japanischen Studenten MATSUMURA Jinzo, der im Jahr 1886 nach Würzburg kam, um bei Julius von Sachs seinen Doktortitel zu erwerben, und der im Jahr 1888 nach einem kurzen Aufenthalt in Heidelberg entmutigt nach Japan zurückkehrte, lassen sich einige der oben beschriebenen möglichen Auswirkungen, die eine massive Differenzerfahrung in der Fremde mit sich bringen können, ablesen:59 „15.6.1886: Ich fühle mich immer noch wie in einem Traum. Bald ist ein ganzes Jahr vorbei und ich lebe immer noch dieses Leben. [...] Ich muß vielleicht nach Japan zurückkehren, bevor mein Studium beendet ist, denn ich kann mich hier einfach nicht konzentrieren. Es ist eine unsinnige Idee, im Ausland zu studieren. [...] Von Japan aus habe ich mir Europa als ein Paradies vorgestellt. Nun bin ich hier, alle um mich herum sind Europäer, aber die Kinder rufen ‚Chinese‘ hinter mir her und schauen mich an, als ob ich aus dem Zoo komme. Ich gehe deshalb nicht mehr gerne spazieren. Meine Einsamkeitsgefühle werden dann nur noch verstärkt und ich sehne mich verzweifelt nach meiner Heimat.“ (Matsumura [1886] 2001, 24; 29)
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turwechsel, und zwar speziell, wenn sie sich in einer Minderheitenposition mit sozioökonomisch niederem Status befinden?“ (Auernheimer 19952, 84). Die Briefe von MATSUMURA Jinzo lassen auf einen sich einsam fühlenden Menschen schließen, der der Sprache des Gastlandes nicht mächtig ist, mit Geldnot und Heimweh zu kämpfen hat und der den an ihn gestellten Anforderungen nicht gerecht zu werden vermag. Er vergleicht an vielen Stellen seiner Briefe die deutsche mit der japanischen Lebensweise, wobei er zumeist die Vorzüge der deutschen hervorhebt. Wie auch bei den Briefen der Deutschen aus Japan steht das persönliche Erleben und die direkte Umgebung des Schreibenden im Vordergrund. Es werden wenige Angaben über das Studium gemacht und kaum Hinweise auf das gegeben, was in Reiseführern über Würzburg Erwähnung finden könnte. Stattdessen thematisiert Matsumura etwa die Wetterverhältnisse, den Straßenbau, die Einrichtung der Toiletten oder einige Sitten der Deutschen.
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An dieser Stelle soll noch einmal dem Phänomen der Fremderfahrung, hier als interkulturelle Fremderfahrung,60 nachgegangen werden, wobei auch auf die Begriffe ‚Kultur‘ sowie ‚kulturelle Identität‘ eingegangen werden soll. Dabei richtet sich der Blick an gegebenen Stellen auch auf die spezifische historische Situation am Ende des 19. Jahrhunderts, aus der die hier untersuchten Briefzeugnisse entstammen. Interkulturelle Fremderfahrung Der (post)moderne Mensch hat die Möglichkeit, die ganze Welt zu durchfahren. Erlauben es seine Zeit und seine Mittel, ist ihm kein Horizont verschlossen, kein Kontinent unerreichbar, jede Erfahrung ist greifbar.61 Betrauerten die Reisenden des beginnenden 20. Jahrhunderts die Spuren der Verwestlichung in ihrem ‚Sehnsuchtsraum Japan‘, so werden von heutigen Reisenden die Folgen der Globalisierung ähnlich ambivalent wahrgenommen. So reflektiert der Flaneur aus den Tôkyô-Essays von Stephan Wackwitz (1994)62 ironisierend die Goutierbarkeit des Fremden im Zeitalter der Globalisierung: „Es wird jetzt schon früh dunkel. In der kurzen japanischen Dämmerung habe ich mich, mit einem Dosenbier aus dem jukeboxartig leuchtenden Automaten an der Ecke, auf die Stufen eines kleinen Tempels gesetzt. Ich denke darüber nach, ob Peking, Calcutta und Nairobi, ob das gesamte Weltdorf einmal elektronisch industrialisiert sein und ob es dann aussehen wird wie Tokyo. Schöner wären diese Städte dann vermutlich nicht. Aber man könnte abends biertrinkend auf den Treppenstufen eines kleinen Tempels sitzen, in die frühe Nacht hinausschauen und sich wundern, wie poetisch und fremd alles ist, statt daß einen Gespenster, Bettler und Straßenräuber gleich in den nächsten Hotelcoffeeshop jagen.“ (Wackwitz 1996, 99)
Menschen aus anderen Kulturen begegnen uns zunehmend auch innerhalb unserer so sorgsam gehüteten Grenzen, die unser raumbezogenes Ordnungskonzept als Innen ausweist. Derart erschlossen scheint uns die Welt, dass wir im Universum Wurmlöcher öffnen, und gespannt darauf schauen, welche Welten und Wesen von unserer Phantasie dort wohl _____________ 60
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Zu ‚Fremderfahrung‘ vgl. Kapitel 2.3 Fremdwahrnehmung und Fremderfahrung. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff sowie mit dem Konzept der Interkulturalität in der Forschung vgl. Kapitel 5, Exkurs 2: Überlegungen zu: Fremde – Verstehen? Interkulturelle Hermeneutik und interkulturelles Lernen. Erlauben es Zeit und Mittel nicht, hat er immer noch die Chance auf Sekundärerfahrungen zuzückzugreifen, vermittelt über Text, Ton und Bild. Tokyo. Beim Näherkommen durch die Straßen. Frankfurt a.M. 1996. Zu Wackwitz vgl. auch Goebel, 2001, 157-171. Der Flaneur wird bei Wackwitz „zwischen ironisch-nostalgischer Abschiedsstimmung und pastiche-artiger Wiederbelebung als bewusste Kunst- und Oppositionsfigur neu definiert.“ (ebd., 159).
Exkurs 1: Interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität
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durchgeschickt werden. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass es gar nicht so sehr darauf ankommt, Fremdes zu verstehen. Das Bedürfnis scheint eher darauf gerichtet zu sein, immer Neues zu entdecken, das Außen zu vergrößern: To explore strange new worlds. Vielleicht ist uns durch die neuen Wanderungsbewegungen, die Globalisierung und die modernen Kommunikationsmittel die Welt zu sehr ‚auf den Pelz gerückt‘, sind die Differenzen auf allen Ebenen zu konkret erfahrbar geworden, so dass nun ein neues Außen dringend notwenig geworden ist – „Ist die Andersheit des ‚ihr‘ markant genug, verschwinden die Differenzen des ‚wir‘ aus dem Blick.“ (Hammerschmidt 1997, 119) Für den Fall, dass sich tatsächlich eines der Wurmlöcher öffnen sollte, wäre die Begegnung wohl von ähnlicher Tragweite wie die Entdeckung Amerikas und seiner Einwohner im Jahre 1492. Tzvetan Todorov (1985) deutet in seiner Untersuchung Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen diese Entdeckung als „die bei weitem erstaunlichste Begegnung unserer Geschichte.“ (ebd., 12) Das hat mehrere Gründe. Zum einen gab es nie vorher und nie nachher in einer Begegnung ein solch radikales Gefühl der totalen Fremdheit, zum anderen hatte keine andere Begegnung diese Konsequenzen für unsere Identität: „Wir alle sind direkte Nachkommen Colóns, mit ihm beginnt unsere Genealogie – sofern das Wort Beginn überhaupt einen Sinn hat. [...] Seit diesem Datum ist die Welt geschlossen (obwohl das Universum unendlich wird), ‚die Welt ist klein‘, wie Colón selbst ganz entschieden feststellt [...]; die Menschen haben nun die Ganzheit entdeckt, deren Bestandteil sie sind, während sie bis dahin ein Teil ohne Ganzes waren.“ (ebd., 13)
Der Geschichte der Darstellungsformen des Fremden63 sowie der Geschichte der Wahrnehmung und des Umgangs mit dem Fremden64 als Teil der Geschichte der interkulturellen Fremdwahrnehmung und Fremderfahrung kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Statt dessen soll zunächst nach dem Verhältnis von Individuum, Kultur und kultureller Identität gefragt werden. Kultur Kultur bezeichnet in historischer Perspektive, aber auch in Alltagssprache und Wissenschaft sehr verschiedene Phänomene.65 Ausgehend von etwa der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeichnet sich insofern ein ‚moderner‘ Begriff von Kultur ab, als diese nun als gestalt- und interpre_____________ 63 64 65
Vgl. u.a. Hammerschmidt 1997, 27ff. sowie, für die mittelalterlichen Darstellungen, Pochat 1997. Vgl. u.a. Todorov 1985. Vgl. Hejl in: Nünning (Hg.) 1998, 290.
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tierbar verstanden wird. Damit verbunden sind fortan unterschiedliche wissenschaftliche Zugriffsweisen auf das Phänomen (Formen der Beschreibung) sowie unterschiedliche „Versionen“66 des Begriffs bzw. unterschiedliche Kulturkonzepte: Die als ‚normativ‘ bezeichnete Version des Kulturbegriffs versteht Kultur als eine (bürgerliche) Lebensweise, die, auf Grundlage einer moralischen Bewertung, diese Lebensweise als allgemein erstrebenswert erachtet und mit einem Universalitätsanspruch vertritt.67 Mitte des 19. Jahrhunderts wird der normative Kulturbegriff durch einen wissenschaftlichen ergänzt, was zu einem deskriptiven Kulturbegriff führt, der insbesondere für die Ethnologie an Relevanz gewinnt: Im Gefolge der von Edward Burnett Tylor 1871 vorgegebenen Definition: „Culture, or civilization, [...] is that complex whole which includes knowledge, belief, art, law, morals, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society“ (Tylor 1871, zit. n. Schuster in: Boehm (Hg.) 1995, 618) entwickelt die Ethnologie einen holistischen Kulturbegriff, der verhindern soll, dass die Wahrnehmung dieses komplexen Phänomens durch die Forschenden aufgrund eines reduzierten Bezugsrahmens eingegrenzt wird. Diese, auch als ‚totalitätsorientierter Kulturbegriff‘ bezeichnete Version, die die menschliche Natur als prinzipiell ‚kulturbedürftig‘ setzt, identifiziert Gesellschaften und Kulturen miteinander und bindet sie aneinander: „›Es gibt‹ zwar radikal unterschiedliche Lebensformen, aber für das einzelne Kollektiv (oder gar das einzelne Individuum) sind diese keineswegs austauschbar oder kombinierbar, vielmehr erscheint eine bestimmte Lebensweise idealerweise nach innen homogen und nach außen geschlossen, gleich – wie Herder es formulierte – einer ›Kugel‹ gegenüber anderen ›Kugeln‹.“ (Reckwitz in: Handbuch der Kulturwissenschaften; Bd. 3, 2004, 6)68 Als Gegensatz zum totalitätsorientierten Kulturbegriff zeichnet sich in den letzten Jahren eine „fachübergreifende Präferenz für einen semiotischen, bedeutungsorientierten und konstruktivistisch geprägten Kulturbegriff [sic]“ ab (Nünning; Nünning in: dies. (Hgg.) 2003, 6), und _____________ 66 67
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Vgl. Reckwitz in: Handbuch der Kulturwissenschaften; Bd. 3, 2004, 3-8. Mit der Zeit werden in der Tradition dieses Kulturverständnisses, das Kultur auch als moralische Bildung des Subjekts und als Lebensform versteht, die auf die Entwicklung der Persönlichkeit ausgerichtet ist, diesem Begriff zwei Gegenbegriffe gegenüber gestellt: Zivilisation (im Sinne der Kant’schen ‚Verfeinerung der Sitten‘) sowie – später – Gesellschaft (als „Prozess der formalen Rationalisierung und Technisierung“ (Reckwitz in: Handbuch der Kulturwissenschaften; Bd. 3, 2004, 4). Vgl. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. [1784ff.] Leipzig 1903. Neben dem normativen und dem totalitätsorientierten Kulturbegriff nennt Reckwitz noch den „sektoralen“ Kulturbegriff, der ebenfalls aus dem normativen Kulturbegriff hervorgeht und der sich „nurmehr auf das enge Feld der Kunst, der Bildung, der Wissenschaft und sonstiger intellektueller Tätigkeiten“ bezieht. (Reckwitz in: Handbuch der Kulturwissenschaften; Bd. 3, 2004, 6).
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„[d]emzufolge wird Kultur als der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen aufgefaßt, der sich in Symbolsystemen materialisiert.“ (ebd.)69 Lebensformen ‚sind‘ nach dieser Auffassung nicht, sie entstehen, werden konstruiert und re-konstruiert; sie sind mithin veränderbar und keineswegs fest mit bestimmten, bestehenden Gemeinschaften verkoppelt. Dieser bedeutungsorientierte Kulturbegriff findet seine theoretischen Wurzeln bereits in der Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und verarbeitet Gedanken aus Phänomenologie, Hermeneutik, Strukturalismus, Semiotik, Pragmatismus und der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins.70 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts, dem die hier untersuchten Briefzeugnisse entstammen, wurde die eigene ‚innere Kultur‘, deren Konzeption sich auf einen normativen und totalitätsorientierten Kulturbegriff stützte, im Rahmen des nationalistischen und imperialistischen Diskurses zum Unterscheidungsmerkmal für ‚Nationalkulturen‘ erkoren und mit entsprechenden projizierten Inhalten versehen, die, je nachdem ob es sich um eine Fremd- oder Eigenbeschreibung handelte, positive oder negative Stereotype produzierte und wiederholte.71 Gerade im Kontext von Kulturbegegnungen entstand eine Fülle von Symbolisierungsformen, durch die sich eine soziale Gemeinschaft, etwa eine Gruppe Deutscher in Japan oder Japaner in Deutschland, im Konstrukt ihrer eigenen kulturellen Identität selbst beglaubigte. So notiert etwa der japanische Schriftsteller MORI Ôgai (1862–1922) in seinem Deutschland-Tagebuch im November 1887: „Im Yamato-Club fand eine ordentliche Sitzung statt. Ich hielt eine Rede, in der ich etwa folgendes sagte: [...] Manche werden sagen: ‚Die Geselligkeit ist das Hauptanliegen des Yamato-Clubs. Wir wollen nicht, daß, auch wenn es nur ein Drittel der Zeit ist, die Zusammenkünfte des Vereins für ernsthafte Versammlungen genutzt werden.‘ Aber der Yamato-Club der Japaner, die in Deutschland leben, müßte so werden, wie die Nationalvereine der in Deutschland weilenden
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Eine zusammenfassende Darstellung findet sich u.a. bei Ort in: Nünning; Nünning (Hgg.) 2003, 19-39. Vgl. Reckwitz in: Handbuch der Kulturwissenschaften; Bd. 3, 2004, 7. Zur Unterscheidung zwischen Autostereotyp (idealisierende Ansicht über die eigene Nation) und Heterostereotyp (fragwürdige Ansicht über die andere Nation) und die gegenseitige Bedingtheit der beiden Formen, vgl. Hansen (20002): „Wie jeder andere Mythos bewirken Stereotype eine Verzerrung der Wirklichkeit, die nach den Mechanismen der selffulfilling prophecy das erkennende Subjekt mit Blindheit schlägt. Der Begriff Stereotyp beschreibt somit eine Erkenntnisbarriere und zwar keine individuelle, sondern eine kollektive. Stereotype, so könnte man sagen, sind standardisierte Urteile eines Kollektivs über sich selbst oder über andere, die, das schwingt immer mit, der Wirklichkeit nicht oder nicht ganz entsprechen. Zwischen Auto- und Heterostereotyp besteht natürlich ein kausaler Zusammenhang. [Beide...] fungieren als Barrieren der Perzeption, so daß man zur Realität nicht vordringt.“ (ebd., 321f.).
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Russen oder Italiener. Das Ziel eines jeden dieser Vereine besteht darin, daß die im Ausland Weilenden die Liebe für ihr Vaterland bewahren und nicht vergessen und den Nationalgeist ihres Landes hochhalten. Dies ist bei den Russen der Slawismus, bei den Italienern der Romanismus und bei den Japanern der YamatoGeist.“ (Mori [1887] 1992, 233f.)72
Armin Nassehi (2001) hat in seinem Vortrag über Die Leitkulturdebatte: Eine Herausforderung für interkulturelle Studien? die Funktion der Idee von Nationalkultur, wie sie im 19. Jahrhundert im öffentlichen Diskurs präsent war, aufgezeigt: „Es war stets die Funktion der Nationalkultur, die historisch neue Realität territorial begrenzter Nationalstaaten mit inklusiven Herrschaftsgrenzen über den Umweg der Kultur, also der unbedingten, der erhabenen Selbstbeschreibung des eigenen Gemeinwesens abzustützen. Was für die Individuen jenseits aller regionalen, ethnischen, klassen- und schichtenmäßigen Differenzen inklusive Zugehörigkeit versprach, ermöglichte es den neu entstehenden Staaten, auch die anderen Funktionsbereiche der Gesellschaft wie Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Erziehung, selbst Religion und Kunst, der kulturellen Selbstbeschreibung des Nationalkulturellen sich zu unterwerfen. [...] Im 19. Jahrhundert der Konsolidierung moderner Nationalstaaten diente der Vergleich dann eher der Selbststabilisierung. Diese Form expliziter Kultur leidet aber inkurabel unter jenem paradoxen Geburtsfehler. Sie dient einerseits dazu, sich selbst in einen symbolischen Sinnhorizont einzubetten und ihre Träger zu stabilisieren, andererseits wird die Funktion dadurch korrumpiert, dass sich jener eigene Horizont im Horizont anderer Horizonte bewegt. Heilen läßt sich das nur durch die Steigerung der Erhabenheit der eigenen Beschreibung“ (Nassehi 2001, 5f.).73
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Zum „Yamato-Geist“ (yamato damashii) vgl. Kodansha Encyclopedia of Japan. Vol. 8. Tôkyô, New York 1983, 309: „A phrase used until the end of World War II to describe spiritual qualities unique to the Japanese people. These range from physical and moral fortitude and courage, sincerity and devotion, to what the Germans called Volksgeist. During the militaristic period, from the early 1930s to the end of World War II, yamato damashii was equated with unquestioning loyalty to emperor and nation.“ MORI Ôgai hielt sich zum Zwecke des Medizinstudiums von 1884–1888 in Deutschland auf. Der Schriftsteller und Arzt gilt als eigentlicher Begründer der Übersetzungskunst aus der französischen, englischen und deutschen Literatur und Philosophie in Japan. Seine Deutschlanderfahrungen hat MORI Ôgai vielfach in seinem literarischen Werk verarbeitet, vgl. etwa die Erzählungen Die Tänzerin (Maihime 1890); Wellenschaum (Utakata no ki 1890) oder Der Bote (Fumizukai 1891) in: ders.: Im Umbau. Gesammelte Erzählungen. Frankfurt a.M. 1989. Vgl. dazu auch Uerlings in: Japanstudien. Bd. 8. 1996, 77-104. Festvortrag auf der Veranstaltung „Fünf Jahre Forschungsinstitut für interkulturelle Studien“ an der Universität zu Köln, 25. Januar 2001. Nassehi hat im Rahmen des gleichen Vortrags auch auf die verstörende Aktualität dieses Diskurses im politischen Tagesgeschehen verwiesen: Es ist beachtenswert, dass das Phänomen der „erhabenen“ nationalkulturellen Selbstbeschreibung der ‚Einheit Deutschland‘ nach wie vor wirksam ist und trotz (oder wegen) aller mehr denn je spürbaren gesellschaftlichen Divergenzen innerhalb der Landesgrenzen zu solch massenmedialen Ereignissen wie die „Leitkulturdebatte“ führen kann: „die nationalkulturelle Selbstzumutung hat ja historisch selbst darauf reagiert, einen geschlossenen Raum erst zu schaffen, der noch nicht da ist. Heute diskutieren wir über einen
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Das Erleben eines Menschen, einer bestimmten Kultur anzugehören, das immer dann evident wird, wenn er mit einer anderen Kultur konfrontiert wird – wie es sich auch in den hier zugrundegelegten Briefzeugnissen spiegelt – erfordert an dieser Stelle eine Annäherungsweise an das Phänomen Kultur, die nicht den kulturtheoretischen Diskurs der wissenschaftlichen Disziplinen in den Vordergrund rückt,74 sondern die sich diesem Erleben zunächst einmal öffnet: Unsere Kultur scheint uns eine Art Zuhause zu bieten, die uns eigen ist, die uns, so die traditionelle Ansicht, ‚prägt‘, die unsere Identität bildet und unseren Blick auf die Wirklichkeit vorstrukturiert: „Sicherlich ermöglicht Kultur Erkenntnis, macht uns sehend, was aber nicht bedeutet, daß wir das Richtige oder für uns Praktische sehen. Kultur gibt mir Kategorien und Strukturen an die Hand, was aber nicht bedeutet, daß sich die Handreichungen mit der Wirklichkeit draußen vertragen oder meinen Bedürfnissen entsprechen.“ (Hansen 20002, 310f.)
In Anbetracht der Irritationen, die sich bei einer Begegnung verschiedener Kulturen einstellen können, scheint es so, als biete die eigene Kultur eine Sicherheit, die bei der Konfrontation mit einer anderen provoziert und in Frage gestellt wird: Die eigene Kultur gibt Orientierung, sie verschafft (unbewusstes) Alltagswissen75 und Alltagskompetenz; kurz, sie schafft Normalität. Klaus P. Hansen (20002) formuliert diesen Aspekt in seiner Einführung in die Kulturwissenschaft. Damit geht er nicht zu aller erst von dem aus, was Kultur sein könnte, ist oder nicht ist, wie sie sich entwickelt, wer die Definitionsmacht besitzt etc. Die Perspektive auf die Kultur ist zunächst davon geleitet, wie sie sich für die Menschen darstellt, was sie für diese bedeutet und welchen Stellenwert sie hat: „Kultur schafft Normalität, die als Wirklichkeit erfahren wird“ (ebd., 302).76 Eine solche Per_____________ 74
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solchen Raum, der nicht mehr da ist. Die Leitkulturdebatte tut so, als gründe unsere Gesellschaft auf Homogenität und Bekenntnis, auf Identität und Gemeinsinn.“ (Nassehi 2001, 7). Dem politischen und wissenschaftlichen Diskurs für diesen Begriffs- und Problemzusammenhang soll im Einzelnen nicht nachgegangen werden. Ich verweise neben der oben angeführten Darstellung von Ort in: Nünning; Nünning (Hgg.) 2003, 19-39 u.a. auf die Darstellungen von Kroeber; Kluckhohn 1952; Böhme in: Glaser; Luserke 1996, 48-68; Eagleton 2001 sowie Hagenbüchle 2002, 19-54. Vgl. Hall (1989). Hall hat diese eher unbewusste aber sehr bestimmende Ebene der kulturellen Normen, Werte und Handlungen beschrieben, die in der Regel weder bewusst erkannt und formuliert werden, noch intentional erlernt werden können, sondern höchstens durch Erfahrung und Erleben angeeignet werden: „This hidden cultural grammar defines the way in which people view the world, determines their values, and establishes the basic tempo and rhythms of life.“ (Hall 1989, 6). Der Kulturbegriff nach Hansen, der im Weiteren noch Aspekte wie „(Multi-)Kollektivität“, „Kohäsion“ und „Standardisierungen“ beinhaltet, soll hier nicht weiter spezifiziert werden (vgl. Hansen 20002). Zu der oben angeführten Dimension von Kultur vgl. auch: Das „Denken-wie-üblich“ bei Schütz (vgl. Schütz 1972, 58f.) sowie die Ausführungen Jochen Rehbeins (1985) über Sprache und Kultur: „Die Aktanten einer Gruppe haben nicht nur
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spektive auf ‚Kultur‘ erweist sich als hilfreich, befasst man sich mit den Erfahrungen von Menschen, die die Konfrontation mit ihnen fremden Kulturen intensiv erlebt und nicht zuletzt auch als eine die Identität betreffende Desorientierung beschrieben haben. Auch die Reflexion über die eigene Kultur und die eigene Identität beginnt oft erst durch den Entzug dieser Normalität, und damit durch die Infragestellung der bislang gültigen Wirklichkeit. Kulturelle Identität Wie bereits kurz erwähnt, herrscht traditionell die Auffassung vor, das Individuum, seine Weltsicht, sein Verhalten und seine Identität, werde durch die Kultur, die untrennbar mit der Gemeinschaft verbunden ist, in die der Mensch hineingeboren wird und in der er aufwächst, ‚geprägt‘. Diese Auffassung verbindet sich insbesondere mit der normativen und totalitätsorientierten Konzeption von Kultur, die diese (als Kollektiv) individuell und unvergleichlich setzt, und spiegelt sich auch in dem Begriff der inneren Kultur. Dagegen ist die postmoderne Perspektive auf das Konstrukt einer kulturellen Identität (als eine Form der kollektiven Identität)77 von der Diskussion des Identitätskonzeptes insgesamt bestimmt. Personale Identität wird in aktuellen Forschungsbeiträgen aus verschiedenen Disziplinen übereinstimmend als ein Konstrukt aufgefasst, das nicht ontisch ist; sie wird als prinzipiell unabschließbar, permanent in Veränderung begriffen, dynamisch
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ein bestimmtes Idiom, sie haben eine Sprachpraxis in diesem Idiom und sind durch ihr Wissen Mitglieder dieser Gruppe. Sie bringen (bewußt oder unbewußt) ihr Wissen [...] in die Kommunikation ein, spezifische vertraute Abläufe, spezifische Weisen, sich auszudrücken, zu sprechen und zu handeln, Formen, bei deren Gebrauch sie in der Gruppe auf ein unkompliziertes und quasi automatisches Verständnis treffen. [...] Das, was sie mit den ‚anderen‘ verbindet, ist [...] eine Vielfalt von Handlungssystemen. In Handlungssystemen haben sich Erwartungen des Handelns herausgebildet, die die Teilnehmer dieses Handlungssystems miteinander teilen: Sie gehören zu diesem Handlungssystem durch ihr gemeinsames Wissen (Mitgliedschaftscharakter des gemeinsamen Wissens). Die Erwartungen zeigen sich nicht, sondern stellen ein ‚System von Selbstverständlichkeiten‘ (vgl. Ehlich & Rehbein 1972) dar. Diese sind ‚normaler Alltag‘. Derartige ‚Normalitäten‘, Selbstverständlichkeiten des Handelns, werden erst in der Begegnung mit anderen ‚Systemen von Selbstverständlichkeiten‘ als solche bewußt.“ (Rehbein in: Rehbein (Hg.) 1985, 28f.) Entsprechend könnte man hier einfügen, was Clifford Geertz mit dem Verstehen einer Kultur meint: „Das Verstehen der Kultur eines Volkes führt dazu, seine Normalität zu enthüllen, ohne daß seine Besonderheit dabei zu kurz käme.“ (Geertz 19996, 21). Zu ‚kollektiver Identität‘ (etwa religiöse, geschlechtliche, kulturelle, ...) vgl. u.a. Niethammer 2000 sowie Assmann; Friese (Hgg.) 1998, darin insbesondere Straub, ebd., 73-104.
Exkurs 1: Interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität
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und balancierend beschrieben.78 Jürgen Straub (2004) erweitert diese Perspektive auf die personale Identität noch durch den Begriff der „Aspiration“: „Identität meint aspirierte, angestrebte, imaginierte Identität, und als solche trägt sie zur Konstitution des Handlungspotentials einer Person bei und motiviert sie zu bestimmten Handlungsweisen. Identität ist ein normativer, sozialer Anspruch, den Personen an sich und andere stellen können, wohl wissend, dass niemand diesen Anspruch jemals zu erfüllen in der Lage ist.“ (Straub in: Handbuch der Kulturwissenschaften; Bd. 1, 2004, 281)
Die Konstruktion der personalen Identität steht in einem vielfachen Wechselverhältnis zu verschiedenen Formen ‚kollektiver Identität‘, die durch das Sich-ins-Verhältnis-setzen des Individuums zur Welt, zur Gesellschaft, zu bestimmten Gruppen, an dessen Identitätskonstruktion beteiligt sind. Allerdings ist mit dem Begriff der ‚kollektiven Identität‘ insgesamt – und damit auch mit dem der kulturellen Identität – die grundlegende Unsicherheit verbunden, was das denn überhaupt ist oder sein könnte. Einigkeit herrscht in diesem Zusammenhang insbesondere darüber, dass sich Konzept und Begriff für einen ideologischen Diskurs eignen: „Kollektive Identität gehört, das ist leicht festzustellen, zum Vokabular der ideologisch-politischen Mobilmachung.“ (ebd., 293)79 Entsprechend der aktuellen Auffassung von Identität als einem dynamischen, in steter Veränderung begriffenen Konstrukt, sowie entsprechend der aktuellen Auffassung von Kultur als ein „auf Austausch angelegtes, kohärentes, aber nicht widerspruchsfreies und insofern offenes Regel-, Hypothesen- und Geltungssystem“ (Wierlacher in: ders. (Hg.) 1993, 45), wird nun auch kulturelle Identität als ein dynamisches Konzept konstruiert, das insbesondere monokulturelle Zuschreibungen als ahistorisch und im nationalistischen Diskurs verankert ablehnt.80 Eine postmoderne Vorstellung von Kultur und Interkulturalität konstatiert und fordert geradezu eine Identitätsbildung, die sich durch verschiedene Einflüsse _____________ 78
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Zur wissenschaftlichen Kontroverse um den Begriff Identität vgl. Straub in: Handbuch der Kulturwissenschaften; Bd. 1, 2004, 277ff. Als Strukturmerkmale personaler Identität gelten: „Kontinuität, Konsistenz und Kohärenz.“ (ebd., 282). Vgl. außerdem zum Identitätsdiskurs in der deutschen Erziehungswissenschaft u.a. Holzbrecher 1997, 105-122. Mona Singer (1997) weist etwa auf die Folgen einer statischen, begrenzenden Konzeption von kultureller Identität in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht hin, wie sie im 19. Jahrhundert Gültigkeit hatte und vielfach noch heute hat. Auch von Seiten der Interkulturellen Germanistik wird die Vorstellung einer Identitätsbildung auf Grundlage einer einzelnen Kultur für ahistorisch erklärt: „Monokulturelle Vorstellungen von Identität sind produziert bzw. fiktiv. Sie scheinen historisch an ethnizistische und nationalstaatliche Konfigurationen in modernen Gesellschaften gebunden zu sein.“ (Keller in: Thum; Keller (Hgg.) 1998, 3).
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konstituiert und dynamisch angelegt ist.81 Zudem wird die Idee einer dauerhaften und nicht zu modifizierenden kulturellen Prägung weitgehend zurückgewiesen: „Es gibt keine soziale oder kulturelle ‚Prägung‘, die nicht seitens des Individuums relativiert werden könnte …“ (Auernheimer 19952, 109).82 Wie kommt es dann aber, dass auch heute noch viele Menschen das subjektive Gefühl, einer bestimmten, klar zu umreißenden Kultur anzugehören, sofort bestätigen würden, und dass sich dieses Gefühl bei dem Aufenthalt in einer zunächst fremden Kultur in einem anderen Land verstärkt? Wie kommt es, dass sich, wie vielfach beschrieben, diese Konstruktion von ‚Eigenkultur‘ bei radikalen Erfahrungen von Kulturdifferenz zunächst zunehmend klarer und stärker herausprofiliert und zum Erklärungsmuster der eigenen Identität wird?83 Wo immer die Ursachen dafür liegen mögen, offenbar wird die Erfahrung von Desorientierung, wie sie ein Kulturschock bedeuten kann, zunächst einmal nicht mit der produktiven Aufnahme neuer Aspekte in das eigene Identitätskonzept beantwortet, sondern mit der Konstruktion von Differenzen.84 Dennoch: „Einen Automatismus, der die differentielle Bestimmung einer kollektiven Identität mit der gewaltsamen, symbolischen und ›praxischen‹ Exklusion und Nihilierung von Anderen und Fremden [...] kausal verknüpft, gibt es nicht“ (Straub in: Handbuch der Kulturwissenschaften; Bd. 1, 2004, 298), auch wenn diese Gefahr immer damit verbunden sein kann und viele persönliche und öffentliche Zeugnisse diese auch bestäti_____________ 81
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Vgl. auch Roth in: Reich; Holzbrecher; Roth (Hgg.) 2000, 45. Vgl. in diesem Zusammenhang aber auch die Skepsis gegenüber der Idee vom „‚pluralen Subjekt‘ (und [dem] ‚Patchwork‘-Selbst)“, das mancherorts als „ein Konstrukt westlicher akademischer Theorie“ (Hagenbüchle 2002, 151) angesehen wird. Zum Prozess der „kulturellen Prägung“ bzw. „Enkulturation“ und der Kulturgebundenheit der Individuen vgl. auch Grosch; Leenen in: Interkulturelles Lernen 2000, 33-35. Zeigt dies evtl. einmal mehr die eher selten zu überbrückende Kluft zwischen Theorie (auch: Anspruch) und Lebenspraxis (die an diesem Anspruch scheitert)? Vgl. für diesen Zusammenhang auch die Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Interkulturellen Pädagogik, wie sie etwa Grosch und Leenen in: Interkulturelles Lernen 2000, 29f. darstellen. Zur Bedeutung des ‚kollektiven Gedächtnisses‘ für die Identitätsbildung vgl. Halbwachs [1950] 1991 sowie Assmann 1999. Ein Überblick über Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen findet sich bei Erll in: Nünning; Nünning (Hgg.) 2003, 156-186. Die Differenzen werden hier also vielfach zwischen den Kulturen als ‚Nationalkulturen‘ verortet und nicht innerhalb der kulturellen Identität selbst. Vgl. zur Verortung der Kultur Bhabha, Homi (2000). Alois Hahn schreibt über die Vielgestaltigkeit des Erlebens von Identität in der Fremde: „Das Fremde scheint einerseits immer wieder als Verlockung, als Aufbruch aus belastenden Gewohnheiten und Routinen, als Bereicherung und Anregung, als spannend und aufregend, als abenteuerlich und faszinierend. [...] Aber andererseits wird die Fremde, in der man auf Dauer oder doch lange Zeit als Fremder lebt, als Elend wahrgenommen, der Fremde als Bedrohung, wenn nicht gar als der potentielle Feind.“ (Hahn in: Eckert (Hg.) 1998, 170-171).
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gen und illustrieren. Wissenschaftliche und individuelle, subjektive Auffassungen zum Phänomen der ‚kollektiven Identität‘ treffen sich eher auf der deskriptiven Ebene denn auf der der (ethischen, politischen, ...) Wertung, wobei jedoch für die Wissenschaft der Anspruch formuliert wird, kollektive Identität als „rekonstruierende Nachschrift“ zu konstituieren und nicht als „normierende Vorschrift“: „Wer in wissenschaftlicher Absicht von kollektiver Identität bzw. der Identität eines Kollektivs spricht, schreibt einer variablen Mehrzahl etwas ihnen Gemeinsames zu. [...] Die kollektiv geteilten Merkmale, die eine auf Ähnlichkeit gründende Gemeinsamkeit stiften, sind empirisch feststellbar, wenn auch nicht objektiv reifizierbar. Sie beziehen sich nicht auf periphere, sondern auf relevante, oft auf zentrale Aspekte einer soziokulturellen Lebensform. Es sind die konjunktiven Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte, die Anlässe und Anhaltspunkte für die kommunikative, diskursive Aushandlung und Artikulation kollektiver Identitäten bieten (und keine unveränderlichen, ›natürlichen‹ Merkmale von Menschen).“ (ebd., 299)
In vielen persönlichen Texten, die von Reisenden des 19. Jahrhunderts verfasst wurden und die Erfahrungen von Fremdheit beschreiben, wie etwa Tagebüchern, Briefen o.ä., spiegeln sich noch ungebrochene Vorstellungen von einer klar zu umreißenden, normativ konzipierten kulturellen Identität, die in der als eigen empfundenen und konstruierten ‚Nationalität‘ verankert wird. Diese kulturelle Identität wird gegen Erfahrungen in der Fremde, die eine Relativierung des Eigenen nach sich ziehen könnten, regelrecht verteidigt – so etwa in dem Brief von Georg Michaelis, der den Bericht über einen ‚Heimaturlaub‘ durch eine befreundete Familie folgendermaßen kommentiert:85 „Vergangenen Freitag waren wir dann zum ersten Male wieder bei ihnen u. namentlich Frau Knipping erzählte in ihrer reizenden lebhaften Weise von ihren Deutschland-Erfahrungen. Wenn sie’s auch nicht offen aussprachen, so kam doch zu Tage, daß sie in den langen Jahren der Abwesenheit [...] den häuslichen Verhältnissen entwachsen sind. Vieles – u. gerade das, was zu Hause die Gemüther am lebhaftesten bewegt, war ihnen fremd u. unverständlich geblieben. [...] Mich befremdete diese innere Entfremdung etwas u. kann es nicht begreifen, wie man ohne Begeisterung für sein Vaterland leben kann. Wie sagt doch Schiller im Tell: ‚An’s Vaterland, an’s theure, schließ dich an, – das halte fest mit deinem ganzen Herzen – hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft; dort in der fremden Welt stehst du allein, ein schwankend Rohr, das jeder Sturm zerknickt.‘ – Das habe ich mir vorgepredigt, um mich nicht von dieser Begeisterung für die große, internationale Welt blenden zu lassen.“ (Michaelis [1889] 2001, 537f.)
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Die Familie Knipping, die seit vielen Jahren in Japan lebte, kam von einem „Heimaturlaub“ aus Deutschland zurück nach Japan und berichtet nun den geladenen Gästen von dieser Reise in die Heimat.
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Mit dieser starken Anbindung an ein ‚Wir‘ geht, wie erwähnt, gleichzeitig eine Infragestellung, oft genug eine Abwertung des ‚Ihr‘ einher. Diese Abwertung erklärt sich in den hier betrachteten Zeugnissen u.a. auch aus der spezifischen Situation der Deutschen im Japan der Meiji-Zeit, die zumeist als Berater und Lehrende nach Japan gekommen waren, um dem Land den Anschluss an die ‚zivilisierten Nationen‘ zu erleichtern und mit einem Wissens- und Kulturtransfer die Jahre der Abkapselung überwinden zu helfen. Die Abwertung der anderen europäischen Nationen wiederum entstand u.a. aus pragmatischeren Gründen, nämlich aus einer Konkurrenzsituation: Es war der entschiedene Auftrag der Deutschen in Japan, zum Wohle der Nation den Einfluss Deutschlands in Japan zu stärken. Aber bereits die Erfahrung der Differenz, die der Einzelne in der von ihm als fremd empfundenen Lebensumwelt erfährt, scheint auszureichen, um dem Bedürfnis nachzugeben, sich durch eine Aufwertung des Eigenen zu stabilisieren, und dem Impuls zu erliegen, das Fremde in größtmöglichem Kontrast zum Eigenen wahrzunehmen oder zu entwerfen und schreibend zu gestalten.86 MATSUMURA Jinzo, der sich als Lernender in Deutschland aufhielt, und der in vielen Briefen die Überlegenheit der deutschen über die eigene japanische Lebensweise behauptet, schreibt in einer schwierigen Lebenssituation an seinen Vater: „In dieser fremden Stadt sind so viele Dinge einschließlich des Stadtbildes so verschieden von den entsprechenden Verhältnissen in Japan, daß ich manchmal zweifele, ob ich wirklich noch ich selber bin und ob es überhaupt einen Sinn gemacht hat, über eine so große Entfernung über den Ozean hierher zu kommen und für diesen Zweck noch so viel Geld auszugeben. Allmählich begreife ich, dass es kein besseres Land auf der Welt gibt (als Japan [= Anm. d. Hg.]) und keine bessere Stadt wie meine Heimatstadt.“ (Matsumura [1886] 2001, 24)
‚Einleben‘ in der anderen Kultur Die Begegnung mit der Lebensform und der Wirklichkeitsdeutung anderer Länder kann trotz aller Vorbereitung, Reflexion und Information, trotz aller Erfahrung von Divergenz und Heterogenität im eigenen Lebensraum verstörende Erfahrungen bereithalten, die auf der u.U. radikal anderen Auffassung von Normalität gründen, auf dem Entzug der vertrauten Sprache, der gemeinsamen Geschichte, Verhaltensnormen etc. Hier ist auch ein entscheidender Unterschied zu der Erfahrung von Fremde innerhalb der eigenen Kultur zu konstatieren: Die interkulturelle Fremd_____________ 86
Wobei nicht gesagt sein muss, dass die in dieser Situation konstatierten Differenzen, die zur Herausprofilierung und Sicherung der eigenen Identität herangezogen werden, so nicht auch bestehen können.
Exkurs 1: Interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität
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erfahrung, die der Einzelne in einer ihm unvertrauten Kultur macht, wird subjektiv sehr viel intensiver erfahren und fördert wesentlich größere Verunsicherungen zu Tage. Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass sich die so erfahrenen interkulturellen Differenzen weitaus weniger glätten und verdrängen lassen; sie drängen sich uns geradezu auf und fordern direkt Anpassungsleistungen. Der Umgang mit kultureller Differenz, mit dem also, was andere Kulturen als Normalität definieren und was u.U. der eigenen Auffassung von Normalität widerspricht, unterliegt einer ‚Prämisse der besonderen Schwierigkeit‘ (vgl. Hansen 20002, 318ff.).87 Die Irritation, die sich in der Begegnung mit einer deutlich differenten Kultur einstellen kann,88 wird natürlich in erster Linie von den Neuankömmlingen als solche empfunden. Aber auch die Angehörigen der anderen Kultur erleben in diesem Zusammenhang Irritationen; es vollzieht sich ein dialogischer Prozess der gegenseitigen Befremdung, der vielfach in der Literatur beschrieben und betont wird.89 Vilém Flusser schreibt in seinem Artikel Exil und Kreativität: „Im Exil, worin die Decke der Gewohnheit abgezogen ist, wird man zum Revolutionär, und sei es nur, um dort wohnen zu können. Daher ist das Mißtrauen, das dem Vertriebenen im Neuen Land entgegengebracht wird, vollauf berechtigt. Sein Einzug ins Neue Land durchbricht tatsächlich das Gewohnte und bedroht seine Hübschheit. [...] Er wird zum Epizentrum eines Erdbebens, das von den Ureinwohnern als ein Umsturz des Gewohnten erlebt wird. Von seinem eigenen Standpunkt aus geht es eher um das Gegenteil: Er ist bemüht, das Ungewohnte (nämlich überhaupt alles) bewohnbar zu machen.“ (Flusser 1994, 105f.)
Im Folgenden soll noch kurz ein für den vorliegenden Zusammenhang wichtiger Aspekt näher betrachtet werden. Die Neuankömmlinge beschreiben in ihren Briefen nach Hause im Anschluss an die mehrwöchige Anreise und die ersten frischen Begegnungen mit der neuen Kultur sowie den Bezug des eigenen Hauses nun die Aufgabe, sich in die „fremden Verhältnisse“ einleben zu müssen. So schreibt Albert Mosse an seinen Bruder: „Tokio, Sannen-cho 3 d. 18. Juli 1886 [...] Solange wir unterwegs waren, der Geist in steter Spannung erhalten wurde, fühlten wir die Vereinsamung nicht. Seit wir
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Ebenso wie das Fremdverstehen scheint der ‚richtige‘ Umgang mit kultureller Differenz ein Projekt zu sein, das nur sehr schwer, wenn überhaupt, zu realisieren ist, zumal kaum Einigkeit über das ‚Richtig‘, eher schon über das ‚Falsch‘ besteht. Vgl. dazu auch Kapitel 5, Exkurs 2: Überlegungen zu: Fremde – Verstehen? Interkulturelle Hermeneutik und interkulturelles Lernen. Die Relevanz dieses Phänomens im Rahmen der Globalisierung wird mehr und mehr auch auf dem Markt der Handbücher und Ratgeber entdeckt, vgl. etwa das Buch der Psychologin und Headhunterin Elisabeth Marx: Breaking Through Culture Shock: What You Need to Succeed in International Business. 1999. Vgl. insbesondere Simmel, Georg: Exkurs über den Fremden [1908]. In: ders. 19685, 509-512 sowie Schütz, Alfred: Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch [1944]. In: ders. 1972, 5369; hier ab 59ff.
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aber hier sind, kommt dieses Gefühl bisweilen mit seiner ganzen Bitterkeit über mich. Heimath, sie ist kein leerer Wahn, und was sie einem Menschen mit Empfindung ist, kommt ihm in der Fremde zu rechtem Bewußtsein. – Indessen Gewohnheit, Mutter Zeit, Einleben in die fremden Verhältnisse werden uns auch über diese wehmütigen Stimmungen hinweghelfen.“ (Mosse, Albert [1886] 1995, 137)
Dieses Einleben wird von Vilém Flusser als zentrale Aufgabe beschrieben, die darin besteht, die vorgefundene Situation „bewohnbar“, vielleicht auch lebbar zu machen. Zu diesem Zweck ist es, so Flusser, für den Menschen unerlässlich, sich eine „Wohnung“ zu schaffen, ein Prozess, den er folgendermaßen kennzeichnet: „Man hält die Heimat für den relativ permanenten, die Wohnung für den auswechselbaren, übersiedelbaren Standort. Das Gegenteil ist richtig: Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muß immer, gleichgültig wo, wohnen. [...] Denn ohne Wohnung kommt man buchstäblich um. Dieses Umkommen läßt sich auf verschiedene Weisen formulieren, aber die am wenigsten emotional geladene ist diese: Ohne Wohnung, ohne Schutz von Gewöhnlichem und Gewohntem ist alles, was ankommt, Geräusch, nichts ist Information, und in einer informationslosen Welt, im Chaos, kann man weder fühlen noch denken noch handeln.“ (Flusser 1994, 27f.)
Sich eine „Wohnung“ zu schaffen, oder sich einzuleben, heißt hier, Informationen als solche wahrnehmen und verarbeiten zu können sowie von einem sicheren und vertrauten Standort aus das Leben in der neuen Lebenswelt zu gestalten.90 Diese Erfahrung bzw. ein solches Bedürfnis spiegelt sich – vordergründig in einem sehr viel konkreteren Sinne – auch in den untersuchten Briefen aus Japan. Emma Schultze schreibt an ihren Vater: „Mein Haus und unser Leben ist mir natürlich auch vorläufig interessanter als die Allgemeinheit [...] Deshalb müßt ihr verzeihen, wenn meine Briefe so prosaisch und einfach sind und anders als ihr vielleicht
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Insofern gehört dies zu den originären Aufgaben des Menschen. Gleichzeitig birgt „die Wohnung“, jedoch auch die Gefahr, dass sich der Mensch die Umgebung als etwas ‚Gewohntes‘ aneignet und einverleibt, so dass sie betäubend auf ihn einwirkt: „Gewohnheit ist eine Decke, welche den Sachverhalt zudeckt. In der gewohnten Umgebung werden nur Veränderungen, nicht aber Permanenzen wahrgenommen. Wer wohnt, für den sind nur Veränderungen informativ, und alles Permanente sind für ihn Redundanzen.“ (Flusser 1994, 103f.; vgl. genauer Flusser 1994, 15-31 [Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit ] ). Das Problem scheint nun darin zu liegen, dass erst die „Wohnung“ erlaubt, Informationen sinnvoll zu verarbeiten – um sich eine „Wohnung“ zu schaffen, muss der Einzelne aber bereits Informationen sinnvoll und kreativ verarbeitet haben (vgl. Flusser 1994, 103f.). Der Frage, ob sich hier ein unlösbarer Widerspruch zeigt, der die Paradoxie der Situation des im Exil Lebenden offenbart, oder ob sich hier ein Weg andeutet, der im Sinne eines Hermeneutischen Zirkels beschritten werden muss, kann hier nicht weiter nachgegangen werden.
Exkurs 1: Interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität
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aus Japan erwartet.“ (Schultze, Emma [1878] 1980, 85)91 Nach der Schaffung einer sicheren und vertrauten Basis muss auch die neue Kultur (soweit) erschlossen werden, dass dort ein „Wohnen“, ein Leben, das Handeln und Gestalten erlaubt, möglich ist. Dies ist jedoch mit viel Anstrengung verbunden, und der Erfolg bleibt zweifelhaft: „Die Soziologen scheinen uns zu belehren, daß die geheimen Codes der Heimat von Fremden (zum Beispiel von Soziologen oder von Heimatlosen) erlernt werden können, da ja die Beheimateten selbst sie zu lernen hatten [...]. Daher könnte ein Heimatloser von Heimat zu Heimat wandern und in jede von ihnen einwandern, wenn er nur an seinem Schlüsselbund alle notwendigen Schlüssel zu diesen Heimaten mit sich trägt. Die Wirklichkeit ist anders. Die geheimen Codes der Heimaten sind nicht aus bewußten Regeln, sondern größtenteils aus unbewußten Gewohnheiten gesponnen. Was die Gewohnheit kennzeichnet ist, daß man sich ihrer nicht bewußt ist. Um in eine Heimat einwandern zu können, muß der Heimatlose zuerst die Geheimcodes bewußt erlernen und dann wieder vergessen.“ (Flusser 1994, 20f.)
Interkulturelle Fremderfahrungen und Erfahrungen in der Fremde verlangen nach Aktivität, Kreativität und Bewältigung. Ein Mensch, der eine andere Normalität als fremd erfahren hat, wird, soweit er sich nicht mit dieser Interpretation zufrieden gibt und sich dann abwendet, Anstrengungen unternehmen, das zunächst Fremde zu verstehen und es mit Eigenem in Beziehung zu setzen sowie diese Kategorien zu verändern und erneut zu konstituieren. Den Menschen, die ihr Leben in einer zunächst fremden Kultur neu einrichten müssen, geht es aber vielleicht nicht in erster Linie darum, diese zu verstehen – eher scheint das Bedürfnis, sich zurechtzufinden, Normalität wieder herzustellen, die Infragestellung der eigenen Wirklichkeit zu überwinden, die eigene kulturelle Identität neu zu definieren oder gegen das Neue regelrecht zu verteidigen und wieder handlungsfähig zu werden, im Vordergrund zu stehen: „Die Kultur- und Zivilisationsmuster der Gruppe, welcher er sich nähert, sind dann nicht mehr Gegenstände seines Denkens, sondern ein Segment der Welt, die durch Handlungen beherrscht werden muß.“ (Schütz 1972, 60)92 Peter Funke (1990) drückt dies folgendermaßen aus: „Erst wenn der Erfolg unserer Handlungen vom Verständnis einer fremden Kultur abhängt und wir diese Abhängigkeit auch erkennen, bemühen wir uns, diese fremde Kultur soweit zu verstehen, wie es unsere Handlungen verlangen. Die
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Auf das hier von der Schreibenden antizipierte Informationsbedürfnis der Adressaten wird noch einzugehen sein. Schütz schreibt dazu weiter: „Mit anderen Worten, die Kultur- und Zivilisationsmuster der Gruppe, welcher sich der Fremde nähert, sind für ihn kein Schutz, sondern ein Feld des Abenteuers, keine Selbstverständlichkeit, sondern ein fragwürdiges Untersuchungsthema, kein Mittel, um problematische Situationen zu analysieren, sondern eine problematische Situation selbst und eine, die hart zu meistern ist.“ (Schütz 1972, 67).
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Begegnung mit einer fremden Kultur führt also nicht zwangsläufig zu einer Auseinandersetzung mit ihr, genausowenig, wie die Auseinandersetzung zwangsläufig zum Verstehen führt. [...] Wir wählen aus, was wir wahrnehmen, und verstehen mit Hilfe verschiedener Prozesse, um zusammenhängende, überschaubare und für uns sinnvolle Bereiche zu konstruieren, in denen wir uns zurechtfinden und in denen wir leben können.“ (ebd., 584; 594)
Die so beschriebenen, zugegebenermaßen etwas desillusionierend und funktionalisierend wirkenden Verstehensversuche sollen aber in keiner Weise abgewertet werden. Sie sind notwendig, kreativ und bilden erst die Grundlage zu weitergehenden, weniger zweckgebundenen Verstehensversuchen, wie viele Beispiele belegen – „Meine Wohnung, dieses Netz von Gewohnheiten, dient dem Auffangen von Abenteuern und dient als Sprungbrett in Abenteuer.“ (Flusser 1994, 27) In diesem Sinne können auch Verstehensversuche als „Abenteuer“ gedeutet werden, zumindest als Wagnisse. Erst die Bewältigung einer angespannten, desorientierten Lebenssituation gibt Raum für freiere Neugier und Interesse am Anderen. Diese Hinweise auf die spezifische Lebenssituation der Menschen, von denen die hier untersuchten Briefzeugnisse stammen, sollen genügen. Im Folgenden richtet sich der Blick auf das untersuchte Material. Dabei ist von besonderem Interesse, welchen Raum der private Brief als Textsorte den Schreibenden eröffnet, ihre Erfahrungen den Daheim-Gebliebenen mitzuteilen. Die mit dieser Textsorte gegebenen Möglichkeiten und Grenzen der Mitteilung und Gestaltung der Erfahrungen sind flexibel;93 sie werden zum einen konstituiert durch die historisch gebundenen und ausgeprägten Spezifika des Mediums sowie die jeweilige individuelle Nutzung des Raums durch die Schreibenden. Zum anderen bestimmen die Empfänger der Briefe deren Gehalt und sprachliche Gestaltung nicht unwesentlich mit, worauf noch näher einzugehen sein wird. Wie wird nun innerhalb dieses Raumes die andere Kultur dargestellt? Inwiefern (re-)konstruieren die Schreibenden u.U. bereits bekannte Vorstellungsbilder und Topoi, bzw. wie gehen sie mit diesen Bildern um? Welche neuen, anderen Bilder von der Kultur entstehen aufgrund der spezifischen Wahrnehmungs- und Schreibsituation? So wird u.a. der Frage nachzugehen sein, ob ein anderes Bild über die ‚Fremde Japan‘, abseits des exotistischen Diskurses, entsteht, das vielleicht nur wenig mit den Sehnsuchtsbildern gemein hat, die in den bisher betrachteten Texten (re-) konstruiert wurden. Eine Betrachtung der Darstellung der anderen Kultur _____________ 93
Auf die Geschichte der Gebrauchstextsorte Brief soll hier nicht weiter eingegangen werden. Ich verweise für diesen Zusammenhang auf Nickisch 1991, 29ff. Auch die Sprach-, Stil- und Formdidaktik kann insofern vernachlässigt werden, als der Privatbrief seit dem 18. Jahrhundert als relativ frei von stilprägenden Vorgaben gelten kann: „so daß seine Homogenität allein durch die Persönlichkeit des Verfassers, nicht aber durch einen spezifischen gattungskonstitutiven Stil gestiftet wird.“ (ebd., 99).
4.3 Briefe aus der Fremde
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darf dabei nicht übersehen, dass Briefe zum einen Auskünfte über das Andere bzw. über die jeweiligen persönlichen und zeitgenössischen sowie kulturellen Ausprägungen der Diskurse über das/die Fremde allgemein sowie über die ‚Fremde Japan‘ geben; darüber hinaus ist aber auch das Erleben der Schreibenden in der Fremde und die unmittelbare Beziehung zum Adressaten ablesbar, sowie etwas darüber, wie viel Fremdheit im Rahmen dieser Beziehung kommuniziert werden kann, ohne dass es zur gegenseitigen Fremdwerdung kommt. Die untersuchten Briefe sollen im Folgenden als Mittel zur Verbindung und Kommunikation mit den Adressaten und damit mit der so empfundenen Heimat, als autobiographisches Dokument und Lebenskommentar, als schriftliche Be- und Verarbeitung einer Fremderfahrung (also als subjektiver Spiegel einer spezifischen Erfahrungssituation) sowie als Mitteilungen aus und über die ‚Fremde Japan‘ und die damit verbundenen Diskurse gelesen und befragt werden.94
4.3 Briefe aus der Fremde „Den 4ten Juli morgens. Erst jetzt komme ich zur Fortsetzung dieses Briefes, den ich auch schon in Absätzen schrieb, soviel habe ich hier gleich zu thun, [...] Zudem weiß ich, daß in den nächsten Tagen grade kein Postschiff geht, so kann ich also mit Ruhe und Ausführlichkeit schreiben, so oft ich Zeit habe“ (Schultze, Emma [1878] 1980, 44).
Der Brief als Medium ist eine (reflektierte) Momentaufnahme, er spiegelt aktuell Bedeutsames, aktuelle Bedürfnisse, sozusagen die Wahl des Augenblicks.95 Die Chronologie der Ereignisse sowie die subjektive Bedeutsamkeit einzelner Erlebnisse, wie sie im Moment des Schreibens empfunden werden, bestimmen in der Regel die Struktur der Mitteilung. Aus diesem Grund, ist die Widersprüchlichkeit des Erlebens in der Fremde aus privaten Briefen (sowie aus Tagebüchern) noch am ehesten zu erlesen. Da die Briefe nicht dem Anspruch einer einheitlichen Gesamtkonzeption unterliegen, können schwankende Gefühle und Stimmungen wie Offenheit und Staunen, Ängste und Abwehr oder Sehnsucht und Rührung, die _____________ 94
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Peter Mesenhöller verweist noch auf die noch nicht genau eruierte Bedeutung der so genannten Auswandererbriefe „für die Illustration von Migrations- und Akkulturationsprozessen.“ (Mesenhöller in: Assion (Hg.) 1985, 111; vgl. im Zusammenhang mit der Amerikaauswanderung Assion in: ders. (Hg.) 1985). Dieser Aspekt soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden, da sich der Fokus auf die jeweilige Ausgestaltung der Rahmenvorgaben der Textsorte Brief und weniger auf das Ablesen ohnehin nur schwer generalisierbarer Prozesse richtet. Als Sammlung präsentiert, wie die hier untersuchten Briefe, umfassen sie gleichzeitig eine längere Zeitstrecke, anhand derer auch etwaige individuelle Entwicklungen ablesbar werden.
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das subjektive Erleben in der Fremde begleiten, unmittelbarer zur Darstellung gelangen. Es ist insgesamt weniger die Fremde selbst, die die Hierarchie der Mitteilung, die Anordnung der Erlebnisse oder die sprachliche und konzeptionelle Gestaltung des privaten Briefes aus der Fremde prägt. Vielmehr bilden das ‚Ich‘ sowie das ‚Ich und Du‘ die Bezugspunkte des Schreibens, denen auch die Mitteilungen über die ‚Fremde Japan‘ untergeordnet werden. Dies hängt ganz wesentlich mit den Funktionen des Briefes insgesamt sowie mit den spezifischen Funktionen des Briefes aus der Fremde zusammen, denen im Folgenden genauer nachgegangen werden soll. 4.3.1 Funktionen des Schreibens Die von Reinhard Nickisch (1991) so gekennzeichneten Grundfunktionen des Briefeschreibens,96 die Informationsübermittlung, das Appellieren sowie die Selbst-Äußerung,97 gelten in gleicher Weise für den Brief aus der Fremde wie für jeden anderen (privaten) Brief. Die Informationsübermittlung bezieht sich im Hinblick auf den hier untersuchten Gegenstand zumeist auf als solche deklarierte Informationen über die andere Kultur sowie auf Explikation von Alltagswissen, aber es werden auch Informationen über Postwege und über die Vor- und Nachteile bestimmter Medien wie etwa Telegramm, Postkarte, etc. ausgetauscht.98 Ähnlich pragmatisch ist die Funktion der Organisation von Alltagsfragen: Zahlreiche Briefe handeln davon, welche vertrauten Nahrungs- und Genussmittel die Schreibenden schmerzlich vermissen und was ihnen die Daheim-Gebliebenen schicken sollen, etc. Im Zusammenhang mit der Funktion der Selbstäußerung geht es in den hier untersuchten Briefzeugnissen weniger um Introspektion und Selbstbetrachtung der Schreibenden. Eher wird der Eindruck gewonnen, die Schreibenden versuchen ihre Rolle und Stellung in Bezug zu den DaheimGebliebenen zu sichern und zu bewahren; d.h., sie bemühen sich zu verdeutlichen, dass der Aufenthalt in der Fremde sie keineswegs zu Fremden macht.99 Diese Selbst-Äußerungen haben auch stark appellative Funktion, _____________ 96 97 98
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Vgl. Nickisch 1991, 13. Vgl. auch Müller in: Weissenberger (Hg) 1985, 78: „Ausdruck, Appell und Darstellung“. Obgleich viele der im Folgenden dargestellten Funktionen des Schreibens von Briefen aus der Fremde auch für das Briefeschreiben insgesamt Gültigkeit haben, sind sie doch explizit auf das von mir untersuchte Material bezogen und beanspruchen v.a. in diesem Kontext ihre Gültigkeit. Einige spezifische Funktionen ergeben sich aus der historischen Situation, etwa die hier angesprochene genaue Absprache über Postwege und Übermittlungszeiten. Vgl. Kapitel 4.3.2: Das Gespräch mit den Daheim-Gebliebenen.
4.3 Briefe aus der Fremde
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wie ja überhaupt die einzelnen Funktionen nicht voneinander zu trennen sind, sondern sich in jedem Brief neu konstituieren und vermischen. So werden etwa die gewonnenen Kenntnisse über die andere Kultur in den Briefen nach Hause mancherorts mit der Abgrenzung der eigenen Erkenntnissituation von der der sogenannten Weltreisenden und somit mit einer – selbstbewussten – Selbstdefinition der Schreibenden verbunden: „Es wird so viel über Japan geschrieben u. gezeichnet, aber meistentheils Unsinn u. Karrikaturen. [...] In der Regel fühlen sich geistreiche Globe-trotter, Leute die mit Stangen oder look [sic!] um die Welt reisen und dabei 14 Tage in Japan verweilen, bewogen, ihre Weisheit zu Papier zu bringen, ohne auch nur eine Ahnung von wirklich japanischem Leben u. Charakter zu haben. Um ihre Gewohnheiten, ihre Trachten, ihre Speisenfolge richtig zu würdigen, muß man sie monate- jahrelang studiren. Warum rasiren sie den Kindern den Kopf u. lassen nur kleine Haarbüschel auf demselben stehen? Das ist nicht abgeschmackt u. kindisch, das ist vernünftig von wegen das viele Ungeziefer hier; [...] Der Kuli lebt von Reis, weil er dann 7 Stunden Trab laufen kann, was er bei Fleischnahrung nicht könnte. Und die praktische hübsche Kleidung; im Sommer gehen wir Europäer alle im leichten japanischen Kimono, das decent die Hosenlosigkeit verdeckt.“ (Michaelis [1887] 2001, 145f.) „Es geht hier äußerst merkwürdig mit der Schriftstellerei, wer 14 Tage hier gewesen ist, schreibt die dicksten Bücher, wer aber 14 Jahre hier ist, sieht ein, daß er immer noch nicht genug weiß, um ein erschöpfendes Buch über Japan zu schreiben.“ (Mosse, Lina [1887] 1995, 233f.)
In allen hier zugrunde gelegten Briefzeugnissen wird noch eine weitere Funktion des Schreibens explizit verhandelt, die speziell an die Lebenssituation sowie die historische Situation des Schreibens gebunden ist: Die Briefe werden als aufhebenswerte Chronik des Lebens in der Fremde verstanden und streckenweise auch so konzipiert. Das Videogerät, das heute in vielen Fällen der Aufzeichnung des Erlebens und der Eindrücke dient, stand den Schreibenden noch nicht zur Verfügung und Photographien waren aufwändig herzustellen und kostbar bzw. teuer, weshalb nur wenige photographische Aufnahmen zur Illustration des eigenen Befindens sowie des neuen Lebensumfeldes zu den Daheim-Gebliebenen geschickt wurden. Sehr selten werden die japanische Kultur, die Menschen oder die Landschaft zum Bildmotiv erkoren. Die in den Herausgaben abgedruckten Bilder und die in den Briefen erwähnten Photographien zeigen fast nur die Schreibenden selbst, ihr unmittelbares Lebensumfeld, ihr Haus und ihre Dienstboten. Damit nun die Briefe als Chronik auch Bestand erhalten und im Nachhinein so genutzt werden können, wurden sie, neben der genauen Datums- und Ortsangabe, mit Nummern versehen.100 Die Empfänger wurden über die gewünschte Verwendung instruiert: _____________ 100 Die Nummerierung der Briefe hatte zudem den Vorteil, dass die Empfänger nachvollziehen konnten, ob ein Brief verloren gegangen war. Dies war insofern wichtig, da das
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„Dieser Brief soll nur Reise, Ankunft und den ungefähren Eindruck schildern. Im nächsten Briefe erzähle ich, was wir bis jetzt gethan und erlebt haben. [...] Nummeriert doch die Briefe bitte auch.“ (Schultze, Emma [1878] 1980, 47) „Ihr findet es hoffentlich nicht unbescheiden, wenn ich bitte, diese wenn auch nur kurze Beschreibung meiner ersten Reise in Japan mir aufzuheben, daß ich sie später mal wieder lesen kann und zu den Erinnerungen meines Lebens legen kann. Mündlich könnte ich natürlich viel besser von allem berichten und erzählen, aber ich hoffe, ihr habt nun eine Idee davon.“ (ebd., 72)
Da sich das Briefeschreiben sehr zeitaufwändig gestaltete (der Umfang der Korrespondenz insgesamt, aber auch der einzelnen Briefe ist beeindruckend), gleichzeitig aber auch eine Pflicht darstellte, die nicht vernachlässigt werden durfte, wovon zahlreiche Klagen bei Versäumnissen zeugen, blieb nur wenig Zeit für eine andere Form der Chronik, die persönlicher ist und speziell auf Reisen auch oft genutzt wurde, für das Tagebuch: „Yokohama den 30. Mai 86 [...] Was Elses Idee mit dem Tagebuch anlangt, so ist sie durchaus nicht so backfischartig wie sie anzunehmen scheint; ich habe ja 2 dieser Bücher mit auf die Reise genommen, kann aber versichern, daß ihre inneren Seiten noch gerade so unschuldig weiß aussehen, wie ich sie erhalten habe. Wir haben eben all unsere freie Zeit zum Briefschreiben benutzt und da Alberts Mitteilungen doch so ausführlich sind, so hoffen wir, daß sie uns ein Tagebuch ersetzen.“ (Mosse, Lina [1886] 1995, 115)
Georg Michaelis hat ein umfangreiches Tagebuch hinterlassen, das er jedoch nur unregelmäßig führte, insbesondere schrieb er darin während seiner Anreise und im Verlauf seiner Hokkaidô-Expedition: „Das Tagebuch diente im wesentlichen als Ersatz für das Briefeschreiben, wenn die Postbeförderung über einen längeren Zeitraum nicht möglich war.“ (Becker (Hg.) 2001, 63) Die Tatsache, dass die Briefe auch ein Tagebuch ersetzen, macht deutlich, dass über das Vermittlungsbedürfnis hinaus die Konfrontation mit so viel Neuem und Anderem, das der Aufenthalt in einer subjektiv als fremd empfundenen Kultur bietet, bei vielen Menschen das Bedürfnis weckt, das Erlebte schriftlich festzuhalten und damit zu verarbeiten – in welcher Form auch immer: „Tokio, 30. Oktober 1885. Heute muß ich schließen, da morgen die Post über Indien nach Deutschland von Yokohama abgeht. Ich fahre aber regelmäßig in den Berichten meiner Erlebnisse fort, die ich vorläufig, wo Alles mir noch neu u. interessant ist, fast täglich Abends aufschreibe.“ (Michaelis [1885] 2001, 104)
_____________ Versäumnis eines Posttages (auch von den Familien in Japan) immer mit Sorge und Unmut kommentiert wurde, der Verlust eines Briefes u.U. jedoch nicht in der Verantwortung der Schreibenden lag. Darüber hinaus konnte auf diese Weise der schnellste Postweg eruiert werden. Auch MATSUMURA Jinzo gab seiner Frau in Japan entsprechende Hinweise: „Ich werde von jetzt an alle meine Briefe an Dich mit 1, 2 usw. numerieren.“ (Matsumura [1886] 2001, 20).
4.3 Briefe aus der Fremde
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Die Funktion, die diese Chronik für die Daheim-Gebliebenen hat, besteht u.a. darin, am Leben der Familienmitglieder in der Ferne teilzunehmen, ihren Tagesablauf und den Alltag chronologisch mitzuvollziehen und dadurch die Illusion von Nähe zu erleben. Für die Schreibenden selbst, die die Chronik nicht im Verlauf ihres Entstehens, sondern zeitlich versetzt, als vergangenes, selbst erlebtes Geschehen rezipieren, ist es die Spiegelung eines Stücks Geschichte des eigenen Lebens. Sie lesen ihre Briefe vor dem Hintergrund einer Erfahrung, die sich nach ihrer Rückkunft als Ganzes darstellt. Von diesem Erfahrungsstandpunkt aus werden u.U. alte Eindrücke und Gefühle neu belebt, aber sie werden im Moment des rückblickenden Lesens in ein Koordinatensystem eingeordnet, das von dem zeitlichen Verlauf einerseits und den gemachten Erfahrungen sowie der eigenen Entwicklung andererseits bestimmt ist. Vor diesem Hintergrund wird das in den Briefen wiedergefundene eigene Erleben nun anders bewertet. Eine Erfahrung, die Karoline von Günderode folgendermaßen beschrieben hat: „Auch die wahrsten Briefe sind [...] nur Leichen, sie bezeichnen ein ihnen einwohnend gewesenes Leben und ob sie gleich dem Lebendigen ähnlich sehen, so ist doch der Moment ihres Lebens schon dahin: deswegen kömmt es mir aber vor (wenn ich lese, was ich vor einiger Zeit geschrieben habe), als sähe ich mich im Sarg liegen und meine beiden Ichs starren sich ganz verwundert an.“ (Karoline von Günderode [1803] 1922, 210)
Das Verhältnis der Schreibenden zu ihren eigenen Texten kann in der ReLektüre vielleicht auch dadurch getrübt werden, dass die „Schrift die Bewegung des Erinnerns [zügelt].“ (Erb 2002, 16) Möglichen Idealisierungen sowie evtl. Konstruktionen eines privaten Sehnsuchtsraumes können diese unmittelbaren Zeugnisse weit eher im Wege stehen als die von Erb angesprochene Lektüre (öffentlicher, literarischer) Reisetexte im Anschluss an die Reise. 4.3.2 Das Gespräch mit den Daheim-Gebliebenen „Wenn er doch immer überlegen wollte, was die eigentliche Gesinnung des Schreibens ist, er würde einem fernen Bruder, der allein in der Fremde aller Liebe der Seinen persönlich entbehren muß, solchen Schmerz ersparen.“ 101
Die Schreibenden formulieren in ihren Briefen vielfach die Sorge, die Verbindung mit Zuhause zu verlieren. Das Bewusstsein von der Entfernung, die sie auf der Reise zwischen sich und die Familien legten, trat _____________ 101 Michaelis [1886] 2001, 293.
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durch die Umstände und die Dauer der Anreise bis zum Zielort in aller Deutlichkeit vor Augen. Schreibend konnte jedoch eine innere Verbindung mit Zuhause aufrechterhalten werden: „Bord der Yangtse d. 15. April 1886 [...] Seit Suez haben wir keine Nachricht von Euch, wir haben auch vorläufig lange keine von Euch zu erwarten. Möge es Euch, bei denen ich trotz oder wegen? der immer größer werdenden Entfernung viel verweile, so gut ergehen, wie ich es wünsche! – Euer treuer Sohn und Bruder“ (Mosse, Albert [1886] 1995, 89)
Mit der Dauer des Aufenthaltes wuchs insbesondere bei Lina Mosse und Emma Schultze die Angst, die Bindung an Zuhause und an die Familie zu verlieren. Diese Angst, die sich auf die Beziehungssituation richtet, äußert sich in den Briefen der Frauen stärker als bei ihren Ehemännern, deren Erwägungen eher davon getragen sind, ob sich die berufliche Situation in der Heimat zu ihrer Zufriedenheit gestalten wird. Die Briefe, die aus der Heimat bei ihnen eintrafen, nahmen für die Frauen in diesem Kontext symbolischen Charakter an und wurden als Zeichen für die Stärke und den Bestand der Bindung gewertet: „Nikko d. 24.7.88 [...] Die Sehnsucht nach Euch, meine Geliebten, der Gedanke, daß die Kinder Euch so ganz fremd aufwachsen, Ihr garnicht unsere Freude an ihnen teilen könnt, daß auch wir den heimischen Verhältnissen je länger je mehr entfremdet werden, daß auch Euer Interesse an uns sich abschwächt, wie es sich durch die leider immer spärlicher werdenden Briefe dokumentiert, all das treibt mich unwiderstehlich nach Hause. (Mosse, Lina [1888] 1995, 376f.)
Vilém Flusser verweist auf die Ambivalenz der Verbindung mit dem, was der Einzelne als Heimat empfindet. Die Fäden, die zwischen denjenigen in der Fremde und denen in der Heimat existieren bzw. wie sie etwa durch Briefe gesponnen werden, geben einerseits Sicherheit, ein Gefühl von Aufgehobensein und Stabilität, andererseits jedoch sind sie auch Fesseln, die eine freie Entfaltung in der neuen Lebenswelt verhindern: „Das geheimnisvolle Heimatgefühl fesselt an Menschen und Dinge. [...] Das geheimnisvolle Gefesseltsein an Menschen jedoch verdient, bedacht zu werden. Es stellt nämlich das eigentliche Problem der Freiheit. [...] Die geheimnisvollen Fäden, die mit den Menschen der Heimat verbinden (also etwa Liebe und Freundschaft, aber auch Haß und Leidenschaft), zerren am Emigranten, weil sie seine unter Leid errungene Freiheit in Frage stellen. Es sind [...] die dialogischen Fäden der Verantwortung und des Einstehens für den anderen.“ (Flusser 1994, 19f.)
Briefgespräche Der briefliche Dialog zwischen den Schreibenden vollzieht sich sowohl konkret als Austausch zwischen Sender und Empfänger als auch auf einer
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eher symbolischen oder illusionären Ebene, die eine Unmittelbarkeit des Austausches inszeniert: „d. 10.5.87. Geliebte Eltern! Endlich komme ich heut mal wieder dazu, mit Euch gründlich zu plaudern.“ (Mosse, Lina [1887] 1995, 254) Wie hier Lina Mosse sind es vor allem die Briefeschreiberinnen, die explizit die Illusion der mündlichen Kommunikationssituation erschaffen.102 Diese ‚Gesprächssituation‘, die schreibend erst hergestellt werden muss, erfüllt im persönlichen Erleben spezifische Funktionen, über die sich die Schreiberinnen durchaus im Klaren sind. So wird das Schreiben z.B. als Mittel gegen Heimweh erprobt: „Tokio d. 28.7.86. 3 Sannen-cho. Meine liebe Tante Bianka! [...] aber hier, wo sind alle meine Lieben? Ach, das Heimweh ist eine schreckliche Krankheit; ich will versuchen, ob vielleicht das Briefeschreiben ein Mittel dagegen ist.“ (Mosse, Lina [1886] 1995, 163) Das geschriebene Gespräch dient auch als Mittel der Selbstverständigung:103 „Für heut, lebt wohl, geliebte Eltern. Seid nicht böse, daß ich Euch mit unseren Sorgen gequält habe; raten könnt Ihr uns auf die Entfernung ja doch nicht. Es war mir aber Bedürfnis mich Euch gegenüber mal wieder auszusprechen.“ (Mosse, Lina [1888] 1995, 377) Die Illusion der direkten Kommunikation, des Gesprächs, kann jedoch, wie es sich bereits im obigen Zitat andeutet, nie lange aufrechterhalten werden. Gerade die schriftliche Fixierung eines Redeaktes, die ein Brief bis zu einem gewissen Grad darstellt,104 die Übersendung an den Adressaten und die Zeit, die bis zu einer etwaigen Antwort verstreicht, kennzeichnet den „brieftypischen Phasenverzug“ (Bürgel 1976, 228).105 _____________ 102 Vgl. auch Bohn in: Assmann; Assmann (Hgg.) 1997, 43f. 103 Bohn weist etwa auf die Selbstverständigungsfunktion der Briefkommunikation hin: „In der schriftlichen Kommunikation stellt sich die Differenz von Abwesenheit und Anwesenheit auch auf der Ebene der Selbstreferenz der Kommunikation her: wer kommuniziert, teilt mit, versteht.“ (Bohn in: Assmann; Assmann (Hgg.) 1997, 43f.). 104 Der Brief ist „Träger einer aktuellen schriftlich realisierten Sprechhandlung im Rahmen einer individuellen realen Beziehung zwischen räumlich getrennten Partnern“ (Nikisch 1991, 197). Stephan Elspaß weist darauf hin, dass durch „die noch bis ins 20. Jahrhundert in breiten Bevölkerungskreisen übliche Praxis, Briefe im Familien- oder Bekanntenkreis laut vorzulesen – es sei denn, es wird [...] ausdrücklich nicht gewünscht –, [...] die Überführung der Briefsprache in die mediale Mündlichkeit ständig gegeben [war].“ (Elspaß in: OBST 2002, 11) Obgleich auch Privatbriefe sowohl nähe- als auch distanzsprachlich konzipiert sein können, wiesen Privatbriefe an der Wende zum 20. Jahrhundert eher Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit auf, wie Elspaß in seiner vergleichenden Untersuchung von Briefen und Texten der neuen Medien zeigt. Die konzeptionelle Mündlichkeit zeigt sich auf der Ebene der Graphie/Orthographie (z.B. Abkürzungen, Ideogramme), auf der Ebene der Phonetik (Assimilationen und/oder regionale Schreibeigenheiten, ...), auf der der Lexik (Interjektionen, ...) sowie auf der Ebene der Syntax (parataktische Reihungen als Merkmale nähesprachlicher Kommunikation) vgl. ebd., 13-24. Zum ‚Nähe-Distanz-Modell‘ vgl. Koch; Oesterreicher 1985, 15-43. 105 Bürgel kennzeichnet den Brief auch als: „phasenverschobenes Gespräch“ (Bürgel 1976, 296).
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Dieser wurde von den beteiligten Kommunikationspartnern oft als sehr schmerzhaft empfunden, zumal es sich bei der Briefbeförderung von Japan nach Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts immer um einen mehrwöchigen Phasenverzug handelte: „Tokio d. 20. Juli 1878 [...] Daß die Briefe so lange gehen, ist ja nicht meine Schuld, aber es ist doch recht schwer. Wenn ich denke, daß Du erst im September diese Zeilen liest, ferner daß wenn Ihr erst nach Empfang unseres Telegramms hierher geschrieben habt, ich noch 4 Wochen warten muß, so kommt mir das schrecklich vor. In Gedanken lebe ich ja soviel mit Euch, grade jetzt, wo ich mehr in Ruhe bin vielmehr [sic!], und bei allem Interessanten und Schönen, was ich erlebe, denke ich in Gedanken wie ich es Euch erzählen will, als ob ich Euch bald sehen müsste, brieflich erzählt ist Alles so schwerfällig und unklar. Wenn ich nur mal einen Brief von Euch hätte.“ (Schultze, Emma [1878] 1980, 53)
Das Handicap, das der brieftypische Phasenverzug bedeuten kann, wird jedoch oft auch mit Bedacht als Freiraum genutzt, z.B. wenn es darum geht, etwaige antizipierte Ansprüche in der Distanz zu halten oder Dinge ‚auszusprechen‘ – niederzuschreiben –, die in der direkten Kommunikation von Angesicht zu Angesicht nicht oder nur schwer hätten geäußert werden können:106 „14.8.1878. Für Mama allein! [...] Jedenfalls kann ich Dir ja nun mit klaren Worten sagen, daß ich schwanger bin [...] Daß ich es Dir nicht eher schrieb, wirst Du verstehen. Man schreibt nicht gern etwas um die halbe Erde, was nachher vielleicht doch nichts ist. [...] Meine Brust ist viel stärker, und der Leib nimmt von Woche zu Woche zu. [...] Natürlich weiß ich, daß bis dahin noch viel passieren kann, und ich würde auch nicht jetzt schon so davon schreiben, wenn ich nicht wüßte, Du erfährst es doch erst zwei Monate später. Auch nicht so ausführlich (ich geniere mich selbst, obgleich Du es bist), wenn ich hier mit irgend jemand so darüber reden könnte. Zerreiße lieber diese Hälfte meines Briefes gleich und finde mich nicht zu ungeniert!“ (ebd., 75f.)
Emma Schultze schrieb ihrer Mutter über ihre Schwangerschaft auf Blättern, die sie extra kennzeichnete, damit nicht etwa ihr Vater oder andere _____________ 106 Reinhard Nickisch weist noch darauf hin, dass die Schreibenden „nämlich alle wegen des unvermeidlichen brieftypischen Phasenverzugs mehr Zeit haben, über Sprecherstrategien nachzudenken, weshalb ihnen zwangsläufig Sprache als Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation in einem viel stärkeren Maße als bei der Realisierung anderer Formen alltäglicher Kommunikation bewusst wird.“ (Nikisch 1991, 20) Durch den Zwang des ‚Niederschreibens‘, der die Äußerung der Flüchtigkeit enthebt und sie einer Gestaltung unterzieht, wird Sprache über die Kommunikationsfunktion hinaus deutlicher als formgebend und ‚tatsachenschaffend‘ erfahren. Auch Müller (1985) weist darauf hin, dass sich wesentliche Textsorteneigenschaften und Funktionen des Briefes gerade da zeigen, wo sich der Brief vom Gespräch unterscheidet: So ist er zunächst unabänderlich monologisch und wird „vom Empfänger im Zustand des Alleinseins rezipiert.“ (ebd., 72) Der Briefeschreibende kann dadurch die Freiheit gewinnen, offener, unverhüllter zu schreiben (s.o.), intensiver auf den Gegenstand des Schreibens konzentriert.
4.3 Briefe aus der Fremde
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interessierte Lesende diese öffnen sollten: „Liebes Muttchen! Ich weiß nicht, ob Du Dir etwas Verdächtiges dabei denkst, wenn ich hier ein Blättchen für Dich apart einlege [...] Richte es nur so ein, daß niemand den Brief dann liest, auch diesen Zettel nicht!“ (ebd., 74) Hier wird eine besondere Art von Verbindung und Gemeinsamkeit über das Briefgeheimnis hergestellt. Mutter und Tochter erneuern in der Vorstellungswelt der Schreibenden ihr Bündnis über ein gemeinsam geteiltes Geheimnis. Die durch die Kennzeichnung der Briefe als „aparte Blättchen“ gewünschte Adressatenkontrolle schafft den Freiraum, eine Form von Kommunikation zu führen, die sonst so nicht stattfinden würde und formt die Kommunikationspartner zu einer exklusiven Gruppe.107 Gesprächsthemen Die Briefeschreibenden verfügten alle über ein ausgeprägtes Adressatenbewusstsein. Der Ton und der Inhalt der Briefe ändert sich jeweils mit den ausgewiesenen Adressaten und die Dialogizität der Textsorte wird auch in dieser Hinsicht evident. Dies zeigt sich nicht zuletzt in Bezug auf die antizipierten Lesebedürfnisse der Empfänger der Briefe. Diese waren, ebenso wie das Mitteilungsbedürfnis der Schreibenden von einem (mindestens) zweifachen Gehalt geprägt. Zum einen galt das vordringliche Interesse der Befindlichkeit und den Lebensumständen der Familienangehörigen in der Fremde. Dies war jedoch untrennbar mit dem neuen Lebensumfeld verknüpft, das ein ebenso großes Interesse weckte. Die Schreibenden antizipierten diese Interessen und versuchten, beiden gerecht zu werden: „Dies ist nun ein recht prosaischer Wirthschaftsbrief geworden, liebe Mutter, aber ich weiß, Du interessierst Dich für Alles, und mir ist das Geringste wichtig natürlich. Du musst solche kleinlichen Briefe natürlich für Dich behalten. Wenn ich Land und Leute besser beurtheilen kann, schreibe ich auch mal einen mehr
_____________ 107 „Das Geheimnis charakterisiert die Personen, die es teilen, als Gruppe. Die Außengrenze zur Gruppe fällt dann mit der Differenz zwischen Geheimnisträgern und Nichteingeweihten zusammen.“ (Hahn in: Assmann; Assmann (Hgg.) 1997, 27). Wilhelm Schultze kommunizierte über die Schwangerschaft seiner Frau und den Verlauf der Geburt mit seinem Schwiegervater ‚von Arzt zu Arzt‘ in sehr ausführlichen und detailfreudigen, ausgesprochen sachlich-informativen Briefen.
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offiziellen Brief. Diese ersten sind nur für Euch.“ (Schultze, Emma [1878] 1980, 56)
Emma Schultze differenziert hier zwischen einem privaten Schreiben und einem mehr „offiziellen Brief“, der genauere Informationen über die fremde Kultur enthalten soll und der auch anderen Lesenden in der Heimat, zumeist weitere Verwandte, zugänglich sein soll (siehe auch unten). Die Fremde und das Bedürfnis darüber zu kommunizieren oder davon zu erfahren, erschöpft sich aber nicht allein in Informationen oder Schilderungen von Wahrnehmungseindrücken. Die Fremde erhält als Kategorie der Fremdheit in der Beziehung zwischen den Fortgegangenen und den Daheim-Gebliebenen eine besondere Bedeutung, die sich auf tiefere Schichten der Selbst- und Beziehungsdefinition hin ausdehnt und für beide Seiten auch bedrohlich wirken kann. Die Briefe haben in diesem Zusammenhang die Funktion, durch die redliche und regelmäßige Mitteilung der Lebensumstände und die Beschreibungen das Lebensumfeld betreffend, die Adressaten nicht nur an diesen teilhaben zu lassen, sondern die Daheim-Gebliebenen – noch darüber hinaus – auch schreibend zu einem Teil des eigenen Alltags zu machen. In diesem Sinne kann das Schreiben als Strategie gewertet werden, einer Gefährdung der Zugehörigkeit aktiv zu begegnen. Mitteilungen aus der Fremde beinhalten jedoch auch die Gefahr, den Lesenden Zuhause willentlich oder unwillentlich eine Entfremdung der Schreibenden zu offenbaren. Aus den neuen Erfahrungen und Erlebnissen können auch Selbstveränderung und neue Perspektiven auf das Eigene resultieren. Diese neu gewonnenen Perspektiven werden durchaus kommuniziert, so werden sie von den männlichen Schreibenden insbesondere im Zusammenhang mit politischen Entwicklungen thematisiert: „Tokio d. 21. Februar 1887 [...] Nun schimpfe ich hier darauf los, und rege mich auf über Dinge, die zwar hier alle Welt bewegen, aber für Euch nur von mäßigem Interesse sein werden. Da wir nun aber einmal hier sind, ist für uns dieses Land der Mittelpunkt unseres Denkens und Fühlens geworden, und man vergißt, daß letztere Beide auf der anderen Seite dieses Gott sei Dank runden Erdkörpers ihre eigenen Objekte haben, die Ihr freilich für sehr wichtig, ja wie z.B. die heute stattfindenden Reichstagswahlen für epochemachend halten werdet, wir indessen hier nur als schwache Wellenbewegungen spüren.“ (Mosse, Albert [1887] 1995, 228)108
_____________ 108 Vgl. Rudyard Kiplings Beschreibung des Londoner „Provinzialismus“, dessen Selbstüberschätzung und übermäßiges Interesse am Eigenen aus der Distanz, etwa im ‚Übersee-Klub‘ in Japan, etwas verzerrt wirkt: „Dieses große Stillwasser, überzogen mit dem Treibgut und Ausschuß der Gedanken von tausend Menschen, hält sich für offene See, weil die Wogen aller Ozeane sich an seinen Grenzen brechen. [...] Im Rückblick aus zehntausend Meilen Entfernung, wenn im Übersee-Club gerade die Post angekommen ist, ist sie wundersam winzig. Neun Zehntel ihrer Neuigkeiten – drüben so lebenswichtig, so epochemachend –
4.4 Japan in den Briefen aus der Fremde
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„Bei der Lectüre dieses heißen Treibens daheim fällt’s mir oft schwer, daß ich so weit davon entfernt bin. Man kommt sich wie ein alter, tauber Mann vor, der an Gesten und Bewegungen merkt, daß Etwas vor sich geht, der den Sachverhalt aber erst nachträglich zugeschrieen bekommt, wenn Alles schon wieder vorbei ist.“ (Michaelis [1887] 2001, 343) „Tokio, 1.3.1881 [...] Überhaupt denkt wohl jeder, der einige Zeit im Ausland lebte und mehr Verkehr mit anderen Nationen hatte, etwas kühler über die Vorzüge der eigenen Nation.“ (Schultze, Wilhelm [1881] 1980, 268)
Wie zu erwarten, beziehen sich die kommunizierten Erfahrungen der Selbstveränderung bei den Frauen insgesamt mehr auf die traditionell weiblichen Lebensbereiche: „Tokio d. 6.8.86 [...] Sie [die Hebamme] ist eine vergnügte, dicke Chinesin und wenn ihre Nationalität Mama vielleicht auch zuerst etwas stört, so kann ich Dich versichern, daß dies bei mir absolut nicht der Fall ist. Man wird wirklich auf solcher Reise etwas international, ja, ich möchte sagen, toleranter.“ (Mosse, Lina [1886] 1995, 169)
Die Briefeschreibenden gestalten ihre Mitteilungen aus der und über die ‚Fremde Japan‘ vor dem Hintergrund einer exklusiven Erfahrungssituation, die eine Mitteilungspflicht sowie ein Mitteilungsbedürfnis hervorruft. Die Gefahr der Entfremdung von Zuhause erfordert außerdem eine Relativierung der eigenen Fremdwerdung, die sich u.a. über Strategien der Fremdstellung sowie über Fremdheitskonstruktionen und Polarisierungen vollzieht. Im Folgenden sollen Inhalt und formale Gestaltung der Mitteilungen über die ‚Fremde Japan‘ in dem hier untersuchten Briefmaterial genauer ins Blickfeld der Untersuchung gelangen.
4.4 Japan in den Briefen aus der Fremde Diejenigen, die in die Fremde gehen, haben eine Auskunftspflicht den Daheim-Gebliebenen gegenüber, deren Einhaltung durch präzise Fragen von verschiedenen Familienmitgliedern eingefordert, und die von den Schreibenden redlich erfüllt wird: „Sonntag in Tomioka d. 22.5.87 [...] Ich erinnere mich, lieber Carl, daß Du mich in Deinem letzten Briefe über den Charakter der japanischen Landschaft interpelliertest. Ich habe ziemlich viel vom Land gesehen: großartige Scenerien, wie sie unsere Alpenländer aufweisen, fehlen.“ (Mosse, Albert [1887] 1995, 262)
Neben dem beschriebenen Adressatenbewusstsein sowie dem Bewusstsein über die Mitteilungspflicht, verfügten die Schreibenden außerdem _____________ verlieren ihre Bedeutung, und der Rest ist wie das Kabbeln von Geistern in einer entlegenen Mansarde.“ (Kipling [1892] 1990, 279).
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durchaus über ein Gattungsbewusstsein, das sich bei Auskünften über Land und Leute offenbart: „Indem ich im Allgemeinen – hoffentlich mit Recht – annehme, daß Ihr [die Geschwister] über mein Ergehen u. Thun seit der letzten directen Nachricht durch Muttchen unterrichtet seid u. die diesbezüglichen, in vorstehenden Briefen stehenden Nachrichten dazu complettirt, will ich gleich mit meiner Reisebeschreibung fortfahren.“ (Michaelis [1888] 2001, 483)
Hier werden Alltagsmitteilungen zunächst einmal explizit gegen andere Formen des Schreibens abgegrenzt. Diese anderen Formen richten den Fokus auf inhaltlicher Ebene mehr auf die ‚Fremde Japan‘. Aber auch auf formaler Ebene differenzieren die Schreibenden zwischen Alltagsmitteilung und Mitteilung über die Fremde. Dabei ist ihnen eine gewisse Bandbreite von Gestaltungsräumen offenbar durchaus geläufig: „Verzeiht das Durcheinander meines Briefes. Eine poetische Reisebeschreibung kann man nach kaum überstandener Seekrankheit nicht machen.“ (Schultze, Emma [1878] 1980, 20) Alle hier zugrunde gelegten Briefsammlungen enthalten von den Schreibenden explizit als solche deklarierte ‚Reisebriefe‘109. Diese ‚Reisebriefe‘ entstehen zumeist während der Anreise sowie auf Reisen durch das Land. Diese Reisen fanden mit den Familien oft in den heißen Sommermonaten statt, in denen man sich aus Tôkyô und Yokohama in kühlere Berggegenden zurückzog. Die Männer unternahmen darüber hinaus noch Dienst- oder Erkundungsreisen durch das Landesinnere, die, wie etwa die Reisen von Albert Mosse, in der Regel von japanischen Beamten begleitet wurden. Diese Begleitung wurde von den Reisenden oft nur mit Mühen akzeptiert, weil sie ihren Erfahrungsraum einzuschränken drohte und vieles recht kompliziert machte. Allerdings hatte diese Begleitung durchaus auch ihre Vorteile, worauf Albert Mosse in einem Brief an seine Frau von einer privat durchgeführten Reise hinweist: „Numata d. 22. August 1888 [...] Ich komme dann doch so sachte dahinter, daß es ein gewaltiger Unterschied ist, durch die staatliche Maschinerie im Lande geleitet zu werden [Dienstreisen] oder als ganz gemeines Ausbeutungsobjekt, wie in Japan jeder Reisende ein solches ist, traitiert oder maltraitiert zu werden. Ich begnüge mich bereits mit einer warmen Abfütterung – Abends –, außer Thee morgens, und wenn ich nicht wirklich so wunderbar herrliche Dinge zu sehen bekäme, ich glaube, Hunger, Durst, Gestank und Ihr unsterblichen Flöhe, die Ihr das Schlafengehen zur Qual und den Hahnenschrei zum Symbol der Erlösung macht, brächten mich verwöhnten, zur Strafe für irgendeine Missethat mit gräulich empfindlichen Riechorganen versehenen Culturmenschen nicht nur zur Verzweiflung, sondern schleunigst wieder nach Nikko. Aber schön ist es doch!“ (Mosse, Albert [1888] 1995, 380)
_____________ 109 Stellenweise auch als „Reisebeschreibung“ bezeichnet.
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War der ‚Reisebrief‘ Teil eines Schreibens, das über einen längeren Zeitraum entstanden war und auch Alltagsbeschreibungen enthielt, fanden die Schreibenden zu verschiedenen Strategien der Abgrenzung der Mitteilungen. So markierten Sie den thematischen Wechsel etwa über deutliche Absatzgestaltung oder sie wählten eine großzügigere Adressierung, die diese ‚Reisebriefe‘ als öffentlichere Dokumente auswies. Die Erzählung von einer Reise sollte sich als Ganzheit präsentieren und nicht, wie es die Schreibsituation eigentlich immer wieder mit sich brachte, in Abschnitten berichtet werden: „Ehe ich aber weiter von der Reise erzähle, die mehr ein für sich abgeschlossenes Ganzes ist und deren Bericht ich nicht so unterbrechen möchte, will ich meinen Dank und meine Freude über Eure Briefe aussprechen.“ (Schultze, Emma [1878] 1980, 61) Die Schreibenden differenzierten somit offenbar zwischen ihrem Leben in der Fremde und ihren Reisen durch die Fremde, was sie anhand unterschiedlicher Schreibformen zu dokumentieren suchten. Diese ‚Reisebriefe‘ enthalten viele Eindrücke, Informationen und Erlebnisse und halten sich an manche Gepflogenheiten des Genres Reisebeschreibung, wie etwa Chronologie der Darstellung, genaue Schilderungen der Landschaft, etc.; die Mitteilungen über Japan stehen hier in inhaltlicher Hinsicht in der Hierarchie des Geschriebenen an oberster Stelle. Dennoch unterscheiden sie sich in der Art der Darstellung, wie etwa dem gewählten Stil, nicht von den Beschreibungen, die in die alltäglichen Briefe über Land und Leute eingeflochten werden, sie sind nur greifbarer an einem Ort versammelt. Auch hier prägen das ‚Ich‘ und das ‚Ich und Du‘ insgesamt die Gestaltung. Die folgenden Ausführungen beziehen sich deshalb sowohl auf Alltagsbriefe als auch auf explizit so bezeichnete ‚Reisebriefe‘.
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4.4.1 Der Vermittlungsstil Ich mische Alltägliches und Sensationelles, das Gewöhnliche und das Abenteuer, und ich vergleiche: ich beziehe das Neue auf früher Erfahrenes und auf gemeinsam Erfahrenes. Der, den ich anschreibe, ist ein Fixpunkt, ein Fokus, um den herum ich meine Beschreibung anordne; was ich von ihm weiß, fixiert ein Koordinatensystem, in dem ich mich ausbreite, in dem ich Sätze baue, die ganz wesentlich durch das Wörtchen ‚wie‘ bestimmt sind. [...] Wenn ich so schreibe [...], weiß ich, daß der andere mich schon versteht. Ich setze bei ihm ähnliche Assoziationen voraus“ 110
Bei der Darstellung der ‚Fremde Japan‘ in den in Kapitel 3 untersuchten öffentlichen und literarisierenden Formen des Schreibens wurde die Fremde durch eine Erzählerinstanz – der Reisende, der Gast – bzw. aus der Perspektive einer fiktiven Figur – der Gestrandete – vermittelt. Die Vermittlung vollzog sich also über und durch eine konstruierte und bis zu einem gewissen Grade fiktive Subjektivität. Diese Subjektivität war jedoch nicht der zentrale Filter, durch den das Was und das Wie der Darstellung bestimmt wurde, vielmehr war sie das Medium der Vermittlung. Bestimmt wurde die Darstellung, wie bereits erwähnt, durch die individuellen und kollektiven Wahrnehmungsweisen der Schreibenden, durch Gattungskonventionen sowie Intertextualität, durch den zeitgenössischen literarischen und öffentlichen Diskurs und die Notwendigkeit einer einheitlichen Gesamtkonzeption. In den privaten Briefen aus der Fremde bilden das ‚Ich‘ und das ‚Ich und Du‘ die Filter, durch die die Darstellung der ‚Fremde Japan‘ läuft. Die Subjektivität der Schreibenden, ihre individuellen und kollektiven Wahrnehmungsweisen sowie ihre momentane Befindlichkeit (‚Ich‘) ist in diesem Fall nicht Medium, sondern bestimmender und konstituierender Faktor. Für die Auswahl und die Art der Vermittlung ist darüber hinaus das ‚innere Bild‘ der Schreibenden von den jeweiligen konkreten Adressaten,111 die Schnittmenge der gemeinsamen Erfahrungen sowie die Art der
_____________ 110 Heinrichs 1993, 91f. 111 Diese inneren Bilder sind entscheidend bestimmt durch den zeitlichen und räumlichen Abstand der zwischen den Dialogpartnern besteht. Die Konstruktion des Gegenübers vollzieht sich nicht zuletzt aufgrund des brieftypischen Phasenvollzugs sowie der Vermitteltheit der schriftlichen Kommunikation in einem gewissen geistigen und sozialen Freiraum.
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Beziehung zwischen den Dialogpartnern112 (‚Ich und Du‘) entscheidend.113 Sowohl die ‚Fremde Japan‘ als auch die Kategorie der Fremdheit wird insbesondere in Bezug auf das ‚Ich‘ und das ‚Ich und Du‘ relevant, formuliert und konstruiert. „Ich war in zwei Theatern, in einem Drama, wo ich weinte, und in einem Lustspiel, wo ich auch weinte, so schön, so prachtvoll wirkungsvoll spielen die kleinen gescheiten Japaner. Sie ziehen den Atem laut in die Brust, das bedeutet Hochachtung und Gefühl. [...] und ihr Spiel, das einer Frau besonders, erinnerte mich so daran, wie aufregend es für mich immer ist, wenn ich dich weinen sehe; und sie weinte geradeso. Sonst weint kein Mensch echt, nur du und die Japaner.“ (Dauthendey [1906] 1930, 144)
Analogien In der Beschreibung der Landschaft und der Sitten und Gebräuche sind Analogien das am häufigsten gewählte Darstellungsmittel. Analogien erlauben es, auf einen gemeinsamen Erfahrungsschatz zu rekurrieren und Gemeinsamkeit herzustellen, indem gleiche oder ähnliche Assoziationen vorausgesetzt und evoziert werden: „Yokohama den 14. Mai 1886 Gott sei Dank nicht mehr an Bord. [...] Am 8. betraten wir zuerst japanischen Boden in dem schöngelegenen Kobe und machten unter Führung von Tsudzuki in Jinrikschas einen interessanten Ausflug, zunächst nach einem Wasserfall, der abgesehen von den Theehäusern und der sonstigen Staffage völlig Thüringer Charakter zeigte.“ (Mosse, Albert [1886] 1995, 104f.)114
Offenbar wird hier bei den Adressaten nicht nur ein möglicher „Thüringer Charakter“ von Landschaft als bekannt vorausgesetzt; auch die „sonstige Staffage“, also die als typisch japanisch geltenden Elemente der Kulturbeschreibung, muss nicht weiter angeführt werden. Das Stichwort „Theehäuser“ scheint ausreichend, um die weiteren Assoziationen zu wecken, die wohl aus dem zeitgenössischen (literarischen) Diskurs über Japan gespeist werden. Die erstmalige konkrete Erfahrung kann dem zuvor erlesenen Bild keinen neuen Status verleihen: Die kulturelle Wirklichkeit im _____________ 112 Diese Beziehung hat großen Einfluss auf die Rollen, die schreibend jeweils entworfen werden (vgl. Nickisch 1991, 10). 113 Für die konkrete Versprachlichung der Erfahrungen ist außerdem die Adaption des zeitgenössischen Diskurses durch die Einzelnen mit bestimmend. Zur Auseinandersetzung mit diesem vgl. u.a. Kapitel 4.4.2 Lektüre, Erwartung und Erfahrung. 114 Auch MATSUMURA Jinzo greift auf Analogien zurück, um seiner Frau in Tôkyô das vorgefundene Stadtbild zu beschreiben und zu konkretisieren: „Würzburg ist etwa so klein wie der Ushigome District von Tokyo. [...] Es ist eine kleine Provinzstadt; vergleichbar z.B. mit Ue-machi in Mito. Aber die Häuser hier sind nicht flach, wie in Mito, sondern haben meistens 4-6 Stockwerke.“ (Matsumura [1886] 2001, 22).
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Land behält in dieser Mitteilung den Status einer Intarsie, sie bleibt Staffage in einem Bild. So kritisch und kontrovers das Mittel der Analogie auch im Zusammenhang mit dem (interkulturellen) Fremdverstehen diskutiert wird,115 im Kontext der schreibenden Vermittlung eines neuen Wahrnehmungseindrucks an vertraute Lesende ist es kaum zu ersetzen. Die Brücke zwischen dem neuen Erfahrungs- und Wahrnehmungsgewinn der Schreibenden und dem, den Schreibenden bekannten Erfahrungsschatz der Daheim-Gebliebenen, ist die Analogie: „Muldeschatz, meine erste Nacht in Japan verbrachte ich in Kobe und war gestern Abend in der langen Budenstraße, die wie die Oktoberwiese am Abend wirkt und wo alle Theater sich nachts öffnen“ (Dauthendey [1906] 1930, 143f.).116
Insbesondere alltägliche Verstehens- und Einordnungsprozesse beruhen auf Vergleichen. Vielfach stellt sich erst dann subjektiv das Gefühl ein, etwas verstanden zu haben, wenn ein befriedigender Vergleich gefunden wurde. Dies tritt besonders deutlich bei der Begegnung mit recht differenten Kulturen zu Tage. So findet denn auch die belehrende Vermittlung über die besondere historische und gesellschaftliche Situation Japans, mit der sich die Briefeschreiber/innen konfrontiert sehen, im folgenden Beispiel über die Konstruktion einer Analogie statt, die sich zum einen durch Anschaulichkeit auszeichnet, zum anderen einen bekannten Topos bedient – die Differenz zwischen den Kulturen wird als eine Zeitdifferenz konstruiert:117 „Ihr müßt Euch ungefähr vorstellen, als ob das japanische Volk vor noch keinem Jahrzehnt die kulturellen Zustände unserer mittelalterlichen Ritterzeit mit ihrem Feudalsystem, Kirchen-, Klöster-, Innungswesen usw. besaß, und daß es nun von gestern auf heute mit einem einzigen Satz über ein volles Halbjahrtausend unserer europäischen Kulturentwicklung hinwegfetzen und sich sofort und gleichzeitig sämtliche Errungenschaften des 19. Jahrhunderts aneignen will.“ (Bälz [1876] 1931, 27)
_____________ 115 Vgl. dazu Kapitel 5, Exkurs 2: Überlegungen zu: Fremde – Verstehen? Interkulturelle Hermeneutik und interkulturelles Lernen. 116 MORI Ôgai beschreibt in seinem Deutschlandtagebuch einen Besuch des Oktoberfestes und vergleicht dieses wiederum mit einem ihm aus der japanischen Heimat bekannten Fest: „3. Oktober [1886]. Weil Sonntag ist und noch dazu das sogenannte Oktoberfest, herrscht in der Nähe meiner Unterkunft großes Gedränge. Festplatz ist die Theresienwiese. Es werden Fahrradrennen veranstaltet, die verschiedensten Spiele gespielt, seltsame Tiere gezeigt usw. Es ist fast genauso, wie früher bei uns auf dem Feuerwehrplatz in Kanda. Etwas besonderes wäre vielleicht noch, daß nackte Frauen, sogenannte Nixen, zu sehen waren, obwohl das wiederum auch nichts anderes als unsere Kappa-Schau war.“ (Mori [1886] 1992, 161f.). (Zum ‚Kappa‘ (Flusskobold) vgl. Möller (1992)). Eine weitere interessante Quelle der Wahrnehmung Deutschlands durch Japaner ist der Wahrhaftige[r] Bericht des außerordentlichen und bevollmächtigten Botschafters nach Amerika und Europa zusammengestellt von KUME Kunitake, Tôkyô 1878 (Pantzer (Hg.) 2002, 3-230). Vgl. auch Hirner 2003. 117 Vgl. auch Kapitel 2.1 Die Kategorie Fremde.
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Das subjektiv so empfundene Ergebnis eines Erkenntnis- und Verstehensprozesses des Schreibenden wird den Menschen Zuhause brieflich in einer Weise mitgeteilt, die es erlaubt, die Komplexität eines kulturspezifischen und historischen Phänomens zu erahnen. Die Überlagerung eines anderen historischen und kulturellen Horizontes durch den eigenen, die Ersetzung der Kulturdifferenz durch Zeitdifferenz verhindert jedoch gleichzeitig jede Annäherung an die andere Kultur, die jenseits von Assimilierungsprozessen stattfinden könnte.118 Im Gegensatz zu dem anthropologischen Universalismus der exotistischen Reiseliteratur des beginnenden 20. Jahrhunderts konstatieren die Briefeschreibenden jedoch keine essentielle Wesensgleichheit aller Menschen. Somit beschränkt sich die Mitteilung von Erkenntnisgewinn durch Analogieschlüsse bzw. die Vermittlung von Kenntnissen über Analogien auf Äußerliches, auf Sitten, Gebräuche, Landschaft etc. Verstehensprozesse, die sich auf die Angehörigen der japanischen Kultur beziehen, also auf das Personenverstehen, werden nicht thematisiert. 4.4.2 Lektüre, Erwartung und Erfahrung „Wenn man nun aber das fremde Land wirklich kennenlernen will und nicht stehenbleibt bei einer literarischen Verherrlichung, so muss man sehr scharf aufpassen, um seine Eindrücke richtig zu deuten.“ 119
Max Dauthendey, dem Künstler auf Weltreise, und der ganzen Gesellschaft der ‚Cookparty‘ steht nur eine sehr begrenzte Zeit zur Verfügung, um die ‚Fremde Japan‘ zu sehen. Diese Zeit ist kostbar und soll nicht mit vermeintlich Bekanntem vertan werden: „Hongkong, Hong Kong Hotel, 16. April 1906 [...] Das Hotel, das uns bei unserer Ankunft in Japan empfangen sollte, ist vor einigen Tagen abgebrannt. [...] Wir reisen also direkt weiter. Denn Kobe ist ein fast ganz europäischer Hafen und nichts dort zu sehen.“ (Dauthendey [1906] 1930, 136)
Die Sichtbarwerdung eigener, europäischer Phänomene und Merkmale disqualifiziert die Fremde: „nichts“ ist „dort zu sehen“. Was gesucht wird, ist, wie bereits gezeigt, deutlich definiert: Es ist das Japan des exotistischen Sehnsuchtsdiskurses, das Japan des Japonismus in der Kunst der Jahrhundertwende. Im Hafen von Nagasaki stellt sich für Max Dauthendey zunächst noch eine Harmonisierung von Bild und Wahrnehmung ein: „Es _____________ 118 Zu ‚Assimilation‘ und der damit verbundenen Begriffsgeschichte und Kritik vgl. Horstmann in: Wierlacher (Hg.) 1993 sowie Straub 1999. 119 Wildhagen, Eduard: In Japan. Erfahrungen und Erlebnisse. Berlin 1929, 96.
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ist halb sechs Uhr morgens, und draußen liegen, wie eine kleine Seidenstickerei, im Morgennebel die kleinen, künstlich aussehenden Inselchen von Nagasaki.“ (ebd., 142) Dennoch konnte, wie oben gezeigt, einer Erwartungsenttäuschung nicht ganz entgangen werden. In der literarisierenden Nachgestaltung des Erlebens, in der (Re-)Konstruktion des Sehnsuchtsraumes, versöhnen sich Erwartung und Wahrnehmung jedoch wieder: Die konkrete sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung schiebt sich sozusagen zwischen das Vorstellungsbild und die (Re-)Konstruktion dieses Bildes in der Verschriftlichung, wobei sich das Bild – zumindest in der für die Öffentlichkeit gedachten Verschriftlichung – als stärker als die konkrete Wahrnehmung erweist. Im Jahr 1999 erzählt der Schriftsteller Ludwig Harig in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von einer Reise an den Biwasee, die er angetreten habe, um sich „einen Wunsch aus den frühen fünfziger Jahren zu erfüllen“ und „die Spur von Max Dauthendey zu den acht Landschaftsbildern ausfindig zu machen“ (Harig 1999, II). Im Verlauf dieser Suche wird ihm mancherorts das Erlesene und sein eigenes sinnliches Erleben kompatibel: „Die Abendglocke vom Miideratempel hören [...] Zwei Anläufe genügten, die Glocke zu erwecken, und das Läuten klang tatsächlich wie das Frauenlachen, von dem der Dichter erzählt.“ (Harig 1999, II) Harig reflektiert aber auch über seinen Versuch, im heutigen Japan die Fiktionen Dauthendeys wiederzufinden und zu neuem Leben zu erwecken: „Ando Hiroshige hat weiträumige Ausblicke auf diese Landschaften in Holz geschnitten. Vielleicht hat Dauthendey sie auf seiner Japan-Reise vor dem Ersten Weltkrieg noch ebenso unberührt in ihrer natürlichen Umgebung liegen gesehen. Im zugesiedelten Sandstreifen, mitten in knallbunter Reklamewelt, sind nur scharf umrissene Bezirke japanischer Landschaftskunst übrig geblieben.“ (Harig 1999, II)
Lesend erst verlebendigen sich ihm dann die Landschaften und schreibend werden die Erzählungen Dauthendeys und die Landschaften des Biwasees, wie sie sich dem heutigen Reisenden darstellen, für die Rezipienten/innen seines Berichtes (und für den Schreibenden selbst) wieder zusammengeführt: „Nach und nach öffneten sie sich beim Lesen von Dauthendeys Geschichten, aber dann sind weder Bäume noch Tempeltore dieselben wie zuvor. Und auch das Blau, das der See beim Erzählen annimmt, stimmt nicht mehr mit der natürlichen Wasserfarbe überein. Die Landschaft, die wir betreten, hat die Gestalt angenommen, in die der Dichter sie verwandelt hat. Den alten Baum, der seit Urzeiten hinter dem hölzernen Tempeltor steht, hat niemand anders als Max Dauthendey mit seinen Wörtern gepflanzt.“ (Harig 1999, II)
4.4 Japan in den Briefen aus der Fremde
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Wirklichkeit, bzw. die beschriebene Wahrnehmung, und Fiktion vermischen sich,120 denn nicht nur der Reisende konstruiert lesend und schreibend die Fiktionen nach, auch die Orte selbst, die der Reisende besucht, haben sich die Geschichten Dauthendeys anverwandelt, versuchen in Versatzstücken und einzelnen Requisiten die Erzählungen Wirklichkeit werden zu lassen: „Was wir in diesem Augenblick für wirklich halten, ist im nächsten zur Erfindung geworden, was wie erfunden wirkt, erweist sich als Wirklichkeit. [...] Und so griff ich, die Spuren ihrer Orte suchend, mehr und mehr in Dauthendeys Geschichten ein, bemächtigte mich sogar seines Lebens und machte ihn zum Japaner.“ (Harig 1999, II)
Auf diese Weise erfüllt Ludwig Harig in seinem Text wiederum das, was Max Dauthendey in seiner Reisebeschreibung von 1910, Die geflügelte Erde. _____________ 120 Etwas anders gestaltet sich die Darstellung der Ergebnisse der „DetektivNachforschungen“ Horst Eliseits (Eliseit 19712, 119), der sich auf den Spuren von Bernhard Kellermanns Spaziergang in Japan in die ‚kleine Stadt‘ Miyazu begibt (vgl. Kap. 3.2.2, Fußnote 76). Eliseit stellt zunächst auf konzeptioneller Ebene seine Suche nach Kellermanns ‚altem Japan‘ in Miyazu den thematisch geordneten Berichten über das ‚moderne Japan‘ gegenüber: Er fügt sechs „Zwischenstücke“ in Form kontrastierender Einschübe ein, die jeweils einzelne Aspekte des Topos vom ‚alten Japan‘ thematisieren (Gasthaus, Teehaus, Geisha, Kunsthandwerk, Theater, Religion). Dieses Konzept spiegelt sich auch in der Präsentation der zahlreichen Photos wider, die, in vier Blöcken zusammengestellt, den Text illustrieren oder erweitern: Sehr häufig finden sich auf den einzelnen Tafeln Aufnahmen des ‚modernen‘ Japan, solchen des ‚alten Japan‘ gegenübergestellt, wobei Motive aus Architektur, Arbeitswelt und (Alltags-)Kultur zu finden sind. Im Rahmen der Zwischenstücke bemüht sich der Autor nun um eine Fortsetzung dieses Konzepts der Gegenüberstellung, indem Kellermanns Ausführungen mit Faktenwissen ergänzt und teils verbessert werden (der Schreibende berichtet über das Studium von „Chroniken“ über Miyazu), oder mit Entwicklungen, Veränderungen, Verlusten kontrastiert werden. Sowohl auf inhaltlicher Ebene, als auch konzeptionell geht es dem Autor also explizit nicht darum, eine Fiktion zu kreieren oder wieder herzustellen, sondern um den Abgleich von Lektüre und erfahrener Wirklichkeit mit dem Ziel einer Diagnose: Wie ist es nun um Japans Kultur bestellt, welchen Preis zahlt das Land für seine Modernisierung, etc. Dennoch bedient auch dieses Werk wieder die mit der Konstruktion der ‚Fremde Japan‘ unweigerlich verbundenen Schemata. Dies wird exemplarisch im 5. Kapitel evident, in dem altbekannte Männerträume re-konstruiert werden, die sich mit ‚der‘ japanischen Frau verbinden, und die im weiteren Verlauf des Textes den europäischen Mann als Fürsten im Märchenreich imaginieren: „Und an Isako werde ich denken, die meine O-nesan war, meine O-tetsudaisan, meine ehrenwerte Zimmermaid also in einem dieser Ryokans und mir zum Inbegriff geworden ist der Vollkommenheit einer Ryokan-Maid überhaupt; die schlanke, grazile Isako mit den schönen sanft geschwungenen Katzenaugen [...] Wenn sie das Rollbild austauschte in der Tokonama [...] gegen die Darstellung einer schwärzlichen Schwalbe, die vor dem Hintergrund der braungrauen Himmelsweite einen locker hängenden Weidenzweig anfliegt, wenn sie das Bild aufgehängt hatte und sich betrachtend zurückbog, in ihrem lichtgrünen Kimono mit der ausladenden Obi-Schleife im Rücken, war sie selber eine grazile junge Weide.“ (ebd., 82f.; zur ‚Bildwerdung‘ der japanischen Frau in der Beschreibung durch europäische Männer vgl. auch Kapitel 3.3.3 Bilder und Imaginationen).
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Ein Lied der Liebe und der Wunder um sieben Meere als ‚Schicksal des Künstlers‘ darstellt und von diesem fordert: „Der Künstler muß den Unwirklichkeitsbildern frönen, die mit ihm reden, lachen, weinen, stöhnen, die in der Künstlerseele kommen und gehen, Und sich mit der Wirklichkeit nur im Kunstwerk versöhnen;“ (Dauthendey 1910, 308)
Erlesene Erfahrungen und Körpererfahrungen Die Schreibenden, deren Briefe hier genauer untersucht werden, waren keine Künstler oder Autoren. Allerdings zeigen sie sich als interessierte Rezipienten/innen literarischer Reisebeschreibungen, Berichte und Informationstexte über Japan, die sie im Rahmen ihrer Reisevorbereitungen gelesen hatten. Insofern waren sie Teilnehmende am zeitgenössischen (auch literarischen) Diskurs über Japan, und auch sie hatten bereits vor Betreten des Landes Vorstellungen und Erwartungen, die aus der Lektüre und dem Japonismus genährt waren: „Tokio den 4. Januar 1887 [...] Wer die Schönheit Japans sehen und genießen will, muß sich an die Natur und die Schätze der Malerei, der Skulptur etc. halten. Beides ist aber nicht so leicht, wie man sich das zu Hause wohl denkt. [...] So geht die alte bewundernswerthe japanische Kunst rettungslos ihrem Untergang entgegen. Vielleicht wird es besser, wenn die modernen Japaner, die den Europäern alles nachmachen, anfangen uns unsere japanische Geschmacksrichtung abzugucken.“ (Mosse, Albert [1887] 1995, 217f.)
Die Haltung, die die Schreibenden den erlesenen Vorstellungsbildern gegenüber an den Tag legten, war von Pragmatismus geprägt: Hier geht es nicht um Enttäuschung, Bewahrung oder Rekonstruktion; es geht vielmehr um den sachlichen Abgleich von Informationen mit einer erlebten Wirklichkeit,121 wobei sich die Schreibenden als kompetente Auskunftsgebende über Japan präsentieren:
_____________ 121 Dies gilt bereits für die Mitglieder der ersten preußischen Japan-Expedition in Japan. Am Tag nach der Ankunft des Schiffes vor der japanischen Küste durfte die Mannschaft das japanische Festland noch nicht betreten. Allerdings gab es bereits regen Verkehr zwischen den Deutschen und Japanern, die zum (illegalen) Handeln sowie zur ‚Besichtigung‘ der Europäer an Bord kamen. Eulenburg schreibt in einem Brief an Zuhause: „Es war schon von Interesse, zu beobachten, ob die Einzelheiten der Erscheinungen, die Kleider und der seltsame Zopf, die niedlichen kleinen Pfeifchen und die berühmten Schwerter, die Strohsandalen und das Papier den Beschreibungen entsprachen, die wir davon gelesen hatten.“ (Eulenburg [1860] zit. n. Stahncke (Hg) 2000, 37).
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„Hübners Spaziergang um die Welt habe ich jetzt, wenigstens den Band über Japan, auch gelesen.[122] Es ist sehr nett geschrieben und wohl alles damals ganz richtig, aber doch gerade hier in Tokio ist vieles anders geworden. Z.B. daß man abends nicht ausgehen kann oder es dann ganz einsam und still in den Straßen wäre. Im Gegenteil! So hübsch und amüsant es auch bei Tage in den Straßen ist, ich finde bei Abend das Bild zehnmal schöner und interessanter. Die wunderbare Beleuchtung durch fackelartige Lämpchen oder Papierlaternen läßt alles so eigentümlich erscheinen. Man führt des Abends, ob man fährt oder geht, stets solche Laternchen mit sich, und das sieht in manchen Straßen, z.B. hier bei uns, wo keine Straßenlaternen sind, ordentlich malerisch aus. [...] Wenn ich mal durch die Stadt fahre, möchte ich auch zehn Augen statt zwei haben, denn man kann alles Komische und Wundersame gar nicht mit einem Male erfassen. Weil alle Häuser offen stehen und immer den Einblick in das Innere und auf alle häusliche Scenen gestatten, sind die Straßen so ganz anders, als bei uns, und fortwährend erscheint ein neues Bild.“ (Schultze, Emma [1878] 1980, 86f.)
So werden auch bestimmte erlesene Empfindungen an Ort und Stelle überprüft. Georg Michaelis schreibt beispielsweise über eine Situation am Krater des Vulkans Asama-yama, in der er und seine Mitreisenden versuchen, die Gefühle eines verbürgt vernünftigen Zeitgenossen nachzuempfinden und, im Anschluss an die nicht erfolgte Nachempfindung, Thesen über mögliche Ursachen aufzustellen: „Im Allgemeinen hatten wir’s uns aber doch schlimmer gedacht, als es war. Der deutsche Professor Rein,[123] ein nüchterner, wahrheitsliebender Reisender, schilderte seine Gefühle u. Beobachtungen viel gewaltiger. Als er da war, erzitterte der Boden u. es hat ihm geschienen, als wolle es unter seinen Füßen weichen u. ihn mit hineinreißen in den schauerlichen Abgrund, dem der Höllenlärm entstieg. Er schreibt: ‚Die Eindrücke sind so gewaltige, das Gemüth tief erschütternde, daß auch der furchtloseste Mensch von Bangen und Schauder ergriffen wird.‘ So schlimm war’s nicht; wir haben immer darauf gewartet, ob uns nicht Bangen und Schauder ergreifen würde; es war aber nicht der Fall u. wir kamen schließlich zu dem Resultat, daß es entweder damals schlimmer gewesen sein mußte, oder daß wir doch noch furchtloser waren, als Professor Rein.“ (Michaelis [1887] 2001, 386f.)
Hans Blumenberg beschreibt in seiner Metaphorik der Lesbarkeit der Welt eine „alte Feindschaft“, die zwischen den Büchern und der ‚Wirklichkeit‘ _____________ 122 [ J oseph Alexander Freiherr von Hübner (1811–1892) war österreichischer Diplomat und Reisender. Im Mai 1871 begab er sich auf die Reise, die ihn zuerst nach Amerika und dann nach Japan und China führte. Während seiner Reise führte er ein Tagebuch, in dem er seine Erlebnisse und Eindrücke aufzeichnete: Ein Spaziergang um die Welt. 3 Teile: 1. Teil: Amerika. 2. Teil: Japan. 3. Teil: China. Leipzig 18752]. 123 [ J ohannes Justus Rein (1835–1918). Er war von 1873–1875 in Japan und schrieb das Buch Japan nach Reisen und Studien im Auftrage der Königlich Preussischen Regierung dargestellt, das in zwei Bänden 1881 und 1886 erschien und das in Deutschland stark rezipiert wurde. So wird Rein auch von dem Apotheker Joseph Schedel im Zusammenhang mit seinem Ausflug auf den Asama-yama im Jahr 1888 in seinen Tagebuchnotizen zitiert (vgl. Schedels Notiz vom 16.06.1888 in: Holzammer (Hg.) 2003, 49).]
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bzw. der konkret sinnlichen Erfahrung der Wirklichkeit bestand und immer wieder besteht: „Die geschriebene und gedruckte Tradition ist immer wieder zur Schwächung von Authentizität und Erfahrung geworden.“ (Blumenberg 20005, 17) Dagegen steht die Diffamierung des Bücherwissens und der Autorität des Buches, in der die Bücherwelt als stickig, modrig als „Unnatur“ (ebd.) verstanden wird. In dem oben zitierten Brief übertrifft für den Schreibenden die körperliche Wahrnehmung und Erfahrung die Buchautorität, selbst die der Niederschrift eines solch hoch angesehenen Zeugen. Für die Lesenden stellt sich der Körper, die Leiblichkeit der vertrauten Schreibenden wiederum als Instanz dar, die die Authentizität des Geschehens verbürgt und die somit auch für sie die Autorität anderer Schreibender noch überwiegt. Hier schwächt also die Erfahrung das gedruckte und tradierte Wort. In Bezug auf „kompilatorische Intertextualität“ im literarischen Reisebericht schreibt Manfred Pfister: „Der Reisende mit dem Reisekompendium in der Hand, das er vor Ort immer wieder konsultiert und durch eigene Beobachtungen ergänzt: in diesem häufig wiederkehrenden Erzählmotiv wird die kompilatorische Intertextualität des Reiseberichts auf anschauliche Weise thematisch.“ (Pfister in: Foltinek et al. (Hgg) 1993, 119).124 In den Texten der Briefeschreibenden präsentiert sich das ästhetische Modell, das Erzählmotiv, als reales Verhaltensmodell;125 die konsultierten Texte werden im Dialog mit den eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen sowie im Dialog mit den Adressaten/innen durch neue, hier aktuellere und kompetentere Texte ersetzt. Offenbar haben auch die Daheim-Gebliebenen entsprechende Lektüre rezipiert, und so können die Briefeschreiber/innen darauf als auf einen gemeinsamen Erfahrungsschatz Bezug nehmen und im Abgleich des Gelesenen mit der konkreten Erfahrung manche Befürchtungen relativieren: „Mama ängstigt sich wegen der vielen Flöhe, die’s in Japan nach den Schilderungen in den unbeaten tracks der Bird[126] geben soll. Das ist nur im Inneren so
_____________ 124 Erb unterscheidet im Zusammenhang mit der Reise-Literatur zwischen Lektüre, die kongruent mit dem Reiseziel und dabei vornehmlich informativer Natur ist und der Lektüre, die auch kongruent mit dem Reiseziel ist, die darüber hinaus aber „in besonderem Maße dazu geeignet [ist], zwischen dem Reiseziel, dem Reisenden und dem Buch eine affektive Beziehung herzustellen. Das Erleben der Fremde geht hier einher mit dem kongenialen Genuss der Literatur und mündet in umfassendes, das heißt intellektuelles und empfindsames Verstehen der bereisten Fremde und der Literatur.“ (Erb 2002, 12). 125 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch, hier jedoch in Bezug auf das Motiv des ‚Lesen im Freien‘: Schön 1993, 123-169 sowie Schaffers 1997, 37. 126 [„As to fleas, there is a lamentable consensus of opinion that they are the curse of Japanese travelling during the summer, and some people recommend me to sleep in a bag drawn tightly round the throat, others to sprinkle my bedding freely with insect powder, others to smear my skin all over with carbolic oil, and some to make a plentiful use of dried and powdered flea-bane. All admit, however, that these are but feeble palliatives.“ (Bird [1881] 2000, 18); zu Isabella Birds Werk vgl. auch Kap. 3.2.2, Fußnote 72].
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schlimm; in Tokio beschränken sie sich auf den Hochsommer u. ein erlaubtes Maß;“ (Michaelis [1886] 2001, 142)
Wie es scheint wurden die Texte über Japan, zumindest von den im Kontext der Untersuchung ins Blickfeld geratenen Briefeschreiber/innen, die sich tatsächlich auf die Reise begaben, eher als Informationstexte denn als phantasieanregende Texte rezipiert – was aber nicht ausschließt, dass dieselben Lesenden die Texte zu einem anderen Zeitpunkt und unter anderen Umständen nicht auch mit einer anderen Lesehaltung genossen haben. Obgleich sie also als Teilnehmende am zeitgenössischen und literarischen Diskurs über die ‚Fremde Japan‘ gelten können, (re-)konstruieren sie in ihrem Schreiben nicht die erlesenen Bilder; das ist nicht Funktion und Aufgabe ihres Schreibens. In den privaten Briefen von Menschen, die das Schreiben als Mitteilungsmedium, zur Festigung der Verbindung mit der Familie sowie als Medium für Dialoge nutzen, gewinnt eine andere ‚Fremde Japan‘ Gestalt als in den öffentlichen (literarischen) Textformen: weitaus alltäglicher, weniger exotisch aber dennoch auch fremd und unverständlich. Im Folgenden soll anhand einiger ausgewählter thematischer Aspekte die Darstellung der japanischen Lebenswelt in den Briefen exemplarisch aufgezeigt werden. 4.4.3 Mitteilungen über Japan Die Mitteilungen über die ‚Fremde Japan‘, die sich in den Briefen finden, sind Mitteilungen über eine Lebenswelt, in der die Schreibenden ihr eigenes Leben gestalten müssen. Sowohl in der Wahrnehmungs- und Erfahrungssituation, als auch in der Verschriftlichung dieser im privaten Brief erweist sich die ‚Wirklichkeit‘ letztlich stärker als das Bild: Die vorhandenen Bilder und Vorverständnisse werden mit der Wirklichkeit, wie sie sich ihnen darbietet, zwar abgeglichen – kommuniziert wird aber nicht die (Re-)Konstruktion des Bildes, sondern das subjektive Ergebnis dieses Prozesses. Dort, wo die vorgefundene Wirklichkeit mit bekannten Bildern und Vorstellungen übereinstimmt, fühlt sich der Schreibende seiner Mitteilungspflicht enthoben und kann – nicht zuletzt aus schreibökonomischen Gründen – auf bekannte Quellen verweisen: „Die Zimmer des Hauses sind nur durch Schiebewände von einander getrennt. Doch das kannst Du in jedem Buch über Japan besser lesen.“ (Mosse, Albert [1886] 1995, 171) Dennoch erfordert die Mitteilungspflicht auch ausführlichere Beschreibungen; die Adressat/innen möchten teilhaben an diesem Prozess, an der exklusiven Erfahrungssituation der Schreibenden, möchten die neu gewonnenen Erkenntnisse mitgeteilt bekommen und – so ist anzunehmen – wiederum mitteilen. Am Beispiel des Teehauses, das, wie
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gezeigt werden konnte, zu den wichtigsten Elementen der Kulturbeschreibung gehört und das eine zentrale Funktion im Rahmen des exotistischen Diskurses über Japan inne hat, soll exemplarisch aufgezeigt werden, wie sich in der Darstellung im privaten Brief ein Sehnsuchtsraum in einen konkreten Erfahrungsraum wandelt. Teehäuser Die Filter durch die das Schreiben im privaten Brief läuft und die das Schreiben lenken, das ‚Ich‘ und das ‚Ich und Du‘, sowie die Möglichkeit, der Widersprüchlichkeit des Erlebens im Brief Raum zu lassen, entmystifiziert diesen europäischen Traum, in dem Erotik und Exotik eine so reizvolle und unwiderstehliche Paarung einzugehen scheinen. Teehaus und Teehauskultur existierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Literatur und Reiseberichten bereits unabhängig vom konkreten Ort und hatten eine fest definierte Funktion im Kontext der phantasieanregenden Elemente für die europäischen Lesenden.127 Von dem hohen Maß an Ästhetisierung, innerhalb derer (Gebrauchs-)Gegenstände zu Requisiten, Geisha zu Stereotypen europäischer Imaginationen von asiatischer Weiblichkeit wurden und der Ort selbst als Kulisse diente, ist in folgender Beschreibung durch Georg Michaelis nicht mehr viel zu spüren: „Zu jedem echt japanischen Mahl gehört Gesang und Tanz, besser gesagt: Pantomime. Es erschienen deßhalb auch bald 4 Sängerinnen mit einer graulichen Art Guitarre und 4 Tänzerinnen; – nach japanischen Begriffen, schöne Mädchen mit voll geschminkten Lippen und hohen Frisuren und stattlichem Haarschmuck, in langen seidenen Kimono’s; und ihre Vorstellungen bestanden darin, daß die Sängerinnen dramatische Lieder, meist unglückliche Liebesgeschichten mit jähem Todesfall, vorsangen u. die Tänzerinnen in höchst graziöser Weise die pantomimischen Stellungen dazu exerzirten. Der Fächer spielte dabei eine Hauptrolle. Daß die Sache völlig decent war, dafür sprach die Gesellschaft; es waren lauter Würdenträger u. außer einigen anderen Deutschen Pastor Spinner als Gäste anwesend. Sake trinkt man aus kleinen Näpfchen u. wenn man Jemand nach deutschen Begriffen anprosten will, dann spült man das Schälchen in einem vor dem Tisch stehenden Wasser-Bassinchen aus u. reicht es seinem Nachbarn. So wandern die Gefäßchen von Mündchen zu Mündchen. Im Allgemeinen waren wir froh, als es zu Ende war u. als Hering u. ich nach Hause gekommen waren, aßen wir eine ordentliche Schinkenstulle u. tranken ein Glas Bier dazu u. lobten uns diesen heimischen Genuß.“ (Michaelis [1885] 2001, 122f.)
_____________ 127 Dies ist wohl auch der Grund dafür, dass, wie George Webb im Vorwort zu Kiplings Reisebriefen aus Japan ausführt, die Touristen um die Jahrhundertwende dazu neigten, „alle japanischen Restaurants oder Gästehäuser als ‚Teehaus‘ zu bezeichnen; hinter dieser Bezeichnung mochten sich auch Bordelle verbergen.“ (Webb in: Kipling 1990, 22).
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Die japanische Kunst und Kultur wird hier bestenfalls neutral, teilweise befremdet beschrieben, die japanischen Schönheitsvorstellungen vermag Georg Michaelis nicht zu teilen. Interessant ist seine Bezugnahme auf etwaige erotische Momente. Michaelis zeigt sich sehr beflissen, diese zurückzuweisen und zu versichern, dass die „Sache völlig decent war“. Dies könnte darauf hindeuten, dass sich auch ihm das Teehaus als leicht anrüchiger Ort darstellte bzw. dass er soweit mit dem zeitgenössischen Diskurs vertraut war, dass er eine solche Befürchtung seiner Adressatin antizipierte – vielleicht genügte jedoch auch schon die Anwesenheit von vier geschminkten Sängerinnen und vier Tänzerinnen, um die Situation anrüchig erscheinen zu lassen. Da es sich bei der Adressatin um sein „Geliebtes Muttchen“ handelte, eine sehr strenge und religiöse Frau, beruft Michaelis zudem den „Pastor Spinner“ als Zeugen für die Harmlosigkeit der Situation. Der Abgesandte des Allgemeinen evangelisch-protestantischen Missionsvereins, Wilfrid Spinner, muss aber wohl doch an dem Abend einen etwas anderen Eindruck gewonnen haben. Er notiert in Bezug auf das Fest im Dezember 1885 in seinem Tagebuch: „Ungemein interessant war’s, alle die Sitten zu sehen und mitzumachen, die schlecht verhehlte Sinnlichkeit der Japaner zu beobachten, die zumal solche Festessen zum Jahresschluß schließlich zum Bacchanal ausarten lassen. [...] Bei solchen Anlässen ist nur schade, daß die anfängliche Anständigkeit und Zurückhaltung im Verkehr mit den Aufwärterinnen respektive Sängerinnen und Tänzerinnen so bald verschwinden“ ([Spinner 1885] Hamer 2002, 65).
Die Versicherung von Michaelis, dass er das Ende der Veranstaltung mit Erleichterung registriert sowie der Genuss von Schinkenstullen und Bier symbolisieren die Verortung des Schreibenden in seiner eigenen, bodenständigen Kultur sowie seine Standhaftigkeit den Verlockungen der Fremde gegenüber. Georg Michaelis definierte sich deutlicher als die anderen Briefeschreibenden in starker Abgrenzung zu der ihm fremden Kultur und ihren Menschen, womit er auch Befürchtungen aus seinem familiären Umfeld begegnete. Da er sich als Junggeselle in Japan aufhielt, war er bemüht, die Sorgen seiner Mutter über eine ‚Verirrung‘ in dieser Hinsicht zu besänftigen:128 _____________ 128 Viele Angehörige der deutschen Kolonie in Japan heirateten japanische Frauen. Die unterschiedlichsten Motivationen waren dafür ausschlaggebend, so schreibt etwa Johannes Barth in seiner Autobiographie: „Was war nun das wirkliche Japan? Ich wollte es erforschen und der Welt mitteilen. [...] Wenn das mein Ziel war, so wäre es praktisch, ein japanisches Mädchen zu heiraten.“ (Barth 1984, 77). Hier diente die körperliche Beziehung dazu, nicht nur (intimes) Wissen über Japan zu erlangen, sondern selbst Teil der japanischen Kultur zu werden, um desto kompetenter über diese zu berichten. Barth kam im Jahr 1912 nach China. Im Verlauf des 1. Weltkrieges geriet er in Tsingtau in japanische Kriegsgefangenschaft und verbrachte fünf Jahre in dem Kriegsgefangenenlager Bandô auf Shikoku, in dem nur
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„Immerhin erscheint es mir als ein Vorzug Höxter’s vor Tokio, daß es dort niedliche Mädchen giebt. Hier hatte ich mich schon so an die japanischen Frätzchen gewöhnt, daß mir mitunter die eine oder die andere niedlich vorkam; als neulich Ernst Delbrück mal sein Album mit allerhand schönen Cousinen u. Freundinnen aus Deutschland hervorholte, wurde mir doch mein befangenes Urtheil recht bewußt. Man vergißt ganz, wie deutsche Mädchen aussehen.“ (Michaelis [1887] 2001, 367)
Mit der Zeit vermitteln Michaelis Beschreibungen über die Besuche im Teehaus bzw. über Begegnungen mit Geisha, von denen er treu berichtet, den Eindruck, als würde er diese nur noch als Pflichtveranstaltungen wahrnehmen und mit Mühe überstehen: „Nach unserer Rückkehr war japanisches Diner in einem schönen Theehaus auf Einladung und Kosten der Regierung. Es war das übliche langgedehnte japanische Essen mit obligaten Knieverrenkungen, schreckliche Samesen-Musik, einem jungen, sprachelos aussehenden Mädchen, das die Tanzbewegungen ausführte, dazu deutsches Bier und Sake, bis schließlich die Japaner bezecht waren u. wir, von Satsuma-Männern geleitet, den Rückweg antraten.“ (Michaelis [1886] 2001, 287)
Albert Mosse äußert sich ähnlich über diese Art von Veranstaltungen: “Nagoya d. 16. August 1887. Geliebtes Weib! Das erste Geshafest wäre glücklich überstanden. Sehr schöne Costüme, aber sehr langweilige, wenn auch von den Japanern höflichst bewunderte Tänze und gräuliche Musik, bei welcher ich mir eine unpassende Anspielung auf neko [Katze] erlaubte. Ich drückte mich, da diese Art von Festen für mich den Reiz der Neuheit verloren haben“ (Mosse, Albert [1887] 1995, 294).129
Bei dieser Art der Darstellung darf jedoch nicht übersehen werden, dass es sich bei den Adressatinnen um die Mutter bzw. um die Ehefrau handelte. Es bleibt offen, wie die Briefeschreiber diese Situationen bei vertrauteren männlichen Adressaten ausgestaltet hätten. Die Wahrnehmung der Anderen Die sich in den hier zitierten brieflichen Äußerungen bereits andeutende deutliche Polarisierung des Eigenen und des Fremden hängt wesentlich _____________ Deutsche interniert waren. Nach einem kurzen Deutschlandaufenthalt kehrte er nach Japan zurück, gründete seine erste Firma und blieb dort bis zu seinem Tod. 129 Auch in den privaten Briefen deutscher Reisender findet sich wieder die diffamierende und parodierende Darstellung japanischer Musik (vgl. die Ausführungen in Kapitel 3.2.4 und 3.3.4). Lina Mosse beschrieb die offizielle Hofmusik im Rahmen einer Audienz beim japanischen Kaiser folgendermaßen: „Tokio d. 14.2.89 [...] Und der Stärkung bedurfte man wirklich nach der wahrhaft scheußlichen japanischen Musik. Albert feierte bei derselben Reminiszenzen an die Synagoge in Grätz, ich dachte an den Weihnachtsmarkt, wenn die Jungens die Luft aus einer Schweinsblase herauslassen.“ (Mosse, Lina [1889] 1995, 417).
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mit den Funktionen des Schreibens aus der Fremde130 sowie mit der Lebenssituation der Schreibenden in einem bestimmten historischen Kontext131 zusammen. Die Deutschen in Japan bewegten sich innerhalb der Familien sowie der deutschen Kolonie in einem Umfeld, das durch Zusammenkünfte, Brauchtum und Feste eine stabile nationalkulturelle Identität konstituierte und bestätigte. Außerhalb dieser jedoch existierte eine andere Lebenswelt, mit einer grundlegend anderen Auffassung von Normalität und mit anderen Sitten und Gebräuchen. Die Wahrnehmung der als fremd empfundenen Physiognomie und des anderen Verhaltens war viel eindrücklicher als im Zeitalter der sogenannten Globalisierung und der Massenmedien; kurios und fremdartig muteten die Menschen und ihre Handlungen an. Direkte Begegnungen mit Japanern beschränkten sich auf Dienstboten oder Händler, offizielle Vertreter der Regierung und Kollegen sowie Schüler. Diese Überschneidungen der Lebenswelten führten nicht selten zu interessanten interkulturellen Verstörungen, die den Menschen daheim anekdotisch zum Zwecke der Unterhaltung mitgeteilt wurden: „Neulich kamen gegen Abend fünf von den japanischen Lehrern der Schule zu mir, um sich mein Haus anzusehen. Ich setzte ihnen Thee und Bier vor u. gab ihnen zu rauchen. Eine derartige Situation ist für einen Neuling eine schwierige[re = Anm. d. Hg.] Situation, als Ihr Euch denken könnt. Die Japaner haben die schreckliche Gewohnheit, daß sie den Beifall zu einer Speise oder einem Getränk, das ihnen vorgesetzt wird, nicht durch Worte, sondern durch möglichst lautes Rülpsen kund geben. Ich hatte bisher davon keine Ahnung u. fiel fast vom Stuhl, als Herr Kimura den Reigen mit einem Riesen-Rülps eröffnete; als aber die Andern, wie in eine ganz selbstverständliche Musik, einfielen, kam ich auf den Gedanken, daß dies eine Sitte, wenn auch eine schreckliche sei u. wurde auf meine spätere Frage bei Hering’s unter weidlichem Gelächter darüber belehrt. Es ist dies der Hauptgrund, daß man uneuropäisierte Japaner nicht mit Deutschen gleichzeitig einlädt.“ (Michaelis [1885] 2001, 104)
Von den Japanern, mit denen die deutschen Gäste im Land in Kontakt standen, wurde unhinterfragt eine Anpassung an europäische Sitten erwartet, ansonsten kam es zu einer Trennung der Lebenswelten.132 _____________ 130 Vgl. Kapitel 4.3.1 und 4.3.2. 131 Vgl. Exkurs 1: Überlegungen zu: interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität. 132 Die Annäherung zwischen den Kulturen vollzog sich sicherlich recht unterschiedlich erfolgreich. Insbesondere Georg Michaelis stellt an keiner Stelle das Eigene in Frage, Anerkennung erlangten Angehörige der japanischen Kultur in dem Moment, in dem sie sich möglichst vollständig den Werten und Gebräuchen der deutschen Kultur anpassten: „Die Leute [ j apanische Generalität] sehen durchweg stramm, gut angezogen, manierlich aus, aßen ganz verständig, bekamen keine rothen Köpfe, mit einem Worte, man verliert bei allen solchen Festen jetzt immer mehr die Vorstellung, daß man mit inferioren Menschen zu thun hat. Die Leute rangen mir einen gewissen Achtungserfolg ab.“ (Michaelis [1888] 2001, 503). Das sich hier in der Rede von den „inferioren Menschen“ manifestierende problema-
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Abschließend soll noch einmal dem Blick der Briefeschreibenden auf den Anderen, auf die Angehörigen der japanischen Kultur nachgegangen werden. Der Blick auf die Menschen, mit denen die Schreibenden nicht in direktem Kontakt standen, ist geprägt von Distanz und Distanzlosigkeit gleichermaßen. Mit Neugier werden die Angehörigen der anderen Kultur betrachtet und das Ergebnis dieser Betrachtung wird den Lesenden Zuhause redlich mitgeteilt. Die Haltung, mit der der Andere betrachtet wird, erinnert an die eines Besuchers einer Weltausstellung, wie sie 1851 zum ersten Mal stattfand: Sicher aufgehoben in der eigenen Lebenswelt und Kultur, im Bewusstsein der eigenen Überlegenheit wird wie in einer Menagerie das Andere betrachtet – das Eigenen bleibt davon gänzlich unberührt. Eine unvertraute Normalität verwandelt sich in der Betrachtung und der nachfolgenden Beschreibung in Kuriosität: „Die Menschen sind allerdings kurios; ihre linkischen Bewegungen, ihr stelzenhafter Gang auf den hohen Holzschuhen, die riesenhaften Regenschirme aus Bambus u. Stroh, die engen Gewänder der Damen, die übertriebenen Komplimente bei der Begrüßung, selbst in den niedrigsten Ständen, bei denen die Hauptfeinheit darin besteht, einen bei uns wenig geachteten Theil des Körpers möglichst hoch in die Luft zu strecken, kurz, qui mal y pense!“ (Michaelis [1885] 2001, 116)
Allerdings sind auch die Europäer in Japan „Sehenswürdigkeiten“ und somit ist der Blick durchaus von gegenseitiger Befremdung und Staunen geprägt: „Wir müssen auf unserm Schulwege täglich über einen Platz, Kudan, der [...] eine Sehenswürdigkeit für die provinzialen Japaner ist. Neuerdings sind wir diesen Merkwürdigkeiten angereiht. Die Fremdenführer wissen genau, wann wir kommen u. zeigen uns dann den erstaunten Bewohnern aus dem Inneren als ‚seono sensei‘, d.h. ‚westliche Schriftgelehrte‘. Namentlich Felix, der fast weißblond ist, daneben auch Schweigert, mit seinem rothen Vollbart sind ihnen interessant. Ich zeige weniger Abnormalitäten für sie. Ich wünschte aber doch, ich wäre bald wieder in einem Lande, in dem ich nicht eine Sehenswürdigkeit wäre!“ (Michaelis [1888] 2001, 460f.)133
_____________ tische Menschenbild von Georg Michaelis ist für den zeitgenössischen Diskurs keineswegs ungewöhnlich, findet sich aber in den meisten anderen untersuchten Zeugnissen nicht in dieser Ausprägung. 133 Von ähnlichen Erfahrungen als Japaner in Deutschland berichtet auch MATSUMURA Jinzo, seine Erlebnisse empfindet er jedoch als unangenehm (vgl. Kapitel 4, Exkurs 1: Überlegungen zu: interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität). Außerdem gelingt es ihm, aufgrund der eigenen Erfahrung einen Perspektivenwechsel vorzunehmen: „Wenn ich auf der Straße spazieren gehe, starren mich einige Würzburger an und flüstern sich zu, daß ich wohl ein Japaner sein muß. Das macht mich sehr unsicher. In solchen Situationen sehne ich mich heim. [...] Es ist sehr unangenehm, ‚Schwarzer‘ oder ‚Chinese‘ gerufen zu werden. Das ist wie in Japan, wo alle Ausländer wie Amerikaner behandelt werden.“ (Matsumura [1886] 2001, 20; 37).
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Die distanzierte Wahrnehmungshaltung dem Anderen gegenüber, offenbart sich besonders bei der Beschreibung der großen Feuer in Tôkyô, die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert regelmäßig ausbrachen. Diese richteten große Verheerungen in einzelnen Stadtteilen an, oft kamen viele Menschen ums Leben. In allen untersuchten Briefzeugnissen kommen Beschreibungen großer Feuersbrünste vor. Die Schreibenden nehmen die extreme Situation zum Anlass, Studien über das Verhalten der japanischen Bevölkerung zu treiben. Das Ergebnis der Beobachtung wird den Lesenden Daheim als Information über die andere Kultur mitgeteilt. Dabei wird das Unglück der Anderen durch die optische Wahrnehmung aus der Distanz zum ästhetischen Erlebnis:134 „17.2.1881. [...] Wir gingen diesmal, da es nur eine Viertelstunde von hier ist hin, und konnten das gewaltige Schauspiel in aller Ruhe sehen, da wir durch einen Garten vom Brandplatz getrennt und vor dem Winde standen, welcher Rauch, Flammen und Hitze von uns forttrieb. [...] So traurig die Sache ja ist, so muß man doch sagen, es sieht überwältigend aus, wenn diese Holzhäuser alle brennen, und es ist eine Tageshelle dadurch, daß selbst Mond und Sterne erbleichen und ganz grünlich aussehen. Merkwürdig und natürlich ganz nutzlos ist die Tätigkeit einiger Feuerleute, welche mit einem heiligen bannerähnlichen Zeichen auf dem Dache eines gefährdeten Hauses stehen, die Ziegel hinunterwerfen in die Flammen, bis sie es vor Glut und Flammen nicht mehr aushalten können, dann retirieren sie langsam immer weiter zurück bis zum nächsten Hause. Wir sahen einen Mann so von 3 Häusern allmählich durch die Flammen vertrieben. Aber so lange hielt der Mann aus, daß man ihn vor Rauch und Flammen nicht mehr sah. Oft stürzt unter so einem Mann das Haus zusammen und er muß elend verbrennen“ (Schultze, Emma [1881] 1980, 263).
Trotz der in den einzelnen Briefen immer wieder anklingenden Distanz zum Gastland und seinen Angehörigen, trotz der Befremdung und Fremdstellung spiegeln die Briefe doch auch immer wieder Wertschätzung und im Laufe der Jahre auch so etwas wie eine Beziehung zwischen den Schreibenden und der sie umgebenden anderen Lebenswelt. In einer brieflichen Äußerung Lina Mosses klingt an, dass Japan aus der zeitlichen Distanz für sie zu einem persönlichen Sehnsuchtsraum werden kann, dessen _____________ 134 Diese Form der Teilnahme ohne Anteilnahme ist dem (post)modernen Menschen im Zusammenhang mit der medialen Vermittlung menschlicher Katastrophen und Naturkatastrophen sehr vertraut. Aber auch der sogenannte Katastrophen-Tourismus offenbart die scharfen Grenzen, die zwischen dem Eigenen und dem Fremden gezogen werden. Die Wahrnehmungshaltung scheint von wenig Anteilnahme geprägt, denn es betrifft ‚den Anderen‘. Einige Eintragungen in Erwin Bälz’ Tagebuch offenbaren, dass ihm ein Feuer zu einer ethnologischen Beobachtungssituation wird: „Gestern gegen Mitternacht [...] bemerkten wir in südöstlicher Richtung ein großes Feuer. [...] Besuchte dann sofort die Unglücksstätte. An zahlreichen Stellen schlugen noch die Flammen hervor. Hier hatte ich nun Gelegenheit, das Benehmen der Japaner zu beobachten. Und diese Beobachtungen waren äußerst interessant. Zunächst fiel mir einmal die verhältnismäßige Ruhe auf“ (Bälz [1876] 1931, 38f.).
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Ausstattung sich zusammensetzt aus eigenen Erinnerungen, die sie anhand ihrer brieflichen Chronik auffrischen kann, vermengt mit dem Inventar des zeitgenössischen öffentlichen Diskurses: „Tokio d. 15.10.88. [...] Und eine glückliche Zeit ist es gewesen, die wir hier draußen durchlebt haben, trotz der mannigfachen Entbehrungen; und so unbeschreiblich ich mich nach Haus ersehne, so weiß ich doch heut schon, daß so mancher Tag kommen wird, der uns ein gewisses Heimweh nach hier bringen wird. Ja Japan ist trotz all seiner Mängel doch ein Zauberland. –“ (Mosse, Lina [1888] 1995, 393)
5
In der Fremde lesen 5.1 Einführung „Ich arbeite nach zwei verschiedenen Methoden. Die eine ist – wie es etwa in Japan der Fall war –, dass ich eine Reise mache, und das Land, die Möglichkeiten zu erzählen, sind so inspirierend, dass ich eine Figur entwerfe und sie an meine Stelle treten lasse.“ 1
Im Jahr 1998 erschien der Roman Der Plan des österreichischen Schriftstellers Gerhard Roth.2 Der Plan ist Teil des bislang noch unabgeschlossenen Zyklus Orkus, der insgesamt sieben Romane umfassen soll, von denen die folgenden bereits erschienen sind: Der See (1995), Der Plan (1998), Der Berg (2000), Der Strom (2002) und Das Labyrinth (2005). Wie viele Werke des Autors entstand auch Der Plan im Anschluss an eine ausgedehnte Reise:3 Roth war im November 1996 Gast des „5. Seminars zur österreichischen Gegenwartsliteratur“ in Izu und begab sich anschließend auf eine knapp dreiwöchige Lese-Reise durch Japan. Der Zyklus Im Sommer 2003 wurden im Rahmen einer Ausstellung mit dem Titel Orkus – Im Schattenreich der Zeichen im Literaturhaus Graz Materialien aus Gerhard Roths ‚Vorlass‘ präsentiert, die mit der Gesamtkonzeption des Zyklus sowie mit einzelnen Werken daraus im Zusammenhang stehen: Notizbücher, Photographien, Zeitungsartikel, Entwürfe, Korrekturexemplare etc. Die Herausgeber des Begleitbuchs zur Orkus-Ausstellung, Daniela _____________ 1 2
3
Roth in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 245. Gerhard Roth hat als wichtiger österreichischer Gegenwartsautor zahlreiche Preise erhalten. Sein vielfältiges Werk besteht aus Romanen, kurzen Prosastücken und Essays sowie Bühnenstücken, Hörspielen und Drehbüchern. Darüber hinaus veröffentlichte Roth auch Bände mit Photographien, die auf seinen zahlreichen Reisen entstanden. Zu Roth vgl. u.a. Voit in: KLG 1999, 1-21 sowie Text + Kritik. H. 128, 1995. Vgl. auch die beiden Amerika-Romane Der große Horizont von 1974 und Ein neuer Morgen von 1976.
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5 In der Fremde lesen
Bartens und Gerhard Melzer, kennzeichnen den ganzen Zyklus, innerhalb dessen Der Plan als zweiter Band erschienen ist, folgendermaßen: „Gleich den Irrfahrten des Odysseus schickt Gerhard Roth seine Helden in die unterschiedlichsten Kulturkreise und Himmelsrichtungen aus, lässt sie eintauchen in fremde Wirklichkeiten, deren Rätsel ihnen zu Zeichen in einem scheinbar ausweglosen Labyrinth werden. [...] Der Bedrohung durch das Numinose, durch Verbrechen und Gewalt begegnen sie mit ihren eigenen Wirklichkeitskonstruktionen, in denen nahezu alles zu einem Hinweis werden kann. Die Reise in die Fremde gerät so zu einer Irrfahrt in das eigene Innere“ (Bartens; Melzer in: dies. (Hgg.) 2003, 8).
Bartens und Melzer bezeichnen den Zyklus Orkus als „literarisches Komplement zu den ‚Archiven des Schweigens‘ “ (ebd., 7) und auch Wendelin Schmidt-Dengler (2003) weist auf den inneren Zusammenhang hin, der zwischen den beiden Zyklen Gerhard Roths besteht: „die Erforschung der Nähe [in Die Archive des Schweigens] ist die unabdingbare Voraussetzung für die im zweiten Zyklus so wichtige Erforschung der Fremde.“ (Schmidt-Dengler in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 29) „Alle Bücher der beiden Zyklen sind durch zahlreiche thematische Aspekte miteinander verbunden. Im Zentrum steht immer noch Österreich, doch ist der Wandel der Perspektive signifikant: Während in den ‚Archiven‘ der Weg in das ‚Herz der Dunkelheit‘ Österreich gesucht wird und dieses gleichsam den Hades verkörpert, entfernen sich die Hauptfiguren nun von dort“ (ebd., 36).
Als Thema des Zyklus Orkus gilt, nach Maßgabe der Entwurfskizze des Autors selbst, „[d]ie Wiederherstellung der verlorenen Identität und Kontinuität durch ‚Aufklärung‘ und Besiegung der FREIER (jene, die ‚Österreich‘ mit ihrem Verschweigen der Geschichte, der ‚Fälschung‘ in Besitz genommen haben). Buch der Täter“ (Materialien Roth in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 14).4 Auf thematischer und konzeptioneller Ebene bestehen Referenzen und Querbezüge zu Homer, James Joyce und Dante,5 als „Vorbild“ für den Zyklus nennt Roth „Odyssee, Irrfahrt und Nostos (Die Argonauten)“ (ebd., 16), wobei die Irrfahrten „auf verschiedene Personen aufgeteilt“ (ebd., 14) werden. Roth nimmt für die einzelnen Werke einzelne Episoden der Odyssee als Anregung (ausdrücklich werden diese nicht nachgedichtet), wobei die Hades-Episode jedem Werk zugrunde liegt: „Jedes Buch spielt zunächst im Hades“ (ebd., 18). Im Folgenden wird sich der Blick nur auf den Roman Der Plan richten, an gegebenen Stellen wird jedoch auf den Gesamtzusammenhang des Zyklus verwiesen werden.6 _____________ 4 5 6
Interpunktion und Hervorhebungen des Autors werden im Folgenden übernommen. Vgl. dazu auch Bartens in: dies.; Melzer (Hgg.) 2003, 60ff. Es gehört zur Konzeption des Zyklus, dass die einzelnen Werke auch für sich stehen und so rezipiert werden können: „System: Es soll ein unabhängiges Lesen der einzelnen Bücher möglich sein nach Vorbild der Bibel. Man kann Band 1–5 in verschiedener Reihenfolge lesen und den Band 6 [oder = gestr.] [eingefügt:] zum Schluß, wenn alle Figuren auftreten.
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Der Plan – Die Geschichte Für den Plan werden von Roth in seiner Skizze zum Entwurf des OrkusProjektes als Bezüge zu einzelnen Episoden der Odyssee notiert: „Hades, Lotophagen Kalypso (Liebesgeschichte) Circe, Schweine, Bordell“ (ebd., 20).7 Unter dem Stichwort „Kultur“ findet sich „zen-buddhistisch shintoistisch Japan“. Als Thema wird benannt: „Diebstahl ist wie das Lesen (Erkenntnis): Apfel, Verstoßung aus dem Paradies der Kopfwelt ins Leben, das ist aber die Hölle, Geistesflug (Geryon), Dante = Reiseführer durch das Inferno, Erdbeben – Vulkane: Poseidon ist Welterschütterer, Natur Lesen“ (ebd.)
und unter dem Stichwort „Atmosphäre“ notiert Roth: „exotische Natur/Stadt Flucht, Liebe, Exil, Tod Sexualität Kriminalität, Verfolgung, Paranoia Kopf- (Lese-) und reale Reise Kriminalroman Flucht“ (ebd.)
Im Verlauf des Romans, der Elemente und Strukturen des Kriminalromans und gleichzeitig Züge eines Reiseberichts aufweist,8 begibt sich der Protagonist, der Bibliothekar Dr. Konrad Feldt, auf eine wissenschaftliche Vortragsreise durch Japan, auf der er über die Schätze der österreichischen Nationalbibliothek referiert. Die Reise führt Feldt in das Japan der 90er Jahre, nach Tôkyô und in die dortige nähere Umgebung, dann weiter in Richtung Süden, nach Kyôto, Kagoshima und bis nach Kumamoto. Die Vorträge sind jedoch nur der offizielle Vorwand seiner Reise. Dahinter verbirgt sich ein illegaler Handel mit einem zufällig in Feldts Besitz geratenen Mozart-Autograph,9 das er an einen japanischen Kunsthändler ver_____________
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Oder mit Band 6 beginnen und erst im nachhinein erfahren, was die Personen erlebt haben oder erleben werden.“ (Materialien Roth in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 16). Zum Zyklus selbst, zu Entwurf und Konzeption soll hier noch auf die in dem Begleitband abgedruckten Materialien aus dem Vorlass Gerhard Roths sowie die dort aufzufindenden Beiträge von Wendelin Schmidt-Dengler (ebd., 27-39) und Daniela Bartens (ebd., 39-69) verwiesen werden. Auch das Lotophagen-Thema ist in allen Werken präsent: „Drogen: In allen Büchern spielen Drogen eine Rolle. Das hat nicht nur die Anspielung auf ‚die andere Seite‘ im Menschen zum Zweck, das Schöpferische, das Selbstzerstörerische, das Phantastische, die Abwendung von der Realität, sondern verarbeitet auch das LOTOPHAGEN-Thema“ (Materialien Roth in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 18). Diese Elemente, die schon früher Eingang in Roths Werke fanden, boten auch Anlass zur Kritik (vgl. Fischer in: Text + Kritik 1995, 74-86). Aktuellere Veröffentlichungen zeigen eine modifizierte Sicht auf die Nutzung der gattungsspezifischen Vorgaben des Reiseund/oder Kriminalromans durch Roth (vgl. etwa Schreckenberger in: Düsing (Hg.) 1993, 171-183 oder Miesbacher in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 163f.). Zum ‚postmodernen‘ Spiel Roths mit den Gattungsobligatorien des Detektiv- bzw. Kriminalromans im Plan, vgl. Fuchs in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 117f. (sowie in Bezug auf Der See Giacomuzzi-Putz in: ebd., 75ff.). Voit verweist auf den historischen Hintergrund des Plots aus dem Jahr 1958, auf den: „Ausriß eines Stückchens aus dem Manuskript von Mozarts ‚Requiem‘ mit der vermutlich
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kaufen möchte. Die Handlung des Romans entfaltet sich in sieben, aus Einzelszenen zusammengesetzten Kapiteln und wird in der dritten Person erzählt, wobei fast durchgängig der Wahrnehmungs- und Reflexionsbereich Feldts zur Darstellung kommt.10 Nach einigen missglückten Versuchen Feldts, den Handel mit dem Kunsthändler Dr. Hayashi abzuschließen, wird Hayashi im Zusammenhang mit seinen illegalen Geschäften im Pachinko (Glücksspiel)-Milieu ermordet, wobei Feldt zufällig Zeuge wird. Dr. Chiba, Hayashis Kompagnon, übernimmt fortan die Verhandlungen mit Feldt, der diesem mit steigendem Misstrauen begegnet. Während seines Aufenthaltes in Tôkyô lernt Feldt Frau Sato kennen, die ihm als ‚Betreuerin‘ vorgestellt wird und mit der Feldt eine kurze, leidenschaftliche Beziehung eingeht. Darüber hinaus trifft Feldt auf seiner Reise mehrmals den Vulkanologen Dr. Kitamura, der neben seiner wissenschaftlichen Kompetenz über ein fast instinktives Wissen über bevorstehende Vulkanausbrüche und Erdbeben verfügt. Geleitet von dem Verlauf seiner Vortragsreise und den Anweisungen Dr. Chibas gelangt Feldt schließlich nach Kumamoto, den Ort, an dem der Handel seinen Abschluss nimmt und in dem Feldt Opfer eines Erdbebens bzw. der chaotischen Zustände nach einem Erdbeben wird. Aufzeichnungen Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass und wie Roth Eindrücke seines eigenen Japanaufenthaltes in dem Roman Der Plan verarbeitet hat. Walter Ruprechter, der als einer der Organisatoren des Seminars in Izu Roth bei seinem Aufenthalt in Japan betreute, und Parallelen zwischen Roths (erstem) Aufenthalt in Japan und der Romanhandlung aufzeigt, illustriert in seinem Beitrag zum Begleitband der Ausstellung die Aufzeichnungs- und Recherchemethode des Autors auf Reisen.11 Er berichtet, dass Gerhard Roth auf seinem Weg durch Japan unausgesetzt fotografierte und protokollierte, ‚mitschrieb‘, und mit diesem ethnographischen Handlungsmuster einzelne Aspekte der Kultur zunächst ‚festschreiben‘ wollte, um sie für _____________
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letzten Notierung des Komponisten“ (Voit in: KLG 1999, 19). Vgl. auch das Magazin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. Januar 1998: Täter gesucht: Der letzten Seite von Mozarts Requiem fehlt eine Ecke. Wer hat sie abgerissen? Und wann? sowie Roths Artikel in diesem Magazin: Wer raubte die letzten Worte Mozarts? (ebd., 36-41). Der Roman durchbricht auf dieser Ebene kaum traditionelle Erzählverfahren; sprachexperimentelle Anteile, wie sie sein frühes Werk prägen, sind nicht zu finden. Zur Sprache in Roths Werk vgl. Schreckenberger in: Text + Kritik 1995, 22-33. Ich danke Walter Ruprechter für den aufschlussreichen Austausch sowie seine Bereitschaft, mir seinen Artikel noch vor der Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen.
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eine spätere Deutung zu sichern, sie also auf diese Weise ‚lesbar‘ zu machen: „doch schien mir, dass der Protokollierungseifer zumindest einer unbestimmten Absicht diente, und sei es nur, Daten und Zeichen zu sammeln für einen späteren Entzifferungsversuch, da ja klar ist, dass sich die japanische Kultur nicht in einem dreiwöchigen Aufenthalt lesen und verstehen lässt. Seine Aufzeichnungswut kam daher, dass er die Zeichen eben nicht verstand und sie in ihrer Überfülle auch nicht einer schnellen (Miss-)deutung unterwerfen, sondern für ein späteres Verstehen aufheben wollte. [...] Das Archiv fremder Zeichen, das er sich in seinen zahlreichen Notizbüchern und Fotoalben schuf, ist somit kein Columbarium einbalsamierter Phänomene, sondern ein Depot abruf- und erneuerbarer Erfahrungen und Bedeutungen.“ (Ruprechter in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 112f.)
Diese vielerorts beschiebene Aufzeichnungs-Akribie des Autors führt zu einer Fülle an Bild- und Textmaterial, das die Grundlage für das Setting seiner Romane bildet, und das Atmosphäre und Handlungsgang bestimmt. W. G. Sebald hat in seinem Essay zu Gerhard Roths Winterreise (1979), das 1985 erstmals erschien, auf die problematische Aspekte dieser Technik verwiesen. Die Kritik Sebalds behält durchaus auch für die aktuelleren Romane Roths, so auch für den Plan, noch Gültigkeit: „Ansonsten aber überträgt sich die Usurpation des Bewußtseins der Erzählfigur durch den Autor auch auf den Leser, der sich – leicht verstimmt – gehalten fühlt, das nochmals mitanzusehen, was Roth in New York, in Venedig oder in der Steiermark an Lokalkolorit recherchiert und aufgeschrieben hat.“ (Sebald 20034, 153).12 Roths Form des Verarbeitens von Wahrnehmungen, Erfahrungen, Eindrücken, Bildern, vorgängigem Material, Informationen und Äußerungen anderer im Schreiben, das Ineinanderfließen von wahrgenommener Wirklichkeit und Fiktion führt immer wieder auch zu Konflikten, etwa mit dem Staat Österreich13 oder mit Personen, die sich selbst in einzelnen Figuren Roths, verfremdet zwar, aber dennoch erkennbar, wiederzufinden meinen.14 So beschuldigte etwa der Japanologe Wolfgang Herbert _____________ 12
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Vgl. auch die Kritik von Eberhard Falcke zu Roths im Jahre 2005 erschienenen Roman Das Labyrinth: „Andererseits aber spazieren Roths reisende Helden oft dermaßen bieder durch die Welt wie an der Hand eines Reiseführers, dessen Mitteilungen sie später brav in Aufzeichnungen übertragen. Offenbar – das ist diesem Roman abzulesen – kann schreibende Welterkundung nicht jedes Mal zur geglückten Form finden.“ (Falck in: Die Zeit 06.04.2005, 57). Vgl. z.B. Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 90f. Bei Ruprechter finden sich Hinweise auf die Rezeption des Romans in Japan sowie auf die nur wenig begeisterte Reaktion einer Japanerin, die sich in einer Romanfigur wiederzuerkennen glaubte: „Eine Überraschung mag für den Autor dann wohl gewesen sein, dass die Aufnahme dieses Geschenks [der Roman] von japanischer Seite nicht nur die erwartete Freude, sondern mitunter sogar die berühmte Höflichkeit vermissen ließ. [...] Stattdessen wurde er von einer Frau, die er ironischerweise besonders schätzte, mit dem Vorwurf der
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Gerhard Roth in einem empörten Artikel des Plagiats (vgl. Herbert 1999, 30-32). Herbert erkannte in dem Kapitel Das Erdbeben (Ein merkwürdiges Ende) (Roth 20002, 284-291) über weite Strecken seinen eigenen Bericht wieder, den er 1995 in der Zeitschrift Minikomi veröffentlichte, und in dem er seine traumatischen Erfahrungen bei dem großen HanshinErdbeben im Januar 1995 darzustellen versuchte. Dass Roth den Artikel Herberts als Quelle nutzte, ist offensichtlich: Im Begleitband zur Ausstellung des Orkus-Zyklus findet sich unter den Materialien aus Roths Vorlass der Artikel von Wolfgang Herbert mit Markierungen und Anmerkungen von Gerhard Roth (vgl. Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 135). Die Empörung Herberts beruht auf seiner, durchaus verständlichen, Auffassung, dass seine persönlichen, ausgesprochen körperlichen Erfahrungen sowie sein Bericht darüber sein geistiges Eigentum sind, und dass diese von dem Autor ohne weiteren Kommentar und ohne jede Anfrage verarbeitet, wenn nicht sogar abgebildet wurden. Ein solcher, hier exemplarisch illustrierter Konflikt kann wohl entstehen, legt man die spezifische Form des Realismus Gerhard Roths zugrunde, die in der Verarbeitung von Wirklichkeit (auch der Wirklichkeit anderer) und der Fiktionalisierung dieser besteht und die Daniela Bartens folgendermaßen charakterisiert: „Das Paradigma der Fälschung ermöglicht es Roth auch, fremde Sätze wie Kuckuckskinder in den eigenen Erzählkosmos einzuschleusen, Fiktion und Realität derart zu amalgamieren, dass sich der fiktionale Charakter der sogenannten Wirklichkeit herausstellen lässt.“ (Bartens in: dies.; Melzer (Hgg.) 2003, 66).15 Die ‚Fremde Japan‘ Bei allem Protokollierungs-Eifer und trotz der intensiven Aufzeichnungsarbeit scheint es nicht das Anliegen des Autors gewesen zu sein, ein Bild Japans abseits von tradierten Topoi und Klischees zu vermitteln; Japan selbst ist nicht das Thema des Romans, sondern eher Station im Rahmen der „Odyssee“, der „Irrfahrten“, wie sie im Orkus-Projekt gestaltet werden, und die letztlich auf ihren Ausgangspunkt – das Eigene – zurückverweisen.16 Der Text zeigt den Lesenden Japan im Erleben des Protagoni_____________
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Ausbeutung fernöstlicher weiblicher Klischees konfrontiert, in die gerade sie, die am wenigsten in einer Romanfigur wiederzuerkennen ist, sich gepresst sah.“ (Ruprechter in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 114). Vgl. dazu auch Giacomuzzi-Putz in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 71ff. Vgl. auch Alexander Honold, der das ethnographische Schreiben österreichischer Gegenwartsautoren untersucht und darauf hinweist, dass es „den Autoren also nicht so sehr darum [geht] (vielleicht sogar am wenigsten darum), Neues über Sitten und Gebräuche fremder Völker und ferner Regionen zu erfahren, als vielmehr den Standort des eigenen
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sten und dieses Erleben ist im Roman so konstruiert, das es die allgegenwärtigen Klischees und (sprachlichen und bildlichen) Archive spiegelt.17 So finden sich auf inhaltlicher und sprachlicher Ebene explizite oder implizite Intertextualitäten,18 die an bereits bestehenden Texten partizipieren, diese aber nicht weiter- oder neuschreiben: „Und überall die Starkstrommasten und Leitungen, als wollte ein Liliputanervolk den Gulliverberg fesseln.“ (Roth 20002, 90) „Nach ein paar Schritten auf eine kleine Anhöhe sah Feldt zwischen Telegraphendrähten und Villen die zarten Umrisse des Fudji-san, vage wie der Beginn einer Märchengeschichte. Er kam Feldt weniger wie der Anblick eines Berges vor als eine Geistererscheinung.“ (ebd., 112) „Die Sprache der Schauspieler war ein Gemisch aus Hecheln, Keuchen, Schnarren, Krächzen, ein Fiepen und Lallen. Sie hatten sich längst von Menschen in geisterhafte Gestalten verwandelt.“ (ebd., 215)
Der Topos von der Kleinheit, Japan das märchenhafte Land, die Mystifizierung Japans als Geisterwelt sowie die Karikierung und Degradierung der charakteristischen Intonations- und Rezitationsform der japanischen Bühnenkünstler19 lassen sich neben anderem in dem vorliegenden Werk finden. Auch die Wahrnehmung der japanischen Frau durch den Protagonisten (in Gestalt der beiden ‚Betreuerinnen‘, denen Feldt im Verlauf seiner Reise begegnet, bzw. die ihm ‚zur Verfügung gestellt‘ werden, Haru und Frau Sato) bewegt sich unverdrossen im Rahmen tradierter Klischees.20 Im Zusammenhang mit der Frage, ob es sich dabei um einen Fall von „intertextueller Ironie“ handelt (Eco 2003, 212), soll eine Äußerung des Autors zitiert werden, die einem Gespräch Gerhard Roths mit Daniela Bartens am 8. August 2002 entstammt (Roth bezieht sich hier auf seine beiden Roman-Zyklen): „Es ist mir sehr wichtig, dass alles, was erzählt wird, mit einer gewissen Ironie dargestellt wird, weil alles dadurch wieder in Frage gestellt wird, dass ich am Schluss selber erzähle, wie ich zu den Sachen gekommen bin. Dass also das Erzählen zwischen Fiktion und Wirklichkeit hin- und herschwebt, und das Ganze weder Realismus ist noch reine Fiktion, wie dies ja auch in Wirklichkeit der Fall ist.“ (Roth zit n. Bartens in: dies.; Melzer (Hgg.) 2003, 65).
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Schreibens zu verschieben und dadurch erst zu einer opaken, sichtbaren Größe zu machen.“ (Honold in: Modern Austrian Literature 1998, 106). Zur Konstruktion einer literarischen Figur, die eine spezifische Form der Wahrnehmung der Fremde, hier der ‚Fremde Japan‘ verkörpert, vgl. die Erzählung Abenteurer, Kapitel 3.4.1 Einführung. Vgl. 3.2.1 Themen und Gestaltungsform. Vgl. auch Kapitel 3.2.4, 3.3.4 und 4.4.3. Vgl. den Vorwurf der Japanerin, die sich in einer der Romanfiguren wiederzuerkennen glaubte (siehe Kap. 5.1, Fußnote 14).
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Intertextuelle Ironie setzt aber, das soll hier nicht übersehen werden, auf Seiten der Rezeption eine mehrdimensionale Lektüre voraus sowie einen Leser, der die Ironie auch als solche erkennt (oder konstruiert), also einen Modell-Leser „zweiten Grades“ (Eco 2003, 222f.). Nach Einschätzung Alexander Honolds (1998) spiegelt sich gerade in der Wiedergabe der Klischees ein Anliegen des Werks: „Offenbar will uns dieser Text durch die Perspektive seiner Hauptfigur zeigen, daß die Bilder des Fremden stärker sind als alle Realität, ja daß am Ende den echten Japanerinnen gar nichts anderes mehr übrig bleibt, als zu trippeln und anmutig zu Boden zu schauen, wie es dem festgelegten Stereotyp entspricht.“ (Honold in: Modern Austrian Literature 1998, 107) Dieser Einschätzung schließt sich auch Gerhard Fuchs an, der in der klischeehaften Darstellung den „Ausgangspunkt für die semantische Expedition“ erkennt (Fuchs in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 117) und gerade aufgrund der „nahezu parodistisch anmutenden Übertreibung“ auf der Ebene der Stereotypenbildung diese als Negation und Sabotage ihrer selbst dechiffriert, wobei das so charakterisierte Vorgehen Roths als „postmodern anmutende Instrumentalisierung von trivialliterarischen Versatzstücken“ verstanden wird (ebd.). Der Argumentationsstruktur, dass die Offensichtlichkeit der Klischees notwendig auf die Parodie als Erzählverfahren verweist,21 können sich insbesondere solche Leserinnen und Leser nicht anschließen, für die Japans kulturelle ‚Wirklichkeit‘ ein wichtiges Bezugssystem im Rahmen ihrer Rezeption bildet. Verena Holler (2000) zeigt in ihrer ausgesprochen kritischen Betrachtung des Romans, die eine Auswertung der Rezensionen zum Plan beinhaltet, dass die Mehrzahl der von ihr herangezogenen Besprechungen die Entscheidung Roths, Japan als Schauplatz für seinen Roman zu wählen, sehr positiv vermerkte. Diese Stellungnahmen führt die Verfasserin auf ein Bedürfnis der Leser/innen nach Exotik und Unterhaltung zurück:22 „Dort, wo ein Rezeptionsbedürfnis nach unpolitischer Unterhaltungsliteratur befriedigt wird, gewinnt auch der exotische Schauplatz als Surrogat der Realitätsflucht bereitwillige Aufmerksamkeit.“ (Holler 2000, 51) Am Beispiel der Rezension Uwe Schmitts (1998) wird dagegen eine Rezeptionsform illustriert, die insbesondere auf einer intimen Kenntnis des Landes gründet und die aufgrund dessen notwendig kritisch _____________ 21 22
Vgl. auch folgende Äußerung von Fuchs: „Aber auch die unheilverkündende Weissagung entspricht so sehr gängigen Erzählklischees, daß von einer parodistischen Zitation ausgegangen werden muß“ (Fuchs in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 123). Eine weitere Ursache für die überwiegend positive Besprechung des Romans sieht sie zudem in einem spezifisch österreichischen Überdruss an der Thematisierung der eigenen Kultur in der österreichischen Gegenwartsliteratur.
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ausfallen muss.23 Obgleich Verena Holler darauf verweist, dass es nicht Aufgabe von Literatur sein kann, kulturelle Analysen zu betreiben (vgl. ebd., 45), ist dies doch letztlich auch das Bezugssystem ihrer eigenen Kritik an Roths Roman (sowie ihrer Kritik an den Rezensionen zu diesem Roman). Auch hier, wie schon im Zusammenhang mit Bernhard Kellermanns Ein Spaziergang in Japan,24 wird letztlich wieder die Frage aufgeworfen, inwiefern die Funktionalisierung und die ästhetische Nach- und/oder Umgestaltung einer Kultur bzw. einzelner Elemente einer Kultur zum Zwecke der Unterhaltung oder als Mittel der Symbolisierung ‚legitim‘ ist – auch wenn im Kontext der Kritik an Roths Roman nicht so sehr die Informationspflicht des Schreibenden für die Argumentation herangezogen wird, sondern gezeigt werden soll, inwiefern das literarische Schreiben, Textlogik und Qualität, unter der Oberflächlichkeit der Kulturdarstellung leiden. Wie immer man zu dieser Frage steht, die Darstellung Japans in Roths Roman erschöpft sich, wie bereits gezeigt, in einer Re-Konstruktion altbekannter Elemente und Intarsien, in Zitaten über die ‚Fremde Japan‘, die sich in der Wahrnehmung der Figur spiegeln bzw. dort aufzufinden sind. Gebrochen wird diese Wahrnehmungs- und Darstellungsform einzig durch das Motto des Textes. Gerhard Roth stellt auch diesem Roman ein Zitat aus den Briefen Joseph Conrads vorweg:25 „Die Gesellschaft ist ihrem Wesen nach kriminell, wenn es anders wäre, würde es sie nicht geben. Egoismus allein hält alles aufrecht – absolut alles – alles, was wir hassen, alles was wir lieben.“ (Conrad zit. n. Roth 20002, 5)26 Dieses Zitat _____________ 23 24 25
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Vgl. Schmitt 1998b. Zu Schmitt vgl. Kapitel 5.3.2 Der ‚Leseprozess‘. Vgl. Kapitel 3.2.2 Struktur und Konzeption. Wendelin Schmidt-Dengler weist darauf hin, dass fast alle Texte Gerhard Roths „die Signatur der Reverenz vor [Conrads] Werk ‚The Heart of Darkness‘ [tragen], und wann und wo immer Roths Helden aufbrechen, schicken sie sich an, in ein solches Herz der Finsternis einzudringen.“ (Schmidt-Dengler in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 28). Unter den im Begleitbuch zur Orkus-Ausstellung präsentierten Materialien aus dem Vorlass Roths findet sich auch ein Blatt des Korrekturexemplars des Romans (erster Korrekturgang). Dabei wird ersichtlich, dass dem Roman ursprünglich noch ein zweites Zitat vorangestellt war, das in diesem Korrekturgang jedoch gestrichen wurde. Das Zitat stammt aus Roland Barthes Das Reich der Zeichen (1981) und war dem Kapitel „Pachinko“ (ebd., 43ff.) entnommen. Das Zitat ist einem Brief Joseph Conrads an seinen Freund Robert Bontine Cunninghame Graham (1852–1936) vom 08. Februar 1899 entnommen. In diesem Brief drückt Conrad zunächst seine Freude darüber aus, dass Cunninghame Graham seine Erzählung Heart of Darkness positiv beurteilt. Kurz darauf werden Conrads anthropologische Grundannahmen (im Sinne einer negativen Anthropologie) ablesbar. Moral, Humanität, Gemeinschaft und Sozietät müssen letztlich an der Natur des Menschen als aggressives Einzelwesen scheitern: „International fraternity may be an object so strive for [...] but that illusion imposes by its size alone. Franchement what would you think of an attempt to promote fraternity amongst people living in the same street. I don’t even mention two neighbouring streets. [...] Fraternity means nothing unless the Cain-Abel business. [...] L’homme est un animal
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kommentiert den Roman zunächst auf inhaltlicher Ebene. Darüber hinaus wird hier aber eine Referenz hergestellt, die auch auf das schriftstellerische Werk Joseph Conrads verweist und entsprechend Deutungsdimensionen eröffnet. Conrad, der, obgleich sein Werk nicht frei ist von den imperialen Sehnsüchten und Utopien seiner Epoche, dennoch als anti-imperialistischer Autor gelesen wird und werden kann, gestaltet in seinen Romanen und Erzählungen immer wieder Außenseiter, die einsam und vereinzelt ihrer eigenen Kultur den Rücken kehren. Es sind gebrochene Gestalten, die im Eigenen keine Befriedigung mehr finden, sich auf fragwürdige Abenteuer einlassen ohne die Vitalität des Abenteurers, und die auch in der Begegnung mit dem Anderen, der anderen Kultur, ihrem Schicksal nicht entrinnen, sondern es vielmehr dort erst erfahren oder erleiden: „Der Kulturkontakt erscheint bei Conrad als ein Faktum, das sich der rationalen Durchdringung wie der planenden Bewältigung letztlich entzieht und dem die Unausweichlichkeit und Irreversibilität des Schicksalhaften eigen sind.“ (Bitterli 1973, 50). Was die weitere Betrachtung des Romans für die vorliegende Untersuchung lohnenswert macht, ist im Folgenden nicht so sehr die Darstellung und Vermittlung der ‚Fremde Japan‘, sondern vielmehr die Wahrnehmungshaltung, mit der sich der Protagonist in diese Fremde begibt: Konrad Feldt ist ein besessener Leser, einer der sich lesend am Leben erhält, der in einer Bücherwelt sein Zuhause gefunden hat und der der Welt, zumal dem Fremden, nicht anders als lesend begegnen kann; so wird dem Lesenden alles zur Schrift, alles wird ihm zum Zeichen.27 Nicht nur in dem Roman Der Plan von Gerhard Roth, sondern auch in anderen, sowohl fiktionalen als auch eher faktualen Textformen über die ‚Fremde Japan‘, zeigt sich auf der Ebene des sprachlichen Diskurses eine metaphorische Verwendung des Begriffs Lesen, wenn von dem Erleben und Erfahren in dieser Fremde berichtet oder erzählt wird. Diese bildhafte Verwendung des Begriffs enthält mehrere Dimensionen und Schritte im Kontext der Fremdheitskonstruktion, die zunächst kurz exemplarisch angedeutet werden sollen; anschließend werden diese Aspekte systematisch und unter _____________
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méchant. Sa méchanceté doit être organisée. Le crime est un condition nécéssaire de l’éxistence organisée. La société est essentielment criminelle – ou elle n’existerait pas. C’est L’égoisme qui sauve tout – absolument tout – tout ce que nous adhorons tout ce que nous aimons. Et tout se tient. Voilà pourqoui je respecte les êxtremes anarchistes.“ (Conrad [1899] 1986, Vol. 1, 159; Conrad schrieb seine Briefe in französischer, englischer und manchmal polnischer Sprache, teilweise durchmischen sich auch die Sprachen, wie im vorliegenden Brief. Zu den sich daraus ergebenden editorischen Schwierigkeiten, vgl. ebd., xlff.). Dies ist auch bei anderen Protagonisten aus Roths Romanzyklus der Fall, vgl. auch Bartens in: dies.; Melzer (Hgg.) 2003, 41.
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Bezugnahme auf den ausgewählten Textkorpus entfaltet und näher betrachtet. Verschlüsseln und Entschlüsseln „Wenn es irgendwo Sicherheit gab, dann in diesem Auto, obwohl es den Nachteil hatte, daß er in ihm nicht lesen konnte, ohne daß ihm übel wurde, so las er statt dessen die Landschaft durch das Fensterglas, auch wenn es mitunter eine monotone Lektüre war.“ (Roth 20002, 80) „Aber da war etwas anderes, das ihn mehr beschäftigte: es war der Rebuscharakter seiner Wahrnehmungen. Diese Landschaften vor dem Fenster, waren sie nicht auch Bilderrätsel? Draußen zog jetzt gerade ein Riesenrad hinter einem ausgelassenen Schwimmbad mit einer Wasserrutsche vorbei ... ein Baseballstadion, vor dem Hunderte Fans mit gelben Fähnchen und darauf gedruckten roten Schriftzeichen warteten ... Betonwohnblock folgte auf Betonwohnblock, eine wabenförmige Stadt, grau, geometrisch, viereckig [...] Später schob sich eine weiße Mauer mit schwarzen Schriftzeichen als Rätsel zwischen seine Wahrnehmungen.“ (ebd., 191)
Noch vor einer eventuellen Entschlüsselung der wahrgenommenen Zeichen, also dem ‚Leseprozess‘, steht hier zunächst eine Verschlüsselung der Wahrnehmungsobjekte bzw. des Wahrnehmungsbereichs, eine Fremdheitskonstruktion: Die ‚Fremde Japan‘ wird im Roman durch die Wahrnehmungshaltung des Protagonisten verrätselt, er entdeckt „geheime Schriften“ in der „Zusammensetzung der Dinge“ (ebd., 154), er begegnet Menschen, die er nicht zu lesen versteht, u.a.m. – vieles erhält hier den Status der Schrift, auch wenn es sich im engeren Sinne nicht um Schriften handelt.28 Über die Verleihung des Zeichen- bzw. Schriftstatus an einzelne Phänomene hinaus,29 begegnet Feldt immer wieder dem japanischen Schriftsystem, das in einem sehr viel höheren Maße in Japans (Alltags-)Kultur präsent ist, als die Alphabetschrift in der westlichen, etwa der deutschen oder der österreichischen Kultur.30 Die Konfrontation mit diesem Schrift_____________ 28
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Zur Problematik der Unterscheidung von Schriften und Nicht-Schriften, vgl. Glück in: Wende (Hg.) 2002, 100ff., Glück 1987 sowie Köhn 2003, 64ff. Nach Glück besteht jedoch in der Schriftlinguistik Einigkeit darin, Schrift als „die graphische Form des Ausdrucks von Sprache [zu verstehen ...] sie steht gleichberechtigt neben dem Gesprochenen, ihrer artikulatorischen und akustischen Ausdrucksform.“ (Glück in: Wende (Hg.) 2002, 102). Zur Problematisierung dieser Auffassung vgl. Kapitel 5.4.3. Vgl. Kapitel 5.3.1 Die Fremde als ‚Lesestoff‘. Vgl. dazu auch Kapitel 5.4.3 Ästhetisierung und Mystifizierung der ‚fremden Schrift‘. Thomas Rothschild (in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 210f.) macht im Zusammenhang mit Der Strom darauf aufmerksam, dass auch in diesem Roman die Entschlüsselung eines Zeichensystems (fremde Schrift, Geheimnis, andere Kultur, …) eine zentrale Rolle spielt. Zum Gesamtzyklus vgl. auch Bartens und Melzer: „ ‚Orkus‘ handelt folglich auch vom Entdecken, Kon-
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system macht ihn, den Leser, zum ‚Illiteraten‘.31 Er scheint den Schriftzeichen wehrlos ausgeliefert, da er sie nicht lesen kann: „Gleich darauf verfiel Feldt wieder dem Anblick der Schriftzeichen, die in der Stadt noch konzentrierter und intensiver wirkten und sein Gefühl verstärkten, in einem illustrierten Buch zu wandeln.“ (ebd., 44)
Die Tradierung Japans als eine dem Westen rätselhafte Kultur wird also nicht aufgehoben, sondern hier mit neuen Darstellungsmitteln re-etabliert und manifestiert: Verschlüsselung sowie gelingende oder scheiternde Entschlüsselung32 wird auf der Ebene des Diskurses anhand der Etablierung des Metaphernkomplexes Lesen vermittelt. Rätselhaften Phänomenen, Zeichen, unbekannten Schriften, also dem zunächst als unlesbar Gekennzeichneten, muss mit einem entsprechenden Wahrnehmungs- und Verstehensmodus begegnet werden – sie müssen gelesen werden. Lesen als Tätigkeit ist – noch fernab jeder Metaphorik – eine „bewußt-intentionale und primär innere, d.h. geistige Handlung eines Individuums, in der komplexe Prozesse der visuellen Aufnahme und Wahrnehmung v.a. von Sprache in Form schriftlicher Zeichen [...] und des geistigen Verstehens zur Bedeutungsgenerierung zusammenwirken. [...] – Lesen [...] ist mehr als das Entziffern und Dekodieren von Zeichen. Im Kontext des Verstehensbegriffs [...] und der aktiven Sinnkonstitution wird Lesen im Zusammenspiel von Text- und Lesestrategien [...] vielmehr zum Inbegriff des hermeneutischen Prinzips.“ (Müller-Oberhäuser in: Nünning (Hg.) 1998, 308)
Die metaphorische Verwendung des Begriffs ‚Lesen‘ im vorliegenden Zusammenhang gründet nicht zuletzt auf der jedem Lesen inhärenten Auslegungsbedürftigkeit; so wird auch aufgrund der mit dem Lesen verbundenen Prozesse der Bedeutungskonstruktion auf die Metapher des Lesens zurückgegriffen, wenn Erfahrungs- und Verstehensprozesse dargestellt werden. Hans Blumenberg (1986) geht der Tradition des Metaphernkomplexes von der Lesbarkeit der Welt in der europäischen Geistesund Kulturgeschichte nach, der in Zusammenhang steht mit dem Wunsch des Menschen, „die Welt möge sich in anderer Weise als der der bloßen Wahrnehmung [...] zugänglich erweisen: im Aggregatzustand der ›Lesbarkeit‹ als ein Ganzes von Natur, Leben und Geschichte sinnspendend sich erschließen. [...] Dennoch gehört dieser
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servieren und Entziffern einerseits und von der Zerstörung, langsamen Verwitterung, Überschreibung und Verdrängung von (Sprach)Zeichen andererseits – von Schriften und Geheimschriften also, in denen Erinnerungsbilder und Wirklichkeitsfragmente gespeichert sind, von den archivarischen Bemühungen um Bewahrung, den hermeneutischen um Auslegung und von der Fehleranfälligkeit aller menschlichen Aufzeichnungssysteme.“ (Bartens; Melzer in: dies. (Hgg.) 2003, 8). Vgl. Kapitel 5.4.1 Fremdheit (in) der Sprache und Schrift. Vgl. Kapitel 5.3.2 Der ‚Leseprozess‘.
5.1 Einführung
231
Wunsch zum Inbegriff des Sinnverlangens an die Realität, gerichtet auf ihre vollkommenste und nicht mehr gewaltsame Verfügbarkeit.“ (Blumenberg 20005, 10)
‚Lesbarkeit‘ wird dabei für Blumenberg zur Metapher für die Idee der Erfahrung, sie steht für das „Ganze der Erfahrbarkeit“ (ebd., 9), im Sinne von intensiver Welterfahrung. Vorgehen In den folgenden Kapiteln soll der metaphorischen Verwendung des Begriffs Lesen in den für die vorliegende Untersuchung ausgewählten Texten über die ‚Fremde Japan‘ näher nachgegangen werden. In diesem Zusammenhang geraten über den bisher betrachteten Zeitraum hinaus auch Texte und Textformen ins Blickfeld der Untersuchung, die in den letzten Jahren des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts entstanden, wobei auch die vielschichtigen Wechselbeziehungen zwischen vorgängigen und nachfolgenden Texten sowie die Tradierung durchaus resistenter Topoi aufgezeigt werden sollen. Der Roman von Gerhard Roth bzw. die Wahrnehmungshaltung des Protagonisten Feldt soll als roter Faden durch die facettenreichen Aspekte des Vorhabens führen; aus diesem Grund wird einleitend auch der Konstruktion des Protagonisten, dem ‚Lesenden‘, Aufmerksamkeit gewidmet. Im Anschluss daran steht zunächst einmal das Lesen in der Fremde im Mittelpunkt der Betrachtung (Kapitel 5.2). Den Fokus bildet hier die Frage nach der Funktion des Lesens von Literatur in der Fremde und auf Reisen, ein Aspekt, der in der vorliegenden Arbeit bereits angedeutet wurde.33 Erst danach wird der Themenkomplex Die Fremde lesen (Lesen als Metapher) in Inhalt und Gestaltung systematisiert und exemplarisch dargestellt werden (Kapitel 5.3). Die Zuweisung des Schrift- und Zeichenstatus zu verschiedensten Phänomenen in Texten über die ‚Fremde Japan‘ (Die Fremde als ‚Lesestoff ‘ ) soll dabei zunächst den thematischen Zusammenhang bilden. Der ‚Leseprozess‘ als Bild für eine Wahrnehmungshaltung sowie für einen etwaigen Verstehensprozess wird dann genauer untersucht. Hieran schließen sich einige Überlegungen zum Verstehen des Fremden als hermeneutisches Problem an. Abschließend folgt noch eine Betrachtung der Darstellung der ‚fremden Schrift‘ in den Texten (Kapitel 5.4), wobei zunächst verschiedene Ebenen der Fremdheit (in) der Sprache thematisiert und auch anhand literarischer Verarbeitungen illustriert werden. ‚Schriftmythen‘, Vorstellungen über die jeweils andere Schrift, spiegeln nicht selten Auto- und Heterostereotype _____________ 33
Vgl. etwa Kapitel 4.4.2 Lektüre, Erwartung und Erfahrung.
232
5 In der Fremde lesen
sowie Abgrenzungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Einigen dieser Mythen und Abgrenzungen soll am Beispiel des Diskurses über die Alphabetschriften und das chinesische und japanische Schriftsystem kurz exemplarisch nachgegangen werden. In Kapitel 5.4.3 steht abschließend das ‚Lesen der fremden Schrift‘ im Mittelpunkt des Interesses. In diesem Zusammenhang soll die sekundäre Funktionalisierung der ‚fremden Schrift‘, die in ihrer Materialität ins Wahrnehmungszentrum tritt, aufgezeigt werden. Dabei wird wiederum die Idee von der anderen Kultur, hier von der ‚Fremde Japan‘ zur Basis der Projektionen, die sich mit der Wahrnehmung der ‚fremden Schrift‘ verbinden: Die Ästhetisierung und Mystifizierung des Schriftsystems dient letztlich der Ästhetisierung und Mystifizierung der japanischen Kultur, die insgesamt als Kunstprodukt und geheimnisvoller Raum ‚gelesen‘ wird. Der Lesende Obgleich die Rezipienten/innen des Romans von Gerhard Roth fast durchgehend die Bewusstseinsperspektive des Protagonisten gespiegelt finden, seine Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen und nicht zuletzt seine zahlreichen Assoziationen, bleibt diese Figur dennoch seltsam undeutlich. Manches mag man nicht recht verstehen, so beispielsweise Feldts unter guten Bekannten angeblich anregendes Betragen oder seine feurigen Liebesabenteuer mit einer älteren Nachbarin. Das Verhältnis zu dieser Figur bleibt distanziert. Feldt stellt sich den Lesern/innen eigentlich nur als eines dar: als Lesender. Er liest alles, was seinen Ansprüchen genügt und dessen er habhaft werden kann. Aufgewachsen in einer Art Bibliothek, die zwei große Räume der elterlichen Wohnung füllte, lässt er die Rezipienten/innen sukzessive teilhaben an seiner Leseautobiogaphie, die durchaus typische Verläufe und Stationen aufweist:34 „So intensiv hatte Feldt selbst als Kind die Kupferstiche und Landkarten betrachtet, so hatte er mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen, am liebsten aber in der Laube vor dem Haus, allein, im Sommer, zu Mittag, wenn es still war.“ (Roth 20002, 107)
Feldt liest Bücher und betrachtet – mit großer Vorliebe – „Portolane, Landkarten aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die von Jesuiten angefertigt worden waren, um Herrschern und Kirche Kenntnis von fremden Seehäfen zu vermitteln.“ (ebd., 7). Darüber hinaus hat er eine Leidenschaft für _____________ 34
Zum Forschungsgegenstand ›Leseautobiographie und lesebiographische Verläufe‹ vgl. u.a. Schön in: Janota (Hg.) 1993, 260-271; Schön 1990a, 337-347 sowie Eggert; Garbe 20032. Zum Kinderbuch als biographischer Begleiter vgl. Schön; Graf in: Behnken; Zinnecker (Hgg.) 2001, 620-635.
5.1 Einführung
233
Lexika aller Art.35 Sowohl das Lesen von Literatur als auch das Betrachten der Portolane, Landkarten und der Lexika bekommt zentrale Funktion im Leben Feldts, teilweise sind diese Tätigkeiten sogar als existentiell zu bezeichnen. Feldt, der bereits seit seiner Kindheit unter schweren Asthmaanfällen leidet, führt „seine Begabungen und Abhängigkeiten“ auf die Krankheit und die damit verbundenen Angstzustände, auf das Gefühl von Hilflosigkeit sowie auf die Immobilität in Phasen der Rekonvaleszenz zurück. Durch Lesen und die Konzentration auf die Bücher gelingt es ihm, sich von krisenhaften Situationen abzulenken und Distanz dazu herzustellen (ebd., 67). Das „neuzeitliche Leseerlebnis“ (Schön in: Bellebaum; Muth (Hgg.) 1996, 164), das ganz wesentlich in einer Ent-Körperlichung des Leseerlebnisses besteht, findet sich hier gespiegelt: Der Lesende vergisst seinen unzuverlässigen Körper, überhört im Verlauf des Lesens mehr und mehr die bedrohlichen Geräusche seiner Lungen und ergibt sich ganz dem geistigen Erleben der Lektüre. Zudem ist Lesen nicht zu jeder Zeit eine legitime Tätigkeit; greift man tagsüber zum Buch, muss dies erst durch Zweckgebundenheit legitimiert werden.36 So bietet die Krankheit Gelegenheit, Raum und Zeit, sich dem Lesen hinzugeben, ohne dies rechtfertigen zu müssen. Das geht sogar so weit, dass nun das Asthma eine wichtige Funktion in der Lesegeschichte Feldts bekommt – die Vorstellung von einem Leben ohne die Krankheit ist nicht nur positiv besetzt: „Ein Anfall war eine grauenhafte Situation, in der er Angst um sein Leben empfand, aber anschließend gestattete er ihm auch, sich die Freiheit zu nehmen, die ihm oft verwehrt wurde (nicht nur von den anderen, sondern auch von seinem eigenen Gewissen): die Freiheit, mit Genuß zu lesen. Da er sich über dem Lesen erholte, war man sogar erleichtert, wenn er erschöpft nach einem Buch griff und, begleitet von den Lungen- und Bronchiengeräuschen in der Brust, mit der Lektüre begann. Er wagte es aber nicht, einen Menschen ins Vertrauen zu ziehen, daß er seine schönsten, intensivsten Leseabenteuer nach Asthmaanfällen erlebt hatte, so als hätte er durch die damit verbundene Gefahr erst Verstand und Phantasie befreit.“ (Roth 20002, 37)
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36
Der Protagonist (oder der Autor?) kann sich nicht ganz mit sich selbst einigen, welche Lektüre die zentrale und wichtigste Position hat. Die Funktionen sind recht unterschiedlich, die Hierarchie bleibt unklar. So heißt es etwas überraschend an späterer Stelle des Romans: „Feldts Leidenschaft für Lexika übertraf noch seine Begeisterung für Literatur. Nach den Asthmaanfällen in seiner Kindheit lagen immer die schweren Lexikonbände aus der Bibliothek mit braunen Lederrücken und Goldimprägnierung auf einem Stuhl neben dem Bett. [...] Die alphabetische Reihenfolge war Ordnung, Traum, Chaos und Wirklichkeit in einer bizarren Anordnung. Sie zeigten die Bilder mit der Patina einer entschwundenen Welt, [...] Es war eine Summe von inspirierenden Eindrücken, Spuren und Fragmenten eines Ganzen, das niemand sonst erfaßte als diese Bücher.“ (Roth 20002, 179). Zur „Zeit des Lesens“ in historischer Perspektive vgl. Schön 1993, 223-288. An späterer Stelle heißt es, Feldts Mutter habe seine intensive Lesetätigkeit durchaus gefördert, „da er dann ‚beschäftigt‘ gewesen war, wie sie es nannte.“ (Roth 20002, 116).
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5 In der Fremde lesen
Die Befreiung und Anregung von „Verstand und Phantasie“ ist natürlich eine weitere, vielleicht eine der zentralen Funktionen des Lesens. Bei Feldt beschränkt sich diese aber nicht auf das Lesen von Literatur. Insbesondere das Betrachten von Landkarten und Portolanen hat bei ihm den gleichen Effekt: „Über diesen Karten kam er ins Phantasieren, meistens genügten ihm die Sekundenbruchteile eines Wachtraumes, den sie auslösten und in dem er eine surreale Macht über Zeit und Raum empfand.“ (ebd., 7),37 und so nimmt er nach einem ersten Asthmaanfall in Japan einen Stadtplan von Tôkyô zur Hand. Der Blick auf den Stadtplan dient ihm auch jetzt nicht zur Orientierung, sondern dazu, ihn von seiner Körperlichkeit und seinem rationalen Denken zu befreien: „Er sah jetzt nur die schwarzgezeichneten Straßen, das indigoblaue Meer und schließlich den kaiserlichen Palast, umgeben von einem grünen, riesigen Park und dem schwarzgrauen Wassergraben. Es war ein phantastisches Bild, das ihn zum Träumen anregte“ (ebd., 37f.). Lesen versetzt Feldt oft genug auch in eine Art Rauschzustand. Gleich zu Beginn des Romans, in dem der Protagonist unmissverständlich als Lesender eingeführt wird, erfahren die Rezipienten/innen, dass „Bücher, die gedruckten Buchstaben und Wörter, wie Drogen für ihn“ seien. (ebd., 7) In diesem topischen Bild findet sich seine Abhängigkeit vom Lesen gespiegelt; zudem assoziiert Feldt mit bestimmten Lektüreerinnerungen intensive Sinneswahrnehmungen wie Farben und Gerüche und umgekehrt wird ihm unter dem Einfluss von LSD vieles zur Schrift. Auf diese Weise wird im Plan auch das Lotophagen-Thema verarbeitet, das im Zyklus Orkus in jedem Werk seinen Platz findet. Feldt ist insgesamt als ein Lesender, fast schon als ein Prototyp des Lesenden schlechthin, konzipiert, für den das Lesen „religiöse Erfahrungen“ (ebd., 66) beinhaltet und das „seinem Leben einen Sinn gab.“ (ebd., 7). Dahin geht auch sein Selbstbild, das sich in der Selbststilisierung spiegelt: „Er war davon überzeugt, daß niemand sonst Bücher so inspiriert las wie er – aber gleichzeitig würde er niemals mit irgend jemandem darüber sprechen, da er dachte, daß jeder ernsthafte Leser dieser Überzeugung _____________ 37
Diese Macht über Zeit und Raum bzw. ein „Verlust des Bewußtseins für jenen realen Raum und jene reale Zeit, in der die Phantasie den am Leseerlebnis nicht beteiligten Körper zurückgelassen hat –, auch der Verlust des Bewußtseins von der eigenen Körperlichkeit überhaupt, das stimmt mit den flow-Erlebnissen überein, wie sie Mihaly Csikszentmihalyi beschreibt.“ (Schön in: Muth; Bellebaum (Hgg.) 1996, 166). Zu weiteren möglichen Wirkungen von Leseerlebnissen wie Selbstvergessenheit oder sogenannten Glücks- bzw. FlowErleben, vgl. u.a. ebd., 151-176. Landkarten, Stadtpläne und Atlanten haben offenbar eine hohe Bedeutung für viele (männliche) Leser und dienen als wichtige Materialquellen für Phantasien, wie sowohl in leseautobiographischen Äußerungen als auch in weiteren literarischen Gestaltungen (so in Tristram Shandy) nachzulesen ist. Vgl. Schön in: Roters et al. (Hgg.) 1999, 193ff. Zum titelgebenden ‚Plan‘ und dem Aufgreifen des Begriffsfeldes im Text vgl. Fuchs in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 122.
5.1 Einführung
235
war.“ (ebd., 65) Weiter heißt es: „Der Leser war für ihn ein Künstler ohne Werk. Er war davon überzeugt, daß ein Lese-Künstler keine andere Kunst ausüben durfte als das Lesen, um die Reinheit der Lese-Kunst zu wahren.“ (ebd., 74) Der Lesende, Feldt, wollte „schon lange ein Buch über das Lesen verfassen: Die Geschichte des Lesens, Zitate von Leseabenteuern“ (ebd., 106). Gerhard Roth hat mit seinem Roman dieses Vorhaben ein Stück weit umgesetzt, wobei dies allerdings nicht immer zum Vorteil des Romans ist. In den Äußerungen des Autors Roth über seine eigene Leseautobiographie lassen sich durchaus Parallelen zu der von ihm konzipierten Figur festhalten,38 jedoch ohne darauf weitergehende Rückschlüsse oder Deutungsansätze fundieren zu wollen. Roth berichtet, er habe selbst in seiner Kindheit und Jugend nur wenig und wenn, dann recht widerständig gelesen.39 Als eine Art Bücher-Eroberer entdeckt er das Lesen für sich selbst relativ spät, dann hat es jedoch großen Einfluss auf sein Leben: „Zwei, drei Jahre später verfiel ich tatsächlich dem Lesen, das seither zu einer Art Droge geworden ist: Ich las so viele Schriftsteller, die mich beeindruckten, daß ich immer schwerer meine eigene Sprache fand. [...] ich lief tatsächlich Gefahr, mich mit dem Lesen selbst zu zerstören. Aber das Lesen half mir zugleich über Krankheiten und Despressionen [sic!] hinweg, über Phasen der Kontaktlosigkeit und manchmal auch der Einsamkeit.“ (Roth in: Unseld (Hg.) 1975, 120)
Der Protagonist in Roths Roman ist von Kindheit an gänzlich durch das Lesen sowie durch die jeweilige Lektüre sozialisiert. Seine Beziehungen sind über diesen Umstand definiert oder sie scheitern aufgrund dieses Umstandes: Feldts Freundin hat ihn „wegen seiner Leseleidenschaft und der damit verbundenen Unlust auf Veranstaltungen, Abendessen und Empfänge“ (Roth 20002, 90) verlassen. Nicht zuletzt die Wahrnehmung seines Umfeldes, überhaupt seine Realitätswahrnehmung, ist sehr stark durch das Lesen geprägt und gesteuert, wie noch weiter unten in der Wahrnehmung und Deutung der ‚Fremde Japan‘ zu zeigen sein wird. So kann es dann auch nicht verwundern, dass er erst durch das auf mysteriöse Weise in seinen Besitz gelangte Buch von Wolfgang Hildesheimer über Mozart emotional von dem Autograph des Komponisten angesprochen _____________ 38
39
Vgl. auch Bartens in: dies.; Melzer (Hgg.) 2003, 53: „So wird etwa im Roman ‚Der Plan‘ der Leser mit Hinweisen auf Buchtitel aus der Weltliteratur geradezu überschwemmt, wodurch das Ausufern der Lektüre des Protagonisten symbolisiert wird, zugleich aber auch ein ernstzunehmender Hinweis auf die Lesesozialisation des realen Autors Gerhard Roth gegeben wird.“ Die Verfasserin verortet diese – streckenweise für die/den Lesende/n etwas aufdringlich anmutenden – Bildungsintarsien im Gesamtzusammenhang des Zyklus in dem Streben Roths nach einer „enzyklopädische[n] Wirklichkeitsdarstellung“ (ebd.). Vgl. An anderer Stelle betont er eher die widrigen Umstände nach dem Krieg, die eine frühe Buchsozialisation behindert hätten.
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5 In der Fremde lesen
wird: „Er ließ den Tee in der Schale dampfen, und zum ersten Mal berührte ihn der Umstand, daß er ein Stück Papier mit Mozarts eigener Handschrift, noch dazu seine letzten Worte, bei sich trug. Er nahm das Plastiketui heraus, legte es neben das Buch.“ (ebd., 96) Folgerichtig sucht der Lesende seinen künftigen Arbeits- und LebensRaum in einer Bibliothek: Feldt hat seine Dissertationsschrift über die österreichische Nationalbibliothek in der Hofburg in Wien verfasst und dort auch eine Anstellung gefunden. Sein Verhältnis zur Bibliothek vermittelt sich über das Vortragsmanuskript, das den Rezipienten/innen sukzessive in Auszügen oder in Form von kurzen Inhaltsangaben zur Kenntnis gebracht wird.40 So vergleicht er u.a. die Bibliothek mit „eine[r] geistige[n] Speisekammer, in der Möglichkeiten zum Lesen geschaffen werden [...] je größer die Möglichkeiten, desto größer die scheinbare Unabhängigkeit des Lesers und umso freier die künftige Leseexistenz.“ (ebd., 106) In dieser Beschreibung kommt es zu einer Fortführung der traditionellen Speisemetapher, die in Bezug auf das Lesen Anwendung fand und findet, und die „das geschriebene Wort bzw. die Schrift oder das Buch wie eine Art nährende Speise behandelt, die als Substanz in den geistigen Schatz des Lesers eingeht.“ (Lewandowski 1980, 55) Im Gegensatz zur Diskussion im Rahmen der Lesesuchtdebatte im 18. Jahrhundert besteht hier jedoch keine Befürchtung, man könne sich bei unkontrollierter Nutzung der ‚Speisekammer‘ Bibliothek ‚überfressen‘; insofern sind auch keine speziellen ‚Diätetiken‘ vonnöten, durch die ein regelgeleiteter und maßvoller Gebrauch der Geistesnahrung gefordert und pädagogisch angeleitet wird.41 In einer Selbstäußerung assoziiert der Autor Gerhard Roth einen Aufenthalt in einer Bibliothek mit einer „Odyssee“: „nicht ganz freiwillige Reisen, die ich zwanghaft unternehmen muß (wie ein Rauschgiftsüchtiger, der nicht von seiner Droge loskommt.) [...] Verlasse ich die Bibliothek, leide ich früher oder später an Entzugserscheinungen“.42 Abgesehen von der Referenz, die in diesem Zusammenhang zu der Konzeption des Orkus-Zyklus hergestellt werden kann, deutet sich hier auf der Ebene des Diskurses außerdem einmal mehr die Gleichsetzung der Bildbereiche Lesen und Reisen an, wie sie bereits in Kapitel 3.1.1 Reisen, Schreiben, Lesen kurz thematisiert wurde und weiter unten noch einmal ausführlicher aufgegriffen werden soll.43 _____________ 40 41 42 43
Vgl. z.B. Roth 20002, 39ff. Vgl. dazu u.a. Prondczynsky 1993, 258ff. . In einem Interview mit Ursula Schneider spricht er von der Bedeutung des Bibliotheksraums für sein frühes Schreiben; vgl. . Vgl. auch Kapitel 5.2. Lesen in der Fremde.
5.1 Einführung
237
Konrad Feldt verlässt mit Beginn des Romans seinen bisherigen sicheren Lebens- und Arbeitsraum, wobei ein unersetzbares Teil desselben, das Autograph, gleichzeitig Anlass der Reise in die Fremde ist, ihn jedoch immer wieder an die Heimat und speziell an die Bibliothek zurückbindet. Insofern ist die Heimat, in der Fremde immer anwesend.44 Für den Protagonisten beginnt mit der Reise eine entscheidende Hinwendung zur Realität, die in Rivalität zur Welt der Bücher steht.45 Spielte er vorher noch mit dem Gedanken – als eine Möglichkeit, die dem Lesen innewohnt – „vielleicht sogar die absolute Erfüllung [zu finden und] lesend auf das wirkliche Leben verzichten zu können.“ (Roth 20002, 65), so wendet er sich nun dem Leben zu und wirft der Bücherwelt den „Fehdehandschuh“ (ebd., 18) sozusagen vor das Regal: „Zum ersten Mal konnte sein Leben dem Lesen standhalten, sogar dem Fräulein von Scuderi, dachte er. Das Verlangen, Gelesenes in der Realität nachzuvollziehen, hatte er schon bei den Büchern von Jules Verne empfunden: 20000 Meilen unter dem Meer hatte er mehrmals gelesen, bis ihm schließlich die Bilder der alles verschlingenden Riesenkrake und des komfortablen Unterseeboots Kapitän Nemos wie Beispiele erschienen für die gefahrvolle Außenwelt und die Geschütztheit des Lesers. Von da an hatte er seine Lustgefühle bei der Lektüre gerade aus dieser wie schizophrenen Gespaltenheit bezogen.“ (ebd., 190)
Doch auch jetzt lebt er sein Leben nur aus zweiter Hand, lässt sich nicht wirklich darauf ein: Sein Abenteuer ist lediglich Spiegel bereits gelesener Abenteuer, die Verbrechen, in die er sich verwickelt, werden an fiktiven Verbrechen gemessen, die Wahrnehmungshaltung, mit der er der Fremde begegnet, ist die eines Lesenden. Die Realität kann für den Lesenden nie neu sein, nie für sich allein Bestand haben und bestehen.
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45
Honold schreibt über die „ethnographische Reiseprosa“ u.a. von Gerhard Roth: „Damit will ich sagen, daß der Blick, der auf das Fremde sich richtet, als eine doppelte Optik fungiert, deren stets mitzudenkenden anderen Brennpunkt das Zurückgelassene bildet.“ (Honold 1998, 105). Vgl. auch Fuchs in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 124.
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5 In der Fremde lesen
5.2 Lesen in der Fremde „Und doch glaube ich als erwachsener Reisender A. M. ‚auf der anderen Hälfte der Erde‘ einen Ort zu wissen, wohin der kleine Leser A. M. heimkehren kann.“ 46
Zwischen Reisen und Lesen besteht eine sehr spezifische, topische Beziehung, die in der vorliegenden Untersuchung bereits mehrfach thematisiert wurde.47 Adolf Muschg beschreibt in Hansi, Ume und ich. Ein Lesestück für ein japanisches Schulbuch wie durch seine Lektüre des von der Halbschwester verfassten Kinderbuchs Japan zum Sehnsuchtsraum des fünfjährigen Kindes wird, zu einem „Versprechen, das ich einlösen wollte, wenn ich erwachsen sein würde“ (Muschg in: Dierks (Hg.) 1989, 273): „Ich aber wünschte mir, eines Tages, wie Hansi und Ume, nach Japan ‚unterwegs‘ zu sein. Für mich war es das gelobte Land, in dem ich zu mir selber kommen würde. Die Reise nach Japan wurde zu einem Gleichnis, einem Inbegriff für ‚die andere Hälfte der Erde‘, die Fremde, die mir nicht fremd bleiben durfte. Dort mußte der Schatz vergraben sein, der mir zum Reichtum eines ganzen, erfüllten Lebens verhalf. Was mir zu Hause fehlte, suchte ich in Japan.“ (ebd., 269)
Muschg führt die Wirkung des Buches darauf zurück, dass der „kleine Leser“ in dem exotistischen und eher kolonialistisch gefärbten Kinderbuch ein „Wunschbild zur Stillung seines eigenen Heimwehs [fand] – ein Gefühl, das Kinder, die zu Hause gut aufgehoben sind, nicht kennenlernen.“ (ebd.)48 _____________ 46 47 48
Muschg in: Dierks (Hg.) 1989, 271. So etwa in Kapitel 3.1.1, 3.2.3 und in Kapitel 4.4.2. Auch dem Journalisten Horst Eliseit wird, nach eigenem Bekunden, eine Lektüre aus Kinder- und Jugendzeit zu einer „Verlockung“, einem Sehnsuchtsraum: Er findet als Gymnasiast Kellermanns Spaziergang in Japan in einer Schulbibliothek, und dieses Werk übt in der biographischen Rückschau einen großen Zauber auf ihn aus: „Was für eine merkwürdige Welt! Wie wundersam und wunderlich! Wie zierlich, zerbrechlich, liebenswürdig, wie fremd! Wie verlockend aber auch! So wie jener geheimnisvoll dunkle Gong, der im Theater ertönt, bevor der Vorhang sich öffnet: Was für ein Duft weht dich an!“ (Eliseit 19712, 52) Eliseit konstruiert diese Jugendlektüre, die er nach dem Krieg „beim Kramen in einem Antiquariat“ (ebd.) wiederentdeckt, als wichtigen Antrieb, seine ausgedehnten Reisen als Journalist bis nach Japan hin auszuweiten (in seinem eigenen Buch über Japan wird der Text Kellermanns zum Referenztext für seine Konzeption und sein Schreiben; vgl. Kap. 3.2.2, Fußnote 73 und Fußnote 76). Die Ankunft im ‚ersehnten‘ Land wird vom Schreibenden dann auch topisch als ‚Heimkunft‘ stilisiert (vgl. auch Muschg), was offenbar auch hier wieder nicht im Widerspruch steht zur Konstruktion Japans als Fremde: „Dann aber vom ersten Augenblick an und trotz aller Unterschiede zwischen Vorstellung und Wirklichkeit spürte, und auch später bei all den von Jahr zu Jahr schneller sich abzeichnenden Veränderungen, im Glück und in Enttäuschungen wusste [sic!]: dies hat dein Herz immer gesucht. Du bist nach Hause gekommen.“ (ebd., 53).
5.2 Lesen in der Fremde
239
Lesen über die Fremde kann, wie bereits gezeigt wurde, in vielerlei Hinsicht kompensatorische Funktion übernehmen: Die Rezipienten/innen von Reisebeschreibungen, die diese Zuhause lesen, erleben und erfahren lesend die Fremde, kompensieren sozusagen lesend fehlende unmittelbare Erfahrungen.49 Die imaginären Orte werden darüber hinaus zum Projektionsraum für exotistische Sehnsüchte. Erfahrung der Fremde bedeutet hier: Lesen.50 Lektüren über die Fremde, die vorbereitend oder begleitend zu einer Reise rezipiert werden, etablieren gewisse tradierte Vorstellungsbilder über diese Fremde, die reisend mit der erfahrenen Realität abgeglichen werden: „Das Wunderbare, bislang bloße Fiktion, wird wahr und erfahrbarer Ausdruck einer grundlegenden Differenz von Buchwelt und Restwelt.“ (Erb 2002, 8) Dabei wird recht schnell evident, welche Bilder die größere Autorität besitzen, die erlesenen oder die erlebten. In öffentlichen, literarisierenden Texten findet zwar durchaus eine Auseinandersetzung mit Erwartungshaltung und Erwartungsenttäuschung statt, letztlich erweist sich jedoch die Tradition der Bilder und der intertextuelle Bezug in aller Regel als sehr wirkungsmächtig. In privaten Texten hingegen verschiebt sich in der Gegenüberstellung von Buchwelt und realer eigener Erfahrung die Gewichtung. Die erlesenen Vorstellungsbilder und Empfindungen werden sehr genau mit den eigenen verglichen und die Ergebnisse dieses Vergleichs werden den vertrauten Lesenden unverhohlen und mit einem gewissen Autoritätsanspruch mitgeteilt.51 Aber nicht nur für das Lesen über Reisen wird auf der Ebene des Diskurses auf die Gleichsetzung der Bildbereiche Lesen und Reisen zurückgegriffen. Die Tätigkeit des Lesens selbst, ganz gleich welcher Lektüren, scheint über Qualitäten des Reisens zu verfügen: „Das ist eine ursprüngliche, das heißt initiatorische Erfahrung: lesen bedeutet, woanders zu sein, dort, wo wir nicht sind, in einer anderen Welt. [...] Weit davon
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Vgl. auch Kant: „Zu den Mitteln der Erweiterung der Anthropologie im Umfange gehört das Reisen; sei es auch nur das Lesen der Reisebeschreibungen.“ (Kant [1798] 1964, 400). Vgl. Kapitel 3.1.1 Reisen, Schreiben, Lesen. Vgl. u.a. Kapitel 3.2.3 Erwartungen und Vorstellungsbilder sowie Kapitel 4.4.2 Lektüre, Erwartung und Erfahrung. Günter Grass nimmt auf seine Reise durch Asien und Afrika ein Buch von Alfred Döblin, Berge Meere und Giganten von 1924, mit und gleicht die Utopie des Romans mit der auf der Reise erfahrenen Wirklichkeit ab: „Und dieses verstiegene Buch, das der Menschen himmelstürmende Verstiegenheit zum Thema hat, nahm ich mit, las ich vergleichsweise, hielt ich dagegen, als mich kürzlich eine Reise durch Asien und Afrika brachte, wo überall alles gegenwärtig ist: die vergangenen und die rückgewendeten, die bereits eingeholten, die versäumten und weitere Utopien, die noch nicht auf dem Programm stehen. [...] In Japan – meinem ersten Reiseziel – sah ich eine von Döblins Stadtschaften, mit der verglichen das Ruhrgebiet eine grüngesäumte Idylle ist“ (Grass 1987, 718). Döblins utopische Land- bzw. „Stadtschaft“ wird hier zum Beschreibungs- und Bezugsrahmen für die Konstruktion der anderen Kultur; die Utopie ist dem Reisenden Wirklichkeit geworden.
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5 In der Fremde lesen
entfernt, Schriftsteller [...] zu sein, sind die Leser Reisende; sie bewegen sich auf dem Gelände des Anderen [hier: des Autors], wildern wie Nomaden in Gebieten, die sie nicht beschrieben haben, und rauben gar die Reichtümer Ägyptens, um sie zu genießen.“ (de Certeau 1988, 306f.).
Der Leseprozess wird metaphorisch als Reisebewegung verstanden, als „Entdeckungsfahrt entlang der Geometrie und Geographie der Zeichenreihen“ (Erb 2002, 8).52 Gerhard Roth stellt einen expliziten Zusammenhang zwischen der Tätigkeit des Lesens und der des Reisens her: „Jeder Leser und jeder wirklich leidenschaftlich Reisende empfindet das Lesen oder eben das Reisen als eine Art Desertieren aus seinen Lebensumständen. [...] Die Würze der Reise ist doch, irgendwohin zu gehen, wo Rückkehr keine Rolle mehr spielt [...] Und je fremder die Länder, desto interessanter wird die Reise. Da ist eine Ähnlichkeit zum Lesen: auch der Leser flieht, allerdings in eine andere Wirklichkeit. Man ändert dabei sogar das Geschlecht, wechselt in Feindeslager über, wo Meinungen behauptet werden, die man gar nicht teilt – aber das ist eben das Abenteuer.“53
Und der Protagonist seines Romans vergleicht „[d]ie Erinnerungen an ein gelesenes Buch [... mit dem] Betrachten alter Reisefotografien: manches war vergessen, verblaßt, manches hatte an Bedeutung gewonnen, manches hatte sich in der Erinnerung verändert.“ (Roth 20002, 63) Im Folgenden soll sich der Fokus einmal auf mögliche Funktionen richten, die das Lesen von Literatur in der Fremde, auf Reisen, haben bzw. erhalten kann. Diesen Fragen wird einerseits anhand einer literarischen Konzeption, der Figur des Lesenden Konrad Feldt, nachgegangen. Andererseits sollen exemplarisch Äußerungen aus dem Tagebuch von Bronislaw Malinowski (1884–1942) hinzugezogen und untersucht werden.54 Malinowski war Sozialwissenschaftler und Ethnologe und gilt gemeinhin als Begründer des Funktionalismus und der Feldforschung in der Ethnologie sowie als Begründer der Sozioanthropologie.55 Er hielt sich von 1914–1918 in Neuguinea und Melanesien auf und erforschte die Kul_____________ 52
53 54 55
Als Prototyp für das ›Lesen/d-Reisen‹ wird das kindliche Lektüre-Erleben gekennzeichnet: „Sie genießen die Ausfahrt, durchleben zahlreiche Abenteuer im ‚Land der wilden Kerle‘, das fernab einer verifizierbaren, faktischen Welt angesiedelt ist, und kehren, gleich dem Urbild, als müde, aber erfolgreiche Odysseus-Figuren zurück.“ (Erb 2002, 9f.). Walter Benjamin greift für das kindliche Schreiben-Lernen ebenfalls auf die metaphorische Rede von der Reise zurück: „Die Hand des Kindes geht beim Schreiben auf die Reise. Eine lange Reise, mit Stationen, wo sie übernachtet. Der Buchstabe zerfällt in Stationen. Angst und Lähmung der Hand, Abschiedsweh von der gewohnten Landschaft des Raumes: denn von nun an darf sie sich nur in der Fläche bewegen.“ (Benjamin 1985, 200f.). . Malinowski, Bronislaw: Ein Tagebuch im strikten Sinne des Wortes. Neuguinea 1914–1918. Frankfurt 20002. Malinowski befasste sich u.a. mit der Untersuchung gesellschaftlicher Strukturen, Phänomene und Institutionen vor Ort, im Gesamtkontext einer Kultur sowie mit der Etablierung exakterer wissenschaftlicher Methoden in Ethnologie und Sozioanthropologie.
5.2 Lesen in der Fremde
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tur der Bevölkerung auf den Trobriand-Inseln im südwestlichen Pazifik. Sein Tagebuch, das 1967 erstmals veröffentlicht wurde, enthält ausgesprochen interessante Äußerungen über mögliche Funktionen des Lesens in der Fremde, die hier nicht übersehen werden sollten. Die Aufzeichnungen umfassen insgesamt etwa 19 Monate aus den Jahren 1914/15 und 1917/18. Sie waren ursprünglich in polnischer Sprache abgefasst und wohl nicht zur Veröffentlichung bestimmt – vielmehr handelt es sich um privates, ja intimes Schreiben, das erst Jahre nach Malinowskis Tod durch seine Witwe der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde.56 Die Aufzeichnungen können weder als Reisetagebücher noch als Arbeitsberichte verstanden werden, sondern müssen als höchst persönliche Protokolle über die eigene Befindlichkeit, als Mittel zur Selbstdisziplinierung und Ort unverstellter Selbstäußerungen gewertet und betrachtet werden. Eventuell das Schreiben beeinflussende Gattungsobligatorien und Rahmenbedingungen wurden vom Autor jeweils selbst gesetzt und beziehen sich auf Ausdauer im Schreiben, auf Vorhaben über den Inhalt des Schreibens (die jedoch oft genug nicht durchgehalten werden) sowie auf weitere selbst aufgestellte Regeln. Der Stil ist mal systematisch berichtend, mal narrativ, wobei der Schreibende sich an einen (fiktiven) Adressaten zu wenden scheint; zumeist jedoch befindet er sich im Gespräch mit sich selbst. Oft ist das Schreiben ausgesprochen assoziativ, manchmal recht ausführlich, dann wieder erschöpft es sich in Stichworten. Stellenweise kommt es zu regelrechten verbalen Attacken und wütenden Anklagen gegen Zeitgenossen, entweder gegen die „Eingeborenen“ oder gegen Kollegen und Freunde.57 Das Tagebuch Malinowskis ist aus den verschiedensten Gründen für die Ethnologie interessant, u.a. „vermittelt es doch recht anschaulich die Reaktion eines Feld-Anthropologen auf eine ihm fremde Gesellschaft.“ (Firth in: Malinowski 20002, 7)58 Sein Hadern mit den Umständen, seine Sehnsucht nach Vertrautem, sein Ärger und seine Missgestimmtheiten, nicht zuletzt seine sexuellen Bedürfnisse und Phantasien sowie ein schwieriger Charakter und eine quälende Hypochondrie offenbaren sich in diesen Selbstäußerungen. Clifford Geertz (19996) beschreibt die fatale Wirkung der Veröffentlichung der Tagebücher Bronislaw Malinowskis auf die Fachwelt. Diese Wirkung gründete insbesondere in dem sich hier klar offenbarenden Widerspruch zwischen dem Anspruch, der an die Ethno_____________ 56 57 58
Vgl. dazu das Vorwort von Valetta Malinowski sowie die Einleitung von Raymond Firth in: Malinowski 20002, 1-12. Clifford James bezeichnet das Tagebuch als „vielschichtigen, polyphonen Text.“ Clifford in: Bachmann-Medick (Hg.) 20042, 200. Zur Situation des Feldforschers in der Ethnologie vgl. auch Erdheim 1984, 7-41: Die Wissenschaftler und ihre Objekte und sein Konzept der Ethnopsychoanalyse.
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logen als Feldforscher herangetragen wurde, und der sich allzu häufig anders gestaltenden realen Forschungssituation und Verfasstheit des Forschenden, wie sie sich aus den Tagebüchern herauslesen lässt:59 „eine der großen Vaterfiguren plauderte in aller Öffentlichkeit die Wahrheit aus. Er tat dies, wie es einem Ahnherrn zukommt, posthum und auch eher auf Initiative seiner Witwe als aus eigenem Entschluß. [...] Was werden die Nachkommen denken, wenn sie so etwas lesen, was gar die Laien? Mit diesem zeremoniellen Händeringen war das Problem jedoch noch lange nicht aus der Welt: das verflixte Ding war ja nun schon veröffentlicht. [...] Derselbe Mann, der vielleicht am meisten dazu beigetragen hatte, den Mythos vom Feldforscher als Chamäleon zu schaffen, das sich perfekt auf seine exotische Umgebung einstellt – ein wandelndes Wunder an Einfühlungsvermögen, Takt, Geduld und Kosmopolitismus – sollte ihn auch zerstören.“ (Geertz 19996, 289)
Die Lektüren Welches Buch, welche Bücher nehme ich mit auf die Reise? Wie wird meine Stimmung sein, was mein Lesebedürfnis? Wie viele Bücher kann ich überhaupt im Koffer oder im Rucksack bei mir tragen? Diese Fragen werden besonders evident, wenn man sich auf eine längere Reise, etwa über mehrere Monate, begibt. Hostels und kleinere Hotels in Asien etwa haben sich bereits auf das Lektürebedürfnis der Reisenden eingestellt; so finden sich dort Regale, an denen die Reisenden ihre Bücher hinterlegen können, nachdem sie diese ausgelesen haben, und an denen sie sich mit neuer Lektüre in allen Sprachen versorgen können. Auch der Tausch ist unter den Reisenden üblich und sehr beliebt, da niemand so viele Bücher mit sich tragen kann, wie auf einer mehrmonatigen Reise vielleicht gebraucht werden. Andreas Erb (2002) verweist auf das festgefügte Rollenverhalten auf Reisen, zu dem auch ein bestimmtes Leseverhalten gehört. Nicht zuletzt auf diesen Rollenvorstellungen bzw. diesem Rollenverhalten basiert auch die Auswahl der Lektüren, die bestimmte Funktionen zu erfüllen haben: „Erstens verschafft das Ferienbuch im fremden Raum zusätzliche Distanz zum heimischen Alltag, ohne dass es selbst fremd wirkt und dadurch verstört. Zweitens muss die Lektüre dem Bedürfnis entsprechen, Sehnsüchte des Alltags, die selbst der Urlaub nicht gänzlich erfüllen konnte, auf anderer Ebene doch noch gänzlich wahr werden zu lassen. Somit können auch Defizite des Reisens durch wohlkalkulierte Reisebücher kompensiert werden.“ (Erb 2002, 11)
Bevor nun exemplarisch anhand der Aufzeichnungen Malinowskis auf mögliche Funktionen des Lesens in der Fremde eingegangen wird, soll _____________ 59
Vgl. dazu u.a.: Hauschild in: Rieger et al. (Hgg.) 1999, 104ff.
5.2 Lesen in der Fremde
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zuerst der Frage nachgegangen werden, welche Lektüre der Lesende, Konrad Feldt, wählt, der seine Bücherwelt verlassen und sich aufgemacht hat in die Fremde. Das Buch als Wegbegleiter und Orakel Feldt bereitet sich im Flugzeug auf eine recht eigene Art und Weise auf seine Ankunft in dieser Fremde vor: „Feldt hörte die Stewardeß mit einem Wagen vor seiner Sitzreihe anhalten. Benommen richtete er sich auf, sah, daß es sich um das Duty-Free-Angebot handelte und kaufte einen roten Montblanc-Kugelschreiber. Zwar besaß er in Wien einen schwarzen, aber er wußte nicht, ob er zurückkehren würde, und außerdem war der Kauf eines Schreibgerätes für ihn so etwas wie ein erotischer Akt. Dazu ließ er sich ein Notizbuch schenken – mit den Schreibsachen und der illustrierten Taschenausgabe der Göttlichen Komödie in seiner Jacke kam er sich auf eine verrückte Weise beschützt vor.“ (Roth 20002, 13)
Dantes Epos aus dem christlichen Mittelalter wird für Feldt zum Begleiter und Beschützer auf der Reise – hier zeigt sich bereits ein magisches Denken, das sich auch in seiner Wahrnehmungshaltung den Dingen gegenüber, die ihm begegnen, offenbart. Referenzen auf die Göttliche Komödie, die vom Elend ins Glück führt und die dieses Konzept in Form einer Wanderung realisiert, finden sich nicht nur explizit, auf inhaltlicher Ebene des Textes, sondern auch in struktureller Hinsicht: „Selbst die vielen Hinweise auf Dantes ‚Göttliche Komödie‘ [...] die sich als roter Faden durch den ‚Plan‘ ziehen und sogar die Abschnittsstrukturierung bestimmen (34 Unterkapitel analog zu Dantes ‚Inferno‘) und die als Höllenfahrt eine mythologische, intertextuelle Kontrastfolie zu Feldts abenteuerlichem Erlebnisbericht bilden, sind [...] Ausdruck einer konsequenten Strategie der Kontrastierung und Brechung von Erzählebenen, die durch die Etablierung eines semantischen Schwebezustands eine identifikatorische (und damit ausweglose) Fixierung verhindert.“ (Fuchs in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 123)
Dem Lesenden selbst wird die Göttliche Komödie in mehrfacher Hinsicht unentbehrlich: Er vertraut ihr seinen kostbarsten Besitz, das Autograph, an, das er zwischen die Seiten des Buches steckt, er findet Sicherheit und Trost in ihr, und er befragt sie wie ein Orakel, mit dem er allerdings auch hadert:60 „Als er wieder erwachte, griff er nach der Ausgabe der Göttlichen Komödie, aber was er auch aufschlug, war ihm zu bedeutungsvoll, knüpfte zu viele Beziehungen zu ihm oder kam ihm wie die Erklärung seiner Lage oder eine Prophezeiung vor. Selbst die Illustrationen mochte er in diesem Augenblick nicht. Das Buch war vielleicht nicht mehr als ein Fetisch, sagte er sich.“ (Roth 20002, 62)
_____________ 60
Zum verstehenden bzw. interpretierenden Lesen der Divina Commedia vgl. Ohly 1977, 1-29.
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5 In der Fremde lesen
Feldt trennt sich erst von diesem Buch, als er von einer japanischen Begleiterin, Haru, das I-Ging geschenkt bekommt. Beide tauschen ihre Bücher, obgleich jeder das des anderen nicht zu lesen versteht. Das I-Ging (oder: i-ching), das Buch der Wandlungen, ist nun im Gegensatz zur Göttlichen Komödie tatsächlich ein Orakelbuch und wird als solches genutzt. Es gehört zu den fünf kanonischen konfuzianischen Schriften, die schon sehr früh (ca. Ende des vierten Jahrhunderts) von China über Korea nach Japan kamen.61 Feldt, dem Lesenden, ist das I-Ging natürlich nicht unbekannt, und so ist er sofort davon beeindruckt, als er beobachtet, wie Haru das Buch nach seinem Schicksal befragt: „Als er das nächste Mal erwachte, [...] las sie in einem – in rotes Leder gebundenen – Büchlein, das sie vor sich aufgeschlagen hatte. [...] Sie nickte ihm freundlich zu und zeigte ihm das Zeichen auf dem Papier. Dabei erfuhr er, daß sie das Buch über ihn befragt habe. Sie übersetzte ihm dann auch, daß es das sechundfünfzigste Zeichen des I-Ging ‚Lü‘ – ‚Der Wanderer‘ – bedeute. Der untere Teil heiße ‚ken‘, Berg. Der obere: ‚li‘, Feuer, Glanz, Schönheit. Der Berg stehe still, aber das Feuer flamme auf und verweile nicht. Der Wanderer müsse vorsichtig und zurückhaltend sein, so schütze er sich vor Übel.“ (ebd., 259)62
Feldt trennt sich auf eine fast beiläufige Weise von der Göttlichen Komödie, dem Buch, das ihn doch auf seiner Reise beschützen sollte: Während einer Autofahrt erklärt er Haru die darin enthaltenen Illustrationen von Gustave Doré. „Mitten in einem Satz holte er das Buch aus der Tasche und schenkte es Haru. Haru nickte. Dann nahm sie mit ernstem Gesicht das in japanischer Schrift gedruckte I-Ging heraus und überreichte es ihm, wobei sie ihm bedeutete, das Buch aufzublättern. Es war durchgehend mit alten Pinselzeichnungen illustriert [...] Feldt hätte jetzt viel darum gegeben, die Übersetzung von Richard Wilhelm in seinem Koffer bei sich zu haben.“ (ebd., 263)
Leider verfügt er jedoch nicht über diese Übersetzung, und so kann er auch das von ihm selbst geworfene, 29. Orakel nicht entziffern, das für ihn eine deutliche Warnung darstellt: „Stete Abgründe. Sind stete Abgrün_____________ 61
62
Das I-Ging gehört zu den „ältesten bekannten Darlegungen über das Yin und Yang“ und ist das einzige „Orakelbuch, das nicht verloren gegangen ist.“ (Granet 19893, 88f.) Der Einfluss des Konfuzianismus in Japan war recht groß, er „gab bis in die Meiji-Zeit das ethische und politische Fundament des staatlichen Denkens ab und beeinflusste die Entwicklung der jap. Geistesgeschichte stark.“ (Lewin 19812, 224). Die Meister des I-Ging verwandten Schafgarbenstengel und gewannen dadurch Zeichen, die wie ein Notationssystem genutzt wurden, mit dessen Hilfe „symbolisch Assoziationen hergestellt und Beziehungen definiert werden konnten. [...] Die Ursprünge des Buch der Wandlungen liegen also in den Ursprüngen der Schrift selbst, in dem Versuch, Phänomene und Ereignisse mit Hilfe von Schriftzeichen zu beschreiben. Die Strukturen des Buchs der Wandlungen repräsentieren dynamische Muster von Kausalzusammenhängen, und der gesamte Aufbau des Werks stellt eine Symbolsprache dar, die Beziehungen und deren Wandel im Lauf der Zeit beschreibt.“ (Cleary 1995, 8). Zur Lesbarkeit des I-Ging vgl. Vgl. Geier in: Günther; Ludwig (Hgg.) 1994, 680.
5.2 Lesen in der Fremde
245
de da, hat der denkende Geist Erfolg, wenn er wahrhaft ist, und was getan wird, ist von Wert.“ (in: Cleary (Hg.) 1995, 69) Letztlich stirbt Feldt, der sich unter dem Vorwand, sich selbst neu zu entwerfen, neu zu schreiben in die Fremde begeben hat, indem er sich dieser Fremde nicht wirklich nähert und die Gefahren und Warnungen nicht beachtet.63 Er begegnet der Fremde immer noch als Lesender, so wie er lesend die Abenteuer Kapitän Nemos erlebte: Diesmal jedoch nur scheinbar geschützt in dem „komfortablen Unterseeboot“ vor den Gefahren der ‚Außenwelt‘, der Realität.64 Lesen als Flucht Konrad Feldt ist eine literarische Figur, die Gestaltung seines Lesens in der Fremde hat spezifische Funktionen in der Gesamtkonzeption des Romans von Gerhard Roth. Bronislaw Malinowskis Tagebücher können dagegen als weitgehend authentische Selbstäußerungen gelesen werden, als Zeugnisse eines Mannes, der sich für vier Jahre in weiter Ferne von seiner Heimat aufhielt und der über seine täglichen Befindlichkeiten, seine Gedanken und Bedürfnisse sozusagen Protokoll führt. Im Folgenden ist insbesondere das Leseverhalten Malinowskis von Interesse, über das sich viele aufschlussreiche Hinweise in seinen Aufzeichnungen finden.65 _____________ 63 64
65
Diese Warnungen sind durchaus auch konkreter Natur: Ihm wurde von dem Vulkanologen Kitamura eindringlich dazu geraten, das Gebiet zu verlassen, da ein verheerendes Erdbeben kurz bevorstünde. Das literarische Motiv ‚Tod in der bzw. an der Fremde‘ wird auch im Zusammenhang mit der ‚Fremde Japan‘ auf vielfache Weise ausgestaltet: Schon der Abenteurer in Kellermanns Erzählung überlebt seine Erfahrungen in der Fremde nicht, auch wenn es letztlich die Rückkehr in die Heimat ist, die ihn das Leben kostet. Die Protagonistin in Elisabeth Reicharts Roman Das vergessene Lächeln der Amaterasu stirbt innerlich, indem sie in Japan zunächst ihre Sprache verliert, dann ihre Identität. Die Britin Lucy Fly verliert sich in Susanna Jones’ Roman Wo die Erde bebt in ihrer obsessiven Liebe zu dem Japaner Teiji. Lily, neu in Japan angekommen und mit immensen Eingewöhnungsproblemen, wird dort Opfer eines Mordes. Morde an gaijin, an Ausländern, die an der mangelnden Integration in die japanische Gesellschaft leiden, die traumatisiert sind durch ihr stetiges Außenseitertum, sind auch das Thema in Suzanne Vissers Kriminalroman Das japanische Rätsel, die das Thema Fremdheit und Begegnung der Kulturen auf eine reizvolle und spannende Weise literarisch verarbeitet hat. An dieser Stelle würde eine genauere Betrachtung der Gattung Tagebuch über die kurzen einleitenden Hinweise (s.o.) hinaus sowie die spezifische Ausgestaltung des Gattungsrahmens durch Malinowski zu weit führen. Auch muss ein kurzer Einblick in diese Thematik und das Material an dieser Stelle genügen. Von besonderem Interesse ist noch die Frage, welche konkreten Lektüren Malinowski für welche Lesebedürfnisse auswählt. Diese Frage soll Gegenstand einer weiterführenden Untersuchung sein.
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5 In der Fremde lesen
Für Malinowski hat das Lesen in der Fremde nur selten die Qualitäten, wie sie für die Formen der ‚Ferienlektüre‘ beschrieben werden; schließlich befindet er sich in einer Arbeits- und Forschungssituation. Auch ist ihm das Buch nicht Beschützer oder Begleiter – Malinowski ist dem Lesen vielmehr regelrecht verfallen oder ausgeliefert: „Nur bei Sonnenuntergang schleppte ich mich von meiner Couch hoch und machte einen kurzen Spaziergang am Strand. Mein Kopf summte, meine Augen und mein Hirn waren ... – und doch las ich, und las weiter ohne Unterlaß, als wollte ich mich zu Tode lesen. Nachdem ich mit diesem Mist fertig war, beschloß ich, in N[eu] G[uinea] nie wieder ein Buch anzufassen.“ (Malinowski [1915] 20002, 63)66
Malinowski scheint immer gegen etwas anzulesen, so liest er beispielsweise gegen die Fremde, gegen seine Lebensrealität in dieser Fremde. Er hat zuviel von dieser Fremde vor seinen Sinnen, sein Körper wehrt sich mit Befindlichkeitsstörungen gegen das fremde Klima, und er flieht aus dieser fremden Welt in die Welt der Literatur, um der Realität für einige Momente zu entkommen oder auch um sich gegen sie abzugrenzen: „Sonntag, den 13. 12. [...] Überflüssig zu sagen, daß eine furchtbare Melancholie, grau wie der Himmel um mich her, an den Rändern meines inneren Horizonts kreiste. Ich riß die Augen von dem Buch los und konnte es kaum glauben, daß ich hier unter steinzeitlichen Wilden war“ (Malinowski [1914] 20002, 56). „Der unkreative Dämon der Realitätsflucht verleitete mich, mit einem Buch (Kipling Plain Tales) in der Hand an Deck zu sitzen.“ (Malinowski [1915] 20002, 87) „Ich saß mit ein paar Eingeborenen zusammen und sprach mit ihnen über kayasa 67 [...] Aber ihre Kenntnisse waren verworren, und sie redeten ohne Konzentration, nur um mich ‚abzuspeisen‘. Am Nachmittag unterhielten wir uns wieder (ich erinnere mich nicht, worüber) Unersättlich las ich Wheels of Anarchy [ein Roman von Max Pemberton] und empfand zunehmende Aversion gegen diese Eingeborenen.“ (Malinowski [1917] 20002, 135)
Gert Mattenklott hat vom Lesen als einer Energie gesprochen, eine Energie „des Geistes, der seine eigene Abwesenheit sucht und genießt. Wo das Lesen erlischt ist er zur Gegenwärtigkeit verdammt auf Gedeih und Verderb.“ (Mattenklott 1989, 109) Gerade dieser Gegenwärtigkeit versucht sich Malinowski oft genug durch Lesen zu entziehen. Die Funktionen des Lesens sind jedoch sehr vielschichtig und widersprüchlich: Ein anderes Mal dienen ihm „Romane als ein offenes Fenster zum Leben“ (Malino_____________ 66 67
Die eckigen Klammern in den Zitaten enthalten Anmerkungen und Ergänzungen der Herausgeber. „Unterhaltung, einschließlich obligatorischer Tanzwettbewerbe [...] auch vertragliche Unternehmungen.“ (Malinowski 20002, 268).
5.2 Lesen in der Fremde
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wski [1914] 20002, 23), das sich jedoch zumeist anderswo abzuspielen scheint als dort, wo er sich gerade befindet. Die extremen und auch verwirrenden Erfahrungen in der Fremde, gegen die Malinowski in seinen Tagebüchern stellenweise regelrecht anzuschreiben scheint, gegen die er auch anliest, transferiert er als Forscher in ethnographisches Schreiben. Seinen Ethnographien werden vielerorts als „vielschichtige, freie, doch rhetorisch stets überzeugende Erzählformen“ (Clifford in: Bachmann-Medick (Hg.) 20042, 208) beschrieben. Er transferiert im Rahmen seiner Tagebücher jedoch zum selben Zweck auch erfahrene Realität in Literatur (wobei hier der Einfluss Joseph Conrads spürbar wird):68 „Nahm das dingi nach Kiribi, ruderte tüchtig. Trauriger Anblick, wie Mick dort saß, verkommend, mit starrem Blick auf die graue Lagune; wirbelnde Wolken [verbergen] den Südwesten – sein Fenster zur Welt. Leeres Haus. Hockt mit Handtuch in der Hand auf der verfallenen Veranda. Ausgezeichneter Schauplatz für einen Roman. Wie aber die Handlung? Ich würde Brudo einführen, wie er hart arbeitet, um Millionär zu werden; Billy verwandeln George und Edward Auerbach? M[ick] G[eorge] vor Einschreiten der Regierung. Kämpft gegen die Schwarzen, wird absoluter Herrscher. Wohlwollende Despotie. Dann kommt ›Regierung‹ - Moreton - [...] ein Trunkenbold, gutmütig, unverantwortlicher Usurpator. Droht Mick mit Todesstrafe. Besitzurkunde unredlich, ungenau abgefaßt: Saufgelage; [...] Dann Handlungsknoten. Brudo versucht Mick loszuwerden. – Zuerst den Niedergang von Micks Vermögen schildern, dann seinen plötzlichen Aufschwung. Dann aus dem Sattel gehoben. Wutanfall; er wird ins Gefängnis geschleppt; stirbt.“ (Malinowski [1918] 2000, 188)
Die Fremde und das Leben in der Fremde werden in der Fiktion zumindest beherrschbar und formbar. Vielleicht ist es genau diese Übersichtlichkeit und Beherrschbarkeit, eine Abgeschlossenheit und sinnvolle Kohärenz, die Malinowski auch oft auf die fiktionalen Welten in Form von Romanen zurückgreifen lässt.69 Er greift auffallend häufig zu Autoren, die eine Form von ethnographischem Schreiben in literarischen Fiktionen verwirklichen; von zentralem Einfluss ist der bereits erwähnte Joseph Conrad, aber auch Kipling ist eine wichtige Lektüre: „Ein guter Künstler (natürlich nicht im Vergleich mit Conrad) und ein sehr liebenswerter Kerl. Durch seine Romane beginnt Indien mich zu faszinieren.“ (Malinowski [1914] 2000, 45). _____________ 68
69
Zu Malinowski und Joseph Conrad vgl. Clifford in: Bachmann-Medick (Hg.) 20042, 194229. Clifford verweist auch auf „allgemeinere thematische und strukturelle Parallelen zu Herz der Finsternis [...] Beide Bücher sind Aufzeichnungen weißer Männer an der Zivilisationsgrenze, an Brennpunkten der Gefahr und des Zerfalls. In beiden Fällen geht es zudem um Sexualität: Sie schildern das Andere, das auf konventionelle Weise feminisiert wird, gleichzeitig als Gefahr und Versuchung.“ (ebd., 209). Vgl. auch Clifford in: Bachmann-Medick (Hg.) 20042, 214f. Auch Konrad Feldt, der Lesende, versucht stetig Wahrnehmungen in Literatur zu transferieren (vgl. Kapitel 5.3).
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5 In der Fremde lesen
Die Konkurrenz zwischen Buchwelt und erfahrener Realität, die sich auf inhaltlicher Ebene festmachen lässt, manifestiert sich bei Malinowski auch ganz grundlegend auf der Ebene der Tätigkeit, nämlich in der Konkurrenz zwischen Lesen und Arbeiten. Er verweigert sich seinen eigenen hohen Ansprüchen an seine Arbeit, indem er zum Buch greift, und indem er in der Selbstvergessenheit des Lesens die Dauer der Lektüre so weit es geht ausdehnt: „Vertrödelte Samstag, 17., und Sonntag, 18., den ganzen Tag mit Warten auf Saville und las Vanity Fair, und in meiner Verzweiflung – meiner völligen Benebelung – vergaß ich ganz, wo ich war.“ (Malinowski [1914] 20002, 33) „Ich versuchte – aber nicht sehr energisch, Aufzeichnungen durchzusehen. Las Kipling, Kurzgeschichten. Anwandlungen von Niedergeschlagenheit, ohne Hoffnung auf Arbeit, [...] Versuchte, meine Verzweiflung in der Lektüre von Kurzgeschichten zu ertränken. [...] Meine Lebensinteressen: Kipling, manchmal starke Sehnsucht nach Mutter“ (ebd., 45). „Donnerstag, 4., fühlte ich mich miserabel. Den ganzen Vormittag döste ich vor mich hin und las obskure Kurzgeschichten.“ (Malinowski [1915] 20002, 77) „Mein Narkotikum ist, wie üblich, ein lausiger Roman.“ (Malinowski [1918] 20002, 212)
In selbstquälerischer Manier nimmt Malinowski den Kampf gegen das Lesen auf. Dabei fühlt er sich diesem offenbar vollständig ausgeliefert – im Vergleich mit dem Kampf gegen das Rauchen erhält auch in der folgenden Äußerung das Lesen wieder den Charakter einer Sucht: „Mittwoch 11. 4. [...] Doch es ist eine Tatsache, daß man, wenn man eine Form der Inspiration ausschließt, eine andere gewinnt, und wenn man den Weg des geringsten Widerstands ausschließt, dann schließt man vor allem reine Zeitverschwendung aus (Romane lesen, übermäßig lange in Gesellschaft sitzen etc.). [...] Donnerstag 12. 4. [...] Ich beschließe auch, in Sachen Roman den Weg des geringsten Widerstandes zu meiden. Ich bin sehr zufrieden, daß ich nicht wieder in die Gewohnheit des Rauchens verfallen bin. Jetzt muß ich dasselbe hinsichtlich der Lektüre erreichen. Ich darf Gedichte lesen und ernste Dinge, aber ich muß lausige Romane absolut meiden. Und ich sollte [im Original unterstrichen] ethnographische Werke lesen.“ (Malinowski [1918] 20002, 217; 219)
Das Verbot „lausiger Romane“ wiederholt sich in seinen Aufzeichnungen fast gebetsmühlenartig, und wie jeder fromme Sünder bricht Malinowski dieses Verbot mit schöner Regelmäßigkeit, um sich anschließend mit eben solcher wieder zu kasteien, wobei diese Selbstdarstellung eines der Lesesucht Ausgelieferten, der immer wieder heroisch den Kampf gegen diese Sucht aufnimmt, hier schon topischen Charakter annimmt: „Port Moresby. Meine letzte Eintragung war Sonntag, 27. 9. Ich stand ganz im Bann Tunnells, den ich stundenlang gelesen hatte. Ich hatte mir selbst das Versprechen gegeben, keine Romane zu lesen. Ein paar Tage lang hielt ich meinen Vorsatz, dann kam der Rückfall.“ (Malinowski [1914] 20002, 25)
5.2 Lesen in der Fremde
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„ich darf keine Romane lesen, außer wenn ich krank oder im Zustand tiefer Depression bin.“ (Malinowski [1917] 20002, 103) „Heute morgen beschließe ich, alle meine Kraft aufzubieten, um die Fiebrigkeit zu bemeistern. Keine Romane zu lesen, nicht müßig zu sein. Zu erkennen, was ich tun muß, und es zu tun. [...] Ich bin nicht allzu träge, aber ich hätte nichts dagegen, mich hinzuwälzen und Romane zu lesen.“ (ebd., 122)
In Malinowskis Selbstäußerungen hat das Lesen (von Romanen) die unterschiedlichsten Funktionen: Neben der Flucht aus der Fremde, aus der Realität und der Flucht vor der Arbeit sowie der Möglichkeit, sich durch Verbote und das Brechen dieser intensiv mit sich selbst zu beschäftigen, erlaubt das Lesen ihm zudem eine Form der Ent-Körperlichung, auf die bereits in Zusammenhang mit dem Lesenden Konrad Feldt hingewiesen wurde. Malinowski hadert auffallend oft mit seinem Körper, er fühlt sich krank oder er ist krank, er ergeht sich in quälender Introspektion, lauscht auf jedes kleine Signal, das sein Körper auszusenden scheint. Eingebildeten oder tatsächlichen Leiden begegnet er durch Versuche von diätischer Lebensweise, Gymnastik oder einfach überraschend unbefangener Selbstmedikation mit Arsen, die er durch weitere Zugaben wie Eisen etc. noch effektiver zu gestalten sucht. In diesem Zusammenhang erlaubt ihm das Lesen manchmal so etwas wie eine Flucht aus dem eigenen – durch die gestörte Befindlichkeit fremd gewordenen – Körper und verschafft ihm eine kurze Atempause: „Die ganze Reise über [landeinwärts] fühle ich mich etwas unsicher und stecke die Nase in Maupassants Kurzgeschichten.“ (Malinowski [1914] 20002, 30) „Die ganze Zeit fühlte ich mich ziemlich schlecht. Ich las ununterbrochen [Der Graf von] Monte Christo. Unterwegs nach Pt. Glasgow nicht allzu gut gefühlt – ich las den Roman. [...] Ich fühlte mich zu elend, um hinzusehen, und war in den lausigen Roman vertieft. Selbst im Fjord, wo die See ruhiger war, gelang es mir nicht, in die Realität zurückzukehren. Mein Kopf war schwer – ich war schläfrig –, las im Boot weiter und wartete auf den Tee. [...] Auf dem Rückweg erbrach ich. Auf der Barkasse, gelesen, am Abend dann Monte Christo beendet, schwor mir, nie wieder einen Roman anzufassen.“ (ebd., 40f.) „7. 2. Donnerstag. Fühle mich in Oburaku unvergleichlich besser. Sofort jedes Bedürfnis nach Lektüre verloren.“ (Malinowski [1918] 20002, 178)
Aber nicht nur die Ent-Körperlichung ist Teil der Leseerfahrung – Körpererfahrungen können auch Teil der Leseerfahrungen werden: „Es war das erstemal, daß ich die Vegetation im Mondlicht sah. So fremdartig und exotisch. Unversehens bricht das Exotische durch den Schleier des Vertrauten hervor. Stimmung vom Alltäglichen abgelenkt. Eine Exotik, stark genug, um die normale Wahrnehmung zu verwirren, aber zu schwach, um eine Stimmung neuer Art zu wecken. Ging in den Busch. Einen Moment hatte ich Angst. Mußte mich sammeln. Versuchte einen Blick in mein Herz zu tun. ›Wie sieht mein Innenleben aus?‹ Kein Grund, mit mir zufrieden zu sein. Die Arbeit, die ich ver-
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5 In der Fremde lesen
richte, ist mehr Opiat als schöpferischer Ausdruck. Ich versuchte nicht, sie mit tieferen Quellen in Verbindung zu bringen. Sie zu organisieren. Romane zu lesen ist einfach katastrophal. Ging zu Bett und dachte wollüstig an andere Dinge.“ (Malinowski [1914] 20002, 37)
Die körperlichen Genüsse, die sich mit bestimmten Leseerlebnissen verbinden, führen hier wieder zu den schon bekannten Klagen über das Lesen von Romanen.70 So wie er sich dem Lesen als Tätigkeit ausgeliefert fühlt, so inszeniert er sich (vor sich selbst) auch als den Inhalten der Lektüren ausgeliefert;71 dem im folgenden Zitat angesprochenen Werk von Montesquieu könnten wohl ohne allzuviel Anstrengung auch noch andere Inhalte entnommen werden als diejenigen, die Malinowskis Lesehaltung zutage fördern:72 „Dann, durch Gespräch ermüdet, Lettres persanes gelesen, aber ich fand keine der Ideen, nach denen ich suchte, nur lüsterne Schilderungen von Harems.“ (Malinowski [1918] 20002, 220) Die körperlichen Phantasien, die sich aus dem Lesen von Romanen entwickeln (und darüber hinaus aus den sehr konkreten, auf die ‚fremden Frauen‘ gerichteten körperlichen Begierden), werden zwar für sanktionswürdig befunden, aber sie werden nicht wirklich sanktioniert. Einzig die ‚legitime‘ Gerichtetheit der körperlichen Bedürfnisse, die sich auf seine Verlobte („E.R.M.“, Elsie R. Masson) beziehen, gibt den Ausschlag dafür, dass das Lesen von Romanen in einem solchen Fall nicht als sanktionierungswürdig dargestellt wird: „Während ich Romane lese, beschwöre ich dauernd E.R.M. Ich liebe sie noch tiefer, noch wahrer, noch leidenschaftlicher.“ (ebd., 243) _____________ 70 71
72
Zu erotischen Phantasien aus der Lektüre als Form körperlicher Phantasie vgl. Schön 1993, 91. Zu „Lustlektüren“, bzw. der Geschichte erregender Lektüren vgl. Fischer 1997. Mit dieser Einschätzung bewegt sich Malinowski – jedoch aus anderen Motiven – im Einklang mit der katholischen Argumentation über die „Gefahr der schlechten Lektüre, namentlich über die Gefahr des ungeregelten Romanlesens“ wie es Josef Froberger im Vorwort des Herausgebers zum 1915 in deutscher Sprache erschienenen Buch Die Gefahr des Buches des spanischen Erzbischofs Antolín López Peláez bezeichnet (Ersterscheinungsdatum: 1905). Hier wird die seit der Lesesuchtdebatte des 18. Jahrhunderts geführte Diskussion über das Lesen von Romanen – nur minimal verändert – topisch fortgeschrieben: Der Verfasser López Peláez schildert den Menschen als schwach, und „[w]ie das Eisen im Feuer glühend, im Schnee kalt wird, so richtet sich das Menschenherz ganz nach dem Eindrukke, den es empfängt. Dazu kommt, daß die Leidenschaften nur mit Widerstreben dem Zügel folgen, den ihnen höheres Einsehen aufgelegt hat; sie suchen begierig nach einem Vorwande, um sich aufzulehnen. [...] Das Bild der Liebe, mag man sie auch im Roman romantisch, geistig und rein schildern, wird bald in der Phantasie des Lesers zum Funken, der das Feuer der Sinne entfacht. Und aus der Tiefe der Glut, aus dem heißen Herde steigt der Rauch empor, der das Licht des Geistes verdunkelt. [...] Endlich verfällt der Leser ganz der Gewalt seines Beraters, durch seine Unbedachtsamkeit stürzt er von der Höhe seiner Reinheit herab, um den Geist der Wollust anzubeten.“ (López Peláez 1915, 105). Allerdings verdankte Montesquieus Text nach Einschätzung von Carolin Fischer (1997) „den Erfolg seiner Lettres persanes (1721) sicher nicht unwesentlich der pikanten Mischung aus Erotik und Exotik, mit der er den gesellschaftskritischen Text würzte.“ (Fischer 1997, 209).
5.3 Die Fremde lesen
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5.3 Die Fremde lesen Während für Malinowski das Lesen in der Fremde vor allem eine Fluchtbewegung darstellt, gewinnt das Lesen von Literatur, das Lesen in der Göttlichen Komödie, für Konrad Feldt orakelhaften Charakter; es wird bedeutungsvoll und bedeutungsträchtig über eine Bedürfnisbefriedigung hinaus. Feldt wendet sich in seiner Haltung als Lesender der ihn umgebenden Fremde gar nicht genug zu, um aus ihr wirklich entfliehen zu müssen, schließlich wandelt er in ihr wie in einer Bibliothek. Die Eindrükke, die er ‚dort‘ gewinnt, werden getreu seiner Konzeption als Lesender auch nicht mit Erlebnissen aus seinem eigenen Leben abgeglichen, sondern mit erlesenen Eindrücken: „Feldt [...] sah nun im gigantischen Refraktor den Ausschnitt eines Schneefeldes, über das sich eine lange Menschenkolonne bewegte, wie die Goldsucher auf dem Chilkoot-Paß in Jack Londons Abenteuererzählung aus Klondike.“ (Roth 20002, 83)
So werden die zunächst verstörenden Erfahrungen in Vertrautes übersetzt. Auch der moderne europäische Flaneur aus den Tôkyô-Essays von Stephan Wackwitz (1996) begegnet der Verwirrung, die ihn beim Anblick der Menschenmassen in den U-Bahnschächten der japanischen Hauptstadt ergreift, mit Assoziationsbildungen, gespeist aus dem westlichen literarischen und mythischen Archiv, um die bedrohenden Eindrücke einzuordnen, bzw. in eine wenn auch erschreckende, so doch vertraute Ordnung zu übertragen: „Mir scheint, als hätte ich in der U-Bahn Tokyos manchmal, wenn die Bürgerfasson an den Rand der Auflösung geriet, Übergänge aus unserer Wirklichkeit zu solchen Kauergeschöpfen gesehen. Dann stand die Macht so schmutzig, verkommen und entsetzlich, wie Kafka sie beschrieben hat, augenblickslang aus der Unsichtbarkeit aufgetaucht, irgendwo im Großraumabteil des unterirdischen Zuges. Bilder antiker Völkerwanderungen suchen mich auf den U-Bahnhöfen von Tokyo heim, Phantasien über Nomadenströme, Zwangsumsiedlung, große, stummverzweifelte Trecks. Sie kämpfen sich eben an einer Hütte vorbei, wo eine historisch schwer deutbare Götter- oder Heroengestalt (wahrscheinlich Augustus) dem bürgerlichen Hausherrn, er heißt Tityrus, eine merkwürdige Enthobenheit und Sicherheit geschenkt hat. Tityrus sitzt im Schatten und spielt Flöte, während der lange Zug sich vorbeischleppt.“ (Wackwitz 1996, 69f.)
Der Blick auf die Fremde kann jedoch dadurch, dass die Literatur als Bildlieferant und Quelle für Assoziationen genutzt wird, auch verstellt werden. Insofern kann zwar der Einschätzung von Gerhard Fuchs (2003) zugestimmt werden, dass die Figur Konrad Feldt, ebenso wie die anderen Protagonisten des Orkus-Zyklus auch, eine „Erklärungsnotwendigkeit“ fühlt,
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5 In der Fremde lesen
die sich „auf alle Gegenstände und Ereignisse, mit denen die zentralen Figuren konfrontiert sind, die sie als Bedrohung empfinden“ erstreckt (Fuchs in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 118).73 Der Versuch der Figur Konrad Feldt, „der Flut der Bilder und Eindrücke ein Orientierungsraster entgegenzusetzen, das per Selektion, Gewichtung und Kausalverknüpfung eine Entzifferung des Fremden ermöglicht“ (ebd.) führt jedoch nicht zu einer „Entzifferung“ des Fremden, da das „Orientierungsraster“, wie in Kapitel 5.1 Einführung gezeigt, sich lediglich aus den Archiven der tradierten Klischees, Topoi und Stereotype zusammensetzt. Die Fremde wird also nicht „entziffert“, sondern einzelne Elemente, die sich aufgrund des Orientierungsrahmens überhaupt erst in den Wahrnehmungsbereich der Figur schieben, werden an diesen rückgebunden, und die ‚Fremde Japan‘ wird anhand der Elemente re-konstruiert. In diesem Zusammenhang müssen auch die Reminiszenzen an die, von vielen westlichen Lesenden als genuine literarische Ausdrucksform Japans verstandenen, Haiku gesehen werden: „Feldt war benommen von der Schönheit, die ihn umgab [...] Der Sandweg war überhaupt von Blättern gelb und rot gesprenkelt, wie eine Amphibienhaut. Ein Haiku ging ihm durch den Kopf: ‚Auf Buddhas Scheitel / häuft sich der Schnee und senkt sich / des Winters Krähe ... ‘ Bei jedem Schritt enthüllte sich eine neue Perspektive auf den Garten.“ (Roth 20002, 212)
Hier verstärkt sich für den Lesenden – aber auch für die Rezipienten/innen des Romans – das Bild der japanischen Landschaft durch das poetische Bild, einerseits durch den konkreten Inhalt des Haiku, andererseits durch die auch exotistischen Assoziationen, die sich mit dieser Gattung verbinden.74 Haiku werden in dem Roman jedoch nicht nur zur Untermalung bestimmter Stimmungen und Sinneseindrücke funktionalisiert. Die ‚Fremde Japan‘ selbst wird in der Art und Weise, wie sich Feldt den neuen Eindrücken und Phänomenen zuwendet, zum poetischen Text, zum Kunstprodukt:75 „Der ›Red Express‹ schien durch japanische Dreizeiler zu fahren, die sich in einem fort neu zusammensetzten oder wiederholten.“ (ebd., 241) Dem fremden Raum kann nun lesend begegnet werden. _____________ 73
74 75
Das Gefühl der Bedrohung, das die Protagonisten ergreift, „resultiert aus der Irritation durch unbekannte und unerkannte Dinge und Handlungsausschnitte, die sich als zufällige Agglomerationen vor den durch eine fremde Welt taumelnden Figuren auftürmen“ (Fuchs in: Bartens; Melzer (Hgg.) 2003, 118). Vgl. Schaffers in: Jannidis et al. (Hgg.) 2003, 363ff. Vgl. auch die Beschreibung der japanischen Teehäuser durch den Architekten Bruno Taut: „Die für die Teezeremonie besonders errichteten Häuschen und Räume suchen von Alters her aus dem rustikalen Element eine Kunstform zu machen. Es handelt sich bei ihnen gewissermaßen um gebaute Lyrik; sie sind gleichsam hingeschrieben wie japanische Kurzgedichte und deshalb in höchstem Maße in ihrer Qualität abhängig von der Hand des Meisters.“ (Taut [1934] 2003, 126).
5.3 Die Fremde lesen
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Nach Aust (1983) umschließt der Begriff des Lesens andere Begriffe, wie Leser bzw. Lesesubjekt, Lesestoff, Leseprozess, etc.76 In der bildhaften Verwendung des Begriffs wird der Reisende in der Fremde zum Lesesubjekt, die Fremde wird zum Lesestoff und der Vorgang der Wahrnehmung, der Erfahrung und des (etwaigen) Verstehens oder der Bedeutungskonstruktion wird als Leseprozess charakterisiert. Der Reisende als Lesender wurde bereits in den obigen Ausführungen anhand der Figur des Konrad Feldt exemplarisch näher gekennzeichnet. Im Folgenden soll sich der Fokus zunächst auf die Wahrnehmung der Fremde als Lesestoff richten. In diesem Zusammenhang ist die Zuweisung von Schrift-, Zeichen- und Textcharakter zu bestimmten Phänomenen von Interesse. Diese Zuweisung dient in den Texten nicht zuletzt auch der Verschlüsselung oder Verrätselung der ‚Fremde Japan‘ und somit einer Fremdheitskonstruktion. Im Anschluss daran soll der Frage nachgegangen werden, welcher Wahrnehmungs- und Erfahrungsmodus eigentlich mit ‚Lesen‘ bezeichnet wird. Das Lesen als Tätigkeit, der Leseprozess also, steht hier in bildhafter Verwendung für verschiedene Formen der Wahrnehmung und des Umgangs mit dem Fremden, wobei sich die Vielschichtigkeit des Lesens (und die Vielschichtigkeit der Begriffsverwendung) auch in der metaphorischen Verwendungsweise spiegelt. Offenbar besteht zwischen dem Lesen und der Erfahrungssituation in der Fremde eine ‚Ähnlichkeitsrelation‘, die eine bildhafte Verwendung des Begriffs nahe legt: Verschiedene Dimensionen des Lesebegriffs korrespondieren mit verschiedenen Formen der Erfahrung und des Umgangs mit dem Fremden. Somit liegt die Funktion dieser Strategie der Sprachverwendung auch in der Illustration einer Erfahrungssituation. Diese Aspekte sollen im Rahmen der vorliegenden Arbeit punktuell und exemplarisch anhand bereits bekannter, aber auch weiterer, bisher noch nicht beachteter aktuellerer Quellen betrachtet werden.
_____________ 76
Vgl. Aust 1983, S. XII.
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5 In der Fremde lesen
5.3.1 Die Fremde als Lesestoff „Tatsächlich lernt das Individuum wie die Gattung zuerst das Lesen, indem die Rezeption von Ausdruck und Bedeutung der Wahrnehmung von Daten und Fakten substruiert ist: das ›Lesen‹ auf Gesichtern, von Gesten, von Spuren der Taten und Untaten, von Zeichen und Anzeichen für Befinden und Behagen, von Vorzeichen für Wetter und Schicksal.“ 77
Bereits einleitend zu Kapitel 5 wurde Lesen als geistige Handlung eines Subjektes charakterisiert, die u.a. in „Prozesse[n] der visuellen Aufnahme und Wahrnehmung [sowie Verarbeitung] v.a. von Sprache in Form schriftlicher Zeichen“ (Nünning 1998, 308) besteht. Der Lesestoff ist die Schrift: „Im allgemeineren Sinne wird unter ›S[chrift]‹ die Menge der in einem System vorhandenen graphischen Zeichen (der Buchstaben oder Symbole) verstanden, die die Laute, Wörter, Sätze bzw. Texte einer Sprache lesbar fixieren.“ (Lewandowski 19854, 887)78 Eine etwas weiter gefasste Sichtweise zählt außerdem Bilder oder Bilderfolgen zu den Schriften, weil auch in Form von Bildern graphisch Bedeutungen ausgedrückt werden. Aufgrund der fehlenden sprachlichen Dimension der Vermittlung sowie aufgrund der direkten Referenz zwischen Darstellung und Dargestelltem wird einer solchen Auffassung aber gemeinhin widersprochen.79 Menschen lesen jedoch nicht nur Schriften im engeren Sinne: Sie lesen in Gesichtern, in der Anordnung der Dinge im Raum, sie lesen eine Kultur; sie lesen im ‚Buch der Natur‘80 und sie entdecken Schriften, die, nicht von Menschenhand geschaffen, in der Natur aufscheinen. Diesen Phänomenen, die teilweise noch nicht einmal Artefakte sind, muss ein Schriftcharakter zuerst zugesprochen werden, bevor sie ‚gelesen‘ werden können.
_____________ 77 78 79
80
Blumenberg 20005, 173f. Diese, rein auf die sogenannte primäre Funktion von Schrift bezogene Schriftauffassung soll später noch im Hinblick auf die Materialität von Schrift und die sogenannten sekundären Schriftfunktionen hin erweitert werden. Vgl. Kapitel 5.4 Die ‚ f remde Schrift ‘ . Vgl. etwa Haarmann 1990, 22ff.; siehe auch die Kritik Derridas sowie sein Begriff des „Schemas“: Bildliche Darstellungen haben dann Schriftcharakter, wenn sie eine „Genealogie und eine soziale Struktur beschreiben, erklären und niederschreiben.“ (Derrida 1983, 218). Zum „Buch-Gleichnis“ vgl. Engelsing 1978, 363-383 sowie Schön 1993, 142-147.
5.3 Die Fremde lesen
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Die Schrift (in) der Natur Die Zuweisung des Schriftcharakters zu bestimmten Phänomenen gestaltet sich in verschiedenen Ausprägungen und unterliegt bestimmten kulturhistorischen und geistesgeschichtlichen Traditionen und Funktionen. TAWADA Yoko (2000) bezeichnet etwa in ihrer Dissertationsschrift Spielzeug und Sprachmagie „[d]ie Schrift, die nicht aus geschriebenen Zeichen besteht, [...] als ‚Schrift der Objekte‘. [... Sie] wird von verschiedenen Menschen immer wieder neu hergestellt. Sie kann von Handwerkern, Müttern oder auch Künstlern gemacht werden.“ (Tawada 2000, 98)81 Mit dieser Konzeption grenzt sie sich von der Idee der ‚Schrift der Dinge‘ als eine von Gott geschriebene Schrift ab, die von den Menschen gelesen werden muss. Hans Blumenberg (20005) ist der für die westliche Geistesgeschichte zentralen Metapher von der Lesbarkeit der Welt, der Vorstellung vom ‚Buch der Natur‘ in seiner umfassenden und grundlegenden Untersuchung im Einzelnen nachgegangen.82 Sigrid Weigel (2000) schreibt im Zusammenhang mit dem „Phantasma der Lesbarkeit“: „Erst aus einem Mangel am Buch der göttlichen Schrift als Medium zum Verständnis der Welt konstituiert sich die Notwendigkeit der Lesbarkeit, die von Anbeginn als ein anderes Lesen erscheint; erst aus der Differenz zum Buch der Schöpfung entsteht also das Lesen in der Schrift der Dinge und der Natur als Offenbarung einer anderen Erkenntnis. Mit deren potentieller Unendlichkeit ist auch eine Fortzeugung der Metaphern in Gang gesetzt: z.B. die Rätsellösung und Entzifferung, der verlorene Schlüssel der Ziffernschrift, die stumme Bilderschrift, das Rätsel im Geheimnis der Natur und immer wieder das Lesen in Form doppelter und mehrfacher Lektüren als Metapher einer denkenden Betrachtung der Welt.“ (Weigel in: Neumann; Weigel (Hgg.) 2000, 248f.)
Max Dauthendey steht mit drei seiner acht Erzählungen aus dem Novellenzyklus Die acht Gesichter am Biwasee (1911) in der Tradition der Metapher des Lesens in der Natur, die dort in spezifischer Weise eine literarische Ausgestaltung erfährt. In den drei Erzählungen entdecken und entziffern die Figuren eine Schrift, die in der Natur oder durch Einwirken der Natur aufscheint: In Die Segelboote von Yabase im Abend heimkehren sehen erliest Hanake während einer plötzlich einsetzenden Windstille in den Falten der zusammensinkenden Segelleinwand dreier Boote Schriftzeichen, die ihr eine Botschaft mitteilen. In Der Wildgänse Flug in Katata nachschauen wünscht sich die dritte Prinzessin für die Dekoration ihres Saales von dem _____________ 81
82
Tawada betont, dass bei der Schrift der Objekte „nicht die Lektüre, sondern das Schreiben vorrangig [ist]. Sie ist nie endgültig fertig, sondern muß immer wieder neu geschrieben werden, weil sie nur im wiederholenden Schreibakt sichtbar bleiben kann.“ (Tawada 2000, 98). Zur ‚Metaphorologie‘ vgl. auch Blumenberg in: Haverkamp (Hg.) 1983, 285-316 sowie ebd., 438-455.
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5 In der Fremde lesen
Maler eine Nachbildung des Flugs der Wildgänse, die mit ihrer Formation die Gestalt von Schriftzeichen bildeten, deren Aussage die Prinzessin jedoch vergessen hat.83 In diesen beiden Erzählungen wird die den Figuren bekannte, dem Lesepublikum jedoch unvertraute japanische Schrift in der Natur sichtbar, bzw. entdecken die Figuren diese Schrift, die für einen flüchtigen Moment für diejenigen, denen sie bestimmt ist, lesbar wird. Die Natur scheint den Menschen absichtsvoll und somit ‚beseelt‘ in Form der kulturellen Überlieferung Schrift Botschaften zu übermitteln. Es geht in dieser literarischen Gestaltung des Topos von der ‚Lesbarkeit der Natur‘ also nicht mehr um die Erkenntnis Gottes in der Lektüre des ‚Buchs der Natur‘, sondern um das Verstehen einer konkreten Botschaft. Die dritte Erzählung unterscheidet sich von den anderen insofern, als es sich bei der aufscheinenden Schrift nicht um die Schrift der Menschen handelt, sondern um Natur-Schrift. Der chinesische Einsiedler Ata-Mono entdeckt in der Erzählung Die Abendglocke vom Miideratempel hören die Schriften, die sich in der Rinde der Bäume abbilden: „So ein Baum, der nie von der Stelle rückt und dessen Umgebung gleichfalls nie fortreist und der nur die Bewegungen der Jahreszeit kennt, hat ein vorzügliches Gedächtnis. Dieses drückt sich aber nicht darin aus, daß sich sein Mark Gedanken macht über das, was gewesen ist oder was kommen wird, sondern das Gedächtnis eines Baumes liegt immer offen an seiner Außenseite. Die Furchen und Rinden haben sich jeden Tag mit Linien, Eingrabungen, Knorpeln, Schürfungen die kleinsten Erlebnisse wie mit einer stenografischen Schrift in Zeichenschrift notiert. Wie der Baum sich dehnte, wenn ihm in der Welt wohl war, und sich verborkte und sich verpanzerte, wenn ihn die Welt bedrohte, vergrübelte sich seine Rinde und faltete sich zu einer Zeichenschrift. Die Schriftgelehrten der Bäume sind die Ameisen, die Libellen, die Bienen, die Vögel. Die Borkenkäfer und Borkenwürmer sind untergeordnetere Schriftsetzer, die an der Schicksalssprache des Baumes, an der Rindenschrift, mitarbeiten.“ (Dauthendey 1987, 57f.)
Nicht der Mensch lernt, diese Natur-Schrift zu lesen, sondern es ist die Natur, die sich Ata-Mono als den ersten Vertrauten auswählt, „und dem sie ihre Rindenschrift in einer guten Stunde zu erkennen [gibt]“ (ebd., 59). Dennoch ist auch die Natur-Schrift in dieser Konzeption bereits Teil einer kulturellen Überlieferung, da Ata-Mono zwar die Schriften der Bäume Chinas zu lesen versteht, nicht jedoch die eines Baumes, der über das Meer nach China kommt. Und es ist gerade die Nicht-Entzifferung der _____________ 83
Ingrid Schuster gibt einen Hinweis auf ein japanisches Haiku, von dem sie annimmt, dass Dauthendey es gekannt habe: „Sind das holländische / Lettern am Himmel dort, oder / Fliegende Gänse?“ (Schuster 1977, 77) Schuster erkennt in der Gestaltung des Motivs durch Dauthendey eine Umarbeitung der exotistischen Wahrnehmung der Alphabetschrift im japanischen Kontext: „Es ist amüsant festzustellen, daß man in Japan ebenso wie in Europa das Exotische als reizvoll empfand und in die Dichtung aufnahm. Dauthendey schrieb für ein westliches Publikum und ersetzte daher holländische Schriftzeichen durch japanische.“ (ebd.).
5.3 Die Fremde lesen
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Schrift des fremden Baumes, das Versagen der Kenntnisse Ata-Monos vor der ‚fremden Schrift‘, die ihn dazu zwingt, die zentrale Botschaft der Erzählung zu verstehen. Diese Botschaft ist eingeschrieben in die Rinde eines Ablegers eben jenes für Ata-Mono unlesbaren Baumes, der Jahrhunderte später von China wieder nach Japan kommt und dort am Biwasee gepflanzt wird: „Mir und allen, welche so alt werden auf der Erde, steht die Liebe höher als die Unsterblichkeit“ (ebd., 67). Asien und vor allem Japan, darauf wurde bereits hingewiesen, verkörperte für Dauthendey die für Europa verloren geglaubte enge Verbundenheit von Mensch und Natur,84 die sich in seinen Novellen u.a. darin zeigt, dass die Natur für die Menschen in ihrer eigenen Schrift und in der Schrift der Menschen lesbar wird. Die Entmystifizierung des Lesens im Buch der Natur, die sich im eigenen Raum bereits vollzogen hat, kann im fremden Raum noch einmal gestaltet werden und die Schrift, die dem Menschen Tiefgründiges, Orakelhaftes mitzuteilen hat, kann eigentlich nur noch in der Natur des fremden Raumes aufscheinen. Indem sie dort erscheint, mystifiziert sie gleichzeitig diesen fremden Raum. Die Entzifferung der Schrift zieht jedoch in der literarischen Gestaltung durch Max Dauthendey keineswegs eine Entmystifizierung dieser fremden, exotischen Szenerie nach sich. Nur bestimmte, auserwählte oder eingeweihte Angehörige dieser fremden Kultur können die Schriften lesen – die westlichen Rezipienten/innen können nur ‚vermittelt‘ an dem Geheimnis teilhaben. Die Differenz zwischen der in der Natur aufscheinenden Schrift und der Natur-Schrift ist zwar von Dauthendey unmissverständlich gestaltet und benannt, letztlich für viele europäische Lesende aber u.U. nicht besonders wirkungsmächtig, da, wie noch zu zeigen sein wird, die chinesische und die japanische Schrift sowohl in literarischen als auch in eher faktualen Textformen der Ästhetisierung und Mystifizierung der ‚Fremde Japan‘ dient und nur selten in ihrer ‚primären‘ Funktion wahrgenommen und beschrieben wird.85 Die ‚fremde Schrift‘ erscheint dem europäischen Betrachter geheimnisvoll, mystisch und als Ideogramm bildlich und ästhetisch. Ein Mythos, der sich mit dem chinesischen Zeichensystem verbindet, unterstützt darüber hinaus die Idee von der ‚Naturhaftigkeit‘ dieser Schrift: _____________ 84
85
Zudem verkörperte in seinen literarisierenden Gestaltungen Asien, und v.a. Japan Dauthendeys lebensphilosophischen Vorstellungen (vgl. Kapitel 4.1.). Auf diese Verbindung verweist auch Ulrike Stamm: „Damit wird aus der in der ‚Weltfestlichkeit‘ beschworenen ‚Sprache der stummen Dinge‘ eine Schrift, in der die Dinge mit den Menschen kommunizieren. Der Topos der in der Natur aufscheinenden Schrift ist folglich eine Umsetzung und Verbildlichung dieser natürlichen Sprache.“ (Stamm in: Gebhard (Hg.) 2000, 71) Vgl. Kapitel 5.4.3 Ästhetisierung und Mystifizierung der ‚ f remden Schrift ‘ .
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5 In der Fremde lesen
„Sicherlich sind sie [die chinesischen Schriftzeichen] nicht ‚auf einen Schlag‘ entdeckt oder erfunden worden. Auch wenn eine berühmte und schön erdachte Anekdote es so haben will: Denn nach der Überlieferung soll ein gewisser Sôkitsu [...] die chinesische Zeichen-Schrift gleichsam vorgefunden haben, als er im Sand am Meer einmal Abdrücke, ‚Spuren‘, sah, die Vögel dort hinterlassen hatten.“ (Pörtner in: Wende (Hg.) 2002, 67)
Hans Blumenberg verweist u.a. auf die Sehnsucht der Romantiker, an den Geheimnissen der Natur teilzunehmen und in ihre vermeintliche Innerlichkeit einzudringen. Nach Auffassung der Romantiker hatte die Natur „ihre Geheimschrift für ihre Geheimnisse“ (Blumenberg 20005, 277). Diese Rolle war zunächst den ägyptischen Hieroglyphen zugedacht; die Hieroglyphen wurden jedoch im Jahr 1822 durch Jean François Champollion entziffert. Der Inhalt der Hieroglyphentexte konnte den Projektionen und Erwartungen der Romantiker nicht gerecht werden, dieser Realitätsschock wurde aber durch die Trennung von Übersetzung und Deutung etwas abgemildert.86 Dennoch, die ‚fremden Schriften‘ blieben Projektionsraum für die Sehnsüchte der Europa- und Rationalitätsmüden – dem chinesischen und dem japanischen Schriftsystem kommt dabei eine besondere Rolle zu, auf die weiter unten noch einzugehen sein wird. Die ‚fremden Gesichter‘ „Was für ein Land ist das? denke ich, ich werde mich hier – halt! Der Kuli verbeugt sich, lächelt – und ich bin verwundert über das feine, milde Lächeln dieses schlichten Kulis. Ich sehe ihm in die glänzenden Pechaugen, in denen ich noch nicht zu lesen verstehe, dieses feine milde Lächeln ist auch in seinen Augen.“ (Kellermann 1922, 7)
Die erste ‚face-to-face‘-Begegnung des Reisenden in Bernhard Kellermanns Ein Spaziergang in Japan mit einem Japaner ist voller Erwartung. Eine Antwort auf die Frage „Was ist das für ein Land“, ein Lüften des Geheimnisses um die Kultur, sucht der Reisende zunächst in den Augen des „Kulis“, in denen er jedoch „noch nicht zu lesen“ versteht. In den „glänzenden Pechaugen“ spiegelt sich ihm nur das japanische Lächeln, dem im tradierten Diskurs über die ‚Fremde Japan‘ eine feste Funktion (Ausdruck von Unergründlichkeit und Geheimnis) zukommt.87 ‚Lesestoff‘ sollen hier also die Augen sein, die, wie bereits gezeigt wurde,88 als Fenster zur Seele und als Spiegel der Seele gelten. Was der Reisende darin zu lesen _____________ 86 87 88
Vgl. Blumenberg 20005, 277. Vgl. etwa den deutschen Titel der Übersetzung des 1984 erschienenen Buches von Ian Buruma (A Japanese Mirror): Japan hinter dem Lächeln. Götter, Gangster, Geishas. (1985). Vgl. Kapitel 3.2.5 Der Reisende als Zuschauer.
5.3 Die Fremde lesen
259
erhofft, sind Erkenntnisse über das Land, die Kultur, die Menschen, die ihm ein besseres Verständnis ermöglichen. In dieser Konzeption wird den Augen, auch den Augen des Fremden, also prinzipiell der Status der Lesbarkeit zugesprochen – wenn der Reisende „noch nicht“ in diesen Augen lesen kann – und es auch bis zum Schluss seines Aufenthaltes nicht wirklich schafft – so liegt es an seiner ‚Lesefähigkeit‘, die an der immensen Kulturdifferenz scheitert: Die Schrift bzw. die fremde Kultur, die sich in die Augen und das Lächeln des Kulis eingeschrieben hat, kann nicht entziffert werden. Dieses Bild stützt den im Zusammenhang mit der Konstruktion der ‚Fremde Japan‘ zentralen Topos von der Unverstehbarkeit 89 und der unüberwindbaren Fremdheit zwischen den Kulturen. In der Körpermetaphorik der Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin TAWADA Yoko,90 die seit 1982 in Deutschland lebt und arbeitet und die ihre Texte auf Deutsch und Japanisch verfasst, schreibt sich in die ‚Gesichter‘ der Menschen eine andere Form von Fremdheit ein, nämlich Erfahrungen des Fremdseins und des Fremdwerdens: „Man kann das Thema des Gesichtes kaum umgehen, wenn man sich mit der Fremdheit beschäftigt. Reisende bekommen von den Einheimischen deshalb so viele Masken aufs Gesicht gedrückt, weil sie sonst unsichtbar bleiben. Es gibt eine Szene in meiner Erzählung ‚Das Bad‘, in der die Ich-Erzählerin nach einem langen Aufenthalt in Europa nach Japan zurückfährt. Die Mutter blickt sie verwundert an und fragt: ‚Warum hast du so ein asiatisches Gesicht bekommen?‘ Die Ich-Erzählerin antwortet: ‚Du redest Unsinn, Mutter. Das ist doch selbstverständlich. Ich bin eine Asiatin.‘ Darauf sagt die Mutter: ‚So habe ich es nicht gemeint. Du hast ein fremdes Gesicht bekommen; wie die Japaner, die in amerikanischen Filmen auftreten.‘[91] Die Erwartungen der Betrachter erzeugen Masken, und die wachsen ins Fleisch der Fremden hinein. So werden stets die Blicke der anderen ins eigene Gesicht eingeschrieben. Ein Gesicht kann mehrere Schichten erhalten. Vielleicht kann man ein Gesicht wie einen Reisebericht umblättern.“ (Tawada 1998, 52f.)
In der hier zitierten 3. Tübinger Poetik-Vorlesung Gesicht eines Fisches oder das Problem der Verwandlung92 bezeichnet Tawada das Gesicht in Anlehnung an Walter Benjamin als „das, was ich an den anderen Menschen sehe [...]. Es geht beim Gesicht also nicht um einen anatomisch fixierbaren Körperteil, denn man kann ein Gesicht auch auf einer Hand sehen oder in einer Handschrift oder in einer Kopfbewegung.“ (ebd., 48); „Ein Gesicht ist etwas, das sichtbar geworden ist.“ (ebd., 46) _____________ 89 90 91 92
Vgl. auch Pekar 2003, 159-172. Vgl. dazu auch Fischer in: Wolff et al. (Hgg.) 1997, 377f. Tawada 19933, Kap. 8. Zu den Tübinger Poetik-Vorlesungen vgl. auch Kloepfer in: , 9 of 10.
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5 In der Fremde lesen
Der Blick in die Augen des Gegenübers wird schon deshalb gemieden, weil man darin nur sich selbst widergespiegelt findet, nur selbst sichtbar wird.93 Dort wird also Erkenntnis über den anderen gar nicht erst gesucht, der Topos des ‚Lesens in den Augen des Gegenübers‘ ist hier an seinem Ende angelangt. Ist es in der Physiognomik Johann Caspar Lavaters (1741–1801) noch das Innere, d.h. der Geist und der Charakter des Menschen, das sich in seinem Äußeren, vornehmlich in seinem Gesicht zeigt und das im Analogieverfahren entschlüsselt werden kann – wobei Lavater den Lesenden die Dekodierungsschlüssel an die Hand gibt94 –, so sind es hier die eigenen Erfahrungen, aber auch die Erwartungen der anderen sowie die stereotypen Bilder, die sich in das ‚Gesicht‘ eines jeden einschreiben. Andrea Krauß (2002) weist darauf hin, dass in der Erzählung Das Bad die Haut zur „mehrdeutigen Einschreibefläche [wird], in der sich Untergründiges, vielleicht das innere Gesicht als subjektiver Gesichtssinn, und soziales Geschehen kreuzen, ohne daß deren ‚dynamische Wechselbeziehung‘ im fortdauernden Konstruktionsprozess anteilig entscheidbar wären.“ (Krauß in: Blioumi (Hg.) 2002, 58f.)95 Durch die Einschreibungen verwandelt sich der bzw. die Einzelne – sie kann sich selbst und anderen fremd werden: „Jeder Versuch, den Unterschied zwischen zwei Kulturen zu beschreiben, mißlang mir: Der Unterschied wurde direkt auf meine Haut aufgetragen wie eine fremde Schrift, die ich zwar spüren, aber nicht lesen konnte. Jeder Klang, jeder fremde Blick und jeder fremde Geschmack wirkten unangenehm auf meinen Körper, so lange, bis der Körper sich veränderte.“ (Tawada 1992, 14)
Am Körper und in den Gesichtern werden die Fremdheitserfahrungen und die Erfahrungen in der Fremde ablesbar, sie werden zum ‚Lesestoff‘: Vielleicht kann man ein Gesicht wie einen Reisebericht umblättern.96
_____________ 93
94 95 96
„In seinen Augen sehe ich meinen eigenen Gesichtsausdruck widergespiegelt: meine Unruhe, Schüchternheit, Trotzigkeit, Unlust, Menschenscheu usw. Bei diesem Anblick überkommt mich eine Peinlichkeit, wie man sie beim Hören der eigenen Stimme aus einem Tonband empfindet, und ich muß sofort wegschauen. Es ist deshalb unerträglich, in die Augen des Gesprächspartners zu sehen.“ (Tawada 1998, 48). Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Zürich 1775–1778. Vgl. dazu u.a. Jaton 1988. Zu dem Kurzroman Das Bad vgl. auch Fischer in: Fischer; McGowan (Hgg.) 1997, 101103. Ausführlicher zu TAWADA Yoko, vgl. Kapitel 5.4 Die ‚ f remde Schrift ‘ .
5.3 Die Fremde lesen
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Die Zeichen I: Orakel und Deutung „Wenn die Barbaren lang und dringend genug erwartet worden sind, denke ich in der Mittagspause, verwandelt sich alles in ein Vorzeichen ihrer Ankunft.“97
In seiner Einleitung zur zweiten Auflage der Schrift Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis (1778) schreibt Georg Christoph Lichtenberg: „Ich wollte hindern daß man nicht zur Beförderung von Menschenliebe physiognomierte, so wie man ehmals zu Beförderung der Liebe Gottes sengte und brennte; Ich wollte hindern, daß, da grober Aberglaube aus der feineren Welt verbannt ist, sich nicht ein klügelnder an dessen Statt einschliche, der eben durch die Maske der Vernunft, die er trägt, gefährlicher wird, als der grobe. [...] Jetzt sind es Zeichen an der Stirne, die man deuten will, ehmals waren es Zeichen am Himmel.“ (Lichtenberg [1778] 1994, 257f.)
Abgesehen von den oft wiederholten Warnungen Lichtenbergs vor der Vorstellung einer wirklichen Erkenntnis, die aus einer Physiognomik zu gewinnen sei,98 ist insbesondere die Verbindung bemerkenswert, die Lichtenberg sieht, „zwischen dem von der Aufklärung mühsam zurückgedrängten Zeichenbedarf in und an der Natur und einem neuen Zeichenbedarf an der menschlichen Erscheinung selbst.“ (Blumenberg 20005, 202) In vielen Äußerungen über die ‚Fremde Japan‘ lässt sich ebenfalls ein „Zeichenbedarf“ ablesen. Ein solcher Zeichenbedarf wird nicht zuletzt in den vielfältigen Ausgestaltungen der Zuweisung von Schrift- und Zeichencharakter zu den verschiedensten Phänomenen sichtbar. Diese Zuweisungen können einerseits für die Wahrnehmungs- und ‚Rezeptionshaltung‘ in der Fremde Konsequenzen haben,99 andererseits aber auch für den ‚Status‘ der Dinge. Obgleich der Zuweisung von Schriftcharakter prinzipiell die Dimension der Lesbarkeit innewohnt, und die Zuweisung von Zeichencharakter – zumindest in semiotischem Sinne – in der Folge eine Aufschlüsselung der Dichotomie von ‚Bezeichnendem‘ und ‚Bezeichnetem‘ impliziert,100 scheint in den Texten über die ‚Fremde Japan‘ _____________ 97 Wackwitz 1996, 28. 98 „[U]nsere Sinne zeigen uns nur Oberflächen, und alles andere sind Schlüsse daraus. [...] Wenn das Innere auf dem Äußern abgedruckt ist, steht es deswegen für unsere Augen da? Und können nicht Spuren von Wirkungen, die wir nicht suchen, die bedecken und verwirren, die wir suchen? So wird nichtverstandene Ordnung endlich Unordnung, Wirkung nicht zu erkennender Ursachen Zufall, und wo zu viel zu sehen ist, sehen wir nichts.“ (Lichtenberg [1778] 1994, 265) Vgl. dazu insbesondere Blumenberg 20005, 199-213. 99 Vgl. Kapitel 5.3.2 Der ‚Leseprozess‘. 100 Vgl. auch Prondczynsky (1993): „Nichts ändert sich im Grunde an der prinzipiellen Annahme der Welt als Text, wenn wir die Existenz einer Vielzahl verschiedener solcher Code-
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auffallend häufig eine Verschlüsselung oder auch Verrätselung der Dinge die Konsequenz einer solchen Zuweisung zu sein. Zu einer Verschlüsselung kommt es zunächst einmal dann, wenn die wahrgenommenen Dinge zu etwas anderem werden, zu Zeichen in magischem Sinne: Phänomene und Erscheinungen werden zu Orakeln, zu ‚Anzeichen‘, denen ein hintergründiger Text innewohnt, der gelesen sein will: „Als Feldt den Kopf hob, sah er einen Bussard hoch oben am blauen Himmel über dem Buddha kreisen. Er ahnte, daß es ein schlechtes Zeichen war. Zumeist überkam ihn eine Intuition schon beim Anblick von Einzelheiten. In der Zusammensetzung der Dinge, ihrer Anordnung und ihrer zufälligen Auswahl war eine geheime Schrift verborgen, die er – vorausgesetzt, daß er nicht betrunken war – hin und wieder lesen konnte.“ (Roth 20002, 154) „Diesmal würde er das Rebus lösen. Das Tapetenmuster deutete er als Reise, die Geishapuppe als Begegnung mit einer Frau, das Ungeziefer als Unglück, das Hotel als Gefahr (da war schon wieder das Wort!), den Fudji-san an der Wand als das fremde Land. Und weiter: die eng ineinander verschachtelten Räume, was bedeuteten sie?“ (ebd., 247)
Einzelne Elemente der Kultur werden als chiffrierte Botschaften verstanden, die erst dechiffriert werden müssen. Jedes Rätsel trägt die Möglichkeit seiner Lösung in sich und jede Chiffre enthält das Potential der Dechiffrierung – aber wer sagt, dass der Lesende den richtigen Schlüssel für die Dechiffrierung zur Hand hat? Obgleich er sich selbst die magische Zeichenwelt erschafft, ist er dennoch in ständiger Unsicherheit befangen, ob er die „geheime Schrift“ wirklich ‚richtig‘ liest und er verliert den Blick für die ihm begegnende Realität: „Feldt war mit der Lösung seines Rebus beschäftigt, mit dem Verwirrspiel der Bilder und Bedeutungen.“ (ebd., 253) Die Tradition der rätselhaften, mystischen ‚Fremde Japan‘ findet sich, wie bereits gezeigt werden konnte, auf inhaltlicher Ebene in vielfältigen Ausgestaltungen in den untersuchten Texten: „Schon glaubt man sie ein wenig zu kennen, diese Japaner, da entziehen sie sich auch schon dem Zugriff des Forschenden. Die Erscheinung, die man grade zu fassen vermeinte, entweicht wie ein Luftgebilde, verschwindet um die Ecke, nur das Leuchten oder Flattern eines fremdartigen Gewandes als letzte Spur zurücklassend. Sie sind und bleiben rätselhaft, im Guten wie im Bösen. Ihr Reiz ist ebenso unerklärlich wie das Abstoßende, zu dessen sie fähig sind.“ (Sieburg 1939, 72)
Dieser Diskurs wird im Zusammenhang mit der Zuweisung des Zeichenund Schriftcharakters unter anderen ‚Vorzeichen‘ fortgesetzt; die Konse_____________ Systeme unterstellen: [...] alles liefert uns textualisierte bzw. textualisierbares Material, dessen Dechiffrierung und erneute Codierung Orientierung und damit Denk- und Handlungsmöglichkeiten in der Welt bzw. den je spezifischen Welten verschafft.“ (ebd., 257).
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quenz, die Konstruktion einer kaum zu überwindenden Fremdheit, bleibt die gleiche. TAWADA Yoko macht sich diesen Gestus der Verrätselung in ihrem Blick auf die deutsche Kultur zu eigen, die in ihrer Beschreibung zur ‚Fremde Deutschland‘ wird. In ihrem kurzen ‚Reisebericht‘ Rothenburg ob der Tauber: Ein deutsches Rätsel 101 berichtet eine fiktive Erzählerin von ihrem Besuch eines der beliebtesten Reiseziele für Japaner in Deutschland. Die Ich-Erzählerin betrachtet als Teilnehmerin einer japanischen Reisegruppe die ihr fremde Kultur, die Stadt und die Menschen mit Neugier und fast ethnologischem Interesse. Ihre Beobachtungen deutet die Besucherin auf Grundlage eines Denkens, das den Dingen magische Bedeutung verleiht: „Es war sonderbar, durch ein Tor in eine Stadt einzutreten. In Japan hat es nie eine Stadt gegeben, die von einer Stadtmauer umgeben war. Daher hatte ich auch noch nie ein Stadttor gesehen. [...] Auf die Mauer, genau über dem Eingang, war ein schwarzer Vogel gemalt. Vielleicht war bei der Gründung der Stadt ein wirklicher Vogel als Opfergabe hingehängt worden, der später durch das Bild ersetzt wurde. Ich konnte mir vorstellen, daß eine solche Opfergabe die Baumgeister beruhigte, die wegen des Stadtbaus von dem Ort verjagt worden waren. Über dem schwarzen Vogel war eine viereckige Wanduhr befestigt. Sie erinnerte jeden, der dort ankam, daran, daß man sich innerhalb der Mauer an einer gemeinsamen Zeitvorstellung orientieren sollte. Als ich genauer hinblickte, sah ich einen kleinen Menschenkopf direkt unter der Uhr. [...] Ich wollte die Fremdenführerin fragen, ob dieser Kopf auch eine Opfergabe war, aber sie stand schon mit unserer Reisegruppe innerhalb der Mauer.“ (Tawada 1996, 28.)
Die Ich-Erzählerin trägt an die für sie fremde Kultur ein Bezugssystem für die Deutung der Alltagsgegenstände heran, das diese verfremdet und das ihnen eine neue Bedeutung verleiht. In der Beschreibung des Gesehenen, die insofern einen ethnographischen Gestus aufweist,102 da sie Beschreibung und Deutung miteinander verwebt, erhalten die Dinge den Status magischer, orakelhafter Zeichen, die eben auf diese Weise gelesen werden müssen, damit sie ‚verstanden‘ werden können. Durch diese ungewohnte Form der Kontextualisierung wird den deutschen Lesenden ihr vermeintlich Eigenes fremd: Mit einem Mal wird die eigene Kultur zum ‚ganz Anderen‘, zum Rätsel, das gelöst sein will: „Ein Ladenschild mit einer rätselhaften Form fesselte meinen Blick. Wenn die Zahl Sechs mit ihrem Spiegelbild zusammentreffen würde, könnte eine ähnliche Form entstehen. Als ich die Fremdenführerin fragte, was diese Form bedeute, sagte sie nur, das sei eine Brezel. Ein B-rätsel? Ein schönes Wort. Im Schau-
_____________ 101 In: Tawada 1996, 28-39. 102 Zur „fiktiven Ethnologie“ Tawadas vgl. Krauß in: Blioumi (Hg.) 2002, 55-78. Claudia Breger untersucht die Figur der „fiktiven Japanerin“, die Tawadas Geschichten erzählt, und kontextualisiert diese mit der Fiktionalisierung Japans etwa bei Barthes u.a.; vgl. Breger in: Benthien; Krüger-Fürhoff (Hgg.) 1999, 199ff.
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fenster sah ich ein Brot, das genau dieselbe rätselhafte Form hatte wie das Ladenschild. Das war also ein Stück B-rätsel. Wahrscheinlich bedeutet diese Form etwas Schönes in der Geheimsprache des Bäckers. [...] Die Aufgabe des Bäckers war es scheinbar, Rätsel herzustellen, die die Menschen nicht lösen, aber essen konnten. Ich wußte endlich, warum ich mir den Bäcker immer als eine romantische Figur vorgestellt hatte.“ (ebd., 29f.; 33)
Die Zeichen II: Signifikant ohne Signifikat Bei Roland Barthes, der als Semiotiker nach Japan reiste, wird die ‚Fremde Japan‘ bzw. werden einzelne Phänomene zu Zeichen, aber sie werden zu Signifikanten ohne Signifikat, die das Potential ihrer Deutung nicht mehr in sich tragen. Barthes, das darf dabei nicht übersehen werden, schreibt in seinem 1970 erstmals erschienenen Buch L’empire des signes • Das Reich der Zeichen (1981) ausdrücklich nicht über Japan, aber er bezeichnet dennoch Phänomene der japanischen (Alltags-)Kultur. Er greift vereinzelte Elemente der kulturellen Ordnung, „eine gewisse Anzahl von Zügen“ auf, und ordnet diese in einem bestimmten System an „und dieses System werde ich Japan nennen“ (Barthes 1981, 13). Die Fiktionalisierung der Kultur wird hier zum Programm. Anhand dieses Systems, genannt Japan, wird den Lesenden etwas gezeigt oder vielmehr, ihnen wird nichts gezeigt: Die „Leere in der Sprache“, die „leeren Zeichen“, die „Zeichen ohne Bedeutung“.103 Bei der Frage nach dem Zeichencharakter des japanischen Blicks bzw. des japanischen Gesichts, wird dies evident: „Auf die elementaren Signifikanten der Schrift reduziert [...] weist das Gesicht jegliches Signifikat, d.h. alle Expressivität ab: Diese Schrift schreibt nichts (oder sie schreibt nichts); nicht allein gibt sie sich für kein Gefühl, für keinen Sinn her (nicht einmal für den der Undurchdringlichkeit oder Ausdruckslosigkeit), sie kopiert auch keinen Charakter: Die Frau, die [...] von einem Mann gespielt wird, ist dennoch kein Mann [...] , sondern ein reiner Signifikant [...] Der Schauspieler spielt die Frau nicht mit seinem Gesicht, noch kopiert es sie, er bedeutet sie lediglich.“ (ebd., 123ff.)
So fühlt sich das schreibende Ich in Japan „in die Situation der Schrift versetzt.“ (ebd., 14) Dies ist, darauf hat schon Thomas Pekar hingewiesen, „etwas ganz anderes [...], als Japan ‚lesen‘ und ‚verstehen‘ zu wollen.“ (Pekar in: Japanstudien 1996, 28) Um Verstehen geht es Barthes tatsächlich nicht, schon gar nicht um das Verstehen der ‚Fremde Japan‘, auch wenn Hans Ulrich Gumbrecht Barthes Schrift als einen Fall „gelingenden Verstehens bei ungenügenden Verstehensvoraussetzungen“ (Gumbrecht _____________ 103 Als Referenzsystem dient Barthes hier der Zen-Buddhismus und dessen Konzeption der Sinnbefreiung und Leere. Dazu sowie allgemein zum Zen-Buddhismus in Japan vgl. Dumoulin 1986.
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2000, 5) kennzeichnet.104 Auch wenn es Barthes weder um das Verstehen der ‚Fremde Japan‘, noch um Japan selbst geht, so trägt er doch einige damit eng verbundene westliche Vorstellungen weiter und führt den Diskurs über die Fremdheit dieser Kultur in eine weitere Dimension: Nicht mehr Unverstehbarkeit aufgrund der unüberwindbaren Differenz zwischen den Kulturen, sondern die Absage an jede Zeichendeutung, da sich die ‚Zeichen als Zeichen‘ entziehen. Die Aufhebung der Dichotomie Signifikant/Signifikat unterläuft das semiotische Modell, das dennoch als Beschreibungsmodell in Das Reich der Zeichen Bestand behält. Hier scheint in der Begegnung mit der japanischen Kultur der Versuch, eine Kultur als einen Prozess und als ein System von immer weiterführenden Semiosen zu verstehen, die unausgesetzt Sinn bzw. Bedeutung produzieren, in eine Sackgasse zu münden. Dennoch stellt die Semiotik den systematischen Bezugsrahmen und das methodische Instrumentarium für eine kulturwissenschaftliche Auffassung von Kultur als Text,105 deren wesentliches Ziel es ist, „im Horizont [dieser] Metapher [...] Zugang zu den Selbstbeschreibungsdimensionen einer Gesellschaft zu gewinnen“ (Bachmann-Medick in: dies. (Hg.) 20042, 10) und kulturelle Felder aufgrund fortschreitender ‚Lektüren‘ lesbar zu machen.106
_____________ 104 Als weiteres Beispiel für einen gelungenen Verstehensversuch bei eher ungünstigen Verstehensvoraussetzungen dient Gumbrecht Martin Heideggers Schrift „Aus einem Gespräch von der Sprache“ (1959), wobei er insbesondere dessen Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Ideal iki – etwa: „edle, heitere, raffinierte Vollendung.“ (Ken in: Ehmcke; Shôno-Sládek (Hgg.) 1994, 150) – näher fokussiert. Gumbrecht formuliert in seinem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die These, dass Heidegger manche Facetten des japanischen ästhetischen Ideals iki wohl besser verstanden habe als KUKI Shûzô, ein ehemaliger Schüler Heideggers, der ein, lange Zeit als das zentrale Werk geltendes Buch über iki (Kuki 1997) geschrieben hat: „Doch trotz so ungünstiger Verstehensvoraussetzungen sind Heideggers Anschauungen über die japanische Kultur in vielem durchaus zutreffend. Ohne jede Kenntnis der von Kuki geschilderten Phänomene sind die von Heidegger hervorgehobenen Aspekte des Begriffs ‚Iki‘ wohl angemessener und produktiver als die Analysen des japanischen Autors.“ (Gumbrecht 2000, 5) Auf diese Einschätzung soll hier – zumal ohne Berücksichtigung japanischer Quellen zum Thema – nicht weiter eingegangen werden. 105 Vgl. auch Goebel, der konstatiert, dass Das Reich der Zeichen „den Topos der Flanerie radikal in ein poststrukturalistisches Territorium“ treibe. Flanerie bei Barthes gehe „unmittelbardirekt in die Aktivität des Schreibens über, wird mit dieser gleich, wobei die Wirklichkeitsdetails als Signifikanten der Text-Welt Japans fungieren. Hier fällt die Schreibaktivität des Flaneurs mit der sich quasi selbstschreibenden Stadtszene zusammen; [...] Flanerie ist die schreibende Lektüre oder das lesende Schreiben Japans als poststrukturalistischer Text.“ (Goebel 2001, 132; 134). 106 Vgl. zur Kultursemiotik Posner in: Nünning; Nünning (Hgg.) 2003, 39-73.
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Kultur als Text „Stattdessen beobachtete ich die Menschen, die ich auf der Straße sah, so als wären sie vereinzelte Buchstaben. Manchmal setzten sich ein paar Menschen zusammen in ein Café, und so bildeten sie für eine Weile gemeinsam ein Wort. Dann lösten sie sich, um ein neues Wort zu bilden. Es muß einen Moment gegeben haben, in dem die Kombination dieser Wörter zufällig mehrere Sätze bildete und in dem ich diese fremde Stadt wie einen Text hätte lesen können. Aber ich entdeckte niemals einen Satz in dieser Stadt, sondern nur Buchstaben und manchmal einige Wörter, die mit dem ‚Inhalt‘ der Kultur direkt nicht zu tun hatten.“ 107 „Die Stadt war ein in seinen Varianten untergegangener Text.“ 108
Die Metapher Kultur als Text beinhaltet zwei Dimensionen: Die Vertextlichung von Kultur, aber auch die Kulturalisierung von Texten. Kulturalisierung von Texten bedeutet, dass – auch literarische – Texte als Teil jener „anderen semiotischen Felder des kulturellen Gewebes [gelten], die das Ensemble einer (historisch eingegrenzten) Kultur bilden.“ (Neumann; Weigel in: dies. (Hgg.) 2000, 13) Den Blick auf literarische Texte kann dies u.a. insofern verändern, als er durch kulturwissenschaftliche Perspektiven und Fragestellungen erweitert wird; zudem können die Texte nun auch als Formen ethnographischer Beschreibung und/oder Deutung von Kultur gelesen werden. Es geht um die Befragung der Texte im Hinblick auf ihre Schreibweise und die jeweilige Lesart sowie um den „Erwerb einer Praxis der Lektüre, die als Entzifferungs- und Analyseverfahren theoretisch reflektiert und methodisch überprüfbar ist. [...] Hierbei ist eine historische Ausrichtung denkbar, welche die Texte als Archiv eines kulturellen Gedächtnisses begreift und liest, als Ausdruck tradierter Wahrnehmungsweisen und der symbolisch-psychischen Bearbeitung historischer Erfahrungen. Andererseits ist ein exemplarisches Vorgehen möglich, das Textverstehen mit dem Ziel der Beschreibung und Differenzierung von Vorgängen der Bedeutungskonstitution und Semantisierung von Lebenswelt an einzelnen, in ›dichter Beschreibung‹ zu erschließenden Konstellationen, Szenarien und Schauplätzen betreibt.“ (ebd., 14)
Die Auffassung von Kultur als Text beinhaltet ebenso eine Erweiterung der Perspektive: Eine prinzipielle Lesbarkeit wird nämlich nicht mehr nur (literarischen) Texten zugesprochen, die als Teil der kulturellen Repräsentationsformen begriffen und im Gesamtsystem Kultur verortet und be_____________ 107 Tawada 1992, 18. 108 Wackwitz 1996, 8.
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fragt werden. Kultur und kulturelle Erscheinungsformen, wie etwa das soziale Leben, Ernährungsgewohnheiten, Sexualität, etc., werden nun einerseits als textvermittelt sowie andererseits selbst als ‚Texte‘ begriffen, und in ihrer „›Lesbarkeit‹ vorausgesetzt,“ (Bachmann-Medick in: dies. (Hg.) 20042, 23). Hier zeigen sich die richtungsweisenden Einflüsse von Kulturanthropologie und Ethnologie sowie der postkolonialen Debatte auf kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Grundlagen. Clifford Geertz‘ in diesem Zusammenhang einflussreiche Kennzeichnung von Kultur und möglichen Beschreibungsformen von Kultur lautet folgendermaßen: „Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.“ (Geertz 19996, 9) „Als ineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen [...] ist Kultur keine Instanz, der gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse kausal zugeordnet werden könnten. Sie ist ein Kontext, ein Rahmen, in dem sie verständlich – nämlich dicht – beschreibbar sind.“ (ebd., 21)109
Wenn Kultur potentiell lesbar und beschreibbar ist, stellt sich die Frage nach möglichen Methoden der ‚Lesbar-Machung‘. An diesem Punkt avanciert die Literaturtheorie zu einer wichtigen Bezugsdisziplin einer Kulturwissenschaft, die die traditionellen geisteswissenschaftlichen Disziplinen integriert und – auch methodisch – neu ordnet.110 Als „Metawissenschaft“ soll sich die Literaturwissenschaft „in Anknüpfung an ihre lange hermeneutische Tradition, als ein, von der Kenntnis literarischer Texte ausgehendes, durch sie geschärftes Organ der Lektüre solcher umfassenden kulturellen Texte [...] verstehen.“ (Neumann; Weigel in: dies. (Hgg.) 2000, 13) ‚Lektüre‘ bezeichnet in diesem Zusammenhang einen prinzipiell unabschließbaren Prozess der Bedeutungsbildung und der Hinterfragung dieser anhand der Materialität des ‚Textes‘ und seiner Kontexte sowie anhand _____________ 109 Die Ethnographie als ‚dichte Beschreibung‘ in der Weiterentwicklung des Konzepts von Gilbert Ryle durch Clifford Geertz ist dargestellt in: Geertz: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. (Erstabdruck: Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture. In: Clifford Geertz: The Interpretation of Cultures. Selected Essays. New York 1973, 3-30.) In: ders. 19996, 7-44. Sowie ders.: ›Aus der Perspektive des Eingeborenen‹ Zum Problem des ethnologischen Verstehens. In: Geertz 19996, 289-311. Vgl. darüber hinaus: ›Deep play: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf‹. In: Geertz 19996, 202-261. Vgl. auch Griesecke, Birgit: Japan dicht beschreiben. München 2001. 110 In diesem Sinne einer Kulturwissenschaft als einer „Metaebene der Reflexion und eine[r] Steuerungsebene für die Modernisierung der Geisteswissenschaften.“ (Böhme; Scherpe in: dies. (Hgg.) 1996, 12).
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der Reflexion des Prozesses selbst (der Reflexionen über die gesellschaftlich, institutionell und kulturell gebundenen Formen der Bedeutungsbildung sowie der gesellschaftlichen und kulturellen Sprachhandlungen).111 Der Rückgriff auf den Begriff richtet den Blick auf den Prozess und seine Bedingungen selbst und markiert eine Lesehaltung, die motiviert ist, nicht durch „die Unauffindbarkeit von Sinn im Text, sondern [durch] die Verweigerung von Sinn“ (Assmann in: dies. (Hg.) 1996, 15). Einer sich hier evtl. anbahnenden (Begriffs-)Verwirrung, die darin besteht, dass die Konzeption von ‚Lesbarkeit‘ einer Kultur als Text doch mit der dekonstruktivistischen Prämisse von der ‚Unlesbarkeit‘ von Texten jedweder Art in Widerspruch stehen könnte, lässt sich durch eine nähere Betrachtung des Konzepts von der Unlesbarkeit vielleicht ein wenig mildern: „Was Hamlet hier für sich selbst in Anspruch nimmt, macht die Dekonstruktion für den Text geltend. Sie entwickelt Formen der Lektüre, die den Texten ihre Fremdheit zurückgibt, anstatt sie in Sinn zu übersetzen und dem Verstehen preiszugeben. Texte auf ihre Unlesbarkeit hin zu lesen bedeutet, gegen den Verstehenszwang als eine immanente oder angelernte Tendenz des menschlichen Geistes anzugehen und im Gegenzug dazu herzustellen, was die Sinnproduktion notwendig verstellt: das Widerständige, Unzusammenhängende, Fragmentarische, Beziehungslose, Entzogene, Verlorene.“ (ebd., 16)
Kultur als Text, der auf seine Unlesbarkeit hin gelesen wird? Wie noch zu zeigen sein wird, ist es auch das Anliegen einer Interkulturellen Hermeneutik, der ‚anderen‘ Kultur ihre Andersheit resp. Fremdheit zuzugestehen und diese nicht in harmonisierenden Verstehensvollzügen oder in Kohärenz und Eindeutigkeit suggerierenden Interpretationen einzuverleiben (vgl. Exkurs 2: Überlegungen zu: Fremde – Verstehen? Interkulturelle Hermeneutik und interkulturelles Lernen). Den im vorliegenden Zusammenhang geführten Diskussionen, zum Beispiel über einen etwaigen Sonderstatus der Literaturwissenschaft im Rahmen einer umfassenden Kulturwissenschaft,112 über die Erweiterung des Literatur- und Textbegriffs oder über den Zweifel an etablierten Begriffsauffassungen sowie dem tragenden Sinngehalt der Metapher Kultur als Text 113 etc., soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden, _____________ 111 Zum Lektüre-Begriff sowie zur Praxis der Lektüre vgl. insbesondere Winko 2002, 128-142. Zu den dem Begiff inhärenten Facetten schreibt Simone Winko: „Mit ‚Lektüre‘ kann sowohl ein besonderes Verfahren des professionellen ‚Umgangs‘ mit literarischen Texten bezeichnet werden als auch dessen Resultat, der literaturwissenschaftliche ‚Text über den Text‘. Zudem überlagern sich beide Verwendungsmöglichkeiten mit mindestens drei älteren Bedeutungen, die ‚Lektüre‘ haben kann: mit der Bezeichnung für die Tätigkeit des Lesens, für den Lesestoff und vor allem für die Lesart, die Art des Auffassens von Gelesenem.“ (Winko 2002, 129f.). 112 Sowie einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, vgl. dazu zusammenfassend Voßkamp in: Nünning; Nünning (Hgg.) 2003, 73-86. 113 Zur Kritik an dieser Metapher vgl. u.a. Böhme; Matussek; Müller 2000, 136f.
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zumal zu diesem Zweck eine tiefergehende Darstellung der Theorieentwürfe angezeigt wäre, die im vorliegenden Zusammenhang zu weit führen müsste.114 Vielmehr soll im Folgenden der bildhaften Verwendung des Begriffs Lesen im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der ‚Fremde Japan‘ weiter nachgegangen werden. 5.3.2 Der ‚Leseprozess‘ „So suchen wir Sinn in die Körperwelt zu bringen. Die Frage aber ist, ob alles für uns lesbar ist. Gewiß aber läßt sich durch vieles Probieren, und Nachsinnen auch eine Bedeutung in etwas bringen, was nicht für uns oder gar nicht lesbar ist.“ 115
In seinem Reisebericht In Japan I: Der Geburtstag des Kaisers, Das Pathos der Dinge und Andere japanische Erfahrungen (1977) beklagt sich der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom darüber, dass er „wie ein mit Vorurteilen und Informationen gefülltes Gefäß“ nach Japan reisen muss (Nooteboom 1997, 46) und geht den Quellen dieser zu Beginn seiner Ausführungen ein wenig nach. Als wirkungsmächtig erweist sich, neben einem Photo, auf dem ein Japaner einen australischen Kriegsgefangenen mit einem Schwert zu enthaupten droht, auch die Lektüre japanischer Literatur. Dort glaubt der Ich-Erzähler auch eigene Gefühle und Gedanken gespiegelt zu finden, so dass die vielbeschworene Differenz zwischen den Kulturen mit einem Mal gar nicht mehr so groß zu sein scheint:116 „Wie ‚anders‘ ist Japan? In den letzten Jahren habe ich Romane von Tanizaki, Kawabata, Kenzaburo Oe, Mishima gelesen, die mir nicht das Gefühl vermittelten, das ‚Andere‘ Japans sei ein anderes ‚Ander‘ als beispielsweise das Brasiliens. Eine bestimmte Exotik gesellschaftlicher und religiöser Bräuche, andere Pflanzen, anderes Wetter, aber andere Menschen? Die Romane thematisieren Empfindungen und Probleme, die mir nicht wirklich fremd sind; wenn ich die Exotik abziehe oder durch eine andere ersetze, bleibt nichts, das ich nicht verstehen würde. Aber werde ich das auch ohne den Kontext der Bücher wiedererkennen?“ (ebd., 46)
_____________ 114 Vgl. zu diesen, durchaus kontrovers geführten Diskussionen die verschiedenen Beiträge in der interdisziplinär ausgerichteten Einführung von Nünning; Nünning (Hgg.) 2003. 115 Lichtenberg: Sudelbücher Heft J 392 [1789–1793] 19943, 710. 116 Zur Rezeptionshaltung Lesender bei fremdkultureller, speziell japanischer Literatur vgl. Schaffers in: Jannidis et al. (Hgg.) 2003, 352f.
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Doch die Leseerfahrungen erweisen sich als trügerisch, und der fehlende „Kontext der Bücher“ offenbart eine Differenz, die im Kontext der konkreten Erfahrung nicht mehr zu überlesen ist: „Nach der Lektüre etlicher japanischer Romane hatte ich bei mir gedacht, trotz allerlei exotischer Dinge, trotz großer Unterschiede in der Geschichte und der sich daraus ergebenden unterschiedlichen Werte und Anschauungen sei das, was man der Einfachheit halber die wesentlichen Dinge nennt, beruhigenderweise das gleiche; doch nachdem ich mich eine Woche lang mit japanischem Alltagsleben vollgesogen habe, kann ich das nicht mehr glauben.“ (ebd., 63)
Und so wird auch für den Reisebericht Nootebooms das Konzept des anthropologischen Universalismus hinfällig und das der absoluten und irritierenden Fremdheit wieder dasjenige, welches das Schreiben bestimmt: „Unsichtbar und zugleich sehenden Auges blind, auf Wasser gehen, reisen und schauen und jeden Tag schärfer empfinden, daß man nicht sieht, was man sieht, daß man, für diese Gesellschaft mehr als für irgendeine andere, das eigene Leben ändern müßte, um etwas zu begreifen.“ (ebd., 64f.)
Diese Fremdheit bedeutet für den Reisenden eine Provokation, die auch Uwe Schmitt (1998) formuliert: „Das Aufwühlende, den Ausländer zutiefst Verwirrende, bleibt das Versagen seiner Erkenntnistechnik angesichts der Versöhnbarkeit von Widersprüchen, die jede Kultur sprengen müßten.“ (Schmitt 1998, 293) Der Provokation der sich allem intuitiven Verstehen entziehenden ‚Fremde Japan‘ begegnen die Schreibenden mit einer Suche nach und einer Konstruktion von Sinn und Bedeutung, die sich in der metaphorischen Verwendung des Begriffs Lesen ausdrückt. Lesen bezeichnet mehrere Dimensionen und Tätigkeiten, von denen insbesondere zwei genannt sein wollen: Die Kulturtechnik Lesen als Handlungsvollzug, also als mentale Textverarbeitung, mit der bedeutungserzeugende Prozesse und Verstehensprozesse genuin verbunden sind117 sowie ‚Lesen‘ (bzw. ‚Lektüren‘) als Schlüsselbegriff der Literaturtheorie, der den Begriff ‚Interpretieren‘ abgelöst hat,118 und der auch das (literaturwissenschaftliche) Schreiben _____________ 117 Vgl. dazu etwa Aust 1983 sowie das Handbuch Lesen hg. v. Franzmann et al. 1999. Aust zeigt den direkten Bezug aller Teilprozesse des Lesens zur Ebene des Verstehens „in Form von orthographischen, syntaktischen und semantischen Regelanwendungen. [...] Lesen ist – so gesehen – immer in umfassendere semantische, kognitive und mnemonische Zusammenhänge eingebettet, so daß es einen Lesebeginn ab ovo nie geben kann. [...] Beim aktuellen Lesebeginn bilden Verstehenserwartungen die ersten steuernden Impulse des Gesamtprozesses. Motivation, Aufmerksamkeit und Interesse gründen weithin auf probeweisen Verstehensentwürfen. Wenn man dennoch den Leseprozeß in Phasen aufteilen will, so tauchen Verstehenskomponenten in jeder Phase auf; in diesem Sinn gibt es keine Teilaktivität des Lesers, die ohne Verstehensbezug auskäme.“ (Aust 1983, 25f.). 118 Die kritische Betrachtung von Simone Winko (2002) Was sind Interpretation und Lektüre – praktisch gesehen (ebd., 133) verdeutlicht aber auch Folgendes: „Betrachtet man die Praxis, dann können ‚Interpretation‘ und ‚Lektüre‘ keinesfalls als Leitbegriffe für aufeinanderfol-
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über das (literaturwissenschaftliche) Lesen beinhaltet.119 Auch wenn diese Dimensionen in ihren theoretischen Grundlagen nicht weitergehend dargestellt werden können, so soll doch bei den Übertragungen des Lesebegriffs auf die Erfahrungssituation in der Fremde die Frage gestellt werden, inwiefern dies auch die Übertragung einzelner Facetten und Spezifika des ‚Lesens‘ beinhaltet. Lesen als ‚Wahrnehmungs- und Rezeptionshaltung‘ Der Leseprozess als solcher ist sehr individuell und subjektiv; er umfasst verschiedene Handlungen und Phasen bzw. Stufen und ist ein „Prozeß zwischen visueller Rezeption und Denken.“ (Aust 1983, 135) Die Haltung, mit der sich Lesende einem Text nähern, hat großen Einfluss auf den Lesevollzug und die Leseleistung. Auch mit der, in der metaphorischen Verwendung des Begriffs Lesen ausgedrückten, Wahrnehmungs- und Rezeptionshaltung verbinden sich unterschiedliche Zugänge und Annäherungen an diese Fremde. Die ‚Rezeptionshaltung‘, mit der der Lesende, Dr. Konrad Feldt, der japanischen Kultur begegnet, ist die eines Kindes, das in Büchern blättert und das seine Phantasie von den dort versammelten Eindrücken anregen lässt: „Und da war es wieder: Dieses Gefühl zwischen Neugier und sanfter Betäubung, das seinen phantastischen Gedanken und Einfällen vorausging, wie beim Blättern in einem Buch, wenn er als Kind Illustrationen betrachtet hatte, ohne sie zu verstehen, oder den Text zu kennen und wenn in knisternder Geschwindigkeit eine Fülle weiterer durchschimmernder, wie Eis auf der Herdplatte zergehender Bilder in seinem Kopf entstanden. So wie jetzt, als er sich vorstellte, die Häuser seien innen mit blutroten Drachentapeten ausgekleidet oder Mustern aus Vögeln oder Zierfischen bemalt, und auf den Fahnen vor den Häusern seien Gedichte zu lesen oder einfach Zahnambulatorien, Buchhandlungen, Bordelle oder Fleischereien angekündigt.“ (Roth 20002, 24)
_____________ gende historische Entwicklungsstufen der Literaturwissenschaft gelten. In Lektüre-Texten wird mit der Formel vom ‚Lesen eines Texts als‘ eine Subjektivität suggeriert, die im Gang der Argumentation in der Regel wieder zurückgenommen wird. Ebensowenig werden andere Bestimmungen des Lektürebegriffs erfüllt: Weder werden andere Lektüren als gleichwertig angesehen, noch handelt es sich um dem Prozeß des Lesens besonders ›nahestehende‹ Texte. Auch Lektüre-Texte folgen Regeln.“ (ebd., 138f.) Als neue Perspektiven, die sich aus dem Konzept der ‚Lektüre‘ ergeben, verweist Winko auf eine Häufung bestimmter – auch neuer – Themen, auf die Verbreiterung des Spektrums von „Argumentationsstrategien, die als plausibel gelten“ sowie auf einen weniger vehement vertretenen Anspruch auf Verbindlichkeit der jeweiligen Bedeutungszuschreibungen (vgl. ebd.). 119 Vgl. u.a. Assmann in: dies. (Hg.) 1996, 7-29; Brenner 1998 sowie insbesondere Winko 2002.
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Diese Heraufbeschwörung der Magie kindlicher Phantasietätigkeit hat wenig mit Lesen im eigentlichen Wortsinne zu tun, da der ‚Lesestoff‘ hier im besten Falle Anlass für die Aktualisierung ohnehin vorhandener Vorstellungsbilder ist, nicht aber konstruktiver Bestandteil des Prozesses einer verstehenden Annäherung an die Phänomene. Insofern handelt es sich hierbei eigentlich auch nicht so sehr um die Zuweisung von ‚Schriftcharakter‘ im engeren Sinne, sondern um die Zuweisung von ‚Bildcharakter‘: Die ‚Fremde Japan‘ wird zum Bilderbuch und der Lesende genießt die Beliebigkeit der angeregten und projizierten Vorstellungen. Der Ich-Erzähler in Cees Nootebooms Reisebeschreibung In Japan II: Endlose Kreise (1992) nähert sich auf zweifache Weise lesend der ‚Fremde Japan‘. Seine Wahrnehmungshaltung wird in der Darstellung reflektiert, die Projektionen werden als solche entlarvt: Die japanische Kunstschrift, die Kalligraphie, dient ihm zur Phantasieanregung und zur freien Assoziation – die Assoziationen und die Bedeutungszuschreibungen in der ‚Fremde Japan‘ sind genährt aus einer Lektüre japanischer Literatur, die er mit auf die Reise genommen hat: „in einer Nische auf der anderen Seite des Raumes hängt eine Kalligraphie, eine wilde, in einer Sekunde aufs Papier geworfene schwarze Form, die das Geheimnis ihrer Bedeutung vor mir verborgen hält. Ein Gedicht, ein Name, ein Ausruf – alles ist denkbar, doch ich lasse es gut sein, weil die Zeichnung kraftvoll ist und mich an alles mögliche denken läßt, mein Auge kann sich darin verlieren. Wenn ich hier bin, befinde ich mich in einem Gespinst verschleierter Bedeutungen, was ich nicht verstehe, vermischt sich mit dem, was ich lesen kann. Mein Japan ist ein Japan der Bücher. Zwei sind es, die ich auf diese Reise mitgenommen habe, um sie noch einmal zu lesen, und auch das ist eine Verschleierung, denn diese Bücher wurden vor fast tausend Jahren von adligen Frauen am kaiserlichen Hof von Kioto geschrieben, das damals noch Heian hieß.“ (Nooteboom 1997, 200f.)
Die ‚Fremde Japan‘, und hier insbesondere die ‚fremde Schrift‘, ist als Projektionsfläche erkannt, und als konstitutives Element der Bedeutungszuschreibung dient ihm die Literatur. Die beiden Texte, auf die er dabei zurückgreift, sind Die Geschichte vom Prinzen Genji, das Genji monogatari, etwa zu Beginn des elften Jahrhunderts verfasst von der Hofdame Murasaki Shikibu und das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shônagon, das Makura no sôshi, ebenso gegen Ende des zehnten bzw. am Beginn des elften Jahrhunderts entstanden.120 Diese Werke werden vom Ich-Erzähler im Folgenden in ihrer mehrfachen ‚Künstlichkeit‘ sowie als Bestandteile seiner eigenen Japan-Wahrnehmung und Japan-Fiktionalisierung analysiert.
_____________ 120 Zu diesen Werken sowie zu den sozialhistorischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten ihrer Entstehung vgl. Katô 19892, 139ff.
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Adolf Muschg konzipiert in seinem ersten Roman Im Sommer des Hasen von 1965121 einen Protagonisten, der durchaus über Kenntnisse in Bezug auf die japanische Kultur verfügt. Im Verlauf des Romans berichtet der Werbemanager Bischof über die Erlebnisse von sechs jungen Autoren, die ein halbjähriges Stipendium für einen Aufenthalt in Japan erhielten. Der Bericht Bischofs ist in Briefform verfasst und richtet sich an seinen Vorgesetzten und Freund. Im Rahmen des Briefes stellt er die Erlebnisse der Stipendiaten in Japan dar, die er bei einem gemeinsamen Abschlusstreffen in dem Ferienort Yasumiya von diesen erfährt. Die jeweiligen Erwartungen, Ziele und Erlebnisse der sechs Figuren repräsentieren sechs – durchaus typische – Haltungen und Formen des Erlebens von Europäern in der ‚Fremde Japan‘.122 In der Beschreibung eines Hotelzimmers für den Adressaten des Briefes richtet der Schreibende seine eigenen Wahrnehmungsformen an denen im Land üblichen aus, damit die westlichen Sehgewohnheiten einer gelingenden Erfahrung nicht im Wege stehen: „Du kennst den Einzug in ein japanisches Haus. Der Kimono, den du gleich anziehen könntest, nicht bloß der dünne Yukata, der natürlich auch, liegt demütig in einer Lackschale im Eck, der Gurt ist einer der teuren. Links gegenüber die Wand, die man nicht mehr vergißt, die ein Leben lang den Sinn für Verhältnisse bestimmt. Ich drehe mich zu ihr, ich fange an sie zu lesen wie ein japanisches
_____________ 121 Vgl. dazu u.a.: Voris 1984 sowie Dierks (Hg.) 1989, darin insbes.: Scheiffele, 82-99. Adolf Muschg hielt sich von 1962 bis 1964 als Lektor in Japan auf. Zum Einfluss seiner Erfahrungen in Japan auf sein Schreiben, vgl. Muschg 1981, 102ff. 122 Adalbert Huhn kommt nach Japan mit dem Vorsatz, tiefere Einblicke in den ZenBuddhismus zu erlangen, scheitert aber an diesem Vorhaben und erkrankt an der Fremde und an seinem eigenen Versagen. Johannes Eugen Mörgeli, ein Gymnasiallehrer, besucht ohne ausreichende Kenntnisse über Japan und die japanische Sprache verschiedene Universitäten des Landes und arbeitet an diversen Projekten über Japan. Florian Distel hat einen scheinbar privilegierten Zugang zum ‚alten Japan‘, zu dem, „das hinter den Bambuspalisaden schlief“ (Muschg 1965, 50). Die sich hier andeutende Affinität zwischen der Figur und der ‚Fremde Japan‘ als Bild wird fortgeführt in dem Selbstmord des homosexuellen Distel, der in der Erzählung nur schwach motiviert ist. Pius Gesell zieht sich auf eine Insel vor Hokkaido zurück. Er lebt dort in einem dörflichen Mikrokosmos und verbringt seine Zeit mit Schwimmen und Zeichnen (hier zeigt sich eine kaum zu übersehende Parallele zu den Erlebnissen des Reisenden in der ‚kleinen Stadt‘ in Kellermanns Spaziergang in Japan: „Es ging nicht lange, bis über die schlecht geheizte Stube der Alten ein vorsichtiger Kontakt mit den Dorfleuten zustandekam, der sich bald erweiterte und schließlich keine Grenzen mehr kannte. Das Dorf kam zu Gesell, wie er in den Fischerhäusern ein- und ausging; bald bewohnten die Kinder das riesige Haus mit ihm, bald fuhr er mit ihren Vätern auf die See, half die Netze einholen, in denen sich wohl kaum mehr ein Hering, aber andere Geschöpfe der Tiefe fanden, die er essen lernte“ (ebd., 297); im weiteren Verlauf findet auch hier die typische Inszenierung von Gemeinschaft unter Beibehaltung der Distanz statt). Wilfried Buser vertieft eine Zufallsbekanntschaft mit einer jungen japanischen Studentin, so dass sich zwischen dem verheirateten Buser und der Japanerin eine intime Beziehung entwickelt. Paul Weigerstorfer mietet sich bei einer Kriegerwitwe in einem Gästehaus in Tôkyô ein kleines Zimmer. Er erlebt die fremde Kultur hauptsächlich sekundär, über Fernsehen und Kino.
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Bilderbuch, von hinten und von rechts nach links, fange also beim Fenster an, der gerasterten Papierschiebewand, die den innern Raum von der verglasten Veranda trennt.“ (Muschg 1965, 41)
Die Wahrnehmungshaltung, die hier mit dem Begriff Lesen bezeichnet ist, ist eine kompetente in einem Land, in dem die Leserichtung nicht der westlichen entspricht.123 Trotz des Versuchs, durch die Darstellung verschiedener Erfahrungen und Kenntnisstände eine Multiperspektivität in Bezug auf die ‚Fremde Japan‘‘ herzustellen und damit bestimmte tradierte Topoi der Beschreibung der ‚Fremde Japan‘ zu de-konstruieren,124 manifestiert auch der Roman von Adolf Muschg letztlich wieder das Konzept der unüberwindbaren Fremdheit oder der absoluten Andersheit Japans, die auch mit einer ‚kompetenten Lesehaltung‘ nicht überwunden werden kann. Gleiches kann auch für die 1982 erstmals erschienene Erzählung Mokusei! Eine Liebesgeschichte von Cees Nooteboom konstatiert werden, in der die fünfjährige Beziehung zwischen dem niederländischen Fotografen Arnold Pessers und der Japanerin Satoko im Rückblick geschildert wird. Dieser Rückblick gilt gleichzeitig auch der Beziehung zwischen Pessers und Japan, die sich von anfänglicher exotistischer Euphorie in Abstoßung gewandelt hat. Die De-Konstruktion europäischer Japan-Bilder vollzieht sich hier insbesondere im Dialog mit einem Freund Pessers, de Goede, der bereits seit vier Jahren in Japan lebt und der mit einer scheinbaren Autorität westliche Begegnungsformen und Bilder über die ‚Fremde Japan‘ benennt, hinterfragt und letztlich als Konstruktionen auflöst.125 Die _____________ 123 Zur Leserichtung bei den (westlichen) Alphabetschriften sowie dem japanischen Schriftsystem vgl. Wittmann; Pöppel in: Franzmann et al. 1999, 224-240. Zur Perzeption der chinesischen Schriftzeichen vgl. Köhn 2003, 77-84. 124 Zu ‚Dekonstruktion‘ und ‚dekonstruieren‘ im konstruktivistischen Diskurs vgl. Reich in: Hug (Hg.) 2001, 360 sowie Neubert; Reich; Voß in: Hug (Hg.) 2001, 262. Zu Dekonstruktion – Philosophie? Programm? Verfahren? vgl. Gehring in: Handbuch der Kulturwissenschaften; Bd. 2, 2004, 377-395. Im vorliegenden Zusammenhang soll mit de-konstruieren der Versuch bezeichnet werden, durch eine Aktualisierung vorgängiger Texte, durch das Bemühen um Abgrenzung und den Kampf gegen ungewolltes ‚Einschreiben‘ dieser, nicht zu rekonstruieren, sondern neu- bzw. weiterzuschreiben (vgl. auch das Modell der „Tropik“ bei Lachmann (1990, 39). 125 Diese Dialoge mit de Goede zu Beginn der Erzählung wirken etwas schulmeisterlich bemüht und sind durch die Frustration des Ich-Erzählers, der sie sich ins Gedächtnis ruft, nur schwach motiviert. Darüber hinaus finden sich zwischen fast allen Äußerungen und Gedankengängen der Figur de Goede und den 1995 erstmals erschienenen Reisebeschreibungen Nootebooms Im Frühling der Tau stellenweise wörtliche Übereinstimmungen. De Goedes Stimme kann also mit der Stimme des Ich-Erzählers aus dem Reisebericht identifiziert werden. Es zeigt sich, dass diese Form der Reflexion über eine Kultur (oder: eine Stimme mit einer solchen Funktion) im Rahmen einer Reisebeschreibung besser aufgehoben ist, als in einer Erzählung. Auch der norwegische Autor Jan Kjærstadt (2002) wählt die Form des Dialogs, um die im öffentlichen Diskurs bestehenden Bilder und Stereotype über Japan ‚zu Wort kommen zu lassen‘ und sie mit einer Erfahrung zu kontrastieren, die ihre
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De-Konstruktion der europäischen Japan-Bilder lässt aber auch hier einen der zentralen Topoi im Zusammenhang mit der Konstruktion der ‚Fremde Japan‘ bestehen: Den von der unüberwindbaren Fremdheit zwischen den Kulturen. Dieser Topos wird in der Erzählung Mokusei! Eine Liebesgeschichte in der Liebesbeziehung ausgestaltet,126 die in der Wahrnehmung der Figur aufgrund der Unmöglichkeit des interkulturellen Dialogs sowie der nicht in Übereinstimmung zu bringenden Lebensweisen notwendig zum Scheitern verurteilt ist, die jedoch nicht zuletzt auch daran scheitert, dass sich die exotistischen Projektionen des Protagonisten von dem Land (Japan) auf eine Frau (Satoko) als ‚Projektionsfläche‘ verschieben. Verstehen In zahlreichen neueren sowohl fiktionalen als auch eher faktualen Texten über die ‚Fremde Japan‘ ist das Bemühen um eine De-Konstruktion tradierter Japanentwürfe und -bilder ablesbar. Die Strategien sind dabei recht unterschiedlich. Uwe Schmitt etwa legt mit seinem 1999 erschienenen Buch Tokyo Tango. Ein japanisches Abenteuer ein Resümee seiner Erfahrungen als Auslandskorrespondent in Japan vor. Dieses Buch wird in vielen Rezensionen als ‚Reisetagebuch‘ oder gar als ‚ungewöhnlicher Reiseführer‘ bezeichnet. Der Autor selbst gibt aber eine Textform zu bedenken, die sich nicht so leicht in gängige Beschreibungsraster einordnen lässt: „Dieser [vorgängig zitierte] Leitartikel war der letzte von über 650 Artikeln, die ich von August 1990 an als Ostasienkorrespondent der FAZ mit Sitz in Tôkyô verfaßt habe. Mein letztes Wort sollte aufrichtig, mußte also widersprüchlich sein, es sollte vor Hochmut warnen, vor allem sollte es für Interesse werben. Es sollte damit alles, was ich aus Tôkyô in einer Tageszeitung sagen konnte, gesagt sein.
_____________ Autorität aus eigener Anschauung gewinnt. Kjærstadt schrieb im Jahr 2002 in der Zeitschrift Literaturen eine von zehn „literarischen Expeditionen“ mit dem Titel „Ich und die Stadt“ und wählte Tôkyô als ‚Expeditionsziel‘ und Beschreibungsobjekt (ebd., 8-11). Der fiktive Dialog entspinnt sich über knapp vier Seiten zwischen einem Ich-Erzähler und dessen Freund, wobei dieser die Rolle des etwas naiven, klischeebelasteten Westlers übernimmt, dessen Stereotype und Bilder im Verlauf des Dialogs aber nur scheinbar dekonstruiert werden. Vielmehr werden altbekannte mit modernen Bildern vermischt und in einer für zeitgenössischen Leser wiederum leicht verdaulichen Weise präsentiert. Kjærstadt lässt einen modernen „Flaneur“ sprechen, dessen Wahrnehmungshaltung ganz von Ferne ein Widerhall des Reisenden aus Bernhard Kellermanns Spaziergang in Japan sein könnte: „Ich empfinde es als eine unverzichtbare Erfahrung, in den Straßen umherzuwandern, zu sehen, zu hören, zu riechen, ... [...] Ich wusste nichts über die Japaner, diese unergründlichen Meisterkopisten [...] ich verstehe mich nicht auf die Japaner“ (ebd., 8; 9; 10). 126 Vgl. auch den 1998 erschienenen Roman Das vergessene Lächeln der Amaterasu von Elisabeth Reichart.
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Dieses Buch enthält nun viel von dem, was zu mir und Japan, nicht aber in die Zeitung gehörte. Sei es, weil es zu privat schien, sei es, weil es zu wichtig war, um nur in verkürzter Form und für einen Tag ans Licht zu kommen. Sei es endlich, zum Letzten, aber nicht zum Wenigsten: weil ich es erst nach dem 27. Februar 1997[127] zu verstehen meinte.“ (Schmitt 1999, 10)
Der hier vorgestellte Rahmen erlaubt eine andere Annäherung an die ‚Fremde Japan‘ als der Rahmen eines (Leit-)Artikels, der einen informativen Text über ein aktuelles Thema öffentlichen Interesses auf begrenztem Raum einfordert und der bestimmten Inhalts- und Stiltendenzen unterliegt, die aus dem Publikationsort resultieren. Tokyo Tango könnte als eine Textsorte bezeichnet werden, in der sowohl der Erfahrungsraum (die Kultur) als auch das Ereignis und darüber hinaus der Ich-Erzähler Thema des Schreibens sind, wobei aber der Ich-Erzähler nicht als Fremdbeobachter, sondern als Selbstbeobachter mitsamt seinem Wahrnehmungs- und Verstehensprozess in den Mittelpunkt des Schreibens rückt. Hinzu kommt, dass keine Reise beschrieben wird, sondern vielmehr der Aufenthalt, die Alltagsbewältigung und die damit verbundenen Verstehensprozesse. Eine solche Textform kommt den Lesebedürfnissen eines Publikums entgegen, dem im Gefolge der Globalisierung Auslandsaufenthalte aus beruflichen Gründen nicht fern stehen und das hier Orientierung und Erfahrungswerte sucht.128 Im Verlauf seiner Selbstbeobachtung wird schon sehr früh offenkundig, dass sich der Schreibende nicht etwa der Vorstellung eines etwaigen objektiven Schreibens oder möglicher Freiräume des Schreibens über Japan hingibt; eine solche Vorstellung wäre auch illusorisch: „Eine lebendige Äußerung, die sinnvoll aus einem bestimmten historischen Augenblick, aus einer sozial festgelegten Sphäre hervorgeht, muß notwendig Tausende lebendiger Dialogstränge berühren, die vom sozioideologischen Bewußtsein um den Gegenstand der Äußerung geflochten sind, muß notwendig zum aktiven Teilnehmer am sozialen Dialog werden. Sie entsteht ja aus ihm, aus diesem Dialog, als seine Fortsetzung, als eine Replik und nähert sich dem Gegenstand nicht von irgendeiner beliebigen Seite.“ (Bachtin 1979, 170)
Was ihm bleibt und im Rahmen des gewählten und konstituierten Genres möglich ist, ist der offene Dialog mit vorgängigen Texten, mit Lesestoffen und Bildern, die in ihrer Gesamtheit ein Bild geschaffen haben und die _____________ 127 [Erscheinungsdatum des letzten Leitartikels aus Japan]. Ausgewählte Artikel, die Schmitt als Auslandskorrespondent in Japan für die Frankfurter Allgemeine Zeitung verfasste, finden sich in den Bänden Sonnenbeben. 50 Improvisationen über Japan. (1998) und Mondtränen, Bürohelden und Küchengerüchte. Japanische Widerreden (2000). Zu Schmitt vgl. außerdem Gebhardt 2003, 262-265.] 128 Insofern könnten diese Textsorte zumindest in die Nähe der Traditionen der Ratgeberliteratur gerückt werden, die etwa Peter Mesenhöller im Kontext der deutschen Amerikaauswanderung im 19. Jahrhundert beschreibt; vgl. Mesenhöller in: Brenner (Hg.) 1989, 363383.
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durch Selbstprüfung noch aktualisierbar sind, sowie der Versuch, über diesen Dialog mit Prätexten Bilder und Entwürfe über und von Japan als europäische Konstruktionen herauszustellen und zu de-konstruieren. Schmitts Text wird in diesem Dialog zu einer weiteren ‚Stimme‘, die den Diskurs über die ‚Fremde Japan‘ prägt.129 Verstehen findet also zunächst als Selbstverstehen statt, lesbar wird der Prozess der eigenen Lektüren. Schmitt wendet sich natürlich auch intensiv der Kultur zu, in der er nun lebt und arbeitet. Seinen persönlichen Erfahrungsmodus in der ‚Fremde Japan‘ reflektiert er mit folgenden Worten: „Kurz: Ich lernte, Japan zuzuhören, nicht dem Japanischen, eine Kultur zu lesen, ohne die Schrift zu entziffern, eine Gesellschaft, in der Form vor Inhalt geht, mit allen Sinnesorganen zu begreifen und zu erfassen. Und mitzuschreiben. So behindert, habe ich Freunde und meine Frau für mich gewonnen. Was mir entging, ahne ich. Was sich mir so, vielleicht nur so, erschloß, weiß ich ziemlich genau.“ (Schmitt 1999, 33)
‚Lesen‘ bezeichnet hier eine Form der ganzheitlichen Annäherung, einen Verstehensprozess, der sich nicht auf eine ‚vordergründige‘ Entzifferung der Schrift beschränkt, sondern der ein Sich-Einlassen mit allen Sinnen bedeutet. Das „Mitschreiben“ gewinnt außerdem Bedeutung im Rahmen des Verstehensprozesses, da es zur Vermittlung und damit gleichzeitig zur Selbstvergewisserung zwingt.130 Einen ähnlichen Erfahrungsmodus in der Begegnung mit dem ‚Fremden‘ beschreibt TAWADA Yoko in ihrem Essay Das Fremde aus der Dose (1992).131 Hier ist es gerade die Unfähigkeit zu lesen, die diese Form von Erfahrung erst ermöglicht: „Die Frau, die ich damals an dieser Haltestelle kennenlernte, hatte einen Namen, der mit S anfing: Sascha. Ich wußte sofort, daß sie nicht lesen konnte. Sie blickte mich jedes Mal an, wenn sie mich sah, intensiv und interessiert, aber sie versuchte dabei niemals, etwas aus meinem Gesicht herauszulesen. Damals erlebte ich oft, daß Menschen unruhig werden, wenn sie mein Gesicht nicht lesen können wie einen Text. [...] Sascha konnte jede Art Unlesbarkeit mit Ruhe akzeptieren. Sie
_____________ 129 Auch der Flaneur in den Tôkyô-Essays von Stephan Wackwitz ist sich „als selbstreflexivliterarisches Subjekt [...] ständig der kulturellen Distanz, den Kanälen textueller Vermittlung und den ironischen Strategien kritischer Opposition bewusst, die seine Wahrnehmung strukturieren [sic!].“ (Goebel 2001, 166) Seine von ihm selbst als „fake essayism“ (Wackwitz 1996, 72) charakterisierte Schreibweise zeichnet sich jedoch insgesamt durch eine dialogische Montagetechnik aus, bei der den Wahrnehmungseindrücken, die der Flaneur auf seinen Spaziergängen in der ‚fremden Stadt‘ gewinnt, teils ironisch, teils bedeutungskonstruierend Versatzstücke, Bilder und Zitate aus der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte gegenübergestellt (oder: zugeordnet) werden. 130 Im Zusammenhang mit dem ‚Mitschreiben‘ einer Kultur vgl. auch die von Walter Ruprechter wiedergegebene Form der Wahrnehmung und Erfahrung Gerhard Roths in Japan (siehe Kapitel 5.1 Einführung). 131 Auch in: Tawada 1996, 39-44.
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wollte nichts ‚lesen‘, sondern alles genau beobachten. [...] Es gab Fragen, die Sascha und Sonja mir nie gestellt haben, obwohl ich sonst überall solchen Fragen begegnete: diese Fragen fangen an mit ‚Stimmt es, daß die Japaner ...‘. Das heißt, die meisten Menschen wollten wissen, ob das, was sie in einer Zeitung oder Zeitschrift gelesen haben wahr oder falsch ist. Fragen, die mit ‚Ist es in Japan auch so, daß ...‘ anfangen, wurden mir auch oft gestellt. Ich konnte sie nicht beantworten.“ (Tawada 1992, 13f.)
In diesem Fall lässt also „Beobachtung“ der Anderen Raum zu sein und gibt der Beobachtenden die Gelegenheit, offen zu bleiben und Erfahrungen zu machen. Andrea Krauß (2002) weist darauf hin, dass sich Tawadas Texte nicht zuletzt durch eine spezifische Form der literarischen Verarbeitung aktuellerer Theoriedebatten auszeichnen:132 „Walter Benjamin, der Strukturalismus nach Roland Barthes, Diskurse der Ethnographie, nicht zuletzt Freud. Sie alle sprechen lautlos mit, fokussieren gleichsam die zugrundeliegende Perspektive der Texte, und verschwinden doch andererseits in einer Geste der literarischen Dissimulation: diese Geste verbirgt ihre theoretischen Bezüge, indem sie vordergründig, auf der sprachlichen Oberfläche der Texte eine kunstvoll inszenierte Einfachheit ausstellt.“ (Krauß in: Blioumi (Hg.) 2002, 61f.)133
Mit der Akzeptanz von Unlesbarkeit wird ein Erfahrungsmodus konstruiert, der sich – in Anlehnung an poststrukturalistische und dekonstruktivistische Grundgedanken – einer Sinn- und Bedeutungsfestschreibung und somit einem traditionellen, idealtypischen Interpretationsbegriff verschließt, der Kohärenz, Festlegungen sowie Legitimitätsansprüche herstellt. Fremdheit wird als ‚Unlesbarkeit‘ akzeptiert und nicht durch vorschnelle und eingeforderte Bedeutungszuschreibungen assimiliert: Der Topos der Unlesbarkeit der Fremde als Fortführung und Modifikation des Topos der Unverstehbarkeit.
Exkurs 2: Überlegungen zu: Fremde – Verstehen? Interkulturelle Hermeneutik und interkulturelles Lernen Es konnte gezeigt werden, dass in den exemplarisch untersuchten Texten mit der bildhaften Verwendung des Begriffs Lesen durchaus verschiedene Wahrnehmungs- und Rezeptionsmodi sowie unterschiedliche Verstehenshaltungen und -prozesse im Zusammenhang mit der Fremde, hier der _____________ 132 Vgl. auch Gelzer 1999, 67: „Dieser doppelte Hintergrund, die Konfrontation der beiden Kulturen und Sprachen einerseits und die theoretische Reflexion andererseits, dient ihr als Basis für ihre verwirrend vielfältige literarische Produktion.“ Ausführlich zu Tawadas Werk, das Lyrik, Essays, Dramen, Hörspiele und kurze Erzählprosa umfasst, vgl. Gelzer 1998. 133 Vgl. dazu auch Kapitel 5.3.1 Die Fremde als ‚Lesestoff‛.
Exkurs 2: Fremde – Verstehen?
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‚Fremde Japan‘, illustriert werden. Allen Darstellungen gemeinsam ist, dass sich in der Zuweisung des Schrift-, Zeichen- oder Textcharakters ein ‚Zeichenbedarf‘ und somit auch ein Sinnverlangen in der Fremde abzeichnet, das aus der offenbar stark provozierenden Erfahrung von Fremdheit in der Begegnung mit der japanischen Kultur resultiert. Lesen als Tätigkeit, der Leseprozess, steht in seiner metaphorischen Sprachverwendung im Rahmen der Texte für den Versuch, die ‚Fremde Japan‘ zu verstehen, wobei ‚Verstehen‘ bedeuten kann: Erkenntnisse gewinnen, Sinn zuschreiben, Deutungen finden, Bedeutungen konstruieren oder auch das Andere als anders bestehen lassen und sich dem Selbst-Verstehen zuwenden. ‚Fremdverstehen‘, das Verstehen der/des Fremde/n, das auch als ‚Interkulturelles Verstehen‘ bezeichnet wird,134 ist insbesondere im Gefolge der postkolonialistischen und dekonstruktivistischen Debatten intensiv diskutiert worden. Im Folgenden sollen einige zentrale Aspekte dieser Diskussion vorgestellt und kritisch hinterfragt werden.135 Zu diesem Zweck scheint es zunächst geboten, sich den Begriffen Verstehen, Bedeutung und Bedeutungskonstruktion noch einmal näher zuzuwenden. Dies ist unter anderem deshalb notwendig, da nicht nur in diesem Kontext vor allem der Begriff des Verstehens zunehmend unter Verdacht zu geraten scheint, das Andere und Fremde zu vereinnahmen und mithin letztlich in seiner Andersheit zu missachten; dieser Verdacht spiegelt sich etwa in Formulierungen wie „in Sinn zu übersetzen und dem Verstehen preiszugeben“ oder „gegen den Verstehenszwang als eine immanente oder angelernte Tendenz des menschlichen Geistes anzugehen“.136 Verstehen und Bedeutungskonstruktion „Die strengere Praxis geht davon aus, daß sich daß Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden.“ 137
Bei dem Vorhaben, sich auf die theoretische Reflexion über das Verstehen einzulassen, stellt sich etwas ein, über das schon des Öfteren sinniert und geschrieben wurde: Etwas, was wir tagtäglich tun, was zu unserem Dasein gehört, über das wir alltagssprachlich kommunizieren, wird mit einem _____________ 134 Vgl. Sommer in: Nünning (Hg.) 1998, 163. 135 Vgl. dazu ergänzend auch Kapitel 4, Exkurs 1: Überlegungen zu: interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität. 136 Assmann in: dies. (Hg.) 1996, 16. Vgl. in diesem Kontext insbesondere Hörisch 1998: Die Wut des Verstehens. 137 Schleiermacher 19997, 92.
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Schlag zu einem Problem. Was tun wir da eigentlich, wenn wir verstehen? Gibt es überhaupt so etwas wie Verstehen?138 Verstehen ist zunächst, noch vor aller Theoriebildung, eine Alltagserfahrung mit pragmatischer Funktion und dient der Lebens-, der Beziehungs- und der Situationsbewältigung.139 Verstehen hat keineswegs nur kognitive Aspekte, sondern ebenso emotionale, wertende, erkenntnistheoretische und handlungsrelevante. Der dialogische Charakter des Verstehens zeigt sich darin, dass es letztlich nie zu einem Ende kommt: Es ist „ein prinzipiell unabschließbarer Prozeß, der stets auf weiteres Verstehen verweist. Dann aber wird auch das Eigene stets ein Anderes sein.“ (Hammerschmidt 1997, 183)140 Im Prozess des Verstehens wird etwas immer ‚als‘ etwas verstanden, insofern ist es auch ein kreativer Vorgang, der Sinn unterstellt und Bedeutung verleiht. Der Begriff ‚Verstehen‘ bezeichnet in der hier vorgeschlagenen Sichtweise eine Suche nach Sinn, die eine Konstruktion von Bedeutung ist. Die Kategorie Sinn ist dann eine grundsätzliche Zuschreibung durch das Subjekt des Verstehens: Um überhaupt etwas verstehen zu können, muss zunächst einmal das Vorhandensein von Sinn unterstellt werden. Ohne diese Unterstellung scheint kein Verstehen möglich, oder jeder weitere Verstehensversuch wird abgebrochen. So bedeutet die Äußerung ‚Das ist ja sinnlos‘ zumindest in der abendländischen Kultur, die in der Sinnlosigkeit keinen Sinn zu entdecken vermag, ein Abwenden und teilt implizit eine Verstehensverweigerung mit. Der Terminus ‚Bedeutung‘ bezeichnet im vorliegenden Kontext das subjektiv so empfundene Resultat einer Suche nach Sinn.141 Indem ‚Bedeutung‘ hier als Ergebnis einer Bedeutungskonstruktion verstanden wird, soll der aktiv-kreative Charakter des Prozesses, der sich unter bestimmten subjektabhängigen, historischen und kulturellen Bedingungen und Voraussetzungen vollzieht, illustriert und betont werden.142 _____________ 138 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die konstruktivistische Diskussion des Verstehens, etwa bei von Foerster in: Einführung in den Konstruktivismus 20026, 41-89 sowie in einem kurzen Überblick bei Rusch in: Fischer; Schmidt (Hgg.) 2000, 350-364. 139 Vgl. Hammerschmidt 1997, 21. 140 Zur Unabschließbarkeit des Verstehens unter jeweils unterschiedlicher Perspektive vgl. u.a. Schleiermacher 19997, 80f. sowie Gadamer 19909, 303f. Aust kennzeichnet Verstehen als einen „Arbeits- und Leistungsraum [...], dessen Dimensionen (was und wieviel es zu verstehen gilt) grundsätzlich unabsehbar sind, auch wenn im einzelnen Fall das verstanden haben immer wieder und glücklicherweise einen Abschluss bildet.“ (Aust in: Bredel et al. (Hgg.) 2003, 525). 141 Zu ‚Bedeutung‘ in der hermeneutischen Tradition vgl. Assmann in: dies. (Hg.) 1996, 12f. Vgl. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte (Titel) Jannidis et al. (Hgg.) 2003. 142 Vgl. in Bezug auf die Bedeutungskonstruktion im Zusammenhang mit der Rezeption literarischer Texte auch Schaffers in: Jannidis et al. (Hgg.) 2003, 349-379. Die dort vorgestellte Auffassung von Bedeutungskonstruktion besagt, dass ein Textverstehen, das über
Exkurs 2: Fremde – Verstehen?
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Fragestellungen und Grundannahmen einer Interkulturellen Hermeneutik Seit etwa 1980 setzte die Forschung im Bereich der Interkulturalität verstärkt ein, und dieser Ansatz wurde seither von fast allen Humanwissenschaften aufgegriffen. Im Rahmen der Reflexion von Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens und der Verständigung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Systemen werden u.a. Fragen nach allgemeinen Strukturen des (Fremd-) Verstehens sowie Überlegungen zu Anthropologie, Universalismus sowie Kultur-, Sprach- und Kontextrelativismus relevant.143 Interkulturelle Hermeneutik fragt jedoch auch ganz konkret danach, wie sich Fremdverstehen vollzieht bzw. vollziehen könnte. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf der Untersuchung und Vermittlung möglicher Handlungen, möglicher Lern- und Erkenntnisschritte, etc. Eine Beschäftigung mit den Fragestellungen und den Grundannahmen einer Lehre vom interkulturellen Verstehen führt immer wieder auf die Traditionen und Entwicklungen der Hermeneutik zurück. Hans Georg Gadamer hat mit seinen Reflexionen über die Geschichtlichkeit des Verstehens, über das Vorverständnis sowie über den Abstand, der zwischen dem Gegenstand des Verstehens und dem Subjekt des Verstehens besteht, die Interkulturelle Hermeneutik stark beeinflusst. So wird beispielsweise das Vorverständnis im Sinne Gadamers als eine für das Verstehen unverzichtbare Notwendigkeit angenommen. Vorverständnis wird innerhalb der Interkulturellen Hermeneutik als vorstrukturierte Verstehensfähigkeit gesehen: Die Reflexion des Vorverständnisses und die Vermittlung mit dem zu Verstehenden bereichern sowohl das zu Verstehende mit immer neuen Bedeutungsbezügen als auch die Erfahrung des Verstehenden, da dies bisherige Erfahrungen modifiziert und ergänzt.144 Interkulturelle Hermeneutik versteht sich jedoch spätestens seit der postkolonialen Debatte als eine Hermeneutik der Anerkennung von Differenz.145 Nicht zuletzt darin liegt der Grund für die teils recht kritische Auseinandersetzung mit bestimmten Aspekten der philosophischen Hermeneutik Gadamers. Theo Sundermeier etwa, der Gadamers Arbeit als _____________ ein naives Textverständnis hinausgeht, notwendig explikativ, d.h. auf den Text, den Kontext und das verstehende Subjekt selbst bezogen sein kann und muss. 143 Diese Aspekte können hier nicht weiter ausgeführt werden. Zusammenfassend vgl. u.a. Hammerschmidt 1997, Brenner 1999, Horstmann 1999, 427-448 sowie Nell 2001, v.a. 84ff. 144 Vgl. etwa Lönker in: ders. (Hg.) 1992, 48. 145 Vgl. auch Wierlacher in: ders. (Hg.) 2000, 11. Dass der Begriff und der Entwurf der kulturellen Differenz keineswegs unproblematisch sind, zeigt Pierre-André Taguieff (1991) auf. Er kritisiert die Betonung der kulturellen Differenz und die Forderung nach einem Recht auf Differenz dahingehend, als diese einem Neorassismus Raum geben könnten, der sich statt auf das Konzept der Rasse auf das Konzept einer inkommensurablen kulturellen Identität stützt. Vgl. Taguieff in: Bielefeld (Hg.) 1991, 74.
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„Höhepunkt und Abgesang“ der klassischen Hermeneutik kennzeichnet,146 findet zu folgender Einschätzung: „Der andere wird kaum reflektiert. [...] als letztes Ziel des Verstehens kann nur die Horizontverschmelzung gedacht werden. Dieser dem Idealismus verpflichtete Ansatz kommt aus der Selbstreflexivität nicht heraus.“ (Sundermeier 1996, 75f.) Insbesondere wird die mit dem Konzept der Horizontverschmelzung einhergehende Universalsetzung des abendländischen Traditionszusammenhangs kritisiert.147 Von daher wird auch Gadamers Auffassung: „Im Fremden das Eigene zu erkennen, in ihm heimisch zu werden, ist die Grundbewegung des Geistes, dessen Sein nur Rückkehr zu sich selbst aus dem Anderssein ist“ (Gadamer 19906, 19f.) sehr kontrovers diskutiert. Da die Interkulturelle Hermeneutik einer Re-Konstruktion sowie einer Konstruktion von Einheit und Zusammenhang skeptisch gegenübersteht, gestaltet sich auch die theoretische Auseinandersetzung mit den Prämissen des zirkelhaften Charakters des Verstehensvorganges, wie er von der klassischen Hermeneutik entworfen wird,148 problematisch. Obgleich die kulturwissenschaftliche Auffassung von Kultur als Text hier in eine andere Richtung weist,149 wird aber dennoch die Übertragung des Konzepts des Hermeneutischen Zirkels auf das Kulturverstehen insgesamt mancherorts diskutiert. Für einen Ethnographen wie Clifford Geertz bezieht sich die Anerkennung der Zirkelhaftigkeit des Verstehens insbesondere auf den Ablauf der Verstehenshandlung, die seiner Ansicht nach im individuellen Vollzug immer zirkelhaften Charakter hat, egal ob es sich dabei um das Verstehen einer Ode von Keats, eines Fußballspiels oder um das Verstehen der Auffassung vom Selbst im balinesischen Kulturkreis handelt (vgl. Geertz 19996, 307). _____________ 146 Zur Entgegensetzung sogenannter ‚herkömmlicher‘ und sogenannter ‚neuerer‘ Hermeneutiken, die sich nicht zuletzt auch in der Begriffsverwendung wiederfindet und manifestiert, vgl. Horstmann in: Handbuch der Kulturwissenschaften; Bd. 2, 2004, 341. 147 Vgl. Hammerschmidt 1997, 128. 148 Zum Hermeneutischen Zirkel vgl. u.a. Schleiermacher 19997, 97, Dilthey 19746, 330 sowie Gadamer 19909, 298ff. Auch noch in der Gadamerschen Konzeption des Hermeneutischen Zirkels wird deutlich, dass dieser auf der Annahme (bzw. auf dem Postulat der klassischen Kunstdoktrin) der Einheit eines Werkes gründet. Zum Hermeneutischen Zirkel und den damit verbundenen Fragestellungen der Neohermeneutik, vgl. Frank 1985, 16ff. Bei der Reflexion des besonderen Verhältnisses von Dekonstruktion und Hermeneutik ist die Auseinandersetzung mit den traditionalistischen Implikationen der Gadamerschen Hermeneutik ein nicht unerheblicher Aspekt. Dennoch betonen etwa Emil Angehrn und Albrecht Wellmer in ihren Beträgen in dem Band von Kern und Menke (Hgg.) 2002 die Nähe zwischen Dekonstruktion und Hermeneutik (vgl. ebd., u.a. 214). Aus konstruktivistischer Sicht besteht die Problematik der hermeneutischen Konzeption des Verstehensprozesses insbesondere in der Setzung eines ‚ontischen‘ Verstehensgegenstandes, der außerhalb des verstehenden Subjektes existiert. 149 Vgl. Kapitel 5.3.1 Die Fremde als ‚Lesestoff‘; auch diese Sichtweise steht inzwischen durchaus in der Kritik der Forschung, vgl. etwa Hansen 20002, 330.
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Für Gadamer liegt der „wahre Ort der Hermeneutik“ in einem ‚Zwischen‘: „zwischen Fremdheit und Vertrautheit, die die Überlieferung für uns hat, zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Tradition.“ (Gadamer 19909, 300) Dagegen wertet und versteht die Interkulturelle Hermeneutik das ‚Zwischen‘ als den ‚positiven Ort‘, als produktive Bedingung des Verstehens überhaupt und reflektiert es als Feld der Begegnung zwischen den Kulturen.150 Diese Begegnung findet nicht auf einer Grenze statt; das Zwischen ist vielmehr ein Ort, der nicht durch (topographische) Grenzen definiert wird, zumal die Vorstellung von einer Grenze zwischen den Kulturen – zumindest in der theoretischen Diskussion, nicht unbedingt im alltäglichen Empfinden der Subjekte oder in Alltagsdiskursen – ohnehin hinfällig ist. Die Dynamik der Kulturen und der kulturellen Phänomene lässt eine solche statische, topographische Vorstellung nicht zu. Dem Konzept der Interkulturalität wird dennoch mancherorts vorgeworfen, es trage einen traditionellen Kulturbegriff mit sich: Dem von dem Konzept der Interkulturalität postulierten Zwischen sei die Vorstellung von einer zu identifizierenden Grenze zwischen (mindestens) zwei zu separierenden Kulturen inhärent – ein Konzept, das noch der traditionellen Idee der territorial und ethnisch gebundenen Kulturen als abgeschlossene Gebilde anzuhängen scheint (vgl. Welsch 1992 sowie ders. 1995).151 Dieser Vorwurf wird dem Reflexionsstand sicher nicht gerecht. Die Perspektive im Rahmen der Forschungen zur Interkulturalität richtet sich eher auf die tatsächlich noch immer stattfindende Begegnung der Kulturen, wobei die ‚Diffusion‘ der Kulturen, die Auflösung der tradierten Kulturgrenzen und die fortschreitende Durchdringung und Verflechtung verschiedenster Kulturen bis hinein in die Individuen (vgl. das Konzept der kulturellen Identität)152 innerhalb der Diskussion zur Interkulturalität _____________ 150 Vgl. Hammerschmidt 1997, 165. Zum Versuch, ein so komplexes Phänomen wie ‚Kultur‘ begrifflich zu fassen, vgl. etwa Eagleton 2001 oder Hagenbüchle 2002. Vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 4, Exkurs 1: Überlegungen zu: interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität. 151 Der von Welsch vorgeschlagene Begriff der „Transkulturalität“ wird als Abgrenzungsbegriff zu dem der Interkulturalität im wissenschaftlichen Diskurs seit einigen Jahren mancherorts aufgegriffen. Einerseits steht er für den Versuch, Polarisierungen (EigenesFremdes) und auf fragwürdigen bzw. fragwürdig gewordenen Grundlagen vorgenommene Grenzziehungen sowie die damit verbundenen theoretischen Implikationen und praktischen Konsequenzen zu überwinden (vgl. z.B. Fürnkäs 1998). Andererseits wird an eben diesem Konzept – letztlich ebenso wie dem der Interkulturalität – kritisiert, dass es in der Suche nach ‚kulturübergreifenden‘ Begriffen, Werten etc. sowie der Idee einer ‚transkulturellen Identität‘ einem alten Universalismus in neuem (begrifflichen) Gewand Vorschub leiste (vgl. zu dieser Diskussion u.a. Holzbrecher (2002) sowie Roth in: Reich; Holzbrecher; Roth (Hgg.) 2000, 12f.). 152 In Kapitel 4, Exkurs 1: Überlegungen zu: interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität.
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intensiv reflektiert wird. ‚Interkulturalität‘ wird heute einmal als eine Begegnung graduell verschieden differenter Systeme sowie, was den Verlauf dieser Begegnung betrifft, als Anspruch und Zielvorstellung gefasst. Darüber hinaus richtet die Interkulturalitätsforschung ihren Blick auf die Konstruktionsaktivität der Individuen, die die Differenzkategorie im Rahmen der Begegnung erst herstellen und interpretieren. Interkulturelle Begegnung und interkulturelle Verständigung finden zunächst einmal zwischen Menschen, zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen, statt. In der philosophischen Diskussion um das Fremdverstehen wird das Personenverstehen mancherorts als jedem weiteren Verstehen zugrunde liegend gesetzt. Die Möglichkeit, Menschen zu verstehen, wird als Voraussetzung nicht nur für das Kulturverstehen und das interkulturelle Verstehen, sondern auch für das Verstehen intentionaler Gebilde betrachtet.153 Die Linguistik wendet sich unter dem Stichwort ‚Interkulturelle Kommunikation‘ dann besonders der Analyse interpersonaler Interaktionen in so genannten ‚interkulturellen Situationen‘ zu. Der Forschungsbereich Interkulturelle Kommunikation befasst sich mit Fragen des Sprachund Kulturkontrastes sowie mit Möglichkeiten des Umgangs mit den auftretenden Differenzen.154 Sozialpsychologische, philosophische und soziologische Forschungszweige untersuchen demgegenüber Prozesse des Verstehens zwischen größeren kulturellen Systemen,155 während sich die Ethnologie bzw. Ethnographie das Verstehen und Beschreiben von anderen Kulturen zur Aufgabe gemacht hat. Das Erkenntnisinteresse der Ethnologie richtet sich – mit Rückgriff auf den holistischen Kulturbegriff – durchaus auf das Ganze der begegnenden Kulturphänomene, auf die „allgemeine Charakterisie_____________ 153 Vgl. Hammerschmidt 1997, 242. Boike Rehbein hat sich 1997 der Fragestellung Was heißt es, einen anderen Menschen zu verstehen? zugewandt und dabei auch Aspekte des Fremdverstehens reflektiert. Zum anthropologischen Universalismus vgl. Kapitel 2.2 Exotismus, Fußnote 26 sowie Todorov 1998. 154 Zur fachspezifischen Entwicklung des Forschungsgebietes innerhalb der Linguistik vgl. Rehbein (Hg.) 1985. 155 Hier werden auf philosophischer, politischer und/oder ethischer Ebene die Bedingungen reflektiert, die ein Verstehen überhaupt erst möglich machen oder gestalten, sowie die soziale und historische Bedingtheit des Verstehens zwischen den Kulturen, die von bestimmten tradierten Vorstellungsbildern und kollektiven Deutungsmustern geleitet wird. Der Sozialpsychologe Henri Tajfel etwa beschäftigt sich mit dem Verhältnis von „intergroup behaviour“ und „interpersonal behaviour“ und zeigt, dass der Kontakt zwischen größeren Gruppen anderen Gesetzen gehorcht als der zwischen Individuen (vgl. Tajfel 1982). Im Moment einer Gruppenbildung (selbst bei recht lockeren oder von außen vorgegebener Gruppenbindung) kommt es nach seinen Untersuchungen zu einer sogenannten Entindividualisierung, so dass die kollektiven Formen der Wahrnehmung und der Zuschreibungen durch die Gruppe sehr starkes Gewicht erhalten und u.U. die individuelle Wahrnehmung überlagern.
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rung von Inhalt und Aufbau einer Kultur“, zumindest geht das ethnologische Bemühen in diese Richtung.156 Die Methode der Materialerfassung, etwa die klassische Feldforschung im Sinne der teilnehmenden Beobachtung, die ‚Initiation‘ in die fremde Kultur, intensiv geführte, wiederholte Gespräche mit einem oder mehreren ‚Informanten‘ sowie der „Diskurs [...] in dem sich das Wissen über eine fremde Kultur prozeßhaft entfaltet und verdichtet“ (Schuster in: Böhm (Hg.) 1995, 621) wurden innerhalb der Ethnologie intensiv reflektiert: Clifford Geertz (19996) zeigte mit seinem Konzept der ‚Dichten Beschreibung‘, dass die Beschreibung der erfassten Phänomene (oder das Niederschreiben des Diskurses) über ein reines Festhalten des Beobachteten weit hinausgeht und immer Dimensionen der Deutung und somit der Bedeutungskonstruktion enthält.157 Die Frage, die sich im Rahmen einer Interkulturellen Hermeneutik immer wieder stellt, ist die, ob es ein Verstehen des Fremden überhaupt geben kann und darf, oder ob die Fremde nicht letztlich ‚unlesbar‘ bleiben muss. Forderungen nach einer ‚Anerkennung der Differenz‘, als ‚Rest von Unverstehbarkeit‘ begleiten die Bemühungen um ein adäquates Konzept des Fremdverstehens, das es sich zu Aufgabe macht, der Otherness 158 des Fremden gerecht zu werden und der kulturellen Andersheit keine Gewalt anzutun. Diese Forderungen stehen aber im Widerspruch zu dem, was dem Verstehen oder den Verstehensbemühungen der Einzelnen eigentlich zugrunde liegt:159 „Im Terminus ‚Fremdverstehen‘ schwingt eine eigentümliche Dissonanz mit, die auf das Verhältnis der beiden in ihm enthaltenen Wörter: ‚das Fremde‘ und ‚Verstehen‘, zurückgeht, ist doch das Fremde gerade das, an dem Verstehen an seine Grenzen stößt, und, sofern es sie zu überwinden vermag, gerade über die Auflösung dieser Fremdheit gelingt. Die Bewegung des Verstehens zielt auf Vertrautheit ab, sucht die Entfernung zu mindern, die im Fremden erfahren wird, während die distanzeinräumende Bewegung des Fremden sich in ihrer konstitutiven Andersheit diesem Zugriff stets aufs neue entzieht.“ (Hammerschmidt 1997, 11)
Fremdverstehen, so scheint es, ist prinzipiell möglich, wenn ein modifiziertes ‚Verstehenskonzept‘ zugrundegelegt wird. Ein solches Konzept muss der Uneindeutigkeit, dem Unbekannten, der Bedeutungszuschrei_____________ 156 Vgl. auch u.a. Bargatzky in: Wierlacher (Hg.) 1993, 219-235 sowie Kohl 1993. Zur kritischen Diskussion dieses ‚Vorhabens‘ vgl. Rehbein 1997, 88f. Clifford Geertz revidiert einen solchen holistischen Kulturbegriff in seinem Werk Welt in Stücken. Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts 1996. 157 Vgl. Geertz 19996 sowie Scherpe in: Honold; Scherpe (Hgg.) 2000. Zur Entwicklung der Topoi in der Ethnographie von der Antike bis zu den „Völkertafeln“ des 18. Jahrhunderts vgl. Weiler in: Stanzel (Hg.) 1999, 97-118. 158 Vgl. Said 1981. 159 Hier bezogen auf das ‚alltägliche‘ Verstehen und nicht auf die theoretischen Reflexionen oder die literarischen bzw. fiktionalen oder eher faktualen Bearbeitungen von Verstehensprozessen in Texten.
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bung (als Bedeutungskonstruktion) sowie der Unabgeschlossenheit jeder Erkenntnis offen gegenüber stehen: „Anstatt Verstehen aufzugeben, sollten wir die irrige Meinung fallenlassen, im Verstehen gehe es um Übereinstimmung, um eine Rekonstruktion des Gemeinten im Gesagten und Verstandenen. Verstehen greift stets über die Grenzen des vertrauten Gewußten hinaus und intentional in den Bereich des Unbekannten hinein, über das es gerade nicht verfügt, wie über Wissensinhalte“ (ebd., 217).
Wierlacher und Albrecht (vgl. in: Nünning; Nünning (Hgg.) 2003, 293) schlagen deshalb einen Verstehensbegriff vor, der in Anlehnung an Helmuth Plessner Verstehen als ein „Vertrautwerden in der Distanz“ (Plessner 1983, 91) definiert. Wie kann sich ein solches Verstehen aber dann praktisch überhaupt gestalten? Neben dem Konzept der Lesbarmachung von Kultur und kultureller Felder auf Grundlage fortschreitender Lektüren, werden im Rahmen der Übersetzungsforschung sowie im Rahmen der Fremdsprachendidaktik in Bezug auf das Verstehen von Texten aus anderen kulturellen Kontexten Forderungen formuliert, die über diesen Bereich weit hinausweisen und die durchaus auch als allgemeine Bedingungen des Fremdverstehens formuliert werden. Sie beschreiben vielleicht am ehesten eine Haltung und beziehen sich auf die verschiedensten Verstehenssituationen im Rahmen der Rezeption fremdkultureller Literatur. Sie werden als Ansprüche an Übersetzungssituationen, an wissenschaftliche, ‚professionelle‘ Interpretationsprozesse verstanden, aber auch als Zielvorstellungen für eine Didaktik des Fremdverstehens, die im Rahmen von Schule und Universität zur Anwendung kommen und subjektive Rezeptionsprozesse formen und bilden soll.160 Fred Lönker beispielweise schreibt im Zusammenhang mit der literarischen Übersetzung: „Fremdverstehen setzt immer voraus, daß ich die systemischen oder historischen Voraussetzungen übernehme, die einem fremden Phänomen zugrunde liegen, und dies impliziert im strengen Sinne nicht nur die Übernahme eines möglicherweise zentralen Basisinterpretaments, sondern zugleich eine hinreichende Übernahme des fremden kulturellen Deutungssystems rsp. seiner Geschichte.“ (Lönker in: ders. (Hg.) 1992, 44f.)
Lönker greift zudem auf die Gedanken Hans Peter Duerrs zurück, wonach Verstehen weder Übersetzen noch Rückführung des Fremden auf das Vertraute ist, sondern eine Art „Initiation“ in eine andere Lebensform. Bredella et al. formulieren ähnliche Forderungen, die ebenso allgemein auf Fremdverstehen übertragen werden können und auch sollen. Erreicht werden kann diese Initiation in einen fremden Kontext danach anhand einer „temporären Suspendierung eigenkultureller Erfahrungen, Konzepte _____________ 160 Vgl. etwa die Arbeiten des Graduiertenkollegs Didaktik des Fremdverstehens, in: .
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und Deutungsmuster sowie der imaginativen Übernahme eines anderen Wahrnehmungszentrums, d.h. der Perspektive des Anderen bzw. Fremden. Insofern bedeutet Fremdverstehen De-zentrierung.“ (Bredella et al. in: dies. 2000 (Hgg.), XIX).161 Die Frage, wie sich der Vollzug einer solchen „temporären Suspendierung“ so fundamentaler und vor allem zu einem recht gewichtigen Anteil vorbewusster Erfahrungen und Einstellungen in der Praxis gestalten kann, kann jedoch, trotz aller interessanter Konkretisierungen, letztlich nicht befriedigend beantwortet werden.162 Im Folgenden werden noch einige der Schritte angeführt, die den Verstehensprozess in interkulturellen Situationen begleiten. Schritte zum Verstehen: Stolpersteine und Wegbereiter Schritte auf dem Weg zu einem etwaigen Verstehen des Anderen sind begleitet von ‚Stolpersteinen‘ und ‚Wegbereitern‘. Dabei ist jedoch nicht immer eindeutig zu bestimmen, was sich letztlich als Stolperstein, und was sich als Wegbereiter für ein annähernd ‚adäquates‘ Verstehen erweisen kann und wird: Stolpersteine? Cees Nooteboom charakterisierte sich in der Beschreibung seines ersten Besuchs in der ‚Fremde Japan‘ als ein mit „Vorurteilen und Informationen gefülltes Gefäß“, und Friedrich Sieburg schreibt im Jahr 1939 in Die stählerne Blume: „Die Frage, wie ich Japan finde, fasse ich als Mahnung auf, alle jene Vorstellungen, die ich mit den meisten ahnungslosen Europäern teile, endgültig über Bord zu werfen. Aber auf nichts in der Welt ist so schwierig zu verzichten wie auf ein solides Vorurteil, zumal da sich hernach oft herausstellt, daß an ihm doch etwas dran war. Was wissen wir von den Japanern?“ (Sieburg 1939, 47)
_____________ 161 Im Gegensatz dazu steht die Forderung einer konstruktivistischen Hermeneutik, wie sie etwa von Rusch (2000) formuliert wird, auf einen empathischen Verstehensbegriff konsequent zu verzichten (vgl. Rusch in: Fischer; Schmidt (Hgg.) 2000, 361). Zu den Perspektiven einer konstruktivistischen Hermeneutik vgl. u.a. Sutter (Hg.) 1997. Auf die Relevanz einer konstruktivistischen Perspektive für die oben kurz aufgeworfenen Fragen wird im Zusammenhang mit dem interkulturellen Lernen (s.u.: Wegbereiter?) noch hinzuweisen sein. 162 Die Begriffe ‚Übernahme‘, ‚Suspendierung‘ und ‚Initiation‘ sind ohnehin für den vorliegenden Zusammenhang nicht ganz unproblematisch. ‚Initiation‘ im Wortsinne etwa beinhaltet zunächst auch das (rituelle) Abtöten des bisher Eigenen oder desjenigen, der man ist bzw. gewesen ist (nicht zuletzt der Verweis auf Duerr könnte eine solche Lesart des Begriffs motivieren, vgl. die Rituale der Initiation, wie sie bei Duerr 1990 beschrieben werden).
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Das Vorurteil wird gemeinhin – und zu Recht – als ein Hemmnis auf dem Weg des gegenseitigen Verstehens gewertet. In den Texten über die ‚Fremde Japan‘, so auch im oben zitierten Beispiel, deutet sich aber nicht selten ein Umgang mit den eigenen Vorurteilen an, das diese eher als Vorverständnis denn als Vorurteile erscheinen lässt: „Alle Suspension von Urteilen aber, mithin und erst recht die von Vorurteilen, hat, logisch gesehen, die Struktur der Frage.“ (Gadamer 19906, 304) Vorverständnis im Sinne Gadamers wird als unerlässliche Voraussetzung und produktive Bedingung eines jeden Verstehens gehandelt. Entscheidend dabei ist, dass das Vorverständnis zwar nicht richtig sein muss und auch nicht unbedingt immer positiv gestimmt im Sinne von politically correct, dass es aber als vorläufig, reversibel, überprüf- und korrigierbar erkannt und gehandhabt wird; es löst also mehr Neugierde aus, als es feste Bilder zementiert. Das Vorverständnis beruht außerdem auf ständig wachsender Information und nicht auf zu schnellen Urteilen, wobei der emotionale Anteil mit dem rationalen ‚verrechnet‘ wird – so jedenfalls wäre eine angestrebte IdealVariante zu skizzieren.163 Vorurteile im alltagssprachlichen Sinne hegen dagegen keinen dringenden Wunsch nach Überprüfung, der Akzent wäre somit auf das Urteil zu legen (wobei nur diejenigen, die dieses ‚Urteil‘ nicht teilen, das ‚Vor‘ davorsetzen). Neben Vorurteilen und Stereotypen164 ist es insbesondere der Vorgang der Assimilation, der im Zusammenhang mit dem (Fremd-)Verstehen problematisiert wird. Axel Horstmann leistet in seinem Aufsatz Das Fremde und das Eigene – ‚Assimilation‘ als hermeneutischer Begriff (1993) eine kompakte Zusammenschau der Begriffsgeschichte in den verschiedensten Disziplinen. In seinen Ausführungen werden die beiden zentralen Dimensionen des Begriffs beleuchtet: „Wurde in der Antike und vor allem in der mittelalterlichen Scholastik die Erkenntnis der Dinge als ‚Angleichung‛ des Verstandes an diese gedacht [...] so wird aus dem Prinzip der ‚adaequatio rei et intellectus‛ nun die Forderung, die jetzt gleichsam kontur- und strukturlos vorgestellte ‚res‛ der vernünftigen und als solcher überlegenen Struktur des erkennenden Subjekts zu ‚assimilieren‘.“ (Horstmann in: Wierlacher (Hg.) 1993, 382f.)
_____________ 163 Zu den für eine Interkulturelle Hermeneutik problematischen Aspekten der Konzeption des Vorverständnisses bzw. der Vorurteile bei Gadamer, zu denen insbesondere die ‚Autorität‘ des Traditionszusammenhangs gehört, vgl. Brenner 1998, 61f. Geulen charakterisiert Vorverständnis im Rahmen seiner Handlungstheorie folgendermaßen: „Das Vorverständnis ist ein mehr oder weniger aktuelles, jedoch im Prinzip kontinuierliches Wissen und bildet sowohl Hintergrund wie Material für die Handlungsplanung. Die aktuelle Wahrnehmung hat dagegen die Funktion, das Vorverständnis auf Realitätsangemessenheit zu prüfen, in Einzelheiten zu vertiefen und insgesamt zu erweitern.“ (Geulen in: ders. (Hg.): 1982, 47f.). 164 Zu den Stereotypen, vgl. in Kapitel 4, Exkurs 1: Überlegungen zu: interkulturelle Fremderfahrung und kulturelle Identität, Fußnote 71.
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Geht es in der antiken Auffassung noch um die Angleichung des Selbst an das Andere (hier auch im Sinne des Göttlichen und damit Überlegenen), wandelt sich diese Auffassung spätestens mit Beginn des 18. Jahrhunderts. Ausgehend von der biologischen Tatsache der Verwandlung von Fremdem in Eigenes als Ergebnis der Nahrungsaufnahme, wird etwa bei Herder im Zusammenhang mit der Speisemetapher (‚geistige Nahrung‘) die Aufnahme der kulturellen Überlieferung in diesem Sinne gedeutet: Hier wird die Angleichung des Anderen an das Eigene, ja die ‚Verwandlung‘ in Eigenes angestrebt (vgl. ebd., 383). Ein solcher Assimilationsbegriff muss die Kritik einer Interkulturellen Hermeneutik heraufbeschwören: „[d]enn wo ‚Verstehen’ und ‚Interpretieren’ als ‚assimilative’ Prozesse aufgefasst werden, droht am Ende beiden, Subjekt und Objekt der hermeneutischen Bemühung, der Verlust ihrer auf Differenz und Unterscheidbarkeit beider beruhenden Individualität“ (ebd., 398).
Neuere Ansätze versuchen, diesen ‚Stolperstein‘ zu umgehen, wenn sich auch der Verdacht einstellt, dass hier im Kern doch bereits bekannte Schattierungen verhandelt werden: „Es gibt eine Alternative zum assimilierenden Verstehen, das, radikal durchgeführt, allenfalls zu bloßen Vorspiegelungen fremder Wirklichkeiten führt [...]. Diese Alternative könnte akkomodierendes Verstehen genannt werden. Wer Piagets bekannte Unterscheidung in dieser Weise aufgreift und auslegt, faßt zwar alles soziale Verstehen als eine adaptive Leistung auf, als Anpassung an und Einstellung zu den anderen. Während jedoch die assimilierende Applikation eigener Schemata die fremden Wirklichkeiten kurzerhand ans Eigene angleicht, erfordert das akkomodierende Verstehen eine adaptive Transformation der eigenen kognitiven und begrifflichen Schemata. Das akkomodierende Verstehen paßt nicht bloß das andere und Fremde ans Eigene an, sondern umgekehrt, dieses an jenes. [...] Verstehen in diesem Sinne ist ein inter-subjektives Geschehen, ein Vorgang zwischen den Subjekten, der am Ende bei allen Beteiligten seine Spuren hinterläßt. Er vereinigt assimilierende und akkomodierende Operationen im Zuge der kommunikativen Auseinandersetzung mit dem anderen.“ (Straub 1999, 17f.)
Insbesondere im Rahmen von Vermittlungssituationen erweist sich die Analogie als wichtiges Mittel, als Wegbereiter, um über Erfahrungen in der Fremde zu kommunizieren. Dies wurde insbesondere in den Briefen aus Japan an die Daheim-Gebliebenen offenbar.165 Das Sprechen über die Fremde in Analogien wird jedoch im Rahmen der Interkulturellen Hermeneutik unter verschiedenen Perspektiven problematisiert: Steckt nicht in jedem Vergleichen ein Gleichsetzen, macht nicht jeder Vergleich das Andere zum Eigenen und assimiliert das Andere somit in unzulässiger Weise? Oder, im Sinne der relativistischen Sprachtheorie formuliert: In dem Moment, in dem ein Subjekt einen Vergleich anstellt, beruht dieser _____________ 165 Vgl. Kapitel 4.4.1 Der Vermittlungsstil.
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auf den Konstruktionen seiner Weltwahrnehmung, die sich in seinem Sprachhandeln offenbaren.166 Es muss insbesondere bezweifelt werden, dass es neutrale tertia comparationis gibt, anhand derer unvoreingenommen Vergleichshandlungen durchgeführt und geprüft werden können. In der Literatur wird vielfach darauf hingewiesen, dass jeder Vergleich nur mit einem ‚Zwischenergebnis‘ enden kann und insofern misstrauisch beäugt und stets erneut geprüft werden muss. Jedes Verstehen, das sich auf Grundlage eines Vergleichs einzustellen scheint, bleibt also, folgt man dieser Auffassung, Vorverständnis.167 Wegbereiter? Alle im vorliegenden Zusammenhang untersuchten Texte spiegeln und/oder thematisieren verschiedenste emotionale und kognitive Leistungen, die mit der Bemühung um Orientierung in der fremden Lebenswelt und mit dem Verstehen des zunächst Fremden verbunden sind. Im Folgenden sollen noch kurz einige ‚Wegbereiter‘ angesprochen werden, die diese Bemühungen begleiten oder begleiten sollten. Im Idealfall sollte jede interkulturelle Begegnung geprägt sein von einer ständigen Lernbereitschaft und der Bereitschaft zur Modifikation von Einstellungen, Meinungen und Wissen. Auf die besondere Stellung des Lernens im Zusammenhang mit dem Fremdverstehen – und zwar des Lernens sowohl über das vermeintlich Fremde als auch über das vermeintlich Eigene – macht neben Ortfried Schäffter (1997) insbesondere Alfred Holzbrecher aufmerksam.168 In dessen Didaktik interkulturellen Lernens wird die Fremde und die Erfahrung von Fremde zur besonderen pädagogi-
_____________ 166 Vgl. auch Kapitel 5.4.1 Fremdheit (in) der Sprache und Schrift. 167 Zu dieser Diskussion vgl. u.a. Straub 1999. Vergleichen als Schritt der Erkenntnisgewinnung und des Verstehens eines anderen Menschen wird noch bei Dilthey als unerlässlich und auch – auf Grundlage seiner universalisierenden Sicht auf den Menschen – als unproblematisch bewertet. In seiner Psychologie findet sich die Auffassung, das Verstehen eines anderen Menschen beruhe auf einem Analogieschluss. Die Kenntnis des eigenen Seelenlebens ist Voraussetzung und Mittel für das Erkennen des anderen Seelenlebens (vgl. Dilthey 1957). Je weniger jedoch die universalisierende Perspektive auf die Menschen und die Phänomene als den (modernen) Erfahrungen adäquat gilt, um so stärker scheint sich das Vergleichen als Stolperstein auf dem Weg zu einem produktiven Verstehen zu erweisen: „Sobald das Bewußtsein tiefer Differenzen in den Lebensformen, im Denken, Fühlen, Wollen und Handeln von Menschen zur unabweisbaren Erfahrung von immer mehr Menschen gesehen wird, rückt den Wissenschaftlern die Problematik des Vergleichens auf den Leib.“ (Straub 1999, 49f.) Vgl. außerdem Matthes in: Wierlacher; Bogner (Hgg.) 2003, 326-330. 168 Vgl. auch Auernheimer in: Interkulturelles Lernen 2000, 21f.
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schen Herausforderung. Interkulturelles Lernen gilt als „Teil des Prozesses der Subjektarbeit“ (Holzbrecher 1997, 15).169 In der Literatur wird mit dem Begriff des interkulturellen Lernens der Prozess bezeichnet, der „ausgehend von Situationen kultureller Begegnung oder aber durch entsprechende Bildungsarrangements zu interkultureller Kompetenz führen soll. Das Konzept des interkulturellen Lernens berücksichtigt demnach nicht nur bewusst herbeigeführte (insbesondere nichtformelle), sondern auch informelle und beiläufige Bildungsprozesse“ (Grosch; Leenen in: Interkulturelles Lernen 2000, 29). Der Umgang mit eigener und fremder Kultur soll sich auf Grundlage eines auch personalen Entwicklungsprozesses verändern (vgl. ebd., 37). Hier wird ‚Verstehen‘ sowohl als Lernziel als auch als Mittel für ein erfolgreiches Lernen angesehen.170 Interkulturelle Kompetenz wiederum bezeichnet im weitesten Sinne: „die dauerhafte Fähigkeit, mit Angehörigen anderer Kulturen erfolgreich und kultursensibel interagieren zu können“ (ebd., 29).171 Interkulturelles Lernen und interkulturelle Kompetenz reduziert sich also nicht auf die Aneignung von (teils recht fragwürdigem) Wissen über eine andere Kultur, das dann verhaltenssteuernd wirken soll. Vielmehr geht es um eine grundlegende Reflexion vorbewusster Konzepte wie etwa Kulturkonzepte, um das Offenlegen automatisierter Prozesse der Fremdstellung und Fremdheitskonstruktion und damit verbundener affektiver Wahrnehmungsformen des Anderen sowie um Persönlichkeitsbildung im Sinne von individueller Entwicklung hin zur Fähigkeit der Selbstbeobachtung und der distanzierten Betrachtung des vermeintlich Eigenen. Die Auffassung von Lernen als „Abbildung“ („Wissen und Bildung als kanonisierte Vorgaben“; Neubert; Reich; Voß in: Hug (Hg.) 2001, 253) oder als „Aneignung“ („Wissen und Bildung als wählbare Angebote mit Aufklärungsanspruch“; ebd.) greift zumindest für die hier thematisierten interkulturellen Lernprozesse damit zu kurz. Neubert, Reich und Voß (2001) konzipieren einen Lernbegriff (und -prozess) aus konstruktivistischer Perspektive. Diese Konzeption des Lernens als Konstruktion rekurriert auf verschiedene konstruktive Lerntheorien und entwickelt diese u.a. _____________ 169 Holzbrecher geht hier insbesondere auf die Situation von Adoleszenten ein, auf die Bedeutung von Selbst- und Fremdwahrnehmung für Heranwachsende sowie auf „Formen jugendlicher Alltagspraxis“ (Holzbrecher 1997, 139). 170 Vgl. auch Maschke 1996, 14ff. Zum Verstehenskonzept in der interkulturellen Pädagogik, das vorsieht, „[i]nterkulturelles Lernen im Sinne einer dialogischen Pendelbewegung zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu gestalten“ (Holzbrecher 1997, 172ff.), vgl. ebd. 171 Grosch und Leenen weisen darauf hin, dass es sich bei einer Betrachtung der in der Forschung erwähnten konkreten Fähigkeiten und deren Voraussetzungen herausstellt, dass dies „bei Licht betrachtet nichts anderes als eine besonders differenzierte, um die kulturelle Komponente erweiterte Sozialkompetenz [ist].“ (Grosch; Leenen in: Interkulturelles Lernen 2000, 39).
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im Hinblick auf das „Lernen in Beziehungen“ (ebd., 257-260) weiter. Als die drei „wesentlichen Grundformen des Lernens als konstruktiver Prozess“ kennzeichnen die Autoren: „Konstruktion, wenn wir als Lerner etwas erfinden; [...] Rekonstruktion, wenn wir bereits Bekanntes entdecken; [...] Dekonstruktion, wenn wir etwas kritisieren oder verfremden.“ (ebd., 254) Eine Konzeption des Lernens als konstruktiver Prozess scheint in mehrfacher Hinsicht für die Reflexion interkulturellen Lernens und die Gestaltung interkultureller Lernsituationen interessante Perspektiven zu entfalten:172 Die Infragestellung universeller Wahrheiten, die Aktualisierung (vor- oder auch unbewusster) Rollen im Konstruktionsprozess, das Einnehmen von Selbst- und Fremdbeobachterpositionen im Hinblick auf eigene Lernprozesse und Einstellungen, die kritische Reflexion der „Macht kultureller Rekonstruktionen“ (ebd., 261) sowie die Bereitschaft, eine Form des Lernens zu etablieren, „die gezielt die Verfremdungen aufsucht und die bereit ist, sich auf störende Fragen einzulassen, anstatt sie vorschnell als unsinnig anzutun.“ (ebd., 262) Ein Wissen um bestimmte Aspekte der Lebenswirklichkeit und des Deutungsrahmens einer anderen Kultur, das als vorläufig und nicht absolut immer wieder in sozialen Situationen und Interaktionen geprüft, reflektiert und relativiert wird, kann als solches ein wichtiger Faktor im interkulturellen Lernprozess werden, der einerseits Verständnis für die andere Kultur entwickeln hilft und andererseits die eigenen Kulturstandards unter Umständen bereichern und erweitern kann.173 Als Beispiel soll hier kurz auf das Konzept zur Entwicklung einer interkulturellen Kommunikationsfähigkeit und dessen Grundlagen bei Annelie Knapp-Potthoff (1997) verwiesen werden. Knapp-Potthoff legt ihren Ausführungen eine recht weite Auffassung von interkultureller Kommunikation zugrunde, was notwendiger Weise auch eine offene Konzeption einer „Interkulturellen Kommunikationsfähigkeit“ nach sich zieht, die „im wesentlichen als das Verfügen über spezifische Strategien, mit Angehörigen fremder Kommunikationsgemeinschaften erfolgreich zu interagieren und ggf. neue Kommunikationsgemeinschaften zu etablieren, [skizziert ist]. Dazu gehören auch Strategien zur erfolgreichen Bewältigung von Lernersprachenkommunikation. Wissen über kulturelle Unterschiede erhält in diesem Kontext seine Funktion.“ (Knapp-Potthoff in: dies.; Liedke (Hgg.) 1997, 14) Affektive und persönlichkeitsbildende Komponenten wie Empathiefähigkeit (siehe auch unten) und Toleranz sind hier eben so von Bedeutung wie allgemeines _____________ 172 Dies wird in Zukunft noch genauer zu prüfen sein. Zur spezifischen Entfaltung der hier nur kurz angesprochenen Konzeption des Lernens als konstruktiver Prozess vgl. Neubert; Reich; Voß in: Hug (Hg.) 2001, 253-265. 173 Vgl. auch Grosch; Leenen in: Interkulturelles Lernen 2000, 40.
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Wissen über Kommunikation und Kultur. Kulturspezifisches Wissen findet in diesem Rahmen recht pragmatisch Anwendung, z.B. für die Beachtung von Tabus oder als Basis für Deutungen, verliert aber die zentrale Stellung, die es in interkulturellen Trainingsprogrammen, die auf undynamischen Kulturkonzepten basieren, immer noch inne hat.174 Aber selbst ein erfolgreiches Erlernen einer zunächst fremden Sprache, also die Grundvoraussetzung einer Verständigung mit Angehörigen einer anderen Kultur, bringt natürlich nicht automatisch ein Verstehen der anderen Lebensform oder anderer Menschen mit sich: „Wir sagen auch von einem Menschen, er sei uns durchsichtig. Aber es ist für diese Betrachtung wichtig, daß ein Mensch für einen andern ein völliges Rätsel sein kann. Das erfährt man, wenn man in ein fremdes Land mit gänzlich fremden Traditionen kommt; und zwar auch dann, wenn man die Sprache des Landes beherrscht. Man versteht die Menschen nicht. (Und nicht darum, weil man nicht weiß, was sie zu sich selber sprechen.) Wir können uns nicht in sie finden.“ (Wittgenstein 1990, 412)
Im Zusammenhang mit dem Verstehen eines anderen Menschen gewinnen die Begriffe Nachvollziehen, Nachempfinden sowie Perspektivenübernahme und Empathie an Relevanz. Nachvollziehen betont alltagssprachlich, aber auch oftmals in der Fachliteratur, den intellektuellen Anteil beim Verstehen der Handlung oder des Verhaltens eines anderen Menschen. Die Erkenntnisanstrengung, ein reflektierender Vorgang, spiegelt sich hier wider: ‚Ich kann nachvollziehen, warum sie sich so verhält, wie es dazu kam, aber verstehen kann ich es nicht.‘ Dies meint dann weniger mangelndes Verstehen, als viel mehr mangelndes Einverständnis, denn: „Verstehen ist nicht Einverständnis.“ (Bredella in: Bredella (Hg.) 2000, XXII). Ist die Rede von Nachempfinden, so drückt das zumeist einen Nachvollzug bestimmter Gefühle aus: ‚Ich kann mir vorstellen, in dieser Situation ebensolche Gefühle zu entwickeln wie mein Gegenüber. Auch ich würde in gleicher Weise trauern.‘ In beiden Begriffen ist die Bedeutung eines gewissen Vorstellungsvermögens (Imagination) ablesbar. In der aktuelleren Forschung werden insbesondere die Begriffe Perspektivenübernahme und Empathie im Zusammenhang mit dem (Fremd-) Verstehen diskutiert, so etwa in der interkulturellen Pädagogik und im Forschungsbereich Deutsch als Fremdsprache. Mancherorts kommt es zu einer expliziten Differenzierung zwischen dem Konzept der Empathie und dem der Perspektivenübernahme, so etwa bei Dieter Geulen (1982). Geulen befasst sich mit Forschungen zur Perspektivenübernahme als einem zent_____________ 174 Zur Relevanz der Fähigkeiten und Handlungen Können, Kennen, Wissen, Deuten und Erklären im vorliegenden Kontext, die mit Lernen und Verstehen (als Tätigkeiten) in einem ‚Verwandtschaftsverhältnis‘ stehen, vgl. u.a. Rehbein 1997.
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ralen Ansatz zur empirischen Analyse interpersonalen Verstehens und definiert Perspektivenübernahme folgendermaßen: „Hier geht es darum, daß wir auf der Grundlage unserer Kenntnis von der Position, vom Verhältnis eines anderen zu der Sache, in begründeter Unterstellung imaginieren können, wie ihm die Sache erscheint, welches seine Perspektive ist, und daraus wiederum Schlüsse ziehen können, wie er voraussichtlich handeln wird. Dies hat dann wiederum Konsequenzen für die Planung unseres eigenen Handelns.“ (Geulen in: ders. (Hg.) 1982, 11)
In diesem Sinne versteht er Perspektivenübernahme „als ein zentrales Stück einer Theorie sozialen Handelns.“ (ebd., 12) Die Begriffe Empathie oder auch Einfühlung werden nach seiner Ansicht der kognitiven Dimension seines Konzeptes nicht gerecht, da sie sich „nur auf das Verständnis aktueller und einzelner Emotionen beschränken.“ (ebd., 51) Andere Ansätze zeigen ein etwas modifiziertes Bild, insbesondere da es zu einer stärkeren Betonung der Bedeutung emotionaler und kognitiver Anteile kommt, die in einem gemeinsamen Konzept zusammengeführt werden, das entweder unter dem Begriff der Empathie oder dem der Perspektivenübernahme näher beschrieben wird. So wird beispielsweise die Erziehung zur Empathiefähigkeit ausdrücklich als ein zentrales Ziel für soziales Lernen überhaupt und eine interkulturelle Erziehung im Besonderen betont (vgl. u.a. Auernheimer 19952, 171). Die durch die Vorstellungskraft ermöglichte „Konstruktionsaktivität des Empathie-Subjektes“ (Schön in: Lange; Steffens (Hgg.) 1995, 110) begründet die „Fähigkeit zu einem kontrollierten flexiblen Umgang mit den Grenzen eigener und fremder Identität. [...] Empathie ist nicht nur ein kognitiver Akt, in dem etwa Einstellungen, Erwartungen oder Reaktionen anderer antizipiert werden, sondern auch die Übernahme fremder affektiver Zustände.“ (ebd.) Empathie wird als die „kompetenteste Form der Identifikation“ (ebd.) entworfen, bei der Fremderfahrung auf emotionaler und kognitiver Ebene möglich wird.175 Da die Ausbildung der Fähigkeit zu Empathie und Perspektivenübernahme als Grundlage des alltäglich praktizierten sozialen Handelns verstanden wird, wird sie auch im Rahmen des interkulturellen Fremdverstehens als möglich angesehen, allerdings „über den vertrauten Rahmen hinaus ausgebildet.“ (Bredella in: Bredella (Hg.) 2000, XXII). Diese Ausbildung „über den vertrauten Rahmen hinaus“ wird nun zur Aufgabe einer jeden interkulturellen Erziehung und Bildung, wobei z.B. für den Literaturunter_____________ 175 Zur Begriffsgeschichte von Empathie, vgl. Plé in: Wierlacher; Bogner (Hgg.) 2003, 227-232, der insbesondere auf den Einfluss der Konzeption Herders von ‚Einfühlung‘ als Mittel zur Erfahrung von Fremde rekurriert. Wispé weist darauf hin, dass empathy im englischsprachigen Raum zunächst eine Übersetzung des Diltheyschen Konzepts der Einfühlung darstellte, bis es sich in der psychologischen Forschung zu dem heute gültigen Begriff mit allen damit verbundenen Implikationen entwickelte. Vgl. Wispé in: Sills (ed.) 1968, 441.
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richt die Forderung formuliert wird, „dass es darauf ankommt, Texte, Zugangsmöglichkeiten und Aufgaben auszuwählen bzw. zu entwickeln, durch die die Fähigkeit und Bereitschaft zum Perspektivenwechsel und zur Perspektivenübernahme gezielt gefördert werden können.“ (ebd., XX) Empathie, Perspektivenübernahme, Nachvollziehen und Nachempfinden stehen jedoch innerhalb der Interkulturellen Hermeneutik aber auch in der Kritik, da sie vielfach auf Analogieschlüssen und/oder assimilativen Prozessen beruhen, die die Andersheit des Gegenübers missachten könnten: „Auch die Fähigkeit, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen und tentativ seine Perspektive einzunehmen, überwindet, obschon ein wesentliches Moment von Verstehensversuchen und sozialem Verhalten, diese Kluft nicht. Beabsichtigt man eine angestrebte Übereinstimmung mit den ‚inneren Zuständen‘ des anderen, birgt gerade die Empathie die Gefahr unreflektierten Vereinnahmens, weil sie die uneinholbare Andersheit des Anderen leugnet und ihn mit sich identifiziert.“ (Hammerschmidt 1997, 209)
Diese Wegbereiter können sich also unversehens auch als Stolpersteine für ein adäquates Fremdverstehen erweisen, wenn sie nicht als Konstruktionen bzw. Konstruktionsaktivitäten von Subjekten erkannt und entsprechend jeweils neu reflektiert werden. Clifford Geertz (19996), der dem Konzept der Empathie misstrauisch gegenüber steht,176 reflektiert in seinem Aufsatz Aus der Perspektive des Eingeborenen. Zum Problem des ethnologischen Verstehens wie sich ein interkulturelles Verstehen ohne die Utopie einer „einzigartige[n] psychologischen Nähe oder eine Art transkultureller Identifikation“ (Geertz 19996, 290) gestalten könnte: „Kurz, man kann Erklärungen der Subjektivität anderer Völker versuchen, ohne dazu übermenschliche Fähigkeiten der Selbstaufgabe und des Einfühlungsvermögens heucheln zu müssen. Eine normale Entwicklung derartiger Fähigkeiten wie auch deren weitere Ausbildung sind natürlich unabdingbar, wenn wir erwarten, daß Menschen unser Eindringen in ihr Leben überhaupt ertragen und uns als Personen, mit denen man sich unterhalten kann, akzeptieren sollen.“ (ebd., 308)
_____________ 176 Wobei sich seine Kritik jedoch eher auf die alltägliche Umsetzung des Konzeptes bzw. auf den missverständlichen Gebrauch des Begriffs als auf die Konzeption selbst bezieht: „Statt zu versuchen, die Erfahrungen der anderen in den Rahmen unserer Vorstellungen einzuordnen – und nichts anderes steckt in den meisten Fällen hinter der so übermäßig betonten ›Empathie‹ –, müssen wir, um zu einem Verstehen zu gelangen, solche Vorstellungen ablegen und die Erfahrungen anderer Leute im Kontext ihrer eigenen Ideen über Person und Selbst betrachten.“ (Geertz 19996, 294).
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Wertung und Anerkennung „Das Verstehen des Fremden muß nicht zu einer Vereinnahmung führen, sondern zu einer Beurteilung. Was allerdings momentan nicht opportun ist. Die derzeitige Kultureuphorie will, gerade wenn es um Randkulturen geht, ausschließlich verstehen und nur ja nicht kritisieren, worin sie Wiedergutmachung leistet für den kolonialen und sonstigen Ethnozentrismus. Für eine Übergangsphase mag das angemessen sein, doch auf Kritikverzicht läßt sich keine Völkerverständigung gründen.“ (Hansen 2000, 327)
Mit der etwas provokativ formulierten Forderung, dass Verstehen auch zu einer Beurteilung führen muss, steht Klaus P. Hansen nicht allein. Gerade in jüngerer Zeit häufen sich die Stimmen, die zu einer kritischen Auseinandersetzung aufrufen, wenn auch für die Grundlagen dieser Kritik nach wie vor Klärungsbedarf besteht. So soll der Weg keinesfalls zurück zu einem universalisierenden Wertungskonzept führen und die Problematik des (übergeordneten?) Standortes, von dem aus eine Wertung vorgenommen werden könnte, wird nicht gelöst. Um der Gefahr des Ethnozentrismus zu begegnen, wird dazu aufgefordert, in jede kritische Beurteilung einer anderen Kultur eine ebenso kritische Beurteilung der eigenen einzubeziehen.177 Zudem sollte jede Wertung zumindest auf so elementaren Einstellungen wie Toleranz, Gelassenheit und Respekt beruhen. Toleranz wird jedoch inzwischen mit Rückgriff auf das Goethe-Wort: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen“178 als nicht ausreichend kritisiert. Anerkennung soll nun endlich jene Einstellung, jene respektvolle Zuwendung charakterisieren, die nicht diffamiert, nicht universalisiert, nicht relativiert und dennoch Urteil und Wertung gestattet.179 Auf dieser Grundlage wird auch die Beurteilung von Personen als möglich und adäquat entworfen, ja sogar als _____________ 177 Vgl. z.B. Straub 1999, 68 sowie Wierlacher in: ders.; Bogner (Hgg.) 2003, 264-271, hier insbesondere 267ff. 178 Johann Wolfgang von Goethe (19925): Maximen und Reflexionen; Nr. 875, 558. Zu ‚Toleranz‘ vgl. insbesondere Forst 2003. 179 Vgl. Auernheimer in: Interkulturelles Lernen (2000). Auernheimer charakterisiert in seinen Ausführungen vier „Fragenkomplexe oder Motive, denen implizit oder explizit die Annahme kultureller Differenz vorausliegt“ (ebd., 20). Als zweites Motiv wird dort „das Motiv der Anerkennung, das auf die Identitätsproblematik verweist“ (ebd.) genannt. „Anerkennung heißt, den anderen ernst zu nehmen, gerade auch dadurch, dass man sich mit ihm auseinandersetzt. Die Bereitschaft dazu setzt freilich auch eine kritische Haltung gegenüber dem eigenen Orientierungssystem voraus, einen geschärften Blick für Rationalitätsdefizite und Widersprüche in der eigenen Kultur und Gesellschaft, Wachsamkeit gegenüber den eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten. [...] Anerkennung des Fremden ist Voraussetzung des interkulturellen Verstehens, wie dieses umgekehrt die Anerkennung vertieft.“ (ebd., 22; 24). Vgl. auch Wielacher in: ders.; Bogner (Hgg.) 2003, 199-203.
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notwendig, da die Verweigerung der beurteilenden Auseinandersetzung mit einer Person eine Verweigerung der Anerkennung bedeute: „Die Anerkennung von Personen hängt im Grunde genommen also nicht primär davon ab, ob deren Orientierung und Handlungen gebilligt oder mißbilligt, die Lebensform, an der die betreffenden Personen partizipieren, gut oder schlecht geheißen, erwünscht oder abgelehnt, bewundert oder kritisiert wird, sondern davon, daß sie als sprach- und vernunftbegabte Personen, die zu intelligenten Auseinandersetzungen mit anderen und zu selbstreflexiven Betrachtungen der eigenen Praxis imstande sind, ernst genommen werden.“ (Straub 1999, 71)
In Anlehnung an Todorov (1995) und Taylor (1993) wird das Bedürfnis nach Anerkennung als ein menschliches Grundbedürfnis im Sinne eines anthropologischen Universals entworfen: „Unerträglicher noch als Kritik es je sein kann, ist ein Leben ohne jeglichen Widerhall, ohne Antworten und Aufforderungen des anderen: als existierte man nicht.“ (Straub 1999, 73) Folgt man dieser Auffassung, so kann eine wirkliche respektvolle Anerkennung der anderen Person und/oder der anderen Kultur nur auf Grundlage einer dialogischen, ernsthaften Auseinandersetzung gelingen und nicht etwa auf „[a]us Schuldgefühlen und einem schlechten Gewissen sprudelnde[n] Vorspiegelungen von Achtungsbezeugungen und Akten der Anerkennung“ (ebd., 76). Jede Anerkennung einer anderen Kultur, ihrer Produkte und ihrer Angehörigen kann allein aus einer Begegnung mit dieser resultieren, die sich um ein Verstehen bemüht, auch wenn dieses Verstehen nicht unbedingt zu Einverständnis führt. Oder, wie es Basil Hall Chamberlain formuliert hat: „Denn aufrichtiger als die Masse der Epitaphisten haben wir versucht, unsere wahre Meinung über fast alle Gegenstände auszudrücken und die Dinge bei ihren rechten Namen zu nennen, da wir der Ansicht sind, daß eine wirkliche Würdigung stets ebenso kritisch ist als anerkennend.“ (Chamberlain 1912, 12) Alfred Holzbrecher (2002) illustriert den „Kernkonflikt des Problems der Anerkennung“, wie er sich im schulischen Alltag präsentiert, indem er darauf hinweist, „[d]ass die religiöse Alltagspraxis etwa strenggläubiger Muslime oder Zeugen Jehovas zu respektieren ist, [dass diese] im schulischen Kontext aber nicht in jedem Fall akzeptiert wird“ bzw. nicht immer akzeptiert werden kann, ohne die in unserer Kultur gültige „Substanz des pädagogischen Grundverständnisses von schulischer Erziehung“ in Frage zu stellen.180 Insofern bezeichnet er auch die Frage nach „dem Verhältnis zwischen universalen Ansprüchen und der Berücksichtigung partikularer Interessen bzw. kulturbedingter Lernvoraussetzungen“ (ebd., 4) als Grundproblematik der interkulturellen Pädagogik. Ein adäquater Umgang _____________ 180 , 3.
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mit dieser Grundproblematik, die nicht zuletzt im Spannungsfeld zwischen Kulturuniversalismus und Kulturrelativismus diskutiert werden muss, kann weder für die konkrete pädagogische Arbeit, noch für die politischen, die juristischen sowie die institutionellen Rahmenvorgaben konstatiert werden. Auch im wissenschaftlichen Diskurs besteht hier nach wie vor ein hoher Klärungsbedarf. Der Versuch, eine andere Kultur, ihre Angehörigen oder ihre kulturellen Produkte zu verstehen, ist insbesondere im alltäglichen, pragmatischen Geschehen sicherlich ein Vorgang, der viele Risiken in sich birgt: Das Risiko der Vereinnahmung des Anderen, die Gefahr, diesem nicht gerecht zu werden, es falsch zu verstehen, tradierte klischeehafte Bilder weiterzutragen und zu verfestigen, etc. Es darf jedoch auch Folgendes nicht übersehen werden: Ohne Versuche, den Anderen zu verstehen, können sich weder dauerhafte Dialoge noch eine lebendige Auseinandersetzung mit dem vermeintlich Eigenen etablieren. KATÔ Shuichi, geboren 1919, gilt als einer der führenden Intellektuellen, Lehrer und Publizisten Japans. In dem erstmals 1968 in Japan erschienenen Buch Schafsgesänge berichtet er von seinen Begegnungen mit Europa. Für die europäischen (seit 1997 auch für die deutschen) Lesenden eröffnet sich der Blick eines Fremden auf das Eigene.181 Lesend erschließt sich ein Prozess der Annäherung an die fremde Kultur; ein Prozess der Auseinandersetzung mit dieser Kultur, ihren Menschen und ihren Produkten. Die Erfahrungen, die Katô beschreibt, provozieren seine Neugierde und fördern Anspannung und Ängste sowie persönliche Reifung zu Tage: „Als ich Paris zum erstenmal sah, glaubte ich, Großstädte seien im großen und ganzen überall gleich, und hatte die Absicht, nach einem Jahr wieder nach Tôkyô zurückzugehen. Bald darauf spürte ich in dieser Kultur eine gewisse Tiefe, und um sie einigermaßen ausloten zu können, schien mir, daß ein einjähriger Aufenthalt nicht mehr als eine Zeit der Vorbereitung sei. Ich zögerte keinen Moment, sie zu verlängern. Nachdem etwa zwei Jahre vergangen waren, empfand ich die Tiefe dessen, was noch vor mir lag, als unermeßlich. Würde mich diese Tiefe, in die ich vordrang, nicht hinabziehen wie in einen Abgrund, aus dem es dann keinen Ausweg mehr gäbe? Ein Gedanke, der mich benommen machte und mich fast schaudern ließ. Eine Kultur, verankert im Wesen eines Menschen, gerät mit einer anderen Kultur in Berührung. Solange sie nur Gegenstand seiner Beobachtungen bleibt, kann er jederzeit dorthin zurückkehren, woher er gekommen ist, ohne dadurch sein Wesen geändert zu haben. [...] Ist aber die zweite Kultur nicht mehr nur Beobachtungsobjekt, sondern beeinflußt sie den Beobachter und verändert sein Wesen, dann wird dieser Prozeß unumkehrbar“ (Katô 1968 (1997), 165).
_____________ 181 Wobei das Eigene der Lesenden vom Schreibenden als etwas Fremdes erlebt und erfahren wird. Irmela Hijiya-Kirschnereit (1997) macht in ihrem Nachwort zu den Schafsgesängen deutlich, dass die Fremdheit zwischen Japan und Europa „damals wesentlich greifbarer als heute [war], sie teilte sich womöglich unmittelbar physisch mit.“ (ebd., 234).
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Viele Erfahrungen werden in diesen Worten reflektiert: Verstehen als ein langsamer Prozess, der sich in seiner ganzen Dimension erst nach und nach offenbart. Je weiter und genauer man sich einlässt, umso deutlicher tritt ins Bewusstsein, dass der Gegenstand des Verstehens Tiefen enthält, die zu Beginn nicht wahrnehmbar waren und die sich dem Zugriff entziehen: „So lange in einem Land leben, daß man sagen kann: Ich kenne es überhaupt nicht!“ (Kapuściński 2000, 287) Wie weit aber kann man sich einlassen? Deutlich ist aus den Zeilen die Befürchtung zu lesen, die eigene kulturelle Identität aus den Augen zu verlieren. Beobachtung unter Einhaltung einer gewissen Distanz bedroht nicht, es verändert aber auch nicht. Berührung, Nähe, Beeinflussung aber ist ein Wagnis und stößt einen Prozess an, der grundlegende Veränderungen des vermeintlich Eigenen, mit sich bringen kann. KATÔ Shuichis Erkenntnisdrang sorgt dafür, dass er sich dem Abenteuer des Verstehens nicht entzieht. Sein Versuch, das Andere, zunächst noch Fremde zu verstehen, führt ihn letztlich zu einem veränderten Verstehen dessen, was er als Eigenes empfindet. Dieses Verstehen vollzieht sich jenseits territorialer, ethnizistischer oder kulturchauvinistischer Zuschreibungen und mündet in einen fruchtbaren Dialog: „Die Buddhafiguren waren einfach großartig und den gotischen Figuren vollkommen ebenbürtig in ihrer Ausgewogenheit von Geist und Körper, ihrer Harmonie von Form und Material, der Art, wie Masse und Bewegung einander ausglichen. Das war keine Frage des Stils, sondern der Qualität. Sie mußten uns einfach in eine Welt unerschöpflicher Gedanken locken. Danach begann ich, über japanische Kunst zu schreiben, doch hatte das nichts mit patriotischen Gefühlen zu tun. Daß ich die Dreiergruppe im Yakushiji-Tempel noch heute so gern betrachte, liegt an meiner grenzenlosen Liebe zu den Buddhas von Pei-Wei und zu den Engeln von Reims.“ (Katô 1968 (1997), 178)
5.4 Die ‚fremde Schrift‘ „Jetzt steht der Besucher, der Analphabet aus Deutschland, also auf irgendeinem Gleis dieses Bahnhofs und erstarrt vor Fassungslosigkeit.“ 182
5.4.1 Fremdheit (in) der Sprache und Schrift Fremdheit wurde und wird als eine solche in der Linguistik hierzulande insbesondere im Hinblick auf „Sprachen, die nicht die Familienähnlichkeit der indogermanischen Sprachen aufweisen“ (Weinrich in: Wierlacher (Hg.) 1993, 137) konstatiert und konstruiert. Noch bis ins 19. Jahrhundert _____________ 182 Keith, 29.07. 2003, 35.
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hinein gestaltete sich die linguistische Beschreibung fremder Sprachen als „eine Sammlung linguistischer Kuriositäten und Monstrositäten“ (Trabant in: Naguschewski; Trabant (Hgg.) 1997, 99). Auch die Bewertung fremder Schriften bewegte sich lange im Rahmen des Evolutionismus der Ethnologie des 19. Jahrhunderts. Man konstatierte eine Fortentwicklung der Schrift, die sich stufenweise hin zu immer ‚höheren Schriftformen‘ vollzog, über piktographische, ideographische bis zu phonetischen Schriften.183 Damit einher gingen eine Abwertung der Schriftsysteme, die diesen scheinbar zwingenden Fortschritt nicht mitvollzogen hatten, sowie ein gewisser ‚Reformeifer‘:184 Frederick Bodmer etwa beschreibt noch im Jahr 1943 die chinesische Sprache und Schrift in dem Kapitel Sprach- und Schriftkrankheiten als defizitär und unterentwickelt.185 Dieses Urteil basiert auf den beiden Kriterien, die er für die leichte und ökonomische Erlernbarkeit von Sprache manifestiert – „grammatische Regelmäßigkeit“ sowie „Sparsamkeit an Wörtern“ (Bodmer [1943] 1997, 231) – wobei ‚leichte Erlernbarkeit und Ökonomie‘ als die entscheidenden Qualitätsmerkmale gelten:186 „Fast alle Sprachen, die wir in diesem Kapitel besprochen haben, sind mit Unregelmäßigkeiten überlastet und besitzen Regeln, welche die Anzahl der Wortfor-
_____________ 183 Auch Haarmann (1990) zeigt einen solchen Entwicklungsgang der Schrift auf: „Am exaktesten ist die Wiedergabe von Sprache mit Hilfe von Buchstabenzeichen, die für Einzellaute stehen. Diese Evolutionsphase ist die chronologisch jüngste, und gleichzeitig die höchstspezialisierte Form des Schreibens“ (ebd., 16). Gleichzeitig fordert er aber eine Geschichte der Schrift, die u.a. „dem Leser viel mehr vergleichende Hinweise auf die kulturelle Entwicklung in der Welt, auf die Rolle der Schrift für die kulturelle Identität“ gibt. (ebd.) Zur Bedeutung von Schrift für die kulturelle Identität vgl. Kapitel 5.4.2 ‚Schriftmythen‘. 184 Vgl. z.B. Ignace Gelb (1958). Darüber hinaus wird die vermeintliche ‚Überlegenheit der phonetischen Schrift‘ „in der Tradition der europäischen Philosophie damit begründet, daß sie kongruent zur gesprochenen Sprache bzw. zur Stimme sei und deshalb mit der Wahrheit in Einklang sei.“ (Tawada 2000, 96). Zur Kritik der Geschichte der Schrift vgl. u.a. Derrida 1974; hier: 132ff. 185 Die englische Originalausgabe The loom of language: A guide to foreign languages for the home student erschien erstmals 1955 in deutscher Sprache. 186 Vgl. dazu auch Haarmann (1990), der die 13 Schriftzeichen der Maori auf Neuseeland den etwa 50.000 kanji gegenüberstellt (ebd., 115). Er verweist auf das in diesem Zusammenhang von Europäern immer wieder geäußerte Unverständnis, wieso eine scheinbar so ‚unökonomische‘ Schrift von einer Kultur überhaupt weiter tradiert werde. Nicht einmal Erwägungen über erheblich höhere Kosten im Zeitalter der massenhaften Verbreitung von Druckerzeugnissen, noch die Anstrengungen, die es erforderte, z.B. in Japan die drei nebeneinander bestehenden Schriftsysteme in der modernen Datenverarbeitung einzusetzen, führten jedoch letztlich bis heute zu dem vielfach prophezeiten Schriftwechsel. Dazu bemerkt Haarmann: „Der chinesische Schriftkulturkreis mit seiner eigenständigen Entwicklung verdeutlicht dem westlichen Betrachter, daß eine der umständlichsten und technisch aufwendigsten Schreibweisen der Schriftgeschichte ihre Rolle als Kulturträger bis ins Computerzeitalter behauptet hat. Dies kann nur demjenigen verwunderlich erscheinen, der die Bindung eines Schriftsystems an die kulturelle Identität der Sprachgemeinschaft außer Betracht lässt.“ (ebd., 556).
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men unnötigerweise vermehren. Das Chinesische nun und die mit ihm verwandten Sprachen erfüllen die beiden Bedingungen, aber die Schwierigkeiten liegen auf anderem Gebiet.“ (ebd., 231) „Schon in alter Zeit war Chinesisch mit einer großen Zahl von Homophonen, d.h. Wörtern mit verschiedener Bedeutung, aber gleicher Aussprache, belastet.“ (ebd., 239) „Wenn das chinesische Volk sein Analphabetentum überwinden will, muß seine bronzezeitliche Schreibweise einem Schriftsystem weichen, das frei ist von den auf den vorigen Seiten besprochenen schweren Mängeln; mit einem Wort: China braucht eine Schrift, die Laute statt Wörter wiedergibt.“ (ebd., 247) „Chinas schüchterne Versuche, die Fesseln, die ihm seine Schrift auferlegt, zu lösen, haben bis heute im Ausland nicht viel Beachtung gefunden.“ (ebd., 250)
Der Wissenschaftler Erwin Bälz, der sich in Japan u.a. anthropologischen Studien widmete und als Wegbereiter der modernen japanischen Medizin gilt, kennzeichnet die chinesischen Schriftzeichen als kaum erlernbar für Angehörige anderer Schriftkulturen und die japanische Silbenschrift, explizit die katakana, als „höchst unvollständig“ (Bälz 1883, 1). Auf dieser Grundlage zieht er den durchaus folgerichtig anmutenden Schluss: „Dass mit der Zeit eine einfachere Schrift unabweisbares Bedürfniss ist, darüber kann kein Zweifel obwalten, aber wir werden dieselbe vielleicht nicht erleben, und jedenfalls wird sie nicht aus den Kana-Zeichen, sondern aus dem römischen Alphabet bestehen.“ (Bälz 1883, 2)187
Die exotistische Wahrnehmungsweise deutscher Reisender in Japan steht solchen Auffassungen diametral entgegen. Hier soll die andere Kultur vielmehr das ihr eigene Schriftsystem beibehalten, damit dem Europäer der exotische Projektionsraum nicht etwa verloren gehe: „Einen weiteren unglücklichen ‚Fortschritt‘, den die Berührung mit westlicher Zivilisation mit sich brachte, stellten die schon zu meiner Zeit einsetzenden Bestrebungen dar, die bildhafte, begriffliche japanisch-chinesische Schrift durch gänzlich phantasielose, nüchterne phonetische Schriftzeichen zu ersetzen. Dabei hat jene alte Schrift vor unserer lautlichen Buchstabenschrift so gewaltige Vorteile, daß mir ein Übergang von jener zu dieser ebenso unverständlich erscheinen würde wie das meiste von all dem, was die Japaner schon von uns übernommen haben.“ (Haunhorst 1936, 74f.)
Solche ethnozentrischen und/oder exotistischen Wahrnehmungs- und Beschreibungsmuster im Zusammenhang mit anderen Sprachen und Schriftsystemen spiegeln sowohl Fremdstellungen als auch, unabhängig _____________ 187 Bälz beklagt den Mangel an aus dem Japanischen ins Deutsche übersetzen Werken im Zusammenhang mit seiner Untersuchung über Die körperlichen Eigenschaften der Japaner (1883). Er führt diesen Mangel auf das in Japan gebräuchliche Schriftsystem zurück, das für den Europäer ein „unüberwindliches Hinderniss“ darstellt (ebd., 1).
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von der Unterschiedlichkeit ihrer Aussage, die gleichen imperialistischen Tendenzen. Im Rahmen der Sprachphilosophie stellt sich im Zusammenhang mit Fremdheit (in) der Sprache u.a. die Frage, ob und wie sich Menschen überhaupt verstehen können, die sehr unterschiedliche Sprachen sprechen. Wie können sie ein und dieselbe Welt wahrnehmen, wenn sie sie so verschieden bezeichnen, wie sich über diese Welt überhaupt verständigen? Dahinter steht letztlich die Frage: Gibt es überhaupt eine ‚Welt‘ außerhalb der Sprache? Diese Reflexionen führen mitten hinein in die Betrachtungen über den Zusammenhang von Sprache, Wahrnehmung, Denken, Handeln, Wirklichkeit und Verstehen. Der linguistic turn innerhalb der Philosophie betonte mit Rückgriff auf Humboldt die Rolle der Sprache als Medium jeglicher Reflexion. In der Sprachinhaltsforschung188 wurde die Muttersprache zum „Urquell aller Erfahrung. Denn was der einzelne denkt, fühlt und will, hat die Sprache, in die er hineingeboren ist, immer schon vor ihm gedacht, gefühlt, gewollt.“ (Weinrich in: Wierlacher (Hg.), 1993, 132) Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf führten diesen Gedanken noch weiter; sie fundierten die relativistische Sprachauffassung, nach der wir die Realität keineswegs unvermittelt wahrnehmen können, sondern immer nur durch die Struktur der jeweiligen Sprache. „Wenn dies stimmt, dann ist die Sprache unsere letzte Wirklichkeit, weil wir nicht wissen können, was es außerhalb unserer Sprache gibt. Das ist im Grunde die Auffassung des ›linguistic turn‹, der zu der Auffassung führt, dass die Dinge dadurch entstehen, dass wir über sie sprechen. [...] Eine weitere Implikation dieser Auffassung besagt, dass Übersetzungen von einer Sprache in eine andere unmöglich sind, weil es keine Gemeinsamkeiten gibt, auf die man sich beziehen könnte. Jede Sprache bringt ein unvergleichliches, inkommensurables Weltbild zum Ausdruck.“ (Bredella in: Bredella (Hg.) 2000, XIV)189
_____________ 188 Vgl. Weisgerber 1971. 189 Zur Kritik dieser Auffassung vgl. ebd.. Hammerschmidt verweist auf den bestimmenden Einfluss Wittgensteins in diesem Zusammenhang: „Erst durch den pragmatic turn gerät die Sprachvermitteltheit jeder Erkenntnis in den Bannkreis sozialer und historischer Bedingungen, die den Sprachhandelnden in abgeschlossene Sprachwelten einzusperren droht. Die über den aktuellen Gebrauch bestimmte Seinsweise der Sprache, aus der Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen die unhintergehbare Pluralität der Sprachspiele aufwies, verschärft die Kluft zwischen den Verstehenshorizonten sprachlich konstituierter Lebenswelten.“ (Hammerschmidt 1997, 130). An dieser Stelle soll noch ein Hinweis auf den (post-)strukturalistischen Diskurs genügen. Foulcauts Auffassung von Sprache ist dadurch bestimmt, dass er sie „als konstitutiv sowohl für die Kategorien als auch für die von ihnen zu ordnenden Wahrnehmungen“ (White 1986, 271) versteht. In dieser Konzeption ist die Sprache grundsätzlich von „der Aufgabe der Repräsentation der Welt der Dinge befreit“ (ebd., 290). Das Problem der Verständigung und des Verstehens zwischen Menschen verschiedener Sprachgemeinschaften wäre somit letztlich marginal, da das Problem nicht in den Verschiedenheiten der Sprachen bestünde, sondern zwischen dem „Sein der Welt und dem Wissen, das wir von ihr haben“ (ebd., 278).
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Die Arbeiten von Whorf gründeten auf seiner Begegnung mit der Sprache der Hopi-Indianer,190 „die seitdem in der linguistischen und kulturkritischen Diskussion den Stellenwert einer Fremdsprache schlechthin angenommen hat.“ (Weinrich in: Wierlacher (Hg.), 1993, 138)191 Eine solchen Auffassung schreibt die Fremdheit zwischen den Kulturen – als Sprachenfremdheit – als unüberwindbar fest, da Verständigung letztlich nicht möglich ist.192 Sprach- und Schriftlosigkeit Fremdheit (in) der Sprache wird für die Einzelnen jenseits linguistischer oder sprachphilosophischer Reflexionen dann besonders spürbar, wenn sie in die eigene Sprach- und Schriftlosigkeit mündet; eine Erfahrung, die in Texten über die Begegnung Deutschland - Japan immer wieder thematisiert wird.193 Die Andersheit fremder Sprachen wird von Menschen subjektiv oft als sehr einschneidend und umfassend erlebt und beschrieben. Jürgen Trabant weist darauf hin, das „[d]ie Fremdheit der Sprache [...] auf allen Ebenen des Sprachlichen [nistet], im Lautlichen, im Grammatischen, im Morphologisch-Syntaktischen, im Lexikalischen usw.“ (Trabant in: Naguschewski; Trabant (Hgg.) 1997, 94) Dabei greifen insbesondere die konkret sinnlich, also auditiv und visuell wahrnehmbaren Aspekte der Sprache: Unbekannte Klänge und Laute sowie fremde Orthographie bzw. vor allem ein fremdes Schriftsystem haben besonders große Auswirkungen auf das subjektive Fremdheitsempfinden in der Begegnung mit einer fremden Sprache.194 Auch in diesem Zusammenhang gilt wieder, dass das _____________ 190 Vgl. Whorf 1963. 191 Vgl. den Kommentar Harald Weinrichs: „Die extreme Fremdheit der Hopi-Indianer ist eine im europäisierten Amerika hausgemachte Fremdheit und im linguistischen Gewand ein Stück Kulturkritik an bestimmten Erscheinungsformen der industriellen Zivilisation.“ (Weinrich in: Wierlacher (Hg.), 1993, 139). 192 Vgl. dazu auch Zitterbarth in: Handbuch der Kulturwissenschaften; Bd. 2, 2004, 101-119. 193 Auch im Medium Film wird Sprachlosigkeit, Nicht-Verstehen und Orientierungslosigkeit in einer fremden Sprach- und Schriftwelt verarbeitet, vgl. etwa den im Jahr 2003 in die Kinos gekommenen Film mit dem sprechenden Titel Lost in Translation von Sofia Coppola. Erzählt wird die Geschichte zweier Menschen, die sich in einer ihnen verschlossen bleibenden Welt, dem modernen Tôkyô, in einem Hotel begegnen. Müdigkeit und Schlaflosigkeit, Verstörung und Einsamkeit führen die beiden für die kurze Zeit ihres Aufenthaltes in der ‚Fremde Japan‘ zusammen. Der Film, der die Wahrnehmung der japanischen Lebenswelt und ihrer Menschen streng aus der Perspektive der Protagonisten widergibt, hat durchaus zu kritischen Debatten über die Darstellung der japanischen Kultur, Stereotypisierungen und Rassismus geführt (vgl. z.B. Rich in: The New York Times, 04.01.2004, Hijiya-Kirschnereit in: Züricher Zeitung, 24.03.2004 oder Seesslen in: taz, 06.04.2004). 194 Vgl. Weinrich in: Wierlacher (Hg.) 1993, 142; 144.
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Erleben von Fremdheit in der Fremde meist noch stärker erfahren wird, als im vermeintlich eigenen Raum, bedeutet es doch im Fall der Fremdheit der Sprache die Infragestellung eines großen Anteils der eigenen Selbständigkeit, Kompetenz und auch der eigenen Identität. TAWADA Yoko verarbeitet in ihrem literarischen Schreiben immer wieder ihre Erfahrungen mit der ‚fremden Sprache‘, wobei die ‚fremde Sprache‘ nicht unbedingt die ‚Fremdsprache Deutsch‘ ist. Die Erfahrungen in einem anderen Sprachraum lassen auch die eigene Sprache zur fremden Sprache werden – Fremdheit (in) der Sprache wird hier auf den verschiedensten Ebene und auf sehr unterschiedliche Weise erlebt und schreibend gestaltet. Florian Gelzer (1999) zeigt, dass in den frühen Texten Tawadas insbesondere „konkrete Probleme, die die Konfrontation mit einer fremden Sprache mit sich bringt“ (Gelzer 1999, 68) thematisiert werden, so z.B. in Bilderrätsel ohne Bilder (1987).195 Dazu gehören konkrete Sprachnot, Sprachmüdigkeit sowie die Suche nach einer eigenen Ausdrucksweise und einer eigenen Stimme.196 Diese Suche nach einer eigenen Stimme kann jedoch nicht nur metaphorisch als Suche nach dem GehörtWerden einer ‚fremden Frau‘ „im Wettstreit westeuropäischer Stimmen“ (Fischer in: Wolff et al. (Hgg.) 1997, 380) verstanden werden: Die Fremdheit des eigenen Sprechens, der eigenen Stimme wird im anderen Sprachraum ganz konkret sinnlich empfunden:197 „Wenn man in einem fremden Land spricht, schwebt die Stimme merkwürdig isoliert und nackt in der Luft. Es ist, als würde man nicht Wörter, sondern Vögel ausspucken. [...] Ein seltsames Gefühl beim Sprechen vor fremden Ohren: Die Sätze bilden klare Konturen – was beim Sprechen in der Muttersprache oft nicht der Fall ist –, der Inhalt wirkt konkret und bildhaft, nur die Stimme findet keinen Platz in der Luft. (Tawada 1998, 7)
Auch Grenzen und Probleme der Übersetzung von einer Sprache in die andere, von einer Kultur in die andere, sind immer wieder Thema des Schreibens von TAWADA Yoko,198 so z.B. in der Erzählung Das Bad
_____________ 195 In: Tawada 19973, 7-62. 196 Z.B.: in TAWADA Yoko: Ein Gast. Kurzer Roman. Tübingen 1993. Vgl. dazu Fischer in: Wolff; Tütken; Liedtke (Hgg.) 1997, 374-383. 197 Tawada verdeutlicht, dass darüber hinaus jede ‚Eigenheit‘ der eigenen Stimme eine Illusion ist: „Wenn ich hier von ‚fremder Stimme‘ spreche, so gehe ich nicht davon aus, daß jemand, der nur die Muttersprache spricht, seine ursprüngliche Stimme aufbewahrt. Denn wir behalten nicht die Stimme, mit der wir geboren werden. Die Spannung zwischen Integration und Fremdheit der Stimme ist ein unvermeidlicher Teil der Sozialisation.“ (Tawada 1998, 8). 198 Vgl. Tawadas Reflexionen dazu im Gespräch mit japanischen Germanisten: Kloepfer 1998, 1120.
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(19933),199 in ihrem ersten Theaterstück Die Kranichmaske, die bei Nacht strahlt oder in der Textsammlung Überseezungen von 2002.200 Eine besondere Kommunikationssituation, die auf vielerlei Ebenen Fremdheit (in) der Sprache spiegelt und dabei insbesondere mit Aspekten der Übersetzung zwischen der japanischen und der deutschen Sprache sowie dem japanischen Schriftsystem spielt, gestaltet die Autorin in ihrer kurzen Erzählung Die Botin (2002).201 Die Erzählung besteht fast vollständig aus einem Dialog zwischen Mika und Kayako: Kayako plant eine Reise nach Heidelberg und wird von Mika gebeten, eine Nachricht an ihren ehemaligen Musikprofessor weiterzugeben. Im Verlauf des Dialogs stellt sich heraus, dass Mika eines Tages plötzlich die Stadt verließ um nach Kyôto zurückzukehren. Professor Schinden bat daraufhin in einem Brief um eine Erklärung dieses Schrittes, den Mika jedoch nie beantwortet hat. Kayako soll nun die Botin sein, die dem Professor in Heidelberg den Grund für Mikas Weggang mitteilt. Dabei weigert sich Mika jedoch, Kayako diesen Grund zu erläutern: „Auch dir kann ich nichts verraten, noch immer nicht, die Zeit hat mein Entsetzen nicht durch etwas anderes ersetzt.“ (Tawada 2002, 46) Die Kommunikationssituation ist denkbar ungünstig: Der Professor ist alt und blind, kann also keine Briefe lesen, er kann auch kaum mehr hören, weshalb er auch nicht mehr telefoniert. Hören ist nur noch dann möglich, wenn man ihm direkt ins Ohr spricht, langsam deutlich und in einem klaren Rhythmus: „Ich soll tief in sein Ohr sprechen? Ja, tief, und am besten in das rechte Ohr. Die Höhle wird dicht behaart und finster sein. Aber hab keine Angst davor und sprich mutig hinein!“ (ebd., 48) Da Kayako kein Deutsch kann, hat sie Sorgen, sich die auswendig gelernte _____________ 199 Vgl. auch Tawadas Beitrag im Zusammenhang mit dem 2004 Annual Meeting of the Association for Asian Studies. Sektion 133 trug den Titel „Tawada Yôko Does Not Exist“. In dem Abstract zu ihrem eigenen Beitrag schreibt Tawada: „What is a literary scholar to do when faced with a translation of which there is no original? Tawada Yôko’s ‚The Bath‘ is just such a work.“ (Abstracts 2004, 207). 200 Vgl. dazu auch Matsunaga 2002, 532-546. Übersetzung als bedeutungskonstruktiver Prozess ist vielfach und tiefgehend reflektiert worden, diese Diskussion soll und kann hier nicht aufgegriffen werden. Stattdessen sollen einige in diesem Kontext relevante Fragen angeführt werden: Bedeutet die Übersetzung eines Werkes immer auch eine Aneignung desselben durch die Zielsprache und -literatur? Was hat das übersetzte Werk noch mit dem Ursprungswerk gemeinsam? In welcher Weise ‚bearbeitet‘ die Überwindung der linguistischen Differenz durch Übersetzung nicht auch die poetologische und/oder historische Differenz? Inwiefern handelt es sich bei der Übersetzung auch um die Übersetzung einer Kultur? Welche Verschiebung von Bedeutungsebenen finden statt, etc. Vgl. dazu u.a. Turk 1990 sowie die Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung, u.a. BachmannMedick (Hg.) 1997 oder Hammerschmidt; Krapoth (Hgg.) 1998. Zur kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Übersetzungsforschung vgl. Bachmann-Medick in: Handbuch der Kulturwissenschaften; Bd. 2, 2004, 449-467. 201 Tawada 2002, 44-50.
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Botschaft nicht merken zu können. In der nun gefundenen Lösung wird die Botschaft mit Hilfe von Schrift und vorgegebener Lesung der Schrift mehrfach verschlüsselt: „[Mika:] Soll ich dir aufschreiben, was du sagen sollst? Die phonetische Schrift sieht so bescheiden aus und durch ihre Bescheidenheit wird sie sofort vergessen. Und die Ideogramme? Kannst du dir eine lange Reihe von Ideogrammen merken, auch wenn sie keine Geschichte erzählt? Ich würde sagen ja. Dann schreibe ich dir die Sätze in Ideogrammen auf. Wie kannst du aber Deutsch mit den Ideogrammen schreiben? Hier habe ich das Zeichen ⬒, sprich es aus. Has(u). Ja, der ›Haß‹ bedeutet auf Deutsch Abscheu, aber das mußt du nicht wissen. Du merkst dir das Zeichen, das ›Lotus‹ bedeutet, und sprichst es auf Japanisch aus. Du spürst auf deiner Zunge dann die Lotusblüte, während in die Ohren des Zuhörers der ›Haß‹ hineindringt. Ideogramme kann ich mir gut merken. [...] Mikas Botschaft lautete folgendermaßen: ein faden der schlange neu befestigte küste welche schule welche richtung der brunnen des jahres wurde zweimal gemalt das bild brechen und hinuntersteigen durch das reisfeld siehst du etwas wie eine weisheits-wurzel im gesicht ein zerkochtes beispiel eine entzündeter übermalung rau sind die ränder dichtung der indizien sind pferde-schlecht.“ (ebd., 48-50)
Das chinesische Schriftzeichen ⬒ steht auf der Ebene der Bedeutung sowohl im Chinesischen als auch im Japanischen für ‚Lotus‘. Für dieses kanji gibt es aber verschiedene mögliche Lesungen: „Die chinesischen Schriftzeichen (kanji), die in der japanischen Schrift verwendet werden, haben keine einheitliche Lesung, sondern verfügen traditionell je nach Funktion, Kontext und Komposition über verschiedenartige Lesungen. Grundsätzlich ist zwischen einer sinojapanischen Lesung (on, koe) und einer rein japanischen Lesung (kun, yomi) zu unterscheiden.“ (Lewin 19903, 34)202 Auf Grundlage der rein japanischen Lesung wird das kanji ⬒ _____________ 202 „Da die chinesischen Begriffwörter, die durch kanji dargestellt werden, unter uneinheitlichen kulturellen und semantischen Gesichtspunkten zu verschiedenen Zeiten entlehnt wurden, gibt es für die meisten kanji mehrere on-Lesungen [...] Die rein japanische Lesung chinesischer Wortschriftzeichen ist nichts anderes als die Wiedergabe des Bedeutungsgehaltes durch japanische Wörter. Da ein kanji häufig mehrere Bedeutungen hat, gibt es entsprechend viele kun-Lesungen, d.h. Übersetzungen ins Japanische.“ (Lewin 19903, 34-36).
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‚has(u)‘203 ausgesprochen. Der Klang des japanischen Wortes has(u) (Lotus) kann mit dem deutschen Wort ‚Hass‘ assoziiert werden. Spricht Kayako nun die chinesischen kanji mit japanischer Lesung in das Ohr des Professors, wird er den Klang der japanischen Worte mit deutschen Worten assoziieren und auf Grundlage von deren Bedeutungen die Botschaft Mikas erhalten und verstehen. Für die Rezipienten/innen der Erzählung wird der Inhalt der Botschaft noch einmal verschlüsselt: Was den Lesenden im Text präsentiert wird, ist nicht etwa die rein japanische Lesung der chinesischen Schriftzeichen, sondern allein die Bedeutung dieser, vom Japanischen ins Deutsche übersetzt – auf diese Weise bleibt die Botschaft zunächst unverständlich. Um sie dennoch zu dekodieren, müsste die Botschaft („ein faden der Schlange ...“) ins Japanische übersetzt und in kanji geschrieben werden. Diese müssen dann in rein japanischer Lesung ausgesprochen werden, damit wiederum anhand des Klangs deutsche Wörter assoziiert werden können. Die von Tawada in ihrem Werk verarbeiteten, teils sehr konkreten und greifbaren Probleme und Fremderfahrungen werden noch weitergeführt: Mit dem Konzept der ‚Alterität von Sprache‘ bewegt sich die Autorin im Rahmen der poststrukturalistischen Sprachtheorie. Die Sprache bekommt ein Eigenleben zugesprochen, und sie ist es, die den Sprechenden bestimmt.204 Fremdheiten und Andersheiten der eigenen und der anderen Sprache werden aber keineswegs nur als Probleme verhandelt, die die Ausdrucksfähigkeit lähmen oder behindern, im Gegenteil: Für Tawada ist es gerade diese Fremdheit und das Changieren zwischen den Sprachen, das poetisches Schreiben erst entstehen lässt: Die Wahrnehmung und der Blick auf die fremde und die fremdgewordene Sprache wird als produktives und Kreativität freisetzendes Moment dargestellt, das Sprachspiele im eigentlichen Sinne erst ermöglicht und die Sprache vom Primat der kommunikativen Funktion erleichtert.205 _____________ 203 Das „u“ steht hier in Klammern, da dieser Vokal im Japanischen zwischen stimmlosen Konsonanten und im absoluten Auslaut nach stimmlosen Zischlauten devokalisiert wird, es verliert also seine Stimmhaftigkeit (vgl. Lewin 19863, 9). 204 Vgl. hierzu Gelzer 1999, 73. In Von der Muttersprache zur Sprachmutter (erschienen in: Tawada 1996, 9-16) findet sich eine literarische Ausgestaltung der sprachphilosophischen Auffassung, nach der die Sprache das Denken bestimmt und nicht das Denken die Sprache. 205 Ähnlich kreativ verarbeitet der chinesische Künstler XU Bing seine Erfahrung mit dem Erlernen einer neuen Sprache und Schrift, die er ab 1989 nach seiner Emigration von China in die USA machte. Auf der Suche nach einer universellen Lesbarkeit vermischt er chinesische Zeichen mit Buchstaben des lateinischen Alphabets und verstört dabei zunächst die Rezeptionshaltung von Betrachtern beider Kulturen. Vgl. dagegen Roland Barthes, den die Unkenntnis der japanischen Sprache („deren Atem, deren erregenden Hauch, mit einem Wort, deren reine Bedeutung ich dennoch wahrnehme“ [Barthes 1981, 22]) dazu anregt, abseits und frei von ‚vordergründigem‘ Verstehen von Nachrichten „ins Unübersetzbare hinab[zu]steigen und dessen Erschütterung [zu] empfinden, ohne es je abzuschwä-
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In dem 1998 erschienenen Roman Das vergessene Lächeln der Amaterasu, verfasst von der österreichischen Schriftstellerin Elisabeth Reichart, erlebt Alwina, die Protagonistin, ihre Sprachlosigkeit in der Fremde als besonders schmerzhaft.206 Alwina geht mit ihrem Partner, dem Japaner Ichirô, in dessen Heimatland und wohnt dort im Hause der Schwiegereltern. Japan galt ihr schon lange als Sehnsuchtsraum, allerdings handelt es sich hierbei um eine Art ererbter Sehnsuchts(t)raum: Ihre Mutter, die plötzlich verschwand, als Alwina noch Kind war, war tief in die japanische Kultur eingetaucht, lernte Kalligraphie und die japanische Sprache, ohne jemals dort gewesen zu sein und ohne Chance, jemals dorthin zu gelangen. Die Sehnsucht der Protagonistin nach Japan ist somit gleichzeitig die Sehnsucht (nach) ihrer Mutter. Durch ihre Mutter hat Alwina ein wenig Japanisch sprechen und schreiben gelernt, und ihre Kommunikation mit Ichirô im eigenen Raum, in Wien, verlief ohne größere Komplikationen. In Japan jedoch verliert sich ihre Fähigkeit, sich in der fremden Sprache zu verständigen, zunehmend. Der Verlust der Sprache vollzieht sich parallel mit dem Verlust der eigenen Identität; was bleibt, ist Haltlosigkeit: „Sprachfremde, Laute, nie zuvor gehört, nie gesprochene Fremdsprache, erlernbare Fremde, die Sprachmutter, die keine sein wollte, verloren mit der zweiten Muttersprache, verschwundene Mutter, ihre Sprache nicht übertragbar in die Fremde, Mutter, welcher Sprache hast du dich anvertraut, dein Zimmer, die Pinsel, das Reispapier, die Bücher ... zuerst verstand ich die Worte, bevor ich ein Zeichen lesen konnte, ein einziges, die Rache der Wörter, ein falscher Laut, schon schwirren sie an mir vorbei, verbröseln sich, unentwirrbare Rätsel beschäftigen mein Hirn, dachte Alwina und klammerte sich verzweifelt an die wenigen Worte, die sie verstehen konnte und die doch nichts verrieten in ihrem vereinzelten Sein.“ (Reichart 1998, 31)
Die fremde Sprache wird feindlich, wie ihre Umgebung, und schließlich verliert sie jede Bindung: „Sie hatte sich daran gewöhnt, ein Fehler zu sein. Ein Sprachfehler, nichts sonst. Während sich Ichirô geborgen fühlte in den Lauten des Mutterleibs, hatte sie ihre Mutter verloren in der Lautfremdheit. Ihre Mutter hatte ihr eine Kunstsprache beigebracht, die niemand sprach. Es war sinnlos, Rücksicht zu erwarten für eine Lautlose, das hatte sie verstanden.“ (ebd., 150)
_____________ chen, bis der ganze Okzident in uns ins Wanken gerät und mit ihm die Rechte der Vatersprache, der Sprache, die wir von unseren Vätern erben und die uns wiederum zu Vätern und Besitzern einer Kultur macht“ (ebd., 17). Hier eröffnet das mangelnde Sprachverstehen eher einen großen Projektions- und Funktionalisierungsraum. Vgl. in Bezug auf die Wahrnehmung der ‚fremden Schrift‘ und damit verbundene Projektionen und Funktionalisierungen Kapitel 5.4.3. 206 Zu dem Roman vgl. auch Holler 2000, 42ff.
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Die ‚Fremde Japan‘ als Sehnsuchtsraum der Mutter wird zum Erfahrungsraum der Tochter. Aber die Sprache, die die Mutter ihr beibrachte, hilft ihr dort nicht, und letztlich verstummt sie. Als schmerzhaft wird in fiktionalen sowie in eher faktualen Textformen neben der Erfahrung der Sprachlosigkeit auch der Verlust der Lesefähigkeit beschrieben, der einhergeht mit einer gewissen Kränkung, die dies für einen erwachsenen Menschen bedeuten kann. Die Erfahrung, nicht lesen zu können, sich sozusagen illiterat207 im fremden Raum orientieren zu müssen, wird als Demütigung empfunden. So verläuft sich der Ich-Erzähler in Cees Nootebooms Reisebeschreibung In Japan II: Kalter Berg (1987) während eines Spaziergangs; Hinweise am Wegesrand bieten ihm keinerlei Hilfe, da er sie nicht entziffern kann: „Meine Füße versinken im nassen Boden, der kleine Regenschirm schützt mich schon lange nicht mehr, ich spüre, wie mir die Kälte bis in die Knochen dringt. An einer Weggabelung steht ein Baumstrunk, in den Zeichen geritzt sind, die man weiß angemalt hat. Sie lachen mich aus mit ihren Schleifen und Rundungen, sie sagen etwas, und ich kann sie nicht verstehen, sie brüllen vor Lachen über diesen albernen Mann mit dem orangefarbigen Ding über dem Kopf.“ (Nooteboom 1997, 182)
In der Erzählung Abenteuer in Japan von Max Brod aus dem Jahr 1938208 irrt der Protagonist, Marcel Sichler, im Fieber durch Tôkyôs Straßen. Auch hier wird die ‚fremde Schrift‘, die nicht gelesen werden kann, personifiziert: Sie lacht den Illiteraten zwar nicht aus, aber sie scheint ihn dennoch zu verhöhnen; sie drängt sich in seinen Wahrnehmungsbereich, schreit ihn an, und trotzdem kann er ihre Botschaft nicht verstehen: „Die vielen Fahnen knattern vor den Geschäftsläden. Es sind eigentlich nur Firmenschilder oder Plakate, aber sie gleichen Fahnen, die schief in die Gasse ragen, der ganzen Länge nach an Stangen festgehalten. Die vielen schrägen Flächen geben dem Bild Unruhe und Verwirrung. Manche dieser Schriftbänder sehen wie Flossen von Riesenfischen aus, manche wie Wäsche, die zum trocknen hängt. Und alle mit den großen bunten Hieroglyphen vollgemalt, die man nicht lesen kann. Ist es schon peinlich, unter Menschen zu leben, deren Sprache man nicht versteht, so steigert sich der Eindruck von Unheimlichkeit, ja Feindschaft, sobald auch die Schriftzeichen einen allenthalben unverständlich anblecken, ja, mit lauter Stimme, so glaubt man, geradezu anschrein.“ (Brod 1938, 189f.)
_____________ 207 Der Begriff der Illiteralität wird im Folgenden dem des Analphabetismus vorgezogen. Illiteralität soll verstanden werden als die Unfähigkeit eines Erwachsenen, zu lesen und zu schreiben; vgl. Nuissl in: Franzmann et al. (Hg.) 1999, 550; abweichende Definitionen finden sich z.B. bei Schön; vgl. ebd., 131. In der vorliegenden Untersuchung bezieht sich diese Kennzeichnung lediglich auf die Kompetenzen im Hinblick auf das fremde Schriftsystem. 208 Zu dieser Erzählung vgl. auch Kapitel 5.4.3 Ästhetisierung und Mystifizierung der ‘fremden Schrift‘.
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Offensichtlich bedeutet auch die Fremdheit der Schrift eine Provokation, da sie den gängigen Wahrnehmungsmodus und die Selbstdefinition der Reisenden in Frage stellt. Schriften, die sich aufgrund orthographischer Differenzen von der eigenen Schrift unterscheiden (im hier vorliegenden Fall also andere Alphabetschriften, die sich z.B. lediglich anhand von diakritischen Zeichen von der deutschen Schrift unterscheiden), werden als kein großes Hemmnis empfunden und relativ rasch, parallel zum Sprachenlernen, angeeignet. Das japanische Schriftsystem wird jedoch nur in seltenen Fällen als ein System wahrgenommen, das erlernbar ist.209 Die ‚fremde Schrift‘ hat in den für die vorliegende Untersuchung herangezogenen Quellen vielmehr eine feste Funktion im Rahmen der Fremdheitskonstruktion: Es soll im Folgenden untersucht werden, wie die Schreibenden die ‚fremde Schrift‘ in den Texten darstellen und beschreiben, mit welcher ‚Lesehaltung‘ dieser begegnet wird und welche damit verbundenen Prozesse der Fremdheits- und Bedeutungskonstruktion sich in den Texten spiegeln. Zunächst (Kapitel 5.4.2) richtet sich der Blick auf einige Aspekte des europäischen sowie des japanischen Diskurses über den Zusammenhang von Sprache, Schrift und Weltwahrnehmung, wobei punktuell auch bestimmte ‚Mythen‘ und damit verbundene Formen der Fremdheitskonstruktion und der Abgrenzung kurz angesprochen werden. Die Mythisierung der ‚fremden Schrift‘ als Idee und die damit verbundenen Projektionen werden in diesem Kontext u.a. am Beispiel der Wahrnehmung der ägyptischen Hieroglyphen kurz aufgezeigt. Hier klingt schon an, was in den darauf folgenden Ausführungen am Beispiel der Beschreibung der japanischen Schrift offensichtlich wird: Die Zuweisung der sogenannten sekundären Schriftfunktionen insbesondere zur ‚fremden Schrift‘, die sich auf die verstärkte Wahrnehmung der Materialität der Schrift sowie auf die Ästhetisierung, Mystifizierung und Verrätselung der ‚Fremde Japan‘ insgesamt gründet. Diesen Phänomenen soll in Kapitel 5.4.3 anhand der _____________ 209 Das hängt nicht zuletzt mit den damit verbundenen ‚Schriftmythen‘ zusammen (vgl. Kapitel 5.4.2). Der deutsche Kaufmann Johannes Barth beschreibt die einschneidende Bedeutung, die die Begegnung mit dem chinesischen Schriftsystem für sein Leben haben sollte, wobei er das „Geheimnis“ der Schrift als potentiell enträtselbar ansieht: „Eines Tages aber stieß ich in einem der Antiquariate auf ein chinesisches Buch. Ich betrachtete die Schriftzeichen und fragte mich, wie es möglich sei, die Aussage herauszufinden. Ich dachte, es könnte sehr wohl der Mühe wert sein, dieses Geheimnis zu lüften, und daß Chinesisch zu lernen eine große Leistung wäre. [...] Mein Interesse war aber geweckt und ich begann, ein paar Bücher über China und den Fernen Osten zu lesen. [...] Nun war ich also in China, dem Land, nach dem ich mich immer schon gesehnt hatte, seit ich zufällig das chinesische Buch in dem Londoner Buchladen gefunden hatte.“ (Barth 1984, 35; 38; zu Barth vgl. auch Kapitel 4.4.3 Mitteilungen über Japan, Fußnote 128) Die ‚fremde Schrift‘ gibt hier den Anstoß für eine intensive Auseinandersetzung mit der Kultur, die auch ein Erlernen der Schrift beinhaltet.
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Darstellung und Funktionalisierung des Schriftsystems in Texten über die ‚Fremde Japan‘ näher nachgegangen werden. An gegebenen Stellen soll auch der ‚umgekehrte Blick‘ auf die deutsche Alphabetschrift mit einbezogen werden. 5.4.2 ‚Schriftmythen‘ Sprache, Schrift und Denken „Diese höchst unbequeme Schrift ist denn, nebst der unvollkommenen Sprache, auch die vornehmste Ursache, warum der Sinese es bisher zu keinem nur erträglichen Grade der wissenschaftlichen Kultur hat bringen können, noch es jemahls bringen wird.“ 210 „Nur dem Statarischen der chinesischen Geistesbildung ist die hieroglyphische Schriftsprache dieses Volkes angemessen;“ 211
Neben Überlegungen zum Zusammenhang von Schriftform, Literalisierung und Gesellschaftsform, die weiter unten noch angeführt werden sollen, ist auch der Zusammenhang zwischen dem Prozess der Literalisierung und den Strukturen des Denkens seit den sechziger Jahren Gegenstand der Schriftforschung. Als aktuelleres Beispiel können hier etwa die Reflexionen KOBAYASHI Eizaburôs (2000) angeführt werden, der für den japanischsprachigen Raum der Frage nachgeht, ob das Erlernen der kanji, der chinesischen Schriftzeichen, Einfluss auf die sprachlich entwickelte und sprachlich wirkende Kognition hat. Kobayashi verweist in diesem Zusammenhang auf die hohe Zahl an Homophonen im Japanischen, die im alltäglichen Sprachgebrauch und Gesprächsverlauf metasprachliche Anmerkungen – Hinweise auf die Zeichengestalt – unerlässlich machen.212 Christian Stetter widmet sich in seinem 1997 erschienenen Werk Schrift und Sprache der Frage: „ob es [...] zwischen formalem Denken und Alphabetschrift einen _____________ 210 Adelung 1806, 49. 211 Hegel (1830) 1970, 274. 212 Vgl. dazu auch das Forschungsprojekt Vergleichende Untersuchungen zum Schrifterwerb im Deutschen und im Japanischen, das am Germanistischen Institut der RWTH Aachen unter Leitung von Herrn Professor Dr. Christian Stetter durchgeführt wird. Zu den Homophonen im Japanischen vgl. Tamaoka in: Balhorn; Brügelman (Hgg.), 131. Tawada verweist auf die Folgen dieses Verhältnisses von gesprochener Sprache und Schrift im Japanischen für literarische und poetische Produktion und Rezeption: „In Japan wurde der Versuch, moderne Gedichte laut vorzulesen, lange verachtet. In einer Lesung kann man nicht die kunstvolle Zusammenstellung der ausgesuchten Schriftzeichen vermitteln. Die geschriebene Sprache ist außerdem meist differenzierter als die gesprochene Sprache.“ (Tawada 1998, 27)
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intrinsischen Zusammenhang gibt.“ (ebd., 13) Als entscheidend für diese Überlegungen benennt Stetter u.a. seine „lebenspraktischen“ Erfahrungen, die er bei einem Aufenthalt in Japan machte,213 „ausgerüstet mit nicht mehr als den allerrudimentärsten Kenntnissen der japanischen Sprache und der japanischen Schrift. Gerade dieses Defizit war – mit Kant zu sprechen – Bedingung der Möglichkeit für eine einzigartige Erfahrung: sich nämlich als kognitiv offenbar nicht defekter, literarisch und philosophisch halbwegs gebildeter Mensch zunächst wie ein Analphabet in einer Umwelt zu bewegen, die voller Zeichen ist. Ich wußte natürlich von ihnen, daß sie lesbar sind, aber ich konnte sie nicht lesen.“ (ebd., 11)
Seine Erfahrungen in der anderen Kultur ließen zudem den Eindruck entstehen, „daß mit dem fremden Typ von Schriftzeichen ein andersartiger Typ von Denken einhergeht.“ (ebd., 12)214 Stetter verweist darauf, dass die Funktion der Schrift für das Denken und Handeln der Menschen trotz vielfältiger empirischer Bemühungen nach wie vor im Dunkeln liegt, und dass dies von daher ein genuin sprachphilosophisches Problem ist (vgl. ebd., 276). Auch von medienphilosophischer und -kritischer Seite wurde und wird solchen Fragen nachgegangen; so beinhalten u.a. die medienphilosophischen Arbeiten McLuhans (1962; 1968) kulturtheoretische Reflexionen, die sich darauf gründen, dass er „die Spezifik des Buchdrucks darin [sah], dass Bücher ein lineares Medium seien.“ (Schön in: Wende (Hg.) 2002, 79) Die „typographische [...] Umwelt der Gutenberg-Galaxis“ (Bolz 1993, 192) als Präsentationsforum und Manifestationsform der Alphabetschrift prägt nach Ansicht McLuhans die Mentalität der Menschen, deren Denken und deren Wahrnehmung von Welt: Die Uniformität, die Linearität, die exakte und einheitliche Anordnung der Typen übertrage sich auf die Vorstellung der Menschen von Welt und Raum, sie präge zudem die _____________ 213 Für die Konzeption der Universalgeschichte der Schrift (1990) von Harald Haarmann erwies sich, nach eigenem Bekunden des Autors, ebenfalls ein langjähriger Aufenthalt in Japan sowie die damit verbundene Erfahrung von Fremdheit als entscheidend: „Der kulturelle Kontrast und die Fremdheit der Lebensumstände, mit denen ein Europäer in Fernost konfrontiert wird, wirken wie ein Schock. Der Europäer, der überzeugt ist, daß technischer Fortschritt an den Gebrauch der praktischen Alphabetschrift gebunden sei, wird in der modernen japanischen Industriegesellschaft eines Besseren belehrt. Im Computerzeitalter schreibt man in Japan wie seit über tausend Jahren mit chinesischen Schriftsymbolen und den einheimischen Silbenzeichen. Der alltägliche Umgang mit ›exotischen‹ Schriftsystemen war für mich ein Schlüsselerlebnis, das auch meine Grundeinstellung zum Thema ›Schrift‹ geprägt hat.“ (ebd., 11). 214 Zu Stetters These, dass die formale Ausgestaltung von Logik und Grammatik mit der formalen Natur der Alphabetschrift zusammenhängt sowie zu der These, dass „sich im Kulturkreis der chinesischen Schrift weder Grammatik noch formale Logik entwickelt haben“ (Stetter 1997, 13) vgl. Peter Schlobinski (2001) sowie die Replik Stetters in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft (2001).
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Gestaltung der eigenen Umwelt.215 TAWADA Yoko schreibt Beobachtungen nieder, die sich mit dem Einfluss der Schrift auf die (Welt-) Wahrnehmung der Menschen auseinandersetzen:216 „Irgendwann bemerkte ich nämlich, daß sich Leser der phonetischen Schrift in einem Museum ganz anders verhalten als ich. Auch Gemälde nehmen sie scheinbar wie eine phonetische Schrift wahr. Das heißt, sie betrachten die Gemälde nicht stumm, sondern übersetzen sie eilig in die gesprochene Sprache. [...] Ein Zeichen wird wie ein Bedeutungspaket geliefert. Zu den verschiedenen Zeiten versuchte man immer aufs neue, den Inhalt des Paketes zu deuten und zu analysieren, aber man kann es nicht öffnen. Denn das Paket besteht – was bei einem Schriftzeichen immer der Fall ist – nur aus Verpackungspapier und Schnurbändern. Ein Schriftzeichen behält dieselbe Gestalt, auch wenn die Zeiten sich verändern und die Menschen es anders lesen oder deuten. In einem solchen Schriftsystem gewinnt man den Eindruck, die Welt würde aus einer bestimmten Anzahl unauflösbarer Elemente bestehen.“ (Tawada 1998, 26; 28)
Abgrenzungen Reflexionen über den Zusammenhang von Sprache und Schrift mit Kultur, Gesellschaftsform, Denken und Weltwahrnehmung bieten auch Raum für Fremdheitskonstruktionen und Grenzziehungen zwischen den Kulturen und spiegeln darüber hinaus nicht selten Auto- und Heterostereotype, wie im Folgenden kurz exemplarisch aufgezeigt werden soll.217 Die Alphabetschriften und das chinesische sowie das japanische Schriftsystem wurden und werden gemeinhin in eine Opposition gestellt.218 In diesen Zusammenhang gehört auch die Annahme, dass es sich _____________ 215 Vgl. McLuhan 1968, 218. Mit dieser Auffassung verbindet sich auch der ‚Optimismus‘, dass erst die neuen Medien (speziell: der Hypertext) die Menschen aus dieser Linearität befreien. Zur Nicht-Linearität des Lesens auch schon vor der ‚Gutenberg-Galaxis‘ sowie zur Differenz zwischen der Charakteristik einzelner medialer Präsentationsformen und dem Umgang der Menschen mit diesen vgl. Schön in: Wende (Hg.) 2002. Zum Verhältnis von Schrift, Bildung und Selbst vgl. insbesondere Sting 1998. 216 Vgl. auch Gelzer 1999, 74. Diese Sichtweise überträgt sie auch auf den Einfluss der Syntax auf die Weltwahrnehmung von Menschen einer Sprachgemeinschaft: „Wenn wir gewohnt sind, alles in der normalen japanischen Syntax zu denken, dann sehen und beobachten wir auch alles in dieser Syntax. Die Welt existiert aber eigentlich nicht in der Syntax, so daß diese genormte Sichtweise also Verwirrungen verursacht. Weil man aber so sehr daran gewöhnt und angepasst ist, kann man nur die Dinge, die zu dieser gezwungenen Norm passen, erkennen und verliert so seine Sehschärfe.“ (Tawada im Gespräch mit dem Literaturkritiker YOSHIKAWA Yasuhisa, zit. n. Kloepfer in: , 5 of 10). 217 Zu dem mythenreichen innerjapanischen Diskurs über die Einzigartigkeit der japanischen Sprache und Schrift vgl. Miller 1982. 218 Vgl. auch Coulmas in: Wertheimer; Göße (Hgg.) 1999, 31-55. Zur Geschichte dieser Oppositionsbildung in der abendländischen Schriftphilosophie vgl. Derrida 1974, 133ff.
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bei den chinesischen Schriftzeichen, den kanji, um rein ideographische Darstellungen handele, während die Alphabetschrift eine rein phonographische Schrift sei.219 Die dichotomische Gegenüberstellung gründet laut Yan (2002) nicht zuletzt in „der geheimen Erwartung, in nichtalphabetischen Schriftsystemen etwas in jeder Hinsicht Anderes finden zu können.“ (Yan in: Greber; Ehlich; Müller (Hgg.) 2002, 152) Der Mythos von dem ideographischen Charakter der chinesischen Schrift wurde jedoch durchaus auch mit dem Ziel aufrechterhalten und weitertradiert, in dem gänzlichen fremden Schriftsystem vermeintlich Eigenes bewahrt zu finden. Dies zeigt sich etwa an der durch die Arbeiten Athanasius Kirchers (1602–1680) begründeten Auffassung, bei der chinesischen Schrift handele es sich um eine rein ideographische, mit der ägyptischen Hieroglyphenschrift verwandte Schrift (vgl. Kircher: Œdipus Ægyptiacus 1652–1654 und China monumentis 1667).220 Dies komme letztlich dadurch zustande, dass Noahs Sohn Cham Kolonien in China gegründet habe. In diesem Zusammenhang kann noch auf die Auffassung John Webbs verwiesen werden, der im Jahr 1669 die chinesische Sprache als die Sprache des Paradieses vor dem Sündenfall bezeichnete. Diese Sprache sei durch Noah, der auch in China gewesen sei, mit der Sintflut über Indien nach China gelangt und habe sich dort wunderbarer Weise erhalten (vgl. Webb: An Historical Essay Endeavouring the Probability that the Language of the Empire of China is the Primitive Language 1669).221 Die als Figuristen bezeichneten französischen Missionare des 17. Jahrhunderts vertraten zudem die Ansicht, dass die Chinesen den ursprünglichen Gehalt ihrer Schrift vergessen hätten. Bei einer kenntnisreichen und sorgfältigen Neusichtung und Neuinterpretation alter chinesischer Chroniken könnten Parallelen zwischen diesen und den Darstellungen der Heiligen Schrift gefunden werden. Vor dem Hintergrund des ideographischen Mythos rückte das chinesische Schriftsystem zudem in das Blickfeld derjenigen, die nach _____________ Derrida zeigt die Funktionalisierung der ‚fremden Schrift‘, v.a. der ägyptischen Hieroglyphen und des chinesischen Schriftsystems in der schriftphilosophischen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts auf, die nicht zuletzt auf einem „Verkennen“ dieser Schriften basierte: „Der Begriff der chinesischen Schrift wirkte also wie eine Art europäischer Halluzination, was jedoch nichts Zufälliges an sich hatte: seine Wirkung gehorchte einer strengen Notwendigkeit. Die Halluzination war weniger Ausdruck einer Unkenntnis als vielmehr eines Verkennens. Das begrenzte, jedoch reale Wissen, das damals über die chinesische Schrift zur Verfügung stand, vermochte sie nicht zu unterbrechen. Zur gleichen Zeit wie das ‚chinesische Vorurteil‘ hatte ein ‚hieroglyphistisches Vorurteil‘ dieselbe Wirkung hervorgerufen, nämlich interessierte Verblendung.“ (Derrida 1974, 142). 219 Zum Ursprung und zur Tradierung des Mythos vom ideographischen Charakter der chinesischen Schrift vgl. insbesondere Köhn 2003. 220 Vgl. dazu auch: Eco 19953, 167-171. 221 Vgl. dazu auch Naumann in: Iwasaki (Hg.) 1991, 243-250.
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einer akademischen Universalsprache, den ‚wahren Charakteren‘, suchten, so etwa bei Leibnitz.222 Ein recht hartnäckiger europäischer Mythos ist der von der leichten Erlernbarkeit der alphabetischen Schriftsysteme und der von den großen Hürden, die es beim Erlernen des japanischen Schriftsystems selbst für Angehörige der eigenen Kultur, geschweige denn für Angehörige einer anderen Kultur, zu überwinden gilt.223 Die Komplikationen, die das japanische Schriftsystem bereithält, liegen nach dieser Auffassung insbesondere in dem beträchtlichen Anteil der kanji begründet. Aufgrund der Kombinationsmöglichkeiten gibt es einen Fundus von etwa 50.000 kanji. Die durchschnittliche Kenntnis beschränkt sich auf etwa 3.000, eine ausreichende Anzahl, um eine japanische Tageszeitung zu lesen. Im Jahr 1981 wurden 1.945 kanji vom japanischen Bildungsministerium als für Schulen verbindlicher Lernstoff eingestuft. Die kanji werden im Japanischen noch durch die beiden Silbenschriften hiragana und katakana (jeweils 46 Zeichen) ergänzt.224 Wie schon bei Bodmer ([1943] 1997) nachzulesen, wird insbesondere die große Anzahl der zu erlernenden Zeichen nicht nur als unökonomisch, sondern als kaum zu bewältigend angesehen225 – eine Auffassung, der sich auch Hans Anna Haunhorst in seiner idealisierenden und exotisierenden Darstellung nicht gänzlich verschließen kann: „Gewiß setzt die Kenntnis der alten Schrift ein sicher nicht müheloses Studium voraus. Wurde mir doch allgemein versichert, daß schon der Kleinbürger, um seine Zeitung lesen zu können, die Kenntnis von fünftausend Schriftzeichen erworben haben müsse.“ (Haunhorst 1936, 74f.) _____________ 222 Zur Begriffszeichenschrift (Characteristica universalis) bei Leibnitz vgl. Eco 19953, 276-298. Vgl. zu diesem Themenkomplex vor allem Köhn 2003, 68-77. 223 Vgl. hierzu auch Yan in: Greber; Ehlich; Müller (Hgg.) 2002, 151. 224 Etwa in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts wurden die kanji nach Japan importiert, wobei eine Anpassung der chinesischen Schriftzeichen an die japanische Sprache gefordert war, da diese, stark flektierend, ‚agglutierend‘ und auch lautlich gänzlich anders als die chinesische Sprache (monosyllabisch, ‚isolierend‘) ist (vgl. Pörtner in: Wende (Hg.) 2002, 70-73). Die beiden Silbenschriften, kana, entstanden Ende des neunten Jahrhunderts durch Vereinfachung und Kursivierung. Die katakana wurden ursprünglich „vornehmlich von Mönchen als Lesehilfe für buddhistische Texte gebraucht, und die hiragana, vornehmlich von adligen Frauen, denen es weitgehend versagt war, sich die chinesische Schriftkultur in Form von kanji anzueignen [... sie wurden] deshalb auch als onna-de, ‚Frauenhand‘ bezeichnet.“ (ebd.) Vgl. dazu auch Haarmann 1990, 394-404 sowie Horton in: Boyarin (ed.) 1992, 156-180, hier bes.: 160ff. Heute werden in hiragana vornehmlich grammatische Flexionen geschrieben, Adverben und einige Verben und Substantive; Lehnwörter werden in katakana verschriftlicht. Der durchschnittliche Anteil der kanji in einem japanischen Text beträgt heutzutage etwa 30 Prozent. Genaueres zum japanischen Schriftsystem vgl. darüber hinaus Coulmas in: Günther; Günther (Hgg.) 1983, 178ff. sowie Stalph in: Günther; Ludwig (Hgg.) 1994/1996, 1414-1427. 225 „Dies verlangt mehrere Jahre anstrengender Arbeit, die sonst auf andere, nützlichere Wissensgebiete verwendet werden könnte.“ (Bodmer [1943] 1997, 245).
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Diese Kennzeichnung des japanischen Schriftsystems als nur sehr schwer oder potentiell kaum erlernbar wird kontrastiert mit der ‚Legende‘ von der leichten Erlernbarkeit der Alphabetschrift, die auf der Annahme gründet, Schreiben im System der Alphabetschrift bedeute die Bezeichnung der Laute der gesprochenen Sprache durch die Buchstaben: „Zur Stützung dieser Ansicht beruft man sich gern auf Aristoteles’ vielzitierte Definition der Schrift zu Beginn seiner Grundlegung der Logik in Peri hermeneias. Dort faßt er das Geschriebene, ta en tê graphê, als Symbol des Gesprochenen, ta en tê phonê. Dem an dieses Modell anknüpfenden Verständnis der Alphabetschrift zufolge – die Schrift ist Zeichen des Zeichens – besteht Schreiben-lernen darin zu lernen, die Wörter, die man verwendet, um dies oder jenes über etwas zu sagen, durch Folgen graphischer Zeichen darzustellen.“ (Stetter 2004, 2)226
Eine Auffassung, die offenbar nach wie vor problematische Folgen für die Schriftdidaktik respektive den Schreibunterricht zeitigt (vgl. ebd.). Ein Blick auf den japanischen Diskurs in diesem Zusammenhang zeigt, dass es hier die Alphabetschrift ist, von der man meint, dass sie für Kinder weitaus schwieriger zu lernen sei. Die Abgrenzung wird hier zwischen der Alphabetschrift und den japanischen Silbenschriften vorgenommen: Bei japanischen Schülern/innen würden aufgrund „einer orthographischen Überlegenheit der japanischen Sprache durch ihr eindeutiges eins-zu-eins Verhältnis von Laut und Kana (der japanischen Silbenschrift) und dem visuellen Zugang zu Morphemen“ (Tamaoka in: Balhorn; Brügelmann (Hgg.) 1993, 123) weniger Leseschwächen auftreten als in Ländern mit Alphabetschrift. Schon Basil Hall Chamberlain (1912) weist darauf hin, dass die Einschätzungen über leichtere oder schwerere Erlernbarkeit der Schriften zwischen den Kulturen in der Regel von erwachsenen Lernern angestellt werden, deren Lernprozesse sich von denen der Lernenden im Kindesalter grundlegend unterscheiden:227 „und das Resultat ist das komplizierteste Schriftsystem, das sich je auf diesem Planeten entwickelte. Ein alter Jesuitenmissionär erklärte es für die offenbare ‚Er-
_____________ 226 Stetter, Christian: Ein Puzzle ohne Vorlage: Alphabet und Alphabetschrift. Bislang unveröff. Manuskript. 2004. 227 Uwe Schmitt berichtet in Tokyo Tango von seinen Erfahrungen als erwachsener Lerner, der versucht, sich in kurzer Zeit einen Fundus an kanji anzueignen: „Kaum ein Bewunderer kalligraphischer Kunst, der in Kanji ›die Schwester des Malens oder der Architektur‹ entdeckt, dürfte sich einem Drei-Wochen-Crashkurs im Bochumer Japonicum ausgesetzt haben. In diesem Internat nämlich, unter der unendlich geduldigen Anleitung von Lehrern, die zugleich Psychotherapeuten sein müssen, vergeht einem die Lust an der Verrätselung des göttlichen Pinselschwungs. [...] Keine Eselsbrücke war zu lachhaft, um mir Kanji einzuprägen. [...] Unsere japanischen und deutschen Lehrer sezierten das Geflecht der Pflichtschuldigkeit, ließen uns Tiere mimen, zeigten Filme, hielten Landeskunde. Sie gaben niemals auf. Ihr pädagogischer Eros besänftigte mich in den Stunden der Frustration. Ich lernte viel. Japanisch lernte ich wenig.“ (Schmitt 1999, 104f.).
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findung eines Konzils der bösen Mächte, die Gläubigen zu quälen.‘ Allerdings muß man gleichzeitig zugestehen, daß die auf diese Weise gequälten Personen hauptsächlich jene Fremden sind, die ihre ersten Versuche in der Sprache anstellen, wenn sie schon erwachsen sind.[228] Die oft wiederholte Behauptung, daß mit den Ideogrammen viele Schuljahre verschwendet würden, ist unrichtig: der japanische Jüngling von fünfzehn Jahren steht seinem englischen Altersgenossen in keiner Beziehung nach.“ (Chamberlain 1912, 479)
Die hier von Chamberlain zurückgewiesene Schlussfolgerung, dass ein komplexes Schriftsystem mit einem großen Fundus an zu erlernenden Zeichen allgemeine Lesefähigkeit behindert und negative Konsequenzen für die Lesekompetenz zeitigt, wurde nicht zuletzt durch die Ergebnisse der Studie PISA 2000 eindrucksvoll widerlegt. Im internationalen Vergleich schnitt Deutschland bekanntermaßen überaus mäßig ab, während die Leistungen japanischer 15-jähriger Schüler und Schülerinnen etwa in Bezug auf die höchste Kompetenzstufe noch oberhalb des OECDDurchschnitts lagen.229 Im Folgenden sollen noch zwei Aussagen über das Lernen der ‚fremden Schrift‘ kontrastiert werden, die den oben angeführten ‚Mythos‘ und dessen Hintergründe sowie die Folgen der Einschätzung und der Voreinstellung für einen etwaigen Erfolg des Lernprozesses – wenn er denn überhaupt aufgenommen wird – recht anschaulich widerspiegeln. Beide Äußerungen stammen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Kulturbegegnung zwischen Europa und Japan noch in ihren (zweiten) Anfängen stand. Die erste Darstellung stammt von dem Autoren und Pädagogen FUKUZAWA Yukichi. Er berichtet in seiner autobiographischen Lebensschilderung ([1898] 1971)230 von seiner Motivation, die Alphabetschrift zu lernen und seiner selbstbewussten Haltung im Zusammenhang mit diesem Vorhaben:231 _____________ 228 [Vgl. auch die Äußerungen von Erwin Bälz: „Für jezt aber sind, wie gesagt, alle Bücher mit chinesischen Zeichen gedruckt, deren Studium zu dem Schwierigsten gehört, was es für das Gehirn eines erwachsenen Menschen gibt.“ (Bälz 1883, 2)] 229 Vgl. dazu Baumert et al. (Hgg.) 2001, 101ff. Zur Mediennutzung und zum Leseverhalten und den Lesegewohnheiten erwachsener Leser/innen sowie Kinder und Jugendlicher in Japan vgl. Nojiri; Tamura; Hatanaka in: Lesen im internationalen Vergleich 1995, 211-259. 230 FUKUZAWA Yukichi (1834–1901) war Autor, Aufklärer und der Begründer der KeiôUniversität in Tôkyô. Er nahm im Jahr 1861/62 als Dolmetscher an der ersten Gesandtschaft Japans nach Amerika teil und war Mitglied der ersten offiziellen japanischen Delegation in Europa, die im Jahr 1862 ihre Reise antrat. Im Jahr 1867 folgte eine weitere Reise nach Amerika. Fukuzawa gehörte zu einer neuen Generation Intellektueller, die sich nicht mehr nur einem elitären Kreis verständlich machen wollten. Seine Autobiographische Lebensschilderung erschien im Jahr 1898 als Fortsetzungsserie in der Zeitschrift Jiji-Shimpo. Fukuzawa hatte sie einem Stenographen erzählt und im Anschluss korrigiert und ergänzt. Zur Bedeutung Fukuzawas im Japan der Meiji-Zeit vgl. Coulmas 2001. 231 Vor 1868 wurde in Japan Chinesisch als fast die einzige Fremdsprache gelesen. Irmela Hijiya-Kirschnereit weist auf die spezifische Stellung und Entwicklung von „Übersetzung“
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„So ging ich also mit neunzehn im Februar 1854, dem ersten Jahr der AnseiPeriode, nach Nagasaki. Zu jener Zeit gab es in Nakatsu keinen einzigen Menschen, der die waagrecht geschriebene europäische Schrift hätte lesen können, ja diese überhaupt gesehen hätte. In den größeren Städten betrieb man zwar seit rund 100 Jahren die Wissenschaften Europas, doch in einer Provinzstadt wie Nakatsu bekam man keine fremdländischen Buchstaben oder gar Texte zu Gesicht. Gerade um diese Zeit war jedoch Commodore Perry mit amerikanischen Kriegsschiffen vor Edo aufgetaucht. Die Kunde davon war bis auf das Land durchgedrungen, und allerorts ereiferte man sich über Geschützkunde. [...] Einmal sagte mein Bruder zu mir: ›Für ein Studium der holländischen Geschützkunde ist das Lesen der Originaltexte unerläßlich.‹ Ich verstand ihn nicht recht. ›Was ist das, Originaltexte?‹ ›Originaltexte sind die in Holland herausgegebenen Bücher in waagrechter Buchstabenschrift. Es gibt heute in Japan auch schon Übersetzungen; sie sind jedoch zu allgemein, [...] Hättest Du nicht Interesse, solche Originaltexte zu lesen?‹ Da ich beim Studium der chinesischen Bücher meinen Kameraden immer überlegen war und mir das Lesen keinerlei Schwierigkeiten bereitete, hatte ich mir wohl ein ziemliches Selbstvertrauen erworben. So meinte ich also: ›Was andere Leute lesen können, werde ich auch noch zuwege bringen, ganz gleich was für eine Schrift es auch sei.‹ [...] In Nagasaki angekommen, begann ich also zum ersten Mal mit dem Lernen des ABC. Heute kann man die Lateinbuchstaben überall in Japan sehen, sogar auf den Etiketten der Sakeflaschen. Sie sind heutzutage nichts seltenes mehr, doch am Anfang fielen sie mir schwer. Je mehr ich jedoch las, desto leichter fielen sie mir im Laufe der Zeit. Soviel also über mein Holländischstudium.“ (Fukuzawa [1898] 1971, 24f.)
Die zweite Äußerung, nun über das Lernen der japanischen Schrift, ist den Briefen von Georg Michaelis entnommen: „Es giebt in Japan zwei Schriftsprachen: die von China importirte, mit ungefähr 80.000 bis 100.000 verschiedenen Zeichen, die nie ein Mensch auslernt. Unser bester deutscher Dolmetscher, Krien, kann vielleicht 10.000 Zeichen. Das ist die reine Rebussprache. Sie haben ein Zeichen für ein junges Schaf, ein anderes für ein altes Schaf, eins für ein geschorenes Schaf, eins für ein gebratenes Schaf, eins für eine Schöpfenkeule, eins für Schafwolle und so bilden sich bei jedem Begriff
_____________ innerhalb der japanischen Kultur hin, die auf der Adaption der chinesischen Schriftzeichen basiert: „Das geschriebene Chinesisch hatte aber auch eine ganz besondere Zwitterstellung inne, denn obwohl es sich morphologisch und syntaktisch denkbar stark vom Japanischen unterscheidet, erlaubte es die in Japan entwickelte, auf der chinesischen Schrift basierende Orthographie (sog. kanbun) einem japanischen Autor, einen Text auf chinesisch zu verfassen, ohne ein Wort chinesisch sprechen zu können. Das Notierte wurde nämlich japanisch gelesen, und dadurch wurde nicht nur die Fremdheit des chinesischen Textes aufgehoben, sondern auch die Zweipoligkeit von Zeichen und Bedeutung neutralisiert. Erst die Begegnung mit dem Westen zwang den Japanern nämlich ein neues Verständnis von ›Übersetzung‹ auf, denn nun wurden sie erstmals mit der Tatsache konfrontiert, daß Zeichen und Bedeutung nicht zusammenfallen, sondern daß die Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat, dem Schriftbild und dem ›Gemeinten‹, beliebig ist und daß sich der Sinn eines fremdsprachigen Textes daher erst durch eine wirkliche Übersetzung erschließen läßt.“ (Hijiya-Kirschnereit in: Japan und Europa, 1993, 14) Vgl. auch Horton in: Boyarin (ed.) 1992, 156-180. Zu den frühen Versuchen der Japaner, sich mit der Alphabetschrift vertraut zu machen, vgl. Coulmas in: Wertheimer; Göße (Hgg.) 1999, 33ff.
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hunderte von bildartigen Zeichen. Es kann sich jeder für einen Begriff ein Zeichen ausdenken, wenn dafür noch Keiner [sic] existirte, allerdings nach gewissen Regeln, den versteht dann zunächst bloß er selbst. So kommt es, daß selbst ein gebildeter Japaner, wenn man ihn auffordert, die Zeichen, die an irgend einem alten Götzenbild angebracht sind, zu entziffern, er nie, wirklich nie eine andere, als eine hypothetische Antwort geben kann. Auf dies Studium verzichte ich, denn nebenbei werden erwachsene Ausländer, die sich damit befassen, in der Regel verrückt. So ist der Consul Gebauer [...] verrückt geworden u. jetzt seinen unglücklichen Verwandten in Frankfurt a/O durch einen Begleiter zugeschickt worden; so ist Herr Kempermann verrückt geworden, Krien hat auch einen Stich weg u. der Konsul Stannius, [...] ist auch wegen mangelnder Richtigkeit auf Urlaub gegangen. Es giebt aber noch eine wirklich japanische Schriftsprache hier, die Buchstaben, oder wenigstens Silbenzeichen hat u. zwar 40 ungefähr, aus denen Worte, wie bei uns gebildet werden, die ich gern gelernt hätte, – aber wie gesagt, ich komme nicht dazu u. bleibe, nach wie vor, auf meinen überaus dämlichen Dolmetscher angewiesen.“ (Michaelis [1886] 2001, 160f.)
Obgleich Michaelis offenbar über Kenntnisse über das japanische Schriftsystem verfügt, wird dieses in seiner Darstellung dennoch mehrfach verrätselt: Die „Rebussprache“ kann nicht einmal von den Sprachverwendern selbst enträtselt werden, und die Fremden, die sich auf dieses Rätsel einlassen, verlieren ihre geistige Gesundheit. Obgleich Michaelis, wie in Kapitel 4 gezeigt werden konnte, im Schreiben eine fortwährende ReEtablierung der Grenzen des Eigenen und des Fremden vornimmt, die u.a. auf einem im 19. Jahrhundert noch unangefochtenen Konzept von nationalkultureller Identität gründet, stellt die von ihm unterstellte Gefährdung der ‚geistigen Hygiene‘ durch die Auseinandersetzung mit der ‚fremden Schrift‘ für diesen Schreibenden einen ungewöhnlichen Ausdruck der Angst vor dem Fremden dar. Diese Form der Mystifizierung der ‚Fremde Japan‘, in der eine Berührung mit dem Fremden unheimlich und gefährlich für die geistige und seelische Verfassung und die Stabilität des Europäers ist, findet sich sonst eher in literarischen Darstellungen (s.u.). Abgesehen davon, dass die Alphabetschrift in logozentrischer Perspektive als die ‚intelligentere‘ galt232 (und mancherorts immer noch gilt), ist mit der bis heute im europäischen Sprachraum verbreiteten These von der leichteren Erlernbarkeit der Alphabetschriften auch eine Idealisierung dieser als ‚demokratische Schriften‘ verbunden, „mit dem Hinweis darauf, daß [ihre] Einfachheit den Aufwand der Erlernung minimiere, die Verbrei_____________ 232 Vgl. etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1830): „Die Buchstabenschrift ist an und für sich die intelligentere; in ihr ist das Wort, die der Intelligenz eigentümliche würdigste Art der Äußerung ihrer Vorstellungen, zum Bewußtsein gebracht, zum Gegenstand der Reflexion gemacht.“ (ders. 1974, 274f.) sowie u.a. Humboldts Überlegungen zur Schrift, die angestoßen waren „durch zwei fast gleichzeitige Ereignisse [...]: die Entzifferung der Hieroglyphen durch Champollion und die Publikation von Arbeiten Abel-Rémusats über das Chinesische.“ (Stetter 1997, 466).
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tung allgemeiner Literalität fördere und so eine Distribution des verfügbaren Wissens ermögliche, wie sie für eine demokratische Staatsform Voraussetzung ist.“ (Coulmas in: Günther; Günther (Hgg.) 1983, 189)233 Diese „Literalitätsthese“ stellt einen Zusammenhang her zwischen Schriftform, Grad der Literalität und Gesellschaftsform sowie der Entwicklungsfähigkeit von Gesellschaftsformen – eine Argumentationsstruktur, die auf der ethnozentrischen Auffassung gründet, allgemeine Literalität sei vornehmlich alphabetischer Natur, und die sich stellenweise auch heute noch findet: „Auffällig allerdings ist, daß die Sozialordnung der alten Kulturen [ausdrücklich: Ägypter und Chinesen] eine überaus statische ist und sich über Jahrhunderte nicht viel verändert. Fragt man nach möglichen Erklärungen für dieses Phänomen, dann ist zumindest eine Erklärung in der Art und Weise des Partizipierens von Schriftlichkeit zu suchen. Die Literalität der alten Schriftkulturen ist – vergleicht man sie mit modernen Formen der schriftlichen Kommunikation – eine relativ begrenzte: Nur ein sehr kleiner Anteil der Gesamtpopulation ist des Lesens und des Schreibens kundig. Hintergrund ist die Tatsache, daß die Schriftsysteme der alten Kulturen – vergleicht man sie mit dem aus lediglich 24 Buchstaben bestehenden Alphabetsystem – überaus komplex und schwierig zu erlernen sind. Man muß mindestens 3000 chinesische Schriftzeichen kennen, um einigermaßen lesen und schreiben zu können, dann wird Lesen und Schreiben zu einer mühevollen Angelegenheit“ (Wende in: dies. (Hg.) 2002, 15).234
_____________ 233 Wobei die demokratischen Gesellschaftsformen – auch im Sinne einer ‚Evolutionstheorie‘ – an die Spitze möglicher Gesellschaftsformen gestellt werden. Auch in literarischen Texten des 19. Jahrhunderts wird die ‚Rückständigkeit‘ der japanischen Gesellschaft mit der ‚fortschrittlicheren und aufgeklärteren‘ Lebensweise und Wissenschaft der westlichen Welt kontrastiert: In der Japanischen Erzählung (vgl. Schuster 1988, 265ff.) von Hugo Rosenthal-Bonin Der Fächermaler von Nagasaki beschäftigt sich der Protagonist der Erzählung, der Japaner Min-to Tokiija mit der Wissenschaft der „Fremden“, der Niederländer, die in seinen Augen Aufklärung und Vernunft in sein rückständiges Land bringen können: „Es sind kluge Männer, Kitauri, und sie benutzen nur die Kräfte der Natur. Ich verstehe, was sie sprechen und fange an, in ihren Büchern zu lesen! Es herrscht bei ihnen eine wunderbar große Vernunft.“ Aus Liebe zu der zur „Kaste der Ausgestoßenen“ gehörenden Kitauri und aufgrund seines Wunsches nach Aufklärung und Wissen zieht sich Min-to immer weiter von den Gebräuchen und Anforderungen seiner Lebenswelt zurück. Träger und Vermittlungsmedium der fortschrittlichen Denkweise, des Wissens und der Moderne, aber auch des Versprechens von Freiheit in der Lebensgestaltung, ist die Alphabetschrift: „Minto jedoch ließ jetzt nun schon zwei Stunden auf sich warten, kein Laut zeigte seine Anwesenheit in seinem Arbeitgemache an, und doch saß er darin vertieft in das Studium eines Buches, das ganz curiose Buchstaben nicht in Reihen von oben nach unten, sondern von links nach rechts zeigte – er saß und las und las und brachte die auf ihn im Nebenzimmer Wartenden zu heimlicher Verzweiflung.“ (Rosenthal-Bonin in: Heyse; Laistner Bd. 21 1887, 112) Indem sich Min-to diese Schrift angeignet, wird er selbst zum Propheten und Heilsbringer, zum ‚Volksaufklärer‘ in seiner eigenen Kultur. 234 Die Geschichte der Literalisierung und des Lesens in China oder Japan im Vergleich etwa zu Europa kann und soll hier nicht nachvollzogen werden. Beispielhaft soll hier nur angeführt werden, dass die Literalisierung der japanischen Bevölkerung in der Edo-Zeit (1603–
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Auch im chinesischen und im japanischen Sprachraum finden sich relativ mühelos Mythen, die von der Überlegenheit der chinesischen und der japanischen Schrift Kunde geben. Coulmas (1983) weist darauf hin, dass auch die chinesischen Philosophen immer schon einen engen Zusammenhang zwischen Schrift, Sprache und geistiger Tätigkeit postulierten, und er zitiert den chinesischen Historiker und Anthropologen Li Chi (1922)235 mit folgender Äußerung: „Wenn man die Weltkultur der lebenden Völker auf dieser Grundlage einteilt, gewahrt man einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Typ der Alphabetbenutzer und dem der Hieroglyphenbenutzer, deren jeder seine Vorzüge und Nachteile hat. Bei allem Respekt vor der alphabetischen Zivilisation muß doch festgestellt werden, daß sie in der ihr fehlenden Beständigkeit einen schwerwiegenden, ihrem Wesen eigenen Mangel aufweist. Der höchstentwickelte Teil der alphabetischen Welt wird zugleich von den unbeständigsten und wankelmütigsten Menschen bewohnt. In der Geschichte des Westens wiederholt sich immer wieder der gleiche Ablauf: Aufstieg und Niedergang [...] Gewiß kann dieses Phänomen zum Teil mit der außerordentlichen Flüssigkeit der alphabetischen Sprache erklärt werden, auf die man sich nicht als geeignetes Organ für die Aufbewahrung einer beständigen Idee verlassen kann.“ (Li Chi (1922) zit. n. Coulmas in: Günther; Günther (Hgg.) 1983,171f.)
In den literarisch-anthropologischen Abhandlungen über die Japaner, den nihonjinron, wird das japanische Schriftsystem im Rahmen einer Konstruktion der Andersheit und Einzigartigkeit funktionalisiert. Dieses Genre der _____________ 1867) bereits weit fortgeschritten war und sich in diesem Zeitraum noch erweiterte, wie an der Entwicklung des Verlagswesens und der Auflagenstärke sowie anhand der Inhalte der Veröffentlichungen zu ersehen ist (vgl. dazu May 1992 über Longseller und Bestseller in der Edo-Zeit sowie Kuwabara in: Ehmcke; Shôno-Sládek (Hgg.) 1994, 191-211, auch: Nojiri 1991, 20ff.). Die Untersuchung Ronald P. Dores über Education in Tokugawa Japan (1603– 1867) zeigt die Abhängigkeit der Entwicklung der Literalität einer Gesellschaft von ihren sozialen und politischen Strukturen sowie dem politischen Willen zur Etablierung von Bildungsinstitutionen, was insgesamt weitaus größeren Einfluss auf die Literalisierungsrate hat als die Komplexität des Schriftsystems; augenfällig wird dies durch den Vergleich der Situation in Japan am Ende des 16. Jahrhunderts mit der Situation um 1868 (vgl. Dore 1992, zum Vergleich der Literalisierungsrate in Europa und Japan gegen Ende des 19. Jahrhunderts vgl. ebd., 291). Richter (1995) gibt einen Überblick über den Forschungsstand sowie einschlägige Veröffentlichungen in japanischer Sprache und europäischen Sprachen zur Geschichte des Lesens sowie der Geschichte der Printliteratur und ihrer Distribution (ebd., 4f.). Zur Partizipation gesellschaftlicher Gruppen an Schriftlichkeit und der Verbindung von Schriftgeschichte und Bildungsgeschichte in Deutschland vgl. u.a. Sting 1998 sowie ders. 1998a. Jürgen Osterhammel verweist zudem darauf, dass „[D]ie verbreitete Vorstellung von einem statischen, ja ‚geschichtslosen‘ China [...] durchaus nicht nur ein eurozentrisches Konstrukt selbstzufriedener Abendländer [war], sondern [...] sich auch de[r] durch Übersetzungen vermittelten [...] Selbst- und Geschichtsdeutung der konfuzianischen Bildungselite [verdankte].“ (Osterhammel in: König et al. (Hgg.) 1989, 30). 235 Li Chi ging 1918 in die USA und schloss 1923 in Harvard seine Dissertationsschrift mit dem Titel The Formation of the Chinese People: An Anthropological Inquiry ab. Zu Li Chi, vgl. Boorman (ed.) 1968, 289-292.
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Selbstdeutungen erhält „die entscheidenden Anstöße aus dem Bestreben, die kulturelle und nationale Identität im Muster von Oppositionen zu deuten. Das bei weitem häufigste und wichtigste Muster ist das der Gegenüberstellung von Japan und dem Westen, nicht selten ist jedoch auch die Oppositionsbildung: ‚Japan gegen den Rest der Welt‘.“ (HijiyaKirschnereit in: Naguschewski; Trabant (Hgg.) 1997, 94) Der Sprache und dem Schriftsystem wird innerhalb der nihonjinron eine zweifache Funktion zugewiesen: Japan wird über die Sprache und die Schrift nach außen als das dem Anderen immer fremde und fremd bleibende konstruiert; darüber hinaus ist es das Anliegen, über die Sprache und die Schrift nach innen eine kulturelle Identität zu stiften und den Mythos der Unergründlichkeit und Einzigartigkeit Japans zu stützen.236 Die Andersheit Japans muss im Kontext dieser Selbstdeutungen unauflösbar bleiben. In den nihonjinron werden Schrift, Sprache, Rasse und Kultur gleichgesetzt und begründen den Mythos der ethnischen Reinheit und der sozialen, religiösen und sprachlichen Homogenität. Japankenner, die der Sprache und des Schriftsystems mächtig sind, lösen auf japanischer Seite – kurioserweise – Befremden aus. Das Beherrschen der japanischen Schrift und Sprache durch Angehörige einer anderen – nicht-asiatischen – Kultur führt in diesem Fall nicht zu Kommunikation oder gegenseitigem Vertrautwerden, sondern ruft auf japanischer Seite ein Gefühl der Fremdheit hervor, was von Roy Andrew Miller (1982) als „Law of Inverse Returns“ bezeichnet wird.237 In den nihonjinron zeigt sich eine recht ausgeprägte, explizite Form der Funktionalisierung des eigenen Schriftsystems im Rahmen der Konstruktion einer kulturellen Identität. Schrift ist jedoch immer und überall, ebenso wie andere Kulturmuster auch, Identitätssymbol. Selbst wenn also (etwa einem Benutzer einer Alphabetschrift) ein anderes Schriftsystem auf den ersten Blick unökonomisch und mit den Erfordernissen einer technisierten Welt unvereinbar anmutet, so sind es in der Regel weniger diese Kriterien, die über den Gebrauch und die Verbreitung einer Schrift entscheiden. Viel wichtiger ist wohl die Frage, ob sie „kulturelles Prestige“ (Haarmann 1990, 556) besitzt: _____________ 236 Zum Zusammenhang von Selbst- und Fremdzuschreibung und zum westlichen Einfluss auf diese Form der Auto-Exotisierung und Selbstmystifizierung vgl. Gebhardt in: Gebhard (Hg.) 2000, 221ff. 237 „[T]he better you get at the language, the less credit you are given for your accomplishments; the more fluently you speak it, the less your hard-won skills will do for you in the way of making friends and impressing people. But by the same token (and this is what makes it an ‘inverse law‘), the less you can do with the language, the more you will be praised and encouraged by Japanese society in general and by your Japanese friends in particular.“ (Miller 1982, 156).
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„Das was die Menschen in einer Sprachgemeinschaft an ihrer Schrifttradition festhalten lässt, ist die Gewohnheit und Vertrautheit mit einem Kulturmuster, in dem die Angehörigen aller Generationen ihre Identität finden. Schrift ist nur äußerlich betrachtet ein praktisches Mittel, Sprache in geschriebener Form festzuhalten. Für den Benutzer – insbesondere wenn es um die eigene Muttersprache und die damit verbundene Schriftkultur geht – ist das Schriftsystem mit seinen Symbolen, also im wahrsten Sinne des Wortes das Schriftbild ebenso prägend wie andere Kulturmuster.“ (Haarmann 1990, 116)238
5.4.3 Ästhetisierung und Mystifizierung der ‚fremden Schrift‘ Fremde Sprachen und Schriften können, wie kurz aufgezeigt wurde, auf den verschiedensten Ebenen Gefühle von Fremdheit auslösen, und sie können im Diskurs über die Fremde – hier die ‚Fremde Japan‘ – in vielgestaltiger Weise funktionalisiert werden. Im Folgenden ist die Frage von besonderem Interesse, wie die ‚fremde Schrift‘ gelesen wird. Wird sie als Repräsentation der fremden Sprache gelesen, wobei die Illiteralität als Hindernis empfunden wird, die – auch pragmatischen – Mitteilungen zu verstehen? Oder wird die ‚fremde Schrift‘ in ihrer Gestalt, ihrer Funktion und ihrer ‚Aussage‘ als etwas ‚ganz anderes‘ wahrgenommen, wie auch die ‚Fremde Japan‘ als das ‚ganz Andere‘ wahrgenommen wird?239 Primäre und sekundäre Schriftfunktionen Im Zusammenhang mit seinen Erörterungen über primäre und sekundäre Schriftfunktionen spricht Helmut Glück davon, dass Schriften „fremdgehen“ können, „daß sie in nichtsprachliche Bedeutungssysteme desertieren und dort außersprachliche Zeichenfunktionen innehaben“ können (Glück in: Wende (Hg.) 2002, 102). Dieses „Fremdgehen“ kann natürlich nicht den Schriften angelastet werden, sondern es sind Menschen, die Schriften entweder in ihrer ‚primären‘ oder in ihrer ‚sekundären‘ Funktion nutzen, wobei nutzen sowohl produzieren als auch rezipieren meinen kann. _____________ 238 Dabei kann, nach Haarmann (1990), der zugesprochene kulturelle Wert entweder mit der „Verwendung und Geschichte [der Schrift] im betreffenden Kulturkreis“ (ebd., 125) assoziiert werden (wie bei den Alphabetschriften), oder aber die Kulturbindung ist dem Schriftsystem selbst inhärent. Dies ist dann der Fall, wenn, „[i]n den bildhaften Darstellungen, aus denen Schriftsymbole entstanden, [...] sich mehr oder weniger deutlich materielle Elemente des kulturellen Umfelds wider[spiegeln], in denen die Sprachgemeinschaft lebt und für deren Sprache das betreffende Schriftsystem geschaffen wurde.“ (ebd., 127; hier nennt Haarmann beispielhaft das chinesische Schriftsystem). 239 Zur Tradierung des „Topos der Andersartigkeit und Gegensätzlichkeit“ vgl. Pekar 2003, 142-154.
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In ihrer als primär benannten Funktion wird Schrift als geschriebene Sprachform definiert, verstanden und als Medium eingesetzt. Sie hat eine rekonstruierbare Darstellungsfunktion: die Repräsentation. Repräsentiert wird je nach Auffassung entweder Logos (so die aristotelisch-logozentrische Bestimmung) oder Phone (lautliche Äußerungen, Schrift als Repräsentation gesprochener Sprache mittels graphischer Zeichen).240 In dieser Funktion stehen z.B. in den Alphabetschriften einzelne Buchstaben, Wörter oder Texte nicht in ihrer Materialität im Wahrnehmungszentrum. Der Buchstabe etwa verschwindet sozusagen hinter seiner Funktion.241 Bei den sogenannten sekundären Schriftfunktionen steht die Darstellung von „Zeichensystemen anderer Ordnung“ im Vordergrund und die Repräsentation sprachlicher Bedeutung tritt in den Hintergrund. Die Zeichen sind dabei „nicht mehr Medium, sondern vorgegebener Gegenstand, in dem sich Zeichenbeziehungen anderer Ordnung materialisieren, z.B. religiöser, magischer, mystischer zauberischer oder anderer (literarisch-ästhetischer, spielerischer, erotischer, ...) Art.“ (ebd., 204) Schrift kann neben anderem (Bildern, Objekten, ...) Element im Kontext etwa magischer Rituale werden und auch als solches wahrgenommen werden. Die Bezeichnung ‚primäre und sekundäre Schriftfunktion‘ beinhaltet, das soll hier kurz erwähnt werden, eine Hierarchisierung bzw. eine wertende Kategorisierung in Bezug auf diese Funktionen: Neben der ‚eigentlichen‘ – primären – Funktion kann noch eine weitere – die ‚sekundäre‘ – hinzutreten, die jedoch nur auf Grundlage einer Uminterpretation zustande kommt. Obgleich eine solche Hierarchisierung als problematisch angesehen wird, soll im Folgenden der Einfachheit halber dennoch auf diese Bezeichnung zurückgegriffen werden.242 Für die sekundären Schriftfunktionen gilt, dass im Bereich der Produktion „schon immer eine andere Vorstellung [zirkuliert], die mit der magischen oder mystischen Kraft des Geschriebenen rechnet. Sie vertraut auf verborgene Korrespondenzen, die den Kosmos regieren, und glaubt auch über die schriftlichen Mittel zu verfügen, sie zu Gesicht zu bringen oder hervorrufen zu können.“ (Geier in: Günther; Ludwig (Hgg.) 1994, 679) Dies ist etwa in der Schriftmagie, in der Kabbala oder auch noch in den mittelalterlichen Initialen ablesbar. Die Hinwendung zur Materialität der Schrift bzw. des einzelnen Buchstabens, führt zu literarischen und poetischen Produktionen, wie etwa dem Anagramm, der barocken Figurenlyrik _____________ 240 Vgl. Geier in: Günther; Ludwig (Hgg.) 1994, 678. 241 U.a. Gross (1994) verweist darauf, dass beim Lesen keineswegs einzelne Buchstaben identifiziert werden, sondern Wörter oder Wortfolgen in Saccaden und Fixationen, vgl. auch Wittmann; Pöppel in: Franzmann et al. (1999). 242 Zur Problematisierung und den Hintergründen dieser Bezeichnung vgl. Achten 2004.
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oder der visuellen Poesie.243 Bei der Rezeption von Schrift als Element von Zeichensystemen anderer Ordnung kann es sich zum einen um eine angemessene Rezeptionshaltung handeln, da sie der ursprünglichen Intention der Schriftverwendung entspricht (etwa bei der kontemplativen Betrachtung der mittelalterlichen Initiale). Schriften oder Texte können jedoch auch sekundär ‚instrumentalisiert‘ werden: „Es handelt sich dann um Texte, die ursprünglich durchaus primäre Funktion hatten, also zum Lesen da waren, dann aber sekundär reinterpretiert worden sind, in sekundäre Bedeutungssysteme eingegangen sind. [...] am reichlichsten in der Malerei, in der bildenden Kunst und in der Religion einschließlich deren Kehrseite, dem blinden Glauben und dem Aberglauben.“ (Glück in: Wende (Hg.) 2002,104)
Geier macht darauf aufmerksam, dass die parallele Anerkenntnis der primären Schriftfunktion bei gleichzeitiger Zuweisung sekundärer Funktionen durchaus keinen Widerspruch darstellen muss.244 Es ist auch nicht sehr wahrscheinlich, dass schriftkundige Rezipienten/innen den ‚Repräsentationscharakter‘ der Zeichen je überlesen können. So wird z.B. nach längerer Betrachtung die Ursache der für westliche Rezipienten/innen verstörenden Wirkung der fremd-vertrauten Gestalt der Schriftkunst des chinesischen Künstlers XU Bing offenbar: Scheinbar chinesische Schriftzeichen entpuppen sich bei genauem Hinsehen als lateinische Buchstaben, die in einem Quadrat angeordnet und in kalligraphischem Stil geschrieben sind und die nun als Text lesbar werden (z.B. „Art For The People“). Hier ergänzen sich die primäre und die sekundäre Funktion der Schrift in Produktion und Rezeption, und etwas Neues – Art For The People – entsteht.245 Die primäre Funktion kann aber auch in den Hintergrund gedrängt oder überlagert werden, da das Bedürfnis nach etwas, was außerhalb der aufgeklärten Rationalität steht, nach spielerischem Umgang mit Sprache oder nach einem sonstwie gearteten ‚Mehrwert‘ groß genug ist. Besonders leicht fällt die Verdrängung der primären Funktion bei der ‚fremden Schrift‘, also bei den Schriften, die keinerlei visuell erkennbare Familienähnlichkeiten mit der bekannten und beherrschten ‚eigenen Schrift‘ aufweisen. Die fehlende Lesefähigkeit erleichtert hier die Verdrängung des Wissens um die potentielle Lesbarkeit der Schrift im nicht-metaphorischen Sinne sowie die Verdrängung der Neugier auf den konkreten Inhalt des Repräsentierten und gibt einer sekundären Funktionalisierung Raum – das, was nun gelesen wird, gehört einer ‚anderen Ordnung‘ an. _____________ 243 Vgl. dazu insbesondere Achten 2004. 244 Vgl. Geier in: Günther; Ludwig (Hgg.) 1994, 681. 245 Zu XU Bing vgl. Prüss 2003, B7.
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Für den deutschen Sprachraum gilt dies insbesondere für die Wahrnehmung der ägyptischen Hieroglyphenschrift: „Seit den Tagen des Athanasius Kircher waren die Hieroglyphen das Exempel einer uralten und im Licht magischer Zusammenhänge stehenden Sprache der Natur selbst.“ (Blumenberg 20005, 236)246 Jacques Derrida (1974) verweist darauf, dass diese Form der Mystifizierung sogar einer „wissenschaftlichen Entzifferung“ der ‚fremden Schrift‘ lange im Wege stand (ebd., 142). In den Texten über die ‚Fremde Japan‘ finden sich Hinweise darauf, dass auch das japanische Schriftsystem im Rahmen dieses Diskurses funktionalisiert wird und ähnlichen Zuschreibungen wie die Hieroglyphen unterlag und unterliegt.247 Schon der Reisende in Bernhard Kellermanns Ein Spaziergang in Japan bezeichnet die kanji als „Hieroglyphen“: „Alle diese Laternen mit schwarzen Hieroglyphen, dachte ich“ (Kellermann 1922, 126). Die floskelhafte Verwendung des Begriffs Hieroglyphe ist schon früh in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen, um das (für die Betrachter) Geheimnisvolle der ‚fremden Schrift‘ zu markieren.248 Auch der Lesende, Dr. Konrad Feldt, bewegt sich illiterat durch die Welt des japanischen Schriftsystems. Seine Assoziationen erinnern an manche Inhalte des europäischen Diskurses über die Hieroglyphen, so insbesonde_____________ 246 Athanasius Kircher, der bis in die Goethe-Zeit als Übersetzer der Hieroglyphen galt, verstand sie als Offenbarungen der höchsten Mysterien. Seine ‚Übersetzungen‘ basierten auf einer symbolischen Logik und auf dem damaligen Wissen über die alten Kulturen. Nach der Entzifferung durch Champollion wurde deutlich, dass die ‚Übersetzungen‘ Kirchers reine Spekulationen waren. Zur Aufarbeitung dieses Diskurses vgl. Blumenberg 20005, 233ff. und 277f., Eco 19953, 153ff. insbesondere 163-167, Assmann in: Gumbrecht; Pfeiffer (Hgg.) 1988, 242ff. sowie Glück in: Wende (Hg.) 2002, 109. Zur ägyptischen Hieroglyphe und deren Kodierungsebenen vgl. Haarmann 1990, 101-111 sowie ebd., 384-393; vgl. zudem Assmann in: Greber; Ehlich; Müller (Hgg.) 2002, 31-51: „Kennzeichnend für die Hieroglyphenschrift ist die Kombination von Ikonizität und Konventionalität. Ihre Einheiten erfüllen eine Doppelfunktion: als Bilder und Zeichen. Als Bilder müssen sie das Dargestellte nicht nur wiedererkennbar, sondern auch ästhetisch ansprechend, d.h. schön und reich abbilden. Als Zeichen dagegen müssen sie strikt normiert werden und müssen den Rahmen formaler Variierbarkeit auf ein Minimum herabschrauben.“ (ebd., 36). Vgl. auch Tawada 1998: „Ein Vogel in einem Gedicht ist vergleichbar mit einer ägyptischen Hieroglyphe, die die Form eines Vogels hat. Das Schriftzeichen hat nichts mit einem Vogel zu tun. Die Hieroglyphen sind deshalb interessant, weil sie deutlich machen, daß die Bildlichkeit der Schrift nichts mit einem konkreten Bild zu tun hat. Vielmehr hat sie mit Erinnerungen zu tun.“ (ebd., 29). 247 Zu den Differenzen in den Zuschreibungen zu den ägyptischen Hieroglyphen und dem japanischen Schriftsystem im Rahmen der Diskurse über die Schrift im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Derrida 1974, 141. 248 Auch heute noch findet sich in der Alltagssprache diese Funktion des Begriffs Hieroglyphe. So rief ein Schüler aus einer 10. Klasse einer Kölner Hauptschule bei dem Versuch, eine für ihn unleserliche Handschrift einer Studentin zu entziffern: „Voll die Hieroglyphen!“.
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re die Zuweisung der Zeichen zu einer „andere Sphäre“,249 aber auch die „romantische Aura“, die die Zeichen den Dingen verleihen: „Auf weißen Leuchtflächen standen in schwarzen, fremden Zeichen Hinweise. Für Feldt waren es Lichter und Botschaften aus einer anderen Sphäre, aus einer paranoiden und zugleich wahren Welt, der er sich durch ein paradoxes Urteil zugehörig fühlte. [...] Durch die Schrift in Kanji und Kana wurde sein Orientierungsgefühl weiter irritiert, und diese doppelte Irritation verursachte in ihm das Gefühl, unter einer Droge zu stehen. Natürlich genoß Feldt die Stimulation heimlich. Er war nüchtern ›high‹, wie er sich sagte, er konnte die Dinge klar auseinanderhalten, doch waren sie mit einer im altmodischen Sinn romantischen Aura ausgestattet.“ (Roth 20002, 50)
Hier bewegt sich der Lesende in der ganz anderen Welt, und nicht mehr in einer anderen Kultur auf dieser Welt. Mit einer ähnlichen Haltung begegnet Feldt als Kind den „Worten der Dichtung“, die er auch noch nicht entschlüsseln, noch nicht ‚lesen‘ kann; hier ist er jedoch Lesender genug, um die ‚Schrift der Dichtung‘ zu entschlüsseln, eine Mühe, der er sich im Hinblick auf die ‚fremde Schrift‘ an keiner Stelle unterzieht: „Die Worte der Dichtung waren für ihn eine unentschlüsselte Hieroglyphenschrift gewesen [...] Es gab Bücher, die er wieder und wieder las, wie Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit [...], oft kam er sich dabei vor wie der Franzose Jean-François Champollion, dem es gelungen war, den Stein von Rosetta zu entziffern und damit die ägyptische Hieroglyphenschrift.“ (ebd., 64)
‚Fremde Schriften lesen‘ – Präsentationskontexte ‚Fremde Schriften‘ können auf sehr verschiedene Weise gelesen werden. Gilbert Keith Chesterton beschreibt in seinem Essay A Meditation in Broadway (1928) die Wahrnehmung eines Passanten, der, des Lesens nicht mächtig, den Broadway entlangspaziert. Fasziniert von dem Licht und den Farben und erfüllt von seinen idealisierenden Vorstellungen über Amerika versucht er, die Nachrichten, die an ihn gerichtet zu sein scheinen, zu entschlüsseln. „When I had looked at the lights of Broadway by night, I made to my American friends an innocent remark that seemed for some reason to amuse them. I had looked, not without joy, at that long kaleidoscope of coloured lights arranged in large letters and sprawling trade-marks, advertising everything, from pork to pi-
_____________ 249 Diese Form der Mystifizierung der Hieroglyphen wird auch massenmedial sehr erfolgreich verarbeitet, vgl. etwa die amerikanische Filmproduktion Stargate von 1994, in der die Entzifferung ägyptischer Hieroglyphen und anderer Symbole die Öffnung eines Sternentores bewirkt, das zu einem fernen Planeten führt, auf dem der Gott Osiris (eigentlich ein Außerirdischer) herrscht. Diese Kinoproduktion wurde in einer recht erfolgreichen Serie im Fernsehformat fortgeführt.
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anos, through the agency of the two most vivid and most mystical of the gifts of God; color and fire. I said to them in my simplicity, ‚What a glorious garden of wonders this would be to any one who was lucky enough to be unable to read.‘ Here it is but a text for a further suggestion. But let us suppose that there does walk down this flaming avenue a peasant, of the sort called scornfully an illiterate peasant. [...] let us suppose, if only for the sake of argument, that the peasant is walking under the artificial suns and stars of this tremendous throroughfare that he has escaped to the land of liberty upon some general rumour and romance of the story of its liberation, but without being yet able to understand the arbitrary signs of its alphabet. The soul of such a man would surely soar higher than the sky-scrapers, and embrace the brotherhood, broader than Broadway. Realizing that he had arrived on an evening of exceptional festivity worthy to be blazoned with all this burning heraldry, he would please himself by guessing what great proclamation or principle of the Republic hung in the sky like a constellation or rippled across the street like a comet. He would be shrewed enough to guess that the three festoons fringed with the fiery words of somewhat similar pattern stood for ‚Government of the People, For the People, By the People‘; for it must obviously be that, unless it were ‚Liberty, Equality, Fraternity.‘ His shrewdness would perhaps be a little shaken if he knew that the triad stood for ‚Tang Tonic To-day; Tang Tonic To-morrow; Tang Tonic All the Time‘.“ (Chesterton 1928, 43f.)
Chesterton beschwört hier ironisierend den Segen der Illiteralität, der Raum gibt für das Verschließen vor der profanen Wirklichkeit und für die Öffnung eines beglückenden Projektionsraumes: Nur der Illiterate kann sich der Projektion seiner romantischen und idealisierenden Vorstellungen über die andere Kultur so ungestört von einer etwaigen Wirklichkeit hingeben. Der Kontext der Schriftpräsentation rückt hier mit in den Wahrnehmungsbereich, er wird Teil der Materialität der Schrift: Die Farben, die Lichter, die Formen, die Schrift im Himmel – all dies verschmilzt zu einer Botschaft, die in der ‚Idee‘ von der anderen Kultur gründet (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). Das Lesen der ‚fremden Schrift‘, wie insgesamt ihre Wahrnehmung und Beschreibung, vollzieht sich in diesem Koordinatensystem: Es handelt sich um eine sekundäre Funktionalisierung der Schrift,250 die aus der Illiteralität der Wahrnehmenden sowie daraus entsteht, dass die unvertraute Gestalt der Zeichen in ihrer Materialität ins Wahrnehmungszentrum tritt. Der Kontext der Schriftpräsentation wird zweifach bedeutend: Zum einen ganz konkret als direkte Umgebung, in der sich die Schrift befindet, oder in der sie ‚aufscheint‘. Diese direkte Umgebung (Straßen, Friedhöfe, Bibliotheken, Natur, ...) aber auch Ele_____________ 250 Obgleich der Spaziergänger bei Chesterton die Schrift in ihrer primären Funktion wahrzunehmen scheint und sie in dieser Funktion zu entschlüsseln sucht, so handelt es sich hierbei dennoch um eine sekundäre Funktionalisierung. Die Bemühung richtet sich nicht auf den konkreten Inhalt, der in Form von Schrift repräsentiert wird (er hätte jemanden danach fragen können); die Schrift wird im zum Darstellungselement im Kontext seiner ‚Idee‘ vom Ganzen der Kultur, das für die Bestätigung dieser Idee sowie für das eigene Wohlbefinden funktionalisiert wird.
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mente wie Farben oder Präsentationsflächen (Bücher, Stein, Stoff) werden sehr viel stärker wahrgenommen als dort, wo bereits das Zeichen ‚unsichtbar‘ ist, da es lediglich als Repräsentant von (Laut-)Sprache wahrgenommen und direkt in diese umgesetzt wird. Zum anderen wird der Kontext als kultureller Kontext bedeutend. Als solcher stellt er das Material für die Phantasieinhalte, die auf die ‚fremde Schrift‘ projiziert werden.251 Bei der Wahrnehmung der ‚fremden Schrift‘ kann diese über den Kontext eine Funktion erhalten, die ursprünglich auch der ‚eigenen Schrift‘ nicht fremd war. Emma Schultze schreibt an ihre Eltern in Deutschland: „Ich kann Euch gar nicht alle diese malerischen Eindrücke schildern, die man bei solchen Tempelbesuchen hat. Alte, merkwürdige Architektur, Holzwerk mit reicher Vergoldung, mysteriöse, halbkatholische tausenderlei Heiligtümer, im Hintergrund die ewige Lampe [...] ein Kirchhof mit uralten, teilweise zerfallenen Gräbern, d.h. hohen Steinen mit geheimnisvollen chinesischen Zeichen“ (Schultze, Emma [1878] 1980, 100).
Es zeigen sich Reste eines magischen Schriftbewusstseins, die insbesondere im Kontext des Religiösen aktualisiert werden. Die ‚fremde Schrift‘ erhält hier eine Funktion, die die Alphabetschrift in der christlichabendländischen Kultur auch inne hatte, die aber nur noch punktuell zum Wissens- und kaum noch zum Erfahrungsbestand des modernen Menschen in der christlichen Alphabet-Schriftkultur gehört: Magie, Kontemplation, Meditation sind Handlungsvollzüge und Projektionen, die mit einer Zeichenwelt verbunden werden, deren ästhetische Gestalt nicht durch pragmatischen Gebrauch überlagert und verdrängt wurde.252 _____________ 251 In Roland Barthes Reich der Zeichen rückt die Schreibwarenhandlung als Kontext der Schrift ins Zentrum, sie wird zum „Raum der Zeichen. In der Schreibwarenhandlung trifft die Hand mit dem Instrument und dem Material des Schriftzugs zusammen. [...] Die japanische Schreibwarenhandlung hat jene ideographische Schrift zum Gegenstand, die in unseren Augen von der Malerei abstammt, während sie in Wirklichkeit deren Grundlage bildet [...] Und sosehr diese japanische Schreibwarenhandlung Formen und Qualitäten für die beiden Urmaterialien der Schrift, nämlich Fläche und Schreibinstrument, erfindet, sosehr vernachlässigt sie jene Hilfsmittel der Aufzeichnung, die den phantastischen Luxus der amerikanischen Schreibwarenhandlung ausmachen“ (Barthes 1981, 116f.). 252 Vgl. in diesem Zusammenhang z.B. Geier in: Günther; Ludwig (Hgg.) 1994, 679 sowie Ganz 1992. Die Mythisierung der ‚fremden Schrift‘ beschreiben auch Itoda und Knaup im Zusammenhang mit den ersten Hinweisen auf chinesische kanji auf japanischem Boden, die sich auf einem Spiegel aus der Yayoi-Zeit (300 v.-300 n. Chr.) finden: „Der Spiegel ist somit ein Mandala, das zur Meditation aufruft, spirituelle Anregung bringt, die sich später über die Oralität mitteilen wird. Kanji wurden also zunächst als künstlerische Inspiration aufgefaßt. Die musikalisch-klangliche Gestalt der Sprache, die phonetische Wiedergabe des ‚Logos‘ war nicht Gegenstand der ersten Auseinandersetzung mit chinesischen Schriftzeichen in Japan. [...] Die Kanji auf diesem Spiegel wurden weder geschrieben noch gelesen, sondern lediglich in Bronze gegossen und angeschaut.“ (Itoda; Knaup 2000, 1f.) Vgl. auch Horton in: Boyarin (ed.) 1992: „It is likely that Chinese characters were valued first as potent magical signs, and only later as a means of linguistic communication“ (ebd., 158).
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Präsentationskontexte können aber bei der Wahrnehmung der ‚fremden Schrift‘ auch ausgeblendet werden, so z.B. wenn der Kontext Informationen bereithält, die eine ästhetisierende Wahrnehmung stören könnten: „Feldt und Albrechter saßen auf der langen gepolsterten Bank, ihnen gegenüber hielt ein älterer Mann die Brille in der Hand und las eine bunte Sportzeitung. Der Wagon war nur schwach besetzt. Feldt phantasierte sich in die fremden Schriftzeichen hinein. Er betrachtete die Zeitung wie ein abstraktes Bild.“ (Roth, 20002, 141)
Bilder werden sinnlich wahrgenommen und haben oft eine stark emotionale Wirkung. Zudem sind sie bedeutungsoffen, also offen für Bedeutungszuschreibungen und Bedeutungskonstruktionen. Da der Lesende hier aufgrund seiner Illiteralität nicht dem Mitteilungsgehalt der Schrift in der Zeitung ausgeliefert ist, kann er sich der sinnlichen, ästhetisierenden Wahrnehmung – Schrift als Bild – hingeben. Erst die Bilder in der Zeitung verweisen ihn wieder auf den Kontext und die Inhalte zurück: „Er sah später, als der Mann umblätterte, Fotografien von Baseballspielern, Trabrennen, Sumoturnieren, so daß er sich vorstellen konnte, worum es ging.“ (ebd., 141) Verfremdungen – Befremden Die Ich-Erzählerin aus TAWADA Yokos Erzählung Bilderrätsel ohne Rätsel (19973) hat eine Leidenschaft für „imaginäre Bücher“, für Bücher, „die noch nicht geschrieben sind, noch nicht gebunden sind, in denen wir im Traum fortwährend blättern, ohne sie verstehen zu können.“ (ebd., 9) Diese Bücher repräsentieren Lebendigkeit und die Freiheit der Phantasie, die noch nicht durch vorgegebene Inhalte, repräsentiert durch Schrift, gefesselt ist. Als bedrohlich für diese „Traumvorstellungen“ erweisen sich die Bücher in ihrer Muttersprache, die ihre Vorstellungen an den durch die Schrift repräsentierten Inhalt binden. Erst die ‚fremde Schrift‘ eröffnet ihr wieder den Zugang zu der verloren geglaubten Welt der imaginären Bücher: „Bücher voller fremder Buchstaben waren dafür verantwortlich, daß es mich doch wieder gepackt hat. Stundenlang blätterte ich in den arabischen und indischen Büchern, die in den Buchläden lagen und die ich nicht lesen konnte. Auch die englischen Übersetzungen der japanischen Klassiker waren dazu angetan, mich zu bezaubern. Diese Klassiker, an denen ich mich doch schon sattgelesen hatte, öffneten mir mittels der Buchstaben des Alphabets, die wie Maschinenbaupläne waren, plötzlich die Augen wieder für jenes imaginäre Buch. Als ich in einem Park am Rande Tôkyôs den Karton, in den ich meine gestorbenen japani-
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schen Bücher gepackt hatte, begrub, entschloß ich mich, nach Deutschland zu fahren.“ (ebd., 10f.)
In Tawadas literarischen und essayistischen Sprachreflexionen ist es jedoch nicht nur die Illiteralität, in der sich das Potential einer (auch kindlichen und magischen) Wahrnehmung der Materialität von Schrift bewahren lässt. Auch wenn die ‚fremde Schrift‘ in ihrer primären Funktion entschlüsselbar geworden ist, führt der fremde und verfremdende Blick auf diese dazu, ihre Materialität immer wieder ins Wahrnehmungszentrum zu rücken und ihre Funktion der Repräsentation gesprochener Sprache mittels graphischer Zeichen zu hintergehen: „Lange habe ich nicht bemerkt, daß ich mich nur ganz selten in die Lektüre eines deutschen Buches versenken kann. Als Kind bin ich in das Buch hineingerannt, wie man das eigene Haus betritt. Dann versank ich in die Welt, die dort beschrieben wurde, und sah die Sprache nicht mehr. Um in ein Buch wie in ein Haus hineinzukommen, muß man so schnell lesen, daß die Buchstaben verschwinden. Theoretisch weiß ich schon, wie man die phonetische Schrift liest: Man muß sie im Kopf schnell in die entsprechenden Wortlaute umsetzten, weil sonst der Wortsinn hinter der Mauer der Buchstaben versteckt bleibt. Ich darf mir nicht die Schriftzeichen anschauen, sondern muß über sie hinwegfliegen. Aber schon nach einigen Minuten beginnt mein Blick, an jedem Buchstaben zu verweilen. Dann wird es still in meinem Kopf, und der Sinn verschwindet.“ (Tawada 1998, 25)
Der emotionale Aspekt der hier beschriebenen Leseerfahrungen soll nicht übersehen werden: Die ganzheitliche (körperliche), ungehinderte und ungetrübte Lesefreude des Kindes wird (auch biographisch) mit dem japanischen Schriftsystem assoziiert. Die distanziertere, reflektierende – adoleszente – Lesehaltung mit der zwar inzwischen geläufigen, aber immer wieder befremdenden Alphabetschrift. Für die deutschen Lesenden ist der fremde Blick auf die ‚eigene Schrift‘ in Tawadas Werk in mehrfacher Hinsicht irritierend; auch ihre Perspektive auf das Alphabet als ein „Rätsel“ und die Klarheit, die sie in dem japanischen Schriftsystem erkennt, ist nicht zuletzt aufgrund der oben beschriebenen Schriftmythen verstörend: „Dagegen ist jeder Buchstabe des Alphabets ein Rätsel. Was will zum Beispiel ein A mir sagen? Je länger ich einen Buchstaben anblicke, desto rätselhafter und lebendiger wird er: lebendig, weil er kein Zeichen ist, das für ein Signifikat steht. Er ist weder ein Abbild noch ein Piktogramm. Man darf ihn nicht anschauen, sondern muß ihn sofort in einen Laut übersetzen und seinen Körper verschwinden lassen. Sonst wird er lebendig, springt aus dem Satz und verwandelt sich in ein Tier. Die Buchstaben des Alphabets sind unfaßbare Phantasietiere.“ (ebd., 30).
Hier verwandelt sich das ‚Lesen‘ in ‚Starren‘, der faszinierte Blick verhindert, dass „die (gegenwärtige) Materialität des Zeichens durchstoßen [wird], um zur (abwesenden) Bedeutungsschicht gelangen zu können. Wer sich in die Materialität der Zeichen verstrickt, kann sie nicht verstehen.“
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(Assmann in: Gumbrecht; Pfeiffer (Hgg.) 1988, 238)253 In Zungentanz (2002) beschreibt die Ich-Erzählerin ihre Verstrickung in die Materialität der Buchstabenschrift, die bei der öffentlichen Lesung ihrer Autobiographie („Die Lebensgeschichte einer Zunge“; ebd., 10) nicht mehr überwunden werden kann: „Seit einigen Wochen habe ich bei jeder Lesung Schwierigkeiten. Auf dem Manuskriptpapier bilden die Buchstaben eine Mauer, ich gehe geduldig an der Mauer entlang, aber es gibt keine Tür, kein Fenster, nicht einmal eine Klingel. Ich kann die Sätze nicht lesen, obwohl ich sie geschrieben habe. (Wie kann ich so leichtfertig ‚ich‘ sagen? Wenn die Zeilen einmal fertig sind, entfernen sie sich von mir, und verwandeln sich in eine andere Sprache, die ich nicht mehr verstehen kann.) Ohne zu wissen, was ich tun soll, fange ich an, die ersten Wörter irgendwie auszusprechen. Jedes Wort steht mir im Weg. Wenn es bloß kein Wort mehr im Text gäbe, denke ich mir, dann könnte ich ihn fließend vorlesen. Die Mauer der Buchstaben hindert meine Sicht. [...] Die Wörter werden immer eckiger und sperriger. Bald wachsen die einzelnen Buchstaben aus ihnen heraus. Wo beginnt ein Wort? Wo endet es? Mein Mut, der aus einer einzigen Zunge besteht, schrumpft, bis er kleiner wird als ein Komma. Mit winzigen Füßen muß ich jeden Buchstaben hochklettern, ohne sehen zu können, was hinter ihm steckt. Jeder Laut ein Sturz. Die Stimme wird immer leiser, während die Schriftzeichen immer lauter werden.“ (ebd., 10f.)
Hier wird die Verstörung durch die Materialität der Buchstaben so übermächtig, dass die Ich-Erzählerin krank – sprachkrank – wird: „Meine Krankheit besteht aus einer Zunge“ (ebd., 11) Ihr droht wegen der Übermacht der Schrift der Verlust der Sprache. Ästhetischer ‚Mehrwert‘ Die Verstrickung der europäischen ‚Lesenden‘ in die Materialität der sinojapanischen Schrift gründet insbesondere in deren „geballte[r] Multivalenz, ihrer semantischen und ästhetischen Vernetztheit und Vernetzbarkeit. Schriftzeichen [...] stehen in einem viel engeren und intensiveren Verhältnis zum Auge und zur Hand als etwa die europäischen Buchstabenschriften. In der chinesischen und japanischen Kalligraphie, die weit davon _____________ 253 Den „langen Blick“, mit dem Tawada hier die Buchstaben der Alphabetschrift wahrnimmt, illustriert Aleida Assmann u.a. am Beispiel der chinesischen Kalligraphie (vgl. dies. in: Gumbrecht; Pfeiffer (Hgg.) 1988, 241). Zur Re-Etablierung der Materialität der Schrift vgl. insbesondere Jacques Derridas Grammatologie (1974). Innerhalb der Literaturwissenschaft richtet sich der Blick im Rahmen der schriftphilosophischen Wende, des literatistic turn, „auf den Text als unhintergehbare Konfiguration von Zeichen.“ (Assmann in: dies. (Hg.) 1996, 17) „Das führt zu einer Akribik des Lesens, die der mühsamen Entzifferung von Buchstaben gleicht. [...] Foucault nannte die auf Spurenentzifferung gerichtete Lektüre ‚Archäologie‘ und beschrieb sie als einen akribischen und geduldigen Umgang mit verwischten, zerkratzten, mehrmals überschriebenen Dokumenten.“ (ebd.).
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entfernt ist, ‚Schönschrift‘ sein zu wollen, wird Schrift zu einer ZeitKunst. Was auf dem Papier zurückbleibt, sind Spur und Zeugnis des Schreibvorgangs selbst, Dokument eines (vergangenen) Bewegungsflusses.“ (Pörtner in: Wende (Hg.) 2002, 74) Im Gegensatz zur Buchstabenschrift, deren potentielle Lesbarkeit auch bei Tawada nicht in Frage gestellt wird – die Verstörung der Ich-Erzählerin resultiert gerade daraus, dass sich die Buchstaben zwischen ihre Wahrnehmung und das Repräsentierte stellen – wird insbesondere die Kalligraphie von den europäischen Betrachtern nur sehr selten in ihrer primären Funktion wahrgenommen. Kalligraphische Arbeiten werden in ihrer Körperlichkeit so ernst genommen, dass sie häufig nicht mehr als Träger von Inhalten außerhalb ihrer graphischen Gestalt, sondern nur noch als Bilder rezipiert werden. Kalligraphische Texte sind jedoch potentiell lesbar, sie umfassen die zentralen Aspekte des Schriftvollzugs (technische, rhetorische, logische); diesen fügen sie jedoch noch sinnliche und ästhetische Aspekte und mithin einen ästhetischen Mehrwert hinzu: „Wenn ich je ein anderes Leben bekommen könnte, dann müßte es eines in einem Land sein mit einer anderen Schrift. Mehrwert, der ästhetische Anblick von etwas, bei dem das Gezeichnete durch die Zeichnung neben der Bedeutung zusätzlich noch etwas bedeutet, behauptet, heraufbeschwört, sho, Kalligraphie.“ (Nooteboom 1997, 177)
Kalligraphie als kunstvoller Schreibstil254 ist jedoch auch für die Mehrzahl japanischer Rezipienten/innen nicht ohne weiteres lesbar und auch für den japanischen Kontext gilt, dass im Verlauf der Entwicklung der verschiedenen kalligraphischen Schreib-Stile diese „nicht mehr nur als ein Transportmittel für sprachliche Informationen, sondern [...] als etwas wahrgenommen [wurden], das seinen eigenen Rhythmus, seine eigene Dynamik, seine eigene und eigenartige Balance, seine eigene Patina, seine eigenen Valeurs hatte. Die Schrift wurde zu einem Objekt der ästhetischen Wahrnehmung und Wertschätzung.“ (Pörtner in: Wende (Hg.) 2002, 68) In der Reisebeschreibung In Japan II. Kalter Berg (1987) von Cees Nooteboom führen das Gefühl des Ausgeschlossen-Seins und das Wissen um die potentielle Lesbarkeit der Kalligraphie zu Frustration und einer DeKonstruktion der ästhetisierenden europäischen Wahrnehmungshaltung, die die Materialität der Schrift ins Zentrum rückt und die in der Schrift repräsentierten Inhalte ausblendet: „In der tokonama, dem Alkoven mir gegenüber, hängt eine Kalligraphie, und wieder überkommt es mich, dieses Gefühl von Neid. Diesen Kampf von Weiß gegen Schwarz, des Zeichens, das man gegen das umringende, gefräßige Nichts machen
_____________ 254 Es existieren recht unterschiedliche Schreibstile und Mischstile, die sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben. Zur Bedeutung und Entwicklung der japanischen und chinesischen Schreib-Stile vgl. Pörtner in: Wende (Hg.) 2002.
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will, den würde ich auch gerne führen. Aber ich habe nur mein mit vier Wörtern benanntes High grade Note book, um meine high grade notes dieses Tages niederzuschreiben. Ohne Kenntnis der Sprache kommt sho mir wie ein leeres, eitles Exerzitium vor, das Nachäffen von Zeichen als pure Form, ihre Bedeutung nicht aus der Sprache heraus empfunden, nipponnerie.“ (Nooteboom 1997, 180)
Der Reisende in Bernhard Kellermanns Ein Spaziergang in Japan hingegen erklärt sogar eine Visitenkarte zu einem „Kunstwerk“: „Nach einer halben Stunde empfahlen sich meine Gäste. Aber zuvor zog der ältere eine kleine Karte aus dem Kimono und übergab sie mir. Diese Karte war mit den erstaunlichsten japanischen Ideogrammen versehen, und ich hielt sie einen ganzen Tag lang für gedruckt, bis mir der Wirt erklärte, daß sie geschrieben war. Das war unglaublich, denn die Schriftzeichen waren so kompliziert, daß ein Künstler dazu gehörte, sie so genau und scharf mit dem Pinsel zu malen, wie sollten Leute aus dem Walde, Bauern, Fischer, fähig sein, solche Kunstwerke zu vollbringen?“ (Kellermann 1922, 176)
Hier ist es insbesondere die „komplizierte“ Gestalt der Schriftzeichen sowie die technische Ausführung, die die Visitenkarte zum ästhetischen Objekt werden lässt. Der Mehrwert beinhaltet hier die Aufwertung einer ganzen Kultur, in der sogar „Leute aus dem Walde, Bauern, Fischer“ „Kunstwerke“ vollbringen. Diese Form der Ästhetisierung einer Kultur, die die sozialen Realitäten außer Acht lässt und sich auf die Oberfläche richtet, ist durchaus typisch für die europäische Wahrnehmung der japanischen Kultur: „The workmanship of Japanese arts and crafts (trading articles or potential trading articles) was considered to be of very high quality, and general Japanese good taste was noted. This theme, of seeing arts, crafts, landscape, taste, etc. as beautiful or beauty oriented, is called the ‚aestheticisation‛ of Japan. [...] The primary significance of this enunciative modality is that it directs attention to the superficial. Appearance receives more consideration than political and economic relationships.“ (Breger 1990, 15f.) Die Wahrnehmung und Funktionalisierung der japanischen Schrift als ästhetisches Phänomen zeigt sich heutzutage auch in der Präsenz von zumeist kanji aber auch katakana und hiragana auf Kleidung, Werbetafeln sowie auf der Haut in Form von Tattoos in Ländern mit Alphabetschrift. Dass es sich hierbei um rein schmückende Elemente handelt, offenbart sich dann, wenn diese Zeichen doch einmal ‚gelesen‘ werden; es handelt es sich dabei nicht selten um Namen von z.B. HühnerGerichten. Oft genug werden die Zeichen auch falsch herum gedruckt.
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Schrift-Präsenz Der Japanreisende am Beginn des 20. Jahrhunderts ist überwältigt von der allgegenwärtigen Präsenz der Schriftzeichen, die insbesondere nachts ihre verwirrende Wirkung entfalten: „Und ringsum wimmeln stets die gleichen phantastischen Ideogramme auf den Papierlaternen. [...] Dazu sind die Straßen von oben bis unten mit verwirrenden Schriftzeichen bedeckt. Pfähle mit Schriftzeichen, Täfelchen, Papierlaternen. [...] Der Abend kommt: die Straßen wimmeln von matt leuchtenden Papierlaternen und Miriaden verwirrender, rätselhafter Schriftzeichen, die erst lebendig werden, sobald die Lampen brennen.“ (Kellermann 1922, 7; 27; 28)
Diese Wahrnehmung findet sich bis in aktuelle Beschreibungen Reisender in Japan, wobei sich der Kontext der Schriftpräsentation, die Schreibflächen, zwar verändert haben, die Wirkung bleibt jedoch gleich: Waren es vorher Pfähle, Tafeln und insbesondere die „Papierlaternen“, auf denen sich die verwirrende Wirkung der Zeichen für die Betrachter entfaltete, sind es nun die Farben und das elektrische Licht, die als Kontext der Schriftpräsentation die „halluzierende“ Wirkung der Zeichen unterstützen und spiegeln: „Es gibt viele Beschreibungen von drogenartiger Verzückung, ästhetischer Überanstrengung, semantischer Verstörtheit, die Westler in einer Melange widersprüchlicher Gefühle erleben, wenn sie in der Nacht durch Tôkyôs neongrelle Geschäftsstraßen gehen. Wie exaltiert sich diese Schwärmereien auch lesen mögen, sie sind nicht übertrieben. Das silbenhafte Reich der Leuchtzeichen, die von oben nach unten und von rechts nach links dahinschweben, aber ebensogut von links nach rechts streben können, mischt nicht nur Kanji mit zwei aus diesen entwickelten phonetischen Silbenschriften (Hiragana, Katakana), sondern auch die Lateinumschrift des Japanischen (Romaji). Der halluzinierende Eindruck wird erst recht unwiderstehlich durch Dutzende Farbtöne und Hunderte Schrifttypen. Keine Stadt der Welt wirbt so wollüstig mit ihrem Text, kein Land setzt so verspielt und verschwenderisch seine Zeichen.“ (Schmitt 1999, 104f.)
Peter Pörtner (2002) weist auf die ubiquitäre Präsenz der Schrift in Japan hin und erläutert den Status der Schrift für die japanische Alltagskultur: „Man findet sie nicht nur in Büchern und auf Schildern, sondern auch auf Wänden, Steinen, Felsen. (Chris Marker sagt in seinem Film-Essay Sans soleil, daß man sich in Tôkyô nicht wie ein Beobachter fühlt, sondern wie jemand, der von den Zeichen, die ihn umgeben, ‚beobachtet wird‘.) Erst die Schrift ratifiziert, bezeugt, bestätigt die Vorhandenheit der Dinge. Die Schrift ist unverzichtbarer Bestandteil von Festen und Feiern, jedes Ritual verlangt nach Schrift.“ (Pörtner in: Wende (Hg.) 2002, 73f.)
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Gefährdungen In Max Brods bislang in der Forschung wenig beachteter Erzählung Abenteuer in Japan von 1938255 begibt sich der Protagonist, der jüdische Zuckerhändler Marcel Sichler, mit der Aussicht auf einen guten Handel nach Japan. Die dringende Bitte seines japanischen Geschäftspartners Nichikawa und eine aussichtslose Beziehung, in die Sichler tief verstrickt ist, veranlassen ihn, sich auf die Reise zu begeben. Der Protagonist ist von der unvertrauten Lebenswelt zunächst nicht sonderlich beeindruckt. In dieser Erzählung ist das erste explizit benannte Zeichen des Fremden die ‚fremde Schrift‘: „Weiße Prunkbauten mit griechischen Säulenreihen wechseln mit uralten Wällen und Kanälen. Die fremde Welt mit Millionen unverständlicher Schriftzeichen auf Emblemen, Fahnen, Bändern und Tafeln dringt nun selbst auf die zugemauerten Sinne Marcels übermächtig ein.“ (Brod 1938, 116)
Sichler begegnet in dieser Erzählung einer mystischen, dunklen Seite Japans, die in der Gestalt des Priesters Itai personifiziert ist. Itai ist Priester einer neuen nationalistischen Sekte in Japan, unter dessen Einfluss auch Nichikawa steht. Da Itai Sichler zu seinem ‚Auserwählten‘ auserkoren hat, nutzte Nichikawa das anvisierte Geschäft als Vorwand, um Sichler zu einer Reise nach Japan zu bewegen. Mehrere äußere Anzeichen scheinen zu bestätigen, dass Sichler eine Reinkarnation eines japanischen Volkshel_____________ 255 Renate Giacomuzzi-Putz spricht in diesem Zusammenhang gar von einem ‚vergessenen‘ Roman (vgl. dies. in: Gebhard (Hg.) 2003, 161). Max Brods Beziehung zu Japan und sein Wissen über die Kultur sind nicht genau einzuschätzen: Er hat das Land nie bereist, war jedoch, wie viele seiner Zeitgenossen, Teilnehmer am öffentlichen Diskurs über Japan, rezipierte den Japonismus in der Kunst (vgl. ebd., 173) und hat den Exotismus der Zeit, speziell die „Japanschwärmerei“, in dem Stück Die Höhe des Gefühls. Szenen, Verse, Tröstungen (1913) ironisierend thematisiert (vgl. Schuster 1977, 82). Seine Bekanntschaft mit dem Übersetzer von Lafcadio Hearns Japanische Geistergeschichten, Gustav Meyrink, der 1927 dem Mahajana-Buddhismus beitrat, sowie seine Rezeption weiterer Autoren, die sich in ihren Werken mit Japan beschäftigen (etwa Arno Holz, Heinrich Eduard Jacob u.a.), könnten hier von Bedeutung sein (vgl. dazu Giacomuzzi-Putz in: Nihon Universität Tokio (Hg.) 1998, 37-68; hier: 51ff. sowie dies. in: Gebhard (Hg.) 2003, 169-174). Giacomuzzi-Putz macht darauf aufmerksam, dass es in dem Roman weniger um Japan als viemehr um eine Reise zu sich selbst – mit autobiographischem Hintergrund – gehe. Die ‚Fremde Japan‘ wird hier zur Kulisse einer Reflexion über das Eigene. Dies spiegelt sich auf zwei Ebenen auch in der Darstellung Japans im Roman wider: Aufgrund der fehlenden eigenen Anschauung ist die Darstellung des Landes zwar um einen Bezug zur erlesenen Wirklichkeit bemüht, bleibt jedoch insgesamt eher ‚flächenhaft‘. Zudem ist das Theater bzw. Elemente des japanischen Theaters ein wichtiges Motiv in der Ausgestaltung der japanischen Figuren und des räumlichen Kontextes. Auch dies verweist auf eine Teilnahme Brods an dem zeitgenössischen literarischen Diskurs über Japan, in dem das japanische Theater eine außerordentlich große Rolle spielte (vgl. Kapitel 3.2.6 Die Fremde auf der Bühne).
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den und damit letztlich die Verkörperung Moses ist.256 Itai möchte gemeinsam mit Sichler die Juden und die Japaner vereinen, beides auserwählte Völker, um die Unordnung der Welt neu zu ordnen und ein Chaos zu verhindern. Sichlers Identitätslosigkeit, der nun eine (jüdische) Identität angeboten wird, seine Eitelkeit und einige Zufälle, die auch als Schicksal gedeutet werden können, führen dazu, dass Marcel Sichler sich diesem Gedanken nicht sofort verschließt.257 Erst die Begegnung mit einem jüdischen Lehrer, dessen Autorität und Lehre bei Sichler auf fruchtbaren Boden fallen, führt ihn zurück in seine eigene Realität und hilft ihm, die Aufgaben, die das Leben an ihn stellt, anzunehmen. Lisette Gebhardt (2000) vergleicht in ihrer Untersuchung diese Erzählung von Max Brod mit dem kurzen Roman von Heinrich Eduard Jacob (1889–1967) Jacqueline und die Japaner von 1926. Beide Erzählungen spiegeln – wenn auch auf sehr verschiedene Art und Weise – die europäischen Projektionen auf die ‚Fremde Japan‘, die geleitet sind von dem Bedürfnis der Epoche nach Okkultem, Geheimnisvollem, Magischem und vor allem Spirituellem:258 In Jacqueline und die Japaner mietet sich der japanische Professor Nakamura bei dem Künstlerehepaar Jaenicke in deren Berliner Wohnung ein. Nakamura verkörpert einen spirituellen Führer, der mit östlicher Weisheit und einer naturhaften Sensibilität Licht ins Dunkel bringt. Er verfügt über „Einfühlungsgabe ins kosmische Geschehen und die Fähigkeit zur Präcognition [...] eingebettet in die Größe der Leidensbewältigung der buddhistischen Philosophie.“ (Gebhardt in: Gebhard (Hg.) 2000, 211)259 Die Spiritualität in Brods Erzählung, die von Itai ausgeht, ist indessen gefährlich und verführerisch für den Europäer; sie droht, ihn zu hypnotisieren, mit geistiger Kraft zu binden und Macht über ihn zu gewinnen. Als Mittel dieser Hypnose dient auch die ‚fremde Schrift‘, die von Itai wie ein Orakel gelesen und die ihm von Nichikawa übersetzt wird: _____________ 256 Es gibt in Japan tatsächlich, sehr vereinzelt, die Vorstellung, dass die Japaner Abkömmlinge eines der verlorenen Stämme Israels seien; vgl. Crome 1988, 157; 174f. Die Sekte, die der Priester Itai im Roman führt („Hinomotokyo“), ist zudem nachweisbar (Hinomoto kyô); vgl. Gebhardt in: Gebhard (Hg.) 2000, 211 sowie Giacomuzzi-Putz in: Gebhard (Hg.) 2003, 176-178. 257 Außerdem war Sichler bereits in Paris in Kontakt mit spiritistischen und okkultistischen Kreisen; vgl. Brod 1938, 34. 258 Vgl. auch Reif 1975, 101-117. 259 Nakamura wird in der Erzählung zu einer „durch und durch edlen, pflanzengleichen Existenz, gleichsam zu einem ätherischen Wesen wie ein Blumengeist oder Elf“ (vgl. Gebhardt in: Gebhard (Hg.) 2000, 212). Zum Aspekte der Affinität zwischen Asien, Okkultismus, Verführung und ‚Weiblichkeit‘ in den beiden Erzählungen vgl. ebd.. Zum Roman von Jacob vgl. auch Fleischer in: Shichiji (Hg.) 1991, 474-480.
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„Er entnimmt seiner Aktenmappe ein Bündel dicker löschblattartiger Papiere, die immer wieder, wie ein Signum, Sonnenscheibe und Mond zeigen, im übrigen mit japanischen Schriftzeichen bedeckt sind. Schöner Schwung tanzender Geheimnisse. Rote und schwarze Pinselstriche schwirren vor Marcels Blicken. ›Hier –‹, schlägt der Vertreter auf, ›eine große Gefahr – zur See. Hier steht es ganz klar: zur See.‹“ (Brod 1938, 123)
Die Begegnung mit der ‚Fremde Japan‘ hält für den europäischen Reisenden also durchaus auch Gefahren und Abgründe bereit: „In diesem Zusammenhang ist es interessant festzustellen, daß sich das westliche Unbehagen immer dann einstellt, wenn zu befürchten steht, daß die Barrieren zu jenem ‚dunklen Seelenkontinent‘ zusammenstürzen: Der Europäer fürchtet um seine geistige Hygiene, die vom Asiatischen, Weiblichen, Hysterischen und Hypnotischen unterwandert zu werden droht.“ (Gebhardt in: Gebhard (Hg.) 2000, 222) Neben der Konzeption der ‚Fremde Japan‘ als Sehnsuchtsraum und neben der Ästhetisierung der Kultur als Kunstprodukt, findet sich in der exotisierenden Wahrnehmung Japans durch den Westen auch eine Mystifizierung, die in den Texten über die ‚Fremde Japan‘ ausgestaltet wird. Diese Mystifizierung findet ihren Ausdruck auffallend häufig über die Beschreibung und Funktionalisierung der ‚fremden Schrift‘. In der Mystifizierung der ‚Fremde Japan‘, die sich auch bei Bernhard Kellermann findet, und die auf die Konstruktion Japans als Geisterland durch Lafcadio Hearn zurückgeht (vgl. etwa dessen Werk In Ghostly Japan von 1899),260 wird Japan zu einem Geisterland, die Schrift wird zu einer Geisterschrift, die nur noch von den Einwohnern dieses geheimnisvollen Reichs gelesen werden kann: „Diese verwirrenden Reihen matter Papierlaternen mit den Hieroglyphen! Ist das nicht eine Stadt von Gespenstern, die Schriftzeichen eine Geisterschrift? (Kellermann 1922, 82). Eine Berührung mit dieser Seite Asiens ist nicht ungefährlich, fürchtete doch schon Georg Michaelis um seine geistige Gesundheit, falls er sich dem Studium der japanischen Schrift zuwenden sollte. Auch in aktuellen Äußerungen über die ‚fremde Schrift‘ wird ihre angeblich hypnotisierende Wirkung beschrieben, der der Europäer zu verfallen droht, falls er sich in die Betrachtung ihrer Gestalt verstrickt. Dieses ‚Starren‘ auf die ‚fremde Schrift‘ durchbricht die rationale Normalitätserwartung im Umgang mit Schrift und verunsichert, es gibt aber auch Raum für Kreativität und neue Erfahrungen.261 Bei diesem, von Aleida Assmann _____________ 260 Diese Konstruktion Hearns ist auch eine ästhetische, so reflektiert er etwa darüber, warum die japanische Naturdarstellung in den ukiyo-e auf den europäischen Betrachter so „gespenstisch“ wirkt: „But why does the thing seem so ghostly?“ (Hearn 1910, 139). 261 Dieser Aspekt wird, wie gezeigt werden konnte, insbesondere im literarischen und essayistischen Werk TAWADA Yokos gestaltet.
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mit „wilde Semiose“ bezeichneten Umgang mit Schrift, „handelt es sich um exotische, obsolete, pathologische Verfahren [...] Wilde Semiose bringt die Grundpfeiler der etablierten Zeichenordnung zum Einsturz, indem sie auf die Materialität des Zeichens adaptiert und die Präsenz der Welt wiederherstellt.“ (Assmann in: Gumbrecht; Pfeiffer (Hgg.) 1988, 239) Schlussendlich muss sich aber auch der Lesende, Dr. Konrad Feldt, von der hypnotisierenden Wirkung der Schrift sowie seinen exotisierenden Projektionen lösen und sich wieder der ‚Wirklichkeit‘ zuwenden: „Er holte eins der schön gebundenen Bücher aus dem Schrank und verspürte trotz der mißlichen Lage die Wirkung, die Schriftzeichen immer auf ihn ausübten. Die unentzifferbaren Seiten ließen ihn an Rätsel denken, an Zeilen des Tao Te King oder eine zenbuddhistische Weisheit. [...] Fröstelnd schob er das Buch zurück und entdeckte neben einem Stadtplan von Tokyo, dessen winzige scharfgestochene japanische und chinesische Zeichen ein unentdecktes Reich mit unzähligen Siegeln vor ihm zu verschließen schienen, endlich ein Telefon.“ (Roth 20002, 28f.)
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Zusammenfassung und bildungspragmatische Überlegungen „Jener Markt bietet dir nichts dar als den Anblick eines scheckichten, sinnverwirrenden Gewühls des in bedeutungsloser Tätigkeit bewegten Volks. Hoho, mein Freund, mir entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens, und mein Geist, ein wackerer Callot oder moderner Chodowiecki, entwirft eine Skizze nach der andern, deren Umrisse oft keck genug sind.“ 1 „Wenn die fiktionalen Welten so angenehm sind, warum dann nicht versuchen, auch die reale Welt so zu lesen, als sei sie ein Roman?“ 2
Auf den vorhergehenden Seiten war viel von tradierten (und resistenten) Topoi die Rede, und wenn man eine Arbeit über die ‚Fremde‘, die Wahrnehmung bzw. Erfahrung, Darstellung und Konstruktion der Fremde – welcher auch immer – schreibt, so ist auch folgende Aussage bereits topisch: Dass bei der Betrachtung der Darstellungen des Fremden mehr über das Eigene zu lernen sei als über das Andere; wobei dieser Topos zweifach zu deuten ist, einmal als eine Behauptung bzw. Tatsache, je nach Ansicht, und darüber hinaus noch als Anspruch bzw. Forderung. Die Tatsachenbehauptung basiert zunächst einmal auf der Grundannahme der Relationalität der Kategorie Fremdheit: Indem das Fremde nur in Relation zu einem Eigenen entworfen werden kann, da es als ontische Substanz gar nicht besteht, lässt sich aus den Entwürfen des Fremden das oft unbewusst als Eigenes Konstruierte erschließen. Hier, das sei noch kurz erwähnt, besteht die Gefahr, dass das Fremde nur als Erkenntnismittel im Rahmen von Selbstdefinitionen funktionalisiert wird; so lautet jedenfalls die oft geäußerte Kritik. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der aus der Sprachvermitteltheit von Erfahrungen resultiert. Sprache als Archiv, das Bedeutungen herstellt und diese für weitere Bedeutungskonstruktionen verfügbar macht, konstituiert das Fremde als Fremdes überhaupt erst, benennt, beschreibt und bewertet es. Sprache und sprachliche _____________ 1 2
Hoffmann, E.T.A.: Des Vetters Eckfenster. In: ders.: Späte Werke. Darmstadt 1979, 595-623, hier: 600. Eco 19992, 157.
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Bedeutung jedoch sind kulturell geprägt, historisch gewachsen und Ausdruck tradierter Erfahrungen, Ordnungssysteme und Weltbilder. In der Sprache, mit der das Andere als Fremdes benannt wird und mit der über das Fremde gesprochen wird, spiegeln sich mithin eher die eigenkulturellen Traditionen des Sprechens über den/das Andere/n als eine wie auch immer geartete Wirklichkeit des Anderen. Worin besteht nun der Anspruch oder die Forderung, dass bei der Betrachtung der Darstellungen des Fremden mehr über das Eigene zu lernen sei? Die Begegnung mit dem Anderen/Fremden kann einmal als konkrete Begegnung stattfinden, sie kann aber auch vermittelt, als Begegnung mit medialen Formen der Konstruktion von Bildern über eine andere Kultur – hier: Texten – stattfinden. Texten über die Anderen, über die Fremde, wird in öffentlichen Bildungs- und Lernsituationen interkulturelles Potential zugesprochen, sie werden als Kommunikations- und Lernangebote in pädagogische Handlungsfelder eingebracht. In aktuellen Reflexionen und Konzeptionen interkultureller Lern- und Verstehensprozesse wird nun die Forderung erhoben, dass immer zunächst am Eigenen, an der eigenen Kultur und nicht am Anderen, Fremden angesetzt werden soll (an dem, wenn die o.a. Tatsachenbehauptung stimmt, ja auch gar nicht angesetzt werden kann). Dies sei notwendig, da nur die größere Vertrautheit mit dem Eigenen den Weg zu einer etwaigen größeren Vertrautheit mit dem Anderen ebnet: Subjekte müssen nach dieser Sichtweise zunächst die eigene kulturelle Geprägtheit (als kulturelle Auffassung von Normalität oder Selbstverständlichkeiten) erfahren und erkennen sowie Einsichten in die eigene kulturelle Genese erlangen, damit diese oft diffusen und nicht bewussten Handlungsvoraussetzungen zu bewussten und reflektierten Elementen unseres sozialen Handelns und unserer Interaktionen werden können. Erst dies wird uns – so die Grundannahme – zu einer flexibleren Form des Umgangs mit dem/n Anderen befähigen sowie Offenheit und Bereitschaft wecken, zu lernen und verstehen. In der vorliegenden Arbeit wurden Konstruktionen des Fremden exemplarisch anhand von Texten über die ‚Fremde Japan‘ untersucht. Dabei stand nicht die japanische Kultur und ihre angemessene oder unangemessene Darstellung durch die Schreibenden im Mittelpunkt des Interesses. Die Frage war vielmehr, was geschieht, wenn eine konkrete Begegnung mit einer anderen Kultur unter bestimmten historischen, diskursiven und gattungsobligatorischen Bedingungen in Sprache und Schrift transformiert wird. Dabei wurde davon ausgegangen, dass bereits die Wahrnehmung und Erfahrung der Kultur durch individuelle und kollektive Archive, also nicht zuletzt durch Sprache, vorstrukturiert ist. Der Prozess der Bedeutungskonstruktion oder der Interpretation der Erfahrung in und durch Sprache wird in den gewählten Strukturen der
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Verschriftlichung (allgemein narrative Strukturen, darüber hinaus genrespezifische Strukturen) noch fortgesetzt. Subjekte erzeugen in der Verschriftlichung – und, wie manche meinen, auch bereits in der Wahrnehmung – imaginäre Objekte und Bilder, sie transferieren etwas in etwas anderes. Sie bringen Ordnung in vielleicht neue und verwirrende Wahrnehmungen und Erfahrungen, indem sie diese in eine ihnen vertraute Welt einordnen: Sie überführen das, was ihnen begegnet, im Prozess der Verschriftlichung in eine vertraute kulturelle Form, in vertraute Muster und Genres und versehen es mit vertrauten Worten und Bildern (zu denen auch der immer sehr beredte Unsagbarkeits- und der Unverstehbarkeitstopos gehören) – sprachliche Gestaltung als Form und Archiv der Bemächtigung. Die jeweils gewählten Muster und Genres prägen das Schreiben, indem sie in Form und Funktion die Traditionen und den konventionalisierten Rahmen des Schreibens (als Bedingung des Aussagens) bereitstellen. Durch den Prozess der Verschriftlichung von Erfahrungen mit und in einer anderen Kultur, die in dem hier untersuchten Fall als Fremde konstruiert und angeeignet wird, wird diese Fremde dann auch den Lesenden zugänglich. Die Rezipienten/innen transferieren die imaginären, in Sprache und Schrift materialisierten Bilder im bedeutungskonstruierenden Prozess des Lesens wiederum in etwas anderes. Im Leseprozess verlebendigen sich die sprachlich konstituierten Konstruktionen der Schreibenden wiederum als ‚Erfahrungen über das Fremde und mit dem Fremden‘. Innerhalb dieser Prozesse entsteht die ‚Fremde Japan‘ immer aufs Neue – im historisch fortlaufenden, vorstrukturierten Prozess der konkreten sinnlichen Wahrnehmung und Erfahrung, im Prozess der Verschriftlichung dieser Erfahrung sowie im fortlaufenden Prozess des Erlesens der vermittelten Bilder. Erfahren, verschriftlicht und erlesen wird jeweils die ‚Fremde Japan‘, die dann relativ unabhängig von einer wie auch immer gearteten kulturellen Realität Japans existiert. Im Verlauf der vorangegangenen Ausführungen wurden einige an diesem Prozess beteiligte Grundelemente exemplarisch genauer untersucht, wobei die Verschriftlichung als verfügbare Materialisation stets den Ausgangspunkt der Überlegungen bildete. Drei Aspekte konstituierten dabei die der Arbeit zugrunde liegende Denkfigur: Zunächst richtete sich der Blick auf eine Person und ihr Werk. Anhand dreier ausgewählter Texte Bernhard Kellermanns, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstanden, konnten zum einen dominante Tradierungen sowie eine Weiterführung der Traditionen des Schreibens über die ‚Fremde Japan‘ als Sehnsuchtsraum aufgezeigt und kontextualisiert werden. Zum anderen konnten durch die Vielfalt der Formen des Schreibens im japanbezogenen Werk Kellermanns verschiedenste genrespezifische
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Musterbildungen und die damit verbundenen Darstellungsstrategien und Funktionen in den Blick genommen werden. Für die Lesenden bietet jedes einzelne dieser Werke eine Vielzahl an Angeboten für mögliche Gebrauchsweisen, die auf vielfältige Weise genutzt werden können. Daran anschließend wurde noch einmal eine spezifische Form, die Gattung Brief in einer bestimmten historischen Situation, genauer fokussiert. Als Untersuchungsmaterial dienten private Briefe aus der Fremde in die Heimat, geschrieben von Menschen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts für einige Zeit in Japan lebten und arbeiteten. Im Rahmen des Mediums ‚privater Brief‘ gewinnt eine andere ‚Fremde Japan‘ Gestalt als in den öffentlichen Formen des Schreibens, da die Funktionen des Schreibens deutlich andere sind. Das Medium prägt das Mediatisierte in sehr spezifischer Weise: Das ‚Ich‘ und das ‚Ich und Du‘ als dominante Bezugspunkte des Schreibens bestimmen die Hierarchie der Mitteilung und die Modifikation der Darstellungstraditionen. Auch die Fremdheitskonstruktion vollzieht sich unter anderen Prämissen, da sie in den untersuchten Briefen nicht mehr der exotistischen Konstruktion eines Sehnsuchtsraums dient, sondern u.a. durch die Notwendigkeit der Beschwörung der Zugehörigkeit zu einem als Eigen empfundenen kulturellen Raum und einer unangefochtenen eigenen kulturellen Identität motiviert ist. Abschließend richtete sich der Fokus noch einmal auf das Phänomen Sprache, indem die Komponenten Lesen und Schrift als inhaltliche Elemente in den verschiedensten Texten und Textformen analysiert wurden. In diesem Zusammenhang wurde der Blick auch auf aktuelle Texte, die in den letzten Jahren des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts entstanden, erweitert. Dabei konnte gezeigt werden, dass diese beiden Komponenten, Lesen und Schrift, obgleich sie zunächst recht unterschiedliche Funktionen innerhalb der Gestaltung erfüllen, letztlich wieder auf den zentralen Topos hinführen, der jeder Verschriftlichung über Erfahrungen mit und in der ‚Fremde Japan‘ zugrunde liegt: den Topos der Unverstehbarkeit, der konstitutiv für die Konstruktion der Fremde ist. Der Metaphernkomplex ‚Die Fremde lesen‘ beinhaltet neben den Dimensionen des Sinnverlangens und des Zeichenbedarfs, der Verstehensversuche und der Bedeutungszuweisung ebenso Dimensionen der Verrätselung und der Konstatierung der ‚Unlesbarkeit‘. In Bezug auf die Darstellung der ‚fremden Schrift‘ konnte gezeigt werden, dass ihr, ganz gleich ob sie in den Texten als Medium der Mitteilung, als ästhetisches oder als mystifizierendes Element beschrieben und funktionalisiert wird, als letztlich unlesbar eine feste Funktion innerhalb der Konstruktion Japans als das ‚ganz Andere‘ zugewiesen wird. Der tradierte Topos der Unverstehbarkeit der ‚Fremde Japan‘ wird in aktuelleren Texten in dem Topos der Unlesbarkeit weitergetragen; diesem
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ist jedoch nun, als Spiegel aktuellerer Theoriedebatten, auch der Anspruch immanent, die ‚Unlesbarkeit‘ als solche zu akzeptieren: In dem Begriff bildet sich die Konstruktion eines Erfahrungsmodus ab, der sich vorschnellen Bedeutungszuschreibungen und Kohärenzbehauptungen verschließt und der die damit einhergehende Assimilation des Anderen, Fremden zurückweist. Dabei verschiebt sich der Fokus der Darstellung und der Reflexion vom Verstehensgegenstand auf den Verstehensprozess. Diese Verschiebung bleibt jedoch oberflächlich. Nach wie vor ist in den Texten die Provokation ablesbar, die eine sich dem intuitiven Verstehen entziehende ‚Fremde Japan‘ für die Schreibenden darstellt; sie ist darüber hinaus auch konstitutiv und notwendig für die Texte: Damit die Fremde, hier die ‚Fremde Japan‘, überhaupt entstehen kann, muss jedes Verstehen notwendig scheitern, es muss als Illusion, als unmöglich oder als Irrtum gekennzeichnet werden – oder eben als etwas, das gar nicht erst anstrebenswert ist oder sein darf. So unterläuft auch dieser Topos die (wenn auch fiktive) Möglichkeit von Vertrautheit, die sich zumindest schreibend und lesend auf einer imaginierten Verstehensbasis einstellen könnte; und dies gehört wesentlich zur Konstruktion und Inszenierung der Fremde in Texten hinzu. Abschließend soll noch einmal der auf der Tatsachenbehauptung basierende Anspruch aufgegriffen und danach gefragt werden, was denn bei einer Untersuchung über Konstruktionen der Fremde in Texten über das Eigene zu lernen sei. Zunächst einmal zeigt sie dies: Dass und wie die Fremde im Prozess des Schreibens und Lesens erst konstruiert, in Texten verfügbar gemacht und im Rezeptionsprozess erneut hergestellt wird. Die Strukturen, in denen diese Konstruktionen sich vollziehen, dürfen dabei nicht ignoriert werden. Erst eine genauere Betrachtung der Tradierungen und Musterbildungen auf inhaltlicher und formaler Ebene kann Aufschluss geben über die Genese und Generierung kollektiver Wahrnehmungsmuster und Vorstellungen, und dies bedeutet letztlich ein Vertrautwerden mit der eigenen Kultur und Geschichte. Die bildungspragmatische Relevanz der Untersuchung liegt darüber hinaus vielleicht auch darin, dass sie die Erkenntnis der Textvermitteltheit von Erfahrungen anschaulich macht: Mediale Darstellungen stellen Muster für konkrete Begegnungen bereit, indem sie Schemata zur Verfügung stellen, anhand derer wir die verwirrenden Erfahrungen ordnen und beherrschen können (zumindest die Verwirrung ist nicht unvertraut, da sie bereits vorformuliert ist). Insofern machen uns die Erzählungen die Dinge erst zugänglich, indem sie sie in unseren Wahrnehmungsbereich rücken, sie ordnen, und indem wir ihnen Aufmerksamkeit und Interesse entgegenbringen. Diese Muster müssen jedoch als solche erkannt werden, denn sie sind es in erster Linie, denen wir in den Texten begegnen. Richtet sich der Blick auf dieses Eige-
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ne, auf die Tradierungen, Strukturen und Muster der Darstellung, dann können auch etwaige Erkenntnisbarrieren wie Stereotype, rassistische Grundgestimmtheiten oder auch Topoi, wie der von der Unverstehbarkeit, die uns in der konkreten Begegnung mit Anderen im Weg stehen können, als solche erkannt werden. Ob dies allein den Weg zum Verstehen oder zur größeren Vertrautheit mit den/m Anderen ebenen kann, soll und kann hier nicht entschieden werden; dass es jedoch eine der Grundvoraussetzungen dafür bildet, soll immerhin behauptet werden.
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 311, 319 Heinrichs, Hans-Jürgen 58, 78, 155, 158, 161, 202 Hentig, Hartmut von 47f. Herder, Johann Gottfried 176, 289, 294 Heuvers, Hermann 10 Hoffmann, E.T.A. 340 Hofmannsthal, Hugo von 73 Holz, Arno 336 Hübner, Joseph Alexander Freiherr von 209 Jacob, Heinrich Eduard 336f. Jones, Susanna 88, 245 Kaempfer, Engelbert 2, 10, 97f. Kapuściński, Ryszard 38f., 46, 299 KATÔ Shûichi 272, 298f. Keith, Jan 299 Kellermann, Bernhard 14–17, 40–148, 207, 227, 238, 245, 258, 273, 275 326, 334f., 338, 342 Keyserling, Hermann Graf 31f. Kipling, Rudyard 45, 78, 83, 165, 171, 198f., 212, 246–248 Kircher, Athanasius 314, 326 Kjærstadt, Jan 274 Lavater, Johann Caspar 260 Lichtenberg, Georg Christoph 261, 269 Lindau, Rudolf 160 Long, John Luther 117 Loti, Pierre 14, 60, 117 Malinowski, Bronislaw 19, 240–242, 245–251 MATSUMURA Jinzo 161, 173, 184, 192, 203, 216 Meyrink, Gustav 336 Michaelis, Georg 18, 161–168, 171, 183, 191–193, 199f., 209, 211-216, 318f., 338 MORI Ôgai 118, 177f., 204 Mosse, Albert 18, 26, 161f., 164–168, 171, 185f., 194, 198–200, 203, 208, 211, 214
39 2 Mosse, Lina 18, 26, 161f., 165–167, 171, 191f., 194f., 199, 214, 217f. Murray, John 73 Muschg, Adolf 80, 112, 115, 238, 273f. Neustadt, Arthur 43, 94 Nooteboom, Cees 78, 82, 269, 270, 272, 274, 287, 309, 333f. Paquet, Alfons 154 Reichart, Elisabeth 245, 275, 308 Rein, Johannes Justus 209 Rosenthal-Bonin, Hugo 160, 320 Roth, Gerhard 19, 47, 219–237, 240, 243, 245, 251f., 262f., 271, 277, 283, 327f., 330, 339 Schedel, Joseph 209 Schickele, René 52 Schmitt, Uwe 2f., 10, 44, 117, 226f., 270, 275–277, 316, 335 Schultze, Emma 18, 153, 161, 168f., 171, 186f., 189, 192, 194, 196–198 200f., 209, 217, 329 Schultze, Wilhelm 18, 161, 168f., 171, 197, 199 Segalen, Victor 31, 54, 60, 99 Siebold, Philipp Franz von 10
Register
Sieburg, Friedrich 43f., 65, 153f., 262, 287 Spieß, Gustav 64 Spinner, Wilfried 167, 212f. Stratz, Carl Heinrich 113 Swift, Jonathan 63 Taut, Bruno 252 TAWADA Yoko 45, 91, 255, 259f., 263, 266, 277f., 300, 304f., 307, 311, 313, 326, 330–333, 338 Thunberg, Karl Peter 10 Tucholsky, Kurt 64 Visser, Suzanne 91, 245 Wackwitz, Stephan 68, 174, 251, 261, 266, 277 Walser, Karl 40, 55, 69, 82, 101, 118–120 Walser, Robert 118f. Weber, A. R. [?] 165 Weber, Max 3, 267 Widmer, Urs 88 Wilde, Oscar 78 Wildhagen, Eduard 205 Zweig, Stefan 44, 73