Springer-Lehrbuch
Friedrich Breyer • Wolfgang Buchholz
Ökonomie des Sozialstaats
Mit 59 Abbildungen und 13 Tabellen
123
Professor Dr. Friedrich Breyer Universität Konstanz 78457 Konstanz
[email protected] Professor Dr. Wolfgang Buchholz Universität Regensburg 93053 Regensburg
[email protected]
ISBN-10 3-540-40939-4 Springer Berlin Heidelberg New York ISBN-13 978-3-540-40939-7 Springer Berlin Heidelberg New York
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Vorwort
Der Sozialstaat nimmt in Deutschland wie in vielen anderen Industriestaaten ca. 30% der Wirtschaftskraft in Anspruch. Damit ist er nicht nur der groBte Sektor der Volkswirtschaft, sondern seine Gestaltung steht auch seit Jahren im Zentrum der politischen Debatten in unserem Land. Zudem sind die normativen Grundlagen des Sozialstaats und seine Auswirkungen auf die Markte seit Jahrzehnten Gegenstand okonomischer Analysen. Dennoch existiert bis heute kein deutsches Lehrbuch, das die Okonomie des Sozialstaats auf einem wirtschaftstheoretisch gesicherten Fundament darstellt. Diese Lticke versucht das vorliegende Werk zu schlieBen. Es soil als Grundlage fur Lehrveranstaltungen dienen, die die Theorie der Sozialpolitik im fortgeschrittenen Teil eines Diplom- oder Bachelor-Studiums oder im Master-Studium der Volkswirtschaftslehre behandeln. Der vorliegende Text ist aus Vorlesungen hervorgegangen, die die Autoren an den Universitaten Konstanz und Regensburg gehalten haben. Er hat von zahlreichen Diskussionen mit unseren fruheren und jetzigen Mitarbeitern an beiden Universitaten erheblich profitiert. Besonderen Anteil an seinem Gelingen hatten Prof. Dr. Mathias Kifmann (Universitaten Konstanz und Augsburg), Dr. Eva Ackstaller, Julian Doenecke und Andreas Graichen (Universitat Regensburg), Normann Lorenz, Stefan Hupfeld, Nick Netzer (Universitat Konstanz) sowie Florian Scheuer (Konstanz und MIT). Wertvolle Verbesserungsvorschlage erhielten wir auch von Herrn PD Dr. Robert Fenge (ifo Mtinchen) sowie von unseren Studenten, fur die stellvertretend Peter Klisch (Konstanz) genannt sei. Das Manuskript und die Grafiken wurden von Mila Bohm, Frauke Kurth (Regensburg) und Gundula Hadjiani (Konstanz) kompetent erstellt, die Endredaktion haben Melanie Zabel und Oliver Kniittel (Konstanz) mit groBer Sorgfalt durchgefuhrt. Etwaige verbliebene Mangel sind in vollem Umfang den Autoren anzulasten. Konstanz und Regensburg, im September 2006 Friedrich Breyer
Wolfgang Buchholz
Inhaltsverzeichnis
lEinleitung 1 1.1 Soziale Sicherung als Teil der Staatsaufgaben: Versuch einer Einordnung. 1 1.2 Begriff, Grundprinzipien und Instrumente der Sozialpolitik 2 1.2.1 Der Begriff Sozialpolitik 2 1.2.2 Gestaltungsprinzipien der Sozialpolitik 3 1.2.3 Instrumente der Sozialpolitik 4 1.3 Der quantitative Umfang der Sozialpolitik in Deutschland 5 1.3.1 Status Quo und Entwicklungstendenzen 5 1.3.2 Fundamentalkrise des Sozialstaates 8 1.4 Elemente einer Theorie der Sozialpolitik 9 1.4.1 Normative Rechtfertigungen der Sozialpolitik 9 1.4.2 Positive Erklarungen uber das Zustandekommen von Sozialpolitik ..10 1.5 Der Aufbau des Buches 11 1.6 Literatur 12 2 Gleichheit und Gerechtigkeit 13 2.1 Vorbemerkung: Die positive Wahrnehmung von Gleichheit im Alltagsdenken 13 2.2 Die Messung von Ungleichheit 14 2.2.1 Das Transferprinzip von Dalton und das Lorenzkurven-Kriterium.... 14 2.2.2 Absolute vs. relative Gleichheit bei Einkommensanderungen 18 2.2.3 Aggregierte UngleichheitsmaBe 19 2.2.3.1 Der Variationskoeffizient 20 2.2.3.2 Der Gini-Koeffizient 21 2.3 Gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktionen 23 2.3.1 Utilitaristische Wohlfahrtsmnktion 23 2.3.2 Ungleichheitsaversion 25 2.3.3 Die Messung von Ungleichheit mit Hilfe des Atkinson-MaBes 29 2.4 Okonomische Einwande gegen eine gleichheitsorientierte Umverteilung.31 2.4.1 Normative Fragwiirdigkeit des Gleichheitsziels 31 2.4.2 Die Unbestimmtheit des Bezugspunkts fur UmverteilungsmaBnahmen 33 2.4.2.1 Nutzen als ZielgroBe 33 2.4.2.2 Einkommen als ZielgroBe 34 2.4.2.3 Vermogen als ZielgroBe 36 2.4.2.4 Chancen als ZielgroBe 36
VIII
Inhaltsverzeichnis
2.4.3 Okonomische Grenzen der Umverteilung 37 2.4.3.1 Unvollkommene Information 38 2.4.3.2 Zusatzlasten 42 2.5 Bekampfung von Armut als alternatives verteilungspolitisches Ziel... 46 2.5.1 Armutskriterien..... 46 2.5.2 Numerische Armutsindikatoren 48 2.5.3 Empirische Befunde 49 2.5.3.1 Armut in Deutschland 49 2.5.3.2 Armut weltweit 51 2.6 Ubungsaufgaben 53 2.7 Literatur .. ....55 3 Effizienzorientierte Begrundungen fur Umverteilung 3.1 Spezielle Praferenzen der Individuen 3.1.1 Altruismus 3.1.1.1 Der Fall eines einzelnen Geber-Individuums 3.1.1.2 Der Fall mehrerer Geber-Individuen: Das Gefangenen-Dilemma...., 3.1.1.3 Der optimale kooperative Transfer 3.1.1.4 Andere Strukturen des Spenden-Spiels 3.1.2 Statusorientierung 3.2 Die Versicherungsfunktion des Staates 3.2.1 Das Problem 3.2.2 Wohlfahrtserhohung durch Umverteilung bei Risiko: Das Grundmodell 3.2.3 Der Zusammenhang mit dem klassischen Utilitarismus und der Gerechtigkeitstheorie von Rawls 3.2.4 Die Theorie des Wohlfahrtsstaates von Hans-Werner Sinn: Wohlfahrtsgewinne durch erhohte Risikoubernahme 3.2.4.1 Das Modell 3.2.4.2 Der Domar-Musgrave-Effekt 3.2.4.3 Die Wirkung eines Umverteilungsmechanismus 3.2.4.4 Das Redistributionsparadoxon von Sinn 3.3 Verbesserung der Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft 3.3.1 Verminderung kontrollbedingter Ineffizienzen 3.3.2 Verbesserter Schutz von Eigentumsrechten 3.3.3 Erhohung der individuellen Produktivitat 3.4 Allgemeine Einschatzung der effizienzorientierten Ansatze 3.5 Ubungsaufgaben 3.6 Literatur
57 57 57 57 59 61 62 63 67 67 68 70 72 72 74 76 78 80 80 84 85 86 88 90
4 Effizienzgriinde fur die Existenz einer Sozialversicherung 93 4.1 Der erste Hauptsatz der Wohlfahrtsokonomik .....93 4.2 Adverse Selektion auf Versichemngsmarkten 94 4.2.1 Das Versicherungsmarktgleichgewicht unter idealen Bedingungen.. 94
Inhaltsverzeichnis
IX
4.2.2 Mogliche Versicherungsmarkt-Gleichgewichte bei asymmetrischer Information 98 4.2.3 Mogliche Trennlosungen 100 4.2.4 Staatliche Eingriffe zur Allokationsverbesserung 102 .4.2.5 Einanderes Konzept von Yersicherungsmarktgleichgewichten 104 4.2.6 Asymmetrische Information als Konsequenz staatlicher Regulierung..... 105 .4.3 Verhaltensrisiko auf Versicherungsmarkten. 106 4.3.1 Versicherungsnachfrage: Der Fall symmetrischer Information 106 4.3.2 Versicherungsnachfrage: Der Fall asymmetrischer Information 108 4.4 Schlussfolgerungen fur Sozialversicherung bei „Versagen" von Versicherungsmarkten... 110 4.5Ubungsaufgaben..... Ill 4.6Literatur 112 5 Rentenversicherung.. 5.1 Einleitung 5.2 Das Alterssicherungssystem in Deutschland .... 5.2.1 Die Gesetzliche Rentenversicherung 5.2.2 Die „Riester-Rente". 5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems 5.3.1 Die beiden Grundtypen von Alterssicherungssystemen 5.3.1.1 Das Kapitaldeckungsverfahren (KDV) 5.3.1.2 Das Umlageverfahren (UV) 5.3.2 Wohlfahrtsvergleiche zwischen Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren 5.3.2.1 Die kleine offene Volkswirtschaft 5.3.2.2 Die geschlossene Volkswirtschaft 5.3.2.3 Weitere Uberlegungen zur Reform des Finanzierungsverfahrens 5.4 Die Begriindung von staatlichem Zwang in der Alterssicherung 5.4.1 Haufig vorgebrachte Begriindungen 5.4.2 Altersvorsorge und intergenerativer Altruismus 5.4.2.1 Das Grundmodell 5.4.2.2 Versicherungszwang und Arbeitsanreize 5.5 Rentenversicherung und Bildungsinvestitionen 5.6 Rentenversicherung und Renteneintritt 5.6.1 Einleitung 5.6.2 Versicherungsmathematische Aquivalenz 5.6.3 Keine versicherungsmathematische Aquivalenz 5.7 Rentenversicherung in der Demokratie 5.7.1 Ein Grundmodell 5.7.1.1 Modellannahmen 5.7.1.2 Analyse des Wahlerverhaltens 5.7.1.3 DasErgebnis der Abstimmung 5.7.1.4 Komparative Statik des Abstimmungsergebnisses
113 113 115 115 118 119 119 119 121 125 125 133 ....143 148 148 149 150 155 159 161 161 164 169 174 174 174 177 180 181
X
Inhaltsverzeichnis 5.7.1.5 Das Abstimmungsergebnis in einer Gerontokratie 182 5.7.2 Modellerweiterungen 184 5.7.2.1 Eine Klassifikation der Modelle der Politischen Okonomie.... 184 5.7.2.2 Modelle der intragenerativen Umverteilung 185 5.8 Ubungsaufgaben 188 5.9Literatur 191
6 Krankenversicherung 193 6.1 Griinde fur Staatseingriffe 193 6.1.1 Spezieller Altruismus und das Prinzip der Chancengleichheit 193 6.1.2 Spezielle Eigenschaften von Gesundheitsgiitern 194 6.1.3 Die Relevanz adverser Selektion fur Krankenversicherungsmarkte 198 6.1.4 Das Pramienrisiko als Motiv fur Staatseingriffe im Bereich von Krankenversicherungen 199 6.1.5 Die Sozialhilfe als Ursache fur Allokationsversagen auf dem Markt fur private Krankenversicherungen 204 6.2 Probleme bei der Ausgestalrung von Vertragen im Gesundheitsbereich .210 6.2.1 Moral-Hazard-Phanomene 211 6.2.1.1 Die beidenTypen des Moral Hazard 211 6.2.1.2 Formen der Kostenbeteiligung der Patienten 212 6.2.2 Angebotsinduzierte Nachfrage 217 6.2.3 Okonomische Anreize bei verschiedenen Entlohnungsschemata fur Leistungsanbieter 221 6.3 Alternative Formen der staatlichen Regulierung des Krankenversicherungsbereichs... 224 6.3.1 Grundlegende Optionen der Gesundheitspolitik: Pflichtversicherung oder staatliche Pramienzuschusse? 225 6.3.2 Finanzierungsalternativen fur das Gesundheitssystem 228 6.3.2.1 Die allokativen Nachteile lohnbezogener Beitrage 228 6.3.2.2 Das Kopf-Pauschalen-Modell 234 6.4 Gesundheitssysteme in der Praxis 239 6.4.1 Das Gesundheitswesen in Deutschland 239 6.4.1.1 Versichertenstruktur und Beitragsbemessung 239 6.4.1.2 Leistungsumfang 241 6.4.1.3 Organisationsstruktur der GKV 241 6.4.1.4 Formen der Honorierung medizinischer Leistungen im RahmenderGKV 243 6.4.1.5 Okonomische Anreize auf Patientenebene 246 6.4.2 Das Gesundheitssystem in den USA 247 6.5 Ubungsaufgaben 249 6.6 Literatur 252 7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung 7.1 Einleirung , 7.2 Das System der sozialen Sicherung fur Arbeitslose in Deutschland 7.2.1 Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld I)
255 255 257 257
Inhaltsverzeichnis
XI
7.2.1.1 Die Versicherten 257 7.2.1.2 Anwartschaftszeit und Bezugsdauer 257 7.2.1.3 Hohe der Anspruche 258 7.2.2 Das System der Grundsicherung (Arbeitslosengeld II) 258 7.2.2.1 Anspruchsvoraussetzungen 258 7.2.2.2 Leistungen 258 7.2.2.3 Hinzuverdienstregelungen und zu beriicksichtigendes Vermogen. 258 7.2.3 Ausgaben der Bundesrepublik Deutschland fur Arbeitslose 259 7.3 Private oder staatliche Arbeitslosenversicherung: Modellanalyse 259 7.3.1 Modellannahmen 259 7.3.2 Das Wettbewerbsgleichgewicht 260 7.3.3 Staatlich oder gewerkschaftlich gesetzter Mindestlohn 261 7.3.4 Die optimale Kombination aus Mindestlohn und Arbeitslosenversicherung 262 7.3.5 Dezentralisierung tiber eine private Arbeitslosenversicherung 264 7.3.6 Folgerungen fur die Organisation der Arbeitslosenversicherung 265 7.4 Sektorale oder zentrale Arbeitslosenversicherung? 266 7.4.1 Sektorale Arbeitslosenversicherung 267 7.4.2 Zentrale Arbeitslosenversicherung 267 7.5 Grundsicherung fur Arbeitsfahige 270 7.5.1 Die Begriindung fur ein staatlich garantiertes Existenzminimum ....270 7.5.2 Effekte der klassischen Sozialhilfe auf den Arbeitsmarkt 271 7.5.3 Effekte der negativen Einkommensteuer 274 7.5.4 Zur Berechnung des Anspruchslohns 277 7.6 Ubungsaufgaben 280 7.7Literatur 281 8 Familienpolitik 8.1 Einleitung 8.2 Familienlastenausgleich und Gerechtigkeit 8.3 Familienlastenausgleich und Effizienz 8.3.1 Das Problem der optimalen BevolkerungsgroBe 8.3.2 Endogene Fertilitat und intergenerative Transfers 8.3.2.1 IndividuelleFertilitatsentscheidungen 8.3.2.2 Institutionen und ihre Anreizwirkung 8.3.2.3 Vergleich der Instrumente 8.3.2.4 Schlussfolgerungen 8.4 Instrumente der kollektiven Finanzierung der Kinderbetreuung 8.5 Ubungsaufgaben 8.6Literatur
283 283 284 285 285 287 287 289 292 293 294 297 298
9 Zukunftsprobleme des deutschen Sozialsystems 9.1 Einleitung 9.2 Herausforderung Arbeitslosigkeit 9.3 Herausforderung demographischer Wandel
299 299 299 301
XII
Inhaltsverzeichnis 9.3.1 Ursachen und Indikatoren des demographischen Wandels 9.3.2 Reformbedarf in der Sozialen Sicherung auf Grund des demographischen Wandels..... 9.3.2.1 Reformbedarf in der Rentenversicherung 9.3.2.2 Reformbedarf in der gesetzlichen Krankenversicherung 9.4Literatur
Sachverzeichnis
301 306 306 314 321 323
1 Einleitung
1.1 Soziale Sicherung als Teil der Staatsaufgaben: Versuch einer Einordnimg In Deutschland wie in nahezu alien entwickelten Landern besteht in der Bevolkerung weitgehende Ubereinstimmung im Hinblick darauf, dass der Staat eine soziale Verantwortung tragt, der er durch entsprechende sozialpolitische MaBnahmen nachzukommen hat. Nach allgemeinem Verstandnis gilt der Sozialstaat auch heute noch als etwas Positives, wahrend die Etikettierung eines politischen Reformvorschlages als „unsozial" fast schon einem Totschlagsargument gleichkommt. Dieser Konsens tiber die prinzipielle Wtinschbarkeit sozialstaatlicher Aktivitaten verdeckt aber die erheblichen Unterschiede in den Auffassungen dariiber, was tiberhaupt unter Sozialpolitik zu verstehen ist und wie weit diese reichen sollte. Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese diffuse Wahrnehmung des Problemfeldes hochst unbefriedigend, weil auf einer solchen Basis weder aussagekraftige Analysen noch eine seriose wirtschaftspolitische Beratung moglich sind. Um zu einem besseren Verstandnis der sozialen Aufgaben des Staates zu gelangen, ist deshalb zunachst eine Begriffsklarung erforderlich, bei der das Handlungsfeld des Sozialstaates in allgemeine okonomische Zusammenhange eingebettet und dabei insbesondere vor dem Hintergrund des Marktsystems erfasst wird. Der Ausgangspunkt fur die Charakterisierung und Motivation sozialpolitischer MaBnahmen besteht dann in der Feststellung, dass der Marktprozess in manchen Situationen zu Verteilungseffekten fuhren kann, die aus bestimmten Griinden als nicht akzeptabel angesehen werden. Die Sozialpolitik lasst sich aus dieser Perspektive dann als Unterform der Verteilungspolitik begreifen. Je nach Standpunkt des Betrachters auBert sich diese distributive Unzulanglichkeit des Marktes in ganz verschiedener Weise: So herrscht bei vielen die Auffassung, dass die vom Markt sowohl auf weltweiter als auch auf nationaler Ebene zustande gebrachte Einkommensverteilung zu ungleich und damit „ungerecht" sei, was nur durch staatliche Umverteilungspolitik von oben nach unten behoben werden konne. Zudem wird vielfach beklagt, dass in Marktbeziehungen Abhangigkeiten entstehen und verfestigt werden konnen. Dadurch werde eine „Aiisbeutung" der Schwacheren moglich, die somit des sozialen Schutzes etwa durch das Arbeits- oder das Mietrecht bedtirften. Von besonderer Bedeutung fur die Rechtfertigung der zentralen Teile der Sozialpolitik ist schlieBlich die Feststellung, dass unter bestimmten Bedingungen die Individuen tiberhaupt nicht in der Lage sind, das zur Sicherung ihres Grundbedarfs
2
1 Einleitung
notige Einkommen tatsachlich am Markt zu erzielen. Individuen konnen etwa alt werden oder behindert sein und damit zu wenig produktiv sein, urn ihren Lebensunterhalt durch Erwerbseinkommen bestreiten zu konnen. Sie konnen krank und damit arbeitsunfahig werden oder aufgrund unzulanglicher Qualiflkation oder ungtinstiger wirtschaftlieher Entwicklung ihren Arbeitsplatz verlieren - oder erst gar keinen bekommen. In besonderen Lebenslagen wie einer mit hohen Behandlungskosten verbundenen schweren Erkrankung oder im Falle der Pflegebediirftigkeit kommt es sogar zu einem zusatzlichen Bedarf, der die Finanzierungsmoglichkeiten auch des Durchschnittsverdieners vielfach weit tibersteigt. Gerade im Hinblick auf solche Notlagen mit extrem hohen Kosten der Existenzsicherung besteht breiter Konsens tiber die Notwendigkeit sozialer Schutzvorkehrungen, die von unserem Sozialstaat auch im Wesentlichen gewahrt werden. Ein besonderer Bedarf ergibt sich nach weitgehender Auffassung insbesondere auch dann, wenn aus einem am Markt erworbenen Einkommen auch andere Personen ohne ausreichendes eigenes Markteinkommen wie in erster Linie die eigenen Kinder mitversorgt werden miissen. Aus diesem Grund gilt traditionellerweise die Familienforderung als wichtiges Teilgebiet der Sozialpolitik. Wer die Notwendigkeit der Bereitstellung dieser Sicherungsleistungen durch den Staat - und damit letztlich durch Ausiibung von Zwang gegeniiber alien Biirgern - rechtfertigen mochte, muss allerdings auch nachweisen, dass private Organisationen und Markte diese Funktion nicht ubernehmen konnen. Fur viele Lebensrisiken, etwa das Risiko des vorzeitigen Todes oder auch das Risiko der Krankheitskosten, haben sich jedoch bereits seit einem Jahrhundert oder langer Versicherungsmarkte etabliert, auf denen der Einzelne Sicherungsleistungen in Form von Versicherungsvertragen durch Zahlung von Pramien erwerben kann. In Anbetracht der Existenz dieser Markte ist daher zu begrtinden, in wiefern sie „unvollkommen" sind und moglicherweise zu einer ineffizienten Risikoallokation fuhren. Gelingt es, dies zu zeigen, so hat man neben den oben genannten distributiven Argumenten auch Effizienzgriinde gefunden, die fur die Existenz staatlicher Pflichtversicherungen sprechen.
1.2 Begriff, Grundprinzipien und Instrumente der Sozialpolitik 1.2.1 Der Begriff Sozialpolitik In der Literatur fehlt es nicht an Definitionen des Begriffs der Sozialpolitik. So definieren Lampert und Althammer (2005) Sozialpolitik als „politisches Handeln, das darauf gerichtet ist, a. die wirtschaftliche und soziale Stellung von wirtschaftlich und/oder sozial absolut oder relativ schwachen Personenmehrheiten im Sinne der in einer Gesellschaft verfolgten gesellschaftlichen und sozialen Grundziele (freie Entfaltung der Personlichkeit, soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, Gleichbehandlung) zu verbessern,
1.2 Begriff, Grundprinzipien und Instrumente der Sozialpolitik
3
b. die wirtschaftliche undsoziale Stellung von solchen Personenmehrheiten fur den Fall des Eintritts existenzgefdhrdender Risiken zu sichern, die nicht fur sich selbst Vorsorge treffen konnen ".
Man sieht also, dass Sozialpolitik vor allem durch ihre Funktionen defmiert wird, namlich durch a. Umverteilung, b. Versicherung gegen existenzgefahrdende Risiken. Diese Zielsetzungen korrespondieren mit einer weiteren Einteilung, die verschiedene Bereiche der Sozialpolitik gegeneinander abgrenzt, namlich 1. Fursorge-, Sozialhilfe-, und Familienpolitik: Steuerfmanzierte staatliche Transfers an bestimmte Bevolkerungsgruppen, 2. Soziale Sicherung: Beitragsfinanzierte Versicherungen mit Zwangsmitgliedschaft, teilweise mit impliziter Umverteilung zwischen den Versicherten. 1.2.2 Gestaltungsprinzipien der Sozialpolitik Hier kann man zunachst einige allgemeine Gestaltungsprinzipien voneinander unterscheiden, namlich 1. das Versicherungsprinzip und konkreter: das Aquivalenzprinzip Unter einer Versicherung versteht man die „gegenseitige Deckung zufalligen schatzbaren Geldbedarfs zahlreicher gleichartig bedrohter Wirtschaften", es geht also um die Abdeckung eines Risikos. Angewendet auf die Sozialpolitik, besagt das Versicherungsprinzip allgemein, dass ein Leistungsanspruch im Fall des Eintretens eines Schadensereignisses (z.B. Arbeitslosigkeit) durch eine vorherige Beitragszahlung erworben wird. In seiner Konkretisierung besagt das Aquivalenzprinzip, dass die Beitrage so kalkuliert werden, dass sie dem Erwartungswert der vom Versicherungsnehmer zu beanspruchenden Leistungen entsprechen. Nach dem Aquivalenzprinzip erfolgt also in der Ex-ante-Betrachtung keine Umverteilung von Einkommen zwischen verschiedenen Gruppen von Versicherten. 2. das Versorgungsprinzip oder Fiirsorgeprinzip Unter Versorgung versteht man offentliche Sach- oder Geldleistungen, auf die der Empfanger einen Rechtsanspruch hat, aber nicht aufgrund einer eigenen Beitragszahlung, sondern aufgrund anderer Voraussetzungen. Zu denken ist hierbei etwa an die Gewahrung von Kindergeld an alle Eltern. Fursorge bedeutet demgegentiber die Gewahrung offentlicher Sach- oder Geldleistungen in einer Notlage nach Bedurftigkeit, ohne dass eine eigene Beitragszahlung des Betroffenen dem vorausgegangen ist. Beispiele hierflir sind das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld. In der Bundesrepublik Deutschland besteht auch auf Ftirsorgeleistungen ein Rechtsanspruch, aber nur „dem Grunde nach". Art und Hohe der Leistungen werden von den Behorden nach Wiirdigung der Besonderheiten der Lage des Betroffenen festgelegt.
4
1 Einleitung
1,2.3 Instrumente der Sozialpolitik Neben den eher abstrakten Grundprinzipien kann man auch danach fragen, wie die Leistungen der Sozialen Sicherung konkret organisiert sind. Man unterscheidet hierbei die „Organisationsprinzipien" oder „Instrumente" der Sozialen Sicherung nach den folgenden Kriterien: 1. Freiwilligkeit versus Zwang Nach dem Kriterium des AusmaBes von Zwang, der auf die Betroffenen ausgetibt wird, kann man drei verschiedene Stufen unterscheiden: a. Abwesenheit von Zwang: Den von einem Risiko Bedrohten wird es (iberlassen, ob und mit wem sie einen Versicherungsvertrag abschlieBen. Beispiele hierfur sind das Risiko des Verlustes von Eigentum (Sachversicherungen), das Risiko des vorzeitigen Todes (Lebensversicherung), das Risiko der Krankheitskosten bei Besserverdienenden (private Krankenversicherung). b. Versicherungspflicht: Die von einem Risiko Bedrohten werden verpflichtet, Versicherungsschutz in einem gesetzlich bestimmten (Mindest-)Umfang bei einem Versicherungsanbieter ihrer Wahl abzuschlieBen. In Deutschland finden wir dieses AusmaB von Zwang u.a. bei dem Krankheitskostenrisiko (gesetzliche Krankenversicherung mit Kassenwahl), dem Haftpflichtrisiko eines Pkw-Halters (Kfz-Haftpflichtversicherung) c. Pflichtversicherung: Die von einem Risiko Bedrohten werden gezwungen, Versicherungsschutz in einem bestimmen Umfang von einem bestimmten Anbieter abzuschlieBen. Beispiele fur dieses hochste MaB von Zwang sind das Risiko der Langlebigkeit (gesetzliche Rentenversicherung), das Risiko des Berufsunfalls (gesetzliche Unfallversicherung). 2. Privatrechtliche, offentlich-rechtliche oder staatliche Organisation Die Tatsache, dass der Gesetzgeber den Burger zwingt, eine bestimmte Versicherung abzuschlieBen, bedeutet noch lange nicht, dass der Staat selber diese Versicherung anbietet. Vielmehr kann man nach diesem zusatzlichen Kriterium drei verschiedene Organisationsformen fmden: a. privatrechtliche Organisation: Versicherungsanbieter sind private Unter• nehmen, b. offentlich-rechtliche Organisation: Versicherungstrager sind Korperschaften offentlichen Rechts. Damit konnen sie vom Gesetzgeber verpflichtet werden, hoheitliche Aufgaben zu ubernehmen, gleichzeitig aber eine Selbstverwaltung besitzen. c. Staatliche Organisation: Versicherungstrager ist eine staatliche Behorde wie der National Health Service in GroBbritannien.
1.3 Der quantitative Umfang der Sozialpolitik in Deutschland 3.
5
Finanzierungsverfahren
Bei einer Reihe von Lebensrisiken handelt es sich um Schadensereignisse, die in verstarktem MaBe, wenn nicht ausschlieBlich, im hoheren Lebensalter auftreten. Im ersten Fall ist an Krankheit und Pflegebedurftigkeit zu denken, im zweiten Fall an das Risiko unerwarteter Langlebigkeit. In beiden Fallen gibt es zwei unterschiedliche Wege, die Leistungen zu finanzieren, namlich a. das Kapitaldeckungsverfahren (KDV): Flir jede Kohorte von Versicherten wird aus deren Beitragszahlungen eine Deckungskapital aufgebaut, aus dessen Ertragen (und dessen Auflosung) die Versicherungsleistungen fur diese Versicherten vollstandig fmanziert werden. Das KDV entspricht dem Prinzip der kollektiven Vorsorge. (Individuelle Vorsorge ist bereits bei Anwendung des Versicherungsprinzips gewahrleistet.) b. das Umlageverfahren (UV): Die Beitragszahlungen einer Periode (eines Jahres) werden dazu verwendet, die Versicherungsanspriiche zu finanzieren, die im gleichen Jahr anfallen. Der Versicherungstrager hat zu jedem Zeitpunkt ein Deckungskapital von null. Er halt lediglich eine Liquiditatsreserve in bescheidener Hohe, um bei kurzfristigen Schwankungen des Beitragsaufkommens oder der Leistungsanspruche keine teuren Kassenkredite aumehmen zu mtissen.
1.3 Der quantitative Umfang der Sozialpolitik in Deutschland 1.3.1 Status Quo und Entwicklungstendenzen Zur Einstimmung betrachten wir zunachst einige Zahlen, welche die in der Realitat hohe quantitative Bedeutung der staatlichen Umverteilungsaktivitaten belegen. In amtlichen Statistiken werden Sozialleistungen als besonderer Posten ausgewiesen. Wenn man diesen zum Bruttosozialprodukt in Relation setzt, ergibt sich die Sozialleistungsquote. Diese soil das AusmaB der sozialstaatlichen Aktivitaten in einer Volkswirtschaft messen. In Deutschland erreicht die Sozialleistungsquote zurzeit einen Wert von ungefahr V3, d.h. jeder dritte in E)eutschland erwirtschaftete Euro flieBt in Sozialleistungen. Der genaue Wert der Sozialleistungsquote betrug im Jahr 2003 34,7 %, die Sozialleistungen insgesamt beliefen sich dabei auf ungefahr 694 Mrd. Euro. Die Sozialleistungsquote ist aber nicht nur hoch, sie hat im Zeitablauf auch stark zugenommen. Dies gilt zumindest fur einen langeren Zeitraum, wie die folgende Tabelle 1-1 zeigt. Tabelle 1-1: Die Entwicklung der Sozialleistungsquote in Deutschland (in %) 1965 22,5
1970 25,1
1975 31,6
1980 30,6
1985 30,0
1990 27,8
1995 31,1
2000 31,8
2001 31,9
2002 32,4
2003 34,7
Quelle: Bundesministerium fur Gesundheit und Soziale Sicherung (2005), Tabelle 7.2
6
1 Einleitung
Allerdings fallt auch auf, dass die Sozialleistungsquote schon im Jahr 1975 einen Wert von 31,6 % erreicht hatte und zwischenzeitlich nur in einem einzigen Jahr, namlich 1990, mit 27,8 % wieder deutlich unter 30 % lag. An dieser Zeitreihe wird damit auch klar, dass die in Deutschland relativ hohe Sozialquote keineswegs nur ein Phanomen der allerjiingsten Vergangenheit darstellt. Im internationalen Vergleich liegt die Sozialleistungsquote Deutschlands im oberen Mittelfeld. Unter den EU-Staaten weisen auch Belgien, Danemark, Frankreich, die Niederlande, Finnland und Schweden Sozialleistungsquoten von iiber 30 % auf. Nur in einem Land der EU (namlich Irland) liegt sie unter 20 %. Eine erhebliche Steigerung der Sozialleistungsquote in den ersten 15-20 Jahren nach dem 2. Weltkrieg war im Ubrigen in fast alien Industriestaaten zu beobachten. Wie sich die Sozialleistungen in Deutschland fur das Jahr 2002 auf die einzelnen Bereiche aufschliisseln lassen, zeigt die folgende Abbildung: Leistungen nach Institutionen
5%
\ \_Arbeitsf6rderung 10%
Abb. 1-1: Aufschltisselung des deutschen Sozialbudgets 2002 (723 Mrd. DM) (Quelle: Statistisches Bundesamt 2004, S. 203) bea.: Steuerliche Mafinahmen und Familienleistungsausgleich sind indirekte Leistungen, sonstige Posten: direkte Leistungen. GroBter Unterposten bei Fursorgesysteme: Sozialhilfe mit einem Anteil von 3,7 % am gesamten Sozialbudget. Den dicksten Brocken an den gesamten Sozialleistungen macht die Gesetzliche Rentenversicherung mit 32,2% aus. Auf die Krankenversicherung entfallen 19,5%, auf die Arbeitsforderung 9,8% und auf die (1995 neu eingefuhrte) Pflegeversicherung 2,4%. Diese Zweige des sozialen Sicherungssystems werden durch Beitrage fmanziert, wobei fur die meisten Versicherten, namlich die Arbeitneh-
1.3 Der quantitative Umfang der Sozialpolitik in Deutschland
7
mer, die Beitragshohe proportional zum Lohneinkommen ist und die Halfte des Beitrags vom Arbeitgeber bezahlt werden muss. Der Gesamtbeitragssatz fur diese vier Zweige der gesetzlichen Sozialversicherung hat im Lauf der Zeit stark zugenommen. Im Zeitraum von 1970 - 2003 stieg der Beitragssatz der Gesetzlichen Rentenversicherung von 17,0% auf 19,5%, der Beitragssatz der Gesetzlichen Krankenversicherung im Durchschnitt von 8,2% auf 14,3%> und der der Arbeitslosenversicherung sogar von 1,3% auf 6,5%. Der Beitragssatz der 1995 eingefuhrten Pflegeversicherung betragt zurzeit 1,7%. Tabelle 1-2: Sozialversicherungsbeitrage in Prozent des Bruttoarbeitsentgelts (gesamt) 1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2001
2003
Quelle: Lampert und Althammer (2005), S.244 Anders als bei der Sozialleistungsquote kam es hier auch in den letzten 25 Jahren zu einem erheblichen Anstieg. Von 30,5 % im Jahre 1975 hat sich der Anteil des Sozialversicherungsbeitrags am Bruttoarbeitsentgelt auf (im Durchschnitt) 42 % im Jahr 2003 erhoht (siehe Tabelle 1-2). Weil die Sozialversicherungsbeitrage scheinbar wie eine Lohnsteuer wirken und den Produktionsfaktor Arbeit verteuern, wird gerade in diesem Anstieg ein zentrales Problem speziell des deutschen Sozialsystems gesehen. Die steuerfmanzierte Sozialhilfe, die eine Grundabsicherung gegen ein unspezifisches Verarmungsrisiko gewahrt, bleibt im Hinblick auf ihr Ausgabenniveau gegentiber den beitragsfinanzierten Zweigen der Sozialversicherung eher bescheiden. Am gesamten Sozialbudget hat sie nur einen Anteil von knapp 4 %. Allerdings hat sich dieser Anteil in den vergangenen 30 Jahren fast verdoppelt. Trotz dieser Steigerung besteht weiterhin ein Armutsrisiko. Zum Beispiel mussten sich 1998 laut des Armuts- und Reichtumsberichts ungefahr 10% der Bevolkerung mit weniger als 50 % des Durchschnittseinkommens begntigen. Worin besteht nun das gemeinsame Element dieser verschiedenen Teilsysteme der sozialen Sicherung? Vereinfacht ausgedrtickt, fuhren diese sozialen Aktivitaten des Staates dazu, dass einem Teil der Burger durch staatlichen Zwang etwas genommen wird, um es anderen (in Form von Geld- oder Sachleistungen) zu geben. Es erfolgt also - zumindest in der zeitpunktbezogenen Betrachtung - eine Umverteilung, je nach dem betrachteten Sozialsystem von Reichen zu Armen, von Jungen zu Alten, von Gesunden zu Kranken, von Beschaftigten zu Arbeitslosen. Man kann jedoch nach dem Anlass der Umverteilung zwei Zweige des Sozialstaats unterscheiden: 1. Transfers an wirtschaftlich Schwache, 2. Soziale Sicherung gegen elementare Lebensrisiken. Im ersten Fall organisiert der Staat die Umverteilung mit dem Ziel der Vermeidung von Armut bei Personen, die sich in einer zumeist schicksalsbedingten Notlage befmden und nicht selbst flir ihren Lebensunterhalt sorgen konnen. Die Personenkreise der Transferempfanger und der Finanziers lassen sich hier klar
8
1 Einleitung
gegeneinander abgrenzen. Im zweiten Fall ist der Staat der Trager oder Initiator einer Versicherung gegen Risiken, denen prinzipiell jeder Burger ausgesetzt ist (Krankheit, Pflegebedlirftigkeit, Arbeitslosigkeit, Langlebigkeit) und fur die private Versicherungen entweder nicht angeboten werden oder aus bestimmten Griinden nicht optimal zu funktionieren scheinen. Hier ist jeder in den jeweiligen Zweig des sozialen Sicherungssystems einbezogene Burger sowohl Beitragszahler als auch (potenzieller) Leistungsempfanger, das heiBt erst in der Ex-postBetrachtung sieht etwas wie eine Umverteilung aus, was ex ante gar keine ist, weil namlich jeder flir seinen Beitrag die gleiche Gegenleistung in Form eines Leistungsanspruchs im „Schadensfall" erhalt.
1.3.2 Fundamentalkrise des Sozialstaates Die Sozialsysteme in Deutschland waren seit ihrem Bestehen permanenten Anderungen unterworfen. An der Reformdebatte der vergangenen Jahre ist aber grundsatzlich neu und anders, dass die meisten der an dieser Debatte beteiligten Politiker und Wissenschaftler von einer Fundamentalkrise des deutschen Sozialstaats ausgehen. Dessen Totalumbau - und das heiBt in sehr vielen Fallen „Ruckbau" erscheint unumganglich, um den ansonsten langerfristig drohenden Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme zu vermeiden. Fiir diese bedrohlich erscheinende Lage werden vor allem die folgenden Ursachen angefuhrt: 1. die demografische Entwicklung, d.h. die schon jetzt einsetzende und sich in Zukunft erheblich verstarkende Alterung der Gesellschaft durch reduzierte Geburtenraten und einem Anstieg der Lebenserwartung. Dies fuhrt zu verstarkten Belastungen der „Jungen" aufgrund steigender Ausgaben fur die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, so dass die Herstellung von Generationengerechtigkeit mittlerweile fur viele als herausragendes verteilungspolitisches Ziel gilt, 2. die „Globalisierung", die den Sozialstaat sowohl auf der Einnahme- wie auch auf der Ausgabenseite zu bedrohen scheint. Kapital als besonders mobiler Produktionsfaktor wird bevorzugt in die Lander flieBen, in denen die Lohnkosten niedrig sind und die Kapitalertrage nur gering belastet werden. Lohnabhangige Beitrage als zentraler Bestandteil der Finanzierung des Sozialsystems gelten aus dieser Perspektive als erheblicher Nachteil im internationalen Standortwettbewerb. Aber nicht nur das Kapital, sondern auch die Individuen sind mobil. Befurchtet wird etwa, dass durch „Armutsmigration" nach Deutschland (aus Entwicklungs- und Schwellenlandern) der deutsche Sozialstaat ausgebeutet und auf Dauer ausgehohlt werden konnte. 3. die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit als eines der dringendsten politischen Probleme in Deutschland, die von vielen Experten auch als Folge einer zu weit gehenden sozialen Absicherung gesehen wird. Es wird befurchtet, dass sich Deutschland in einer Art „Sozialstaatsfalle" befmdet, die zu folgendem Teufelskreis fuhrt: Die hohen Kosten des Sozialstaats und insbesondere der Arbeitslosigkeit erzeugen negative Beschaftigungseffekte, die dadurch resul-
1.4 Elemente einer Theorie der Sozialpolitik
9
tierende hohere Arbeitslosigkeit wiederum zieht eine Erhohung der Sozialausgaben nach sich usw.
1.4 Elemente einer Theorie der Sozialpolitik Die Theorie der Sozialpolitik lasst sich in einen normativen und einen positiven Zweig aufgliedern: 1.4.1 Normative Rechtfertigungen der Sozialpolitik Jeglicher staatlicher Zwang kann aus okonomischer Sicht entweder allokativ oder distributiv gerechtfertigt werden: 1. allokativ: auf Versicherungsmarkten liegt Marktversagen vor. Hierbei ist allerdings zu zeigen, dass staatliche Eingriffe eine Pareto-Verbesserung herbeiftihren konnen. 2. distributiv: Markte sorgen nicht fur eine gerechte Verteilung von Chancen und Einkommen: Gerechtigkeit ist zu definieren, und es ist nach geeigneten Institutionen zur Erreichung von mehr Gerechtigkeit zu suchen. Die genaue Diskussion der verschiedenen Begriindungsmuster wird im Zentrum dieses Buches stehen. Daher sollen an dieser Stelle die einzelnen Argumente nur angedeutet, jedoch nicht ausfuhrlich besprochen werden. Den grofleren Urnfang dabei die allokativen Begriindungen einnehmen. Marktversagen wird in verschiedener Hinsicht behauptet: 1. Versicherungsmarkte versagen, da manche der hier relevanten Risiken nicht versicherbar sind: Es liegen verbundene, d.h. positiv korrelierte, bzw. systemische Risiken vor (konjunkturelle Arbeitslosigkeit, medizinischer Fortschritt in der Krankheitskostenversicherung). 2. Versicherungsmarkte versagen wegen asymmetrischer Information liber Risiken („Market for Lemons"): Versicherte konnen ihre Schadenswahrscheinlichkeit besser einschatzen als der Versicherer, Damit kann ftir gute Risiken kein risikoaquivalenter Vertrag mit voller Risikodeckung Bestand haben. 3. Versicherungsmarkte versagen wegen Verhaltensrisikos („Moral Hazard"), d.h. geringerer Vorsicht bei Bestehen eines Versicherungsschutzes. 4. Versicherungsmarkte versagen dort, wo die rentabelste Art der Absicherung ein „Vertrag" zwischen den Generationen ist, der bilateral nicht justiziabel ist. 5. Das Angebot privater Versicherungsvertrage gentigt nicht, wenn Individuen aus mangelnder Voraussicht keinen abschlieBen. Junge Individuen miissen im eigenen Interesse und gegen ihre kurzfristigen Praferenzen zu verniinfligem Verhalten gezwungen werden. Eine langfristig angelegte Versicherung gilt aus dieser Perspektive als meritorisches Gut).
10
1 Einleitung
Das Angebot privater Versicherungsvertrage gentigt nicht, wenn Individuen in unteren Einkommensbereichen keine Versicherung abschlieBen, weil sie darauf vertrauen, im Notfall von der Gesellschaft aufgefangen zu werden und in diesem Sinne als Trittbrettfahrer handeln. In der Gesellschaft besteht Altruismus (von Reichen gegentlber Armen). Private Unterstutzungszahlungen fallen jedoch wegen ihres KollektivgutCharakters zu gering aus. Daher ist staatlicher Zwang wohlfahrtserhohend. 1.4.2 Positive Erklarungen iiber das Zustandekommen von Sozialpolitik Anders als bei den normativen Theorien geht es hierbei nicht um die Rechtfertigung, sondern lediglich um die Erklarung, warum bestimmte sozialpolitische MaBnahmen in Demokratien zu Stande kommen. Dabei unterscheiden sich die einzelnen Erklarungsansatze darin, wie detailliert die demokratischen Institutionen und ihre Funktionsmechanismen beriicksichtigt werden. Im einfachsten Fall („direkte Demokratie") unterstellt man, dass liber konkrete sozialpolitische MaBnahmen unter den Burgern in Referenden abgestimmt wird. Dabei spielen folgende Grande fur die Erklarung bestimmter MaBnahmen eine Rolle: 1. Jegliche Umverteilung ist in einer Demokratie mehrheitsfahig, falls das Medianeinkommen geringer ist als das Durchschnittseinkommen und die Effizienzverluste nicht so groB sind, dass sie aus der Sicht des Medianwahlers den Umverteilungseffekt kompensieren. 2. Auch Nettozahler akzeptieren die mit der Sozialpolitik verbundenen Transfers, da sie im Gegenzug den sozialen Frieden erkaufen. Dieser ist wichtig, damit der Markt seine Produktivitat voll entfalten kann. 3. Teile der Transferlasten innerhalb der Sozialversicherung (z.B. der Bundeszuschuss zur Gesetzlichen Rentenversicherung) werden „vom Staat" getragen, und die Wahler nehmen sie weniger deutlich wahr („fiskalische Illusion"). 4. Bei intergenerativen Transfers kann sich eine Mehrheit der Wahler als Gewinner fiihlen, solange Vertrauen in den Fortbestand des Systems herrscht Potentielle Verlierer finden sich allenfalls unter den zuktinftigen Generationen, die heute noch nicht wahlberechtigt sind. Im Rahmen einer reprasentativen Demokratie kommen folgende Gesichtspunkte hinzu: 5. Im politischen Prozess sind die einzelnen Wahlergruppen nicht immer gemaB ihrer GroBe reprasentiert, sondern auch gemaB ihrer Organisierbarkeit. Gut organisierte Interessengruppen wie die Arbeitnehmer konnen dann einen uberproportionalen Einfluss ausuben. 6. Die Sozialversicherungsbtirokratie hat ein Interesse daran zu uberleben und versorgt Politiker und Bevolkerung mit einseitigen Informationen iiber die
1.5 Der Aufbau des Buches
11
Leistungsfahigkeit des Systems, so dass das System groBer ist, als es bei rationaler Entscheidung der Wahler unter vollkommener Information ware.
1.5 Der Aufbau des Buches Wir wollen uns im ersten Schritt (Teil I) deshalb tiberlegen, welche okonomischen Grtinde auf allgemeiner theoretischer Ebene flir staatliche Umverteilungsmafinahmen im engeren Sinne sprechen konnen. Vielfach wird der Sozialstaat z. T. recht pauschal mit Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und dem Wunsch nach einer gleichmaBigeren Verteilung von Lebenschancen zu begriinden und zu verteidigen versucht. Es soil deshalb erortert werden, was aus okonomischer und teilweise auch sozialphilosophischer Sicht hinter derartigen Argumenten steckt. Dabei werden Gerechtigkeitsgrlinde (Kapitel 2) und Effizienzgrunde (Kapitel 3) fur Umverteilung unter schieden. Im zweiten Schritt (Teil II) soil dann das System der Sozialen Sicherung sowie seine unterschiedlichen Teilsysteme naher analysiert werden. Auch dabei werden wir uns zunachst mit der Frage beschaftigen, was iiberhaupt flir die staatliche Bereitstellung von Versicherungsleistungen spricht (Kapitel 4). Im Anschluss daran wird untersucht, ob und in welchem Umfang speziell in Einzelbereichen der Sozialen Sicherung (bei der Altersvorsorge: Kapitel 5, bei der Krankenversicherung: Kapitel 6, bei der sozialen Grundabsicherung und der fmanziellen Absicherung gegen Arbeitslosigkeit: Kapitel 7) sowie bei der Unterstiitzung von Familien (Kapitel 8) staatliche Eingriffe erforderlich sind. Fur praktische Anwendungen bedeutsam ist insbesondere die Diskussion der Frage nach der aus okonomischer Sicht addquaten Ausgestaltung staatlicher Mafinahrnen in diesen verschiedenen Bereichen der sozialen Sicherung. Damit einher geht eine Bestandsaufhahme und Beurteilung der in Deutschland existierenden Regelungen sowie eine Abschatzung des Reformbedarfs. So wird etwa gefragt, inwieweit • die Ausgliederung der „reinen" Einkommensumverteilung aus der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung sinnvoll und moglich ist und zu einer Effizienzsteigerung und damit eventuell zu einer wirksamen Kostendampfung im Gesundheitswesen beitragen kann. Taugt das Modell Schweiz (mit seinen „Kopfpauschalen") auch flir Deutschland? • die Schaffiing einer zweiten kapitalgedeckten Saule im System der Alterssicherung („Riester-Rente") die Renten dauerhaft zu sichern vermag und inwieweit zusatzliche MaBnahmen wie die Einfuhrung eines demografischen Faktors oder die Erhohung des Renteneintrittsalters zur nachhaltigen Sicherung des deutschen Rentensystems erforderlich sind. • die Sozialhilfe reformiert werden muss, damit auch flir die unteren Lohngruppen gentigend Anreize zur Aufhahme einer legalen Beschaftigung bestehen. Mit den Zukunftsperspektiven, die der Sozialstaat in Deutschland angesichts all dieser Bedrohungen (noch) hat, wollen wir uns am Schluss des Buches (Kapitel 9) auseinandersetzen.
12
1 Einleitung
1.6 Literatur Bundesministerium ftir Gesundheit und Soziale Sicherung (2005), Statistisches Taschenbuch 2005. Arbeits- und Sozialstatistik, Bonn. Lampert, H. und J. Althammer (2005), Lehrbuch der Sozialpolitik, Berlin u.a.: Springer. Statistisches Bundesamt (2004), Statistisches Jahrbuch fur die Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart: Kohlhammer.
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
2.1 Vorbemerkung: Die positive Wahrnehmung von Gleichheit im Alltagsdenken Auf einer eher gefuhlsmaBigen Ebene und bei vordergrundigen Betrachtung gilt „Gleichheit" als etwas prinzipiell Gutes. Auch bei vielen Okonomen herrscht eine implizite Vorliebe fur mehr Gleichheit, die allerdings im Lauf der Zeit erheblich zuruckgegangen ist. Allgemein besteht auch heute noch der Wunsch nach einer „gerechten" Gesellschaft, in der die okonomische Ungleichheit nicht allzu groB ist. Hinter dem Gleichheitsziel stehen ethisch-moralische Motive, die vielfach allerdings ziemlich unreflektiert bleiben. Es diirften in erster Linie die folgenden Griinde sein, die im Alltagsdenken Gleichheit als etwas Positives erscheinen lassen: • Menschen sind als Angehorige der gleichen biologischen Gattung in ihren physischen und intellektuellen Fahigkeiten nicht allzu verschieden. Der Unterschied der Spezies Mensch zu alien tierischen Gattungen ist enorm. Angesichts dieser naturlichen Gleichheit der Menschen erscheint eine zu groBe okonomische Ungleichheit als nicht begrtindbar und ungerecht. Der Wunsch nach Gleichheit erhalt dann einen moralischen Eigenwert. Die Gleichheit vor dem Gesetz und bei der politischen Partizipation (one (wo)man - one vote), wie sie in alien demokratischen Staaten gilt, wird ohnehin allgemein akzeptiert. Daraus folgern manche, dass konsequenterweise Gleichheit auch im okonomischen Bereich anzustreben sei, • Zudem wird angefiihrt, dass Gleichheit positive Wesensziige der Menschen, wie Hilfsbereitschaft und Achtung vor anderen („Bruderlichkeit") begtinstige, wahrend Ungleichheit negative Wesensziige wie Neid, Statusdenken und Entsolidarisierung fordere. Die unterprivilegierten Individuen verloren Selbstwertgefiihl und Selbstachtung, was als nicht hinnehmbar erscheine. SchlieBlich ist Ungleichheit oft zufallsbedingt und Reichtum oft unverdient. Warum sollte ein Zustand akzeptiert werden, fur den es selber keine ethisch uberzeugenden Rechtfertigungsgrunde gibt? Die systematische Erorterung dieser Griinde, die vielfach hinter Forderungen nach einer Korrektur der vom Marktprozess zustande gebrachten Verteilungsergebnisse stecken, wiirde ein tieferes Eindringen in die philosophische Ethik und der dort vertretenen egalitaristischen Positionen erfordern und damit den Rahmen dieses Buches uberschreiten (vgl. hierzu aber Kersting, 2000, und Krebs, 2001).
14
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
Wir konzentrieren wis im Folgenden auf okonomische Ansatze und Argumente in der Gleichheitsdebatte. Dabei beschreiben wir im Abschnitt 2.2 zunachst die gangigen Konzepte zur Messung von Ungleichheit gegebener Verteilungsprofile. Im Abschnitt 2.3 wird der traditionelle okonomische Ansatz zur Begriindung von Verteilungszielen prasentiert, bei dem eine Bewertung von Verteilungsprofilen durch Wohlfahrtsfunktionen erfolgt. In 2.4 werden dann die zentralen von Okonomen vorgebrachten Einwande gegen gleichheitsorientierte Verteilungsziele behandelt. Die Bekampfung der Armut als alternatives verteilungspolitisches Ziel ist schlieBlich Gegenstand von Abschnitt 2.5.
2.2 Die Messung von Ungleichheit 2.2.1 Das Transferprinzip von Dalton und das Lorenzkurven-Kriterium Selbst in relativ einfachen Situationen lasst sich nicht unmittelbar und in eindeutiger Weise beurteilen, welche von zwei Verteilungen als „ungleicher" gelten sollte, Dies zeigt z.B. im Fall von sechs Individuen der Vergleich der beiden Einkommensprofile (1,1,1,1,1,45) und (1,4,6,8,10,21), bei denen der zu verteilende Gesamtbetrag beide Male 50 betragt. Im ersten Einkommensprofil haben ftinf der sechs Individuen zwar ein identisches Einkommensniveau, beim Einkommen des sechsten Individuums zeigt sich jedoch ein erheblicher AusreiBer nach oben. Im zweiten Einkommensprofil hingegen weisen alle Individuen ein unterschiedliches Einkommen auf, daftir ist der Abstand zwischen dem niedrigsten und dem hochsten Einkommensniveau wesentlich geringer als beim ersten Einkommensprofil. Bei der Bestimmung von Kriterien flir die Messung von Ungleichheit besteht also ein konzeptionelles Problem. Um hier mehr Klarheit zu schaffen, betrachten wir ganz allgemein eine aus n Individuen i = l,...,n bestehende Okonomie, in der yt flir das fest vorgegebene Einkommen von Individuum / steht. Das zugehorige Einkommensprofil (bzw. die Einkommensverteilung) wird dann durch den Vektor Y = (yl,...,yn) angegeben. Dabei unterstellen wir, dass dieses Einkommensprofil geordnet ist, d.h. dass yx < ... < yn gilt. Wir formulieren in diesem Rahmen zunachst eine wohl unstrittige Minimalbedingung daftir, dass mehr oder weniger Gleichheit herrscht. Dieses Transferprinzip von Dalton lautet wie folgt: „Mehr Gleichheit ergibt sich dann, wenn bei einem gegebenen (geordneten) Einkommensprofil Y = (yx,...,yn) ein Einkommenstransfer in Hohe von T von einem reicheren Individuum / zu einem armeren Individuum k stattfindet, der die Rangordnung aller Einkommen nicht andert."1 Dabei handelt es sich um einen hypothetischen Transfer. Ob es uberhaupt moglich ist, einen Betrag T von Person / zu Person k zu transferieren, ohne das Sozialprodukt insgesamt zu schmalern, ist in diesem Zusammenhang deshalb ohne Bedeutung.
2.2 Die Messung von Ungleichheit
Das
Einkommensprofil
nach
Y = (y1,...,yk +T,...,yl -T,...,yn),
Vornahme
des
Transfers
lautet
15
dann
und es gilt (gemäß der Forderung nach Erhal-
tung der Rangordnung) yk +T < yk+1 und yl -T > yl-1. Das neue Einkommensprofil Y heißt dann Dalton-gleicher als das alte Einkommensprofil Y. In einem Zwei-Personen-Diagramm, in dem auf der Horizontalen das Einkommen des reicheren und auf der Vertikalen das Einkommen des ärmeren Individuums abgetragen ist, lässt sich das Dalton'sche Transfer-Kriterium leicht illustrieren (vgl. Abb. 2-1). Einkommen armes Individuum
y1 —
/6\ 0
-/—
1 A
\A y2
Einkommen re iches Individuum
Abb. 2-1: Transfer-Kriterium von Dalton
In Abb. 2-1 führt ein Transfer in Höhe von T vom reicheren zum ärmeren Individuum das ursprüngliche Einkommensprofil (y1,y2) in das neue Einkommensprofil (y1 +T,y2 -T) über. Alle gemäß dem Dalton-Kriterium im Vergleich zum Ausgangszustand A als gleicher geltenden Einkommensprofile liegen auf der Strecke AB. Man kann das Dalton-Konzept noch in einer anderen Weise grafisch veranschaulichen, die eine Verallgemeinerung auf den Fall einer beliebigen Zahl von Individuen erlaubt. So ist in Abb. 2-2 dargestellt, über welchen Anteil am Gesamteinkommen das ärmere Individuum 1 (also der Anteil x = 1/2 der Gesamtbevölkerung) verfügt. Der Streckenzug zwischen den Punkten (0,0), ( - , y1 ) , (1,1) beschreibt 2 y1+y2 die Lorenzkurve des Einkommensprofils Y = (y1,y2). Durch den Dalton-Transfer T (von Reich zu Arm) verändert sich der Funktionswert bei x = 1/2. Er wächst um
. Die neue Lorenz-Kurve, die sich nach Vornahme des egalisierenden y1+y2
16
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
Dalton-Transfers ursprüngliche.
ergibt, liegt näher an der Winkelhalbierenden als die
Anteil am Gesamteinkommen 1
y1 y1+ y2
Anteil der ärmsten Individuen an Gesamtpopulation
1/2
0
Abb. 2-2: Lorenz-Kurve Die allgemeine Definition der Lorenzkurve für ein gegebenes Einkommensprofil Y = (y1,...,y2) lautet:
LY ( j ) = — µ n n ,.=1 1 n
yi für j=0,...,n.
(2.1)
Dabei bezeichnet µ = - # das Durchschnittseinkommen, so dass nµ das n i=1 Gesamteinkommen aller n Individuen angibt. Die Lorenzkurve an der Stelle j/n beschreibt also, welchen Anteil des Gesamteinkommens die j ärmsten Individuen auf sich vereinigen. Eine Einkommensverteilung Y = (y1,...,yn) heißt Lorenz-gleicher als Y = (y1,...,yn), falls die Lorenzkurve zum Einkommensprofil Y (mit Y ≠Y) nirgends unter der Lorenzkurve von Y liegt. Formal bedeutet dies, dass L
≥L
(2.2)
2.2 Die Messung von Ungleichheit
17
für allej =1,...,n gelten muss (vgl. Abb. 2-3). Wegen der unterstellten NichtIdentität von Y und Y gilt dann zumindest für ein Individuum j in (2.2) sogar ein strenges Ungleichheitszeichen. Anteil am Gesamteinkommen
0
1
Anteil der ärms ten Individuen
Abb. 2-3: Vergleich zweier Verteilungen nach dem Lorenz-Gleichheitskriterium Offensichtlich führt ein Dalton-Transfer zu einem Lorenz-gleicheren Verteilungsprofil: Mehr Dalton-Gleichheit impliziert also eine höhere Lorenz-Gleichheit. Für den Fall mit zwei Personen ist dies unmittelbar klar. Für den allgemeinen Fall n > 2 lässt sich diese Aussage leicht wie folgt begründen: Wir vergleichen die Lorenzkurven der beiden Einkommensprofile Y = (y1,...,yn) und Y = (y1,...,yk +T,...,yl -T,...,yn), wobei die Rangerhaltungsbedingung y1≤...≤yk+T≤yk+1≤...≤yl-1≤yl-T≤...≤yn gelten soll. Für j
und
j≥l
gilt dann LY(j ) = LY(j ) , während man für alle n n
die Beziehung LY (—) = LY(-) + — > LY ( j-) erhält. Die Lorenzn n n µ kurve für Y hat also genau für die zwischen k und l - 1 liegenden Individuen einen höheren Wert als die Lorenzkurve zu Y . Aber auch die umgekehrte Implikation trifft in gewissem Sinne zu: Ist ein Einkommensprofil Y Lorenz-gleicher als ein Einkommensprofil Y, so gibt es nämlich eine endliche Sequenz von Dalton-Transfers, die Y in Y überführt. Im allgemeinen Fall ist diese Aussage ziemlich schwierig zu zeigen, so dass wir hier auf einen Nachweis verzichten wollen. Wenn man Transitivität beim gleichheitsorientierten k,...,l-1
18
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
Vergleich von Einkommensprofilen fordert, folgt somit das Lorenz-Kriterium automatisch aus dem Dalton-Kriterium. Das Lorenz-Kriterium stellt ein wichtiges Hilfsmittel fur Verteilungsanalysen dar. Da es sich aus dem Transferprinzip von Dalton ableiten lasst („Wer Dalton akzeptiert, muss zwangslaufig auch Lorenz akzeptieren."), beruht es nur auf elementaren und ziemlich schwachen normativen Voraussetzungen. Das tiefere Problem, ob „gleichmaBiger" auch mit „gerechter = besser" identifiziert werden kann bzw. soil, wird durch diese Motivation des Lorenzkurven-Kriteriums allerdings nicht gelost. Folgerung 2-1: Das Lorenzkurven-Kriterium als wichtigstes Instrument I zur Messung von Ungleichheit lasst sich durch das intuitiv einsichtige I Transferprinzip von Dalton begriinden. I
2.2.2 Absolute vs. relative Gleichheit bei Einkommensanderungen Wenn sich - anders als im vorherigen Abschnitt - die Summe der Einkommen der Beteiligten andert, kann das Lorenz-Kriterium zu Konsequenzen ftihren, die aus ethischer Sicht problematisch erscheinen konnen. Da sich das Lorenz-Kriterium auf relative Einkommensunterschiede bezieht, bleibt die Lorenzkurve unverandert, wenn alle Einkommen proportional, d.h. um den gleichen Prozentsatz, wachsen oder fallen (Equi-Proportionate Principle), wie es in Abb. 2-4 beim Ubergang von Y = (yl,y2) zu Y = (kyvky2) der Fall ist Darin kann man eine ungerechtfertigte Bevorzugung der Reichen durch das Lorenz-Kriterium sehen. Damit eine gleichzeitige Erhohung der Einkommen von Arm und Reich nach dem LorenzKriterium als verteilungs-/gleichheitsneutral eingestuft wird, muss der Reiche absolut gesehen (eventuell sogar wesentlich) mehr erhalten als der Arme: 1 % von 1 Mio. Euro ist lOOmal so viel wie 1% von 10.000 Euro. Im anderen Extrem konnte man sich bei der Bewertung von Einkommenszuwachsen auch an gleichen absoluten Einkommensanderungen orientieren. Im Zwei-Personen-Diagramm gelten dann alle Einkommensverteilungen als genauso (un)gleich verteilt wie ein gegebenes Einkommensprofil 7, wenn sie auf einer 45°Linie durch den Punkt Y liegen in Abb. 2-4 (Equi-Absolute-Principle). Auch dieses Prinzip konnte gegen unsere Intuition von Gleichheit verstoBen, da es die Verteilung (105, 100) als genau so ungleich einstuft wie die Verteilung (5, 0). Es gibt auch Mischlosungen zwischen diesen beiden Konzepten gleicher relativer und gleicher absoluter Ungleichheit, die sich im Zwei-Personen-Fall folgendermaBen darstellen lassen: Fur eine beliebige Konstante M > 0 und ein gegebenes Einkommensprofil Y = (yi,y2) beschreibt bei diesem Ansatz die Punktemenge {Xyx - (1 - X)M, Ay2 - (1 - X)M) fur variierendes X > 0 die Gesamtheit aller Einkommensprofile, die als genauso „M-gleich" wie Y gelten. Ein zum ursprunglichen Einkommensprofil proportionaler Einkommensvektor wird dabei um den konstanten absoluten Betrag (\-X)M vermindert. In Abbildung 2-4 entspricht
2.2 Die Messung von Ungleichheit
19
die Linie der Einkommensprofile, die genauso M-gleich wie das gegebene Einkommensprofil sind, dem im positiven Quadranten gelegenen Abschnitt der Verbindungsgeraden zwischen (y1, y2) und (-M,-M) . Einkommen des armen Individuums absolut Kompromiss
relativ/Lorenz
Y Einkommen
des
Abb. 2-4: Kompromisskriterien für die Gleichheitsmessung
Jedes M definiert ein Kompromisskriterium von „equi-proportionate“ und „equi-absolute“. Je größer M ist, desto mehr Gewicht hat die absolute Verteilungskomponente. Folgerung 2-2: Bei der Beurteilung von Einkommenszuwächsen erweist sich das Konzept der relativen Lorenz-Gleichheit als problematisch. Es lassen sich aber Kriterien entwickeln, die auch der Vorstellung Rechnung tragen, dass gleich hohe absolute Einkommenszuwächse gerecht sind.
2.2.3 Aggregierte Ungleichheitsmaße Das zuvor beschriebene Lorenz-Kriterium zur Ungleichheitsmessung hat den Nachteil, dass es nicht vollständig ist. Die Lorenzkurven verschiedener Einkommensprofile können sich nämlich schneiden, sobald es mehr als zwei Individuen gibt. Bei einem Vergleich der entsprechenden Einkommensprofile trifft das Lorenz-Kriteriums dann keine Aussage. Als Beispiel für eine solche Situation betrachten wir im Fall n = 3 die beiden Einkommensprofile Y1 = (2,9,9) und Y2 = (4,4,12), deren Lorenzkurven in Abb. 2-5 dargestellt sind. An der Stelle 1/3 liegt die Lorenzkurve von Y2 über der von Y1 , während dies bei 2/3 gerade umgekehrt ist. Die begrenzte Reichweite des Lorenz-Kriteriums ist allerdings nicht allzu überraschend, da es ja auf minimalen normativen Voraussetzungen, nämlich dem Dal-
20
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
ton-Kriterium, beruht. Um diese Einschränkung zu überwinden und alle Einkommensprofile im Hinblick auf den Grad ihrer Ungleichheit vergleichen zu können, gibt es verschiedene Möglichkeiten. In diesem Abschnitt stellen wir die wichtigsten aus der Statistik bekannten aggregierten Ungleichheitsmaße (den Variationskoeffizienten und den Gini-Index) dar, bei denen jedem Einkommensprofil ein numerischer Ungleichheitskoeffizient zugeordnet wird. Je höher dieser Koeffizient ist, desto größer ist die Ungleichheit des zugrunde liegenden Einkommensprofils. Die Vergleichbarkeit aller Einkommensprofile und damit die Vollständigkeit des entsprechenden Messkonzepts ist dann in offensichtlicher Weise sichergestellt. Allerdings ist bei jedem aggregierten Ungleichheitsmaß zunächst zu prüfen, ob es dem Dalton-Transferprinzip genügt. Erst dann ist gewährleistet, dass es tatsächlich eine Erweiterung des Lorenz-Kriteriums liefert. Anteil am Gesamteinkommen
1
0
1/3
2/3
Anteil der ärmsten Individuen
1
Abb. 2-5: Sich schneidende Lorenzkurven
2.2.3.1 Der Variationskoeffizient Der Variationskoeffizient v(Y) ist bei gegebenem Y = (y1,...,yn) mit Durchschnittseinkommen µ definiert als
Einkommensprofil
1/2
2
1 v(Y)
(yi-µ ) i=1
(2.3)
µ
und misst die Relation zwischen der Standardabweichung und dem Mittelwert des Einkommens. Um zu zeigen, dass der Variationskoeffizient dem Transferprinzip von Dalton genügt und somit eine Vervollständigung des Lorenzkurven-
2.2 Die Messung von Ungleichheit
21
n
Kriteriums darstellt, priifen wir, wie sich der Term ^Cy, - ju)2 andert, wenn ein Dalton-Transfer T von einem Individuum / zu einem armeren Individuum k erfolgt. Von diesem Transfer betroffen sind nur die beiden zu k und / gehorigen Summanden des Ausdrucks fur die Varianz. Es gilt: (yk+T-M)2+(yi-T-M)2 = (yk - M)2 + 2T(yk - M) + T2 + (y, - //) 2 - 2T{yt - ju) + T2
(2.4)
= ( ^ - A ) 2 +0>7 - / / ) 2 - 2 r ( ^ - ^ ) + 2 7 2 . Der Ausdruck 2 r 2 -27( < y / - ^ )
gibt die vom Transfer T ausgeloste Ande-
rung der Varianz an. Er ist kleiner als null, falls T
= l-2B
(2.5)
gilt, wenn B fur die Flache unter der Lorenzkurve steht. Liegt die Lorenzkurve tiberall naher an der Winkelhalbierenden, verkleinert sich der Gini-Koeffizient, der deshalb in offensichtlicher Weise mit dem Lorenz-Kriterium vereinbar ist.
22
2 Gleichheit und Gerechtigkeit Anteil am Gesamteinkommen
1
0
1
Anteil der ä rmsten Individuen
Abb. 2-6: Gini-Koeffizient
Um die Implikationen des Gini-Koeffizienten besser verstehen zu können, berechnen wir ihn für ein beliebiges Einkommensprofil Y = (y1,y2,y3) im DreiPersonen-Fall. Anteil am Gesamteinkommen
1
y3 I 3µ
y2
0
1/3
2/3
1
Anteil der ä rmsten Individuen
Abb. 2-7: Berechnung des Gini-Koeffizienten
In der Abb. 2-7 ergibt sich dabei zunächst für die Fläche B unter der LorenzKurve
2.3 Gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktionen
23
A 1 2X ^ J 1 L ^2 1 1 ^ 3 1 1 / r D £ =( +-)• — + ( + -)•• — + ^~ = ( 5 * + 3y22 + y3) 2 3 3 3// 2 3 3 3// 2 3 3// 6 3// ^ ' ^ mit // als dem Durchschnittseinkommen Der Ausdruck fur B lasst sich durch Addition von
{yx + y2+y3) — = 0 auf der rechten Seite umformen zu 6 3// 6 B = ~(3yl+2y2+y3)-\. 3 // 6
(2.6)
Fur den Gini-Index selber erhalt man also G(Y) = l-2B = l + ~-l-(3yl+2y2+y3). 3 3 //
(2.7)
Fur eine beliebige Zahl n von Individuen lautet die entsprechende Formel G(7) = l + — - | ~ ( / i y 1 + ( / i - l ) ^ 2 + - + ^ ) .(2.8) « « // GemaB der Formel (2.8) erhalt bei der Berechnung des Gini-Koeffizienten das Einkommens eines Individuums ein umso hoheres Gewicht, je weiter unten es in der Einkommenshierarchie angesiedelt ist. Ein Transfer eines reichen Individuums vermindert den Gini-Koeffizienten also umso starker, je „armer" der Transferempfanger ist. Allerdings kommt dabei nur auf deren Position an, welche der Transferempfanger in der Einkommenshierarchie einnimmt, nicht aber auf die Hohe seines Einkommens und damit seine „Bedurftigkeit". Folgerung 2-3: Das Lorenz-Kriterium erlaubt nicht den Vergleich beliebiger Einkommensverteilungen. Es lasst sich aber durch numerische Ungleichheitsmafie (z.B. den Variations- oder den Gini-Koeffizienten) vervollstandigen.
2.3 Gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktionen 2.3.1 Utilitaristische Wohlfahrtsfunktion Sowohl der Variations- als auch der Gini-Koeffizient stellen ad hoc konzipierte UngleichheitsmaBe dar, die keine unmittelbar einsichtige normative Basis haben. Man kann sich dem Problem der Ungleichheitsmessung aber auch aus ganz anderer Richtung nahern und von einer Bewertung der Einkommensprofile durch eine gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion H ausgehen. Im einfachsten Fall, auf den wir hier Bezug nehmen wollen, ist eine solche Wohlfahrtsfunktion additiv separabel
24
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
und misst - im Sinne einer Gleichbehandlung - bei der Ermittlung des Gesamtnutzens alien Individuen das gleiche Gewicht zu. Als Niveau der gesellschaftlichen Wohlfahrt fur ein beliebiges Einkommensprofil Y = (yl,...,yn) ergibt sich dann H{Y) = fjh(yi),
(2.9)
wobei h(y) eine streng monoton wachsende und streng konkave individuelle Nutzenfunktion bezeichnet, die auf alle einzelnen Einkommensniveaus yi angewandt wird. Die Verwendung der gleichen Nutzenfunktion h(y) fur alle Individuen bedeutet, dass alle Individuen als identisch angesehen werden. Mit Gerechtigkeitskriterien im engeren Sinne haben die durch H(Y) gelieferten Bewertungen zunftchst nichts zu tun. Vielmehr wird (im Sinne der utilitaristischen Maxime vom „groBten Gltick der groBten Zahl") der Gesamtnutzen in einer Okonomie ermittelt, und in vielen Fallen werden Funktionen vom Typ (2.9) auch dazu verwendet, um bei gegebenen technischen Randbedingungen wohlfahrtsmaximale und damit optimale Allokationen zu bestimmen. Zur Motivation dieses utilitaristischen Ansatzes wird oftmals die fiktive Konstruktion eines "Schleier des Nichtwissens" (engl. "veil of ignorance") herangezogen, hinter dem ein representatives Individuum nur weiB, dass es spater mit der gleichen Wahrscheinlichkeit von n = \ln eine der n moglichen gesellschaftlichen Positionen und die damit verbundenen Einkommensniveaus erreichen wird. Bei dieser Interpretation entspricht die Nutzenfunktion h(y) dann einer aus der Entscheidungstheorie bei Risiko bekannten von-Neumann-Morgenstern-Nutzenfunktion, bei der strenge Konkavitat die Risikoversion des Individuums zum Ausdruck bringt. Wenn man das in (2.9) beschriebene Wohlfahrtsniveau H(Y) durch n teilt, gibt die sich dann ergebende Wohlfahrt pro Kopf den Erwartungsnutzen des hinter dem Schleier des Nichtwissens stehenden Individuums an. Zwischen dem utilitaristischen Ansatz gemaB (2.9) und der Messung von Ungleichheit besteht aber trotz des unterschiedlichen konzeptionellen Ausgangspunkts ein enger Zusammenhang, wie die folgende Uberlegung zeigt. Dabei wird wiederum ein Dalton-Transfer vom reicheren Individuum / zum armeren Individuum k durchgeflihrt und dann anhand von Abb. 2-8 gepriift, wie sich dadurch die gesellschaftliche Wohlfahrt H andert. Wenn in der Abb. 2-8 die zur Nutzenfunktion h(y) gehorige Grenznutzenfunktion h\y) fallt (das entspricht genau der Annahme der Konkavitat von h(y)), ist die Flache A (Gewinn an Wohlfahrt H durch den Transfer T) groBer als die Flache B (Verlust an Wohlfahrt H durch den Transfer 7). Bei gleichem Durchschnittseinkommen fuhrt eine Lorenz-gleichere Einkommensverteilung somit zu einer hoheren gesellschaftlichen Wohlfahrt gemaB H. Dies zeigt, dass der utilitaristische Ansatz in systematischer Weise zu einer Motivation des Gleichverteilungsziels beizutragen vermag.
2.3 Gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktionen
25
Grenznutzen
Einkommen
Abb. 2-8: Änderung der gesellschaftlichen Wohlfahrt
Dalton-Transfers wirken sich auf die gesellschaftliche Wohlfahrt H sogar umso mehr aus, je niedriger das Anfangseinkommen des Empfängers ist. In Abb. 2-8 wächst dann die Fläche A. Die relative Unempfindlichkeit des Effekts eines Dalton-Transfers gegenüber der absoluten Bedürftigkeit des Empfängers, die wir beim Variationskoeffizienten und beim Gini-Koeffizienten festgestellt hatten, ist also bei einem utilitaristischen Kriterium mit streng konkaver Nutzenfunktion nicht gegeben. Auf der anderen Seite wird der Effekt eines Dalton-Transfers auf die Wohlfahrt kleiner, wenn das Einkommen des Gebers wächst. Auch dies entspricht der normativen Intuition, weil die Transferzahlungen einem Reichen eher zumutbar erscheinen. Folgerung 2-4: Die utilitaristischen Wohlfahrtsfunktionen beruhen zwar nicht direkt auf einer Gleichheitsnorm, bei Verwendung einer konkaven Nutzenfunktion führt aber eine Lorenz-gleichere Verteilung zu einer höheren Wohlfahrt. Auf diese Weise ergibt sich eine wohlfahrtstheoretische Begründung des Gleichverteilungsziels.
2.3.2 Ungleichheitsaversion Die durch eine Gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion H bewirkte Bewertung von Ungleichheit hängt im starken Maße von der zugrunde gelegten individuellen Nutzenfunktion h(y) ab. Um diesen Zusammenhang zu präzisieren, betrachtet man für ein gegebenes h(y) zu jedem Einkommensprofil Y das Gleichheitsäquivalent eh(Y) , das durch die Bedingung H((eh (Y),...,eh(Y)) = H(Y) definiert wird. Ein solches Gleichheitsäquivalent eh (Y) gibt also an, bei welchem völlig
26
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
gleichverteilten Einkommen die gesellschaftliche Wohlfahrt gemäß H genauso hoch wäre wie bei Y. Einkommen
arm
y1
-H
0
eh(y)
µ
Einkommen reich
y2
Abb. 2-9: Gleichheitsäquivalent
Das Gleichheitsäquivalent eh (Y) wird in Abb. 2-9 als Schnittpunkt der durch das gegebene Einkommensprofil Y = (y1, y2) verlaufenden gesellschaftlichen Indifferenzkurve (dem geometrischen Ort aller Einkommensprofile mit dem gleichen H-Wohlfahrtsniveau wie Y) mit der Winkelhalbierenden (der „Gleichheitslinie“) beschrieben. Wegen der Konvexität der gesellschaftlichen Indifferenzkurven, die aus der unterstellten strengen Konkavität der Nutzenfunktion h(y) folgt, ist das Gleichheitsäquivalent immer kleiner als das Durchschnittseinkommen µ. Wie sich leicht zeigen lässt, gilt diese Aussage auch im allgemeinen n-PersonenFall. Der Abstand zwischen eh (Y) und µ zeigt an, welches (in absoluten Größen gemessene) Opfer an Gesamteinkommen gemäß der in der Wohlfahrtsfunktion H(Y) bzw. in der Nutzenfunktion h(y) zum Ausdruck kommenden gesellschaftlichen Präferenzen zur Herstellung einer absoluten Gleichverteilung der Einkommen akzeptabel erscheint. Je stärker eh (Y) vom Durchschnittseinkommen µ abweicht, desto größer ist somit die von h(y) zum Ausdruck gebrachte Ungleichheitsaversion. Wir wollen uns jetzt überlegen, von welchen Eigenschaften der Nutzenfunktion h(y) es im Einzelnen abhängt, wie groß diese Ungleichheitsaversion ist. Zu diesem Zweck betrachten wir zwei Nutzenfunktionen h1(y) und h2(y) mit den zugehörigen gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktionen H1 und H2 . Die ge-
2.3 Gesellschaftliche Wohlfahrtsflinktionen
27
sellschaftlichen Indifferenzkurven zu H2 verlaufen offensichtlich uberall flacher als die zu Hx, falls fur jedes Einkommensprofil th(y2)
(yx,y2) (2io)
gilt. In diesem Falle wird jedes Gleichheitsaquivalent zu h^iy) kleiner als das Gleichheitsaquivalent zu hx(y), so dass h2(y) eine hohere Ungleichheitsaversion widerspiegelt als hx(y). Auf der linken (bzw. rechten) Seite von (2.10) steht der Betrag des Anstiegs der gesellschaftlichen Indifferenzkurve zu H2 (bzw. Hx) im Punkt (yi,y2) • Die Bedingung (2.10) ist (wie man durch Uberkreuzmultiplizieren und Vertauschen der Seiten sieht) Equivalent zu
K(yO
>
h
i(yi)
(2.11)
Wegen yx < y2 gilt diese Ungleichung, wenn der Quotient aus den beiden Grenznutzenfunktionen h^(y) und h{(y) mit steigendem y fallt, d.h. nach der Quotientenregel
<0 gilt, was gleichbedeu-
\"\K{y)
tend mit -K{y)y -K{y)y -—• -> ,\) / fh(y) Kiy)
(2.12)
ist. Die Elastizitat des Grenznutzens von h1{y) ist dann uberall groBer als die Elastizitat des Grenznutzens von hx(y). In der Entscheidungstheorie bei Risiko entspricht die Elastizitat des Grenznutzens
bekanntlich dem Arrow-Pratt-
h\y) Mafi fur die Risikoversion. Im Rahmen einer Bewertung von Ungleichheit reprasentiert sie, wie wir soeben gesehen haben, eine hohere Ungleichheitsaversion. Strebt die Ungleichheitsversion gegen Unendlich, nahern sich die gesellschaftlichen Indifferenzkurven - wie in Abb. 2-10 dargestellt - einem L-formigen Verlaufan. Im Extremfall mit unendlich groBer Ungleichheitsversion gilt dann auch im n Personen-Fall fur jedes Einkommensprofil Y = (yl,...,yn) mit yx < y2 <...
(2.13)
Bei einer solchen extremen Ungleichheitsaversion ist man aus der Perspektive der gegebenen gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion bereit, zur Herstellung von Gleichheit alle Individuen auf das Einkommensniveau des armsten Individuums
28
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
abzusenken. Mit der gängigen moralischen Intuition ist dies nicht vereinbar, insbesondere wenn die Anzahl n der Individuen groß und das zur Herstellung von Gleichheit nötige Einkommensopfer groß ist. Als gesellschaftliches Bewertungskriterium entspricht dieser Fall mit extremer Ungleichheitsaversion der aus der statistischen Entscheidungstheorie bekannten Maximin-Regel oder auch dem Differenzprinzip von Rawls. Einkommen arm
jU
y1
Einkommen
0
e( y )
e0(y )
re ich
y2
Abb. 2-10: Ungleichheitsaversion und Gleichheitsäquivalent
Das andere Extrem entspricht einer völligen Abwesenheit von Ungleichheitsaversion, so dass Verteilungsneutralität bei der Bewertung verschiedener Einkommensprofile herrscht. Dieser Fall ist bei h(y) = y gegeben. Es gilt dann e0 (Y) = µ .
(2.14)
Im Zwei-Personen-Diagramm sind die zugehörigen gesellschaftlichen Indifferenzkurven negativ geneigte 45°-Linien. Bei einer solchen gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion besteht keinerlei Bereitschaft zu irgendeinem noch so kleinen Verzicht an Gesamteinkommen, um eine Gleichverteilung der Einkommen herbeizuführen. Das Gleichheitsziel spielt dann bei der gesellschaftlichen Bewertung von Einkommensprofilen überhaupt keine Rolle. Zur gängigen moralischen Intuition dürfte es am ehesten passen, wenn ein Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen eingeschlagen wird. Jede streng monoton wachsende und streng konkave Nutzenfunktion h(y) liefert ein solches Kompromisskriterium. Der Grad der dabei zugrunde liegenden Ungleichheitsaversion hängt notwendigerweise von subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen ab.
2.3 Gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktionen
29
Folgerung 2-5: Die Ungleichheitsaversion einer gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion wird durch die zugrunde liegende Nutzenfunktion (und dabei speziell durch ihre Elastizitat des Grenznutzens) bestimmt. Bei immer groBer werdender Ungleichheitsaversion nahert sich die Bewertung dem Maximin-Kriterium bzw. dem Differenzprinzip von Rawls an.
2.3.3 Die Messung von Ungleichheit mit Hilfe des Atkinson-Mafies Mit Hilfe der zuvor betrachteten utilitaristischen Wohlfahrtsfunktionen wird es jetzt auch moglich, einen weiteren Typus von Ungleichheitskoeffizienten zu entwickeln. Das sich dabei ergebende Atkinson-Mafi fur den Grad der Ungleichheit eines Einkommensprofils Y ist bei gegebener Nutzenfunktion h{y) wie folgt definiert: Ah{Y)
= \-eJ^l.
(2.15)
Ein Atkinson-MaB gibt also an, auf welchen prozentualen Anteil am Gesamteinkommen man (bei einer Wohlfahrtsbewertung gemaB h bzw. H) zur Herstellung einer absoluten Gleichverteilung zu verzichten bereit ist. Wenn sich das Einkommensprofil Y andert, zeigt ein hoherer Wert von Ah(Y) einen hoheren Grad an Ungleichheit an. Offensichtlich ist das Atkinson-MaB mit dem LorenzKriterium kompatibel, weil bei einem Dalton-Transfer das Gleichheitsaquivalent steigt. Bei der Ermittlung seiner Ungleichheitskoeffizienten hat Atkinson selber isoelastische Nutzenfunktionen verwendet, die folgendermaBen defmiert sind: falls 0 < 8 < 1
/o 1 r\ (2.16)
falls s >1 Der Verlauf dieser Nutzenfunktionen ist in Abb. 2-11 dargestellt. Zu beachten ist, dass -yl~£ (fur s > 1) zwar negativ ist, aber mit zunehmendem y wachst, so dass ein hoheres Einkommen auch hier zu einem hoheren Nutzen fuhrt. Man hat (fur s < 1) h's(y) = (1 - s ) y ~ s und h"e{y) = -(1 -s)sy~ s ~ l , so dass die Elastizitat des Grenznutzens immer den konstanten Wert £ annimmt. Wie man leicht prtifen kann, gilt dies auch fur den Fall e > 1. Bei isoelastischen Nutzenfunktionen wird die Ungleichheitsaversion also immer hoher, je groBer der Parameter s ist.
30
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
Nutzen •h(
y)
0 <S< 1
»Einkommen s> 1 h( y)
Abb. 2-11: Isoelastische Nutzenfunktionen
Für ein gegebenes Einkommensprofil Y = (y1,...,yn) mit es(Y) bezeichnete Gleichheitsäquivalent wegen
berechnet sich das jetzt n-(es(Y))1-s
1-e
als
i=1
1 es(Y)
n
1/(1-£)
-Ty
i
Für den Atkinson-Index As (Y) erhält man also:
A(Y) = 1
1
n
1- e 1/(1- e )
(2.17)
i=1 v M
Wenn s immer größer wird und die Ungleichheitsaversion gegen Unendlich geht, gilt für das Atkinson-Maß schließlich
A>(Y) = 1 jU
während bei Verteilungsneutralität, d.h. bei s = 0, A0 (Y) = 0 gilt. Für Werte von e mit 0 < e < oo erhält man zwischen diesen beiden Extremen gelegene Werte. Der Flexibilität des Atkinson-Ansatzes entspricht seine Unbestimmtheit im konkreten Fall. Mehr ist allerdings auch hier nicht zu erwarten. Einen objektiv richtigen Wert von s gibt es nicht - und kann es nicht geben! Die Wissenschaft kann aber flexible funktionale Formen entwickeln, die zur Berücksichtigung verschiedener verteilungspolitischer Zielsetzungen in der Lage sind. Genau darin liegt der herausragende Beitrag von Atkinson zur Messung von Un-
2.4 Okonomische Einwande gegen eine gleichheitsorientierte Umverteilung
31
gleichheit, der auf in der okonomischen Theorie wohlvertrauten utilitaristischen Konzepten beruht. Folgerung 2-6: Auf der Basis utilitaristischer Wohlfahrtsfunktionen lasst I sich ein weiterer Typus numerischer Ungleichheitskoeffizienten entwickeln: die Atkinson-MaBe, bei deren konkreter Spezifizierung isoelastische I Nutzenfunktionen verwendet werden.
2.4 Okonomische Einwande gegen eine gleichheitsorientierte Umverteilung 2.4.1 Normative Fragwiirdigkeit des Gleichheitsziels Das Pladoyer fur staatliche MaBnahmen zur Korrektur der vom Markt zustande gebrachten Verteilungssituation beruht letztlich darauf, dass man an der Gerechtigkeit der Marktergebnisse zweifelt. Viele Okonomen (wie F. A. v. Hayek oder R. Nozick) stellen bereits den normativen Ausgangspunkt der Verfechter der Gleichheitsmaxime in Frage. Ihre Ablehnung egalitaristischer Positionen beruht dabei u. a. auf der Einsicht, dass man Gleichheit nicht ohne weiteres mit Gerechtigkeit identifizieren kann und dass es stattdessen vielfaltige Zielkonflikte zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit gibt. In diesem Zusammenhang werden vor allem die folgenden Argumente angefuhrt: • Menschen gelten - ganz im Gegensatz zu der im Abschnitt 2.1 dargestellten Sichtweise - aus der Perspektive der „Gleichheitsskeptiker" von vornherein als prinzipiell z^gleich, da sie im Hinblick auf ihre Fahigkeiten und Praferenzen verschieden sind. Die Umverteilungspolitik lauft Gefahr, alle liber einen Kamm zu scheren und gerade damit Ungerechtigkeiten zu schaffen. Ungleiches gleich zu behandeln ist ungerecht. Wenn ein Individuum ein hoheres Vermogen hat, weil es in den vorangegangenen Perioden fleiBiger, sparsamer oder wagemutiger war, scheint es unfair, gerade ihm etwas wegzunehmen, um etwa dem Verschwender oder dem Bequemen ein besseres Leben zu ermoglichen. In einem solchen Fall ware es sogar denkbar, dass es den von der Verteilungspolitik Begunstigten, wenn man ihren Nutzen uber den gesamten Lebenszyklus hinweg betrachtet, besser geht als den Zahlern. • Situationen und Handlungen, die zu Ungleichheit ftihren, sind von den Individuen vielfach gemaB ihrer Praferenzen selbst gewahlt. Dies gilt sowohl fur den erbrachten Arbeitseinsatz als auch im Zusammenhang mit Risikoverhalten fur unternehmerische Investitionsprojekte und Glucksspiele. Das Engagement in riskante Projekte hangt von der personlichen Risikobereitschaft bzw. dem Grad ihrer Risikoaversion ab. Es ist zu erwarten, dass risikofreudige Individuen ein besonders hohes, aber auch ein besonders niedriges Endvermogen aufweisen, weil sich gerade solche Individuen auf riskante Projekte einlassen. Je hoher die
32
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
Risikobereitschaft der Individuen also ist, desto mehr Ungleichheit bei den Endvermogen ist zu erwarten. • Der Marktprozess fuhrt zwar zu ungleicher Einkommens- und Vermogensverteilung. Von Phanomenen wie Korruption und Erpressung abgesehen, beruht die Aneignung materieller Gtiter jedoeh auf dem Tausch von Eigentumsrechten und damit auf einem fairen Prozess. So kann es zu erheblichen Ungleichheiten kommen, wenn Individuen anderen Individuen freiwillig hohe Summen bezahlen, um deren Leistungen (etwa im medizinischen Bereich) in Anspruch zu nehmen oder auch nur um deren Darbietungen auf kunstlerischem (oder sportlichem) Gebiet genieBen zu konnen. Wenn aber die ex ante festgelegten Spielregeln des Tausches als fair erscheinen, scheint es inkonsequent, das Ergebnis zu kritisieren. Die Individuen haben einen legitimen Anspruch nicht nur auf die Fruchte ihrer Arbeit, sondern auch auf die Ergebnisse aus ihren Markttransaktionen. Die „Regelgerechtigkeitu sollte liber die „Zustands- oder Ergebnisgleichheif\ wie sie in der Forderung nach okonomischer Gleichheit zum Ausdruck kommt, dominieren - und zwar schon deswegen, weil es viel einfacher ist, liber faire Regeln Ubereinstimmung zu erzielen als dartiber, welche Ergebnisse (Zustande) als gerecht gelten konnen. Zu diesen Argumenten treten weitere, die darauf hinauslaufen, dass eine Umverteilungspolitik zudem im Gegensatz zu grundlegenden markwirtschaftlichen Ordnungsprinzipien steht und die Bedingungen fur die wirtschaftliche Entwicklung verschlechtern kann. • Manche Umverteilungstheoretiker sprechen von der Verteilung von Gtitern so, als ob diese einfach vorhanden seien. Gtiter miissen jedoeh v.a. durch Einsatz menschlicher Arbeit produziert werden. Daher muss man, wenn man uber die Verteilung von Gtitern redet, auch sagen, wie die notwendigen Arbeitsleistungen verteilt werden sollen. • Es ist eine GrundVoraussetzung fur eine funktionierende Marktwirtschaft, dass es durch eine Rechtsordnung gesicherte Eigentumsrechte gibt. Nur dann wissen die Individuen, dass sich ihr Einsatz tatsachlich lohnt. Es erscheint widerspruchlich, wenn der Staat, dessen primare Aufgabe aus okonomischer Sicht ja gerade die Schaffung und Aufrechterhaltung dieser Rechtsordnung ist, diese gleichzeitig aushohlt, indem er die im Marktprozess Erfolgreichen zumindest teilweise enteignet. Der aus okonomischer Sicht begrtindbare Minimalstaat soil sich deshalb nur auf die Korrektur ungerechten Eigentumserwerbs beschranken. Jede Form der Umverteilung fuhrt in gewissem MaBe zu einer Einschrankung des Rechts auf Privateigentum und Selbstbestimmung, so dass fundamentale Grundrechte eingeschrankt werden. Mit einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung steht eine Umverteilungspolitik deshalb in prinzipiellem Konflikt. • Der Markt funktioniert naturwiichsig in Form einer im Hayek'schen Sinne „spontanen Ordnung" und kann nur dadurch zu einer insgesamt positiven wirtschaftlichen Entwicklung fiihren: Deshalb ist bei Eingriffen in das Marktsystem ganz generell Zuruckhaltung geboten. Versuche, das Marktergebnis insbesondere aus sozialen Grunden zu verandern, tragen das Risiko in sich, die Zustande
2.4 Okonomische Einwande gegen eine gleichheitsorientierte Umverteilung
33
noch zu verschlimmern. Die Geschichte des real existierenden Sozialismus liefert ein anschauliches Beispiel dafur, wohin ein im Prinzip sogar gut (irn Sinne von sozial) gemeinter Versuch der Lenkung des Wirtschaftprozesses im Endeffekt fuhren kann. Wenn man das Marktgeschehen - v.a. auch aufgrund unuberwindbarer Informationsprobleme - nicht umfassend steuern kann, lasst es sich nicht vermeiden, dass man im Einzelfall ungerecht erscheinende Verteilungseffekte akzeptieren muss. Zudem ist auf langere Sicht zu erwarten, dass die Frtichte einer vom Markt zustande gebrachten positiven Wirtschaftsentwicklung auch das Los der Bedtirftigen verbessern werden. Folgerung 2-7: Von Okonomen werden grundsatzlich Einwande gegen das I Gleichverteilungsziel vorgebracht, die sich sowohl auf Konflikte zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit als auch auf die Funktionsbedingungen einer Marktwirtschaft beziehen. I
2,4.2 Die Unbestimmtheit des Bezugspunkts fur UmverteilungsmaBnahmen Bei einer gleichheitsorientierten Umverteilungspolitik geht es darum, eine Angleichung zwischen Individuen herbeizuftihren, denen es besser oder schlechter geht. Bislang hatten wir als Zustandsvariable das individuelle Einkommen zugrunde gelegt. Dies stellt aber nur eine unter mehreren Moglichkeiten dar, zwischen denen man sich zu entscheiden hat. Bei jeder Umverteilungspolitik zwischen Arm und Reich muss man sich zunachst dartiber klar werden, an welchem WohlbefindensIndikator sie sich orientieren, woran sich also das „besser" bzw. „schlechter" iiberhaupt bemessen soil. Ansonsten lasst sich ja die relative Position eines Individuums in der Wohlbefindens-Hierarchie nicht feststellen, so dass auch nicht gesagt werden kann, wer bei der konkreten Ausgestaltung verteilungspolitischer MaBnahmen zum Geber und wer zum Nehmer werden sollte. 2.4.2.1 Nutzen als Zielgrofie Genaue Auskunft liber das wirkliche Wohlbefinden von Individuen gibt nur deren Nutzen, der somit die am besten geeignete ZielgroBe flir verteilungspolitische MaBnahmen zu liefern scheint. Jedoch beeinflussen neben im engeren Sinne okonomischen Faktoren auch naturbedingte Ungleichheiten (Krankheit, Behinderung oder auch das Aussehen) die Nutzenposition der Individuen teilweise erheblich. Eine wichtige ethische Frage ist dann, ob UmverteilungsmaBnahmen darauf abzielen sollen, auch solche auBerhalb des eigentlichen okonomischen Bereiches liegenden Ungleichheiten zu beseitigen (etwa durch von der Gemeinschaft finanzierte Schonheitsoperationen) oder mit Hilfe monetarer Transfers zumindest zu kompensieren. Dass die Forderung nach Gleichheit der Nutzen allerdings oftmals kein brauchbares Rezept zur Ermittlung einer als gerecht empfundenen Losung liefert, zeigt auch das folgende Beispiel: Stellen wir uns vor, dass Antje, Heidi und Ute an der
34
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
Kaffeetafel sitzen und die auf dem Tisch stehende Torte gerecht unter den Dreien aufgeteilt werden soil. Angenommen, Antje 1st verruckt auf Naschwerk, Heidi hat zwar keine besondere Vorliebe fur Kuchen, kommt aber gerade von einem anstrengenden Langlauf zuruck und ist deshalb ziemlich hungrig. Ute schlieBlich kommt kommt das Verdienst zu, den Kuchen mit viel Liebe und Mtihe gebacken zu haben. In diesem Falle treffen verschiedene Bedurfniskategorien aufeinander, denen man nach tiblichem Verstandnis unterschiedliches Gewicht beimessen wird Dabei dtirfte Heidis verstandlicher Hunger einen hoheren Stellenwert bekommen als Antjes Genusssucht Zusatzlich ware bei einer fairen Entscheidung noch zu berucksichtigen, dass es allein Utes Verdienst ist, dass es Uberhaupt Kuchen gibt. Eine objektiv richtige Kombination dieser fur ein iiberzeugendes Verteilungsurteil relevanten Kriterien lasst sich aber nicht finden, was erneut zeigt, dass man sich bei Gerechtigkeitsurteilen in den meisten Fallen auf recht schwankendem Boden bewegt und dass das Nutzenkonzept in diesem Zusammenhang nur von begrenztem Wert ist. 2.4,2.2 Einkommen als Zielgrofie Uberdies ist es nicht ohne weiteres moglich, individuellen Nutzen so zu messen, dass ein Vergleich zwischen verschiedenen Individuen moglich wird. Aufgrund dieser grundsatzlichen Mess- und Bewertungsprobleme bei der Erfassung des Nutzens erscheint es allenfalls moglich, sich statt am Nutzen an leichter beobachtbaren Hilfsindikatoren zu orientieren. Ein nahe liegender Hilfsindikator ist das Einkommen, dessen Verwendung als ZielgroBe von Verteilungsmafinahmen man auf diese Weise auch zu rechtfertigen versuchen konnte. Das individuelle Einkommen kann jedoch im Hinblick auf den eigentlich angestrebten Nutzen vergleich vollig falsche Signale liefern, wie das folgende Beispiel zeigt. Zwei Individuen v4(nna) und £(abette) haben die gleichen Praferenzen, aber unterschiedliche Produktivitaten wA und wB (= Lohnsatze) bei der Erzielung von Markteinkommen sowie unterschiedliche Zeitpotenziale FA und FB. Wir gehen davon aus, dass wA > wB und FA < FB gilt. Anna ist also produktiver als Babette, hat aber weniger Zeit fur Erwerbsarbeit zur Verfiigung. Die Annahme unterschiedlicher Zeitausstattungen von Anna und Babette kann man sich etwa dadurch erklaren, dass Anna im Gegensatz zu Babette familiare Verpflichtungen (z., B. Kinder, pflegebedurftige Eltern) hat. Diese unvermeidliche Arbeit im Haushalt reduziert nattirlich ihre Moglichkeiten, einer Berufstatigkeit nachzugehen und Erwerbseinkommen zu erzielen. Es wird dann die in Abb. 2-12 beschriebene Konstellation moglich.
2.4 Okonomische Einwande gegen eine gleichheitsorientierte Umverteilung
35
Einkommen
Freizeit
Abb. 2-12: Einkommen als unzureichender Nutzenindikator Anna bezieht in ihrem Haushaltsoptimum ein hoheres Lohneinkommen als Babette {yA * > yB*), erreicht dabei aber nur einen niedrigeren Nutzen (uA < uB). An diesem Beispiel wird klar, dass ein hoheres Einkommen nicht unbedingt einen hoheren Nutzen anzeigen muss. Eine Orientierung am Indikator „Einkommensh6he" vernachlassigt zudem andere nicht-monetare Nutzenkomponenten, wie etwa das AusmaB des individuellen Freizeitkonsums, die fur das Wohlbefmden eines Individuums gleichwohl von erheblicher Bedeutung sein konnen. Davon abgesehen ist das Einkommenskonzept auch in der iiblichen engen Fassung wenig trennscharf: Nach ublichem Verstandnis entspricht Einkommen dem Nettozufluss an verfugbaren Mitteln (seinem Zuwachs an "wirtschaftlicher Leistungsfahigkeit"), den ein Individuum wahrend einer Periode erfahrt. Was als Teil dieses wirtschaftlichen Einkommens anzusehen ist, steht aber a priori keineswegs eindeutig fest. Inwieweit sollen „virtuelle" Einkommensbestandteile (wie die eingesparte Miete bei selbst genutztem Wohnraum oder die Eigenproduktion von Gtitern und Dienstleistungen im Haushalt) berucksichtigt werden? Inwieweit sollen realisierte und nicht-realisierte Wertzuwachse bei Vermogensgegenstanden (Aktien, Grund und Boden, Kunstgegenstande) zum Einkommen gezahlt werden? Inwieweit ist fur ein sinnvolles Einkommenskonzept eine langerfristige Perspektive (tiber eine einzelne Periode hinaus) angemessen? Es ware dann eine Korrektur des Einkommens um kurzfristige „AusreiBer" erforderlich, und das wirkliche Einkommen hatte sich daran zu bemessen, was das betreffende Individuum sich permanent leisten kann. Verzichtet man auf entsprechende Anpassungen des Geldeinkommens, kann man nicht vermeiden, dass man wirtschaftlich im Wesentlichen gleich leisrungsfahige Individuen ungleich behandelt. Auch diese-im Zusammenhang mit dem Leistungsfahigkeitsprinzip der Besteuerung intensiv erorterten - Probleme lassen die Verwendung des Einkommens als ZielgroBe fragwurdig erscheinen.
36
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
2.4.2.3 Vermogen als Zielgrofie Bei langerfristiger Betrachtung kommt man fast automatisch zum Vermogen als Indikator. Beim Versuch der Verwendung des Vermogens als Zielgrofie der Verteilungspolitik ergeben sich aber teilweise noch mehr Schwierigkeiten als beim Einkommen: • Es kommt insbesondere bei Sachvermogen zu erheblichen Bewertungsproblemen, die zum Teil konzeptioneller Natur sind: Soil man sich an den historischen Anschaffungskosten eines Vermogensgutes (unter Beriicksichtigung eventueller Zu- oder Abschreibungen) oder eher am Barwert der in Zukunft zu erwartenden Vermogensertrage orientieren? Wie hoch ware bei einer zukunftsorientierten Betrachtung dann der Abzinsungsfaktor fur zeitlich weit entfernte Ertrage anzusetzen, inwieweit soil in diesem Fall das „Vorsichtsprinzip" zur Anwendung kommen? • Hoheres Vermogen bedeutet nicht zwangslaufig einen hoheren Bestand an liquiden Mitteln, aus denen Transfers an andere Individuen gezahlt werden konnen. Ein Zwang zur Liquidierung von Vermogenswerten zum Zwecke der Umverteilung wurde aber in die individuelle Entscheidungsfreiheit eingreifen und oftmals auch zu Zerschlagungsverlusten fiihren. • Die Frage ist auch, inwieweit Humankapital (Potenzial zur Erzielung von Erwerbseinkommen) bei der Ermittlung des Gesamtvermogenswertes erfasst werden soil bzw. kann. Weil Humankapital - zumindest bei Ausschluss von Zwangsarbeit - durch staatlichen Eingriff nicht direkt an andere Individuen ubertragen werden kann, erfordert dieses im verteilungspolitischen Zusammenhang ohnehin eine spezielle Behandlung. Die faktische Unmoglichkeit eines zwangsweisen Transfers von Humankapital schlieBt naturlich nicht aus, dass Individuen ihre speziellen Talente und Fertigkeitenymw///zg in den Dienst Bediirftiger stellen, wie es etwa bei humanitaren Organisationen wie "Arzte ohne Grenzen" der Fall ist. 2.4.2.4 Chancen als Zielgrofie Die Ungleichheit zwischen Individuen ist nicht einfach statisch vorgegeben, sondern entwickelt sich in einem dynamischen Prozess. Dieser ist teilweise zufallsabhangig. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Staat sich bei seiner Umverteilungspolitik im Sinne der Chancengleichheit auf eine Angleichung der Ausgangsbedingungen beschranken oder die Ergebnisse des Zufallsprozesses korrigieren sollte. Das folgende Beispiel macht in einfacher Weise klar, wie bei volliger Gleichheit der Ausgangsbedingungen (ex ante) ein fairer Prozess zu erheblicher Ungleichheit bei den Endergebnissen (ex post) fuhren kann. In diesem Beispiel bezeichnet Wo
das individuelle Anfangsvermogen einer groBen Zahl identischer Individuen,
2.4 Okonomische Einwande gegen eine gleichheitsorientierte Umverteilung L G
37
den im schlechten Fall drohenden Vermogensverlust, der sich mit der Wahrscheinlichkeit n ergibt, den individuellen Vermogenszuwachs bei giinstigem Projektausgang, fur den die Wahrscheinlichkeit \-n betragt.
Die individuellen Risiken sollen dabei stochastisch unabhangig sein. Nach Realisierung der Ergebnisse hat dann - gemafi dem „Gesetz der groBen Zahl" - der Anteil \-n der Bevolkerung das individuelle Endvermogen W0+G, wahrend der Anteil K nur das Endvermogen von W0-L erreicht. Trotz volliger Gleichheit im Ausgangszustand und einem im Sinne gleicher Chancen fairen Zufallsprozess bei Erzielung der Einkommens sind die Positionen der Individuen im Endzustand dann zum Teil hochst verschieden, und das gesellschaftliche Einkommensprofil ist ungleich verteilt. Bereits an diesem Beispiel wird deutlich, dass Forderungen nach „Ausgangsgleicheit" (im Sinne von Chancengerechtigkeit) und „Ergebnisgleichheit" in einem deutlichen Widerspruch zueinander stehen. Auch dies hilft zu verstehen, dass Okonomen grundlegende Zweifel an der Berechtigung endzustandsorientierter Gleichverteilungsziele und einer entsprechend motivierten Umverteilungspolitik haben. Folgerung 2-8: Auch wenn man das Gleichverteilungsziel grundsatzlich I akzeptiert, bleibt die Frage zu klaren, anhand welches Indikators die Ver-1 teilungsposition von Individuen bestimmt werden soil. Dabei kann es bei I den verschiedenen moglichen Indikatoren (Nutzen, Einkommen, Vermogen, Chancen) zu unterschiedlichen Ergebnissen und damit zu Konflikten I kommen. I
2.4.3 Okonomische Grenzen der Umverteilung In diesem Abschnitt wollen wir von den zuvor beschriebenen Problemen und Einwanden absehen und uns vorstellen, dass in die Gesellschaft das Gleichheitsziel prinzipiell akzeptiert wird und zudem Einigkeit iiber eine bestimmte ZielgroBe der Umverteilungspolitik herrscht. Doch selbst wenn diese ziemlich heroischen Annahmen erfullt sind, bleibt der Spielraum der Umverteilungspolitik durch Hindernisse bei ihrer praktischen Umsetzung beschrankt. Das angestrebte Ziel der Umverteilung lasst sich dann unter den Bedingungen der Realitat uberhaupt nicht oder nur unter Inkaufnahme hoher Kosten erreichen. Wie es dazu kommen kann, wird jetzt an mehreren Beispielen demonstriert.
38
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
2.4.3.1 Unvollkommene Information 2.4.3.1.1 Das Modell Es wird in diesem Abschnitt davon ausgegangen, dass das Ziel der Verteilungspolitik die völlige Gleichverteilung der Nutzen der beteiligten Individuen ist. Es soll zwei Typen von Individuen geben, die sich lediglich in ihrer Produktivität unterscheiden. Und zwar soll der Lohnsatz von Individuum 2 größer sein als der von Individuum 1: w2 > w1 . Die beiden Individuen haben aber die gleichen Präferenzen, die durch die Nutzenfunktion u(Fi,ci ) beschrieben werden. Dabei bezeichnet Fi die von Individuum i =1,2 genossene Freizeit und ci seinen Konsum eines am Markt erworbenen Konsumgutes. Die Ausgaben für dieses Konsumgut werden ausschließlich aus Lohneinkommen bestritten. Wenn die Anfangsausstattung der beiden Individuen mit potenzieller Arbeitszeit einheitlich F beträgt, lautet die Budgetgleichung von Individuum i =1, 2 : wi(F - Fi)
bzw.
(2.18)
ci + wiFi = wiF .
In einem Freizeit-Konsum-Diagramm (vgl. Abb. 2-13) entspricht eine solche Budgetgleichung einer Budgetgeraden mit dem Anstieg -w i und dem FAchsenabschnitt F . Konsum
T
c2 (T)
T
0
Freizeit
F1(T)
F2(T)
F
Abb. 2-13: Wirkung eines Pauschaltransfers
Wenn der Betrag T pauschal von Individuum 2 an Individuum 1 umverteilt wird, so führt das in Abb. 2-13 dazu, dass sich die Budgetgerade von Individuum 2 um T parallel nach unten und die von Individuum 1 um T parallel nach oben verschiebt. Mit „pauschal“ ist dabei gemeint, dass – ohne Kopplung an weitere Be-
2.4 Ökonomische Einwände gegen eine gleichheitsorientierte Umverteilung
39
dingungen oder Kriterien – der Betrag T dem produktiveren Individuum 2 entzogen und an das weniger produktive Individuum 1 übertragen wird. Solche Pauschaltransfers werden hier unterstellt, um die Argumentation möglichst einfach zu halten. Auf den um T verschobenen Budgetgeraden wählen die beiden Individuen ihre optimalen Freizeit-Konsum-Kombinationen, die wir – in Abhängigkeit von der Transferhöhe T – mit (Fi (T ),ci (T)) (für i =1,2 ) bezeichnen. In den entsprechenden Optimalpunkten A bzw. B von Individuum 1 bzw. Individuum 2 werden die (nach unten bzw. nach oben) verschobenen Budgetgeraden jeweils von einer zur Nutzenfunktion u gehörigen Indifferenzkurve tangiert. Eine vollkommene Gleichheit der Nutzen der beiden Individuen wird durch den Transfer T * erreicht, für den u(F1(T*), c1(T*)) = u(F2 (T*), c2(T*)) gilt. Die Optimalpunkte A* = (F1(T*),c1(T*)) und B* = (F2(T*),c2(T*)) liegen dann auf der gleichen Indifferenzkurve. Die Abb. 2-14 veranschaulicht diese Situation: Konsum
\
T**{
I
T*\
c2 (T*) I
B**\
VA** N
\,B\
\
"""N--.. \ \
"-^v
j
\
"'"--. Freizeit
Abb. 2-14: Nutzennivellierender Pauschaltransfer und Täuschungsanreiz
Das Gelingen einer solchen auf eine völlige Angleichung der Nutzenniveaus abzielenden Umverteilungspolitik setzt aber voraus, das der umverteilende Staat über alle relevanten Charakteristika der beteiligten Individuen perfekt informiert ist. Insbesondere muss er darüber Bescheid wissen, welches Individuum das produktivere ist und deshalb zu Zahlungen in das Transfersystem heranzuziehen ist.
40
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
2.4.3.1.2 Tauschungsanreize der Individuen bei unvollkommener Information Es wird jetzt davon ausgegangen, dass der Staat die im vorherigen Abschnitt beschriebene Umverteilungspolitik betreiben will und dabei den Transferbetrag T * ankiindigt, bevor die Individuen ihren Arbeitseinsatz gewahlt haben. Zudem nehmen wir an, dass dem Staat nur die von den Individuen erzielten Einkommen, nicht aber deren Produktivitaten und Arbeitszeiten bekannt sind. In dieser durch asymmetrische Information (zwischen dem Staat auf der einen und den Individuen auf der anderen Seite) gekennzeichneten Situation entsteht dann das Problem, dass das produktivere Individuum 2 den Anreiz bekommt, sich als das weniger produktive Individuum 1 und damit als potenziellen Transferempfanger auszugeben. Um eine solche Tauschung gegentiber dem Staat glaubhaft zu machen, muss Individuum 2 sein fur den Staat beobachtbares Lohneinkommen auf das geringere Niveau c^T*) reduzieren, das Individuum 1 beim angekundigten Transfer T* wahlt. Weil Individuum 2 aber produktiver als Individuum 1 ist, kann es dieses Lohneinkommen mit einem geringeren Arbeitseinsatz erzielen und deshalb mehr Freizeit konsumieren als Individuum 1. Das dann von Individuum 2 erreichte Freizeitniveau betragt F2(T*) = F—-to w2
(j*) -T*) > F -—to(r*)-r*) = FX(T*) .
(2.19)
Wi
Grafisch liegt die Position, die Individuum 2 durch die Verstellung erreicht, in dem mit B bezeichneten Schnittpunkt der Parallelen zur F-Achse durch A* mit der um T * parallel nach oben verschobenen ursprimglichen Budgetgeraden von Individuum 2 (vgl. Abb. 2-14). In B erreicht Individuum 2 dann ein hoheres Nutzenniveau als Individuum 1 im Punkt A*, der gemaB der Bestimmung von T* aber auf der gleichen Indifferenzkurve wie der von Individuum 2 ohne Verstellung erreichte Optimalpunkt B * liegt. Dadurch wird bestatigt, dass sich Individuum 2 unter den gegebenen Bedingungen durch eine Verstellung in der Tat besser stellt. Wenn in Folge dieser Tauschung der Staat die als Zahler vorgesehenen produktiven Individuen nicht identifizieren kann, lassen sich naturlich die fur die Umverteilung benotigten Steuereinnahmen nicht erzielen. Die geplante Umverteilungspolitik scheitert dann aufgrund unzureichender Informationen des Staates, und die angestrebte vollkommene Angleichung der Nutzenniveaus wird nicht erreicht. Welche Moglichkeiten der Umverteilungspolitik in dieser Situation noch verbleiben, soil im nachsten Abschnitt untersucht werden. 2.4.3.1.3 Begrenzter Umverteilungsspielraum bei unvollkommener Information Wir wollen jetzt zeigen, dass sich in dem im vorherigen Abschnitt betrachteten Modell mit asymmetrischer Information der Tauschungsanreiz bei Individuum 2 durch eine Absenkung des Transferbetrags T reduzieren lasst. Zu diesem Zweck machen wir uns zunachst klar, dass der Nutzengewinn, den Individuum 2 durch Tauschung erzielen kann, bei kleiner werdendem T zurtickgeht.
2.4 Okonomische Einwande gegen eine gleichheitsorientierte Umverteilung
41
Wird T reduziert, so sinkt beim Empfanger-Individuum 1 (unter der tiblicherweise getroffenen Annahme der Normalitat von Gliterkonsum und Freizeit) sowohl die Nachfrage nach dem Konsumgut als auch die Nachfrage nach Freizeit. Fur ein sich verstellendes Individuum 2 haben diese bei Individuum 1 ausgelosten Effekte dann die folgenden Konsequenzen: • Weil der Gliterkonsum (= Lohneinkommen) von Individuum 2 bei erfolgreicher Tauschung genauso hoch sein muss wie der von Individuum 1, reduziert sich bei Absenkung des Transferbetrags auch der Gliterkonsum von Individuum 2. • Weil Individuum 1 nach Ktirzung des Transfers mehr arbeitet, wird ein groBerer Teil seines Giiterkonsums dann durch eigene Arbeit (also nicht durch den Transfer) finanziert. Infolgedessen arbeitet auch Individuum 2 bei Verstellung mehr, weil es ja das gleiche Arbeitseinkommen wie Individuum 1 erzielen muss. Um die Argumentation an dieser Stelle zu prazisieren, bestimmen wir fur einen allgemeinen Transferbetrag T explizit die von Individuum 2 bei Verstellung gewahlte Freizeitmenge F2(T). Die Bedingung, dass Individuum 2 zur erfolgreichen Tauschung das gleiche Lohnkommen wie Individuum 1 erzielt, lautet w2(F-F2(T))
= wl(F-Fl(T))
bzw. F2(T) = (I - ^)F w2
+ ^ FY(T) w2
(2.20)
Aus der Formel (2.20) wird direkt ersichtlich, dass der Freizeitkonsum F2(T) von Individuum 2 bei Verstellung zuriickgeht, wenn mit fallendem Transferbetrag T die Freizeitnachfrage F[(T) von Individuum 1 sinkt. Bei Verminderung des Transferbetrag T nehmen bei einem sich verstellenden Individuum 2 also sowohl der Gliter- als auch der Freizeitkonsum ab, so dass auch sein Nutzen fallt. Gleichzeitig bewirkt die Abnahme von Taber auch, dass sich die Budgetgerade von Individuum 2 im Falle der Nicht-Verstellung parallel nach auBen verschiebt und sich dadurch der Nutzen von Individuum 2 im entsprechenden Optimum erhoht. Insgesamt gesehen wird der Abstand der von Individuum 2 bei Tauschung und Nicht-Tauschung jeweils erreichten Nutzenniveaus somit kleiner, wenn der Transferbetrag T fallt. Mit Hilfe einer zusatzlichen Uberlegung, auf die wir allerdings hier verzichten wollen, lieBe sich schlieBlich noch zeigen, dass es genau ein T gibt, fur den beide Nutzenwerte von Individuum 2 gerade libereinstimmen. Dieser Transferbetrag T , der kleiner ist als der mit dem Ziel einer volligen Angleichung aller Nutzen urspriinglich geplante Transferbetrag T* , gibt das AusmaB der maximal realisierbaren Umverteilung an. Im dann erreichten Zustand ist gegentiber der Situation ohne jede Umverteilung das Nutzengefalle zwischen Individuum 1 und Individuum 2 zwar geringer geworden als im Ausgangszustand, nicht jedoch vollig beseitigt. Daran wird klar, dass im Falle asymmetrischer Information eine Umverteilung nur eingeschrankt moglich ist.
42
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
Folgerung 2-9: Auch bei Akzeptanz des Gleichverteilungsziels kann eine Umverteilungspolitik an unzureichenden Informationen scheitern: Wenn sich die Produktivitat von Individuen nicht beobachten lasst, erhalten produktivere Individuen (und damit potenzielle Zahler in einem Umverteilungsmechanismus) den Anreiz, sich zu verstellen und als weniger produktive Individuen (und damit Empfanger) auszugeben.
2.4.3.2 Zusatzlasten Wenn fur den umverteilenden Staat lediglich die Einkommensniveaus beobachtbar sind, bleibt ihm kaum eine andere Wahl, als sich bei der Gestaltung de Umverteilungspolitik an diesen zu orientieren. Die Hohe des Einkommens wird dann zur Richtschnur fur die Bestimmung der Position eines Individuums im Umverteilungssystem: Wer ein hohes Einkommen hat, muss eine Umverteilungssteuer bezahlen, wer nur tiber ein geringes Einkommen verftigt, erhalt einen Transfer. Auf der Geberseite hatte man dann im obigen Modell eine von der Hohe des Lohns abhangige Einkommensteuer, auf der Empfangerseite einen mit dem Lohneinkommen fallenden Zuschuss. Das Problem ist jetzt aber, dass bei einem solchen Umverteilungsmechanismus steuerliche Zusatzlasten auftreten. Das produktivere Individuum 2 wiirde sich besser stellen, wenn es den Steuerbetrag, der ihm in diesem Umverteilungsschema entzogen wird, direkt in pauschaler Form entrichten wiirde. Bei Individuum 1 als Transferempfanger gilt ein entsprechendes Resultat: Auch Individuum 1 konnte ein hoheres Nutzenniveau erreichen, wenn es den gleichen Transferbetrag nicht liber eine verzerrende Lohnsubvention, sondern in pauschaler Form erhielte. Die hier beschriebenen allgemeinen Resultate tiber Wohlfahrtsverluste, die bei Umverteilung durch einkommensabhangige Transfers entstehen, lassen sich anhand des Beispiels einer linearen Einkommensteuer (fur ein Geber-Individuum) leicht illustrieren. Durch eine proportionale Einkommensteuer dreht sich in Abb. 2-15 die Budgetgerade im Anfangsausstattungspunkt (F,0) nach unten. Im Optimalpunkt B nach Besteuerung flihrt das Geber-Individuum den Betrag BD ab und erreicht das Nutzenniveau uB. Wiirde ihm dieser Betrag in Form einer Pauschalsteuer entzogen und wiirde sich in Folge einer solchen Pauschalbesteuerung die urspriingliche Budgetgerade um BD parallel nach unten verschieben, wiirde das Individuum im dann resultierenden Optimalpunkt C das im Vergleich zu uB hohere Nutzenniveau uc erreichen. Der Abstand zwischen uB und uc steht fur das Ausma!3 der steuerlichen Zusatzlasten, die von der proportionalen Einkommensteuer verursacht werden. In analoger Weise lassen sich auch die steuerlichen Zusatzlasten beschreiben, die durch die Subventionierung des weniger produktiven Individuums entstehen. Zu umverteilungsbedingten Wohlfahrtsverlusten kann es aber selbst dann kommen, wenn der Staat die Umverteilung durch Steuern bzw. Transfers vornehmen mo'chte, bei denen nicht, wie im Falle der gerade eben betrachteten proporti-
2.4 Ökonomische Einwände gegen eine gleichheitsorientierte Umverteilung
43
onalen Einkommensteuer, von vornherein ein Keil zwischen Brutto- und Nettolohn getrieben wird. Die Annahme ist jetzt allerdings, dass das mit c bezeichnete Existenzminimum eines Individuums auf alle Fälle von der Besteuerung verschont werden soll. Konsum
Freizeit
0
F
Abb. 2-15: Pauschalsteuer vs. lineare Einkommensteuer
Wir stellen uns wiederum vor, dass der Staat einen bestimmten Betrag T * von einem Individuum erhalten möchte, das in dem geplanten Umverteilungsschema als Zahler vorgesehen ist. Wenn ein solches Individuum ein Lohneinkommen erzielt, das c +T * übersteigt, hat es den Betrag T * in Form einer Pauschalsteuer abzuführen. Liegt sein Lohneinkommen zwischen dem Existenzminimum c und c +T *, so wird ihm der gesamte das Existenzminimum c übersteigende Betrag entzogen. Im Einkommensintervall [c,c +T *] beträgt der Grenzsteuersatz der Umverteilungssteuer also 100 %. Liegt das Lohneinkommen unter c , wird keine Steuer fällig, so dass dem Geber-Individuum zumindest sein Existenzminimum c belassen und der Zahler nicht selber zum Sozialfall wird. Grafisch erhält man für das Geber-Individuum eine an zwei Stellen, nämlich C und D geknickte Budgetlinie. Den Punkt, in dem diese Budgetlinie von einer Indifferenzkurve des Individuums tangiert wird, bezeichnen wir mit B (vgl. Abb. 2-16). Wir nehmen jetzt weiter an, dass der Punkt C, in dem das Individuum gerade soviel arbeitet, dass sein Arbeitslohn zur Finanzierung des Existenzminimums ausreicht, oberhalb der durch B verlaufenden Indifferenzkurve uB liegt. Wenn das Individuum nun den Umverteilungsmechanismus antizipiert, wird es sich auf die Erzielung des Existenzminimums-Einkommens c beschränken und sich für den Punkt C entscheiden. Der Umverteilungsmechanismus läuft dann ins Leere, weil die als Zahler vorgesehenen Individuen überhaupt kein Einkommen erzielen, das man ihnen wegnehmen kann. Der einzige Effekt dieses Umverteilungsmechanis-
44
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
mus besteht darin, dass den potenziellen Geber-Individuen jeglicher Anreiz genommen wird, Lohneinkommen über das Existenzminimum hinaus zu erzielen. Da mangels Masse keine Umverteilung stattfinden kann, erhalten auch die Individuen, für welche der Transfer gedacht war, keinen Zuwachs an verfügbarem Einkommen. Das Ergebnis, das sich dann einstellt, ist also weder für den Geber noch für den Empfänger vorteilhaft und bedeutet gegenüber dem Status Quo ohne jede Umverteilunspolitik sogar eine Pareto-Verschlechterung. Würde man nämlich auf die falsch konzipierte Umverteilungspoltik verzichten, würde ein potenzielles Zahler-Individuum zumindest den Punkt A erreichen und sich dabei besser stellen als in C. Wir wollen uns jetzt überlegen, wie in dieser Situation der Umverteilungsmechanismus umgestaltet werden kann, damit sich eine für alle Beteiligten besseren Lösung erreichen lässt.. Konsum
* Freizeit
Abb. 2-16: Wohlfahrtsverlust durch Steuerfreiheit des Existenzminimums
Eine allerdings höchst problematische Möglichkeit würde darin bestehen darin, dass der Staat seine Umverteilungspläne verborgen hält und die Geber-Individuen mit der Besteuerung überrascht, nachdem diese ihr Arbeitseinkommen erworben habe. Ein solches Täuschungsmanöver würde jedoch als sehr unfair empfunden werden und damit das Vertrauen in die Verlässlichkeit und die Glaubwürdigkeit der staatlichen Politik untergraben. Ganz generell gilt die Vermeidung von Willkür als wichtige Leitlinie für die Steuerpolitik in einem demokratischen Rechtsstaat. Auch würden Individuen, wenn sie einmal den Glauben an die Aufrichtigkeit des Staates verloren haben, in zukünftigen Perioden ihre Bemühungen zur Erzielung von Einkommen möglicherweise einschränken. Sie hätten dann auch kein großes Interesse mehr daran, ihre Produktivität zu steigern, innovativ zu sein und unternehmerische Risiken einzugehen. Investitionen in das (Human)Kapital würden reduziert – und eine Beeinträchtigung von Produktivität und Wachstum wäre zu erwarten. Vielleicht würden einige der enttäuschten Individuen sogar das Land
2.4 Ökonomische Einwände gegen eine gleichheitsorientierte Umverteilung
45
verlassen und auswandern - und dem heimischen Staat damit als Steuerzahler gänzlich verloren gehen. Bei der anderen Alternative schlägt der Staat gerade den umgekehrten Weg ein. Er baut nämlich eine Reputation („guten Ruf“) dafür auf, dass er bei der Umverteilungspolitik Zurückhaltung üben wird. Auch eine verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie, wie sie in Deutschland durch das Grundgesetz gegeben ist, kann die Individuen vor einem staatlichen Eingriff in ihre Eigentumsrechte schützen und damit das mögliche Ausmaß von Umverteilungsaktivitäten begrenzen. Eine solche Selbstbeschränkung des Staates bei der Umverteilung hat aber zur Folge, dass Abstriche am Gleichverteilungsziel gemacht werden müssen. Wie sich auf diese Weise gegenüber dem zunächst betrachteten (und völlig misslungenen) Versuch einer Umverteilungspolitik eine Verbesserung erreichen lässt, zeigt Abb. 2-17. Der Staat beschränkt hier den angekündigten Steuerbetrag für ein potenzielles Zahler-Individuum auf einen Wert T , der so klein ist, dass der Punkt C jetzt unterhalb der Indifferenzkurve uE liegt, die durch den Tangentialpunkt E auf der zu T gehörigen Budgetlinie verläuft. Im Grenzfall ist T so zu wählen, dass die Indifferenzkurve uE gerade durch C verläuft. Das betrachtete Individuum wird bei dieser Umverteilungspolitik offensichtlich mehr arbeiten, als zur Sicherung seines Existenzminimums nötig ist. Aus dem dann erzielten höheren Einkommen lässt sich der Transfer T an die armen Individuen tatsächlich bezahlen, so dass sich auch deren Nutzen erhöht. Obwohl es auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, kann hier eine Besserstellung des Transferempfängers erst bei einer Beschränkung des Transferumfangs, d.h bei bescheideneren verteilungspolitischen Zielen, erreicht werden. Konsum
T
Freizeit
0
F
Abb. 2-17: Pareto-Verbesserung durch Verringerung des Pauschaltransfers
46
2 Gleichheit und Gerechtigkeit Folgerung 2-10: Durch steuerliche Zusatzlasten und negative Leistungsanreize, die durch einen Umverteilungsmechanismus verursacht werden konnen, kommt es zu EffizienzeinbuBen, die den Umfang des zu verteilenden „Kuchens" verringern. Eine Beschrankung des angestrebten Transfervolumens kann die Umverteilungspolitik effektiver machen und zu einer Nutzenerhohung bei Gebern und Nehmern und somit einer Pareto-Verbesserung beitragen.
2.5 Bekampfung von Armut als alternatives verteilungspolitisches Ziel 2.5.1 Armutskriterien Die Probleme, die wir im Zusammenhang mit dem Gleichverteilungsziel aufgezeigt haben, konnen zur Schlussfolgerung fuhren, dass sich die Verteilungspolitik an einem weniger ehrgeizigen und konzeptionell weniger problematischem Ziel orientieren sollte: der Beseitigung bzw. der Verminderung von Armut. Es geht dann nicht wie bei den egalitaristischen Ansatzen um eine Anderung der relativen Verteilung zwischen den Individuen, sondern vielmehr wird in erster Linie die Verbesserung der Lage der wirklich Bedurftigen angestrebt - d.h. von armen Individuen, die uber keine ausreichenden Mittel verfiigen, um aus eigener Kraft ein menschenwurdiges Leben fuhren zu konnen. Grlinde fur Armut liegen auf individueller Ebene in Krankheit, Behinderung, mangelnder Ausbildung oder auch ungtinstigen sozialen Startbedingungen, welche den Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene kann Armut die Folge von Naturkatastrophen (Missernten, Uberschwemmungen, Dtirre), von konjunkturellen Verwerfungen (Massenarbeitslosigkeit infolge von Rezessionen) oder aber auch - wie besonders in den Entwicklungslandern Afrikas - die Folge einer anhaltenden Wachstumsschwache (etwa aufgrund von zu geringer Kapitalbildung oder auch falscher Wirtschafts- und Finanzpolitik) sein. Beim Ziel der Armutsbekampfung ist - im Vergleich zum Ziel der Gleichverteilung - die potenzielle Zielgruppe der Transferempfanger kleiner. Allerdings kann in einer Gesellschaft die Zahl der Armen so groB sein, dass innerhalb eines Landes nicht gentigend Mittel zur vollstandigen Beseitigung der Armut aufgebracht werden konnen. In diesem Falle wird der Kampf gegen die Armut (im Rahmen der Entwicklungshilfe) zu einem internationalen Problem. Wenn sich die Umverteilungspolitik auf die Bekampfung der Armut konzentriert, wird auch das zuvor ausfuhrlich diskutierte Problem der Bestimmung einer angemessenen ZielgroBe fur die Umverteilungspolitik entscharft. Individuen mit sehr niedrigem Einkommen sind in der Regel wenig produktiv und befinden sich in einer insgesamt unbefriedigenden Lebenssituation, sei es aufgrund der eigentlichen Ursache der Armut (wie etwa Behinderung) oder sei es aufgrund eines Gefuhls des Ausgeschlossenseins von dem in einer Gesellschaft als ublich angesehe-
2.5 Bekampfung von Armut als alternatives verteilungspolitisches Ziel
47
nen Lebensstandard. Weit mehr als in den mittleren und hoheren Einkommensschichten dtirfte deshalb am unteren Ende der Einkommensskala eine Korrelation von geringem Einkommen und niedrigem Nutzenniveau bestehen. Einen (quantitativ allerdings kaum bedeutsamen) Ausnahmefall stellen in diesem Zusammenhang „Aussteiger" <jar, die zugunsten eines ungebundenen und selbst bestimmten Lebens eine erhebliche Einschrankung beim materiellen Konsum freiwillig in Kaufnehmen. Besonders in Bezug auf Entwicklungslandern scheint es sinnvoll, sich bei der Definition von Armutsindikatoren an der Versorgung mit Grundbedarfsgtitern (bei Nahrungsmitteln etwa gemessen durch die verfugbaren Kilokalorien pro Tag) zu orientieren. Die Bestimmung eines Armutsindikators dtirfte dadurch in wesentlich objektiverer Weise moglich sein als die Bestimmung von Wohlbefindensindikatoren im Rahmen einer auf das Gleichverteilungsziel ausgerichteten Umverteilungspolitik. Die Klassifikation eines bestimmten Teils der Bevolkerung als „arm" und darn it als einer eines Einkommenstransfers bedtirftigen Gruppe erfordert die Festlegung einer Armutsschwelle A. Es ist ein zentrales Thema der gesamten Armutsliteratur, ob diese Armutsschwelle absolut (in Bezug auf den Existenzminimumbedarf, den man zum Uberleben braucht) oder relativ (etwa bezogen auf das Durchschnittseinkommen einer Gesellschaft) definiert sein sollte. Bei der relativen Bestimmung von Armut gelten beispielsweise alle diejenigen Individuen als arm, deren Einkommen weniger als 50 % des Durchschnittseinkommens oder des Medianeinkommens betragt. (Das Medianeinkommen ist das Einkommen desjenigen Individuums, das bei Ordnung der Individuen nach der Hohe ihrer Einkommen gerade den mittleren Rang einnimmt, so dass 50 % der Gesamtpopulation armer und 50 % der Gesamtpopulation reicher als dieses Individuum sind.) Die Festlegung einer relativen Armutsschwelle ist letztlich willktirlich und als Grundlage politischer Handlungsempfehlungen somit fragwtirdig. Selbst wenn sich in einer ohnehin schon wohlhabenden Gesellschaft die Einkommen aller und somit auch der Armen stark erhohen, konnte bei einer relativen Armutsschwelle die gemessene Hohe der Armut steigen. Das andere Extrem, d.h. die Verwendung von strikt an absoluten Bedarfskriterien orientierten Armutsindikatoren, erscheint aber realitatsfern. Die Menschheit hat jahrtausendelang ohne elektrischen Strom uberlebt. Dennoch kame in einer entwickelten Industriegesellschaft niemand auf die Idee, einen Ausschluss der Armen von der Nutzung elektrischer Energie zu fordern oder tolerieren zu wollen. Uberdies scheint eine gewisse Beteiligung der Armen am wirtschaftlichen Fortschritt nicht nur aus technischen Grtinden unvermeidlich, sondern (z.B. bei der medizinischen Versorgung) auch ethisch dringend geboten. Dass man die Armutsschwelle an einem festen Prozentsatz des Durchschnittseinkommens festmachen sollte, ist aber keine zwingende Schlussfolgerung aus dieser Uberlegung. Viel eher wird eine mit steigendem Pro-Kopf-Einkommen degressive Entwicklung der Armutsschwelle nahe gelegt.
48
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
2.5.2 Numerische Armutsindikatoren Numerische Armutsmafie haben die Funktion, das AusmaB der in einer Gesellschaft herrschenden Armut in einer Zahl zu erfassen und damit zu quantifizieren. Ganz ahnlich wie bei den UngleichheitsmaBen gibt es auch hier ganz unterschiedliche Ansatze, die wir jetzt kurz beschreiben wollen. Es sei wiederum Y = (yv,...,yn) mit yx
A(Y)A_v /=i
kA{Y) A
/=i
A
definiert wird. Ein Poverty-Gap-Index misst also die Summe der relativen Abstande, die die Einkommen der Armen zur Armutsschwelle haben. Ein anderes denkbares ArmutsmaB,
HA(Y)=Z±-A>
< 2 ' 21 )
zeigt an, welcher Anteil am Gesamteinkommen der betreffenden Volkswirtschaft insgesamt von den Nicht-Armen an die Armen umverteilt werden musste, um die Armut vollstandig zu beseitigen. Alle bisher betrachteten ArmutsmaBe gentigen nicht der recht plausiblen normativen Forderung, dass ein Transfer an ein ganz armes Individuum die gemessene Armut starker vermindern sollte als ein gleich hoher Transfer an ein nicht ganz so armes Individuum. Die Klasse der Foster'schen Armutsmafie, deren Konzeption die gleiche Idee wie bei den Atkinson-MaBen zur Messung von Ungleichheit entspricht, schafft hier Abhilfe. Fur die Armutsschwelle A und ein gegebenes a > 0 wird das zugehorige Foster-Mafi FAa(Y) definiert als
2.5 Bekampfung von Armut als alternatives verteilungspolitisches Ziel
FAAY)=
IO-^)a
49
(2-22)
Die Flexibility des Foster'schen Ansatzes zeigt sich daran, dass einige der von uns zunachst erorterten ArmutsmaBe Spezialfalle der Foster-MaBe darstellen. So erhalt man, wenn man in Formel (2.23) a = 0 setzt, den absoluten HeadcountIndex und fur a = 1 den Poverty-Gap-Index. Je groBer a gewahlt wird, desto mehr relatives Gewicht erhalten bei der Armutsmessung gemaB (2.23) die Individuen mit sehr niedrigem Einkommen im Vergleich zu den Armen mit einem naher an der Armutsschwelle gelegenen Einkommensniveau. Folgerung 2-11: An Stelle des Gleichverteilungszieles kann sich die Verteilungspolitik auch darauf konzentrieren, die Lage der armen Individuen I zu verbessern, deren Einkommen unter einer bestimmten Grenze liegt. Bei I der Bestimmung dieser Armutsschwelle und der Messung des AusmaBes der Armut gibt es verschiedene Alternativen, die teilweise heftig umstritten I sind. I
2.5.3 Empirische Befunde Wir wollen auch jetzt einige Beispiele zur Verwendung von ArmutsmaBen in der Empirie geben. Dabei betrachten wir zunachst die Armut in Deutschland. Die in der nachsten Tabelle angegebenen Daten stammen aus dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung „Lebenslagen in Deutschland". 2.5.3.1 Armut in Deutschland Tabelle 2-1 stellt einen relativen Headcount-Index dar: Wie groB ist der Anteil an der Gesamtbevolkerung, deren Einkommen unter die jeweilige Schwelle fallt? Dabei kommen vier verschiedene Ansatze zur Messung der relativen Armut zur Anwendung, und zwar wird die 50 %- und die 60 %-Armutsschwelle jeweils auf das arithmetische Mittel sowie auf den Median der Nettoaquivalenzeinkommen bezogen. Z.B. gibt der Wert in der ersten Spalte und ersten Zeile an, dass sich 6,5 Prozent der Bevolkerung 1973 mit weniger als der Halfte des Durchschnittseinkommens begnugen mussten. Um unterschiedliche HaushaltsgroBen in angemessener Weise berticksichtigen zu konnen, werden so genannte Aquivalenzskalen verwendet. GroBere Haushalte haben verfugen gegeniiber kleineren bei der Lebensfuhrung tiber mehr Einsparmoglichkeiten, etwa weil bestimmte Ausstattungsgegenstande im Haushalt von alien Mitgliedern genutzt werden konnen und nicht fur jedes Mitglied separat angeschafft werden mussen. Um den gleichen Lebensstandard wie ein Alleinstehender zu erreichen, reicht deshalb fur ein Paar bereits ein etwas geringeres als das dop-
50
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
pelte Einkommen aus. Generell wachst der individuelle Bedarf unterproportional mit der Haushaltsgrofte. Tabelle 2-1: Alternative Armutsquoten (in v.H) 1973-1998 1998 1973|1978|198311988, 1993 1993 1998 nur Westdeutschland iWest Ost jWest, Ost Ges. jWestj Ost Ges. {West! Ost iS?!?ili£? Mtelwerte_ Gesamtdeutsche Mittelwerte 50 % / Mittel 50 % / Median 60 % / Mittel 60 % / Median 50 % / Mittel 50 % / Median 60 % / Mittel 60%/ Median
6,5
6,5
7,7
8,8
Adte OECD-<Skala 10,1 3,1 10,9 4,4 10,0 7,8
3,1
3,2
4,6
5,4
6,1 (1,7) 6,6
5,2
2,8
4,2
19,0 10,1 .9,0
15,0
9,4
7,7
5,7
5,3
16,0 16,0 16,9 17,1 19,6 9,3 20,0 11,9 19,9 15,6 37,3 19,6 17,2 29,6 8,8
8,9
10,6 11,4 12,5 5,8
6,3
6,4
8,2
8,9
Neue OECD-Skala 9,7 2,9 10,6 4,8 9,6
7,6
17,9 10,2 9,1
14,7
3,6
3,7
5,5
6,2
6,2 (1,8) 7,1
4,7
9,3
6,2
8,5
14,8 14,8 16,0 16,5 18,6 9,1 8,7
9,0
11,0 11,8 12,0 6,1
13,1 7,9
11,7 9,1 22,5 12,4 10,9 18,8
2,9
5,6
5,6
18,9 11,9 19,0 14,8 36,2 18,7 16,3 28,9 13,1 8,4
11,7 9,1 22,0 12,5 11,0 18,7
Quelle: Bundesministerium fur Arbeit und Soziales Im Armuts- und Reichtumsbericht werden zur Berechnung der Aquivalenzeinkommen sowohl die „Alte OECD-Skala" als auch die „Neue OECD-Skala" herangezogen. Sie messen den einzelnen Haushaltsmitgliedern folgende Gewichte bei: Tabelle 2-2: Gewichte zur Berechnung des Aquivalenzeinkommens Bezugsperson Person ab 15 J. Person unter 15 J.
Alte OECD-Skala Neue OECD-Skala 1 1 0,7 0,5 0,5 0,3
Um das Aquivalenzeinkommen zu erhalten, wird das Gesamteinkommen durch die Summe dieser Gewichte geteilt. Aus diesem Unterschied der Gewichtung wird klar, dass die relative Einkommensposition in der Einkommensverteilung fur groBere Haushalte nach der neuen OECD-Skala gunstiger erscheint als unter der alten. Die Betrachtung der in Tabelle 2-3 aufgefuhrten Zahlen zeigt, dass von 1998 bis 2003 die relative Einkommensarmut in Deutschland zugenommen hat.
2.5 Bekampfung von Armut als alternatives verteilungspolitisches Ziel
51
Tabelle 2-3: Armutsrisikoquoten und Armutslticke1 Statistische MaBzahl 40% des Medianeinkommens 60% des Medianeinkommens Fiktive Quote von offentlichen | Transfers2) Armutslticke 3)
Deutschland 2003 1998 1,9 1,9 12,1 13,5 38,5 41,3
Alte Lander 2003 1998 1,9 1,9 11,0 12,2 34,9 38,2
Neue Lander 2003 1998 (2,0) 1,9 19,3 17,1 54,1 55,1
15,5
16,2
14,6
16,0
16,4
14,6
1) Werte beziehen sich auf Berechnungen mit der neuen OECD-Skala fur die Gebietsteile jeweils auf den gesamtdeutschen Mittelwert 2) Alle offentlichen Transfers einschlieBlich gesetzlicher Renten und Pensionen 3) Die ausgewiesenen Werte beziehen sich auf die 60%-Mediangrenze 2.5.3.2 Armut
weltweit
Aus entwicklungspolitischer Perspektive von besonderem Interesse ist auch die Entwicklung der Armut auf globaler Ebene. Im Zusammenhang mit der Armutsmessung in Entwicklungslandern kommt absoluten Armutsmaften eine wesentlich starkere Bedeutung zu. Nach der offiziellen Definition der Weltbank gilt jemand als arm, wenn er weniger als einen Dollar pro Tag zur Verftigung hat. In anderen Untersuchungen wird aber auch die Grenze von zwei Dollar pro Tag verwendet. Die beiden folgenden Abb. 2-18 und 2-19 stellen fur diese beiden Grenzen die weltweite Armutsentwicklung im Zeitablauf dar.
1970
1972
1974
1976
1978
1980
1982
1984
1988
1990
Less than $1 a Day ~^~~Less than 2$ a Day
Abb. 2-18: Armutsquote Quelle: Sala-i-Martin, X. 2002
1992
1994
1996
19
52
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
1600 \
^
-
~
~
~
^
^
~
~
-
^
-
~
^
^
^
—*""""---"—^-~~«™
1400 1200 1000 800 600 400 200
0 1970
1972
1974
1976
1978
1980
1982
1984
1986
1988
1990
1992
1994
1996
- Less than $1 a Day —^— Less than $2 a Day;
Abb. 2-19: Poverty Headcount Index (in Millionen) Quelle: Sala-i-Martin (2002) In Abb. 2-18 wird dabei der relative Headcount-Index benutzt, der den Anteil der Armen an der Gesamtbevolkerung darstellt. Bei Abb. 2-19 handelt es sich um den absoluten Headcount-Index, der die Anzahl der Armen angibt. Aus beiden Grafiken erkennt man, dass weltweit die Armut abgenommen hat. So lag der Anteil der Armen nach der „Ein-Dollar-pro-Tag-Grenze" 1974 noch bei ungefahr 20 Prozent und ist auf 5,4 Prozent im Jahr 1998 abgesunken. Der Anteil der Armen nach der „Zwei-Dollar-pro-Tag-Grenze" ist gleichfalls stark zurtickgegangen: Er fiel von 44,5 Prozent 1974 auf 18,7 Prozent 1998. Die Entwicklung bei den absoluten Armutszahlen war naturgemaB nicht ganz so stark. Trotzdem zeigen auch die absoluten Armutszahlen nach unten. So ist nach der „Ein-Dollar-pro-Tag-Grenze" die Zahl der Armen yon liber 700 Millionen 1974 auf weniger als 300 Millionen 1998 abgesunken. Nach der „Zwei-Dollar-pro-Tag" Definition sank die Zahl der Armen von 1,48 Milliarden 1976 auf 980 Millionen 1998. Tabelle 2-4: ArmutsmaBe in Lateinamerika und der Karibik, bevolkerungsgewichteter Durchschnitt, 1986-96 Poverty Extreme 1^verty Squared Poverty Squared Poverty Headcount Poverty Headcount Poverty Gap Gap Gap Gap 1986 33.75 14.84 9.06 13.32 5.94 4.05 8.02 5.24 11.54 17.59 18.18 1989 38.26 9.10 6.36 18.65 19.20 1992 39.65 12.60 15.94 4.87 7.20 10.63 17.00 1995 36.92 5.09 16.10 7.38 10.72 16.93 1996 36.74
Quelle: Wodon, Q. et al. (2000). Poverty and policy in Latin America and the Caribbean.
2.6 Ubungsaufgaben
53
Bei der Analyse von Armut, wird in empirischen Studien aber nicht nur der Headcount-Index verwendet, sondern unter anderem audi das Foster'sche ArmutsmaB. Als Beispiel kann die folgende Tabelle 2-4 dienen, die zeigt wie sich die Armut in ganz Lateinamerika entwickelt hat. In der Tabelle 2-4 entspricht die Spalte „Squared Poverty Gap" dem FosterIndex mit a = 2. Im Jahr 1996 war der Foster-Index niedriger als 1992, aber hoher als 1986. Insbesondere in Brasilien hat sich die Armut in den 1990er Jahren stark vermindert.
2.6 Ubungsaufgaben
Aufgabe 2.1: a.
b. c. d.
Gegeben sei eine Vier-Personen-Okonomie mit dem Einkommensprofil Y = (1,3,6,10). Ermitteln Sie die dazugehorige Lorenz-Kurve. Nehmen Sie an, dass ein Dalton-Transfer vom vierten zum zweiten Individuum in Hohe von 2 stattfindet. Zeigen Sie, dass sich dadurch eine im Sinne des LorenzKriteriums gleichmaBigere Einkommensverteilung ergibt. Ermitteln Sie den Gini- und den Variationskoeffizienten fur das Einkommensprofil Y. Welche Auswirkung hat eine proportionale Steuer mit dem Steuersatz t = 30% auf die Lorenzkurve dieses Einkommensprofils? Das Steueraufkommen dieser proportionalen Steuer wird den Individuen jetzt in pauschaler Form zuriick erstattet, d.h. jedes Individuum erhalt einen gleich hohen Einkommenstransfer. Zeigen Sie, dass es durch ein solches SteuerTransfer-Schema zu mehr Lorenzgleichheit kommt Veranschaulichen Sie die Wirkung eines solchen Steuer-Transfer-Schemas grafisch fur den Fall zweier Individuen.
Aufgabe 2.2: Wir betrachten zwei verschiedene Zwei-Personen-Okonomien. In, der ersten sei das Einkommensprofil (1,1), in der zweiten das Einkommensprofil (5,5) gegeben. Das Einkommensprofil in der ersten Okonomie soil sich zu (1,3) verandern, das in der zweiten zu (3,5). Wie andert sich die Lorenzkurve in jeder der beiden Okonomien? Wie andert sich dann die Lorenzkurve der Einkommensverteilung fur die aus vier Personen bestehende Okonomie, die aus den beiden Teilokonomien zusammengesetzt ist? Weshalb konnte dieses Ergebnis paradox erscheinen? Aufgabe 2.3: Die Gesamtwohlfahrt von n Individuen mit dem Einkommensprofil Y = (yl9...,yn) wird gegeben durch die gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion
54
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
wobei -*— falls ^ ^ 1
Kyt) = 1 - * In y. a. b. c.
mit e > 0 . falls £ = 1
Zeigen Sie fur den Fall « = 2, dass eine im Sinne des Lorenz-Kriteriums egalitarere Einkommensverteilung immer zu einer Wohlfahrtserhohung fiihrt. Stellen Sie fur den Zwei-Personen-Fall. das Gleichheitsaquivalent fur (yl, y2) = (5,10) in einem yx - y2 -Diagramm dar. Berechnen Sie den Atkinson-Index dieser Einkommensverteilung fur e - 0,5 , s = 1 und s = 2 . Wie kann man den Atkinson-Index interpretieren?
Aufgabe 2.4: In einer Okonomie mit einer groBen Zahl von Individuen habe ein einzelnes Individuum die Nutzenfunktion u(F,c) = Fc , wobei F fur die Freizeit und c fur den Konsum eines am Markt erworbenen Konsumgutes steht. Die Individuen verfiigen iiber die einheitliche Zeitausstattung F = 10 . Ein Individuum vom Typ 1 habe den Lohnsatz w} =1, ein Individuum vom Typ 2 den Lohnsatz w2 = 2 . a.
b.
Wie hoch muss der Transferbetrag T * gewahlt werden, wenn es gleich viele Individuen von Typ 1 und Typ 2 gibt, der Staat eine vollkommene Gleichverteilung der Nutzen aller Individuen anstrebt und vollkommene Information im Hinblick auf die Produktivitat der Individuen herrscht? Wie hoch ist der maximale durchsetzbare Transfer T , wenn der Staat nur die erzielten Einkommen, nicht aber die Produktivitat der einzelnen Individuen beobachten kann?
Aufgabe 2.5: Ermitteln Sie fur die Einkommensprofile Y0 = (5, 15, 25, 55) und Yx = (10, 15, 25, 50) das Foster'sche ArmutsmaB flir a = 1 und a = 2, wenn die Armutsschwelle bei 50 % des Durchschnittseinkommens angesetzt wird. Interpretieren Sie Ihre Ergebnisse. Was passiert, wenn a steigt? Aufgabe 2.6: Angenommen, ein potenzieller Spender hat nur Interesse daran, dass die Bedurftigen ganz bestimmte GUter (Grundnahrungsmittel) zusatzlich erhalten. Zeigen Sie,
2.7 Literatur
55
wie es in diesem Fall dazu kommen kann, dass sich durch eine Beschrankung auf entsprechende Sachleistungen (Lebensmittelspenden) sowohl Geber als auch Empfanger besser stellen konnen als bei monetaren Transfers.
2.7 Literatur Arneson, R. (1989), Equality and Equality of Opportunity for Welfare, Philosophical Studies 56:77-93. Atkinson, A.B. (1970), On the Measurement of Inequality, Journal of Economic Theory 2: 264-263. Atkinson, A. B. (1987), On the Measurement of Poverty, Econometrica 55: 749-764. Boadway, R. und M, Keen 2000), Redistribution, in: A. B. Atkinson und F. Bourguignon (Hg.), ,Handbook of Income Distribution, Vol. 1, Amsterdam et al.: Elsevier: 677-789. Bossert, W. und A. Pfmgsten (1990), Intermediate Inequality: Concepts, Indices and Welfare Implications, Mathematical Social Science 19: 117-134. Browning, E. K. (2002), The Case Against Income Redistribution, Public Finance Review 30:509-530. Bundesministerium fur Arbeit und Soziales (Hg.) (2001): Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bonn Corneo, G. (2003), Offentliche Finanzen: Ausgabenpolitik, Tubingen: Mohr Siebeck. Cowell, F. A. (2000), Measurement of Inequality, in: A. B. Atkinson und F. Bourguignon (Hg.), Handbook of Income Distribution, Vol. 1, Amsterdam et al.: Elsevier: 87-166. Dalton, H. (1920), Measurement of the Inequality of Incomes, Economic Journal 30: 348361. Ebert, U. (1987), Size and Distribution of Incomes as Determinants of Social Welfare, Journal of Economic Theory 41: 25-43. Ebert, U. (1988), Measurement of Inequality: An Attempt at Unification and Generalization, Social Choice and Welfare 5: 147-169. Dasgupta, P. S., Sen, A. K. und D. A. Starrett (1973), Notes on the Measurement of Inequality, Journal of Economic Theory 6: 180-187. Foster, J. E. und A. F. Shorrocks (1988), Poverty Orderings and Welfare Dominance, Social Choice and Welfare 5: 171-198. Harsanyi, J .C. (1955), Cardinal Welfare, Individualistic Ethics and Interpersonal Comparisons of Inequality, Journal of Political Economy 63: 309-321. Hayek, F.A. (1991), Die Verfassung der Freiheit, Tubingen: Mohr Siebeck. Kersting, W. (2000), Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler. Kolm. S.-C. (1996), Modern Theories of Justice, Cambridge, MA: MIT Press. Krebs, A. (Hg.) (2002), Gleichheit oder Gerechtigkeit?, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Mirrlees, J. (1971), An Exploration in the Theory of Optimum Income Taxation, Review of Economic Studies 38: 175-208. Nozick, R. (1976), Anarchie, Staat und Utopie, Miinchen: Verlag Moderne Industrie. Rawls, J. (1975), Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Roemer, J. E. (1996), Theories of Redistribute Justice, Cambridge MA: Harvard University Press. Sala-i-Martin, X. 2002. The Disturbing 'Rise' of Global Income Inequality. Working Paper 8904. National Bureau of Economic Research: Cambridge MA. Sen, A. (1980), Equality of What?, in: S. McMurrin (Hg.), The Tanner Lectures on Human Values 1, Cambridge: Harvard University Press: 195-220.
56
2 Gleichheit und Gerechtigkeit
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3 Effizienzorientierte Begriindungen fiir Umverteilung
Bei den bisherigen Uberlegungen wurden UmverteilungsmaBnahmen aus dem Streben nach einer gerechteren Verteilung (von Einkommen, Vermogen, Nutzen) erklart. Aus der Sicht dieser Ansatze stellt das Gleichverteilungsziel einen Wert an sich dar. Im Gegensatz dazu ist es aber auch moglich, die staatliche Umverteilungspolitik eher funktional zu begrlinden und redistributive MaBnahmen durch Bezugnahme auf im engeren Sinne okonomische Ziele zu motivieren. Eine Umverteilung wird aus dieser Perspektive nicht etwa deshalb gefordert, weil eine gleichmaBigere Verteilung fur sich betrachtet als etwas Gutes gilt, sondern weil man sich dadurch positive Effekte insbesondere auf Hohe und Wachstum des Sozialprodukts verspricht. Das Ideal wurden aus okonomischer Sicht UmverteilungsmaBnahmen darstellen, die sogar zu einer Pareto-Verbesserung fuhren, d.h. den Nutzen aller Beteiligten erhohen. In diesem Falle wtirde nicht nur der Empfanger, sondem auch der Geber von einem Einkommenstransfer profitieren. Die Umverteilung ware in diesem Falle kein Null-Summen-Spiel, und ein Verteilungskonflikt zwischen Transferzahler und Transferempfanger wtirde vermieden. Beide Seiten (Geber und Nehmer) konnten einer solchen Umverteilungspolitik freiwillig zustimmen. Wir wollen jetzt anhand verschiedener theoretischer Modelle erortern, wie es zu diesem erfreulichen Phanomen kommen kann.
3.1 Spezielle Praferenzen der Individuen 3.1.1 Altruismus 3,1.1.1 Der Fall eines einzelnen Geber-Individuums Im einfachsten Fall nehmen wir an, dass es zwei Individuen (ein „armes" und ein „reiches") und nur ein Gut gibt, von dem das arme Individuum die Menge ca und das reiche die Menge cr konsumiere. Die Anfangsausstattung des reichen Individuums mit diesem Gut sei yr und die des armen ya (
58
3 Effizienzorientierte Begrundungen fur Umverteilung Konsum arm
Konsum reich
Abb. 3-1: Nutzenerhohung beim Altruisten durch Transfer Die Nutzenfunktion des reichen Individuums lasst sich in diesem Falle beschreiben als u(cr,ca), wobei die partiellen Ableitungen nach cr und ca beide positiv sind: uc :=du/dcr >0,uc :=du/dca > 0 . In einem cr - ca - Diagramm (Abb. 3-1) ist der Moglichkeitsbereich des reichen Individuums eine negativ geneigte 45°-Linie, denn das arme Individuum erhalt genau die Menge des Konsumgutes, die das reiche Individuum nicht selber konsumiert, sondern an das arme Individuum transferiert: cr +ca = yr+ya- Dabei ist vorausgesetzt, dass durch den Transfer keine Transaktionskosten entstehen. Der Ausgangspunkt, der die Situation ohne Transfer beschreibt, ist A = (yr,ya). Auf der Budgetlinie wahlt das reiche Individuum seinen Optimalpunkt B = (c r *,c a *). Der optimale Transfer, den das reiche Individuum in dieser Situation freiwillig vornimmt, betragt dann 7* = yr -cr* = ca * - y a . Plausiblerweise wird fur alle Kombinationen (c,c) auf der Winkelhalbierenden die Ungleichung uc (c,c)>uc (c,c) gelten. Dies bedeutet, dass im hypothetischen Fall eines gleich hohen Guterkonsums von Geber und Nehmer beim reichen Individuum der Grenznutzen einer eigenen zusatzlichen Konsumeinheit den Grenznutzen einer zusatzlichen Konsumeinheit beim anderen Individuum iibersteigt. Trotz seines Altruismus ist einem reichen Individuum der eigene Konsum dann wichtiger als der Konsum des armen. Der vom Geber gewahlte Optimalpunkt B liegt unter dieser Annahme unterhalb der Winkelhalbierenden, und es gilt
yr-ya
r*<-
Eine vollige Angleichung des Konsums beider Individuen ent-
spricht in diesem Fall also nicht den Praferenzen des Gebers.
3.1 Spezielle Praferenzen der Individuen
59
Das reiche Individuum stellt sich durch den Transfer T * (also im Punkt B) besser als im Ausgangspunkt A , in dem es nichts fur den Armen spendet. Da sich fur den Empfanger durch den Transfer gleichfalls eine Nutzenerhohung ergibt, kommt es durch die auf freiwilliger Basis vorgenommene Umverteilung also zu einer Pareto-Verbesserung. Staatliche Umverteilungspolitik ist in diesem Fall nicht erforderlich. 3.1.1.2 Der Fall mehrerer Geber-Individuen: Das Gefangenen-Dilemma Wenn altruistische Individuen solche Transfers von sich aus vornehmen, ist zunachst nicht klar, welche Rolle der Staat bei einer mit gesetzlichem Zwang durchgesetzten Umverteilungspolitik spielen sollte. Zu einer Begrimdung fur staatliche Eingriffe gelangt man jedoch, wenn nicht nur einer, sondern mehrere potenzielle Geber vorhanden sind. Der Gesamttransfer an arme Individuen stellt dann aus der Sicht der Geber ein offentliches Gut dar, das bei rein freiwilligem Handeln in zu geringem Umfang bereitgestellt wird. Wenn es einem altruistischen Geber neben seinem eigenen Konsum auf das von den armen Individuen erreichte Konsumniveau ankommt, profitiert dieser Geber auch von den Transfers, die andere vornehmen. Ein einzelner Geber verschafft in diesem Fall mit seinem Transfer nicht nur dem Empfanger, sondern auch den anderen potenziellen Gebern einen Nutzengewinn, der bei isoliertem Handeln aber nicht in das Kalktil eines individuellen Gebers einbezogen wird. Weil er sich dann einen eigenen Konsumverzicht sparen konnte, ware es einem einzelnen Geber sogar lieber, wenn ein bestimmter Transfer von den anderen finanziert wiirde und er selber die Rolle des Freifahrers einnehmen konnte. In dieser Situation ist das Ergebnis, das sich durch die freiwillig vorgenommenen Transfers einstellt, nicht Pareto-optimal. Es besteht dann aber die Moglichkeit, durch Reoperation der Geber eine simultane Erhohung der Transferzahlungen der beteiligten Geber herbeizuftihren und dadurch sowohl die Geber als auch die Empfanger besser zu stellen. Um die Wohlfahrtseffekte eines solchen kooperativen Spendenverhaltens moglichst einfach zu beschreiben, nehmen wir an, dass es zwei reiche GeberIndividuen und ein armes Nehmer-Individuum gibt. Im Ausgangszustand, der bezogen auf ein einzelnes Geber-Individuum wieder im Punkt A = (yr,ya) liegt, soil kein Anreiz fur einen isoliert vorgenommenen freiwilligen Transfer eines Individuums bestehen. Grafisch (vgl. Abb. 3-2) bedeutet dies, dass die Indifferenzkurve durch A in diesem Punkt steiler ist als eine negativ geneigte 45°-Linie. Der Punkt B beschreibt die Position eines einzelnen Geber-Individuums, wenn beide Geber-Individuen zugleich den Transfer Ttatigen. Der Gesamttransfer in einer solchen kooperativen Losung betragt dann IT. Der Gebernutzen in B ist groBer als der mit uA bezeichnete Nutzen in A (formal: uB > uA), sofern T geniigend klein ist und die Indifferenzkurve durch A in diesem Punkt nicht allzu steil verlauft
60
3 Effizienzorientierte Begriindungen fur Umverteilung Konsum arm
Konsum reich
Abb. 3-2: Gefangenendilemma bei mehreren Altruisten Die kooperative Losung kommt allerdings nicht von selber durch freiwillig vorgenommene Transfers zustande. Ein Individuum wtirde sich ja im Punkt C, in dem nur das andere Individuum den Transfer tatigt, besser stellen als in B: •uc >uB . Wegen der unterstellten Normalitat der beiden Guter ist die Indifferenzkurve in C zwangslaufig steiler als die negativ geneigte 45°-Linie, so dass B unterhalb der Indifferenzkurve durch C liegen muss. Jedes der Individuen hat also einen Anreiz, die Abmachung Uber eine gemeinsame Spende in Hohe von T zu brechen. Der Punkt Z), in dem das betrachtete Individuum den versprochenen Transfer leistet, das andere jedoch nicht, ist flir den Transferzahler aber noch schlechter als der Ausgangszustand A: uD
uB >uA>uD
.
(3.1)
Diese Rangordnung der Nutzenwerte entspricht der des Gefangenen-Dilemmas. Nicht-Kooperation (d.h. Nicht-Zahlung von Tbzw. Bruch der Abmachung) ist die dominante Strategic fur beide Individuen. Als Ergebnis (im Sinne des NashGleichgewichts) ist bei unkoordiniertem Verhalten somit beidseitige NichtKooperation zu erwarten, d.h. keines der beiden Individuen ist zu einer freiwilligen Spende bereit. Die Geber-Individuen verbleiben dann in der Position A, obwohl sie in B einen hoheren Nutzen erreichen konnten. Auch die Transferempfanger wurden beim Ubergang von A nach B gewinnen. Auf der Basis freiwilligen Handelns kommt diese Pareto-Verbesserung jedoch nicht zustande. Um den Ubergang von A nach B zu erreichen, ist es erforderlich, eine Bindung individuellen Verhaltens vorzunehmen, durch die Freifahrerverhalten ausgeschlossen wird. Jedes Spender-Individuum muss sicher sein konnen, dass das an-
3.1 Spezielle Praferenzen der Individuen
61
dere „mitzieht", wenn es selber spendet. Nur dann entgeht es dem Risiko, in der Position D zu landen, in der es in gewissem Sinne betrogen und ausgebeutet wird. Die naheliegende Moglichkeit zur Schaffung einer solchen Bindung ist die Unterordnung unter eine externe („staatliche") Zwangsgewalt, die durch Androhung von Sanktionen fur die allseitige Erbringung der Kooperationsleistung, d.h. eines gemeinsamen Transfers beider Geber-Individuen, sorgt. Eine staatliche Umverteilungspolitik, welche die Individuen aus dem Gefangenen-Dilemma befreit und den altruistischen Praferenzen der Individuen wirksam Geltung verschafft, lasst sich mit Hilfe dieses Arguments rechtfertigen. 3.1.L3 Der optimale kooperative Transfer Bei dieser Uberlegung ist zunachst noch offen, wie hoch der optimale Transfer T** ausfallt, den die Individuen in einer kooperativen (und symmetrischen) Losung Ieisten. Grafisch kann er dadurch bestimmt werden, dass man den Punkt B ermittelt, in dem die Budgetgeraden durch A mit dem Anstieg -2 von einer Indifferenzkurve eines Geber-Individuums tangiert wird. Der im Vergleich zu einer negativ geneigte 45°-Linie steilere Anstieg dieser Budgetgeraden bringt zum Ausdruck, dass die Individuen kooperieren und simultan einen Transfer in jeweils gleicher Hohe Ieisten. Einem individuellen Transfer von Tentspricht dann ein Gesamttransfer von IT . Das Niveau des optimalen kooperativen Transfers T * * ist dann die Differenz zwischen yr und dem Abszissenwert des Optimalpunkts B bzw. die Halfte der Differenz zwischen dem Ordinatenwert von B und ya (vgl. Abb. 3-3). Konsum arm
Konsum reich 7
j **
Abb. 3-3: Optimaler kooperativer Transfer
62
3 Effizienzorientierte Begriindungen fiir Umverteilung Folgerung 3-1: Bei mehreren altruistischen Gebern kann eine staatliche Umverteilungspolitik zur Uberwindung des sich bei rein freiwilligen Spenden ergebenden Gefangenen-Dilemmas und somit zu einer ParetoVerbesserung fuhren.
3.1.1.4 Andere Strukturen des Spenden-Spiels Das oben beschriebene Gefangenen-Dilemma wird abgemildert, wenn die altruistischen Praferenzen der Geber eine „Warm Glow of Giving"-Komponente aufweisen. Fur die Spender zahlt in diesem Falle nicht nur das Wohl des Empfangers und damit die insgesamt erreichte Spendensumme, sondern auch das gute Gefuhl bzw. das beruhigte Gewissen, wenn sie durch ein eigenes Konsumopfer zugunsten der Armen eine moralisch wertvolle Handlung vollbringen. Wie zuvor bezeichnen wir mit A: B: C: D:
den Ausgangszustand, in dem niemand etwas spendet (beidseitige NichtKooperation), den Zustand, in dem beide spenden (beidseitige Reoperation), den Zustand, in dem das andere Individuum spendet, das im Diagramm betrachtete jedoch nicht und den Zustand, in dem das im Diagramm betrachtete Individuum spendet, das andere aber nicht.
Bei „Warm Glow of Giving" wird die Konstellation uB > uc und uD > uA moglich. Die Freude an der eigenen guten Tat ist in diesem Fall so stark, dass ein einzelnes Geber-Individuum auf alle Falle spendet, unabhangig davon, was das andere tut. Spenden stellt in diesem Fall die dominante Strategie fur beide Geber dar. Die Rangordnung zwischen den Nutzenniveaus uc und uD spielt dabei keine Rolle. Denkbar erscheint im Falle des „Warm Glow of Giving" aber auch die folgende Rangordnung der Nutzenwerte: uB>uc>uA>uD.
(3.2)
In diesem Fall lohnt sich eine individuelle Spende fur ein einzelnes Individuum genau dann, wenn auch das andere Individuum spendet. In diesem Fall existieren zwei Nash-Gleichgewichte in reinen Strategien. In dem „schlechten" Gleichgewicht leisten die beiden Individuen keine Spende, in dem anderen „guten" Gleichgewicht spenden beide. In einem solchen Assurance Game muss fiir eine Stabilisierung der Erwartungen gesorgt werden, die ein Individuum uber das Verhalten des jeweils anderen hat. Die Rolle des Staates kann dann auf eine entsprechende Koordinierungsfunktion beschrankt bleiben, ein Spendenzwang ist nicht unbedingt notig. Bei Vorliegen eines „Warm Glow of Giving"-Motivs ist es gerade in groBen Gruppen nicht unwahrscheinlich, dass das Spendenspiel die Struktur eines Assu-
3.1 Spezielle PraTerenzen der Individuen
63
ranee Game aufweist. Die Wirkung einer isolierten Spende wtirde bei einer grofien Zahl von Empfangern gewissermaften „verpuffen". Es muss deshalb eine kritische Masse an gesamtem Spendenaufkommen erreicht werden, um einzelne Spender zu einer freiwilligen Gabe bewegen. Folgerung 3-2: Wenn die altruistischen Geber (im Sinne eines „Warm Glow of Giving") aus der Vornahme der Spendenhandlung selber Nutzen Ziehen, kann es zu anderen Spielstrukturen als denen des GefangenenDilemmas kommen. Zur Erreichung einer Pareto-optimalen Losung reicht I dann ein geringeres MaB an staatlichen Eingriffen aus. I Auch ohne staatliche Beteiligung kann es durch die Hervorhebung bestimmter Bedurftiger (oder aber auch durch die Moglichkeit einer Ubernahme von „Patenschaften" fur einzelne Not leidende Individuen) zur Aktivierung des „Warm Glow of Giving" und damit zur Uberwindung des Kooperations-Dilemmas kommen. Salienz, d.h. eine ganz besondere, von den Medien vermittelte Auffalligkeit einer Notlage („Fotos verhungernder Kinder"), kann in dieser Weise zur Uberwindung eines Kooperationsproblems im Bereich freiwilliger Spenden beitragen. Aus dieser Beobachtung lasst sich eine — vielleicht etwas ernuchternde — Erkenntnis ableiten: Auch karitative Organisationen, die Spenden zu humanitaren Zwecken sammeln und weiterleiten, bediirfen eines geschickten Marketings und einer professionellen Offentlichkeitsarbeit, um Spender zu gewinnen und wirksame Hilfe leisten zu konnen.
3.1.2 Statusorientierung Wir wollen jetzt den Fall betrachten, dass die Individuen nicht nur an der Hohe des eigenen Einkommens (und an den Gutern, die sie sich damit kaufen konnen) interessiert sind, sondern auch am Abstand des eigenen Einkommens von dem der anderen Individuen. Der subjektive Nutzen der Individuen hangt in diesem Falle nicht nur von ihrer materiellen Lage, sondern auch von ihrer Position in der Einkommenshierarchie ab. Eine solche Statusorientierung ftihrt - wie im Folgenden gezeigt wird - zu allokativen Verzerrungen bei der Entscheidung uber den Einkommenserwerb, die sich durch staatliche UmverteilungsmaBnahmen zumindest begrenzen lassen. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass es zwei Individuen gibt, deren jeweilige Einkommensniveaus wir wieder mit yx und y2 bezeichnen. Bei gegebenem Einkommensprofil (y^y2) soil der Nutzen von Individuum / den folgenden Wert annehmen:
Ui=u(yi) +
h(yi-yJ)-c(yi)
Dabei bezeichnet y} das Einkommen des jeweils anderen Individuums j *i. Die drei einzelnen Komponenten dieses Nutzenausdrucks erklaren sich wie folgt:
64
3 Effizienzorientierte Begriindungen fur Umverteilung
• u{yt) ist der Nutzen, den Individuum / aus dem Konsum der Giiter zieht, die sich mit dem Einkommen yt erwerben lassen. •
Kyt ~yj)
i st der Statusnutzen von Individuum /: Er ist positiv, wenn Indivi-
duum / das andere Individuum j im Einkommen iibertrifft (yi > y •) und negativ, wenn das Einkommen von Individuum / unter dem von Individuum j liegt (yt < yj). Bei yt = y} gilt Kyf - y}) = A(0) = 0. •
c(yt) beschreibt die Kosten, die Individuum /' bei Erzielung des Einkommens yf zu tragen hat. Darunter kann man sich etwa ein monetares Aquivalent flir das „Arbeitsleid" von Individuum / vorstellen.
Welches Einkommensniveau Individuum /' in dieser Situation wahlen wird, hangt offensichtlich davon ab, wie hoch das Einkommen des anderen Individuums j jeweils ist. Die Reaktionsfunktion yrt(yj), die bei gegebenem Einkommen ydes anderen Individuums j die optimale Anpassung von Individuum / beschreibt, ergibt sich durch Maximierung des Nutzens von Individuum / bei gegebenem y-. Die Losung dieses Optimierungsproblems wird durch die folgende Bedingung 1. Ordnung bestimmt: ^
= u\y\ (yj)) + h\y] (y}) - y}) - c\y] (yf)) = 0 .
(3.3)
Da beide beteiligten Individuen in der gleichen Weise handeln, ergibt sich bei diesem „Einkommenserzielungs-Spiel" ein symmetrisches (Cournot-Nash-) Gleichgewicht mit gleichem Einkommen y flir beide Individuen. Bei y sind die Einkommenserzielungs-Entscheidungen der beiden Individuen miteinander konsistent, d.h. es gilt yrt(y) = yrj(y) = y und die obige Marginalbedingung wird zu uXy) + h'(
(3.4)
Wenn h'(0) > 0 gilt, d.h. wenn eine marginale positive Abweichung des eigenen Einkommens von dem des anderen zu einem Zuwachs an Statusnutzen fuhrt, folgt aus der Gleichung (3.4) insbesondere w'CP) < c'CP).
(3-5)
Wir wollen jetzt annehmen, dass der Staat die Einkommen beider Individuen einer proportionalen Einkommensteuer mit Steuersatz t unterwirft und das jeweils erzielte Steueraufkommen in Hohe von t\yt +^ 7 ) zu gleichen Teilen an die beiden Individuen zuriick transferiert. Wenn die Einkommensniveaus der Individuen differieren, fuhrt dieses Umverteilungsschema zu einem Transfer vom reicheren zum arrneren Individuum.
3.1 Spezielle Praferenzen der Individuen
65
Das Netto-Einkommen von Individuum / belauft sich unter Einwirkung dieses Steuer-Transfer-Schemas dann fiir jede von den Individuen gewahlte Einkommenskombination (y\,y2) auf ( l - t ) y ,
+
^ ^
=
(l--)yi+-yj
und sein Nutzen auf "((1 - ^y, +^j) Die Reaktionsfunktion yrit(yj)
+ A((l - My, - yj)) - c(y,). von Individuum / wird analog zum Fall ohne
Steuer durch die Marginalbedingung
(i_i K ((i-i)^(^.)+^ / ) 2
2
2
(3.6)
+(1 - t)h\{\ - t)(y{, [yj) - Vj)) - c'M (yj )) = 0 bestimmt. Fiir das im symmetrischen Cournot-Nash-Gleichgewicht von beiden Individuen erzielte Einkommen yt ergibt sich daraus die folgende Bedingung (l-t)uXyt)
+ (l-t)hf(0)-c'(yt)
= 0.
(3.7)
Wenn u(y) streng konkav ist, d.h. der Grenznutzen mit wachsendem Einkommen fallt, und gleichzeitig die Kostenfunktion in y konvex ist {c"(y) > 0), gilt y,
(3-8)
d.h. nach Einfuhrung der Besteuerung wird von beiden Individuen ein niedrigeres Einkommensniveau gewahlt. Diese Aussage lasst sich folgendermaBen begrunden: Beim ursprlinglichen y hatte man ja (wegen (3.4), u\y) > 0 und /z'(O) > 0) (l--)u'(y)
+ (l-t)ti(0)-cf(y)
<0 .
(3.9)
Wegen u"(y) < 0 und c"(y) > 0 kann der links stehende Ausdruck nur dadurch gleich null werden, dass das Argument^ sinkt. Erst fur ein unter y gelegenes Einkommensniveau wird es also moglich, dass die Bedingung (3.7) erfiillt ist. Daraus ergibt sich aber die Beziehung (3.7) unmittelbar. Im Cournot-Nash-Gleichgewicht betragt bei Anwendung des Steuer-TransferSchemas der Nutzen jedes der beiden Individuen dann
66
3 Effizienzorientierte Begrundungen fur Umverteilung
«((1"^)y, +{yt)
+
KQ-0( j>, ~yt))-c(yt)
= u(yt) + A(0)-c(y t ).
Der entscheidende Punkt der Argumentation ist jetzt, dass dieser bei yt erreichte Nutzen tiber dem bei y erreichten Nutzen liegt, d.h. dass U(y() = u(yi) + h(0)-c(yt)>u(y)
+ h(0)-c(y)
= U(y)
(3.10)
gilt. Das Steuer-Transfer-Schema flihrt somit zu einer Pareto-Verbesserung. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn yt nicht wesentlich kleiner als y ist bzw. der Steuersatz t nicht allzu groB gewahlt wird. Weil A(0) in beiden Nutzenausdriicken auftritt, folgt diese Behauptung u(yt)-c(yt)
>u(y)-c(y)
(3.11)
Die Ungleichung (3.11) ergibt sich ihrerseits, weil wegen u\y) < c\y) die Funktion u(y)-c(y) an der Stelle y = y fallt. Eine nicht zu groBe Verminderung von y (gegeniiber y ) wirkt deshalb in der Tat Nutzen erhohend. Wir wollen jetzt erlautern, was hinter diesem formalen Resultat steckt und wie es sich okonomisch erklaren lasst. Die Statusorientierung der Individuen schafft einen zusatzlichen Anreiz zum Einkommenserwerb, was an sich noch kein Problem ist. Wenn aber das Erwerbsstreben aller Individuen in dieser Weise stimuliert wird, uberlisten sie sich bei ihrem Streben, die anderen zu ubertreffen, gewissermaBen selber. Die Bemuhungen von Individuum / um Verbesserung seines Status werden durch gleichgerichtete Aktivitaten des anderen Individuums j konterkariert und faktisch zunichte gemacht. Anders gesagt: Bei Statusorientierung stellt ein zusatzlicher Einkommenserwerb eines Individuums fur die anderen Individuen eine negative Externalitat dar, die gegeniiber dem erreichbaren Optimalzustand zu einer Wohlfahrtsminderung fuhrt. Da im Gleichgewicht die Individuen trotz aller Anstrengungen doch wieder nur auf einem identischen Einkommensniveau landen und somit keinen echten Statusgewinn erzielen, niitzt ihnen ihr Aufwand zur Verbesserung ihrer Statusposition im Endeffekt nichts. Das Steuer-Transfer-Schema ermoglicht eine Internalisierung der wohlfahrtsschadlichen Aktivitat, indem er die zu Statuszwecken vorgenommenen Anstrengungen fur die Individuen weniger attraktiv macht. Der Anreiz zu selbst schadigendem Verhalten wird reduziert, und die Individuen sparen sich einen Teil der Kosten, die sie aufwenden, um im Wettkampf um Positionen die Nase vorn zu haben. Dadurch wird eine Pareto-Verbesserung erreicht. Folgerung 3-3: Ein Umverteilungsmechanismus kann zur Abschwachung I der individuellen Anreize zu unproduktivem statusorientiertem Verhalten und auf diese Weise zu einer Wohlfahrtsverbesserung beitragen. J Durch Statusorientierung der Individuen werden noch weitere Verhaltensreaktionen ausgelost. Wenn die Individuen auf ihre relative Position in der Gesell-
3.2 Die Versicherungsfunktion des Staates
67
schaft Wert legen, wird es in der Regel flir sie auch wichtig sein, dass ein hoher Status nach auBen deutlich sichtbar ist. Die Signalisierung von Status erfolgt durch Statusgiiter, zu denen v.a. bestimmte Luxusgtiter wie Segelyachten, Reitpferde, Luxusautos, Brilliantencolliers usw. gehoren. Aber auch im alltaglichen Bereich gibt es ahnliche Phanomene. So ist immer wieder zu horen, dass Kinder mit teurer Markenkleidung ausgestattet sein miissen, um von ihren Altersgenossen respektiert zu werden, was die von Kindern verursachten Kosten betrachtlich erhohen kann. Wenn zum Erwerb von Statusgutern Geldausgaben erforderlich werden, sinkt ganz allgemein die relative Bedeutung nicht-monetarer Nutzenkomponenten wie etwa der Freizeit. Die Bereitschaft der Individuen, auf Freizeit zu verzichten und mehr zu arbeiten, steigt, weil sie sich nur so zusatzliche Statusgiiter leisten konnen. Statusorientierung erhoht dann auch die Schwelle, bei der sich eine Sattigung mit Einkommen bzw. Konsumgiitern einstellt. Neben der Freizeit erscheinen zudem andere, nicht auf den Gelderwerb ausgerichtete Aktivitaten wie etwa die Kindererziehung den Individuen als weniger wertvoll. In materialistischen Gesellschaften, die auf Status groBen Wert legen, ist so gesehen mit einer niedrigeren Geburtenrate zu rechnen. Allerdings kann - wie in traditionellen patriarchalischen Gesellschaften - eine hohe Kinderzahl als Statusmerkmal gelten, so dass es ganz entscheidend von den herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen abhangt, in welcher Richtung Statusorientierung die demographische Entwicklung beeinflusst.
3.2 Die Versicherungsfunktion des Staates 3.2.1 Das Problem Ob Individuen im Laufe ihres Lebens reich oder arm werden, hangt in einem nicht unerheblichen MaBe von Gliick oder Pech ab. Insbesondere ist in der Regel nichtgenau prognostizierbar, welchen Marktwert Kapitalgtiter in der Zukunft haben werden und ob eine Investition den erhofften Ertrag tatsachlich erbringt. Solche Investitionsrisiken bestehen insbesondere auch flir das Humankapital im Sinne der berufsspezifischen Fertigkeiten und Kenntnisse eines Individuums. Welche Art der Ausbildung, d.h. welche Investition in das eigene Humankapital, sich fur ein Individuum wirklich lohnt, lasst sich angesichts der Unwagbarkeiten des Arbeitsmarktes nur schwer voraussehen. Erworbenes Humankapital kann sich auch entwerten, und zwar sogar schlagartig. Dies ist nicht nur die mogliche Folge von Krankheiten und Unfallen, sondern auch von wirtschaftlichen Prozessen (etwa der Entwicklung neuer Guter und Produktionsverfahren, der Veranderung von Praferenzen, dem Zusammenbruch einzelner Unternehmen oder ganzer Branchen). Nach Erfmdung des Automobils waren die Dienstleistungen von Hufschmieden wesentlich weniger gefragt, und durch die Verlagerung der Produktion in das kostengiinstigere Ausland hat die spezielle Qualifikation von Textilingenieuren in Deutschland an Wert eingebtiBt. Die wirt-
68
3 Effizienzorientierte Begrundungen fur Umverteilung
schaftliche Entwicklung als Prozess der „kreativen Zerstorung" macht somit auch vor dem Einzelnen und den von ihm erworbenen Fahigkeiten nicht Halt. In einer frlihen Lebensphase wissen die Individuen tiber ihren spateren wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg und die Renditen ihrer (Humankapital)Investitionen nur ungenau Bescheid. Wenn die Individuen risikoavers (risikoscheu) sind, werden sie ex ante (bevor der Zufall wirkt und zur Zuweisung einer bestimmten Einkommensposition flihrt) den Wunsch versptiren, sich gegen die sich auf diese Weise ergebenden Risiken abzusichern. Sie werden deshalb in bestimmtem Umfang eine Umverteilung der Einkommen ex post (nach ihrer Realisierung) beftirworten. Staatliche UmverteilungsmaBnahmen erhalten aus dieser Perspektive den Charakter einer Versicherung, die dann ihrerseits Ruckwirkungen auf die Investitionstatigkeit der Individuen hat. Wir stellen dieses Motiv fur eine staatliche Umverteilung und die dabei resultierenden Anreiz- und Wohlfahrtseffekte jetzt anhand eines einfachen Modells dar.
3.2.2 Wohlfahrtserhohung durch Umverteilung bei Risiko: Das Grundmodell Wir nehmen an, dass vor Ablauf des Zufallsprozesses ein representatives Individuum mit dem Anfangsvermogen W0 nur weiB, dass es spater mit der Wahrscheinlichkeit nx~n die Endvermogensposition Wx =W0-L einnehmen und mit der Gegenwahrscheinlichkeit n2 =\-n auf der Endvermogensposition W2 =W0 bleiben wird. Der Misserfolg auBert sich also in einem Vermogensverlust in Hohe von L. In einer groBen Gruppe und bei stochastisch unabhangigen Einzelschicksalen ist das Gesetz der groBen Zahlen anwendbar, und daher entspricht die Misserfolgswahrscheinlichkeit nx auch dem Anteil der Individuen an der Gesamtpopulation, die Pech haben, wahrend n2 den Anteil der „Glucklichen" angibt. Die Wahrscheinlichkeiten stimmen in diesem Falle mit den relativen Haufigkeiten uberein. Zur Beurteilung der Vorteilhaftigkeit riskanter Projekte eines Individuums wird jeder Endvermogenswert W durch eine von Newnann-Morgenstern (vNM) Nutzenfunktion u(W) bewertet, die monoton in W wachst. Als Ausdruck der unterstellten Risikoaversion des betrachteten Individuums soil die vNMNutzenfunktion zudem streng konkav sein. Bei angenommener zweifacher Differenzierbarkeit von u(W) gilt also u"(W) < 0 . Der subjektive Wert eines riskanten Projektes (bzw. einer „Lotterie") (Wl,nl\W2,7r2) wird dann durch den Erwartungsnutzen EV^nru{Wx)
(3.12)
gemessen. Fur gegebene Wahrscheinlichkeiten/Haufigkeiten nx=n und n2 -\-n beschreiben wir in einem W2 -Wx -Diagramm (vgl. Abb. 3-4) Linien gleichen Erwartungsnutzes. Auf einer solchen Indifferenzkurve liegen alle End-
3.2 Die Versicherungsfunktion des Staates
69
vermogenskombinationen (WX,W2), die bei gegebenen Wahrscheinlichkeiten und gegebener Nutzenfimktion u(W) als gleichwertig gelten. Eine derartige Indifferenzkurve ist fallend und wegen der unterstellten Risikoaversion konvex. An einer bestimmten Stelle (WX,W2) betragt der Anstieg einer ErwartungsnutzenIndifferenzkurve n2
dW, dW2
(l-7F).u'(W2) n-u\Wx)
(3.13)
Endvermogen bei Miss erfolg
W\ Sicherheitslinie
/45° \
B/
1 - 71
tan a = -— 7C
/L
W0-L
. 1
1 1
0
1 7* W0
w2 Endvermogen bei Erf olg
Abb. 3-4: Erwartungsnutzenerhohung durch Transferschema Im Schnittpunkt mit der Winkelhalbierenden, d.h. der Sicherheitslinie, auf der Wx =W2 gilt, hat gemaB (3.13) jede Indifferenz den Anstieg -n2lnx. Aus der Gleichung (3.13) folgt zudem, dass eine durch einen bestimmten Punkt (WX,W2) unterhalb der Winkelhalbierenden verlaufende Indifferenzkurve dort umso steiler (flacher), je kleiner (groBer) die Misserfolgswahrscheinlichkeit n -nx ist. Durch ex ante geplante UmverteilungsmaBnahmen fur die ex post realisierten Einkommen gelingt es in dieser Situation, den Erwartungsnutzen der Individuen zu erhohen. Ein entsprechendes Transferschema fmdet dann hinter dem Schleier des Nichtwissens, hinter dem noch niemand weiB, ob ihn das Schicksal zu einem Erfolgsmenschen oder zu einem Pechvogel machen wird, allgemeine Zustimmung. In einem demokratischen Abstimmungsverfahren wurde ein solcher Umverteilungsmechanismus von alien Burgern einstimmig gebilligt. Welche Art der Umverteilung dabei gewahlt wurde, wollen wir jetzt genauer analysieren. Wenn jedes erfolgreiche Individuum einen Transfer in Hohe von T zu zahlen hat und keine Transaktionskosten entstehen, erhalt jedes erfolglose Individuum
70
3 Effizienzorientierte Begrundungen fur Umverteilung
den Betrag (n2ln{)T. Fur verschiedene Niveaus von T liegen die moglichen Kombinationen der Vermogensniveaus nach Einrichtung des Umverteilungsmechanismus auf einer (Transfer-)Geraden mit dem Anstieg -n2I nx, die durch den Ausgangspunkt (WQ,W0 -L) fuhrt. Bei einer Erhohung von T (grafisch: der Annaherung der Nach-Transfer-Vermogensposition an die Sicherheitslinie) erhoht sich der Erwartungsnutzen, der in Abhangigkeit von T EU = 7rru(W0-L
+ ^T) nx
+ 7T2-u(W0-T)
(3 14)
lautet. Durch Ableitung dieses Ausdrucks nach T ergibt sich die Bedingung 1. Ordnung fur den optimalen Transfer r* dEU = 7r2>\u'(W0-L + ^-T*)-u'(W0-T*)i
= 0.
(3.15)
Wegen der angenommenen strengen Konkavitat der vNM-Nutzenfunktion u(W) ist diese Bedingung genau dann erfullt, wenn ^0-L +^-r*= nx
W0-T*
(3.16)
gilt, d.h. wenn das Vermogen von Erfolgreichen und Erfolglosen vollstandig angeglichen ist. Die optimale Hohe des Transfers betragt dann T* = n x > L .
(3.17)
Daraus folgt, dass die Individuen in der hier betrachteten Situation mit fixen Vermogensniveaus in den einzelnen Umweltzustanden ex ante sogar fur eine Umverteilungspolitik votieren wtirden, die zur volligen Nivellierung der Einkommen ex post fuhrt. In Abb. 3-4 ftihrt ein entsprechender Transfer T* zum Punkt B auf der Sicherheitslinie. Folgerung 3-4: Risikoaverse Individuen bevorzugen hinter dem Schleier des Nichtwissens eine Umverteilungspolitik ex post, die bei vollkommener Zufallsabhangigkeit der moglichen Einkommenspositionen und ohne Transaktionskosten sogar zu einer volligen Angleichung der Einkommensniveaus fuhrt.
3.2.3 Der Zusammenhang mit dem klassischen Utilitarismus und der Gerechtigkeitstheorie von Rawls Dass Transfers von Reich zu Arm den Erwartungsnutzen erhohen, liegt daran, dass bei Risikoscheu der vNM-Grenznutzen einer Einkommens-Einheit beim ar-
3.2 Die Versicherungsfunktion des Staates
71
meren Individuum uber dem beim reicheren liegt. Wenn man u(W) nicht als vNM-Nutzenfunktion, sondern als Wohlbefmdensindikator („echtes Nutzenempfinden beim Vermogen W") interpretiert, entspricht die Konkavitat von u(JV) einer Standardannahme des Utilitarismus, gemaB der ein Einkommenszuwachs einem armen Individuum mehr nutzt als einem armen. Der Erwartungsnutzen aus der Theorie der individuellen Entscheidung bei Risiko ist aus dieser Perspektive analog zu einer (additiv-separablen) gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion, welche den gesellschaftlichen Gesamtnutzen misst und die wir bereits im Abschnitt 2.3.2 verwendet haben. Das im vorherigen Abschnitt formulierte Argument besagt dann, dass diese gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt maximal wird, wenn ein gegebenes Gesamtvermogen bzw. -einkommen gleichmaBig verteilt ist. Auf diese Weise gelangt man zu einer risikotheoretischen Begrtindung der Gleichverteilungsmaxime, wie sie der klassische Utilitarismus entwickelt hat. Dass UmverteilungsmaBnahmen im Eigeninteresse vollig egoistischer, jedoch risikoaverser Individuen liegen, die ihre zuktinftige soziale Position nicht kennen, ist auch ein zentrales Element des Ansatzes, den der Sozialphilosoph John Rawls (1921-2002) im Jahre 1971 in seinem bertihmten Buch „Theorie der Gerechtigkeit" entwickelt hat. Rawls selber hat im Zusammenhang mit der Annahme eines Schleiers des Nichtwissens die Maximin-Regel als Bewertungskriterium fur Vermogens-(Einkommens-)profile vorgeschlagen. Dabei werden - wie gleichfalls bereits in Abschnitt 2.3.2 - die verschiedenen Vermogens- bzw. Einkommensprofile nur nach der H6he des jeweils niedrigsten individuellen Vermogensniveaus beurteilt. Ein solches „Ranking" erscheint aber nicht immer einleuchtend: GemaB der Maximin-Regel ist beispielsweise das Vermogensprofil (10 ,1.000 ,1.000 ) (mit Eintrittswahrscheinlichkeit von jeweils 1/3 fur jeden der drei Endvermogenswerte) dem Vermogensprofil (9,100.000,100.000) uberlegen. Dieses Urteil widerspricht jedoch der moralischen Intuition, weil man beim zweiten Vermogensprofil ein ca, lOOmal so groBes Gesamtvermogen realisieren konnte. Aus der Perspektive der Entscheidungstheorie bei Risiko verkorpert die Maximin-Regel eine unendlich hohe Risikoaversion. Als Hypothese fur das Verhalten von Individuen bei Risiko scheint diese Annahme bei realistischer Betrachtung nicht allzu plausibel. Auch hinter dem von Rawls benutzten Schleier des Nichtwissens wiirden die Individuen vermutlich bereit sein, sich gewissen Verlustrisiken auszusetzen, wenn sie dafur entsprechende Chancen auf Vermogensmehrung bekommen. Der Wunsch risikoscheuer Individuen, sich durch die Etablierung wohlfahrtsstaatlicher Umverteilungsmechanismen gegen Wechselfalle des Lebens abzusichern, kann auch zu einer Erklarung fur die historische Entwicklung des Sozialstaats beitragen: In dynamischen wachstumsorientierten Gesellschaften, in denen fur die Einzelnen groBe wirtschaftliche Chancen, aber auch erhebliche Risiken bestehen, sind aus der Sicht dieses Ansatzes relativ viele UmverteilungsmaBnahmen zu erwarten. Wenn jeder um seinen Platz in der Sozialhierarchie kampfen muss und der Ausgang dieses Kampfes ungewiss ist, ist der Absicherungsbedarf besonders ausgepragt. In einer statischen Klassengesellschaft, in der jeder weiB, wo er steht und stehen bleiben wird, ergibt sich demgegeniiber nur ein geringer Bedarf
72
3 Effizienzorientierte Begriindungen fur Umverteilung
an einer zur Minderung individueller Einkommensrisiken vorgenommene Umverteilungspolitik. Im Ubrigen ist auch zu beachten, dass diese Begrundung fur Umverteilung umso weniger greift, je weniger die Ungleichheit der Einkommens- bzw. Vermogenspositionen auf Zufall, sondern auf vom Individuum selbst beeinflussbaren Faktoren beruht.
3.2.4 Die Theorie des Wohlfahrtsstaates von Hans-Werner Sinn: Wohlfahrtsgewinne durch erhohte Risikoubernahme Das Vorhandensein von Umverteilungsmechanismen hat in der Regel Auswirkungen auf das Verhalten der Individuen. Wenn sie gegen Verlustgefahren abgesichert sind, steigt auch ihre Bereitschaft, riskante Projekte zu wagen. Zahl und Urnfang der in Angriff genommenen innovativen (und damit in der Regel riskanten) Investitionen wird zunehmen, und die Individuen werden mehr Humankapital bilden. UmverteilungsmaBnahmen zum Zwecke der Minderung des individuellen Risikos konnen auf diesem Weg wachstumsfbrdernde Effekte haben. Ein auf diesem Gedanken basierender Ansatz zur okonomischen Rechtfertigung staatlicher UmverteilungsmaBnahmen wurde von Hans-Werner Sinn (dem derzeitigen Prasidenten des ifo Instituts in Munchen) entwiekelt. Die Sinn'sche Theorie des Wohlfahrtsstaates baut dabei auf der Theorie der Steuerwirkungen bei Risiko auf, die sich schon seit langerem in der finanzwissenschaftlichen Literatur findet. 3.2.4.1 Das Modell Im Modell von Sinn wird davon ausgegangen, dass es eine groBe Zahl identischer Individuen mit individuellem Anfangsvermogen W0 und vNM-Nutzenfunktion u(W) gibt. Alle diese Individuen haben die Moglichkeit, in ein riskantes Projekt zu investieren, wobei ein representatives Individuum den Umfang seiner riskanten Investition kontinuierlich variieren kann. Eintrittswahrscheinlichkeiten und Auszahlungen dieser Projekte sollen fur alle Individuen gleich sein. Bei einer Humankapitalinvestition bedeutet diese Annahme, dass sich ein Individuum fur ktirzere oder langere Ausbildungszeiten entscheiden kann; bei einer Investition in Sachkapital kann man sich zur Interpretation dieses Modells hingegen vorstellen, dass ein Unternehmer die GroBe seiner Produktionskapazitaten und damit das AusmaB seines Riskoengagements in gewissen Grenzen beliebig wahlen kann. Fur jeden riskant investierten Euro andert sich das Vermogen des Individuums bei Scheitern des Projektes urn rx Euro {j\ < 0), und bei Gelingen urn r2 Euro (r2 > 0). Hat das Individuum den Betrag V in das riskante Projekt investiert, erzielt es in den Zustanden / = 1,2 also die Endvermogenswerte W0 -V + V(l + ri) = W0 +rtV . Wie bereits zuvor bezeichnen wir mit nx-n die Misserfolgs- und mit n2 =\-n die Erfolgswahrscheinlichkeit des Investitionsprojektes. Wenn das Individuum uberhaupt nichts in das riskante Projekt investiert
3.2 Die Versicherungsfunktion des Staates
73
(V = 0 ), verbleibt es im Punkt A = (WQ,W0) auf der Sicherheitslinie; investiert es sein gesamtes Anfangsvermogen riskant (V = W0), gelangt es in den Punkt B = ((l + r2)W0,(l + r\Wo) (vgl. Abb. 3-5). Die Verbindungsstrecke zwisehen A und B definiert dann die Moglichkeitslinie, die alle durch Variation von V erreichbaren Endvermogenskombinationen angibt. Vermogen bei Misserfolg
wx
45°
- -4A
w,
\M
~j
(l+r,)W0
WQ
B W7 (l+r^Wr.
Vermogen bei Erfolg
Abb. 3-5: Der Domar-Musgrave-Effekt
Mit Mbezeichnen wir den Punkt auf der Stecke AB, in dem der Erwartungsnutzen des reprasentativen Individuums maximal wird. Der Parameter a*=zV*/WQ = AM I AB gibt dann an, welchen Anteil des Anfangsvermogens das Individuum zur Maximierung seines Erwartungsnutzens in das riskante Projekt stecken wird. Wenn sich das Individuum fur keine der Randlosungen V = 0 bzw. V - W0 entscheidet, wird die Moglichkeitslinie AB im Optimalpunkt M von einer Erwartungsnutzen-Indifferenzkurve tangiert. Algebraisch findet man die optimale Investition V* durch Maximierung des Erwartungsnutzens, d.h. das Optimierungsproblem lautet Max
nx • u(W0 +rl
(3.18)
Als Bedingung 1. Ordnung fur ein Maximum ergibt sich dann -nx • u'(JV0 + rxV*) • rx = n1 • u\W, + r2F*) • r2,
(3.19)
d.h. der (mit nx gewichtete) Grenznutzen des Endvermogens im Misserfolgsfall stimmt dann mit dem (mit n2 gewichteten) Grenznutzen des Endvermogens im Erfolgsfall uberein. Im Optimum muss eine zusatzliche Einheit an Vermogen also
74
3 Effizienzorientierte Begriindungen fur Umverteilung
sowohl im gunstigen als auch im ungunstigen Fall den gleichen (marginalen) Zuwachs beim vNM-Nutzen erbringen. Damit das Individuum uberhaupt bereit ist, einen Teil seines Anfangsvermogens riskant zu investiere und somit. F* > 0 gilt, muss der aus der aus einer riskanten resultierende Erwartungswert des VermogenszvwachsQS positiv sein, so dass Tr^l + r^V + n^X + r^V-V
> 0
bzw. 7Clrl+7r2r2 > 0
(3.20)
gelten muss. Weshalb (3.11) eine notwendige und hinreichende Bedingung fur V * > 0 darstellt, kann man sich grafisch auch leicht dadurch klar machen, dass man den Anstieg der Budgetlinie rxlr2 mit dem Anstieg ~n2lnx der Erwartungsnutzen-Indifferenzkurven in den Schnittpunkten mit der Sicherheitslinie vergleicht. 3.2.4.2 Der Domar-Musgrave-Effekt Gefragt wird jetzt danach, wie sich die Entscheidung eines individuellen Unternehmers andert, wenn sich der Staat gleichmafiig an den Gewinnen und den Verlusten aus dem riskanten Projekt beteiligt. Der dabei auftretende Effekt entspricht der Wirkung einer Einkommen- bzw. Vermogenszuwachssteuer mit dem Steuersatz t und vollstandigem Verlustausgleich. Bei symmetrischer Partizipation des Staates an Gewinnen und Verlusten wird der Endpunkt der Moglichkeitslinie zu
B' = (^0(l + (l-0r 2 ),^ 0 (l + 0-0/i))
(3'21>
wahrend der Anfangspunkt bei A = QV0,JV0) bleibt. Durch eine solche Steuer reduzieren sich sowohl der maximale Gewinn als auch der maximale Verlust (gegentiber WQ) proportional um den Anteil t ihres ursprlinglichen Wertes. Geometrisch bedeutet dies, dass sich die Moglichkeitslinie auf den Anteil ( 1 - 0 ihrer ursprlinglichen Lange verktirzt (vgl. Abb. 3-5). Fur das Hohe der optimalen Investition in das riskante Projekt hat dies die folgenden Konsequenzen: Angenommen, ohne die Steuer hatte sich eine innere L6sung M ergeben, d.h. eine Losung, die weder mit A noch mit B zusammenfallt. Sofern der Steuersatz t so niedrig ist, dass der neue Endpunkt der Moglichkeitslinie B' - wie in Abb. 3-5 dargestellt - noch rechts von M liegt (d.h. t < MB IAB gilt), bleibt es auch nach Erhebung der Steuer fur den Unternehmer bei der Endvermogenskombination M als bestmoglichem Ergebnis. Jedoch entspricht dem gleichen Punkt M jetzt eine hohere Investition in das riskante Projekt. Die Funktion V(t), die den beim Steuersatz / riskant investierten Vermogensbetrag angibt, wachst al-
3.2 Die Versicherungsfunktion des Staates
75
so in t. Bezogen auf die jeweils riskant investierten Anteile am Anfangsvermogen gilt namlich , A ~AM a(0 = = - =
~AM 1 1 = = a(0) = a*.
n 22^
Durch die staatliche Risikobeteiligung steigt der riskant investierte Teil des Anfangsvermogens gemaB (3.22) also auf das 1 /(l -1) -fache seines ursprunglichen Wert.es. Dieses Ergebnis lasst sich auch folgendermaBen erklaren: Wurde das Individuum auch nach Besteuerung den gleichen Teil von W0 in das riskante Projekt stecken wie zuvor, ware der (mit nx gewichtete) Grenznutzen des Endvermogens im ungunstigen Fall kleiner als der (mit n2 gewichtete) Grenznutzen des Endvermogens im gtinstigen Fall. Gleichheit der Grenznutzen im Erfolgs- und im Misserfolgsfall wird nur dann erreicht, wenn die Investition in das riskante Projekt so angepasst wird, dass (3.23) gilt. Fur den riskant investierten Vermogensbetrag V(t) hat man dann ebenfalls V(t) = a(t)W0 =^ljV0=-^-tV*
(3.23)
Algebraisch kann man diese Steuerwirkungen auch dadurch begriinden, dassman im Optimierungsproblem (3.18) die Ausdriicke rt durch (\-t)-rt ersetzt. Dadurch modifiziert sich die Optimalbedingung (3.19) zu
-^^Wo+^a-o^(0)-(i-o^i=^2^Wo+^a-o-no)-(i-o^- (3-24) Da man beide Seiten durch \-t kiirzen kann, ist Bedingung (3.24) Equivalent zu (3.19), d.h. wenn F* die Gleichung (3.19) lost, dann. lost ein Wert V(i) die Gleichung (3.24), falls gilt: W0 +rx{\-t)>V(t) = WQ+rxV*
(3.25)
Dam it erhalt man in der Tat
wie in (3.23) behauptet wurde. Der absolute Vermogensbetrag K, der in das riskante Projekt investiert wird, steigt durch die Steuer also auf das 1/(1-0 -fache seines ursprunglichen Wertes. Diese risikofordernde Wirkung einer staatlichen Risikobeteiligung ist in der steuertheoretischen Literatur als Domar-Musgrave-Effekt bekannt.
76
3 Effizienzorientierte Begrtindungen fur Umverteilung Folgerung 3-5: Der Domar-Musgrave-Effekt besagt, dass bei risikoaversen Individuen die proportionate Beteiligung des Staates an den Gewinnen und Verlusten eines Projektes mit dem Faktor t die Investition in dieses Projekt auf das 1/(1 - 0-fache des ursprtinglichen Wertes erhoht.
3.2,4.3 Die Wirkung eines Umverteilungsmechanismus Mit einer Umverteilung zwischen Erfolgreichen und Erfolglosen hat der rein partialanalytische Domar-Musgrave Effekt zunachst aber noch nichts zu tun. Um die auf ihm beruhenden Umverteilungswirkungen herauszuarbeiten, muss daruber hinaus die Verwendung des Steueraufkommens beriicksichtigt werden. Zu diesem Zweck wird wiederum angenommen, dass die einzelnen riskanten Projekte der Individuen stochastisch unabhangig voneinander sind. Die individuellen Risiken gleichen sich dann aus, so dass das Steueraufkommen pro Kopf im Aggregat zu einer (quasi) sicheren GroBe wird. Der Staat tragt dann faktisch kein Risiko: Er ist in der Lage, aus den Steuereinnahmen die Aufwendungen etwa fur ein offentliches Gut in vorab festgelegtem Umfang zu fmanzieren. Die Steuer verursacht in diesem Fall nicht nur keine „Kosten" in Form steuerlicher Zusatzlasten, sondern ftihrt (ahnlich wie eine Pigou-Steuer, die zur Internalisierung von Umweltbeeintrachtigungen dient), sogar zu einer Wohlfahrtserhohung: Der Nutzen der Individuen aus der Investitionstatigkeit bleibt gleich, weil sie mit und ohne Besteuerung den Punkt M in der Abb. 3-4 erreichen. Trotzdem wird aus der Besteuerung der Investitionsertrage ein positives Steueraufkommen erzielt, das zur Finanzierung eines offentlichen Gutes verwendet werden kann. Wenn das bereitgestellte offentliche Gut von alien Individuen (den Erfolglosen und den Erfolgreichen) gleichermaBen genutzt wird, ergibt sich nicht nur ein Zuwachs an Wohlfahrt, sondern auch ein nivellierender Verteilungseffekt in Bezug auf die von den Individuen erreichten Nutzen. Die hier betrachtete Einkommensteuer mit vollstandigem Verlustausgleich kann aber auch Bestandteil eines geschlossenen Umverteilungsmechanismus sein, bei dem die gesamten Steuereinnahmen an die Burger zuriick verteilt werden. Konkret stellen wir uns dabei vor, dass das sichere Steueraufkommen den Individuen pauschal und in gleichen Betragen (also insbesondere unabhangig von Erfolg oder Misserfolg der jeweiligen Investitionsprojekte) zuriickerstattet wird. Wenn alle Individuen das gleiche Niveau der Investition ins riskante Projekt von V wahlen, entfallt auf jedes Individuum ein sicherer Transfer in Hohe des Erwartungswerts des Steueraufkommens pro Kopf, d.h. T(V) = t(nlr[+x2r2)V
> 0.
( 3 - 26 )
Wir nehmen jetzt an, dass jedes einzelne Individuum (gemaB der CournotNash-Verhaltenshypothese) das von alien anderen Individuen gewahlte V als gegeben ansieht und den zugehorigen Ruckerstattungsbetrag T(V) bei seiner Investitionsentscheidung antizipiert. Die Moglichkeitslinie eines einzelnen Individuums
3.2 Die Versicherungsfunktion des Staates
77
in Abb. 3-6 wird dann (bei gegebenem riskant investiertem Betrag V der anderen) durch Wi =7'(F) + ^ 0 + ( 1 - 0 ^
(3.27)
fur die beiden Zustande / = 1,2 bestimmt. Der den Erwartungsnutzen maximierende Wert von V auf dieser neuen Moglichkeitslinie wird (in Abhangigkeit vom Steuersatz t und dem Transferbetrag T ~T(V)) mit V*(t,T(V)) bezeichnet. Die neue Moglichkeitslinie ergibt sich aus der urspriinglichen Budgetgeraden durch Parallelverschiebung um T(V) nach rechts oben langs der Sicherheitslinie. Gegenuber AB' wird sie zudem langer, was daran liegt, dass ein Individuum jetzt zusatzlich zu WQ noch T(V) riskant investieren konnte. Fur die weitere Argumentation ist dies aber nicht von Bedeutung. Vermogein bei Misserfolg
45°
Ay T(V**(t))l
\ \ X
^\M"
^0
I/'
(1+(1- t)rx)W0 (\+rx)W0
__^/___! / /'
- ^'
KM
+ —j^ B\ (l+r2)W0
wn
Vermogen bei Erfolg
(i+(i-ty2)w0 Abb. 3-6: Sinn'sches Redistributionspradoxon Die Gleichgewichtslosung in diesem Steuer-Transfer-Schema liegt (fur einen gegebenen Steuersatz t) bei dem Investitionsniveau V**(t), bei dem die dann erzielten Steuereinnahmen gerade den Transfer r(F**(0) ermoglichen, bei dem die Individuen den Anreiz zur Wahl von V**(t) erhalten. Bei V**(t) sind, anders formuliert, die Hohe der riskanten Investition und das dann erzielte und pauschal ruckerstattete Steueraufkommen miteinander konsistent. Formal bestimmt sich dieser Gleichgewichtswert bei gegebenem Steuersatz t also durch die Bedingung V * *(0 = V * (t, T(V * *(/))) •
78
3 Effizienzorientierte Begrundungen fur Umverteilung
Dass ein solches Gleichgewicht existiert und eindeutig ist, mtisste genau genommen noch bewiesen werden. Weil die dazu erforderlichen Uberlegungen aber technisch ziemlich aufwandig sind, werden sie hier weggelassen. Vielmehr konzentrieren wir uns darauf, das neue Gleichgewicht mit dem alten zu vergleichen. Den Anfangspunkt der neuen gleichgewichtigen Moglichkeitslinie bezeichnen wir mit A", den Endpunkt mit B". Der Punkt B" wtirde das Ergebnis beschreiben, wenn ein einzelnes Individuum sein gesamtes post-Transfer Anfangsvermogen W0+T(V**(t)) in das riskante Projekt steckt. Das Erwartungsnutzenmaximum auf A"B" soil M" heiBen. Es ist eine ubliche (und realistische) Annahme uber individuelle Risikopraferenzen, dass mit zunehmendem Anfangsvermogen die Neigung zu riskanten Investitionen steigt. Diese Verhaltenshypothese abnehmender absoluter Risikoaversion {Decreasing Absolute Risk Aversion = DARA) bewirkt, dass V * *(/) > V*(t) gilt bzw. geometrisch in Abb. 3-6, dass der neue Optimalpunkt M" weiter von der Sicherheitslinie entfernt ist als der alte Optimalpunkt M: A"M">1M . Daraus folgt, dass das AusmaB der Investition in das riskante Projekt durch den Steuer-Transfer-Mechanismus insgesamt in zweifacher Weise positiv beeinflusst wird: 1. durch den Domar-Musgrave-Effekt, d.h. grafisch durch die Verkiirzung der urspriinglichen Budgetlinie infolge der Steuer mit vollkommenem Verlustausgleich, sowie 2. durch einen Vermogens/Einkommens-Effekt infolge von DARA, d.h. grafisch durch die Parallelverschiebung der verkurzten Budgetlinie nach oben in Folge der Steuerrtickerstattung. Weil der Erwartungswert der Gewinne aus dem riskanten Projekt proportional zu V ist, ergibt sich eine Zunahme des Endvermdgens-ErwartxmgswQYts. Die Okonomie wird „reicher", so dass die Einfiihrung des Steuer-Transfer-Mechanismus in der Tat zu einer Erhohung des Sozialprodukts ftihrt und auch der Erwartungsnutzen der Individuen steigt. 3.2.4.4 Das Redistributionsparadoxon von Sinn Nachdem wir im vorherigen Abschnitt im Fall riskanter Projekte zunachst die Allokationseffekte einer Umverteilungspolitik analysiert haben, sollen im Folgenden die sich dabei ergebenden Verteilungseffekte naher untersucht werden. Dazu halten wir zunachst fest, dass in Abb. 3-6 die Koordinaten der beiden Gleichgewichtspunkte Mund M" die jeweils ex post vom ^ - t e n bzw. vom ;r2-ten Teil der Individuen erreichten Endvermogenswerte angeben. Offensichtlich ist keineswegs ausgeschlossen, dass M" unterhalb der Geraden liegt, die den Ursprung mit dem ursprunglichen Optimalpunkt M verbindet. Und zwar tritt dieser Fall genau dann ein, wenn die vNM-Nutzenfunktion u(W) nicht nur die Eigenschaft abnehmender absoluter, sondern sogar die abnehmender relativer Risikoaversion {Dec-
3.2 Die Versicherungsfunktion des Staates
79
reasing Relative Risk Aversion, DRRA) aufweist. Die DRRA-Annahme bedeutet, dass sich bei steigendem Anfangsvermogen der riskant investierte Vermogensteil prozentual erhoht, d.h. dass bei einer z.B. 20 % Erhohung des Anfangsvermogens der riskant investierte Betrag urn mehr als 20 % wachst. Es gilt dann V**(t) W0+T(V**(t))
>
V*(t) W0
(3 28)
'
Auf der Verbindungsgeraden zwischen dem Ursprung und M liegen alle Vermogensprofile, die gemafl dem Lorenzkriterium genauso (un)gleich verteilt sind wie die ursprungliche Allokation M. Wenn der neue Optimalpunkt M" unterhalb dieser Geraden liegt, so bedeutet dies, dass durch den Umverteilungsmechanismus die Ungleichheit der Endvermogensverteilung zunimmt. In Abb. 3-6 ist diese Situation eingezeichnet. Auf den ersten Blick erscheint dieses Ergebnis vielleicht etwas uberraschend, weil das Umverteilungsschema ja mit dem Ziel einer Verminderung der Ungleichheit zwischen Erfolgreichen und Erfolglosen eingefuhrt wurde. Der soeben beschriebene Sachverhalt wird deshalb auch als Sinn 'sches Redistributionsparadoxon bezeichnet. Bei naherem Hinsehen wird die Ursache dieses unerwarteten Verteilungseffektes aber leicht erklarbar: Der Umverteilungsmechanismus schafft so starke Anreize zu einer zusatzlichen Investition in die riskanten Projekte, dass die dadurch ausgelosten ungleichheitsfordernden Effekte die primaren nivellierenden Umverteilungseffekte des Steuer-Transfer-Mechanismus uberkompensieren. Wenn man will, kann man diesen Sachverhalt als Konflikt zwischen distributiven Zielen (hohere Gleichverteilung der Einkommen bzw. Vermogen) und allokativen Zielen (Steigerung des Sozialprodukts) deuten. Zu beachten ist dabei jedoch, dass dieser Konflikt hier vollig andere Ursachen als in den ublicherweise betrachteten Fallen, in denen er auf den von Umverteilungsmaftnahmen ausgelosten Effizienzverlusten (insbesondere infolge steuerlicher Zusatzlasten) beruht. Im Modell von Sinn ware es im Gegensatz dazu namlich der Verzicht auf redistributive Maftnahmen, der zu mehr Gleichheit und einem geringeren Sozialprodukt fuhren wtirde. Folgerung 3-6: Durch einen Umverteilungsmechanismus (mit pauschaler Ruckerstattung der im Aggregat sicheren Steuereinnahmen) wird die investitionsfordernde Wirkung des Domar-Musgrave-Effekts verstarkt. Unter I Umstanden kann es dabei sogar zu einer unerwarteten Erhohung der Ungleichheit der Vermogensverteilung ex post kommen (Sinn'sches Redistributionsparadox). Die risiko- und damit wachstumsfordernde Wirkung von Umverteilungsmechanismen beruht darauf, dass sich die Risiken einzelner stochastisch unabhangiger Investitionsprojekte im Aggregat ausgleichen und damit die Moglichkeit besteht, das vom Unternehmer selber zu tragende Risiko zu mindern. Mit abnehmender Eigenbeteiligung am Risiko sinkt jedoch gleichzeitig das Eigeninteresse an umsichtigem Verhalten bei der Auswahl und der Durchfuhrung der Investitionsvorhaben. Die Moglichkeit, Risiken auf andere abwalzen zu konnen, schafft ein Mo-
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3 Effizienzorientierte Begriindungen fur Umverteilung
ral Hazard Phdnomen, das Wohlfahrtsverluste erwarten lasst. Im Hinblick auf die Wohlfahrtseffekte besteht ein Konflikt zwischen Risikominderungsstrategien (durch Pooling und Streuung von Risiken) auf der einen Seite und dem durch individuelle Risikobeteiligung geschaffenen Anreiz zur sorgfaltigen Uberwachung und Kontrolle der Projekte auf der anderen Seite. Ein solches „Prinzipal-Agenten-Problem" entsteht nicht erst durch die betrachteten staatlichen MaBnahmen. Vielmehr stellt es sich schon immer dann, wenn die Allokation von Kapital liber Kapitalmarkten erfolgt und die Kapitalgeber bei Investitionsprojekten nicht mit den eigentlichen Unternehmern identisch sind. Durch eine staatliche Risikobeteiligung und die dadurch bewirkte Minderung der individuellen Risiken wird das Prinzipal-Agenten-Problem jedoch erheblich verscharft. Dass der Staat, wie im Modell von Sinn beschrieben, eine Versicherungsfunktion ubernimmt, ist aufgrund dieser damit zwangslaufig verbundenen negativen Allokationseffekte somit nicht eindeutig positiv zu beurteilen. Speziell bei Humankapital-Investitionen dtirfte die Ubernahme eines erheblichen Teils individueller Risiken durch den Staat jedoch mit okonomischen Vorteilen verbunden sein. Wegen der langen Ausreifungszeit gerade dieser speziellen Art von Investitionen und der groBen Schwierigkeiten in jungen Jahren, Kreditsicherheiten beizubringen, sind die Moglichkeiten einer Finanzierung uber den Kapitalmarkt hier eher beschrankt. Gleichzeitig ist eine Eigenbeteiligung der Individuen am Projektrisiko automatisch gegeben, weil diese ja viel Zeit und Energie in ihre Ausbildung stecken.
3,3 Verbesserung der Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft 3.3.1 Verminderung kontrollbedingter Ineffizienzen Eine Umverteilung kann aber auch zur Abmilderung des soeben beschriebenen Prinzipal-Agenten-Problems beitragen. Diesen Aspekt wollen wir jetzt erortern. Im Grundmodell der Investitionstheorie wird ein Investitionsprojekt genau dann getatigt, wenn der Barwert der mit ihm verbundenen Einnahmen groBer ist als der Barwert der mit ihm verbundenen Ausgaben. Auf die Hohe der Anfangsausstattung des Unternehmers kommt es dabei nicht an. Steht ihm selber nicht ausreichend Kapital zur Finanzierung des Projekts zur Verftigung, kann er sich die fehlenden Mittel durch Beteiligungs- oder Fremdfinanzierung von Dritten verschaffen. Probleme treten in einer Idealwelt mit vollkommen symmetrischer Information dabei nicht auf. Wenn die Kapitalgeber tiber die gleichen Informationen verfiigen wie der Unternehmer selber (und auch die gleichen Risikopraferenzen haben), werden sie auch zu keiner anderen Beurteilung der Vorteilhaftigkeit eines Investitionsprojektes kommen. Die Realitat ist jedoch von den idealen Bedingungen dieses Modells weit entfernt. Insbesondere ist nicht davon auszugehen, dass Unternehmer und externe Kapitalgeber in gleichem MaBe liber die Chancen und Risiken eines Investitionsprojektes Bescheid wissen. Vielmehr wird der Unternehmer, der das Projekt
3.3 Verbesserung der Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft
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durchflihrt, in der Regel tiber einen Informationsvorsprung verftigen. Eine Umverteilung hin zu den Unternehmern kann in einer solchen Situation mit asymmetrischer Information zu einem Wohlfahrtsgewinn ftihren, weil sich dadurch der Entscheidungsspielraum der besser informierten Akteure erweitern lasst. Wie es dazu kommen kann, zeigt das folgende kleine Modell: Es soil eine groBe Zahl „guter" und „schlechter" Unternehmer geben, die jeweils ein Investitionsprojekt durchflihren konnen. Alle Projekte sind identisch sowohl im Hinblick auf mogliche Gewinne und Verluste als auch im Hinblick auf die bei Durchfiuhrung des Projektes anfallenden Kosten, die einheitlich c betragen sollen. Bei gunstigem Ausgang ergibt sich bei jedem Projekt ein Erlos in Hone von x2 > c bei ungunstigem Ausgang ein Erlos in Hohe von xx = 0 . Der Gewinn im Erfolgsfall betragt dann y2 = x2 -c, im Misserfolgsfall ist er -c, so dass dann ein Verlust in Hohe von c entsteht. Weil die Unternehmer aber eine unterschiedliche Qualifikation zur Projektdurchftihrung verftigen, differieren die Misserfolgswahrscheinlichkeiten zwischen den beiden Typen von Unternehmern. Die Misserfolgswahrscheinlichkeit eines schlechten Unternehmers betragt ns, die eines guten Unternehmers ng - wobei naturlich ns >ng
gilt. Die Erfolgswahrscheinlichkeiten sind dann \-ns
bzw.
\-7Tg. Der Gewinnerwartungswert es des Projektes eines schlechten Unternehmers soil negativ sein, der mit eg bezeichnete Gewinnerwartungswert des Projektes eines guten Unternehmers hingegen positiv sein. Es gilt also e
s ~ nsy\ +0-~7rs )yi < 0 sowie eg=7rgyl+(l-7rg)y2>0.
< 3 ' 29 )
Im Ausgangszustand verfilgen alle Unternehmer zwar uber Know-how, jedoch uber keinerlei Kapital. Es gibt aber externe Kapitalgeber, die ausreichend Kapital zur Finanzierung der Kosten aller uberhaupt in Frage kommenden Projekte besitzen. Der Einfachheit halber wird davon ausgegangen, dass die Kapitalgeber risikoneutral sind. Zwischen Kapitalgebern und Unternehmern sollen die die Informationen asymmetrisch verteilt sein. Im Rahmen dieses Modells bedeutet diese Annahme, dass zwar jeder Unternehmer seine Qualitat kennt, dass die Kapitalgeber nicht wissen, ob ein einzelner Unternehmer „gutu oder „schlechtu ist. Wenn ein Unternehmer genugend Kapital zur Finanzierung eines Projektes bekommt, wird er es immer durchflihren, wenn er dabei zumindest keinen Verlust macht. Der Unternehmerlohn soil bei der Ermittlung von yx und y2 schori berticksichtigt sein. Wir fragen uns jetzt, wie in dieser Situation Vertrage zwischen Kapitalgebern und Unternehmern beschaffen sein konnen, in denen die Bedingungen der Uberlassung von Kapital in Hohe der Projektkosten c geregelt werden: Weil die Kapitalgeber die beiden Typen von Investoren nicht unterscheiden konnen, ist in den Vertragskonditionen allenfalls eine Differenzierung nach „Erfolg" und „Misserfolg" des jeweiligen Projektes moglich. Dabei soil es keine Verifizierungsproble-
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3 Effizienzorientierte Begrundungen fur Umverteilung
me geben, so dass vereinbart werden kann, dass ein Unternehmer im Misserfolgsfall den Betrag zl und im Erfolgsfall den Betrag z2 an seinen Kapitalgeber bezahlt. Wenn der Anteil der schlechten Unternehmer as an der Gesamtheit der Unternehmer und der Anteil der guten ag(=l-as) betragt und jeder Kapitalgeber diese Quoten kennt, hat ein Kapitalgeber bei einem beliebigen von ihm finanzierten Projekt einen Gewinnerwartungswert in Hohe von (as7Ts + agng )zx + (as(1 -ns) + ag (1 - ng))z2 -c . Wenn wir jetzt annehmen, dass der ansonsten gemaB unserer Annahme vollig vermogenslose Unternehmer in der Durchfiihrungsphase des Investitionsprojektes den gesamten Unternehmerlohn konsumiert, muss er die Zahlungen zx und z2 vollig aus den Projektertragen finanzieren. Es gilt also zl=xl=0 und z2 < x2 - y2 + c . Wegen c = -yl ist der Gewinnerwartungswert des Kapitalgebers dann sicher kleiner als {ccs(\-7rs) + ag(\-ng))(y2-yx) n
+ yx
= (<*sns + ag g )y\ + ( ^ 0 ~ ns) + ag (l ~ xg ))yi = ases+ageg.
0 -30)
Wenn der Anteil as der schlechten Unternehmer groB ist, d.h. wenn as > eg /(eg -es) gilt, wird der Ausdruck in (3.30) und damit der Gewinnerwartungswert des Kapitalgebers negativ. Dies hat zur Folge, dass in diesem Fall kein Investitionsprojekt, weder ein schlechtes noch ein gutes, realisiert wird. Das wohlfahrtserhohende Potenzial der Projekte guter Unternehmer wird nicht genutzt, weil die Kapitalgeber die Qualitat der Unternehmer nicht richtig einschatzen konnen. Die mit Hilfe des Kapitalmarkts realisierte Losung ist somit ineffizient. Die Fehlallokation lieBe sich vermeiden, wenn das Ausgangsvermogen so umverteilt wtirde, dass jeder Unternehmer mindestens ein Vermogen in Hohe der Investitionskosten c besitzt. Bei dieser Umverteilung muss — und das ist vor dem Hintergrund unserer Grundannahme asymmetrischer Information der entscheidende Punkt — nicht darauf geachtet werden, ob das Kapital an gute oder schlechte Unternehmer flieBt. Wenn jeder Unternehmer die finanziellen Folgen seines Projektes selber zu tragen hat, gelangen die Projekte der guten Unternehmer zur Durchfuhrung, wahrend die schlechten Unternehmer von sich aus auf die Durchfuhrung des Projektes verzichten. Das effiziente Resultat kommt dann ohne zusatzliche UberwachungsmaBnahmen zustande, weil die Beteiligung der Unternehmer an den Projektverlusten fur eine Selbst-Selektion sorgt. Dazu bedarf es in unserem Modell aber einer Umverteilung, weil die Unternehmer bei Scheitern ihrer Projekte erst dann etwas zu verlieren haben. Auf diese Weise wird ein Prinzipal-Agenten-Problem und die mit ihm verbundenen Wohlfahrtsverluste von vornherein vermieden.
3.3 Verbesserung der Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft
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Eine Umverteilung kann aber auch auf einem etwas anderen Wege zur Realisierung effizienter Losungen ftihren, In dem von uns betrachteten Modell ist das Versagen vertraglicher Regelungen zwischen Kapitalgeber und Unternehmer darauf zurtickzufiihren, dass der Unternehmer uber kein eigenes Vermogen verfiigt und deshalb alle Zahlungen an den Kapitalgeber aus den Projektertragen bestreiten muss. Ware dem nicht so, konnte ein Finanzierungskontrakt auch Zahlungen an die Kapitalgeber vorsehen, die unter bestimmten Umstanden aus dem Anfangsvermogen des Unternehmers zu finanzieren sind. Dadurch wird verstandlich, weshalb Reiche bei der Kapitalbeschaffung geringere Probleme haben als Arme. Sie konnen Sicherheiten stellen und haften zur Not mit ihrem Privatvermogen. Die Bereitstellung von Kreditsicherheiten „beruhigt" nicht nur den Kapitalgeber, sondern macht die Durchfuhrung vieler rentabler Projekte tiberhaupt erst moglich. Die Frage stellt sich allerdings, weshalb sich ein vermogender Unternehmer tiberhaupt Geld von anderen leihen mochte, obwohl er uber eine zur Finanzierung der Projekte im Prinzip ausreichende Kapitalausstattung verfiigt. Das eigene Kapital des Unternehmers kann jedoch in anderen Projekten gebunden sein, die er entweder selber weiterftihren mochte oder deren VerauBerung mit hohen EinbuBen verbunden ware. Der Unternehmer wird deshalb die Beschaffung neuen Kapitals vorziehen und das alte dabei als Sicherheit einsetzen. Wenn bei Scheitern des Investitionsprojektes auf die Sicherheiten des Unternehmers zuriickgegriffen wird, entstehen allerdings in der Regel Liquidierungsverluste und damit gesamtwirtschaftliche WohlfahrtseinbuBen. Deren Antizipation durch die Unternehmer schafft zusatzliche Anreize zu vorsichtigem Verhalten und sorgfaltiger Projektdurchfuhrung. Folgerung 3-7: Eine Umverteilung hin zu Individuen, die als Unternehmer riskante Projekte durchfuhren, kann bei asymmetrischer Information zu einer besseren Auswahl und Durchfuhrung der Projekte und damit zu einer I vorteilhafteren Kapitalallokation fuhren. Die Forderung nach einer gleichmaBigeren Verteilung von Einkommen oder Vermogen lasst sich aus dieser Uberlegung aber nicht zwingend ableiten. Eine breitere Vermogensverteilung kann namlich die Bedingungen fur die Unternehmenskontrolle verschlechtern, wenn sich dadurch Freifahrerprobleme auf Seiten der externen Kapitalgeber verscharfen. Ein einzelner kleiner Anteilseigner, der an einem Unternehmen nur einen geringen Anteil halt, hat wenig Anreize, sich liber die Situation dieses Unternehmens genau zu informieren. Wenn die Eigentumsrechte hingegen in den Handen weniger Eigentumer gebiindelt sind, besitzen diese ein hohes Eigeninteresse an einer wirksamen Uberwachung der Unternehmensleitung. Allerdings ist dazu eine Konzentration des Vermogensbesitzes nicht in jedem Fall erforderlich. Vielmehr reicht vielfach die Etablierung ihrerseits einfacher zu kontrollierender Finanzintermediare (Versicherungen, Investmentfonds) aus, so dass insbesondere dieses der Corporate Governance-Literatur entliehene Argument gegen eine gleichmaBige Verteilung nicht allzu tiberzeugend ist.
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3 Effizienzorientierte Begriindungen fur Umverteilung
3.3.2 Verbesserter Schutz von Eigentumsrechten Seit Adam Smith gilt es als zentrale Staatsaufgabe, flir den Schutz von Eigentumsrechten zu sorgen. Nur wenn das von Individuen gebildete Vermogen sicher ist und sie (oder ihre Nachkommen) von den Ertragen des Vermogens tatsachlich profitieren konnen, lohnt sich die Bildung von Eigentum. Auch geregelte Tauschprozesse sind ohne garantierte Eigentumsrechte nicht denkbar. Die Sicherung von Eigentumsrechten ist somit eine Grundvoraussetzung fur eine funktionierende Marktwirtschaft und wirtschaftliches Wachstum. Die Bereitstellung des speziellen offentlichen Gutes „Eigentumsschutz" verursacht aber Kosten: Man benotigt eine Armee zur Verteidigung der Eigentumsrechte gegen auBere Feinde und einen Justizapparat zur Verteidigung gegen Rauber und Diebe nach innen. Diese Defensivausgaben zum Schutz des Eigentums lassen sich moglicherweise durch eine Umverteilung von Vermogen senken. Wenn die Opfer, die den (reichen) Gebern dabei entstehen, geringer sind als diese Kostenersparnisse, lohnt sich eine Umverteilung auch ftir die Reichen. Es kommt dann auch hier zu einer Pareto-Verbesserung, Im Einzelnen konnten in diesem Zusammenhang die folgenden Grunde flir positive Effekte einer Umverteilung sprechen. Durch Verminderung von Armut wird die Wegnahme fremden Eigentums weniger lohnend. Ein hoheres eigenes Vermogen senkt ja auch den Grenznutzen illegalen Vermogenserwerbs, so dass bei gegebenem Niveau der Bestrafungskosten (angedrohte Jahre im Kerker gewichtet mit der Wahrscheinlichkeit, ertappt zu werden) das Delikt Diebstahl an Attraktivitat verliert. • Zudem greifen Sanktionen mehr, wenn Individuen etwas zu verlieren haben. Bei ganz Armen versagen Geldstrafen ohnehin - denn sie konnen sie ja nicht bezahlen. Die Einrichtung und Unterhaltung von Gefangnissen ist jedoch teuer - und bei Armen bleibt der Abschreckungseffekt klein, wenn der Abstand zwischen dem Lebensstandard hinter Gittern und dem in Freiheit nicht allzu groB ist. Die Tatsache, dass man jemandem „mehr als er hat, auch nicht nehmen kann", begtinstigt risikofreudigeres Verhalten auch bei der Begehung von Straftaten. Wirksame Sanktionen lassen sich bei niedrigem Vermogen und geringen Lebenschancen der Individuen, wenn uberhaupt, nur durch Senkung humaner Standards im Strafvollzug erreichen. Umgekehrt lasst sich aus dieser Perspektive die Abschaffung von Folter und Todesstrafe als Begleiterscheinung des wirtschaftlichen Fortschritts deuten, der zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Verhaltnisse der unteren Bevolkerungsschichten und damit zu einer hoheren Effektivitat weniger grausamer Strafen geflihrt hat. • Die innere Identifikation mit der Eigentumsordnung ist bei Individuen nur dann zu erwarten, wenn sie selber uber eigenen Besitz verfiigen. Hinter einer freiwilligen Befolgung von Normen steht vielfach die Verinnerlichung des Reziprozitatsgedankens der „Goldenen Regel": „Was du nicht willst, dass man dir tut, das fug' auch keinem andern zu." Bestohlen werden kann aber nur derjenige, der selber etwas hat. Die regulative Wirkung der „Goldenen Regel" greift also nur dann, wenn alle liber hinreichend viel Besitz verfiigen.
3.3 Verbesserung der Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft
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Wenn die Individuen aber die Eigentumsordnung von sich aus ohne Anwendung gesetzlicher Regelungen respektieren, stellen sie das offentliche Gut „Sicherung der Eigentumsordnung" freiwillig bereit. Ein normengeleitetes Befolgen von Regeln, auf das man sich in der Realitat allerdings nicht vollig verlassen kann, ersetzt dann zum Teil den wesenthch kostspieligeren staatlichen Schutz der Eigentumsrechte. Von gewisser Bedeutung diirfte die die Achtung vor fremdem Eigentum auch auf kollektiver Ebene sein, wenn es sich auf die Vorbeugung gegen politische Enteignungen bezieht. Durch eine gleichmaBigere Verteilung wird das Neidmotiv abgeschwacht Dadurch werden nicht nur soziale Revolten unwahrscheinlicher, sondern es ist auch mit einem Ruckgang von Umverteilungsbestrebungen im politischen Prozess demokratischer Staaten (etwa durch eine stark progressive Einkommensteuer) zu rechnen, die fur die Begiiterten letztlich teurer werden konnen als eine strategisch wohlkalkulierte Umverteilungspolitik im Vorfeld. Folgerung 3-8: Eine zielgerichtete Umverteilungspolitik kann auf ver-1 schiedenen Wegen zu einer Stabilisierung der Eigentumsordnung und da-1 mit zum Funktionieren der Marktwirtschaft beitragen. I
3.3.3 Erhohung der individuellen Produktivitat Eine Umverteilung zugunsten wirtschaftlich schlechter gestellter Individuen tragt zur Erhohung des Sozialprodukts bei, falls dabei die Produktivitat der Transferempf&nger gesteigert werden kann. Dazu kommt es insbesondere, wenn die mit einer Erhohung des Lebensstandards einhergehende Verbesserung des Gesundheits- und Ernahrungszustandes die Individuen leistungsfahiger macht. Gerade in Entwicklungslandern wird durch entsprechende HilfsmaBnahmen eine Integration vieler Individuen in den Erwerbsprozess tiberhaupt erst moglich. Zu diesem direkten Produktivitatseffekten einer Umverteilung treten mogliche positive Wirkungen auf die Motivation: Die Individuen werden nur dann langerfristig planen und ein Eigeninteresse am Erwerb anspruchvollerer Fahigkeiten entfalten, wenn sie von den Belastungen des taglichen Uberlebenskampfes befreit sind. Nur bei ausreichender Basisversorgung werden sie Humankapital bilden wollen, d.h. sich selber qualifizieren und sich urn eine gute Erziehung ihrer Kinder bemtihen. Auch ist die Schaffung von „Sozialkapital" nur zu erwarten, wenn alle Gesellschaftsmitglieder liber eine bestimmte materielle Grundausstattung verftigen. Jede auf langere Sicht gedeihlich soziale Kooperation erfordert kurzfristig Verzichte und Kompromisse, die man sich nur leisten kann, wenn man nicht von der Hand in den Mund lebt und deshalb nicht gezwungen ist, auf sofortigen Gegenleistungen zu bestehen. Bei weit verbreiteter Armut ist der Aufbau eines Klimas wechselseitigen Vertrauens nur wenig wahrscheinlich, was okonomisch nachhaltige Konsequenzen fur die Arbeitsbeziehungen und das politische Verhalten hat.
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3 Effizienzorientierte Begrundungen fur Umverteilung
Zudem werden Individuen auch demotiviert und ihre Einsatzfreude und Loyalis t nehmen ab, wenn sie ihre materielle Position (absolut und v.a. auch im Vergleich mit anderen) als unbefriedigend empfinden. Vor diesem Hintergrund weist - speziell in Bezug auf die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern - die Effizienzlohn-Theorie darauf hin, dass Unternehmen ihren Mitarbeitern vielfach einem Uber der Grenzproduktivitat liegenden Lohn bezahlen, um auf diese Weise deren Motivation anzuspornen. Zuwendungen dieser Art erzeugen ein Geflihl des Dankes, das die Arbeitsleistung gerade auch in Bereichen verbessert, in denen Kontrollen und Sanktionen kaum greifen. Ein allgemeines Engagement fur die Gemeinschaft, die Entwicklung sozialer Tugenden wie Punktlichkeit und Fleift sowie insbesondere Aktivitaten im Zusammenhang mit der Humankapitalbildung lassen sich durch solche Mafinahmen auf betrieblicher Ebene aber nur begrenzt fordern. Staatliche UmverteilungsmaBnahmen konnen in diesem Kontext dazu beitragen, dass sich bei unterprivilegierten Individuen nicht der Eindruck verfestigt, sie seien ohnehin chancenlos und aus der „normalen Gesellschaft" ausgeschlossen, so dass sich fur sie eigene Anstrengungen von vornherein nicht lohnen. Folgerung 3-9: Umverteilung kann in bestimmten Fallen die Produktivitat der Individuen erhohen. Dazu kommt es durch eine Verbesserung des Ernahrungs- und Gesundheitszustandes, sowie durch eine Veranderung der Motivationshaltung.
3.4 Allgemeine Einschatzung der effizienzorientierten Ansatze Den effizienzorientierten Begrtindungsansatzen fur UmverteilungsmaBnahmen kann man entgegen halten, dass sie sich zum groBen Teil auf ganz spezielle Situationen beziehen und schon allein deshalb keine allgemein gultigen Rezepte fur eine Umverteilung zwischen Reich und Arm liefern. Ein „Unternehmer" ist nicht automatisch armer als der „Kapitalgeber", und mit den produktivitatsorientierten Ansatzen werden Transfers an „unproduktive" Individuen (wie Alte oder Behinderte) gar nicht erfasst. Zudem bleiben wichtige Wirkungsmechanismen ausgeblendet, die in die entgegen gesetzte Richtung flihren und somit umverteilungsbedingte Effizienzvertote verursachen. Auf einige solcher fur ein Gesamturteil iiber UmverteilungsmaBnahmen bedeutsamen gegenlaufigen Effekte haben wir bereits zuvor bei der Erorterung der einzelnen Ansatze hingewiesen. Dariiber hinaus diirften in diesem Zusammenhang noch die folgenden Uberlegungen von Bedeutung sein. • Im Hinblick auf die Wachstumschancen einer Volkswirtschaft kann eine Umverteilung von Reich zu Arm nachteilig sein, weil sich dadurch die Gesamtersparnisbildung in der Regel reduziert. Und zwar gilt dies bei einem konkaven Verlauf der Konsumfunktion c(y), die das bei einem bestimmten Einkommen gewahlte Niveau der Konsumausgaben angibt. Konkavitat bedeutet, dass ein
3.4 Allgemeine Einschatzung der effizienzorientierten Ansatze
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Individuum von einem zusatzlich verdienten Euro umso weniger konsumiert (und also umso mehr spart), je hoher sein Ausgangseinkommen ist. Bei c(0) = 0 folgt aus der Konkavitat der Konsumfunktion, dass die Konsumquote c
(y)ly> die den Anteil der Konsumausgaben am Gesamteinkommen beschreibt, mit zunehmendem Einkommen fallt. Die Sparfunktion s(y) = y-c(y) ist bei konkaver Konsumfunktion konvex, so dass bei zwei Einkommen yx und y2 mit yx < y2 und einem Transfer in Hohe von T (mit T<{y2-yx)/2)gi\V. s(yl) + s(y2)>s(yl+T) + s(y2-T)
(3.31)
Dies zeigt, dass sich die Gesamtersparnis durch eine Umverteilung von Reich zu Arm vermindert • Wenn man in erster Linie das Wohl der ganz Armen im Auge hat, konnte eine Umverteilung von Vermogen von der Mittelschicht zu den Reichen sogar positiv wirken, wenn die Reichen auf Grund einer hoheren Sattigung mit Konsumgiitern eine hohere Spendenbereitschaft zugunsten der Armen aufweisen. Dieses Argument setzt natiirlich voraus, dass die Reichen nicht in erster Linie deswegen reich werden, weil sie sich durch besondere Raffgier und Egoismus auszeichnen („Dagobert-Duck-Phanomen"), sondern dass ihnen das Schicksal der Bedlirftigen am Herzen liegt. Gerade die Super-Reichen mtissten dann in besonderem MaBe altruistisch handeln und eine gemessen am Vermogen uberproportionale Spendenbereitschaft fur karitative Zwecke aufweisen („BillGates-Phanomen"). • Auf kollektiver Ebene kann es dazu kommen, dass die Anspruche der Unterschicht schneller wachsen als ihre materielle Situation. Solange sie in abgeschiedenen Kasten leben, fehlen die Vergleichsmoglichkeiten mit der Situation der Wohlhabenden. Bei ausgepragter Separation der Klassen und Schichten bestehen somit nur wenige Ansatzpunkte fur die Herausbildung von Neid. Wenn der Kampf urns nackte Uberleben jedoch nachlasst, ist es denkbar, dass die dann freigesetzten Krafte nicht fur produktive Zwecke, sondern fur verstarkte Umverteilungsbestrebungen eingesetzt werden. Mit einem hoheren Bildungsgrad der Unterprivilegierten verbessern sich zudem ihre organisatorischen Fahigkeiten, die sie zu einem erfolgreichen Umsturz der bestehenden Eigentumsordnung benotigen. In der Tat lasst sich beobachten, dass Revolutionen in Gesellschaften, die im Entwicklungsprozess schon ein Stuck weit fortgeschritten sind, haufiger auftreten als in stagnierenden Gesellschaften, die im Zustand der Armut verharren. • Individuen konnen ganz generell ihre Fahigkeiten nicht nur in produktiver Weise zur Erzeugung von Giitern und Dienstleistungen nutzen, sondern sie konnen auch ihre Ressourcen mit dem Ziel einsetzen, Einkommen und Vermogen zu ihren Gunsten umzuverteilen. Der fur ein solches Rent Seeking getatigte Aufwand steht dann fur produktive Zwecke aber nicht mehr zu Verfugung, wodurch es zu Wohlfahrtsverlusten und einer Beeintrachtigung der wirtschaftlichen Entwicklung kommt. In diesem Zusammenhang wird auch befurchtet,
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3 Effizienzorientierte Begrundungen fur Umverteilung dass ein hohes Mafi an Umverteilung in einer Gesellschaft die Auspragung einer okonomisch schadlichen Mentalitat fordert, die den auf das Ausnutzen des Sozialstaats gerichteten Bestrebungen (nach dem Motto „Wer arbeitet, ist der Dumme") gegenliber produktiven Aktivitaten den Vorzug gibt. Gewissermafien in Umkehrung der Uberlegung aus Abschnitt 3.3.3 konnen sich in einer solchen Situation auch Demotivierungseffekte bei den produktiven Individuen ergeben, denen bei der Umverteilungspolitik die Rolle- von Netto-Zahlern zugedacht ist.
3.5 Ubungsaufgaben
Auf gab e 3.1: Die Nutzenfunktion eines (reichen) Geber-Individuums sei u(cr ,ca) = Incr + 8Inca mit 8 < 1, und fur die Einkommensniveaus eines reichen und eines armen Individuums gelte yr = 4 und ya = 1. a.
b.
Wie hoch ist in dieser Situation der optimale Transfer, den ein einziges Geber-Individuum bei isoliertem Handeln vornehmen mochte? Wie wirkt sich die Hohe des Parameters 8 auf das Niveau dieses optimalen Transfers aus? Es wird jetzt angenommen, dass es zwei identische Geber-Individuen gibt, fur die 8 -1/5 gilt. Bestimmen Sie zunachst den optimalen Transfer T* , wenn diese beiden Individuen kooperativ liber die Hohe des Transfers entscheiden. Ermitteln Sie dann, welchen Nutzen ein einzelnes Geber-Individuum erreicht, wenn beide Individuen den Transfer T * vornehmen. nur das betrachtete Individuum selber, nicht aber das andere Individuum den Transfer T * vornimmt. nur das andere Individuum den Transfer T * vornimmt.
Welche Spielstruktur liegt hier vor? Bestimmen Sie das Nash-Gleichgewicht dieses Spendenspiels im Zwei-Personen-Fall. Wie sind die Uberlegungen zu modifizieren, wenn es mehr als zwei Geber-Individuen gibt? Auf gab e 3.2: Im symmetrischen Status-Spiel mit zwei Individuen / = 1,2 sei u(yj) = y[i2, c(yt) = 2yt und h{yi -^ ; .) = yi -yi .Welches Einkommensniveau wird jedes der beiden Individuen bei unkoordiniertem Verhalten wahlen? Welches Einkommensniveau ware demgegenuber optimal? Wie lasst sich durch ein Steuer-TransferSchema die optimale Losung herbeiflihren?
3.5 Ubungsaufgaben
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Aufgabe 3.3: Risikoaverse Individuen entscheiden sich ex ante, d.h. auf Stufe 1 vor Eintreten eines Zufallereignisses, fur ein Umverteilungsschema, durch das ex post auf Stufe 2 Einkommen von den „Glucklichen" zu den „Pechvogeln" transferiert wird. Wie andert sich das Niveau des dabei auf Stufe 1 gewahlten optimalen Transfers T * , wenn angenommen wird, dass der Anteil j3 des Transfers „versickert" und nicht bei den Empfangern ankommt (etwa weil die Durchfuhrung der Umverteilungspolitik Transaktionskosten verursacht)? Beantworten Sie diese Frage sowohl algebraisch als auch grafisch. Aufgabe 3.4: Ein einzelner Investor habe die von Neumann-Morgenstern-Nutzenfunktion u(w) - In W und verfuge tiber das Anfangsvermogen WQ. Davon kann er den Teil a in ein riskantes Projekt investieren, welches die folgende Auszahlungsstruktur aufweist: Falls das Projekt gelingt, verzinst sich das vom Investor eingesetzte Kapital mit dem Zinssatz r2 > 0 , falls das Projekt jedoch scheitert, kommt es zu einer negativen Verzinsung mit rx < 0. Die Wahrscheinlichkeit fur das Scheitern des Projektes soil /r = 0,5 betragen. a.
b.
• c.
Bestimmen Sie den Erwartungsnutzen des Investors flir verschiedene Werte von a, und ermitteln Sie dann den optimalen Anteil des Anfangsvermogens a * , der von einem Investor riskant investiert wird. Gehen Sie im nachsten Schritt davon aus, dass sich der Staat in Form einer (proportionalen) Vermogenszuwachssteuer mit dem Steuersatz t und vollstandigem Verlustausgleich gleichmaBig an den Gewinnen und Verlusten des riskanten Projekt beteiligt. Bestimmen Sie das sich in diesem Fall ergebende optimale Niveau a*(t) der Investition in das riskante Projekt. Geben Sie auch eine intuitive Erklarung des dabei zu beobachtenden Domar-MusgraveEffekts an. Wie hoch fallt die Investition a**(t) in das riskante Projekt aus, wenn das Aufkommen aus der proportionalen Einkommensteuer mit Verlustausgleich den Investoren pauschal und in gleichen Teilen zuruckerstattet wird? Bei Erorterung dieser Frage soil davon ausgegangen werden, dass es eine groBe Anzahl identischer Investoren gibt, deren Projekte eine identische Auszahlungsstruktur aufweisen, jedoch stochastisch unabhangig voneinander sind. Beschreiben Sie die Verteilungseffekte, die sich durch diesen Umverteilungsmechanismus ergeben. Benutzen Sie zur Erlauterung Ihrer Argumentation auch eine Zeichnung.
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3 Effizienzorientierte Begrundungen fur Umverteilung
Aufgabe3.5: Angenommen es gibt ein Projekt (z.B. Kuchen backen), dessen Durchfuhrung ein Anfangskapital in Hohe von c = 10 (flir die Zutaten) erfordert. Bei erfolgreicher Durchfuhrung (Kuchen gelingt und kann verkauft werden) ergibt sich eine Auszahlung (Gewinn) von y2 = 30 , wahrend bei einem Scheitern (Kuchen verbrennt) die Auszahlung negativ ist und betragsmaBig den Investitionskosten entspricht: In einem Dorf im Bayerischen Wald gibt es zehn Frauen (potenzielle Investoren), die das lokale Pfarreifest durch einen Kuchenverkauf bereichern mochten, allerdings nicht iiber das fur den Erwerb der Zutaten notwendige Kapital verfiigen, um ihr Projekt durchzuftihren. Ein aus Mtinchen Stammender, der kiirzlich in das Dorf gezogen ist und iiber ausreichend Kapital verfiigt, tiberlegt sich, als Kapitalgeber das soziale Engagement der Frauen zu untersttitzen. Allerdings weiB der Mtinchner vom ansassigen Btirgermeister, dass nur eine von den zehn Frauen gut backen kann (ag =0,1), wahrend die neun anderen eher nicht geeignet sind (as = 0,9). Leider hat der Btirgermeister ihm nicht gesagt, welche der Frauen die „gute" Backerin 1st, aber er hat erwahnt (und das weiB er von seinem Bruder, dem ortlichen Konditormeister), dass das Gelingen eines Kuchens nicht nur vom Geschick der Backerin, sondern auch vom Gliick abhangt. So schatzt er die Erfolgswahrscheinlichkeit einer „schlechten" Backerin immerhin auf \-ns = 0 , 2 , wahrend er der „guten" Backerin aufgrund der Zufallskomponente lediglich eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 1-^- =0,6 einraumt. Falls der Mtinchner einen „Vertrag" mit einer der Frauen abschlieBen sollte, wtirde er die Konditionen wie folgt festlegen: Er streckt die Investitionskosten (Kapitalbedarf fur Zutaten) vor und bekommt im Erfolgsfall (Kuchen gelingt und kann auf dem Fest verkauft werden) den gesamten Erlos aus dem Kuchenverkauf (z 2 = y2 + c), wahrend er im Misserfolgsfall (Kuchen verbrennt und kann nicht verkauft werden) keine Zahlung fordern kann (zx = 0). Priifen Sie^ ob es grundsatzlich effizient ist, einen Kuchen zu backen und welches Ergebnis sich in der gegebenen Situation einstellt. Was wtirde sich andern, wenn der Mtinchner den potenziellen Backerinnen ohne Verpflichtung zu irgendeiner Gegenleistung einen ausreichend hohen Geldbetrag schenkt?
3.6 Literatur Aghion, P. and P. Bolton (1997), A Theory of Trickle-Down Growth and Development, Review of Economic Studies 64: 151-172. Alesina, A. und D. Rodrik (1994), Distributive Policy and Economic Growth, Quarterly Journal of Economics 109: 465-490. Andreoni, J. (1990), Impure Altruism and Donations to Public Goods: A Theory of WarmGlow-Giving, Economic Journal 100: 464-477.
3.6Literatur
91
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4 Effizienzgrunde fur die Existenz einer Sozialversichemng
4.1 Der erste Hauptsatz der Wohlfahrtsokonomik In fast alien entwickelten Landern der Erde existieren Sozialversicherungen gegen elementare Lebensrisiken, die durch staatliche oder halbstaatliche Tragerschaft und Zwangsmitgliedschaft fur die gesamte Bevolkerung oder doch groBe Bevolkerungsgruppen gekennzeichnet sind. Insbesondere der auf den einzelnen Burger ausgeiibte Zwang bedarf in einer ansonsten freiheitlich verfassten Gesellschaft einer triftigen Begrtindung, die nach Moglichkeit einen Effizienzvorteil nachweist. Einen geeigneten Ausgangspunkt jeder Effizienzbetrachtung bildet der Erste Hauptsatz der Wohlfahrtsokonomik. Dieser besagt: Erster Hauptsatz der Wohlfahrtsokonomik: In einer Okonomie mit rein privaten Gutern und einer perfekten Eigentumsordnung ist jedes Marktgleichgewicht bei vollkommener Konkurrenz ein Pareto-Optimum. Die genannten Staatseingriffe konnen also nur dann angebracht sein, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des Theorems in der Realitat auf den entsprechenden Versicherungsmarkten nicht erfullt sind. Dafiir kommen in Frage: 1. die Existenz offentlicher Giiter, also von Gutern, die durch Nichtrivalitat im Konsum und hohe AusschlieBungskosten charakterisiert sind. Im Bereich der sozialen Sicherung konnte man - bei Vorliegen von Altruismus der Wohlhabenden gegeniiber den von der Natur Benachteiligten - dem Konsum der Armen den Charakter eines offentlichen Gutes zuerkennen. 2. das Vorliegen einer unvollkommenen Eigentumsordnung oder die Unmoglichkeit, beliebige Vertrage zu schlieBen. Im ersten Fall ist die angemessene Antwort eher die Aufforderung an den Staat, die Eigentumsordnung zu prazisieren. Der zweite Grund kann aber faktischer Natur sein. So gelten etwa Vertrage mit Kindern als sittenwidrig, und Vertrage mit Ungeborenen sind sogar physisch unmoglich. Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, konnte dieser Mangel die Existenz einer umlagefmanzierten Rentenversicherung mit Zwangsmitgliedschaft rechtfertigen. 3. die Verletzung der Voraussetzungen der vollkommenen Konkurrenz. Hierzu zahlt vor allem die Annahme vollkommener Markttransparenz, die bedeutet, dass die Marktteilnehmer die Qualitat der gehandelten Giiter kostenlos beobachten konnen. Diese Voraussetzung ist auf Versicherungsmarkten verletzt,
94
4 Effizienzgriinde fiir die Existenz einer Sozialversicherung wenn der Versicherer den Umfang des Risikos, das er versichern soil, weniger gut abschatzen kann als der potentielle Versicherungsnehmer („asymmetrische Information"). Dies kann zum einen daran liegen, dass der Versicherer eine gegebene GroBe nicht beobachten kann wie z.B. eine Erbanlage, die dem Versicherungsnehmer durch einen Gentest bekannt ist („Adverse Selection"). Zum anderen ist es moglich, dass der Versicherungsnehmer sein Risiko sogar durch eine Handlung, die der Versicherer nicht beobachten kann, selbst beeinflusst („Verhaltensrisiko", engl. „Moral Hazard").
Im Folgenden beschranken wir uns auf die unter 3. genannten Abweichungen von den Voraussetzungen des 1. Hauptsatzes und diskutieren, inwiefern diese eine Effizienzverbesserung durch Errichtung einer Sozialversicherung mit Zwangsmitgliedschaft begrunden konnen.
4.2 Adverse Selektion auf Versicherungsmarkten Im Folgenden beschreiben wir zunachst, wie Versicherungsmarkte funktionieren. Auf dieser Grundlage wird dann analysiert, wo die Leistungsfahigkeit solcher Markte an Grenzen stoBt, so dass staatliche Eingriffe angezeigt sind. Die Argumentation ist auf alle Lebensrisiken (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Pflegebediirftigkeit, Erwerbsunfahigkeit, Langlebigkeit) anwendbar, die typischerweise durch Sozialversicherungen abgedeckt werden. Wir werden daher im Folgenden ganz allgemein vom „Schadensfall" sprechen, obwohl diese Bezeichnung gerade im Hinblick auf das Langlebigkeitsrisiko nicht wirklich passt. 4.2.1 Das Versicherungsmarktgleichgewicht unter idealen Bedingungen Es sei W0 das Anfangsvermogen eines reprasentativen Individuums. Dieses Vermogen bleibt erhalten, wenn das Individuum keinen Schadensfall erleidet. Im Schadensfall, der mit der Wahrscheinlichkeit n (mit 0 < n < 1) eintritt, entstehen dem Individuum Kosten in Hohe von L (L = Loss). Wir unterstellen L<WQ, denn einen Schaden, der hoher ist als das Anfangsvermogen (z.B. in der Haftpflichtversicherung) wird das Individuum nicht versichern wollen, da es mehr als dieses ohnehin nicht verlieren kann. Der Einfachheit halber wird angenommen, dass das Individuum keine weiteren NutzeneinbuBen aus dem Schaden erleidet. Die von Neumann-Morgenstern Nutzenfunktion u des Individuums sei im Nettovermogen strikt monoton wachsend und strikt konkav, d.h. es gelte u\W)>0
und u"(W)<0,
C4-1)
so dass das Individuum risikoavers ist. Wir nehmen an, dass dem Individuum eine private Versicherung angeboten wird. Wenn die (potenziell variable) Deckungssumme der privaten Versicherung V
4.2 Adverse Selektion auf Versicherungsmarkten
95
ist und der Pramiensatz p betragt, erreicht das Individuum im Schadensfall das Endvermogen Wx ~W0- pV -L + V, und andernfalls das Endvermogen ^2 = ^ o ~ pV - Die Pramienzahlung in Hohe von pV fallt immer an, und im Schadensfall (ibernimmt die Versicherung den Betrag V an den Gesamtschadenskosten L . Es gilt V < L . Der fur ein Individuum bei einem gegebenen Pramiensatz p optimale Deckungsgrad ergibt sich dann durch die Maximierung des Erwartungsnutzens EU(V)
= 7TU[W0 -L + V~pV]
+ (l-TT)U[W0 -pV]
(4.2)
bezliglich V. Die Maximierung des Erwartungsnutzens flihrt zur Marginalbedingung TT(\ - p)u'[W0 -L + V*(I -./?)] -(1 -n)pu'[WQ -pV*] = 0.
(4.3)
Als nachstes ist zu definieren, was wir in diesem Kapitel als ein Gleichgewicht auf dem Versicherungsmarkt bei vollkommener Konkurrenz verstehen wollen. Das hier verwendete Gleichgewichtkonzept geht auf Rothschild und Stiglitz (1976) zurtick. Ein RS-Gleichgewicht bezeichnet eine Menge von Vertragsangeboten seitens der Versicherungsunternehmen mit den folgenden Eigenschaften: 1. Jeder einzelne Vertrag bringt seinem Anbieter im Erwartungswert einen nichtnegativen Gewinn ein. 2. Es gibt keinen potenziellen Vertrag auBerhalb der Gleichgewichtsmenge, der mit einem positiven erwarteten Gewinn verbunden ware. 3. Unter alien Vertragen, welche die Bedingungen 1. und 2. erfullen, werden diejenigen realisiert, bei denen die Individuuen den hochsten Erwartungsnutzen erreichen. Wenn es eine groBe Zahl identischer Individuen gibt, deren Risiken gleich, aber stochastisch unabhangig voneinander sind, ist - bei Abwesenheit von Verwaltungskosten - im resultierenden RS-Versicherungsmarktgleichgewicht ein ganz bestimmter Pramiensatz p - die faire Prdmie - zu erwarten. Diese ist genauso hoch wie die Schadenswahrscheinlichkeit, d. h. es g i l t p - n . Ware der Pramiensatz niedriger (pri\ ergabe sich fur die Versicherer im Durchschnitt aller Versicherungsfalle ein positiver Gewinn. Dies kann aber kein stabiler „gleichgewichtiger" Zustand sein, weil ein (zunachst bestehender) Gewinn dazu fuhren wtirde, dass einzelne Versicherer ihre Pramien senken wtirden, um ihren Marktanteil und damit auch ihren Gewinn zu erhohen. Zusatzlich wtirden neue Anbieter von Versicherungsleistungen angelockt. Ein ahnlicher Mechanismus liegt auch dem aus der Mikrookonomik bekannten langfristigen Konkurrenzmarktgleichgewicht zugrunde.
96
4 Effizienzgrimde fiir die Existenz einer Sozialversicherung
Gilt p~n, tritt in der Marginalbedingung (4.3) der Faktor n(\-7t) vor beiden Summanden auf und kann somit weggekurzt werden. Man erhalt als Marginalbedingung fur V * also u'[W0 - L + (1 - n)V*] = u'[W0 - nV*\.
(4.4)
Diese Bedingung ist wegen der strikten Konkavitat von u genau dann erfullt, wenn W0-L + (l-n)V* = W0-nV*
bzw. V* = L
(4.5)
gilt. Bei emerfairen Prdmie kommt es also wegen der oben genannten Bedingung 3. fur ein RS-Gleichgewicht zu einer vollstandigen Absicherung des Schadens. Ein Individuum erreicht in beiden Fallen, bei Gltick und bei Pech, dann das gleiche sichere Endvermogen WQ - nL . Die Bedingung zweiter Ordnung im Vollversicherungszustand, die anzeigt, dass man tatsachlich ein Erwartungsnutzenmax/'mwm und nicht etwa ein -minimum erreicht, lautet n(\~-n)2u"{WQ-L die wegen u"(W)<0
+ V*{\-TT)] + (1 - n ) n 2 u ' W o ~ny*\ < ° >
^ ^
erfullt ist.
Endvermogen im Schadensfall
I
W0-%L —
45°
tan
\B/ _f (Xs-
W,-L
~]A
1 1 u
Wo -nL
Wo
Endvermogen im Nichtschadensfall
Abb. 4-1: Haushaltsoptimum bei Risikoaversion und fairer Versicherung Grafisch (vgl. Abb. 4-1) bedeutet die vollstandige Risikoabsicherung, dass das Individuum auf der fair en Versicherungsgeraden, die durch den Ausgangspunkt
4.2 Adverse Selektion auf Versicherungsmarkten
97
A = (W0,W0-L) ftihrt und den Anstieg -(1 - /r) / n aufweist, den Punkt B wahlt, in dem diese Linie die Sicherheitslinie (45°-Linie) schneidet. Im Punkt B wird die faire Versicherungsgerade von einer Erwartungsnutzen-Indifferenzkurve tangiert. Diese hat, wie man sich klar machen kann, die Steigung
\-n dW,
u\W2)
(4.7)
71 ' U\W{)
und ist also umso flacher, je hoher die Schadenswahrscheinlichkeit ist. Das soeben beschriebene Gleichgewicht ist zugleich eine Pareto-optimale Risikoallokation, denn bei gegebenem erwartetem Gewinn des Versicherers in Hohe von null kann der Versicherungsnehmer nicht besser gestellt werden. Man macht sich leicht klar, dass sich die Bedingung fur Pareto-Optimalitat auf den Fall mehrerer Typen von Versicherteny mit unterschiedlicher Schadenswahrscheinlichkeit 7Tj und gleichem potenziellem Schaden L verallgemeinern lasst: hier muss jeder Typ j eine Versicherung mit der Versicherungssumme K* = L und der Pramie nj • L erhalten. Man bezeichnet ein solches Optimum als ein First-Best-Optimum.
1 - TC C
W0-L
Abb. 4-2: Gleichgewicht im Zwei-Typen-Fall bei symmetrischer Information Abb. 4-2 stellt diese Situation fur den Fall zweier verschiedener Typen von Individuen dar, die beide in groBer Zahl vorhanden sein sollen. Diesen beiden Typen s und g droht im Schadensfall zwar der Verlust L, sie weisen aber unterschiedliche SchadGnswahrscheinlichkeiten ns bzw. ng auf. Und zwar gilt ns > ng , so dass die s-Typen die „schlechten" und die g-Typen die „guten" Risiken sind. In Abb. 4-
98
4 Effizienzgrunde fur die Existenz einer Sozialversicherung
2 ist fur jeden der beiden Typen jeweils eine Indifferenzkurve dargestellt: und IS(BS).
Wegen ns > ng und (4.7) ist Ig(Bg)
Ig(Bg)
uberall steiler als IS(BS). Ins-
besondere gilt dies auch in den jeweiligen Schnittpunkten Bg und Bs der Indifferenzkurven mit der Sicherheitslinie, wo Ig(Bg) IS(BS) den Anstieg -(\-7ts)lns
den Anstieg -(\-7ig)/7rg
und
hat.
Folgerung 4-1: Bei symmetrischer Information erhalt im Gleichgewicht jedes Individuum einen Versicherungsvertrag mit einer fairen Pramie. Die-1 ses Gleichgewicht ist Pareto-effizient. Die Annahme vollkommener Information der Versicherungsgesellschaften tiber das jeweilige Schadensrisiko ist jedoch unrealistisch. Welche Auswirkungen sich auf die Versicherungsmarktlosung ergeben, wenn man diese Annahme fallen lasst, zeigt die nachste Uberlegung. 4.2.2 Mogliche Versicherungsmarkt-Gleichgewichte bei asymmetrischer Information Im Folgenden wird angenommen, dass es zwei Typen von Risiken gibt, aber nur die Individuen selber wissen, zu welcher Risikoklasse sie gehoren, die Versicherungsgesellschaften jedoch nicht. Es herrscht also asymmetrische Information zwischen Versicherern und Versicherten. Die Versicherungsgesellschaften sollen aber zumindest den (mit ju bezeichneten) Anteil der guten Risiken an der Gesamtpopulation kennen. AuBerdem soil es den Versicherern moglich sein, die Hohe des Versicherungsschutzes, die sie einem bestimmten Individuum anbieten, zu rationieren, ihm also eine ganz bestimmte Versicherungssumme zu einer festen Pramie zu offerieren. Jeden Versicherungsvertrag konnen wir daher als Wertepaar (V,nV) charakterisieren, und man spricht von „Preis-Mengen-Vertragen". Alternativ konnte gesetzlich festgelegt sein, dass der Versicherer nur eine Pramie p pro Einheit Versicherungsschutz vorgibt und der Versicherte die Versicherungssumme frei wahlen kann. Bei solchen „Preis"-Vertragen ist etwa ein konvexer Verlauf der Pramie zur Versicherungsdeckung nicht durchsetzbar, da sich der Nachfrager seinen Versicherungsschutz immer bei mehreren Anbietern zusammenstuckeln kann. Weiterhin wird unterstellt, dass jeder Versicherungsnehmer nur einen einzigen Vertrag abschlieBen kann. Das oben beschriebene First-Best-Optimum mit Vollversicherung, in dem die beiden Risikotypen differenzierte Vertrage (L,7tsL) und (L,7igL) mit fur sie jeweils fairen Pramiensatzen erhalten und damit in die entsprechenden Vollversicherungspunkte Bs und Bg (vgl. Abb. 4-2) gelangen wiirden, ist unter diesen Voraussetzungen nicht erreichbar. Schlechte Risiken, die fur die Versicherungsunternehmen als solche nicht erkennbar sind, hatten ja einen Anreiz, sich als gute Ri-
4.2 Adverse Selektion auf Versicherungsmarkten
99
siken auszugeben, urn dadurch in den Genuss des nur fur die g -Typen vorgesehenen Vertrags (L,7rgL) zu gelangen. Denn der Punkt Bg liegt auch fur den sTyp auf einer hoheren Indifferenzkurve als Bs . Somit kann die First-Bestoptimale Trennlosung kein Gleichgewicht auf dem Versicherungsmarkt darstellen. In einer Misch(„Pooling")-Ldsimg, in der alien Versicherten der gleiche Versicherungsschutz K* zum einheitlichen Pramiensatz p = n = jLmg+(\-ju)7rs
(4.8)
angeboten wird und in der eine Unterscheidung zwischen den beiden Risikotypen somit nicht notig ist, machen die Versicherungsgesellschaften weder Gewinne noch Verluste. Wegen vollkommener Konkurrenz und der 1. Eigenschaft eines RS-Gleichgewichts muss jedes vereinende Gleichgewicht in Abb. 4-3 auf der Versicherungsgeraden AB liegen, deren Anstieg -(\-7r)ln betragt. Bei Vollversicherung, d. h. bei V = L , ergabe sich der Punkt B auf der Sicherheitslinie, bei einer Teilversicherung (V < L) kame ein Versicherungspunkt zwischen A und B , z.B. der Punkt M* zustande.
Ig(M*)
Abb, 4-3: Nicht-Existenz eines Pooling-Gleichgewichts In Abb. 4-3 sind die mit / 5 (M*) bezeichnete Erwartungsnutzen-Indifferenzkurve eines s-Typen und die mit 7 g (M*) bezeichnete Indifferenzkurve eines gTypen durch den Punkt M* eingezeichnet. Aus (4.7) folgt, dass in M* die Kurve 7 g (M*) wegen ng<ns steiler als/y(M*) ist. Die beiden Indifferenzkurven
100
4 Effizienzgriinde fur die Existenz einer Sozialversicherung
IS(M*)
und 7 g (M*) konnen sich rechts von M* aber nirgends schneiden, so
dass 7 g (M*) rechts von M* tiberall unterhalb von IS(M*)
liegt. Daraus ergibt
sich eine fur die weitere Argumentation zentrale Folgerung: Zwischen M * und der Verbindungsstrecke ABg existiert ein Bereich, der zugleich unterhalb von IS(M*) und oberhalb von Ig(M*) liegt. Mit Q bezeichnen wir einen beliebigen Punkt in diesem Bereich. Die Existenz eines solchen Punktes Q eroffhet den Versicherungsgesellschaften eine neue strategische Option: Sie konnen alien potenziellen Kunden eine Teilversicherung anbieten, die sie in den Punkt Q fuhrt. Fur die g-Typen ist ein solches Angebot attraktiv, weil sie sich in Q besser stellen als in M*. Der Punkt Q ist ja so bestimmt, dass er iiber I (M*) liegt. Umgekehrt wiirden sich im Punkt Q die sTypen schlechter stellen als in der ursprunglichen Mischlosung M*, weil Q unterhalb von IS(M*) liegt. Deshalb werden die unerwiinschten s-Typen vom Vertragsangebot Q fern gehalten. Bei gegebenen Vertragsangeboten der anderen Versicherungsgesellschaften lohnt sich ein solches Angebot Q fdr den einzelnen Versicherer, derm er macht bei den „guten" Risiken Gewinne, da der Punkt Q unterhalb der „fairen Versicherungsgeraden" ABg fur diesen Typ liegt. Die „alten" Versicherer machen Verluste, weil ihnen nur noch „schlechte" Risiken zum Pramiensatz n bleiben. Insgesamt zeigt sich also, dass die Losung M* kein Versicherungsmarktgleichgewicht darstellen kann, weil bei ihr die 2. Eigenschaft eines RS-Gleichgewichts verletzt ware. Dieses negative Resultat besagt aber keineswegs, dass bei asymmetrischer Information tiber die Schadenswahrscheinlichkeiten niemals ein Versicherungsmarktgleichgewicht vom Rothschild-Stiglitz-Typ existiert. Um ein RS-Gleichgewicht zu erreichen, mtissen allerdings in geschickter Weise die Vertragsangebote fur die beiden Risikotypen differenziert werden. Es muss zu Trennlosungen kommen. Dabei ist darauf zu achten, dass bei den dann vorhandenen Vertragsangeboten ein s-Typ nicht davon profitieren wtirde, wenn er sich als g-Typ verstellt. Neben dieser Selbstselektions- (bzw. Anreizkompatibilitats)-Bedingung muss nattirlich sichergestellt sein, dass die Versicherungsgesellschaften mit jedem einzelnen Vertrag weder Gewinne noch Verluste machen (Nullgewinnbedingung, folgt aus Eigenschaften 1. bis 3. und freiem Marktzutritt) und es keinen weiteren profitablen Vertrag gibt.
4.2.3 Mogliche Trennlosungen Wir wollen jetzt untersuchen, wie Trennlosungen, die ein Gleichgewicht darstellen konnten, im Einzelnen beschaffen sind. Die Versicherungspunkte, die die sbzw. g-Typen dabei jeweils erreichen, bezeichnen wir ganz allgemein mit Cs bzw. C0 .
4.2 Adverse Selektion auf Versicherungsmarkten
101
In einem Trenngleichgewicht ist die Nullgewinnbedingung fur die Versicherungsgesellschaften erfullt, wenn beide Risikogruppen jeweils Kontrakte zu ihrem individuell fairen Pramiensatz wahlen. Der Punkt Cs muss also auf der Strecke ABS, und Cg muss auf der Strecke ABg liegen. Um die Anreizkompatibilitatsbedingung einzuhalten, darf sich Cg nicht gleichzeitig oberhalb der durch Cs verlaufenden s-Indifferenzkurve Is (Cs) befinden. In einem RS-Gleichgewicht wird ein Vertrag angeboten, bei dem die s-Typen ihren hochsten Erwartungsnutzen unter der Nullgewinn-Bedingung fur den Versicherer erreichen. Der den g -Typen angebotene Vertrag darf die s -Typen dann nicht besser stellen, als dieser Vertrag fur s -Typen und muss, wegen der Bedingung 4 fur ein RS-Gleichgewicht, den Erwartungsnutzen der g -Typen unter dieser Bedingung maximieren Die sich dann ergebende Losung ist in Abb. 4-4 dargestellt: • Die s-Typen erreichen den Vollversicherungspunkt mit der fur sie fairen Pramie ns: Cs - Bs. • Die g-Typen erreichen denjenigen Punkt Cg , in dem die durch Bs verlaufende .s-Indifferenzkurve IS(BS)
die fur g-Typen faire Versicherungsgerade ABg
schneidet. Beide Risikotypen bezahlen dann den fur sie individuell fairen Pramiensatz, die g-Typen erhalten aber (zur Sicherung der Anreizkompatibilitat) nur einen partiellen Versicherungsschutz.
4(ce)
Abb. 4-4: Nicht-Existenz eines Trennungs-Gleichgewiehts
102
4 Effizienzgrunde fiir die Existenz einer Sozialversicherung
Die hier beschriebene Losung (Bs,Cg)
stellt unerfreulicherweise nicht immer
ein Versicherungsmarktgleichgewicht dar. Um zu erkennen, ob dieser Fall eintritt, betrachten wir in Abb. 4-4 die Indifferenzkurve Ig(Cg)
eines Individuums vom
Typ g durch Cg . Es lasst sich dann feststellen, dass (Bs,Cg) Gleichgewicht sein kann, wenn Ig(Cg)
sicher kein RS-
abschnittsweise unterhalb der Mischver-
trags-Linie AB verlauft. Durch das Angebot eines Vertrags, der in einem zwischen Ig(C ) und AB gelegenen Punkt M fiihrt (vgl. Abb. 4-4), gelingt es Versicherungsgesellschaften namlich, sowohl s- als auch g-Typen aus der Trennlosung (Bs,Cg) herauszulocken. Also zeigt sich, dass es in der in Abb. 4-4 dargestellten Konstellation keine Trennlosung gibt, die ein Versicherungsmarktgleichgewicht darstellt. Weil aber, wie wir zuvor gesehen haben, auch eine MischvertragsLosung kein Gleichgewicht sein kann, existiert in diesem Falle somit tiberhaupt RS-Gleichgewicht. Dieser Fall tritt genau dann ein, wenn der Anteil ju der guten Risiken an der Gesamtpopulation hoch ist. Die Gesamtschadenswahrscheinlichkeit W ist dann von n nicht allzu verschieden, und AB liegt vergleichsweise nahe an AB . Dies ist auch intuitiv plausibel: Bei einem hohen Wert von ju wirken sich die in der Mischlosung anfallenden hoheren Pramienzahlungen zur Subventionierung der ^-Typen fur die g -Typen weniger negativ aus als die Beschrankung der Versicherungsleistung auf eine Teilversicherung, wie sie sich in der Trennlosung (Bs,Cg)
ergabe.
Bei Nicht-Existenz eines Gleichgewichts lasst sich aus dem Modell nicht ableiten, wie sich der Versicherungsmarkt entwickelt. Daher lassen sich fur diesen Fall auch keine wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen aus dem Rothschild-StiglitzModell ziehen. Vielmehr mtissten wir uns nach einem anderen Modell umsehen, das ein Gleichgewicht besitzt und damit besser geeignet ist, die Realitat zu erklaren. Dazu Naheres in Abschnitt 4.2.5. 4.2.4 Staatliche Eingriffe zur Allokationsverbesserung Fur den umgekehrten Fall, in dem der Anteil ju der guten Risken so klein ist, dass (Bs, Cg) ein RS-Gleichgewicht darstellt, lasst sich dagegen beweisen, dass durch staatliche MaBnahmen unter Umstanden eine Pareto-Verbesserung moglich wird. Wie es dazu kommt, zeigt die Abb. 4-5. Der Staat fiihrt hier eine partielle Zwangsversicherung zum Pramiensatz n ein. Der dadurch erreichte Punkt G (auf der Linie AB) dient dann beiden Typen als Ausgangspunkt fiir freiwillige Zusatzversicherungen. Der Markt fur solche Zusatzversicherungen fiihrt dann zu einem neuen Trenngleichgewicht (Cs,Cg),
in
dem sich beide Typen besserstellen konnen als im alten Trenngleichgewicht
4.2 Adverse Selektion auf Versicherungsmarkten (Bs,Cg).
103
Fur die s-Typen ist diese Verbesserung offensichtlich. Damit sich der
Nutzen der g-Typen erhoht und somit Cg auf einer hoheren g-Indifferenzkurve liegt als Cg , darf der Anteil der guten Risiken nicht zu klein sein und die Hohe der staatlichen Zwangsversicherung nicht zu hoch ausfallen. Weshalb dies so ist, macht ein Blick auf Abb. 4-5 klar: Eine Pareto-Verbesserung durch die entsprechende Losung ist ja umso eher zu erwarten, je naher der Punkt G an der Indifferenzkurve I(Gg) liegt. Die Intuition fur dieses Ergebnis ist die folgende: Die gTypen zahlen zwar eine hohere als die faire Pramie, da sie die s-Typen quersubventionieren. Dafiir kann die Zwangsversicherung aber die Aureizvertraglichkeitsbedingung lockern, so dass die g-Typen eine hohere Versicherungsdeckung erhalten. Bei hinreichend groBer Risikoaversion stellt dies ftir sie eine Verbesserung dar.
Abb. 4-5: Pareto-Verbesserung durch obligatorische Teilversicherung Folgerung 4-2: Bei asymmetrischer Information existiert nur dann ein Rothschild-Stiglitz-Gleichgewicht, wenn der Anteil der „guten Risiken" nicht zu groB ist. Wenn zugleich der Anteil der guten Risiken auch nicht zu klein ist, ist dieses Gleichgewicht nicht Pareto-effizient. In diesem Fall ist eine obligatorische Teilversicherung mit einheitlicher Pramie Paretoverbessernd.
104
4 Effizienzgrunde fur die Existenz einer Sozialversicherung
4.2.5 Ein anderes Konzept von Versicherungsmarktgleichgewichten Das Ergebnis, nach dem eine staatliche Zwangsversicherung unter bestimmten Voraussetzungen aus Effizienzgrunden erwiinscht sein kann, beruht allerdings ganz entscheidend auf dem hier unterstellten Gleichgewichtskonzept von Rothschild und Stiglitz. Dieses kann jedoch durchaus kritisiert werden, verlangt es doch, dass ein Versicherungsuntemehmen mit jedem einzelnen der von ihm angebotenen Vertrage einen nichtnegativen erwarteten Gewinn macht. Diese Verhaltensannahme kann als unrealistisch angesehen werden, da Firmen eine Mischkalkulation betreiben, wenn dies insgesamt fur sie gtinstig ist. Als Alternative haben Wilson sowie Spence und Miyazaki (WSM) daher das folgende Gleichgewichtskonzept vorgeschlagen: 1. Jeder Versicherer bietet ein Bundel von Vertragen an, das ihm insgesamt einen nicht-negativen Erwartungsgewinn verspricht. 2. Kein potenzielles Bundel von Vertragsangeboten auBerhalb der angebotenen Menge ware mit einem nicht-negativen Erwartungsgewinn verbunden, wenn alle Vertragsbiindel, die dadurch unprofitabel geworden sind, vom Markt genommen werden. 3. Jedes Individuum wahlt unter gemaB 1. und 2. moglichen Vertragen den Vertrag, der seinen Erwartungsnutzen maximiert
Wn
Abb. 4-6: Wilson-Spence-Miyazaki-Gleichgewicht Die entscheidenden Unterschiede zum Gleichgewichtskonzept von Rothschild und Stiglitz bestehen also darin, dass die guten Risiken die schlechten subventionieren, und zum anderen vor einem Markteintritt die Reaktion der Wettbewerber
4.2 Adverse Selektion auf Versicherungsmarkten
105
antizipieren. Beide Annahmen konnen als Schritte in Richtung groBerer Realitatsnahe angesehen werden, denn Unternehmen werden sehr wohl Mischkalkulation betreiben, wenn es ihnen ntitzt, und sie werden sich vor einem Markteintritt alien daraus folgenden Konsequenzen iiberlegen Mit etwas mathematischem Aufwand lasst sich zeigen, dass immer ein WSM-Gleichgewicht existiert und dass ein solches Gleichgewicht immer Second-Best-optimal ist. Ein WSM-Gleichgewicht ist in Abb. 4-6 dargestellt. Hierin ist der Kurvenzug ADB folgendermaBen konstruiert: Wenn alle g-Typen den jeweiligen Vertrag kaufen und alle s-Typen den Vertrag auf der Sicherheitslinie, der fur sie gleich gut ist wie der betrachtete Vertrag, so erbringt dieses Vertragsbundel dem Versicherer einen Gewinn von null. Der Vertrag D ist der beste Punkt auf dieser Kurve aus der Sicht eines g-Typen, also stellt das Vertragsbundel (C,D) ein WSM-Gleichgewicht dar. Es gibt kein anderes Vertragsbundel mit nicht-negativem Gewinn, das aus der Sicht der beiden Typen von Versicherten gegentiber (C,D) Pareto-superior ist, also ist (C,D) second-best-effizient. Folgerung 4-3: Nach dem Gleichgewichtskonzept von Wilson, Spence und Miyazaki existiert immer ein Pareto-effizientes Gleichgewicht auf dem I Versicherungsmarkt. Staatlicher Zwang ist dann nicht wohlfahrtserhohend.
4.2.6 Asymmetrische Information als Konsequenz staatlicher Regulierung In diesem Kapitel wurde grundsatzlich unterstellt, dass die betrachtete asymmetrische Informationsverteilung quasi „naturgegeben" ist. Diese Sichtweise ist jedoch nicht ganz selbstverstandlich, da die beschriebenen Probleme nicht immer dadurch entstehen, dass eine Marktseite die „Qualitat des Produkts" (hier: das Risiko eines Nachfragers) faktisch, d.h. aus untiberwindbaren technischen Grtinden oder aufgrund extrem hoher Kosten, nicht beobachten kann. Vielmehr sind haufig die rechtlichen Moglichkeiten der Versicherer, sich Informationen uber die (potentiellen) Versicherungsnehmer beschaffen zu konnen, durch die staatliche Gesetzgebung eingeschrankt. Ein besonders markantes Beispiel fur den Einfluss des Staates auf das Phanomen der asymmetrischen Information liefert die genetische Diagnostik. In manchen Landern verbietet es der Gesetzgeber den Versicherungsunternehmern, einen neuen Kunden zum Zweck der Risikoabschatzung nach den Ergebnissen bereits durchgefuhrter Gentests zu fragen, und auch in Deutschland wird ein solches Gesetz von vielen gefordert. Gegenwartig steht es den Versicherern nach § 16 Versicherungsvertragsgesetz frei, solche Fragen zu stellen, die im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) zusammengeschlossenen Unternehmen haben sich jedoch im Jahr 2003 in einer Selbstverpflichtungserklarung bereit erklart, bis Ende 2006 u.a. bei Lebensversicherungsvertragen bis zu 250.000 Euro Versicherungssumme auf derartige Fragen zu verzichten.
106
4 Effizienzgrunde fur die Existenz einer Sozialversicherung
Damit wird der Zustand der asymmetrischen Information ktinstlich hergestellt. Um die Wohlfahrtswirkungen dieser MaBnahme beurteilen zu konnen, vergleichen wir in Abb. 4-3 die beiden RS-Gleichgewichte • bei symmetrischer Information: das Vertragspaar (Bg,Bs) • bei asymmetrischer Information: das Vertragspaar
und
(Cg,Cs).
Man erkennt sofort, dass asymmetrische Information niemandem hilft, aber gute Risiken schlechter stellt als symmetrische Information. Versuche, den Informationstransfer gesetzlich oder durch einseitige Verzichtserklarungen zu unterbinden, miissen aus Effizienz-Sicht als verfehlt angesehen werden. Das heiBt nattirlich nicht, dass es nicht andere gute Griinde fur das Verbot der Beschaffung und Nutzung der entsprechenden Informationen gibt.
4.3 Verhaltensrisiko auf Versicherungsmarkten Wir betrachten im Folgenden ein Individuum, das ein Ausgangsvermogen von W0 besitzt und mit dem Risiko eines Vermogensverlustes in Hohe von L Geldeinheiten konfrontiert ist, die Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadensfalls jedoch durch eine Vorbeugungsaktivitat beeinflussen kann, die nicht kostenlos ist. Im einfachsten Fall handelt es sich bei der Vorbeugung um eine 0-1-Entscheidung, d.h. das Individuum kann dann entweder die Vorbeugung komplett unterlassen, so dass die Schadenswahrscheinlichkeit n betragt, oder es kann Vorbeugungskosten von a aufwenden und die Schadenswahrscheinlichkeit damit auf na mit na
+
(l-7ra)-u[W0-a]>
7F'U[WQ-L] + (l-7F)-u[WQ] = E[uQV)].
4.3.1 Versicherungsnachfrage: Der Fall symmetrischer Information Wir fuhren nun die Moglichkeit einer Versicherung zu versicherungsmathematisch fairer Pramie ein, d.h. die Pramie P entspreche gerade der erwarteten Versicherungsleistung, die sich wiederum als Produkt der Versicherungssumme V und der Schadenswahrscheinlichkeit berechnen lasst. Diese Annahme impliziert, dass der Versicherer risikoneutral ist, z.B. weil der betrachtete Versicherungsvertrag einer von vielen ist und er das Gesetz der groBen Zahl ausnutzen kann.
4.3 Verhaltensrisiko auf Versicherungsmarkten
107
Falls die Versicherung die Vorbeugungsausgaben des Haushalts beobachten kann, wird sie ihm zwei Typen von Vertragen anbieten: 1.
einen Vertrag, bei dem sich der Versicherungsnehmer zur Vorbeugung verpflichtet und die Pramie daher das na -fache der Versicherungssumme betragt. Mit diesem Vertragstyp kann der Haushalt folgenden Erwartungsnutzen erreichen:
E[u(Wa(V))] = xa 'U[W0-a-L + V-7ra -V] + (l-7ra)-u[W0-a-7ra 2.
( 4 - 10 )
einen Vertrag, der davon ausgeht, dass der Versicherungsnehmer keine Vorbeugung betreibt und in dem daher eine Schadenswahrscheinlichkeit n unterstellt wird. Dieser Vertragstyp fuhrt zu einem Erwartungsnutzen E[u(W(y))] = n-u[W0-L
+ V-7r-V] + (l-7r)'u[WQ-n-V].
(4.11)
Da der Versicherungsnehmer risikoavers ist und die Versicherung zur jeweils fairen Pramie angeboten wird, wird er sich in beiden Fallen fur eine Vollversicherung entscheiden, d.h. V = L wahlen, wie wir formal bereits bei der Herleitung von (4.3) gesehen haben. Da der Versicherungsnehmer also in jedem Falle eine Vollversicherung abschlieBt, wird sein Nutzen nicht mehr davon abhangen, ob der Schadensfall eintritt, und er wird Vorbeugung betreiben, wenn folgende Bedingung erfullt ist: E[u(Wa(/,))]
= u[WQ ~a-na
• L] > u[W0 -TT-L] = E[U(W(L))]
(4'12)
bzw., weil u(W) streng monoton wachsend ist, genau dann, wenn WQ-a-xa
>L>WQ-7T-L
bzw.
{n-na)a
( 4 - 13 )
gilt. Die linke Seite der zweiten Formel in (4.13) gibt die erwarteten Einsparungen durch Vorbeugung an und die rechte Seite deren Kosten. Bei symmetrischer Information wird also • Vorbeugung genau dann betrieben, wenn sie sich im Erwartungswert amortisiert, und • das verbleibende Risiko durch Vollversicherung auf den Versicherer ubertragen. Die beiden in einem Versicherungsmarktgleichgewicht moglichen Vertrage sind daher durch die beiden Paare von Versicherungssumme und Pramie {L,7Ta - L) sowie (L,K- L) beschrieben, wobei ersterer immer dann gekauft wird, wenn Bedingung (4.13) erfullt ist.
108
4 Effizienzgrunde fiir die Existenz einer Sozialversicherung
4.3.2 Versicherungsnachfrage: Der Fall asymmetrischer Information Im Unterschied zum vorangegangenen Abschnitt nehmen wir nun an, der Versicherer konne die Vorbeugungsaktivitat des Versicherten nicht beobachten oder zumindest nicht bei einem moglichen Rechtsstreit vor Gericht verifizieren. Damit ist ein Vertrag, der entweder die Pramie oder die Versicherungsleistung von der Vorbeugung abhangig macht, nicht durchsetzbar. Dies gilt insbesondere fur den Vertrag (L,7ra • L), da der Versicherungsnehmer bei Vollversicherung keinen Anreiz mehr hat, auf eigene Kosten Vorbeugung zu betreiben, so dass die in der Kalkulation der kostendeckenden Pramie unterstellte Schadenswahrscheinlichkeit na sich nicht realisiert, sondern durch die Wahrscheinlichkeit ohne Vorbeugung n ersetzt werden muss. Der Vertrag {L,na -L) wird daher von den Versicherungsunternehmen nicht angeboten werden. Im Folgenden wollen wir eine Bedingung dafur entwickeln, welche Vertrage tatsachlich angeboten werden konnen. Fiir die entsprechenden Vertrage ist es dabei erforderlich, dass sie insofern anreizkompatibel sind, als das bei ihrer Pramienkalkulation unterstellte Verhalten fur den Versicherungsnehmer tatsachlich individuell rational sein muss. Wir wissen, dass dies fur den Vertrag (L,7r-L) gilt, denn der Vollversicherte wird dann sicher keine Vorbeugung betreiben und damit wirdie Schadenswahrscheinlichkeit n betragen. Dieser Vertrag muss aber nicht unbedingt optimal sein. Es konnte namlich eine Versicherungssumme V geben, die gering genug ist, um einem risikoaversen Haushalt den Anreiz zur Vorbeugung zu erhalten. Wenn dies der Fall ist, so ware der Vertrag (V,na -V) anreizkompatibel. Die Suche nach einem optimalen Vertrag umfasst somit zwei Schritte: 1. das Auffmden des besten Vertrags mit Anreizen zur Vorbeugung, 2. den Vergleich mit dem Vollversicherungs-Vertrag ohne Vorbeugung, Schritt 1: Die Bedingung fiir die Anreizkompatibilitat eines Vertrags (V,7Fa'-V) lautet: E[u(Wa(V))^
= 7ra'u[W0-a-L
+ (l-7ra)'V]
+
>7r'u[WQ-L + (\-7ra)-V] + (l-7r).u[WQ-7ra-V]
(\-7ra)-u[WQ--a-7ra'V] = E[u(W(V))].
(4 14)
'
Die linke Seite von (4.14) gibt den Erwartungsnutzen des Versicherten an, wenn er den Vertrag (V,na -V) abgeschlossen hat und Vorbeugung betreibt, und die rechte Seite den Erwartungsnutzen, wenn er mit dem gleichen Vertrag die Vorbeugung unterlasst. Im Folgenden ist zu uberpriifen, ob es ein positives Fgibt, das (4.14) erfullt. Falls es existiert, so sind wir wegen der Risikoaversion des Versicherungsnehmers an dem groBten Wert von V interessiert, der diese Bedingung erfullt, d.h. dem Wert V*, der (4.14) als Gleichung erfullt.
4.3 Verhaltensrisiko auf Versicherungsmarkten
109
Die Frage, ob eine solches V* existiert, ist Equivalent zu der Frage, ob die Funktion g(V) := E [u{Wa (F))] - E [u(W{V))} = 7ra -u[W0-a-L
+ (l-7ra)-V] + (l-7ra)>u[WQ-a-7ra
-n>u[W0-L + (\-na)>V} + (\-7t)-u[W0-na
-V]
(4.15)
-V]
eine Nullstelle besitzt. Trivialerweise gilt wegen a > 0 g{L) = E^u{W\L))^-E[u{W{L))] = u[WQ-a-na
( 4 - 16 )
Ferner treffen wir die Annahme, dass (4.9) erfullt ist, d.h. dass sich Vorbeugung ohne Versicherung lohnt. Dies impliziert: g(Q) = E[u(Wa)]-E[u(W)]=
{4l7)
Da es sich bei g um eine stetige Funktion handelt, folgt wegen (4.16) und (4.17) aus dem Zwischenwertsatz, dass es ein F* mit g(V*) = 0 geben muss. Falls g mehrere Nullstellen hatte, soil F*die groBere bezeichnen. Dann ist (K*,^ a -V*) der anreizkompatible Vertrag mit der hochsten Deckungssumme. Schritt 2: Die Bedingung dafiir, dass der im Schritt 1 ermittelte Vertrag (V*, na - V*) besser ist als der Vertrag (L, n • L), lautet: na 'u[W0-a-L
+ (l-7ra)^V^] + (l-7ra)'u[W0-a-7ra-V^]>u[WQ-7T'L].
(4.18)
Gilt (4.18) so stellt der Vertrag (F*,^ a F*) ein Second-Best-Optimum dar. Unter welchen Voraussetzungen lasst sich dieser Vertrag realisieren? Die Versicherungsunternehmung, die einem Haushalt den Vertrag (V*, na - V*) anbietet, muss sicher sein, dass V * tatsachlich die gesamte Versicherungssumme ist, die der Versicherte abgeschlossen hat. Er darf also nicht mehr als einen Vertrag mit teilweiser Abdeckung des gleichen potenziellen Schadens abschliefien, um sich einen umfangreicheren Versicherungsschutz zusammenzustuckeln. Private Versicherungsunternehmen werden Mittel und Wege finden, ein „Stuckelungsverbot" durchzusetzen. Dies kann durch eine Vertragsklausel geschehen, in der sich der Versicherungsnehmer verpflichtet, das gleiche Risiko nicht durch weitere Vertrage abzudecken, oder durch gegenseitige Kontrollinformationen unter den Versicherungsunternehmen. Aber es sind in speziellen Fallen noch einfachere Methoden denkbar. So lassen sich private Krankenversicherungen in Deutschland von ihren Kunden stets nur Originalrechnungen einreichen, die sie einbehalten. Der Staat ist also nicht aufgerufen, aktiv zu werden, um das Second-Best-Optimum
110
4 Effizienzgriinde fur die Existenz einer Sozialversicherung
durchzusetzen, er muss lediglich die genannten Kontrollen durch die Versicherungsanbieter tolerieren. Wenn der Staat eine Versicherungspflicht einfuhrt und dabei die Burger zu einem hoheren Versicherungsschutz als F* verpflichtet, wtirde er ihnen den Anreiz zur Vorbeugung nehmen und sie - bei Gultigkeit von (4.18) - sogar schlechter stellen als im Marktgleichgewicht. Die Abwesenheit einer Vollversicherung ist hier gerade nicht als ein Versagen des Marktes zu deuten, vielmehr ist ein Kennzeichen eines Second-Best-Optimums, da es fur den einzelnen bei asymmetrischer Information angesichts der beschriebenen Anreizprobleme vorteilhaft ist, nicht voll versichert zu sein. Gerade die Unterversicherung dient als glaubhaftes Instrument der Selbstbindung der Versicherten gegentiber der Versicherung, Vorsorge zu betreiben und damit die Schadenswahrscheinlichkeit niedrig zu halten. Folgerung 4-4: Wenn das Vorliegen von Verhaltensrisiko die Ursache dafur ist, dass auf dem Versicherungsmarkt kein Vertrag mit umfassendem I Versicherungsschutz zustande kommen, so beruht dies darauf, dass ein soldier Vertrag zu wenig Vorbeugungsanreize mit sich bringt und daher zu teuer ist und vom Nachfrager nicht gewlinscht wird. Ein staatlicher Zwang zur Vollversicherung ware dann mit einer Pareto-Verschlechterung verbunden. I
4.4 Schlussfolgerungen fiir Sozialversicherung bei „Versagen" von Versicherungsmarkten In diesem Kapitel haben wir „asymmetrische Information" auf Versicherungsmarkten als Abweichung von den Voraussetzungen des 1. Hauptsatzes der Wohlfahrtsokonomik kennengelernt. Ziel der Analyse war es, Falle zu ermitteln, in denen die Ausiibung staatlichen Zwangs zu einer Effizienzverbesserung im Paretianischen Sinn fuhrt, um damit eine Begrundung fur die Existenz von Sozialversicherungen zu erhalten. Die Antworten, die wir in diesem Kapitel auf unsere Frage erhalten haben, sind eher negativ und nicht eindeutig. Bei adverser Selektion lieB sich eine Konstellation identifizieren, in der staatlicher Zwang eindeutig zu einer Pareto-Verbesserung fuhrt. Die Bedingungen hierfur sind aber ziemlich eng und speziell. 1. Der Versicherungsmarkt muss nach der Theorie von Rothschild-Stiglitz funktionieren, d.h. Versicherer ziehen jedes einzelne Vertragsangebot, das ihnen im Erwartungswert einen Verlust beschert, zuriick. 2. Der Anteil von guten Risiken in der Gesamtbevolkerung darf nicht zu klein sein (denri dann existiert das Gleichgewicht gar nicht), aber auch nicht zu grofi. 3. Der Staat darf die Burger nur zu einer Teilversicherung zwingen und muss private Zusatzversicherungen zulassen.
4.5 Ubungsaufgaben
111
Davon abgesehen, verhilft die Theorie von Rohschild und Stiglitz aber zu einem verbesserten Verstandnis der Probleme, die sich mit der Gestaltung von Versicherungsvertragen verbinden. Wenn der Versicherungsmarkt nach der Theorie von Wilson, Spence und Miyazaki funktioniert, ist die Begrundung fur staatlichen Zwang nicht triftig. Dann bleibt ein Versicherer am Markt, wenn das Btodel seiner Vertragsangebote insgesamt einen nicht-negativen Erwartungsgewinn erbringt, d.h. wenn er bereit ist, Quersubventionierung zu betreiben, und beim Markteintritt die Reaktionen der Wettbewerber antizipiert. Welches Gleichgewichtskonzept die realen Versicherungsmarkte am besten beschreibt, dtirfte empirisch schwer zu (iberprufen sein. Noch weniger lasst sich staatlicher Zwang rechtfertigen, wenn ein Versicherungsmarkt wegen des Vorliegens von Verhaltensrisiko nur einen unvollkommenen Versicherungsschutz liefert oder iiberhaupt nicht zu Stande kommt.
4.5 Ubungsaufgaben
Aufgabe 4.1: Auf einem Krankenversicherungsmarkt gebe es zwei verschiedene Risikotypen. Gute Risiken haben eine Erkrankungswahrscheinlichkeit von n = 0,25 , schlechte von ns = 0,5 . Jedes Individuum hat ein Anfangsvermogen von W = 12 und die Nutzenfunktion u(W) = In W. Im Krankheitsfall betragen die Behandlungskosten L = 12. a. b.
c. d.
Wie sieht das Gleichgewicht auf dem Versicherungsmarkt bei symmetrischer Information liber das Erkrankungsrisiko aus? Wie wtirde ein Trenngleichgewicht nach Rothschild und Stiglitz bei asymmetrischer Information tiber das Erkrankungsrisiko aussehen? Unter welchen Bedingungen ist diese Losung tatsachlich ein Gleichgewicht auf dem Versicherungsmarkt? Vergleichen Sie den Erwartungsnutzen der Versicherten in beiden Gleichgewichten. Wie beurteilen Sie vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse die Selbstverpflichtungserklarung des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft, bei bestimmten Versicherungssummen nicht nach den Ergebnissen von Gentests zu fragen?
Aufgabe 4.2: Ein Individuum mit der Nutzenfunktion u{W) = \nW habe ein Vermogen von 100 und eine Erkrankungswahrscheinlichkeit n = 0,3, die es durch Vorbeugung auf na = 0,1 senken kann. Im Krankheitsfall betragen die Ausgaben 1=80. Vorbeu-
112
4 Effizienzgrunde fur die Existenz einer Sozialversicherung
gung ist mit Kosten in Hohe von a=\0 verbunden. Eine Krankenversicherung sei zu fairer Pramie erhaltlich. a. b. c. d. e.
Ermitteln Sie, ob es effizient ist, Vorbeugung zu betreiben, falls es keine Versicherungsmoglichkeit gibt. Berechnen Sie die optimale Versicherungsleistung, falls der Versicherer die Vorbeugung beobachten kann. Ist es effizient vorzubeugen? Berechnen Sie die optimale anreizkompatible Versicherungsleistung F* fur den Fall, dass der Versicherer die Vorbeugung nicht beobachten kann. Wie andert sich Ihre Antwort auf die Fragen b) und c), wenn die Vorbeugungskosten a=\5 betragen? Diskutieren Sie vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse die Aussage: „Wenn ein Versicherungsmarkt durch Verhaltensrisiko nicht zu Stande kommt, muss der Staat mit Versicherungspflicht eingreifen."
4.6 Literatur Dionne, G. und N. Doherty. (1992), Adverse Selection in Insurance Markets: A Selective Survey, in: G. Dionne (Hg.), Contributions to Insurance Economics, Boston: Kluwer: 97-140. Ehrlich, I. und G. Becker (1972), Market Insurance, Self-Insurance and Self-Protection, Journal of Political Economy 80: 623-648. Miyazaki, H. (1977), The Rat Race and Internal Labor Markets, BellJournal of Economics 8:394-418. Pauly, M.V. (1974), Overinsurance and Public Provision of Insurance: The Roles of Moral Hazard and Adverse Selection, Quarterly Journal of Economics 88: 44-62. Rothschild, M. und J. Stiglitz (1976), Equilibrium in Competitive Insurance Markets: An Essay on the Economics of Imperfect Information, Quarterly Journal of Economics 90: 629-650. Spence, A.M. (1978), Product Differentiation and Performance in Insurance Markets, Journal of Public Economics 10: 427-447. Spence, A.M. und R. Zeckhauser (1971), Insurance, Information, and Individual Action", American Economic Review 61: 380-387. Wilson, C. (1977), A Model of Insurance Markets with Incomplete Information, Journal of Economic Theory 16: 167-207. Winter, R.A. (1992), Moral Hazard and Insurance Contracts, in: G. Dionne (Hg.), Contributions to Insurance Economics, Boston: Kluwer: 61-96.
5 Rentenversicherung
5,1 Einleitung Wahrend der Mensch im Laufe seines gesamten Lebens Konsumgtiter zum Lebensunterhalt benotigt, ist seine Fahigkeit, durch eigene Arbeit zur Erstellung dieser Gtiter beizutragen, in den verschiedenen Lebensphasen sehr unterschiedlich ausgepragt. Abgesehen von krankheitsbedingten Unterbrechungen der Leistungsfahigkeit, konnen insbesondere Kinder und alte Menschen keinen oder nur einen geringen Beitrag zum eigenen Lebensunterhalt leisten. Die bauerliche GroBfamilie vergangener Jahrhunderte stellte ein einfaches Instrument dar, dieses zeitliche Auseinanderklaffen von Konsumbedarf und Arbeitsfahigkeit zu uberbriicken: In ihr bildeten Arbeitsfahige und Nicht-mehr- (bzw. Noch-nicht-) Arbeitsfahige eine wirtschaftliche Gemeinschaft, so dass ein Ausgleich von Bedarf und Leistungsvermogen zu jedem Zeitpunkt innerhalb der Familie vorgenommen wurde und ein Problem des Ausgleichs liber die Zeit gar nicht offen zu Tage trat. Die moderne Kleinfamilie erfullt dieselbe Funktion immerhin noeh fur die Versorgung der Kinder durch die Arbeitsleistungen der Eltern. Es verbleibt demnach das Problem des Transfers von Mitteln zum Lebensunterhalt aus der Phase der Erwerbstatigkeit in die Phase des Ruhestands im Alter, der gemeinhin als „Altersversorgung" bezeichnet wird. Bei funktionierenden Kapitalmarkten kann dieser Transfer durch Sparen bewirkt werden, wofur es eine breite Palette von Anlageformen mit unterschiedlicher Fristigkeit, Liquiditat, Rendite und Risiko gibt, z.B. Immobilien, Aktien, Kapitallebensversicherungen, festverzinsliche Wertpapiere, Sparguthaben. Keine dieser Anlageformen sichert das Individuum allerdings gegen die Unsicherheit tiber die Lange der Ruhestandsphase ab. Stirbt es schon bald nach Beendigung des Arbeitslebens, so hat es sein Vermogen noch nicht aufgezehrt und es entsteht eine ungeplante und eventuell sogar ungewollte Vererbung (z.B. wenn es keine nahen Angehorigen hat). Umgekehrt besteht bei unerwarteter Langlebigkeit die Gefahr, dass es sein Vermogen schon lange vor dem Tod aufgezehrt hat und dann hungern mtisste. Instrumente zur Absicherung des Konsums gegen die Unwagbarkeiten der Lebensdauer nennt man „Alterssicherung". Das wichtigste dieser Instrumente stellt die sog. „Leibrente" dar, die dem Individuum bis zu seinem Lebensende eine feste Geldzahlung pro Periode (z.B. pro Monat) zusichert. Diese kann entweder im Nominalbetrag fixiert oder beziiglich einer bestimmten GroBe (Lohnniveau oder Preisniveau) indexiert sein. Man kann den Anspruch auf eine Leibrente entweder durch eine einmalige Kapitalzahlung oder durch monatliche Pramienzahlungen bis zum Zeitpunkt des Rentenbeginns erwerben.
114
5 Rentenversicherung
Leibrenten kommen in unterschiedlichen Auspragungen vor. Die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale sind: a. privat versus staatlich, d.h. Anbieter einer Leibrente kann entweder ein privates Versicherungsunternehmen oder ein offentlich-rechtlicher Trager sein, b. freiwillig versus obligatorisch, d.h. die Teilnahme kann dem Einzelnen tiberlassen oder durch Gesetze erzwungen sein, c. kapitalgedeckt versus umlagefinanziert, d.h. die Beitrage konnen zur Bildung eines Kapitalfonds verwendet werden, der zur Deckung der spateren Rentenzahlungen dient, oder zur Auszahlung der Leibrenten an die gegenwartigen Rentner. Beim reinen „Umlageprinzip" werden zu keinem Zeitpunkt Reserven gebildet. Angesichts dieser Vielfalt von Systemen beschaftigt man sich im Rahmen einer Theorie der Alterssicherung mit den folgenden Fragestellungen, die teilweise positives teilweise normativen Charakter haben: 1. Welche Auswirkungen haben die einzelnen Systeme der Alterssicherung auf okonomische GroBen wie das Wachstum des Sozialprodukts, die Bevolkerungszahl oder die Bildungsinvestitionen (positive Fragestellung)? 2. Gibt es Effizienzbegriindungen fur die Wahl eines bestimmten Systems der Alterssicherung (normative Fragestellung)? 3. Wie kann man erklaren, dass Gesellschaften mit demokratischen Entscheidungsprozessen sich fur bestimmte Systeme der Alterssicherung entschieden haben (positive Fragestellung)? Dieses Kapitel ist wie folgt aufgebaut: In Abschnitt 5.2 wird eine grobe Charakterisierung des Alterssicherungssystems in Deutschland gegeben, wobei das Hauptaugenmerk auf der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) liegt. Abschnitt 5.3 vergleicht die beiden Finanzierungssysteme, Kapitaldeckung und Umlageverfahren, hinsichtlich der Effizienz der resultierenden Ressourcenallokation. Dazu werden zwei verschiedene okonomische Modellwelten betrachtet, namlich zum einen eine kleine und „offene", d.h. in den internationalen Kapitalmarkt integrierte Volkswirtschaft und zum anderen eine geschlossene Volkswirtschaft. Abschnitt 5.4 untersucht Griinde daftir, dass der Staat seine Burger zur Teilnahme an einer Rentenversicherung zwingt. Die Abschnitte 5.5 und 5.6 beschaftigen sich mit Anreizwirkungen, die mit bestimmten Rentensystemen verbunden sind, im Hinblick auf folgende demographisch relevante GroBen: • Investitionen in das Humankapital der nachsten Generation (Bildungsinvestitionen), • die Wahl der Lebensarbeitszeit, und es werden jeweils Schlussfolgerungen fur die effiziente Gestaltung des Rentensystems gezogen. In Abschnitt 5.7 wird dann die Perspektive gewechselt und die rein positive Frage gestellt, warum es in den meisten Demokratien umlagefmanzierte Rentenversicherungen gibt.
5.2 Das Alterssicherungssystem in Deutschland
115
5.2 Das Alterssicherungssystem in Deutschland 5.2.1 Die Gesetzliche Rentenversicherung Der Hauptpfeiler des Alterssicherungssystems in Deutschland ist die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV), in der der weitaus groBte Teil der Arbeitnehmer pflichtversichert ist. Daneben gibt es noch weitere Institutionen wie die Beamtenrechtliche Altersversorgung, die Altershilfe der Landwirte, die Versorgungswerke der freien Berufe und die Betriebliche Alterssicherung. Im Jahr 2002 wurden laut Sozialbudget des Bundesministeriums fur Gesundheit und Soziales insgesamt 257 Mrd. Euro fur Altersversorgung aufgewendet, davon 228 Mrd. Euro (= 89%) durch die GRV. Ferner nimmt die GRV neben der Altersversorgung noch weitere Aufgaben wahr, die einer Versicherung gegen die Risiken des vorzeitigen Todes (Hinterbliebenenrenten) oder der Erwerbsminderung (Berufs- und Erwerbsunfahigkeitsrenten, Rehabilitation) gleichzusetzen sind und fur die sie 2002 9,1 Mrd. Euro (= 4% der Gesamtausgaben) aufgewendet hat. Die Trager der Rentenversicherung (fruher: Landesversicherungsanstalten, Bundesversicherungsanstalt fur Angestellte und Bundesknappschaft, heute: die Deutsche Rentenversicherung) sind Korperschaften des offentlichen Rechts mit einer Selbstverwaltung, die paritatisch durch Vertreter der Versicherten und der Arbeitgeber besetzt ist. Da jedoch die wesentlichen Parameter der Beitrags- und Leistungsstruktur nicht in deren Kompetenz fallen, sondern durch Gesetze geregelt werden, kann man von einem staatlichen Rentensystem sprechen. Ferner handelt es sich im Wesentlichen um eine Zwangsversicherung: Versicherungspflicht besteht fur alle Arbeiter und Angestellten, Handwerker und selbstandige Kiinstler und Publizisten. Alle anderen Personenkreise (selbstandige Erwerbstatige und nicht Erwerbstatige) haben die Moglichkeit der freiwilligen Versicherung in der GRV. Auch die Hohe der Beitragszahlungen ist gesetzlich geregelt und nicht vom Versicherten frei wahlbar: Sie ist von einem Mindestverdienst (400 Euro pro Monat) an als fester Prozentsatz („Beitragssatz") vom Bruttoarbeitsverdienst bis zu einer oberen „Beitragsbemessungsgrenze" ausgedruckt, die ebenfalls per Gesetz jahrlich entsprechend der allgemeinen Einkommensentwicklung angehoben wird und im Jahr 2005 monatlich 5.200 Euro (Westdeutschland) bzw. 4.400 Euro (Ostdeutschland) betrug. Der Beitragssatz betrug im Jahr 2005 19,5% und muss jeweils halftig vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer gezahlt werden. Fur Beschaftigte in Minijobs (bis 400 Euro/Monat) mussten 12% des Bruttoverdienstes vom Arbeitgeber abgefiihrt werden. Allerdings ist eine freiwillige Hoherversicherung moglich, die sich spater in einem Rentenzuschlag auswirkt. In der Finanzierung der GRV wurde das Kapitaldeckungsverfahren, das in der Geschichte mehrmals durchbrochen werden musste (z.B. im Zuge der Hyperinflation Anfang der 1920er Jahre und nach dem 2. Weltkrieg), 1957 zunachst durch eine Mischform aus Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren (5!Abschnittsdeckungsverfahren") ersetzt. Seit 1969 herrscht ein (nahezu) reines Umlageverfahren vor, d.h. die Trager der Rentenversicherung sind gesetzlich lediglich zum Hal-
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5 Rentenversicherung
ten einer Schwankungsreserve in Hohe von 20 Prozent einer Monatsausgabe verpflichtet. Davon abgesehen dienen die Beitragseinnahmen nicht der Fondsbildung, sondern der Deckung der laufenden Ausgaben (d.h. im Wesentlichen der Rentenzahlungen). Allerdings reichen die Beitrage zur Finanzierung der laufenden Ausgaben (Renten und Rehabilitationsleistungen) nicht aus: In 2005 gab es neben Beitragseinnahmen von 168 Mrd. € einen Bundeszuschuss von 78,8 Mrd. €. Die Leistungsstruktur in der Alterssicherung ist zum einen durch die Voraussetzungen zum Bezug einer Rente („Altersruhegeld") gekennzeichnet, zum anderen durch die Regelungen zur Berechnung ihrer Hohe. Die Voraussetzungen fur den Bezug von Altersruhegeld bestehen im Erreichen einer Altersgrenze und im Vorliegen einer Mindestversicherungsdauer. Die Altersgrenze betragt allgemein 65 Jahre und wird nur in bestimmten Fallen abgesenkt: • fur Bergleute mit mindestens 25 Versicherungsjahren auf 60 Jahre, • fur Berufs- oder Erwerbsunfahige mit mindestens 35 Versicherungsjahren auf 60 Jahre, • fur Arbeitslose mit mindestens 15 Versicherungsjahren auf 60 Jahre. Zu beachten ist ferner, dass die Versicherungsdauer nicht mit der Dauer der Beitragszahlungen identisch ist, sondern auch sog. Ersatz- und Ausfallzeiten (durch Ausbildung, Wehrdienst, Heimatvertreibung, Arbeitsunfahigkeit, Schwangerschaft, Kindererziehung etc.) umfasst. Die Formel zur Berechnung der Rentenhohe („Rentenformel") stellt sich als Produkt einer personlichen und einer allgemeinen, d.h. volkswirtschaftlichen Komponente und eines Rentenartfaktors dar: Monatsrente = personliche EntgeltpunktexRentenartfaktorxaktueller Rentenwert Rentenartfaktor = 1 bei Altersrente 0,55 bei Witwenrente, 0,5 bei Erwerbsminderungsrente In die personliche Komponente gehen die Versicherungsdauer und die relative Lohnposition (in Prozent des Durchschnittslohnes) ein, die der einzelne Versicherte wahrend seines Erwerbslebens innehatte, aufierdem das Eintrittsalter (als Indikator fur die zu erwartende Dauer des Rentenbezugs): Personliche Entgeltpunkte = Summe der Entgeltpunkte x Rentenzugangsfaktor Entgeltpunkte (fur ein Jahr) = eigenes beitragspflichtiges Einkommen dividiert durch das Durchschnittseinkommen aller Arbeitnehmer im betreffenden Jahr Der Zugangsfaktor berticksichtigt den Zeitpunkt des Renteneintritts. Bei Beginn der Rente vor Vollendung des 65. Lebensjahrs wird ein Abschlag von 0,3 % pro Monat des vorgezogenen Renteneintritts vorgenommen. Abgesehen davon sowie von den Ersatz- und Ausfallzeiten, kann man also davon sprechen, dass innerhalb der einzelnen Rentnerkohorte relative Beitragsaquivalenz vorliegt, indem die Rentenhohe zu den insgesamt gezahlten Beitragen proportional ist („Teilhabe-
5.2 Das Alterssicherungssystem in Deutschland
117
aquivalenz"). * Zu beachten ist dabei jedoch, dass auch Kindererziehung ohne Erwerbstatigkeit Entgeltpunkte mit sich bringt: fiir die ersten drei Lebensjahre eines Kindes sogar jeweils einen vollen Entgeltpunkt. Die Hohe der volkswirtschaftlichen Komponente („allgemeine Bemessungsgrundlage", AB) orientiert sich am durchschnittlichen Brutto-Arbeitsentgelt bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Seit 2001 wird die AB immer um den Prozentsatz angehoben, um den die „bereinigten Bruttolohne", d.h. die Bruttolohne nach Abzug des Rentenversicherungsbeitrags einschlieBlich des maximal forderungsfahigen Beitrags zur privaten Zusatzsicherung („Riester-Rente") im Vorjahr gestiegen sind. Seit 1.7.2005 wird die AB ferner um einen „Nachhaltigkeitsfaktor" korrigiert, der die Entwieklung der Zahl der Beitragszahler und der Rentenempfanger beriicksichtigt. Damit bestimmt sich der Aktuelle Rentenwert gemaB folgender Formel. aRWt=aRWt_
l *
BEt_x m-BSt_x-AVAt_x BEt_2'100 -BSt_2-AVAt_2
Ua-2
JJ
Es handelt sich um eine Fortschreibungsformel, bei der es auf die Entwieklung folgender GroBen ankommt: • des durchschnittlichen beitragspflichtigen Bruttoeinkommens, BE • des Rentenbeitragssatzes BS\ hierdurch wird ein Nettolohnbezug der Rente hergestellt; • der GroBe A VA, die schrittweise bis 2010 jahrlich um 0,5% auf dann 4% erhoht wird und der Beriicksichtigung privater Altersvorsorgeaufwendungen dient. Sie wirkt sich auch dann rentenmindernd aus, wenn der Einzelne diese Aufwendungen nicht tatigt; • des Nachhaltigkeitsfaktors (Term in der eckigen Klammer), der die Rentenhohe vom Rentnerquotienten RQ, also dem Verhaltnis der Zahl der Beitragszahler zur Zahl der Rentner abhangig macht und damit zwei Entwicklungen berticksichtigt: - die demografischen Entwieklung (niedrige Geburtenrate, hohere Lebenserwartung); - die Entwieklung auf dem Arbeitsmarkt. Durch den seit 2005 geltenden Nachhaltigkeitsfaktor wird faktisch eine Rente nach Kassenlage eingefuhrt, da ein Anstieg des Rentnerquotienten - d.h. ein Wert von RQt_\ > RQt-2 ~ m& einjahriger Verzogerung automatisch das Rentenniveau senkt. Mit diesem wird das Ziel verfolgt, den Beitragssatz auch langfristig annahernd stabil zu halten: bis zum Jahr 2030 soil er den Wert von 22 % nicht tiberStreng genommen gilt diese Aussage allerdings nur dann, wenn immer der gleiche Beitragssatz geherrscht hat oder die Einkommen sich vollkommen parallel zueinander entwickelt haben. Denn nach deutschem Rentenrecht ist der Rentenanspruch nicht zu den tatsachlich gezahlten Beitragen proportional, sondern zur relativen Position in der Einkommenshierarchie.
118
5 Rentenversicherung
steigen. Diesem Ziel dient der willklirlich gewahlte Faktor a = 0.25. Die spatere Manipulierbarkeit dieses Faktors vermindert die Planungssicherheit der heutigen Beitragszahler in Bezug auf ihre spatere Rente. Allerdings sind (nominale) Rentenkurzungen per Gesetz ausgeschlossen, solange das Durchschnittseinkommen der Arbeitnehmer nicht sinkt. Ferner gibt es eine Niveausicherungsklauseh Das Rentenniveau vor Steuern darf bis 2030 nicht unter 43 % des Bruttoeinkommens fallen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass der graduelle Ubergang zu einer nachgelagerten Besteuerung der Alterseinktinfle den Anstieg der Nettorenten zusatzlich dampfen wird.
5.2.2 Die „Riester-Rente" Bei der „Riester-Rente" handelt es sich um eine freiwillige kapitalgedeckte Zusatzversorgung, die den Ausfall durch die langfristige Absenkung des Sicherungsniveaus in der GRV kompensieren soil. Sie wird durch steuerliche Absetzung als Sonderausgaben bzw. direkte staatliche Zuschusse gefordert, wenn sie bestimmte Bedingungen erfiillt: • Auszahlung frtihestens mit Beginn der Zahlungen aus der GRV bzw. mit dem 60. Lebensjahr • keine einmalige Auszahlung, sondern monatliche Leibrentenzahlungen. Damit soil zum einen eine Abgrenzung zum „normalen" Sparen erreicht werden. Zudem ist die Forderung fur kinderreiche und einkommensschwachen Familien besonders hoch. Damit soil vermieden werden, dass die Betroffenen auf Grund geringer eigener Rentenanspruche im GRV-System im Alter Sozialhilfe beziehen mtissen. Im Rahmen des Alterseinkunftegesetzes von 2004 wurden einige Anderungen an der Riester-Rente vorgenommen: • Reduktion der Zertifizierungskriterien, • Ermoglichung einer Auszahlung von 30 % des Kapitals als Einmalzahlung, • Unisex-Tarife, d.h. Anbieter von „Riester-Produkten" mlissen Mannern und Frauen trotz unterschiedlicher Lebenserwartung den gleichen Tarif anbieten. Bislang leidet die Riester-Rente unter Akzeptanz-Problemen: bis Ende 2005 waren nur ca. 4,5 Mio. Vertrage abgeschlossen. Quantitativ viel bedeutsamer ist die Betriebliche Altersversorgung. Auch diese wird seit 2002 verstarkt gefordert.
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems
119
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems 5.3.1 Die beiden Grundtypen von Alterssicherungssystemen 5.3,1.1 Das Kapitaldeckungsverfahren (KDV) Die Grundidee beim KDV besteht darin, dass die von den Individuen entrichteten Beitrage zur Rentenversicherung (genauso wie private Ersparnisse) zum Aufbau eines Kapitalfonds verwendet werden. Die spateren Rentenzahlungen werden dann aus den Zinsertragen des angesammelten Kapitals sowie (bezogen auf ein einzelnes Individuum) dessen Auflosung bestritten. Die prinzipielle Funktionsweise eines solchen kapitalgedeckten Alterssicherungssystems kann anhand eines einfachen Modells dargestellt werden, bei dem die gesamte Lebenszeit eines Individuums zur Vereinfachung in zwei Phasen unterteilt wird: Die Erwerbsphase und die Ruhestandsphase (vgl. Abb. 5-1). Ein representatives Individuum aus einer Generation t erhalt in seiner Erwerbsphase (der Periode t) einen Lohnsatz in Hohe von wt. Seine Arbeitzeit / sei hier fix (exogen) vorgegeben. Mit ct^ bezeichnen wir den Konsum des Individuums in seiner Erwerbsphase und mit c / + / 2 ) seinen Konsum in der Ruhestandsphase, d.h. der Periode 7+1. Der Nutzen £/des Individuums soil vom Konsum in beiden Lebensabschnitten abhangen: U = U(cf \ct+i). (Die Freizeit als mogliche weitere Nutzenkomponente konnen wir hier ausblenden, da mit dem zur Arbeitszeit proportionalen Lohneinkommen in der Erwerbsphase auch die von Individuen genossene Freizeit festliegt.) Eine in Periode t am Kapitalmarkt angelegte Geldeinheit soil in Periode M-l einen Ertrag von rt+l erbringen. rt+l ist also der Marktzinssatz, der bei Anlage des Kapitals (von Periode t nach Periode ^ + 1) erzielt wird. In einem c,(1) - c, + / 2) -Diagramm ist die Budgetgerade eines Individuums eine (fallende) Gerade mit dem Anstieg 1 + rt+l, welche die c/^-Achse im Punkt A = (w( 1,0) schneidet. Auf dieser Budgetlinie realisiert das Individuum sein Nutzenmaximum im Punkt C, in dem die Budgetlinie von einer zu U gehorigen Indifferenzkurve tangiert wird. Wenn es keinen staatlichen Eingriff gibt, entspricht dieses Nutzenmaximum einem Sparbetrag st *. Fur den Konsum in der Ruhestandsphase gilt daimc /+1 (2) = (1 + r ^ ) ^ * . Durch ein Alterssicherungssystem vom KDV-Typ verandert sich dieses Modell in der folgenden Weise. Angenommen bt bezeichnet den in Periode t im Rahmen einer Pflichtversicherung erhobenen bruttolohnbezogenen Beitragssatz. Die Beitrage zur Rentenversicherung in Hohe von btwtl , die ein representatives Individuum dann entrichtet, werden am Kapitalmarkt angelegt. In der Periode t +1, wenn die Beitragszahler aus der Periode t alt geworden sind und nicht mehr arbei-
120
5 Rentenversicherung
ten, wird jedem der Betrag (l + rt+l)btwtl (Einzahlung + Zinsen) zurtickgezahlt. Die Rente, die ein Individuum erhalt, ist also im Barwert gleich hoch wie seine Beitragszahlungen. Dies entspricht dem Aquivalenzprinzip. Die Budgetgleichung eines einzelnen Individuums lautet in diesem Fall .0)
W+i
(2).
•(l + rt+l)btwtI 1 + /+1 r,
(5.1)
• wtl -btwtl .
(J+rt+l)btWtl
btwtlt
Abb. 5-1: Private Ersparnis und Rente nach dem Kapitaldeckungsverfahren Der Barwert der Konsumausgaben, die ein Individuum aus dem nach Entrichtung der Rentenbeitrage verbleibenden Budget bestreitet, muss dieses Restbudget gerade ausschopfen. Wenn das Individuum in der Periode t +1 das Konsumniveau L
(2)
t+\
wahlt, hat es nur die Differenz ct+f
}
-(l+rt+l)btwtl
aus seiner privaten
Ersparnis zu finanzieren. Den Betrag (\ + rt+x)btwtl erhalt es von der Rentenversicherung. Die obige Budgetgleichung lasst sich umformen zu (2)
c,(1) +
-/+1
1 + r, /+i
• = wt l
.
(5.2)
Damit ist gezeigt, dass die Budgetgleichungen mit und ohne KDVAlterssicherungssystem tibereinstimmen. In der Grafik besteht der einzige Unterschied darin, dass ein Individuum bei seiner privaten Sparentscheidung bei Vorhandensein eines KDV-Systems nicht im Punkt A, sondern im Punkt B = ((\-bt)wtT,Q + rt+\)btwJ) startet. Wenn der Optimalpunkt C links oberhalb
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems
121
von B liegt, bedeutet die Einfiihrung eines KDV-Systems somit lediglich, dass ein Teil des freiwilligen individuellen Sparens durch staatliches Zwangssparen ersetzt wird. Die private Ersparnis reduziert sich dann auf st -btwtl . Denkbar ist aber auch, dass der Punkt C rechts unterhalb von B liegt. Eine solche Situation tritt ein, wenn das betrachtete Individuum eine starke Gegenwartspraferenz hat und/oder der Beitragssatz bt hoch ist. In diesem Fall liegt das Niveau des staatlichen Zwangssparens tiber dem Betrag, den ein Individuum ansonsten freiwillig sparen wtirde. Bei einem perfekten Kapitalmarkt, d.h. insbesondere bei Identitat von Soil- und Habenzins, wtirde sich ein Individuum dann in Periode t um den Betrag btwtl - st verschulden und diesen Kredit in Periode t +1 (samt der dann falligen Zinsen) aus seinen Renteneinktinften tilgen. Auch in diesem Fall wtirde es einem Individuum gelingen, die Effekte des staatlichen Alterssicherungssystems durch eigene gegenlaufige Handlungen vollstandig zu neutralisieren. Folgerung 5.1: Im Kapitaldeckungsverfahren (KDV) gilt das Aquivalenz-1 prinzip: Beitrage und Leistungen sind im Barwert gleich. Bei perfekten I Kapitalmarkten andert auch ein KDV mit Teilnahmezwang die Budgetgerade des Individuums nicht, da es lediglich private Ersparnis in Zwangssparen umwandelt, das durch Kreditaufhahme konterkariert werden kann. J In der Empirie ist eine solche vollkommene Neutralitat jedoch nicht zu erwarten. Die Kapitalmarkte sind unvollkommen. Der Soil- liegt tiber dem Habenzins und die Individuen haben nur begrenzte Moglichkeiten, sich Kredite mit der hier erforderlichen langen Laufzeit zu beschaffen. Unter realistischen Bedingungen hat also das im Rahmen des KDV staatlich verordnete Vorsorgesparen fur Individuen mit hoher Gegenwartspraferenz und/oder nicht allzu hohem Erwerbseinkommen in der Tat den Effekt, dass mehr gespart wird, als dies freiwillig geschehen wtirde (vgl. dazu Abschnitt 5.4). Damit auch die Individuen mit geringerer Gegenwartspraferenz und/oder hoherem Erwerbseinkommen durch die staatliche Alterssicherung nicht den Anreiz fur privates Sparen verlieren, ist es wichtig, dass die Zahlungen aus der Rentenversicherung nicht nach dem Bedurftigkeitsprinzip (wie bei der Sozialhilfe) erfolgen. Bei einer solchen Form der sozialen Grundsicherung im Alter wtirden ja die freiwillig gesparten Vermogensbestande und -ertrage vollstandig angerechnet, so dass ein wirkliches individuelles Zusatzsparen gar nicht moglich ware. In der Realitat stellen Alterssicherungssysteme, die vollstandig dem Ansatz des hier beschriebenen KDV entsprechen, nicht den Regelfall dar. Vielmehr dominiert das „Umlageverfahren". Wie dieses aus theoretischer Sicht funktioniert, soil jetzt erlautert werden. 5.3.1.2 Das Umlageverfahren (UV) Das vorherige Zwei-Perioden-Modell wird jetzt dadurch erweitert, dass es eine Kette aufeinander folgender und sich uberlappender Generationen geben soil.
122
5 Rentenversicherung
Man bewegt sich also im Rahmen eines Overlapping Generations-Modell (OLGModell). Die Lebenszeit jeder Generation teilt sich erneut in zwei genau gleich lange Phasen, die Erwerbs- und die Ruhestandsphase. Mit „uberlappend" ist gemeint, dass die Ruhestandsphase der Generation t mit der Erwerbsphase der Generation / + 1 zusammenfallt. Die Arbeitszeit eines einzelnen Individuums sei in jeder Periode wieder konstant und betrage / . Mit wt bezeichnen wir erneut den in Periode t geltenden Lohnsatz, bt sei der bruttolohnbezogene Rentenbeitragssatz. Fur die weiteren Uberlegungen von entscheidender Bedeutung wird sein, dass sich die GroBe der Generationen im Zeitablauf verandern kann. Die Zahl der Individuen in Generation t sei N<.
Periode Generation
t+1
t +2
t +3
t °t+i
t+1
J
t+i "t+2
t+2 J
t+2
Abb. 5-2: Kapitaldeckungs- versus Umlageverfahren Die Idee des Umlageverfahrens besteht darin, dass die Beitragszahlungen von Generation t direkt zur Finanzierung der Rentenzahlungen an die vorherige Generation t -1 verwendet werden. Ein Rentenkapitalfonds wie beim KDV wird also nicht aufgebaut. Die gesamten Beitrage, die Generation t in ihrer Erwerbsphase entrichtet, werden mit Zt bezeichnet. Die Konstruktion sowohl des KDV als auch des UV kann man mit Hilfe der Abb. 5-2 veranschaulichen. Wahrend im UV jede Generation t in ihrem Erwerbsalter (Periode t) eine Gesamtersparnis St tatigt, die ihr selbst in ihrem Rentenalter zu Gute kommt (waagerechte Pfeile), erfolgt im UV in jeder Periode t eine Zahlung in Hohe von Zt von den Erwerbstatigen an die Rentner (senkrechte Pfeile). Wenn die Rentenzahlung, die ein einzelnes Individuum aus Generation t in seiner Ruhestandsphase, Periode M-l, bezieht, pt+l genannt wird, gelten die beiden folgenden Identitaten: Zt+l = Nt • pt+x = Rentenzahlung an Generation t,
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems
123
Zt+l = Nt+l • bt+l • wt+l •1 = Beitragszahlung von Generation t + 1 . Im Umlageverfahren entsprechen die Rentenzahlungen, die Generation t erhalt, genau den Beitragszahlungen durch die Generation t + \. Obwohl es im Umlageverfahren nicht zur Bildung eines Kapitalbestands beim Rentenversicherungstrager kommt, lasst sich immerhin das Prinzip der Teilhabedquivalenz umsetzen: Je zwei Individuen der gleichen Alterskohorte erhalten in diesem Fall Rentenanspriiche, die sich proportional zu den gesamten fruheren Beitragszahlungen wahrend der Erwerbsphase verhalten. Ein Individuum mit doppelt so hohen Beitragen wie eine anderes erhalt also den zweifachen Rentenanspruch. Aus der Sicht eines einzelnen Individuums wirkt das UV somit ganz ahnlich wie das Zwangssparen im KDV, wobei sich die Beitrage allerdings nicht mit dem Marktzins „verzinsen". Die im Rahmen des UY erzielte interne Rendite it+l ist zu berechnen und dann mit der hypothetischen Rendite (dem Marktzins rt+l) zu vergleichen, die bei Anwendung des KDV erzielt werden konnte. Fur die interne Rendite //+1 des UV fur einen Angehorigen der Generation t gilt _ Rente - Beitrag _ Rente Beitrag Beitrag bzw. 1+/
^ A+i_ = Wt+lbt+lwt+J)/Nt
btwtl
btwtl
=N^^^M±
Nt
( 5 3 )
bt w t
Fur den Quotienten N(+l I Nt kann man offensichtlich auch l + nt+l schreiben, wobei nt+l = (Nt+l ~Nt)/Nt die Wachstumsrate der Bevolkerung von Generation t bezeichnet. Entsprechend fiihren wir das Symbol gt+l fur die Wachstumsrate ein. Die Grundgleichung (5.3) lasst sich dann umdes Lohnsatzes, (wt+l -wt)/wn formen zu i + ^ i ^ ^ O + gMXi + ^ i ) (5-4) bt Im Folgenden wird von der Annahme ausgegangen, dass die Politik die interne Rendite des UV konstant zu halten versucht. Dieses Ziel kann man als Ausdruck des Wunsches begreifen, Gerechtigkeit zwischen den Generationen (intergenerative Gerechtigkeit) herzustellen. Es soil also it - i - const. fur alle Perioden t gelten, woraus nach der obigen Grundgleichung (5.4) folgt:
124
5 Rentenversicherung
i+/=(i + «, + 1 xi+g, + 1 )%^ bzw. b,+l _ b,
1+7 (l + «/+1)(l + g,+1)
(5.5)
fur alle Generationen t. Zum Beispiel konnte man fordem, dass die interne Verzinsung der eingezahlten Beitrage nicht unter der Kapitalmarktrendite r liegen sollte. Wenn in dieser Situation nt + gt
1+7 (l + ^ +1 )(l + ^ + i ) >
(5 6)
'
fur alle ^ = 1,2,.... Nimmt man der Einfachheit halber tiber die Zeit konstante Wachstumsraten der Lohne und der Bevolkerung (n bzw. g) an, so erhalt man durch Iteration aus (5.5) 1+/ (l+«)(l+g)
K
fur jedes t, wenn bx den Beitragssatz in der ersten Periode bezeichnet. Wenn, wie in (5.6) unterstellt, der Klammerausdruck groBer ist als 1, muss fur hinreichend groBes t der Beitragssatz bt tiber eins liegen! Bei einem uber eins gelegenen Parameterwert bt kann sich das Rentensystem offensichtlich nicht mehr aus eigener Kraft fmanzieren, so dass es „zusammenbricht". Wird umgekehrt der Beitragssatz im Zeitablauf konstant gehalten (bt+l = bt ), so entspricht die interne Rendite des UV der Wachstumsrate der Lohnsumme und damit approximativ der Summe der Wachstumsraten der Lohnsatze und der Bevolkerung: ki = O + a+iXl + ^+i)'- 1 = 1 + a + i +«/+i + f t + r w/+i - 1 w &+i +nt+i •
(5-7)
Wird andererseits das Rentenniveau, d.h. das Verhaltnis zwischen der Rentenhohe pt und dem Arbeitseinkommen w{ • / tiber die Zeit konstant gehalten, so muss sich wegen (5.3) der Beitragssatz von Periode zu Periode reziprok zur Wachstumsrate der Bevolkerung anpassen: 6,
+ 1
=i^-V l + «/+i
(5.8)
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems
125
Folgerung 5.2: Im Umlageverfahren „verzinsen" sich die Beitrage mit der Wachstumsrate der Lohnsumme zuziiglich der Wachstumsrate der Beitrage. Will man den Teilnehmern langfristig eine interne Rendite sichern, die I iiber der Wachstumsrate der Lohnsumme liegt, so wachst der Beitragssatz iiber alle Grenzen. Halt man lediglich das Rentenniveau konstant, so ent-1 wickelt sich der Beitragssatz reziprok zum Bevolkerungswachstum. I In diesem theoretisch recht einfachen Ergebnis deutet sich bereits ein Zusammenhang an, der in der aktuellen Diskussion um die Zukunft unseres Rentensystems eine zentrale Rolle spielt: So wird vom uberwiegenden Teil der Experten in der demografischen Entwicklung (d.h. dem empirisch zu beobachtenden Bevolkerungsrtickgang nt+l < 0) der entscheidende Grund fur die Notwendigkeit eines Umbaus des Rentensystems gesehen. 5.3.2 Wohlfahrtsvergleiche zwischen Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren Samtliche Aussagen in der (positiven und normativen) Wirtschaflstheorie beruhen darauf, dass die Komplexitat der Realitat durch Btindel von Modellannahmen reduziert wird. Diese beziehen sich zumeist darauf, welche GroBen im Rahmen der Analyse als exogen, also von auBen determiniert, unterstellt werden. In der Theorie der Alterssicherung sind zwei alternative Annahmenbundel gebrauchlich: a. die „kleine offene Volkswirtschaft": hier wird unterstellt, dass das betrachtete Land am internationalen Kapitalmarkt teilnimmt („offen"), aber wegen seiner GroBe keinen Einfluss auf den sich dort bildenden Zinssatz hat („klein"). Folglich ist der Zinssatz r fur das Inland exogen, d.h. die heimische Ersparnis, die ja vom Altersvorsorgemotiv bestimmt sein kann, hat weder Einfluss auf den Weltmarktzins noch auf die heimische Kapitalakkumulation. Sparen und Investieren sind gewissermaBen entkoppelt. Ferner ist auch der heimische Lohnsatz w modellexogen. Dieser Zusammenhang kann etwa damit begriindet werden, dass das heimische Sozialprodukt mit einer makrookonomischen Produktionsfunktion mit zwei Faktoren (Arbeit und Kapital) und konstanten Skalenertragen hergestellt wird. Mit einer CRSTechnologie ist jedoch eine Faktorpreisgrenze verbunden, d.h. sobald ein Faktorpreis gegeben ist, steht auch der andere fest. b. die „geschlossene Volkswirtschaft": hier gibt es keine AuBenbeziehungen, und die heimische Ersparnis wirkt sich unmittelbar auf das Kreditangebot und damit die Kapitalakkumulation aus. Entsprechend wird die Bildung der Faktorpreise mit Hilfe der Grenzproduktivitaten der makrookonomischen Produktionsfunktion erklart. 5.3.2.1 Die kleine offene Volkswirtschaft Im Folgenden wird zunachst die Modellwelt einer kleinen offenen Volkswirtschaft betrachtet.
126
5 Rentenversicherung
Weil im KDV die gesamte Altersversorgung tiber den Kapitalmarkt abgewickelt wird, konnte man vor dem Hintergrund des 1. Hauptsatzes der Wohlfahrtstheorie zumindest im Fall perfekter Kapitalmarkte vermuten, dass das KDV immer zu einer Pareto-optimalen Allokation fuhrt. In diesem Fall HeBe sich die Wohlfahrt einer Generation nur dann steigern, wenn sich gleichzeitig eine andere Generation verschlechtert. Diese Vermutung trifft aber nicht in jedem Falle zu, da der 1. Hauptsatz nur fur Okonomien mit endlich vielen Konsumenten gilt, wir es hier aber (bei unendlichem Horizont) mit unendlich vielen zu tun haben. Daher kann es unter bestimmten Bedingungen durch den Umstieg auf ein Umlagesystem zu einer Pareto-Verbesserung kommen. Wenn namlich Bevolkerungswachstum und Lohnentwicklung so gunstig sind, dass die interne Verzinsung eines UV in keiner Periode unter dem Marktzinssatz liegt (it > rt fur alle t), ware dieses UV dem KDV nach dem Pareto-Kriterium uberlegen. Die erste Generation, die im UV Rentenzahlungen von ihrer Nachfolger-Generation erhalt, stellt sich zusatzlich noch dadurch besser, dass sie anders als im KDV nicht mehr selber fur ihre Altersversorgung aufzukommen hat. Als theoretische Moglichkeit wurde dieser Fall vom amerikanischen Okonomen Henry Aaron schon Mitte der 60er Jahre beschrieben und als Social Insurance Paradox bezeichnet. In der Realitat herrscht jedoch eher die umgekehrte Konstellation (rt > it) vor. Infolge der demografischen Entwicklung und der relativ hohen Arbeitslosigkeit ist die interne Rendite des UV in Deutschland fur die Erwerbstatigen mittleren Alters unter den Marktzinssatz gesunken und flir die Jungeren ist das existierende UV noch nachteiliger. In einer solchen Situation liegt die Erwartung nahe, dass umgekehrt wie beim Social Insurance Paradox das KDV dem UV uberlegen ist. Diese Problematik ist vor allem dann relevant, wenn es bereits ein UV gibt, das man durch ein KDV ersetzen mochte. Zu priifen ist dann, ob sich ausgehend von einem gegebenen UV der Ubergang zu einem KDV so bewerkstelligen lasst, dass es dadurch zu einer Verbesserung flir alle Generationen kommt. Mit dieser Frage wollen wir uns jetzt auseinandersetzen. Beim Versuch, durch einen Systemwechsel vom UV zum KDV eine ParetoVerbesserung zustande zu bringen, ergibt sich ein grundlegendes Problem: In der Periode, in der die Umstellung erfolgt, muss die dann erwerbstatige Generation sowohl im Rahmen des ursprunglichen UV flir die Rentenzahlung an die Vorganger-Generation aufkommen, die sich - da eine Pareto-Verbesserung angestrebt wird - naturlich auch nicht verschlechtern darf, als auch gleichzeitig im Rahmen des neuen KDV flir die eigene Altersvorsorge sparen. Diese Doppelbelastung der Erwerbstatigen in der Umstellungsperiode lieBe sich moglicherweise durch einen Trick vermeiden. Dabei fmanziert der Staat durch Staatsverschuldung die Rentenzahlungen an die in der Umstellungsperiode Alten und verteilt den Schuldendienst auf die dann folgenden Generationen. Durch die gleichmaBigere Verteilung der „Altlasten" des UV auf mehrere Generationen („Smoothing") kann zumindest vermieden werden, dass sich die Generation der Erwerbstatigen in der Umstellungsperiode schlechter stellt. Daraus folgt aber nicht, dass es auf diesem Wege moglich ist, die angestrebte Pareto-Verbesserung tatsachlich zustande zu bringen. Weshalb sich beim Ubergang vom UV zum KDV
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems
127
eine Pareto-Verbesserung nicht erreichen lasst, zeigt die folgende theoretische Betrachtung. 5.3.2.1.1 Exogenes Arbeitsangebot Dabei bleiben wir zunachst in unserem Modellrahmen einer exogen fixierten Arbeitszeit und gehen davon aus, dass es ein UV bereits in der Vergangenheit (in Perioden mit nicht-positiven Indizes / = ...,-3,-2,-1,0) gegeben hat und zunachst eine Fortsetzung dieses Systems in die Zukunft (fur Perioden mit positiven Zeitindizes / = 1,2,3,...) geplant ist. Fur alle Perioden t soil dann wieder Zt den Transfer bezeichnen, den die Generation t im gegebenen UV an die jeweilige vorherige Generationt-\ bezahlt. Ftir alle t definieren wir Vt:=Zt--^Zt+l. l + 1+i Durch Vt wird die Nettobelastung (Rentenzahlung an die vorherige Generation t - 1 abztiglich des Barwertes der in Periode t +1 von Generation t +1 erhaltenen Rentenzahlungen = Abfluss minus Barwert des Zuflusses fur Generation t) gemessen, die eine Generation t im UV erfahrt. Man kann Vt auch als implizite Steuer interpretieren, die Generation t im UV zu tragen hat. Sofern der Wert von Vt negativ ist, gibt -Vt den (barwertmaBigen) Nettovorteil von Generation t im UV an. Generation t erhalt dann durch das UV in Barwerten ausgedriickt mehr, als sie zu bezahlen hat. Ohne Beschrankung der Allgemeinheit konnen wir jetzt den Fall betrachten, dass die mit dem Ziel einer Pareto-Verbesserung vorgenommene Umstellung vom UV zum KDV in Periode t - 1 stattfindet. Zur Abkurzung schreiben wir qx := 1 und q'=
ftir / = 1,2,3,... (l + r2)(l + r3)...(l + r,)
fur die aggregierten Abzinsungsfaktoren fur Zahlungen in Periode t aus der Perspektive von Periode 1. Der Parameter qt gibt also an, wie viel die Zahlung von einem Euro in Periode t aus der Perspektive von Periode 1 wert ist. Der (gleichfalls auf Periode 1 bezogene) Barwert der Nettobelastung, den das ursprimgliche UV fur die Gruppe der Generationen l,...,T (fur beliebiges 7) insgesamt verursacht, berechnet sich dann als T
Z^F/=Zi~^+izr+iDies entspricht der Differenz aus dem Abfluss an Generation 0 und dem Barwert der Rentenzahlung an Generation T. Alle anderen Zahlungen, die sich im
128
5 Rentenversicherung
Rahmen des UV zwischen den Generationen t = l,...,T abspielen, heben sich wechselseitig auf, weil sie nur Transfers innerhalb der hier betrachteten Gruppe von Generationen darstellen. Die interne Rendite des UV fur Generation t lautet in dieser Schreibweise Zt+\ ~ Zt +i
Daraus ergibt sich fur jedes t Zt+l =(l + it+l)Z{ und damit (durch Iteration) T
ZT+I =(l + *r+1)(l + Jr)...(l + f2)Z1 =Yl(l + it+l)Zl9 t=\
so dass T
y
IZqtVt=(Zl-qT+lZT+l)
l +/
= \ 1-fj l + f y/+i t=A "t+\J
gilt. Eine wichtige Annahme ist jetzt, dass die interne Rendite des UV durchweg unter dem Marktzinssatz liegen soil. Auf diesen Fall konzentrieren wir unsere Uberlegungen, denn gerade in diesem Falle erscheint ja der Wechsel vom UV zum KDV besonders attraktiv und im Hinblick auf die Erreichung einer Paretooptimalen Allokation auch viel versprechend. Formal lautet diese Bedingung, dass fur alle t gilt: it < rt bzw. dass es eine Zahl Q gibt mit 1 + /,
<e
Dann hat man aber fur alle T T
'iH i n u+l . \) +
^ QT
Daraus folgt
lim fT(l±i±i ) = 0 r
-»"M 1 + 1+1
und schlieBlich
/=1
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems
129
Wenn die interne Rendite in jeder Periode unter dem Marktzinssatz liegt, verlieren (bei einer Barwertbetrachtung) alle Generationen von der Generation 1 an im UV zusammen gerade Zx, d.h. genau den im UV an die Generation 0 flieBenden Transferbetrag. Zx entspricht also der Gesamtbelastung, die bei Fortfuhrung des UV von den unendlich vielen Generationen von Generation 1 an zu tragen ist. Was hat dieses theoretische Ergebnis nun mit der Frage der Vorteilhaftigkeit eines Ubergangs vom UV zum KDV zu tun? Der Kreditbetrag, den der Staat aufnehmen miisste, um die Generation 1 von den im UV-System erforderlichen Zahlungen an die Generation 0 zu entlasten, betragt ebenfalls Zx. Mit Dt bezeichnen wir den infolge dieser Kreditaufhahme in Periode 1 dann in Periode t anfallenden Schuldendienst (infolge von Tilgung und Verzinsung), der dann die Nettobelastung von Generation t bei einem Systemwechsel anzeigt. Wie sich der Schuldendienst genau liber die einzelnen Perioden verteilt, muss fur die folgende Uberlegung nicht spezifiziert werden. Wichtig ist aber, dass der Barwert der Schuldendienstzahlungen wiederum dem Kreditbetrag entspricht: 00
^qtDt=Zl9 Zj misst also auch die Gesamtbelastung aller auf Generation 1 folgenden Generationen bei einem Umstieg vom UV zum KDV. LieBe sich durch den Systemwechsel in der Tat eine Pareto-Verbesserung erreichen, miisste es eine zeitliche Verteilung der Schuldendienstzahlungen geben, so dass Dt < Vt fur alle Perioden t = 1,2,3,... und gleichzeitig Dt < Vt fur zumindest eine Periode t = 1,2,3,... gilt. Insbesondere miisste dann auch 00
CO
Zi = 2 > 4 < Tift
= zi
erfullt sein, was einen Widerspruch darstellt. Damit ist bewiesen, dass ein Paretoverbessernder Ubergang vom UV zum KDV nicht gelingen kann. Folgerung 5.3: In einer kleinen offenen Volkswirtschaft ist die Summe der I Nettozahlungen der einzelnen Generationen an die umlagefmanzierte Rentenversicherung im Barwert immer null. Den Vorteilen der Griindergeneration entsprechen die Nachteile der spateren Generationen. Ein vorzeitiger Ausstieg aus dem Umlageverfahren konzentriert diese Verluste auf die Generationen im Ubergang und stellt somit keine Pareto-Verbesserung dar.
130
5 Rentenversicherung
Ein starkes (und auf den ersten Blick auch intuitiv einleuchtendes) Argument zugunsten eines solchen Systemwechsels greift also nicht Dies schlieflt nattirlich nicht aus, dass es auBerhalb dieses einfachen theoretischen Modells andere Griinde geben konnte, die fur einen Ubergang vom UY zum KDV sprechen. Welches diese Grtinde sein konnten, wollen wir jetzt diskutieren. 5.3.2.1.2 Endogenes Arbeitsangebot Bisher wurde ein exogen vorgegebenes Arbeitsangebot unterstellt. Lohnabhangige Beitrage zur Rentenversicherung wirken dann ohnehin wie eine Pauschalsteuer, die mit keiner Zusatzlast verbunden ist. Wenn die Individuen tiber ihr Arbeitsangebot aber variabel entscheiden, so konnte der Wechsel vom UV zum KDV Effizienzvorteile bringen, wenn sich dadurch die steuerlichen Zusatzlasten, die im UV von einem bruttolohnbezogenem Rentenbeitrag ausgelost werden, reduzieren lassen. Dieses auf den ersten Blick gleichfalls plausible Argument (Vermeidung von Zusatzlasten durch Abschaffung einer verzerrenden Abgabe von der Art der Lohnsteuer) erweist sich bei naherem Hinsehen aber leider auch als unzutreffend. Die Ursache hierfur liegt darin, dass bei Realisierung des Prinzips der Teilhabeaquivalenz im Rahmen des UV nur ein Teil des Rentenbeitrags eine Zusatzlast auslost. Teilhabeaquivalenz bedeutet ja, dass der Rentenbeitrag auf einen heute (zusatzlich) verdienten Euro zumindest in gewissem Umfang spater an das betreffende Individuum zuruckflieGt. Oder anders gesagt: Im Unterschied zur Finanzierung eines offentlichen Gutes aus einer Lohnsteuer erwerbe ich mir durch meinen Rentenbeitrag Anspruch auf eine individuelle (private) Gegenleistung - und in dem Umfang, in dem in diesem Sinne Aquivalenz zwischen Rentenbeitragen und spateren Rentenzahlungen herrscht, kommt es auch nicht zu steuerlichen Zusatzlasten. Zur theoretischen Prazisierung dieser Uberlegung geben wir eine explizite Formulierung des Nutzenmaximierungskalkuls an, das fur ein representatives Individuum aus Generation t gilt, wenn dieses nicht nur tiber seinen Konsum heutemorgen, sondern daruber hinaus auch tiber sein optimales Arbeitsangebot lt entscheidet. Die Differenz ft = f -lt beschreibt dann das vom Individuum gewahlte Freizeitniveau. Zu maximieren ist dann der Nutzen M
<5-9)
= M (c/V / + 1 ( 2 ) ,/,)
unter der Nebenbedingung c<0)+fiZ. = w , / , - W , +
1 + 1+1
(1 + ^ ^ ^ 1+ r
(5 .l0)
r+l
bzw.
1+
1+1
1-6, ( l + i - ^ i ) l + ^+i
(5.11)
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems
131
An dieser zweiten Version der Nebenbedingung wird unmittelbar deutlich, dass im Falle von i(+l < rt+x nicht der gesamte Beitragssatz bt als verzerrender Steuersatz wirkt, sondern nur der mit dem UV verbundene implizite Steuersatz in Hohe von UiiZil+Lb
•
(5.12)
Das Individuum antizipiert ja die Riickzahlung eines Teils seines Rentenbeitrags und nimmt diesen Teil nicht als endgiiltigen Einkommensentzug wahr. Es gilt in der Tat rt -1 ist, d.h. solange ein Individuum uberhaupt irgendeine zum fruheren Lohneinkommen proportionale Rtickerstattung zuvor entrichteter Beitrage erhalt. Im Fall ii+l = rt+l, d.h. wenn die interne Rendite des UV genauso groB ist wie der Kapitalmarktzins, kommt es durch das UV sogar zu keinerlei allokativen Verzerrungen. Wenden wir uns nun dem Fall it+l < rt+l zu, so ist zu untersuchen, ob es moglich ist, diesen vom UV verursachten impliziten Steuerzahlungen und der damit verbundenen Zusatzlast zu entgehen, indem man zu einem KDV wechselt. Genau genommen wollen wir untersuchen, ob eine Pareto-Verbesserung durch folgendes MaBnahmenbundel erreicht werden kann: 1. Aussetzung der Beitrage zum UV in einer einzelnen Periode t, 2. Finanzierung der Renten der Generation t-\ durch Aumahme einer Staatsschuld in Periode t, 3. Wiederaufhahme des UV mit identischem Beitragssatz b in Periode t + \ und Riickzahlung der Staatsschuld aus den Beitragen der Generation t + 1 , 4. Abtragung eines etwaigen Restes der Schuld durch Besteuerung der Generation t. Aus der Konstruktion der MaBnahmen wird deutlich, dass samtliche Generationen vor und nach Generation t nicht besser und nicht schlechter gestellt werden. Fraglich ist also lediglich noch, ob Generation t besser gestellt werden kann. Wenn dies der Fall ware, konnte man die Aussetzung des UV, beginnend mit Periode t, dauerhaft vornehmen und damit die Staatsschuld immer weiter in die Zukunft walzen, ohne dass sie im Verhaltnis zum Sozialprodukt steigt, da man den uberschieBenden Kreditbetrag jeweils aus Steuermitteln zuruckzahlt. Die Hohe der in Periode t aufzunehmenden Staatsschuld betragt offensichtlich Dt=bwtln
(5.13)
so dass sie sich durch Verzinsung zu Beginn der Periode M-l auf Dt+l=bwtlt(l + rt+l)
(5.14)
erhoht. Das Beitragsaufkommen in Periode t+\ betragt Bt+l = bwt(l + it+i)lt+\. Unterstellt man lt = lt+l, so ergibt sich eine Restschuld in Hohe von
132
5 Rentenversicherung A+i ~Bt+\ =bwtlt(l + rt+l)-bwt(l
+ it+l)lt = bwtlt(rt+l -it+l)
(5.15)
bzw.? abgezinst auf Periode /: -^[DM-BM] 1+ r
i+\
= bw,l,^^L. l +
(5.16)
r
t+\
Soil dieser Betrag durch eine Steuer auf das Arbeitseinkommen wtlt der Generation t aufgebracht werden, so muss der Steuersatz genau dem Wert rt aus (5.12) entsprechen, womit gezeigt ist, dass man durch das beschriebene MaBnahmenbtindel auch die Angehorigen der Generation t nicht besser stellen kann, weil bei ihnen eine zusatzliche Lohnsteuer erhoben werden muss, deren Steuersatz genau dem Anteil des Beitragssatzes zum UV entspricht, den sie als Steuer empfunden hatten. Insbesondere lassen sich dann auch nicht die mit dieser impliziten Steuer verbundenen Zusatzlasten vermeiden. Eine Verbesserung erschiene allenfalls dadurch moglich, dass man sich bei der Finanzierung des Schuldendienstes einer anderen mit weniger Verzerrungen verbundenen Steuer (etwa einer verzerrungsfreien Pauschalsteuer) bedient. Den Wohlfahrtsgewinn, den man auf diese Weise erzielt, darf man allerdings fairer Weise nicht ursachlich dem Systemwechsel vom UV zum KDV zuschreiben. Schon im Rahmen des ursprtinglichen UV ware es ja moglich gewesen, die dort anfallenden impliziten Steuerzahlungen auf diese alternative Weise zu fmanzieren und damit Zusatzlasten zu vermindern. Bei einer Einheitsrente, deren Hohe nicht von den Beitragszahlungen abhangt, hingegen wirkt der Beitragssatz bt in vollem Umfang wie eine voll verzerrende Lohnsteuer. Durch Mehrarbeit und die damit verbundene hohere Beitragszahlung kann ein einzelnes Individuum ja seine spatere Rentenhohe nicht positiv beeinflussen. Eine Aquivalenz zwischen Beitragszahlung und Rentenhohe ist hier nicht gegeben, so dass die Zusatzlast in diesem Fall besonders hoch ist. Andererseits hat die Abschaffimg eines solchen Systems (Einheitsrente, aber lohnabhangige Beitrage) intragenerative Umverteilungswirkungen, da sie die Geringverdiener schlechter stellt. Je nachdem, wie ungleich die Einkommen in der Volkswirtschaft verteilt sind, wird es nicht immer gelingen, durch den Abbau der Zusatzlast alle Mitglieder der Gesellschaft besser zu stellen. Folgerung 5.4: Auch bei endogenem Arbeitsangebot lasst sich in einer I kleinen offenen Volkswirtschaft mit einem Umstieg vom Umlage- zum I Kapitaldeckungsverfahren als solchem keine intergenerative ParetoVerbesserung erreichen, vorausgesetzt das Umlageverfahren ist nach dem Prinzip der Teilhabe-Aquivalenz organisiert. Der Teil des Umlagebeitrags, der wie ein Steuerkeil wirkt, ist durch die Differenz zwischen Zinssatz und I Wachstumsrate bedingt und lasst sich nicht vermeiden, weil er der Finan-1 zierung des Vorteils der Gmndergeneration dient.
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems
133
5.3.2.2 Die geschlossene Volkswirtschaft In den USA steht seit langerem ein Argument zugunsten eines zumindest partiellen Ubergangs zum KDV im Mittelpunkt der Diskussion. Insbesondere Martin Feldstein hat einen wichtigen Vorzug des KDV gegentiber dem UV darin gesehen, dass im KDV das Sparen und somit die Kapitalbildung insgesamt hoher ausfallt als im UV. Das KDV sei deshalb im Hinblick auf das Wirtschaftswachstum und die Schafftmg neuer Arbeitsplatze giinstiger zu beurteilen als das UV. Wir wollen jetzt priifen, was tatsachlich hinter diesem Argument steckt. Dazu miissen wir uns allerdings aus der Modellwelt einer kleinen offenen Volkswirtschaft losen, in der die Kapitalbildung ohnehin nicht aus der heimischen Ersparnis gespeist wird, und eine geschlossene Volkswirtschaft betrachten. 5.3.2.2.1 Das Wachstumsgleichgewicht im Modell von Diamond (1965) Im Modell der geschlossenen Volkswirtschaft nehmen wir wieder an, das Arbeitsangebot sei exogen, so dass wir es auf 1 normieren konnen. Es gelten dann fur ein representatives Individuum die bereits bekannten Budgetgleichungen in beiden Lebensabschnitten, ctil)=(l-bt)wt-st cj2)=(\
+ rt+l)st +(l + ^ +1 )6 /+1 w /+1 .
( 5 - 17 > ( 5 - 18 )
Wie bisher maximiert jedes dieser (annahmegemaB in groBer Zahl vorhandenen) Individuen seinen Nutzen iiber den LebenszyklusC/lc; Kc)+{ I, was auf die Bedingung 1. Ordnung ftir die optimale Ersparnis s* •
^
%
= < + rM
(5.19)
fflhrt. Daneben bestehen in diesem Modell einige makrookonomische Zusammenhange, die in den bisherigen Modellen nicht aufgetreten sind. Die Gesamtersparnis St, die Generation t in der Periode t tatigt, fuhrt in Periode ( + 1 zu einem Realkapitalbestand Kt+l in gleicher Hohe (Kt+l = St). Ftir die entsprechenden Pro-KopfGroBen st und kt+l gilt dann *7+l ~ 7 "
(5.20)
\ + nt+l Mit dem in Periode t +1 vorhandenen Kapitalbestand Kt+l sowie Nt+l Arbeitern werden dann mit Hilfe der neoklassischen Produktionsfunktion F(Kt+l,Nt+l)
134
5 Rentenversicherung
genau Yt+l Einheiten des einzigen Guts erzeugt. Aufgrund der Annahme konstanter Skalenertrage kann man alle GroBen durch den Arbeitseinsatz dividieren und erhalt somit das Pro-Kopf-Produkt gemaB yt+x=f{kM).
(5.21)
Die Pro-Kopf-Produktionsfunktion / ist zweimal stetig differenzierbar, und es gilt / ' ( £ ) > 0 und f"(k)<0 fur alle k > 0. Mit zunehmender Kapitalintensitat nimmt der Pro-Kopf-Output also zu, die Grenzertrage gehen jedoch zuruck. Die in Periode / + 1 herrschenden Faktorpreise, d.h. der Zinssatz rt+l und der Lohnsatz wt+l, stimmen in einem Gleichgewichtszustand mit den Grenzproduktivitaten der jeweiligen Produktionsfaktoren tiberein, d.h.
W/ + l=^/ + l-(1 + 1+1 )*/+!•
( 5 « 23 )
Dabei ist vorausgesetzt, dass es in der betrachteten Okonomie auch eine groBe Zahl von Unternehmen gibt, die als Mengenanpasser handeln. Die Gleichungen (5.22) und (5.23) entsprechen dann den Bedingungen 1. Ordnung fur einen gewinnmaximierenden Faktoreinsatz eines einzelnen Unternehmens. Obwohl die Marktteilnehmer durch ihre individuellen Entscheidungen keinen Einfluss auf die Hohe von Lohn- und Zinssatz austiben konnen, hat ihr aggregiertes Verhalten auf gesamtwirtschaftlicher Ebene sehr wohl Auswirkungen auf die Lage der Gleichgewichtslosung. Ftir die geschlossene Volkswirtschaft, wie wir sie jetzt betrachten, ist der Zinssatz rt+l (genauso wie st, kt+l sowie c)' und c;+[) nicht exogen gegeben, sondern bestimmt sich endogen aus dem Zusammenspiel des Verhaltens der Marktteilnehmer. Die exogen gegebenen Parameter im Modell sind • die Pro-Kopf-Anfangsausstattung mit Kapital kt und damit (gemaB (5.21) und (5.23) bezogen auf Periode / ) das Lohneinkommen wt in Periode t, • die Wachstumsrate der Bevolkerung nt+l, sowie • die das umlagefmanzierte Rentensystem charakterisierenden Beitragsparameter bt und bt+l. Ftir vorgegebene Kombinationen dieser exogenen Parameterwerte werden durch die Gleichungen (5.17) bis (5.23) die Pro-Kopf-Ersparnis s*, (und damit die Kapitalintensitat k*+l = — - — in Periode t +1) sowie der Zinssatz rt+l in Pel + nt+l riode t +1 simultan bestimmt. Die Losungswerte dieses Gleichungssystems beschreiben ein „Wachstumsgleichgewicht", in dem sich das durch (5.19) bestimmte Kreditangebot der Haushalte und die durch (5.22) bestimmte Kreditnachfrage der
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems
135
Unternehmen gerade entsprechen. Die Konsumniveaus eines reprasentativen Individuums in seinen beiden Lebensabschnitten ergeben sich dann unmittelbar durch die Gleichungen (5.17) und (5.18). 5.3.2.2.2 Der Einfluss des umlagefmanzierten Rentensystems auf die private Ersparnis Wir wollen jetzt untersuchen, wie sich ein solches Wachstumsgleichgewicht verandert, wenn die Beitragssatze bt und bt+l variiert werden. Dabei konzentrieren wir uns auf die Wirkungen, die sich in diesem Zusammenhang fur die - in Abhangigkeit von den Parametern bt und bt+l - m i t s*(bnbt+l) bezeichnete Pro-KopfErsparnis ergeben. Um eindeutige Aussagen liber das Vorzeichen von ds* I dbt und ds* I dbt+l ableiten zu konnen, treffen wir zusatzlich die beiden folgenden Annahmen: 1. Gegenwarts- und Zukunftskonsum sind normale Gtiter. Dies impliziert u. a., dass bei einem Rtickgang des Zinssatzes der Zukunftskonsum sinken muss, da Einkommens- und Substitutionseffekt in die gleiche Richtung gehen. 2. Die Produktionsfunktion hat die Eigenschaft, dass mit wachsender Kapitalintensitat k auch der Pro-Kopf-Kapitalertrag (l + r)-k steigt, d.h. wegen (5.22)
d\f\k)-k\ dk
k-f"(k) = * - / " W + / ' W >0 o
,(JV>-1-
(5.24)
Das ist nicht selbstverstandlich, weil im Wachstumsgleichgewicht (wegen / " ( & ) < 0) der Zinssatz bei wachsendem Kapitaleinsatz ja abnimmt. Die Wirkung einer Erhohung von kt+l auf den Lohnsatz wt+l ist demgegenuber auch ohne Zusatzannahmen eindeutig: Mit (5.21) und (5.22) wird (5.23) zu
Die Ableitung von (5.25) nach kt+l ergibtdann ^ -
= -f"(kl+i)-k,+]>0.
(5.26)
Eine steigende Kapitalintensitat erhoht also auch die Lohneinkommen. Bei der Variation der Rentenbeitragsparameter wird jetzt zunachst der Fall betrachtet, in dem allein bt verandert wird, bt+l aber konstant bleibt. Dann gilt ds* I dbt < 0 , d.h. ein hoherer Umlage-Transfer von Generation t an ihre Vorganger-Generation t -1 senkt die Ersparnis von Generation t und damit auch die Realkapitalbildung. Um dies zu zeigen, nehmen wir an, dass das Gegenteil eintritt,
136
5 Rentenversicherung
d.h. dass im neuen Wachstumsgleichgewicht nach Erhohung von bt die Pro-KopfErsparnis und damit die Kapitalintensitat groBer sind als im ursprtinglichen Wachstumsgleichgewicht, so dass sich gemaB (5.22) auch ein hoherer Zinsatz ergibt. Wegen (5.18), (5.24) und (5.26) kame es dann fur Generation t zu einem hoheren Konsum c)+[ in ihrer Ruhestandsphase. Dies ist ein Widerspruch zur Annahme, dass der Zukunftskonsum normal ist, derm das Individuum ist durch den Anstieg von bt und das Fallen des Zinssatzes armer geworden. Also war unsere ursprimgliche Annahme falsch, vielmehr mtissen bei steigendem bt die Ersparnis s* und damit die Kapitalintensitat k*+l eindeutig fallen. Dass ds* /db(+l < 0 gilt, zeigt man auf analoge Weise. Angenommen, bei einer Erhohung der Rente steigt die Ersparnis, d.h. der Zinssatz geht zuriick und wt+l steigt. Der Substitutionseffekt der Zinssenkung auf die Ersparnis ist eindeutig negativ. Aus diesem Grunde wiirde c/1^ zunehmen und ct+l^ abnehmen. Die Einkommensanderung ist nicht eindeutig, derm als Sparer wird das Individuum durch die Zinssenkung armer, durch die hohere Rente b(+l - wt+l wird es aber reicher. Nehmen wir als erstes an, a) es werde insgesamt armer. Da der Zukunftskonsum normal ist, wiirde dies einen Riickgang von c / + / 2 ) bedingen und den Substitutionseffekt verstarken. Dies steht jedoch im Widerspruch zur Budgetgleichung (5.18), die eine Zunahme von ct+l^ erfordert. Im Fall b) wird das Individuum insgesamt reicher. Da Gegenwartskonsum normal ist, wiirde dies c/^ erhohen und den Substitutionseffekt verstarken, was nach Gleichung (5.17) nicht mit einem Anstieg der Ersparnis vereinbar ist. Folglich muss die Ersparnis sinken, wenn bt+i erhohtwird. Wird nun der Beitragssatz in beiden Perioden angehoben, so bedeutet dies, dass das Individuum seinen Konsum im Erwerbsalter c,
ausweiten und den im Ren-
2
tenalter c/+/ ^ einschranken mochte. Beides ist nur durch eine Verringerung der privaten Ersparnis s* moglich. Folgerung 5.5: Die optimale Ersparnis reagiert negativ auf den Umfang I einer umlagefmanzierten Rentenversicherung. Daher ist die Kapitalintensi-1 tat in einer geschlossenen Volkswirtschaft im Gleichgewicht umso kleiner, I je groBer ein vom Staat betriebenes umlagefinanziertes Rentensystem aus-1 fallt. Wird iiberhaupt kein Umlagesystem betrieben, so ist der volkswirt-1 schaftliche Kapitalbestand ceteris paribus am groBten. I Die okonomische Intuition fur dieses Resultat ist die folgende: Fiir das Individuum spielt der Beitrag zu einem umlagefmanzierten Rentensystem die gleiche Rolle wie private Ersparnis, derm beide begriinden Anspriiche auf Einkommen im Alter, und in dem MaBe, wie die eine „Sparform" zunimmt, wird die andere redu-
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems
137
ziert. Volkswirtschaftlich besteht jedoch ein groBer Unterschied, da privates Sparen zur Kapitalbildung ftihrt, Rentenbeitrage im Umlagesystem dagegen direkt an die Rentner der laufenden Periode ausgeschlittet werden und daher in den Konsum flieBen. Gegen die Giiltigkeit dieses Ergebnisses wird bisweilen eingewendet, dass das, was aus der Sicht eines hier betrachteten einzelnen Individuums als Ersparnis gilt, auf gesamtwirtschaftlicher Ebene nicht unbedingt eine zusatzliche Kapitalbildung bedeuten muss. Denkbar sei ja auch, dass die (zusatzliche) Ersparnis eines Individuums vollstandig in Staatspapiere flieBt, mit denen zusatzliche Staatsausgaben fmanziert werden. Dazu ist zu bedenken, dass das zuvor abgeleitete Ergebnis ceteris paribus gilt, also u.a. bei gegebener Hohe des staatlichen Haushaltsdefizits. Durch eine Erhohung des Defizits in Verbindung mit einem Abbau des Umlagesystems wtirde gewissermaBen das Umlageverfahren durch die Hintertlir wieder ausgeweitet. Wenn im KDV die Kapitalbildung tiber der im UV liegt, bedeutet das umgekehrt, dass das UV zu Verdrangungseffekten bei der privaten Ersparnis fiihrt. Wie stark Verdrangungseffekte in der Empirie ausgepragt sind, wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Im Bezug auf die USA kam Feldstein (2000) zum Schluss, dass das umlagefmanzierte Social Security System die private Spartatigkeit um bis zu 60 % vermindert hat, und in Chile hat, wie einige empirische Studien eindeutig bestatigen, die Einfiihrung eines KDV die Sparquote deutlich erhoht. Allerdings wird auch kritisch gefragt, inwieweit sich die in einem Schwellenland wie Chile gemachten Erfahrungen auf einen entwickelten Staat wie etwa Deutschland iibertragen lassen. Immerhin ist die Sparquote in Deutschland zurzeit (trotz des vorhandenen Alterssicherungssystems mit weitgehend umlagefinanzierter Rente) im internationalen Vergleich relativ hoch. A. Borsch-Supan, ein anerkannter deutscher Rentenexperte, antwortet auf die Frage: „Erhoht ein Ubergang die Ersparnis?" am Ende einer ausfiihrlichen Betrachtung wie folgt: „Die Diskussion in diesem Abschnitt zeigt, dass auch die Empirie in der Frage nach der Wechselwirkung zwischen Altersvorsorge und Ersparnisbildung an ihre Grenzen stoBt. Insgesamt wiegt die Evidenz schwerer, dass das Umlageverfahren ein wichtiges Sparmotiv verdrangt, das durch einen Ubergang zu mehr kapitalgedeckter Altersvorsorge wieder zum Leben erweckt wird, als dass es bei den tibrigen Sparmotiven zu einer vollstandigen Verdrangung kommt. Um es in der Sprache des amerikanischen Rechts auszudrticken: Die Evidenz reicht nicht aus, um die Frage „beyond reasonable doubt" zu beantworten, aber die preponderance of evidence" zeigt, dass mehr Kapitaldeckung auch einen hoheren Kapitalstock impliziert." (Borsch-Supan (2000, S. 442)). 5.3.2.2.3 Der Einfluss des umlagefmanzierten Rentensystems auf die SteadyState-Wohlfahrt Ob die von einem umlagefmanzierten Rentensystem verursachte Verminderung der Ersparnis (und damit in einer geschlossenen Volkswirtschaft der Realkapitalbildung) auch zu einem Verlust an gesamtwirtschaftlicher Wohlfahrt fuhren muss, steht a priori allerdings keineswegs fest. Vielmehr ist es prinzipiell moglich, dass
138
5 Rentenversicherung
die Kapitalintensitat, die sich in einem Kapitalgleichgewicht ohne staatliches Umlagesystem ergibt, unter Wohlfahrtsgesichtspunkten zu hoch ausfallt. In diesem Falle ware eine (teilweise) Verdrangung privater Ersparnis durch ein umlagefinanziertes Rentensystem sogar erwiinscht, weil sich dadurch die wohlfahrtsschadliche Uberakkumulation von Kapital vermeiden lasst. Um zu beschreiben, wie es durch den unregulierten Marktprozess zu einer iibermaBigen Kapitalbildung kommen kann, verwenden wir im Folgenden einen Spezialfall des Modells der geschlossenen Volkswirtschaft. Dabei wird angenommen, dass die Wachstumsrate der Bevolkerung in alien Perioden gleich groB ist, d.h. nt = n filr alle t = 1,2,... gilt. In dieser Situation betrachten wir zeitliche Entwicklungspfade, bei denen die relevanten Pro-Kopf-GroBen (die Kapitalintensitat kt sowie die Pro-Kopf-Konsumniveaus c)' und c;+] der Individuen in ihrer Erwerbs- und ihrer Ruhestandsphase) im Zeitablauf konstant bleiben. In einem solchen Steady-State konnen wir dann die Zeitindizes weglassen und einfach k,
(5.27)
betragt. Analog zu den allgemeinen Ausfuhrungen liber die geschlossene Volkswirtschaft wollen wir zunachst den speziellen Steady-State charakterisieren, der sich im Fall ohne umlagefmanziertes Rentensystem als Wachstumsgleichgewicht einstellt. Die dabei resultierende Kapitalintensitat nennen wir k * , und mit
(5.28)
Die Konsumniveaus c^l> * und c^1' * im gleichgewichtigen Steady-State ergeben sich durch Maximierung der Nutzenfunktion U(c^ ' } r ' ) unter der individuellen Budgetrestriktion (2)
c{lK-
= / ( * * ) - ( l + r*)**.
(5-29)
Ftir bt = bt+l = 0 , d.h. fur den Fall ohne Umlagesystem, ist dies eine unrnittelbare Konsequenz aus (5.17), (5.18), (5.21) und (5.23). Die Budgetgleichung (5.29) besagt, dass der Barwert des Lebenskonsums (linke Seite) gleich groB wie das Lohneinkommen in der Erwerbsphase (rechte Seite) sein muss. GemaB (5.19) ist
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems
139
das Nutzenmaximum, das ein Individuum im Kapitalmarktgleichgewicht erreicht, dann durch die Bedingung du/dc® duldc
w
= l + r*
(5.30)
gekennzeichnet. Ein solches Steady-State-Wachstumsgleichgewicht ist aber allenfalls zufallig Pareto-optimal. In der Regel gibt es einen Steady-State, in dem alle Individuen einen hoheren Nutzen als in dem vom Staat unbeeinflussten Gleichgewicht erreichen. Zur Ermittlung des wohlfahrtoptimalen Steady-State versetzen wir uns in die Rolle eines hypothetischen „wohlwollenden Diktators", der - unabhangig von der Institution des Kapitalmarktes - den in einem Steady-State erreichbaren individuellen Nutzen £/(
c{lK^-
+ (l + n)k = f(k).
(5.31)
Sie drtickt aus, dass das Pro-Kopf-Produkt f(k)
in einer Periode fur drei Zwe-
cke zu verwenden ist: • fur den Konsum
£/(c (1) ,c (2) )
unter der Nb. (5.31)
(532)
c^ ,c^ ,k
Durch Anwendung des Lagrange-Verfahrens zeigt sich sofort, dass die Optimallosung (mit der Kapitalintensitat k° und dem Zinssatz r°) folgende Bedingungen 1. Ordnung erfullen muss
l + r- = /'(*-) = l + i, = - 5 5 V ^ . du/dc{2)
(5<33)
In Worten besagt diese „Goldene Regel der Kapitalakkumulation", dass der Zinssatz (ausgedriickt als Grenzproduktivitat des Kapitals minus 1) der Wachstumsrate der Bevolkerung entspricht. Zusatzlich muss die Grenzrate der Substitu-
140
5 Rentenversicherung
tion zwischen Gegenwarts- und Zukunftskonsum
-.—j-r im optimalen SteadydU/dc{2)
State den Wert 1 + n annehmen. Der Vergleich von (5.33) mit (5.28) zeigt, dass das Wachstumsgleichgewicht nur dann optimal ist, falls der endogen bestimmte Marktzinssatz r* genauso groB wie die Wachstumsrate der Bevolkerung ist. Damit kann aber nur in Ausnahmefallen gerechnet werden. Dies wird schon daran deutlich, dass die Goldene Regel der Akkumulation zu einer Kapitalintensitat k° ftihrt, die - im Gegensatz zur Kapitalintensitat A;* im Gleichgewicht - unabhangig von den individuellen Praferenzen U(c{l\c{2)) ist. Weshalb die Ubereinstimmung von 1 ° und A;* hochst unwahrscheinlich ist, kann man sich auch folgendermaBen klar machen: Nehmen wir an, k° sei die Kapitalintensitat im Wachstumsgleichgewicht, so dass l + r* = f'(k°) = l + « gilt. Die Konsumniveaus in den beiden Lebensphasen eines Individuums waren dann eindeutig determiniert, und zwar wiirde wegen (5.27) c (2) * = (l + r*)-s* = (l + /?)2-A;0 und folglich wegen (5.31) c{l)* = f(k°)-2(l
+ n)k°
gelten. Damit in dem durch k° charakterisierten Steady-State aber tatsachlich ein Gleichgewicht vorliegt, mtisste gemaB (5.30) im Punkt
Ul)*,ci2)*) = (f(k0)-2(l + n)k0,(l + nfk°) die Grenzrate der Substitution zwischen Gegenwarts- und Zukunftskonsum gerade 1 + n betragen. Dies stellt aber eine sehr spezielle Anforderung an die Praferenzen dar, die ublicherweise nicht erfullt sein wird. Abhangig von den Praferenzen ist in aller Regel also zu erwarten, dass es im Steady-State-Wachstumsgleichgewicht entweder a. zur Uberakkumulation von Kapital mit A:* > k° und r* n kommt. In Abb. 5-3 ist der Fall a) durch den Punkt A, der Fall b) durch den Punkt B beschrieben. Fall a) ist analog zum Fall n > r in der kleinen offenen Volkswirtschaft. Auch hier sind die Voraussetzungen des 1. Hauptsatzes der Wohlfahrtsokonomik verletzt und das Gleichgewicht ist dynamisch ineffizient. Der einzige Unterschied ist, dass der Zinssatz r in der geschlossenen Volkswirtschaft nicht mehr exogen gegeben ist, sondern von den Sparentscheidungen der Erwerbstatigen abhangt. Diese miissen dazu veranlasst werden, weniger Ersparnisse und damit Realkapital zu bilden. Dieser Effekt tritt ein, wenn ein Teil des Alterskonsums durch einen direk-
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems
141
ten Transfer von Seiten der jeweils jlingeren Generation, also durch eine umlagefmanzierte Rentenversicherung, bestritten wird. Wie oben gezeigt, wird dadurch private Ersparnis verdrangt und somit die Kapitalintensitat gesenkt, was bei Uberakkumulation von Kapital erwunscht ist.
"•(*), l+r
\
B
+n
k°
k\
k*„
Abb. 5-3: Kapitalintensitat und Zinssatz Wie sich im Fall a) durch Einfuhrung eines Umlagesystems eine ParetoVerbesserung erreichen lasst, soil jetzt im Einzelnen aufgezeigt werden. Wir nehmen dazu an, dass bis zu einer Ubergangsperiode T die Okonomie dem SteadyState Entwicklungspfad folgt, welcher dem unregulierten Wachstumsgleichgewicht entspricht. Der Staat beschliefit dann in Periode T die folgenden MaBnahmen zur Einfuhrung eines Umlagesystems, die uberraschend erfolgt, d.h. so, dass vorhergehende Generationen diesen Schritt nicht antizipieren: • Die Erwerbstatigen in Periode T zahlen auf ihr Arbeitseinkommen einen Beitragssatz in Hohe von 1
h
.(2)0
w*-w +-1 + /7 -(l + n)k°
(5.34)
mit w* = / ( * * ) - * * • / • ( * * )
w° =
f(kQ)-k°-fXk°).
• Die Erwerbstatigen von Periode T +1 an zahlen auf ihr Arbeitseinkommen einen Beitragssatz in Hohe von _1_ w°
\ +n
-{\ + n)k° L / = r+i,...
(5.35)
142
5 Rentenversicherung
• Das Beitragsaufkommen wird an die Rentner der jeweiligen Periode ausgeschuttet. Wir wollen jetzt priifen, wie sich das in dieser Weise ausgestaltete Umlagesystem auf das Verhalten der Individuen und das Wachstumsgleichgewicht auswirkt. Zunachst ist festzustellen, dass sich fur die Angehorigen aller Generationen bis einschlieBlich Generation T - 1 nichts andert. AnnahmegemaB soil die Einfuhrung des Umlagesystems in Periode T iiberraschend erfolgen, so dass sie von den vorherigen Generationen in ihren Entscheidungen nicht antizipiert werden kann. Die Erhebung des Beitrags fiihrt dazu, dass jeder Erwerbstatige der Periode T tiber ein Nettoeinkommen von J2)o
(l-bT)'W* = w°--
+ {l + n)k°
(5.36)
l+n verfugt, das er auf Gegenwartskonsum und Ersparnis s aufteilen kann. In der Periode T+\ erhalt er eine Rente in Hohe von pT+l=(l
+ n)-bT+vw0
= c{2)o-(l + n)2k°,
( 5 - 37 )
so dass seine intertemporale Budgetbeschrankung wie folgt lautet: CW+—
= w°- — l+n
l + r r+1
{i + n)
+ (\ + n)k° + l
+ r
k
.
r+i
Fiir rT+l =r° = n vereinfacht sich dies zu (2)
c(1) +— = w° = f(k°)-(l + n)k° . l+n Das Entscheidungsproblem dieser Individuen lautet damit: max
(5.38)
unter der Nebenbedingung (5.38) und ist damit identisch mit dem Problem (5.32) bis auf die Tatsache, dass der Kapitalbestand bereits optimal gewahlt ist. Fiir alle weiteren Generationen verhalt es sich analog. Ihr Nettoeinkommen betragt c(2)o
(l-bt)<w° = w°
(5.39) + (l + ri)k°, t = T + l,...
l+n und ist damit identisch zu (5.36). Deshalb wahlen auch sie
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems
143
Die Wohlfahrtsbilanz der Einfuhrung des Umlagesystems in Periode T ist eindeutig: • Der Nutzen aller Generationen vor Generation T -1 bleibt gleich, • Generation T - 1 profitiert von dem Transfer, den sie zusatzlich von Generation T erhalt. • Alle Generationen von Generation T an realisieren den Golden-Rule-Nutzen £/(c'' °, c' ' °), der uber dem des urspriinglichen Wachstumsgleichgewichts [/(c(1)*,c(2)*) liegt. Insgesamt ergibt sich also - wie angestrebt - im Fall a) bei Einffihrung des Umlagesystems eine Pareto-Verbesserung. Leider kann man nicht empirisch testen, ob die dazu notwendige Voraussetzung, r*
144
5 Rentenversicherung
fiihrten Argumente Revue passieren, so stellt man im Lichte der obigen theoretischen Analysen fest, dass manche davon nicht triftig sind: 1. Durch den Riickgang der Fertilitat und die gestiegene Lebenserwartung ist die Rendite des Umlagesystems stark gesunken, so dass es als Hauptpfeiler der Alterssicherung nicht mehr geeignet ist. Dieses Argument ist aus zwei Griinden verfehlt. Zum einen hat die Rendite nichts mit der gestiegenen Lebenserwartung zu tun, derm diese erhoht - bei festem Renteneintrittsalter - sowohl den zur Finanzierung eines gegebenen Rentenniveaus notwendigen Beitragssatz als auch die Dauer des Rentenbezugs und damit die Leistung, die der Einzelne aus dem Umlagesystem bezieht. Anders ausgedrtickt, miisste bei steigender Lebenserwartung auch im KDV die Ansparrate erhoht werden, um ein gegebenes Rentenniveau abzusichern. Zum anderen ist ein Ausstieg aus dem UV, wie in Kapitel 5 gezeigt, nicht mit einer ParetoVerbesserung verbunden, da die Nettozahlungen aller zuktinftigen Generationen an die Rentenkasse in der Summe konstant bleiben und lediglich anders verteilt werden konnen. 2. Der Ausstieg aus dem Umlageverfahren beendet ein fur alle Male die Verzerrung des Arbeitsangebots, die mit der Beitragserhebung verbunden ist, derm im Rahmen des KDV steht jeder Einzahlung eine im Barwert aquivalente Auszahlung gegentiber, so dass hier das Arbeitsangebot nicht verzerrt wird. Dies ist zwar richtig, jedoch ist die Verzerrung fur die Ubergangsgeneration, die noch Beitrage zahlt, aber als erste keinen Rentenanspruch mehr erhalt, um so groBer, da der gesamte Beitrag wie eine Steuer wirkt. Unterstellt man, dass die Hohe des Wohlfahrtsverlustes mit dem Steuersatz uberproportional steigt, so bedeutet die Konzentration der Verzerrung auf eine einzige Generation insgesamt eine Erhohung des Wohlfahrtsverlustes. 3. SchlieBlich wird das Umlageverfahren als politisch anfallig bezeichnet, weil die nachfolgende Generation von Beitragszahlern erst einmal bereit sein muss, die „Rentenanspriiche" der jeweiligen Rentnergeneration zu honorieren. Dagegen beruht das KDV auf privaten Vertragen und ist daher politisch weniger anfallig. Auch hier ist der erste Satz richtig, der zweite jedoch problematisch, da im Falle eines Kapitaldeckungsverfahrens die nachfolgende Generation die Rentner durch eine hohere Besteuerung von Kapitalertragen (Zinsen und Wertzuwachs) teilweise enteignen kann. Auf der anderen Seite sind viele Menschen trotz der hohen langfristigen Kapitalrenditen der Vergangenheit gegentiber dem KDV skeptisch eingestellt, was mit den folgenden Griinden erklart werden kann: 1. Im KDV sind Versicherte starker mit Kapitalmarktrisiken konfrontiert. Erfahrungen aus dem Ausland (Verfall des Nikkei-Indexes in den 1990er Jahren), aber auch aus dem Inland (Borsencrash im Jahr 2001) zeigen, dass auch
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssystems
145
bei einer breit gestreuten Aktienanlage die Rendite liber mehrere Jahre hinweg negativ sein kann, wenn man den Zeitpunkt der Kapitalanlage ungiinstig gewahlt hat. 2. Umgekehrt ist man bei einer „sicheren" Anlage in festverzinslichen Wertpapieren nicht gegen das Inflationsrisiko geschtitzt. 3. Kritisch werden auch die hohen Vertriebs- und Werbekosten bei privaten Lebensversicherungen gesehen. 4. SchlieBlich wird eingewendet, dass auch die Rendite einer Kapitalanlage gegentiber einer schrumpfenden Bevolkerung nicht immun sei, da ein Kapitalbestand im Falle komplementarer Produktionsfaktoren ohne Arbeit keine Ertrage abwirft. Als Fazit bleibt die Aussage, dass in einer Welt mit vollkommener Voraussicht die Wahl zwischen Umlage und Kapitaldeckung keine Frage der Effizienz, sondern der Verteilung zwischen den Generationen ist, die man allenfalls auf der Basis von distributiven Werturteilen beantworten kann. Wendet man etwa das Rawls'sche Maximin-Kriterium auf die Verteilung zwischen den Generationen an, so hangt die Antwort davon ab, ob man als ,,Zukunftsoptimist" glaubt, alien kommenden Generationen werde es besser gehen als der heute lebenden: in diesem Fall mtisste man das Umlagesystem eher noch ausweiten (wie es etwa 1995 mit der Einfuhrung der Pflegeversicherung in Deutschland geschehen ist). Ist man ein „Zukunftspessimist" und glaubt daran, dass z.B. wegen Verknappung der Rohstoffe alle nachfolgenden Generationen armer sein werden als die jetzige, so mtisste man jene durch einen Abbau des Umlageverfahrens entschadigen. In einer Welt der Unsicherheit kommen jedoch zusatzliche Gesichtspunkte hinzu: Kann man etwa die zukiinftigen Ertrage der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital nicht abschatzen, so ware es vorteilhaft fur den Einzelnen, im Alter an beiden Typen von Ertragen zu partizipieren. Daher mtisste das UV so weit eingeschrankt werden, dass daneben noch eine private Altersvorsorge erforderlich und gewiinscht ist. Wenn in einem KDV (anders als im UV) die Rentenbeitrage keine Steuern darstellen, schwindet auch der Anreiz, sich diesen Steuern durch eine Verlagerung okonomischer Aktivitaten in die Schattenwirtschaft (den „informellen Sektor") zu entziehen. Die Arbeitskraft wird auf diese Weise aus der Schwarzarbeit, in gesamtwirtschaftlich vielfach wesentlich produktivere Bereiche der regularen Wirtschaft gelenkt. Auch hierfur scheint das chilenische Beispiel eine gewisse empirische Evidenz zu liefern. Dort ist die Beschaftigung im informellen Sektor in den 80er Jahren leicht gesunken, wahrend sie im gleichen Zeitraum in alien anderen lateinamerikanischen Landern teilweise stark zugenommen hat. Die Gtiltigkeit dieses Arguments setzt allerdings auch voraus, dass das UV-System nicht dem Prinzip der Teilhabeaquivalenz folgt oder dass die Individuen bei Teilhabeaquivalenz die zukiinftigen Ruckerstattungen ihrer urspriinglichen Beitrage nicht in ihrem Nutzenkalktil berticksichtigen oder aber dass die implizite UV-Steuer hoch ist. Dies sind die gleichen Griinde, die auch flir die Zusatzlast innerhalb eines UVSystems verantwortlich zu machen sind.
146
5 Rentenversicherung
Zudem erhofft man sich durch Einfiihrung eines KDV ganz allgemein eine Belebung der Kapitalmarkte. Aufgrund des groBeren Kapitalangebots wird erwartet, dass bei den Kapitalanlegern eine intensivere Suche nach rentablen Anlagealternativen einsetzt. Der intensivere Wettbewerb auf den Kapitalmarkten kann so zu einer Steigerung der realisierten Kapitalproduktivitat fuhren. Ein effizienterer Kapitaleinsatz erscheint auch deswegen wahrscheinlich, weil institutionelle Anleger (groBe Versicherungskonzerne und Finanzdienstleister) durch die Moglichkeit zur Blindelung von Kontrollaktivitaten zu einer besseren Uberwachung und Steuerung der in ihrem Besitz befmdlichen Unternehmen in der Lage sind. Die besonders bei Streubesitz auftretenden Prinzipal-Agenten-Probleme lassen sich auf diese Weise eher eindammen. Von manchen wird in diesem Zusammenhang aber auch eine zu starke Konzentration wirtschaftlicher Macht bei den Kapitalsammelstellen beflirchtet. Durch die hohere Nachfrage nach Anlageprodukten durch z.T. eher schlecht informierte Kunden kann es zudem dazu kommen, dass die Finanzunternehmen weniger anstrengen miissen, um am Markt zu bleiben und eine bestimmte Rendite zu erzielen. Die Allokationsfunktion des Kapitalmarkts wtirde in diesem Fall beeintrachtigt. Speziell fur Entwicklungslander sieht die Weltbank in kapitalgedeckten Rentensystemen wichtige Impulsgeber fur die Bildung funktionierender Finanzmarkte. Auf diese Weise soil auch der Kapitalflucht aus diesen Landern entgegen gewirkt werden. Doch auch wenn der Ubergang vom UV zum KDV positive Wachstumseffekte hat, steht keineswegs von vornherein fest, dass ein solches starkeres Wachstum aus wohlfahrtstheoretischer Sicht auch wirklich erwiinscht ist. Hoheres Wachstum muss nicht unbedingt hohere Wohlfahrt bedeuten. Allerdings weist z.B. Sinn (2000) darauf hin, dass es in der Tat theoretisch und empirisch bedeutsame Griinde geben kann, die daflir sprechen, dass das in der Realitat erreichte Wachstumstempo unter dem optimalen liegt. Zu diesen Grtinden zahlen • technologische Externalitaten zwischen einzelnen Firmen, die auch in der „Neuen Wachstumstheorie" die zentrale Rolle spielen. Dieses Argument kann man auch mit dem Offentlichen-Guts-Charakter von Innovationen und mit zwischen einzelnen Innovationen bestehenden Synergieeffekten in Verbindung bringen. Nicht alle Aspekte einer Neuerung lassen sich patentieren. Wenn ein neues Produkt (z.B. Mobiltelefone) auf den Markt kommt, schafft dies auch Innovationsanreize bei den Nutzern dieses Produkts sowie bei den Zulieferern von Vorprodukten. (Im weitesten Sinne lasst sich auch das Isolationsparadoxon hier einordnen. Sparen schafft fur ein einzelnes Individuum nur dann den angestrebten Vorsorgeeffekt, wenn auch andere sparen und somit eine gewisse kritische Masse an Ersparnissen zustande kommt und Verbundvorteile genutzt werden konnen. In einer differenzierten arbeitsteiligen Wirtschaft mit einem entwickelten Kapitalmarkt durfte dies aber selbstverstandlich sein.) • steuerlich bedingte Verzerrungen. Kapitaleinkommensteuern treiben einen Keil zwischen die Grenzproduktivitat des Kapitals und die subjektive Zeitpraferenzrate der Individuen, so dass gemessen an den Praferenzen der Individuen zu wenig gespart wird.
5.3 Die Wahl eines effizienten Finanzierungssy stems
147
Allerdings bemerkt Sinn dann ganz zu recht, dass es auch direktere Wege zur Behebung dieser Allokationsstorungen als die Rentenpolitik gibt; so etwa den Abbau steuerlicher Hemmnisse flir Investitionen oder aber eine zielgerichtete steuerliche Investitionsforderung. Die Einfiihrung eines KDV ist zur Forderung des Wirtschaftswachstums also keineswegs notwendig. Zudem ist in einer Welt, in der nicht alle negativen externen Effekte der wirtschaftlichen Aktivitat wie etwa Umweltschadigungen vollstandig internalisiert sind, kritisch zu fragen, ob eine Stimulierung des Wirtschaftswachstums unbedingt wohlfahrtserhohend wirken wird. In diesem Falle ware die beim Umstieg vom UV zum KDV zu erwartende Wachstumsbelebung nicht einmal wiinschenswert. Klar ist aber, dass die Schaffung neuer produktiver Arbeitsplatze zusatzliche Kapitalbildung erfordert. Allerdings folgt daraus noch lange nicht, dass zu geringes Sparen die einzige Ursache fur eine unzureichende Realkapitalbildung darstellt bzw. dass durch verstarktes Sparen die erwtinschte Realkapitalbildung tatsachlich eintritt. Dazu braucht es positive Investitionsanreize und Innovationschancen sowie ganz allgemeine positive Gewinnerwartungen seitens der investierenden Unternehmen. Ein wichtiger Faktor fur die Zukunftserwartungen ist die antizipierte Nachfrage nach Glitern und Dienstleistungen. Fasst man diesen Zusammenhang ins Auge, so wird sogar denkbar, dass der Ubergang zu einem KDV kontraproduktiv im Hinblick auf die angestrebte Forderung des Wirtschaftswachstums wirken kann. Wie wir zuvor durch eine Modellbetrachrung zuvor gesehen haben, ist beim Ubergang vom UV zum KDV ja mit einer Erhohung der individuellen Ersparnis und somit eben einer Verminderung des Konsums zu rechnen. Wenn iiberdies in einem KDV die Kapitalmarktrisiken (etwa durch staatliche Garantien) nicht wirksam aufgefangen werden, ist es denkbar, dass die Individuen der Gefahr, bei unvorteilhafter Entwicklung der Kapitalmarkte im Alter zu verarmen, durch eine Erhohung der Ersparnis zu begegnen versuchen. Was das Kapitalangebot angeht, ist ein solches „Angstsparen" sicher vorteilhaft, jedoch geht gleichzeitig die aktuelle Konsumnachfrage weiter zurtick, was die Erwartungen der Unternehmen negativ beeinflussen kann. Moglicherweise ftihren dann die Individuen durch ihre Zuruckhaltung beim Konsum kollektiv genau die Abschwachung des Wirtschaftswachstums herbei, gegen dessen Auswirkungen sie sich individuell gerade schutzen wollen. (Teilweise wird das niedrige Wirtschaftswachstum Japans in den 1990er Jahren durch ein solches UbermaB an Vorsorgesparen erklart.) Schon durch dieses Argument ergibt sich, dass man im KDV kein Allheilmittel zur Losung aller Rentenprobleme sehen darf. Wenn es durch Kombination mit anderen wirtschaftspolitischen Reformen (Flexibilisierung des Arbeitsmarks, Stimulierung von Neugriindungen im Unternehmensbereich) gelingt, durch einen Systemwechsel vom UV zum KDV das Wachstumstempo zu steigern, lassen sich auf diesem Wege auch Verteilungskonflikte entscharfen. Bei einem groBer werdenden „Kuchen" konnen die Anspruche der verschiedenen Gruppen leichter befriedigt werden. Im Hinblick auf den die Bemuhungen um eine Reform des Alterssicherungssystems pragenden Verteilungskonflikt zwischen (jungen) Beitragszahlern und (alten) Rentnern scheint die Forderung des Wirtschaftswachstums gerade in einer alternden Gesellschaft deshalb besonders wichtig zu sein.
148
5 Rentenversicherung Folgerung 5.7: 1st der Zinssatz hoher als die Wachstumsrate, so gibt es keine Effizienzgrtinde dafur, ein bestehendes umlagefinanziertes Rentensystem abzubauen. Damit wtirde vielmehr zum einen eine Umverteilung zu Gunsten zuklinftig lebender Generationen bewirkt, zum anderen wtirde die Alterssicherung des Einzelnen auf mehrere Saulen gestellt und damit gegentiber Schwankungen der Faktorpreise besser geschiitzt.
5.4 Die Begriindung von staatlichem Zwang in der Alterssicherung 5.4.1 Haufig vorgebrachte Begriindungen Eine Vorsorge fur das Alter, d.h. fur die Ruhestandsphase ohne Erwerbseinkommen, ist fur die Individuen durch privates Sparen moglich. Rationale Individuen wtirden sich auch ohne staatliche Eingriffe flir ein solches Vorsorgesparen entscheiden. Wir wollen jetzt erortern, welche Grtinde dennoch daflir sprechen konnen, dass der Staat im Bereich der Altersvorsorge aktiv wird und die Individuen etwa zur Zahlung von Beitragen in eine Gesetzliche Rentenversicherung zwingt. Ziel des Vorsorgesparens ist die Aufrechterhaltung des in der Erwerbsphase erreichten Lebensstandards auch im Alter oder zumindest die Vermeidung von Altersarmut Dabei ergeben sich jedoch einige Risiken: Die Lebenserwartung eines einzelnen Individuums ist unsicher - es weiB also uberhaupt nicht, welchen Betrag es anzusparen hat, um sein Sparziel zu erreichen. Zu diesem individuellen Risiko treten kollektive Risiken. Sowohl die Zins- als auch die Preisentwicklung sind nicht genau prognostizierbar, was insbesondere bei den langen Zeitraumen, um die es bei der Altersvorsorge geht, erhebliche Probleme schafft. Ein staatlich organisiertes System, das jedem Individuum flir seine gesamte Ruhestandsphase ein von den Fluktuationen des Kapitalmarkts unabhangiges Realeinkommen garantiert, erscheint insbesondere zur Vermeidung des Inflationsrisikos aus dieser Perspektive attraktiv. Allerdings gibt es - etwa in Form inflationsangepasster Leibrenten (die genau bis zum Ende des Lebens allmonatlich einen bestimmten Rentenbetrag ausschiitten) auch private Formen der Altersvorsorge, durch die diese Risiken aufgefangen werden konnen. Zur Rechtfertigung der (in Deutschland) ziemlich weitgehenden Staatseingriffe in den Bereich der Altersvorsorge - insbesondere der ausgedehnten Versicherungspflicht - muss man also nach anderen Griinden suchen. In diesem Zusammenhang fragen wir zunachst danach, ob im Bereich der Alterssicherung ein „Versagen" der entsprechenden privaten Versicherungsmarkte zu erwarten ist, wie wir es in ahnlicher Form bei der Krankenversicherung kennen gelernt haben. Das Vorliegen von Verhaltensrisiko („Moral Hazard") kann, wie in Kapitel 4 ausgeflihrt wurde, keine triftige Begriindung flir staatlichen Zwang sein. Zudem ist es fraglich, ob ein Verhaltensrisiko im Bereich der Altersvorsorge uberhaupt realistisch ist. Es wtirde namlich bedeuten, dass ein Individuum deswegen gesunder
5.4 Die Begriindung von staatlichem Zwang in der Alterssicherung
149
lebt, weil es moglichst lange in den Genuss einer Rentenzahlung kommen mochte. Allerdings besteht durchaus die Gefahr, dass Individuen versuchen werden, frtih in Rente zu gehen, wenn dies zu gunstigen Bedingungen moglich ist. Auch dies ist eine Form von Verhaltensrisiko, die aber wegen der Voraussetzung der „gtinstigen Bedingungen" ebenfalls eher bei staatlichen Rentensystemen als bei privaten Leibrentenvertragen anzunehmen ist (vgl dazu Abschnitt 5.6). Adverse Selektion stellt jedoch prinzipiell ein Problem dar, welches eine private Altersvorsorge entscheidend behindern konnte. „Gute Risiken" sind hier (aus der Sicht der Versicherungsunternehmen) solche, die eine geringere Lebenserwartung aufweisen. Falls die Individuen z.B. auf Grund ihrer Lebensweise (oder auch einer medizinischen Untersuchung) tiber bessere Informationen hinsichtlich ihrer eigene Lebenserwartung verfugen als ein Versicherungsunternehmen, so ist es plausibel, dass sich Individuen mit hoher Lebenserwartung eher fur Leibrenten-Kontrakte entscheiden und dabei groBere monatliche Zahlungen vereinbaren als der Durchschnitt der Bevolkerung. Empirische Untersuchungen aus Landern wie GroBbritannien, in denen private Leibrentenvertrage eine groBere Rolle spielen, zeigen, dass die Lebenserwartung der Bevolkerungsgruppe, die einen Leibrentenvertrag besitzt, um ca. 10 Prozent hoher ist als die der Nicht-Versicherten. Andererseits wurde in Abschnitt 4.4 ausgefuhrt, dass Adverse Selektion nur unter sehr eingeschrankten Voraussetzungen eine Begriindung fur staatlichen Versicherungszwang liefern kann. Vielfach wird in einem staatlichen Vorsorgezwang zur Alterssicherung eine Vorkehrung gegen die irrationale Kurzsichtigkeit von Individuen gesehen. Obwohl Individuen wissen, dass sie auch in spateren Perioden materielle Bedtirfhisse haben, geben sie bei ihrem Ausgabeverhalten doch den aktuellen Bediirfiiissen den Vorzug. Die Individuen vernachlassigen die Zukunft zugunsten der Gegenwart: Sie geben zuviel aus und sparen zu wenig. Die Individuen, die sich der Schwache ihrer Vorstellungskraft und ihres Willens bewusst sind, praferieren dann eine (Selbst)Bindung durch einen externen Akteur, hier den Staat. Aus der Sicht der okonomischen Theorie mit ihrer Vorstellung eines rational kalkulierenden Homo Oeconomicus erscheint dieser Begrtindungsansatz aber nicht allzu (iberzeugend. Insbesondere kann gefragt werden, weshalb die Individuen als Stimmburger, die zumindest indirekt tiber einen entsprechenden staatlichen Vorsorgezwang entscheiden, weitsichtiger handeln sollten als bei ihrer individuellen Sparentscheidung.
5.4.2 Altersvorsorge und intergenerativer Altruismus Es verbleibt ein Argument, das bei Okonomen eine wesentlich breitere Zustimmung findet: Ohne staatlichen Versicherungszwang ware es Individuen, die nicht fur ihre Ruhestandsphase vorsorgen, moglich, sich bei der Altersversorgung auf die staatliche Grundabsicherung (die Sozialhilfe) zu verlassen. Individuen, die in dieser Weise als Trittbrettfahrer handeln, konnten ihr ganzes in ihrer Erwerbsphase erzieltes Einkommen konsumieren, und mtissten doch nicht auf eine Grundabsicherung im Alter verzichten. Benachteiligt wurden hingegen die Individuen, die
150
5 Rentenversicherung
in ihrer Erwerbsphase auf Konsum verzichtet und einen Teil ihres Einkommens fur den Ruhestand zur Seite gelegt haben. Man kann leicht Beispiele konstruieren, in denen der „Verschwender" liber den gesamten Lebenszyklus hinweg betrachtet dann deutlich besser gestellt ware als der Sparsame, Dies erscheint nicht nur ungerecht, sondern ist auch mit negativen Effizienzwirkungen verbunden. Da zum einen ein Teil des privaten Vorsorgesparens (wegen der Verrechnung der Sparbetrage mit der Sozialhilfe) den einzelnen Individuen keinen Nutzen bringt, werden die Sparanreize vermindert. Zum anderen sind die Sozialhilfezahlungen, die ftir die Individuen erforderlich werden, die nicht in ausreichendem MaBe selber vorgesorgt haben, aus dem Steueraufkommen zu finanzieren. Zur Steuererhebung dienen ublicherweise Steuern (wie die personliche Einkommensteuer, die Korperschaftsteuer und diverse Verbrauchsteuern), die mit Zusatzlasten verbunden sind. Wenn man also Sozialhilfeleistungen durch Einfuhrung eines separaten Alterssicherungssystems vermeiden kann, verbindet sich damit auch die Hofmung, Zusatzlasten der Besteuerung in entsprechendem Umfang zu vermindern. Letztlich lauft das Argument der Verhinderung von Trittbrettfahrerverhalten auf die Annahme hinaus, dass die nachfolgende Generation ihren Eltern gegentiber altruistisch eingestellt ist, denn sonst wtirde sie einen Sozialhilfeanspruch im Alter nicht anerkennen. Das im Folgende zu untersuchende Modell setzt demnach die Existenz einer Sozialhilfe nicht einfach voraus, sondern untersucht, ob Versicherungszwang bei Vorliegen von Altruismus Effizienzgewinne verspricht. 5.4.2.1 Das Grundmodell Altruismus gegeniiber den Eltern als Handlungsmotiv bedeutet, dass das eigene Wohlbefmden (hier der Jungen) sinkt, wenn sie andere (hier die Alten) leiden sehen. In die Sprache der Mikrookonomik besagt dies, dass die Mitglieder einer Generation t nicht nur Nutzen aus Ihrem Konsum c*p und c^\ in den beiden Lebensabschnitten ziehen, sondern auch aus dem Konsumniveau c p \ das die Angehorigen der Vorgangergeneration in ihrer Altersphase haben. Die Nutzenfunktion eines reprasentativen Individuums aus Generation / hat also insgesamt drei Argumente und lautet in allgemeiner Form
U,=u():
(5-40)
Diese Nutzenfunktion ist jedem beteiligten Individuum, also auch insbesondere den Angehorigen der jeweiligen Elterngeneration bekannt. Wir betrachten eine kleine offene Volkswirtschaft, in der sowohl der Lohnsatz w als auch der Zinssatz r exogen gegeben und im Zeitablauf konstant sind. Ferner soil sich die Bevolkerungsentwicklung auf einem Steady-State-Pfad mit konstanter Wachstumsrate n befmden. Auf eine Zeitindexierung dieser Variablen konnen wir deshalb verzichten. In der auf diese Weise beschriebenen Situation trifft jede Generation t in ihrer Erwerbsphase eine Entscheidung uber zwei Aktionsparameter.
5.4 Die Begriindung von staatlichem Zwang in der Alterssicherung
151
1. die Hohe ihrer (nicht-negativen) Pro-Kopf-Ersparnis st, durch die sie selber fur ihren eigenen Lebensabend vorsorgt, 2. die Hohe Zt der von einem Angehorigen der Generation t geleisteten Zuwendungen an die Elterngeneration. Fur die Pro-Kopf-Konsumniveaus von Generation t in beiden Perioden ergibt sich dann cV=w-st-Z,
(5-41)
c<2=(l + r)-*,+(l + /i).Z /+1 ,
(5-42)
und der Konsum der Eltern (Generation t -1) in ihrem Ruhestand lautet analog zu (5.42): c\2) = (1 + r) • st_x + (1 + w) • Z,.
( 5 - 43 )
Wir betrachten jetzt zunachst den Fall, in dem es keinerlei staatlichen Zwang zum Vorsorgesparen gibt und somit jede Generation auf rein freiwilliger Basis handelt. Das Ziel unserer Uberlegungen ist die Bestimmung einer intertemporalen Gleichgewichtsallokation, in der jede Generation t unter Beracksichtigung der Aktionen der anderen Generation ihre Handlungsparameter st und Zt in einer fur sie nutzenmaximierenden Weise wahlt. Um die Analyse zu vereinfachen und das Gleichgewicht konkret berechnen zu konnen, verwenden wir eine spezielle Nutzenfunktion der Gestalt Ut = a • In c,(1) + fi • In c%\ + y - In c\2).
(5.44)
Dabei wird zusatzlich angenommen, dass a-(l + «)>/?-(l + r ) > ^ - ( l + «)
(5.45)
gilt. Die erste Ungleichung in (5.45) bedeutet, dass der Zeitdiskontierungsfaktor fur den eigenen Konsum, a/j3 , groBer ist als das Verhaltnis von Zinsfaktor und Bevolkerungswachstum, (l + r)/(l + ft). Die zweite sagt aus, dass bei gleichem Pro-Kopf-Konsum der eigenen und der Elterngeneration im Alter, also bei c^j = c\2' = c^2', ein zusatzlicher Euro Ersparnis einen groBeren Nutzen stiftet als ein zusatzlicher Euro Schenkung an die Eltern. In der ersten Ungleichung kommt also ein gewisses MaB an Gegenwartsvorliebe zum Ausdruck und in der zweiten wird das AusmaB des Altruismus begrenzt. Das in dieser Situation existierende und eindeutig bestimmte intertemporale Allokationsgleichgewicht weist eine hochst einfache Struktur auf: Keine Generation ist zum freiwilligen Sparen bereit, sondern jede verlasst sich stattdessen auf den Altruismus ihrer Nachfolger und die dadurch bewirkten Schenkungen. In der im Modell beschriebenen intergenerativen Interaktion zieht es jede Generation also
152
5 Rentenversicherung
vor, andere fllr ihre Existenzsicherung sorgen zu lassen und - durch Ausbeutung der Nachstenliebe ihrer Nachfolger - in gewissem Sinne als Trittbrettfahrer zu handeln. Wie diese Freiwilligkeits-Losung zustande kommt, wollen wir jetzt im Einzelnen zeigen.2 Zu diesem Zweck betrachten wir eine beliebige Generation t, die sich tiberlegt, welche Pro-Kopf-Ersparnis st sie wahlen soil. Dabei wird sie die von dieser Entscheidung bewirkten Reaktionen der anderen Generationen in Rechnung stellen. Wenn wir den Nutzen von Generation / in (5.40) und ihre Budgetbeschrankungen (5.41) und (5.42) betrachten, zeigt sich, dass in diesem Zusammenhang nur die Verhaltensreaktion der direkten Nachfolgegeneration t + \ eine Rolle spielen kann. Es ist also zunachst zu klaren, wie Generation t +1 auf die Vorgabe eines bestimmten Wertes von st durch Generation t reagiert. Die fur das gegebene st von Generation t +1 gewahlten Aktionsparameter bezeichnen wir mit Zt+l und st+l. Obwohl dies im Endeffekt keine Bedeutung hat, muss im Prinzip auch ein moglicher Effekt der Wahl von st auf die Zuwendung von Generation f + 2 an Generation t +1 berticksichtigt werden. Den sich dabei einstellenden Wert nennen wir Zt+2. GemaB (5.41) bis (5.43) betragt der Nutzen eines Angehorigen der Generation t + l, wenn st von Generation / gewahlt worden ist, dann ^+i
=a,ln
( w - J / + i - ^ + i ) + f h K l + O ^ i +( 1 + w )Z/ + 2) (5.46)
+ r-la((l + r)sl+{\ + n)Zl+l) Weil st fur Generation / + 1 annahmegemaB gegeben ist und die Wahl von Zt+l keine Auswirkung auf Generation t + 2 und somit auf die Wahl von Zt+2 = Z /+2 haben kann, maximiert Z/+1 den Nutzenausdruck (5.46) flir gegebene Werte st, st+l und Zt+2, so dass Z/+1 im Falle einer inneren Losung der folgenden Marginalbedingung gentigt:
dZt+l
w-st+l-Zt+l
(l + r ) ^ + ( l + /i)Z /+1
'
(5 47)
'
Daraus folgt eine explizite Darstellung von Z/+j *.
2
In der Sprache der Spieltheorie handelt es sich um ein sequenzielles Spiel, in dem die Spieler in einer bestimmten Reihenfolge ihre Ziige tatigen, namlich gemafi der Zeitperiode, in der sie im Erwerbsalter sind. Ein bekanntes Beispiel fur ein sequenzielles Spiel ist die Oligopoltheorie von Stackelberg. Daher nennt man das Gleichgewicht eines solchen Spiels auch „Stackelberg-Gleichgewicht".
5.4 Die Begriindung von staatlichem Zwang in der Alterssicherung 153
ZM =^iw-^\)-^~st • (5.48) cc + Y a + Y l+ w Nach diesen Voruberlegungen gehen wir jetzt von einem Steady State aus, in dem jede Generation keinerlei Ersparnis tatigt. Die Gleichung (5.48) liefert dann wegen st+l =st = 0 , dass in diesem speziellen Fall die intergenerativen Pro-KopfTransfers fur alle Generationen den einheitlichen Wert Z*=-^—w a +Y
(5.49)
aufweisen. Wenn Generation t sich einseitig (und in vollkommener Kenntnis der Anpassungsreaktionen der Nachfolgegeneration) fur ein positives st entscheidet, folgt ebenfalls aus Gleichung (5.48), dass sich der von Generation M-l erhaltene intergenerative Transfer gegenuber der Losung ohne Ersparnisse vermindert und maximal (fur den hypothetischen Wert st+x = 0) dann noch Zt+i (st) := -^—w — ~ s t (5.50) a+Y a+Y^+n betragt. AuBerdem reduziert sie ihren eigenen Transfer an die Elterngeneration gemaB (5.48) auf Zt
=-¥—(wt-st). a +Y
Hierbei ist berucksichtigt, dass im urspriinglichen Steady State die VorgangerGeneration nicht gespart hat (^_i = 0). Somit berechnet sich der Nutzen von Generation t durch a-\n\-^(w-s^
(5.51)
Unsere Argumentation ist abgeschlossen, wenn wir wissen, dass der Nutzen in (5.51) in st strikt fallt. Dazu berechnet man die Ableitung von (5.51) nach st, die unter Verwendung von (5.50) nach einigen elementaren Umformungen dUt _ ds
t
a -JL.(W-S) a +Y
P(\ + r)l(\ + n) w + st(l + r)/(l + n)
(5.52)
lautet, Dieser Ausdruck ist sicher negativ, weil wegen der Annahme (5.44) bzw. \ +r der Zahler des ersten Summanden betragsmalMg groBer als der Zaha> p \+n
154
5 Rentenversicherung
ler des zweiten Summanden ist und der Nenner des ersten Summanden kleiner als w, der des zweiten Summanden jedoch groBer als w ist. Also ist bestatigt, dass es sich aufgrund des Altruismus ihrer Nachfolger fur keine Generation lohnt, von sich aus vom Zustand des allseitigen Nichtsparens abzuweichen und eine positive Ersparnis zu tatigen. Dies hatte ja nur den Effekt, dass die nachste Generation ihre Zuwendungen in starkem MaBe reduziert. Die auf diese Weise erreichte Stackelberg-Gleichgewichtslosung ^
= 0? Z* =
_Z_.W9 oc + y
c (i)* =
_ i L _ . w ? c(2)* = _X_.(i + ^ ) . w a+y a+y
(5.53)
ist jedoch nicht effizient. Es kommt also hier zu einer Divergenz zwischen individueller und kollektiver Rationalitat. Dies erkennt man, wenn man zum Vergleich die optimale Steady-State-Allokation ermittelt, die man erhalt, wenn man die Nutzenfunktion (5.40) bei Gleichsetzung von cf\ mit c$2\ also C/ = t/(c (1) ,c (2) , C (2) ) = a - l n c ( 1 ) + ( ^ + r)-lnc ( 2 )
(5-54)
maximiert und dabei die gesamtwirtschaflliche Ressourcenbeschrankung als Nebenbedingung beaehtet. Unterstellt man dabei, dass r > n gilt, so lautet diese:3 c(2)=(l + r ) . ( W - c m ) .
(5-55)
Einsetzen von (5.55) in (5.55) ergibt / 7 = a - l n c ( 1 ) + ( ^ + ^/)-ln[(l + r)-(w-c ( 1 ) )]
( 5 - 56 )
mit der notwendigen Bedingung erster Ordnung fur ein Optimum: dU _ a 9c 0) C(D
p+y _ W C (D
=Q>
(557)
woraus sich folgende Losungswerte ergeben: + c(Do = _ ^ — w > c (2)c = fi+r . a+r) . w> so= P r .Wi z ° a + ft + y a+p+y a + /3 + y
= o.(5.58)
Ein Vergleich der Werte im Stackelberg-Gleichgewicht (5.53) mit diesen Werten im Wohlfahrtsoptimum ergibt unter anderem c(1)* > c^°und c ( 2 ) *< 2 ) °, d.h. es wird in der Aktivenphase zu viel und in der Rentenphase zu wenig konsumiert, weil der Effekt des Konsums im Rentenalter auf den Nutzen der nachsten Generation, ein „positiver externer Effekt", von den nutzenmaximierenden Individuen vernachlassigt wird. Zudem fehlt der Anreiz zum Sparen ganz und gar, weil Sparen die spater zu erwartenden Transfers schmalern wiirde.
Im Falle von n > r muss in den Optimalbedingungen lediglich r durch n ersetzt werden.
5.4 Die Begriindung von staatlichem Zwang in der Alterssicherung
155
Aus der Abweichung des Gleichgewichts bei freiwilligem Handeln der Individuen vom gesellschaftlichen Optimum lasst sich ableiten, dass kapitalgedecktes Zwangssparen unter den getroffenen Annahmen wohlfahrtserhohend ist. Analog dazu lasst sich zeigen, dass auch fur den Fall r < n das gesellschaftliche Optimum nicht mit dem Stackelberg-Gleichgewicht in (5.53) ubereinstimmt. In diesem Falle ist zwar das Umlageverfahren die optimale Finanzierungsform, der Transfer von Jung zu Alt ist jedoch im Optimum holier als in der freiwilligen Losung, so dass auch in diesem (weniger realistischen) Fall staatlicher Zwang zur Teilnahme an einem umlagefinanzierten Rentensystem begrtindet ist. Folgerung 5.8: Ist die junge Generation gegentiber der alten altruistisch I eingestellt, so wird diese es unterlassen, fur ihr Alter durch Sparen vorzusorgen, um im Alter einen moglichst groBen Transfer zu erhalten. Ist der I Zinssatz hoher als die Wachstumsrate, so fuhrt unter diesen Annahmen ein I Zwangssparen zu einer hoheren Steady-State-Wohlfahrt. Ist die Wachs-1 tumsrate hoher als der Zinssatz, so ergibt sich ein Effizienzgewinn durch I ein umlagefmanziertes Rentensystem mit Zwangsmitgliedschaft. I
5.4.2.2 Versicherungszwang undArbeitsanreize Das im vorangegangenen Abschnitt abgeleitete Ergebnis, dass Zwangssparen wohlfahrtserhohend sei, ist jedoch in der Literatur nicht unwidersprochen geblieben, denn das Modell ignoriert die Tatsache, dass die Beitrage zu einem obligatorischen Rentensystem nicht als Pauschalsteuern erhoben werden konnen. Werden sie jedoch - wie in der Realitat (iblich - als proportionale Abgaben auf das Arbeitseinkommen eingezogen, so sind mit ihnen negative Arbeitsanreize verbunden, die sich - vor allem in Kombination mit einer bedurftigkeitsgepruften Sozialhilfe - negativ auf das Arbeitsangebot auswirken konnten. Berticksichtigt man diesen negativen Effekt, so ist eine positive Wirkung des Zwangssparens auf die gesellschaftliche Wohlfahrt nicht mehr gesichert. Dazu betrachten wir die gegentiber (5.44) leicht modifizierte (und entlogarithmierte) Nutzenfunktion t/,=c«.c«.(4-/,),
(5-59)
wobei lt das Arbeitsangebot bezeichnet, das nur die Werte 0 und 1 annehmen kann.4 Jedes Individuum / sei durch seine Arbeitsproduktivitat wf (0 < wt < w max ) charakterisiert, die gleichzeitig seinen Lohnsatz misst. Von seinem Einkommen in der Erwerbsphase konne das Individuum eine Ersparnis st > 0 abzweigen und zum Marktzinssatz r fur die Altersversorgung anlegen. Altruismus kommt in diesem Modell dadurch zum Ausdruck, dass der Staat eine bedurftigkeitsgeprufte So-
Die Zahl 4 in der Nutzenfunktion ist eine willkiirliche Setzung und hat keine streng okonomische Interpretation.
156
5 Rentenversicherung
zialhilfe in Hohe von y anbiete, d.h. jede Person im Erwerbsalter mit einem Einkommen unter y undjeder Rentner mit einer Ersparnis unter y erhalten den Unterschiedsbetrag zu y als Transfer ausgezahlt. Zur Finanzierung dieses Transfers erhebt der Staat eine Lohnsteuer mit dem Steuersatz r. Zusatzlich kann er die Bezieher von Arbeitseinkommen zwingen, den Anteil b ftir die Altersvorsorge zu sparen. Es ist im Folgenden zu untersuchen, ob ein solcher Sparzwang wohlfahrtserhohend ist. Die Budgetgleichungen einer Person mit der Produktivitat wf in den beiden Lebensabschnitten lauten: cll) =max{wil((l-b-T),y}-st
( 5 - 60 ) ( 5 - 61 )
c ^ ^ m a x j a + O-C^+Aw^Vj)}.
Jedes Individuum hat in der Erwerbsphase vier verschiedene Handlungsmoglichkeiten: 1. 2. 3. 4.
arbeiten und sparen, arbeiten, aber nicht sparen, weder arbeiten noch sparen, nicht arbeiten, aber sparen.
Die 4. Option kann jedoch niemals optimal sein, weil der Konsumverzicht in Periode 1 unmittelbar zu einer Verringerung des Transfers in Periode 2 fiihren wurde. Option I): Maximierung von (5.59) unter den Nebenbedingungen (5.60) und (5.61) sowie lt = 1 ergibt unter der Annahme st > 0 optimale Werte fur den'Konsum
in
beiden
Lebensabschnitten
von
c^1 = wt: • (1 - r) / 2
und
7
cflj = (1 + r) - wi: • (1 - r) 12 und folglich einen maximalen Nutzen von
£/;=2.(l+>).W/2.(l-tf,
(5.62)
der unabhangig von b ist, da jede Zwangsersparnis (sofern sie geringer ist als die freiwillig geplante Ersparnis) durch Reduzierung der freiwilligen Ersparnis konterkariert werden kann. Option 2): Setzt man lt = 1 und st = 0 in die Budgetgleichungen (5.60) und (5.61) ein, so ergibt sich fur hinreichend geringe Werte von b: n = w.. (l - b - T) und cjl\n = y sowie cf) Uj1 =3-y.wr(l-b-T)9 der Rentenbeitrag wirkt also in vollem Umfang wie eine Steuer.
( 5 - 63 )
5.4 Die Begrundung von staatlichem Zwang in der Alterssicherung
157
Option 3): Setzt man schlieBlich /, = 0 und st = 0 in die Budgetgleichungen (5.60) und (5.61) ein, so ergibt sich c\X)m = c^"1 = j> und Ul"=4y2.
(5-64)
Aus den drei so berechneten maximalen Nutzenwerten lasst sich die optimale Strategie beztiglich Arbeitsangebot und Ersparnis in Abhangigkeit von der Produktivitat wt ermitteln: Strategie 1) ist bei hohem individuellem Lohnsatz optimal, denn die Ungleichung UJ > UJ1 ist genau dann erfUllt, wenn j
4j).(l-6-r) (l + r ) . ( l - r ) 2
(5.65)
gilt. Ferner ist Strategie 3) bei sehr niedriger Produktivitat optimal, denn die Ungleichung UJ11 > U1/ ist Equivalent zu 4j> Wi < W
(5.66)
3-(l-6-r)
In alien anderen Fallen, also bei w11 < wt < w1, ist die Strategie 2) optimal, also das Verhalten des „rationalen Verschwendens", bei dem das Individuum zwar arbeitet, aber nicht spart, sondern sich darauf verlasst, im Alter von der Sozialhilfe zu leben.
Ull(b = 0)
Abb. 5-4: Maximal erreichbarer Nutzen in Abhangigkeit von der Produktivitat
158
5 Rentenversicherung
Abb. 5-4 stellt den maximal erreichbaren Nutzen in alien drei Strategien in Abhangigkeit von der Produktivitat w7 fur b = 0 dar. Dabei stellt die Parabel die Nutzenkurve U1 (wf) und die Horizontale den konstanten Wert UIU dar. Beide sind, wie man an (5.62) bzw. (5.64) erkennt, vom Rentenversicherungsbeitrag b unabhangig. Die ebenfalls eingezeichnete Gerade stellt Un(wf) flir den Grenzfall b = 0 dar. Man erkennt an (5.63), dass eine Erhohung von b eine Drehung der Geraden im Nullpunkt bewirkt, d.h. die Gerade wird flacher. Mit der Einfiihrung eines Zwangssparbeitrags sind also zwei Effekte verbunden: 1. Die Lohngrenze w1 sinkt, wie man auch an (5.65) erkennt, d.h. die Gruppe der Sparer wird grofter, und 2. die Lohngrenze w11 steigt, wie (5.66) deutlich macht, d.h. die Gruppe der freiwillig Arbeitslosen wird ebenfalls groBer. Daraus folgt, dass zwar die Sozialhilfeausgaben in der zweiten Lebensperiode sinken, diejenigen in der ersten jedoch steigen. Somit ist auch der Effekt der Einfiihrung von Zwangssparen auf die Hohe des zum Budgetausgleich erforderlichen Steuersatzes r nicht eindeutig, sondern er hangt von der Verteilung der Arbeitsproduktivitaten und auch von der Hohe des Beitrags b ab. Allgemeine Aussagen sind auch deshalb schwierig, weil die staatliche Budgetrestriktion in nicht-linearer Weise von den Fiskalparametern y , b und rabhangt. Sie lautet namlich J
yaw + J
dw-b- \ n wdw = r • I n
waw .
(5.67)
Darin bezeichnet der erste Term die Sozialhilfeausgaben an Personen im Erwerbsalter, der zweite die abdiskontierten Sozialhilfeausgaben an Rentner, der dritte Term die davon abzuziehenden Zwangssparbeitrage und der vierte das Einkommensteueraufkommen. Die Gleichung ist nicht einfach zu losen, weil auch die Integrationsgrenzen nach (5.65) und (5.66) von den Fiskalparametern abhangen. Es lassen sich jedoch numerische Beispiele konstruieren, in denen es zumindest moglich ist, dass sich Zwangssparen negativ auf die Wohlfahrt im Paretianischen Sinne auswirkt (vgl. dazu Ubungsaufgabe 5.6). Folgerung 5.9: Sind Pauschalsteuern nicht verfligbar, so kann ein Zwangssparen fur eine Person mit geringer Produktivitat wie eine Steuer wirken und damit ihre Arbeitsanreize schmalern. Dadurch kann sich die Finanzierung des Transfersystems insgesamt so stark verteuern, dass im Ergebnis eine Pareto-Verschlechterung gegentiber der Situation ohne Zwangssparen eintritt.
5.5 Rentenversicherung und Bildungsinvestitionen
159
5.5 Rentenversicherung und Bildungsinvestitionen Die Gestaltung einer umlagefinanzierten Rentenversicherung kann Auswirkungen auf die Geburtenentscheidungen potenzieller Eltern haben (vgl. dazu Kap. 8). Ein Kind in die Welt zu setzen, lasst sich aus okonomischer Sicht als eine spezifische Humankapital-Investition ansehen. Eine weitere Humankapital-Investition besteht darin, dem Kind eine Ausbildung zukommen zu lassen, die seine zukunftige Produktivitat steigert. Im Folgenden wollen wir zeigen, dass auch diese Form von Humankapital-Investitionen, soweit sie von den eigenen Eltern bzw. von der Generation der Eltern getatigt werden, von der Existenz und die Gestaltung einer umlagefinanzierten Rentenversicherung beeinflusst werden kann. Wir betrachten dazu ein extrem einfaches Zwei-Perioden-Modell, in dem es nur zwei Personen gibt, namlich eine Mutter und ihre Tochter. Die Mutter habe in Periode 1 ein exogenes Einkommen von W und konne dies fur drei Verwendungszwecke ausgeben: • Konsum in Periode 1, c^\ • Konsum in Periode 2, c ( 2 ) , • Investitionen in die Bildung der Tochter, h. Der Zinssatz sei null, und die Mutter sei nicht altruistisch und bewerte ihren eigenen Konsumstrom mit der Nutzenfunktion U{c^, c^). Das Einkommen der Tochter in Periode 2 sei mit w bezeichnet und hange von der Hohe der Humankapital-Investitionen h ab: w = w(h), w \h) > 0, w"(h) < 0, lim w\h) = oo, lim w \h) = 0 .
(5.68)
Die Tochter konsumiere in Periode 2 c Konsumguteinheiten und ziehe daraus den Nutzen v(c). Wie viel soil die Mutter in die Bildung ihrer Tochter investieren? Wir bestimmen dazu zunachst das Pareto-optimale Niveau dieser Investition, indem wir den Nutzen der Mutter unter zwei Nebenbedingungen maximieren, namlich der aggregierten Budgetrestriktion der Familie, W + w(h) = c{l) + c{2) +c + h
( 5 - 69 )
und der Bedingung, dass der Nutzen der Tochter ein bestimmtes Mindestniveau v nicht unterschreitet. Daher lautet die Lagrange-Funktion: U(c{l),c^)
+ A v(c)-v \ + jU-\W + w(h)-cil)-c{2)-c-
(5.70) '
und die Bedingungen erster Ordnung fur eine Pareto-optimale Allokation (c (1) V (2) *,c* 5 /**) sind
160
5 Rentenversicherung
d£/(c (1) *,c (2) *)
d£/(c(1)*,c(2)*)
— ^ r — ^ — ^ ^ -
„ (
u
^
( 5 - 71 )
c * )
wf(A*) = l,
(5.72)
Gleichung (5.72) stellt eine typische Arbitrage-Bedingung dar, die besagt, dass im Optimum der Grenzertrag einer Investition in das Humankapital der Tochter gerade gleich dem Zinsfaktor sein muss, weil damit der Barwert des Familieneinkommens maximiert wird. Im Folgenden gehen wir davon aus, dass in der optimalen Losung w(h*) > c * gilt. Durch welche Institution konnte nun sicher gestellt werden, dass die nichtaltruistische Mutter freiwillig das richtige Niveau h* der Investition ins Humankapital ihrer Tochter wahlt? Die Mutter ist namlich annahmegemaB nur an ihrem eigenen Konsum interessiert und maximiert ihren Nutzen u unter ihrer Budgetrestriktion W=cW+c™+h,
(5-73)
so dass sieohne spezielle Anreize eine Investition von null wahlen wtirde. Eine theoretische Moglichkeit, der Mutter die richtigen Anreize zu vermitteln, besttinde in einem Vertrag zwischen Mutter und Tochter, der in Periode 1 geschlossen wird und in dem sich die Tochter verpflichtet, aus ihrem Einkommen in Periode 2 eine Zahlung an die Mutter zu leisten, die von der Hohe der Bildungsausgaben der Mutter wie folgt abhangt: fw(A*)-c*,fellsA = A* 0 sonst. [
(5.74)
Ein solcher Vertrag kann jedoch in der Realitat nicht geschlossen werden, weil ein groBer Teil der Bildungsausgaben bereits in einem Alter getatigt werden mussen, in dem die Kinder noch nicht geschaftsfahig sind. Deshalb ware ein solcher Vertrag, der die Tochter zu einer Zahlung an die Mutter verpflichtete, nach unserer Rechtsordnung nicht einklagbar. Eine weitere mogliche Institution ist die Einfflhrung einer umlagefmanzierten Rentenversicherung. Diese verpflichtet die Tochter dazu, aus ihrem Einkommen w einen Beitrag B(w) an die Rentenkasse zu leisten, der ihrer Mutter in Form einer Rente p = B(w) zuflieBt. Damit andert sich die Budgetrestriktion der Mutter zu W + p = W + B[w(h)] = c{l) +c{2) +h
(5-75)
und die Lagrange-Funktion fur ihr individuelles Optimierungskalkiil lautet: L = U^\c^) + M-{w
+
B[w(h)]-cm-c^-h}.
( 5 - 76 )
Die Bedingung erster Ordnung fur die Wahl des nutzenmaximierenden Werts der Bildungsinvestition lautet
5.6 Rentenversicherung und Renteneintritt
B\w)'wXh) = l.
161
(5.77)
Diese Bedingung ist mit der Bedingung fur ein Pareto-optimales Ausgabenniveau, (5.72), genau dann kompatibel, wenn B\w) = 1 gilt. Dies ist fur jeden beliebigen Wert von w erftillt, wenn der Beitrag zur Rentenversicherung die Form B(w) = w-w
(5.78)
annimmt. Dies bedeutet, dass der Rentenversicherungsbeitrag 100 Prozent betragt und der Tochter lediglich ein Freibetrag eingeraumt werden darf. Die abgeleitete „anreizkompatible" Rentenversicherung unterscheidet sich erheblich von der gesetzlichen Rentenversicherung, wie wir sie in Deutschland (und ganz ahnlich in vielen anderen Landern) vorflnden. Insbesondere betragt der Beitragssatz nicht 100 Prozent, sondern liegt eher im Bereich von 20 Prozent. Dies kann damit erklart werden, dass - anders als im hier betrachteten stark vereinfachten Modell - das Einkommen der Kinder nicht nur von der Produktivitat, sondern auch vom Arbeitsangebot abhangt, das negativ auf Sozialabgaben reagiert. Ferner flieBen die Beitrage nicht den eigenen Eltern zu (vgl. hierzu jedoch das Konzept der „Elternrente", das in Abschnitt 8.3.2.2 erortert wird), sondern der gesamten Elterngeneration. Daher gehen von der Existenz einer umlagefinanzierten Rentenversicherung auch weniger Anreize fur die einzelnen Eltern aus, in die Bildung ihrer eigenen Kinder zu investieren, als Anreize fur die gesamte „mittlere" Generation, offentliche, Bildungsausgaben zu untersttitzen und damit die Produktivitat der nachsten Generation zu heben. Folgerung 5.10: Durch eine umlagefinanzierte Rentenversicherung mit festem Beitragssatz ist jede Generation am Arbeitseirikommen ihrer Nachkommen beteiligt und hat daher einen groBeren Anreiz, in deren Bildung zu investieren. Die Rentenversicherung dient damit als Substitut fur Vertrage zwischen Eltern und Kindern liber diese Investitionen, die mangels Geschaftsfahigkeit der Kinder nicht justiziabel sind. Eine optimale Hohe der Bildungsinvestitionen wtirde allerdings voraussetzen, dass die alte Generation den vollen marginalen Ertrag und damit das gesamte Arbeitseinkommen oberhalb eines Freibetrags erhalt.
5.6 Rentenversicherung und Renteneintritt 5.6.1 Einleitung In den bisherigen Abschnitten wurde unterstellt, dass das Renteneintrittsalter von auBen vorgegeben, also eine exogene GroBe ist. Diese Annahme wird nun aufgehoben. Im Folgenden beschaftigen wir uns mit der Frage, wie sich die Ausgestaltung des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung auf die Entscheidung des Einzelnen iiber seinen Eintritt in den Ruhestand auswirkt.
162
5 Rentenversicherung
Hierbei wird angenommen, dass die Beendigung des Arbeitslebens nicht nur von Umstanden abhangt, die einen Renteneintritt erzwingen, wie z.B. eine gesetzlich fixierte Altersgrenze fur den Bezug von Altersruhegeld, sondern dass das Rentenversicherungssystem auch Spielraum fur eine freiwillige, okonomisch motivierte Entscheidung lasst. Mit der Einfuhrung der flexiblen Altersgrenze ist diese Voraussetzung in der Bundesrepublik Deutschland formal seit 1972 erfullt. Aber auch unabhangig hiervon besteht Raum fur individuelle Entscheidungen, und zwar insoweit, als es gelingt, andere Kriterien wie Erwerbsunfahigkeit zu erfullen, die zum vorzeitigen Rentenbezug berechtigen. In Tabelle 5-1 ist dokumentiert, dass in alien acht hier verglichenen EUMitgliedsstaaten in den vergangenen 40 Jahren zwar die Lebenserwartung deutlich gestiegen ist, im Gegensatz dazu jedoch das durchschnittliche Renteneintrittsalter mehr oder weniger stark zuriickging. Die Zahlen zeigen aber auch, dass der Renteneintritt im internationalen Vergleich eine starke Variation aufweist: So wird in Schweden 6-8 Jahre langer gearbeitet als in Belgien. Tabelle 5-1: Entwicklung von Lebenserwartung und Renteneintrittsalter Lebenserwartung 1995-2000 1960-65
Land Zeitraum
durchschnittl. Renteneintrittsalter 1995 1960
Belgien
M F
67,9 73,9
73,8 80,6
63,3 60,8
57,6 54,1
Frankreich
M F
67,6 74,5
74,2 82,0
64,5 65,8
59,2 58,3
Deutschland
M F
67,4 72,9
73,9 80,2
65,2 62,3
60,5 58,4
Irland
M F
68,4 72,3
73,6 79,2
68,1 70,8
63,4 60,1
Italien
M F
67,4 72,6
75,0 81,2
64,5 62,0
60,6 57,2
Spanien
M F
67,9 72,7
74,5 81,5
67,9 68,0
61,4 58,9
Schweden
M F
71,6 75,6
76,3 80,8
66,0 63,4
63,3 62,1
Verein. Konigr
M F
67,9 73,8
74,5 79,8
66,2 62,7
62,7 59,7
Die Zahlen legen die Vermutung nahe, dass die Unterschiede in den Erwerbsquoten auch durch die verschiedenen Sozialversicherungssystems erklart werden konnen. Politische Bedeutung hat die Wahl des Renteneintrittsalters im Zusammenhang mit der stetig steigenden Lebenserwartung und dem bevorstehenden demographischen Wandel, der sich in einem starken Anstieg des Anteils Alterer in der Bevolkerung in den nachsten Jahrzehnten auBern wird. Eine kompensierende Anhebung der Erwerbsquoten im siebten Lebensjahrzehnt wird von vielen Fach-
5.6 Rentenversicherung und Renteneintritt
163
leuten als ein wichtiger Beitrag zur Bewaltigung der damit verbundenen fmanziellen Probleme der Rentenversicherung gesehen (vgl. Abschnitt 9.3.2.1.2). Dieser Gedanke liegt nahe, wenn man die Budgetgleichung der umlagefmanzierten Rentenversicherung in einem bestimmten Rechnungsjahr betrachtet. Diese lautet: Arbeiter x Lohnhohe x Beitragssatz = Rentner x Rentenhohe bzw. wenn man nach dem Beitragssatz auflost: „ . Rentenhohe Rentner n Beitragssatz = x = Rentenniveau* Rentnerquotient Lohnhohe Arbeiter Wenn man an einem niedrigen Beitragssatz und gleichzeitig an einem hohen Rentenniveau interessiert ist, so sollte der zweite Term auf der rechten Seite, der Rentnerquotient, moglichst klein sein, und eine Anhebung des Renteneintrittsalters hat auf diesen Quotienten einen doppelten Einfluss, weil sie gleichzeitig den Zahler senkt und den Nenner erhoht. Um die Wahl des Renteneintrittsalters durch einen einzelnen Arbeitnehmer analysieren zu konnen, mtissen wir uns im Folgenden auf eine etwas komplexere Modellierung der zeitlichen Struktur als bisher stiitzen. Ein Aspekt der bisher verwendeten Annahme diskreter Zeitabschnitte von gleicher Lange ist es ja gerade, dass die Lange von Erwerbsleben und Ruhestand fest vorgegeben war. Da eine Variation des Renteneintrittsalters eine Veranderung der Dauer von Aktivenphase und Ruhestand bedeutet, ist fur die Analyse dieses Verhaltens ein Modell mit kontinuierlicher Zeit geeigneter. Wir behalten dagegen die Annahme einer festen und bekannten Lebensdauer bei. Ferner wird ein vollkommener Kapitalmarkt unterstellt, d.h. zum gleichen, fest vorgegebenen Zinssatz konnen unbegrenzt Ersparnisse gebildet oder Darlehen aufgenommen werden. Lediglich die intertemporale Budgetgleichung muss eingehalten werden, die betrachtete Person kann also bei ihrem Tod keine Schulden hinterlassen und wird - da sie als egoistisch unterstellt wird - auch keine Guthaben vererben. Wir betrachten zwei verschiedene Modellvarianten. Im Grundmodell wird versicherungsmathematische Aquivalenz angenommen, das bedeutet, dass zum Zeitpunkt des Renteneintritts des Individuums die Summe der mit dem Kapitalmarktzins verzinsten Beitrage dem Barwert seiner gesamten Rentenanspriiche entspricht. Es fmden also im Rahmen der Rentenversicherung weder zwischen noch innerhalb von Generationen Ex-ante-Umverteilungen statt. Diese Voraussetzung ist z.B. bei einem kapitalgedeckten Rentensystem erfiillt. Ein Umlagesystem kann dagegen versicherungsmathematische Aquivalenz fur jeden einzelnen Versicherten hochstens in dem unwahrscheinlichen Fall garantieren, dass die Wachstumsrate der Lohnsumme zufallig dem Zinssatz entspricht. Es konnte allerdings marginale Aquivalenz in Bezug auf die Variation der Lebensarbeitszeit herstellen. Marginale Aquivalenz bedeutet, dass bei einem Hinausschieben (Vorziehen) des Renteneintritts um ein Jahr der Barwert der dadurch zusatzlich gebildeten (verlorenen) Rentenanspriiche genau dem zusatzlich gezahlten (eingesparten) Rentenbeitrag entspricht. Im deutschen Rentenrecht erhohen sich
164
5 Rentenversicherung
die Rentenanspruche bei einer Verschiebung des Renteneintritts auf zweierlei Weise: Zum einen werden durch die Mehrarbeit zusatzliche Entgeltpunkte erworben, zum anderen werden prozentuale Zuschlage fur einen Renteneintritt nach dem gesetzlichen Rentenalter sowie Abschlage fur einen vorzeitigen Renteneintritt berechnet. Die Hohe dieser Zu- und Abschlage konnte so variiert werden, dass sie die mit der Variation des Renteneintritts einhergehende Verkurzung bzw. Verlangerung der Rentenbezugsdauer im Barwert (auf der Basis des Kapitalmarktzinses) gerade ausgleichen. Im derzeitigen Rentenrecht „verzinst" sich das Warten nur ca. mit der Umlagerendite, d.h. mit der Wachstumsrate der Lohnsumme. 5.6.2 Versicherungsmathematische Aquivalenz In diesem Modell wird ein reprasentativer Arbeiter betrachtet, der seinen Nutzen aus Konsum und Freizeit iiber die Zeit seines Lebens hinweg, beginnend mit dem Zeitpunkt des Eintritts in das Erwerbsleben (t = 0) maximiert. Die Nutzenfunktion ist fur das gesamte Leben ein und dieselbe, unabhangig von der Zeit. Sie ist additiv-separabel und streng monoton wachsend in Konsum und Freizeit (= Zeit des Ruhestands). Eine Vererbung fmdet nicht start, so dass die Ersparnisse im Laufe des Lebens fur Konsumzwecke aufgezehrt werden. Die auf den einzelnen Zeitpunkt t bezogene Nutzenfunktion hat daher folgende Gestalt: W(t) = U[c(t)] + V[F(t)],
(5.79)
wobei C/[c(/)] den Nutzen aus dem Konsum c im Zeitpunkt t misst - mit U '[c(0] >0,U
M
[c(0] < 0 - und V [F(t)] den Nutzen aus der Freizeit F im Zeit-
punkt t. Der Arbeiter kann den Zeitpunkt (und damit das Alter) seines Eintritts in den Ruhestand E selbst bestimmen. Bis dahin ist die Zahl seiner Arbeitsstunden festgesetzt; er kann also nicht einer Teilzeitbeschaftigung nachgehen bzw. in einen Teilzeitruhestand eintreten. Daher kann die GroBe F in (5.79) nur zwei verschiedene Werte annehmen, und wir normieren die zugehorigen Werte von F [ F ( 0 ] auf 0 fur alle Zeitpunkte t, die vor dem Eintritt in den Ruhestand E liegen, und auf v = 0 fur alle Zeitpunkte t von £'an. Die Lebensdauer wird als bekannt vorausgesetzt und betragt (vom Beginn des Erwerbslebens an gerechnet) T Jahre. Um den Nutzen tiber den gesamten Lebenszyklus zu berechnen, sei zunachst der allgemeine Fall betrachtet, in dem das Individuum seinen Nutzen, den es in jedem Zeitpunkt t aus Konsum und Freizeit zieht, auf den Planungszeitpunkt t = 0 mit der nicht-negativen subjektiven Diskontrate S abdiskontiert. Sein Lebensnutzen hat dann im Planungszeitpunkt den Wert ^W(t)'e~stdt=
^U[c(t)le'Stdt
+ V'fEe~Stdt.
(5.80)
5.6 Rentenversicherung und Renteneintritt
165
Das Ziel des Individuums sei es, das Nutzenfunktional in (5.80)5 durch Wahl eines geeigneten Konsumpfades c(i) fur alle £e[0,r] und des Pensionierungszeitpunkts E unter Beachtung seiner Budgetrestriktion zu maximieren. Die Budgetrestriktion kann wie folgt hergeleitet werden. Das jahrliche Arbeitseinkommen w(t) in den Jahren von 0 bis E ist konstant und wird auf 1 normiert. Es wird zu Konsum, Sparen und einem festgesetzten Beitrag zur Rentenversicherung verwendet. Wegen w(t) = w = 1 ist die absolute Hohe des Beitrags mit dem Beitragssatz identisch, so dass man schreiben kann: c(t) + s(t) + b = w(t) = l W e [ 0 , £ ] .
(5-81)
Allerdings kann im Grundmodell wegen der Annahme eines vollkommenen Kapitalmarktes s(f) auch negativ sein: Der Arbeiter beleiht dann seine spatere Rente. In den Jahren des Ruhestands, also im Intervall (E,T), fallt das Arbeitseinkommen weg. Das Individuum erhait stattdessen eine konstante Jahresrente in Hohe von p und lost bis zu seinem Lebensende T etwaige Ersparnisse oder Schulden auf. Es gilt also: c(t) + s(t) = p
Vte[E,T],
(5-82)
Ferner sei die Existenz eines nicht-negativen exogenen Marktzinssatzes p vorausgesetzt.6 Die auf die gesamte Lebensdauer bezogene Budgetrestriktion verlangt, dass der auf den Zeitpunkt 0 abgezinste Gegenwartswert des Ersparnisstroms s(t) null ist: ^s(t).e-ptdt
= 0,
(5.83)
was wegen (5.81) und (5.82) gleichbedeutend ist mit £c(t)-e-ptdt=^(l-b)'e-p
(5.84)
Der abgezinste Lebenskonsum darf also das abgezinste Lebenseinkommen aus dem Bezug von Nettolohn (nach Abzug des Rentenversicherungsbeitrags) wahrend der Erwerbsphase, 1 - b, und der Rente wahrend des Ruhestands, p, nicht iibersteigen. Es handelt sich bei dieser Maximierungsaufgabe um ein Problem der dynamischen Optimierung, fur das analog zum statischen Fall ein Lagrange-Funktional 5
Ein Funktional ist eine Funktion, deren Definitionsbereich eine Menge von Funktionen ist, hier: der Funktionen c{t\ die jedem Zeitpunkt t einen Konsum c zuordnen. Ein Funktional ist nicht zu verwechseln mit der Funktion einer Funktion, bei welcher der Definitionsbereich die Menge der Werte ist, die eine Funktion annehmen kann (also eine Menge reeller Zahlen). 6 An Stelle von r wurde das Symbol p gewahlt, um auszudrucken, dass es sich hierbei um kontinuierliche (exponentielle) Verzinsung handelt.
166
5 Rentenversicherung
gebildet werden kann, indem man vom Zielfunktional (5.80) die mit einem Multiplikator X gewichtete, nach null aufgeloste Nebenbedingung (5.84) subtrahiert: Z= J[ U[c(t)\e~Stdt + v \ e~Stdt -X^c{t)-e-^dt-^{\-b)^-ptdt-fEp-e-ptdt (5.85) = ^{U[c{f)\e'5t
+X\\-b-c(t)\e-ptyt
+ fE{(U[c(t)]^v)-e-St -^A-[p-c(t)le-pt}dL Das Maximierungskalktil kann nun in zwei Schritte zerlegt werden: Im ersten Schritt wird fur gegebenes E der optimale Zeitpfad des Konsums, c(t) fur / e [0,r] gesucht und im zweiten Schritt wird unter Beriicksichtigung der dabei erhaltenen Ergebnisse der Optimalwert fur E ermittelt. Diese Zerlegung erleichtert den Losungsweg betrachtlich, da die Variable E nur in den Integrationsgrenzen auftritt Zudem hangt das zu maximierende Integral zwar von c(t) selbst ab, nicht aber von seiner zeitlichen Anderungsrate, dcldt. Fur festes E maximiert man daher Z, wenn man fur jeden Zeitpunkt t den Wert unter dem Integral maximiert. Bezeichnen wir diese Werte mit L^ (fiir t <E) und L2 (fur t > E), so erhalt man das Maximum dieser Werte nach dem iiblichen Verfahren, dass man die Ableitung von l^ bzw. L2 nach dem einzigen Aktionsparameter c gleich null setzt. Diese Ableitung fuhrt in beiden Fallen zum gleichen Resultat:
^L dc(t)
=
i^
=£
dc{t)
/.rc(0l.^-A.^=o L
J
(5-86)
und daher U\c(f)] = A-eV-p)t yte[0,T].
(5.87)
Da X eine Konstante ist, sagt (5.87) aus, dass bei gegebenem Pensionierungsalter E auf dem optimalen Konsumpfad der Grenznutzen des Konsums uber die Zeit mit der Differenz zwischen der subjektiven Zeitdiskontrate £und dem Zinssatz p wachsen muss. Wie kann man diese Optimalbedihgung okonomisch interpretieren? Da der laufende Preis des Konsumguts per Annahme in jeder Periode gleich 1 ist, erkennt man, dass der Ausdruck e~pt in Gleichung (5.86) den - auf Periode 0 bezogenen - Gegenwartspreis einer Konsumeinheit der Periode t angibt. Formt man nun (5.86) um zu
5.6 Rentenversicherung und Renteneintritt
EMt±l e~
pt
=A
167
(5.88)
so erhalt man folgende Aussage: Das Verhaltnis aus dem mit der subjektiven Diskontrate abdiskontierten Gegenwartswert des Grenznutzens des Konsums der Periode t und dem mit dem Marktzinssatz abdiskontierten Gegenwartspreis des Konsums der Periode t ist fur alle t e [0,T] gleich der Konstanten X. Diese Aussage ist in ahnlicher Form aus der Haushaltstheorie bekannt. Dort lautet die Bedingung fur die optimale Aufteilung eines gegebenen Budgets auf die verschiedenen Guter, dass das Verhaltnis aus dem Grenznutzen des Konsums eines Gutes und seinem Preis fur alle Guter gleich einer Konstanten X sein muss. X ist hier wie dort der Grenznutzen des Einkommens, der im Optimum in jeder Verwendungsart gleich sein muss. Wir werden im Folgenden annehmen, dass die beiden „Abzinsungsraten", die subjektive Rate 8 und der auf dem Markt herrschende Zinssatz p, ubereinstimmen. Diese Annahme ist schon deshalb gerechtfertigt, da die subjektiven Zeitpraferenzen der Individuen als Sparer und Kreditnachfrager neben der Grenzproduktivitat von Investitionen ein wesentlicher Bestimmungsgrund des Zinssatzes sind. Durch diese Annahme S = p vereinfacht sich(5.88) zu U\c{t)] = X = const. W e [ 0 , r ] .
(5.89)
Ein konstanter Grenznutzen des Konsums impliziert jedoch wegen der unterstellten strikten Konkavitat von U, dass c(t) selbst konstant und damit unabhangig vom Zeitpunkt t ist, so dass hinfort das Zeitargument (t) bei c wegfallen kann. Die additive Separabilitat und strikte Konkavitat der Nutzenfunktion implizieren also zusammen mit der Annahme des vollkommenen Kapitalmarktes, der Ubereinstimmung von subjektiver Diskontrate und Zinssatz sowie der bekannten Lebensdauer, dass der Konsum in alien Perioden gleich hoch ist. Im Folgenden sei nur noch der Spezialfall betrachtet, in dem der Zinssatz p (und damit auch S) null ist. Diese Vereinfachung andert an den qualitativen Aussagen des Modells nichts, macht jedoch den mathematischen Formelapparat erheblich ubersichtlicher, da man das Maximierungsproblem in (5.80) und (5.84) jetzt folgendermaBen schreiben kann: max [T- U(c) + (T-E)
(5.90)
E,c
unter der Nebenbedingung T-c = E-(\-b)
+ (T-E)-p.
(5.91)
Die Bedingung der versicherungsmathematischen Aquivalenz bedeutet, dass den Einzahlungen des Arbeiters in die Rentenversicherung wahrend seiner Arbeitsjahre die Renten entsprechen mtissen, die er in den Jahren seines Ruhestands vom Sozialversicherer erhalt, was wiederum bei einem Zinssatz von 0 bedeutet:
168
5 Rentenversicherung
E-b = (T-E)
(5.92)
und somit vereinfacht sich die Nebenbedingung (5.91) zu: T-c = E.
(5.93)
Setzt man (5.93) in (5.90) ein, um c zu eliminieren, so lautet die Optimierungsaufgabe nun max T-U(j) + (T-E)-v
(5.94)
E
mit der Bedingung erster Ordnung fur eine innere Losung T-U\c)~-v = 0.
(5.95)
Somit ergeben sich die optimalen Werte c* und E* implizit durch C/'(c*) = v
(5.96)
E* = T-c*.
(5.97)
^ = £ ^ = 0, db dp
(5.98)
Es gilt also insbesondere
Das bedeutet, dass unter den Voraussetzungen des vollkommenen Kapitalmarktes, der versicherungsmathematischen Aquivalenz und bekannter Lebensdauer die Parameter des Rentenversicherungssystems b und p (und damit die Existenz der Rentenversicherung als solcher) keinen Einfluss auf die Wahl des optimalen Pensionierungszeitpunktes E (und des optimalen Konsumniveaus c) haben. Es frndet bei Einffihrung einer obligatorischen Rentenversicherung lediglich in der Erwerbsphase ein Austausch zwischen privatem Sparen und Rentenversicherungsbeitragen start, derm bei optimalem Konsum c* wird die private Ersparnis s{f) fur / < E gegeniiber einem Zustand ohne Rentenversicherung gerade um die Beitragsrate b zur Rentenversicherung gemindert: s(t) = l-b-c*
(t<E).
(5.99)
Hierbei kann s(t), falls b sehr groB ist, durchaus negativ sein. Zur Aufrechterhaltung seines Konsums nimmt der representative Arbeiter in diesem Fall wahrend seiner Arbeitsjahre entsprechende Kredite auf dem Kapitalmarkt auf, die er spater in den Jahren des Ruhestandes aus den Renteneinktinften wieder zurtickzahlt.
5.6 Rentenversicherung und Renteneintritt
169
Folgerung 5.11: Falls der Kapitalmarkt perfekt ist und Diskontrate und Zinssatz null sind, so hat ein Rentensystem mit versicherungsmathematischer Aquivalenz keine Auswirkungen auf den individuell optimalen Renteneintritt.
5.6.3 Keine versicherungsmathematische Aquivalenz Reale Sozialversicherungssysteme weisen erhebliche Abweichungen von der versicherungsmathematischen Aquivalenz auf: • Haufig (z.B. in den USA) sind sie progressiv: Bezieher niedrigerer Einkommen erhalten, bezogen auf ihre Beitrage, im Erwartungswert eine hohere Rente als Bezieher hoher Einkommen. • Soweit sie im Umlageverfahren fmanziert sind, verzinsen sich die Beitrage nur mit der Umlagerendite, d.h. der Wachstumsrate der Lohnsumme, wahrend versicherungsmathematische Aquivalenz eine Verzinsung mit dem Kapitalmarktzins voraussetzt. • Bei Verlangerung der Berufstatigkeit nehmen die Renten nur mit abnehmender Rate zu. Im Folgenden wird dargestellt, wie sich fehlende marginale versicherungsmathematische Aquivalenz auf die Entscheidung uber den optimalen Pensionierungszeitpunkt auswirkt. Die Veranderung gegenuber dem bisherigen Szenario besteht darin, dass sich die Rentenbeztige nicht mehr wie bei der versicherungsmathematischen Aquivalenz allein aus den individuellen Versicherungsbeitragen ergeben, sondern dass die Rentenversicherung eine Umverteilung vornimmt bzw. der Staat hierbei zuschieBt. Dies driickt sich in folgender Formel fur die Hohe der Rente aus: ;, = £ . - * * - + <& T-E
(5.100)
Hierin bezeichnet O mit O > 0 eine Grundrente, die unabhangig von der Hohe und Dauer der Erwerbseinkunfte gezahlt wird. Hinzu kommt der von der Zahl der Arbeitsjahre und den gezahlten Beitragen abhangende, individuelle Teil der Rente, in welchem £ mit 0 < £ < 1 ein MaB fur den Grad der (marginalen) versicherungsmathematischen Aquivalenz ist. Bezogen auf das deutsche Rentensystem, driickt dieser Parameter die Hohe der Ab- und Zuschlage fur vorzeitigen bzw. spateren Renteneintritt aus. Ist E, = 0 („Beveridge-System"), so erfolgt die Rentenzahlung vollkommen unabhangig von der Hohe der wahrend des Arbeitslebens geleisteten Beitragszahlungen und deren Dauer, besteht also ausschlieBlich aus der Grundrente
170
5 Rentenversicherung
anspruchen wird im Barwert durch eine Verlangerung der Lebensarbeitszeit nicht verandert. Das optimale Renteneintrittsalter ergibt sich wiederum als Losung des Maximierungsproblems in (5.90) und (5.91), wobei sich jetzt die Nebenbedingung (5.91) unter Verwendung der Gleichung (5.100) umformen lasst zu
T-c = E-(l-b) + (T-E) {'
Eb +o T-E
oder
c = ~[i-*-6.(i-^)]+* = | . n + *,
(5.101)
wobei Q:=l-0-6(l-
(5.102)
den Effektivlohn misst, den der Arbeiter daftir erhalt, dass er auf ein Jahr Ruhestand verzichtet. Er setzt sich zusammen aus dem Brutto-Arbeitseinkommen (1), abztiglich des Beitragsanteils, dem keine spatere Rente gegeniibersteht, b • (1 - £ ) , sowie der entgangenen Grundrente O. Setzt man in die Nebenbedingung (5.101) in die Zielfimktion (5.90) ein, so wird diese zu max T.U(j-n
+ &) + (T-Eyv
(5.103)
E
mit der Bedingung erster Ordnung fur die optimalen Werte c** und £** C/f(c?**)-n = v
(5.104)
•Q + O.
(5.105)
Um zu untersuchen, wie der optimale Zeitpunkt des Renteneintritts E von den drei Parametern des Rentenversicherungssystem, namlich dem Beitragssatz b, der Grundrente O und dem marginalen Aquivalenzgrad ^ abhangt, setzen wir zunachst (5.105) und (5.102) in die Optimalbedingung (5.104) ein und stellen E als Funktion der drei Parameter dar: W
o + £ ( ^ ° ? ^ [i-o-HW)3
.[l-
(5.106)
Nach dem Theorem der impliziten Funktionen konnen wir die Ableirungen dieser Optimalbedingung nach den einzelnen Parametern bilden und jeweils nach der partiellen Ableitung von E nach dem jeweiligen Parameter auflosen, um die Wir-
5.6 Rentenversicherung und Renteneintritt
171
kung einer Parameteranderung auf das optimale Renteneintrittsalter zu ermitteln. Dieses Vorgehen liefert die folgenden Ergebnisse: 1. Die partielle Ableitung von (5.106) nach dem Beitragssatz b ergibt: Q-£/"(c)-
b
T db
-t/'(c)-(l-#) = 0
T
(5.107)
oder, aufgelost nach dE/db : dE_ db
U\c)
T_ E_ 2+
u"(c)'n n
(W).
(5.108)
Die Erhohung des Beitragssatzes b ist also dann ohne Wirkung, wenn der marginale Aquivalenzgrad £ = 1 ist, wie bereits in Abschnitt 5.6.2 ermittelt wurde. Ist der Aquivalenzgrad hingegen kleiner als 1, so enthalt der Beitrag eine implizite Steuer und eine Erhohung von b hat somit sowohl einen Substitutionseffekt als auch einen Einkommenseffekt. Der Substitutionseffekt besteht darin, dass der Effektivlohn Q abnimmt und es sich folglich weniger lohnt zu arbeiten, was, fur sich genommen, eine Senkung von E nach sich zieht. Formal fmden wir den Substitutionseffekt im ersten Summanden von (5.108): U\c)
T
U\c)
a2
•0-£)
(5.109)
Der Einkommenseffekt besagt demgegentiber, dass eine Anhebung des Beitragssatzes bei fehlender marginaler Aquivalenz den Versicherten armer macht, was bei der unterstellten Nutzenfunktion - Freizeit ist ein normales Gut - zu einer Erhohung des Arbeitsangebots durch Hinauszogern des Renteneintritts flihrt. Der Einkommenseffekt fmdet sich im zweiten Summanden von (5.108): (5.110)
(l-0, Q
so dass der Gesamteffekt unbestimmt ist. 2. Analog ergibt die partielle Ableitung von (5.106) nach dem marginalen Aquivalenzgrad £
a-u\c)
Q dE_ Eb_ + T' d^+ T
6 •£/'() = 0
(5.111)
oder, aufgelost nach dE 18% : dE _ d%~
U\c)
bT
U\c)
2
a
Eb_ Q
(5.112)
172
5 Rentenversicherung
Auch eine Erhohung von £ hat einen Substitutions- und einen Einkommenseffekt. Der Substitutionseffekt besteht darin, dass der Effektivlohn zunimmt und es sich folglich lohnt, langer zu arbeiten, indem man ein hoheres E wahlt. Formal fmden wir den Substitutionseffekt im ersteri Summanden von (5.112):
U\c) bT >0. U"(c)'n2
(5.113)
Der Einkommenseffekt besagt, dass eine Anhebung des marginalen Aquivalenzgrades den Versicherten reicher macht, was, da Freizeit ein normales Gut ist, zu einer Reduktion des Arbeitsangebots durch Vorziehen des Renteneintritts fuhrt. Der Einkommenseffekt fmdet sich im zweiten Summanden von (5.112): (5.114)
-**
so dass der Gesamteffekt auch hier unbestimmt ist. 3. SchlieBlich ergibt die partielle Ableitung von (5.106) nach der Grundrente O: Q dE T ao
n-c/"(c)-
Eb + bb-UXc) = 0 T _
(5.115)
und folglich dE _ U\c) v
T
~ u\c)
a
— .
= IJ
2
T -E i3
< Q i
(5.116)
Hier weisen Substitutions- und Einkommenseffekt in die gleiche Richtung: Wenn die Grundrente erhoht wird, so steigt das Einkommen, das man ohne Arbeit beziehen kann, und der Effektivlohn sinkt. Daher lohnt es sich weniger zu arbeiten und der Substitutionseffekt (erster Term in (5.116)) fuhrt zu einem Vorziehen des Renteneintritts:
.^4
(5.117)
2
U"(c) Q
Gleichzeitig steigt das Einkommen des Versicherten durch die Anhebung der Grundrente, und da er sich reicher ftihlt, fragt er mehr vom normalen Gut Freizeit nach, was wiederum ein Vorziehen des Renteneintritts bedeutet (zweiter Term in (5.116)): T-E Q
<0.
(5.118)
5.6 Rentenversicherung und Renteneintritt
173
Folgerung 5.12: Bei fehlender versicherungsmathematischer Aquivalenz lasst sich die Rentenhohe in eine Grundrente und einen beitragsproportionalen Anteil aufspalten, wobei der Proportionalitatsfaktor als marginaler Aquivalenzgrad zu interpretieren ist. Anderungen eines dieser Parameter haben stets einen Substitutions- und einen Einkommenseffekt auf das Renteneintrittsalter. Nur bei einer Erhohung der Grundrente haben beide Effekte das gleiche Vorzeichen und senken das optimale Eintrittsalter. Bei Anderungen des Aquivalenzgrades und des Beitragssatzes sind die Effekte gegenlaufig und das Vorzeichen des Gesamteffekts unbestimmt. In Deutschland wurde kurzlich, z.B. von der Rurup-Kommission eine Verscharfung der Abschlage gefordert, die ein Versicherter bei vorzeitigem Renteneintritt hinnehmen muss, weil sie sich davon eine Verlangerung der tatsachlichen Lebensarbeitszeit erhoffte. Graphisch lasst sich eine solche MaBnahme als eine Versteilerung der Geraden p(E) ausdriicken, die die Rentenhohe p zur Lebensarbeitszeit E in Beziehung setzt (vgl. Abb. 5-5). In der Rentenformel (5.110) wiederum lasst sich diese MaBnahme als eine Anhebung des Aquivalenzgrads £ bei gleichzeitiger Senkung der Grundrente O darstellen. Vergleicht man die heute giiltige Gerade px(E) mit der vorgeschlagenen steileren Geraden p2(E), so ist letztere so konstruiert, dass die Rentenhohe gleich bleibt, wenn man erst bei der Regelaltersgrenze E° in den Ruhestand eintritt. Es gilt also A(£°) = A ( £ ° ) .
(5.119)
Daraus folgt wegen ^2 > ft5 dass fur jedes geringere Eintrittsalter das Rentenniveau nach der Reform niedriger sein muss als im Status Quo: p2(E)
VE<E°.
Abb. 5-5: Renteneintrittsalter und Rentenhohe
(5.120)
174
5 Rentenversicherung
Wir konnen nun auf der Basis unserer vorangegangenen Analyse den Effekt dieser kombinierten MaBnahme auf das optimale Renteneintrittsalter aus der Sicht des Individuums herleiten: Der Substitutionseffekt einer Erhohung des marginalen Aquivalenzgrades wie auch der einer Senkung der Grundrente wirken beide in die gleiche Richtung, namlich auf eine Erhohung des Arbeitsangebots durch Hinausschieben des Renteneintritts. Das Vorzeichen des (kombinierten) Einkommenseffekts ist ebenfalls eindeutig: Ftir alle, die im Ausgangspunkt vor dem Alter E° in Rente gehen, ist wegen (5.120) mit der Reform ein Einkommensverlust verbunden, der ebenfalls, da Freizeit als normales Gut angenommen wurde, eine Erhohung des Arbeitsangebots bewirkt und somit das gleiche Vorzeichen hat wie der Substitutionseffekt. Mit Hilfe des Rationalverhaltens-Modells kann damit eindeutig vorausgesagt werden: Folgerung 5.13: Eine Verscharfung der Abschlage bei vorzeitigem Ren-1 teneintritt im deutschen Rentenrecht wird die optimale Lebensarbeitszeit I steigern. Bisher vorliegende empirische Schatzungen (vgl. etwa Berkel und BorschSupan 2004) bestatigen diese theoretische Vorhersage.
5.7 Rentenversicherung in der Demokratie In den vorangegangenen Abschnitten wurde die normative Fragestellung behandelt, wie ein effizientes Alterssicherungssystem aussehen konnte. Demgegentiber wird in diesem Abschnitt die der positiven Theorie zuzuordnende Frage erortert, welche Form und welcher Umfang der Alterssicherung in einer Gesellschaft tatsachlich zu erwarten sind, in der liber diese Angelegenheit demokratisch entschieden wird. Wir begeben uns damit in die Modellstruktur der „Okonomischen Theorie der Demokratie" (auch „Neue Politische Okonomie"), die die Hypothese des rationalen Verhaltens von den Marktentscheidungen auf politische Entscheidungen zu iibertragen versucht.
5.7.1 Ein Grundmodell 5.7.LI Modellannahmen Um die Analyse so einfach wie moglich zu halten, betrachten wir eine direkte Demokratie, nehmen also an, dass uber das Alterssicherungssystem und seine maBgeblichen Variablen in Referenden unmittelbar von den Wahlberechtigten unter Anwendung der Mehrheitsregel abgestimmt wird. Von der Existenz von Parteien und anderen Institutionen wie Parlament und Regierung wird also abgesehen. Gegen diese Vereinfachung wird bisweilen eingewendet, dass bei Wahlen in reprasentativen Demokratien die Gestaltung der Rentenversicherung selten eine
5.7 Rentenversicherung in der Demokratie
175
ausschlaggebende Rolle gespielt hat.7 Im Gegenteil kennen die meisten Wahler die Positionen der Parteien zu dieser Frage nicht genau, wenn diese iiberhaupt klar defmiert sind. Diese Vorgehensweise kann jedoch mit der Uberlegung gerechtfertigt werden, dass eine etwaige Unzufriedenheit der Mehrheit der Bevolkerung mit dem Rentensystem von einer der um die Macht konkurrierenden Parteien aufgesptirt und zum Gewinn von Wahlerstimmen ausgenutzt wurde. Wenn die Rentenpolitik kein Wahlkampfthema ist, so kann dies also bedeuten, dass alle Parteien gleichermafien diesen Mehrheitswillen gespiirt und in ihr Programm aufgenommen haben und somit dieses Thema mangels Dissens kein herausragendes Interesse auf sich zieht. Eine weitere Vereinfachung betrifft die Geltungsdauer der analysierten Wahlentscheidung. Wir werden nur den Fall betrachten, indem die Wahler davon ausgehen, das bei der aktuellen Wahl beschlossene Rentensystem werde permanent gtiltig bleiben. Ihre Entscheidung werden sie daher nicht nur von den gegenwartigen, sondern auch alien zukiinftigen Kosten und Ertragen aus der Rentenversicherung abhangig machen. SchlieBlich wird die Analyse auf Entscheidungen iiber die Einfuhrung bzw. Ausgestaltung einer umlagefmanzierten Rentenversicherung beschrankt. In kapitalgedeckten Rentensystemen erhalt jeder Versicherte eine seinen Beitragen versicherungstechnisch aquivalente Rente. Die staatliche Rentenversicherung und privates Sparen sind daher vollkommene Substitute, und jedes Individuum mtisste beztiglich unterschiedlicher Rentenniveaus und Beitragssatze indifferent sein. Dem Vorschlag eines Beitragssatzes von null, d.h. der Nichteinfuhrung einer obligatorischen Rentenversicherung nach dem Kapitaldeckungsverfahren konnte also nie von einer Mehrheit widersprochen werden; die Frage nach dem Ergebnis einer demokratischen Abstimmung iiber eine kapitalgedeckte Rentenversicherung ware also trivial. Oben wurde gezeigt, dass umlagefinanzierte Rentensysteme diejenigen Generationen begtinstigen, die bei ihrer Einfuhrung bereits im Rentenalter sind, da sie Leistungen erhalten, ohne zuvor Beitrage abgefiihrt zu haben. Nach der gleichen Uberlegung profitieren auch die Personen, die bei der Einfuhrung nur noch wenige Erwerbsjahre vor sich haben, wahrend derer sie sich an der Finanzierung des Rentensystems beteiligen mtissen. Es ist daher naheliegend, bei einer Abstimmung iiber die Einfuhrung eines solchen Rentensystems auch bei identischen intertemporalen Konsumpraferenzen eine Abhangigkeit der Interessen der Wahler von ihrem Lebensalter zu vermuten. Demzufolge ist das oben verwendete Modell zweier iiberlappender Generationen zur Analyse einer Abstimmungssituation ungeeignet, da es zu wenig explizite Struktur hinsichtlich der Altersverteilung der Wahler aufweist. Eine geringe Modifikation jenes Modells reicht jedoch aus, um die vermuteten Effekte zu zeigen. Start zweier werden nun drei gleichzeitig lebende Generationen betrachtet: junge Aktive (mit dem Altersindex 1), alte Aktive (Altersindex 2) und Rentner (Alters7
Eine Ausnahme stellt die Bundestagswahl 1998 dar, bei der die SPD im Wahlkampf versprach, die zuvor im Bundestag beschlossene „Rentenreform 1999" riickgaiigig zu machen.
176
5 Rentenversicherung
index 3). Weiterhin beziehen sich alle Wachstumsraten auf die Lange einer Periode, die dem Abstand zwischen zwei aufeinander folgenden Generationen entspricht. Dabei wird unterstellt, dass nur junge Aktive Kinder bekommen konnen. Weiterhin wird eine Steady-State-Entwicklung der exogenen Parameter angenommen: Die Bevolkerungswachstumsrate n sei ebenso konstant wie der Zinssatz r. Von einem Lohnwachstum wird abgesehen, d.h. das Einkommen jedes Aktiven betrage in jeder Periode w. Dadurch, dass der Lohnsatz als exogen unterstellt wird, wird insbesondere ausgeschlossen, dass von der Hohe des Beitragssatzes negative Anreizwirkungen auf die Einkommenserzielung ausgehen. Alle Individuen haben die gleiche additiv-separable, streng monotone und streng konkave Nutzenfunktion8 t/ = w1(c(1)) + w2(c(2)) + w 3 (c (3) ),
(5-121)
von einem Vererbungsmotiv wird also abgesehen, und jeder Wahlberechtigte habe bei seiner Entscheidung nur sein eigenes Wohlergehen im Auge. Uber den Beitragssatz b einer obligatorischen umlagefmanzierten Rentenversicherung wird einmalig demokratisch abgestimmt, d.h. das Ergebnis wird als dauerhaft giiltig angesehen. Die Menge der zur Wahl stehenden Alternativen umfasst das gesamte Intervall der Beitragssatze von 0 bis 1 (100%). Wenn b bestimmt ist, so liegt auch die Rentenhohe/? fest, die sich wie folgt berechnen lasst: Da auf jeden Rentner 1 + n alte und (1 + n)2 junge Aktive kommen, gilt /? = [(l + /f) + (l + / i ) 2 ] . w . 6 .
(5-122)
Privates Sparen sei in den beiden Erwerbsphasen erlaubt, nicht jedoch eine Kreditaumahme.9 Spart ein Individuum als junger Aktiver sx und als alter Aktiver ^ 2 , so ergeben sich seine Konsumniveaus in den drei Lebensabschnitten als
8
cV={\-b)-w-sx
(5-123)
C(2)=(1_Z,).W_,2
(5.124)
Um die Notation ubersichtlich zu halten, wird im Folgenden auf die Angabe eines Zeitindexes immer dann verzichtet, wenn es klar ist, wie dieser lauten muss. So steht in (5.121) cr ' fur c\ ' usw. 9 Wurde unbegrenzte Kreditaufnahme zugelassen, so ware unter gewissen Voraussetzungen (wenn namlich das Umlageverfahren eine hohere Rendite aufweist als das Kapitaldeckungsverfahren) der gewlinschte Beitragssatz in jedem Fall 100%, da man ansonsten durch die Erhohung des Beitrags- und Leistungsniveaus in der Rentenversicherung und Beleihung der spater zu erwartenden Rente immer das Konsumniveau in alien Lebensabschnitten steigern konnte.
5.7 Rentenversicherung in der Demokratie
177
c(3) = p + (l + r) 2 •s 1 +(l + r)-,s2 = [(\ + n) + (\ + n)2^w>b + {\ + rf ..Sj+O + r ) - ^ .
(5.125)
Dabei wird ein und derselbe Wert fur den Parameter b eingesetzt, da annahmegemafi die einmal getroffene Entscheidung tiber den Beitragssatz permanent giiltig sein soil 5.7.1,2 Analyse des Wahlerverhaltens Betrachten wir zunachst die Bestimmung des optimalen Beitragssatzes b aus der Sicht eines jungen Aktiven. Da dieser im Laufe seines Lebens als Beitragszahler und Rentenempfanger mit den vollen Kosten und Ertragen der Rentenversicherung konfrontiert ist, kann der fur ihn beste Beitragssatz als Mafistab fur das „gesellschaflliche Optimum" angesehen werden. Jener wird simultan mit der optimalen Ersparnis sx und s2 durch Maximierung der Funktion (5.121) unter Einsetzen der Nebenbedingungen (5.122) bis (5.125) bestimmt. Da keine der drei Instrumentvariablen gemafl unserer Annahmen negativ werden darf, ist das KuhnTucker-Theorem anzuwenden. Die notwendigen Bedingungen erster Ordnung fur die Optimalwerte b*, sx* und s2 * lauten dabei dU
-^'[wO-Z)*)-^*]
dsx
+ (l + r ) 2 - v [ w 6 * ( ( l +
fl)2+(U
(5.126)
(= 0, falls sl*>0) ^ = os2
-~u2\w{\-b*)-s2*}
+ (l + r ) - w 3 , [ ^ * ( ( l + «) 2 +(l + «)) + (l + r) 2 ^ 1 *+(l + r > 2 * ] < 0
C5-12?)
(= 0, falls s2*>0) = -wul ' [ ^ ( l - i * ) - ^ *]-ww2 ,[w(l-b*)-s2
*]
+ w [ ( l + «) 2 +(l + /i)]
(5.128)
•w3,[wZ?*((l + ^) 2 +(l + n)) + (l + r) 2 ^ 1 *+(l + r ) 5 2 * ] < 0 (= 0, falls Z>* > 0). Einen positiven Beitragssatz befurwortet diese Altersgruppe folglich nur dann, wenn in (5.128) das Gleichheitszeichen steht. Ersetzt man nun auf der linken Seite
178
5 Rentenversicherung
den Ausdruck ^ ' [ . j durch (l + r)2 -u3'[.], der gemaB (5.126) nicht groBer ist, und gleichermaBen u2'[] durch das gemaB (5.126) nicht groBere (l + r)-i/ 3 '[.] und dividiert man anschlieBend durch u3'[.], so vereinfacht sich diese Bedingung zu (l + n)2 +(l + n)>(l + r)2 +(l + r),
(5.129)
was Equivalent ist mit n > r . D.h. ein junger Aktiver votiert nur dann fur ein Umlagesystem mit positivem Beitragssatz, wenn die Bevolkerungswachstumsrate mindestens so groB ist wie der Zinssatz. Dies ist aber genau die Aaron'sche Bedingung dafur, dass im Steady State die Rendite im Umlageverfahren mindestens so groB ist wie im Kapitaldeckungsverfahren.10 Bei einem genaueren Blick auf die Nutzenfunktion und die drei Nebenbedingungen ist dieser Zusammenhang auch nicht allzu uberraschend: Wenn sich ein junger Aktiver fur einen positiven Beitragsatz entscheidet, so tut er dies deswegen, weil er durch das Umlageverfahren zu giinstigeren Bedingungen fur seine 3. Lebensphase vorsorgen kann als durch privates Sparen in Lebensphasen 1. und 2. Durch eine gleich hohe Steigerung der Beitragszahlung in das Umlagesystem (von 1 Euro) in Lebensphase 1 und 2, wie sie von einer Steigerung des Beitragssatzes bewirkt wird, verschafft sich das Individuum in Phase 3 gemaB (5.122) eine um (l + n) + (l + n) € hohere Rente. Wenn es im Gegenzug seine private Ersparnis in Phase 1 und 2 jeweils um den gleichen Betrag 1 € reduziert, vermindern sich dadurch seine Konsummoglichkeiten in Phase 3 um (l + r) + (l + r) €. Eine solche Bewegung hin zu einem Umlagesystem lohnt sich fur jungen Aktiven also genau dann, wenn (5.129) bzw. n > r erfullt ist. Ist der Zinssatz dagegen groBer als die Wachstumsrate der Bevolkerung (r > n), so wird ein junger Erwerbstatiger fur b* = 0, also fur die Nichteinfuhrung einer umlagefmanzierten Rentenversicherung stimmen. Fur einen alten Aktiven stellt sich die Entscheidung tiber den fur ihn optimalen Beitragsatz Z>** ganz anders dar. Zum Zeitpunkt der Entscheidung iiber eine Einfuhrung des Umlageverfahrens stehen fur ihn die Hohe seiner Ersparnis sx sowie die Hohe seines Nutzens in der ersten Lebensphase bereits fest, so dass er durch Wahl von b und s2 die (reduzierte) Nutzenfunktion U2=u2(c^) + u,(c^)
(5-130)
unter den Nebenbedingungen (5.124) und (5.125) maximiert. Die notwendigen Bedingungen erster Ordnung fur die optimalen Werte &** und s2 ** lauten nach dem Kuhn-Tucker-Theorem
10
Hier wurde ja von einem konstanten Lohnsatz ausgegangen. Unterstellt man ein Wachstum von w mit der Rate g, so modifiziert sich die Bedingung zu (1 + g) • (1 + n) > (1 + r).
5.7 Rentenversicherung in der Demokratie
S
179
= _a 2 '[ w (l_6«*)_ 1 , 2 «*] + (\ + r)-u3'[wb*%(l
+ n)2+(l + n)) + (l + r)2Sl+(l + r)s2**^<0
(5-m)
(= 0, falls s 2 * * > 0 )
dU2 db
• -wu2 '[w(l - b * * ) - s2 **]
+ w [ ( l + w) 2 +(l + /2)] 2
(5.132) 2
•u3'[wb**((l + n) +(l + n)) + (l + r) sl+(l + r)s2**~j<0 (=0, falls Z>**>0). Setzt man auch in (5,132) die rechte Seite gleich null und ersetzt man gemaB (5.131) den Ausdruck u2'[.] durch das nicht groBere (1 + r) • u3'[.], so erhalt man als notwendige Bedingung fur ein Votum der alten Aktiven zu einem positiven Beitragssatz: (1 + ft)2 + (l + ri)>(l + r) oder « + (l + «) 2 > r ,
(5.133)
eine Bedingung, die wesentlich schwacher ist als die entsprechende Bedingung (5.129) fur junge Aktive. (z.B. gentigt es bei einem Zinssatz pro Periode von 100%, also r = 1, dass die Bevolkerung nicht schrumpft, d.h. dass n > 0 gilt.) Alte Aktive werden also auch dann noch fur die Einfuhrung einer umlagefinanzierten Rentenversicherung stimmen, wenn deren Rendite bis zu einem gewissen AusmaB (das sehr groB sein kann) unter der des Kapitaldeckungsverfahrens liegt. Wie zuvor im Falle eines jungen Aktiven kann man aber auch jetzt durch einfaches Arbitragekalkul beschreiben, ob sich fur ihn die Einfuhrung eines Umlagesystems mit positivem Beitragsatz lohnt oder nicht. Votiert ein alter Aktiver fur eine Erhohung des Beitragssatzes, so dass sich dadurch sein Periodenbeitrag um 1 Euro erhoht, erzielt er dadurch genau wie zuvor in seiner 3. Lebensphase eine um (l + n) + (l + n) Euro hohere Rente aus dem Umlagesystem. Der Unterschied zu einem jungen Aktiven besteht nun darin, dass er diesen Rentenbeitrag nur in einer einzigen Periode, namlich seiner Lebensphase 2, zu zahlen braucht, derm annahmegemaB wird ja erst in dieser Periode die Einfuhrung des Umlageverfahrens erwogen. Dies bedeutet insbesondere, dass ein alter Aktiver die (zusatzliche) Rente aus dem Umlagesystem nur mit den Ertragen aus der Ersparnis s2 in Phase 2 vergleichen muss. Fur Individuen, die in der ins Auge gefassten Einfuhrungsphase des Umlagesystems bereits Rentner sind, ist das Umlageverfahren aus dem im Prinzip gleichen Grund sogar noch vorteilhafter. Sie erhalten die voile Umlagerente, ohne jemals einen Beitrag gezahlt zu haben. Fur sie ist - gemaB (5.125) - nur noch der
180
5 Rentenversicherung
Konsum in Phase. 3 variabel, der positiv von Beitragssatz b abhangt. Folglich votieren die Rentner immer ftir den hochstmoglichen Beitragsatz, der ohne einschrankende Annahmen bei 100 % liegt. 5.7.13 Das Ergebnis der Abstimmung Um das Ergebnis eines Mehrheitswahlprozesses in der betrachteten Situation naher bestimmen zu konnen, konzentrieren wir uns auf den Fall, in dem n < r , jedoch n + (l + ri) >r gilt. Nach unseren obigen Uberlegungen gilt fur die von den drei Wahlergruppen gewimschten Beitragssatze dann 0 = 6*<6***** = 1.
Die Mehrheitsverhaltnisse hangen von den Anteilen der aktiven Jungen, der aktiven Alten und der Rentner in der Gesamtpopulation ab, die (l + nf
(l + n) 2
l + (l + ^) + (l + ^) '
2
\ + (\ + n) + {\ + nf '
1 3
l + (l + «) + (l + «) 2
lauten. Drei Falle sind zu unterscheiden: Fall 1: Es gilt ax > l / 2 , d.h. die aktiven Jungen haben die Mehrheit, so dass der politische Entscheidungsprozess zum Beitragssatz b* = 0 flihrt. Dieser Fall tritt genau dann ein, falls 2 + n<(\ + n) bzw. - wie man nach Losung einer quadratischen Gleichung leicht sieht «>0.618 gilt. Bei extrem starkem Bevolkerungswachstum, das pro Periode uber 61,8 % liegt, setzen bei der Abstimmung somit die jungen Aktiven ihren Willen durch, und die Einfiihrung des Umlageverfahrens unterbleibt. Fall 2: Es gilt a3 > 1 / 2 , so dass die Mehrheit bei den Rentnern liegt und - unter den vereinfachenden Annahmen unseres Modells - der Beitragssatz .£*** = !00% betragt. Dazu kommt es dann, wenn (l +rc)+ (l + « ) 2 < l bzw. n < -0.382 ist. Diese extreme Ausbeurung der Erwerbstatigen ergibt sich also, wenn die Bevolkerung um mehr als 38,2 % pro Periode schrumpft. Fall 3: Es gilt ax < l / 2 und a3 < l / 2 . Keine der beiden Extremgruppen hat dann die Mehrheit. Nach dem Medianwahler-Theorem setzt sich bei einer Folge paarweiser Mehrheits-Abstimmungen schliefllich die mittlere Alternative
5.7 Rentenversicherung in der Demokratie
181
6** e ]0,l[ durch, d.h. es kommt zur Emfuhrung des Umlageverfahrens mit dem von den alten Aktiven gewtinschten Beitragssatz Z?** . Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, ist es allerdings erforderlich, dass die Praferenzen aller Beteiligten „eingipflig" sind. Diese Eigenschaft folgt daraus, dass die Zielflinktionen der drei Gruppen, wie sie sich aus der Nutzenfunktion (5.121) und den Nebenbedingungen (5.123)-(5.125) ergeben, einen konkaven Verlauf aufweisen. Aufgrund der extremen Bedingungen fur die anderen beiden Falle ist der dritte Fall als der realistischste anzusehen. Folgerung 5-14: In der direkten Demokratie setzen sich in einer (einmali-1 gen) Mehrheitsabstimmung iiber den Beitragssatz einer neu einzufiihrenden I umlagefmanzierten Rentenversicherung - abgesehen von Fallen sehr stark schrumpfender oder wachsender Bevolkerung - die Interessen von Aktiven I in der zweiten Halfte ihres Erwerbslebens durch. Es kommt dann zur Einfuhrung eines Umlageverfahrens, obwohl sich, wenn der Zinssatz hoher ist als die Wachstumsrate, die jtingeren Aktiven in der Einfuhrungsphase durch ein auf freiwilligem Sparen beruhendes kapitalgedecktes Altersversicherungssystem besser stellen wiirden. Diese Aussage ist sofort auf den realistischeren Fall einer endlichen Folge von Jahrgangsgruppen ubertragbar. Die Einschrankung beztiglich der Wachstumsrate der Bevolkerung verschwindet sogar. Bei der Abstimmung setzen sich die Interessen des Wahlers im Median der Altersverteilung durch, d.h. desjenigen, fur den es genau so viele jiingere wie altere Wahler gibt. Dieser Medianwahler ist unabhangig von der Wachstumsrate der Bevolkerung alter als der gerade ins Erwerbsleben tretende Aktive. Daher nimmt er nicht mehr iiber den gesamten Aktivenzeitraum an der Beitragsaufbringung teil, und somit ist der fur ihn optimale Beitragssatz hoher als der von uns als gesellschaftlich optimal defmierte. 5.7.1.4 Komparative Statik des Abstimrmingsergebnisses Um die Modellaussagen empirisch uberprtifen zu konnen, muss man zunachst nach den testbaren Hypothesen fragen, die es generiert. Dazu ist seine komparative Statik zu untersuchen: Wie andert sich das Modellergebnis, wenn die exogenen Parameter des Modells variiert werden? Der interessanteste Parameter in diesem Modell scheint die Bevolkerungswachstumsrate n zu sein: Wie andert sich der Beitragssatz im politischen Gleichgewicht, wenn n sinkt, d.h. wenn die Bevolkerung langsamer wachst bzw. schneller schrumpft? Die Antwort auf diese Frage kann z.B. empirisch an Hand eines internationalen Vergleichs zwischen Landern mit unterschiedlichen Reproduktionsraten getestet werden. AuBerdem dient sie der Ableitung einer Prognose dariiber, wie sich das Rentensystem entwickelt, wenn die Bevolkerung in Folge eines Absinkens der Fertilitat schneller altert als zuvor. Im einfachen 3-OLG-Modell, wie es oben untersucht wurde, hat eine kleine Anderung des Parameters n nur eine einzige Wirkung: Da die Rendite des Umlageverfahrens sinkt, wtinschen sich junge und mittlere Wahler einen kleineren Beitragssatz. Sofern der Medianwahler sich in einer dieser beiden Gruppen befmdet,
182
5 Rentenversicherung
bedeutet dies eindeutig eine Verringerung des Umfangs einer umlageflnanzierten Rentenversicherung im politischen Gleichgewicht. Dieses Ergebnis gilt jedoch nicht mehr, wenn, wie oben angedeutet, eine feinere Altersstruktur (z.B. eine Unterteilung nach Jahrgangen) modelliert wird. Bei einer solchen Betrachtung erkennt man sofort, dass die Senkung der Wachstumsrate n einen zweiten Effekt hat, namlich den, dass der Medianwahler nun alter ist als zuvor. Da jedoch der gewiinschte Beitragssatz mit dem Alter zunimmt, hat dieser zweite Effekt das umgekehrte Vorzeichen zum zuerst genannten (Rendite-) Effekt, so dass der Gesamteffekt einer Anderung der Bevolkerungswachstumsrate unbestimmt ist. 5.7. /. 5 Das Abstimmungsergebnis in einer Gerontokratie Nimmt man die Ergebnisse des bislang untersuchten Modells ernst, so gelten besondere Umstande im Fall einer Fertilitatsrate, die so gering ist, dass sich der Medianwahler bereits im Rentenalter befmdet. Bei einem (realistischen) Verhaltnis der Lange von Erwerbs- und Rentenphase von etwa 2:1 ist dies, wie oben gezeigt, der Fall, wenn die Fertilitat, gemessen durch die Netto-Reproduktionsrate, bei 0,6 oder wenig dariiber liegt - Werte, die in einigen EU-Mitgliedslander wie Spanien, Italien und Deutschland, aber auch in einigen osteuropaischen Landern in den letzten Jahrzehnten erreicht wurden. Fur diese Situation, die man als „Gerontokratie" (Herrschaft der Alten) bezeichnen konnte, sagt das Grundmodell voraus, dass der Beitragssatz auf das maximal zulassige Niveau gesetzt wird. Was ist aber das „maximal zulassige Niveau"? Oben haben wir es vereinfachend auf 100 Prozent gesetzt, aber bereits dieser Wert verlangt, dass das Ausland bereit ist, dem Inland permanent Konsumentenkredite zu gewahren. Eine andere Grenze der Zulassigkeit konnte darin bestehen, dass die jeweils junge Generation nicht „rebelliert", z.B. dadurch dass sie auswandert. Eine solche Moglichkeit ist aber in dem Grundmodell nicht vorhanden, und es kame einer ad-hoc-Annahme gleich, sie im Nachhinein einzuftihren, um „realistische" Ergebnisse zu erhalten. Sinnvoller erscheint es, die Modellannahmen in einem Modell der Gerontokratie von vornherein so abzuandern, dass die Reaktion der Erwerbstatigen auf die Festlegung des Beitragssatzes durch die Rentner einem Rationalverhaltens-Kalktil entspricht. Umgekehrt berticksichtigen auch die Rentner die Ausweichreaktionen der Erwerbstatigen bei der Bestimmung des fur sie optimalen Beitragssatzes. Diese Uberlegung kann sogar in einem Modell mit nur 2 tiberlappenden Generationen sehr einfach dadurch ausgedrtickt werden, dass das Arbeitsangebot der Aktiven nicht mehr als exogen gesetzt, sondern aus einem Nutzenmaximierungs-Kalkul hergeleitet wird. Dazu ist es lediglich erforderlich anzunehmen, dass neben dem Konsum beider Lebensphasen auch Freizeit Nutzen stiftet. Konkret lautet die Nutzenfunktion eines reprasentativen Mitglieds der Generation t\ Ut =U\ c^\ct+^2\lt
, wobei lt das Arbeitsangebot misst. Die Budget-
gleichungen der beiden Lebensperioden lauten dann:
5.7 Rentenversicherung in der Demokratie
cP=(l-bt) 4,-s, cJ2^0
+
r)-sl+p'M,
183
(5-134) (5-135)
wobei pet+l die Rentenhohe bezeichnet, die der Arbeiter in der Periode t+1 zu beziehen erwartet. Diese Modellierung impliziert, dass der Rentenversicherungsbeitrag in voller Hohe als Steuer empfunden wird, weil es keine Verkntipfung zwischen gezahltem Beitrag und dem eigenen zuktinftigen Rentenanspruch gibt. Diese Annahme widerspricht zwar den Regelungen des deutschen Rentenrechts, ist jedoch innerhalb des Modells mit der Annahme kompatibel, dass die eigene Rente auch nur dadurch gesichert werden kann, dass man die nachfolgende Generation t + \ besteuert. Maximierung von Ut unter den Nebenbedingungen (5.134) und (5.135) liefert dann seine Reaktionsfunktionen Sl=s{bltp'M)
( 5 - 136 >
lt=Kbt,p\+x).
(5-137)
Diese Reaktionsfunktionen beriicksichtigt der representative Rentner (aus Generation M ) in Periode t, wenn er den Beitragssatz so wahlt, dass das Beitragsaufkommen und damit sein Rentenniveau pt maximiert wird, wobei gilt: p,=<\
+ nybt-lt(b„p't+l)
(5-138)
so dass die notwendige Bedingung 1. Ordnung fur ein Maximum wie folgt lautet: dlt bt = -1. dbt lt
(5.139)
Um konkrete Aussagen ableiten zu konnen, sei im Folgenden eine CobbDouglas-Nutzenfunktion unterstellt: Ut = a - l n c / 1 ) + ^ - l n c / + 1 ( 2 ) + l n ( l - / / ) .
(5-140)
AuBerdem sei ein Steady-State-Gleichgewicht bei vollkommener Voraussicht betrachtet, d.h. alle endogenen Grofien seien uber die Zeit konstant und werden von der jeweiligen jungen Generation auch richtig vorausgesehen. Insbesondere gilt pt = pet+l. Unter diesen Voraussetzungen lauten die Reaktionsfunktionen (5.136) und (5.137): ,* = 0 - 4 ) . £ _ ! ± £ ^ P y y \+r
(5.141)
184
5 Rentenversicherung
/*=a
+
l
Y
E ( l - 6 ) - y ( l + r)
(5.142)
mit y = 1 + a + P . Setzt man die Reaktionsfunktion (5.142) in die Optimalbedingung zur Bestimmung des optimalen Beitragssatzes, (5.139), ein, so erhalt man nach einigen Umformungen / ? - ( a + /?)-(l + r ) - ( l - 6 ) 2 ,
(5-143)
was sich unter Beachtung von (5.138) wie folgt losen lasst: 1
= 1-
Li+>/r^/o+«)J
p^
<" + &'«
2
,
(5.144)
(5.145)
und man sieht sofort, dass bei einem Absinken der Fertilitat n sowohl • der Beitragssatz b* steigt, als auch • das RentenniveaujP* sinkt. Folgerung 5-15: Auch und gerade in einer Gerontokratie, in der die Rentner die Mehrheit der Wahlberechtigten stellen, miissen die Rentner einen Teil der demographischen Last tragen, die mit einem Absinken der Fertilitat verbunden ist, denn dieses fuhrt sowohl zu einem hoheren Beitragssatz als auch zu einem geringeren Rentenniveau. Dieses Ergebnis beruht auf der Annahme, dass die Aktiven auf Beitragserhohungen mit einer Verringerung des Arbeitsangebots reagieren.
5.7.2 Modellerweiterungen 5.7,2.1 Eine Klassifikation der Modelle der Politischen Okonomie Das dargestellte Grundmodell der Politischen Okonomie der Rentenversicherung stellt nur einen ersten Ansatz zur Erklarung der Existenz umlagefinanzierter Rentensysteme dar. In der Literatur existieren zahlreiche weitere Erklarungsmodelle, die man am besten durch die Annahmen charakterisieren kann, auf denen sie beruhen. Die folgende Tabelle 5-2 gibt einen Uberblick iiber die verschiedenen Fragen, hinsichtlich derer sich die Annahmen unterscheiden. Beispielsweise ist das auf Browning (1975) zurtickgehende Grundmodell durch die Annahmen la, 2a, 3a, 4a, 5a, 6a, und 7a gekennzeichnet, wahrend das in Abschnitt 5.7.1.5 dargestell-
5.7 Rentenversicherung in der Demokratie
185
te Modell einer Gerontokratie durch die Annahmen la, 2b, 3d, 4a, 5a, 6a und 7b definiert ist. Tabelle 5.2: Eine Klassifikation der Annahmen in der Politischen Okonomie der Rentenversicherung. 1. Zeitstruktur a. unendlicher Horizont. 2- oder 3-OLG.Modelle b. statisch: Ein- oder Zwei-Perioden-Modell 2. Annahme der Wahler iiber die Geltungsdauer der Entscheidung a. unendlich b. nur eine Periode 3. Entscheidungsregel a. Direkte Demokratie mir Mehrheitswahl b. Einstimmigkeitsregel c. Diktatur der Erwerbstatigen d. Diktatur der Rentner 4. Wahlerziele a. egoistisch b. altruistisch gegeniiber eigenen Eltern bzw. Kindern 5. Heterogenitat innerhalb einer Generation a. keine b. vorhanden: 1. im Einkommen 2. in der Kinderzahl 6. Okonomisches Modell a. Kleine offene Volkswirtschaft b. Geschlossene Volkswirtschaft 7. Arbeitsangebot a. exogen b. endogen. 5.7.2.2Modellederintragenerativen
Umverteilung
Die bisher dargestellten Modelle betonen die Umverteilung zwischen verschiedenen Generationen mittels der umlagefmanzierten Rentenversicherung, wahrend die Mitglieder einer Generation als vollig homogen angenommen werden und daher auch die gleichen Interessen haben. Reale Rentensysteme verteilen jedoch bisweilen auch innerhalb der einzelnen Generationen um, und diese Vorgange sind umso wichtiger, je mehr sich die Mitglieder einer Generation voneinander unterscheiden. Unterschiede spielen zum einen hinsichtlich des Einkommens, zum anderen hinsichtlich der Kinderzahl eine Rolle.
186
5 Rentenversicherung
5.7.2.2.1 Ein Modell der Umverteilung zwischen Einkommensgruppen In manchen Landern werden zwar einkommensabhangige Beitrage erhoben, die Rentenhohe ist aber fur alle Versicherten weitgehend oder vollstandig gleich,11 d.h. das umlagefmanzierte Rentensystem verteilt nicht nur 1. zwischen den Generationen urn, sondern implizit auch 2. von den besser zu den geringer Verdienenden. Die Mehrheitsfahigkeit eines solchen Systems in der Demokratie lasst sich naturgemaB nur ein einem Modell untersuchen, in dem sich die Erwerbstatigen in ihrem Einkommen unterscheiden. Ein solches Modell wurde von Tabellini (2000) vorgestellt, der annimmt, dass die Wahlerschaft in Familien aufgeteilt ist, die aus je einem Mitglied der Rentner- und n Mitgliedern der Erwerbsgeneration bestehen, die wir im Folgenden „Mutter" und „Tochter" nennen wollen. Innerhalb jeder Familie gibt es Altruismus und es konnen Einkommenstransfers in Form von Vererbung bzw. Schenkung vorgenommen werden. Das Modell beruht demnach auf den Annahmen lb, 2b, 3a, 4b, 5b 1, 6a und 7a. Falls der unter 1. genannte Transfer isoliert zur Wahl sttinde, wurde er von alien Rentnern akzeptiert und von alien Erwerbstatigen abgelehnt, wahrend der 2. Transfer von alien Familien mit unterdurchschnittlichem Erwerbseinkommen angenommen und von alien anderen abgelehnt wiirde. Da die beiden Transfers nur in Kombination erhaltlich sind, lassen sich die Praferenzen der verschiedenen Typen von Wahlern beztiglich des Beitragssatzes wie folgt herleiten: Unter den Tochtern wird die Durchschnittsverdienerin jeden positiven Beitragssatz ablehnen, aber unterhalb einer Einkommensschwelle werden alle Tochter fur einen positiven Wert stimmen, der um so groBer ist, je geringer ihr Arbeitseinkommen ist. Umgekehrt wird die Mutter einer Durchschnittsverdienerin einen positiven Beitragssatz wiinschen, und der optimale Beitragssatz aus der Sicht der Mutter wird ebenfalls eine abnehmende Funktion des Einkommens der Tochter sein und oberhalb einer Einkommensschwelle den Wert null haben. Folglich gibt es einen Beitragssatz &* mit der Eigenschaft, dass genau 50% aller Wahlerinnen (d.h. mehr als die Halfte aller Rentnerinnen und weniger als die Halfte aller Arbeiterinnen) einen hoheren Beitragssatz praferieren und die anderen 50% einen niedrigeren. Da die individuellen Praferenzen eingipflig sind, erhalt der Beitragssatz &* in einer paarweisen Abstimmung mit jedem anderen Wert von b die Mehrheit der Wahlerstimmen. Tabellini (2000) zeigt, dass der gleichgewichtige Beitragssatz Z?* umso groBer ist, • je groBer die Ungleichheit der Bruttoeinkommen in der Tochtergeneration und • je geringer die Bevolkerungswachstumsrate n ist.
11
Einheitliche, meist steuerfinanzierte „Grundrenten" bestehen in den Niederlanden, GroBbritannien, Australien und Neuseeland.
5.7 Rentenversicherung in der Demokratie
187
Wahrend man die erste Aussage empirisch kaum iiberprufen kann, liefert insbesondere die zweite Aussage eine empirisch testbare Hypothese. Allerdings ist diese auf Deutschland nicht anwendbar, weil hier das Prinzip der Teilhabeaquivalenz gilt und daher intragenerative Transfers gerade kein konstitutives Element der Rentenversicherung sind. 5.7.2.2.2 Ein Modell der Umverteilung zwischen Kinderreichen und Kinderarmen Eine andere Form der Heterogenic innerhalb der Gesellschaft wird von Breyer und v.d. Schulenburg (1990) thematisiert, namlich die in der Zahl der bereits lebenden (und wahlberechtigten) Nachkommen, die ein Rentner hat. Hierbei wird angenommen, dass innerhalb jeder „Dynastie", die jeweils aus einem Rentner und alien seinen Nachkommen gebildet wird, vollkommener Altruismus herrscht, d.h. jedes Familienmitglied verhalt sich bei Abstimmungen so, dass es nur den Nettotransfer an seine Familie insgesamt zu maximieren versucht. Als Alternative zum staatlichen Umlagesystem betrachtet jede Familie damit implizit das Umlageverfahren innerhalb der Dynastie (vgl. Abschnitt 8.3.2.2), und sie wird sich nur dann fur das staatliche Umlagesystem aussprechen, wenn dieses eine hohere Rendite abwirft als das innerhalb der eigenen Familie. Dies ist jedoch genau dann der Fall, wenn die Fertilitat innerhalb der Familie geringer ist als die in der Gesellschaft insgesamt. Das Modell ist durch die Annahmen la, 2a, 3a, 4b, 5b2, 6a und 7a charakterisiert. Wahrend also das Grundmodell den Interessenkonflikt zwischen Alt und Jung betont und Tabellini den zwischen Arm und Reich, steht in diesem Modell der Interessenkonflikt zwischen Kinderreichen und Kinderarmen (bzw. Kinderlosen) im Vordergrund, und es wird lediglich untersucht, unter welchen Voraussetzungen die Einfuhrung bzw. Aufrechterhaltung eines staatlichen Umlagesystems mehrheitsfahig ist. Es stellt sich heraus, dass der Anteil der Stimmen gegen ein staatliches Umlagesystem keine monoton abnehmende Funktion der Gesamtfertilitat und damit seiner Rendite ist. Allerdings ist der Anteil der Nein-Stimmen bei abnehmender Bevolkerung immer groBer als 50%, wahrend dies bei konstanter oder wachsender Bevolkerung nur dann der Fall ist, wenn die Kinder sehr ungleich iiber die Familien verteilt sind. Die Intuition fur dieses letzte Ergebnis lautet: Wenn die Kinder ungleich verteilt sind, d.h. wenn es sowohl viele Kinderlose als auch viele Kinderreiche, aber relativ wenige „Durchschnittsfamilien" (mit 1 oder 2 Kindern) gibt, lebt die Mehrheit der Wahler in Dynastien, die schneller wachsen als die Gesellschaft insgesamt. Daher haben diese Wahler ein Interesse daran, das staatliche Umlagesystem durch ein intrafamiliares zu ersetzen. Die Ergebnisse sagen voraus, dass das staatliche Umlagesystem vor allem in Landern mit geringer Fertilitat und einem hohen Anteil Kinderloser auf Akzeptanzprobleme stoBen wird. Dies sind aber Merkmale, die heute die Situation in vielen Industrielandern kennzeichnen.
188
5 Rentenversicherung
5.8 Ubungsaufgaben
Aufgabe 5.1: a.
b.
Wie muss sich der Beitragssatz im Umlageverfahren entwickeln, damit ein konstantes Rentenniveau aufrechterhalten wird? Leiten Sie die entsprechende Beziehung zwischen bt und bt+\ ab und interpretieren Sie sie okonomisch. Untersuchen Sie, unter welcher Bedingung das von einer Generation (nicht der ersten Rentner!) realisierte Verhaltnis zwischen Rentenleistungen und gezahlten Beitragen unabhangig davon ist, ob das Prinzip des (tiber die Zeit) konstanten Beitragssatzes oder das des konstanten Rentenniveaus gilt.
Aufgabe 5.2: Gegeben sei die Nutzenfunktion Ut(c\x\c^x) = c*p -c^j. Wir betrachten eine kleine offene Volkswirtschaft, in der der (exogene) Zinssatz 50% und das Lohneinkommen in jeder Periode 4 Konsumguteinheiten betragt. a.
Wie hoch ware - bei Abwesenheit eines staatlichen Rentensystems - die optimale Ersparnis st* und wie hoch folglich cf] * , c^j * und Ut*?
b. c.
Begrtinden Sie, warum cy* ^ CJ+\ * gilt. Erlautern Sie, unter welcher Bedingung ein umlagefmanziertes Rentensystem bei unendlichem Horizont intergenerativ Pareto-superior gegentiber (rein) privater Ersparnis ware.
Aufgabe 5.3: a.
b.
Nehmen Sie Stellung zu folgender Aussage: „Wenn die Nettoreproduktionsrate groBer ist als 1, so sollte die Gesellschaft ein umlagefmanziertes Alterssicherungssystem einfiihren (bzw. beibehalten); wenn sie kleiner ist als 1, so sollte sie es abschaffen." Nehmen Sie Stellung zu folgender Aussage: „Wenn ein Pareto-verbessernder Ubergang vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren moglich ist, so sollte er vorgenommen werden."
Aufgabe 5.4: In einer geschlossenen Volkswirtschaft sei die gesamtwirtschaftliche Pro-KopfProduktionsfiinktion durch f(kt) = 4 • k(l/4 gegeben und die Nutzenfunktionen der Individuen durch U{c\l\c{^\) = cf)xl2 - c ^ 1 7 2 . Betrachten Sie im Folgenden nur Steady States.
5.8 Ubungsaufgaben a.
b.
c.
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Driicken Sie die gleichgewichtige und die „Golden-Rule"-Kapitalintensitat, &* bzw. k° sowie 1 + r* und l + r° jeweils als Funktionen der Bevolkerungswachstumsrate n aus. Berechnen Sie fur konstante Bevolkerung (n = 0) die Werte im Gleichgewicht, c^ * ,
Aufgabe 5.5: } Gegeben sei die altruistische Nutzenfunktion Ut = In c)0)a_iw(2Klw(2) + — In c\+[ + — In c)
Wir betrachten eine kleine offene Volkswirtschaft, in der der (exogene) Zinssatz 50% und das Lohneinkommen in jeder Periode 2 Konsumguteinheiten betragt; die Bevolkerung sei konstant. a.
b. c. d.
e.
Wie lautet die Zielfunktion fur eine optimale Aufteilung des Lebenseinkommens, wenn jede Generation berucksichtigt, dass die Hohe des Geschenks der nachfolgenden Generation an sie von ihrer eigenen Ersparnis abhangt? Welche Werte ergeben sich fur s, B, c^ und c^ im Steady-StateStackelberg-Gleichgewicht? Wie lautet die optimale Steady-State-Losung? Welche Folgerung kann aus einem Vergleich zwischen dem zuletzt ermittelten gesellschaftlichen Optimum und der Gleichgewichtslosungen fiir die Gestaltung eines Alterssicherungssystems in diesem Beispiel gezogen werden? Kritisieren Sie die Annahmen des Modells.
Aufgabe 5.6: Gegeben sei die Nutzenfunktion Ut = c^ • cj+] • (4 - lt). Wir betrachten eine kleine offene Volkswirtschaft mit konstanter Bevolkerung, in der der (exogene) Zinssatz r -1 / 3 betragt. Jede Person / im Erwerbsalter sei durch ein Fahigkeitsniveau wt charakterisiert, das zugleich seinen Lohnsatz misst, konne sich entscheiden zu arbeiten (lt = 1) oder nicht (lt = 0). Jede Person, ob alt oder jung, habe Anspruch auf eine bedurftigkeitsgeprufte Sozialhilfeleistung von a = 3. Diese werde durch eine Lohnsteuer mit dem Steuersatz r fmanziert. Die Regierung denke dariiber nach, ob sie ein obligatorisches kapitalgedecktes Rentensystem mit dem Beitragssatz b auf Arbeitseinkommen einfuhren soil. a.
Ermitteln Sie, in welchen Einkommensbereichen - in Abhangigkeit der Abgabensatze b und T - es rational ist,
190
5 Rentenversicherung
1. zu arbeiten und zu sparen, 2. zu arbeiten, aber nicht zu sparen, 3. nicht zu arbeiten. b. Die Gesellschaft bestehe aus drei Individuen mit den Fahigkeiten wl = 3 , w2 = 6 und w3 - 24 . Berechnen Sie den zum Budgetausgleich notwendigen Steuersatz T in Abwesenheit eines Rentensystems und die zugehorigen Nutzenwerte der drei Individuen. c. Nun werde ein obligatorisches Rentensystem mit dem Beitragssatz b = 0,15 eingeflihrt. Berechnen Sie den zum Budgetausgleich notwendigen Steuersatz, falls Individuum 2 weiterhin arbeitet. Zeigen Sie, dass es sich jedoch dann flir Individuum 2 nicht mehr lohnt zu arbeiten und ermitteln Sie den in diesem Fall erforderlichen Steuersatz. Berechnen Sie die resultierenden Nutzenhohen der drei Individuen und vergleichen Sie sie mit dem Ergebnis in Teil b). Interpretieren Sie Ihr Ergebnis. Aufgabe 5.7: Ein 20jahriger, der ins Erwerbsleben eintritt, plane fur den Rest seines (sicheren) Lebenshorizonts bis zum Tod im Alter von 80 Jahren aufgrund der KonsumNutzenfunktion U{c) - lnc . Das Arbeitseinkommen je Periode betrage 1 und der Kreditmarkt sei perfekt bei einem Zinssatz von null. a.
b.
Eine Rentenversicherung existiere nicht. Wie groB muss sein Freizeitnutzen v sein, damit er sich freiwillig dazu entscheidet, mit 65 Jahren aus dem Arbeitsleben auszuscheiden? Wie groB ist sein erspartes Vermogen zu diesem Zeitpunkt? Nun werde eine obligatorische Rentenversicherung mit dem Beitragssatz b = u, 3 u n ( j sich dadurch
vers i c herungstechnischer
Aquivalenz eingefuhrt. Wie andern
1. sein Pensionierungszeitpunkt?, 2. die Hohe seines Vermogens zu diesem Zeitpunkt? c. Nehmen Sie an, der Freizeitnutzen betrage v = 1/2 . Charakterisieren Sie in diesem Fall eine optimale Ruhestandsentscheidung. d. Die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland kann als eine beitragsabhangige Rente mit Aquivalenzgrad £ < 1 beschrieben werden. Heute wird vielfach gefordert, die Abschlage bei vorzeitigem Rentenbezug zu erhohen. 1. Stellen Sie diese Reform als eine Anderung der GroBen
5.9 Literatur
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Aufgabe 5.8: Wir betrachten gemaB dem Modell von Browning (1975) eine Gesellschaft mit konstanter Bevolkerung und konstantem Lohnsatz w. Die wahlberechtigte Bevolkerung sei in 60 Jahrgangsgruppen (Index a mit a > 21) unterteilt, von denen die ersten 40 ( 2 1 < a < 6 0 ) arbeiten, die restlichen 20 ( 6 1 < a < 8 0 ) Rentner sind. Sparen sei nicht moglich, d.h. die einzige Form der Alterssicherung ist ein umlageflnanziertes Rentensystem, liber dessen Beitragssatz b demokratisch abgestimmt wird. Ein Arbeiter im Alter a habe die Nutzenfunktion
„
f,.
Una = > In clt f£ a. b. c.
v
mit
(w(l-b)mrt<60
cl t = < [2-b'W
furr>61
Zeigen Sie, dass der gewiinschte Beitragssatz b* unter der Annahme, er werde dauerhaft gtiltig bleiben, mit dem Alter des Arbeiters monoton zunimmt. Ermitteln Sie den optimalen Beitragssatz fur einen Wahler, der gerade ins Erwerbsleben eintritt, und interpretieren Sie Ihr Ergebnis okonomisch. Kritisieren Sie die Annahmen des Modells von Browning.
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5 Rentenversicherung
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6 Krankenversicherung
6.1 Griinde fiir Staatseingriffe Medizinische Giiter und Dienstleistungen sind keine offentlichen, sondern private Giiter. Individuen konnen yon der Nutzung dieser Giiter ausgeschlossen werden und die Produktionsfaktoren, die in die Behandlung des einen Patienten flieBen, stehen fur einen anderen Patienten nicht zur Verfiigung. Es herrscht somit „Rivalitat im Konsum medizinischer Giiter und Dienstleistungen". Obwohl es sich nicht um offentliche Giiter handelt, kommt es im Zusammenhang mit der medizinischen Versorgung in alien Landern aber zu mehr oder weniger intensiven Eingriffen des Staates. Wir wollen zunachst danach fragen, wie diese weit verbreitete staatliche Einflussnahme auf das Gesundheitswesen aus okonomischer Sicht zu erklaren und zu beurteilen ist.
6.1.1 Spezieller Altruismus und das Prinzip der Chancengleichheit Die Moglichkeit zur Nutzung medizinischer Giiter und Dienstleistungen ist in einigen Fallen eine Frage von Leben und Tod. Dariiber hinaus beeinflusst der Zugang zur medizinischen Versorgung die Lebensqualitdt der Individuen ganz entscheidend. Nur wenn man gesund ist, kann man das Leben genieBen und seine Lebenschancen nutzen. Gesundheitsguter sind deshalb zu den meisten Konsumgiitern (gutes Essen, Ferienreisen,...) komplementar. Im Ubrigen wirkt nicht nur die Behandlung einer bereits eingetretenen Krankheit nutzenstiftend. Bereits die Aussicht, im Bedarfsfall Zugang zur medizinischen Versorgung zu fmden, erhoht das Sicherheitsgefuhl der Individuen und somit ihr Wohlbefinden ganz entscheidend. Von den meisten Menschen wird der Gesundheitszustand aber auch mit anderen Augen als die iibrigen Bestimmungsfaktoren fur das individuelle Wohlbefinden (wie etwa die Hohe des materiellen Vermogens) gesehen, weil Krankheiten in besonderem MaBe zufalls- bzw. schicksalsabhangig sind. Dies schafft eine starkere Identifikation mit Kranken als mit Armen. Das Gefuhl, „das hatte mich auch treffen konnen", begiinstigt solidarisches Verhalten. Dazu kommt, dass Menschen es in der Regel schlecht ertragen konnen, andere leiden zu sehen oder auch nur iiber die Art ihres Leidens konkret Bescheid zu wissen. Dahinter steckt - neben reiner Nachstenliebe bzw. Altruismus - wieder die Furcht vor Gefahren, die einem selber oder nahen Angehorigen drohen konnen. Vielleicht entwickelt man auch eine Art schlechtes Gewissen, weil man sich ohne eigenes Zutun als Gesunder zu den vom Schicksal Bevorzugten zahlt. Auch hierdurch wird das Entstehen eines
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6 Krankenversicherung
spezifischen Solidaritatsgefuhls gefordert, das die Forderung nach einer vom Staat garantierten medizinischen Grundversorgung begunstigt. Im Gegensatz etwa zur Sozialhilfe ist eine Grundabsicherung im medizinischen Bereich auch weniger missbrauchsanfallig, weil es hier objektive und deshalb kaum strategisch manipulierbare Bedarfsindikationen zu geben scheint. Die Verwirklichung dieser Ziele erfordert aber bei Licht betrachtet nicht unbedingt, dass der Staat die Kosten der medizinischen Versorgung ubernimmt. Denkbar ware auch, dass er seinen Eingriff darauf beschrankt, die Burger zum Abschluss einer Krankenversicherung zu zwingen. Niemand miisste dann aufgrund behandelbarer Krankheiten fruher versterben oder unnotig leiden - die Individuen waren „nur" dem Risiko ausgesetzt, durch hohe Versicherungspramien zu verarmen. In einem System der Privatversicherung wtirden die Versicherungsunternehmen, wie wir im 4. Kapitel gesehen haben, von jedem Burger eine Pramie verlangen, die seinem spezifischen Krankheitskostenrisiko entspricht. Da Krankheitsrisiken jedoch zu einem erheblichen Teil auf Erbanlagen beruhen, waren diese versicherungsmathematisch berechneten Pramien in der Gesellschaft sehr ungleich verteilt: Ein kleiner Prozentsatz der Bevolkerung (z.B. Bluterkranke), die ohnehin schon von der Natur mit Krankheit und Leiden bedacht worden sind, mussten dartiber hinaus noch weit uberdurchschnittliche Kosten fur ihren Versicherungsschutz aufbringen. Dies kann man als einen VerstoB gegen das normative Prinzip der Chancengleichheit verstehen. Wenn es gegen das Risiko, mit einer hohen Krankheitsanfalligkeit geboren zu werden, eine Versicherung gabe und Ungeborene im Mutterleib (oder stellvertretend fur sie ihre Eltern) diese abschlieflen konnten, wtirde dies wohl jeder tun. Eine Pflichtversicherung mit der gesetzlichen Auflage, alle Burger anzunehmen („Kontrahierungszwang") und die Pramien nicht nach dem personlichen Risiko zu differenzieren („Diskriminierungsverbot"), erflillt aber genau den Zweck, die Versicherung gegen das Pramienrisiko zu ubernehmen. In dieser Argumentationskette kann man eine wesentliche, wenn nicht die wichtigste Begriindung ftir einen Staatseingriff im Gesundheitswesen finden.
6.1.2 Spezielle Eigenschaften von Gesundheitsgiitern Gesundheitsgiiter haben (iber den genannten Aspekt hinaus einige typische Merkmale, die in der Literatur mit der Notwendigkeit von Staatseingriffen in Zusammenhang gebracht werden: • Bei von Mensch zu Mensch ubertragbaren Krankheiten kommt es zu externen Effekten. Eine Impfung oder eine VorbeugungsmaBnahme ntitzt nicht nur dem Individuum, das sie vornimmt, sondern auch anderen Individuen, weil deren Ansteckungsrisiko sinkt. Der individuelle Nutzen einer Impfung (etwa gegen Kinderlahmung) oder einer VorbeugungsmaBnahme (etwa gegen Aids) liegt deshalb unter dem gesamtwirtschaftlichen Nutzen, so dass zu erwarten ist, dass das tatsachliche Niveau der freiwillig vorgenommenen Impfungen unter deren gesamtwirtschaftlich optimalen Niveau bleibt. In diesem Fall ist also ein klassi-
6.1 Griinde fur Staatseingriffe
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scher Marktversagensgrund gegeben - und eine staatliche (Mit)Finanzierung von Impf- bzw. Vorsorgeprogrammen oder sogar ein Impfzwang ist aus okonomischer Sicht geboten. • Durch Krankheiten droht eine Entwertung von Humankapital. Die Produktivitat von Erkrankten ist stark (in vielen Fallen auf null) reduziert. Wenn sich die Individuen ihren Beitrag zum Sozialprodukt durch Entlohnung vollstandig selber aneignen konnten, ware das gesamtwirtschaftliche Interesse unter Effizienzaspekten zwar nicht tangiert. In der Regel sind aber die Produktionsfaktoren Arbeit und Realkapital zueinander komplementar, so dass auch Dritte, die Besitzer des Realkapitals, einen Verlust erleiden, wenn ein Arbeitnehmer erkrankt oder einen Unfall erleidet. Zudem treten „Netzwerkeffekte" auf. Damit ist gemeint, dass zur Aufrechterhaltung vieler Produktionsprozesse der Einsatz von Spezialisten erforderlich ist, die sich kurzfristig nicht ohne weiteres ersetzen lassen. Fallen diese in Folge von Krankheit aus, konnen auch die anderen Arbeitnehmer und der Kapitalbestand nicht mehr optimal eingesetzt werden, und es drohen eventuell enorme ProduktionseinbuBen. Zu berticksichtigen ist ebenso, dass auch die Pflege von Kranken (durch Angehorige oder Krankenhauspersonal) Humankapital bindet, das dem Produktionsprozess nicht mehr zur Verfugung steht. Wenn Eltern in jungen Jahren sterben, leidet zudem die Erziehung der Kinder, d.h. die Bildung von Humankapital. Ein aktuelles Beispiel fur derartige wirtschaftliche EinbuBen infolge von Erkrankungen stellt die starke Ausbreitung von AIDS in Afrika dar. In den afrikanischen Landern siidlich der Sahara gilt diese Epidemie mittlerweile als groBtes Hindernis fiir die weitere wirtschaftliche Entwicklung.1 Die Ausgestaltung des Gesundheitssystems hat auch auf anderer Ebene Einfluss auf das in einer Volkswirtschaft vorhandene Humankapital. Wenn potenzielle Eltern damit rechnen mtissen, dass sie die hohen Behandlungskosten fur eine schon bei Geburt eines Kindes vorhandene chronische Erkrankung selber zu tragen haben, wird das ihren Kinderwunsch damp fen. Es werden weniger Kinder in die Welt gesetzt, die Produktion von Humankapital geht zurtick. In einer von Bevolkerungsrtickgang gekennzeichneten Gesellschaft wie der deutschen ist ein solcher Effekt unerwunscht. Die staatliche Gesundheitspolitik lasst sich dann auch als Bestandteil der Bevolkerungspolitik begreifen. • Gesundheitsgtiter weisen - wie zuvor schon bemerkt - einen betrachtlichen Optionswert auf. Die Individuen ziehen nicht erst dann Nutzen aus diesen Gtitern, wenn eine Krankheit eingetreten ist, sondern auch, weil sie wissen, dass im Bedarfsfall gentigend Behandlungsmoglichkeiten vorhanden sein werden. Dass der Markt von sich aus eine solche Absicherung zu Stande bringt, ist kaum zu erwarten. Wenn ich den verstandlichen Wunsch habe, in unmittelbarer Nahe meines Wohn- oder Urlaubsortes rasch einen Arzt konsultieren zu konnen, Obwohl dies zunachst vielleicht zynisch klingen mag, so ist es doch moglich, dass der von Aids verursachte demografische Schock auch gewisse aus okonomischer Sicht positive Nebeneffekte haben kann. So zeigen empirische Untersuchungen, dass die AidsEpidemie im siidlichen Afrika einen sprunghaften Anstieg der Kapitalintensitat bewirkt und auf diesem Wege einen Wachstumsimpuls ausgelost hat.
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6 Krankenversicherung
kann ich isoliert nur wenig fur die Erfiillung dieses Wunsches tun. Einen Privatarzt oder eine Privatklinik konnen sich die wenigsten leisten - und konnten sie es, ware eine solche dezentrale Losung auch in hochstem MaBe ineffizient, weil Uberkapazitaten geschaffen wtirden. Dieses Problem als solches ist naturlich merit auf Gesundheitsguter beschrankt: Solange es den Tante-Emma-Laden um die Ecke gibt, habe ich die Wahl, ob ich dort kaufe oder nicht. Macht er die Tiiren zu, geht diese Option verloren und man muss, wenn man vergessen hat, Milch zu kaufen, zu einem weit entfernten Supermarkt fahren oder auf die Milch verzichten. Dies ist argerlich und unbequem, eine analoge Situation bei Gesundheitsgutern kann aber todlicfy sein. Deswegen liegen insbesondere im Bereich der Notfallmedizin MaBnahmen zur Sicherung einer entsprechenden Grundversorgung im Interesse aller Individuen. Der Abschluss privater Vertrage, die entsprechende Optionen in jedem Fall garantieren, ist keine attraktive Alternative. Solche privaten Anbieter konnen in Konkurs gehen, so dass schon deswegen der angestrebte absolute Schutz nicht erreicht wird. Absicherungsstrategien auf rein privater Basis waren zudem (wegen des Vorliegens ausgepragter Economies of Scale) auch ineffizienter als ein staatlich koordiniertes Notfallsystem. Staatliche Regulierung bedeutet jedoch nicht zwangslaufig, dass auch die Leistungserbringung durch staatliche Instanzen erfolgt. Vielmehr kann der Staat im Bereich der Notfallversorgung private Subuntemehmer beauftrageh, wie es in Deutschland teilweise der Fall ist. Auch im Krankenhausbereich benotigt man fur Falle von Katastrophen und Epidemien die Vorhaltung einer gewissen Reservekapazitat, die von privaten Anbietern nicht von selber bereitgestellt wird, weil sie moglicherweise nie genutzt wird. • Medizinische Gtiter stellen typische Expertengilter dar. Die Patienten sind in der Regel liber Notwendigkeit, Angemessenheit und Qualitat medizinischer Leistungen nur unzureichend informiert, so dass das Konzept des „Homo Oeconomicus" nur eingeschrankt anwendbar ist. Dieses Phanomen tritt jedoch nicht nur im Gesundheitswesen auf, sondern z.B. auch in der Beziehung zwischen Klient und Rechtsanwalt oder zwischen dem Kunden einer Kfz-Werkstatt und dem Kfz-Mechaniker. Dort dtirfte das Problem in der Regel aber weniger gravierend sein als bei der medizinischen Yersorgung, bei der das Risiko einer Fehleinschatzung der Qualitat oft extrem, das fur eine fundierte Beurteilung notwendige Fachwissen gleichzeitig jedoch auBerordentlich hoch ist. Anders als bei der Autoreparatur helfen auch friihere Erfahrungen eines Nachfragers nur wenig, wenn es um nicht regelmaBig auftretende Behandlungen durch Spezialisten geht, die bei vielen schweren Erkrankungen erforderlich werden. Gerade in solchen Fallen dtirfte eine wiederholte Nachfrage aber eher die Ausnahme darstellen. Gesundheitsguter stellen deshalb nur zum Teil Vertrauensguter dar, bei denen sich die Konsumenten durch haufige Nachfrage einen Eindruck von der Qualitat eines Anbieters verschaffen konnen. Bei akuten Erkrankungen oder Unfallen bleibt dem Patienten und seinen Angehorigen im Ubrigen auch nicht die Zeit, sich tiber die Qualitat eines Arztes oder einer medizinischen Einrichtung zuverlassig zu informieren. Vom Lehrbuchideal des
6.1 Griinde fiir Staatseingriffe
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Homo Oeconomicus ist die Nachfrage nach Gesundheitsgutern somit weit entfernt. • Auf den ersten Blick mag zwar die Idee ganz plausibel erscheinen, dass die Garantie hoher Sicherheitsstandards in einem staatlich organisierten Gesundheitssystem am relativ besten verwirklicht werden kann, weil dort eine umfassendere Kontrolle moglich ist und zumindest das Profitmotiv als Anreiz fiir unzureichende Behandlungsqualitat („Kurpfuscherei") entfallt. Dies ist aber keineswegs zwingend. So ist eine Selbstkontrolle der Behandlungsqualitat durch Arztevereinigungen moglich und funktioniert (wie bei den Arztekammern in Deutschland) auch weitgehend zuverlassig. Zudem besteht bei zu weitgehenden staatlichen Kontrollen die Gefahr, dass die Arzte sich in ihrer Entscheidungsfreiheit zu sehr beschrankt fiihlen und ihr Berufsethos (zu Lasten der Patienten) deshalb Schaden nimmt. Zudem kann man sich auf Kontrollen innerhalb eines umfassenden staatlichen Gesundheitssystems auch deswegen weniger verlassen, weil es hier kaum wirklich unabhangige Experten zur Begutachtung von Fehlbehandlungen geben wird. Im Zusammenhang mit dem Prinzipal-Agenten-Problem zwischen Arzt und Patient ist ein Staatseingriff ziemlich unumstritten: Das Recht zur Durchfiihrung bestimmter Therapien soil jemand nur besitzen, wenn er sich zuvor einem Zulassungsverfahren (Approbation) unterzogen hat, in dem seine Qualifikation fiir diese Aufgabe genau geprtift wird. Genauso hat der Staat dafiir zu sorgen, dass mit zu groBen Gesundheitsrisiken verbundene Medikamente nicht auf den Markt gebracht werden dtirfen bzw. die Patienten zumindest tiber unvermeidbare Nebenwirkungen von Medikamenten umfassend informiert werden. Dazu sind aufwandige und langwierige Zulassungsverfahren erforderlich, wie sie in Deutschland vom Bundesinstitut fur Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) durchgefuhrt werden. Der unregulierte Markt kann das extreme Sicherheitsbediirfhis der Individuen im medizinischen Bereich nicht befriedigen. Folgerung 6-1: Gesundheitsgiiter weisen zahlreiche spezielle Merkmale auf. Diese stehen v.a. im Zusammenhang mit der potenziellen Existenznotwendigkeit der Versorgung mit diesen Gutern und der typischerweise I unvollkommenen Information der Individuen tiber die Qualitat der Gtiterbereitstellung. Das Bild des Homo Oeconomicus ist daher im Gesundheitsbereich nur eingeschrankt anwendbar. I Die bisher dargestellten Argumente liefern zwar wichtige Anhaltspunkte fur die Begrtindung staatlicher MaBnahmen im Gesundheitsbereich, betreffen jedoch letztlich nur Teilbereiche. Die in der Realitat zu beobachtende Regulierungsdichte konnen sie nur teilweise erklaren. Die Ursache fiir die meisten staatlichen Interventionen im medizinischen Bereich ist vielmehr in einem moglichen Allokationsversagen auf Krankenversicherungsmdrkten zu suchen. Diesem Thema wollen wir uns j etzt zuwenden.
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6 Krankenversicherung
6.1.3 Die Relevanz adverser Selektion fiir Krankenversichemngsmarkte Im 4. Kapitel wurde begriindet, dass unter ganz bestimmten Voraussetzungen ein Versagen privater Versicherungsmarkte auf Grund von adverser Selektion die Einftihrung einer Pflichtversicherung durch den Staat rechtfertigen kann. Hier haben wir nun zu priifen, ob diese Bedingungen im Falle der Krankenversicherung vorliegen. Dass asymmetrische Information tiber das Krankheitsrisiko tatsachlich den typischen Fall darstellt, erscheint durchaus zweifelhaft. Den Versicherungsgesellschaften ist es ja nicht verwehrt, vor Abschluss eines Vertrages die potenziellen Versicherungsnehmer zur Offenlegung von Vorerkrankungen und zu Eingangsuntersuchungen zu zwingen - und private Versicherungsgesellschaften tun dies auch. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse tiber das Behandlungskostenrisiko einzelner Individuen wird es moglich, fiir die Individuen risikoaquivalente Pramien zu berechnen. Auch Risikofaktoren, die mit der Lebensweise zusammenhangen (Alkohol, Zigaretten,...), lassen sich teilweise durch medizinische Tests ermitteln. Die Einteilung in Risikoklassen, die sich auf diese Weise ergibt, mag recht grob sein. Wie trennscharf sie werden kann, hangt davon ab, inwieweit der Stand des medizinischen Wissens es erlaubt, ohne allzu grofien Untersuchungsaufwand von diagnostischen Befunden (Gewicht, Blutdruck, Blutbild, ...) auf zuktinftige Krankheitsrisiken zu schlieBen. Dass hier zwangslaufig ein Informationsvorsprung der Versicherten bestehen sollte, ist jedoch nicht erkennbar. Es ist nicht allzu ungewohnlich, dass Individuen erst bei Eingangsuntersuchungen fur Versicherungen uberhaupt merken, wo ihre gesundheitlichen Schwachstellen liegen. Zudem kann ex post eine Versicherung die Leistungsubernahme fur bestimmte Behandlungen auch verweigern, wenn sich herausstellt, dass der Versicherte beim Abschluss der Versicherung nicht die Wahrheit gesagt und etwa Vorerkrankungen verschwiegen hat. Gerade fur viele kostspielige Krankheiten (wie Bluthochdruck oder manche Formen von Krebs) gilt, dass die Wahrscheinlichkeit, an ihnen zu erkranken, in erheblichem MaBe genetisch bedingt ist. Versicherungsgesellschaften konnten versuchen, sich entsprechende Informationen einfach dadurch zu beschaffen, dass sie den Bewerber um eine Versicherung nach Erkrankungen von Eltern und GroBeltern fragen. LFberprufbar sind die hierbei erlangten Informationen (mit Ausnahme echter Erbkrankheiten wie Hamophilie (Bluterkrankheit)) allerdings nur schwer. Man kann von Individuen auch kaum verlangen, dass sie tiber die Krankheiten ihrer Vorfahren genau Bescheid wissen. Der medizinische Fortschritt in Form von sich immer weiter verbessernden Moglichkeiten, durch genetische Tests die Anfalligkeit fur bestimmte Krankheiten zu erkennen, schafft neue Moglichkeiten zur wesentlich genaueren Einstufung der Versicherten in einzelne Risikoklassen. Wenn die erbliche Veranlagung fur Krankheiten leichter verifiziert werden kann, waren die Versicherungsgesellschaften eher im Stande, risikoaquivalente Pramien festzusetzen, so dass die mit adverser Selektion zusammenhangenden Probleme an Bedeutung verlieren. Wenn jedoch in der Realitat die Versicherungsgesellschaften kein Recht zur Beschaffung bzw. Verwertung genetischer Daten haben, nimmt das Informationsgefalle zwischen Versicherten und Versicherern moglicherweise sogar zu. Die
6.1 Griinde fur Staatseingriffe
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Probleme adverser Selektion auf Versicherungsmarkten werden dann grofier, wenn zwar die Versicherten liber ihre genetische Beschaffenheit Bescheid wissen, die Versicherungsgesellschaften jedoch nicht. Die Versicherungsgesellschaften konnten dann ja Vertrage mit Leistungsausschliissen bzw. hohen Selbstbeteiligungen anbieten, die gerade fur Individuen mit vorteilhafter genetischer Ausstattung attraktiv waren und von diesen dann bevorzugt gewahlt werden. Die Folge ware ein Trenn-Gleichgewicht, das, wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, nicht Paretoeffizient ist. Ein Losungsansatz ware es, genetische Informationen zur Verwendung durch Versicherungen freizugeben, um damit das Problem asymmetrischer Information zu entscharfen. Nach genetischer Ausstattung differenzierte risikoaquivalente Pramien wtirden sich aber zwischen den einzelnen Individuen schon von Geburt an unterscheiden. So wtinschenswert dies fur die Effizienz des Krankenversicherungsmarktes ware, so wenig wtirden wohl die zu erwartenden Unterschiede in den Pramiensatzen von den Versicherten und der Offentlichkeit unter Verteilungsgesichtspunkten akzeptiert. Folgerung 6-2: Das Problem der adversen Selektion verhindert nicht von I vornherein das Funktionieren privater Krankenversicherungsmarkte. Die I dabei erforderliche Differenzierung der Pramienhohe nach dem individuellen Erkrankungsrisiko wird aber von den Individuen aus Vorsichts- und Gerechtigkeitsgrtinden nur in Grenzen akzeptiert. Durch die verbesserten I Moglichkeiten zur Gen-Diagnose wird dieses Problem verscharft.
6.1.4 Das Pramienrisiko als Motiv fur Staatseingriffe im Bereich von Krankenversicherungen Wenn risikoaverse Individuen eine Krankenversicherung abschlieBen, mochten sie damit eine dauerhafte Vermeidung ihres Behandlungskostenrisikos erreichen: Wenn ich damit rechnene muss, irgendwann im Laufe meines Lebens in eine hohere Risikoklasse eingestuft zu werden und hohere Pramien zahlen mzu mtissen, erfullt die Versicherung ihren Zweck nur noch zum Teil. Das Problem ist allerdings, dass private Krankenversicherungen nur schwer in der Lage sind, tiber den gesamten Lebenszyklus eines Individuums hinweg die angestrebte umfassende Absicherung zu gewahren. Bei der ublichen periodenweisen Gestaltung von Krankenversicherungsvertragen wird ein sich im Zeitablauf verschlechternder Gesundheitszustand eines Versicherten ja zu einer Pramienanhebung fuhren. Es entsteht somit ein Pramienrisiko, durch das sich der Grad der faktischen Absicherung der Individuen erheblich vermindern kann. Was damit genau gemeint ist, soil zunachst an einem einfachen Beispiel veranschaulicht werden. Anders als in dem zuvor behandelten versicherungstheoretischen Modell gehen wir dabei nicht von einer einzigen, sondern von n > 2 Perioden aus. Es gibt eine groBe Zahl identischer Individuen, deren Lebenszeit sich einheitlich tiber diese n Perioden erstreckt. In jeder Periode wird ein Individuum mit der Wahrscheinlich-
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6 Krankenversicherung
keit n von einer bestimmten chronischen Krankheit befallen, die dann in alien nachfolgenden Perioden Behandlungskosten in Hohe von jeweils L verursacht. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass der Zinssatz null ist, so dass wir uns komplizierte Barwertberechnungen ersparen konnen. Wenn auf dem Versicherungsmarkt in dieser Situation kurzfristige Vertrage angeboten werden, deren Laufzeit sich auf eine einzige Periode beschrankt und die genau die in dieser Periode anfallenden Behandlungskosten abdecken, zahlt jedes versicherte (und noch gesunde) Individuum pro Periode die - bezogen auf die einzelne Periode - faire Pramie nL (= Wahrscheinlichkeit des Versicherungsfalls x Versicherungsleistung pro Periode). Allerdings ist es unter den getroffenen Annahmen fur Individuen, die in einer Periode t neu erkranken, uberhaupt nicht mehr moglich, in den auf diese Periode folgenden Perioden uberhaupt noch eine Versicherung abzuschlieBen. Fur die chronisch Erkrankten sind die in jeder dieser Perioden anfallenden Behandlungskosten zu einer sicheren GroBe geworden und miissen von ihnen selbst getragen werden. Ihre Belastung in der Periode t+\ und alien darauf folgenden Perioden belauft sich dann auf die Behandlungskosten L (pro Periode). Der Versicherungsmarkt bringt in diesem Falle also eine bei langerer Betrachtung nur hochst unvollkommene Absicherung der Individuen zustande. In der Periode 1 etwa versichert sich ein Individuum nur dagegen, dass ihm wahrend dieser Periode Kosten in Hohe von L mit der Wahrscheinlichkeit n entstehen. Die durch eine Erkrankung in Periode 1 in den Folgeperioden entstehenden Kosten in Hohe von (n-\)L bleiben unversichert, ebenso naturlich die Kosten aus einer Erkrankung in einer spateren Periode. Worin liegt der Fehler in der Argumentation? Man ist es gewohnt, in der Wahrscheinlichkeit des Schadensfalles und der Hohe von Versicherungsleistungen in einer Periode die Grundlage fur eine korrekte Pramienermittlung zu sehen. Dies ist auch angemessen, wenn in jeder Periode im Prinzip das gleiche Risiko (wie etwa bei einer Hausratversicherung) vorliegt. Bei Erkrankungen, deren Folgekosten sich iiber mehrere Perioden erstrecken, ist dies aber vollig anders. Die richtige Anwendung des Versicherungsprinzips auf diesen Fall besagt, dass auch Vertrage mit begrenzter Laufzeit alle Kosten erfassen sollten, die durch einen wahrend der Versicherungsperiode eintretenden „SchadensfaH" entstehen - unabhangig davon, in welcher Periode die davon ausgelosten Kosten anfallen. Die faire Pramie einer solchen fur eine Periode abgeschlossenen, aber nicht „kurzsichtigen" Versicherung wlirde dann in Periode 1 nnL (und eben nicht mxxnL) betragen. In diesem einfachen Modell wurde unterstellt, dass bei chronischen Erkrankungen alle damit verbundenen Behandlungskosten mit absoluter Sicherheit anfallen. Diese Annahme ist aber unrealistisch. Vielmehr steigt in vielen Fallen nur die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter Kosten, so bei Diabetes etwa die Notwendigkeit zur Behandlung von GefaB- oder Augenerkrankungen. Wie eine solche Erhohung des Behandlungskostenrisikos bei der Gestaltung von Versicherungsangeboten berticksichtigt werden kann und welche Konsequenzen sich daraus fur den Markt fur Krankenversicherungen ergeben, wollen wir jetzt erortern. Um die Darstellung moglichst einfach zu halten, beschranken wir uns dabei auf
6.1 Griinde fiir Staatseingriffe
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ein Modell mit zwei Perioden. Die Uberlegungen lassen sich aber auch auf den Fall mit mehr als zwei Perioden tibertragen, wodurch sich zusatzliche Erkenntnisse tiber das Pramienrisikos gewinnen lassen (vgl. Kifmann, 2002). Es soil wiederum eine groBe Zahl von Individuen geben, bei denen im Falle einer Erkrankung in einer der beiden Perioden Behandlungskosten in Hohe von jeweils L entstehen. In der ersten Periode weisen alle Individuen ein niedriges Behandlungskostenrisiko auf, dessen Wahrscheinlichkeit mit nL bezeichnet wird. In der zweiten Periode erhoht sich aber fiir einen Teil der Individuen die Erkrankungswahrscheinlichkeit auf nH , wahrend die Wahrscheinlichkeit fiir die ubrigen Individuen bei nL bleibt. Von welchem Risikotyp ein bestimmtes Individuum ist, offenbart sich allerdings erst in der zweiten Periode, dann allerdings sowohl fur die Individuen selber als auch fiir die Versicherungsgesellschaften in eindeutiger Weise, so dass die Informationen immer symmetrisch verteilt sind. In der ersten Periode soil aber nur die mit nK bezeichnete Wahrscheinlichkeit daftir bekannt sein, dass ein Individuum in der zweiten Periode zu einem hohen Risiko wird, nicht aber, welche Individuen dies genau sein werden. Aus Vereinfachungsgrtinden wird wiederum ein Zinssatz von null angenommen. Bei einer Versicherung, die sich nur auf die jeweils in einer Periode anfallenden Behandlungskosten bezieht, bezahlen alle Individuen (bei fairer Vollversicherung) in der ersten Periode die einheitliche Pramie ;rLL . In der zweiten Periode kommt es jedoch zu einer Differenzierung: Wahrend fur die verbleibenden L-Typen die Pramie nach wie vor nLL betragt, steigt sie fiir die //-Typen auf nHL . Dieser mit der Wahrscheinlichkeit nK eintretende Pramienanstieg stellt fiir alle Individuen in der Periode 1 das Pramienrisiko dar, gegen das sich risikoaverse Individuen ex ante gleichfalls absichern mochten. Im Rahmen ublicher periodenbezogener Versicherungsvertrage konnte ein naiver Ansatz zur Bewaltigung des Pramienrisikoproblems darin bestehen, die uber die zwei Perioden hinweg anfallenden durchschnittlichen Behandlungskosten in Hohe von G := {nL + (1 - nK )nL + nKnH )L gleichmaBig auf beide Perioden zu verteilen. Jedes Individuum hatte dann sowohl in Periode 1 als auch in Periode 2 die gleiche Pramie G/2 zu entrichten, und das Pramienrisiko ware vollig eliminiert. Allerdings ist kaum zu erwarten, dass sich eine solche einfache Losung am Versicherungsmarkt durchsetzt. Diejenigen, die in der zweiten Periode noch ein geringes Erkrankungsrisiko aufweisen, werden feststellen, dass die bei einem solchen Vertrag von ihnen in Periode 2 zu zahlende Pramie groBer ist als ihre in Bezug auf diese Periode faire Pramie in Hohe von 7rLL . Diese Individuen haben also einen Anreiz, den in Periode 1 abgeschlossenen Versicherungsvertrag zu kiindigen. Das Angebot eines entsprechenden fiir LTypen giinstigeren Versicherungsvertrages ist fiir die Versicherungsgesellschaften zudem in kostendeckender Weise moglich. Im alten Vertrag wurden dann nur die H-Typm verbleiben, so dass ohne Verluste bei den Versicherern die ursprunglich
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6 Krankenversicherung
vereinbarte Pramienhohe nicht eingehalten werden kann. Das Pramienrisiko wird durch das beschriebene Arrangement somit nur abgemildert, aber nicht vollkommen ausgeschaltet. Auf Grund der Risikoaversion der Individuen ist das ein ineffizientes Ergebnis. Dass den Individuen die vollige Absicherung versagt bleibt, lasst sich auch als Folge eines Zeitkonsistenzproblems begreifen, wie man es aus vielen Bereichen der Okonomie kennt: Die Einhaltung einer Abmachung oder einer Ankiindigung, die fur ein Wirtschaftssubjekt in einer frtiheren Periode rational war, kann sich in einer spateren Periode fur dieses Wirtschaftssubjekt als unvorteilhaft erweisen, was die Erreichung effizienter Losungen erschwert. Im Prinzip lasst sich die Gefahr eines solchen opportunistischen Verhaltens dadurch vermeiden, dass man bei den vertraglichen Vereinbarungen langfristige Verpflichtungen vorsieht. Im konkreten Fall wtirde dies bedeuten, dass die Individuen auf Dauer an eine bestimmte Krankenversicherung gebunden sind und zu Pramienzahlungen an diese gezwungen werden. Aufgrund der langen Laufzeit solcher Vertrage entstehen dabei aber bei beiden Vertragsparteien erhebliche Risiken, die in ihrem AusmaB dem Pramienrisiko, um dessen Verminderung es hier ja geht, entsprechen konnen. Auf der einen Seite ist fur die Versicherungsgesellschaften unklar, ob sie ihre Anspruche an die Versicherten tatsachlich durchsetzen konnen, da diese moglicherweise zahlungsunfahig werden, ins Ausland ziehen oder sich aber die gesetzlichen Regelungen fur die Versicherungen andern. Auf der anderen Seite konnen die Versicherungsnehmer nur schwer einschatzen, ob sie zu einem weit in der Zukunft liegenden Zeitpunkt die fmanziellen Belastungen aus den vereinbarten Pramienzahlungen zu tragen in der Lage sind. Zudem macht es die auf lange Sicht kaum prognostizierbare Kostenentwicklung im medizinischen Bereich unvermeidbar, in gewissem Umfang eine Anpassung der Pramien zuzulassen. Mit einer definitiven Bindung der Individuen an einen langfristigen Versicherungsvertrag, bei der es keinerlei Ausstiegsoption gibt, ist diese notwendige Flexibility nur schwer vereinbar. Durch eine veranderte Vertragsgestaltung lasst sich ein Teil der Probleme, die bei diesem naiven Ansatz mit gleicher Pramie G/2 in beiden Perioden auftreten, beheben. So konnte in unserem Modell Opportunismus seitens der Versicherten dadurch vermieden werden, dass jeder Versicherte die sich auf die Kosten beider Perioden beziehende Gesamtpramie in Hohe von G bereits vollstandig in der ersten Periode entrichtet. Die Versicherung kann auf dieser Basis dann eine Rtickstellung fur die bei den //-Typen in Periode 2 anfallende Zusatzkosten bilden. Weil sie alle Zahlungen schon in Periode 1 geleistet haben, ware den verbleibenden LTypen in Periode 2 die Moglichkeit genommen, sich ihren vertraglichen Verpflichtungen zu entziehen. Zugleich wtirde bei den Versicherern das Einnahmerisiko und bei den Versicherten das Risiko uber die Hohe ihrer gesamten Pramienzahlung eliminiert. Allerdings ist unter realistischen Bedingungen damit zu rechnen, dass der am Anfang zu zahlende Pramiensatz sehr hoch ist und die Selbstfinanzierungsmoglichkeiten vieler Individuen ubersteigt. Selbst wenn in diesem Falle dann eine Kreditflnanzierung der Pramienzahlung zustande kommen wtirde, kame es durch die dann zu veranschlagende Pramie fur das Ausfallrisiko zu einer betrachtlichen
6.1 Griinde fur Staatseingriffe
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Erhohung der Gesamtkosten fur die Versicherten. Zu bedenken ist iiberdies, dass im Prinzip bereits Eltern flir ihre Kinder eine solche Vorauszahlung leisten mussten, was zumindest in diesem Fall staatliche UnterstutzungsmaBnahmen unverzichtbar machen diirfte. Diese Schwierigkeiten werden dadurch abgemildert, dass die Pramie in der ersten Periode kleiner als G sein kann, ohne dadurch die Anreiz-Kompatibilitat des Arrangements zu gefahrden. Wenn alle Individuen in der zweiten Periode die Pramie nLL bezahlen, ist es bei Kostendeckung fur eine Versicherung nicht mehr moglich, einen L-Typen in Periode 2 aus einem bestehenden Kontrakt herauszulosen. Die Pramienzahlung in Periode 1 kann sich dann auf das Niveau G-7TLL = L\nL + nK >{nH -nL)] vermindern. In der zweiten Periode bezahlen dann alle Individuen - die L-Typen und die //-Typen - die gleiche Pramie nLL. Auch bei diesem Vertragstyp sinkt also die Pramienbelastung im Zeitablauf, wie es flir vorausschauende Versicherungsvertrage, die eine Vorsorge gegen das Pramienrisiko treffen, typisch ist. Wahrend durch eine solche Vorauszahlung von Pramien opportunistisches Verhalten bei den Versicherten ausgeschaltet werden kann, nimmt gleichzeitig die Opportunismusgefahr auf Seiten der Versicherer zu: Das Eigeninteresse der Versicherungsunternehmen an der Aufrechterhaltung eines zufrieden stellenden Service fur die Versicherten wird vermindert, wenn sie einen groBen Teil der gesamten Pramienzahlung schon lange vor dem Eintreten des Versicherungsfalls erhalten haben. Zur Senkung ihrer Ausgaben werden die Versicherer auch versuchen, die medizinischen Leistungen auf das gemaB der vertraglichen Vereinbarungen mogliche MindestmaB zu reduzieren, was aufgrund nur unvollstandig spezifizierbarer Vertragsbedingungen erleichtert wird. Dazu tritt das Problem der angemessenen Kalkulation der zur Abdeckung des Pramienrisikos notwendigen Vorauszahlungen. Insbesondere lasst sich die zukiinftige Entwicklung des medizinischtechnischen Fortschritts nur unvollstandig berticksichtigen, so dass prinzipiell die Gefahr besteht, dass bei unzureichender Hohe der Anfangspramie die Versicherten von neuen Behandlungsmethoden ausgeschlossen werden. Zudem sind mit hohen Transaktionskosten verbundene Rechtstreitigkeiten um die Ubernahme von Behandlungskosten vorprogrammiert. Aus all diesen Griinden wissen die Individuen letztlich nicht, was sie von den Versicherungen in weit entfernter Zukunft an Leistungen zu erwarten haben. Der von den Individuen erreichte Absicherungsgrad bleibt somit beschrankt. Ein Teil dieser Hindernisse einer privatwirtschaftlichen Bewaltigung des Pramienrisikoproblems lasst sich durch ein alternatives Vertragsdesign reduzieren. In diesem Zusammenhang wird zum einen vorgeschlagen, den Individuen das Recht einzuraumen, bei einem Versicherungswechsel die zur Abdeckung zukunftiger Kosten angesammelten Ruckstellungen auf die neue Versicherungsgesellschaft ubertragen zu diirfen. Dadurch wird die Bindung der Versicherten an eine einzige Versicherungsgesellschaft gelockert, der Wettbewerb zwischen den einzelnen Versicherungsgesellschaften intensiviert und die Gefahr opportunistischen Verhaltens seitens der Versicherer vermindert. Zum anderen ware es denkbar, die eigentliche Versicherung flir die laufenden Krankheitskosten durch eine separate Versi-
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6 Krankenversicherung
cherung gegen das Pramienkostenrisiko zu erganzen. Fur diese Versicherung wiirfallig, wahrend die de in Periode 1 eine Pramie in Hohe von nK (nH -nL)L Pramie fur die „normale" Krankenversicherung in beiden Perioden jeweils nLL betragt. Auch hierdurch wiirde der effizienzforderne Wettbewerb zwischen den Krankenversicherungen gestarkt. Allerdings sind auch hier in erheblichem MaBe Pramienvorauszahlungen erforderlich, wenn ein spateres Ausscheren von Individuen mit geringem Risiko vermieden werden soil. Die Probleme bei der Ermittlung dieser Pramien, wie wir sie zuvor beschrieben haben, bleiben grundsatzlich bestehen. Sie werden nur von der eigentlichen Krankenversicherung in die neue Pramienversicherung verlagert. Die Konsequenz aus diesen Uberlegungen zum Pramienrisiko ist also, dass die umfassende Absicherung gegen Risiken, die risikoscheue Individuen gerade im Bereich der medizinischen Versorgung wtinschen, von einem vollig freien Markt fur private Krankenversicherungen nicht garantiert werden kann. Eine Versicherung, bei der weder die Pramienhohe noch die Leistungen einigermaBen sicher sind, wird von den Individuen kaum als befriedigende Losung akzeptiert werden. In dieser Hinsicht „versagt" der Markt fur private Krankenversicherungen sogar unter ansonsten idealen Bedingungen, d.h. also auch dann, wenn keine asymmetrische Information zwischen Versicherern und Versicherten vorliegt. Folgerung 6-3: Kurzfristige Krankenversicherungsvertrage ftihren wegen des Pramienrisikos nicht zu der von den Individuen gewunschten nachhaltigen Absicherung gegen das Behandlungskostenrisiko. Langfristige Vertrage sind aber mit der Gefahr opportunistischen Verhaltens bei Versiche-1 rem und Versicherten verbunden und konnen deswegen (und wegen des Problems der adaquaten Erforschung des medizinischen-technischen Fortschritts) das Problem des Pramienrisikos nur unzureichend losen. Von einer staatlichen Bereitstellung des Krankenversicherungsschutzes erhoffen sich viele die Vermeidung dieses Problems, d.h. eine auf Dauer wirksame umfassende Absicherung im Krankheitsfall. Zumindest scheint der Staat zur Gewahrung absoluter Garantien im Hinblick auf Pramiensatze und Behandlungsstandards grundsatzlich eher in der Lage zu sein. Allerdings sind die Kostensteigerungen in Folge des medizinischen Fortschritts generell unversicherbar, so dass man in dieser Hinsicht nicht von einem Versagen des Marktes sprechen kann. Das Problem der Kostenexplosion bei staatlicher Versorgung ist damit vorprogrammiert, oder aber die Individuen werden in ihrer Hoffnung auf eine umfassende staatliche Versorgung enttauscht.
6.1.5 Die Sozialhilfe als Ursache fur Allokationsversagen auf dem Markt fur private Krankenversicherungen Es gibt einen weiteren wichtigen Grund dafur, dass der Staat im Gesundheitsbereich aktiv werden und die Individuen zumindest zum Abschluss einer Kranken-
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versicherung zwingen sollte. Das Ziel dabei ist, eine ganz bestimmte Art von Trittbrettfahrer-Verhalten auszuschlieBen und so eine Uberbeanspruchung der Sozialhilfe und gleichzeitig eine unzureichende Absicherung der Individuen zu vermeiden. In diesem Zusammenhang geht es nicht um die Korrektur eines Marktversagens im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr um die Verhinderung von Wohlfahrtsverlusten, die eine andere staatliche MaBnahme ansonsten erzeugen wiirde. Die staatliche Garantie des Existenzminimums beinhaltet ja insbesondere die Gewahrleistung einer Grundsicherung im Krankheitsfalle. Es besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens, dass auch flnanziell weniger leistungsfahigen Individuen eine medizinische Behandlung auf keinen Fall verweigert werden darf, wenn dadurch eine Verlangerung des Lebens und die Vermeidung eines erheblichen Verlusts an Lebensqualitat moglich wird. Durch die Garantie eines solchen Basisschutzes entstehen aber Fehlanreize, welche die Einzelnen vom Abschluss einer privaten Krankenversicherung abhalten konnen. Weil sie sich auf eine Rettung durch den Staat verlassen konnen, sinkt die Bereitschaft zur Privatvorsorge. Welche Mechanismen hierbei im Einzelnen wirken, wird im Folgenden anhand eines Modells gezeigt. In diesem Modell gibt es wiederum eine groBe Anzahl von Individuen, deren individuelle Erkrankungsrisiken stochastisch unabhangig sein sollen. Im ZweiZustands-Vermogensdiagramm sei W0 das Anfangsvermogen eines reprasentativen Individuums. Mit L bezeichnen wir wie zuvor die Behandlungskosten bei Krankheit (die „Schadenshohe"), die mit der Erkrankungswahrscheinlichkeit n anfallen. Neu hinzu tritt jetzt aber das Existenzminimum genannte Endvermogen W , das ein Individuum zur Finanzierung seines taglichen Bedarfs und zur Aufrechterhaltung eines menschenwtirdigen Daseins unbedingt benotigt. Falls WQ-L <W gilt, d.h. die Kosten zur Sicherung des Existenzminimums (in Hohe von W ) zusammen mit den Behandlungskosten der Krankheit (in Hohe von L) das Anfangsvermogen W0 tibersteigen, musste das Individuum im Krankheitsfall entweder verhungern oder aber seine Krankheit musste unbehandelt bleiben. Um eine solche durch das Fehlen eigener fmanzieller Mittel bedingte Existenzbedrohung auf alle Falle zu verhindern, wurde in nahezu alien entwickelten Landern ein System der sozialen Grundsicherung („Sozialhilfeu) eingefuhrt Ihre Aufgabe besteht im Rahmen unseres Modells darin, die Lucke zwischen dem existenziellen Grundbedarf W + L im Krankheitsfall und dem verfugbaren Vermogen W0 zu schlieBen, was pro erkranktem Individuum Aufwendungen in Hohe von S = W + L-WQ verursacht. In diesem Modell wird der Einfachheit halber davon ausgegangen, dass ein Individuum auch dann, wenn es gesund bleibt, nicht zu Finanzierung dieser Sozialhilfeausgaben herangezogen wird. Als Finanzierungsquelle dient vielmehr die Besteuerung einer anderen Gruppe reicher Individuen (oder Unternehmen), deren
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6 Krankenversicherung
explizite Darstellung im Rahmen des Modells fur das Grundverstandnis allerdings nicht erforderlich ist und deshalb hier unterbleibt.2 Im W2 -Wx -Diagramm (vgl. Abb. 6-1), in dem auf der horizontalen Achse das verfugbare Vermogen W2 im Falle der Nicht-Erkrankung und auf der vertikalen Achse das verfugbare Vermogen Wx im Krankheitsfall abgetragen wird, gelangt ein Individuum bei Gewahrung einer sozialen Grundsicherung in den Punkt B = (W0,W), wahrend ohne diese Grundsicherung seine Position durch den Punkt A = (W0,W0'-L) beschrieben wiirde. W,
c
w WQ-L
/ \ \ B
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F
N:
\
A
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w,
Abb. 6-1: Die Versicherungsentscheidung bei Gewahrung einer Grundsicherung Ware es fur das Individuum in dieser Situation moglich, die in B durch die Sozialhilfe erreichte Teilabsicherung aufzustocken, ergabe sich zumindest unter Effizienzgesichtspunkten kein Problem: Jedes Individuum wiirde namlich bei einer fairen Versicherungspramie p = n, ausgehend von B, den Vollversicherungspunkt C = ((l-7r)WQ+7rW,(l-^W0+7rW) wahlen, der sich als Schnittpunkt zwischen der fairen Versicherungsgeraden durch B mit Anstieg -{\-n)l n und der 45°-Sicherheitslinie ergibt. Unter den in der Realitat fur eine soziale Grundsicherung geltenden Bedingungen ist eine solche freiwillige Entscheidung fur eine Pareto-optimale Vollversicherung jedoch nicht zu erwarten. Bei der Sozialhilfe wie in Deutschland erfolgen gemafi dem Bedurftigkeitsprinzip - ja erst dann Zahlungen des Staates, wenn das eigene Vermogen zur Finanzierung des Existenzminimums samt der Krankheits2
Die Modellergebnisse andern sich nicht, wenn man unterstellt, dass alle Individuen ex ante identisch sind und die Finanzierung der Sozialhilfeausgaben durch eine Kopfsteuer innerhalb der Gruppe selbst aufgebracht werden muss.
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kosten nicht mehr ausreicht. Zum vorhandenen Vermogen, auf das bei der Ermittlung der Sozialhilfeanspriiche zunachst einmal zurtickgegriffen wird und das die Anspruche auf Zahlung von Sozialhilfe mindert, zahlen aber audi die Leistungen aus einer privaten Krankenversicherung. Welche Folgen diese Anrechnung der Leistungen einer privaten Krankenversicherung auf die Sozialhilfe fur die Versicherungsentscheidung eines Individuums hat, wollen wir jetzt genauer analysieren. Zu diesem Zweck iiberlegen wir, welche Position im W2 - Wx -Diagramm das Individuum erreichen kann, wenn es zum fairen Pramiensatz p = n eine Krankenversicherung mit einer zunachst beliebigen Deckungssumme V e[Q,L] abschlieBt. Das Individuum zahlt dann die Pramie nV, so dass sein Endvermogen bei Nicht-Erkrankung W0 -nV betragt. Im Krankheitsfall erhalt das Individuum von der privaten Versicherung hingegen eine effektive Zahlung in Hohe von (\-7r)V, wobei die Verminderung der Nettoleistung der Versicherung um die Pramienzahlung nV berlicksichtigt ist. Bei V = 0 bezieht das Individuum die voile Sozialhilfe in Hohe von S und befmdet sich in Abb. 6-1 im Punkt B. Bei Abschluss einer privaten Krankenversicherung mit der Deckungssumme V > 0 reduziert sich die Sozialhilfezahlung im Krankheitsfall wegen der Anrechnung der Versicherungsleistung auf S-(\-TT)V,
(6.1)
solange die vom Individuum gewahlte Deckungssumme V unter dem Schwellenwert
liegt. Das Individuum erzielt dann im Krankheitsfall gegenuber der Situation einer vollen Inanspruchnahme der Sozialhilfe keinerlei Verbesserung. Gleichzeitig wird aber bei Nicht-Erkrankung sein Vermogen durch die Pramienzahlung um nV vermindert. In Abb. 6-1 bedeutet dies, dass sich das Individuum bei V < F * auf einer durch B verlaufenden horizontalen Linie nach links bewegt, wenn es die Deckungssumme Ferhoht. Bei V = V* wird der Punkt B' erreicht, bei dem die Netto-Leistung der privaten Krankenversicherung gerade so hoch wie die urspriingliche Sozialhilfeleistung S ist, d.h. F*=S/(l-7r) gilt. Erst fur eine Deckungssumme V > V * zeigt die private Krankenversicherung fur ein erkranktes Individuum uberhaupt einen realen Effekt. Sein Nettovermogen im Krankheitsfall betragt dann W0-L + (l-7r)V >W,
(6-3)
und das Individuum befindet sich auf der fairen Versicherungslinie, die durch den Punkt B' ftihrt und den Anstieg -{\-n)ln aufweist. Diese Linie ist identisch
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6 Krankenversicherung
mit der fairen Versicherungslinie durch den Punkt ^4. Bei Vollversicherung V = L erreicht das Individuum schliefilich den Punkt C auf der Sicherheitslinie, in dem es liber ein sicheres Endvermogen in Hohe von W0 -nL verftigt und der unterhalb des zunachst betrachteten hypothetischen Vollversicherungspunktes C liegt. Fur die Bereitschaft eines Individuums zum Abschluss einer privaten Krankenversicherung ergeben sich aus diesen Uberlegungen die folgenden Konsequenzen: Wenn - wie in Abb. 6-1 dargestellt - der Punkt B oberhalb der durch C" verlaufenden Indifferenzkurve 1(C) liegt, verliert das betrachtete Individuum den Anreiz zum Abschluss einer privaten Krankenversicherung. Im Sozialhilfe-Punkt B stellt es sich ja besser als in dem unter den gegebenen Umstanden erreichbaren Vollversicherungspunkt C. Es bleibt beim Punkt B und dem vollen Bezug der Sozialhilfe. Allerdings tritt dieses Ergebnis nicht zwangslaufig ein. Je nachdem, welche Risikopraferenzen das Individuum hat und wie hoch sein Anfangsvermogen JV0 ist, kann B auch unterhalb der durch C verlaufenden Indifferenzkurve 1(C) liegen. Jedes Individuum hatte dann trotz des Grundsicherungssystems einen Anreiz zum Abschluss einer Vollversicherung, und die Sozialhilfezahlungen sowie die zu ihrer Finanzierung benotigten Steuern wtirden iiberfltissig. Dazu kommt es, wenn das Individuum entweder sehr risikoavers ist und seine Indifferenzkurven somit stark gekrtimmt sind oder aber wenn es bei gegebenen Risikopraferenzen liber ein relativ hohes Antragsvermogen W0 verftigt. Die zweite dieser beiden Behauptungen wollen wir jetzt prazise begrlinden. Dazu nehmen wir an, dass sich das Individuum bei einem bestimmten Wert von W0 fur die private Vollversicherung anstelle einer potenziellen Inanspruchnahme der Sozialhilfe (in Abb. 6-1 also fur den Punkt C statt B) entschieden hat. Die formale Bedingung hierfiir lautet u(W0 - nL) > (1 - TT)U(W0 ) + nu(W).
(6-4)
Die Erwartungsnutzenwerte auf beiden Seiten dieser Ungleichung werden dann als Funktionen von W0 aufgefasst und nach W0 abgeleitet. Die Ableitung der linken Seite lautet u'(WQ -nL), die der rechten (l-n)u'(W0). Wegen der Konkavitat der vNM-Nutzenfunktion u(W) und wegen n > 0 erhalt man beim Vergleich dieser beiden Ableitungen u'(W0 -nL) >(l-n)u'(WQ), so dass die Funktion auf der linken Seite von (6.4) schneller wachst als die Funktion auf der rechten Seite. Wenn das Individuum bei einem bestimmten Wert W0 der privaten Vollversicherung den Vorzug vor der Sozialhilfe gibt, gilt dies somit auch fur alle hoheren Niveaus des Anfangsvermogens. Anders gesagt: Bei Erhohung des Anfangsvermogens wird deshalb der Abschluss einer privaten Krankenversicherung wahrscheinlicher. Kehren wir jetzt aber zu dem in Abb. 6-1 dargestellten Fall zurlick, in dem aus individuellem Blickwinkel die Inanspruchnahme der Sozialhilfe vorteilhafter ist. In dieser Situation konnen politische MaBnahmen, d.h. die Einfiihrung einer
6.1 Grtinde fur Staatseingriffe
209
Krankenversicherungspflicht, daflir sorgen, dass es zu einer Pareto-Verbesserung kommt. Die zu diesem Zwecke ergriffene Politik besteht aus zwei Komponenten: 1. der Verpflichtung der Individuen zum Abschluss einer fairen Vollversicherung zum Pramiensatz p = n und der Deckungssumme V - L , 2. der Gewahrung eines sicheren Transfers in Hohe von 7rS an jedes Individuum. Die Hohe dieses Transfers entspricht also genau dem Erwartungswert der im Krankheitsfall entstehenden Sozialhilfeausgaben pro Kopf, was sicherstellt, dass die nicht explizit betrachteten Zahler nicht schlechter gestellt werden. In Folge dieser Politik erreichen die Individuen dann mit Sicherheit den Nutzenwert u(W0 +7rS- nL), der uber dem Erwartungsnutzen im Sozialhilfepunkt B, (1 -n)u(W 0 ) + 7TU(W) , liegt. Wegen der Konkavitat der Nutzenfimktion folgt dieser Vergleich der Nutzenwerte aus der Ubereinstimmung der Erwartungswerte des Vermogens in beiden Fallen, d.h. aus W0 + 7r(S - L) = (1 - 7r)W0 + nW bzw. 7t(S -L)- 7i{W - W0), was zu. S = W + L - W0 Equivalent ist und somit der ursprtinglichen Festlegung von S entspricht. Eine weitere Konsequenz dieser Uberlegungen ist, dass die von einem Pro-Kopf-Transfer in Hohe von nS begleitete Krankenversicherungspflicht in Abb. 6-1 alle Individuen in den Vollversicherungspunkt C fuhrt. In dieser ersten Politikvariante bleiben die Belastung und damit auch der nicht im Einzelnen beschriebene Nutzen der Zahler unverandert. Alternativ dazu ware es aber auch moglich, den Transfer leicht unter nS abzusenken, so dass es den Transferempfangern zwar immer noch besser als in B geht, die Zahler jedoch eine echte Entlastung erfahren. Die Einfuhrung einer Krankenversicherungspflicht wiirde dann eine Nutzenerhohung bei alien Beteiligten und somit sogar eine strikte Pareto-Verbesserung bewirken. Dass der private Krankenversicherungsmarkt in der hier betrachteten Situation nicht zu effizienten Vollversicherungslosungen fuhrt, wird bemerkenswerterweise nicht durch ein Marktversagen im eigentlichen Sinne verursacht. Vielmehr beruht die Verzerrung der individuellen Anreize selber auf einem staatlichen Eingriff, namlich der Gewahrung einer sozialen Grundsicherung. Wenn man aus ethischen Grtinden die staatliche Garantie des Existenzminimums nicht abschaffen will, hilft nur ein zweiter Eingriff, namlich die Einfuhrung einer Krankenversicherungspflicht. Auf diese Weise lasst es sich vermeiden, dass die Individuen auf den Abschluss einer privaten Krankenversicherung verzichten und sich als Trittbrettfahrer stattdessen auf die im Bedarfsfall gewahrten Leistungen aus der Sozialhilfe verlassen.
210
6 Krankenversicherung Folgerung 6-4: Die Gewahrung einer unbedingten sozialen Grundsicherung durch den Staat vermindert die individuellen Anreize zum Abschluss einer privaten Krankenversicherung. Die aus Effizienzgrtinden wunschenswerte Erreichung eines Voliversicherungszustandes wird dadurch v.a. bei Individuen mit niedrigem Einkommen oder Vermogen verhindert. Die Einfuhrung einer Krankenversicherungspflicht kann in diesem Fall zu einer Pareto-Verbesserung fuhren. Ein staatlicher Eingriff dient dann der Vermeidung der negativen allokativen Wirkungen einer anderen staatlichen MaBnahme, namlich der Sozialhilfe.
6.2 Probleme bei der Ausgestaltung von Vertragen im Gesundheitsbereich Individuen haben gerade im Gesundheitsbereich ein starkes Interesse an einem effektiven und dauerhaften Versicherungsschutz. Diesem Bedurfnis der Individuen tragt der Versicherungsmarkt aber - wie wir gesehen haben - nicht ohne Weiteres Rechnung, was Staatseingriffe erforderlich macht. Aus dieser Diagnose kann aber noch nicht eindeutig abgeleitet werden, welche Form eines staatlichen Eingriffs die richtige ist. Eine direkte Bereitstellung von Gesundheitsgutern durch den Staat selber (etwa wie beim Nationalen Gesundheitsdienst {National Health Service) in GroBbritannien) lasst sich auf diese Weise kaum begrunden. Auf der Grundlage unserer bisherigen Uberlegungen konnte es stattdessen viel nahe liegender erscheinen, dass der Staat lediglich den Markt fur private Krankenversicherungen bestimmten Regulierungen unterwirft, um die sich aus adverser Selektion und dem Pramienrisiko ergebenden Probleme zumindest abzumildern. Bei der Gestaltung von Staatseingriffen im Gesundheitsbereich mussen die spezifischen Eigenschaften von Gesundheitsgtiter Berticksichtigung flnden, die allerdings nicht nur fur staatliches Handeln von Bedeutung sind. Jedes Gesundheitssystem, unabhangig davon, ob es mehr offentlich oder mehr privat organisiert ist, wird mit Schwierigkeiten konfrontiert, die sich aus den besonderen Charakteristika von Gesundheitsgutern ergeben. Die folgenden Oberlegungen treffen somit in weiten Teilen auch auf starker privatwirtschaftlich organisierte Gesundheitssysteme (wie etwa das der USA) zu. Die Eigenschaften von Gesundheitsgutern, die bei der Ausgestaltung von Regeln und vertraglichen Beziehungen im Gesundheitswesen beachtet werden milssen, betreffen vor allem • Moral-Hazard-Phanomene sowie • das Problem der „angebotsinduzierten Nachfrage". Beide Faktoren begtinstigen eine in vielen Fallen unangemessene Ausdehnung des Leistungsumfangs im Gesundheitsbereich und lassen sich deshalb als wichtige
6.2 Probleme bei der Ausgestaltung von Vertragen im Gesundheitsbereich
211
Ursachen fllr die vielfach beklagte „Kostenexplosion im Gesundheitswesen" auffassen, 6.2.1 Moral-Hazard-Phanomene 6.2.1.1 Die beiden Typen des Moral Hazard Bei vielen Arten von Versicherungen sind EffizienzeinbuBen eines ganz speziellen Typs vorprogrammiert. Wenn Individuen namlich die Kosten flir von ihnen in Anspruch genommene Leistungen abgenommen werden, steigt ihre Nachfrage nach diesen Leistungen. In gewisser Weise ist dies eine Variante des altbekannten Trittbrettfahrerproblems. Im Zusammenhang mit Versicherungen wird es aber unter den Begriff des Verhaltensrisikos {Moral Hazard) gefasst. Es gibt zwei Arten von Verhaltensrisiko: • Moral Hazard ex ante Damit ist gemeint, dass die Individuen bei vollstandiger Absicherung zu wenig tun, um das Auftreten des Schadensfalls zu verhindern. Speziell bei Krankenversicherungen heiBt dies, dass die Individuen zu viel rauchen, Alkohol trinken, sich ungesund ernahren, Motorrad fahren und ahnlich gefahrliche Dinge tun - eben weil sie wissen, dass die Behandlung der aus diesen gesundheitsschadigenden Aktivitaten resultierenden Krankheiten oder Unfalle von der Versichertengemeinschaft bezahlt wird. • Moral Hazard ex post Die Individuen bemiihen sich bei einem bereits eingetretenen Schadensfall zu wenig um die Begrenzung der Folgekosten, wenn diese von einer Versicherung tibernommen werden. Konnen die Individuen die Kosten auf andere abwalzen, werden sie mehr medizinische Leistungen nachfragen, als wenn sie die Kosten aus eigener Tasche zu bezahlen haben. Auch wird ihr Interesse an einer Wiederaufnahme der Berufstatigkeit nach einer Krankheit oder einem Unfall vermindert, wenn die finanziellen EinbuBen bei Arbeitsunfahigkeit durch ausreichenden Versicherungsschutz nur gering ausfallen. Bei der Gestaltung der Versicherungsvertrage (sowohl bei privaten als auch gesetzlichen/staatlichen Krankenversicherungen) kann versucht werden, beiden Moral-Hazard-Phanomenen entgegenzuwirken. Im Hinblick auf Moral Hazard ex ante gibt es in einigen Landern bei privaten Krankenversicherungen Pramienzuschlage fur gesundheitsgefahrdendes Verhalten - und bei der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland sind entsprechende Regelungen immer wieder im Gesprach. Es bestehen aber erhebliche Kontrollprobleme, und die Drohung mit Leistungsausschlussen oder Regressforderungen bei unwahren Angaben lasst sich im offentlichen Gesundheitswesen nur schwer durchsetzen. Zudem ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass es zu Eingriffen in die Privatsphare der Individuen kommen kann, die in einem demokratischen Rechtsstaat nur schwer tole-
212
6 Krankenversicherung
rierbar sind. Eine mit dem Rechtsstaat kompatible Alternative besteht darin, die Substanzen (Fett, Zucker, Alkohol), deren Konsum statistisch gesehen die Gesundheitsausgaben erhoht, mit einer Steuer zu belegen. Fur den Bereich der Krankenversicherungen mindestens genauso gravierend durfte das Problem des Moral Hazard ex post sein. Die Versicherten haben ja den (psychologisch durchaus verstandlichen) Wunsch, im Krankheitsfalle eine moglichst gute (und damit eben kostspielige) Versorgung zu erhalten. Gesundheit ist kaum durch andere Gtiter substituierbar. Das Sicherheitsbedurfnis der Individuen ist deshalb gerade hier besonders hoch, was dazu fiihrt, dass auch unnotige und faktisch unniitze Therapien nachgefragt werden. Die Versicherungen konnen zwar versuchen, diesem Problem durch Leistungsausschlusse und -begrenzungen zu begegnen. Im Vergleich zu anderen Versicherungen sind aber erhebliche Zweifel daran angebracht, ob solche Ansatze zur Kostendampfung bei Krankenversicherungen tatsachlich in der erwiinschten Weise funktionieren. Der Anspruch, den die Individuen gegentiber den Versicherungsunternehmen haben, wtirde in diesem Fall selber sehr unsicher, und die Erfullung des eigentlichen Versicherungszwecks ware gefahrdet. Zudem ist mit Rechtsstreitigkeiten zu rechnen, fur die im Falle schwerer lebensbedrohender Erkrankungen keine Zeit bleibt und die fllr die Betroffenen psychisch nur schwer zu ertragen sind. Stirbt ein Versicherter in Folge einer Nicht-Gewahrung von Leistungen oder erleidet er bleibende Schaden, erscheint dies nicht nur aus ethischen Grlinden fragwtirdig, sondern es drohen den Versicherungen auch immense Schadensersatzforderungen. Von daher haben Versicherungsgesellschaften selber vielfach kein allzu groftes Interesse an Ausschlussklauseln, die sich in der Regel nicht trennscharf und juristisch wasserdicht formulieren lassen. Auch fur den Staat konnen sich Probleme ergeben, weil bei einer Leistungsverweigerung durch die Versicherungsgesellschaften die Gefahr besteht, dass er (quasi als letzte Instanz) die Behandlungskosten ubernehmen muss. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Staat hier in die moralische Pflicht genommen wird, eben weil er - aus der Sicht der Wahler - die privaten Versicherungsunternehmen nicht genligend reguliert und zu einem versichertenfreundlichen Verhalten zwingt. Insgesamt gesehen sprechen also viele Grtinde dafur, dass sich das Problem des (ex post) Moral Hazard im Bereich der Krankenversicherung nicht einfach losen lasst. Aus okonomischer Sicht liegt es nahe, Moral-Hazard-Verhalten durch eine Selbstbeteiligung der Patienten an den Behandlungskosten einzudammen. Die Idee ist, die Individuen durch ein Preissignal zu einem sparsameren Umgang mit knappen medizinischen Ressourcen zu bewegen. Zuzahlungen haben in der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland als MaBnahmen zur Kostendampfung in den vergangenen Jahren immer mehr Bedeutung erlangt. Die hier bestehenden Einzelregelungen werden wir spater noch etwas naher kennen lernen. 6.2.1.2 Formen der Kostenbeteiligung der Patienten Welche Nachfrageeffekte von verschiedenen Formen der Kostenbeteiligung ausgelost werden, wollen wir jetzt im Rahmen eines einfachen nachfragetheoreti-
6.2 Probleme bei der Ausgestaltung von Vertragen im Gesundheitsbereich
213
schen Modells analysieren. Dabei beschreibt/? den Abgabepreis fur ein medizinisches Gut (z.B. den Apothekenpreis fur ein Medikament oder den Preis fur eine Zahnkrone) und h die von den Individuen von diesem Gut konsumierte Menge, die mit steigendem Preis fallen soil. Mit h(p) wird die Nachfragefunktion fur dieses Gut beschrieben. Bei einer Festbetragsregelung erhalt der Versicherte unabhangig vom Preis der Leistung einen fixen Zuschuss d pro in Anspruch genommener Leistungseinheit, d.h. einen Festbetrag von der Versicherung fur eine bestimmte Form des Zahnersatzes. In einem Preis-Mengen-Diagramm verschiebt sich die Nachfragekurve hierdurch um den Zuschussbetrag d parallel nach oben (von AB nach ACD). Der effektiv zu zahlende Preis vermindert sich so genau um d, die neue Nachfragekurve ist h(p - d). Preis
Abb. 6-2: Verschiebung der Nachfragekurve durch Festbetrags-Zuschuss Wie sich die Gewahrung eines solchen Festbetrags auf die finanzielle Belastung der Individuen genau auswirkt, hangt ganz entscheidend von den am Markt fur das betreffende Gesundheitsgut herrschenden Bedingungen ab. Offensichtlich haben die Patienten von dem ihnen gewahrten Zuschuss umso weniger, je unelastischer das Angebot der entsprechenden medizinischen Leistung ist, d.h. je steiler die Angebotsfunktion in Abb. 6-2 verlauft. Im allerdings wenig realistischen Fall mit vollig preisunelastischem Angebot wtirden sich die Anbieter der Leistung dann den gesamten Zuschuss aneignen. Eine Entlastung der Versicherten im Vergleich zum Zustand ohne Versicherung ergabe sich nicht, so dass die Versicherung wertlos wiirde. Bei einer proportionalen Selbstbeteiligung der Versicherten dreht sich die ursprtingliche Nachfragekurve im Punkt A nach oben. Bei einer Selbstbeteiligungsquote der Versicherten in Hohe von a (bezogen auf den Anbieterpreis) verandert
214
6 Krankenversicherung
sich die Nachfragefunktion von h(p) (der Linie AB in Abb. 6-3) zu h{ap) (der Linie AD). Die Versicherung ubernimmt in diesem Fall den Anteil (\-cc) der Kosten. Auch hier gilt, dass den Versicherten (verglichen mit dem Fall ohne jede Versicherung) der Zuschuss nur wenig niitzt, wenn die Angebotskurve sehr steil verlauft. In diesem Modell sind die Festbetragsregelung und die proportionale Selbstbeteilung zueinander aquivalent. Damit ist gemeint, dass bei geschickter Abstimmung der Parameter d und a der gleiche Nachfrageeffekt mit der gleichen Belastungswirkung fur die Versicherten erreicht werden kann. Aus der Literatur zur Uberwalzung von Verbrauchsteuern ist ein ahnliches Argument wohlbekannt.
Abb. 6-3: Drehung der Nachfragekurve durch proportionale Selbstbeteiligung Die behauptete Aquivalenz zwischen Festbetragsregelung und proportionaler Selbstbeteilung gilt zudem nur bei einer rein statischen Betrachtungsweise. Dies machen wir uns an einem Beispiel klar. Angenommen im Ausgangszustand sei der Festbetrag fur ein bestimmtes Medikament auf 10 Euro festgesetzt. Die Wirkung soil dabei die gleiche sein wie bei einer proportionalen Selbstbeteiligung von 20 %. Es werde jetzt ein neues Medikament entwickelt, das besser wirkt bzw. mit geringeren Nebenwirkungen verbunden ist, dessen Herstellung aber zusatzliche Kosten in Hohe von 100 Euro verursacht. Die zusatzliche Zahlungsbereitschaft der Individuen fur diese medizinische Innovation belaufe sich aber nur auf 50 Euro. Beim Festbetrag von 10 Euro wird das Individuum beim ursprlinglichen Medikament bleiben, bei der proportionalen Selbstbeteiligung von 20% wird es sich jedoch fur das neue Medikament entscheiden. Dem Zusatznutzen von 50 Euro steht ja eine individuelle Kostenbelastung von lediglich 20 Euro gegeniiber. Die Ausgaben der Krankenversicherung wachsen jedoch um 80 Euro, obwohl gemessen am individuellen Nutzen-Kosten-Kalkul die neue Therapie nicht einmal vorteilhaft ist. Eine Festbetragsregelung tragt hier also nicht nur zur bloBen Kostendampfung
6.2 Probleme bei der Ausgestaltung von Vertragen im Gesundheitsbereich
215
bei, sondern ftihrt auch zur Erreichung der okonomisch effizienten Losung. Aus okonomischer Sicht ergibt sich deshalb eine gewisse Praferenz fur Festbetrage gegenuber einer proportionalen Selbstbeteiligung, weil der Konsument bei einem Festbetrag mit den vollen Grenzkosten der Behandlung konfrontiert ist. Etwas schwieriger zu verstehen sind die Wirkungen einer anderen Form der Selbstbeteiligung, namlich der Selbstbehaltregelung {Abzugsfranchise), von der man sich besonders hohe Einspareffekte erhofft. Die Individuen zahlen jetzt alle Ausgaben fur ein medizinisches Gut selber, bis der Franchise-Betrag F erreicht ist. Alle dartiber hinaus gehenden Ausgaben werden von der Versicherung ubernommen. Zu beachten ist, dass wir in der folgenden Uberlegung das NachfrageDiagramm auf ein einzelnes Individuum beziehen - genau fur dieses gilt ja der Franchise-Betrag F. Angenommen, ein bestimmter Preis p fur das betreffende Gesundheitsgut sei gegeben. Fur das betrachtete Individuum konnten jetzt im Prinzip zwei Optionen lohnend sein: zum einen die Wahl der Menge h(p) - wie im Fall ohne Versicherung - und zum anderen (bei planvoller Ausnutzung des Franchise-Betrags) der Konsum der Sattigungsmenge h , die im Schnittpunkt der Nachfragekurve mit der Mengenachse liegt und die das Individuum wahlen wurde, wenn ihm das betreffende Gut kostenlos zur Verfugung gestellt wurde. Wir iiberlegen uns, wovon es abhangt, welche der beiden Alternativen fur den Versicherten die vorteilhaftere ist. Preis
fo Menge
Abb. 6-4: Die individuelle Nachfrageentscheidung bei einer Abzugsfranchise Bei Entscheidung fur die erste Alternative erhalt das Individuum die Nettokonsumentenrente EDB (= Bruttokonsumentenrente OCDB abzgl. Aufwendungen OCDE). Bei einer Entscheidung fur die zweite Alternative (die Sattigungsmenge) steigt die Bruttokonsumentenrente urn die Flache des Trapezes OADE (auf OAB) und die Ausgaben des Individuums betragen F. Fur welche der beiden Alternativen sich das Individuum entscheidet, hangt also vom GroBenvergleich der Trapez-
216
6 Krankenversicherung
flache OADE und dem Franchisebetrag F ab. Indiffernz zwischen den beiden Optionen herrscht bei einem Preis p, bei dem gerade OADE = F gilt. (Ein solcher Schwellenpreis p existiert und ist eindeutig bestimmt, falls wir OAB > F annehmen. Bei sehr niedrigen Preiesen ist OADE ja sehr klein, wahrend sich diese Trapezflache bei hohen Preisen monoton der Flache OAB annahert.) Bei einem Preis p> p wird sich das Individuum dann dafiir entscheiden, die Sattigungsmenge h nachzufragen. Bei einem niedrigen Preis p< p wird es hingegen die Menge h(p) wahlen. Insgesamt gesehen ergibt sich also eine Nachfragekurve, die den in Abb. 6-5 dargestellten Verlauf aufweist und aus den Teilkurven AD und KL besteht. Preis B
\
L
\^
o
Menge
A
Abb. 6-5: Die Veranderung der Nachfragefunktion durch eine Abzugsfranchise Der amerikanische Gesundheitsokonom M Pauly, der dieses theoretische Modell entwickelt hat, beschreibt dessen Ergebnis folgendermafien: Unter einer Abzugsfranchise verhalt sich das Individuum entweder so, als ware es voll versichert, oder so, als ware es tiberhaupt nicht versichert (Pauly 1968, S.534). Eine maBvolle Einschrankung der Nachfrage nach medizinischen Gtitern kommt auf diesem Wege also nicht zustande. Um dieses Ziel zu erreichen, mtisste durch die Selbstbeteiligungsregelung stattdessen flir eine echt positive Grerczbelastung der Patienten bei alien Nachfrageniveaus gesorgt werden. Angesichts der hohen Kosten vieler medizinischer Leistungen ware dann aber zu befurchten, dass der Versicherungsschutz erheblich ausgehohlt wird und es somit zu einem Konflikt mit verteilungspolitischen Zielen kommt. Analysiert man die Anreizwirkungen von Selbstbeteiligungsmechanismen in dem ublichen mikrookonomischen Zwei-Guter-Haushaltsmodell, in dem eines der betrachteten Guter ein medizinisches Gut darstellt, ist ein zusatzlicher Effekt zu
6.2 Probleme bei der Ausgestaltung von Vertragen im Gesundheitsbereich
217
beachten, wenn in Folge der gestiegenen Selbstbeteiligung die Versicherungsbeitrage gesenkt werden. Bei Nicht-Inferioritat wirkt der dabei ausgeloste Einkommenseffekt auf eine hohere Nachfrage nach dem Gesundheitsgut hin. Bei einkommensabhangigen Beitragen wie im System der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland tritt dieser Einkommenseffekt besonders bei den Beziehern hoherer Einkommen auf, die verglichen mit den hoheren Zuzahlungen von der Beitragsreduktion uberproportional profitieren. Die von einer Selbstbeteiligung erhoffte Nachfragedampfung wird in diesem Falle reduziert, unter realistischen Bedingungen aber nicht zunichte gemacht. Eine andere Frage ist, ob die von einer Selbstbeteiligung der Patienten ausgehende Lenkungswirkung auch immer als wunschenswert gelten kann. So wird befurchtet, dass die Versicherten zogern konnten, bereits beim Auftreten der ersten Krankheitssymptome zum Arzt zu gehen, wenn sie einen Teil der dabei anfallenden Kosten selber tragen mtissen. Bei verspatetem Therapiebeginn konnten die gesamten Behandlungskosten dadurch sogar steigen. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Gefahr hingewiesen, dass das individuelle Humankapital durch die Unterlassung einer rechtzeitigen medizinischen Behandlung (und eine auf diese Weise bedingte vorzeitige Invaliditat) beeintrachtigt werden konne. Obwohl es entsprechende Einzelfalle sicher gibt, ist dieses Phanomen - wie die vorliegenden empirischen Untersuchungen (etwa aus dem Krankenversicherungs-Experiment der RAND Corporation, vgl. Manning u.a. 1987) zeigen - statistisch betrachtet von keiner allzu groBen Bedeutung. Ein rationaler Patient wird ja antizipieren, dass mit Zeitverzogerung auftretende hohere Behandlungskosten auch mit hoheren Zuzahlungen verbunden sein werden, so dass sich das Verschleppen von Krankheiten fur ihn nicht einmal finanziell lohnt. Trotzdem wird dieses Argument gegen Selbstbehaltregelungen in der offentlichen Diskussion um die Reform des Gesundheitswesens insbesondere von der Arztelobby immer wieder vorgebracht. Inwieweit die Nachfrage nach Gesundheitsgiitern tiberhaupt preiselastisch ist, bleibt umstritten. Gezeigt hat sich, dass in vielen Fallen langere Wartezeiten wesentlich starker nachfragedampfend wirken als Zuzahlungen - zumindest solange diese auf einem moderaten Niveau bleiben. Folgerung 6-5: Zur Verhinderung von Moral-Hazard-Verhalten ex ante und ex post liegt es nahe, die Patienten an ihren individuellen Behandlungskosten in gewissem Umfang zu beteiligen. Die dabei erzielten Lenkungseffekte hangen in starkem MaBe von der verwendeten Form der Selbstbeteiligung und von der Preiselastizitat des Angebots ab und sind auch nicht in jedem Falle positiv zu beurteilen.
6.2.2 Angebotsinduzierte Nachfrage Zuvor bereits hatten wir im Informationsgefalle zwischen Arzt und Patient ein spezifisches Merkmal des Gesundheitsbereichs erkannt. Bei der Entscheidung iiber Diagnose und Therapie sind die Individuen in ganz erheblichem MaBe auf die
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6 Krankenversicherung
Beratung durch Arzte angewiesen. Schon deswegen stimmt die Vorstellung, Patienten seien Kunden, die gemaB ihrer Praferenzen liber ihre Nachfrage nach medizinischen Gutern frei entscheiden, mit der Realitat kaum uberein. Vielmehr konnen die Arzte (d.h. die eigentlichen Leistungsanbieter) die von ihnen erbrachten Leistungen in weiten Grenzen selber bestimmen. In diesem Sinne ist die Nachfrage nach arztlichen Leistungen sicher „anbieterdeterminierta. Problematisch wird dieser Umstand dann, wenn die Anbieter ihre Ratschlage nicht im besten Interesse des Patienten geben, sondern dabei ihre eigenen Einkommensinteressen im Auge haben. Dann besteht die Gefahr, dass bei einer Zunahme des Angebots (d.h. der Zahl der Arzte pro Kopf der Bevolkerung) auch zu einer bewussten Stimulierung der „Nachfrage" kommt, so dass man von einer „angebotsinduzierten Nachfrage" sprechen muss. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch, dass in fast alien Bereichen der medizinischen Versorgung die technische Ausstattung im Lauf der Zeit immer anspruchsvoller geworden ist. Der Ubergang zur „Apparatemedizin" (Ultraschall, Computer-Tomograph etc.) bedeutet aber einen hoheren Fixkostenanteil an den Praxisausgaben. Der Zwang zur Amortisierung dieser Fixkosten begunstigt die Ausweitung der arztlichen Leistungen zusatzlich. Geringe Kontrollmoglichkeiten seitens des Patienten fuhren aber nicht nur zu unnotigen Therapien, sondern erleichtern es den Leistungsanbietern auch, sogar nicht erbrachte Leistungen abzurechnen. In einem System wie dem der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland, in dem Patienten nie eine Arztrechnung zu Gesicht bekommen, sind solche individuellen Aktivitaten immer wieder zu beobachten. Einzuraumen ist allerdings, dass mit angebotsinduzierter Nachfrage und schlichtem Betrug zusammenhangende Probleme nicht nur im Gesundheitssektor auftreten. Bei Reparaturen komplizierter technischer Gerate ist man darauf angewiesen, dass einem Fachleute sagen, was notwendig und sinnvoll ist. So ist man immer mit der Gefahr konfrontiert, dass Kfz-Werkstatten nicht erbrachte Leistungen abrechnen oder unnotig kostspielige Reparaturen durchfuhren. Das Problem der angebotsinduzierten Nachfrage kann anhand des folgenden kleinen theoretischen Modells beschrieben werden. Die Nutzenfunktion u(y,F) eines Arztes hat dabei zwei Argumente: Geldeinkommen y und Freizeit F. Der Gebtihrensatz („Preis") fur eine medizinische Leistung sei p, der Leistungsumfang wird mit H bezeichnet. Bei der Erbringung von H entstehen Praxiskosten in Hohe von C(H). Der Zeitaufwand, den der Arzt fur die Erbringung der Leistung H benotigt, betragt yH. Wichtig ist jetzt, dass H nicht exogen gegeben ist, sondern eben von speziellen MaBnahmen abhangt, die ihrerseits „Kosten" verursachen. Dabei denken wir in erster Linie an den Zeitaufwand, den der Arzt benotigt, um die Patienten von der Niitzlichkeit bzw. Notwendigkeit bestimmter Therapieformen zu tiberzeugen. Die Zeit, die ein Arzt in solche „WerbemaBnahmen" investiert, bezeichnen wir mit V. Der Leistungsumfang H ist dann eine Funktion von V (formal: H(V)), die mit steigendem V wachst. Der Nutzen des Arztes betragt dann
6.2 Probleme bei der Ausgestaltung von Vertragen im Gesundheitsbereich
u(PH(V) - C(H(V)) v
,F-yH(V)-V), /
v
219
v
v
y
/
F
wobei F wie ublich fur die Zeitausstattung steht. Als Marginalbedingung ergibt sich, wenn man den Nutzen nach Fableitet und die Ableitung gleich null setzt:
uy<(pH'-C'H')-uF<(yH'
+ l) = 0
bzw.
P-c^iy^) Uy (Dabei bezeichnen u
H
bzw. uF die Grenznutzen aus Einkommen du/dy
bzw.
Freizeit du/dF .) Der Grenzgewinn an Einkommen (linke Seite) entspricht im individuellen Optimum den marginalen Zeitaufwendungen (rechte Seite), die mit den Opportunitatskosten der Zeit uF I uy bewertet werden. Je groBer H' ist, d.h. je starker MaBnahmen zur Nachfrageinduzierung wirken, desto kleiner wird im Optimum die rechte und somit auch die linke Seite dieser Gleichung. Wenn die Produktionskostenfunktion C(H) einen steigenden Grenzkostenverlauf aufweist, d.h. C\H)
> 0 gilt,
impliziert das, dass bessere Moglichkeiten der nachfrageindu-
zierten Leistungsausweitung den monetaren Gewinn erhohen. Etwas anderes wird man auch kaum erwarten. Die Funktion H(V) wird natiirlich auch von anderen Variablen abhangen, die aber im Hinblick auf die im Modell untersuchte Frage als fest vorgegeben gelten mussen und deswegen nicht gesondert aufgeflihrt werden. Als solche exogenen Faktoren gelten: • • • •
Charakteristika des Arztes, wie z.B. seine Fachrichtung Zeitraum seit Grtindung der Praxis (Erfahrung, Reputation) Arztedichte in der Region Umfang des Versicherungsschutzes bzw. Grad der Selbstbeteiligung bei den Patienten
Insbesondere ist mit einer starkeren Nachfrageinduzierung seitens eines Arztes zu rechnen, • wenn er jung ist, d.h. seine Praxis noch nicht lange betreibt und somit noch liber keinen allzu groBen Patientenstamm verfligt, so dass ihm noch geniigend viel potenzielle Arbeitszeit bleibt, • wenn die Arztedichte in einer Region hoch ist und ein einzelner Arzt somit um die Auslastung seiner Kapazitat furchten muss,
220
6 Krankenversicherung
• wenn der Deckungsgrad der Krankenversicherungen sinkt und somit die originare Nachfrage nach medizinischen Leistungen zuriickgeht. Okonometrische Studien, die sich auf das Angebotsverhalten niedergelassener Arzte in Deutschland beziehen, zeigten, dass es zwischen den Konsultationen pro Krankenschein und der Arztedichte einen signifikanten Zusammenhang gibt (vgl. Breyer 1984). Ein Unterschied zwischen jungen und alten Arzten hat sich hier jedoch nicht gezeigt. Anders ist dies, wenn man die Konsultationen pro Patient und die Kosten pro Konsultation betrachtet. Hier ist das Alter des Arztes von entscheidender Bedeutung. Bei jungen Arzten fallen deutlich mehr Kosten an als bei alten. Allerdings deutet diese Beobachtung nicht zwangslaufig auf eine angebotsinduzierte Nachfrage im engeren Sinne hin. Sie lasst sich vielmehr auch so erklaren, dass in erster Linie jlingere Arzte liber eine moderne Praxiseinrichtung verfugen, die gewisse aufwandigere Diagnose- und Therapieformen (Computer-Tomographie) iiberhaupt erst erlaubt. Den Problemen, die von angebotsinduzierter Nachfrage im Gesundheitswesen verursacht werden, kann man auf verschiedene Weise zu begegnen versuchen. Am naheliegendsten ist nattirlich eine bessere Kontrolle der Notwendigkeit von Diagnose- und Behandlungsverfahren im Einzelfall. Abgesehen von Fallen echten Missbrauchs gibt es hier aber einige prinzipielle Hindernisse. Zum einen ist eine solche Kontrolle im medizinischen Bereich selber mit erheblichen Kosten verbunden. Die in weiten Bereichen bestehende (kostensparende) Einheit von Diagnose und Therapie wiirde teilweise aufgehoben. Zudem setzt eine effektive Kontrolle voraus, dass Mafistabe („Leitlinien") fur eine angemessene Behandlung definiert werden. Derartige Leitlinien sollen nicht nur Kosten sparen helfen, sondern auch die Qualitat der Behandlung heben, indem unnotige und den Patienten belastende Leistungen (wie Rontgenbilder) eingespart werden. Im Einzelfall konnen sie jedoch die Qualitat arztlichen Handelns auch beeintrachtigen. Patienten befurchten teilweise zu Recht, dass Behandlungsstandards dazu fuhren konnen, dass ihnen nicht mehr die bestmogliche Therapie zuteil wird. Jeder Standard stellt auch eine Art Rationierung dar, die auf Ablehnung von Patienten und Arzten stoBt. Etwas anders liegt die Angelegenheit moglicherweise in einem Gesundheitssystem mit begrenzten Kapazitaten und einer fixen Entlohnung der Arzte. In diesem Fall werden die Arzte Therapierichtlinien eher begrtiBen, weil sie zu einer Verminderung der Arbeitsbelastung und einer verbesserten individuellen Absicherung fuhren konnen. Generell ist zu erwarten, dass eine Begrenzung der Arztezahl und die somit verbundene hohe zeitliche Beanspruchung eines einzelnen Arztes das Problem der angebotsinduzierten Nachfrage erheblich vermindert. Diese Form der Kostendampfung dtirfte bei den Erkrankten aber kaum auf besondere Gegenliebe stoBen.
6.2 Probleme bei der Ausgestaltung von Vertragen im Gesundheitsbereich
221
Folgerung 6-6: Aufgrund von Informationsdefiziten bei den Patienten konnen im Gesundheitswesen die Anbieter den Umfang ihrer Leistungen in erheblichem MaBe selber bestimmen, wodurch zu einer ubermaBigen und ineffizienten Ausdehnung der erbrachten Leistung kommt. Die Ansatze zur Abmilderung des Problems der angebotsinduzierten Nachfrage (wie die Einfuhrung von Behandlungsleitlinien oder eine Beschrankung von Behandlungskapazitaten) entsprechen aber nicht immer den Wunschen der Patienten. Dieses letzte Argument deutet bereits darauf hin, dass das AusmaB der Leistungsausweitung im Gesundheitsbereich in starkem MaBe davon abhangt, wie die Vertragsbeziehungen mit den Leistungsanbietern (Arzten, Krankenhausern, Pharmafirmen,...) ausgestaltet sind und vor allem welche Vergtitungsform gewahlt wird. Bei unseren bisherigen Uberlegungen wurde generell eine EinzelleistungsVergutung unterstellt. Dem Problem der Ausgestaltung von Honorierungsverfahren und der damit verbundenen Wirkungen wenden wir uns jetzt zu. 6.2.3 Okonomische Anreize bei verschiedenen Entlohnungsschemata fiir Leistungsanbieter Wie durch die vorherigen Uberlegungen gezeigt wurde, ist es aus okonomischer Sicht wichtig, durch geschickt gestaltete Honorierungssysteme das Eigeninteresse der Beteiligten und insbesondere der Leistungsanbieter an effizientem und kostengtinstigen Verhalten zu wecken, um auf diese Weise die mit angebotsinduzierter Nachfrage (und Moral Hazard ex post) verbundenen Probleme abzumildern. Zum besseren Verstandnis dieser Problematik wollen wir jetzt verschiedene im Gesundheitsbereich praktizierbare „Entlohnungsschemata" diskutieren: • Entlohnung nach Faktoreinsatzkosten Diese okonomisch hochst unvorteilhafte Alternative wird nur der Vollstandigkeit halber angefuhrt. Bei der Entlohnung nach Faktoreinsatzkosten besteht eindeutig ein Anreiz zur Leistungsausdehnung. Nicht einmal die erbrachten Leistungen werden in kosteneffizienter Weise bereitgestellt, weil die Leistungsanbieter aus einer sparsameren Mittelverwendung keinerlei Vorteil ziehen konnen. • Entlohnung nach Einzelleistungen Die Kosteneffizienz bei der Erbringung einer einzelnen Leistung wird zwar wenig gefahrdet, ein Anreiz zur vermehrten Erbringung (teilweise unnotiger) Leistungen bleibt jedoch bestehen. Diese Form der Entlohnung lasst sich zudem nur schwer auf den kostentrachtigen Krankenhausbereich anwenden, da dort eine integrierte Form der Leistungserstellung vorliegt. Die Abrechnung von Einzelleistungen ist deshalb in diesem Fall unmoglich oder zumindest zu aufwandig.
222
6 Krankenversicherung
• Entlohnung nach Behandlungsdauer Die Differenzierung kann auch nach der Behandlungsdauer (etwa durch „tagesgleiche Pflegesatze" im Krankenhaus) erfolgen. Wegen des dabei entstehenden Anreizes zu einer Ausdehnung der Verweildauer fuhrt dieser Ansatz aber zu erheblichen Ineffizienzen. Die Abschiebung Pflegebediirftiger ins Krankenhaus wird gefordert, eine aussagekraftige Rechnungslegung bei den Leistungsanbietern ist nicht zu erwarten. • Pauschale Entlohnung nach Krankheitstypen Die Differenzierung bei der Entlohnung von Leistungsanbietern kann auch nach der jeweiligen Krankheitsart erfolgen. Dies ftihrt zum System der diagnoseorientierten Fallpauschalen, die v. a. fur die Abrechnung von Krankenhausbehandlungen als sinnvolle Alternative erscheinen. Pro Krankheitsfall und Krankheitsbild erhalten die Krankenhauser bzw. die Arzte einen Festbetrag. Im Prinzip ist dadurch ein starker Anreiz zu effizientem Verhalten zu erwarten, da die Leistungsanbieter die Kosten fur zusatzliche Einzelleistungen vollstandig selber zu tragen haben. Jedoch werden gleichzeitig absichtliche Fehldiagnosen begtinstigt, weil die Leistungsanbieter durch eine Einstufung der Patienten in hoher bewertete Krankheitskategorien ein hoheres Einkommen erzielen konnen. Um diesem strategischen Verhalten zu begegnen, werden vermehrte Kontrollen seitens der Versicherer erforderlich. Auch das Problem der „Uberdiagnose" lasst sich durch Fallpauschalen nicht vermeiden. Skeptiker beftirchten auch, dass die aus medizinischer Sicht bestehende hohe Unterschiedlichkeit der Einzelfalle (Komplikationen im Krankheitsverlauf, Kombination verschiedener Krankheiten bzw. Nebendiagnosen) bei der praktischen Ausgestaltung von Fallpauschalen nicht angemessen berticksichtigt werden kann. Da das finanzielle Risiko beim Leistungsanbieter in einem Fallpauschalen-System relativ hoch ist, konnte es sogar zu Kostensteigerungen kommen, wenn die Leistungsanbieter hohere Risikopramien fordern. Der organisatorische Aufwand, den eine Fallpauschalen-Regelung fur die Kliniken mit sich bringt, wird generell als hoch eingeschatzt. Moglicherweise gilt dies aber in erster Linie in der Einflihrungsphase. Fur die lange Frist wird von den Befurwortern der Fallpauschalen erwartet, dass sich durch dieses Abrechnungssystem die Kostenrechnung in Krankenhausern entscheidend verbessert und sich flir die Krankenversicherungen eine hohere Kostentransparenz ergibt. Ein okonomischer Leistungsvergleich zwischen den einzelnen Krankenhausern wird erleichtert, was die Position der Krankenversicherungen in ihren Verhandlungen mit den Kliniken starkt. Eine Begrenzung der Behandlungskosten wird bei Kenntnis der einzelnen Kostenbestandteile (zu Lasten der Krankenhauser) leichter durchsetzbar. Vielfach werden Fallpauschalen auch ganz allgemein als Hebel zur Forderung okonomischen Denkens im Krankenhaus-Management angesehen. Man erhofft sich dadurch insbesondere eine Starkung der „Prozessorientierung" in Kliniken und damit eine bessere Ausnutzung von Wirtschaftlichkeitsreserven in einem Bereich des Gesundheitswesens, in dem die Kostensteigerungen in der Vergan-
6.2 Probleme bei der Ausgestaltung von Vertragen im Gesundheitsbereich
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genheit besonders ausgepragt waren. Ob solche aus okonomischer Sicht wttnschenswerten Anderungen auch im Interesse der Patienten liegen, wird vielfach bezweifelt. Die Kritiker des Fallpauschalen-Systems beftirchten eine zu starke Unterordnung des medizinisch Notwendigen unter okonomische Zwange und damit einen Qualitatsverlust in der Krankenhausbehandlung. Fruhzeitige Entlassungen von Patienten aus der Klinik werden gefordert, was zwar zu Kosteneinsparungen fuhrt, allerdings fur die Patienten auch mit Risiken verbunden ist. Wird bei nicht auskurierten Krankheiten im Sinne eines „Drehtureffekts" eine erneute Einweisung in ein Krankenhaus erforderlich, drohen insgesamt sogar Kostensteigerungen. • Entlohnung nach der Zahlpotenzieller Patienten Individuen schreiben sich bei diesem Entgeltverfahren zu Beginn eines Jahres bei bestimmten Leistungsanbietern ein. Die jeweiligen Anbieter erhalten dann eine Pauschalzahlung fur jeden eingeschriebenen Patienten, unabhangig davon, ob im betreffenden Zeitraum eine Behandlung erfolgt ist oder nicht. Dabei ist aus okonomischer Sicht positiv zu werten, dass nicht nur Anreize zur Ubertherapie, sondern auch zur Uberdiagnose vermieden werden. Der Leistungsanbieter erleidet ja materielle Nachteile, wenn er zusatzliche Leistungen jeglicher Art erbringt. Die Ausgaben der Krankenversicherungen lassen sich in diesem System vorab ziemlich genau kalkulieren: Dass es innerhalb eines bestimmten Jahres zu unerwarteten Kostensteigerungen fur sie kommt, ist durch die Konstruktion dieses Systems ausgeschlossen. Zudem ergibt sich ein Anreiz zur sorgfaltigen Behandlung der Patienten, wenn ein Leistungsanbieter damit rechnen muss, dass er die Folgekosten einer unzulanglichen Behandlung selber zu tragen hat. Sind die Patienten mit der Qualitat der Behandlung bei einem Arzt nicht zufrieden, konnen sie in der nachsten Periode zu einem anderen Anbieter wechseln, was Leistungsanreize schafft und den Qualitatswettbewerb zwischen den Anbietern fordert. Allerdings ist diese Vergutungsform nur beschrankt anwendbar. So eignet sie sich eher ftir Hausarzte, aber kaum fur Facharzte und Spezialkliniken, bei denen die Inanspruchnahme nur selten erfolgt und bei denen der Kreis der potenziellen Patienten nur schwer abgrenzbar ist. Als problematisch erscheinen bei diesem Verfahren auch die folgenden Aspekte: Das Behandlungskostenrisiko wird vollstandig auf den Leistungsanbieter verlagert. Insbesondere tragt er ein hohes finanzielles Risiko, wenn sich in seinem Patienten-Pool iiberdurchschnittlich viele kostspielige Krankheitsfalle sammeln. Krankschreibungen (bei Lohnfortzahlung zu Lasten der Arbeitgeber) konnen als „Werbema6nahmena zur VergroBerung des Patientenstamms missbraucht werden. Befiirchtet wird auch eine Risikoselektion zu Lasten der Alten und der schwer Kranken, deren Behandlung in diesem System fur die Leistungsanbieter nur zu hohen Zusatzkosten, jedoch nur zu durchschnittlichen zusatzlichen Einnahmen ftihren. Selbst wenn den Arzten eine Auswahl der Patienten formell untersagt ist, konnen sie versuchen, durch unfreundliche Behandlung „unerwunschte" Patienten fernzuhalten. Entsprechende Tricks der Leistungsanbieter lassen sich nur schwer unterbinden.
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Man kann naturlich versuchen, die Schwere der Falle durch eine Differenzierung der Pauschalentgelte zu berucksichtigen. Dadurch wird das System aber schnell sehr kompliziert und eventuell auch teuer, weil ja die Einstufung der Patienten genau uberwacht werden mtisste. Gelingt eine solche Kontrolle nicht, bleiben den Leistungsanbietern auch in diesem System noch zahlreiche Moglichkeiten zu strategischem Handeln. Ganz allgemein wird bei diesem Honorierungsverfahren fur Arzte und andere medizinische Leistungsanbieter oftmals auch eine erhebliche Gefahr von Unterdiagnose und Untertherapie zum Schaden der Patienten vermutet, weil Untatigkeit genauso honoriert wird wie der Einsatz fur die Kranken. Folgerung 6-7: Die sich durch Moral Hazard ex post und anbieterinduzierten Nachfrage ergebenden Probleme lassen sich auch durch spezielle Honorierungsverfahren fur Anbieter medizinischer Leistungen reduzieren. Aus okonomischer Sicht erscheinen in diesem Zusammenhang pauschale Entlohnungsverfahren wie die mittlerweile im Krankenhausbereich angewandten Fallpauschalen als besonders vorteilhaft.
6.3 Alternative Formen der staatlichen Regulierung des Krankenversichemngsbereichs In den vorherigen Abschnitten haben wir verschiedene Grtinde daftir kennen gelernt, dass Markte fiir Kranken vers icherungen und Gesundheitsleistungen nicht in idealer Weise funktionieren und deshalb kein effizientes Ergebnis zu erwarten ist. Aus okonomischer Sicht bestehen deshalb berechtigte Grtinde fur staatliche Eingriffe in diesem Bereich. Die spezifischen Eigenschaften von Gesundheitsgiitern sowie die weitgehende Kostenubernahme durch die Krankenversicherungen sind dafur verantwortlich, dass dem medizinischen Sektor eine Tendenz zur ineffizienten Leistungserbringung, Leistungsausweitung und Kostensteigerung immanent ist. Diese Probleme lassen sich nicht ausschlieBlich auf Art und Intensitat des staatlichen Eingriffs zuruckfiihren. Auch ein nicht oder nur wenig staatlich reguliertes System privater Krankenversicherungen hatte mit den im vorherigen Abschnitt 6.2 diskutierten Problemen zu kampfen, und es ist a priori nicht klar, ob ihm eine Losung dieser Probleme besser oder schlechter gelingt als einem starker vom Staat beeinflussten System. Uber einen solchen Effizienzvergleich lasst sich auch wenig sagen, solange wir nicht die verschiedenen real existierenden und denkbaren Formen der staatlichen MaBnahmen im Bereich der Krankenversicherung eingehender untersucht haben.
6.3 Alternative Formen der staatlichen Regulierung des Krankenversicherungsbereichs 225 6.3.1 Grundlegende Optionen der Gesundheitspolitik: Pflichtversicherung oder staatliche Pramienzuschiisse? Im Abschnitt 6.1.5 hat sich gezeigt, dass die aus Griinden des Altruismus bestehende soziale Grundsicherung, die den Individuen auch ohne Krankenversicherung im Notfall die Ubernahme sehr hoher Behandlungskosten gewahrt, zu Trittbrettfahrerverhalten einladt. Es wird ein Anreiz geschaffen, sich gegen das Risiko der Krankheitskosten nicht zu versichern, was Ineffizienzen verursacht und 2u als ungerecht empfundenen Verteilungseffekten fxihrt. Aus diesem Grund liegt es nahe, dass der Staat - zumindest fur die Bevolkerungsmehrheit, bei der die Wahrscheinlichkeit groB ist, dass sie im Extremfall nicht selber fur ihre Krankheitskosten aufkommen kann - eine Krankenversicherungspflicht einftihrt Damit ware es - analog zur Kfz-Haftpflichtversicherung - im Prinzip durchaus vereinbar, dass die Individuen ihrer Versicherungspflicht durch Abschluss von Vertragen mit privaten Versicherungsgesellschaften nachkommen, deren Pramienkalkulation in der marktublichen Weise erfolgt. Die Pramien waren dann unabhangig vom Einkommen und Vermogen der Versicherten, dafur wlirde bei der Festlegung der Pramienhohe deren aktuelles Krankheitskostenrisiko berlicksichtigt. Die Konsequenz ware, dass in einem solchen System die Pramienhohe zwischen den einzelnen Individuen stark streuen und bei manchen Individuen (solchen mit niedrigen Einkommen und/oder hoher Krankheitsanfalligkeit) die Grenzen der finanziellen Belastbarkeit iiberschritten wiirden. Bei vielen gesundheitlich schlecht disponierten Individuen wtirde sich zudem iiberhaupt keine private Krankenversicherung mehr bereit finden, ihnen Versicherungsschutz zu gewahren. Deshalb ware eine nicht unwesentliche Zahl von Individuen faktisch nicht in der Lage, der formal bestehenden Versicherungspflicht zu geniigen. Zudem besteht fur einen groBen Teil der Bevolkerung die Gefahr, irgendwann einmal - bei sinkendem Einkommen oder chronischer Erkrankung - in diese missliche Lage zu geraten, d.h. relativ zum Einkommen extrem hohe Pramien zahlen zu mtissen oder ganzlich ohne wirksamen Krankenversicherungsschutz zu bleiben. Diese Problematik hatten wir bereits bei der Behandlung des Pramienrisikos ausfuhrlich erortert. Deshalb bedarf es zusatzlicher staatlicher MaBnahmen, die dafur sorgen, dass der Krankenversicherungsschutz fur alle Individuen auf Dauer moglich und auch bezahlbar bleibt. Erst dann kann das System der Versicherungspflicht umfassend realisiert werden und den Individuen die von ihnen erwiinschte nachhaltige Absicherung verschaffen. Ohne Eingriffe in den eigentlichen Marktprozess bietet es sich zu diesem Zweck an, den Individuen - bei drohender finanzieller Uberlastung - staatliche Zuschiisse zu ihren Krankenversicherungspramien zu bezahlen. Die Umverteilung zugunsten von Individuen mit geringerem Einkommen und/oder hohem Behandlungskostenrisiko ware von der eigentlichen Bereitstellung der Versicherungsleistung vollkommen entkoppelt. Jedes Individuum wtirde einkommensunabhangige, risikogerechte Pramien bezahlen. Das marktwirtschaftliche Aquivalenzprinzip kame zum Tragen, und die Versicherungsgesellschaften hatten keinen Anreiz, Ri-
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sikoselektion zu betreiben und Hoch-Risiko-Individuen den Abschluss von Vertragen zu verwehren. Allerdings gibt es, was die Ermittlung der individuellen Bedtirftigkeit fur Pramienzuschtisse angeht, eine Asymmetrie zwischen den Bedarfskategorien „niedriges Einkommen" auf der einen und „hohes Behandlungskostenrisiko" auf der anderen Seite. Wahrend sich die Hohe des Einkommens eines Individuums in gewissen Grenzen objektiv ermitteln lasst, ist die Einschatzung des fmanziellen Mehrbedarfs infolge eines hoheren Krankheitsrisikos mit groBen Unsicherheiten verkntipft. Dies schafft den Versicherungsgesellschaften erhebliche Manipulationsmoglichkeiten bei der Einstufung der Individuen in Risikoklassen. Die Gewahrung von Pramienzuschtissen hat darliber hinaus Eirifluss auf das Verhalten der Versicherten. So wird bei einer staatlichen Subventionierung der Pramien der Widerstand der Individuen gegen Pramienerhohungen schwinden, selbst wenn diese ungerechtfertigt sind. Diese konnen sogar von den Versicherten gewiinscht werden, wenn damit eine Verbesserung der Versicherungsleistung einhergeht und die Zusatzkosten auf den Staat abgewalzt werden. Um einem solchen Missbrauch zu begegnen, miisste der Staat den Umfang des Versicherungsschutzes und die Pramienkalkulation der Versicherungsgesellschaften detailliert kontrollieren, was - soweit uberhaupt moglich - mit erheblichen Kosten verbunden ware. Dieser Aufwand lasst sich zwar durch Vorgabe fester und an objektiven Kriterien orientierten Regeln zur Risikoklassifizierung vermindern, zieht jedoch eine starke Normierung der Pramien durch den Staat und eine Beschrankung der Handlungsfreiheit der Versicherungsgesellschaften nach sich. Uberdies miisste auch dafur gesorgt werden, dass die Versicherungsgesellschaften nicht Individuen abweisen oder ausschlieBen, die selbst nach den staatlichen Transfers fur sie ein Verlustgeschaft darstellen. Damit ware der entstehende Krankenversicherungsmarkt vom Ideal eines freien Marktes weit entfernt. Vor dem Hintergrund dieser Probleme liegt es nahe, einer expliziten und nach einfachen Prinzipien ausgestalteten Regulierung des Krankenversicherungsmarktes den Vorzug zu geben, bei der sich die mit risikoabhangigen Pramien verbundenen Schwierigkeiten von vorneherein vermeiden lassen. Das bedeutet konkret, dass den Versicherungsgesellschaften ein Standard-Leistungskatalog vorgegeben wird, innerhalb dessen ihnen eine Pramiendifferenzierung nach Risikograd des Versicherten verwehrt ist (Diskriminierungsverbot) und gleichzeitig Kontrahierungszwang besteht, d.h. dass Versicherungsvertrage mit schlechten Risiken seitens der Versicherer nicht abgelehnt werden dtirfen. Fur eine solche Losung spricht zudem ein allokationstheoretisches Argument: Wenn die Pramienzahlungen von Hochkosten- bzw. Hochrisikogruppen vom Staat bezuschusst werden, ist zu erwarten, dass die Finanzierung dieser Subventionen durch verzerrende und wohlfahrtsschadliche Steuern erfolgt. Bei risikounabhangigen Einheitspramien erfolgt die Finanzierung der Transferleistungen jedoch automatisch durch Pauschalzahlungen der Individuen mit niedrigem Risiko, die zu keinen Zusatzlasten fuhren. Wollte der Staat diese Art der Umverteilung im Steuer-Transfer-Mechanismus nachahmen, miisste er spezielle Pauschalsteuern fur Individuen mit gutem Gesundheitszustand und niedriger Erkrankungswahrscheinlichkeiten vorsehen, was bestenfalls als ein Kuriosum der Steuergesetzgebung gelten konnte.
6.3 Alternative Formen der staatlichen Regulierung des Krankenversicherungsbereichs 227 Folgerung 6-8: Bei risikoabhangigen Pramien, die sich auf einem unregulierten Krankenversicherungsmarkt ergeben wiirden, ist nicht sichergestellt, dass die Individuen auf Dauer einen fur sie bezahlbaren Versicherungs-1 schutz erhalten. Da staatliche Pramienzuschusse keine praktikable Alterna-1 tive zur Linderung dieses Problems darstellen, liegt es nahe, den Versicherungsgesellschaflen eine risikoabhangige Pramiendifferenzierung zu untersagen und sie einem Kontrahierungszwang zu unterwerfen. Zur Vermeidung von Freifahrverhalten auf Seiten der Versicherten dient gleichzeitig eine allgemeine Krankenversicherungspflicht. Diese beiden Vorgaben legen den Regulierungsrahmen ftir den Krankenversicherungsmarkt aber erst zum Teil fest. Zu dessen vollstandiger Ausgestaltung sind dariiber hinaus Regelungen in zwei Bereichen erforderlich, wozu weitere gesundheitspolitische Grundsatzentscheidungen notig werden. Zum einen ist zu klaren, wie die Finanzierung der Krankenversicherungspramien fur einkommensschwache Individuen vorgenommen werden sollte, um bei der Krankenversicherung einen Ausgleich zwischen Arm und Reich herzustellen. Ein entsprechender sozialer Ausgleich, liber dessen Wunschbarkeit im Prinzip ein breiter gesellschaftlicher Konsens besteht, lasst sich innerhalb des Krankenversicherungssystems durch einkommensabhangige Pramien bzw. Beitrage erreichen. Was dabei aber als pramienpflichtiges Einkommen zu gelten hat, liegt zunachst nicht eindeutig fest. In vielen Landern werden hauptsachlich Lohneinkunfte zur Beitragsbemessung herangezogen, was die Frage nahe legt, ob die Beitragspflicht auf andere Einkommensteile ausgeweitet werden soil. Denkbar ist aber auch, dass die Umverteilungsaufgabe vollig aus dem Krankenversicherungssystem heraus verlagert wird. Die Pramienzuschusse werden dann als echte Sozialleistung aus dem allgemeinen Steueraufkommen bestritten. Welche Wirkungen sich mit dieser Finanzierungsalternative im Einzelnen verbinden, wird im folgenden Abschnitt erOrtert. Zum anderen muss bestimmt werden, wie viel Wettbewerb im regulierten Krankenversicherungsmarkt zugelassen werden soil. Eine Anbieterkonkurrenz ist prinzipiell auch - wie das Beispiel Deutschlands zeigt - bei einkommensabhangigen Beitragen moglich, so dass das Problem der Wettbewerbsstruktur von der Frage nach der Art der Pramiengestaltung unabhangig ist. Insbesondere ist zu klaren, welche Auswirkungen die Konkurrenz zwischen einzelnen Krankenversicherungen auf deren Beziehungen zu Versicherten einerseits und Leitungsanbietern anderseits hat und welche effizienzfordernden Effekte im Einzelnen zu erwarten sind. Gleichzeitig ist aber auch das Problem zu berticksichtigen, dass die einzelnen Krankenversicherungen eine im Hinblick auf ihr Kostenrisiko hochst unterschiedliche Versichertenstruktur aufweisen konnen. Der Wettbewerb wird dadurch verzerrt, und man benotigt zu Herstellung fairer Konkurrenzbedingungen einen vom Staat initiierten „Risikostrukturausgleich". Mit diesen Fragen werden wir uns im anschliefienden Abschnitt auseinandersetzen.
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6.3.2 Finanzierungsalternativen fur das Gesundheitssystem 6.3.2.1 Die allokativen Nachteile lohnbezogener Beitrage In sehr vielen Landern v. a. in Europa hangt flir die meisten Individuen die Hohe ihrer Krankenversicherungsbeitrage von der Hohe ihres Lohns ab. In diesem Zusammenhang spielt es keine Rolle, ob die Arbeitnehmer, die Arbeitgeber oder beide zusammen als Beitragszahler gelten und wer konkret die Beitrage an die Krankenversicherungen abzuftihren hat. Von vielfach bestehenden Einkommenshochstund teilweise auch -mindestgrenzen abgesehen, ist der zu entrichtende Beitrag proportional zum individuellen Lohn, so dass die Finanzierung der Krankenversicherung faktisch iiber eine proportionate Lohnsteuer erfolgt. Diese Finanzierungsform hat sich historisch dadurch entwickelt, dass ursprunglich die Leistung der Krankenversicherung eine wichtige lohnabhangige Komponente enthielt, namlich das Krankengeld. Seit dieses nur noch einen unbedeutenden Anteil an den Gesamtausgaben der Krankenversicherungen ausmacht, ist diese Rechtfertigung fur lohnabhangige Beitrage weggefallen. Ferner sind die allermeisten Krankheiten und Unfalle nicht berufsbedingt, so dass die Verknupfung zwischen Beitragserhebung und dem Arbeitsverhaltnis ziemlich willktirlich erscheint. Zudem schlieBt eine Gesetzliche Krankenversicherung wie in Deutschland iiber die Lohneinkommensbezieher hinaus auch andere Bevolkerungsgruppen ein, die zwangslaufig vollig anderen Regeln bei der Festsetzung der Beitragshohe unterliegen. Eine einheitliche und systematische Behandlung aller Versicherten ist dann von vornherein nicht moglich. Dariiber hinaus wird an den lohnbezogenen Beitragen kritisiert, dass diese mit negativen okonomischen Effekten verbunden sind und gemessen am Finanzierungszweck zu unnotigen Wohlfahrtsverlusten, WachstumseinbuBen und einem Beschaftigungsabbau fiihren. Welche Oberlegungen dieser von okonomischer Seite vorgetragenen Kritik am derzeitigen Beitragssystem in Deutschland zugrunde liegen, soil jetzt im Einzelnen erortert werden. Steuern und Abgaben, deren Hohe durch ein von Wirtschaftssubjekten gewahltes Aktivitatsniveau bestimmt wird, treiben einen (Steuer)Keil zwischen Brurtound Nettopreise. Die dadurch ausgelosten Verzerrungen bei den Konsum- und Produktionsentscheidungen fiihren zu Wohlfahrtsminderungen, d.h. steuerlichen Zusatzlasten {Excess Burdens). Wegen ihrer Konzentration auf eine bestimmte Bemessungsgrundlage (namlich das Lohneinkommen) gelten in diesem Zusammenhang lohnbezogene Beitrage als in besonderem MaBe wohlfahrtsschadlich. Zur theoretischen Prazisierung dieses Arguments soil eine Variante des iiblichen einperiodigen mikrookonomischen Haushaltsmodells dienen, bei dem die Arbeitsangebotsentscheidung eines reprasentativen Individuums betrachtet wird. In Abb. 6-6 ist auf der horizontalen Achse die von diesem Individuum gewahlte Freizeitmenge F abgetragen, wobei F das Zeitpotenzial des Individuums bezeichnet, das dieses entweder fur Freizeitkonsum F(< F) oder aber zur Erzielung von Lohneinkommen einsetzen kann. Der Differenzbetrag L = F-F gibt dann die vom Individuum geleistete Arbeitszeit an, aus der das Individuum beim exogen vorgegebenen Lohnsatz w das Arbeitseinkommen y - wL bezieht. Mit die-
6.3 Alternative Formen der staatlichen Regulierung des Krankenversicherungsbereichs 229 sem Einkommen erwirbt das Individuum ein Konsumgut, dessen mit c bezeichnete Menge auf der vertikalen Achse abgetragen wird. Die Nutzenfunktion des Individuums sei u(F, c), so dass der Nutzen der Individuen sowohl vom Freizeit- als auch vom Gtiterkonsum abhangt. Es wird nun angenommen, dass das Individuum neben seinem Lohneinkommen wL iiber ein zusatzliches Einkommen (aus Zinsertragen oder durch Vermietung und Verpachtung) in Hohe von M > 0 verftigt. Die Budgetgleichung, welche die fur das Individuum erreichbaren (F,c)-Kombinationen angibt, falls es keine Krankenversicherungsbeitrage gibt, lautet c = w(F -F) + M = -wF + wF + M Dabei ist zur Vereinfachung der Darstellung der Preis des Konsumgutes auf den Wert eins normiert. In der Abb. 6-6 entspricht die zugehorige Budgetlinie dem links oberhalb des Anfangsausstattungspunktes A = (F,M) liegenden Segment der Geraden g 0 durch A mit dem Anstieg tan a = w . tan a = w tan/?=(l - b)w
tmJ3=(l-t-b)w
Abb. 6-6: Allokationseffekte verschiedener Finanzierungsformen fur die Gesetzliche Krankenversicherung Wenn in dieser Situation nun lohnbezogene Krankenversicherungsbeitrage erhoben werden, deren Hohe proportional zum Lohneinkommen ist, lautet bei einem Beitragssatz b die Budgetgleichung des Individuums
c = (l-b)w(F-F)
+M
Die entsprechende Budgetlinie gB wird dann durch die durch den Punkt A verlaufende Gerade mit dem Anstieg - tan /? = -(1 - b)w angegeben. Die vom In-
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dividuum gewahlte optimale (F,c)-Kombination liegt dann unter den ublichen Annahmen im Punkt B = (cB,FB),
in dem gB von einer zur Nutzenfunktion
u(F,c) gehorigen Indifferenzkurve uB tangiert wird. Die Beitragseinnahmen pro Dieser Betrag TB soil gerade Individuum betragen dann TB =b-LB -b-{F-FB). ausreichen, urn die durchschnittlichen Behandlungskosten pro Individuum zu decken, die fix sein sollen. Es wird jetzt angenommen, dass die Finanzierung der Gesundheitsausgaben auf eine breitere Basis gestellt wird, die auch das Nicht-Arbeits-Einkommen teilweise mit einschlieBt. In dem hier betrachteten Modell erhebt der Staat zu diesem Zweck auf beide Einkommensteile wL und M eine neue proportionate Einkommensteuer mit Steuersatz /, deren Aufkommen gleichfalls zur Finanzierung der konstant bleibenden Gesundheitsausgaben verwendet wird. Das Gesamtaufkommen aus Beitragen und neuer Steuer soil also unverandert bleiben. Um eine solche Aufkommensgleichheit bei der Reform zu erreichen, erfolgt bei gegebenem Steuersatz t dann eine Anpassung des Krankenversicherungsbeitrags auf den Wert b . Die Budgetgleichung nach der Reform lautet
c = (\~t-b)w(F-F)
+ (l-t)M.
Die zugehorige Budgetgerade gB startet im Punkt A = (F,(l-t)M) den Anstieg tan/? = (l-t-b)w.
Der nutzenmaximale Punkt, den das Individuum
auf gB erreicht, bezeichnen wir mit B = (FB,cB). dort LB = F-FB,
und hat
Das Arbeitsangebot betragt
und wegen der postulierten Aufkommensgleichheit der Reform
hat man (t + b)wL^ +t'M = b-wLB =TB Grafisch bedeutet die Forderung nach Aufkommensgleichheit, dass B auf der durch B verlaufenden Parallelen g0 zur Budgetlinie gQ liegen muss. Der vertikale Abstand zwischen einem unterhalb von g0 gelegenen Punkt und g0 gibt ja an, wie viel Einkommen dem Individuum jeweils entzogen wird - und dieser Betrag soil annahmegemaB bei B und B gleich grofi sein und TB betragen. Im Folgenden wollen wir naher prtifen, was sich uber die Lage von B im Einzelnen sagen lasst. Dazu treffen wir zwei Annahmen, die im Kontext der Analyse von Steuerwirkungen im Haushaltsmodell fast selbstverstandlich erscheinen: • Die Freizeit F und der Guterkonsum c sind fur das Individuum nicht-inferior, d.h. bei konstanten relativen Preisen wachst die Nachfrage nach F und c, falls das verfligbare Nicht-Arbeits-Einkommen Msteigt. • Bei gegebenem Wert von M befindet man sich beim ursprunglichen Beitragssatz b im ansteigenden Bereich der „Laffer-Kurvea, d.h. eine Erhohung des effektiven Beitragssatzes steigert ceteris paribus das Beitragsaufkommen.
6.3 Alternative Formen der staatlichen Regulierung des Krankenversicherungsbereichs 231 Aus diesen Annahmen lasst sich ableiten, dass der effektive Beitragssatz t + b nach der Reform kleiner sein muss als der Beitragssatz b vor der Reform. Ware dies namlich nicht so und galte t + b>b, wiirden in einem ersten hypothetischen Schritt bei alleiniger Erhohung des lohnabhangigen Beitragssatzes auf t + b (ohne Besteuerung von M) die Staatseinnahmen auf alle Falle steigen. Wird dann im zweiten Schritt der Steuersatz t zusatzlich auf M angewandt, so steigt das Steueraufkommen weiter - und zwar sogar um mehr als t • M : Durch die Verminderung des verftigbaren Nicht-Arbeits-Einkommens geht aufgrund der unterstellten NichtInferioritat der Freizeit die Freizeitnachfrage zurtick, so dass das Arbeitsangebot und damit auch das Aufkommen aus den lohnabhangigen Beitragen zunimmt. Ware t + b>b, konnte die Forderung nach Aufkommensgleichheit auf keinen Fall eingehalten werden. Daraus folgt, dass der neue Optimalpunkt B auf der Linie gQ links oberhalb von B liegen muss, so dass F^ < FB bzw. L% > LB gilt. Andernfalls, d.h. bei FB > FB mtisste B rechts unterhalb von B auf der Linie g0 liegen, was mit einer Verminderung des Nutzens gegenuber B verbunden ware: uB LB kann man sich auch klar machen, dass - gleichfalls aufgrund der Normalitat - in alien Punkten (F,c) rechts unterhalb von B die Grenzrate der Substitution zwischen der Freizeit und dem Giiterkonsum kleiner als in B ist, was mit 1 - 1 - b < 1 - b nicht kompatibel ist.) Weil uB in B flacher als uB in B ist, kann B aber auch nicht oberhalb von B auf g 0 liegen. Wegen der Konvexitat der Indifferenzkurven wiirden sich uB und uB sonst schneiden, was nicht moglich ist. Somit befindet sich B also auf dem Segment BC von g0, und es gilt uB>uB . Die Ausdehnung der Finanzierung der Krankenversicherung auf das NichtArbeits-Einkommen M wirkt also leistungsfordernd in dem Sinne, dass sie das Arbeitsangebot des reprasentativen Individuums vergrofiert. Gleichzeitig erhoht sich dessen Nutzen, was einer Senkung der steuerlichen Zusatzlasten entspricht. Diese Oberlegung, die auch hinter vielen in der politischen Debatte vorgeschlagenen Konzepten zur Umfinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung steckt, beruht ganz entscheidend auf der Annahme, dass der nicht-lohnbezogene Einkommensteil fest vorgegeben ist. Das zuvor abgeleitete Resultat ist dann aus steuertheoretischer Perspektiv auch nicht allzu uberraschend, weil eine steuerliche Belastung von M im Endeffekt ja einer teilweisen Verlagerung der staatlichen
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Einnahmen auf eine verzerrungsfreie Pauschalsteuer (Lump-Sum Tax) gleichkommt. Kritisch zu fragen ist allerdings, ob in der Realitat tatsachlich von einem konstanten Wert von M ausgegangen werden kann. So ist schon kurzfristig ein Teil des Kapitals mobil und kann sich (teils legal, teils illegal) durch Flucht ins Ausland der heimischen Besteuerung entziehen. Dadurch wird ein Steuerwettbewerb zwischen den einzelnen Staaten ausgelost, der in der finanzwissenschaftlichen Literatur ausfuhrlich diskutiert wird. Von diesem internationalen Aspekt abgesehen wirkt eine zusatzliche Besteuerung von Kapitalertragen zwar wie eine Pauschalbesteuerung in Bezug auf das „alte" Kapital, dessen Bildung bereits in den Vorperioden stattgefunden hat und deshalb von einer neu eingefuhrten Steuer logischerweise nicht mehr beeinflusst werden kann. Allerdings werden die Anreize zur Bildung von neuem Kapital, d.h. zum Sparen in der betrachteten und den nachfolgenden Periode beeintrachtigt, wenn Kapitaleinkiinfte zur Finanzierung der Gesundheitsausgaben herangezogen werden. Die damit verbundenen Wohlfahrtsverluste fallen aber erst in der Zukunft an, so dass der Staat durch eine Ausdehnung der Finanzierungsbasis der Gesetzlichen Krankenversicherung auf Kapitalertrage kurzfristig in der Tat eine Reduzierung der steuerlichen Zusatzlasten erreichen kann. Wichtig fur diesen „Erfolg" einer solchen Reform ist jedoch, dass die Steuererhohung fur Kapitalertrage so tiberraschend erfolgt, dass sie von den Btirgern nicht schon langer bei ihren Spar- und Kapitalanlageentscheidungen antizipiert werden konnte. Unter dem Stichwort „Zeitkonsistenzproblematik der Besteuerung" werden solche Tauschungsstrategien bei der Steuererhebung ausfuhrlich in der neueren steuertheoretischen Literatur behandelt. Ein besonders hinterlistiger Staat konnte die Chancen fur einen steuerpolitischen Uberraschungscoup sogar noch dadurch steigern, dass er die Btirgern zunachst glauben lasst, er werde die Steuern senken. Der Verlust an Glaubwiirdigkeit der politischen Instanzen, die mit einer solchen Tauschung zwangslaufig einhergeht, wirkt sich aber langerfristig negativ auf die Kapitalbildung und die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt aus. Das kurzfristig orientierte Haushaltsmodell, von dem wir in diesem Abschnitt ausgegangen sind, vernachlassigt diese Aspekte. Es besteht somit die Gefahr, dass es auf seiner Grundlage zu einer Uberschatzung der durch eine Verbreiterung der Finanzierungsbasis der Krankenversicherung ermoglichten Wohlfahrtsgewinne kommt. Allerdings bezieht sich dieser kritische Hinweis nicht auf alle Arten von Kapitalertragen in gleichem MaBe. So ist zu erwarten, dass eine Besteuerung der Ertrage aus Grund und Boden auch auf langere Sicht weniger wohlfahrtsschadlich wirkt als die Besteuerung anderer Formen von Kapitaleinkommen. Boden ist vorhanden und immobil, d.h. er muss weder neu geschaffen werden noch kann er ins Ausland abwandern.
6.3 Alternative Formen der staatlichen Regulierung des Krankenversicherungsbereichs 233 Folgerung 6-9: In einer teilweisen Verlagerung der Krankenversiche-1 rungsbeitrage vom Lohneinkommen auf andere nicht-lohnabhangige Ein-1 kommensteile wird die Chance zu einer Verminderung steuerlicher Zusatz-1 lasten gesehen. Allerdings ist dieses Argument problematisch, weil es auf I einer rein kurzfristigen Betrachtung beruht, bei der die zusatzlich belasteten I Einkommensteile exogen vorgegeben sind. Auf langere Sicht besteht eine I solche Exogenitat des Kapitalbestandes jedoch nur bei Grund und Boden. I Die Erweiterung der Bemessungsgrundlage fur die Finanzierung der Krankenversicherung kann entweder - im Sinne des Konzepts einer „Burgerversicherung" - durch eine direkte Ausdehnung der eigentlichen Beitragsbasis oder aber durch Zuschusse an das Krankversicherungssystems geschehen, die aus einer Besteuerung zusatzlicher Einkommensteile finanziert werden. Bei der gesetzestechnischen und administrativen Ausgestaltung dieser beiden Alternativen bestehen zwar erhebliche Unterschiede, im Hinblick auf ihre allokativen Wirkungen und insbesondere ihre Wohlfahrtseffekte sind sie aber im Wesentlichen identisch. Von Bedeutung fllr die hier vorgetragene Argumentation ist es schlieBlich audi, dass die lohnabhangigen Krankenversicherungsbeitrage tatsachlich Steuercharakter haben. Bei der Rentenversicherung ist dies, wie wir in Kapitel 5 gesehen hatten, nur teilweise der Fall, wenn das Rentensystem auf dem Aquivalenzprinzip beruht und die spateren Rentenzahlungen eines Individuums mit der Summe seiner Beitragszahlungen steigen. Bei der Gesetzlichen Krankenversicherung mit lohnbezogenen Beitragen ist im Gegensatz dazu der Leistungskatalog fur alle Versicherten im Wesentlichen der gleiche, so dass ein hoheres Einkommen und somit steigende Beitrage einem Individuum nicht zu hoheren Anspruchen an die Krankenversicherung verhelfen. Eine Aquivalenz zwischen Beitragen und zu erwartenden Leistungen besteht bei der Gesetzlichen Krankenversicherung somit in der Regel nicht, so dass aus steuerlicher Perspektive ein erheblicher Unterschied zwischen diesen beiden Zweigen des Sozialsystems besteht. Eine Ausnahme hiervon gibt es nur in einem Teilbereich der Leistungen der Krankenversicherung, namlich den Lohnersatzleistungen (dem Krankengeld), deren Hohe sich am Einkommen bzw. der Beitragshohe der einzelnen Versicherten orientiert. Dass diese Leistung der Krankenversicherung im Lauf der Zeit - wie wir zu Anfang dieses Abschnittes bereits bemerkt hatten - im Vergleich zur Finanzierung der Behandlungskosten stark an Bedeutung verloren hat, liegt neben dem uberproportionalen Anstieg der Kosten fur medizinische Leistungen speziell in Deutschland daran, dass seit dem 1.1.1970 die Arbeitgeber fur die ersten sechs Wochen der Krankheitsdauer eine Lohnfortzahlung zu leisten haben. Deshalb entfallen in Deutschland zurzeit nur ca. 6 % der gesamten Beitragszahlung auf die dem Aquivalenzprinzip entsprechende Finanzierung des Krankengeldes, wahrend der Rest des Beitrags aus der Sicht der einzelnen Individuen zu beitragsunabhangigen Versicherungsleistungen fuhrt und somit in der Tat wie eine Steuer wirkt.
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6.3.2.2 Das Kopf-Pauschalen-Modell Die im vorherigen Abschnitt beschriebenen negativen Allokationswirkungen durch lohnabhangige Beitrage lassen sich durch die erorterte Ausdehnung der Bemessungsgrundlage verringern, aber nicht vermeiden. Bei einer radikaleren Anderung der Finanzierungsform, wie sie in der Schweiz in den 1990er Jahren durchgefuhrt wurde und in Deutschland seit einiger Zeit in der Diskussion ist, ware dies anders: Durch Umstellung der Finanzierung der Krankenversicherungskosten auf eine vom individuellen Gesamteinkommen unabhangige „Kopf-Pramie" konnen namlich im Idealfall die Zusatzlasten der einkommensabhangigen Systeme sogar vollstandig vermieden werden. In Abb. 6-8 wird die allokative Wirkung einer solchen Kopfpramie durch die Parallelverschiebung der ursprunglichen Budgetlinie g0 um TB nach unten beschrieben. Die Budgetlinie gQ ist - anders als bei der Argumentation in vorherigen Abschnitt - nicht nur eine aus theoretischen Grunden eingefuhrte Hilfslinie, sondern sie ergibt sich daraus, dass das representative Individuum den Betrag der durchschnittlichen Gesundheitskosten als Pauschalzahlung in Hone von V an die Krankenversicherung abftihrt. Auf gb wahlt das Individuum dann seinen mit D bezeichneten Optimalpunkt, der auf einer hoheren Indifferenzkurve liegt als B.
M- V
Abb. 6-7: Allokationswirkung einer Kopfpauschale Dieser Wohlfahrtsvergleich entspricht einer Grundaussage der Optimalsteuertheorie, der zufolge eine pauschale Kopfsteuer unter allokativen Gesichtspunkten den die relativen Preise verzerrenden Steuern uberlegen ist. Aus Grunden der Verteilungsgerechtigkeit stoBt ein solches Steuerkonzept aber auf eine breite Ablehnung in der Bev5lkerung. Im Zusammenhang mit der Finanzierung der Krankenversicherung erscheinen fixe, einkommensunabhangige Beitrage jedoch ein vermutlich plausiblerer und naheliegenderer Ansatz zu sein als bei der Finanzierung von Staatsausgaben: Die Leistungen einer privaten Krankenversicherung stellen ja
6.3, Alternative Formen der staatlichen Regulierung des Krankenversicherungsbereichs 235 ein privates Gut dar, ftlr das fixe, vom Einkommen entkoppelte Pramien einem „Preis" entsprechen, wie man ihn am Markt fur andere private Giiter bereitwillig zahlt. Dass private Krankenversicherungen solche von der individuellen wirtschaftlichen Situation eines Versicherten unabhangigen Pramien verlangen, erscheint deshalb vollig selbstverstandlich und ruft kaum Widerspruch hervor. Aus dieser Perspektive lassen sich Kopfpramien also nicht nur allokationstheoretisch, sondern auch durch ein grundsatzliches marktwirtschaftliches Ordnungsprinzip, das Aquivalenzprinzip, begriinden: Jeder soil fur eine Leistung den Preis bezahlen, der dem Wert dieser Leistung entspricht. Allerdings wird im Bereich der Krankenversicherung dieser Aquivalenzgedanke aus Gerechtigkeitsgrunden vielfach nicht akzeptiert. Dass Gesundheitsleistungen zum existenziellen Minimalbedarf (wie Ernahrung, Wohnung und Kleidung) gezahlt werden, der fur die Individuen auf alle Falle sichergestellt werden soil, bedeutet ja in Bezug auf die Finanzierung der Krankenversicherung, dass einkommensschwache Haushalte vor einer fmanziellen Uberforderung durch die Pramienzahlungen geschtitzt werden miissen. Aus diesem Grund wird - im Sinne einer „solidarischen Krankenversicherung" - bei der Finanzierung der Beitrage ein sozialer Ausgleich zwischen Arm und Reich erforderlich. Beitrage, deren Hohe proportional zum (Lohn-)Einkommen ist, dienen genau diesem sozialpolitischenZweck. In einem solchen System erfolgen die Finanzierung der Versicherungsleistung und die Finanzierung des sozialen Ausgleichs in einem Schritt. Bei naherem Hinsehen erscheint diese Koppelung jedoch keineswegs zwingend. Man konnte sich ja vorstellen, dass bei der Krankenversicherung die Allokationsfunktion (Bereitstellung des Krankenversicherungsschutzes) von der Distributionsfunktion (sozial gerechte Verteilung der Finanzierungslasten) abgeteilt wird. Insbesondere ergibt sich durch eine solche Trennung die Moglichkeit, dass die Finanzierung der eigentlichen Krankenversicherungsleistungen auf einem Kopfpramiensystem beruht und dieses dann durch einen separaten sozialen Ausgleichmechanismus erganzt wird. Ein solcher Ansatz konnte nicht nur als die ordnungspolitisch „sauberereu Losung gelten, sondern er scheint gegentiber der einkommensabhangigen Finanzierung auch allokative Vorteile zu versprechen. Weil die Gesundheitsausgaben durch Pauschalzahlungen finanziert werden, die keine Zusatzlasten verursachen, liegt ja die Erwartung nahe, dass sich die fmanzierungsbedingten Wohlfahrtsverluste durch einen derartigen Systemwechsel automatisch reduzieren lassen. Im Vergleich zum ursprtinglichen System mit einkommensproportionalen Beitragen sind es beim Kopfpramiensystem mit Sozialausgleich ja nur die zur Untersttitzung der Armeren erforderlichen Mittel, fur die eine Finanzierung mit Hilfe verzerrender Steuern uberhaupt notig werden kann. Eine etwas genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass die Hoffnungen auf eine Verminderung des verzerrenden Steuerkeils und damit auf einen Wohlfahrtsgewinn durch den Umstieg auf ein Kopfpramiensystem mit Sozialausgleich nicht gerechtfertigt sind. Obwohl die Einnahmen aus verzerrenden Steuern nach dem Ubergang zu einem sozial abgefederten Kopfpramiensystem in der Tat sinken, heiBt dies namlich keineswegs, dass auch die ftlr die Zusatzlasten verantwortlichen effektiven Grerczsteuersatze zuruckgehen miissen. Weshalb dies so ist, wird durch
236
6 Krankenversicherung
eine kleine Modellanalyse gezeigt. Dabei betrachten wir eine aus n Individuen i = 1,...,« bestehende Okonomie, in der aus Vereinfachungsgriinden alle individuellen Lohneinkommensniveaus yt fest vorgegeben sein sollen. Die Individuen seien nach der Hohe ihres Einkommens geordnet, d.h. es gelte yl
und das Gesamteinkommen betrage Y = ^jyi
. Die durchschnittlichen Gesund-
/=i
heitsausgaben pro Kopf, die gleichfalls als fest vorgegeben angenommen werden, betragen L, so dass im ursprunglichen einkommensabhangigen FinanzierungssysnL tern der Beitragsatz die Hohe b = — hat. Es wird jetzt ein Kopfpramiensystem eingefuhrt, bei dem jedes Individuum unabhangig von seinem Einkommen seine durchschnittliche Krankheitskosten direkt bezahlt. Die individuelle Kopfpauschale hat also die Hohe P = L. Das begleitende soziale Ausgleichsystem wird durch eine vom Einkommen y abhangige (und als differenzierbar angenommene) Tariffunktion T(y) beschrieben. Fur hohere Einkommen, d.h. solche, die tiber einem Schwellenwert y liegen, ist T(y) positiv, d.h. die Individuen mit einem Einkommen y > y sind die Zahler im sozialen Ausgleichsystem. Fur unter y gelegene Einkommensniveaus ist T(y) hingegen negativ, d.h. Individuen mit einem Einkommen y < y sind Transferempfanger. Ftir die Sozialausgleichfunktion T(y) sollen jetzt drei Annahmen gelten: AnnahmeAl:
Das System des Sozialausgleichs ist selbstflnanzierend, d.h. es
n
gilt ^T{yi)
= 0 . Es flieBen dem Sozialausgleich also keine weiteren Steuermittel
von auBen zu, und es flieBen auch keine Mittel ab. Annahme A2: Beim armsten Individuum / = 1 soil die Nettobelastung (Kopfpramie abzuglich sdzialer Ausgleichzahlung) nach dem Systemwechsel nicht holier sein als vorher beim einkommensabhangigen Finanzierungssystem, d.h. P+
T(yi)yx.
Diese Annahme spiegelt eine Minimalforderung im Hinblick auf die Verteilungsgerechtigkeit der Reform wider. Annahme A3\ Die effektive Grenzbelastung des Einkommens soil nach dem Systemwechsel fur kein Einkommensniveau grofier sein als zuvor, d.h. es soil (P + T(y))' = TXy) 0 gelten. In dieser Annahme kommt die Forderung zum Ausdruck, dass sich die verzerrenden Effekte durch den Systemwechsel vermindern bzw. auf keinen Fall erhohen sollen.
6.3 Alternative Formen der staatlichen Regulierung des Krankenversicherungsbereichs 237 Bei Zugrundelegung dieser Annahmen wollen wir uns nun iiberlegen, wie hoch die Gesamtbelastung eines beliebigen Individuums / > 1 im Kopfpramiensystem mit Sozialausgleich werden kann. Es gilt y\
P + T{yl) = P+\TXy)dy
yi
+ T(yx)
y\
+ byx-P = byl.
y\
Dabei folgt das Ungleichheitszeichen unmittelbar aus den Annahmen A2 und A3. Die Nettobelastung eines beliebigen Individuums / ist also im neuen System niemals hoher als im alten, woraus mit Hilfe der Selbstfinanzierungsbedingung Al folgt, dass sie sogar genau gleich ist. Die Annahmen Al, A2 und A3 determinieren also bezogen auf die Einkommensniveaus y\,...,yn das soziale Transferschema T(y) bereits vollstandig, und zwar gilt T{yi) = byi-P
fur alle / = 1,...,«.
Daraus ergibt sich T'{y) - b , so dass im Hinblick auf die Grewzbelastung durch den Systemwechsel faktisch tiberhaupt keine Anderung eintritt. Die Umstellung auf ein Kopfpramiensystem ist deshalb mit keiner unmittelbaren Verminderung der verzerrenden Effekte verbunden, obwohl die Einnahmen aus den verzerrenden Steuern bzw. Beitragen sinken. Und zwar verminderte sich die entsprechende Quote (Einnahmen aus verzerrenden Beitragen/Gesamteinkommen) n
vom Wert b im alten System zum Wert (b^y; -(n-i*)P)IY im neuen. Dabei /=/* bezeichnet i* dasjenige Individuum, bei dem als erstem das Einkommen iiber dem Schwelleneinkommen y = Y/n liegt, das die Zahler von den Empfangern trennt. Es geht also sowohl die Zahl der Individuen zurtick, welche verzerrende Steuern bezahlen, als auch die Hohe dieser Steuerzahlungen. Zu einer Reduktion der Grenzbelastung kommt es dabei aber nicht, weil die Individuen mit einem unter y gelegenen Einkommen bei Erhohung ihres Einkommens einen Transferentzug erfahren. Das soziale Ausgleichschema wirkt bei diesen Individuen wie eine negative Einkommensteuer, die einen positiven nominalen Grenzbelastungseffekt in Hohe von b impliziert. Abb. 6-9 gibt einen grafischen Vergleich der Belastungsfunktion vor und nach dem LFbergang zum Kopfpramiensystem mit Sozialausgleich.
238
6 Krankenversicherung Belastung by
o <
^
—_ _Y
Einkommen
Abb. 6-8: Proportionate Beitrage und Kopf-Pauschale mit Sozialausgleich im Vergleich Unsere Uberlegungen haben gezeigt, dass der Wechsel zu pauschalen Kopfpramienzahlungen an sich zwar die marginalen Belastungen zunachst auf null verschwinden lasst, diese jedoch durch das erforderliche soziale Ausgleichsystem zuruckkommen konnen. Bei Gultigkeit der Annahmen Al, A2 und A3 geschieht dies sogar in vollem Umfang. Diese Erkeniitnis tragt zwar zum besseren Verstandnis darliber bei, was man von der Einfuhrung einer Kopfpramie nicht erwarten kann. Folgt daraus aber auch, dass ein soldier, von vielen propagierter Systemwechsel - auBer politischer Aufmerksamkeit - im Endeffekt nichts bringt? Ein solches negatives Urteil erweist sich bei Licht besehen als stark ubertrieben. Der Ubergang auch zu einem von einem sozialen Ausgleich begleiteten Kopfpramiensystem kann namlich trotzdem okonomische Vorteile bringen, auf die wir jetzt kurz eingehen wollen. Die Trennung in eine auf Pauschalzahlungen beruhende Finanzierung der eigentlichen Gesundheitsausgaben auf der einen Seite und den Sozialausgleich auf der anderen Seite macht es moglich, die Ausgaben fur den Sozialausgleich aus allgemeinen Steuermitteln zu bestreiten. Bei der Ausgestaltung der zu diesem Zwecke verwendeten Steuern erhalt der Staat dann wesentlich mehr Flexibilitat als im Rahmen der starren Finanzierungsstruktur des urspriinglichen lohneinkommensabhangigen Beitragssystems. Insbesondere kann er bei der Gestaltung der Finanzierungsreform fur den Sozialausgleich allokativen und distributiven Zielsetzungen mehr Beachtung schenken. Es fallt so zum einen leichter, zu einer effizienteren, mit geringeren Zusatzlasten verbundenen Finanzierung tiberzugehen, wofur manche die Umsatzsteuer als geeignetes Instrument ansehen. Zum anderen kann auch eine im Sinne des steuerlichen Leistungsfahigkeitprinzips gerechtere Verteilung der fur den Sozialausgleich verwendeten Steuerlasten besser verwirklicht werden, wie eine Einbeziehung von Kapitaleinkunften, aber auch eine Berticksichtigung von Freibetragen und eine Nichtlinearitat des Tarifs. Das ursprungliche einkommensabhangige System lieBe sich im Prinzip zwar auch um entsprechende Elemente erganzen, was jedoch mit einer Komplizierung der Beitragserhebung und insgesamt hoheren Transaktionskosten verbunden ware. Von
6.4 Gesundheitssysteme in der Praxis
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der Steuerfinanzierung des sozialen Ausgleichs kann zudem ein dampfender Einfluss auf die iibrigen Staatsausgaben ausgelost werden, den viele aus Effizienzgriinden fur wlinschenswert halten. Bisher haben wir nur Effekte betrachtet, die mit der Finanzierungsstruktur in direktem Zusammenhang stehen. Der Ubergang zu Kopfpramien kann darliber hinaus aber auch Wirkungen auf die Ausgabenseite entfalten. So wird der Wettbewerb zwischen gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen, die ja ohnehin mit einkommensunabhangigen Pramien arbeiten, intensiviert. Der Krankenversicherungsmarkt wird auf diese Weise kompetitiver, was starkere Anreize zu einer kostengtinstigeren Leistungserstellung erwarten lasst. Insbesondere kann man in diesem Zusammenhang mit einer hoheren Vielfalt bei der Ausgestaltung der Vertragsbeziehungen zwischen Versicherern auf der einen und Leistungsanbietern auf der anderen Seite rechnen. Ferner lassen sich Selbstbeteiligungsregelungen in ein Kopfpramiensystem leichter integrieren als in das gegenwartige System der GKV, in dem der Arbeitgeber die Halfte des Beitrags zahlt (vgl. dazu Abschnitt 6.4.1.1) und daher der Versicherte die Halfte der Beitragssenkung, die mit einer Selbstbeteiligung verbunden ist, abgeben muss. Folgerung 6-10: Die Umstellung von einkommensabhangigen Kranken-1 versicherungsbeitragen auf ein Kopfpauschalen-System fuhrt nicht automa-1 tisch zu einer Verminderung der Zusatzlasten, wenn man die Allokationswirkungen des aus Verteilungsgrunden unverzichtbaren sozialen Ausgleichsmechanismus mit in Rechnung stellt. Der Systemwechsel schafft aber groBere Flexibilitat bei der Einnahmeerzielung und der Gestaltung des Leistungspakets, was sowohl Effizienzgewinne als auch eine gerechtere I Verteilung ermoglichen kann. I
6.4 Gesundheitssysteme in der Praxis Um die Vielfalt der staatlichen Eingriffe und Organisationsformen im Bereich des Gesundheitswesens naher zu beleuchten, werden im Folgenden einige empirische Beispiele etwas naher beschrieben. Dabei steht naturlich das Gesundheitssystem in Deutschland im Zentrum der Betrachtung. 6.4.1 Das Gesundheitswesen in Deutschland 6.4.1.1 Versichertenstruktur und Beitragsbemessung In Deutschland sind ca. 90 % der Wohnbevolkerung Mitglied in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Arbeitnehmer mit einem Einkommen bis zur Versicherungspflichtgrenze sind in der GKV pflichtversichert. Im Jahr 2006 liegt diese Versicherungspflichtgrenze bei einem Brutto-Jahreslohneinkommen von 46.800 €. Sie wird jahrlich (mehr oder weniger im AusmaB der Inflationsentwicklung) nach
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6 Krankenversicherung
oben angepasst. Von der Versicherungspflichtgrenze zu unterscheiden ist die (niedrigere) Beitragsbemessungsgrenze, die im Jahr 2006 42.300 € betragt. Bei Mitgliedern der GKV, deren Einkommen hoher ist, berechnet sich der Beitrag nur aus der Beitragsmessungsgrenze. Uber die Beitragsbemessungsgrenze hinausreichende Einkommensteile bleiben beitragsfrei. Pflichtmitglieder der GKV sind auch Landwirte, Studierende und die meisten Rentner. Denjenigen, die als abhangig Beschaftigte ein Jahreseinkommen erzielen, das liber der Pflichtversicherungsgrenze liegt, steht der Weg in eine Private Krankenversicherung offen. Der Riickweg in die GKV ist dann aber in der Regel versperrt. Die Beitrage zur GKV ergeben sich als konstanter Prozentsatz des Bruttolohns und werden zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber annahernd halftig aufgeteilt: Der Beitragssatz des Arbeitnehmers liegt um 0,9 Prozentpunkte uber dem des Arbeitgebers. Im Jahre 2006 betragt der durchschnittliche Beitragssatz der GKV 14,2 %. Vor 2006 wurde der Beitrag genau halftig zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber aufgeteilt. Die Aufgabe dieses Prinzips von 2006 an wurde damit begrtindet, dass die Kosten, welche den GKV-Kassen fur Krankengeldzahlungen (Lohnersatzleistungen) und Zahnersatz entstehen, von den Versicherten allein finanziert werden sollen. Dass bei der Abkehr von der paritatischen Finanzierung u.a. am Krankengeld angekniipft wird, ist den Zufalligkeiten des Gesetzgebungsprozesses zuzuschreiben. Die Begrundung kann deshalb nicht tiberzeugen, weil auch Rentner, die logischerweise keinen Anspruch auf Krankengeld haben, zu dieser zusatzlichen Beitragszahlung herangezogen werden. Bei den in der GKV Versicherten sind nicht-erwerbstatige Ehepartner sowie Kinder beitragsfrei mitversichert. Diese Familienversicherung nach § 10 SGB V erhoht auch den Anreiz (etwa fur Selbstandige), sich freiwillig in der GKV zu versichern. Es ware allerdings verfehlt, darin eine explizite Forderung von Familien zu sehen, weil es sich einfach um eine logische Konsequenz daraus handelt, dass der Beitrag am Arbeitseinkommen bemessen wird und die genannten Personen tiber kein Arbeitseinkommen verftigen. Eine generelle Krankenversicherungspflicht besteht in Deutschland nicht. So sind Beamte und Selbstandige nicht nur von der Mitgliedschaft in der GKV befreit, sondern sie sind auch nicht zum Abschluss einer privaten Versicherung gezwungen. Rentner zahlen fur ihre aus der Gesetzlichen Rentenversicherung bezogenen Renten nur den halben Beitragssatz der GKV-Kasse, der sie angehoren. Dadurch wird berucksichtigt, dass sich die Bemessung der Hohe dieser Renten am Nettoeinkommen orientiert. Die andere Halfte wird vom Renten vers icherungstrager ubernommen. Weitere Versorgungsbeziige, wie z.B. Betriebsrenten und Altereinklinfte aus selbstandiger Tatigkeit werden seit 2004 - gemaB dem GKVMo dermis ierungsgesetz - mit dem vollen Beitragssatz belegt. Mit der starkeren Belastung der Rentner soil dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Ausgaben der GKV fur Rentner nur zu ca. 43 % aus deren Beitragen finanziert werden, wahrend ca. 57 % von den noch im Erwerbsleben stehenden Versicherten beigesteuert werden mtissen.
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6.4.1.2 Leistungsumfang Der Leistungskatalog, auf den alle in der GKV Versicherten Anspruch haben, ist gesetzlich festgelegt. Nach § 11 SGB V gehoren dazu MaBnahmen zur Empfangnisverhiitung, Friiherkennung und Behandlimg von Krankheiten. Der wichtigste Einzelposten ist die Krankenbehandlung, die in § 27 SGB V naher geregelt ist. Nach Abs. 1 dieses Paragrafen umfasst die Krankenbehandlung: • arztliche Behandlung einschlieBlich Psychotherapie als arztliche und psychotherapeutische Behandlung, • zahnarztliche Behandlung einschlieBlich der Versorgung mit Zahnersatz, • Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, • hausliche Krankenpflege und Haushaltshilfe, • Krankenhausbehandlung, • Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und erganzende Leistungen. In der Regel werden die Leistungen nach dem Sachleistungsprinzip gewahrt: Die Krankenversichertenkarte gibt den Versicherten die Moglichkeit zur Leistungsinanspruchnahme bei den einzelnen Anbietern (Arzten, Krankenhausern, ...), die ihr Entgelt von den Krankenversicherungen erhalten. Kostenerstattung ist (nach § 13 SGB V) nur in Ausnahmefallen vorgesehen. Das Handeln der GKV steht nach den Buchstaben des Gesetzes § 12 SGB V unter einem strikten Wirtschaftlichkeitsgebot, das wie folgt lautet: „Die Leistungen mussen ausreichend, zweckmaBig und wirtschaftlich sein; sie durfen das MaB des Notwenigen nicht iiberschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, konnen Versicherte nicht beanspruchen, durfen die Leistungserbringer nicht bewirken und Krankenkassen nicht bewilligen." Geschieht dies trotzdem, drohen den Verantwortlichen nach § 12 Abs. 3 SGB V Regressforderungen. In § 71 SGB V wird - als weitere Implikation des Wirtschaftlichkeitsgebots - zudem die Beitragssatzstabilitdt explizit zum Ziel erklart. Im Rahmen des GKV-Modernisierungsgesetzes wurden von 2004 an gewisse versicherungsfremde Leistungen der GKV (wie das Sterbegeld, Ausgaben fur Brillen und Sterilisation) aus dem Leistungskatalog gestrichen. Andere versicherungsfremde Leistungen (wie z.B. das Mutterschaftsgeld und Ausgaben ftlr Empfangnisverhiitung oder Schwangerschaftsabbrtiche) werden seitdem durch Bundeszuschiisse an die GKV finanziert, die aus dem Aufkommen einer mehrstufigen Tabaksteuererhohung bestritten werden. Diese Bundeszuschlisse sollen 2007 zurtickgefahren werden. 6.4.1.3 Organisationsstruktur der GKV Trotz der einheitlichen Leistungsvorgaben ist das GKV-System in Deutschland nicht monolithisch organisiert. Vielmehr gibt es derzeit (Mitte 2006) mehr als 250 Krankenkassen, die in Allgemeine Ortskrankenkassen, Ersatzkassen, Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen, Landwirtschaftliche Krankenkassen sowie Bundesknappschaft und See-Krankenkasse gegliedert sind. Seit 1997 haben (ge-
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6 Krankenversicherung
maft § 173 SGB V) die meisten in der GKV Versicherten das Recht zur freien Wahl der Krankenkasse. Durch diese Reform wurde ein Wettbewerb zwischen den einzelnen Krankenkassen initiiert, durch den im Prinzip okonomische Anreize zur Kostendampfung geschaffen wurden. Aufgrund der weitgehend einheitlichen Festlegung des Leistungsangebots und des Zwangs, mit den Leistungsanbietern einheitliche Vertrage zu schlieBen, stellt der Beitragssatz den primaren Wettbewerbsparameter dar. Wirtschaftlichkeitsreserven lassen sich auf diese Weise insbesondere im Hinblick auf die Verwaltungskosten in den einzelnen Krankenkassen aktivieren. In der Tat haben sich infolge der Schaffimg des Kassenwahlrechts erhebliche Veranderungen in der Organisationsstruktur der Gesetzlichen Krankenkassen ergeben. So ist die Zahl der Krankenkassen gesunken, was zu einer gewissen Verminderung der administrativen Kosten gefuhrt hat. Allerdings setzt ein funktionierender Wettbewerb zwischen Krankenkassen voraus, dass sich die (Risiko-)Struktur der Versicherten bei den einzelnen Krankenkassen nicht allzu sehr unterscheidet. Wenn sich in einer Krankenkasse besonders viele kranke Individuen (oder auch Versicherte mit geringem Erwerbseinkommen) sammeln, ware sie von vornherein in einer ungiinstigen Wettbewerbssituation. Auch aufgrund der gerade bei alteren Versicherten nicht allzu groBen Wechselbereitschaft gibt es eine ungleichmaBige Zusammensetzung des Versichertenbestandes bei den einzelnen Krankenkassen. Um die auf diese Weise entstehenden Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, ist deshalb ein Finanz- und Risikostrukturausgleich (RSA) zwischen den Krankenkassen eingefiihrt worden (vgl. § 265-267 SGB V). Gabe es einen solchen Ausgleich nicht, hatte der Wettbewerb in zweierlei Hinsicht unerwtinschte Konsequenzen: • Beitragssatzunterschiede zwischen den Krankenkassen wurden nicht ihre unterschiedliche Leistungsfahigkeit, z.B. im Leistungs- und Kostenmanagement, sondern ihre divergenten Risikostrukturen widerspiegeln. • Der Kassenwettbewerb wtirde sich vor allem auf das Anwerben von Versicherten mit gunstigem Risiko konzentrieren, nicht aber auf Wirtschaftlichkeit und Qualitat der Versorgung von Kranken. In diesem Sinne ist es die zentrale ordnungspolitische Aufgabe des Risikostrukturausgleichs, die von den unterschiedlichen Versichertenstrukturen der einzelnen Krankenkassen ausgehenden Effekte auf die Hohe des Beitragssatzes auszugleichen. Die Faktoren, die auf Grund dieser Zielsetzung schon seit Einfuhrung des RSA berucksichtigt werden, sind • die beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder der jeweiligen Krankenkassen, • die Zahl der mitversicherten Familienangehorigen sowie • die Alters- und Geschlechtsstruktur der Versicherten sowie die Zahl der Versicherten, die Renten wegen verminderter Erwerbsfahigkeit beziehen. Damit erfolgt in indirekter und sehr pauschaler Form eine Berucksichtigung unterschiedlicher Morbiditatsstrukturen.
6.4 Gesundheitssysteme in der Praxis
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Der RSA wird auf zwei verschiedenen, in ihrer faktischen Wirkung jedoch zusammengehorenden Ebenen vollzogen: dem Ausgleich von Unterschieden im Beitragsbedarf und in der Finanzkraft. Der Transfer im RSA ergibt sich durch die Gegenuberstellung von Finanzkraft und Beitragsbedarf: Ubersteigt der Beitragsbedarf einer Krankenkasse ihre Finanzkraft, erhalt sie die Differenz aus dem RSA erstattet; ist die Finanzkraft hoher als der Beitragsbedarf, muss sie den entsprechenden Betrag abfuhren. Der RSA in seiner ursprunglichen Form ftihrte aber immer noch zu offensichtlichen Wettbewerbsverzerrungen, weil er den unterschiedlichen Gesundheitszustand der Versicherten (Morbiditatsrisiken) und den damit einhergehenden unterschiedlichen Ausgabenbelastungen der Krankenkassen nicht in ausreichender Weise Rechnung trug. Deshalb trat im Jahr 2002 eine Verfeinerung des RSAs in Kraft, die in erster Linie die folgenden MaBnahmen umfasst: Es wurde zum besseren Ausgleich der Morbiditatsrisiken ein Risikopool eingefuhrt, durch den uberdurchschnittlich hohe Aufwendungen fur Versicherte teilweise ausgeglichen werden. Berucksichtigt werden die Ausgaben fur stationare Versorgung, Arzneimittelversorgung, nichtarztliche Leistungen der ambulanten Dialyse sowie Krankengeld. Sofern die Aufwendungen fur einen Versicherten im Jahr den Schwellenwert von 20.450 Euro uberschreiten, tragt die Solidargemeinschaft der Krankenkassen 60 Prozent des den Schwellenwert iibersteigenden Betrags. Die ubrigen Ausgaben sind weiterhin von der Krankenkasse des Versicherten zu tragen. Der bisher bestehende Wettbewerbsnachteil von Krankenkassen, die eine Vielzahl uberdurchschnittlich kostenintensiver Versicherter zu betreuen haben, wird dadurch abgebaut. Durch den Schwellenwert und die Eigenbeteiligung der Krankenkasse bleibt das Interesse einzelner Krankenkassen an einer wirtschaftlichen Versorgung auch dieser Versicherten bestehen. Vom 1.1.2007 an soil im RSA die bisher indirekte Erfassung von Morbiditatsunterschieden zwischen den Versicherten durch eine direkte Erfassung abgelost werden. Gesunde und kranke Versicherte werden dann im RSA entsprechend ihrer Risikobelastung unterschiedlich berucksichtigt. Der Risikopool wird dann in einen Hochrisikopool mit einem hoheren Schwellenwert uberfuhrt. Ob es aber tatsachlich zu dieser Reform kommt, ist derzeit (Mitte 2006) noch offen. 6.4.1.4 Formen der Honorierung medizinischer Leistungen im Rahmen der GKV Bei der Abrechnung von Leistungen im ambulanten Bereich spielt die Kassenarztliche Vereinigung eine sehr wichtige Rolle. An sie entrichten die Krankenkassen fur die gesamte vertragsarztliche Versorgung eine Gesamtvergutung, deren Hohe in einem Gesamtvertrag mit alien Krankenkassen vereinbart wird (vgl. § 85(1) und (2) SGB V). Die Kassenarztliche Vereinigung verteilt diese ihr zur Verfugung stehende Summe der Gesamtvergutungen der einzelnen Krankenkassen an die Vertragsarzte. Dabei rechnet der einzelne Arzt seine Leistungen gegeniiber den Krankenkassen nicht in Geldbetragen, sondern in Punkten ab. Wie viele Punkte eine einzelne arztliche Leistung erbringt, ist im Einheitlichen Bewertungsmafistab (EBM) gere-
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6 Krankenversicherung
gelt. Der Wert eines einzelnen Punktes ist zunachst ex ante unbekannt. Er ergibt sich ex post, indem man die vereinbarte Gesamtvergiitung durch die Summe der abgerechneten Punkte teilt. Diese Form der Abrechung flihrt dazu, dass die Arzte das allgemeine Morbiditatsrisiko tragen. Wenn (etwa bei Epidemien) mehr Leistungen notig oder (durch technischen Fortschritt) moglich werden, steigt das Honorarvolumen nicht an. Die Arzte erhalten pro erbrachten Leistungspunkt dann ein geringeres Entgelt. Wenn ein einzelner Arzt seine Leistungen stark ausdehnt, um mehr Punkte abrechnen zu konnen, oder in betriigerischer Absicht nicht erbrachte Leistungen abrechnet, geht dies auf Kosten der Kollegen. Aus diesem Grund haben die Arzte im Ubrigen auch ein groBes Interesse an der Bekampfung von Abrechnungsbetrug. Um eine ubermaBige Ausdehnung der von einem Arzt erbrachten Leistungen zu verhindern, kann (gemaB § 85(4) SGB V) der Punktwert fur eine einzelne Leistung abgesenkt werden, falls ein (pro Arzt einer bestimmten Arztgruppe festgelegtes) Regelleistungsvolumen uberschritten wird. Zur Zeit orientiert sich der Betrag, den die Krankenkassen zur Abdeckung der ambulanten Versorgung an die Kassenarztliche Vereinigung bezahlen, an „Kopfpauschalen", die grob gesprochen den durchschnittlichen Kosten fur die ambulante Behandlung einer Person pro Jahr entsprechen. Diese pauschale Honorierung ist sehr grob und tragt der wirklichen Kostenbelastung nur unzureichend Rechnung. Von 2007 an soil das Abrechnungssystem deshalb insofern geandert werden, dass bei der Ermittlung des Honorierungsvolumens die Morbiditatsstruktur der Versicherten einer einzelnen Krankenkasse berucksichtigt wird. Dadurch wird auch das Morbiditatsrisiko weitgehend von den Arzten zu den Krankenkassen verlagert. An die Stelle der derzeitigen unsicheren Punktwerte treten ab 2007 zudem feste Vergiitungspunktwerte (Regelpunktwerte), bis das fur die einzelnen Arzte vorgegebene Regelleistungsvolumen erreicht ist. Daruber hinausgehende Leistungen werden nur mit 10 % des Regelpunktwerts vergiitet. Der „Hamsterradeffekt" (Arzte erhohen ihre individuelle Entlohnung auf Kosten ihrer Kollegen) wird auf diese Weise zwar vermieden und die Arzte erhalten eine zuverlassigere Kalkulationsgrundlage, zu beftirchten ist u.U. aber eine Unterversorgung der Patienten. Im Krankenhausbereich wurde in der Vergangenheit der tiberwiegende Teil der Behandlungsfalle nach tagesgleichen Pflegesatzen abgerechnet. Dies ftihrte zu einer ineffizienten Erhohung der Verweildauer im Krankenhaus, die 1999 in Deutschland bei 9,9 Tagen lag, wahrend sie z.B. in Frankreich im gleichen Jahr nur 5,5 Tage betrug. Zudem schaffen tagesgleiche Pflegesatze nur geringe Anreize fur das Krankenhaus-Management, fur Transparenz in der Kostenrechnung zu sorgen. Diese ist aber die Grundvoraussetzung fur effizientes Verhalten im Krankenhausbereich. In Deutschland wurde deshalb ein weitgehender Ubergang zum Fallpauschalen-System beschlossen, der zur Zeit im Gange ist. Der Einstieg in das angestrebte umfassendere Fallpauschalen-System war fur die Kliniken im Jahr 2003 noch freiwillig, bis 2007 soil das neue Entgeltsystem voll kostenwirksam fur alle Krankenhauser sein. Psychiatrische und psychosomatische Kliniken sind zumindest vorerst noch von den neuen Honorierungs-Regelungen ausgenommen, weil sich in diesem Bereich die notigen Verweilzeiten der Patienten bei gleicher Grunddiagnose stark unterscheiden.
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Grundlage fur das deutsche Fallpauschalen-System ist ein in den USA entwickeltes und in Australien modifiziertes (und dort auch angewandtes) Klassiflkationsschema, das die Einteilung von Krankenhausfallen in Diagnosis Related Groups (DRGs) erlaubt. Die Zuordnung zu einer entsprechenden Abrechnungsposition erfolgt dabei in erster Linie tiber medizinische Diagnosen- und Operationenschliissel. Teilweise werden darliber hinaus auch andere Faktoren wie Alter und Geschlecht herangezogen. Mit 390 DRG-Fallpauschalen sollen 95 % aller Krankenhausfalle abgebildet werden. Wie wir bei unserer allgemeinen Erorterung gesehen haben, erzeugen Fallpauschalen auch einen potenziellen Anreiz zur Unterbehandlung der Patienten. Um dieser Gefahr zu begegnen, miissen die Krankenhauser Vergiitungsabschlage hinnehmen, wenn sie Patienten tiberdurchschnittlich friih entlassen. Bei Patienten, die aus medizinischen Grlinden sehr lange im Krankenhaus bleiben miissen, erhalten die Kliniken - im Sinne einer Patientenschutzregelung - hingegen Zuschlage. Ein Kontrollmechanismus wird auch dadurch geschaffen, dass die Krankenhauser jahrliche Qualitatsberichte vorlegen miissen. Dadurch wird die Behandlungsqualitat der einzelnen Kliniken transparenter, und man erhofft sich die Forderung eines Qualitatswettbewerbs im Interesse der Patienten, durch den die im FallpauschalenSystem enthaltenen Anreize zur Qualitatsminderung wirksam bekampft werden konnen. Im Bereich der Arzneimittelversorgung wurde 2002 das ursprtinglich mit dem Ziel der Kostendampfung eingeflihrte Arznei- und Heilmittelbudget samt dem damit verbundenen Kollektivregress fur die Arzte wieder abgeschafft und durch Arzneimittelvereinbarungen zwischen Kassenarztlichen Vereinigungen und Krankenkassenverbanden auf Landesebene ersetzt, die unter Berlicksichtigung medizinischer Notwendigkeiten fur eine Umsetzung des Wirtschaftlichkeitsgebots sorgen sollen. Auf der Ebene des einzelnen Arztes dienen Richtgrofien dazu, iibermafiige Verschreibungen von Arznei- und Heilmitteln zu verhindern. Mittel- und langerfristig ist eine Differenzierung der Richtgrofien nach Alter der Patienten und Krankheitsart geplant, um das System zielgerichteter und fairer auszugestalten. Uberschreitet ein Arzt das ihm zustehende Richtgrofienvolumen um mehr als 15 Prozent, wird ein Priifungsverfahren eingeleitet, das (bei Uberschreitung um 25 Prozent) zu erheblichen Regressen fuhrt. Allerdings ist vor solchen Sanktionen auf Praxisbesonderheiten zu achten. Zum Zwecke der Kostendampfung fur die GKV unterliegen Arzneimittel gewissen Beschrankungen: Seit 2004 miissen in der Regel die Patienten nichtverschreibungspflichtige Medikamente selber bezahlen - auch wenn sie vom Arzt verordnet werden. Schon seit langerem werden Arzneimittel, die auf der „Negativliste" stehen, nicht von der GKV finanziert. Dazu gehoren v.a. solche, deren therapeutischer Nutzen nicht nachgewiesen ist. Fiir die meisten iibrigen Medikamente gibt es Festbetrage. Nur bis zur Hohe des jeweiligen Festbetrags tragt (natiirlich unter Beriicksichtigung der Selbstbeteiligung der Patienten) die Kasse die Kosten fur ein Medikament. Die Bemessung dieser Festbetrage darf dabei nicht willkiirlich erfolgen, sondern es muss sichergestellt sein, dass eine ausreichende Anzahl wirkungsgleicher Medikamente zum Festbetrag verftigbar ist. Die bisherige Festbetragsregelung wurde von der Pharmaindustrie immer durch das Neuangebot von
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Analogpraparaten zu unterlaufen versucht, die zwar patentgeschtitzt sind, sich aber von bereits vorhandenen Medikamenten kaum unterscheiden und insbesondere keinen zusatzlichen therapeutischen Nutzen erbringen. Diese Analogpraparate werden in Zukunft in die Festbetragsregelung einbezogen. Fur Medikamente, fur die es keine Festbetragsregelung gibt, wird von den Herstellern ein Preisabschlag zugunsten der GKV verlangt, der 2004 von 6 % auf 16 % erhoht wurde. Seit 2002 gilt im Arzneimittelbereich die Aut-Idem-Regelung. Ihr zufolge muss ein Apotheker entgegen der eigentlichen Verordnung des Arztes wirkstoffgleiche (und auch somit aquivalente) Medikamente abgeben, wenn diese preisgunstiger sind. Ebenfalls sind die Apotheker von nun an dazu verpflichtet, sich Medikamente auf dem Importweg zu beschaffen, wenn sich dadurch die Kosten um 15 % Coder um mindestens 15 € pro Packung) senken lassen. Durch das GKV-Modernisierungsgesetz haben sich dartiber hinaus Anderungen am Regulierungsrahmen fur Apotheken ergeben, die auf eine Senkung der Vertriebskosten fur Arzneimittel abzielen. So wurde das „Mehrbesitzverbot" fur Apotheken insoweit gelockert, als eine Apotheke maximal drei AuBenstellen haben darf, die allerdings in geografischer Nahe zu einander gelegen sein mussen. Das Fremdbesitzverbot bleibt bestehen, was Apotheken-Ketten (analog etwa zu Fielmann im Optiker-Bereich) ausschlieBt. Fur Apotheken soil jedoch der Versandhandel grundsatzlich erlaubt sein. 6.4J.5 Okonomische Anreize auf Patientenebene Verschiedene Formen der Selbstbeteiligung gibt es im deutschen GKV-System schon seit langem. Sie waren aber im Wesentlichen auf den Arznei- und Hilfsmittelbereich, den Krankenhausbereich und den Zahnersatz beschrankt und in ihrem Umfang zumeist so begrenzt, dass von ihnen keine verhaltenslenkende Wirkung zu erwarten war. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz hingegen wird die Kostenbeteiligung der Patienten zum flachendeckenden Prinzip gemacht. So wird seit 2004 vom Patienten fur jede Leistung grundsatzlich eine prozentuale Zuzahlung von 10 % verlangt, die aber nicht niedriger als 5 € und nicht hoher als 10 € ausfallen darf. Nur Kinder und Jungendliche sind generell von den Zuzahlungen befreit. Insbesondere bedeutet die Neuregelung, dass bei der ambulanten Behandlung eine Praxisgebuhr von 10 € fallig wird. Sie wird allerdings pro Arztpraxis nur einmal pro Quartal erhoben, und sie wird auch nicht bei Uberweisung an einen anderen Arzt fallig. Dadurch soil der Arztbesuch wegen Bagatelleerkrankungen eingeschrankt werden, wodurch man sich einen erheblichen Lenkungs- und Einspareffekt erhofft. Die Zuzahlung fur den Krankenhausaufenthalt steigt auf 10 € pro Behandlungstag, wobei die Gesamtzuzahlung pro Jahr in diesem Bereich auf 280 € beschrankt ist. Allerdings ist von dieser Art der Zuzahlung keinerlei Lenkungswirkung im Hinblick auf die Dauer eines Krankenhausaufenthalts zu erwarten. Die Zuzahlungspflicht ist sozial abgefedert. Die Gesamtzuzahlungen durfen 2 Prozent (bei chronisch Kranken 1 Prozent) des jahrlichen Bruttoeinkommens nicht ubersteigen, wobei das hier gtiltige Bruttoeinkommen um den Kinderfreibetrag in Hohe von 3648 Euro pro Kind zu bereinigen ist.
6.4 Gesundheitssysteme in der Praxis
247
Durch das GKV-Modernisierungsgesetz wird auf der Ebene der individuellen Anreize ein vollig neuartiges Element in das GKV-System eingefuhrt Und zwar erhalten die Krankenkassen das bisher nur privaten Krankenversichemngen vorbehaltene Recht, den Versicherten Vertrage mit speziflschen Selbstbehaltregelungen und der Aussicht auf Beitragsriickgewahr (bei Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen) anzubieten. Allerdings sind entsprechende Angebote nur auf freiwillig in der GKV Versicherte beschrankt, fur die auf diese Weise der Wechsel zu einer privaten Krankenversicherung an Attraktivitat verliereh soil. Zudem sind Zuzahlungs- oder Beitragsboni moglich, wenn die Versicherten an Vorsorgeuntersuchungen, Praventivprogrammen oder an einem Hausarztsystem teilnehmen, in dem der Hausarzt als „Turhuter" vor der Konsultation anderer Spezialarzte fungiert. 6.4.2 Das Gesundheitssystem in den USA Das Gesundheitswesen in den USA ist vollig anders ausgestaltet als das in Deutschland: In den USA sind 50 Prozent der Individuen privat versichert, w&hrend 36 Prozent einen Krankenversicherungsschutz durch die offentliche Hand haben. Dabei werden alte und behinderte Individuen ohne private Krankenversicherung vom Medicare System, bedtirftige (arme) Individuen vom MedicaidSystem erfasst. In dem auf der Ebene der einzelnen Bundesstaaten organisierten Medicaid-System kommt es nur dann zu einer Kostenubernahme, wenn eine Bedurftigkeitsprufung erfolgt ist. In diesem Sinne ahnelt das Medicaid-System also dem System der Sozialhilfe in Deutschland. Etwa 14 % der Individuen in den USA sind iiberhaupt nicht gegen Krankheitskosten versichert. Aber auch bei den privat Versicherten ist der effektive Versicherungsschutz luckenhaft. Dafur sind v. a. zwei Grtinde ausschlaggebend: • Die Pramienhohe fur die einzelnen Individuen wird von den Versicherungsgesellschaften vielfach nach individuellen Erkrankungsrisiken festgelegt. Das Pramienrisiko ist deshalb hoch, und Individuen mit Vorerkrankungen laufen Gefahr, keinen bezahlbaren Versicherungsschutz zu erhalten. • Fur viele Individuen ist der Krankenversicherungsschutz an ihren Arbeitsplatz gekoppelt. Die Arbeitgeber schlieflen vielfach einen kollektiven Krankenversicherungsvertrag fur alle ihre Beschaftigen ab. Dadurch wird zwar das individuelle Pramienrisiko vermindert, jedoch besteht gleichzeitig die Gefahr, mit dem Arbeitsplatz auch den Krankenversicherungsschutz zu verlieren oder aber durch einen Arbeitsplatzwechsel Verschlechterungen in den Versicherungsbedingungen in Kauf nehmen zu mussen. Aufgrund des viel starker privatwirtschaftlichen Charakters des Gesundheitssystems in den USA besteht dort auch eine groBere Vielfalt in den Vertragsformen zwischen Patienten, Krankenversichemngen und Leistungsanbietern. Krankenhauser werden in der Regel, anders als es in Deutschland zur Zeit noch der Fall ist, prospektiv, d.h. nach dem Fallpauschalsystem, entlohnt. Die vertikale Integration zwischen Versicherungen und Leistungsanbietern ist weit fortgeschritten. Viele
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6 Krankenversicherung
Versicherte sind Mitglied in einer Managed Care Organization (MCO) und dabei insbesondere in Health Maintenance Organizations (HMO), die medizinische Leistungen entweder selber anbietet oder aber nur ganz bestimmte Leistungsanbieter als Subunternehmer beschaftigt. Dies gilt insbesondere auch fur die von den offentlichen Sicherungssystemen Medicare and Medicaid erfassten Individuen. Die Freiheit der Patienten zur Wahl von Arzten und Krankenhausern wird bei Mitgliedschaft in einer MCO eingeschrankt, wobei das AusmaB dieser Einschrankung zwischen den einzelnen Organisationen stark variiert. (Bei Preferred Provider Organizations (PPOs) ermoglicht eine hohere Selbstbeteiligung auch den Zugang zu Leistungsanbietern auBerhalb der Organisation.) Fur ein in einer HMO versichertes Individuum sind nur solche Leistungsanbieter zugelassen, die in vertraglicher Beziehung zu dieser HMO stehen. Bei der Intensitat dieser Bindung gibt es wie bei den Entlohnungsformen viele Varianten. Durch die Verhandlungsmacht der MCO und die durchgangige Leistungskontrolle wird zwar der Wettbewerb zwischen den einzelnen Leistungsanbietern gestarkt, woraus sich erhebliche Anreize zur Kostensenkung ergeben, gleichzeitig sehen die Vertrage zwischen HMOs auf der einen und Arzten und Krankenhausern auf der anderen Seite vielfach auch eine Standardisierung der Leistungen (etwa anhand von Guidelines insbesondere im Rahmen von Disease Management Programmen bei chronischen Erkrankungen) und explizite Leistungsausschlusse vor. Dadurch kommt es zu einer Einschrankung der Therapiefreiheit, die zwar zur Kostendampfung beitragt, jedoch in der Praxis auch zu Unzufriedenheit sowohl bei Patienten als auch bei Medizinern fuhrt. Die Patienten fuhlen sich oft unzureichend behandelt, und die Arzte in den USA beklagen eine zunehmende Uberlastung mit administrativen und betriebswirtschaftlichen Aufgaben. Trotz des hohen Stellenwerts marktwirtschaftlicher Elemente im Gesundheitssystem der USA sind die gesamtwirtschaftlichen Ausgaben sehr hoch - wahrend die Effektivitat (gemessen etwa an der durchschnittlichen Lebenserwartung) alles andere als herausragend ist. Der Stand des medizinischen Fortschritts in den USA ist bemerkenswert. Jedoch ist die Befurchtung weit verbreitet, dass sich seine Frtichte im Endeffekt auf einen Teil der Bevolkerung beschranken. Kritiker sehen im amerikanischen Gesundheitswesen das typische Beispiel fiir eine Zwei-(Mehr-) Klassen-Medizin. Dies ist, wie wir gesehen haben, nicht nur auf den unzureichenden Versicherungsschutz bei einem GroBteil der Bevolkerung, sondern auch auf KostendampfungsmaBnahmen bei privaten Krankenversicherungen (insbesondere im Rahmen von HMOs) zuruckzuflihren.
6.5 Ubungsaufgaben
249
6.5 Ubungsaufgaben
Aufgabe 6.1: Erortern Sie, welche Probleme sich durch adverse Selektion fur private Krankenversicherungsmarkte ergeben konnen und inwieweit sich daraus eine Rechtfertigung fur staatliche Eingriffe ableiten lasst. Aufgabe 6.2: In dem in Abschnitt 6.1.4 zur Behandlung des Pramienrisikos verwendeten Modell betragen die Behandlungskosten pro Periode £=2000 und es sei nL = 5%, nH -10% und nK = 8% . Ermitteln Sie, welche Pramie sich in den beiden Perioden fur jeden der drei im Text beschriebenen Vertragstypen ergibt. Erortern Sie ferner, wovon die Durchsetzbarkeit dieser drei Vertragstypen abhangt. Aufgabe 6.3: Wie lasst sich das in Abschnitt 6.1.4 behandelte Pramienrisiko-Modell vom ZweiPerioden-Fall auf den Drei-Perioden-Fall ubertragen? Welche Pramienhohen ergaben sich dann in den einzelnen Perioden fur die verschiedenen Vertragstypen? Skizzieren Sie, wie man bei der Verallgemeinerung des Modells auf den nPerioden-Fall vorzugehen hatte. Inwieweit stellt das im Text zunachst behandelte ^-Perioden-Modell einen Spezialfall des auf diese Weise erhaltenen ft-PeriodenModells dar? Erlautern Sie, weshalb es im allgemeinen «-Perioden-Modell bei einem zeitkonsistenten Versicherungsvertrag zu einem Riickgang der Pramiensatze im Zeitablauf kommt. Aufgabe 6.4: Es wird angenommen, dass es eine groBe Zahl identischer Individuen mit der von Neumann-Morgenstern Nutzenfunktion u(W) = \nWund dem individuellen Anfangsvermogen W0 = 50 gibt. Im Krankheitsfall, der mit der Wahrscheinlichkeit 7r = 1/3 eintritt, kommen auf das Individuum Behandlungskosten in Hohe von L = 30 zu. Das Existenzminimum, das von der Sozialhilfe garantiert ist, belauft sich auf W = 30 . Die hier betrachteten Individuen sollen - auch wenn sie gesund bleiben oder versichert sind - nicht zur Finanzierung von Sozialhilfezahlungen herangezogen werden. a.
Beschreiben Sie, welche Position ein Individuum im W2 -Wx -Diagramm erreichen kann, wenn es eine private Krankenversicherung zum fairen Pramien-
250
b.
c.
d. e.
6 Krankenversicherung satz p - n -1/3 abschlieBt und deren Leistungen auf die Sozialhilfezahlungen angerechnet werden. Bestimmen Sie die kritische Grenze V * fur die Deckungssumme, von der ab die Krankenversicherung zu einem liber dem Existenzminimum W =30 gelegenen Endvermogenswert fuhrt. Zeigen Sie, dass sich unter den gegebenen Bedingungen eine private Krankenversicherung fur das Individuum nicht lohnt. Weshalb ist das dann erreichte Ergebnis ineffizient? Beschreiben Sie analog zum Vorgehen im Text, wie sich durch einen staatlichen Eingriff eine Pareto-Verbesserung erreichen lasst. Wie hoch musste das Anfangsvermogen des Individuums sein, damit es (unter ansonsten gleich bleibenden Annahmen) trotz Sozialhilfe einen Anreiz zum Abschluss einer privaten Krankenversicherung hat? Welche Deckungssumme wird das Individuum dann wahlen?
Stellen Sie Ihre Uberlegungen auch in einem Abb. 6-1 entsprechenden Diagramm dar. Aufgabe 6.5: Analog zu Aufgabe 6.4 sei ein representatives Individuum durch u(W) = \r\W, WQ = 20 , L = 15 und n = 1/3 charakterisiert, und das von der Sozialhilfe garantierte Existenzminimum betrage W = 6 . Anders als zuvor sollen jetzt aber die Sozialhilfezahlungen dadurch fmanziert werden, dass von jedem dieser Individuen, sofern es durch Erkrankung nicht bedurftig wird, eine Pro-Kopf-Pauschalsteuer in Hohe von Terhoben wird. a. b.
c.
Wie hoch ist T in der betrachteten Situation anzusetzen? Welchen Anreiz zum Abschluss einer privaten Krankenversicherung hat ein einzelnes Individuum, welches teilspielperfekte Nash- Gleichgewicht ergibt sich? Was andert sich am Ergebnis von b), wenn das Sozialhilfeniveau auf W = 9 angehoben wird?
Aufgabe 6.6: Die Nachfrage eines Individuums nach einem Gesundheitsgut mit dem Preis p sei h(p) = 10- p. Vergleichen Sie die Vorteilhaftigkeit einer Versicherung mit Festbetrag (und dem Festbetrag d = 2) und einer Versicherung mit proportionaler Selbstbeteiligung (in Hohe a -1/4), falls das Angebot des Gesundheitsgutes a. b.
bei h = 7 vollkommen unelastisch ist. bei p = 3 vollkommen elastisch ist.
6.5 Ubungsaufgaben
2 51
Inwieweit trifft die Aussage zu, dass Festbetragstarif und Selbstbeteiligungsregelung aquivalent zueinander sind? Aufgabe 6.7: Fur die Nachfrage nach einen Gesundheitsgut gelte h(p) = 10-p . Wie lasst sich das Nachfrageverhalten eines Individuums beschreiben, das einen Versicherungskontrakt mit Selbstbehaltregelung abgeschlossen hat, bei dem der FranchiseBetrag F = 37,5 gilt? Aufgabe 6.8: Die Nutzenfunktion eines reprasentativen Individuums sei u(F,c), wobei F den Freizeit- und c den Gtiterkonsum des Individuums bezeichnet. Die Zeitausstattung betrage F = 10, und der Lohnsatz sei w = l. Neben dem Lohneinkommen soil das Individuum in der betrachteten Periode noch uber ein exogenes Einkommen (aus Zinsertragen oder aus Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung) in Hohe von M = 2 verfugen. Im Ausgangszustand wird zur Finanzierung der Gesundheitsausgaben ein Beitragssatz in Hohe von b = 20% auf das Lohneinkommen erhoben. a.
b.
c.
Um wie viel kann dieser lohnbezogene Beitragssatz gesenkt werden, wenn zur Finanzierung der Gesundheitsausgaben zusatzlich eine proportionale Steuer aufalle Einkommensarten mit dem Steuersatz t = 10% neu eingefuhrt wird und die Krankheitskosten pro Individuum konstant bleiben? Zeigen Sie, dass sich durch diese Reform bei der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung eine Nutzenerhohung fur das Individuum bzw. eine Verminderung der Zusatzlasten ergibt. Erortern Sie, weshalb bei einer Erweiterung des Betrachtungszeitraums uber die zunachst betrachtete Periode hinaus erhebliche Zweifel an dem in b) festgestellten effizienzerhohenden Effekt angebracht sind.
Aufgabe 6.9: In einer Volkswirtschaft leben 10 Millionen beitrags- und steuerpflichtige Einwohner, deren jahrliche Lohneinnahmen gleichmafiig uber das Intervall zwischen 10.000 Euro und 150.000 Euro verteilt sind. Die Gesundheitsausgaben Pro-Kopf sollen 4.000 Euro pro Jahr betragen. a. b.
Welcher lohnbezogene Beitragssatz ist zur Finanzierung der gesamten Gesundheitsausgaben notig? Beschreiben Sie die verschiedenen moglichen Kombinationen eines proportionalen Beitragssatzes und einer pauschalen „Kopfpramie", die ebenfalls zur Finanzierung der (annahmegemaB konstanten) Gesundheitsausgaben eingesetzt werden konnten.
252 c. d.
e.
f.
g.
6 Krankenversicherung Erortern Sie die Verteilungseffekte, die sich bei den in b. beschriebenen Finanzierungsalternativen jeweils ergeben. Zur Vermeidung einer zusatzlichen Belastung der einkommensschwacheren Individuen soil der (teilweise) Ubergang von einkommensproportionalen Beitragen zu Kopfpramien durch ein soziales Ausgleichssystem erganzt werden. Wie ist diese System auszugestalten, wenn erreicht werden soil, dass kein Individuum schlechter gestellt wird? Ermitteln Sie den kritischen Schwellenwert des Einkommens, der bei dem in d. erhaltenen Steuer-Transfer-Mechanismus Geber und Nehmer voneinander trennt. Weshalb wird die Gultigkeit der These von der prinzipiellen allokativen Vorteilhaftigkeit des Kopfpramiensystems durph diese theoretischen Uberlegungen eingeschrankt? Diskutieren Sie andere mogliche Vorteile sowie Nachteile eines Kopfpramien-Systems zur Finanzierung des Gesundheitswesens.
6.6 Literatur Arrow, K. J. (1963), Uncertainty and the Welfare Economics of Medical Care, American Economic Review 53: 941-973. Breyer, F. (2002), Einkommensbezogene versus pauschale GKV-Beitrage - Eine Begriffsklarung, Schmollers Jahrbuch 122: 605-616. Breyer, F. (1984) Die Nachfrage nach medizinischer Leistung - eine empirische Analyse von Daten aus der gesetzlichen Krankenversicherung, Berlin et al.: Springer. Breyer, F. und A. Haufler (2000), Health Care Reform: Separating Insurance from Income Redistribution, International Tax and Public Finance 7: 445-461. Breyer, F. und V. Ulrich (2000), Gesundheitsausgaben, Alter und medizinischer Fortschritt: Eine Regressionsanalyse, Jahrbucher fur Nationalokonomie und Statistik 229: 1-17. Breyer, F., P. Zweifel und M. Kifmann (2005), Gesundheitsokonomik, 5. Auflage, Berlin, Heidelberg, New York: Springer. Buchholz, W. (2001), Marktversagen und Staatseingriffe im Gesundheitswesen: Die Prlichtversicherungslosung als Alternative, Schmollers Jahrbuch 121: 83-104. Buchholz, W. (2005), A Note on Financing Health-Care Reform: Some Simple Arguments Concerning Marginal Tax Burden, FinanzArchiv 61: 438-446. Coate, S. (1995), Altruism, the Samaritan's Dilemma and Government Transfer Policy, American Economic Review 85: 46-57. Cochrane, J. (1995), Time-Consistent Health Insurance, Journal of Political Economy 103: 445-473. Cutler, D.M. (2002), Health Care and the Public Sector, in: A.J. Auerbach und M. Feldstein (Hg.), Handbook of Public Economics, Vol. 4, Amsterdam et al.: Elsevier: 2143-2243. Glazer, J. und T. McGuire (2000), Optimal Risk Adjustment in Markets with Adverse Selection: An Application to Managed Care, American Economic Review 90: 1055-1977. Glied, S, (2000), Managed Care, in: A. Culyer und J. Newhouse (Hg.), Handbook of Health Economics, Vol. 1A, Amsterdam et al.:Elsevier: 707-753. Haufler, A. (2004), Welche Vorteile bringt eine Pauschalpramie fur die Finanzierung des Gesundheitswesens? Schmollers Jahrbuch 124: 539-556.
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7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung
7.1 Einleitung In den meisten OECD-Mitgliedslandern existiert eine Arbeitslosenversicherung in staatlicher oder halb-staatlicher Tragerschaft mit obligatorischer Mitgliedschaft fur unselbstandig Beschaftigte. Eine Ausnahme stellt Danemark dar, wo die Mitgliedschaft zwar freiwillig ist, jedoch die Leistungen nur zu einem geringen Anteil aus Mitgliedsbeitragen und tiberwiegend durch staatliche Zuschusse fmanziert werden, so dass die Mitgliedschaft aus der Sicht der meisten Arbeitnehmer hochst attraktiv ist. Die einzelnen Systeme unterscheiden sich allerdings erheblich in ihren Leistungen, sowohl im Hinblick auf die Bezugsdauer, als auch im Hinblick auf die Hohe und die Bemessung am frtiheren Arbeitseinkommen (vgl Abschnitt 7.2). Dagegen existieren kaum private Versicherungsvertrage zur Abdeckung des Einkommensausfalls durch Arbeitslosigkeit. Dieses Fehlen wirft die Frage auf, ob wir es hier mit einem Versagen des Marktes in dem Sinne zu tun haben, dass eine der Voraussetzungen des 1. Hauptsatzes der Wohlfahrtsokonomik nicht erflillt ist, oder ob es sich bei dieser Absicherung um ein Gut handelt, das niemand zum Marktpreis freiwillig kaufen wurde. Im ersten Falle lage es nahe zu vermuten, dass der staatliche Mitgliedschaftszwang wohlfahrtserhohend wirkt, im zweiten Falle ware eher das Gegenteil der Fall. Grundsatzlich kann man eine Reihe von Ursachen fur das Fehlen eines Marktes fiir privatwirtschaftliche Versicherungsvertrage unterscheiden, wobei jeweils zu prixfen ist, ob die jeweiligen Voraussetzungen auf den Fall des Arbeitslosigkeitsrisikos zutreffen: 1. Private Versicherungsvertrage sind uberfliissig oder fiir den Versicherungsnehmer nicht attraktiv, weil die staatliche Sozialversicherung mit Zwangsmitgliedschaft bereits fur eine umfassende Absicherung sorgt. Dieser Urnstand war etwa fur das Fehlen eines Marktes fur private Leibrenten in Deutschland bis Ende des 20. Jahrhunderts ursachlich, da die Gesetzliche Rentenversicherung ein hohes MaB der Lebensstandardsicherung im Alter zu garantieren schien, wahrend dies in anderen Landern wie dem Vereinigten Konigreich durchaus nicht der Fall ist und man dort seit langem einen Leibrentenmarkt beobachtet. Er konnte auch auf die Arbeitslosenversicherung in Deutschland zutreffen, da die Sozialversicherung zumindest in den ersten 12-18 Monaten der Arbeitslosigkeit eine im internationalen Vergleich hohe Einkommensersatzrate vorsieht.
256
7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung
2. Das betrachtete Risiko ist in dem Sinne „unversicherbar", als die Risiken der verschiedenen Arbeitnehmer sehr hoch miteinander korreliert sind, denn Arbeitslosigkeit ist zum groBen Teil ein konjunkturelles Phanomen. Dieses Argument ist jedoch nicht ganz stichhaltig, da auch in einer Rezession die uberwiegende Mehrzahl der Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz hat und es selbst bei einem vorhersehbaren Verlust an Arbeitsplatzen ex ante unklar ist, wer davon betroffen sein wird. Eine umlagefinanzierte Versicherung, bei der ein bestimmtes Leistungsniveau festgelegt wird, die Beitrage sich jedoch jeweils an die Konjunkturlage anpassen, konnte durchaus auch privat angeboten werden. Ahnliche Mechanismen findet man in der privaten Krankenversicherung und in der Gebaudeversicherung, in denen jeweils die Beitrage an die laufende Entwicklung der Leistungsausgaben angepasst werden. 3. Der Versicherungsmarkt ist durch asymmetrische Information gekennzeichnet, da der potenzielle Versicherungsnehmer sein individuelles Risiko weit besser einschatzen kann als der Versicherer (vgl. Abschnitt 4.2). Dieser Grund scheint fur die Arbeitslosenversicherung weniger typisch zu sein: Zum einen kann ein Versicherer das Arbeitslosigkeitsrisiko eines Arbeitnehmers auf Grund beobachtbarer Merkmale wie Alter, Ausbildung, berufliche Karriere, Branche und Unternehmen des Arbeitsplatzes vermutlich ebenso gut einschatzen wie der Betroffene selbst. Zum anderen ware unter diesen Annahmen ein Marktergebnis zu erwarten, bei dem nur hohe Risiken privat versichert werden - ein Phanomen, das man in den wenigen Landern, in denen Zusatzversicherungen zugelassen und wegen des niedrigen Absicherungsniveaus der Sozialversicherung sinnvoll sind, nicht beobachten kann. 4. Der Versicherungsmarkt kommt nicht zustande, weil er durch ein hohes MaB an Verhaltensrisiko gekennzeichnet ist. Dies setzt voraus, dass der einzelne Arbeitnehmer (oder jemand anderes) das Risiko der Arbeitslosigkeit selbst beeinflussen kann, dass das Versicherungsuntemehmen dieses Verhalten nicht beobachten oder zumindest nicht nachweisen kann und dass deshalb die Tatsache, dass das Risiko abgesichert ist, zu einem riskanteren Verhalten des Betroffenen fiihrt. In einem solchen Fall kann, wie in Abschnitt 4.3 gezeigt wurde, der Abschluss einer privaten Arbeitslosenversicherung fur den Arbeitnehmer unattraktiv sein, was das Fehlen solcher Vertrage erklaren kann. Ob in diesem Fall der Zwang zur Mitgliedschaft in einer Sozialversicherung wohlfahrtserhohend wirkt, hangt davon ab, ob der Staat iiber bessere Instrumente verftigt, das Verhaltensrisiko einzudammen. Das in Abschnitt 7.3 zu besprechende Modell stellt einen solchen Fall dar. Es beantwortet die Frage, warum der Staat eine Arbeitslosenversicherung betreiben kann, die der Markt nicht anbietet. Im Folgenden wird zunachst das System der sozialen Sicherung fur Arbeitslose in Deutschland in seinen Grundztigen dargestellt (Abschnitt 7.2). Abschnitt 7.3 widmet sich, wie bereits erwahnt, der theoretischen Erklarung der Tatsache, dass Arbeitslosenversicherung durchweg staatlich organisiert ist, und Abschnitt 7.4 beschaftigt sich mit der Frage der optimalen Organisation der Arbeitslosenversiche-
7.2 Das System der sozialen Sicherung fur Arbeitslose in Deutschland
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rung. Abschnitt 7.5 schlieBlich untersucht den Zusammenhang zwischen der Gestaltung der Grundsicherung flir Arbeitslose und den Arbeitsanreizen fur die Betroffenen.
7.2 Das System der sozialen Sicherung fur Arbeitslose in Deutschland1 7.2.1 Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld I) Das Arbeitslosengeld I ist eine Entgeltersatzleistung, die nach dem SGB III als eine Versicherungsleistung gezahlt und aus den Beitragen der Arbeitslosenversicherung finanziert wird. Anspruch auf Arbeitslosengeld I hat, wer a) arbeitslos und fur die Vermittlung einer Stelle verfugbar ist, b) sich bei der Agentur flir Arbeit als solcher gemeldet hat und c) die Anwartschaftszeit (s.u.) erftillt hat. 7.2.1.1 Die Versich erten Bei der Arbeitslosenversicherung in Deutschland gilt generell Versicherungspflicht, dies betrifft alle Personen, die gegen Entgelt oder im Rahmen ihrer Berufsausbildung beschaftigt sind. Von der Versicherungspflicht ausgenommen sind lediglich Beamte, Richter, Soldaten und Geistliche sowie geringfugig Beschaftigte (bis 400 Euro/Monat), Schiiler und Studenten. 7.2.1.2 Anwartschaftszeit und Bezugsdauer Die Anwartschaftszeit hat erfullt, wer mindestens 12 Monate innerhalb der Rahmenfrist von zwei Jahren in einem Beschaftigungsverhaltnis gestanden hat. Konkret richtet sich die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I zum einen nach der Dauer des Beschaftigungsverhaltnisses innerhalb der letzten drei Jahre vor Beginn der Arbeitslosigkeit und zum anderen nach dem Lebensalter des Antragstellers bei Entstehung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld. Tabelle 7.1: Die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld Versicherungspflicht in den letzten drei Jahren in Alter Anspruchsdauer in Monaten Monaten _ „ _ _ _ _ _ „ __ 6 16 8 20 10 24 12 30 55 15 36 55 18 Quellen: Lampert und Althammer (2004), Waltermann (2005), Bundesministerium flir Arbeit und Soziales (2006).
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7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung
7.2.1.3 Hohe der Ansprilche Die Hohe des Arbeitslosengeldes betragt fur Arbeitslose mit einem Kind 67%, bei kinderlosen Personen 60% des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt): Dieses errechnet sich aus dem Bruttoentgelt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (bis zu einer Bemessungsgrenze, die 2005 5.200 Euro/Monat betrug), vermindert um pauschalierte Abztige fur Lohnsteuer, Solidaritatszuschlag und Sozialversicherungsbeitrage.
7.2.2 Das System der Grundsicherung (Arbeitslosengeld II) Am 1. Januar 2005 wurde die Grundsicherung fur Arbeitssuchende auf Basis der Vorschlage der Hartz-Kommission zur Zusammenfuhrung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe eingefuhrt. Die einschlagige Rechtsnorm ist das SGB II, welches eine einheitliche Grundsicherung fur alle erwerbsfahigen Hilfsbedurftigen vorsieht, die keinen Anspruch (mehr) auf Arbeitslosengeld I haben. 7.2.2.1 Anspruchsvoraussetzungen Leistungsberechtigt sind Personen zwischen 15 und 65 Jahren, die erwerbsfahig sind, den eigenen Lebensunterhalt jedoch nicht aus eigenen Kraften sichern konnen, sowie ihre Partner und Kinder. 7.2.2.2 Leistungen Die vorgesehenen Leistungen umfassen zum einen aktive Leistungen zur Eingliederung in die Arbeit (Informationen, Beratung, MaBnahmen zur Wiederherstellung der Erwerbsfahigkeit und umfassenden Unterstutzung bei der Eingliederung in eine Beschaftigung) und zum anderen Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II). Die Regelleistungen des Arbeitslosengeldes II betragen ab dem 1.7.2006 fur eine Einzelperson in ganz Deutschland 345 Euro im Monat, zuztiglich angemessener Kosten fur Unterkunft und Heizung. Die Regelleistung fur zusatzliche Personen betragt zwischen 60% (fur Kinder unter 13) und 90% (fur volljahrige Partner) dieses Betrags. Fur die ersten beiden Jahre nach dem Bezug von Arbeitslosengeld I ist auBerdem ein Zuschlag zum Arbeitslosengeld II vorgesehen, der im ersten Jahr bis zu 160 Euro pro Person und Monat betragt, im zweiten Jahr halb so viel. 7.2.2.3 Hinzuverdienstregelungen undzu berucksichtigendes Vermogen Grundsatzlich mussen hilfsbedurftige Arbeitssuchende zunachst ihr eigenes Vermogen fur den Lebensunterhalt aufwenden, bevor sie Arbeitslosengeld II beantragen dtirfen. Es gibt jedoch Freibetrage, die vor allem die Riicklagen zur Altersvorsorge schtitzen sollen. AuBerdem steht das Vermogen von Kindern unter besonderem Schutz. Vom Vermogen ist ein Grundfreibetrag von 200 Euro je voll-
7.3 Private oder staatliche Arbeitslosenversicherung: Modellanalyse
259
endetem Lebensjahr des volljahrigen Hilfsbedurftigen und seines Partners (mindestens je 4.100 Euro, hochstens je 13.000 Euro) abzusetzen. AuBerdem ist Vermogen, welches der Altersvorsorge dient und nicht verwertbar ist, bis zur gleichen Hohe vom zu beriicksichtigenden Vermogen absetzbar. Ftir jedes Kind der Bedarfsgemeinschaft gilt ein Grundfreibetrag von 4.100 Euro, sowie ein Freibetrag von 750 Euro pro Person der Bedarfsgemeinschaft fur notwendige Anschaffungen. Hausrat, ein Kraftfahrzeug, ein selbst genutztes Grundstuck oder eine Eigentumswohnung zahlen nicht als Vermogen, sofern sie eine angemessene GroBe bzw. einen angemessenen Vermogenswert nicht ubersteigen, ihre Verwertung offensichtlich unwirtschaftlich ware oder fur den Betroffenen eine besondere Harte bedeuten wtirde. Bei der Anrechnung von Einkommen sind folgende Freibetrage zu berucksichtigen: Zunachst sind vom Bruttoeinkommen Steuern, Sozialversicherungsbeitrage und Werbungskosten abzusetzen, ferner ein anrechnungsfreier Betrag von 100 Euro pro Monat. Liegt das Bruttoeinkommen zwischen 100 und 800 Euro, so bleiben davon 20% anrechnungsfrei, von dem 800 Euro iibersteigenden Betrag 10%. Ab einem Bruttoeinkommen von 1.200 Euro (mit Kindern 1.500 Euro) wird jeder weitere Euro voll auf das Arbeitslosengeld II angerechnet.
7.2.3 Ausgaben der Bundesrepublik Deutschland fur Arbeitslose Im Jahr 2004 betrugen die Ausgaben der Bundesagentur ftir Arbeit fur Arbeitsmarktpolitik insgesamt 74,5 Mrd. Euro. Davon entfielen 19,5 Mrd. Euro (26,2%) auf sog. aktive Leistungen (ArbeitsbeschaffungsmaBnahmen, Umschulung) und 49,3 Mrd. Euro auf Entgeltersatzleistungen. Unter diesen wiederum kostete das Arbeitslosengeld 29,1 Mrd. und die damals noch existierende Arbeitslosenhilfe 18,8 Mrd. Euro. Nach der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zur „Grundsicherung fur Arbeitssuchende" betrugen die Ausgaben ftir diesen Posten im Jahr 2005 35,2 Mrd. Euro.
7.3 Private oder staatliche Arbeitslosenversicherung: Modellanalyse V
Das folgende Modell, das auf Boadway und Marceau (1994) zuriickgeht, dient der Erklarung der Tatsache, dass die Arbeitslosenversicherung fast tiberall als staatliche organisierte Pflichtversicherung ausgestaltet ist. 7.3.1 Modellannahmen Die betrachtete Okonomie besteht aus einer grofien Anzahl von Branchen, und innerhalb jeder Branche herrscht vollkommene Konkurrenz. Arbeit ist der einzige Produktionsfaktor. Die in den einzelnen Branchen produzierten Gtiter seien in ih-
260
7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung
ren Einheiten so definiert, dass alle Preise gleich 1 seien. Die Branchen sind ex ante in der gleichen Lage, denn jede ist mit der gleichen Wahrscheinlichkeit n (0 < n < 1) einem negativen Schock ausgesetzt, der die Arbeitsproduktivitat aller Firmen in der Branche senkt. In der Okonomie gibt es jedoch kein aggregiertes Risiko, d.h. zu jedem Zeitpunkt ist der Anteil waller Branchen von dem negativen Schock betroffen. Dieser kommt in der Produktionsfunktion einer reprasentativen Firma zum Ausdruck: f F{L) in Zustand 1 (Wahrscheinlichkeit: 1 - n) x=< [0. • F(L) in Zustand 2 (Wahrscheinlichkeit: n)
(7.1)
mit 0 < 6 < 1. Dabei bezeichnet L die Anzahl der in der Firma beschaftigten Arbeiter. Dagegen sei N die Zahl der auf die einzelne Firma entfallenden Arbeitsanbieter. Die Produktionsfunktion F habe die ublichen Eigenschaften F(0) = 0, F \L) >0,F \L) < 0, lim F \L) = oc
(7.2)
L->0
Falls nun eine Firma weniger als die auf sie entfallenden N Arbeiter beschaftigt, also L < N gilt, so werden die Beschaftigten nach einem Zufallsverfahren ausgewahlt, so dass jeder Arbeitsanbieter mit der gleichen Wahrscheinlichkeit (N-L)l N arbeitslos wird und ex ante, d.h. bevor der Zustand der einzelnen Branchen bekannt ist, jeder Arbeitsanbieter das Arbeitslosigkeitsrisiko n -{N -L)l N besitzt. Dagegen kann die Arbeitszeit fur die Beschaftigten nicht variiert werden. Die Arbeitsanbieter seien risikoavers und betrachten Einkommen und Freizeit als vollkommene Substitute, d.h. sie haben die strikt konkave Nutzenfunktion J U(y) falls beschaftigt [U(y + P) falls arbeitslos
(7.3)
wobei y das Einkommen bezeichnet und der Parameter J3 (J3 > 0) das fmanzielle Aquivalent der Freizeit oder den „Reservationslohn" misst. Man beachte, dass Arbeitslosigkeit als solche die Menschen in diesem Modell also nicht unglucklicher macht. 7.3.2 Das Wettbewerbsgleichgewicht Im Folgenden wird untersucht, welche Allokation in einem Wettbewerbsgleichgewicht dieser Okonomie ohne Staatseingriffe zu erwarten ist. Dabei sei zusatzlich unterstellt, dass das Risiko eines negativen Produktivitatsschocks nicht versichert werden konne (z.B. weil die Firmen gegenuber einer Versicherungsgesellschaft nicht nachweisen konnen, dass ein Produktionsriickgang auf exogene Faktoren und nicht auf eigenes Versagen zurtickgeht). Arbeiter und Firmen konnen dagegen zweifelsfrei feststellen, ob sich eine Branche im Zustand 1 oder 2 be-
7.3 Private oder staatliche Arbeitslosenversicherung: Modellanalyse
261
findet. Ferner seien die Arbeiter nicht zwischen den Branchen mobil, sondern nur zwischen den Firmen innerhalb jeder Branche. Dies impliziert, dass auf dem wettbewerblichen Arbeitsmarkt jeder Branche nach Feststellung des Zustands der Natur der Lohn auf dem Niveau der Grenzproduktivitat der Arbeit bei Vollbeschaftigung einpendelt, namlich: f w =F\N) w=< [w2=0-F\N)
inZustandl
(7.4)
in Zustand 2
mit wx > w2 wegen 6 < 1. Es sei femer angenommen, dass w2 > P gilt, weil andernfalls in Zustand 2 niemand bereit ware zu arbeiten. In Abwesenheit von Steuern und Transfers gilt dann fur den Haushalt yt = wt in den beiden Zustanden / = 1,2 , und sein ex-ante-Erwartungsnutzen betragt EU = (l-7r)-u(wl) + 7T-u(w2)
(7.5)
7.3.3 Staatlich oder gewerkschaftlich gesetzter Mindestlohn Wir nehmen nun an, es gebe eine Institution, die die Macht habe, einen Mindestlohn flir alle beschaftigten Arbeiter durchzusetzen. Dies kann sein • der Staat, der einen Mindestlohn gesetzlich vorschreibt, oder • eine Gewerkschaft, die einen Tariflohn durchsetzt. Wichtig ist nur, dass diese Institution das Ziel verfolgt, den Ex-anteErwartungsnutzen der Arbeitsanbieter zu maximieren. Ein Mindestlohn w ist nur dann wirksam, wenn er grofier ist als der Marktlohn im Zustand 2; andererseits sei der Fall betrachtet, dass der Mindestlohn nur im schlechten Zustand 2 bindet. Wir unterstellen also wx > w > w2.
(7.6)
Die Wirkung des Mindestlohns auf die Beschaftigung im Zustand 2 erhalt man, wenn man die Bedingung fur die gleichgewichtige Arbeitsnachfrage in diesem Zustand, 6-F\L) = w
(7.7)
nach L auflost, / und nach w ableitet:
v-i w
(7/8)
262
7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung
(7.9) dw
0-F"
Der Erwartungsnutzen (7.5) verandert sich bei Existenz eines Mindestlohns zu L(w)
EU = (\-7r)'u(wx) + n
N
„ N-L(w) ,„ u(w) + ^—t-uiP) N
(7.10)
Um zu untersuchen, ob ein wirksamer Mindestlohn im Interesse eines Arbeitsanbieters ist, differenzieren wir diesen Ausdruck nach w und werten diese Ableitung an der Stelle w = w2 aus: (7.11) dEU dw
-7T'
N
2
6NF"
Da der erste Term in der eckigen Klammer positiv und der zweite negativ ist, ist das Vorzeichen dieses Ausdrucks unbestimmt. Nimmt man allerdings an, dass w2 = P gilt,2 so ist der letzte Summand null und der gesamte Ausdruck eindeutig groBer als null.. Ein wirksamer Mindestlohn liegt also im Interesse der Arbeitsanbieter, wodurch - bei Abwesenheit weiterer staatlicher Interventionen - die Existenz von Arbeitslosigkeit erklart ist. Es ist tibrigens nicht ausgeschlossen, dass im Optimum w = wl gilt.
7.3.4 Die optimale Kombination aus Mindestlohn und Arbeitslosenversicherung Nun stehe dem Staat ein zweites Instrument zur Verfligung, namlich eine Arbeitslosenversicherung. Diese sei gekennzeichnet durch eine Versicherungsleistung q an jeden Arbeitslosen und eine Pramie P, die jeder Arbeitsanbieter zahlen muss. Wir ignorieren Verwaltungskosten und unterstellen, dass die Pramie versicherungsmathematisch fair ist, d.h. genau der erwarteten Versicherungsleistung entspricht: N— I
(7.12)
Fur die Ableitung der Pramie nach der Hohe des Arbeitslosengeldes erhalt man dann:
2
Diese Gleichung konnte dadurch zustande kommen, dass zusatzliche Personen auf dem Arbeitsmarkt als Anbieter auftreten, solange der Lohnsatz im ungtinstigen Zustand den Reservationslohn /?ubersteigt
7.3 Private oder staatliche Arbeitslosenversicherung: Modellanalyse
P'(q) = n-
263 (7.13)
N-L N
Der Staat setzt nun seine Instrumente Arbeitslosengeld (q), Pramie (P) und Mindestlohn (w) so ein, dass der Erwartungsnutzen eines Arbeitsanbieters maximiert wird. Dabei hat er allerdings neben der Restriktion (7.12) noch zu beachten, dass ein Arbeitsloser nicht besser gestellt sein darf als jemand, der im Zustand 2 zum Mindestlohn arbeitet: q + P<w
(7.14)
Die Lagrange-Funktion zu diesem Optimierungsproblem lautet: A(q9 P9 w9 ju) = (\-n)- U[WX - P(q)] + n-
j-.u[w-P(q)] + !?-^u[q + /3-P(q)]
+
/u-(w-q-p).
(7.15)
Als Bedingung 1. Ordnung fur die optimale Hohe des Arbeitslosengeldes erhalt man 3A N-L — = -n(\-7T)——-uXy{)-n dq N N-L N-L + 7T\-n N N
2N-L
L —— • — - u \y2) N N u
uXya)-J
(7.16)
=Q
wobei die Kurzel wie folgt definiert sind: yx :=wx-P
(7.17)
y2
(7.18)
:=w-P
(7.19)
ya:=q + /3-P Durch einfaches Umformen erhalt man aus (7.16): N-L N2
i(l-x)-N\uXya)-uXyi)]
+ x
(7.20)
Wegen (7.6) und (7.14) ist der Grenznutzen des Einkommens im Falle der Arbeitslosigkeit u\ya) nicht kleiner als in den beiden Zustanden der Beschaftigung. Damit sind die beiden Ausdrticke in den eckigen Klammern in (7.20) nichtnegativ. Somit kann der Lagrange-Multiplikator ju hochstens dann null sein, wenn beide Klammerausdrticke null sind, woraus folgen wtirde:
264
7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung
y \ = yi - ya bzw. wx =w = q+p
(7.21)
Dies wiirde jedoch implizieren, dass die Nebenbedingung (7.14) bindend ist. 1st andererseits ju > 0 , so ist nach dem Theorem von Kuhn und Tucker (7.14) ebenfalls bindend. Damit ist gezeigt, dass in einer optimalen Losung das Risiko der Arbeitslosigkeit insofern voll versichert wird, als der Nutzen der Arbeitslosen und der Nutzen der im ungiinstigen Zustand Beschaftigten gleich hoch sind, d.h. dass in (7.14) das Gleichheitszeichen gilt. Folgerung 7.1: Die optimale Arbeitslosenversicherung aus der Sicht eines risikoaversen Arbeitsanbieters gleicht die Nutzendifferenz zwischen den Zustanden der Beschaftigung und der Arbeitslosigkeit genau aus. Die optimale Hohe des Mindestlohns erhalt man aus der Bedingung 1. Ordnung = 71
U (V7)
+ — -q-LXw)- (l^x)'uXyl)+n N
— -uXy2) +
7r-——'uXya)
(7.22)
+ ^-'LXw)'[u(y2)-u(ya)] + jU = 0. N Da, wie gerade gezeigt, in (7.14) das Gleichheitszeichen gilt, ist der vorletzte Term gleich null. Der erste Term misst den (erwarteten) Nutzenzuwachs der in Zustand 2 Beschaftigten durch eine marginale Anhebung des Mindestlohns und der zweite Term den mit dem Anstieg der Versicherungspramie P verbundene Nutzenverlust, der um so groBer ist, je starker die Arbeitsnachfrage auf einen Anstieg des Mindestlohns reagiert (d.h. je grofier Z/(w) im Absolutbetrag ist).
7.3.5 Dezentralisierung iiber eine private Arbeitslosenversicherung Im Folgenden soil gepriift werden, ob es moglich ist, die Optimallosung(w*,^*,.P*), die das Gleichungssystem (7.16) bis (7.22) lost, ohne staatlichen Zwang zu erreichen. Wir nehmen also an, private Versicherungsunternehmen bieten eine Arbeitslosenversicherung mit den Parametern #*, P* an, und untersuchen, ob der Staat (bzw. die Gewerkschaft), der nach wie vor den Erwartungsnutzen eines Arbeitsanbieters maximiert, daraufhin tatsachlich den wohlfahrtsoptimalen Wert des Mindestlohns, w *, wahlen wird. Wir erkennen jedoch leicht, dass dies nicht der Fall sein wird, da nach Abschluss einer privatrechtlichen Arbeitslosenversicherung die Pramienhohe P* fur die Versicherten und damit auch fur den Staat eine exogen fixierte GroBe ist, die nicht mehr auf eine Anhebung des Mindestlohns reagieren kann. Daher lautet die Zielfunktion des Staates, der den Erwartungsnutzen eines Arbeitsanbieters durch Wahl eines Mindestlohns maximiert,
7.3 Private oder staatliche Arbeitslosenversicherung: Modellanalyse
EU(w) =
265
(l-7r)u[wl-P*] \L(w)
[ #
r_
_..
N-L(w)
. ,
n
_._]
TV
(7.23)
J
mit der 1. Ableitung £C/Xi^ = ^ ~ « ^ 2 ) + ^ ^ W ' K > ' 2 ) " - " ( ^ a ) ] -
(7.24)
An der Stelle (w*,g*?JP*) ist, wie oben gezeigt, der Ausdruck in der eckigen Klammer gleich null und somit der gesamte Ausdruck in (7.24) strikt positiv. Okonomisch bedeutet dies, dass ein Staat, der kein anderes Ziel verfolgt, als den Erwartungsnutzen der Arbeitnehmer zu maximieren, immer einen Anreiz hat, den Mindestlohn auf Kosten der privaten Versicherungsunternehmen iiber das optimale MaB hinaus anzuheben, d.h. iiber dasjenige MaB, das der Pramienkalkulation der Unternehmen zugrunde lag). Private Unternehmen, die diese Reaktion des Staates antizipieren, werden also niemals Versicherungsvertrage mit den Parametern (q*,P*) anbieten. Folgerung 7.2: Ein privates Versicherungsunternehmen wiirde eine Vollabsicherung gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit nicht anbieten, da es befurchten mtisste, dass der Staat oder die Gewerkschaften daraufhin den Mindestlohn iiber das kalkulierte Niveau hinaus anheben wiirde. Die dadurch zusatzlich verursachte Arbeitslosigkeit wiirde dem Unternehmen Verluste bescheren.
7.3.6 Folgerungen fur die Organisation der Arbeitslosenversicherung Aus dem oben Gezeigten folgt, dass eine private Arbeitslosenversicherung einen gesellschaftlich optimalen Versicherungsschutz nicht anbieten kann. Die Begriindung beruht auf dem Phanomen des Verhaltensrisikos auf Seiten des Staates bzw. der Gewerkschaft. Diese Organisationen haben die Macht, einen Mindestlohn durchzusetzen und damit das Kalkul privater Versicherungsunternehmen zu durchkreuzen. Nur sie selbst sind daher in der Lage, eine optimale Arbeitslosenversicherung anzubieten. Damit ist das weit verbreitete Phanomen erklart, dass dieser Versicherungstyp zumeist als staatliche Sozialversicherung und gelegentlich als gewerkschaftliche Versicherung organisiert ist. Ubrigens war auch der historische Vorlaufer der Arbeitslosenversicherung, die Arbeiter-Hilfskassen des 19. Jahrhunderts, eine Art gewerkschaftlicher Organisation. Allerdings gilt das oben abgeleitete Modellergebnis (wie stets) nur unter den getroffenen Annahmen. Dazu gehort u.a., dass ein privates Versicherungsunternehmen Vertrage nur zu festen Pramien anbieten kann. Mit der Aumahme einer Klausel, die eine Anpassung der Pramien im Falle eines unerwarteten Anstiegs der
266
7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung
„Schadensfalle" vorsieht, in den Versicherungsvertrag konnte das Unternehmen sicherstellen, dass es nicht vom Staat in den Ruin getrieben wird. Solche Klauseln sind in der Gebaude- und der Kraftfahrzeugversicherung tiblich.
7.4 Sektorale oder zentrale Arbeitslosenversicherung?3 Selbst wenn man akzeptiert, dass nur der Staat eine Arbeitslosenversicherung betreiben kann, ist damit die Frage noch nicht beantwortet, ob es aus der Sicht des einzelnen Arbeitnehmers (iberhaupt vorteilhaft ist, dass eine solche Versicherung mit Zwangsmitgliedschaft existiert und wenn ja, wie diese strukturiert sein sollte. Diesen Fragen wenden wir uns im Folgenden zu. Vergleicht man die Zweige der deutschen Sozialversicherung, so erkennt man, dass sie ganz unterschiedlich strukturiert sind: Wahrend die gesetzliche Krankenversicherung stark dezentral organisiert ist - die uber 250 Kassen sind teilweise regional abgegrenzt und waren fruher auf Berufsgruppen und sogar einzelne Betriebe spezialisiert - , ist die Arbeitslosenversicherung eine zentrale Organisation mit einem einheitlichen Beitragssatz. Dies kann neben der etwaigen Einsparung von Verwaltungskosten auch noch weitere Vorteile haben. Fuhrt etwa ein exogener Nachfrageschock auf einem Markt - wie das Auftreten von preisgiinstiger Konkurrenz aus Asien in der Unterhaltungselektronik - zu einem starken Arbeitsplatzabbau in der betroffenen Branche, so miissen nicht die verbliebenen Beschaftigten in dieser Branche tiber erhohte Beitrage die gesamten Kosten der Arbeitslosigkeit selbst tragen, sondern die Kosten verteilen sich uber die gesamte Volkswirtschaft. Die gesamte Arbeitnehmerschaft bildet also eine groBe Solidargemeinschaft, in der jede einzelne Branche gegen exogene Schocks, die nur sie betreffen, versichert ist. Diese Zentralisierung kann jedoch auch Nachteile haben, namlich dann, wenn die Arbeitslosigkeit weniger durch exogene Schocks als vielmehr durch nicht marktgerechte Lohne verursacht wurde. Wir betrachten dazu eine BranchenGewerkschaft, die sich einer Arbeitsnachfragefunktion L = L(w),
L\w)<0
(7.25)
gegeniiber sieht. Wie oben bezeichne N die Anzahl der Arbeitswilligen, q die exogen festgelegte Hohe des Arbeitslosengeldes und P den von jedem Arbeiter zu zahlenden Beitrag zur Arbeitslosenversicherung. Die Gewerkschaft habe die Macht, einen beliebig hohen Lohnsatz w durchzusetzen, und verfolge das Ziel, den Erwartungsnutzen eines reprasentativen Mitglieds zu maximieren. Einziger Unterschied zum Modell des vorigen Abschnitts ist, dass Einkommen und Freizeit hier keine vollstandigen Substitute sind, sondern dass zwischen einer Nutzenfunktion u bei Beschaftigung und v bei Arbeitslosigkeit unterschieden wird.
3
Dieses Modell orientiert sich an Holmlund und Lundborg (1988), (1989).
7.4 Sektorale oder zentrale Arbeitslosenversicherung?
267 -
7.4.1 Sektorale Arbeitslosenversicherung Bei sektoraler Organisation der Arbeitslosenversicherung tragen die eigenen Mitglieder den gesamten Versicherungsbeitrag. Daher lautet das Optimierungsproblem der Gewerkschaft: Max L(w) • u(w -P) + [N- L(w)] • v(q)
(7.26)
W,P
unter der Nebenbedingung [N-L(w)]-q
(7.27)
so dass die Lagrange-Funktion lautet: A(w,P,X) = L(w)-u(w-P) + [N-L(w)]• v(q) + X• {L(w) P-[N-L(W)]•
(7.28) q]
mit den Bedingungen 1. Ordnung — = -L(w)-uXw-P) OP — = L(w) -u\w-P) dw
+ A-L(w) = 0A = u\w-P)
(7.29)
+ L \w) • \u(w -P)- v(q)] + X-L \w) -(P-q) = 0.
(7.30)
Durch Einsetzen von (7.29) in (7.30) erhalt man: L(w)-u\w-P)
l + L'(w)-
q+P
L\w)\u{w-P)-v{q)]
(7.31)
Die linke Seite von (7.31) gibt den Nutzen einer Lohnerhohung urn einen Euro an: Der Ausdruck in der eckigen Klammer ist der damit verbundene Anstieg des Nettolohns unter Berticksichtigung der Tatsache, dass zusatzliche L \w) Personen arbeitslos werden, die ein Arbeitslosengeld q erhalten und selbst keinen Versicherungsbeitrag P mehr zahlen, was auf die L Arbeiter umgelegt werden muss. Dieser Ausdruck wird mit dem Grenznutzen des Einkommens und der Zahl der Arbeiter multipliziert. Die rechte Seite von (7.31) gibt die (erwartete) direkte NutzeneinbuBe durch das hohere Risiko der Arbeitslosigkeit an. Im Optimum mtissen sich diese beiden GroBen genau entsprechen.
7.4.2 Zentrale Arbeitslosenversicherung Bei zentraler Organisation der Arbeitslosenversicherung tragen die eigenen Mitglieder der betrachteten Gewerkschaft nur einen Anteil a des Versicherungsbeitrags, der dem Anteil der betrachteten Branche an der Gesamtzahl der Arbeitneh-
268
7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung
mer entsprechen konnte. Daher andert sich die Lagrange-Funktion des Optimierungsproblems der Gewerkschaft zu: A(w,P,A) =
L(w)-u(w-P)
+ [N-L(w)\v(q)
+ X<{L{wyP-a\N-L(w)\q}
(7,32)
und die Bedingung 1. Ordnung fur die optimale Lohnhohe modifiziert sich unter Verwendung von (7.29) zu: ^
= L(w).uXw-P) + L\w)-[u(w-
(733)
P)-v{q)] + u\w- P)- L\w)-(P + aq) = 0.
(7.33) ist eine implizite Gleichung zur Bestimmung der aus der Sicht der Gewerkschaft optimalen Lohnhohe. Wie dieser Wert w* auf eine Variation des exogenen Parameters a reagiert, ermittelt man unter Verwendung des Theorems der Impliziten Funktionen, indem man (7.33) total differenziert: 1 • m IA\ d2A/dwda = —=— -u\w-P)'L\w)'q <0 . (7.34) da d2A/dw2 d2A/dw2 Das Ungleichheitszeichen in (7.34) gilt dabei, weil der Ausdruck d2A/dw2 im Falle eines Maximums kleiner oder gleich null sein muss. Damit ist gezeigt, dass der Lohnsatz umso hoher gewahlt wird, je geringer der Grad der Selbstfmanzierung der induzierten Arbeitslosigkeit ist, d.h. je mehr Kosten der Arbeitslosigkeit die Gewerkschaft auf die Mitglieder anderer Branchen abwalzen kann. Damit ist jedoch ein Gefangenen-Dilemma beschrieben: Je geringer der Grad der Selbstfinanzierung, desto hoher der Lohnsatz und die Arbeitslosigkeit, und desto hoher auch der Beitrag, den die Arbeiter jeder Branche aufbringen mtissen, um das Arbeitslosengeld der restlichen Branchen mitzuflnanzieren. Im Folgenden soil gezeigt werden, dass aus diesem Grund fiir die einzelne Gewerkschaft ein Selbstfinanzierungsgrad von 100 Prozent, also eine sektorale Arbeitslosenversicherung optimal ist. Um die Analyse zu vereinfachen, unterstellen wir hierzu eine lineare Arbeitsnachfrage in der betrachteten Branche: dw*
L = a-b<w
(7.35)
sowie eine im Einkommen lineare Nutzenfunktion der Arbeiter. Folglich maximiert die Gewerkschaft das Nettoeinkommen der Branche, das wie folgt definiert ist: Y(w) = (l-t)-{w-L(w) Darin ist (I-a)•
q-[N-L(w)]
+ (l-a)-q-[N-L(w)]}.
( 7 - 36 )
der Teil des Arbeitslosengeldes, der durch Zu-
schtisse aus dem Staatshaushalt aufgebracht wird, und t der Einkommensteuersatz, der auf Arbeits- und Transfereinkommen erhoben wird und der allein dazu dient,
7.4 Sektorale oder zentrale Arbeitslosenversicherung? 269 die Zuschusse zur Arbeitslosenversicherung zu fmanzieren. Maximierung von Y durch Wahl von w fiihrt zu der Bedingung 1. Ordnung dY
— = (l-t).\L dw
+ (w-(\-a)-q)-LXw)]
= 0.
(7.37)
Auflosen nach w und Einsetzen von (7.35) ergibt die optimale Losung w*
= A-.[a + (l-a)-b>q] 2b
(7.38)
und folglich L(w*) = -\a-(\-a)
(7.39)
Die staatliche Budgetrestriktion verlangt, dass fur eine representative Branche das Aufkommen aus der Einkommensteuer ausreicht, um die Zuschusse zur Arbeitslosenversicherung zu decken: + (l-a)'q-[N-L(w)]}
t{w'L(w)
= (l-a)-q'[N-L(w)]
OA0)
Setzt man (7.40) in (7.36) ein und berticksichtigt man (7.38) und (7.39), so kann man das Nettoeinkommen der Branche als Funktion des Selbstfmanzierungsgrades a darstellen: Y*(a) =
w*(a)-L[w*(a)]
=^ \ a
+
(\-a)>b-q^^\a-{\-a)-b-q^
(7.41)
.±.[^- 4 >V. 0 - B) >] und es gilt: f^! da
=
il±(l_ 2
a ) >
0,
(7-42)
was zu zeigen war. Folgerung 7.3: Eine zentrale Arbeitslosenversicherung wie in Deutschland hat gegentiber einer auf die einzelne Branche beschrankten den Vorteil, dass die Arbeiter gegen die Konsequenzen sektorspezifischer Schocks geschtitzt sind, und den Nachteil, dass die Kosten einer durch zu hohe Lohne verursachten Arbeitslosigkeit scheinbar zum groBen Teil von anderen getragen werden. Dies verleitet die Branche zu tiberhohten Lohnabschliissen, woraus eine hohere Arbeitslosigkeit und - fur alle Branchen - hohere Beitrage resultieren.
270
7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung
7.5 Grundsicherung fur Arbeitsfahige 7.5.1 Die Begrundung fur ein staatlich garantiertes Existenzminimum Wie in Abschnitt 7.2 gezeigt, wird die Versicherungsleistung „Arbeitslosgeld", die sich in der Hohe am fruheren Gehalt orientiert, nur eine begrenzte Zeit lang gezahlt. Die Begrundung hangt mit der auch empirisch bestatigten Einsicht zusammen, dass erst gegen Ende der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes die Bereitschaft des Arbeitslosen steigt, eine Stelle mit geringerem Lohn anzunehmen. Dennoch lasst die Gesellschaft den Betroffenen nach Ende der Bezugsdauer nicht verhungern, sondern gewahrt ihm (in Deutschland) die sog. Grundsicherung, mit der das Existenzminimum abgedeckt werden soil. In Deutschland war dafur fruher der Begriff „Sozialhilfe" gebrauchlich, mit den Hartz-Gesetzen erfolgte eine Umbenennung in „Arbeitslosengeld II". Es entspricht der Zielsetzung der Grundsicherung, dass diese erst dann greift, wenn die Individuen sich nicht mehr selber helfen konnen. Die Gewahrung dieser Leistungen setzt also das Fehlen anderer materieller Ressourcen voraus. Sie ist insofern nachrangig und erfolgt deshalb erst nach einer Bedtirftigkeitsprufung. Bei der Feststellung der Bediirftigkeit wird nicht nur das laufende Einkommen, sondern auch das vorhandene Vermogen berticksichtigt, das im Bedarfsfall erst einmal aufgebraucht werden muss. Es wird aber nicht nur die finanzielle Ausstattung des Antragsstellers selber gepriift, sondern auch die Moglichkeit zur Selbsthilfe innerhalb des Familienverbandes. Verwandte ersten Grades (Ehepartner (auch geschiedene), Eltern, Kinder) sind gemaB dem Subsidiaritdtsprinzip im Notfall potenziell unterhaltspflichtig, wenngleich sich hier beim Arbeitslosengeld II im Vergleich zur fruheren Sozialhilfe gewisse Vergiinstigungen ergeben haben. Gerade dies stoBt auf eine immer geringere Akzeptanz in der Gesellschaft, insbesondere weil hier viele Tauschungsmoglichkeiten bestehen, der Riickgriff auf die infrafamiliare Solidaritat oftmals zu offensichtlich unfair empfundenen Ergebnissen fiihrt, sich Familienbande im Zuge der individuellen Emanzipation und gestiegenen Mobilitat generell gelockert haben und v. a. weil der Sozialstaat heutzutage gerade als Ersatz fur die auf Dauer wenig verlassliche wechselseitige Untersttitzung im Familienverband angesehen wird. Dies war auch der tiefere Grund fur die Neueinfuhrung der Pflegeversicherung in Deutschland im Jahre 1995. Aus okonomischer Sicht leuchtet eine solche Rollenzuweisung an den Sozialstaat (Substitution des Risikoausgleiches im Familienverband) unmittelbar ein: Kleine Einheiten (wie die Familie) sind von vornherein weniger gut in der Lage, Risiken abzusichern als groBe Einheiten (private Versicherungsgesellschaften oder eben der Staat). Die Kehrseite der Medaille ist naturlich, dass eine kollektive Absicherung die Anreize dampft, durch das In-die-Welt-setzen und die Erziehung eigener Kinder fiir die Verminderung von Lebensrisiken (v. a. bei Krankheit und Pflegebediirftigkeit) zu sorgen. Im Kollektivsystem des Sozialstaats kann man sich indirekt auf die Kinder anderer Leute verlassen, die somit - okonomisch ausgedrtickt - positive externe Effekte schaffen. Familienforderung kann vor diesem
7.5 Grundsicherung fur Arbeitsfahige
271
Hintergrund deshalb als Mafinahme zu einer effizienzfordernden Internalisierung dieser externen Effekte verstanden werden. Im Mittelpunkt der politischen Diskussion urn die „klassische" Grundsicherung fur arbeitsfahige Individuen steht jedoch die Frage der Anreize, eigenes Einkommen zu erwerben. Dieses Problem beruht darauf, dass im Rahmen der Grundsicherung bei Ermittlung des individuellen Bedarfs nicht nur Sach- und Finanzvermogen eines Antragstellers voll auf die Sozialhilfezahlung angerechnet, sondern im Prinzip auch das aus seinem Humankapital flieBende Arbeitseinkommen. Dadurch entsteht die Gefahr, dass in diesem System die Anreize flir die Sozialhilfeempfangervermindert werden, durch die Erzielung eigenen Erwerbseinkommens den Zustand der Bediirftigkeit zu verlassen. Gleichzeitig wird kritisiert, dass die Gewahrung von Sozialhilfe zum laufenden Lebensunterhalt indirekt einen Anspruchslohn fiir niedrig qualifizierte Arbeit fixiert, dessen Existenz dann die Raumung des Arbeitsmarkts in diesem Marktsegment verhindert und damit zur Arbeitslosigkeit beitragt. Als systemimmanente Losung des Dilemmas wurde dann das sog. Lohnabstandsgebot postuliert, mit dem gefordert wird, dass die Hohe der Grundsicherung um einen gewissen Prozentsatz unter dem Einkommen liegen muss, das ein vollbeschaftigter Arbeiter in der untersten Tariflohngruppe im Monat netto verdienen kann. Kritisch ist zu dieser Forderung anzumerken, dass sie eine je nach HaushaltsgroBe unterschiedliche und teilweise unrealistisch niedrige Grenze zieht: Man stelle sich einen FiinfPersonen-Haushalt mit nur einem arbeitsfahigen Erwachsenen vor, der obendrein ungelernter Arbeiter ist. Was aus theoretischer Sicht hinter dieser Kritik an der klassischen Sozialhilfe genau steckt und wie eine okonomisch sinnvollere Losung des Dilemmas aussehen konnte, soil jetzt anhand eines einfachen Arbeitsangebots-Modells erortert werden.
7.5.2 Effekte der klassischen Sozialhilfe auf den Arbeitsmarkt Die Wirkungen eines Sozialhilfeanspruchs auf das Arbeitsangebot eines Individuums lassen sich in einem Freizeit-Einkommens-Diagramm bestimmen. Mit F bezeichnen wir dabei die Zeitausstattung (= maximale Arbeitszeit) eines reprasentativen Individuums. Das von ihm gewahlte Freizeitniveau wird wiederum F genannt und sein Arbeitsangebot entsprechend L = F-F, ferner steht y fur sein (zum Gtiterkonsum verwendetes) Einkommen. Wir nehmen der Einfachheit halber an, dass alle Individuen die gleichen Praferenzen aufweisen, sich aber in ihrer Produktivitat und damit der Hohe ihres Lohnsatzes w unterscheiden konnen. Ohne Arbeitseinkommen (und ohne Sozialhilfe) befmdet sich das Individuum in Abb. 7-1 im Punkt A auf der Freizeit-Achse. Fiir einen bestimmten Lohnsatz w kann das Individuum alle Einkommens-Freizeit-Kombinationen auf der Budgetgeraden AB erreichen, deren Steigung durch w gegeben ist.
272
7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung Einkommen
y 1\
\ \
B
1 \ \c r
\ \ \
y
tan a = w tan p =w V\
•- V ^
s
m,A
L A (w*)
_
* E
Freizeit
Abb. 7-1: Bestimmung eines Anspruchslohns bei der klassischen Sozialhilfe Durch die Sozialhilfe werde nun ein Mindesteinkommen von y garantiert, so dass das Individuum ohne Arbeit den Punkt S erreicht. Falls, wie in Abb. 7.1 eingezeichnet, Punkt iS' auf einer Indifferenzkurve liegt, die vollstandig oberhalb seiner Budgetgeraden AB verlauft, so lohnt es sich fur das Individuum nicht, eine Arbeit aufzunehmen. Daraus folgt, dass die Sozialhilfe indirekt einen Mindestlohnsatz definiert, unter den der tatsachliche Lohn (bzw. die Arbeitsproduktivitat) nicht fallen darf, damit das Individuum noch Anreize zum Arbeiten hat. Dieser „Anspruchslohn" w lasst sich auf folgende Weise ermitteln: Wir zeichnen in Abb. 7-1 die mit Is bezeichnete Indifferenzkurve des Individuums durch den Sozialhilfepunkt S ein und bestimmen dann w als denjenigen Lohnsatz, bei dem eine durch A verlaufende Gerade die Indifferenzkurve Is tangiert. Der Tangentialpunkt wird C genannt. Okonomisch bedeutet diese Konstruktion, dass die Inanspruchnahme der Sozialhilfe (Punkt S) dem in Abb. 7-1 betrachteten Individuum gerade zu dem gleichen Nutzenniveau verhilft wie die Erwerbstatigkeit beim Lohn w (Punkt C). Die neue fur das Individuum relevante Budgetrestriktion ist durch den Linienzug SDC gegeben. Wenn bei einem Individuum die Produktivitat und damit der Lohnsatz w nur ein wenig kleiner als w ist, zieht das betreffende Individuum die Sozialhilfe dem Zustand bei Erwerbstatigkeit vor. Das Individuum bleibt dann unbeschaftigt und leistet keinen Beitrag zum Sozialprodukt. Dem Staat entstehen fur dieses Individuum Ausgaben in Hohe von j>, bei deren Steuerfmanzierung in der Regel
7.5 Grundsicherung fur Arbeitsfahige
273
Zusatzlasten anfallen. Damit wird klar, dass es in der hier betrachteten Situation durch die Sozialhilfe zu Wohlfahrtsverlusten kommt. Im Ubrigen kann der Anspruchslohnsatz w sogar groBer sein als der auf die entsprechende Stundenzahl (pro Monat) umgelegte Sozialhilfesatz, da er das Individuum nicht nur fur die entgangene Sozialhilfe, sondern auch noch fur das Arbeitsleid kompensieren muss. Weshalb die Sozialhilfe zu Effizienzverlusten auf dem Arbeitsmarkt beitragen kann, lasst sich leicht anhand eines Angebots-Nachfrage-Diagramms fur den Arbeitsmarkt erortern (vgl. Abb. 7-2). Hierin stellt LN (w) die Arbeitsnachfragefunktion und LA (w) die Arbeitsangebotsfunktion ohne Existenz einer Grundsicherung dar. Vom Schnittpunkt dieser beiden Kurven ist der marktraumende Gleichgewichtslohnsatz w* abzulesen. Es gilt also LN (w*) = LA(w*). w
l\
/LA(w) / /
L\w)/ \
\
\ / | \
\LN(w)
/ / 1
1 -M i
L
| i *— i
Z*
•
Abb. 7-2: Auswirkung der klassischen Sozialhilfe auf den Arbeitsmarkt Die Existenz eines Sozialhilfesystems mit Vollanrechnung des Arbeitseinkommens bedeutet, wie gezeigt, dass das Arbeitsangebot bei jedem unter dem Anspruchslohnsatz w liegenden Lohnsatz null wird, so dass der Marktlohn nicht unter w fallen kann. Die Arbeitsangebotskurve knickt dann also bei w ab und verandert sich also zaLA(w). Liegt dieser nun oberhalb des GleichgewichtsLohnsatzes w*, so entsteht freiwillige Arbeitslosigkeit im Umfang der Differenz zwischen LA(w) undZ*. Wir wollen uns jetzt tiberlegen, woran es genau liegt, dass die Individuen sich hier im Hinblick auf ihre Arbeitsangebotsentscheidung in einer Sozialhilfe-Falle
274
7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung
befinden und was getan werden kann, um in dieser Situation eine Wohlfahrtsverbesserung herbeizufuhren. Dass die Sozialhilfe zu EffizienzeinbuBen fiihren kann, hatten wir schon in einem anderen Zusammenhang erkannt. Die Aussicht, auf die soziale Grunsicherung zurtickgreifen zu konnen, nimmt - wie wir zuvor gesehen haben - den Individuen in vielen Fallen den Anreiz, etwa durch Abschluss einer privaten Versicherung (etwa gegen das Krankheits- oder das Pflegerisiko) vorzusorgen, so dass der Versicherungsmarkt nicht zu einer Pareto-optimalen Losung fuhrt. Der tiefere Grund fur eine solche Allokationsverzerrung bestand darin, dass jede Leistung aus der Privatvorsorge voll auf die Sozialhilfe angerechnet wird und diese in gleichem Umfang mindert. Auch bei der in Abb. 7-1 dargestellten Arbeitsangebotsentscheidung ist dieser Effekt relevant. Das Individuum bewegt sich dort zunachst auf der durch S verlaufenden Parallelen zur Freizeit-Achse nach links bis zum Punkt D , wenn es zu arbeiten beginnt und seinen Arbeitseinsatz allmahlich steigert. Das ist fur das Individuum offensichtlich nicht attraktiv: Es genieBt dann ja weniger Freizeit, ohne gleichzeitig in den Genuss eines hoheren verfligbaren Einkommens bzw. Gtiterkonsums zu kommen. Im Zusammenhang mit der Freizeit-Einkommens-Wahl bietet sich ftir diesen Sachverhalt auch die folgende Interpretation an, wie wir sie in ahnlicher Form bereits in Kapitel 2 kennengelernt hatten: Wenn ein Sozialhilfeempfanger ein Lohneinkommen erreicht, das zwischen 0 und dem Existenzminimum-Niveau liegt, wird ihm dieses am Arbeitsmarkt erzielte Einkommen durch Verrechnung mit der Sozialhilfe faktisch vollstandig entzogen. Anders gesagt: Der effektive Grenzsteuersatz bei der Einkommensteuer im Einkommensintervall [0, j)] betragt 100 %. Folgerung 7-4: Die klassische Sozialhilfe, die durch eine vollstandige Anrechnung eigenen Einkommens gekennzeichnet ist, fuhrt zu einer „Sozialhilfe-Falle": Fur Individuen mit einer Arbeitsproduktivitat unterhalb einer bestimmten Schwelle lohnt es sich nicht, tiberhaupt zu arbeiten, da sie dadurch nur ihre Freizeit schmalern, aber ihr verfflgbares Einkommen nicht steigern wurden.
7.5.3 Effekte der negativen Einkommensteuer Eine Idee zur Vermeidung von Wohlfahrtsverlusten durch die Sozialhilfe konnte vor diesem Hintergrund darin bestehen, den effektiven Grenzsteuersatz im Intervall [0, y~\ auf einen Wert unter 100 % zu senken. Diese Idee lasst sich dadurch umsetzen, dass bei einem Hinzuverdienst des Individuums in Hohe von Y (mit 0 < Y < y) die Transferzahlung des Staates nicht um den vollen Betrag 7, sondern lediglich um t • Y gesenkt wird, wobei t einen zwischen 0 und 1 gelegenen Anrechnungsfaktor bezeichnet. Ein Individuum, das ein „geringes" Lohneinkommen Y erzielt, erhalt in diesem modifizierten Sozialhilfesystem dann den Transfery-t-Y.
7.5 Grundsicherung fur Arbeitsfahige
275
Die Tarifformel T(Y) = t-Y-y fur die Nettozahlung des Burgers an den Staat lasst sich audi auf den Einkommensbereich Y > y fortsetzen. Sie entspricht dann einer linearen (indirekt-progressiven) Einkommensteuer mit dem Steuersatz t und dem Grundfreibetrag b = y/t: T(y) = t-(Y-b)
fur alle 7 > 0
(7.43)
Anders als in der iiblichen Form der Besteuerung hat diese modifizierte Form der Einkommensteuer jetzt (bei Y < b) aber eine negative Komponente, die an die Stelle der herkommlichen Sozialhilfe tritt. Insgesamt funktioniert das SteuerTransfer-System in der folgenden Weise: Positive Abweichungen des realisierten Einkommens von Grundfreibetrag b werden mit dem Faktor t besteuert, bei negativen Abweichungen erfolgt eine Subventionierung mit dem gleichen Faktor t. Dies bedeutet das gleiche wie eine nur partielle Anrechnung des Lohneinkommens auf die Sozialhilfezahlung. Im Einkommensbereich Y < b spricht man auch von einer „negativen Einkommensteuer". Der effektive Grenzsteuersatz hat bei Anwendung der Tarifformel T(Y) = t-(Y-b) fur alle Einkommensniveaus durchgehend den konstanten Wert t, und die zugehorige Nettoeinkommens-Funktion lautet fur alle Y: y(Y) = Y-T(Y)=il-t).Y
+y
(7.44)
Im Freizeit-Einkommens-Diagramm fuhrt diese Nettoeinkommensfunktion zu einer Budgetgeraden, die durch den Punkt S verlauft und bei gegebenem Lohnsatz w den Anstieg -(l-t)w hat (vgl. Abb. 7-3).
tan a = w tan (3= (l-t)w
Abb. 7-3: Negative Einkommensteuer und Arbeitsangebot
276
7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung
Wir gehen jetzt von einer Konstellation aus, in der Individuen aus einer bestimmten Gruppe von Sozialhilfeempfangern den Optimalpunkt E, der links oberhalb von S auf der durch die negative Einkommensteuer bestimmten Budgetgeraden liegt, dem Sozialhilfepunkt S vorzieht. Dies ist sicher dann der Fall, wenn der Winkel f5 groB, d.h. t klein ist. Damit ist gezeigt, dass sich durch eine geschickt konzipierte negative Einkommensteuer in der Tat eine Nutzenerhohung fiir die entsprechenden Individuen erreichen lasst. Durch die Reform der Grundsicherung werden diese Individuen zu ihrem eigenen Vorteil also aus der Sozialhilfe-Falle befreit. Allein aufgrund dieses Tatbestandes kann man aber noch nicht darauf schlieBen, dass der Wechsel von der ublichen pauschalen Grundsicherung zur negativen Einkommensteuer aus gesamtwirtschaftlicher Sicht vorteilhaft ist. Die Verbesserung fiir die betrachteten Individuen konnte ja auch durch eine Erhohung der Transferzahlung erkauft sein, so dass im Gegensatz die Belastung der GeberIndividuen steigen wtirde. Dies ist jedoch nicht der Fall. Im Punkt E erzielt ein Individuum aus der zugrunde liegenden Gruppe ein eigenes Lohneinkommen in Hohe von wLE. Der Trans ferbetrag, der an ein solches Individuum flieBt, betragt dann y - twLE . Er ist somit sicher kleiner als der Transferbetrag im Sozialhilfesystem in Hohe von y . Die Eigenleistung des Transferempfangers, zu deren Erbringung der Ubergang zu einer negativen Einkommensteuer fuhrt, entlastet deshalb die Transferzahler und ermoglicht durch die Senkung verzerrender Steuern zudem eine Minderung der Zusatzlast. Durch einen Systemwechsel der beschriebenen Art kommt es somit in der Tat zu einer Pareto-Verbesserung: Es profitieren nicht nur die Empfanger der Sozialhilfeleistung, sondern auch die Steuerzahler. Dieses theoretische Argument der negativen Einkommensteuer bildet den Kern fur eine Vielzahl von Vorschlagen zur Reform der Sozialhilfe, so das Burgergeld oder in den USA der Earned Income Tax Credit. Dieses Argument ist allerdings in gewisser Hinsicht zu relativieren: Bei der vorherigen Uberlegung haben wir mogliche Anreizeffekte der Sozialhilfereform auf Individuen ausgeblendet, die im Ursprungszustand keine Sozialhilfe bezogen haben. Bei Individuen mit geringem Lohnsatz, die im alten Sozialhilfesystem mit Vollanrechung einer Arbeit nachgehen, kann es namlich dazu kommen, dass diese nach dem Systemwechsel zu Transferempfangern werden und dabei ihr Arbeitsangebot reduzieren. Zwar steigt auch der Nutzen dieser Individuen, aber durch die an sie fliefiende Sozialhilfe werden die Steuerzahler belastet. Eine ParetoVerbesserung wie im zunachst betrachteten Fall kann hier also nicht festgestellt werden. Die sich fur diese Gruppe von Individuen einstellende Veranderung ist in Abb. 7-4 dargestellt. Die mit Pfeilen versehene Strecke EG beschreibt die Hohe der an die Individuen aus dieser Gruppe flieBenden Transferzahlung.
7.5 Grundsichenmg fur Arbeitsfahige
277
tan a = w tan
J3=(l-t)w
Abb. 7-4: Senkung des Arbeitsangebots durch die negative Einkommensteuer Folgerung 7-5: Die negative Einkommensteuer, die durch eine nur partielle Anrechnung eigenen Einkommens gekennzeichnet ist, verbessert die Arbeitsanreize der Individuen mit senr geringer Produktivitat, verglichen mit der klassischen Sozialhilfe. Auf der anderen Seite gibt sie Individuen mit etwas hoherer Produktivitat den Anreiz, ihr Arbeitsangebot zu reduzieren und ebenfalls staatliche Transfers zu beanspruchen. Wahrend der Nutzen aller Transferempfanger dadurch steigt, konnten die fiskalischen Kosten damit ebenfalls zunehmen.
7.5.4 Zur Berechnung des Anspruchslohns Erganzend zu der oben durchgefuhrten graphischen Analyse wollen wir nun algebraisch bestimmen, wovon der Anspruchslohn eines Transferempfangers abhangt, wenn bei der Bestimmung der Transferhohe dessen eigenes Einkommen ganz oder teilweise angerechnet wird. Insbesondere wird der Frage nachgegangen, ob der Anspruchslohn genau der Hohe der Sozialhilfe, bezogen auf die Arbeitsstunde, entspricht. Wir betrachten dazu ein einfaches Modell eines Arbeitsanbieters, der (iber eine Zeiteinheit (hier als 160 Stunden je Monat zu verstehen) verfugt und der alternative Biindel aus Konsum y und Arbeitszeit h gemafi der Nutzenfunktion U(y,h) mit [/ =
>0, Uw<0, dy
yy
Uhh<0,Uvh<0
bewertet. Beztiglich des Vorzei-
278
7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung
chens von Uh , also des Grenzleids der Arbeit, wird bewusst keine einschrankende Annahme getroffen. Der Lohnsatz pro Zeiteinheit betrage w. Im Folgenden betrachten wir der Einfachheit halber ein lineares Transfersystem, in dem y die Hohe der Sozialhilfe fur eine Person ohne eigenes Einkommen und t den Effektivsteuersatz (als Summe aus Anrechnungssatz eigenen Einkommens auf die Sozialhilfe und Beitragssatz zur Sozialversicherung) bezeichnen. Folglich lautet die Budgetrestriktion der Person: y = wh-(l-t) + y
(7.45)
und die notwendige Bedingung 1. Ordnung fur ein Maximum von U unter Beachtung von (7.45) W(h) = Uy>w(l-t) + Uh<0 (=0 falls h>0).
(7.46)
Bedingung (7.46) sagt aus, dass die Grenzrate der Substitution zwischen Konsum und Freizeit -Uh I Uy dem Effektivlohn w-(l-t) genau entsprechen muss, falls ein positives Arbeitsangebot gewahlt wird, und ansonsten mindestens so groB sein muss wie der Effektivlohn. Bedingung (7.46) fuhrt zu einer nattirlichen Definition des „Anspruchslohns": Dies ist der Lohnsatz wQ, bei dem die betrachtete Person gerade indifferent ist zwischen Arbeiten und Nicht-Arbeiten oder, formal ausgedriickt, bei dem die Op : timalbedingung (7.46) im Falle des Nicht-Arbeitens gerade als Gleichung erflillt ist. Setzt man dem gemaB h = 0 in die Budgetgleichung (7.45) und diese in (7.46) ein, so erhalt man: [yj>,0] . W -(1-/)<-£/„[ J, 0]
(7.47)
oder, nach dem Bruttolohn w aufgelost: uh[y,Q] w < wn :=
( 7 - 48 )
i .
Uy[y,0] \-t Die rechte Seite von (7.48) erfullt die oben gegebene Definition eines Anspruchslohns. Man erkennt, dass der Ausdruck von drei GroBen abhangt: 1. der Hohe der Sozialhilfe y, 2. dem Effektivsteuersatz t und 3. den Praferenzen des Arbeitsanbieters, die sich insbesondere in dem Term -Uh[y,0]/Uy[y:>0] widerspiegeln, den man als „Arbeitsleid der ersten Arbeitsstunde in Einheiten des Konsumguts" interpretieren kann, wobei der Anspruchslohn negativ ist (d.h. man ist bereit, furs Arbeiten etwas zu zahlen), wenn Uh[y,0] > 0 gilt, also die erste Arbeitsstunde Freude macht.
7.5 Grundsicherung fur Arbeitsfahige
279
Es gilt offenbar nicht die einfache Gleichung w0 = y bzw. w0 = j)/160, wie man vermuten konnte, wenn man den Regelsatz der Sozialhilfe selbst als Anspruchslohneinkommen deutet. Den Unterschied zwischen dem Anspruchslohn und dem (vollen) Sozialhilfesatz erkennt man am besten, wenn man ein konkretes Beispiel betrachtet. In diesem Zahlenbeispiel sei die Nutzenfunktion defmiert durch U(y,h) = y1/2 -a-h. Der Parameter a misst hierin die Starke des Arbeitsleids. Eingesetzt in (7.48), ergibt sich hier ein Anspruchslohn von
2a-ym Setzt man etwa a=4, so ergibt sich fur y = 400 und t = 0,5 ein (auf den Monat bezogenes) Anspruchslohneinkommen von w0 =320oder - bei 160 Arbeitsstunden im Monat - einen Anspruchslohnsatz je Stunde von 2 Euro. Die Werte in Tabelle 7-2 geben diese Stunden-Anspruchslohne unter der Annahme a = 4 fur alternative Werte von t und y an. Zum Vergleich ist in der letzten Zeile der Wert angegeben, den der Anspruchslohnsatz auf Grund der einfachen Argumentation vom Lohnabstandsgebot haben miisste, namlich y /160. Tabelle 7-2: Der Anspruchslohnsatz in Abhangigkeit vom Sozialhilfesatz und vom Effektivsteuersatz t
„ 0,2
_^
""o,5 — ' 1,0" 0,6 1,3
1,5 1,9 2,5
0,4
0,8
1,7
0,6
1,3
2,5
0,8
2,5
5,0
1,2 1,5 2,0 3,1 6,1
1
OO
00
GO
00
2,5
3,8
5,6
zum Vergleich: 0,6 j>/160 _ _ _ _ _ _
3,8 7,5
Aus Tabelle 7-2 wird klar, dass der Anspruchslohnsatz eben nicht nur von der Hohe der Sozialhilfe bei Nicht-Arbeit abhangt, sondern gleichermaBen vom Effektivsteuersatz, d.h. vor allem von der Transferentzugsrate: Betragt diese von Anfang an 100 % (also t = 1), so wird niemals gearbeitet, der Anspruchslohnsatz ist unendlich groB. AuBerdem spielt der „Freizeitpraferenz"- (oder „Arbeitsleid") Parameter a eine groBe Rolle. In Tabelle 7-2 wurde bewusst ein geringer Wert dieses Parameters unterstellt. Fiir hohere Werte ergibt sich ein proportional hoherer An-
280
7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung
spruchslohn. Andererseits kann das Arbeitsleid bei geringer Arbeitszeit auch null betragen, womit auch der Anspruchslohn null wird. Im Falle von Arbeitsfreude wird er sogar negativ. Folgerung 7-6: Die Hohe des Anspruchslohns, bei dem ein Transferempfanger gerade zwischen einem Arbeitsangebot von 0 und 1 Stunde indiffe-1 rent ist, hangt von der Hohe des Sockel-Transfers, vom Anrechnungssatz bei Hinzuverdienst und von der Starke des Arbeitsleids ab. Wenn ein Individuum lieber arbeitet, als nicht zu arbeiten, ist der Anspruchslohn negativ.
7.6 Ubungsaufgaben
Aufgabe 7.1: a.
b.
c.
d.
Im Modell von Boadway/Marceau kann das Realeinkommen des Arbeitnehmers je nach dem Zustand der Welt drei verschiedene Werte annehmen. Bringen Sie diese in eine Rangfolge. Erlautern Sie, wie die beiden Instrumente „Mindestlohn" und „Arbeitslosenversicherung" die Abstande zwischen den in a. genannten GroBen verringern. Verwenden Sie dazu eine Grafik, bei der auf der Abszisse die Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Zustande und auf der Ordinate das Realeinkommen abgetragen sind. Machen Sie an Hand der Grafik aus b. plausibel, dass bei perfekter Arbeitslosenversicherung die Erhohung des Mindestlohns immer wohlfahrtssteigernd fur den Arbeitnehmer ist. Kritisieren Sie die Annahmen des Modells.
Aufgabe 7.2: Im Modell von Holmlund/Lundborg habe die Gewerkschaft der /-ten Branche die (im Einkommen lineare) Nutzenfunktion u(yj) = yj. Die Arbeitsnachfrage in der Branche betrage Nj = a - bwf. Das Arbeitslosengeld q sei eine exogene GroBe. Der Anteil a der Kosten des Arbeitslosengeldes werde innerhalb der Branche aufgebracht, der Rest auf alle Branchen verteilt. Jede Branche habe MMitglieder. a. b.
Ermitteln Sie den optimalen Lohnsatz in der Branche / aus der Sicht der Gewerkschaft. Zeigen Sie, dass das Einkommen der Branche um so groBer ist, je hoher der Grad der Selbstfmanzierung, a, ist.
7.7Literatur
281
Aufgabe 7.3: In einer Okonomie haben alle Individuen die Nutzenfunktionu(y,h) = y112 ~a-h . Wer kein Markteinkommen bezieht, erhalte eine Sozialhilfe in Hohe von y . a.
b. c.
Stellen Sie eine Ungleichung fur den Anspruchslohnsatz w0 auf, bis zu dem es sich flir das Individuum nicht lohnt, Arbeit anzubieten. Verwenden Sie dazu die indirekte Nutzenfunktion. Ermitteln Sie das optimale bedingte Arbeitsangebot fur die Parameterwerte a=l/20, y =400. Wie hoch ist der Anspruchslohn? Nehmen Sie nun an, ein Sozialhilfebezieher konne zusatzliches Arbeitseinkommen beziehen, von dem ihm ein Drittel auf die Sozialhilfe angerechnet wird. Welche Auswirkungen hat dies auf das Arbeitsangebot eines Individuums mit dem (Produktivitats-) Lohn w=3,5, und welche fur eine Individuum mit w=5? Kommentieren Sie Ihr Ergebnis.
Aufgabe 7.4: Die Nutzenfunktion eines Individuums seiu{y,F) = y-F , wobei Fdas Freizeitniveau und c den Konsum misst. Die Zeitausstattung sei F, der von der Sozialhilfe gesicherte Mindestkonsum sei j). a.
b.
Beschreiben Sie diejenigen Konstellationen, fur die es zu einer SozialhilfeFalle kommt. Wie hoch ist der durch die Sozialhilfe determinierte Mindestlohnsatz w in Abhangigkeit von y ? Zeigen Sie explizit, wie eine negative Einkommensteuer mit Steuersatz / die Anreizstruktur fur das Individuum andert. Beschreiben Sie, wie auf diese Weise sowohl das Nutzenniveau des Individuums steigen als auch die Transferzahlungen reduziert werden konnen.
7.7 Literatur Boadway, R. und N. Marceau (1994), Time Inconsistency as a Rationale for Public Unemployment Insurance, International Tax and Public Finance 1, 107-126. Breyer, F. (2003), Lohnabstandsgebot und Anspruchslohn - zu den Vorschlagen einer Sozialhilfereform, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschungll, Heft 1, 83-93. Bundesagentur fur Arbeit (2006), Arbeitsmarkt 2004 - Amtliche Nachrichten der Bundesagentur fur Arbeit, 53. Jg., Sondernummer vom 30.8.2005: Bundesministerium fiir Arbeit und Soziales (2006); URL: www.bmas.bund.de. Holmlund, B. und P. Lundborg (1988), Unemployment Insurance and Union Wage Setting, Scandinavian Journal of Economics 90, 161 -172. Holmlund, B. und P. Lundborg (1989), Unemployment Insurance Schemes for Reducing the Natural Rate of Unemployment, Journal of Public Economics 38, 1-15. Lampert, H. und J. Althammer (2004), Lehrbuch der Sozialpolitik 7. Auflage, Berlin, Heidelberg, New York (Springer).
282
7 Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung
Waltermann, R. (2005), Sozialrecht. 5. Auflage, Heidelberg (C.F. Muller Verlag).
8 Familienpolitik
8.1 Einleitung Ein wichtiger Zweig der Sozialen Sicherung besteht in der staatlichen Forderung der Familien, auch „Familienlastenausgleich" genannt. Im Jahre 2003 entfielen allein 15% des Sozialbudgets von 700 Mrd. Euro, also ca. 105 Mrd. Euro oder 5% des Bruttoinlandsprodukts, auf diesen Ausgabenbereich. Hauptinstrumente der Forderung sind Kindergeld und steuerliche Kinderfreibetrage (zusammen ca. 36 Mrd. Euro) sowie die offentliche Finanzierung der Kinderbetreuung (ca. 11 Mrd. Euro). Angesichts dieses Aufwands stellt sich die Frage nach der wohlfahrtsokonomischen Begmndung dieser familienpolitischen MaBnahmen, die auf zweierlei Weise beantwortet werden kann: 1. Die Umverteilung von den Kinderlosen zu Familien mit Kindern kann der „Gerechtigkeit" dienen. In diesem Falle ist die entsprechende Gerechtigkeitsnorm offenzulegen. 2. Die Umverteilung kann der „Effizienz" dienen. In diesem Falle ist zu zeigen, dass bei Abwesenheit eines Staatseingriffs der 1. Hauptsatz der Wohlfahrtsokonomik verletzt ist. Insbesondere ist zu priifen, ob bzw. inwiefern mit der Geburt eines Kindes ein „externer Effekt" verbunden ist, der durch eine familienpolitische Leistung „internalisiert" wird, oder in welcher Hinsicht ein Kind „Kollektivgutcharakter" besitzt. Bejaht man diese Frage, so ist ferner zu untersuchen, welche Art des Staatseingriffs am ehesten dazu geeignet ist, die Effizienz der Allokation herzustellen. Bei Vorgabe eines bestimmten Ziels sind dann auch die Instrumente der Familienpolitik Gegenstand der okonomischen Analyse. Entsprechend der genannten Fragestellungen ist dieses Kapitel aufgebaut: In Abschnitt 8.2 wird diskutiert, ob die Gewahrung familienpolitischer Leistungen als gerechtigkeitsfordernd begrtindet werden kann. Abschnitt 8.3 wendet sich der Effizienzfrage zu und erortert zunachst das Problem, was unter einer „optimalen" Bevolkerungswachstumsrate zu verstehen ist. Darauf aufbauend wird dann zu klaren versucht, worin eine spezifische Externalitat der Kindererziehung bestehen konnte, und mit welchen Mitteln diese internalisiert werden konnte. Abschnitt 8.4 schlieBlich behandelt das konkretere Problem der kollektiven Finanzierung der Kinderbetreuung und der verschiedenen dabei denkbaren oder verwendeten Instrumente.
284
8 Familienpolitik
8.2 Familienlastenausgleich und Gerechtigkeit Gerechtigkeitsgrunde fur Umverteilung sind bereits in Kapitel 2 behandelt worden, so dass die dort aufgefuhrten Kriterien nicht wiederholt werden mussen, die sich in besonderem MaBe auf Umverteilung zu Gunsten von Individuen bezogen haben, die von der Natur benachteiligt worden sind. Die zusatzliche Frage, die in diesem Kapitel zu klaren ist, lautet: Angenommen, die Gesellschaft bestehe aus Individuen, die in ihren Fahigkeiten vollkommen gleich sind und sich lediglich in der Zahl ihrer Kinder unterscheiden, z.B. weil ihre Praferenzen fur Kinder verschieden sind. Lasst sich dann eine Umverteilung zu Gunsten der Kinderreichen aus Grtinden der Gerechtigkeit rechtfertigen? Dazu ist zunachst festzustellen, dass es sich bei der Zeugung eines Kindes in der Regel um eine freie Willensentscheidung der Eltern handelt. Niemand ist gezwungen, Kinder zu haben, und die Mittel zur Verhtitung sind noch nie so effektiv gewesen wie heute. Allein schon diese Tatsache spricht gegen eine Umverteilung zu Gunsten von Eltern aus Gerechtigkeitsgrimden, solange man unter „Gerechtigkeit" den Ausgleich fur naturgegebene Unterschiede versteht.1 Eher schon lieBe sich ein Ausgleich fur ungewollt Kinderlose rechtfertigen, denen das Gliick der Elternschaft von der Natur verwehrt wurde. Befurworter des Familienlastenausgleichs verweisen auf die hohen Kosten der Aufzucht eines Kindes, die zum einen aus direkten Kosten und zum anderen, oft groBeren Teil aus Opportunitatskosten (so v.a. dem Verdienstausfall der Mutter in den ersten Lebensjahren des Kindes) bestehen. Aber auch dies ist kein Argument fur den Ausgleich der „Belastung", da fur jede andere Konsumaktivitat (wie z.B. den Kauf eines Autos) das gleiche gilt: Auch der Eigentumer eines Autos hat weniger Geld fur andere Zwecke zur Verfugung, da er neben den Anschaffungskosten den Unterhalt fmanzieren muss und die Zeit, die er zur Autopflege verwendet, nicht mehr zur Einkommenserzielung zur Verfugung hat. Dafur hat er allein den Nutzen aus seinem Auto, und er wird sich auch nur dann fur das Auto entscheiden, falls der Nutzen aus seiner subjektiven Sicht die Kosten aufwiegt. Gleiches gilt fur Eltern, die sich - anders als Kinderlose - an ihren Kindern erfreuen konnen und sich daher nur dann fur Kinder entscheiden werden, wenn diese Freude die Summe aller Kosten im Erwartungswert aufwiegt. An dieser Argumentation wird klar, dass der Familienlastenausgleich gerade nicht als Mittel zur Herstellung von Gerechtigkeit begriindet werden kann. Das entscheidende Argument fur einen solchen Ausgleich muss lauten, dass der von einem Kind erzeugte Nutzen eben nicht exklusiv seinen eigenen Eltern zu Gute kommt. Genau dann handelt es sich aber in der Sprache der Okonomie um eine Externalitat, die zur Herstellung von Allokationseffizienz durch Subventionen fur Familien „internalisiert" werden sollte. Diese Subventionen sind insbesondere dann angebracht, wenn ohne staatliche Forderung „zu wenige" Kinder geboren wurden, so dass durch die Geburt zusatzlicher Kinder alle Gesellschaftsmitglieder besser gestellt werden konnten. Dies ist aber eine klassische Effizienzbegrundung Mit dem gleichen Recht, mit dem Eltern einen familienlastenausgleich" verlangen, konnte ein Elternmorder auf mildernde Umstande pladieren, da er jetzt Vollwaise sei.
8.3 Familienlastenausgleich und Effizienz
285
fur staatliche MaBnahmen, die mit Gerechtigekitserwagungen rein gar nichts zu tun hat. Die sich daraus im einzelnen ergebenden Konsequenzen sind Gegenstand des folgenden Abschnitts. Vorerst halten wir fest: Folgerung 8-1: Ein „Familienlastenausgleich" kann nicht als Mittel zur I Herstellung von Gerechtigkeit begrundet werden, da die Elternschaft in aller Regel freiwillig gewahlt wird. Etwaige Transfers zu Gunsten von Familien mtissten also mit Effizienzerwagungen motiviert werden. I
8.3 Familienlastenausgleich und Effizienz 8.3.1 Das Problem der optimalen Bevolkerungsgrofie Will man begriinden, dass die individuellen Fertilitatsentscheidungen der Gesellschaftsmitglieder nicht zur „optimalen" Bevolkerungsgrofie fuhren, so muss man sich zunachst einmal auf ein Kriterium verstandigen, nach dem die Optimalitat der Bevolkerungsgrofie gemessen werden kann. Herkommliche Kriterien der gesellschaftlichen Wohlfahrt, wie die in Kapitel 2 verwendeten Konzepte der utilitaristischen Wohlfahrtsfunktion oder der Rawls'schen Maximin-Regel, setzen allesamt eine exogen gegebene Bevolkerungszahl voraus. Sie mtissen entsprechend modifiziert werden, wenn mit ihnen die mit n bezeichnete Bevolkerungszahl selbst zum Gegenstand der Beurteilung werden soil. Gemafi der Wohlfahrtsbewertung mit Hilfe einer utilitaristischen Wohlfahrtsfunktion ist eine Allokation A einer Allokation B genau dann vorzuziehen, wenn in A die Nutzensumme aller Gesellschaftsmitglieder grofier ist als in B, was Equivalent dazu ist, dass der durchschnittliche Nutzen in A grofier ist als in B. Das Gesamtnutzen- und das Durchschnittsnutzenkriterium unterscheiden sich nur dadurch, dass beim letztgenannten beide Seiten der Ungleichung durch dieselbe Grofie, namlich die (feste) Bevolkerungszahl n dividiert werden. Diese Aquivalenz gilt offensichtlich nicht mehr, wenn n selbst Gegenstand der Optimierung ist. In diesem Falle muss unterschieden werden zwischen n
a. der Maximierung der Nutzensumme WB = J ] w / , die man auf Jeremy /=i
Bentham's Kriterium des „grofiten Glticks der grofiten Zahl" zuruckfiihren kann, und 1 n M b. der Maximierung des Pro-Kopf-Nutzens W = — Y w / 5 die auf John Stuart n
/=i
Mill zuriickgeht. Um den Unterschied zwischen beiden Maximierungsproblemen zu sehen, betrachte man eine einfache Okonomie mit einer erschopfbaren Ressource, die in der Menge R vorhanden ist und nur direkt konsumiert, nicht aber in einem Produktionsprozess eingesetzt werden kann. Alle Individuen / haben die gleiche Nutzen-
286
8 Familienpolitik
funktion ut - u(c) mit u\c) > 0 und u"(c) < 0 . Wird die Ressource gleichmaBig auf die Individuen aufgeteilt, d.h. gilt c-RIn, so folgt aus dem Kriterium des Pro-Kopf-Nutzens, WM = u(R/n) wegen dWM
R
dn
n
{R\ --U
\n
<0,
(8.1)
dass die gesellschaftliche Wohlfahrt in einer Ein-Personen-Gesellschaft maximal ist. Selbst wenn man annimmt, dass Menschen produktiv sind und die Ressourcenbasis mit zunehmender Bevolkerungszahl steigt, diirfte dennoch der Pro-KopfNutzen sein Maximum bei einer sehr kleinen Bevolkerungszahl erreichen. Anders sieht es beim Kriterium des Gesamtnutzens, WB =n-u(RIri) aus, denn es gilt: dWB
dn
(R\ •=
u
\n
R
f R\ (R u< - =u - K l - % c ) n \n) \nJ
(8.2)
wobei ?]uc =u\c)-clu{c) die Elastizitat des Nutzens bezuglich des Konsums misst. Ist dieser Wert geringer als 1, so ist der Gesamtnutzen in der Bevolkerungszahl monoton steigend, d.h. er wird umso groBer, je mehr Menschen auf der Erde buchstablich verhungern.2 Dieser Fall ist z.B. bei einer iso-elastischen Nutzenfunktion u(c) = ca gegeben, bei der Konkavitat vorliegt, falls die Elastizitat a kleiner ist als 1. Trotz Konkavitat gilt diese die GroBe der Bevolkerung betreffende Optimalitatsaussage nicht fur die logarithmische Nutzenfunktion u{c) = In c , die ein eindeutiges Maximum fur WB an der Stelle n = Rl e ergibt. Halt man andererseits die Rawls'sche Maximin-Regel fur das passende Gerechtigkeitskriterium, so muss man weiter festlegen, wie groB der Nutzen eines „nie Geborenen" ist. Setzt man diesen Wert auf 0 und spezifiziert die KonsumNutzenfunktion aller geborenen Menschen so, dass der Nutzen immer positiv ist, so ist die am schlechtesten gestellte Person immer eine ungeborene, und es ergibt sich das gleiche Resultat wie unter der Bentham'schen Wohlfahrtsfunktion bei u(c) = ca , d.h. die „optimale" Bevolkerungszahl ist unendlich groB. Aus diesen Uberlegungen konnen wir folgern, dass die Anwendung herkommlicher Wohlfahrtskriterien auf die Definition einer „optimalen Bevolkerungszahl" zu kontraintuitiven Resultaten fiihrt. Unter einfachen, aber plausiblen Annahmen uber die okonomische Ressourcenbeschrankung liegt die optimale Bevolkerungszahl entweder nahe bei 1 oder bei unendlich und somit bei extremen Werten.3 Wenn schon die Definition einer optimalen Bevolkerungszahl auf so groBe 2
Parfit (1984) nennt dies die „abstoBende Schlussfolgerung" (engl. „repugnant conclusion"). 3 Auch wenn man mit Samuelson (1975) eine kompliziertere Okonomie mit Produktion betrachtet, gibt es, wie Deardorff (1976) gezeigt hat, im allgemeinen fur die optimale Bevolkerungswachstumsrate keine innere Losung.
8.3 Familienlastenausgleich und Effizienz
287
Schwierigkeiten stoBt, so wird man noch viel weniger begrtinden konnen, dass die individuellen Entscheidungen der Gesellschaftsmitglieder systematisch zu einer zu kleinen Bevolkerungszahl ftihren. Folgerung 8-2: Die finanzielle Forderung von Familien mit Kindern durch I den Staat lasst sich nicht damit begrtinden, dass es eine optimale Bevolke-1 rungszahl gebe, die hoher liegt als die durch freiwillige Entscheidungen erreichte, Vielmehr muss man zur Rechtfertigung solcher Subventionen speziellere Grtinde fmden, die etwa in der Existenz eines Transfersystems zwischen den Generationen liegen. Damit verlasst man aber das Feld der „reinen", nur auf Praferenzen und Produktionsmoglichkeiten bezogegen Effizienzuberlegungen, da ein solches Transfersystem auf gesellschaftlichen Institutionen basiert. I
8.3.2 Endogene Fertilitat und intergenerative Transfers 8.3.2.1 Individuelle Fertilitatsentscheidungen Bevor sich ein staatliches Rentensystem und organisierte Kapitalmarkte herausgebildet hatten, also noch vor wenigen Jahrhunderten, wurden Kinder nicht zuletzt deshalb aufgezogen, weil die Eltern sich davon eine Versorgung im Alter versprachen. In vielen Entwicklungslandern gilt dieser Zusammenhang auch heute noch. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem „Investitionsmotiv" der Geburtenentscheidung. Daneben gibt es naturlich das schon zuvor erwahnte Motiv, dass das Aufziehen von Kindern als solches den Eltern Freude macht, was man in der Sprache der Okonomik das „Konsummotiv" nennt. Im Folgenden werden wir untersuchen, ob die Wahl der Kinderzahl durch die Eltern verzerrt ist, wenn es in der Gesellschaft eine Institution wie die staatliche Rentenversicherung gibt, in deren Rahmen jedes Kind, wenn es erwachsen geworden ist, einen bestimmten Transfer an seine eigenen Eltern oder anonym an die Generation der Eltem leistet. Daran anschlieBend werden wir untersuchen, wie die genannte Transfer-Institution auszugestalten ist, um eine Verzerrung der Geburtenentscheidung moglichst zu vermeiden. Zu diesem Zweck betrachten wir in diesem Abschnitt eine kleine offene Volkswirtschaft, in der die Individuen zwei Perioden lang leben und davon in der ersten eine (exogen determinierte und auf das Niveau 1 normierte) Menge Arbeit anbieten und dabei einen in der Zeit konstanten Lohn w beziehen. Der Zinssatz r sei ebenfalls konstant. Die von Generation t pro Kopf hervorgebrachte bezeichnen wir wie schon in Kapitel 5 mit nt+l. Diese Variable ist aber - aus Griinden der leichteren mathematischen Handhabbarkeit - nicht unbedingt ganzzahlig, sondern kann stetig variiert werden. Die Kindererziehung koste die Eltern pro Kind einen (von der Kinderzahl unabhangigen) Betrag von q. Das Rentensystem sei, soweit Generation / tangiert ist, wie in Kapitel 5 durch den Beitragssatz bt und den Ren-
288
8 Familienpolitik
tenanspruch pt+l charakterisiert. Dabei lassen wir zu, dass die Rente von der Kinderzahl abhangt, also durch eine Funktion Pt+i = Pt+M+i)
(8.3)
beschrieben werden kann. AuBerdem soil die Moglichkeit bestehen, dass jedes Individuum durch private Ersparnis st fur sein Alter vorsorgen kann. Alle Individuen haben die gleiche Nutzenfimktion
Ut=U(c
(8.4)
mit der Eigenschaft du v
t
(8.5)
hm>odn, — = oo. 7+1
Durch die Bedingung (8.5) wird ein Randoptimum mit null Kindern ausgeschlossen. Ferner lauten die Budgetrestriktionen fur den Konsum eines Mitglieds der Generation in seinen beiden Lebensabschnitten: ct(l)
=(l-bt)-w-st-q-nt+l
(8.6) (8.7)
^+l (2) = (1 + /-) • ^ + A+l («r+l) bzw., wenn man st eliminiert: (2) C/(i)+_i+i_ =
( 1
_
z
,
/ )
.
w
_
r / 7 / + i +
. A+iK+i)
1+r
1+r
(8.8)
Das individuelle Optimierungskalkul lasst sich dann durch die folgende Lagrange-Funktion beschreiben: (1) n (2) ,(1) n (2) L{c™, ct+l™, st, nt+l, X) = U(c™, ct+r, nt+l)
(8.9) +/t
(l-bt)-w-q-nt+l
+
1+r
'
1+r
Die Bedingungen 1. Ordnung fur ein inneres Optimum lauten dc,{l) dL dc,+ V
(8.10)
dc,(l) dU dcJ2)
A l+ r
„
(8.11)
8.3 Familienlastenausgleich und Effizienz
9L
9U
dnt+i
dnt+i
- A - ? + 7 i - f t + 1 ^ + I ) = 0. 1+r
289
(8-12)
Zm Interpretation dieser Bedingungen setzen wir zunachst (8.10) in (8.11) ein und erhalten die bekannte Bedingung fur die optimale Ersparnis, die besagt, dass die Grenzrate der Substitution zwischen gegenwartigem und zukunftigem Konsum dem Zinsfaktor entsprechen muss: du/dc (1)
< dU/dcl+l{2)
l l r
(8.13)
Setzt man (8.10) in Gleichung (8.12) ein, so lasst sich diese umformen zu: 3U/dnl+l
1
(814)
Auf der linken Seite der Gleichung (8.14) steht der Nutzen eines zusatzlichen Kindes, der sich aus dem direkten Nutzen (der Grenzrate der Substitution zwischen Konsum und Kinderzahl)4 und dem indirekten Nutzen, dem damit verbundenen abgezinsten Rentenanspruch, zusammensetzt. Auf der rechten Seite von (8.14) stehen die Kosten des Kindes. 8.3.2.2 Institutionen und ihre Anreizwirkungen Im Folgenden vergleichen wir verschiedene mogliche institutionelle Ausgestaltungen des intragenerativen Transfersystems im Hinblick auf die mit ihnen verbundenen Reproduktionsanreize: 1. Die intrafamiliare Elternrente In der Gesellschaft existiert in diesem Szenario eine gesetzliche Regelung, die jedes Individuum im Erwerbsalter verpflichtet, einen Anteil b seines Einkommens an die eigenen Eltern abzutreten. Mit dieser Institution erhalt die Beziehung (8.3) die spezielle Form Pl+hnl+x) = nt+x-b-w
(8-15)
und folglich wird (8.14) zu dU /dnt+l 1 . 7^1 + b-w = q {l) dU/dct \+r •
/oin (8.16)
bzw.
4
Diese sagt bekanntlich aus, auf wie viele Einheiten des einzigen Konsumguts das Individuum fur ein weiteres Kind verzichten wtirde.
290
8 Familienpolitik
dU/dnt+l
1
{l)
dUldct
rR17x
1+r
d.h. der Nutzen eines zusatzlichen Kindes entspricht genau den mit ihm verbundenen Nettokosten. 2. Umlagefmanzierte Sozialversicherung mit festem Beitragssatz Genauso wie unter der 1. Institution wird von jedem Individuum im Erwerbsalter ein Anteil b seines Einkommens erhoben. Diese Zahlung eines Individuums flieBt nun aber nicht mehr an seine eigenen Eltern, sondern an eine Rentenkasse, die die Einnahmen zu gleichen Teilen an alle Rentner ausschuttet. Diese Institution kann damit gerechtfertigt werden, dass sich die Individuen mit ihrer Hilfe gegen ungewollte Kinderlosigkeit sowie den Tod bzw. Leistungsunfahigkeit ihrer Kinder versichern wollen. Diese Versicherung hat jedoch wie viele andere ihren Preis in einer Allokationsverzerrung, d.h konkret in der Veranderung des Anreizes, Kinder in die Welt zu setzen. Die Beziehung (8.3) erhalt jetzt die neue Form Pt^\^x)
= nt+vb-w,
(8-18)
wobei nt+l die durchschnittliche Kinderzahl aller Individuen bezeichnet. In (8.14) eingesetzt, ergibt sich dU/dnt+l dU/dct(l)
(8.19)
d.h. der (indirekte) Nutzen eines Kindes ist (im Grenzwert) null, da der Rentenanspruch nur von der durchschnittlichen Kinderzahl je Familie abhangt, die jedoch von der eigenen Fertilitatsentscheidung so gut wie unabhangig ist. Wie man bei einem Vergleich der Optimalbedingungen (8.17) und (8.19) unschwer erkennt, ist die Kinderzahl bei der Sozialversicherungslosung geringer als bei der Elternrente. 3. Umlagefmanzierte Sozialversicherung mit festem Rentenniveau Als dritte Institution wird eine Rentenversicherung betrachtet, die jedem Individuum im Rentenalter einen festen Rentenanspruch p garantiert, unabhangig davon, wie viele Beitragszahler in der Folgeperiode vorhanden sind. Setzt man diese GroBe auf der rechten Seite von (8.3) ein, so ergibt (8.14) in diesem Fall ebenfalls (8.19). Auch hier werden die Anreize, Kinder zur Welt zu bringen, verzerrt, da ein zusatzliches Kind den Rentenanspruch in keiner Weise erhoht. Zwischenfazit Wenn man die Optimalbedingung (8.17) als MaBstab wahlt, so erkennt man, dass die beiden unter 2. und 3. behandelten institutionellen Regelungen eine Verzerrung der Fertilitatsanreize mit sich bringen, da die Zahlungen eines zusatzlich geborenen Kindes nicht zu einer hoheren eigenen Rente fuhren und somit von den
8.3 Familienlastenausgleich und Effizienz
291
potenziellen Eltern bei ihrer Reproduktionsentscheidung nicht beriicksichtigt werden. Bei einer Rentenversicherung mit festem Beitragssatz flieBen sie zu gleichen Teilen alien Angehorigen der Elterngeneration zu, im Falle eines festen Rentenniveaus verringern sich die Abgaben, die jedes einzelne Kind in der nachsten Periode leisten muss, wenn mehr Kinder geboren werden. Man spricht hier von einer fiskalischen Externalitat, weil einem Akteur (hier: den Eltern) nicht die vollen 6konomischen Ertrage aus seiner Handlung zuflieBen, dies jedoch durch die Institution des staatlichen Steuer-Transfer-Systems ausgelost wird. Es hat nun nicht an Vorschlagen gefehlt, wie diese Externalitat durch Anderung des institutionellen Regelwerks vermieden werden kann. Zwei davon werden im Folgenden vorgestellt. 5. Umlagefinanzierte Sozialversicherung mit Elternrente Ebenso wie in der Institution 2. wird bei dieser Regelung von jedem Individuum im Erwerbsalter ein Anteil b seines Einkommens erhoben, der an die Rentenkasse flieBt. Diese schuttet ihre Einnahmen jedoch nicht zu gleichen Teilen an alle Rentner aus, sondern proportional zu deren jeweiliger Kinderzahl. Das intrafamiliare Umlageverfahren wird gleichsam von der Rentenversicherung simuliert. Damit erhalt die Rentenformel das gleiche Aussehen wie in Gleichung (8.15), und somit ist die Marginalbedingung (8.17) auch hier erfullt. Hierzu ist allerdings zu bemerken, dass die Rentenhohe nicht gleichzeitig zur Kinderzahl und zu den geleisteten Beitragen in einer festen Proportion stehen kann. Wie in Abschnitt 5.3.2.1.1 diskutiert, bringt eine von den Beitragen unabhangige Rentenhohe eine Verzerrung des Arbeitsangebots mit sich, die im hier betrachteten Modell nur deshalb nicht sichtbar wird, weil es aus Vereinfachungsgrtinden von einem exogenen Arbeitsangebot ausgeht.5 6. Umlagefinanzierte Sozialversicherung mit festem Beitragssatz und Kindergeld Die zweite Moglichkeit einer Internalisierung der geschilderten fiskalischen Externalitat besteht darin, dass mit einem anderen fiskalischen Instrument gegengesteuert wird. Dafiir kommt in erster Linie das Kindergeld in Frage. Zahlt man den Eltern fur jedes Kind in der Phase der Kindererziehung, also der Erwerbsphase, ein Kindergeld a in der Hohe von a=
1 1+r
, b'W,
(8.20)
so modifiziert sich die Budgetgleichung (8.8) in Abwesenheit einer umlagefmanzierten Rentenversicherung zu
Bei endogenem Arbeitsangebot ist es ein kompliziertes Problem der OptimalsteuerTheorie, wie die Verzerrungen des Arbeitsangebots und der Fertilitat auszubalancieren sind. Seine Losung hangt davon ab, welchen Grad an Komplementaritat Kindererziehung bzw. Guterkonsum mit dem nicht-besteuerbaren Gut „Freizeit" aufweisen (vgl. hierzu Fenge und v. Weizsacker 2006).
292
8 Familienpolitik
(8.21) 1+r und die Marginalbedingung fur die optimale Kinderzahl wird zu dU I dnt,]
(8.22)
duidct{x) Setzt man jedoch (8.20) in (8.22) ein, so erkennt man, dass diese Bedingung Equivalent ist zu (8.17). Das Kindergeld karin also bei entsprechender Hohe exakt die gleichen Anreize schaffen wie das System der Elternrente. Einziger Unterschied ist der Zeitpunkt der Zahlung an die Eltern, derm diese erhalten das Kindergeld bereits in der Erwerbsphase und nicht erst, wenn sie in den Ruhestand getreten sind. Der Staat kann jedoch die Ausgaben fur das Kindergeld durch Kreditaumahme auf dem Kapitalmarkt finanzieren und den Kredit aus den Rentenversicherungsbeitragen der Kinder in der Folgeperiode zuruckzahlen. 7. Umlagefmanzierte Sozialversicherung mit Kinderrabatt auf den Rentenbeitrag Es ist leicht einzusehen, dass anstelle der Auszahlung von Kindergeld auch der Beitrag zur Rentenversicherung um den entsprechenden Betrag pro Kind ermafiigt werden kann. Dies hat lediglich den optischen Unterschied, dass nun der Ausgleich innerhalb der Rentenversicherung vorgenommen wird, d.h. der Institution, in der die Externalitat entsteht. 8.3.2.3 Vergleich der Instrumente Unter der Annahme perfekter Kapitalmarkte sind die drei zuletzt genannten Instrumente, 5. die Elternrente, 6. das Kindergeld, 7. die ErmaBigung des Rentenbeitrags fur jedes Kind, Equivalent In der Praxis ergeben sich jedoch erhebliche Unterschiede: Erstens ist die Annahme perfekter Kapitalmarkte unrealistisch. Familien sind in der Regel kreditbeschrankt und konnen ihre zukunftig hoheren Renten aus der Elternrente nicht auf dem Kapitalmarkt beleihen. Um also den Familien den Transfer dann zukommen zu lassen, wenn sie ihn am notigsten haben, namlich im Zeitraum der Kindererziehung, muss man ihnen entweder Kindergeld zahlen oder einen Kinderrabatt auf die Rentenbeitrage gewahren. Zweitens unterliegt die Elternrente einem Glaubwurdigkeitsproblem. In Anbetracht der Tatsache, dass reale Rentensysteme - vor allem das deutsche - haufigen Reformen ausgesetzt sind, wiirde das bloBe Versprechen, Eltern in 30 oder 40 Jahren eine hohere Rente zu zahlen als Kinderlosen, vermutlich einen geringerer Fertilitatsanreiz auslosen als die sofortige Auszahlung von Kindergeld oder ein Rabatt bei den Rentenbeitragen.
8.3 Familienlastenausgleich und Efflzienz
293
8.3.2.4 Schlussfolgerungen In diesem Abschnitt wurde gezeigt, dass bei Existenz eines intergenerativen Transfers von Jung zu Alt die Geburtenentscheidung verzerrt sein kann, wenn die Transfers nicht an die eigenen Eltern flieBen, sondern - liber eine umlagefinanzierte Rentenversicherung - zu gleichen Teilen an alle Mitglieder der „alten" Generation. Bei der Interpretation dieses Ergebnisses darf man jedoch nicht vergessen, dass das Modell, aus dem die Optimalbedingung flir die Kinderzahl (8.17) entwickelt wurde, selber die Existenz einer gesellschaftlichen Regelung, namlich einem exogenen Pro-Kopf-Transfer an die eigenen Eltern in Hohe von b voraussetzte. Es handelt sich also keineswegs urn ein institutionenfreies Effizienzresultat. Damit kann man letztlich keine nur auf Effizienzkriterien basierende Aussage uber die Optimalitat der betrachteten Institutionen treffen. Vielmehr muss man diese Ergebnisse im Kontext eines Effizienzvergleichs zwischen Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren (vgl. Kapitel 5) interpretieren: Falls - auch mit ansonsten verzerrungsfreien Geburtenentscheidungen - die Bevolkerungswachstumsrate unter dem Zinssatz liegt, so ist die Steady-StateWohlfahrt um so geringer, je kleiner der exogene Parameter b ist, d.h. je weniger Transfers von Jung zu Alt geleistet werden. Das Zahlenbeispiel in Ubungsaufgabe 8.1 soil diese Aussage illustrieren. Es zeigt zweierlei: 1. Der Steady-State-optimale Wert von b betragt immer dann null, wenn der Zinssatz groB genug ist, um auch bei hohen Fertilitatsanreizen von der Wachstumsrate nicht erreicht zu werden.6 2. Fur einen gegebenen Wert des Parameters b ist die Elternrente bzw. das Kindergeld der herkommlichen Rentenformel stets uberlegen. Folgerung 8-3: Die fiskalische Externalitat, die aus der Existenz eines intergenerativen Transfersystems resultiert, lasst sich bei perfekten Kapitalmarkten alternativ durch eine Elternrente oder durch ein entsprechend hones Kindergeld bzw. durch einen Kinderrabatt auf den Rentenbeitrag internalisieren. Allerdings ist in dynamisch effizienten Okonomien die Steady- State-Wohlfahrt dann am groBten, wenn gar kein intergenerativer Transfer stattfmdet. SchlieBlich sollte eine weitere Einschrankung der obigen Analyse nicht vergessen werden. Sie gilt namlich nur fur eine kleine offene Volkswirtschaft, also bei exogen gegebenen Faktorpreisen. Fur eine geschlossene Volkswirtschaft und damit flir die Welt als Ganze trifft sie jedoch nicht zu. In einer geschlossenen Volkswirtschaft, in der eine umlagefmanzierte Rentenversicherung mit festem Beitragssatz b gibt, erhoht eine zusatzliche Arbeitskraft die Auszahlung an die Rentner genau dann, wenn durch sie die Lohnsumme w-N steigt. Diese reagiert jedoch genau dann positiv auf eine Zunahme der Arbeiterzahl N, wenn 6
Im Lichte unserer Ergebnisse in Kapitel 5 heiBt das allerdings nicht, dass es Paretoverbessernd ware, ein bestehendes intergeneratives Transfersystem abzuschaffen.
294
8 Familienpolitik
-±
- = w+ N = w-(l-)>0 VNw dN dN
(8.23)
<=> \rjNw <1
gilt, wobei r/Nw die Lohnelastizitat der Arbeitsnachfrage misst. Damit es zu einer Rentenerhohung kommt, muss gemaB (8.23) die Arbeitsnachfrage also unelastisch sein. Unterstellt man etwa eine Cobb-Douglas-Produktionsfunktion, so weist die Arbeitsnachfrage eine Lohnelastizitat von 1 auf, und die Lohnsumme reagiert nicht auf die Erhohung der Arbeiterzahl. Folglich existiert in diesem Fall auch keine Externalitat der Kinderzahl auf die Rentenhohe, die durch Kindergeld oder andere kinderbezogenen Transfers internalisiert werden mtisste.
8.4 Instrumente der kollektiven Finanzierung der Kinderbetreuung Wahrend es in den vorangegangenen Abschnitten ausschlieBlich um das „Ob" des Familienlastenausgleichs ging, soil im Folgenden in einer etwas breiteren empirischen Perspektive noch die Frage des „Wie" naher erortert werden. Dabei betrachten wir im Wesentlichen drei Instrumente, von denen die ersten zwei bislang noch keine Rolle gespielt haben: 1. Sachleistungen (z.B. kostenloser Kindergarten), 2. zweckgebundener Transfer (Gutschein), 3. ungebundener Geldtransfer (Kindergeld). 100
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Abb. 8-1: Besuch von Kinderbetreuungseinrichtungen (in Prozent) Quelle: OECD Employment Outlook 2001; Berichtsjahr 1995 und 2000, zitiert nach Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Benchmarking Deutschland Aktuell, Gutersloh 2002, S.30.
8.4 Instrumente der kollektiven Finanzierung der Kinderbetreuung
295
Im internationalen Vergleich liegt Deutschland gerade bei den ungebundenen Transfers an fuhrender Stelle: In keinem anderen EU-Land ist das Kindergeld hoher als in Deutschland. wahrend die anderen Lander einen wesentlich hoheren Transferanteil bei der Finanzierung institutioneller Kinderbetreuung aufweisen. Dies betrifft vor allem die Betreuung unter 3-jahriger Kinder in Kinderkrippen sowie die Ganztagsbetreuung von Schulkindern und von Kindergartenkindern. Entsprechend hoher ist auBerhalb Deutschlands daher der Anteil von Kindern, die ganztags betreut werden (vgl. Abb. 8.1). Gerade Lander mit einem hohen Anteil von Ganztagsbetreuung wie Schweden weisen sowohl eine hohere Geburtenrate (vgl. Tabelle 8.1) als auch eine hShere Erwerbsbeteiligung von jungeren Frauen auf als Deutschland (vgl. Abb. 8.2). Aus diesen Vergleichszahlen wird regelmaBig die Forderung abgeleitet, der Staat mtisse flir mehr Betreuungseinrichtungen sorgen und zur Finanzierung notfalls sogar das Niveau der Geldtransfers absenken. ~0 i
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55
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SO
weibhche Beschafttguassqitote in Prozeni
Abb. 8-2: Kinderbetreuung und weibliche Erwerbsbeteiligung Quelle: OECD Employment Outlook 2001 Generell ist bei der Abwagung zwischen Geld- und Sachtransfers die Uberlegung zu beachten, dass Geldtransfers die Freiheit der Transferempfanger erhohen, die Mittel gemaB ihren Bedtirfhissen auszugeben, wahrend der Vorteil von Sachtransfers in der Genauigkeit der Zielerreichung aus der Sicht der Transfergeber liegt. Soil es in erster Linie darum gehen, die Chancen der Kinder auf eine Entfaltung ihrer Personlichkeit zu steigern, so spricht einiges dafur, die Forderung an eine Betreuung in einer Gruppe Gleichaltriger zu binden,. Auf diese Weise wird die Sozialisation gefordert, wohingegen bei reinen Geldtransfers nicht einmal die Gewahr besteht, dass die Eltern gegentiber ihren Kindern wirklich altruistisch sind und die vom Staat erhaltenen Mittel tiberhaupt fur ihre Kinder einsetzen werden. Dabei sollte man allerdings nicht iibersehen, dass beide Ziele - Freiheit der Entscheidung und bestmogliche und zielgenaue Forderung des Kindes - mit Hilfe des dritten Instruments, dem zweckgebundenen Geldtransfer, zugleich erreicht werden konnen.
296
8 Familienpolitik
Tabelle 8.1: Geburtenraten und Kindergeld in Europa
Deutschland Irland Osterreich Danemark Schweden Belgien Finn land Grofibritannien Niederlande Frankreich Portugal Italien Spanien
Kindergeld fur 2 Kinder in € (2002) 308 235 229 227 214 203 201 179 165 109 81 78 49
1970
Geburtenrate 1990
2000
2,03 3,87 2,29 1,95 1,92 2,25 1,83 2,43 2,57 2,47 3,01 2,43 2,88
1,45 2,11 1,45 1,67 2,13 1,62 1,78 1,83 1,62 1,78 1,57 1,33 1,36
1,36 1,89 1,34 1,77 1,54 1,66 1,73 1,65 1,72 1,89 1,52 1,23 1,24
Quelle: Kindergeld: Institut der deutschen Wirtschaft Koln (2002), Geburtenrate: OECD (2002). Zu Gunsten einer Umstellung auf Sachtransfers in Deutschland wird vielfach angefuhrt, dass es vor allem in Westdeutschland immer noch an Ganztagesplatzen in Kindergarten mangelt und dadurch die Erwerbstatigkeit der Mutter erheblich behindert werde. Die Ursache fur das Fehlen von Betreuungsmoglichkeiten diirfte jedoch auch darin liegen, dass der Staat seine durchaus beachtliche finanzielle Untersttitzung fur die institutionelle Betreuung, die in der Regel ca. 80 Prozent der Gesamtkosten ausmacht, fast ausschlieBlich in der Form von Objektsubventionen an die Trager der Einrichtungen (Kommunen bzw. Kirchen) leistet und diese dann die Struktur des Angebots (Offhungszeiten etc.) bestimmen. Wtirde der Staat den gleichen Gesamtbetrag in Form von Gutscheinen an die Eltern der Kinder in der betreffenden Altergruppe ausschtitten, so diirfte man einen Wettbewerb der Trager um die Kunden erwarten. Dann ware insbesondere viel eher als heute damit zu rechnen, dass die Trager die Offhungszeiten gema'B der Wtinsche der Eltern festlegen wtirden. Die wahrscheinliche Folge ware die Schaffimg einer erheblich grofieren Zahl von Ganztagesplatzen, die eine Berufstatigkeit beider Elternteile erleichtern wtirde und damit auf lange Sicht auch zu einer Erhohung der Geburtenzahl beitragen konnte. In den Regionen mit einem Versorgungsgrad von weniger als 100 Prozent wtirde zudem die Mittelverteilung zwischen den betroffenen Familien gleichmaBiger ausfallen, da es dann keine Familie mehr gabe, die mangels Betreuungsplatzen ganz leer ausgeht und somit von den fur diesen Zweck aufgewandten staatlichen Mitteln tiberhaupt nicht profitiert. Bei der Ausgestaltung eines Gutscheinsystems fur Betreuungsdienstleistungen sind sicher eine Reihe von Fragen zu klaren. So muss der Kreis der in Frage kommenden Betreuungseinrichtungen eingegrenzt werden, und es wird eine staatliche Zertifizierung privater Einrichtungen erfolgen miissen. Jedoch zeigen Erfahrungen aus den USA, dass sich bei Aufhebung der staatlich gesetzten Marktzutrittsbarrieren ein privatwirtschaftliches Angebot sehr wohl etablieren wtirde. Dort
8.5 Ubungsaufgaben
297
ist praktisch die gesamte Kinderbetreuung vor dem Eintritt in den „Kindergarden" (der mit unserer Vorschule, d.h. dem letzten Jahr vor der 1. Klasse vergleichbar ist) privatwirtschaftlich organisiert. Die offentliche Vorhaltung von Betreuungseinrichtungen ist also keineswegs erforderlich. Die Wtinschbarkeit einer staatlichen (Subjekt)Forderung in diesem Bereich wird durch diese Feststellung allerdings nicht tangiert. Folgerung 8-4: Bei der Wahl eines Instruments zur Forderung von Familien und der Fertilitat stehen die Ziele der Freiheit der Entscheidung der El-1 tern und der optimalen Forderung des Kindes in einem scheinbaren Konflikt. Dieser Konflikt kann weder mit Sachleistungen (kostenlose I Betreuungseinrichtungen) noch mit reinen Geldtransfers (Kindergeld) gelost werden, sondern am ehesten noch mit zweckgebundenen Geldtransfers I in Form von Gutscheinen flir die Kinderbetreuung.
8.5 Ubungsaufgaben
Aufgabe 8.1: Gegeben sei die Nutzenfunktion U = c^ • ct+l^ • nt+l, und w sei auf 1 normiert. Ferner seien der Zinssatz r und die Erziehungskosten von q pro Kind exogen gegeben. a.
Stellen Sie das Gleichungssystem auf, das die Steady-State-Losung mit intrafamilialem Umlagesystem bzw. Elternrente mit festem Beitragssatz b charakterisiert, und losen Sie es. Drucken Sie die Losungswerte nF, c^F und c ( 2 ) F in Abhangigkeit von den exogenen Parametern q, r und b aus. Bestimmen Sie den zugehorigen Steady-State-Nutzen UF und zeigen Sie, dass die-
b.
c.
ser genau dann in b zunimmt, wenn nF groBer ist als 1+r. Beantworten Sie die gleichen Fragen fur das Umlageverfahren ohne Berticksichtigung von Kindern in der Rentenformel. (Kennzeichnen Sie die entsprechenden Losungswerte durch das Subskript R.) Zeigen Sie, dass eine hinreichende Bedingung daftir, dass UF > UR gilt, darin besteht, dass die Kinderkosten q groBer sind als b/(l+r), die abdiskontierten Ertrage aus dem Aufziehen von Kindern in einem intrafamiliaren Umlagesystem. Welche Konsequenzen hatte es, wenn diese Bedingung verletzt ware?
298
8 Familienpolitik
8.6 Literatur Deardorff, A.V. (1976), The Growth Rate for Population: Comment, International Economic Review 17, 510-515. Fenge, R. und V. Meier (2005), Pensions and Fertility Incentives, Canadian Journal of Economics38, 28-48. Fenge, R. und V. Meier (2006), Are Family Allowances and Fertility-Related Pensions Perfect Substitutes, Journal of Population Economics XXX. Fenge, R. und J. v. Weizsacker (2006), Mixing Bismarck and Child Pension Systems: An Optimum Taxation Approach, unveroff. Diskussionspapier. Homburg, S. und C. Graff (1988), Zur okonomischen Begrtindbarkeit des Familienlastenausgleichs, in: B. Felderer (Hg.), Familienlastenausgleich und demographische Entwicklung, Berlin: Duncker & Humblot, 13-28. Institut der deutschen Wirtschaft (2002), iwd - Nr. 44 vom 31.10.2002, Koln. Nerlove, M., A. Razin und E. Sadka (1987), Household and Economy. Welfare Economics of Endogenous Fertility, Boston u.a.: Academic Press. OECD (2002): Society at a Glance. Social Indicators, Paris. Parfit, D. (1984), Reasons and Persons, Oxford: Oxford University Press. Samuelson, P.A. (1975), The Optimum Growth Rate for Population, International Economic Review 16, 531-538.
9 Zukunftsprobleme des deutschen Sozialsystems
9.1 Einleitung In den Kapiteln 2 bis 8 wurden Theorien der Wirkung von sozialen Sicherungssystemen behandelt, die allgemein gtiltig sind und keine spezifische historische Situation betreffen. In diesem abschlieBenden Kapitel soil nun untersucht werden, ob die konkrete Lage Deutschlands zu Beginn des 21. Jahrhunderts spezifische Aussagen getroffen werden konnen. Genau genommen, werden wir fragen, ob die zuvor dargestellten Theorien Antworten auf eine Reihe von Herausforderungen liefern, vor denen die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft gegenwartig stehen und in naher Zukunft stehen werden. Wir werden uns dabei auf zwei Herausforderungen konzentrieren, namlich • die hohe und wachsende Arbeitslosigkeit, vor allem unter den Geringqualifizierten, • der demographische Wandel, der durch zunehmende Lebenserwartung und niedrige Fertilitat gekennzeichnet ist. Im Folgenden werden die entsprechenden Phanomene zunachst beschrieben und anschlieBend gefragt, welche spezifischen Reformen des Sozialsystems geeignet sein konnten, Antworten auf die genannten Herausforderungen zu fmden.
9.2 Herausforderung Arbeitslosigkeit Die erste und bereits heute drangende Herausforderung flir das deutsche Sozialsystem besteht in der hohen Arbeitslosigkeit. Wie Abb. 9.1 zeigt, ist die Arbeitslosenquote in Deutschland in den vergangenen 3 Jahrzehnten treppenformig auf jahresdurchschnittlich ca. 11 Prozent (2005) angewachsen. Die Arbeitslosigkeit betrifft die sozialen Sicherungssysteme sowohl auf der Ausgaben- als auch auf der Einnahmenseite: Die Ausgaben fur Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und ahnliche Lohnersatzleistungen (wie Schlechtwettergeld) lagen im Jahr 2004 bei rd. 50 Mrd. Euro und die Ausgaben fur aktive Arbeitsmarktpolitik (2003) bei 25 Mrd. Euro, zusammen also rd. 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Hinzu kommen die entgangenen Einnahmen der Sozialversicherung durch jeden Arbeitslosen. Zwar zahlt die Bundesagentur fur Arbeit fur jeden Empfanger von Arbeitslosengeld Beitrage an die ubrigen Zweige der Sozialversicherung (GKV, KRV und SPV), jedoch mtissen diese Beitrage selbst wieder durch Zuweisungen des Bundes
300
9 Zukunftsprobleme des deutschen Sozialsystems
aufgebracht werden. Fur den Staat als Ganzes entsteht also ein Einnahmeausfall in Hohe der Steuern und Sozialversicherungsbeitrage, die im Falle der Beschaftigung fallig gewesen waren.
l)Personen ohne Arbeitsverhaltnis - abgesehen von einer geringfiigigen Beschaftigung - die sich als Arbeitssuchende bei den Arbeitsagenturen oder den Tragern der Grundsicherung gemeldet haben, eine Beschaftigung von mindestens 15 und mehr Stunden suchen, ftir eine Arbeitsaufhahme sofort zur Verftigung stehen und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. - 2)Bis 1990: registrierte Arbeitslose in vH der zivilen beschaftigten Arbeitnehmer und der Arbeitslosen; ab 1991: registrierte Arbeitslose in vH aller zivilen Erwerbstatigen und der Arbeitslosen. - 3)Bis 1990: einschlieBlich Berlin-West; ab 1991: ohne Berlin-West. - 4) EinschlieBlich Berlin. - a)Eigene Schatzung
Abb. 9-1: Entwicklimg der Arbeitslosenquote in Deutschland Quelle: Sachverstandigenrat (2005), S.133. Es wiirde den Rahmen dieses Lehrbuchs zur Okonomie des Sozialstaats sprengen, samtliche Ursachen fur das Wachstum der Arbeitslosigkeit in Deutschland zu analysieren und mogliche Wege zu ihrer Senkung zu diskutieren. Daher wollen wir uns auf eine einzige Komponente der Arbeitslosigkeit konzentrieren, die mit dem Sozialstaat besonders eng verbunden ist, namlich die Arbeitslosigkeit unter den Geringqualifizierten. Abb. 9-2 zeigt, dass der groBte Teil des Anstiegs der Arbeitslosenquote in Deutschland in den vergangenen 25 Jahren auf die drastische Steigerung der Quote unter den Geringqualifizierten zuruckzufuhren ist, die von 5% im Jahr 1980 auf tiber 22% im Jahr 2004 angewachsen ist. Dem gegentiber verharrt die Arbeitslosenquote unter Akademikern auf einem sehr niedrigen Niveau zwischen 3 und 4%. Die Zahlen deuten darauf hin, dass MaBnahmen zur Verringerung der Arbeitslosigkeit im besonderen MaBe bei der Personengruppe der Geringqualifizierten und deren Integration in den Arbeitsmarkt ansetzen miissen. Dazu gehort in der langen Frist natiirlich eine Verstarkung der Bildungsausgaben, um den Anteil der Geringqualifizierten zu verringern. Kurzfristig konnte zum einen eine noch starkere Spreizung der Bruttolohne nach unten durch die Tarifvertragsparteien helfen, zum anderen jedoch auch politische MaBnahmen, die darauf abzielen, dass der Reservationslohn der Arbeitsanbieter sinkt und somit ein groBerer Anreiz besteht,
9.3 Herausforderung demographischer Wandel
301
einen gering entlohnten Arbeitsplatz anzunehmen. Dazu mtisste, wie in Kapitel 7 gezeigt, die Transferentzugsquote, die fur Empfanger von Arbeitslosengeld II derzeit 80 bzw. 90% betragt, deutlich abgesenkt werden. Anteiiein vH 1 *
Ohne Berufsabschluss
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1975 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 2004 Jahr
1) Arbeitslose in v.H. aller zivilen Erwerbspersonen gleicher Qualifikation (ohne Auszubildende); Erwerbstatige „ohne Angabe" zum Berufsabschluss nach Mikrozensus je Altersklasse proportional auf alle Qualifikationsklassen verteilt. 2) Betriebliche Berufsausbildung und Berufsfachschulausbildung sowie Fort- und Weiterbildung an Fach-, Techniker- und Meisterschulen, ohne Verwaltungsfachhochschulen. 3) Einschliefilich Verwaltungsfachhochschulen
Abb. 9-2: Arbeitsiosenquote nach Qualifikation in Deutschland Quelle: Sachverstandigenrat (2005), S.134.
9.3 Herausforderung demographischer Wandel 9.3.1 Ursachen und Indikatoren des demographischen Wandels Die wichtigste langfristige Herausforderung fur die Finanzierung der Sozialen Sicherung in Deutschland ist die demographische Alterung, die ihrerseits von zwei Faktoren verursacht wird: 1. dem schon vor drei Jahrzehnten erfolgten Riickgang der Fertilitat, 2. einem Anstieg der (fernen) Lebenserwartung der Menschen, die sich bereits im Rentenalter befmden. Abb. 9-3 zeigt, dass sich die Kinderzahl pro Frau in beiden Teilen Deutschlands von ca. 2,5 in den 1960er Jahren auf 1,2 bzw. 1,4 im Jahr 2000 vermindert hat. Die dargestellte Projektion des Statistischen Bundesamtes beruht auf der Annahme, dass es auch ktinftig bei einer Zahl von 1,4 Kindern je Frau bleiben wird, wahrend zur Bestanderhaltung der Bevolkerung 2,1 Kinder erforderlich waren.
302
9 Zukunftsprobleme des deutschen Sozialsystems
Sollte es hier also nicht sehr bald zu einem Aufwartstrend kommen, so wird in Zukunft jede Geburtskohorte um ein Drittel kleiner sein als die ihrer Eltern, eine Lticke, die auch durch Nettozuwanderung kaum wird geschlossen werden konnen. Tabelle 8-1 im vorigen Kapitel zeigt, dass die Fertilitat in keinem EU-Land gegenwartig zur Bestanderhaltung geniigt, dass aber nur Italien, Spanien und Osterreich ahnlich niedrige Geburtenziffern aufweisen wie Deutschland. Fruheres Bundesgebiet
Neue Lander und Beriin-Ost
Deutschland
3,0
3,0
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1960
1970
1980
1990
2000 Jahr
2010
2020
2030
2040
2050
1) Ab 2002: Annahmen der 10. koordinierten Bevolkerungsvorausberechnung Abb. 9-3: Kinder je Frau in West- und Ostdeutschland (1) Quelle: Statistisches Bundesamt (2003), S.ll
Auf der anderen Seite ist die Lebenserwartung der 60-jahrigen allein zwischen 1960 und 2000 um 4 Jahre (Manner) bzw. 5 Jahre (Frauen) gestiegen, und das Statistische Bundesamt rechnet wie die meisten fuhrenden Demographen mit einer Fortsetzung dieses Trends (vgl. Abb. 9-4).
9.3 Herausforderung demographischer Wandel
303
l)Die Werte sind ftr folgende Gebietsstande aufgefuhrt: 1901/10 bis 1932/34 Deutsches Reich; 1949/51 bis 1980/82 fruheres Bundesgebiet; ab 1991/93 Deutschland. Ab 2035 Annahmen der 10. koordinierten BevOlkerungsvorausberechnung (mittlere Annahme L2)
Abb. 9-4: Fernere Lebenserwartung im Alter 60 (1) Quelle: Statistisches Bundesamt (2003), S.16 Die beiden geschilderten Entwicklungen fuhren dazu, dass die Alterspyramide der deutschen Bevolkerung, die vor 100 Jahren noch die Form einer Tanne hatte und heute die eines Pilzes hat, sich bis 2050 immer mehr der Form einer Urne annahert (vgl. Abb. 9-5). Dadurch steigen auch die sog. Altenquotienten, die als MaBe fur das Zahlenverhaltnis zwischen Alten und Erwerbsfahigen gedacht und durch folgende Formel defmiert sind: _
Personen tibery Jahren Personen zwischen 20 undy Jahren
Abb. 9-6 zeigt, dass der Altenquotient zwar naturgemafi urn so kleiner ist, je hoher man die Schwelle flir den Austritt aus dem Erwerbsfahigen-Alter ansetzt, sich jedoch bei jeder Definition innerhalb der ersten Halfte des 21. Jahrhunderts in etwa verdoppeln wird.
304
9 Zukunftsprobleme des deutschen Sozialsystems
am 31.12.1910
am 31.12.1950
Aiter in Jahren
1 000 800 oOO 400 200 Tausend Peraonen
200 400 600 800 1 000 Tausend Personen
1 000 800 600 400 200 Tausend Personen
200 400 600 8001000 Tausend Personen
am 31.12.2001
am 31.12.2001 und am 31.12.2050
Alter in Jahren r 100-|
Alter in Jahren r 100-«
Frauenuberschuft
31.12. 2001 "
1000 800 600 400 200 Tausend Personen
200 400 600 800 1000 Tausend Personen
Abb. 9-5: Alterspyramiden in Deutschland Quelle: Statistisches Bundesamt (2003), S.30
1000 800 600 400 200 Tausend Personen
31.12. '2001
H h200 400 600 800 1000 Tausend Personen
9.3 Herausforderung demographischer Wandel
305
l)Ab 2002 Schatzwerte der 10. koordinierten BevGlkerungsvorausberechnung, Variante 5 „mittlere" Bevolkerung: Mittlere Wanderungsannahme W2 (jahrlicher Saldo von mindestens 200 000) und mittlere Lebenserwartungsannahme L2 (durchschnittliche Lebenserwartung 2050 bei 81 bzw. 87 Jahren). - 2)60-Jahrige und altere je 100 Personen im Alter von 20 bis 59 Jahren. - 3)65-Jahrige und altere je 100 Personen im Alter von 20 bis 64 Jahren. - 4)67-Jahrige und altere je 100 Personen im Alter von 20 bis 66 Jahren.
Abb. 9-6: Altenquotienten in Deutschland Quelle: Statistisches Bundesamt (2003), S.32
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9 Zukunflsprobleme des deutschen Sozialsystems
9.3.2 Reformbedarf in der Sozialen Sicherung auf Grund des demographischen Wandels In Folge des demographischen Wandels wird ein drastischer Anstieg der Beitragssatze zu den umlagefinanzierten Sozialversicherungssystemen prognostiziert, so vor allem bei der Renten- und Pflegeversicherung, bei denen der GroBteil der Leistungsempfanger alte Menschen sind. Aber auch in der Krankenversicherung fmden implizit hohe Transfers von den Erwerbstatigen zu den Rentnern statt. So erwirtschaftet die Krankenversicherung der Rentner weniger als die Halfte ihrer Ausgaben durch eigene Beitragseinnahmen. Tabelle 9-1 enthalt eine Prognose der Entwicklung der Beitragssatze zur Sozialversicherung aus dem Jahr 2004, also bevor einige der unten dargestellten Gesetzesanderungen in der gesetzlichen Rentenversicherung verabschiedet wurden. Tabelle 9-1: Entwicklung der Beitragssatze in der Sozialversicherung Jahr 2003 2020 2030 2040
Rentenversicherung 19,5 21,0 25,0 26,1
Krankenversicherung 14,2 18,6 22,0 25,3
Pflegeversicherung 1,7
Arbeitslosenversicherung 6,5
gesamt 41,9 47,4 55,5 60,8
Da eine so hohe Abgabenbelastung auf die Arbeitseinkommen ubereinstimmend als extrem beschaftigungsschadlich angesehen wird, sind Reformen in der Sozialversicherung mit dem Ziel einer Dampfung der Beitragssatzentwicklung zu einem der zentralen Themen der politischen Debatten in Deutschland seit der Jahrtausendwende geworden. 9J. 2,1 Reformbedarf in derRentenvetsicherung 9.3.2.1.1 Uberlegungen zur Reform des Finanzierungsverfahrens in der Rentenversicherung Als Folge der gesunkenen Geburtenziffern wird weltweit ein kompletter oder teilweiser Umstieg vom Umlageverfahren (UV) zum Kapitaldeckungsverfahren (KDV) diskutiert. Als Schlagwort flir diesen Umstieg ist z.B. in den USA der Begriff der „Privatisierung" gangig. Lasst man die fur einen solchen Wechsel angefiihrten Argumente Revue passieren, so stellt man im Lichte der theoretischen Analysen des Kapitels 5 fest, dass manche davon nicht triftig sind: 1. Durch den Rtickgang der Fertilitat und die gestiegene Lebenserwartung ist die Rendite des Umlagesystems stark gesunken, so dass es als Hauptpfeiler der Alterssicherung nicht mehr geeignet ist. Dieses Argument ist aus zwei Griinden verfehlt. Zum einen hat die Rendite nichts mit der gestiegenen Lebenserwartung zu tun, denn diese erhoht - bei festem Renteneintrittsalter - sowohl den zur Finanzierung eines gegebenen Rentenni-
9.3 Herausforderung demographischer Wandel
307
veaus notwendigen Beitragssatz als auch die Dauer des Rentenbezugs und damit die Leistung, die der Einzelne aus dem Umlagesystem bezieht. Anders ausgedriickt, musste bei steigender Lebenserwartung auch im KDV die Ansparrate erhoht werden, um ein gegebenes Rentenniveau abzusichern. Zum anderen ist ein Ausstieg aus dem UV, wie in Kapitel 5 gezeigt, nicht mit einer ParetoVerbesserung verbunden, da im Barwert die Nettozahlungen aller zuktinftigen Generationen an die Rentenkasse in der Summe konstant bleiben und lediglich anders verteilt werden konnen. 2. Der Ausstieg aus dem Umlageverfahren beendet ein fllr alle Male die Verzerrung des Arbeitsangebots, die mit der Beitragserhebung verbunden ist, derm im Rahmen des KDV steht jeder Einzahlung eine im Barwert aquivalente Auszahlung gegentiber, so dass hier das Arbeitsangebot nicht verzerrt wird. Dies ist zwar richtig, jedoch ist die Verzerrung fiir die Ubergangsgeneration, die noch Beitrage zahlt, aber als erste keinen Rentenanspruch mehr erhalt, um so grofier, da der gesamte Beitrag wie eine Steuer wirkt. Unterstellt man, dass die Hohe des Wohlfahrtsverlustes mit dem Steuersatz (iberproportional steigt, so bedeutet die Konzentration der Verzerrung auf eine einzige Generation insgesamt eine Erhohung des Wohlfahrtsverlustes. 3. SchlieBlich wird das Umlageverfahren als politisch anfallig bezeichnet, weil die nachfolgende Generation von Beitragszahlern erst einmal bereit sein muss, die „Rentenansprtiche" der jeweiligen Rentnergeneration zu honorieren. Dagegen beruht das KDV auf privaten Vertragen und ist daher politisch weniger anfallig. Auch hier ist der erste Satz richtig, der zweite jedoch problematisch, da die nachfolgende Generation die Rentner auch durch eine hohere Besteuerung von Kapitalertragen (Zinsen und Wertzuwachs) enteignen kann. Auf der anderen Seite sind viele Menschen trotz der hohen langfristigen Kapitalrenditen der Vergangenheit gegentiber dem KDV skeptisch eingestellt, was mit den folgenden Grtinden erklart werden kann: 1. Im KDV sind Versicherte starker mit Kapitalmarktrisiken konfrontiert. Erfahrungen aus dem Ausland (Verfall des Nikkei-Indexes in den 1990er Jahren), aber auch aus dem Inland (Borsencrash im Jahr 2001) zeigen, dass auch bei einer breit gestreuten Aktienanlage die Rendite uber mehrere Jahre hinweg negativ sein kann, wenn man den Zeitpunkt der Kapitalanlage ungtinstig gewahlt hat. 2. Umgekehrt ist man bei einer „sicheren" Anlage in festverzinslichen Wertpapieren nicht gegen das Inflationsrisiko geschtitzt. 3. Kritisch werden auch die hohen Vertriebs- und Werbekosten bei privaten Lebensversicherungen gesehen. 4. SchlieBlich wird eingewendet, dass auch die Rendite einer Kapitalanlage gegentiber einer schrumpfenden Bevolkerung nicht immun sei, da Kapital im
308
9 Zukunftsprobleme des deutschen Sozialsystems Falle komplementarer Produktionsfaktoren ohne Arbeit keine Ertrage abwirft.
Als Fazit bleibt die Aussage, dass in einer Welt mit vollkommener Voraussicht die Wahl zwischen Umlage und Kapitaldeckung keine Frage der Effizienz, sondern der Verteilung zwischen den Generationen ist, die man allenfalls auf der Basis von distributiven Werturteilen beantworten kann. Wendet man etwa das Rawls'sche Maximin-Kriterium auf die Verteilung zwischen den Generationen an, so hangt die Antwort davon ab, ob man als „Zukunftsoptimist" glaubt, alien kommenden Generationen werde es besser gehen als der heute lebenden: in diesem Fall musste man das Umlagesystem eher noch ausweiten (wie es etwa 1995 mit der Einfuhrung der Pflegeversicherung in Deutschland geschehen ist). Ist man ein „Zukunftspessimist" und glaubt daran, dass z.B. wegen Verknappung der Rohstoffe alle nachfolgenden Generationen armer sein werden als die jetzige, so musste man jene durch einen Abbau des Umlageverfahrens entschadigen. In einer Welt der Unsicherheit kommen jedoch zusatzliche Gesichtspunkte hinzu: Kann man etwa die zukunftigen Ertrage der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital nicht abschatzen, so ware es vorteilhaft fur den Einzelnen, im Alter an beiden Typen von Ertragen zu partizipieren. Daher musste das UV so weit eingeschrankt werden, dass daneben noch eine private Altersvorsorge erforderlich und gewunscht ist. 9.3.2.1.2 Weitere Reformen zur Stabilisierung der Rentenversicherung Wenn es darum geht, den Budgetausgleich der gesetzlichen Rentenversicherung langfristig zu sichern, so stehen hierzu die grundsatzlichen Alternativen a. Anhebung des Beitragssatzes zur Aufrechterhaltung des Rentenniveaus, und b. Absenkung des Rentenniveaus zur Stabilisierung des Beitragssatzes zur Wahl. Dabei sprechen die geschilderten Uberlegungen der Risikostreuung eher fur die Option b), was trotz der im vorherigen Abschnitt angestellten Uberlegungen einen teilweisen Ubergang zum Kapitaldeckungsverfahren bedeutet. Ein weiterer distributiver Gesichtspunkt, der ftir diese Strategie spricht, ist, dass bei konstantem Beitragssatz jede Generation als Ganze das Rentenniveau erhalt, das sie durch ihre eigene Fertilitat ermoglicht hat. Dieser Gedanke liegt auch dem „Nachhaltigkeitsfaktor" zu Grunde, der die Rentenanpassungen vom Jahr 2009 an determinieren wird (vgl. Kap. 5) und der Anderungen des Zahlenverhaltnisses von Erwerbstatigen zu Rentnern mit dem Faktor a = 0,25 berticksichtigt. Eine vollige Stabilisierung des Beitragssatzes hatte allerdings einen Faktor a = 1 erfordert. Von dort ware es nur ein kleiner Schritt zu einem System gewesen, das z.B. in Schweden angewendet wird und das unter dem Schlagwort „Notional Defined Contributions" (NDC), zu deutsch etwa „fiktives Versicherungskonto" bekannt geworden ist. Nach diesem Modell wird fur jeden Versicherten ein individuelles Rentenkonto gefuhrt, auf dem alle seine Beitrage (einschlieBlich der Beitrage des Staates fur Ersatz- und Ausfallzeiten) gutgeschrieben werden. Diese „verzinsen" sich pro Periode mit der Wachstumsra-
9.3 Herausforderung demographischer Wandel
309
te der Lohnsumme. Bei Renteneintritt wird die monatliche Entnahmerate nach der Rest-Lebenserwartung seiner Kohorte berechnet. Ein solches System erlaubt es, den Beitragssatz langfristig festzuschreiben, ohne dass dazu willktirliche politische Eingriffe in geltendes Recht notig sind, wie sie in der Vergangenheit in Deutschland haufig vorgenommen wurden. Das Risiko liegt dann allerdings bei den spaten Rentnem. Neben den oben erwahnten Optionen einer Anhebung des Beitragssatzes und einer Absenkung des Rentenniveaus werden in Deutschland drei weitere Optionen zur nachhaltigen Sicherung der Rentenfinanzierung diskutiert, namlich a. eine Anhebung des steuerfinanzierten Bundeszuschusses zur Rentenversicherung, b. eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters, c. eine Ausweitung des Versichertenkreises in der GRV. Von der MaBnahme a) wurde in der Vergangenheit in groBerem Umfang Gebrauch gemacht. So stieg der Bundeszuschuss allein zwischen 1991 und 2004 von 19,6 Mrd. € auf 77,9 Mrd. € (+ 297 %), wahrend die gesamten Ausgaben der Rentenversicherung im selben Zeitraum nur um 80 % gewachsen sind. Eine graduelle Anhebung der Regelaltersgrenze in der Rentenversicherung von derzeit 65 Jahren auf 67 Jahre ist laut Beschluss des Bundeskabinetts vom Marz 2006 fur den Zeitraum zwischen 2012 und 2029 vorgesehen. Was spricht nun fur bzw. gegen die genannten MaBnahmen? Erhohung des Bundeszuschusses zur Rentenversicherung: Fur den Bundeszuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung wird zum einen ganz generell angefuhrt, dass dieser zur Finanzierung der versicherungsfremden Leistungen dient, die der Gesetzgeber der Rentenversicherung aufgebtirdet hat. Dazu gehort u.a. die Anerkennung von Ausfallzeiten wie Wehrdienst und Kindererziehung oder auch von Versicherungszeiten, die im Ausland verbracht worden sind (etwa bei Aussiedlern). Ein zweites Argument fur eine partielle Steuerfmanzierung bezieht sich darauf, dass das nur in der gesetzlichen Rentenversicherung geltende Umlageverfahren eine geringere Rendite aufweist als das Kapitaldeckungsverfahren und dass somit die Pflichtversicherten (Arbeitnehmer) gegeniiber anderen Bevolkerungsgruppen wie den Selbstandigen, die sich privat versichern konnen, benachteiligt sind. Dieser Nachteil wird dadurch ausgeglichen, dass die Pflichtversicherten eben nicht die gesamten Ausgaben der Rentenversicherung mit ihren Beitragen tragen mtissen. Neben diesen allgemeinen Argumenten wurde die drastische Anhebung des Bundeszuschusses seit 1991 damit begrundet, dass es in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit wunschenswert sei, den Produktionsfaktor Arbeit von Abgaben zu befreien und daftir andere - moglicherweise weniger elastische - Bemessungsgrundlagen wie den Konsum starker zu belasten. Folgerichtig wurde im Jahre 1997 die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt erhoht und von 1999 an der Energieverbrauch mit einer Sondersteuer („Okosteuer") belegt, um Mittel fur eine Aufstockung des Bundeszuschusses zu generieren. Insbesondere wird oft behauptet, die Besteuerung des Umwelt- oder Energieverzehrs werfe eine „doppelte Dividende" ab, da
310
9 Zukunftsprobleme des deutschen Sozialsystems
man gleichzeitig zwei Verzerrungen vermindern konne: die Verzerrung des Arbeitseinsatzes durch Verminderung der Sozialabgaben und die Verzerrung beim Umweltverbrauch durch die Okosteuer. Eine wirkliche Begriindung fiir die Erhohung des Bundeszuschusses zur Renten versicherung liefert dieses Argument jedoch nicht. Wenn eine Umfinanzierung der Staatseinnahmen das GesamtmaB der Verzerrungen verringern kann, so lieBe sich dies auch durch eine Anderung innerhalb des Steuersystems erreichen, etwa durch eine Verlagerung von den direkten zu den indirekten Steuern. Als groBtes Manko des Bundeszuschusses (wie auch dessen standiger Ausweitung) muss es dagegen angesehen werden, dass dieser die Transparenz des Rentensystems behindert, da der Beitragssatz seine Rolle als Signal fur die Kosten der Rentenfinanzierung verliert. Anhebung der Regelaltersgrenze fur den Rentenbezug: In der politischen Diskussion wird vielfach die Auffassung vertreten, die Verlangerung der Lebensarbeitszeit sei ein „dritter Weg" zwischen den unangenehmen Optionen steigender Beitragssatze und eines sinkenden Rentenniveaus. In Wahrheit handelt es sich bei dieser MaBnahme aber um kaum etwas anderes als eine Kiirzung des Rentenanspruchs, der mit einer gewissen Summe an eingezahlten Beitragen verbunden ist, da, wie in Kapitel 5 dargestellt, jeder Versicherte sein Renteneintrittsalter in gewissen Grenzen selbst wahlen kann und jedes Jahr des vorzeitigen Rentenbezugs mit einem Abschlag auf die Rentenhohe von 3,6 % belegt wird. Somit entspricht eine Erhohung der Regelaltersgrenze um 2 Jahre einer impliziten Rentenkurzung um 7,2 Prozent. Mit der Anhebung der Regelaltersgrenze sind allerdings zwei weitere Wirkungen verbunden, die zu einem Anstieg der tatsachlichen Lebensarbeitszeit ftihren konnten: Zum einen ist der vorzeitige Bezug einer Altersrente derzeit (2006) auf eine Hochstdauer von 5 Jahren begrenzt, so dass auch das Mindestalter fur Altersrentner steigt. Diese Wirkung hat aber nur dann nachhaltige Folgen, wenn zugleich der Umweg uber den Bezug einer Erwerbsminderungsrente erschwert wird. Zum anderen erstreckt sich der gesetzliche Kundigungsschutz nach herrschender Rechtsauffassung bis zur Regelaltersgrenze der Rentenversicherung, so dass deren Anhebung es Unternehmen zumindest schwerer macht, Arbeitsverhaltnisse gegen den Willen der betroffenen Arbeitnehmer zu beenden. Durch das neue Gleichbehandlungsgesetz wird dieser Aspekt zusatzlich an Bedeutung gewinnen. Ferner wird in der politischen Diskussion bisweilen geauBert, wichtiger als die Anhebung der gesetzlichen Altersgrenze sei die Steigerung des faktischen (durchschnittlichen) Renteneintrittsalters, das in Deutschland 4-5 Jahre unterhalb der Regelaltersgrenze liegt. Um diese Forderung zu bewerten, muss man fragen, wofur die Verlangerung der Lebensarbeitszeit wichtig sein soil, a. zur Verbesserung der Finanzierung der Rentenversicherung, oder b. aus anderen Grunden? Ad a): Die bereits in Kraft getretenen Abschlage bei vorzeitigem Rentenbezug sind so berechnet, dass die nachfolgenden Beitragzahler in der Summe gleich hohe Betrage zur Befriedigung der Rentenanspruche eines Versicherten aufbringen
9.3 Herausforderung demographischer Wandel
311
mussen - unabhangig davon, wie lange dieser gearbeitet hat. Geht er fruher in Rente, so verlangert sich zwar seine Rentenbezugsdauer, aber die Rentenhohe pro Monat verringert sich. Der im Jahre 2005 in Kraft getretene Nachhaltigkeitsfaktor wird den kompensierenden Effekt noch verstarken, indem er die Rentenhohe direkt von der Zahl der Rentier und der Beitragszahler abhangig macht. Eine Verlangerung der Lebensarbeitszeit verringert dann den Rentnerquotienten und fuhrt ftir sich genommen zu einem Rentenanstieg, der wiederum von der nachfolgenden Generation der Beitragszahler fmanziert werden muss. Dieser Effekt wurde durch eine steilere Skala von Zu- und Abschlagen verscharft werden, so dass das Interesse der zuktinftigen Beitragszahler dann endgiiltig auf eine kurzere Lebensarbeitszeit gerichtet sein konnte. Ad b) Ein zweiter Grund, fur einen spateren Renteneintrirt zu pladieren, konnte darin liegen, dass das Rentenniveau in Folge zahlreicher Reformen inzwischen so weit abgesunken ist, dass vor allem Geringverdiener in vielen Fallen Rentenansprtiche unterhalb des Sozialhilfe-Niveaus erwerben. Bei diesem Personenkreis wurde sich eine Verlangerung der Lebensarbeitszeit also darin auswirken, dass sie zusatzliche Beitrage zahlen, ohne dass ihr Gesamtanspruch an das Sozialsystem steigt, so dass sich fur die nachfolgende Generation ein echter Vorteil ergibt. Tabelle 9-2: Entwicklung der Erwerbsquoten der 55-64jahrigen Land 1990 1998 2003 Deutschland ^ 3 6 , 8 " 38,4 39,0" Frankreich 35,6 33,0 36,8 Niederlande 29,7 33,4 43,5 Schweden 69,4 63,0 69,0 Vereinigtes Konigreich 49,2 48,3 55,5 EU15 38,5 37,3 41,5 Kanada 46,3 45,3 53,0 USA 54,0 57,7 59,9 48,0 47,7 50,1 23£R^^^^—^^— Quelle: OECD (2005), Labour market - employment - employment rates by age group.
In diesem Zusammenhang wird haufig die Frage aufgeworfen, wie der seit Mitte der 1980er Jahre anhaltende Trend zur Fruhverrentung gestoppt und den Arbeitnehmern die Moglichkeit gegeben werden kann, langer zu arbeiten. In der Tat liegt die Erwerbsbeteiligung der Altersgruppe der 55-64Jahrigen in Deutschland im internationalen Vergleich auf eher niedrigem Niveau und ist im Gegensatz zu anderen Landern wie den Niederlanden oder den angelsachsischen Landern seit 1990 auch nicht nennenswert gestiegen (Tabelle 9-2). Dies ist sicher zum groBten Teil auf die staatlichen Programme zur Subventionierung der Fruhverrentung zuruckzufuhren, die im Jahr 2008 auslaufen werden. Eine wichtige Rolle dtirfte aber auch die mangelnde Flexibilitat der Lohne bei alteren Arbeitnehmern im internationalen Vergleich sein. Abb. 9-7 vergleicht sog. Alters-Lohnprofile zwischen Deutschland und den USA. In diesen wird die Entwicklung des Lohns eines durchschnittlichen Arbeitnehmers im Verlauf seiner Erwerbskarriere aus Querschnittsdaten approximiert. Die Kurve flir die USA hat einen buckelformigen Verlauf mit einem Maximum bei 50-54 Jahren, wahrend die Kurve fur Deutschland
9.3 Herausforderung demographischer Wandel
313
Ausweitung des Versichertenkreises in der GRV: Wie in Kapitel 5 dargelegt, sind in der GRV bestimmte Gruppen von der Versicherungspflicht ausgenommen. Hierzu gehoren in der Regel Selbstandige sowie Personen, die Mitglieder einer berufsstandischen Versorgungseinrichtung sind wie z.B. Arzte, Apotheker, Architekten, Rechtsanwalte und Wirtschaftspriifer. Die Altersversorgungssysteme dieser Berufsgruppen verfiigen liber eine Kapitaldeckung. Im Vergleich zu den in der GRV Pflichtversicherten unterliegen ihre Mitglieder also nicht der impliziten Besteuerung des Umlageverfahrens. Bei einer Einbeziehung der Bestandsversicherten dieser Gruppen in die GRV blieben deren bereits gezahlte und in Kapitalfonds angesammelte Beitrage auf Grund des Eigentumsschutzes nach Art. 14 GG unangetastet. Man konnte diese Personen (und insbesondere die Berufsanfanger) jedoch von einem Stichtag an zu einer Beitragszahlung in der GRV verpflichten. Damit wtirden kurzfristig alle anderen Beitragszahler in der GRV entlastet, und im Rahmen der Rentenanpassung nach dem Anstieg des bereinigten Bruttolohns wtirden auch alle Rentner profitieren. Gegen diese MaBnahme wird nun verschiedentlich eingewandt, dass die langfristigen Wirkungen negativ seien, da die von diesen Neuversicherten erworbenen Rentenansprtiche gerade dann fallig wtirden, wenn der Beitragssatz in der GRV wegen des demografischen Wandels ohnehin sehr hoch sein werde. Um die Richtigkeit dieser Behauptung zu priifen, sollen zwei verschiedene Szenarien beztiglich der zuktinftigen Steuerung der Rentenformel unterschieden werden (vgl. Kifinann 2001): a. eine Beibehaltung der gegenwartigen Rentenformel, und b. ein Ubergang zu „fiktiven Versichertenkonten". Ad a) Behalt man die Rentenformel bei, so wird die Einbeziehung weiterer Personen in die GRV langfristig keine Auswirkungen auf den Beitragssatz haben. Die heute neu Einbezogenen werden zwar in einigen Jahren Rentenansprtiche geltend machen; zum Ausgleich dafur wird jedoch auch in Zukunft der Kreis der Versicherten groBer sein als ohne diese MaBnahme. Solange die entsprechenden Berufszweige einen konstanten Anteil an der Erwerbsbevolkerung ausmachen, hat ihre Einbeziehung in die GRV die gleiche Wirkung wie eine Einwanderung der entsprechenden Personenzahl, wenn die Einwanderer die gleiche Fertilitat aufweisen wie die Inlander. Letztlich handelt es sich also um eine Ausweitung des Umlageverfahrens und damit zu einer Verlagerung eines Teils der impliziten Steuer des Umlagesystems auf zuktinftige Generationen, genauer: auf die Mitglieder zukiinftiger Generationen, die andernfalls (aufgrund ihres Berufs) nicht belastet worden waren. Ad b): Die Idee der fiktiven Versichertenkonten (s.o., Abschnitt 9.3.2.1.1) besagt, dass jedem Pflichtversicherten eine bestimmte „Rendite" seiner Beitrage (im Erwartungswert) garantiert wird, die der Wachstumsrate der Lohnsumme entspricht. Wenn nun durch eine Ausweitung des Versichertenkreises in einem bestimmten Jahr der Beitragssatz gesenkt wird, so wirkt sich dies dampfend auf die Rentenansprtiche aller Personen aus, die in diesem Jahr Beitrage zahlen, und dies
314
9 Zukunftsprobleme des deutschen Sozialsystems
wiederum senkt den Beitragssatz in alien zukiinftigen Perioden. Die Verteilung der impliziten Steuerlast des Umlagesystems auf mehr Kopfe lasst also in der Tat - weil es sich, wie in Kapitel 5 gezeigt, beim Umlagesystem um ein Nullsummenspiel handelt - die Last jedes Einzelnen in der Zukunft sinken. 9.3.2.2 Reformbedarf in der gesetzlichen Krankenversicherung 932.2A Einflussfaktoren des Beitragssatzes zur GKV Zusatzlich zu den Faktoren, die die Entwicklung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung bestimmen (also die demographische Entwicklung und die Beschaftigung) kommen in der Krankenversicherung weitere hinzu, die mit dem Wesen der versicherten Leistung „medizinische Behandlung" zusammenhangen. Im Gegensatz zur Rentenversicherung, die (abgesehen von der Rehabilitation) eine reine Geldleistung vorsieht, ist der Gegenstand der Krankenversicherung eine Sachleistung, womit zwei fundamental Unterschiede verbunden sind. Zum einen andert sich das Produkt „medizinische Behandlung" durch die medizintechnische Entwicklung standig, da vor allem neue Diagnose- und Behandlungsformen auf den Markt kommen, und zum anderen andert sich auch der altersspezifische „Bedarf an solchen Leistungen liber die Zeit. Man kann daher drei Faktoren unterscheiden, die sich auf die Entwicklung des Beitragssatzes in der GKV auswirken: 1. den Einfluss der demographischen Alterung auf die Bemessungsgrundlage der GKV-Beitrage, die aus Arbeits- und Transfereinkommen (bis zu einer Bemessungsgrenze) besteht: wenn der Anteil der Erwerbsfahigen an der Gesamtbevolkerung sinkt, schrumpft die Bemessungsgrundlage pro Versichertem; 2. den Einfluss der Alterung, insbesondere des Anstiegs der Lebenserwartung auf die Pro-Kopf-Ausgaben; 3. den Einfluss des medizinischen Fortschritts auf die Pro-Kopf-Ausgaben. Dass der 1. und 2. Effekt eine beachtliche Rolle fur die Finanzierung der GKV spielen konnen, geht aus Abb. 9-8 hervor, in der sowohl das Altersprofil der Ausgaben als auch das Altersprofil der Beitrage dargestellt sind. Man sieht, dass die 20 bis 60jahrigen Nettozahler in der GKV sind, wahrend vor allem die liber 60jahrigen Nettoempfanger sind. Steigt der Altenquotient, wie in Abb. 9-6 gezeigt, drastisch an, so scheint dies eine enorme Steigerung des Beitragssatzes erforderlich zu machen. Die Effekte mussen jedoch noch genauer unter die Lupe genommen werden. Der 1. Effekt ist wenig kontrovers, wtirde jedoch durch einen Ubergang von lohnbezogenen zu pauschalen Beitragen (vgl. Abschnitt 6.4) stark sinken, da dann auch Rentner den gleichen Beitrag zahlen miissten wie Erwerbstatige. Er wtirde allerdings in dem MaBe bestehen bleiben, wie Rentner die Kopfbeitrage nicht selbst tragen konnen und durch Transfers unterstutzt werden mussen. Der 3. Effekt ist in seiner Richtung wenig kontrovers, da inzwischen eine relativ groBe Einigkeit dariiber herrscht, dass der medizinische Fortschritt sich tiberwiegend in qualitats- und ausgabensteigernden Produktinnovationen nieder-
9.3 Herausforderung demographischer Wandel
315
schlagt. Lediglich liber die Hohe des Effekts des Fortschritts kann es Unklarheit geben, Breyer und Ulrich (2000) schatzen ihn aus dem Koeffizienten der Zeit in einer Schatzgleichung zur Erklarung der Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben bei konstanter Altersstruktur und Einkommen auf ein Prozent j ahrlich. Euro je Versicherten
Euro je Versicherten
5000
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' unter ' 15-20 ' 20-25* 25-30' 30-35'35-40 ' 40-45' 45-50* 50-55* 55-6o'60-65' 65-70* 70-75* 75-80* 80-85* 65-90*90 und' 15 alter Aitersgruppen von ... bis unter... Jahrert
l)Ausgaben berechnet unter Verwendung der aus den Daten des Risikostrukturausgleichs des Jahres 2003 abgeleiteten altersspezifischen Ausgabenprofile und unter Berilcksichtigung der Verwaltungsausgaben sowie nicht ausgleichsfahiger Leistungsausgaben.
Abb. 9-8: Altersspezifische Ausgaben und Beitrage in der GKV Quelle: SVR (2005), S.350. Weniger eindeutig ist der 2. Effekt. Uber die Auswirkung des Anstiegs der Lebenserwartung auf die Ausgaben bei konstanter Medizintechnik existieren drei alternative Hypothesen: a. die Status-quo-Hypothese: sie geht davon aus, dass die altersspezifischen Pro-Kopf-Ausgaben nur vom Stand der Medizintechnik abhangen und daher bei deren Konstanz gleich bleiben. Den Einfluss der Lebenserwartung erhalt man demnach, wenn man die heutigen Alters-Ausgabenprofile auf die geanderte Altersverteilung der Bevolkerung anwendet (vgl. etwa PROGNOS 1998). b. die Medikalisierungs-Hypothese (vgl. etwa Kramer 1993): sie basiert auf der vielfach beobachteten Multimorbiditat alterer Patienten und sagt aus, dass neu gefundene Moglichkeiten der Bekampfung einer Krankheitsart (z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankung) das Leben des Patienten zwar verlangern, ihn aber nicht gesund machen. Es tritt schon bald ein anderes Leiden (z.B. Krebs) auf, das wieder neue Behandlungen erfordert. Nach dieser These besteht die Hauptwirkung des medizinisch-technischen Fortschritts darin, das Leben von Personen zu verlangern, die so krank sind, dass sie ohne ihn sterben wlirden. Die Folge dieser Senkung der Uberlebensschwelle sei, dass der
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9 Zukunftsprobleme des deutschen Sozialsystems
durchschnittliche Gesundheitszustand sinke. Wortlich schreibt Kramer (1993, S. 31): „Die Extrajahre verbringen wir zum groBten Teil im Krankenbett". c. die Kompressions-Hypothese: sie grundet sich auf die These, dass die in Querschnittsdaten beobachtbare Differenz in den Gesundheitsausgaben zwischen alteren und jiingeren Versicherten nicht primar die Konsequenz des Lebensalters seien, sondern mit der unterschiedlichen zeitlichen Entfernung zum Tod zusammenhingen (Fuchs 1984): In hoheren Altersgruppen befmdet sich ein groBerer Anteil von Versicherten im letzten Lebensjahr, und in dem werde - in einem vergeblichen Versuch, den Tod noch abzuwenden - tiberproportional mehr fur die Behandlung aufgewendet als in anderen Jahren. Steigt nun - sei es durch medizinischen Fortschritt oder durch gesundere Lebensweise - die Lebenserwartung, so sinken die Sterbeziffern ab, und in jeder Altersgruppe befmden sich damit weniger Personen in ihrem letzten Lebensjahr. Anders ausgedriickt, die Zeiten hoher Ausgaben am Lebensende werden auf einen geringeren Anteil der gesamten Lebenszeit komprimiert (Fries 1980). ' Wahrend also gemaB der Medikalisierungs-These eine Hochrechnung der heutigen altersspezifischen Ausgaben auf eine langerlebige zuktinftige Bevolkerung den tatsachlichen Ausgabenanstieg (auch bei konstanter Medizintechnik) unterschatzt, besagt die schwache Kompressions-These genau das Gegenteil. Die starke Kompressionsthese wiirde dartiber hinaus behaupten, dass mit einem Anstieg der Lebenserwartung aufgrund des Rtickgangs der Sterberate sogar ein Sinken der Pro-Kopf-Ausgaben verbunden ist. Fur die Medikalisierungs-Hypothese gibt es kaum empirische Evidenz. Umgekehrt steht die Kompressions-Hypothese auf einer soliden Datengrundlage: Die Steigerung der Behandlungskosten vor dem Tod ist in vielen Studien mit Daten aus verschiedenen Landern iiberzeugend belegt.2 Die empirische Evidenz zum Rtickgang der Sterbekosten im hohen Alter ist eindeutig. Lubitz u.a. (1995) zeigen, dass die Medicare-Ausgaben in den letzten zwei Lebensjahren fur 70jahrige Verstorbene um 50% hoher lagen als fur 90jahrige Verstorbene. Ahnlich fmden Busse u.a. (2002) fur eine Stichprobe aus Deutschland, dass die Anzahl von Krankenhaustagen im letzten Lebensjahr bei 55-64jahrigen Patienten am groBten ist und mit hoherem Sterbealter kontinuierlich abfallt. Diese Ergebnisse konnten auch darauf beruhen, dass Arzte in einer Art von „Rationierung nach dem Alter" dazu tendieren, lebensbedrohlich erkrankte Patienten in sehr hohem Alter nicht mehr so aggressiv zu therapieren wie jtingere Patienten mit vergleichbarem Krankheitsbild. Falls dadurch die Sterbekosten im hohen Alter wieder sinken, ware die Uberschatzung der Ausgabenentwicklung durch die Status-quo-Hochrechnung noch extremer. Wahrend es also kaum bestreitbar ist, dass die Status-quo-Hypothese den Einfluss der demographischen Alterung auf die Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben (iberschatzt, lautet die interessante Frage, wie stark diese Uberschatzung ausfallt. 2
Vgl. etwa. Lubitz und Riley (1993), Zweifel u.a. (1996), (1999), Stearns und Norton (2004), Seshamani und Gray (2004).
9.3 Herausforderung demographischer Wandel
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Ein neuer Datensatz einer Schweizer Krankenkasse erlaubt nun eine sehr viel genauere Berechnung der genannten Uberschatzung. In diesem Datensatz sind jahrliche Gesamtausgaben von tiber 91.000 Personen enthalten, vondenen ca. vier Prozent innerhalb eines Zeitraums von gut drei Jahren gestorben sind. Mittels einer Regressionsrechnung konnten Zweifel u.a. (2004) Alters-Ausgabenprofile fur Manner und Frauen getrennt nach dem LFberlebensstatus (Uberlebende versus Gestorbene) berechnen. Breyer und Felder (2006) wendeten diese Ausgabenprofile auf die oben erwahnte Altersverteilung der deutschen Bevolkerung in den kommenden Jahrzehnten unter Berticksichtigung der Sterberaten an, um die rein alterungsbedingten Ausgabensteigerung zu berechnen. Durch einen Vergleich dieser Schatzung mit einer „naiven" Status-quo-Hochrechnung war es dann moglich, die oben genannte Uberschatzung zu ermirteln. Dazu vergleichen Breyer und Felder (2006) drei alternative Szenarien: Im Szenario SI werden die altersspezifischen (durchschnittlichen) Gesundheitsausgaben des Jahres 2002 auf die prognostizierte Altersstruktur zuktinftiger Jahre angewendet. Im Szenario S2 wird eine explizite Unterscheidung zwischen den altersspezifischen Ausgaben von Menschen in ihren letzten vier Lebensjahren und denen von langer iiberlebenden Personen getroffen. Im Szenario S3 wird gemaB der Kompressionsthese unterstellt, dass auch unter den Uberlebenden die altersspezifischen Ausgaben der Zukunft um den Anstieg der Lebenserwartung nach unten adjustiert werden mtissen, da z.B. bei einer Steigerung der Restlebenserwartung eines 65jahrigen um 4 Jahre bis 2050 ein 65jahriger des Jahres 2050 so gesund sein wird wie ein 61jahriger heute. Tabelle 9-3 zeigt die hypothetischen Werte der Pro-Kopf-Ausgaben des Jahres 2002 bei einer unterstellten Demographie der Jahre 2010 bis 2050, differenziert nach den drei Szenarien. In Szenario 1 wtirden die Ausgaben bei der Altersstruktur des Jahres 2050 um 23,9% hoher liegen als bei der von 2002, und zwar bei 3.217 Euro im Jahr. Unter Beriicksichtigung der Sterbekosten ermaBigt sich dieser Anstieg auf 19,5% bzw. auf ein Niveau von 3.102 Euro im Jahr. Das Verhaltnis aus beiden Steigerungsraten betragt 0,815, d.h. ausgehend von einer naiven Hochrechnung (SI) senkt die Beriicksichtigung der Sterbekosten den Ausgabenanstieg in S2 um 18,5%, also um ein knappes Funftel. In Szenario S3 steigen die ProKopf-Ausgaben lediglich um 14% auf 2.959 Euro. Die Fehler der SlHochrechnung betragen daran gemessen tiber 40%. Tabelle 9-3: Pro-Kopf-Ausgaben 2002 und Demographie der Jahre 2010 bis 2050 DemoMit Beriicksichtigung der Fehler der naiver Naive HochrechSchatzungy in % nung letzten Lebensjahrc graphie •S3 des Jahres S2 S2 SI S3 In€ 2002=100 In€ 2002=100 In€ 2002=100 100,00 2.596 0 2.596 100,00 2002 100,00 2.596 0 103,00 2.642 51,7 103,66 2.674 2.691 18,0 2010 101,77 107,38 2.745 35,7 108,91 2.788 105,73 2020 2.827 17,2 111,45 2.798 44,7 114,05 2.894 107,78 2030 2.961 18,5 115,83 3.094 3.007 2.885 42,1 119,19 111,11 2040 17,6 3.217 3.102 119,49 2.959 41,6 123,92 113,96 2050 18,5 Quelle: Breyer und Felder (2006), S.184.
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Aus diesen Resultaten konnen wir folgendes Zwischenergebnis fur die Entwicklung der Pro-Kopf-Ausgaben bei konstanter Medizintechnik ableiten: 1. Das rein demographisch, d.h. allein durch den Anstieg der Lebenserwartung und die Zuwanderung bedingte Wachstum der Gesundheitsausgaben pro Kopf ist nicht dramatisch. 2. Die These, dass die Alterung als solche liberhaupt keinen nennenswerten Anstieg der Gesundheitsausgaben bewirkt, da die Entwicklung der individuellen Ausgaben in erster Linie durch die Nahe zum Tod bestimmt werden, findet jedoch keine Bestatigung: Die explizite Aufteilung der Ausgaben in Sterbekosten und Ausgaben fur Uberlebende reduziert den prognostizierten Anstieg nur um ein Funftel. Die zusatzliche Verschiebung der AltersAusgaben-Profile um den Anstieg der Restlebenserwartung nach rechts lasst den Fehler der „naiven" Methode um eine weiteres Funftel steigen. 3. Berticksicht man zusatzlich den medizinischen Fortschritt und unterstellt eine exogene Zunahme der Pro-Kopf-Ausgaben um 1 Prozent jahrlich, so steigen dadurch die Ausgaben je nach Szenario auf den Indexwert 219 (SI), 211 (S2) bzw. 201,5 (S3). Man erkennt daraus, dass der weitaus starkste Ausgabentreiber im Gesundheitswesen nicht der demographische Wandel ist, sondern der medizinisch-technische Fortschritt. 9.3.2.2.2 Mogliche Reformstrategien in der gesetzlichen Krankenversicherung Angesichts der prognostizierten Entwicklung der Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung und der demographischen Einflusse auf die Einnahmenseite wird seit einigen Jahren sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik intensiv liber die Notwendigkeit einer umfassenden Systemreform diskutiert. Dabei schalen sich die folgenden moglichen idealtypischen Reformstrategien heraus: 1. Effizienzsteigerung durch Rationalisierung: Es wird vielfach behauptet, im deutschen Gesundheitswesen werde auf Grund ineffizienter Strukturen ein so groBer Anteil an Ressourcen verschwendet, dass die Hebung der Effizienzreserven alleine ausreichend sei, den oben genannten Trends entgegenzuwirken und die Beitragssatze der Krankenkassen langfristig zu stabilisieren. Mogliche MaBnahmen hierzu konnten Reformen in den Vergutungssystemen oder mehr Wettbewerb zwischen Krankenkassen und zwischen den Leistungserbringern, u.a. durch mehr Vertragsfreiheit sein. Dem Erfolg dieser Strategic stehen jedoch politische Durchsetzungsprobleme entgegen. Da jede unnotige Ausgabe im Gesundheitswesen fur eine Gruppe von Leistungserbringern Einkommen bedeutet, wird diese sich daher gegen die entsprechende Ktirzung zur Wehr setzen, nicht zuletzt durch Lobby-Tatigkeit auf der politischen Buhne. Auch wenn man die Existenz von Wirtschaftlichkeitsreserven bejaht, so gehort zu ihrer Mobilisierung, dass diese von den politischen Entscheidungstragern erkannt und die notwendigen institutionellen Reformen auch - notfalls gegen den Widerstand der betroffenen Gruppe - durchgesetzt werden.
9.3 Herausforderung demographischer Wandel
319
2. Mehr Kapitaldeckung im Gesundheitswesen: Soweit der Finanzierungsengpass demographisch bedingt ist, konnte man ihm durch Bildung eines Kapitalbestands in der Krankenversicherung entgegenwirken. Als Vorbild hierfur werden die Alterungsruckstellungen in der Privaten Krankenversicherung in Deutschland genannt. Ein solcher Kapitalbestand wiirde in einer alternden Gesellschaft die Beitragssatze gegen den Effekt der immer kleiner werdenden nachfolgenden Generationen abschirmen. Auch in dieser Strategic kann man jedoch kein Allheilmittel gegen die steigenden Ausgaben im Gesundheitswesen sehen: Erstens ist innerhalb der PKV das Problem der Portability der Alterungsruckstellungen noch nicht gelost, so dass Versicherte schon nach wenigen Jahren ihren Versicherer nur noch unter groBen Verlusten wechseln konnen, was den Wettbewerb zwischen den Anbietern auf die Neukunden begrenzt. Zweitens kann die Kapitalbildung zwar die alterungsbedingten Ausgabensteigerungen abfedern, nicht jedoch die prinzipiell nicht kalkulierbaren Effekte des medizinischen Fortschritts. Drittens ist die Bildung und Bewahrung eines Kapitalbestands bei einer offentlich-rechtlichen Institution wie einer Krankenkasse immer auch durch politischen Druck gefahrdet, da Politiker in erster Linie den laufenden Beitragssatz senken wollen und zwischen diesen beide Zielen ein Konflikt besteht. SchlieBlich ist daran zu erinnern, dass der Ubergang vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren - wie in Kapitel 5 gezeigt - eine Umverteilung zwischen den Generationen und keine Pareto-Verbesserung beinhaltet und daher nicht als Effizienzsteigerung empfohlen werden kann. 3. Aufteilung des Leistungskatalogs in Grund- und Wahlleistungem Bei dieser Strategic, die auch als „explizite Rationierung" diskutiert wird, wird der im Umlageverfahren (also zu einem groBen Teil durch intergenerative Transfers) zu fmanzierende Leistungskatalog in der GKV bewusst so gesteuert, dass er trotz medizinischem Fortschritt mit einem festen Beitragssatz (von z.B. 15%) auch langfristig finanzierbar bleibt. Dazu miissen Leistungsbereiche identifiziert werden, die nicht mehr kollektiv fmanziert, sondern fur die der Einzelne gegebenenfalls eine Privatversicherung abschlieBen muss. Beispiele hierfur waren Zahnbehandlung oder die medizinische Versorgung von Unfallfolgen. Weitergehende Eingrenzungen des Leistungskatalogs - z.B. auf Behandlungsformen, die ein bestimmtes Nutzen-Kosten-Verhaltnis iiberschreiten - waren ebenfalls moglich und werden in anderen Landern auch praktiziert.3 Bei einer Nicht-Aufhahme in den Leistungskatalog konnte sich ein Patient diese Behandlung dann jedoch nur als Selbstzahler beschaffen. Eine Privatversicherung zur Abdeckung dieser Kosten lasst sich kaum organisieren, da es einem Versicherungsunternehmen kaum moglich sein dixrfte, einen kostendeckenden Tarif fur solche Behandlungsformen zu kalkulieren.
So bewertet das National Institute for Clinical Excellence (NICE) im Vereinigten Konigreich alle neuen Medikamente und Therapieformen und gibt auf der Basis ihrer KostenEffektivitat Empfehlungen uber ihre Anwendung im Rahmen des steuerfinanzierten National Health Service ab.
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4. Abschaffung der Pflichtversicherung: Die radikalste Alternative zur Losung des Finanzierungsproblems bestunde darin, die Pflichtversicherung vollkommen abzuschaffen und es jedem Burger zu iiberlassen, welche Leistungen er im Rahmen einer privaten Versicherung absichern mochte. Der Ausgleich naturbedingter Nachteile (durch hoheres Krankheitsrisiko) konnte dann im Steuersystem vorgenommen werden, in dem Burger einen Transfer erhalten konnen, wenn ihr verfugbares Einkommen nach Abzug der Versicherungspramien die Armutsschwelle unterschreitet. Diese Option ist nicht nur diejenige mit der groBten Wahlfreiheit, sondern sie wird auch den Wettbewerb zwischen den Versicherern und zwischen den Leistungserbringern intensivieren. Die Versicherungsgesellschaften sind bei der Pramienberechnung in keiner Weise eingeschrankt und werden demgemaB individuelle Risikozuschlage erheben. Der einzelne Burger muss sich gleichzeitig - angesichts einer standigen Ausweitung des medizinisch Machbaren - eigenverantwortlich entscheiden, welchen Teil seines Einkommens fur Lebensverlangerung und Gesunderhaltung ausgeben mochte. Problematisch ist an diesem Konzept vor allem der „soziale Ausgleich", da es fur Menschen mit Einkommen in der Nahe des Existenzminimums keine wirksame Grenze fur den Krankenversicherungsschutz gibt, da dieser „an der Grenze" vollstandig durch staatliche Transfers bezahlt wird. Um diesem Effekt wirksam zu begegnen, mtisste ein Grundleistungskatalog definiert werden, flir den der Einzelne staatliche Transfers beanspruchen kann. Damit ist die Strategie 4 aber kaum mehr von Strategie 3 zu unterscheiden. 5. Verbreiterung der Bemessungsbasis fur die Einnahmen der Krankenversicherung: Wahrend die zuvor genannten Reformoptionen auf die Ausgaben der GKV zielten, lassen sich andererseits auch Reformen vorstellen, die die Einnahmenbasis der GKV verbessern. Da die Pflichtmitgliedschaft in der GKV vor allem Arbeitnehmer (auBer Beamten) mit einem BruttoArbeitseinkommen unterhalb einer „Versicherungspflichtgrenze" sowie Transferempfanger berrifft, geht die Einnahmenbasis tendenziell zurtick, wenn - die Erwerbsbevolkerung durch Alterung der Gesellschaft zurtickgeht oder - der Anteil der Arbeitnehmer an den Erwerbstatigen zu Gunsten der Selbstandigen sinkt, oder - die Einkommensverteilung durch starkere Lohnspreizung ungleicher wird. Alle drei Trends sind in den vergangenen Jahrzehnten zu beobachten oder werden zumindest fur die Zukunft prognostiziert. MaBnahmen, die die negativen Auswirkungen dieser Entwicklungen fur die Einnahmebasis der GKV dampfen konnten, waren a. die partielle Finanzierung der GKV-Ausgaben durch allgemeine Steuern, zu deren Finanzierung samtliche Einkommensarten (bzw. die Konsumausgaben) herangezogen werden,
9.4Literatur
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b. die Erweiterung des Kreises der Pflichtversicherten auf weitere Personengruppen, wobei auch hier eine Verbreiterung der Bemessungsbasis der Beitrage z.B. auf samtliche Einktinfte denkbar ist („Burgerversicherung")? c. die weitestgehende Abkopplung der Beitrage vom individuellen Einkommen in Form einer „Kopfpauschale" (vgl. Kapitel 6). Diese MaBnahme hatte vor allem den Effekt, dass der Beitrag der Rentner sich nicht mehr an deren (niedrigen) Transfereinkommen orientieren wiirde, sondern dem der Arbeitnehmer nahe kame. Somit wiirde der implizite Transfer von Jung zu Alt gedampft und die Abhangigkeit der GKV-Finanzierung von der Demographic gemildert. Es verbliebe allerdings das Problem, mit welchen MaBnahmen sichergestellt werden kann, dass die Mehrzahl der Rentner iiber ein ausreichendes Einkommen verfiigt, um den (steigenden) Pro-Kopf-Beitrag zur GKV zu tragen. Ansonsten wiirden die Belastungen nur in das System des die Kopfpauschale begleitenden System des Sozialausgleichs verlagert. Gerade an diesem letzten Punkt ist ablesbar, dass die Finanzierungsprobleme der einzelnen Zweige der Sozialversicherung nicht unabhangig voneinander, sondern nur im Zusammenhang gelSst werden konnen.
9.4 Literatur Breyer, F., W. Franz, S. Homburg, R. Schnabel und E. Wille (2004), Reform der Sozialen Sicherung, Berlin u.a.: Springer. Breyer, F. und S. Felder (2006), Life expectancy and health care expenditures: A new calculation for Germany using the costs of dying, Health Policy 75: 178-186. Breyer, F. und V. Ulrich (2000), Gesundheitsausgaben, Alter und medizinischer Fortschritt: eine Regressionsanalyse, Jahrbucher fur Nationalokonomie undStatistik 220: 1-17. Busse, R., C. Krauth und F.W. Schwartz (2002), Use of acute hospital beds does not increase as the population ages: Results for a seven year cohort study in Germany, Journal of Epidemiology and Community Health 56: 289-293. Fries, J. (1980), Aging, Natural Death, and the Compression of Morbidity, New England Journal of Medicine 303: 130-135. Fuchs, V. (1984), Though much is taken: reflections on aging, health and medical care, Milbank Memorial Fund Quarterly/Health and Society 61: 143-166. Kifmann, M. (2001), Langfristige Folgen einer Einbeziehung der Selbstandigen in die gesetzliche Rentenversicherung, Konjunkturpolitik 47: 51-73. Kramer, W. (1993), Wir kurieren uns zu Tode. Die Zukunft der modernen Medizin. Frankfurt/New York: Campus. Lubitz, J.D. und G.F. Riley (1993), Trends in Medicare payments in the last year of life, New England Journal of Medicine 328: 1093-1096. Lubitz, J., J. Beebe und C. Baker (1995), Longevity and Medicare expenditure, New England Journal of Medicine 332: 999-1003. PROGNOS (1998), Auswirkungen verdnderter okonomischer und rechtlicher Rahmenbedingungen auf die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland, DRV-Schriften, Vol. 9, Frankfurt/M. OECD Labour Market Statistics 2004, http://wwwl.oecd.org/scripts/cde/default.asp OECD (2005), OECD Factbook 2005, Paris.
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Sachverzeichnis
Aaron, H. 126 Altenquotient 303-305 Altersarmut 148 Altersgrenze 116, 162, 310 flexible 162 Alterspyramide 303 Altersruhegeld 116-162 Alterssicherung, betriebliche 115 Altersversorgung 113-118, 126, 149, 155,313 Alterungsriickstellung 319 Altruismus 10, 57-58, 93, 149-155, 186-187,193,225 Analogpraparat 246 Anspruchslohn 271-280 Anwartschaftszeit 257 Apparatemedizin 218 Aquivalenz marginale 163, 169 versicherungsmathematische 163, 169 Aquivalenzprinzip 3,120-121,225, 233-235 Aquivalenzskala 49 Arbeitsangebot 127-132, 171-174, 182185,230-231,271-280,307 Arbeitslosengeld I 257-258 Arbeitslosengeld II 3, 258, 301 Arbeitslosenhilfe 259, 299 Arbeitslosenversicherung 7, 255-269 Arbeitslosigkeit 3-11,94, 126,255-271, 299-300, 309 freiwillige 273 Arbeitsnachfrage 261-268,294 Arbeitsunfahigkeit 116,211 Arbeitszeit 38, 119-122,219,228,260280 Armut 7, 14,46-53,84-87
Armutsindikator 47-48 Armutsrisiko 7, 51 Armutsschwelle 47-49, 320 Arznei- und Heilmittelbudget 245 Ausgabenprofil 315-317 B Bedarfsgemeinschaft 259 Bedurftigkeit 3, 23-25, 206, 226, 270271 Bedurftigkeitsprufung 247, 270 Beitragsbedarf 243 Beitragsbemessungsgrenze 115-117, 240 Beitragsruckgewahr 247 Beitragssatzstabilitat 241 Beitragszahlung 3-5, 115-123, 132, 169, 233,240,313 Bemessungsgrundlage 117,228-234, 314 Berufsethos 197 Beschaftigungseffekt 8 Besteuerung, nachgelagerte 118 Betriebskrankenkasse 241 BevolkerungsgroBe, optimale 285 Bevolkerungspolitik 195 Bevolkerungswachstum 125-126, 151, 180,283-293 Bezugsdauer 255-257, 270 Bildungsausgaben 160-161, 300 Borsch-Supan, A. 137 Branchen-Gewerkschaft 266 Bundeszuschuss 10, 116, 309-310 Biirgergeld 276 Burgerversicherung 233, 321 Burokratie 10
Chancengleichheit 36, 193-194
324
Sachverzeichnis
D
F
Deckungssumme 94, 109, 207-209 Demografie 8,117-126,299-321 Demokratie 114, 186 direkte 10, 174, 181, 185 representative 10, 174 Diagnosis Related Groups 245 Diskriminierungsverbot 194,226 Dividende, doppelte 309 Drehtureffekt 223
Fallpauschale 222-224, 244-245 Familienforderung 2, 270, 283-287, 297 Familienlastenausgleich 283-285 Familienpolitik 3, 283 Familienversicherung 240 Feldstein, M. 133 Fertilitatsentscheidung 290 Festbetrag 213-214,222,245 Finanzkraft 243 Fortschritt, medizinischer 9, 203, 314, 319 Frieden, sozialer 10 Friihverrentung 311-312 Fursorgeprinzip 3
E Effekt, externer 154, 194 Effektivlohn 170-172, 278 Effektivsteuersatz 278-279 Effizienz 2, 11, 46, 57, 79-80, 86, 9394, 104-114, 130, 145-155, 195, 199, 210, 221-224, 239, 271-274, 283293,308,318-319 Effizienzlohn-Theorie 86 Effizienzreserve 318 Eigentumsrecht 32, 45, 84 Einheitsrente 132 Einkommenseffekt 171-174,217,231 Einkommensteuer, negative 237, 274276 Einkommensverteilung 1, 14-16, 24, 50, 320 Einzelleistungs-Vergutung 221 Elternrente 161,289-293 Entgeltpunkte 116-117,164 Entscheidungsprozess, demokratischer 114 Epidemie 196,244 Erbanlage 94, 194 Ersatzkasse 241 Ersatzzeit (Ausfallzeit) 116, 308-309 Erwerbsbeteiligung 295, 311 Erwerbsminderungsrente 116,310 Erwerbsquote 162, 311 Ethik, philosophische 13 Existenzminimum 43-44, 205-209, 270, 320 Existenzsicherung 2, 152 Expertengtiter 196 Externalitat 66,283-284,291-294 fiskalische 291-293 psychische 57 technologische 146
G Ganztagsbetreuung 295 Geburtenrate 8,67,117,295-296 Geburtenziffer 143, 302, 306 Gefangenen-Dilemma 60-63, 268 Gegenwartspraferenz 121 Generationen, uberlappende 121, 175, 182 Generationengerechtigkeit 8, 123 Generationenvertrag 9 Gentest 94 Gerechtigkeit 2, 9-11, 13, 24, 28, 31-37, 70-71, 199,234-236,283-285 Geringqualifizierter 299-300 Gerontokratie 182-185 Gesamtvergutung 243-244 Gesetz der groBen Zahl 37, 68, 106 Gesundheitsgut 193-197,210 Gesundheitssystem 197, 210, 220, 228, 239, 247-248 Gesundheitszustand 86, 193, 199, 226, 243,315 Gewerkschaft 261-268 Gini-Koeffizient 21-23 GKV-Modernisierungsgesetz 241 Gleichgewicht, Rothschild-Stiglitz 95, 100-104, 110 Gleichheit 13-19,27,31-39,75,79 Globalisierung 8 Grenzsteuersatz 43, 236, 274-275 Grundfreibetrag 258, 275 Grundrente 169-174 Grundsicherung 121,205-210,225, 255-259, 270-276, 300
Sachverzeichnis Gut offentliches 59, 76, 84-85, 93, 193 privates 93, 193,235 Gutschein 294 H Haftpflichtversicherung 94 Hausarztsystem 247 Headcount-Index 48-53 Health Maintenance Organizations 248 Hinterbliebenenrente 115 Hinzuverdienst 274, 280 Homo Oeconomicus 149, 196-197 Honorierungssystem 221 Humankapital 36, 67, 85, 114, 159, 160, 195,217,271 I Inflationsrisiko 145, 307 Information, asymmetrische 9, 40-41, 81-83,94,98, 100-110, 198-199, 204, 256 Interessengruppe 10 Investitionsmotiv 287 Investitionsprojekt 31, 72, 80-83 K Kapitalakkumulation 125, 139, 143 Kapitaldeckungsverfahren 5, 115, 119121, 132, 143, 175-178,293,306309,319 Kapitalertrag 307 Kapitalfond 114, 119, 313 Kapitallebensversicherung 113 Kapitalmarkt 80, 114, 119-126, 139, 146-148, 163-169 perfekter 292 Kapitalrendite 144, 307 Kassenarztliche Vereinigung 243-244 Kinderbetreuung 283, 294-297 Kindererziehung 67, 116,283,287, 291-292,309 Kinderfreibetrag 283 Kindergeld 3,283,291-297 Kollektivgut 10,283 Kompressions-Hypothese 316 Konkurrenz, vollkommene 93, 259 Konsummotiv 287 Kontrahierungszwang 194,226-227
325
Kopf-Pauschale 234,321 Kostendampfung 11,212-214,220, 242-248 Kostenerstattung 241 Kostenmanagement 242 Krankengeld 228-233, 240-243 Krankenhausbehandlung 223, 241 Krankenversicherung 4-11, 109, 193214, 220-235, 241, 247, 306, 314, 318-320 gesetzliche 211-212, 217-218, 228233,239 private 199, 204-211, 234-235, 239240, 247-248, 256 Krankenversicherungsbeitrag, lohnbezogener 229 Krankheitskosten 2-4, 194, 203, 207, 225, 236, 247 Kreditsicherheit 80, 83 Kundigungsschutz 310 L Langlebigkeit 4-8,94, 113 Lebenserwartung 8, 117-118, 144, 148149, 162,248,299-318 Lebensqualitat 193, 205 Lebensrisiko 2-7, 93-94, 270 Lebensversicherung 4, 145, 307 Leibrente 113-114,255 Leistung, versicherungsfremde 241, 309 Leistungsausschluss 212,248 Leistungskatalog 226,233,241,319 Lobby-Tatigkeit 318 Lohnabschltisse, iiberhohte 269 Lohnabstandsgebot 271, 279 Lohneinkommen, Anrechnung 275 Lohnfortzahlung 223, 233 Lohnsteuer 7, 130-132, 156,228,258 Lohnsumme 125,143,163-164,293294,308,313 M Markteinkommen 2,34,281 Marktgleichgewicht 93, 110 Marktlohn 261,273 Marktversagen 9, 195, 205, 209 Maximin-Regel 28,71, 145,285-286, 308 Medianwahler 10, 180-182 Medicare 247-248,316
326
Sachverzeichnis
Medikalisierungs-Hypothese 315-316 Mehrheitsregel 174 Mindestlohn 261-265 Mindestversicherungsdauer 116 Minijob 115 Minimalstaat 32 Moral Hazard 9, 80, 94, 112, 148, 211212,221,224,253 Morbiditat 243,315 Mortalitat 312 N Nachfrage, angebotsinduzierte 217 Nachhaltigkeitsfaktor 117,308,311 Nationaler Gesundheitsdienst 210 Negativliste 245 Neidmotiv 85 Nettozuwanderung 302 Neue Politische Okonomie 174 Niveausicherungsklausel 118 Notfallmedizin 196 Nutzenfunktion 24-29, 38-39, 58, 69, 138, 150-159, 164, 167, 171, 176183, 209, 218, 229-230, 260, 266268, 277-279, 286-288 isoelastische 29-31 von Neumann-Morgenstern 24, 6878, 94, 208 Nutzensumme 285 O Objektsubvention 296 Okosteuer 309 OLG-Modell 122, 181 Optimalsteuertheorie 234 Optionswert 195 Organisation offentlich-rechtliche 4, 114, 319 privatrechtliche 4 staatliche 4, 93 Ortskrankenkasse 241 P Pareto-Verbesserung 9, 45-46, 57-62, 66, 84, 102-103, 110, 126-132, 141144,209-210,276,307,319 Pflegeversicherung 6-8, 145, 270, 306308
Pflichtversicherung 2-4, 119, 194, 198, 225, 240, 259, 320 Pharmaindustrie 245 Pigou-Steuer 76 Portability 319 Pramie, faire 95-96, 103, 200-201, 206207 Pramienrisiko 194, 199-204, 210, 247 Pramienzuschuss 225-227 Praxisgebtihr 246 Prinzipal-Agenten-Problem 80-82, 146, 197 Privatvorsorge 205, 274 Produktinnovation 314 Q Qualitatswettbewerb 223 Quersubventionierung 111 R Rationalisierung 318 Rationierung 220,316 explizite 319 Regelaltersgrenze 173,309-312 Regelleistungsvolumen 244 Rehabilitation 115,241,314 Rent Seeking 87 Rentenanspruch 123, 183, 288-290, 307 Renteneintrittsalter 11, 144, 161-162, 170-174,306,310 Rentenformel 116, 173, 291-293, 313 Rentenversicherung 4-6, 10, 93, 113121, 129-130, 136, 141-143, 148, 159-169, 174-187, 233, 240, 287, 290-293,306-314 Rentenversicherungsbeitrag 117, 165, 292 Rentenzugangsfaktor 116 Reservationslohn 260, 300 Riester-Rente 11, 117-118 Risiko, aggregiertes 260 Risikoaversion 31,94-96, 103, 107-108, 202 abnehmende absolute 78 abnehmende relative 78 Risikoneutralitat 106 Risikopool 243 Risikoselektion 223,226 Risikostrukturausgleich 227, 242, 315 Ruhestand 113, 164-167,292
Sachverzeichnis S Sachleistung 55, 294, 297, 314 Sachleistungsprinzip 241 Schadenswahrscheinlichkeit 9, 95-97, 106-110 Schleier des Nichtwissens 24, 69-71 Schocks, exogene 266 Second-Best-Optimum 109 Seibstbehalt 215 Selbstbeteiligung 212-219, 239, 245248 Selbstverwaltung 4, 115 Sicherung, soziale 4, 11 Sinn,H. 146-147 Solidargemeinschaft 243, 266 Solidaritat 194 Sozialausgleich 235-238,321 Sozialbudget 6-7, 115,283 Sozialhilfe 6, 11, 149,247-249,258259,270-279,311 bedurftigkeitsgeprtift 155-156 Sozialhilfe-Falle 273-274 Sozialkapital 85 Sozialleistungsquote 5-7 Sozialpolitik 1-10 Sozialprodukt 14, 57, 78-79, 85, 114, 125, 131, 195,272 Sozialstaatsfalle 8 Spende 60-63 Statusgut 67 Statusorientierung 63-67 Sterbekosten 316-318 Sterbeziffer 316 Steuerfmanzierung 239, 309 Steuer-Transfer-System 275, 291 Stiickelungsverbot 109 T Tariflohn 261 Teilhabeaquivalenz 117, 123, 130, 145, 187 Teilversicherung 99-103, 110 Therapiefreiheit 248 Transaktionskosten 58, 69-70, 203, 238 Transfer 3-10, 14-51, 58-70, 76-79, 87, 113, 127-128, 135, 141-143, 153156, 186-187,209,226,243,261, 274-280, 285-295, 306, 314, 319-321 Transferprinzip 14, 18,20
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Trittbrettfahrer 10, 149-152,205,209211,225 U Uberakkumulation 138-143 Umlageverfahren 5, 114-115, 121-125137, 143-144, 155, 169, 176-179, 187,291,306-309,319 Umverteilung 3-11, 31-47, 57-88, 148, 163, 169, 185-187, 225-226, 283284,312,319 Unfallversicherung 4 Ungleichheit 13-36, 48, 72, 79, 186 Ungleichheitsaversion 25-30 Unisex-Tarife 118 Unterakkumulation 140 Unterversicherung 110 V Vererbung 113, 164, 186 Vergutungsform 221-223 Vergutungssystem 318 Verhaltensrisiko 9, 94, 106-111, 148, 211,256,265 Vermogensverteilung 32, 79, 83 Versichertenkonto, fiktives 313 Versicherungsfunktion 67, 80 Versicherungsmarkt 2, 9, 93-111, 200201, 209-210, 226-227, 239, 256, 274 Versicherungspflicht 4, 110, 115, 148, 209-210, 225-227, 240, 257, 313 Versicherungspflichtgrenze 239, 320 Versicherungsprinzip 3, 200 Versicherungszeit 309 Versorgung, medizinische 193-196, 204,218,319 Verteilungspolitik 1, 31, 36-38, 46, 49 Vertragsbeziehung 221, 239 Vertragsfreiheit 318 Vertrauensguter 196 Verwaltungskosten 95, 242, 266 Verweildauer 222, 244 Volkswirtschaft geschlossene 114,125,133-138,293 offene 114, 125, 150, 185-287, 293 Vollbeschaftigung 261 Vollversicherung 98-99, 107-110,201, 206-209 Vorbeugung 85, 106-110, 194 Vorsorgeuntersuchung 247