Randall Garrett
LORD DARCY Die vollständigen Ermittlungen in Sachen Mord und Magie Ins Deutsche übertragen von Ralph T...
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Randall Garrett
LORD DARCY Die vollständigen Ermittlungen in Sachen Mord und Magie Ins Deutsche übertragen von Ralph Tegtmeier BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Fantasy Erste Auflage: August 1989 © Copyright 1966 by The Conde Nast Publications., Inc. © Copyright 1979 by Randall Garrett © Copyright 1981 by Randall Garrett All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1989 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: Too Many Magicians/Murder and Magie/ Lord Darcy Investigates Ins Deutsche übertragen von Ralph Tegtmeier Titelillustration: James Warhola Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: KCS GmbH, 2110 Buchholz/Hamburg Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-20127-2 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Band 1 Komplott der Zauberer Teil l Commander Lord Ashley, Spezialagent Seiner Majestät Reichsmarine-Nachrichtenkorps, stand in der Tür eines billigen Mietzimmers in einer von der unteren Mittelklasse bewohnten Gegend der Stadt, in der Nähe der Reichsmarinedocks von Cherbourg. Die Tür war offen, und auf dem Fußboden lag ein Mann mit einem langen Messer mit schwerem Griff in der Brust. Seine Lordschaft blickte von der Leiche hoch und betrachtete das Zimmer. Es war sehr klein; er schätzte es auf acht mal zehn Fuß, und die Decke begann knappe sechs Zoll über seinem Kopf. An der rechten Wand befand sich ein niedriges Bett. Es war gemacht, aber die Falten auf der billigen blauen Bettdecke verrieten, daß jemand darauf gesessen hatte — wahrscheinlich der Tote selbst. Ein billiger Holztisch stand in der hinteren linken Ecke, daneben befand sich ein Holzstuhl. Ein uralter, klobig aussehender Liegestuhl — wahrscheinlich gebraucht gekauft — stand an der linken Wand, nahe
bei der Tür. Am Fußende des Bettes stand ein zweiter, ähnlicher Holzstuhl: das war die gesamte Möblierung. An den grüngestrichenen Wänden hingen keine Bilder, wie es denn überhaupt keinerlei überflüssigen Zierat im Zimmer gab. Der Mann, der hier lebte, hatte dem Raum wahrlich nicht seinen persönlichen Stempel aufgedrückt. Lord Ashley blickte wieder auf die Leiche herab. Dann schloß er vorsichtig die Tür hinter sich, schritt über den Toten hinweg und sah ihn sich genau an. Er hob eine Hand hoch und fühlte nach dem Puls. Es war nichts zu spüren. Georges Barbour war wirklich tot. Seine Lordschaft trat einen Schritt zurück und betrachtete nachdenklich die Leiche. In Seiner Lordschaft Gürteltaschen befanden sich einhundert goldene Sovereigns, Geld, das dem Sonderfonds entnommen worden war, um Edelmann Georges Barbour für seine Dienste für den Marinenachrichtendienst zu entlohnen. Doch Edelmann Georges, so dachte My Lord Commander, würde dem Sonderfonds nicht länger zur Last fallen. My Lord Commander stieg über den Körper hinweg und blickte auf die Papiere, die auf dem Holztisch in der Ecke lagen. Nichts Wichtiges dabei. Nichts, was diesen Mann mit dem Nachrichtenkorps der Reichsmarine in Verbindung bringen würde. Dennoch sammelte er die Papiere ein und steckte sie in seine Jackentasche. Es gab immer noch die Möglichkeit, daß sie Informationen, dechiffriert oder in Geheimtinte, enthalten könnten. Der kleine Schrank in der rechten Ecke des Raumes, nahe bei der Tür, enthielt nur einen Satz Kleidung zum Wechseln, genau solch einen billigen Anzug wie derjenige, den der Tote trug. Nichts in den Taschen, nichts im Futter. In den beiden Schubladen des Schranks fanden sich nur Unterwäsche, Socken und andere persönliche Gebrauchsgegenstände. Wieder betrachtete er die Leiche. Dieser Vorfall mußte natürlich sofort My Lord Admiral gemeldet werden, doch gab es gewisse Dinge, die die lokalen Behörden besser nicht finden sollten. Im Raum war nichts zu entdecken. Da Barbour erst am Tage zuvor das Zimmer bezogen hatte, war es höchst unwahrscheinlich, daß er in solch kurzer Zeit ein Geheimversteck angelegt haben konnte, das der gründlichen Suche von My Lord Commander entgangen wäre. Er durchsuchte den Raum noch einmal, aber ohne Erfolg. Auch die Untersuchung des Körpers ergab nichts. Offenbar hatte Barbour also alle Informationen, die er gehabt haben konnte, bereits an Zett weitergeleitet. Sehr gut. Lord Ashley sah sich noch einmal im Zimmer um, um sicherzugehen, daß ihm nichts entgangen war. Dann verließ er den Raum und ging die enge, schwach beleuchtete Treppe hinunter. Sein Gang war forsch, fast eilig. Die Concierge, die in ihrer Kammer neben der Eingangstür saß, war eine ziemlich verschrumpelte kleine Frau, die allerdings noch sehr wache Augen besaß. Sie blickte den großen, aristokratischen Commander mit einem Lächeln an, das ebensosehr glänzte wie ihre Augen. »Aye, Sir? Was kann ich für Euch tun?« »Ich habe recht traurige Botschaft für Euch, Edelfrau«, sagte My Lord ruhig. »Einer Eurer Mieter ist tot. Wir werden sofort einen Wachmann
rufen müssen.« »Tot? Wer denn? Ihr meint doch nicht etwa Edelmann Georges, edler Sir?« »Eben diesen«, sagte Seine Lordschaft. Er hatte der Concierge wenige Minuten zuvor mitgeteilt, daß er Barbour besuchen wolle. »Hat er ungefähr in der letzten halben Stunde irgendwelchen Besuch empfangen?« Die Leiche, so sagte sich My Lord Commander, war noch warm, das Blut noch nicht geronnen. Barbour konnte auf keinen Fall länger als eine halbe Stunde tot gewesen sein. »Besuch?« Die alte Frau blinzelte, offenbar um ihre Gedanken zu sammeln. »Außer Euch, Sir, habe ich keinen Besucher gesehen. Ach ja! Es mag sein, daß ich ihn vielleicht gar nicht sehen konnte. Ich war ein paar Minuten fort, nur wenige Minuten. Ich ging in das Geschäft von Edelmann Fentner, dem Tabakhändler, um ein wenig Schnupftabak, allwo die einzige Art Tabak ist, dem ich frone.« Commander Lord Ashley sah sie scharf an. »Wann genau seid Ihr gegangen, und wann seid Ihr zurückgekehrt, Edelfrau? Es mag von größter Bedeutung sein, die genaue Zeit zu wissen.« »Nun . . . nun . . . kurz bevor Ihr kamt war's, edler Sir«, sagte die alte Frau recht nervös. »Als ich wiederkehrte, da hörte ich die Glocke von St. Denys die Dreiviertelstunde schlagen.« Lord Ashley sah auf seine Uhr. Es war eine Minute nach elf. »Der Mann muß gewartet haben, bis er Euch gehen sah. Dann kam er herauf und ging wieder, bevor Ihr wiederkamt. Wie lange wart Ihr fort?« »Nur so lange wie es braucht, zur Ecke zu gehen und zurück, Sir. Ich liebe es nicht, tagsüber lange fernzubleiben, wenn die Tür nicht abgeschlossen ist.« Sie hielt inne und runzelte nachdenklich die Stirn. »Wer war's denn, allwo hochgegangen und zurückgekehrt sein soll, Sir?« »Wer immer es gewesen sein mag«, sagte My Lord Commander, »er stach Euren Mieter Georges Barbour, stach ihm mitten ins Herz. Er wurde ermordet, Edelfrau, und darum müssen wir unverzüglich einen Wachmann rufen.« Die arme Frau war jetzt völlig erschüttert, und Lord Ashley begriff, daß sie wohl kaum von Nutzen sein würde, wenn die Wachmänner kamen. Er war froh, daß er sie nach möglichen Besuchern gefragt hatte, bevor er erwähnt hatte, daß es sich bei dem Tod um einen Mord gehandelt hatte. Andernfalls wäre ihr die wertvolle Aussage gewiß entfallen. »Setzt Euch, Edelfrau«, sagte er in freundlichem Ton. »Sammelt Euch, es gibt nichts zu befürchten. Ich werde mich um die Wachmänner kümmern.« Während sie in ihrem überpolsterten Sessel förmlich zusammenbrach, ging Lord Ashley auf die Außentür zu und öffnete sie. Er hörte die schrillen Stimmen von spielenden Jungen draußen. Aufgrund seiner jahrelangen Marineausbildung war es für My Lord Commander ein leichtes, den Bengel auszumachen, der offenbar der Anführer der kleinen Gruppe war. »He, mein Junge!« rief er ihm zu. »Du, Junge, mit der grünen Mütze! Willst du dir einen Sechser verdienen?«
Der Junge blickte auf, und ein Lächeln überzog seine etwas schmutzigen Züge. »O ja, My Lord!« sagte er und riß die ziemlich verblichene Mütze von seinem Kopf. »Sehr gern, My Lord!« Er wußte gar nicht, ob der Mann, der ihn angespochen hatte, tatsächlich ein Lord war oder nicht, doch war es auf jeden Fall ein Gentleman, und einen Gentleman sprach man immer mit >My Lord< an, wenn es etwas zu verdienen gab. Die anderen Jungen wurden plötzlich still, offenbar in der Hoffnung, daß sie vielleicht auch ein wenig Geld bekommen würden von diesem anscheinend begüterten Gentleman. »Nun gut denn«, sagte Lord Ashley forsch. »Hier ist ein Zwölfer. Wenn du binnen fünf Minuten mit einem Wachmann hierher zurückkehrst, werde ich dir noch einen geben.« »Einen . . . einen Wachmann, My Lord?« Es war offensichtlich, daß er sich keinen Grund denken konnte, warum ein geistig gesunder Mensch einem Wachmann näher als tausend Yards sein wollte. »Jawohl, einen Wachmann«, sagte Lord Ashley mit einem feinen Lächeln. »Sage ihm, daß Lord Ashley, ein Offizier des Königs, seinen sofortigen Beistand wünscht, und dann führe ihn hierher. Hast du verstanden?« »Jawohl, My Lord Ashley! Ein Offizier des Königs, My Lord! Jawohl!« »Sehr gut, mein Junge. Und nun zu euch anderen. Hier habt ihr jeder einen Zwölfer. Wenn ihr auch in fünf Minuten mit einem Wachmann zurückkehrt, bekommt ihr ebenfalls einen weiteren Zwölfer. Und wer zuerst zurückkommt, bekommt noch zusätzlich einen Sechser. Nun lauft los, ab mit euch!« Sie liefen wie der Wind. l An diesem Nachmittag trafen sich um halb drei in einem komfortablen, klubähnlichen Raum im Hauptquartiergebäude der Admiralität Seiner Majestät Reichsmarinestützpunkt Cher-bourg drei Männer. Commander Lord Ashley saß groß, aufrecht und entspannt, sein leicht gewelltes braunes Haar war glatt gebürstet, seine Uniform war makellos. Erst zwanzig Minuten zuvor hatte er die Uniform angezogen, nachdem ihm der Lord Admiral mitgeteilt hatte, daß dies zwar nicht unbedingt ein förmliches Treffen war, Zivilkleidung aber weniger sei als die königsblaue und goldene Uniform eines voller! Commanders. Lord Ashley sah nicht besonders gut aus; sein eckiges Gesicht war dafür vielleicht ein wenig zu rauh und verwittert. Doch verehrten die Frauen ihn, und Männer bewunderten das Gefühl von Entschlossenheit, das seine Gesichtszüge vermittelten. Seine Augen waren grau-grün und braungefleckt, und hatten den Ausdruck eines Seemanns — so als blicke Lord Ashley stets auf irgendeinen fernen Horizont, um Sturmzeichen zu entdecken. Lord Admiral Edwy Brencourts Augen hatten den gleichen Ausdruck, doch war er etwa fünfundzwanzig Jahre älter als Lord Ashley, obwohl sein Haar auch mit zweiundfünfzig Jahren nur an den Schläfen leicht ergraut war. Seine Uniform, ebenso königsblau wie die des Commanders, war ein wenig mehr verknittert, da er sie bereits seit
dem Morgen trug, doch wurde dies zum Teil durch die zusätzlichen Goldstreifen wettgemacht, die seine Manschetten und Schulterklappen glitzernd verzierten. Verglichen mit all diesem Glanz erschien die schwarzsilberne Uniform des Obersten Waffenmeisters Henri Vert, Chief der Wachmannsbehörden von Cherbourg, eher einfach und schmucklos, obwohl sie meistens als recht imposant galt. Chief Henri war ein zäh aussehender Fünfziger von schwerem Körperbau, der das Aussehen und das Betragen eines etwas verfetteten Kämpfers hatte. Chief Henri sprach als erster. »My Lords, hinter diesem Mord muß mehr stecken, als es zunächst den Anschein hat. Zumindest mehr, als ich dahinter erkennen kann.« Er sprach das Anglo-Französische mit einer peinlichen Genauigkeit aus, die verriet, daß es nicht seine Muttersprache war. Er hatte viele Jahre darauf verwendet, den Akzent des einheimischen patois loszuwerden, der seine niedrige Herkunft verriet, doch war ihm sein Bemühen, korrekt zu sprechen, immer noch anzumerken. Er blickte My Lord Admiral an. »Wer war dieser George Barbour, Euer Lordschaft?« My Lord Admiral nahm die Brandykaraffe von dem flachen Tisch, um den die drei saßen, und schenkte sorgfältig drei Gläser ein, bevor er antwortete. »Chief Henri, Ihr versteht, daß dieser Fall durch die Tatsache verkompliziert wird, daß er den Marinegeheimdienst berührt. Nichts von dem, was in diesem Raum gesprochen wird, darf nach außen dringen.« »Selbstverständlich nicht, My Lord«, sagte Chief Henri. Er wußte sehr gut, daß dieser Teil der Admiralitätsbüros durch mächtige und teure Zauber sorgfältig geschützt war. Seiner Majestät Streitkräfte hatten einen Sonderetat, um sich die Dienste der mächtigsten Experten auf diesem Gebiet zu sichern. Magier, die einen hohen Rang in der Hexergilde innehatten. Diese Zauber waren viel kräftiger als die üblichen kommerziellen Zaubereien, die einem in Hotels und Privatwohnungen das Alleinsein und Ungestörtsein garantierten. Solch eine Taktik war wegen der internationalen Lage notwendig. Das letzte halbe Jahrhundert über hatten die Könige von Polen einen bemerkenswerten Ehrgeiz gezeigt. Im Jahre 1914 hatte König Sigismund III damit begonnen, eine Serie von Annexionen durchzuführen, die Stück um Stück den russischen Staaten Gebiet entrissen, so daß er bald das ganze Territorium zwischen Minsk und Kiew beherrschte. Solange Polen gegen Osten strebte, hatte das Anglo-Französische Reich dagegen nichts einzuwenden. Das Herrschaftsgebiet des Reichs hatte sich in der Neuen Welt rapide ausgedehnt, und Asien schien damals noch sehr fern zu sein. Doch Sigismunds Sohn, König Casimir IX, hatte Probleme mit seinem Quasi-Reich. Er wagte es nicht, weiter nach Osten vorzudringen. Die russischen Staaten hatten in den frühen dreißiger Jahren einen losen Bund errichtet, und der König von Polen beendete seinen Vormarsch. Sollten sich die Russen jemals tatsächlich vereinen, so wären sie ein ernstzunehmender Feind. Nun blickte Casimir IX nach Westen auf die deutschen Staaten, die so lange ein Puffer zwischen Polen und den anglo-französischen Grenzen gewesen waren. Aufgrund der Politik des Tauziehens zwischen Polen und dem Reich hatten die Deutschländer ihre eigene Unabhängigkeit bewahren können. Wollten Casimirs Truppen beispielsweise in Bayern einmarschieren, so würde
Prinz Reinhard VI das Reich um Hilfe bitten, die er auch prompt erhalten würde, wollte jedoch andererseits King John IV auch nur einen einzigen Sovereign Steuer in Bayern eintreiben, so rief Seine Hoheit von Bayern ebenso lauthals um polnische Hilfe. Da seine ehrgeizigen Pläne augenblicklich nicht verwirklicht werden konnten, versuchte Casimir statt dessen, so gut er konnte, das Anglo-Französische Reich zu zerbrechen, es bis zur Hilflosigkeit zu schwächen, bevor er versuchen konnte, die Deutschländer mit Waffengewalt zu erobern. Das war jedoch kein leichtes Unterfangen. Seit der Zeit von Henry II im zwölften Jahrhundert war das Reich zu einer wachsenden, funktionierenden, dynamischen Kraft geworden. Henrys Sohn, Richard Löwenherz, hatte das Reich zwar in den ersten zehn Jahren seiner Herrschaft vernachlässigt, doch hatte ihn seine knappe Rettung vor dem Tode bei der Belagerung von Chaluz grundlegend verändert. Die lange, fiebrige Infektion, von einem Armbrustbolzen verursacht, hatte in ihm einen Persönlichkeitswandel bewirkt. So regierte Richard I in den folgenden zwanzig Jahren geschickt und weise. Sein Neffe Arthur war drei Jahre nach dem Tod des verbannten Prinzen John 1219 zum König gekrönt worden und setzte die Politik seines Vaters sogar noch erfolgreicher fort. Er war als >Der Gute König Arthur< in die Geschichte eingegangen und wurde im Volksbewußtsein sehr häufig mit dem früheren König Artus im sechsten Jahrhundert gleichgesetzt. Seitdem hatte die Dynastie der Plantagenets, mit Diplomatie wenn möglich, mit dem Schwert wenn nötig, ein Reich aufgebaut, das jetzt schon fast zweimal so lange bestand wie das Römische Reich, ohne irgendwelche Zeichen des Verfalls zu zeigen. Casimir IX konnte sein Heer nicht einsetzen, und seine Marine war im Baltikum eingeschlossen. Keine polnische Flotte konnte die Nordsee passieren, ohne Schwierigkeiten entweder mit der Reichsmarine oder mit der Marine der skandinavischen Verbündeten des Reichs zu bekommen. Die Nordsee und das westliche Baltikum standen unter reichs-skandinavischer Oberhoheit. Polnische Handelsschiffe durften sie nur passieren, nachdem sie nach Waffen untersucht worden waren. Im Jahre 1939 hatte König Casimir versucht, diese Blockade zu durchbrechen; dafür war ihm seine Flotte aus dem Wasser gefegt worden. Nochmals würde er das kaum versuchen. Statt dessen war König Casimir zu einer anderen Form der Kriegsführung übergegangen — Sabotage, heimtückische Formen des Terrorismus, Wirtschaftskrisen, die durch ränkereiche und hinterrücks ins Gefecht geführte Methoden bewirkt wurden, sowie tausend andere Arten der subtilen Unterwanderung. Bisher hatte er keinen wirklichen Schaden anrichten können, seine Vorstöße hatten sich als bloße Nadelstiche erwiesen. Doch war es nur die Wachsamkeit des Reichs und der Offiziere des Königs gewesen, die seine Versuche bisher zum Scheitern brachte. Admiral Brencourt verschloß die Brandykaraffe sorgfältig, bevor er weitersprach. »Ich fürchte, ich muß mich bei Euch entschuldigen, Chief Henri. Meinen Anweisungen folgend, hat Commander Lord Ashley dem zivilen Wachsergeanten, der ihn heute morgen verhörte, einige Informationen vorenthalten. Das geschah natürlich aus Sicherheitsgründen. Ich habe ihn jedoch autorisiert, Euch die ganze Geschichte zu erzählen. My Lord, ich darf bitten . . .« Lord
Ashley nippte an seinem Brandy. Chief Henri wartete respektvoll darauf, daß er zu sprechen anfangen würde. Er wußte, daß einige Fakten immer noch ausgelassen würden, daß Lord Ashley Instruktionen erhalten hatte, welche Details er preisgeben und welche er verheimlichen solle. Dennoch würde die Geschichte wesentlich detaillierter werden, als er sie bisher kennengelernt hatte. Lord Ashley senkte sein Glas und stellte es ab. »Gestern morgen«, begann er, »Montag, den 24. Oktober, erhielt ich ein versiegeltes Spezialpaket aus dem Büro des Lord Hochadmirals in London. Meine Befehle lauteten, daß ich das Paket heute morgen Admiral Brencourt aushändigen sollte. Ich fuhr mit der Bahn von London nach Dover und gelangte mit einem Sonderkurierboot der Marine über den Kanal nach Cherbourg. Als ich ankam, war es fast Mitternacht.« Er hielt inne und sah Chief Henri offen ins Gesicht. »Ich möchte darauf hinweisen, daß ich My Lord Admiral das Paket sofort ausgehändigt hätte, wenn meine Befehle auf >Sehr Eilig< gelautet hätten; egal wie spät es geworden wäre. Doch sollte ich ihm das Paket erst heute morgen überreichen. Ich gebe Euch mein Wort, daß ich das Paket nicht aus den Augen gelassen habe, und daß es in der Zeit zwischen meiner Inempfangnahme und dem Erhalt des Pakets durch My Lord Admiral nicht geöffnet worden ist.« »Das kann ich bestätigen«, sagte Admiral Brencourt. »Wie Ihr wißt, Chief Henri, verhängen die Hexer unserer Admiralität Schutzzauber über die Umschläge und Siegel solcher Pakete. Es sind dies Zauber, die zwar nicht unbedingt verhindern, daß diese Pakete durch Unbefugte geöffnet werden können, die aber gewährleisten, daß dies nicht unbemerkt geschehen kann.« »Ich verstehe, My Lord«, sagte der Oberste Waffenmeister. »Euer Hexer hat das Paket also überprüft.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Genau«, sagte der Admiral. »Fahrt fort, Commander!« »Danke, My Lord«, sagte Lord Ashley. Dann wandte er sich an Chief Henri. »Ich verbrachte die letzte Nacht im Hotel Queen Jeanne. Heute morgen um neun händigte ich My Lord Admiral das Paket aus.« Er sah den Admiral an und wartete. »Ich öffnete das Paket«, sagte Admiral Brencourt sofort. »Das meiste von dem, was es enthielt, hat mit diesem Fall nichts zu tun. Es war jedoch auch eine Anweisung enthalten, die ich Lord Ashley übergeben sollte. Darin wurde ihm aufgetragen, eine bestimmte Geldsumme einem gewissen Georges Barbour zu überbringen. Das war das erste Mal, daß sowohl Lord Ashley als auch ich von Georges Barbour erfuhren.« Er blickte wieder Lord Ashley an und forderte ihn auf, fortzufahren. »Meinen Befehlen zufolge«, sagte Lord Ashley, »sollte ich das Geld sofort zu Barbour bringen, der scheinbar ein Doppelagent war. Offiziell arbeitete er für Seine Slavische Majestät Casimir von Polen, in Wirklichkeit jedoch für den Marinegeheimdienst der Reichsmarine. Das Geld sollte zwischen fünfzehn Minuten vor elf und fünfzehn Minuten nach elf überreicht werden. Ich kam an den angegebenen Ort, sprach mit der Concierge, ging nach oben und fand die Tür angelehnt. Ich klopfte, und die Tür öffnete sich weiter. Auf dem Boden liegend sah ich Georges Barbour. Ein Messer steckte in seinem Herzen.« Er hielt ein und spreizte die Hände. »Ich war von dieser Entwicklung natürlich überrascht, aber ich mußte meine Pflicht erfüllen. Ich nahm seine
persönlichen Papiere, die auf dem Pult lagen, an mich und durchsuchte den Raum. Die Papiere wurden dem Admiral übergeben.« »Ihr müßt verstehen, Chief Henri«, sagte Admiral Brencourt, »daß die Möglichkeit bestand, daß sich in einigen dieser Papiere geheime oder verschlüsselte Botschaften befanden. Das war jedoch nicht der Fall, und die Papiere werden Euch ausgehändigt werden. Lord Ashley wird Euch beschreiben, welches Stück wo im Raum gelegen hat.« Chief Henri sah den Commander an. »Würdet Ihr möglicherweise so freundlich sein, einen schriftlichen Bericht einzureichen mit einer Skizze, wo die Papiere und so weiter gelegen haben?« Er war zwar ziemlich verärgert über die anmaßende Art und Weise, mit der die Marine das Beweismaterial eines Mordfalls behandelte, aber er wußte auch, daß er nichts daran ändern konnte. »Es wird mir eine Freude sein, einen solchen Bericht vorzubereiten«, sagte Lord Ashley. »Danke, Euer Lordschaft. Eine Frage: Waren die Papiere auf irgendeine Weise in Unordnung gebracht worden, verstreut vielleicht?« Der Commander runzelte beim Nachdenken leicht die Stirn. »Nicht verstreut, nein. Das heißt, sie schienen nicht willkürlich in der Gegend verteilt worden zu sein. Aber sie befanden sich nicht alle auf einem Stapel. Ich würde sagen, daß sie ... eh ... säuberlich in Unordnung gebracht worden waren, wenn Sie verstehen, was ich meine. Als ob Barbour sie durchsucht hätte.« »Oder als ob jemand anderes sie durchsucht hätte«, sagte der Chief nachdenklich. »Ja, das ist natürlich möglich«, stimmte der Commander zu. »Doch hätte der Mörder Zeit dafür gehabt, Barbours Papiere zu durchsuchen?« »Angenommen«, sagte der Chief langsam, »es gab ein einzelnes Papier, oder einen Satz davon, hinter dem der Mörder her war. Und ferner angenommen, daß er genug darüber wußte, um diese Papiere sofort zu erkennen. Dann hätte er doch allenfalls ein paar Sekunden gebraucht, um sie zu finden, nicht wahr?« Der Commander und der Admiral sahen einander an. »Ja«, sagte der Commander nach einem Augenblick, »das könnte sein.« »Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, um was für Papiere es sich dabei gehandelt haben könnte?« fragte Chief Henri mit verräterischem Desinteresse. »Nein«, sagte My Lord Admiral mit Bestimmtheit. »Und ich gebe Euch mein Wort, daß ich nichts verberge. Unser Büro hatte noch nicht einmal von Barbours Existenz gewußt. Wir haben keinerlei Ahnung, was er eigentlich tat oder mit welcher Art Papiere er zu tun hatte. Dies war das erste Mal, daß wir von ihm erfuhren, und aus London haben wir nichts weiteres erfahren. Bisher weiß London ja noch nicht einmal, daß er tot ist. Eines Tages mag irgendein Hexer eine Möglichkeit finden, Teleklang-Linien über den Kanal zu bekommen, doch bis dahin müssen wir uns auf Kurierbotschaften verlassen.« »Ich verstehe«, sagte Chief Henri und rieb sich etwas nervös die Hände. »Ich gehe davon aus, daß Euer Lordschaften Verständnis dafür haben, daß ich meine Pflichten erfüllen muß. Es ist ein Mord begangen worden. Er muß aufgeklärt werden. Ich bin dazu verpflichtet, alles zu unternehmen, den Mörder zu ermitteln und ihn der Justiz zu überstellen. Es gibt gewisse Maßnahmen, die ich von Gesetzes wegen einleiten muß.« »Das ist uns völlig klar, Chief Henri«, sagte der Lord Admiral. _Der Chief trank seinen Brandyrest
aus. »Zur gleichen Zeit haben wir auch nicht vor, die Marine in irgendeiner Weise zu behindern. Ebensowenig wollen wir selbstverständlich Informationen der Öffentlichkeit preisgeben, die den Feinden unseres Landes von Nutzen sein könnten.« »Selbstverständlich«, stimmte der Lord Admiral zu. »Aber dieser Fall ist schwierig«, fuhr Chief Henri fort. »Wir wissen dank der Aussage der Concierge auf zehn Minuten genau, wann der Mord verübt wurde. Wir wissen, daß Barbour die Nacht in diesem Raum verbracht hat, diesen Morgen um ungefähr fünf Minuten vor zehn fortging und um ungefähr zwanzig nach zehn wiederkehrte. Alle anderen Bewohner hatten das Haus viel früher verlassen, da sie berufstätig sind. Im Gebäude befand sich niemand außer Barbour und der Concierge. Aber in diesem Fall gibt es fast keine Spuren. Wir kennen Barbour nicht. Wir wissen nicht, wen er gekannt haben könnte, mit wem er sich getroffen haben mag oder mit wem er zu tun hatte. Wir haben keinerlei Ahnung, wer das recht gewöhnliche Messer besessen haben könnte, mit dem er ermordet wurde. Wenn man bei all dem auch noch die internationalen Verwicklungen dieser Angelegenheit berücksichtigt, dann muß ich zugeben, daß mir dieser Fall zu hoch ist. Das Gesetz ist in diesem Fall sehr eindeutig: Ich bin gezwungen, die Untersuchungsbehörde Seiner Königlichen Hoheit in Rouen zu benachrichtigen.« Admiral Brencourt nickte. »Das ist völlig klar. Selbstverständlich wäre jeder aus Seiner Hoheit Behörden von Nutzen. Können wir Euch noch auf irgendeine andere Weise behilflich sein?« »Möglicherweise schon, My Lord Admiral. Vermutlich weiß man in London mehr über diesen Barbour. Wenn es kein Bruch der Sicherheitsbestimmungen sein sollte, würde ich gern so viel wie möglich über ihn erfahren. Ich hätte gerne mehr Informationen aus London.« »Ich werde gerne sehen, was sich machen läßt, Chief Henri«, sagte der Lord Admiral. »Lord Ashley kehrt binnen Stundenfrist nach England zurück. Selbstverständlich muß das Büro des Lord Oberadmirals sofort über diese Entwicklung unterrichtet werden. Ich werde einen Brief schreiben, der um die von Euch gewünschten Informationen bittet.« Unwillkürlich grinste Chief Henri. »Potztausend! Lord Darcy irrt sich nie!« »Darcy?« My Lord Admiral hob die Augenbrauen. »Ich weiß nicht . . . Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Chefinspektor Seiner Hoheit. Er löste doch letztes Jahr den Fall hier in Cherbourg, nicht wahr? Die Angelegenheit um den >Atlantischen Fluch<.« Chief Henri hüstelte verhalten. »Ich kann das bestätigen, My Lord Admiral. Einzelheiten darf ich allerdings nicht preisgeben.« »Natürlich, selbstverständlich. Aber warum sagt Ihr, daß er sich nie irrt?« »Nun«, sagte Chief Henri unerschüttert, »ich habe es jedenfalls noch nie erlebt, daß er sich geirrt hätte. Als ich in Rouen vorsprach, um seiner Lordschaft den Mord zu melden, sagte er mir, daß er nicht sofort kommen könne, und daß er statt dessen seinen Stellvertreter, Sir Eliot Meredith, herschicken werde, um die Angelegenheit zu leiten, bis er selber käme. Er meinte auch, daß Ihr praktisch sofort einen Kurier nach London schicken würdet, und er fragte mich, ob ich nicht vielleicht die Güte haben würde, wie er sich ausdrückte, My Lord Admiral darum zu fragen, ob der Kurier vielleicht eine besondere
Nachricht für ihn überbringen könne.« Lord Admiral Brencourt lachte vergnügt in sich hinein. »Ein scharfsinniger Herr, Lord Darcy, das muß man ihm lassen. Wie lautet die Botschaft?« »Lord Darcys oberster Gerichtshexer, Master Sean O Lochlainn, nimmt soeben an einem Kongreß im Royal Steward Arms in London teil. Er hätte gern, daß Ihr ihm die Nachricht zukommen laßt, daß er in die Normandie zurückkehren soll und sich sobald wie möglich in Cherbourg einfinden möchte.« »Selbstverständlich«, sagte der Lord Admiral freundlich. »Wenn Ihr den Brief schreiben wollt, Lord Ashley wird ihn bei seiner Ankunft abgeben. Das Royal Steward ist nicht weit von den Admiralitätsbüros entfernt.« »Danke«, sagte Chief Henri. »Das Postpaket wird Cherbourg nicht vor heute abend verlassen, und der Brief würde nicht vor dem späten morgigen Nachmittag zugestellt werden. So kann man eine Menge Zeit sparen. Könnte ich wohl Schreibstift und Papier haben?« »Aber bitte, bedient Euch!« Chief Henri tauchte den Schreibstift des Admirals ins Tintenfaß und begann zu schreiben. Sean O Lochlainn, Hexenmeister, Mitglied der Königlichen Thaumaturgischen Gesellschaft und Oberster Gerichtshexer Seiner Königlichen Hoheit Richard, Herzog der Normandie, war entsetzlich wütend und versuchte, es sich möglichst nicht anmerken zu lassen. Daß dieser Versuch sehr erfolgreich war, lag fast ausschließlich an seinem jahrelangen Training als Justizbeamter. Wäre seinem irischen Blut freie Bahn gelassen worden, so wäre es zweifellos übergekocht. Doch ein Hexer muß vor allen Dingen Kontrolle über seine eigenen Gefühle besitzen. Er war auf niemand anderen wütend, am wenigstens auf sich selbst. Er war wütend auf das Schicksal, auf den Zufall — recht armselige Zielscheiben für die eigene Wut, wenn man ihr freien Lauf gestattete. Folglich kanalisierte Master Sean seine Wut und erlaubte ihr, sich als angenehmes Lächeln und als angenehmes Benehmen zu äußern. Doch hielt ihn das nicht davon ab, über den Aufsatz nachzudenken, den er sechs Monate lang vorbereitet hatte, nur um dann damit konfrontiert zu werden, daß ihm jemand zuvorgekommen war. So dachte er mehr darüber nach als über das, was Seine Lordschaft der Bischof von Winchester gerade sagte. Seine Augen wanderten über die Menge in der Hauptausstellungshalle, während die Stimme des Bischofs — der ein ausgezeichneter Thaumaturge und Heiler, aber auch ein entsetzlicher Langeweiler war — in seinem rechten Ohr so weit dröhnte, daß er gerade genug Aufmerksamkeit für die bischöflichen Ausführungen aufbrachte, um »Jawohl, My Lord« oder »In der Tat, My Lord« zu murmeln, wann immer dies angezeigt sein mochte. Die meisten Männer und Frauen in der Halle trugen die den Hexern und Hexen angemessene hellblaue Kleidung, doch waren unter ihnen auch viele Flecken von kirchlichem Schwarz und einige von bischöflichem Purpur zu erblicken. In der einen gegenüberliegenden Ecke unterhielten sich vier bärtige Heiler in Rabbinerkleidung mit dem Erzbischof von York, dessen flauschiges weißes Haar eine Wolke um seine purpurne Schädelkappe zu bilden schien. In der Nähe der Tür stand ein etwas verloren wirkender Marineoffizier, ein Commander, in voller Ausgehuniform, mit
goldenen Litzen und einem dünnen, schmalschneidigen Paradesäbel mit vergoldetem Griff. Master Sean überlegte kurz, warum wohl ein Marineoffizier hier sei; um ein Referat zu halten oder als Gast? Seine Aufmerksamkeit wanderte hin zum botanischen Teil der Ausstellung. Er meinte, den Rücken des Mannes wiederzuerkennen, der vor einer Reihe eingetopfter Krauter stand. »Ich frage mich, was der hier will!« murmelte er unwillkürlich. »Hm?« sagte der Bischof von Winchester. »Wer?« »Oh! Ich bitte um Verzeihung. Ich dachte, ich habe einen Kollegen meines Meisters, Lord Darcy, erkannt, aber ich bin mir nicht sicher, denn er wendet mir den Rücken zu.« »Wo denn?« fragte My Lord der Bischof und drehte seinen Kopf herum. »Da drüben, bei den botanischen Ausstellungsstücken. Ist das nicht Lord Bontriomphe, Chefinspektor von London? Er sieht fast so aus.« »Ja, ich glaube auch. Der Marquis von London züchtet seltene und exotische Kräuter, wie Sie vielleicht wissen. Sehr wahrscheinlich hat er Bontriomphe hierher geschickt, um sich die Ausstellungsstücke anzusehen. My Lord der Marquis verläßt seinen Palast nur selten, wißt Ihr! Ach je! Wie spät es schon ist! Es ist ja schon nach neun! Ich wußte ja gar nicht, daß es schon so spät ist! Um zehn muß ich eine Ansprache halten, und ich habe doch Pater Quinn, meinem Heiler, versprochen, ihn vorher kurz aufzusuchen. Ihr müßt mich entschuldigen, Master Sean!« »Aber natürlich, My Lord. Es war mir eine Freude!« Master Sean nahm die ausgestreckte Hand und verneigte sich, den Ring küssend. »In der Tat, Master Sean, es war sehr aufschlußreich. Guten Tag!« »Guten Tag, My Lord!« Heiler, heile dich selbst, dachte Master Sean trocken. Dieser Satz war auch noch gültig, nachdem die Heiler sich nicht mehr länger auf die >Medizin< und >Physik< verließen, um ihre Patienten zu kurieren. Als jenes brillante Genie, St. Hilary Robert, im vierzehnten Jahrhundert die Gesetze der Magie ausgearbeitet hatte, konnten >Blutegelsetzer< und >Mediziner< vom Kirchturm des kleinen englischen Klosters Walsingham, wo St. Hilary lebte, ihre eigenen Totenglocken vernehmen. Nicht jeder konnte diese Gesetze anwenden-, nur wer das Talent dazu hatte. Doch war die Zeremonie des >Auflegens der Hände< von jener Zeit an ebenso zuverlässig geworden, wie sie vorher zufällig gewesen war. Aber es war natürlich immer noch leichter, den Splitter im Auge des Nächsten zu sehen, ohne den Balken im eigenen Auge wahrzunehmen. Davon abgesehen war My Lord von Winchester ein sehr alter Mann, und die beiden Beschwerden, die nach wie vor nicht heilbar waren, waren das Alter und der Tod. Master Sean blickte wieder auf die botanischen Ausstellungsstücke. Doch Lord Bontriomphe war verschwunden, während der Bischof sich verabschiedet hatte, und so sehr er sich bemühte, der kleine dicke irische Hexer konnte den Chefinspektor von London nirgendwo in der Menge erkennen. Der Dreijährliche Kongreß der Heiler und Hexer war eine Veranstaltung, auf die sich Master Sean jedesmal wieder gefreut hatte, doch dieses Mal war ihm die Freude recht schlimm versauert worden. Daß ein Aufsatz, für den man drei Jahre der Forschung und sechs Monate des Schreibens geopfert hat, plötzlich von der Arbeit eines anderen vorweggenommen wird, ist nicht eben eine Erfahrung, die zu übermäßiger Freude verleitet. Aber da kann man wohl nichts machen, dachte Sean O
Lochlainn. Außerdem war Sir James Zwinge genauso bestürzt darüber gewesen wie er selber. »Ah! Guten Morgen, Master Sean! Ihr habt doch wohl gut geschlafen, wie ich hoffe?« Die forsche, recht trockene Stimme kam von Master Seans Linken. Er drehte sich schnell um und machte eine mittlere Verbeugung. »Guten Morgen, Großmeister«, sagte er freundlich. »Ich habe ausreichend gut geschlafen, ich danke Ihnen. Und Ihr selbst?« Master Sean hatte nicht gut geschlafen, und der Großmeister wußte nicht nur, daß dem so war, er wußte auch warum. Doch nicht einmal Master Sean O Lochlainn wollte sich mit Sir Lyon Gandolphus Grey, K.G.L., M.S., Th.D., F.R.T.S., Großmeister der Alten Überlieferten und Hochehrwürdigen Gilde der Hexer anlegen. »Genauso gut wie Ihr«, sagte Sir Lyon. »Aber in meinem Alter darf man nicht erwarten, daß man noch gut schläft. Ich möchte Euch einen vielversprechenden jungen Mann vorstellen.« Der Großmeister war eine imposante Figur, hochaufgeschossen, schlank, ja fast abgemagert, und doch mit einer Aura der körperlichen und geistigen Kraft umgeben. Sein Haar war silbriggrau, ebenso der recht lange Bart, den er zu tragen beliebte. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen und hatten einen stechenden Blick, seine Nase war dünn und gradlinig, seine Augenbrauen traten buschig hervor. Master Jean hatte den Großmeister viel zu oft gesehen, um sein Aussehen noch sonderlich zu beachten. Statt dessen zogen den kleinen, rundlichen irischen Hexer die Züge des jungen Mannes an, der neben Sir Lyon stand. Der Mann war mittelgroß, größer als Master Sean, aber längst nicht so groß wie Sir Lyon Grey. Die Ärmel seines blauen Anzugs waren mit Weiß versetzt, der den Mann als einen Wanderhexer von einem Master unterschied. Besonders sein Gesicht zog Master Seans Aufmerksamkeit auf sich. Die Haut war von einem dunklen Rotbraun, die Nase breit und wohlgeformt, während die fast schwarzen Pupillen seiner Augen von den schweren Lidern beinahe verborgen wurden. Sein Mund lächelte freundlich und war recht breit. »Master Sean«, sagte Sir Lyon, »ich möchte Euch Wanderhexer Lord John Quetzal vorstellen, den vierten Sohn seiner Hochwohlgeboren dem Herzog von Mechicoe.« »Es ist mir eine Freude, Euer Lordschaft kennenzulernen«, sagte Master Sean mit einer kleinen Verbeugung. Lord John Quetzals Verbeugung war wesentlich tiefer, wie es sich für einen Wanderhexer gegenüber einem Master gehörte. »Ich habe mich sehr auf dieses Treffen gefreut, Master«, sagte er in fast fehlerfreiem Anglo-Französisch. Master Sean konnte nur den allerleisesten Akzent aus dem Herzogtum Mechicoe wahrnehmen, das zu den südlichsten Herzogtümern Neu-Englands gehörte, nicht weit von dem Isthmus entfernt, der die Verbindung zum Kontinent von Neu-Frankreich herstellte. Doch war von einem Abkommen der Moqtessuma-Familie ein solcher einheimischer Akzent ja auch zu erwarten. »Lord John Quetzal hat sich dazu entschlossen«, sagte Sir Lyon, »Gerichtshexerei zu studieren, und ich glaube, daß er auf diesem Gebiet hervorragende Leistungen erbringen wird. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich muß mich mit dem Programmkomitee treffen und die Tagesordnungspunkte überprüfen.« So fand sich Master Sean mit Wanderhexer Lord John Quetzal alleingelassen. Er gönnte ihm sein
freundlichstes irisches Lächeln und sagte: »Nun, Euer Lordschaft, ich merke, daß Ihr nicht nur recht intelligent seid, sondern auch ein enormes Talent habt.« Der junge Mechicaner sah ihn mit erschrockener Bewunderung an. »So etwas könnt Ihr durchs bloße Ansehen merken?« fragte er mit unterdrückter Stimme. Master Seans Lächeln wurde breiter. »Nein, das habe ich geschlußfolgert.« Jetzt sollte Lord Darcy mich hören, dachte er. »Geschlußfolgert? Wie das?« »Aber ich bitte Euch«, sagte Master Sean mit einem amüsierten Glucksen, »die Einführung, die Ihr von Großmeister Sir Lyon erhalten habt, genügt mir, das zu erkennen. Er nennt Euch >einen vielversprechenden jungen Mann<. Er sagte: >Ich glaube, daß er ausgezeichnet abschneiden wird«. Ach je, so würde Sir Lyon doch nicht einmal den König persönlich vorstellen, der ja auch keinerlei nennenswertes Talent besitzt. Wenn Ihr'den Großmeister beeindruckt habt, dann kommt Ihr allerdings mit den besten Referenzen. Außerdem schlußfolgere ich, daß Ihr nicht die Sorte Junge seid, die sich Lob zu Kopf steigen lassen — sonst hätte der Großmeister sich nicht in Eurer Gegenwart so geäußert.« Master Sean spürte, daß unter der glatten Mahagonihaut des jungen Mannes eine Verlegenheitsröte emporstieg. Deshalb wechselte er schnell das Thema. »Worauf habt Ihr Euch denn bis jetzt spezialisiert?« Lord Quetzal schluckte. »Nun ... eh ... Schwarze Magie.« Master Sean starrte ihn schockiert an. Er hätte nicht erstaunter sein können, wenn ihm ein Heiler oder Chirurgeon gesagt hätte, daß er sich darauf spezialisiert habe, Leute zu vergiften. Der junge Mechicaner sah für einige Sekunden noch verlegener aus, doch faßte er sich schnell wieder. »Ich meine nicht, daß ich sie praktiziere, um Himmels willen!« Er schaute sich um, als befürchte er, belauscht worden zu sein. Als er festgestellt hatte, daß dies nicht der Fall gewesen war, wandte er sich wieder Master Sean zu. »Ich meine damit nicht, daß ich sie praktiziere«, sagte er leiser, »ich habe sie studiert, um sie abwehren zu können. Ich weiß nicht, ob Ihr in Europa viel davon habt, aber . . . nun ja, in Mechicoe ist es anders. Selbst nach vierhundert Jahren gibt es bei uns immer noch Gläubige der Alten Religion, besonders den Kult des Huitsilopochtli, des Alten Kriegsgotts. Das gibt es zwar nicht in den Städten, auch nicht einmal in den meisten Ackerbaugebieten, dafür aber in den Bergen und Dschungeln.« »Ich verstehe. Was für ein Gott war denn dieser Hutzdings-bums?« fragte Master Sean. »Huitsilopochtli. Eine Art von Gott, wie man ihn sehr häufig bei barbarischen Völkern findet, besonders bei den kriegerischen. Strenge Disziplin, extreme Askese, freiwillige Opfer und Ritualopferungen, das erwartete er von seinen Gläubigen. Eine typisch satanische Übertreibung der Tugenden der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams. Opferungen — das bedeutet, lebenden Menschen das Herz herauszuschneiden. Huitsilopochtli war ein ekelhafter, blutiger Teufel.« »Menschenopfer, oder zumindest Ansichten, die Menschenopfer befürworten, kennen wir bei uns aber auch«, wandte Master Sean ein. Lord John Quetzal nickte. »Ich weiß, worauf Ihr anspielt. Die sogenannte Alte Gesellschaft vom Heiligen Albion. Ihre Rädelsführer sind, glaube ich, im Mai 1965 aufgeflogen, wenn ich mich richtig erinnere, oder jedenfalls im frühen Juni.« »Aye«, sagte Master Sean, »und damit
sind wir längst noch nicht alle davon los. Schwarze Magie gibt es hier auch wesentlich häufiger, als Ihr zu glauben scheint. Man hat der Öffentlichkeit nichts davon gesagt, aber als Wanderhexer der Gilde habt Ihr vielleicht von dem Fall von Lord Duncan von Duncan gelesen, der im Jahre 1963 vorkam?« »O ja! Ich habe Euren Bericht darüber im Journal gelesen. Das war im Zusammenhang mit dem geheimnisvollen Tod des Comte D'Evereux. Ich wäre gerne dabei gewesen, als Lord Darcy diesen Fall löste!« In seinen Obsidianaugen glitzerte ein Licht. »Was hat Euer Interesse an Gerichtshexerei mit Schwarzer Magie zu tun?« fragte der irische Hexer. »Nun, wie ich schon sagte, gibt es in den entfernteren Landesteilen des Herzogtums ziemlich viel Huitsilopochtli-Verehrung. Im tiefen Süden ist es sogar noch schlimmer. Mein edler Cousin, der Herzog von Eucatanne, wird ständig von ihr bedroht. Wenn es nur ländlicher Aberglaube wäre, wäre es ja nicht weiter schlimm, aber viele von ihnen haben echtes Talent. Die Gebildeteren unter ihnen haben Mittel und Wege gefunden, die Gesetze der Magie im Dienste der Riten und Zeremonien des Huitsilopochtli anzuwenden. Dies geschieht stets zu bösen Zwecken. Es ist die übelste Form Schwarzer Magie, und ich will versuchen, alles zu tun, was in meiner Macht steht, sie auszuradieren. Sie beschränken ihr Tun nicht auf die abgelegenen Orte, wo ihre Tempel versteckt sind; ihre Agenten kommen in die Dörfer und terrorisieren die Bauern, in den Städten versuchen sie sogar, die lokalen Regierungen zu stürzen. So etwas muß unterbunden werden, und ich werde dafür sorgen, daß es auch tatsächlich unterbunden wird!« »Ein schwieriges Vorhaben — und ein lobenswertes dazu. Habt Ihr . . .« »Ah, Master Sean!« sagte eine ölige Stimme zur Linken, hinter Lord Quetzal. Master Sean hatte Master Ewen MacAlister kommen sehen und vergeblich gehofft, daß Master Ewen ihn nicht sehen würde. Er hatte auch so schon genügend Sorgen. »Master Ewen«, sagte Master Sean mit einem gequälten Lächeln. Noch bevor er Lord John Quetzal vorstellen konnte, begann Master Ewen, der den Wanderhexer völlig unbeachtet ließ, zu sprechen. »Habe gehört, daß Ihr eine kleine Auseinandersetzung mit Sir James hattet, Sean, eh? Gestern, he, he.« »Keine Auseinandersetzung. Wir . . .« »Ach, ich meine doch keinen Streit. Aber worüber habt Ihr Euch eigentlich gestritten? Keiner weiß das.« »Wahrscheinlich, weil es keinen etwas angeht«, schnappte Master Sean. »Natürlich nicht, he, he, natürlich nicht. Trotzdem, es muß ja heiß hergegangen sein, sonst hätte der Großmeister ja wohl nicht eingegriffen.« »Er hat überhaupt nicht >eingegriffen<, wie Ihr das auszudrücken beliebt«, zischte Master Sean zwischen zusammengebissenen Zähnen, die von einem falschen Lächeln umkränzt wurden. »Er hat lediglich in unserer Diskussion vermittelt.« »Ja. He, he. Natürlich.« Der schlaksige, sandfarbenhaarige Schotte zeigte beim Lächeln die Zähne. »Aber ich kann es Euch nicht verdenken, daß Ihr böse auf Sir James seid. Manchmal kann er ziemlich steif sein. Schneidend, meine ich. Scharf-züngig, sozusagen, das ist er.«
»Recht scharfzüngig«, sagte Lord John Quetzal zustimmend. »Das habe ich schon am eigenen Leibe zu spüren bekommen.« Master Ewen MacAlister drehte sich um und betrachtete den jungen Mechicaner, als habe er ihn zum ersten Mal erblickt. »Es ist ungebührlich«, sagte er eisig, »daß ein Wanderhexer die Unterhaltung zweier Master unterbricht. Ebenso ungebührlich ist es, daß er einen Master kritisiert. Davon abgesehen, wäre es auf jeden Fall angezeigt, nicht den Obergerichtshexer von London zu kritisieren.« Lord John Quetzals Gesicht versteinerte. Er machte eine höfliche Verbeugung. »Ich bitte um Verzeihung, Master. Ich habe einen Fehler gemacht. Wenn Ihr mich entschuldigen wollt. Masters, ich habe noch eine Verabredung. Ich hoffe Euch einmal wiederzusehen, Master Sean.« »Aber gern! Wie war's mit dem Mittagessen? Ich hätte da ein paar Dinge, über die ich mich mit Euch unterhalten möchte.« »Ausgezeichnet. Wann?« »Punkt zwölf, im Speisezimmer.« »Ich werde dort sein, Master Sean. Guten Tag Master Sean, Master Ewen.« Er drehte sich um und ging mit stolzem, ein wenig steifem Gang davon. »Guten Tag, Euer Lordschaft«, rief Master Sean hinter ihm her. Master Ewen stutzte. »Habt Ihr >Euer Lordschaft< gesagt? Wer ist denn der Junge?« »Lord John Quetzal«, sagte Master Sean mit einem boshaften Lächeln, »ist der Sohn Seiner Hochwohlgeborenen Netsualco-yotl, Herzog von Mechicoe.« Master Ewen wurde sichtbar bleich. »O weh«, sagte er leise, »ich hoffe, er ist nicht beleidigt.« »Euer schmeichelhaftes Betragen wird Euch noch bei vielen hohen Stellen Freunde gewinnen, Master Ewen. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich habe auch noch eine Verabredung.« Er ging fort und ließ Master Ewen zurück, der dem mechicanischen Jungen nachblickte und nervös auf seiner Unterlippe herumbiß. Master Ewens Snobismus, so dachte Sean, würde ihn daran hindern, überhaupt irgendwie weiterzukommen, egal was für ein guter Magier er auch sein mochte. Ein Master hatte alles Recht, einen Wanderhexer zusammenzustauchen, aber nur wegen wichtiger Dinge, nicht wegen solcher Trivialitäten. Auf der anderen Seite sollte man auch nicht gerade sofort Puddingknie bekommen, nachdem man von diesem Recht Gebrauch gemacht hatte, nur weil der Zusammengestauchte vielleicht eine einflußreiche Verwandtschaft hatte. Master Sean beschloß, daß er etwas brauchte, um den schlechten Geschmack aus seinem Mund fortzuspülen. Er sah auf seine Armbanduhr. Neun Uhr zweiundzwanzig. Er hatte noch genug Zeit für ein kühles, schaumiges Bier bis zu seiner Verabredung. Er steuerte auf die private Saloonbar zu, die für die Kongreßmitglieder und ihre Gäste reserviert worden war. Fünf Minuten später, nachdem sein runder irischer Bauch ein Pint guten englischen Bieres in Sicherheit gebracht hatte, stieg er die Treppen zum Obergeschoß hoch. Dann schritt er durch die Halle auf den Raum zu, der Master Sir James Zwinge, Obergerichtshexer von London, zugewiesen worden war. Punkt halb zehn klopfte Sean an die Tür. Es kam keine Antwort aber er meinte zu hören, wie sich drinnen jemand bewegte, und klopfte lauter an. Diesmal erhielt er eine Antwort aber keine, wie er sie sich hätte träumen lassen. Der Schrei war krächzend und zitternd, doch konnte man die Worte deutlich genug verstehen. »Master Sean! Hilfe!« Dann folgte ein
anders Geräusch, das Master Sean sofort als das Fallen eines Körpers oder eines schweren Gegenstands erkannte. Sean ergriff den Türknopf und drehte, doch ohne Erfolg. Die Tür war fest verschlossen. Im ganzen Gang gingen die Türen auf. Punkt drei Minuten nach sieben stieg an diesem Abend Lord Darcy, Oberinspektor Seiner Königlichen Hoheit, Richard von der Normandie, aus einer Mietdroschke, die vor dem überwältigenden Stadthaus von My Lord dem Marquis von London angehalten hatte. Er trug einen großen Koffer, in seinen Augen war ein zielgerichtetes Schimmern zu erkennen. Der Türsoldat, der die hellgelbe Uniform der Persönlichen Garde des Marquis trug, fragte ihn nach seinem Begehren, worauf Lord Darcy mit ruhiger, beherrschter Stimme ihm mitteilte, daß My Lord Marquis ihn, Lord Darcy, aus Rouen zurückerwarte. Der Wachsoldat betrachtete den großen, recht gutaussehenden Mann mit dem mageren Gesicht und dem glatten braunen Haar und wunderte sich. Trotz seines Namens und der Stadt, die er angegeben hatte, sprach dieser Gentleman ein Anglo-Französisch mit ausgesprochen englischem Akzent. Dann erblickte der Wachsoldat das kalte Glitzern in den Augen und beschloß, daß es wohl ratsam sei, besser erst bei Lord Bon-triomphe rückzufragen, bevor er weitere Fragen stellte. Es dauerte keine Minute, da war Lord Bontriomphe an der Tür und bat Lord Darcy herein. »Darcy! Wir haben nicht mit Euch gerechnet«, sagte er mit freundlichem Lächeln. »Nicht?« fragte Lord Darcy mit einem Lächeln von stählerner Härte. »Soll ich etwa annehmen, daß Ihr damit gerechnet habt, daß ich die Nachricht von My Lord dem Marquis erhalte, um mich danach erst einmal auf eine Pilgerreise nach Rom zu begeben?« Lord Bontriomphe bemerkte die beherrschte Verärgerung. »Wir dachten, daß Ihr uns von Dover per Teleklang angerufen hättet. Wir hätten Euch am Bahnhof mit einer Droschke abgeholt.« »My Lord Marquis hat nicht geruht anzudeuten«, sagte Lord Darcy kühl, »daß er für irgendwelche Ausgaben aufkommen wolle. So nahm ich an, daß solche Ausgaben aus meiner eigenen Tasche bestritten werden sollten. Nachdem ich die Kosten für eine Teleklang-Botschaft mit denen für eine Droschke verglich, entschied ich mich für letztere.« »Aha, ja, ich verstehe. Aber kommt doch weiter mit zum Büro. Ich glaube My Lord Marquis wartet bereits auf uns.« Er führte Lord Darcy den Gang hinunter, öffnete eine Tür und trat zurück, um Lord Darcy einzulassen. Das Büro war nicht überwältigend, aber es war geräumig und gut eingerichtet. Es gab einige bequem aussehende Stühle und einen großen, mit teurem roten Moorenleder bezogenen Stuhl. Auf einem geschnitzten Ständer ruhte ein großer Weltglobus, an den Wänden hingen zwei oder drei Gemälde, darunter stand ein Paar großer Schreibtische. Hinter einem von diesen saß My Lord der Marquis de London. Man konnte den Marquis nur überwältigend nennen. Er war außerordentlich korpulent, doch sein schweres Gesicht hatte eine bemerkenswerte Ausdrucksschärfe, während sein Blick nachdenklich und nach innen gekehrt wirkte. Und trotz seines Gewichts von gut zwei Stein hatte er die Ausstrahlung einer Festigkeit, die ihm eine regelrechte Herrscherkraft verlieh. »Guten Abend, My Lord«, sagte er, ohne aufzustehen, aber eine breite, fette Hand ausstreckend, die an den Schwanz einer Robbe erinnerte. »My
Lord Marquis«, sagte Lord Darcy, indem er die Hand schüttelte und wieder losließ. Bevor der Marquis noch irgend etwas sagen konnte, legte Lord Darcy eine Handfläche fest auf den Schreibtisch, beugte sich vor, um auf den Lord herabzublicken und sagte: »Also jetzt mal im Ernst: Wieviel davon ist bloßes Gewäsch?« »Ihr wollt mich verhöhnen«, sagte der Marquis mit schwerer Stimme. »Setzt Euch, wenn Ihr die Güte dazu habt; ich möchte mir nicht den Hals ausrenken, um Euch anblicken zu können.« Lord Darcy setzte sich auf den roten Lederstuhl, ohne den Blick von dem Marquis abzuwenden. »Gar nichts davon ist Gewäsch«, sagte der Marquis. »Ich muß zwar zugeben, daß ich noch nicht alle Einzelheiten kenne, aber ich glaube, ich kenne genug, um meine Entscheidung zu rechtfertigen. Hättet Ihr vielleicht die Güte, Euch Lord Bon-triomphes Bericht anzuhören?« »Ich hätte«, sagte Lord Darcy. Er blickte zu dem zweiten Schreibtisch hinüber, hinter den Lord Bontriomphe sich gesetzt hatte. Er war ein nicht allzu großer, recht gutaussehender, kantiger Mann, der stets gut gekleidet war und eine Ausstrahlung von Kompetenz um sich verbreitete. »Bontriomphe, Ihr mögt berichten«, sagte der Marquis. »Alles?« »Alles. Wortwörtlich, wie die Unterhaltung war.« Lord Bontriomphe lehnte sich zurück und schloß einen Moment die Augen. Lord Darcy stellte sich darauf ein, genau zuzuhören. Bontriomphe hatte zwei Eigenschaften, die ihn für den Marquis von London unschätzbar machten, nämlich eine große erzählerische Begabung und ein bildreiches Gedächtnis. Bontriomphe öffnete die Augen und sah Darcy an. »Auf Befehl von My Lord besuchte ich den Hexer- und Heiler-Kongreß, um mir die botanischen Ausstellungsstücke zu betrachten. My Lord war besonders an der ausgestellten Polnischen Teufelswurz, die er . . .« Der Marquis schnaubte. »Pah! Das hat nichts mit dem Mord zu tun.« »Ich habe nicht gesagt, daß dies der Fall wäre. Wo war ich? Ach ja, die er nicht von Samen züchten konnte, sondern nur von Ablegern. Er wollte wissen, wie man die Samenzüchtungen behandelt hatte. Kurz nach neun ging ich ins Royal Steward. Es war vollgestopft mit Hexern jeder Größe und Beschreibung. Es waren genug Kirchenleute da, um eine ganze Kirche auszufüllen, vom Altar bis zum Eingang. An der Tür mußte ich ein paar Wachen davon überzeugen, daß ich kein neugieriger Tourist war, der sich nur die Prominenz anschauen wollte. Jedenfalls gelangte ich gegen zehn nach neun zu den botanischen Ausstellungsstücken. Ich sah mir die Polnische Teufelswurz genau an, sie schien recht gesund zu sprießen. Dann sah ich mir noch das andere Zeug an und notierte mir einige Raritäten, aber das ist für Euch wohl kaum von großem Interesse, also lasse ich es aus. Dann schaute ich mir die anderen Ausstellungsgegenstände an, um vielleicht etwas Interessantes zu sehen. Ich traf niemanden, den ich kannte, worüber ich auch recht froh war, denn schließlich war ich nicht zum Plaudern hergekommen. Das heißt, ich habe vor zwanzig nach neun keinen Bekannten getroffen. Dann klopfte mir plötzlich Commander Lord Ashley von hinten auf die Schulter. Ich drehte mich um, und da stand er in voller Marineausgehuniform und sah so unglücklich aus wie ein Marineoffizier auf einem Hexerkongreß. >Bontriomphe<, sagte er, >wie gut, Euch wiederzusehen.« Schön, Euch zu sehen<, sagte ich,
>und wie geht es der Reichsmarine? Seid Ihr ein Spezialist für Hexerei geworden? < Das war natürlich ein Witz, Tony hat nicht das geringste Talent. Er hat das, was man >eine wechselhafte und diffuse seherische Fähigkeit nennt, die ihm schon aus mancher Klemme herausgeholfen hat, und mit der er übrigens auch am Spieltisch viel anzufangen versteht. Doch ansonsten versteht er soviel von Magie wie ein Vogel Strauß von Eisbergen. Er lachte ein wenig. >Das habe ich weder jetzt noch später vor«, sagte er. >Ich bin in Marineangelegenheiten hier. Ich suche einen Eurer Freunde und weiß nicht, wie er aussieht.< >Wen sucht Ihr denn?< fragte ich. >Master Sean O Lochlainn. Ich habe am Empfang nach seiner Zimmernummer gefragt, aber er ist nicht da.« >Wenn er hier sein sollte«, sagte ich, »dann habe ich ihn jedenfalls nicht gesehen. Allerdings habe ich ihn ja auch nicht gesucht.« Ich blickte um mich herum, doch konnte ich ihn nicht erspähen. Aber ich sah ein anderes mir bekanntes Gesicht. >Wenn irgend jemand weiß, wo Master Sean ist«, sagte ich, >dann ist das Großmeister Sir Lyon Frey. Kommt mit.« Sir Lyon stand an einer der Türen und unterhielt sich mit einem Mann, der die Tracht eines flämischen Ordens trug. Der Mönch hatte sich gerade verabschiedet, als Lord Ashley und ich auf Sir Lyon zugingen. »Guten Morgen, Sir Lyon«, sagte ich. »Ihr kennt Commander Ashley?« . »Guten Morgen, Lord Bontriomphe«, sagte der alte Hexer. »Ja, Commander Ashley und ich kennen uns. Wie kann ich behilflich sein?« >Ich muß Master Sean O Lochlainn eine Nachricht überbringen, Sir Lyon<, sagte Ashley. >Wißt Ihr vielleicht, wo er gerade weilt? < Der Großmeister wollte antworten, doch kam er nicht mehr dazu. Ein dürrer kleiner Magier mit einer spitzen Nase und ziemlich glubschigen blauen Augen platzte plötzlich durch die nächste Tür, wobei seine Hände umherflatterten wie betrunkene Motten, die seinen Kopf mit einer Kerzenflamme verwechselt hatten. Er blickte sich eilig um, erspähte Sir Lyon und steuerte schnurstracks auf uns zu, wobei seine Hände immer noch flatterten. >Großmeister! Großmeister! Ich muß Euch sprechen, sofort!« sagte er mit leiser, aber aufgeregter Stimme. >Beruhigt Euch, Master Netly«, sagte der Großmeister. »Was gibt es denn?« Master Netly bemerkte Lord Ashley und mich und sagte: >Es ist ... eh ... vertraulich, Großmeister.« Der Großmeister beugte sich ein bißchen vor und neigte Master Netly sein Ohr zu; dieser war einen guten Fuß kürzer als Sir Lyon und stand deshalb auf den Zehenspitzen, um ihm ins Ohr zu flüstern. Ich konnte kein einziges Wort verstehen, aber ich sah, wie Sir Lyons Augen immer weiter wurden, je länger der hagere, kleine Magier auf ihn einredete. Dann blickte er mich voll an. Als er wieder aufrechtstand, blickte er mich immer noch an. Glaubt mir, wenn Euch Großmeister Sir Lyon Gandolphus Grey mit seinen Augen fixiert, dann habt Ihr ein plötzliches Verlangen, Euer Gewissen zu befragen, was Ihr für besonders abscheuliche Sünden in der letzten Zeit begangen haben könntet. Glücklicherweise war mein Gewissen einigermaßen rein. »Würden die Herrschaften mir bitte folgen?« fragte er und wandte seinen Blick Lord Ashley zu. »Etwas von Wichtigkeit ist geschehen. Wenn Ihr bitte mitkommen wollt . . .< Er drehte sich um und schritt durch die Tür hinaus. Ashley und ich folgten ihm. Sobald wir den
Ausstellungsraum verlassen hatten und durch den Flur schritten, fragte ich: »Was ist wohl los, Sir Lyon?« >Ich weiß es selbst noch nicht genau. Scheinbar ist Master Sir James Zwinge etwas zugestoßen. Wir können von Glück sagen, daß Ihr, ein Beamter der Königlichen Justiz, zur Hand seid.« Darauf sagte Lord Ashley: »Verzeihung, Sir Lyon, aber die Nachricht für Master Sean ist sehr wichtig und dringend,« »Das ist mir bewußt«, sagte der alte Knabe ziemlich pikiert. »Master Sean befindet sich bereits am Ort des Geschehens. Deshalb habe ich Euch auch gebeten, mir zu folgen.« »Ich verstehe. Ich bitte um Verzeihung, Sir Lyon.« Wir folgten ihm die Treppe hoch und durchschritten den oberen Flur, ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Netly trapste hinter uns her, seine Hände flatterten immer noch in der Gegend herum. Vor Zwinges Raum standen drei Männer und eine Frau. Zwei der Männer trugen die hellblaue Kleidung der Hexer, ebenso die Frau. Der dritte aber trug einfache Händlerkleidung. Einer der Hexer war Master Sean. Der zweite war ein großer junger Mann, der die weißen Streifen eines Wanderhexers trug, seinem Aussehen nach zu urteilen, war es ein Mechicaner. Die Hexe war eine der schönsten Honigblondinen, die ich jemals in einem Hotelflur kennengelernt habe. Sie hatte einen vollbusigen, weitschultrigen Körper mit weitausholenden Hüften und einer schmalen Taille und tiefdunklen blauen Augen. Sie war nur wenige Zoll kleiner als ich und hatte außerdem . . .« »Pfui . . .« Zum zweitenmal unterbrach der Marquis von London Lord Bontriomphes Bericht. »Es sei Euch zwar unbenommen, der Schönheit der Frauen zu huldigen, aber dies ist nicht der rechte Ort und Zeitpunkt dazu, schon gar nicht für Übertreibungen. Im übrigen kennt Lord Darcy Mary, die Herzoginwitwe von Cumberland, bereits.« »Entschuldigung«, sagte Lord Bontriomphe. »Der dritte stellte sich als Edelmann Lewis Bolmer heraus, der Leiter des Royal Steward Arms. Er ist ungefähr ein Zoll größer als Master Sean und sieht so aus, als habe er viel zu schnell ungefähr fünfzig Pfund abgenommen. Seine Kinnladen und sein ganzes Gesicht sind faltig, so daß er ziemlich schwabbelig und hager aussieht, als wäre er aus lauter Schlappohren zusammengenäht worden. Er sah sowohl besorgt als auch verängstigt aus. Sobald ich mich selbst vorgestellt hatte, fragte ich, was geschehen sei. Master Sean sagte: >Ich hatte um halb zehn eine Verabredung mit Sir James. Ich klopfte an die Tür und bekam keine Antwort. Ich klopfte erneut. Da hörte ich einen Schrei und ein Geräusch, als fiele ein schwerer Körper auf den Boden. Seitdem ist nichts mehr geschehen, die Tür ist verschlossen, und wir kommen nicht hinein.< Ich sah Edelmann Lewis an. >Habt Ihr den Schlüssel?< >Ja, Euer Lordschaft<, sagte er nickend und schlenkerte mit Kinnlade und Hängebacken. >Ich brachte ihn sofort mit, als Master Netly mich benachrichtigt hatte. Aber der Schlüssel will das Schloß nicht öffnen, der Bolzen bewegt sich nicht, der Schlüssel klemmt. Wahrscheinlich ein Zauber darauf.< >Es ist ein persönlicher Schloßzauber<, sagte Master Sean. >Ich vermute, daß nur der Schlüssel von Sir James das Schloß öffnen kann. Aber ich fürchte, daß er schwer verwundet sein könnte, wir müssen die Tür einrennen.< Wenn Ihr schon jemals im Royal Steward wart, so wißt Ihr vielleicht, wie dick die Türen dort sind. Alles gute alte Wertarbeit,
das Gebäude ist im siebzehnten Jahrhundert gebaut worden. >Könnt Ihr den Zauber beseitigen, Sean?« fragte ich. >Natürlich kann ich das<, sagte er, >aber das braucht seine Zeit. Wenn ich Glück habe und das geistige Muster sofort erfasse, dann schaffe ich es in einer halben Stunde. Wenn ich kein Glück habe, dann dauert es vielleicht zwei oder drei Stunden. Das ist kein gewöhnlicher kommerzieller Gebrauchszauber, das ist vielmehr ein persönlicher Zauber, den Sir James selbst angebracht hat.< Ich kniete mich hin und linste durch das Schlüsselloch. Ich konnte nur die gegenüberliegende Wand sehen. Das Schlüsselloch ist zwar groß genug, aber die Tür ist so dick, daß man wie durch einen Tunnel schaut. Das sind Zweizolltüren dort. Ich stand wieder auf und sagte zu Edelmann Lewis: >Holt eine Axt. Wir müssen die Tür durchhauen.< Während er fort war, stellte ich ein paar Fragen. > Was geschah unmittelbar, nachdem Ihr den Schrei gehört habt, Sean?< >Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts<, sagte er. >Dann kamen meine Kollegen hier aus ihren Zimmern.< >Welche Zimmer? < >Netly Dales Zimmer grenzt links an das von Sir James, und Lord John Quetzal hat das Zimmer zur rechten, wenn ich nicht irre.< Netly faltete seine Hände zusammen, damit sie nicht so flatterten, und nickte. >Ganz richtig. Absolut richtig.Lord John Quetzal<, sagte ich. Der Name war mir bekannt. >Ihr seid der vierte Sohn Seiner Hochwohlgeboren De Mechi-coe, wenn ich nicht irre?< Der verbeugte sich. >Eben dieser, Euer Lordschaft.< Dann sah ich die blonde Erscheinung an. Zu dieser Zeit wußte ich noch nicht, wer sie war, aber sie trug das De-Cumberland-Wappen in Gänze auf ihrer rechten Brust, anstatt nur die Krone auf ihrer Schulter zu tragen, also nahm ich an . . .« Lord Bontriomphe unterbrach seinen Vortrag weil er wieder einen Schnauber von De London hörte. »Ja, My Lord?« »Es ist wohl kaum vonnöten, uns zu informieren, welche naheliegenden Schlußfolgerungen Ihr gezogen habt«, sagte der Marquis mit starkem Sarkasmus. »Darcy will Tatsachen hören und nicht die ziemlich kindischen Vorgänge, mittels derer Ihr zu ihrer Kenntnis gelangt seid.« »My Lord, ich beuge mich beschämt«, sagte Lord Bontriomphe. »Auf jeden Fall habe ich die Dame richtig identifiziert.« >Wo ist Euer Zimmer, Euer Gnaden?< fragte ich sie. >Am anderen Ende des Halleneingangs <, sagte sie, mit dem Finger weisend. Die Halleneingänge im Royal Steward sind acht Fuß breit. Ihr Zimmer befand sich genau gegenüber dem von Zwinge. >Ich danke Euch<, sagte ich. »Nun . . .< Ich sah die anderen an. >Warum seid Ihr alle aus Euren Zimmern gekommen? Was hat Euch aufgeschreckt? < Sie berichteten alle dasselbe: der Schrei. Niemand hatte Sean klopfen hören, dazu sind die Türen dort zu dick. Ich weiß das, ich habe es später selbst ausprobiert. Man kann ein Türklopfen an einer anderen Tür nur dann hören, wenn man genau horcht. Dieser Schrei muß ein höllischer Lärm gewesen sein. Der einzige, der zu der Zeit das Fallen des Körpers hören konnte, war Master Sean. Die anderen hatten ihre Türen noch nicht geöffnet. Ich konnte nicht feststellen, wer von ihnen als erster heraustrat, sie wußten es selbst nicht mehr. Offensichtlich war die Lage in diesem Augenblick viel zu verwirrt. Als der
Hoteldirektor, Edelmann Lewis, mit der Axt zurückkehrte, blickte ich auf meine Uhr. Es war dreiundzwanzig vor zehn. Seitdem Master Sean an die Tür geklopft hatte, waren ungefähr sieben Minuten vergangen. Ich benutzte die Axt selbst. Alle traten sicherheitshalber von der Tür zurück. Ich schlug ein recht großes Loch in die Mitte der Tür, ohne den Rahmen und das Schloß zu beschädigen. Ich ließ alle anderen draußen und zwängte mich durch das Loch. Es war ein gewöhnliches Zimmer, zwölf mal fünfzehn, mit Bad. Am anderen Ende des Raums befanden sich zwei Fenster. Beide waren verbolzt und mit Jalousien verschlossen, doch waren die Jalousien so eingestellt, daß sie das Tageslicht hineinließen. Die Glasfenster waren verschlossen und unversehrt. Der Körper unseres Obersten Gerichtshexers lag fast genau in der Mitte des Zimmers, etwas über sechs Fuß von der Tür entfernt. Er lag auf der linken Seite, in einer frischen Blutlache; sein Rock war so sehr voller Blut, daß ich zunächst Schwierigkeiten hatte zu erkennen, was nun genau geschehen war. Da sah ich, daß sein Rock aufgeschlitzt war, über dem Herzen, auf der linken Seite. Ich öffnete das Kleidungsstück und sah, daß die Brust an-dieser Stelle eine senkrechte Stichwunde aufwies. Ein paar Fuß davon entfernt lag, am Rande der Blutlache, ein Messer. Es war eigentlich ein Dolch mit schwerem Griff, mit Onyxheft und einer Klinge aus reinem Silber. Ich habe solche Dolche schon öfter gesehen, Lord Darcy, und Ihr wohl auch. Ein Hexerdolch, der bei bestimmten Beschwörungen dazu benutzt wird, psychische Bindungen zu durchschneiden und so weiter. Aber die Dinger können auch körperlich schneiden, nicht nur geistig. Ungefähr auf halber Entfernung zwischen Körper und Tür lag ein Schlüssel. Es war ein schwerer Messingschlüssel, wie der, mit dem der Hoteldirektor versucht hatte, die Tür zu öffnen. Ich markierte die Stelle mit einem eigenen Schlüssel und versuchte mich mit dem gefundenen Schlüssel am Türschloß. Er funktionierte, er bewegte den Bolzen, was kein anderer Schlüssel vermochte. Es war tatsächlich Sir James' eigener Schlüssel. Ich durchsuchte den Körper. Nicht viel zu finden: sein eigener Schlüsselring; zwei Sovereigns in Gold, drei silberne Sovereigns, ein wenig Kleingeld; ein Notizbuch voller magischer Symbole und Formeln, die ich nicht verstehe; ein gewöhnliches kleines Taschenmesser; eine Brieftasche, die sein Diplom als Meisterhexer enthielt; seine Lizenz, Magie ausüben zu dürfen, unterschrieben vom Bischof von London; sein Berufsausweis als Oberster Gerichtshexer; ein Ausweis, der ihn als Mitglied der Königlichen Thaumaturgischen Gesellschaft auswies, sowie noch verschiedene Schriftstücke. Ihr könnt Euch alles ansehen, Darcy; My Lord Marquis hat alle Gegenstände in einem Umschlag im Wandsafe aufbewahrt. Er besaß noch drei andere Anzüge, die alle mit leeren Taschen im Schrank hingen. Auf dem Schreibtisch lagen einige Papiere, alle mit thaumaturgischen Symbolen beschrieben; einige andere ähnliche Papiere lagen im Papierkorb. Ich habe sie dort gelassen, wo sie sich schon befanden. Dann war da noch als einziger weiterer Gegenstand sein Reisesack, der mit Symbolen verziert war, die Art Reisesack eben, wie ihn jeder Hexer benutzt. Ich habe nicht versucht, ihn zu öffnen oder mitzunehmen. Es ist schließlich nicht
ratsam, in persönlichen Besitzgegenständen eines Magiers herumzukramen, auch wenn der Magier schon tot sein sollte. Das Wichtigste ist, daß sich in dem Raum niemand außer dem Toten aufhielt. Ich habe das Zimmer gründlich durchsucht. Es gab keine Versteckmöglichkeiten. Ich sah unter dem Bett nach, im Schrank und im Badezimmer. Darüber hinaus konnte niemand den Raum durch die Tür verlassen haben. Sie war durch den einzigen Schlüssel verschlossen worden, mit dem man sie auch öffnen konnte, und dieser Schlüssel lag drinnen im Raum. Außerdem waren binnen Sekunden nach dem Schrei vier Leute im Flur; drei von ihnen haben die Tür bis zu meiner Ankunft nicht aus den Augen gelassen. Die Fenster waren von innen verschlossen. Das Glas und das Lattenwerk waren unversehrt. Die Fenster öffnen sich auf einen kleinen Patio, der zum Speisetrakt gehört. Es saßen dort draußen insgesamt zwölf Personen, alles Hexer, beim Frühstück. Niemand von ihnen hatte irgend etwas gesehen, obwohl ihre Aufmerksamkeit durch den Schrei auf das Fenster gelenkt worden war. Davon abgesehen ist die Wand sehr steil, etwa dreißig Fuß hoch, ohne Halt und Stützen für Hände und Füße. Als Fluchtweg ausgeschlossen. Es gibt keinen Beweis dafür, daß irgend jemand den Raum betreten oder verlassen hat. Als ich den Raum durchsucht hatte, erschien der Oberste Wachtmeister mit zweien seiner Männer. Ihr seid Chief Hennely Crayme sicherlich schon begegnet, ein großer stämmiger Kerl mit kantigem Gesicht? Ja? Gut. Ich sagte ihm also, daß er die Angelegenheit übernehmen solle, daß er einen Bewahrungszauber über die Leiche verhängen lassen solle, und daß nichts angerührt werden dürfe. Dann ging ich zurück in die Halle, trommelte alle Leute dort zusammen, und ließ sie alle sich in einem der leerstehenden Räume am Ende der Halle versammeln. Der Hoteldirektor gab mir den Schlüssel, und ich gab ihm die Anweisung, sich wieder um seine normalen Geschäfte zu kümmern. Commander Lord Ashley war ein wenig ungeduldig. Er hatte seine Nachricht schon überreicht, und mußte sich im Büro des Lord Admiral zurückmelden. Ich ließ ihn gehen. Sir Lyon, Master Sean, Master Netly, Wanderhexer Lord John Quetzal und die Herzoginwitwe von Cumberland sahen alle sehr erschreckt von dem aus, was sie durch die Tür gesehen hatten. Sie waren alle recht schweigsam. >Sir Lyon<, sagte ich, >dieser Raum wurde abgeschlossen und versiegelt. Sir James wurde zu einem Zeitpunkt erdolcht, als sich niemand sonst im Raum aufhielt. Was meint Ihr dazu?< Er strich einige Male über seinen Bart und sagte dann: >Ich verstehe Eure Frage. Ja, auf den ersten Blick würde ich sagen, daß er durch Schwarze Magie getötet wurde. Aber das ist nur eine Vermutung, die sich auf die körperlich wahrnehmbaren Tatsachen stützt. Ich nehme zwar an, daß Ihr es nicht selbst wahrnehmen könnt, aber dieses Hotel ist zur Zeit nicht nur mit den gewöhnlichen kommerziellen Zaubern ausgerüstet, um unbefugten Gebrauch des Hellsehtalents zu unterbinden. Bevor der Kongreß anfing, ist eine Spezialistengruppe von sechs Hexern das ganze Gebäude durchgegangen, die diese Zauber verstärkten und andere hinzufügten.
Diese Zauber verhindern zwar nicht das Sehen in die Zukunft, da es unmöglich ist, einen Bann in die Zukunft auszusenden; aber sie verhindern es, daß jemand mit seinen hellseherischen Fähigkeiten in das Zimmer eines anderen hineinblicken kann, und sie machen es auch sehr schwer, wahrzunehmen oder zu verstehen, was im Geist eines anderen vor sich geht. Bevor ich mit Bestimmtheit sagen kann, daß Sir James durch einen Akt Schwarzer Magie getötet wurde, möchte ich die ganze Angelegenheit noch gründlicher untersucht haben.« >Eine solche Untersuchung wird stattfinden«, sagte ich ihm. »Dann zur nächsten Frage: Wer hatte einen Grund, ihn zu ermorden? Hatte irgend jemand Streit mit ihm?< Glaubt mir, Lord Darcy, alle Augen richteten sich auf Master Sean. Außer seinen eigenen, natürlich. Also fragte ich ihn natürlich, was für ein Streit das gewesen sei. >Es war kein Streit«, sagte er bestimmt. >Beide, Sir James und ich, waren wir wütend, aber nicht aufeinander.« >Auf wen wart Ihr denn dann wütend?« >Auf niemanden. Wir hatten beide über einen bestimmten thaumaturgischen Effekt gearbeitet und hatten fast identische Spruchformeln entdeckt, die diesen Effekt bewirken konnten. Das ist in der Geschichte der Magie schon öfter passiert. Wir haben uns vielleicht gegenseitig angeknurrt und angekläfft, aber wir waren eigentlich nur auf diesen dummen Zufall wütend.« >Wie kam denn diese, eh, Diskussion zustande?« fragte ich ihn. >Eine zufällige Unterhaltung im Komiteeraum. Wir kamen miteinander ins Gespräch, und das Thema kam auf. Wir verglichen unsere Aufzeichnungen und ... na ja, da kam's dann heraus. Worüber wir uns wirklich uneins waren, das war die Frage, wer seine Untersuchungen als erster einreichen solle. Also baten wir Sir Lyon darum, für uns die Entscheidung zu fällen.« Ich sah Sir Lyon an. Er nickte. »Das stimmt. Ich entschied, daß es für sie beide das beste sei, wenn sie die Studie gemeinsam herausgeben würden, unter zwei Namen mit einer ausführlichen Erklärung, daß die Arbeit von beiden unabhängig voneinander geleistet worden war.< >Sagt doch bitte, Sir Lyon<, sagte ich, >diese Studie, diese Papiere also, wären das ausschließlich thaumaturgische Gleichungen? < >Aber nein! Das wären lange Ausführungen über den Effekt. Natürlich gäbe es darin auch Gleichungen, aber der Text wäre eigentlich in Anglo-Französisch. Es gäbe verständlicherweise viele Fachwörter, Berufsjargon, wenn Ihr so wollt, aber . . .< >Wo befindet sich denn dann die Studie von Sir James? < fragte ich. >Im Raum ist sie nicht.< >Ich habe sie<, sagte Sean. >Es wurde ausgemacht, daß ich eine erste Zusammenfassung der beiden Studien schreiben sollte. Dann wollten wir die Sache heute morgen um neun Uhr dreißig noch einmal besprechen und eine zweite Fassung schreiben. < >Wann habt Ihr Sir James zum letzten Mal gesehen? < fragte ich. »Gestern abend gegen zehn<, erklärte Sean. »Ich ging mit ihm in sein Zimmer, damit er mir sein Manuskript geben konnte. Soweit ich weiß war dies das letzte, was von ihm gesehen wurde. Er wollte noch ein wenig weiterarbeiten und mochte bis halb zehn nicht gestört werden.« »Hätte er für seine andere Arbeit vielleicht einen Dolch gebraucht?« »Einen Dolch?< fragte er erstaunt. »Ihr wißt schon, einen von diesen großen Silberdolchen mit schwarzem Griff. <
»Ach so, Ihr meint einen Kontaktzerschneider. Das glaube ich nicht. Er sagte, er wolle etwas Schreibarbeit erledigen, weiter nichts. Keine wirklichen Experimente. Aber das wäre natürlich durchaus möglich.< Ich fragte ihn: >Master Sean, hättet Ihr etwas dagegen, wenn ich mir einmal das Manuskript von Sir James anschaue? < Ich glaube, daß das sein irisches Temperament zum Zünden gebracht hat. »Ich wüßte nicht, was das mit der Angelegenheit zu tun haben könnte«, sagte er ziemlich schnippisch. »Ich habe drei Jahre lang an der Sache gearbeitet. Es war schon schlimm genug, daß Sir James dasselbe getan hat, aber ich werde diese Ergebnisse nicht herausrücken, bis ich bereit bin, sie selbst vorzustellen !< Darauf sprach Großmeister Sir Lyon. >Ich kann nicht darauf bestehen, daß Ihr dem Chefinspektor diese Manuskripte zeigt, Master Sean; ich kann Euch nicht befehlen, den Vorgang preiszugeben. Aber ich habe das Gefühl, daß das Thema der Untersuchungen etwas mit dem Fall zu tun haben könnte. < Master Sean öffnete seinen Mund und schloß ihn wieder Nach einer Sekunde oder so sagte er: >Nun ja, das steht sowieso auf dem Programm. Meine Studie sollte lauten >Eine Methode zur Ermöglichung chirurgischer Eingriffe in unzugänglichen Organen«. Sir James betitelte seine Arbeit >Die chirurgische Inzision innerer Organe ohne Durchbrechung der Bauchdecke«. < Da quiekte Master Netly auf. >Ihr meint eine Methode, eine Klinge in einem geschlossenen Raum zu führen? Erstaunlich!' Dann wich er einige Schritte von Master Sean zurück und sagte: >Das meinte er also, als er schrie!< Ich hörte zum ersten Mal, daß Master Sir James etwas! Bestimmtes gerufen hatte. Die Worte hatten gelautet, darüber waren sich alle einig: >Master Sean! Hilfe!<« Der Marquis von London hatte während des ganzen Berichts mit geschlossenen Augen dagesessen, ohne jedoch zu schlafen »Befriedigend«, sagte er. Dann öffnete er die Augen und blickte Lord Darcy an. »Jetzt«, rumpelte er, »versteht Ihr wohl auch warum ich mich dazu veranlaßt fühlte, Master Sean O Loch-lainn wegen Mordverdachts verhaften zu lassen.« Lord Darcy sah My Lord Marquis lange und tief in die Augen. Dieser erwiderte seinen festen Blick voller Ruhe. Schließlich sagte Lord Darcy: »Ich verstehe. Haltet Ihr denn das Beweismaterial für ausreichend?« »O nein, auf keinen Fall«, sagte der Marquis und streichelte mit schwerer Hand die Luft. »Beim gegenwärtigen Beweisstand habe ich keine große Lust, die Sache vor das Oberste Gericht zu bringen. Wenn ich genügend Beweismaterial hätte, dann wäre Master Sean schon wegen vorsätzlichen Mordes angezeigt worden, nicht nur wegen Mordverdachts.« »Ich verstehe«, wiederholte Lord Darcy mit eisighöflicher Stimme. »Darf ich annehmen, daß von mir erwartet wird, das notwendige Beweismaterial zu beschaffen?« Der Marquis von London hob seine wuchtigen Schultern etwa einen Viertelzoll hoch und ließ sie wieder sinken. »Das berührt mich nicht weiter. Da ich jedoch mit der Tatsache vertraut bin, daß Ihr an diesem Fall ein persönliches Interesse habt, dürft Ihr selbstverständlich auf volle Kooperation mit , diesem Büro in allen Nachforschungen rechnen, die Ihr in diesem Falle durchzuführen belieben solltet.« »Ahh! Daher weht der Wind also!« sagte Lord Darcy. »Nun gut. Ich werde Eure Gastfreundschaft und Eure Kooperation annehmen. Werdet Ihr Master
Sean so lange auf Ehrenwort freilassen, bis Ihr das notwendige Beweismaterial zusammen habt?« My Lord Marquis runzelte die Stirn und schien zum ersten Mal unangenehm berührt zu sein. »Ihr wißt genausogut wie ich, daß ein wegen eines Kapitalverbrechens Angeklagter nicht auf Ehrenwort entlassen werden darf. So verlangt es das Gesetz; ich habe nicht die Befugnis, das Gesetz des Königs zu mißachten.« »Selbstverständlich«, murmelte Lord Darcy. »Selbstverständlich. Ich nehme aber doch an, daß es mir gestattet ist, Master Sean zu sprechen?« »Aber natürlich! Er befindet sich im Tower, und ich habe Anweisung gegeben, daß er es bequem haben soll. Ihr könnt ihn jederzeit sprechen.« Lord Darcy stand auf. »Meinen Dank, My Lords. Dann begebe ich mich am besten gleich ans Werk. Habe ich Eure Erlaubnis, mich zu entfernen?« »Ihr habt meine Erlaubnis, My Lord. Lord Bontriomphe wird Euch zur Tür geleiten.« Der Marquis von London stand unbeholfen auf und verließ den Raum, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Lord Darcy sprach Lord Bontriomphe an, als sie beide bereits an der Eingangstür standen. »My Lord Marquis belieben Spiele zu spielen, Bontriomphe.« »Hm-m-m. Ja. Ja, das tut er.« Bontriomphe hielt inne. »Ich bin sicher, daß Ihr damit zurechtkommen werdet, Darcy.« »Das glaube ich auch. Laßt Euch durch nichts überraschen.« »Bestimmt nicht. Guten Abend, My Lord.« »Guten Abend. Ich werde Euch am Morgen aufsuchen.« In seinem bequemen Raum in jener alten Festung, die als Tower of London bekannt war, war Master Sean O Lochlainn nicht länger wütend — nicht einmal auf das Schicksal. Was ihn im Augenblick erfüllte, das war ein Gefühl entschlossener Geduld. Er wußte, daß Lord Darcy kommen würde und daß seine Haft eher eine Scheinhaft war. Als ihm am Nachmittag die Anklage wegen Mordverdachts vorgelesen worden war, war er etwas böse gewesen, daß man es ihm nicht gestattet hatte, seinen symbolverzierten Reisesack mitzunehmen. Einen Hexer einzusperren, war schon schwierig genug; ihm sein Handwerkszeug zu belassen, wäre allerdings eine ziemliche Dummheit gewesen. Doch irrten sich die Tower-Aufseher, wenn sie meinten, daß ein Hexer ohne sein Werkzeug hilflos wäre. Sie hatten einen Zauberbann außer acht gelassen, den Master Sean schon vor langer Zeit über seinen Reisesack verhängt hatte. Die Auswirkungen dieses Banns lassen sich einfach genug beschreiben: Das Handwerkzeug eines Hexers kann nicht lange gegen seinen willen von ihm ferngehalten werden. Also passierte folgendes: Der Reisesack sollte in Master Seans Zimmer im Royal Steward Arms verbleiben, bis über Master Seans endgültigen Verbleib entschieden worden war. So lautete der Befehl des Obersten Wachtmeisters, als er Master Sean festnahm. Dieser hatte sich höflicherweise der Gewalt des Gesetzes unterstellt und dem Obersten Wachtmeister seinen Zimmerschlüssel überreicht. Aber auf dem Türschloß von Master Seans Zimmer lag kein Zauber wie beim verstorbenen Master Sir James. Als um ein Uhr also eine Hotelbedienstete ihren Reinigungsrundgang machte, hatte sie auch einen Schlüssel zu Master Seans Zimmer dabei, der auch wirklich funktionierte. Bridget Courville betrat natürlich jeden Raum nach dem nächsten. Als sie Master Seans Zimmer betrat, sah sie sich darin um.
»Alles aufgeräumt«, sprach sie zu sich selber. »Ungemachtes Bett, aber das ist ja immer so. Ja, diese Hexer sind recht ordentliche Leute! Keine Flaschen, kein Müll verstreut. Keine großen Trinker, glaube ich. Was ein Hexer ja auch nicht sein darf.« Sie machte das Bett, legte frische Handtücher aus, füllte die Seifenschale mit neuer Seife und erledigte all die Kleinigkeiten, die zu ihren Aufgaben gehörten. Selbstverständlich bemerkte sie auch den symbolverzierten Reisesack. Während dieses Kongresses befand sich in fast jedem Zimmer ein solcher Sack. Aber sie beachtete den Sack nicht bewußt. Ihr Unterbewußtsein aber flüsterte ihr zu, daß der Reisesack >hier nichts zu suchen< habe. Es läßt sich guten Gewissens sagen, daß Bridget Courville wirklich nicht über das nachdachte, was sie gerade tat, als sie den Sack aufhob und in die Halle stellte, bevor sie das Zimmer abschloß und das nächste betrat. Um ein Uhr fünfzehn erblickte ein Dienstjunge, der die Gäste mit Getränken und Speisen zu versorgen hatte, den Sack in der Halle, der dort etwas deplaziert wirkte. Ohne darüber nachzudenken, nahm er ihn an sich und brachte ihn nach unten. Er legte ihn auf den Gepäckständer neben dem Haupteingang und vergaß ihn bald darauf. Hennely Grayme, Oberster Wachtmeister der City of London, verließ um fünf Minuten vor zwei das Hotel, nachdem er alles Erforderliche am Tatort protokolliert hatte. Am Eingang blieb er stehen und erblickte den Reisesack auf dem Ständer. Er las die Anfangsbuchstaben S.O.L. auf dem Griff und hob den Sack wie automatisch auf und nahm ihn mit. Als er im Tower vorbeischaute, wechselte er einige Worte mit dem Oberaufseher und ließ den Sack stehen, ohne ihn zu erwähnen. Bis fünfzehn Minuten vor drei blieb der Reisesack unbemerkt im Vorzimmer des Oberaufsehers stehen. Während dieser Zeit kamen viele Leute in das Vorzimmer und verließen es wieder, ohne den Sack wahrzunehmen. Keiner von ihnen ging in die richtige Richtung. Um zwei Uhr fünundvierzig erblickte Master Seans Zellenaufseher den Reisesack. Nachdem er dem Oberaufseher Meldung gemacht hatte, nahm er beim Hinausgehen den Sack mit und trug ihn die Wendeltreppe zu Master Seans Zelle hoch. Er schloß die Zellentür auf und klopfte höflich an. »Master Sean, ich bin es, Aufseher Linsy.« »Herein, mein Junge, hereinspaziert!« sagte Master Sean jovial. Die Tür ging auf. Als Master Sean den Reisesack in der Hand des Aufsehers erblickte, mußte er ein Lächeln unterdrücken »Was kann ich für Euch tun, Aufseher?« »Ich wollte mich erkundigen, was Ihr wohl zum Abendessen zu speisen wünscht, Master«, sagte Aufseher Linsy unterwürfig. Gedankenverloren setzte er den Reisesack im Zimmer ab. »Ach, mein guter Aufseher, das ist mir unwichtig«, sagte Master Sean. »Was immer der Oberaufseher bestimmen mag.« Aufseher Linsy lächelte. »Nett von Euch, Master.« Dann senkte er die Stimme. »Keiner von uns, wo dran glauben täte, daß Ihr es wart, Master Sean. Unsereiner weiß doch, daß ein Hexer niemanden umbringen tut. Nicht so, meine ich, nicht mit Schwarzer Magie.« »Danke für das Vertrauen, mein Junge«, sagte Master Sean wohlwollend. »Ich darf Euch versichern, daß es nicht unangebracht ist. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt, ich muß über einiges nachdenken.«
»Selbstverständlich, Master Sean, selbstverständlich!« Und Aufseher Linsy schloß die Tür, betätigte sorgfältig den Schlüssel und ging weiter seinen Geschäften nach. Lord Darcys Fahrt vom Palace du Marquis zum Tower of London war nicht sonderlich ereignisreich. Die Droschke klapperte die Mark Lane hinaus, schwenkte und fuhr den Tower Hill hinunter. Am Tor von Water Lane hielt sie an. Lord Darcy stieg aus. Ein schwerer, weißlicher Nebel zog mit seinen Schwaden durch die Stäbe des hohen Eisenzauns und blieb an den Schatten der gotischen Gewölbe hängen. Von der Themse kamen, nur schwach zu hören, Glockenlaute von Schiffen herüber, die sich durch das nebelbeladene Wasser schoben. Die Luft war schal, und ein leiser Geruch von Meeresfäule zog die Wand entlang, die eine der Festungsmauern ausmachte. Lord Darcy rümpfte die Nase und schritt über die steinerne Brücke, die vom Middle Tower zu einem weiteren Turm führte. Dieser Turm war größer und von schwarzgrauer Farbe, die von vereinzelten weißen Wandsteinen unterbrochen wurde. Er schritt durch einen weiteren Torbogen, ging einen kurzen, geraden Weg entlang und bog schließlich nach rechts ab, um St. Thomas' Tower zu betreten. Binnen weniger Minuten öffnete der Aufseher das Schloß von Master Seans Zelle. »Ruft mich, wenn Ihr wieder fort wollt, My Lord«, sagte er. Er ging hinaus und schloß die Tür von außen ab. »Nun, Master Sean«, sagte Lord Darcy mit einem humorvollen Blinken im Auge, »ich nehme doch an, daß Ihr diese idyllische Erholung von Euren anstrengenden Tätigkeiten gebührend genießt, eh?« »Hm-m-m, ja und nein, My Lord«, sagte der kleine dicke Hexer. Er winkte mit der Hand in Richtung eines einfachen kleinen Tisches, auf dem sein Reisesack lag. »Ich kann nicht behaupten, daß es mir sonderlich gefällt, eingesperrt zu sein, aber so habe ich doch Gelegenheit bekommen, herumzuexperimentieren und nachzudenken.« »Ach ja? Und worüber?« »Darüber, wie man in verschlossene Räume eindringt und sie wieder verläßt, My Lord.« »Und zu welchem Ergebnis seid Ihr gekommen, mein guter Sean?« fragte Lord Darcy. »Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß das Sicherheitssystem hier zwar gut ist, aber doch nicht gut genug. Um mich gefangenzuhalten, meine ich. Den Zauber auf diesem Schloß habe ich in zehn Minuten geknackt.« Er hob einen kleinen, blitzenden Messingstab hoch und zwirbelte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Natürlich habe ich alles wieder versiegelt, My Lord. Es gibt schließlich keinen Grund, den Aufseher zu beunruhigen, der ganz in Ordnung ist.« »Ich sehe, daß Ihr Euren Zubehörsack schnell genug zurückbekommen habt. Na ja, man kann ja auch nicht von einem gewöhnlichen Gefängnismagier erwarten, daß er es mit jemandem von Euren Fähigkeiten aufnimmt, Meisterhexer. Nun setzt Euch bitte und berichtet mir ausführlich, wie es dazu kommen konnte, daß Ihr in einem der ältesten Wahrzeichen von London eingekerkert wurdet. Laßt keine Einzelheiten aus.« Lord Darcy unterbrach Master Sean nicht, während dieser seine Geschichte erzählte. Er hatte schon seit Jahren mit dem kleinen Hexer zusammengearbeitet und wußte, daß Seans Gedächtnis zuverlässig und genau arbeitete. »Und dann«, beendete Master Sean seinen Bericht, »brachte mich Lord Bontriomphe hierher, unter, wie ich
zugeben muß, ehrlichen Entschuldigungen seinerseits. Ich kann es allerdings überhaupt nicht begreifen, warum mich der Marquis hat einsperren lassen. Ein Mann mit seinen Fähigkeiten müßte doch eigentlich sehen können, daß ich nichts mit dem Tod von Sir James zu tun gehabt habe.« Lord Darcy zupfte etwas Tabak aus einem ledernen Beutel und stopfte ihn mit dem Daumen in den goldverzierten Porzellankopf seiner Lieblingspfeife. »Natürlich weiß er, daß Ihr unschuldig seid, mein lieber Sean«, sagte er. »My Lord Marquis ist sowohl ein Geizhals wie auch ein Faulpelz. Bontriomphe ist ein ausgezeichneter Untersuchungsbeamter, doch fehlt es ihm an der Deduktionsfähigkeit in ihrer höchsten Form. My Lord Marquis aber vermag es, aufs brillanteste zu kombinieren und Schlüsse zu ziehen, aber er ist sowohl körperlich als auch geistig recht träge. Er verläßt sein Heim nur sehr selten und niemals kriminalistischer Untersuchungen wegen. Muß er es doch tun, so bringt er es fertig, die verzwicktesten und kompliziertesten Rätsel zu lösen, ohne mehr zur Hand zu haben als Lord Bontriomphes mündliche Berichterstattung. Sein Denkvermögen ist — brillant.« Lord Darcy zündete seine Pfeife an, und hüllte sich in eine Wolke wohlduftenden Rauches. »Wenn Ihr so etwas sagt«, sagte Master Sean, »dann ist das ein ziemlich großes Kompliment.« »Ganz und gar nicht. Es ist eine bloße Feststellung von Tatsachen. Vielleicht liegt es ja im Blut, wir sind immerhin Cousins, wie Ihr wißt.« Master Sean nickte. »Wenigstens fließt die Faulheit nicht in Eurem Blut, My Lord. Aber warum sollte er mich einsperren, wenn er faul ist?« »Faul und geizig, mein guter Sean«, berichtigte Lord Darcy den Hexer. »Beides ist dabei wichtig. Er hat bereits erkannt, daß dieser Fall viel zu kompliziert ist, um ihn den etwas dürftigen Fähigkeiten von Lord Bontriomphe anzuvertrauen.« Lord Darcy lächelte und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ihr habt gerade davon gesprochen, daß ich Seiner Lordschaft Scharfsinnigkeit ein Kompliment gemacht habe. Wenn dem so sein sollte, dann hat er, auf seine Weise, mir dasselbe Kompliment gemacht. Er ist ausgesprochen faul und sucht deshalb jemanden, der die Arbeit für ihn erledigt, und zwar jemanden, der fähig genug ist, das Problem mit der gleichen Leichtigkeit zu lösen wie er selbst, wenn er sich nur damit befassen würde. Er hat mich ausgewählt, und es schmeichelt mir, daß er wohl niemanden sonst dafür bestimmt hätte.« »Das erklärt aber noch nicht, warum er mich eingesperrt hat«, sagte Master Sean. »Er könnte Euch doch einfach um Hilfe bitten!« Lord Darcy seufzte. »Ihr habt schon wieder seinen Geiz vergessen, guter Sean. Würde er Seine Königliche Hoheit von der Normandie darum bitten, ihm für eine Weile meine Dienste zur Verfügung zu stellen, dann müßte er mein Gehalt aus seiner eigenen Börse bezahlen. Aber weil er Euch eingesperrt hat, hat er mich meines meistgeschätzten Helfers beraubt. Er weiß, daß ich Euch nicht eine Sekunde länger in Gefangenschaft dulden werde als nötig. Er weiß, daß ich also selbst um Urlaub bitten muß, um den Fall auf eigene Kosten zu lösen. So spart er eine hübsche Menge Geld.« »Erpressung!« sagte Master Sean. >»Erpressung< ist vielleicht ein etwas zu hartes Wort«, sagte Lord Darcy nachdenklich, »aber ich muß zugeben, daß es wohl kein treffenderes dafür gibt. Aber diese Angelegenheit wird noch zu ihrer Zeit erledigt werden. Jetzt müssen
wir uns zunächst einmal um den Tod von Sir James kümmern. Also, wie war das mit dem Schloß an der Tür von Sir James' Zimmer?« Master Sean lehnte sich im Stuhl zurück. »Nun, My Lord, wie Ihr wißt, sind die meisten kommerziellen Zauber recht einfach konstruiert, besonders solche, bei denen man mehr als einen Schlüssel benutzen muß, wie das ja in Hotels der Fall ist.« Lord Darcy nickte geduldig. Master Sean O Lochlainn hatte die etwas schulmeisterliche Angewohnheit, seine Erklärungen so abzufassen, als gelte es, Zauberlehrlinge aufzuklären. Das war allerdings kaum verwunderlich, denn der kleine dicke Hexer hatte früher tatsächlich in einer der Schulen der Hexengilde unterrichtet und hatte auch zwei Lehrbücher und einige Abhandlungen über das Thema verfaßt. Lord Darcy hatte es sich schon lange angewöhnt, genau zuzuhören, auch dann, wenn er Teile des Vertrags bereits kannte; denn immer gab es etwas Neues zu lernen, das man später vielleicht einmal verwenden konnte. Lord Darcy besaß nicht das angeborene Talent, das es erst ermöglicht, die Gesetze der Magie direkt anzuwenden, aber man wußte ja nie, ob nicht irgendein esoterisches Informationsstückchen auch einem Kriminalinspektor einmal von Nutzen sein konnte. »Ein durchschnittlicher kommerzieller Zauber arbeitet nach dem Gesetz der Übertragung, so daß jeder Schlüssel, der das Schloß berührt, während der Zauber verhängt wird, dieses Schloß öffnen und verriegeln kann«, fuhr Master Sean fort. »Aber das bedeutet natürlich auch, daß der Zauber Vergleichsweise abgeschwächt wird. Ein normaler Nachschlüssel würde zwar nicht funktionieren, aber jeder gute Lehrling der Hexergilde könnte den Zauber brechen, wenn er einen solchen Nachschlüssel besäße. Ein Master aber könnte ihn sogar ohne Schlüssel in ein bis zwei Minuten brechen. Der persönliche Zauber eines Masters aber operiert mit dem Gesetz der Relevanz, um den gesamten Schlüssel-und-Schloß-Mechanismus als Einheit zusammenzubinden, also: ein Schloß, ein Schlüssel. Der Zauber wird verhängt, während sich der Schlüssel im Schloß befindet, so daß die Bindung den Schlüssel als Teil des Schlosses umfaßt, wenn Ihr mir folgen könnt, My Lord. Kein anderer Schlüssel kann dann für das betreffende Schloß verwendet werden, auch wenn er dem eigentlichen Schlüssel gleicht wie ein Ei dem anderen.« »Und das Schloß von Master Sir James hatte also einen solchen Zauber, eh?« fragte Lord Darcy. »So ist es, My Lord.« »Könnte ein Master-Hexer den Zauber beseitigt haben?« Master Sean nickte. »Aye, das hätte er gekonnt, in etwa einer halben Stunde. Aber bedenkt bitte, was das bedeutet hätte, My Lord. Der Unbekannte hätte mindestens eine halbe Stunde lang im Gang stehen müssen, um das notwendige Ritual durchzuführen, möglicherweise sogar länger. Jeder, der vorbeigekommen wäre, hätte es bemerken müssen. Auf jeden Fall hätte Master Sir James es bemerkt, sofern er sich im Zimmer aufhielt. Aber nehmen wir einmal an, daß es so gewesen wäre. Nun öffnet der Unbekannte die Tür mit einem gewöhnlichen Nachschlüssel, geht hinein und tötet Sir James. So weit so gut. Danach kommt er aus dem Zimmer und verhängt einen weiteren Zauber über Schloß und Schlüssel, wobei der Schlüssel ja im Schloß stecken muß. Dazu braucht er eine weitere halbe Stunde. Und dann . . .« Master Sean erhob den Zeigefinger mit einer theatralischen
Geste. »Und dann — muß er den Schlüssel wieder in das Zimmer zurückbefordern!'« Master Sean spreizte die Hände, mit den Handflächen nach oben. »Ich muß zu bedenken geben, das so etwas nicht möglich ist, My Lord. Nicht einmal für einen Magier.« Lord Darcy zog nachdenklich an seiner Pfeife, dann sagte er: »Ist es nicht theoretisch möglich, einen Gegenstand von einem Punkt im Raum an einen anderen Punkt zu befördern, ohne den Zwischenraum tatsächlich zu durchqueren?« »Theoretisch?« Master Sean lächelte schief. »O ja, My Lord. Theoretisch ist die Transmutation der Metalle theoretisch auch möglich. Aber niemand hat das bisher geschafft. Wenn irgend jemand die notwendigen Riten und Zeremonien entdecken würde, dann wäre das der größte wissenschaftliche Durchbruch des Zwanzigsten Jahrhunderts. So etwas könnte man nicht geheimhalten. Beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft ist das einfach unmöglich, My Lord. Und sollte es tatsächlich durchführbar sein, My Lord, dann würde man das bestimmt nicht für solche triviale Dinge anwenden, wie einen großen Messingschlüssel ein paar Fuß weit zu bewegen.« »Nun gut«, sagte Seine Lordschaft, »das können wir also ausschließen.« »Das Problem besteht darin«, sagte Master Sean, »daß all diese Zauber, die einen abschirmen sollen, um das Privatleben zu sichern, es so schwierig machen, seine Aufgabe zu erfüllen. Wenn es die nicht gäbe, dann wäre Euer Beruf recht einfach.« »Mein lieber Sean«, sagte Cord Darcy lächelnd, »wenn es diese Zauber zur Absicherung des Ungestörtseins nicht in jedem Hotel, Privathaus, Bürogebäude und in allen öffentlichen Gebäuden jeder Art gäbe, dann wäre mein Beruf nicht einfach, es gäbe ihn überhaupt nicht. Obwohl das Hellsehtalent sicherlich nützlich ist, führt sein Mißbrauch natürlich zu solch starker Beeinträchtigung des Privatlebens, daß wir uns davor schützen müssen. Stellt Euch doch einmal vor, was ein Hellseher alles anrichten könnte, wenn es diese Schutzzauber nicht gäbe! Zwar könnte die Polizei jeden Fall sofort einem Hellseher unterbreiten, der ihn sofort aufklären würde; andererseits könnte aber auch jede korrupte Regierung Hellseher einsetzen, um jeden beliebigen Bürger zu bespitzeln. Ganz zu schweigen von den Möglichkeiten der Erpressung! Nein, wir müssen dankbar dafür sein, daß uns die modernen Schutzzauber davor bewahren, auch wenn es dadurch notwendig wird, Verbrechen auf der materiellen Ebene aufzuklären. Und auch so werde ich nie herbeigerufen, wenn auf dem Land irgend etwas passiert. Wenn jemand auf einem Feld oder im Wald ermordet wird, dann kann ein Wanderhexer für den örtlichen Wachtmeister den Fall mit Leichtigkeit aufklären, so wie er auch vermißte Kinder und entlaufene Haustiere wiederfindet. Meine Fähigkeit, Tatsachen aufgrund materiellen und thaumaturgischen Beweismaterials herauszufinden, wird vielmehr in den Großstädten, Kleinstädten und Dörfern in Anspruch genommen. Meine Aufgabe ist es, Methode, Motiv und Tatverlauf aufzuklären.« Er zog ein kleines silbernes Werkzeug mit Elfenbeingriff aus der Tasche und begann, die Asche in seiner Pfeife niederzudrücken. »Methode, Motiv und Tatverlauf«, wiederholte er nachdenklich. »Im Augenblick haben wir keine Kandidaten für die ersten beiden Fragen; was den Tatverlauf beziehungsweise die Tatgelegenheit angeht aber,
haben wir viel zu viele davon.« Er steckte den Pfeifenstopfer wieder in die Tasche und nahm die Pfeife erneut in den Mund. »Normalerweise, wenn ein Fall scheinbar mit Magie zu tun hat, mein lieber Sean«, fuhr er fort, »dann kommt es vor allem darauf an, den in Frage kommenden Magier ausfindig zu machen. Ihr werdet Euch an das hochinteressante Benehmen des Lord Duncan auf Schloß D'Evreux erinnern, an die seltsamen Gewohnheiten des einarmigen Kesselflickers auf dem Michaeli-Fest, an den polnischen Hexer, der im Fall des Atlantischen Fluchs eine Rolle spielte, an den fehlenden Magier in der Erpressungsaffäre von Canterbury sowie natürlich auch an die merkwürdige Affäre um Lady Overleighs Massivgoldnachttopf. In allen diesen Fällen war es immer ein einziger Hexer, der darin verwickelt war. Aber was liegt hier dagegen vor?« Lord Darcy wies mit seiner Pfeife in die ungefähre Richtung des Royal Steward Hotels. »Hier haben wir fast die Hälfte aller amtlich zugelassenen Hexer des Reichs versammelt. Darunter befinden sich ungefähr fünfund-siebzig oder achtzig Prozent der mächtigsten Magier der Erde! Wir haben es mit einer Gruppe, ja mit einer Menschenmenge von Verdächtigen zu tun, von denen jeder die Fähigkeit besitzt, gegen Master Sir James Zwinge Schwarze Magie anzuwenden, und von denen jeder auch die Möglichkeit hatte, dies zu tun.« Nachdenklich massierte Master Sean seine runde irische Nase mit Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand. »Ich kann einfach nicht verstehen, warum irgendeiner von ihnen es getan haben sollte, My Lord. Jedes Mitglied der Gilde weiß doch, wie gefährlich das ist! >Der Geisteszustand, der für den Gebrauch des Talents zum Zwecke der Schwarzen Hexerei notwendig ist, ist auch ein Geisteszustand, der denjenigen, der davon Gebrauch macht, unweigerlich zerstören wird. < Das ist ein Zitat aus einem der Grundlehrbücher, My Lord, und jedes grimoire sagt in etwa dasselbe. Wie könnte ein Hexer denn so dumm sein?« »Warum werden denn manche Chirurgi von Opiumdestillaten abhängig?« fragte Lord Darcy. »Ich weiß, My Lord, ich weiß«, sagte Master Sean mit etwas müder Stimme. »Ein Akt Schwarzer Magie wirkt allein nicht verheerend; er bewirkt in vielen Fällen nicht einmal einen nach weisbaren geistigen oder moralischen Wandel bei demjenigen, der ihn durchführt. Aber das entscheidende Wort dabei ist eben >nachweisbar<, und zwar deswegen, weil der moralische Verfall bereits eingesetzt haben muß, bevor ein Mensch, der das Talent hat, überhaupt daran denken würde, Schwarze Magie zu praktizieren.« Obwohl es schon öfter vorgekommen war und auch noch öfter vorkommen würde, konnte sich kein Mitglied der Gilde mit dem Gedanken anfreunden, daß irgendein anderes Mitglied einen Mißbrauch seiner Kunst begehen könnte, der die Schwarze Magie bedingte. Nicht, daß sie sich davor fürchteten, sich damit auseinandersetzen zu müssen, o nein! Sie mußten sich damit auseinandersetzen, und das taten sie auch, mit entsprechender Strenge. Lord Darcy wußte genau, was einem Mitglied der Gilde widerfuhr, das schuldig befunden wurde, sein Talent zu bösen Zwecken mißbraucht zu haben. Zerstörung! Der böse Hexer, von seinem eigenen Gewissen überführt, überführt auch von einer wahren Jury seiner wahren Gleichgestellten, überführt und verurteilt von denjenigen, die seine Motive und Gründe wirklich verstehen
konnten, die mit ihm sympathisieren konnten — dieser Hexer wurde' dazu verurteilt, sein Talent . . . . . . genommen zu bekommen. . . . ausradiert zu bekommen. . . . zerstört zu bekommen. Ein Exekutionskomitee wurde benannt, das aus einer Gruppe von Hexern bestand, die groß und mächtig genug waren, die Talent-Kraft des Schuldigen zu besiegen. Und wenn sie fertig waren, dann hatte der Verurteilte nichts verloren außer seinem Talent. Sein Wissen, sein Gedächtnis, seine Moral, seine geistige Gesundheit — alles blieb ihm erhalten. Aber seine Fähigkeit, Magie ausüben zu können, war verschwunden, ohne jemals wiederzukehren. »In der Zwischenzeit«, sagte Lord Darcy, »haben wir ja auch noch eigene Sorgen. Commander Ashley hat Euch meine Nachricht übermittelt?« »In der Tat, My Lord, das hat er getan.« »Ich bin untröstlich, Euch vom Kongreß wegholen zu müssen, mein guter Sean. Ich weiß, was Euch der Kongreß bedeutet. Aber das ist kein gewöhnlicher Mord, er berührt die Sicherheit des Reichs.« »Ich weiß, My Lord«, sagte Master Sean, »Dienst ist Dienst.« Aber in seiner Stimme klang auch Trauer mit. »Ich hätte ja wirklich gern meine Arbeit vorgetragen, aber sie wird ja im Journal veröffentlicht werden, das ist ja genauso gut.« »Hm«, sagte Lord Darcy. »Wann solltet Ihr denn den Vortrag halten?« »Am Sonnabend, My Lord. Master Sir James und ich wollten ja unsere Arbeiten miteinander verbinden und sie zusammen vorstellen, aber das geht jetzt natürlich nicht mehr. Sie werden also getrennt veröffentlicht werden müssen.« »Sonnabend, ja?« sagte Lord Darcy. »Nun, wenn wir bis morgen nachmittag nach Cherbourg zurückgekehrt sein könnten, dann könnten wir die meiste Arbeit wohl innerhalb von vier-undzwanzig Stunden erledigen, sagen wir also bis Freitag nachmittag. Ihr könntet das Abendboot nehmen und rechtzeitig wieder hier sein, um Eure Arbeit und die von Master Sir James vorzustellen.« Master Seans Gesicht erhellte sich. »Das ist sehr edel von Euch, My Lord! Aber Ihr müßt mich vorher aus dieser hübschen Zelle befreien, damit wir die Angelegenheit erledigen können!« »Hah!« Lord Darcy sprang plötzlich auf. »Mein lieber Master Sean, das Problem hat sich, glaube ich, schon aufgelöst — obwohl es vielleicht ein wenig Zeit braucht, die, äh, richtigen Dinge in die Wege zu leiten. Und nun wünsche ich Euch gute Nacht, wir sehen uns morgen wieder.« Im Hof unterhalb der hohen Befestigungsmauern, die den Tower of London umgaben, wurde der Nebel immer dichter, und hinter dem Water Lane Tor schien sich die Welt in undurchdringliche Watte verwandelt zu haben. Die Gaslaternen im Hof und über dem Tor schienen ihr Licht ins Nichts auszustrahlen. »Habt Ihr kein Fahrzeug, das auf Euch wartet, Euer Lordschaft?« fragte der Aufseher vom Dienst, der zusammen mit Lord Darcy auf der Treppe stand. »Nein«, gab Lord Darcy zu, »ich habe eine Mietdroschke genommen. Ich muß gestehen, daß ich nicht auf den Wetterbericht geachtet habe. Wie lange wird der Nebel noch andauern?« »Dem Oberhexer des Wetterbüros zufolge, Euer Lordschaft, wird er sich nicht vor fünf nach fünf am Morgen auflösen. Er wird sich in einen leichten Nieselregen verwandeln, und um zwölf nach sechs wird es sich wieder aufklären.« »Na ja, ich kann jedenfalls nicht bis zum Sonnenaufgang hier stehenbleiben«, sagte Lord Darcy
mißmutig. »Ich werde den Mann am Tor eine Mietdroschke für Euch herbeipfeifen lassen, Euer Lordschaft, es ist ja noch recht früh. Ihr könnt ja im äußeren . . .« Er hörte auf zu reden. Irgendwo aus dem Nebel, der Water Lane erstickte, kam das Geräusch von klappernden Hufen und rollenden Rädern und wurde immer lauter. »Das könnte eine Mietdroschke sein, Euer Lordschaft!« Mit befehlender Vorgesetztenstimme bellte er: »Aufseher Jason? Gebt dieser Droschke ein Signal!« »Jawohl, Sergeant!« ertönte eine vom Nebel gedämpfte Stimme vom Tor her, der sofort das schrille Biep! Biep! Biep! einer Droschkenpfeife folgte. »Ich fürchte, wir werden enttäuscht werden, Sergeant«, sagte Lord Darcy. »Eure Ohren sollten Euch sagen, daß das nahende Gefährt ein Zweispänner ist. Folglich handelt es sich um eine private Stadtkutsche und nicht um eine öffentliche Mietdroschke. Es gibt keinen einzigen Mietkutscher in ganz London, der so verschwenderisch wäre, zwei Pferde zu benutzen, wenn es ein einziges auch tut.« Der Sergeant-Aufseher horchte auf das Geräusch. »Hm. Habt wohl recht, Euer Lordschaft. Klingt wohl doch wie ein Zweispänner, wenn man genauer hinhört. Aber trotzdem . . .« »Es sind zwei gut trainierte Pferde«, sagte Seine Lordschaft. »Sie laufen fast im Gleichschritt. Aber da nun einmal zwei Hufe das Straßenpflaster nicht im selben Augenblick berühren können, gibt es einen kleinen Hall, den das geübte Ohr mühelos erkennen kann.« Das Biepen der Pfeife hatte aufgehört. Offenbar hatte der Aufseher gemerkt, daß es sich bei dem nahenden Gefährt nicht um eine Mietdroschke handelte. Dennoch konnte man hören, wie die Kutsche ihre Fahrt verlangsamte und vor dem Tor zum halten kam. Einen Augenblick später knallten die Zügel, und die Pferde setzten sich wieder in Bewegung. Die Kutsche machte eine Wendung und fuhr durch das Tor hindurch. Plötzlich kam sie aus dem Nebel hervor, als ob sie sich mit einem Mal aus diesem selbst gebildet und verfestigt hätte. Immer noch umrißhaft im matten Licht der Gaslaternen wahrnehmbar, kam sie einige Yards entfernt am Bordstein zum Stehen. Dann rief eine Stimme recht deutlich aus dem Gefährt: »Lord Darcy! Seid Ihr es?« Es war ganz klar eine weibliche Stimme, die Lord Darcy auch bekannt vorkam, doch wegen des dämpfenden Nebels und der Klangverzerrung des Kutscheninneren konnte er sie nicht sofort erkennen. Er wußte, daß seine eigenen Züge aus der Entfernung recht deutlich zu erkennen waren, da er unmittelbar unter einer Gaslaterne stand. »My Lady, Ihr habt mir voraus, daß Ihr mich erkennt«, sagte er. Er hörte ein leises Lachen. »Wollt Ihr etwa sagen, daß Ihr keine Wappenschilder mehr lesen könnt?« Lord Darcy hatte bereits bemerkt, daß die Tür des Gefährts mit einem Wappenschild geschmückt war, doch war es unmöglich, bei dieser Beleuchtung Einzelheiten auszumachen. Dies war jedoch nicht mehr nötig, denn mittlerweile hatte er die Stimme wiedererkannt. »Selbst das blitzende Wappen von Cumberland kann in dieser Londoner Erbsensuppe bis zur Unkenntlichkeit gedämpft werden, My Lady«, sagte Lord Darcy, während er auf das Gefährt zuschritt. »Euer Gnaden sollte nicht nur die übliche Beleuchtung und Nebellampen führen, wenn Ihr Wert darauf legt, daß Euer Wappen in einer solchen Nacht erkannt wird.« Er konnte sie jetzt deutlich sehen. Das schöne Gesicht und die Wolke goldenen Haares wurden nur schwach vom
Schatten und vom Nebel gedämpft. »Ich bin allein«, sagte sie sehr sanft. »Hallo, Mary«, sagte Lord Darcy ebenso sanft. »Was zum Teufel machst du hier?« »Ich bin gekommen, um dich abzuholen, was denn sonst«, sagte Mary, Herzoginwitwe von Cumberland. »Du hast deine Mietdroschke fortgeschickt, weil du nicht an den kommenden Nebel gedacht hast, jetzt bist du also festgenagelt. Auf dieser Seite von St. Paul's kann man keine Droschke mehr bekommen. Steig ein, mein Lieber, und laß uns dieses traurige Gefängnis verlassen.« Lord Darcy wandte sich dem Sergeant-Aufseher zu, der immer noch unter der Gaslaterne stand. »Ich danke Euch für für Bemühungen, Sergeant. Ich brauche keine Mietdroschke mehr. Ihre Hoheit hat mir freundlicherweise angeboten, mich mitzunehmen.« »Sehr wohl, Euer Lordschaft. Gute Nacht, Euer Lordschaft. • Gute Nacht, Euer Gnaden.« Sie wünschten ihm ebenfalls eine gute Nacht. Darcy stieg in die Kutsche, Ihre Hoheit gab dem Kutscher ein Zeichen, und das Gefährt setzte sich in Bewegung. Die Herzogin ließ die Blenden herab und drehte die Lampe an der Decke des Kutscheninneren höher, so daß sich die beiden Passagiere besser erkennen konnten. »Du siehst gut aus, mein Lieber«, sagte sie. »Und du bist so schön wie immer«, antwortete Lord Darcy. In seinen Augen glitzerte ein spöttisches Licht, das Ihre Hoheit von Cumberland nicht ganz begreifen konnte. »Und wo willst du nun hin?« fragte sie und versuchte, diesem Blick mit ihren eigenen, erstaunlich dunkelblauen Augen zu begegnen. »Wohin du nur magst, meine Süße. Wir können ja für eine Weile einfach durch London fahren, so lange wie du dazu brauchst, mir die wichtige Information zu geben, die sich auf den Mord an Master Sir James Zwinge heute morgen bezieht.« Ihre Augen weiteten sich. Einen Augenblick lang sagte sie gar nichts. Dann: »Verdammt! Woher weißt du das?« »Das habe ich geschlußfolgert.« »Quatsch!« »Aber nein! Du hast doch einen scharfsinnigen Verstand, meine Liebe. Du solltest doch meine Gedankengänge nachvollziehen können.« Wiederum herrschte Schweigen, dieses Mal fast eine ganze Minute lang, während Mary De Cumberland Lord Darcy ohne mit den Lidern zu blinzeln ins Gesicht sah, wobei ihr Gehirn im Eiltempo arbeitete. Dann schüttelte sie abrupt den Kopf. »Du hast irgendeine Information, die ich nicht habe.« »Das glaube ich nicht. Außer, daß ich vielleicht besser weiß, wie dein Gehirn arbeitet, als du. Meine Liebe, du hast die kostliche Angewohnheit, einem Mann das Gefühl zu vermitteln, daß er dir fürchterlich wichtig ist — selbst wenn du dafür ein paar kleine Lügen erzählen mußt.« Sie lächelte. »Du bist mir wichtig, Liebling. Außerdem sind kleine Lügen in der Diplomatie und im guten Benehmen recht nützlich und notwendig, daran ist schließlich nichts Schlimmes. Und was, bitte schön, hat das mit deinen angeblichen Schlußfolgerungen zu tun?« »Meine Liebe, das war unter deinem Niveau. Du weißt, daß ich niemals behaupte, irgendwelche geistigen Fähigkeiten zu besitzen, wenn es nicht stimmt.« Seine Stimme klang scharf. Sie lächelte reumütig und berührte seinen Arm mit einer Hand. »Ich weiß. Entschuldigung. Bitte erkläre es doch!« Lord Darcy lächelte wieder. Er legte seine Hand auf die ihre. »Entschuldigung angenommen. Die Erklärung? Ganz
einfach, wie folgt: Du hast behauptet, daß du mich am Tower abholen wolltest. Nun weiß ich aber, daß außer mir selbst, den Aufsehern vom Tower, Master Sean und zwei anderen Leuten niemand wußte, wo ich mich befand, es sei denn, er hätte es mit thaumaturgischen Mitteln herausgefunden. Keiner sonst wußte überhaupt, daß ich gerade in London war. Du bist eine Hexe, das ist wahr, aber nur im Rang einer Wanderhexe, und wir wissen beide, daß deine präkognitiven Fähigkeiten nur durchschnittlich sind. Du hättest vielleicht folgern können, daß ich sofort herbeigeeilt bin, sobald ich von Master Seans Festnahme gehört hatte, aber du konntest unmöglich wissen, wann ich genau den Tower verlassen würde. Ergo war deine Ankunft ein Zufall. Als du jedoch mit deiner Kutsche auf das Tor zukamst, hast du den Aufseher gehört, wie er nach einer Droschke pfiff. Deshalb hättest du jedoch nicht anhalten lassen; du bist angehalten, um dich dem Aufseher gegenüber auszuweisen, damit du in den Hof einfahren konntest. Dein Ziel muß also der Tower selbst gewesen sein, sonst hättest du das Pfeifen nicht beachtet und wärst vorbeigefahren. Dann kamst du in den Hof. Du hast mich erblickt, und schon der Tonfall deiner Stimme zeigte mir, daß du mich nicht dort erwartet hast. Deine Kombinationsgabe ist überdurchschnittlich hoch, aber es brauchte nicht gerade einen Gehirnriesen, um zu folgern, daß ich es war der wohl die Mietdroschke benötigte. Du weißt, daß ich normalerweise nicht fahrlässig bin; also war dir klar, daß ich erst vor kurzem in London eingetroffen war und die Nebelvorhersage im Courier nicht gelesen haben konnte, folglich auch meine Mietdroschke entlassen hatte. Deshalb hast du diese schmeichelhafte und völlig erlogene kleine Geschichte 'erzählt, nämlich, daß du mich abholen wolltest.« Ihr Lachen war sanft und kehlig. »Es war keine Lüge, die dich 'täuschen sollte.« »Ich weiß. Du wolltest, daß ich vor Erstaunen den Mund aufsperre und sage: >Oh! Woher wußtest du denn, daß ich hier bin? Bist du etwa eine Seherin geworden? < Dann hättest du gelächelt und weise dreingeschaut und gesagt: >Ach weißt du, ich habe so meine Methoden!<« Sie lachte erneut. »Ihr kennt mich einfach zu gut, My Lord! Aber was hat all das damit zu tun, daß du wußtest, daß ich Informationen über den Tod von Master Sir James habe?« »Kommen wir auf den Zufall zurück, der dich zum Tower gebracht hat«, sagte Lord Darcy. »Wenn du nicht meinetwegen gekommen bist, warum dann? Es mußte wichtig sein, sonst wärst du nicht in einer solch nebligen Nacht ausgefahren. Und doch bittest du mich sofort, nachdem du mich erblickt hast, einzusteigen und fährst mit mir weg. Was immer du auch im Tower wolltest, kannst du also mit mir erledigen, nicht wahr? Offenbar bist du also gekommen, um Master Sean etwas mitzuteilen, aber nichts rein persönliches. Ergo — « Er lächelte und ließ die Folgerung ungesagt. »Eines Tages«, sagte die Herzoginwitwe von Cumberland, »werde ich es gelernt haben, nicht zu versuchen, dich in deinem eigenen Spiel zu schlagen.« »Aber nicht allzubald, hoffe ich doch!« sagte Lord Darcy. »Nur wenige Leute beiderlei Geschlechts geben sich die Mühe, ihren Intellekt anzustrengen. Es ist recht erfrischend, eine Frau zu kennen, die das tut.« »O weh!« Sie gab ihrer Stimme einen Klang von gespielter Trauer. »Er liebt mich nur wegen meines Intellekts!« »Mens sana in
corpore sano, meine Liebe! Aber kommen wir auf die Information zurück, die du für mich hast.« »Nun gut«, sagte sie, plötzlich sehr nachdenklich drein-blickend. »Ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat oder nicht, aber ich will es dir sagen, dann kannst du das selbst entscheiden.« Lord Darcy nickte. »Nur zu.« »Es war etwas, was ich gesehen und gehört habe«, sagte Mary De Cumberland. »Heute morgen um sieben vor acht, ich habe mir die Zeit so gut gemerkt, weil ich um viertel nach acht eine Verabredung zum Frühstück hatte, habe ich mein Hotelzimmer verlassen.« Sie hörte auf zu reden und sah ihm gerade in die Augen. »Ich habe das Zimmer direkt gegenüber dem von Master Sir James, am anderen Ende der Halle. Wußtest du das?« »Ja.« »Sehr gut. Ich öffnete also die Tür. Ich hörte eine Stimme durch die gegenüberliegende Tür dringen. Wie du weißt, sind die Türen im Royal Steward sehr dick, eine gewöhnliche Unterhaltung hätte man nicht hören können. Aber es war die Stimme einer Frau, nicht sehr hoch, aber recht laut und recht durchdringend. Was sie sagte, war sehr deutlich zu hören. Sie sagte . . .« »Warte!« Lord Darcy hob eine Hand und unterbrach sie. »Kannst du die Worte genau wiedergeben, Mary?« »Ja, das kann ich«, sagte die Herzogin mit Bestimmtheit. »Sie sagte: >Bei Gott, Sir James! Ihr verurteilt ihn zum Tode! Ich warne Euch! Wenn er stirbt, sterbt Ihr auch!<« Ein Schweigen trat ein, das nur vom Klappern der Hufe und vom sanften Gleiten pneumatischer Reifen auf der Straße durchbrochen wurde. »Und die Betonung war genau die gleiche, wie du sie jetzt wiedergegeben hast? Sie klang tatsächlich sowohl wütend als auch ängstlich?« »Eher wütend als ängstlich, aber es war mit Sicherheit auch Angst dabei.« »Sehr gut. Was dann?« »Dann war ein sehr schwaches Geräusch zu hören, als ob jemand in einem etwas normaleren Tonfall redete. Es war kaum zu hören und schon gar nicht zu verstehen oder zu erkennen.« »Könnte das Sir James gewesen sein?« »Das ist möglich. Es könnte aber auch irgend jemand anders gewesen sein. Zu der Zeit nahm ich natürlich an, daß es tatsächlich Sir James war, aber es hätte auch irgend jemand anders sein können, wie gesagt.« »Oder auch niemand?« Sie dachte einen Augenblick nach. »Nein. Nein, außer ihr befand sich noch jemand im Zimmer.« »Woher weißt du das?« »Weil in dem Moment die Tür aufflog und das Mädchen herausstürmte. Sie knallte die Tür hinter sich zu und ging die Halle entlang, ohne mich überhaupt wahrzunehmen — das heißt, wenn sie es doch getan hat, hat sie es sich jedenfalls nicht anmerken lassen. Dann schob jemand, wer immer es nun auch gewesen sein mag, den Schlüssel ins Schloß und verriegelte die Tür. Natürlich hatte ich nicht vorgehabt, Zeugin einer solchen Szene zu werden. Ich beachtete die Angelegenheit nicht weiter und ging nach unten zum Frühstück.« »Wer war das Mädchen?« fragte Lord Darcy. »Soweit ich weiß, habe ich sie noch nie gesehen«, sagte die Herzogin, »und es war auf jeden Fall ein Mädchen, das man nicht so schnell vergißt. Sie ist recht winzig von Gestalt, keine fünf Fuß groß, aber von vollkommener Form, eine wahrhaft schöne Erscheinung. Ihr Haar ist rabenschwarz und ziemlich lang, es war hinten mit einem Silberring zusammengebunden, so wirkte es wie eine Art Pferdeschwanz. Ihr Gesicht war ebenso schön wie der Rest, mit elfengleichen Augen und einem recht sinnlichen
Mund. Sie trug das Kostüm eines Lehrlings, blau mit einem weißen Band am Ärmel, und das ist etwas merkwürdig, denn Lehrlinge dürfen nur mit besonderer Einladung am Kongreß teilnehmen, wie du weißt, und solche Einladungen sind sehr selten.« »Es ist noch merkwürdiger«, sagte Lord Darcy nachdenklich, »daß ein Lehrling in einem solchen Ton mit einem Meister der Kunst redet.« »Ja, das stimmt«, sagte Ihre Hoheit. »Aber, wie ich schon sagte, ich dachte mir zu der Zeit nichts weiter dabei. Aber nachdem Master Sean festgenommen wurde, fiel mir der Vorfall wieder ein. Den Rest des Morgens und den ganzen Nachmittag über habe ich versucht, so viel wie möglich über sie herauszufinden.« »Und doch erschien es dir nicht wichtig genug, es entweder Lord Bontriomphe oder dem Obersten Wachtmeister zu erzählen?« fragte Lord Darcy ruhig. »Wichtig? Natürlich dachte ich, daß es wichtig wäre. Das meine ich immer noch. Aber — es den Wachmännern erzählen? Wozu, mein Lieber? Zum einen hatte ich keine echte Information, denn da kannte ich noch nicht einmal ihren Namen. Zweitens geschah das ganze eineinhalb Stunden, bevor der Mord tatsächlich stattfand. Drittens, wenn ich entweder Bontriomphe oder Chief Hennely davon berichtet hätte, dann hätten sie die ganze Angelegenheit nur dadurch verpfuscht, daß sie sie festgenommen hätten, und sie hätten genausowenig gegen sie in der Hand gehabt wie gegen Master Sean.« »Und viertens«, fügte Lord Darcy hinzu, »hältst du dich für eine Detektivin. Aber weiter, was hast du herausgefunden?« »Nicht viel«, gab sie zu. »Ihren Namen fand ich recht schnell im Teilnehmerregister des Kongresses. Es war einfach, sie war der einzige weibliche Lehrling, der dort aufgeführt war. Der Name lautet Tia Einzig.« »Einzig?« Lord Darcy hob eme Augenbraue. »Auf jeden Fall deutschstämmig. Möglicherweise preußisch, was sie natürlich zu einer polnischen Untertanin machen würde.« »Der Name mag preußisch sein, sie selbst aber nicht«, sagte Ihre Hoheit. »Sie ist, oder vielmehr sie war eine Untertanin Seiner Slavischen Majestät. Sie kommt aus einem kleinen Ort östlich der Donau, ein paar hundert Meilen von der Adriaküste entfernt, eine von diesen Kleinstädten, deren Namen sechzehn Buchstaben enthält, wovon nur drei Vokale sind. K-D-J-A-irgendwas. 1961 ging sie ins Großherzogtum Venetien und lebte ungefähr ein Jahr lang in Belluno. Dann hielt sie sich einige Monate in Milano auf, schließlich in Torino. 1963 kam sie nach Frankreich und lebte in Grenoble. Das alles kam letztes Jahr raus, als Raymond ihr Fall vorgelegt wurde.« »Raymond?« »Seine Hoheit, der Herzog von Dauphine«, erklärte Mary De Cumberland. »Ein Auslieferungsgesuch mußte natürlich von ihm persönlich bearbeitet werden.« »Natürlich.« Das sardonische Glitzern war wieder in Lord Darcys Augen zurückgekehrt, die nun gefährlich funkelten. »Mary.« »Ja?« »Ich nehme zurück, was ich darüber gesagt habe, daß du eine Frau seist, die ihren Intellekt gebraucht. Der rationale Geist sortiert seine Daten und berichtet sie in einer logischen Reihenfolge. Ich höre zum ersten Male etwas von einem Auslieferungsgesuch.« »Oh.« Sie blinkte ihn mit ihrem Lächeln an. »Es tut mir leid, mein Lieber, ich . . .« Er unterbrach sie. »Darf ich zunächst einmal fragen, woher du diese Informationen hast? Du bist doch bestimmt nicht heute nachmittag bei
deinem alten Freund Dauphine reingeplatzt und hast ihn gebeten, dich doch freundlicherweise einmal in die Gerichtsberichte des Herzogtums Dauphine blicken zu lassen.« »Woher weißt du, daß er ein alter Freund ist?« fragte die Herzogin. »Ich kann mich nicht daran erinnern, es dir jemals erzählt zu haben.« »Hast du auch nicht. Du bist keine Frau, die mit den Namen ihrer einflußreichen Bekannten hausieren geht. Genausowenig würdest du allerdings auch einen Reichsgouverneur beim Vornamen nennen, wenn ihr nicht eng miteinander befreundet wärt. Aber das spielt ja jetzt wirklich keine Rolle. Ich wiederhole: Woher hast du diese Informationen über Tia Einzig?« »Father Dominique. Der Hochwürdige Father Dominique ap Tewdwr, O.S.B., der der Sensitive Beauftragte der kirchlichen Kommission war, die vom Erzbischof eingesetzt wurde, um die Persönlichkeit der Tia Einzig zu durchleuchten. Seine Hoheit der Herzog bat um diese Kommission, damit die Vorwürfe untersucht würden, die gegen sie in Belluno, Milano und Torino erhoben wurden, die Anklagen, die zu dem Auslieferungsgesuch führten. Sie sollte am Ort vor Gericht gestellt werden.« »Was waren das für Anklagen?« »In allen drei Fällen dieselben. Ausübung von Hexerei ohne amtliche Zulassung und . . .« »Und?« »Und Schwarze Magie.« Teil 2 Carlyle House befindet sich schon im Besitz der Herzöge von Cumberland, seit es erbaut wurde, obwohl man häufig und fälschlich annimmt, daß es zum Erbe des Marquisats von Carlisle gehört; dies beruht jedoch auf einer Verwechslung durch diejenigen, die nicht wissen, daß sich diese Namen zwar ähnlich aussprechen, aber unterschiedlich geschrieben werden. Mary, Herzoginwitwe von Cumberland, ehemalige Herzogingemahlin, geborene Lady Mary De Beaufort, war die zweite Ehefrau des verwitweten Herzogs von Cumberland gewesen. Als sie heirateten, war der Herzog bereits in seinen Sechzigern, Mary Anfang zwanzig. Doch hatte niemand daran wie an eine Heirat zwischen Mai und Dezember gedacht, nicht einmal der Sohn des Herzogs aus erster Ehe. Obwohl der alte Herzog nur entfernt mit der Königlichen Familie verwandt war, besaß er die für die Plantagenets typische Vitalität, das gute Aussehen und die Langlebigkeit. Sein goldblondes Haar war mit den Jahren bleicher geworden, und sein Gesicht zeigte auch schon die tiefen Furchen des Alters, doch trotzdem war er immer noch jedem zwanzig Jahre jüngeren Mann ebenbürtig, und er sah auch so aus und benahm sich nicht anders. Doch selbst ein starker und kräftiger Mann kann einmal einen Reitunfall haben, und Seine verstorbene Hoheit war darin keine Ausnahme. Mary, die ihren Mann nicht nur wegen seiner jugendlichen Vitalität, sondern auch wegen seiner reifen Weisheit geliebt hatte, war eine Witwe, bevor sie dreißig geworden war. Ihr Stiefsohn Edwin, der nach dem Tode seines Vaters, nach Bestätigung durch Seine Majestät zum gegenwärtigen Herzog von Cumberland gemacht wurde, war ein ziemlich langweiliger Mensch. Als Reichsgouverneur war er äußerst kompetent, doch fehlte ihm der Plantagenet-Funken, wie ihn sein Vater immerhin gehabt hatte, sehr verdünnt zwar, aber doch wahrnehmbar. Er mochte seine Stiefmutter, die nur sechs Monate
jünger als er war, aber er verstand sie nicht. Ihre Lebendigkeit, ihre Geistesgegenwart und Schnelligkeit im Denken und vor allem ihr Talent waren ihm fremd. Man hatte sich arrangiert. De Cumberland übernahm das Herzogtum und verblieb in Carlisle; seine Stiefmutter bekam Carlyle House auf Lebenszeit. Das war alles, was Seine Hoheit für eine Stiefmutter tun konnte, die er zwar liebte, aber nicht im geringsten verstand. Als Lord Darcy und die Herzogin durch die Haupteingangstür von Carlyle House schritten, murmelte der Seneschall, der ihnen die Tür aufhielt, »Guten Abend, Euer Gnaden, Euer Lordschaft«, und schloß die Tür schnell wieder hinter ihnen, um die grauen Nebelfinger zurückzuhalten, die so aussahen, als wollten sie in die hell erleuchtete Halle hineingreifen. »Guten Abend, Geffri«, sagte Ihre Hoheit und drehte sich, damit ihr der Seneschall aus dem Mantel helfen konnte. »Wo sind denn alle?« »My Lords die Bischöfe von Winchester und Carlisle haben sich zurückgezogen, Euer Gnaden. Die Benediktinerpatres sind in St. Paul's, um mit dem Kapitel die Verspergesänge zu singen. Sie waren so freundlich, mir Nachricht zukommen zu lassen, daß sie wegen des Nebels die Nacht im Kapitelhaus ihrer Brüder verbringen werden. Sir Lyon Grey wird heute nacht in seinem Zimmer im Royal Steward bleiben. Master Sean O Loch-lainn hat eine Nachricht überbringen lassen, daß er zeitweilig verhindert sei.« »Verhindert!« Die Herzogin lachte. »Das will ich meinen! Er wird die Nacht im Tower of London verbringen, Geffri.« »Das wurde mir auch gesagt, Euer Gnaden«, sagte der unerschütterliche Seneschall. »Sir Thomas Leseaux«, fuhr er fort, während er Lord Darcys Mantel nahm, »ist im Salon. My Lord John Quetzal befindet sich oben und legt gerade seine Abendgarderobe an, er müßte bald wieder herunterkommen. Die Auswahl warmer Gerichte, die Euer Gnaden zu bestellen beliebten, wurde aufs Büffet gestellt.« »Ich danke Euch, Geffri. Oh . . . Ich habe die Kutsche zum Place du Marquis geschickt, um Lord Darcys Gepäck zu holen. Wir wollen mal sehen . . . wo können wir My Lord unterbringen?« »Ich würde die Liliensuite vorschlagen, Euer Gnaden. Sie liegt neben der Rosensuite und besitzt eine Verbindungstür, was von Nutzen sein kann, wenn Master Seans Sachen dorthin verlegt werden, sofern Euer Lordschaft dies recht und bequem sein sollte.« »Ausgezeichnet, Geffri«, sagte Lord Darcy. »Wenn mein Gepäck nach oben gebracht worden ist, dann gebt mir doch bitte Bescheid, ja? Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich zu erfrischen, seit ich angekommen bin.« »Ich werde dafür Sorge tragen, daß Euer Lordschaft sofort verständigt werden.« »Sehr gut. Danke, Geffri.« »Es ist mir eine Freude, Euer Lordschaft.« »Komm, My Lord«, sagte die Herzogin und nahm seinen Arm, »wir gehen hinein und.werden mit Sir Thomas einen Drink nehmen, um die Nebelkälte aus unseren Knochen zu vertreiben.« Während die beiden auf den Salon zuschritten, fragte Lord Darcy: »Wer sind denn deine Benediktinergäste?« »Der ältere ist ein Father Quinn aus dem Norden Irlands.« »Father Quinn?« sagte Lord Darcy und überlegte. »Ich glaube, ich kenne ihn nicht. Wer ist denn der andere?« »Ein Father Patrick von Cherbourg«, sagte Ihre Hoheit. »Ein bemerkenswerter Sensitiver und Heiler. Du solltest ihn
kennenlernen.« »Father Patrick und ich sind uns schon begegnet«, sagte Lord Darcy, »und ich muß deiner Einschätzung zustimmen. Es wird mir eine Freude sein, ihn wiederzusehen.« Sie betraten den großen, hohen Raum, der sowohl als Salon wie auch als Speisezimmer diente. Am anderen Ende saß ein großer, magerer Mann mit bleichen Gesichtszügen und hellbraunem Haar, das gerade nach hinten gekämmt war und eine breite, hohe Stirn freigab. Er saß in einem großen Sessel, streckte die Beine aus, um sich die Füße am prasselnden Kaminfeuer zu wärmen, und hielt ein teilweise gefülltes Glas in der Hand. Als er seine Gastgeberin und Lord Darcy erblickte, stand er auf. »Guten Abend, Euer Gnaden. Lord Darcy! Wie schön, Euch wiederzusehen!« Sein gewinnendes Lächeln schien seine blaugrauen Augen funkeln zu lassen. Lord Darcy nahm die ausgestreckte Hand und sagte: »Wir schön, Euch wiederzusehen, Sir Thomas! Ihr seht immer noch genauso gesund und kräftig aus wie stets.« »Für einen Gelehrten jedenfalls, meint Ihr doch wohl«, sagte Sir Thomas mit einem Kichern. »Hier, darf ich so frei sein, Euch einen Schluck von dem exzellenten Brandy unserer liebenswürdigen Gastgeberin anzubieten?« »Das dürft Ihr in der Tat«, sagte die Herzogin lächelnd. »Ich fühle mich, als säße der Nebel noch in jedem Rückenwirbel.« Sir Thomas schritt auf das Büfett zu und zog mit mageren, gelenkigen Fingern den Stöpsel aus der Brandy-Karaffe. Während er die klare rotbraune Flüssigkeit in zwei dünnwandige Brandy-Schwenker goß, sagte er: »Ich war mir ziemlich sicher, daß Ihr herkommen würdet, sobald Ihr von Master Seans Verhaftung erfahren hättet, aber daß es so schnell gehen würde, das habe ich nicht erwartet.« Lord Darcys Lächeln war ein wenig ironisch. »My Lord De London war so gütig, mit einen Sonderbotschafter über den Kanal zu schicken, um mir die Nachricht mitteilen zu lassen. So konnte ich mich beeilen und gute Bahn- und Bootsverbindungen bekommen.« Sir Thomas verteilte die Brandys. »Habt Ihr vor, diesen Mordfall mit Eurem scharfen Verstand aufzuklären, um Master Sean zu entlasten?« Lord Darcy lachte. »Weit gefehlt! My Lord Marquis sähe das zwar recht gern, aber ich werde ihn enttäuschen. Der Fall ist natürlich interessant, aber ich habe meine Aufgabe in der Normandie. Unter uns gesagt — und ich bitte darum, es bis übermorgen nicht lautwerden zu lassen —, ich habe vor, Master Sean freizubekommen, indem ich meinem Cousin De London ein kleines Dilemma beschere. Deswegen habe ich Fakten gesammelt, um ihn zu zwingen, Master Sean freizulassen. Dann werden wir beide in die Normandie zurückkehren.« Mary De Cumberland sah ihn mit einem Ausdruck an, der sowohl Überraschung als auch Verletzung offenbarte. »Du kehrst zurück und nimmst Master Sean mit? So bald schon? Darf er nicht einmal bis zum Ende des Kongresses hierbleiben?« »Ich fürchte nein«, sagte Lord Darcy. Er verriet etwas Reue und Schuldgefühl. »Wir haben einen eigenen Mord aufzuklären, Sean und ich. Ich darf keine Einzelheiten preisgeben, und ich muß außerdem zugeben, daß der Fall weder so aufsehenerregend noch so ... äh ... berüchtigt ist wie dieser hier, aber Dienst bleibt Dienst. Aber wenn sich die Angelegenheit schnell erledigen läßt, kann er natürlich vor Ende der Woche zurück sein.« »Aber was ist mit seinem Vortrag?« beharrte die Herzogin. »Wenn es
irgend möglich ist«, versprach Lord Darcy, »dann sorge ich dafür, daß er Samstag zurück ist, um seinen Vortrag halten zu können. Schließlich ist das ein Teil seiner Pflichten als Hexer.«•»Und Ihr schiebt den Fall wieder Lord Bontriomphe zurück, eh?« fragte Sir Thomas. »Das brauche ich gar nicht«, sagte Lord Darcy leise lachend, »denn ich habe ihn ja gar nicht erst angenommen. Es ist sein Fall, und ich wünsche ihm viel Glück damit. Er und der Marquis sind durchaus in der Lage, ihn zu lösen, da besteht kein Grund zur Sorge.« »Ohne die Hilfe eines Gerichtshexers?« fragte Sir Thomas. »Sie werden schon zurechtkommen«, sagte Lord Darcy. »Der selige Sir James Zwinge war nicht der einzige fähige Gerichtshexer in London. Außerdem ist es ja wohl offensichtlich, daß My Lord Marquis scheinbar keinen Wert auf die Hilfe eines Gerichtshexers legt. Sobald der zweitbeste ermordet wurde, hat er den besten einsperren lassen. Das ist nicht gerade das Tun eines Mannes, der unbedingt erstklassige thaumaturgische Beratung haben will.« Während die anderen leise lachten, nippte Lord Darcy an seinem Brandy. Am anderen Ende des Raumes ging eine Tür auf. »Guten Abend, Euer Gnaden, guten Abend, Gentlemen«, sagte eine warme, dunkle Stimme. »Ich bitte vielmals um Verzeihung. Habe ich Euch unterbrochen?« Lord Darcy hatte sich auch umgedreht. Der Neuankömmling war ein gutaussehender, junger Mann in Scharlach- und goldfarbener Abendgarderobe; seine Gesichtszüge verrieten den Mechicaner. Dies war also Lord John Quetzal du Montessuma De Mechicoe. »Aber mitnichten, My Lord«, sagte die Herzogin, »wir haben Euch erwartet. Tretet ein und erlaubt mir, Euch meinen neuen Gast vorzustellen.« Die Vorstellung geschah in aller Form, und Lord John Quetzals Augen leuchteten auf, als er Lord Darcys Namen hörte. »Es ist mir eine große Freude, Euch kennenzulernen, My Lord«, sagte er, »obwohl ich natürlich die Umstände bedauere, die Euch hierher führen. Ich glaube nicht einen Augenblick daran, daß Master Sean schuldig sein sollte.« »Danke, My Lord«, antwortete Lord Darcy. »Und ich danke Euch auch im Namen von Master Sean.« Dann fügte er glatt hinzu: »Es war mir überhaupt nicht klar, daß Master Seans Unschuld so durchsichtig ist, daß sie nach solch kurzer Bekanntschaft so überzeugend wirkt.« Der Mechicaner sah recht verlegen aus. »Nun, das ist es nicht gerade. Durchsichtig? Nein, ich würde nicht sagen, daß Master Sean in irgendeiner Form durchsichtig ist. Es ist ... äh —« Er stockte verwirrt. »My Lord John Quetzals Bescheidenheit gereicht ihm zur Ehre«, warf die Herzogin sanft ein. »Er besitzt das Talent in einem Ausmaß, wie es selbst bei Hexern selten vorkommt. Er ist ein Hexen-Riecher.« »Ach, tatsächlich?« Lord Darcy betrachtete den jungen Mann mit vermehrtem Interesse. »Ich muß gestehen, daß ich noch niemals einem Hexer mit dieser Fähigkeit begegnet bin. Ihr könnt also einen Schwarzmagier auch auf große Entfernung ausmachen?« Lord John Quetzal nickte. »Jawohl, My Lord.« Er blickte so verlegen drein wie ein halbwüchsiger Junge, dem eine schöne Frau gesagt hat, daß er gut aussehe. Sir Thomas kicherte. »Natürlich mußte er sofort merken, daß Master Sean nichts mit Schwarzer Magie zu tun hat, Lord Darcy. Einem Hexen-Riecher muß so etwas ja sofort auffallen.« Er richtete
sein Lächeln auf Lord John Quetzal. »Wenn wir einmal etwas freie Zeit haben, würde ich gerne mit Euch über die Theorie reden und hören, wie es mit den praktischen Ergebnissen aussieht.« »Das . . . das wäre mir eine Ehre und eine Freude, Sir Thomas«, sagte der junge Adlige. Seine Stimme klang ehrfurchtsvoll. »Aber . . . aber symbolologische Theorie ist nicht eben meine Stärke. Mathematik ist eher meine Schwäche.« Sir Thomas lachte. »Keine Bange, My Lord. Ich verspreche Euch, Euch nicht mit Analogieformeln einzudecken. Um Gottes Willen, das wäre ja Arbeit! Wenn ich mich nicht gerade in meiner Bibliothek befinde, vermeide ich schwere Gedankenarbeit, so gut ich nur kann!« Das war nicht wahr, wie Lord Darcy wußte; Sir Thomas wollte den jungen Mann nur beruhigen. Obwohl er den Rang eines Doktors der Thaumaturgie innehatte, war Sir Thomas Lesaux kein praktizierender Hexer. Er hatte nicht viel vom Talent in sich. Er war ein theoretischer Thaumaturge, der mit den höheren und esoterischeren Formen der subjektiven Algebra arbeitete und es anderen überließ, seine Theorien in der Praxis zu überprüfen. Sein scharfer Verstand war fähig, symbolologische Beziehungen zu erfassen, die ein gewöhnlicher Hexer nur vage erahnen konnte. Es gab nur wenige Doktoren der Thaumaturgie, die dazu in der Lage waren, seine abstrusen und komplizierten Symbolanalogien bis in die letzten Schlußfolgerungen zu begreifen; die wenigsten Meister konnten mehr als die anfänglichen Analogien und Ähnlichkeiten verstehen, meistens gaben sie danach schnell auf. Sir Thomas wußte sehr wohl, daß ein bloßer Wanderhexer seinen mathematischen Höhenflügen nicht zu folgen vermochte. Andererseits genoß er es aber auch, sich mit praktizierenden Magiern über die Kunst zu unterhalten. »Darf ich Euch eine Frage stellen, My Lord?« fragte Lord Darcy nachdenklich. »Obwohl ich nicht offiziell mit der Aufklärung des Mordes an Sir James Zwinge betraut bin, besitzt ein Mann meines Berufs ein gewisses Maß an professioneller Neugierde. Ich möchte Euch also eine eher berufliche Frage stellen und —« er lächelte, »wenn es Euch beliebt, könnt Ihr mir ja eine Rechnung über geleistete Dienste zuschicken, wenn Ihr sie beantwortet.« Lord John Quetzal erwiderte das Lächeln. »Wenn die Frage verlangt, daß ich einen Zauber invoziere, dann werde ich Euch ganz gewiß eine Rechnung zuschicken, natürlich zum Normaltarif eines Wanderhexers. Es nicht zu tun hieße, mich mit der Gilde anlegen zu müssen. Aber wenn Ihr nur einen fachmännischen Rat benötigt, dann stehe ich Euch gern zu Diensten.« »Dann überlasse ich es Euch«, sagte Lord Darcy. »Die Frage lautet: Habt Ihr unter den Mitgliedern des Kongresses einen Schwarzmagier entdeckt?« Plötzlich trat ein Schweigen ein, das so wirkte, als sei die Zeit einen Augenblick stehengeblieben. Sowohl Sir Thomas als auch die Herzogin hielten den Atem an und warteten auf die Antwort des jungen mechicanischen Adligen. Doch Lord John Quetzal zögerte nur kurz. Als er sprach, war seine Stimme fest und klar. »My Lord, es ist mein Anliegen, unter der Aufsicht eines Masters Justizhexerei zu studieren. Ich habe im Rahmen meiner Ausbildung auch Gesetzesvollstreckung und Kriminalaufklärung studiert. Darf ich Eure Frage mit einer eigenen erwidern?« »Aber gewiß doch«, versicherte Lord Darcy. Bevor er fortfuhr, preßte Lord John Quetzal
gedankenschwer seine Lippen fest zusammen. Dann sagte er: »Nehmen wir einmal an, daß Ihr durch den Gebrauch Eurer Fähigkeiten wüßtet, daß ein bestimmter Mensch ein Verbrecher ist, daß er ein bestimmtes Verbrechen begangen hat. Nehmen wir aber weiterhin an, daß es, von Eurem eigenen Wissen abgesehen, keinerlei Beweise dafür gibt. Meine Gegenfrage lautet: Würdet Ihr ihn anzeigen?« »Nein«, sagte Lord Darcy, ohne zu zögern. »Ihr habt Euren Standpunkt gut klargemacht. Es ist unsinnig, jemanden anzuzeigen, ohne Beweise zu haben. Aber wenn man den Ermittlungsbehörden einen Hinweis gibt, nur damit sie das fehlende Beweismaterial vielleicht leichter finden, das ist doch wohl nicht dasselbe wie eine Anzeige?« »Vielleicht nicht«, sagte der junge Hexer langsam. »Ich werde gewiß über Eure Worte als Ratschlag nachdenken. Aber im Augenblick habe ich das Gefühl, daß mein Wort allein nicht einmal einen solchen Schritt rechtfertigen würde.« »Das bleibt natürlich Eure Entscheidung«, sagte Lord Darcy ruhig. »Aber beachtet bitte den Umstand, daß, wenn es allgemein bekannt ist, daß Ihr das Talent eines Hexen-Riechers habt, und daß, wenn dies beispielsweise jemandem bekannt ist, dessen nacktes Leben vielleicht von Eurem Schweigen abhängt — daß Ihr dann also vorsichtig sein solltet, um nicht für immer zum Schweigen gebracht zu werden.« Bevor Lord John Quetzal antworten konnte, wurde die Tür zur Halle geöffnet, und Geffri erschien. »Ich bitte Euer Gnaden, mein Eintreten zu verzeihen, aber ich hatte den Auftrag, Seiner Lordschaft Bescheid zu geben, sobald Seiner Lordschaft Gepäck in die Liliensuite gebracht worden ist.« »O ja, danke, Geffri«, sagte Lord Darcy. »Ich glaube, ich werde auch meine Abendgarderobe anlegen«, sagte Ihre Hoheit. »Gentlemen, Ihr entschuldigt mich? Und laßt Euch durch mein Fehlen nicht vom Abendessen abhalten. Ich bitte, sich am Büfett zu bedienen.« Fünfzehn Minuten später fühlte sich Lord Darcy, gebadet und frisch rasiert, wesentlich menschlicher als die Stunden zuvor. Er warf einen letzten Blick in den Standspiegel an der Schlafzimmerwand der Liliensuite. Er rückte die silbernen Rüschen an Hals und Armgelenken zurecht, schnippte einen fast mikroskopisch kleinen Staubfleck von der Korallenseide seines Rocks und stellte fest, daß er bereit war, sich der Gesellschaft in besserer Laune zu stellen als der, in der er sie verlassen hatte. Unten stand die Tür zum Salon offen, und Lord Darcy konnte Sir Thomas Lesaux' Stimme vernehmen. »Die Tatsache, daß Sir James tot ist, bleibt bestehen.« »Hätte es nicht Selbstmord sein können, Sir Thomas?« fragte Lord John Quetzal. »Oder ein Unfall?« Es blieb einfach nicht aus, dachte Lord Darcy. Große und brillante Männer und Frauen, deren Unterhaltung gewöhnlich um Meinungen, Ideen, Weltanschauungen, Kunst und so weiter kreiste, vermieden normalerweise jeglichen Klatsch oder Sportnachrichten oder auch Verbrechen als Konversationsthemen. Aber wenn man ihnen einen Mord vorsetzte — keinen gewöhnlichen Tod in einem Kneipenhandgemenge, keinen Raubmord, kein Töten aus schäbiger Eifersucht, nicht mal einen noch schäbigeren Sexualmord, sondern einen unerklärlichen Tod unter geheimnisvollen Umständen — wenn man ihnen ein hübsches, deftiges Mordrätsel vorsetzte, dann konnten
sie über nichts anderes mehr reden! Es war keine halbe Stunde her gewesen, da hatte Sir Thomas Lesaux gesagt, daß er sich mit Lord John Quetzal über die Theorie der Magie unterhalten wolle, besonders über das Hexen-Riechen; jetzt aber sagte er: »Unfall? Selbstmord? Das weiß ich natürlich nicht, aber die Behörden scheinen ja wohl von einem Mordfall auszugehen.« »Aber warum? Ich meine, was für einen Grund sollte irgend jemand haben, Master Sir James Zwinge umzubringen? Was ist das Motiv?« »Eine sehr gute Frage«, sagte Lord Darcy, als er den Salon betrat. Nur die beiden Männer waren anwesend. Offensichtlich war die Herzogin noch nicht mit dem Umkleiden fertig. »Als reine Gedankenübung habe ich auch schon darüber nachgedacht. Aber ich will niemanden unterbrechen. Unterhaltet Euch ruhig weiter, Gentlemen, während ich mich um die Leckereien auf dem Büfett kümmere!« »Lord John Quetzal«, sagte Sir Thomas, »scheint Schwierigkeiten zu haben, ein Motiv für den Mord zu finden.« Lord Darcy betrachtete die Reihe Kupferschalen. Unter jeder einzelnen flackerte ein helles Alkoholflämmchen. Er hob den Deckel der ersten Schüssel. »Ah, Schinken!« sagte er. »Sehr gut, Sir Thomas. Wie steht es mit dem Motiv? Wer könnte ein Interesse daran haben, ihn tot zu wissen?« Er legte eine Scheibe Schinken auf seinen Teller und deckte die nächste Schüssel ab. Sir Thomas runzelte die Stirn. »Ich kenne niemanden«, sagte er langsam. »Er konnte ja manchmal etwas bissig sein, aber er hätte nie jemandem wehgetan, glaube ich.« Darcy löffelte etwas heiße Kirschsauce auf seinen Schinken. »Ihr wißt von keinen Morddrohungen? Kein Streit mit irgend jemandem?« »Ihr meint abgesehen von seinem sogenannten Streit mit Master Sean? Doch, wenn ich darüber nachdenke, fällt mir ein, daß es da so etwas gab. Master Ewen MacAlister sagte vor ungefähr einem Monat ein paar recht bittere Dinge über ihn. Master Ewen hatte einen Antrag gestellt, bei den Marineforschungsbehörden angenommen zu werden, und Sir James, der wohl einige Beziehungen zur Marineforschung hatte, hatte davon abgeraten, Master Ewen einzustellen.« »Ein Rachemotiv also?« Lord Darcy goß sich eine gute Portion roten Bordeaux ein und setzte sich mit seinem Tablett auf einen Stuhl, von dem aus er beiden ins Gesicht blicken konnte. »Ich habe zwar nie selbst das Vergnügen gehabt, Master Ewen kennenzulernen, aber wenn ich dem Glauben schenken darf, was mir Master Sean erzählt, dürfte dieses Vergnügen auch höchst zweifelhafter Natur sein. Ist er ein Mann, der aus Rache morden würde?« .»Ich . . . weiß . . . nicht«, erklärte Sir Thomas langsam. »Ich kann mir zwar vorstellen, daß er jemanden töten würde, um sich selbst zu schützen, aber ich zweifle daran, daß er es tun würde, nachdem ihm der andere bereits Schaden zugefügt hat.« Lord Darcy beschloß, am nächsten Morgen Lord Bontriomphe davon zu erzählen. Es könnte seinen Untersuchungen möglicherweise dienen. »Noch jemand?« fragte Darcy, während er auf seinen Teller herabblickte. »Nein«, sagte Sir Thomas nach einem Augenblick des Nachdenkens, »niemand, von dem ich wüßte, My Lord.« »Kennt Ihr eine Demoiselle Tia Einzig?« fragte Darcy genauso ruhig wie zuvor. ,:,Sir Thomas verlor sein Lächeln. Einige Sekunden verstrichen, bis er
sagte: »Ich kenne sie, jawohl, My Lord. Warum?« »Es sieht so aus, als klage man sie der Schwarzen Magie an, und es sieht auch so aus, als sei Sir James durch Schwarze Magie ums Leben gekommen.« Sir Thomas' normalerweise recht bleiche Gesichtszüge verdunkelten sich. »Ich bitte Euch, My Lord! Wollt Ihr sie damit des Mordes an Sir James anklagen?« »Anklagen? Ganz und gar nicht, Sir Thomas. Ich möchte nur auf einen möglichen Zusammenhang hinweisen.« »Nun, das ist ausgeschlossen! Völlig ausgeschlossen, versteht Ihr? Tia ist genausowenig eine Schwarzmagierin, wie Ihr es seid. Ich dulde es nicht, daß Ihr solche Andeutungen macht, hört Ihr?« »Bitte beruhigt Euch doch, Sir Thomas«, sagte Darcy sanft. »Immer mit der Ruhe! Beherrscht Eure Gefühle! Erzählt Euch selbst einen Witz oder so etwas — oder denkt an eine erfrischende Formel, ja?« Die dunkle Gesichtsfarbe verschwand zwar, doch vermochte es Sir Thomas nicht, mit einem Lächeln zu reagieren. »Ich bitte tausendmal um Verzeihung, My Lord. Ich . . . ich weiß kaum, was ich sagen soll. Ich bin . . . ich bin nicht mehr ich selbst. Es ist ein . . . ein etwas heikles Thema, My Lord.« »Schwamm drüber, Sir Thomas. Ich wollte Euch nicht inkommodieren, aber ich bin auch nicht beleidigt. Ein Mord ist immer ein etwas delikates Thema, besonders wenn einem die Sache so nahe gehen kann, wie es jetzt eben wohl der Fall war. Vielleicht sollten wir das Gesprächsthema wechseln.« »Aber nein, bitte! Nicht meinetwegen, ich bitte Euch!« »Mein lieber Sir Thomas, ich bestehe darauf! Den ganzen Abend schon wollte ich Lord John Quetzal Fragen über Mechicoe stellen, und Ihr habt mir den allerbesten Vorwand dafür geliefert, es nun zu tun. Mord ist mein Geschäft, aber wenn ich nicht damit beauftragt bin, einen bestimmten Fall aufzuklären, dann verliert die Sache an Reiz. Also — My Lord, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich läßt, so ging das erste anglo-französische Schiff, es waren wohl mehrere, nicht wahr ? im Jahre 1569 vor der Küste Mechicoes vor Anker. Die Expeditionsmitglieder waren die ersten Europäer, mit denen Eure Vorfahren in Kontakt gerieten. Was war denn eigentlich der Grund für die geradezu abergläubische Ehrfurcht, mit der man den Europäern damals begegnete?« »Ach, My Lord, das ist eine recht interessante Angelegenheit« sagte der junge Mann voller Eifer. »Dazu muß ich zunächst etwas über die Legende oder den Mythos von Quetzalcoatl erzählen . . .« Die ersten Minuten des Gesprächs waren zwar noch von einer etwas gequälten Atmosphäre gekennzeichnet, aber der Erzähleifer des jungen Mechicaners war so echt und ungekünstelt, daß sowohl Lord Darcy als auch Sir Thomas bald völlig von dem Thema gefangengenommen wurden. Die Unterhaltung war noch voll im Gange, als die Herzoginwitwe eintrat, und alle vier diskutierten noch eine volle Stunde lang die Geschichte Mechicoes. Lord Darcy kam sehr spät ins Bett und schlief erst noch viel später ein. Lord Darcys Vorhaben, die Finger von dem Fall Zwinge zu lassen und dem Marquis von London statt dessen zu erlauben — oder, richtiger, ihn dazu zu zwingen — seine eigenen Fähigkeiten in diesem Fall unter Beweis zu stellen, stand absolut fest. Er hatte nicht vor, darin verwickelt zu werden, und wenn das bedeutete, daß er seine eigene
angeborene Neugier zügeln mußte, so wollte er die Zügel eben recht eng halten. Es war ein Glück, daß er nicht dazu gezwungen wurde, denn seine Neugierde war in der Lage, einen recht beachtlichen eigenwilligen Druck zu entwickeln. Aber jeder Vorsatz, egal wie fest er auch sein mag, kann durch veränderte Umstände umgewandelt, verneint, zunichte gemacht werden; die Umstände aber sollten sich am nächsten Morgen sehr drastisch ändern. An diesem Morgen lag Lord Darcy schläfrig im Bett, noch im Halbschlaf, mit umherwandernden Gedanken. Da klopfte es leise an seiner Schlafzimmertür. »Ja?« sagte er, ohne die Augen zu öffnen. »Euer Kaffee, My Lord, wie Ihr angeordnet habt«, sagte eine leise Stimme. »Stellt ihn im Wohnzimmer ab«, sagte Lord Darcy schläfrig. »Ich stehe gleich auf.« Aber das tat er nicht. Er glitt wieder hinüber in das Land des Schlafes. Er hörte nicht, wie sich die Schlafzimmertür öffnete; er hörte nicht die leisen Schritte, die den dicken Teppich überquerten, der zwischen der Tür und seinem Bett lag. Plötzlich berührte jemand seine Schulter. Abrupt öffnete er die Augen und war sofort wach. »Mary!« Die Herzoginwitwe verneigte sich. »Zu Diensten, My Lord. Soll ich Euer Lordschaft den Kaffee reichen?« Lord Darcy setzte sich auf. »Prima! Eine Herzogin als Serviermädchen! Wunderbar! Jawohl, jawohl, bringt sofort den Kaffee herbei! Aber ein bißchen plötzlich, Euer Gnaden!« Er lachte still in sich hinein, als die Herzogin das Zimmer wieder verließ. »Ach, und ehe ich's vergesse«, rief er ihr nach, »seid doch so gut und gebt My Lord Marquis Bescheid, daß er meine Stiefel putzen soll!« Sie kehrte lächelnd wieder und schob einen Teewagen vor sich her, auf dem sich eine silberne Kaffeekanne, ein Löffel und leine einzelne Kaffeetasse mit Untertasse befanden. »Eure Stiefel sind bereits geputzt, My Lord«, sagte sie in immer noch unterwürfigem Ton. »Ich nahm mir die Freiheit heraus, My Lord, Euer Lordschaft Kleidung bürsten und bügeln zu lassen. Sie wurde im Wohnzimmer in den Kleiderschrank gehängt.« Sie goß ihm seinen Kaffee ein. »Ach ja?« sagte Lord Darcy und langte nach seiner Tasse. »Das hat wohl alles ein Bischof erledigt, nehme ich an?« »My Lord Bischof«, sagte die Herzogin, »war leider in einer anderen, wichtigeren Angelegenheit verhindert. Doch ist seine Majestät der König bereit, Euer Lordschaft bei Ihrer morgendlichen Rundfahrt zu assistieren.« Lord Darcy hielt plötzlich inne. Die Tasse hatte noch nicht seine Lippen berührt. Kleine Scherze waren ja völlig in Ordnung, doch gab es auch gewisse Grenzen. Man machte keine Witze über Seine Hoheit den König. Aber in diesem Augenblick erkannte Lord Darcy, daß er wohl doch noch nicht ganz wach gewesen war, wie er gedacht hatte. Er nahm einen Schluck Kaffee und setzte die Tasse erst wieder ab, bevor er sprach. »Wer ist denn Seiner Majestät Bote?« fragte er ruhig. »Er wartet draußen in der Halle. Soll ich ihn hereinführen?« »Ja. Das heißt, Moment! Wie spät ist es denn überhaupt?« »Gerade sieben.« »Bitte ihn, ein oder zwei Minuten zu warten. Ich ziehe mich erst an. Bring mir meine Kleider!« Sieben Minuten und ein paar Sekunden später öffnete Lord Darcy in voller, ihm angemessener Morgentracht die Tür seines Wohnzimmers. Mary, Herzoginwitwe von Cumberland, war nirgendwo zu erblicken. Ein kurzer, magerer, melancholisch dreinblickender Mann saß auf einem der Stühle. Als er Lord Darcy
erblickte, stand er höflich auf, den eckigen Kutscherhut in den Händen. »Lord Darcy?« •»Ebendieser. Und Ihr?« Der kleine Mann nahm ein silbernes Abzeichen aus seinem Hut, in welches das königliche Wappen eingraviert war. An seiner Spitze war ein polierter, aber nicht facettierter Stein eingelassen, der wie ein viertelzoll langes Stück durchsichtiges graues Glas aussah. »Bote des Königs, My Lord«, sagte der Mann. Er schob seinen Daumen vor und berührte den Stein. Der Stein hörte sofort auf, ein Klumpen stumpfen, grauen Glases zu sein. Er strahlte im Licht wie ein Rubin. Es gab keinen Zweifel: Der Stein war magisch mit einem Mann verbunden worden, und zwar nur mit einem einzigen Mann allein — mit dem Mann nämlich, dessen Berührung ihn rot aufleuchten lassen konnte. Ein königliches Abzeichen konnte natürlich gestohlen werden, aber kein Dieb konnte dem grauen schäbigen Stein den roten Glanz verleihen. Der geniale Sir Edward Eimer, Th.D., hatte vor mehr als dreißig Jahren diesen Zauber entwickelt, und niemand hatte es bisher geschafft, ihn aufzulösen. Es war der perfekte Ausweis für Persönliche Agenten Seiner Meistgefürchteten und Souveränen Majestät John IV. Der selige Sir Edward war Großmeister der Hexergilde gewesen, und man war sich allgemein darüber einig, daß er als Hexer sogar noch über Sir Lyon Gandolphus Grey gestanden hatte. »Gut«, sagte Lord Darcy. Er fragte den Mann nicht nach seinem Namen; ein Bote des Königs blieb immer anonym. »Und die Botschaft?« Der Bote verneigte sich. »Ihr sollt mich begleiten, My Lord. Auf Wunsch Seiner Majestät.« »Ich verstehe. Gibt es irgendwelche Einwände dagegen, daß ich bewaffnet komme?« Ein breites Lächeln überzog das Gesicht des Königlichen Boten. »Wenn ich so sagen darf, My Lord, das wäre sogar ausgesprochen nützlich und angebracht. Seine Majestät gab mir eine weitere Botschaft, die ich nur übermitteln sollte, falls Euer Lordschaft diese Frage zu stellen belieben sollten. Eine Botschaft, die mit den eigenen Worten Seiner Majestät übermittelt werden soll, My Lord. Ihr erlaubt?« »Fahrt fort«, sagte Lord Darcy. Der Bote schloß die Augen und konzentrierte sich einen Augenblick lang. Als er sprach, war seine Stimme kultiviert und klar; es war nichts vom Akzent des Londoners der unteren Mittelklasse darin. Auch die Stimmlage und die Intonation hat-sich verändert. Es war die Stimme des Königs. »Mein lieber Darcy! Als wir uns das letzte Mal trafen, kamt ihr bewaffnet. Ich erwarte von einem Mann Eures Kalibers nicht, daß Ihr das nächste Mal darauf verzichtet. Die Angele-enheit ist äußerst dringend. Kommt, so schnell es möglich ist.« Lord Darcy unterdrückte ein Verlangen, sich zu verneigen und zu sagen: »Sofort, Sire.« Der Bote war schließlich nur ein Werkzeug. Er war völlig vertrauenswürdig, sonst würde er nicht das silberne Abzeichen tragen; auch seine gewöhnlichen Botschaften mußten befolgt werden. Doch wenn er eine Botschaft in Seiner Majestät eigener Stimme überbrachte, dann wußte selbst er, der Bote, nicht, was er sagte. Wenn er sich selbst den Schlüsselzauber zumurmelte, dann wurde die Botschaft in der Königlichen Stimme vermittelt. Der Bote konnte sich weder vor noch nach Übermittlung der Botschaft daran erinnern. Er hatte sich willentlich der Aufzeichnung dieser Botschaft gefügt, und er
fügte sich auch willentlich ihrer Übermittlung und Auslöschung. Kein Hexer der Welt konnte ihm die Botschaft nach ihrer Übermittlung entreißen, denn sie existierte nicht mehr in seinem Geiste. Man konnte sie natürlich vor der Übermittlung in Erfahrung bringen, aber nicht von einem Königlichen Boten. Jeder Versuch, einem Königlichen Boten eine solche Botschaft zu entreißen, endete, wenn es unbefugt geschah, mit dem sofortigen Tod des Boten, etwas, was dem Boten durchaus klar war, und was er auch als Teil seines Dienstes an König und Reich voll in Kauf nahm. Einen Augenblick später öffnete der Bote des Königs die Augen und sagte: »Alles in Ordnung, Euer Lordschaft?« »Ausgezeichnet, guter Mann. Seid Ihr ein guter Kutscher?« »Der beste in ganz London, My Lord, auch wenn ich es selbst sage, was sich natürlich nicht schickt!« »Exzellent! Wir müssen sofort aufbrechen!« Während der Fahrt dachte Lord Darcy über die Worte des Königs nach. Als er den Boten befragt hatte, ob er bewaffnet oder unbewaffnet kommen sollte, war das eine Frage gewesen, wie sie jeder Beamte Seiner Majestät Justiz gestellt haben könnte. Lord Darcy hatte keinerlei Ahnung gehabt, daß ihn der Bote tatsächlich in Seiner Majestät Gegenwart führen würde; er hatte die Frage nach der Bewaffnung ausschließlich im Interesse seiner amtlichen Pflichten gestellt. Und nun fand er sich, als Ergebnis einer einfachen, harmlosen Frage, unter der Handvoll Männer, die als einzige das Recht hatten, in Seiner Majestät Gegenwart Waffen tragen zu dürfen. Üblicherweise durften nur die Großen Lords der Regierung in der Königlichen Gegenwart Waffen tragen, und auch diese nur Schwerter. So weit er wußte, war Lord Darcy die einzige Person in der Geschichte, der es gestattet war — was so gut wie ein Befehl vvar — vor Seiner Majestät mit einer Pistole zu erscheinen. Es war eine außergewöhnliche, eine einzigartige Ehre, und Lord Darcy war sich voll darüber im klaren. Doch lenkten ihn diese Gedanken nicht sehr lange ab; im Augenblick war es viel wichtiger, warum ihm der König diese Botschaft hatte zukommen lassen. Warum sollte sich Seine Majestät für einen Mord interessieren, der, obwohl manches an ihm etwas merkwürdig anmuten mochte, schließlich doch nur gewöhnlicher Art war? Oberflächlich betrachtet schien er zumindest nichts mit Staatsangelegenheiten zu tun zu haben. Aber . . . Plötzlich schlug sich Lord Darcy mit der Handfläche an die Stirn. »Narr!« sagte er in scharfem Ton zu sich selbst. »Blödmann! Schwachsinniger! Idiot! Cherbourg natürlich!« Das kam davon, dachte er bei sich, wenn er es zuließ, seine Gefühle von Master Seans Bitten ablenken zu lassen, anstatt sie voll unter Kontrolle zu haben, um das Problem zu lösen. Sobald sich ein kompetentes Hirn damit befaßte, war die ganze Angelegenheit sonnenklar. So war Lord Darcy nunmehr auch nicht im mindesten erstaunt, daß er, nachdem die Kutsche durch die Tore von Westminster Palace gefahren war und von den Wachen, die sie sofort erkannten, durchgewunken worden war, einen Marine-Offizier erblickte, der in der Uniform eines Commanders im Hof auf ihn wartete. Es hätte ihn vielmehr gewundert, wenn er nicht dort gewesen wäre. Der Commander öffnete die Kutschentür und sagte, nach- dem Lord Darcy ausgestiegen war: »Lord Darcy? Ich bin Commander Lord Ashley und stehe zu Euren Diensten, My Lord.« »Ganz meinerseits,
My Lord«, sagte Lord Darcy. »Eure Gegenwart hier bestätigt meinen Verdacht.« »Verdacht?« Der Commander sah bestürzt aus. »Daß man davon ausgeht, daß es einen Zusammenhang zwischen dem Mord eines gewissen Georges Barbour in Cherbourg vor zwei Tagen und dem gestrigen Mord von Master Sir James Zwinge im Royal Steward gibt. Wenigstens vermutet der Marinesicherheitsdienst einen solchen Zusammenhang.« »Wir sind uns sehr sicher, daß es da einen Zusammenhang gibt«, sagte Lord Ashley. »Würdet Ihr mir bitte hier entlang folgen? Es ist ein sofortiges Treffen in Queen Anettes Empfangssalon anberaumt worden. Durch die Tür, dann durch die Halle zur Treppe — aber vielleicht nehme ich mir zuviel Freiheiten heraus, My Lord? Seid Ihr mit dem Inneren des Palastes vertraut?« »My Lord, ich habe mir eine Aufgabe gestellt, nämlich die Grundrisse der großen Paläste und Schlösser des Empire zu studieren. Queen Anettes Empfangssalon befindet sich genau über der Kapelle von St. Edward dem Bekennenden. In diesem Salon wurde im Jahre 1891 der Vertrag von Kepenhavn revidiert und unterzeichnet, die Kapelle wurde im Jahre 1633 während der Regentschaft von Edward VII konsekriert. Der Weg führt also die Treppe hoch, dann nach links, durch die Halle, durch die Gaskogner-Tür, dann rechts, die fünfte Tür auf der rechten Seite, leicht dadurch zu erkennen, daß sie immer noch das goldene und vielfarbene Wappen der Anette von Flandern trägt, der Gemahlin von Harold II.« Lord Darcy bedachte Lord Ashley mit einem breiten Lächeln. »Aber um Eure Frage so zu beantworten, wie Ihr sie gemeint habt: Nein, ich bin noch nie in Westminster Palace gewesen.« Der Commander erwiderte sein Lächeln. »Ich auch nicht.« Er lachte still vor sich hin. »Wenn ich es mal so ausdrücken darf: Ich bin ein wenig verwirrt davon, plötzlich eine solch dünne, hohe Luft zu atmen. Zwei Männer, die ich niemals zuvor gesehen habe, werden plötzlich umgelegt — etwas, was in der Geheimdienstarbeit leider nur zu oft geschieht —, und plötzlich wird das, was zunächst wie ein Routinemord ausgesehen hat, zu einer Staatsaffäre.« Er sprach etwas leiser. »Seine Majestät wird dem Treffen persönlich beiwohnen.« Sie schritten die Treppe hoch und bogen nach links, auf die Gaskogner-Tür zu. »Habt Ihr eine Theorie?« fragte Lord Darcy. »Wer sie umgebracht hat? Polnische Agenten natürlich«, sagte der Commander. »Aber wenn Ihr mit Eurer Frage meint, ob ich eine Vermutung habe, wer diese Agenten sein könnten — nein, die habe ich nicht. Wißt Ihr, es könnte eigentlich irgend jemand sein. Ein kleiner Krämer oder Händler oder etwas Ähnliches. Irgendeinem ganz gewöhnlichen Mann wird eines Tages von seinen polnischen Vorgesetzten gesagt: >Begib dich dort-und-dort-hin, dort wirst du den-und-den vorfinden. Töte ihn!< Das tut er, und eine Stunde später geht er bereits wieder seinen gewöhnlichen Geschäften nach. Keine Verbindung zwischen ihm und dem Ermordeten, kein Motiv, das den Mörder mit seinem Opfer zu verbinden scheint. Nicht die geringste Spur.« Sie gingen durch die Tür und wendeten sich nach rechts. »Ich nehme an«, sagte Lord Darcy lächelnd, »daß Euer Pessimismus nicht vom gesamten Marinegeheimdienst geteilt wird?« »Nun, ich glaube leider«, sagte der Commander in einem etwas defensiven Ton, »daß das wohl doch der Fall ist. Wenn man die Mörder finden kann — um
so besser. Aber das ist dann eher eine Begleiterscheinung der eigentlichen Arbeit, versteht Ihr?« »Also nimmt die Marine an, daß etwas viel Gefährlicheres als die beiden Morde im Gange ist?« Die beiden Männer hielten vor der Tür mit dem goldenen und vielfarbenen Wappen, das den Empfangssalon der Queen Anette kennzeichnete. »Ja, das nehmen wir an. Der König ist wegen der Angelegenheit äußerst konsterniert. Er wird Euch alle weiteren notwendigen Informationen geben.« "Lord Ashley öffnete die verzierte Tür, und die beiden Männer traten ein. Lord Darcy erkannte die drei Männer an dem langen Tisch sofort, obwohl er nur einem von ihnen zuvor einmal begegnet war. Lord Bontriomphe sah so gelöst und umgänglich aus wie immer. Der aufrechte, silberbärtige Mann mit den stechenden Augen und der beeindruckenden Hakennase konnte nur Sir Lyon Grey sein, obwohl er gewöhnliche Morgenkleidung trug und nicht das formelle Blaßblau und Silber des Meisterhexers. Der dritte Mann besaß ein sehr bemerkenswertes und hervorstechendes Gesicht. Er schien Ende Vierzig oder Anfang Fünzig zu sein, obwohl sein dunkles, lockiges, leicht unordentliches Haar nur wenige dünne graue Strähnen aufwies, die man außerdem nur bei näherem Hinsehen bemerken konnte. Seine Stirn war steil und uneben; sie verlieh dem Kopf ein etwas gemeißelt wirkendes Aussehen. Seine Augen saßen tief unter dicken, buschigen Augenbrauen und besaßen schwere Lider, seine Nase war zwar auch so groß wie die von Sir Lyon, doch während dessen Nase dünn und fast messerscharf war, wirkte sie dagegen, als ob sie mindestens einmal gebrochen worden und ohne Zuhilfenahme eines Heilers verheilt war: breit und leicht verdreht. Sein Mund war breit und hatte gerade Lippen, und der Schnäuzer darüber war dicht und buschig, die Haare gingen an den Enden auseinander und strebten einzeln in die Höhe wie die Schnurrbarthaare einer Katze. Sein Kinnbart war voll, aber ziemlich kurz gestutzt und ebenso drahtig und kraus wie sein Kopfhaar, der Schnäuzer und die Augenbrauen. Auf den ersten Blick konnte man den Eindruck gewinnen, daß dieser Mann durch abweisende Skrupellosigkeit und mitleidloses Durchsetzungsvermögen gekennzeichnet war; erst bei näherem Hinsehen wurde offenbar, daß diese Eigenschaften durch Weisheit und Humor abgemildert wurden. Es war das Gesicht eines Mannes mit enormen inneren Kräften, der diese weise und richtig anzuwenden verstand. Lord Darcy hatte diesen Mann schon beschrieben bekommen. Seine Uniform in Königsblau, die schwer mit Gold besetzt war, offenbarte ihn schließlich als Peter de Valera ap Smith, Lord Hochadmiral der Reichsmarine, Commander der Vereinigten Flotten, Ritter und Kommandeur des Ordens vom Goldenen Leoparden und Stabschef der Marinekriegsführung. Hinter dem Lord Hochadmiral stand ein vierter, etwa gleichaltriger Mann, dessen Haar allerdings schon recht grau war und dessen Gesichtszüge derart durchschnittlich waren, daß sie jm Vergleich zur Bedeutungslosigkeit verblaßten. Lord Darcy erkannte ihn nicht, aber seine Uniform wies ihn als Marinekapitän aus, was darauf hinwies, daß er wohl mit dem Marine-geheimdienst zu tun hatte. Als Commander Lord Ashley die üblichen Vorstellungen durchführte, fand sich Lord Darcy in seinen Vermutungen bestätigt, auch was den
letzten Mann anging; es war Captain Percy Smollett, Chef des Marinegeheimdienstes (Abteilung Europa). Lord Darcy bemerkte, daß von den drei Marinern nur der Lord Hochadmiral sein Paradeschwert trug; er allein war von den dreien dazu berechtigt, damit vor den König zu treten. Plötzlich fühlte Lord Darcy sehr deutlich die Pistole an seiner rechten Hüfte, auch wenn diese durch sein Morgenjackett verborgen wurde. Nachdem die Vorstellungen gerade beendet waren, wurde plötzlich die Tür geöffnet, und ein Mann in der Livree eines Majordomus des Königlichen Haushalts trat ein. »My Lords und Gentlemen«, sagte er mit fester Stimme. »Seine Majestät der König!« Die sechs Männer sprangen auf. Als der König eintrat, verneigten sie sich, anstatt niederzuknien. Dies war eine hübsche Feinheit der Etikette, die oft mißverstanden wurde. Seine Majestät trug die Uniform des Oberbefehlshabers der Reichsmarine. Hätte er vollen Ornat getragen, oder auch nur gewöhnliche Straßenkleidung, so wäre ein Niederknien angebracht gewesen; doch in militärischer Uniform war er in der Rolle eines Offiziers — des allerhöchsten aller Offiziere zwar, doch immerhin eines Offiziers, und kein Offizier wurde mit Niederknien begrüßt. »My Lords und Gentlemen, bitte sich zu setzen«, sagte Seine Majestät. John IV, von Gottes Gnaden König und Kaiser von England, Frankreich, Schottland, Irland, Neuengland und Neufrankreich, Wächter des Glaubens et cetera, war das vollkommenste Modell eines Plantagenet-Königs. Groß, breitschultrig, blauäugig und stattlich blond, war John of England ein direkter Nachkomme von Henry II, dem ersten König der Plantagenet-Linie, denn er war der Sohn von Henrys Enkel King Arthur. Wie sein Vorfahr zeigte auch King John IV all die Kraft, Fähigkeit und Weisheit, die für die älteste in Europa herrschende Familie so charakteristisch war. Lediglich körperlich ähnelte er den Mitgliedern des wilden, labilen, verschwendungssüchtigen Seitenzweigs der Familie (der mittlerweile glücklicherweise ausgestorben war), der von dem jüngsten Sohn von Henry II abstammte, dem unglückseligen Johann Ohneland, der drei Jahre vor dem Tod von König Richard Löwenherz im Jahre 1219 im Exil gestorben war. Der König nahm am Kopfende des Tisches Platz. Zu seiner Linken saßen in der angemessenen Rangfolge der Lord Hochadmiral, Captain Smollett und Lord Bontriomphe. Zur rechten Hand saßen Sir Lyon, Commander Lord Ashley und Lord Darcy. »My Lords und Gentlemen, ich glaube, wir alle wissen, warum wir hier versammelt sind, doch damit wir die Tatsachen noch einmal in richtiger Reihenfolge hören, möchte ich My Lord Hochadmiral bitten zu erklären, womit wir es zu tun haben. My Lord, habt die Güte!« »Sehr wohl, Sire.« My Lord Admirals Stimme war ein leicht rauher Bariton, der sich so anhörte, als solle er lieber Befehle vom Kommandodeck brüllen, als in leisem Ton eine ruhige Unterhaltung in Westminster Palace zu führen. Er blickte mit seinem durchdringenden Seemannsblick um sich in die Runde. »Es geht um eine Waffe«, sagte er abrupt, »ich nenne es jedenfalls eine Waffe. Sir Lyon tut das nicht. Aber ich bin ja nur ein Mariner, kein Hexer. Wir wissen ja alle, daß die Hexerei ihre Grenzen hat, eh? Deshalb kann Magie auch nicht zu Kriegszwecken gebraucht werden; wenn ein Hexer ein feindliches
Schiff zerstören will, dann muß er Schwarze Magie anwenden, und kein Hexer im Besitz seiner geistigen Kräfte würde das tun wollen. Außerdem ist Schwarze Magie auch nicht sonderlich effektiv. '39 versuchte die polnische Marine damit zu arbeiten, und unsere Gegenzauber machten die ganze Sache schnell zunichte. Wir haben sie mit unseren Kanonen vom Wasser gefegt, während sie versuchten, ihre Zauber zu aktivieren. Aber wie ich höre, soll das ja gar keine Schwarze Magie sein.« Er sah den Großmeister an. »Es ist wohl besser, wenn Ihr jetzt etwas dazu sagt, Sir Lyon.« »Aber ja, My Lord«, sagte der Meisterhexer. »Vielleicht sollte ich damit beginnen, Euch klarzumachen, daß man leider nicht so messerscharf zwischen dem, was wir >Weiße< und dem, was wir >Schwarze< Magie nennen, trennen kann, wie die meisten Leute annehmen. Wir sagen zum Beispiel, daß die Kunst des Heilens Weiße Magie sei, während der Gebrauch von Flüchen, um Krankheit oder Tod zu bewirken, Schwarze Magie ist. Aber man könnte ja zum Beispiel fragen, ob es Weiße Magie sei, einem verrückten Massenmörder sein gebrochenes Bein zu kurieren, damit er wieder hinausgehen kann und noch mehr Leute umbringt. Oder, umgekehrt betrachtet: ist es Schwarze Magie, ihn zu verfluchen, so daß er stirbt und nie mehr tötet? Nun ja, in beiden Fällen muß man wohl Ja sagen. Man kann das nämlich durch die symbolologischen Gleichungen und die Mathematik der Theorie der Ethik beweisen. Ich will Euch nicht mit den Analogiegleichungen selbst langweilen, es mag genügen, daß die Theorie der Ethik in solchen Extremfällen recht klar ist. Dies wird in dem Merksatz zusammengefaßt, den jeder Zauberlehrling im ersten Jahr auswendig lernt: Schwarze Magie ist eine Sache des Symbolismus und des Vorhabens.« Sir Lyon lächelte und drehte die rechte Handfläche nach oben, wie um etwas zuzugeben. »Das gilt natürlich auch genauso für Weiße Magie — aber wir müssen ja vor der Schwarzen Magie warnen.« »Sehr einsichtig«, sagte Captain Smollett. »Ich will nicht weiter darauf eingehen«, sagte Sir Lyon, »außer noch zu erwähnen, daß die Theorie der Ethik es zuläßt, sich in die Handlungen eines anderen einzumischen, wenn dieser Zerstörung im Sinn hat. Als Ergebnis davon haben wir die ... eh ... >Waffe< entwickelt, die My Lord der Hochadmiral erwähnt hat.« Sir Lyon blickte wieder in die Runde und sah jeden einzelnen mit seinen tiefliegenden glänzenden Augen an. Dann beugte er sich vor, griff unter den Tisch und stellte einen Gegenstand auf die Tischplatte, damit ihn alle sehen konnten. »Dies ist sie, My Lords und Gentlemen.« Es war ein sehr merkwürdig aussehender Gegenstand. Der größte Teil bestand aus einem Messingzylinder von acht Zoll Durchmesser und achtzehn Zoll Höhe. Dieser Zylinder ruhte auf einem kurzen Dreifuß, der ihn vier Zoll in horizontaler Lage über der Tischplatte hielt. Arn einen Ende waren zwei Griffe befestigt, mit deren Hilfe man den Zylinder auf ein beliebiges Ziel richten konnte. Am anderen Ende trat ein weiterer, kleinerer Zylinder von etwa drei Zoll Durchmesser und zehn Zoll Länge hervor. Sein Ende war ausgeweitet und hatte einen Durchmesser von sechs Zoll, so daß es wie eine glockenartige Mündung aussah. Lord Bontriomphe lächelte. »Das ist aber eine sehr seltsam geformte Kanone, Sir Lyon.« Der Grand Master lachte
trocken. »Euer Lordschaft sieht natürlich, daß es keine Kanone und kein Gewehr ist — aber der Vergleich ist recht treffend. Ich kann ihre Wirkung hier nicht vormachen, aber eine Erklärung, wie das ganze funktioniert . . .« »Einen Augenblick, Sir Lyon.« Die Stimme des Königs unterbrach ihn elegant. »Sire?« Die Augenbrauen des Hexengroßmeisters hoben sich. Er hatte nicht erwartet, daß Seine Majestät ihn an diesem Punkt unterbrechen würde. »Läßt sich das Gerät gegen einen einzelnen Mann anwenden?« fragte Seine Majestät. »Selbstverständlich, Sire«, sagte Sir Lyon. »Aber Euer Majestät müssen verstehen, daß es nur eine bestimmte Art von Handlung verhindert, und wir .haben hier nicht die Möglichkeit, es . . .« »Geduldet Euch, Sir Hexer«, sagte der König. »Ich glaube, wir haben doch die Möglichkeiten, die Ihr erwähnt. Könntet Ihr Lord Darcy als Euer Ziel verwenden?« »Das könnte ich, Sire«, sagte Sir Lyon, in dessen Augen ein Verstehen aufzuleuchten begann. »Ausgezeichnet.« Der König blickte Lord Darcy an. »Wäret Ihr bereit, Euch für ein Experiment zur Verfügung zu stellen, My Lord?« »Euer Majestät brauchen nur zu befehlen«, sagte Lord Darcy. »Sehr gut.« Seine Majestät streckte die rechte Hand aus. »Würdet Ihr so gut sein, mir die Pistole zu geben, die Ihr an Eurer rechten Hüfte tragt, My Lord?« Ein Blitzstrahl schien jeden der anderen Anwesenden getroffen zu haben. Ihre Köpfe drehten sich abrupt herum, alle Augen starrten voll entsetzter Überraschung auf Lord Darcy. Der Lord Hochadmiral ergriff das Heft seines schmalklingigen Marineparadeschwerts und zog es einen halben Zoll aus der Scheide. Der Schock war offensichtlich. Wie konnte es jemand wagen, mit einer Pistole bewaffnet vor Seine Königliche Majestät zu treten? »Beruhigt Euch, My Lord Admiral!« sagte der König. »My Lord von Darcy kommt auf Unseren Befehl bewaffnet. Lord Darcy, Eure Pistole!« Kühl beging Lord Darcy eine Handlung, die jedem rechtschaffen Denkendem im gesamten Reich den Magen umgedreht hätte. Er zog eine Pistole in der Gegenwart Seiner Gefürchteten und Souveränen Majestät dem König! Dann stand er auf, lehnte sich über den Tisch und reichte die Pistole mit dem Griff nach vorn dem König. »Zu Befehl, Majestät«, sagte er ruhig. »Ich danke Euch, My Lord. Ah! Eine ausgezeichnete Waffe! Ich fand immer, daß die .40er MacGregor die beste Faustfeuerwaffe ist, die es gibt. Seid Ihr bereit, Sir Lyon?« Sir Lyon Grey hatte das Vorhaben des Königs offenbar inzwischen erraten. Er lächelte und drehte das glänzende Gerät herum, so daß die Glockenmündung genau auf Lord Darcy gerichtet war. »Ich bin bereit, Sire«, sagte er. Der König hatte mittlerweile die MacGregor entladen und alle Patronen vom Kaliber .40 auf den Tisch ausgelegt, während ihm fünf Augenpaare fasziniert dabei zusahen. »My Lord«, sagte der König aufblickend, »ich bitte Euch, nicht darauf zu achten, was Sir Lyon tut.« »Ich verstehe, Sire«, sagte Lord Darcy. ; »Ausgezeichnet, My Lord.« Die Augen seiner Majestät blickten suchend auf die gegenüberliegende Wand. »Hm, hm, ja! My Lord, ich bitte, Eure geschätzte Aufmerksamkeit auf jenes bemalte Fenster dort drüben zu richten, besonders auf die Szene, wo König Artus die Pergamentrolle hält, ein Symbol für die Errichtung des Hochehrwürdigen und Alten Ordens von der Tafelrunde.« Lord Darcy
blickte auf das Fenster. »Ich sehe, was Euer Majestät meinen«, sagte er. »Gut. Dieses Fenster, My Lord, ist ein unschätzbares Kunstwerk, und dennoch kann ich es nicht leiden.« Lord Darcy blickte wieder den König an. Seine Majestät gab der ungeladenen Pistole einen Stoß, so daß sie über die polierte Tischplatte rutschte und vor Lord Darcy liegen blieb. Dann schnippte er mit einem Finger, so daß eine einzelne Patrone neben die Pistole glitt. »Ich wiederhole, My Lord«, sagte der König, »daß ich dieses Fenster nicht leiden kann. Würdet Ihr mir den Gefallen tun und eine Kugel da durchschießen?« »Wie Ihr befehlt, Sir«, sagte Lord Darcy. Hätte er nicht gewußt, daß es sich um ein wissenschaftliches Experiment handelte, so wäre die darauffolgende Szene für Lord Darcy zu einer Quelle maßloser Beschämung geworden. Hinterher war er froh und dankbar, daß ihn niemand durch Kichern oder Lachen zu einer unbedachten Handlung verleitet hatte, die wohl noch beschämender gewesen wäre. Die Aufgabe war sehr einfach: die Pistole aufheben und laden, den Verschluß schließen, zielen und dann feuern. Lord Darcy griff mit der Rechten nach der Pistole, mit seiner linken Hand nach der Patrone. Irgendwie erwischte er die Pistole verkehrt herum, so daß ihn plötzlich die Mündung anstarrte. Zur gleichen Zeit entglitt seinen Fingern die Patrone und rollte über die Tischplatte fort. Er griff danach und wiederum entwischte sie ihm. Wütend klatschte er mit der Handfläche darauf und hatte sie endlich. Plötzlich war ein Klappern zu hören: während er seine Aufmerksamkeit auf die Patrone gerichtet hatte, war ihm die Pistole aus der Hand gefallen. Er biß die Zähne zusammen und griff fest mit der Linken um die Patrone. Dann atmete er tief durch und ergriff die Pistole mit der Rechten. Gut. Nun mußte der Verschluß geöffnet werden. Sein rechter Daumen fand den Hebel und schob ihn vor, doch entglitt die Waffe in diesem Augenblick seinen anderen Fingern und hing plötzlich am Abzughebelbügel von seinem Zeigefinger herab. Er versuchte, die Pistole hochzuschwingen, um den Griff umfassen zu können, aber nun rutschte sie von seinem Zeigefinger herunter und fiel mit lautem Knall wieder auf die Tischplatte. Lord Darcy atmete wiederum tief und beherrscht durch. Dann griff er mit ruhiger Hand ganz entspannt nach der Waffe und hob sie auf. Dieses Mal benutzte er den linken Daumen, um den Verschlußhebel zu betätigen; dabei fiel ihm die Patrone aus der Hand. Die nächsten paar Minuten waren ein Alptraum. Die Patrone entglitt immer wieder seinem Griff, und wenn er sie schließlich doch erwischt hatte, weigerte sie sich, in die Patronenkammer zu rutschen. Und wenn ihm dies endlich doch gerade zu gelingen schien, ließ er unweigerlich wieder die Pistole fallen. Mit zusammengebissenen Zähnen und angespannten Kiefernmuskeln gelang es ihm schließlich nach zahllosen Fehlschlägen doch, die Patrone endlich in die Kammer einzuführen und den Verschluß wieder zurückschnellen zu lassen. Sein Gefühl der Erleichterung war so groß, daß ihm prompt wieder die Pistole aus der Hand fiel. Wütend griff er nach der Waffe, zielte grob in die geplante Richtung und — Die Waffe ging mit einem Knall los, und zwar viel früher, als er es vorgehabt hatte. König Artus und seine Pergamentrolle blieben völlig unversehrt, während das Geschoß die zwei Fuß entfernte Steinwand
streifte und quer nach oben abprallte, wo es sich in einem eichenen Deckenbalken vergrub. Nach einem endlos wirkenden Schweigen sagte Sir Lyon Gandolphus Grey ruhig: »Ausgezeichnet! Majestät, in all unseren Versuchen ist es bisher noch nie jemandem gelungen, die Pistole zu laden oder gar beinahe das Ziel zu treffen. Es ist ein Glück zu wissen, daß es nicht viele derart superdisziplinierte Gemüter gibt — besonders in den Reihen der Polnischen Marine.« Seine Majestät schnippte die übrigen sechs Patronen über die Tischplatte. »Ladet wieder Eure Waffe und steckt sie wieder ein, My Lord. Bitte verzeiht etwaige ... äh ... Inkommoditäten, die Euch durch dieses Experiment eventuell auferlegt wurden.« »Aber nein, Sire! Es war eine höchst lehrreiche Erfahrung.« Er nahm die sechs Patronen und lud erneut die MacGregor mit der ruhigen Sicherheit eines Könners. Obwohl die Glockenmündung des Metallgeräts immer noch auf ihn zeigte, umgriffen Sir Lyons Hände die Griffe nicht mehr. »Ich gratuliere Euch, My Lord«, sagte der König. »Alle hier Anwesenden, mit Ausnahme von Lord Bontriomphe und Euch selbst, haben dieses Gerät schon erlebt. Wie Sir Lyon bereits sagte, seid Ihr der Erste, dem es bisher gelang, unter seinem Einfluß eine Waffe zu laden.« Er blickte Sir Lyon an. »Habt Ihr noch irgend etwas hinzuzufügen, Sir Hexer?« »Nichts, Sire . . . außer wenn es noch Fragen gibt.« Lord Bontriomphe hob die Hand. »Eine Frage, Sir Lyon.« »Aber gewiß, My Lord.« Lord Bontriomphe deutete auf das Gerät. »Kann dieser Apparat von jedem bedient werden, von jedem Laien, meine ich, ober benötigt man einen Hexer dazu?« Sir Lyon lächelte. »Glücklicherweise kann das Gerät nur von jemandem bedient werden, der ein geschultes Talent besitzt. Es muß jedoch kein Master sein, ein Lehrling im dritten Jahr könnte damit schon umgehen.« »Dann liegt also, Sir Lyon«, sagte Lord Darcy, Lord Bontriomphe unterbrechend, »das Geheimnis seines Funktionierens in zwei verschiedenen Bereichen, nicht wahr?« »My Lord«, sagte Sir Lyon nach einer kurzen Pause, »Euer Mangel an Zaubertalent ist ein großer Verlust für die Gilde. Wie Ihr richtig gefolgert habt, besteht der Zauber aus zwei Teilen. Der erste und wichtigste ist in diesen ... äh ... Apparat eingebaut. Der darin befindliche Symbolismus ist von allergrößter Wichtigkeit. Innerhalb dieses Messingzylinders befinden sich die Invariablen, das, was wir die >Hardware< des Zaubers nennen. Aber allein ist sie völlig nutzlos. Das Gerät kann nur von einem Hexer benutzt werden, der die richtigen verbalen Formeln dazu beherrscht. Diese Formeln nennen wir die >Software< des Zaubers, wenn Ihr mir folgen könnt, My Lord.« Lord Bontriomphe nickte grinsend. »Ihr habt Euch die Beantwortung meiner nächsten Frage geteilt, My Lords.« »Ich glaube, daß nun der Lord Hochadmiral weiterreden sollte«, sagte Sir Lyon. »Ich glaube, wir begreifen wohl alle«, sagte der Lord Hoch-admiral, ohne zu warten, bis sich Sir Lyon wieder gesetzt hatte, »was dieses Gerät mit feindlichen Schiffen anrichten kann, wenn es sich in der Hand eines Hexers befindet, der damit umzugehen weiß. Es hält den Feind nicht davon ab, sein Schiff weiterhin zu steuern — das wäre wohl Schwarze Magie, wie ich höre — aber jeder Versuch, ihre Kanonen zu laden und abzufeuern, wäre für die feindlichen Soldaten zum Scheitern verurteilt. Wir haben
gesehen, was passiert, wenn ein Mann so etwas versucht. Man stelle sich einmal vor, wie das aussehen muß, wenn eine ganze Gruppe von Leuten dabei wäre! Es wäre das Chaos: nicht nur, daß jeder vor sich hinfummelt, er gerät auch noch allen anderen dabei in die Quere. Wie ich sagte — Chaos. Mit diesem Gerät, My Lords und Gentlemen, kann die Reichsmarine die Königlich Slavische Marine solange im Baltikum eingekesselt halten wie nötig. Vorausgesetzt natürlich, daß wir es haben und sie nicht! Und da liegt die Crux der ganzen Angelegenheit, Gentlemen. Das Geheimnis dieses Geräts darf nicht in polnische Hände fallen.« Der König hatte begonnen, seine Pfeife zu stopfen; Lord Darcy, der Lord Hochadmiral und Captain Smollett hatten ebenfalls sofort nach ihren Rauchutensilien gegriffen. Aber Lord Darcy beobachtete dabei Captain Smollett. Er hätte fast aufs Wort genau voraussagen können, was der Lord Hochadmiral als nächstes sagen würde. »Wir sehen uns also«, sagte My Lord der Hochadmiral, »mit einem Problem der Spionage konfrontiert. Captain Smollett, bitte die Einzelheiten.« »Aye aye, My Lord.« Der Chef des Marinegeheimdienstes zog eine Minute lang bedächtig an seiner Pfeife. Dann sagte er: »Problem recht simpel, My Lords. Lösung schwieriger, es ist versucht worden, das Geheimnis an die Polen zu verkaufen, ja? Das ging so: Wir hatten einen Doppelagenten in Cherbourg, Name war Barbour, Georges Barbour. Kein Anglo-Franzose, übrigens, Pole. Hat uns aber verdammt gute Dienste geleistet. Absolut zuverlässig.« Smollett nahm die Pfeife aus dem Mund und stach mit dem Holm gestikulierend in der Luft herum. »Vor ein paar Wochen bekam Barbour einen anonymen Brief, daß das Geheimnis zu verkaufen wäre. Beschreibung des Äußeren und der Wirkung recht genau, versteht Ihr, My Lords? Gut. Barbour kontaktierte seinen Vorgesetzten — ein Mann, den er nur unter dem Kodenamen >Zett< kannte — und bat um Instruktionen. Zett kam zu mir, ich ging zu My Lord dem Hochadmiral. Zusammen haben wir drei eine Falle gebaut.« »Bitte um Verzeihung, Captain Smollett«, sagte Lord Darcy. »Aber ja, My Lord!« »Niemand wuße von dieser Falle außer Ihr selbst, My Lord der Hochadmiral und Zett?« »Niemand, My Lord«, sagte Captain Smollett emphatisch. Absolut niemand.« »Ich danke Euch. Verzeiht die Unterbrechung.« »Aber gewiß, My Lord. Auf jeden Fall.» Er zog erneut an seiner Pfeife. »Auf jeden Fall bauten wir diese Falle. Barbour sollte den Kontakt aufnehmen. Preis für Einzelheiten erfragen — fünftausend Goldsovereigns.« Und das war es wohl auch wert, dachte Lord Darcy bei sich. Ein Goldsovereign war fünzig Silbersovereigns wert, und ein >ZwöIfer<, also ein Zwölftel eines Silbersovereigns mußte bezahlt werden, wollte man in einer Gastwirtschaft einen Kaffee trinken. Für eine viertel Million Silbersovereigns konnte man eine enorme Menge Kaffee kaufen . . . »Die Verhandlungen brauchten Zeit«, fuhr Captain Smollett fort. »Barbour durfte nicht allzu interessiert wirken. Sah' sonst verdächtig aus, eh? Ja. Tja, auf jeden Fall gingen die Verhandlungen weiter. Barbour, müßt Ihr wissen, arbeitete nicht über den Geheimdienst in Cherbourg sondern direkt durch Zett. Mußte sich in acht nehmen, ja? Keine auffälligen Kontakte zu uns, klar? Wurde ja dauernd von
polnischen Agenten überwacht.« Captain Smollett lachte kurz, scharf und bellend. »Während wir natürlich die Polen überwachten. Teuflische Sache, das. Konnten nicht wagen, Barbours Tarnung zu durchbrechen, klar? Zu wertvoll der Mann, verdammt wertvoll. Während der Verhandlungen kam der Mann, der das Geheimnis verkaufen wollte, zweimal zu Barbour, um mit ihm zu reden. Barbour hat ihn beschrieben. Schwarzes Haar, schwarzer Schnäuzer und Bart, gerade Nase, ziemlich groß. Trug blaugetönte Brille, sprach mit einer rauhen, flüsternden Stimme in provencalischem Akzent. Ziemlich groß. Angezogen wie ein Mitglied der gehobenen Händlerklasse.« Lord Darcys Blick traf den von Lord Bontriomphe, und die beiden Untersuchungsbeamten tauschten ein Grinsen aus. Jeder von ihnen wußte bereits genug, um Captain Smolletts nächste Bemerkung nicht mehr zu benötigen. »Ganz offensichtlich eine Verkleidung«, sagte Captain Smollett. »Eine Frage, Captain«, sagte Lord Bontriomphe. »Ja, My Lord?« »Dieser Kerl hat Barbour zweimal getroffen. Da Ihr ja wohl von diesen Treffen vorher wußtet, warum habt Ihr ihn dann nicht ergriffen, als er kam?« »Konnten wir nicht, My Lord«, sagte Captain Smollett mit Bestimmtheit. »Nicht, ohne Barbours Tarnung zu entlarven. Zu viele polnische Agenten in Cherbourg, die ein Auge auf Barbour hatten. Die wußten, daß Barbour mit diesem Kerl Verhandlungen führte — er nannte sich selbst übrigens Edelmann Fitzjean. Jeder Versuch, Fitzjean festzunehmen, hätte bedeutet, daß wir Barbour auch festnehmen müßten, ja? Wenn nicht, dann hätten die polnischen Agenten gewußt, daß wir über Barbour Bescheid wußten. Vielleicht nicht, daß er ein Doppelagent war, aber daß wir von ihm wußten, ja? Hätte seine Tarnung gesprengt. Wäre wertlos geworden für Seine Slavische Majestät. Konnten wir uns nicht erlauben, seht Ihr?« »Ihr hättet ihn doch nach den Treffen beschatten lassen können«, meinte Lord Bontriomphe. »Haben wir auch«, erwiderte der Captain nicht ohne eine gewisse Schärfe. »Natürlich. Beide Male.« Captain Smollett verzog gequält das Gesicht. »Muß leider zugeben, daß der Mann unseren Agenten jedesmal entkommen ist.« Er atmete tief durch. »Unser Edelmann Fitzjean ist offenbar kein Amateur, My Lords.« Er warf seinen Blick in die Runde. »Verdammt schlauer Bursche. Weiß nicht, ob er merkte, daß er verfolgt wurde oder nicht. Aber vermutlich rechnete er damit, von polnischen Agenten beschattet zu werden, auch wenn er wohl nicht an Agenten des Reichs dachte. Brachte es beide Male fertig zu entkommen, und ich, My Lords, frage deswegen nicht um Verzeihung!« Captain Smollett hielt inne, um tief durchzuatmen, und der Lord Hochadmiral nutzte die Pause, um zu seiner Majestät zu sagen: »Mit Eurer Erlaubnis, Sire, will ich mich hinter Captain Smollett stellen. Kein Agent und keine Gruppe von Agenten kann einem Verdächtigen sehr lange folgen, wenn dieser weiß, daß er beschattet wird und das Abschütteln von Verfolgern gelernt hat.« »Das ist mir klar«, sagte King John ruhig. »Bitte fahrt fort, Captain Smollett!« »Jawohl, Sire«, sagte der Captain. Er räusperte sich. »Wie ich schon sagte, ist es uns nicht gelungen, My Lords, diesen sogenannten Fitzjean zu verfolgen. Aber Barbour hatte mit unserer Unterstützung bereits Speck in die Falle eingelegt.
Versteht Ihr, er stimmte zu, er sagte Fitzjean, daß seine Information fünftausend Goldsovereigns wert wäre; er sagte ihm, daß Seiner Slavischen Majestät Regierung bereit sei, den Preis zu zahlen. Vorausgesetzt . . .« Captain Smollett stach wieder mit seiner Pfeife in die Luft und räusperte sich. »Vorausgesetzt . . . ahem . . . daß er Barbour den Beweis erbringen konnte, daß er tatsächlich Zugang zu diesem Geheimnis hätte.« Captain Smollett nahm die Pfeife wieder in den Mund und blickte in die Runde. »Ihr versteht, My Lords? Fitzjean wollte keine Einzelheiten preisgeben, ohne Bargeld in der Tasche zu haben. Aber woher sollten polnische Agenten wissen, daß die Information soviel wert war? Eh?« Captain Smollett hob seinen Zeigefinger. »Das war's, My Lords, was unser Doppelagent Barbour Fitzjean erzählte. Nicht die Wahrheit, natürlich! Barbour mußte den polnischen Agenten auch etwas Plausibles erzählen. Sagte ihnen, daß er Kontakt mit einem Reichsmarineoffizier aufgenommen hätte, der ihm Pläne für Flotteneinsätze der Schiffe des Reichs und Skandinaviens in der Nordsee verkaufen wollte. Der Preis war, das sagte Barbour jedenfalls seinen polnischen Vorgesetzten, zweihundert Sovereigns.« Captain Smollett machte mit den Händen eine Geste der Abscheu. »Mehr hätten sie sowieso nicht gezahlt, ist ja klar, Pläne können sich ja blitzschnell ändern. Scheinbar stimmten die Polen zu. Wollten aber nicht zahlen, bevor sie nicht Informationen in den Händen hielten. Auf der anderen Seite verlangte Fitzjean einhundert Sovereigns als Geste, daß es Barbour ernst meinte. Wir stimmten zu. Barbour sollte so tun, als käme das Geld aus Polen. Sagte, daß er Fitzjean einhundert Sovereigns geben würde, sobald sich dieser qualifiziert auswies, und daß er die übrigen viertausendneunhundert dann auch besorgen und aushändigen würde, sobald er die Einzelheiten über die Sache erhalten hatte. Problem war, daß Fitzjean sich terminlich nicht festlegen wollte. Klug von ihm, nicht? Hielt Barbour bei der Stange, nicht? Versteht Ihr, My Lords?« »Ich verstehe«, sagte Lord Bontriomphe. »Dieser Fitzjean sollte also für fünftausend Goldsovereigns seine Identität preisgeben, das war die Falle. Richtig? Hat er aber nicht getan, oder? Das heißt, Eure Organisation hat niemals die hundert Sovereigns ausbezahlt, nicht wahr?« »Nein, My Lord« sagte Captain Smollett. »Die hundert Sove:igns wurden nie ausbezahlt.« Er blickte Lord Ashley an. »Commander, erklärt das bitte!« Commander Ashley nickte. »Aye, Sir!« Er blickte erst Lord Darcy, dann Lord Bontriomphe an. »Ich sollte ihm gestern moren das Geld bringen. Als ich ankam, war er tot. Man hatte ihn offensichtlich wenige Minuten zuvor erstochen.« Er fuhr fort, die Vorgänge zu erklären, und erwähnte auch das Gespräch mit Chief Henri und Lord Admiral Brencourt. Lord Bontriomphe schwieg und schaute den Lord Hochadmiral nachdem Lord Ashley seine Erzählung beendet hatte. Der Lord Hochadmiral räusperte sich dröhnend. »Ahem! Fja, My Lords, die Verbindung! Es war so: Sir James Zwinge, _Geisterhexer und Oberster Gerichtshexer der Stadt London, war gleichzeitig auch der Chef unserer Spionageabwehr — unter dem Kodenamen >Zett<.« »Und nun«, sagte Lord Darcy eine Stunde später, »bin ich bereit, eine Verhaftung in der Mordaffäre um Master Sir James Zwinge vorzunehmen.« My Lord der Marquis von
London saß bewegungslos hinter seinem Schreibtisch. Nur ein leises Senkender Augenlider verriet, daß er gehört hatte, was der Chefinspektor der Normandie gesagt hatte. Lord Darcy und Lord Bontriomphe waren sofort, nachdem Seine Majestät das Treffen beendet hatte, in De Londons Büro geeilt. Der letzte Befehl des Königs hatte gelautet: »Dann sind wir uns also einig, My Lords. Unsere zivilen Untersuchungsbeamten werden diesen Morden nachgehen, als bestünden nicht die geringsten Beziehungen zur Marine, als ob sie lediglich einen gewöhnlichen Mörder suchten. Was die Öffentlichkeit angeht, so darf nicht der geringste Zusammenhang zwischen dem Mord an Barbour und dem an Sir James hergestellt werden. In der Zwischenzeit bemüht sich der Marinegeheimdienst darum, Barbours andere Kontakte aufzudecken und seine Berichte an >Zett< genauestens zu studieren und ebenso >Zetts< eigene Berichte in London. In diesen Akten könnten sich mehr Hinweise finden, als wir bisher angenommen haben. Und schließlich müssen wir alle dafür Sorge tragen, daß die Geheimagenten Seiner Slavischen Majestät mindestens genauso sehr im Dunkeln umhertappen wie wir.« Einen Augenblick lang hatte Lord Darcy angenommen, daß das letzte Stückchen beißenden Sarkasmus Seiner Majestät den Lord Hochadmiral Peter de Valera ap Smith wütend gemacht hätte. Dann merkte er, daß der erstickte Gesichtsausdruck des Lords Hochadmiral von einem tapferen und erfolgreichen Versuch herrührte, ein Lachen zu unterdrücken. Beim Himmel, dachte Lord Darcy, ich muß diesen alten Piraten doch wirklich einmal besser kennenlernen! Als Lord Darcy und Lord Bontriomphe eingetreten waren, hatte der Marquis von London ein Buch, in dem er gelesen hatte, beiseite gelegt und »Guten Morgen, My Lords«, gepoltert, wobei er seinen Kopf vielleicht ein achtel Zoll verneigte. »Hier ist ein Brief für Euch, Lord Darcy«, sagte er und schob mit einem fetten Zeigefinger einen weißen Umschlag über die Tischplatte. »Wurde heute morgen per Sonderkurier überbracht.« »Danke«, hatte Lord Darcy höflich gemurmelt. Er hatte das Siegel aufgebrochen und war die drei eng beschriebenen Seiten durchgegangen. Schließlich hatte er sie wieder zusammengefaltet und hatte den Brief lächelnd beiseite gelegt. »Ein höchst aufschlußreicher Brief. Er stammt — wie Ihr zweifellos am Siegel erkannt habt — von Sir Eliot Meredith, meinem Stellvertretenden Chefinspektor. Und nun bin ich bereit, eine Verhaftung in der Mordaffäre um Master Sir James Zwinge vorzunehmen.« »Tatsächlich?« fragte My Lord der Marquis. »Ihr habt den Fall gelöst? Ohne das Beweismaterial persönlich zu überprüfen? Ohne Zeugen zu befragen? Wie außerordentlich scharfsinnig — selbst für Euch, mein lieber Cousin!« »Ihr seid wohl kaum der rechte Mann, Mangel an persönlichem Untersuchungseinsatz zu bemäkeln«, bemerkte Lord Darcy freundlich. »Was Zeugen angeht, so ist weiteres Befragen unnötig. Die Information liegt vor, wir müssen sie nur untersuchen.« Der Marquis legte die Handflächen flach auf die Tischplatte, atmete eine gute halbe Gallone Luft ein und ließ sie langsam wieder durch die Nase entweichen. »In Ordnung. Schießt los!« »Die Lösung ist derart einfach, daß man sie leicht übersehen kann, vor allem, was die Identität des Mörders angeht. Man überlege:
Ein Mann wird in einem verriegelten und versiegelten Raum umgebracht — in einem Hotel voller Magier. Natürlich denken wir alle sofort an Schwarze Magie. Ist ja auch offensichtlich. Allerdings ein bißchen zu offensichtlich. Denn es ist genau das, was wir glauben sollen.« »Wie geschah denn dann der Mord tatsächlich?« fragte der Marquis, der sich für die Sache zu erwärmen schien. »Zwinge wurde vor den Augen all der Zeugen erstochen, die dort waren, um bezeugen zu können, daß der Raum verriegelt und versiegelt war«, sagte Lord Darcy ruhig. My Lord der Marquis schloß die Augen. »Verstehe. Daher weht der Wind also!« Er öffnete wieder die Augen und sah Lord Bontriomphe an, der seinen Blick fest und ungerührt erwiderte. »Fahrt fort, Lord Darcy«, sagte der Marquis. »Ich möchte es gern alles hören.« »Wie Ihr schon gefolgert habt, lieber Cousin«, fuhr Lord Darcy fort, »konnte nur Lord Bontriomphe den Mord begangen haben. Er war es, der die Tür erbrach. Er war der erste, der ins Zimmer kam. Er befahl den anderen, draußen zu bleiben. Dann beugte er sich über den bewußtlosen Körper von Sir James und senkte das Messer in Sir James' Herz, wobei er seine Bewegungen mit seinem vorgebeugten Körper verbergen konnte.« »Woher konnte er wissen, daß Sir James bewußtlos sein würde? Warum stieß Sir James einen Schrei aus? Welches Motiv hatte Lord Bontriomphe?« Die drei Fragen wurden kühl, ja fast gefühllos ausgesprochen. »Ich nehme an, das Ihr dafür Erklärungen habt?« »Natürlich. Es gibt zahlreiche Pflanzen und Drogen in der materia medica des erfahrenen Kräuterkenners, die Bewußtlosigkeit und Koma bewirken können. Bontriomphe, der wußte, daß Sir James vorhatte, sich gestern morgen in seinem Hotelzimmer einzuschließen, schaffte es, dem Hexer eine solche Droge in den Kaffee zu schmuggeln — für einen Experten eine Kleinigkeit. Danach brauchte er bloß zu warten. Irgendwann würde man Sir James schon vermissen. Man würde sich wundern, warum er die eine oder andere Verabredung nicht einhielt, man würde an seine Tür klopfen und herausfinden, daß sie abgeschlossen war. Schließlich würde jemand den Leiter des Hotels bitten, nach dem rechten zu sehen. Wenn dieser dann feststellte, daß er die Tür nicht öffnen konnte, würde er schon um amtliche Hilfe bitten. Und glücklicherweise befand sich ausgerechnet Lord Bontriomphe, Chefinspektor von My Lord dem Marquis von London, an Ort und Stelle. Er läßt eine Axt herbeischaffen und . . .« Lord Darcy drehte eine Handfläche nach oben, als wollte er dem Marquis den ganzen Fall auf einem Servierteller darbieten. »Weiter.« Die Stimme des Marquis hatte jetzt einen gefährlichen Unterton. »Der Schrei ist schnell erklärt. Sir James befand sich nicht völlig im Koma. Er hörte Master Sean anklopfen. Nun hatte Sean zu dieser Zeit eine Verabredung mit Sir James, und dieser wußte, wer da anklopfte. Vom Klopfen aufgeweckt rief er: >Master Sean! Hilfe!< und brach dann wieder bewußtlos zusammen. Natürlich konnte Bontriomphe nicht wissen, daß das passieren würde, aber es war ein großes Glück für ihn, obwohl es völlig überflüssig war. Hätte es keinen Schrei gegeben, so hätte Master Sean auch so gemerkt, daß irgend etwas nicht in Ordnung war, und hätte die Hotelleitung verständigt. Der Rest -wäre dann genauso abgelaufen wie geplant.«
Lord Darcy verschränkte die Arme, ließ sich in seinem Stuhl '< zurückfallen und betrachtete den finster dreinblickenden De London schräg von unten. »Das Motiv ist recht eindeutig. Eifer-, sucht.« »Pah!« explodierte der Marquis. »Jetzt habe ich Euch! Bis jetzt wart Ihr ja recht gewitzt. Aber jetzt zeigt es sich, daß Euer Geist wohl doch nicht so gut funktioniert. Eine Frau? Pfui! Lord Bontriomphe mag sich ja manchmal wie ein Narr aufführen, aber nicht, was Frauen angeht. Ich will zwar nicht so weit gehen zu behaupten, daß die Frau, die er nicht bekommen könnte, wenn er wollte, noch geboren werden muß, aber ich möchte doch sagen, daß sein Stolz ein solcher ist, daß er keine Frau begehren würde, die ihn nicht haben wollte, oder die ihn wegen eines anderen fallen lassen würde! Wegen einer solchen Frau würde er noch nicht einmal mit den Fingern schnippen, geschweige denn einen Mord begehen.« »Zugegeben«, sagte Lord Darcy freundlich. »Ich habe ja auch nichts von einer Frau gesagt. Und ich habe auch nicht von seiner Eifersucht gesprochen.« »Von wessen Eifersucht denn?« »Von Eurer.« »Hah! Das ist ja lächerlich!« »Ganz und gar nicht. Mein Lieber, Euer Botanikerhobby ist ,. eine der größten Leidenschaften Eures Lebens. Ihr seid ein anerkannter Experte auf dem Gebiet und stolz darauf. Zwinge war auch ein Pflanzenkundler, aber Euch konnte er nicht das Wasser reichen. Aber trotzdem, wenn Ihr irgendeinen Rivalen auf diesem Gebiet hattet, dann war es Master Sir James Zwinge. Vor kurzem war es ihm gelungen, Polnische Teufelswurz vom Samen zu kultivieren und nicht von Ablegern, wie das gewöhnlich der Fall ist. Euch ist das bisher noch nicht gelungen. Folglich habt Ihr Euch pikiert an Lord Bontriomphe gewandt. Aus Loyalität hat er dann dafür gesorgt, daß Euer Rivale von der Bildfläche verschwand. Und da habt Ihr es, My Lord: Methode, Motiv und Gelegenheit. Quod erat demonstrandum.« My Lord Marquis drehte abrupt den Kopf, und starrte wütend Lord Bontriomphe an. »Steckt Ihr mit ihm bei dieser dämlichen Idiotie etwa unter einer Decke?« Lord Bontriomphe schüttelte den Kopf langsam und sagte »Nein, My Lord. Aber es sieht so aus, als säßen wir ganz hübsch in der Patsche, nicht wahr?« »Dämlack!« schnaubte der Marquis. Er sah aufs neue Lord Darcy an. »Also gut. Ich weiß genausogut wie Ihr, wenn man mich an der Nase herumführen will. Ich bereue es, Master Sean eingesperrt zu haben, das war leichtfertig. Und Ihr wißt genau, daß ich lieber selbst in den Tower ginge, als längere Zeit auf die Dienste von Lord Bontriomphe verzichten zu müssen. Außer halb dieses Gebäudes bedeutet er für mich Augen und Ohren. Ich werde sofort eine Freilassungsanordnung für Master Sean unterzeichnen. Da Ihr vom König mit diesem Fall beauftragt worden seid, werdet Ihr ja wohl auch aus dem Etat des Königs entlohnt?« »Ab heute, ja«, sagte Lord Darcy. »Aber da ist noch die kleine Angelegenheit von gestern zu klären, inklusive Reisekosten für eine Kanalüberquerung, Bahnfahrkarte und Droschkengebühr.« »In Ordnung«, knurrte der Marquis. Er unterschrieb eine Entlassungsurkunde und versiegelte sie mit flüssigem Siegelwachs. Schließlich drückte er mit der Petschaft des Marquisats von London das Wachs ein und erhob sich wortlos. »Lord Bontriomphe, gebt
meinem Cousin, was ihm zusteht. Nehmt es aus dem Wandsafe. Ich gehe in die Pflanzenzimmer.« Fest schlug er die Tür zu. Lord Bontriomphe sah Lord Darcy an. »Sagt mal, Ihr glaubt doch wohl nicht wirklich, daß . . .« »Pf! Werdet doch nicht albern! Ich weiß ganz genau, daß jedes Wort Eures Berichts genau stimmte. Und der Marquis weiß auch, daß ich das weiß.« In solchen Dingen irrte sich Lord Darcy nie, so auch hier nicht. »Gehen wir in den Tower«, sagte Lord Darcy. Lord Bontriomphe nahm eine Pistole aus seinem Schreibtisch. »Eine Sekunde noch, My Lord. Ich gehe nie hinaus, um einen Mordfall zu lösen, ohne selbst bewaffnet zu sein. Übrigens, meint Ihr nicht auch, daß es das beste wäre, wenn wir im Royal Steward ein provisorisches Hauptquartier errichteten? So könnten wir untereinander in Verbindung bleiben, vor allem auch mit Chief Hennelys zivilen Untersuchungsbeamten.« »Eine ausgezeichnete Idee«, sagte Lord Darcy. »Und da wir schon bei zivilen Untersuchungsbeamten sind: Habt Ihr von jedem der gestern Beteiligten eine Erklärung beigebracht?« »So viele wie nur möglich, My Lord. Natürlich konnten wir nicht jeden erreichen, aber ich glaube, daß die uns mittlerweile vorliegenden Berichte recht vollständig sind.« »Gut, dann nehmt sie doch bitte mit, ja? Ich würde sie gerne 'auf dem Weg zum Tower durchsehen. Seid Ihr fertig?« »Fertig, My Lord.« »Na gut«, sagte Lord Darcy. »Dann wollen wir Master Sean aus seiner mißlichen Lage befreien.« Während die Londoner Amtskutsche durch die Straßen in Richtung des Royal Steward Arms fuhr, lehnte sich Meisterhexer Sean O Lochlainn in seinem Sitz zurück und drückte seinen symbolverzierten Reisesack fest an seinen runden Bauch. »Ah, My Lords«, sagte er zu den beiden Männern, die ihm gegenüber saßen, »es ist schon eine Erleichterung, wieder frei zu ein. Vierundzwanzig Stunden im Tower zu verbringen ist nicht das, was ich mir unter einer angenehmen Beschäftigung vorstelle, das könnt Ihr mir glauben. Nicht, daß ich etwas dagegen hätte, in einem bequemen Zimmer eine Weile lang allein zu sein — jeder Hexer, der nicht mindestens einmal im Jahr für eine Woche Besinnungsexerzitien macht, wird schon bald merken, wie seine Kräfte nachlassen. Nein, aber wenn es Arbeit zu erledigen gilt . . .« Er unterbrach sich selbst. »My Lords, Ihr habt mich doch nicht etwa aus dem Tower dadurch befreit, daß Ihr diesen Fall gelöst habt, oder?« Lord Darcy lachte. »Keine Bange, mein guter Sean. Ihr habt noch nichts verpaßt.« »Seine Lordschaft«, sagte Lord Bontriomphe, »hat Euch durch einfache, aber wirkungsvolle Erpressung befreit.« »Gegen Erpressung, bitte«, berichtigte ihn Lord Darcy. »Ich habe De London lediglich gezeigt, daß Lord Bontriomphe aufgrund des gleichen fadenscheinigen Beweismaterials verhaftet werden könnte wie Ihr.« »Moment mal«, wandte Sean ein, »so fadenscheinig war das Beweismaterial ja wohl in beiden Fällen nicht. Es hätte genügt, in beiden Fällen, um jemanden zum Zwecke der Befragung zu verhaften.« »Gewiß«, stimmte Lord Darcy zu. »Aber My Lord Marquis hatte nicht die geringste Absicht, Master Sean zu befragen. Er klebte lieber am Buchstaben des Gesetzes, anstatt seinem Geist gerecht zu werden. Es
ist alles eine Sache von Familienrivalitäten. Der Marquis und ich besitzen beide ähnliche, wenn auch nicht dieselben Fähigkeiten. Das führt zu einem freundschaftlichen aber mitunter etwas gefühlsgeladenen Antagonismus. Er hätte es nicht gewagt, irgendeinen gewöhnlichen Untertan seiner Majestät aufgrund eines solchen Beweismaterials einzusperren, wenn er nicht ehrlich davon überzeugt gewesen wäre, den Schuldigen gefunden zu haben. Ich will noch weiter gehen: Er hätte nicht einmal an eine solche Tat gedacht!« »Es freut, daß Ihr das sagt«, meinte Lord Bontriomphe, »denn es stimmt genau. Aber ab und zu geht diese Familienrivalität ein wenig zu weit. Normalerweise halte ich mich ja da heraus, aber . . .« »Erlaubt mir, Euch zu berichtigen«, unterbrach ihn Lord Darcy lächelnd. »Normalerweise haltet Ihr Euch überhaupt nicht da heraus. Im Gegenteil, Ihr seid My Lord Marquis mit felsenfester Treue verbunden und stellt Euch folglich stets auf seine Seite, was mich dazu zwingt, Euch beide ausstechen zu müssen — ein ziemlich schwieriges Unterfangen, wie ich zugeben muß. Aber dieses Mal wart Ihr der Ansicht, daß es ein wenig zu weit ging, Master Sean einzusperren, nur um mir eins auszuwischen. Aber es ist mir völlig klar, daß die Dinge ganz anders liegen würden, wenn beispielsweise ich in den Tower gemußt hätte.« Lord Bontriomphe blickte verträumt an die Decke der Kutsche. »Also das ist mal ein Gedanke«, sagte er fast schwärmerisch. »Denkt nur nicht zu sehr darüber nach, My Lord«, meinte Master Sean mit einem sanft drohenden Unterton. »Nur nicht zu sehr, nur nicht zu sehr!« Lord Bontriomphe senkte abrupt den Kopf und wollte etwas - sagen, doch gingen seine Worte verloren, da die Kutsche plötzlich langsamer fuhr und der Kutscher die Klapptür im Dach öffnete und rief: »Das Royal Steward, My Lords.« Eine halbe Stunde später öffnete der Lakai die Tür, und die drei Männer stiegen aus. Lord Bontriomphe drückte ihm still einige große Münzen in die Hand. »Wartet auf uns, Barney. Sorgt dafür, daß die Kutsche und die Pferde versorgt sind, dann können Denys und Ihr im Pub dort drüben warten. Es wird wohl etwas länger dauern, also trinkt ein paar Bier und entspannt Euch. Ich werde Euch rufen lassen, wenn wir Euch brauchen.« »Sehr wohl, My Lord«, sagte Edelmann Barney. »Ich danke Euch.« Dann folgte Lord Bontriomphe Lord Darcy und Master Sean ins Royal Steward. Lord Darcy stand im Foyer und blickte durch die Glastüren auf die Menge in der Lobby. »Wo ist Master Sean?« fragte Lord Bontriomphe. »Dort drinnen, ich habe ihn vorgeschickt. Wie Ihr unschwer feststellen könnt, sind dort mindestens ein Dutzend Gratulanten und vermutlich mindestens zwei weitere Dutzend Neugierige, die alle Master Sean umringen, um ihm zu gratulieren und ihm zu sagen, daß sie die ganze Zeit schon gewußt hatten, daß er unschuldig sei, und die ihn jetzt wegen Informationen über den Mord an Sir James Zwinge ausquetschen möchten. Während sie dieserart abgelenkt sind, My Lord, werden wir beide unbemerkt eintreten und uns direkt ins Mordzimmer begeben. Kommt!« Sie konnten unbemerkt eintreten. Heute war Tag der Offenen Tür beim Hexerkongreß, und die Vorhalle wimmelte von Besuchern, die die Ausstellung und die Hexer selbst beäugen wollten. An einem der Ausstellungsstände war ein Wanderhexer dabei, zwei großäugigen
Kindern und ihrem Vater ein Spielzeug zu erklären. Es bestand aus einem sechs Zoll langen Stab mit einer weißen Spitze, fünf verschiedenfarbigen Kügelchen und einem ein Fuß langen Brett mit sechs Löchern, von denen fünf mit farbigen Ringen markiert waren, die den Farben der Kugeln glichen, während das sechste weiß umringt war. »Ihr seht also«, sagte der Wanderhexer, »daß die Bälle nicht in den richtigen Löchern sind, die Farben stimmen nicht miteinander überein. Bei diesem Spiel müßt Ihr versuchen, die Bälle in die richtigen Löcher zu bekommen, versteht Ihr? Dabei gilt die Regel, daß Ihr nur einen Ball auf einmal bewegen dürft, nämlich so.« Er richtete den Stab auf das Brett, das mehrere Fuß entfernt war. Einer der Bälle schwebte glatt über das Brett und fiel in das freie Loch. Dann bewegte sich ein weiterer Ball in das passende Loch. Der Vorgang wurde so lange wiederholt, bis sich alle Bälle im richtigen Loch befanden. »Seht Ihr? Also, jetzt bringe ich die Bälle wieder durcheinander und Ihr versucht's mal, ja? Komm Junge, fang du mal an. Einfach den Stab mit der weißen Spitze nach vorn auf das Brett richten und an den Ball denken, den du bewegen willst; wenn er dann schwebt, denkst du an das Loch, in das er fallen soll. So — genau, ganz richtig. Jetzt . . .« Lord Darcy wußte, daß dies mehr als ein bloßes Spielzeug war. Mit dem Zauber, der jetzt auf dem Gerät lag, konnte jeder damit Erfolge erzielen. Aber der Zauber war so eingerichtet, daß er nach einigen Monaten schwächer werden würde, um schließlich ganz zu verschwinden. Bis dahin hätten die meisten Kinder wohl sowieso jede Lust an diesem Spiel verloren. Aber wenn eines der seltenen Kinder mit dem Talent daran geriet, so verlor es gewöhnlicherweise das Interesse daran nicht. Es würde sogar ein Gefühl für den Zauber gewinnen, unterstützt durch das einfache Ritual und die Zeremonie des Spiels selbst. Wenn dies eintrat, so konnte das Kind den Trick auch noch ein Jahr später vollbringen, obwohl keiner seiner Kameraden ohne Talent dies noch vermochte. Der ursprüngliche Zauber war verblaßt und war durch die einfache Version des Kindes ersetzt worden. Zu dem Spiel gehörte ein Begleitheft, das Eltern darauf hinwies und sie bat, das Kind näher untersuchen zu lassen, wenn es das Spiel erfolgreich verlängern konnte. An einem anderen Stand verteilte ein Priester, im kirchlichen Schwarz mit weißen Rüschen an Kragen und Manschetten, Broschüren, in denen das neue Gebäude der Königlichen Thaumaturgischen Laboratorien in Oxford vorgestellt wurde, das sich noch im Bau befand. Das Ausstellungsstück bestand aus einem maßstabsgetreuen Modell des vollendeten Gebäudes. Mitten in ihrem Weg erblickten die beiden Männer einen ganz gewöhnlich aussehenden Türrahmen. In seiner Mitte schwebte ein Illusionsschild, das aus durchsichtigen blauen Buchstaben bestand, die den Satz bildeten: BITTE DURCHGEHEN. Als sie durchgegangen waren, verschwand das Illusionsschild, und sie fühlten, wie ihre Kleidung von einer Art Wind angesaugt wurde. Auf der anderen Seite erschien ein weiteres Illusionsschild. DANKE Wenn Ihr nun Eure Kleidung begutachtet, so werdet Ihr feststellen, daß jeder kleinste Staubfleck daraus verschwunden ist. Dieses Modell ist ein Prototyp, der sich noch in der Entwicklung befindet. Eines Tages wird man in keinem Haushalt mehr darauf verzichten wollen.
, WELLS & SONS THAUMATURGISCHE HAUSHALTSGERÄTE »Ganz nett, das«, sagte Lord Bontriomphe. »Schaut mal, sogar unsere Stiefel glänzen!« Sie schritten durch das zweite Illusionsschild, und es löste sich hinter ihnen auf. »Ganz nützlich«, stimmte Lord Darcy zu, »aber völlig verfehlt. Sean erzählte mir, daß sie auf dem letzten Kongreß schon einmal dasselbe vorgeführt haben. Eine ganz gute Reklame für die Firma, ja, aber kaum anzunehmen, daß es sich durchsetzt. Viel zu teuer, denn der Zauber muß mindestens einmal die Woche von einem Meisterhexer erneuert werden. Bei der Menschenmenge hier können sie froh sein, wenn es einen Tag durchgehend funktioniert.« »Hm. Wie dieses >London aus der Luft sehen<-Gerät, das sie vor ein paar Jahren einmal hatten«, erklärte Bontriomphe. »Erinnert Ihr Euch daran?« »Ich habe darüber gelesen, aber ich kann mich an keine Einzelheiten erinnern«, erwiderte Lord Darcy. »Es sah ganz eindrucksvoll aus. Da war eine Kristallkugel von etwa zehn Zoll Durchmesser, schätze ich. Sie stand auf einem Ständer, und man blickte von oben hinein. Man bekam das merkwürdige Gefühl, aus einer großen Höhe herabzublicken, von einem Punkt aus, der sich direkt über der Admiral Buckingham Hall befand, wo auch die Ausstellung stattfand. Man konnte richtig sehen, wie Leute umhergingen, wie Kutschen durch die Straßen fuhren, als ob man auf einem Kirchturm stünde und hinabblickte. Ein paar hundert Fuß über dem Gebäude befand sich ein magischer Spiegel, der die ganze Szene in die Kugel projizierte, auf parapsychische Weise.« »Ich verstehe. Was wurde denn aus dem Ding? Ich habe nie wieder davon gehört«, sagte Lord Darcy. »Na ja, das Kriegsministerium war sofort daran interessiert. Ihr könnt Euch ja vorstellen, was für eine Feindaufklärung damit möglich wäre, wenn ein magischer Spiegel hoch über den feindlichen Linien aufgehängt werden könnte. Jedenfalls arbeiten die Thaumaturgen des Kriegsministeriums immer noch daran, aber es ist nichts daraus geworden. Erstens braucht man drei Masters, die das Gerät bedienen; einer muß den Spiegel zum Schweben bringen, einer muß ihn in Gang halten, und ein weiterer muß das Empfangskristall aufgeladen halten. Außerdem muß man sie dafür besonders ausbilden, und zwar als Team. Und obendrein müssen sich die Hexer, die den Spiegel bedienen, in Sichtweite des Spiegels aufhalten, und die Fläche des Spiegels muß sich senkrecht zu einem bestimmten Radius der Kristallkugel befinden. Fragt mich bitte nicht warum, ich bin kein Hexer und verstehe nichts von Theorie. Auf jeden Fall kann man das Ding noch nicht für Langstreckenübertragungen benutzen.« Sie verließen die Halle und stiegen die Treppe hinauf. »Bis jetzt haben wir ja«, erklärte Lord Darcy, »außer dem Flaggentelegraphen und dem Heliotelegraphen, die beide Türme in einer Sichtlinie benötigen, nur den Teleklang als sinnvolles Kommunikationsmedium über große Entfernungen hinweg. Und die mathematischen Thaumaturgen haben bisher immer noch keine zufriedenstellende Theorie vorweisen können, um sein Funktionieren zu erklären. Ah! Ich sehe, daß Eure Wachmänner auf Posten sind!« Sie waren oben angekommen. Vor dem Mordzimmer standen zwei schwarzgekleidete Wachmänner. »Guten Morgen, Jeffers und Dubois«, grüßte Lord Bontriomphe, als
sie auf die Tür zuschritten. Die Wachmänner salutierten. »Guten Morgen, My Lord«, erwiderte der Ältere den Gruß. »Alles in Ordnung? Keine Vorkommnisse?« »Nichts, My Lord. Ruhig wie ein Grab.« »Jeffers«, sagte Lord Bontriomphe lächelnd, »mit einer solchen Geistreichigkeit werdet Ihr entweder schnellstens zum Wachtmeister befördert werden oder Euer ganzes Leben Fußpatrouille laufen.« »Mein Ehrgeiz ist bescheiden, My Lord«, antwortete Jeffers, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich möchte nur Wach-Sergeant werden. Dazu brauche ich nur einen halben Kopf.« »Fußpatrouille«, sagte Lord Darcy traurig. »Für ewig und immer.« Er betrachtete die Tür zum Mordzimmer. »Ich stelle fest, daß man das Loch in der Tür abgedeckt hat.« »Ja, My Lord«, bestätigte Jeffers. »Man hat dieses Brett einfach über das Loch gehängt. Ansonsten ist die Tür nicht angerührt worden. My Lords wollen hineinschauen?« Er nahm einen großen schweren Messingschlüssel aus seiner Gürteltasche. »Ihr könnt die Tür öffnen, aber Großmeister Sir Lyon hat einen Zauber über den Raum selbst gelegt, My Lords.« Lord Darcy nahm den Schlüssel, führte ihn in das Schloß ein, drehte ihn und öffnete die Tür. Lord Bontriomphe und er mußten an der Schwelle innehalten. Es war keine greifbare Barriere zu sehen, und doch war eine vorhanden. Lord Darcy merkte, daß er keinerlei Lust dazu verspürte, den Raum zu betreten, im Gegenteil: Der Gedanke daran war ihm ausgesprochen unangenehm. In diesem Raum gab es nichts, das ihn interessieren könnte, oder was ihn dazu bewegen könnte, einzutreten. Es war ein Tabu, ein verbotener Ort. Von außen hineinzublicken war sowohl notwendig wie auch wünschenswert, hineinzugehen war weder das eine noch das andere. Lord Darcy überflog den Raum mit seinem Blick. Master Sir James Zwinge lag immer noch an der Stelle, wo er hingefallen war, und sah so aus, als sei er nur wenige Minuten zuvor gestorben; das lag an dem Konservierungszauber, den man über die Leiche verhängt hatte. Die Fußschritte in der Halle ließen Lord Darcy sich umdrehen. Er sah Master Sean nahen.» »Tut mir leid, daß ich so lange gebraucht habe, My Lord«, sagte er. Er hielt vor der Türschwelle an. »Na, was gibt's denn hier? Hm! Und von einem Master verhängt, wette ich! Würde ziemlich lange dauern, den zu sprengen.« Er sah durch die Tür. »Großmeister Sir Lyon hat ihn selbst verhängt«, sagte Lord Darcy. »Dann werde ich ihn mal suchen, um ihn wieder fortzunehmen«, sagte Master Sean. »Hab' keine Lust, meine Zeit selbst damit zu verschwenden.« »Entschuldigt, Meisterhexer«, sagte Wachmann Jeffers unterwürfig, »seid Ihr etwa Master Sean O Lochlainn?« »Der bin ich.« Der Wachmann zog einen Umschlag aus seiner Jackentasche. »Der Großmeister hat mir befohlen«, sagte er, »Euch dies zu überreichen, Master Sean.« Master Sean setzte seinen symbolverzierten Reisesack ab, nahm den Umschlag entgegen, öffnete ihn, entnahm ihm ein einzelnes Blatt Papier und las es aufmerksam durch. »Aha!« sagte er, und sein rundes irisches Gesicht glänzte. »Ich verstehe! Genial! Den muß ich mir merken!« Er sah Lord Darcy an und grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Sir Lyon hat mir den Schlüssel gegeben. Er hat mich heute morgen hier erwartet. Wenn Ihr mich nun für ein paar Minuten entschuldigen wollt . . .« Der dicke
kleine irische Hexer kniete nieder und öffnete seinen Reisesack. Er fischte darin herum und zog einen Stab aus Gold und Ebenholz hervor, eine kleine Messingschale, einen eisernen Ständer mit Sechszollbeinen, zwei silberne Fläschchen und einen merkwürdig konstruierten Flintsteinfeuerzünder. Die anderen traten respektvoll zurück. Man stört keinen Magier bei der Arbeit. Master Sean stellte den Ständer genau vor der offenen Tür auf den Boden und setzte die kleine Messingschale darauf. Dann entnahm er seinem Reisesack ein paar Klumpen Holzkohle. Zwei Minuten später glühte die Kohle rot. Dann fügte er aus jedem der beiden Fläschchen eine große Prise verschiedener Pulver hinzu. Sofort stieg eine dichte Säule duftenden blaugrauen Rauchs von der Messingschale empor. Mit seinem Stab zeichnete Master Sean eine Reihe von Symbolen in die Luft und murmelte etwas, das die anderen nicht verstehen konnten. Dann faltete er auf eine sehr komplizierte und sorgfältige Weise den Brief von Sir Lyon Grey zusammen. Als das Papier richtig zusammengefaltet war, warf er es in das Räuchergefäß. Während es in Flammen aufging, zog er erneut Symbole in die Luft und murmelte weitere Formeln. »So«, sagte er anschließend, »jetzt könnt Ihr eintreten, My Lords.« Die beiden Inspektoren traten ein. Ihre Abneigung gegen ein Betreten des Zimmers war völlig verschwunden. Master Sean entnahm seinem Reisesack einen kleinen Bronzedeckel und setzte ihn fest auf die Öffnung des Räuchergefäßes. »Laßt es einfach da stehen, Jungs«, sagte er zu den Wachmännern. »Es wird in ein paar Minuten abkühlen. Paßt auf, daß Ihr es nicht umstoßt.« Dann gesellte er sich zu Lord Darcy und Lord Bontriomphe im Mordzimmer. Lord Darcy verschloß die Tür und betrachtete sie. Von innen war der Schaden, den Lord Bontriomphes Axthiebe angerichtet hatten, klar zu sehen. Ansonsten war nichts Ungewöhnliches an der Tür festzustellen. Eine kurze, aber gründliche Untersuchung der Türen und Fenster überzeugte Lord Darcy davon, daß Lord Bontriomphe völlig recht gehabt hatte, als er sagte, daß der Raum versiegelt gewesen war. Es gab keine Geheimtüren, keine Fallklappen, und die Fenster waren fest verschlossen. Nur unter Schwierigkeiten gelang es Lord Darcy, den Verschlußbolzen eines der Fenster zurückzuziehen und es zu öffnen. Er blickte hinaus und sah eine steile, dreißig Fuß hohe Wand draußen. Das Fenster öffnete sich auf einen Hof hinaus, wo sich einige Tische und Stühle befanden, ein Teil des Speisetrakts des Royal Steward Hotels. An manchen der Tische saßen Leute. Fünf Hexer, drei Priester und ein Bischof hatten das knarrende Fenster gehört und blickten zu ihm hoch. Lord Darcy drehte seinen Kopf und blickte nach oben. Die Fenster des nächsten Stockwerks befanden sich zehn Fuß über ihm. Lord Darcy zog den Kopf wieder ein und schloß das Fenster. »Hier ist niemand hinausgekommen«, sagte er mit Überzeugung. »Ein gewöhnlicher Mensch hätte dazu ein Seil benötigt. Und selbst dann hätte er entweder dreißig Fuß hinunterrutschen oder Stück für Stück zehn Fuß hinaufklettern müssen.« »Ein gewöhnlicher Mensch«, betonte Lord Bontriomphe. »Aber für einen Meisterhexer wäre Levitation nicht allzu schwierig gewesen.« »Was meint Ihr dazu, Master Sean?« fragte Lord Darcy. »Es wäre möglich«, gab Master Sean zu. »Außerdem
hätte man die Verschlußbolzen mit Magie auch von außen verriegeln können«, sagte Lord Bontriomphe. »Ja, das könnte auch sein«, stimmte Master Sean zu. Lord Bontriomphe sah Lord Darcy erwartungsvoll an. »Nun gut«, sagte Lord Darcy lächelnd. »Dann wollen wir diese Theorie einmal, wie die Geometer wohl sagen würden, durch eine reductio ad absurdum überprüfen. Stellen wir uns doch die Szene vor. Was passiert also?« Er zeigte auf den Körper. »Sir James wird erdolcht. Unser HexerMörder, wenn Ihr diesen Ausdruck verzeihen wollt, geht zum Fenster. Er öffnet es, tritt aufs Sims und tritt hinaus in die balkenlose Luft. Er stützt sich durch Levitation. Dann schließt er das Fenster und beginnt, einen Zauber zu verhängen, der die Verschlußbolzen wieder an ihren Platz befördert. Als er damit fertig ist, gleitet er fort, nach oben oder nach unten, das ist zunächst einmal unerheblich.« Er sah Master Sean an. »Wie lange würde so etwas dauern?« »Mindestens fünf oder sechs Minuten. Wenn er es überhaupt schaffen könnte. Levitation bewirkt eine enorme psychische Ermüdung, der Zauber kann nur wenige Minuten aufrechterhalten werden. Außerdem verlangt Ihr von ihm, daß er noch einen zweiten Zauber verhängt, während er den ersten wirksam halten muß. Ein Zauber wie der, der sich eben auf diesem Raum befand, ist das, was wir einen statischen Zauber nennen, versteht Ihr? Er bewirkt einen Zustand, ja? Aber Levitation und die Bewegung von Verschlußbolzen sind kinetische Zauber, man muß sie in Bewegung halten. Um zwei kinetische Zauber zur gleichen Zeit aufrechtzuerhalten, bedarf es einer enormen Konzentration, Kraft und Präzision. Ich selbst würde lange zögern, ehe ich versuchte, einen Fensterschließzauber in dreißig Fuß Höhe ohne doppelten Boden zu verhängen. Auf jeden Fall würde ich es niemals wagen, wenn ich in Eile und abgelenkt wäre.« »Und selbst wenn man es könnte, würde es fünf oder sechs Minuten dauern«, sagte Lord Darcy. »Bontriomphe, würdet Ihr wohl bitte einmal das andere Fenster öffnen, wir haben es noch nicht damit versucht.« Der Lord Inspektor zog den Bolzen zurück und drückte das Fenster auf. Es knarrte laut. »Was seht Ihr dort draußen?« fragte Lord Darcy. »Ungefähr neun Paar Augen, die mich anstarren«, sagte Lord Bontriomphe. »Genau. Beide Fenster machen einen ziemlichen Lärm, wenn man sie öffnet. Man hört das Geräusch unten im Hof recht gut. Gestern morgen war Sir James' Schrei durch das Fenster hindurch klar zu vernehmen, aber selbst wenn er das nicht gewesen wäre, selbst wenn Sir James überhaupt nicht geschrien hätte, als er ermordet wurde, hätte der Mörder niemals unbemerkt durch dieses Fenster fliehen können, und schon gar nicht fünf Minuten dort draußen herumschweben können.« Lord Bontriomphe zog das Fenster wieder zu und fragte den kleinen irischen Hexer: »Was, wenn er unsichtbar gewesen wäre?« »Der Tarnhelm-Effekt?« fragte Master Sean. Er kicherte. »My Lord, egal, was Laien glauben mögen, der Tarnhelm-Effekt ist außerordentlich schwierig zu bewerkstelligen. Außerdem ist >Unsichtbarkeit< ein Laienausdruck. Zauber, die den Tarnhelm-Effekt verwenden, sind sehr ähnlich strukturiert wie der Abwehrzauber, dem Ihr an der Schwelle zu diesem Raum begegnet seid. Wenn ein Hexer einen solchen Zauber um sich herum aufbauen würde, so würdet Ihr es einfach vermeiden, ihn direkt anzuschauen.
Ihr würdet es selbst nicht unbedingt merken, Eure Augen würden die ganze Zeit von ihm fortsehen. Er könnte mitten in einer Menschenmenge stehen, und keiner könnte nachher beschwören, daß er dort gewesen ist, weil ihn niemand anders als vielleicht aus dem Augenwinkel heraus gesehen hätte, wenn Ihr versteht, was ich meine. Selbst wenn er allein wäre, würdet Ihr ihn niemals sehen, weil Ihr ihn gar nicht erst anschauen würdet. Ihr würdet unbewußt annehmen, daß das, was Ihr im Augenwinkel wahrnehmt, ein Schrank oder ein Schirmständer oder eine Standgarderobe oder eine Stehlampe wäre — alles, was unter den gegebenen Umständen das Wahrscheinlichste wäre. Euer Geist würde ihn wegerklären als etwas, das dort sein müßte, als Teil des gewöhnlichen Hintergrunds. Aber er wäre nicht wirklich unsichtbar. Ihr könntet ihn beispielsweise in einem Spiegel sehen oder in einer reflektierenden Fläche, weil der Zauber Euch nicht davon abhalten würde, in den Spiegel zu blicken.« »Er könnte doch aber auch einen Vermeidungszauber auf den Spiegel legen, oder nicht?« fragte Lord Bontriomphe. »Das wäre doch ein statischer Zauber, nehme ich an.« »Gewiß«, sagte Master Sean. »Er könnte einen solchen Zauber auf jede reflektierende Fläche im ganzen Gebäude legen. Aber man muß ja schließlich irgendwohin schauen können, und selbst ein Laie würde unter solchen Umständen mißtrauisch werden. Außerdem wäre es für jeden mit einem nur halbwegs ausgebildeten Talent sofort wahrnehmbar. Und selbst wenn wir annehmen, daß er sich vor dem Fenster unsichtbar machen würde, wißt Ihr, was das bedeuten würde? Jetzt müßte er mit drei verschiedenen Zaubern herumjonglieren: Er levitiert, er macht sich unsichtbar, und er verschließt das Fenster von innen. Nein, My Lord, das haut einfach nicht hin, es ist einfach nicht menschenmöglich.« Lord Darcy ließ seinen Blick durch das Zimmer wandern. »Das wäre also erledigt. Unser Mörder hat den Raum also nicht durch das Fenster verlassen, weder mit gewöhnlichen, noch mit thaumaturgischen Mitteln. Also müßten wir . . . »Einen Moment mal!« rief Lord Bontriomphe, und seine Augen weiteten sich. Er zeigte mit dem Finger auf Master Sean. »Schaut einmal, angenommen es passierte so: Der Mörder ersticht Master Sir James. Sein Opfer schreit. Der Mörder weiß, daß Ihr draußen vor der Tür seid. Er weiß, daß er nicht durch die Tür hinaus kann. Die Fenster scheiden, wie wir ja jetzt wissen, auch aus. Was soll er tun? Er benutzt den Tarnhelm-Effekt. Als ich mit der Axt hier hineinstoße, sehe ich ihn nicht. Für mich ist der Raum leer, nimmt man die Leiche aus. Ich könnte ihn doch nicht sehen, oder? Als die Tür dann offen ist, geht er ganz frech hinaus, ohne wahrgenommen zu werden.« Master Sean schüttelte den Kopf. »Ihr würdet ihn nicht sehen, das ist richtig. Aber ich hätte ihn gesehen, und Master Sir Lyon ebenso. Wir sahen beide durch das Loch in der Tür, und durch dieses Loch kann man den gesamten Raum überblicken, sogar das Bad, wenn die Tür offensteht.« Lord Bontriomphe blickte durch die offene Tür ins Badezimmer. »Nein, das kann man nicht. Schaut doch einmal selbst! Angenommen, er läge in der Badewanne, dann könnte man ihn von hier aus nicht sehen.« »Das ist wahr. Aber ich kann mich genau daran erinnern, daß Ihr in die Wanne hineingeblickt habt. Das wäre beim Tarnhelm-Effekt nicht möglich
gewesen.« Lord Bontriomphe runzelte nachdenklich die Stirn. »Ja, das habe ich. Hm! Nun gut, dann scheidet das aus. Er war nicht im Zimmer, und er hat das Zimmer nicht verlassen.« Er sah Lord Darcy an. »Was bleibt dann noch übrig?« »Das wissen wir leider noch nicht, mein Lieber! Wir brauchen noch mehr Daten.« Er schritt hinüber zur Leiche und kniete nieder, wobei er darauf achtete, alles so zu belassen, wie es war. Master Sir James Zwinge war ein kurzer, magerer Mann mit spärlichem grauen Haar und einem kleinen grauen Bart gewesen. Er trug einen ordentlichen, relativ teuren Männeranzug anstelle der förmlichen Hexerkleidung, die ihm zustand. Wie Bontriomphe gesagt hatte, war es schwierig, die Einstichwunde auf den ersten Blick zu erkennen. Die Wunde war klein, kaum einen Zoll lang, und klaffte kaum auseinander. Zudem wurde sie von dem Blut verdeckt, das den Vorderteil der Kleidung des Magiers befleckte. Daneben lag ein Messer mit silberner Klinge und schwarzem Griff in einer Blutpfütze; seine blinkende Schneide war mit Blut bespritzt. »Dieses Blut . . .« Lord Darcy deutete darauf. »Seid Ihr Euch völlig sicher, daß es frisch war, als Ihr in den Raum eingebrochen seid, Bontriomphe?« »Absolut sicher«, sagte Bontriomphe. »Es war hellrot und noch flüssig. Die Wunde selbst blutete auch noch ein wenig. Ich bin zwar zugegebenermaßen kein Chirurgus, aber wenn es um solche Dinge geht, bin ich alles andere als ein Amateur. Als ich den Körper das erste Mal sah, war er allenfalls ein paar Minuten tot.« Lord Darcy nickte. »In der Tat. Das Blut zeigt selbst jetzt unter dem Konservierungszauber noch eine gewisse Frische.« Er zeigte auf den Schlüssel, der wenige Fuß vom Körper entfernt auf dem Boden lag. »Ist das Euer Schlüssel, My Lord?« Lord Bontriomphe nickte. »Ja, ich habe ihn dort hingelegt, um die Stelle zu markieren, als ich Sir James' Schlüssel aufhob.« »Liegt er immer noch am gleichen Platz.« »Ja.« Lord Darcy maß den Abstand zwischen dem Körper und der Tür mit den Augen. »Viereinhalb Fuß«, murmelte er. Er stand auf. »Gebt mir den Schlüssel von Sir James. Danke. Man kann ja mal einen Versuch machen.« »Einen Versuch, My Lord?« Master Seans Gesicht hellte sich auf. »Keinen thaumaturgischen, mein guter Sean. Das kommt auch noch zu seiner Zeit.« Er schritt zur Tür und öffnete sie. Ohne die beiden salutierenden Wachmänner zu beachten, blickte er auf den Boden. »Master Sean, würdet Ihr wohl so gut sein, diese Räucherschale zu entfernen?« Master Sean beugte sich und legte die Hand an die Schale. »Sie ist noch ein wenig warm. Ich werde sie auf den Tisch stellen.« Er hob das Gestell auf und trug es ins Zimmer. »Ich verstehe nicht, worauf Ihr hinauswollt«, sagte Lord Bon-triomphe.»Ihr habt doch wohl den Spalt zwischen Tür und Boden bemerkt?« fragte Lord Darcy. »Es ist möglich, daß der Mörder Sir James einfach erstach, hinaustrat, die Tür hinter sich zuschlug und abschloß und den Schlüssel wieder unter der Tür hindurchschob, nicht wahr?« Master Sean riß die Augen auf. »Während ich draußen vor der Tür stehe?« rief er erstaunt. »Aber das ist doch unmöglich, My Lord!« »Wenn wir erst einmal das Unmögliche ausgeschlossen haben«, sagte Lord Darcy ruhig, »dann können wir uns auf das lediglich Unwahrscheinliche konzentrieren.« Er kniete nieder und betrachtete den Boden unter der Tür. »Wie Ihr bemerkt, ist der Spalt etwas
größer, als es von innen den Anschein hat. Der Teppich reicht nicht bis unter die Tür. Master Sean, seid so gut, die Tür zu schließen, bitte.« Der Hexer schloß die Tür und wartete geduldig auf der anderen Seite. Lord Darcy legte den schweren Messingschlüssel auf den Boden und versuchte, ihn unter der Tür durchzuschieben. »Das dachte ich mir, daß es nicht geht«, murmelte er. »Der Schlüssel ist viel zu groß und dick. Man kann ihn drunterschie-ben . . .« Er rüttelte an dem Schlüssel. »Aber er verklemmt sich. Und der dicke Teppich drinnen würde ihn sowieso aufhalten.« Er zog den Schlüssel wieder hervor. »Öffnet die Tür wieder, Master Sean!« Die Tür schwang nach innen auf. »Man bemerke«, fuhr Lord Darcy fort, »was für Spuren der Versuch, den Schlüssel unter der Tür durchzuschieben, im Holz hinterläßt. Es wäre unmöglich, den Versuch zu machen, ohne Spuren zu hinterlassen. Schon gar nicht . . .« Er unterbrach sich selbst. »Was ist denn das?« fragte er, und lehnte sich vor, um einen Fleck im Teppich genauer betrachten zu können. »Was ist was?« fragte Lord Bontriomphe. Lord Darcy beachtete ihn nicht. Er blickte auf einen Fleck im Teppich, der sich nahe dem rechten Türpfosten befand, abseits der Scharniere und ungefähr acht Zoll vom Teppichrand selbst entfernt. »Darf ich einmal Eure Lupe haben, Master Sean?« sagte Lord Darcy, ohne aufzublicken. »Aber gewiß doch«, sagte Master Sean und ging an den Tisch, wo er seinem symbolverzierten Reisesack eine große Lupe mit Knochengriff entnahm, die er Lord Darcy reichte. »Was ist denn?« fragte er wieder Lord Bontriomphe. Er kniete sich nieder, um genauer hinzublicken. Lord Darcy betrachtete den Fleck, ohne zu antworten. Master Sean sah, daß der Fleck die Form eines Halbkreises besaß, wobei die Gerade parallel zur Tür lief, und die Kurve sich in den Raum hineindehnte. Der Fleck war nur ungefähr so groß wie ein männlicher Daumennagel. »Ist das Blut?« fragte Master Sean. »Schwer zu sagen, auf diesem dunkelgrünen Teppich«, sagte Lord Darcy. »Könnte Blut sein, könnte aber auch irgendeine andere dunkle Flüssigkeit sein. Jedenfalls ist es eingedrungen, aber nicht ganz bis zum Boden durchgesickert. Interessant.« »Darf ich?« Lord Bontriomphe bat mit der Hand um die Lupe. »Selbstverständlich«, sagte Darcy und reichte sie ihm. Während der Inspektor von London den Fleck untersuchte, sagte Lord Darcy zu Master Sean: »Ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr einen Ähnlichkeitstest mit dem Fleck vornehmen würdet. Ich möchte wissen, ob es Blut ist, und wenn dies der Fall sein sollte, ob es das Blut von Sir James ist.« Nachdenklich kniff er die Augen etwas zusammen. »Und wenn Ihr schon dabei seid, dann überprüft doch auch bitte den Blutfleck um den Körper. Ich möchte ganz sicher sein, daß das alles wirklich das Blut von Sir James ist.« »Sehr wohl, My Lord. Wünscht Ihr außer den üblichen Tests noch irgendwelche anderen?« »Ja. Erstens: War tatsächlich irgend jemand in diesem Raum, als Sir James Zwinge starb? Zweitens: Wenn dieser Raum irgendwie mit Schwarzer Magie angegriffen wurde, welcherart war dann diese Schwarze Magie?« »Ich werde alles versuchen, Euch zufriedenzustellen, My Lord«, sagte Master Sean zweifelnd, »aber es wird nicht eben leicht sein.« Lord Bontriomphe stand wieder auf und gab Master Sean die Lupe zurück. »Was soll denn daran so schwierig
sein?« fragte er. »Ich weiß zwar, daß diese Tests nicht eben Routinearbeit sind, aber ich habe sogar schon Wanderhexer gesehen, die sie durchführten.« »Mein lieber Bontriomphe«, sagte Lord Darcy, »bedenkt doch einmal die Umstände! Wenn dieser Mord von einem Magier verübt wurde, wie wir annehmen, dann war es ein Meistermagier. Da er wissen mußte, daß dieses Hotel voll von anderen Meistermagiern ist, mußte er alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen durchführen, die seine Spur und seine Identität vertuschen konnten. Vorsichtsmaßnahmen also, an die ein gewöhnlicher Verbrecher gar nicht zu denken vermag, geschweige denn, sie auszuführen. Da Master Sir James gestern früh ermordet wurde, ist es wahrscheinlich, daß der Mörder die ganze vorhergehende Nacht zur Verfügung gehabt hat, um seine Zauber zu verhängen. Können wir also von Master Sean erwarten, in ein paar Minuten aufzudecken, wofür ein anderer eine ganze Nacht zur Verfügung gehabt hat?« Er griff in eine Jackentasche und zog einen Umschlag hervor, den ihm De London einige Zeit zuvor gegeben hatte. »Außerdem habe ich weitere Beweise, daß der Mörder, oder auch die Mörder dazu in der Lage sind, ihre Spuren zu verwischen. Der heutige Morgenbericht meines Oberassistenten Sir Eliot Meredith handelt davon, was er bisher über den Mord an Georges Barbour in Cherbourg herausgefunden hat. Er enthält zwei einander scheinbar völlig widersprechende Informationen.« Er sah Master Sean an. »Mein guter Sean, würdet Ihr mir Eure berufliche Meinung über den Wanderhexer geben, der Gerichtshexer bei Chief Henri ist?« »Edelmann Juseppy?« Master Sean spitzte den Mund und sagte: »Kompetent, würde ich sagen, sehr kompetent. Er ist natürlich kein Master, aber . . .« »Hieltet Ihr ihn für fähig, die beiden Tests durcheinanderzubringen, um die ich Euch gerade gebeten habe?« »Wir können alle einmal einen Fehler machen, My Lord. Aber . . . nein. Normalerweise würde ich sagen, daß die Aussagen von Edelmann Juseppy sehr zuverlässig sind.« »Normalerweise ganz genau! Aber, wenn er es mit den Tricks eines Masters zu tun hätte?« Master Sean zuckte mit den Schultern. »Dann wäre es bestimmt möglich, daß seine Ergebnisse falsch wären. Edelmann Juseppy hat einfach nicht solch ein Format.« »Dann könnte das die widersprüchlichen Informationen erklären«, meinte Lord Darcy. »Ich zögere zwar zu sagen, daß dies der Fall ist, aber es wäre immerhin möglich.« »Gut, gut«, sagte Lord Bontriomphe ungeduldig, »was sind denn das für widersprüchliche Informationen?« »Dem Bericht von Edelmann Juseppy zufolge, befand sich niemand im Raum, als Georges Barbour getötet wurde. Außerdem war er schon mehrere Stunden allein in dem Raum gewesen.« »Nun gut«, sagte Lord Bontriomphe, »aber worin besteht denn der Widerspruch?« »Der zweite Test«, sagte Lord Darcy langsam, »ist der Widerspruch. Edelmann Juseppy kam zu dem Ergebnis, daß keine Schwarze Magie nachgewiesen werden konnte, ja, daß überhaupt keinerlei Zauberei im Spiel war.« Master Sean O Lochlainn seufzte. »Well, My Lord, ich werde die Tests durchführen. Allerdings möchte ich einen weiteren Hexer zur Unterstützung rufen. Auf diese Weise . . .« »Nein!« unterbrach ihn Lord Darcy heftig. »Auf gar keinen Fall! Ab nun seid
Ihr, Master Sean, der einzige Hexer der Welt, dem ich uneingeschränkt vertrauen kann.« Der kleine irische Hexer wandte sich um, atmete tief durch und blickte Lord Darcy in die Augen. »My Lord«, sagte er mit leiser, feierlicher Stimme, »in aller Demut möchte ich darauf hinweisen, daß ich, während Ihr wahrscheinlich das beste kombinatorische Hirn der Erde besitzt, immer noch ein Meisterhexer bin.« Er hielt kurz inne und fuhr fort: »Wir arbeiten schon sehr lange zusammen, My Lord. Ich habe die Hexerei dazu verwendet, Beweismaterial zu bekommen, und Ihr habt aus diesem Material einen Zusammenhang erschlossen. Ihr könnt das eine nicht, My Lord, und ich nicht das andere. Bisher hat es eine schweigende Übereinkunft zwischen Euch und mir gegeben, My Lord, daß ich nicht versuche, Euer Handwerk zu betreiben und Ihr dafür nicht das meine. Ist diese Übereinkunft nicht mehr gültig?« Lord Darcy war einen Augenblick still und sammelte seine Gedanken. Dann sagte er in einer überraschend ähnlich leisen Stimme: »Master Sean, ich möchte aufrichtig um Verzeihung bitten. In meinem Gebiet bin ich ein Experte. Ihr seid ein Experte, was Hexerei und Hexer angeht. So soll es sein. Die Übereinkunft ist sehr wohl noch gültig, und das wird sich, glaube ich, auch niemals ändern.« Er stockte einen Augenblick lang, nahm einen tiefen Atemzug und sagte in einem normaleren Ton: »Selbstverständlich, Master Sean. Ihr mögt Euch jederlei Rat einholen!« Während des Augenblicks der Spannung zwischen den beiden Freunden hatte sich Lord Bontriomphe abgewendet, war zu der Leiche geschritten und hatte seinen Blick auf sie geheftet, ohne sie wirklich zu sehen. »Well, My Lord . . .« Master Seans Stimme verriet nur schwach seine peinliche Berührtheit. Er räusperte sich und begann aufs neue. »Well, My Lord, an Beratung habe ich eigentlich nicht gedacht. Was ich brauche, das ist ein fähiger Gehilfe. Mit Eurer Erlaubnis möchte ich Lord John Quetzal darum bitten, mir behilflich zu sein. Er ist nur ein Wanderhexer, aber er möchte einmal Justizhexer werden, und die Erfahrung wird ihm nützen.« »Aber natürlich, Master Sean, eine ausgezeichnete Wahl, möchte ich sagen. Nun laßt mal sehen . . .« Er blickte wieder auf die Leiche. »Ich werde das Beweismaterial so wenig wie möglich bewegen. Diese Zeremonialdolche werden doch alle nach dem gleichen Muster hergestellt, oder?« »Jawohl, My Lord. Jeder Hexer muß sich seinen eigenen Dolch anfertigen, aber nach allergenauesten Vorschriften. Das ist etwas, was ein Zauberlehrling von Anfang an lernt, sein eigenes Gerät herzustellen. In diesem Beruf kann man das Gerät eines anderen nicht gebrauchen, ebensowenig wie das eines gewöhnlichen Handwerkers. Nur wenn man sie selbst herstellt, sind sie mit einem selbst verbunden. Sie müssen allgemein gleich sein und individuell verschieden.« »Das dachte ich mir. Erlaubt Ihr mir, Euren eigenen Dolch zu untersuchen, um nicht den von Master James berühren zu müssen?« »Aber natürlich.« Er nahm seinen Dolch aus dem Reisesack und reichte ihn Lord Darcy. »Schneidet Euch nicht, die Klinge ist scharf wie ein Rasiermesser.« Lord Darcy zog den Dolch mit.dem Onyxgriff aus seiner Weichlederscheide. Die glitzernde Klinge bildete ein genaues gleichschenkliges Dreieck, fünf Zoll vom Heft zur Klingenspitze und zwei Zoll Heftbreite. Lord Darcy drehte
den Dolch und betrachtete die flache Seite des Knaufs. »Das ist Euer Monogramm und Symbol. Ich nehme an, daß das Messer von Sir James genauso gezeichnet ist?« »Jawohl, My Lord.« »Würdet Ihr so gut sein, den Dolch zu betrachten und festzustellen, ob es tatsächlich der von Sir James ist?« »Oh, das habe ich gleich als erstes getan. Ich habe den Dolch schon viele Male gesehen, es ist ganz bestimmt der von Sir James.« »Ausgezeichnet. Das erklärt, warum er sich hier befindet.« Er schob die tödlich aussehende Klinge wieder in ihre Scheide und gab sie dem kleinen Hexer wieder. »Die Klinge besteht aus reinem Silber, nicht wahr?« fragte Lord Bontriomphe. »Reines Silber, My Lord.« »Sagt mir: Wie könnt Ihr ein solch weiches Material rasiermesserscharf bekommen?« Master Sean lächelte. »Nun ja, ich gebe zu, daß es ziemlich schwierig ist, die Klinge überhaupt zu schärfen. Sie muß mit einem weichen Kalbsleder und mit Juweliersrouge abgerieben werden. Aber der Dolch wird nur symbolisch als Messer verwendet, versteht Ihr? Wir schneiden ja nie wirklich etwas damit, und so brauchen wir nicht nachzuschleifen. »Aber wenn Ihr sowieso nichts damit schneidet«, fragte Lord Bontriomphe, »warum schärft Ihr ihn dann überhaupt?« Master Sean sah den Londoner Inspektor ziemlich gequält an. »My Lord«, sagte er mit unendlicher Geduld, »dies ist ein Symbol für ein scharfes Messer. Ich habe auch ein leicht anderes mit stumpfem Ende; es ist ein Symbol für ein stumpfes Messer. Euer Lordschaft müssen begreifen, daß das beste Symbol für einen bestimmten Gegenstand meistens der Gegenstand selbst ist.« Lord Bontriomphe grinste und drehte die Handflächen nach außen. »Entschuldigung, Master Sean, Entschuldigung. Aber erteilt mir nun bitte bloß keine Lektion in Symboltheorie für Fortgeschrittene. Ich konnte noch nie etwas damit anfangen.« »Wollt ihr Euch sonst noch irgend etwas anschauen?« fragte Lord Darcy lebhaft. »Wenn nicht, dann schlage ich vor, daß wir uns davonmachen und Master Sean seinen Geschäften überlassen. Wir werden den Wachen an der Tür sagen, daß Ihr nicht gestört werden dürft, Master Sean. Wenn Ihr fertig seid, dann gebt dem Oberwachtmeister Hennely Grayme bitte Bescheid, daß sofort eine Autopsie des Körpers durchgeführt werden soll. Und ich wäre sehr erfreut, wenn Ihr persönlich mit ins Leichenschauhaus gehen würdet und den Chirurgus selbst überwacht.« »In Ordnung, ich werde mich darum kümmern. Ich werde den Bericht sofort als möglich an das Büro von My Lord Marquis schicken.« »Ausgezeichnet. Kommt, Bontriomphe, wir haben noch viel zu tun.« Während Lord Bontriomphe den Wachmännern vor Sir James Zwinges Zimmer Anweisungen erteilte, durchschritt Lord Darcy die Halle, blieb vor der dem Raum gegenüberliegenden Tür stehen und klopfte fest an. »Sind Euer Gnaden in Dezenz?« Drinnen war das Geräusch hastiger Bewegung zu hören, dann flog die Tür auf. »My Lord, Ihr habt mich erschreckt!« sagte die Herzoginwitwe von Cumberland und schenkte Lord Darcy ein strahlendes Lächeln. Lord Darcy senkte die Stimme so weit, daß ihn weder Lord Bontriomphe noch die Wachmänner verstehen konnten. »Es gibt ein altes Sprichwort, das besagt, daß Leute, die an Schlüssellöchern lauschen, oft erschreckende Dinge zu
hören bekommen.« In gewöhnlicher Lautstärke fuhr er dann fort: »Ich möchte Euer Gnaden einen Augenblick allein sprechen, wenn das gestattet ist.« »Selbstverständlich, My Lord.« Sie trat zurück, und er schloß beim Eintreten die Tür hinter sich. »Was ist los?« fragte sie. »Ein paar kurze Fragen, Mary. Ich brauche deine Hilfe.« »Ich dachte, daß du nach Cherbourg zurückkehren wolltest, sobald Master Sean aus dem Tower entlassen würde.« »Die Lage hat sich verändert«, unterbrach er sie. »Bontriomphe und ich arbeiten jetzt gemeinsam an dem Fall. Aber das ist jetzt erst einmal unwichtig. Als du mir gestern von Demoiselle Tia erzählt hast, hast du vergessen, mir von ihrer Beziehung zu Sir Thomas Leseaux zu berichten.« Die Augen Ihrer Hoheit weiteten sich. »Aber — abgesehen davon, daß er zu der Gruppe von Leuten gehörte, die ihre Aufnahme als Zauberlehrling in die Gilde beantragt haben, weiß ich von keiner Beziehung. Warum?« Lord Darcys Gesicht verdunkelte sich nachdenklich. »Wenn ich nicht sehr irre, geht die Beziehung noch viel weiter und tiefer. Sir Thomas liebt dieses Mädchen — jedenfalls glaubt er das. Er hat auch Angst davor, daß sie in irgendwelche kriminelle, illegale Dinge verwickelt sein könnte — und er hat Angst, sich diese Möglichkeit selbst einzugestehen.« »Kriminell? Meinst du Schwarze Magie oder . . .« Sie zögerte. »Oder den tatsächlichen Mord an Sir James?« »Ich weiß es nicht. Es könnte sowohl das eine als auch das andere sein, oder gar beides — oder etwas gänzlich anderes. Aber es interessiert mich eigentlich weniger, was Sir Thomas glaubt, als was dieses Mädchen getan hat und noch tut, was im Zusammenhang mit dem Mord steht. Gleichzeitig will ich aber auch nicht, daß sie erfährt, daß sie unter Verdacht steht. Deshalb möchte ich sie auch lieber nicht selbst verhören. Bis jetzt hat sie nur die Routinebefragung der Wachmänner durchlaufen und weiß nichts davon, daß sie gesehen wurde, wie sie das Zimmer von Sir James verließ. Und das soll sie vorläufig auch nicht erfahren.« »Du willst also, daß ich sie ausfrage?« sagte die Herzogin mit glänzenden Augen. »Genau. Ich kenne dich, Mary; du wirst sowieso herumschnüffeln, und es wäre mir lieber, wenn die Arbeit aller Schnüffler in diesem Fall einigermaßen koordiniert bleibt. Also wird dein Auftrag sein, Demoiselle Tia zu übernehmen. Befrage sie, aber nicht zu auffällig. Versuche es indirekt und feinfühlig. Lerne sie besser kennen, versuche, ihr Vertrauen zu gewinnen, wenn es möglich ist. Es wäre wohl nichts Verdächtiges dabei, wenn ihr beide den Mord besprecht. Ich nehme an, daß das ganze Hotel darüber redet?« Sie lachte auf. »Darüber redet? Hast du nicht die psychologische Spannung hier bemerkt?« »Etwas, ja, aber offenbar nicht so sehr wie du.« »Sie ist jedenfalls vorhanden. In den letzten vierundzwanzig Stunden sind genügend Amulette aufgeladen, Zauber und Gegenzauber verhängt worden, um die ganze Phalanx der Höllenlegionen abzuhalten.« Ihr Lächeln wich einem ernsteren Gesichtsausdruck. »Sie reden hier nicht nur darüber, sie tun auch etwas. Die Gilde ist wesentlich beunruhigter, als das nach außen hin den Anschein haben mag. Es läuft ein Schwarzer Hexer herum, der stark genug ist, Sir James Zwinge zu töten; das kann schon jeden Master aufregen. Was meinst du, was das erst für einen Eindruck auf die Wanderhexer macht? Wir müssen ihn einfach finden — und doch
haben die Abwehrzauber in diesem Hotel jede mögliche Spur des Bösen verwischt, die doch wie Sumpfnebel über diesem Ort hängen müßte. Wir sind alle völlig durcheinander.« »Das wundert mich nicht«, sagte Lord Darcy. »Aber das gibt dir wenigstens die Möglichkeit, jederzeit das Thema anzuschneiden, ohne in Verdacht zu geraten.« »Das ist wahr. Aber es gibt noch einen weiteren Faktor, den wir berücksichtigen müssen. Es wird sich bald überall herumgesprochen haben, wenn das nicht schon geschehen sein sollte, daß du diesen Fall bearbeitest, und es ist gewiß kein Geheimnis, daß wir beide befreundet sind. Wenn die Demoiselle Tia das wissen sollte, wird sie versuchen, mich nach Informationen auszuquetschen.« »Laß sie es ruhig versuchen, meine Liebe. Stell fest, was für Informationen sie haben will. Wenn sie nur ganz gewöhnliche Fragen stellt, dann sagt uns das schon etwas. Stellt sie aber Fragen, die ein bißchen zu drängend und unpassend sind, dann sagt uns das etwas anderes. Aber erzähl ihr nichts, was nicht sowieso schon jeder weiß. Sag ihr, daß ich sehr zurückhaltend bin, daß ich ein Langweiler bin — irgend etwas, solange du damit klarmachen kannst, daß ich dir nichts erzähle. Und halte sie genau im Auge, wenn du das tun kannst, ohne allzu auffällig zu wirken. Wirst du das für mich tun, Mary?« »Ich werde mein Bestes versuchen, My Lord.«. »Ausgezeichnet. Lord Bontriomphe und ich werden unser vorläufiges Hauptquartier hier im Hotel aufschlagen. Es wird sich immer ein Wachsergeant dort im Dienst befinden. Wenn du irgendeine Nachricht für mich hast, dann laß sie ihn wissen oder gib ihm einen versiegelten Umschlag mit meinem Namen.« »Verstanden«, sagte Ihre Hoheit. »Ich nehme den Auftrag an. Schnüffel du mal auf deiner Linie weiter, ich tue es auf meiner.« Lord Bontriomphe wartete geduldig in der Halle. »Wohin jetzt?« fragte er. »Nach unten, um mit dem Generaldirektor Edelmann Lewie zu sprechen«, sagte Lord Darcy. »Wir können uns ja ruhig um unser vorläufiges Hauptquartier kümmern.« Sie schritten die Halle entlang. »Habt Ihr drei gute Wachsergeanten, die Ihr entbehren könnt, so daß wir eine vierundzwanzigstündige Besetzung haben können?« »Kein Problem«, sagte Lord Bontriomphe. »Zivil oder uniformiert?« »Auf jeden Fall uniformiert. Es wird sowieso jeder wissen, daß sie Wachmänner sind, und uniformierte Wachmänner lenken die Aufmerksamkeit von etwaigen Zivilen ab, die wir vielleicht noch einsetzen.« »In Ordnung. Ich werde Chief Hennely Instruktionen geben.« Unten am Schalter bat Lord Darcy darum, mit Edelmann Lewie Bolmer sprechen zu können. Der Hotelangestellte kehrte sofort zurück und sagte: »Edelmann Lewie bittet anzufragen, ob Euer Lordschaften die Güte haben würden, mir nach hinten in sein Büro zu folgen.« Die beiden Inspektoren folgten dem Angestellten. Lewie Bolmer stand auf, um sie zu begrüßen. Der Generaldirektor sah sehr abgemagert aus. Er hatte große Tränensäcke unter den Augen, und seine Haut war dunkel und faltig. Sein Lächeln wirkte zwar echt, aber auch genauso müde wie sein ganzes Wesen. »Guten Tag, Euer Lordschaften«, sagte er. »Wie kann ich Euch zu Diensten sein?« Lord Bontriomphe stellte Lord Darcy vor, und beide erklärten ihm, daß sie ein vorläufiges Hauptquartier benötigten. »Ich glaube ... ja, wir haben
genau das, was Euer Lordschaften brauchen«, sagte der Direktor nach kurzem Nachdenken. »Ich kann Euch im Büro des Nachtdirektors einquartieren. Er kann sich das Büro mit dem Nachmittagsdirektor teilen, wenn er überhaupt . . . äh, wenn er zurückkommt. Ich werde seine Sachen aus dem Schreibtisch nehmen lassen und . . . äh . . . ins andere Büro bringen lassen. Das Büro ist eigentlich recht groß, nur wenig kleiner als dieses. Würde das ausreichen?« »Wir würden es uns gern einmal anschauen, wenn das gestattet ist«, sagte Lord Darcy. »Aber selbstverständlich. Wenn Euer Lordschaften mir folgen wollen . . .« Er führte sie zu einem Gang, der von der Empfangshalle in den hinteren Gebäudeteil führte, direkt vom Empfangsschalter ausgehend. Nur wenige Yards von der Empfangshalle entfernt, führten zwei Türen nach rechts, hinten im Gang befanden sich weitere Türen auf beiden Seiten. »Die erste Tür ist die vom Büro des Nachmittagsdirektors«, erklärte er. Er öffnete die zweite Tür und machte eine einladende Bewegung in den Raum, der etwa fünfzehn mal fünfzehn Fuß groß war. »An dieses Büro habe ich gedacht.« »Gefällt mir«, sagte Lord Bontriomphe. »Was meint Ihr, Darcy?« »Ausgezeichnet, würde ich sagen.« Er blickte den Flur entlang. »Wohin führt dieser Flur, Edelmann Lewie?« »Dort hinten sind die Räumlichkeiten für das Hotelpersonal. Zimmermannsräume, Möbelreparaturwerkstätten, Wäscherei, Hausmeisterei und so weiter. Die Tür am anderen Ende ist der Hintereingang. Sie führt auf die Potsmoke Alley, die eine Verlängerung der Upper Swandham Lane ist.« »Kann man sie von außen öffnen?« »Nur mit einem Schlüssel. Es befindet sich ein Nachtschloß daran. Jeder kann durch die Tür hinausgehen, aber um hineinzukommen, braucht man einen Schlüssel.« »Ich habe eine Idee«, sagte Lord Bontriomphe. »Wir können dort einen Wachmann postieren, der darauf achtet, daß nur autorisierte Personen hineingelangen. Dann schließen wir die Tür auf. Auf diese Weise können die Wachmänner kommen und gehen, ohne durch Eure Empfangshalle zu stampfen und Eure Gäste stören zu müssen. Wärt Ihr damit einverstanden?« »Selbstverständlich, Euer Lordschaft.« »Gut. Ich werde einen Wachsergeanten herschicken, um das Büro zu übernehmen.« »Sehr wohl, Euer Lordschaft. Ich werde den Schreibtisch leerräumen lassen. Gibt es sonst noch etwas?« »Ja», sagte Lord Darcy. »Eine andere Sache noch. Gestern stand das Hotel doch nur den Mitgliedern des Heiler- und Hexerkongresses offen, nicht wahr?« »Und ihren Gästen, ja. Es wurde nur eingelassen, wer hier zu tun hatte. Die Türsteher hatten genaueste Anweisungen erhalten.« »Ich verstehe. Hat man eine Liste geführt?« »Aber ja! An der Tür wird immer eine Liste geführt. Heute natürlich nicht, denn es ist ja Tag der Offenen Tür, aber wenn der Kongreß geschlossen ist, immer.« »Ich würde diese Liste gerne einmal einsehen, wenn Ihr erlaubt«, sagte Lord Darcy. »Selbstverständlich, Euer Lordschaft. Gehen wir in mein Büro zurück? Ich werde Euch sofort die Liste bringen.« Kurze Zeit darauf blickten die drei Männer durch das in Leinen gebundene Gästeregister, das offen auf Bolmers Schreibtisch lag. »Dies ist die Seite für Mittwoch«, sagte Lewie Bolmer. »Von Mitternacht bis Mitternacht.«
Lord Darcy und Lord Bontriomphe blickten die Liste durch. Es gab vier Spalten: Ankunftszeit, Name, Besuchsgrund, Zeit des Fortgangs. Es gab nicht viele Eintragungen. Die erste war um halb sieben, als ein Mann des Königlichen Postdienstes die Post gebracht hatte; er war um 6.35 Uhr wieder gegangen. Um zwölf Minuten vor neun war Commander Ashley angekommen und hatte als Besuchsgrund angegeben: »Amtliche Nachricht für Meisterhexer Sean O Lochlainn.« Er war um 9.55 Uhr gegangen. Zwei Minuten nach neun war Lord Bontriomphe gekommen, »in persönlicher Angelegenheit des Marquis von London«. Die Zeit seines Fortgehens war nicht vermerkt. Der nächste Eintrag war von 9.51 Uhr. Er besagte nur: »Wachmann Chief Hennely Grayme und vier Wachmänner. Im Auftrag des Königs.« »Nicht sehr aufschlußreich«, sagte Lord Bontriomphe. »Aber das habe ich auch nicht erwartet.« Lord Darcy grinste. »Was für einen Eintrag habt Ihr denn erwartet? >9.20 Uhr: Meisterhexer Luzifer S. Beelzebub. Grund des Besuchs: Master Sir James Zwinge zu ermorden. Zeit des Fortgehens: 9.31 Uhr< vielleicht?« »Das wäre sehr nützlich gewesen«, gab Lord Bontriomphe zu. »Ich stelle fest, daß weder für Euch noch für die Wachmänner die Zeit des Fortgehens eingetragen wurde.« Er sah Edelmann Lewie an. »Warum?« Der Hoteldirektor war gerade dabei, ein Gähnen zu unterdrücken. »Eh? Wie bitte, Euer Lordschaft? Die Abgangszeit? Well, es kamen so viele Wachmänner herein und gingen wieder, daß ich die Türsteher anwies, jeden Königlichen Kriminalbeamten frei kommen und gehen zu lassen.« Abermals unterdrückte er ein Gähnen. »Entschuldigt mich. Schlafmangel. Der Nachtdirektor, der normalerweise die Schicht von Mitternacht bis neun Uhr morgens übernimmt, ist letzte Nacht nicht aufgetaucht, da mußte ich für ihn einspringen.« »Völlig in Ordnung«, sagte Lord Darcy, der immer noch ins Register blickte. Für den Nachmittag gab es mehr Einträge, hauptsächlich Besuche von Geschäftsleuten und Händlern, die entweder Hexerei in ihren Geschäften anwandten oder sich der Dienste von Hexern bedienten. Eine Eintragung aber machte ihn stutzig. »Was ist das denn?« fragte er und zeigte mit dem Finger darauf. Lord Bontriomphe las sie laut vor: >»14.54 Uhr: Commander Lord Ashley; amtliche Geschäfte mit Direktor Bolmer.< Kein Eintrag für das Fortgehen.« »Wah- . . . well, Euer Lordschaften, es kamen und gingen einige Marineleute. In offiziellem Auftrag.« »Offizieller Auftrag? Warum wollten sie denn mit Euch reden?« »Nicht mir mir. Mit . . . mit Paul Nichols, meinem Nachtdirektor.« »Worüber?« »Ich ... ich bin nicht berechtigt, darüber zu sprechen, Euer Lordschaft. Strikte Anweisung der Admiralität.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy mit harter Stimme. »Danke, Edelmann Lewie. Der Wachsergeant wird später kommen, um l das Büro zu übernehmen. Kommt, Bontriomphe. « Er drehte sich um und schritt aus dem Zimmer. Lord Bontriomphe folgte ihm auf den Fersen. Sie waren bereits in der zweiten Hälfte der Empfangshalle und zwängten sich durch die übervölkerte Ausstellung, bevor Lord Bontriomphe sprach. »Sehe ich Blut in Euren Augen?« »Das könnt Ihr verdammt noch einmal sagen!« schnappte Lord Darcy. »Wie weit ist es von hier zum Admiralitätsbüro?« »Zu Fuß zehn Minuten. Wenn wir die Kutsche nehmen, sind es drei.« »Dann
nehmen wir auf jeden Fall die Kutsche«, sagte Lord Darcy. Barney, der Lakai, stand neben der Kutsche, die nahe dem Eingang des Royal Steward am Pflasterrand stand. »Barney«, rief Lord Bontriomphe, »wo ist Denys?« »Immer noch im Pub, My Lord«, rief der Lakai zurück. »Alles fertig machen zur Abfahrt, ich werde ihn holen«, rief Lord Bontriomphe und rannte über die Straße ins Pub, aus dem er dreißig Sekunden später mit dem Kutscher wieder hervorstürmte. »Zum Admiralitätsbüro!« befahl Lord Bontriomphe, während Denys seinen Kutscherschemel bestieg. »So schnell wie Ihr könnt!« Er stieg neben Darcy ein. »Smollett hält uns also im Dunkeln«, sagte er, während die Kutsche mit einem Ruck nach vorne sprang. »Jedenfalls weiß er etwas, das wir nicht wissen, so viel ist sicher«, sagte Lord Darcy. »Man darf nicht vergessen, daß dieser Befehl, nichts zu verraten, Bolmer gestern gegeben wurde, bevor uns der König auftrug, den Fall gemeinsam zu lösen.« »Das ist richtig«, sagte Lord Darcy, »aber wenn man bedenkt, daß die Marine völlig aufgeregt über einen Mann ist, der plötzlich vermißt wird, und wenn man ferner berücksichtigt, daß Edelmann Lewie Bolmer durch sein Verhalten zeigt, daß er davon überzeugt ist, daß sein Nachtdirektor nicht mehr zurückkommen wird, dann ist es doch wohl mehr als seltsam, daß weder Smollett noch Ashley heute morgen etwas davon erwähnt haben.« »Mehr als seltsam«, stimmte Lord Bontriomphe zu. »Das meinte ich ja: Smollett hält uns im dunkeln. Wollt Ihr ihn festhalten, während ich ihm ins Auge steche, oder machen wir es umgekehrt?« »Weder noch«, sagte Lord Darcy. »Wir nehmen jeder einen Arm und biegen ihn kräftig nach hinten.« Teil3 Keine vier Minuten später stiegen die beiden Männer die Treppen des Admiralitätsbüros hoch und gelangten durch die weiten Türen in ein großes Wartezimmer, das fast so groß wie ein Hotelempfangssaal war. Sie steuerten gerade auf den Informationsschalter zu, als Lord Darcy eine ihm bekannte Person wahrnahm. • »Da ist ja unser Täubchen«, murmelte er zu Lord Bontriomphe und rief laut: »Ah, Commander Ashley!« Lord Ashley drehte sich um, erkannte sie und lächelte freundlich. »Guten Tag, My Lords. Kann ich Euch behilflich sein?« »Das will ich doch hoffen!« sagte Lord Darcy. Lord Ashleys Lächeln verschwand. »Was ist denn los? Ist irgend etwas passiert?« »Das weiß ich nicht. Das möchte ich ja von Euch erfahren! Warum interessiert sich die Marine so sehr für einen gewissen Paul Nichols, den Nachtdirektor vom Royal Steward?« Lord Ashley zuckte etwas zusammen. »Hat Euch das Captain Smollett nicht gesagt?« »Klar hat er das gesagt«, sagte Lord Bontriomphe. »Alles hat er uns gesagt. Aber wir haben alles wieder vergessen. Deswegen sind wir jetzt hier und stellen Fragen.« Commander Ashley beachtete den Sarkasmus des Inspektors von London nicht. In seinen Seemannsaugen war ein etwas beunruhigter Ausdruck. Abrupt entschied er sich. »Diese Information muß Euch Captain Smollett selbst geben. Ich werde Euch in sein Büro führen. Darf ich ihm melden, daß Ihr gekommen seid, um die Sache direkt von ihm selbst erklärt zu bekommen?« »Aha«, sagte Lord
Darcy mit einem trockenen Lächeln, »Captain Smollett zieht es offenbar vor, daß seine Subalternen Schweigen bewahren, eh?« Lord Ashley lächelte schief. »Ich habe meine Befehle. Und sie haben ihren guten Grund. Schließlich hat der Marinegeheimdienst nicht die Angewohnheit, seine Informationen in alle Welt hinauszuposaunen.« »Das ist mir bekannt«, sagte Lord Darcy, »und ich verlange auch nicht, daß der Marinegeheimdienst seine Gewohnheiten ändert. Dennoch waren, meine ich, Seiner Majestät Befehle in diesem Punkt unmißverständlich.« »Ich bin sicher, daß der Captain das bloß übersehen hat. Diese Affäre hat das gesamte Geheimdienstkorps in Aufruhr versetzt, und Captain Smollett und sein Stab haben, wie ich Euch heute morgen bereits sagte, wenig Hoffnung, daß man die Mörder finden wird.« »Und haben vermutlich auch kein allzu großes Interesse daran«, sagte Lord Darcy. »So weit würde ich nicht gehen, My Lord; es ist bloß, daß wir meinen, daß es nicht unsere Aufgabe ist, gedungene polnische Attentäter zu jagen. Dafür sind wir nicht ausgerüstet. Unsere Aufgabe besteht in dem unmöglichen Auftrag, alles Erdenkliche über König Casimirs Marine herauszufinden und zu verhindern, daß er irgend etwas über uns herausfindet. Ihr seid dazu ausgebildet und ausgerüstet, Mörder zu fangen, und wir überlassen Euch, wie ich finde zu Recht, diese Aufgabe.« »Ohne die dazugehörigen Informationen können wir nicht arbeiten«, sagte Lord Darcy, »und die wollen wir uns jetzt holen.« »Well, ich weiß nicht, ob diese Information dazugehört oder nicht, aber kommt bitte mit, ich bringe Euch zu Captain Smollett.« In seinem Büro im hinteren Teil des Gebäudes saß im Vorzimmer ein mittelalter Subaltern-Offizier hinter einem Schreibtisch und blickte Commander Ashley an, ohne die beiden Zivilisten auch nur eines Blickes zu würdigen. »Ja, My Lord Commander?« fragte er. »Teilt bitte Captain Smollett mit, daß Lord Darcy und Lord Bontriomphe ihn zu sprechen wünschen. Er wird Bescheid wissen, worum es geht.« »Aye, My Lord.« Er stand auf, betrat das Büro und kam etwa eine Minute später wieder heraus. »Komplimente des Captains, My Lords. Er möchte Euch alle drei sofort in seinem Büro sprechen.« Es gibt drei Arten, so etwas zu machen, dachte Lord Darcy bei sich, die richtige Art, die falsche Art und die Marineart. Als sie eintraten, stand Captain Smollet hinter seinem Schreibtisch, eine Pfeife fest im Mund und sagte forsch: »Tach, My Lords. Nicht erwartet, Euch so schnell wiederzusehen. Nehme an, daß Ihr Informationen für mich habt.« »Ich hatte eigentlich eher gehofft, daß Ihr Informationen für uns hättet, Captain«, sagte Lord Darcy. Smollett hob die Augenbrauen. »Eh? Nicht viel, fürchte ich«, sagte er durch die Zähne. »Nichfs Neues seit heute morgen. Deswegen hoffte ich ja, daß Ihr Informationen habt.« »Ich will keine neuen Informationen, Captain Smollett. Inzwischen kann das ganze schon ziemlich veraltet sein. Gestern nachmittag ist Euer Agent Lord Ashley um 14.54 Uhr ins Royal Steward Hotel zurückgekehrt. Danach kamen und gingen zahlreiche andere Eurer Agenten. Der Generaldirektor, Edelmann Lewie Bolmer, hat uns mitgeteilt, daß er strikte Anweisungen der Marine erhalten hat, im Namen des Königs niemandem Informationen weiterzugeben; das schließt offenbar auch befugte Königliche Kriminalbeamte ein, die mit Sondervollmachten
arbeiten, mittels derer sie ebenfalls im Namen des Königs handeln und reden dürfen. Ich hätte ihn dazu zwingen können, uns die Information zu geben, aber er handelte in gutem Willen und hatte schon genug eigene Sorgen. Ich meinte, daß Ihr uns alle Informationen geben könnt und noch einiges darüber Hinausgehende. Wir trafen My Lord Commander unten, aber er steht zweifellos ebenfalls unter dem Befehl, also bin ich lieber gleich zu Euch gekommen, um meine Zeit nicht zu verschwenden. So viel wissen wir: Edelmann Paul Nichols, der Nachtdirektor, ist letzte Mitternacht nicht zum Dienst erschienen. Dies ist offenbar von Wichtigkeit; und doch haben Eure Agenten bereits neun Stunden zuvor nach ihm gefragt. Was wir wissen wollen, ist, warum. Ich werde Euch nicht fragen, warum uns diese Information heute morgen vorenthalten wurde; ich werde lediglich darum fragen, diese Information sofort zu bekommen.« Captain Smollett war einige Sekunden lang still und blickte mit kalten grauen Augen Lord Darcy gerade ins Gesicht. »Hm«, sagte er schließlich. »Das habe ich wohl verdient. Hätte es heute morgen erwähnen sollen. Gebe ich zu. Die Sache ist nur, das fällt eigentlich gar nicht in unseren Kompetenzbereich, jedenfalls normalerweise nicht. Wir suchen Nichols zwar überall, aber er hat nichts getan, was wir ihm nachweisen könnten.« »Was hat er denn vermutlich getan?« »Etwas gestohlen«, sagte Captain Smollett. »Das Problem ist, daß wir nicht einmal beweisen können, daß die Sache, die er gestohlen haben soll, jemals existiert hat. Und wenn sie existierte, wüßten wir nicht, wie wertvoll oder wertlos sie eigentlich ist.« »Sehr mysteriös«, sagte Lord Bontriomphe. »Für mich jedenfalls. Hat die Sache vielleicht auch irgendeinen Anfang?« »Hm, hm. Tschuldigung, wollte nicht mysteriös erscheinen. Eh, setzt Euch doch! Brandy ist da drüben auf dem Tisch. Commander, schenkt Brandy ein! Setzt Euch, macht es Euch bequem! Ziemlich lange Geschichte, das.« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, griff nach einem Stapel Ordner und entnahm einem von ihnen einen Umschlag. »So sieht's aus: Zwinge war vielbeschäftigter Mann. Mußte auf tausend Sachen achten. Schon die Arbeit eines Obersten Gerichtshexers der Stadt London reicht aus, um einen Mann voll auszulasten.« Er sah Lord Bontriomphe an. »Hand aufs Herz, My Lord: Habt Ihr jemals vermutet, daß er für den Marinegeheimdienst arbeitet?« »Nie«, gab Bontriomphe zu, »obwohl er wirklich hart genug arbeitete. Er war dauernd beschäftigt und gehörte zu der Sorte Leute, für die mehr als fünf Stunden Schlaf pro Nacht ein Zeichen von Müßiggang sind. Sagt mir, Captain, wußte My Lord Marquis davon?« »Es wurde ihm nie mitgeteilt«, sagte Captain Smollett. »Zwinge sagte zwar, daß er vermute, daß My Lord de London von seiner Marinetätigkeit wisse, aber er hat es jedenfalls nie erwähnt.« »Das würde er auch nicht tun«, sagte Lord Bontriomphe. »Nein, natürlich nicht. Jedenfalls hatte Sir Zwinge viele Eisen im Feuer. Passiert noch mehr in Europa als nur diese Angelegenheit hier, kann ich beschwören! Trotzdem war es ihm wichtig, auf diesen Heiler- und Hexerkongreß zu gehen. Meinte, daß es dumm aussehen würde, wenn er das nicht täte, wo er schon in London war und so. Aber natürlich hat er auch dort noch weitergearbeitet.« »Deshalb hat er zweifellos den Zauber auf sein Türschloß gelegt«, sagte Lord Darcy.
»Zweifellos, zweifellos«, stimmte Captain Smollett zu. »Jedenfalls hat er mir gestern morgen diesen Brief per Boten aus dem Hotel überbringen lassen.« "Er reichte Lord Darcy den Umschlag. »Wie Ihr sehen könnt, wurde er um 7.45 Uhr abgestempelt.« Lord Darcy betrachtete die Aufschrift, die an Captain Smollett gerichtet und mit dem Vermerk >Persönlich< versehen war. Er öffnete den Briefumschlag und entnahm ihm ein einzelnes Blatt Papier. »Das ist kodiert«, sagte Lord Darcy. »Natürlich«, sagte Captain Smollett. Er nahm ein weiteres Blatt von dem Stapel und gab es Lord Darcy. »Hier ist die Dechiffrierung«, sagte er. Lord Darcy las den Text laut vor: »Sir: Ich befinde mich im Besitz eines besonderen Pakets für Euch, das hochwichtige Informationen enthält und das ich soeben erhalten habe. Im Augenblick ist es für mich unmöglich, das Hotel zu verlassen, und ich will die Nachricht keinem gewöhnlichen Boten anvertrauen. Folglich habe ich den Umschlag mit einem Siegel darauf dem Hoteldirektor, Edel-mann Paul Nichols, gegeben. Er hat ihn in den Hotelsafe gebracht und hat Anweisungen, ihn Eurem Kurier zu überreichen.« Unterzeichnet war der Brief mit einem einzelnen Buchstaben: >Z<. Lord Darcy reichte die Papiere zurück. »Ich verstehe, Captain. Fahrt bitte fort.« »Wie ich schon sagte, kam die Botschaft um 7.45 Uhr an. Sie wurde mir mit der Morgenpost auf den Schreibtisch gelegt. Nun bin ich erst wenige Minuten vor zehn hier ins Büro gekommen. Hatte keine Zeit gehabt, meine Post auch nur anzuschauen, da kam schon Commander Ashley herein und brachte mir die Botschaft aus Cherbourg, daß Barbour ermordet worden war, was ja schon schlimm genug war, und daß außerdem Master Sir James nur eine halbe Stunde zuvor erdolcht worden war. Da Ihr bereits wißt, wie wichtig uns die ganze Angelegenheit ist, werdet Ihr verstehen, daß ich in den nächsten Stunden ein sehr beschäftigter Mann war. Hab' meine Post erst gegen zwei Uhr, nein, später, durchsehen können. Als ich den Brief dekodiert hatte, schickte ich Ashley hier rüber, um das Paket zu holen.« Er sah den Commander an. »Besser, wenn Ihr jetzt fortfahrt, Commander. Bin sicher, Lord Darcy hat seine Information am liebsten aus erster Hand.« »Aye, Sir.« Er wandte die Darcy zu. »Ich ging sofort ins Hotel und fragte nach Edelmann Lewie und sagte ihm, daß Sir James einen an Captain Smollett adressierten Umschlag im Hotelsafe aufbewahrt hatte, der der Marine übergeben werden sollte. Er sagte, daß er nichts davon wisse. Da sagte ich ihm, daß Edelmann Paul den Umschlag in Empfang genommen hatte. Er teilte mir mit, daß Edelmann Paul nichts davon erwähnt habe, als er um neun seinen Dienst verließ, aber er war bereit, den Safe zu öffnen und den Umschlag auszuhändigen. Ich stand dabei, als er den Safe öffnete. Es ist ein kleiner Safe, und es war nicht viel drin, auf jeden Fall kein Umschlag, der an Captain Smollett adressiert wäre. Es gab auch keine Spur davon. Bolmer beteuerte, daß er den Safe an diesem Morgen nicht geöffnet habe, und die beiden Angestellten im Empfang bestätigten das. Bolmer und seine beiden Hilfsdirektoren sind die einzigen, die die Kombination kennen, und der Sicherheitszauber gestattet es bloß dem jeweiligen diensthabenden Direktor, während seiner Schicht, und zwar nur dann, den Safe zu öffnen; also kann ihn der Nachmittagsdirektor nur von
15.00 Uhr bis Mitternacht und der Nachtdirektor nur von Mitternacht bis 9.00 Uhr morgens öffnen.« Lord Darcy nickte. »Das weist natürlich sehr stark auf Edel-mann Paul hin. Nur er konnte also das Paket entwendet haben.« »Ganz mein Denken«, sagte Commander Lord Ashley. »Natürlich bestand ich darauf, sofort mit Edelmann Paul Nichols sprechen zu können, und fragte nach seiner Privatadresse. Es stellt sich heraus, daß er im Hotel wohnte, er hat ein Zimmer im Obergeschoß. Bolmer nahm mich mit nach oben und klopfte an Nichols' Tür, ohne jedoch Antwort zu erhalten. Bolmer öffnete die Tür mit einem Nachschlüssel, und wir traten ein. Nichols war nicht da. Sein Bett war gemacht und sah keineswegs so aus, als habe jemand darin geschlafen. Bolmer sagte, daß dies seltsam wäre, denn normalerweise geht Nichols etwas essen, nachdem er von der Schicht kommt, und kehrt dann ins Hotel zurück, um bis sechs Uhr zu schlafen.« »Hat Nichols den Hotelservice in Anspruch genommen?« Der Commander nickte. »Ja, das. hat er. Nichols ging recht häufig abends aus, und das Zimmermädchen hatte Anweisung, das Zimmer zwischen 19.30 und 20.30 Uhr aufzuräumen. Ich durchsuchte den Raum und seine Sachen. Er schien nichts gepackt zu haben. Sein Koffer stand leer im Schrank, und Bolmer sagte, daß es seines Wissens der einzige Koffer war, den Nichols besaß.« »Das ist der Vorteil, wenn man in der Spionageabwehr arbeitet«, sagte Lord Bontriomphe seufzend. »Wenn ein Kriminalbeamter Seiner Majestät ein Zimmer ohne Durchsuchungsbefehl durchsucht, dann hat er hinterher einige Schwierigkeiten, sein Vorgehen dem Richter plausibel zu machen.« »Na ja«, erwiderte Ashley, »richtig durchsucht habe ich den Raum nicht, ich habe mich eher umgesehen.« »Er ist also nicht dagewesen und hat sein Bett auch seit dem letzten Abend nicht mehr benutzt?« »Genau. Ich befragte das Hotelpersonal. Niemand hatte ihn von seinem Frühstück, das heißt, für ihn war es wahrscheinlich das Abendessen, zurückkommen sehen, also wies ich Bolmer an, nichts zu sagen, aber uns zu benachrichtigen, sobald Nichols zurückkehren sollte. Dann kam ich wieder hierher und erstattete Captain Smollett Bericht.« »Suchen ihn seitdem«, berichtete der Captain. »Haben Männer ins Hotel geschickt, die auf ihn warten sollten, wenn er um Mitternacht kommen sollte. Tauchte aber nicht auf. Immer noch keine Spur von ihm.« »Ihr vermutet also, daß zwischen dem Verschwinden des Pakets und dem von Nichols ein Zusammenhang besteht«, stellte Lord Darcy fest. »Darin stimme ich Euch zu. Der Inhalt des Pakets wäre doch wohl kodiert gewesen, nicht wahr, Captain?« »Ganz gewiß. Und nicht der gewöhnliche Kode. Außerdem benutzte Zwinge immer Tinte und Papier mit einem ganz bestimmten Zauber. Wenn ein Unbefugter das Siegel zerbrechen sollte, dann würde die Schrift verschwinden, bevor er das Papier aus dem Umschlag genommen hätte.« »Folglich hat Nichols wohl auch nicht das Paket aus dem Safe genommen, alles durchgelesen und festgestellt, daß es wertvolles Material ist.« »Bestimmt nicht«, stimmte Captain Smollett zu. »Außerdem war Sir James kein Narr. Hätte es niemals Nichols gegeben, wenn er ihm nicht vertraut hätte. Da der Umschlag einen Schutzzauber hatte, müßte man ihn einem Zauberer geben, der
mächtig genug ist, um den Zauber von Master Sir James Zwinge zu brechen, erst dann kann man ihn lesen.« »Habt Ihr irgendeine Vermutung, was für eine Information sich in dem Umschlag hätte befinden können, Captain Smollet?« »Keine, nicht die geringste. Kann nicht so furchtbar dringend gewesen sein, ich meine, nichts, was sofortiges Handeln erfordert hätte, sonst hätte Zwinge die Nachricht trotz allem noch selbst überbracht. Aber sie war wohl wichtig genug, damit die Agenten von König Casimir deswegen gemordet haben.« »Wie, glaubt Ihr, hängt denn dieser Mord mit dem in Cherbourg zusammen? Und mit der neuen Geheimwaffe der Marine?« Der Captain verzog mißmutig das Gesicht und zog einige Sekunden lang an seiner Pfeife. »Begeben wir uns jetzt auf wackeligen Boden? Offensichtlich ist Barbour als Doppelagent entlarvt worden, sonst hätte man ihn nicht umgebracht.« »Darin stimme ich mit Euch überein«, versicherte Lord Darcy. »Gut. Aber damit bleiben uns immer noch eine Menge Spekulationen über Fitzjean und über das Wissen der Polen um den Konfusionsprojektor übrig. Wenn sie, wie wir hoffen, nichts über das Gerät wissen, dann wissen sie auch nichts über Fitzjean, mit Ausnahme der spärlichen Fehlinformationen, die Barbour an sie weitergeleitet hat. Als sie entdeckten, daß er ein Doppelagent war, haben sie ihn einfach umgebracht und Fitz-Jean nicht beachtet. Informationsmaterial über Flottenbewegungen ist es nicht wert, sich dafür ein Bein auszureißen. Fürchte nur, daß es zuviel des Optimismus wäre, anzunehmen, daß die polnische Regierung überhaupt nichts vom Konfusionsprojektor weiß. Viel wahrscheinlicher, daß sie mit großem Aufwand versuchen, herauszufinden, was es damit auf sich hat und wie das Gerät funktioniert. Was wiederum darauf hinweisen würde, daß sie nichts von Fitzjean wissen. Hätten sie etwas von ihm gewußt, so hätten sie Barbour nicht umgebracht, bevor sie nicht Fitzjean sicher hatten — was natürlich der Fall sein kann. Oder sie können im Besitz des Geheimnisses sein und sich einen Teufel um Fitzjean scheren. Und schließlich besteht die Möglichkeit, daß Fitzjean selbst ein polnischer Agent war, der Barbour überprüfen sollte. Als sie merkten, daß sich Barbours Berichte ganz wesentlich von dem unterschieden, was ihm wirklich angeboten wurde, da war sein Todesurteil besiegelt.« Captain Smollett spreizte die Hände. »Sind aber bloße Annahmen, geben nichts her. Wichtig ist jetzt, Paul Nichols ausfindig zu machen. Hätte ich Euch schon vorher mitgeteilt, aber wie gesagt, wir haben nichts gegen Nichols in der Hand. Können nicht einmal beweisen, daß der Umschlag wirklich existiert hat. Hätten die Sache also nicht an Seiner Majestät Kriminalbeamte übergeben können, nicht wahr?« »Mein lieber Captain, Ihr solltet auch mal etwas anderes als Admiralitätsrecht studieren. Wenn jemand von einem Tatort flieht, dann hat man genug in der Hand, einen Haftbefehl zu erwirken, um den Mann befragen zu können. Die erste Frage, die sich jeder Inspektor jetzt stellen würde, lautet: Wo würde er hingehen? In die Polnische Botschaft?« Smollett schüttelte den Kopf. »Nein. Wird rund um die Uhr bewacht, wer dort ein- und ausgeht.« »Genau, das weiß ich. Und die Polen wissen es auch. Aber das Ortshauptquartier des polnischen Spionagerings
befindet sich doch in der Stadt. Wo denn?« »Wüßte ich auch gern«, sagte der Captain. »Gäbe ich einen halben Jahreslohn für. Wir haben Grund anzunehmen, daß es in London mindestens drei verschiedene Ringe gibt, von denen keiner den anderen kennt, oder jedenfalls nur einzelne. Natürlich kennen wir einige der Agenten, beschatten sie. Jeder bekannte Agent in London ist während der letzten achtzehn Stunden beobachtet worden. Bisher kein Ergebnis. Aber was wir nicht wissen ist, wo sich das jeweilige Hauptquartier befindet. Geb's nicht gern zu, muß aber. Kein Hinweis, keine Spur, nichts.« »Dann kann man Nichols nur finden, indem man London nach ihm durchkämmt«, meinte Lord Darcy. »Und das heißt Fußarbeit. Während Ihre Männer ihn im Verborgenen suchen, können Lord Bontriomphe und die Wachmänner von London ihn offiziell wegen Verdunkelungsgefahr suchen.« Bontriomphe nickte. »Wir können das Netz in einer Stunde ausgelegt haben. Wenn wir irgend etwas finden, werde ich Euch sofort benachrichtigen, Captain.« »Sehr gut, My Lord.« »Dann fange ich wohl besser sofort damit an«, meinte Bontriomphe und stand auf. »Je schneller, desto besser. Wenn Ihr mir irgend etwas mitteilen oder mich sprechen wollt, Captain, dann schickt einen Boten ins Royal Steward. Dort befindet sich jetzt unser Hauptquartier. Es wird sich immer ein Sergeant vom Dienst dort aufhalten, und ich kehre regelmäßig dorthin zurück.« »Ausgezeichnet. Ich danke Euch, My Lord.« »Bis bald, Gentlemen. Guten Tag.« Lord Bontriomphe schritt durch die Tür und machte den Eindruck, als sei er überglücklich, endlich etwas zu tun zu haben. »Was mich betrifft, Captain«, sagte Lord Darcy, »so möchte ich Euch um Euer Verständnis in einer etwas heiklen Angelegenheit bitten.« »Was könnte das denn sein?« »Ich möchte gerne Zutritt zu Euren Geheimakten, und zwar zu den Briefen von Barbour, die Fitzjean und den Konfusionsprojektor betreffen.« »My Lord«, sagte Captain Smollett mit frostigem Lächeln, »jeder Geheimdienst hütet seine Akten eifersüchtig wie seinen Augapfel, und unser Korps bildet da keine Ausnahme. Bis jetzt wurden diese Akten unter dem Vermerkt >Streng Geheim< geführt. Barbours Rolle als Doppelagent war nur den Spitzen der Admiralität bekannt. Aber Ihr habt mich schon einmal gerügt, weil ich Euch Informationen vorenthalten habe. Kommt nicht wieder vor. Werde die betreffenden Akten herbringen lassen, so daß Ihr sie mit Commander Ashley durchgehen könnt. Und darf ich um Euer Verständnis bitten?« »Aber gewiß, Captain. Worum geht es?« »Mit Eurer Erlaubnis möchte ich Commander Lord Ashley zum Verbindungsoffizier zwischen den zivilen Untersuchungsbehörden und der Marine machen.-Um genauer zu sein, zwischen Euch und mir. Er kennt die Marine, er versteht etwas von Geheimdiensttätigkeit und auch etwas von Kriminalistik. Er gehörte zur Marinepolizei, bevor er in diese Abteilung versetzt wurde. Seine Befehle sollen besagen, daß er Euch in jeder erdenklichen Weise unterstützt. Seid Ihr einverstanden, My Lord?« »Aber natürlich, Captain, eine ausgezeichnete Idee!« »Sehr gut. Also, Commander, so lauten Eure Befehle.« »Aye, aye, Captain.« Er lächelte Lord Darcy an. »Ich werde versuchen, so wenig wie möglich als Fußangel zu wirken, My Lord.« »Das wäre also erledigt«, sagte Captain Smollet und stand auf. »Dann gehe ich jetzt die Akten holen.« Master Sean O Lochlainn stand neben
der geschlossenen Tür des Mordzimmers und besah sich den ganzen Raum. Dann wandte er sich an Wanderhexer Lord John Quetzal, der neben ihm stand. »Versteht Ihr also, wovor wir uns hüten müssen? Wir können den Konservierungszauber noch nicht von der Leiche nehmen, also müssen wir aufpassen, daß keiner der Zauber, mit denen wir im Zimmer arbeiten, in ihn eingreift. Verstanden?« Lord John Quetzal nickte. »Jawohl, Master, ich glaube schon.« Master Sean lächelte ihn an. »Das glaube ich auch, mein Junge! Bei den Bluttests habt Ihr hervorragend mitgearbeitet. Übrigens, glaubt Ihr, daß Ihr sie das nächste Mal auch allein durchführen könntet?« Lord John Quetzal blickte den kleinen Hexer von der Seite an. »Die Bluttests? Jawohl, Meisterhexer, das könnte ich«, sagte er fest. »Gut, gut!« Master Sean nickte zufrieden. »Aber was jetzt kommt«, sagte er und hob einen warnenden Zeigefinger, »ist ein wenig schwieriger. Wir haben es hier mit einem psychischen Schock zu tun. Wenn ein Mensch verletzt wird oder wenn er stirbt, gibt es zwar immer einen psychischen Schock, außer wenn er im Schlaf stirbt. Aber hier geht es um Gewalt.« »Ich verstehe«, sagte Lord John Quetzal. »In Ordnung. Also, Ihr werdet mein Rauchfaßträger sein. Die Zutaten liegen auf dem Tisch. Ich bitte Euch nur, das Räuchergefäß vorzubereiten, da Ihr es ja auch bedienen sollt.« »Sehr wohl«, sagte der junge Mechicaner, in dessen Stimme ein leises Unbehagen mitschwang. Auf dem Tisch nahe der Tür lagen die Zutaten und Gerätschaften, die Master Sean ausgebreitet hatte. Sie bestanden aus einem Messingtopf mit einem perforierten Deckel; wenn man die Teile zusammensetzte, dann schwang der Topf an drei Ketten von drei Fuß Länge herab. Lord John Quetzal nahm einige Werkzeuge aus seinem eigenen Reisesack. Unter der strengen Beobachtung des scharfen Auges und Ohrs von Master Sean begann der junge Hexer, die Zutaten für das Räuchergefäß zuzubereiten. Nachdem er den Messingtopf auf einen Eisenständer gestellt hatte, entzündete er einige Holzkohleklumpen, die auf dem Boden des Topfs lagen. Dann entnahm er der Batterie von Fläschchen und Behältern, die auf dem Tisch aufgereiht waren, verschiedene Zutaten und tat sie in seine eigene goldene Mischschale, wobei er einen kleinen goldenen Löffel verwendete. Dabei nahm er seinen bleistiftgroßen Stab und sprach über jede Zutat einen Zauber, bevor er sie mit den anderen vermengte und zu einer Mischung verrührte. Da gab es Frankinzens und Süßbalsam, Samonyl und Griechenheu, Kurkuma und Artuskraut, Sandel- und Zedernholz, Asant und Kimyon sowie vier weitere, weniger bekannte, aber noch viel stärkere Zutaten — alle in einer festgelegten Reihenfolge hinzugefügt, alle mit einem besonderen Zauber imprägniert. Als er mit dem Mischen fertig war und den letzten Zauber gesprochen hatte, hob der Wanderhexer den Kopf und blickte den kleinen dicken Master an. Sean O Lochlainn nickte beifällig. »Gut gemacht, sehr gut gemacht.« Er lächelte. »Ich werde Euch nun nicht fragen, was Ihr da gemacht habt. Ich habe die Angewohnheit, davon auszugehen, daß ein Lernender nicht alles weiß, daß ihm Wissen fehlt. Da ich selbst auch ein Lernender bin, weiß ich auch, wieviel Wissen mir noch fehlt. Und außerdem wird Euch Lord Darcy bestätigen können, daß ich gerne doziere! Der Zauber, den wir
jetzt gleich durchführen werden, ist ein dynamischer Zauber, der durch einen dynamischen Zauber abgehalten werden muß. Das bedeutet, daß Ihr, weil der Körper geschützt bleiben muß, während ich arbeite, den Raum beräuchern müßt. Wenn Ihr also diese Mischung in die Räucherschale gegeben habt, dann entsteht ein Rauch, der aus vielen verschiedenen kleinen Partikeln besteht. Wegen des Zaubers, den Ihr über sie verhängt habt, werden diese Teilchen die Tendenz haben, sich auf bestimmte Art und Weise auf Wänden und Möbeln dieses Zimmer festzusetzen. Sie formen dann sogenannte Hologramm-Muster auf den Flächen, mit denen sie in Berührung kommen. Jedes einzelne Rauchteilchen wird je nach Art der psychischen Einflüsse, die sich auf der Fläche widerspiegeln, ein bestimmtes Muster bilden. Und indem wir alle diese Muster verstehen, können wir die Art psychischer Eindrücke rekonstruieren.« Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und blickte mit breitem irischen Lächeln zu dem jungen großen Mechicaner hoch. »Ah, mein Junge, Ihr seid der rechte Schüler, wie ihn jeder Lehrer sich wünscht. Ihr hört zu, wenn der alte Meister was sagt, und Ihr langweilt Euch auch nicht, wenn Ihr schon längst Bekanntes hört, weil Ihr etwas dazulernen wollt.« Wiederum verfärbte sich John Quetzals dunkle Haut fast unmerklich. »Ja, Master Sean«, sagte er vorsichtig, »ich habe Muster-Theorie studiert.« »Aye, Muster-Theorie habt Ihr studiert! Aber Ihr seid weise genug zuzugeben, daß Ihr nur die Theorie kennt, nicht die Praxis.« Er nickte befriedigt. »Aus Euch wird noch mal ein ausgezeichneter Gerichtshexer, mein Junge. Ein wirklich ausgezeichneter Gerichtshexer!« Dann verzog sich sein Lächeln ein wenig. »Das heißt, Ihr habt die richtige Einstellung, mein Junge. Jetzt wollen wir einmal sehen, ob Ihr auch die richtige Technik habt!« Er betrachtete erneut die Wände. »Wenn Ihr es richtig anfangt, Lord John Quetzal, dann wird es auf diesen Wänden Muster aus Rauchteilchen geben, jedes verschieden, je nach Zauber auf den Teilchen und dem Eindruck auf der Haftfläche. Die Hologramm-Muster werden durch die Kombination dieser Einzelmuster bestimmt. Niemand ohne das Talent wird irgend etwas anderes sehen können als leicht schmutzige Wände, wenn überhaupt. Ihr und ich aber werden die Muster erkennen, und ich werde Euch beizubringen versuchen, wie man sie deuten kann.« Er wandte sich wieder um. »Fertig, mein Junge?« »Ich bin fertig, Master.« »Nun gut, dann mal los!« Master Sean nahm zwei Stäbe aus seinem symbolverzierten Reisesack und ging damit zu der Leiche, die gleich neben dem Schreibtisch lag. »Ich bin fertig. Fangt an! Und paßt auf Eure Zauber auf!« Der junge Mechicaner blies vorsichtig auf die glühenden Holzkohleklumpen im Räuchergefäß, und als sie rötlich-orange aufflackerten, schüttete er die duftenden Zutaten aus der goldenen Mischschüssel in das Gefäß, wobei er einen besonderen Zauberspruch aufsagte. Sofort entwickelte sich eine Wolke aus dichtem weißen Rauch und stieg an die Decke. John Quetzal legte schnell den perforierten Deckel auf das Gefäß und verklammerte ihn am Verschluß. Dann nahm er die Ketten in die Hand und hob damit das Räuchergefäß hoch. Mit der Linken hielt er das Kettenende, mit der rechten Hand hielt er die Ketten ungefähr in der Mitte, so daß das
Gefäß frei schwingen konnte. Er schritt auf die nächste Wand zu und gab dem Gefäß einen leichten Schwung, so daß es einen weiten Bogen beschrieb und der Rauch auf die Wand zuschwebte. Schritt für Schritt ging er so die Wand entlang, während sich seine Lippen im Takt bewegten und der Rauch die Wände hochstieg und den Raum mit einem zähen, schweren Duft durchzog. Während sein Gehilfe räucherte, stand der Meisterhexer über der Leiche, in jeder Hand einen langen Kristallstab, unbeweglich und mit weit ausgebreiteten Armen, um den psychischen Schirm zu bilden, der die Leiche vor dem magischen Ritual schützen sollte, das Lord John Quetzal gerade durchführte. Obwohl er unbeweglich stand, sah seine Haltung nicht angestrengt aus. Eine Aura der Kraft umgab den irischen Hexer, der plötzlich irgendwie größer wirkte — und voller Härte. Das Gaslicht glitzerte und flackerte, als es sich in den Kristallstäben brach, und warf blitzende Regenbogen ins Zimmer. Der Rauch aus dem Räuchergefäß vermied den Ort, den Master Sean schützte. Zwar stieg er in dichten Ballen hoch und -verteilte sich im Raum, doch schien ihn eine unsichtbare Kraft von der Leiche und von Master Sean fernzuhalten. Dreimal Umschrift der junge Hexer den Raum, und mit Ausnahme des geschützten Bereichs wurde die Luft schimmernd blau vom Rauch. Dann kehrte er an den Tisch zurück, stellte den heißen Topf auf seinen Eisenständer, entfernte den perforierten Deckel und setzte statt dessen eine feste Kappe auf das Gefäß, die den Rauch abhielt und die Kohlen erstickte. Immer noch war die Haltung von Master Sean unverändert. Aus seinem eigenen Reisesack zog der Mechicaner einen silbernen Stab, der an einem Ende eine Verdickung aufwies. Er hielt ihn am anderen Ende in die Luft und zog abwechselnd Symbole in die Luft vor jeder Wand. Dabei bewegte sich der Rauchnebel noch stärker auf die Wände zu, und die Luft wurde wieder klarer. Nach einer kurzen Pause sagte Lord John Quetzal sanft: »Es ist beendet, Master.« Master Sean blickte sich im Zimmer um, senkte die Arme und schritt wieder auf seinen Reisesack zu, um die beiden Kristallstäbe wieder hineinzutun. Dann blickte er abermals im Raum umher. »Gute Arbeit, mein Junge«, sagte er, »wirklich saubere Arbeit! Nun! Könnt Ihr mir sagen, was hier passiert ist?« Lord John Quetzal schaute in die angegebene Richtung. Obwohl beide Hexer ihre Augen benutzen, nahmen sie doch nicht mit ihren Augen wahr, was sie sahen. Für einen Menschen ohne das Talent waren die psychischen Muster nicht zu erkennen. Für jemanden, der das Talent besaß, waren sie deutlich wahrzunehmen. Aber obwohl Lord John Quetzal die Muster wahrnehmen konnte, mangelte es ihm doch an Ausbildung, sie zu deuten. Master Sean spürte sein Zögern. »Nur Mut, Junge«, sagte er. »Verlaßt Euch auf Eure Ahnungen. Ratet mal! es ist die einzige Art und Weise, wie Ihr Eure Wahrnehmungsfähigkeit überprüfen könnt und so von der Vermutung zur Sicherheit schreiten könnt.« »Well«, sagte Lord John Quetzal unsicher, »es sieht so aus, als ob . . .« Er unterbrach sich selbst und sagte dann: »Aber das ist ja absurd! So kann das doch nicht gehen!« Master Sean stöhnte. »Junge, Junge, Ihr verderbt Euch noch die Intuition! Ihr versucht, logisch zu interpretieren, bevor Ihr Euer
Faktenmaterial subjektiv verinnerlicht habt. Ich frage Euch noch einmal: Was habt Ihr für einen Eindruck, was in diesem Raum geschehen ist?« Lord Quetzal sah noch einmal genauer hin und drehte sich auch um sich selbst, um den ganzen Raum zu betrachten. Dann sagte er vorsichtig: »Außer Sir James war niemand in diesem Raum . . .« Er zögerte. »Richtig, absolut richtig«, sagte Master Sean. »Weiter! Ihr habt noch nicht gesagt, was Euch daran paradox erscheint.« Lord John sagte leicht verwirrt: »Master, mir scheint es, daß Sir James Zwinge zweimal getötet wurde. Dazwischen lagen mehrere Minuten, vielleicht sogar eine halbe Stunde.« Master Sean lächelte und nickte. »Fast habt Ihr's, mein Junge! Ich glaube, die Autopsie wird das bestätigen. Aber Ihr habt nicht die volle Bedeutung von all dem hier«, er schwenkte den Arm, um das Zimmer anzudeuten, »untersucht. Schaut Euch einmal an, was die Muster anzeigen. Es gibt da zwei starke Muster, die zeitlich aufeinanderliegen. Während unser verstorbener Kollege in diesem Zimmer war, gab es zwei aufeinanderfolgende psychische Schocks, die, wie Ihr schon festgestllt habt, mit einem Zeitunterschied von etwa einer halben Stunde auftraten. Der erste geschah, als er getötet wurde, der zweite als er starb.« Sir Thomas Leseaux und die Herzoginwitwe von Cumberland traten durch die Schwingtüren des Royal Steward Hotels. Lady De Cumberland atmete tief durch und hielt inne. »Probleme, Euer Gnaden?« »Mein Gott, was für eine Menschenmenge!« sagte die Herzoginwitwe und zeigte auf die wimmelnden Besucher in der Empfangshalle. »Ich habe fast das Gefühl, als würden sie die ganze frische Luft von London aufbrauchen!« Im Ballsaal war es vergleichsweise entspannend und friedlich. Der Saal war zwar fast genauso groß wie die Halle, doch befanden sich hier, durch Bannzauber abgeschirmt, nur ein Zehntel so viele Leute. Und anstelle der bunten Kleidungsvielfalt in der Empfangshalle gab es hier nur wenige, prägnante Farbtöne. Das helle Blau der Hexer überwog, doch war auch viel Schwarz von priesterlichen Heilern zu sehen, bischöfliches Purpur und die dunkle Kleidung vereinzelter jüdischer Heiler, die sich kaum von der priesterlichen Tracht unterschied; ferner zeigten vereinzelte Hakime, Heiler aus den verschiedenen islamischen Ländern, grellere Farben und sorgten damit für Abwechslung und Bewegung. »Den Tag der Offenen Tür müssen wir einfach ertragen, Euer Gnaden«, meinte Sir Thomas. »Das Volk hat ein Recht darauf zu wissen, was in der Gilde geschieht. Und die Gilde hat die Pflicht, das Volk darüber aufzuklären.« Mary richtete ihre strahlenden Augen auf Sir Thomas. »Mein lieber Sir Thomas, es gibt viele Dinge, die der Mensch tun muß, die unbedingt notwendig sind. Das heißt aber nicht, daß sie deswegen allzu angenehm sein müssen. Aber jetzt: Wo ist diese zauberhafte Kreatur?« »Einen Augenblick, Euer Gnaden, ich sehe mal nach.« Sir Thomas, der zwei Zoll größer war als der Durchschnittsmann, blickte durch den Ballsaal. »Ah, da ist sie ja! Kommt, Euer Gnaden.« Die Herzoginwitwe folgte Sir Thomas durch den Saal. Die Demoiselle Tia wurde von einer Gruppe junger, gutaussehender Wanderhexer umringt. Mary De Cumberland lächelte in sich hinein. Es war eindeutig, daß die jungen Wanderhexer mit dem schönen Zauberlehrlingsmädchen nicht eben über Kunst diskutierten.
Ihr Lehrlingskleid war einfach hellblau und eigentlich nicht dazu geschneidert, verführerisch zu wirken, aber an Demoiselle Tia . . . Und dann bemerkte die Herzoginwitwe etwas, was ihr zuvor entgangen war: Die Demoiselle Tia trug ein Wappen, das sie als Zauberlehrling seiner Hoheit Charles, des Erzbischofs von York, auswies. Dieses Mal erschien ihr die Demoiselle Tia etwas größer zu sein als bei der ersten Begegnung. Dann sah sie den Grund dafür. Tia trug Schuhe, wie sie im südlichen Teil der polnischen Hegemonie in Mode gekommen waren, ohne sich bisher in den Modezentren sowohl Polens als auch des anglo-französischen Reichs durchgesetzt zu haben. Es waren gewöhnliche Slipper, nur daß die Zehen vorne zusammengestaucht wurden und die Hacken auf den Absätzen ruhten, die ungefähr zweieinhalb Zoll hoch waren und nach unten spitz zusammenliefen. Mein Gott, dachte Mary, wie kann eine Frau solche Schuhe tragen, ohne ihre Füße zu ruinieren? War es vielleicht eine psychologische Macke, fragte sie sich, weil Tia ein solch winziges Mädchen von nicht einmal fünf Fuß Größe war? Wollte sie nur einfach größer wirken? Nein, dachte Mary, dafür wirkt sie zu selbstsicher. Sie trug sie wohl nur, weil sie sich an diese Mode gewöhnt hatte. Es war eine Art Landestracht, nichts weiter. »Entschuldigt«, sagte Sir Thomas Leseaux, -während er sich einen Weg durch die Menge bahnte, die sich um Tia geschart hatte. Jeder der Wanderhexer warf ihm drei Blicke zu. Beim ersten Blick sahen sie, daß er nicht das Blau des Hexers trug. Ein Laie etwa? Der zweite Blick offenbarte ihnen die Streifen, die er an der linken Brust trug und die ihn als einen Doktor der Thau-maturgie und ein Mitglied der Königlichen Thaumaturgischen Gesellschaft auswiesen. Der dritte Blick schließlich zeigte ihnen, daß er die Gesichtszüge eines brillanten theoretischen Hexers trug, dessen Bild jedem Zauberlehrling bereits nach einer Woche vertraut war. Ehrfürchtig wichen sie von Tia zurück. Tia blickte auf, und Mary De Cumberland sah, wie ihre Augen aufleuchteten, als sie Sir Thomas Leseaux erblickte. Soso! dachte Mary, also erwidert Tia die Gefühle von Sir Thomas! Sie erinnerte sich daran, wie Lord Darcy gesagt hatte: »Sir Thomas liebt dieses Mädchen oder glaubt jedenfalls, daß er das tut.« Aber Lord Darcy war kein Sensitiver. Da Mary aber, wenn auch nur in geringem Umfang, eine Sensititve war, gab es für sie keine Zweifel, um welcherart Gefühle es sich da zwischen den beiden handelte. Bevor Sir Thomas den Mund aufmachen konnte, verbeugte sich Demoiselle Tia und sagte: »Guten Tag, Sir Thomas.« »Guten Tag, Tia. Es tut mir leid, Euren Hofstaat aufgelöst zu haben. Euer Gnaden«, fuhr er fort, »darf ich Euch die Demoiselle Tia vorstellen. Tia, dies ist Mary, Herzogin von Cumberland.« Tia machte einen Hofknicks. »Es ist mir eine Ehre, Euer Gnaden kennenlernen zu dürfen.« Dann blickte Sir Thomas auf seine Uhr und rief: »Um Gottes Willen! Die Königliche Thaumaturgische Gesellschaft trifft sich jetzt.« Er lächelte die beiden Damen an. »Ich hoffe, daß Ihr mir vergeben könnt. Wir sehen uns später wieder.« Das Lächeln, das um die Lippen von Mary De Cumberland spielte, galt nur zum Teil der Demoiselle Tia. Teilweise beglückwünschte sie sich damit auch selbst. Lord Darcy, so dachte sie bei sich, würde ihre Zeitplanung loben. Indem sie sich vorher genau
vergewissert hatte, wann die K.T.G. tagen würde, hatte sie sowohl eine Vorstellung durch Sir Thomas als auch sein sofortiges Verschwinden erreichen können. »Tia«, sagte sie, »habt Ihr unser englisches Bier schon probiert? Oder unsere französischen Weine?« Die Augen des Mädchens funkelten. »Die Weine schon, Euer Gnaden. Englisches Bier? Nein.« Sie zögerte. »Ich habe gehört, daß es dem deutschen Bier ebenbürtig sein soll.« Ihre Hoheit rümpfte die Nase. »Meine liebe Tia, das ist, als wollte man sagen, daß Burgunder dem Essig ebenbürtig sei.« Sie grinste. »Kommt, laßt uns dieses ernste Konklave verlassen, und ich werde Euch mit dem englischen Bier bekanntmachen.« Das Schwertzimmer des Royal Steward war, wie auch die Empfangshalle, vollgepfropft mit Leuten. Die Herzoginwitwe von Cumberland hob den geeisten Zinnkrug. »Tia, meine Liebe«, sagte sie, »es gibt viele Getränke auf der Welt. Es gibt Weine für Feinschmecker, es gibt Whiskys und Brandy für Männer, Liköre für Frauen, Milch und Limonade für Kinder — aber beim gemütlichen, unterhaltsamen Trinken gibt es nichts, das es mit ehrlichem englischen Bier aufnehmen könnte.« Tia hob ihren Krug und stieß mit Mary an. »Euer Gnaden«, sagte sie, »mit einer solchen Vorstellung soll das englische Bier bei mir alle Chancen haben.« Sie trank und leerte den halben Krug. Dann sah sie Mary mit funkelnden Augen an. »Es ist wirklich gut, Euer Gnaden!« »Besser als unsere französischen Weine?« fragte Mary und setzte ihren eigenen halbleeren Krug ab. Tia lachte. »Im Augenblick schon, Euer Gnaden. Ich war sehr durstig.« Mary lächelte zurück. »Ganz recht, meine Liebe. Wein ist für den Gaumen, Bier ist für den Durst.« Tia trank erneut aus ihrem Krug. »Wißt Ihr, Euer Gnaden, dort wo ich herkomme, würde es als äußerst vermessen gelten, wenn ein Mädchen meiner Herkunft sich in der Gegenwart einer Herzogin auch nur setzte, geschweige denn neben ihr zu sitzen und mit ihr Bier zu trinken.« »Unsinn!« sagte Mary De Cumberland. »Ich bin auch nicht vom Hochadel, und somit stehe ich nicht über Euch.« Tia schüttelte leise lachend den Kopf. »Es würde keinen Unterschied machen, Euer Gnaden. Jeder mit einem Titel gilt als unendlich über mir stehend, jedenfalls in der Provinz Banat, die das einzige ist, was ich von Polen kenne. Wenn ich also den Titel >Herzogin< höre, zucke ich immer unwillkürlich zusammen.« »Das habe ich bemerkt«, sagte Mary, »und ich möchte Euch den Hinweis geben, daß jeder, der einen höheren Grad der Hexerei erlangen möchte, mit Symbolen besser umzugehen verstehen muß.« »Ich werde es versuchen«, versprach das Mädchen. »Ich bin sicher, daß es Euch auch gelingen wird«, sagte Mary. Dann wechselte sie abrupt das Thema. »Sagt mir doch, wo habt Ihr denn Anglo-Französisch gelernt? Ihr sprecht es ja ausgezeichnet.« »Mein Akzent ist fürchterlich!« wandte Tia ein. »Aber gar nicht! Wenn Ihr einmal hören wollt, was man einer armen Sprache alles antun kann, dann braucht Ihr nur auf manche unserer einheimischen Londoner zu achten. Wer immer es Euch beigebracht hat, war sehr erfolgreich dabei.« »Mein Onkel Neapeler, der Bruder meines Vater, hat es mir beigebracht«, sagte Tia. »Er ist Händler und hat einen Teil seiner Jugend im anglo-französischen Empire verbracht. Und Sir Thomas hat mir auch schon viel beigebracht, indem er mich beim Sprechen
korrigiert hat und mir die angemessenen Verhaltensweisen, so wie sie hier üblich sind, erklärte.« Die Herzogin nickte und lächelte Tia an. »Da wir gerade bei Sir Thomas sind — ich hoffe, daß Ihr Euch nicht vor seinem Titel fürchtet.« In Tias Augen kehrte der Glanz zurück. »Mich fürchten vor Sir Thomas? Aber nein, Euer Gnaden! Er war so gut zu mir. Viel mehr, als ich es verdient habe, fürchte ich. Aber eigentlich waren alle so gut zu mir, seit ich hier angekommen bin. Jeder. Nirgends findet man eine solche Freundlichkeit, ja Güte, wie im Reich Seiner Majestät King Johns.« »Nicht einmal in Italien?« fragte die Herzoginwitwe beiläufig. Tias Miene verfinsterte sich. »In Italien wollte man mich aufhängen.« »Aufhängen? Aber warum denn, um alles in der Welt?« Nach einem kurzen Schweigen sagte das Mädchen: »Es ist wohl kaum ein Geheimnis, daß ich der Schwarzen Magie angeklagt worden bin.« Die Herzogin nickte ernst und sagte: »Ja, das ist mir bekannt. Fahrt fort!« »Euer Gnaden, ich konnte noch nie dabeistehen und zusehen, wie Menschen leiden. Es liegt vielleicht daran, daß ich meine Eltern sterben sah, als ich noch sehr jung war, sie starben wenige Monate nacheinander. Ich wollte so gern, daß sie weiterleben, und es gab nichts, was ich hätte unternehmen können. Ich war völlig hilflos ihnen gegenüber. Euer Gnaden, alle Kinder spüren einmal dieses Gefühl entsetzlicher Hilflosigkeit, aber das eine Mal war es etwas sehr Besonders.« Eine dunkle Schwermut lag in ihren Augen. Mary De Cumberland sagte nichts, doch war Ihr Mitgefühl leicht zu bemerken. »Onkel Neapeler hat mich großgezogen, ein gütiger und wunderbarer Mann. Er besitzt auch das Heilertalent, wißt Ihr, aber er hat keine Ausbildung. Er hatte keine Gelegenheit, es zu trainieren. Vielleicht hätte er niemals gemerkt, daß er es überhaupt hat, wenn er nicht im Angevin-Empire gelebt hätte, wo man solche Dinge aufspürt. Er stellte fest, daß ich es auch habe, und brachte mir alles bei, was er wußte, was wenig genug war. In den Slavischen Staaten wird das Recht eines Menschen, ein Heiler werden zu dürfen, nach seinen politischen Beziehungen und seinem Zahlungsvermögen bemessen. Und das Recht, einen ausgebildeten Heiler in Anspruch zu nehmen, wird nach den gleichen Gesichtspunkten vergeben. Onkel Neapeler ist, nein war, ein Händler, ein harter Geschäftsmann. Aber er war nie reich, außer vielleicht im Vergleich mit den Dorfbewohnern, und er war politisch suspekt, weil er so lange im Herrschaftsgebiet des anglo-französichen Reichs gelebt hat. Er gebrauchte sein Talent, so unausgebildet es auch war, um den Dorfbewohnern und Bauern zu helfen, wenn sie krank waren. Sie wußten alle, daß er ihnen immer helfen würde, egal, wer sie auch seien, und deshalb liebten sie ihn. In dieser Tradition hat er mich erzogen, Euer Gnaden.« Sie hörte auf zu sprechen, preßte die Lippen kurz zusammen, nahm dann einen Schluck Bier und sprach weiter. »Dann geschah etwas. Die Beamten des Grafen . . .« Wieder hielt sie inne. »Darüber möchte ich nicht reden«, erklärte sie schließlich. »Ich, ich konnte fliehen. Nach Italien. Und da gab es auch kranke Leute, Leute, die Hilfe brauchten. Ich half ihnen, und sie beherbergten mich, gaben mir zu essen und zu trinken. Ich hatte kein Geld, um meinen Unterhalt bestreiten zu können. Ich
hatte nichts mehr, nachdem . . . aber lassen wir das. Die Armen halfen mir für die Hilfe, die ich ihnen zukommen ließ. Und den Kindern. Aber die nichts davon verstanden, die nannten es Schwarze Magie. . Zuerst in Belluno. Dann in Milano. Dann in Torino. Jedesmal verbreitete sich das Gerücht, ich würde Schwarze Magie praktizieren. Ich hatte geglaubt, daß ich irgendeine Stelle würde finden können, vielleicht als Zofenlehrling, da es ein ehrbarer Beruf ist. Und jedesmal mußte ich weiterziehen. Schließlich mußte ich auch aus Italien fliehen. Ich überquerte die Grenzen des Reichs und gelangte nach Grenoble. Ich dachte, daß ich nun in Sicherheit wäre. Aber der Großherzog von Piemonte hatte Nachricht vorangeschickt, und so wurde ich in Grenoble von den Wachmännern festgenommen. Ich hatte Angst. Ich hatte kein Reichsgesetz gebrochen, aber die Piemonteser verlangten meine Auslieferung. Ich wurde My Lord, dem Marquis von Grenoble vorgeführt, der mich anhörte und meinen Fall dem Gerichtshof Seiner Hoheit dem Herzog von Dauphine übergab. Ich dachte, daß sie mich sofort ausliefern würden, sobald sie von der piemonteser Anklage vernommen hätten. Warum sollten sie einen Niemand wie mich anhören?« »So läuft das nicht ab unter der Königlichen Gerichtsbarkeit«, sagte die Herzoginwitwe. »Ich weiß«, sagte Tia, »das habe ich dann auch erfahren. Ich wurde einer kirchlichen Sonderkommission übergeben, die mich überprüfen sollte.« Sie nahm einen Zug aus dem Bierkrug und sah Mary gerade ins Gesicht. »Sie haben mich freigesprochen«, sagte sie. »Ich hatte Magie ausgeübt, ohne eine Lizenz zu haben, das war wahr. Aber sie sagten, daß dies kein Auslieferungsgrund sei. Und die Sensitiven in der Kommission bestätigten, daß ich bei meinen Heilungen keine Schwarze Magie angewandt hatte. Sie warnten mich jedoch davor, im Reich Magie ohne Lizenz zu praktizieren. Father Dominique, der Vorsitzende der Kommission, sagte mir, daß ein Talent wie das meinige ausgebildet werden müßte. Er stellte mich Sir Thomas vor, der in einem Seminar für Meisterhexer in Grenoble eine Vorlesungsreihe abhielt. Sir Thomas brachte mich nach England und stellte mich Seiner Hoheit dem Erzbischof von York vor. Kennt Ihr den Erzbischof, Euer Gnaden? Er ist ein Heiliger, ein vollkommener Heiliger.« »Ich bin sicher, daß es ihm recht peinlich wäre, Euch so reden zu hören«, sagte die Herzoginwitwe lächelnd. »Aber unter uns gesagt, bin ich Eurer Meinung. Er ist ein erstaunlicher Sensitiver. Und offensichtlich«, sagte sie und wies auf das erzbischöfliche Wappen auf Tias Schulter, »hat Seine Hoheit zugestimmt. Sehr zugestimmt, möchte ich sagen.« Tia nickte. »Ja. Durch die Fürsprache Seiner Hoheit wurde ich als Lehrling in der Gilde zugelassen.« Mary de Cumberland spürte die Aura düsterer Vorahnungen, die um das Mädchen schwebte. »Well«, sagte sie voller Wärme, »nun, da Eure Zukunft gesichert ist, habt Ihr ja keinen Grund zur Furcht mehr.« »Nein«, sagte Tia mit einem kleinen Lächeln. »Nein. Kein Grund zur Furcht mehr.« Aber es war Leere in ihren Augen, und die dunkle Schwermut darin verschwand nicht. In diesem Augenblick erschien der Kellner und hüstelte höflich. »Verzeihung, Euer Gnaden.« Dann sah er Tia an. »Verzeihung, Demoiselle. Seid Ihr der Zauberlehrling Tia ... äh ... Einzig?« Er sprach das g eine Spur zu hart aus. Tia
lächelte ihn an. »Ja, das bin ich. Was gibt es?« »Nun, Demoiselle, an der Theke steht ein Mann, der Euch gerne sprechen möchte. Er sagt, daß Ihr ihn kennen würdet.« »Tatsächlich?« Tia drehte sich nicht um, um hinzuschauen. Sie hob eine Augenbraue. »Welcher?« Der Kellner drehte sich ebenfalls nicht um. Er sprach mit leiser Stimme. »Der Mann an der Bar, Demoiselle, auf dem dritten Hocker von rechts; der Händler in der malvenfarbenen Jacke.« Beiläufig wandte Tia einen Blick auf die Bar. Die Herzoginwitwe tat das gleiche. Sie sah den dunklen Mann mit buschigen Augenbrauen, einem schweren, herabhängenden Schnäuzer und tiefliegenden Augen, die umherschwirrten wie die eines Spions. Er trug eine Jacke im seltsamen >Douglas-Stil<, was darauf hinwies, daß er wohl von der Isle of Man kommen mußte, denn nur dort trug man diese Art von Jacken. Sie hörte Tia nach Luft schnappen. »Ich . . . ich werde mit ihm reden. Euer Gnaden, wollt Ihr mich bitte entschuldigen?« »Aber natürlich, meine Liebe. Ober, würdet Ihr bitte unsere Krüge wieder füllen?« Mary beobachtete Tia, wie diese durch den Raum schritt. Sie konnte das Gesicht des Fremden sehen und ebenso Tias Rücken, doch war es in dem Gefühlsbrei, der sich durch den ganzen Raum zog, unmöglich, Tias Gefühle zu erspüren. Sie konnte die Worte des Fremden nicht hören, aber sie sah, daß sein Gesicht beim Sprechen unbewegt blieb und auch seine Lippen sich kaum bewegten. Die ganze Unterhaltung dauerte keine zwei Minuten. Dann verneigte sich der Fremde vor Tia und verließ das Schwertzimmer. Tia blieb etwa dreißig Sekunden stehen, drehte sich um und setzte sich wieder zu Mary an den Tisch. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich eine Art grimmiger Freude ab. »Entschuldigt mich, Euer Gnaden«, sagte sie. »Es war ein alter Freund. Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen.« Sie hob ihren Bierkrug und sagte plötzlich: »Verzeiht, Euer Gnaden, wie spät ist es denn?« Mary blickte auf ihre Armbanduhr und sagte »Zwölf nach sechs.« »O je!« sagte Tia. »Sir Thomas hat mir doch ausdrücklich eingeschärft, daß ich nach sechs Abendgarderobe tragen soll!« Mary lachte auf. »Natürlich hat er recht! Wir hätten uns beide schon früher umziehen müssen.« Tia beugte sich vor. »Euer Gnaden«, sagte sie vertraulich, »ich muß etwas gestehen. Ich bin die Mode des Reichs nicht gewöhnt. Sir Thomas war so gütig, mir einige Abendkleider zu kaufen, und es gibt da ein besonderes, das ich bisher noch niemals angezogen habe. Ich würde es gern heute abend tragen, aber . . .« sie sprach plötzlich noch leiser, »ich weiß nicht, wie man das Ding richtig trägt. Hätten euer Gnaden vielleicht die Güte, mit mir hochzukommen und mir dabei behilflich zu sein?« »Aber gewiß doch, meine Liebe«, sagte Mary lachend, »aber unter einer Bedingung.« »Das wäre, Euer Gnaden?« »Das Kleid, das ich gewöhnlicherweise trage, verlangt ein ganzes Bataillon Zofen, damit man es anbekommt. Glaubt Ihr, daß Ihr ein Bataillon ersetzen könntet?« Diese Behauptung war unwahr, denn die Herzogin war durchaus in der Lage, ohne Zofe auszukommen, aber Lord Darcy hatte sie darum gebeten, das Mädchen zu beobachten, und obwohl Mary mittlerweile an der Notwendigkeit dieser Anordnung zweifelte, wollte sie ihr doch gehorchen. »Ich kann es versuchen, Euer Gnaden«, sagte Tia lächelnd. »Mein Zimmer ist im zweiten Stock.« Tia öffnete die Tür und wollte
eintreten, doch hielt sie plötzlich inne und hob einen Umschlag auf, der direkt hinter der Türschwelle im Zimmer lag. »Entschuldigt mich, Euer Gnaden«, erklärte sie, »das Kleid, von dem ich sprach, hängt in dem Schrank dort drüben. Ich wüßte gern Euer Gnaden Meinung dazu.« Mary ging zum Schrank, öffnete ihn und betrachtete die Kleiderreihe, doch bevor sie etwas sagen konnte, hörte sie Tias Stimme hinter sich. Sie konnte zwar die Worte des kurzen Ausrufs nicht verstehen, fühlte aber den Ärger, der darin zu stecken schien. Sie drehte sich langsam um und fragte: »Was gibt es denn für Probleme?« »Probleme?« Die Augen des Mädchens verbreiteten Blitz und Feuer um sich. Sie knüllte den Umschlag zusammen und warf ihn mit einer wütenden Gebärde in den Papierkorb. »Keine Probleme, euer Gnaden, es ist nichts.« Ihr Lächeln war gekünstelt. Sie schritt an den Schrank und betrachtete das Kleid. Sie starrte darauf, ohne etwas zu sagen. Mary von Cumberland trat einen Schritt zurück. »Es ist ein hübsches Kleid, Tia«, sagte sie ruhig. »Ihr werdet wunderbar darin ausehen.« Mit einer blitzartigen Bewegung langte sie nach dem Papierkorb, ergriff das Papier, das Tia fortgeworfen hatte, und schob es in die Tasche. »Ja«, sagte sie, »ein außerordentlich hübsches Kleid.« Sie spürte das Zögern und die Verwirrung des Mädchen. Irgend etwas in der Nachricht hatte sie aufgeregt, hatte ihre Pläne umgeworfen, und nun dachte sie darüber nach, was sie als nächstes tun sollte. Tia wandte sich um. Auf ihrem Gesicht war ein schmerzvoller Ausdruck zu erkennen. »Euer Gnaden, ich . . . ich fühle mich nicht wohl. Ich möchte mich ein paar Minuten hinlegen.« Einen Augenblick lang dachte Mary daran, ihre Dienste als Heilerin anzubieten, aber dann erkannte sie, daß dies die Verwirrung nur noch größer machen würde. Tia hatte keine Kopfschmerzen. Sie wollte ganz einfach nur ihren Gast loswerden. Mary konnte nichts dagegen tun. »Aber natürlich, meine Liebe«, sagte sie. »Ich verstehe. Wir sehen uns später wieder«, fuhr sie fort und lächelte, weil sie soeben die Worte von Sir Thomas wiederholt hatte. »Guten Abend!« Sie schritt hinaus in die Halle und hörte, wie die Tür hinter ihr geschlossen wurde. Was nun? dachte sie. Es gab keine Möglichkeit, sich Tia aufzudrängen, ohne Verdacht zu erregen. Was jetzt? Sie schritt die Treppe hinunter. Auf halber Höhe zog sie das Papier aus der Tasche und betrachtete die Schrift. Die Nachricht war in einer Sprache abgefaßt, die Mary nicht verstand. Alles, was unmißverständlich zu erkennen war, war eine Zahl: 7.00. Lord Darcy lehnte sich in dem harten, geraden Stuhl zurück, der für das Mobiliar der Admiralität offenbar typisch war, und streckte seine Rückenmuskeln. »Ah-h-h-h-h«, atmete er hörbar aus. Er fühlte sich so, als wenn jede Zelle seines Körpers von Erschöpfung befallen wäre Dann lehnte er sich wieder vor, schloß den Aktenordner, der vor ihm auf dem Tisch lag, und sah Lord Ashley an, der ihm gegenübersaß. »Sagt uns nicht viel, was, My Lord?« Lord Ashley schüttelte den Kopf. »Nein, My Lord. Der geheimnisvolle Fitzjean bleibt so geheimnisvoll wie vorher.« Lord Darcy schob den Ordner fort. »Einverstanden.« Er klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Von Barbour haben wir keinen Hinweis bekommen, wer Fitzjean ist oder sein könnte. Der Admiralitätsstab in Cherbourg wußte nicht einmal etwas von Barbour. Wenn nicht irgend etwas Unvermutetes auftaucht,
werden wir von dieser Seite her an keine weiteren Informationen über Fitzjean herankommen.« »Seht Ihr an dieser Seite irgendwelche Hinweise?« »Well«, sagte Lord Darcy und zeigte auf den Aktenstapel, »schaut Euch doch das Material an! Scheinbar wissen nur drei Männer, wie man einen Konfusionsprojektor baut und bedient: Sir Lyon Grey, Sir Thomas Leseaux und der verstorbene Sir James Zwinge. Es ist natürlich möglich, daß man Ihnen diese Informationen entwendet hat, aber gehen wir zunächst einmal von der ersten Möglichkeit aus, die sich anbietet: Hätte es einer von ihnen sein können?« Das Gesicht des Commanders verzog sich zu einem Grübeln. »Schwer, sich vorzustellen, daß solche angesehenen und vertrauenswürdigen Männer das Reich verraten könnten.« »In der Tat«, meinte Lord Darcy. »Es ist schwer, sich vorzustellen, warum überhaupt irgendein hochstehender Beamter dergleichen tun sollte. Aber so etwas ist schon vorgekommen, und wir müssen die Möglichkeit mit in Betracht ziehen. Zum Beispiel Sir Thomas? Er hat die Theorie und das mathematische Modell für das Gerät erarbeitet. Oder Sir Lyon, oder Sir James? Sie haben bei der Entwicklung der thaumaturgischen Steuerungstechnik zusammengearbeitet, die das Gerät aus einer Idee zu einer Wirklichkeit werden ließ. Wenn Ihr Euch einen der drei aussuchen müßtet, wen würdet Ihr nehmen, My Lord?« »Well«, erklärte der Commander nach einer kurzen Denkpause, »zunächst einmal würde ich Sir Thomas ausschließen. Da die Grundentdeckung von ihm stammt, wäre es wesentlich leichter gewesen, das ganze sofort an Seine Slavische Majestät zu verkaufen, wenn er das Geld so dringend brauchte.« »Einverstanden«, sagte Lord Darcy tonlos. »Sir Lyon«, fuhr Commander Ashley fort, »hat genug eigenes Vermögen. Ich will zwar nicht behaupten, daß ihm eine Viertelmillion Silbersovereigns nichts bedeuten würden, aber es scheint wenig wahrscheinlich, daß es einen Mann seiner Stellung dazu verführen würde, Hochverrat zu begehen.« »Einverstanden«, wiederholte Lord Darcy. »Sir James?« fragte Lord Ashley und machte eine Pause. »Ich weiß nicht. Auf jeden Fall war er kein reicher Mann.« Er blickte weitere zwanzig Sekunden lang an die Zimmerdecke, senkte dann den Kopf und sah Lord Darcy an. »Ich weiß nicht, wie gut er ist, aber wir können ihn ja mal durchsprechen.« »Nur zu«, ermunterte ihn Lord Darcy. »Ich bin für jeden Lichtschimmer dankbar, den Ihr auf diesen Fall werfen könnt.« »Also gut; nehmen wir einmal an, daß Zwinge und Barbour unter einer Decke stecken. Um sich selbst zu schützen, würden sie natürlich den mysteriösen Fitzjean erfinden müssen. Niemand hat jemals Fitzjean und Barbour zusammen gesehen. Unsere Agenten haben gesehen, wie er Barbours Haus betrat und wie er es wieder verließ. Er kam aus dem Nichts und verschwand wieder im Nichts. Was wäre einfacher für Barbour, als diesen Fitzjean selbst zu spielen? Schließlich hatte er ja auch tatsächlich Kontakte zu polnischen Agenten.« »Barbour war nicht der einzige Kontakt, den Zwinge hatte«, warf Lord Darcy ein. »Warum hat er dann keinen anderen genommen und das Geheimnis ohne diese ganze Schauspielerei verkauft?« Der Commander legte die Hand mit der Fläche nach oben auf den Tisch. »Was wäre denn dann
passiert? Sobald die Königliche Polnische Marine davon gewußt und das Gerät besessen hätte, hätten wir davon erfahren. Wir hätten gewußt, daß einer dieser drei Männer das Geheimnis verkauft hat. Unser erster Verdacht wäre natürlich auf Zwinge gefallen, weil er der einzige von den dreien war, von dem es bekannt war, daß er Kontakt zu polnischen Agenten hatte. • Schließlich kann nicht jeder gewöhnliche Mensch mit solch einem Geheimnis sagen: >Gut, ich glaube, ich gehe mal nach draußen und verhökere das ganze an einen polnischen Agenten! So leicht findet man keine polnischen Agenten.« »Das ist richtig«, meinte Lord Darcy nachdenklich. »Es ist schwierig, etwas zu verkaufen, wenn man nicht weiß, wie man den Käufer erreichen soll. Fahrt bitte fort.« »Also gut. Um den Verdacht von sich abzulenken, setzte er dieses kleine Theaterstück in Szene. Jeder sucht nach dem mysteriösen Fitzjean, für den eine Falle ausgelegt wird. In der Zwischenzeit verhandelt Barbour mit den Polen und erzählt ihnen die gleiche Geschichte über Fitzjean.« »Wie sollte das Stück denn dann enden?« fragte Lord Darcy. »Das müssen wir einmal überlegen. Das Geheimnis wird den Polen ausgehändigt. Die Polen zahlen Barbour aus. Ich kann mir vorstellen, daß Zwinge einen Vorwand gefunden hat, zu der Zeit am Ort zu sein. Ich bezweifle, daß er Barbour die fünftausend Goldsovereigns anvertraut hätte. Die Falle für Fitzjean schlägt natürlich fehl, da es keinen Fitz-Jean gibt. Und nachdem wir;gemerkt haben, daß die polnische Marine den Konfusionssprojektor hat, lautet Zwinges Entschuldigung: >FitzJean muß Barbour plötzlich mißtraut haben und hat das Geheimnis woanders verkauft. Zwinge könnte vorgehabt haben, Barbour auszuzahlen, das Geld mit ihm zu teilen oder ihn zu töten, das können wir nicht feststellen.« »Interessant«, sagte Lord Darcy. »Solch ein. Plan wäre sicherlich nicht unmöglich gewesen, man hätte ihn entwerfen können. Aber wenn dem so gewesen sein sollte, dann ist er doch fehlgeschlagen. Warum glaubt Ihr, ist dies der Fall?« »Ich persönlich glaube«, sagte der Commander, »daß die Polen herausbekamen, daß Barbour für Zett arbeitet, und daß Zett Sir James Zwinge war. Sollte dies halbwegs der Wahrheit entsprechen, dann läßt meine Vermutung zwei Möglichkeiten offen. Erstens: Die Polen kamen zu der Überzeugung, daß die ganze Angelegenheit mit dem Konfusionsprojektor ein bloßer Versuch von Barbour und Sir James war, irgend jemanden aus irgendeinem Grund aufs Eis zu führen, und entschlossen sich dazu, beide zu eliminieren. Oder zweitens: Die Polen glaubten, daß Sir James tatsächlich ein Verräter war, der mit ihnen zu verhandeln bereit war. Sie haben sich gedacht, daß Sir James die Unterlagen irgendwo aufbewahren würde, wo sie für ihn leicht zugänglich waren. Während also die eine Gruppe in Cherbourg mit Barbour verhandelt, wird Zwinge von einer anderen in London überwacht. In Cherbourg einigt man sich auf das Geschäft, Barbour schickt eine Nachricht an Zwinge. Dieser weiß nicht, daß er beschattet wird, und besorgt die Pläne, um sie Barbour schicken zu können. Aber die Polen wissen jetzt, wo die Papiere sind. Sie geben Anweisung nach Cherbourg, daß Barbour beiseitegeschafft werden soll, und töten Zwinge hier, wobei sie die Unterlagen in die Hände bekommen und auf diese Weise fünftausend Goldsovereigns sparen.« »Ich muß
zugeben«, sagte Lord Darcy langsam, »daß mein Unwissen über die Gepflogenheiten internationaler Geheim-dienste ein Hindernis gewesen ist. Auf diese Theorie wäre ich niemals von alleine gekommen! Was war denn dann mit den technischen Fragen bei dem Mord an Sir James? Wie haben die Polen ihn denn umgebracht?« Commander Lord Ashley zuckte vielsagend mit der Schulter. »Da habt Ihr mich natürlich auf dem linken Fuß, My Lord. Von Schwarzer Magie verstehe ich eigentlich überhaupt nichts, und trotz allem, was Captain Smollett über mich sagte, habe ich auch keinerlei Erfahrungen in Mordsachen.« Lord Darcy lachte auf. »Na, das ist wenigstens ehrlich. Ich hoffe, daß Euch diese Unterschungen zeigen werden, wie wir armen Zivilisten solche Dinge angehen. Wie spät ist es eigentlich?« Er schaute auf seine Armbanduhr und rief: »Ach du lieber Gott! Es ist schon nach sechs! Ich dachte, die Admiralität würde um sechs schließen?« Der Commander grinste. »Ich möchte wetten, daß Captain Smollett Anweisungen gegeben hat, uns nicht zu stören.« »Natürlich«, bestätigte Lord Darcy. »Also gut. Packen wir die Akten wieder weg und gehen ins Hotel zurück. Ich möchte Sir Lyon Grey ein paar Fragen stellen, wenn ich ihn irgendwo erwischen kann. Und außerdem möchte ich gerne mit dem Erzbischof von York sprechen. Wir müssen etwas über ein Mädchen namens Tia Einzig herausbekommen.« »Tia Einzig?« Lord Ashley schaute verwundert drein. Er hatte den Namen noch nie gehört. »Ich sage Euch, was ich Weniges über sie weiß, während wir ins Hotel zurückkehren. Stellt uns die Admiralität eine Kutsche?« »Ich fürchte, daß die Kutschen der Admiralität alle um sechs eingeschlossen werden«, erklärte der Commander. »Wir werden wohl eine Mietdroschke nehmen müssen, sofern wir eine finden.« »Wenn nicht, dann können wir auch gehen«, meinte Lord Darcy. »Wir müssen ja nicht gerade durch die halbe Stadt laufen.« Wenige Minuten später schritten die beiden Männer durch die dunklen Flure des Admiralitätsgebäudes. In der Eingangshalle wurden sie von einem Subalternoffizier hinausgelassen. »Schrecklich neblige Nacht, My Lords«, sagte er. »Wünschen eine gute Fahrt. Captain Smollett hat Anordnung gegeben, daß man eine Kutsche für Euch bereithält.« »Gott sei gedankt für kleine Gaben«, sagte Lord Darcy. So bestiegen sie die Kutsche. Die Hinfahrt dauerte diesmal länger als zuvor am Nachmittag. Die meisten der Besucher waren des Nebels wegen nach Hause gegangen. Die Empfangshalle lag fast völlig verlassen. Ein Mann im Gewand eines Meisterhexers stand vor Ausstellungsstücken. Lord Darcy und Lord Ashley gingen auf ihn zu, und Lord Darcy tippte ihm von hinten auf die Schulter. »Entschuldigung, Meisterhexer«, sagte er förmlich, »ich bin Lord Darcy, Sonderinspektor im Auftrag Seiner Majestät des Königs, und ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr mir mitteilen würdet, wo ich Sir Lyon Gandolphus Grey finden kann.« Der Meisterhexer drehte sich mit einem unterwürfigkriechenden Lächeln um. »Ah, Lord Darcy«, sagte er. »Es ist mir ein Vergnügen, Euer Lordschaft kennenzulernen. Ich bin Master Ewen MacAlister. Mein guter Freund Master Sean O Lochlainn hat mir viel von Euch erzählt.« Dann verdüsterte sich sein Gesicht unvermittelt. »Es tut mir außerordentlich leid, My Lord, Euch mitteilen zu müssen, daß Großmeister Sir Lyon
im Augenblick verhindert ist. Er wohnt einer Sitzung der Sonderexekutivkommission des Vorstands der Königlichen Thauma-turgischen Gesellschaft bei. Kann-ich Euer Lordschaft noch auf andere Weise zu Diensten sein?« Lord Darcy verkniff es sich, daß er bisher noch überhaupt nichts getan hatte, um Ihren Lordschaften von Diensten zu sein. »Ach, das ist aber schade! Aber macht nichts! Sagt mir, nimmt Seine Hoheit der Erzbischof von York auch an dieser Sitzung teil?« »Nein, Euer Lordschaft, Seine Hoheit ist nicht Mitglied der Exekutivkommission. Seine kirchlichen Bürden sind viel zu groß, als daß er auch noch dieses Amt wahrnehmen könnte. Ich habe Seine Hoheit übrigens vor wenigen Augenblicken gesehen. Er nimmt seinen Tee im Restaurant, im Schildzimmer, Euer Lordschaft.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Ja, das war erst vor wenigen Minuten, Euer Lordschaft. Seine Hoheit müßte noch dort sein. Kann ich Euer Lordschaften noch auf andere Weise zu Diensten sein?« Bevor einer von ihnen etwas erwidern konnte, fuhr er fort: »Kann ich Euch irgendwie behilflich sein, den üblen Verbrecher zu finden, der diesen infamen, heimtückischen Mord an« — plötzlich sah er ausgesprochen traurig aus — »unserem guten Freund Master Sir James begangen hat? Eine verdammungswürdige Sache, das! Wird Euer Lordschaft eine Verhaftung vornehmen?« »Wir werden unser Bestes versuchen, Master«, sagte Lord Darcy forsch und fröhlich. »Wir danken Euch für die Auskunft, Master Ewen, und nochmals vielen Dank!« Lord Ashley und er schritten auf das Restaurant zu und ließen Master Ewen mit leerem Gesichtsausdruck zurück. »Master Ewen MacAlister, eh?« sagte Lord Ashley. »Öliger kleiner Fiesling, nicht wahr?« »Ich hätte ihn schon durch Master Seans Beschreibung erkannt, er hätte sich gar nicht vorzustellen brauchen«, sagte Lord Darcy. »Gibt es irgendeine Möglichkeit«, sagte Lord Ashley nachdenklich, »daß Master Ewen in den Mord verwickelt ist?« Lord Darcy machte zwei weitere Schritte, bevor er antwortete. »Ich will ehrlich zu Euch sein«, sagte er dann. »Obwohl ich keinen Beweis habe, habe ich das Gefühl, daß Master Ewen MacAlister einer der Hauptdrahtzieher in dem Geheimnis ist, das den Tod von Sir James umgibt.« Lord Ashley sah erstaunt aus. »Ihr habt ja gar keine Anstalten gemacht, ihn weiter zu befragen.« »Ich habe die Erklärung gelesen, die er gestern vor Lord Bon-triomphe abgegeben hat. Er hat sich den ganzen Morgen auf seinem Zimmer aufgehalten, bis zehn oder fünfzehn Minuten nach neun. Er weiß die Zeit nicht genau. Danach war er unten im Empfangssaal. Master Sean bestätigt einen Teil seiner Erklärung. Das Interessante daran ist jedoch, daß sich Master Ewens Zimmer genau über dem Zimmer befindet, in dem Sir James ermordet wurde.« »Das gibt zu denken«, sagte Ashley, während sie durch die Tür des Schildzimmers schritten. Sie spähten durch das von Gaslampen hellerleuchtete Restaurant und erblickten einen älteren Mann im Bischofspurpur, der allein an einem Tisch saß und an seinem Tee nippte. Lord Darcy sagte: »Das ist, glaube ich, Seine Hoheit von York.« Sie schritten auf den Tisch zu. Der Erzbischof schien in Gedanken versunken zu sein. Auf dem Tisch lag ein Notizbuch, in das er Symbole eintrug. »Bitte, diese Störung zu verzeihen, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy höflich. »Ich würde Eure Meditationen
nicht von allein stören, aber ich komme im Auftrag des Königs.« Der alte Mann blickte lächelnd auf, und der Schein der Gaslampen ließ sein weißes Haar um die Schädelkappe wie einen Heiligenschein erstrahlen. Ohne sich zu erheben, reichte er Lord Darcy die Hand. »Ihr stört mich nicht, My Lord«, sagte er sanft. »Meine Zeit sei Eure Zeit. Ihr seid doch Lord Darcy von Rouen, glaube ich?« »Das bin ich, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy, »und dies ist Commander Lord Ashley vom Geheimdienst Seiner Majestät Reichsmarine.« »Sehr gut«, sagte der weise alte Sensitive. »Setzt Euch, My Lords! Danke! Ihr kommt vermutlich, um über die Probleme zu reden, die der Tod von Sir James Zwinge aufgeworfen hat.« »Das tun wir, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy und setzte sich zurecht. Seine Hoheit von York faltete die Hände auf dem Tisch. »Ich stehe zu Euren Diensten. Alles, was Licht in diese Angelegenheit bringen könnte . . .« »Euer Gnaden sind zu gütig«, sagte Lord Darcy. »Wie Ihr wißt, besitze ich nicht das Talent, und deshalb gibt es vielleicht Hinweise, die Ihr geben könntet, die ich nicht von allein bekommen kann.« »Sehr wahrscheinlich. Was denn zum Beispiel?« »Soweit ich unterrichtet bin, wäre es sehr schwierig für einen Hexer, ein Schwarzmagisches Ritual hier durchzuführen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Außerdem wurde jeder der Hexer vorher auf seine Rechtschaffenheit überprüft, und jeder von ihnen besitzt eine Lizenz seines Diözesenbischofs, die dies bestätigt.« »Und Eure Frage lautet wohl«, sagte der Erzbischof, »wie wir eine solche Person übersehen konnten?« »Genau.« »Nun gut, ich will versuchen, es zu erklären. Fangen wir mit der Lizenz, Magie ausüben zu dürfen, an. Diese Lizenz wird vergeben, wenn ein Hexer seine Lehrzeit beendet hat und nach den Statuten der Gilde qualifiziert ist, seine Kunst auszuüben. Alle drei Jahre wird er aufs neue geprüft, und wenn er die Prüfungen besteht, wird die Lizenz verlängert. Das wißt Ihr vielleicht?« Lord Darcy nickte. »Jawohl, Euer Gnaden.« »Nun gut«, sagte der Erzbischof, »aber wodurch würde ein Hexer sich disqualifizieren können? Was könnte die Kirche daran hindern, seine Lizenz zu erneuern? Nun, es gibt viele Möglichkeiten, aber die wichtigste wäre zweifellos das Praktizieren von Schwarzer Magie. Leider ist es aber für die allermeisten Sensitiven nicht möglich, festzustellen, ob jemand Schwarze Magie ausgeübt hat, solange es sich um kleinere Zauber handelt, wenn der angerichtete Schaden nicht allzu groß ist, wenn der Hexer noch nicht zu sehr von der Schwarzen Magie korrumpiert wurde. Könnt Ihr mir folgen?« »Ich glaube schon«, sagte Lord Darcy. »Dann werdet Ihr auch begreifen«, fuhr der Erzbischof fort und hob einen Finger, »wie es passieren kann, daß jemand einige Jahre Schwarze Magie praktizieren kann, bevor es seinen Geist derart verändert hat, daß das Prüfungskollegium es auch nachweisen kann. Ein Kapitalverbrechen wie beispielsweise Mord würde natürlich von der Sonderkommission sofort bemerkt werden. Der verdächtige Hexer müßte einige Tests durchlaufen, die er automatisch verfehlen müßte, wenn er seine Kunst dazu mißbraucht hätte, ein solch schändliches Verbrechen wie einen Mord zu begehen.« Er drehte die Handfläche nach oben. »Aber Ihr werdet begreifen, daß es unmöglich wäre, jeden Hexer hier einer solchen Untersuchung zu unterziehen. Die Gilde muß annehmen, daß ein
Hexer auf dem rechten Pfad ist, bis es genug Material gibt, das das Gegenteil beweist.« »Das verstehe ich völlig«, sagte Lord Darcy. »Aber ich weiß auch, daß Ihr einer der feinfühligsten Sensitiven der Welt seid und einer der mächtigsten Heiler der Christenheit.« Er sah dem Erzbischof direkt in die Augen. »Ich kannte Lord Seiger von Yorkshire.« Trauer spiegelte sich in den Augen Seiner Hoheit, als er sagte: »Ach ja, der arme Seiger! Eine gequälte Seele . . . Ich tat, was ich konnte für ihn, und doch wußte ich ... ja, ich wußte es ... daß er trotz allem nicht lange leben würde.« »Euer Gnaden erkannten ihn als psychopathischen Mörder«, sagte Lord Darcy. »Wenn wir einen solchen Mörder in unserer Mitte haben sollten, wäre er dann nicht ebenso leicht zu erkennen wie Lord Seiger?« Die kummervollen Augen des Erzbischofs wandten sich erst Lord Darcy und dann Lord Ashley zu. »My Lords«, sagte er bedächtig, »man kann das Gebiet der Magie nicht so leicht in >reines Weiß< und tödliches Schwarz« einteilen. Auch Menschenseelen kann man nicht so leicht beurteilen. Lord Seiger war ein Extremfall und konnte als solcher erkannt und isoliert werden, auch wenn seine Behandlung schwierig war. Aber man kann nicht einfach sagen: >Dieser Mann ist des Mordes fähig< und >dieser Mann hat getötet< und ihn deswegen schon aus der Gesellschaft ausschließen. Denn diese Züge sind ja nicht unbedingt böse. Die Fähigkeit zum Töten ist eine Eigenschaft, die für das Überleben des menschlichen «Tieres notwendig ist. Sie per Dekret abzuschaffen, käme einer Entmenschlichung gleich. Als Sensitiver nehme ich beispielsweise wahr, daß Ihr beide dazu fähig seid zu töten; außerdem sehe ich, daß Ihr beide auch schon Menschen getötet habt. Aber das sagt mir noch nicht, ob dieses Töten gerechtfertigt war oder nicht. Wir Sensitiven sind keine Engel, My Lords, wir maßen uns nicht Gottesgewalt an. Nur wenn es eine wahrhaftige und tiefverwurzelte böse Absicht gibt, wird diese so offensichtlich, daß man sie sofort aufspüren kann. Bei Euch spüre ich zum Beispiel keine solche Absicht.« Nach einer Schweigepause sagte Lord Darcy schließlich: »Ich verstehe, glaube ich. Aber ich gehe doch wohl nicht fehl in der Annahme, daß, wenn jeder Hexer hier einem Rechtschaffenheitstest unterzogen würde, jeder, der einen Mord mit den Mitteln Schwarzer Magie begangen hätte, durch solche Tests entlarvt werden könnte?« »Aber gewiß doch«, sagte der Erzbischof, »das ist völlig richtig. Ihr könnt versichert sein, daß diese Tests auch durchgeführt werden, wenn die weltlichen Behörden den Unhold nicht finden sollten. Aber bisher«, fuhr er fort und hob bestätigend den Zeigefinger, »bisher haben weder die Kirche noch die Gilde irgendwelche Anhaltspunkte dafür, daß Schwarze Magie im Spiel ist. Deshalb halten wir uns auch zurück.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Mit Verlaub, Euer Gnaden, eine weitere Frage. Was wißt Ihr über eine gewisse Demoiselle Tia Einzig?« »Demoiselle Tia?« Der heilige alte Mann lachte still in sich hinein. »Ah, My Lord, da habt Ihr aber jemanden, den Ihr sofort ausschließen könnt, wenn Euer Verdacht auf sie gefallen sein sollte. Sie wurde in den letzten paar Monaten zweimal von einem Prüfungsausschuß überprüft, der aus ausnahmslos kompetenten Mitgliedern bestand. Sie
hat niemals in ihrem Leben Schwarze Magie ausgeübt.« »Ich bin nicht Eurer Meinung, daß sie dies von jedem Verdacht entbinden müßte«, sagte Lord Darcy. »Man kann ja wohl in einen Mord verwickelt sein, ohne zuvor Schwarze Magie praktiziert zu haben. Oder irre ich da?« Der Erzbischof blickte nachdenklich drein. »Hm, ja, natürlich habt Ihr recht. Das wäre möglich, ja ... es wäre möglich, daß Demoiselle Tia ein Verbrechen begangen hätte, und solange es nicht das der Schwarzen Magie war, hätten wir es auch nicht feststellen können.« Er lächelte. »Ich versichere Euch, daß sie keiner Fliege etwas zuleide tun würde.« Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit von Mary De Cumberland abgelenkt, die auf den Tisch zukam, und ihr Bestes tat, um ihre Aufregung zu verbergen. »Euer Gnaden«, begann sie. Sie machte einen schnellen Hof knicks und blickte Lord Darcy an. »Ich . . .« Sie unterbrach sich und blickte Lord Ashley und den Erzbischof an. Dann fragte sie Lord Darcy: »Kann ich reden?« »Über den Auftrag?« fragte Lord Darcy. »Ja.« »Wir haben gerade über Tia gesprochen. Was gibt es Neues?« »Setzt Euch doch bitte, Euer Gnaden«, sagte der Erzbischof. »Ich möchte gern alles hören, was Ihr über Tia zu berichten habt.« Mit leiser Stimme berichtete Mary De Cumberland, was geschehen war. »Ich habe Euch überall gesucht«, sagte sie schließlich. »Ich bin ins Büro gegangen. Der Wachsergeant sagte, daß er Euch nicht gesehen habe. Ich bin rein zufällig hier hereingekommen.« Lord Darcy streckte die Hand aus. »Ich muß das Papier sehen!« schnappte er. Sie reichte es ihm. »Deshalb wollte ich dich auch so schnell finden«, sagte sie. »Alles, was ich lesen kann, sind die Zahlen.« »Es ist in Polnisch geschrieben«, sagte Lord Darcy. >»Im Hound and Hare um sieben Uhr<«, übersetzte er. »Keine Unterschrift.« Er sah auf seine Uhr. »Drei Minuten vor sieben! Wo zum Teufel ist denn dieses Hound and Hare?« »Das ist ein Pub auf der Upper Swandham Lane«, erklärte Lord Ashley. »Wir könnten es gerade noch schaffen.« Lord Darcy wendete sich Mary zu. »Du hast ausgezeichnete Arbeit geleistet, Mary. Ich habe jetzt keine Zeit, mich ausführlich zu bedanken. Ich muß dich in der Gesellschaft des Erzbischofs lassen. Euer Gnaden müssen uns entschuldigen. Kommt, Ashley. Wo ist denn das Hound and Hare nun genau?« Sie verließen eilig das Schildzimmer und schritten in die Empfangshalle. Lord Ashley zeigte nach rechts. »Der Gang dort drüben geht auf die Potsmoke Alley hinaus. Wenn wir dann rechts abbiegen, sind wir auf der Upper Swandham Lane. Etwa anderthalb Minuten zu gehen.« Sie eilten durch den Gang, an dessen Ende ein Wachmann stand. »Ich bin Lord Darcy«, fauchte der Inspektor. »Sagt Lord Bontriomphe, daß wir ins Hound and Hare gehen und so schnell wir möglich zurückkommen werden.« In der Potsmoke Alley umhüllte der Nebel die Männer. »Dort entlang«, sagte Ashley. Sie bogen rechts ab und tasteten sich zur Abbiegung in die Upper Swandham Lane vor. Dort gab es einzelne Gaslaternen, die im Nebel schwach schimmerten, doch war es dennoch unmöglich, weiter als ein paar Fuß zu blicken. Als er und Ashley aus der Potsmoke Alley herauskamen, hörte Lord Darcy ein fernes Klick! . . . Klick! Klick!, das sich durch den Nebel zur Rechten näherte. Es klang wie jemand mit eisenbeschlagenen Sohlen. Zur
Linken konnte er zwei Paar Lederstiefel hören, das eine Paar recht nahebei, das andere weiter die Straße hoch. Weiter oben auf der Upper Swandham Lane war ein Zweispänner zu hören, der sich klappernd entfernte. »Ich glaube, da vorne ist es«, sagte Lord Ashley. »Ja, genau, das ist es.« Das Wirtshausschild zeigte einen blauen Jagdhund, der einen blauen Hasen jagte. »Also gut, gehen wir hinein«, sagte Lord Darcy. »Laßt Eure Kapuze auf und Euren Umhang verschlossen. Niemand sollte Eure Marineuniform sehen. Dann können wir als ganz gewöhnliche Kaufleute durchgehen.« »In Ordnung«, sagte Ashley, »ich hoffe nur, daß wir das Mädchen auch erkennen. Kennt Ihr sie?« »Ich glaube schon, daß ich sie erkennen werde. Die Beschreibung Ihrer Hoheit war sehr ausführlich, und es kann nicht allzu viele Mädchen ihrer Größe in London geben.« Er öffnete die Tür. Zu Lord Darcys Linken erstreckte sich entlang der Wand eine Theke. Zu seiner Rechten befanden sich abgeteilte Enklaven. Am Ende des Raums standen einige Tische zwischen der Theke und den Parzellen. An einem der Tische saßen Männer beim Kartenspiel, während von dem Dartbrett an der Wand dumpfe Geräusche herüberklangen, als die vom Gastwirt, dessen Wurfkraft wesentlich ausgeprägter war als sein Zielvermögen, geworfenen Pfeile in der Wand steckenblieben. Darcy und Ashley besetzten schnell einen freien Platz an der Theke. Trotz der zahlreichen Gäste war das Pub nicht überfüllt. »Irgend jemand zu sehen, den wir kennen?« murmelte Lord Ashley. »Von hier aus nicht«, sagte Lord Darcy. »Sie könnte in einer der Parzellen sein. Aber vielleicht ist sie auch noch nicht gekommen.« »Ich glaube, das zweitere war richtig«, sagte Ashley. »Schaut doch einmal in den Spiegel hinter der Theke!« Im Spiegel war die Eingangstür gut zu erkennen, und Lord Darcy erkannte mühelos die winzige Figur und das schöne Gesicht von Tia Einzig. »Das ist sie«, sagte er. Tia blickte sich nicht um. Sie ging direkt auf das Ende des Raums zu, als wüßte sie genau, wo sie die Person treffen würde, mit der sie verabredet war. Sie verschwand in der letzten Parzelle, nahe dem Hinterausgang. »Ich überlege mir gerade, ob in der Enklave schon jemand sitzt oder ob sie auf den Betreffenden wartet«, sagte Lord Darcy. »Schlendern wir doch nach hinten und schauen nach!« schlug Lord Ashley vor. »Gut, aber nicht zu nahe darair vorbeigehen! Ich will nicht, daß sie unsere Gesichter sehen.« »Wir könnten dem Dartspiel zuschauen«, schlug Lord Ashley vor, »das wäre doch interessant.« »In Ordnung«, meinte Lord Darcy. Sie bewegten sich langsam ans Ende der Theke. In der Parzelle saß jemand, Tia Einzig direkt gegenüber. Offenbar war es ein Mann, aber seine Kapuze verdeckte sein Gesicht, das er nach unten gewendet hielt. Lord Darcy sagte: »Gehen wir an den Tisch dort drüben. Ich möchte versuchen, ihrer Unterhaltung zuzuhören. Aber bewegt Euch vorsichtig. Haltet Euer Gesicht möglichst unauffällig verdeckt.« Vom Tisch aus, der etwas vor der Enklave im Raum stand, konnten sie den vermummten Mann überhaupt nicht mehr wahrnehmen. Er kehrte ihnen den Rücken zu und sprach so leise, daß man seine Stimme zwar hören, aber nicht verstehen konnte. Tia aber saß ihnen gegenüber und, wie Mary De Cumberland Lord Darcy am Abend zuvor bereits mitgeteilt hatte, sie besaß eine Stimme, die selbst dann noch mächtig wirkte, wenn sie leise sprach. Einige Sekunden
lang vernahmen sie nur das leise Murmeln des Mannes, dann sagte Tia: »Wenn Ihr ihn nicht tot haben wolltet, warum habt Ihr ihn dann umgebracht?« Ihr Gesichtsausdruck war hart, eisig und mit einer Wutschicht unterlegt. Abermaliges Murmeln, dann wieder Tia: »Ihr habt herausbekommen, daß Zett der vielgefürchtete Kopf des Geheimdienstes der Reichsmarine, Master Sir James Zwinge war, und jetzt wollt Ihr mir weismachen, daß der Geheimdienst von König Casimir ihn nicht umbringen wollte!« Wütende Worte des Vermummten. »Ich rede so, wie es mir paßt«, sagte Tia. »Ihr solltet lieber etwas mehr Höflichkeit und Anstand bewahren!« Eine Weile lang sagte sie überhaupt nichts und lauschte dem Murmeln des Mannes mit einem Ausdruck kalter Wut in ihrem schönen Gesicht. Dann umgürtete sie ihre Lippen mit einem eisigen Lächeln. »Nein, das werde ich nicht«, sagte sie. »Ich werde ihn nicht fragen. Weder für Euch noch für Polen noch für König Casimirs ganze verdammte Armee!« Ein kurzer Einwurf des Vermummten. »Nein, verdammt noch einmal, auch für ihn nicht. Und wißt Ihr auch warum? Weil ich jetzt weiß, daß Ihr mich belogen habt! Weil ich weiß, daß er jetzt vor den Folterkammern des polnischen Geheimdienstes sicher ist!« Der Vermummte sagte wieder etwas. »Sein Todesurteil unterschreiben?« Sie lachte schrill, ohne Humor in der Stimme. »O nein! Ihr habt mich lange genug belästigt! Ihr habt versucht, mich dazu zu zwingen, ein Land zu verraten, das mich gut behandelt hat, und einen Mann, der mich liebt. Ich habe in Angst und Schrecken vor Euch gelebt, aber jetzt nicht mehr! O ja, ich werde ein Todesurteil unterschreiben, Eures nämlich! Ich werde die ganze Sache auffliegen lassen. Ich werde den Reichsbehörden alles erzählen, was ich weiß, und ich hoffe, daß sie Euch aufhängen werden. Ihr hinterhältiges, widerliches kleines . . .« Sie hielt inne und stutzte. »Was?« Lord Darcy, der Tia die ganze Zeit beobachtet hatte, sah, wie sich ihr kalter Gesichtsausdruck veränderte: war er zuerst steinig gewesen, so wurde er jetzt plötzlich hölzern. Schließlich wurde ihr Gesicht völlig leer und ausdrucklos. Der Commander packte plötzlich Darcys Handgelenk. »Aufgepaßt!« zischte er, »sie werden durch die Hintertür hinausgehen!« Lord Darcy lächelte in sich hinein. Lord Bontriomphe hatte erzählt, daß Ashley ab und an präkognitive Gedankenblitze hatte, und dies war ein Beispiel dafür. Bei einem untrainierten und unausgebildeten Talent geschah dies vor allem in Augenblicken höchster Angespanntheit. Wie Ashley vorausgesagt hatte, erhob sich Tia gleichzeitig mit dem Mann, der den Beobachtenden immer noch den Rücken zukehrte. Die beiden schritten durch die wenige Fuß entfernte Hintertür. Darcy und der Commander sprangen auf und eilten auf die Tür zu. Dann hielt Lord Darcy, die Hand auf dem Türknauf, an. »Worauf wartet Ihr?« fragte Ashley. »Ich möchte, daß sie genug Vorsprung bekommen, damit sie das Licht nicht bemerken, wenn ich die Tür öffne«, sagte Darcy. »Aber in diesem Nebel werden wir ihre Spur verlieren!« »Nicht mit ihren hochhackigen Schuhen. Die hört man zehn Yards weit.« Er öffnete die Tür einen Spalt breit. »Hört Ihr's? Sie gehen nach rechts. Welche Straße ist das?«
»Das müßte die Old Barnegat Road sein«, sagte Lord Ashley. »Also gut, gehen wir«, sagte Darcy, und die beiden schritten in den dichten Nebel hinaus. Das regelmäßige Klicken von Tias Absätzen war immer noch gut zu hören. »Holen wir ein wenig auf«, sagte Darcy, während sie durch die Dunkelheit schritten. »Wenn wir uns vorsichtig bewegen, werden sie unsere Schritte nicht hören, weil die des Mädchens sie übertönen.« Schweigend folgten sie den Schritten. Dann sagte Lord Ashley leise: »Ich habe ja nicht viel von der Unterhaltung im Pub verstanden, aber ich muß wahrscheinlich froh sein, daß ich überhaupt etwas mitbekommen habe.« »Wieso?« »Ich hatte erwartet, daß sie polnisch reden würden. Wir wissen, daß Tia Einzig polnisch spricht, und die Nachricht scheint darauf hinzuweisen, daß der Mann es auch tut.« »Im Gegenteil«, sagte Lord Darcy, »dafür waren zu viele Schreibfehler in dem kurzen Text. Er kann wohl etwas polnisch, aber wohl kaum genug, um es längere Zeit zu sprechen. Aber das sagt uns einiges über ihn.« »Was denn wohl, My Lord?« »Daß er ein aufgeblasener Angeber ist und daß er mehr theatralischen Geschmack hat, als ihm guttut. Er hätte mühelos eine Nachricht auf anglofranzösisch schreiben können. Warum hat er das nicht getan?« »Vermutlich, weil er wollte, daß nicht jeder die Nachricht verstehen könnte.« »Genau, und Ihr seid in die gleiche Falle gegangen wie er. Nur jemand, der eine Sprache nicht beherrscht, kommt auf den Gedanken, daß man sie als eine Art von Geheimschrift benutzen kann. Denkt Ihr an anglofranzösich als eine Möglichkeit, Eure Gedanken vor anderen zu verbergen?« »Kaum«, sagte Lord Darcy leise, »würde nur ein aufgeblasener Angeber versuchen, mit seinen außerordentlich dürftigen Sprachkenntnissen vor jemandem anzugeben, dessen Muttersprache es ist.« An der Ecke, die vor ihnen lag, bog das Klicken von Tias Absätzen wiederum nach rechts ab. »Wo sind wir jetzt?« fragte Lord Darcy. »Wenn ich meine Orientierung nicht verloren haben sollte, müßten wir soeben an Great Harlow House vorbeigekommen sein; das würde bedeuten, daß sie in die Thames Street eingebogen sind und sich in südlicher Richtung weiterbewegen.« Zum ersten Mal wünschte sich Lord Darcy, mehr über die Geographie von London zu wissen. »Habt Ihr irgendeine Vermutung, wo sie hingehen?« »Well«, sagte Ashley, »wenn wir geradeaus weitergehen, kämen wir an St. Martin's Church vorbei und würden schnurstracks auf den Westminster Palace zusteuern.« »Jetzt erzählt mir bloß nicht, daß sie den König aufsuchen wollen«, sagte Darcy. »Ich glaube, daß ich Euch das nicht abnehmen würde.« »Moment, sie biegen nach links ab. Das wäre in Richtung Somerset Bridge«, sagte Lord Ashley. »Sie überqueren den Fluß. Am besten bleiben wir jetzt ein Stück zurück, die Brücke ist beleuchtet.« »Ich glaube nicht«, sagte Lord Darcy, »wir werden es einfach riskieren.« »Wie lange wollen sie noch weitergehen?« murmelte Lord Ashley. »Machen sie etwa einen gemütlichen Abendspaziergang nach Croydon, oder was ist los?« Die Lampen auf der Brücke waren kein Hindernis, denn ihr Licht schien nicht weit, da der Nebel direkt über der Themse noch stärker war. Sie gingen in einem gleichmäßigen Schritt weiter. Plötzlich hörte das Klicken mitten auf der Brücke auf.
Die beiden Männer blieben instinktiv stehen. Dann hörten sie einen einzelnen Satz, gedämpft, aber klar zu verstehen: »Und jetzt aufs Geländer steigen.« »Um Gottes willen!« sagte Darjcy. »Los!« Die beiden Männer begannen zu laufen. Vorsicht war jetzt nicht angebracht. Plötzlich war der Vermummte durch den Nebelschleier zu erkennen. Er stand neben einer Gaslaterne. Tia Einzig war nicht zu sehen. Vom Fluß tönte ein gedämpftes Platschen herauf. Als er die Fußschritte vernahm, drehte sich der Vermummte um, wobei sein Gesicht immer noch vom Schatten der Kapuze verdeckt wurde. Einen Augenblick blieb er wie vom Blitz getroffen stehen und schien zu überlegen, ob er davonlaufen sollte oder nicht. Dann merkte er, daß seine Verfolger schon zu nahe waren. Er fuhr mit der Hand unter seinen Umhang und zog ein Kurzschwert hervor. Seine nadelgleiche Schneide glänzte im nebligen Licht. In der Reichsmarine ausgebildet, reagierte Commander Lord Ashley instinktiv. Sein eigenes Schwert glitt aus der Scheide und stand angriffsbereit, bevor der Vermummte noch eine Bewegung machen konnte. »Kümmert Euch um ihn!« rief Lord Darcy. »Ich hole das Mädchen!« Er lief bereits über die Brücke an die flußabwärts gewandte Seite und warf seinen Umhang ab, bevor er auf die Balustrade kletterte. Einen kurzen Augenblick blieb er dort stehen und sprang dann mit einem geraden Sprung in die undurchdringliche Schwärze unter ihm. Commander Lord Ashley sah nicht, wie Lord Darcy von der Brücke sprang. Er hatte die vermummte Gestalt nicht einen Augenblick aus den Augen gelassen. Er fühlte sich seiner selbst sicher. Die Art und Weise, wie der andere sein Schwert gezogen hatte, zeigte ihm daß er es mit einem Amateur zu tun hatte. Als sein Gegner plötzlich auf ihn zukam, spürte er auf einmal Furcht. Das Schwert des anderen schien zu flackern und bei der Bewegung zu verschwinden! Nur durch Geistesgegenwart und reines Glück gelang es ihm, dem Stoß auszuweichen und mit seiner eigenen Klinge zu parieren. Immer noch konnten seine Augen nicht die schmale tödliche Stahlklinge erblicken; es war, als weigerten sie sich, das Schwert des Gegners zu fixieren, es direkt anzusehen. In den nächsten Sekunden geriet er fast in Panik, als er den gegnerischen Stößen immer knapper entging und seine eigenen Stöße mit Leichtigkeit von einer Klinge pariert wurden, die er nicht sehen konnte. Wo immer er auch hinblickte, die Klinge war immer woanders, kam gerade und schnell auf ihn zu und verpaßte Stöße, die jeder für sich absolut tödlich gewesen wären, wenn es ihm nicht jedesmal gelungen wäre, sie mit seinem eigenen Schwert abzuwehren. Seine eigenen Stöße und Hiebe aber wurden stets flach abgeschmettert, während seine Augen sich weigerten, genauer hinzuschauen. Es war ihm klar, daß dies Hexerei war. Es war allzu offensichtlich, daß er es mit der verzauberten Klinge eines Killers zu tun hatte. Da aber trat des Commanders eigenes, ungeschultes Talent zum Vorschein. Es war ein Talent, das selbst in der Hexergilde nur selten zu finden war, die Fähigkeit nämlich, eine sehr kurze Zeit in die Zukunft blicken zu können, meistens nur wenige Sekunden lang, ganz selten aber sogar einige Minuten. Die Gilde konnte die meisten Leute mit diesem Talent ausbilden. Daraus wurden dann die Hexer, die das Wetter und Erdbeben vorhersagen konnte,
sowie alle, die Naturereignisse vorhersahen, die nicht von menschlichem Tun abhängig waren. Aber bislang war es nicht einmal den allerbesten thaumaturgischen Wissenschaftlern gelungen, die besonderen Fähigkeiten des Commanders zu schulen. Denn diese Fähigkeit war die seltenste von allen — nämlich die Taten von Menschen vorherzusehen. Und da die symmetrischen Gesetze der Thaumaturgie noch nicht gänzlich erforscht waren, konnte man dieses Talent noch nicht im gleichen Umfang bis zur genauen Zuverlässigkeit ausbilden, wie dies bei den anderen Talenten der Fall war. Der Commander hatte ab und an Vorahnungen, doch wußte er nie, wann diese Vorahnungen auftreten würden und wie lange er sie aufrechterhalten konnte. Aber wie jeder intelligente Mensch auch war der Commander dazu fähig, aufgrund dieser Vorahnungen zu handeln. Plötzlich erkannte er, daß er instinktiv gewußt hatte, wo die verzauberte Klinge sein würde. Auch wenn der Schwarzmagier, der versuchte, ihn umzubringen, ein geschultes Talent auf seiner Seite hatte, war er dennoch außerstande, es mit Commander Ashleys Vorahnungen aufzunehmen. Nachdem er das erkannt hatte, suchten Lord Ashleys Augen nicht länger die Klinge des Gegners. Statt dessen beobachtete er den Körper des anderen. Er bewegte sich von einer Stellung in die andere, aber Ashley hätte es auch mit geschlossenen Augen wahrnehmen können. Eine kurze Weile lang tat Ashley nichts anderes, als die Angriffe des Gegners abzuwehren. Aber er war nicht mehr auf dem Rückzug. Er gewann Raum und zwang den anderen Schritt um Schritt zurück. Nun standen sie wieder unmittelbar unter der Gaslaterne. Lord Ashley bemerkte, daß der Gegner an Selbstvertrauen verlor. Seine Hiebe und Stöße wurden unsicherer. Jetzt herrschte Panik und Furcht auf der anderen Seite. Mit kühler Überlegung legte sich Lord Ashley seinen Plan zurecht. Er wollte diesen Mann nicht töten; dieser Hexer und Spion sollte verhaftet, verurteilt und gehenkt werden wegen des Mordes an Sir James Zwinge, ob er ihn nun selbst begangen oder ihn nur angeordnet hatte. Lord Ashley hegte keinerlei Zweifel über die Schuldigkeit des Schwarzen Hexers, aber es wäre töricht gewesen, ihn zu töten und das Königliche Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen. Er wußte jetzt, daß es leicht sein würde, seinen Gegner lebendig zu bekommen. Es brauchte lediglich zwei schnelle Bewegungen: einen Stoß zwischen Ellenbogen und Handgelenk, um den anderen zu entwaffnen und dann einen schnellen Schlag auf die Schläfe mit der flachen Klinge, um ihn ohnmächtig zu schlagen. Lord Ashley machte zwei weitere Finten, um den Gegner in die richtige Stellung zu bekommen. Der Hexer wich zurück, als würde er einen Befehl ausführen, was er ja in gewisser Weise auch tat — den Befehl von Commander Ashleys blitzschneller Klinge. Die Gaslaterne befand sich nun hinter Lord Ashleys Rücken, und zum ersten Mal fiel das Licht voll auf das Gesicht unter der Kapuze. Lord Ashley lächelte grimmig, als er die Gesichtszüge wiedererkannte. Diesen Mann zu verhaften würde eine wahre Freude sein! Dann war es soweit, Ashley machte seinen Ausfall und stieß auf den jetzt ungeschützten Unterarm des Hexers zu. In diesem Augenblick spürte er, wie ihn sein Talent im Stich zu lassen begann. Er war zu selbstsicher geworden, und die geistige Anspannung, die
den Fluß genauer Vorahnungen am Fließen gehalten hatte, sank unter die kritische Marke. Er rutschte mit dem linken Fuß auf dem feuchten Pflaster der Brücke aus. Sein Versuch, das Gleichgewicht zu halten, schlug fehl, und er konnte den Tod förmlich spüren. Aber er hatte dem Gegner bereits eine solche Todesangst eingejagt, daß dieser die Gelegenheit, Ashley zu töten, gar nicht als solche wahrnahm. Er merkte statt dessen nur, daß das tödliche Marineschwert ihn nicht mehr bedrohte. Sein Umhang wirbelte umher, als er sich abwandte und fortlief. Der Nebel verschluckte ihn, als habe es ihn nie gegeben. Lord Ashley verhinderte mit knapper Mühe, daß er aufs Gesicht fiel, indem er sich mit dem ausgestreckten linken Arm abstützte. Dann war er wieder auf den Beinen, und ein stechender Schmerz fuhr ihm durch den rechten Fußknöchel. Er hörte, wie der feindliche Hexer fortlief, aber er wußte, daß er ihn niemals mit einem verstauchten Knöchel einholen könnte. Er stützte sich am Brückengeländer ab und ließ das Lachen endlich heraus, das nun schon lange in ihm gekeimt hatte, seit er dieses verkrampfte ängstliche Gesicht gesehen hatte. Im Grunde lachte er sich selbst aus. Wenn man sich nur vorstellte, daß er ein paar Sekunden lang tatsächlich Todesangst vor diesem miesen kleinen Wurm Master Ewen MacAlister gehabt hatte! Es dauerte etwa eine halbe Minute, bis das Lachen nachließ. Dann machte er einen tiefen Atemzug und zog die kalte neblige Luft ein, während er mit dem Handrücken den Schweiß von seiner Stirn wischte. Geschickt schob er sein Schwert wieder in die Scheide. Es war zu schade, daß ein glitschiges Straßenpflaster ihn daran gehindert hatte, Master Ewen zu fangen, aber jetzt wußte man wenigstens, wer der Schwarze Magier war, und Lord Darcy konnte — Lord Darcy! Die Aufregung verschwand aus seinem Hirn, und er humpelte über die Brücke an die andere, flußabgewandte Seite. Schwarz wie Pech war es dort unten. Er konnte nichts erkennen. »Darcy!« Die Stimme des Commanders hallte über das Wasser, aber der dichte Nebel, der über dem Fluß brütete, schien den Klang bald aufzusaugen. Keine Antwort. Er rief zwei weitere Male, ohne eine Antwort zu erhalten. Dann hörte er plötzlich Schritte, die sich von rechts nahten, und fuhr mit der Hand an den Schwertgriff. Kam MacAlister zurück? Das konnte doch nicht sein! Und doch . . . Dieser verdammte Nebel! Er fühlte sich, als stehe er in einer eigenen kleinen Welt, deren Grenzen aus einer Wattewand bestanden, die nur wenige Fuß entfernt begann, während draußen unsichtbare Wesen umhergeisterten, die nichts als ent-körperlichte Fußschritte waren. Dann sah er ein freundliches Licht, und aus der Watte trat eine Gestalt, die eine Druckgaslaterne trug. Lord Ashley kannte den großen schweren Mann nicht, aber seine Uniform wies ihn als einen Londoner Wachmann und somit als Freund aus. Der Wachmann verlangsamte seinen Schritt, blieb kurz stehen und legte die Hand an den Griff seines eigenen Kurzdegens. »Darf ich fragen, was hier vorgeht, Sir?« fragte er höflich, doch seine Stimme verriet Vorsicht. Lord Ashley nahm langsam die Hand von seinem Schwert, der Wachmann aber ließ seine am Schwertgriff. »Ich habe Geräusche auf der Brücke wahrgenommen, Sir«, sagte er hölzern. »Ein Geräusch von klirrenden Klingen, so klang es, Sir. Dann lief jemand von der Brücke
herunter und an mir vorbei. Und gerade eben . . .« Er hielt inne. »Wart Ihr das, der gerufen hat, Sir?« Es dämmerte Lord Ashley plötzlich, wie verboten er aussehen mußte. In seinem langen schwarzen Marineumhang und unter der hochgezogenen Kapuze war sein Gesicht genauso unsichtbar, wie es das von Master MacAlister gewesen war. Er zog die Kapuze zurück und schob den Umhang über die Schultern zurück, damit der Wachmann seine Uniform sehen konnte. »Ich bin Commander Lord Ashley«, sagte er. »Ja, Wachmann, es gab hier Ärger. Der Mann, den Ihr habt laufen hören, ist ein Verbrecher, der wegen Mordes gesucht wird.« »Mord, Euer Lordschaft?« fragte der Wachmann erstaunt. »Wer war es denn?« »Ich fürchte, er hat mir seinen Namen nicht mitgeteilt«, sagte Lord Ashley. Diese Behauptung war durchaus wahr, und Lord Ashley wollte Darcy von MacAlister erzählen, bevor irgend jemand anders davon erfahren durfte. »Es geht darum, daß er kurze Zeit zuvor ein junges Mädchen von der Brücke gestoßen hat. Mein Begleiter ist ihr nachgesprungen.« »Ihr nachgesprungen? Ziemlich unklug, bei solcher Nacht. Haben wir wahrscheinlich gleich zwei Leute verloren, Euer Lordschaft.« »Das ist möglich«, gab Lord Ashley zu. »Ich habe nach ihm gerufen, und er hat nicht geantwortet. Aber er ist ein sehr kräftiger Mann, und obwohl es höchst unwahrscheinlich ist, daß er das Mädchen gefunden hat, ist es doch sehr wahrscheinlich, daß er sich ans Ufer gerettet hat.« »Sehr wohl, Euer Lordschaft, dann suchen wir sofort nach den beiden.« Er zog seine Pfeife hervor und blies eine Reihe schriller hoher Töne in die suppige Luft — der >Hilfepfiff< der Königlichen Wachmänner. Ein oder zwei Sekunden später vernahmen sie von beiden Seiten des Flusses die Antwortpfiffe weiterer Wachmänner. Wenige Sekunden später wiederholte der Wachmann die Pfiffe, um den Herbeieilenden einen Orientierungspunkt zu geben. »Wird gleich Verstärkung kommen«, versicherte er fröhlich. »Bis dahin können wir sowieso nichts unternehmen.« Er zog ein Notizbuch aus der Tasche. »Also, wenn Ihr so gut sein würdet, Euren Namen zu wiederholen, Euer Lordschaft. Und die Namen der anderen.« Der Commander wiederholte seinen eigenen Namen und sagte dann: »Der Name des Mädchens lautet Tia Einzig.« Er buchstabierte den Namen und fuhr fort: »Sie ist eine wichtige Zeugin in einem Mordfall, deshalb wollte der Mörder sie aus dem Weg schaffen. Der Mann, der ihr nachgesprungen ist, ist Lord Darcy, der . . .« »Lord Darcy, sagt Ihr?« Der Wachmann hob plötzlich den Kopf. »Der berühmte Inspektor aus Rouen?« »Genau der«, sagte Lord Ashley. »Derselbe Lord Darcy«, beharrte der Wachmann, der scheinbar hundertprozentig sicher sein wollte, daß es sich um den richtigen Mann handelte, »der aus der Normandie gekommen ist, um Lord Bontriomphe zu helfen, den Mord im Royal Steward Hotel aufzuklären?« »Genau der«, sagte Lord Ashley mißmutig. »Und der ist einfach in den Fluß gesprungen?« »Ja, das ist er, wie ich es gesagt habe. Er ist in den Fluß gesprungen. Er wollte das Mädchen retten. Inzwischen hat er genug Zeit gehabt, um bis Nordland zu schwimmen. Wenn wir noch ein bißchen warten, kommt er bestimmt bald zurück.« Der Wachmann sah ihn pikiert an. »Kein Grund, ungeduldig zu werden, Euer Lordschaft. Wir werden so schnell wir möglich zur Tat schreiten.« Er gab noch
einen dritten und schließlich einen vierten Notpfiff. Dann hörte man Hufeklappern, und der entfernte Klang schwoll zu einem Donner an, aIs das Pferd auf die Brücke galoppierte. Sie sahen, wie sich ein Licht näherte, und der Wachmann gab Lichtsignale mit seiner Laterne. »Da kommt der Sergeant, Euer Lordschaft.« Der berittene Sergeant stand plötzlich vor ihnen und zog sanft die Zügel an, während der Wachmann salutierte. »Was gibt es, Wachmann Arthur?« »Dieser Gentleman hier ist Commander Lord Ashley von der Reichsmarine, Sergeant.« Er blickte auf seine Aufzeichnungen und gab einen kurzen, präzisen Bericht über die Vorfälle. Inzwischen konnte man das Geräusch von Stiefeln und von Hufen hören, die sich von beiden Seiten der Brücke näherten. »Gut, My Lord Commander, wir werden uns darum kümmern«, sagte der Sergeant. »Wahrscheinlich ist er zum rechten Ufer geschwommen, weil es näher ist, aber wir suchen beide Seiten ab. Arthur, Ihr geht zur Station der Flußpatrouille in der Thames Street und sagt ihnen, daß sie ihre Boote aussetzen und den anderen Stationen flußabwärts eine Nachricht zukommen lassen sollen. Wir müssen von hier bis Chelsea alles abdecken.« »Sofort, Sergeant.« Wachmann Arthur verschwand im Nebel. »Darf ich um einen Gefallen bitten, Sergeant?« fragte Lord Ashley. »Was soll es sein, Euer Lordschaft?« »Schickt einen Reiter ins Royal Steward Hotel, wenn das möglich ist. Laßt ihn dort dem Wachsergeanten alles berichten. Außerdem wartet dort eine Kutsche der Admiralität auf mich. Laßt Euren Mann dem Subalternoffizier ausrichten, daß Commander Lord Ashley die Kutsche in die Thames Street an die Somerset Bridge gebracht haben will. Ich werde davon ausgehen, daß Lord Darcy versucht, das rechte Ufer zu erreichen, und werde Euren Leuten bei der Suche halfen.« »Sehr wohl, My Lord Commander. Ich schicke sofort einen Boten los.« Mary De Cumberland schritt durch die fast gänzlich leere Empfangshalle des Royal Steward und versuchte mühevoll, ihre nervöse Ungeduld zu zügeln. Sie hatte das Gefühl, irgend etwas tun zu müssen, aber sie wußte nicht was. Sie hätte gern mit jemandem geredet, aber es war niemand da. Sir Lyon und Sir Thomas waren immer noch in der Sitzung mit den höchstrangigen Hexern des Reichs. Master Sean war im Leichenschauhaus und assistierte bei der Autopsie von Sir James Zwinge. Lord Bontriomphe, so hatte der Wachsergeant vom Dienst ihr mitgeteilt, durchstöberte gerade die Stadt nach einem Mann namens Paul Nichols. Und Lord Darcy befand sich in einer Kneipe und beschattete Tia Einzig. Womit die Herzogin allein und untätig war. Sie ging in das vorläufige Hauptquartier. »Gibt es etwas Neues, Sergeant Peter?« »Nicht das geringste, Euer Gnaden«, sagte der Wachsergeant vom Dienst und erhob sich. »Lord Bontriomphe ist noch nicht zurück und Lord Darcy auch nicht.« »Ihr scheint Euch genauso zu langweilen wie ich, Sergeant. Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich mich setze?« »Es wäre mir eine Ehre, Euer Gnaden. Bitte, nehmt diesen Stuhl. Nicht allzu bequem, fürchte ich allerdings. Sie haben ihrem Nachtdirektor nicht gerade das allerbeste Mobiliar zur Verfügung gestellt.« Sie wurden von einem anderen Wachsergeanten unterbrochen, der plötzlich durch die Tür kam. Er grüßte die Herzogin mit einem knappen Kopfnicken und sagte: »Abend, Madam«, und
wandte sich an Sergeant Peter. »Seid Ihr hier zuständig, Sergeant?« »Bis Lord Bontriomphe oder Lord Darcy zurückkehren, ja. Ich bin Sergeant Peter O Sechnaill.« »Sergeant Micheal Coeur-Terre, Flußbezirk. Möglicherweise wird Lord Darcy nicht zurückkehren. Ein Mädchen namens Tia Einzig wurde von der Somerset Bridge gestoßen, und Lord Darcy ist ihr nachgesprungen. Man sucht sie jetzt bis Chelsea mit Patrouillenbooten, aber ich glaube selbst nicht daran, daß sie noch eine Chance haben. Ein Commander namens Lord Ashley bat uns, hier Bericht zu erstatten. Er sagte, daß Lord Bontriomphe die Information brauchen kann.« Sergeant Peter nickte. »Jawohl, ich werde Seiner Lordschaft Meldung machen, sobald er kommt. Noch etwas?« »Ja. Wißt Ihr, wo hier eine Admiralitätskutsche wartet? Ein Subalternoffizier namens Hosquins ist für sie zuständig. Commander Lord Ashley wünscht, daß die Kutsche sofort in die Thames Street zur Somerset Bridge gebracht wird. Er will Transport für Lord Darcy, wenn sie ihn finden, obwohl ich glaube, daß es mit Seiner Lordschaft wohl zu Ende sein dürfte.« Mary De Cumberland war bereits aufgestanden. Nun sagte sie mit äußerst ruhiger Stimme: »Er ist nicht tot. Ich würde es wissen, wenn er tot wäre.« »Verzeihung, Madam?« sagte Sergeant Michael. »Nichts, Sergeant«, sagte sie ruhig. »In der Thames Street an der Somerset Bridge, habt Ihr gesagt? Ich weiß, wo sich die Admiralitätskutsche befindet, ich werde Subalternoffizier Hosquins verständigen.« Sergeant Michael bemerkte zum ersten Mal das Wappen der Cumberlands auf Marys Kleid. Gleichzeitig sagte Sergeant Peter: »Ihre Hoheit arbeitet mit an dem Fall.« »Das ist ... das ist sehr freundlich von Euch, Euer Gnaden«, sagte Sergeant Michael. »Aber nicht doch!« sagte Mary und verließ eilig das Zimmer. Sie lief durch die Empfangshalle vor die Eingangstür. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sich die Admiralitätskutsche befand, aber dies war nicht die Zeit, sich über Kleinigkeiten auszuregen. Es dauerte nicht lange, bis sie sie gefunden hatte. Die Kutsche stand in Richtung St. Sithin's Street, einen halben Block entfernt. Man konnte das Admiralitätswappen mühelos erkennen. Der Kutscher und der Lakai saßen oben auf dem Kutschbock, in Decken eingehüllt, und schmauchten ruhig an ihren Pfeifen. »Subalternoffizier Hosquins?« fragte Mary und verlieh ihrer Stimme einen gewichtigen Klang. »Ich bin die Herzogin von Cumberland. Lord Ashley hat befohlen, daß die Kutsche sofort in der Thames Street an der Somerset Bridge vorfahren soll. Ich werde mitkommen.« Bevor der Lakai auch nur absteigen konnte, war Mary bereits in die Kutsche eingestiegen. Subalternoffizier Hosquins öffnete die Dachluke und blickte sie an. »Aber Euer Gnaden«, wollte er anfangen. »Lord Ashley«, sagte die Herzogin kühl, »hat sofort befohlen. Es handelt sich um einen Notfall. Verdammt noch einmal, fahrt jetzt endlich los, Mann!« Subalternoffizier Hosquins zuckte zusammen. »Jawohl, Euer Gnaden«, sagte er. Er schloß die Dachluke, und die Kutsche setzte sich in Bewegung. Teil-4
Als Lord Darcy in das eisige Wasser der Themse tauchte, verspürte er einen Kälteschub, der ihn einen Moment lang fast zu lahmen drohte, bis er sich gefangen hatte und wieder hochtauchte, wobei er sich die Jacke vom Leib riß. Sein Kopf stieß aus dem Wasser heraus, er nahm einen tiefen Atemzug und tauchte wieder unter, um seine Stiefel auszuziehen. Und die ganze Zeit sagte Lord Darcy sich, daß er ein Narr sei, ein dämlicher, trotteliger Narr. Das Mädchen hatte sich ohne Gegenwehr von der Brücke stoßen lassen und war ohne den geringsten Schrei hinuntergefallen. Was gab es für eine Chance, sie hier in einer Welt des dunklen und feuchtes Todes wiederzufinden, mehr als hundert Yards vom nächsten Ufer entfernt? Ein schweres Gefühl an seiner Hüfte erinnerte ihn an etwas anderes. Er hätte seine Pistole ziehen können, aber niemals hätte er auf einen Mann geschossen, der nur mit einem Schwert bewaffnet war, und die Zeit, die dafür notwendig gewesen wäre, dem Mann die Waffe zu entreißen und ihn Ashley zu übergeben, hätten den Verlust wertvoller Sekunden bedeutet. Seine Chancen, das Mädchen jetzt noch zu finden, waren klein; im anderen Fall wären sie unendlich viel kleiner gewesen. Wenigstens hätte er die Pistole ziehen und auf die Brücke werfen können, wie seinen Umhang. Ihr zusätzliches Gewicht war jetzt nur ein Hindernis. Bedauernd zog er die Waffe aus ihrem Holster und übergab sie für immer den schlammigen Tiefen des mächtigen Flusses. Er tauchte wieder auf und blickte sich um. Es war heller, als er erwartet hatte. Die Lichter der Brücke waren schwach zu erkennen. »Tia!« rief er. »Tia Einzig! Wo seid Ihr? Könnt Ihr mich hören?« Sie hätte flußabwärts treiben müssen, unter der Somerset Bridge hindurch, aber wie tief wohl unter der Wasseroberfläche? Und dann hörte er ein Geräusch. Es gab einen sanften, prustenden, weinerlichen Ton und ein schwaches Platschen. »Tia Einzig!« rief er wieder. »Sagt irgend etwas! Wo seid Ihr?« Er erhielt keine Antwort. Statt dessen war der gleiche schwache Ton zu hören. Er kam von flußaufwärts, zwischen ihm und der Brücke. Sein Sprint über die Brücke und sein weiter Sprung hatten ihn flußabwärts von ihr ins Wasser kommen lassen, so wie er es vorgehabt hatte. Lord Darcy schwamm auf den Ton zu. Seine kräftigen Arme kämpften gegen den Strom der Themse an. Der Ton kam näher, eine Art mähendes Schluchzen, kaum menschlich zu nennen. Und dann berührte er sie. Sie strampelte wohl, aber nicht sehr stark, sondern eben genug, um mit dem Kopf über Wasser bleiben zu können. Er legte seinen linken Arm um sie und hielt sich und sie mit mächtigen Ruderbewegungen seines rechten Arms über Wasser. Ihr Strampeln hörte auf. Ihr Umhang war schon fortgetrieben worden. Der schluchzende Ton hörte auf, und ihr Körper entspannte sich völlig. Sie atmete regelmäßiger, während er versuchte, ihr Gesicht über Wasser zu halten, und auf das rechte Ufer zu schwamm, wobei er sie hinter sich herzog.Wo war eigentlich das verdammte Ufer? Wie lange braucht man, um gute hundert Yards Wasser zu durchqueren? Er fühlte sich, als hätte er schon stundenlang im Wasser schwimmen müssen, und die Schultermuskeln rechts spürten langsam die zusätzliche Belastung. Vorsichtig trat er das Wasser, um Tias Gesicht
hochzuhalten, und wechselte den Arm. Stunden schienen vergangen zu sein, und immer noch war nichts als Schwärze um ihn herum zu sehen. Die Lichter der Brücke waren schon längst verblaßt, und die Lichter des Flußufers — sofern dieser Fluß überhaupt ein Ufer hatte! — waren noch nicht sichtbar. Hatte er die Orientierung verloren? Schwamm er jetzt flußabwärts statt quer? Er konnte es nicht feststellen, sein Körper bewegte sich mit dem Wasser, und es gab keine sichtbaren äußeren Anhaltspunkte. Als er schließlich in einer endlos wirkenden Serie von Schwimmbewegungen wieder ausholte, stieß er plötzlich auf etwas Hartes, so daß ein stechender Schmerz durch seine Hand fuhr. Wieder tastete er sich vor, diesmal jedoch vorsichtiger. Es war eine Steinplatte, die zu einer Treppe gehörte, die ins Wasser führte. Er hob den Körper des Mädchens auf die Stufen und kletterte dann selbst aus dem Wasser. Soweit er das beurteilen konnte, ging es ihr einigermaßen gut; sie atmete noch. Plötzlich wurde ihm klar, daß er viel zu erschöpft war, um allein die Treppen zur Uferbefestigung hochzusteigen, ganz zu schweigen davon, Tia hochzutragen. Aber er konnte sie auch nicht einfach auf den kalten Steinen liegenlassen. Er hob sie hoch und hielt sie in seinen Armen, wobei er versuchte, ihren Körper mit seinem zu wärmen. Dann saß er lange einfach da — bewegungslos, kalt und naß, und sein Geist war fast so leer wie die unendliche Dunkelheit, die sie umgab. Nach einer unendlich lang wirkenden Zeit der geistigen und körperlichen Taubheit bewirkten leichte Verwandlungen in seiner Umgebung, daß Lord Darcys ermüdeter Geist wieder zu arbeiten begann. Was war das? Etwas zu seiner Linken. Er drehte den Kopf, um besser sehen zu können. Nichts; nur ein Lichtschimmer, der sich in weiter Entfernung befand und auf und ab bewegte, sich näherte und wieder entfernte. Er wurde schließlich immer größer; nein, nicht nur ein Licht, zwei waren dort zu sehen . . . drei . . . Dann rief eine Stimme: »Hallooo . . . Lord Darcy! Könnt Ihr uns hören, My Lord?« Lord Darcys Bewußtsein erwachte abrupt. Der Nebel mußte sich etwas aufgeklärt haben, dachte er sich. An der Stimme konnte er erkennen, daß die Suchenden noch entfernt waren, aber die Lichter waren mittlerweile klar zu sehen. »Hallooo«, rief er mit einer Stimme, die sogar seinen eigenen Ohren matt erschien. Er versuchte es wieder. »Hallooo!« »Wer ist da?« rief eine Stimme. Lord Darcy mußte trotz seiner Erschöpfung schmunzeln. »Lord Darcy hier«, rief er. »Habt Ihr nach mir gerufen?« Dann brüllte jemand: »Wir haben ihn! Hier ist er!« Eine Pfeife ertönte, und Lord Darcy merkte, wie er zu zittern begann. Reaktion, dachte er und versuchte, seine Zähne am Klappern zu hindern. Ich fühle mich schwach wie ein Baby. Seine Muskeln fühlten sich an, als seien sie von der Kälte zu Pudding gemacht worden; der einzige warme Fleck am Körper war sein Brustkasten, an den er Tia gedrückt hatte. Sie atmete noch, ruhig und regelmäßig. Aber sie lag schlaff in seinen Armen, völlig entspannt, und zitterte noch nicht einmal. Das ist schön, dachte Lord Darcy, jetzt zittere ich für beide. Die Lichter vermehrten sich, das Gepfeife wurde wiederholt, und überall war Fußtrappeln zu hören. Lord Darcy wunderte sich: Es schien, als hätten sie die ganze Armee alarmiert. Da stand schon ein
Wachmann mit seiner Laterne über ihm und sagte: »Alles in Ordnung, Lord Darcy?« »Ganz in Ordnung, nur etwas unterkühlt!« »Um Himmels willen, My Lord, Ihr habt das Mädchen ja!« Er rief zur Uferbefestigung hoch: »Er hat das Mädchen!« Aber Lord Darcy hörte kaum seine Worte. Das Licht der Laterne fiel direkt auf Tias Gesicht, und ihre Augen waren weit geöffnet. Ohne zu sehen, blickten sie leer ins Nichts. Man hätte meinen können, daß sie tot wäre, aber Tote atmen nicht. Nun war er von zahlreichen Männern umringt. »Mehr Licht für Seine Lordschaft!« »Ich helfe Euch aufzustehen, Euer Lordschaft.« Dann: »Darcy! Dem Himmel sei Dank! Und das Mädchen ist auch dabei! Es ist das reinste Wunder!« »Hallo, Ashley«, rief Darcy. »Danke, daß Ihr die Truppen mobilisiert habt!« Lord Ashley grinste. »Hier ist Euer Umhang. Ihr solltet nicht dauernd Eure Sachen auf Brücken herumliegen lassen.« Dann legte er seinen eigenen Umhang ab, um ihn um Tia zu hüllen. Er nahm sie aus Darcys Armen und hob sie hoch. Vorsichtig trug er sie langsam die Treppe hoch. Lord Darcy wickelte sich fest in seinen Umhang, doch hörte er nicht auf zu zittern. »Wir müssen Euch an einen warmen Ort bringen, My Lord, sonst holt Ihr Euch den Tod«, sagte ein Wachmann. Lord Darcy begann mühsam die Treppe hochzusteigen. Dann rief eine Stimme von oben: »Habt Ihr ihn gefunden?« »Wir haben beide gefunden, Euer Gnaden«, sagte ein Wachmann. Darcy sagte: »Mary! Was treibst du denn hier?« »Wie ich schon letzten Abend sagte: Ich bin genommen, um Euch abzuholen, Euer Lordschaft.« »Diesmal«, sagte Lord Darcy, »glaube ich dir sogar.« Als er oben ankam, sah er, wie Lord Ashley Tia in den Armen hielt. Zahlreiche Wachmänner umringten die beiden mit Laternen, und Mary, die jetzt nicht die Herzogin, sondern ganz die ausgebildete Krankenschwester war, betrachtete das Mädchen und betastete sie mit ihren Sensitivenfingern. »Wie geht es ihr?« fragte Lord Darcy. »Was hat sie?« »Du zitterst«, sagte Mary, ohne aufzublicken. »In der Kutsche gibt es Brandy, hol dir welchen.« Sie sah Lord Ashley an. »Bringt sie in die Kutsche. Wir fahren sie sofort nach Carlyle House. Father Patrique ist dort. Eine bessere Behandlung könnte sie in keinem Krankenhaus bekommen.« Zwei ordentliche Schlucke Brandy hatten Lord Darcys Nerven inzwischen beruhigt. »Was ist mit ihr?« fragte er erneut. »Kälteschock natürlich,« sagte sie. »Möglicherweise innere Verletzungen, aber nichts Ernstes. Aber sie steht unter einem Zauber, den ich nicht brechen kann. Wir müssen sie so schnell wie möglich zu Father Patrique bringen.« Sie legten das Mädchen behutsam auf einer Kutschenbank aus. »Wird sie durchkommen?« fragte Lord Ashley. »Ich glaube schon«, meinte die Herzogin. Dann sagte Lord Ashley: »Lord Darcy, kann ich Euch einen Augenblick sprechen?« »Aber gewiß, was ist denn?« Sie schritten außer Hörweite der anderen. »Der Mann auf der Brücke«, begann Lord Ashley. »Ach ja«, sagte Lord Darcy. »Ich hätte nach ihm fragen sollen. Ich sehe, daß Ihr unverletzt seid. Ich hoffe, daß Ihr ihn nicht habt töten müssen?« »Nein, ich muß leider gestehen, daß ich ihn nicht einmal festsetzen konnte. Ich bin auf dem Pflaster ausgerutscht, und er konnte entkommen.« »Habt Ihr ihn erkannt?« »Ja. Es war unser öliger Freund Master Ewen MacAlister.«
Lord Darcy nickte. »Ich hatte bemerkt, daß mir seine Stimme ''irgendwie bekannt vorkam, als er Tia befahl, auf das Geländer zu steigen. Er hatte sie unter einem Zauber, wie Ihre Hoheit ja soeben festgestellt hat.« »Das war nicht die einzige Schwarze Magie, die das kleine Schwein benutzt hat«, sagte Lord Ashley und erzählte Lord Darcy von dem verzauberten Schwert. »Dann braucht Ihr Euch nicht zu entschuldigen, daß Ihr ihn habt entkommen lassen«, sagte Darcy. »Ich bin froh, daß Ihr noch lebt!« »Ich auch«, sagte Lord Ashley. »Ich meine, daß die Kutsche zu klein für uns alle ist, wenn Tia eine ganze Bank für sich in Anspruch nehmen muß. Und außerdem wird man mich heute abend ohnehin nicht mehr brauchen. Fahrt ihr zwei also los.« Er ging zurück. »Subalternoffizier Hosquins«, rief er, »Ihre Hoheit und Seine Lordschaft fahren nach Carlyle House. Ein Wachmann wird mir eine Mietdroschke besorgen.« »Sehr wohl, My Lord Commander«, antwortete Hosquins. »Danke«, sagte Lord Darcy. »Würdet Ihr mir einen Gefallen tun? Würdet Ihr bitte ins Royal Steward fahren und Lord Bontriomphe alles berichten? Wenn Master Ewen weiß, daß Ihr ihn erkannt habt, wird er sich natürlich nicht mehr im Hotel blicken lassen. Sagt Lord Bontriomphe, daß er Sir Lyon Bescheid geben soll. In Ordnung?« »Selbstverständlich. Ich fahre sofort dort hin. Gute Nacht, My Lord, gute Nacht Euer Gnaden«, sagte er. Lord Darcy öffnete die Kutschentür. »Nach Carlyle House, Hosquins«, sagte er und stieg ein. Erst mehr als eine Stunde später fühlte sich Lord Darcy wieder auf dem Damm. Ein heißes Bad hatte dabei geholfen, den Geruch der Themse und die Kälte in den Gliedern zu vertreiben. Eine kurze Sitzung mit Father Patrique hatte alle Gefahren einer Erkältung gebannt. MaryJDe Cumberland und Father Patrique hatten beide darauf bestanden, daß er sich ins Bett legen solle, und so fand er sich in seidener Nachtwäsche wieder, vier oder fünf Kissen im Rücken aufgetürmt, einen schweren Schal um die Schultern und zahlreiche warme Decken um die Beine gewickelt, an seinen Füßen eine Wärmeflasche und im Bauch zwei Teller kräftige Brühe. Die Tür öffnete sich, und Mary De Cumberland kam mit einem Tablett ins Zimmer, auf dem ein dampfender Krug stand. »Wie geht es?« fragte sie. »Eigentlich ganz in Ordnung. Wie geht es Tia?« »Father Patrique sagt, daß sie wieder zu sich kommen wird. Er hat sie schlafen gelegt. Er meint, daß sie vor morgen mit niemandem reden sollte.« Sie setzte den Krug ab. »Hier, das ist für dich.« »Was ist das?« fragte Lord Darcy und blickte den Krug mißtrauisch an. »Medizin. Gut für dich.« »Was ist denn da drin?« »Wenn du es unbedingt wissen willst: Brandy, Portwein, Honig, heißes Wasser und einige Krauter, die Father Patrique verschrieben hat.« »Hmph!« machte Lord Darcy. »Bis auf das letztere klang es ja erst ganz gut.« Er nippte an der Flüssigkeit. »Nicht schlecht«, gab er zu. »Fühlst du dich kräftig genug, Besuch zu empfangen?« fragte sie. »Nein«, sagte er. »Ich liege auf dem Sterbebett, mein Atem ist flach, mein Puls ist schwach und hört bald auf. Wer will mich denn sprechen?« »Nun, Sir Thomas wollte dich sehen. Er möchte dir nur dafür danken, daß du Tia das Leben gerettet hast, aber der arme Mann sieht so aus, als würde gleich selbst zusammenbrechen, also habe ich ihm gesagt, daß er dir auch morgen
noch gratulieren kann. Lord John Quetzal sagte, daß er ebenfalls bis morgen warten könne, um dich zu sprechen. Aber Sir Lyon ist vor wenigen Minuten eingetroffen, und ich würde doch vorschlagen, daß du mit ihm sprichst.« »Und wo, darf ich fragen, ist Master Sean?« »Ich zweifle nicht daran, daß er gekommen wäre, wenn ihm jemand mitgeteilt hätte, daß du ein erfrischendes Bad in der Themse nehmen wolltest. Er ist immer noch im Leichenschauhaus.« »Armer Kerl«, bedauerte Darcy. »er hat einen langen Tag gehabt.« »Und was hast du gemacht? Konversation vielleicht?« Lord Darcy beachtete ihren Einwurf nicht. »Ich nehme an, daß er sich auf alle erdenklichen Weisen vergewissert, ob Drogen oder Gifte verabreicht wurden«, sagte er gedankenverloren. »Ich habe zwar starke Zweifel, daß dies der Fall ist, aber wenn Sean fertig ist, haben wir wenigstens Gewißheit.« »Das ist richtig«, sagte Ihre Hoheit. »Wirst du nun Sir Lyon empfangen?« »Aber ja, aber ja. Führe ihn bitte herein.« Die Herzoginwitwe von Cumberland ging hinaus und kehrte kurz danach in Begleitung von Sir Lyon Gandolphus Grey wieder. »Ich höre, daß Ihr ein ganz schön gefährliches Abenteuer hinter Euch habt, My Lord«, sagte er ernst. »Alles Routine für einen Königlichen Untersuchungsbeamten, Sir Lyon. Setzt Euch!« »Ich danke Euch«, sagte Sir Lyon. Dann, als die Herzogin den Raum verlassen wollte: »Bitte, Euer Gnaden, würdet Ihr die Güte haben, hierzubleiben? Das hier geht jedes Mitglied der Gilde an, nicht nur die Königlichen Untersuchungsbeamten.« »Sehr wohl, Großmeister.« Sir Lyon blickte wieder Lord Darcy an. »Commander Lord Ashley hat mir mitgeteilt, daß er Master Ewen MacAlister wiedererkannt hat. Er und Lord Bontriomphe haben alle Wachmänner der Stadt angewiesen, auf ihn zu achten, wenn er auftauchen sollte. Und ich habe jeden verfügbaren Meisterhexer in London ausgeschickt, um die Wachmänner zu unterstützen und dafür Sorge zu tragen, daß er nicht wieder entkommen kann.« »Sehr gut«, sagte Lord Darcy. »Lord Ashleys Aussage allein wäre allerdings nicht ausreichend, um Master Ewen vor den Sonderuntersuchungsausschuß der Gilde zu bringen.«Aber sie reichte, um uns zu ermöglichen, sofort alles Beweismaterial sicherzustellen.« »Ach ja?« fragte Lord Darcy interessiert. »Natürlich habt Ihr dieses Beweismaterial gefunden?« Sir Lyon nickte mit ernster Miene. »Ja, das haben wir. Ihr wißt vielleicht, daß ein Hexer einen Schutzzauber über seinen Reisesack verhängt?« »Selbstverständlich.« »Nun, mit einem Durchsuchungsbefehl, den Lord Bontriomphe beschafft hatte, sind wir in Master Ewens Zimmer eingedrungen. Auch er hatte einen eigenen Schutzzauber auf sein Türschloß gelegt, aber wir haben ihn nach fünfzehn Minuten unschädlich machen können. Dann haben wir den Schutzzauber auf seinem Reisesack gesprengt. Das Beweismaterial war dort: eine Flasche mit Friedhofserde, zwei mumifizierte Fledermäuse, zwei Menschenknochen, Schießpulver, das Schwefel enthielt, und allerlei andere Dinge, die kein Hexer in seinem Besitz führen darf, ohne eine besondere Forschungserlaubnis der Gilde und eine Sonderbefugnis der Kirche zu haben.« Lord Darcy nickte. »Außerdem«, sagte Sir Lyon, »haben wir Father Patriques Aussage, daß Ewen einen Zauber auf Tia Einzig gelegt hat. Diees Beweismaterial genügt, um ihn der
Schwarzen Magie zu überführen. Ob man genug Beweismaterial zusammen-bekommt, um ihn auch seiner anderen Verbrechen zu überführen, das ist natürlich eine ganz andere Frage, My Lord. Aber Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß die Gilde alles in ihren Möglichkeiten Stehende unternehmen wird, damit Ihr dieses Beweismaterial bekommt. Ihr müßt es nur sagen, My Lord.« »Ich danke Euch, Sir Lyon. Eine Frage, nur um meine Neugierde zu befriedigen. Lord Ashley hat Euch doch von dem Schwertspiel auf der Brücke erzählt?« »Das hat er.« »Gehe ich recht in der Annahme, daß der Zauber, den Master Ewen auf seine eigene Klinge gelegt hat, eine Spielart des Tarnhelm-Effekts ist?« »Das ist völlig richtig«, sagte Sir Lyon mit einem etwas verwunderten Lächeln. »Es ist sehr scharfsinnig von Euch gewesen, das aus Lord Ashleys bloßen Beschreibungen zu erkennen.« »Aber gar nicht«, sagte Lord Darcy abwehrend. »Es ist nur so, daß Master Sean ein ausgezeichneter Lehrmeister ist.« »Das ist mehr als scharfsinnig, Großmeister«, sagte die Herzogin. »Ich finde es beunruhigend! Ich weiß natürlich, was man unter dem Tarnhelm-Effekt versteht, da ich bei meinem Studium darauf gestoßen bin, aber seine Anwendungsbereiche und seine Theorie verstehe ich nicht.« »Ihr solltet es nicht beunruhigend, sondern beglückend finden«, sagte Sir Lyon mit Bestimmtheit. »Ein großes Problem in dieser Welt besteht darin, daß so wenige Laien sich für die Wissenschaft interessieren. Wenn mehr Leute so wären wie Lord Darcy, dann könnten wir neunundneunzig Prozent der abergläubischen Vorurteile ausräumen, von denen neunundneunzig Prozent aller Leute heute noch befallen sind.« Er lächelte. »Ich weiß, daß Ihr zu scherzen beliebtet, aber es steht uns allen an, Laien weiterzubilden und aufzuklären, wann immer möglich. Es liegt nur an Unwissenheit und Aberglauben, daß Hexenmagier, Zauberer und andere Unbefugte operieren können. Es liegt nur am Aberglauben, daß so viele Leute meinen, daß man Schwarze Magie nur mit Schwarzer Magie wirkungsvoll begegnen kann, daß man das Übel nur durch ein anderes Übel zu zerstören vermag. Nur an Unwissenheit und Aberglauben liegt es, daß Scharlatane und Quacksalber, die nicht die geringste Spur des Talents besitzen, ihre wertlosen Amulette und Talismane verkaufen können.« Er seufzte, und Lord Darcy schien es, als sei er plötzlich etwas gealtert und erschöpft. »Natürlich wird eine solche Ausbildung und Erziehung nicht die Master Ewens dieser Welt abschaffen können. Die moderne Wissenschaft hat uns den Vorteil gegeben, daß wir, im Gegensatz zu früheren Zeiten, unsere Regierungen, unsere Kirche und unsere Gerichte besser von Korruption freihalten können. Aber nicht einmal die Wissenschaft ist unfehlbar. Es gibt immer noch seltsame Gedankengänge und Züge im menschlichen Geist, die wir erst bemerken können, wenn es zu spät ist, und Master Ewen ist ein vollendetes Beispiel dafür, daß wir in diesem Punkt versagt haben.« »Sir Lyon«, sagte Darcy, »ich glaube, daß Master Ewen noch mehr ist. In unserer eigenen Geschichte und sogar in einigen heutigen Ländern gibt es Organisationen, die versuchen, die Missetaten ihrer eigenen Mitglieder zu verheimlichen oder zu beschönigen. Es gab eine Zeit, da blickten Kirche, Regierung und Gerichte großzügig über Untaten hinweg, die ein Priester, ein
Gouverneur oder ein Richter begangen hatte, anstatt öffentlich zuzugeben, daß sie nicht unfehlbar waren. Jede Gruppe, die für sich Unfehlbarkeit in Anspruch nimmt, muß sehr vorsichtig sein, damit sie keine Fehler macht, und alle Fehler, die ja unweigerlich auftreten, müssen also geheimgehalten oder wegerklärt werden durch Lügen, Ausreden und Entstellungen. Und das bewirkt schließlich den Zusammenbruch des ganzen Gebäudes. Jeder, der heute im Reich Macht besitzt, sei sie geistlicher Art, weltlicher oder thaumaturgischer Art, besitzt das volle Vertrauen des kleinen Mannes, der keine Macht hat, und zwar genau deswegen, weil dieser weiß, daß wir unser Bestes tun, die vereinzelten Master Ewens zu entlarven und ihnen das Handwerk zu legen, anstelle sie zu verstecken und so zu tun, als gäbe es sie nicht. So wird Master Ewen selbst zu einer Verkörperung des Scheiterns, das man in einen Erfolg ummünzen kann.« »Gewiß«, sagte Sir Lyon, »aber es ist dennoch sehr unangenehm, wenn es einmal vorkommt. Das letzte Mal war im Jahre 1939, als Sir Edward Eimer Großmeister war. Ich war damals in der Untersuchungskommission und wünschte mir, daß ich so etwas in meinem Leben nicht noch einmal erleiden müßte. Aber wir werden tun, was getan werden muß.« Er stand auf. »Kann ich noch etwas für Euch tun?« »Ich glaube nicht, Sir Lyon, jedenfalls nicht im Augenblick. Ich danke Euch für Eure Mitteilungen. Ach ja, doch, noch eine Sache. Könntet Ihr wohl die Hexer, die nach ihm suchen, damit beauftragen, daß ich sofort informiert werde, sollte man Master Ewen noch heute nacht aufspüren, egal, wie spät es sein mag. Ich möchte ihm einige Fragen stellen.« »Ich habe solche Anweisungen bereits für mich gegeben. Ich werde dafür Sorge tragen«, sagte Sir Lyon, »daß Ihr benachrichtigt werdet. Gute Nacht, My Lord. Gute Nacht, Euer Gnaden. Falls ich benötigt werden sollte, ich befinde mich in meinem Zimmer.« Als der alte Hexer mit dem silbernen Bart fortgegangen war, sagte die Herzoginwitwe: »Nun, ich hoffe ja, daß sie ihn erst morgen früh fangen, du mußt dich ordentlich ausschlafen. Aber wenigstens ist diese abscheuliche Angelegenheit bald ausgestanden.« »Da sei mal nicht zu optimistisch«, sagte Lord Darcy. »Es sind noch viel zu viele Fragen offen. Wie du gesagt hast, Master Ewen haben sie noch nicht, und auch Paul Nichols hat es fertiggebracht, sich schon seit über sechsunddreißig Stunden zu verstecken. Wir wissen immer noch nicht, was bei Master Seans Herkulesarbeit herausgekommen ist. Es ist noch lange kein Licht in Sicht.« Er blickte in seinen leeren Krug. »Kann ich noch so einen haben? Aber diesmal ohne die guten Zutaten des Fathers, wenn's möglich ist.« »Aber gern.« Doch als sie zurückkehrte, war Lord Darcy schon fest eingeschlafen, und so wurde ihr eigener Nachttrunk daraus. »Ich hoffe, Euer Lordschaft Wohlbefinden haben sich gebessert.« Der immer freundliche Geffri stellte die Kaffeekanne und die Tasse auf den Nachtschrank. »Mir geht es wieder gut, Geffri, danke«, sagte Lord Darcy. »Ah, der Kaffee riecht ja köstlich! Selbst gebraut, vermute ich? Carlyle House ist der einzige Ort im ganzen Reich, sieht man von meinem eigenen Zuhause ab, wo man seinen Morgenkaffee genau richtig temperiert und bis zur Vollkommenheit gebraut bekommt.« »Es ist mir eine außerordentliche Freude, dergleichen zu hören, My Lord«, sagte Geffri und schenkte Kaffee
ein. »Ich war übrigens so frei, den heutigen Courier mitzubringen, My Lord. Es gibt jedoch eine Nachricht, die Euer Lordschaft möglicherweise noch vor der Lektüre der Zeitung lesen möchte.« Er holte einen Umschlag hervor, auf dem Lord Darcy sofort Master Seans eigenes Siegel erkannte. »Master Sean«, sagte Geffri, »kam spät letzte Nacht hier an, nachdem sich Eure Lordschaft bereits zurückgezogen hatten. Er bat darum, daß ich Euch diese Botschaft sofort nach Eurem Erwachen überreiche.« Lord Darcy nahm den Umschlag. Es war offensichtlich der Bericht, den der rundliche irische Hexer über seine thaumaturgischen Untersuchungen und seine Autopsie an Sir James Zwinge verfaßt hatte. Lord Darcy sah auf die Uhr. »Danke, Geffri. Würdet Ihr bitte Master Sean in fünfundvierzig Minuten wecken und ihm ausrichten, daß ich gern mit ihm hier um zehn Uhr frühstücken möchte?« »Sehr wohl, My Lord.« Geffri verschwand. Als die Stunde um war, hatte Lord Darcy sowohl den Bericht von Master Sean als auch den Courier gelesen und wartete auf das Klopfen an der Tür, das pünktlich um zehn Uhr erfolgte. Lord Darcy war angezogen, und das warme Frühstück für zwei Personen stand auf dem Tisch im Wohnzimmer. »Kommt herein, mein guter Sean«, sagte Lord Darcy. »Die Eier mit Speck warten schon.« Der Hexer trat lächelnd ein, aber Lord Darcy sah sofort, daß das Lächeln ein wenig gequält wirkte. »Guten Morgen, My Lord«, sagte er freundlich. »Ihr habt meinen Bericht gelesen?« Er setzte sich an den Tisch. »Das habe ich«, sagte Lord Darcy, »und ich sehe darin keinen Grund, trüb aus der Wäsche zu schauen. Wir reden nach dem Frühstück darüber. Habt Ihr schon den Courier von heute morgen gelesen?« »Nein, My Lord, das habe ich nicht.« Master Sean begann die Eier mit Speck zu bearbeiten. »Irgend etwas Interessantes?« »Nichts besonderes«, sagte Lord Darcy. »Von ein paar schmeichelhaften Bemerkungen über mich und ein paar noch schmeichelhafteren Bemerkungen über Euch einmal abgesehen. Ihr könnt es gerne lesen. Das einzige Wertvolle ist eigentlich die Nachricht, daß es heute nacht keinen Nebel geben wird.« Die nächste Viertelstunde verstrich in Stille. Der sonst so gesprächige Master Sean schien wenig zu sagen zu haben. Schließlich schob Lord Darcy etwas ärgerlich seinen Teller beiseite und sagte: »Alle Höflichkeiten einmal beiseite, Master Sean: Ihr seid nicht eben in Hochform, wie mir scheint. Wenn es irgend etwas geben sollte, was ich wissen muß und was nicht in Eurem Bericht steht, dann möchte ich es gern hören.« Master Sean lächelte ihn über den Rad der Kaffeetasse an. »Aber nein, es steht alles drin. Ich habe dem nichts zuzufügen. Ich will Euch nicht beunruhigen. Wahrscheinlich bin ich nur ein wenig müde!« Lord Darcy runzelte die Stirn, griff nach dem säuberlich geschriebenen Bericht und schlug ihn auf. »Also gut. Ich habe die eine oder andere Frage nur zur Klärung der Sache. Erstens die Wunde betreffend.« »Ja, My Lord?« »Eurem Bericht zufolge ist die Klinge senkrecht in den Körper eingetreten, zwischen der dritten oder vierten Rippe, so daß die Wunde etwa fünf Zoll tief ist. Sie durchstieß die Wand der Lungenschlagader und schlitzte auch das Herz selbst an, so daß diese Wunde einwandfrei als die Todesursache gelten darf.« »Ohne jeglichen Zweifel, My Lord.« »Nun gut.« Er stand auf. »Wenn Ihr so
gut sein würdet, Master Sean, diesen Löffel zu nehmen und so zu tun, als sei es ein Dolch? Ja, so! Nun seid bitte so freundlich, mich in genau demselben Winkel zu erstechen, wie es nötig wäre, um eine Wunde wie die von Sir James zu erzeugen.« Master Sean hielt den Löffelstiel fest und hob den Löffel hoch über den Kopf; dann zog er ihn langsam in einem weiten Bogen herunter und berührte Lord Darcys Brust. »Sehr gut, Master Sean, ich danke Euch. Wenn man die Wunde verlängerte, würde sie wohl bis in die Eigenweide reichen, nicht wahr?« »Well, My Lord, wenn ein Geschoß in diesem Winkel eingefallen wäre, so wäre es am Steiß wieder herausgetreten.« Lord Darcy nickte und blickte wieder in den Bericht. »Master Sean, wenn Ihr einen Menschen erstechen wolltet, wie würdet Ihr dabei verfahren?« Master Sean drehte den Löffel in seiner Hand so, daß sein Daumen auf das dicke Ende zeigte. Er bewegte die Hand vorwärts und berührte Lord Darcy. »So natürlich, My Lord.« »Ganz genau«, stimmte Lord Darcy zu. »Nach dem Autopsie befund, den uns Sir Eliot gestern aus Cherbourg geschickt hat, wurde Edelmann Georges Barbour auf eben diese gekonnte Art erstochen, die Ihr gerade vorgemacht habt. Und doch wurde Sir James auf eine Weise erstochen, wie sie kein erfahrener Messerstecher benutzen würde.« »Das ist wahr, My Lord. Niemand, der mit einem Dolch umzugehen weiß, würde auf diese Weise von oben nach unten stechen.« »Warum sollte derselbe Mann auf zwei so unterschiedliche Arten zustechen?« »Wenn es derselbe Mann war, My Lord!« »Also gut, nehmen wir einmal an, daß es zwei verschiedene Täter waren. Selbst dann war der Stich, der Sir James das |Leben kostete, nicht eben fachgerecht, oder? Hätte ein Berufskiller auf diese Weise zugestochen?« Master Sean lachte leise. »Na ja, wenn ich ihn einstellen müßte, hätte er keine Chance, My Lord.« »Schön gesagt«, sagte Lord Darcy lächelnd. »Habt Ihr übrigens das Messer genau untersucht?« »Den Kontaktzerschneider von Sir James? Ja.« »Ich auch, als der Dolch noch auf dem Boden neben der Leiche lag. Ich möchte Euch an den besonderen Zustand des Dolchs erinnern.« Master Sean runzelte die Stirn. »Aber der Dolch war doch überhaupt nicht in einem besonderen Zustand!« »Eben. Das war der besondere Zustand.« Während Master Sean darüber nachdachte, fuhr Lord Darcy Ifort: »Aber erst einmal zu etwas anderem.« Er setzte sich wieder und blätterte eine Seite in dem Bericht um. »Ihr schreibt hier, daß Sir James zwischen 9.25 und 9.35 Uhr gestorben ist.« »Der chirurgischen und thaumaturgischen Untersuchung Izufolge, ja. Da ich ihn selbst hörte, wie er um genau halb neun, plus minus ein paar Minuten — den Schrei ausstieß, kann, ich sagen, daß Sir James zwischen 9.30 und 9.35 Uhr starb.« »Gut«, sagte Lord Darcy. »Aber die Stichwunde erhielt er ungefähr fünf Minuten vor neun. Wenn ich nicht irre, zeigen die psychischen Muster sowohl die Zeit des Stichs und die des, Todes an. Und der Todesstoß stieß zwar durch die Wand der. Lungenschlagader, aber öffnete das Blutgefäß nicht richtig. Ein dünnes Stück der Wand war noch intakt. Doch die Wunde war schwer genug, um ihn in einen Schock verfallen zu lassen. Er wurde also zu dieser Zeit tödlich verwundet.« »Well, My Lord«, sagte Master Sean. »Es kann sein, daß die Wunde gar nicht tödlich gewesen wäre. Es ist durchaus denkbar,
daß ein guter Heiler, wenn er rechtzeitig eingetroffen wäre, sein Leben hätte retten können.« »Weil die Lungenschlagader noch halbwegs intakt war?« »Genau. Wenn diese Arterie zu der Zeit voll durchgeschnitten worden wäre, dann wäre Sir James tot gewesen, bevor er den Boden berühren konnte.« Lord Dacry nickte. »Ich verstehe. Aber die Wand der Arterie ist nicht voll durchschnitten worden, teilweise zwar, aber nicht völlig. Nachdem er dann etwa eine halbe Stunde auf dem Boden gelegen hatte, hörte er Euch klopfen, wodurch sein Schock nachließ. Er versuchte, sich hochzuziehen. Dazu griff er auf seinen Schreibtisch, auf dem unter anderem sein Schlüssel lag. Offensichtlich war sein Ruf ein Schrei um Hilfe, und er wollte seinen Schlüssel holen, um Euch die Tür zu öffnen. Diese Anstrengung bewirkte, daß die Wand der Schlagader endgültig riß. Sein Blut sprudelte auf den Boden, er ließ den Schlüssel fallen und starb. Seht Ihr das auch so, Master Sean?« Master Sean nickte. »So scheint es zu sein, My Lord.« »Ich stimme dem voll und ganz zu, Master Sean.« Lord Darcy blätterte in dem Bericht. »Also keine Drogen und kein Gift, ja?« »Ausgenommen, es ist eine unbekannte Substanz. Ich habe alle relevanten Tests durchgeführt.« »Und sowohl Gehirn als auch Schädeldecke waren völlig unversehrt . . . keine Schrammen . . . kein Bruch, hm.« Erfand eine andere Stelle im Bericht. »Jetzt kommen wir zum thaumaturgischen Teil. Euren Tests zufolge war alles Blut, das sich im Zimmer befand, das von Sir James?« »Jawohl, My Lord.« »Und woraus bestand jener merkwürdige, halbmondförmige Fleck nahe der Tür?« »Auf jeden Fall auch aus seinem Blut.« Lord Darcy nickte. »Wie ich vermutet habe. Den thaumaturgischen Tests zufolge befand sich niemand im Zimmer, als Sir James erstochen wurde. Das deckt sich mit der Information, die wir über Barbours Tod in Cherbourg haben.« Er lächelte. »Master Sean, ich bin mir darüber im klaren, daß Ihr nur wissenschaftlich beweisbare Tatsachen in einem solchen Bericht erwähnen könnt, aber habt Ihr irgendeinen Vorschlag, irgendeine Vermutung, die mir weiterhelfen könnte?« »Ich versuch's mal, My Lord«, sagte Master Sean zögernd. »Wie ich Euch gestern schon sagte, müßte ich eigentlich die Tat eines Schwarzen Zauberers nachweisen können. Wir Ihr wißt, ist der ankh ein fast unfehlbares Instrument für den Nachweis von Bösem.« Er atmete tief durch. »Und da wir jetzt über Master Ewen MacAlister Bescheid wissen, werden seine Taten wohl leicht aufzuspüren sein.« Dann zeigte Master Sean auf das Papier, das vor Lord Darcy lag. »Aber ich will nicht und kann nicht zurücknehmen, was ich dort geschrieben habe.« Nochmals atmete er tief durch. »My Lord, ich kann keine einzige Spur von Magie, weder von Weißer noch von Schwarzer, im Zusammenhang mit dem Mord an Sir James Zwinge entdecken. Es gab keinerlei . . .« Er wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. »Ja«, rief Lord Darcy mit leiser Ungeduld in der Stimme, »wer ist denn da?« »Father Patrique«, sagte eine Stimme vor der Tür. Lord Darcys Ungeduld verschwand. »Ah ja, kommt nur herein, Hochwürden.« Die Tür ging auf, und ein großer, recht blasser Mann in Benediktinerkleidung trat ein. »Guten Morgen, My Lord; guten Morgen, Master Sean«, sagte er lächelnd. »Ich sehe, daß Ihr wieder auf dem Damm seid, My Lord.«
»Wen wundert das, bei Eurer guten Behandlung, Hochwürden! Was kann ich für Euch tun?« »Ich glaube, daß Ihr etwas für mich tun könnt und dabei gleichzeitig selbst etwas davon haben werdet, wenn ich das mal so sagen darf.« »Auf welche Weise, Father?« Der Priester machte ein ernstes Gesicht. »Normalerweise«, sagte er vorsichtig, »darf ich nicht über die Beichte eines reuigen Sünders sprechen. Aber in diesem Fall hat mich die beichtende Person ausdrücklich beauftragt, mit Euch zu reden.« »Die Demoiselle Tia, nehme ich an«, sagte Lord Darcy. »Natürlich. Sie hat ihre Geschichte zweimal erzählt, einmal mir und einmal Sir Thomas Leseaux.« Er blickte Master Sean an, der ernst mit dem Kopf nickte. »Ah, Ihr versteht, was ich meine, Meisterhexer.« »Aber gewiß, Hochwürden. Die klassische Dreiheit: einmal der Kirche, einmal dem Geliebten und einmal«, er zeigte mit respektvoller Geste auch Lord Darcy, »und einmal den weltlichen Behörden.« »Genau«, sagte der Priester. »Es wird die Heilung beschließen.« Er blickte Lord Darcy an, der bereits aufgestanden war. »Ich werde Euch keine weiteren Einzelheiten erzählen, My Lord; es ist am besten, wenn Ihr sie selbst erzählt bekommt. Aber sie weiß genau, daß Ihr es wart, der ihr letzte Nacht das Leben gerettet hat, und Ihr müßt verstehen, daß Ihr dies nicht herunterspielen solltet.« »Ich verstehe, Hochwürden. Darf ich zuvor noch ein paar Fragen stellen?« »Aber gewiß, solange sie nicht das Beichtgeheimnis berühren.« »Sie beziehen sich lediglich auf den Zauber, der gestern abend auf sie gelegt wurde. Erinnert sie sich in irgendeiner Weise an das, was passierte, nachdem Master Ewen sie verzaubert hat?« Father Patrique schüttelte den Kopf. »Nein, das tut sie nicht. Sie wird es Euch erklären.« »Ja, aber was mich beschäftigt, Hochwürden, das ist die Schnelligkeit und Leichtigkeit, mit der der Zauber verhängt wurde. Ich habe es selbst beobachtet. Erst war sie völlig im Besitz ihrer geistigen Kräfte, und dann wurde sie von einem Augenblick zum anderen zu einem willenlosen Automaten, der alles tat, was Master Ewen verlangte. Ich wußte nicht, daß Hexer solch eine Macht über andere haben können.« »Um Gottes willen nein!« sagte Master Sean. »Aber gar nicht, My Lord! Nicht einmal der mächtigste Schwarze Zauberer kann einem anderen den Willen nehmen, indem er einfach mit der Hand wedelt!« »Nicht einmal Satan kann ohne gründliche Vorbereitungen Besitz von einer Menschenseele ergreifen, My Lord«, sagte Father Patrique. »Damit der Zauber so wirkungsvoll sein konnte, muß Master Ewen eine Menge vorbereitende Zauber durchgeführt haben.« »Ich meinte, mich zu entsinnen«, sagte Lord Darcy, »daß auf der letzten Dreijahresversammlung ein Straßenräuber am letzten Kongreßabend den Fehler beging, einen Meisterhexer auf der Straße anzugreifen. Kurz darauf berichtete der Hexer dem Wachmann, was geschehen war. Er selbst war unverletzt, aber der Straßenräuber war vom Hals abwärts gelähmt. Ich gebe zu, daß es ein geniales Stück Arbeit war. Der Zauber war so beschaffen, daß er nicht beseitigt werden konnte, bevor der Verbrecher ein volles Geständnis abgelegt hatte. Auf diese weise brauchte der Hexer nicht einmal vor Gericht auszusagen, den dieser Zauber muß in Sekundenschnelle durchgeführt worden sein.« »Das ist eine etwas andere Sache, My Lord«, sagte Father Patrique. »Wenn, wie in diesem Fall, das Böse angreift, dann
kann es zurückgespielt werden, um auf diese Weise den Angreifer zu lähmen. Jeder Meisterhexer kann diese Selbstverteidiungstechnik anwenden. Aber um einem Menschen, der einem ichts Böses will, einen Zauber anzuhexen, bedarf der Zauberer seiner eigenen Kräfte. Er kann nicht die körperliche Kraft des Angreifers zu Hilfe nehmen, da er ja nicht angreifen wird. Deshalb benötigen seine Zauber wesentlich mehr Zeit und Vorbereitung, um wirkungsvoll werden zu können.« »Ich verstehe. Danke, Father Patrique!« sagte Lord Darcy. »Das klärt die Sache auf. Gehen wir also, um die junge Dame zu besuchen.« »Mit Verlaub«, sagte Master Sean, »werde ich zurück ins Royal Steward gehen. Ziemlich wahrscheinlich, daß Lord Bontriomphe meinen Bericht lesen will.« Lord Darcy lächelte. »Und auch ziemlich wahrscheinlich, daß Ihr wieder auf den Kongreß wollt, eh?« Master Sean grinste zurück. »Well, My Lord, ja, das möchte ich wohl.« »In Ordnung. Ich komme nachher dort vorbei.« Vor der Gardeniensuite, in der Tia Einzig untergebracht worden war, stand Sir Thomas Leseaux und sagte: »Guten Morgen, My Lord. Ich . . . ich möchte Euch für das danken, was Ihr gestern nacht vollbracht habt, aber mir fehlen die Worte.« »Mein Sir Thomas, ich habe nichts getan, was Ihr an gleicher Stelle nicht auch getan hättet. Und es gibt auch keinen Grund, so besorgt dreinzublicken!« »Besorgt?« Sir Thomas quälte sich selbst ein Lächeln ab. »Habe ich besorgt geschaut?« »Aber ja, Sir Thomas. Warum auch nicht? Ihr habt Tias Geschichte gehört und habt nun Angst, daß ich sie wegen Spionage verhaften werde.« Sir Thomas zuckte zusammen und sagte nichts. »Na, na, na!« sagte Lord Darcy. »Allzu schlimm kann sie das Reich nicht verraten haben, sonst wärt Ihr genauso um ihre Verhaftung bemüht wie jeder andere. Ihr seid nicht der Mann, den Liebe blind macht. Außerdem gibt es dazu genaueste Königliche Gesetze. Ah, gut, Sir Thomas, jetzt sieht Euer Lächeln schon echter aus! Gentlemen, wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet.« Er öffnete die Tür und trat ins Zimmer. Lord Darcy schritt durch das Wohnzimmer der Suite auf das Schlafzimmer zu, als er eine Stimme hörte: »My Lord Darcy? Seid Ihr es?« Lord Darcy ging an die Schlafzimmertür. »Jawohl, Demoiselle, ich bin Lord Darcy.« Sie lag, bis an die Schultern in wärmende Decken eingehüllt, im Bett. Sie lächelte, als sie ihn erblickte. »Ihr seht sehr gut aus, My Lord. Das freut mich. Ich möchte mein Leben nicht unbedingt einem häßlichen Mann verdanken müssen.« »Meine liebe Tia, solange eine Schönheit wie die Eure gerettet wurde, ist die Schönheit des Retters ohne Belang!« Er setzte sich in einen Sessel neben dem Bett. »Ich werde nicht danach fragen, wieso Ihr gerade dann dort wart, wo man Euch so dringend benötigte, My Lord«, sagte sie leise. »Ich möchte lediglich wiederholen, daß ich mich freue, daß Ihr hier seid.« »Ganz meinerseits, Demoiselle. Aber die Frage ist ja auch vielmehr weniger, warum ich dort auf der Brücke war, sondern warum Ihr Euch dort aufgehalten habt. Erzählt mir doch von Master Ewen MacAlister!« Einen Augenblick lang waren ihre Lippen fest und grimmig zusammengepreßt, dann begann sie wieder zu lächeln. »Das ist eine längere Geschichte; ich werde bei meinem Zuhause in Banat beginnen müssen.« Sie erzählte ihm auch das, was sie schon
Mary De Cumber-land erzählt hatte, wobei sie diesmal ein paar Ergänzungen hinzufügte. Ihr Onkel Neapeler war wegen Praktizierens seiner Heilkunst von einem Geschäftsrivalen denunziert worden, und da er politisch ohnehin als suspekt galt, wurden beide von der Geheimpolizei König Casimirs IX gesucht. Sie sollten in ihrem Haus verhaftet werden, doch Neapeler Einzig war auf so etwas gut vorbereitet gewesen; sein mächtiges, wenn auch ungeschultes Talent hatte ihn rechtzeitig gewarnt. Mit wenigen Minuten Vorsprung vor der gefürchteten Geheimpolizei waren sie in Richtung italienische Grenze geflüchtet. Doch die Geheimpolizei hatte sich auch ihrer Hexer bedient, so daß die beiden fast in eine Falle gelaufen wären, die man nur wenige hundert Yards vor der Grenze angelegt hatte. Neapeler hatte seiner Nichte befohlen, weiterzulaufen, während er den Geheimpolizisten die Stirn bot. Das war das letzte Mal, daß sie ihn gesehen hatte. Den Rest der Geschichte kannte Lord Darcy bereits. »Ich dachte, daß ich in Sicherheit wäre, als Sir Thomas mich hier nach England gebracht hatte«, sagte sie, »da kam Master Ewen, um mit mir zu sprechen. Damals wußte ich noch nicht, wer er war, und er sagte mir auch seinen Namen nicht. Aber er erzählte mir, daß man Onkel Neapeler festgenommen und in ein Gefängnis der Polnischen Geheimpolizei geworfen hätte. Er sagte, daß man ihn gut behandele, aber daß sein weiteres Wohlergehen ausschließlich von meiner Mitarbeit abhinge. Master Ewen sagte mir, daß Sir Thomas das Geheimnis einer Waffe kannte, die für die Anglo-Französische Reichsmarine entwickelt worden war. Er wußte nicht, um welche Art von Waffe es sich handelte, aber irgendwie hatte der Polnische Geheimdienst herausbekommen, daß es sie gab und daß Sir Thomas darüber höchst wertvolle Informationen besaß. Da er wüßte, daß Sir Thomas mir vertraute, forderte er mich dazu auf, ihm die Informationen zu beschaffen. Er drohte damit, daß man Onkel Neapeler foltern und sogar umbringen würde, wenn ich nicht täte, was er von mir verlangte!« Sie hob den Kopf und blickte Lord Darcy gerade und fest in die Augen. »Aber das habe ich nicht getan. Ihr müßt mir glauben, daß ich es nicht getan habe. Sir Thomas wird es Euch bestätigen, daß ich ihn nie, niemals über irgendwelche Geheimprojekte befragt habe, an denen er vielleicht arbeitete.« Lord Darcy dachte an das Gesicht von Sir Thomas, wie er es zuletzt gesehen hatte, und sagte: »Ich glaube Euch, Demoiselle. Fahrt fort.« »Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich wollte ihnen nichts mitteilen, und Sir Thomas wollte ich auch nicht verraten. Ich erzählte ihnen, daß ich dabei wäre, es zu versuchen. Ich sagte, daß ich mir erst sein Vertrauen erwerben müßte. Ich erzählte ihnen . . .« Sie unterbrach sich für einen Augenblick und biß sich auf ihre Lippe. »Ich erzählte Master Ewen alles, was ich wußte und konnte, um meinen Onkel am Leben zu erhalten.« »Aber natürlich«, sagte Lord Darcy sanft. »Das kann Euch keiner verübeln.« »Und dann kam der Kongreß«, sagte sie. »MacAlister befahl mir, daran teilzunehmen, anwesend zu sein. Ich wies ihn darauf hin, daß ich, obwohl ich Mitglied der Gilde war, als Zauberlehrling normalerweise keinen Zutritt zum Kongreß hätte. Aber er sagte, daß ich ja über Sir Thomas und Seine Hoheit den Erzbischof genug Beziehungen hätte, und wenn ich nicht mein Bestes täte, dann
würde er dafür Sorge tragen, daß man mir für jeden Kongreßtag, an dem ich fehlen würde, einen Finger meines Onkels schicken würde. Ich mußte etwas unternehmen, Lord Darcy, versteht Ihr das?« »Das verstehe ich«, sagte Lord Darcy. »Ewen MacAlister«, fuhr sie fort, »hatte mich ausdrücklich davor gewarnt, in die Nähe von Master Sir James Zwinge zu geraten. Er sagte, daß Sir James ein hoher Spionageabwehrmann sei, daß er der Chef der europäischen Abteilung des Reichsgeheimdienstes sei. Also dachte ich, daß mir Sir James vielleicht helfen könne. Mittwoch morgen suchte ich ihn in seinem Zimmer auf. Ich traf ihn, als er gerade die Empfangshalle verließ, und fragte ihn, ob ich vielleicht mit ihm reden dürfe. Ich sagte ihm, daß ich wichtige Informationen für ihn hätte.« Sie lächelte leise. »Er war recht gruffig, aber schließlich bat er mich, ihm in sein Zimmer zu folgen. Ich erzählte ihm alles, über meinen Onkel, über Master Ewen, alles. Und er saß einfach nur da! Ich sagte, daß die Agenten des Reichs doch sicherlich meinen Onkel aus einem polnischen Gefängnis befreien könnten. Er sagte, daß er nichts von Spionagearbeit verstehe, daß er lediglich ein Justizhexer sei, der für den Marquis von London arbeite. Er sagte, daß er keinerlei Möglichkeit sehe, meinen Onkel aus einem polnischen Gefängnis zu befreien, genauer gesagt, aus überhaupt keinem Gefängnis. Ich war wütend. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm alles sagte, aber auf jeden Fall war es — bösartig. Ich verließ sein Zimmer, und er verschloß die Tür hinter mir. Ich war vermutlich die letzte, die Master Sir James lebend gesehen hat.« Dann sagte sie schnell: »Das heißt natürlich, abgesehen von seinem Mörder.« »Demoiselle Tia«, sagte Lord Darcy so sanft wie möglich, »ich muß Euch jetzt etwas anvertrauen, und Ihr dürft es niemandem sagen, bis ich es Euch gestatte.« »Aber natürlich, My Lord.« »Es ist Folgendes. Ich glaube, daß Ihr die letzte Person wart, die Master Sir James lebend gesehen hat. Das Beweismaterial, das mir bisher vorliegt, legt das nahe. Aber ich möchte auch, daß Ihr wißt, daß ich Euch in keiner Weise für seinen Tod verantwortlich halte.« »Danke, My Lord«, sagte sie, und ihre Augen standen plötzlich voller Tränen.Lord Darcy ergriff ihre Hand. »Kommt, meine Liebe, jetzt ist nicht die beste Zeit zum Weinen.« Trotz ihrer Tränen lächelte sie jetzt. »Ihr seid sehr gütig, My (Lord.« »O nein, Tia, ich bin überhaupt nicht gütig. Ich bin grausam und hinterhältig und habe immer Hintergedanken.« Sie lachte. »Das haben die meisten Männer.« »Ganz so habe ich es nicht gemeint«, erwiderte Lord Darcy trocken. »Was ich damit sagen wollte, war, daß ich noch eine Frage habe.« Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken fort und lächelte wieder verschmitzt. »Also keine Hintergedanken. Wie schade!« Dann wurde sie wieder ernst. »Welche Frage denn?« »Warum hat sich Master Ewen dazu entschlossen, Euch zu töten?« Lord Darcy war sich ganz sicher, daß er die Antwort bereits wußte, doch wollte er dem Mädchen nicht erklären, wie er dazu gekommen war. Jetzt hatte sie den gleichen kalten, rachsüchtigen Ausdruck im Lächeln wie am Abend zuvor. »Weil ich die Wahrheit herausbekommen habe«, sagte sie. »Gestern abend trat ein Freund meines Onkels, ein gewisser Edelmann Colin MacDavid, ein Bewohner der Insel Man, auf mich zu. Ich kannte ihn schon, als ich
noch ein kleines Mädchen war. Edelmann Colin hat mir die Wahrheit erzählt. Mein Onkel war aus der Falle damals entkommen. Edelmann Colin half ihm bei der Flucht, und seither arbeitet mein Onkel mit ihm zusammen auf der Insel Man. Er dachte, ich wäre tot, bis er meinen Namen im Londoner Courier in der Liste der Kongreßteilnehmer erblickte. Da schickte er Edelmann Colin her, um mich ausfindig zu machen. Edelmann Colin erzählte mir die Wahrheit. Aber Edelmann Colin erklärte mir auch, daß mein Onkel bei seiner Flucht Beweismaterial zurückgelassen hatte, das darauf hinwies, daß er getötet worden sei. Das tat er, um mich zu schützen. Die ganze Zeit über hatte Master Ewen das Leben meines Onkels als Faustpfand benutzt, dabei dachten sowohl er als auch der polnische Geheimdienst, daß er tot sei. Könnt Ihr Euch da noch wundern, daß ich wütend wurde, als ich davon erfuhr?« »Nein«, sagte er, »das kann ich wohl nicht. Das war gestern abend?« »Ja«, sagte sie. »Dann erhielt ich eine Nachricht von Master Ewen, der mir befahl, ihn in einem Pub namens Hound and Hare zu treffen. Kennt Ihr es?« »Ich weiß, wo es sich befindet«, sagte Lord Darcy. »Fahrt fort.« »Ich habe wohl die Beherrschung verloren«, sagte sie. »Ich abe wohl die falschen Dinge gesagt, genau wie bei dem armen 5ir James.« Ihre Augen wurden hart. »Aber es tut mir nicht leid, was ich Master Ewen gesagt habe! Ich sagte ihm, was ich von ihm hielt, und daß ich alles den Reichsbehörden melden würde. Ich sagte ihm, daß ich ihn aufgehängt sehen wollte, ich . . .« Sie hielt plötzlich ein und runzelte die Stirn. »Was danach passierte, weiß ich nicht mehr so genau. Er hob, glaube ich, die Hand und zog ein Symbol in die Luft, und dann . . . und dann . . . kann ich mich an nichts mehr erinnern. Bis ich heute morgen aufwachte und Father Patrique erblickte.« - Sie ergriff plötzlich Lord Darcys Rechte. »Ich weiß, daß ich nicht recht getan habe, My Lord. Werde ich nun . . . muß ich nun vors Gericht?« Lord Darcy lächelte und stand auf. »Ich glaube schon, meine ?,Liebe. Ihr werdet unsere wichtigste Zeugin gegen Master Ewen MacAlister sein. Ich kann Euch versprechen, daß Ihr in keiner anderen Funktion vor Gericht müßt.« Immer noch hielt sie seine Hand. Sie führte sie plötzlich an iihren Mund und küßte sie. »Danke, My Lord«, sagte sie. »Ich bin es, der Euch danken muß«, erwiderte Lord Darcy mit leiner Verbeugung. »Wenn ich Euch nochmals von Diensten sein .kann, Demoiselle, so braucht Ihr nur darum zu fragen.« Er verließ die Gardeniensuite. Inzwischen standen draußen |in der Halle nicht nur die beiden Männer, ein Dritter war hinzugekommen.»Wie geht es Ihr?« fragte Father Patrique. »Ganz gut, glaube ich.« Dann sah er den uniformierten Wachmann an. »Sergeant Peter hat Nachricht für Euch«, sagte Father Patrique, »aber ich habe es nicht gestattet, daß Ihr unterbrochen werdet. Wenn ich mich nun entschuldigen dürfte, ich will mich um meine Patientin kümmern.« Die Tür der Gardeniensuite schloß sich hinter ihm. Lord Darcy lächelte Sir Thomas an. »Alles in Ordnung, mein Freund. Kein Grund zur Besorgnis, für beide von Euch nicht.« Dann wandte er sich an den Wachsergeanten. »Ihr habt Nachricht für mich, Sergeant?« »Jawohl, My Lord. Lord Bontriomphe sagte, daß es sehr wichtig sei. Wir haben Edelmann Paul Nichols gefunden.« »Ach ja? Wo habt Ihr ihn denn ausfindig gemacht? Hat er eine Erklärung für
sein Verhalten abgegeben?« »Ich fürchte, nein«, sagte Sergeant Peter. »Man hat ihn in einem Zimmermannsraum des Hotels gefunden. Und er war tot, My Lord, mausetot.« Sergeant Peter hatte ihm erklärt, wo der Raum zu finden war, und so schritt Lord Darcy zielstrebig durch die Empfangshalle des Hotels. Der Raum war aber auch an den beiden Wachmännern zu erkennen, die davor Wache standen. Der Raum lag ungefähr auf halber Strecke zwischen Darcys und Bontriomphes Hauptquartier und der Hintertür. Es war ein Arbeitsraum für Möbelreparaturen. Es gab dort Arbeitsbänke, die um die Wände herum führten, und halbfertige Möbel, die umherstanden. Am Ende des Zimmers war eine offene Tür, hinter der sich Dunkelheit befand. • Neben der Tür standen Lord Bontriomphe und Master Sean O Lochlainn. Als Lord Darcy auf sie zuschritt, drehten sie sich um. »Hallo, Darcy«, rief Lord Bontriomphe. »Wir haben noch einen.« Er zeigte auf die offene Tür, die, wie Lord Darcy bemerkte, in eine kleine Abstellkammer führte, die mit beschädigtem Mobiliar, Holzstücken und so weiter angefüllt war. Hinter der Tür lag, gleich vorne, ein Mann. Es war kein angenehmer Anblick. Die Zunge hing heraus, und das Gesicht war schwarz angelaufen. Um den Hals hing ein verknotetes Seil, das sich tief ins Fleisch eingeschnitten hatte. Lord Darcy sah Lord Bontriomphe an: »Was ist denn geschehen?« Lord Bontriomphe wandte den Blick nicht von der Leiche ab. »Ich glaube, ich gehe mal nach draußen und haue mir den Schädel an die Wand. Seit gestern nachmittag habe ich diesen Mann gesucht. Ich habe London nach ihm durchkämmt. Ich habe jedem Hotelangestellten jede Frage gestellt, an die ich nur denken konnte.« Er sah Lord Darcy an. »Schließlich kam ich auf den lächerlich scheinenden Gedanken, daß Edelman Paul Nichols das Hotel niemals verlassen hatte.« Er lächelte Lord Darcy ziemlich schief an. »Und dann öffnete ein Hotelangestellter, der für Möbelreparaturen zuständig ist, diese Tür. Er brauchte ein Stück Holz und fand das da. Er lief schreiend heraus. Zum Glück waren Master Sean und ich gerade im Büro, so daß wir sofort herbeieilten.« »Es ist ganz gewiß Paul Nichols?« »O ja, ohne Zweifel.« Lord Darcy sah Master Sean an. »Keine Ruhe für die Müden, eh, Master Sean? Was meint Ihr dazu?« Master Sean seufzte. »Nun ja. Was Genaueres weiß ich erst, wenn der Chirurgus die Autopsie vorgenommen hat. Aber meiner Meinung nach ist der Mann schon mindestens achtundvierzig Stunden tot. An der rechten Schläfe hat er eine Schürfwunde, man kann sie wegen des geronnenen Blutes kaum erkennen; sie deutet darauf hin, daß er ohnmächtig geschlagen wurde, bevor man ihn umbrachte. Man hat ihn auf die rechte Kopfseite geschlagen und ihn dann mit einem Strick erwürgt.« »Achtundvierzig Stunden«, sagte Lord Darcy nachdenklich. Er sah auf seine Uhr. »Das wäre ja, plusminus eine Stunde, ungefähr die Zeit gewesen, als auch Master Sir James getötet wurde. Interessant.« »Da ist noch etwas, das Ihr vielleicht noch interessant finden werdet, My Lord«, sagte Master Sean. Er kniete nieder und (zeigte auf ein paar kleine blaue Stücke, die vorne auf dem (Hemd der Leiche lagen. »Was glaubt Ihr wohl, was das ist?« Lord Darcy kniete nieder und sah näher hin. »Siegelwachs«, |sagte er leise. »Blaues Siegelwachs.« Master Sean nickte. »Das scheint es mir auch zu sein.« Lord Darcy stand auf.
»Es tut mir furchtbar leid, Sean, aber ich muß Euch schon wieder mit derselben grauslichen Arbeit beauftragen. Ich muß wissen, wann er gestorben ist, und . . .« Master Sean stand auch auf. »Und etwas über diese Stücke blauen Siegelwachses, eh, My Lord?« »Genau.« »Nun«, sagte Lord Bontriomphe, »wenigstens wissen wir diesmal, wer es gewesen ist.« »Ja, ich weiß, wer ihn umgebracht hat«, sagte Lord Darcy. »Was ich nicht verstehe ist, warum!« »Ihr meint das Motiv?« fragte Lord Bontriomphe. »Ach was, das Motiv kenne ich. Was ich wissen möchte, das ist sozusagen das Motiv hinter dem Motiv, wenn Ihr mir folgen könnt.« Lord Bontriomphe konnte ihm allerdings nicht folgen. Eine halbe Stunde gründlichster Untersuchungen ergab nichts von Interesse. Der Mord an Paul Nichols schien ebenso einfach gewesen zu sein, wie es der an Sir James schwierig gewesen war. Keine verriegelte Tür, kein Hinweis auf Schwarze Magie, keine Frage hinsichtlich der Art des Tötens. Als er alles untersucht hatte, war sich Lord Darcy sicher, daß er den Mordablauf einigermaßen genau rekonstruieren konnte. Man hatte Paul Nichols in den Zimmermannsraum gelockt, hatte ihn ohnmächtig geschlagen und ihn erwürgt. Dann hatte man ihn in die Abstellkammer geworfen. Was» danach geschehen war, war nicht ganz klar, aber Lord Darcy hatte das Gefühl, daß es an der Grundannahme nichts wesentlich ändern würde. Befriedigt überließ Lord Darcy Lord Bontriomphe und Master Sean den Rest der Untersuchung. »Was jetzt?« dachte er. Er entschied sich dafür, den Palast des Marquis aufzusuchen und sich eine neue Pistole zu besorgen. Er hatte Lord Bontriomphe erzählt, daß er seine eigene Pistole in die Themse hatte werfen müssen, und Bontriomphe hatte gesagt: »Ich habe noch eine Heron 36er in meinem Schreibtisch. Ihr könnt sie benutzen, wenn Ihr wollt. Es ist eine gute Waffe.« Lord Darcy kam zu der Überzeugung, daß ihm ein guter kräftiger Drink vorher guttun würde. Er ging ins Schwertzimmer und bestellte einen Brandy mit Soda. Im Hotel war die angespannte Atmosphäre immer noch zu spüren; offensichtlich hatte man den Kongreß unterbrochen. Von allen Hexern, die er heute morgen gesehen hatte, hatte außer Master Sean niemand die silbernen Streifen eines Masters getragen. Am Ende der Theke sah Lord Darcy ein bekanntes Gesicht. Er stand auf und ging auf den Mann zu, der sich gerade eine Finte guten englischen Bieres zu Gemüte führte. »Guten Morgen, My Lord«, sagte er. »Ich hatte gedacht, daß Ihr Euch draußen auf der Jagd befindet.« Wanderhexer Lord John Quetzal blickte ein wenig erschreckt hoch. »Lord Darcy! Ich wollte mit Euch sprechen.« Sein Lächeln wirkte ein wenig traurig. »Man hat mich nicht darum gebeten, an der Suche nach Master Ewen teilzunehmen«, sagte er. »Man befürchtet wohl, daß es ein Wanderhexer nicht mit einem Master aufnehmen kann.« »Und Ihr glaubt, daß Ihr es doch könntet?« »Nein!« rief Lord John Quetzal aufgeregt. »Darum geht es doch überhaupt nicht! Master Ewen mag ein mächtigerer Hexer sein als ich, das will ich gar nicht bestreiten. Aber ich brauche mich ja gar nicht gegen ihn zu behaupten. Wenn er Magie anwendet, wenn man ihn eingekreist hat, dann kann ihn ein anderer, mächtigerer Hexer übernehmen. Es geht vielmehr darum, daß ich ihn finden kann. Ich kann herausfinden, wo er sich aufhält. Aber
es hört ja niemand auf einen Wanderhexer!« Lord Darcy sah ihn an. »Damit ich nichts falsch verstehe«, sagte er vorsichtig. »Ihr denkt, daß Ihr herausbekommen könntet, wo Master Ewen sich gerade versteckt hält?« »Das denke ich nicht nur, das weiß ich! Als Ihr die Demoiselle Tia letzte Nacht hereinbrachtet, da stank sie sieben Meilen gegen den Wind nach schwarzer Magie.« Er sah aus, als wollte er sich entschuldigen. »Ich meine natürlich keinen richtigen Geruch, versteht Ihr, nicht so, wie man Tabakgeruch wahrnehmen kann, oder . . .« er wedelte mit der Hand in die Richtung von Lord Darcys Glas, » . . . oder Brandy und so.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Es ist lediglich ein Vergleich eines geistigen Vorgangs mit dem Sinnesorgan, dem er am nächsten kommt. Deswegen nennt man Leute Eures Talents wohl auch Hexen-Riecher, nicht wahr?« »Genau, My Lord, so ist es. Und jeder Akt Schwarzer Magie hat seine eigene >Duftnote<, einen Gestank, der den Hexer verrät, der ihn begangen hat. Ihr habt mich Mittwochabend gefragt, ob ich jemanden verdächtige, und ich habe mich geweigert, Euch darauf Antwort zu geben. Aber es war Master Ewen. Ich konnte schon zu der Zeit den Makel an ihm wahrnehmen. Aber mit einem Beispiel seiner Vorgehensweise an der Hand könnte ich ihn aufspüren, egal, wo er sich in London versteckt hält.« Er lächelte ziemlich verlegen. »Ich saß gerade hier und überlegte mir, ob ich es nicht auf eigene Faust versuchen sollte.« »Ihr konntet den Gestank Schwarzer Magie an der Demoiselle Tia wahrnehmen«, sagte Lord Darcy. »Woher wußtet Ihr denn, daß sie die Schwarze Kunst nicht selbst ausgeübt hatte?« »My Lord«, sagte Lord John Quetzal, »es ist ein großer Unterschied zwischen einem schmutzigen Finger und einem schmutzigen Fingerabdruck.« Eine volle Minute lang blickte Lord Darcy schweigend in sein Glas. Dann leerte er es in zwei Zügen. »My Lord John Quetzal«, sagte er forsch. »Lord Bontriomphe und seine Wachmänner suchen Master Ewen. Sir Lyon und die Meisterhexer seiner Gilde ebenfalls. Ebenso Commander Lord Ashley und der Marinegeheimdienst. Und wißt Ihr was?« »Nein, My Lord«, sagte Lord John Quetzal und stellte seinen leeren Bierkrug ab, »was denn?« »Ihr und ich werden sie alle in den Schatten stellen! Kommt mit mir. Wir brauchen eine Mietdroschke. Erst zum Palace du Marquis und dann, My Lord, immer Eurer Nase nach.« Es dauerte Stunden. In einem kleinen Pub nördlich des Flusses saß Wanderhexer Lord John Quetzal und starrte mit leerem Gesichtsausdruck in einen Bierkrug, den er nicht zu leeren gedachte. »Ich glaube, ich habe ihn, My Lord«, sagte er mit ausdruckloser Stimme. »Ich glaube, ich habe ihn.« »Sehr gut«, sagte Lord Darcy. Er wagte nicht weiterzusprechen. Die ganze Zeit über hatte er auf der Karte Punkte markiert und war dem jungen Mechicaner gefolgt, der dem Schwarzen Zauberer immer näherrückte. »Es ist schwieriger, als ich dachte«, sagte Lord John Quetzal. Lord Darcy nickte grimmig. Hexen-Riechen war zwar nicht dasselbe wie Hellsehen, doch hatten die privaten Schutzzauber Londons die Wahrnehmungen des jungen Mechicaners naturgemäß getrübt. »Schwierig, ja«, sagte er, »aber ebenso sicher und gewiß.« Seine Lordschaft erkannte, daß der junge Wanderhexer seine begabung noch nicht vollkommen hatte ausbilden und schulen können. Das würde
sich erst mit wachsender Praxis und Erfahrung ergeben. »Gehen wir die Sache von Anfang an durch. Sagt nir, welche Hinweise und Fährten Ihr wahrgenommen habt.« »Jawohl, My Lord«, sagte der junge Mechicaner. »Er ist umringt von Helfershelfern — Master Ewen, meine ich. Aber jsie werden nicht ihr Leben für ihn riskieren.« »Eine außerordentlich starke psychische Spannung umgibt ihn«, fuhr Lord John Quetzal fort, »aber das hat nichts mit ihm selbst zu tun. Sie wissen nicht, daß es ihn überhaupt gibt.« »Ich verstehe, My Lord«, sagte Lord Darcy. »Eurer Beschreibung zufolge scheint es, daß er überwiegend von nicht-ttalentierten Menschen umgeben ist, die versuchen, das Talent zu gebrauchen.« Er breitete die Stadtkarte von London auf dem Tisch aus. »Jetzt wollen wir einmal sehen, ob wir es finden.« Er zeigte auf einen Punkt auf der Karte. »Von hier« — er zog mit dem Finger einen Strich — »in diese Richtung, wie?« »Ja, My Lord«, sagte Lord John Quetzal. »Dann von hier«, zeigte Lord Darcy, »nach hier ja?« »Ja.« Lord John Quetzal wußte die Richtung und die Länge, aber mehr konnte er nicht sagen. Immer wieder war Lord Darcy mit ihm dieselbe Routinearbeit durchgegangen, so daß sie jetzt schon monoton und langweilig wirkte. Und trotzdem kam jedesmal etwas Neues zum Vorschein. Schließlich konnte Lord Darcy einen Kreis auf die Stadtkarte von London malen und mit der Bleistiftspitze darauf zeigen. »Er befindet sich irgendwo in diesem Gebiet. Es gibt keine andere Antwort.« Dann legte er dem jungen Wanderhexer die Hand auf die Schulter. »Ich weiß, daß Ihr müde seid. Müdigkeit ist der übliche Zustand eines Königlichen Inspektors.« Lord John Quetzal streckte seine Rückenmuskeln und blickte plötzlich auf. »Ich weiß. Aber das da«, sagte er, und zeigte auf den Bleistiftkreis, »ist ein ziemlich großes Gebiet. Ich dachte, ich könnte ihn genauer, exakter lokalisieren.« Er atmete seufzend. »Und jetzt muß ich feststellen, daß . . .« »Na, na!« sagte Lord Darcy. »Ihr gebt zu schnell auf! Wir wissen, wo er ist; Ihr wißt lediglich nicht, wie nahe wir ihm sind. Wir wissen das grobe Gebiet, aber nicht, wie seine Umgebung genau aussieht.« »Aber eben da kann ich nicht weiterhelfen«, sagte Lord John Quetzal mit stumpfer Stimme. »Ich glaube doch«, sagte Lord Darcy. »Ich möchte Euch bitten, Euch auf die Symbole zu konzentrieren, die Master Ewen umgeben, nicht auf seine materielle Umgebung, sondern auf seine symbolische Umgebung.« Dann begann Lord Darcy wieder zu warten. Plötzlich blickte Lord John Quetzal hoch. »Ich habe eine Eingebung . . . ein Wappen, My Lord: Silber im Schrägkreuz, fünf Rauten in rot ... silber im Pfahl, drei dreiblättrige Kleeblätter in schwarz, das unterste umgekehrt.« Lord Darcy machte Notizen und legte vorsichtig die Hand auf den Tisch. »Noch eins bitte, My Lord, nur noch eins.« »Silber«, sagte Lord John Quetzal mit abwesendem Blick, »ein rotes Herz.« Lord Darcy lehnte sich zurück, nahm einen tiefen Atemzug und sagte: »Wir haben es, My Lord, wir haben es. Dank Eurer Hilfe. Kommt, wir müssen zurück nach Carlyle House.« Eine halbe Stunde später betrachtet Ihre Hoheit Mary, Herzoginwitwe von Cumberland, dieselbe Karte. »Ja, ja natürlich«, sagte sie. Sie blickte den jungen Mechicaner an. »Natürlich, Silber im Schrägbalken, fünf Rauten in rot.« Sie sah Lord Darcy an. »Karo fünf.« »Genau«, sagte Lord Darcy.
»Und das zweite ist die Kreuz Drei. Und das dritte das Herz As.« »Völlig richtig«, sagte Lord Darcy. »Bezweifelst du jetzt noch, daß er sich dort versteckt?« Sie blickte auf die Karte. »Nein, natürlich nicht. Natürlich ist er dort.« Sie sah beide an. »Weiter seid Ihr nicht gegangen, My Lords?« »War das noch nötig?« fragte Lord Darcy. »My Lord du Moqtessuma hat mir versichert, daß er es merken muß, wenn Master Ewen sein Versteck verlassen sollte. Nicht wahr, My Lord?« »Das stimmt. Das heißt«, fuhr er fort, »ich kann nicht für seine späteren Bewegungen bürgen, aber wenn er sich sehr weit von hier entfernen sollte, dann würde ich es merken.« »Eine Sache habe ich nicht verstanden«, sagte Ihre Hoheit. »Warum nämlich My Lord Quetzal nicht sofort die Symbolik erkannt hat.« Sie blickte den jungen mechicanischen Adligen lächelnd an. »Damit will ich keineswegs Eure Fähigkeiten schmälern. Ihr habt die Symbole ja visualisiert, und dennoch habt Ihr sie in die Sprache der Heraldik übersetzt und nicht in die des Kartenspiels. Sicherlich könntet Ihr das erklären, aber mit Eurer Erlaubnis würde mich zunächst einmal interessieren, wieso Lord Darcy es dann wußte.« »Ich wußte etwas, was du nicht wissen konntest«, sagte Lord Darcy lächelnd. »Vorletzten Abend sprachen wir über Mechi-Coe. Und während du beim Umziehen warst, unterhielten wir uns über Glücksspiel und Gesellschaftsspiele in Medhicoe. Ich .bemerkte, daß Lord John Quetzal nicht einmal Spielkarten 'ahnte, woraus ich schloß, daß man sie dort nicht viel verwendet.« »In Mechicoe«, sagte Lord John Quetzal, »wird ein Kartenspiel normalerweise als ein Wahrsagemittel angesehen, das von Zauberern und Schwarzmagiern ohne Lizenz benutzt wird. Ich kenne das Kartenspiel nicht als Glücksspiel, obwohl ich natürlich davon gehört habe, daß man es als solches gebrauchen kann.« »Natürlich«, sagte Lord Darcy. »Deshalb habt Ihr auch die Symbolik, die Ihr geschaut habt, in die Sprache der Heraldik übersetzt, mit der Ihr vertraut seid. Und Eure Beschreibung ist völlig eindeutig.« Er blickte die Herzogin an. »Und deshalb sind wir zu dir gekommen. Wenn irgend jemand die Spielklubs von London kennt, dann bist du es ja wohl.« Sie blickte wieder in die Karte. »Ja«, sagte sie. »In der Gegend gibt es solch einen Klub. Er muß hier sein, der Manzana de Oro.« »Ah«, sagte Lord Darcy. »Der Goldene Apfel, eh? Was weißt du darüber?« »Er gehört einem Mohren aus Granada.« »Tatsächlich? Beschreibe ihn bitte.« »Ach, er ist ein absolut faszinierendes Wesen«, sagte Ihre Hoheit. »Er ist groß, so groß wie du, und sieht teuflisch gut aus. Er hat dunkle Haut, fast schwarz, blitzende Augen und einen Spitzbart. Er kleidet sich in prunkvolle Gewänder, trägt einen gewaltigen Smaragd am linken Ringfinger und einen riesigen Rubin, vielleicht ist es auch ein Spinell, im Turban. An der Hüfte trägt er einen juwelenbesetzten Dolch persischer Herkunft, der wahrscheinlich allein schon ein Vermögen wert ist. Soweit ich weiß, ist er ein fürchterlicher Halunke, aber sein Benehmen und Auftreten ist fraglos das eines Gentleman. Er nennt sich Sidi al-Nasir.« Lord Darcy lehnte sich zurück und lachte lauthals. »Darf ich fragen«, sagte die Herzogin beißend, »was daran wohl so lustig sein mag, My Lord?« »Meine Abbitte«, sagte Lord Darcy und unterdrückte ein Lachen. »Ich wollte nicht lustig sein. Du mußt es unserem maurischen Freund anlasten.
>Sidi al-Nasir<, ganz bestimmt! Wie wunderbar! Ich glaube, ich werde diesen Gentleman mögen.« »Wäre es vielleicht zuviel gefragt«, sagte die Herzogin freundlich, »wenn man uns auch in den Witz einweihen würde?« »Es geht um die glückliche Wahl von Name und Titel«, sagte Lord Darcy. »Grob übersetzt bedeutet Sidi al-Nasir soviel wie,My Lord der Gewinner. Wie köstlich er es fertiggebracht hat, die Spieler der Oberschichten Londons darüber aufzuklären, daß die Bank immer wieder gewinnt. Ja ja, ich glaube, ich werde My Lord al-Nasir mögen!« Er blickte die Herzogin an. »Hast du Zutritt zu seinem Klub?« »Das weißt du doch«, sagte sie. »Sonst hättest du es doch nicht erwähnt.« »Stimmt«, sagte Lord Darcy unverblümt. »Aber da du nun von unserer kleinen Falle weißt, will ich dir nicht das weitere Vergnügen mißgönnen, uns dabei zu helfen, unser Opfer ordentlich auszuheben.« Er blickte Lord John Quetzal an. »My Lord, das Opfer ist gestellt. Jetzt müssen wir nur noch die Falle entwerfen.« Lord John Quetzal nickte lächelnd., »In der Tat, My Lord. O ja, in der Tat. Also, um anzufangen . . .« Die Nacht war klar, und jeder Stern funkelte wie ein Edelstein auf dem schwarzen Samt des Himmels. Eine prunkvolle Kutsche mit dem Wappen der Cumberland fuhr vor dem Manzana de Oro vor. Wer dort als erstes ausstieg, war niemand anders als Ihre Hoheit, die Herzoginwitwe von Cumberland. Ein großer, schlanker, gutaussehender Mann in makelloser Abendgarderobe folgte ihr. Der dritte Fahrgast war ebenso groß, ein dunkler Mann, der das Wappen des Herzogshauses Moqtessuma trug. Alle drei verneigten sich tief, als der vierte Fahrgast ausstieg. Seine Hochwohlgeboren der Prinz von Vladistov war ein jeiner, etwas rundlicher Gentleman, der einen dunklen, buschigen Bart trug und im rechten Auge ein Monokel eingeklemmt hatte. Schweigend entstieg er würdevoll der Kutsche und erwiderte die Verneigungen seiner Begleiter mit einem herablassenden Kopfnicken. Ihre Hoheit von Cumberland nickte den Portiers zu, die in Habt-acht-Stellung Spalier standen, dann betraten die vier den Manzana de Oro. An der Innentür sagte der Begleiter Ihrer Hoheit zum Majordomus: »Meldet My Lord al-Nasir Ihre Hoheit Mary, Herzoginwitwe von Cumberland, Lord John ! Quetzal du Moqtessuma de Mechicoe; Seine Durchlaucht Jean, Prinz von Vladistov, und mich selbst, den Lord of Arcy.« Der Majordomus machte eine tiefe Verbeugung und sagte: »Seine Lordschaft wird sofort benachrichtigt.« Dann blickte er auf die Herzoginwitwe. »Mit Verlaub . . . Euer Gnaden bürgen für diesen Gentleman?« »Aber natürlich, Edelmann Abdul«, sagte Ihre Hoheit befehlend, und die vier schritten über die Schwelle. Lord Darcy blieb ein wenig zurück und wisperte Lord John Quetzal zu. »Ist er hier?« »Er ist hier«, sagte Lord John Quetzal. »Ich kann ihn jetzt auf zehn Fuß genau lokalisieren.« »Gut. Immer lächeln und mir nachfolgen. Aber wenn er sich entfernen sollte, gebt sofort Bescheid.« Sie folgten Ihrer Hoheit und dem prächtig gekleideten Prinz von Vladistov ins Innere des Hauses. Der Vorraum war groß, etwa dreißig mal zwanzig Fuß, und gab auf keine Weise zu erkennen, daß es sich beim Manzana de Oro um einen Spielklub handelte. Die Einrichtung war maurisch und für Lord Darcy, der Südspanien, Nordafrika und Arabien bereist hatte, viel zu maurisch. Die
Einrichtung und das Dekor waren nicht die eines Gesellschaftsklubs islamischer Länder, sondern die eines Harems. Die Wände waren mit Goldstoffen behängt oder sahen wenigstens so aus. Die Eingangsbögen waren mit Koranzitaten bestickt — ja, bestickt war das richtige Wort, die zwar wegen ihrer arabischen Schrift recht dekorativ wirkten, aber völlig zusammenhanglos wirkten. In den Boden waren maurische Kacheln eingelassen worden, und um die Wände herum standen exotische Pflanzen in Messingkübeln, geschmackvoll angeordnet. Mitten im Raum befand sich ein Springbrunnen, dessen Fontänen vor sich hinspielten und das Wasser in phantastischen, sie nie wiederholenden Mustern fließen ließen. Der Springbrunnen war mit Lichtern bestückt, die ihre Farben ständig veränderten. Im Raum standen wohlangezogene Leute herum und tauschten Komplimente aus. Ihre Hoheit drehte sich um und lächelte. »Begeben wir uns in die Spielsäle, edle Sirs?« Der Prinz von Vladistov blickte Lord Darcy an. Lord Darcy sagte: »Aber gewiß, Euer Gnaden.« Sie zeigte auf eine der Seitentüren und sagte: »Wenn Ihr mir folgen wollt.« Dann gingen sie durch die rechte Tür. Der Spielsaal war noch farbenprächtiger als der Vorraum. Die Wandbehänge waren aus purpur und rot besticktem Goldstoff, der mit Darstellungen aus der islamischen Mythologie verziert war. Aber all dies bildete nur den blassen Hintergrund für die orientalische Pracht des Raumes selbst und die glitzernde Abendtracht der Leute, die an den Spieltischen standen und vor dem Hintergrund fast funkelten. Eine Anzahl scharfäugiger Männer bewegte sich unauffällig durch die Reihen und beobachtete das Spiel. Lord Darcy wußte, daß es sich bei ihnen um Wanderhexer handelte, die gedungen worden waren, um jeden, der ein geschultes Talent zum Gewinnen einsetzen wollte, ausfindig zu machen. Ihre Aufgabe war es nicht, solche Magie zu verhindern, sondern nur, sie zu melden und den Missetäter hinauszuwerfen. Der Prinz von Vladistov lächelte Lord Darcy fröhlich an und sagte sehr leise: »Spürt Master Ewen jetzt auch genau, My Lord, aufgrund von Lord John Quetzals Hilfe. Jetzt haben wir ihn aber! Er ist im Raum rechts, gleich hinter dem Bogen mit dem purpurnen Gekrakel.« Lord Darcy verneigte sich. »Euer Hochwohlgeboren sind außerordentlich scharfsinnig«, sagte er. »Aber wo zum Teufel ist Sidi al-Nasir?« Es war eine rhetorische Frage, auf die er keine Antwort erwartete. Mary De Cumberland hatte ihm versichert, daß al-Nasir unweigerlich Mitglieder des Adels zu begrüßen pflegte, wenn sie in seinen Klub kamen, aber nun war der Mohr weit und breit nicht zu sehen. Der Prinz von Vladistov beantwortete Lord Darcys rhetorische Frage. »Er scheint in seinem Büro zu sein. Wir sind uns zwar nicht völlig sicher, Lord John Quetzal und ich, aber wir sind uns einig, daß er dort zu sein scheint.« Lord Darcy nickte. »Gut, machen wir es so.« Er lächelte die Herzoginwitwe von Cumerland an und sagte sehr leise zu ihr: »Euer Gnaden, ich stelle fest, daß der Gentleman, der uns an der Tür empfangen hat, uns gefolgt ist.« Sie blickte sich nicht um. »Edelmann Abdul? Ja. Inzwischen wundert er sich wahrscheinlich, warum wir noch nicht an die Spieltische getreten sind.« »Eine gute Frage, von seinem Standpunkt
aus betrachtet. Wir werden das ausnutzen. Geh zu ihm und frage ihn, wo Sidi al-Nasir ist. Bestehe darauf, den Sidi zu sprechen. Schließlich hast du einen allerhöchsten Gast mitgebracht, den Prinzen der fernen russischen Prinzipalität von VIadistov, und du siehst nicht ein, warum el Sidi ihn nicht so empfängt, wie es ihm zusteht. Trage ruhig schön dick auf. Aber sorge dafür, daß er uns den Rücken zuwendet.« Sie nickte und schritt durch den Raum auf el Sidis Diener zu, während die drei anderen sich um die Tür scharten, auf die sie es abgesehen hatten. Sobald die Herzogin Abdul abgelenkt hatte, flüsterte Lord Darcy: »Also los, rein!« Lord John Quetzal drehte sich um und beobachtete die Menge genau. Lord Darcy und der Prinz von VIadistov schritten auf die Tür zu. »Kein Zauber drauf«, sagte der kurze runde Mann mit dem Bart. »Zu viele Leute, die hinein- und herausgehen.« »Sehr gut«, sagte Lord Darcy, griff nach der Tür und öffnete sie. Blitzschnell verschwanden die beiden dahinter und verschlossen die Tür hinter sich. Sidi al-Nasir sah genauso aus, wie ihn die Herzogin beschrieben hatte. Als er die beiden Fremden ins Zimmer treten sah, griff er nach einer Schublade und hielt ein. Sein schwarzes Auge blickte in die ebenso schwarze Mündung der .36er Heron, die ihn anstarrte. Dann hob er das Gesicht und sah den Mann an, der die Waffe trug. »Mit Euer Erlaubnis, My Lord«, sagte er kühl, »werde ich meine leere Hand auf den Schreibtisch legen.« »Das schlage ich auch vor«, sagte Lord Darcy. Er blickte auf den Mann, der Sidi al-Nasir gegenübersaß. »Guten Abend, My Lord. Ich stelle fest, daß Ihr schon vor mir hier seid.« Commander Lord Ashley lächelte ruhig. »Es war unvermeidlich«, sagte er in einem kühlen "beherrschten Ton. »Es freut mich, Euch zu sehen.« Er blickte auf Sidi al-Nasir. »My Lord al-Nasir hat mir soeben vorgeschlagen«, sagte er, »daß ich in den Dienst der Polnischen Regierung eintreten solle.« Lord Darcy sah den dunkelhäutigen Mann an. »Das habt Ihr also, My Lord der Sieger?« Sidi al-Nasir spreizte die Hand auf der Schreibtischplatte. »So versteht Ihr denn das Arabische, edelster Herr?« sagte er auf arabisch. »Obwohl meine Zunge in der Sprache aller Sprachen vielleicht nicht so beflügelt ist wie die Eure«, sagte Lord Darcy ebenfalls in arabisch, »so reicht mein weniges Wissen um die Sprache des Propheten wohl für die meisten Unterhaltungen aus.« Sidi al-Nasirs feine Lippen lächelten. »Widerspruch ist nicht mein Sinn, Edelster«, sagte er. »Doch davon einmal abgesehen, daß Eure Aussprache einen Lehrer verrät, der ein Untertan des Shah-in-Shah war, ist Eure Beherrschung des Sprache des Qu'ran außerordentlich flüssig.« Lord Darcy gestattete sich ein Halblächeln. »Es ist wahr, daß mein verehrter Lehrer der edlen Sprache des Propheten des Islam vom Hofe des Gottes auf Erden, des Shah von Persien kam, aber — wollt Ihr vielleicht, daß ich in der heruntergekommenen Weise rede, wie man sie in Nordwestafrika und Südspanien hören muß?« Lord Darcys plötzlicher Wechsel der Aussprache ließ Sidi al-Nasir zusammenzucken. Dann hob er die Augenbrauen und weitete sein Lächeln noch mehr aus. »Ah, Weisester aller Weisen, Euer Wissen verrät Euch. Nur wenige Männer des Frankenreichs beherrschen solcherart die Zunge aller Zungen. So seid Ihr denn der wohlbekannte
Sidi von Arcy: Es ist mir in der Tat eine Freude, Euer Lordschaft kennenzulernen.« »Ich hoffe«, sagte Lord Darcy, »daß die Ereignisse, bezeugen werden, daß es eine Freude war, Euch kennenzulernen, My Lord. Sollen wir anglo-französisch reden?« »Aber gewiß doch«, sagte Sidi al-Nasir. Er sah Lord Ashley an. »Also war alles eine Falle?« Lord Ashley nickte. »Alles eine Falle, mein lieber al-Nasir.« »Eine dürftige Falle«, sagte Sidi al-Nasir lächelnd. »Miserabel geplant und miserabel durchgeführt.« Er lachte still in sich hinein. »Ich brauche nicht einmal die Wahrheit zu leugnen.« »Well«, sagte Lord Darcy, »das werden wir ja sehen. Was ist denn die Wahrheit?« Sidi al-Nasirs Lächeln verschwand nicht. Er blickte lediglich Commander Lord Ashley an. Lord Ashley erwiderte seinen Blick kurz und lächelte dann Lord Darcy an. »Tut mir leid, Euch das angetan zu haben. Wußte nicht, daß Ihr herkommen würdet. Wir haben schon lange vermutet, daß der Manzana de Oro das Hauptquartier eines polnischen Spionagerings ist. Um Beweismaterial zu bekommen, habe ich hier Schulden von . . .« Er blickte Sidi al-Nasir an. Der Mohr lächelte auch noch, während er seufzte. »Von zirka einhundertundfünfzig Goldsovereigns, My Lord. Mehr, als Ihr in einem Jahr verdient.« Lord Ashley nickte ruhig. »Genau. Und heute abend habt Ihr mir zwei Möglichkeiten angeboten. Entweder würdet Ihr meine Schulden der Admiralität melden, dann wäre ich, wie Ihr annahmt, ruiniert; oder ich würde ein Spion Seiner Slavischen Majestät werden.« Sidi al-Nasirs Lächeln weitete sich noch mehr. »Deswegen habe ich ja gesagt, daß die Falle recht miserabel war, My Lord Commander. Ich bestreite, daß ich Euch ein solches Angebot gemacht habe, und Ihr habt keine Zeugen, um es zu beweisen.« Lord Darcy, der die Pistole immer noch auf den Mohren gerichtet hielt, lächelte. »My Lord al-Nasir, ich möchte behaupten, daß ich absolut sicher bin, daß Ihr soeben My Lord dem Commander ein solches Angebot gemacht habt.« Sidi al-Nasir zeigte seine weißfen Zähne. »Ah, My Lord, Ihr mögt Euch gerne sicher sein.« Er lachte. »Vielleicht bin ich mir sogar auch sicher, eh? Und Lord Ashley ist sich natürlich auch sicher. Aber«, sagte er und spreizte die Hände, »sind das Beweise? Käme man damit vor Gericht durch?« Plötzlich blickte er sehr traurig vor sich hin. »Ach ja, Ihr könntet mich natürlich deportieren. Das Beweismaterial von Lord Ashley mag dafür vielleicht ausreichen. Es gibt zweifellos genügend Verdachtsmomente, um mich in mein heimatliches Spanien zurückzuschicken. Ich muß das Aanzana de Oro schließen. Wie schade, den Nebel und die Kälte Londons mit der Wärme, den Farben, der Schönheit Granadas vertauschen zu müssen . . .« Dann lächelte er Lord Darcy wieder an. »Aber ich fürchte, daß Ihr mich nicht einkerkern könnt.« »Was das angeht«, sagte Lord Darcy, »so habt Ihr vielleicht recht. Aber wir werden sehen.« »Ist es wirklich notwendig, daß Ihr die Mündung dieser Waffe auf mich richten müßt, My Lord?« sagte Sidi al-Nasir. »Ich finde das nicht eben eines Gentlemans würdig.« »Natürlich, My Lord«, sagte Lord Darcy und bewegte die Waffe um kein winziges Jota. »Wenn Ihr die Güte hättet, nicht nur die Pistole, nein! nein! . . . die ganze Schublade eures Schreibtisches zu entfernen. Es könnten ja mehrere Waffen darin sein.«
Sidi al-Nasir zog vorsichtig die Schublade hervor und legte sie auf den Schreibtisch. »Nur eine, My Lord, und ich würde nicht im Traum daran denken, sie in Eurer Gegenwart anzufassen.« Lord Darcy blickte auf die Waffe, die den ganzen Schubladeninhalt ausmachte. »Ah«, sagte er, »eine .39er Toledo. Eine sehr gute Waffe, My Lord. Ich werde dafür Sorge tragen, daß sie Euch zurückgegeben wird, sofern das Gesetz dies gestattet.« Als Sidi al-Nasir des Gesichtsausdrucks von Lord Darcy gewahr wurde, flackerte sein Obsidianauge einen Augenblick unruhig. In dem Augenblick erkannte er, daß Lord Darcys Wissen mehr umspannte als nur einen Spionageverdacht. Der Sidi merkte, daß diese Falle wohl gefährlicher war, als er zunächst angenommen hatte. »Es ist möglich«, sagte er in verbindlichem Ton, »daß die Verluste von Lord Ashley von einem Meisterhexer verursacht wurden, den ich mittlerweile aus meinen Diensten entlassen habe. Bis vor kurzem waren die Gewinne des Commanders beachtlich hoch. Der Meisterhexer, von dem ich sprach, mag beschlossen gehabt haben, dies ein wenig zu korrigieren. Sollte dies der Fall sein, so bin ich natürlich nicht selbst verantwortlich . . .« »Ah«, sagte Lord Darcy. »Also wurde Commander Lord Ash-leys leichte hellseherische Fähigkeit von Master Ewen bezwungen.« Ohne den Blick von Sidi al-Nasir abzuwenden, sagte er zu Lord Ashley: »Was habt Ihr normalerweise gespielt, Lord Ashley?« »Rouge-et-Or«, sagte der Commander. »Ich verstehe. Dann wäre Hellsichtigkeit in einem solchen Spiel wenig nutzbringend, wenn ein Meisterhexer gegen einen arbeitet. Wenn Ihr auf irgendeine bestimmte Nummer setzt, dann sorgt der Meisterhexer dafür, daß die kleine Elfenbeinkugel fast nie in den richtigen Schlitz fällt, selbst wenn er aus einem anderen Zimmer heraus arbeitet.« Er blickte Sidi al-Nasir direkt in die Augen. »Ein gezielter Plan also. Ihr habt versucht, den Commander in Euren Dienst zu pressen, indem Euer Hexer ihn beim Spiel verlieren ließ.« »Wir hatten etwas derartiges erwartet«, sagte Lord Ashley fröhlich, »deshalb haben wir uns dann dazu entschlossen, abzuwarten, was Sidi al-Nasir dann wohl unternimmt.« Der Sidi al-Nasir zuckte mit den Schultern und behielt die Hände immer noch auf der Tischplatte. »Was immer auch geschehen sein mag«, sagte er, »ich versichere Euch, daß dieser Hexer nicht länger in meinem Dienst steht. Meine Informationen drängen mir allerdings die Vermutung auf, daß Ihr ihn wohl sehr gerne lokalisieren wollt. Es ist möglich, daß ich Euch dabei von Diensten sein kann. Ich könnte Euch mitteilen, wo sich Master Ewen befindet. Wir sind schließlich alle vernünftige Leute, nicht wahr?« »Ich fürchte, Eure Information ist überflüssig«, fing Lord Darcy an. In diesem Augenblick wurde die Bürotür aufgestoßen, und Lord John Quetzal stürmte herein. »Aufgepaßt! Er entfernt sich! Er weiß, daß er verraten Wird!« Noch während er sprach, schwang die hintere Tür auf, und Master Ewen Mac Auster kam herausgerannt. Er lief auf die Tür zu, die für ihn die Freiheit bedeutete. Zwischen ihm und der Tür stand nur Lord John Quetzal. Der Schwarzmagier machte eine Handbewegung in Richtung des jungen Mechicaners. Lord John Quetzal warf die Hand hoch, um den Zauber anzuwehren, doch reichten seine Wanderhexerfähigkeiten nicht aus, um es mit einem
Master aufzunehmen. Sein eigener Schutzzauber milderte den Zauben ab, konnte ihn jedoch nicht völlig unschädlich machen. Er schwankte und ging in die Knie. Er fiel nicht um, aber seine Augen wurden glasig, und er verblieb unbeweglich in seiner Stellung. Doch sein Augenblick des Widerstand, so kurz er auch angedauert hatte, genügte, um Master Ewens Flucht zu bremsen. Der falsche Prinz von Vladistov trat bereits in Aktion. Master Sean O Lochlainn riß sich den falschen Bart vom Gesicht und ließ sein Monokel zu Boden fallen. Lord Darcy bewegte sich nicht. Er brauchte jedes bißchen seiner Selbstbeherrschung, um die Pistole auf Sidi al-Nasir gerichtet zu halten. Der Mohr blieb auch bewegungslos und blickte nicht einmal von der Mündung der Pistole fort. Der Schwarze Hexer wirbelte herum, um Master Sean ins Gesicht blicken zu können, und zeichnete mit grimmiger Miene ein kompliziertes Symbol in dessen Richtung. Lord Darcy und jeder der anderen Anwesenden fühlte den Schub dieses hastig durchgeführten Zaubers. Master Ewen hatte die Zeit im Versteck offenbar dazu benutzt, vorbereitende Zauber durchzuführen, die ihn zur rechten Zeit schützen sollten. Eine halbe Sekunge lang schien Master Sean, gegen den der Zauber sich richtete, einzufrieren. Aber dann hatte er sich auch schon gewappnet, weil er sich bei seiner Vorbereitung im Gegensatz zu seinem Gegner darüber im klaren sein konnte, mit wem er es zu tun haben würde. Master Seans Hand beschrieb ein Symbol in der Luft. Master Ewen zuckte zusammen, biß die Zähne aufeinander und zog einen langen weißen Stab aus seinem Gewand. Niemand sonst im Raum konnte sich bewegen, nicht einmal Lord Darcy. Sie blieben teilweise in ihren Stellungen, weil sie von der psychischen Spannung im Raum gebannt waren, teilweise aber auch, weil sie sehen wollten, wie das Duell der beiden Meisterhexer ausgehen würde; der Hauptgrund aber waren die ungezielten Abstrahlungen der Zauber selbst, die sie unbeweglich machten. Außer Master Sean erkannte niemand den weißen Stab, den Master Ewen gezogen hatte. Master Sean aber wußte, daß er aus einem menschlichen Schenkelknochen gemacht worden war, und sofort hatte er einen Gegenzauber parat. Der Schenkelknochenstab wurde nach vorne gestoßen, und auf Master Ewens Lippen spielte ein übelwollendes Lächeln. Die Wirkung der Abstrahlung erstreckte sich über die unmittelbare Umgebung hinaus. In den Spielräumen draußen schienen die Spieler einen Augenblick lang zu Eis zu erstarren. Dann begannen die risikofreudigsten unter ihnen aus keinem erkennbaren Grund die waghalsigsten Einsätze zu tätigen. Ein Junge aus einer bekannten, äußerst begüterten Familie setzte fünfzig Goldsovereigns auf eine Position, die ihm selbst im Falle eines Gewinns allenfalls einen einzigen Silbersovereign gebracht hätte. In al-Nasirs Büro aber zuckte Lord John Quetzal plötzlich die Augen und wandte sein Gesicht ab, Lord Ashley begann, seinen Degen zu ziehen, und Sidi al-Nasir selbst stand schwankend von seinem Schreibtisch auf. Lord Darcys Hände zitterten, während er die Pistole immer noch auf den Sidi gerichtet hielt, ohne jedoch zu feuern. Doch Master Sean war es gelungen, selbst diesen Zauber abzumildern und unschädlich zu machen, der ihn dazu bringen sollte, irgendeine unbedachte Handlung zu begehen. Mit fester Entschlossenheit schritt
er auf Master Ewen zu, und als er sprach, war seine Stimme kalt und hart. »Im Namen der Gilde, Master Ewen — gebt auf Sonst bin ich nicht verantwortlich für das, was dann geschehen wird.« Master Ewens Antwort bestand aus drei wütenden, schmutzigen Schimpfwörtern. Wiederum fuhr der gebleichte Schenkelknochenstab nach vorn, und wiederum widerstand Master Ewen dem Anprall des Zaubers. Ohne Stab, ohne irgend etwas in der Hand, das ihn schützen konnte, hatte Master Sean den entscheidenden Schritt unternommen. Doch nicht den allerletzen, denn Master Ewen wiederholte seine Handlung. Er trat vor und stach wiederum mit dem kalkweißen Stab nach vorne. Er schritt nochmals vor. Ein weiterer Stoß. Ein weitere Schritt. Ein weiterer Stoß. , Ein weiterer Schritt. Master Sean schritt zur Seite und behielt Master Ewen fest im Auge. Die Stöße des Schwarzen Zauberers zielten nicht mehr auf Master Sean, sondern auf die Stelle, an der er gestanden hatte. Master Sean atmete tief durch. »Ich fange ihn wohl besser ein, bevor er gegen die Wand rennt.« Lord Darcy zielte mit seiner Pistole immer noch auf Sidi al-Nasir. »Was ist los mit ihm?« fragte er. »Er ist in einem Zeitkreis gefangen, My Lord. Ich habe seine Gedankenvorgänge verknotet. So denkt er die ganze Zeit im Kreis, immer wieder. Das wird er so lange tun, bis ich ihn davon befreie.« Trotz Master Ewens offensichtlich thaumaturgischer Gesten merkte jeder im Raum, daß der Abstrahlungseffekt verschwunden war. Was auch immer in Master Ewens Geist vorgehen mochte, es hatte keinerlei magische Auswirkung mehr. »Wie geht es Lord John Quetzal?« fragte Lord Darcy. »Sobald ich ihn von dem Betäubungszauber befreit habe, wird er wieder in Ordnung sein.« »Saubere Arbeit, Master Sean«, sagte Lord Darcy. »My Lord Ashley«, sagte er zu dem Marinecommander, »würdet Ihr so gut sein, an das nächste Fenster zu treten und um Hilfe zu rufen? Dieses Gebäude ist von den Wachmännern Londons umstellt.« Sir Frederique Bruleur, der Seneschall des Palace du Marquis, brachte drei Tassen Kaffee in De Londons Büro. Die erste Tasse stellte er mitten auf den Schreibtisch von My Lord Marquis, die zweite mitten auf den Schreibtisch von Lord Bontriomphe und die dritte an die Kante von Lord Bontriomphes Schreibtisch, neben dem Lord Darcy saß. Dann zog er sich schweigend zurück. My Lord Marquis nippte an seiner Tasse und starrte Lord Darcy böse an. »Ihr besteht auf dieser Gegenüberstellung, My Lord Cousin?« »Könnt Ihr eine andere Methode vorschlagen, wie wir an das Beweismaterial gelangen können, das wir brauchen?« fragte Lord Darcy ungerührt. Er hatte die Angelegenheit schon früher mit My Lord Marquis besprechen wollen, doch hatte dieser darauf bestanden, erst nach dem Essen darüber zu reden. Der Marquis nippte erneut an seinem Kaffee. »Nein, ich glaube nicht«, sagte er. Er sah Lord Bontriomphe an. »Ihr habt Master Ewen jetzt hinter Gitter gesperrt. Ich hoffe doch, daß er nicht entkommen kann?« »Er wird von drei Meisterhexern bewacht«, sagte Lord Bontriomphe. »Master Sean hat einen Zauber auf ihn gelegt, der ihn in völligem Stupor hält, bis wir ihn wieder davon
befreien. Was wollt Ihr mehr?« Der Marquis von London schnaubte. »Ich will mir sicher sein, daß er nicht entkommen kann, was denn sonst?« Er blickte auf die Wanduhr. »Es ist jetzt drei Stunden her, daß Ihr die Verhaftungen im Manzana de Oro durchgeführt habt. Wenn sich Master Ewen noch immer in seiner Zelle befindet, dann will ich konzedieren, daß Ihr ihn gut bewacht haltet. Aber zum Thema: Was wißt Ihr bisher?« Lord Bontriomphe antwortete. »Master Ewen gibt fast alles zu. Er weiß, daß wir ihn wegen Spionage belangen können, wegen Schwarzer Magie, wegen thaumaturgischer Körperverletzung und versuchten Mordes an Demoiselle Tia Einzig. Das alles gibt er zu, aber weigert sich, einen Mord zu gestehen. Bis Master Sean ihn unter einen Beruhigungszauber setzte, redete er sich die Lippen wund; er gab alles zu, nur nichts, was seinen Kopf in die Schlinge gebracht hätte.« »Pahl Natürlich will er nur seine armselige Haut retten! Also gut. Was ist passiert? Ich habe Eure Berichte und die von Lord Darcy. Die Schlußfolgerungen sind offensichtlich. Was meint Ihr?« Er blickte Lord Bontriomphe voll in die Augen. Lord Bontriomphe zuckte die Schultern. »Ich bin nicht das Hausgenie hier. Ich werde Euch sagen, was Chief Hennely glaubt. Ich werde Euch von seiner Theorie erzählen, egal wie richtig oder falsch sie sein mag. Allerdings glaube ich nicht, daß sie in allen Einzelheiten stimmt. Jedenfalls hat Chief Hennely die Sache mit Lord Ashley beredet und mit Captain Smollett, also gebe ich Euch deren Theorien wieder, was immer sie taugen oder nicht taugen mögen. Zunächst einmal brauchen wir uns wegen des Mordes in Cherbourg keine Gedanken zu machen. Er wurde von einem polnischen Agenten verübt, weil die Polen herausbekommen hatten, daß Barbour ein Doppelagent war. Und unsere Chancen, den Mörder noch zu fangen, sind denkbar gering. Der Mord an Sir James steht auf einem anderen Blatt. Da wissen wir, wer der Mörder ist und welche Waffe er benutzt hat. Wir wissen, daß Demoiselle Tia erpreßt wurde, daß Master Ewen damit gedroht hatte, ihren Onkel ermorden zu lassen, wenn sie seinen Befehlen nicht gehorchte. Sie gehorchte aber nicht und erzählte alles Sir James Zwinge. Natürlich mußte Master MacAliser Sir James aus dem Weg räumen, auch wenn das bedeutet, daß er damit den Kopf des europäischen Geheimdienstnetzes fällte und die Polen die ganze Arbeit, seinen Nachfolger zu identifizieren, wieder von vorne anfangen mußten. Was das wie angeht, so war der halbmondförmige Blutfleck, den Lord Darcy mir zeigte, der wichtigste Hinweis. Das ist doch einleuchtend, nehme ich an? Es war der Abdruck eines Absatzes. Und es gab nur ein Paar Schuhe im Hotel, das einen solchen Abdruck hinterlassen konnte — die hochhackigen Schuhe von Tia Einzig. Sehen wir uns das Beweismaterial an. Aus Meister Seans Bericht wissen wir, daß Sir James nicht um 9.30 Uhr erstochen wurde, als er nämlich schrie, sondern bereits gegen neun, eine halbe Stunde früher also. Die Wunde führte nicht sofort zum Tod.« Er blickte wieder Lord Darcy an. »Sir James lag ungefähr eine halbe Stunde bewußtlos auf dem Boden. Als er Master Seans Klopfen hörte, kam er lange genug aus seinem Koma, um nach Master Sean zu rufen und um zu versuchen, aufzustehen. Doch diese letzte Anstrengung gab ihm den Rest. Er fiel hin und starb.
Stimmt Ihr dem zu?« »Ganz gewiß«, sagte Lord Darcy. »Anders kann es nicht geschehen sein. Das zeigen die Untersuchungen. Aber Ihr müßt immer noch eine Erklärung dafür finden, wie er in einem verschlossenen Raum erstochen werden konnte.« »Es tut mir zwar leid, das sagen zu müssen«, sagte Lord Bon-triomphe, »Aber Master Seans Aussage scheint mir ein wenig fehlerhaft zu sein. Da ein anderer Meisterhexer an der Arbeit war, ist es wohl nicht verwunderlich, wenn das Beweismaterial durcheinandergebracht wird. Folgendes muß geschehen sein: Master Ewen, der die Demoiselle Tia aus dem Weg schaffen mußte, entschloß sich, gleichzeitig Master Sir James unschädlich zu machen. Er verzauberte sie. Sie verschaffte sich Zutritt zu Master Sir James' Zimmer, erstach ihn in einem günstigen Augenblick und verließ das Zimmer, wobei ihr Absatz den bewußten Abdruck hinterließ.« Lord Bontriomphe lehnte sich zurück. »Wäre nicht dieser Abdruck da, ich würde wohl annehmen, daß Master Ewen Master Sir James mit einem Zauber verhexte, so daß sich dieser selbst das Leben nahm. Aber nicht einmal unter einem solch starken Zauber würde ihm das völlig gelingen, einen Menschen zum Selbstmord zu bewegen, auch nicht mit Magie.« Er blickte Lord Darcy an. »Wie Ihr ja am Beispiel von Demoiselle Tia selbst erfahren konntet, My Lord. Obwohl sie unter dem Zwang stand, von der Brücke springen zu müssen, versuchte sie dennoch, sich über Wasser zu halten.« »Das ist richtig«, sagte Lord Darcy, »fahrt ruhig fort.« »Wenn, wie gesagt, nicht dieser Abdruck wäre. Es wäre zwar immer noch möglich, aber den Abdruck muß mir dann erst einmal jemand erklären. Also ist die Demoiselle Tia wohl nicht wirklich des Mordes an Master Sir James schuldig, aber sie hat ihn vermutlich verübt, wobei Master Ewen nach ihrem Weggang von oben das Zimmer mittels eines Zaubers verschloß.« Der Marquis von London schnaubte laut und wollte etwas sagen, doch Lord Darcy wehrte ab. »Bitte, My Lord Cousin, ich halte es für unabdingbar, daß wir Lord Bontriomphes Theorie zu Ende hören. Fahrt bitte fort, My'Lord.« Lord Bontriomphe sah ihn mürrisch an. »Also gut; Ihr beiden Genies habt wieder alles im Griff. Ich mache ja nur die Fußarbeit, ich habe niemals behauptet, daß dies nicht der Fall wäre. Aber — wenn Euch diese Theorien nicht gefallen, hier habt Ihr eine andere. Wir haben Master Sean aufgrund der etwas wackeligen Beweislast verhaftet, daß sowohl er wie auch Sir James an einer Prozedur gearbeitet hatten, wie man mit thaumaturgischen Mitteln ein Messer handhaben kann. Angenommen, daß es auf diese Weise geschah? Wer hätte es tun können?« Er spreizte die Hände. »Ich möchte nicht sagen, daß es Sir James war, obwohl das möglich gewesen wäre. Aber wenn wir annehmen sollten, daß er auf diese umständliche Art Selbstmord begehen wollte, dann wäre das wohl geradezu lächerlich. Ebenso lächerlich wäre es, von einem Unfall auszugehen. Oder denkt Euch ein anderes Eigenschaftswort dafür aus, My Lord, ich will mich nicht darüber streiten. Wir wissen, daß Master Sean es nicht getan hat, weil er mindestens eine dreiviertel Stunde dazu benötigt hätte und weil, wie Großmeister Sir Lyon sagt, höchstens eine einzige Wand zwischen dem Hexer und seinem Opfer sein darf, so daß er über eine halbe Stunde lang draußen in der Halle
einen komplizierten Zauber hätte durchführen müssen, ohne entdeckt zu werden.« Er wedelte mit der Hand in der Luft herum. »Lassen wir Master Sean also ruhig aus dem Spiel.« »Wie nett von Euch!« murmelte Lord Darcy. »Wer bleibt übrig? Niemand, den wir kennen. Aber hätte Master Ewen nicht auch auf diese Methode kommen können? Denn wenn zwei Meisterhexer so etwas unabhängig voneinander entdecken können, warum sollte es nicht auch einem Dritten gelingen? Vielleicht hat er das Rezept ja auch gestohlen, ich weiß es nicht. Aber ist es nicht möglich, daß Master Ewen die Waffe in Master Sir James' Brust hexte?« Lord Darcy wollte etwas sagen, doch diesmal war es der Marquis von London, der unterbrach. »Großer Gott!« sagte er grollend. »Und ich habe diesen Mann auch noch ausgebildet!« Er wandte sich an Lord Bontriomphe. »Und würdet Ihr dann vielleicht die Güte haben, zu erklären, was mit der Waffe geschah? Wo ist sie denn hin verschwunden?« Lord Bontriomphe zuckte verlegen zusammen und antwortete nicht. Statt dessen sah er Lord Darcy an. »Ihr seht wohl ein, daß die Wunde, die im Autopsiebericht beschrieben wurde«, sagte Lord Darcy ruhig, »nicht von einem Dolch verursacht werden konnte, dessen Klinge ein gleichschenkliges Dreieck bildet? Was aber viel wichtiger ist: Ein Dolch aus reinem Silber ist zwar härter als reines Gold, aber auch weicher als reines Blei. Wenn der Dolch eine solche Wunde verursacht hätte, dann hätte das Spuren in der Klinge hinterlassen müssen. Die Waffe war aber immer noch rasiermesserscharf. Folglich wurde Master Sir James nicht mit seinem eigenen Dolch erstochen; ebenso folglich befand sich die Tatwaffe nicht im Tatzimmer.« Lord Bontriomphe starrte Lord Darcy eine sehr lange Sekunde an und drehte sein Gesicht dem Marquis von London zu. »Gut, gut. Wie ich schon sagte, ich mag diese beiden Hypothesen auch nicht, weil sie den Abdruck nicht erklären; und jetzt erklären sie nicht einmal den fehlenden Dolch. Also bleibe ich bei meiner ursprünglichen Theorie und verändere sie nur geringfügig: Tia brachte ihr eigenes Messer mit und nahm es wieder fort.« Der Marquis von London geruhte nicht einmal, von seinem Schreibtisch aufzublicken. »Höchst unzufriedenstellend, My Lord«, sagte er, »höchst unzufriedenstellend.« Dann sah er Lord Bontriomphe an. »Und Ihr wollt also die Demoiselle Tia anklagen? Ha! Aufgrund welcher Beweise denn?« »Nun ja, aufgrund ihres Abdrucks«, sagte Lord Bontriomphe und lehnte sich vor. »Es war schließlich Master Sir James' Blut, nicht wahr? Und wie sollte sie es an ihren Absatz bekommen, wenn Master Sir James nicht zuvor den halben Fußboden vollgeblutet hätte?« Der Marquis von London blickte gequält an die Zimmerdecke. »Wäre ich kleineren Gemüts«, sagte er umständlich, »so wäre dies mehr, als ich verkraften könnte. Eure Folgerungen wären ja völlig korrekt, Bontriomphe — wenn das Demoiselle Tias Abdruck wäre. Aber das ist er natürlich nicht.« »Wessen denn?« sagte Bontriomphe pikiert. My Lord der Marquis schloß die Augen und sagte, offenbar zu Lord Darcy: »Ich will nicht länger darüber reden. Es wird mir völlig genügen, wenn ich die heutige Abendbesprechung leiten darf, für die wir übrigens Genehmigung von höchster Stelle erhalten haben. Ich werde wiederkommen, wenn unsere Gäste
eingetroffen sind.« Er erhob sich und schritt auf die Tür zu, doch drehte er sich plötzlich um. »Würdet Ihr in der Zwischenzeit die Güte besitzen, Lord Bontriomphe sein Hirngespinst von Tias Schuhabdruck zu vertreiben?« Dann war er verschwunden. Lord Bontriomphe atmete tief durch und schien den Atem gute drei Minuten angehalten zu haben, bevor er etwas sagte. »Also gut«, sagte er schließlich, »ich habe ja gesagt, daß ich nicht das Genie hier im Lande bin. Offenbar habt Ihr in diesem Fall eine ganze Menge mehr wahrgenommen als ich. Wir werden tun, was My Lord von London vorschlug. Wir werden sie alle hier hochholen und mit ihnen reden.« Dann schlug er auf seine Schreibtischplatte. »Aber beim Himmel! Eine Sache will ich aber wirklich wissen. Warum sagt Ihr, daß der Schuhabdruck nicht von Demoiselle Tia war?« »Weil, mein lieber Bontriomphe«, sagte Lord Darcy langsam, »dieser Schuhabdruck gar kein Schuhabdruck war.« Er schwieg eine Weile. »Wenn es einer gewesen wäre, dann hätte das Gewicht des Körpers das Blut tief in die Teppichfibern gedrückt. Aber Ihr werdet zugeben, daß dies nicht der Fall war, oder? Daß das Blut nur die Spitzen der Teppichhaare getränkt hat und nicht bis zum Boden durchgesickert ist?« Lord Bontriomphe schloß die Augen und sah innerlich die Szene vor sich. Dann sagte er: »Also gut, dann habe ich mich also geirrt. Der Blutfleck war kein Schuhabdruck. Wo habe ich mich denn dann in die Irre führen lassen?« »Darin«, erklärte Lord Darcy, »daß Ihr vermutetet, daß es ein Blutfleck war.« Lord Bontriomphes Stirnrunzeln vertiefte sich. »Jetzt erzählt mir bloß nicht, daß es kein Blutfleck war!« »Nicht genau«, sagte Lord Darcy. »Es war nur ein halber Blutfleck.« An diesem Abend befanden sich neun Gäste im Büro von My Lord dem Marquis von London. Sir Frederique Bruleur hatte acht der gelben Stühle hereingetragen. Lord Bontriomphe und der Marquis saßen an ihren Schreibtischen. Lord Darcy saß links von Bontriomphes Schreibtisch in dem roten Sessel, so daß er die anderen sehen konnte. Von links nach rechts sah er in der ersten Reihe Großmeister Sir Lyon Gandolphus Grey, Mary von Cumberland, Captain Percy Smollett und Comman-der Lord Ashley. In der zweiten Reihe saßen Sir Thomas Lesaux, Lord John Quetzal, Father Patrique und Master Sean O Lochlainn. Hinter ihnen stand Chief Hennely Grayme, der Sir Frederique mitgeteilt hatte, daß er lieber stehen wolle. Sir Frederique hatte Getränke serviert und hatte sich dann zurückgezogen. My Lord der Marquis von London musterte die Anwesenden der Reihe nach und begann: »My Lords, Euer Gnaden, Gentlemen.« Noch einmal schweifte sein Blick in die Runde. »Ich will nicht sagen, daß es sehr freundlich von Euch war, hierherzukommen. Ihr seid nicht per Einladung hierher gekommen, sondern per Dekret. Nichtsdestoweniger seid Ihr alle, mit einer Ausnahme, lediglich als Zeugen geladen worden, um bei der Wahrheitsfindung dienlich zu sein, und mit einer Ausnahme bitte ich Euch, Euch alle als meine Gäste zu betrachten.« Er machte eine kurze Pause und atmete einmal tief durch. »Es ist meine Pflicht, Euch darauf hinzuweisen, daß Ihr die Euch gestellten Fragen zu beantworten habt. Nicht nur etwa, weil ich, als Lord von London, Euch um Eure Mitarbeit gebeten hätte, sondern weil Ihr hier auf Befehl Seiner Meist Gefürchteten Majestät, Unseres Königs herzitiert wurdet. Habe ich
mich klar ausgedrück?« Neun Köpfe antworteten mit einem Nicken. »Es ist dies also«, fuhr My Lord Marquis fort, »ein Untersuchungsgericht, wobei ich selbst als Richter der Königlichen Justiz fungiere. Lord Bontriomphe ist in seiner Funktion als Königlicher Gerichtsbeamter anwesend. Das mag zwar ungewöhnlich erscheinen, ist jedoch in vollem Einklang mit dem Gesetz. Habe ich auch das klar ausgedrückt?« Wiederum nickten alle. »Sehr gut. Ich brauche es wohl kaum zu erwähnen, obwohl ich durch das Gesetz dazu verpflichtet bin, daß alles, was Ihr hier aussagt, von Lord Bontriomphe protokolliert wird und gegen Euch verwendet werden kann. Hochwürden Father Patrique, O. B. S., ist hier in seiner Eigenschaft als amicus curia, als beglaubigter Sensitiver der Heiligen Mutter Kirche. Als offizieller Wachsergeant ist der Oberwachtmeister von London, Chief Hennely Grayme, anwesend. Die Krone wird vertreten durch Lord Darcy, zur Zeit Rouen, Chefinspektor Seiner Königlichen Hoheit Prinz Richard, Herzog der Normandie. Obwohl dieses Gericht ein Vorschlagsrecht hat, kann jeder, der hier angeklagt werden sollte, Berufung bei jedem Gericht einlegen, das Seine Meist Gefürchtete und Souveräne Majestät der König zu berufen beliebt, wobei ein Verteidiger eigener Wahl bemüht werden darf.« My Lord Marquis räusperte sich. »Ist all das verstanden worden? Ich bitte um hörbare Antwort.« Ein bunter Chor von Stimmen sagte: »Jawohl, My Lord.« »Also gut.« Er erhob seinen schweren Körper, und alle standen auf. »Würdet Ihr bitte den Eid abnehmen, Hochwürdiger Father.« Als jedem der Eid abgenommen worden war, setzte sich My Lord der Marquis mit wohligem Ächzen wieder hin. »Bevor wir nun fortfahren: Gibt es noch irgendwelche Fragen?« Er sah, daß dies nicht der Fall war, hob den Kopf um ein Zoll in die Höhe und sah Lord Darcy an. »My Lord Kronanwalt, bitte beginnt.« Lord Darcy erhob sich aus seinem Lederstuhl, verneigte sich vor dem Gericht und sagte: »Ich danke Euch, Euer Ehren. Darf ich während der Beweisaufnahme sitzen?« »Das dürft Ihr. Nehmt Platz.« »Ich danke Euch, My Lord.« Lord Darcy setzte sich wieder. Er blickte jeden einzelnen nach dem anderen an und sagte: »Wir haben es hier mit einem Fall von Hochverrat und Mord zu tun. Obwohl ich weiß, daß die meisten von Euch mit den Fakten vertraut sind, muß ich von Gesetzes wegen annehmen, daß dies nicht der Fall ist. Also muß ich diese Akten der Reihe nach behandeln. Die Beweise für meine einleitende Darstellung werde ich im Anschluß daran vorbringen. Vor drei Tagen wurde kurz vor elf Uhr morgens, am Dienstag, dem 25. Oktober Anno Domini Eintausendneunhundert-undsechsundsechzig, ein Mann namens George Barbour in einer billigen Pension in Cherbourg erstochen. Edelmann George war, wie die dem Gericht noch vorzulegenden Unterlagen beweisen, ein Doppelagent, der also vorgab, für den Geheimdienst Seiner Slawischen Majestät König Casimir IX zu arbeiten, tatsächlich aber im Sold unseres Reichsmarine-Nachrichtenkorps stand; soweit das Beweismaterial Aussagen darüber zu machen imstande ist, stand er dem Reich loyal gegenüber. Captain Smollett, würdet Ihr das bezeugen?« »Jawohl, My Lord Kronanwalt.« »Kurz nachdem er ermordet wurde«, fuhr Lord
Darcy fort, »meldete Commander Lord Ashley vom Reichsmarine-Nachrichtenkorps den Wachbehörden von Cherbourg den Fund der Leiche von Edelmann Barbour. Er meldete ferner, daß er den Auftrag gehabt hatte, Edelmann Georges einhundert Goldsovereigns zu überreichen, weil dieser Doppelagent diese Summe einem gewissen Edelmann Fitzjean zahlen mußte.« Stück für Stück schilderte Lord Darcy den Anwesenden den Fall, wobei er keine Einzelheit ausließ, mit Ausnahme der genauen Funktion des Konfusionsprojektors, den er als hochwichtige, streng geheime Marinesache< beschrieb. Er schilderte die Entdeckung des Mordes an Sir James Zwinge, den Angriff auf die Demoiselle Tia, den Kampf auf der Brücke, die Aussage von Demoiselle Tia, die Entdeckung der Leiche von Edelmann Paul Nichols und die Suche und Festnahme von Master Ewen MacAlister. »Die Fragen, vor die sich das Gerecht gestellt sieht«, sagte Lord Darcy, »lauten: Wer hat diese drei Männer getötet? Und warum? Es ist die Überzeugung der Krone, daß es eine einzige Person ist, die für alle drei Tode verantwortlich ist.« Er blickte in die Runde und versuchte, den Ausdruck auf den Gesichtern zu deuten. Keiner verriet Schuldbewußtsein, nicht einmal das Gesicht der Person, von der Lord Darcy wußte, daß sie schuldig war. »Ich sehe, daß Ihr eine Frage habt, Captain Smollett. Stellt bitte diese Frage. Nein, bleibt ruhig sitzen.« Captain Smollett räusperte sich. »My Lord.« Wiederum räusperte er sich. »Da wir den Schuldigen bereits unter Arrest haben, darf ich fragen, wozu diese Befragung dienen soll?« »Weil wir den Schuldigen eben noch nicht unter Arrest haben, Captain. Egal, was er sonst noch für Verbrechen begangen haben mag, eines Mordes ist Master Ewen nicht schuldig, schon gar nicht eines dreifachen.« Captain Smollett sagte »Hmph!« und schwieg. »My Lords, Euer Gnaden, Gentlemen, Ihr habt vor Euch das ganze relevante Beweismaterial. Es ist jetzt meine Aufgabe als Anwalt der Krone, diese Tatsachen zu einer sinnvollen Verknüpfung zu führen. Legen wir zunächst einmal die Theorie beiseite, daß Master Ewen MacAlister mehr als nur entfernt mit den Morden zu tun gehabt hat. Es ist richtig, daß er ein Agent Seiner Slavischen Majetät war, der mit dem Besitzer des Manzana de Oro zusammenarbeitete, dem Sidi al-Nasir. Die Beweise dafür können später vorgelegt werden; gehen wir zunächst einmal von der Richtigkeit dieser Feststellungen aus.« Er wandte sich an Captain Smollet. »Captain.« »Ja, My Lord?« »Ich möchte eine hypothetische Frage stellen, die aus Gründen der Sicherheit hypothetisch bleiben soll. Wenn Euch die Identität des polnischen Geheimdienstchefs für Frankreich und die Britischen Inseln bekannt wäre . . . ich sage ausdrücklich wäre, würdet Ihr ihn ermorden lassen?« Captain Smollets Augen verschmälerten sich. »Nein, My Lord, niemals.« »Warum nicht, Captain?« »Wäre dumm, My Lord, einfach dumm. Jawohl. Solange wir wissen, wer es ist ... eh ... wenn wir wüßten, wer es ist, solange wäre es ein viel größerer Vorteil für uns, wenn wir ihn beobachten könnten; um dafür Sorge zu tragen, daß er die Informationen bekommt, die wir ihm geben wollen, anstatt der Information, die er haben will. Damit würden wir auch leichter an die anderen polnischen Agenten herankommen. Ist viel leichter, den Körper zu beobachten, wenn man den Kopf erkannt hat,
My Lord.« »Würdet Ihr dann auch sagen, daß es sehr dumm vom polnischen Geheimdienst gewesen wäre, Sir James Zwinge zu ermorden?« »Sehr, sehr dumm, My Lord. Keine gute Geheimdiensttaktik. Überhaupt nicht.« »Auch nicht, wenn Master Sir James herausbekommen hätte, daß Master Ewen für die Polen arbeitet?« »Hm, hm! Wahrscheinlich auch dann nicht. Wäre viel klüger gewesen, Master Ewen abzuziehen, ihm eine neue Identität an einem anderen Posten zu geben.« »Danke, Captain Smollett. »Also! Wie Ihr alle gemerkt habt, ist es fraglich, daß Master Ewen diesen Mord mittels Schwarzer Magie hätte begehen können, ohne dabei aufzufallen. Ich behaupte, My Lords, Euer Gnaden, Gentlemen, daß er es nicht konnte. Father Patrique.« Er sah den Benediktiner an. »Ihr habt Master Ewen nach seiner Verhaftung untersucht. Sagt mir doch bitte, ob Master Ewens Talent so stark, so mächtig und so wirkungsvoll ist wie das von Master Sean O Lochlainn?« »My Lord Kronanwalt«, sagte Father Patrique und verneigte sich auch vor dem Gericht, » . . ich möchte meinen, daß meine Aussage, obschon ausreichend, sicher nicht die kompetenste ist. Um Eure Frage zu beantworten, My Lord, möchte ich sagen, daß Master Ewens Talent viel schwächer als das von Master Sean ist. Aber ich möchte doch darauf hinweisen dürfen, daß dies nicht das beste Beweismaterial ist. Bedenkt vielleicht lieber die relative Mühelosigkeit, mit der Master Sean Master Ewen im Krieg der Willen im Manzana de Oro besiegte. Bedenkt, wie einfach es war, in Master Ewens Raum einzudringen und seinen Reisesack zu öffnen.« »Gut«, sagte Lord Darcy. »Also frage ich Euch: Würdet Ihr bezeugen, daß Master Seans Talent wesentlich machtvoller ist als das von Master Ewen?« »Das bezeuge ich, My Lord.« Lord Darcy sah Großmeister Sir Lyon Gandolphus Grey an. »Könnt Ihr dem noch etwas hinzufügen, Großmeister?« Sir Lyon nickte. »Mit Erlaubnis des Gerichts möchte ich Commander Lord Ashley eine Frage stellen dürfen.« »Stattgegeben«, dröhnte De London. »My Lord Commander«, sagte Sir Lyon. »Ihr habt den Untersuchungsbeamten den Gebrauch des Tarnhelm-Effekts beschrieben, den Master Ewen auf seinem Kurzschwert liegen hatte. Würdet Ihr vielleicht . . .« »Einen Augenblick«, sagte Lord Darcy. »ich möchte, daß My Lord Commander direkt aussagt. Bitte, Lord Ashley.« »Selbstverständlich, My Lord.« Lord Darcy blickte Sir Lyon an. »Ihr wollt eine Beschreibung des Kampfes auf der Somerset Bridge, Sir Lyon?« »Ja bitte, My Lord.« Lord Ashley beschrieb genauestens den Schwertkampf. »My Lord Commander«, sagte Sir Lyon dann, »was für ein Schwert trug Master Ewen denn?« »Ein Kurzschwert, Großmeister. Ein Schwert mit einer dreieckigen Griffkreuzung, kantenlos, ungefähr zweieinhalb Fuß lang, mit sehr scharfer Spitze.« Sir Lyon nickte. »Ihr habt es gesehen. Als er es dann benutzte, verschwand es da?« »Es verschwand nicht richtig, Sir Lyon, es ... es flackerte, es ist schwer zu beschreiben. Ich konnte es einfach nicht im Auge behalten. Aber ich wußte immer, daß es da war.« »Danke, Commander«, sagte Sir Lyon. »Wenn das Gericht es gestattet, will ich nun aussagen. Ein wirklich mächtiger Hexer, wie Master Sir James und Master Sean Lochlainn . . .« »Oder Ihr selbst?« fragte Lord Darcy
plötzlich. Sir Lyon lächelte. ». . . oder ich selbst, wenn Ihr darauf bestehen wollt, My Lord Kronanwalt. Jeder mächtige Hexer hätte sein Schwert so unsichtbar machen können, daß man es überhaupt nicht wahrgenommen hätte.« »Danke«, sagte Lord Darcy. »Ich möchte dem Gericht folgende Frage stellen: Ist es möglich, daß ein Mann von solch beschränktem Talent wie Master Ewen, auch wenn dieser den Grad eines Masters inne hat, ein Schwarzmagisches Ritual durchführen kann, ohne daß weder Master Sean O Lochlainn noch die gemeinsamen Talente anderer Master der Gilde dies entdecken konnten?« »Völlig unmöglich«, sagte Sir Lyon. Lord Darcy blickte sich um und sah den Benediktiner an. »Was meint Ihr, Hochwürden?« »Ich stimme mit Großmeister Sir Lyon Grey völlig überein, My Lord«, sagte Father Patrique ruhig. Lord Darcy wandte sich an den Marquis von London. »Wird es vonnöten sein, My Lord, dem Hohen Gericht die Aussagen von Master Sean O Lochlainn vorzulegen, die besagen, daß er im Mordfall Zwinge keinen Gebrauch Schwarzer Magie feststellen konnte?« »Ihr mögt fortfahren, My Lord. Sollten diese Beweise vonnöten sein, so wird Master Sean um eine Aussage gebeten werden.« »Danke, My Lord.« Lord Darcys Blick schweifte wieder in die Runde. »Wir haben also den Beweis vor uns, daß Master Sir James Zwinge durch gewöhnliche Anwendung körperlicher Gewalt ums Leben gekommen ist. Bei seiner Ermordung war keine Schwarze Magie mit im Spiel, und doch besagt das Beweismaterial, daß er sich allein in seinem Zimmer aufhielt, als er gegen neun Uhr erstochen wurde und eine halbe Stunde später starb. Wie kann das sein? Ich möchte darauf hinweisen, daß wir viel zu leicht geneigt sind, eine magische Erklärung zu akzeptieren, wo eine einfache physische Erklärung es auch tun würde.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, doch bevor er fortfahren konnte, hob Sir Thomas Leseaux seine Hand. »Wenn ich darauf hinweisen darf, My Lord, so möchte ich feststellen, daß jede Erklärungstheorie, die thaumaturgische Mittel einschließt, mathematisch unmöglich ist. Aber andererseits kann ich mir nicht vorstellen, wie jemand mitten in einem abgeschlossenen Raum umgebracht werden kann.« »Deswegen muß ich die Vermutung der Krone erklären«, sagte Lord Darcy. »Obwohl alle Beweise, das möchte ich doch hier wiederholen, vor Euch liegen. Was wir bisher übersehen haben, das ist die Tatsache, daß man nicht in einem Raum mit jemandem sein muß, um ihn umbringen zu können. In Edelmann Georges Barbours Zimmer befand sich niemand anders, als er erstochen wurde, das ist wahr; andererseits fiel er aber so nahe bei der Tür zu Boden, daß es durchaus möglich gewesen ist, daß ihn jemand erdolcht hat, der in der Halle vor dem Zimmer stand.« »Ich weiß nicht«, sagte Commander Lord Ashley, »das mag zwar noch für den Fall Barbour gelten, aber bei Master Sir James war das ja wohl nicht der Fall.« »Aber doch!« sagte Lord Darcy. »Mit dem richtigen Werkzeug kann Master Sir James auch von der Halle aus erstochen worden sein.« »Aber — durch eine verriegelte Tür hindurch?« fragte Lord John Quetzal. »Warum nicht?« fragte Lord Darcy. »Verriegelte Türen sind nicht undurchdringbar. Die Türen im Royal Steward sind sehr alt, mehrere hundert Jahre alt sogar. Schaut Euch doch nur die riesigen Schlüssel an, die man zum Öffnen und Verschließen braucht!
Und dann die ebenso riesigen Schlüssellöcher! Obwohl die Tür zum Zimmer von Master Sir James abgeschlossen war, war das Schlüsselloch doch groß genug, um eine einzöllige Klinge durchzulassen.« Lord Darcy sah Master Sean O Lochlainn an. »Ihr habt eine Frage, Master Sean?« »In der Tat, My Lord. Ich stimme Euch zu, daß die Klinge, mit der Master Sir James ermordet wurde, durch das Schlüsselloch eingeführt wurde. Auf Euren Vorschlag hin habe ich das Schlüsselloch ausgeschabt und Spuren von Master James' Blut darin gefunden. Aber wenn Euer Lordschaft gestatten«, sagte er lächelnd, »dann möchte ich gerne einmal vorführen, wie ein Mann durch ein Schlüsselloch hindurch erstochen werden kann, um eine solche Wunde zu erhalten, wie das bei dem Ermordeten der Fall war.« »Dem stimme ich zu«, sagte Lord Darcy. »Zunächst muß ich die Aufmerksamkeit des Gerichts auf den merkwürdigen Blutfleck nahe der Tür lenken. Im schriftlichen Bericht wird dieser Fleck detailliert beschrieben.« My Lord der Marquis nickte. »Das ist richtig. Fahrt fort, My Lord Kronanwalt.« Lord Darcy drehte sich Lord Bontriomphe zu. »Würdet Ihr Sir Frederic darum bitten, die Tür hereinzubringen?« Lord Bontriomphe griff hinter sich und zog an einer Klingelstrippe. Die Hintertür öffnete sich, und Sir Frederic trug mit einem Helfer zusammen eine schwere Eichentür in den Raum. Sie stellten die Tür zwischen den Schreibtisch des Marquis und die anderen Anwesenden und stützten sie aufrecht ab. »Diese Vorführung ist notwendig«, sagte Lord Darcy. »Die Tür ähnelt der von Sir James' Zimmer haargenau. Sie wurde bei einem anderen Zimmer im Royal Steward abmontiert. Können alle beide Seiten der Tür sehen? Gut. Master Sean, würdet Ihr jetzt bitte einmal die Rolle Eures verstorbenen Kollegen spielen?« »Sehr wohl, My Lord.« »Ausgezeichnet. Ihr stellt Euch also bitte auf diese Seite der Tür, so daß sich Türgriff und Schlüsselloch zu Eurer Linken befinden, so ja, sehr gut! Ich werde die Rolle des Mörders übernehmen.« Er hob ein Blatt Papier von Lord Bontriomphes Schreibtisch auf. »Jetzt wollen wir einmal sehen. Lord Ashley, darf ich einmal Euren Degen haben?« Wortlos zog Commander Ashley seinen schmalen Marinedegen aus der Scheide und überreichte ihn Lord Darcy. »Ich danke Euch, Commander. ihr habt uns während dieser ganzen Untersuchung sehr geholfen. So, Master Sean, haltet Euch bereit, das kleine Theaterstück fängt an. Ihr müßt jetzt alle davon ausgehen, daß die Handlung zwar so abgelaufen ist, wie ich sie jetzt vorführen werde, daß aber die Worte, die gesprochen werden, nicht genau den Ablauf wiedergeben. Es mag da kleinere Abweichungen gegeben haben.« Lord Darcy schritt auf eine Seite der Tür zu, hinter der Master Sean stand und wartete. Er klopfte an. »Wer ist dort?« fragte Master Sean. »Sonderkurier der Admiralität«, sagte Lord Darcy mit hoher, verstellter Stimme. »Ihr solltet doch den Umschlag unten abholen«, sagte Master Sean. »Ich weiß, Sir James«, sagte Lord Darcy, »aber es handelt sich um eine Sonderbotschaft von Captain Smollett.« »Also gut«, sagte Master Sean, »dann schiebt sie unter der Tür durch.« »Ich darf sie Euch aber nur eigenhändig übergeben«, sagte Lord Darcy und streckte die Spitze der Klinge in das Schlüsselloch. »Schiebt sie einfach unten durch, und ich nehme sie entgegen«, sagte Master Sean, »auf diese Weise habt
Ihr dann Euren Auftrag erfüllt.« »Sehr wohl, Sir James«, sagte Lord Darcy. Er kniete nieder und schob das Papier teilweise unter der Tür durch, wobei er die Degenspitze immer noch im Schlüsselloch beließ. Master Sean beugte sich an der anderen Seite vor, um das Papier aufzuheben. In diesem Augenblick stieß Lord Darcy den Degen durch das Schlüsselloch. Als die Degenspitze die Brust von Master Sean berührte, war ein metallenes Kratzen zu vernehmen. Sofort zog Lord Darcy den Degen zurück. Master Sean keuchte sehr realistisch, schwankte ein paar Schritte rückwärts und fiel plumpsend zu Boden. Lord Darcy zog das Papier wieder unter der Tür hervor und stand auf. »Master Sean«, sagte er, »hat das Glück, ein ausgezeichnetes Kettenhemd zu tragen, was bei Master Sir James leider nicht der Fall war. Ihr habt also gesehen, was geschah. Als er sich vorbeugte, stieß der Degen vor und traf ihn. Ein einziger Blutstropfen fiel, zur Hälfte auf den Teppich, zur anderen Hälfte auf die angebliche Botschaft. Die Degenklinge selbst verhinderte den Blutfluß solange, bis sie zurückgezogen wurde und Sir James zurücktorkelte. Er fiel im Schock zusammen. Seine Wunde war zwar tief, aber noch nicht unbedingt lebensgefährlich, da die Klinge keins der wichtigen Blutgefäße durchstoßen hatte und auch die Lunge noch intakt war. Er blutete, aber nicht sehr stark. Er lag dort ungefähr eine halbe Stunde lang. Aber die Klinge hatte trotzdem die Lungenschlagader angeschnitten, so daß sie nur noch von einer dünnen Membran intakt gehalten wurde. Um halb zehn klopfte Master Sean, der eine Verabredung mit Sir James hatte, an die Tür. Das Klopfen weckte Master Sir James aus seinem Stupor. Er mußte gewußt haben, daß eine gewisse Zeit verstrichen war und daß es Master Sean war, der an die Tür klopfte. Er zog sich am Schreibtisch hoch, auf dem der Türschlüssel und sein silberner Kontaktzerschneider lagen. Er rief Master Sean um Hilfe. Diese verstärkte Anstrengung aber war zuviel für die dünne Membrane. Das Blutgefäß platzte, er fiel erneut zu Boden, und riß dabei Schlüssel und Dolch mit sich. Er starb innerhalb weniger Sekunden.« Master Sean stand auf und staubte seine Magierrobe sorgfältig ab. Sir Frederique und sein Gehilfe trugen die Tür wieder fort. »Mit Verlaub«, sagte Master Sean, »der Winkel, in dem My Lord Darcy zugestochen hat, würde die Art der Wunde von Master Sir James zweifelsfrei erklären.« Lord Darcy legte den Degen sorgfältig auf Lord Bontriom-phes Schreibtisch. »Ihr habt also gesehen«, sagte er, »wie Master James ermordet wurde und wie er starb. Nun zu den Ereignissen selbst. Wir müssen uns wieder mit dem geheimnisvollen Edelmann Fitzjean beschäftigen. An diesem Dienstagmorgen fand er heraus, daß Edelmann Georges ein Doppelagent war. Er mußte ihn töten. Er klopfte an Georges' Zimmertür, Edelmann George öffnete, Fitzjean stach zu und ermordete ihn. Es gab natürlich keinen Hinweis darauf, daß irgend jemand in Georges' Zimmer gewesen war, weil dies eben nicht der Fall war. Fitzjean stand während der Tat vor der Tür. Barbour hatte Fitzjeans Identität bereits zuvor erraten und hatte an diesem Morgen einen Brief an Zett geschickt — an Sir James Zwinge also. Um sein Inkognito wahren zu können, kam Fitzjean hierher nach London. Er konnte eine Botschaft abfangen, die, so glaubte er, seine Identität der Admiralität preisgab. Er dachte, daß es Barbours Brief an
die Admiralität sei. Sofort ging er hoch zu Sir James' Zimmer und bewegte diesen mit der schon vorgeführten Finte dazu, sich vor dem Schlüsselloch niederzubeugen. Das Ergebnis haben wir schon gesehen. Ihr wißt also alle schon, wer der Mörder ist. Aber glücklicherweise haben wir noch mehr Beweise. Er hatte nicht damit gerechnet, daß er einen Fehler gemacht haben könnte. Er war davon ausgegangen, daß ein Brief, den Barbour am Morgen des Dienstags, am 25. Oktober also, abgeschickt hatte, früh am Mittwoch morgen, also am 26., ankommen würde. Er nahm ferner an, daß Barbour diesen Brief ins Royal Steward geschickt hatte und daß dieser Brief in dem Umschlag enhalten sei, den Sir James an die Admiralität adressiert hatte. Aber er erkannte nicht, daß Barbour vielleicht überhaupt nicht gewußt hatte, daß Sir James sich im Royal Steward aufhielt, ja, daß es sogar viel wahrscheinlicher war, daß er den Brief an den Palace du Marquise geschickt hatte.« Er stand auf und schritt auf den Schreibtisch des Marquis zu. »Darf ich einmal den Umschlag haben, Euer Ehren?« Wortlos reichte ihm der Marquis von London einen blaßblauen Umschlag. Lord Darcy betrachtete ihn. »Der Poststempel zeigt Cherbourg, Dienstag, den 25. Oktober; angekommen ist der Brief am Mittwoch, dem 26. Oktober, und zwar morgens. Er ist an Sir James Zwinge adressiert.« Er wandte sich wieder der Gruppe zu und bemerkte mit Genugtuung, daß Chief Hennely sich genau hinter einen der Anwesenden gestellt hatte. »Diese Botschaften und Meldungen hatten eine Eigenart«, fuhr er fort. »Master Sir James hatte seinen Agenten besonderes Papier und Spezialtinte ausgehändigt, ein besonderes blaues Siegelwachs und eine besondere Petschaft. Diese waren magisch präpariert worden, so daß das Papier, wenn es nicht entweder von Master Sir James oder Captain Smollett geöffnet wurde, nur eine leere Fläche zeigte. Stimmt das, Captain Smollett?« »Jawohl, My Lord.« Lord Darcy sah wieder auf den Umschlag in seiner Hand. »Deswegen ist der Umschlag auch bisher nicht geöffnet worden. Nur Ihr könnt ihn öffnen, Captain, und wir haben Grund zur Annahme, daß er Euch die Identität des sogenannten Edel-manns Fitzjean, des Mörders von Sir James, offenbaren wird. Würdet Ihr ihn nun bitte öffnen?« Der Marineoffizier nahm den Umschlag und brach das Siegel auf; dann entnahm er ihm ein Blatt Papier. »An Sir James adressiert«, sagte er. »Barbours Handschrift. Erkenne sie.« Er las nicht den ganzen Brief. Als er ihn zur Hälfte gelesen hatte, wandte er den Kopf nach links und rief: »Ihr!« mit schockierter, wütender Stimme. Commander Lord Ashley sprang auf und griff mit der rechten Hand an seine Seite. Da bemerkte er plötzlich, daß sein Degen auf Lord Bontriomphes Schreibtisch lag. In gleichem Augenblick bemerkte er auch, daß sich etwas in seinen Rücken bohrte. Oberwachtmann Chief Hennely hielt die Pistole fest und sagte: »Keine Gegenwehr, My Lord. Ihr habt schon genug gemordet.« Ashley öffnete den Mund, schloß ihn wieder und schluckte. Seine Augen bekamen einen glasigen Ausdruck, als ob er in die Ferne sehen würde. »My Lords«, sagte er mit heiserer Stimme, »Ihr habt mich. Es tut mir leid, daß ich überhaupt jemanden umbringen mußte, aber Ihr hättet mich für einen Verräter gehalten, wenn ich es nicht getan hätte. Ich . . . ich brauchte das Geld, versteht
Ihr . . . aber ich hätte niemals das Reich verraten. Ich kenne das Geheimnis nicht.« Er unterbrach sich und legte die linke Hand über die Augen. »Ich wußte, daß Barbour ein polnischer Agent war. Ich wußte nicht, daß er ein Doppelagent war. Ich dachte, daß ich etwas Geld aus ihm herausziehen könnte. Aber ich . . . ich hätte niemals meinen König verraten. Ich dachte nur, daß man das vermuten würde, nachdem all das passiert war.« Er nahm die Hand von den Augen. »My Lords«, fuhr er fort, »ich möchte . . .« seine Stimme zitterte beim Sprechen, und er versuchte mühsam, sie zu beherrschen, »ich möchte bei Father Patrique beichten. Danach will ich vor dem Hohen Gericht mein Geständnis ablegen.« Der Marquis von London nickte Lord Darcy zu. Dieser erwiderte sein Nicken. »Ihr habt die Erlaubnis der Krone, My Lord«, sagte Lord Darcy, »aber ich muß Euch bitten, Eure Degenscheide und Euer Jackett zurückzulassen.« Wortlos entledigte sich Commander Lord Ashley seiner Scheide und seines Jacketts. »Chief Hennely«, sagte der Marquis von London, »ich beauftrage Euch hiermit, diesen Mann aufgrund seines Geständnisses festzunehmen. Führt ihn in den Vorraum, wo er bei dem Hochwürdigen Father die Beichte ablegen kann. Ihr werdet dabei die entsprechenden Gesetze beachten.« »Jawohl, My Lord«, sagte Chief, Hennely und die drei verließen den Raum. »Und nun, My Lord Kronanwalt«, sagte der Marquis, »würdet Ihr bitte dem Gericht und den anwesenden Zeugen die ganze Geschichte berichten.« Lord Darcy verneigte sich. »Sehr wohl, My Lord. Ich verdächtigte Lord Ashley zum ersten Mal, als ich festgestellt hatte, daß er um 8.48 Uhr am Mittwoch das Hotel betreten hatte, um Master Sean, wie er sagte, eine Botschaft zu überbringen. Dennoch hatte er bis 9.25 Uhr keinen Versuch unternommen, Master Sean ausfindig zu machen; dann sprach er mit Lord Bontriomphe darüber. Aber das sind noch Nebensächlichkeiten. Folgendes geschah. Wie er uns bereits gesagt hat, brauchte Ashley Geld. Ich werde gleich erklären, warum dem so war. Er versuchte, ein Geheimnis zu verkaufen, das er gar nicht besaß und von dem er zudem nicht beweisen konnte, daß er es besaß. Schließlich mußte er sogar von Georges Barbour einhundert Gold-sovereigns annehmen, nur um sich selbst auszuweisen. Als er am Montag in der Nacht in Cherbourg ankam, ging er zu Barbour, um sich auszuweisen. Es wurde ihm gesagt, daß er am nächsten Morgen bezahlt werden würde. Am folgenden Morgen erhielt er den Auftrag, Edelmann Georges die einhundert Goldsovereigns zu überbringen. In diesem Augenblick überfiel ihn Panik. Keine Panik, wie Ihr und ich sie normalerweise kennen, sondern kalte, ängstliche Panik, denn so arbeitet sein Gehirn. Er wußte, daß Barbour ihn erkennen würde, wenn er ihm selbst das Geld überbringen würde. Außerdem war ihm klar geworden, daß sein Plan gescheitert war, denn Barbour war ein Doppelagent. Also ging er zu Barbour hoch und erstach ihn mit einem billigen Messer, das er zu diesem Zweck gekauft hatte. Dann meldete er den Mord, wobei es sich als für ihn günstiger Umstand erwies, daß die Concierge kurz vor seiner Ankunft für wenige Minuten nicht im Haus gewesen war. Er erfuhr aber auch zur gleichen Zeit, daß Barbour eine Botschaft, in der er ihn entlarvte, an Zett abgesandt hatte. Er mußte diese Nachricht
also abfangen, damit die Admiralität nicht davon erfuhr.« Lord Darcy tat einen tiefen Atemzug. »Auf gewisse Weise könnte man sogar sagen, daß ich ihm geholfen habe. Zu dieser Zeit wußte ich noch nicht, daß Ashley ein Mörder war. Also bat ich darum, daß er Master Sean eine Botschaft überbringen möge. Das setzte ihn in die Lage, ins Royal Steward zu gelangen. Die Post aus Cherbourg wurde am Mittwochmorgen um 6.30 Uhr im Royal Steward abgegeben. Master Sir James nahm seine Post um 7.00 Uhr in Empfang. Nachdem er die erhaltene Nachricht entschlüsselt hatte, ging er zum Empfangsschalter und bat einen Mann, dem er vertraute, nämlich Edelmann Paul Nichols, einem Kurier der Admiralität einen Umschlag zu überreichen. Zur gleichen Zeit schickte er einen Hotelpagen mit einer Botschaft zu Captain Smollett, damit dieser die Nachricht abholen ließ. Sir James kehrte auf sein Zimmer zurück, wobei ihm die Demoiselle Tia folgte. Sie gerieten miteinander in einen Streit, von dem Ihr schon gehört habt. Nachdem Tia fort war, verschloß Master Sir James zum letzten Mal seine Tür. Um 8.48 traf Lord Ashley ein, der angeblich Master Sean suchte. Er ging an den Empfangsschalter und fragte nach Master Sean. Aber Paul Nichols nahm sofort an, daß er der Kurier der Admiralität sei. Das läßt sich natürlich nicht beweisen, aber es paßt nahtlos ins Bild. Nichols muß ungefähr folgendes gesagt haben, noch bevor Ashley nach Master Sean fragte: >Ach, Commander, Ihr seid wohl der Kurier, der das Päckchen von Master Sir James zur Admiralität bringen soll?< Was sollte Lord Ashley tun? Er sagte: >Ja< und nahm das Päckchen. Die Zimmernummer von Sir James stand auf dem Umschlag, und Lord Ashley begab sich sofort dorthin. Dann geschah wohl in etwa das, was wir schon vorgeführt haben. Ich möchte«, sagte er gestikulierend, »auf etwas hinweisen. Mörder haben oft, viel öfter als wir glauben, großes Glück. Es ist durchaus möglich, daß es einer ganz gewöhnlichen Person durch schieres Glück möglich gewesen wäre, Sir James so umzubringen, wie es tatsächlich geschah. Aber so operierte Commander Ashley nicht. Der Commander hat einen Vorteil. In Augenblicken gefühlsmäßiger Erregung besitzt er die Fähigkeit, für eine kurze Weile in die Zukunft zu blicken. Ich möchte Eure Aufmerksamkeit nochmals auf das Schlüsselloch lenken. Die Tür ist sehr dick. Obwohl das Schlüsselloch groß genug ist, einen Marinedegen durchzulassen, erlaubt es der Waffe keinen allzugroßen Spielraum. Man kann mit der Klinge nicht zielen, man kann sie nur gerade durch das Loch stoßen. Selbst nachdem er Sir James in die für den Mord notwendige Stellung gelockt hatte, waren die Chancen, daß sein Vorhaben Erfolg haben würde, ziemlich gering. Man denke an die verschiedenen Stellungen, aus denen heraus man ein Stück Papier unter einer Tür hervorziehen kann. Die Stellung von Sir James war die wahrscheinlichste von allen, aber würde sich ein gewöhnlicher Mörder auf so etwas verlassen? Normalerweise nicht. Dies war also eine der Spuren, die meine Aufmerksamkeit auf Commander Lord Ashley lenkten. Weil er unter gefühlsmäßigem Druck stand, erlaubte es ihm seine Prophezeiungsgabe, ohne jeglichen Zweifel genau zu wissen, wie Sir James stehen würde und was er tun mußte, um ihn töten zu können.
Sir James ließ Commander Lord Ashley nicht ins Zimmer, er schloß auch nicht die Tür für ihn auf. Also mußte Ashley ihn auf die einzige noch mögliche Weise töten. Und sein schwaches, aber vorhandenes magisches Talent ermöglichte es ihm, dies zu tun. Der Degen wurde durch das Schlüsselloch gestoßen, in einer geraden Linie. Ein einziger Tropfen Blut fiel zu Boden, halb auf den Teppich, halb auf den Umschlag. Ich glaube, daß es da keine Zweifel geben kann. Lord Ashley steckte den Umschlag wieder ein und seinen Degen auch. Deswegen bat ich ihn auch darum, sowohl seine Degenscheide als auch sein Jackett hierzulassen.« Er zeigte auf den Stuhl, auf dem Lord Ashley seine Sachen abgelegt hatte. Master Sean hatte sie bereits untersucht. »Ich habt recht, My Lord«, sagte er, »in seiner Jackentasche befindet sich ein Blutfleck, und ich zweifle nicht daran, daß sich auch in der Degenscheide einer finden wird.« »Das glaube ich auch«, stimmte ihm Lord Darcy zu. »Aber ich will fortfahren. In diesem Augenblick wurde Lord Ashley klar, daß ein Mann — und zwar ein Mann allein — wußte, daß er das Päckchen abgeholt hatte. Ich weiß nicht genau, wie Paul Nichols starb, aber ich möchte dennoch dem Hohen Gericht folgende Vermutung unterbreiten: Gegen 9.00 Uhr betrat Commander Lord Ashley wieder die Empfangshalle und sah Paul Nichols, der gerade seinen Dienst beendet hatte. Er folgte ihm in den Gang hinter dem Empfangsschalter und verwickelte Paul Nichols in irgendeine Geschichte. Es gelang ihm, ihn in den Zimmermannsraum zu locken. Ein schneller Schlag auf den Schädel und eine Kordel um den Hals«, Lord Darcy schnippte mit den Fingern, »und schon war Edelmann Paul Nichols als Zeuge unschädlich gemacht. Ich glaube, daß ihn dann aufs neue Panik befiel. Er stand in dem Abstellraum über der Leiche und wollte sehen, was in dem Päckchen war. Er riß es auf und verstreute ein wenig von dem Siegel wachs über den Körper von Edelmann Paul. Natürlich konnte er nichts lesen, denn das Papier war völlig leer. Ich vermute, daß er die Seiten später verbrannt hat. Aber er mußte noch meine Nachricht Master Sean überbringen. In der Empfangshalle traf er Lord Bontriomphe, was dann geschah, wissen wir alle. Ich möchte jedoch noch erwähnen, daß er gegen 9.10 Uhr wieder in die Empfangshalle trat. Der Grund dafür, daß er erst zehn Minuten später mit Lord Bontriomphe sprach, kann darin gelegen haben, daß er es nicht wagte, mit einem der Hexer zu sprechen, weil er fürchten mußte, daß ihn seine Aufgeregtheit verraten könnte.« Captain Smollett hob die Hand. »Eine Frage, wenn's gestattet ist, My Lord.« Er sah ungewöhnlich grau und fahl aus. Für einen Geheimdienstchef ist es keine leichte Sache, herausfinden zu müssen, daß einer seiner treuesten Mitarbeiter sich plötzlich als Verräter entpuppt hat. »Aber gern, Captain.« »Ich glaube, ich verstehe, was Commander Ashley getan hat und auch wie er es getan hat. Aber warum?« »Das hat mich bis vor wenigen Stunden auch noch beschäftigt, Captain. Sein Motiv war das Geld. Ein Gespräch, das ich gestern in der Admiralität mit ihm führte, verriet mir, daß er bei Hochverrat immer nur an finanzielle Motive denken konnte. Jedes Motiv, das er möglichen anderen Verdächtigen unterstellte, hatte mit Geld zu tun. Aber bevor ich ihn im Manzana de Oro erlebt hatte, war mir noch nicht klar geworden, was das Motiv
hinter dem Motiv war. Ich verstand nicht, warum er das Geld so nötig brauchte. Master Ewen MacAlister hat ein volles Geständnis abgelegt. Da dies hier nur ein Untersuchungsgericht ist, kann ich Euch mitteilen, was er sagte, ohne ihn als Zeugen bemühen zu müssen.« Er lächelte. »Ich fürchte, daß Master Ewen im Augenblick für eine Zeugenaussage nicht sonderlich geeignet ist.« Er legte die Fingerspitzen aufeinander, und blickte auf seine Stiefelspitzen hinab. »Master Ewen MacAlister, der im Sold der polnischen Regierung stand, arbeitete mit dem Sidi al-Nasir zusammen, um Commander Lord Ashley als Agenten für die polnische Sache zu gewinnen, was durch Erpressung geschehen sollte. Wenn sich das Rad dreht, wenn die Karte umgedreht wird, wenn die Würfel fallen, dann steht jeder Spieler unter einem Gefühlsdruck. Deswegen spielt der Spieler ja überhaupt, wegen der Spannung. Lord Ashleys Vorteil bestand darin, daß er in solchen Augenblicken die Spielergebnisse vorhersehen konnte. Aber natürlich nicht immer, so groß war die Spannung auch nicht. Aber so hatte er doch einen gewissen Spielvorteil, so daß er oft gewann, wenn er spielte, zwar nicht immer, und auch keine spektakulären Summen, aber doch regelmäßig. Diese seltene Gabe kann aber nicht von einem Hexer entdeckt werden, der in einem Spielklub arbeitet. Nicht einmal ein Meisterhexer kann sie aufspüren. Ist das richtig, Sir Thomas?« Der Thaumaturgie-Professor nickte. »Das ist richtig, My Lord. Dieses besondere Talent hängt einerseits mit der Zeit zusammen und ist auf der anderen Seite passiver Art, weil beobachtend. Folglich läßt es sich nicht von außen beobachten. Im Gegensatz zum Hellseher, dessen Talent es gestattet, durch den Raum zu blicken und vereinzelt auch in die Vergangenheit, läßt sich das präkognitive Talent, das mit der Zukunft arbeitet, weder vorhersagen noch schulen oder kontrollieren.« Sir Thomas Leseaux zuckte leicht die Schultern. »Vielleicht wird eines Tages ein Mathematiker, der größer ist als ich, das Problem der Zeitasymmetrie lösen. Aber bis dahin . . .«Er ließ den Satz unvollendet. »Danke, Sir Thomas«, sagte Lord Darcy. »Es ist jedoch unter gewissen Bedingungen für einen Hexer möglich, diese Fähigkeit zu unterbinden. Master Ewen MacAlister beeinflußte die Spiele im Manzana de Oro immer dann, und nur dann, wenn Lord Ashley seinen Einsatz machte. Der Commander begann zu verlieren. In kürzester Zeit war er, fast ohne es zu merken, schwerverschuldet. Und deswegen tat er dann, was hier geschildert wurde.« Lord Darcy lächelte. »Darauf hat Master Ewen übrigens ausdrücklich hingewiesen, nachdem ihm auf der Sommerset Bridge klargeworden war, daß er es mit einem Mann zu tun hatte, der seine Handlungen vorhersehen konnte. My Lord Commander konnte seine Verbrechen nur wegen seines unerhörten Glücks begehen. Er hat seine Aktionen nie geplant, sondern ist dabei immer seinen Eingebungen gefolgt. Und durch eine ebenso unerhörte Pechsträhne wurde er verraten. Er kann sich in Gefahr jederzeit bewähren, aber die Lüge, die er mir in Sidi al-Nasirs Büro erzählte, war doch zu dick aufgetragen. Als ich Euch gestern fragte, Captain, ob Ihr wüßtet, wo der polnische Spionagering sein Hauptquartier hatte,
da habt Ihr mir versichert, daß Ihr nicht die geringste Ahnung hättet. In Sidi al-Nasirs Büro aber gab der Commander Lord Ashley völlig gelassen zu, daß er dem Sidi einhundertundfünfzig Gold-sovereigns schuldete, was selbst für einen Commander in Seiner Majestät Reichsmarine eine recht stattliche Summe ist. Er behauptete, daß dies eine Falle des Marinegeheimdienstes gewesen sei, um Sidi al-Nasir zu enttarnen. Deswegen sprach ich auch davon, daß der Commander Lord Ashley plötzlich eine gewaltige Pechsträhne hatte. Tatsächlich hatte er nicht die geringste Ahnung gehabt, daß Sidi al-Nasir im Dienst der polnischen Regierung stand. Er hatte sich im Manzana de Oro hoch verschuldet, und der Sidi hatte ihm angedroht, Euch davon zu informieren, Captain Smollett. Was hättet Ihr in diesem Fall eigentlich mit dem Commander getan? Ihn entlassen?« »Kaum«, sagte Smollett. »Ich hätte ihn natürlich versetzen lassen. Ein Mann, der spielt, hat im Geheimdienst nichts zu suchen. Nicht, daß ich persönlich etwas gegen das Spielen hätte, My Lord. Aber man sollte nur mit dem spielen, was man hat, nicht mit der Hoffnung auf spätere Gewinne.« »Eben«, sagte Lord Darcy. »Das verstehe ich. Aber er wäre doch aufgefallen, nicht wahr? Er wäre dann wohl kaum befördert worden, oder?« »Kaum noch, My Lord? Überhaupt nicht. Ich kann niemanden zum Captain machen, der so etwas auf dem Kerbholz hat.« Lord Darcy nickte. »Natürlich nicht. Und das wußte Ashley auch. Er mußte den Sidi ausbezahlen. Deswegen hat er diesen Plan ausgekocht, aus einem polnischen Agenten Geld herauszulocken. Wie seine Hoheit der Erzbischof von York mir gestern schon sagte, in diesem Mann steckt kein böser Wille. Er ist lediglich verzweifelt. Wir können ihm, glaube ich abnehmen, daß er König und Vaterland nicht verraten hätte. Hätte Sidi al-Nasir dem Commander ein Angebot vor ein oder zwei Wochen gemacht, so wäre all dies nicht passiert. Dann hätte Lord Ashley dieselbe Lüge erzählt, die er mir erzählt hat, mit dem Unterschied, daß er sie Euch mitgeteilt hätte, Captain Smollett. Was hättet Ihr wohl gesagt, wenn Euch der Commander vor, sagen wir einer Woche, erzählt hätte, daß er sich absichtlich hoch verschuldet hätte, um dem polnischen Spionagering das Handwerk zu legen? Daß man ihm den Vorschlag gemacht hätte, ein Doppelagent zu werden, und daß er nun sozusagen ein Tripelagent werden sollte? Seid ehrlich, Captain, was hättet Ihr wohl gesagt?« Captain Smollett blickte nach unten und sprach erst nach einer langen, angespannten Pause. Seine Augen drückten Schmerz aus. »Ich muß wohl zugeben, daß ich in diesem Fall Commander Ashleys Geschichte geglaubt hätte. Ich hätte ihn vermutlich zur Beförderung vorgeschlagen.« In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und Father Patrique trat ein. Commander Ashley folgte ihm mit fahlem Gesicht, die Hände in Handschellen. Hinter ihm ging Chief Hennely, der seine Pistole eingesteckt hatte, aber die Hand am Halfter behielt. »Euer Ehren«, sagte der Priester ernst, »es ist meine Pflicht, um die Aufmerksamkeit des Gerichts zu bitten.« »Das Gericht erkennt Hochwürden Father Patrique als amicus curia an«, dröhnte der Marquis. »Euer Ehren«, sagte der Father, »My Lord Ashley, ein Commander der Reichsmarine Unserer Meist
Gefürchteten und Souveränen Majestät dem König, wünscht aus freien Stücken, vor dem Hohen Gericht eine Erklärung und ein Geständnis abzulegen.« Der Marquis De London warf einen Blick auf Lord Bon-triomphe, der alles protokollierte, und sah dann Lord Ashley an. »Ihr dürft beginnen«, sagte er. Vierzig Minuten später überschlug Lord Bontriomphe seine Kurzschriftprotokolle und nickte nachdenklich. »Das wäre wohl alles«, sagte er. Commander Ashley wurde abgeführt, um von einer Wachmänner-eskorte unter Führung von Chief Hennely in den Tower gebracht zu werden. Das Untersuchungsgericht, war offiziell aufgehoben worden. My Lord der Marquis blickte im Zimmer umher und sah dann Lord Darcy an. »Bis auf wenige Einzelheiten habt Ihr alles sehr genau geschildert. Zufriedenstellend. Ich möchte fast sagen: äußerst zufriedenstellend.« Er blickte in die Runde. »Hat noch irgend jemand Fragen?« »Ich habe eine Frage«, sagte Sir Lyon Gandolphus und blickte Lord Darcy an. »Mit Verlaub, My Lord. Ich wüßte gern, woher Ihr Eure Gewißheit genommen habt, daß es zwischen Master Ewen MacAlister und Commander Lord Ashley keinen Zusammenhang gab.« Lord Darcy lächelte. »Ich konnte "mir natürlich nicht absolut sicher sein, Sir Lyon. Aber es schien mir am wahrscheinlichsten zu sein. Master Ewen tat sein Bestes, um zu versuchen, Demoiselle Tia aus Sir Thomas Leseaux das Geheimnis entlocken zu lassen. Hätte er sich so sehr bemüht, wenn er gewußt hätte, daß Lord Ashley das Geheimnis verkaufen wollte? Beziehungsweise angab, es verkaufen zu wollen? Das wäre doch viel einfacher gewesen, als zu versuchen, ein stures Mädchen dazu zu bewegen, alles zu verraten, was sie liebte.« »Aber woher wußtet Ihr denn, daß sie keine wirkliche Spionin war?« fragte Sir Thomas. »Dafür gab es mehrere Gründe«, sagte Lord Darcy. »Natürlich hatten die kirchlichen Ausschüsse zweimal ihre Integrität bestätigt, aber es gab auch andere Hinweise. Sie war zu Sir James gegangen und hatte mit ihm einen Streit angefangen. So benimmt sich ja wohl kaum ein Spion. Ein Spion beziehungsweise eine Spionin wäre sofort hinausgegangen und hätte nicht angefangen, mit ihm zu diskutieren. Eine gut geschulte Spionin wirft, auch keine Botschaft eines anderen Kollegen in den Papierkorb, wie es Demoiselle Tia getan hat. Außerdem zeigte das, was nach der Unterhaltung im Hound and Hare geschah — auch wenn es vielleicht möglich gewesen wäre, daß diese Unterhaltung nur für mich in Szene gesetzt wurde —, daß sie wohl kaum eine Spionin war. Sie hatte, was der Versuch, sie zu beseitigen, beweist, wohl tatsächlich vorgehabt, alles den Königlichen Behörden mitzuteilen.« Die Herzoginwitwe von Cumberland sagte: »Ist das nicht Ironie, daß, während alle Wachmänner Londons und die halbe Reichsmarine versucht haben, die Identität dieses Mannes herauszufinden, alles in diesem Brief dort stand.« Lord Darcy hob den blauen Umschlag von Lord Bontriomphes Schreibtisch. Er hielt ihn hoch. »Das hier? Ich fürchte, dieser Brief hätte uns nicht sehr viel genützt.« »Wieso das denn nun nicht?« fragte die Herzoginwitwe erstaunt. »Wegen der Schutzzauber?« »Nein, nicht deswegen«, sagte Lord Darcy. »Wegen der Tatsache, daß dieser Brief erst seit ungefähr einer Stunde überhaupt existiert. Obwohl die Handschrift eine ganz passable Nachahmung von der des Edelmanns Barbour ist, habe ich
das hier selbst geschrieben. Gestern nachmittag hatte ich ja genügend Zeit, Barbours Handschrift im Admiraliiätsbüro zu studieren. Nein, ich mußte Ashley zu einem Geständnis bewegen. Wir hatten nur wenige wirkliche Beweise. Ich wußte, was er getan hatte und auch wie. Aber das waren Schlußfolgerungen. Natürlich sind da noch die Blutflecken an Jackett und Degenscheide, aber wir konnten uns nicht darauf verlassen, daß sie noch dort sein würden. Wir brauchten einfach mehr. Also entstand dieser Brief. Schließlich konnte Ashley sich ja nicht sicher sein, daß die Information von Barbour ins Hotel geschickt wurde. Da ich wußte, daß er "das Päckchen bei der erstbesten Gelegenheit geöffnet hatte, wußte ich auch, daß er nichts darin hatte finden können. Er konnte sich also nicht sicher sein, daß er die richtigen Papiere entwendet hatte. Der Brief war eine notwendige Finte, glaube ich, und wenn Ihr Euch zurückerinnert, Captain Smollett, dann werdet Ihr feststellen, daß ich nicht ein einziges Mal behauptet habe, daß er von Barbour stammte.« »Das habt Ihr nicht«, sagte Captain Smollett, »das habt Ihr wirklich nicht.« »Well, My Lords, Euer Gnaden, Gentlemen«, sagte der Marquis De London, »das war ein recht anstrengender Abend. Ich glaube, wir erholen uns jetzt am besten, indem wir ein paar Stunden schlafen.« Die acht Gäste verließen geschlossen den Palace du Marquis. Mit Ausnahme von Captain Smollett begaben sie sich alle nach Carlyle House. Lord Darcy wußte, daß noch ein weiterer Gast anwesend gewesen war, der zurückbleiben würde, bis alle gegangen waren. Hinter der Vandenbosch-Kopie in My Lord Marquis' Büro befand sich eine verschiebbare Holzplatte, hinter der sich wiederum ein Alkoven verbarg. Wenn die Holzplatte aufgeschoben wurde, konnte man durch das Gemälde blicken und alles im Raum hören. Nur der Marquis, Lord Bontriomphe und Lord Darcy hatten gewußt, daß sich jemand während der offiziellen Untersuchung in diesem Alkoven aufgehalten hatte. Erst zwei Monate später nach der Verhaftung des Mörders hörte Lord Darcy wieder etwas von dem verborgenen Beobachter. Ein Königlicher Bote lieferte ein Paket in Lord Darcys Residenz ab. In dem Paket befand sich ein Schreiben: My Lord Darcy: Wiederum stehen Wir in Eurer Schuld wegen der vortrefflichen Dienste, die Ihr Uns zum Schutze Unseres Herrschaftsgebietes geleistet habt. Wir haben in Erfahrung gebracht, daß Ihr leider die wertvolle .40er Mac-Gregor verloren habt, die Ihr uns freundlicherweise in Westminster für die Vorführung zur Verfügung gestellt habt. Da Wir der Meinung sind, daß jede solche Waffe, die in Unserer Gegenwart getragen wird, auch Unser Geschenk sein sollte, senden Wir Euch dieses Paket. Wir möchten Euch jedoch darauf hinweisen, daß es sich keineswegs um eine rein zeremonielle Waffe handelt, sondern daß Ihr sie im Verlauf Eurer Arbeit benutzen sollt. Sollten Wir in Erfahrung bringen, daß diese Waffe bei Euch zu Hause in einem goldenen
Rahmen an der Wand hängt oder Ihr ähnlichen Unfug damit begehen solltet, dann werden Wir Euch Persönlich aufsuchen, um sie Euch wieder fortzunehmen.
In der Schachtel lag die wohl beste Arbeit MacGregors: eine handgearbeitete Handwaffe vom Kaliber .40. Die Gold- und Emaillebeschichtung daran war ebenso schön, wie die Waffe tödlich war. Zu beiden Seiten des Griffs war Lord Darcys persönliches Wappen in den Emaillelack eingebrannt: Ein Hermelin auf rotem Querbalken, ein schreitender Löwe in Gold, den Betrachter ansehend. In der goldenen Ziselierung, die den Schild umrahmte, befanden sich die Löwen von England und die Lilien von Frankreich. Ende.