Richard P. Feynman »Kümmert Sie, was andere Leute denken?« Neue Abenteuer eines neugierigen Physikers
Zu diesem Buch ...
123 downloads
1232 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Richard P. Feynman »Kümmert Sie, was andere Leute denken?« Neue Abenteuer eines neugierigen Physikers
Zu diesem Buch An diesem Buch hat Richard P. Feynman bis zu seinem Tod 1988 gearbeitet, es kann als das literarische Vermächtnis des Physikers und Nobelpreisträgers gesehen werden. Es ist ein weises, erinnerungsreiches, in Teilen ernstes Buch, das unter anderem den prägenden Einfluss zweier Menschen auf den jungen Feynman zeigt: den seines Vaters, der ihn zu denken lehrte, und den seiner ersten Frau Arlene, die ihn zu lieben lehrte - auch dann noch, als sie in Albuquerque im Sterben lag, während Feynman im nahen Los Alamos an der Entwicklung der Atombombe mitarbeitete. Daneben berichtet Feynman auch von unbeschwerten Zeiten, von vergnüglichen Erlebnissen und Forschungsabenteuern in Europa, Asien und Amerika. Der zweite Teil des Buches präsentiert Feynmans persönlichen Bericht über die Untersuchung der Ursachen der »Challenger«-Explosion im Januar 1986. Richard P. Feynman, 1918-1988. Ab 1942 Mitarbeiter am »Manhattan Project« in Los Alamos, 1945-1950 Professor für Theoretische Physik an der Cornell University, seit 1950 Professor am California Institute of Technology in Pasadena. Grundlegende Beiträge zur Quantenelektrodynamik, für die er 1965 den Nobelpreis für Physik erhielt.
Gesammelt von Ralph Leighton Aus dem Amerikanischen von Siglinde Summerer und Gerda Kurz Mit 41 Abbildungen Piper München Zürich Von Richard P. Feynman liegen in der Serie Piper außerdem vor: »Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!« (1347) QED - Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie (1562) Vom Wesen der physikalischen Gesetze (1748) Feynmanns verschollene Vorlesung (David L. Goodstein) Judith R. Goodstein: 2994) Was soll das alles? (3316)
Ungekürzte Taschenbuchausgabe 1. Auflage Juli 1996 4. Auflage März 2001 © 1998 Gweneth Feynman und Ralph Leighton Titel der amerikanischen Originalausgabe: »What Do You Gare What Other People Think?«, W.W. Norton & Company, New York, London 1988 © der deutschsprachigen Ausgabe: 1991 Piper Verlag GmbH, München Umschlag: Büro Hamburg Umschlagfoto: Piper Verlag, Archiv Satz: Fotosatz Janß, Pfungstadt Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-492-22166-1
Inhalt Vorwort.............................................................................
7
Teil 1: Ein sonderbarer Kauz .......................................... Die Erziehung zum Wissenschaftler................................ »Was kümmert's dich, was die ändern denken?«........... So einfach wie eins, zwei, drei......................................... Es zu etwas bringen......................................................... Hotel City.......................................................................... Wer, zum Teufel, ist Herman?......................................... Feynman, Machoschwein!............................................... Ob du's glaubst oder nicht, ich habe ihm grade die Hand gedrückt............................ Briefe, Fotos und Zeichnungen........................................
9 9 17 52 58 60 65 67 71 78
Teil 2: Mr. Feynman geht nach Washington, um die Challenger-Katastrophe zu untersuchen......................... Vorbemerkungen............................................................. Ein befristeter Selbstmord................................................ Die nackten Tatsachen.................................................... Check Six!........................................................................ Schnüffler......................................................................... Phantastische Zahlen....................................................... Zündstoff im Anhang........................................................ Die zehnte Empfehlung.................................................... Begegnung mit der Presse............................................... Rückblick..........................................................................
099 099 101 103 139 143 161 172 182 188 194
Anhang F: Persönliche Beobachtungen über die Zuverlässigkeit des Space Shuttle.................................................................. 202 Epilog: Vorwort............................................................................ Vom Sinn der Wissenschaft............................................
221 221
Vorwort Im Hinblick auf den Band »Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!« bedarf es einiger erläuternder Hinweise. .
Erstens: Obwohl im vorliegenden Buch wieder der »neugierige Physiker« im Mittelpunkt steht, erlebt er diesmal doch ganz andere Abenteuer, teils ganz unbeschwerte, teils tragische; meistens aber - wenngleich es oft schwer auszumachen ist - scherzt Mr. Feynman ganz und gar nicht. .
Zweitens: sind die Geschichten in diesem Band ganz lose aneinandergereiht und nicht chronologisch angeordnet wie in »Sie belieben wohl zu scherzen ...«, womit ein gewisser Anschein von Ordnung erweckt werden sollte (was jedoch zur Folge hatte, dass manche Leser das Buch irrtümlicherweise für eine Autobiographie hielten). Mein Anliegen ist schlicht das: Seit ich die ersten Feynman-Geschichten hörte, verspüre ich das dringende Bedürfnis, sie mit anderen zu teilen. Und schließlich wurden die meisten dieser Geschichten nicht, wie die anderen, beim Trommeln erzählt. Dazu im folgenden kurz noch ein paar Anmerkungen. Teil l, »Ein sonderbarer Kauz«, beginnt mit der Beschreibung des Einflusses all jener Personen, die Feynmans Persönlichkeit ganz entscheidend mit geprägt haben - und das waren sein Vater, Mel, und seine erste Liebe, Arlene. Die erste Geschichte ist eine Adaptation der von Christopher Sykes produzierten BBC-Sendung »Die Freude, etwas herauszufinden«. Die Arlene-Geschichte, der der Titel des vorliegenden Bandes entlehnt ist, wurde im Lauf des letzten Jahrzehnts aus sechs verschiedenen, auszugsweise wiedergegebenen Geschichten zusammengestellt. Sie wiederzuerzählen war für Feynman recht schmerzlich. Als sie schließlich abgeschlossen vorlag, war sie ihm besonders lieb, und er wollte sie gern mit anderen teilen. .
.
.
Die anderen Feynman-Geschichten von Teil 1 wurden, obgleich durchweg leichtere Kost, mit aufgenommen, weil kein zweiter Band von SBWZS, MF geplant ist. Besonders stolz war Feynman auf »So einfach wie eins, zwei, drei«; ja, er erwog zeitweise sogar, seine Beobachtungen zu einem Psychologietest auszubauen. Und die Briefe im letzten Kapitel von Teil 1 haben mir freundlicherweise Gweneth Feynman,
-7Freeman Dyson und Henry Bethe zur Verfügung gestellt. Teil 2, »Mr. Feynman geht nach Washington«, schildert Feynmans leider letztes großes Abenteuer. Die Geschichte ist besonders lang, weil sie noch immer aktuell ist. (Kürzere Fassungen sind in »Engineering and Science und Physics Today erschienen.) Früher konnte sie jedoch nicht veröffentlicht werden, da sich Feynman nach der Arbeit in der Rogers-Kommission seiner dritten und vierten größeren Operation mit nachfolgender Bestrahlungstherapie, Hyperthermie und anderen Behandlungen unterziehen musste. Am 15. Februar 1988, zwei Wochen nach seiner letzten Vorlesung am California Institute of Technology, endete Feynmans zehn Jahre währender Kampf gegen den Krebs. Ich beschloß, eine seiner ideenreichsten und mitreißendsten Reden, »Der Wert der Wissenschaft«, als Epilog aufzunehmen. .
Ralph Leighton; März 1988
Teil 1: Ein sonderbarer Kauz Die Erziehung zum Wissenschaftler Einer meiner Freunde, ein Künstler, äußert immer mal wieder eine Ansicht, der ich mich beim besten Willen nicht anschließen kann. Er hält mir eine Blume hin und sagt: »Schau, wie schön sie ist«, und ich stimme ihm zu. Doch dann fährt er fort: »Ich als Künstler kann die Schönheit einer Blume sehen. Aber du als Wissenschaftler nimmst sie auseinander und zerstörst damit ihren ganzen Reiz.« Das erscheint mir dumm. .
Erstens ist die Schönheit, die er sieht, allen zugänglich - und mir, will ich meinen, auch. Und selbst wenn mein ästhetisches Empfinden sich mit dem seinen nicht zu messen vermag, kann ich doch allemal die Schönheit einer Blume würdigen. Gleichzeitig aber sehe ich mehr in der Blume als er. Ich kann mir die Zellen in ihrem Inneren vorstellen, die eine eigene Schönheit besitzen. Denn es gibt nicht nur eine in Zentimetern messbare Schönheit - Schönheit ist schon in weit kleinerem Maßstab vorhanden. .
In den Zellen laufen komplizierte Vorgänge und andere Prozesse ab. Allein der Umstand, dass sich eine Blüte farbig entfaltet, um Insekten zur Bestäubung anzulocken, ist interessant; bedeutet es doch, dass Insekten Farben sehen können. Das wiederum wirft die Frage auf: Findet sich unser ästhetisches Empfinden auch bei niedereren Lebensformen wieder? Wissenschaftliche Kenntnisse können zu allen möglichen interessanten Fragen führen, die zu dem aufregenden, ehrfurchtgebietenden Geheimnis einer Blume noch hinzukommen. Sie bedeuten also einen Gewinn. Ich verstehe nicht, inwiefern sie etwas mindern sollen. .
Ich war stets sehr einseitig auf die Naturwissenschaft ausgerichtet; in jüngeren Jahren habe ich mich fast ausschließlich darauf konzentriert. Damals hatte ich weder Zeit noch die Geduld, mich um die sogenannten Geisteswissenschaften zu kümmern. Wo immer es möglich -9-
war, suchte ich mich um die Pflichtkurse zu drücken, die man für das Abschlussexamen an der Universität brauchte. Erst in späteren Jahren, als sich mein Eifer schon etwas gelegt hatte, habe ich mich ein wenig umgeschaut. Ich habe zeichnen gelernt und lese ein bisschen, im Grunde aber bin ich sehr einseitig, und es gibt viele Dinge, von denen ich keine Ahnung habe. Ich besitze eine begrenzte Intelligenz, die ich in einer bestimmten Richtung einsetze. .
Kurz vor meiner Geburt sagte mein Vater zu meiner Mutter: »Wenn's ein Junge wird, wird er einmal Wissenschaftler.«* Als ich noch ganz klein war und in einem hohen Kinderstühlchen saß, brachte mein Vater einen Haufen verschiedenfarbiger kleiner Badezimmerfliesen - zweite Wahl - nach Hause. Wir spielten damit, er setzte sie wie Dominosteine vor mir auf dem Querbrett meines Kinderstuhls senkrecht nebeneinander, und ich gab ihnen einen Schubs, so dass sie alle umfielen. .
Etwas später half ich meinem Vater dabei, sie aufzustellen. Bald schon setzten wir sie in einer komplizierteren Weise zusammen: zwei weiße Kacheln und eine blaue, zwei weiße und eine blaue und so fort. Als meine Mutter das sah, sagte sie: »Lass doch das arme Kind in Ruhe. Lass es eine blaue Kachel nehmen, wenn es eine blaue will.« .
Mein Vater hingegen erklärte: »Nein, denn ich will ihm zeigen, was Muster sind und wie reizvoll sie sind. Es ist eine Art elementarer Mathematik.« Er begann also sehr früh, mir die Augen für die Welt zu öffnen und mir zu demonstrieren, wie interessant sie ist. .
Bei uns zu Hause stand die Encyclopaedia Britannica. Als ich ein paar Jahre älter war, nahm mich mein Vater gern auf den Schoß, um mir aus der Britannica vorzulesen. Zum Beispiel lasen wir über die Dinosaurier. Unter anderem war da die Rede vom Tyrannosaurus Rex, über den es in etwa hieß: »Dieser Dinosaurier ist gut sieben Meter hoch, sein Kopf
* Trotz der vorgefassten Meinung, lediglich Jungen wären für die Wissenschaft bestimmt, erwarb auch Richards jüngere Schwester Joan den Doktortitel in Physik. .
- 10 -
einen Meter achtzig breit.« Mein Vater brach ab und sagte: »Nun wollen wir einmal überlegen, was das bedeutet. Das bedeutet, dass er, wenn er unten vor unserm Haus stünde, groß genug wäre, um den Kopf hier zu unserem Fenster hineinzustecken.« (Wir saßen im ersten Stock.) »Nur, dass er seinen Kopf nicht hineinstecken könnte, weil er zu dick wäre und nicht durchs Fenster ginge.« Auf diese Art machte er alles, was er mir vorlas, so gut es ging, anschaulich. .
Es war sehr aufregend und äußerst spannend, sich Tiere von einer solchen Größe vorzustellen, die alle ausgestorben waren -und niemand wusste, warum. Ich hatte nie Angst, dass eins dieser Art durch mein Fenster hereinkommen könnte. Dafür lernte ich von meinem Vater zu übersetzen: Bei allem, was ich lese, frage ich mich, was es wirklich bedeutet, was es wirklich heißt. Den Sommer verbrachten wir, wie die anderen New Yorker, in den Catskill Mountains. Die Väter kehrten die Woche über zur Arbeit zurück und kamen nur an den Wochenenden hinaus. Mein Vater pflegte mich dann auf Spaziergänge in die Wälder mitzunehmen und zeigte mir, was man hier alles Interessantes beobachten kann. Als die Mütter der anderen Kinder das sahen, waren sie davon so angetan, dass sie deren Väter dazu bringen wollten, gleichfalls mit ihren Söhnen spazieren zugehen. Sie setzten ihnen schwer zu, aber erreichten zunächst nichts. Sie baten meinen Vater, er solle die ganze Kinderschar mitnehmen, aber er wollte nicht, weil er zu mir ein besonderes Verhältnis hatte. Das Ende vom Lied war, dass am nächsten Wochenende die anderen Väter ihre Kinder selber ausführen mussten. .
.
Am Montag darauf, die Väter waren alle wieder bei der Arbeit, spielten wir draußen auf einem Feld. Sagte eins der Kinder zu mir: »Siehst du den Vogel dort? Was für ein Vogel ist das?« .
»Keine Ahnung«, entgegnete ich. Darauf er: »Das ist eine Wacholderdrossel. Dein Vater bringt dir auch rein gar nichts bei!« .
.
Genau das Gegenteil war der Fall. Er hatte mir das Wesentliche schon beigebracht: »Siehst du den Vogel dort?« hatte er gefragt. »Das ist eine Spencer-Grasmücke.« (Ich - 11 -
wusste, dass er den wirklichen Namen nicht kannte.) »Nun, auf italienisch heißt er Chutto Lapittida, auf portugiesisch Born da Peida, auf chinesisch Chung-long-tah und auf japanisch Katano Tekeda. Du kannst den Namen des Vogels in allen Sprachen der Welt kennen, aber wenn du sie alle aufgezählt hast, weißt du nicht das Geringste über den Vogel. Du weißt nur etwas über die Menschen an den verschiedenen Orten und wie sie den Vogel nennen. Deswegen wollen wir uns lieber den Vogel selber anschauen und sehen, was er macht darauf kommt es an.« (So lernte ich sehr früh den Unterschied zwischen bloßer Kenntnis des Namens und wirklicher Kenntnis.) »Dieser Vogel da zum Beispiel«, fuhr er fort, »pickt dauernd an seinem Gefieder herum. Siehst du, wie er herumhüpft und an seinem Gefieder herumpickt?« »Ja.« .
.
.
»Und warum«, fragte er, »glaubst du, machen die Vögel das?« »Vielleicht«, antwortete ich, »weil die Federn beim Fliegen durcheinandergeraten sind und die Vögel sie wieder zurechtzupfen müssen.« .
.
»Gut«, meinte er. »Wenn das der Fall wäre, müssten sie unmittelbar nach jedem Flug besonders eifrig picken. Und würden dann, sobald sie eine Weile am Boden waren, nicht mehr soviel picken - du verstehst, was ich meine?« .
»Ja.« »Lass uns einmal prüfen, ob sie wirklich mehr picken, wenn sie gerade gelandet sind.« .
.
Es war unschwer festzustellen, dass es keinen großen Unterschied machte, ob sie schon länger auf dem Boden herumhüpften oder gerade gelandet waren. So sagte ich: »Ich gebe auf. Warum also pickt ein Vogel an seinem Gefieder herum?« »Weil er von Läusen gepiesackt wird«, erklärte mein Vater. »Die Läuse fressen Proteinflöckchen, die sich von den Federn ablösen.« .
.
»Die Läuse wiederum«, fuhr er fort, »haben eine Art Wachs an den Beinen, das von winzigen Milben verzehrt wird. Aber - 12 -
die Milben können es nicht vollständig verdauen und scheiden einen zuckerähnlichen Stoff aus, in dem Bakterien gedeihen.« »Du siehst also«, schloss er, »dass sich überall, wo es eine Nahrungsquelle gibt, irgendeine Form von Leben findet, die sie aufspürt.« Nun wusste ich, dass es nicht unbedingt eine Laus sein musste und dass die Laus nicht unbedingt Milben an den Beinen haben musste: dass die Geschichte vielleicht nicht im Detail, wohl aber im Prinzip zutraf. Ein andermal, ich war schon etwas älter, riss er ein Blatt von einem Baum ab. Normalerweise schenken wir beschädigten Blättern nicht viel Aufmerksamkeit. Dieses Blatt wies eine feine braune Linie auf, die sich in einem C-förmigen Schwung ungefähr von der Blattmitte bis zum Rand zog. .
.
.
»Schau dir diese braune Linie an«, forderte er mich auf. »Am Anfang ist sie ganz dünn und wird zum Rand hin breiter. Sie stammt von einer Fliege - einer blauen Fliege mit gelben Augen und grünen Flügeln, die auf diesem Blatt ihr Ei abgelegt hat. Wenn dann aus dem Ei eine Made ausschlüpft (so ein raupenähnliches Ding), verbringt sie ihr ganzes Leben damit, sich durch das Blatt durchzufressen - da hat sie gleich ihr Futter. Und dabei hinterlässt sie diese braune Spur. Nun wächst die Made und hinterlässt, je größer sie wird, eine immer breitere Spur, bis sie, am Rand angelangt, ausgewachsen ist und sich in eine Fliege verwandelt - eine blaue Fliege mit gelben Augen und grünen Flügeln. Dann fliegt sie weg, um auf einem anderen Blatt ein Ei abzulegen.« .
Wieder wusste ich, dass die Einzelheiten nicht unbedingt stimmen mussten - dass es ebenso gut ein Käfer gewesen sein konnte -, aber der Grundgedanke, den er mir zu erklären versuchte, war die amüsante Seite des Lebens: dass alles nur eine Sache der Reproduktion ist. Gleichgültig, wie kompliziert die Sache ist, es kommt bloß darauf an, dasselbe wieder zu tun! .
Da ich nicht viel Erfahrung mit anderen Vätern hatte, ging mir nicht auf, wie bemerkenswert meiner war. Wie hat er die Grund-Prinzipien der Wissenschaft nur herausgefunden, wie die Liebe zu ihr entwickelt, zu dem, was hinter den Dingen steckt und dessentwegen sich alle Mühe lohnt? Ich habe ihn - 13 -
nie wirklich danach gefragt, weil ich glaubte, Väter wüssten so etwas eben. Mein Vater lehrte mich, die Dinge wahrzunehmen. Eines Tages spielte ich mit einem »Güterwagen«, einem kleinen Wagen mit leiterartigen Seitenteilen. In dem Wagen lag ein kleiner Ball, und jedes mal, wenn ich den Wagen anzog, fiel mir auf, wie sich der Ball bewegte. Ich ging zu meinem Vater und sagte: »Hör mal, Pa, mir ist etwas aufgefallen. Wenn ich den Wagen anziehe, rollt der Ball nach hinten. Und wenn ich ihn eine Weile herumgezogen habe und plötzlich anhalte, rollt er nach vorn. Woher kommt das?« »Das weiß niemand«, entgegnete er. »Der allgemeine Grundsatz lautet, dass Dinge, die sich in Bewegung befinden, dazu neigen, sich weiter zu bewegen, während Dinge, die sich in Ruhe befinden, lieber an Ort und Stelle verharren, es sei denn, man versetzt ihnen einen kräftigen Stoß. Diese Tendenz nennt man >Trägheit<. Warum es so ist, aber weiß niemand.« Nun, das zeugt von einem tiefen Verständnis. Er speiste mich nicht einfach mit einem Begriff ab. »Wenn du nun«, fuhr er fort, »von der Seite hinschaust, siehst du, dass du den hinteren Teil des Wagens gegen den Ball ziehst, während der Ball liegen bleibt. In Wirklichkeit beginnt er sich aufgrund der Reibung ein ganz kleines bisschen nach vorn zu bewegen. Nach hinten jedenfalls rollt er nicht.« Ich lief zu meinem kleinen Wagen zurück, legte den Ball hinein und zog an. Dabei schaute ich von der Seite hin und sah, dass er recht hatte. Der Ball rollte im Verhältnis zum Gehweg wirklich ein bisschen nach vorn. Auf diese Art und Weise erzog mich mein Vater anhand von Beispielen und Ausführungen: ohne Druck, einfach durch ansprechende, interessante Ausführungen. Das hat mich mein Leben lang motiviert und mein Interesse für alle Wissenschaften geweckt. (Dass ich Physik am besten kann, ist purer Zufall.) .
.
.
.
.
Ich bin ihm gewissermaßen auf den Leim gekrochen - wie jemand, der in seiner Kindheit etwas ganz Wunderbares bekommen hat und seitdem danach sucht. Wie ein Kind suche ich nach Wundern, denn ich weiß, dass ich sie finden werde - vielleicht nicht jederzeit, aber doch von Zeit zu Zeit. . - 14 -
Um diese Zeit herum plagte sich mein drei Jahre älterer Cousin in der Oberschule schrecklich mit Algebra. Er erhielt Nachhilfestunden, und ich durfte in einem Winkel dabeisitzen, während sich der Lehrer abmühte, ihm etwas über x zu erklären. »Was probierst du da?« fragte ich meinen Vetter. .
.
»Ich versuche herauszufinden, wie groß x ist, zum Beispiel in 2 x + 7 = 15.« »Du meinst 4«, sagte ich. .
.
»Klar, aber du hast Arithmetik angewandt statt Algebra. Du musst es aber mit Algebra herauskriegen.« Zum Glück lernte ich Algebra nicht in der Schule, sondern aus einem alten Schulbuch meiner Tante, das ich auf dem Speicher fand. Ich begriff, dass der Witz allein darin bestand herauszufinden, wie groß x ist - egal auf welche Art und Weise. Ob »mit Arithmetik« oder »mit Algebra« kümmerte mich herzlich wenig. »Mit Algebra« hieß, sich blindlings an eine Reihe von Regeln halten, um zu einer Lösung zu gelangen: »Ziehe auf beiden Seiten 7 ab; oder bei einer Multiplikation, teile beide Seiten durch den Multiplikator« und so fort - an eine Abfolge von Schritten, die zur Lösung führten, wenn man nicht begriff, was man eigentlich wollte. Die Regeln waren erfunden worden, damit die Kinder, die Algebra lernen mussten, alle die Prüfungen bestanden. Deshalb konnte mein Vater mit der Algebra nicht klarkommen. .
.
In der Bibliothek unseres Ortes gab es eine Reihe von Mathebüchern, die mit Arithmetik für die Praxis begann. Dann folgte Algebra für die Praxis und dann Trigonometrie für die Praxis. (Aus diesem Buch bezog ich meine Trigonometriekenntnisse, vergaß sie aber bald wieder, weil ich das Ganze nicht genau verstanden hatte.) Als ich um die Dreizehn war, schaffte die Bibliothek gerade die Differentialrechnung für die Praxis an. Damals wusste ich durch Herumschmökern im Konversationslexikon, dass die Differentialrechnung etwas Wichtiges und Interessantes war und dass ich sie erlernen musste. Als das Buch endlich in der Bibliothek auftauchte, packte mich die Aufregung. Ich ging zur Bibliothekarin, um es auszuleihen. Sie maß mich mit einem Blick und fragte: »Was willst du .
- 15 -
denn damit? Du bist doch noch ein Kind.« Nur selten habe ich mich in meinem Leben so in der Klemme gefühlt, dass ich log. Ich behauptete, es sei für meinen Vater. Ich nahm das Buch mit nach Hause und begann die Differentialrechnung zu studieren. Sie erschien mir relativ einfach und folgerichtig. Mein Vater machte sich gleichfalls daran, fand sie aber verwirrend und unverständlich. Also versuchte ich, sie ihm zu erklären. Dabei ging mir zum erstenmal auf, dass ich in gewisser Weise mehr gelernt hatte als er. Bis dahin hatte ich nicht gewusst, dass er so beschränkt war, und diese Entdeckung machte mir ein wenig zu schaffen. .
.
Etwas, was mir mein Vater neben Physik - ungeachtet dessen, ob es stimmte - und vielem anderen beibrachte, war, bestimmten Dingen den Respekt zu versagen. Zum Beispiel setzte er mich, als ich noch klein war, gern auf sein Knie und zeigte mir die Bilder in der New York Times - die im RakelTiefdruckverfahren hergestellten Abbildungen, die damals noch neu in den Zeitungen waren. Einmal betrachteten wir ein Bild, auf dem sich alle vor dem Papst verbeugten. »Nun schau dir diese Leute an«, sagte mein Vater, »vor ihnen steht ein Mensch, und alle verbeugen sich vor ihm. Und was ist der Unterschied? Der eine ist der Papst« - er hasste den Papst - »und unterscheidet sich von den anderen nur durch den Hut, den er aufhat.« (Bei einem General waren es die Epauletten und so fort. Jedenfalls war es stets das Kostüm, die Uniform, die gesellschaftliche Stellung.) »Dabei«, fuhr er fort, »hat dieser Mann dieselben Sorgen wie alle Welt: Er verzehrt seine Mahlzeiten und muss aufs Klo. Er ist auch nur ein Mensch.« (Und mein Vater musste es wissen, da er selber im Uniformgeschäft tätig war. Schließlich kannte er den Unterschied zwischen einem Mann in und ohne Uniform - für ihn war es ein und derselbe Mann.) .
.
Ich glaube, er war mit mir zufrieden. Einmal allerdings, als ich vom MIT zurückkam (ich war schon seit ein paar Jahren dort), sagte er zu mir: »Jetzt, da du dich in diesen Dingen auskennst, möchte ich dir gern eine Frage stellen, die mich seit langem beschäftigt hat.« .
Ich fragte ihn, was es sei, und er erklärte: »Wenn ich das recht verstanden habe, emittiert ein Atom, wenn es von einem - 16 -
Zustand in einen anderen übergeht, ein Lichtpartikel, das man als Photon bezeichnet.« .
»Stimmt«, erwiderte ich. »Ist dieses Photon schon vorher im Atom gewesen?« .
.
»Nein. Vorher ist dort kein Photon.« .
»Wo kommt es dann aber mit einemmal her?« wollte er wissen. »Wie kann es da herauskommen?« .
Ich versuchte es ihm zu erklären - dass die Photonzahlen nicht erhalten bleiben; dass sie durch die Bewegung des Elektrons entstehen -, aber es wollte mir nicht recht gelingen. »Nun«, sagte ich schließlich, »es ist wie mit dem Ton, den ich jetzt von mir gebe: der war vorher auch nicht in mir.« (Es ist eben nicht so, wie mein Junge glaubte, der, als er noch ganz klein war, eines Tages plötzlich erklärte, ein bestimmtes Wort - wie sich herausstellte, »Katze« - nicht mehr sagen zu können, weil es in seiner »Worttasche« ausgegangen sei. Es gibt keine Worttasche voller Wörter, die man der Reihe nach ausgibt; und genauso wenig gibt es in einem Atom eine »Photonentasche«.) .
In dieser Hinsicht war er mit mir nicht zufrieden. Ich versagte immer, wenn ich ihm etwas erklären sollte, was er nicht verstand. Sein Plan war also fehlgeschlagen: Da hatte er mich extra auf all die Universitäten geschickt, damit ich etwas lernen sollte, und nun war er nicht klüger als zuvor. .
Obwohl meine Mutter von der Wissenschaft rein gar nichts verstand, hatte sie ebenfalls großen Einfluss auf mich. Vor allem besaß sie einen wunderbaren Sinn für Humor. Von ihr lernte ich, dass die höchste Form des Verstehens, die uns zugänglich ist, Lachen und Mitleid sind. »Was kümmert's dich, was die ändern denken?« Als Halbwüchsiger, so vielleicht mit dreizehn, trieb ich mich öfter mit ein paar Burschen herum, die etwas älter und raffinierter waren als ich. Sie kannten eine Menge Mädchen und gingen mit ihnen fort - oft zum Strand hinunter. .
Einmal, als wir wieder am Strand waren und die meisten Jungen mit den Mädchen auf die Mole hinausgegangen waren, - 17 -
dachte ich gewissermaßen laut vor mich hin, denn eins der Mädchen interessierte mich ein bisschen: »Wär vielleicht nicht schlecht, Barbara ins Kino einzuladen ...« .
Mehr brauchte ich nicht zu sagen. Der Bursche neben mir tut mit einemmal ganz aufgeregt, rennt auf die Felsen hinaus und stöbert sie auf. Mit erhobener Stimme erklärt er, während er sie vor sich herstößt: »Feynman will dir etwas sagen, Barbara!« Es war außerordentlich peinlich. .
Bald standen sie alle um mich herum und forderten mich auf: »Nun sag es, Feynman!« Also lud ich sie ins Kino ein. Es war mein erstes Rendezvous. .
Als ich es daheim meiner Mutter erzählte, erteilte sie mir alle möglichen guten Ratschläge. Zum Beispiel, dass ich, falls wir den Bus nähmen, als erster aussteigen und Barbara heraushelfen sollte. Oder dass ich auf der Fahrbahnseite gehen müsse, wenn wir auf der Straße liefen. Sogar was ich zu ihr sagen sollte, erwähnte sie, kurzum, sie gab mir eine kulturelle Tradition weiter: Die Frauen bringen ihren Söhnen bei, wie sie am besten mit der nächsten Frauengeneration umgehen sollen. .
Nach dem Abendessen werfe ich mich in Schale und mache mich auf, Barbara abzuholen. Ich bin etwas nervös. Sie ist noch nicht fertig, natürlich (das ist immer so); ich werde ins Esszimmer geführt, wo die Familie gerade mit Bekannten beim Essen sitzt. Jedenfalls ist ein Haufen Leute versammelt, und die sagen Dinge wie: »Ist er nicht reizend« und ähnliches dummes Zeug. Aber ich komme mir überhaupt nicht reizend vor. Es war einfach entsetzlich! Ich erinnere mich in allen Einzelheiten an das Rendezvous. Auf dem Weg zum neuen kleinen Kino in der Stadt redeten wir übers Klavierspielen. Ich erzählte ihr, dass ich als Kind eine Zeitlang Klavierstunden hatte, dass ich nach einem halben Jahr aber immer noch »Dance of the Daisies« (Tanz der Gänseblümchen) spielte und es nicht mehr hören konnte. Ich hatte Angst, ein Weichling zu sein, und wochenlang »Dance of the Daisies« zu spielen, war einfach zuviel für mich, so gab ich auf. Ja, ich fürchtete so sehr, in den Ruf eines Weichlings zu geraten, dass ich mich sogar genierte, wenn mich meine Mutter zum Einkaufen schickte, um .
- 18 -
»Pfefferminzpastetchen« und was zum Knabbern zu holen. Wir schauten uns den Film an, und danach brachte ich sie nach Hause. Unterwegs machte ich ihr Komplimente über ihre hübschen Handschuhe. Vor der Haustür wünschte ich ihr Gute Nacht. »Ich danke dir sehr für den schönen Abend«, meinte Barbara. .
.
»Oh«, antwortete ich, »bitte«. Ich fühlte mich einfach schrecklich. Das nächste Mal, als ich mit einem Mädchen ausging - es war ein anderes - und Gute Nacht wünschte, entgegnete sie: »Ich danke dir sehr für den schönen Abend.« Ich fühlte mich schon nicht mehr ganz so schrecklich. .
.
.
Und als ich dem dritten Mädchen Gute Nacht wünschte und es den Mund aufmachte, sagte ich schnell: »Ich danke dir sehr für den schönen Abend!« Darauf sie: »Ich danke - oh - ja - ich - ja, es war wirklich ein schöner Abend, danke!« .
.
Einmal war ich mit meinen Strandgenossen auf einer Party, und einer der Älteren brachte uns in der Küche das Küssen bei. Er demonstrierte es mit seiner Freundin. »Die Lippen müsst ihr so aufeinanderpressen, im rechten Winkel, damit ihr nicht mit den Nasen zusammenstoßt« und so weiter. Danach gehe ich ins Wohnzimmer und suche mir ein Mädchen. Wir sitzen auf der Couch, ich habe den Arm um sie gelegt und übe die neue Kunst mit ihr, als die anderen plötzlich unruhig werden. »Arlene kommt! Arlene kommt!« Ich weiß nicht, wer Arlene ist. .
Als wieder einmal ein solcher Ball stattfand, beschloss ich, Arlene einzuladen. Es war das erstemal, dass ich sie ausführte. Meine besten Freunde waren ebenfalls da; meine Mutter hatte sie eingeladen, um neue Kunden für ihre Bekannte zu werben. Wir waren Schulkameraden und alle im selben Alter. Harold Gast und David Leff interessierten sich mehr für Literatur, Robert Stapler dagegen mehr für die Naturwissenschaften. Nach der Schule machten wir oft noch lange Spaziergänge, auf denen wir über dies und das diskutierten. .
Meine besten Freunde nahmen mithin am Ball teil, und kaum - 19 -
hatten sie mich mit Arlene gesehen, zogen sie mich auch schon in die Garderobe und erklärten mir: »Also gut, Feynman, heute Abend ist Arlene dein Mädchen. Wird akzeptiert. Wir kommen dir nicht in die Quere. Sie ist tabu für uns« und so weiter. Aber es dauerte nicht lang, und ausgerechnet diese Burschen fingen an, Arlene abzuklatschen und mir Konkurrenz zu machen. So lernte ich die Bedeutung von Shakespeares »Mich dünkt, ihr gelobt zu viel«* verstehen. .
Dazu muss ich sagen, dass ich damals äußerst schüchtern war und mich in meiner Haut gar nicht wohl fühlte, weil alle stärker waren als ich, und ich dauernd Angst hatte, als Schwächling zu gelten. Alle spielten Baseball und trieben jede Art von Sport. Wenn sie irgendwo Ball spielten und der Ball über die Straße auf mich zurollte, erstarrte ich schon beim bloßen Gedanken ihn aufheben und zurückwerfen zu sollen, zur Salzsäule. Denn wenn ich ihn warf, verfehlte er meilenweit seine Richtung und erreichte nicht annähernd sein Ziel. Und alle bogen sich vor Lachen. Es war schrecklich, und ich war darüber sehr unglücklich. .
Einmal war ich zu einer Party bei Arlene eingeladen. Alle Welt war da, weil Arlene das beliebteste Mädchen war: Sie war die Nummer eins, das netteste Mädchen weit und breit, und jedermann mochte sie. Wie ich so in einem großen Sessel sitze und nicht recht weiß, was ich anfangen soll, kommt sie zu mir herüber und setzt sich auf die Lehne, um sich mit mir zu unterhalten. Zum erstenmal hatte ich das Gefühl: »O Mann! die Welt ist doch wunderbar! Jemand, den du gern hast, kümmert sich um dich!« .
In der Synagoge von Far Rockaway gab es damals ein jüdisches Jugendzentrum. Es war ein großer Klub, der viele Aktivitäten anbot: eine Schriftstellergruppe, die Geschichten schrieb und den anderen vorlas; eine Theatergruppe, die Stücke inszenierte; eine naturwissenschaftliche und eine Malund Modelliergruppe. An und für sich interessierte ich mich nur für die Naturwissenschaften. Da Arlene jedoch in der Kunstgruppe war, ging ich ebenfalls hin und schlug mich
* (A. d. Ü. abgewandeltes Zitat aus Hamlet, 3. Akt 2. Szene.) - 20 -
schlecht und recht mit künstlerischen Aufgaben herum - lernte Gipsmasken machen und ähnliches (was mir später sehr zustatten kommen sollte) - nur, damit ich mit ihr in einer Gruppe sein konnte. .
Arlene hatte einen Freund namens Jerome in der Gruppe, und ich hatte keinerlei Chancen. So drückte ich mich eben im Hintergrund herum. .
Einmal wurde ich in meiner Abwesenheit als Obmann des Jugendzentrums vorgeschlagen. Den Älteren missfiel das höchlich, weil ich zu jenem Zeitpunkt ein erklärter Atheist war. Ich war im jüdischen Glauben erzogen worden - meine Familie ging jeden Freitag in die Synagoge. Ich besuchte die sogenannte Sonntagsschule und lernte sogar eine Zeitlang Hebräisch. Gleichzeitig aber öffnete mir mein Vater die Augen für die Welt. Wenn nun der Rabbi von Wundern berichtete wie den bebenden Blättern eines Busches, obwohl kein Wind ging, versuchte ich das Wunder mit der wirklichen Welt in Einklang zu bringen und mit Naturvorgängen zu erklären. .
Manche Wunder bereiteten mir Kopfzerbrechen, andere nicht. Das mit den Blättern war leicht. Auf dem Heimweg von der Schule hörte ich ein leises Geräusch: Obwohl man fast keinen Wind spürte, zitterten die Blätter eines Busches leicht, weil sie gerade in der richtigen Position waren, um in Schwingung zu geraten. »Aha!«, dachte ich, »so erklärt sich also Elias Version vom bebenden Busch!« Hinter einige Wunder aber konnte ich einfach nicht kommen. .
.
Zum Beispiel hinter die Geschichte von Moses' Stock, der sich in eine Schlange verwandelt. Was um alles in der Welt mochten die Zeugen gesehen haben, was sie den Stock für eine Schlange halten ließ? .
Hätte ich mich an meine Kindheit erinnert, hätte mir die Geschichte vom Nikolaus einen Hinweis liefern können. Sie hatte mir damals keinen so tiefen Eindruck gemacht, dass ich daraus die Nutzanwendung gezogen hätte, »unnatürliche« Geschichten schlicht in Zweifel zu ziehen. Im Grunde hatte mich die Entdeckung, dass es den Nikolaus nicht wirklich gab, nicht weiter aufgeregt; ich war eher erleichtert, dass sich die Frage, wie so viele Kinder in aller Welt in ein und derselben Nacht Geschenke bekommen konnten, viel einfacher - 21 -
beantworten ließ! War die Frage mit der Zeit doch verdammt kompliziert geworden und drohte mir fast schon über den Kopf zu wachsen. Nun war der Nikolaus ein eigener Brauch in unserer Familie und insofern nicht weiter ernst zu nehmen. Die Wunder aber, von denen der Rabbi erzählte, hingen mit wirklich vorhandenen Dingen zusammen, mit der Synagoge, die die Leute allwöchentlich aufsuchten, mit der Sonntagsschule, in der der Rabbi die Kinder unterrichtete: Das war doch alles viel lebensnäher. Der Nikolaus dagegen hatte nichts mit wichtigen, wirklich vorhandenen Einrichtungen wie der Synagoge zu tun. .
Daher glaubte ich, solange ich in die Sonntagsschule ging, alles und gab mir die größte Mühe, mir einen Vers darauf zu machen. Natürlich musste es früher oder später zu einer Krise kommen. .
Ich war elf oder zwölf Jahre alt, als es dann soweit war. Der Rabbi erzählte uns eine Geschichte über die spanische Inquisition, unter der die Juden schreckliche Leiden erdulden mussten. Ausführlich schilderte er, was einer bestimmten Person namens Ruth vorgeworfen, was zu ihren Gunsten und was gegen sie vorgebracht wurde - gerade so, als hätte ein Gerichtsreporter alles aufgeschrieben. Unschuldslamm, das ich war, hörte ich mir die Geschichte in der Überzeugung an, es mit einem wahren Kommentar zu tun zu haben, weil der Rabbi nichts anderes angedeutet hatte. .
Zum Schluss beschrieb der Rabbi noch Ruths Tod im Gefängnis: »Und im Sterben dachte sie ...« - bla, bla, bla. Das traf mich wie ein Schlag. Nach der Stunde ging ich zu ihm hin und fragte: »Woher weiß man, was sie dachte, als sie starb?« .
.
»Nun«, entgegnete er, »die Geschichte der Ruth ist natürlich erfunden. Sie soll die Leiden der Juden veranschaulichen. Diese bestimmte Ruth hat es nie gegeben.« .
Das war zuviel für mich. Ich fühlte mich schrecklich betrogen. Ich wollte die wahre Geschichte haben - nicht eine, die sich irgend jemand zurechtgemacht hatte -, ich wollte selber herausfinden, was sie zu bedeuten hatte. Aber ich wusste nicht recht, wie ich Erwachsenen gegenüber argumentieren - 22 -
sollte. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich fing in meiner Verwirrung an zu weinen. .
»Was hast du denn?« fragte der Rabbi. Ich versuchte es zu erklären. »Ich habe mir die ganzen Geschichten angehört, und jetzt weiß ich nicht, was von alledem, was Sie uns erzählt haben, wahr ist und was nicht! Ich weiß nicht, was ich mit alledem, was ich gelernt habe, anfangen soll.« Damit wollte ich zum Ausdruck bringen, dass mir in diesem Augenblick alles verloren ging, weil ich mir sozusagen der Daten nicht mehr sicher war. Da hatte ich mich mit all den Wundern herumgeplagt und jetzt - nun, das erklärte eine Menge Wunder, gewiss! Trotzdem war ich unglücklich. .
»Warum«, fragte der Rabbi, »kommst du überhaupt in die Sonntagsschule, wenn dich das so erschüttert?« .
»Weil es meine Eltern wünschen.« .
Ich habe nie mit meinen Eltern darüber geredet und weiß bis heute nicht, ob sich der Rabbi mit ihnen in Verbindung setzte oder nicht; seitdem aber schickten sie mich nie wieder hin. Und das, obwohl ich kurz davor stand, die religiöse Mündigkeit zu erlangen. Jedenfalls löste diese Krise meine Schwierigkeiten ziemlich abrupt zugunsten der Theorie, dass alle Wunder nur erfundene Geschichten waren, die etwas »veranschaulichen« sollten, auch wenn sie gegen die Naturgesetze verstießen. Also überprüfen wir die Geschichte und finden heraus, dass das Cogito, ergo sum besagen soll, dass man eine Sache keinesfalls in Zweifel ziehen kann - den Zweifel selbst. .
.
»Warum sagt er das nicht rundheraus?« beschwerte ich mich. »Er meint doch wohl, dass es eine Tatsache gibt, die er mit Sicherheit weiß.« Dann geht's weiter mit Dingen wie: »Ich kann mir nur unvollkommene Gedanken vorstellen, Unvollkommenes aber kann nur, in Beziehung zum Vollkommenen verstanden werden. Ergo muss es irgendwo das Vollkommene geben.« (Man merkt's, es geht Richtung Gott.) »Mitnichten!« wende ich ein. »In den Naturwissenschaften kann man durchaus von relativen Graden der Annäherung sprechen, ohne dass man eine vollkommene Theorie hat. Ich .
.
- 23 -
weiß nicht, was das ganze Gerede soll. Es kommt mir wie blanker Unsinn vor.« .
Arlene begriff, worauf ich hinauswollte. Sie begriff, dass man das Philosophengeschwätz - für wie eindrucksvoll und wichtig es auch gelten mochte - noch lange nicht als Offenbarung zu betrachten brauchte -, dass man über die Worte nachdenken konnte, statt sich davon beeindrucken zu lassen, dass sie von Descartes stammten. »Wahrscheinlich kann man's wirklich auch andersrum sehen«, meinte sie. »Unser Lehrer trichtert uns dauernd ein, dass jede Frage zwei Seiten hat, genau wie ein Blatt Papier.« »Und genau wie diese Aussage.« .
.
»Wie meinst du das?« Ich hatte in der Britannica, meiner wunderbaren Britannica, von der Möbiusschen Fläche gelesen. Damals waren solche Dinge noch nicht so allgemein bekannt wie heute, aber für Jugendliche nicht schwerer zu verstehen als heutzutage. Das Vorhandensein einer solchen Fläche war etwas handfest Reales, nicht so ein fades Gewäsch wie die Politfragen und dergleichen, die man ohne Geschichtskenntnisse erst gar nicht begriff. Darüber nachzulesen, war, als würde man weit weg in eine andere wunderbare Welt versetzt, von der keiner sonst etwas wusste, und welchen Spaß machte es, so aufregende Sachen zu erfahren und dadurch selbst einzigartig zu werden. Erschien die Natur selbst so interessant, dass ich sie nicht auf diese Weise verzerrt wissen wollte. Folglich bezweifelte ich schließlich die ganze Religion. .
.
Soweit, so gut. Die jüdischen Ältesten hatten diesen Klub mitsamt seinen Gruppen nicht allein deshalb eingerichtet, um die Jugendlichen von der Straße zu holen, sondern auch, um ihr Interesse an der jüdischen Lebensform zu wecken. Meine Wahl zum Obmann hätte sie ganz schön in Verlegenheit gebracht. Zu unserer beiderseitigen Erleichterung fiel ich durch, aber das Jugendzentrum hielt sich auch nicht mehr lange. Es hatte schon in den letzten Zügen gelegen, als ich vorgeschlagen wurde, und sicher hätte man mir die Schuld an seinem Ableben in die Schuhe geschoben, wenn ich durchgekommen wäre. Eines Tages erzählte mir Arlene, sie ginge nicht mehr mit .
- 24 -
Jerome. Sie war frei. Welch aufregende Neuigkeit! Der erste Hoffnungsschimmer. Sie lud mich zu sich nach Hause, in die Westminster Avenue 154 im benachbarten Cedarhurst, ein. Als ich mich auf den Weg machte, war es schon dunkel. Die Haustür war nicht beleuchtet, und ich konnte die Nummer nicht sehen. Da ich niemanden stören wollte, schlich ich mich leise hinauf und tastete die Ziffern ab. .
Arlene kam mit ihrer Hausaufgabe in Philosophie nicht zu Rande. »Wir sind gerade bei Descartes«, erklärte sie. »Er beginnt mit dem Satz Cogito, ergo sum - >Ich denke, also bin ich< und landet beim Gottesbeweis.« .
»Unmöglich!« befand ich, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass ich den großen Descartes in Zweifel zog. (All zu oft hatte mir mein Vater eingebleut, der Autorität keinerlei Respekt zu zollen. Vergiss, wer dahintersteckt, prüfe lieber genau, was er sagt und welche Schlüsse er daraus zieht, und dann frage dich: »Hat das Ganze Hand und Fuß?«) »Wie«, fragte ich, »kann er das eine aus dem anderen ableiten?« »Weiß ich nicht«, antwortete sie. .
.
»Nun, gehen wir die Geschichte einmal durch!« schlug ich vor. »Wie lautet das Argument?« Ich nahm einen Streifen Papier, drehte ihn einmal halb um die eigene Achse und schloss ihn zum Ring. Arlene war begeistert. Am nächsten Tag in der Schule lauerte sie schon auf den Lehrer. Wie nicht anders zu erwarten, hält er ein Blatt Papier hoch und erklärt: »Jede Frage hat zwei Seiten, genau wie ein Blatt Papier.« Da fährt Arlene mit ihrem Papierstreifen - mit der halben Drehung - hoch und erklärt: »Sir, sogar diese Frage hat zwei Seiten: Hier ist ein Streifen Papier, der nur eine Seite hat!« Lehrer und Schüler reißen die Augen auf, und Arlene führt ihnen die Möbiussche Fläche mit solchem Stolz vor, dass ich, wie ich glaube, seit der Zeit besser bei ihr angeschrieben war. Trotzdem hatte ich nach Jerome wieder einen Nebenbuhler meinen »guten Freund« Harold Gast. Arlene entschied sich immer mal so, mal so. Als die Abschlussprüfung heranrückte, .
.
.
- 25 -
ging sie mit Harold zum Schülerball, setzte sich aber bei der Abschlussfeier neben meine Eltern. Ich war der Beste in den Naturwissenschaften, in Mathematik, in Physik und Chemie und musste immer wieder aufs Podium, um die Ehrungen über mich ergehen zu lassen. Harold war der Beste in Englisch und in Geschichte, außerdem hatte er das Stück geschrieben, das die Schule aufführte, was schon recht eindrucksvoll war. .
Ich war miserabel in Englisch und konnte das Fach nicht ausstehen. Es kam mir lächerlich vor, einen Gedanken darauf zu verschwenden, ob etwas richtig oder falsch geschrieben war, handelt es sich doch hierbei nur um eine gesellschaftliche Konvention, die nicht das Geringste mit etwas Wirklichem, etwas Natürlichem, zu tun hat. Ein Wort kann man genau so gut anders schreiben. Dieses ganze Getue machte mich ungeduldig. .
Im Staat New York musste jeder Student eine Reihe von Examen ablegen, die sogenannten Regents. Vor dem RegentsExamen in Englisch, ein paar Monate zuvor, hatten mich Harold und mein anderer Literatenfreund, David Leff - der Herausgeber der Schulzeitung -, gefragt, über welches Buch ich schreiben wolle. David hatte sich für etwas Tiefsinniges mit sozialem Einschlag von Sinclair Lewis entschieden und Harold irgendeinen Dramatiker herausgepickt. Ich erklärte, ich hätte die Schatzinsel gewählt, weil wir dieses Buch im ersten Englischsemester besprochen hatten, und erzählte ihnen, was ich zu schreiben gedachte. .
»O Mann«, meinten sie lachend, »da wirst du aber ganz schön durchrasseln. So simple Aussagen über ein so einfaches Buch!« .
Außerdem wurde uns eine Liste mit Fragen für einen Aufsatz vorgelegt. Ich entschied mich für: »Die Bedeutung der Naturwissenschaft für die Luftfahrt.« In meinen Augen eine blöde Frage, da die Bedeutung der Naturwissenschaft für die Luftfahrt auf der Hand liegt! .
Ich machte mich daran, diese dämliche Frage mit einfachen Worten zu beantworten, als mir einfiel, dass meine Literatenfreunde immer ein Mordsgesumse machten, das heißt, ihre Sätze so drechselten, dass sie kompliziert und raffiniert - 26 -
klangen. Ich beschloss, es einmal zu versuchen, nur so zum Spaß. Warum, zum Teufel, sollte ich es nicht tun, wenn sie in den Regents ein so blödsinniges Thema wie die Bedeutung der Naturwissenschaft für die Luftfahrt stellten. .
So verzapfte ich Binsenweisheiten wie: »Die Luftfahrtwissenschaft ist wichtig für die Analyse der Wirbel, Strömungen und Strudel, die sich hinter dem Flugzeug in der Atmosphäre bilden ...«, wohl wissend, dass Wirbel, Strömungen und Strudel dasselbe sind, aber bestrebt, ein und denselben Tatbestand auf verschiedene Weise auszudrücken, weil sich das besser anhört! Ansonsten schrieb ich wie gewöhnlich. Der Lehrer, der meine Arbeit zu beurteilen hatte, muss von meinen Wirbeln, Strömungen und Strudeln beeindruckt gewesen sein, denn ich bekam eine 91 - während meine Literatenfreunde mit ihren für den Englischlehrer leichter durchschaubaren Themen beide 88 erhielten. .
.
In jenem Jahr wurde eine neue Regel eingeführt: Wer in einem Regents-Examen 90 oder mehr bekam, wurde bei der Abschlussfeier automatisch geehrt. So kam es, dass der ungebildete Tölpel von einem Physikstudenten noch einmal aufs Podium gerufen wurde, um eine Auszeichnung in Englisch zu empfangen, während der Dramatiker und der Herausgeber der Schulzeitung auf ihren Stühlen sitzen bleiben mussten. Nach der Abschlussfeier stand Arlene mit meinen und Harolds Eltern in der Halle, als der Vorstand der Matheabteilung herüberkam - ein sehr kräftiger Mann (der auch für Zucht und Ordnung an der Schule zuständig war), hochgewachsen und dominierend. »Hallo, Dr. Augsberry«, wendet sich Mrs. Gast an ihn. »Ich bin Harold Gasts Mutter. Und das ist Mrs. Feynman ...« .
.
Worauf sich dieser ohne eine Wort der Entgegnung sofort meiner Mutter zuwendet: »Mrs. Feynman, ich möchte Ihnen zu bedenken geben, dass Begabungen wie Ihr Sohn äußerst selten sind. Ein solches Talent sollte von Staats wegen gefördert werden. Sie müssen ihn auf die Universität schicken, und zwar auf die beste, die Sie sich leisten können!« Er befürchtete, meine Eltern könnten etwas anderes mit mir vorhaben, da sich damals viele junge Leute nach dem - 27 -
Abschlussexamen eine Arbeit suchen mussten, um die Familie zu unterstützen. Zum Beispiel mein Freund Robert. Auch er hatte ein Labor und brachte mir alles über Linsen und Optik bei. (Einmal kam es zu einem kleinen Unfall in seinem Labor. Beim Öffnen einer Flasche Karbolsäure spritzte ihm durch den Ruck etwas Säure ins Gesicht. Er musste zum Arzt und ein paar Wochen lang einen Verband tragen. Spaßigerweise war seine Haut, als der Verband abgenommen wurde, darunter glatter und hübscher als vorher - viel makelloser. Später fand ich heraus, dass eine Zeitlang ein Schönheitsmittel mit stark verdünnter Karbolsäure im Handel war.) Roberts Mutter war arm, darum konnte er seine naturwissenschaftlichen Interessen nicht weiterverfolgen, sondern musste, um sie zu unterstützen, sofort arbeiten. .
Jedenfalls versicherte meine Mutter Dr. Augsberry: »Wir sparen, so gut es geht, und wollen ihn an die Columbia University oder das MIT schicken.« Und Arlene hörte das alles mit an, so dass ich danach ein bisschen weiter vorne lag. .
Arlene war fabelhaft. Sie gab die Zeitung der Nassau County Lawrence High School heraus; spielte wunderschön Klavier und war künstlerisch sehr begabt. Sie machte einigen Zierart für unser Haus wie den Papagei für unser Klosett. Später, als sie bei uns daheim schon besser bekannt war, ging sie mit meinem Vater, der, wie viele Leute im vorgerückten Alter, zu malen begonnen hatten, öfter in die Wälder zum Malen. In dieser Zeit begannen Arlene und ich gegenseitig unsere Persönlichkeit zu formen. Sie kam aus einer taktvollen Familie, die große Rücksicht auf die Gefühle anderer nahm, und dementsprechend brachte sie mir bei, diese Dinge etwas mehr zu beachten. Andererseits billigte ihre Familie sogenannte »Notlügen«. .
.
Ich dagegen vertrat den Standpunkt »Was kümmert's mich, was die ändern denken!« Meiner Ansicht nach sollte man sich die Meinung der andern anhören und überdenken. Wenn man sie aber für unsinnig oder falsch hielt, sollte man sich nicht weiter darum scheren. .
Das leuchtete Arlene auf der Stelle ein. Sie war leicht zu überzeugen, dass wir unsere Beziehung auf Ehrlichkeit aufbauen - 28 -
und einander alles ohne jede Beschönigung in absoluter Aufrichtigkeit sagen mussten. Es funktionierte ausgezeichnet. In uns erwachte eine tiefe Liebe - eine Liebe, wie ich sie nirgendwo sonst getroffen habe. Nach diesem Sommer ging ich ans MIT. (An die Columbia University konnte ich aufgrund der Judenquote nicht.*) Von meinen Freunden kamen Briefe mit Hinweisen wie: »Du solltest sehen, wie Arlene mit Harold ausgeht«, oder »Sie tut dies und das, während du allein in Boston hockst«. Nun, auch ich ging in Boston mit Mädchen aus, aber sie bedeuteten mir keinen Pfifferling, und bei Arlene, das wusste ich, war es nicht anders. .
.
Den Sommer über blieb ich in Boston, um Geld zu verdienen. Meine Arbeit bestand darin, die Reibung zu messen. Die Chrysler Company hatte eine neue Methode des Abschleifens entwickelt, um eine Superpolitur herzustellen, und wir sollten messen, wie viel besser sie war. (Wie sich herausstellte, war die »Superpolitur« nicht wesentlich besser.) Jedenfalls fand Arlene einen Weg, um in meiner Nähe zu sein. Sie beschaffte sich einen Ferienjob in Scituate, gut dreißig Kilometer entfernt, wo sie Kinder hüten sollte. Aber mein Vater hatte Angst, ich könnte mich zuviel mit Arlene abgeben und meine Studien darüber vernachlässigen, deshalb redete er ihr - oder mir - (ich weiß nicht mehr, wem) die Geschichte aus. Damals dachte man völlig anders als heute. Erst musste die Karriere unter Dach und Fach sein, ehe man ans Heiraten denken konnte. Ich sah Arlene nur ein paar mal in diesem Sommer, aber wir versprachen uns, nach Abschluss meiner Ausbildung zu heiraten. Sechs Jahre lang kannte ich sie nun schon. Wir waren sicher, zueinander zu passen. Selbst heute noch fühle ich mich etwas gehemmt, wenn ich zu beschreiben versuche, wie stark unsere Liebe entbrannte.
* Anmerkung für ausländische Leser: Das Quotensystem war eine diskriminierende Maßnahme mit dem Ziel, die Zahl der Studienplätze für Studenten aus jüdischem Milieu zu beschränken. - 29 -
Nach dem Abschluss am MIT ging ich nach Princeton. In den Ferien fuhr ich nun immer nach Hause, um mit Arlene zusammenzusein. Als ich wieder einmal heimkam, hatte Arlene seitlich am Hals einen Knubbel. Da sie sehr schön war, störte sie das etwas, aber sie hatte keine Schmerzen und nahm die Sache nicht allzu ernst. Sie ging zu ihrem Onkel, der Arzt war, und dieser empfahl ihr, die Stelle mit Omegaöl einzureihen. Einige Zeit später begann sich der Knubbel zu verändern. Er wurde größer - oder vielleicht war er kleiner -, jedenfalls bekam Arlene Fieber. Das Fieber stieg, und der Hausarzt überwies sie ins Krankenhaus. Dort lautete die Diagnose auf Typhus. Sofort schlug ich in medizinischen Büchern nach und las - eine Gewohnheit, die ich bis zum heutigen Tag beibehalten habe - alles darüber nach. Als ich Arlene im Krankenhaus besuchte, lag sie auf der Isolierstation - wir mussten Kittel überziehen, um überhaupt ins Zimmer gelassen zu werden, und dergleichen mehr. Da der Arzt gerade anwesend war, fragte ich ihn, wie der WydellTest ausgefallen sei - ein absolut sicherer Test bei Typhus, bei dem unter anderem die Exkremente auf Bakterien untersucht werden. Er antwortete: »Negativ.« .
»Was?« rief ich aus. »Wie denn das? Wozu dann all das Zeug, wenn Sie gar keine Bakterien gefunden haben? Vielleicht hat sie überhaupt keinen Typhus!« .
Das Ergebnis war, dass der Arzt mit Arlenes Eltern sprach, die mich baten, mich da gefälligst rauszuhalten. »Schließlich ist er der Arzt. Du bist nur ihr Verlobter.« .
.
Seitdem habe ich begriffen, dass sich solche Leute nicht im klaren darüber sind, was sie tun, und sich, sobald man einen Vorschlag macht oder ein Wort der Kritik verliert, beleidigt fühlen. Heute weiß ich das, aber ich hätte damals stärker sein und ihren Eltern sagen müssen, dass der Doktor ein Idiot ist was er war - und nicht wusste, was er tat. Aber wie die Dinge lagen, trugen ihre Eltern die Verantwortung für sie. Bald darauf besserte sich Arlenes Zustand sichtlich: Die Schwellung ging zurück und das Fieber legte sich. Nach wenigen Wochen kam die Geschwulst jedoch wieder. Diesmal .
- 30 -
suchte Arlene einen anderen Arzt auf. Er tastet Achselhöhlen und Leistengegend ab und stellt an diesen Stellen ebenfalls Schwellungen fest. Das Problem liegt seiner Meinung nach in den Lymphdrüsen, aber er kann noch nicht sagen, was es ist. Er möchte sich zunächst mit anderen Ärzten beraten. Wieder laufe ich in der Princeton University stehenden Fußes in die Bibliothek, um nachzuschlagen. Unter Erkrankungen des Lymphsystems, »Anschwellen der Lymphdrüsen«, finde ich »(1) Tuberkulose der Lymphdrüsen. Diese ist sehr leicht zu erkennen ...« - also, denke ich, kann Arlene das nicht haben, wenn den Ärzten die Diagnose solche Schwierigkeiten bereitet. .
.
Ich lese weiter: Lymphadenitis, Lymphadenose, HodgkinKrankheit, alles mögliche andere Zeug: fast lauter Krebserkrankungen der einen oder anderen verrückten Art. Der einzige Unterschied zwischen Lymphadenitis und Lymphadenose war, soweit ich das bei sorgfältiger Lektüre verstand, dass bei Lymphadelhiose der Patient starb, während er bei Lymphadenitis - zumindest Zeitlang überlebte. Jedenfalls studierte ich die Lympherkrankungen von A bis Z und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass Arlene höchstwahrscheinlich unheilbar krank war. Dann musste ich fast ein bisschen über mich selbst lachen. Wetten, dachte ich, dass sich jeder, der einen Medizinwälzer durchackert, hinterher einbildet, sterbenskrank zu sein. Und doch konnte ich nach sorgfältigster Lektüre keine andere Möglichkeit entdecken. Die Sache war wirklich ernst. .
.
Anschließend ging ich zum Wochentee in die Palmer Hall und wunderte mich, dass ich genau wie sonst mit den Mathematikern plauderte, obwohl ich gerade erst herausgefunden hatte, dass Arlene vermutlich unheilbar krank war. Es war höchst sonderbar - als hätte ich zweierlei Bewusstsein. Bei meinem nächsten Besuch erzählte ich Arlene den Witz von den Leuten, die von Medizin nichts verstehen und sich, kaum dass sie etwas über eine Krankheit lesen, immer gleich einbilden, todkrank zu sein. Ich verschwieg ihr aber auch nicht, dass wir meiner Überzeugung nach in großen .
- 31 -
Schwierigkeiten steckten und ich beim besten Willen nichts anderes hatte herausfinden können, als dass sie eine unheilbare Krankheit habe. Wir gingen die verschiedenen Erkrankungen durch, und ich klärte sie über den Verlauf jeder einzelnen auf. Darunter auch über die Hodgkin-Krankheit. Bei der nächsten Visite fragte sie den Arzt: »Könnte es die Hodgkin-Krankheit sein?« .-.
.-.
»Nun ja«, antwortete er, »möglich wäre das schon.« Auf die Überweisung ins Bezirkskrankenhaus schrieb der Doktor als Diagnose: »Hodgkin-Krankheit -?« Daraus ersah ich, dass der Arzt, was diesen Fall anging, nicht klüger war als ich. Im Bezirkskrankenhaus führten sie bei Arlene alle möglichen Untersuchungen und radiologischen Maßnahmen wegen Verdachts auf »Hodgkin-Krankheit -?« durch und hielten zur Besprechung dieses besonderen Falls ein Konsil ab. Ich erinnere mich noch, wie ich draußen in der Halle auf sie wartete. Danach fuhr eine Krankenschwester Arlene in einem Rollstuhl heraus. Und plötzlich kommt ein kleiner Kerl aus dem Konferenzzimmer auf uns zugerannt. »Sagen Sie«, stößt er ganz atemlos hervor, »spucken Sie Blut? Haben Sie schon einmal Blut gehustet?« »Gehen Sie! Gehen Sie!« fährt ihn die Krankenschwester an. »So etwas fragt man einen Patienten nicht!« und stößt ihn beiseite. Dann wandte sie sich uns zu: »Das ist ein Arzt aus der Nachbarschaft, der zu den Konsilien kommt und immer für Ärger sorgt. Solche Fragen stellt man einem Patienten einfach nicht!« .-
.-
.-
.-
Ich schaltete nicht schnell genug. Der Arzt wollte eine bestimmte Möglichkeit überprüfen, und wäre ich etwas heller gewesen, hätte ich ihn gefragt, welche. Nach einer längeren Beratung erklärt mir schließlich einer der Ärzte, sie tippten auf die Hodgkin-Krankheit. »Es wird Zeiten der Besserung und Zeiten im Krankenhaus geben, ein Auf und Ab mit einer allmählichen Verschlechterung. Eine völlige Wiederherstellung ist ausgeschlossen. Nach ein paar Jahren tritt der Tod ein.« .-
- 32 -
»Ich bin betroffen, das zu hören«, entgegne ich. »Ich werde es ihr sagen.« .-
»Auf keinen Fall!« ruft der Arzt. »Wir wollen die Patientin nicht aufregen. Wir werden ihr sagen, es sei Drüsenfieber.« »Kommt nicht in Frage!« erwidere ich. »Wir haben über die Möglichkeit der Hodgkin-Krankheit schon gesprochen. Ich weiß, dass sie damit zurechtkommt.«
.-
.-
»Ihre Eltern wollen nicht, dass sie es erfährt. Sie sollten vorher lieber noch einmal mit ihnen reden.« .-
Zu Hause bearbeiteten mich alle: meine Eltern, meine zwei Tanten, unser Hausarzt; alle nannten mich einen dummen Jungen, der nicht begreift, welchen Schmerz er diesem wunderbaren Mädchen durch die Nachricht von ihrer tödlichen Krankheit zufügt. »Wie kannst du nur so etwas Schreckliches tun?« fragten sie entsetzt. .-
»Weil wir ausgemacht haben, immer ehrlich miteinander umzugehen und den Dingen direkt ins Auge zu sehen. Es bringt nichts, ihr etwas vorzumachen. Sie wird mich fragen, was sie hat, und ich kann sie nicht belügen!« .-
»Aber das ist doch kindisch!« wandten sie ein - bla, bla, bla. Alle setzten mir unaufhörlich zu und erklärten, ich sei auf dem Holzweg. Ich war überzeugt davon, dass ich absolut recht hatte, weil ich mit Arlene schon über die Krankheit gesprochen hatte und wusste, dass sie damit fertig werden konnte - dass es richtig war, ihr die Wahrheit zu sagen. Als mich aber zu guter Letzt meine kleine Schwester - sie war damals elf oder zwölf - mit tränenüberströmtem Gesicht bestürmt und meine Brust mit Fäusten bearbeitet, um mir einzuhämmern, was für ein wunderbarer Mensch Arlene und was für ein blöder, störrischer Bruder ich sei, konnte ich nicht mehr. Das gab mir den Rest. .-
.-
.-
So schrieb ich Arlene einen Liebes- und Abschiedsbrief und trug ihn die ganze Zeit über bei mir. Denn ich war überzeugt, dass es zwischen uns aus wäre, sobald sie dahinter kam, dass ich sie belogen hatte. .-
Die Götter machen es uns nie einfach; stets machen sie es uns schwerer. Ich gehe also mit diesem Entschluss ins Krankenhaus. Arlene sitzt im Bett, rechts und links ihre Eltern, - 33 -
und sieht irgendwie ratlos aus. Bei meinem Anblick hellt sich ihr Gesicht auf. »Jetzt«, erklärt sie, »weiß ich erst wirklich zu schätzen, dass wir uns immer die Wahrheit sagen!« Und zu ihren Eltern hinübernickend, fährt sie fort: »Sie behaupten, ich habe Drüsenfieber, aber ich weiß nicht recht, ob ich ihnen glauben soll. Sag mir, Richard, habe ich die HodgkinKrankheit oder Drüsenfieber?« .-
»Drüsenfieber«, antwortete ich und starb innerlich. Es war entsetzlich - einfach entsetzlich! Ihre Antwort war ganz treuherzig: »O gut! Dann glaube ich ihnen.« Da wir solches Vertrauen ineinander setzten, war sie völlig beruhigt. Das Problem war gelöst und alles in bester Butter. Sie erholte sich etwas und durfte für eine Weile nach Hause. Ungefähr eine Woche danach erhalte ich einen Anruf. »Richard«, sagt sie, »ich möchte mit dir reden. Komm rüber.« .-
.-
.-
»In Ordnung.« Ich überzeuge mich, dass ich den Brief noch bei mir habe. Zweifelsohne lag etwas in der Luft. Ich steige zu ihrem Zimmer hinauf. »Setz dich.« Ich setze mich aufs Fußende ihres Bettes. »Und jetzt«, fährt sie fort, »sagst du mir, was ich habe, Drüsenfieber oder die HodgkinKrankheit.« »Die Hodgkin-Krankheit.« Ich langte nach dem Brief. .-
.-
.-
»Mein Gott!« meint sie. »Müssen sie dir die Hölle heiß gemacht haben!« Da sage ich ihr, dass sie eine tödliche Krankheit hat und gebe zu, dass ich sie außerdem belogen habe, und woran denkt sie? An mich! Ich schämte mich schrecklich und gab ihr den Brief. »Du hättest dabei bleiben sollen. Wir wissen, was wir tun, wir sind auf dem richtigen Weg!«
.-
.-
.-
»Es tut mir leid. Ich fühle mich abscheulich.« »Ich versteh dich, Richard. Aber tu's nie wieder.«
.-
.-
Es zeigte sich, dass sie auf die Idee gekommen war, sich wie in der Kindheit aus dem Bett zu stehlen und auf Zehenspitzen die Treppe hinunterzuschleichen, um ein bisschen zu horchen. Da sie ihre Mutter heftig weinen hörte, dachte sie, - 34 -
während sie in ihr Bett zurückkehrte: Warum weint Mutter so sehr, wenn ich Drüsenfieber habe? Aber Richard hat gesagt, dass ich Drüsenfieber habe, also muss es stimmen! .-
Später kam ihr der Gedanke: Könnte mich Richard belogen haben? Sie fragte sich, wie es dahin hätte kommen können, und kam zu dem Schluss, dass mich jemand in die Mangel genommen haben könnte. .-
Sie konnte schwierige Situationen so gut hinnehmen, dass sie zum nächsten Problem überging. »Also gut«, sagte sie, »ich habe die Hodgkin-Krankheit. Und was werden wir jetzt machen?« .-
Ich hatte ein Stipendium für Princeton, das ich bei einer Heirat verlieren würde. Wir kannten den Krankheitsverlauf: Manchmal würde es ein paar Monate lang besser gehen, und Arlene konnte zu Hause sein, dann würde sie wieder monatelang ins Krankenhaus müssen - ein Hin und Her, und das vielleicht zwei Jahre lang. .-
So erwäge ich, obwohl ich mitten in der Doktorarbeit stecke, mich in der Forschungsabteilung der Bell Telephone Laboratories, einem sehr guten Arbeitsplatz, nach einem Job umzuschauen. In Queens, das nicht zu weit vom Krankenhaus und den Bell Labs entfernt ist, könnten wir eine kleine Wohnung mieten und in ein 10 Monaten in New York heiraten. All das haben wir an jeden Mittag fix und fertig geplant. .-
Schon vor einigen Monaten hatten Arlenes Ärzte angeregt, aus der Geschwulst an ihrem Hals eine Gewebeprobe zu entnehmen. Ihre Eltern hatten nichts davon wissen wollen sie wollten das arme kranke Kind nicht quälen. Doch nun bearbeitete ich mit neuer Entschlossenheit. Ich erklärte, es sei wichtig, möglichst viel Aufklärung zu erhalten. Und schließlich konnte ich sie für Arlenes Hilfe überzeugen. Ein paar Tage später ruft mich Arlene an: »Sie haben den Biopsie-Befund.« .-
.-
»Ist er gut oder schlecht?« »Ich weiß nicht recht. Komm rüber, damit wir's bereden.« Ms ich hinkam, gab sie mir das Gutachten. Es besagte: »Die Biopsie ergab Lymphdrüsentuberkulose.« Das haute mich .-
- 35 -
glatt um. Das war doch die erste gottverdammte Krankheit auf der Liste! Ich hatte sie nicht weiter beacht, weil sie als leicht diagnostizierbar bezeichnet worden war, während die Ärzte solche Mühe hatten herauszufinden, was es war. Dass sie den nächstliegenden Fall überprüft hatten, hatte ich für selbstverständlich gehalten. Und nun war es der. Der Doktor, aus dem Konferenzzimmer gelaufen kam, um zu fragen: spucken Sie Blut?« war auf der richtigen Spur gewesen. Er kannte, was es war! .
Ich kam mir wie ein Dummkopf vor. Aufgrund von Indizien, die sehr viel taugen, hatte ich die nächstliegende Möglichkeit übergangen und natürlich, weil ich die Ärzte für intelligenter gehalten hatte, wie sie waren. Andernfalls hätte ich doch als erstes diese Möglichkeit der Sprache gebracht, und vielleicht hätte der Arzt dann Arlenes Krankheitsverlauf als »Lymphdrüsentuberkulose-?« diagnostisiert. Ich war ein Trottel. Seitdem bin ich klüger geworden. Jedenfalls meint Arlene: »So könnte ich noch sieben Jahre leben. Mein Zustand könnte sich sogar bessern.« .
»Und wieso weißt du dann nicht, ob es eine gute oder schlechte Nachricht ist?« »Weil wir unter den Umständen nicht gleich heiraten können.« In der Annahme, dass ihr bestenfalls noch zwei Jahre blieben, hatten wir uns in ihren Augen alles so gut ausgedacht, dass sie die Entdeckung, sie könnte länger leben, fast ein bisschen ratlos machte! Aber ich brauchte nicht lange, um sie zu überzeugen, dass der Sachverhalt viel günstiger war. .
.
Von nun an, das war klargeworden, konnten wir den Dingen gemeinsam ins Gesicht schauen. Nachdem wir dieses Problem bewältigt hatten, konnte uns so schnell nichts mehr schrecken. .
Bei Kriegsausbruch wurde ich für das Manhattan Project in Princeton rekrutiert, wo ich im Examen stand. Einige Monate später, sobald ich den Titel in der Tasche hatte, kündigte ich meiner Familie unsere Heiratsabsichten an. .
Mein Vater war entsetzt. Er hatte meine Entwicklung aufmerksam verfolgt und mich von frühester Kindheit an zum Wissenschaftler prädestiniert gesehen. Er hielt eine Heirat für verfrüht - sie musste meine Karriere behindern. Außerdem huldigte er - 36 -
dieser fixen Idee: Wenn ein Mann in die Klemme geriet, pflegte er zu sagen: cherchez la femme - »da steckt eine Frau dahinter«. Frauen, davon war er überzeugt, waren für den Mann die große Gefahr. Ein Mann musste stets auf der Hut vor ihnen sein, durfte sich nicht von ihnen einwickeln lassen. Und nun will ich ein Mädchen mit Tuberkulose heiraten. Natürlich sieht er da gleich die Ansteckungsgefahr. .
Diese Befürchtung machte im übrigen der ganzen Familie zu schaffen - den Tanten, den Onkeln, jedermann. Sie schickten den Hausarzt, der mich darüber aufzuklären versuchte, welch gefährliche Krankheit Tuberkulose ist, und dass ich sie mir mit Sicherheit einhandelte. .
Ich entgegnete: »Sagen Sie mir nur, wie sie übertragen wird, und wir finden schon einen Weg.« Wir waren ohnehin sehr, sehr vorsichtig. Wir wussten, dass wir uns nicht küssen durften, weil der Mund eine regelrechte Bakterienbrutstätte ist. .
Dann setzten sie mir äußerst behutsam auseinander, dass ich, falls ich Arlene zu heiraten versprach, die Situation ja gar nicht gekannt habe. Jedermann würde verstehen, dass ich damals von einer falschen Voraussetzung ausgegangen sei und mein Versprechen somit gar kein richtiges sei. .
Ich hatte nie das Gefühl, die idiotische Idee, heiraten zu müssen, weil ich es versprochen hatte. Das wäre mir nicht im Traum eingefallen. Es ging nicht darum, ob ich irgend etwas versprochen hatte. All das hatten wir beiseite geschoben, uns keinen Schein beschafft, nicht offiziell geheiratet. Aber wir liebten einander und waren gefühlsmäßig bereits verheiratet. .
So fragte ich: »Würde denn ein Mann seine Frau verlassen, wenn er erfährt, dass sie Tuberkulose hat? Wäre das verständlich?« .
Einzig meine Tante, die das Hotel betrieb, konnte sich eine solche Heirat halbwegs vorstellen. Die anderen waren nach wie vor dagegen. Doch diesmal war ich in Anbetracht ihres letzten Ratschlags, der sich als grundfalsch herausgestellt hatte, in einer viel stärkeren Position. Es war ein leichtes, gegenzusteuern und weiterzumachen. Im Grunde war es kein Problem. Obwohl die Umstände ähnlich lagen, sollten sie mich nicht noch einmal überreden. Arlene und ich wussten, dass wir das Richtige taten. - 37 -
Wir dachten uns alles genau aus. In New Jersey, südlich von Fort Dix, gab es ein Krankenhaus, in dem sie bleiben konnte, solange ich in Princeton war; das von der Textilarbeiterinnengewerkschaft von New York betriebene, kostenlose Deborah-Krankenhaus. Zwar war Arlene keine Textilarbeiterin, aber das spielte keine Rolle. Und ich war nur ein junger Bursche, der für einen lausigen Lohn an dem Regierungsprojekt arbeitete. Auf diese Art und Weise aber konnte ich mich wenigstens um sie kümmern. .
Wir beschlossen, unterwegs zum Deborah-Krankenhaus zu heiraten. Ich lieh mir in Princeton ein Auto - Bill Woodward, ein Student im letzten Jahr, überließ mir seinen Kombi. Den stattete ich hinten mit Matratze und Laken wie einen kleinen Sanka aus, damit sich Arlene, wenn sie müde wurde, ein bisschen hinlegen konnte. Obwohl es ihr in letzter Zeit besser gegangen war und sie zu Hause hatte sein können, hat sie doch viel im Bezirkskrankenhaus gelegen und war etwas schwach. .
Ich fuhr nach Cedarhurst hinauf und holte meine Braut ab. Arlenes Familie winkte uns nach, und ab ging's. Durch Queens und Brooklyn und dann mit der Fähre - das war unsere romantische Bootsfahrt - nach Staten Island zum Rathaus von Richmond, um uns trauen zu lassen. Langsam stiegen wir die Treppen zum Standesamt hinauf. Der Beamte war ein netter Kerl. Er machte nicht viel Federlesens. »Sie haben keine Trauzeugen mitgebracht«, stellte er fest und rief den Buchhalter und einen Angestellten aus dem Nebenzimmer, und so wurden wir nach den Gesetzen des Staates New York getraut. Wir waren überglücklich, lächelten einander an und hielten uns bei der Hand. .
.
.
»Sie sind jetzt verheiratet«, sagte der Buchhalter. »Sie sollten die Braut küssen!« So küsste der schüchterne Jüngling seine Braut leicht auf die Wange. .
.
Ich gab allen ein Trinkgeld, wir bedankten uns sehr herzlich, dann gingen wir zum Auto zurück und fuhren ins DeborahKrankenhaus.
- 38 -
Jedes Wochenende kam ich aus Princeton zu Besuch. Einmal hatte der Bus Verspätung, so dass ich nicht mehr ins Krankenhaus hineingelassen wurde. In der Nähe gab es keine Hotels. Da ich aber meine alte Lammfelljacke anhatte, es also warm genug hatte, schaute ich mich nach einem unbebauten Grundstück zum Schlafen um. Ein bisschen machte mir zu schaffen, was wohl die Leute denken würden, wenn sie frühmorgens aus dem Fenster schauten und mich sahen, deshalb suchte ich mir einen Platz, der weit genug von den Häusern weg war. .
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, entdeckte ich, dass ich auf einem Müllabladeplatz genächtigt hatte. Ich schaute etwas dumm drein und lachte. .
Arlene hatte einen sehr netten Arzt, der partout nicht wollte, dass wir das Krankenhaus unterstützten. Es war offensichtlich, dass wir nicht viel Geld hatten. Trotz seines Protests aber brachte ich jeden Monat eine Kriegsschuldverschreibung in Höhe von 18 Dollar. .
Eines Tages erhielt ich, noch in Princeton, eine Schachtel Bleistifte per Post. Sie waren dunkelgrün, und in Goldbuchstaben war daraufgeprägt: »RICHARD, SCHATZ, ICH LIEBE DICH! PUTSY.« Sie kamen von Ariene (ich nannte sie Putsy). Nun, das war eine reizende Geste, und ich liebe sie auch, aber - man weiß ja, wie man gedankenverloren einen Bleistift da oder dort rumliegen lässt. Man zeigt Professor Wigner eine Formel oder sonst was und vergisst den Bleistift auf seinem Schreibtisch. Damals schwammen wir nicht gerade in materiellen Gutem, und so wollte ich die Bleistifte für mich retten. Ich holte mir eine Rasierklinge aus dem Bad und schnitt aus einem die Schrift heraus, um zu sehen, ob ich ihn dann verwenden konnte. Am nächsten Tag bringt die Post einen Brief. »WAS FÄLLT DIR EIN«, fängt er an, »DIE NAMEN AUS DEN BLEISTIFTEN HERAUSZUSCHNEIDEN?« »Bist Du nicht stolz darauf, dass ich Dich liebe?« und dann: »WAS KÜMMERT'S DICH, WAS DIE ÄNDERN DENKEN?« .
.
.
.
- 39 -
Zum Schluss folgte ein Gedicht: »Wenn Du Dich meiner schämst, dah, dah, hast Du 'nen Vogel, Vogel!« Der nächste Vers fängt genauso an und endet, »hast Du 'ne Meise, Meise!« Jeder Vers bedeutete mir in leicht abgewandelter Form, dass es bei mir piepte. Was blieb mir anderes übrig? Ich benutzte die Bleistifte, wie sie waren. .
.
Kurz bevor ich nach Los Alamos abkommandiert wurde, besorgte Robert Oppenheimer, der für das Projekt verantwortlich war, für Ariene im nächstgelegenen Krankenhaus, im rund 150 Kilometer entfernten Albuquerque, einen Platz. Ich bekam jedes Wochenende frei, um sie zu besuchen. Ich fuhr am Samstag per Anhalter nach Albuquerque, verbrachte den Nachmittag mit Ariene, die Nacht in einem Hotel und den Sonntagvormittag wieder mit Ariene. Am Nachmittag fuhr ich dann per Anhalter nach Los Alamos zurück. .
Unter der Woche bekam ich oft Post von ihr. Manche Sendungen, wie der Brief, den sie auf ein unbemaltes Puzzle geschrieben hatte, das sie danach auseinandergenommen und in einem Beutel geschickt hatte, trugen mir kurze Anmerkungen von der Briefzensurstelle ein, wie: »Bitte sagen Sie Ihrer Frau, dass wir keine Zeit für solche Spiele haben.« Was ich natürlich nicht tat. Mir gefielen ihre Spiele - auch wenn ich durch sie oft genug in eine ebenso peinliche wie komische Klemme geriet. .
Einmal, um Anfang Mai herum, tauchten in Los Alamos in fast allen Briefkästen mysteriöse Zeitungen auf. Die ganze verdammte Siedlung lief davon über - Hunderte von Zeitungen. Es war jene Sorte, bei der einem, wenn man sie auffaltet, fettgedruckt auf der ersten Seite die Schlagzeile ins Auge springt: .
GANZE NATION FEIERT R. P. FEYNMANS GEBURTSTAG! Ariene trieb ihr Spiel mit der Welt. Sie hatte viel Zeit, um sich alles mögliche auszudenken. Sie las Magazine und bestellte dann dies oder das. Stets heckte sie etwas aus. (Die Namen muss sie sich mit Hilfe von Nick Metropolis oder einem der anderen Burschen aus Los Alamos beschafft haben, die sie oft besuchten.) Sie war zwar an ihr Zimmer gefesselt, aber .
- 40 -
doch mitten in der Welt, schrieb mir verrückte Briefe und ließ alles mögliche kommen. .
Einmal ließ sie mir einen großen Katalog für Küchenausstattungen schicken - von der Art, wie sie in riesigen Einrichtungen mit einer Menge Leute, wie zum Beispiel Gefängnissen, gebraucht werden. Er enthielt alles, vom Gebläse über Abzugshauben für Herde bis zu gewaltigen Töpfen und Pfannen. Was, zum Teufel, fragte ich mich, will sie damit? Er erinnerte mich an den Schiffskatalog, den mir Ariene ans MIT geschickt hatte, darin waren lauter große Schiffe, von Kriegsschiffen bis zu Ozeandampfern, abgebildet. »Was«, hatte ich ihr geschrieben, »soll das?« »Nun«, antwortete sie, »ich dachte, wenn wir jetzt heiraten, könnten wir uns vielleicht ein Boot zulegen.« .
.
.
Darauf ich: »Bist Du wahnsinnig geworden? Du hast ja jedes Maß verloren!« Prompt kommt ein anderer Katalog: große Jachten - Zwölfmeter-Schoner und dergleichen - für die Superreichen. Dazu der Kommentar: »Vielleicht könnten wir eins von denen kaufen, wenn Du schon zu den anderen Schiffen nein sagst.« Ich erwiderte: »Schau, Du greifst zu hoch!« .
.
.
Es dauerte nicht lang, da kommt der nächste Katalog: für verschiedene Motorboote - Chriscraft und derlei. »Zu teuer!« antworte ich. .
.
Und schließlich kommt eine kurze Notiz: »Das ist Deine letzte Chance, Richard. Du sagst immer nur nein.« Es stellt sich heraus, dass eine Freundin von ihr ein Ruderboot - ein gebrauchtes Ruderboot - um 15 Dollar verkaufen möchte, und ob wir es ihr nicht abkaufen und im nächsten Sommer damit rudern gehen könnten. .
Also meinetwegen ja. Wie könnte ich nach alledem nein sagen? .
Nun, ich zerbreche mir immer noch den Kopf, was sie wohl diesmal mit dem Einrichtungskatalog für Großküchen im Schilde führen mag, da kommt schon der nächste Katalog für Hotels und Restaurants, Angebote für kleinere und mittlere Hotels und Restaurants. Ein paar Tage später trudelt ein - 41 -
Katalog für Die Küche in Ihrem neuen Heim ein. Die Aufklärung erfolgt am nächsten Samstag in Albuquerque: In ihrem Zimmer steht ein kleiner Holzkohlengrill, den sie vom Sears-Versand bezogen hat. Die Apparatur ist knapp fünfzig Zentimeter lang und steht auf kleinen Füßen. »Ich dachte«, erklärt Arlene, »wir könnten Steaks grillen.« .
.
.
»Wie, zum Teufel«, frage ich, »willst du das hier im Zimmer mit dem Rauch und allem Drum und Dran bewerkstelligen?« »Aber nicht doch«, besänftigt sie mich, »du brauchst ja nur raus auf den Rasen zu gehen. Dann kannst du uns jeden Sonntag Steaks machen.« Das Krankenhaus lag direkt an der Route 66, der Hauptverkehrsader durch die Vereinigten Staaten! »Ausgeschlossen«, begehre ich auf. »Bei all den Autos und Lastwagen, die vorbeifahren und all den Leuten auf dem Gehsteig - da kann ich doch nicht einfach rausgehen und auf dem Rasen Steaks braten!« »Was kümmert's dich, was die ändern denken?« (Arlene machte mich noch wahnsinnig mit dem Spruch!) »Also gut«, meint sie und zieht eine Schublade auf, »einigen wir uns auf einen Kompromiss: Die Kochmütze und Handschuhe brauchst du nicht zu tragen.« .
.
.
.
Dabei hält sie eine Mütze hoch - eine echte Kochmütze - und Handschuhe. Dann sagt sie: »Probier mal die Schürze an«, und faltet sie auseinander. Irgend etwas Albernes wie »BARB-QKING« stand darauf geschrieben. .
»Schon gut, schon gut!« stoße ich entsetzt hervor. »Ich grille die Steaks auf dem Rasen!« Und so ging ich jeden Samstag oder Sonntag an die Route 66 hinunter und briet Steaks. Dann war da noch die Sache mit den Weihnachtskarten. Eines Tages, ich war erst ein paar Wochen in Los Alamos, meint Arlene: »Ich dachte, es wäre nett, den ändern eine Weihnachtskarte zu schicken. Möchtest du sehen, was ich ausgesucht habe?« .
.
Es waren nette Karten, nichts dagegen einzuwenden, aber auf der Innenseite stand: »Fröhliche Weihnachten von Rieh & Putsy«. »Die kann ich unmöglich an Fermi und Bethe verschicken«, wandte ich ein. »Ich kenne sie ja kaum!« - 42 -
»Was kümmert's dich, was die ändern denken?« - natürlich. Also schickten wir sie ihnen. .
Nächstes Weihnachten kommt, mittlerweile kenne ich Fermi, kenne ich Bethe. Ich war bei ihnen zu Hause. Habe ihre Kinder gehütet. Wir stehen auf recht freundschaftlichem Fuß. In irgend etwas mitten hinein sagt Arlene mit einemmal sehr förmlich: »Du hast mich noch gar nicht nach unseren Weihnachtskarten gefragt, Richard ...« Eine SCHLIMME AHNUNG durchzuckt mich. »Oh, nun denn, zeig mal her.« .
.
.
Auf den Karten steht: Fröhliche Weihnachten und ein Glückliches Neues Jahr von Richard und Arlene Feynman. »Na gut«, meine ich, »sehr hübsch. Das passt für alle.« .
»Aber nein«, erwidert sie, »doch nicht für Fermi und Bethe und all die anderen Berühmtheiten.« Natürlich hat sie noch eine andere Schachtel mit Karten. Sie zieht eine heraus. Der Text ist der gleiche, aber dann folgt: von Dr. & Mrs. R. P. Feynman. .
.
Also musste ich ihnen diese schicken. »Warum auf einmal so förmlich, Dick?« hänselten sie mich. Es freute sie, dass sich Arlene auf diese Weise die Zeit aufs angenehmste vertrieb und ich machtlos dagegen war. Arlene verbrachte nicht die ganze Zeit mit der Erfindung von Spielen. Sie hatte sich ein Buch Sound and Symbol in Chinese (Klang und Schriftzeichen im Chinesischen) kommen lassen, ein herrliches Buch - ich habe es heute noch - mit etwa fünfzig Zeichen in wunderschöner Kalligraphie samt Erklärungen wie: »Scherereien: drei Frauen in einem Haus.« Dazu das richtige Papier, Pinsel und Tusche, und sie übte sich in Kalligraphie. Außerdem hatte sie ein chinesisches Lexikon gekauft, um noch mehr Schriftzeichen zu haben. .
.
.
Einmal, als ich zu Besuch kam, war Arlene gerade damit beschäftigt. »Nein«, sagt sie zu sich, »das da ist falsch.« .
Darauf ich, der »große Wissenschaftler«: »Was soll das heißen, >falsch Es handelt sich doch nur um eine Konvention unter Menschen. Es gibt kein Naturgesetz, das
- 43 -
besagt, wie sie auszusehen haben; du kannst sie malen, wie du willst.« .
»Ich meine, künstlerisch falsch. Das Ganze ist eine Frage der Ausgewogenheit, des Gefühls.« »Aber eine Möglichkeit ist so gut wie die andere«, beharre ich. »Da«, antwortet sie und gibt mir den Pinsel. »Probier's selber.« .
.
Also pinselte ich ein Schriftzeichen aufs Papier. »Warte mal.« Ich zögerte. »Lass mich noch eins versuchen - es ist zu klecksig.« (Falsch hätte ich einfach nicht über die Lippen gebracht.) .
»Und woher weißt du, wie klecksig es sein soll?« fragt sie. Ich hatte begriffen, was sie meinte. Der Strich muss auf eine ganz bestimmte Weise gemacht werden, damit er gut aussieht. Ein ästhetischer Gegenstand hat einen gewissen Zuschnitt, einen gewissen Charakter, den ich nicht definieren kann. Und weil es mir an der Definition gebrach, glaubte ich, es stecke nichts dahinter. Diese Erfahrung jedoch lehrte mich, dass etwas dahintersteckt - und seitdem hat mich die Kunst in ihren Bann geschlagen. Just in dieser Zeit erhalte ich eine Postkarte von meiner Schwester aus Oberlin, wo sie aufs College geht. Sie ist mit lauter kleinen Bleistiftzeichen bedeckt - chinesischen Schriftzeichen! .
.
.
Joan ist neun Jahre jünger als ich und studierte ebenfalls Physik. Einen großen Bruder wie mich zu haben, war ein harter Brocken für sie. So war sie ständig darauf aus, mir zu zeigen, dass sie etwas konnte, was ich nicht konnte, und lernte heimlich Chinesisch. Nun, Chinesisch konnte ich nicht; aber wenn ich in etwas gut bin, dann im Rätselraten und kostet es mich noch soviel Zeit. Am nächsten Wochenende nahm ich die Karte mit nach Albuquerque. Arlene zeigte mir, wie man die Schriftzeichen nachschlägt. Man beginnt hinten im Lexikon mit der rechten Rubrik und zählt die Zahl der Striche. Dann geht man zum Hauptteil des Lexikons über. Da aber jedes Zeichen verschiedene Bedeutungen haben kann, muss man verschiedene Zeichen zusammensetzen, ehe man die richtige .
- 44 -
Bedeutung herausfinden kann. Mit großer Geduld suchte ich alles zusammen. Joan vermeldete Dinge wie: »Hatte einen netten Tag heute.« Nur aus einem Satz konnte ich nicht schlau werden. Er besagte: »Gestern feierten wir den Bergentstehungstag« offensichtlich ein Fehler. (Später stellte sich heraus, dass sie in Oberlin tatsächlich irgend etwas Verrücktes als »Bergentstehungstag« begehen - ich hatte also richtig übersetzt.) Die Karte enthielt also die üblichen Postkarten-Trivialitäten aber auf chinesisch, weil mir Joan eins auswischen wollte. .
.
.
Ich ging das Kunstbuch durch, von vorn nach hinten und von hinten nach vorn, bis ich vier Zeichen gefunden hatte, die zusammenpassten. Dann übte ich sie wieder und wieder. Ich hatte ein großes Blatt Papier und pinselte jedes einzelne an die fünfzigmal nacheinander, bis endlich eins hinhaute. .
Sobald mir zufällig eins geglückt war, hob ich es auf. Arlene gab ihren Segen und wir klebten die vier in einer fortlaufenden Reihe von unten nach oben. Dann befestigten wir an den beiden Enden ein kleines Stück Holz, damit man das Ganze an die Wand hängen konnte. Ich fotografierte mein Meisterwerk mit Nick Metropolis' Kamera, rollte es zusammen, steckte es in einen Pappbehälter und schickte es Joan. .
Sie nimmt die Sendung in Empfang, entrollt das Blatt und kann es nicht lesen. Wahrscheinlich, denkt sie, hat er einfach vier Schriftzeichen übereinandergesetzt. Sie bringt die Schriftrolle ihrem Lehrer. Das erste, was der sagt: »Recht ordentlich geschrieben! Haben Sie das gemacht?« »Ich? Nein. Und was heißt es?« .
.
.
»Älterer Bruder spricht auch.« .
Ich bin wirklich gemein - meiner kleinen Schwester immer die Schau zu stehlen. .
Als sich Arlenes Zustand erheblich verschlechterte, kam ihr Vater aus New York zu Besuch. So weit zu reisen, war im Krieg schwierig und teuer, aber er wusste, dass es dem Ende zuging. Eines Tages rief er mich in Los Alamos an. »Du - 45 -
kommst besser sofort her«, meinte er. Ich hatte schon vorher mit einem Freund in Los Alamos, Klaus Fuchs, abgemacht, dass ich im Notfall sein Auto nehmen durfte, um schneller nach Albuquerque zu kommen. Ich klaubte ein Anhalterpärchen auf, um unterwegs notfalls eine Hilfe zu haben. .
.
Und richtig hatten wir, als wir nach Santa Fe kamen, einen Platten. Die Anhalter halfen mir beim Reifenwechsel, doch am anderen Ende von Santa Fe gab der Ersatzreifen den Geist auf. Zum Glück war eine Tankstelle in der Nähe. Ich weiß noch, dass ich geduldig wartete, weil der Tankwart mit einem anderen Auto beschäftigt war. Aber die beiden Anhalter, die meine Situation kannten, erklärten dem Mann die Lage, woraufhin er den Platten vornahm. Wir beschlossen, den Ersatzreifen nicht flicken zu lassen, um keine weitere Zeit zu verlieren. .
Wieder unterwegs nach Albuquerque, kam ich mir reichlich dumm vor, dass ich nicht selber darauf gekommen war, mich an den Tankwart zu wenden, zumal die Zeit so kostbar war. Ungefähr fünfzig Kilometer vor Albuquerque, bums, der nächste Plattfuß! Wir mussten das Auto stehen lassen und den Rest per Anhalter fahren. In der Stadt benachrichtigte ich eine Abschleppfirma. Im Krankenhaus traf ich Arlenes Vater. Er war schon ein paar Tage da. »Ich ertrage es nicht länger«, sagte er. »Ich muss heim.« Er war todunglücklich und nicht mehr zu halten. .
Als ich endlich zu Arlene kam, fand ich sie sehr schwach und leicht verwirrt. Sie schien nicht zu wissen, was vorging. Die meiste Zeit starrte sie geradeaus vor sich hin, nur manchmal schaute sie sich etwas um, und versuchte zu atmen. Ab und zu brach ihr Atem ab - und sie schluckte sonderbar -, dann setzte er wieder ein. So ging es über Stunden. Ich vertrat mir draußen eine Weile die Füße. Ich war überrascht, dass ich nicht die Gefühle empfand, die ich den Leuten in solchen Umständen immer zugeschrieben hatte. Vielleicht machte ich mir etwas vor. Ich war nicht froh, fühlte mich aber auch nicht völlig fassungslos, möglicherweise, weil wir seit langem wussten, dass es so kommen musste. Es ist schwer zu erklären. Wenn ein Marsbewohner (wir .
- 46 -
wollen einmal annehmen, dass er, außer durch einen Unfall, unsterblich sei) auf die Erde käme und diese sonderbare Rasse - diese Menschen, die siebzig, achtzig Jahre im Bewusstsein des bevorstehenden Todes leben - sähe, würde er sicher glauben, dass unter solchen Umständen, gewissermaßen auf Abruf, zu leben, ein entsetzliches psychologisches Problem darstelle. Irgendwie aber verstehen wir Menschen trotz dieses Problems zu leben: Irgendwie schaffen wir es zu lachen, zu witzeln, zu leben. .
Der einzige Unterschied für mich und Arlene bestand darin, dass es nicht fünfzig, sondern fünf Jahre waren. Das war ein rein quantitativer Unterschied. Das psychologische Problem dagegen blieb dasselbe, solange wir uns nicht einredeten: Wie viel besser haben es doch die ändern, die vielleicht noch fünfzig Jahre vor sich haben. Doch wozu sich selber das Dasein mit Jeremiaden vergällen wie: Warum muss es ausgerechnet uns so hart treffen? Warum straft uns Gott so? Womit haben wir das verdient? Fragen, die, wenn man die Wirklichkeit begreift und nimmt, wie sie ist, einfach irrelevant und unbeantwortbar sind. Das sind Dinge, die niemand wissen kann. Es ist purer Zufall, wie man es im Leben trifft. Wir hatten eine verdammt schöne Zeit miteinander verlebt. .
.
Ich ging zurück zu ihr ins Zimmer. Ich stellte mir all die physiologischen Vorgänge vor: Die Lungen versorgen das Blut nicht mehr mit genügend Luft, so dass das Gehirn nicht mehr klar denken kann und das Herz schwächer schlägt, wodurch die Atmung weiter erschwert wird. Ich erwartete eine Art Schneeballeffekt und einen dramatischen Kollaps, bei dem alles zusammenbrechen würde. Doch es kam ganz anders: Sie kam immer seltener zu Bewusstsein, atmete immer weniger, bis sie - nach einem ganz kleinen Schnaufer - ganz aufhörte. .
Als die Schwester auf ihrer Runde durch die Zimmer hereinkam, bestätigte sie Arlenes Tod und ging wieder hinaus - ich wollte einen Augenblick allein sein. Nachdem ich eine Zeitlang so gesessen war, trat ich ans Bett und küsste Arlene ein letztes Mal. .
Es überraschte mich zutiefst, dass ihr Haar genauso roch wie vorher. Natürlich, sagte ich mir, nachdem ich darüber nachge- 47 -
dacht hatte, aus welchem Grund hätte es so kurze Zeit danach anders riechen sollen? Mich aber traf es wie ein Schlag, weil für mich gerade etwas Unerhörtes geschehen war - und doch war nichts geschehen. .
Am nächsten Tag ging ich in die Leichenhalle. Der Aufseher händigte mir ein paar Ringe aus, die sie der Leiche abgenommen hatten. »Möchten Sie Ihre Frau noch einmal sehen?« fragte er. .
»Welche Art«, hob ich an, »- nein«, beschloss ich, »ich möchte sie nicht mehr sehen! Ich habe sie gerade gesehen!« .
»Aber sie ist jetzt fertig hergerichtet«, meinte er. .
Dieses ganze Brimborium war mir vollständig fremd. Eine Leiche herrichten, wenn nichts mehr bevorstand? Ich wollte Arlene nicht mehr sehen; das hätte mich nur aus der Fassung gebracht. .
Ich rief die Abschleppfirma an, bekam das Auto, packte Arlenes Sachen in den Kofferraum, nahm einen Anhalter mit und verließ Albuquerque. .
Wir waren noch keine zehn Kilometer gefahren, da ... PENG! Wieder ein Platten. Ich fing an zu fluchen. Der Anhalter schaute mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost. »Es ist doch nur ein Reifen?« meinte er. .
.
»Ja, es ist nur ein Reifen - und wieder ein Reifen und wieder ein Reifen und noch einmal ein Reifen!« .
Wir zogen den Ersatzreifen auf und fuhren den ganzen Weg zurück nach Los Alamos sehr langsam, ohne den kaputten Reifen flicken zu lassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich meinen Freunden in Los Alamos gegenübertreten sollte. Ich konnte keine Leute mit Leichenbittermienen um mich ertragen, die mit mir über Arlenes Tod reden wollten. Irgendwer fragte mich, was geschehen war. »Sie ist tot«, antwortete ich. »Und wie läuft das Programm?« .
.
.
Sie begriffen sofort, dass ich keine Klagegesänge hören wollte. Nur ein einziger sprach mir sein Beileid aus, und der war, wie sich herausstellte, unterwegs gewesen, als ich nach Los Alamos zurückkam. - 48 -
Eines Nachts hatte ich einen Traum, in dem Arlene auftauchte. Auf der Stelle sagte ich zu ihr: »Nein, nein, du kannst in diesem Traum nicht vorkommen. Du bist ja nicht mehr am Leben!« .
Später hatte ich noch einmal einen Traum mit Arlene. Und wieder fing ich an: »Du kannst nicht in diesem Traum vorkommen!« .
»Nein, nein«, antwortet sie. »Ich habe dich zum Narren gehalten. Ich hatte dich satt, und da habe ich mir diese List ausgedacht, um freie Hand zu haben. Aber jetzt mag ich dich wieder, deshalb bin ich zurückgekommen.« Mein Kopf arbeitete gegen mich. Selbst in einem gottverdammten Traum musste er eine Erklärung dafür finden, wie es sein konnte, dass sie noch immer da war! Ich muss mich seelisch selbst stranguliert haben. Erst einen Monat später kamen die Tränen, als ich an einem Kaufhaus in Oak Ridge vorbeischlenderte und bei einem hübschen Kleid im Schaufenster dachte: Das würde Arlene gefallen. Da, mit einemmal, traf es mich. .
So einfach wie eins, zwei, drei. In meiner Kindheit in Far Rockaway hatte ich einen Freund namens Bernie Walker. Jeder hatte sein »Labor« zu Hause und stellte »Experimente« an. Einmal - wir müssen damals elf oder zwölf gewesen sein -, diskutierten wir über etwas, und ich erklärte: »Aber denken ist ja nichts anderes, als innerlich mit sich selber reden.« .
»Meinst du?« antwortete Bernie. »Kennst du die Kurbelwelle am Auto, die so komisch aussieht?« »Ja. Warum?« .
.
»Gut, dann sag mir doch, wie beschreibst du sie dir, wenn du mit dir selber redest?« So lernte ich von Bernie, dass Gedanken verbal und visuell sein können. .
.
Später, im College, begann ich mich für Träume zu interessieren. Ich fragte mich, wie es sein kann, dass die Dinge im Traum so wirklich aussehen, gerade als ob Licht auf die - 49 -
Retina fiele, obwohl die Augen geschlossen sind. Werden die Nervenzellen der Netzhaut in diesem Augenblick auf irgendeine Weise angeregt - vielleicht durch das Gehirn selbst -, oder hat das Gehirn eine Abteilung »Urteile«, die beim Träumen überläuft? Von den Psychologen erhielt ich keine befriedigende Antwort auf diese Fragen, obwohl ich mich sehr für die Arbeitsweise des Gehirns interessierte. Statt dessen lieferten sie mir Traumdeutungen in Hülle und Fülle. .
Als ich in Princeton meinen Doktor machte, kam eine reichlich doofe psychologische Abhandlung heraus, die heiß debattiert wurde. Der Verfasser vertrat die Auffassung, das »Zeitempfinden« werde im Gehirn durch eine chemische Reaktion mit Eisen gesteuert. Wie, zum Teufel, fragte ich mich, mag er wohl darauf verfallen sein? .
Nun, seine Frau litt an chronischem Fieber mit starken Schwankungen. Irgendwie kam ihm die Idee, ihr Zeitgefühl zu testen. Er ließ sie die Sekunden zählen (ohne auf die Uhr zu schauen) und prüfte, wie lange sie bis 60 brauchte. Die arme Frau musste den lieben langen Tag zählen, und dabei zeigte sich: Wenn das Fieber stieg, zählte sie schneller; wenn es fiel, zählte sie langsamer. Das brachte ihn auf den Gedanken, dass die für das »Zeitgefühl« im Gehirn verantwortliche Instanz bei Fieber schneller funktionieren musste als ohne Fieber. .
Da er ein sehr »wissenschaftlicher« Typ war, wusste der Psychologe, dass die Geschwindigkeit einer chemischen Reaktion mit der Temperatur der Umgebung nach einer von der Stärke der Reaktion abhängenden Formel variiert. Er maß die Unterschiede im Zähltempo seiner Frau, berechnete das Verhältnis von Temperatur und Geschwindigkeit und suchte nach einer chemischen Reaktion mit einem ähnlichen Verhältnis. Er fand heraus, dass Reaktionen mit Eisen am ehesten passten, und schloss daraus, dass das Zeitgefühl seiner Frau von einer chemischen Reaktion in ihrem Körper bestimmt wurde, bei der Eisen im Spiel war. Das Ganze kam mir wie barer Unsinn vor - die lange Beweiskette enthielt viel zu viele Unsicherheitsfaktoren. Die Frage aber, was das »Zeitgefühl« bestimmt, interessierte mich sehr. Wovon hängt die Geschwindigkeit ab, wenn man gleichmäßig schnell zu zählen versucht? Und wodurch kann man sie .
- 50 -
verändern? Ich beschloss, der Sache nachzugehen, und begann damit, dass ich - natürlich ohne auf die Uhr zu schauen - die Sekunden in einem langsamen, gleichmäßigen Rhythmus zählte: 1,2,3,4,5 ... bis 60. Bei 60 schaute ich auf die Uhr: Es waren nur 48 Sekunden vergangen, aber das spielte keine Rolle. Es kam mir nicht darauf an, genau eine Minute auszuzählen, sondern mit konstanter Geschwindigkeit zu zählen. Das nächste Mal waren bei 60 49 Sekunden verstrichen. Das nächste Mal 48. Dann 47, 48, 49, 48, 48 ... Ich konnte also mein Zähltempo ziemlich gut halten. Versuchte ich dagegen, ohne zu zählen, die Dauer einer Minute abzuschätzen, erhielt ich sehr unterschiedliche Ergebnisse - erstaunliche Abweichungen. So stellte ich fest, dass ich mich sehr leicht verschätzte, mit Zählen dagegen recht genau hinkam. Nachdem ich nun wusste, dass ich in einem gleichmäßigen Tempo zählen konnte, lautete die nächste Frage: Was beeinflusst dieses Tempo? Vielleicht hängt es mit dem Herzrhythmus zusammen. Also begann ich die Treppen hinauf- und hinunterzulaufen, um mein Herz auf Trab zu bringen. Dann lief ich in mein Zimmer, warf mich aufs Bett und zählte bis 60. Darüber hinaus versuchte ich auch während des Hinauf- und Hinunterrennens zu zählen. .
.
.
.
.
Die ändern, die mich treppauf, treppab laufen sahen, fragten lachend: »Was treibst du denn da?« Ich konnte ihnen keine Antwort geben - was mir bewusst machte, dass ich während des Zählens nicht reden konnte und rannte nur, wie ein Idiot, weiter hinauf und hinunter. (Die Kommilitonen im College waren es gewohnt, dass ich mich wie ein Idiot benahm. Einmal zum Beispiel platzte einer in mein Zimmer - ich hatte vergessen, es während des »Experiments« abzuschließen -, wie ich mitten im tiefsten Winter in meiner schweren Schaffelljacke am weitgeöffneten Fenster sitze, mit der einen Hand einen Topf hinaushaltend und mit der anderen darin herumrührend. »Stör mich jetzt nicht!« sagte ich nur. »Stör mich jetzt nicht!« Im Topf war Gelatine, die ich nicht aus dem Auge ließ: Ich wollte wissen, .
- 51 -
ob sie auch, wenn sie dauernd umgerührt wird, in der Kälte erstarrt.) .
Nachdem ich alle Kombinationen des Treppenlaufens mit Ruhelagen ausprobiert hatte, die Überraschung: Der Herzschlag hatte keinen Einfluss! Und da ich mich beim Hinauf- und Hinunterrennen sehr erhitzt hatte, schloss ich die Körpertemperatur als Faktor gleichfalls aus (im Grunde selbstverständlich, da sie auch beim Sport nicht wirklich steigt). Ich konnte also nichts finden, was meine Zählgeschwindigkeit beeinflusst hätte. Mit der Zeit wurde mir das Treppenlaufen langweilig, und so begann ich zu zählen, während ich etwas tat, was ohnehin erledigt werden musste. Zum Beispiel musste ich, wenn ich die Wäsche ablieferte, die Zahl der Wäschestücke in ein Formular eintragen. Es erwies sich, dass ich zwar »3« vor »Hosen« und »4« vor »Hemden« zu schreiben, nicht aber meine Socken zählen konnte. Es waren zu viele: Meine »Zählmaschine« war schon mit Beschlag belegt - 36, 37, 38 und da der Berg Socken vor mir - 39, 40 ,41 ... Wie hätte ich sie zählen können? Ich fand einen Ausweg, indem ich sie zu geometrischen Figuren arrangierte - einem Quadrat zum Beispiel: ein Paar Socken an dieser Ecke, ein Paar an der gegenüberliegenden; ein Paar hier, ein Paar dort - macht zusammen acht Socken. Dieses Spiel, mit Hilfe von Figuren zu zählen, baute ich noch weiter aus und zählte die Zeilen eines Zeitungsartikels durch Zusammenfassen der Zeilen zu Gruppen von 3, 33 und 1, macht 10, danach 3 von dieser Sorte und noch einmal 3 und noch einmal 3 und 1 von der ersten Sorte macht 100. Auf diese Weise zählte ich die Zeitung von oben bis unten durch. Wenn ich bei meiner Zahlenzählerei bei 60 angelangt war, wusste ich genau, wo ich bei der Zeilenzählerei war und konnte sagen: Bei 60 bin ich bei Zeile 113. Es zeigte sich, dass ich die Artikel beim Zählen sogar lesen konnte, ohne dass ich an Geschwindigkeit verlor! In der Tat konnte ich während des Zählens alles tun - außer, natürlich, laut sprechen. .
.
.
.
.
Und Schreibmaschine schreiben? Wörter aus einem Buch abschreiben? Hier zeigte sich, dass es zwar möglich war, sich - 52 -
aber auf die Zeit auswirkte. Wie aufregend: Endlich hatte ich etwas gefunden, was mein Zähltempo zu beeinflussen schien! Ich beschloss, der Sache nachzugehen. .
Bei einfachen Wörtern war es kein Problem. Ich tippte recht flott und zählte dabei - 19, 20, 21, tippte und zählte - 27, 28, 29, tippte und - was, zum Teufel, war das für ein Wort? - Aha zählte? weiter - 30, 31, 32 und so fort. Als ich bei 60 anlangte, zeigte sich, dass ich mich verspätet hatte. .
Nach weiteren Beobachtungen und Selbstbeobachtungen begriff ich, wie es zugegangen sein musste: Offensichtlich unterbrach ich, wenn ich auf ein schwieriges Wort stieß, das gewissermaßen »mehr Hirn beanspruchte«, den Zählvorgang. Nicht mein Zähltempo verlangsamte sich also, sondern der Zählvorgang selbst setzte von Zeit zu Zeit aus. Bis 60 zu zählen, war mir so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich die Unterbrechung zunächst überhaupt nicht bemerkte. .
Am nächsten Morgen berichtete ich beim Frühstück den Kommilitonen die Ergebnisse all dieser Experimente. Ich schilderte, was ich beim Zählen alles tun konnte, und dass mir nur eins partout nicht gelang: Reden. .
Einer der Anwesenden, ein gewisser John Tukey, meinte: »Ich glaube dir einfach nicht, dass du dabei lesen kannst, begreife aber nicht, warum du dabei nicht reden kannst. Wetten, dass ich beim Zählen reden kann, und dass du dabei nicht lesen kannst.« .
Ich erklärte mich bereit, den Beweis anzutreten, nahm ein Buch und las, während ich zählte. Bei 60 angekommen, sagte ich: »Jetzt!« - 48 Sekunden, meine normale Zeit. Dann berichtete ich, was ich gelesen hatte. .
Tukey war verblüfft. Nachdem wir ein paar mal seine Zeit genommen hatten, um seine Normalzeit herauszufinden, fing er an: »Mary hat ein Lämmchen; ich kann sagen, was ich will, es spielt keine Rolle; ich weiß nicht, worüber ihr euch den Kopf zerbrecht« - bla, bla, bla und schließlich: »Okay!« Und es war genau seine Zeit! Ich konnte es nicht fassen! .
Wir diskutierten eine Weile darüber und entdeckten, dass Tukey auf eine andere Weise zählte als ich: Er sah ein Band mit Zahlen vorüberlaufen, das er beobachtete, während er sagte: »Mary hat ein Lämmchen ...« Mit einemmal war alles - 53 -
klar: Er »schaute« auf sein ablaufendes Band, konnte also natürlich nicht lesen, während ich beim Zählen mit mir »redete«, also natürlich nicht sprechen konnte! .
Nach dieser Entdeckung versuchte ich mir eine Möglichkeit auszudenken, wie ich beim Zählen laut lesen konnte - was keiner von uns fertig brachte. Ich dachte mir, dass ich wohl einen Teil des Gehirns dazu heranziehen musste, der nichts mit Sehen und Reden zu tun hatte, und beschloss, die Finger zu verwenden, durch die der Tastsinn angesprochen wird. Es dauerte nicht lange, da konnte ich recht gut mit den Fingern zählen und gleichzeitig laut lesen. Doch ich wollte den ganzen Vorgang ohne physische Unterstützung im Kopf abwickeln. Also versuchte ich mir das Gefühl vorzustellen, wie sich meine Finger bewegen, und dabei laut zu lesen. Das haute nicht hin. Ich bildete mir ein, ich scheiterte, weil ich nicht genug übte, aber vielleicht ist es überhaupt unmöglich. Jedenfalls ist mir nie jemand untergekommen, der es gekonnt hätte. Bei dieser Gelegenheit entdeckten Tukey und ich, dass, wenn zwei das gleiche zu tun glauben - und sei es etwas so Einfaches wie zählen -, doch bei jedem im Kopf etwas anderes vorgeht. Darüber hinaus entdeckten wir, dass man die Arbeitsweise des Gehirns von außen und objektiv testen kann: Anstatt eine Person zu fragen, wie sie zählt und sich auf ihre Selbstbeobachtung zu verlassen, beobachtet man, was sie beim Zählen kann und nicht kann. Der Test ist absolut zuverlässig. Er ist nicht zu schlagen, es gibt keine Möglichkeit zu schummeln. Es ist nur natürlich, eine Idee anhand bereits bekannter Begriffe zu erklären. Im Kopf werden Begriffe auf Begriffe gehäuft, diese Idee mit Hilfe jener ausgedrückt und jene wiederum in Begriffen einer anderen, die sich ihrerseits aufs Zählen zurückführen lässt, jenen soeben beschriebenen Vorgang, der bei verschiedenen Menschen ganz und gar unterschiedlich ablaufen kann! .
.
.
.
.
Darüber denke ich immer wieder einmal nach, vornehmlich wenn ich den Studenten eine so spezielle Technik wie die Integration der Bessel-Funktionen zu erklären versuche. Ich sehe bei Gleichungen die Buchstaben stets farbig - warum, - 54 -
weiß ich nicht. Während meiner Abhandlungen tanzen vage Bilder der Bessel-Funktionen aus Jahnkes und Emdes Lehrbuch mit gelbbraunen, leicht bläulichvioletten y und dunkelbraunen x vor meinen Augen, und ich frage mich, wie, zum Kuckuck, sie wohl für die Studenten aussehen mögen. Es zu etwas bringen Als ich in den fünfziger Jahren mit dem Schiff aus Brasilien zurückkehrte, ankerten wir einen Tag lang vor Trinidad, und so beschloss ich, mir die Hauptstadt, Port of Spain, anzuschauen. In jener Zeit interessierten mich bei Stadtbesichtigungen vor allem die Armenviertel - ich wollte sehen, wie sich das Leben am unteren Ende abspielt. Nachdem ich eine Zeitlang das Negerviertel auf den Hügeln durchstreift hatte, machte ich mich wieder auf den Rückweg. Unterwegs hielt ein Taxi neben mir. »He, Sie!« rief der Fahrer, »wollen Sie die Stadt besichtigen? Kostet Sie ganze fünf biwi.« .
.
Ich war's einverstanden: »Okay«, und stieg ein. .
»Ich zeig' Ihnen sämtliche Sehenswürdigkeiten«, erklärte der Fahrer und steuerte stracks Hügel aufwärts irgendeinen Palast an. .
»Nein, danke«, antwortete ich, »die schauen überall ähnlich aus. Ich möchte lieber den unteren Teil der Stadt sehen, wo die Armen leben. Auf den Hügeln war ich schon.« .
»Oh!« sagte er sichtlich beeindruckt. »Da fahr' ich Sie gern rum. Wenn wir durch sind, möchte ich Sie gern was fragen. Drum passen Sie bitte genau auf.« Er fuhr mich in ein Viertel, in dem Inder lebten und offenbar irgendein Wohnungsbeschaffungsprojekt durchgezogen wurde. Er hielt vor einem Haus aus Betonblöcken, das innen praktisch leer war. Auf der Schwelle saß ein Mann. »Der Mann da«, sagte er, »hat einen Sohn, der in Maryland Medizin studiert.« .
.
Dann rief er eine Frau herbei, damit ich mir die Menschen hier aus der Nähe anschauen konnte. Ihre Zähne waren in einem schrecklichen Zustand. - 55 -
Etwas weiter hielt er wieder und stellte mir zwei Frauen vor, die er bewunderte. »Sie haben genug Geld für eine Nähmaschine zusammengespart und nähen und schneidern jetzt für die Leute in der Nachbarschaft«, erklärte er stolz. Und mich stellte er mit den Worten vor: »Dieser Mann da ist ein Professor und, was wichtig ist, möchte sehen, wie wir leben.« Er zeigte mir vieles und sagte schließlich: »Und nun, Professor, kommt meine Frage: Die Inder sind, das haben Sie jetzt ja gesehen, genauso arm und zum Teil sogar noch ärmer als die Neger, und doch bringen sie's zu etwas, irgendwie der Mann da vorhin schickt seinen Sohn auf die Universität; die beiden Frauen ziehen eine Schneiderei auf. Mein Volk dagegen bringt es zu nichts. Wie erklärt sich das?« .
Ich antwortete natürlich, ich wüsste es nicht - meine Antwort auf nahezu jede Frage -, er aber wollte sie bei einem Professor nicht gelten lassen. Ich überlegte, was ich als Grund dafür anführen könnte. »Nun«, meinte ich, »das Leben in Indien steht in einer langen Tradition, die aus einer Jahrtausende alten Religion und Philosophie erwächst. Und die Leute hier geben diese durch die Jahrhunderte überlieferten Traditionen, die ihnen sagen, worauf es im Leben ankommt - etwas für die Zukunft aufzubauen und ihre Kinder dabei zu unterstützen -, weiter, obwohl sie nicht mehr in Indien leben.« .
»Ihr Volk dagegen«, fuhr ich fort, »hat, glaube ich, unglücklicherweise nicht die Chance gehabt, eine solch lange Tradition herauszubilden, oder hat sie, wo es sie besaß, durch die Eroberung und Versklavung wieder verloren.« .
Der Taxifahrer hielt das für eine gute Beobachtung und erklärte, auch er beabsichtige, etwas für die Zukunft aufzubauen: Er habe etwas Geld auf Pferde gesetzt und wolle sich, wenn er gewinne, ein Taxi kaufen, um wirklich voranzukommen. .
Ich empfand tiefes Mitleid und riet ihm dringend von Pferdewetten ab, doch er sah darin seine einzige Chance. Er hatte so gute Absichten, aber keine bessere Methode, als auf das Glück zu setzen. .
Ich hatte keine Lust weiter zu philosophieren und ließ mich an einen Ort bringen, wo eine Steel-Band tolle Calypso-Musik - 56 -
machte, und so verging der Nachmittag recht angenehm. Hotel City Als ich einmal zu einer Physikertagung in Genf war, kam ich auf einem Stadtbummel zufällig am Gebäudekomplex der Vereinten Nationen vorbei. Oh, dachte ich, geh mal rein und schau dich ein bisschen um. Ich war nicht besonders dafür angezogen - meine Hose war schmutzig, die Jacke alt -, aber es stellte sich heraus, dass Führungen veranstaltet wurden, denen man sich anschließen konnte. .
Die Führung war ganz interessant, am meisten aber beeindruckte mich das große, schöne Auditorium. Anstelle einer einfachen Bühne steigt das Podium in mehreren Stufen an für die internationalen Größen muss offensichtlich immer alles überzogen sein -, so dass der Redner ganze Treppenkaskaden empor wandelt zu dem riesigen, monströsen, prächtigen Holzding, hinter dem er sich aufpflanzt, eine große Leinwand im Rücken, die Sitze vor sich. Die Teppiche sind elegant, die großen Türen mit den Bronzegriffen wirklich schön. Auf beiden Seiten des großen Auditoriums sind oben verglaste Kabinen für die verschiedenen Dolmetscher angebracht. Es ist ein phantastischer Saal, und unwillkürlich kam mir der Gedanke: Was muss das für ein Gefühl sein, in einem solchen Raum einen Vortrag zu halten! .
Als wir wieder auf den Gang hinaustraten, deutete unser Führer durchs gegenüberliegende Fenster auf einen noch unfertigen Neubau: »Hier wird in zirka sechs Wochen die Konferenz >Atom für den Frieden< abgehalten.« .
Schlagartig fiel mir wieder ein, dass Murray Gell-Mann und ich auf dieser Konferenz Vorträge über die gegenwärtige Lage der Hochenergiephysik halten sollten. Mein Vortrag war für die Plenarsitzung angesetzt, also fragte ich den Führer: »Wo werden die Vorträge für die Plenarsitzung dieser Konferenz gehalten?« .
»In dem Saal, den wir uns gerade angesehen haben.« »Oh!« entfuhr es mir, »dann werde ich ja in diesem Saal eine Rede halten!« .
- 57 -
Der Führer warf einen Blick auf meine verdreckten Hosen und mein zerknittertes Hemd. Ich konnte mir gut vorstellen, wie blöd ihm meine Bemerkung vorkommen musste, aber sie entsprang echter Überraschung und Begeisterung. .
Die Führung ging weiter. »In diesem Foyer hier treffen die einzelnen Delegierten oft zu einem zwanglosen Meinungsaustausch zusammen.« In die Türen waren kleine quadratische Fenster eingelassen, durch die die Besucher prompt hineinschauten. Drinnen saßen ein paar Männer und unterhielten sich. Als ich hineinschaute und unter ihnen Igor Tamm, einen mir bekannten Physiker aus Russland, entdeckte, rief ich: »O, den Mann kenne ich doch!« und riss die Tür auf. Der Führer schrie: »Nein, nicht! Nicht da hinein!« Nun bestand für ihn nicht mehr der geringste Zweifel, dass er es mit einem Wahnsinnigen zu tun hatte, aber er konnte mich nicht aufhalten, weil er ja nicht durch diese Türe durfte! .
.
.
Tamm strahlte, als er mich erkannte, und wir wechselten ein paar Worte. Sehr zur Erleichterung des Führers, der die Führung ohne mich fortsetzte, so dass ich laufen musste, um die anderen wieder einzuholen. .
Auf der Physikertagung meinte mein Freund Bob Bacher: »Bestimmt ist für die Atom-für-den-Frieden-Konferenz so gut wie kein Zimmer mehr zu haben. Warum lässt du dir, falls du noch keines hast, nicht eines vom Außenministerium reservieren?« »Kommt nicht in Frage!« antwortete ich. »Ich bin nicht im geringsten auf das Außenministerium angewiesen! Das kann ich genauso gut selber.« .
.
Wieder in meinem Hotel, sagte ich am Empfang, dass ich in einer Woche abreisen, im Spätsommer aber zurückkommen würde: »Könnte ich jetzt schon ein Zimmer reservieren lassen?« .
»Aber gewiss! Wann kommen Sie wieder?« »In der zweiten Septemberwoche ...« .
.
»O, wir bedauern außerordentlich, Professor Feynman, aber für diese Zeit sind wir vollständig ausgebucht.« Ich klapperte ein Hotel nach dem anderen ab, aber alle waren .
- 58 -
sechs Wochen im voraus ausgebucht! Dann erinnerte ich mich an einen Trick, der mir schon einmal gute Dienste geleistet hatte, als ich mit einem befreundeten Physiker, einem ruhigen, würdevollen Engländer, eine Autotour durch die Vereinigten Staaten machte. Kurz vor Tulsa, Oklahoma, hatten wir von großen Überschwemmungen gehört. Als wir in die kleine Stadt kamen, standen überall Autos herum, deren Insassen zu schlafen versuchten. »Wir bleiben wohl besser hier«, meinte mein Freund. »Offensichtlich kommt man nicht mehr weiter.« .
.
.
»Ach, geh zu!« antwortete ich. »Woher willst du das wissen? Wir wollen doch einmal sehen, ob wir es nicht schaffen. Vielleicht geht ja das Wasser wieder zurück, bis wir hinkommen.« .
»Wir sollten nicht unnötig Zeit vergeuden«, erwidert er. »Jetzt könnten wir vielleicht noch ein Zimmer finden.« »Ah, da mach dir mal keine Gedanken!« beharrte ich. »Probieren wir's!« .
.
Wir fahren aus der Stadt hinaus, und nach fünfzehn oder siebzehn Kilometern kommen wir zu einem Trockental. Da kapituliere selbst ich. Bei den Wassermassen verbietet sich jeder weitere Versuch. .
Wir wenden: Mein Freund brummt etwas von keiner Chance mehr, jetzt noch ein Zimmer zu finden. Ich beruhige ihn. Wieder in der Stadt zurück, bleiben wir vor lauter Autos mit schlafenden Leuten buchstäblich stecken. Es liegt auf der Hand, dass es keine Zimmer mehr gibt. Die Hotels müssen samt und sonders proppenvoll sein. Da entdecke ich über einer Tür ein kleines Schild: »HOTEL«. Es ist ein Hotel von der Art, wie ich sie von Albuquerque her kannte, wo ich mir die Zeit, bis ich zu meiner Frau ins Krankenhaus durfte, mit einem Stadtbummel vertrieben hatte: eine Treppe führt hinauf zum Empfang auf dem ersten Treppenabsatz. Wir gehen die Treppe zur Rezeption hinauf, und ich sage zum Portier: »Wir hätten gern ein Zimmer.« .
.
.
»Aber gewiss, mein Herr«, antwortet er, »wir haben ein Zweibettzimmer im zweiten Stock.« Mein Freund ist fassungslos: Die Stadt platzt aus den Nähten .
- 59 -
vor Leuten, die im Auto schlafen, und hier hat ein Hotel freie Zimmer! .
Wir steigen zu unserem Zimmer hinauf, und allmählich dämmert's ihm: Das Zimmer hat keine Tür, sondern nur einen Vorhang. Sonst aber war der Raum halbwegs sauber und gar nicht so schlecht. Er hatte sogar ein Waschbecken. Wir machen uns fürs Bett fertig. .
Da sagt er: »Ich muss pissen.« »Die Toilette ist am Ende des Gangs.« .
.
Draußen auf dem Gang hört man Kichern. Mädchen gehen auf und ab. Er ist nervös. Er will nicht hinaus. »Na, dann piss doch einfach ins Becken«, schlage ich vor. .
.
»Das ist unhygienisch.« »I wo! Du musst nur das Wasser laufen lassen.« .
.
»Ich kann nicht ins Becken pissen«, erwidert er. .
Wir sind beide müde, legen uns ins Bett. Zum Zudecken ist es zu heiß; die Geräusche auf dem Gang lassen meinen Freund nicht einschlafen. Ich döse vor mich hin. .
Nach einiger Zeit höre ich neben mir die Dielen knacken und blinzle ein bisschen. Da kommt er, in der Dunkelheit, und geht stillschweigend zum Becken hinüber. .
Ein solches Hotel, das man von der Straße über eine Treppe zum Empfang hinauf betrat, kannte ich auch in Genf, das kleine Hotel City. Es hatte gewöhnlich Zimmer frei, und niemand buchte hier im voraus. Ich stieg die Treppe zum Empfang hinauf und erklärte dem Portier, ich käme in sechs Wochen wieder nach Genf und würde gern in ihrem Hotel absteigen: »Können Sie mir ein Zimmer reservieren?« »Aber gewiss, mein Herr. Natürlich!« .
.
.
Der Portier schrieb meinen Namen auf einen Zettel - ein Buch mit Reservierungen hatten sie nicht - und schaute sich suchend nach einem Nagel oder etwas ähnlichem um, wo er ihn unübersehbar aufspießen konnte. Die »Reservierung« war getätigt und alles in bester Butter. .
Sechs Wochen später kam ich wieder nach Genf, und das - 60 -
Hotel City hatte ein Zimmer für mich, im obersten Stockwerk. Obwohl es ein billiges Hotel war, war es sauber (blitzsauber, wir waren ja in der Schweiz). Das Bettuch hatte zwar ein paar Löcher, aber es war frisch gewaschen. Am nächsten Morgen bekam ich ein europäisches Frühstück auf dem Zimmer serviert. Sie waren offensichtlich entzückt, einen Gast zu haben, der sechs Wochen im voraus buchte. .
Dann ging ich zur UNO. Da es der erste Tag der Konferenz Atome für den Frieden war, stand eine ziemlich lange Schlange vor dem Empfang, wo sich jedermann eintragen ließ: Eine Frau notierte Adresse und Telefonnummer der Teilnehmer, damit sie jederzeit erreichbar waren. .
»Wo sind Sie abgestiegen, Professor Feynman?« »Im Hotel City.« .
.
»Sie meinen sicher Hotel Cite.« .
»Nein, es nennt sich >City<: C - I - T - Y.« (Warum nicht? In Amerika sagte man »Cite«, in Genf »City« - es sollte eben ausländisch klingen.) .
»Aber es steht gar nicht auf meiner Liste. Sind Sie sich sicher?« »Schauen Sie doch im Telefonbuch nach. Da finden Sie es bestimmt.« .
.
»Oh!« sagte sie, nachdem sie im Telefonbuch nachgeschlagen hatte. »Meine Liste ist unvollständig! Manche Leute haben noch kein Zimmer; denen könnte ich vielleicht das Hotel City empfehlen.« .
Aber irgend jemand muss ihr wohl ein Licht aufgesteckt haben, weil sich kein anderer Konferenzteilnehmer in das Hotel verirrte. Von Zeit zu Zeit kam ein Anruf von der UNO für mich ins Hotel, und gebührend beeindruckt und aufgeregt rannten sie die zwei Treppen vom Büro zu mir hinauf, um mich ans Telefon zu holen. Eine amüsante Szene vom Hotel City ist mir unvergessen. Eines Nachts, als ich zum Fenster in den Hof hinunterschaute, erregte etwas in einem gegenüberliegenden Gebäude meine Aufmerksamkeit: Es sah wie eine umgestülpte Schüssel auf dem Fensterbrett aus. Mir war so, als hätte es sich bewegt, und ich beobachtete es eine Weile, aber es rührte sich nicht .
- 61 -
vom Fleck. Nach einiger Zeit jedoch rutschte es ein bisschen zur Seite. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was es sein mochte. .
Nicht lange danach ging es mir doch auf: Es war ein Mann mit einem Feldstecher, den er auf die Fensterbank gestützt hatte, um über den Hof das Stockwerk unter mir zu beobachten! .
Ich erinnere mich an eine andere unvergessliche Szene aus dem Hotel City, die ich liebend gern malen würde: Als ich eines Nachts von der Konferenz zurückkam und die Tür aufstieß, stand der Besitzer gleich unten an der Treppe, eine Zigarre in der Hand, und versuchte, während er etwas die Treppe hinauf schubste, einen nonchalanten Eindruck zu machen. Weiter oben zerrte die Frau, die mir das Frühstück servierte, eben dieses schwere Objekt mit beiden Händen hinauf. Und oben, auf dem Treppenabsatz, stand sie in ihren falschen Pelzen, den Busen vorgewölbt, den Arm in die Hüfte gestemmt, gebieterisch wartend. Ihr Freier hatte zuviel erwischt und war außerstande, die Treppe allein zu bewältigen. Ich weiß nicht, ob der Besitzer wusste, dass ich wusste, was vor sich ging. Jedenfalls stieg ich wie sonst nach oben. Er schämte sich seines Hotels, wohingegen mich der Vorfall natürlich ergötzte. Wer, zum Teufel, ist Herman? Eines Tages erhielt ich ein Ferngespräch aus Los Alamos. Eine alte Bekannte sagte in sehr ernstem Ton: »Richard, ich muss dir etwas sehr Trauriges mitteilen. Herman ist gestorben.« Wie immer, beschleicht mich Unbehagen, dass ich mich nicht an Namen erinnere, und prompt bekomme ich auch ein schlechtes Gewissen, dass ich den Menschen zu wenig Beachtung schenke. Kaum antworte ich: »Oh?« und versuche ruhig und gesetzt zu wirken, um weitere Informationen zu erhalten, während ich in meinen Gedächtnis krame: Wer, zum Teufel, ist Hermann? .
»Herman und seine Mutter«, fährt sie fort, »kamen bei einem Autounfall bei Los Angeles ums Leben. Da seine Mutter von dort stammt, findet auch die Beerdigung in Los Angeles statt, und zwar am 3. Mai. Beginn um drei Uhr in der Rose-HillsAussegnungshalle. Herman«, fügte sie noch an, »hätte es - 62 -
sehr, sehr zu schätzen gewusst, dich zu seinen Sargträgern zu zählen.« .
Ich kann mich noch immer nicht an ihn erinnern. Trotzdem erkläre ich: »Aber natürlich, das mache ich gern.« (Wenigstens werde ich auf diese Art und Weise dahinterkommen, wer Herman war.) .
Hinterher kommt mir eine Idee: Ich rufe die Aussegnungshalle an. »Sie haben am 3. Mai um drei Uhr eine Bestattung ...« »Welche Bestattung meinen Sie: die Bestattung Goldschmidt oder die Bestattung Parnell?« .
.
»Nun ..., das weiß ich auch nicht.« Der Groschen fällt einfach nicht. Mir scheint, es ist keine von beiden. Schließlich sage ich: »Es könnte eine Doppelbestattung sein. Seine Mutter ist auch gestorben.« .
»O ja, dann ist es die Bestattung Goldschmidt.« »Herman Goldschmidt?« .
.
»Jawohl; Herman Goldschmidt und Mrs. Goldschmidt.« .
Na schön. Also Herman Goldschmidt. Aber ich kann mich an keinen Herman Goldschmidt erinnern. Ich kann mir nicht einmal denken, in welchem Zusammenhang ich ihn kennen gelernt haben soll. Ihren Worten nach zu urteilen, war sich meine Bekannte sicher, dass Herman und ich uns gut gekannt haben müssen. Nun, eine Chance habe ich noch: bei der Trauerfeier in den Sarg zu schauen. .
.
Ich gehe also zur Bestattung, und die Frau, die alles arrangiert hat, tritt, ganz in Schwarz, auf mich zu und sagt mit bekümmerter Stimme: »Ich bin so froh, dass du gekommen bist. Herman hätte es sehr zu schätzen gewusst...« und die üblichen Trauerfloskeln. Alle machen belämmerte Gesichter wegen Herman, nur ich weiß nach wie vor nicht, wer Herman ist - obwohl ich mir sicher bin, dass mir sein Tod nahe ginge, wüsste ich, wer er war. .
Die Trauerfeier nimmt ihren Lauf, und als es Zeit zum Defilee ist, trete auch ich an. Ich schaue in den ersten Sarg: Hermans Mutter. Ich schaue in den zweiten: Herman? Ich hätte beschwören können, dass ich den Mann im Sarg noch nie in meinem Leben gesehen hatte! - 63 -
Dann war es an der Zeit, den Sarg hinauszutragen, und ich nahm meinen Platz unter den Sargträgern ein. Äußerst behutsam bettete ich Herman zu seiner letzten Ruhe ins Grab, weil ich wusste, dass er es sehr zu schätzen gewusst hätte! Wer er war, aber weiß ich bis heute nicht. Jahre später brachte ich schließlich den Mut auf, die Geschichte meiner Bekannten zu erzählen. »Erinnerst du dich an die Bestattung, bei der ich damals, vor ungefähr zehn Jahren, war, die Bestattung von Howard? ...« »Du meinst Herman.« .
.
.
»Ja, ja - Herman. Ich muss gestehen, dass ich keine Ahnung hatte, wer Herman war. Ja, dass ich ihn nicht einmal im Sarg wiedererkannte.« »Aber Richard, ihr wart doch gleich nach dem Krieg in Los Alamos beieinander. Ihr wart beide gute Bekannte von mir. Wir haben oft miteinander geredet.« »Er fällt mir beim besten Willen nicht ein.« .
.
.
Einige Tage später rief sie mich an und erklärte, möglicherweise habe sie Herman erst kurz nach meinem Fortgang von Los Alamos kennen gelernt - und deshalb die Zeiten etwas durcheinandergebracht. Aber da sie mit uns beiden so gut befreundet gewesen sei, habe sie sich eingebildet, wir hätten uns ebenfalls kennen müssen. Demnach hatte also sie den Bock geschossen und nicht (wie üblich) ich. Oder wollte sie womöglich nur höflich sein? Feynman, Machoschwein! Einige Jahre, nachdem ich am Caltech (später unter dem Titel Vorlesungen über Physik veröffentlichte) Vorlesungen für Erstsemester gehalten hatte, erhielt ich ein langes Schreiben von einer Feministinnengruppe. Darin wurde ich aufgrund von zwei Geschichten der Frauenfeindlichkeit beschuldigt. In der ersten ging es um eine Diskussion, die sich zwischen einer Autofahrerin und einem Polizisten über die Feinheiten der Geschwindigkeit entspann. Wegen zu schnellen Fahrens angehalten, legte ich ihr durchaus stichhaltige Einwände gegen des Polizisten Definitionen von Geschwindigkeit in den Mund. Der Brief dagegen bezichtigte mich, die Frau als dumm - 64 -
hingestellt zu haben. Die andere beanstandete Geschichte stammt ursprünglich vom großen Astronomen Arthur Eddington, dem Entdecker der Kernreaktionen in Sternen. Er erzählt, wie er am Abend des Tages, an dem er entdeckt hat, dass die Sterne ihre Energie aus der Verbrennung von Wasserstoff zu Helium beziehen, mit seiner Freundin auf einer Bank sitzt. »Schau den herrlichen Sternenhimmel an«, meint sie. Worauf er antwortet: »Ja, und im Augenblick bin ich der einzige Mensch auf der Welt, der weiß, wie ihr Leuchten zustande kommt.« Er umschrieb damit die wunderbare Einsamkeit dessen, der eine große Entdeckung gemacht hat. .
.
Laut Brief aber unterstellte ich mit dieser Geschichte, dass Frauen unfähig seien, Kernreaktionen zu begreifen. Auf diese Anschuldigungen einzugehen, erschien mir witzlos, und ich begnügte mich mit einem: »Lasst mich gefälligst in Ruhe!« als Antwort. .
.
Unnötig zu sagen, dass das wohl nicht ganz das Richtige war. Ein zweiter Brief traf ein: »Ihre Antwort auf unser Schreiben vom 29. September stellt uns in keiner Weise zufrieden ...« bla, bla, bla. Dieser Brief drohte mir Ärger an, falls ich nicht den Verleger veranlasste, die beanstandeten Stellen zu streichen. Ich warf das Schreiben in den Papierkorb und vergaß die ganze Geschichte. .
.
Ungefähr ein Jahr später erkannte mir die Vereinigung amerikanischer Physiklehrer einen Preis für besagte Bücher zu und lud mich ein, auf ihrer Tagung in San Francisco eine Rede zu halten. Da meine Schwester Joan damals eine Autostunde entfernt in Palo Alto wohnte, übernachtete ich bei ihr. Am nächsten Tag fuhren wir gemeinsam zu der Tagung. Vor dem Saal standen Leute herum, die Handzettel verteilten. Wir ließen uns jeder einen geben. Unter der Überschrift EIN PROTEST folgten einige Auszüge aus den Briefen, die sie mir geschickt hatten und meine Antwort (in Gänze). Darunter in Großbuchstaben FEYNMAN, MACHOSCHWEIN! Joan blieb abrupt stehen und lief noch einmal zurück: »Das interessiert mich«, sagte sie zu den Protestlern. »Ich hätte .
.
- 65 -
gern noch ein paar mehr!« Als sie mich wieder eingeholt hatte, fragte sie: »He, Richard, was hast du angestellt?« Ich erzählte ihr, während wir den Saal betraten, was geschehen war. .
.
.
Vorn beim Podium standen zwei prominente Frauen der Vereinigung amerikanischer Physiklehrer. Eine war für die Frauenbelange des Vereins zuständig, die andere war Fay Ajzenberg, eine Physikprofessorin, die ich von Pennsylvania her kannte. Als sie mich auf den Weg zum Podium neben dieser Frau mit einem Packen Handzettel sah, die auf mich einredete, trat Fay auf sie zu und sagte: »Wissen Sie, dass Professor Feynman eine Schwester hat, die er ermutigte, Physik zu studieren, und dass sie den Doktortitel hat?« .
»Natürlich«, antwortete Joan, »weiß ich das. Ich bin es selber!« Fay und ihre Begleiterin erklärten mir, dass die Protestlerinnen - pikanterweise von einem Mann angeführt bei allen Tagungen in Berkeley für Krawall sorgten. »Zum Zeichen der Solidarität setzen wir uns neben Sie, und ehe Sie Ihre Rede halten, stehe ich auf und sage ein paar Worte, um die Meute zu beruhigen«, erbot sich Fay. Da meine Rede erst als zweite auf dem Programm stand, blieb mir Zeit, mir etwas auszudenken. So lehnte ich Fays Angebot dankend ab. Kaum hatte ich das Podium betreten, setzte sich ein halbes Dutzend Protestlerinnen nach vorne in Marsch, um mit hocherhobenen Plakaten vor dem Podium auf und ab zu paradieren und 'zu skandieren: »Feynman, Machoschwein! Feynman, Machoschwein!« Ich begann meine Rede, indem ich mich direkt an die Protestlerinnen wandte: »Ich bedaure, dass ich Sie durch meine knappe Antwort auf Ihr Schreiben veranlasst habe, sich unnötigerweise hierher zu bemühen. Es gibt wichtigere Anlässe, für die Hebung des Status der Frauen in der Physik einzutreten, als diese relativ trivialen Fehler - wenn Sie sie denn so nennen wollen - in einem Lehrbuch. Vielleicht aber ist es trotzdem gut, dass Sie gekommen sind. Denn die Frauen .
.
.
.
- 66 -
haben in der Physik in der Tat unter Vorurteilen und Diskriminierung zu leiden, und Ihre Anwesenheit hier und heute kann dazu dienen, uns an diese Schwierigkeiten und die Notwendigkeit, etwas dagegen zu unternehmen, erinnern.« Die Protestlerinnen schauten einander an. Die Plakate gingen eins nach dem anderen herunter wie Segel in einer einsetzenden Flaute. .
.
Ich fuhr fort: »Obwohl mir die Vereinigung amerikanischer Physiklehrer einen Preis fürs Unterrichten zuerkannte, verstehe ich, das muss ich hier unumwunden zugeben, doch nichts davon. Deshalb möchte ich auch nicht übers Unterrichten sprechen, sondern über etwas, was vornehmlich die Frauen unter den Zuhörern interessieren wird; über die Struktur des Protons.« Die Protestlerinnen holten ihre Plakate ein und zogen ab. Wie mir meine Gastgeber später erzählten, waren der Mann und sein Trupp noch nie so schnell aus dem Feld geschlagen worden wie an diesem Tag. (Unlängst entdeckte ich eine Niederschrift meiner Rede und stellte zu meiner Überraschung fest, dass die Einleitung nicht annähernd so dramatisch war wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich hatte mich an eine aufregende Ansprache erinnert, die ich nie gehalten hatte!) Nach dem Vortrag kamen einige Protestlerinnen zu mir, um mich wegen der Geschichte mit der Autofahrerin in die Zange zu nehmen. »Warum musste es ausgerechnet eine Frau sein?« fragten sie. »Damit legen Sie doch nahe, dass alle Frauen schlecht fahren.« »Immerhin bringt es die Frau fertig, die Polizei dumm dastehen zu lassen«, erwiderte ich. »Warum nehmen Sie sich denn der Polizei nicht an?« »Weil man von der Polizei nichts anderes erwartet!« erklärte eine der Protestlerinnen. »Polizisten sind alle Schweine!« .
.
.
.
.
»Trotzdem«, wandte ich ein, »sollten Sie in diesem Fall eine Ausnahme machen. Ich vergaß zu sagen, dass es sich in der Geschichte um eine Politesse handelt!«
- 67 -
Ob du's glaubst oder nicht, ich habe ihm grade die Hand gedrückt Seit einigen Jahren schon lädt mich die Universität Tokio zu einem Japanbesuch ein. Jedes mal aber, wenn ich zugesagt hatte, erkrankte ich und konnte die Reise nicht antreten. Im Sommer 1986 sollte in Tokio eine Konferenz stattfinden, zu der mich die Universität wiederum einlud. So sehr ich Japan liebe und so gerne ich es besucht hätte, so unbehaglich stimmte mich eine Einladung, bei der ich keinen Vortrag zu halten hatte. Die Universität schlug mir vor, eine Zusammenfassung zu geben, aber das wollte ich nicht, und schließlich erklärte sie, es wäre ihr eine Ehre, wenn ich bei einer der Sitzungen den Vorsitz führen wollte - nicht eben eine weltbewegende Aufgabe. Trotzdem erklärte ich mich einverstanden. Diesmal hatte ich Glück.* Gweneth und ich reisten nach Tokio, und bei einer Sitzung führte ich den Vorsitz. .
.
.
Aufgabe des Vorsitzenden ist es, darauf zu achten, dass der Redner die ihm zugestandene Redezeit einhält, damit sich auch der nachfolgende Redner genügend verbreiten kann. Die Position des Vorsitzenden gilt als derart ehrenvoll, dass man ihm zu seiner Unterstützung zwei Nebenvorsitzende beigesellt. Meine beiden Beisitzer erklärten sich bereit, die Redner jeweils einzuführen und in den Grenzen ihrer Redezeit zu halten. Der größte Teil der Sitzung verlief glatt, bis einer der Vortragenden, ein Japaner, nach Ablauf seiner Redezeit unbeirrt weitersprach. Ich schaue auf die Uhr - offensichtlich wäre es an der Zeit. Ich schaue hinüber zu den Beisitzern und gestikuliere ein bisschen. .
Sie kommen herüber und winken ab: »Unternehmen Sie nichts. Wir kümmern uns darum. Er redet über Yukawa. Das geht schon in Ordnung.« * Feynman litt an einem bösartigen Bauchtumor. Er musste sich 1978,1981 und nach seiner Rückkehr aus Japan im Oktober 1986 sowie im Oktober 1987 operieren lassen. - 68 -
So spielte ich auf einer Sitzung den Ehrenvorsitzenden, und das nur mangelhaft. Und dafür zahlte mir die Universität den Flug nach Japan, arrangierte die ganze Reise und kümmerte sich aufs freundlichste um uns. .
Eines Nachmittags unterhalten wir uns mit unserem Gastgeber, der einen Ausflug für uns arrangiert. Er breitet eine Straßenkarte vor uns aus, und als Gweneth eine kurvenreiche Linie mit einer Menge Punkte mitten auf der IseHalbinsel entdeckt, tippt sie mit dem Finger aufs Ende dieser Linie und erklärt: »Da wollen wir hin.« Es ist nicht in der Nähe vom Meer; es ist in der Nähe von nirgendwo. »Oh!« sagte er, »Sie wollen nach ...«, er muss erst hinschauen, »Iseokitsu?« »Ja«, antwortet sie. .
.
.
»Aber in Iseokitsu gibt es nichts zu sehen«, erwidert er und schaut mich an, als wäre meine Frau nicht ganz bei Trost und als hoffe er, ich könnte sie zur Vernunft bringen. So stimme ich zu: »Ja, wir wollen nach Iseokitsu.« .
.
Wir hatten uns nicht abgesprochen, aber ich wusste, was Gweneth zu dieser Wahl veranlasst hatte: Wir fahren mit Vorliebe an Orte mitten im Nirgendwo, Orte, von denen wir noch nie etwas gehört haben, Orte, wo es nichts zu sehen gibt. .
Hideki Yukawa. Namhafter japanischer Physiker. Erhielt 1949 den Nobelpreis. Unser Gastgeber gerät in Verlegenheit. In Iseokitsu hat er noch nie ein Zimmer reservieren lassen; er weiß nicht einmal, ob es dort überhaupt ein Gasthaus gibt. Er nimmt den Hörer ab und ruft Iseokitsu für uns an. In Iseokitsu, stellt sich heraus, gibt es keine Zimmer. Immerhin ist da - rund sieben Kilometer nach dem Endpunkt der Linie eine andere Stadt, und die hat einen Gasthof im japanischen Stil. »Na wunderbar!« erklären wir. »Das ist genau das, was uns vorschwebt - ein Gasthof im japanischen Stil!« Er lässt sich die Nummer geben und ruft an. Der Mann im Gasthaus gibt sich sehr reserviert: »Wir haben nur einen ganz kleinen Gasthof. Einen Familienbetrieb.« .
.
.
- 69 -
»Das ist genau das, was sie wollen«, versichert ihm unser Gastgeber. .
»Ist er einverstanden?« frage ich. Nach einigem Hin und Her erklärt unser Gastgeber: »Er ist einverstanden.« .
Am nächsten Morgen jedoch erhält unser Gastgeber einen Anruf von eben diesem Gasthof: Der Familienrat sei gestern Abend zu dem Schluss gekommen, sie seien der Situation nicht gewachsen. Sie könnten keine Ausländer nehmen. .
»Und warum nicht?« frage ich. Unser Gastgeber ruft im Gasthof an und erkundigt sich. »Es ist wegen der Toilette«, sagt er zu uns gewandt. »Sie haben keine westlichen Toiletten.« .
.
»Nun, dann erzählen Sie ihnen, dass meine Frau und ich schon einmal mit einer kleinen Schaufel und Toilettenpapier gereist sind und alles selber eingegraben haben. Fragen Sie, ob wir unsere Schaufel mitbringen sollen.« .
Er erklärte die Geschichte übers Telefon und erhält die Antwort: »Sie können für eine Nacht kommen. Ihre Schaufel brauchen sie nicht mitzubringen.« .
Der Wirt holte uns am Bahnhof von Iseokitsu ab und brachte uns in seinen Gasthof. Vor unserem Zimmer lag ein wunderschöner Garten. Auf dem Metallgestell eines Wäschetrockners kletterte ein glänzend smaragdgrüner Baumfrosch herum, und in einem Busch vor unserer engawa (Veranda) entdeckten wir eine kleine gelbe Schlange. In Iseokitsu selbst gab es in der Tat keine Sehenswürdigkeiten gleichwohl fanden wir alles schön und interessant. Es stellte sich heraus, dass ungefähr ein, zwei Kilometer entfernt ein Heiligenschrein lag - der Grund für die Einrichtung eines Gasthofs in dieser Gegend -, zu dem wir natürlich hinpilgerten. Auf dem Rückweg fing es zu regnen an. Ein Auto überholte uns, wendete und kam zurück. »Wohin wollen Sie?« fragte der Fahrer auf japanisch. »Zum Gasthof«, antwortete ich, und er brachte uns hin. .
.
Auf dem Zimmer entdeckte Gweneth, dass sie einen Film verloren hatte - vielleicht im Auto. So holte ich das Lexikon hervor, schaute »Film« und »verloren« nach und versuchte es - 70 -
dem Wirt zu erklären. Diesem gelang es, ich weiß nicht, wie, den Mann ausfindig zu machen, der uns mitgenommen hatte, und richtig, der Film lag in seinem Auto. .
Interessant war das Badezimmer, in das wir durch ein anderes Zimmer gelangten. Die Badewanne war aus Holz, und ringsum lagen allerlei kleine Spielsachen - Schiffchen und ähnliches. Außerdem gab es ein Handtuch mit einer Mickymaus. .
Die Wirtsleute hatten ein Baby und ein etwa zweijähriges Töchterchen. Sie steckten die Kleine in einen Kimono und brachten sie uns aufs Zimmer, wo wir mit ihr spielten und ich ein paar Zeichnungen für sie machte. .
Eine Dame, die auf der anderen Straßenseite wohnte, schenkte uns einen schönen selbstgemachten Seidenball. Alles war freundlich; alles war gut. .
Für den nächsten Morgen war unsere Abreise vorgesehen. Wir hatten bereits in irgendeinem Badeort, einem berühmteren Urlaubsziel, gebucht. Wieder wälzte ich das Lexikon; dann stieg ich hinunter, zeigte dem Gastwirt die Buchungsbestätigung für das große Kurhotel - es nannte sich Schöne Aussicht oder so ähnlich - und sagte: »Wollen morgen Abend nicht in großes Hotel; wollen hier bleiben. Gefällt uns hier. Bitte anrufen und abbestellen.« »Aber gern!« erwiderte er. Und wie mir schien, schmeichelte ihm die Vorstellung, dass diese Ausländer eine Reservierung in einem so großen, tollen Hotel sausen ließen, um noch eine Nacht in seinem kleinen Gasthof zu bleiben. Nach unserer Rückkehr nach Tokio statteten wir der Universität Kanazawa einen Besuch ab. Einige der Professoren arrangierten auf der nahe gelegenen NotoHalbinsel eine Küstenfahrt für uns. Nachdem wir eine Reihe entzückender Fischerdörfer passiert hatten, besuchten wir im Landesinneren eine Pagode. .
.
.
Anschließend fuhren wir zu einem Shinto-Heiligtum mit einer Enklave, die man nur auf Einladung betreten durfte. Der Priester war sehr liebenswürdig und lud uns in seine Privatgemächer zum Tee ein. Außerdem malte er ein paar Schriftzeichen für uns in kunstvoller Kalligraphie.
- 71-
Nachdem uns unsere Gastgeber noch ein Stückchen an der Küste entlanggefahren hatten, mussten sie wieder nach Kanazawa zurück. Gweneth und ich beschlossen, noch zwei oder drei Tage länger in Togi zu bleiben. Wir stiegen in einem im japanischen Stil gehaltenen Hotel ab, dessen Eigentümerin über die Maßen nett zu uns war. Sie richtete es so ein, dass uns ihr Bruder in verschiedene Dörfer an der Küste im Auto mitnahm, und wir dann mit dem Bus zurückfahren konnten. .
Am nächsten Morgen machte uns die Wirtin auf ein wichtiges Ereignis in der Stadt aufmerksam: die Einweihung eines neuen Schreins, der einen alten ersetzen sollte. Als wir an Ort und Stelle eintrafen, bat man uns, auf einer Bank Platz zu nehmen, und reichte uns Tee. Schließlich tauchte im Gedränge hinter dem Heiligtum eine Prozession auf. An ihrer Spitze erkannten wir zu unserer Freude den Oberpriester des Heiligtums, das wir ein paar Tage zuvor besucht hatten. Er war in großer zeremonieller Aufmachung; offensichtlich hatte er die Leitung der Festlichkeiten. .
.
Bald darauf begann die Zeremonie. Wir wollten nicht in die geweihte Stätte eindringen und hielten uns zunächst im Hintergrund. Da die Kinder jedoch die Stufen lärmend und spielend hinauf- und hinuntersprangen, die Regeln also nicht ganz so streng schienen, traten wir etwas näher und stellten uns auf die Treppe, um einen Blick ins Innere werfen zu können. Vor uns rollte, fremdartig und herrlich, die Zeremonie ab. Wir sahen einen mit Zweigen und Blättern verzierten Zeremonialkelch, eine Gruppe einheitlich gekleideter Mädchen, Tänzer und so fort. Es war eine recht ausgefeilte Zeremonie. Und wie wir, ganz dem Schauspiel hingegeben, dastehen, klopft uns plötzlich jemand von hinten auf die Schulter. Der Oberpriester! Er bedeutet uns, ihm zu folgen. Wir umrunden das Heiligtum, um von der Seite einzutreten. Innen stellt uns der Oberpriester dem Bürgermeister und den anderen Würdenträgern vor und bietet uns einen Platz an. Ein No-Spieler führt einen Tanz auf, gefolgt von allen möglichen wunderbaren Dingen. Anschließend werden Reden gehalten. Den Auftakt macht der Bürgermeister. Nach ihm erhebt sich der Oberpriester: .
.
.
.
- 72 -
»Unano, utsini kuntana kanao. Untanao uni kanao. Uniyo zoimasu doi zinti Fain-man-san-to unakano kam gozaimas ...« Dabei deutet er auf »Fain-man-san« und fordert mich auf, auch ein paar Worte zu sagen! .
Da mein Japanisch äußerst dürftig ist, bediene ich mich lieber des Englischen. »Ich liebe Japan«, verkünde ich. »Vornehmlich beeindruckt mich, wie ungeheuer schnell hier der technologische Umschwung vor sich geht, ohne dass dadurch, wie der heutige Anlass, die Einweihung dieses Schreins, beweist, die Rolle der Tradition beeinträchtigt wird.« Kurzum, ich versuche zum Ausdruck zu bringen, was mir an Japan aufgefallen war: dieses Gemisch aus Wandel und lebendiger Tradition. .
Darauf erklärt der Oberpriester etwas auf japanisch, was ich (obwohl ich es eigentlich nicht behaupten konnte) nicht für eine Übersetzung meiner Worte hielt, weil er von alledem, was ich vorher zu ihm gesagt hatte, offensichtlich nichts verstanden hatte. Jedenfalls - und darin glich er mir - tat er ganz so, als hätte er alles genau mitgekriegt, so dass ihm jedermann die »Übersetzung« abnahm. Wie dem auch gewesen sein mag, die Leute hörten sich höflich an, was immer ich angeblich gesagt hatte. Dann kam ein anderer Priester zu Wort, ein Schüler des Oberpriesters, ein junger Mann in einer wunderbaren Aufmachung mit großen, weiten Hosenbeinen und einem breit ausladenden Hut - eine einfach überwältigende, wunderbare Erscheinung. .
.
Hernach gingen wir mit all den Würdenträgern zum Essen. Wir fühlten uns sehr geehrt, dass wir mit einbezogen wurden. Nach der Einweihungszeremonie und dem Essen dankten Gweneth und ich dem Oberpriester und spazierten noch ein bisschen durch den Ort. Dabei stießen wir auf ein paar Leute, die einen großen Wagen mit einem Schrein durch die Straßen zogen. Sie trugen eine spezielle Kleidung mit großen Schriftzeichen auf dem Rücken und sangen: »Eyo! Eyo!« .
.
Wir schlössen uns, ganz im Bann dieser Festivitäten, der Prozession an. Da tritt mit einemmal ein Polizist mit einem Walkie-talkie auf uns zu, zieht den weißen Handschuh aus und streckt mir die Hand hin, die ich pflichtschuldig schüttle. Wie wir ihm schon den Rücken gekehrt und uns der .
- 73 -
Prozession Wieder angeschlossen haben, hören wir hinter uns eine hohe Fistelstimme laut und sehr schnell sprechen. Wir drehen uns um und sehen, wie der Polizist sein Walkietalkie umklammert hält und ganz aufgeregt hineinspricht: »O ganofana miyo ganu Fain-man-san iyo kano muri tono muroto kala ...« Und ich bilde mir ein, dass er der Person am anderen Ende erzählt: »Erinnerst du dich an diesen Mr. Fainman, der heute bei der Schreineinweihung gesprochen hat? Ob du's glaubst oder nicht, ich habe ihm grade die Hand gedrückt.« .
Die »Übersetzung« des Priesters eindrucksvoll gewesen sein!
muss
wohl
recht
Briefe, Fotos und Zeichnungen
Hotel Amigo, Brüssel, 11. Oktober 1961 Hallo, mein Schatz, um uns wach zuhalten, haben Murray und ich diskutiert, bis uns schließlich der Schlaf übermannte. Als wir wieder zu uns kamen, waren wir über Grönland. Es war sogar noch interessanter als letztes Mal, weil wir einen Teil direkt überflogen. In London trafen wir mit anderen Physikern zusammen und starteten gemeinsam nach Brüssel. Einem schwante Unheil, weil das Hotel Amigo in seinem Führer keinerlei Erwähnung fand. Jemand anderes hatte einen neueren Führer dabei - Fünf Sternehotel, angeblich das beste in ganz Europa! Es ist auch wirklich sehr hübsch, das gesamte Mobiliar .
.
- 74 -
dunkelrot poliertes Holz, alles in tadellosem Zustand; großes Badezimmer etc. Wirklich ein Jammer, dass Du statt zur letzten nicht zu dieser Konferenz mitkommen konntest. .
Tags darauf kam die Sache schön langsam in Gang. Ich sollte am Nachmittag sprechen, was ich auch tat, aber die Zeit reichte hinten und vorne nicht aus. Um 16 Uhr mussten wir Schluss machen, weil für den Abend ein Empfang auf dem Programm stand. .
Glaube, mein Vortrag war trotzdem in Ordnung - was ich auslassen musste, steht ja im Text. .
Abends ging's also ins Schloss zum Empfang bei König und Königin. Vor dem Hotel warteten Taxis - lange schwarze Schlitten -, und um 17 Uhr rollten wir in Richtung Schloss. Nachdem wir die Einfahrt mit je einer Wache zu beiden Seiten passiert hatten, kamen wir zu einem Torbogen, wo Männer mit roten Röcken, weißen Strümpfen und schwarzen Strumpfbändern mit Goldquaste unterm Knie den Wagenschlag öffneten. Am Eingang weitere Wachen, desgleichen in der Eingangshalle und die ganze Treppe hinauf bis in eine Art Ballsaal. Diese Wachen - sie tragen russisch anmutende dunkelgraue Mützen mit Kinnriemen, dunkle Röcke, weiße Hosen und glänzende schwarze Lederstiefel - stehen kerzengerade da und präsentieren jeder einen Säbel. Im »Ballsaal« mussten wir dann etwa 20 Minuten warten. Er hat einen eingelegten Parkettboden mit einem L in jedem Geviert (für Leopold - der jetzige König heißt Baudoin oder so ähnlich). Die goldverzierten Wände sind im Stil des 18. Jahrhunderts gehalten, und auf den Deckengemälden fahren nackte Frauen auf Triumphwagen zwischen den Wolken herum. An der Außenwand des Raums massenhaft Spiegel und vergoldete Stühle mit roten Polstern - genau wie in den vielen Schlössern, die wir kennen, nur dass es in diesem Fall kein Museum ist, sondern bewohnt und alles blitzblank und in bestem Zustand. Allerlei Hofschranzen eilten geschäftig zwischen uns herum. Einer hatte eine Liste und sagte mir, wo ich mich hinstellen sollte, aber ich machte es dann doch verkehrt und befand mich später am falschen Platz. .
.
Die Türen am Ende des Saals öffnen sich, und man sieht - 75 -
König und Königin im Kreis von Wachen; wir treten alle langsam ein und werden dem König und der Königin einzeln vorgestellt. Der König sieht jung und ein bisschen dämlich aus und hat einen kräftigen Händedruck; die Königin ist ausnehmend hübsch. (Ich glaube, sie heißt Fabriola - war eine spanische Gräfin.) Wir begeben uns in einen anderen Raum linker Hand, wo massenhaft Stühle aufgestellt sind wie im Theater, davon zwei ganz vorn mit Blick nach vorn, für Kg (K) und Kgin (Q). Davor ein Tisch mit sechs Stühlen für die Koryphäen der Wissenschaft - Niels Bohr, J. Perrin (ein Franzose), J. R. Oppenheimer etc. - siehe Skizze. Wie sich zeigt, will der König wissen, was wir machen, und so halten die sechs alten Knaben sechs langweilige Vorträge alles sehr ernst und feierlich -, keine Witze. Hatte große Mühe, mich auf meinem Sitz zu halten, da mein Rücken vom Schlaf im Flugzeug noch ganz steif war und schmerzte. Als das absolviert ist, schreiten Kg und Kgin durch den Raum, in dem wir ihnen vorgestellt worden waren und in einen Raum rechter Hand (R). (All diese Räume sind riesig, goldverziert, viktorianisch, prunkhaft etc.) In R Uniformierte aller Art: Türwachen in roten Röcken, Ober (die Getränke und Hors d'oeuvres servieren) in weißen Kellner Jacken, Militär in ordenbehangenen Khakiuniformen, dazu schwarze Jacketts vom Leichenbestattertyp (Hofchargen). .
.
.
Beim Umzug von L nach R bin ich der letzte, weil ich mit meinem steifen Rücken nur langsam vorankomme. Rede mit einem Hofbeamten - einem netten Mann. Lehrt nebenberuflich an der Universität Löwen Mathe, ist hauptberuflich Sekretär der Königin. Betreute Kg als Privatlehrer, als Kg noch klein war, und ist schon seit 23 Jahren im Schloss. Endlich hab ich jemand, mit dem ich mich unterhalten kann. Ein paar andere sprechen mit Kg oder Kgin; alles steht herum. Nach einer Weile packt mich der Tagungsleiter (Professor Bragg) am Arm und sagt, Kg wolle mit mir reden. »Kg«, sagt Bragg, »darf ich Ihnen Feynman vorstellen.« Ich schieße Bock Nr. l - will Kg noch mal die Hand schütteln, was offenbar fehl am Platz: Keine Hand streckt sich mir entgegen. Nach einer verlegenen Pause rettet Kg die Situation und schüttelt mir die Hand. Kg lässt höfliche Bemerkungen fallen, wie gescheit wir doch alle sein müssen und wie schwierig das .
- 76 -
Denken sicherlich ist. Ich antworte mit Witzeleien (wozu mir Bragg geraten hat, aber was weiß der schon?) - offensichtlich Lapsus Nr. 2. Anspannung lässt jedoch nach, als Bragg mit einem anderen Professor - Heisenberg, glaube ich - ankommt. Kg vergisst F, der sich davonmacht, um Unterhaltung mit Sekretär der Kgin wieder aufzunehmen. Nach längerer Zeit - mehreren Orangensäften und vielen köstlichen Hors d'oeuvres - tritt ordengeschmückter Uniformierter auf mich zu und sagt »die Königin möchte mit Ihnen sprechen!« Nichts könnte mir lieber sein (hübsches Ding, aber keine Angst, sie ist schon verheiratet). Auftritt F: Kgin sitzt am Tisch, umringt von drei weiteren besetzten Stühlen - kein Platz für F. Leises Gehüstel, leichte Verwirrung etc. und siehe da! - einer der Sitze wird widerstrebend geräumt. Die beiden anderen behalten eine Dame und ein Geistlicher in vollem Ornat (der gleichzeitig Physiker ist), ein gewisser LeMaitre, inne. .
.
Wir führen etwa 15 Minuten lang (trotz angestrengten Lauschens vernehme ich kein Gehüstel und werde auch nicht von meinem Sitz vertrieben) eine angeregte Unterhaltung. Ausschnitt: Kgin: »Es muss doch sehr anstrengend sein, über so schwierige Probleme nachzudenken ...« F: »Keineswegs, wir machen es alle zu unserem Vergnügen.« Kgin: »Es muss doch anstrengend sein, sein ganzes Denken umzustellen« (das hat sie aus den sechs Vorträgen aufgeschnappt). .
.
.
F: »Keineswegs, die Redner von heute Abend sind lauter rückständige alte Knaben. Ich dagegen war 1926, als der große Umschwung eintrat, erst acht und brauchte mich deshalb, als ich Physik studierte, nur auf die neuen Ideen einzustellen. Die große Frage ist heute, ob wir sie erneut umkrempeln müssen.« Kgin: »Es muss für Sie erhebend sein, so für den Frieden zu arbeiten.« .
.
F: »Keineswegs, es kommt mir gar nicht in den Sinn, ob für den Frieden oder für was andres. Da kann sich unsereiner nie sicher sein.«
- 77 -
Kgin: »Die Verhältnisse wandeln sich wirklich sehr schnell wie vieles hat sich in den vergangenen hundert Jahren verändert.« .
F: »Aber nicht in diesem Schloss.« (Das dachte ich zwar, beherrschte mich aber.) »Ja«, und ich erging mich in einem Vortrag darüber, was 1861 bekannt gewesen war und was wir seither herausgefunden haben - und fügte zum Schluss lachend an: »Schon wieder eine Vorlesung, offenbar kann ich nicht anders - bin eben ein Professor, ha ha.« Kgin wendet sich in Verzweiflung der Dame auf der anderen Seite zu und beginnt mit selbiger eine Unterhaltung. .
.
Kurz darauf kommt Kg herüber und flüstert Kgin etwas zu, die sich erhebt, woraufhin beide gemessenen Schrittes hinausmarschieren. F kehrt zu Kgins Sekretär zurück, der ihn persönlich an den Wachen etc. vorbei zum Schloß hinausbegleitet. .
Bin untröstlich, dass Du's nicht miterlebt hast, Weiß nicht, wann wir wieder einen König für Dich auftreiben.* Heute morgen im Hotel - ich war mit den anderen gerade am Gehen - wurde ich ans Telefon geholt. Als ich zur Gruppe zurückkam, verkündete ich: »Meine Herren, eben hat mich der Sekretär der Königin angerufen. Ich muss Sie jetzt leider verlassen.« Alles ist starr vor Schreck, war es doch nicht unbemerkt geblieben, dass F länger und eindringlicher auf Kgin eingeredet hatte als schicklich. In Wirklichkeit jedoch hatten wir (was ich ihnen verschwieg) am Telefon ein Treffen vereinbart - er lud mich zu sich ein, um mir seine Frau und zwei seiner (vier) Töchter vorzustellen und mir sein Haus zu zeigen. Ich hatte ihn eingeladen, uns in Pasadena zu besuchen, wenn er nach Amerika käme, und das war seine Antwort. Seine Frau und seine Töchter sind sehr nett, sein Haus ausgesprochen schön. Dir hätte es bestimmt noch besser gefallen als das Schloss. Es erinnert in Anlage und Bauweise entfernt an einen alten belgischen Bauernhof, genau die
* Vier Jahre später lernten Richard und Gweneth bei der Nobelpreisverleihung den König von Schweden kennen. - 78 -
richtige Mischung. Die Einrichtung ist ausgezeichnet zusammengestellt, viele alte Schränke und Tische neben neueren Möbeln. Antiquitäten sind in Belgien wesentlich leichter zu bekommen als in Los Angeles, da es noch so viele alte Gehöfte und dgl. gibt. Das Haus ist etwas größer als unseres, das Grundstück wesentlich größer, aber mit Ausnahme eines Gemüsegartens noch nicht angelegt. Er hat für sich im Garten unter den Bäumen eine selbstgezimmerte Bank aufgestellt, auf der er gern sitzt und ins Land hinausschaut. Außerdem hat er einen Hund - aus Washington -, den jemand dem König schenkte und den der Kg ihm gab. Das Tier erinnert im Wesen an Kiwi*, wahrscheinlich, weil es ähnlich liebevoll behandelt wird. .
Erzählte dem Sekretär, dass ich in einem Schlösschen in Pasadena eine Königin sitzen habe, mit der ich ihn gern bekannt machen möchte, worauf er meinte, er hoffe schon einmal nach Amerika zu kommen, um uns zu besuchen. Er werde bestimmt kommen, falls Kgin wieder einmal nach Amerika fährt. .
Ich lege ein Foto seines Hauses und seine Visitenkarte bei, damit ist sie am sichersten aufgehoben. Ich weiß, wie traurig es für dich ist, diesmal nicht dabei zusein, aber ich werd's ein andermal schon gutmachen. Vergiss nicht, dass ich Dich sehr liebe und auf meine jetzige und meine künftige Familie** stolz bin. Der Sekretär und seine Frau wünschen Dir und uns alles Gute für die Zukunft. .
.
Ich wollte, Du wärst hier oder, die zweitbeste Lösung, ich war bei Dir. Küss SNORK*** von mir und erzähl Mama meine Abenteuer. Ich werde eher wieder zurück sein, als Du denkst. Dein Mann hat dich lieb. Derselbige. Grand Hotel, Warschau
* Der Feynmansche Hund. ** Gweneth erwartete seinerzeit Carl. *** Kiwi.
- 79 -
Liebste Gweneth, .
um es gleich vorweg zu sagen, ich liebe Dich. Und Du fehlst mir, Du und der Kleine* und Kiwi. Ich wollte wirklich, ich war bei Euch zu Hause. Im Augenblick sitze ich im Restaurant des Grand Hotel. Da mich Freunde vor der lahmen Bedienung warnten, ging ich noch mal hinauf, um Schreibzeug und Papier zu holen und an meiner Rede für morgen zu feilen - doch was könnte ich Besseres tun, als meiner Liebsten zu schreiben? .
.
Wie Polen ist? Am meisten beeindruckte - und überraschte mich, dass es (mit einer Ausnahme) fast genau meinen Vorstellungen entspricht - nicht nur das Land, auch die Leute, was sie empfinden, über die Regierung sagen und denken usf. Offensichtlich sind wir in den Staaten recht gut unterrichtet und Magazine wie Time und Atlas gar nicht so schlecht. Die Ausnahme: Ich hatte vergessen, dass Warschau im Krieg ja fast völlig zerstört wurde und dass daher fast alle Gebäude aus der Nachkriegszeit stammen (die wenigen alten sind an den allenthalben sichtbaren Einschusslöchern leicht zu erkennen). All die vielen Neubauten stellen wirklich eine beachtliche Leistung dar: Warschau ist eine von A bis Z wiederaufgebaute Großstadt. Allerdings besitzen die hiesigen Baumeister die geniale Begabung, Altbauten hinzustellen. Von vielen Bauwerken blättert der Verputz ab (hinter der abgeplatzten Betonschicht der Mauern kommen abgenutzte Backsteine zum Vorschein), von verrosteten Fenstergittern ziehen sich streifige Spuren über die Fassaden usw. Außerdem ist der Baustil antiquiert Verzierungen wie aus dem Jahr '27, nur klobiger - und (mit Ausnahme eines Gebäudes) nicht weiter sehenswert. .
.
Das Hotelzimmer ist sehr klein, billig möbliert und sehr hoch (ca. 4,60 m); an den Wänden alte Wasserflecken, wo das Bett scheuert, kommt der Putz zum Vorschein usf. Das Ganze erinnert mich an ein altes New Yorker »Grand Hotel« verschossene Tagesdecke auf durchgelegenem Bett etc. Die
* Carl. Der Brief stammt aus dem Jahr '63. - 80 -
Badezimmerarmaturen (Wasserhähne und dgl.) aber blitzblank, offenbar relativ neu, was mich in einem so alten Hotel erstaunte - bis ich schließlich herausbrachte, dass es erst seit drei Jahren steht -, ich hatte ihre Fähigkeit, Altbauten zu erstellen, ganz vergessen. (Da mich der Ober überhaupt nicht beachtet, unterbreche ich meine Schreiberei und winke einem anderen, der gerade vorbeigeht. Verlegener Blick dann ruft er einen Kollegen. Ergebnis: Man bedeutet mir, dass an meinem Tisch nicht bedient wird, und bittet mich, an einem anderen Platz zu nehmen. Ich schlage Krach, woraufhin man mich an einen anderen Tisch verweist, mir die Speisekarte aushändigt und 15 Sekunden Zeit zum Auswählen gibt. Ich bestelle Sznycel Po Wiedensku - Wiener Schnitzel). .
Zur Frage, ob in meinem Zimmer Wanzen angebracht sind: Als ich mich nach alten Elektroanschlüssen (wie in der Decke des Duschraums) umsehe, fallen mir fünf Stück auf, alle in Deckennähe - in 4,60 Meter Höhe. Da ich zur genaueren Untersuchung eine Leiter gebraucht hätte, verzichtete ich darauf. Aber weiter unten, beim Telefon, befindet sich so eine ähnliche große rechteckige Platte. Eine Schraube ist locker, so ziehe ich sie ein wenig ab - und glaube in ein Radio zu schauen. Habe selten ein solches Drahtgewirr gesehen - wer weiß, was es sein mag! Mikrophone entdecke ich keine, aber die Drahtenden sind mit Band umwickelt wie bei lahmgelegten Anschlüssen oder Verbindungen. Vielleicht ist das Mikrophon im Band. Ich habe keinen Schraubenzieher zur Hand, kann die Platte also nicht abschrauben, um genauer nachzuforschen. Kurz gesagt, falls sie keine Wanzen installiert haben, vergeuden sie eine Menge Draht. .
Die Polen sind nett, arm und haben (die Suppe kommt!) in Kleidung etc. mindestens Durchschnittsniveau. Es gibt entsprechende Tanzlokale mit guten Kapellen usw. usf. Warschau ist weder unangenehm noch langweilig, wie man es von Moskau hört. Andrerseits stößt man auf Schritt und Tritt auf die für die staatliche Bürokratie typische öde und blödsinnige Rückständigkeit - Du kennst die Sorte: Man will im US Immigration Office in der Innenstadt seinen Ausweis verlängern lassen, und sie können auf 20 Dollar nicht herausgeben. Ein Beispiel: Ich hatte meinen Bleistift verloren - 81 -
und wollte am Stand hier einen neuen kaufen. »Ein Kugelschreiber kostet 1,10 Dollar.« .
»Nein, ich möchte einen Bleistift - aus Holz, mit Graphitmine.« »Habe ich nicht, nur Kugelschreiber zu 1,10 Dollar.« .
.
»Na schön, macht wie viele Zlotys?« .
»Sie können nicht in Zloty zahlen, er kostet 1,10 Dollar.« (Warum, weiß der Himmel.) .
Ich muss also hinaufgehen und amerikanisches Geld holen. Gebe dem Verkäufer 1,25 Dollar - er kann nicht herausgeben - muss zum Hotelkassierer. Die Rechnung wird in vierfacher Ausfertigung ausgestellt: Eine Kopie behält der Verkäufer, eine bekommt der Kassierer, zwei werden mir ausgehändigt. Ich weiß nicht, was ich damit soll, lese aber auf der Rückseite, dass ich sie besser aufhebe, um mir die Gebühren beim amerikanischen Zoll zu ersparen. Und das bei einem Kugelschreiber Marke Papermate, made in USA. (Die Suppentasse wird abgetragen.) .
In Wirklichkeit wird die Frage Planwirtschaft oder Privatunternehmertum auf einer viel zu philosophisch-abstrakten Ebene abgehandelt. Theoretisch mag Planung ja gut sein, nur hat bis jetzt noch niemand herausgebracht, wieso der Staat so blöd ist, und solange sie die Ursache nicht kennen (und beheben können), sind alle Pläne, wie ideal auch immer, auf Sand gebaut. .
Hatte mir das Palais, in dem die Zusammenkünfte stattfinden, falsch vorgestellt, dachte an einen unfreundlichen großen alten Saal aus dem 16. Jahrhundert oder dgl., weil ich wieder mal vergessen hatte, dass Polen ja dem Erdboden gleichgemacht worden war. Das Palais ist brandneu: Wir versammeln uns in einem runden Raum mit weißen Wänden und goldverziertem Balkon; an die Decke ist ein blauer Himmel mit Wolken gepinselt. (Das Hauptgericht kommt. Mache mich drüber her, es schmeckt vorzüglich, und bestelle zum Nachtisch Pastete mit Ananas, 125 g. Die Speisekarte ist da sehr genau: die »125 g« geben das Gewicht an - 125 Gramm. Da steht z. B. »Heringsfilet, 144g« usw. Bis jetzt habe ich noch niemand beobachtet, der mit der Waage kontrolliert hätte, ob er nicht beschummelt wird; auch ich habe nicht überprüft, ob das Schnitzel die angegebenen 100 - 82 -
Gramm hatte.) Die Tagung bringt mir überhaupt nichts. Erfahre nichts Neues. Da keine Experimente angestellt werden und sich folglich auf diesem Sektor wenig tut, beteiligen sich kaum erstrangige Leute an diesen Forschungen. Das hat zur Folge, dass es hier von Trotteln wimmelt (126), was meinem Blutdruck wenig zuträglich ist: Es werden solche Nichtigkeiten verzapft und allen Ernstes diskutiert, dass ich außerhalb der offiziellen Sitzungen (z. B. beim Essen) gleich ausfällig werde, sobald mich einer was fragt oder mir etwas über seine »Arbeit« erzählen will. Diese Arbeit ist immer entweder 1. völlig unverständlich oder 2. vage und unbestimmt oder 3. etwas Zutreffendes, das einleuchtet und auf der Hand liegt, aber in einer langen und komplizierten Analyse dargelegt und als bedeutende Entdeckung präsentiert wird, oder 4. die auf der Borniertheit ihres Urhebers beruhende Behauptung, dass irgendein zutreffender und evidenter, seit Jahren anerkannter und überprüfter Tatbestand de facto verkehrt sei (diese Sorte ist die schlimmste: Kein Argument kann einen Idioten überzeugen), oder 5. der Versuch, etwas zu machen, was aller Voraussicht nach unmöglich und ganz gewiss ohne jeden Nutzen ist und, wie sich zu guter Letzt herausstellt, danebengeht (das Dessert wird gebracht und verzehrt) oder 6. schlicht verkehrt ist. Neuerdings wird »auf diesem Sektor eine rege Aktivität« entfaltet, die aber im wesentlichen in dem Nachweis besteht, dass die voraufgegangene »Aktivität« von irgend jemand anderem in einen Irrtum oder in nichts Brauchbares oder in etwas Vielversprechendes mündete. Es ist, wie wenn ein Haufen Würmer aus einer Flasche hinaus will und dabei alle übereinander kriechen. Der Haken ist nicht, dass das Fachgebiet schwierig wäre, sondern dass die tüchtigen Leute anderweitig beschäftigt sind. Halt mich ja davon ab, jemals wieder an einer Schwerkraft-Tagung teilzunehmen! .
.
An einem Abend besuchte ich einen der polnischen Professoren (jung, mit einer jungen Frau). Normalerweise stehen jedem nur 8 Quadratmeter Wohnfläche zu, doch er und seine Frau haben Glück: Sie haben zirka 25 (Wohnzimmer, Küche, Bad). Die Gäste machten ihn ein bisschen nervös (außer mir waren noch Professor Wheeler mit Frau und ein anderer - 83 -
eingeladen), und man hatte den Eindruck, als wollte er sich für die Enge seiner Wohnung entschuldigen. (Ich verlange die Rechnung. Der Ober hat während der ganzen Zeit nur an zwei oder drei Tischen, darunter meinem, bedient.) Seine Frau dagegen gab sich ganz locker und küsste ihre Siamkatze »Bubusch« genau wie Du Kiwi. Die Einladung war eine Glanzleistung - sie mussten den Esstisch aus der Küche holen und dazu erst einmal die Badezimmertür aushängen. (Im ganzen Lokal bedienen im Augenblick vier Ober an nur vier Tischen.) Ihr Essen war ausgezeichnet und hat uns allen geschmeckt. Ach so, ich erwähnte vorhin, dass ein Bauwerk in Warschau sehenswert ist. Es ist das größte Gebäude Polens, der »Palast der Kultur und Wissenschaft«, ein Geschenk der Sowjetunion, von sowjetischen Architekten entworfen. Liebling, es ist unglaublich! Ich kann's nicht einmal annähernd beschreiben. Die verrückteste Ungeheuerlichkeit auf Erden! (Die Rechnung wird von wieder einem anderen Ober überbracht. Ich warte aufs Wechselgeld.) .
.
Damit muss ich schließen. Hoffentlich lässt er mich nicht zu lang sitzen. Hab extra auf den Kaffee verzichtet, um nicht zuviel Zeit zu verlieren. Staunst Du nicht, was für einen langen Brief ich während des Sonntag-Mittagessens im Grand Hotel schreiben kann? .
Nochmals, ich lieb Dich und wünschte, Du wärst hier oder, noch besser, ich wäre dort. Daheim ist's eben doch am schönsten. .
(Das Wechselgeld ist eingetroffen - es stimmt nicht ganz, 0,55 Zloty = 15 Cent zu wenig, aber ich lasse es gut sein.) Leb wohl einstweilen. Richard. .
.
Royal Olympic Hotel. Am Swimmingpool. Samstag, 29. (?) Juni, 15 Uhr, Liebe Gweneth und Michelle* (und Carl?), heute ist mein dritter Tag in Athen. .
* Feynman schrieb diesen Brief 1980 oder 81; Tochter Michelle war etwa elf Jahre alt. - 84 -
Ich sitze am Swimmingpool des Hotels und schreibe auf den Knien, weil die Tische zu hoch und die Stühle zu niedrig sind. .
Der Flug klappte ganz nach Zeitplan, war aber ungemütlich, weil die Maschine von New York nach Athen bis auf den letzten Platz besetzt war. Hier holten mich Prof. Illiapoulos, sein Neffe in Carls Alter und ein Student ab. .
Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass das Wetter hier genau wie in Pasadena ist, nur knapp 2 Grad kühler: Auch die Vegetation ist sehr ähnlich, die Hügel sehen wüstenartig kahl aus - die gleichen Pflanzen, die gleichen Kakteen, die gleiche geringe Luftfeuchtigkeit und die gleichen kühlen Nächte. Doch damit ist die Ähnlichkeit zu Ende. Athen ist ein ausuferndes, hässliches, lärmendes, nach Abgasen stinkendes Straßengewirr mit hektischem Verkehr. Schalten die Ampeln auf Grün, spurten die Autos wie Karnickel los, bei Rot stoppen sie mit quietschenden Bremsen, und bei Gelb geht ein wildes Gehupe los. Ganz ähnlich wie in Mexico City, bloß dass die Leute nicht so arm aussehen - nur gelegentlich trifft man auf der Straße Bettler an. Dir, Gweneth, würden die vielen (durchweg kleinen) Läden gefallen, und Carl würde mit Wonne unter den Arkaden herumstreifen, vor allem in der Altstadt, wo sie mit ihren überraschenden Windungen und Kehren an einen Kaninchenbau erinnern. .
Gestern morgen ging ich ins Archäologische Museum. All die bedeutenden griechischen Pferdeplastiken wären was für Michelle - vor allem eine, ein großes galoppierendes Pferd mit einem kleinen Jungen auf dem Rücken, ganz aus Bronze, ist sehr eindrucksvoll. Ich besichtigte so viel, dass mir schließlich die Füße weh taten und der Kopf schwirrte - die Sachen sind schlecht beschriftet. Außerdem war's ein bisschen langweilig, weil wir schon früher so viel von der Sorte gesehen haben. Mit einer Ausnahme: Unter all den Kunstgegenständen befand sich ein so völlig andersartiges und sonderbares Ding, dass es kaum zu glauben war. Es wurde 1900 aus dem Meer gefischt und ist eine Art Maschine mit Zahnradgetriebe, das ans Innere eines modernen Aufziehweckers erinnert. Viele Räder mit ganz regelmäßigen Zähnen sind dicht ineinandergefügt, und außerdem trägt das Ding Kreise mit Gradeinteilungen und griechischen Inschriften. Ich frage mich, ob's irgendein Schwindel ist. 1959 ist im Scientific American - 85 -
ein Aufsatz darüber erschienen. Gestern Nachmittag ging ich auf die Akropolis, die mitten in der Stadt liegt - ein hohes Felsplateau, auf dem der Parthenon und andere Heiligtümer und Tempel stehen. Der Parthenon schaut recht schön aus, aber der Tempel von Segesta, den Gweneth und ich in Sizilien gesehen haben, ist genauso imposant, weil man drin herumgehen kann - zum Parthenon kann man weder hinaufsteigen noch zwischen den Säulen herumwandern. Die Schwester von Prof. Illiapoulos sie ist von Beruf Archäologin -begleitete uns und steuerte aus einem Notizbuch alle möglichen Angaben, Jahreszahlen, Zitate aus Plutarch u.ä. bei. .
.
Offensichtlich nehmen die Griechen ihre Vergangenheit sehr ernst. Sie lernen in der Grundschule sechs Jahre lang griechische Altertumskunde und haben 10 Wochenstunden in diesem Fach. Sie treiben einen regelrechten Ahnenkult und können gar nicht genug betonen, wie großartig die alten Griechen waren - was ja auch stimmt. Sagt man dann, um ihr Selbstgefühl zu stärken, »gewiss, und bedenken Sie, welche Fortschritte der moderne Mensch seitdem gemacht hat« wobei man an die experimentelle Wissenschaft, die Entwicklung der Mathematik, die Kunst der Renaissance und die außerordentliche Vertiefung, die die relativ seichte griechische Philosophie erfahren hat, usw. usf. denkt-, entgegnen sie: »Worauf wollen Sie hinaus? Was passt Ihnen denn an den alten Griechen nicht?« Da sie ihre eigene Zeit dauernd heruntermachen und die der Alten in den Himmel heben, kommt ihnen der Hinweis auf die Gegenwart wie eine ungebührliche Herabsetzung der Vergangenheit vor. .
Große Bestürzung löste meine Erklärung aus, die wichtigste Entwicklung für die Mathematik in Europa sei Tartaglias Entdeckung gewesen, dass sich kubische Gleichungen lösen lassen: Sie ist zwar an und für sich nicht viel nütze, muss aber großen psychologischen Wert besessen haben, da sie zeigte, dass der Mensch der Neuzeit etwas konnte, was kein alter Grieche zuwege gebracht hatte. Damit bahnte sie der Renaissance den Weg, in der sich der Mensch von der Einschüchterung durch die Alten befreite. Den Griechen dagegen wird auf der Schule die einschüchternde Vorstellung eingeimpft, weit unter das Niveau ihrer Supervorfahren - 86 -
abgesunken zu sein. Ich fragte die Archäologin nach der Maschine im Museum - ob ähnliche Apparaturen oder einfachere Vorläufer oder Ableitungen gefunden worden seien -, aber sie hatte noch nichts davon gehört. So verabredete ich mich mit ihr und ihrem Sohn, der so alt ist wie Carl (und in mir, weil er Physik studiert, einen altgriechischen Heros sieht), im Museum, um ihr das Ding zu zeigen. Sie wollte wissen, warum ich es so interessant und verblüffend fände, »wo doch Eratosthenes die Entfernung zur Sonne gemessen hat, was doch sicher auch komplizierte wissenschaftliche Geräte erforderte«? Wie unwissend klassisch gebildete Leute sein können! Kein Wunder, dass sie ihre eigene Zeit nicht zu schätzen wissen. Sie leben nicht in ihr und begreifen sie nicht. Nach einigem Hin und Her gestand sie dann doch zu, dass sie einen fesseln konnte, und sie führte mich in die hinteren Räume des Museums, wo es sicherlich weitere Exemplare gebe und sie eine umfassende Bibliographie bekommen könne. Es gab aber keine weiteren Exemplare, und die vollständige Bibliographie beschränkte sich auf drei Artikel (darunter den aus dem Scientific American), die alle vom selben Verfasser, einem Amerikaner aus Yale, stammten! Die Griechen halten vermutlich alle Amerikaner für bescheuert, weil die sich nur für mechanische Apparaturen interessieren und all den prächtigen Statuen und reizvoll dargestellten Mythen und Geschichten von Göttern und Göttinnen keine Beachtung schenken. (Tatsächlich erwiderte eine Dame vom Museumsstab auf das Begehren des Professors aus Amerika, mehr über das Objekt 15087 zu erfahren: »Warum pickt er unter all den herrlichen Schätzen dieses Museums ausgerechnet dieses Objekt heraus? Was ist daran denn so Besonderes?«) Alle hier jammern über die Hitze und fragen einen besorgt, ob man sie aushält, obwohl es in Wirklichkeit genau wie in Pasadena, im Durchschnitt sogar um zirka 2 Grad kühler ist. Läden und Ämter bleiben (»wegen der Hitze«) zwischen 13.30 und 17.30 Uhr geschlossen - eine wirklich gute Idee, weil jeder ein Nickerchen hält und dann bis spät in die Nacht hinein aufbleibt -, das Abendessen wird zwischen 21.30 und 22 Uhr eingenommen, wenn es kühl ist. Im Augenblick .
.
.
- 87 -
beschweren sich die Leute hier bitter über ein neues Gesetz, nach dem aus Gründen der Energieersparnis alle Restaurants und Schenken um 2 Uhr nachts schließen müssen. Das, sagen sie, wird das Leben in Athen ruinieren. .
Jetzt, zwischen 13.30 und 17.30 Uhr, ist Geisterstunde, die ich dazu benutze, Euch zu schreiben. Viel lieber freilich war ich zu Haus, denn Ihr fehlt mir sehr. Offenbar kann ich dem Reisen nicht mehr viel abgewinnen. Für die restlichen anderthalb Tage hat man mich mit Literatur aller Art über einen prächtigen (Kies-) Strand hier, eine berühmte Stätte aus klassischer Zeit (wenn auch nur noch ein Trümmerfeld) dort und dgl. mehr eingedeckt. Mich zieht es aber nirgends mehr hin, weil alles eine lange, zwei- bis vierstündige Fahrt (einfach) mit einem Ausflugsbus voraussetzt. Nein, ich werde hier bleiben und meine Vorlesungen für Kreta vorbereiten. (Ich soll drei zusätzliche Vorlesungen vor rund 20 griechischen Studenten halten, die extra meinetwegen nach Kreta kommen. Ich will etwas in der Art meiner New Zealand lectures* halten, habe aber keine Notizen und muss das Ganze noch mal ausarbeiten.) .
Ihr alle fehlt mir, besonders beim Zubettgehen - keine Hunde, die man kraulen und denen man gute Nacht sagen kann! .
Alles Liebe, Richard. P.S. FALLS IHR OBIGE HANDSCHRIFT NICHT ENTZIFFERN KÖNNT, KEIN GRUND ZUR BESORGNIS - IST LAUTER UNWICHTIGES ZEUG. BIN IN ATHEN UND WOHLBEHALTEN. .
* Die von Feynman 1979 gehaltenen »New Zealand lectures« sind in QED Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie, München, 1988, nachzulesen. - 88 -
MacFaddin Hall, Cornell University, Ithaca, NY, 19. November 1947* .
Meine Lieben, vor der Abfahrt nach Rochester einen kurzen Brief an Euch. Jeden Mittwoch findet ein Seminar statt, auf dem irgendwer über ein Forschungsthema spricht, und von Zeit zu Zeit wird dieses Seminar gemeinsam mit der Uni Rochester abgehalten. Heute fahren wir erstmals in diesem Trimester hinüber. .
.
An dem herrlichen Tag müsste die Fahrt ein einziges Vergnügen sein. Rochester liegt nordwestlich von hier am Ontariosee, und der Weg führt durch eine unberührte Landschaft. Feynman nimmt mich in seinem Wagen mit, was ein Heidenspaß zu werden verspricht, falls wir's heil überstehen. Ich empfinde für Feynman wachsende Bewunderung; er ist das erste Exemplar jener raren Spezies des eingeborenen amerikanischen Wissenschaftlers, dem ich bislang begegnet bin. Er hat eine private Version der Quantentheorie entwickelt, die allgemein als ordentliche Leistung anerkannt wird und für die Lösung mancher Probleme hilfreicher sein könnte als die orthodoxe Fassung; überhaupt sprudelt er ständig von neuen Ideen über, die meist mehr Wirbel erzeugen, als weiterhelfen und selten weit gedeihen, ehe sie vom nächsten glänzenden Einfall in den Schatten gestellt werden. Sein wichtigster Beitrag zur Physik ist die Aufrechterhaltung der Moral; wenn er mit seinem neuesten Geistesblitz ins Zimmer platzt und ihn mit verschwenderischen Klangeffekten und rudernden Armen erläutert, ist das Leben zumindest nicht langweilig. Weisskopf, der Cheftheoretiker, ist gleichfalls ein interessanter und fähiger Mann, aber von normalem europäischen Zuschnitt; er kommt aus München und war in der Studienzeit mit Bethe befreundet. .
* Die folgenden beiden Briefe stammen von Freeman Dyson: Es ist der erste und der letzte, in denen Dyson Richard Feynman erwähnt. Weitere Briefe finden sich in Dysons Buch Disturbing the. Universe. - 89 -
Das Ereignis der letzten Woche war ein Besuch von Peierls, der vor dem Rückflug ... zwei Abende bei den Bethes verbrachte ... Montag Abend gaben die Bethes ihm zu Ehren eine Party, zu der die meisten jungen Theoretiker eingeladen waren. Als wir aufkreuzten, wurden wir dem mittlerweile fünfjährigen Henry Bethe vorgestellt, der sich aber nicht im mindesten beeindruckt zeigte. Er sagte bloß »Dick soll kommen! Ihr habt doch versprochen, dass Dick kommt!« Schließlich musste er ins Bett, weil Dick (alias Feynman) nicht erschien. .
Etwa eine halbe Stunde später platzte Feynman herein, sagte nur: »Tut mir leid, dass ich zu spät komme - hatte beim Herfahren eine glänzende Idee« - und stürmte die Treppe hinauf, um Henry zu trösten. Die Unterhaltung verstummte, denn die ganze Gesellschaft lauschte den fröhlichen Lauten von oben, die bald wie ein Duett und dann wieder wie eine Einmann-Schlagzeug-Band klangen ... Viele liebe Grüße, Freeman Urbana, Illinois, 9. April 1981 .
Liebe Sara*, habe eben drei herrliche Tage mit Dick Feynman hinter mir und wünschte, Du wärest dabei gewesen und hättest ihn mit uns erlebt. Sechzig Jahre und eine schwere Krebsoperation haben ihn nicht kleingekriegt. Er ist immer noch der alte Feynman, den wir von Cornell kennen. Wir trafen bei einer kleinen Physikertagung zusammen, die John Wheeler von der University of Texas organisiert hatte. Aus einem unerfindlichen Grund wollte Wheeler das Treffen in einem grotesken Etablissement namens World of Tennis abhalten, einem ländlichen Klub, in dem sich texanische Ölmillionäre entspannen. Da waren wir denn also und murrten alle über die hohen Preise und die ausgesucht scheußlichen Zimmer. Aber wir konnten nirgendwo sonst hin - oder bildeten es uns jedenfalls ein. Doch Dick war andrer Ansicht. Er sagte bloß: »Hol's der Teufel. Fällt mir nicht ein, an diesem Ort zu nächtigen.« Sprach's, packte seinen Handkoffer und .
* Eine Freundin der Familie. - 90 -
entschwand mutterseelenallein in die Wälder. Am nächsten Morgen tauchte er wieder auf, die Nacht unter freiem Himmel war ihm nicht anzusehen. Er sagte, er hätte nicht viel geschlafen, aber es hätte sich gelohnt. Wir haben ausgiebig über Naturwissenschaft und Geschichte debattiert wie in alten Zeiten, allerdings hat er jetzt ein neues Gesprächsthema, seine Kinder. »Ich hab mich immer für den idealen Vater gehalten«, meinte er, »einen, der nicht versucht, seine Kinder in eine bestimmte Richtung zu drängen. Der nicht Wissenschaftler oder Intellektuelle aus ihnen machen will, wenn sie keine Lust dazu haben. Sie wären mir nicht weniger lieb, wenn ihnen der Sinn danach stehen sollte, Lastwagenfahrer oder Gitarristen zu werden. Ich hätte es wirklich begrüßt, wenn sie in die Welt hinausgegangen wären und was Handfestes angefangen hätten, statt Professoren zu werden wie ich. Aber sie bringen es immer fertig, dir eins zu verpassen. Mein Junge Carl zum Beispiel. Ist nun im zweiten Jahr am MIT und hat nichts anderes mit seinem Leben vor als so ein gottverfluchter Philosoph zu werden!«* Als wir am Flughafen auf unsere Maschinen warteten, zog Dick einen Fetzen Papier und einen Stift heraus und machte sich daran, die Gesichter der Leute, die in der Halle herumsaßen, zu zeichnen. Es gelang ihm erstaunlich gut. Als ich sagte, ich hätte leider überhaupt kein Talent zum Zeichnen, meinte er: »Das dachte ich von mir auch immer. Aber für dieses Zeugs braucht man kein Talent ...« .
.
.
Herzlich Dein Freeman
* Letztlich wurden Feynmans Hoffnungen nicht enttäuscht: Carl arbeitet in der Thinking Machines Company, und Tochter Michelle bildet sich als Werbefotografin aus. - 91 -
London, England*, 17. Februar 1988 Liebe Mrs. Feynman, .
.
wir sind einander, so glaube ich, zu selten begegnet, als dass einer sich dem Bewusstsein des anderen hätte einprägen können. Nehmen Sie es daher bitte nicht als Ungehörigkeit, wenn ich über Richards Tod nicht wortlos hinweggehen kann. Lassen Sie mich Ihnen versichern, wie schmerzlich der Verlust, der Sie getroffen hat, auch mich berührt. Dick war der beste und geliebteste von mehreren »Onkeln« meiner Kinderzeit. Während seiner Tätigkeit in Cornell war er ein häufiger, immer willkommener Gast in unserem Haus, einer, auf den Verlass war, der sich neben der Unterhaltung mit meinen Eltern und anderen Erwachsenen immer reichlich Zeit für uns Kinder nahm. Er verstand es großartig, mit uns zu spielen und uns schon damals als Lehrer die Augen für die Welt ringsum zu öffnen. .
.
Meine schönste Erinnerung an ihn reicht in mein achtes oder neuntes Lebensjahr zurück: Der namhafte Naturwissenschaftler Konrad Lorenz sollte einen Vortrag halten, und ich saß in Erwartung zwischen Dick und meiner Mutter. Ich war zappelig und ungeduldig wie alle Kinder, wenn sie still sitzen sollen. Plötzlich wandte sich Dick mir zu und sagte: »Weißt du eigentlich, dass es doppelt so viele Zahlen wie Zahlen gibt?« »Das ist nicht wahr!« wehrte ich in meiner kindlichen Unwissenheit ab. »Doch, doch; ich werd's dir beweisen. Sag eine Zahl.« »Eine Million.« Ich ging gleich in die vollen. »Zwei Millionen.« »Siebenundzwanzig.« » Vierundfünfzig.« Ich nannte schätzungsweise zehn weitere Zahlen, die Dick prompt verdoppelte. Dann ging mir ein Licht auf. »Kapiere; dann gibt's auch dreimal so viele Zahlen wie Zah-
* Diesen Brief steuerte Henry Bethe bei. - 92 -
len.« »Beweis es«, sagte Onkel Dick und nannte eine Zahl. Ich verdreifachte sie. Er probierte es mit einer anderen, ich sagte wieder das Dreifache. Und noch mal. Dann nannte er eine Zahl, die ich im Kopf nicht mehr multiplizieren konnte. »Dreimal diese Zahl«, sagte ich. .
.
.
»Gibt es eine größte Zahl?« wollte er wissen. »Nein«, entgegnete ich, »weil's nämlich für jede Zahl eine doppelt so große, eine dreimal so große, sogar eine millionmal so große gibt.« »Richtig, und die Vorstellung, dass man alles grenzenlos vergrößern kann, die Vorstellung, dass es keine größte Zahl gibt, heißt >Unendlichkeit<.« .
.
.
An diesem Punkt kam Lorenz herein, und wir hörten auf, um ihm zuzuhören. Ich habe Dick nach seinem Abgang von Cornell nicht mehr oft gesehen, aber er hinterließ mir lebhafte Erinnerungen, die Unendlichkeit und neue Wege, die Welt kennen zulernen. Ich habe ihn heiß geliebt. Herzlich Ihr Henry Bethe .
.
Richard und Arlene auf der Uferpromenade in Atlantic City.
An ihrem Hochzeitstag.
Arlene im Krankenhaus.
Kaffeestunde im Winnett Student Center, 1964. (CALTECH)
Gebärdensprache in einer Caltech Alumni Day-Vorlesung, 1978 (CALTECH)
Bei der Caltech-Aufführung von Fiorello, 1978. (CALTECH)
Der Häuptling von Bali Hai in South Pacific, 1985. (CALTECH)
Bei der Erklärung von Feynman-Diagrammen, 1984 (FAUSTIN BRAY)
Klangmodulationen auf der »crazy drum« mit Ralph Leighton, 1984 (FAUSTIN BRAY)
Richard und Gweneth am Tag ihrer silbernen Hochzeit, 1985 (AUFNAHME YASUSHI OHNUKI)
Mit Tochter Michelle (3) und Sohn Carl (10) in Yorkshire, England. Mit Sohn Carl am Tag der Nobelpreisverleihung, 1965. (CALTECH) Richard Feynman nahm mit 44 Jahren Zeichenunterricht und zeichnete bis an sein Lebensende. Die hier abgebildeten Skizzen zeigen Berufsmodelle, seinen Freund Bob Sadler und seine Tochter Michelle mit 14. Feynman signierte all seine künstlerischen Arbeiten mit »Ofey« - es sollte niemand dahinterkommen, wer sie wirklich gezeichnet hatte.
Teil 2: Mr. Feynman geht nach Washington, um die Challenger-Katastrophe zu untersuchen Vorbemerkungen In dieser Geschichte werde ich eine Menge von der NASA* erzählen, aber wenn ich sage, »die NASA hat dies oder jenes getan«, meine ich nicht die ganze NASA, sondern lediglich die für das Shuttle zuständige Abteilung. Um Ihnen hier kurz den Aufbau des Space Shuttle vor Augen zu führen: Der große Mittelteil dient als Außentank für den Treibstoff; in der Spitze befindet sich flüssiger Sauerstoff, im Hauptteil flüssiger Wasserstoff. Die Motoren, die diesen Treibstoff verbrennen, die Haupttriebwerke, sind im Heck des Shuttle, des sogenannten Orbiters, untergebracht. Die Besatzung hält sich im vorderen Teil des Orbiters auf; der hintere ist für die Fracht vorgesehen und wird als Ladebucht bezeichnet. Beim Start wird das Shuttle einige Minuten lang von zwei Trägerraketen mit Festtreibstoff, sogenannten Feststoffraketen, angetrieben, die, ausgebrannt, abgeworfen werden und ins Meer zurückfallen. Wenige Minuten später viel weiter oben in der Atmosphäre - wird der Haupttank vom Orbiter abgetrennt und verglüht auf seiner Bahn zurück zur Erde. Die beiden Feststoffraketen sind aus Segmenten zusammengesetzt. Diese werden durch zwei verschiedene Arten von Verbindungen zusammengehalten: durch die bereits vom Hersteller, Morton Thiokol in Utah, fest versiegelten »Werkverbindungen« und die vor dem Flug »auf dem Feld«, dem Kennedy-Raumfahrtzentrum in Florida, versiegelten »Feldverbindungen«.
* National Aeronautics and Space Administration (Nationale Luft- und Raumfahrtbehörde). - 105 -
Abbildung 1. Das Space Shuttle Challenger. Der von zwei Feststoffraketen flankierte Treibstoff-Außentank ist mit der Raumkapsel selbst, dem Orbiter, verbunden, dessen Haupttriebwerke Flüssigwasserstoff und Flüssigsauerstoffverbrennen. (©NASA)
Feldverbindungen Verbindung von Kopfteil mit Zündmechanismus
DüseStahlmantelVerbindung
Abbildung 2. Sitz und schematische Darstellung Feldverbindungen an den Feststoffraketen.
der
Ein befristeter Selbstmord Vermutlich erinnern Sie sich noch an die ChallengerKatastrophe vom Dienstag, dem 28. Januar 1986. Ich hatte die Explosion im Fernsehen gesehen, aber außer über den tragischen Verlust von sieben Menschenleben nicht weiter darüber nachgedacht. In der Presse war dauernd vom Start und der Rückkehr von Shuttles die Rede, in den wissenschaftlichen Zeitschriften dagegen - und das beunruhigte mich etwas - nie von irgendwelchen - Ergebnissen dieser angeblich so wichtigen Experimente zu lesen. So kümmerte ich mich nicht weiter darum. Nun, einige Tage nach dem Unglück ruft mich der Chef der NASA, Dr. William Graham, an und ersucht mich, in der mit der Untersuchung der Ursachen des Unglücks betrauten Kommission mitzuarbeiten! Er erklärt, er habe am Caltech bei mir studiert und später bei der Hughes Aircraft Company gearbeitet, wo ich eine Zeitlang jeden Mittwoch Nachmittag Vorlesungen hielt. Trotzdem war ich mir nicht ganz sicher, wer er war. Als ich erfuhr, dass die Untersuchung in Washington durchgeführt werden sollte, war meine erste Reaktion, die Finger - 107 -
davon zu lassen: Ich habe es mir zur Regel gemacht, einen weiten Bogen um Washington, das heißt, um die Regierung, zu machen, und so war meine erste Reaktion - wie windest du dich da wieder heraus? Ich rief ein paar Freunde wie AI Hibbs und Dick Davies an, die erklärten mir indessen, die Untersuchung der ChallengerKatastrophe sei für die ganze Nation von größter Wichtigkeit, und ich sollte nur mitmachen. Blieb als letzte Chance, meine Frau zu überzeugen. »Schau«, sagte ich, »das kann doch jeder. Da können sie genauso gut einen anderen nehmen.« »Nein«, erwiderte Gweneth. »Wenn du nicht mitmachst, marschieren zwölf Leute immer schön brav miteinander dahin und dorthin. Machst du dagegen mit, marschieren nur elf immer schön brav miteinander herum, während der zwölfte überall rumschnüffelt und auf die unwahrscheinlichsten Ideen kommt. Vielleicht gibt es ja nichts herauszufinden, aber wenn es etwas gibt, dann findest du es. Keiner«, schloss sie, »kann das so gut wie du.« Da ich sehr eingebildet bin, glaubte ich ihr. Nun ist es ein Ding herauszubringen, was bei der Fähre schief ging, und ein anderes Ding herauszufinden, wie der NASABetrieb läuft. Mit einemmal tauchen Fragen auf wie: Sollen wir überhaupt beim Shuttle-System bleiben oder nicht doch lieber Einweg-Raketen nehmen? Oder, noch gravierender: Wie soll der nächste Schritt aussehen? Welche Ziele soll die Raumfahrt künftig verfolgen? Ich sah förmlich kommen, dass die Kommission, die mit der Untersuchung des ShuttleUnglücks begonnen hatte, schließlich als Kommission für nationale Politik enden und ewig weitertagen würde! Diese Vorstellung machte mich etwas nervös. Ich beschloss, unter allen Umständen nach einem halben Jahr auszuscheiden. Zugleich aber entschied ich, während der Untersuchung des Unglücks nichts anderes nebenbei zu betreiben. Ich bastelte damals gerade an ein paar physikalischen Problemen herum. Außerdem hielt ich zusammen mit einem anderen Professor eine Computer-Vorlesung am Caltech. (Dieser bot mir an, den Kurs ganz zu übernehmen.) Ferner sollte ich als Berater für - 108 -
die Thinking Machines Company in Boston tätig werden. (Sie erklärte sich bereit zu warten.) Meine Physik musste ebenfalls warten. Mittlerweile war es Sonntag geworden. Ich erklärte Gweneth: »Ich werde für ein halbes Jahr Selbstmord begehen«, und hob den Telefonhörer ab. Die nackten Tatsachen Als ich Graham meinen Entschluss mitteilte, wusste er noch nicht genau, was die Kommission machen sollte, wer sie leiten würde, ja, nicht einmal, ob ich angenommen würde. (Es gab also noch einen Hoffnungsschimmer!) Doch am nächsten Tag, Montag, erhielt ich um vier Uhr nachmittags einen Anruf: »Mr. Feynman, Sie sind als Mitglied der Kommission angenommen« - die in der Zwischenzeit zur »Präsidentenkommission« avanciert war und von William P. Rogers geleitet wurde. Ich erinnerte mich an Mr. Rogers. Er hatte mir während seiner Amtszeit als Außenminister immer leid getan, weil Präsident Nixon den Sicherheitsberater (Kissinger) mehr und mehr heranzog, bis der Außenminister schließlich fast überflüssig schien. Die erste Sitzung sollte am Mittwoch stattfinden. Am Dienstag hatte ich nichts vor - nach Washington konnte ich noch am Abend fliegen -, ich rief also AI Hibbs an und bat ihn, ein paar Leute vom JPL* zusammenzutrommeln, die mich über das Shuttle-Projekt informieren konnten. Voller Ungeduld eile ich also am Dienstag früh ins JPL hinüber, begierig, loszulegen. AI bietet mir einen Platz an, und der Reihe nach kommen verschiedene Ingenieure herein und erklären mir die einzelnen Teile des Shuttle. Ich weiß nicht, woher sie das alles wußten, aber sie wussten einfach alles über das Shuttle und erteilten mir einen äußerst gründlichen und intensiven Schnellkurs. Sie waren ebenso begeistert wie ich, und das
* Das vom Caltech verwaltete Jet Propulsion Laboratory (Düsenantriebslabor) der NASA in Pasadena. - 109 -
Abbildung 3. Der Anfang der Notizen, die sich Feynman machte Wenn ich mir heute meine Aufzeichnungen anschaue, wundere ich mich immer wieder, wie schnell sie mir andeuteten, wo die Schwachpunkte liegen können. Die erste Zeile lautet: »Durchbrennen verhindern. Hitzeisolierschicht.« (Die Hitzeisolierschicht, die verhindern soll, dass der Treibstoff den Stahlmantel der Trägerrakete durchbrennt, funktionierte nicht richtig.) In der zweiten Zeile steht: »ORinge zeigen bei Überprüfung der Segmentnut Sengspuren.« Man hatte festgestellt, dass in den Feldverbindungen der Trägerraketen gelegentlich Verbrennungsgase an den Dichtungsringen vorbeiströmten.
Abbildung 5. Die Aufnahme zeigt Blasenbildung in der Zinkchromat-Dichtmasse, ein Vorgang, der zum Verschleiß der O-Ringe führen kann.
In der gleichen Zeile heißt es weiter: »ZnCrO4 bildet Blasen.« (Die Zinkchromat-Dichtmasse, die als eine Art Kitt hinter die O-Ringe gepackt wird, bildet Blasen, die sich, wenn heiße Verbrennungsgase durch ein Leck ausströmen, sehr schnell vergrößern und zur Verkohlung und Verklumpung der ORinge führen können.) Die Techniker setzten mir auseinander, welchen inneren Druckschwankungen die Feststoffraketen während des Fluges ausgesetzt sind, woraus der Treibstoff besteht, wie er gegossen und dann bei verschiedenen Temperaturen getrocknet wird und in welchen Anteilen die Hitzeisolierschicht Asbeste, Polymere und was sonst noch alles enthält. Sie klärten mich über alles mögliche auf, über die Schübe und - 111 -
Kräfte in den Triebwerken, die für ihr Gewicht die stärksten sind, die je gebaut wurden, und dass gerade bei ihnen viele Probleme auftauchen, vor allem bei den Turbinenschaufeln, die leicht Risse bekommen. Die Ingenieure verrieten mir sogar, dass etliche der für die Triebwerke zuständigen Fachleute bei jedem Flug den Daumen halten und sich, als das Shuttle explodierte, sicher waren, dass es an den Triebwerken lag. Wenn die Ingenieure einmal etwas nicht wussten, sagten sie stereotyp: »O, das weiß Lifer, holen wir ihn her.« Und AI rief Lifer an, der auch prompt erschien. Eine bessere Einführung hätte ich mir nicht wünschen können. Es war eine überaus gründliche Aufklärung, ebenso zügig wie umfassend. Und wie mir scheint, die einzige Methode, sich technische Informationen schnell anzueignen. Man sitzt nicht einfach da und hört sich an, was die anderen für wichtig halten, sondern stellt selber die Fragen. So bekommt man präzise Antworten und damit schon bald einen Begriff vom ganzen Umfeld. Man findet schnell heraus, was man als nächstes fragen muss, um die Information zu erhalten, die man braucht. Und so ging ich an diesem Tag durch eine verdammt gute Schule und saugte die Informationen wie ein Schwamm in mich auf. In der Nacht nahm ich den red-eye* nach Washington, wo ich am Mittwoch früh eintraf. (Es war das erste und letzte Mal, dass ich den red-eye nahm - ich bin lernfähig!) Ich stieg im Holiday Inn in der Innenstadt ab, dann nahm ich ein Taxi, um zur ersten Zusammenkunft der Kommission zu fahren. »Wohin?« fragte der Fahrer. Ein Zettel ist alles, was ich habe. »1415 8th Street.« Und los geht's. Ich bin neu in Washington. Aha, da ist das Capitol, dort das Washington-Denkmal; alles scheint recht * Anmerkung für den ausländischen Leser: Flug, bei dem die Maschine um 23 Uhr an der Westküste startet und fünf Stunden später, um 7 Uhr morgens, nach Durchquerung von drei Zeitzonen, an der Ostküste landet. - 112 -
nah beieinander zu liegen. Aber das Taxi fährt und fährt, die Gegend wirkt zusehends trostloser. Die Häuser werden kleiner und schauen ein bisschen verlottert aus. Endlich kommen wir in die 8. Straße, doch nun hört die Bebauung allmählich ganz auf. Schließlich finden wir sogar die Adresse aber durch Interpolation, denn es ist eine Baulücke zwischen zwei Gebäuden! Erst jetzt geht mir auf, dass da etwas nicht stimmen kann. Ich bin ratlos. Ich habe nichts als diesen Fetzen Papier und weiß nicht, wohin. So sage ich zum Fahrer: »Die Zusammenkunft, zu der ich soll, hat mit der NASA zu tun. Können Sie mich zur NASA fahren?« »Natürlich«, antwortet er. »Sie wissen doch, wo sie ist, oder? Genau dort, wo Sie eingestiegen sind!« In der Tat. Ich hätte vom Holiday Inn zu Fuß hingehen können: Die NASA befand sich direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite! Ich passiere die Wache am Tor und mache mich auf die Suche. Als erstes frage ich mich zu Grahams Büro durch und erkundige mich dort, wo die Shuttle-Zusammenkunft stattfinden soll. »Ich weiß, wo«, erklärt mir einer. »Ich bring' Sie hin.« Er führt mich zu einem Saal, in dem, kein Zweifel, eine große Zusammenkunft im Gang ist: Vorne sind helle Scheinwerfer und Fernsehkameras aufgestellt, der Raum ist zum Brechen voll, ich kann mich gerade noch hineinzwängen. Da es nur eine Tür gibt, frage ich mich, wie, zum Teufel, ich mich nach vorne kämpfen soll? Da dringen ein paar Wortfetzen an mein Ohr - es ist so weit weg, dass ich nicht recht verstehen kann -, aber es geht eindeutig um ein anderes Thema! So marschiere ich zu Grahams Büro zurück und wende mich an seine Sekretärin. Sie telefoniert herum, um herauszufinden, wo die Kommission zusammentritt. »Ich weiß auch nicht«, sagt sie zur Person am anderen Ende des Drahts. »Er stand mit einemmal in der Tür!«
- 113 -
Die Zusammenkunft fand in Mr. Rogers' Anwaltsbüro, 1415 H Street statt. Auf meinem Zettel stand 1415 8th Street.* (Die Adresse war telefonisch durchgegeben worden.) Schließlich landete ich in Mr. Rogers' Büro - ich war der einzige, der zu spät kam -, und Mr. Rogers stellte mich den anderen Kommissionsmitgliedern vor. Der einzige, von dem ich (abgesehen von Mr. Rogers selbst) schon gehört hatte, war Neil Armstrong, der Mondfahrer, der als stellvertretender Vorsitzender fungierte. (Sally Ride gehörte dem Ausschuss ebenfalls an, aber mir ging erst später auf, wer sie war.**) Außerdem fiel mir noch ein sehr gutaussehender Bursche in Uniform auf, ein General Kutyna (sprich Ku-TIE-na), der sich in seinem Aufzug neben den ändern in ihren Straßenanzügen imponierend ausnahm. Diese erste Zusammenkunft war wirklich nur ein zwangloses Treffen, das meine Geduld strapazierte, da ich von meiner JPL-Lektion vom Vortag noch wie eine Feder aufgezogen war. Mr. Rogers las einige Punkte aus dem Programm vor, das unsere Aufgaben absteckte: Die Kommission soll: 1. die näheren Umstände des Unfalls untersuchen und den oder die mutmaßlichen Ursachen ermitteln und 2. Verbesserungsvorschläge machen oder aufgrund ihrer Erkenntnisse und Beschlüsse andere Maßnahmen empfehlen. Außerdem erklärte Mr. Rogers, unsere Untersuchung würde nach 120 Tagen abgeschlossen sein. Immerhin ein Lichtblick: Der Auftrag der Kommission beschränkte sich also auf die Untersuchung des Unfalls; folglich bestand eine gelinde Aussicht, dass die Arbeit noch vor Ablauf meines Selbstmords endete! Mr. Rogers fragte uns der Reihe nach, wie viel Zeit wir für die Kommissionsarbeit erübrigen könnten. Einige der Mitglieder * Hörfehler: H [eitj], 8th ['eitG], A. d. Ü. ** Anmerkung für den ausländischen Leser: Sally Ride war die erste Amerikanerin im Weltraum. - 114 -
waren bereits pensioniert, und fast alle erklärten, sie hätten ihren Zeitplan darauf eingestellt. Ich verkündete: »Ich stehe hundertprozentig zur Verfügung - ab sofort.« »Wer übernimmt die Abfassung des Berichts?« fragte Mr. Rogers weiter. Ein gewisser Mr. Hotz meldete sich, ehemaliger Herausgeber der Aviation Week. Dann kam Mr. Rogers auf ein anderes Thema zu sprechen. »Ich bin nun schon sehr lange in Washington«, fing er an, »und kann Ihnen aus Erfahrung sagen: Egal, was wir tun, etwas wird immer an die Presse durchsickern. Wir sollten uns bemühen, dass es möglichst wenig ist. Und dafür garantieren uns am ehesten öffentliche Sitzungen. Natürlich werden unsere Beratungen geschlossen stattfinden, aber sobald wir auf etwas Wichtiges stoßen, werden wir ein Hearing anberaumen, damit die Öffentlichkeit immer auf dem laufenden ist.« »Deshalb«, fuhr Mr. Rogers fort, »wollen wir uns von Anfang an mit der Presse gut stellen und unsere erste Zusammenkunft öffentlich abhalten. Wir treffen uns also morgen Vormittag um zehn Uhr.« Beim Auseinandergehen hörte ich General Kutyna fragen: »Wo ist die nächste U-Bahn-Station?« Mit dem Mann, dachte ich, müsste auszukommen sein. Trotz der Maskerade scheint der in Ordnung zu sein. Offensichtlich ist er keiner von den Generälen, die immer einen Dienstwagen mit Fahrer brauchen; er fährt mit der U-Bahn zum Pentagon zurück. Das gefiel mir, und im Laufe der Sitzungen sollte sich erweisen, dass ich mit diesem Urteil genau ins Schwarze getroffen hatte. Am nächsten Morgen wurde ich von einer Limousine abgeholt - irgend jemand wollte, dass wir zu unserer ersten offiziellen Zusammenkunft in Limousinen anrollten. Ich setzte mich vorne neben den Fahrer. Unterwegs sagt der Fahrer zu mir: »Soweit ich weiß, sind eine Menge bedeutender Leute in dieser Kommission ...« »Ja, anzunehmen ...« - 115 -
»Nun«, sagt er, »ich sammle Autogramme. Würden Sie mir einen Gefallen tun?« »Natürlich«, antworte ich und angle nach meinem Kugelschreiber. Da fährt er fort: »Würden Sie mir wohl Neil Armstrong zeigen, wenn wir hinkommen, damit ich mir ein Autogramm geben lassen kann?« Vor der Eröffnung der Sitzung wurden wir vereidigt. Leute strichen herum; eine Sekretärin händigte jedem von uns einen Ausweis mit seinem Bild aus, damit wir uns ungehindert in der NASA bewegen konnten. Außerdem mussten ein paar Formulare unterschrieben werden, dass man sich mit dem und jenem einverstanden erklärte, um die Spesen bezahlt zu bekommen und so weiter. Nach der Vereidigung traf ich Bill Graham. Ich erinnerte mich wieder an ihn, er war ein netter Kerl gewesen. Diese erste öffentliche Sitzung entpuppte sich als allgemeine Einführung und Vorstellung durch die hohen Tiere der NASA Mr. Moore, Mr. Aldrich, Mr. Lovingood und andere. Wir hatten in tiefen Ledersesseln auf einem Podium Platz genommen, Scheinwerfer waren eingeschaltet und Fernsehkameras auf uns gerichtet, wann immer wir uns an der Nase kratzten. Ich hatte zufällig den Platz neben General Kutyna. Kurz vor Beginn der Sitzung beugt er sich zu mir herüber und sagt: »Kopilot zum Piloten: Kämmen Sie sich.« Und ich zu ihm: »Pilot zum Kopiloten: Können Sie mir Ihren Kamm leihen?» Zunächst einmal wurden wir mit den blödsinnigen Kürzeln, die die NASA überall verwendet, vertraut gemacht: »SRMs« sind die solid rocket motors (Feststofftriebwerke), die den größten Teil der »SRBs«, der solid rocket boosters (Feststoffraketen) ausmachen. Die »SSMEs« sind die space shuttle main engines (Haupttriebwerke); sie verbrennen »LH«, liquid hydrogen (Flüssigwasserstoff) und »LOX«, liquid oxygen, Flüssigsauerstoff, die im »ET«, dem external tank (Außentank), mitgeführt werden. Aber nicht nur für die großen Bauteile gab's Akronyme, sondern praktisch für jedes Ventil, und tröstlich verhießen sie uns: - 116 -
»Sie erhalten ein Lexikon mit den Abkürzungen - im Grunde ist alles ganz einfach.« Einfach, gewiss, aber das Lexikon ist ein großer, dicker, fetter Wälzer, in dem man dauernd Dingen nachjagt wie »HPFTP« (high-pressure fuel turbopump, Hochdruckturbo§ § § § § § § § § §
STS 51-L NUTZLASTELEMENTE BAHNVERFOLGUNGS- UND DATENVERBINDUNGSSATELLITTDRS-B/INERTIALPLATTFORM SPARTAN-RÖNTGENSONDE-HALLEY/MISSIONSSPEZIFISCHE TRAGKONSTRUKTION BESATZUNGSRÄUME TISP - LEHRER FÜR WELTRAUMPROGRAMM CHAMP-AKTIVES ÜBERWACHUNGSPROGRAMM FÜR HALLEYSCHEN KOMETEN FDE - EXPERIMENT ÜBER FLÜSSIGKEITS-DYNAMIK FORSCHUNGSEXPERIMENTE RME-STRAHLUNGSÜBERWACHUNGS-EXPERIMENT PPE-PHASENTEILUNGSEXPERIMENT
Abbildung 6. Beispiel für »schwarze Punkte«. pumpe für den Treibstoff) und »HPOTP« (high pressure oxygen turbopump (Hochdruckturbopumpe für den Sauerstoff). Dann wurden wir über eine weitere Besonderheit aufgeklärt fette schwarze Punkte vor Sätzen, die eine Zusammenfassung geben sollten, gottverdammte kleine Biester, von denen unsere Einführungsbücher und die Dias nur so wimmelten. Wie sich herausstellte, saßen - abgesehen von den Juristen Mr. Rogers und Mr. Acheson und dem Herausgeber Mr. Hotz - lauter Naturwissenschaftler in der Untersuchungskommission: General Kutyna hatte am Massachusetts Institute of Technology (MIT) studiert, Mr. Armstrong, Mr. Covert, Mr. Rummel und Mr. Sutter waren Luftfahrtingenieure, Mrs. Ride, Mr. Walker, Mr. Wheelon und ich Physiker. Die meisten hatten sich offenbar gründlich auf die Sitzung vorbereitet. Jedenfalls stellten wir dauernd technisch weitaus detailliertere Fragen, als einige der hohen Tiere erwartet hatten. - 117 -
Wenn einer von ihnen eine Frage nicht beantworten konnte, versicherte ihm Mr. Rogers unseres vollsten Verständnisses dafür, dass er auf so detaillierte Fragen nicht gefasst war, und erklärte, dass wir fürs erste mit der stereotypen Antwort: »Sie erhalten die Information später«, durchaus zufrieden wären. Vor allem eins lernte ich bei dieser Sitzung, nämlich, wie unergiebig öffentliche Befragungen sind. Die meiste Zeit werden Fragen gestellt, auf die man die Antwort schon kennt - oder die einen nicht interessieren -, und wenn einmal etwas Wichtiges kommt, ist man so benebelt, dass man kaum noch hinhört. Welcher Unterschied zum JPL, wo sie mich in Windeseile mit Informationen aller Art vollgepumpt hatten! Die zwanglose Zusammenkunft in Mr. Rogers' Büro am Mittwoch hatte ganze zwei Stunden gedauert. Und was war während des restlichen Tages geschehen? Nichts. Und am Abend? Nichts. Heute, Donnerstag, dann die öffentliche Sitzung. Was war dabei außer der Versicherung »Sie erhalten diese Information später« - herausgekommen? Wieder nichts! So wurde zwar nach außen hin der Anschein erweckt, als hätten wir jeden Tag in Washington zu tun, in Wirklichkeit aber saßen wir die meiste Zeit nur herum und drehten Daumen. An diesem Abend stellte ich mir meine Aufgabe selbst: Ich schrieb alle möglichen Fragen und Themen zusammen, die meines Erachtens bei der Untersuchung zur Sprache gebracht werden sollten. Mein Plan war herauszufinden, was die anderen vorhatten, damit wir die Arbeit aufteilen und endlich damit beginnen konnten. Am nächsten Tag, dem Freitag, hatten wir unsere erste konkrete Sitzung. Mittlerweile hatten wir ein eigenes Büro - wir kamen im Bürotrakt des alten Präsidentensitzes zusammen und sogar einen Stenographen, der Wort für Wort mitschrieb, was wir .. sagten. Mr. Rogers wurde aus irgendeinem Grund aufgehalten. Um die Wartezeit zu verkürzen, erbot sich General Kutyna, uns einmal zu schildern, wie eine solche Unfalluntersuchung vor sich geht. Wir begrüßten den Vorschlag, er erhob sich und erläuterte uns, wie die Air Force bei der Aufklärung des Fehlstarts einer unbemannten Titan-Rakete vorgegangen war. - 118 -
Es schmeichelte mir, dass sich das von ihm beschriebene System - die Art Fragen und wie sie versucht hatten, die Lösung zu finden - von meinen nächtlichen Überlegungen nicht wesentlich unterschied, außer dass sie viel methodischer vorgegangen waren. General Kutyna warnte uns davor, vorschnell auf allzu offensichtliche Ursachen zu setzen, da man bei näherem Zusehen seine Meinung oft ändern müsse. Im Fall der Titan hatten sie nur sehr wenige Anhaltspunkte gehabt und ihre Meinung dreimal ändern müssen. Aufregung erfasst mich. Genau so eine Untersuchung schwebt mir vor. Meinetwegen können wir auf der Stelle anfangen. Wir brauchen nur noch festzulegen, wer was zu tun hat. Doch Mr. Rogers, der während General Kutynas Ausführungen eingetroffen ist, erklärt: »Ihre Untersuchung war ein großer Erfolg, General. Aber in unserem Fall können wir Ihre Methoden nicht anwenden, da wir nicht über so viel Informationen verfügen wie Sie damals.« Eine krasse Fehleinschätzung, vielleicht merkt Mr. Rogers das als technischer Laie nicht. Da die Titan eine unbemannte Rakete war, gab es in ihrem Fall nicht halb so viele Kontrollmöglichkeiten wie im Shuttle. Uns lagen zum Beispiel Aufnahmen von Fernsehkameras vor, die zeigten, wie wenige Sekunden vor der Explosion eine Flamme aus der Seite einer Trägerrakete schoss. Auf General Kutynas Fotos dagegen war die Titan nur ein lausiger Punkt am Himmel - nicht mehr als ein kleiner, winziger Blitz -, und sogar daraus hatte er Schlüsse ziehen können. »Ich habe«, fährt Mr. Rogers fort, »für nächsten Donnerstag einen Ausflug nach Florida arrangieren können. Dort werden uns NASA-Beamte eine Einführung geben und uns durch das Kennedy-Raumfahrtzentrum führen.« Mir drängt sich das Bild von der Zarin und den Potemkinschen Dörfern auf: Alles ist bestens arrangiert; man wird uns zeigen, wie die Raketen aussehen und wie sie zusammengesetzt werden. Auf diese Art und Weise wird man bestimmt nicht herausfinden, wie die Dinge wirklich liegen. »Wir können schließlich nicht hoffen«, höre ich Mr. Rogers sagen, »eine technische Untersuchung durchzuführen wie - 119 -
General Kutyna.« Diese Bemerkung machte mir sehr zu schaffen, denn das einzige, womit ich mich meiner Meinung nach beschäftigen konnte, waren technische Belange! Außerdem war mir nicht ganz klar, was er damit sagen wollte; vielleicht nur, dass die technische Laborarbeit von der NASA durchgeführt werden sollte. Ich begann vorzutragen, wozu ich gut sein könnte. Wie ich in der Mitte meiner Liste angelangt bin, kommt eine Sekretärin mit einem Brief zur Unterschrift für Mr. Rogers herein. In der Zwischenzeit, während ich den Mund halten muss und darauf lauere, wieder zu Wort zu kommen, erbieten sich verschiedene Mitglieder der Kommission, mit mir zusammenzuarbeiten. Dann hebt Mr. Rogers den Kopf, zum Zeichen, dass die Besprechung nun weitergehen kann, ruft aber einen andern auf - als wäre er nicht recht bei der Sache und hätte vergessen, dass ich mittendrin unterbrochen worden war. So ergreife ich meinerseits das Wort, aber kaum habe ich den Faden wiederaufgenommen, passiert ein anderer »Zwischenfall«. Mr. Rogers schloss die Sitzung mitten in meinem Redefluss: Er wiederholte seine Befürchtung, dass wir ja doch nicht dahinter kämen, was mit dem Shuttle wirklich passiert war. Weiß Gott, ein entmutigender Auftakt! Aus heutiger Sicht freilich ist meine Verzweiflung schwer verständlich. Schließlich hat die NASA gut zwei Jahre gebraucht, um den ShuttleVerkehr wieder in Gang zu setzen. Damals jedoch hielt ich das Ganze für eine Angelegenheit von ein paar Tagen. Ich ging zu Mr. Rogers hinüber und sagte: »Nächsten Donnerstag fahren wir also nach Florida. Bedeutet das, dass wir fünf Tage lang nichts zu tun haben? Was soll ich mit den fünf Tagen anfangen?« »Was hätten Sie denn gemacht, wenn Sie nicht in der Kommission wären?« »Ich stand im Begriff, einen Beraterposten in Boston anzunehmen, habe aber abgesagt, um mich hundertprozentig einsetzen zu können.« »Na ja, warum fahren Sie nicht für diese fünf Tage nach Boston?« - 120 -
Das gab mir den Rest. Aus der Traum, dachte ich. Die Scheißgeschichte klappt nicht. Völlig deprimiert ging ich ins Hotel zurück. Dann fiel mir Bill Graham ein, und ich rief ihn an. »Hör mal zu, Bill«, erklärte ich, »du hast mich da reingezogen, nun sieh mal zu, wie du mich wieder rauskriegst. Ich sitze absolut im Loch; ich halte das nicht aus.« »Was ist los?« will er wissen. »Ich muss etwas tun! Rumkommen und mit ein paar Ingenieuren reden!« »Klar«, antwortet er. »Warum denn nicht? Ich arrangiere einen Ausflug für Sie. Zum Johnson, Marshall oder Kennedy Center. Wohin Sie wollen ...« Das Kennedy Center schied aus; es sollte nicht so aussehen, als wollte ich den andern zuvorkommen. Sally Ride, die angeboten hatte, mit mir zusammenzuarbeiten, war am Johnson Center tätig; also sagte ich: »Johnson Center.« »Schön«, entgegnet er. »Ich sag's David Acheson. Er ist ein Freund von Rogers und von mir. Ich bin sicher, die Geschichte klappt.« Eine halbe Stunde später ruft mich Acheson an: »Ich halte Ihren Plan für eine großartige Idee und habe das Mr. Rogers auch gesagt. Aber er sagt nein. Ich begreife nicht, warum er sich dagegen sperrt.« In der Zwischenzeit hatte sich Graham einen Kompromiss ausgedacht: Ich sollte in Washington bleiben, und er wollte ein paar Leute in sein Büro in der NASA kommen lassen, direkt gegenüber von meinem Hotel. Auf diese Weise konnte ich alle gewünschten Informationen bekommen, ohne herumzurennen. Wieder klingelt das Telefon. Diesmal ist Mr. Rogers am Apparat. Er ist gegen Grahams Kompromiss. »Wir gehen nächsten Donnerstag doch alle nach Florida.« »Wenn das heißt, dass wir brav sitzen bleiben und Einführungen lauschen sollen, bin ich nicht der richtige Mann. Ich muss direkt mit den Ingenieuren reden. Das bringt doch viel mehr.« »Wir brauchen ein geordnetes Prozedere.« - 121 -
»Nun sind wir schon ein paar mal zusammengekommen und haben noch immer keine Aufgaben zugewiesen bekommen!« »Also, was wollen Sie?« fragt er unwirsch. »Soll ich all die anderen Kommissionsmitglieder aufscheuchen und für Montag eine Sondersitzung anberaumen, damit wir die Aufgaben verteilen können?« »Warum nicht?» entgegne ich. »Ich dachte, unsere Aufgabe wäre es zu arbeiten, und wir sollten >aufgescheucht werden Sie verstehen, was ich meine?« Schnell wechselt er das Thema. Natürlich. »Anscheinend«, meint er, »sind Sie mit Ihrem Hotel nicht zufrieden. Ich werde Ihnen ein besseres besorgen.« »Nein, danke, mein Hotel ist in Ordnung.« Da er nicht locker lässt, sage ich: »Mr. Rogers, mir geht es nicht um meinen persönlichen Komfort. Ich versuche, endlich zu arbeiten. Ich möchte etwas tun!« Schließlich erklärt er sich einverstanden, dass ich über die Straße gehe, um mit Leuten von der NASA zu reden. Offensichtlich war ich für Mr. Rogers eine ganz schöne Nervensäge. Graham versuchte später, mir sein Verhalten plausibel zu machen. »Stellen Sie sich vor, Sie als Techniker sollten in einem Ausschuss, der sich mit irgendwelchen Rechtsfragen befasst, den Vorsitz führen. Ihr Gremium besteht größtenteils aus Rechtsanwälten, und einer davon kommt Ihnen dauernd mit: >Ich muss direkt mit den Anwälten reden. Das bringt doch viel mehr. < Vermutlich würden auch Sie sich erst einmal orientieren wollen, ehe Sie ihn losziehen und auf eigene Faust recherchieren lassen.« Viel später begriff ich, dass sich Mr. Rogers tatsächlich mit einer Menge von Problemen abzugeben hatte. Zum Beispiel musste jede Information, die irgendeiner von uns erhielt, in den Bericht aufgenommen und den anderen Kommissionsmitgliedern zugänglich gemacht, also eine Art Zentralbibliothek eingerichtet werden. Und so etwas kostet Zeit. Am Samstag morgen ging ich zur NASA hinüber. Graham hatte einige Leute zusammengetrommelt, ziemlich hohe Chargen, aber lauter Techniker, die mir alles über die - 122 -
Raumfähre beibringen sollten. Der erste klärte mich über die Feststoffraketen auf - den Treibstoff, den Motor, die ganze Konstruktion mit Ausnahme der Dichtungen. »Der Dichtungsexperte kommt heute Nachmittag.« Der nächste informierte mich über die Haupttriebwerke. Sie funktionierten im großen und ganzen relativ unkompliziert, aber dann kamen alle möglichen Steuervorgänge dazu, bei denen irgendwelche Röhren für den Rücklauf und Transport von irgendwas sorgten, dies oder jenes sich erwärmte, ein durch Wasserstoffhochdruck angetriebener kleiner Propeller wieder etwas anderes drehte, das Sauerstoff durch ein Luftventil pumpte - und dergleichen mehr. Es war interessant, und ich strengte mich nach Kräften an, um alles zu begreifen, doch nach einer Weile winkte ich ab: »Mehr Informationen über das Triebwerk verkrafte ich im Moment nicht.« »Aber da gibt's noch jede Menge Probleme, die Sie kennen sollten.« Ich war nun einmal auf die Trägerraketen eingeschossen, und so erwiderte ich: »Ich muss die Haupttriebwerke auf später verschieben, wenn ich mehr Zeit habe.« Dann kam der nächste, um mich über den Orbiter aufzuklären. Ich hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen, weil er extra meinetwegen am Samstag hereingekommen war; dabei sah es nicht danach aus, als hätte der Orbiter etwas mit dem Unfall zu tun. Ich hatte meine liebe Not, den Rest des Shuttle zu begreifen - das Gehirn kann nur ein bestimmtes Quantum an Informationen pro Kubikzentimeter speichern -, und ließ ihn eine Zeitlang reden, unterbrach ihn aber bald, weil er zu sehr ins Detail ging; somit unterhielten wir uns aufs angenehmste. Nachmittags kam der Dichtungsexperte, ein Mr. Weeks, und instruierte mich ähnlich gründlich wie die Leute vom JPL, nur mit noch mehr Details. Zum Abdichten werden Dichtmasse und alles mögliche verwendet, letztlich aber verlässt man sich auf zwei ungefähr 6 Millimeter starke Kunstgummiringe, sogenannte O-Ringe, - 123 -
die einen Durchmesser von zirka 3,66 Metern haben, was einem Umfang von rund 11,30 Metern entspricht. Als die Dichtungen ursprünglich von der Morton Thiokol Company entworfen wurden, glaubte man, der vom brennenden Treibstoff ausgeübte Druck würde die O-Ringe zusammenpressen. Da die Nahtstelle jedoch dreimal so stark ist wie der Stahlmantel der Rakete, wölbt sich dieser nach außen, wodurch auch die Verbindung eine leichte Krümmung erfährt - gerade genug, um die O-Ringe vom Dichtungsbereich abzuheben. Diese Erscheinung wird laut Mr. Weeks als »Verbindungsrotation« bezeichnet und wurde schon sehr früh, noch vor dem ersten Flug des Shuttle, entdeckt. Nun werden diese O-Ringe in den Verbindungen aber nicht wie normale Dichtungen verwendet. Unter normalen Umständen, etwa in einem Automotor, in dem das Öl abgedichtet werden soll, hat man es mit sich hin und her bewegenden Motorteilen und sich drehenden Wellen zu tun, die Spalte aber bleiben immer gleich groß. Die Dichtung wird fest angebracht, und damit basta. Beim Shuttle dagegen dehnt sich, wenn sich in der Rakete Druck entwickelt, die Öffnung aus. Dementsprechend muss sich, soll die Dichtung weiterhin funktionieren, der Gummi schnell genug ausdehnen, um den Spalt zu schließen, der sich beim Start im Bruchteil einer Sekunde öffnet. Deshalb war die Elastizität des Gummis ein ganz wesentlicher Teil der Konstruktion. Als die Thiokol-Ingenieure diese Problematik erkannten, wandten sie sich an den Gummifabrikanten, die Parker Seal Company, um Rat. Die erklärte schlicht, dass O-Ringe nicht für diesen Zweck gedacht seien, und wussten nicht weiter.
- 124 -
FESTSTOFFRAKETE
Abbildung 7. Zur Verbindungsrotation kommt es, wenn sich durch den Druck in der Rakete der Stahlmantel über die Verbindungen hinaus nach außen wölbt. Ein Spalt öffnet sich, durch den an einem oder beiden O-Ringen vorbei heißes Gas ausströmt. Obwohl fast von Anfang an bekannt war, dass die Verbindung nicht ordnungsgemäß funktionierte, schlug sich Thiokol weiter damit herum. Eine Reihe behelfsmäßiger Verbesserungen wurden vorgenommen. Zum Beispiel wurden zur sichereren Abdichtung der Verbindung Abstandsscheiben eingelegt, aber die Verbindung leckte trotzdem weiter. Mr. Weeks zeigte mir Bilder von Lecks bei früheren Flügen - Spuren des sogenannten blowby (»Ausblasens«), wie sich die Ingenieure ausdrückten, das heißt eine Schwärzung hinter einem O-Ring, wo heißes Gas ausgetreten war und Spuren der sogenannten - 125 -
»Erosion«, des durch Ansengen eines Dichtungsrings bewirkten Verschleißes. In einer Tabelle waren Grad und Ausmaß des blowby und der Erosion bei sämtlichen Flügen erfasst. Wir gingen die ganze Folge bis zum Unglücksflug 51L durch. »Und wo steht, dass das Problem je diskutiert wurde - wie damit umgegangen wurde oder ob es einen Fortschritt gegeben hat?« Die einzige Quelle waren die »Flugbereitschaftsprüfungen« zwischen den Flügen wurde das Dichtungsproblem nicht diskutiert! Wir nahmen uns die Zusammenfassung des Berichtes vor. Wie üblich war alles mit schwarzen Punkten versehen. In der ersten Zeile stand: §
Da das Fehlen einer guten Sekundärdichtung in der Feldverbindung äußerst kritisch ist, sollten zur Verringerung des Gefahrenmoments baldmöglichst Mittel und Wege zur Reduzierung der Verbindungsrotation gefunden werden.
Und weiter unten, gegen Ende zu, hieß es: § Die Analyse der verfügbaren Daten deutet darauf hin, dass die Flugsicherheit der derzeitigen Konstruktion gewährleistet ist, sofern sämtliche Verbindungen mit 200 psi Überdruck dichtigkeits-geprüft* sind ... Der Widerspruch verblüffte mich. »Wie kann«, fragte ich, >»die Flugsicherheit gewährleistet sein, wenn die Sache >äußerst kritisch< ist?« »Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen!« antwortete Mr. Weeks. »Schauen wir einmal: Hier heißt es >Auswertung der verfügbaren Daten...<« Wir blätterten zurück zur Auswertung, einer Art Computermodell mit verschiedenen Annahmen, die nicht notwendig stimmen mussten (das Computer-Risiko URUR: Unsinn rein, * Im weiteren Verlauf unserer Untersuchung entdeckten wir, dass wahrscheinlich ausgerechnet diese Dichtigkeitsprüfung die gefährliche Blasenbildung in der Zinkchromat-Dichtmasse, von der schon am JPL die Rede gewesen war, bewirkte. - 126 -
Unsinn raus, ist ja bekannt!), jedenfalls aber zu dem Schluss führten, das geringfügige Undichtigkeiten da und dort tolerierbar seien, auch wenn sie in der ursprünglichen Konstruktion nicht vorgesehen waren.
Abbildung 8. Thiokol versuchte das Problem Verbindungsrotation mittels Abstandsscheiben zu lösen.
der
Abbildung 9. Zwei Beispiele für die Erosion der O-Ringe. Derartige Verschleißerscheinungen konnten am 11,30 m langen Rand der O-Ringe über Strecken von 5 bis 7,6 cm beliebig auftreten. Wären alle Dichtungen undicht gewesen, hätte selbst die NASA das Problem ernst nehmen müssen. Da aber nur einige Dichtungen bei einigen Flügen undicht geworden waren, hatte sich die NASA auf den sonderbaren Standpunkt gestellt: Wenn eine der Dichtungen etwas leckt und der Flug trotzdem erfolgt. Empfehlungen: §
§
§
Da das Fehlen einer guten Sekundärdichtung in der Feldverbindung äußerst kritisch ist, sollten zur Verringerung des Gefahrenmoments baldmöglichst Mittel und Wege zur Reduzierung der Verbindungsrotation gefunden werden. Um den Verschleiß der O-Ringe auszuschalten, sollten die Strömungsbedingungen in den Verbindungsbereichen während Zündung und Betrieb des Motors am Modell in kaltem Zustand ermittelt werden. Um den Zeitplan des Flugprogramms sicherzustellen, sollten statische Tests nach QM-5 zur Qualifizierung von Alternativmaterial zum bisher einzigen Verbindungsfüllmaterial mit Flugzertifikat (asbestgefüllte - 128 -
§ §
§
§
Vakuumdichtmasse) durchgeführt werden. VLS-1 sollte in sämtlichen Verbindungen das einzige Füllmaterial mit Flugzertifikat (asbestgefüllte Vakuumdichtmasse von Randolph) verwenden. Um das analytische Modell des O-Ring-Verschleißes zu verbessern und Sicherheitsgrenzen für abgenutzte ORinge zu ermitteln, müssen zusätzliche Tests in verkleinertem Maßstab in kaltem und heißem Zustand durchgeführt werden. Die Analyse der verfügbaren Daten deutet darauf hin, dass die Flugsicherheit der derzeitigen Konstruktion gewährleistet ist, sofern sämtliche Verbindungen mit 200 psi Überdruck dichtigkeitsgeprüft, in den Dichtungsbereichen frei von Verunreinigungen sind und den Anforderungen an das Quetschverhalten der O-Ringe genügen. Die Bemühungen zur Behebung der Verschleißerscheinungen an den Dichtungen der Feststoffraketen müssen beschleunigt vorangetrieben werden.
Abbildung 11. Die widersprüchlichen Empfehlungen des Dichtungsberichts sind unterstrichen. reich verläuft, kann die Sache so schlimm nicht sein. Eine neue Variante des Russischen Rouletts: Man drückt ab und die Pistole geht nicht los, woraus folgt, dass man getrost noch einmal abdrücken kann ... Mr. Weeks befürchtete, die Geschichte mit dem Dichtungsproblem könnte an die Presse durchgesickert sein. Das beunruhigte ihn ein bisschen, weil es so aussehen musste, als versuchte die NASA etwas zu vertuschen. Ich versicherte ihm, die Leute, mit denen mich Graham zusammengebracht habe, hätten meine Erwartungen voll erfüllt, und außerdem hätte ich von dem Dichtungsproblem schon am JPL gehört, also könne es wohl keine allzu große Affäre geben.
- 129 -
Am nächsten Tag, Sonntag, nahm mich Bill Graham zusammen mit seiner Familie ins National Air and Space Museum mit. Wir frühstückten beizeiten und gingen dann über die Straße ins Museum. Ich hatte ein großes Gedränge erwartet und dabei ganz vergessen, dass Graham ja ein hohes Tier war. So hatten wir das Museum eine Zeitlang ganz für uns allein. Wir trafen dort auf Sally Ride, wohlverwahrt in einem Schaukasten, im Astronautenanzug mit Helm und allem Drum und Dran. Das Wachsmodell sah ihr zum Verwechseln ähnlich. Im Museum gab es einen Vorführungsraum, in dem ein Film über die NASA und ihre Errungenschaften gezeigt wurde. Der Film war wunderbar. Ich hatte mir bis dahin keine Gedanken darüber gemacht, welche Unzahl Menschen am ShuttleProgramm arbeiteten und welche Anstrengungen es gekostet hatte, das Ding in die Luft zu bekommen. Man weiß ja, wie die Filmemacher vorgehen: Sie verstehen etwas von Dramatik. Und dieser Streifen war so dramatisch, dass ich um ein Haar in Tränen ausgebrochen wäre. Jedenfalls wurde mir klar, welch schrecklicher Schlag der Unfall gewesen war. So viele Leute hatten so hart daran gearbeitet und dann - eine Explosion, und aus war der Traum. Der Gedanke bestärkte mich in meinem Entschluss, nach Kräften zur möglichst raschen Aufhellung des Problems beizutragen, damit alle - 130 -
diese Menschen wieder ins Lot kamen. Nach der Filmvorführung hatte sich meine Einstellung grundlegend geändert: All meine Vorbehalte gegen die NASA waren einer entschiedenen Pro-NASA-Stimmung gewichen. Am Nachmittag rief mich General Kutyna an. »Professor Feynman? Ich habe einige dringliche Nachrichten für Sie. Oh, einen Moment.« Im Hintergrund ist eine Militärkapelle zu hören. Nach Beendigung der Musik meldet sich General Kutyna wieder: »Entschuldigen Sie, Professor. Ich bin in einem Konzert der Luftwaffe, und gerade haben sie die Nationalhymne gespielt.« Ich stellte mir vor, wie er, in Uniform, während die Kapelle das »Star Spangled Banner« spielte, Habachtstellung einnahm, die eine Hand salutierend erhoben, in der anderen das Telefon. »Was gibt es Neues, General?« »Erstens lässt Ihnen Rogers ausrichten, Sie sollen nicht zur NASA hinübergehen.« Ich ging nicht darauf ein, da ich ja schon tags zuvor bei der NASA gewesen war. »Und zweitens«, fuhr er fort, »ist für morgen Nachmittag eine Sondersitzung anberaumt. Irgendein Typ, dessen Artikel heute in der New York Times steht, soll einen Vortrag halten.« Ich lachte mir ins Fäustchen: Also gibt es am Montag ohnehin eine Sondersitzung! Dann fügt er an: »Als ich heute morgen an meinem Vergaser herumbastelte, ging mir durch den Kopf, dass das Shuttle diesmal bei einer Temperatur von minus 2,2 oder 1,6 Grad Celsius startete, während die niedrigste Temperatur bis dahin 11,6 Grad gewesen war. Sie sind Professor, darum frage ich Sie, Sir: Wie wirkt sich Kälte auf O-Ringe aus!« »Oh!« entfuhr es mir. »Sie macht sie starr. Ja doch, natürlich!« Mehr brauchte er nicht zu sagen. Das war eine Spur, die mir später viel Lob eintrug, aber er hatte mich mit der Nase darauf gestoßen. Einem Professor für theoretische Physik muss man immer erst sagen, was er zu beachten hat. Er gebraucht sein Wissen nur, um die Beobachtungen der Experimentatoren zu - 131 -
erklären! Montag früh gingen General Kutyna und ich in Grahams Büro hinüber, um zu fragen, ob er nicht irgendwelche Informationen über die Auswirkung der Temperatur auf O-Ringe habe. Er hatte nichts bei der Hand, versprach aber, möglichst bald etwas zu beschaffen. Dafür zeigte uns Graham ein paar interessante Fotos. Sie waren wenige Sekunden vor der Explosion aufgenommen und ließen eine an der rechten Feststoffrakete herausschlagende Flamme erkennen, die zunehmend größer wurde. Es war schwer zu sagen, wo die Flamme herauskam, aber im Büro gab es ein Shuttle-Modell. Ich setzte es auf den Boden und stellte mich so davor, dass ich es in Größe und Richtung genauso sah wie auf dem Foto. Ich bemerkte, dass jede Trägerrakete eine kleine Öffnung hat, damit man die Dichtungen unter Druck setzen und kontrollieren kann. Diese Öffnung dient der Dichtigkeitsprüfung und liegt zwischen den beiden O-Ringen, so dass, wenn sie nicht richtig geschlossen wird und der erste O-Ring versagt, Gas ausströmen und eine Katastrophe herbeiführen kann. Die Öffnung saß ziemlich genau dort, wo man die Flamme sah, was natürlich nicht besagen musste, dass sie tatsächlich hier ausgetreten war; es konnte sich genauso gut um eine größere Flamme handeln, die etwas weiter hinten herausgeschlagen war und von der man nur die Spitze sah. An diesem Nachmittag hatten wir also unsere geschlossene Dringlichkeitssitzung, um uns die Geschichte des Mannes mit dem New-York-Times-Artikel anzuhören, eines gewissen Mr. Cook. Er gehörte der Haushaltsabteilung der NASA an und war beauftragt worden, sich über mögliche Dichtungsprobleme zu informieren und einen Kostenvoranschlag für ihre Beseitigung aufzustellen. In Rücksprache mit den Ingenieuren hatte er herausgefunden, dass die Dichtungen seit langem ein großes Problem darstellten, und er veranschlagte die Kosten zur Behebung der Mängel auf so und soviel - eine Menge Geld. In den Ohren der Presse und einiger Ausschussmitglieder hörte sich Mr. Cooks Geschichte wie eine gewaltige Enthüllung an, als - 132 -
ob die NASA das Dichtungsproblem vertuschen wollte. Ich hatte diese riesige, unnötige Aufregung durchzustehen und fragte mich, wie wir denn jemals weiterkommen sollten, wenn jedes mal wegen eines Zeitungsartikels eine Sondersitzung einberufen wurde! Immerhin wurde ich im Verlauf derselben Sitzung noch durch einige recht interessante Dinge entschädigt. Erst wurden uns ein paar Aufnahmen unmittelbar nach der Zündung, aber noch vor dem Abheben des Shuttle gezeigt, auf denen man Rauchwölkchen aus einer Feldverbindung quellen sah. Der Rauch kam aus derselben Stelle - womöglich dem Anschluss für die Dichtigkeitsprüfung - an der später die Flamme herausgeschlagen war. Eins passte zum anderen; der Fall schien weitgehend gelöst. Und dann geschah etwas völlig Unerwartetes. Ein Ingenieur der Firma Morton Thiokol, ein Mr. MacDonald, meldete sich zu Wort. Niemand hatte ihn zu unserer Sitzung eingeladen, er nahm aus persönlichem Interesse teil. Seine Kollegen von Morton Thiokol und er seien zu dem Schluss gelangt, berichtete Mr. MacDonald, dass das Dichtungsproblem etwas mit niedrigen Temperaturen zu tun habe. Sie seien außerordentlich besorgt gewesen und hätten der NASA in der Nacht vor dem Start während der Flugbereitschaftsprüfung dringend davon abgeraten, bei Temperaturen unter 11,6 Grad Celsius - den bis dahin niedrigsten - zu starten; an diesem Morgen aber wurden minus 1,66 Grad gemessen. Die NASA, so Mr. MacDonald, sei über die Empfehlung, den Start zu verschieben, »entsetzt« gewesen. Der Leiter der Beratung, ein gewisser Mr. Mulloy, habe darauf verwiesen, dass das Beweismaterial »unvollständig« sei und dass man bei einigen Flügen auch bei Temperaturen über 11,6 Grad Verschleiß und blowby beobachtet habe - kurzum, er habe den Thiokol-Leuten nahegelegt, ihr Veto noch einmal zu überdenken. Das Management von Thiokol hatte seine Meinung daraufhin revidiert, aber MacDonald hatte sich geweigert mitzumachen. »Wenn bei diesem Start irgend etwas schief geht, möchte nicht ich derjenige sein, der vor einer Untersuchungskommission sagen muss: Ich habe einfach - 133 -
weitergemacht und die andern trotz unkalkulierbarer Risiken zum Start animiert.« Das war so verblüffend, dass Mr. Rogers seinen Ohren nicht traute. »Habe ich Sie richtig verstanden«, fragte er, »dass Sie ...«, und wiederholte die Geschichte. Und MacDonald antwortete: »Ja, Sir.« Die Kommission war wie gelähmt. Diese Geschichte hatte noch keiner gehört. Offensichtlich haperte es nicht nur mit den Dichtungen; möglicherweise kam auch ein Versagen des Managements dazu. Mr. Rogers befand, dass wir Mr. MacDonalds Geschichte erst sorgfältig untersuchen und weitere Einzelheiten in Erfahrung bringen müssten, ehe wir damit an die Öffentlichkeit treten könnten. Um die Öffentlichkeit gleichwohl auf dem laufenden zu halten, setzte er für den nächsten Tag, Dienstag, eine öffentliche Sitzung an, in der Mr. Cook aussagen sollte. Wie beim Theater, dachte ich: Wir sagen morgen dasselbe wie heute und kommen nicht voran. Nach der Sitzung kam Bill Graham mit einem Packen Papier zu. »Donnerwetter!« entfuhr es mir. «Das flutscht. Ich habe Sie doch erst heute morgen um die Information gebeten!« Graham war stets sehr kooperativ. Auf dem obersten Blatt steht: »Professor Feynman von der Präsidentenkommission wünscht Auskunft über die im Zeitverlauf beobachtbaren Auswirkungen der Temperatur auf die Elastizität der O-Ringe ...« Es ist ein Vermerk an einen Untergebenen. Darunter steht ein weiterer Vermerk: »Professor Feynman von der Präsidentenkommission erbittet Auskunft ...« - von diesem Untergebenen an seinen Untergebenen und so fort. Dann folgt ein Blatt mit ein paar Zahlen von dem armen Hund am Ende der Leiter und eine Reihe von Blättern, auf denen erklärt wird, dass die Antwort vorliegt und nach oben weitergegeben wird.
- 134 -
Abbildung 12. Anwachsen einer möglicherweise aus dem Anschluss für die Dichtigkeitsprüfung herausschlagenden Flamme (© NASA)
Abbildung 14. Schwarze »Rauch« Wölkchen (aus feinen, unverbrannte n Partikeln) waren an derselben Stelle zu sehen, an der die Flamme beobachtet wurde. (© NASA)
Abbildung 13. Durch einen mangelhaft versiegelten Anschluss für die Dichtigkeitsprüfung hätte die am primären O-Ring vorbeischlagende Flamme austreten können. So kommt dieser Papierstoß zustande, der, wie ein Sandwich, in der Mitte die Antwort - auf die falsche Frage! - enthält. Die Antwortet lautete: »Man setzt den Gummi zwei Stunden lang bei einer bestimmten Temperatur unter Druck und beobachtet dann, wie lange er braucht, um seine alte Form wiederzugewinnen« - mehrere Stunden. Ich hatte dagegen wissen wollen, wie schnell der Gummi beim Start in Tausendstelsekunden reagiert. Mit der Information konnte ich nichts anfangen. Ich ging ins Hotel zurück. Mir ist einfach beschissen zumute. Da fällt mein Blick beim Abendessen auf ein Glas Eiswasser. Verdammt noch mal, sage ich zu mir, das mit dem Gummi - 137 -
kannst du selber herausfinden, ohne dass die NASA Vermerke rauf- und runterschickt. Es kommt nur auf den Versuch an! Du brauchst dir lediglich eine Probe von dem Gummi zu beschaffen. Das, geht mir durch den Kopf, könnte ich ja morgen machen, wenn wir diesen Cookschen Unsinn wiederkäuen. Bei den Sitzungen bekommen wir stets Eiswasser, und auf diese Weise könnte ich die Zeit nutzen. Dann wieder erscheint mir das Ganze taktlos. Auf einmal fällt mir Luis Alvarez, der Physiker, ein, den ich wegen seines Mumms und Humors bewundere. Wenn Alvarez in der Kommission wäre, denke ich, würde er es tun, also tust du's auch. Es gibt Geschichten von Physikern - großen Heroen -, die dort, wo sich andere auf komplizierte Weise abmühten, die Information eins, zwei, drei nur so aus dem Ärmel schüttelten. Beispielsweise war nach der Entdeckung der ultravioletten und der Röntgenstrahlen Andre Blondel in Frankreich auf die sogenannten N-Strahlen gestoßen, die sich jedoch nur schwer nachweisen ließen: Andere Wissenschaftler hatten Schwierigkeiten, Blondels Experimente zu wiederholen, deshalb bat man den großen amerikanischen Physiker R. W. Wood, Blondels Labor aufzusuchen. Blondel hielt eine öffentliche Vorlesung mit Demonstration. Da N-Strahlen durch Aluminium gebeugt werden sollten, waren alle möglichen Linsen aufgereiht, gefolgt von einer großen Scheibe mit einem Aluminiumprisma in der Mitte. Dieses drehte sich langsam, die N-Strahlen wurden in verschiedenen Winkeln gebeugt, und Blondels Assistent notierte ihre Intensität - je nach Winkel einen bestimmten Wert. Da N-Strahlen angeblich durch Licht beeinflusst wurden, schaltete Blondel die Lampen aus, um noch genauere Ergebnisse zu erzielen. Sein Assistent notierte wieder die Intensität. Als das Licht wieder anging, stand R. W. Wood in der ersten Reihe und hielt das Prisma hoch, damit es alle sehen konnten! Das war das Ende der N-Strahlen. Genau, das war's! Ich musste mir eine Gummiprobe - 138 -
beschaffen. Also rufe ich Bill Graham an. Geht nicht: Der Gummi ist irgendwo drunten im Kennedy Center. Doch dann fällt Graham ein, dass in dem Feldverbindungsmodell, das uns in der morgigen Sitzung vorgeführt werden soll, zwei solche Gummistücke sind. »Wir könnten uns«, schlägt er vor, »morgen vor der Sitzung in meinem Büro treffen und sehen, ob wir den Gummi rausbekommen.« Am nächsten Tag stehe ich früh auf und trete vors Hotel auf die Straße. Es ist acht Uhr, und es schneit. Ich nehme ein Taxi und sage dem Fahrer, dass ich gern zu einer Eisenwarenhandlung möchte. »Einer Eisenwarenhandlung, Sir?« »Ja. Ich brauche einige Werkzeuge.« »Aber Sir, hier in der Gegend gibt es keine Eisenwarenhandlung; da drüben ist das Capitol und dort das Weiße Haus halt, warten Sie: Ich glaube, ich bin da letzthin an einer vorbeigekommen.« Er fand sie auch, aber sie öffnete nicht vor 8.30 Uhr - und es war erst 8.15 Uhr. So wartete ich in Anzug und Krawatte vor dem Geschäft, in dem Aufzug, den ich mir in Washington zugelegt hatte, um mich halbwegs unauffällig unter den Einheimischen bewegen zu können. Die Anzüge, die die Hiesigen in den (durchweg gut beheizten) Innenräumen tragen, tun es auch für ein paar Schritte von einem Bau zum ändern oder zum Taxi, wenn die Gebäude zu weit auseinander liegen. (Die Taxis sind ausnahmslos beheizt.) Sobald sie aber rausgehen, scheint sie eine sonderbare Angst vor der Kälte zu befallen, und sie ziehen sich einen Mantel über. Einen solchen jedoch hatte ich noch nicht erstanden, und so erregte ich vor der Eisenwarenhandlung draußen im Schnee einiges Aufsehen. Um 8.30 Uhr wurde ich eingelassen und kaufte ein paar Schraubenzieher, einige Zangen und die kleinste Klammer, die ich finden konnte. Anschließend machte ich mich auf den Weg zur NASA. Unterwegs zu Grahams Büro befiel mich die Befürchtung, dass die Klammer zu groß sein könnte. Die Zeit wurde knapp, - 139 -
und ich lief rasch zur medizinischen Abteilung der NASA hinunter. (Ich wusste, wo sie war, da ich dort die von meinem Kardiologen, der mich telefonisch betreute, verordneten Blutuntersuchungen hatte durchführen lassen.) Ich bat um eine chirurgische Klammer, wie sie zum Abklemmen von Schläuchen verwendet werden. Sie hatten keine. »Aber vielleicht«, meinte der Typ, »passt ja auch Ihre in ein Wasserglas.« Sie tat es, mühelos. Dann ging ich hinauf in Grahams Büro. Der Gummi ließ sich leicht aus dem Modell herausnehmen. Eine Zange genügte. Da hatte ich nun meine Gummiprobe. Obwohl mir bewusst war, dass es aufsehenerregender und ehrlicher gewesen wäre, das Experiment erstmals bei der öffentlichen Sitzung durchzuführen, konnte ich nicht widerstehen. Zwar schämte ich mich ein bisschen, schummelte aber trotzdem und machte den Versuch. Getreu dem Vorbild, vor der öffentlichen eine geschlossene Sitzung abzuhalten, stellte ich vor der öffentlichen Sitzung fest, dass es klappte. Dann setzte ich den Gummi wieder ins Modell ein, damit Graham es zur Sitzung mitbringen konnte. Mit der Zange in der einen und der Klammer in der anderen Tasche, gewissermaßen sprungbereit, marschiere ich zur Sitzung und setze mich neben General Kutyna. In den voraufgegangenen Sitzungen hatten wir immer ein Glas Eiswasser bekommen. Diesmal ist kein Eiswasser da. Ich stehe auf und wende mich an jemanden, der wie im Dienst aussieht, und sage: »Ich hätte gern ein Glas Eiswasser, bitte.« »Aber natürlich!« versichert er.
- 140 -
Abbildung 15. Das Feldverbindungsmodell, Feynman die O-Ring-Probe entnahm.
aus
dem
Fünf Minuten später werden die Türen geschlossen, die Sitzung beginnt, ich habe noch kein Eiswasser. Ich winke dem Burschen, mit dem ich gesprochen habe. Er kommt herüber und versichert: »Keine Sorge, es kommt schon!« Die Sitzung nimmt ihren Fortgang, Mr. Mulloy beginnt seinen Vortrag über die Dichtungen. (Offensichtlich will uns die NASA vor Mr. Cook über das Dichtungsproblem unterrichten.) Das Modell macht die Runde, jedes Kommissionsmitglied nimmt es in Augenschein. Und noch immer kein Eiswasser! Mr. Mulloy erklärt, wie die Dichtungen funktionieren sollen - in der üblichen NASA-Weise: mit allerlei komischen Ausdrücken und Kürzeln, so daß man Mühe hat mitzukommen. Um mein Vorhaben vorzubereiten, während ich aufs Eiswasser warte, frage ich: »Beim Start kommt es doch zu Vibrationen, aufgrund derer sich die Verbindungen der Rakete etwas bewegen - ist das richtig?« »Das ist richtig, Sir.« »Und in den Verbindungen sollen sich die sogenannten O- 141 -
Ringe ausdehnen, um abzudichten - ist das richtig?« »Ja, Sir. Unter statischen Bedingungen sollten sie Segmentfeder und Segmentnut* direkt berühren und einige Zwanzigtausendstel Inch zusammengepresst werden.« »Warum lässt man die O-Ringe nicht einfach weg?« »Weil dann aus der Verbindung heißes Gas ausströmen würde ...« »Wenn die Dichtung richtig funktionieren soll, müssen die ORinge aus Gummi sein - sie dürfen nicht aus Blei oder dergleichen sein, das, wenn es zusammengequetscht wird, nicht nachgibt?« »Das stimmt, Sir.« »Heißt das, dass eine äußerst gefährliche Situation einträte, wenn der O-Ring für ein oder zwei Sekunden seine Elastizität verlöre?« »Ja, Sir.« Damit waren wir beim springenden Punkt, dem Zusammenhang zwischen Kälte und Elastizität des Gummis, angelangt. Ich wollte beweisen, dass Mr. Mulloy gewusst haben musste, dass die Temperatur eine Rolle spielte, obwohl er - laut Mr. MacDonald - das Beweismaterial für »unvollständig« hielt. Doch wo blieb das Eiswasser? Ich brach ab, und ein anderer stellte Fragen. Das Modell wird General Kutyna und dann mir gereicht. Ich hole Klammer und Zange aus der Tasche, nehme das Modell auseinander, halte die O-Ring-Stücke in der Hand und - noch immer kein Eiswasser! Ich mache dem Burschen, den ich schon vorher belästigt habe, Zeichen, und er signalisiert zurück: »Keine Sorge, es kommt gleich!« Bald darauf taucht weit vorne eine junge Frau mit einem Tablett voller Gläser auf. Sie reicht Mr. Rogers ein Glas, dann Mr. Armstrong und zwängt sich vor und zurück durch die Stuhlreihen auf dem Podium, und jeder bekommt Eiswasser! Die arme Frau schleppte alles mit - Wasserkrug, Gläser, Eis, Tablett -, damit keiner zu kurz kam. * Die Feder ist gewissermaßen der männliche Teil der Verbindung und die Nut der weibliche, vgl. Abb. 13. - 142 -
Als mein Eiswasser endlich vor mir steht, trinke ich es nicht! Klemme statt dessen den Gummi in die Klammer und lege das Ganze ins Glas. Nach ein paar Minuten ist es soweit, ich kann die Resultate meines kleinen Experiments vorweisen. Ich lange schon nach dem kleinen Knopf, um mein Mikrofon einzuschalten. Da beugt sich General Kutyna, der begriffen hat, was ich im Schilde führe, schnell zu mir herüber: »Kopilot zu Pilot: nicht jetzt.« Bald darauf greife ich wieder zum Mikrofon. »Noch nicht!« Er deutet auf unser Instruktionsmaterial mit all den Tabellen und Dias, die Mr. Mulloy durchgeht, und sagt: »Warten Sie, bis er zu diesem Dia kommt.« Als es soweit ist, schalte ich mein Mikrofon ein und erkläre: »Ich habe den Gummi hier aus dem Modell genommen, in eine Klammer gesteckt und eine Zeitlang in Eiswasser gelegt.« Ich ziehe die Klammer heraus, halte sie hoch und fahre, während ich sie lockere, fort: »Ich habe entdeckt, dass der Gummi nicht zurückschnellt, wenn man die Klammer entfernt. Mit anderen Worten, bei einer Temperatur von null Grad verliert dieses Material seine Elastizität. Und das ist, scheint mir, für unser Problem nicht ohne Belang.« Noch ehe Mr. Mulloy den Mund auf tun kann, verkündet Mr. Rogers: »Das ist ein Punkt, den wir in unserer Sitzung über das Wetter natürlich ausführlich behandeln werden - ein, wie mir scheint, wichtiger Punkt, den, davon bin ich überzeugt, auch Mr. Mulloy gelten lassen und in einer späteren Sitzung kommentieren wird.« In der Mittagspause kamen Reporter zu mir und stellten mir Fragen wie: »Haben Sie über den O-Ring oder die Dichtmasse gesprochen?« oder: »Würden Sie uns erklären, was ein O-Ring genau ist?« Ich fühlte mich einigermaßen deprimiert, dass es mir offensichtlich nicht geglückt war, meinen Punkt an den Mann zu bringen. Doch die Abendnachrichten der Fernsehstationen stellten die Bedeutung des Experiments deutlich heraus, und die Zeitungsberichte am nächsten Tag erklärten ebenfalls alles perfekt. - 143 -
Abbildung 15A. Die O-Ring-Eisswasser-Demonstarion (© MARILENN K-YEE. NYI PIRCUTRES)
Check Six! Meine Cousine Frances klärte mich über die Presse auf. Sie war unter den Regierungen Nixon und Ford APKorrespondentin für das Weiße Haus gewesen und arbeitete gegenwärtig für CNN. Frances erzählte mir von Leuten, die sich durch die Hintertür davonstahlen, weil sie Angst vor der Presse hatten. Sie bestärkte mich in der Vorstellung, dass die Presse nichts Übles im Schilde führt; die Reporter bemühen sich lediglich, die Leute auf dem laufenden zu halten; man kann also ruhig zuvorkommend zu ihnen sein. Ich stellte fest, dass sie wirklich nett sind, wenn man ihnen eine Chance gibt. Die Presseleute jagten mir keine Angst ein, und ich beantwortete ihnen alle ihre Fragen. Die Reporter erklärten mir, ich könne die Nennung meines Namens verbieten. Aber ich wollte keine Heimlichtuerei. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, als teilte ich ihnen hinter vorgehaltener Hand etwas mit. Deshalb redete ich immer offen und ehrlich mit der Presse. Die Folge war, dass mein Name täglich in allen Zeitungen stand! Immer schien ich derjenige zu sein, der den Reportern Auskünfte erteilte. Oft hatten es die anderen Kommissionsmitglieder eilig, zum Mittagessen zu kommen, während ich blieb und Fragen beantwortete. Denn ich sagte mir: Was hat es für einen Sinn, eine öffentliche Sitzung abzuhalten, wenn man hinterher davonrennt, statt auf ihre Fragen nach der Bedeutung von dem oder jenem Auskunft zu geben? Saßen wir schließlich beim Essen, ermahnte uns Mr. Rogers, nur ja auf der Hut zu sein und nicht mit der Presse zu reden. Sagte ich dann etwa: »Schön, aber ich habe ihnen eben das mit den O-Ringen erzählt«, meinte er: »Schon recht, Dr. Feynman, das konnten Sie auch ruhig tun, da hab ich nichts dagegen.« Die Arbeit in der Kommission war ziemlich stressig, darum ging ich abends gern hin und wieder mit Frances und meinem Neffen Chuck, dem Sohn meiner Schwester, der für die Washington Post arbeitete, essen. Da Mr. Rogers immerfort von undichten Stellen redete, vereinbarten wir, kein Wort über - 145 -
meine Tätigkeit zu verlieren. Wenn CNN etwas von mir wissen wollte, mussten sie einen anderen Reporter schicken, und das gleiche galt für die Post. Ich erzählte Mr. Rogers von meinen Verwandten bei der Presse: »Wir haben abgemacht, über meine Tätigkeit nicht zu reden. Sehen Sie irgendeinen Haken dabei?« »Nicht den geringsten«, meinte er lächelnd. »Hab' selber einen Vetter bei der Presse. Keinerlei Problem.« Am Mittwoch hatte die Kommission nichts zu tun, und so lud mich General Kutyna ins Pentagon ein, um mich über die Beziehungen zwischen Luftwaffe und NASA aufzuklären. Es war mein erster Besuch im Pentagon, und ich staunte über all diese Burschen in Uniform, die Befehle entgegennahmen ganz anders als im zivilen Leben. Er sagt zu einem: »Ich brauche den Instruktionsraum ...« »Zu Befehl, Herr General!« »... und die Dias Nr. so und so und so und so ...« »Jawohl, Herr General! Zu Befehl, Herr General!« Alle diese Burschen sind für uns tätig, während mir General Kutyna in diesem speziellen Instruktionsraum einen großartigen Vortrag hält. Dias werden von hinten auf eine transparente Projektionswand übertragen, wirklich phantastisch. General Kutyna ließ Bemerkungen fallen wie: »Den Senator so und so hat die NASA in der Tasche«, worauf ich, halb im Spaß, erklärte: »Keine Nebenbemerkungen, General; setzen Sie mir keinen Floh ins Ohr! Aber keine Angst, ich werde alles wieder vergessen.« Ich wollte unvoreingenommen rangehen: zunächst herausfinden, was mit dem Shuttle passiert war und mich erst dann um die politischen Zwänge kümmern. Irgendwann im Lauf seines Vertrags bemerkte General Kutyna, jeder in der Kommission habe aufgrund seiner Verbindungen seinen Schwachpunkt. Er selbst hatte auf seinem früheren Posten als Air-Force-Beauftragter für das Space-Shuttle-Programm eng mit Leuten von der NASA zusammengearbeitet und fand es daher schwierig bis unmöglich, eindringlichere Fragen bezüglich des NASAManagements zu stellen. Sally Ride war noch bei der NASA - 146 -
und konnte gleichfalls nicht alles sagen, was sie wollte. Mr. Covert hatte an den Triebwerken mitgearbeitet und war für die NASA als Berater tätig gewesen, und so weiter. »Und ich«, sagte ich, »arbeite mit dem Caltech zusammen. Aber ich glaube nicht, dass das eine Schwachstelle ist.« »Stimmt«, sagt er, »Sie sind, soweit sich das überblicken lässt, unangreifbar. Aber wir von der Air Force handeln nach der Faustregel: check six.« Und er erklärte: »Da fliegt einer dahin, schaut in die Runde und fühlt sich absolut sicher. Aber hinter ihm, >bei Uhrzeigerstellung sechs<, steigt einer auf und feuert auf >Zeigerstellung zwölf< direkt vor ihm. Auf die Art werden die meisten Flugzeuge abgeschossen. Sich in Sicherheit zu wiegen, ist äußerst gefährlich! Irgendwo sitzt ein Schwachpunkt, den es zu finden gilt. Immer auf Zeigerstellung sechs aufpassen, lautet die Regel.« Ein niedrigerer Dienstgrad kommt herein. Gemurmel, dass irgend jemand anders den Instruktionsraum braucht. »Melden Sie, dass ich in zehn Minuten fertig bin«, sagt General Kutyna. »Zu Befehl, Herr General!« Als wir schließlich heraustreten, warten in der Halle ZEHN GENERÄLE darauf, dass der Raum frei wird, in dem ich eben diesen Privatvortrag erhalten habe. Da schwellte mir die Brust. Später am Tage schrieb ich einen Brief nach Hause. Als ich Mr. Rogers' Reaktion auf meine Treffs mit Frances und Chuck schilderte, stieg Unbehagen über check six in mir auf. »Ich war«, schrieb ich, »über Rogers' Reaktion angenehm überrascht, aber jetzt, beim Schreiben, kommen mir Bedenken. Das ging zu glatt ab - nachdem er in früheren Sitzungen ausdrücklich darüber geredet hatte, wie wichtig es sei, nichts durchsickern zu lassen und so fort. Bilde ich mir das alles bloß ein? (DU SIEHST, MEINE LIEBE, DIE WASHINGTON-PARANOIA HAT MICH ERFASST!) ... Ich halte für möglich, dass es da gewisse Dinge gibt, an deren Entdeckung mich jemand zu hindern sucht, und dass mich dieser Jemand in Misskredit bringen möchte, wenn ich mich zu weit vorwage ... Ich werde wohl leider auf weitere Treffen - 147 -
mit Frances und Chuck verzichten müssen. Natürlich werde ich erst mal Fran fragen, ob das nicht Schwachsinn ist. Rogers gab sich so liebenswürdig und beruhigte mich. Es ging alles so glatt. Dabei bin ich ihm sicher ein Dorn im Auge ... Morgen um 6.15 Uhr fliegen wir (mit zwei Sondermaschinen) zu einer >Instruktion< ins Kennedy Space Center. Sicher wird man uns herumführen und im Hui alles zeigen - aber keine Zeit lassen, uns mit irgend jemand über technische Einzelheiten zu unterhalten. Ganz nach Belieben, aber nicht mit mir. Wenn ich bis Freitag nicht weiß, was ich wissen will, werde ich übers Wochenende dort bleiben und, falls sie da nicht arbeiten, auch noch Montag und Dienstag. Bin wild entschlossen herauszubringen, was passiert ist - komme, was da wolle! Ich vermute, dass sie mich machen lassen, aber derart mit Daten und Einzelheiten eindecken ... dass sie Zeit haben, gefährlichen Zeugen den Mund zu stopfen etc. Wird ihnen aber nichts helfen, weil ich 1. technische Informationen wesentlich schneller austauschen und kapieren kann, als sie sich vorstellen, und 2. den Braten bereits rieche und nicht ablassen werde, weil ich Bratenduft liebe und die Verfolgung dieser Fährte aufregende Abenteuer verspricht. Ich komme mir wie ein Elefant im Porzellanladen vor. Besser wäre natürlich, den Elefanten draußen zur Arbeit einzusetzen - aber um das Porzellan ist's nicht weiter schade.* Abgesehen davon, dass ich lieber zu Hause säße und was andres täte, amüsiere ich mich königlich. In der Presse ging das Gerücht um, die NASA habe das Shuttle unter großem politischen Druck gestartet, wobei über die Quelle dieses Drucks verschiedene Theorien kursierten. Diese große Welt und die ungeheuren Kräfte, die sie bewegten, waren mir ein Rätsel. Ich wollte sie genau unter die Lupe nehmen, und wenn ich mich vorsah, konnte mir nichts passieren. Aber ich musste auf der Hut sein.
* Das Porzellan, das Feynman zertrampeln sollte, war der Stuss, wie reibungslos bei der NASA alles liefe. - 148 -
Schnüffler Am frühen Donnerstag morgen geht's endlich nach Florida. Ursprünglich war eine Führung durch das Kennedy Space Center in Cape Canaveral geplant. Da die Presse aber ihre Leser immer sofort über alles informierte, hielten wir zuvor eine öffentliche Sitzung ab. Als erstes führte man uns Aufnahmen vor, auf denen der aus dem noch auf der Startplattform stehenden Shuttle quellende Rauch zu erkennen war. Der Start wird von ringsum platzierten Kameras - insgesamt etwa hundert - registriert. Zwei davon waren direkt auf die Stelle, aus der der Rauch kam, gerichtet, hatten aber merkwürdigerweise beide versagt. Andere Kameras jedoch hatten aufgezeichnet, wie aus einer Feldverbindung vier oder fünf schwarze Rauchwolken drangen. Dabei handelte es sich nicht um brennende Substanzen, sondern lediglich um Kohlenstoff und Schmutz, die durch den Druck in der Rakete nach außen gepresst wurden. Nach wenigen Sekunden hörte es auf zu rauchen: Irgendwie funktionierte die Dichtung vorübergehend wieder, aber nur, um eine Minute später erneut zu lecken. Es entspann sich eine Diskussion, wie viel Materie mit dem Rauch nach außen gedrungen war. Die Rauchschwaden waren schätzungsweise 1,80 Meter lang und vielleicht halb so dick. Die Materiemenge richtet sich danach, wie fein die Teilchen sind; da sich aber im Innern der Rauchwolke ein dicker Klumpen befinden konnte, ließ sich schwer ein Urteil abgeben. Und außerdem konnte sich, da die Bilder seitlich aufgenommen worden waren, hinter der Rakete noch mehr Rauch gebildet haben. Um eine untere Grenze festzulegen, ging ich von einer Partikelgröße aus, bei der aus einer bestimmten Materiemenge ein Maximum an Rauch entsteht. Ich kam auf eine erstaunlich geringe Menge - ungefähr 1 Kubikinch: Damit konnte man eine solche Menge Rauch erzeugen. Wir ließen uns Bildmaterial von anderen Starts zeigen. Wie wir später herausfanden, waren bei keinem der vorangegangenen Flüge jemals Rauchwolken aufgetreten.
- 149 -
Abbildung 16. Auf dieser Detailaufnahme des Shuttle auf der Startplattform ist der »Rauch« deutlich zu erkennen. (© NASA)
Außerdem informierte uns ein gewisser Charlie Stevenson, dem die Eis-Crew unterstand, über die niederen Temperaturen vor dem Start. Seiner Darstellung nach war die Temperatur im Lauf der Nacht auf minus 5,5 Grad Celsius zurückgegangen, aber seine Mannschaft hatte an einigen Punkten der Startplattform minus 13,3 Grad Celsius gemessen - warum, war ihnen ein Rätsel. In der Mittagspause fragte mich der Reporter eines lokalen Fernsehsenders, was ich von den niedrigen Temperaturwerten hielte. Ich erwiderte, mir schiene, der flüssige Wasserstoff und Sauerstoff im großen Treibstofftank hätten die zur Trägerrakete hinabströmende Luft von minus 5,5 Grad weiter abgekühlt. Aus irgendeinem Grund hielt der Reporter meine Auskunft für eine wichtige Geheiminformation und sagte daher am Abend in seinem Bericht, statt meinen Namen zu nennen: »Diese Information stammt von einem Nobelpreisträger, muss also stimmen.« Am Nachmittag informierte uns das Telemetrie-Team ausführlich über die letzten Momente des Shuttle. Hunderte von Messungen hatten angezeigt, dass alles so perfekt funktionierte, wie man es sich unter den gegebenen Umständen nur wünschen konnte: Wenige Sekunden nach Austritt der Flamme war der Druck im Wasserstofftank plötzlich abgefallen; die Kreiselkompasse, die das Shuttle steuern, hatten tadellos funktioniert, bis der eine durch die seitliche Kraft der aus der Trägerrakete herausschlagenden Flamme beeinträchtigt worden war; die Haupttriebwerke hatten sich bei der Explosion des Wasserstofftanks sogar selbst abgestellt, weil der Druck in den Treibstoffleitungen abgefallen war. Da diese Sitzung bis 19.30 Uhr dauerte, verschoben wir die Besichtigung auf Freitag und gingen schnurstracks zu einem von Mr. Rogers anberaumten Dinner. Bei diesem Essen saß ich zufällig neben AI Keel, der am Montag als Regierungsbeauftragter zu unserer Kommission gestoßen war, um Mr. Rogers bei der Organisation und Abwicklung unserer Tätigkeit zu unterstützen. Er kam vom Weißen Haus - aus dem sogenannten OMB* - und stand im * dem Office of Management and Budget - 151 -
Ruf, dies und jenes glänzend bewältigt zu haben. Mr. Rogers konnte nicht genug betonen, welches Glück wir hatten, einen so hochqualifizierten Mann zu bekommen. Ein Punkt beeindruckte auch mich, nämlich, dass Dr. Keel seinen Doktor in Luft- und Raumfahrttechnik gemacht und anschließend eine Zeitlang an der Universität Berkeley gearbeitet hatte. Bei seiner Vorstellung am Montag hatte er gewitzelt, sein letzter »ehrbarer« Broterwerb sei eine aerodynamische Untersuchung für das Shuttle-Programm vor zehn oder zwölf Jahren gewesen. So fühlte ich mich neben ihm sehr wohl. Nun, ich habe mit Dr. Keel höchstens fünf Minuten geredet, da erklärt er mir auf einmal, noch nie im Leben sei er so beleidigt worden, er habe diesen Job nicht übernommen, um sich derart heruntermachen zu lassen, und werde mit mir kein Wort mehr wechseln! Da ich mir gewöhnlich nicht merke, was ich den Leuten Dummes oder Ärgerliches sage, weiß ich nicht mehr, was ihn so auf die Palme brachte. Ich hatte es jedenfalls scherzhaft gemeint und fiel über seine Reaktion aus allen Wolken. Es muss etwas ganz Rüpelhaftes, Unverschämtes, Idiotisches gewesen sein, weil ich so gar keine Erinnerung mehr daran habe! Es folgten fünf oder zehn ziemlich spannungsgeladene Minuten, in denen ich mich entschuldigte und die Unterhaltung wieder in Gang zu bringen suchte. Zum Schluss redeten wir dann wieder ein paar Worte miteinander. Wir wurden zwar keine dicken Freunde, kamen aber wenigstens halbwegs miteinander aus. Am Freitag morgen hielten wir eine weitere öffentliche Sitzung ab und hörten uns an, was die Leute von Thiokol und der NASA über die Nacht vor dem Start zu berichten hatten. Es ging nur schleppend voran: Da der Zeuge nicht alles preisgeben will, muss man genau die richtigen Fragen stellen, um ihm die Antwort abzuringen. Manche Kommissionsmitglieder waren hellwach - zum Beispiel Mr. Sutter. Er stellte gezielte Fragen wie: »Von welchen Qualitätskriterien hing die Genehmigung unter diesen oder jenen Voraussetzungen im einzelnen ab?« (Wie sich - 152 -
zeigte, gab es keine solchen Kriterien.) Mr. Covert und Mr. Walker gingen ähnlich forsch ins Zeug. Alle stellten gute Fragen, nur ich kam nicht recht zum Zug und fühlte mich etwas im Hintertreffen. Schließlich kam der Sinneswandel bei Thiokol zur Sprache. Mr. Rogers und Dr. Ride befragten die beiden ThiokolManager Mr. Mason und Mr. Lund, wie viele Leute selbst noch im letzten Moment gegen den Start gewesen seien. »Wir haben nicht alle befragt« erklärt Mr. Mason. »War's eine größere Zahl, oder handelte es sich nur um einen oder zwei?« »Ich schätze, fünf oder sechs Techniker hatten zu diesem Zeitpunkt wohl gesagt, wir wissen nicht recht, aber wir halten den Start für etwas gewagt. Wir wussten nicht, ob es klappen würde. Das war das Problem.« »Es waren also ebenso viele dafür wie dagegen?« »Ganz grob geschätzt, ja.« Mir fiel auf, dass die Thiokol-Manager um den heißen Brei herumredeten. Aber da ich nur schlichte Fragen zu stellen weiß, sagte ich: »Könnten Sie mir vielleicht die Namen ihrer vier besten Dichtungsfachleute nennen, beim tüchtigsten angefangen?« »Roger Boisjoly und Arnie Thompson sind die Nummer eins und zwei. Dann Jack Kapp und ... äh ... Jerry Burns.« Ich wandte mich an Mr. Boisjoly, der an der Sitzung teilnahm. »Mr. Boisjoly, hielten Sie den Start für verantwortbar?« »Nein, das tat ich nicht.« Ich wandte mich an den gleichfalls anwesenden Mr. Thompson. »Nein, ich auch nicht.« »Und Mr. Kapp?« »Der ist nicht hier«, entgegnet Mr. Lund. »Aber ich habe nach der Sitzung mit ihm gesprochen, und er meinte: >In Anbetracht unserer Informationen hätte ich mich dafür entschieden!<« »Und Ihr vierter Mann?« - 153 -
»Jerry Burns. Ich weiß nicht, wie er dazu stand.« »Demnach war also einer von den vieren unentschieden, einer ziemlich sicher dafür und die beiden, die gerade eben als die besten Dichtungsexperten bezeichnet wurden, sagten beide nein.« Die Behauptung, Für und Wider hätten sich die Waage gehalten, war also aus der Luft gegriffen. Was hatten die Burschen, die sich mit den Dichtungen am besten auskannten, eben gesagt? Am Spätnachmittag wurden wir im Kennedy Space Center herumgeführt. Es war interessant; jedenfalls nicht so übel, wie ich befürchtet hatte. Die anderen Kommissionsmitglieder stellten eine Menge wichtige Fragen. Wir hatten nicht genügend Zeit, um uns die Montage einer Trägerrakete anzusehen, dafür wollte man uns zum Abschluss die bisher geborgenen Trümmer zeigen. Da ich diese Gemeinschaftsunternehmungen ziemlich über hatte, schenkte ich mir den Rest des Rundgangs. Statt dessen eilte ich zu Charlie Stevenson, um mir weitere Aufnahmen vom Start anzusehen. Ich kam auch den ungewöhnlich niedrigen Temperaturmessungen auf die Spur. Die Burschen waren äußerst kooperativ und begrüßten es, dass ich bei ihnen mitmischte. Seit zehn Tagen lauerte ich darauf, mich in einem dieser Zentren umzutun, nun war es endlich soweit! Beim Abendessen eröffnete ich Mr. Rogers: »Ich habe vor, übers Wochenende hier zu bleiben.« »Wie Sie wollen, Dr. Feynman«, entgegnete er. »Mir wäre es zwar lieber, Sie flögen heute nacht mit uns nach Washington zurück. Aber Sie können natürlich tun und lassen, was Ihnen beliebt.« »Schön«, sagte ich, »dann bleibe ich noch.« Am Samstag unterhielt ich mich mit dem Mann, der am Morgen des Starts die Temperaturen abgenommen hatte einem netten Kerl namens B. K. Davis. Er hatte neben jeder Temperaturangabe die genaue Uhrzeit verzeichnet und obendrein eine Aufnahme gemacht. Zwischen den Messungen lagen große Zeitabstände, in denen er am hohen Startgerüst auf und ab geklettert war. Er hatte die Temperatur der Luft, der Rakete, des Bodens, des Eises und sogar einer - 154 -
Schneematschpfütze mit einem Frostschutzmittel gemessen, mit einem Wort, ganze Arbeit geleistet.
darin
Nach den von der NASA angestellten theoretischen Berechnungen der Temperaturschwankungen im Bereich der Startplattform hätten die Temperaturen einheitlicher und höher ausfallen müssen. Einer meinte, vielleicht habe die Wärmeabstrahlung zum wolkenlosen Himmel etwas mit der Sache zu tun. Doch dann fiel einem anderen auf, dass BKs Wert für die Pfütze wesentlich niedriger lag, als die Aufnahme andeutete: Bei minus 13,3 Grad hätte der Schneematsch trotz Frostschutzmittel - fest gefroren sein müssen. Darauf sahen wir uns das Gerät an, das die Eis-Crew für ihre Temperaturmessungen benutzte. Ich schlug in der Bedienungsvorschrift nach und entdeckte, dass man das Instrument vor Gebrauch mindestens 20 Minuten lang der Außentemperatur aussetzen musste. Mr. Davis dagegen hatte es nach eigener Aussage bei 21 Grad Celsius aus dem Kasten genommen und sofort mit den Messungen begonnen. Wir mussten also herausfinden, ob sich die Fehler wiederholen ließen. Mit anderen Worten: Konnte man die Situation nachstellen? Am Montag rief ich bei der Herstellerfirma an und bekam einen der Techniker an die Strippe. »Tag, mein Name ist Dick Feynman«, sagte ich. »Ich bin in der Kommission, die den Challenger-Unfall untersucht und hätte ein paar Fragen zu eurem Infrarot-Messgerät ...« »Kann ich Sie zurückrufen?« »Sicher.« Kurz darauf ruft er mich an: »Tut mir leid, aber die Angaben sind Betriebsgeheimnis, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.« Mir war klar, wo der Hase im Pfeffer lag: Sie hatten eine Heidenangst, dass wir den Unfall ihrem Instrument anlasten könnten. Deshalb sagte ich: »Ihr Messgerät hat nichts mit dem Unfall zu tun. Es wurde von den Leuten hier, entgegen Ihrer Gebrauchsanleitung, unsachgemäß gehandhabt, und ich versuche nun herauszufinden, ob wir die Fehler wiederholen und ermitteln können, welche Temperaturen an jenem Morgen wirklich herrschten. Dazu aber muss ich mehr über - 155 -
das Instrument wissen.« Nun taute der Bursche endlich auf und zeigte sich recht hilfsbereit. Mit seiner Unterstützung konnte ich der Eis-Crew ein Experiment vorschlagen: Sie kühlten einen Raum auf zirka 4,4 Grad Celsius und schafften einen großen Eisblock hinein bei Eis kann man sicher sein, dass die Oberflächentemperatur null Grad Celsius beträgt. Dann holten sie das Messgerät aus einem 21 Grad warmen Raum und führten alle 30 Sekunden am Eisblock eine Messung durch. Damit konnten sie die Abweichung des Instruments im Verlauf der Zeit ermitteln. Mr. Davis hatte seine Messungen so sorgfältig notiert, dass sich alle Zahlen mühelos bestimmen ließen. Und bemerkenswerter weise entsprachen die umgerechneten Temperaturwerte ziemlich genau dem, was nach dem theoretischen Modell zu erwarten war. Alles schien sehr plausibel. Bei meiner nächsten Unterhaltung mit einem Reporter berichtigte ich die ganze Temperaturgeschichte und informierte ihn, dass die vom Nobelpreisträger vordem vertretene Theorie falsch war. Ich schrieb für die anderen Kommissionsmitglieder einen Bericht über das Temperaturproblem und schickte ihn Dr. Keel. Dann ging ich einer Sache nach, die unserer Ansicht nach den Unfall mitverursacht haben konnte: Beim Aufschlagen aufs Meer erfahren die Trägerraketen durch die Wucht des Aufpralls eine geringfügige Verformung. Im Kennedy Center werden sie auseinandergenommen und die Segmente - pro Rakete vier - per Bahn zu Thiokol nach Utah verfrachtet, dort mit neuem Treibstoff gefüllt und anschließend mit dem Zug nach Florida zurückgeschickt. Während des Transports werden die (liegend beförderten) Segmente geringfügig deformiert - der weiche Treibstoff ist sehr schwer. Die Abplattung beträgt insgesamt zwar nur einen Bruchteil eines Zolls (2,54 cm), doch genügt nach dem Zusammensetzen ein kleiner Spalt, um Verbrennungsgase ausströmen zu lassen: Die O-Ringe sind nur einen Viertelzoll (0,67 cm) und im komprimierten Zustand nur noch zwei Hundertstel Zoll (0,015 cm) stark! Ich machte mich ans Rechnen. Von der NASA erhielt ich alle - 156 -
Zahlen über die mögliche Abplattung der Segmente, und ich versuchte herauszuknobeln, wie stark die Quetschung war und wo sie auftrat - vielleicht fiel das Minimum mit dem Leck zusammen. Die Zahlen beruhten auf der Messung von drei Diametern im Abstand von jeweils 60 Grad. Aber drei übereinstimmende Durchmesser (oder auch sechs oder jede beliebige andere Zahl) liefern keine Garantie dafür, dass die Segmente auch wirklich aufeinander passen. Beispielsweise kann man eine Art Dreiecksfigur mit abgerundeten Ecken zeichnen, deren drei 60 Grad voneinander entfernte Diameter alle dieselbe Länge haben. Ich erinnerte mich an einen solchen Trick, den ich als Kind in einem Museum gesehen hatte: ein Getriebe, dessen Zahnradstange sich völlig gleichmäßig hin und her bewegte, während sich unterhalb auf wackelnden Wellen einige alles andere als runde, komisch anmutende, verrückt geformte Zahnräder drehten. Es sah unmöglich aus, funktionierte aber, weil der Durchmesser der zahnradähnlichen Gebilde immer der gleiche war. Demnach waren die Zahlen der NASA für mich wertlos. An besagtem Wochenende erhielt ich, genau wie ich in meinem Brief nach Hause vorhergesagt hatte, dauernd Weisungen vom Hauptquartier der Kommission in Washington: »Temperaturangaben überprüfen, Aufnahmen überprüfen, dieses und jenes überprüfen ...« - eine ganze Liste. Das meiste jedoch hatte ich, als die Instruktionen eintrafen, bereits erledigt. Eine Notiz bezog sich auf einen mysteriösen Zettel. Irgend jemand vom Kennedy Space Center hatte bei der Montage einer Feststoffrakete angeblich die Bemerkung »dabei bewenden lassen« zu Papier gebracht. Die Ausdrucksweise schien auf eine gewisse Fahrlässigkeit hinzudeuten. Meine Aufgabe: besagten Zettel aufzufinden.
- 157 -
Abbildung 17. Obwohl bei dieser Figur sämtliche Diameter die gleiche Länge aufweisen, handelt es sich offensichtlich um keinen Kreis! Nun hatte ich zu diesem Zeitpunkt aber bereits eine Vorstellung von der Papierflut bei der NASA. Und da ich das Ganze für einen Vorwand hielt, um mich von meiner Fährte abzulenken, ließ ich die Sache auf sich beruhen. Statt dessen verfolgte ich heimlich eine andere Spur. Umlaufenden Gerüchten zufolge hatte die NASA das Shuttle nur deshalb trotz der Kälte am 28. Januar starten wollen, weil an jenem Abend der Bericht des Präsidenten zur Lage der Nation auf dem Programm stand. Angeblich war man im Weißen Haus auf die Idee gekommen, die Lehrerin, Mrs. McAuliffe, während der Ansprache vom Weltraum aus mit Präsident und Kongress zu verbinden. Es versprach großartig zu werden: Der Präsident sollte fragen: »Hallo! Wie geht's?« und sie darauf »prima« antworten - wirklich sehr aufregend. - 158 -
Da das Ganze plausibel klang, hielt ich es durchaus für möglich - aber gab es einen Beweis? Ich hatte keine Ahnung, wie man so was recherchiert, und stellte mir lediglich vor: Da man nur sehr schwer zum Präsidenten durchkommt und man auch eine Astronautin im All nicht einfach anrufen und mit ihr einen Plausch halten kann, muss es wohl ein kompliziertes Geschäft sein, die Signale des Shuttle während der Ansprache des Präsidenten vor dem Kongress einzublenden. Um herauszubringen, ob das irgend jemand veranlasst hatte, stellte ich den Burschen am unteren Ende der Leiter ein paar technische Fragen. Sie wiesen mir die Antennen, erläuterten die Frequenzen, zeigten mir die große Funkanlage und das Computersystem und erklärten mir, was sie alles machten. Ich sagte: »Wenn ihr nun eine Übertragung - sagen wir, zum Marshall Center - machen solltet, wie würdet ihr da rangehen?« Darauf sie: »O, wir sind bloß eine Relaisstation. Alles wird automatisch nach Houston gesendet, und die schalten es dann um. Wir hier machen das nicht.« So fand ich kein Beweismaterial - zumindest nicht im Kennedy Space Center. Aber die Burschen dort waren so nett zu mir und alles verlief so angenehm, dass ich mir fies vorkam. Ich führe andre nicht gern hinters Licht, und mein Vorgehen war ein bisschen hinterhältig. Trotzdem beschloss ich, es in Houston genauso zu machen. Am Montag kreuzte Mr. Hotz in Florida auf, er sollte mit mir zusammenarbeiten. (Er hatte, wie er mir später erzählte, den Auftrag nachzuschauen, was ich trieb und zu verhindern, dass ich »aus dem Ruder lief«.) Mr. Hotz brachte eine Liste mit, was alles zu überprüfen war. »Auf dieser Liste«, erklärte er, »stehen eine Menge Punkte, und ich wäre froh, wenn wir die Arbeit aufteilen könnten.« Manches, meinte er, ginge wohl ihm leichter von der Hand, und den Rest hatte ich bereits erledigt - mit Ausnahme des ominösen Zettels mit dem Vermerk »dabei bewenden lassen«. Mr. Hotz meinte, er könnte aus dem Notizbuch eines der Raketenmonteure stammen, aber dieser Anhaltspunkt genügte mir nicht. Ich hatte einfach keine Lust, der Sache nachzugehen. Statt - 159 -
dessen traf ich mich mit einem Mr. Lamberth, der mich zu sprechen wünschte. Mr. Lamberth, ein ziemlich hohes Tier, hatte die Montage der Feststoffraketen unter sich und wollte sich mit mir über gewisse Schwierigkeiten, mit denen er sich herumschlug, unterhalten. »Früher waren die Arbeiter viel disziplinierter«, erklärte er, »heute dagegen haben sie schwer nachgelassen.« Und er nannte ein paar Beispiele. Das erste betraf einen Zwischenfall, der sich bei der Zerlegung der Trägerrakete nach ihrer Bergung aus dem Meer ereignet hatte. Die Raketensegmente werden von ringsum angebrachten Bolzen von zirka 3,8 Zentimeter Durchmesser und 5 Zentimeter Länge zusammengehalten insgesamt 180 Stück. Um die Segmente zu zerlegen, mussten die Arbeiter die Rakete aufstellen und das obere Segment ein bestimmtes Stück weit anheben. Sie hatten sich jedoch angewöhnt, lediglich auf die Stärke der angewandten Kraft - zirka 11000 psi (pounds per square inch) - zu achten, physikalisch die bessere Methode, da es ja darum geht, die Bolzen zu entlasten. Einmal funktionierte das Manometer am Kran nicht richtig. Die Arbeiter steigerten die Kraft und wunderten sich, warum sie nicht auf 11000 psi kamen, als plötzlich ein Bolzen brach. Mr. Lamberth rügte, dass sich die Arbeiter nicht an die Vorschriften gehalten hatten. Ich fühlte mich an meine Rationalisierungsversuche im Hotel meiner Tante erinnert: Die eigene Methode ist zwar besser als das übliche Verfahren, aber dann passiert plötzlich ein kleines Malheur* ... Mr. Lamberths zweite Geschichte bezog sich auf die Montage der Raketensegmente. Das übliche Verfahren bestand darin, ein Segment aufs andere zu setzen und das obere dem unteren anzupassen. Hatte sich ein Segment etwas verformt, hievte man es mit einem Kran hoch und ließ es ein paar Tage lang waagerecht * Hier spielt Feynman auf seine Methode, grüne Bohnen zu zerkleinern, an, von der er in »Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!« berichtet. - 160 -
hängen, eine ziemlich einfache Methode. Konnten die Monteure ein Segment durch Aufhängen nicht rund genug bekommen, wandten sie die sogenannte »Rundungsmaschine« an - eine Stange mit einer hydraulischen Presse am einen und einer Schraubenmutter am anderen Ende - und steigerten allmählich den Druck. Dieser durfte, wie Mr. Lamberth mir erläuterte, 1200 psi nicht überschreiten. Als einmal ein Segment bei 1200 psi noch immer nicht entsprechend rund war, nahmen die Arbeiter einen Schraubenschlüssel und begannen die Mutter am anderen Ende anzuziehen, bis das Segment passte - am Ende hatten sie 1350 psi Druck drauf. »Ein weiteres Beispiel für die mangelnde Disziplin der Arbeiter«, sagte Mr. Lamberth. Da ich ohnedies mit den Monteuren reden wollte (ich liebe diese Art Unterhaltungen), machten wir aus, dass ich tags darauf um 14.30 Uhr mit ihnen zusammenkommen sollte. Als ich um 14.30 Uhr diesen Raum betrete, sitzen dreißig oder vierzig Männer mit mürrischen Gesichtern an einem langen Tisch - alle todernst, darauf gefasst, DEM KOMMISSIONSMITGLIED Rede und Antwort zu stehen. Ich erschrak - ich hatte gar nicht gewusst, dass ich eine so furchteinflößende Macht besaß. Sie waren sichtlich beunruhigt. Sicher hatte man ihnen erzählt, ich wolle ihre Fehler aufdecken. So sage ich zur Begrüßung: »Da ich nichts zu tun hatte, dachte ich mir, geh doch mal rüber und unterhalt dich mit den Leuten, die die Raketen zusammenbauen. Aber ich wollte nicht, dass ihr alle mit Arbeiten aufhört, nur weil mich persönlich was interessiert. Ich wollte nur mit den Arbeitern reden ...« Daraufhin erhoben sich die meisten und gingen. Nur sechs oder sieben blieben - die Gruppe, die die Raketensegmente zusammenmontierte, ihr Vorarbeiter und irgendein höherer Boss. Nun, die Burschen hatten immer noch ein bisschen Bammel und wollten nicht recht raus mit der Sprache. »Ich habe da eine Frage«, sagte ich zum Auftakt, »passen, wenn ihr die drei Diameter messt und alle stimmen überein, die Segmente - 161 -
dann auch wirklich zusammen? Mir scheint, es könnten sich auf einer Seite ein paar Beulen und direkt gegenüber ein paar Abplattungen befinden, so dass die drei Diameter zwar übereinstimmen, die Segmente aber trotzdem nicht aufeinander passen.« »Ja«, sagen sie, »genau so ist's. Solche Beulen kommen immer wieder vor - wir nennen sie Titten.« »Das hat aber nichts mit mir zu tun!« erklärte die einzige Frau in der Runde, und alle lachten. »Dauernd haben wir diese Titten«, fuhren sie fort. »Wir wollten es dem Aufseher melden, aber wir kommen da nie durch!« Wir gingen ins Detail, und das wirkt Wunder. Ich stellte meine Fragen auf der Basis des theoretisch Möglichen, aber ihnen kam ich wie ihresgleichen vor, wie einer, der ihre technischen Probleme kannte. Sie tauten im Handumdrehen auf und trugen mir alle möglichen Verbesserungsvorschläge vor. Sie müssen zum Beispiel, wenn sie die Rundungsmaschine einsetzen, eine Stange jeweils exakt durch zwei gegenüberliegende Löcher stecken. Bei 180 Löchern müssen sie sich immer vergewissern, dass sie das 90 Löcher entfernte Loch erwischen. Dazu müssen sie hinaufklettern und in unbequemer Haltung die Löcher zählen, was sehr langwierig und schwierig ist. Es wäre, meinten sie, sehr hilfreich, wenn in der Fabrik vier jeweils 90 Grad voneinander entfernte Farbmarkierungen angebracht würden. Auf diese Weise müssten sie nie mehr als 22 Löcher bis zur nächsten Markierung abzählen. Steckten sie beispielsweise das eine Ende der Stange durch ein 9 Löcher im Uhrzeigersinn von einer Markierung entferntes Loch, mussten sie das andere Ende durch das 9 Löcher im Uhrzeigersinn von der gegenüberliegenden Markierung entfernte Loch stecken. Der Vorarbeiter, Mr. Fichtel, erzählte, er habe vor zwei Jahren bei seinen Vorgesetzten eine entsprechende Eingabe gemacht, aber bis jetzt sei nichts erfolgt. Auf seine Frage warum, wurde ihm bedeutet, sein Vorschlag komme zu teuer. »Vier kleine Striche malen kommt zu teuer?« fragte ich - 162 -
ungläubig. Alle lachten. »Es ist nicht wegen der Farbe, sondern wegen des Papierkrams«, erklärte Mr. Fichtel. »Sie müssten alle Wartungshandbücher ändern.« Die Montagearbeiter hatten allerlei Beobachtungen und Anregungen auf Lager. So äußerten sie die Befürchtung, es könnten, wenn zwei Raketensegmente beim Montieren aneinander scheuern, Metallspäne in die Dichtungen geraten und sie beschädigen. Sie hatten sogar ein paar Ideen, wie sich die Dichtungen verbessern ließen. Ihre Vorschläge waren zwar nicht besonders gut, aber das Entscheidende war, die Arbeiter dachten nach! Ich gewann den Eindruck, dass sie alles andere als undiszipliniert waren; sie zeigten großes Interesse für ihre Tätigkeit, erfuhren aber wenig Ermutigung. Niemand achtete groß auf sie. Ihre Arbeitsmoral war in Anbetracht der Umstände bemerkenswert. Dann wandten sich die Arbeiter an den Boss, der dabeigeblieben war. »Über eins sind wir wirklich enttäuscht«, sagte einer. »Als die Kommission die Raketenmontage sehen wollte, sollte sie von den Managern vorgeführt werden. Warum wolltet ihr das nicht uns machen lassen?« »Wir befürchteten, ihr hättet Bammel vor den Kommissionsmitgliedern und würdet es ablehnen.« »Von wegen!« sagte der Arbeiter. »Wir verstehen unser Handwerk und wollten zeigen, was wir tun.« Nach dem Treffen ging der Boss mit mir in die Cafeteria. Beim Essen - die Arbeiter waren nicht mitgekommen - meinte er: »Es hat mich überrascht, dass sie daran so interessiert waren.« Später unterhielt ich mich mit Mr. Fichtel über jenen Zwischenfall, bei dem sie den Druck über 1200 erhöht hatten. Er zeigte mir die Notizen, die er während des Arbeitsverlaufs gemacht hatte: nicht die offiziellen, abgestempelten Papiere, sondern Auszüge aus einem informellen, aber sorgfältig geführten Tagebuch. »Ich habe gehört, der Druck ist auf 1350 psi gestiegen«, bemerkte ich. »Ja«, entgegnete er, »wir hatten die Mutter am anderen Ende - 163 -
angezogen.« »War das denn üblich?« »Natürlich, so steht's doch im Buch.« Er schlägt das Wartungshandbuch auf und zeigt mir die Beschreibung. Ich lese: »Druck der hydraulischen Presse allmählich steigern. Kann damit die gewünschte Rundheit nicht erzielt werden, Mutter am anderen Ende mit größter Vorsicht anziehen, um gewünschte Rundheit zu erreichen« es stand da schwarz auf weiß! Und kein Wort darüber, dass der Druck durch das Anziehen der Mutter auf über 1200 psi steigen würde; vermutlich waren sich die Leute, die das Handbuch geschrieben hatten, dessen nicht bewusst gewesen. Mr. Fichtel hatte in sein Notizbuch geschrieben: »Wir zogen die Mutter mit größter Vorsicht an« - genau dieselben Worte wie in der Anweisung. »Wie mir Mr. Lamberth sagte, warnte er Sie davor, über 1200 hinaufzugehen.« »Er hat mich nie gewarnt - warum sollte er auch?« Wir überlegten, was aller Wahrscheinlichkeit nach passiert war. Mr. Lamberths Warnung war nach unten weitergegeben worden, bis jemand vom mittleren Management aufgegangen war, dass sich Mr. Fichtel ans Handbuch gehalten hatte und dass der Fehler im Buch stand. Aber statt Mr. Lamberth auf den Fehler aufmerksam zu machen, hatten sie die Warnung einfach in den Papierkorb geworfen und den Mund gehalten. Beim Mittagessen erläuterte mir Mr. Fichtel die Kontrollverfahren. »Für jede Maßnahme gibt's einen eigenen Bogen wie diesen hier für das Rundungsverfahren«, erklärte er. »In die Kästchen kommen die Stempel - einer vom Aufseher, einer von der Qualitätskontrolle, einer vom Hersteller und bei den wichtigeren Sachen einer von der NASA.« »Wir messen«, fuhr er fort, »nehmen die Rundungsprozedur vor und messen erneut. Stimmen die Werte nicht, wiederholen : wir die einzelnen Schritte. Ist der Unterschied zwischen den Diametern dann klein genug, lassen wir's dabei bewenden.« Ich wachte auf. »Was meinen Sie mit >dabei bewenden - 164 -
lassen Klingt ein bisschen leichtfertig ...« »Aber nein«, wehrte er ab. »Das ist bloß unser Fachjargon, der besagt, dass alle Bedingungen erfüllt sind und wir den nächsten Arbeitsgang vornehmen können.« »Schreiben Sie das auch auf - dieses >dabei bewenden lassen« »Manchmal ja.« »Schauen wir doch mal nach, ob wir eine Stelle finden, wo Sie's aufgeschrieben haben.« Mr. Fichtel ging sein Notizbuch durch und entdeckte ein Beispiel. Die Formulierung war ihm eine Selbstverständlichkeit weder nachlässig noch leichtfertig, sondern schlicht seine gewohnte Ausdrucksweise. Am Montag und Dienstag musste Mr. Rogers, während ich im Kennedy Space Center herumrannte, in Washington einem Senatsausschuss Rede und Antwort stehen. Der Kongress erwog, eine eigene Untersuchung durchzuführen. Senator Hellings aus South Carolina machte Mr. Rogers die Hölle heiß: »Minister Rogers«, sagt er, »ich mache mir Gedanken, ob Ihr Mitarbeiterstab seiner Aufgabe ganz gewachsen ist. Wie viele Ermittler gibt's in Ihrer Kommission?« »Ermittler im polizeilichen Sinn«, entgegnet Mr. Rogers, »haben wir keine. Wir lesen Dokumente, entschlüsseln ihren Inhalt, organisieren Hearings, befragen Zeugen - all das. Unser Stab, das kann ich Ihnen versichern, ist seinen Aufgaben durchaus gewachsen.« »Genau das ist die Frage«, sagte Senator Hollings. »Nach den Erfahrungen, die ich bei derartigen Untersuchungen sammeln konnte, würde ich mir vier oder fünf in Wissenschaft und Raumfahrttechnik beschlagene Ermittler wünschen, die drunten in Canaveral rumgehen und mit allen reden und zu Mittag essen. Sie wären erstaunt, was Sie alles herausfänden, wenn Sie zwei oder drei Wochen lang in den Lokalen da unten zu Mittag äßen. Man kann nicht einfach dasitzen und lesen, was einem angedient wird.« »Wir sitzen keineswegs einfach da und lesen«, verteidigt sich - 165 -
Mr. Rogers. »Wir holen uns die Leute zusammen und befragen alle gleichzeitig, statt einen Schnüffler rumzuschicken, der immer nur einen aushorchen kann.« »Verstehe«, sagte Senator Hollings, »aber was kommt ohne Schnüffler schon groß heraus? Das ist doch der Pferdefuß an diesen Präsidentenkommissionen, ich kenne sie schließlich aus eigener Erfahrung: Sie schlucken, was man ihnen vorsetzt, und schauen nicht hinter die Kulissen. Das Ende vom Lied ist dann, dass Reporter weiterrecherchieren und Leute Bücher schreiben und all das Zeug. Denken Sie doch nur an den Bericht der Warren-Kommission - und wie eifrig die Leute hier noch immer rumschnüffeln.«* »Ich verstehe Ihre Befürchtungen, Senator«, erwidert Mr. Rogers gelassen. »Es dürfte Sie interessieren, dass ein Mitglied unserer Kommission - ein Nobelpreisträger - heute dort unten in Florida auf die Art und Weise Nachforschungen anstellt, die Ihnen vorschwebt.« (Ich aß tatsächlich gerade mit ein paar Ingenieuren zu Mittag, als Mr. Rogers das sagte, was er freilich nicht wissen konnte.) »Ich zweifle«, sagte Senator Hollings, »nicht an der Kompetenz Ihres Nobelpreisträgers; ich habe seine Äußerungen mit großem Interesse gelesen. Und auch die Kompetenz der Kommission steht außer Frage. Mir geht es lediglich darum, dass man zur Ermittlung eines Falls Ermittler braucht. Davon abgesehen, haben Sie der Öffentlichkeit bereits eine Menge hochinteressanter Fakten zur Kenntnis gebracht. Man kann Ihnen wirklich keine Nachlässigkeit vorwerfen.« So half ich Mr. Rogers ein wenig aus der Klemme. Was für ein Glücksfall, dass ich entgegen seinen Wünschen in Florida geblieben war und er damit für Mr. Hollings eine Antwort parat hatte! * Anmerkung für ausländische Leser: Der Warren-Report wurde 1964 von der Warren-Kommission veröffentlicht, die unter dem Vorsitz des pensionierten Chief Justice vom Supreme Court (Vorsitzenden des Obersten Bundesgerichts), Earl Warren, den Mord an Präsident John F. Kennedy untersuchte. - 166 -
Phantastische Zahlen Am Dienstag Nachmittag flog ich nach Washington zurück und nahm am Mittwoch an der nächsten, wiederum öffentlichen Kommissionssitzung teil, bei der ein Manager der Thiokol Company, ein gewisser Mr. Lund, aussagte. In der Nacht vor dem Start hatte ihm Mr. Mulloy geraten, seinen »Ingenieurshelm« gegen seinen »Managerhut« zu vertauschen, und so hatte er seine Vorbehalte gegen den Start aufgegeben und sich über die Einwände seiner eigenen Techniker hinweggesetzt. Ich stellte ihm einige harte Fragen, als mich plötzlich dieses Gefühl, den Inquisitor zu spielen, überkam. Mr. Rogers hatte uns nahegelegt, mit diesen Leuten glimpflich umzugehen, da ihre Laufbahn von uns abhinge. »Wir«, meinte er, »haben alle Trümpfe in der Hand: Wir sitzen hier oben, sie da unten. Sie müssen unsere Fragen beantworten, wir die ihrigen nicht.« Das alles kam mir plötzlich wieder in den Sinn, und mir war so elend zumute, dass ich am nächsten Tag nicht weitermachen konnte. Ich flog nach Kalifornien zurück, um mich ein paar Tage zu erholen. Während meines Aufenthalts in Pasadena suchte ich Jerry Solomon und Meemong Lee am JPL auf. Sie analysierten die Flamme, die ein paar Sekunden vor der Explosion des Haupttreibstofftanks aufgetreten war und deckten dabei alle möglichen Einzelheiten auf. (Das JPL verfügt aufgrund seiner umfangreichen Erfahrungen mit planetarischen Missionen über gute Verstärkungsgeräte für Fernsehbilder.) Später nahm ich die Aufnahmen dann ins Kennedy Space Center mit, um sie Charlie Stevenson und seiner Abteilung zu zeigen und so den Gang der Dinge zu beschleunigen. Irgendwann im Verlauf all dieser Aktionen legte mir jemand von der Belegschaft ein Papier zur Unterschrift vor: Danach beliefen sich meine Ausgaben auf so und so viel, was aber nicht stimmte - sie lagen höher. »Das entspricht nicht dem Betrag, den ich ausgelegt habe«, sagte ich. »Weiß ich, Sir«, erklärte der Mann; »aber für Hotel und Verpflegung werden maximal 75 Dollar bewilligt.« »Wieso lasst ihr mich, wenn ihr mir pro Tag nur 75 Dollar - 167 -
zugesteht, in einem Hotel absteigen, das pro Nacht 80 oder 90 Dollar kostet?« »Sehr ärgerlich, da haben Sie völlig recht, aber so wird das eben gehandhabt!« Ich musste an Mr. Rogers' Anerbieten, mir ein »gutes Hotel« zu besorgen, denken. Was meinte er eigentlich damit - dass es mich noch mehr kosten sollte? Wenn man monatelang Zeit und Kräfte für die Regierung opfert (und dabei Geld einbüßt, das man als Unternehmensberater hätte verdienen können), sollte die Regierung das etwas mehr würdigen und nicht mit der Rückerstattung knausern. Ich will mich nicht auf Staatskosten bereichern, aber ich bin eben so wenig gewillt draufzuzahlen. Also erkläre ich: »Fällt mir nicht ein, das da zu unterschreiben.« Dann kam Mr. Rogers zu mir herüber und versprach, die Angelegenheit in Ordnung zu bringen, und so unterschrieb ich den Wisch. Mr. Rogers, davon bin ich überzeugt, wollte das wirklich regeln, doch er musste scheitern. Zunächst dachte ich daran, die Sache durchzufechten, aber dann ging mir auf, dass es unmöglich war: Wenn man mir meine faktischen Auslagen erstattete, musste man es natürlich bei allen anderen Kommissionsmitgliedern genauso halten. Dagegen wäre an sich nichts einzuwenden gewesen - außer, dass damit unserer Kommission als einziger die effektiven Kosten erstattet worden wären, was sicher im Handumdrehen an die Öffentlichkeit gelangt wäre. In New York sagt man für »Das ist unmöglich«: Gegen das Rathaus kommt man nicht an. Ich hätte allerdings gegen weit mehr als das Rathaus angehen müssen: Die 75-DollarRegelung ist ein Gesetz der Vereinigten Staaten! Vielleicht hätte es sogar Spaß gemacht, die Sache durchzufechten, aber ich war wohl zu abgespannt - ich bin nicht mehr so jung wie ehedem und gab auf. Wie mir jemand erzählte, ging das Gerücht um, die Kommissionsmitglieder verdienten 1000 Dollar pro Tag, aber in Wahrheit erstattet ihnen unsere Regierung nicht einmal ihre Kosten. - 168 -
Anfang März, ungefähr einen Monat nach ihrer Einsetzung, teilte sich unsere Kommission endlich in Arbeitsgruppen auf: die für die Aktivitäten vor dem Start zuständige Gruppe unter Mr. Acheson; die für Planung, Entwicklung und Produktion unter Mr. Sutter; die mit der Analyse des Unfalls beauftragte Gruppe unter General Kutyna; die Missions-Planungs- und Operationsgruppe unter Dr. Ride. Ich verbrachte die meiste Zeit in Kutynas Gruppe, zeitweise beteiligte ich mich auch an der von Ride, tat aber letztlich nicht all zuviel für sie. General Kutynas Gruppe verfügte sich ins Marshall Space Flight Center in Huntsville, Alabama, um dort ihre Tätigkeit aufzunehmen. Den Auftakt bildete der Auftritt eines Mannes namens Ullian, der uns etwas mitteilen wollte. Als Sicherheitsbeauftragter am Kennedy Space Center hatte Mr. Ullian zu entscheiden, ob am Shuttle Sprengladungen angebracht werden sollten. (Gerät eine Rakete außer Kontrolle, kann sie mittels dieses Selbstzerstörungsmechanismus in kleine Stücke gesprengt werden, statt - was wesentlich gefährlicher wäre - ziellos weiterzufliegen und beim Aufschlag auf den Boden zu explodieren.) Jede unbemannte Rakete ist mit solchen Sprengladungen ausgestattet. Wie uns Mr. Ullian erläuterte, hatte er 127 Raketenstarts geprüft, von denen 5 Misslungen waren - eine Rate von rund 4 Prozent. In der Annahme, bemannte Flüge seien sicherer als unbemannte, hatte er die Zahl durch vier geteilt, das heißt, die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls auf rund ein Prozent angesetzt - hoch genug, um die Sprengladungen zu rechtfertigen. Doch die NASA hatte Mr. Ullian mitgeteilt, die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls bewege sich eher in der Größenordnung von 1 zu 105. Ich versuchte mir die Zahl vorzustellen, »1 zu 105, sagten Sie?« »Jawohl; 1 zu 100000.« »Somit könnte das Shuttle durchschnittlich 300 Jahre lang täglich starten, bevor es zu einem Zwischenfall käme - täglich ein Flug, und das 300 Jahre lang - das ist doch blanker - 169 -
Unsinn!« »Weiß ich«, sagte Mr. Ullian. »Ich setzte angesichts all der Behauptungen der NASA - dass sie bei bemannten Flügen wesentlich sorgfältiger zu Werke gehen, dass sich die typische Rakete zum Vergleich nicht eignet und so weiter meine Ziffern auf 1 zu 1000 herauf und brachte die Sprengladungen für alle Fälle an.« Doch dann war eine neue Schwierigkeit aufgetaucht: Die Jupitersonde Galileo sollte einen nuklearthermischen Raketenantrieb erhalten. Verunglückte das Space Shuttle mit Galileo an Bord, stand die radioaktive Verseuchung eines ausgedehnten Gebiets zu befürchten. Somit ging die Debatte weiter: Die NASA blieb bei 1 zu 100000, und Mr. Ullian beharrte auf günstigstenfalls 1 zu 1000. Mr. Ullian erzählte uns auch, auf welche Schwierigkeiten er bei dem Versuch, eine Unterredung mit dem zuständigen Mann, Mr. Kingsbury, herbeizuführen, gestoßen war: Er bekam nur Untergebene zu sprechen, konnte aber nie zu Kingsbury vordringen und ihn fragen, wie die NASA zu ihrer Zahl 1 zu 100000 gekommen war. Ich kann mich an die Einzelheiten der Geschichte nicht mehr genau erinnern, aber ich gewann den Eindruck, dass Mr. Ullian bei allem mit Sinn und Verstand vorgegangen war. Um herauszufinden, was im einzelnen passiert war, kontrollierte unsere Gruppe die Tests, mit denen die NASA die Eigenschaften der Dichtungen ermittelt hatte - wie viel Druck die Dichtmasse aushielt und so weiter. General Kutyna war gegen vorschnelle Schlüsse eingenommen, und so gingen wir die Daten immer wieder durch, prüften das gesamte Beweismaterial und erkannten, wie gut alles zusammenpasste. Die Gruppe erörterte die Vorgänge während der letzten paar Flugsekunden mit größter Ausführlichkeit und Genauigkeit, aber ich schenkte alldem keine sonderliche Beachtung. Das Ganze kam mir vor, als wäre wegen eines Schienenbruchs ein Zug entgleist, und wir untersuchten nun, in welcher Abfolge die Wagen zerschellt waren und warum sich einer überschlagen hatte. Mir erschien das nebensächlich - der Zug war entgleist, aus und vorbei. Die Sache begann mich zu - 170 -
langweilen. So stellte ich mir zum Zeitvertreib die Frage: Angenommen, irgend etwas anderes hätte versagt - zum Beispiel die Haupttriebwerke -, und wir würden die gleiche eingehende Untersuchung durchführen: Würden wir dann auch den gleichen Abbau der Sicherheitskriterien und den gleichen Mangel an Kommunikation feststellen? Ich beschloss, auf meine gewohnte Art vorzugehen - die Techniker zu befragen, wie die Triebwerke funktionierten, welche Gefahren bestanden, welche Schwierigkeiten sie gehabt hatten und so weiter -, um dann, mit Informationen gerüstet, so dass ich wusste, wovon ich redete, jedem entgegenzutreten, der behauptete, die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls läge bei 1 zu 100000. Ich wollte mit ein paar Ingenieuren über die Triebwerke sprechen. »In Ordnung«, sagt der zuständige Mann auf meine Bitte, »ich werde das für Sie in die Wege leiten. Passt es Ihnen morgen früh um neun?« Diesmal erschienen drei Ingenieure, ihr Vorgesetzter, Mr. Lovingood, und ein paar Assistenten - insgesamt etwa acht oder neun Leute. Alle hatten große dicke Notizbücher und eine Menge sauber geordnete Papiere dabei. Auf der ersten Seite stand: MATERIALREPORT, DEN KOMMISSIONSMITGLIED RICHARD P. FEYNMAN AM SOUNDSOVIELTEN MÄRZ 1986 ENTGEGENNAHM. »Du meine Güte!« sagte ich. »Sie müssen ja die ganze Nacht durchgearbeitet haben!« »Halb so wild; wir suchten bloß die üblichen Unterlagen zusammen, die wir immer benutzen.« »Ich wollte mich«, fuhr ich fort, »nur mit ein paar Ingenieuren unterhalten. Sie haben so viele Probleme zu lösen, dass ich nicht erwarten kann, dass alle hier bleiben und mir Auskunft geben.« Doch diesmal blieben sie alle. Mr. Lovingood erhob sich und erklärte mir alles in der üblichen NASA-Manier, mit Tabellen und Diagrammen, die der Information in meinem dicken Buch entsprachen - alles mit - 171 -
fetten schwarzen Punkten, versteht sich. Ich will Sie hier nicht mit all den Einzelheiten langweilen, aber ich wollte den Motor von A bis Z begreifen und stellte meine üblichen, töricht klingenden Fragen. Nach einiger Zeit bemerkt Mr. Lovingood: »Jetzt sitzen wir zwei Stunden drüber, Dr. Feynman, und haben erst zwanzig Seiten geschafft - von 123!« Mir lag schon die Antwort auf der Zunge: »Es wird nicht in diesem Schneckentempo weitergehen. Anfangs dauert's bei mir immer ein bisschen, bis ich kapiere. Zum Schluss hin wird's wesentlich schneller gehen.« Doch da kam mir eine andere Idee. »Um die Geschichte zu beschleunigen«, erklärte ich, »will ich Ihnen sagen, worauf ich hinauswill. Ich möchte herausfinden, ob zwischen den für die Haupttriebwerke zuständigen Technikern und Managern die gleichen Kommunikationsschwierigkeiten bestehen, wie wir das im Fall der Trägerraketen festgestellt haben.« »Glaube ich nicht«, erklärt Mr. Lovingood. »Ich bin jetzt zwar Manager, aber von Haus aus Ingenieur.« »Na schön«, sagte ich. »Ich gebe jetzt jedem ein Blatt Papier. Darauf schreiben Sie bitte die Antwort auf folgende Frage: Wie hoch ist Ihrer Ansicht nach die Wahrscheinlichkeit, dass ein Flug wegen Versagens der Haupttriebwerke abgebrochen werden muss?« Sie schreiben ihre Antworten nieder und händigen mir die Zettel wieder aus. Einer hatte geschrieben: »99-44/100% pur« (in Anlehnung an den Werbeslogan der Ivory-Seife), mit anderen Worten, rund 1 zu 200. Ein anderer hatte auf die übliche statistische Weise etwas Hochtechnisches und hochgradig Quantitatives zu Papier gebracht und alles und jedes sorgfältig definiert. Ich musste es erst übersetzen - es lief gleichfalls auf rund 1 zu 200 hinaus. Der dritte hatte schlicht und einfach »1 zu 300« geschrieben. Auf Mr. Lovingoods Papier jedoch stand: Kann keine Zahlenangaben machen. Zuverlässigkeit richtet sich nach: § §
bisheriger Erfahrung Qualitätskontrolle bei der Herstellung - 172 -
§ Urteilsvermögen der Techniker »Gut«, erklärte ich, »nun habe ich also vier Antworten, und einer hat gekniffen.« Und zu Mr. Lovingood gewandt: »Ich glaube, das waren Sie.« »Das stimmt nicht.« »Sie schreiben nicht, zu welchem Schluss Sie gekommen sind, sondern wie Sie dazu gekommen sind. Ich aber möchte wissen: Wie sah er, nachdem Sie dazu gekommen waren, aus?« Drauf er: »100 Prozent« - die Ingenieure sind perplex, ich bin perplex, starre ihn an, jedermann starrt ihn an - »äh, äh, minus Ypsilon!« »Schön, ja; wunderbar. Fragt sich nur noch: WIE HOCH IST YPSILON?« Und er sagt: »10~5«, dieselbe Zahl, die uns Mr. Ullian genannt hatte: 1 zu 100000. Ich zeigte Mr. Lovingood die anderen Antworten: »Es dürfte Sie interessieren, dass in diesem Punkt zwischen Ingenieuren und Management eben doch eine Meinungsverschiedenheit besteht - ein Faktor von über 300.« »Ich lasse Ihnen das Schriftstück mit der Schätzung gern zukommen, damit Sie sie verstehen«*, sagt er. »Vielen Dank«, entgegnete ich. »Nun zurück zum Triebwerk.« Wir machten also weiter und kamen, wie ich vermutet hatte, gegen Ende schneller voran. Ich musste mir genauen Einblick verschaffen, wie die Triebwerke funktionierten - welche Form die Turbinenschaufeln hatten, wie sie sich drehten und so weiter -, um zu verstehen, wo die Probleme lagen. Nach dem Mittagessen erläuterten mir die Ingenieure alle Schwachpunkte der Haupttriebwerke: Risse in den Turbinenschaufeln der Sauerstoffpumpe, Risse in den Turbinenschaufeln der Wasserstoff pumpe, Blasenbildung und Risse in den Gehäusen und so weiter. Sie ermittelten diese Defekte nach jedem Flug des Shuttle mit Periskopen * Später schickte mir Mr. Lovingood diesen Bericht. Er enthielt Feststellungen wie: »Die Erfolgswahrscheinlichkeit liegt bei diesen Missionen notwendigerweise.« - 173 -
und anderen Spezialinstrumenten. Bei der Aufzählung der Probleme erwähnten sie auch den sogenannten »subsynchronen Wirbel«, durch den sich die Welle bei hoher Geschwindigkeit leicht parabelförmig verbiegt. Die Auflager waren - durch all den Lärm und die Vibration - einer solchen Belastung ausgesetzt, dass es hoffnungslos erschienen war. Aber sie hatten eine Möglichkeit gefunden, damit fertig zu werden. Insgesamt standen sie vor rund einem Dutzend sehr ernster Probleme, von denen inzwischen ungefähr die Hälfte gelöst war. Die meisten Flugzeuge werden »von unten nach oben« entworfen, das heißt aus bereits gründlich getesteten Teilen zusammenmontiert. Beim Shuttle dagegen war man, um Zeit zu sparen, sehr nahe bei 1,0 - soll das heißen, dass sie nahe bei 1,0 liegt oder dass sie nahe bei 1,0 liegen sollten und: »In der Geschichte der Raumfahrtprogramme hat diese hohe Erfolgsquote zur unterschiedlichen Bewertung unbemannter und bemannter Flüge geführt; das heißt, zahlenmäßige Wahrscheinlichkeit steht gegen technisches Urteil.« Meiner Beobachtung nach besagt »technisches Urteil« lediglich, dass sie Zahlen erfinden! Die Wahrscheinlichkeit eines Turbinenschaufelschadens wurde als allgemeine Konstante angegeben, als verhielten sich sämtliche Schaufeln unter gleichen Bedingungen genau gleich. Das Papier quantifizierte alles bis herunter zu jeder Mutter und jedem Bolzen: »Die Möglichkeit eines Leitungsbruchs bei der Hochdruckwasserstoffpumpe liegt bei 10~7.« So kann man beim Schätzen nicht vorgehen; eine Wahrscheinlichkeit von 1 zu 10000000 lässt sich guterdings nicht mehr schätzen. Die Zahlen für die einzelnen Triebwerksteile waren eindeutig so gewählt, dass sich, wenn man alles zusammenrechnete, eine Wahrscheinlichkeit von 1 zu 100000 ergab. »Von oben nach unten« vorgegangen. Das aber bedeutete, dass zur Behebung jedes neu auftauchenden Problems eine Menge Konstruktionsänderungen erforderlich waren. Mr. Lovingood sagt jetzt nicht mehr viel. Statt dessen erläutern mir, je nach Fragestellung, verschiedene Ingenieure all diese Dinge, die ich ebenso gut von den Technikern bei Thiokol hätte erfahren können. Ich empfand große Hochachtung vor ihnen. Sie gingen sehr systematisch vor, - 174 -
und alles klappte großartig. Wir machten das Buch von Anfang bis Ende durch. Wir schafften es. Zum Schluss fragte ich: »Und was ist mit dieser Hochfrequenzschwingung, die bei manchen Triebwerken auftritt und bei anderen nicht?«* Eine rasche Bewegung, und ein kleiner Papierstoß kommt zum Vorschein. Alles ist fein säuberlich zusammengestellt und stimmt mit meinem Buch überein, alles bezieht sich auf die periodische Schwingung von 4000 Hertz! Vielleicht bin ich ein bisschen dämlich, denn ich mühte mich nach Kräften, niemandem etwas zur Last zu legen. Sie zeigten mir, was sie mir zeigen wollten, und ich spielte mit und tat so, als merkte ich ihren Trick nicht. Ich bin keiner von den Ermittlern, wie man sie aus dem Fernsehen kennt, die immer gleich aufspringen und die korrupte Organisation beschuldigen, Informationen zurückzuhalten. Dennoch war ich mir voll bewusst, dass sie das Problem mir gegenüber nicht erwähnt hatten, bis ich es selbst angesprochen hatte. Ich gab mich gewöhnlich ganz arglos - und war es meistens auch. Jedenfalls gerieten die Ingenieure nun in Fahrt und begannen, mir das Problem aufgeregt zu schildern. Und das mit größtem Vergnügen, dessen bin ich mir sicher: Techniker schätzen es, technische Probleme mit technisch geschulten Leuten zu besprechen, die vielleicht dazu Stellung nehmen oder einen nützlichen Tipp geben können. Und natürlich wollten sie das Problem um jeden Preis beheben. * Bill Graham hatte mir davon erzählt. Er hatte nach eigener Darstellung bei seinem Amtsantritt als NASA-Chef einige Berichte durchgesehen und war dabei auf die mit einem schwarzen Punkt markierte Stelle gestoßen: »Eine periodische Schwingung von 4000 Hertz liegt im Bereich unserer Datenbasis.« Da ihm dieser Satz seltsam vorkam, begann er nachzufragen und entdeckte dabei schließlich, daß es sich um eine ziemlich ernste Angelegenheit handelte: Manche Triebwerke vibrierten so stark, daß sie nicht einsatzfähig waren. Er erwähnte den Vorfall als Beispiel dafür, wie schwierig es ist, Informationen zu erhalten, wenn man einer Sache nicht selber auf den Grund geht. - 175 -
Sie gebrauchten eine komplizierte Bezeichnung dafür - ein »druckinduziertes oszillatorisches Wirbel-Irgendwas« oder so ähnlich. »Oh«, sagte ich, »Sie meinen einen Pfeifton!« »Ja. Der Vorgang zeigt die Merkmale eines Pfeiftons.« Er entstand ihrer Ansicht nach möglicherweise an einer Stelle, an der das mit hoher Geschwindigkeit durch eine Leitung strömende Gas sich in drei kleinere Kanäle aufteilte - an der sich also zwei Abzweigungen befanden. Und sie erklärten mir, wie weit sie mit der Lösung des Problems gekommen waren. Ich verließ die Besprechung mit dem bestimmten Gefühl, dass hier das gleiche Spiel gespielt wurde wie bei den Dichtungen: dass das Management die Sicherheitskriterien zusehends herunterschraubte und mehr und mehr bei der Konstruktion nicht vorgesehene Mängel in Kauf nahm, während die Ingenieure von unten »HILFE!« und »HÖCHSTE ALARMSTUFE!« schrieen. Am nächsten Abend flog ich nach Hause und nahm mein Abendessen im Flugzeug ein. Nachdem ich mein Brötchen bestrichen hatte, bog ich den dünnen Karton, auf dem der Klacks Butter serviert wird, U-förmig, so dass mir zwei Kanten entgegenschauten. Dann hielt ich ihn hoch und begann draufzublasen und erzielte binnen kurzem ein Pfeifgeräusch. Zurück in Kalifornien, beschaffte ich mir weitere Informationen über das Shuttle-Triebwerk und die Wahrscheinlichkeit seines Versagens. Ich ging zu Rocketdyne und unterhielt mich mit Ingenieuren, die die Triebwerke bauten. Außerdem sprach ich mit Fachleuten, die Beraterfunktionen ausübten. Einer, Mr. Covert, saß in der Kommission. Ein weiterer, ein Professor vom Caltech, war, wie ich herausfand, gleichfalls als Berater für Rocketdyne tätig gewesen. Er war sehr freundlich, tischte mir viele Informationen auf, erläuterte alle Schwachpunkte der Triebwerke und wie hoch seiner Ansicht nach die Wahrscheinlichkeit ihres Versagens war. Dann ging ich zum JPL und traf mich dort mit einem Burschen, der gerade für die NASA einen Bericht über die Methoden, mit denen die FAA* und das Militär ihre * Anmerkung für ausländische Leser: Federal Aviation Administration - US-Luftfahrtbehörde . - 176 -
Gasturbinen- und Raketenmotoren prüfen, verfasst hatte. Wir beschäftigten uns den ganzen Tag über mit den Methoden, mit denen sich bei derartigen Maschinen die Wahrscheinlichkeit einer Panne ermitteln lässt, und ich lernte eine Menge neue Bezeichnungen, wie zum Beispiel »WeibullVerteilung« für ein bestimmtes Diagramm. Seiner Darstellung nach hatte die NASA für das Space Shuttle ursprünglich ganz ähnliche Sicherheitsvorschriften erlassen wie die FAA, sie dann aber, als Probleme aufgetreten waren, modifiziert. Es stellte sich heraus, dass das Marshall Space Center der NASA in Huntsville die Triebwerke entworfen, Rocketdyne sie gebaut, Lockheed die Betriebsanleitung verfasst und das Kennedy Space Center der NASA sie montiert hatte! Das mag ein geniales Organisationssystem sein, aber für mich war's ein kompletter Wirrwarr. Ich geriet völlig durcheinander, wusste nie, ob ich nun mit dem Mann vom Marshall Center, von Rocketdyne, Lockheed oder vom Kennedy Center sprach und verlor schließlich den Boden unter den Füßen. Überhaupt jettete ich während dieser Zeit - März und April - so viel zwischen Kalifornien, Alabama, Houston, Florida und Washington hin und her, dass ich oft nicht mehr sagen konnte, welchen Wochentag wir hatten oder wo ich gerade war. Nach all diesen Nachforschungen auf eigene Faust beschloss ich, für die anderen Kommissionsmitglieder einen kurzen Bericht über die Haupttriebwerke zu schreiben. Als ich jedoch meine Notizen über die Prüftabellen durchging, stellte ich ein ziemliches Durcheinander fest: Da war etwa von »Triebwerk Nr. 12« die Rede und wie lange »das Triebwerk« geflogen war. Das aber traf auf kein einziges Triebwerk zu: Alle mussten laufend repariert werden. Nach jedem Flug nahmen die Techniker eine genaue Prüfung vor und stellten fest, wie viele Rotorschaufeln angebrochen waren, wie viele Risse das Gehäuse aufwies und so weiter. Dann reparierten sie »das Triebwerk«, indem sie ein neues Gehäuse, einen neuen Rotor, neue Auflager montierten - sie wechselten immer eine ganze Menge Teile aus. So stellte ich etwa fest, dass in einem bestimmten Triebwerk Rotor Nr. 2009 bei dem und dem Flug 27 Minuten gelaufen und dass das Gehäuse Nr. 4091 bei den Flügen so und so und so und so 53 Minuten - 177 -
lang in Betrieb Kuddelmuddel.
gewesen
war.
Es
war
ein
einziges
Als ich meinen Bericht fertig hatte, wollte ich ihn überprüfen. Und so erklärte ich bei meinem nächsten Besuch im Marshall Space Center, ich hätte mit den Ingenieuren ein paar rein technische Probleme zu besprechen, um die Einzelheiten abzuklären - vom Management brauchte ich niemanden dazu. Zu meiner Überraschung erschienen tatsächlich nur die drei Ingenieure, mit denen ich mich auch das letzte Mal unterhalten hatte, und wir brachten alles in Ordnung. Als ich schon am Gehen war, sagte einer: »Die Frage, die Sie uns da letztes Mal stellten - mit den Zetteln, Sie erinnern sich? Die fanden wir hinterhältig. Das war nicht fair.« »Da haben Sie recht«, sagte ich, »sie war hinterhältig. Ich ahnte, was passieren würde.« Darauf der Bursche (er hatte seinerzeit die ausführlichste Auskunft gegeben): »Ich möchte meine Antwort zurücknehmen. Ich kann keine Zahlenangaben machen.« »Schon gut«, sagte ich. »Aber stimmen Sie zu, dass die Wahrscheinlichkeit einer Panne bei 1 zu 100000 liegt?« »Naja, äh, nein, tu ich nicht. Ich mag mich dazu einfach nicht äußern.« Woraufhin einer der anderen erklärt: »Ich sagte damals, dass sie 1 zu 300 beträgt und bleibe dabei, aber ich verrate Ihnen nicht, wie ich zu meiner Zahl gekommen bin.« »In Ordnung«, sagte ich. »Das brauchen Sie auch nicht.« Zündstoff im Anhang Ich war die ganze Zeit der Meinung, irgendwann würde sich die Kommission wieder zusammensetzen, damit wir die Ergebnisse unserer Ermittlungen austauschen konnten. Um diese Diskussion in Gang zu setzen, erschien es mir zweckmäßig, immer wieder einmal einen kleinen Bericht zu verfassen: Ich schrieb über meine Arbeit mit der Eis-Crew (und analysierte die Aufnahmen und die fehlerhaften Temperaturmessungen), über meine Unterhaltungen mit Mr. Lamberth und den Monteuren und sogar über den Zettel mit - 178 -
dem Vermerk »dabei bewenden lassen«. Diese kurzen Zwischenberichte schickte ich mit der Bitte, sie an die anderen Kommissionsmitglieder weiterzuleiten, allesamt an den Geschäftsführer AI Keel. Auch über mein jüngstes Abenteuer - die Aufdeckung der Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Managern und den für die Triebwerke zuständigen Technikern - schrieb ich zu Hause auf meinem kleinen IBM-PC einen kurzen Bericht. Da ich mich ziemlich erschöpft fühlte und nicht die erforderliche Konzentration aufbrachte, war er nicht so sorgfältig ausgefeilt wie meine übrigen Berichte. Da er aber nur zur Information der anderen Kommissionsmitglieder gedacht war, schickte ich ihn unbearbeitet an Dr. Keel. Ich heftete lediglich einen Zettel mit der Bemerkung dran: »Ich glaube, Beiliegendes könnte die Kommissionsmitglieder interessieren; es bleibt jedoch Ihnen überlassen, was Sie damit machen wollen - der Schluss ist etwas drastisch.« Er dankte mir und teilte mir mit, er habe meinen Bericht allen zugeschickt. Als nächstes flog ich nach Houston, um mich am Johnson Space Center über die Avionik (Luftfahrtelektronik) zu informieren. Dort untersuchte Sally Rides Gruppe Sicherheitsbelange im Zusammenhang mit den Erfahrungen der Astronauten. Sally stellte mich den Software-Technikern vor, und sie zeigten mir die Übungsanlagen für die Astronauten. Das Ganze ist wirklich recht eindrucksvoll. Die Astronauten üben mit verschiedenartigen Simulatoren von unterschiedlichem Perfektionsgrad. Einer entspricht genau dem wirklichen Orbiter: Man klettert hinauf und steigt ein. An den Fenstern erscheinen Computerbilder; schaltet der Pilot, wechselt die Szenerie vor den Fenstern. Dieser spezielle Simulator diente einem zweifachen Zweck: der Schulung der Astronauten und der Überprüfung der Computer. Im rückwärtigen Teil der Mannschaftskabine befanden sich Armaturenbretter mit zahllosen Kabeln, die unten durch die Ladebucht nach hinten verliefen, wo Instrumente Triebwerkssignale simulierten - Druckanzeigen, Treibstoff-Durchflussmengen und so fort. (Die Kabel waren - 179 -
zugänglich, damit sie die Techniker auf »Übersprechen« - den unerwünschten Übertritt von Signalenergie einer Leitung auf eine Nachbarleitung - überprüfen konnten.) Das Shuttle selbst wird im wesentlichen von Computern gesteuert. Beginnt nach der Zündung der Start, setzt eine ungeheure Beschleunigung ein. Niemand im Innern rührt einen Finger. Hat das Shuttle eine bestimmte Höhe erreicht, vermindern die Computer kurze Zeit den Schub und steigern anschließend die Triebwerksleistung wieder auf Volllast. Ungefähr eine Minute später lösen sich die beiden Feststoffraketen, wiederum einige Minuten später wird der Außentank abgekoppelt. Jede dieser Operationen wird von den Computern gesteuert. Das Shuttle gelangt automatisch in die Umlaufbahn - die Astronauten verharren derweil untätig in ihren Sitzen. Da die Speicherkapazität der Bordcomputer nicht ausreicht, um die Programme für den ganzen Flug aufzunehmen, speisen die Astronauten nach dem Eintritt des Shuttle in die Umlaufbahn die Bänder mit den Programmen der nächsten Flugphase ein - insgesamt sechs. Als letztes ist gegen Ende des Flugs das Landeprogramm an der Reihe. Das Shuttle hat vier Computer an Bord, die alle gleich programmiert sind und normalerweise übereinstimmen. Weicht ein Computer von den anderen ab, kann der Flug weitergehen; stimmen nur noch zwei überein, muss der Flug abgebrochen und unverzüglich die Landung eingeleitet werden. Um die Sicherheit weiter zu erhöhen, ist das Shuttle noch mit einem fünften, von den vier übrigen isolierten Computer ausgestattet, dessen Leitungen anders geführt sind und der lediglich das Start- und das Landeprogramm enthält. (Die beiden Programme passen mit Müh und Not in seinen Speicher.) Geht mit den anderen Computern etwas schief, kann dieser fünfte das Shuttle zur Erde zurücksteuern. (Bis jetzt musste er noch nie eingesetzt werden.) Der aufreibendste Vorgang ist die Landung. Sobald die Astronauten die vorgesehene Landestelle kennen, drücken sie einen von drei Knöpfen mit den Aufschriften Edwards, White Sands und Kennedy und geben damit dem Computer den - 180 -
gewünschten Landepunkt ein. Dann bremsen einige kleine Raketen das Tempo des Shuttle etwas herunter und steuern es im exakt richtigen Winkel in die Erdatmosphäre. Das ist der gefährlichste Abschnitt des Fluges, bei dem sich alle Hitzeschutzkacheln erwärmen. Während dieser Zeit können die Astronauten nichts sehen. Alles wechselt so schnell, dass der Abstieg automatisch erfolgen muss. In zirka 93 Kilometer Höhe verlangsamt das Shuttle sein Tempo unter Schallgeschwindigkeit und kann nun, falls erforderlich, manuell gesteuert werden. In 1220 Meter Höhe aber wird etwas nicht per Computer ausgeführt: Der Pilot fährt mittels Knopfdruck die Laufräder des Fahrwerks aus. Mir erschien das reichlich sonderbar - ein Unfug, der mit der Psyche der Piloten zusammenhängt: Sie sind in den Augen der Öffentlichkeit Helden; alle Welt bildet sich ein, dass sie das Shuttle steuern, während sie in Wirklichkeit nichts zu tun haben, bis sie durch besagten Knopfdruck das Fahrgestell ausfahren. Sie selbst können sich mit dem Gedanken nicht abfinden, dass sie faktisch zur Untätigkeit verdammt sind. Ich hielt es für sicherer, die Laufräder mittels Computer auszufahren; schließlich könnten die Astronauten ja aus irgendeinem Grund bewusstlos sein. Die Software-Ingenieure stimmten mir zu und fügten an, die Laufräder zum falschen Zeitpunkt auszufahren, sei sehr gefährlich. Das Boden-Kontrollzentrum, sagten mir die Ingenieure weiter, könne das Signal zum Ausfahren des Fahrwerks nach oben durchgeben, doch diese Unterstützung schien ihnen nicht unbedenklich: Was passierte, wenn der Pilot nicht voll bei Bewusstsein war und das Fahrwerk zu einem Zeitpunkt ausfahren wollte, von dem der zuständige Mann im Kontrollzentrum wusste, dass es der falsche war? Wesentlich sinnvoller war doch, alles über Computer zu steuern! Ursprünglich waren auch die Bremsen von den Piloten bedient worden, das hatte indes vielerlei Probleme mit sich gebracht: Bremste man anfangs zu stark, waren am Ende der Landebahn die Bremsbeläge abgenutzt - und das Shuttle rollte weiter! Deshalb erhielten die Software-Ingenieure den Auftrag, ein Computerprogramm zur Steuerung des - 181 -
Bremsmanövers auszuarbeiten. Anfangs sträubten sich die Astronauten gegen den Wandel, doch mittlerweile sind sie von der tadellos funktionierenden Bremsautomatik sehr angetan. Nun wird im Johnson Space Center zwar eine Menge guter Software geschrieben, aber die Computer des Shuttle sind so veraltet, dass sie inzwischen nicht mehr hergestellt werden. Sie arbeiten noch mit Magnetkernspeichern alten Typs - mit kleinen Ferritkernen, durch die Drähte laufen. In der Zwischenzeit hat die Hardware entscheidende Verbesserungen erfahren: Die heutigen Speicherchips sind sehr viel kleiner, haben eine erheblich größere Kapazität und sind wesentlich zuverlässiger. Fehlerkorrekturkodes halten den Speicher automatisch intakt, und außerdem kann man für die heutigen Computer separate Programmbausteine entwerfen, womit bei Änderungen der Nutzlast nicht mehr so große Teile des Programms umgeschrieben werden müssten. Da der Bau der Flugsimulatoren und die ganze übrige Hardware riesige Summen verschlungen haben, käme es sehr teuer, wieder ganz von vorn anzufangen und die bereits aufgebauten Millionen Kodezeilen zu erneuern. Ich gewann Einblick, wie die Software-Techniker die Avionik für das Space Shuttle entwickelten. Die eine Gruppe entwarf abschnittweise die Software. Anschließend wurden diese Teile zu großen Programmen zusammengesetzt und von einer unabhängigen Gruppe getestet. Waren nach Ansicht beider Gruppen sämtliche Fehler ausgemerzt, wurde ein kompletter Flug simuliert und das ShuttleSystem in allen Teilen getestet. Sie verfuhren dabei nach dem Grundsatz: Die Simulation ist nicht nur eine Übung zur Überprüfung der Programme, sondern ein wirklicher Flug - geht jetzt irgend etwas schief, nimmt man es so ernst, als befänden sich die Astronauten wirklich an Bord und in Gefahr. Das Ansehen der Beteiligten steht auf dem Spiel. In all den Jahren, seit sie das praktizieren, hatten sie bei der Flugsimulation nur sechsmal und bei den wirklichen Flügen nicht eine Panne erlebt. Man merkte den Computerleuten an, dass sie ihr Handwerk beherrschten: Sie wussten, dass die Elektronik für das Shuttle - 182 -
unerlässlich war, gleichzeitig aber potentielle Gefahren barg, und gingen daher mit größter Sorgfalt zu Werke. Sie schrieben Programme, die eine hochkomplizierte Maschine unter drastisch wechselnden Umweltbedingungen steuern Programme, die diese Veränderungen messen, flexibel darauf reagieren und hohe Anforderungen an Sicherheit und Genauigkeit erfüllen. So wie ich es sehe, standen sie ehedem bei der Sicherstellung der Qualität von selbstgesteuerten oder interaktiven Computersystemen in mancherlei Hinsicht in vorderster Reihe, doch heute trifft das in Anbetracht der veralteten Hardware nicht mehr zu. Da ich die Avionik weniger gründlich untersuchte als die Triebwerke, könnte man sie mir in einem etwas zu vorteilhaften Licht dargestellt haben, aber ich glaube nicht, dass dem so war. Die Ingenieure und Manager standen in engem Austausch miteinander und achteten alle sehr sorgfältig darauf, ihre Sicherheitskriterien einzuhalten. Ich fand System und Denkweise der Software-Techniker sehr gut und sagte ihnen das auch. Da brummte einer etwas von höheren Tieren in der NASA, die die Tests zwecks Geldersparnis beschneiden wollten: »Sie sagen dauernd, wir bestehen die Tests doch immer, wozu also so viele?« Bevor ich Houston wieder verließ, setzte ich meine heimlichen Ermittlungen über das Gerücht, die NASA habe das Shuttle auf Druck des Weißen Hauses hin gestartet, fort. Houston ist das Kommunikationszentrum, also ging ich zu den Telemetrietechnikern hinüber und befragte sie über ihr Schaltsystem. Ich ging genauso vor wie in Florida - und sie behandelten mich nicht minder freundlich -, diesmal aber fand ich heraus, dass sie das Shuttle nach dreiminütiger Voranmeldung mit dem Kongress, dem Weißen Haus oder wem immer verbinden können. Nicht binnen drei Monaten, drei Tagen oder drei Stunden, sondern binnen drei Minuten. Sie können es bewerkstelligen, wann immer sie wollen, nichts braucht im voraus festgelegt zu werden. Das Gerücht war also falsch. Ich habe mich einmal mit einem Reporter der New York Times darüber unterhalten und ihn gefragt: »Wie bringen Sie - 183 -
eigentlich heraus, ob Behauptungen wie diese stimmen?« Er entgegnete: »Unter anderem kam mir der Gedanke hinunterzufahren und mit den Leuten zu reden, die das Schaltsystem bedienen. Ich hab's auch versucht, konnte aber nichts erreichen.« In der ersten Aprilhälfte erhielt General Kutynas Gruppe die endgültigen Ergebnisse der Tests, die die NASA im Marshall Space Center durchgeführt hatte. Obwohl die NASA ihre eigenen Interpretationen beigelegt hatte, hielten wir es für zweckmäßig, alles noch einmal auf unsere Art zu erläutern (außer wenn ein Test nichts erbracht hatte). General Kutyna traf im Marshall Space Center systematische Vorkehrungen für die Abfassung unseres Gruppenberichts. Das ging ungefähr zwei Tage so, doch bevor wir wirklich etwas zustande brachten, teilte uns Mr. Rogers mit: »Kommen Sie zurück nach Washington. Sie sollten Ihren Bericht nicht dort unten verfassen.« Also kehrten wir nach Washington zurück, und General Kutyna stellte mir ein Büro im Pentagon zur Verfügung. Es war prima, aber ich hatte keine Sekretärin und kam mit der Arbeit nur langsam voran. Da Bill Graham sich stets hilfsbereit gezeigt hatte, rief ich ihn an, und er vermittelte mir das Büro eines Burschen - der gerade nicht in der Stadt war - samt Sekretärin. Sie war mir eine ganz große Hilfe: Sie schrieb so schnell, wie ich sprach, korrigierte anschließend meine Fehler und polierte den Text auf. Wir arbeiteten zwei oder drei Tage lang sehr intensiv und brachten große Partien des Berichts unter Dach und Fach. Es klappte ganz vorzüglich. Neil Armstrong, der gleichfalls unserer Gruppe angehörte, ist ein hervorragender Stilist. Er brauchte bloß einen Blick auf meinen Text zu werfen und entdeckte im Handumdrehen alle Schwachpunkte. Er hatte immer recht, was mich sehr beeindruckte. Jede Gruppe verfasste ein oder zwei Kapitel des Hauptreports. Die unsrige leistete einige Beiträge zu »Kapitel 2: Der Unfall«, während unsere Hauptarbeit »Kapitel 4: Die Unfallursache« war. Dieses Verfahren hatte jedoch den Nachteil, dass wir nie bei einem gemeinsamen Treffen die - 184 -
Ergebnisse der einzelnen Gruppen diskutierten und von unseren verschiedenen Blickwinkeln aus Stellung dazu nahmen. Statt dessen machten wir uns ans »Ausfeilen« oder, wie Mr. Hotz es später umschrieb, ans »Grabsteingravieren« -, das heißt, wir berichtigten die Interpunktion, glätteten die Sätze und so fort. Eine echte Diskussion über unsere Vorstellungen fand nie statt - sie erfolgte allenfalls beiläufig im Verlauf dieses Ausfeilens. So konnte etwa die Frage auftauchen: »Soll dieser Satz hier über die Triebwerke stehen bleiben oder abgeändert werden?« Ich versuchte dann gewöhnlich eine kleine Diskussion in Gang zu bringen: »Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen habe ich den Eindruck, dass die Triebwerke nicht so gut sind, wie hier behauptet wird ...« »Dann wollen wir die vorsichtigere Formulierung nehmen«, meinten sie und gingen zum nächsten Satz über. Das mag ja eine sehr geeignete Methode sein, um rasch einen Bericht auf die Beine zu stellen, wir hingegen brachten eine Zusammenkunft nach der anderen über dieser Feilerei zu. Dann und wann unterbrachen wir diese Tätigkeit, um die Typographie und die Farbe des Einbands zu besprechen. Und nach jeder Debatte wurde abgestimmt. Mir erschien es am rationellsten, wieder für die gleiche Farbe wie das letzte Mal zu votieren, aber ich wurde immer überstimmt! Schließlich wählten wir Rot (bei Erscheinen war der Einband blau). Einmal sprach ich mit Sally Ride über etwas, was in meinem Bericht über die Triebwerke stand, und gewann dabei den Eindruck, dass sie ihn nicht kannte. »Haben Sie meinen Bericht nicht gelesen?« fragte ich. »Nein. Ich habe keine Kopie bekommen.« Ich gehe also in Keels Büro hinunter und sage: »Sally erzählt mir eben, dass sie keine Kopie meines Berichts bekommen hat.« Keel schaut mich überrascht an und wendet sich an seine Sekretärin: »Machen Sie doch bitte eine Kopie von Dr. Feynmans Report für Dr. Ride.« Etwas später stelle ich fest, dass auch Mr. Acheson ihn nicht - 185 -
kennt. »Machen Sie eine Kopie und geben Sie sie Mr. Acheson.« Mir ging endlich ein Licht auf: »Wie mir scheint, Dr. Keel«, sagte ich, »hat niemand meinen Bericht erhalten.« Daraufhin wies er seine Sekretärin an: »Fertigen Sie bitte für alle Kommissionsmitglieder Kopien an und leiten Sie sie ihnen zu.« Ich sagte zu ihm: »Mir ist klar, welch enorme Arbeit Sie leisten und wie schwierig es ist, alles im Kopf zu behalten. Aber wenn ich mich recht entsinne, sagten Sie mir, Sie hätten meinen Bericht allen gezeigt.« »Ja«, entgegnet er, »gewiss, ich meinte der ganzen Belegschaft.« Später fand ich in der Unterhaltung mit Angehörigen der Belegschaft heraus, dass auch sie ihn nicht zu Gesicht bekommen hatten. Als die anderen Kommissionsmitglieder meinen Bericht endlich in Händen hatten, fanden ihn die meisten sehr gut und befürworteten seine Aufnahme in den Bericht der Kommission. Das ermutigte mich, ihn immer wieder einmal aufs Tapet zu bringen. »Wir sollten uns einmal zusammensetzen und besprechen, was damit geschehen soll«, erklärte ich beharrlich. »Kommende Woche reden wir darüber«, lautete die stereotype Antwort (wir waren vollauf mit Feilen und Abstimmen über die Farbe des Einbands beschäftigt). Allmählich wurde mir klar, dass mein Bericht in seiner ursprünglichen Form sicher erst noch gründlich ausgefeilt werden musste - aber die Zeit wurde knapp. Jemand machte den Vorschlag, ihn als Anhang zu veröffentlichen: In diesem Fall musste er nicht auf den übrigen Text abgestimmt werden, man konnte sich die Überarbeitung schenken. Allein einige Kommissionsmitglieder vertraten nachdrücklich die Auffassung, er müsse irgendwie in den Hauptbericht eingegliedert werden: »Die Anhänge kommen erst Monate später heraus. Kein Mensch liest Ihren Bericht, wenn er als Anhang erscheint«, erklärten sie. - 186 -
Ich blieb trotzdem beim Kompromiss, ihn als Anhang zu veröffentlichen. Schon erhob sich ein neues Problem: Da ich meinen Bericht zu Hause auf meinem Schreibautomaten geschrieben hatte, musste er mit einem Scanner vom IBM-Format auf das von der Kommission benutzte große Dokumentsystem umgesetzt werden. Es machte mir einige Mühe, den dafür zuständigen Mann aufzuspüren, und als ich ihn schließlich gefunden hatte, ging's nicht voran. Auf meine Frage, was denn los sei, behauptete der Mensch, er könne die Kopie, die ich ihm gegeben hatte, nicht mehr finden. Ich musste ihm also eine neue geben. Ein paar Tage später schloss ich meinen Bericht über die Avionik ab und wollte ihn mit dem Bericht über die Triebwerke verbinden. Ich ging also wieder zu dem Burschen hin und sagte: »Das hier soll in meinen anderen Bericht eingegliedert werden.« Als ich aus irgendeinem Grund eine Kopie meines neuen Berichts sehen wollte, reichte mir der Bursche die alte Fassung, in der der Abschnitt über die Avionik noch fehlte. »Und wo ist die neue Version, die mit der Avionik?« fragte ich. »Ich kann sie nicht mehr finden« - und so fort. Die Einzelheiten sind mir entfallen, aber mein Bericht war offenbar dauernd unauffindbar oder noch nicht fertig. Natürlich hätte es auch leicht aus Versehen passieren können, aber dafür wiederholte es sich zu oft. Es war ein regelrechter Kampf, meinen Bericht durchzuboxen. In den letzten Tagen, als der Hauptbericht schon druckfertig vorliegt, soll auf Dr. Keels Wunsch auch mein Bericht noch ausgefeilt werden, obwohl er nur als Anhang geplant ist. So brachte ich ihn zum regulären Redakteur vor Ort, einem tüchtigen Mann namens Hansen, der ihn einrichtete, ohne den Sinn zu verändern. Anschließend ging er nach wiederholter Durchsicht als »Fassung 23« wieder in die Maschine. (Nebenbei bemerkt, hatte alles 23 Fassungen. Bekanntlich haben die Computer, die doch angeblich unser Arbeitstempo erhöhen, das Tempo, in dem wir Berichte verfassen, nicht beschleunigt: Wo wir früher, die Mühsal des Tippens - 187 -
scheuend, nur drei Fassungen anzufertigen pflegten, fabrizieren wir inzwischen 23!) Tags darauf sah ich Keel über meinem Bericht sitzen: Er hatte ganze Abschnitte mit großen Kreisen umrandet und mit einem X durchkreuzt; damit waren alle möglichen Gedanken ausgeklammert. »Dieser Teil da«, erklärte er, »ist überflüssig, denn er besagt mehr oder minder das gleiche, was schon im Hauptbericht steht.« Ich versuchte ihm klarzumachen, dass sich die Logik wesentlich leichter erfassen lässt, wenn der Gedankengang vollständig wiedergegeben und nicht häppchenweise über den Hauptbericht verteilt ist. »Schließlich«, sagte ich, »ist's ja nur ein Anhang. Da kommt es auf ein paar Wiederholungen nicht an.« Auf meine Bitte hin fügte Dr. Keel da und dort etwas wieder ein, trotzdem fehlte immer noch so viel, dass mein Bericht nicht wiederzuerkennen war. Die zehnte Empfehlung In einer unserer letzten Sitzungen irgendwann im Mai stellten wir eine Liste mit erwägenswerten Empfehlungen zusammen. Einer aus der Runde sagte etwa: »Vielleicht sollten wir unter anderem über die Einsetzung eines Sicherheitsausschusses diskutieren.« »In Ordnung, wird zu Protokoll genommen.« »Endlich!« denke ich. »Endlich also eine Diskussion.« Wie sich jedoch herausstellt, setzt man diese provisorische Liste direkt in Empfehlungen um: dass man einen Sicherheitsausschuss einsetzen und dies und jenes andere mehr einführen soll. Diskutiert wurde lediglich darüber, welche Empfehlung an erster und welche an zweiter Stelle kommen sollte und so fort. Ich hätte mir über vieles eine eingehendere Diskussion gewünscht. So erhob sich im Zusammenhang mit dem Sicherheitsausschuss die Frage, ob ein derartiges Komitee nicht die ohnehin üppig wuchernde Bürokratie nur weiter aufblähen würde. Schließlich hatte es schon früher Sicherheitsausschüsse gegeben. Beispielsweise hatte nach dem Apollo-Unfall von - 188 -
1967 die damalige Untersuchungskommission ein Sonderkomitee ins Leben gerufen, das seine Tätigkeit eine Zeitlang fortgesetzt hatte, aber nicht von Dauer gewesen war. Wir diskutierten nicht darüber, warum die früheren Sicherheitsausschüsse keine Rolle mehr spielten, sondern schlugen lediglich neue vor und tauften sie Independent Solid Rocket Motor Design Oversight Committee (Unabhängiger Aufsichtsausschuss für Feststoffraketen-Triebwerke), Shuttle Transportation System Safety Advisory Panel (Beratungsausschuss für die Sicherheit des ShuttleTransportsystems) und Office of Safety, Reliability, and Quality Assurance (Amt für Sicherheit, Betriebszuverlässigkeit und Qualitätssicherung). Wir beschlossen, wer die einzelnen Sicherheitsausschüsse leiten sollte, diskutierten aber nicht darüber, ob sich den von unserer Kommission geschaffenen Sicherheitsausschüssen bessere Aussichten boten als den bereits vorhandenen, ob wir diese zum Funktionieren bringen konnten und ob solche Einrichtungen überhaupt wünschenswert waren. Ich bin mir in vielem nicht so sicher wie alle Welt. Man muss über die Dinge ein klein wenig nachdenken, und wir leisteten nicht genügend gemeinsame Denkarbeit. Wo es um wichtige Belange geht, taugen schnelle Entscheidungen nicht viel und bei unserem Arbeitstempo konnten unzweckmäßige Empfehlungen nicht ausbleiben. Zu guter Letzt stellten wir unsere Liste der erwägenswerten Empfehlungen um, feilten sie ein bisschen aus und stimmten dann mit Ja oder Nein darüber ab. Es war ein sonderbares, mir nicht geläufiges Verfahren, und ich gewann den Eindruck, dass man die Dinge durchpeitschte und bis zu einem gewissen Grad über unsere Köpfe hinweg entschied. Jedenfalls einigten wir uns auf unserer letzten Sitzung auf neun Empfehlungen. Viele Kommissionsmitglieder fuhren anschließend nach Hause. Ich blieb in Washington, zumal ich ein paar Tage später nach New York wollte. Am nächsten Tag - ich stehe zufällig mit Neil Armstrong und einem weiteren Kommissionsmitglied in Mr. Rogers' Büro herum - sagt Rogers: »Ich meine, wir sollten eine zehnte Empfehlung anfügen. In unserem Bericht ist alles so negativ; - 189 -
wir sollten um der Ausgewogenheit willen zum Schluss etwas Positives sagen.« Er reicht mir einen Bogen, auf dem steht: Die Kommission empfiehlt nachdrücklich, der NASA auch weiterhin die Unterstützung der Administration und der Nation angedeihen zu lassen. Die Behörde zählt zu den nationalen Ressourcen und spielt für die Erforschung und Erschließung des Weltraums eine entscheidende Rolle. Darüber hinaus ist sie Sinnbild des Stolzes und der technischen Führungsrolle unserer Nation. Die Kommission beglückwünscht die NASA zu ihren bisherigen aufsehenerregenden Erfolgen und sieht eindrucksvollen künftigen Leistungen entgegen. Die im vorliegenden Bericht vorgestellten Ergebnisse und Empfehlungen wollen einen Beitrag zu den künftigen Erfolgen leisten, die die Nation mit Blick auf das bevorstehende 21. Jahrhundert von der NASA erwartet und fordert. Da die Kommission während ihrer viermonatigen Tätigkeit nie über eine derartige politische Frage beraten hatte, sah ich keinen Anlass, den Passus aufzunehmen. Ich will nicht behaupten, dass ich anderer Ansicht war, allerdings schien mir fragwürdig, ob er stimmte. Deshalb erklärte ich: »Meiner Ansicht nach ist diese zehnte Empfehlung nicht angebracht.« Ich bilde mir ein, ich hörte Armstrong sagen: »Wenn jemand dagegen ist, sollten wir sie nicht aufnehmen.« Aber Rogers ließ nicht locker. Wir debattierten noch ein wenig über das Für und Wider, dann musste ich zum Flughafen, um meine Maschine nach New York zu erreichen. Im Flugzeug dachte ich weiter über diese zehnte Empfehlung nach. Ich wollte meine Argumente sorgfältig schriftlich darlegen und verfasse in meinem New Yorker Hotel einen Brief an Rogers, den ich mit der Bemerkung abschloss: »Diese Empfehlung erinnert mich an die Flugbereitschaftsprüfungen der NASA: >Es gibt kritische Probleme, aber macht euch nichts draus - fliegt ruhig weiter!<« Es war Samstag, und mir lag daran, dass Mr. Rogers meinen Brief noch vor Montag las. Ich rief seine Sekretärin an - alle arbeiteten am Wochenende durch, um den Bericht rechtzeitig herauszubringen - und sagte: »Ich möchte Ihnen gern einen - 190 -
Brief diktieren - geht das?« »Aber sicher! Legen Sie auf, ich rufe Sie sofort zurück, dann kommt's nicht so teuer.« Sie ruft zurück, und ich diktiere ihr den Brief, den sie Rogers direkt aushändigt. Als ich am Montag wieder anrückte, eröffnete mir Mr. Rogers: »Ich habe Ihren Brief gelesen, Dr. Feynman, und bin ganz Ihrer Meinung. Aber Sie sind überstimmt.« »Überstimmt? Wie denn das? Es hat doch keine Sitzung stattgefunden!« Darauf sagt Keel, der gleichfalls anwesend ist: »Wir haben alle angerufen, und alle sind mit der Empfehlung einverstanden. Alle haben dafür gestimmt.« »Das ist nicht fair!« protestiere ich. »Hätte ich den anderen Kommissionsmitgliedern meine Argumente erläutern können, wäre ich sicher nicht überstimmt worden.« Da ich nicht wusste, was ich machen sollte, verkündete ich: »Ich möchte den Brief kopieren.« Als ich zurückkomme, erklärt Keel: »Uns ist eben eingefallen, dass wir mit Hotz nicht darüber gesprochen haben, weil er in einer Sitzung war. Wir haben vergessen, seine Entscheidung einzuholen.« Darauf konnte ich mir keinen Reim machen, aber hinterher fand ich heraus, dass sich Mr. Hotz im fraglichen Moment nicht weit vom Kopiergerät im Haus aufgehalten hatte. Später sprach ich mit David Acheson über die zehnte Empfehlung. »Sie besagt doch im Grunde gar nichts«, meinte er. »Leeres Gerede.« »Schön und gut, wenn sie nichts besagt, kann man ebenso gut drauf verzichten!« »Würde die Kommission für die Nationale Akademie der Wissenschaften arbeiten, wären Ihre Einwände angebracht. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass wir eine Präsidentenkommission sind. Wir müssen was für den Präsidenten bringen.« »Den Unterschied kapiere ich nicht«, sagte ich. »Warum sollte ich denn in einem Bericht für den Präsidenten nicht genauso - 191 -
sorgfältig und wissenschaftlich verfahren?« Naivität verfängt nicht immer. Diesmal kam mein Argument nicht an. Acheson blieb dabei, ich machte aus einer Mücke einen Elefanten, und ich lehnte die zehnte Empfehlung als unserem Bericht abträglich eisern ab. Das Ende vom Lied war, dass dieses ganze »leere Gerede«, dieses: »Die Kommission empfiehlt nachdrücklich, der NASA auch weiterhin die Unterstützung der Administration und der Nation angedeihen zu lassen ...« um der »Ausgewogenheit« willen in den Bericht aufgenommen wurde. Auf dem Heimflug ging mir durch den Kopf: Komisch, dass der einzige wirklich ausgewogene Teil des Reports mein eigener Bericht ist: Ich sage Negatives über die Triebwerke und Positives über die Avionik. Und dabei hatte ich noch kämpfen müssen, um ihn überhaupt reinzukriegen. Nicht einmal als lausigen Anhang wollten sie ihn durchlassen! Wieder dachte ich über diese zehnte Empfehlung nach. Alle anderen Empfehlungen beruhten auf dem Beweismaterial, das wir gefunden hatten, aber für diese da gab's keinerlei Anhaltspunkte. Sie war reine Schönfärberei, eindeutig ein Missgriff, der unserem Bericht Abbruch tun musste. Das beunruhigte mich sehr. Zu Hause unterhielt ich mich mit meiner Schwester Joan darüber. Ich erzählte ihr von der zehnten Empfehlung, und wie sie mich »überstimmt« hatten. »Hast du darüber eigentlich mit einem anderen Kommissionsmitglied telefoniert?« will sie wissen. »Mit Acheson habe ich gesprochen, aber der war dafür.« »Sonst noch mit jemand?« »Äh - nein.« Also rief ich drei weitere Kommissionsmitglieder nennen wir sie A, B und C - an. Ich rufe A an. »Was für eine zehnte Empfehlung?« fragt er. Ich rufe B an. »Zehnte Empfehlung? Wovon reden Sie?« Ich rufe C an. »Sie haben wohl vergessen, dass ich mit im Büro war, als Rogers davon sprach, Sie Trottel? Was soll denn daran so verkehrt sein?« Wie sich herausstellte, wussten nur diejenigen über die - 192 -
zehnte Empfehlung Bescheid, die sich in Rogers' Büro aufgehalten hatten, als er sie zur Sprache brachte. Ich telefonierte nicht weiter, ich war im Bild. Ich verspürte keinen Drang, sämtliche Safes zu knacken, um zu prüfen, ob die Kombination dieselbe war!* Dann erzählte ich Joan von meinem Bericht - wie sie ihn verwässert hatten, obwohl er nur als Anhang erscheinen sollte. »Wenn du dir das gefallen lässt«, meint sie, »möchte ich wissen, was du in der Kommission erreicht hast. Wozu war all deine Arbeit nütze?« »Aha!« Und ich schickte Mr. Rogers ein Telegramm: BITTE MEINEN NAMEN IM BERICHT STREICHEN, FALLS NICHT ZWEI VORAUSSETZUNGEN ERFÜLLT WERDEN: 1. ZEHNTE EMPFEHLUNG ENTFÄLLT UND 2. MEIN BERICHT ERSCHEINT UNVERÄNDERT NACH VERSION NR. 23. (Mir war inzwischen klar, dass ich alles sorgfältig definieren musste.) Um die Nummer der gewünschten Fassung zu erhalten, telefonierte ich mit Mr. Hotz, der für Dokumentation und Veröffentlichung des Berichtes zuständig war. Er schickte mir die Fassung Nr. 23. Damit hatte ich etwas Endgültiges in der Hand, das ich, falls es hart auf hart kam, auf eigene Faust publizieren konnte. Auf mein Telegramm hin versuchten Rogers und Keel mit mir zu verhandeln. Sie baten General Kutyna um seine Vermittlerdienste, da sie wussten, dass er mit mir befreundet war (wie eng, wussten sie allerdings nicht). »Hallo, Professor«, sagte Kutyna, »ich will Ihnen bloß sagen, dass Sie meiner Ansicht nach vollkommen recht haben. Aber da man mich beauftragt hat, es Ihnen nach Möglichkeit auszureden, will ich Ihnen die Argumente mitteilen.« »Nur keine Bange! Ich werde nicht umfallen. Nennen Sie mir ruhig die Argumente, und keine Bange!« Als erstes führten sie ins Treffen, dass sie, wenn ich die * Anspielung auf die Geschichte »Safeknacker trifft Safeknacker« in »Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!« - 193 -
zehnte Empfehlung nicht akzeptierte, meinen Bericht auch nicht akzeptieren würden, nicht einmal als Anhang. Das erschütterte mich nicht weiter, da ich meinen Bericht jederzeit selbst herausbringen konnte. Auch die anderen Argumente konnten mich nicht überzeugen. Sie taugten allesamt nicht viel, und da ich mir mein Vorgehen gründlich überlegt hatte, beharrte ich auf meinem Standpunkt. Daraufhin schlug Kutyna einen Kompromiss vor: Sie erklärten sich bereit, meinen Bericht so zu belassen, wie er war, mit Ausnahme eines Satzes gegen Ende zu. Ich schaute mir den Satz an und musste zugeben, dass ich das gleiche schon im vorauf gehenden Abschnitt gesagt hatte. Die Wiederholung klang polemisch; durch Streichung des Satzes wurde mein Bericht viel besser. Ich ging auf den Kompromiss ein und bot meinerseits einen Kompromiss für die zehnte Empfehlung an: »Wenn sie zum Schluss was Freundliches über die NASA sagen wollen, nennt es jedenfalls nicht Empfehlung, damit die Leute nicht meinen, dass es in die gleiche Rubrik wie die anderen Empfehlungen gehört. Sagt meinetwegen >Schlussgedanke<. Und statt des missverständlichen >empfiehlt nachdrücklich< würde ich einfach sagen: >spricht sich dafür aus< -, >die Kommission spricht sich dafür aus, der NASA auch weiterhin die Unterstützung der Administration und der Nation angedeihen zu lassen<. Alles übrige kann stehen bleiben.« Kurz darauf ruft mich Keel an: »Können wir sagen >spricht sich nachdrücklich dafür aus« »Nein. >Spricht sich dafür aus<. Punkt.« »In Ordnung«, sagte er. Und dabei blieb es. Begegnung mit der Presse Ich setzte meinen Namen auf den Kommissionsbericht, mein eigener Bericht sollte als Anhang erscheinen, und alles war in Butter. Anfang Juni versammelten wir uns noch einmal in Washington und überreichten dem Präsidenten im Rahmen einer Feier im Rosengarten des Weißen Hauses unseren Bericht. Das war an einem Donnerstag. Der Bericht sollte der Öffentlichkeit erst am darauffolgenden Montag übergeben - 194 -
werden, damit ihn der Präsident zuvor studieren konnte. In der Zwischenzeit setzten die Zeitungsreporter alle Hebel in Bewegung: Sie wussten, dass unser Bericht fertig vorlag und versuchten nun um die Wette herauszukriegen, was darin stand. Ich sah kommen, dass sie mich Tag und Nacht am Telefon bestürmen In würden und fürchtete, ihnen durch irgendeine Bemerkung zu einem technischen Punkt einen Hinweis zu geben. Reporter sind bekanntlich äußerst findig und hartnäckig. »Uns ist da«, pflegen sie zu sagen, »dies und jenes zu Ohren gekommen - trifft es zu?« Und im Handumdrehen steht das, was man ihnen vorenthalten zu haben meint, in der Zeitung! Ich war fest entschlossen, vor der Bekanntgabe am Montag kein Wort über den Bericht verlauten zu lassen. Ein Freund bearbeitete mich, in der »MacNeil/Lehrer Newshour« aufzutreten, und ich sagte für die Montagabendsendung zu. Außerdem wies ich meine Sekretärin an, für Dienstag eine Pressekonferenz am Caltech einzuberufen. »Wenn mich Reporter sprechen wollen«, sagte ich, »teilen Sie ihnen mit, ich hätte keinerlei Kommentar abzugeben, würde aber etwaige Fragen auf meiner Pressekonferenz am Dienstag gern beantworten.« Im Verlauf des Wochenendes (ich war noch in Washington) sickerte irgendwie durch, dass ich angedroht hatte, meine Unterschrift zurückzuziehen. Ein Blatt in Miami brachte als erstes die Meldung, und kurz darauf stand die Geschichte über die angeblichen Meinungsverschiedenheiten zwischen mir und Rogers in allen Zeitungen. Als die Washingtoner Berichterstatter hörten: »Mr. Feynman hat Ihnen nichts zu sagen; er wird all Ihre Fragen auf seiner Pressekonferenz am Dienstag beantworten«, klang das in ihren Ohren verdächtig als schwelte dieser Streit noch weiter und als wollte ich diese Pressekonferenz am Dienstag nur abhalten, um zu erklären, warum ich die Nennung meines Namens untersagen wollte. Ich selbst freilich bekam von alledem nichts mit. Ich kapselte mich so radikal von der Presse ab, dass ich nicht einmal in die Zeitung schaute. Am Sonntag Abend gab Mr. Rogers für die Kommission in einem Klub ein Abschiedsessen. Nach dem Dinner sagte ich - 195 -
zu General Kutyna: »Ich kann nicht länger bleiben, ich muss eher weg.«
Abbildung 18. Der Bericht der Kommission wurde dem Präsidenten im Rosengarten des Weißen Hauses überreicht. Von links nach rechts: General Kutyna, William Rogers, Eugene Covert, Präsident Reagan, Neu Armstrong und Richard Feynman. (© PETE SOUZA, THE WHITE HOUSE.) »Was haben Sie denn Wichtiges vor?« will er wissen. Ich ließ ihn zappeln. Er begleitet mich nach draußen, um sich über dieses »wichtige« etwas Aufschluss zu verschaffen - und erblickt einen knallroten Sportwagen mit zwei attraktiven Blondinen, die mich entführen wollen. Ich steige ein, wir sind drauf und dran davonzubrausen und den verdutzten General Kutyna sich selbst zu überlassen, da sagt die eine Blondine: »Oh! General Kutyna! Ich bin M. Soundso. Ich hab Sie vor ein paar Wochen am Telefon interviewt.« Da ging ihm natürlich ein Licht auf - es waren Reporterinnen von der »MacNeil/Lehrer Newshour«. Sie waren ganz reizend, und wir besprachen dies und jenes für die Sendung am Montag Abend. Irgendwann im Verlauf - 196 -
Abbildung 19. Beim Empfang. (© PETE SOUZA, THE WHITE HOUSE.) der Unterhaltung erzählte ich ihnen von meiner geplanten Pressekonferenz am Dienstag und meiner Absicht, meinen Bericht selber zu veröffentlichen - obwohl er drei Monate später als Anhang erscheinen sollte. Sie fanden das alles sehr interessant und wollten meinen Bericht sehen, und da wir zu diesem Zeitpunkt gut Freund waren, gab ich ihnen eine Kopie. Sie setzten mich vor dem Haus meiner Cousine ab, bei der ich wohnen wollte. Als ich Frances von der Sendung erzähle und erwähne, dass ich den Reporterinnen eine Kopie meines Berichts gegeben habe, schlägt sie entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. »Ich weiß schon, das war idiotisch von mir. Am besten rufe ich sie gleich an und sage ihnen, sie sollen keinen Gebrauch davon machen.« Aus Frances' Kopfschütteln konnte ich entnehmen, dass das so einfach nicht sein würde! Ich rufe die eine an: »Mir ist da vorhin leider ein Schnitzer passiert: Ich hätte Ihnen meinen Bericht nicht geben sollen, machen Sie also bitte keinen Gebrauch davon.« - 197 -
»Wir arbeiten in der Nachrichtenbranche, Dr. Feynman. Das Ziel der Nachrichtenbranche ist, Nachrichten beizubringen, und Ihr Report enthält Berichtenswertes. Ihn nicht zu verwenden, verstieße gegen unsere Auffassung und den Usus der Branche.« »Ist mir klar, aber ich bin in diesen Dingen unerfahren, ich hab einfach einen Bock geschossen. Es wäre den anderen Reportern gegenüber, die am Dienstag zu meiner Pressekonferenz kommen, nicht fair. Was würden denn Sie dazu sagen, wenn Sie zu einer Pressekonferenz kämen und der Kerl hätte seinen Bericht versehentlich jemand anderem gegeben? Das können Sie doch verstehen, oder?« »Das muss ich erst mit meiner Kollegin besprechen. Ich rufe Sie zurück.« Zwei Stunden später rufen sie zurück - sie hängen beide an der Strippe - und versuchen mir klarzumachen, warum sie meinen Bericht benutzen wollen: »Im Nachrichtengeschäft ist's üblich dass man von einem Dokument, das einem jemand aushändigt wie Sie uns das ihrige, auch Gebrauch machen kann.« »Ich bezweifle nicht, dass es im Nachrichtengeschäft Übereinkünfte gibt, aber ich verstehe nichts davon und möchte Sie deshalb bitten, keinen Gebrauch davon zu machen.« So ging das noch ein Weilchen hin und her. Dann folgte das nächste »Wir rufen Sie zurück«, und wieder verstrich geraume Zeit. Aus den langen Pausen konnte ich entnehmen, wie sehr ihnen das Problem zu schaffen machte. Ich war aus irgendeinem Grund in Topform. Da ich nichts mehr zu verlieren hatte und wusste, was ich wollte, fiel es mir nicht schwer, mich auf mein Ziel zu konzentrieren. Es machte mir nicht das geringste aus, mich als Vollidioten hinzustellen. Was ich im Umgang mit der Mitwelt gewöhnlich auch bin. Ich sah nicht den geringsten Grund, nachzugeben, sondern beharrte eisern auf meinem Standpunkt und rückte keinen Millimeter davon ab. Es ging bis in die späte Nacht hinein weiter: ein Uhr, zwei Uhr, wir kommen noch immer nicht klar. »Es ist sehr weltfremd, Dr. Feynman, jemandem eine Geschichte auszuhändigen und sie dann wieder zurückzufordern. So verhält man sich in - 198 -
Washington einfach nicht.« »Ich kenne mich, wie Sie sehen, in Washington nicht aus, aber so verhalte ich mich eben - wie ein Narr. Bedaure, aber es war schlicht ein Fehler, also tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie die Geschichte aus dem Spiel.« Da, irgendwann im Lauf dieses Tauziehens, sagt die eine: »Und wenn wir nun Ihren Report trotz allem verwenden treten Sie dann in der Sendung nicht auf?« »Das haben Sie gesagt, nicht ich.« »Wir rufen zurück.« Wieder eine längere Pause. Ich war mir noch keineswegs im klaren darüber, ob ich meine Teilnahme an der Sendung absagen sollte. Der Gedanke war mir zwar gekommen, ich fand es aber nicht anständig, diese Karte auszuspielen und glaubte außerdem noch immer, meinen Schnitzer wiedergutmachen zu können. Als nun die eine der beiden den Fehler beging, diese Möglichkeit zu erwähnen, erklärte ich eiskalt: »Das haben Sie gesagt, nicht ich«, als wollte ich damit andeuten: Ich will dir ja nicht drohen, aber du kannst dir's selber ausmalen, Schätzchen! Schließlich riefen sie zurück und erklärten, sie würden meinen Bericht nicht benutzen. In der Sendung griffen sie, wie mir schien, bei keiner einzigen Frage auf meinen Report zurück. Als Mr. Lehrer wissen wollte, ob es zwischen mir und Mr. Rogers zu Meinungsverschiedenheiten gekommen sei, kniff ich und erklärte, es habe keine Probleme gegeben. Nach der Sendung meinten die beiden Reporterinnen, auch ohne meinen Bericht sei alles blendend gelaufen, und wir schieden als gute Freunde voneinander. Noch in der gleichen Nacht flog ich nach Kalifornien zurück und hielt am Dienstag am Caltech meine Pressekonferenz ab. Es erschienen zahlreiche Reporter, und einige befragten mich nach meinem Bericht, aber die meisten interessierten sich für das Gerücht, ich hätte meinen Namen vom Kommissionsbericht zu streichen gedroht. Und so erzählte ich ihnen wieder und wieder, zwischen Mr. Rogers und mir habe es keinerlei Unstimmigkeiten gegeben. - 199 -
Rückblick Inzwischen habe ich Zeit gehabt, über diese Dinge etwas gründlicher nachzudenken, und noch immer finde ich Mr. Rogers sympathisch und glaube, dass zwischen uns alles stimmt. Er ist in meinen Augen ein anständiger Mann, dessen Fähigkeiten und Talente ich während meiner Tätigkeit in der Kommission schätzen lernte und vor dem ich große Hochachtung habe. Mr. Rogers hat eine sehr angenehme, gewandte Art, und so möchte ich die Möglichkeit - es ist mehr eine offene Frage als eine Vermutung - nicht ganz ausschließen, dass ich ihn sympathisch finde, weil er es verstanden hat, meine Sympathie zu wecken. An sich bevorzuge ich die Annahme, dass er ein durch und durch feiner Kerl ist, und dass er so ist, wie er wirkt. Ich war allerdings lange genug in Washington, um zu wissen, dass ich meine Hand nicht dafür ins Feuer legen kann. Was Mr. Rogers von mir hält, ist mir nicht ganz klar, dennoch habe ich den Eindruck, dass er mich, obwohl ich anfangs eine solche Crux für ihn war, sehr sympathisch findet. Mag sein, dass ich mich irre, aber wenn er für mich die gleichen Gefühle hegt wie ich für ihn, bin ich zufrieden. Für einen Juristen wie Mr. Rogers war die Leitung einer Kommission, die eine im wesentlichen technische Frage zu untersuchen hatte, eine schwierige Aufgabe. Mit Dr. Keels Hilfe wurde der technische Teil meines Erachtens gut bewältigt, doch sind mir im Zusammenhang mit den hohen Tieren der NASA verschiedene anrüchige Dinge aufgefallen. Sooft wir mit höhergestellten Managern sprachen, erklärten sie stereotyp, über die Probleme weiter unten nichts zu wissen. Wir erleben derzeit in den Iran-Contra-Anhörungen das gleiche, aber damals war ich mit dieser Art Situation noch nicht vertraut: Entweder wussten die Burschen an der Spitze nicht, was sie hätten wissen müssen, oder sie wussten es und belogen uns. Nachdem wir in Erfahrung gebracht hatten, dass Mr. Mulloy Thiokol unter Druck gesetzt hatte, dem Start zuzustimmen, bekamen wir von den nächsthöheren NASA-Chargen immer wieder zu hören, sie hätten nichts davon gewusst. Man - 200 -
möchte meinen, Mr. Mulloy hätte während dieser langwierigen Debatte einen Vorgesetzten unterrichtet und ihm etwa gesagt: »Die Frage ist, ob wir morgen früh starten sollen, die Techniker von Thiokol haben da einige Einwände, aber wir haben beschlossen, trotzdem zu starten - was meinen Sie dazu?« Statt dessen sagte Mr. Mulloy etwas des Sinnes: »Alle Fragen sind geklärt.« Es musste doch einen Grund dafür geben, warum die Burschen auf der unteren Ebene die Probleme nicht nach oben weiterleiteten. Ich legte mir eine Theorie zurecht und sprach mit einer ganzen Anzahl Leute darüber; viele hielten sie für falsch und erklärten mir auch, warum. Da mir ihre Erklärungen wieder entfallen sind, kann ich es mir nicht verkneifen, meine Ansicht über die Ursache der mangelnden Kommunikation innerhalb der NASA hier auszubreiten. Als die NASA den Flug zum Mond plante, herrschte große Begeisterung: Das war ein Ziel, dessen Verwirklichung jedem am Herzen lag. Sie wussten nicht, ob sie es schaffen konnten, aber sie arbeiteten alle gemeinsam darauf hin. Ich bin auf diese Idee verfallen, weil ich während meiner Tätigkeit in Los Alamos erlebt habe, mit welcher Spannung und welchem Nachdruck dort alle gemeinsam am Bau der Atombombe arbeiteten. Hat einer Schwierigkeiten - zum Beispiel mit dem Sprengzünder -, wissen alle, dass es sich um ein gewaltiges Problem handelt; sie überlegen, wie ihm beizukommen ist, machen Vorschläge und geraten in Aufregung, wenn sie hören, dass es gelöst ist, weil damit ihre Arbeit Sinn bekommt: Denn solange der Sprengzünder nicht funktioniert, funktioniert die Bombe nicht. Ich stellte mir vor, dass es bei der NASA in der Anfangszeit wohl ähnlich zugegangen war: Funktionierte der Raumanzug nicht, konnten sie nicht zum Mond fliegen. So interessiert sich jeder für die Probleme des anderen. Als dann das Mondprojekt gelaufen war, hatte die NASA all diese Leute auf dem Hals: eine Riesenorganisation in Houston und eine weitere in Huntsville, vom Kennedy Space Center in Florida ganz zu schweigen. Man kann die Leute doch nicht einfach feuern und auf die Straße setzen, wenn ein großes Projekt abgeschlossen ist. Was also soll man tun? - 201 -
Man muss den Kongress davon überzeugen, dass es da ein Projekt gibt, das nur die NASA verwirklichen kann. Damit das gelingt, ist es nötig - schien es zumindest in diesem Fall nötig - zu übertreiben: zu übertreiben, wie wirtschaftlich das Shuttle sein würde, wie oft es würde starten können, wie sicher es wäre und welch bedeutende wissenschaftliche Entdeckungen es ermöglichen würde. »Das Shuttle kann so und so viele Flüge durchführen und wird so und so viel kosten; wir sind zum Mond geflogen, also schaffen wir auch das!« Inzwischen, so möchte ich vermuten, sagen die Techniker am unteren Ende der Leiter: »Nein, nein! So viele Flüge sind ausgeschlossen. So viele Flüge würden das und das voraussetzen!« Und: »Nein, für das Geld geht's nicht, das würde ja bedeuten, dass wir so und so verfahren müssten!« Natürlich haben die Burschen, die vom Kongress die Zustimmung zu ihren Plänen erwirken wollen, für derlei Reden kein Ohr. Sie hören lieber erst gar nicht hin, dann können sie »ehrlicher« bleiben - sie geraten nicht gern in die Zwickmühle, den Kongress zu belügen! Damit ändert sich das Klima ziemlich rasch: Unerfreuliche Informationen von unten - »bei den Dichtungen gibt's ein Problem, das behoben werden sollte, bevor wir wieder starten« - werden von den hohen Tieren und dem mittleren Management abgeblockt, die sagen: »Erzählt mir nichts von Dichtungsproblemen, sonst müssen wir das Shuttle unten lassen und sie beheben«; oder: »Nein, nein, fliegt nur zu, alles andere würde einen schlechten Eindruck machen«; oder: »Lasst mich damit zufrieden, ich will's nicht hören.« Vielleicht sagen sie nicht expressis verbis: »Lasst mich damit zufrieden«, sondern drosseln nur die Kommunikation, was aufs gleiche hinausläuft. Es geht nicht darum, was niedergeschrieben wird oder wer wem was sagen sollte; es geht darum, ob jemand, wenn man ihm von einem Problem erzählt, über die Information erfreut ist und sagt: »Erzähl mir mehr darüber«, und: »Hast du schon das und das probiert?« oder ob dieser Jemand erklärt: »Sieh selber zu, wie du zu Rande kommst« - was eine völlig andere Atmosphäre schafft. Hat man zwei- oder dreimal versucht, sich mitzuteilen und ist jedes mal abgeblitzt, stellt man sich ziemlich bald auf den Standpunkt: »Hol's der Teufel!« - 202 -
Meine Theorie lautet demnach: Da sich die Übertreibung an der Spitze mit der Realität an der Basis nicht vertrug, stagnierte die Kommunikation mehr und mehr, bis sie schließlich ganz versiegte. So konnte es dahin kommen, dass die Höhergestellten nichts wussten. Die andere Möglichkeit ist, dass die Höhergestellten im Bild waren und nur vorgaben, sie wüssten nichts. Ich schlug die Telefonnummer eines früheren NASA-Direktors nach - sein Name ist mir im Augenblick entfallen -, der im Vorstand eines kalifornischen Unternehmens sitzt. Ich wollte ihn aufsuchen, wenn ich wieder einmal auf Urlaub zu Hause war und ihn fragen: »Alle behaupten, sie hätten nichts gewusst. Ist das denn glaubhaft? Was soll man anstellen, um die Wahrheit herauszubekommen?« Er hat auf meine Anrufe nicht reagiert. Vielleicht wollte er mit dem Kommissionsmitglied, das gegen Höhergestellte ermittelte, nicht reden. Vielleicht hatte er auch nur von der NASA genug und mochte sich da nicht hineinziehen lassen. Und weil ich so viel anderes zu tun hatte, ließ ich die Sache auf sich beruhen. Überhaupt klammerten wir eine Menge Fragen aus. So etwa diese mysteriöse Sache mit dem früheren NASA-Chef Mr. Beggs, der im Zusammenhang mit einer anhängigen Untersuchung (sie hatte nichts mit dem Shuttle zu tun) aus dem Amt entfernt worden und kurz vor dem Unfall durch Graham abgelöst worden war. Doch wie sich herausstellte, kam Beggs weiterhin täglich in sein altes Büro, empfing dort Leute, sprach aber nie mit Graham. Was trieb er eigentlich? Gab es irgendwelche noch immer von Beggs dirigierte Aktivitäten? Von Zeit zu Zeit versuchte ich, Mr. Rogers zur Untersuchung solch verdächtiger Vorgänge anzustiften. »Wir haben«, sagte ich, »Juristen im Ausschuss sitzen, wir haben Firmenmanager, wir haben sehr gescheite Leute mit breitgefächerten Erfahrungen. Wir haben Leute, die es verstehen, einem, der nichts sagen will, die Würmer aus der Nase zu ziehen. Ich für meinen Teil kann das nicht. Erzählt mir einer, dass die Wahrscheinlichkeit eines Störfalls bei 1 zu 105 liegt, weiß ich, dass er Unsinn daherredet - aber ich weiß - 203 -
nicht, wie es in einem bürokratischen System zugeht. Wir sollten ein paar von den hohen Tieren zusammentrommeln und ihnen Fragen stellen: Wir müssten die Führungsriege genauso befragen, wie wir es mit Vertretern des mittleren Managements wie Mr. Mulloy gemacht haben.« Und er pflegte zu antworten: »Ja, gewiss, das sollten wir tun.« Wie mir Mr. Rogers später erzählte, hatte er sie alle einzeln angeschrieben, aber sie antworteten darauf, sie hätten uns nichts zu sagen. Offen war auch die Frage, ob das Weiße Haus Druck ausgeübt hatte. Es war die Idee des Präsidenten gewesen, zum Zeichen des Interesses der Nation am Schulwesen einen Lehrer ins All zu schicken. Er hatte diesen Gedanken im vorangegangenen Jahr in seinem Bericht zur Lage der Nation geäußert. Und es wäre die Sache gewesen, im Jahr darauf, als der Bericht zur Lage der Nation erneut bevorstand, den Lehrer im All zu haben und ihn von dort aus mit Präsident und Kongress sprechen zu lassen. Die Indizienkette schien lückenlos. Ich sprach mit einer Reihe von Leuten darüber und hörte verschiedene Meinungen, kam aber letztlich zu dem Schluss, dass es seitens des Weißen Hauses keinen Druck gegeben hatte. Erstens einmal handelte es sich bei dem Mann, der den Sinneswandel bei Thiokol erzwang, Mr. Mulloy, um einen Vertreter des mittleren Managements. Niemand wusste im voraus, was bei einem Start alles dazwischenkommen konnte. Hätte man also Mr. Mulloy die Weisung erteilt: »Sorgen Sie dafür, dass das Shuttle morgen startet, der Präsident wünscht es so«, hätte man allen anderen auf Mr. Mulloys Ebene die gleiche Weisung erteilen müssen - und auf seiner Ebene gibt's eine Menge Leute. Bei so vielen Mitwissern wäre bestimmt etwas durchgesickert. Es ist somit sehr unwahrscheinlich, dass auf diese Art Druck ausgeübt wurde. Nach Abschluss der Kommissionstätigkeit wusste ich über die Vorgänge in Washington und bei der NASA wesentlich besser Bescheid. Die Beobachtung hatte mich gelehrt, dass Leute in einem großen System wie der NASA wissen, was sie zu tun haben - ohne dass man es ihnen sagt. - 204 -
Die NASA stand ohnedies unter starkem Druck, die ShuttleFlüge fortzusetzen. Sie versuchte ihren Startplan einzuhalten, um ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen - ganz egal, ob der Präsident an diesem Abend eine Ansprache halten wollte oder nicht. Deshalb glaube ich nicht, dass sich das Weiße Haus direkt einschaltete oder irgendwelche gezielten Schritte unternahm. Sie waren nicht nötig, deshalb kam es nicht dazu. Um es mit einem Vergleich zu erläutern: Jeder hierzulande kennt diese Aufkleber auf der Heckscheibe der Autos, diese kleinen gelben Rauten mit der Aufschrift BABY ON BOARD und ähnlichem. Man braucht mir aber nicht mitzuteilen, dass sich ein Kleinkind im Wagen befindet: Ich bemühe mich ohnedies, umsichtig zu fahren! Was erwartet man eigentlich von mir: dass ich mich beim Anblick eines Kleinkindes im Wagen meines Vordermanns anders verhalte? Dass ich plötzlich vorsichtiger fahre, um das Auto vor mir nicht zu rammen, weil sich ein Kleinkind darin befindet - wo ich doch sowieso stets bemüht bin, es nicht zu rammen! Ganz ähnlich wollte die NASA das Shuttle sowieso starten: Man braucht nicht erst zu sagen, da ist ein Kleinkind im Wagen oder da ist eine Lehrerin an Bord oder seht zu, dass ihr das Ding für den Präsidenten hochbekommt. Seit ich mich mit verschiedenen Leuten über meine Erfahrungen in der Kommission unterhalten habe, glaube ich einiges zu verstehen, was ich früher nicht ganz begriff. Darunter auch die Geschichte mit der Bemerkung, die Dr. Keel so auf die Palme brachte. Als ich letzthin mit einem Mann sprach, der lange in Washington gelebt hat, stellte ich ihm eine Frage, die er, wenn er sie in die falsche Kehle bekam, als grobe Beleidigung auffassen konnte. Ich will die Frage hier erläutern, weil mir durchaus möglich erscheint, dass ich zu Dr. Keel etwas Ähnliches sagte. In dem mir vertrauten Bereich, der Naturwissenschaft, führt nur ein Weg wirklich zum Erfolg, nämlich, die Fakten sehr sorgfältig und ohne Rücksicht darauf, wie man sie gerne hätte, zu beschreiben. Hat man eine Theorie, muss man ihre Vorzüge und Nachteile gleichermaßen klarzustellen versuchen. In der Wissenschaft lernt man, Lauterkeit und Ehrlichkeit zur Richtschnur zu machen. In anderen Bereichen, wie dem Geschäftsleben, geht es - 205 -
anders zu. Zum Beispiel legt es fast jede Werbung offensichtlich darauf an, den Kunden auf die eine oder andere Weise hinters Licht zu führen: Was er nicht lesen soll, ist klein gedruckt und schwer verständlich formuliert. Jeder sieht auf Anhieb, dass das Produkt nicht auf wissenschaftliche Weise mit allem Für und Wider vorgestellt wird. Somit mangelt es im Verkaufsgeschäft an Lauterkeit. Mein Vater war Kaufmann, hatte aber die Geisteshaltung und Lauterkeit eines Wissenschaftlers. Ich erinnere mich, ihn einmal gefragt zu haben: Wie kann ein integrer Mann Kaufmann sein?« Er antwortete: »Offengestanden, viele in unserem Gewerbe sind nicht ehrlich - sie halten das für die bessere Verkaufsmethode. Ich dagegen bemühe mich seit jeher, offen zu sein, und finde, es hat seine Vorteile. Ich möchte es wirklich nicht anders halten. Falls der Kunde auch nur ein bisschen denkt, geht ihm auf, dass er mit anderen Kaufleuten schon schlechte Erfahrungen gemacht hat, mit mir dagegen nicht. Folglich werden dir letzten Endes verschiedene Kunden die Treue halten und zufrieden sein.« Mein Vater war kein großer, erfolgreicher, berühmter Geschäftsmann; er war Verkaufsleiter eines mittelgroßen Uniformherstellers. Er hatte wohl Erfolg, aber keinen überwältigenden. Nimmt ein Kongressabgeordneter zu irgend etwas Stellung, frage ich mich immer, ob er seine wahre Meinung äußert oder ob er sie vertritt, um gewählt zu werden. Gewählt zu werden scheint für Politiker ein zentrales Anliegen. Deshalb frage ich mich oft, welche Beziehung zwischen Lauterkeit und politischer Tätigkeit besteht. Nun hatte mir Dr. Keel gleich zu Anfang erzählt, er habe seinen Doktor in Physik gemacht. Da ich jedem, der mit Physik zu tun hat, Lauterkeit zutraue - vielleicht bin ich darin naiv -, muss ich ihm wohl eine Frage gestellt haben, die mich oft beschäftigt: »Wie kann ein integrer Mann in Washington vorankommen?« Diese Frage lässt sich sehr leicht auch andersherum auslegen: Sie kommen in Washington voran, also können Sie kein integrer Mann sein! - 206 -
Und noch etwas durchschaue ich jetzt - nämlich, woher die Idee, dass Kälte die O-Ringe beeinträchtigt, wirklich stammte. Seinerzeit rief mich General Kutyna an und erklärte: »Als ich vorhin an meinem Vergaser herumbastelte, kam mir der Gedanke: Wie wirkt sich Kälte auf O-Ringe aus?« Nun, in Wirklichkeit hatte ihm ein NASA-Astronaut erzählt, irgendwo in den Unterlagen der NASA stünde, dass O-Ringe bei niedrigen Temperaturen ihre ganze Elastizität verlören und dass die NASA diese Information totschweige. Da aber General Kutyna Rücksicht auf die Karriere dieses Astronauten nehmen musste, dachte er während der Arbeit an seinem Vergaser in Wirklichkeit über die Frage nach: Wie kann ich diese Information an die Öffentlichkeit bringen, ohne meinen Astronautenfreund zu gefährden? Er verfiel auf die Lösung, den Professor darauf anzusetzen, und dieser Plan gelang ganz nach Wunsch.
Anhang F: Persönliche Beobachtungen über die Zuverlässigkeit des Space Shuttle Vorbemerkung Wie sich gezeigt hat, gehen die Ansichten über die Wahrscheinlichkeit eines zum Verlust des Shuttle und seiner Besatzung führenden Zwischenfalls weit auseinander*: Die Schätzungen reichen von zirka 1 zu 100 bis 1 zu 100000, wobei die höheren Schätzwerte von den aktiv am ShuttleProgramm beteiligten Technikern, die verblüffend niedrigen dagegen vom Management stammen. Wie erklärt sich diese unterschiedliche Beurteilung und was hat sie für Folgen? Da 1 zu 100000 besagen würde, dass man 300 Jahre lang täglich ein Shuttle starten könnte und dabei nur mit dem Verlust eines einzigen rechnen müsste, können wir zu Recht fragen: Woher nimmt das Management sein fabelhaftes Vertrauen in die Technik? Außerdem hat sich gezeigt, dass die bei den Flugbereitschaftsprüfungen angelegten Zulassungskriterien häufig immer lascher gehandhabt werden. Dass ein bestimmtes Risiko bei früheren Flügen zu keinen Störfällen geführt hat, wird oft als Beweis für seine Unbedenklichkeit betrachtet. Damit aber werden unverkennbare Schwachstellen immer wieder in Kauf genommen - manchmal ohne ausreichend ernsthafte Bemühung, sie zu beheben, manchmal, da sie ja eine Dauererscheinung darstellen, sogar ohne Startaufschub. Meine Informationen stammen aus verschiedenen Quellen: Da sind einmal die veröffentlichten Zulassungskriterien einschließlich der Geschichte ihrer Verwässerung durch Rückzieher und Abweichungen; daneben dokumentieren die für jeden Start vorliegenden Protokolle der * Da die als Anhang F zum Bericht der Untersuchungskommission veröffentlichte Fassung offenbar nicht redigiert wurde, habe ich den Text leicht überarbeitet. Ralph Leighton. - 208 -
Flugbereitschaftsprüfungen, mit welchen Argumenten man die Risiken des Fluges einging. Informationen zur Erfolgsgeschichte der Feststoffraketen lieferten die Aussagen und Berichte des Flugsicherheitsbeauftragten Louis J. Ullian, der unter anderem als Vorsitzender des Launch Abort Safety Panel (Ausschuss zur Verhütung von Fehlstarts, L ASP) in einer Studie die Risiken einer radioaktiven Verseuchung durch Unfälle von Raketen mit nuklearthermischem Antrieb (radioactive thermal generator, RTG) bei künftigen Weltraummissionen untersuchte. Zur gleichen Frage liegt auch eine Studie der NASA vor. Die Geschichte der Haupttriebwerke des Space Shuttle wurde in Besprechungen mit Technikern und Managern des Marshall Space Center und in informellen Gesprächen mit Ingenieuren von Rocketdyne geklärt. Ich habe auch einen ehemals als NASA-Berater tätigen, unabhängigen Maschinenbauingenieur vom Caltech im persönlichen Gespräch zum Thema Motoren befragt. Informationen über die Zuverlässigkeit der Avionik (Computer, Sensoren und Effektoren) habe ich im Rahmen eines Besuchs am Johnson Space Center eingeholt. Und schließlich stand mir noch der Report »A review of Certification Practices, Potentially Applicable to Manrated Reusable Rocket Engines« (Überblick über die auf bemannte, wiederverwendbare Raketen anwendbaren Zulassungsverfahren) zur Verfügung, den N. Moore und andere im Februar 1986 am Jet Propulsion Laboratory für das Hauptquartier der NASA, Office of Space Flight, zusammengestellt haben. Er befasst sich mit den Methoden, mit denen FAA und Militär ihre Gasturbinenmotoren und Raketentriebwerke zertifizieren. Diese Autoren wurden von mir außerdem persönlich befragt. Feststoffraketen (Solid Rocket Boosters, SRB) Gestützt auf die Erfahrungen aller vorangegangenen Raketenflüge hat der Flugsicherheitsbeauftragte Schätzungen über die Zuverlässigkeit der Feststoffraketen (SRB) angestellt. Von insgesamt knapp 2900 Flügen schlugen 121 (d. h. jeder 25.) fehl. Da in dieser Zahl jedoch auch die »Kinderkrankheiten« enthalten sind - Konstruktionsfehler, die bei den ersten Flügen entdeckt und anschließend behoben werden -, dürfte das Verhältnis bei technisch ausgereiften - 209 -
Raketen wohl eher im Bereich von 1 zu 50 liegen. Durch besondere Sorgfalt bei Auswahl und Kontrolle der Bauteile lässt sich diese Zahl unter Umständen auf l zu 100 reduzieren, doch ist 1 zu 1000 beim heutigen Stand der Technik wohl kaum zu erreichen. (Da sich am Space Shuttle zwei Trägerraketen befinden, müssen diese Zahlen bei der Ermittlung der Misserfolgsraten infolge eines Defektes der SRB verdoppelt werden.) Nach Darstellung von NASA-Beamten liegt diese Zahl wesentlich niedriger. Sie weisen darauf hin, dass »bei einem bemannten Raumfahrzeug wie dem Shuttle die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Missionsverlaufs notwendigerweise sehr nahe bei 1,0 liegt«. Der Sinn dieses Satzes ist nicht ganz klar. Soll er besagen, dass der Erfolg nahe 1 liegt oder dass er nahe 1 liegen sollte! »In der Geschichte der Raumfahrtprogramme«, so heißt es weiter, »hat diese hohe Erfolgsquote zur unterschiedlichen Bewertung unbemannter und bemannter Flüge geführt; das heißt, zahlenmäßige Wahrscheinlichkeit steht gegen technisches Urteil.«* Tatsächlich wäre zur Bestimmung einer so geringen Misserfolgsrate wie 1 zu 100000 eine Unzahl an Tests erforderlich: Man erhielte eine Abfolge geglückter Flüge, aber keine präzise Zahl - man könnte lediglich vermuten, dass die Wahrscheinlichkeit eines Misserfolgs unter der Zahl der bis dahin angestellten Flüge läge. Ist aber die Wahrscheinlichkeit in Wahrheit nicht so gering, würden sich bei einer vernünftigen Zahl von Versuchsflügen Schwierigkeiten, Beinahe-Fehlschläge und vermutlich faktische Fehlschläge ergeben und mit Hilfe der üblichen statistischen Verfahren vernünftige Schätzungen aufstellen lassen. In der Tat hatte die NASA bei ihren vorangegangenen Versuchen gelegentlich genau diese Schwierigkeiten, Beinahe-Zwischenfälle und faktischen Zwischenfälle erlebt warnende Hinweise, dass die Wahrscheinlichkeit eines Zwischenfalls ganz so gering nicht war. Inkonsequenterweise verweist die NASA bei der Begründung * Die Zitate stammen aus »Space Shuttle Data for Planetary Mission RTG Safety Analysis«, S. 3-1 und 3-2, 15. Februar 1985, NASA, JSC. - 210 -
ihrer Entscheidung, die Zuverlässigkeit nicht (wie der Flugsicherheitsbeauftragte dies tat) anhand der historischen Erfahrung zu ermitteln, auf die Geschichte: »In der Geschichte der Raumfahrtprogramme hat diese hohe Erfolgsquote ...« Und schließlich erhebt sich die Frage, warum sich, wenn wir die übliche zahlenmäßig errechnete Wahrscheinlichkeit durch das Urteil der Techniker ersetzen, eine so gewaltige Diskrepanz zwischen den Schätzungen des Managements und dem Urteil der Ingenieure ergibt. Offensichtlich übertreibt das Management der NASA - sei es aus internen Gründen, sei es im Hinblick auf die Öffentlichkeit - die Zuverlässigkeit seines Produktes bis zur Phantasterei. Die Geschichte der Zulassungs- und Flugbereitschaftsprüfungen findet sich im Kommissionsbericht an anderer Stelle und soll hier nicht noch einmal aufgerollt werden; doch an der Tatsache, dass Dichtungen, die bei früheren Flügen Verschleißerscheinungen und blowby gezeigt hatten, akzeptiert wurden, lässt sich nicht rütteln. Der Challenger-Flug liefert in dieser Hinsicht ein hervorragendes Beispiel: Wie aus mehreren Hinweisen auf frühere Flüge hervorgeht, wurden Genehmigung und Erfolg dieser Flüge als Sicherheitsbeweis gewertet. Doch Ringverschleiß und blowby sind in der Konstruktion nicht vorgesehen - sie sind Alarmzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. Die Apparatur funktioniert nicht erwartungsgemäß; es besteht somit die Gefahr, dass bei ihrem Einsatz noch größere Abweichungen dieser unerwarteten, nicht völlig durchschauten Art auftreten. Die Tatsache, dass diese Gefahr bisher zu keiner Katastrophe geführt hat, liefert, solange man sie nicht völlig durchschaut, keine Gewähr dafür, dass sie es auch beim nächsten Mal nicht tun wird. Trifft beim Russischen Roulett der erste Schuss nicht, lassen sich daraus keine beruhigenden Schlüsse für den zweiten ziehen. Ursache und Folgen des Ringverschleißes und des blowby blieben ungeklärt, zumal sie nicht gleichermaßen bei allen Flügen und in allen Verbindungen beobachtet wurden: Manchmal traten sie mehr, manchmal weniger in Erscheinung. Warum sollten sie nicht eines Tages unter irgendwelchen Bedingungen noch massiver auftreten und zur Katastrophe führen? Trotz dieser von Fall zu Fall beobachteten Abweichungen tat - 211 -
man auf offizieller Seite so, als durchschaute man diese Vorgänge, und spielte sich gegenseitig logische Scheinargumente zu - wobei man sich gern auf den »Erfolg« vorangegangener Flüge berief. Als es beispielsweise um die Entscheidung ging, ob bei Flug 51-L in Anbetracht des Ringverschleißes bei Flug 51-C die erforderliche Sicherheit gewährleistet sei, wies man darauf hin, der Verschleiß habe sich nur über ein Drittel des Radius erstreckt. Man hatte nämlich experimentell festgestellt, dass der O-Ring erst dann versagte, wenn man einen Einschnitt von der Länge des ganzen Radius vornahm. Statt ernstlich mit der Möglichkeit zu rechnen, dass Schwankungen der nur mangelhaft durchschauten Bedingungen diesmal durchaus einen tieferreichenden Verschleiß herbeiführen konnten, sprach man einfach von »einem Sicherheitsfaktor drei«. Dieser Gebrauch des technischen Begriffs »Sicherheitsfaktor« ist befremdlich. Soll eine Brücke einer bestimmten Belastung standhalten, ohne dass sich ihre Träger ständig verbiegen, Risse bekommen oder brechen, geht man beim Entwurf und der Auswahl der Baustoffe unter Umständen von der dreifachen Belastung aus. Dieser »Sicherheitsfaktor« trägt möglichen Überbelastungen, unvorhergesehenen Sonderbelastungen, unerwarteten Materialmängeln und so weiter Rechnung. Tritt aber an der neugebauten Brücke bei vorgesehener Belastung ein Trägerriss auf, so liegt ein Konstruktionsfehler vor. Von einem Sicherheitsfaktor kann selbst dann nicht die Rede sein, wenn die Brücke nicht einstürzt, weil sich der Riss nur durch ein Drittel des Trägers zieht. Der O-Ringe-Verschleiß der Feststoffraketen war nicht vorgesehen; er deutete darauf hin, dass etwas nicht stimmte. Er war keine Erscheinung, die auf Sicherheit schließen ließ. Ohne umfassendes Verständnis der Zusammenhänge konnte man in keiner Weise darauf bauen, dass die beim nächsten Flug herrschenden Bedingungen nicht einen dreimal so starken Verschleiß bewirken würden. Doch die Verantwortlichen bildeten sich trotz der von Fall zu Fall beobachteten Schwankungen ein, dieses Verständnis zu besitzen, und gaben sich dementsprechend zuversichtlich. Sie berechneten den Verschleiß anhand eines mathematischen Modells, das nicht auf physikalischer Einsicht, - 212 -
sondern auf einer empirisch ermittelten Kurve beruhte. Man ging dabei von der Annahme aus, das Ringmaterial nehme durch ausströmende Verbrennungsgase Schaden und bestimmte die Hitze am Staupunkt (soweit stützte man sich auf vernünftige thermody-namische Gesetze). Doch bei der Berechnung, wie viel Gummi wegschmorte, ging man von der Annahme aus, der Verschleiß variiere als 0,58. Potenz der Wärme, und setzte für 0,58 einen Annäherungswert ein. Jedenfalls brachte man es durch Angleichung einiger weiterer Zahlen dahin, dass das Modell mit dem beobachteten Verschleiß (bis zu einem Drittel des Ringradius) übereinstimmte. Diese Analyse ist allein schon aufgrund der vielen Unsicherheitsfaktoren im Modell alles andere als zuverlässig! Die Stärke des Gasstromes beispielsweise ließ sich nicht vorhersagen; sie hing von den Hohlräumen ab, die sich in der Dichtmasse bildeten. Wie am blowby ersichtlich, konnte der Ring auch dann versagen, wenn er nur teilweise angegriffen war. Man wusste, dass die empirisch abgeleitete Formel ungesichert war, da die Kurve nicht direkt durch die Datenpunkte verlief, anhand deren sie festgelegt worden war. Allein schon aus dem Umstand, dass sich manche der zahlreichen Punkte ums Doppelte über oder unter der ermittelten Kurve befanden, hätte man vernünftigerweise folgern müssen, dass mit doppelt so starken Verschleißerscheinungen, wie vorhergesagt, zu rechnen war. Ähnliche Unsicherheiten bestanden bei den anderen Konstanten der Formel und so weiter und so fort. Verwendet man ein mathematisches Modell, muss man sorgfältig auf die in ihm enthaltenen Unsicherheitsfaktoren achten. Haupttriebwerke des Space Shuttle (Space Shuttle Main Engines, SSME) Während des Flugs 51-L funktionierten alle drei Haupttriebwerke einwandfrei und begannen in den letzten Momenten, als die Treibstoffzufuhr aussetzte, sogar den Betrieb einzustellen. Trotzdem erhebt sich die Frage, ob wir gesetzt den Fall, diese Maschinen hätten versagt und wir müssten ebenso gründliche Nachforschungen anstellen wie bei den Feststoffraketen - auf eine ähnliche Gleichgültigkeit gegenüber Störungen und einen ähnlichen Abbau der Sicherheitskriterien stoßen würden. Mit anderen Worten: - 213 -
Beschränkten sich die organisatorischen Mängel, die zum Unfall beitrugen, auf den Sektor der Feststoffraketen oder waren sie für die NASA allgemein kennzeichnend? Um das festzustellen, habe ich die Haupttriebwerke und die Avionik des Space Shuttle einer Prüfung unterzogen, beim Orbiter und dem Außentank dagegen keine derartige Untersuchung angestellt. Die Haupttriebwerke sind in ihrer Konstruktion wesentlich komplizierter als die Feststoffraketen und werden mit unvergleichlich größerem technischem Aufwand gebaut. Diese Technik scheint allgemein von hoher Qualität zu sein, wobei Fehler und Mängel der Triebwerksfunktion offenbar sehr aufmerksam analysiert werden. Gewöhnlich werden diese Motoren (für Militär- wie Zivilluftfahrzeuge) nach dem bottom-up-Prinzip aus einzelnen Bauelementen zusammengesetzt. Das heißt, zunächst werden Eigenschaften und Grenzen der vorgesehenen Bauteile (beispielsweise der Turbinenschaufeln) genau ermittelt und zu diesem Zweck Prüfungen in Testanlagen durchgeführt. Verfügt man dann über diese Kenntnisse, werden größere Bauelemente (wie die Auflager) konstruiert und gesondert getestet. Treten dabei Mängel und Konstruktionsfehler zutage, werden sie behoben und erneute Tests vorgenommen. Da man jeweils nur Einzelteile prüft, kommen Tests und Modifikationen nicht allzu teuer. So gewinnt man schließlich die erforderlichen Kenndaten und arbeitet sich zur endgültigen Konstruktion des gesamten Triebwerks hinauf. Es besteht nun gute Aussicht, dass die Maschine insgesamt funktioniert oder dass sich, da man über Versagensart, Grenzen der Werkstoffe und so weiter so genau Bescheid weiß, mögliche Defekte mühelos ausfindig machen und analysieren lassen. Und da die meisten gravierenden Probleme schon in den frühen, weniger kostspieligen Teststadien entdeckt und behoben worden sind, spricht vieles dafür, dass sich die zur Beseitigung der letzten Schwierigkeiten erforderlichen Änderungen ohne allzu große Umstände durchführen lassen. Beim Haupttriebwerk des Space Shuttle jedoch ging man anders - gewissermaßen von oben nach unten (top down) - vor. Es wurde mit einem vergleichsweise bescheidenen Maß an detaillierten - 214 -
Voruntersuchungen von Materialien und Bauteilen in einem Zug entworfen und gebaut. Dadurch aber ist es, wenn an Lagern, Turbinenschaufeln, Kühlmittelleitungen und so weiter Mängel auftreten, teurer und schwieriger, die Ursachen aufzudecken und Abhilfe zu schaffen. Beispielsweise hat man Risse in den Turbinenschaufeln der Hochdrucksauerstoffpumpe festgestellt. Wodurch werden sie verursacht - durch Materialfehler, den Einfluss der Sauerstoffatmosphäre auf die Materialeigenschaften, die Wärmespannung bei Inbetriebnahme und Abschalten, die Vibration und Beanspruchung beim Dauerbetrieb oder hauptsächlich durch die bei bestimmten Geschwindigkeiten auftretende Resonanz oder andere Ursachen? Wie lange kann das Triebwerk nach Auftreten des Risses laufen, bis es zum Bruch kommt, und inwieweit hängt das wieder vom Leistungspegel ab? Diese und ähnliche Fragen durch Tests am fertigen Triebwerk zu klären, kommt überaus teuer. Man gibt nicht gern ganze Triebwerke dran, um herauszufinden, wo und wodurch ein Defekt auftritt. Und doch ist die genaue Information darüber unerlässlich, um sich auf das einwandfreie Funktionieren des Triebwerks verlassen zu können. Ohne eingehende Kenntnisse ist keine Sicherheit zu erlangen. Ein weiterer Nachteil des Von-oben-nach-unten-Verfahrens besteht darin, dass sich bei Feststellung eines Konstruktionsfehlers eine einfache Veränderung wie eine neue Form des Turbinengehäuses unter Umständen nicht ohne Umbau des gesamten Triebwerks durchführen lässt. Das Haupttriebwerk des Space Shuttle ist ein sehr bemerkenswerter Motor. Es hat im Verhältnis zu seinem Gewicht eine größere Schubkraft als alle Motoren vor ihm und wurde im Grenzbereich - und manchmal auch jenseits der Grenzen - der verfügbaren technischen Erfahrung gebaut. Damit aber treten, wie nicht anders zu erwarten, vielerlei Schwierigkeiten und Mängel auf, die sich infolge des topdown-Konstruktionsverfahrens unseliger weise nur schwer aufspüren und beheben lassen. Das Konstruktionsziel einer 55 Missionen entsprechenden Lebensdauer (das heißt einer Laufzeit von 27 000 Sekunden, sei es in Form von jeweils 500 Sekunden dauernden Missionen oder auf dem Prüfstand) wurde nicht erreicht. In seiner derzeitigen Form erfordert das - 215 -
Triebwerk sehr häufige Wartungsarbeiten und den Austausch wichtiger Teile wie Turbopumpen, Lager, Blechgehäuse und so weiter. Nach jeweils drei bis vier Missionsäquivalenten musste die Hochdrucktreibstoffpumpe ausgewechselt werden (ein möglicherweise inzwischen behobenes Problem), nach fünf bis sechs die Hochdrucksauerstoffpumpe. Damit waren die ursprünglichen Leistungsdaten höchstens zu 10 Prozent erreicht - doch unser Hauptziel ist im Augenblick die Ermittlung der Zuverlässigkeit. Bei einer Gesamtlaufzeit von 250000 Sekunden haben die Haupttriebwerke rund 10mal ernstlich versagt. Die Techniker verfolgen diese Störfälle mit größter Aufmerksamkeit und suchen ihre Ursachen durch Tests auf experimentell für den betreffenden Defekt entworfenen Prüfständen, sorgfältige Untersuchung des Triebwerks auf aufschlussreiche Hinweise (wie Risse) und ein beträchtliches Maß an Forschung und Analyse so rasch wie möglich zu beheben. Auf diese Weise konnten offenbar viele Probleme trotz der mit der top-downKonstruktionsmethode verbundenen Schwierigkeiten durch angestrengte Arbeit behoben werden. Hier einige dieser Probleme (und ihr gegenwärtiger Stand): Risse in den Turbinenschaufeln der Hochdrucktreibstoffpumpen (HPFTP). (Möglicherweise inzwischen gelöst.) Risse in den Turbinenschaufeln der Hochdrucksauerstoffpumpen (HPOTP). (Ungelöst.) Zünder(ASI)-Leitungsbruch. (Vermutlich gelöst.) Defekte an Rückschlagventilen. (Vermutlich gelöst.) Erosion der ASIKammer. (Vermutlich gelöst.) Risse im Blech der HPFTPTurbine. (Vermutlich gelöst.) Defekt am HPFTP-Kühlmantel. (Vermutlich gelöst.) Defekt am Winkelstutzen des Hauptbrennkammer-Auslasses. (Vermutlich gelöst.) Lösen der Schweißnaht am Winkelstutzen des Hauptbrennkammer-Einlasses. (Vermutlich gelöst.) Subsynchroner Wirbel bei der Hochdrucksauerstoffpumpe. (Vermutlich gelöst.) Flugbeschleunigungs-Sicherheits-Abschaltsystem (teilweises Versagen in einem redunanten System). (Vermutlich gelöst.) Ausbröckeln der Lager. (Teilweise gelöst.) Eine Schwingung von 4000 Hertz führt dazu, dass manche Triebwerke nie - 216 -
eingesetzt werden können. (Ungelöst.) Bei vielen dieser inzwischen offenbar gelösten Probleme handelt es sich um die Anfangsschwierigkeiten einer neu entwickelten Konstruktion: In den ersten 125000 Sekunden traten 13, in den zweiten 125000 Sekunden nur noch 3 Störfälle auf. Natürlich kann man nie sichergehen, dass alle Defekte behoben sind, zumal man in manchen Fällen vielleicht gar nicht die wahre Ursache behoben hat. So betrachtet, erscheint die Annahme nicht abwegig, dass es in den nächsten 250000 Sekunden zu mindestens einem unerwarteten Zwischenfall kommen kann, was pro Trieb werk und Mission einer Wahrscheinlichkeit von 1/500 entspricht. Bei jeder Mission laufen drei Triebwerke, doch ist denkbar, dass sich manche Zwischenfälle auf ein einziges Triebwerk beschränken. (Funktionieren nur zwei Triebwerke, kann die Shuttle-Mission scheitern.) In Anbetracht solch unvorhersehbarer Zwischenfälle sollte man die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mission infolge eines Schadens an den Haupttriebwerken scheitert, nicht unter 1/500 veranschlagen. Dazu kommt noch die Möglichkeit des Versagens aufgrund zwar bekannter, aber bis jetzt ungelöster Probleme, die wir weiter unten besprechen wollen. (Techniker des Triebwerkherstellers Rocketdyne veranschlagen die Wahrscheinlichkeit einer Panne alles in allem auf 1/10000, Techniker des Marshall Space Center auf 1/300, während das NASA-Management, dem diese Ingenieure Bericht erstatten, behauptet, sie liege bei 1/100000. Ein als NASA-Berater tätiger, unabhängiger Ingenieur dagegen hielt 1 oder 2 zu 100 für einen vernünftigen Schätzwert.) Die Geschichte der Zulassungsprinzipien für diese Motoren ist verwirrend und schwer zu erklären. Ursprünglich scheint die Regel gegolten zu haben, ein Triebwerk nur dann für eine bestimmte Laufzeit zuzulassen, wenn zwei Probetriebwerke doppelt so lange störungsfrei gelaufen waren (Faktor-2Regel). So verfährt zumindest die FAA, und die NASA scheint diesen Usus ursprünglich übernommen und die Zulassung für die Spanne von 10 Missionen von einer Laufzeit von 20 Missionen je Probetriebwerk abhängig gemacht zu haben. Am besten eigneten sich für den Vergleich offensichtlich die - 217 -
Triebwerke mit der längsten Gesamtlaufzeit (Flug plus Test), die sogenannten fleet leaders (Flottenführer). Doch was ist, wenn ein drittes Testtriebwerk und mehrere weitere nach kurzer Zeit versagen? Gewiss bietet die längere Laufzeit von zweien keine Gewähr. Vielleicht zeigen die mit der kurzen Laufzeit die wirklichen Möglichkeiten zuverlässiger an, so dass wir im Sinne des Sicherheitsfaktors zwei für den Einsatz nur die halbe Laufzeit der kurzlebigen Probetriebwerke ansetzen sollten. Statt dessen baute man, wie sich anhand vieler Beispiele belegen lässt, den Sicherheitsfaktor langsam ab. Wir greifen hier die Turbinenschaufeln der Hochdrucktreibstoffpumpe heraus. Als erstes ließ man das Leitbild, ein komplettes Triebwerk zu testen, fallen. Da an jedem Triebwerk viele wichtige Teile (darunter die Turbopumpen selbst) in kurzen Zeitabständen ausgewechselt werden mussten, übertrug man die Faktor-2-Regel von den Triebwerken auf ihre Teile. So sehen wir eine Hochdrucktreibstoffpumpe für eine bestimmte Zeit als betriebssicher an, wenn zwei Testexemplare jeweils doppelt so lange erfolgreich gelaufen sind (und bestehen zweckmäßigerweise natürlich nicht mehr darauf, dass diese Zeitspanne 10 Missionen entsprechen soll). Doch was heißt »erfolgreich«? Um in der Praxis wirklich zu einem Sicherheitsfaktor von mehr als zwei zu gelangen, bezeichnet die FAA einen Riss in einer Turbinenschaufel bereits als Defekt. Nun liegt aber zwischen dem Moment, in dem sich ein Riss zu bilden beginnt und dem Zeitpunkt, zu dem er so groß geworden ist, dass es zum Bruch kommt, eine gewisse Spanne, in der der Motor noch laufen kann. (Die FAA erwägt neue Vorschriften, die diese zusätzliche Sicherheitszeit berücksichtigen, will sie aber erst in Kraft setzen, wenn diese Spanne anhand bekannter Modelle innerhalb eines bekannten Erfahrungsbereichs und mit gründlich getesteten Materialien sehr sorgfältig analysiert worden ist. Bei den Haupttriebwerken des Space Shuttle ist keine dieser Voraussetzungen erfüllt.) An vielen wiederverwendeten Turbinenschaufeln der Hochdrucktreibstoffpumpe fanden sich Risse. In einem Fall entdeckte man nach 1900 Sekunden drei, in einem anderen nach 4200 Sekunden noch keinen, obwohl bei diesen - 218 -
längeren Laufzeiten Risse die Regel waren. Man muss sich in diesem Zusammenhang vergegenwärtigen, dass die Beanspruchung großenteils vom Leistungspegel abhängt. Beim Flug der Challenger lag (wie schon bei vorangegangenen Flügen) die sogenannte Nennleistung der Triebwerke die meiste Zeit bei 104 Prozent. Aufgrund gewisser Werkstoffdaten nimmt man an, dass es bei einer Nennleistung von 104 Prozent ungefähr doppelt so lange dauert, bis sich Risse bilden, wie bei 109 Prozent, der Vollastleistung (full power level, FPL). Da die Triebwerksleistung künftiger Flüge der schwereren Nutzlasten wegen auf 109 Prozent veranschlagt werden muss, wurden auf dieser Leistungsstufe zahlreiche Tests durchgeführt. Teilt man also die bei 104 Prozent ermittelte Zeit durch 2, erhält man Laufzeiten, die der Vollastleistung (equivalent full power level, EFPL) entsprechen. (Offensichtlich kommt dadurch eine gewisse Unsicherheit herein, die jedoch nicht untersucht wurde.) Die ersten der obenerwähnten Risse traten bei 1375 Sekunden EFPL auf. Seither gilt die Regel: »Alle wiederverwendeten Schaufeln sind auf eine Laufzeit von maximal 1375 Sekunden EFPL zu begrenzen.« Dem Einwand, damit werde der Sicherheitsfaktor zwei aufgegeben, wird entgegengehalten, die eine Turbine sei 3800 Sekunden EFPL ohne Risse gelaufen; da die Halbzeit davon 1900 Sekunden betrage, seien wir sogar übervorsichtig. Damit machen wir uns dreierlei vor: Erstens stützen wir uns auf ein einziges Testexemplar, bei dem es sich nicht um den fleef leader handelt. Die beiden anderen Testmotoren zeigten nach 3800 Sekunden EFPL oder mehr Risse in insgesamt 17 Schaufeln (pro Triebwerk sind es 59). Zweitens haben wir die Faktor-2-Regel aufgegeben und durch die gleiche Zeitlänge (1375) ersetzt. Und drittens war die 1375. Sekunde der Moment, in dem ein Riss entdeckt wurde. Nun war zwar vor der 1375. Sekunde kein Riss gefunden worden, doch hatte die letzte Überprüfung, bei der keine Risse festgestellt worden waren, nach 1100 Sekunden EFPL stattgefunden. Wann zwischen diesen beiden Zeitpunkten der Riss entstanden war, entzieht sich unserer Kenntnis. Zum Beispiel könnten nach 1150 Sekunden EFPL Risse aufgetreten sein. (Ungefähr zwei - 219 -
Drittel der länger als 1375 Sekunden EFPL getesteten Schaufelsätze hatten Risse, die, wie neueste Experimente erbracht haben, schon nach 1150 Sekunden auftreten können.) Da das Shuttle bei Abschluss seiner Mission seine Triebwerksleistung bis nahe an die Höchstgrenze steigern muss, war es wichtig, die Zahl hoch anzusetzen. Schließlich hält man die Behauptung, man berücksichtige nach wie vor die für die Flugsicherheit erforderlichen Kriterien, dadurch aufrecht, dass man den Grundsatz der FAA, demzufolge keine Risse auftreten dürfen, aufgibt und nur eine komplett gebrochene Schaufel als Defekt einstuft. Nach dieser Definition hat bis jetzt kein Triebwerk versagt. Dahinter steht die Vorstellung, dass es geraume Zeit dauert, bis ein Riss zum Bruch führt, und dass somit die Untersuchung aller Schaufeln auf Risse hinlängliche Sicherheit garantiert. Finden sich Risse, wechsle man die Schaufeln aus, finden sich keine, genügt die Zeit für die sichere Abwicklung der Mission. Mit einem Wort: Man tut so, als stellte die Gefahr der Rissebildung kein Flugsicherheits-, sondern nur noch ein Wartungsproblem dar. Das mag ja in der Tat stimmen. Aber woher wissen wir eigentlich so genau, dass sich Risse immer so langsam vergrößern, dass die Möglichkeit eines Bruchs während einer Mission ausscheidet? Bis jetzt sind nur drei Triebwerke langfristig (ca. 3000 Sekunden EFPL) mit mehreren gesprungenen Schaufeln gelaufen, ohne dass es wirklich zum Bruch kam. Möglicherweise ist die Gefahr der Rissebildung inzwischen durch Änderung der Schaufelform, Kugelstrahlen der Oberfläche und Isolation gegen den Wärmeschock gebannt: An den so behandelten neuen Schaufeln wurden bis jetzt keine Risse festgestellt. Die Zulassungsgeschichte der Hochdrucksauerstoffpumpe ergibt ein ähnliches Bild, doch wollen wir uns hier die Einzelheiten schenken. Insgesamt liegt auf der Hand, dass Flugbereitschaftsprüfungen und Zulassungsvorschriften im Hinblick auf gewisse Probleme der Shuttle-Haupttriebwerke ähnlich lasch gehandhabt werden wie die - 220 -
Sicherheitsvorschriften für die Feststoffraketen. Avionik Unter Avionik (Luftfahrtelektronik) versteht man das Computersystem des Orbiters samt seinen Eingabe-Sensoren und Ausgabe-Stellgliedern. Wir wollen uns zunächst auf die Computer selbst beschränken, ohne uns um die Zuverlässigkeit der von den Temperatur-, Drucksensoren und so weiter gelieferten Eingabeinformationen oder um die Frage zu kümmern, ob die Ausgabedaten der Computer von den Stellgliedern für Raketenzündung, der Mechanik, den Schirmbildanzeigen für die Astronauten und so weiter genau befolgt werden. Das mit über 250000 Kodezeilen sehr sorgfältig aufgebaute Datenverarbeitungssystem ist neben vielem anderen für die automatische Steuerung des gesamten Aufstiegs des Space Shuttle in die Umlaufbahn und, sobald der gewünschte Landeplatz durch Knopfdruck eingegeben ist, für den Abstieg bis weit in die Atmosphäre herunter (bis unterhalb Machzahl 1) verantwortlich. (Zwar ließe sich die gesamte Landung automatisch abwickeln, doch wird das Signal zum Ausfahren des Fahrwerks nicht vom Computer, sondern - angeblich aus Sicherheitsgründen - vom Piloten gegeben.) Während des Orbitalfluges dient das Datenverarbeitungssystem zur Kontrolle der Nutzlasten, zur Übermittlung von Informationen an die Astronauten und zum Austausch von Informationen mit dem Boden-Kontrollzentrum. Dass die Flugsicherheit von der unbedingten Genauigkeit dieses hochkomplizierten Systems aus Hardware und Software abhängt, liegt auf der Hand. Um es kurz zu machen: Die Zuverlässigkeit der Hardware wird durch vier identische, jedoch im wesentlichen voneinander unabhängige Computersysteme gewährleistet. Soweit möglich, existieren auch die Sensoren in mehreren gewöhnlich gleichfalls vier - Ausfertigungen, von denen jede sämtliche vier Computer speist. Weichen die von den Sensoren gelieferten Eingabedaten voneinander ab, wird je nach Umständen entweder ein Durchschnittswert oder der von der Mehrheit angezeigte Wert als gültiger Input genommen. Da jeder Computer die Daten sämtlicher Sensoren aufnimmt, entsprechen sich die Inputs, und da für alle vier Computer die gleichen Algorithmen gelten, sollten auch die - 221 -
Resultate Schritt für Schritt gleich ausfallen. Von Zeit zu Zeit werden die Ergebnisse verglichen, doch da die Computer unter Umständen in ihrem Arbeitstempo geringfügig voneinander abweichen, tritt vor jedem Vergleich zu einem bestimmten Zeitpunkt ein systematischer Stopp von einer gewissen Dauer in Kraft. Weicht einer der Computer von den anderen ab oder hat seine Antwort noch nicht parat, erachtet man die Angaben der drei übereinstimmenden Computer für richtig und nimmt den abweichenden Computer gänzlich aus dem System. Versagt hierauf ein weiterer Computer nach übereinstimmender Auskunft der beiden verbleibenden, wird er gleichfalls aus dem System entfernt und der Flug abgebrochen, das heißt von den beiden noch übrigen Computern die Landung eingeleitet. Es handelt sich also um ein redundantes System, bei dem der Ausfall eines einzigen Computers die Mission noch nicht beeinträchtigt. Schließlich gibt es zur zusätzlichen Sicherung einen fünften, selbständig arbeitenden Computer, dessen Speicher lediglich die Programme für Aufund Abstieg enthält und der bei Versagen von mehr als zwei der vier Hauptcomputer die Landung steuern kann. Da der Speicher der Hauptcomputer nicht alle Programme für den Auf- und Abstieg sowie für die während des Fluges anstehenden Nutzlastprogramme fasst, müssen die Astronauten rund viermal Programme von Magnetbändern einspeisen. Die Software für ein so ausgeklügeltes System auszutauschen und ein neues System zu testen, würde ungeheure Mühe kosten; deshalb ist seit der Einführung des Shuttle-Transportsystems vor rund fünfzehn Jahren an der Hardware keine Änderung vorgenommen worden. Die derzeitige Hardware ist längst überholt - zum Beispiel arbeiten die Computer noch mit dem alten Ferritkernspeicher -, und es wird zunehmend schwieriger, Hersteller zu finden, die solch altmodische Computer von entsprechender Zuverlässigkeit und Qualität liefern können. Die neuen Computer arbeiten wesentlich zuverlässiger und schneller. Das vereinfacht die Schaltung und ermöglicht größere Programme. Moderne Computer besitzen viel größere Speicher und müssen daher nicht so oft nachgeladen werden. Die Software wird sehr sorgfältig nach dem bottom-up-Prinzip - 222 -
getestet: Zunächst wird jede neue Kodezeile überprüft, dann kommen Strukturblöcke (Module) mit speziellen Funktionen an die Reihe. So wird der Wirkungsbereich schrittweise erweitert, bis die Veränderungen schließlich in ein umfassendes System eingegliedert und geprüft werden können. Dieser vollständige Output wird als Endprodukt, als verbesserte Version (release), freigegeben. Doch völlig unabhängig von der Software-Entwicklungsgruppe arbeitet eine zweite Testgruppe, die die Software gewissermaßen als Abnehmer prüft, und außerdem werden die neuen Programme noch in Simulatoren und ähnlichem getestet. Ein bei dieser Überprüfung zutage tretender Fehler wird überaus ernst genommen und seine Ursache sehr sorgfältig untersucht, um solche Pannen künftig zu vermeiden. Derartige Fehler sind während der gesamten Programmierung einschließlich aller (aufgrund neuer oder veränderter Nutzlasten) vorgenommenen Programmänderungen nur etwa sechsmal unterlaufen. Grundsätzlich werden all diese Verifikationsschritte nicht als Teil der Programmsicherung, sondern als Überprüfung der Programmzuverlässigkeit in einer Testsituation ohne Katastrophencharakter betrachtet. Die Flugsicherheit wird einzig danach beurteilt, wieweit sich die Programme bei den Kontrolltests bewähren. Ein in diesem Zusammenhang auftretender Programmfehler löst erhebliche Besorgnis aus. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Prüfsystem für die Computer-Software höchste Qualität besitzt. Die bei den Sicherheitssystemen der Feststoffraketen und der Haupttriebwerke des Space Shuttle beobachtbare Tendenz, die Sicherheitsnormen zunehmend herabzusetzen und sich damit selbst Sand in die Augen zu streuen, scheidet hier offenbar aus. Zwar hat das Management in jüngster Zeit mit der Begründung, sie seien in dieser späten Phase der ShuttleGeschichte nicht mehr erforderlich, eine Einschränkung dieser komplizierten und kostspieligen Tests angeregt. Dieses Ansinnen muss aber entschieden zurückgewiesen werden, übersieht das Management dabei doch, welch komplizierte Wechselwirkungen und Fehlerquellen sich selbst aus geringfügigen Änderungen eines Programmteils für andere Teile ergeben können. Derartige Programmänderungen fallen durch neue Nutzlasten und neue Ansprüche und - 223 -
Änderungswünsche der Kunden laufend an. Veränderungen erfordern umfangreiche Tests und kommen daher teuer. Die geeignete Methode, Geld zu sparen, besteht in der Einschränkung der Änderungswünsche, nicht in der Qualitätsminderung der dafür erforderlichen Tests. Anzufügen wäre noch, dass sich dieses hochentwickelte System durch eine zeitgemäße Hardware und moderne Programmiertechniken entscheidend verbessern ließe. Jeder ausländische Konkurrent hätte beim Einstieg alle Trümpfe in der Hand. Es ist an der Zeit, sorgfältig zu überlegen, ob eine Modernisierung der Hardware der NASA nicht zustatten käme. Was schließlich die Sensoren und Stellglieder des Avioniksystems betrifft, lässt sich in ihrem Fall bei weitem nicht die gleiche gewissenhafte Bemühung um Zuverlässigkeit des Systems und Verhütung von Pannen wie beim Computersystem feststellen. So waren beispielsweise Schwierigkeiten aufgetreten, weil manche Temperatursensoren gelegentlich versagt hatten. Trotzdem waren eineinhalb Jahre später immer noch die gleichen Sensoren in Gebrauch, die nach wie vor gelegentlich versagten, bis ein Start verschoben werden musste, weil zwei gleichzeitig ausfielen. Selbst das war kein Hinderungsgrund, bei einem späteren Flug erneut einen dieser unzuverlässigen Sensoren zu verwenden. Und auch die für Richtungsänderungen und Flugsteuerung des Shuttle verantwortlichen Rückstoß-Steuerdüsen funktionieren nach wie vor nicht ganz einwandfrei. Für beträchtliche Redundanz ist gesorgt, aber es existiert auch eine lange Liste von Pannen, von denen allerdings bis jetzt keine so gravierend ausfiel, dass es zur ernstlichen Gefährdung eines Fluges gekommen wäre. Die Funktion der Raketendüsen wird von Sensoren überwacht: Geht die Zündung einer Düse daneben, wählen die Computer eine andere aus. Doch da derartige Pannen in der Konstruktion nicht vorgesehen sind, sollte man sich um die Lösung des Problems bemühen. Schlussfolgerungen Soll ein vernünftiger Startplan eingehalten werden, können die technischen Erfordernisse oft nicht rasch genug bewältigt - 224 -
werden, um den Anforderungen der von Haus aus strengen, auf größtmögliche Sicherheit des Raumfahrzeugs zugeschnittenen Zulassungskriterien zu genügen. In diesen Fällen werden die Sicherheitskriterien - oft mit logischen Scheinargumenten - geschickt abgeändert, um die Flüge trotzdem rechtzeitig genehmigen zu können. Das wiederum bedeutet, dass das Shuttle unter relativ unsicheren Vorzeichen fliegt, wobei die Wahrscheinlichkeit einer Panne im Bereich von etwa ein Prozent liegt (genauere Angaben lassen sich nur schwer machen). Demgegenüber gibt das offizielle Management vor, die Wahrscheinlichkeit eines Störfalls für tausendmal geringer zu erachten. Hinter dieser Haltung steckt zum einen wohl der Versuch, die Regierung von der Perfektion und dem Erfolg der NASA zu überzeugen, um sich weiterhin die Zuteilung von Geldmitteln zu sichern. Zum anderen glauben die Manager vielleicht an ihre eigene Darstellung, was auf einen schier unglaublichen Mangel an Kontakt zwischen ihnen und den Technikern verweist. Jedenfalls zeitigen diese Kommunikationsschwierigkeiten üble Folgen, darunter als unseligste die, Normalbürger zum Flug in diesen gefährlichen Maschinen zu animieren, als böten sie inzwischen die gleiche Sicherheit wie ein gewöhnliches Verkehrsflugzeug. Die Astronauten sollten sich wie Testpiloten über ihr Risiko im klaren sein, und wir bewundern ihren Mut. Und wer wollte bezweifeln, dass McAuliffe* gleichfalls großen Mut besaß und sich der wahren Risiken deutlicher bewusst war, als uns das NASA-Management glauben machen möchte? Wir brauchen Empfehlungen, die sicherstellen, dass die Verantwortlichen der NASA mit beiden Füßen auf dem Boden stehen und über technische Unvollkommenheiten und Schwächen genau genug Bescheid wissen, um sich aktiv um ihre Behebung zu bemühen. Sie müssen den Wirklichkeitssinn aufbringen, Kosten und Nutzen des Shuttle * Anmerkung für ausländische Leser: Die Lehrerin Christa McAuliffe sollte die erste Normalbürgerin im Weltraum sein Symbol des nationalen Bildungsauftrags und der Sicherheit des Space Shuttle. - 225 -
mit anderen Methoden der Erschließung des Weltraums zu vergleichen. Und sie müssen beim Abschluss von Verträgen sowie beim Abschätzen von Kosten und Schwierigkeiten eines jeden Projekts wirklichkeitsnah handeln. Es sollten nur realistische Flugpläne aufgestellt werden - Pläne, für deren Einhaltung eine vernünftige Chance besteht. Sollte die Regierung die NASA unter diesen Voraussetzungen nicht unterstützen wollen, lässt sich das nicht ändern. Die NASA schuldet den Bürgern, von denen sie sich Unterstützung erwartet, Offenheit, Ehrlichkeit und eine umfassende Information, damit diese Bürger möglichst vernünftig über die Verwendung ihrer begrenzten Mittel entscheiden können. Eine erfolgreiche Technik setzt voraus, dass Wirklichkeitssinn vor Werbung kommt, denn die Natur lässt sich nicht betrügen.
Epilog Vorwort In jungen Jahren glaubte ich an den Nutzen der Wissenschaft für jedermann. Sie war offensichtlich sinnvoll; sie war gut. Während des Krieges arbeitete ich dann an der Atombombe mit. Dieser Triumph der Wissenschaft war offensichtlich eine sehr ernste Sache: Er bedeutete die Vernichtung von Menschenleben. Nach dem Krieg machte mir die Bombe große Sorgen. Ich wusste nicht, was uns in Zukunft bevorstand und war mir alles andere als sicher, ob wir bis heute überleben würden. Deshalb stellte sich mir die Frage: Schließt die Wissenschaft Böses ein? Mit anderen Worten: Angesichts der Greuel, die sie heraufbeschwören kann, erhob sich die Frage nach Sinn und Nutzen der Wissenschaft, die ich liebte und der ich mich verschrieben hatte. Ich musste auf diese Frage eine Antwort finden. »Vom Sinn und Nutzen der Wissenschaft« ist, wenn man so will, eine Art Protokoll über die Gedanken, die mir beim Versuch, diese Frage zu beantworten, kamen. Richard Feynman Vom Sinn und Nutzen der Wissenschaft* Von Zeit zu Zeit legen mir meine Mitmenschen ans Herz, wir Wissenschaftler müssten den gesellschaftlichen Problemen mehr Beachtung schenken, vor allem müssten wir die Auswirkungen der Wissenschaft auf die Gesellschaft mit größerem Verantwortungsbewusstsein erwägen. Die Allgemeinheit ist offenbar davon überzeugt, dass, wollten sich die Wissenschaftler nur mit diesen überaus schwierigen * Öffentliche Ansprache auf der Herbsttagung 1955 der Nationalen Akademie der Wissenschaften. - 227 -
gesellschaftlichen Problemen befassen, statt so viel Zeit mit weniger lebenswichtigen wissenschaftlichen Fragen zu verplempern, große Fortschritte zu erwarten stünden. Mir scheint, wir denken sehr wohl hin und wieder über diese Probleme nach, konzentrieren aber nicht alle unsere Kräfte darauf - aus einfachen Gründen: Wir wissen, dass wir keine Zauberformel zur Lösung gesellschaftlicher Probleme besitzen, dass gesellschaftliche Probleme viel schwieriger sind als wissenschaftliche und dass unsere Überlegungen in dieser Hinsicht gewöhnlich zu nichts führen. Ein Wissenschaftler stellt sich, glaube ich, bei der Beschäftigung mit nichtwissenschaftlichen Problemen genauso dumm an wie ein x-beliebiger Laie und redet, wenn er sich über ein nichtwissenschaftliches Thema auslässt, genauso naiv daher wie jeder andere, der nichts davon versteht. Da die Frage nach Sinn und Nutzen der Wissenschaft kein wissenschaftliches Thema ist, möchte ich in dieser Rede meinen Standpunkt anhand von Beispielen belegen. Ein erster Nutzen der Wissenschaft ist jedem vertraut: die Tatsache, dass wir dank wissenschaftlichen Kenntnissen alles mögliche tun und machen können. Ist das, was wir bewirken, gut, gereicht unser Tun natürlich nicht nur der Wissenschaft, sondern auch unserer Moral, die uns gute Arbeit leisten ließ, zur Ehre. Die Wissenschaft verleiht uns die Macht zum Guten oder Bösen - eine Weisung, wie diese Macht zu nutzen sei, erteilt sie uns nicht. Diese Macht ist eindeutig von Wert, auch wenn sie durch das, was wir mit ihr anstellen, negiert werden kann. Eine überzeugende Formulierung dieser allgemeinen menschlichen Problematik lernte ich bei einer Reise nach Honolulu kennen. In einem der dortigen buddhistischen Tempel erläuterte der Führer uns Touristen ein paar Grundgedanken der buddhistischen Religion und erklärte zum Schluss, er wolle uns etwas mit auf den Weg geben, was wir niemals vergessen würden - und ich habe es auch nicht vergessen. Es war ein buddhistischer Sinnspruch, der besagte: Jedem Menschen wird der Schlüssel zu den Himmelspforten gegeben; doch dieser Schlüssel öffnet auch das Höllentor.
- 228 -
Worin also liegen Sinn und Nutzen des Schlüssels zu den Himmelspforten? Eins steht fest: Ohne klare Weisung, welches Tor in den Himmel und welches in die Hölle führt, kann der Schlüssel ein gefährlich Ding in unseren Händen sein. Doch der Schlüssel besitzt offensichtlich Wert: Wie könnten wir ohne ihn Zugang zum Himmel erlangen? Ohne den Schlüssel wären alle Weisungen sinnlos. Somit liegt auf der Hand, dass die Wissenschaft, obzwar sie ungeheures Unheil über die Welt bringen kann, Sinn und Nutzen besitzt, weil sie etwas bewirken kann. Ein weiterer Wert der Wissenschaft besteht im Vergnügen, im geistigen Genuss, den manche aus der Lektüre, der Information und dem Nachdenken über wissenschaftliche Fragen und andere aus der wissenschaftlichen Arbeit ziehen. Dieser Punkt ist wichtig und wird von denen nicht genügend berücksichtigt, die uns predigen, es sei unsere soziale Pflicht, über die Wirkung der Wissenschaft auf die Gesellschaft nachzudenken. Ist dieser rein persönliche Genuss für die Gesellschaft insgesamt von Nutzen? Nein! Aber wir müssen in diesem Zusammenhang auch überlegen, welches Ziel die Gesellschaft ihrerseits verfolgt. Will sie die Voraussetzungen schaffen, dass sich die Menschen an den Dingen erfreuen können? Wenn ja, dann ist die Freude an der Wissenschaft so wichtig wie irgend etwas sonst. Doch darüber hinaus sollten wir die Bedeutung und den Wert des Weltbildes nicht unterschätzen, das sich aus den Bemühungen der Wissenschaft ergeben hat. Sie hat unserer Vorstellungskraft Dinge aller Art erschlossen, die unendlich viel wunderbarer und erstaunlicher als alle Phantasien der Dichter und Träumer vergangener Zeiten sind. Wie sich zeigt, ist die Phantasie der Natur ungleich größer als die des Menschen. Wie viel bemerkenswerter ist es doch beispielsweise für uns alle zu wissen, dass wir - die halbe Menschheit noch dazu kopf unter - durch eine geheimnisvolle Anziehungskraft auf einer rotierenden Kugel festgebannt sind, die seit Jahrmilliarden im All kreist, als uns vorzustellen, wir - 229 -
ritten auf einem Elefanten, den eine in einem bodenlosen Meer schwimmende Schildkröte auf dem Rücken trägt. Immer wieder habe ich über diese Dinge nachgedacht, und ich muss Sie um Nachsicht bitten, wenn ich Sie hier an diese Art Gedankengänge erinnere - Gedanken, die gewiss vielen von Ihnen vertraut sind, die aber die Menschen vergangener Zeiten niemals hätten anstellen können, weil sie über die Welt nicht wussten, was wir heute wissen. Ich stehe allein am Strand und überlasse mich meinen Vorstellungen. Da sind die heranrollenden Wellen Gebirge aus Molekülen jedes stumpfsinnig mit sich selber befasst Billionen, getrennt und doch im Einklang als weiße Brandung empor schäumend. Äonen über Äonen ehe ein Auge sie erblickte Jahr für Jahr auf die Küste niederdonnernd wie jetzt. Für wen? Wozu? Auf einem toten Planeten der kein Leben beherbergt. Ewig rastlos gequält von der Kraft die die Sonne verschwenderisch ins All ergießt. Ein Quentchen davon lässt die See toben. In der Tiefe des Meeres wiederholen alle Moleküle ihre eigenen Muster bis komplexe neue sich bilden. Sie bringen andre wie sich selber hervor und ein neuer Reigen hebt an. Wachsend an Größe und Vielfalt lebendige Wesen Massen von Atomen DNS, Eiweiß tanzen in immer verschlungneren Mustern. Der Wiege entwachsen steht es hier auf dem trockenen Land: Atome mit Bewusstsein Materie voll Wissbegier. - 230 -
Steht am Meer und staunt über sein Staunen: Ich ein Universum von Atomen ein Atom im All. Dieselbe Erregung, dieselbe Ehrfurcht und rätselvolle Spannung überkommt uns wieder und wieder, sooft wir tief genug in eine Frage eindringen, und mit jedem neuen Wissensschritt tut sich ein größeres, viel wunderbareres Geheimnis auf, verlockt uns, immer tiefer einzudringen. Niemals besorgt, dass die Antwort enttäuschen könnte, drehen wir freudig und voll Zuversicht jeden neuen Stein um, finden ungeahnt Seltsames, schreiten zu immer wunderbareren Fragen und Geheimnissen fort - wahrlich ein phantastisches Abenteuer! Freilich machen nur wenige wissenschaftliche Laien diese besondere religiöse Erfahrung. Unsere Dichter schreiben nicht darüber, unsere Künstler bemühen sich nicht, diese bemerkenswerten Dinge abzubilden. Warum? Bietet unser heutiges Weltbild denn niemandem Anregung und Inspiration? Dieser Sinn und Nutzen der Wissenschaft wird von keinem Barden besungen: Man hört darüber kein Lied, kein Gedicht, man muss sich mit einem Abendvortrag begnügen. Wir leben noch nicht im Zeitalter der Wissenschaft. Vielleicht liegt einer der Gründe für dieses Schweigen darin, dass man die Noten der Musik nicht kennt. So kann in einem wissenschaftlichen Artikel der Satz stehen: »Der Gehalt an radioaktivem Phosphor im Hirn der Ratte geht innerhalb von zwei Wochen auf die Hälfte zurück.« Aber was besagt er? Er besagt, dass der Phosphor im Hirn einer Ratte - und ebenso in meinem und Ihrem Gehirn - nicht mehr derselbe ist wie vor zwei Wochen. Er besagt, dass die Atome im Gehirn ausgetauscht werden: Die sich vordem darin befunden haben, sind nicht mehr da. Was ist demnach unser Intellekt? Was sind diese mit Bewusstsein begabten Atome? Schnee vom vergangenen Jahr! Dennoch wohnt ihnen die Erinnerung an das inne, was vor einem Jahr in meinem Intellekt vor sich gegangen ist - der sich inzwischen längst erneuert hat. Die Erkenntnis, dass mein sogenanntes Ich nur ein Muster ist, ein Tanz: das ist der wahre Kern der Entdeckung, in welchem Zeitraum die Atome des Gehirns durch andere Atome ersetzt werden. Die Atome gelangen in mein Hirn, tanzen ihre - 231 -
Reigen und verschwinden wieder - da sind laufend neue Atome, doch sie tanzen, des Reigens von gestern eingedenk, immer wieder den gleichen Tanz. Lesen wir darüber in der Zeitung, heißt es da: »Nach Auskunft der Wissenschaftler könnte diese Entdeckung für die Suche nach einer Krebstherapie von Bedeutung sein.« Das Blatt interessiert sich nur für die Nutzanwendung der Idee, nicht für die Idee als solche. Kaum jemand erfasst die Bedeutung einer Idee, das ist wirklich seltsam. Es sei denn, ein Kind finge Feuer. Ist ein Kind Feuer und Flamme für eine solche Idee, wird ein Wissenschaftler aus ihm. Sind sie erst einmal auf der Universität, zündet der Funke nicht mehr.* Deshalb müssen wir versuchen, diese Ideen den Kindern nahe zubringen. Nun zu einem dritten Punkt, der die Wissenschaft für uns sinnvoll und nützlich macht, wenn auch nicht auf ganz so direkte Weise. Der Wissenschaftler hat viel Erfahrung mit Nichtwissen, Zweifel und Unsicherheit, eine Erfahrung, die meiner Ansicht nach sehr große Bedeutung besitzt. Weiß der Wissenschaftler auf ein Problem keine Antwort, tappt er im dunkeln; hat er eine Ahnung, wie das Ergebnis aussehen könnte, ist er unsicher; doch selbst wenn er sich schon ziemlich sicher ist, wie das Ergebnis ausfallen wird, plagen ihn noch Zweifel. Der Wissenschaftler weiß, dass es für den Fortschritt von allergrößter Bedeutung ist, das eigene Nichtwissen zu erkennen und Raum für Zweifel zu lassen. Der Wissensschatz der Wissenschaft besteht aus Feststellungen von unterschiedlichem Sicherheitsgrad - manche Aussagen sind höchst ungewiss, andere fast sicher, aber eine absolute Sicherheit gibt es nicht. Die Wissenschaftler sind an diesen Zustand gewöhnt und finden es völlig normal, im Ungewissen zu tappen und mit der Unsicherheit zu leben. Aber ich weiß nicht, ob die Einsicht, dass es sich so verhält, allgemein verbreitet ist. Unsere Freiheit zu zweifeln erwuchs aus dem Kampf gegen die Autorität, den die Wissenschaft in ihren frühen Tagen führte. Einem sehr tiefreichenden und harten Kampf um das Zugeständnis, Fragen zu stellen, zu zweifeln, nicht sicher zu * Heute würde ich sagen: »Es ist spät - wenngleich nicht zu spät - für sie, den Funken zu erhaschen ...« - 232 -
sein. Diesen Kampf nicht zu vergessen und somit womöglich wieder zu verlieren, was wir errungen haben, erscheint mir wichtig; es ist ein Teil unserer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Denken wir an das dem Menschen offenbar eigene erstaunliche Potential und halten seine bescheidenen Errungenschaften dagegen, überkommt uns Traurigkeit. Viele haben denn auch gemeint, wir könnten weit Besseres leisten, immer wieder träumten die Menschen der Vergangenheit im Alptraum ihrer Zeiten einen Zukunftstraum. Wir, die wir in ihrer Zukunft leben, müssen erkennen, dass ihre Träume, wiewohl in manchem übertroffen, in vielem Träume geblieben sind: Unsere heutigen Zukunftshoffnungen sind großenteils die von gestern. Früher glaubte man, die meisten Menschen könnten ihre Möglichkeiten nur mangels Bildung nicht entfalten. Wäre bei gleicher Bildung für alle jeder ein Voltaire? Schlechtes lässt sich mindestens ebenso wirksam lehren wie Gutes. Bildung ist eine starke Kraft, aber sie kann zum Guten wie zum Bösen dienen. Man muss, so lautete ein anderer Traum, die Völkerverständigung durch Kommunikation fördern. Doch die Kommunikationsmittel lassen sich manipulieren, zur Verbreitung von Wahrheit oder Lüge benutzen. Kommunikation ist eine starke Kraft, aber gleichfalls zum Guten wie zum Bösen. Die angewandten Wissenschaften sollten den Menschen zumindest von materiellen Sorgen und Nöten befreien. Die Medizin dämmt Krankheiten ein, über sie gibt es anscheinend nur Gutes zu berichten. Und doch wird schon heute beharrlich an der Entwicklung gefährlicher Seuchen und Gifte für die Kriegführung von morgen gearbeitet. Fast jeder verabscheut den Krieg. Frieden ist heute unser Traum. Im Frieden kann der Mensch die ungeheuren Möglichkeiten, die er zu besitzen scheint, am besten entfalten. Vielleicht aber stellen künftige Generationen fest, dass auch der Frieden gut oder schlecht sein kann. Vielleicht beginnen die Menschen im Frieden aus Langeweile zu trinken. Und vielleicht wächst sich dann die Trunksucht zum großen - 233 -
Problem aus, das den Menschen in seinen eigenen Augen an der vollen Verwirklichung seiner Möglichkeiten hindert. Ohne Zweifel ist der Frieden eine große Kraft - genau wie Nüchternheit, materielle Macht, Kommunikation, Bildung, Ehrlichkeit und all die anderen Ideale der Träumer. Wir verfügen über mehr Kräfte dieser Art als die Menschen in alter Zeit und leisten vielleicht ein wenig mehr, als den meisten von ihnen vergönnt war. Dennoch erscheinen unsere wirren Leistungen minimal, gemessen an dem, wozu wir imstande sein müssten. Warum ist das so? Warum haben wir uns nicht in der Hand? Weil wir feststellen müssen, dass selbst große Kräfte und Fähigkeiten offenbar keine Klarheit darüber verschaffen, wie sie anzuwenden sind. Zum Beispiel führt unsere vielfältige Einsicht in das - Verhalten der materiellen Welt lediglich zu der Überzeugung, dass diesem Verhalten eine Art Sinnlosigkeit anhaftet. Eine unmittelbare Belehrung, was gut ist und was böse, erteilen die Wissenschaften nicht. Zu allen Zeiten haben die Menschen versucht, den Sinn des Lebens zu ergründen. Sie haben erkannt, welch große menschliche Kräfte sich freisetzen ließen, wenn es gelänge, unseren Handlungen eine Richtung oder einen Sinn zu geben. So sind auf die Frage nach dem Sinn des Ganzen zahllose Antworten gegeben worden. Diese Antworten sind freilich sehr unterschiedlich ausgefallen, und die Verfechter der einen Antwort haben die Aktionen der Anhänger einer anderen voll Abscheu betrachtet, sahen sie doch von ihrem abweichenden Standpunkt aus das gesamte große Potential des Menschengeschlechts in eine falsche Richtung, eine enge Sackgasse gelenkt. Tatsächlich haben ja die Philosophen aus der Geschichte der durch falsche Überzeugungen herbeigeführten Ungeheuerlichkeiten die scheinbar unbegrenzten und wunderbaren Fähigkeiten des Menschen erschlossen. Das offene Fahrwasser zu finden: das ist der Traum. Worin also liegt der Sinn des Ganzen? Wie können wir das Dunkel des Daseins zerstreuen? Ziehen wir alles in Betracht - nicht nur das, was die Alten wussten, sondern alles, von dem wir heute wissen, dass es ihnen noch verschlossen war -, müssen wir wohl offen - 234 -
zugeben, dass wir es nicht wissen. Doch mit diesem Eingeständnis haben wir vermutlich das offene Fahrwasser entdeckt. Der Gedanke ist nicht neu - er stammt aus dem Zeitalter der Aufklärung. Von dieser Erfahrung ließen sich die Männer leiten, die die Demokratie, in der wir leben, aufbauten. Die Einsicht, dass niemand wirklich wusste, wie regiert werden sollte, schuf das Leitbild, ein System einzuführen, in dem sich neue Ideen entfalten, erprobt und, falls nötig, über Bord geworfen werden konnten, um wiederum neue hereinzuholen - ein System auf der Basis des Experiments. Diese Methode erwuchs aus der Tatsache, dass sich die Wissenschaft Ende des 18. Jahrhunderts bereits als erfolgreiches Unterfangen erwies. Schon damals war es sozial gesonnenen Geistern klar, dass Aufgeschlossenheit für neue Möglichkeiten eine Chance darstellte und dass der Vorstoß ins Unbekannte ohne Zweifel und Diskussion nicht möglich war. Will man für ein bislang ungelöstes Problem eine Lösung finden, muss die Tür zum Unbekannten angelehnt bleiben. Die Menschheit steckt in ihren aller ersten Anfängen, darum ist es ganz natürlich, dass wir uns mit Problemen herumschlagen müssen. Doch wir haben Zehntausende von Jahren vor uns. Unser Möglichstes zu tun, in Erfahrung zu bringen, soviel wir können, die Lösungen zu verbessern und dann weiterzugeben, das ist unsere Pflicht. Und es ist unsere Pflicht, den Menschen der Zukunft freie Hand zu lassen. In der stürmischen Jugend der Menschheit können wir schwerwiegende Fehler begehen, die unser Wachstum auf lange Zeit hinaus hemmen können. Ein solcher Fehler wäre die Behauptung, wir hätten trotz all unserer Jugend und Unwissenheit die Antworten schon parat. Unterdrücken wir jegliche Diskussion, jegliche Kritik und behaupten: »Das ist die Antwort, Freunde; der Mensch ist gerettet!«, verdammen wir die Menschheit, eingezwängt in den Kerker unserer heutigen Vorstellungskraft, auf lange Zeit zu den Ketten der Autorität. Und verüben damit das gleiche, was schon so oft verübt worden ist. Wir Wissenschaftler - die wir um den großen Fortschritt wissen, der aus einer zufriedenstellenden Philosophie des Nichtwissens erwächst, den großen Fortschritt, der die Frucht - 235 -
der Denkfreiheit ist - haben die Aufgabe: den Sinn und Nutzen dieser Freiheit zu verkünden, zu lehren, dass Zweifel nicht zu fürchten, sondern zu begrüßen und zu erörtern sind, und diese Freiheit zu fordern als unsere Pflicht und Schuldigkeit gegenüber künftigen Generationen.