Klassenfahrt auf den Alderhof
FISCHER VERLAG GMBH Remseck bei Stuttgart, 1993 © BASTEI-Verlag, Bergisch Gladbach Lizen...
72 downloads
814 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Klassenfahrt auf den Alderhof
FISCHER VERLAG GMBH Remseck bei Stuttgart, 1993 © BASTEI-Verlag, Bergisch Gladbach Lizenz durch: EL Euro-Lizenzen, München Titelillustration: Margarete Hoss ISBN 3-439-90023-1 Inhalt 2
Version 1.0 Viel Spaß beim Lesen
3
☺
Inhalt Die Weltmeisterin........................................................................... 5 Der Alderhof................................................................................... 9 Ankunft ......................................................................................... 16 Reiten lernen................................................................................. 19 Der erste Waldritt ......................................................................... 23 Die Neue ....................................................................................... 27 Das Findelpferd ............................................................................ 32 Der Konkurrent............................................................................. 36 Vorbereitungen ............................................................................. 40 Die Flucht ..................................................................................... 44 Nachtritt ........................................................................................ 47 Frau Schröder lernt Reiten............................................................ 51 Das Reiterfest................................................................................ 55 Der Unfall ..................................................................................... 59 Bangen und Hoffen....................................................................... 63 Das Turnier ................................................................................... 67 Abschied vom Alderhof................................................................ 71 Saisonende .................................................................................... 75
4
1. Kapitel Die Weltmeisterin Aufgeregt ritt Julia auf den Turnierplatz. Vor Spannung lief ihr eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken. Ihre Finger umklammerten die Zügel, bis es schmerzte. Julia mußte lange warten, bis sie und ihre Schimmelstute Bluebird an den Start gerufen wurden. Die Außenseiter, zu denen auch Julia gehörte, bildeten das Schlußdrittel des Teilnehmerfeldes. Deshalb würde niemand einen Penny auf sie setzen. Langsam ritt Julia in die Mitte des Platzes. Bluebird trabte an. Julia war bis in die Haarspitzen konzentriert. Vor dem ersten Hindernis - einem Steilsprung - korrigierte sie noch einmal ihre Haltung. Bluebird sprang und - Julia blieb einen Augenblick lang das Herz stehen - setzte sicher auf. Julia atmete tief durch. Das zweite Hindernis war seitlich der Startlinie aufgebaut. Julia meisterte auch diese Hürde ohne sichtbare Schwierigkeiten. Bluebird war kleiner als die übrigen Turnierpferde. Was ihr an Masse und Greifvermögen fehlte, glich die Stute durch Geschicklichkeit aus. Sie flog fast über die Hindernisse. Inzwischen merkten die Zuschauer, daß sich eine Sensation anbahnte. Selbst diejenigen, die bereits ihre Plätze verlassen hatten, kehrten wieder zurück. Nach jedem gelungenen Sprung applaudierte das Publikum wie wild. Zwischen den einzelnen Hindernissen verständigte sich Julia mit ihrem Pferd. Ein leichter Schenkeldruck, ein Zug mit dem Zügel, ein Schnalzen mit der Zunge, und Bluebird wußte, was Julia von ihr erwartete. Die letzten beiden Oxer ritt Julia vorsichtshalber in einem weiträumigen Bogen an. Mit einem gewaltigen Sprung wuchtete Bluebird sich über den letzten Oxer, bei dem bisher selbst die Favoriten gepatzt hatten. In der Luft reckte sich Bluebird. Die Stute schien immer länger zu werden. Mit dem rechten Hinterhuf streifte sie einen Balken. Dieser wackelte zwar, fiel aber nicht. 5
Im gestreckten Galopp überquerte Bluebird dann die Ziellinie. „Julia Meisner ist neue Junioren-Weltmeisterin!" schallte es aus den Lautsprechern. Noch ehe Julia abgesessen war, herrschte um sie herum ein heilloses Durcheinander. Zeitungsreporter und Fernsehteams drängten sich um die neue Weltmeisterin der Junioren. „Erwarten Sie, daß der Bundestrainer Sie für die Olympiamannschaft nominiert?" fragte ein besonders hartnäckiger Journalist. „Stimmt es, daß ein Ölscheich Bluebird für zwei Millionen Dollar kaufen will?" wollte ein anderer wissen. Julia hörte gar nicht richtig hin. Wie im Rausch genoß sie den Beifallssturm, mit dem das Publikum sie überschüttete. Immer wieder drangen „Bravo"-Ru-fe an ihr Ohr, und immer wieder verneigte sich Julia vor den Zuschauern. „Julia!" Julia stutzte. War das nicht Frau Schröder, ihre Lehrerin, die da rief? Aber so oft Julia sich auch umsah, sie konnte Frau Schröder beim besten Willen nirgendwo entdecken. „Julia!" Da! Schon wieder! Und diesmal ganz nah, als ob sie genau vor ihr stehen würde. Direkt unheimlich war das. Wirklich, eine merkwürdige Sache. Vielleicht bildete sich Julia die Stimme ihrer Lehrerin nur ein! „Die allerjüngste Weltmeisterin aller Zeiten ...", krächzte es, immer leiser werdend, aus den Lautsprechern über den Turnierplatz. Allmählich kehrte Julia in die gnadenlose Wirklichkeit zurück. Sie erwachte aus dem süßen Tagtraum und fand sich in ihrem öden Klassenzimmer wieder. Sie merkte, daß sie immer noch dankend mit dem Kopf nickte. Nur wenige Zentimeter entfernt blickte Julia in das besorgte Gesicht der Lehrerin der Klasse 10 b) des Geschwister-Scholl-MädchenGymnasiums. „Na, Julia," säuselte Frau Schröder. „Ich nehme an, wir sind wieder einmal auf dem Turnierplatz, nicht wahr?" Julias Vorliebe für Pferde war inzwischen auch dem gesamten 6
Lehrerkollegium bekannt. Nicht zum ersten Mal mußte sie aus einem Tagtraum wachgerüttelt werden, in dem es um Pferde und ums Reiten ging. Julia schluckte. „Vielleicht wirst du einmal so berühmt wie Ludger Beerbaum", seufzte Frau Schröder. „Vielleicht kann ich später mal sagen, daß ich die berühmte Olympiareiterin Julia Meisner unterrichtet habe. Aber deshalb möchte ich mir nicht vorwerfen lassen, daß du keine Proportional-Rechnung kannst, weil du in meinem Mathematikunterricht ständig vor dich hingeträumt hast. Das mußt du einsehen!" Zum Glück war Frau Schröder eine junge, verständnisvolle Lehrerin. Das bewahrte Julia vor einer saftigen Strafarbeit. Julia wünschte sich nichts sehnlicher, als einmal zu reiten. Oft lag sie deswegen nachts in ihrem Bett wach. Dann stellte sie sich vor, wie sie auf einem prächtigen Schimmel im Galopp über die Weiden preschte. Aber dieser Traum würde wohl noch lange ein Traum bleiben. Julias Eltern hatten nicht das Geld für Reitstunden. Julias Vater, ein gelernter Werbefachmann, war seit fast zwei Jahren arbeitslos. Wenn Julia mal etwas außer der Reihe haben wollte, mußte sie dafür in den Ferien hart arbeiten. Leider reichte ihr Geld 7
nie für Reitstunden. Damit rückte Julias Wunschtraum, einmal Turnierreiterin zu werden, in unerreichbare Ferne. Julias Freundinnen hatten es in dieser Hinsicht besser. Viele wurden von Eltern und Verwandten mit Geschenken überhäuft. Aber deswegen war Julia noch lange nicht neidisch auf sie. Ihre Omi hatte einmal gesagt: „Nichts, was leicht zu haben ist, lohnt sich wirklich." Das stimmte. Julia besaß noch ihre allererste und einzige Puppe. Wenn man kaum Spielzeug besitzt, oder wenn man etwas nur unter großen Schwierigkeiten bekommt, dann hegt und pflegt man seine Sachen besonders. Trotz des niederschmetternden Gefühls über den Wiedereintritt in die triste Wirklichkeit gaukelte Julias lebhafte Phantasie ihr bereits wieder die wundervollsten Bilder vor. Zum Beispiel, wie sie unter funkelnden Sternen durch die klare Nacht ritt. In diesem Augenblick flog die Klassentür auf, und Direktor Tidemann trat ein. Der Schulleiter war eine große, wuchtige Erscheinung. Nur äußerst selten verließ er sein Büro und stieg in die Niederungen des normalen Schulalltags hinab. Es mußte also etwas Wichtiges vorgefallen sein, wenn er während des Unterrichts in die 10 b) platzte. „Meine Damen", näselte Tidemann in seiner gewohnt geschraubten Art, „ich möchte Ihnen mitteilen, daß mir das Kultusministerium ein Schreiben betreffs Ihres Sommeraufenthaltes zugestellt hat." In der Klasse wurde es schlagartig mucksmäuschenstill. Die Mädchen der 10 b) spitzten alle gespannt die Ohren. „Das Ministerium hat die von mir beantragten Finanzmittel für die diesjährige Schulfahrt bewilligt." Daraufhin setzte ein Gejohle und Gejauchze ein, wie man es aus zarten Mädchenkehlen niemals vermutet hätte. „Bitte reichen Sie die schriftliche Einverständniserklärung Ihrer Eltern baldmöglichst im Sekretariat ein", ergänzte Tidemann noch. Er händigte Frau Schröder die Unterlagen aus und schritt majestätisch aus dem Raum. Als Julia mit ihren Klassenkameradinnen nach Unterrichtsschluß 8
die Schule verließ, liefen die Mädchen nicht wie gewöhnlich in alle Himmelsrichtungen davon. Sie standen im Pulk zusammen und schmiedeten unzählige Pläne für die geplante Klassenfahrt. Julia befand sich in einem wahren Freudentaumel. In der darauffolgenden Nacht konnte die überglückliche Julia vor Aufregung nicht einschlafen. Immer wieder sah sie vor ihrem geistigen Auge, wie Frau Schröder an die Tafel trat. Mit Kreide schrieb sie dort den Namen des Reiterhofs auf, der das Ziel ihrer vierwö-chigen Klassenfahrt war: der ALDERHOF!
2. Kapitel Der Alderhof Der Alderhof lag inmitten einer sanften Hügellandschaft, umgeben von Wäldern und in der Nähe eines Sees. Der Reiterhof besaß alles, was man sich nur wünschen konnte: ein herrliches Gutshaus, saubere Stallungen und viele Pferde. Zwischen dem altherrschaftlichen Wohnhaus und den Stallungen befand sich ein großer Innenhof, auf dem sich Gänse, Enten und Hühner tummelten. Neben dem Gutsgebäude schloß sich ein kleiner Park an, in dem die Gräfin Alderhof oft spazieren ging. In ihrer Jugend war sie einmal eine gefeierte Ballettänzerin 9
gewesen. Ein tragischer Unfall hatte ihrer Karriere jedoch ein jähes Ende gesetzt. Auch Graf Alderhof zog sich gerne in den Park zurück. Es tat gut, im Schatten der Bäume zu sitzen und die Ruhe zu genießen. Letzten Sommer war der Graf siebzig geworden. Sein ganzes Leben hatte er hart gearbeitet und den Alderhof zu dem gemacht, was er heute war. Jetzt genoß er die Früchte seiner Arbeit. Vor allem liebte er es, an warmen Abenden im Schatten der Bäume zu sitzen und dem Konzert der Vögel zu lauschen. „Bernhard hat geschrieben", sagte die Gräfin zu ihrem Mann, der sich neben sie auf die Bank setzte. „Er kann in den Sommerferien nicht kommen. Bei dem Staudammbau in Brasilien sind unvorhersehbare Probleme aufgetreten." „Als leitender Ingenieur ist mein Sohn für das Projekt verantwortlich", erwiderte der Graf. „Aber um Conny tut es mir leid." „Ja!" Die Gräfin nickte traurig. „Das Kind hat sich schon so auf seinen Vater gefreut." Graf und Gräfin Alderhof waren beide stolz auf ihre Enkelin Conny. Sie wohnte erst seit einigen Wochen auf dem Reiterhof, aber sie hatte sich in der kurzen Zeit prächtig eingelebt. Für eine Fünfzehnjährige war es nicht einfach, als Halbwaise aufzuwachsen. Conny hatte ihre Mutter nie gekannt. Sie war bei ihrer Geburt gestorben. Nachdem ihr Vater für ein Jahr nach Brasilien mußte, hatte Conny außer ihren Großeltern niemanden mehr auf der Welt, an den sie sich halten konnte. Conny war sehr hübsch. Ihre langen, honigblonden Haare trug sie meist offen. Ein Blick ihrer hellblauen Augen machte selbst hartgesottene Jungs weich wie Wachs. Conny liebte die Natur, sie liebte Pferde, vor allem aber liebte sie ihr Pferd Kobalt. Gerade ritt Conny mit ihren Freundinnen Steffi und Gertie durch den Wald. Das war heute ein Wetter, so richtig zum Reiten geschaffen. Die Sonne strahlte vom klaren Himmel, und die Luft war angenehm warm. Conny ritt gerne durch den Wald. Die Luft war erfüllt von dem feucht-süßen Duft des Laubs und der Blumen. Zwitschernde Vögel huschten flink durch die Baumkronen. Aus dem 10
dichten Farnkraut erhob sich ein junges Rehkitz und blickte mit staunenden Augen auf die Reiterinnen. Neben dem Kitz stand die Ricke und leckte ihrem Jungen das Fell. Der Moosteppich dämpfte die Schritte der Pferde. In den hohen Fichten huschten kecke Eichhörnchen umher. Geschäftig hüpften sie von Ast zu Ast. Ein Hörnchen hockte auf einem vorstehenden Ast. Es schimpfte schnatternd mit den menschlichen Störenfrieden und hob drohend seinen buschigen Schweif. Kobalt reckte seinen Hals und blickte verwundert zu dem kleinen Frechdachs auf. In diesem Augenblick fiel von der Fichte eine kleine Haselnuß herab und landete genau auf Kobalts Nase. Kobalt schüttelte verwundert den Kopf, während das Eichhörnchen wieder laut schnatterte. Es klang verdächtig nach schadenfrohem Gelächter. Kobalt warf dem Eichhörnchen einen tadelnden Blick zu und trottete weiter. Da es ja schlecht hinter dem Eichhörnchen herklettern konnte, zeigte sich das Pferd geneigt, dem frechen Angreifer zu verzeihen. Gemächlich ritten die Mädchen an einem quirligen Bach vorbei. Im kristallklaren Wasser wimmelte es vor Forellen. „Warum fliegst du in den Ferien nicht nach Brasilien zu deinem Vater?" fragte Gertie. „Rio ... der Zuckerhut... Samba ... WOW!" „Ach, Brasilien", seufzte Conny. „Und was ist mit Kobalt? Den kann ich doch schlecht mitnehmen." „Kobalt wird ein paar Wochen auch mal ohne dich auskommen", meinte Gertie. „Ihr seid doch keine siamesischen Zwillinge." „In Brasilien gibt's Jaguare", warf Steffi ein. „Da wimmelt's vor wilden Tieren. Die fressen dich, ehe du huch gesagt hast." „Das ist doch Unsinn ...", lachte Conny. „Basta! In den Sommerferien gibt es auf dem Alderhof viele Gäste. Da muß ich mit anpacken." Gertie verstummte. Ihr lief eine Gänsehaut über den Rücken, wenn sie nur an die Hauptsaison auf dem Alderhof dachte. Im Geist sah sie bereits die Heerscharen von Touristen, die kreuz und quer über den Hof rannten und dabei die Pferde belästigten. Gerade, als Conny mit ihren Freundinnen Steffi und Gertie zum Alderhof zurückkehrte, da geschah dort etwas Ungewöhnliches. 11
PÄNG-PÄNG-PÄNG knallte es in der großen Scheune. Dann wieder PÄNG! Vor Schreck jagten die Pferde scheuend davon. Darauf waren die Mädchen überhaupt nicht gefaßt. Nur mit Mühe blieben sie im Sattel. Weniger gute Reiter hätten wahrscheinlich einen sehr schmerzhaften Abwurf erlebt. Durch gutes Zureden und geschickte Zügelarbeit beruhigten die Mädchen ihre erschrockenen Pferde. Rasch brachten sie die Tiere in den Stall. Dann liefen sie in die Scheune, um nachzusehen, was da los war. Alexander Schlöderblohm - bei den Mädchen als „KatastrophenAlex" berüchtigt - besaß die Eigenschaft, das Chaos magisch anzuziehen. Im Grunde genommen war Alex ein aufgeweckter Sechzehnjähriger mit dem ungehemmten Drang, an allem herumzutüfteln. Basteln war Alexanders große Leidenschaft. Er war nicht untalentiert. Zweifellos besaß er das Zeug zu einem Erfinder. Leider taumelten seine Entwicklungen permanent am Rande des Chaos. Nicht selten kam er nur dank eines Wunders unbeschadet aus einem seiner mißglückten Experimente. Außer Erfinden hatte Alex noch eine andere Schwäche - und die hieß Conny. Alex war ziemlich verknallt in sie. Irgendwie war sie ihm sogar wichtiger als sein neuer Computer. Das hieß bei Alex eine ganze Menge. Im Augenblick hockte Alex wie ein Äffchen auf dem Schleifstein auf seinem Mofa und raste in halsbrecherischen Windungen an abgestellten Feldmaschinen vorbei. In jeder Kurve verlor das Knatterding zahlreiche Schrauben und Muttern. Mit voller Kraft und einer imponierenden Lebhaftigkeit machte das Fahrzeug mit seinem Fahrer, was es wollte. Das lag vor allem daran, daß die Bremsen und die Lenkung nicht funktionierten. Mit heiserer Stimme rief Alex um Hilfe. „HÜÜÜÜLFEEEE!" Jetzt bedauerte er, daß er den Motor neu zusammengebaut hatte, um ein paar PS mehr rauszuholen. Aber für Reue war es leider zu spät. Erbarmungslos hoppelte das Mofa über das unebene Plaster des 12
Alderhofs. „Alexander!" stöhnte Conny. „Was hast du jetzt schon wieder angestellt?" „Da ... das erzähle ich dir ein andermal", japste Alex, als er an Conny vorbeischoß. Entsetzt sah Conny das Gefährt auf die offene Seitentür zurasen. Mitten im Eingang schlief Waldi - der Dackel des Grafen Alderhof und versperrte Alexander Schlöderblohm den Weg. Knapp zwei Meter vor Waldi packten die Bremsen plötzlich. Das Mofa stoppte abrupt und hielt wenige Zentimeter vor Waldi. Alex entschied, daß es an der Zeit sei, seine Autorität geltend zu machen. „Waldi! Auf! Geh! Ich will nach draußen!" befahl Alex mit scharfer Stimme. Genausogut hätte er einer Stubenfliege ein Gedicht vorlesen können. Die Wirkung war die gleiche. Der Angesprochene reagierte mit lässiger Arroganz. Noch zweimal bat Alex den Dackel, sich gefälligst aus dem Staub zu machen. Begleitet wurde diese Aufforderung von einem Schwall nicht druckreifer Verwünschungen. Der Erfolg dieser Schimpferei blieb allerdings aus. Gelangweilt hob Waldi ein Augenlid. Doch da es nichts anderes als einen wütenden Schlöderblohm zu sehen gab, schloß er es wieder. „Waldi!" donnerte in diesem Augenblick Hugos machtvolle Stimme. „Willst du wohl da weggehen!" Hugo war ein ganz anderer Kerl als Alex. Mit Hugo legte sich Waldi lieber nicht an. Der Dackel streckte seine müden Glieder und trottete dann gemächlichen Schrittes davon. Hugo war ein stämmiger, kräftiger Mann Anfang Fünfzig. In jungen Jahren war er viel in der Welt herumgekommen. Auf dem Alderhof galt er als Mädchen für alles. Offiziell lautete Hugos Berufsbezeichnung: Hausmeister. Aber Hugo konnte alles; zur Not sogar Pferde behufen. Conny, Steffi und Gertie gingen in den Stall zurück. Sie sattelten ihre Pferde ab und rieben sie trocken. Dann halfen sie Hugo bei der Arbeit in der kleinen, hofeigenen Schmiede. Hugo brachte gerade ein Eisen in der Esse zum Glühen. Dann 13
griff er es mit der Zange und paßte es dem Huf eines Pferdes an. Conny und Steffi hielten das angewinkelte Bein des Pferdes fest. Es zischte und roch nach verbranntem Hörn, als das glühende Eisen den Huf berührte. Hugos Frau Gerlinde war für die Hauswirtschaft des Alderhofs zuständig. Die Küche war ihr Herrschaftsbereich, in den ihr niemand hineinreden durfte. Kochen konnte Gerlinde wie keine andere. Allein schon der Duft der Mahlzeiten, der mittags aus dem Küchenfenster drang, war ein Hochgenuß. Else hingegen war die Herrscherin über die Waschküche. Sie trug auch die Verantwortung dafür, daß es im Wohnhaus immer picobello aussah. Täglich kämpfte sie gegen Berge schmutziger Wäsche und allgegenwärtigen Hausstaub. Eises Mann Ewald arbeitete ebenfalls auf dem Al-derhof. Ewalds ganzer Stolz war sein Traktor. Er hatte ihn, bis auf die Reifen, verchromen lassen. Zweifellos besaß Ewald den glänzendsten Rübenhobel in der Geschichte der Landwirtschaft. Der Clou des Traktors aber war die eingebaute Stereoanlage. Wenn Ewald sie voll aufdrehte, weckte die Musik Tote auf. Und Ewald drehte die Anlage immer voll auf, damit nicht nur er, 14
sondern auch der Rest des Universums die Musik hören konnte. Am liebsten spielte er Wagner. Irgendwie paßte der gewaltige Sound vom „Einzug der Walküren" oder der „Götterdämmerung" zu einer Tour durch den Rübenacker. Wenn Ewald auch nur ein Staubkorn auf seinem chromblitzenden Liebling entdeckte, zuckte er zusammen, als habe eine Bombe das Fahrzeug in tausend Trümmer zerlegt. Das eigentliche Regiment auf dem Alderhof führte jedoch Cornelia. Ihr unterlag die Verwaltung des Reiterhofs, und gleichzeitig war sie die Reitlehrerin. Cornelia war Mitte Dreißig, intelligent, charmant, ehrgeizig und sehr attraktiv. Viele wunderten sich, daß sie immer noch ledig war. Die Antwort auf diese Frage lag in der Vergangenheit verborgen. Vor vielen Jahren einmal hatte sie 'eine große Enttäuschung erlebt. Ihre Traumwelt war zusammengebrochen. Seitdem verdrängte sie diese Enttäuschung mit Arbeit. Nach dem Abendessen saßen Conny, Steffi, Gertie und Alexander im Stall. Sie hatten es sich auf Strohballen gemütlich gemacht. Waldi schnupperte an Alexanders Bein und ließ sich von ihm kraulen., Conny schaute zum Fenster. Am Himmel blinkten die ersten Sterne. Eine Amsel saß in der alten Kastanie im Hof und sang ein melancholisches Lied. Ab und an schnaubte in den Boxen eines der Pferde. Die Freunde saßen noch lange beisammen, redeten und lachten viel. Das Leben auf dem Alderhof war das Großartigste, was Conny sich vorstellen konnte. Die Bewohner des Alderhofs - Menschen und Tiere - bildeten eine große Familie. Für nichts auf der Welt hätte Conny mit jemandem tauschen wollen. Nachdem die Freunde gegangen waren, blieb Conny noch lange im Hof stehen. Sie blickte zur Mondsichel empor und genoß die Stille, diese makellose Ruhe, die so kostbar und selten in unserer hektischen Welt geworden ist.
15
3. Kapitel Ankunft Endlich Ferien! Die vergangenen Wochen waren für Julia in quälender Langsamkeit vergangen. Nun saß die Klasse 10 b) im Reisebus und fuhr Richtung Alderhof. Julia konnte ihr Glück immer noch nicht fassen. Vier Wochen Reiterferien ganz umsonst! Nicht nur Julia, auch die anderen Schülerinnen der 10 b) waren mächtig gespannt auf das was da kommt. Es gab so vieles, auf das sie sich freuten. Der Bus fuhr durch eine malerische Landschaft. Hügelketten wechselten mit langen Baumreihen und kleinen Wäldern. Julia schaute ins Leere und träumte von Pferden, von Ausritten durch die Wälder und waghalsigen Sprüngen über Felsen und umgestürzte Bäume. Ein heftiger Schlag riß sie aus ihren Gedanken. Der Bus war von der Bundesstraße abgebogen und ruckelte nun über einen Feldweg, der von Schlaglöchern übersät war. Pappeln säumten den Weg, der sich durch saftige grüne Wiesen schlängelte. „Da!" rief plötzlich ein Mädchen. „Pferde! Seht nur! Man kann sie kaum zählen!" Wie auf Kommando drückten alle Mädchen ihre Nasen an den Busfenstern platt. Den Wegrand säumte eine Weide nach der anderen. Julias Augen bot sich ein großartiger Anblick. Auf den Wiesen grasten Pferde. Richtige Pferde! Es wimmelte geradezu von ihnen. Braune, schwarze, weiße -es gab sie in allen möglichen Farbschattierungen. Wie Magnete zogen sie die Blicke der Schülerinnen an. Vor Staunen blieb Julia der Atem weg. Ihre Augen nahmen jenen seltsamen Ausdruck an, den Kinder zumeist nur während der Weihnachtsbescherung oder an ihrem Geburtstag haben. Auf einer gesonderten Koppel waren die Mutterstuten mit ihren jungen Fohlen untergebracht. Die Fohlen standen dicht gedrängt bei ihren Müttern und blickten ängstlich zu dem großen Bus, der vor ihnen über den Feldweg rumpelte. 16
Der Bus fuhr an der Rückseite des großen Gutsgebäudes vorbei. Als er durch das offene Tor in den Hof einbog, hupte der Fahrer. Gackernd und quakend flatterten Hühner und Enten zur Seite. Der Bus verlangsamte sein Tempo und hielt vor dem Haupteingang des Wohngebäudes. Zischend sprangen die Bustüren auf. Die Schülerinnen der Klasse 10 b) drängten mit lautem Hallo und Juchu nach draußen. Der Busfahrer hielt sich die Ohren zu, seufzte und sah ein bißchen genervt aus. „Ruhig, Kinder! Ruhig!" rief Frau Schröder, die ihre Klasse begleitete. Aber offensichtlich wählte sie nicht die richtigen Worte. Was immer sie mit Ruhe meinte - ihre Schülerinnen verstanden offensichtlich etwas ganz anderes darunter, denn sie wurden nur noch lauter. Selbst die Enten rings herum verstummten und blickten verwundert zu den Neuankömmlingen. So ein aufgeregtes Geschnatter hatte selbst das Geflügel vom Alderhof selten gehört. Frau Schröder gab es schließlich auf, für Ruhe zu sorgen. Sie wandte sich ab und tat so, als stände sie nur zufällig da und als ginge die Ansammlung quirliger Mädchen sie gar nichts an. Conny trat mit ihrem Großvater aus dem Wohnhaus. Der Graf lächelte. Er mochte es, wenn junge Menschen den Alderhof mit Leben erfüllten. Waldi begrüßte die Neuankömmlinge mit einer Mischung aus wohlwollendem Schwanzwedeln und respekteinflößendem Kläffen. Cornelia trat vor die Mädchen und bat um Ruhe. Die Schülerinnen senkten ihre Stimme und verstummten schließlich ganz. Frau Schröders verkrampfte Miene lockerte sich ein wenig. „Willkommen auf dem Alderhof, begrüßte Cornelia die Mädchen. „Ich heiße Cornelia und bin hier die Verwalterin. Sollte es irgendwelche Probleme geben, wendet euch bitte an mich. Conny wird euch eure Unterkünfte zeigen. Wann ihr Reitstunden habt, entnehmt bitte dem Stundenplan'. Er hängt in der Kantine aus. Ich wünsche euch allen viel Spaß auf unserem Alderhof. Und denkt bitte immer daran: Pferde sind keine Maschinen." „Es sind Lebewesen, die genauso fühlen wie wir. Behandelt sie deshalb wie Freunde", fuhr sie fort. 17
Nach Cornelias kurzer Begrüßungsrede holten die Schülerinnen der Klasse 10 b) ihre Koffer aus dem Gepäckraum des Busses. Die Jugendlichen wurden in mehreren Gäste-Bungalows untergebracht. Je acht Mädchen bewohnten je eines der gemütlichen Häuser. Nach dem Mittagessen in der Alderhof-Kantine schlug Frau Schröder den Mädchen eine Ruhestunde vor. Aber damit stieß sie auf wenig Gegenliebe. Julia hatte nur ein einziges Interesse, und das waren Pferde. Sie kannte sämtliche Rassen, die es gab, auswendig. In einer Woche verschlang sie mindestens zwei Bücher über Pferde. Wie bei ihren Mitschülerinnen zeigte auch ihr Gesicht jene fieberhafte Aufregung, die einen Mittagsschlaf unmöglich machte. Conny führte die Mädchen über den Alderhof. Klar, daß der Stall das größte Interesse fand. Leider waren fast alle Boxen leer. Die meisten Pferde befanden sich auf der Weide. Die wenigen Tiere, die noch im Stall standen, waren für die Reitstunden am Nachmittag vorgesehen. Wie hypnotisiert starrte Nicole ein Pferd an. „Darf ich es streicheln?" fragte sie. „Natürlich", antwortete Conny. „Wotan ist ganz brav und mag das gerne." 18
Das ließ sich Julia nicht zweimal sagen. Vorsichtig griff sie in Wotans Mähne und streichelte sie. Wotan senkte den Kopf. Offenbar gefiel ihm das. „Ach, ist der lieb", schmachtete Julia. „Ich glaube, er mag dich", sagte Conny. „Wenn du willst, kannst du ihn reiten, solange du hier bist." „Ehrlich?" Julia bekam vor lauter Freude den Mund nicht mehr zu. „Bist du schon mal geritten?" wollte Conny wissen. „Nein", gab Julia ehrlich zu. „Ich hab' noch nie auf einem Pferd gesessen. Aber ich hab' alles über Pferde gelesen", fügte sie hastig hinzu. „In der Theorie bin ich große Klasse." Conny schmunzelte, dann wandte sie sich an die übrigen Schülerinnen der Klasse 10 b). „Alle mal herhören", sagte sie mit fester Stimme. „Morgen früh beginnt eure erste Reitstunde. Hugo teilt euch die passenden Reitstiefel und Reitkappen aus." „Reitkappen?" stöhnte Melanie. „Muß das sein? Darunter verkleben meine Haare. Beim Auskämmen reiß ich sie mir dann büschelweise aus." „Laut Vorschrift darf nur mit Kappe geritten werden", erwiderte Conny. „Außerdem ist es auch angenehmer." „Angenehmer?" staunte Melanie. „Wieso?" „Na, es ist angenehmer, mit einer Reitkappe vom Pferd zu fallen als ohne", lächelte Conny. „Oder findet ihr es angenehm, wenn man vor lauter Beulen beim Kämmen den Kamm zerbricht?"
4. Kapitel Reiten lernen Es dauerte nicht lange, dann hatten sich die Schülerinnen der 10 b) auf dem Alderhof schon eingelebt. Man konnte es daran merken, daß ihnen alles auf dem Hof vertraut war. Reiten lernen war jedoch schwieriger, als sich das einige vorgestellt hatten. „Könnten wir zu Beginn keine kleineren Pferde haben?" fragte 19
Melanie kleinlaut auf dem Reitplatz. „Ich meine, dann fallen wir wenigstens nicht ganz so tief aus dem Sattel." „Je größer ein Pferd ist, desto einfacher ist das Fallen", erklärte Conny den Mädchen, die sich auf den Koppelzaun gesetzt hatten. „Bei einem hohen Pferd dauert der Sturz länger als bei einem kleinen. Das bedeutet, man hat mehr Zeit, zu reagieren und den Sturz abzufangen." Das leuchtete allen Mädchen ein. Jetzt waren sie ganz gespannt darauf, ihre erste Reitstunde zu erleben. Eine Schülerin nach der anderen ritt unter Connys Aufsicht. Conny führte das Lehrpferd an der Longe und gab der Schülerin Anweisungen. Viele Dinge mußte ein Reiter gleichzeitig beachten: Rücken gerade, Kopf aufrecht, Hände und Beine ruhig halten! Das erfordert Konzentration. Die Mädchen wußten bald nicht mehr, was da alles auf sie einprasselte. „Kopf hoch!" kommandierte Conny dann knallhart. Julia, die jahrelang vom Reiten geträumt hatte, machte die Erfahrung, daß aus Träumen leicht Alpträume werden können. Nachdem sie die erste Runde im Kreis geritten war, fühlte sie sich sehr elend. Schon als kleines Kind wurde ihr beim Karussellfahren immer schlecht. Leider hielt Julias Bauch mit seinen Gefühlen auch beim Reiten im Kreis nicht hinter dem Berg. „Geht es dir nicht gut, Julia?" fragte Conny besorgt. „Du siehst so blaß aus. Vielleicht wäre es besser, du legst dich ins Bett." „Mir ist es noch nie besser gegangen", versicherte Julia. Jeder Galoppsprung hallte heftig in ihrem rebellierenden Magen wider. Tapfer rief sie sich ihr Idol Mel Gibson ins Gedächtnis. Wie hatte sie den Star, bewundert, als er in einem Western stolz dem Sonnenuntergang entgegenritt. ,Reiß dich zusammen`, befahl sich Julia tapfer. Was sollte Mel Gibson denken, wenn er sie hier - mehr im Sattel liegend als sitzend sehen würde? Julia beschloß, der weibliche Mel Gibson zu sein und stolz im Sattel sitzend den Stürmen der Welt zu trotzen! Nach einer weiteren Runde beendete Conny das traurige Spiel. Der wackere weibliche Mel Gibson rutschte kreidebleich aus dem Sattel. Verzweifelt kämpfte Julia um ihr Gleichgewicht. Die ganze 20
Welt drehte sich um sie. Conny konnte sie gerade noch festhalten, sonst wäre sie der Länge nach hingeschlagen. Nach dieser unrühmlichen ersten Reitstunde fühlte sich Julia todunglücklich. Sie setzte sich auf die Bank unter der alten Eiche und dachte angestrengt nach. Jede andere hätte nach diesem Reinfall gesagt: „Nein danke, keine Reitstunden mehr." Doch was Pferde betraf, kannte Julia das Wort „Nein" nicht. Sie war fest entschlossen weiterzumachen. Und wenn Conny den weiblichen Mel Gibson nach jeder Runde vom Boden auflesen und wieder in den Sattel hieven mußte! Julia wollte sich mit all ihrer Energie durchbeißen. „Julia, ich glaube, wir sollten ein paar Worte miteinander reden!" Conny setzte sich neben Julia auf die Bank unter der Eiche. Julia schluckte, entgegnete aber nichts. Am liebsten hätte sie Conny die Wahrheit gesagt, so mutig, wie Mel Gibson Michelle Pfeiffer die Wahrheit in dem Film „Tequila Sunrise" gesagt hatte. Verflixt, wo steckte Mel Gibson bloß, wenn man ihn mal brauchte? „Ach, Julia", lächelte Conny. „Du stellst dich an, als hättest du dir ein Bein gebrochen. Dir ist nur schlecht geworden, stimmt's?" Julia nickte und heuchelte dabei größtes Interesse für eine Ameise, die gerade an ihren Füßen vorbeikrabbelte. „Das passiert vielen Anfängern", sagte Conny aufmunternd. „Ich kenne ein gutes Mittel dagegen." „Wirklich?" Julia blickte Conny hoffnungsvoll an. „Ja. Erst einmal eine doppelte Portion von Gerlindes berühmtem Schokoladen-Pudding, und dann fixierst du mit den Augen beim Reiten einen weit entfernten Punkt. Wenn du immer nur auf den Boden schaust, dreht sich natürlich alles um dich herum." „Und das funktioniert?" fragte Julia zaghaft. „Garantiert!" Es klappte wirklich. Julia beherzigte Connys Rat, und ihr wurde beim Reiten genausowenig schlecht wie Mel Gibson. Die Mädchen der 10 b) lernten schnell, was aber nicht zuletzt ein Verdienst der lammfrommen Lehrpferde war. Nach einer Woche bereits hatte ihnen Conny Wendungen beigebracht. Nun mußten die 21
Schülerinnen ohne Longe selbst das Pferd führen. „Schenkel, Hände, Sitz und Stimme signalisieren dem Pferd, was man von ihm will", erklärte Conny. „Ein Druck mit dem Unterschenkel gegen den Bauch des Pferdes, und es marschiert los. Aber bloß nicht gleichzeitig an den Zügeln zerren, sonst passiert gar nichts. Klar?" Klar! Die Mädchen der 10 b) nickten zustimmend. „Und immer locker bleiben ", fuhr Conny fort. „Locker, locker und nochmals locker. Wenn man verspannt im Sattel sitzt, kommt keine einzige der Hilfen beim Pferd richtig an. Man will nach rechts, und das Pferd trabt nach links." Das leuchtete allen ein. Wieder nickten die Schülerinnen. Frau Schröder konnte es nicht glauben, wie konzentriert sie waren. „Zügelhaltung ist wichtig, meine Damen", mahnte Conny. „Immer darauf achten, daß der Daumen oben liegt. Die drei mittleren Finger halten die um die Hand laufenden Zügel. Habt ihr das verstanden?" „Verstanden!" Die Schülerinnen nickten wieder. Frau Schröder hatte den Verdacht, daß hier Zauberei mit im Spiel war. Trotzdem war die Länge der Zügelhaltung ein Problem. Da dies allen Anfängern Schwierigkeiten machte, hatte sich Conny etwas einfallen lassen. Sie markierte mit bunten Klebestreifen die Zügel, damit jeder wußte, ob er sie in der richtigen Länge hielt. Täglich schaute Graf Alderhof an der Übungskoppel vorbei und freute sich über die Fortschritte, die die Reitschüler machten. Es erinnerte ihn an die Zeit, als er vor vielen, vielen Jahren selbst Reiten gelernt hatte. Damals hatte er das große Glück, in Wien Schüler eines Lehrers der berühmten Spanischen Hofreitschule sein zu dürfen. Dort genoß er die beste Ausbildung, die man als Reitschüler haben konnte. Damals ritt er einen schneeweißen Lipizzanerhengst. Das war ein Gefühl, wie es nur wenigen Reitern auf dieser Welt vergönnt ist. Graf Alderhof stand am Koppelzaun und genoß es, wie die jungen Menschen Reiten lernten. In all den Jahren hatte er dies schon oft miterlebt, aber er fand es immer wieder wunderbar. 22
5. Kapitel Der erste Waldritt Wann reiten wir endlich durchs Gelände?" lautete die häufigste an Conny gerichtete Frage. „So schnell geht das nicht", vertröstete Conny die Schülerinnen. „Ihr müßt erst lernen, mit den Pferden richtig umzugehen." „Und wie lange dauert das noch?" maulte Melanie. „Das liegt einzig und allein an euch", erklärte Conny. „Je schneller ihr lernt, desto schneller sind wir im Gelände." Diese Aussicht spornte die Schülerinnen an. Sie lernten und lernten, bis sie nach zehn Tagen endlich soweit waren. Conny teilte jedem Mädchen ein Lehrpferd zu. Wie versprochen, durfte Julia Wotan reiten. Melanie hingegen war mit der dunkelbraunen Stute, die ihr Conny zuteilte, überhaupt nicht zufrieden. „Ich möchte lieber den Schimmel reiten", beschwerte sich Melanie und deutete zu der Box, in der eine hübsche Schimmelstute stand und fraß. „Molly?" staunte Conny. „Glaub' mir, Melanie, es ist besser, wenn du Molly nicht reitest." „Wieso?" bohrte Melanie hartnäckig weiter. „Ist sie bösartig oder zu wild für mich?" „Nein", gab Conny zu. „Aber ..." „Dann möchte ich sie bitte reiten", schnitt ihr Melanie das Wort ab. Conny betrachtete Melanie eine Weile nachdenklich, als grübelte sie über etwas. „Na gut", sagte Conny schließlich. „Ganz wie du willst. Reite du ruhig Molly." Mit einem Siegesgefühl in der Brust betrat Melanie Mollys Box. Sie hatte einige Mühe, Molly vom Futtertrog wegzubekommen. Aber mit viel Kraft und noch mehr Schweiß gelang ihr das Kunststück schließlich doch noch. Zum ersten Mal verließen die Schülerinnen der Klasse 10 b) den Alderhof zu Pferd. Im Schritt ritt Conny an der Spitze. Kobalt gefiel 23
das gar nicht. Warum ging das heute alles so langsam? Was hatte er verbrochen, daß er im Schneckentempo gehen mußte? Kobalt liebte es, im vollen Galopp zu preschen, bis die Hufe kaum noch den Boden berührten. Und jetzt das! U „Reitet bitte nicht zu dicht auf!" rief Conny. „Immer eine Pferdelänge Abstand halten!" Zum Glück brauchte der Trupp keine Straße zu passieren. Ein ausgewiesener Reitweg führte von der Übungskoppel direkt in den Wald. Die Reiterinnen kamen eigentlich ganz gut voran. Nur wegen Melanie mußten sie öfters Pausen einlegen. Melanie schimpfte wie ein Rohrspatz. Molly ignorierte mit dem Gemüt eines Schaukelpferdes ihre Reiterin. Unentwegt reckte Molly ihren Kopf nach den Gräsern am Wegrand. Einmal gelang es Melanie - unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft - Mollys Kopf am Zügel hochzuziehen. „Los, weiter! Bleibt nicht stehen!" befahl Melanie dem störrischen Reittier. Doch kaum ließ Melanie die Zügel etwas locker, da fiel Mollys Kopf wieder wie ein Bleigewicht nach unten und vergrub ihn in schmackhaftem Löwenzahn und Wiesengräsern. „Bekommt Molly denn so wenig zu fressen?" fragte Julia ungläubig. „Im Gegenteil", antwortete Conny. „Molly frißt eigentlich ohne Unterlaß. Mir ist völlig rätselhaft, wo sie das alles läßt. Normalerweise wird Molly nur in der Halle geritten, wo sie nichts zu fressen findet. Im Gelände hat noch nie jemand Mollys Kopf über Grashöhe gesehen." Außer ihrer Unersättlichkeit hatte Molly noch eine zweite unangenehme Angewohnheit. Wenn sie mal nicht fraß, liebte sie es, ihr Fell an einem knorrigen Baumstamm zu scheuern. „Der Gaul ist irre!" schimpfte Melanie, nachdem sie zum zweitenmal aus dem Sattel gefallen war. Und diesmal stand der Baum, an dem Molly sich kratzte, auch noch ausgerechnet in einer großen Schlammpfütze. Melanies teurer Reitdress sah nach dem Schlammbad gar nicht mehr so toll aus. „Beklag dich nicht", meinte Conny grinsend. „Du wolltest Molly 24
reiten, jetzt bleibt es auch dabei!" Melanie fügte sich in ihr Schicksal. Während Molly sie von Futterstelle zu Futterstelle trug, schmolz in ihr die Illusion, der Reiter habe beim Reiten das Sagen. Der Ritt führte über kleine Lichtungen an Kiefern-und Eichenschonungen vorbei. Die Wiesen schimmerten bunt von all den vielen Wildblumen, die hier wuchsen. Zitronengelbe Schmetterlinge flatterten zwischen den Dotterblumen. Hummeln setzten sich auf die verlockend gelben Blüten des Löwenzahns. Zahlreiche Fliegen kuschelten sich auf Steinplatten, die die Sonne aufgeheizt hatte. „Wer die Welt erschaffen hat, muß ein Genie gewesen sein", seufzte Julia nachdenklich. Conny nickte zustimmend. Dort, wo der Mensch die Natur noch nicht zerstört hatte, war sie märchenhaft schön. Als die Reiterinnen wieder in den Wald einbogen, erschreckten sie eine Füchsin mit ihren Jungen. Blitzschnell huschten die Füchse in ihren labyrinthartigen Bau, der fünf Haupteingänge und drei Notausgänge besaß. Auf einer Lichtung legten die Reiter eine Rast ein. Sie setzten sich an das Ufer des tiefblauen Waldsees. Conny packte die Butterbrote aus, die Gerlinde ihnen mitgegeben hatte. „Komm, hier gibt's was zu essen!" rief Conny, als Melanie 25
endlich auf der Lichtung eintraf. „Hör mir bloß mit Essen auf, stöhnte Melanie und ließ sich aus dem Sattel gleiten. „Unterwegs hat Molly schon für mich mitgegessen." „Aber bestimmt keines von Gerlindes berühmten Käsebrötchen", lachte Conny. „Wenn du Molly vor morgen früh in den Stall zurückbringen willst, mußt du dich stärken." Melanie setzte sich neben Conny, wischte sich mit der einen Hand den Schweiß von der Stirn und nahm mit der anderen ein Brötchen. „Keine Macht der Welt kriegt mich mehr auf einen Schimmel", keuchte Melanie schwer atmend. „Nie wieder! Das schwöre ich!" „Das Leben auf einem Reiterhof ist wunderschön", seufzte Julia. „Noch drei Wochen, und für uns ist ein Traum zu Ende. Ich wünschte, ich wäre du, Conny. Du bist jeden Tag hier." „Ja", stimmte Conny zu. „Ich bin auch sehr glücklich. Aber ganz so einfach, wie du dir das vorstellst, ist das Leben hier nicht. Ich habe auf dem Alderhof keinen Dauerurlaub, sondern eine ganze Menge Pflichten. Manchmal wachsen die einem glatt über den Kopf." „Wieso wohnst du eigentlich bei deinem Großvater und nicht bei deinen Eltern?" fragte Julia, ohne zu ahnen, welch ein heikles Thema sie da unfreiwillig berührt hatte. „Meine Mutter lebt nicht mehr", antwortete Conny. „Oh, das tut mir leid!" Julia bereute ihre Frage bereits. „Ich habe sie gar nicht gekannt", fuhr Conny fort. „Sie starb bei meiner Geburt." „Ohne Mutter aufzuwachsen, stelle ich mir furchtbar traurig vor", meinte Melanie mitfühlend. „Wenn du es nicht anders kennst, vermißt du auch nichts." Gedankenverloren zupfte Conny an einem Grashalm. „Mein Vater ersetzte mir meine Familie. Glaubt mir, er hat seine Sache ausgezeichnet gemacht. Für mich war er zu jeder Zeit Vater, Mutter und Freund in einer Person." „Wo ist dein Vater denn jetzt?" hakte Melanie interessiert nach. „In Brasilien", antwortete Conny knapp. „Er leitet im Amazonasbecken den Bau eines Staudammes. Eigentlich wollte er 26
mich in den Ferien besuchen. Leider ist ihm was in die Quere gekommen." „Auf Erwachsene ist eben keine Verlaß." Mit dieser Feststellung schloß Melanie das Thema ab. Die Lichtung, auf der die Mädchen rasteten, war mit üppig hohem Gras bewachsen. Während die anderen Pferde nur dastanden, arbeitete sich Molly tapfer durch das Grünzeug. Unaufhörlich fraß sie sich durch das Gras. Zum Schluß stand sie kauend da und beäugte zufrieden die karge Wüstenei, die eine Stunde zuvor noch ein grünes Paradies gewesen war. Als die Schatten länger wurden, traten die Mädchen den Heimritt an. Der Sonnenuntergang malte rubinrote Wolken auf das tiefblaue Firmament. Aus den Wiesen stieg zarter Dunst auf. Es roch intensiv nach Ginster und feuchter Erde. Das letzte Wegstück zum Stall ritten die Mädchen langsam. So konnten die Pferde etwas entspannen. Im Stall sattelten sie die Tiere ab, wuschen sie mit einem feuchten Schwamm und rieben sie trocken. Danach mußten die Hufe, in die sich Schlamm und Steine festgetreten hatten, ausgekratzt werden. Für den ersten Durst bekamen die Pferde etwas lauwarmes Wasser. Bei kaltem Wasser hätten die armen Tiere eine Kolik erlitten. Nachdem sie ihre Lieblinge mit Futter versorgt hatten, gönnten sich die Schülerinnen eine Pause. Die Mädchen gingen zu ihren Bungalows und ruhten sich aus. Als Conny zur Veranda des Alderhofs kam, saßen dort ihre Großeltern an einem hübsch gedeckten Tisch. Conny wusch sich die Hände, dann setzte sie sich zu ihnen und aß etwas. „Nun, wie war denn euer Ausritt?" wollte der Graf sofort wissen. „Nicht anders als jeder andere Ausritt mit Molly auch", antwortete Conny. „Appetitanregend."
6. Kapitel Die Neue Kopfschüttelnd
betrachtete
Ewald 27
seinen
chromblitzenden
Traktor. Mitten auf dem Kühler hatte ein dreister Vogel seine Notdurft verrichtet. Ewald unterdrückte nur mit Mühe einen Wutanfall. Er biß die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. Natürlich war es nur ein winziger Vogel gewesen, der den Traktor als Toilette benutzt hatte. Aber das spielte für Ewald keine Rolle. Was, wenn das jeder Vogel machen würde? Auf seinem Traktor!! Ewald nahm einen Lappen, beugte sich vor und entfernte den Makel von seinem geliebten Gefährt. In diesem Augenblick bog neben Ewald ein Wagen in den Hof ein. Was heißt ein Wagen ... es war eine Limousine, eine Karosse, ein Geschoß, nach dem sich ein Staatspräsident alle zehn Finger lecken würde. Ein Chauffeur in Livree saß am Steuer. Als der Wagen anhielt, wieselte der Chauffeur flink um das Gefährt herum und öffnete Nicole die Tür. Majestätisch stieg das Mädchen aus. Nachdem es sich geringschätzig umgeschaut hatte, holte der Fahrer die Koffer aus dem Wagen und brachte sie in die Halle des Alderhofes. „Hallo ... äh", stotterte Ewald in seiner mit „Äh's" gespickten Sprache. „Ich bin der ... äh, Äh-wald ... äh, Ewald." Nicole stand hochmütig wie ein Pfau da, so, als sei ihr jegliche Form von Höflichkeit ein Buch mit sieben Siegeln. Als der Chauffeur zurückkam und in den Wagen stieg, zischte Nicole: „Franz! Sagen Sie meinem Vater, daß 28
ich ihm das nie verzeihe!" Der Chauffeur nickte ergeben, gab Gas und fuhr davon. Ewald war nun allein mit Nicole auf dem Hof. Sie bedachte ihn mit einem herablassenden Blick. „Gibt's in dieser Scheune überhaupt elektrisches Licht?" fragte Nicole schnippisch. „Wenn's dir hier nicht ... äh, gefällt, wieso bist du dann überhaupt ... äh?" knurrte Ewald mürrisch und wienerte wieder seinen Traktor. „Mein alter Herr wollte nicht, daß ich mit auf die Bahamas fliege. Er meinte, ich sollte mal Ferien unter meinesgleichen machen", antwortete Nicole verärgert. „Unter meinesgleichen!? Als ob es hier jemanden geben würde, der sich mit mir vergleichen kann." Nicole war sauer - stocksauer. Ihr Vater war Chef eines internationalen Konzerns. Er konnte ihr jeden Wunsch erfüllen. Wie man sich vorstellen kann, nahm Nicole deshalb den Beschluß ihrer Eltern, sie zum Alderhof zu schicken, nicht ohne zu meutern hin. Wieso mußte sie an diesem Ort Ferien machen? Für Nicole war der Alderhof nichts als ein Bunker, der die Bezeichnung Haus nicht verdiente. Enttäuscht von der Aussicht, die nächsten drei Wochen an diesem gottverlassenen Ort verbringen zu müssen, kramte Nicole Briefpapier und einen Füller aus dem Koffer. Dann schrieb sie: Liebe Eltern, vielen Dank, daß Ihr mich auf den Alderhof geschickt habt. Hier ist es sehr schön. Es gibt hier sogar ein Wasserloch, an dem wir täglich einmal zur Tränke geführt werden. Zum Mittagessen gibt es Reste aus dem Obdachlosenheim. Das hebt echt die Stimmung. Der Besitzer ist sehr nett. Er läßt uns jeden Tag fünfzehn Stunden bei harter Feldarbeit schwitzen. Jetzt muß ich Schluß machen, die anderen warten schon im Keller auf mich, wo wir schlafen dürfen. Herzliche Grüße, Eure Euch liebende Tochter Nicole steckte den Brief in einen Umschlag, klebte ihn zu und drückte ihn Ewald in die Hände. „Sorgen Sie bitte dafür, daß der Brief in die nächste Post kommt", sagte sie schnippisch im Vorbeigehen. „Ewald, ist Fräulein Karsten schon gekommen?" fragte Graf 29
Alderhof, der gerade von einem Spaziergang heimkam. Verdattert drehte sich Ewald nach dem Graf um. „J-Ja ... äh", stotterte Ewald. „Das freut mich", lächelte der Graf. „Ihr Vater rief mich an und bat, daß wir uns etwas um Nicole kümmern. Er fürchtet, sie sei in den vergangenen Jahren verzogen worden. Nun, was war dein erster Eindruck, Ewald?" „Ich ... äh, ich glaube, ihr fehlt noch der rechte ... äh", meinte Ewald vielsagend und schwieg dann diplomatisch. Nicole inspizierte den Alderhof mit verächtlicher Miene. Nirgendwo gab es Tennisplätze, geschweige denn eine Sauna oder ein Fitness-Center. Am Übungsparcours schaute Nicole den Schülerinnen der Klasse 10 b) beim Reiten zu. Sie trainierten an einem Kreuzsprung. In der Mitte waren die Stangen nur fünfzehn Zentimeter hoch. Vor dem Hindernis lagen Trabstangen. Dadurch kam das Pferd in einen gleichmäßigen Rhythmus. „Oberkörper beim Sprung weiter nach vorne, Esther", korrigierte Conny, oder: „Das Gewicht in die Knie und die Fersen verlagern. Haltet euch am Bügelriemen fest, bis ihr euch an den Bewegungsablauf gewöhnt habt." Einige der Mädchen übten Sprungbewegung im Sattel auf dem stillstehenden Pferd, bevor sie sich an den richtigen Sprung wagten. „Hallo, du bist wohl die Neue." Conny trat zu Nicole an den Zaun. „Mit fünfzehn Jahren würde ich mich nicht als neu bezeichnen", gab Nicole patzig zur Antwort. Conny überhörte die Bemerkung geflissentlich. „Ziemlich lahme Show, die ihr hier abzieht", kommentierte Nicole die Sprünge hämisch. „Die Kinderchen sind wohl noch zu jung für richtige Hindernisse, was?" „Jeder fängt mal klein an", gab Conny zurück. „Auch Olympiasieger haben einmal an solchen Hindernissen trainiert." Damit war für Conny das Gespräch beendet. Sie winkte Julia heran. „Nicole wohnt bei euch im Bungalow, Julia", sagte sie. „Da ist noch ein Bett frei." 30
Nicht gerade begeistert stieg Julia von Wotan und ging mit Nicole in Richtung der Gästehäuser. „Wo ist dein Gepäck?" fragte Julia. „Der Empfangschef hat es bestimmt schon in den Bungalow bringen lassen", meinte Nicole. „Empfangschef?" staunte Julia. „Was für ein Empfangschef?" „Na, dieser merkwürdige Typ mit den vielen Ähs", antwortete Nicole. „Ach, du meinst Ewald?", lachte Julia. „Du lieber Himmel, Ewald ist doch kein Empfangschef!" „Jetzt sag bloß noch, ihr müßt hier alles alleine machen!" Nicole wirkte richtig schockiert. „O Mann, mit dieser Einstellung wirst du hier aber nicht weit kommen", belehrte Julia sie. „Jeder hilft hier jedem. Das ist unser Motto." Nicole sagte nichts dazu. Sie rollte nur ihre Augen. Julia tat so, als hätte sie es nicht bemerkt. Sie brachten Nicoles Gepäck in den Bungalow. „Meine Eltern fliegen heute auf die Bahamas", seufzte Nicole beim Eintreten. „Dann sei froh, daß du bei uns bist", lachte Julia. „Den ganzen Tag am Strand liegen und sich in der Sonne braten lassen ... das ist doch echt ätzend. Bei uns ist immer was los." „Echt?" In Nicole glomm ein Hoffnungsfunken auf. „Gibt's hier Discos? Kino? Schwimmbad? Oder sonst was in dieser Richtung?" „Das ist ein Reiterhof und kein Vergnügungsclub", sagte Julia und stellte einen Koffer neben Nicoles Bett. „Wir reiten viel und bereiten uns auf ein richtiges Turnier vor. Stell dir vor, Conny hat einen Wettbewerb organisiert. Unsere Gruppe tritt am Ende der Ferien gegen die Mannschaft eines Reitervereins an. Ist das nicht aufregend?" „Und wie!" seufzte Nicole mit unverhohlener Enttäuschung. „Gegen so ein Kindergartenturnier sind die Bahamas wirklich kalter Kaffee." „Tu doch nicht so hochnäsig", entgegnete Julia ärgerlich. „Kannst du überhaupt reiten?" „Und ob ich das kann", lachte Nicole und ließ sich aufs Bett 31
fallen. Dann hielt sie Julia einen längeren Vortrag über all die Turniererfolge, die sie schon errungen hatte. Sie beschrieb dabei Höhen, die sie übersprungen hatte, von denen Julia nicht mal zu träumen wagte. „Na, da staunst du, was?" grinste Nicole, nachdem sie geendet hatte. „Nur wenns's stimmt", konterte Julia und drehte Nicole den Rücken zu. „Was denn?" Verärgert sprang Nicole vom Bett hoch. „Willst du behaupten, ich lüge?" „Du hast doch bestimmt ein paar Fotos dabei, die das Gegenteil beweisen!" Julia verschränkte die Arme und schaute Nicole herausfordernd an. „Kein Stück", sagte Nicole. „Meine Alten haben mir verboten, welche mitzunehmen. Sie meinten, ich würde damit nur angeben. Sie sind der Meinung, ich sollte eine Gleiche unter Gleichen sein und mal nicht die erste Geige spielen. Sie sind sicher, daß mir das guttut. Was für'n Quark." „Natürlich!" Julia betonte jede Silbe. Für sie war klar, daß Nicole nichts weiter war als eine Angeberin. Eine äußerst dreiste Aufschneiderin.
7. Kapitel Das Findelpferd Im Stall schnaubten die Pferde unruhig. Das Gewitter machte ihnen Angst. Draußen donnerte es, daß die Wände zitterten. Immer wieder tauchte das fahle Aufleuchten der Blitze den Stall in grelles Licht und blendete die Tiere. „Was für ein Unwetter!" dachte Conny kurz vor Mitternacht. „Bei dem Lärm bekommt man ja kein Auge zu!" Conny stand im Pyjama am Fenster ihres Zimmers und blickte in die Nacht hinaus. Am Himmel flammten grelle Blitze. Unheimlich heulte der Sturm um das Haus. Monoton prasselte der Regen gegen das Fenster. 32
Conny wartete darauf, daß das Unwetter nachließ. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Sie dachte an Kobalt, an ihre Freunde und nicht zuletzt an ihren Vater. In der Bibliothek war Graf Alderhof auch noch wach. Waldi war bei ihm. Der Dackel hatte sich unter das Sofa verkrochen, auf dem der Graf saß. Gewitter waren Waldi nicht geheuer. Der Graf telefonierte gerade mit seinem Sohn. In Brasilien war es jetzt Nachmittag. „Natürlich sind wir froh, daß Conny bei uns ist, Bernhard", sagte der Graf in gereiztem Tonfall. „Aber ich bin nicht besonders erfreut über die Umstände, denen wir ihren Besuch zu verdanken haben. Dein Aufenthalt in Brasilien mag ja für deine berufliche Karriere wichtig sein, aber machst du dir überhaupt eine Vorstellung über Connys Zustand? Sie braucht ihren Vater, und den können weder ich noch sonst wer auf dem Reiterhof ihr ersetzen ..." Der Graf lauschte einige Minuten den Erklärungen seines Sohnes. Dabei spürte er, wie der Ärger in ihm immer größer wurde. „Hör mal, Bernhard." Der Graf holte tief Atem. „Conny hat fest damit gerechnet, daß du sie besuchst. Ein gebrochenes Versprechen nennt man so etwas. Du solltest dich nicht wundern, wenn das Kind eines Tages sein Vertrauen in dich verliert, mein Sohn." Ein Donnerknall ließ die Fensterscheiben der Bibliothek wackeln. In diesem Augenblick flog die Tür auf. Cornelia stürmte im Morgenmantel herein. „Herr Graf", keuchte sie aufgeregt. „Haben Sie das gehört?" „Cornelia ...", staunte der Graf. „Was ist denn?" „Es klang wie ein Schrei", meinte Cornelia. „Zwischen den beiden Donnerschlägen hab' ich ihn deutlich vernommen. Er kam von draußen." „Entschuldige Bernhard", sagte der Graf ins Telefon. „Ich werde gebraucht. Wir reden später weiter, ja?" Der Graf legte den Hörer auf und folgte Cornelia nach draußen. Conny zog die Vorhänge zu und ging zu ihrem Bett. Plötzlich hörte sie ein seltsames Geräusch. Ein merkwürdig hoher, kurzer Laut übertönte das Trommeln des Regens. Als Conny aus dem Fenster sah, erblickte sie draußen ihren Großvater und Cornelia, die das Haus 33
verließen. Beide trugen Regenmäntel und Schirme. Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen huschten durch die Nacht. Wieselflink schlüpfte Conny in ihre Kleider, zog einen Regenmantel an, rannte nach unten und aus dem Haus. Draußen herrschte das absolute Wetterchaos. Sintflutartiger Regen hüllte Conny ein. Es war unvorstellbar. In Sekundenschnelle war Connys Haar bis auf die Kopfhaut durchnäßt. Eine Serie greller Blitzstrahlen tauchte die Welt in gleißendes Licht. Conny rannte durch die knöcheltiefen Regenpfützen. Dann hörte sie wieder dieses merkwürdige Wimmern. Es kam vom Schuppen, wo das Kaminholz gestapelt lag. „Conny!" Der Graf hatte seine Enkelin entdeckt. „Was machst du denn hier draußen? Geh' sofort ins Haus zurück!" Doch Conny befolgte ausnahmsweise den Befehl ihres Großvaters nicht, denn in den dunklen Schatten hinter dem aufgestapelten Brennholz entdeckte sie etwas, das sich zuckend bewegte. Ein kleines Fohlen lag im nassen Gras und stieß wieder diesen wimmernden, hellen Laut aus. Das arme Tier zitterte am ganzen Leib. Es war nur noch Haut und Knochen. Wer weiß, wann es zum letzten Mal etwas zu fressen bekommen hatte. Vermutlich brauchte es immer noch Muttermilch. „Was ist denn das?" staunte Cornelia, als sie und der Graf neben Conny traten. „Schaut mal, ein Fohlen!" Conny kniete neben dem Findlingspferd. „Ist es nicht süß?" 34
Cornelias Augen wurden immer größer. „Ein Fohlen?" wiederholte sie. Das Fohlen blinzelte mit den Augen. Es schien kein bißchen Angst vor den Menschen zu haben. Wieder stieß es den durchdringenden Klagelaut aus. „Es sieht sehr abgemagert aus", stellte der Graf fest. „Am besten, wir bringen es in den Stall und päppeln es auf!" „Aber woher kommte es?" wollte Cornelia wissen. „Das stellen wir morgen fest!" antwortete der Graf. „Bis sein Besitzer gefunden ist, betreuen wir es. Morgen informiere ich die Polizei über unseren Fund. So ein Fohlen verschwindet nicht irgendwo unbemerkt." Conny drückte ihre Arme unter das Fohlen und half ihm beim Aufstehen. In ruckartigen Bewegungen kam das Pferdebaby auf die Beine. Vor Schwäche zitterte es am ganzen Körper. Jeder Schritt schien ihm zuviel zu sein. Cornelia holte eine Decke aus dem Haus und legte sie dem Fohlen über. Das Pferdebaby streckte den Kopf vor, öffnete das Maul und machte Saugbewegungen. Aber da war nichts zum Saugen außer Luft. „Es hat Hunger", stellte Conny fest. „Ja, aber es ist noch zu jung für feste Nahrung", meinte der Graf. „Das ist wirklich ein Problem." „Was ist mit Stellal" fragte Cornelia, während sie das Fohlen zum Stall führte. „Stellea hat doch vor zwei Wochen gefohlt." „Richtig", stimmte Conny zu und öffnete das Stalltor. „Aber hat denn Stella genug für zwei Fohlen?" fragte sie zweifelnd. „Nun, das werden wir feststellen", sagte der Graf und schaltete die Stallbeleuchtung ein. „Wir müssen es auf einen Versuch ankommen lassen. Entweder es funktioniert, oder ..." Die letzte endgültige Konsequenz ließ der Graf unausgesprochen. Conny führte das Fohlen in Stellas Box. Stellas Fohlen lag im Stroh und schlief. Das Findelfohlen witterte den Duft von Milch. Seine kleinen Nüstern öffneten sich. Stella ließ das fremde Fohlen ruhig säugen. „Es funktioniert!" Der Graf atmete erleichert auf. „Die erste 35
Hürde ist genommen." Mehr konnte man in dieser Nacht für das fremde Fohlen nicht mehr tun. Conny verließ als letzte den Stall. Sie knipste das Licht aus und schloß das Tor hinter sich zu. Triefend naß betrat sie das Wohnhaus und zog den nassen Regenmantel aus. Anschließend ging sie in die Bibliothek. Graf Alderhof machte Feuer im Kamin. Dann setzte er sich zu Conny und Cornelia. Schweigend lauschten sie dem Knistern der Flammen und genossen die wohlige Wärme. Draußen wurde das Donnergrollen immer leiser. Das Gewitter zog ab. Conny dachte an das kleine Fohlen. Womöglich hatten sie ihm in dieser Nacht das Leben gerettet. Bei diesem Gedanken wurde ihr richtig warm ums Herz.
8. Kapitel Der Konkurrent Der nächste Morgen begann mit einem Paukenschlag. Es fing eigentlich ganz harmlos damit an, daß Else die Tür zu Cornelias Büro öffnete. Sie wollte nur die Blumen gießen. Das gegenüberliegende Fenster stand weit offen, so daß zwangsläufig Durchzug entstand. Cornelia warf sich mit dem Mut der Verzweiflung auf die Papiere, die auf ihrem Schreibtisch lagen. Doch mit Entsetzen bemerkte 36
sie, daß ein ganzer Stapel munter davonflatterte. Die Zugluft wirbelte ihn zum nächstbesten Fenster hinaus. Ahnungslos zuckelte gerade Alexander Schlöder-blohm mit seinem Mofa vorbei. Plötzlich wirbelten aus dem Fenster Dutzende Papiere um ihn herum. Einige davon klebte der Fahrtwind gegen sein Helmvisier. Blind wie ein Maulwurf fuhr Alexander in den Hof. Wie ein Unwetter raste Alex in die idyllische Welt des Alderhofes. Enten stoben auseinander und quakten gellend Protest. Ein Erpel flatterte im letzten Augenblick hoch und landete genau auf Alexanders Helm. Dort hielt sich das Tier tapfer fest. „Paß auf, wo du ... äh!" schrie Ewald, der gerade seinem Traktor die allmorgendliche Wäsche mit anschließender Hochglanzpolitur verabreichte. In den Händen hielt er einen Eimer mit schmutzigem Wasser und einen Scheuerlappen. Alex erschrak über die plötzliche Dunkelheit um ihn herum so sehr, daß er das Bremsen völlig vergaß. Haarscharf schoß er mit einem Affenzahn an Ewald vorbei. Sowohl innerlich als auch äußerlich völlig aus dem Gleichgewicht geworfen, taumelte Ewald zurück und goß das Schmutzwasser über den chromblitzenden Traktor. Alex raste erbarmungslos weiter. Er bretterte durch das offene Gatter zum Schweinepferch. Das Vorderrad des Mofas wühlte sich tief in den Morast. Alexander flog im hohen Bogen aus dem Sattel und landete bäuchlings auf dem Rücken einer der Sauen, die vor Schreck schrill quiekte. Obwohl Alex' Auftauchen von einer Woge erschreckender Unruhe begleitet wurde, beachteten ihn die Schülerinnen der Klasse 10 b) überhaupt nicht. Selbst als der Unglücksrabe - von oben bis unten mit Schlamm besudelt - sein Mofa aus dem Schweinepfuhl schob, würdigten ihn die Mädels keines Blickes. Sie umringten entzückt das Findelfohlen, das Conny aus dem Stall führte. Alex schaute den Mädchen hinterher. Was blieb ihm auch schon anderes übrig? Welche Chance hatte ein Junge bei Mädchen, wenn er in Konkurrenz zu einem Fohlen antrat? Eben! Da trottete es nun, das Findelfohlen, mitten im Pulk der Mädchen. Es schaute sie neugierig mit seinen Augen - den schönsten 37
Tieraugen, die die Mädchen je gesehen hatten - an. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen, die den Weg bis zur Weide säumten. Überall auf den Wiesen blühten Gänse- und Butterblümchen. Hugo besserte gerade den Koppelzaun aus. Er hielt inne, als er die Mädchen mit dem Fohlen kommen sah. Hugo schüttelte nur mit dem Kopf über das Getue, das die Mädchen um das Fohlen machten. Hugo betrachtete das Fohlen weitaus sachlicher. „Was meinst du, wie alt das Fohlen ist, Hugo?" fragte Conny den Hausmeister des Alderhofes. „Schwer zu sagen!" Hugo rieb sich nachdenklich das Kinn. „Zwei Wochen vielleicht, höchstens drei." Das Findelfohlen blickte Hugo aus großen Augen an. Bei diesem Blick schmolz selbst der hartgesottene Hugo wie Butter in der Sonne dahin. Hugo fuhr dem Fohlen mit der Hand durch die Mähne und streichelte es sehr, sehr vorsichtig. „Ist es nicht niedlich?" seufzte Julia. „Ja", stimmte Melanie zu. „Niedlich ist es ... und ohne Namen." „Genau", meinte Julia. „Wie soll es denn heißen, Conny?" „Es hat bestimmt schon einen Namen", antwortete Conny. „Den kennt allerdings nur der Besitzer." „Schön und gut." Julia blieb hartnäckig. „Aber wie nennen wir es?" „Wie war's mit Anton?" schlug Hugo vor. Ja, das war ein schöner Name. Die Mädchen nahmen ihn einstimmig an. Sie führten Anton auf die Weide und schauten zu, wie er neugierig an den Gräsern und Blumen schnupperte. „Mir tut Anton leid", meinte Esther. „So klein und schon allein auf der großen Welt." „Er ist nicht allein", widersprach Julia. „Er hat doch uns." „Genau", stimmte Melanie zu. „Wir alle sind seine Pflegeeltern." Die übrigen Mädchen verblüffte diese Erkenntnis so sehr, daß sie Melanie nur ansahen und betroffen schwiegen. „Wie wir alle wissen, ist es nicht leicht aufzuwachsen", fuhr Conny fort. „Man braucht jemanden, der einen beschützt und versorgt. Anton hat im Moment nur uns. Wir kümmern uns um ihn, 38
wir alle gemeinsam. Einverstanden?" Die Mädchen nickten zustimmend. „Gut", meinte Conny. „Aber das erfordert einige Umstellungen in unserem Tagesplan. So lange sich Anton nicht richtig erholt hat, wird er von uns beaufsichtigt. Jeder ist für eine Stunde dran." „Auch nachts?" fragte Melanie besorgt. „Nein", beruhigte Conny. „Wir müssen darauf achten, daß Anton tagsüber genügend frißt und trinkt. Nachts schläft er, wie wir alle." „Ach, ist er nicht süß", seufzte Julia. Wie aufs Stichwort spitzte das Fohlen die Ohren und blickte mit großen Augen zu den Mädchen. Julia meldete sich freiwillig, die erste Stunde des Pflegedienstes zu übernehmen. Die anderen gingen zum Parcours, um dort weiter zu trainieren. Die warme Sonne tat dem kleinen Fohlen gut. Es blinzelte lieb in den blauen Himmel und fühlte sich rundum wohl. Auch die Wiese schien ihm zu gefallen. Nach einer Weile hüpfte Anton übermütig herum. So schlimm der gestrige Abend für Anton gewesen war, so schön war der heutige Tag. Alex hinkte heran. An die Katastophen, die das Leben im Überfluß für ihn bereithielt, hatte er sich mit der Zeit gewöhnt. Alex' Philosophie lautete: Katastrophen sind dazu da, daß man mit heiler Haut aus ihnen herauskommt. Heute hatte er allerdings wenig Erfolg damit gehabt. Es war ihm deutlich anzusehen. Von Kopf bis Fuß war er mit klebrigem Schlamm verdreckt. Seine Brille hing nur noch an einem Bügel. Der Sturzhelm war irgendwo im Schweinepfuhl verlorengegangen. Aber was das Faß zum Überlaufen brachte, war dieser minderjährige Vierbeiner, der ihm die Schau bei Conny stahl. Nur eine Hoffnung blieb Alex. Nach dem Besitzer des Fohlens wurde schon gefahndet. Sicher fand man ihn bald. Dann würde Conny ihn wieder beachten, und die Welt wäre für Alexander Schlöderblohm im Lot.
39
9. Kapitel Vorbereitungen In der letzten Ferienwoche fand auf dem Alderhof traditionsgemäß ein Wettkampf der hiesigen gegen die auswärtigen Reitschüler statt. Bei diesem Turnier stellte jede Mannschaft ihre sieben besten Reiter. Die weniger reitbegabten Mitschüler taten sich an diesem Tag mit lautstarken Anfeuerungsru-fen für ihre Mannschaft hervor. Die Wochen vor dem Ereignis trainierten beide Teams verbittert. Natürlich standen auf dem Parcours keine so hohen und breiten Hindernisse wie bei einem richtigen Turnier. Aber fünfzig Zentimeter waren für einen Anfänger mindestens genauso schwer wie zwei Meter für einen Profi. Während des Trainings wurde wenig gesprochen, dafür um so mehr gestöhnt. Nur Connys Korrekturen schallten deutlich und klar über den Trainingsplatz. „Beim Anreiten Kopf aufrecht halten", kommandierte Conny ihre Gruppe. „Hände gehen mit den Zügeln mit! Immer gerade auf das Hindernis zureiten! Den Absprung nicht vergessen!" „Nicht mit den Beinen wackeln", fuhr Conny fort, „wenn sich 40
das Pferd auf den Sprung konzentriert! Nicht an den Zügeln reißen!" Julia erlebte ihren ersten Sprung zwischen Hoffen und Bangen. Mit gesenktem Kopf galoppierte Wotan auf das Hindernis zu. Er schätzte die Höhe des Hindernisses ab. Dann folgte der Absprung. Sechzig Zentimeter vor der Hürde verließen Wotans Vorderfüße de'n Boden. Er machte einen runden Rücken, schnellte über die Barriere und landete sicher auf den Vorderläufen. Conny änderte während des Trainings oft die Höhe der Stangen, damit es den Pferden nicht zu langweilig wurde. Nicole hielt sich nicht nur vom Training fern, sondern auch von den Mädchen. Während diese trainierten, schlenderte sie durch das große Gutshaus und sah sich um. Sie betrat die alte Bibliothek. Waldi lag neben dem Sofa auf dem Bauch und schlief. Die August-Sonne fiel in langen Streifen durch zwei Sprossenfenster. Plötzlich hörte Nicole nebenan Stimmen. Der Graf saß bei Cornelia im Büro. „Die Mädchen kümmern sich rührend um das fremde Fohlen", sagte Cornelia gerade. „Ich hoffe nur, daß sie sich in ihre Pflegerolle nicht so reinsteigern, daß sie es nachher nicht mehr hergeben wollen." „Das befürchte ich auch", stimmte ihr der Graf zu. „Allerdings habe ich bis jetzt noch keine Rückmeldung der Polizei auf unsere Anzeige hin." „Außerdem kann ich den Mädchen ja schlecht den Umgang mit dem Fohlen verbieten", fuhr er fort. „Das ist genau wie im richtigen Leben. Freud und Leid liegen auch hier dicht beisammen." „Sie haben dem Fohlen bereits einen Namen gegeben", fuhr Cornelia fort. „Sie nennen es Anton." „Nun, vorerst kann es mit dem Fohlen ja so weiterlaufen wie bisher", sagte der Graf. „Nur, wenn die Behörden den Besitzer ermittelt haben, wird's wohl problematisch. Denn der will das Fohlen natürlich zurückhaben, egal wie sehr die Mädchen an dem Tier hängen." Nach diesen Worten befiel Nicole ein bohrendes Neidgefühl. Sie ärgerte sich» weil die anderen Mädchen viel Spaß mit dem Fohlen hatten. 41
„WAU WAU!" ertönte es hinter Nicole. „WAU WAU!" Erschrocken drehte sich Nicole um. Waldi war aufgewacht und bellte sie munter an. „WAU WAU!" „Ruhig, du blöde Töle!" zischte Nicole verärgert. Aber Waldi war kein Hund von der Sorte, die sich das Maul verbieten läßt. „WAU WAU!" „Was ist das für ein Lärm?" fragte Cornelia nebenan in ihrem Büro. „Waldi spielt mal wieder verrückt", antwortete der Graf. „Ich schau mal nach." Nicole hatte wenig Lust, vom Grafen beim Lauschen ertappt zu werden. Rasch huschte sie zur nächsten Tür hinaus und auf den Flur. Dort spazierte gerade Else mit einem vollbeladenen Tablett heran. Um diese Zeit aß Cornelia gewöhnlich eine Kleinigkeit und trank ein Glas Milch. Gerade als Else an der Bibliothek vorbeikam, sauste Nicole heraus. Um ein Haar wäre sie mit Else zusammengestoßen. „Hoppla!" sagte Nicole und rannte weiter. Else hingegen stieß vor Schreck einen markerschütternden Schrei aus. Gleichzeitig vollführte sie in schneller Folge eine ganze Reihe ulkiger Arm- und Beinbewegungen, um so ihr Gleichgewicht und das Tablett zu retten. Es gelang ihr mit akrobatischem Geschick. Nach dem Beinahe-Zusammenstoß schlenderte Nicole zum Übungsparcours. Die Schülerinnen der Klasse 10 b) beendeten gerade ihr Training. Natürlich hatte Conny versucht, Nicole für das Turnier zu begeistern. Aber Nicole lehnte dankend ab. Gleichzeitig versuchte sie der Gruppe damit zu imponieren, daß sie erzählte, sie habe an einem richtigen Nachwuchsturnier teilgenommen. Sie bezeichnete ihre Zuhörer als „Kindergarten". Auf dieses Niveau wollte sie sich nicht hinabbegeben. Mit diesen Äußerungen war Nicole natürlich bei der Gruppe unten durch. Die meisten hielten sie für eine Angeberin. Conny jedoch erkannte, daß Nicole wirklich etwas von Pferden verstand. Einmal sah sie, wie Nicole Julia beim Auftrensen half. 42
Wotan weigerte sich, sich das Gebiß ins Maul schieben zu lassen. Nicole fuhr mit ihrem Daumen, der das Gebiß hielt, seitlich ins Maul. Da Pferde im Mundwinkel keine Zähne besitzen, konnte Wotan Nicole auch nicht beißen. Nicole prüfte auch gekonnt, ob der Nasenriemen-Abstand einen Fingerbreit betrug. Die Schülerinnen der Klasse 10 b) liebten ihre Schulpferde heiß und innig. Hugo hatte für sie heute einen Korb Äpfel mitgebracht. Nach dem Training wollten die Mädchen ihre vierbeinigen Lieblinge damit belohnen. Nicole setzte sich neben den Korb ins Gras und aß einen Apfel. „He! Laß das!" rief Karin. Das Mädchen aus Julias Klasse zügelte ihr Pferd auf dem Übungsparcours. „Die Äpfel sind für unsere Pferde." „Na und?" konterte Nicole. Provozierend warf sie den angebissenen Apfel weg und biß in einen neuen. „Hier sind doch genug Äpfel für mich und eure blöden Gäule." „Woher willst du wissen, wieviel Äpfel wir unseren Pferden geben wollen?" fragte Sabine. „Was hast du denn für eine Einstellung gegenüber dem Eigentum anderer Leute?" schimpfte Doris. „Sagt dir der Begriff Diebstahl etwas?" Drohend stiegen die Schülerinnen von ihren Pferden. Sie wollten Nicole eine handfeste Lektion erteilen. Für sie war das Maß jetzt voll. „Regt euch nicht auf, sagte Conny beschwichti-gend. „Hugo hat gesagt, die Äpfel sind für die ganze Gruppe. Dazu gehört auch Nicole. Ihr stehen soviel Äpfel zu wie jedem anderen unserer Clique." „Ich gehöre nicht zu eurer blöden Gruppe!" schrie Nicole und sprang auf. Sie versetzte dem Korb einen kräftigen Tritt. Die Äpfel kullerten im Gras in alle Richtungen. „Nicole!", rief Conny streng. Aber Nicole war schon weg. Sie rannte zum Wald und wurde bis zum Abend nicht mehr gesehen. Durch ihr unmögliches Benehmen hatte sich Nicole an diesem 43
Nachmittag vollends zur Außenseiterin gemacht. Niemand aus Julias Klasse wollte mehr etwas mit ihr zu tun haben; nicht einmal mit ihr reden. Die Schülerinnen der Klasse 10 b) ächteten das hochmütige Mädchen.
10. Kapitel Die Flucht Zwischen dunklen Wolken schien der Mond vom Firmament und tauchte den Alderhof in schwefelgelbes Licht. In der Bibliothek saß Conny bei ihrem Großvater und betrachtete das prasselnde Feuer im Kamin. „Verlier nicht die Geduld mit Nicole", riet ihr der Graf. Er saß ihr gegenüber in einem großen Ohrensessel und lehnte sich zurück. „Nicole hat sich heute unmöglich benommen", ent-gegnete Conny. Sie hatte ihrem Großvater bereits die Geschichte mit den Äpfeln erzählt. „Nicole kommt aus einem sehr reichen Elternhaus", entgegnete der Graf. „Ihr Vater besitzt eine große Fabrik, und ihre Mutter ist eine bekannte Modedesignerin. Bestimmt haben die beiden nie Zeit für ihre Tochter gehabt. Bei Leuten, die Karriere machen, ist das nun mal so, das weißt du doch bestimmt." „Leider", murmelte Conny, die wußte, daß dies eine Anspielung auf ihren Vater war. „Nur an einem hat es Nicole nie gemangelt", fuhr der Graf fort. „Sie ist es gewohnt, daß ihr jeder Wunsch erfüllt wird. Geld bekommt sie von ihren Eltern, und Dienstboten lesen ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Aber hier bei uns muß sie eine für sie völlig neue Erfahrung machen. Plötzlich ist sie nur eine unter vielen. Sie muß sich einordnen. Das ist schwer für jemanden, der das nie gelernt hat. Aber man sollte nie jemanden aufgeben. Diese Lektion habe ich vor vielen Jahren gelernt. Damals hatte ich gerade den Alderhof gekauft. Ich war hochverschuldet. Zu der Zeit betrieb noch niemand einen Reiterhof. Das kam erst viel später in Mode. Anfangs war der 44
Alderhof ein Gestüt. Meine ganzen Hoffnungen setzte ich auf Abdul, einen prächtigen Araber, mit dem ich meine Zucht begründen wollte. Abdul war ein feuriger Hengst, der allerdings große Schwierigkeiten hatte, sich in seiner neuen Heimat einzugewöhnen. Er ließ niemanden an sich heran. Sobald auch nur jemand - egal ob Mensch oder Tier - in seine Reichweite kam, keilte er aus, biß wie wild um sich und wütete furchtbar. Abdul schien unhaltbar. Aber für einen anderen Zuchthengst fehlte mir das Geld. Viele Fachleute meinten, Abdul wäre ein Fehlkauf gewesen. Mir drohte der Ruin. Da erkrankte Abdul eines Tages schwer. Sein Leben stand auf des Messers Schneide. Wie tot lag er im Stroh. Er konnte nichts mehr sehen und war so gut wie blind. Auch der herbeigerufene Tierarzt machte mir keine Hoffnung. Doch irgendwie glaubte ich immer noch an Abdul. Keine Minute wich ich von seiner Seite. Tag und Nacht saß ich neben ihm in seiner Box. Meine Hand ruhte auf seinem Fell. So spürte er, daß jemand neben ihm wachte. Von Tag zu Tag ging es Abdul schlechter. Ich hielt weiter zu ihm, bis ich eines Nachts selbst vor Erschöpfung zusammenbrach. Als ich morgens erwachte, stand Abdul neben mir. Er war zwar noch schwach, aber seine Genesung machte Fortschritte. Allmählich kehrte sein Augenlicht zurück. Der Tierarzt sprach von einem Wunder. Von da an waren Abdul und ich die besten Freunde. Er dankte mir mein Vertrauen. Ohne ihn wäre der Alderhof niemals das geworden, was er heute ist." „Ich glaube, du hast recht", seufzte Conny. „Ich werde Nicole nicht aufgeben." Der Graf lächelte seine Enkelin an. Sie stand auf, gab ihm einen Schmatz auf die Wange und ging zu Bett, wo sie noch lange wach lag. Nicole lag im Schlafraum und schlief scheinbar so fest wie die Mädchen, die mit ihr das Zimmer teilten. Doch in Wahrheit tat Nicole nur so, als sei sie eingeschlafen. Von diesen Ferien hatte sie die Nase gestrichen voll. In dieser Nacht wollte sie durchbrennen. Irgendwie würde sie es schon nach Hause schaffen. Nachdem Nicole sicher war, daß alle im Bungalow schliefen, stand sie leise auf. 45
Lautlos schlüpfte sie in ihre Sachen. Auf Zehenspitzen verließ sie das Schlafzimmer. Knarrend schwang die Haustür auf. Nicole trat ins Freie. Der Mond schien durch das Laub der umstehenden Bäume und malte huschende, bedrohliche Schatten auf den Boden. „Auf Nimmerwiedersehen", flüsterte Nicole und machte sich auf den Weg. Sie tauchte im Schatten der Bäume unter. Vorsichtig schlich sie zum Stall. Um hier schnell wegzukommen, brauchte sie ein Reittier. Vor dem Stall lauschte sie. Ab und zu schnaubte ein Pferd; sonst war es still. Zu dieser späten Stunde war Ewald im Schuppen immer noch bei seiner Lieblingsbeschäftigung. Dank Alexander Schlöderblohms letztem Auftritt verschob Ewald das Traktorputzen vom Morgen auf den Abend. Er polierte seinen Traktor auf Hochglanz. Für Ewald gab es einfach nichts Schöneres. Ein Problem lag nur darin, daß der Traktor die Feldarbeit erledigte. Das war eine schmutzige Angelegenheit. Ewald putzte so lange, bis er alle Spuren der Tagesarbeit beseitigt hatte. Sauberkeit war das halbe Leben. Zufrieden schaute Ewald sich sein silbern glänzendes Werk an. Im gleichen Moment knarrte es in den Balken an der Decke. Staub und ein paar Spinnweben rieselten auf den Traktor herab. Der Anblick drehte Ewald den Magen um. Kurzerhand fuhr Ewald den Traktor nach draußen. Es war eine sternenklare Nacht. In der freien Natur war der Traktor vor Schmutz sicher - dachte Ewald. Genau in diesem Moment galoppierte Nicole auf Wotan vorbei. Ewald riß gerade noch den Lenker herum. Um Haaresbreite konnte er Nicole ausweichen. Dafür durchbrach der Traktor eine benachbarte Schuppenwand. Das Gefährt fetzte durch die Bretter, krachte gegen Tragbalken und riß ein hohes Regal um, auf dem eine Reihe Farbtöpfe standen. Wie in Zeitlupe kippte das Möbelstück zur Seite. Etwa ein Dutzend bunter Töpfe flog durch die Luft und bespritzte Ewalds Traktor. Tobsüchtig starrte Ewald auf das farbige Geschmiere, das seinen 46
schönen Traktor in ein modernes Kunstwerk verwandelt hatte.
11. Kapitel Nachtritt Nicole brachte ein gutes Stück Weges hinter sich, bevor man auf dem Alderhof überhaupt ihre Flucht bemerkte. Innerhalb von drei Minuten hatte Ewald das ganze Haus geweckt. „Nicole ...!" keuchte Ewald, als der Graf nach langem Rufen endlich an sein Schlafzimmerfenster trat. „Was ist mit Nicole?" fragte der Graf gereizt. „Sie ist ... äh", stöhnte Ewald. Atemlos berichtete er dem Grafen von Nicoles Flucht. „Das ist ja unvorstellbar", seufzte der Graf. „Unvorstellbar?" kreischte Ewald mit überschnappender Stimme. „Sie sollten mal meinen Traktor sehen! Der ist unvorstellbar!" Eine Minute später stand der Graf angezogen im Hof. Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, ordnete der Graf eine Suchaktion an, bei der alle auf dem Alderhof mitmachten. Auch die Mädchen der 47
Klasse 10 b). Waldi war das alles nicht geheuer. Vorsichtshalber steckte er seine Nase durch die halboffene Tür und schaute zu, wie in aller Eile Pferde gesattelt wurden. Hugo verteilte Taschenlampen. So nervös wie in dieser Nacht hatte Waldi sein Herrchen selten erlebt. Der Graf teilte die Suchgruppen ein und gab genaue Anweisungen. Ungefähr fünf Minuten später waren die Reiter aufgebrochen. Endlich kehrte wieder Ruhe auf dem Hof ein. Waldi zog sich unters Sofa zurück und setzte dort seinen wohlverdienten Schlaf fort. Conny führte eine vierköpfige Reitergruppe an, der auch Julia angehörte. „Hoffentlich passiert meinem Wotan nichts", jammerte sie. „Du solltest dir eher Sorgen um Nicole machen!" entgegnete Conny. Schweigend ritten die Mädchen weiter. Sie folgten einem schmalen Waldpfad. Es war kaum anzunehmen, daß Nicole bei dieser Dunkelheit querfeldein geritten war. Die Stille, die im Wald herrschte, war den Mädchen unheimlich. Nur manchmal hallte der Schrei eines Käuzchens durch die Finsternis. Der Geruch von Tannennadeln und feuchtem Holz erfüllte die Luft. Ab und zu lichtete sich der Wald. Der Mond erhellte die Lichtungen genug, daß die Pferde vom langsamen Gang in den Trab fallen konnten. Nach einem kurzen Zwischenspurt ging's weiter durch den Wald. Conny verlangsamte das Tempo wieder. Sie ritt ganz auf Sicherheit. Selbst die starken Taschenlampen waren in der Dunkelheit keine große Hilfe. Die tiefe Finsternis des Waldes verschluckte das Licht nach wenigen Metern. Aber immerhin erkannten die Mädchen etwas vom Weg vor sich. Nicole hatte bestimmt keine Lampe dabei. Wie konnte man nur so leichtsinnig sein? Nicole ritt einige hundert Meter vor dem Suchtrupp. Der Mond drang kaum noch durch das dichte Laub der Bäume. Teilweise waren die Schatten derart dunkel, daß Nicole nicht die Hand vor Augen sah. In solchen Augenblicken verließ sie sich voll und ganz auf Wotans Instinkt. Nicole gelangte an einen Bach. Sie konnte das Gewässer nicht 48
sehen, nur hören. Wotan ging es nicht anders. Daß ein kleiner Waldbach zu einem Problem werden könnte, daran dachte Nicole nicht. Doch Wotan stoppte plötzlich. Er rutschte im glitschigen Uferschlamm ab und erschrak heftig. Wotan wich so überraschend zurück, daß Nicole das Gleichgewicht verlor, sie fiel aus dem Sattel und landete unsanft auf dem Boden. Wotan galoppierte davon, bevor Nicole wieder auf ihren schmerzenden Beinen stand. Nicole klopfte das Herz bis zum Hals. Wenn sie wenigstens etwas hätte sehen können! Der Mond kroch hinter eine dunkle Wolke. Es knackte und raschelte laut im Unterholz. Der wüste Lärm schwoll immer mehr an. Drei Wildschweine stürmten grunzend aus dem Gebüsch. Im ersten Augenblick erstarrte Nicole vor Schreck. Dann sprang sie, wie von der Tarantel gestochen, auf. Blindlings rannte Nicole durch den Bach. Sie war knapp einen Meter weit gekommen, da wußte sie, warum Wotan ausgekniffen war. Nicole versank bis zu den Hüften im Schlamm. Die Wildschweine stromerten vorbei, ohne Nicole eines Blickes zu würdigen. Schnell verlor sich ihr Grunzen in der Tiefe des Waldes. Nicole steckte in einer Falle. Ohne fremde Hilfe kam sie weder vor noch zurück. „Hilfe!" schrie 49
Nicole, als sie nicht mehr weiter wußte. Doch dann wurde ihr schlagartig bewußt, daß sie ja allein im Wald war. ,Was schreist du so rum, du dumme Ziege?' dachte sie. ,Wer soll dich denn hier hören?' Plötzlich drang ein dünner Lichtstrahl durch das dichte Unterholz. „Hierher!" rief Nicole. „Hier bin ich!" Conny mußte zugeben, das war schon ein komischer Anblick, wie Nicole da bis zum Bauch im Wasser stand und mit den Armen haltsuchend durch die Luft ruderte. „Ich glaub', das ist ganz schön ungemütlich, die halbe Nacht in einem Bach zu verbringen", meinte Melanie spöttisch. „Ach was", konterte Julia. „Ein bißchen Wasser hat noch keinem Menschen geschadet." „Wie ist denn das passiert?" fragte Conny. „Zuerst hat dieser verflixte Gaul mich abgeworfen, und dann kam das Rudel Wildschweine", schimpfte Nicole. „Um ein Haar hätten es mich am Boden zertrampelt. Wenn die mich mit ihren Hauern erwischt hätten ... gute Nacht." „Nun übertreib mal nicht!" sagte Conny. Sie zügelte Kobalt neben dem Bach. „Wildschweine sind nur gefährlich, wenn sie Frischlinge haben. Und auch dann sind es die Bachen, vor denen man sich hüten muß. Keiler verjagen einen nur. Aber die Bachen beißen jeden, der ihren Jungen zu nah kommt." Conny saß ab und band Kobalts Zügel an einen Ast. „Das hast du ja großartig hingekriegt!" Conny guckte auf Nicole herab. „Was meinst du, was deine Eltern dazu sagen werden." „Das geht dich überhaupt nichts an", antwortete Nicole schnippisch. Die Mädchen kämpften sich durch einen Wall von Zweigen und taufeuchtem Laub. Gemeinsam zogen sie Nicole aus dem Schlamm. „Diese Ferien sind wirklich ein einziger Horror", schimpfte Nicole, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. „Das liegt allein an dir!" Conny band Kobalt wieder los. „Ich hätte nie gedacht, daß ein Mensch so eingebildet sein könnte, wie du es bist. Es wäre besser, du würdest mal auf die Leute zugehen, statt immer vor dir selber wegzulaufen." 50
Das saß! Nicole sagte zwar nichts, aber sie fühlte sich plötzlich richtig elend. Julia ließ Nicole mit auf ihrem Pferd reiten. Als sie zum Alderhof zurückkamen, sah Nicole Wotan. Er hatte ganz alleine zum heimischen Stall gefunden. Nicole hatte den Eindruck, das Pferd blicke sie mitleidig an. „Eigentlich müßte ich deine Eltern von diesem ungeheuren Vorfall unterrichten", meinte Graf Alder-hof. „Aber dann würden sie sich nur aufregen. Ich habe eine bessere Idee. Wir vergessen die ganze Sache. Als Gegenleistung mistest du morgen die Boxen aus. Abgemacht?" Nicole blieb keine Wahl. Zähneknirschend stimmte sie dem Vorschlag des Grafen zu.
12. Kapitel Frau Schröder lernt Reiten Kikeriki", krähte inbrünstig Alderbert, der Alderhof-Hahn. Stolz posierte er auf dem Misthaufen neben der Scheune. „Kikerikiii!" Waldi war im Grunde seines Herzens ein gutmütiger Dackel. Weckte man ihn allerdings zu früh, konnte er zum Elch werden. Und Alderbert hatte ihn viel zu früh geweckt. Wütend stürmte Waldi durch die Hundeklappe in der Tür hinaus ins Freie. Diesem ruhestörenden Hahn wollte er 51
so die Federn rupfen, daß ihm Hören und Sehen verging. Aber der Gockel spielte Waldis Spiel nicht mit. Statt erschrocken vor dem Dackel wegzurennen, sprang Alderbert dem Hund entgegen. Der Hahn landete auf Waldis Rücken und pickte auf ihm herum. Waldi winselte mehr vor Schreck als vor Schmerz. Zu allem Überfluß kamen nun auch noch die Hühner ihrem Hahn zu Hilfe. Von allen Seiten flatterten sie heran und attackierten den verdutzten Waldi. Entsetzt schüttelte Waldi den Hahn von seinem Rücken und nahm Reißaus. Mit eingezogenem Schwanz verschwand er wieder im Haus und ließ sich den ganzen Tag nicht mehr draußen blicken. Alder-bert jedoch stolzierte majestätisch über den Misthaufen und verkündete stolz seinen Sieg. „Kikerikiii!" Zu dieser frühen Stunde war Nicole bereits aus den Federn. Der Graf hatte sie geweckt. Er zeigte ihr nun im Stall, was sie zu tun hatte. „Zur Einstreu nimmst du das Stroh, das neben dem Stall gelagert ist", erklärte er. „Früher benutzten wir Sägemehl als Einstreu. Aber es staubt zu sehr. Außerdem ist es zu schwer und unpraktisch, wenn es naß ist." Nicole verzog den Mund und schaute sich mürrisch im halbdunklen Stall um. „So, und nun frisch ans Werk, junge Dame", sagte der Graf. Er drückte Nicole eine Mistgabel in die Hand und ging. Vor der Einstreu kam das Ausmisten. Das war für Nicole eine echte Premiere. Von Hause aus war sie es gewohnt, daß der Stallbursche diese lästige und schmutzige Arbeit erledigte. Nicole rümpfte die Nase und machte sich an die ungewohnte Arbeit. Nach und nach erwachte der Alderhof zu quirligem Leben. Im Laufe des Vormittags erfuhr Nicole dann auch noch am eigenen Leibe die Bedeutung des Sprichworts „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen". Die Mädchen der Klasse 10 b) ließen es sich nicht nehmen, Nicole eine Weile bei der Arbeit zuzuschauen und ihre Kommentare 52
abzugeben. „Warum lächelt sie denn nicht?" fragte Melanie mit gespielter Unschuld. „Es heißt doch: Arbeit macht lustig!" Nicole ignorierte scheinbar solche und ähnliche Bemerkungen. Aber innerlich kochte sie. Nicole sann auf Rache. Sie schwor sich, den anderen einen Denkzettel zu verpassen, den sie niemals vergessen würden. Am Nachmittag war Nicoles nächtlicher „Ausflug" bei den Schülerinnen der Klasse 10 b) längst kein Thema mehr. Die Mädchen warteten alle auf Frau Schröders erste Reitstunde. Ungeduldig versammelten sich die Schülerinnen an der Übungskoppel. Obwohl Frau Schröder nun schon zwei Wochen mit Pferden gleichsam Tür an Tür lebte, stand sie dieser Tierart doch nach wie vor mit gehöriger Skepsis gegenüber. Sie war überzeugt, so ein großes Tier müßte etwas ganz Gefährliches sein. Doch dann mußte die Lehrerin reiten lernen - ob sie wollte oder nicht. Sie hatte nämlich eine Wette gegen Hugo verloren. Und das kam so ... „Wissen Sie, Hugo", hatte Frau Schröder im Beisein der Schülerinnen gesagt, „mich kriegen keine zehn Pferde auf ein Pferd. Sollten Sie es einmal erleben, daß ich ein Pferd auch nur anfasse, dann nehme ich freiwillig eine Reitstunde. Doch das wird hier auf dem Alderhof niemand erleben. Darauf gehe ich jede Wette ein." Frau Schröder drehte sich um und wollte gehen. Doch direkt hinter ihr führte Conny gerade Kobalt aus dem Stall heraus. Beinahe wäre Frau Schröder mit dem Hengst zusammengeprallt. Vor Schreck schnellten ihre Hände panikartig vor, um Kobalt zur Seite zu drücken. „Da ... das gilt nicht. Das ist sehr unfair von euch", stotterte Frau Schröder, als sie die grinsenden Gesichter ihrer Schülerinnen sah. „Ich meinte, daß ich niemals freiwillig ein Pferd anfassen würde. Das hier war ein übler Trick." „Das haben Sie aber nicht gesagt", lächelte Melanie verschmitzt. Obwohl das Ergebnis der Wette mehr als fadenscheinig war, gab Frau Schröder schließlich doch klein bei. 53
„Gut, ich will keine Spielverderberin sein", sagte sie tapfer. „Ich stehe zu meinem Wort und nehme eine Reitstunde." Conny versprach, daß sie das Pferd die ganze Zeit an der Longe halten würde. Das machte Frau Schröder wieder etwas Mut. Cornelia lieh der Lehrerin großzügig die nötige Kleidung. Dann ging's los. Auf dem Weg zur Koppel litt die ansonsten resolute Lehrerin tausend Qualen. Ein Rundblick über die Weide bestätigte ihre Befürchtungen. Sämtliche Schülerinnen warteten bereits. Conny stand neben einem Lehrpferd mitten auf der Koppel. Im Gegensatz zu Frau Schröder war Conny die Ruhe in Person. Mit ängstlichem Blick betrachtete die Lehrerin das Pferd. Sie hatte viel Respekt vor diesem Tier. Lag es daran, weil es so groß war? Oder war es dieser vielsagende Blick, mit dem der Vierbeiner sie unablässig musterte? In den Sattel zu kommen, war sowohl für Frau Schröder als auch für Conny ein hartes Stück Arbeit. Conny schob und drückte. Irgendwie rutschte Frau Schröder immer wieder aus dem Steigbügel. Endlich saß die Lehrerin halbwegs richtig im Sattel. Dem Beginn der denkwürdigen Reitstunde stand nichts mehr im Weg. „Nehmen Sie die Zügel", sagte Conny. „Lassen Sie sie zwischen Daumen und Zeigefinger laufen." Ungeschickt zupfte Frau Schröder an den Zügeln und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Zu ihrer größten Verwunderung folgte das Tier willig Connys Kommandos. Nach anfänglichem Trab kam es Frau Schröder so vor, als beschleunige das Pferd plötzlich jäh. Dabei hopste das Pferd rhythmisch; und Frau Schröder hopste mit. Sie flog hoch und knallte hart auf den Sattel. HOPP-PLATSCH-HOPP-PLATSCH-HOPP! Frau Schröder stand der kalte Angstschweiß auf der Stirn. Ein solches Gefühl hatte sie noch nie beschlichen. Conny führte zwar das Pferd an der Longe, aber was, wenn das Seil riß? Das mochte sie sich gar nicht weiter ausmalen. Vielleicht war es schon alt, porös und brüchig und gaukelte ihr nur eine trügerische Sicherheit vor. 54
Was, wenn das Seil riß und das Pferd mit ihr über den Zaun sprang? Oder einfach mit ihr in den nahegelegenen Wald rannte! Oder was, wenn das Pferd plötzlich bockte? Diese und ähnliche Fragen beschäftigten Frau Schröder, wärend sie wie ein nasser Sack im Sattel hing. Doch mit jeder Runde, die sie drehte, wurden die Sorgen weniger und weniger. Nach zehn Minuten hatte sich Frau Schröder der Gangart des Pferdes einigermaßen angepaßt. Nachdem die Angst gewichen war, machte das Reiten Frau Schröder sogar richtigen Spaß. Sie konnte es gar nicht fassen. „So", sagte Conny nach einer halben Stunde. „Das war's, Frau Schröder. Die anderen wollen auch einmal ran. Sie haben sich großartig gehalten." „Was denn?" prostestierte die Lehrerin sichtlich enttäuscht. „War das alles? Na gut, aber morgen darf ich wieder reiten, gelle?" Frau Schröder wunderte sich, wieso ihre Schülerinnen daraufhin alle in schallendes Gelächter ausbrachen. Das verstand sie einfach nicht.
13. Kapitel Das Reiterfest Für die Schülerinnen der Klasse 10 b) brach die letzte Ferienwoche an. Aber das war noch kein Grund zur Traurigkeit. Alle fieberten sie dem sonntäglichen Turnier entgegen. Am Abend vor dem Wettkampf fand auf dem Al-derhof ein großes Reiterfest statt. Die Vorbereitungen dafür liefen schon am Freitag auf'Hochtouren. Ein Festzelt wurde auf einer Wiese errichtet. Hugo und Ewald waren den ganzen Samstagvormittag damit beschäftigt, das Innere des Zeltes mit Girlanden und Lampions zu dekorieren. Seitdem Nicole nachts ausgekniffen war, verhielt sie sich bemerkenswert unauffällig. Es schien allen so, als habe die Lektion des Grafen Alderhof gewirkt. Aber weit gefehlt! Nicole hatte ihre 55
Rachegelüste noch nicht begraben. Sie wartete nur auf eine günstige Gelegenheit. Am Samstag blieb Nicole den ganzen Tag im Bett liegen. Sie behauptete, sie hätte Kopfschmerzen und könne deshalb an dem Fest nicht teilnehmen. Bereits am Nachmittag trafen Reiter von den umliegenden Gestüten und Reiterhöfen auf prächtig herausgeputzten Pferden ein. Im Festzelt spielte eine Musikkapelle. Die Gäste nahmen an Holztischen Platz und labten sich am kalten Büffet. Conny besänftigte unterdessen die Pferde im Stall. Die laute Musik machte die Tiere nervös. Es wäre besser gewesen, das Zelt etwas weiter vom Stall entfernt aufzubauen. Conny hatte große Mühe, die Pferde zu beruhigen. Nur ganz langsam gewöhnten sie sich an den Lärm und wurden schließlich ruhig. Aber ein wenig Nervosität zeigten sie dennoch. Als Conny den Stall endlich verließ, sandte die Sonne bereits goldene Strahlen über die Weiden. Der Hof lag wie ausgestorben vor ihr. Dafür gings's im Festzelt um so lebhafter zu. Die Mädchen der Klasse 10 b) tanzten mit gleichaltrigen Reitschülern. Allmählich ging die Dämmerung in Dunkelheit über. Nicole schlüpfte aus dem Bett. Den ganzen Tag hatte sie gegrübelt, womit sie die anderen Mädchen am tiefsten treffen könnte. Dann hatte sie diese teuflische Idee ... Vorsichtig pirschte Nicole Richtung Stall. Dabei wechselte ihre Stimmung unablässig zwischen Angst und Wut. Der Abendwind wehte dumpfe Klangfetzen der Popmusik aus dem Zelt herüber. Nur zwanzig Meter von Nicole entfernt amüsierten sich all jene, die sie so sehr verachtete. Im Festzelt schleifte Else ihren Ewald gerade auf die Tanzfläche. „He ... äh, Moment mal", protestierte Ewald. „Ich hab' seit zwanzig Jahren nicht mehr ... äh." „Ich werd's dir wieder in Erinnerung rufen", sagte Else unerbittlich, packte Ewald und schwenkte ihn über die Tanzfläche. Alex hockte neben der Tanzfläche auf einer Holzbank und zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Er war sehr schlechter Laune. „Was ist los, Alex?" lachte Gerlinde, die Hugo wie in ihren besten 56
Tagen herumwirbelte. „Macht dir Tanzen keinen Spaß?" „Was soll an dem blöden Rumgehopse Spaß machen?" knurrte Alex mißgelaunt. Kein Wunder, daß Alex sauer war. Direkt vor seiner Nase tanzte Conny vergnügt mit Jens. Alex war völlig schleierhaft, was Conny an dem Schönling vom Nachbargestüt fand. Alex war so in seinen Liebeskummer vertieft, daß er Waldi nicht bemerkte. Der sprang auf den Tisch und fraß ihm die Wurst vom Teller. Im Gegensatz zu Alexander machte sich Waldi eben mehr aus Würstchen als aus Mädchen. „Nimm's nicht so schwer, daß du nicht tanzen kannst, Alex", tröstete ihn Cornelia, die gerade ein Tänzchen mit einem bekannten Rennstallbesitzer wagte. „Conny mag dich so, wie du bist!" „Das ist mir doch völlig schnuppe", maulte Alexander und setzte eine beleidigte Miene auf. Doch sein Gesicht zeigte Cornelia, daß sie völlig richtig lag. Sie ahnte schon länger, daß Alexander heimlich für Conny schwärmte. Aber natürlich war es unter seiner Würde, jetzt zu zeigen, daß er eifersüchtig war. Alexander war Cornelias mitleidvoller Blick nicht entgangen. „Tanzen!" knurrte Alexander im Brustton der Überzeugung. „Tanzen ist doch nur was für verliebte Deppen und mittelalten Käse auf zwei Beinen!" „Ach ja?", sagte Cornelia und warf Alex einen schelmischen Blick zu. Mürrisch schaute Alex Conny nach. Sie und Jens lächelten sich an, daß man fast meinen könnte, sie wären ein Liebespaar. Alex erfaßte Neid. Der junge Schlöderblohm stand auf und trottete verdattert zum Zelt hinaus. Die Welt hatte einen abgewiesenen Casanova mehr., „Was ist denn mit Alex?" fragte Conny, die sah, wie er sich heimlich nach draußen verdrückte. Mit sich und seinem Kummer allein, saß Alex auf der Weide hinter dem Zelt. Hilflos war sein junges Herz erbarmungslos wütenden Gefühlsstürmen ausgesetzt. Es war schrecklich. 57
„Geht's dir nicht gut?" fragte da eine sanfte Stimme hinter dem Jungen. „Co ... Conny ...", staunte Alex, als er sich umdrehte. „Was machtst du denn hier?" „Das gleiche könnte ich dich fragen", entgegnete Conny und musterte Alex verwundert. „Ach, ich wollte euch nicht stören", knurrte Alex mißmutig. „Dich und diesen Jens." „Jens ist nett", seufzte Conny, die allmählich merkte, was los war. „Na und!" zischte Alexander wütend. „Fast so nett wie du!" lächelte Conny. „Eh ...echt?" stotterte Alexander, drehte den Kopf Richtung Conny und schaute sie mit großer Verwirrung an. Erst glaubte er, sie mache sich lustig über ihn. Aber ihr Blick war offen und ehrlich. „Echt Alexander", beteuerte sie. „Warum willst Du mir nicht glauben?" Unterdessen schlich Nicole leise am Stall entlang. Vorsichtig öffnete sie das Tor und huschte in die Boxengasse. Nicole blieb vor Antons Box stehen. Sie öffnete die Tür und führte das Fohlen fast lautlos in die Dunkelheit hinaus. Anton zitterte, weil ihn eine unbestimmte Angst befiel. In kleinen Trippelschritten trottete er unsicher neben Nicole zum Tor hinaus. Draußen ging Nicole schneller. Sie hielt Anton an der Mähne fest. Fünf Minuten später erreichte Nicole den Waldrand. Dort ließ sie das Fohlen los und gab ihm einen derben Klaps. 58
„Hau ab!" zischte sie. „Verschwinde endlich von hier! Laß dich bloß nicht wieder blicken!" Anton spitzte die Ohren und schaute das Mädchen aus großen Augen verwundert an. „Hörst du nicht?" Nicole versetzte dem Fohlen einen unsanften Schlag auf den Rücken. „Los! Verdufte!" Erschrocken sprang Anton weit nach vorn. So schnell das Fohlen konnte, rannte es in den Wald hinein. Im Nu verschluckte die Finsternis das hilflose Pferdebaby. Nun hatte Nicole ihre Rache. Trotzdem fühlte sie sich nicht besonders gut. Im Gegenteil: Nicole fühlte sich ausgesprochen mies. Vor allem deshalb, weil sie wußte, daß das Fohlen allein im Wald verloren war. Es gibt keinen einzigen Grund auf der Welt, der das Opfer eines unschuldigen Lebens rechtfertigt. Diese Erkenntnis kam Nicole allerdings zu spät. Das Fohlen war bereits in der Dunkelheit verschwunden.
14. Kapitel Der Unfall In dem Forst herrschte Totenstille. Es war, als hielte der Wald den Atem an. Anton stolperte durch eine ihm unbekannte Welt voller Geheimnisse und Gefahren. Das Fohlen hatte Angst. Mißtrauisch spähte es in die Dunkelheit. In der Nähe stieß ein Waldkauz seine klagenden Rufe aus. Sein Instinkt mahnte Anton zur Wachsamkeit. Eben erst hatte er die Erfahrung gemacht, daß nicht jeder auf der Welt ihm wohlgesonnen war, nicht einmal die Mädchen, bei denen er sich so geborgen gefühlt hatte. In der Wildnis lauerten auf ein kleines, schwaches Fohlen viele Gefahren. Aber Anton wurde müde ... Schon seit einer halben Stunde verfolgte ein ausgehungerter Fuchs Antons Spur. Anton ahnte nichts von dem Jäger, dessen Revier er durchquerte. Schläfrig blickte das Fohlen nach einem geeigneten Schlafplatz. 59
Plötzlich stutzte Anton. Der Wind hatte sich gedreht und wehte beängstigende Gerüche zu ihm. Die scharfe Witterung des Fuchses stieg ihm in die Nase. Das Fohlen kannte diesen Geruch nicht, aber eine innere Stimme warnte es - das kleine Pferd verhielt sich mucksmäuschenstill. Der Hunger trieb den Fuchs immer näher zu Anton. Normalerweise machen Füchse keine Jagd auf Fohlen. Doch Meister Reineke war ausgehungert. Zuerst beobachtete er das Fohlen nur. Meister Reineke hatte wenig Lust, mit seinen Hufen Bekanntschaft zu machen. Doch dann bemerkte er, wie unbeholfen und schwach dieses kleine Pferd war. Unterdessen rannte Nicole atemlos zum Alderhof zurück. „Was ist denn mit dir?" wunderte sich Conny, als sie Nicole sah. „Ich ... ich muß dir etwas Wichtiges sagen!" Keuchend blieb sie vor Conny stehen. „Den Eindruck habe ich allerdings auch", stellte Conny trocken fest. „Es ist alles meine Schuld", jammerte Nicole. „Ich hab' Anton laufenlassen, weil ich es den anderen Mädchen heimzahlen wollte." „Was?!" rief Conny völlig außer sich. In ihren Augen flammten Zorn und Entsetzen. „Wo hast du ihn ausgesetzt?!" „Am Waldrand!" Nicole fühlte sich so mies, daß sie Conny nicht in die Augen sehen 60
konnte. Nicole war wirklich verzweifelt. Irgendwie tat sie Conny leid. „Ich habe mich benommen wie ein kompletter Idiot", schluchzte Nicole. „Was ist bloß in mich gefahren? Das Fohlen kann doch nichts dafür ..." „Komm, wir suchen es!" Conny zog Nicole am Arm mit. „Wir können nur hoffen, daß Anton nichts Schlimmes passiert ist!" Rasch rannten die beiden Mädchen zum Stall. Schreckensbleich kam ihnen Julia entgegengelaufen. Sie war gerade im Stall gewesen, um nach Anton zu sehen. ,Anton ist weg!" keuchte sie. „Das wissen wir", erwiderte Conny. „Wir reiten los, um ihn zu suchen. Kommst du mit?" „Klar. Aber sollten wir deinem Großvater nicht Bescheid sagen Conny?" fragte Julia. „Und damit die schöne Stimmung des Reiterfestes kaputtmachen?" Conny öffnete die Tür zur Sattelkammer. „Das mit Anton regeln wir unter uns." Von romantischen Gefühlswallungen hin- und hergerissen, kehrte Alex aus dem Festzelt zur Weide zurück. In jeder Hand hielt er ein Glas Cola. Aufgrund seiner Abwesenheit hatte Alex die neueste Entwicklung der Dinge nicht mitbekommen. Fassungslos starrte er den davonreitenden Mädchen hinterher. Dieser Anblick beförderte Alexander Schlöderblohm schlagartig aus dem siebten Himmel der Liebe auf den Boden der Tatsachen zurück. Abgesehen von seinem gebrochenen Herzen trug Alex von diesem Absturz keinerlei nennenswerte Schäden davon. Als einige Gäste wenig später das Festzelt verließen, sahen sie am Koppelrand ein Häufchen Elend im Gras sitzen - ein Häufchen mit Namen Alexander Schlöderblohm. Der Wald lag still, geheimnisvoll und dunkel da. Seit zwei Stunden waren Conny und ihre Begleiterinnen schon in großer Sorge unterwegs. Die kleine Gruppe durchkämmte jeden Busch und jede Schonung, die auf ihrem Weg lag. Im Zickzack ging es an alten Baumriesen und kleinen Weihern vorbei. 61
,Anton!" riefen die Mädchen in regelmäßigen Abständen. ,ANTOOOON!" Aber die Rufe einer Eule waren die einzige Antwort, die sie bekamen. Gewissensbisse quälten Nicole. Die Sorge um Anton wuchs und auch die Angst, daß ihm etwas passiert sein könnte. „Und jetzt?" fragte Julia schließlich. „Tja, es sieht nicht gut aus", meinte Conny. „Nirgends eine Spur von Anton. Wie spät ist es?" „Viertel nach zehn", antwortete Nicole nach einem Blick auf die Armbanduhr. Da entdeckte Conny, kaum zwanzig Meter entfernt, einen schwarzen Fleck im Schatten der Bäume. Der Fleck bewegte sich. Jetzt erkannte Conny deutlich die Umrisse des vermißten Fohlens. Lautlos schlich der Fuchs durch das dichte Gestrüpp. Bis auf drei Meter war er an Anton herangekommen. Jetzt setzte er zum Sprung an und schnellte wie ein dunkler Pfeil los. Noch in der Luft zuckte Meister Reineke zusammen. Der Geruch von Menschen dämpfte seine Jagdlust. Wie jedes Wild fürchtete auch der Fuchs nichts mehr als diese Witterung. Der Räuber landete neben Anton und huschte flink im Unterholz davon. „Anton!" rief Nicole errleichtert. „Keine Angst, wir sind's! Beruhige dich!" Aber Anton war zu verängstigt. Vielleicht wollten ihn die Mädchen wieder schlagen. Er hörte nicht, sondern rannte los. Das Fohlen lief, als sei der Teufel hinter ihm her. „Halt! Anton, bleib hier!" schrie Nicole, was natürlich nichts nützte. Anton rannte, wie noch nie zuvor in seinem jungen Leben. So schnell es die Dunkelheit erlaubte, verfolgten ihn die Mädchen. Blitzschnell verschwand Anton jedoch zwischen hohen Farnen und dem dichten Unterholz einer nahen Schonung. „Wo läuft er nur hin," fragte Conny und zügelte ihr Pferd. „Es ist gefährlich, wenn man in der Dunkelheit zu schnell reitet. Wir kehren um nach Alderhof und sagen Bescheid. Bei Tageslicht setzen wir die 62
Suche dann fort." In diesem Augenblick vernahmen sie ein leises Wimmern. Es kam aus einer hüfttiefen Erdkuhle, in die Anton gestürzt war. „Anton", stöhnte Julia, als sie das kleine Fohlen am Boden liegen sah. Rasch stiegen die Mädchen von den Pferden und beugten sich in das Erdloch hinab. „Ach, Anton", seufzte Julia erleichtert. Liebevoll schloß sie den Hals des Fohlens in ihre Arme. Vom Dornengestrüpp war Antons Fell zerkratzt und zerschunden. Anton war die Sache nicht ganz geheuer. Wie ihn die Mädchen anstarrten! Etwas davon kam ihm äußerst verdächtig vor. Aber weglaufen konnte er nicht mehr. Dazu schmerzte sein rechtes Vorderbein viel zu sehr. Conny streichelte Anton, der allmählich ruhiger wurde. Er kniff die Augen zusammen und genoß das Kraulen. „Ich fürchte, Anton ist verletzt", meinte Conny. „Ist es schlimm?" Nicoles Stimme zitterte vor Schreck. „Das kann ich so nicht feststellen", antwortete Conny wahrheitsgemäß. „Ich reite zum Alderhof zurück und hole Hilfe. Ihr beiden bleibt hier und paßt auf ihn auf." Conny ritt davon. Sie ließ ein Fohlen und zwei zwischen Bangen und Hoffen hin- und hergerissene Mädchen zurück.
15. Kapitel Bangen und Hoffen Nicole saß neben Anton und schaute ihn traurig an. Was Nicole am meisten beunruhigte, war die Leblosigkeit, mit der Anton dalag. Julia kniete auf der anderen Seite des Fohlens und streichelte seinen Hals. Nicole liefen Tränen übers Gesicht. Sie schämte sich ihrer nicht, denn sie hatte allen Grund zu weinen. Irgendwo im Wald sang eine Nachtigall ihr wehmütiges Lied. Der Wind spielte im Laub der Baumkronen und warf huschende Mondflecken auf den kleinen Körper des Fohlens. 63
Tausend Sachen auf einmal schössen Nicole durch den Kopf. Wegen Anton machte sie sich die schlimmsten Vorwürfe. Was, wenn er sich ein Bein gebrochen hatte und eingeschläfert werden müßte? Natürlich wäre es für ihre Eltern eine Kleinigkeit, den materiellen Schaden zu ersetzen. Aber konnte man ein Leben überhaupt mit Geld aufwiegen? Solche und ähnliche für sie völlig neue Gedanken kamen Nicole, während sie dasaß und voller Reue auf Connys Rückkehr wartete. Ganz gleich, wie Nicole die Sache drehte oder wendete, was mit Anton geschehen war, ging ganz allein auf ihre Kappe. Nicole hatte immer ihren Willen bekommen. Mitgefühl war für sie bis heute ein Fremdwort gewesen. Aber vielleicht war es doch noch nicht zu spät, sich zu ändern. Wenn Anton sterben sollte, dann wollte Nicole die Erinnerung an ihn immer in ihrem Herzen bewahren. Dies war kein besonders hilfreicher Entschluß, aber dafür um so trostreicher. Alles, was Nicole bis zu diesem Zeitpunkt wichtig gewesen war, wurde jetzt bedeutungslos. Für sie war jetzt nur noch eines wichtig: daß Anton wieder gesund wurde und keinen Schaden davongetragen hatte. Nebelschwaden stiegen aus dem feuchten Waldboden und verdichteten sich. Wie lange Julia und sie schweigend dasaßen, wußte Nicole nicht mehr. Eine Stunde bestimmt. Conny hatte inzwischen vielleicht schon den Alder-hof erreicht. „Conny ist bestimmt schon zu Hause", sagte Julia in diesem Augenblick, als hätte sie Nicoles Gedanken erraten. Nicole nickte nur. „Ich hatte mich so auf diese Ferien gefreut", fuhr Julia fort. „Es wäre furchtbar, wenn sie traurig enden würden. Ich glaube, dann setze ich mich nie wieder in meinem Leben auf ein Pferd. Meinen Eltern sage ich aber nichts von Anton. Sie sollen ruhig glauben, daß es wunderbare Ferien für mich waren. Weißt du, wir haben zu Hause so wenig, worüber wir uns freuen können." „Was denn?" wunderte sich Nicole. „Ist jemand in deiner Familie krank?" „Nicht krank, sondern arbeitslos", entgegnete Julia traurig. „Aber 64
manchmal kommt mir das schon wie eine Krankheit vor. Seit fast zwei Jahren ist mein Vater auf Jobsuche. Er ist Werbefachmann ... ein ziemlich guter, glaube ich. Aber er meint, auf dem Arbeitsamt treten sich stellenlose Werbefachleute gegenseitig auf die Füße. Ist das nicht furchtbar?" „Ja", antwortete Nicole mechanisch. Sie konnte sich Arbeitslosigkeit eigentlich nicht vorstellen. Bisher glaubte sie immer, daß jeder Arbeit bekam, wenn er nur arbeiten wollte. „Mein Vater leitet einen großen Konzern". Nicole lächelte Julia an. „Gute Leute werden da immer gesucht. Auch in der Werbeabteilung. Bestimmt ist irgendwo eine Stelle für deinen Vater frei." Vor Freude hätte sich Julia beinahe verschluckt. Sie bekam den Mund fast nicht mehr zu, und ihr Herz begann zu hüpfen. „Das wäre riesig", stieß Julia schließlich hervor. „Dann kann ich mir vielleicht Reitstunden leisten." „Bestimmt", meinte Nicole. „Meines Wissens nach verdienen Werbeleute nicht schlecht." Klammheimlich kniff sich Julia in den Arm. Sie wollte sicher sein, daß sie nicht träumte. Wenn nicht die Angst um Anton gewesen wäre, hätte sich Julia in diesem Augenblick richtig glücklich gefühlt. Aber auch hier siegte die Hoffnung ... Autoscheinwerfer durchdrangen die Dunkelheit. Der Geländewagen des Alderhofs kam neben der Kuhle zum Stehen. Hugo saß am Steuer. Conny sprang als erste aus dem Wagen. „So, Anton", sagte sie, „jetzt wird alles wieder gut! Das verspreche ich dir ..." Anton ging es am nächsten Morgen schon wieder besser. Sein Bein war zum Glück nur verstaucht. Vorsichtig humpelte Anton über die Weide. Es war ein herrlicher Tag. Die Sonne schien, und eine leichte Brise raschelte im Laub der alten Bäume. Das Gras war noch feucht vom Tau. Waldi begleitete Anton auf Schritt und Tritt. Der Dackel spürte, daß das Fohlen jetzt einen Beschützer brauchte. Sobald sich auch ein noch so harmloser Vogel in der Nähe 65
niederließ, griff Waldi ein. Er spitzte seine Dackelohren, stürmte kläffend los und vertrieb den Eindringling aus Antons Nähe. Antons Genesung stand nichts mehr im Wege. Der Tierarzt meinte, in ein bis zwei Wochen laufe Anton wieder wie ein junger Hase. Nicole führte an diesem Morgen ein längeres Gespräch mit Graf Alderhof. Vergeblich suchte sie nach Worten, die ihr Tun hätten entschuldigen können. Diesmal gab es keine Ausflüchte. Also nahm sie die ganze Schuld auf sich. „Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung", sagte der Graf, der den Eindruck hatte, daß Nicole wirkliche bereute, was sie Anton angetan hatte. Während des Gesprächs versuchte er herauszufinden, was diesen allgemeinen Sinneswandel bei Nicole hervorgerufen hatte. Was war mit diesem egoistischen, aufmüpfigen Mädchen geschehen, das bis gestern für Unruhe auf dem Alderhof gesorgt hatte? Die Antworten, die Nicole dem Grafen gab, klangen alle ziemlich einleuchtend. „Und?" fragte der Graf am Ende des Gesprächs. „Was denkst du, sollte ich jetzt mit dir machen?" „Meine Eltern anrufen und mich mit sofortiger Wirkung vom Alderhof verweisen." Genau das hatte der Graf auch vorgehabt ... vor diesem Gespräch. „Möchtest du das?" fragte er und blickte Nicole direkt in die Augen. „Nein!" Nicole hielt dem Blick stand. „Bis gestern hätte ich noch alles darum gegeben, von hier fortzukommen", sagte sie ehrlich. „Aber jetzt möchte ich lieber bleiben. Denn ich hab' hier etwas gefunden, was ich noch nie besessen habe und was man auch nicht durch viel Geld kaufen kann." „So?" fragte der Graf. „Und was wäre das?" „Freunde!" Über Nicoles Gesicht huschte ein Lächeln, das tief aus ihrem Herzen kam. Der Graf ließ noch einmal Gnade vor Recht ergehen. Nicole bekam ihre Chance und durfte bleiben. „Der Graf ist eine Wucht!" jubelte Julia ein wenig respektlos, als 66
ihr Nicole von dem Gespräch erzählte. Conny bemerkte, wie sich zwischen Julia und Nicole eine Freundschaft entwickelte. Doch die übrigen Mädchen der Klasse 10 b) standen Nicole weiterhin äußerst mißtrauisch gegenüber.
16. Kapitel Das Turnier Sonntagmorgen. Der für heute angesetzte Wettkampf stand unmittelbar bevor. Nur noch wenige Stunden, dann ritten die besten Reiterinnen der Klasse 10 b) und die des hiesigen Reitkurses im Wettstreit miteinander auf dem Parcours. Nicole kümmerte sich den ganzen Vormittag rührend um Anton. Aber das tröstete sie nicht über die ablehnende Haltung der Mädchen der 10 b) hinweg. Nur Julia war freundlich zu ihr. Davon abgesehen, schenkte an so einem wichtigen Tag niemand einer Außenseiterin Beachtung. Alle Schülerinnen der 10 b) hielten sich auf dem Übungsparcours auf. Für sie stand fest, daß sie das Turnier gewinnen würden. Für den Vormittag war das Abschluß-Training angesetzt. Julia war in die siebenköpfige Mannschaft aufgenommen worden und hatte ziemliches Lampenfieber. Sie war ganz blaß. Nach dem Training besichtigten die Mädchen den Parcours, den Conny gebaut hatte. Zweimal schritten die Schülerinnen den Parcours mit größter Konzentration ab. Sie prägten sich jede einzelne Wendung und die Abstände der Doppelsprünge ein. Danach zog sich das Team zurück, um vorher noch etwas auszuruhen. Die Methode, mit dem die Sieger ermittelt wurden, war denkbar einfach. Die Mannschaft mit den wenigsten Abwürfen gewann. Bei gleicher Anzahl der Fehler entschied die Zeit. Gegen zwei Uhr füllte sich der große Parkplatz des Alderhofs. Das Nachwuchsturnier am Ende der Ferien hatte eine lange 67
Tradition. Im Laufe der Jahre war deshalb der Alderhof für die Leute aus den umliegenden Ortschaften ein beliebtes Ausflugsziel geworden. Zur allgemeinen Verwunderung kamen sogar Nicoles Eltern. Graf Alderhof hatte sie am Morgen angerufen und erzählt, daß sich ihre Tochter in den Ferien sehr positiv entwickelt hätte. Er lud die Eltern ein, damit sie sich davon selber überzeugen konnten. Auf dem Parcours hielt Graf Alderhof eine Begrüßungsrede. Unter dem Beifall der Zuschauer begann dann das Tunrnier. Bis dahin waren die Reiterinnen der 10 b) einträchtig mit ihren Konkurrentinnen über den Aufwärmplatz geritten. „Ich drück' dir die Daumen", sagte Conny, als Julia als zweite Reiterin in den Parcours ritt. „Wird schon schiefgehen", lachte Julia und klopfte Wotan aufmunternd den Hals. Das nervöse Kribbeln war tausendmal stärker, als Julia es sich in ihren schlimmsten Träumen vorgestellt hatte. Die Hindernisse obwohl maximal nur einen halben Meter hoch - erschienen ihr plötzlich wie unbezwingbare Gebirge. Julia bekam eine Heidenangst. Mit allen Mitteln versuchte das Mädchen, sie zu unterdrücken. Nicht mit Angst gewann man ein Turnier, sondern mit Konzentration. Julia riß sich zusammen. Sie verdrängte alle Gedanken, die nichts mit dem Ritt zu tun hatten, aus ihrem Kopf. Ihre gesamte Aufmerksamkeit richtete sie auf das erste Hindernis. Alles andere um Julia herum verschwamm in Bedeutungslosigkeit. Was allein zählte, war die in fünfzig Zentimeter Höhe angebrachte Stange des Hindernisses. In einem vollendeten Bewegungsablauf meisterte sie den Sprung. Vor lauter Freude über den gelungenen Auftakt ritt Julia das nächste Hindernis falsch an. Wotan sprang zu flach ab. Sein rechter Hinterlauf landete krachend auf dem Balken. Ein Aufstöhnen der Enttäuschung ging durch die Zuschauer. Obwohl alle den Hindernisbalken schon fallen sahen, blieb er wie durch ein Wunder in der Verankerung liegen. Zwar gewann Julia ihren Durchgang gegen die direkte Konkurrentin, aber Esther, die nach ihr ritt, machte den Vorsprung mit vier Minuspunkten gleich wieder zunichte. 68
Die nächste Reiterin der 10 b) vergrößerte den Abstand zu den Konkurrentinnen noch um acht weitere Fehlerpunkte. Allmählich wurde es brenzlig für Julias Team. Die Zuschauer beklatschten jede Reiterin. Nach dem vierten Durchgang wurden die Anfeuerungsrufe der Klasse 10 b) leiser und verstummten beim vorletzten Ritt ganz. Die Mädchen des anderen Reitkurses lagen fast uneinholbar in Führung. Die Rivalinnen feierten ihren Sieg bereits lautstark. „O nein!" stöhnte Julia. „Wir brauchen einen fehlerlosen Ritt in Rekordzeit, wenn wir jetzt noch gewinnen wollen." Hugo bemerkte ganz richtig, daß ein mittelgroßes Wunder für einen Sieg vonnöten wäre. Conny bezweifelte, ob Melanie, die als letzte für die 10 b) an den Start ging, dafür die Richtige war. Zu allem Überfluß versagten Melanies Nerven. Die Belastung, siegen zu müssen, war einfach zu groß. „Niemand ist dir böse, wenn du es nicht schaffst", beruhigte Conny sie. „Reite raus und gib dein Bestes." „Ich kann nicht!" Melanie zitterte wie Espenlaub. „Ach, was", lachte Conny aufmunternd. „Es gibt nichts mehr zu verlieren." Nicole trat hinzu. Sie trug Reitstiefel und eine vor69
schriftsmäßige Reithose. „Laß mich das machen", sagte sie ernst und schwang sich auf Melanies Pferd. „Nicole! Das geht doch nicht!" protestierte Conny. Aber Nicole ritt schon in den Parcours. Die Lage der 10 b) war ziemlich aussichtslos. Sieg oder Niederlage, das lag alleine an Nicoles Ritt. Auf dem Turnierplatz wurde es so still, daß man einen Floh hätte husten hören können. Nicole gab dem Pferd die Zügel frei und startete einen furiosen Ritt. Sie nahm den Parcours flüssig, ritt die Wendungen möglichst eng und machte so viel Zeit gut. Die Mädchen der 10 b) standen geschlossen an der Abgrenzung und drückten ihre Daumen, bis sie weh taten. Alle hatten sie Nicole für eine Angeberin gehalten. Jetzt bewies sie ihnen das Gegenteil. Zweifellos war sie die beste Reiterin von allen Teilnehmern dieses Wettkampfes. Geschmeidig saß Nicole im Sattel und trieb das Tier immer wieder an. Steilsprung, Galoppsprung, Zweifachkombinationen, Triplebarre, Oxer, alles meisterte Nicole vorbildlich. Nur noch ein Oxer trennte Nicole vom Triumph. Sie drückte aufs Tempo, riskierte alles und gewann. Kaum war Nicole über die Ziellinie, brach lang anhaltender, tosender Beifall los. Die Schülerinnen der 10 b) riefen im Takt: „Ni-co-le-Ni-cole-Nicole!" „Du warst großartig", rief Julia, die Nicole jubelnd entgegenlief. Die Mädchen der 10 b) umringten Nicole und jauchzten, daß die Balken auf den Hindernissen wackelten. Dann trugen sie die Siegerin auf den Schultern vom Parcours. Danach fand die feierliche Siegerehrung statt, die Graf Alderhof vornahm. Die Teilnehmerinnen saßen nebeneinander auf ihren Pferden. Der Graf heftete jedem Pferd eine Siegerschleife an. Nicole fühlte sich prächtig. Nur die feuchten Augen ihrer Mutter waren ihr etwas peinlich. „Das hätte ich Nicole niemals zugetraut", staunte Cornelia. 70
„Ja", nickte Conny. „Ich glaube, wir haben sie wohl alle unterschätzt."
17. Kapitel Abschied vom Alderhof Nach dem Turnier wurde noch kräftig gefeiert. Die meisten Gäste waren im Festzelt. Andere spazierten über den Hof und schauten sich interessiert um. Allmählich machte sich eine wehmütige Stimmung unter den Schülerinnen der 10 b) breit. Selbst die Siegesfreude wurde dadurch getrübt. Bis zur Abfahrt waren es nur noch wenige Stunden. Leider ging auch die schönste Zeit einmal zu Ende. Die Koffer hatten die Schülerinnen bereits gestern gepackt. Eine nach der anderen besuchte im Stall das Pferd, das sie während der Ferien geritten hatten. Allen fiel dabei der Abschied schwer. Melanie brachte Molly eine ganze Tüte Mohrrüben mit. Molly hatte sie im Nu verputzt. Die letzten Stunden bis zur Abfahrt vergingen wie im Fluge. Julia spazierte allein über den Hof. Sie schwelgte in Erinnerungen. Das waren die ereignisreichsten Ferien, die sie je erlebt hatte. „Schreibst du mir mal?" lachte Hugo, der gerade zwei Pferde in den Stall führte. „Klar", lächelte Julia zurück. Dann war Hugo im Stall verschwunden. Julia ging zur Weide, wo Wotan friedlich neben Anton graste. Julia schaute so lange zu den beiden hin, bis ihr die Augen weh taten. Sie wollte sich diese Szene für immer ins Gedächtnis einprägen. Davon wollte sie noch lange zehren ... „Antons Besitzer hat sich heute bei mir gemeldet", bemerkte der Graf, der neben Julia stehengeblieben war, mit tiefer Stimme. „Wirklich?" staunte Julia. „Und?" „Ein Pferdetransporter hatte einige Kilometer entfernt einen Unfall", erklärte der Graf. „Anton verirrte sich und fand zufällig uns." 71
„Nein", korrigierte Julia ihre Fragestellung. „Was geschieht mit Anton?" „Anton?" entgegnete der Graf. „Der ist verkauft. Er , gehört einem anderen Besitzer." „Oh!" Julia stiegen schlagartig die Tränen in die Augen. Im Stillen hatte sie gehofft, Anton bleibe auf dem Alderhof. Dann hätte sie ihn vielleicht in den Ferien besuchen können. Aber so war es höchst zweifelhaft, ob sie ihn in ihrem Leben jemals wiedersehen würde. „Schau, da kommt Antons neue Besitzerin. Der Graf deutete mit dem Kinn in Richtung Festzelt. Nicole trat mit ihren Eltern heraus. „Ni-Nicole?" stotterte Julia verwirrt. „Ja," schmunzelte der Graf. „Sie hat so lange gebettelt, bis ihre Eltern ihr den Wunsch erfüllt haben." Nun, ganz so einfach war es natürlich nicht. Erst einmal waren Nicoles Eltern gar nicht begeistert. „Du willst ein Pferd?" seufzte Nicoles Mutter. „Und wir hatten gehofft, daß du hier etwas Bescheidenheit gelernt hättest." „Ach, es ist doch nicht für mich", winkte Nicole ab. „Ich möchte es für Julia. Wir haben so viel, und ihre Eltern sind echt knapp bei Kasse. Ach bitte, Vati." Nicoles Eltern lächelten sich an. Das war das erste Mal in ihrem Leben, daß Nicole etwas für jemand anderen erbeten hatte. „Na, das ist ja was anderes", sagte ihr Vater und stimmte dem Kauf zu. „Du wirst Anton oft genug sehen", lachte Nicole. „Na ja, vielleicht in den Ferien", erwiderte Julia traurig. „Unsinn!" Nicole zwinkerte dem Grafen zu. „Jeden Tag, wenn du willst." „Aber wir wohnen doch so weit auseinander", ent-gegnete Julia. „Da werden wir uns kaum täglich sehen können." „Natürlich werden wir das", lachte Nicole. „Dein Vater muß natürlich in unsere Stadt umziehen, wenn er in der Firma meines Vaters anfängt." „Wa-Was?" staunte Julia. „Du hast richtig gehört", bestätigte Nicole. 72
„Mein Vater sucht händeringend einen Top-Leiter für seine Werbeabteilung. Du hast doch nichts dagegen, daß ich deinen Vater vorgeschlagen habe? Und während unsere Väter das nötige Kleingeld verdienen, geben wir es auf dem Reiterhof wieder aus. Dort wartet auch schon Anton auf dich, wenn du kommst." Julia blickte skeptisch zu Nicoles Vater. Als dieser lächelte und zustimmend nickte, stieß Julia einen Freudenschrei aus und fiel Nicole um den Hals. Ohne .Übertreibung konnte man den heutigen Tag als den schönsten in Julias Leben bezeichnen. „Ich glaube, die Ferien haben Nicole gutgetan", meinte Nicoles Vater. „Sie ist verantwortungsbewußter geworden." „Wissen Sie", erwiderte der Graf, „Reiten und das Leben haben vieles gemeinsam. Immer wieder tauchen Hindernisse vor einem auf, die gemeistert werden wollen". Schließlich war es soweit. Vor dem Reisebus entstand ein fürchterliches Gedränge. Auf dem Alderhof ging's zu wie in einem Ameisenhaufen. Die Mädchen liefen dauernd hin und her. Das eine Mädchen hatte seinen Rock vergessen, das zweite suchte seine Zahnbürste, das dritte den Hausschlüssel. Die Schülerinnen verstauten ihr Gepäck im Kofferraum des Busses. Frau Schröder dankte Graf und Gräfin Alderhof für die wundervolle Bewirtung. „Ich habe hier echte Freunde gewonnen und meine Schülerinnen von einer ganz anderen Seite kennengelernt." „Beeilt euch!" sagte die Lehrerin dann zu ihren Schülerinnen. „Eure Eltern erwarten euch schon zu Hause." Natürlich wollte Alexander Schlöderblohm den Abschied nicht versäumen. Auf den letzten Drücker kam er auf seinem Mofa angebraust. Er hatte den ganzen Tag damit verbracht, einen merkwürdigen Verschlag - eine Art Wetterschutz - um den mittleren Teil des Mofas zu bauen. Die schwarze Plane stand vorne offen, damit er sah, wohin er fuhr. Der Fahrtwind schüttelte das merkwürdige Gebilde auf dem Mofa hin und her. Plötzlich brach die ganze Konstruktion in sich zusammen, und die Plane hüllte Alex ein. Tiefste Nacht umgab Alex von einer Sekunde zur anderen. Conny 73
schloß bei diesem Anblick die Augen. Manchmal glaubte sie wirklich, Alex sei nicht ganz dicht im Oberstübchen. Haarscharf schrammte Alex an dem Bus vorbei. „Bremsen, Alex!" rief Hugo. „BREEEEEMSEN!" Aber Alexander Schlöderblohm war niemand, der sich so ohne weiteres etwas sagen ließ. Mit mindestens zwanzig Stundenkilometern fegte er durch Gottes freier Natur. Für Alex war das alles äußerst rätselhaft. Erst mal umgab ihn pechschwarze Finsternis, dann hörte er zahllose Schreie um sich herum. Für einige Augenblicke herrschte Ruhe, bis plötzlich etwas furchtbar quiekte. Unerwartet und ruckhaft stoppte das Mofa. Im nächsten Augenblick segelte Alex im hohen Bogen durch die Luft. Alex hatte wieder einmal das Kunststück geschafft: Er war volle Pulle in den Schweinepferch gerast. Wie Wochen zuvor bohrte sich das Vorderrad in den Schlamm, und Alex landete erneut auf dem Rücken einer erschrockenen Muttersau. „Schweinerei!" schimpfte Alex und floh vor einer Meute wütender Schweine. Das war das letzte, was die Schülerinnen der 10 b) in diesem Sommer von Alexander Schlöderblohm 74
sahen. Der Busfahrer startete den Motor. Kopfschüttelnd betrachtete Ewald die Karrosserie des Fahrzeugs. „Dieser Bus ist ja eine ... äh, Schande. Eine wirkliche ... äh, äh ... Schande," meinte Ewald fachmännisch. „Schmutzflecke ... äh, Kratzer ... äh, keinerlei Sinn für ... äh ..." „Besucht uns bald wieder", schluchzte Else. Sie versuchte angestrengt, ihre Tränen nicht zu zeigen. Else hatte die Jugendgruppe in ihr mütterliches Herz geschlossen. Für jede Schülerin der 10 b) hatte sie eine Tüte Plätzchen gebacken. „Wir kommen bestimmt wieder", versprachen ihr die Mädchen, als sie in den Bus stiegen. „Ihr seid immer willkommen", lachte Conny und schluckte einen dicken Frosch in ihrer Kehle runter. Abschiede mochte sie nicht ... Trotz des Abschiedskummers schienen alle guter Laune zu sein. Nur der Busfahrer stöhnte genervt über das dauernde Rein und Raus. Er verdrehte die Augen und starrte hilfeflehend zum Himmel. Zischend schlössen sich die Bustüren. Langsam setzte sich das schwere Fahrzeug in Bewegung. Der Fahrer hupte zum Aschied einmal kurz und kräftig. Das Motorengeräusch des Busses verklang in der Ferne. Auf dem Alderhof kehrte wieder Ruhe ein. Nur eine Amsel war noch zu hören. Sie saß in der alten Kastanie und sang ihr Lied. Die Abendsonne schickte ihre goldenen Strahlen über die Weiden und malte den Schatten der Bäume und Sträucher auf das dunkle Grün der Wiesen. Dort hoben die Pferde ihre Köpfe wie zu einem Abschiedsgruß und blickten dem Bus und den Mädchen lange hinterher.
18. Kapitel Saisonende Die Saison auf dem Alderhof neigte sich dem Ende zu. Conny hatte jetzt mehr Zeit für Kobalt und ihre Freundinnen. Immer weniger Gästebungalows waren noch belegt. Die Fensterläden der 75
leerstehenden Häuser waren alle geschlossen. Nur manchmal, wenn der Wind um die Mauern strich, klapperten sie gespenstisch laut. Ewald träumte dann davon, auf einem Segelschiff die Welt zu umrunden. Eine Woche, nachdem die Schülerinnen der 10 b) abgereist waren, ließ Nicoles Vater Anton holen. Conny wurde ein bißchen traurig ums Herz, als sie das kleine Fohlen im Pferdetransporter verschwinden sah. Aber sie wußte, Anton würde es bei Julia gut haben. Frühmorgens, wenn Conny durch den Wald ritt, hingen dichte Nebelfetzen zwischen den Bäumen. Sie kündeten vom nahen Herbst wie die erst kühlen Abende vom Ende des Sommers. Aber noch schien die Sonne warm und lud zu Ausritten ein. „Das war vielleicht ein toller Sommer", seufzte Steffi. „Meinst du, die nächste Saison wird genauso?" „Wo denkst du hin?" lachte Conny. „Dieses Jahr war erst der Anfang. Nächstes Jahr wird alles noch tausendmal besser." Graf und Gräfin Alderhof spazierten durch den kleinen Park. Liebevoll legte Graf Alderhof den Arm um die Schultern seiner Frau. Auf dem Waldweg sahen sie ihre Enkelin mit Steffi und Gertie um die Wette reiten. „Was für ein Prachtmädel", seufzte die Gräfin. „Wir können stolz auf sie sein." Ihr Mann nickte zustimmend. „Ja", lächelte der Graf und ein bißchen wehmütig. „Ohne Conny wäre der Alderhof um vieles ärmer."
76
77