Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Thomas Brezina:
Die Knickerbocker-Bande / Thomas Brezina. – Wien ; S...
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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Thomas Brezina:
Die Knickerbocker-Bande / Thomas Brezina. – Wien ; Stuttgart:
Neuer Breitschopf Verlag
Jagd auf den Hafenhai : Abenteuer in Hamburg. - 6. Aufl. – 1995
ISBN 3-7004-0142-6
6. Auflage 1995
Porträtfoto: Michael Fantur
Druck und Bindung: Ueberreuter Buchproduktion, A-2100 Komeuburg
Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch
auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.
© hpt-Verlagsgesellschaft m. b. H. & Co. KG, Wien 1991 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe, der Übersetzung und der Übertragung in Bildstreifen, vorbehalten.
Inhalt:
Der grüne Hai ..............................................................4
Der Haikäfig ................................................................8
Ein Schuß aus der Harpune .......................................12
Hai-Horror .................................................................16
Jodel-di-Juhu ..............................................................21
Der nächste Angriff ...................................................25
Die nächsten Opfer? ..................................................29
Vorsicht Möwen! .......................................................33
Moritz ........................................................................37
Der Indianer ...............................................................40
Lösegeld? ...................................................................44
Schrumpfkopf und Voodoo-Sarg ...............................48
Tödlicher Draht ..........................................................51
Wer ist Onkel Willibald? ...........................................55
Eine Barkasse namens Julchen ..................................59
In der Speicherstadt ...................................................63
Der Grüne Hai befiehlt ..............................................67
Grausame Grüße ........................................................72
Warnung an alle .........................................................77
Das grüne Halsband ...................................................81
Felix Paradiso ............................................................85
Seemannsgruft ...........................................................89
Dr. Shark ....................................................................94
Der Tür sei Dank .......................................................98
Die Entlarvung .........................................................102
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Der Name KNICKERBOCKER BANDE… ...entstand in Österreich. Axel, Lilo, Poppi und Dominik waren die Sieger eines Zeichenwettbewerbs. Eine Leder hosenfirma hatte Kinder aufgefordert, ausgeflippte und knallbunte Lederhosen zu entwerfen. Zum großen Schreck der Kinder wurden ihre Entwürfe aber verwirklicht, und bei der Preisverleihung mußten die vier ihre Lederhosen vorführen. Dem Firmenmanager, der sich das ausgedacht hatte, spielten sie zum Ausgleich einen pfiffigen Streich. Als er bemerkte, daß er auf sie hereingefallen war, rief er den vier Kindern vor lauter Wut nach: „Ihr verflixte Knicker bocker-Bande!“ Axel, Lilo, Dominik und Poppi gefiel dieser Name so gut, daß sie sich ab sofort die Knickerbocker-Bande nannten. KNICKERBOCKER MOTTO 1: Vier Knickerbocker lassen niemals locker! KNICKERBOCKER MOTTO 2: Überall, wo wir nicht sollen, stecken wir die Schnüffelknollen, sprich die Nasen, tief hinein, es könnte eine Spur ja sein.
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Der grüne Hai
„Ein Hai!“ kreischte Poppi und deutete auf das Wasser. Ihre Knickerbocker-Freunde Axel, Lilo und Dominik brachen in schallendes Gelächter aus. „Auf diesen billigen Scherz fallen wir dir nicht herein“, meinte Axel. Doch Poppi hörte ihn gar nicht. Entsetzt und mit weit aufgeris senen Augen starrte sie auf die Wellen des Meeres. „Ei... ei... ein Hai“, stammelte das Mädchen abermals. „Ich glaube, du hast eine Spinnfabrik im Kopf. Für Haie ist das Wasser der Nordsee viel zu kalt“, belehrte sie Dominik. „Aber... aber die Flosse“, keuchte Poppi. „Seht doch nur... dort!“ Kichernd und spottend drehten sich die anderen um und blickten in die Richtung, in die ihre Knickerbocker-Freundin deutete. Augenblicklich blieb den drei Junior-Detektiven das Lachen im Hals stecken. „Eine dreieckige... Rückenflosse“, japste Dominik. „Poppi hat recht. Das ist ein Hai!“ Das glänzende, grüne Dreieck pflügte mit hoher Geschwindig keit durch das Wasser und nahm Kurs auf das Ruderboot der Knickerbocker-Bande. „Der Hai... er will uns rammen!“ schrie Poppi auf. Gleich darauf ertönte ein dumpfes Poltern, und das Boot wurde in die Höhe geschleudert. Die vier Knickerbocker rutschten von den Ruder bänken und preßten sich auf den Boden des Bootes. Sie schlangen ihre Arme um die Sitze und klammerten sich mit aller Kraft fest. „Nur nicht über Bord gehen“, war ihr einziger Gedanke. Aus dem lustigen Ruder-Ausflug war schlagartig ein Horror-Trip geworden. „Ob er... ob er wegschwimmt?“ fragte Dominik leise. Lieselotte hob den Kopf und spähte über den Bootsrand. Die Haiflosse war
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verschwunden. Rund um sie herrschte Ruhe. Ruhe, die dem Mädchen Angst einjagte. „Huhu“, rief eine fröhliche Frauenstimme. „Jodel-di-Juhu! Ist es nicht herrlich hier draußen? Diese frische Brise tut gut!“ Ungefähr 100 Meter von ihnen entfernt entdeckte Lilo ein zweites Ruder boot. Es handelte sich um eines dieser winzigen Dinger, die einer Nußschale glichen und in dem höchstens zwei spinnendürre Personen Platz hatten. „Vorsicht! Ein Hai! Ein Hai!“ brüllte das Superhirn der Knickerbocker-Bande der Frau im Boot zu. Doch diese hielt das für einen Scherz und kicherte nur amüsiert. Holz splitterte, und in die rechte Wand des Ruderbootes der vier Freunde wurde ein riesiges Loch geschlagen. Für Sekunden blitzte das Grün der Haifischflosse auf. Axel, Poppi, Dominik und Lieselotte schrien vor Angst. Wasser drang ein, und das Boot begann zu sinken. „Hilfe! Hilfe!!!“ brüllten die Knickerbocker aus Leibeskräften. Da rammte der Hai das Boot abermals. Er drückte es mit seinem mächtigen Körper in die Höhe und tauchte blitzschnell wieder ab. Dadurch krachte das Schiff mit voller Wucht auf die Wasserober fläche und kenterte. Die Junior-Detektive verschwanden zwischen den Wellen. Wild paddelten sie mit Armen und Beinen, als die Nordsee über ihren Köpfen zusammenschlug. Mit weit aufgerisse nen Augen versuchten sie, den grünen Angreifer unter Wasser zu orten. Prustend und spuckend tauchten sie auf und griffen nach den wenigen Resten, die von ihrem Boot übriggeblieben waren. „Er... er wird uns fressen!“ keuchte Poppi. „Wie der Weiße Hai... der hat auch alle Menschen mit seinen riesigen Kiefern zerbissen und getötet!“ Die anderen schwiegen. Bebend vor Angst drehten sie hastig die Köpfe nach allen Seiten, um den Hai bestimmt nicht zu übersehen. Aber wieder herrschte die bedrückende Stille. „Macht so wenig Bewegung wie möglich“, befahl Dominik.
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„Der Hai! Er kommt zurück!“ kreischte Lieselotte außer sich. Tatsächlich war das grüne Dreieck wieder aufgetaucht und zischte auf die Knickerbocker-Freunde zu. In Panik versuchten die vier auf die schmalen Planken des Bootes zu kriechen und aus dem Wasser zu kommen. Dabei rutschten sie immer wieder ab, und Lieselotte bekam einen Schnitt am rechten Arm ab. Blut tropfte in das Meer. „Haie greifen doch vor allem blutende Opfer an“, schoß es Lilo mit Schrecken durch den Kopf. Die Angst der Knickerbocker war unbeschreiblich. Auf wen würde sich der Hai stürzen? Als das Monster nur wenige Meter von ihnen entfernt war, drehte es plötzlich ab und verschwand in der Tiefe. Keiner der vier Freunde wagte es, erleichtert aufzuatmen. Angespannt starrten Axel, Lilo, Poppi und Dominik auf die Wellen. Der Schock hatte sie gelähmt. Sie konnten nicht einmal mehr zittern. Ein gellender, schriller Schrei riß sie aus ihrer Starre. Sie drehten die Köpfe in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war und rissen entsetzt die Augen auf. Ein Haischädel von unvorstellbarer Größe war aus dem Meer aufgetaucht. Er hatte das Maul weit aufgerissen und schlug die Kiefer mit den hunderten messerscharfen Zähnen in das winzige Ruderboot der Frau. Als wäre es aus Marzipan, biß er das Heck ab und riß es in die Tiefe. Der Rest des Schiffchens kippte und versank. Die Frau schlug in Panik mit den Armen um sich. Wieder schoß der grüne Haischädel aus der Nordsee, und diesmal riß er sein Opfer in die Tiefe. Mit einem gurgelnden Laut verschwand die Frau unter Wasser. Wo noch vor wenigen Minuten ein kleines Ruderboot geschau kelt war, kräuselten sich jetzt nur noch ein paar Schaumkronen auf den Wellen. Fassungslos ließen die Knickerbocker ihre Blicke über das Meer schweifen. Sie konnten nicht begreifen, was sie gesehen hatten. Solche Szenen gab es doch sonst nur im HorrorFilm!
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Poppi begann heftig zu schluchzen. Sie weinte bitterlich und stammelte: „Die Frau... er hat sie getötet... der Hai... und wir... sind die nächsten!“ Würde der schwimmende Killer zurückkehren?
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Der Haikäfig
Die nächsten Minuten erschienen Axel, Poppi, Lilo und Dominik wie Tage. Angsterfüllt starrten sie auf das Wasser der Nordsee. „Bitte... bitte komm nicht zurück“, flehte Lilo innerlich. „Bitte, Hai, laß uns leben. Bitte!“ Vor Dominiks Augen tauchten immer wieder die Bilder des schrecklichen Unfalls auf. Die spitze Schnauze und die drohenden Zähne des grünen Hais und das Gesicht der Frau, die um ihr Leben schrie, waren in seinen Kopf wie eingebrannt. Die leichte Brise, die schon den ganzen Tag über die Nordsee geweht hatte, wurde nun ziemlich kühl und heftig. Poppi zitterte am ganzen Körper vor Kälte, und auch Axel begann mit den Zähnen zu klappern. Das Tuckern eines kleinen Fischkutters setzte den bangen Minu ten ein Ende. „Hilfe, hier sind wir! Hilfe!“ rief Lilo und winkte heftig mit den Armen. Das Schiff kam näher, und ein drahtiger kleiner Mann blickte über die Reling. „Was’n mit euch los?“ lautete seine Begrüßung. „Ein Hai... ein grüner Hai hat uns angefallen. Und er hat... eine Frau... getötet“, stotterte Axel. „Wollt mich wohl auf’n Arm nehmen“, stieß der Käpten des Kutters zwischen den Lippen hervor. Er hatte eine verloschene Zigarette im linken Mundwinkel hängen, die ihn am deutlichen Sprechen hinderte. Obwohl er die Geschichte mit dem Hai nicht im geringsten glaubte, warf er eine Strickleiter nach unten und half den vier Freunden an Bord. Er reichte ihnen stinkende, rauhe Decken und warf einen zweifelnden Blick auf die Reste des Ruderbootes. „Mensch, wie habt ihr denn das angestellt? Hier gibt es doch keine Korallenriffe!“ meinte er staunend. Die Knickerbocker-Bande war viel zu erschöpft, unterkühlt und geschockt, um noch einmal von dem Hai zu berichten und ihre
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Beobachtung zu verteidigen. Deshalb schwiegen die JuniorDetektive. Sie waren unglaublich erleichtert, aus dem Wasser zu sein und preßten sich fest gegen die Wand des Kabinenaufbaues. So bald brachte sie niemand wieder zum Baden im Meer. Dabei hatten die Tage in Hamburg so schön begonnen. Die Knickerbocker-Freunde verdankten die überraschende Reise Dominik. Dieser durfte wieder einmal als Jung-Schauspieler werken und in einem Tonstudio Hörspiel-Kassetten aufnehmen. Zum Gaudium seiner Kumpels spielte er „Null-Null-Hunibald, den kleinsten Geheimagenten der Welt“. Fast zwei Wochen sollten die Aufnahmen dauern. Und da Dominik pro Tag nicht länger als vier Stunden arbeitete, hatte er gebeten, seine Freunde mitbringen zu dürfen. Schließlich mußte er sich irgendwie die restliche Zeit des Tages vertreiben. An diesem Mittwoch, an dem die Sache mit dem Hai passierte, hatte der Junior-Schauspieler frei. Deshalb hatte ihn Tony, der im Tonstudio als Tonmeister arbeitete, eingeladen, mit ihm auf die Nordseeinsel Föhr zu fahren. Die übrigen Knickerbocker waren natürlich auch dabei. Nachdem sie eine Weile im kühlen Wasser herumgetollt waren, hatten sich die vier Freunde Axel, Lilo, Poppi und Dominik ein Ruderboot gemietet, um ein wenig die Umgebung zu erkunden. Dabei hatte sie die Strömung ziemlich weit vom Strand wegge trieben. Die Küste war nur noch als dünne, helle Linie am Horizont zu erkennen. Schweigend und schlotternd hockten die Junior-Detektive an Deck des Fischkutters. Sie hatten in den vergangenen Jahren schon viel miteinander erlebt. Doch was sich vorhin ereignet hatte, war sicher bisher das Schlimmste gewesen. „He, laßt die Köpfe nicht so hängen, Kinder“, meinte der Käpten. Er hatte sich aus dem Steuerhaus gebeugt und betrachtete mitleidig die vier zusammengekauerten Gestalten. „Das Boot kann man ersetzen. Obwohl ich mir noch immer nicht erklären kann, wie ihr aus dem Ding so schnell ein Wrack machen konntet!“
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„Auch wenn Sie es nicht glauben, es war ein Hai. Ein grüner Hai“, begann Lieselotte. Doch der Seemann winkte ab. „Da haste recht. Das glaube ich dir nicht. Nenene, da erzählst du dem Matze nichts. Der Matze, das bin ich, und ich habe ein Jahr lang ein Schiff gesteuert, das einem Professor gehört hat. Der hat sich nur mit Haien beschäftigt. Er war süchtig nach diesen Tieren. Erforscht hat er sie und studiert. Bis er eines Tages nicht mehr zurückgekommen ist. Als wir den Haikäfig hochgezogen haben, war er leer.“ „Haikäfig? Kann man diese Biester in Käfigen halten?“ fragte Axel matt. Matze kicherte heiser und schüttelte den Kopf. „Ne! Der Hai käfig war eine Gitterkiste, in der der Professor vor den Biestern geschützt war. In diesem Käfig haben wir ihn immer an einer Kette ins Wasser gelassen. So konnte er die Haie fotografieren und anfassen. Trotzdem hatten sie keine Möglichkeit ihn anzufallen.“ Dominik verstand das nicht. „Aber wieso ist er aus dem verschlossenen Käfig verschwunden? Es kann ihn doch kein Hai herausgezogen haben? Oder wies das Gittergestell Beschädi gungen auf?“ „Ich denke, der Professor ist ausgestiegen. Dazu hatte er die Möglichkeit. Er mußte nur die Einstiegsöffnung entriegeln und rausklettern. Aber von diesem Ausflug ist er nicht zurückgekehrt. Armer Kerl. Ich habe einmal mit eigenen Augen beobachtet, wie ein Hai einen Matrosen angefallen hat. Das Wasser war blutrot, und das jämmerliche Kerlchen war danach um einen Arm ärmer. Möchte gar nicht daran denken, was der Hai mit dem Professor angestellt hat...“ Poppi wendete sich angeekelt und entsetzt ab. „Aufhören, bitte aufhören“, rief sie und drückte die Hände an die Ohren. Sie wollte und konnte diese Schauergeschichten nicht hören. „In der Nordsee gibt es keine Haie. Und schon gar keine grünen! Ihr seid irgendeinem blöden Scherz auf den Leim gegangen“, redete der Fischer weiter und lachte laut.
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Er zündete sich den Zigarettenstummel an und saugte daran. „Vielleicht war es ein aufgeblasenes Tier. Anders ist das nicht zu erklären“, meinte er. Axel runzelte die Stirn. Seine Schirmkappe war trotz des Sturzes ins Wasser auf dem Kopf geblieben. Nun schob er sie nach hinten und überlegte. „Die Frau hat laut geschrien... aber es ist kein Tropfen Blut im Wasser zu sehen gewesen.“ Der Junge richtete sich auf und rief in das Steuerhaus: „Herr Matze...“ „Laß das ‚Herr’ weg“, brummte der Seebär. „Matze, kann ein Hai einen Menschen im Ganzen schlucken?“ Der Seemann begann heiser zu kichern und trommelte auf das Steuerrad. „Nenene, solche Monster gibt es nur im Film. Kinder, Kinder, ihr solltet nicht so viel in die Flimmerkiste glotzen.“ Trotz Schock arbeiteten Axels Grübelzellen ganz gut. Der Angriff des Hais auf die Frau im Boot war entsetzlich gewesen, aber dennoch kam ihm vor, daß etwas nicht stimmte. Sollte das Untier die Frau erst in der Tiefe des Meeres zerrissen haben? Axel erschrak bei diesem Gedanken. Die Vorstellung war zu entsetzlich. Oder hatte der Hai sein Opfer tatsächlich im Ganzen herunterge würgt? Für Sekunden kam Axel der Gedanke, daß es sich um ein mechanisches Tier gehandelt haben könnte, das die Frau „einge saugt“ oder auf diese Art entführt hatte. Aber warum und wozu? Der Junge verwarf die Idee schnell wieder. Trotzdem blieb ihm das Gefühl, daß etwas an dem „Grünen Hai“ faul sei. Aber was?
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Ein Schuß aus der Harpune
Am Strand von Föhr lief der Tonmeister Tony nervös auf und ab. Immer wieder setzte er ein Fernglas an die Augen und suchte den Horizont ab. Wo blieb die verdammte Rasselbande nur? War seinen Schützlingen etwas zugestoßen? Seine Chefin, Frau Kabellos, würde ihm den Kopf abreißen, falls er Dominik nicht heil zum Studio zurückbrachte. Außerdem war es höchste Zeit aufzubrechen. Die Fähre ging in einer halben Stunde. „Hallo... Tony“, hörte er Lilos Stimme hinter sich. Er drehte sich um und rannte mit großen Schritten auf die vier nassen Gestalten zu, die durch den Sand torkelten. Matze begleitete sie. Tony fuhr sich nervös durch die winzigen Haarlocken, die seinen Kopf bedeckten, und strich sie immer wieder glatt. „Wo... wo wart ihr denn?“ „Nicht schimpfen, die vier haben irgendwie Pech mit dem Ruderboot gehabt“, antwortete der Käpten anstelle der Kinder. „Habe die vier Jammer-Heringe aus dem Wasser gefischt.“ Der Tonmeister verstand kein Wort. „Äh... danke... muß ich etwas zahlen?“ fragte er verwirrt. „Neee, die Rettung geht auf Kosten des Hauses, und wegen des Bootes rede ich mit dem Verleiher. Der ist versichert, keine Bange.“ „Dann vielen Dank nochmal, und nun Abmarsch zur Fähre. Ihr könnt mir unterwegs alles genau erzählen“, trieb Tony die Knickerbocker an. „Ich... ich... steige nicht in die Fähre ein“, begann Poppi plötzlich zu murmeln. „Kein Boot, nein... nein“, wiederholte sie immer wieder. Sie wurde von einem heftigen Schüttelfrost gebeu telt und machte einige Schritte rückwärts. Matze fing sie auf und nahm sie in seine kräftigen Arme.
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„Die Kleene braucht ein Bett und einen Pott heißen Tee“, stellte er mit Kennerblick fest. „Ich muß aber zurück nach Hamburg“, stöhnte Tony ungeduldig und hilflos. „Die hat zuviel Sonne erwischt. Lassen Sie das Kind drei Tage hier, meine Frau kümmert sich um sie“, schlug Matze vor. „Ich bleibe bei Poppi“, verkündete Lilo. Axel schloß sich ihr an. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich das Angebot gerne annehmen“, meinte Tony. „Dominik, du wirst aber morgen früh wieder im Studio erwartet.“ Der Junge mit der Brille senkte den Kopf: „Ich weiß. Ich komme mit!“ Tony und Matze tauschten Telefonnummern aus und verab schiedeten sich dann. Matze bewohnte mit seiner Frau Ingrid einen nicht allzu großen, gemütlichen Bauernhof, vor dem sich Schafe, Hühner und zwei Esel tummelten. Rund um das Anwesen des Seemanns befanden sich mehrere Villen, in denen Stars aus Film, Fernsehen, der Musikszene und der Wirtschaft ihren Urlaub verbrachten. Darauf war Matze mächtig stolz. Es war erst kurz vor sechs Uhr am Abend, doch Poppi bestand darauf, sofort ins Bett zu gehen. Lieselotte und Axel machten es sich in der gemütlichen Wohnstube vor dem Fernseher bequem. Obwohl August auf dem Kalender stand, war es auf der Nordseeinsel für diese Tageszeit bereits ziemlich kühl. Aus diesem Grund hatte Matze ein Feuer im Kamin entfacht. Das Fernsehprogramm flimmerte an Axels Augen vorbei, ohne daß er es wirklich wahrnahm. Immer wieder geisterte der Grüne Hai durch seinen Kopf. Lilo war unansprechbar. Sie wollte im Augenblick nichts von der Sache wissen. „He, Kinder, guckt nicht, als ob euch der Klabautermann ewige Rache geschworen hätte“, lachte Matze. „Ich werde euch eine Geschichte erzählen, die euch bestimmt aufheitert... von Klaus Störtebecker, dem Piraten ohne Kopf!“
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Ingrid warf ihrem Mann einen strafenden Blick zu. „Was auch immer da draußen vorgefallen ist, die Kinder sind heute schon genug geschreckt worden. Diese Geschichte kannst du dir sparen.“ Doch damit hatten die beiden Lilos und Axels Neugier geweckt. „Klaus Störtebecker, der Name kommt mir bekannt vor. Wer war das?“ wollte das Superhirn der Knickerbocker-Bande wissen. „Das war ein Pirat. In der Nähe der Mündung der Elbe liegt die Insel Helgoland. Dort mußten die beladenen Schiffe vorbei, wenn sie über die Elbe in den Hafen von Hamburg fahren wollten. Klaus Störtebecker hat ihnen dort mit seinen Seeräubern aufgelau ert und sie ausgeplündert. Aber keine Sorge, das ist über 500 Jahre her.“ „Und Klaus Störtebecker hat für seine Taten mit dem Leben bezahlt“, warf Ingrid ein. Matze hatte die Zigarette am Abend gegen eine Pfeife getauscht und zog fest daran an. „Eine Flotte von Kriegsschiffen konnte ihn schließlich im Jahr 1401 festnehmen. Und siebzig seiner Leute dazu. Sie wurden zum Tod durch Enthaupten verurteilt, und noch heute wird folgendes erzählt: Vorher soll Störtebecker noch um Gnade für seine Kumpane gefleht haben. ,Laßt alle frei, an denen ich ohne Kopf vorbeilaufe!’ hat er die Richter beschworen. Diese haben zugestimmt. Und stellt euch vor: Tatsächlich ist der Piratenkapitän nach seiner Enthauptung ohne Kopf an der langen Reihe seiner Piraten vorbeigelaufen. Er wäre wahrscheinlich bis zum letzten gekommen, wenn ihm nicht beim elften Mann jemand ein Bein gestellt hätte.“ Lilo und Axel grinsten. Sie liebten Schauergeschichten. Vor allem, wenn sie so unwahrscheinlich waren. Gegen zehn Uhr gingen die Knickerbocker-Freunde zu Bett. Da die Insel Föhr im Norden lag, war es draußen noch immer ziemlich hell. Axels Bett stand genau unter einem Fenster ohne Vorhänge, und der Junge fand deshalb keine Ruhe. Er wälzte sich keuchend von einer Seite auf die andere, schlief aber dennoch nicht ein.
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Kurz vor Mitternacht war es ihm dann zu dumm. Axel schwang sich aus dem Bett und schlüpfte in seine Hose und den Pulli. Er tappte durch das dunkle Haus, in dem bereits alles schlief, und trat durch die Eingangstür ins Freie. Gierig zog er die kühle Nachtluft ein. In der Ferne hörte er ganz leise das Rauschen der See. Der Junge vergrub die Hände in den Hosentaschen und schlenderte über den Hof. Aus den Ställen drang schläfriges Blöken und von Zeit zu Zeit vereinzeltes Gackern. „Ob Hühner tatsächlich im Sitzen schlafen?“ überlegte der Knickerbocker und grinste vor sich hin. Er wollte eine Antwort auf diese Frage und öffnete deshalb die Tür zu einem niederen Holzschuppen. Axel nahm die kugelschreibergroße, aber trotzdem sehr leuchtstarke Taschenlampe, die an seinem Gürtel hing, und knipste sie an. Er lenkte den Strahl in den Stall und zuckte zurück. Das breit grinsende Maul eines Hais starrte ihn an.
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Hai-Horror
Axels Herz begann wie wild zu schlagen. Seine Hände waren schweißnaß, und die Taschenlampe entglitt seinen Fingern. „Nein... nein... nein!“ stammelte er und torkelte nach hinten. War das ein Alptraum? Oder Wirklichkeit? Wie kam ein Hai in den Hühnerstall? Plötzlich und ohne Vorwarnung wurde der Junge dann von hinten gerammt. Etwas Hartes prallte gegen seinen Rücken und drängte ihn mit voller Wucht genau auf den Hai im Schuppen zu. Axel hatte nicht einmal Gelegenheit sich zu wehren. Er war viel zu verdutzt und überrascht. Es gab keinen Zweifel. Irgend jemand mußte hinter ihm gestanden und losgerannt sein. Aber wer und wozu? Zwei kräftige Hände packten die Schultern des Jungen, und ein Schuh versetzte ihm einen kräftigen Tritt. Axel stürzte in einem hohen Bogen durch die Tür des Holzhauses und landete auf dem erdigen Boden. Hinter ihm krachte Holz, und ein Schloß klickte. Eingeschlossen! Er war eingeschlossen! Axel geriet in Panik. So schnell wie möglich wollte er hier heraus. Der Hai! Was war mit dem Hai? Der Junior-Detektiv sprang auf die Beine und streckte die Arme aus. Wie ein Blinder tappte er voran und versuchte, jedes Hindernis rechtzeitig zu ertasten. „Autsch! Meine Finger, verdammter Mist!“ fluchte er leise, als er gegen die Schuppenwand stieß. Er spürte allerdings nicht nur die rauhen Bretter, sondern auch ein Ding aus Metall. Es hing an einem dicken Riemen auf einem Nagel. Axels Hände glitten über ein Metallrohr, einige Ausbuchtungen und Schweißnähte, Gummimuffen und einen Hebel. Vorsichtig fuhr er mit dem Finger darüber, und da geschah es. Das „Ding“ gab einen lauten, zischenden Ton von sich und versetzte dem Jungen einen Stoß. Holz splitterte, und es hörte sich
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an, als hätte ein Messerwerfer einen Dolch geworfen. Axel ging blitzschnell in Deckung und preßte sich so flach wie möglich auf den Boden. Er wartete ein paar Sekunden ab, bevor er es wagte, aufzublicken. Mittlerweile hatten sich seine Augen an die Dunkel heit gewöhnt, und er konnte einige Umrisse und Schatten erkennen. Über ihm – da gab es keinen Zweifel – schwebte ein Hai. Er war ungefähr einen Meter und fünfzig Zentimeter lang und zeigte drohend seine Zähne. Daneben entdeckte der Junge einen riesigen Haikiefer, allerdings ohne dazugehörigen Hai. Mit zitternden Fingern zog er an der Kette mit der Taschenlampe und knipste sie an. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Hände so ruhig zu halten, daß der Lichtkreis nicht wie ein Irrlicht hin- und herzappelte. Doch wo auch immer er hinleuchtete, bekam Axel einen neuen Schock. Ein Seeteufel grinste ihn angriffslustig an. Nicht weit von seinem Kopf schaukelte ein Kugelfisch. Harpunen waren direkt auf ihn gerichtet. Nun war ihm auch klar, daß er vorhin eines dieser Höllengeräte ausgelöst hatte. Doch wieso war es geladen gewesen? Axel drehte sich auf den Rücken und robbte in Richtung Tür. Er mußte hier hinaus. So schnell wie möglich. Die spitzen Speere, mit denen die Harpunen geladen waren, folgten ihm. Er konnte ihnen nicht entrinnen. Ausweichen war unmöglich. Auch der Hai schien sich nach unten zu neigen und in seine Richtung zu bewegen. Die Monsterkiefer begannen auf- und zuzuklappen. Der Seeteufel ließ die spitzen Stachel in die Höhe klappen, und Axel hatte das Gefühl, daß der Fisch von Sekunde zu Sekunde größer wurde. Der Junge rang nach Luft. Er konnte kaum noch einatmen. Seine Brust war wie eingeschnürt. Seine Arme und Beine klebten auf der Erde fest. Er war den angreifenden Fischen hilflos ausgeliefert. Sie konnten sich auf ihn stürzen und ihn zerfetzen. Oder würde ihn vorher eine Harpune treffen?
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„Nein!!! Nein!!! Nein!!!“ wollte Axel schreien, doch aus seinem Mund kam nur ein tonloses Flüstern. Er brachte keinen Laut heraus. Es war unmöglich. „Hilfe! Warum hilft mir keiner?“ flehte er in Gedanken. „Hilfe!!!“ Der Hai und die anderen Angreifer wuchsen zu unglaublichen Monstern heran und füllten beinahe den ganzen Raum. Axel kroch weiter rückwärts und ließ sie keine Zehntelsekunde aus den Augen. Doch plötzlich ging es nicht mehr weiter. Die Bretterwand versperrte ihm den Weg. Er saß in der Falle. „Geht weg! Weg! Weg!“ krächzte der Knickerbocker und schlug mit den Armen um sich. Wasser! Plötzlich hatte er das Gefühl unter Wasser zu sein. Über sich erkannte er die schaukelnde und glitzernde Wasserober fläche, auf der sich die Sonnenstrahlen brachen. Luft! Axel bekam keine Luft mehr! Er hatte das Gefühl zu ertrinken. Aber wie war das möglich? Befand er sich nicht in einer gewöhnlichen Scheune? Mit einem Schlag löste sich die Wand hinter ihm in Nichts auf, und Axel stürzte nach hinten. Er prallte mit dem Kopf gegen etwas Hartes und verlor für ein paar Sekunden die Besinnung. Als er wieder zu sich kam, fächelte ihm jemand Luft zu. Axel nahm alle Kraft zusammen und riß die Augen weit auf. Über sich erkannte er Matzes wettergegerbtes Gesicht. „Jungchen, was machst du für Sachen?“ fragte ihn der Seemann kichernd. „Wieso bist du um diese Zeit noch heraußen? Du solltest längst schlafen.“ „Hai... Haie“, stieß Axel hervor und hob den Arm, um in Richtung Schuppen zu deuten. „Keine Bange, von denen tut dir keiner mehr was“, beruhigte ihn Matze. Axel bekam nur noch einige Brocken von dem mit, was Matze danach in seinen verfilzten Bart murmelte. Der Schreck des Nachmittags, die Zeit in der kalten Nordsee, die stickige, heiße Luft im Schuppen und seine völlige Übermüdung hatten ihm diesen Alptraum mit offenen Augen verschafft. Er
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versank in einem Meer aus warmem, stillem, schwarzem Wasser. In wenigen Sekunden hatte ihn der Schlaf übermannt. Schmunzelnd hob ihn Matze auf und trug ihn zu seinem Bett „Vor diesen getrockneten Fischchen bist du so erschrocken?“ Lieselotte bog sich vor Lachen. Es war fast Mittag, als sie mit Axel das Holzhaus betrat, in dem er in der Nacht die schreck lichsten Minuten seines Lebens verbracht hatte. Bei Tag kam dem Jungen die Angelegenheit auch mehr als komisch und lächerlich vor. „Alle Fische sind ausgestopft. Lauter Besitztümer des Profes sors“, erklärte ihnen Matze. Wie immer sprach er nur in halben Sätzen und abgehackt. „Habe das Zeug nach seinem Verschwin den bekommen. Ich besitze auch den Haikäfig. Lagere die Sachen in diesem Schuppen. Bin nämlich ein wehmütiger, nostalgischer Typ. Ich brauche die Erinnerung.“ Lilo schritt unter dem präparierten Hai und dem Seeteufel durch, die von der Decke hingen, und steuerte einen mannshohen, verbeulten Gitterkäfig an. „Ist er das, der Haikäfig?“ erkundigte sie sich. Matze nickte. „Ist eigentlich ein ,Menschen-Käfig’!“ Der Professor ist drinnen gesessen und hat fotografiert oder die kleinen Freßmonster gefüttert. Zum Anlocken hat er übrigens immer eimerweise blutiges, stinkendes Fleisch ins Wasser geworfen.“ „Die verbogenen Stangen... die stammen wahrscheinlich von einem Hai-Angriff!“ vermutete Axel. „Richtig, Jungchen. Aber trotzdem ist der Käfig noch voll intakt. Möchtet ihr ihn vielleicht ausprobieren?“ fragte der Seemann augenzwinkernd. Mit der Antwort, die nun kam, hatte er allerdings nicht gerechnet „Ja!“ sagte Axel. „Ja, das wollen wir. Solang wir drinnen sind, kann uns doch nichts geschehen, oder?“ „Neee! Ihr dürft nur nicht raus. Diesen Fehler macht ihr nur einmal. Aber jetzt rede ich schon, als gäbe es diesen Grünen Hai wirklich. Quatsch mit Kressesoße, den Biestern ist das Wasser viel zu kalt.“
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„Trotzdem würde ich gerne in dem Käfig abtauchen“, bekräf tigte Axel seinen Entschluß. „Lieselotte und ich haben letzten Sommer einen Tauchkurs gemacht. Wir können mit Preßluftfla schen umgehen. Matze, ist es möglich. auf der Insel Föhr eine Tauchausrüstung auszuborgen?“ „Das läßt sich schon machen. Ich habe heute nachmittag ohnehin nichts vor. Ihr könnt auf ,Hai-Jagd’ gehen!“ Der Käpten kicherte vergnügt und gab den Knickerbocker-Freunden zu verstehen, daß er sie ganz und gar nicht ernst nahm. Er sollte seine Meinung allerdings bald ändern...
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Jodel-di-Juhu
„Unfaßbar, unfaßbar, unfaßbar!“ murmelte Heidi Kabellos immer wieder. Wie ein Wiesel trappelte und hastete die Hörspiel-Regis seurin durch ihr kleines Tonstudio, richtete Mikrofone und rückte Stühle zurecht. Das Studio bestand aus zwei kleinen Räumen, die durch eine dicke, schalldichte Glasscheibe voneinander getrennt waren. In einem Raum saßen die Schauspieler rund um einen großen Tisch und sprachen ihre Texte in die Mikrofone, die an dünnen Seilen von der Decke hingen. Im Zimmer nebenan befanden sich das riesige Tonpult mit hunderten Knöpfen und Hebeln und die Tonbandmaschinen. Es war die Kommando-Zentrale des Studios. Die Geräusche, die in keinem Hörspiel fehlen durften, waren auf tausenden Kassetten, CDs und Tonbändern gespeichert. Erst wenn die Sprecher alle Texte aufgenommen hatten, wurden die Musik und die Effekte „dazugemischt“. „Die gute Frau denkt, ich mache Witze mit der Geschichte vom Grünen Hai!“ überlegte Dominik, während er in dem dicken Textbuch blätterte, das vor ihm auf dem Tisch lag. Er hatte aber keine Lust auf lange Überzeugungsreden und widmete sich deshalb seiner Rolle. „Horch mal, Domi“, mit diesen Worten ließ sich Heidi Kabellos auf den Stuhl neben dem Jungen fallen. „Horch mal, KarateKarla, deine erbitterte Feindin, ist bereits aufgenommen. Du sagst nun deine Sätze, und wir schneiden ihre Worte später dazu. Ich meine, wir schnipseln die Tonbänder zusammen, sodaß ihr auf der Kassette echt miteinander redet. Alles klar?“ Der Junge schob seine Brille in die Höhe und räusperte sich verlegen: „Bitte, Frau Kabellos“, begann er, „Bitte, nennen Sie mich nicht Domi. Ich bin kein Kleinkind mehr. Außerdem sitze ich bereits zum vierten Mal allein im Studio und rede mit anderen,
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die Sie bereits aufgenommen haben. Sie erklären mir jedesmal dasselbe.“ Die Regisseurin schüttelte verlegen ihr langes, dunkelblondes Haar, rückte ihre Kniestrümpfe zurecht und murmelte etwas von: „Ich vergesse ständig, daß du ein Profi bist. Sony, Domi... äh... nik! Dominik!“ Sie sprang auf und wieselte in den Regieraum, wo Tony bereits alles für die Aufnahme vorbereitet hatte. „Du schreist Karate-Karla an, da sie deine Mutter entführt hat“, erklärte Heidi noch schnell über die Gegensprechanlage. „Aber warte mal, ich spiele dir ihre Stimme vor, damit du dir etwas vorstellen kannst.“ Die Regisseurin beugte sich zur Seite und setzte eine Tonband maschine in Betrieb. „Paß auf, du Viertelportion. Wenn du nicht möchtest, daß ich Hackbraten aus dir mache, verzieh dich besser“, grunzte eine Frauenstimme drohend. Gleich darauf kicherte sie hoch und albern und meinte: „Mensch, die Geschichte ist ja so doof! Aber Sie brauchen gar nicht so streng zu gucken, Frau Kabellos. Ich mache schon weiter. Jodel-di-Juhu! Huhu, Frau Kabellos, ein Scherzchen in Ehren kann keiner verwehren.“ Dominik mußte über dieses Privat-Gespräch der Schauspielerin lachen. Noch dazu wechselte sie sogleich wieder in ihre Rolle als wilde Karate-Karla und tobte: „Mir drohst du nicht, Winzling!“ Mit einem Schlag hörte der Knickerbocker zu lachen auf. „Jodel di-Juhu!“ Diese Worte kannte er. Die Frau, die gestern von dem Hai verschlungen worden war, hatte der Bande doch kurz zuvor noch „Jodel-di-Juhu“ zugerufen. Normalerweise besaß Dominik eiserne Disziplin. Nun konnte er aber nicht anders. Er sprang auf und stürzte in den Regieraum. „Frau Kabellos, bitte... wer... wer spielt Karate-Karla?“ fragte er keuchend. Die Regisseurin blickte ihn völlig entgeistert an. „Bist du von dieser Schreck-Makrele vielleicht angetan?“ erkundigte sie sich zweifelnd. „Sie strapaziert meine Nerven jedesmal auf das heftig
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ste, wenn sie hier ist. Doch leider ist sie für solche Rollen hervorragend geeignet.“ „Jajaja“, brummte der Junior-Detektiv unruhig. „Aber wie ist ihr Name und wo wohnt sie?“ Heidi Kabellos traute ihren Ohren nicht. „Erika Rudermann, Rosenallee irgendwas“, plapperte sie mechanisch. „Das weiß ich nur, da sie ständig während der Aufnahmen von ihrem entzüüüückenden Häuschen in der Rosenallee erzählt. Aber wieso interessiert dich das so?“ Dominik konnte nicht anders. Er mußte die Wahrheit sagen. Vielleicht saß jemand in der Rosenallee und wartete seit gestern verzweifelt und in großer Sorge auf Erika. Frau Kabellos hörte schweigend zu, griff dann automatisch zum Telefon und blätterte mit der anderen Hand gleichzeitig in ihrem Telefonverzeichnis. Hastig tippte sie eine Nummer ein und wartete. „Tonstudio Mondial, Kabellos“, sagte sie in den Hörer. „Ich hätte gerne Frau Rudermann gesprochen.“ Sie lauschte und stammelte immer wieder: „Aha... verstehe... jaja... Wenn sie kommt, soll sie sich bitte sofort bei mir melden.“ Frau Kabellos war etwas bleich im Gesicht, als sie auflegte. „Sie ist gestern vormittag weggefahren... auf die Insel Föhr. Eigentlich wollte sie am Abend zurück sein, aber bis jetzt ist sie nicht erschienen.“ Im Studio herrschte bedrückte Stille. Die Geschichte vom Grünen Hai stimmte also doch. „Ich muß sofort Lilo, Axel und Poppi warnen“, rief Dominik. „Wie ich meine Knickerbocker-Kumpels kenne, werden sie bestimmt heute etwas in Sachen Hai unternehmen.“ Tony, der Tonmeister, kramte den Zettel mit Matzes Telefon nummer heraus, und Frau Kabellos wählte schnell. Ihre Finger zitterten dabei. Sie reichte Dominik den Hörer. „Ja, hallo... bitte... bitte hier spricht Dominik Kascha. Meine Freunde Axel, Lilo und Poppi sind bei Ihnen. Darf ich sie sprechen?“, meldete er sich. Einige Zeit verging. „Sie werden ans Telefon geholt“, flüsterte der Junge den beiden Erwachsenen zu, die ihn gespannt anblickten. „Ja, Poppi, ich bin es! Alles okay?“ Er hörte ein paar
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Sekunden zu und brüllte dann: „Du mußt sie aufhalten. Der Hai lebt! Den gibt es wirklich. Das ist kein Plastiktier, wie Matze vermutet hat. Der Grüne Hai hat die Frau umgebracht. Sie ist nicht nach Hause gekommen. Wir haben uns das nicht eingebildet Es war kein blöder Scherz von irgend jemandem. Ja... jaja“, murmelte er schwach. „Bitte, ruf mich sofort an, wenn sie zurück sind. Hoffentlich kommen sie zurück...!“
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Der nächste Angriff
Der Wind wehte um die Köpfe von Axel und Lieselotte, als sie an Bord des Fischkutters immer weiter und weiter vom Strand wegfuhren. Matze hatte versprochen, sie an dieselbe Stelle zu bringen, an der er die Knickerbocker-Bande aus dem Wasser gefischt hatte. Auf der Ladefläche des Schiffes klapperte und klimperte der Metallkäfig, an dessen Oberseite nun eine dicke Kette befestigt war. Die Junior-Detektive hockten neben den dicken, blauen Tau cheranzügen und den Preßluftflaschen und hatten ein flaues Gefühl im Bauch. „Lilo, ich habe einen Verdacht“, rief Axel durch das laute Tuckern des Motors. Das Mädchen blickte ihn fragend an. „Die Insel Föhr ist eine beliebte Ferien- und Badeinsel“, begann Axel zu erklären. Das Superhirn zuckte mit den Schultern. Damit erzählte der Junge nichts Neues. „Möglicherweise versucht jemand, die Leute zu vertreiben. Die Nachricht von einem Killerhai würde die Urlauber in Angst und Schrecken versetzen.“ Lilo überlegte kurz und nickte. Die Möglichkeit bestand wirklich. Aber trotzdem blieb die Frage offen, ob es sich um einen echten Hai handelte, oder ob da ein Plastikmonster im Spiel war, wie es im Film verwendet wurde. „Vielleicht haben wir uns alles nur eingebildet“, meinte Axel zögernd. „Denk daran, was wir in der Schauermühle erlebt haben.“ Lieselotte hatte die Geister-Erscheinungen noch gut in Erinnerung.* Trotzdem hatte es sich bei dem Hai nicht um ein Lebewesen gehandelt, das durch Laser-Projektion aus dem Wasser erschienen wäre. Und Einbildung konnte es keine gewe *
Siehe: Knickerbocker-Abenteuer „Treffpunkt Schauermühle“
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sen sein. Schließlich ist es schwer möglich, daß sich vier verschiedene Menschen das gleiche einbilden. Wie auch immer, Matzes heiseres Kichern, wenn die Sprache auf den Grünen Hai kam, hatte die Knickerbocker-Freunde sehr verunsichert. Der Motor blubberte und spuckte und verstummte schließlich ganz. Matze trat aus dem Steuerhaus, schob seine schmutzige Kapitänsmütze nach hinten und meinte: „So, meine Herrschaften Hai-Forscher, da wären wir. Bitte fertig machen.“ Axel und Lieselotte freuten sich nun zum ersten Mal, daß sie jemand nicht ernst nahm. Vielleicht hatte Matze recht. Vielleicht war alles ein harmloser Scherz. Die beiden Junior-Detektive zwängten sich in die Taucheranzüge, setzten die Taucherbrillen auf und schulterten die Preßluftflaschen. Bevor sie in den Käfig stiegen, öffnete Axel noch eine Plastiktüte, aus der ekelerregender Gestank aufstieg. Der Geruch war so bestialisch, daß er sogar durch den Gummi-Nasenschutz der Brille drang. Mit Schwung schleuderte der Junge blutiges, rotes Fleisch ins Wasser. Matze bekam fast einen Lachkrampf. Er hielt das alles für ein lustiges Spiel, das ihn an gute, alte Zeiten erinnerte. Er befestigte die Zugkette an der Motorwinde und senkte das Gitterding mit Hilfe der beiden Knickerbocker ins Wasser. Nun ließen sich Axel und Lieselotte in die Nordsee fallen und kletterten in den Käfig. Sie zogen die Tür hinter sich zu und legten sorgfältig den Riegel um. Zum Schluß steckte der Junge noch einen Fixierstift durch, damit auch bestimmt nichts geschehen konnte. Mit dem in die Höhe gehaltenen Daumen zeigten sie Matze an, daß alles okay war. Unter lautem Gerassel und dem Quietschen und Krachen der Gitterstangen sank der Metallkäfig in die Tiefe. Ruhig atmeten die Knickerbocker-Freunde mit Hilfe der Preßluftflasche und versuchten ihre Augen an das Licht unter der Wasseroberfläche zu gewöhnen. Zur Sicherheit hatte das
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Superhirn einen Unterwasser-Handscheinwerfer mitgenommen, dessen Einsatz aber noch nicht nötig war. Matze stand an Bord seines Kutters neben der Winde und schaute der Kette zu, die sich langsam abrollte. „Nenene“, murmelte er auf einmal vor sich hin. Ein Gedanke hatte ihn gerade sehr überrascht und erschreckt. „Nenene, wer soll denn das gewesen sein? Der Junge hat von jemandem gesprochen, der ihn in das Hai-Häuschen gestoßen hat. Wer war das? Wozu hat er das getan?“ Der Seemann war so mit diesem Gedanken beschäftigt, daß er die grüne, dreieckige Rosse nicht bemerkte, die zielstrebig durch die Wellen flitzte. Kurs: Matzes Boot. Axel und Lieselotte drehten sich in dem Käfig nach allen Seiten. Angestrengt starrten sie durch das bläulich grünliche Wasser, das vom aufgewirbelten Sand ein wenig trüb war. Beiden JuniorDetektiven war nicht sehr wohl zumute. Sie waren sicher, daß irgendwo, vielleicht auch ganz in ihrer Nähe, Gefahr lauerte. Eine Gefahr, die sich jede Sekunde auf sie stürzen konnte und was dann? Wieso hatten sie sich auf dieses Abenteuer eingelassen? Weil sie selbst nicht an den Grünen Hai glaubten? Axel stieß seine Freundin mit dem Ellbogen fest in die Seite. Lieselotte drehte sich zu ihm und erkannte sofort den Grund seiner Aufregung. Der Grüne Hai war wieder da! Das Superhirn knipste den Handscheinwerfer an und leuchtete dem Angreifer auf die Schnauze. Das Maul des Hais war weit aufgerissen, und die vielen scharfen Zähne wirkten äußerst bedrohlich. Die Knickerbocker hatten das Gefühl, als würde sie der Hai gemein und hochnäsig angrinsen. Ängstlich drängten sie sich an die hintere Käfigseite. Sie hatten panische Angst, daß der Hai sie rammen könnte. „Verdammt“, schoß es Axel durch den Kopf. „Wir können Matze nicht einmal ein Zeichen geben, daß er uns raufziehen soll. Wir haben keinen Kontakt zu ihm. Verschwinde, Hai! Hau ab!“ In der nächsten Sekunde stand die Unterwasserwelt für den Jungen auch schon Kopf. Der Hai war mit solcher Wucht gegen
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den Käfig gedonnert, daß die beiden Junior-Detektive wie kleine Fischchen herumgeschleudert wurden. Sie schlugen mit den Köpfen gegen die harten Gitterstangen und versuchten verzwei felt, sich irgendwie festzuhalten. Klirr! Wieder hatte der Grüne Hai zugeschlagen. Und schon holte er zum nächsten Stoß aus. Immer wieder rammte er den schützenden Beobachtungskäfig. Er wollte ein Loch hineinschla gen, um so an seine Opfer heranzukommen. Die Härte des Metalls schien ihm nicht das geringste auszumachen. Mit unbewegter Miene drängte er seine breite Nase wie ein Brecheisen durch die Gitterstangen. Als er damit keinen Erfolg hatte, verbiß er sich in die obere Kante und rüttelte die Gitterbox wie einen Hamsterkäfig hin und her. Axel stürzte, und dabei verrutschte seine Taucherbrille. Salz wasser drang ein. Wie Feuer brannte es in seinen Augen und vernebelte seinen Blick. Im Tauchkurs hatte er gelernt, daß man in so einem Fall mit Hilfe des Atemgerätes das Wasser aus der Brille pressen konnte. Doch der Hai ließ ihm keine Gelegenheit dazu. Lilo stockte das Blut in den Adern. Dem grünen Angreifer war es mittlerweile gelungen, die Gitterstäbe weit auseinanderzubie gen. Am oberen Ende des Käfigs klaffte bereits ein großes Loch, durch das er nun mit aller Gewalt seinen Kopf zwängen wollte. Das heftige Ziehen und Zerren hielt aber die Haltekette nicht aus. Sie war alt und rostig und diesen Strapazen nicht mehr gewachsen. Plötzlich zersprang ein Kettenglied. Es gab einen heftigen Ruck, und der Käfig raste in die dunkle Tiefe, dem Grund der Nordsee entgegen.
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Die nächsten Opfer?
Lilo und Axel strampelten heftig mit den Flossen. Doch sie hatten keine Chance. Das entgegenströmende Wasser preßte sie an die Oberseite des Käfigs, und die Metallstangen schlugen ihnen immer wieder unsanft auf den Rücken, die Schultern und den Kopf. Es waren schreckliche Sekunden, voll von Angst und Panik. Die dunkle Ungewißheit, in die sie sanken, jagte ihnen unglaubliche Furcht ein. Würde sie der Hai verfolgen? Hatten sie auf dem Meeresgrund irgendeine Möglichkeit zu entkommen? Der Käfig krachte mit einer Kante auf den schlammigen Boden der Nordsee und brach durch die Wucht des Aufpralls auseinan der. Lilo und Axel strampelten sich frei und schwammen ein paar Meter fort. Hastig leuchtete Lieselotte mit der UnterwasserLampe in die Höhe. Der Lichtstrahl bohrte sich seinen Weg durch das trübe Wasser, verlor sich aber in der Dunkelheit. Von ihrem grünen Angreifer war im Augenblick nichts zu bemerken. Nun erst hatte Axel Gelegenheit, seine Taucherbrille zu richten, um wenigstens einigermaßen zu sehen. Der Schock der Haiattacke saß beiden Knickerbockern tief in den Knochen. Doch noch viel mehr schreckte sie der Gedanke, was sie nun machen sollten! Ihr Sauerstoff-Vorrat reichte noch für höchstens eine halbe Stunde. Würde der Grüne Hai oben lauern? Wartete er nur darauf, daß seine Opfer genau in sein Maul schwammen? Sie waren dem grünen Ungeheuer schutz- und wehrlos ausge liefert. Wenn es wollte, konnte es sie in Sekundenschnelle umbringen. Lieselotte hatte bei Klettertouren mit ihrem Vater eines gelernt: auch in den gefährlichsten Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Das war Schwerarbeit, doch sie konnte lebensrettend sein. Lieselotte kombinierte hastig: „Oben im Wasser, beim
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Fischkutter, schwimmt das blutige Fleisch. Es hat den Hai sicher angelockt. Möglicherweise wird es ihn auch an dieser Stelle festhalten. Das bedeutet für uns, wir müssen in einem schrägen Winkel auftauchen. Dadurch entfernen wir uns weit vom Boot und damit vom Hai.“ Im stillen hoffte das Mädchen, daß sie die Richtung wählen würden, die sie zur Insel zurückbrachte. Was sollten sie auf offener See machen? Bis zum Festland waren es mehrere Kilometer. Mit den Händen gab Lilo ihrem Knickerbocker-Kumpel zu verstehen, was sie vorhatte. Axel nickte und schwamm ihr nach. Die beiden Freunde schlugen gleichmäßig mit den Flossen und versuchten, sich nicht allzusehr anzustrengen. Sie mußten ihre Kräfte genau einteilen. Außerdem waren sie durch den Absturz des Käfigs sehr tief getaucht. Damit sie nicht ohnmächtig wurden, war es notwendig, langsam nach oben zu gleiten. Es kostete sie allerdings viel Überwindung, nicht pfeilschnell in die Höhe zu sausen. Die drohende Gefahr eines neuen Angriffs durch den Grünen Hai hätte sie zu einer Höchstleistung angespornt. Ununterbrochen drehten die Knickerbocker-Freunde die Köpfe nach allen Seiten, um das Ungeheuer auch bestimmt nicht zu übersehen. Ihre Schutzlosigkeit jagte ihnen immer wieder kaltes Grauen durch den Körper. „Ich will nach Hause... in mein Bett“, dachte Axel. „Lieber bin ich der Feigling des Jahrhunderts als das Mittagessen dieses Hais.“ Lieselotte spürte eine große Erleichterung, als die Wasserober fläche über ihnen sichtbar wurde. Als runder, greller Reck leuchtete die Sonne in die Tiefe, und ihre Strahlen bildeten einen breiten Fächer. Prustend und schnaufend streckten die Knickerbocker die Köpfe aus dem Wasser. Sie spuckten die Mundstücke der Sauerstoffge räte aus und schoben die Taucherbrillen in die Höhe.
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Hastig blickten sie sich nach allen Seiten um. Nicht einmal 100 Meter von ihnen entfernt lag eine winzige Insel, auf der ein Holzhaus stand. Die Außenmauern reichten fast bis zum Rand der Insel, sodaß rundherum nur ein schmaler Pfad frei geblieben war. Nun hielt Axel und Lieselotte nichts mehr. Unter heftigem Flossenschlagen düsten sie auf das Haus zu. Sie zogen sich an Land und ließen sich keuchend auf den Felsen nieder. Beide Junior-Detektive rangen nach Luft und hatten Mühe, sich ein wenig zu beruhigen. Sie waren dem Grünen Hai entkommen. Doch wo war Matze mit seinem Fischkutter geblieben? Lilo sprang auf und blickte nach allen Seiten. Auf dem Wasser war das Boot nirgendwo zu entdecken. Sollte Matze zum Hafen zurückgefahren sein? Wieso ließ der Seebär die beiden Kinder einfach im Stich? Lieselotte kauerte sich neben Axel und umschlang ihre Knie mit den Armen. „Du“, begann sie, „du, ich glaube... Matze... Matze hat mit diesem Grünen Hai zu tun. Er wollte uns loswerden. Wir sollten in dem Gitterkäfig auf dem Meeresgrund sterben.“ Axel bekam bei dem Gedanken daran nachträglich eine Gänse haut. „Quatsch mit grüner Kressesoße“, meinte er. „Wozu sollte Matze das tun?“ „Keine Ahnung. Vielleicht hätten wir nicht beobachten sollen, wie die Frau von dem Hai angefallen worden ist. Ich bin sogar sicher, daß Matze es war, der dich in der Nacht in den Schuppen gestoßen hat.“ Axel konnte diese Überlegungen nicht begreifen. „Lilo, das paßt alles nicht zusammen. Außerdem will ich jetzt nur zurück auf die Insel und dann so schnell wie möglich nach Hamburg. Vom Meer habe ich vorläufig genug. Mehr als genug!“ „Eigentlich müßten wir zu Fuß zur Insel gehen können“, überlegte das Mädchen laut. Axel blickte sie mißtrauisch an. Das war wohl ein Witz? „Du brauchst gar nicht so zu gucken. Ich habe keinen Knall. Aber in der Nordsee gibt es richtige Dörfer im Meer. Es handelt sich um kleine Landstücke, die von den großen Inseln abgetrennt
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worden sind. Auf diesen Mini-Inseln befinden sich Bauernhäuser, die untereinander durch Landzungen und Wege verbunden sind. Nur bei starker Flut oder im Winter sind diese Wege über schwemmt. Dann müssen die Kinder mit dem Boot in die Schule fahren. Normalerweise können sie für diesen Weg aber das Fahrrad benutzen.“ Axel schüttelte ungläubig den Kopf. „Gefährlich sind für dieses Watt, wie es genannt wird, Hochwasser und Springfluten. Da kann es schon einmal geschehen, daß die Wohnzimmer unter Wasser stehen. Aber nicht nur die Wohnzimmer, sondern auch die Schafweiden. Deshalb ist es für die Bauern eine Selbstverständ lichkeit, daß sie in diesen Zeiten ihre Schafe zu sich ins Haus neh men.“ „Alles gut und schön“, meinte Axel, „Aber ich sehe hier keinen Weg, auf dem wir trockenen Fußes zur Insel Föhr marschieren könnten.“ Lieselotte mußte ihm recht geben. Sie schienen sich auf einer Insel zu befinden, die von den anderen abgetrennt war. Bei näherer Betrachtung kam ihr auch das Haus unbewohnt vor. Das Mädchen stand auf, streifte die Flossen ab und ging auf die Eingangstür zu. Lilo klopfte an und wartete. Im Inneren des Hauses herrschte absolute Stille. Also klopfte Lilo noch einmal. Vielleicht war sie beim ersten Mal nicht gehört worden. Als wieder keine Antwort kam, versuchte sie, die Tür zu öffnen. Es war nicht abgesperrt! „Hallo! Hallo? Ist jemand da?“ rief Lieselotte zaghaft in den Vorraum. „Hilfe...“, kam ein leiser Schrei aus dem oberen Stockwerk.
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Vorsicht Möwen!
Axel, der neben seiner Freundin stand, packte sie am Arm. „Hast du... hast du das gehört?“ flüsterte er. Lilo nickte. Das war ein Hilferuf gewesen. Ein seltsames Krat zen, gemischt mit heiseren, verzerrten Schreien drang nun nach unten. Ängstlich drückten sich die beiden Knickerbocker anein ander. Sie wollten gerade vorsichtig ihre Füße über die Schwelle setzen, als vom Dach ein schriller Schrei ertönte. Der Schrei ging den beiden Junior-Detektiven durch Mark und Bein und ließ sie sofort zurückzucken. Verwundert hob Lilo den Kopf und blickte auf den dunklen Holzgiebel. Seltsam! Dort war weder ein Mensch noch ein Tier zu erkennen. Da wieder! Der Schrei, der in den Ohren schmerzte, schrillte mehrere Male durch die Luft. Er klang nach einem Vogel... nach einer Möwe. Einer Möwe, die Futter gefunden hatte. Lieselotte erinnerte sich genau. Sie hatte mit ihren Eltern einmal eine Schiffskreuzfahrt unternommen, und wann immer der Schiffskoch Küchenabfälle aus dem Bullauge geworfen hatte, waren ähnliche Laute zu hören gewesen. Allerdings nicht so laut und hoch. Ratlos blickten die beiden Knickerbocker-Freunde einander an. Was sollten sie von den Hilferufen und den Möwenschreien halten? „Da! Sieh nur!“ Axel deutete mit dem Finger in die Luft. Aus allen Himmelsrichtungen kamen plötzlich weiße Vögel angeflat tert. Sie schlugen kräftig mit den Flügeln und segelten im Sturzflug auf die Insel zu. Immer mehr und mehr tauchten über den Köpfen von Axel und Lilo auf. Ihr Gekreische steigerte sich von Sekunde zu Sekunde.
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Die Tiere schienen sich gegenseitig anzuspornen, noch lauter zu schreien. Der Strom an Möwen riß nicht ab. Ganze Scharen tauchten plötzlich bei der Insel auf und blickten sich nach Landeplätzen um. Die Junior-Detektive verfolgten völlig fassungslos den Ansturm der Möwen. Das gespenstische Naturschauspiel hielt sie völlig gefangen. Sie wußten im Augenblick nicht, was es zu bedeuten hatte und was sie tun sollten. Selbst durch den ohrenbetäubenden Lärm, den die Möwen verursachten, war ein erneuter schriller Schrei vom Dach zu hören. Diesmal klang er noch höher und schärfer. Er schien auf die Möwen wie ein Startschuß zu wirken. Fast gleichzeitig stürzten die weißen Vögel nun herab und flogen direkt auf die Knickerbocker zu. Mit Schnäbeln und Krallen begannen sie, auf Axel und Lieselotte einzuhacken. Zum Glück waren die beiden durch die dicken Taucheranzüge geschützt. Entsetzt schlugen sie die Hände vor die Gesichter und versuchten, ihre Augen vor den scharfen Schnäbeln zu schützen. Aber noch immer waren die beiden völlig hilflos. Wie angewur zelt standen sie da. Sie spürten das wilde Schlagen der Vogel schwingen rund um sie und fühlten die harten Körper der Möwen, die immer wieder gegen ihre Arme, Beine und Rücken schlugen. Als Lilo durch die Finger zu spähen versuchte, erkannte sie vor sich nur Weiß, das sich heftig hin- und herbewegte, und gleich darauf einen gelben Möwenschnabel, der es auf ihre Augen abgesehen hatte. Das Mädchen drehte sich mit einem Ruck zur Seite und zog für eine Sekunde die Hand vom Gesicht fort. Es packte seinen Knickerbocker-Kumpel am Arm und zerrte ihn zum Haus. Mit eingezogenen Köpfen stolperten die beiden in den niederen Vorraum und schlugen die Tür zu. Axel lehnte sich von innen dagegen und ließ sich dann langsam zu Boden sinken. Lautes Schaben und Kratzen wurde hörbar. Die Vögel gaben nicht auf. Sie attackierten nun die Holztür, um doch noch an ihre Beute zu gelangen.
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Selbst im Inneren des Hauses war ihr Kreischen noch laut und schmerzhaft zu hören. „Wie... wie... ist das möglich?“ keuchte Axel. „Was... was war das?“ „Das ist alles schlimmer als im schrecklichsten Horrorfilm“, sagte Lilo. Sie brachte fast kein Wort heraus, da ihre Kehle durch die Angst staubtrocken geworden war. „Glaubst du... kommen die Möwen in das Haus?“ fragte Axel leise. Lieselotte blickte ihn entsetzt an. „Hoffentlich nicht! Hoffentlich nicht!“ Das Kratzen und Schaben wurde nicht leiser, sondern lauter. Die Vögel wollten zweifellos die Türe zerstören. Jetzt erst bemerkten die beiden Knickerbocker die tiefen, blutigen Kratzer an ihren Händen, die ihnen die Vogelkrallen zugefügt hatten. Ihre Angst war aber noch immer zu groß, um Schmerz zu spüren. „Hinauf“ flüsterte Lilo. „Komm, wir... wir... schauen in den oberen Stock. Vielleicht ist da jemand... Jemand, der Hilfe braucht.“ „Dabei haben wir selbst am meisten Hilfe nötig“, dachte Axel verzweifelt. Die Junior-Detektive erhoben sich langsam und warfen immer wieder ängstliche Blicke zurück zur Tür. Der heutige Tag war wohl der schrecklichste in ihrem bisherigen Leben. So viel Grauen hatten sie noch nie in so kurzer Zeit erlebt. Die Köpfe noch immer in Richtung Eingang gedreht, setzten sie langsam Fuß vor Fuß auf die Holztreppe. „Ahhh!“ schrie Axel plötzlich auf und machte einen Schritt nach hinten. Dadurch verlor er aber das Gleichgewicht, stürzte und rasselte die Stufen hinunter. Lilo erschrak so sehr, daß sie sich auch fallen ließ. „Was... was ist denn?“ fragte sie keuchend. „Ich habe in etwas Schauderhaftes gegriffen“, berichtete der Junge und rang nach Luft. Die beiden Freunde blickten den Stiegenaufgang hinauf und seufzten erleichtert. Es handelte sich nur um ein feinmaschiges
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Fischernetz, das quer über die Treppe gehängt war und ihnen den Weg versperrt hatte. „Lilo... ich habe solche Angst... die Möwen... wenn sie herein kommen“, stammelte Axel. Er verlor völlig die Fassung und begann hemmungslos zu weinen. Mit Mühe bewahrte das Mädchen Ruhe. „Axel... wir... wir schaffen das! Wir schaffen das!“ schrie sie ihn an. „Komm... beruhige dich... komm!“ Vor dem Bauernhaus peitschte ein Schuß durch die Luft. Dann noch einer und noch einer. Das Kreischen der Möwen schwoll zu einem einzigen Wahnsinnsschrei an, der schnell leiser wurde. Das Flattern, das Kratzen und das Schaben verstummte. Wer hatte geschossen?
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Moritz
Leise knarrend schwenkte die Tür auf. Axel und Lieselotte, die noch immer auf dem Boden kauerten, preßten sich aneinander. „Ist hier jemand?“ fragte eine freundliche, junge Stimme. „He, hallo?“ „Ja... hier! Wir...“, piepste Lilo. Schritte kamen näher, und ein etwas verdutztes Gesicht tauchte über ihnen auf. Es gehörte einem nicht allzu großen, aber sehr drahtigen und breitschultrigen jungen Mann. Seine Haut war sonnengebräunt, und er trug gelbe Bermuda-Shorts und ein dazu passendes T-Shirt. „Was war denn mit den Möwen los?“ fragte der junge Mann die Knickerbocker. „Habt ihr den Biestern was getan?“ Axel und Lilo verneinten. „So angriffslustig sind die Tiere nur, wenn man sie beim Brüten stört. Aber hier gibt es doch gar keine Möwennester.“ „Wir... ich... glaube, sie sind irgendwie angelockt worden. Da war so ein schriller Möwenschrei auf dem Dach“, stotterte Axel. „Und im oberen Stock hat vorhin jemand um Hilfe gerufen“, setzte Lilo fort. „Okay, Leute, ihr entspannt euch. Ich werde der Sache nachgehen“, versprach der Mann und stieg langsam die Treppe hinauf. Er schob die Netze zur Seite und verschwand hinter dem Knick, den das Stiegenhaus machte. Gespannt lauschten die Junior-Detektive, was geschehen würde. Über ihren Köpfen tappten Schritte, und von Zeit zu Zeit rief der junge Mann: „Hallo... hallo! Ist da wer?“ „Oben ist kein Mensch“, berichtete er, als er wieder herun terkam. „Ihr müßt euch verhört haben. Die Räume sind leer und verlassen. Keine Spuren von Menschen oder Tieren.“ „Aber der Schrei?“ Lieselotte verstand das nicht. „Die Nordsee steckt voller Wunder“, erklärte ihr der Mann. „Es sind schöne Wunder dabei: wie zum Beispiel die Robbenbänke bei Amrum,
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wo sich die possierlichen Tiere räkeln. Diese Sandbänke befinden sich nicht weit von hier. Man kann mit dem Schiff hinfahren. Habt ihr Lust dazu?“ Axel und Lieselotte waren völlig erschöpft. Die Schrecken des Tages hatten sie ausgelaugt und geschafft. „Eigentlich... möchten wir zurück... zur Insel“, meinte das Mädchen. „Wir... wir müssen der Küstenwache etwas melden. Hier treibt sich ein Hai herum. Ein ,Grüner Hai’, der Menschen anfällt.“ Der Mann starrte Lieselotte an, als hätte sie gerade behauptet, die Kaiserin von China zu sein. „Mensch, Mädchen, du willst mich wohl auf den Arm neh men?“ lachte er. An den ernsten Mienen der beiden Junior-Detektive konnte er aber erkennen, daß es sich doch nicht um einen Scherz zu handeln schien. „Wir besprechen das später“, entschied er. „Los, kommt weg von da. Hier ist es mir selbst nicht ganz geheuer. Übrigens, ich heiße Moritz.“ Axel und Lilo stellten sich ebenfalls vor und folgten Moritz vor das Haus. An der Hinterseite lag ein schnittiges, kleines Sportboot vor Anker, mit dem der Mann gekommen war. Die drei kletterten hinein, Moritz holte den Anker ein und drückte auf den Start knopf. Der Motor setzte sich unter lautem Geknatter und mit viel Gestank in Betrieb. Geschickt lenkte der Mann das Boot über das Wasser. Er mußte die Augen offenhalten, damit er keine Sandbank übersah und vielleicht auflief. „Moritz, was macht du eigentlich auf Föhr?“ erkundigte sich Lieselotte unterwegs. Der Bursche grinste und meinte lässig: „Ich gebe Daddys Geld aus. Darin bin ich Meister.“ „Das Maul von Moritz ist so groß, daß er sich eine Gurke quer hineinstecken kann“, dachte Axel sauer. Er konnte Angebertypen dieser Art nicht ausstehen. Diese Meinung behielt er allerdings für sich. Er wußte, daß Moritz bei Lilo in die Kategorie „Typ zum Verlieben“ fiel.
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„Festhalten, wir werden jetzt ein bißchen Wellenreiten“, verkündete Moritz. Er zog am Gashebel und ging hinter dem Steuerrad in die Knie. Moritz lenkte das Boot so geschickt, daß es über die Wellen wie über Hürden sprang. Lieselotte und Axel wurden unsanft durchgerüttelt. Statt sie zurück zur Insel zu bringen, raste Moritz immer weiter auf das offene Meer hinaus. „He, nicht! Wir wollen in den Hafen! Hier gibt es einen Hai“, brüllte Axel durch den Lärm des Fahrtwindes und des Motors. „Wir sind ihm gerade entkommen!“ Moritz drehte sich um und grinste ihn mitleidig an. Armer Irrer, hieß sein Blick. „Der Fischkutter... dort vorne ist Matze!“ rief Lieselotte aufgeregt. „Moritz, bitte fahr uns hin!“ Die Worte des Mädchens waren dem Schnellboot-Kapitän Befehl. Er wendete und düste auf das alte Schiffchen zu. Einsam und verlassen schaukelte es auf dem Wasser. Erst als sie näherkamen, bemerkten die beiden Knickerbocker, daß das Boot starke Schlagseite Steuerbord hatte. Moritz umrundete es und bremste mit einem Ruck ab. „Oh, mein Gott“, murmelte er entsetzt, als er die SteuerbordAußenwand erblickte. „Der Hai“, japste Axel, „Er hat den Fischkutter gerammt und ein Loch hineingeschlagen.“ Lilo preßte die Hand auf den Mund und schrie leise auf. Nur ein paar Meter von ihnen entfernt schaukelte Matzes schmutzige Kapitänskappe auf den Wellen. Axel streckte den Arm aus und schnappte sie. Daneben entdeckte er außerdem einen zerfetzten Pulloverärmel und ein zerschlissenes Hosenbein. Schweigend ließen sich Axel und Lieselotte auf den Boden des Schnellbootes sinken. Auch Moritz war schlagartig ruhiger geworden. Plötzlich aber packte ihn die Panik, er warf den Gang ein und raste mit Höllentempo zurück zur Insel.
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Der Indianer
Am nächsten Morgen waren alle Zeitungen voll mit der Meldung über den Grünen Hai. Axels und Lilos Foto prangte auf vielen Titelblättern. HAI BEDROHT FÖHR
URLAUBER ERGREIFEN DIE FLUCHT
GRÜNER HAI FORDERTE BEREITS ZWEI OPFER
WOHER KOMMT DIE GRÜNE KILLERBESTIE?
Das waren nur einige der Schlagzeilen, die sich mit dem lebens gefährlichen Tier beschäftigten. In Hamburg hockte die Knickerbocker-Bande auf dem Boden des Hotelzimmers, das die Mädchen bewohnten, und starrte auf die Zeitungen. Poppis Augen waren gerötet, weil sie immer zu weinen begann, wenn sie an den freundlichen Matze dachte. Er mußte bei dem Versuch den Hai abzuwehren ins Wasser gestürzt sein, wo ihn das Ungeheuer zerrissen hatte. „Ich bleibe dabei“, verkündete Axel, „Diese Sache ist höchst unlogisch.“ Dominik warf ihm einen verständnislosen Blick zu. „Was heißt ,unlogisch’? Zwei Menschen wurden getötet, und du verlangst nach Logik?“ „Wie kann man so gefühllos sein?“ Poppi schüttelte verständ nislos den Kopf. „Leute, was ist los mit euch? Hat der Hai-Schock eure kleinen, grauen Grübelzellen lahmgelegt?“ Axel verstand die Knicker bocker-Kumpels nicht mehr. „Bitte blättert in den Zeitungen weiter. Die Meeresforscher und Fischexperten sagen alle, daß es sich nie im Leben um einen echten Hai handeln kann. Wo sollte dieses Tier herkommen? Was sollte es plötzlich in den Norden verschlagen haben?“
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„Wahrscheinlich handelt es sich um ein Wunder der Natur“, warf Poppi ein und fügte hinzu: „Allerdings ein grauenhaftes Wunder.“ „Ist euch schon einmal die Idee gekommen, daß der Insel Föhr die Schlagzeilen sehr recht sein könnten? Die Insel ist zu einer Sensation geworden. Jeder spricht darüber, und bestimmt strömen schon demnächst die Schaulustigen hin!“ Lieselotte machte eine abfällige Handbewegung. „Zuerst hast du gedacht, daß der Hai die Urlauber abschrecken soll. Das sind doch alles nur vage Vermutungen!“ „Vielleicht ist es kein Zufall, daß der Hai als erstes Opfer eine Schauspielerin gewählt hat. Sie kann Schreck, Schock und Angst am besten vortäuschen. Vor allem dann, wenn der Hai gar kein echtes Tier ist und ihr bei diesem Angriff gar nichts geschieht“, redete Axel weiter. „Aber wo liegt der Sinn für so eine Aktion?“ wollte Lilo erfahren. „Und warum hat das Tier Matze zerrissen?“ „Hat es das wirklich?“ Axel bewunderte im stillen seine eigene Ruhe. Normalerweise war es nicht seine Sache, so kühl und sach lich zu kombinieren. Doch der Grüne Hai war ihm von Anfang an sonderbar vorgekommen. „Ein Stück Pullover und ein Hosenbein sind leider noch keine Beweise.“ „Axel, wir haben den Hai aus nächster Nähe mit eigenen Augen gesehen“, rief Lieselotte aufgebracht. „Es hat sich um ein lebendi ges Tier gehandelt.“ „Auch der Weiße Hai hat wie ein lebendiges Tier ausgesehen und war in Wirklichkeit eine Maschine, die mit Plastik und Gummi überzogen wurde“, erwiderte ihr der Junge. „Ich will auf jeden Fall mehr über die Sache wissen. Deshalb schaue ich heute bei der Adresse dieser Erika Rudermann vorbei. Irgend jemand muß sich in ihrem Haus aufhalten. Frau Kabellos hat doch mit jemandem gesprochen.“ Die anderen beschlossen mitzukommen. Nur Dominik mußte ins Studio.
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Da sie nur den Straßennamen „Rosenallee“, aber keine Haus nummer wußten, mußten Axel, Lilo und Poppi ziemlich lange suchen. Axel studierte alle Türschilder auf der linken Straßen seite. Die Mädchen hatten die rechte Seite übernommen. Trotz der Arbeitsteilung dauerte es eine ganze Weile, bis sie endlich einen Klingelknopf entdeckt hatten, über dem ein Messingschild mit dem Namen RUDERMANN montiert war. Lieselotte preßte ihren Daumen auf die vergoldete Taste, und in dem schmucken, weißen Häuschen hinter dem Zaun schrillte eine Glocke. Es handelte sich um eine kleine Villa, die den mächtigen Herrschaftshäusern der reichen Hamburger Kaufleute nachemp funden war. Doch auch nach mehrmaligem Klingeln tat sich nichts. Es schien niemand zu Hause zu sein. „Wollt ihr zu mir?“ sagte plötzliche eine tiefe Stimme hinter den drei Freunden. Die Knickerbocker zuckten erschrocken zusam men und drehten sich um. Ein stämmiger, großer Mann mit kohl rabenschwarzen Haaren und einer dunklen Sonnenbrille war lautlos an sie herangetreten und blickte nun fragend auf sie herab. „Äh... wir... wir... wollten mit jemandem reden, der Frau Rudermann kennt... äh... oder kannte“, stotterte Axel und bekam rote Ohren. Der Mann schluckte. „Wieso?... Wozu?“ stieß er hervor. „Wir... wir haben beobachtet, wie sie von dem Grünen Hai angefallen worden ist... und...“, begann der Junge zu erklären, doch Lieselotte schnitt ihm das Wort ab. „Entschuldigung, wie haben uns nicht vorgestellt. Das ist Axel, das ist Poppi, und ich heiße Lilo. Mit wem haben wir das Vergnügen?“ Poppi bohrte ihrer Freundin den Ellbogen in die Rippen und flüsterte: „He, das weißt du nicht? Das ist ,Der Indianer’!“ Das Superhirn der Knickerbocker-Bande machte ein ziemlich dämliches und ratloses Gesicht. „Der Indianer ist ein TennisProfi! Ein wahnsinnig erfolgreicher. Wegen seiner langen, schwarzen Haare hat er den Spitznamen ,Der Indianer’ erhalten“, erklärte Poppi.
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Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein Lächeln über das Gesicht des Mannes, der das Flüstern verstanden hatte. „Ich heiße Konrad Kotrupak“, sagte er dann ernst und hastig. „Kommt weiter.“ Er schloß auf und führte die drei Knickerbocker um das Haus auf eine große Terrasse. „Bitte, nehmt Platz und erzählt mir jetzt, was geschehen ist. Ich... ich kenne die Geschichte nur aus der Zeitung. Selbst die Polizei hat meine Fragen nicht beantworten können.“ „Kannten Sie Frau Rudermann?“ wollte Axel wissen. Gleich darauf kam ihm die Frage reichlich dumm vor. Natürlich kannte der Mann sie. Sonst würde er nicht einen Schlüssel zu ihrem Haus besitzen. „Ich bin... oder... war ihr Verlobter“, erklärte Herr Kotrupak. Er nahm die Sonnenbrille ab und wischte mit dem Taschentuch über die Augen. Sie waren stark gerötet und blutunterlaufen. Der Mann mußte geweint haben. Vorsichtig und nicht allzu ausführlich erzählte Axel nun von den Ereignissen vor der Insel Föhr. „Kein Blut im Wasser?“ überlegte der Tennisspieler danach laut. „Du hast recht, das ist merkwürdig. Es könnte bedeuten, meine Verlobte ist einem wahnsinnigen Plan zum Opfer gefallen und lebt vielleicht noch.“ Axel nickte heftig. Ein elektronisches Klingeln unterbrach das Gespräch. Herr Kotrupak zog ein tragbares Mini-Telefon in der Größe einer Zigarettenschachtel aus der Hosentasche und drückte auf die Empfangs-Taste. „Ja, hallo?“ meldete er sich. Danach hörte er nur, was der Anrufer ihm mitzuteilen hatte. „Ich komme“, sagte er mit belegter Stimme, schaltete ab und ließ den Apparat wieder in der Tasche verschwinden.
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Lösegeld?
„Ihr... ihr müßt mir das alles... noch einmal erzählen“, sagte er. In seinem Kopf schienen die Gedanken wild zu wirbeln. Er versuch te, die drei Junior-Detektive so schnell wie möglich wieder auf die Straße zu schieben und murmelte dabei ständig etwas von: „Morgen... kommt morgen wieder...!“ Lieselotte streckte dem Mann zum Abschied die Hand hin, und als er einschlug, spürte sie, wie seine Finger zitterten und naß vor Schweiß waren. Er war völlig abwesend und schien die JuniorDetektive kaum noch wahrzunehmen. Kaum hatte er das Gartentor hinter ihnen geschlossen, hastete er schon mit großen Schritten in das Haus. Das Superhirn zog seine Kumpels hinter eine dicke Litfaßsäule, von der aus sie das Haus im Auge behalten konnten. „Da stimmt etwas nicht. Herr Kotrupak muß soeben eine erschreckende oder sehr wichtige Nachricht bekommen haben. Wir bleiben ihm auf den Fersen.“ „Aber wenn er mit dem Auto wegfährt, was machen wir dann?“ wollte Poppi wissen. „Das Taxi ist schon erfunden“, belehrte sie Axel spöttisch. Das Quietschen des Gartentors verriet den drei Freunden, daß der Indianer aufbrach. Zu ihrer großen Freude sprang er nicht in den kleinen Sportwagen, der am Gehsteigrand parkte. Herr Kotru pak eilte zu Fuß die Straße hinunter. Die Knickerbocker folgten ihm unauffällig. Das Beschatten von Personen hatten sie lange trainiert und geübt. Im Vorübergehen besorgten sie sich an einem Kiosk große Zeitschriften, hinter denen sie sich jederzeit verstecken konnten, wenn der Verdäch tige sich umdrehen sollte. Lässig und zufällig lehnten sie immer wieder an Baumstämmen und Laternenpfählen und beobachteten den Indianer durch kleine Löcher, die sie in den Mittelbug der Zeitungen gerissen hatten.
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War er irgendwo eingebogen, liefen sie ihm schnell nach und spähten vorsichtig um die Ecke. Auf diese Weise blieb er kaum eine Sekunde außer Kontrolle, bemerkte aber trotzdem nichts von seinen Verfolgern. Der Tennisspieler marschierte ziemlich lange. Sein Ziel schien die Binnen-Alster zu sein. Bei der Binnen-Alster handelte es sich um einen aufgestauten Flußarm, der sich wie ein See inmitten der Stadt befand. Am Ufer lagen zahlreiche Boote, mit denen Touristen in die Speicherstadt des Hafens oder durch die zahlreichen Fleeten* fahren konnten, die Hamburg wie ein Netz durchzogen. Nicht ohne Grund wird es oft als „Venedig des Nordens“ bezeichnet. Dabei gibt es in Ham burg sogar mehr Brücken als in der italienischen Lagunenstadt. Neben einem der noblen Einkaufszentren betrat Herr Kotrupak die Filiale einer Bank. Die drei Knickerbocker warteten draußen und preßten ihre Gesichter an die Glasscheibe. Sie konnten erkennen, wie der Indianer an den Auszahlungs-Schalter trat und etwas ausfüllte. War es ein Scheck? Der Bankbeamte tippte auf dem Computer herum und zählte Herrn Kotrupak anschließend ein ganzes Bündel Banknoten auf den Tresen. Dieser ließ das Geld hastig in der Innentasche seiner Sportjacke verschwinden. Eilig verließ er das Lokal. „Ist das vielleicht Lösegeld?“ murmelte Lieselotte vor sich hin. Von nun an verhielt sich Konrad Kotrupak äußerst seltsam. Entweder hatte er die Knickerbocker-Freunde bemerkt, oder er versuchte sogar, andere Verfolger von seinem wahren Ziel abzulenken. Immer wieder wechselte er das Verkehrsmittel. Er lief kleine Stücke zu Fuß, sprang dann in den Bus, stieg in die S-Bahn um oder nahm ein Taxi, aus dem er nur wenige Straßen weiter bereits wieder heraussprang.
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= Kanäle
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Trotz aller Versuche, sie abzuschütteln, konnten ihm Axel, Lilo und Poppi dicht auf den Fersen bleiben. Es war bereits kurz nach 14 Uhr, als sie den Hafen erreichten. Dort strebte der Tennisspieler auf ein großes, altes Segelschiff zu. „Von diesem Schiff habe ich schon gehört“, flüsterte Axel den anderen zu. „Es heißt Rickmer Rickmers und ist über 90 Jahre alt. Früher hat es Fracht bis nach Amerika gebracht. Heute ist es eine Art Museum. Man kann die niederen, unteren Decks besichtigen, in denen die Matrosen schlafen mußten, ebenso das Steuerrad, die Galionsfigur und vieles andere. Aber es befindet sich auch ein Restaurant auf dem Schiff. Dort soll das Labskaus besonders lecker sein.“ Poppi warf Axel einen fragenden, mißtrauischen Blick zu. „Labskaus, was ist das?“ wollte sie wissen. „Eine Hamburger Spezialität. Labskaus besteht aus Pökel fleisch, Matjeshering und Gurken und wird mit einem Spiegelei serviert“ „Achtung, er dreht um. In Deckung!“ rief Lieselotte. Blitzschnell versteckten sich die Junior-Detektive hinter zwei dicken Damen, die den Hafen fotografierten und immer wieder „Entzückend! Reizend! Putzig!“ zwitscherten. Als sie hinter den rundlichen Frauen hervorspähten, sahen sie, wie der Indianer auf ein Gebäude zulief, das wie ein grauer Würfel mit einer hellgrünen Halbkugel oben drauf aussah. Sofort setzten sie die Verfolgung fort. An der Vorderseite des Hauses befanden sich drei Türen, die anscheinend in ein großes Zimmer führten. Gleich nachdem Konrad Kotrupak eingetreten war, schlossen sie sich. „Hierher wollte er also“, keuchte Axel. „Aber warum? Wozu?“ In diesem Moment öffneten sich die Türen wieder, und die Knickerbocker-Kumpels schluckten. Der Raum dahinter war leer. „Verdammter, stinkender Sägefisch!“ fluchte Lieselotte. „Er hat uns abgehängt. Es muß einen zweiten Ausgang aus dem Haus geben.“
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Um das zu überprüfen, traten die drei ein. In dem großen Zimmer befanden sich links und rechts ein kleiner Bürgersteig und in der Mitte ein Stück Fahrbahn. Suchend blickten sich die Junior-Detektive um. Was war das für ein merkwürdiges Haus? Mit einem leisen Poltern wurden die Türen hinter ihnen geschlossen. Nun waren sie ganz allein in dem Raum. „Hi... Hi... Hilfe!“ stammelte Poppi und starrte entsetzt auf ihre Füße. Der Boden bewegte sich. Er sank nach unten. „Ich will raus!“ rief Poppi. „Was ist das? Fallen wir jetzt ins Wasser?“
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Schrumpfkopf und Voodoo-Sarg
„Keine Panik“, beschwichtigte sie Lilo. Auch ihr war äußerst unbehaglich zumute, doch sie hatte einen Verdacht. „Das ist... ein Lift. Er bringt uns nach unten... Fragt mich nicht, wohin, aber wenn jeder hinein kann, wird es sicher keine Folterkammer sein.“ Mit einem leichten Ruck endete die Abwärtsfahrt. Die Tür öffnete sich wieder, und die drei Knickerbocker traten in einen Tunnel. „Entschuldigen Sie... was... was ist das hier?“ fragte Axel einen älteren Mann, der ihnen entgegenkam. „Du stellst Fragen, Jungchen“, meinte dieser kopfschüttelnd. „Das ist der alte Elbetunnel. Führt direkt unter der Elbe in den Freihafen. Die Elbe ist ein Fluß, das weißt du aber schon?“ Der Junge nickte, bedankte sich hastig für die Erklärung und lief dann mit seinen Freunden zum anderen Ende des unterirdischen Ganges. Dort befand sich ein zweiter Lift, der sie wieder nach oben brachte. Nun standen Axel, Lilo und Poppi direkt auf den Kais, an denen die mächtigen Frachtschiffe ankerten. Mit riesigen Kränen wurden die Ladungen gelöscht *. Eisenbahnen fuhren hier mitten auf der Straße, und eines stand fest: Augen und Ohren mußte man offenhalten. Sonst bestand höchste Unfallgefahr! „Bei der miefenden, mickrigen Makrele, der Indianer ist fort! Er hat natürlich bemerkt, daß wir ihm nach sind, und jetzt hat er uns abgehängt“, schimpfte Axel vor sich hin. „Indianer? Meinst du Konrad Kotrupak, das Tennis-As?“ Der Junge blickte überrascht zur Seite. Dort stand ein schwit zender Dockarbeiter in einem öligen, blauen Overall und drehte verlegen seine Kappe in den Händen.
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= ausgeladen
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„Ja, ich meine Konrad Kotrupak“, sagte Axel aufgeregt. „Dann war er es doch. Ich hätte ihn um ein Autogramm bitten sollen“, brummte der Mann vor sich hin. „Aber ich war nicht sicher, ob ich mich nicht täusche.“ „Bitte, es ist sehr wichtig: Wissen Sie, wo der Indianer, also Herr Kotrupak... hin ist? Haben Sie was beobachtet?“ Der Dockarbeiter schüttelte den Kopf. Enttäuscht seufzten die Junior-Detektive auf und wollten sich schon zum Gehen wenden, da sagte er: „Ne, gesehen habe ich nichts, aber gehört. Er hat sich nämlich ein Taxi genommen, das hier zufällig gestanden hat. ,Zu Harry’s Hamburger Hafenbasar’, hat er dem Fahrer schon beim Einsteigen zugerufen.“ Die Knickerbocker verabschiedeten sich eilig und rannten los. Irgendwo mußte es doch noch ein Taxi geben. „He, Kinder, wollt ihr auch ein Autogramm von Kotrupak?“ rief ihnen der Hafenarbeiter nach. „Nein“, wollte Lilo schon sagen. Doch dann bremste sie sich ein und sagte: „Ja, klar!“ Der Mann winkte ihnen mit der Hand und meinte: „Dann kommt mit. Ich fahre euch zu dem Laden. Ihr müßt den Indianer für mich um eine Unterschrift bitten. Ich trau mich das nicht. Bin zu schüchtern.“ Kurze Zeit später trafen sie vor „Harry’s Hamburger Hafenba sar“ ein. Es handelte sich um einen schmuddeligen Laden, in den Poppi gar nicht hineingehen wollte. „Mensch, das mußt du aber machen“, riet ihr der Mann. „Sonst versäumst du was. In ,Harry’s Hafenbasar’ gibt’s die urkomisch sten Dinge: Bullaugen, Buddelschiffe*, ausgestopfte Krokodile und Vogelspinnen, Schrumpfköpfe, Speere, und einmal habe ich sogar einen Voodoo-Sarg hier gesehen. Er hat die Form eines Fisches gehabt.“ Lieselotte überlegte kurz. Sollten sie den Laden betreten? Falls sich der Indianer tatsächlich drinnen aufhielt, wußte er dann end gültig, daß sie hinter ihm her waren. „Nein... ich setze nicht einmal die große Zehe in diesen Schuppen“, verkündete Lilo *
= Schiffe in der Flasche
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plötzlich. Poppi und Axel trauten ihren Ohren nicht. „Ich fürchte mich vor Särgen... und Schrumpfköpfe finde ich ekelig... Wääää!“ Die beiden anderen Knickerbocker verstanden die Welt nicht mehr. Wovon redete Lieselotte? „Heißt das, ich muß mir das Autogramm selbst holen?“ fragte der Arbeiter. Lilo nickte. „Von uns geht keiner in dieses dreckige Loch!“ Mit einem wütenden Schnauben sprang der Mann aus dem Wagen und spazierte durch die Ladentür. „Hast du Hornissen im Hirn?“ erkundigte sich Axel. Lieselotte grinste und verneinte. „War nur ein Trick, damit der gute Mann für uns nachsieht, was sich in ,Harry’s Hafenbasar’ tut und was der Indianer hier will.“ Laute Schreie drangen aus dem Laden auf die Straße. Es polterte und krachte, und Glas splitterte. Entsetzt blickten die drei Freunde einander an. Was war da drinnen los? Wie auf Kommando öffneten Lilo und Axel gleichzeitig die Wagentüren und stiegen aus. Poppi folgte ihnen zögernd. Die Knickerbocker schlichen zur Auslagenscheibe und spähten in das düstere Verkaufslokal. „Oh nein“, stieß das Superhirn entsetzt hervor. Der Dockarbeiter lag genau neben dem Fisch-Sarg auf dem Boden. Auf seiner Stirn klaffte eine lange Wunde und Blut lief über sein Gesicht. Gleich daneben standen zwei bullige Männer mit mächtigen Muskelpa keten. Sie hatten Konrad Kotrupak links und rechts an den Armen gepackt und hielten ihn eisern umklammert. Der Tennisspieler versuchte ihrem Griff zu entkommen, doch er hatte keine Chance. Vor ihm, nur wenige Schritte entfernt, stand ein junger Bursche in einem schwarzen Lederanzug und einem Lederkäppi auf dem Kopf. Er hielt ein Stück dünnen Draht zwischen den Händen und ging damit drohend auf Kotrupak zu. Teuflisch grinsend legte er den Draht an Kotrupaks Hals und zog die Augenbrauen hoch. Die Ladentür stand einen winzigen Spalt breit offen, und so konnten die Knickerbocker hören, was drinnen gesprochen wurde.
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Tödlicher Draht
„Das ist uns nicht genug“, sagte der Typ im Lederanzug langsam und drohend. „Ich... ich dachte, ihr hättet sie. Wieso bekomme ich sie nicht?“ keuchte der Indianer. „Weil du dafür etwas mehr auf den Tisch blättern mußt“, erklärte ihm der Drahtschlingen-Mann. „Das war nicht ausgemacht!“ keuchte Kotrupak. „Na und? Wen interessiert das? Willst du sie, oder willst du sie nicht?“ fragte der Ledertyp drohend. „Ich... ich brauche sie“, stieß der Tennisspieler hervor. In der nächsten Sekunde wußte er, daß er einen Fehler begangen hatte. „Gut“, meinte der Ledertyp, „Dann kostet es dich gleich das Doppelte. Und falls du nun auf die Idee kommen solltest, die Bullen zu holen, dann ziehe ich meine Drahtschlinge durch deinen Hals wie durch ein Stück Käse!“ Polizeisirenen ertönten in der Ferne, und die drei Männer im Laden zuckten zusammen. „Du Schwein, hast wohl besonders fürwitzig sein wollen!“ schnaubte der Mann mit der Drahtschlinge und drückte sie auf den Kehlkopf des Indianers. „Dafür bezahlst du!“ Axel gehörte sicher nicht zu den Allermutigsten. Doch in dieser Sekunde dachte er einfach nicht mehr an seine eigene Sicherheit. Er raste in den Laden und schaute sich hastig nach etwas Hartem um. Ehe die beiden bulligen Kerle und der Ledertyp noch reagieren konnten, hatte er schon eine afrikanische Trommel gepackt und schleuderte sie mit aller Wucht auf den Mann mit der Drahtschlinge. Sie traf ihn genau im Gesicht, und mit einem lauten Stöhnen wankte er nach hinten. Blitzschnell ließen die beiden Muskelberge den Indianer los und hechteten in Axels Richtung. Der Junge wich zur Seite aus, und die Männer stolperten über den am Boden liegenden Dockarbeiter. Ehe sie
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sich noch aufrichten konnten, hatte Axel schon zwei mannshohe exotische Holzfiguren auf sie gekippt. Der eine der beiden Männer bekam einen Schlag auf den Kopf und versank im Reich der Träume. Der andere konnte die Figur abwehren und war nun noch wütender. Er rappelte sich auf und wollte Axel packen. Der Knickerbocker machte einen großen Schritt nach hinten und wollte durch die Ladentür nach draußen, doch zu seinem großen Schreck prallte er gegen ein Regal. Er hatte sich in der Richtung geirrt. Grunzend und drohend stapfte der Muskel-Koloß auf ihn zu. Fieberhaft tastete Axel hinter seinem Rücken über die Regalbret ter. Hier mußte doch etwas stehen, das er dem Kerl an den Kopf werfen konnte. Er bekam etwas Haariges, Rundes zu fassen und schleuderte es durch die Luft. Es war einer der berühmten Schrumpfköpfe, der wie ein Konfetti an dem Catcher vorbeisegelte. Mittlerweile hatte sich auch der Ledertyp wieder gefangen und schwang drohend die Drahtschlinge. Mit einem gurgelnden Schrei stürzte er sich auf den Indianer, der im Augenblick wie gelähmt war. Axels letzter Ausweg war es, sich zu ducken. Doch dadurch konnte er sich den bärenstarken Fäusten des Mannes nicht entzie hen. Dieser fiel auf den Trick nicht herein, zerrte Axel an den Haaren in die Höhe und holte zu einem Schlag in die Magengrube aus. „Nicht!“ brüllte der Junge. „Lassen Sie sofort den Jungen los!“ ertönte eine barsche Männerstimme beim Eingang. Schritte waren zu hören und drei Polizisten drängten sich in „Harry’s Hafenbasar“. Sie hatten die Pistolen gezogen und auf die Ganoven gerichtet. Im Zeitlupentempo hoben diese die Hände und fluchten leise vor sich hin. Konrad Kotrupak torkelte zu Axel und schob den Jungen an den Schultern aus dem Laden. Draußen standen Poppi und Lieselotte und begrüßten ihn stürmisch. „Wahnwitz! Du bist irre!“ überschüttete Lilo ihren
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Kumpel mit Komplimenten. „Du hast Mut. Ich hätte mich das nie getraut.“ Poppi konnte ihr nur beipflichten. „Wer... wer hat die Polizei alarmiert?“ wollte der Indianer wissen. Die drei Knickerbocker zuckten mit den Schultern. Sie waren es nicht gewesen. „Haben die Kerle Lösegeld für Frau Rudermann gewollt?“ fragte Axel aufgeregt. Poppis Augen leuchteten auf. „Heißt das, die Frau lebt?“ Konrad Kotrupak zog einen Gummiring aus der Tasche und nahm ihn zwischen die Zähne. Umständlich und sehr langsam versuchte er seine Haare zu einem dicken Pferdeschwanz zu formen. Der Gummiring in seinem Mund war die Entschuldigung für die ausbleibende Antwort. „Jetzt reden Sie schon“, drängte Lieselotte. In diesem Moment kamen die Polizisten auf die Straße. Sie führten den einen bulligen Mann und den Ledertyp in Handschel len ab. Der zweite Catcher taumelte, gestützt auf einen Wachebe amten, willenlos hinterher. „Was ist hier vor sich gegangen?“ erkundigte sich einer der Polizisten, nachdem die Ganoven im Streifenwagen verstaut worden waren. „Ich... ich bin zufälligerweise in den Laden gegangen, da ich ein originelles Geburtstagsgeschenk suche“, sagte der Indianer leise und verlieh seiner Stimme einen leidenden Klang. „Plötzlich haben mich die Männer überfallen.« „Das... das stimmt nicht! Sie...!“ rief Lilo empört, doch der Polizist schenkte ihr keine Beachtung. „Bitte, misch dich da nicht ein“, sagte er eindringlich. „Ich glaube, ein erwachsener Mann wird wohl die Wahrheit sagen.“ „Chef, aufgeregt trat einer der Polizisten aus dem Hafenbasar. „Wir haben soeben den Besitzer des Ladens gefunden. Die Kerle haben ihn niedergeschlagen und gefesselt Er ist hinten in einem Büro gelegen. Der Mann konnte sich befreien und hat uns verständigt.“
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„Rufen Sie die Rettung. Für ihn und den Verletzten!“ trug ihm sein Kollege auf. „Und dann schaffen Sie die Kinder heim.“ Lieselotte und Axel kochten innerlich. Wer hatte den Tennisstar vor schlimmen Verletzungen bewahrt? Die Knickerbocker-Bande. Und wer wurde nun einfach nach Hause gebracht und ermahnt, sich in Zukunft nicht mehr in so gefährliche Angelegenheiten einzumischen? Die Knickerbocker-Bande! Der Indianer wußte sehr viel, wollte dieses Wissen aber nicht preisgeben. Die Knickerbocker hatten daher nur noch ein Ziel: Sie wollten unbedingt herausfinden, was den Tennisstar in den Hafenbasar geführt hatte.
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Wer ist Onkel Willibald?
„Ihr erlebt die aufregendsten Abenteuer, während ich Gangster nur im Tonstudio jagen darf“, lautete Dominiks Kommentar zum Bericht seiner Freunde. „Aber morgen habe ich wieder frei. Da bin ich dabei!“ „Wir benötigen dich schon heute dringend“, teilte ihm Liese lotte mit. „Axel steht zur Zeit in der Rosenallee und läßt das Haus von Frau Rudermann nicht aus den Augen. Falls der Indianer weggeht, ruft er sofort an. Im Augenblick hat sich der Typ in das Haus zurückgezogen.“ Das Zimmertelefon läutete, und Lilo hob ab. Poppi, Dominik und sie hatten sich zur Beratung wieder in das Hotelzimmer der Mädchen zurückgezogen. „Ja bitte?“ meldete sich das Superhirn. „Ein Gespräch für Dominik Kascha“, meldete der Portier. Lieselotte überreichte ihm den Hörer. „Domi, mein Bester“, rief die Stimme von Frau Kabellos in sein Ohr. „Äh... ich wollte sagen, Dominik... Mir ist gerade etwas eingefallen. Deine Freunde sind den ganzen Tag allein, wenn du arbeitest. Auch morgen ist da keiner, der sich um dich und die anderen kümmert.“ Dominik wollte sofort einwerfen, daß die Knickerbocker mit dieser „Einsamkeit“ gut zurechtkamen, doch Heidi Kabellos ließ ihm keine Gelegenheit dazu. „Aus diesem Grund habe ich meinen Onkel Willibald beauftragt, euch die Zeit zu vertreiben. Er schaut noch heute abend bei euch vorbei, damit ihr mit ihm für morgen eine Verabredung treffen könnt. Tschüüüs!“ Protest war zweck los. Frau Kabellos hatte bereits wieder aufgelegt. Mit essigsaurer Miene berichtete Dominik seinen Knicker bocker-Freunden von Onkel Willibald. Er hatte noch nicht einmal ausgesprochen, als das Zimmertelefon schon wieder klingelte.
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„Ein Herr Willibald Fops wartet in der Halle auf Sie“, teilte der Portier mit. Lieselotte, Poppi und Dominik blieb nichts anderes übrig als hinunterzugehen. „Ich bin ja gespannt, wie dieser Onkel Willibald aussieht“, sagte Poppi. „Wahrscheinlich ist das ein uralter Knacker im grauen Anzug, der mit uns in den Streichelzoo des Tierparks Hagenbeck gehen möchte.“ „Oder wir haben es mit einem Oberlehrer zu tun, der uns Nachhilfe in Hamburg-Kunde erteilt“, überlegte Lilo laut. „Oder beides zusammen“, meinte Dominik. Doch an diese gruselige Idee wollten die Knickerbocker gar nicht denken. Lieselotte, Poppi und Dominik traten durch eine große Flügeltür aus dem Stiegenhaus in die Halle des Hotels und sahen sich suchend um. Wo war der Nickelbrillen-Typ? Sie wollten ihm gleich einmal eine kleine Kostprobe davon geben, wie unaussteh lich sie sein konnten. Der gute Onkel Willibald sollte möglichst schnell wieder verschwinden, damit sie in Ruhe ihre Nachfor schungen anstellen konnten. „He, da ist ja Moritz!“ rief Lilo überrascht. Sie trat auf einen sportlichen jungen Mann zu und tippte ihm von hinten auf die Schulter. Der Bursche drehte sich um und grinste. „Tag, Lieselotte“, begrüßte er sie und fuhr sich prüfend durch das Haar. Er schien zur eitlen Sorte zu gehören. „Was treibt ihr denn hier?“ „Wir treffen uns mit irgendeinem doofen Onkel Willibald, der Babysitter spielen soll“, erklärte ihm das Superhirn. Moritz prustete laut los. „Was ist denn daran so komisch?“ wollte Lilo erfahren. Moritz versuchte krampfhaft ein ernstes Gesicht zu machen, verneigte sich dann tief und säuselte: „Darf ich mich vorstellen, junge Dame: Willibald Fops mein Name.“ Das Mädchen verstand die Welt nicht mehr. „Heißt du jetzt Moritz oder Willibald und wieso bist du der Onkel von Frau Kabellos?“ Moritz konnte ihr das alles erklären: „Mein voller Name lautet Willibald Wilhelm Moritz Fops. Und da Willibald Wilhelm für
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mich die beiden schrecklichsten Namen der Erde sind, rufen mich alle meine Freunde Moritz. Nur meine werte Familie kann sich nicht damit anfreunden!“ Dominik glaubte das alles nicht. „Frau Kabellos ist doch älter als du. Wie kannst du dann ihr Onkel sein?“ „Halb-Onkel“, korrigierte Moritz. „Mein teurer Herr Papa – Heidis Großvater – hat nach dem Tod seiner ersten Frau noch einmal geheiratet. Ich bin das Kind seiner zweiten Gattin. Klingt verwirrend, ist aber so! Heidis Vater ist mein großer Bruder. Er ist 32 Jahre älter als ich.“ Poppi freute sich. Dieser Moritz schien ein toller Kerl zu sein. Lilo berichtete ihr dann in Stichworten, woher sie Moritz kannte, und da gefiel er ihr gleich noch besser. Er hatte schließlich ihren besten Freunden fast das Leben gerettet. „Heidi hat mir eingeschärft, daß ich euch wie die kostbarsten Edelsteine hüten soll. Vor allem Dominiks Stimmbänder müssen unversehrt bleiben. Falls ihnen etwas zustößt, hat sie mir angedroht, daß ich durch ein Gullygitter zu dünnem Brei gequetscht werde.“ Dominik grinste bei dieser Vorstellung. Ihm war Moritz ganz und gar unsympathisch. Er konnte – genau wie Axel – Sprüche klopfer wie ihn nicht ausstehen. „Für heute ist es zu spät, um noch was zu unternehmen“, entschied der junge Mann. „Aber morgen um 9 Uhr 30 hole ich euch ab.“ „Wohin fahren wir?“ wollte Popp wissen. „Ins Willkommhöft!“ „Und was ist das?“ fragte Lilo verwundert. „Eine Schiffsbegrüßungsanlage“, erklärte Moritz. „Sie gehört zu einer Gaststätte, die genau an der Elbe liegt. Während des Essens kann man auf den Fluß hinausschauen, und wann immer ein Schiff vorbeifährt, wird den Gästen erklärt, woher es kommt. Außerdem ertönt die Nationalhymne des Heimatlandes über Lautsprecher, und die Schiffe bedanken sich meistens mit lautem Nebelhorn-Getute.“
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„Klingt nicht übel, sogar recht interessant“, mußte selbst Dominik zugeben. „An den Gasthof angeschlossen ist auch ein Buddelschiffmu seum, in dem ihr über 150 Schiffe in Flaschen bewundern könnt.“ „Wir kommen mit“, sagte Poppi und freute sich schon jetzt auf den Ausflug. Wenigstens waren sie in dieser Zeit vor Grünen Haien und brutalen Schlägern sicher. „He, wo ist eigentlich Alex?“ fragte Moritz plötzlich. „Erstens heißt er Axel und zweitens sitzt er in der Badewanne.“ Lilo konnte schwindeln, ohne eine Miene zu verziehen. Sie lächelte Moritz so überzeugend ins Gesicht, daß dieser keine Sekunde an ihren Worten zweifelte. Er verabschiedete sich und trabte durch die riesige Drehtür des Hotels auf die Straße. „Hallo... Kinder... ein Gespräch für euch“, rief der Portier von der Rezeption den Knickerbockern zu. Lieselotte lief in die Tele fonkabine und hob den Hörer ab. Axel war am Apparat. „Wo steckt ihr denn?“ fragte er ungehalten. „Ich rufe seit 10 Minuten ununterbrochen an, aber ihr hebt nicht ab.“ „Wir sind herunten in der Hotelhalle“, berichtete Lilo. „Aber was gibt’s?“ „Das erzähle ich euch später. Wir treffen uns um halb acht Uhr im Wallringpark. Bei der Wasserlichtorgel!“ Für weitere Fragen blieb dem Superhirn der Bande keine Zeit und keine Gelegenheit. Die Leitung war plötzlich unterbrochen.
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Eine Barkasse namens Julchen
Lieselotte, Poppi und Dominik hatten beschlossen, getrennt durch den Wallringpark zu schlendern. Sie wollten nichts riskieren. Ihnen war klar, daß das Treffen mit dem Indianer zu tun haben mußte, und der durfte diesmal unter keinen Umständen Verdacht schöpfen. Schnell hatten die drei die „Wasserlichtorgel“ gefunden. Es handelte sich um einen Spezialspringbrunnen in einem großen Teich des Parks. Nun standen die Knickerbocker hinter dicken Baumstämmen und spähten in die Richtung des seltsamen Instruments. Ein langgezogener Pfiff, dem drei kurze Pfeiftöne folgten, signali sierte den anderen, daß Axel in der Nähe war. Suchend blickten sich Lilo, Poppi und Dominik um. Sie entdeckten ihren Kumpel hinter einem dichten Gestrüpp, von wo aus er ihnen Zeichen gab. Der Junge deutete aufgeregt in Richtung Teich, an dessen Ufer sich bereits einige Menschen versammelt hatten. Alle wollten dabeisein, wenn die Wasserlichtorgel loslegte. Inmitten der Leute erkannten die Knickerbocker den Indianer. Er starrte angestrengt auf den Teich hinaus. Immer wieder warf er verstohlen hastige Blicke nach beiden Seiten, um gleich darauf wieder die Spritzdüsen im Teichbecken zu fixieren. Punkt zehn Uhr begann das Spektakel. Musik dröhnte aus Lautsprechern durch den ganzen Park, Wasserfontänen schossen in die Höhe, und bunte Lichter gaben ihnen wunderschöne Farben. Das Wasser spritzte, schäumte und brodelte im Takt und bot einen wunderbaren Anblick. „He... da schleicht jemand an den Indianer heran“, fiel Lilo auf. Es war ein Junge, kaum älter als die Knickerbocker. Der Tennisspieler hatte die Hände hinter dem Rücken zu einem Körbchen verschränkt und zuckte nicht einmal zusammen, als der Junge ihm etwas hineinlegte. Es handelte sich um einen zusam
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mengefalteten Zettel, wie Axel durch sein Taschen-Fernrohr erkennen konnte. Der Indianer faltete ihn auf, überflog die Nachricht und lief davon. Unterwegs warf er das Papier achtlos in einen Mülleimer. Lilo gab den anderen durch ein Zeichen zu verstehen, daß sie dem Indianer nicht folgen sollten. Ganz im Gegenteil, sie blieben noch zwei Minuten in ihren Verstecken und stürzten sich erst dann auf den Mülleimer. Mit zitternden Fingern faltete Axel das Papier auf. Die Nach richt war eindeutig auf einem Computer geschrieben und mit einem teuren Drucker ausgedruckt worden. KOMMEN SIE HEUTE UM MITTERNACHT ZUR LANDUNGSBRÜCKE JUNGFERNSTEG. BARKASSE MIT GELBEN LATERNEN. WARNUNG: KEINE POLIZEI! SONST MÜSSTEN WIR IHRER VERLOBTEN ETWAS ANTUN. „Und was jetzt?“ Dominik blickte seine Freunde fragend an. „Was sollen wir tun?“ „Wir fahren zuerst einmal zum Jungfernsteg und schauen, ob wir die Barkasse entdecken können.“ „Was ist eine Barkasse?“ wollte Poppi wissen. „Ein kleines Boot, mit dem die Hafenarbeiter früher zur Arbeit gefahren sind“, erklärte ihr Dominik, „Und wie kommt es zu diesem komischen Namen?“ Auch darüber wußte Dominik Bescheid. Wie immer, hatte er mehrere Bücher über Hamburg gewälzt, bevor sie in die Stadt gekommen waren. „Das Fahrgeld mußte stets bar bezahlt werden. Bar in die Kasse, deshalb der Name Barkasse.“ Kurz vor elf schlenderte die Knickerbocker-Bande über den Landungssteg und hielt nach der Barkasse mit den gelben Laternen Ausschau. Es lagen zwar mehrere Boote am Kai vertäut, doch gelbe Laternen leuchteten bei keinem an Bord. „Wahrscheinlich werden die Lichter erst um Mitternacht eingeschaltet“, vermutete Axel. Trotzdem ließ er nicht locker und
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nahm die Kähne genauer unter die Lupe. Gelbe Laternen mußten doch auch im ausgeschalteten Zustand erkennbar sein. Die übrigen drei Knickerbocker-Freunde versteckten sich in der Zwischenzeit in der schützenden Dunkelheit einer Unterführung, in der sich auch die Kassen für die Rundfahrten befanden. „Woher wußte Axel eigentlich, daß der Indianer in diesen Park wollte?“ wunderte sich Dominik plötzlich. „Er hat es mir vorhin kurz erzählt“, sagte Lilo. „Schlauer Trick! Er hat einen Jungen getroffen, der einen Fußball unter dem Arm getragen hat. Axel hat ihn gebeten, den Ball über den Zaun zu kicken und dann nachzuklettern. So konnte der Junge durch den Garten laufen und seinen Ball suchen. Dabei hat er ein Telefonge spräch belauscht, das Herr Kotrupak im Haus geführt hat. In diesem Telefonat sind die Worte Wallringpark und Wasserlichtor gel gefallen.“ „He, ich habe die Barkasse gefunden! Sie heißt ,Julchen’!“ Aufgeregt war Axel bei seinen Detektiv-Freunden aufgetaucht. „Sie liegt ziemlich weit unten am Landungssteg vor Anker und ist die Schäbigste von allen. Es scheint niemand an Bord zu sein.“ Poppi schluckte. Sie ahnte, was nun kommen würde. „Ich schleiche mich nicht auf das Boot“, sagte sie sofort. „Nicht nötig“, beruhigte sie Axel. „Das übernehme ich selbst. Seit dem Angriff des Grünen Hais und der Attacke der Möwen erschreckt mich nichts mehr so leicht Aber einer von euch muß mitkommen.“ Fragend blickte er Lilo und Dominik an. „Ich bleibe lieber hier“, entschied das Mädchen. „Nicht weil ich das große Zittern kriege, sondern weil ich sofort etwas unterneh men muß, falls du nicht zurückkommst.“ „Na, du machst mir wirklich Mut“, stöhnte Dominik. „Okay, ich bin dabei. Adios, Mädels! Wie Lilo schon sagte: Vielleicht sehen wir uns wieder. Tot oder lebendig!“ „Ganz oder stückchenweise“, scherzte Axel. Allerdings konnte er über seinen eigenen Witz nicht wirklich lachen. Gemeinsam mit seinem Knickerbocker-Kumpel Dominik huschte er zu der dunkelgrünen Barkasse und sah sich hastig um.
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Es befand sich niemand in der Nähe. Axel nutzte die Gelegenheit und sprang an Deck. Dominik folgte ihm. Die beiden Jungen tappten geduckt um den Bootsaufbau herum und erreichten das Hinterdeck. Stumm deutete Axel auf eine Holzkiste. Er klappte den Deckel auf und griff tastend hinein. Sie war leer. „Sollen wir uns da drinnen verstecken?“ fragte er Dominik. Der Junge nickte. Wenige Sekunden später senkte sich der Deckel wieder und blieb nur einen winzigen Spalt breit offen stehen. Durch diesen Spalt spähten vier Augen gespannt und neugierig nach draußen.
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In der Speicherstadt
Erst drei Minuten vor Mitternacht bestieg jemand die Barkasse. Der Jemand betrat den Bootsaufbau und zündete eine Petroleum lampe an. Nun konnten Axel und Dominik erkennen, daß es sich um einen dicken, bärtigen Mann in einer abgewetzten Öljacke handelte. Er ging an Deck und entzündete Steuerbord und Backbord zwei gelbe Laternen. Mit den Händen in den Hosen taschen marschierte er dann auf und ab. Er schien zu warten. Drei Minuten nach Mitternacht kam der Indianer an Bord. Er wirkte hektisch und nervös. „Jaja, hier bin ich also“, flüsterte er. „Und... wo ist das Zeug? Wo ist Erika?“ wollte er von dem Mann wissen. Dieser zuckte mit den Schultern und stieß einige unver ständliche Laute aus. Er schien stumm zu sein. Herr Kotrupak stöhnte laut auf. Der Mann deutete ihm Platz zu nehmen und ließ den Motor an. Genau unter Axel und Dominik begann es zu poltern und rattern. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, doch schien sich die Kiste genau über dem Motorblock zu befinden. Dadurch wurde der Boden unter ihren Beinen spürbar wärmer und wärmer. „Oh nein“, dachten die Jungen entsetzt. „Wir brauchen keine Röst-Knie!“ Die Barkasse setzte sich in Bewegung und glitt ruhig durch die Alster. Zweimal blieb sie stehen, und am Quietschen und Ächzen erkannte Axel, daß sie sich in einer Schleuse befanden. Hier wurde das Boot wie in einem Fahrstuhl auf einen höheren Wasserspiegel gehoben, oder auf einen tieferen heruntergelassen. „Fahren Sie... in den Hafen?“ fragte der Tennisspieler plötzlich. Aus dem Steuerhaus kamen Laute die nach „Ja“ klangen. „In die Speicherstadt?“ forschte der Indianer weiter. Wieder stimmte der Steuermann zu. „Speicherstadt, was ist das?“ fragte Axel seinen KnickerbockerKumpel. Natürlich konnte ihm Dominik auch darüber Auskunft
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geben. „In den Hamburger Hafen laufen jedes Jahr rund 13.000 Schüfe ein. Sie bringen Fracht mit einem Gesamtgewicht von 55 Millionen Tonnen!“ „Jajaja und?“ drängte Axel, der keine Lust auf Vorträge hatte. „Es handelt sich unter anderem um Waren wie Kaffeebohnen, Kakaobohnen, Tee, Tabak, Gewürze und Teppiche. Diese Waren werden bis zum endgültigen Verkauf in riesigen BacksteinSpeichern gelagert. Mit Seilwinden werden sie meistens direkt von den Schiffen in den Speicher befördert. Alle Speicher zusam men nennt man Speicherstadt!“ „Wozu der Treffpunkt in der Speicherstadt?“ fragte der Indianer immer wieder. Doch diesmal erhielt er keine Antwort. Wahr scheinlich kannte der Kapitän des Schiffes den Grund auch gar nicht. Er war für diesen Auftrag nur angeheuert worden. „Aua“, jammerte Dominik. Der Boden war mittlerweile brennheiß geworden. Die Jungen knieten nicht mehr, sondern saßen in der Hocke, doch die Hitze drang bereits durch die Sohle ihrer Sportschuhe. Außerdem stieg die Temperatur in der Kiste ins Unerträgliche. Axel stemmte den Deckel ein wenig höher, damit der Fahrtwind hereinwehte. Doch genau in diesem Augenblick fiel dem Indianer ein, daß er sich auf die Kiste setzen konnte. Mit Schwung schleuderte er sein Hinterteil auf den Deckel, der laut zuknallte. „Was jetzt?“ zischte Dominik und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Axel schwieg. Er hatte keine Ahnung. Entweder die Fahrt würde bald enden, und sie konnten aus ihrem Versteck kriechen. Oder... daran wollte der Junge nicht denken. Oder sie mußten sich bemerkbar machen. Doch was würde dann mit ihnen geschehen? Bange Minuten verstrichen. Die Luft wurde von Sekunde zu Sekunde stickiger. Die Jungen konnten kaum noch ein- und ausatmen. Keuchend und schwitzend preßten sie die Nasen an die Ritzen zwischen den Brettern und versuchten gierig, die kühle Abendluft einzusaugen.
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„Ich... ich kann nicht mehr“, japste Dominik, „Ich muß raus. Ich muß, geschehe was wolle!“ Er wollte gegen die Kistenwand klopfen, doch Axel fing seine Hand im letzten Augenblick ab. „Nicht... psst, hör doch...!“ flüsterte er ihm zu. „Das Boot hat sein Tempo verlangsamt. Vielleicht ist es bald am Ziel.“ Wieder verstrichen Minuten bangen Wartens. Doch dann stand es fest. Die Barkasse war dort eingetroffen, wo sie den Indianer absetzen sollte. Der Motor wurde abgestellt, und mit unverständ lichen Lauten forderte der Kapitän den Tennisspieler zu etwas auf. Dieser sprang von der Kiste und entfernte sich. Augenblicklich drückten die Jungen den Deckel in die Höhe und atmeten keuchend durch. „Da... schau!“ Axel deutete Backbord auf ein Stahlseil mit einem gebogenen Tragehaken. Es baumelte von oben herab und schaukelte sanft hin und her. Der Tennisspieler betrachtete es verständnislos. „Was soll ich damit?“ fragte er seinen Fährmann. Dieser deutete ihm, sich mit den Händen festzuhalten und mit dem Fuß in die Rundung des Hakens zu steigen. Widerstrebend tat es Herr Kotrupak. Unter leisem Surren und Quietschen wurde das Stahlseil in die Höhe gezogen. Die Jungen blickten hinauf und erkannten eine hohe Hausmauer. Oben – unter dem Dach – ragte ein Balken aus der Wand. An ihm war der Seilzug befestigt, mit dem der Indianer nun wie ein Sack Kaffeebohnen hochgehievt wurde. Die Ladeluke war geöffnet, und als der Mann sie erreicht hatte, zog ihn ein kräftiger Arm hinein. Danach wurde das Seil wieder herun tergelassen. Der Kapitän verzog sich in das Steuerhaus und löschte das Licht An seinem Stöhnen erkannten die Jungen, daß er sich hingelegt hatte. Er machte sich also auf eine längere Wartezeit gefaßt. Axel wartete ein paar Minuten und kroch dann aus dem Versteck hervor. Er gab Dominik ein Zeichen auf ihn zu warten und tappte auf Zehenspitzen über das Deck.
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Hastig lief er zu dem Stahlseil, und erkannte, daß nun die Barkasse daran befestigt war. Deshalb war es also wieder heruntergelassen worden. Aus seiner Hosentasche zog der Junge die Mini-Taschenlampe mit dem starken Lichtstrahl. Er knipste sie an und leuchtete den Boden ab. Zu seiner großen Freude entdeckte er neben einer Taurolle ein Paar schmutzige Arbeitshandschuhe aus Leder. Er zog sie an und betrachtete sie zufrieden. Sie paßten nicht schlecht. Zum Glück war Axel nicht nur der beste Läufer der Schule, sondern überdies ein großartiger Kletterer. Ganz egal ob Stangen oder Seile, er war immer als erster oben. Langsam und vorsichtig begann er nun, sich an dem öligen Stahlstrick in die Höhe zu ziehen. Er durfte keine allzu heftigen Bewegungen machen, da das Seil sonst in der Verankerung an Bord oder auf der Rolle am Balken quietschte und ächzte. Stück für Stück arbeitete er sich weiter voran. Seine Armmus keln taten höllisch weh, und in den Füßen hatte er bereits einen Krampf, als er endlich die Luke erreichte. Er holte ein paarmal Schwung und erreichte sie dann mit den Beinen. Seitlich war ein Griff befestigt, den er jetzt mit der Hand erwischen mußte. Es kostete Axel einige Überwindung, das Stahlseil loszulassen und nach dem Griff zu schnappen. Er hatte es geschafft und schwang sich in das Innere des Speichers. Der Geruch eines Orientalischen Basars stieg ihm in die Nase. Wahrscheinlich war dieses Lagerhaus voll mit Gewürzen. Rund um den Jungen herrschte völlige Finsternis. Er versuchte angestrengt, seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen und erkannte nach einer Weile große Holzkisten an der Wand. Aber wo war der Indianer hin? Da! Ein Licht! Ein grüner, flackernder Lichtschein kam aus dem angrenzenden Raum. Axel ging an der Wand entlang langsam näher und spähte um die Kante des Türstockes. Was er sah, verschlug ihm den Atem.
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Der Grüne Hai befiehlt
Nicht einmal 20 Schritte von ihm entfernt stand hoch aufgerichtet der Grüne Hai. Er hatte das Maul weit aufgerissen, und aus dem gebogenen Oberkiefer schaute der Kopf einer fetten Frau heraus. Nun wurde Axel bewußt, womit er es zu tun hatte: Das war ein Kleid. Ein Kleid in der Form des Grünen Hais. Der obere Teil des Haischädels war eine Art Riesenkragen, das offene Maul das Halsloch und der Haikörper das Kleid. Auf dem Boden lag noch ein mächtiger Fischschwanz mit einer dicken Flosse. Besonders gruselig war die Erscheinung durch das seltsame Licht im Raum. Ein grüner Scheinwerfer war vor der Frau auf dem Boden aufgestellt und warf wilde Schatten nach oben über ihren Körper. Vor allem das Gesicht war durch das ungewohnte Licht völlig entstellt. An der Decke des Raumes leuchtete es ebenfalls grün. Man hatte sogar den Eindruck, unter Wasser zu sein und von unten auf den Wasserspiegel zu blicken. „Laß dich nicht täuschen“, redete sich Axel selbst Mut zu. „Das ist nur ein Trick. An der Decke schwebt Rauch, der von Laserlicht „durchschnitten“ wird. Dieser Effekt wird oft im Theater eingesetzt“ Aber wozu hier das Theater? Herr Kotrupak stand in einigem Abstand von der Haifrau und zitterte am ganzen Körper. Die Frau sprach kein Wort, sondern blickte ihn nur hochnäsig und abschätzend von den schwarzen Haaren bis zu den weißen Tennisschuhen an. „Bitte... bitte sagen Sie mir, ob Sie es wirklich haben. Ich... ich brauche es. Das wissen Sie doch, oder...? Und Erika, wo ist Erika?“ „Alles der Reihe nach“, sagte die Haifrau. Ihre Stimme klang unsympathisch, hart, kalt und blechern. „Ja, dem Grünen Hai ist bekannt, daß Sie Aufputschmittel nehmen. Deshalb sind Sie im
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Tennis auch so erfolgreich. Der Grüne Hai weiß genau, daß es sich um ein Mittel handelt, das mit Gold aufgewogen wird. Es ist nämlich nicht nachweisbar. Der Grüne Hai hat auch erfahren, daß Sie süchtig danach sind, und deshalb hat er alle Quellen in Ham burg zum Versiegen gebracht. Damit meine ich auch Ihre Freundin, die Sie doch stets versorgt hat.“ „Dann... dann habe ich es Ihnen zu verdanken, daß ich heute mittag fast zusammengeschlagen wurde?“ brauste der Indianer auf. „Ja!“ lautete die kurze Antwort. „Ich wollte auf Nummer Sicher gehen, daß Sie heute abend meine Einladung annehmen.“ „Was... was wollen... was wollen Sie von mir?“ Axel beugte sich ein Stück weiter vor, um alles genauer sehen und verstehen zu können. „Ich möchte nur einen kleinen Gefallen“, sprach die Haifrau. „Sie spielen am Montag gegen ein paar Super-Tennisstars und werden hoffentlich siegreich sein. Nun, wie dem auch sei: Das Fernsehen wird Ihr Spiel übertragen. In einer Spielpause wird sicher ein Interview mit Ihnen gemacht. Sie haben die Aufgabe, die Öffentlichkeit vor dem Grünen Hai zu warnen. Teilen Sie allen mit, daß er zuschlagen wird. Schlimmer, als es sich die feinen Bürger dieser Stadt vorstellen können. Wir werden diesen hochnäsigen Hamburgern zeigen, wer der Grüne Hai ist. Zittern sollen sie vor ihm. Doch wir sind fair und warnen zuvor.“ „Das kann ich nicht tun“, meinte der Indianer aufgebracht „So, das können Sie nicht tun“, lachte die Haifrau. Sie schnippte mit den Fingern, und sofort ertönte eine weibliche Stimme. „Konrad, ich bin es, Erika. Bitte folge den Befehlen des Grünen Hais. Du rettest damit mein Leben. Bitte!“ „Erika, wo bist du?“ rief Herr Kotrupak. „Sie hörten eine Tonbandaufnahme“, meinte die Haifrau kühl. „Und nun hauen Sie ab. Das Dopingmittel* wird Ihnen an Bord der Barkasse übergeben. Und noch eine Warnung zum Schluß: *
= Aufputschmittel
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Falls Sie meinen Befehlen nicht folgen sollten, ergeht es Ihrer Verlobten schlechter als schlecht. Außerdem würde sich der Grü ne Hai gezwungen sehen, der Öffentlichkeit mitzuteilen, welchen kleinen Pillchen Sie Ihren Erfolg verdanken.“ „Ich... nein, ich... ich mache alles“, versicherte der Tennisspieler und verneigte sich. Axel wußte, daß es höchste Zeit zum Rückzug war. Er hatte viel zu lange gewartet. Wie sollte er nun vor dem Indianer wieder an Bord der Barkasse sein? Er richtete sich auf und wollte zur Luke huschen, als sich von hinten eine Hand über seinen Mund legte. Der Junge wollte entsetzt aufschreien, doch der unbekannte Angreifer ließ ihm keine Gelegenheit dazu. Wie ein eiserner Maulkorb lag seine Hand auf Axels Lippen. Und als er um sich zu schlagen begann, fuhr die zweite Hand nach vorne und drückte ihm auch noch die Nasenlöcher zu. Der Junge bekam panische Angst. Wild trat Axel nach hinten und versuchte, den Menschen hinter sich zu treffen. Doch dieser wich geschickt aus. Aus irgendeinem Grund lockerte er aber für den Bruchteil einer Sekunde den knebelnden Griff. Axel nutzte die Gelegenheit und biß mit aller Wucht in die Hand. Ohne Schmerzensschrei, aber sichtlich erschrocken, zog der Unbekann te die Hand zurück. Der Knickerbocker riß sich los und stürzte blindlings in die Dunkelheit. Er durchquerte den Speicherraum und stieß an eine Metalltür. Axel riß sie auf und stolperte eine Treppe hinunter. Am Ende stand er vor der nächsten Tür, die aber zum Glück nicht verschlossen war. Wieder betrat er einen Lagerraum, in dem ein seltsamer Geruch herrschte. Er brachte seine Nase sofort zum Jucken und seine Augen zum Brennen. Entsetzt hörte er Schritte hinter sich. Sein Verfolger ließ sich nicht abschütteln. Hastig leuchtete Axel mit der Taschenlampe durch den Raum. Er stand direkt vor einem Gang, der von ungefähr einen Meter hohen, offenen Kisten gebildet wurde. Am
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Ende dieses Ganges entdeckte der Junge ebenfalls eine offene Holzkiste, die ihn auf eine Idee brachte. Er knipste die Taschenlampe aus und ließ den Verfolger näherkommen. Schon flog die Tür hinter ihm auf, und ein dunkler Schatten stürzte in den Raum. Sofort rannte Axel los. Er war ein sensationeller Sprinter und raste wie ein Blitz durch den Gang. Geschickt schlug er vor der Kiste, die ihm dann den Weg verstellte, einen Haken und ging neben ihr in Deckung. Auch sein Verfolger gehörte zu den Schnell-Läufern und hatte ein ziemliches Tempo erreicht. Da er aber nichts von dem Hindernis ahnte, knallte er mit voller Wucht dagegen und fiel kopfüber hinein. Eine Wolke aus feinem Pulver stieg in die Höhe. „Chili! Das ist scharfer Chili!“ schoß es Axel durch den Kopf, als er ein wenig davon auf die Zunge bekam. Entzückt hörte er lautstarkes Husten, Prusten und Spucken in der Kiste. In der Haut des Kerls, der gerade in Chilipulver badete, wollte er nicht gerade stecken. Das Zeug war schärfer als Pfeffer und mußte in Augen, Nase und Mund wie Feuer brennen. Auf leisen Sohlen schlich der Junge aus dem Raum und hastete die Treppe wieder hinauf. Die Luke stand noch immer offen, und zu seiner großen Freude entdeckte er die Barkasse darunter. Es herrschte absolute Stille auf ihr. „Was soll’s? Ich kann nichts verlieren“, beschloß Axel. Er schwang sich auf das Seil und ließ sich hinunterrutschen. Zum Glück hatte er noch immer die Handschuhe an. „He, aufwachen... wachen Sie auf, hörte er die ungeduldige Stimme des Indianers im Steuerhaus. Axel warf einen Blick durch das Fenster und sah den Tennisspieler auf dem Boden knien. Er versuchte den offensichtlich betrunkenen Kapitän wachzurütteln, hatte aber wenig Erfolg. Axel nutzte die Gelegenheit und schlüpfte hastig in die Kiste, wo ihn Dominik schon aufgeregt erwartete. Irgendwie mußte Herr Kotrupak den Kapitän schließlich doch wachgekriegt haben, denn der Motor wurde angelassen, und die Barkasse setzte sich in Bewegung.
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„Du glaubst mir nie, was ich erlebt habe!“ flüsterte Axel seinem Knickerbocker-Kumpel zu.
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Grausame Grüße
In dieser Nacht fielen die Knickerbocker-Freunde wie Steine ins Bett. Axel hatte den anderen vorher noch hastig von seinen Beobachtungen erzählt, doch für genaue Schilderungen war er zu erschöpft. Am Samstagmorgen wurde Lilo vom Klingeln des Zimmerte lefons aus dem tiefsten Schlaf gerissen. „Hallo, die Sonne scheint, und in Hamburg herrscht ausnahmsweise tropische Hitze“, jubelte eine Stimme aus dem Hörer. „Was ist los mit euch? War der Nachtkrimi im Fernsehen so spannend? Habt ihr wieder bis zum Morgengrauen geguckt?“ „Hallo... Moritz“, stöhnte Lieselotte. „Wir... wir sind noch alle im Bett. Ist es schon halb zehn?“ „Nein, es ist bereits zehn Uhr“, rief der junge Mann, strotzend vor Fröhlichkeit. „Ich gebe euch eine halbe Stunde, um in der Halle aufzutauchen. Sonst komme ich und wecke euch mit eiskaltem Wasser!“ Knurrend und schimpfend kroch Lieselotte aus dem Bett und weckte die anderen. Wie vier Trauerweiden im Novembernebel sahen sie an diesem Tag aus. Von Munterkeit und Fröhlichkeit keine Spur! „He, was ist denn mit euch los?“ wollte Moritz wissen, als er ihnen gegenüberstand. Die Knickerbocker-Bande schwieg eisern. Es gehörte zu einer ungeschriebenen Knickerbocker-Regel, daß Erwachsenen grundsätzlich nichts verraten wurde. Es sei denn, sie hatten bereits bewiesen, daß man ihnen vertrauen konnte. „Nachtfilm... im Fernsehen“, knirschte Lilo mit den Zähnen. Sie wußte, Leute wie Moritz waren durch so eine Erklärung leicht zu beruhigen. „Ihr benötigt Aufheiterung. Ab zum Dom!“ verkündete der sportliche junge Mann, der an diesem Tag in blitzblauen Klamotten steckte.
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„Null Bock auf Kirchenbesichtigung“, murrte Axel und verzog das Gesicht. „Man merkt, daß du kein Hamburger bist“, meinte Moritz grinsend. „Jedes Hamburger Kind kennt nämlich den Dom, den ich meine. Das ist ein Vergnügungspark mit Hoch schaubahn, Autodrom, Geisterbahn und Schießständen. Außer dem gibt es dort Hamburger Speck. Das sind rot-weiße Kauwürfel. Schmecken lecker.“ „Aber wieso heißt ein Jahrmarkt Dom?“ wollte Dominik wissen. „Weil früher an diesem Platz eine Kirche gestanden ist, vor der große Weihnachtsmärkte abgehalten wurden. Die Kirche gibt es nicht mehr, die Weihnachts- und Jahrmärkte schon noch. Aber sagt, das Wahrzeichen Hamburgs kennt ihr doch?“ Dominik nickte wissend. „Klaro, das ist der Michel, der charakteristische Turm einer barocken Kirche. Er mißt 132 Meter und kann über 449 Stufen erklommen werden“, leierte der Junge wie ein Tonband. Moritz staunte. „Habe ich in meinem Hamburgführer gelesen, und was ich lese, merke ich mir sehr schnell“, erklärte Dominik seine Kenntnisse. Moritz grinste, weil er im Augenblick nichts Besseres wußte, und gab ein Zeichen zum Aufbruch. Im Zeitlupentempo folgten ihm die Knickerbocker. Die Zeit schien für sie heute in halber Geschwindigkeit zu verrinnen. Auch ihre Gedanken waren langsamer als sonst. Schlafen, sie wollten alle schlafen, doch Moritz ließ ihnen keine Gelegenheit dazu. Den ganzen Tag hielt er die vier auf Trab. Axel, Lilo, Poppi und Dominik hatten keine Sekunde Zeit, ein paar Worte allein zu wechseln. Deshalb schafften sie es auch nicht, die Ereignisse der vergangenen Nacht zu besprechen. Noch müder und schon halb schlafend traf die KnickerbockerBande am Abend im Hotel ein. „Morgen hole ich euch bereits um sechs Uhr ab“, teilte ihnen Moritz mit. „Hast du Möwen in der Grübelbirne?“ fragte ihn Axel entsetzt. „Neee, aber morgen ist Fischmarkt, und den müßt ihr einmal erleben. Aber er geht schon um sechs Uhr am Morgen los, und um zehn Uhr ist das Spektakel wieder vorbei!“
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„Ich pfeife auf den Fischmarkt“, verkündete Poppi. Aber Moritz überhörte ihre Worte einfach. Es reichte gerade noch für ein mattes „Gute Nacht“, dann war der Tag für die Junior-Detektive vorbei. „Ich hätte nie gedacht, daß um diese Zeit schon so viele Leute wach sind“, gähnte Axel und kämpfte sich durch das Menschen getümmel. Das bunte Treiben auf dem Fischmarkt war wirklich einzigartig. Nicht nur frische Fische, geräucherte Aale, die berühmten Nordseekrabben, Miesmuscheln und Schollen wurden angeboten, sondern auch prachtvolle Blumen. Blumenhändler aus Holland hatten sie zum Fischmarkt gebracht und priesen nun lautstark ihre Ware an. Aber auch Bananen wurden verkauft. Auf den aufge klappten Ladeflächen von Lastwagen standen stämmige Burschen und schleuderten Bananen in die Menge. Damit wollten sie die großartige Qualität ihrer Ware beweisen. An allen Ecken und Enden wurde etwas angeboten, und um den Lärm perfekt zu machen, spielte auch noch eine Pankokenkapelle. Sie bestand aus fünf älteren Männern, die auf Posaunen und Trompeten Hamburger Lieder spielten. Meistens bliesen sie zwar ein bißchen daneben, aber das störte keinen. „Na, ist das nicht eine Wucht?“ erkundigte sich Moritz bei den Kindern. „Wäre doch schade gewesen, wenn ihr das versäumt hättet!“ Noch immer nicht ausgeschlafen, aber deutlich munterer, gaben ihm die vier recht. Laut hupend bahnte sich ein klappriger Lastwagen einen Weg durch die Menge. „Südfrüchte Sigiswald“ stand mit gelber Farbe auf die Plane gepinselt, die die Ladefläche kastenförmig überspannte. Der Wagen hielt unweit der Knickerbocker-Bande, und ein junger Mann sprang aus der Fahrerkabine. „Herrschaften! Herrschaften! Die besten Ananas der Welt bringe ich Ihnen“, grölte er sofort los. Er löste die Riemen, mit denen die hintere
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Seite der Plane an einem Drahtgestell befestigt war und hob sie in die Höhe. Als er sich auf den Wagen schwingen wollte, prallte er dann aber entsetzt zurück. Auch die Marktbesucher, die neugierig zu ihm gekommen waren, machten sofort ein paar Schritte rückwärts. Eine Frau kreischte in den höchsten Tönen, und alle drehten neugierig die Köpfe in ihre Richtung. Schlagartig verstummten die Rufe der Marktfahrer, und das Gemurmel der Menge verebbte. Die Ladefläche des Lastwagens war so hoch, daß alle erkennen konnten, was sich darauf befand. „Ein Hai... ein Grüner Hai!“ schrie Poppi und drängte sich zu Moritz. Tatsächlich lag ein glitschiger Hai unter der Plane. Er war min destens drei Meter lang und schien gerade erst aus dem Wasser gekommen zu sein. Seine Haut schimmerte schleimig und naß. Das Schrecklichste war aber sein Maul, aus dem ein blutiger Arm hing. „Wie... wie kommt dieses Monster auf meinen Wagen?“ stammelte der Fahrer völlig außer sich. „Ich habe doch... Ananas geladen. Hawaii-Ananas. Jemand muß sie heimlich gegen das Monster ausgetauscht haben.“ Die Junior-Detektive wurden mit einem Schlag an die Ereignis se der vergangenen Tage erinnert. Sollten sie Moritz nun doch einweihen? Würde er sie für Angeber halten? „Ob der Arm...“, Dominik mußte mehrere Male tief Luft holen, bis er weiterreden konnte. „Ob der Arm... Frau... Frau Rudermann gehört?“ „He, keine Panik“, dröhnte die tiefe Baßstimme eines dickbäuchigen Bananenverkäufers über den Platz. Er drängte sich durch die Menge und trat zu dem Lastwagen. „Das Tierchen ist aus Plastik“, stellte er mit Kennerblick fest. „Ein echter, gefangener Hai glänzt nie so dämlich. Und der Arm“, mit einem Ruck zog er ihn in die Höhe, „Von einer Schaufensterpuppe!“
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Zum Beweis schwenkte er das Kunststoffding über dem Kopf. Dabei klatschte ihm aber ein nasses Stück Stoff ins Gesicht, das an dem Arm befestigt war. Er schüttelte es aus und hielt es so vor sich, daß alle lesen konnten, was darauf stand: GRAUSAME GRÜSSE VOM HAFENHAI! Darunter war ein grinsendes Haimaul gezeichnet. Der Grüne Hafenhai meinte es ernst. Sehr ernst. Aber was hatte er vor?
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Warnung an alle
An diesem Sonntag beschlossen die Knickerbocker, Moritz doch einzuweihen. Sie wußten Dinge, die nun schleunigst an die Polizei weitergeleitet und geklärt werden mußten. Moritz hörte ihnen neugierig und interessiert zu und nahm ihren Bericht sehr ernst. „Ich werde mich sofort mit der Kripo* in Verbindung setzen“, versprach er zum Schluß. „Und ihr müßt mir schwören, euch unter keinen Umständen noch einmal in so eine lebensgefährliche Lage zu bringen. Von nun an werde ich Tag und Nacht auf euch aufpassen und wie den Goldschatz der Wikinger hüten.“ „Goldschatz der Wikinger... Das kommt mir so bekannt vor“, überlegte Dominik laut. „Ist das nicht der Titel einer Ausstellung, die demnächst in Hamburg eröffnet wird?“ Moritz zuckte mit den Schultern. Er wußte nichts davon. Axel, Lilo, Poppi und Dominik zogen sich auf ihre Zimmer zurück. Ihr Aufpasser wollte in zwei Stunden zurück sein und anschließend mit ihnen essen gehen. „Alles, was bisher geschehen ist, erscheint mir als die Tat eines Wahnsinnigen“, meinte Dominik in seiner komplizierten Sprech weise. „Der Zusammenhang zwischen dem Hai in der Nordsee und den verschiedenen ,Haien’ im Hamburger Hafen ist gegeben, aber wozu all diese Aktionen?“ „Der Grüne Hafenhai hat zwei Menschen entweder in seiner Gewalt oder vielleicht sogar umgebracht“, faßte Lieselotte die Ereignisse zusammen. „Außerdem kann er den Indianer erpres sen, der von Aufputschmitteln abhängig ist. Da er sie nicht mehr bekommen hat, war er auch so aufgeregt und außer sich. Er ist nun ein Werkzeug des Grünen Hais. Herr Kotrupak soll vor dem Monster warnen. Das bedeutet, es wird für die Öffentlichkeit noch *
= Kriminalpolizei
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gefährlicher. Der Name Grüner Hai oder Hafenhai steht für Schock, Terror und Schrecken.“ „Und wozu das ganze Theater?“ erkundigte sich Axel beim Superhirn. „Das würde ich auch gerne wissen“, lautete Lilos Kommentar dazu. „Außerdem muß sich jemand hinter diesem Decknamen verstecken. Wer kann das sein?“ Fragen ohne Antworten. Doch vorläufig war den Junior-Detek tiven die Lust auf weitere Nachforschungen vergangen. Der Montag brach an, und als die vier Freunde aus den Betten krochen, ahnten sie noch nicht, was dieser Tag bringen würde. Hätten sie nur einen blassen Schimmer davon gehabt, wären sie bestimmt nicht aufgestanden! Nach dem Frühstück wurden sie von Moritz abgeholt. Der Onkel von Frau Kabellos brachte Dominik in das Tonstudio, wo die Aufnahmen weitergingen, und fuhr mit dem Rest der Bande in Richtung Hafen. Etwas widerwillig betrat Dominik den Aufnahmeraum, in dem die Regisseurin bereits wie eine wilde Hummel herumschwirrte. „Ein Momentchen, Domi, Momentchen nur“, rief sie ihm zu. „Paß auf, Tony, das sind nun die Schritte von Karate-Karla in dem Kanal, in dem sie Null-Null-Hunibald überwältigen will.“ Frau Kabellos hatte ein Paar Stöckelschuhe über die Hände gestreift und klopfte damit unter einem Mikrofon auf eine Stein platte. In dem Hörspiel würden sich diese Geräusche als heftiges Trippeln anhören. „Ist okay“, meldete Tony über die Gegensprechanlage. Er spannte ein neues Band ein und trat dann zu Dominik und der Regisseurin in die Sprecherkabine. „Tag, Superstar“, begrüßte er den Jungen. „Hast du ein erholsa mes Wochenende gehabt?“ Dominik grinste schwach. Von „erholsam“ konnte wirklich nicht die Rede sein. „Domi... äh... verzeih mir ein letztes Mal... Dominik, wir haben schon fast die Hälfte der Aufnahmen“, teilte ihm Frau Kabellos mit. Sie wollte ihn mit dieser Meldung aufheitern, doch schlag
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artig fror ihr Gesicht zu einer entsetzten Miene ein. Sie starrte durch die schalldichte Glasscheibe in den Regieraum. Dominik folgte ihrem Blick und verstand, was Heidi Kabellos so erschreckte. Es war die Dame in dem grünen Hosenanzug. Dominik stutzte. Wo war die plötzlich hergekommen? „Frau... Rudermann“, stotterte die Regisseurin. Mit einer schnellen Bewegung verriegelte die Schauspielerin die Tür zum Sprecherstudio. Dadurch wurde auch die zweite Eingangstür automatisch verschlossen, damit niemand die Aufnahmen stören konnte. Dominik, Tony und Heidi Kabellos waren eingeschlossen. Die Schauspielerin suchte den Knopf der Gegensprechanlage. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn gefunden hatte und mit tonloser Stimme diese Forderung stellte: „Frau Kabellos, Sie haben viele einflußreiche Freunde in Hamburg. Warnen Sie alle vor dem Grünen Hafenhai. Er plant Entsetzliches!“ „Sind Sie verrückt?“ fragte die Regisseurin ruhig. „Frau Ruder mann, was soll das?“ „Sie ist... sie ist über die Feuerleiter vom Garten hergekom men“, murmelte Tony vor sich hin. „Über die Feuerleiter... wie ein Dieb!“ „Ich wiederhole, warnen Sie alle vor dem Grünen Hafenhai, er plant Entsetzliches.“ Noch immer hielt Frau Kabellos den Vorfall für einen Scherz. „Ich denke nicht daran, mich vor meinen Bekannten lächerlich zu machen“, meinte sie und lachte verlegen. Frau Rudermann war eine äußerst dünne, fast schon dürre, Person mit hervorquellenden Augen. Den Kopf hielt sie immer starr nach vorne gerichtet. Dafür rollten ihre Augäpfel ständig hin und her. Ihr Blick schien überall gleichzeitig zu sein. Nun sausten ihre Pupillen über die Knöpfe und Hebel des Mischpultes. Bald schien sie gefunden zu haben, was sie suchte, und drückte ein paar Tasten. Ein hoher Pfeifton drang aus den Lautsprechern. Es handelte sich um den sogenannten Meßton, mit dem verschiedene Geräte
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eingestellt wurden. Er hatte eine für den Menschen äußerst unangenehme Höhe und drang durch Mark und Bein. An den verzerrten Gesichtern der drei Gefangenen erkannte Frau Rudermann, daß sie den richtigen Knopf gefunden hatte. Sie blickte Frau Kabellos fragend an, doch als diese keine Reaktion zeigte, drehte sie den Lautstärkeregler auf. Der Ton im Studio wurde unerträglich. Dominik preßte die Hände auf die Ohren und krümmte sich. „Aufhören!“ stöhnte er. „Aufhören, das ist Folter!“ „So sagen Sie schon, daß Sie es tun werden“, schrie Tony Frau Kabellos zu. „Versprechen Sie es!“ Die Regisseurin deutete nach draußen, daß Frau Rudermann abdrehen sollte. Augenblicklich verstummte der Ton. „Ich... ich rufe meine Freunde an“, versprach Frau Kabellos. Frau Rudermann nickte kurz und öffnete dann die Tür. Sie gab den drei Leuten im Studio ein Zeichen, zu ihr zu kommen. Schweigend und sehr langsam folgten sie der Aufforderung. „Ob diese Rollaugen-Kuh bewaffnet ist?“ schoß es Dominik durch den Kopf. Er beugte sich zu Tony und zupfte ihn am Ärmel. „Du, vielleicht hat Frau Rudermann eine Pistole. Vorsicht!“ flüsterte er, ohne dabei die Lippen zu bewegen. Diesen Trick beherrschten alle Knickerbocker-Banden-Mitglieder perfekt. Tony betrachtete die Schauspielerin prüfend und drehte dann den Kopf zu Dominik. Er schüttelte ihn leicht. „Fangen Sie sofort zu telefonieren an“, forderte Frau Ruder mann die Regisseurin auf. Heidi nahm den Hörer ab, überlegte kurz und wählte dann. Hastig schnappte die Schauspielerin einen Zettel und begann eilig etwas daraufzukritzeln. Mit bebenden Händen streckte sie Frau Kabellos, Tony und Dominik diese Nachricht hin und legte einen Finger auf die Lippen. Sie durften kein Wort darüber verlieren. Keiner der drei konnte fassen, was er auf dem Stück Papier las.
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Das grüne Halsband
ICH BIN IN DER GEWALT DES GRÜNEN HAFENHAIS. KEINE AHNUNG, WER SICH HINTER DIESEM NAMEN VERSTECKT. ER HÄLT MICH GEFANGEN UND ÜBERWACHT JEDEN SCHRITT. DURCH DAS GRÜNE HALSBAND HÖRT ER JEDES WORT MIT. FALLS ICH NICHT SEINEN BEFEHLEN FOLGE, KANN ER MICH DAMIT TÖTEN. Tony gab der Schauspielerin mit den Händen zu verstehen, das Halsband einfach abzulegen. Doch Frau Rudermann lächelte über diesen Vorschlag nur schwach. Das grüne Halsband war an ihren Körper angeschweißt. Es hatte weder eine Schnalle noch ein Schloß. Flehend hob die Frau die Hände und bat Heidi Kabellos alles zu tun, was sie von ihr verlangt hatte. Die Regisseurin nickte ihr beruhigend zu und telefonierte mit allen Persönlichkeiten der Stadt, die ihr nur einfielen. Bei vielen erntete sie nur schallendes Gelächter, doch einige versprachen die Warnung ernst zu nehmen und über Maßnahmen nachzudenken. Tony und Dominik hatten sich zum Kopf von Frau Kabellos heruntergebeugt, um am Hörer mitzulauschen. Als sie sich nach dem letzten Telefonat wieder aufrichteten und umblickten, war Erika Rudermann verschwunden. So lautlos und schnell, wie sie gekommen war, mußte sie auch wieder durch die Hintertür und den Garten weggelaufen sein. „Die arme Frau“, meinte Heidi Kabellos mitleidig, „sie muß Entsetzliches durchmachen.“ „Das Schrecklichste ist, daß ihr keiner helfen kann, ohne ihr Leben zu gefährden“, sagte Dominik. An Arbeit war an diesem Vormittag im Tonstudio nicht mehr zu denken.
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Ungefähr zur gleichen Zeit waren die übrigen drei Knicker bocker mit Moritz unterwegs zum Flugplatz. „Es ist besser, wenn ihr ein wenig aus Hamburg rauskommt“, hatte der junge Mann zu den Junior-Detektiven gesagt. Er war in großer Sorge um die drei Freunde. Dominik hatte er von dem Flugzeug-Ausflug zur Insel Sylt nichts gesagt. Das Arbeiten im Studio wäre dem Jungen dann bestimmt dreimal so schwer gefallen. Nach einem kurzen, ruhigen Flug erreichten die Knickerbocker und ihr Begleiter die langgestreckte Badeinsel, die für ihre Sanddünen, die Sandstrände mit den bunten Strandkörben und das fröhliche Ferientreiben bekannt war. „Es ist zur Zeit Ebbe“, erklärte Moritz seinen Schützlingen. „Falls ihr Lust habt, könnten wir eine Watt-Wanderung unternehmen.“ „Wenn du uns sagst, was das ist, gerne“, meinte Poppi. „Das Watt... das ist ein flacher Meeresbodenstreifen, der bei Ebbe aus dem Wasser kommt. Ihr könnt barfuß ins Meer hinaus spazieren und unterwegs Wattwürmer, Miesmuscheln oder die berühmten Nordseekrabben sehen. Allerdings muß man vorsichtig sein. Kommt die Flut, beginnen schlimme Strömungen, die euch die Füße wegreißen und das Wandern unmöglich machen. Doch ich glaube, wir haben den besten Zeitpunkt für eine WattWanderung erwischt.“ Trotzdem wollte sich Moritz noch einmal erkundigen. Deshalb stattete er einem alten Freund, der bei der Küstenwache arbeitete, einen kleinen Besuch ab. Axel, Lilo und Poppi schlenderten in der Zwischenzeit durch einen stillen, kleinen Yachthafen und genos sen das warme Sommerwetter. Sie redeten nicht viel, sondern lauschten lieber dem Kreischen der Möwen, das diesmal nicht angriffslustig klang, dem Schlagen und Surren der Boote und dem Plätschern der Wellen. „Ahoi, ihr Landratten“, sagte plötzlich eine leise Stimme hinter ihnen. Die Knickerbocker zuckten erschrocken zusammen. Axel drehte sich um und rief überrascht: „Matze! Du lebst!“
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Mit einem Jubelschrei stürzten sich die beiden Mädchen auf den Seebären und fielen ihm um den Hals. Dieser blieb ungerührt stocksteif stehen und grinste verlegen und unglücklich. „He, was... was ist mit dir geschehen? Wo warst du?“ wollten die Knickerbocker wissen. Matze blieb ihnen die Antwort schuldig. Er deutete auf ein grünes Metallband, das um seinen Hals geschlungen war und meinte kurz: „Keine Fragen. Bitte, kommt mit. Bitte, keine Fragen. Bitte!“ Als er die verständnis- und fassungslosen Gesichter der Junior-Detektive sah, bückte er sich und schrieb mit einem Stein auf eine Holzplanke: ES GEHT UM MEIN LEBEN! TUT, WAS ICH EUCH SAGE! Axel, Lilo und Poppi nickten langsam. Hastig sah sich das Superhirn nach Moritz um. Wo blieb er nur so lange. Sie mußten ihm eine Nachricht hinterlassen. Aber Matze ließ ihnen keine Zeit dafür. Er packte sie an den Händen und zerrte sie mit sich. Stolpernd und mit pochenden Herzen folgten sie ihm. Das Ziel war ein Bootshaus, in dem normalerweise die Yachten gewartet oder repariert wurden. Der Fischer schubste sie hinein und verriegelte hinter sich die Tür von innen. „Mann, das ist ja ein U-Boot! Ein grünes U-Boot!“ staunte Axel. Tatsächlich lag vor ihnen ein langgestrecktes U-Boot im Wasser. Nur der schachtförmige Aufbau ragte in die Höhe. Die Einstiegsluke stand offen, und Matze deutete den drei Freunden einzusteigen. Poppi preßte sich an die Holzwand und wehrte ab. Nein, keine zehn Pferde würden sie in diese schwimmende Dose kriegen. Matze murmelte etwas von: „Verzeih mir“, packte sie dann an den Händen und hob sie wie einen Hering in das U-Boot. Axel und Lieselotte folgten freiwillig. Als die drei drinnen waren, stieg zu ihrer Erleichterung auch Matze ein, klappte den Metalldeckel zu und verdrehte das kleine,
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lenkradförmige Ding, das an ihm befestigt war. Nun war das U-Boot dicht. Leise surrend setzte sich ein Motor in Betrieb. Ein schwaches, rötliches Licht erhellte den bauchigen Innenraum des Unterwas ser-Fahrzeuges. Außer vier ungemütlichen, aufklappbaren Sitz plätzen und einem kleinen Steuer- und Schaltpult waren nur noch vier runde Bullaugen in den Seitenwänden und ein breites Fenster an der Vorderseite zu erkennen. Durch diese Öffnungen konnten die Passagiere verfolgen, was draußen geschah. „Wir... wir tauchen ab“, meldete Axel. Tausende Luftblasen stiegen blubbernd an den Bullaugen vorbei und vernebelten die Sicht. Für ein paar Sekunden sahen die Knickerbocker nur noch weiß. „Aber... aber wieso fährt das U-Boot? Wer hat es gestartet? Wer lenkt es?“ wollte Lieselotte wissen. Matze hockte nämlich, genau wie sie, auf einem der Klappsitze und warf nicht einmal einen Blick auf das Steuerpult. „Das U-Boot ist ferngesteuert“, erklärte der Kapitän. „Wir werden von irgend jemandem gelenkt, der sich am Ufer oder an Bord eines Schiffes befindet.“ „Vom Grünen Hafenhai?“ flüsterte Poppi aufgeregt. Matze nickte. „Was... was ist eigentlich mit dir geschehen? Wieso bist du über Bord gegangen... Deine Hose und der Pulloverärmel... was hatte das zu bedeuten?“ fragte Axel. Matze öffnete immer wieder den Mund, um zu antworten, doch er brachte kein Wort heraus. Hilfesuchend blickte er sich um, und als er nicht entdeckte, wonach er Ausschau hielt, deutete er den Kindern, seine Hände zu beobachten.
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Felix Paradiso
Mit den Fingern formte er Buchstaben und schilderte auf diese Weise, was vorgefallen war. Zum Glück kannten sich die Knickerbocker mit diesen Geheimzeichen aus und konnten entziffern, was er deutete: ICH WERDE ABGEHÖRT. DAS GRÜNE BAND UM MEINEN HALS HÄLT FUNKKONTAKT ZUM GRÜNEN HAI. EIN WORT, DAS IHM NICHT GEFÄLLT, UND ER BRINGT MICH UM. DAS HAT ER MIR JEDENFALLS ANGEDROHT. DER HAI WAR EIN PLASTIKTIER, DAS AN DIESEM U-BOOT BEFESTIGT WAR. ES WIRD WIE EINE SCHALE AUFGESETZT UND IST EBENFALLS FERNGESTEUERT WORDEN. ALS DER HAI MEIN BOOT ANGEGRIFFEN HAT, WOLLTE ICH IHN MIT EINER STANGE ABWEHREN. DABEI BIN ICH INS WASSER GEFALLEN. IM MAUL DES TIERES IST EINE ART SAUGGERÄT EINGEBAUT, DAS MICH DURCH DIE PLASTIKZÄHNE IN SEINEN RACHEN BEFÖRDERT HAT. DORT BIN ICH AUTOMATISCH IN EINEM WAS SERDICHTEN RAUM EINGESCHLOSSEN WORDEN. ICH BIN MIR WIE IN EINEM SARG VORGEKOMMEN. PER FUNK HAT JEMAND ZU MIR GESPROCHEN. ICH KONNTE NICHT ERKENNEN, OB DIE STIMME EINEM MANN ODER EINER FRAU GEHÖRT HAT. ICH SOLLTE MICH RUHIG VERHALTEN, DANN WÜRDE MIR NICHTS GESCHEHEN. DAS HOSENBEIN UND DEN PULLOVERÄRMEL SOLLTE ICH ABREISSEN UND NACH AUSSEN SCHLEUDERN. ZU DIESEM ZWECK HAT SICH DIE KLAPPE KURZ GEÖFF NET. ICH WURDE SCHLIESSLICH IN DER DUNKELHEIT VOR EINER HÜTTE ABGESETZT, UND DIE STIMME HAT MIR
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BEFOHLEN HINZUGEHEN. WO SICH DIE HÜTTE BEFIN DET, KANN ICH NICHT SAGEN. AUF JEDEN FALL WURDE ICH NIEDERGESCHLAGEN. ALS ICH AUFGE WACHT BIN, HATTE ICH DAS GRÜNE BAND UMGEBUN DEN. EIN ZETTEL HAT MICH ÜBER SEINE WIRKUNG INFORMIERT. SEITHER MUSS ICH ALLES TUN, WAS MIR DIE STIMME AUFTRÄGT. SIE NENNT SICH SELBST „GRÜNER HAFENHAI“ UND TRITT MIT MIR ÜBER DIESES FUNKGERÄT IN KONTAKT. Matze zeigte den Knickerbockern ein kleines Handsprechgerät. BITTE TUT ALLES, WAS VON EUCH VERLANGT WIRD, flehte der Seemann. DER HAI IST WAHNSINNIG! „Willkommen an Bord der ,Katzenhai’, meldete sich eine schnarrende Stimme aus dem Funkgerät „Ich freue mich, euch als meine Fahrgäste begrüßen zu dürfen. Aber ich habe noch jemanden bei mir, der gerne mit euch reden möchte.“ Ein leises Knacksen ertönte, und dann keuchte ein Mann: „Lilo, Axel, Poppi... Er wird euch nichts tun, aber bitte... bitte keine Extra-Touren. Folgt seinen Befehlen!“ „Das ist Moritz! Der Hai hat Moritz als Geisel!“ schrie Poppi erschrocken. „Mein U-Boot, die ,Katzenhai’, wird euch nun zu einem freundlichen Mann bringen. Sein Name lautet Felix Paradiso. Ihr werdet auf seine Yacht steigen und ihn vor mir warnen. Bestellt dem Mann schöne Grüße, und wenn er lacht, bittet ihn, zuerst auf das kleine Beiboot zu achten, das er im Schlepptau hat. Seine Freundin benutzt es zum Wasserskifahren. Danach soll er seinen Koch rufen und von ihm den tiefgefrorenen Lachs verlangen. Verstanden?“ setzte die schnarrende Stimme fort. „Ver... verstanden, jaja“, versicherten die Knickerbocker. „Sobald euer Auftrag beendet ist, verlaßt ihr die Yacht und steigt wieder in das U-Boot. Falls ihr nicht zurückkehrt, werden
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Matze und Moritz meine Opfer! Die Beute des Hafenhais!“ Ein langgezogenes, widerliches Gelächter ertönte. Die Junior-Detektive blickten einander verzweifelt an. Sie waren wehrlos, völlig wehrlos. „Wir... wir geben nicht auf. Nicht den Mut verlieren. Wir müssen ununterbrochen nach einem Ausweg suchen“, wisperte Lieselotte ihren Kumpels zu. „Erinnert euch, an Bord des Schiffes der Schauermühlen-Leute waren wir zuerst auch total am Boden. * Doch dann haben wir sie ausgetrickst!“ Axel wollte einwerfen, daß ihnen damals auch jemand zu Hilfe gekommen war, doch er ließ es bleiben. In dieser Lage mußten echte Knickerbocker einander aufbauen und Mut machen. Viel leicht gab es wirklich einen Ausweg. Für die Schönheiten der Unterwasserwelt und für die vorbei schwimmenden Fische hatten die drei Junior-Detektive nun aber keine Augen. Sie überlegten fieberhaft, was sie erwarten würde... Die Fahrt im U-Boot endete nach exakt 88 Minuten. Diese Zeit hatte Axel jedenfalls mit seiner Armbanduhr gestoppt. Vor den Bullaugen tauchte der metallene Rumpf eines größeren Schiffes mit einer mächtigen Schiffsschraube auf. Die Schraube stand still, und der Anker war zu Wasser gelassen. Das U-Boot stieg an die Wasseroberfläche, und Matze öffnete die Ausstiegsluke. Er deutete den Knickerbockern mit dem Daumen „Viel Glück“ und half ihnen dann hinaus. Wer auch immer die „Katzenhai“ steuerte, er hatte ganze Arbeit geliefert. Das U-Boot schaukelte nämlich nicht einmal einen halben Meter von der Bordwand des Schiffes entfernt. Noch dazu war eine Außenleiter zum Greifen nahe. Über sie kletterten Axel, Lilo und Poppi langsam und zögernd an Deck. Der Junge hatte noch nicht einmal einen Fuß über die Reling geschwungen, als er schon von einem kräftigen Arm gepackt wurde. Ein bewaffneter Mann schrie ihn an und schüttelte ihn wie einen Milch-Shake. *
Siehe Knickerbocker-Abenteuer: „Treffpunkt Schauermühle“
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„Wir... wir müssen zu Felix Paradiso. Es ist wichtig“, stammelte Axel. Brutal zerrte ihn der Mann an Deck und gab ihm einen Stoß. Der Junge schlug der Länge nach hin. Auch mit den beiden Mädchen verfuhr der Wächter nicht viel sanfter. Als schließlich alle drei auf dem Boden lagen, richtete er die umgehängte Maschinenpistole auf sie und knurrte etwas in einer fremden Sprache. „Bitte geben Sie die Waffe weg, wir... wir sind doch keine Verbrecher!“ rief Dominik. Der Mann zuckte mit seinen dichten, schwarzen Augenbrauen und dem buschigen Schnauzbart. Er steckte in einem olivgrünen Overall, und die Haut seiner bloßen Arme war dunkelbraun gebrannt. Wieder brüllte er die JuniorDetektive an, und wieder verstanden sie kein Wort. Der Mann kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und entsicherte die Maschinenpistole. „Hilfe!!! Hilfe!“ brüllte Poppi aus Leibeskräften. „Warum hilft uns denn keiner?“
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Seemannsgruft
„Alexis, sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“ rief eine müde Frauenstimme. Es folgte ein schneller Wortwechsel in der fremden Sprache zwischen dem Wächter und einer Frau, die hinter den Knickerbocker-Freunden aufgetaucht sein mußte. Danach drehte sich der Mann um und ging mit wütenden Schlitten davon. „Von euch hätte ich nun aber gerne gehört, wieso ihr uneingela den an Bord kommt?“ verlangte die Frauenstimme zu erfahren. Lieselotte drehte sich um und sah eine schlanke, junge Dame in einem winzigen Bikini. Sie schien in der Sonne geschlafen zu haben, denn ihre Augen waren verquollen und gerötet. „Wir müssen bitte zu Felix Paradiso. Es ist wichtig. Vielleicht lebenswichtig für ihn“, sagte Lilo eindringlich. „Wir sind keine Kinder, die sich einen Scherz erlauben. Ehrlich! Bitte, glauben Sie uns das und bringen Sie uns zu ihm! Bitte!“ Die Dame schien Lieselotte tatsächlich zu glauben. Sie nickte und winkte den dreien, ihr zu folgen. Nun erst kamen Axel, Lilo und Poppi dazu, einen Blick auf das Schiff zu werfen. Es handelte sich um eine lange, schneeweiße Yacht mit einem hohen Kabinenaufbau. Durch die Fenster konnten die Junior-Detektive die luxuriösen Räume erkennen, die sich dahinter befanden. Eines stand fest: Das Schiff mußte einem äußerst reichen Mann gehören. „Felix“, sprach die junge Frau einen Herrn an, der in weißen Shorts und mit einer Kapitänsmütze über den Augen in einem Liegestuhl schlief. Als er aufschreckte, redete die Frau hastig in der Fremdsprache auf ihn ein. „Griechisch... das ist Griechisch“, erkannte Lieselotte. „Und ich weiß jetzt auch, wer Felix Paradiso ist. Ein Reeder!“ „Häää?“ Poppi hatte dieses Wort noch nie gehört.
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„Er besitzt mehrere Schiffahrtslinien und Hochseedampfer. Sei ne Passagierschiffe sind für außergewöhnlichen Luxus bekannt!“ „Guten Tag, ich hoffe für euch, es handelt sich um etwas Wichtiges“, bellte der Reeder mit starkem Akzent. Er schien es den Knickerbocker-Freunden sehr übel zu nehmen, daß sie seine Ruhe störten. Axel stellte sich und seine Freunde vor und sagte dann langsam die Botschaft, die sie bestellen sollten. Felix Paradiso schien kein Wort zu glauben. Von Sekunde zu Sekunde schwoll eine Ader auf seiner Stirn dick und immer dicker an und zeigte, wie zornig er wurde. „...und Sie sollen auf das Beiboot achten, das Sie im Schlepptau haben!“ rief Axel hastig, als der Mann aus dem Liegestuhl aufsprang. Felix Paradiso drehte sich nach hinten und warf einen Blick über Bord. Ungefähr zehn Meter entfernt schaukelte ein schnitti ges, teures Motorboot auf den Wellen. Es war durch ein Seil mit der Yacht verbunden. „Und? Was ist?“ brüllte er. In dieser Sekunde krachte es. Eine Stichflamme schoß aus der Mitte des Beibootes, und innerhalb von Sekunden versank es in der Nordsee. Eine Bombe mußte an Bord explodiert sein. Schlagartig war jede Farbe aus dem Gesicht des Reeders gewichen. Er packte seine Freundin an der Hand, drängte die Kinder in das Innere der Yacht und führte sie in einen gemütli chen Aufenthaltsraum. Hier war alles aus poliertem Mahagoni holz und Messing gefertigt und erinnerte an Segelschiffe aus vergangenen Zeiten. „Nun... sollen Sie Ihren Koch rufen und von ihm den tiefgefrorenen Lachs verlangen“, sagte Lilo mit belegter Stimme. Sie fühlte sich – wie ihre Freunde auch – äußerst unbehaglich an Bord der Yacht. Vielleicht kam es dem Hafenhai in den Sinn, auch dieses Boot hochgehen zu lassen? Felix Paradiso stellte keine weiteren Fragen, sondern tippte auf einem winzigen Kästchen herum, das in die Kante des Tisches
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eingelassen war. Er sprach ein paar Worte griechisch und trom melte danach nervös mit den Fingern auf der Armlehne herum. Eine Minute später tauchte ein Mann in weißer Hose, weißem T-Shirt und fleckiger, weißer Schürze in der Kajüte auf. Er trug ein Silbertablett, auf dem ein Fisch lag. Allerdings handelte es sich nicht um einen Lachs, sondern um einen kleinen Katzenhai. Der Koch plapperte wild los, und die Frau im Bikini übersetzte für die Knickerbocker: „In dem Plastikbeutel mit der Aufschrift ,Lachs’ war dieser Hai. Er hat etwas im Maul gehabt.“ Der Koch überreichte Herrn Paradiso eine längliche, grüne Plastikdose. Der Reeder öffnete sie und fischte drei Fotos heraus. Seine Augen weiteten sich, als er sie betrachtete. „Die ,Maria Margarita’, die „Isabella Bella’ und die ,Anita Angelika’… murmelte die Frau. „Das sind Felix’ schönste Passagier-Schiffe. Sie sind erst vor drei Wochen vom Stapel gelaufen und sollen morgen im Hafen von Hamburg eintreffen und die ersten Gäste an Bord nehmen. Berühmtheiten aus Politik, Film, Fernsehen und Kultur werden erwartet.“ „Nein!“ rief Poppi leise, als es ihr gelang, einen Blick auf die Fotos zu werfen. Jemand hatte mit Lackstiften einen grünen Hai dazugemalt, der in die Schiffe biß. Blut floß heraus. Über die Schornsteine waren dicke, schwarze Kreuze gezeichnet. „Wir müssen zurück zum U-Boot“, drängte Lieselotte. „Matze und Moritz darf nichts geschehen. Kommt!“ Hastig verabschie deten sich die Junior-Detektive und gaben dem Reeder zu verstehen, sie nicht aufzuhalten. Dieser nickte, noch immer ziemlich fassungslos, und starrte weiterhin auf die Horror-Bilder. Das U-Boot lag noch immer neben der Yacht im Wasser, und Poppi, Lilo und Axel kletterten hastig hinein. Matze hatte sie schon dringend erwartet. „Dreimal wurde bereits gefragt, wo ihr bleibt. Habt ihr alles getan, wie es der Hafenhai verlangt hat?“ erkundigte er sich leise. Die Knickerbocker nickten. Der Kapitän schloß daraufhin sofort die Einstiegsluke, und das U-Boot tauchte ab. Wohin würde es die drei Freunde nun bringen? Durch Lieselottes Kopf wanderten viele Gedanken und
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Überlegungen. Zahlreiche Fragen stellten sich dem Superhirn, doch konnte es auf die meisten keine Antworten finden. „Ich verstehe etwas nicht“, überlegte das Mädchen, „Wieso kann jemand das U-Boot so genau an die Yacht heransteuern? Es war weit und breit kein anderes Schiff zu sehen, auf dem der Typ mit der Fernsteuerung gestanden haben könnte. Habe ich es übersehen? Hat jemand mit einem starken Fernglas gearbeitet, oder hat sich der ,Kapitän’ vielleicht bei Felix Paradiso befunden? Ist ER der Grüne Hafenhai? Will er möglicherweise seine neuen Schiffe versenken und die Versicherung dafür kassieren? Hat er dafür einen Schuldigen erfunden, den es gar nicht gibt, nämlich den Grünen Hafenhai? Oder ist dieser Hai ein raffinierter Verbrecher, der es tatsächlich auf die Schiffe abgesehen hat? Wieso warnt er den Reeder dann? Halt!“ Nun war Lilo ein starker Verdacht gekommen. „Der Grüne Hafenhai wollte den Schiffseigentümer erpressen. Zuerst wurde der Mann eingeschüchtert, und dann würde der Ganove versu chen, soviel Geld wie möglich aus ihm zu pressen.“ Schlagartig waren alle Ideen und Überlegungen wieder aus ihrem Kopf verschwunden. Die Angst vor dem Unbekannten war größer. Rund um sie herrschte Dunkelheit. Das U-Boot schien ziemlich tief abgetaucht zu sein. „Seemannsgruft“, schoß es dem Mädchen durch den Kopf. „Der Meeresgrund ist die Seemannsgruft. Eigentlich benötigt uns der Hafenhai nicht mehr. Wir waren ihm nützlich, doch nun will er uns loswerden. Am einfachsten geht das, wenn er das U-Boot zum Meeresboden lenkt und den Motor abstellt.“ Lilos Herz begann zu jagen. Sie geriet in Panik und sprang auf. „Raus!“ schrie sie. „Wir müssen raus und hinauftauchen, bevor es zu spät ist! Schnell!“ Sie stürzte zur Ausstiegsluke, aber Matze riß sie zurück. „Finger weg“, warnte er sie. „Du kannst sie nicht öffnen. Wir würden alle ertrinken.“ „Das werden wir so auch! Wir werden ersticken. Der Hafenhai will uns beseitigen!“ weinte Lieselotte. Poppi erschrak über ihre
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Worte so sehr, daß sie für einen Augenblick die Besinnung verlor. Die Zeit schien für sie stillzustehen. Nun mischte sich auch Axel ein: „Lieselotte hat recht. Wir können nichts mehr verlieren. Wir müssen uns befreien. Es kann nicht schlimmer kommen!“ Matze packte ihn mit der freien Hand und drückte ihn auf den Boden. „Haltet die Klappe und aus!“ schrie er. „Wir sind dem Wahnsinnigen ausgeliefert, aber wir werden uns nicht freiwillig umbringen!“ Bedrückende Stille kehrte in das U-Boot ein. Jetzt war nur noch das Surren des Motors zu hören. Vor den Bullaugen herrschte weiterhin tiefe Finsternis. „He... halt... draußen ist es gar nicht dunkel“, keuchte Axel plötzlich. „Aber... die Scheiben sind doppelt. Und dazwischen ist ein schwarzes Rollo heruntergegangen. Damit wir nicht mehr sehen, was draußen los ist.“ Lieselotte glaubte ihm zuerst nicht und mußte sich selbst davon überzeugen. Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung sank sie auf ihren Sitz zurück. Axel hatte sich nicht getäuscht. Sie waren also noch gar nicht so tief. Poppi erwachte wieder und taumelte schluchzend zu Lilo, die sie tröstend in den Arm nahm. Der Motor verstummte! Angespannt lauschten die Knicker bocker und Matze, was nun geschehen würde. Doch rund um das U-Boot herrschte Stille. Nichts, überhaupt nichts war zu hören. Doch da... plötzlich ein Zischen! Ein leises Zischen, das immer lauter wurde. „Riecht ihr das?“ fragte Lilo die anderen. „Es stinkt nach Krankenhaus. Eindeutig nach Krankenhaus... nach...“ Weiter kam sie nicht, denn das Mädchen war ohnmächtig zu Boden gesunken. Auch Poppi, Axel und Matze schliefen innerhalb weniger Sekunden ein. Aus einer Patrone an der Decke war ein Narkosegas geströmt ...
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Dr. Shark
Ein tiefes, gleichmäßiges Brummen erfüllte den Raum. Langsam und vorsichtig schlug Axel seine Augen auf. Er starrte in absolute Dunkelheit. Wo war er? Was war geschehen? Müde und matt richtete er sich auf und versuchte, sich an die Finsternis zu gewöhnen. Vielleicht konnte er etwas erkennen? „Ha... hallo? Ist da jemand“, piepste eine bekannte Stimme neben ihm. „Poppi!“ Axel freute sich über dieses Lebenszeichen wie über zehn neue Mountainbikes. Der Junge tastete um sich und bekam einen Arm zu fassen. „Bist das du, Poppi?“ erkundigte er sich. „Nein, ich“, stöhnte Lieselotte. Rechts neben dem Jungen war ein leises Kratzen und Rascheln zu hören. „Axel... wo... wo seid ihr?“ fragte Poppi immer wieder. „Hier... komm her! Hierher!“ rief der Junge und zeigte seiner Freundin mit der Stimme die Richtung an. „Ist das... dein Bein?“ krächzte Poppi. „Ja“, lachte Axel. Einander an den Händen haltend, hockten die Knickerbocker in der Dunkelheit. „Ist Matze auch da?“ fiel Lilo ein. Die Freunde riefen seinen Namen, aber er antwortete nicht. Entweder schlief er noch tief, oder er befand sich nicht im Raum. „Kannst du dir erklären, wo wir hier sind?“ fragte das Superhirn seinen Kumpel. Axel murmelte etwas von: „Keine Ahnung... wie soll ich das wissen“ und kramte in seiner Hose nach der Taschenlampe. Vergeblich. Jemand mußte sie herausgenommen haben, während der Junge geschlafen hatte. „Ich... habe Angst“, meldete sich Poppi „Da bist du nicht allein“, sagte Lilo. „Aber Angst nützt uns nichts.“
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Wie von Zauberhand flammte ein Licht rechts von der Bande auf. Es mußte ungefähr zwanzig Meter entfernt sein und beleuchtete den Kopf und die Brust eines Mannes. Er hatte harte, kantige Züge und kaum noch ein Haar auf dem Kopf. Doch wieso war er so weit entfernt? „Gestatten, Dr. Shark“, stellte er sich unter leisem Kichern vor. „Shark? Shark?“ überlegte Axel. „Das ist doch das englische Wort für Hai!“ „Ich entschuldige mich für die Art, wie ich euch hierher bringen habe lassen, aber es war leider unumgänglich. Mein Wohnsitz soll verständlicherweise geheim bleiben.“ „Sind Sie... der Hafenhai?“ fragte Lieselotte mutig. Als Antwort erhielt sie nur leises Kichern. „Ich wurde in Englischen Privatschulen erzogen, und dort hat man mir beigebracht, immer und in jeder Lebenslage die Gesetze der Höflichkeit zu beachten“, sprach Dr. Shark weiter. „Da ich euch leider einige Male erschrecken mußte und ihr für meine Zwecke sehr dienlich wart, war es mir ein Bedürfnis, mich bei euch zu bedanken. Und da euer Auftrag beendet ist, entlasse ich euch nun in die Freiheit. Sobald ich verschwunden bin, dürft ihr durch diesen Gang kommen. Er führt euch direkt zu einem Wagen, der euch nach Hamburg bringen wird. Entschuldigt die geschwärzten Fenster. Ich weiß, ihr habt Verständnis dafür. Doch nun, liebe junge Freunde, leben Sie wohl!“ Dr. Shark verbeugte sich höflich, und das Licht erlosch. Als es eine Sekunde danach wieder anging, war der Mann nicht mehr da. „Los raus! Nur weg!“ rief Poppi. Sie sprang auf und stürmte los. Lieselotte folgte ihr. Axel wollte natürlich mitkommen, doch zu seinem Entsetzen bemerkte er, daß sein Fuß eingeschlafen war. Er war völlig gefühl- und kraftlos. Der Junge versuchte aufzustehen, doch sein Bein knickte ein. „Wartet!“ rief er, aber die Mädchen waren schon weit. Sie hatten den Weg zum Licht mindestens zur Hälfte zurückgelegt, als ein Summen ertönte.
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„Nein, nein! Das... was ist das?“ Axel traute seinen Augen nicht. Eine dicke Glasplatte schob sich vor den Eingang zu dem Tunnel. Am Schreien von Lilo und Poppi erkannte er, daß auch der Ausgang verschlossen worden war. Der Junge humpelte zur Glasplatte und versuchte sie wegzu schieben. Doch die Tür bewegte sich um keinen Millimeter. Die Mädchen rannten in dem dunklen Tunnel hin und her und klatschten mit den Händen gegen die Glasplatten. Sie waren in eine Falle gegangen! Hinter Axel klickte es, doch als er sich umdrehte, war nichts zu sehen. Dafür brüllten Poppi und Lieselotte aus Leibeskräften auf. Ihr Kumpel wandte den Kopf zu ihnen und hatte das Gefühl, daß sein Herz stillstand. Er befand sich vor einem Riesen-Aquarium, unter dem ein gläserner Tunnel durchführte. Kleine Scheinwerfer beleuchteten nun das Wasser und seine Bewohner. Im Aquarium wimmelte es von Haien. Große und kleine Exemplare glitten durch den Käfig und über den Tunnel hinweg. Lilo und Poppi blieben die Herzen vor Schreck fast stehen. Sie hatten das Gefühl, inmitten der gefährlichen Meerestiere zu stehen. Jedesmal, wenn einer der Haie über sie hinwegschwamm, zuckten sie zusammen und duckten sich. „Viel Spaß beim Spiel mit meinen kleinen Lieblingen“, wünschte die Stimme von Dr. Shark über einen Lautsprecher. „In einer halben Stunde ist Fütterungszeit. Bis dahin sollen sich die guten Tierchen ein wenig Appetit auf ihr Fressen holen.“ „Der will... der will die Haie in den Tunnel lassen!“ schrie Lieselotte. „Nein, nicht! Das dürfen Sie nicht!“ „Dr. Shark darf alles“, kicherte der Wahnsinnige. Axel sagte kein Wort. Er hatte Angst, der Doktor hörte mit. Deshalb versuchte er den Mädchen ein Zeichen zu geben. Er wollte sofort einen Weg aus diesem Tunnel finden. Lilo und Poppi verstanden nicht, was er ihnen deutete, und um keine Zeit zu verlieren, ließ sie der Junge in ihrem Unglück allein und marschierte los.
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Das Blut raste durch seinen Körper und rauschte in seinen Ohren. Vor seine Augen hatte sich ein milchiger Schleier gelegt. Sein eingeschlafenes Bein war noch immer gefühllos, aber das störte Axel alles nicht. Er hatte nur einen Gedanken im Kopf: Das Klicken hinter ihm deutete auf eine elektrische Schaltzentrale hin. Von ihr aus wurden das Licht im Haifisch-Aquarium und die hydraulischen Türen gesteuert. Aber irgendwo mußte sich das Schaltpult der Zentrale befinden. Er wollte es finden und seine KnickerbockerFreunde befreien. Dabei galt es aber äußerst vorsichtig zu sein, um Dr. Shark oder seinen Helfern nicht in die Hände zu laufen. Der schwache Lichtschimmer des Haifischbeckens erhellte den engen, hohen Raum, in dem sich der Junge befand. Er entdeckte eine Tür in der schwarz gestrichenen Wand und öffnete sie. Ein hell erleuchtetes Stiegenhaus lag vor ihm...
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Der Tür sei Dank
Schritt für Schritt tappte Axel in das obere Geschoß. Die Wände des Stiegenhauses waren aus rohem Beton und wirkten sehr frisch. Lange schien das Haus noch nicht zu bestehen. Nach der letzten Stufe versperrte Axel wieder eine Tür den Weg. Sie war zum Glück nur angelehnt und schwenkte lautlos auf. Nun betrat er einen Raum mit hunderten weichen Polsterstüh len. Er besaß große Ähnlichkeit mit einem Kino und war halbkreisförmig. Auch hier roch alles neu und gerade erst gebaut Der Junge tastete sich durch den Raum zur nächsten Tür, über der ein Schild mit der Aufschrift „Notausgang“ leuchtete. Er öffnete sie und stand in einer Art Vorraum. Axel ließ seine Blicke über die Schilder an den Wänden gleiten und ahnte dann, wo er sich befand. „Es muß sich um ein Ozeanarium handeln. Eine Art Meereszoo“, überlegte er. „Das bedeutet, der Gang kann gar nicht geflutet werden, da normalerweise Besucher durchgeführt werden. Allerdings glaube ich, ist dieses Ozeanarium noch gar nicht eröffnet.“ „Shark sieben für Shark eins“, hörte er eine Stimme in einem der angrenzenden Zimmer sagen. Axel war sofort klar, daß sie diesem „Dr. Shark“ gehörte. Mit wem redete er? Der Knickerbocker schlich durch den Vorraum von Tür zu Tür und lauschte an jeder. Endlich hatte er den Raum gefunden, in dem sich Dr. Shark aufhalten mußte. „Shark sieben an Shark eins“, wiederholte dieser gerade ungeduldig. „Was gibt es, Shark sieben?“ meldete sich eine schnarrende Stimme über Funk. „Bin jetzt im Ozean-Park und habe die Kinder in den Haitunnel gesperrt“, berichtete der Mann. „War übrigens ganz einfach, den
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Schlüssel zu organisieren. Tausend Mark – und der Nachtwächter ist ausnahmsweise zu Hause geblieben.“ „Gut gemacht“, lobte Shark eins. „Narkotisieren Sie die kleinen Monster danach wieder und schaffen Sie die drei nach Hamburg zurück. Den Rest machen die kleinen Wichtigtuer von allein. Sie werden allen von Dr. Shark erzählen.“ „Gut, und morgen? Bleibt es dabei?“ wollte Shark sieben wissen. „Natürlich! Schlag 12 Uhr mittags legen wir los. Und keiner wird uns stören oder verfolgen. Bis sie bemerken, was tatsächlich los ist, haben wir das Zeug bereits ins Ausland geschafft. Übrigens, etwas fällt mir noch ein: Vergessen Sie nicht, den Kindern die Halsbänder anzulegen.“ „Neee, wie könnte ich das vergessen?“ knurrte Shark sieben. „Chef, ich muß mich jetzt um die Kleinen kümmern. Sonst treten sie aus lauter Panik noch den Panzerglastunnel ein und dann wären sie wirklich ein Fressen für die Haie. Over!“ „Over!“ bestätigte Shark eins das Ende des Funkgespräches. „He, he, Wicky, he Wicky, he! Ich danke dir...“, trällerte Shark sieben die Titelmelodie der bekannten Zeichentrickserie vor sich hin und marschierte auf die Tür zu. Axel stand noch immer davor und blickte sich nach einem Fluchtweg um. Er hatte zu lange gewartet. Der Mann würde in wenigen Sekunden vor ihm stehen. Die Klinke wurde gedrückt, und die Tür schwenkte nach außen auf. Axel befand sich genau dahinter. Er zögerte nicht lange, sondern sprang mit voller Wucht und beiden Beinen dagegen. Sofort flog die Tür wieder zu und knallte dem Mann ins Gesicht. Der Junge hörte einen lauten Aufschrei und einen Aufprall am Boden. Der Mann mußte niedergefallen sein. Der Knickerbocker ergriff die Flucht. Aber stop! Seine beiden Kumpels waren ja noch im Haitunnel. Wie sollte er sie herausholen? Dieser Shark sieben würde ihn verfolgen... Axel blieb stehen und lauschte. Langsam drehte er sich um und lief wieder zurück. Er öffnete die Tür und hätte nun am liebsten
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einen Luftsprung gemacht Dr. Shark lag bewußtlos auf dem Boden. Die Tür hatte ihn k. o. geschlagen. „So, jetzt wird der gute Mann gefesselt, dann muß ich die Knöpfe zum Öffnen der Tunneltüren finden und danach wird sofort die Polizei gerufen!“ legte Axel in seinem Kopf die Reihenfolge seiner Aktionen fest. Es war bereits kurz vor Mitternacht, als die KnickerbockerBande wieder in Hamburg versammelt war. Axel, Lilo, Poppi und Dominik saßen gemeinsam mit Tony und Heidi Kabellos in der Wohnung über dem Tonstudio und schlürften Tee. „Von nun an lasse ich euch vier keine Sekunde mehr aus den Augen“, versprach die Regisseurin. „Noch so ein Schock, und ich kippe um.“ Am späten Nachmittag hatte sie den Anruf der Polizei von Sylt erhalten. Die Kriminalbeamten meldeten das Eintreffen der Kinder mit einer Sondermaschine. „Und was hat es mit diesem Grünen Hafenhai nun auf sich? Was hat dieses Monster vor? Weiß das schon jemand?“ erkun digte sich Tony. Lieselotte schüttelte den Kopf. „Nein, keinen blassen Dunst. Es ist zu fürchten, daß er es auf drei Luxus-Passagier-Schiffe von Felix Paradiso abgesehen hat. Aber es ist unklar, warum und wozu. Ich habe der Polizei auch meinen Verdacht erzählt, daß der Reeder selbst hinter allem steckt. Er war viel zu ruhig. Bei der Explosion des Beibootes hätte er sich bedeutend mehr aufregen müssen.“ „Vielleicht hat er es nur nach innen und nicht nach außen getan“, meinte Tony. Lilo zuckte mit den Schultern. Sie wußte es nicht. „Konrad Kotrupak hat heute bei seinem Tennisspiel die Öffent lichkeit über das Fernsehen vor dem Hafenhai gewarnt“, berichtete Heidi Kabellos. „Die Zeitungen sind auch voll mit Berichten über das Ungeheuer. In der Nacht von Sonntag auf Montag haben nämlich Unbekannte hunderte Plakate mit grünen Haien im Hafen aufgeklebt.“
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„Was... was wird die Polizei tun?“ wollte Dominik erfahren. Frau Kabellos seufzte. „Ich weiß nichts Genaues, aber ein guter Freund hat mir vor einer Stunde unter dem Siegel der Verschwie genheit mitgeteilt, daß eine Großaktion der Polizei stattfindet. Der ganze Hafen ist voll Polizisten. Es wurde sogar Verstärkung angefordert. Man fürchtet einen Anschlag auf die Luxus-Liner *. Die Polizei vermutet in diesem Grünen Hafenhai einen Wahn sinnigen, der alles darangesetzt hat, um für Schlagzeilen und für Angst zu sorgen. Irgendwie wird er diese Bekanntheit und die Furcht ausnutzen. Man weiß nur noch nicht, wie!“ „Haben sich Matze oder Frau Rudermann gemeldet?“ fragte Poppi. Tony und Heidi schüttelten die Köpfe. Diese Opfer des Hafen hais schienen sich noch immer in seiner Gewalt zu befinden. „Bett... ich will nur noch ins Bett“, gähnte Poppi. Heidi zeigte ihr das Zimmer und wünschte eine gute Nacht. Die anderen folgten ihrer Freundin eine halbe Stunde später. Während Lieselotte, Dominik und Poppi schnell einschliefen, wälzte sich Axel wieder einmal lange hin und her. Er fand keine Ruhe, da er seine Gedanken nicht abstellen konnte. „Das... das wäre möglich. Von einem ähnlichen Fall habe ich einmal gelesen.“ Hellwach richtete er sich kerzengerade auf und schluckte. Niemand außer ihm konnte diesen Verdacht haben. Denn nur er hatte den winzigen Hinweis gehört. Natürlich konnte auch alles Unsinn sein. Aber schon oft hatten sich die verrückte sten Ideen als richtig erwiesen. Bloßfüßig tappte der Knickerbocker zum Schlafzimmer von Heidi Kabellos und schreckte sie aus dem Schlaf. Eine Stunde später saß bereits ein Kriminalbeamter im Wohnzimmer und hörte Axel aufmerksam zu. Er schien seine Gedanken sehr ernst zu nehmen...
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= Luxus-Schiffe
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Die Entlarvung
Axel hatte sich nicht getäuscht. Sein Verdacht hatte sich am Dienstag mittag als völlig richtig erwiesen. „13-JÄHRIGER JUNGE RETTET DEN GOLDSCHATZ DER WIKINGER“ stand in dicken Lettern auf den Titelseiten der Hamburger Zeitungen. Axels strahlendes Gesicht war darunter zu sehen. Er hielt goldene Waffen und einen goldenen Wikingerhelm in der Hand und zeigte ihn stolz in die Kamera. „Axel Klingmeier und seinen Freunden Dominik Kascha, Lieselotte Schroll und Poppi Monowitsch ist es zu verdanken, daß die Ausstellung ,Der Goldschatz der Wikinger’ doch stattfinden kann“, las Heidi Kabellos laut aus der Zeitung vor. „Einer Gaunerbande mit dem Namen ,Hafenhai’ wäre es beinahe gelun gen, die Polizei auf falsche Fährten zu locken, wenn nicht die vier Jugendlichen, die sich ,Knickerbocker-Bande’ nennen, dazwi schengekommen wären. Eigentlich wollte der Hafenhai sich ihrer bedienen und über sie zeigen, wie grauenhaft und grausam die Organisation handeln konnte. Es sollte Angst verbreitet werden. Angst vor einem unbekannten Angreifer, der in Wirklichkeit nur ablenken wollte. Der Hafenhai hat in den vergangenen Tagen durch spektakuläre Aktionen auf sich aufmerksam gemacht und vermuten lassen, daß er es auf die Luxus-Kreuzer der Reederei Felix Paradiso abgese hen hatte. In Wirklichkeit diente die ganze Aktion nur dem Zweck, alle verfügbaren Kräfte der Polizei in den Hafen zu lenken. Dadurch wurde dem Transport der Wikingerschätze an diesem Tag keine Bedeutung beigemessen. Es wäre für die Gauner kein Problem gewesen, die Ausstellungsstücke zu stehlen und gefahr los außer Landes zu bringen. Der ungewöhnliche Aufwand der Hai-Bande hätte sich gelohnt: Die Gegenstände aus Gold repräsentieren einen Wert von 35 Millionen Mark.“
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„Ihr seid wirklich die Größten“, sagte Ingrid immer wieder. Die Knickerbocker waren nämlich dem Trubel in Hamburg entflohen und saßen nun im Bauernhaus von Matze. Mit dabei waren Matze, Frau Rudermann, der Indianer und Moritz. Der Fischer und die Schauspielerin waren von der Bande freigelassen worden und darüber mehr als erleichtert. Zum Glück hatten sich die Grünen Halsbänder als völlig harmlos erwiesen. Sie bestanden nur aus völlig ungefährlichem Blech. „Wie bist du auf die Idee gekommen, daß der Hafenhai es eigentlich auf die Wikingerschätze abgesehen hatte?“ wollte Ingrid dann wissen. Axel grinste verlegen. „Naja, die Zeichentrickserie ,Wicky und die starken Männer’ war immer mein Lieblingsprogramm im Fernsehen. Und dieser Shark sieben im Ozeanarium hat die Wicky-Titelmelodie gesungen. Ich weiß nicht wer, aber auf jeden Fall hat jemand vor ein paar Tagen zu uns gesagt: ,Euch muß man hüten wie die Wikingerschätze’. Dominik hat dann von der Aus stellung geredet. Und so habe ich das in meinem Kopf wie ein Puzzle zusammengesetzt. Es hätte aber auch falsch sein können.“ „Die Polizei hat in dem Haus auf der kleinen Insel Beweisstücke entdeckt“, berichtete Heidi Kabellos. „Der Hai ist auf jeden Fall von dort aus gesteuert worden. Die gesamte Funkzentrale konnte sichergestellt werden.“ „Dann haben wir Matzes Hilferufe gehört“, kombinierte Lieselotte. „Über Funk!“ „Das bedeutet aber auch, daß sich dieser Shark eins wahrschein lich im Haus befunden hat“, meinte Axel. „Unmöglich“, erklärte Moritz. „Ich war doch im Obergeschoß und habe niemanden entdeckt.“ „Es war die schrecklichste Woche meines Lebens“, seufzte Frau Rudermann und schmiegte sich an ihren Verlobten. „Für mich auch“, pflichtete ihr dieser bei. „Aber ich werde von nun an einiges in meinem Leben ändern. Vom Tennissport ziehe ich mich zurück. Jedenfalls so lange, bis ich nicht mehr von den Doping mitteln abhängig bin. Die Preisgelder des vergangenen Jahres
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gebe ich zurück. Sie gehören mir nicht. Ich werde mich in Zukunft als lebendige Warnung gegen die Verwendung dieser Drogen einsetzen.“ „Wieso haben Sie das Zeug überhaupt genommen?“ wollte Dominik wissen. Der Indianer blickte ihn lange an und schwieg. „Gut, daß du mich das fragst“, sagte er dann mit drohend ruhiger Stimme. „Ich wäre nie auf die Idee gekommen. Erika hat mir die Tabletten gegeben. Sie hat auch immer für Nachschub gesorgt. Als ich das Zeug dann einen Tag lang nicht bekommen habe, sind bereits schwere Entzugserscheinungen aufgetreten. Wieso hast du mich süchtig gemacht?“ fragte er seine Verlobte scharf. Frau Rudermann rollte wild mit den Augen und klimperte heftig mit den Wimpern. „Lieber, das... das wollte ich nie. Ich habe versucht dir zu helfen“, sagte sie hastig. Frau Kabellos war diese Unterhaltung peinlich und deshalb berichtete sie etwas, das sie von ihrem Freund bei der Polizei gehört hatte: „Es hatten sich mehrere Kriminalbeamte in den Transportwagen der Wikingerschätze versteckt. Als die Wagen dann vor der Ausstellungshalle angekommen waren und von den Gaunern geöffnet wurden, gab es für sie eine böse Überraschung. Eine Frau und zwei Männer wurden festgenommen. Die Polizei vermutet allerdings, daß sich der Kopf der Bande noch auf freiem Fuß befindet.“ Moritz rieb sich die Hände, verschränkte die Finger und ließ seine Knöchel knacken. Dabei fiel Axels Blick plötzlich auf seine Handballen. „Darf... darf ich einmal deine Hände sehen?“, bat ihn der Junge. Moritz wußte zwar nicht warum, streckte ihm aber willig die Handflächen hin. „Du bist einer der Bande“, keuchte Axel. „Du hast mich im Speicher von hinten angefallen und mir den Mund zugehalten. Hier... hier sind meine Bißspuren. Ich habe nämlich irre fest zugebissen. Ich erkenne das genau, weil ich einen abgebrochenen Eckzahn habe, und der fehlt!“
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Moritz versetzte Axel eine schallende Ohrfeige. Als er erkannte, daß alle Blicke auf ihn gerichtet waren, sprang er auf und rannte aus dem Haus. Erika Rudermann folgte ihm unverzüglich. „Das gibt es nicht! Die beiden sind der Kopf des Grünen Hafenhais!“ keuchte Heidi Kabellos. „Die Polizei!“ schrie Lieselotte. „Sofort die Polizei holen. Sofort!“ „Ihr bleibt da, keiner verfolgt sie!“ befahl Frau Kabellos. „Von der Insel Föhr können sie ohnehin nicht so leicht weg.“ Ein lauter Schrei ertönte auf dem Hof. Moritz mußte etwas zugestoßen sein. Es folgten mehrere spitze Schreie von Frau Rudermann und lautes Gepolter. Die Knickerbocker, Matze, Ingrid und Heidi stürzten zum Fenster. Ein kleiner, gebückter alter Mann stand vor dem Schuppen mit den Hai-Souvenirs und schwang seinen Stock. „Lumpenpack! Eierdiebe!“ schimpfte er. „Opa! Das ist Opa!“ lachte Ingrid. „Er denkt immer, daß alle Leute die Eier seiner Hühner stehlen wollen. Er muß die beiden in den Hai-Schuppen gestoßen haben. Meistens liegt er nämlich hinter einem Busch auf der Lauer, weil er sich von Eierdieben verfolgt glaubt.“ „Dann war es auch Opa, der MICH dort hineingestoßen hat. Damals, in der Nacht!“ fiel Axel ein. Matze nickte zustimmend. Natürlich, wieso war er da nicht selbst draufgekommen. „Opa ist zwar 82 Jahre alt, aber er hat Kräfte wie ein Jüngling“, erzählte Ingrid. Der Grüne Hafenhai war also endgültig in die Haifalle gegan gen. P.S.: Für Frau Kabellos war die Entlarvung ihres Onkel Moritz natürlich ein Schock. Moritz gestand später, den ganzen Plan aus purer Langeweile ausgeheckt zu haben. Er liebte Kriminalfilme und hatte sich daraus viel abgeschaut. Es war für ihn eine Freude, die Horrorszenen in die Wirklichkeit umzusetzen. Hinter dem lächelnden Gesicht des jungen Mannes versteckte sich ein grau
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samer Bursche, dem es Spaß bereitete, andere zu Tode zu schrecken. Sein Plan war in der Tat großartig. Schließlich würde die Polizei lange nach einem „Hafenhai“ fahnden, den es gar nicht gab. Die Spuren waren verwirrend und hatten sie zu zahlreichen Kompli zen geführt, aber nie zum Hafenhai – also zu Moritz und Frau Rudermann. Keiner kannte nämlich die wahren Auftraggeber. Frau Rudermann, seine Freundin und Komplizin, war auch dieje nige gewesen, die beschloß, den Plan zu verwirklichen. Mit Absicht hatte sie Konrad Kotrupak drogenabhängig gemacht, um ihn auf diese Weise später in der Hand zu haben und lenken zu können. Das U-Boot, den künstlichen Hai und den Trick mit den angrei fenden Möwen hatte sich Moritz ausgedacht. Der verwöhnte „Wohlstandskrüppel“ – wie ihn Heidi später bezeichnete – war durch seine „Nichte“ auf die Idee gekommen, die verschiedenen Möwenrufe auf Tonband aufzunehmen. Er konnte dadurch die Vögel rufen und sogar angriffslustig machen. Durch diese „Natürliche Schutzanlage“ wollte er ungewollte Besucher fernhalten. Lieselotte ärgerte sich noch lange. „Ich hätte viel früher draufkommen können, daß etwas nicht stimmt. Schon bei unserer ersten Begegnung mit Moritz“, sagte sie zu ihren Kumpels. „Er hat doch behauptet, mit seinem Sportboot gerade gekommen zu sein. Das war gelogen. In Wirklichkeit ist er oben gesessen und hat den Hai per Funk gesteuert. Als wir in das Haus geflüchtet sind, hat er die Möwen mit Schüssen vertrieben und ist aus dem Fenster geklettert. Durch die Tür kam er wieder herein. Wäre er im Boot eingetroffen, hätten wir den Motor hören müssen. Der war nämlich höllisch laut!“ Auf der Insel Sylt hatte Moritz das U-Boot übrigens von einem Leuchtturm aus gesteuert. Von dort hatte er großartige Sicht auf das Meer, konnte aber selbst nicht entdeckt werden.
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Zur Erholung blieben die Knickerbocker-Freunde nicht zwei, sondern fast dreieinhalb Wochen. Frau Kabellos hatte sie zu diesem Urlaub eingeladen. Als sie die vier Junior-Detektive schließlich zum Flugplatz brachte und sich von ihnen verabschiedete, meinte sie: „Eure Erlebnisse sind auf jeden Fall spannender als die Abenteuer von Null-Null-Hunibald. Ich überlege schon, ob wir nicht eine Hörspiel-Kassetten-Serie daraus machen sollten. Allerdings benötige ich dazu noch weitere Geschichten – und so bald werdet ihr bestimmt nicht wieder so etwas erleben!“ Axel, Lilo, Poppi und Dominik brachen in schallendes Gelächter aus. Frau Kabellos hatte keine Ahnung von ihren früheren Erlebnissen. Und der nächste Fall ließ bestimmt nicht lange auf sich warten...*
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Siehe: „Der Zombie-Säbel des Sultans“
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