Jan-Uwe Rogge
Kinder brauchen Grenzen Eltern setzen Grenzen
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Jan-Uwe Rogge
Kinder brauchen Grenzen Eltern setzen Grenzen
scanned by AnyBody corrected by IamEye Kinder brauchen Orientierung und Rituale. dabei müssen Partnerschaft und Autorität überhaupt kein Widerspruch sein, genau das zeigen die vielen Beispiele und Lösungsvorschläge in diesem Buch. Sie führen leicht zum besseren Verständnis der Kinder und zu einem gelasseneren Umgang im Familienalltag. ISBN 3 499 60697 6 Einmalige Sonderausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Juli 2000 «Kinder brauchen Grenzen»; Copyright © 1993 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH «Eltern setzen Grenzen»: Copyright © 1995 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck
Buch Seit Erscheinen haben die Bücher «Kinder brauchen Grenzen» und «Eltern setzen Grenzen» viele Diskussionen ausgelöst und sind inzwischen über dreihundertfünfzigtausendmal verkauft worden. In seinen Büchern hat der bekannte Familien- und Erziehungsberater Dr. Jan-Uwe Rogge aus zahlreichen Seminaren mit Pädagogen und Lesungen vor Eltern fast alle Fragen aufgeworfen, die in der Erziehung von Interesse sind. Kinder brauchen Rituale und Orientierung, dabei müssen Partnerschaft und Autorität kein Widerspruch sein. Das zeigen die vielen anschaulichen, zum Teil amüsanten und konkreten Vorschläge. Sie führen zu einem besseren Verständnis der Kinder und zu einem gelassenen Umgang im Erziehungsalltag.
Autor Jan-Uwe Rogge, Jahrgang 1947, ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt in der Nähe von Hamburg. Er arbeitet freiberuflich als Familienund Kommunikationsberater und in der Medienforschung. Seit Anfang der achtziger Jahre führt er Elternseminare und Fortbildungsveranstaltungen durch, die sich großer Beliebtheit erfreuen. Bisher sind im Rowohlt Taschenbuch Verlag in der Reihe Mit Kindern leben von ihm erschienen: «Kinder können fernsehen» (rororo Nr. 60753), «Ängste machen Kinder stark» (rororo Nr. 60640), zusammen mit seiner Frau, Regine Rogge: «Zuhören macht Spaß» (rororo Nr. 60830); außerdem im Rowohlt Verlag: «Pubertät - Loslassen und Haltgeben» sowie «Ohne Chaos geht es nicht».
KINDER BRAUCHEN GRENZEN
Inhalt Buch .......................................................................................... 2 Autor.......................................................................................... 2 Kinder brauchen Grenzen ............................................................... 3 Inhalt ......................................................................................... 4 Vorwort ...................................................................................... 6 1 «... bloß nicht werden wie meine Eltern früher...» Die Mühsal mit den Grenzen ............................................................................ 12 «Manchmal ist es zum Ausflippen!»........................................ 13 «Da muß ich eben aufpassen...»............................................ 17 «Ich will keine Supermutter sein!» .......................................... 19 «Man denkt zuviel nach» ....................................................... 21 Ein Junge ist ein Junge.......................................................... 24 Es gibt keine Überraschungen mehr....................................... 26 Von Sinn und Unsinn des Grenzensetzens ............................. 27 2 «... manchmal bin ich so allein...» Grenzen fordern, Grenzen faszinieren, Grenzen schrecken die Kinder ................................. 36 Kinder berichten .................................................................... 38 «Das war harte Arbeit...!»................................................... 38 «Ich weiß, wie ich meine Eltern rumkrieg!».......................... 39 «Manchmal krieg ich echt Angst!» ...................................... 41 Über Grenzen und gegenseitige Achtung................................ 43 3 «Ich meine es nur gut mit dir...» Begrenzte Wirklichkeitserfahrung im Alltag................................................................................... 48 Kind, Raum und Zeit.............................................................. 49 Wege und Bewegung ............................................................ 51 Wahrnehmungsstörungen ...................................................... 57 Körperliche Reaktionen ......................................................... 59 Enge Grenzen entmutigen ..................................................... 62 «Ich möchte dir schlimme Erfahrungen ersparen!» .................. 65 4 «Wenn Kinder auf mich hören, dann erschrecke ich...» Grenzenlose Inkonsequenz und Gleichgültigkeit ......................... 69 Paule, der Glotzer ................................................................. 70 Zuckerbrot und Peitsche ........................................................ 72 Folgenloses Laissez-faire ...................................................... 75 Verwöhnung ohne Grenzen ................................................... 82 5 «Mama muß mal die Hexe sein.» Wie Kinder Grenzen suchen und finden ................................................................................ 88 Grenzüberschreitung und Nachgiebigkeit................................ 90 Macht austesten.................................................................... 93 -4 -
Unergiebiger Wortschwall ...................................................... 95 «Alle anderen dürfen...»......................................................... 98 Grenzüberschreitungen als Provokation................................ 101 «Du Arschloch!».................................................................. 104 Entwürdigungen .................................................................. 106 Die leidigen und nutzlosen Fragen nach dem «Warum?»....... 109 Verbindliche Regeln ............................................................ 114 6 «Ich wünschte mir, ich könnte zaubern!» Über die Kunst, Grenzen zu setzen ............................................................................... 116 Gefahren begrenzen............................................................ 120 Den Tagesablauf regeln....................................................... 124 «Beim Fernsehen bist du hilflos ausgeliefert»........................ 131 Generationsgrenzen............................................................ 144 «Die berühmte Erfahrung des Alterns?»!........................... 144 Grenzziehungen und Widersprüche.................................. 145 Computer und Autonomie ................................................ 147 Generationsspezifik erschwert Fernseherziehung.............. 150 Konsequenzen und Regeln .............................................. 151 Konsequent sein - konsequent handeln ................................ 154 Anziehen ............................................................................ 155 Aufräumen .......................................................................... 157 Der Nerv mit dem Essen...................................................... 159 7 «Wenn das doch so einfach war...» Über Schwierigkeiten mit dem Grenzensetzen ....................................................................... 167 «Ich bin hart gewesen!»....................................................... 169 «Mut zur Unvollkommenheit» oder Der Umgang mit Erziehungsstreß .................................................................. 174 «Das ist reine Theorie!»....................................................... 177 Vom Umgang mit Ausnahmen.............................................. 181 Schläge setzen keine Grenzen............................................. 189 8 «Es ist anstrengend, konsequent zu sein...» Der Mut zu eigenen Grenzen ................................................................................. 193 Die Grenzen erkennen......................................................... 193 «Es ist anstrengend, konsequent zu sein!» ........................... 199 Erziehungsgewalt und Erzieherpersönlichkeit.................... 201 «Das muß ich erst mal aushalten können!»........................... 209 Nachwort................................................................................ 211 Nachwort zur 17. Auflage..................................................... 212 Literatur und Tips zum Weiterlesen.......................................... 215
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Vorwort Es muß Anfang der fünfziger Jahre gewesen sein. Eine Cousine mütterlicherseits wanderte nach Australien aus. Auf meine neugierige Frage, wo das denn liege, hörte ich eine Antwort, die geheimnisvoll klang: «Ganz am Ende der Welt!» Dieser Satz hat mich bewegt: Am Ende der Welt! Die Welt, die war für mich damals nicht eine Kugel, sondern eine platte Fläche. Und in meinen Träumen, die ich nächtens im sicheren Bett durchlebte, fuhr ich immer wieder nach Australien, eben bis ans Ende der Welt. Das war gruselig, abenteuerlich, spannend, das war mit Herzklopfen und wahnsinniger Anstrengung verbunden. Das Ende der Welt fing bei der Farm der Cousine an. Dahinter kam der große, hohe Holzzaun. So stellte ich mir das Ende der Welt vor: ein Holzzaun und dahinter das Nichts, der Abgrund, das Dunkle. Und dieser große, hohe Holzzaun, der gleich hinter dem Bauernhof lag, zog mich immer an - obgleich mir verboten wurde, dort hinzugehen. Aber ich wollte hinter den Zaun schauen, das Ende der Welt fühlen, hautnah spüren. Vorsichtig näherte ich mich im Traum dieser unheimlichen Grenze. Das Verbot zog mich an, etwas Neues, Geheimnisvolles, noch nicht Gesehenes vor Augen. Am Zaun spürte ich einen starken Luftstrom, der mich packen wollte. Doch ich stand mit beiden Beinen fest auf der Erde, ganz stark fühlte ich mich - mir konnte nichts passieren, dessen war ich mir sicher. Ich suchte hastig nach Astlöchern im Zaun, nach Sparren, die locker waren, um ins Jenseits zu blicken. Endlich ließ sich eine Latte bewegen - nur ein Spalt. Mir tat sich der Abgrund auf, mir verschlug's den Atem, ich schloß die Augen aber jeden Tag bin ich wieder und wieder an den Zaun, lockerte die Latte immer mehr... bis ich mich weit hinauslehnen konnte. Die unheimliche Angst war weg, eher ein Kribbeln, ein Nervenkitzel blieb. Ich sah Sterne und Planeten. Das Dunkel, das mich anfänglich erschreckt hatte, wurde heller; die Kälte, die mich zum Zittern brachte, wich einer angenehmen Wärme. Ich fühlte mich mit einem Male wohl am Ende der Welt, dieser -6 -
unheimlichen Grenze, diesem tollsten Abenteuerspielplatz, den ich mir träumen konnte - wohl auch deshalb, weil ich um die Farm wußte, die mir Sicherheit und Geborgenheit verlieh. Ich hab diesen Traum als Kind häufig gehabt. Heute weiß ich: Er kam, wenn es mir darum ging, mich an Grenzen zu reiben, Grenzen zu überschreiten... Dieser Traum fiel mir ein, als ich an dieses Buch ging, ein Traum, der anschaulich und konkret die Bedeutung von Grenzen aufzeigt: Grenzen gestalten Räume und Zeiten, sie geben Sicherheit und Verläßlichkeit, sind Orientierungspunkte aber Grenzen reizen auch, sie sind Markierungen, die manchmal nur eine Zeitlang gültig sind. Kinder brauchen Grenzen - dies gilt mehr denn je in einer Zeit, in der die physischen, psychischen und seelischen Grenzen der Kinder durch Kriege, Hunger, Erniedrigung und Mißbrauch verletzt und mißachtet werden. Die Grenzen von Kindern zu achten und zu respektieren bedeutet, ihnen eine würdige Entwicklung zu garantieren. In diesem Sinne schützen Grenzen - aber Grenzen schützen nicht vor der Wirklichkeit. Wer Kindern durch enge Grenzen Erfahrungen ersparen will, macht Heranwachsende lebensuntüchtig. Kinder brauchen Grenzen... und Erwachsene auch, so ergänzte eine Mutter meine Feststellung. Eltern, Erzieher, Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen, all jene Menschen, die im pädagogischen Prozeß stehen und handeln, brauchen Grenzen. Wer keine Grenzen setzt, macht sich handlungsunfähig, zum willfährigen Sklaven, vor dem Kinder keine Achtung und keinen Respekt haben. Grenzen setzen meint, sich gegenseitig in der Persönlichkeit zu achten und zu respektieren. Obgleich viele Eltern, viele Erzieher, viele Lehrer von der Notwendigkeit der Grenzziehung gefühlsmäßig überzeugt sind, herrscht darüber im Alltag eine enorme Handlungsunsicherheit. Weil man das vermeintlich «Beste» für das Kind will, meinen offenbar viele, dies schließe aus, Grenzen zu setzen. Welch Irrtum! So herrscht denn in manchen Eltern-Kind-Beziehungen -7 -
eine «lange Leine» vor. Eltern dulden und erdulden so lange, bis es - im wahrsten Sinne - knallt. Unbeherrschtes pädagogisches Handeln bringt dann erhebliche Probleme mit sich. Sie bedeuten nicht selten Verletzungen an Leib und Seele. Dies ist die eine Seite. Die andere Seite der Medaille ist eine zunehmende Sterilität, Abstraktheit und Entsinnlichung in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Man liest viel und Widersprüchliches über Erziehungsfragen, man will alles und ständig richtig machen, lauscht dem Experten - und wird verunsichert, ja geradezu entmündigt. Eine verkopfte Erziehung ist die Folge, eine Beziehung zu Kindern, die stark auf Rationalität und Sprache aufbaut, eine «Erziehungsbeziehung» (Otto Speck), die Gefühl und Spontaneität, die dem «Mut zur Unvollkommenheit» und einem «Aus-dem-Bauch-heraus-Handeln» keine Rechnung trägt. Dies ist kein Plädoyer, neue Irrationalität in den pädagogischen Prozeß einzupflanzen. Es kommt mir vielmehr darauf an, Eltern, Erzieherinnen oder Lehrer bezüglich pädagogischer Erfahrungen nicht weiter zu bevormunden. Solche Entmündigung führt nur zum Angewiesensein auf den pädagogischen, psychologischen oder therapeutischen Berater, der sagt, wie «man richtig erzieht». Mehr denn je kommt es doch darauf an, Verantwortung an die pädagogisch Handelnden zurückzugeben. Diese Rückgabe bedeutet, die ungeheuren, manchmal ungeheuerlichen Erfahrungsschätze alltäglicher Erziehungspraktiken ernster zu nehmen. Der pädagogische Experte oder Berater kann Erziehungsstile nicht verändern, er kann aber gemeinsam mit Eltern deren Denken und Handeln begleiten, Verkrustungen aufbrechen, Eingefahrenes fragwürdiger werden lassen, er kann Fragen stellen, zu Fragen anregen, dort anknüpfen, wo sich Eltern befinden. Der pädagogische Berater ist nicht aufklärender Übersetzer von Handlungsmustern, die Eltern nicht verstehen, er sagt nicht, was gemacht wird, er läßt den Eltern das Recht, ihr Handeln selbständig und eigentätig zu verändern. Dieser Prozeß braucht Vertrauen, baut auf, ermutigt, zu eigenen -8 -
Entscheidungen zu stehen - dies selbst dann, wenn man Fehler macht. Wer ohne Fehler erziehen will, macht welche, weil er alle Kraft in die Vermeidung von Fehlern legt. Wer fehlerfrei erziehen will, verwechselt die «Erziehungsbeziehung» mit Hochleistungssport. Ich kann Fehler, ich darf Fehler machen dieser Satz entlastet, gibt Gelassenheit. Ich kann mich für Fehler entschuldigen. Niederlagen sind Geschenke, aus denen ich lernen kann, sind Anlaß dafür, es zukünftig anders - nicht: besser! - zu machen. Eltern, die unter dem Streß des Alles-richtig-Machens stehen, denen sage ich, sie haben das Recht auf zehn Fehler am Tag. Das nimmt Druck. Eine amerikanische Therapeutin, die mit Patienten zu tun hat, die partout fehlerfrei arbeiten, leben und erziehen wollen, bekommen die Aufgabe, sich für jeden gemachten Fehler sofort ein Geschenk zu kaufen, sich etwas Gutes zu tun. Die Patienten sollen lernen, Fehler zu akzeptieren, sie als Geschenk zu betrachten. Erziehungsprobleme sind normal - Fehler gehören dazu. Es gibt drei Formen von Verletzungen in der Erziehung, deren Folgen lebenslang zu spüren, deren Verwundung und Narben bleiben: die ständige körperliche Mißhandlung von Kindern, die seelische Erniedrigung durch Liebesentzug und fehlende emotionale Nähe sowie der sexuelle Mißbrauch. Der Zwang, Niederlagen zu vermeiden, alles richtig, bloß keine Fehler zu machen, führt zu Kälte in den Beziehungen. Erziehung hat aber mit Reibung zu tun, mit Konflikt und Harmonie, mit Nähe und Auseinandersetzung. Wo Reibung ist, da ist Wärme, wo keine Reibung ist, da ist Kälte. Erziehung hat mit Wärme zu tun, und damit ist Reibung gefordert. Erziehung funktioniert nicht als Gegeneinander, als Besserwisserei und Rechthaberei. Erziehung ist ein gemeinsamer Weg, der erst beim Gehen, Laufen, Bummeln und Schreiten entsteht. Ich kann eine Idee vom Weg haben - ihn zu bauen hat mehr mit gemeinsamer Tätigkeit und gemeinsamer Anstrengung als mit «guten Worten» zu tun. -9 -
Dieses Buch ist in vielen Veranstaltungen mit Eltern, mit Erzieherinnen, mit Lehrerinnen und Lehrern entstanden, die ich in den letzten Jahren speziell zum Thema «Grenzensetzen» durchgeführt habe. Es bietet eine Auswahl jener Fragen, Themen und Situationen an, die häufiger im Mittelpunkt standen. In diesem Sinne setzt sich das Buch inhaltlich selber Grenzen. Es soll Mut machen, ermutigen, den ganz eigenen Weg zu finden. Es soll anregen, das Überraschende zu tun, Phantasien zu entwickeln. Deshalb stelle ich produktive Lösungen vor, nicht um zu beweisen, es gebe immer und zu allen Zeiten Patentrezepte, die sich auf alle Situationen im Alltag übertragen ließen. Ein Hinweis zu den Geschichten im Buch: Sie sind verschlüsselt. Zudem habe ich die Situationen in eine lesbare Form gebracht. In den Geschichten habe ich mich jeweils auf das Wesentliche - die Lösung - konzentriert, Nebenaspekte, Nebensächlichkeiten sind weggelassen. Ich will nicht zeigen, wie schnell man zur Lösung kommt. Vielmehr sollen die vorgestellten Situationen die Vorgehensweise bei der Problemlösung veranschaulichen. Die Lösungen, die das Buch vorstellt, sind das Ergebnis gemeinsamer Bemühungen. Sie beweisen den Ideenreichtum der erzieherisch Handelnden. Mit der Lösung von Problemen ist es - so der amerikanische Therapeut de Shazer - wie mit dem Öffnen von unbekannten Schlössern: Wenn ich da nach dem passenden Schlüssel suche, kann es sehr lange dauern, bis das Schloß geöffnet ist. Es gibt viele Schlüssel für unbekannte Schlösser. Der Dietrich ist dagegen ein einfaches Gerät. Er muß nicht genau passen und eignet sich gleichwohl zum Öffnen. In diesem Sinne: Grenzen zu ziehen, Grenzen zu finden, Grenzen zu verändern, das funktioniert nicht auf Anhieb. Und wenn es klappt, kann das ein beruhigender Glücksgriff sein. Problemlösungen haben viel mit Versuch und Irrtum zu tun. Und was heute gültig war, kann morgen schon nicht mehr stimmen. Der Dietrich paßt nicht mehr. Aber die gefundenen Lösungen machen Mut, sich weiteren Herausforderungen zu stellen. Und je mehr Dietriche man hat, um so sicherer geht man an diese heran. -1 0 -
Die Fähigkeit, sich selbst und anderen Grenzen zu setzen, kann nicht das Ergebnis eines Lernprogramms sein, und es ist nicht Ziel eines Erfahrungsprozesses. Beim Grenzensetzen ist der Weg das Ziel, jeder Schritt bringt Bestätigung, Fortschritt oder Stillstand. Wenn der Weg das Ziel ist, dann sind Um- und Nebenwege, dann sind Sackgassen erlaubt. Grenzen zu setzen, das ist die Wanderung zwischen Erfolg und Mißlingen, zwischen Mut und Entmutigung, zwischen Selbstzweifel und Hoffnung. Grenzen zu setzen - das sind manchmal die «Mühen der Ebene» im Alltag und in der Erziehung. Aber Grenzensetzen entlastet mehr, als es belastet. Doch ist Grenzziehung kein Selbstzweck - Grenzziehung ist Mittel der Ichfindung, ist Mittel, um Eigenständigkeit zu dokumentieren. Grenzen machen den Unterschied zwischen Ich und Du, Nähe und Distanz, Vertrautem und nicht Vertrautem, zwischen Fremdem und Bekanntem, zwischen Können und Noch-nichtKönnen aus. Grenzen zu setzen ist ein lebenslanger Prozeß. Dabei sind Fehler gestattet. Sie sind erwünschte Geschenke, aus denen der einzelne Erfahrungen herleiten und gewinnen kann.
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1 «... bloß nicht werden wie meine Eltern früher...» Die Mühsal mit den Grenzen
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«Manchmal ist es zum Ausflippen!» Frau Riemers hat mich eingeladen. Sie will wegen der Teilnahme an einem Elternseminar mit mir reden. Als ich die Gartentür öffne, kommt Tim, der knapp achtjährige Sohn, mit seinem Roller vorgefahren, legt ihn beiseite, stellt sich vor mir auf - ein kecker Blondschopf mit einem offenen, verschmitztlächelndem Gesicht. «Hallo, du bist sicher Tim.» Er schaut mich an, sagt kein Wort. Während ich zum Haus gehe, begleitet er mich schweigend. Kurz vor der Haustür meint er mit fester Stimme: «Tag, du Arschloch.» Diese «Begrüßung» hatte ich nicht erwartet. Aber ich war auch nicht völlig überrascht, klagte Frau Riemers doch über ihren «ständig über die Stränge schlagenden» Sohn. «Der provoziert immer... Wir sind dem ausgeliefert.» «Hallo Tim», antworte ich freundlich, während ich mich kurz umblicke. Dann wende ich mich wieder zu Tim und hocke mich hin. «Da hinten ist niemand mehr, Tim.» Meine Stimme klingt freundlich, sie ist aber fest und bestimmt: «Du, Tim. Ich heiße nicht Arschloch. Ich bin Jan-Uwe!» Er wirkt irritiert, seine Augen blinzeln ein wenig, er sieht aus, als brauchte er Zeit. «Wie?» Er setzt nochmals an: «Wie heißt du?» - «Jan-Uwe!» Mit den Worten «Hab ich noch nie gehört!» gibt er mir die Hand. Szenenwechsel, Wohnzimmer. Wir sitzen in der Eßecke. Tim verläßt den Raum, verspricht, uns eine halbe Stunde allein zu lassen. Wir kommen in ein Gespräch, aus dem ich einige Ausschnitte wiedergebe. «Hätt ich nicht gedacht, daß er so ohne weiteres geht!» «Gibt's da Probleme?» «Probleme ist überhaupt noch geschmeichelt. Ich bin völlig hilflos!» Ihre Blicke wirken verloren. «Tim hält sich an nichts!» «An was kann er sich denn nicht halten?» «An Regeln, an Ordnung.» Sie stöhnt auf. «Es muß ja nun wirklich nicht immer sein, ehrlich!» «Haben Sie denn Regeln aufgestellt?» -1 3 -
Sie schaut mich verblüfft an: «Das muß er doch merken, was sich gehört und was nicht!» «Also gibt es keine Regeln, keine Grenzen?» Frau Riemers fährt beim letzten Wort leicht zusammen. «Darf ich Grenzen setzen?» «Wer verbietet Ihnen, Grenzen zu setzen?» Sie zuckt mit den Schultern: «Ich. Mein Mann.» «Warum?» «Ja, warum?» «Wollen Sie noch einen Kaffee?» Und während sie eingießt, meint sie: «Ich durfte früher nichts, gar nichts. Durfte meinen Mund nicht aufmachen bei Tisch, nichts machen, ohne meine Eltern zu fragen, keinen Fehler machen, ohne daß es nicht was gesetzt hätte. So will ich nicht sein! Wie kommen wir weiter, wenn wir immer nur das wiederholen, was unsere Eltern schon falsch gemacht haben!» Ich schmunzele. «Warum lachen Sie?» «Sie haben sich entschieden: Statt zu kommandieren lassen Sie sich kommandieren!» «Mag sein. Aber besser so als andersherum.» Als sie mir dies an Situationen aus ihrer Kindheit und Jugend veranschaulichen will, platzt Tim hinein: «Mama, ich hab Durst.» - «Tim, bitte. Du weißt, wo der Saft steht.» Tim wirkt unschlüssig. «So, nun geh. Noch ist die halbe Stunde nicht um.» Tim geht hinaus, steht kurz darauf wieder in der Tür. «Da sind drei Säfte. Welchen soll ich nehmen?» Tims Stimme kriegt einen leicht quengeligen Klang. Frau Riemers bleibt ruhig, ihre Lippen werden schmaler: «Den du möchtest! Such ihn dir aus.» Tim bleibt stehen. «Gut, trink ich den O-Saft.» Er geht, steht kurze Zeit später wieder im Raum. «Den mag ich nicht!» -1 4 -
«Warum?» «Der ist mir zu kalt!» Frau Riemers bleibt äußerlich gelassen, nur ihre ineinander verkrampften Finger und zwei dicke Falten über der Nase deuten auf innere Anspannung hin. Sie atmet tief durch. «Trink die anderen Säfte. Und dann verschwinde!» Ihre heftige Stimme versucht sie durch ein beinahe flehentliches «Bitte!» zu entschärfen. Tim tut ihr den Gefallen nicht, es poltert, schmettert - kurze Ruhe. Tim erscheint in der Tür, weinend, ein Häufchen Elend. Mit den Worten «Was ist denn nun schon wieder los?» springt Frau Riemers auf, rennt in die Küche. Tim hört mit dem Weinen auf, läuft hinterher: «Was hast du Trottel jetzt schon wieder angestellt? Kann man sich denn nicht mal eine Minute ruhig unterhalten?» Tim fängt wieder mit dem Schluchzen an, und mit den Worten «Na komm, ist ja nicht so schlimm», fängt Frau Riemers an, die Scherben zusammenzusuchen und den Boden aufzuwischen. Tim kommt ins Wohnzimmer, wischt sich die Tränen weg, setzt sich zu mir, meint halb fragend, halb feststellend: «Na?!» «Du warst sauer, daß sich keiner um dich gekümmert hat, nicht?» Ein Lächeln geht um seinen Mund. «Du weißt, wie du deine Mutter zum Platzen bringen kannst?» Er nickt heftig, grinst dabei: «Und wie! War heute noch gar nichts!» «Wieso?» «Manchmal rastet sie völlig aus. Dann kriege ich was auf den Po.» «Tut das weh?» «Schon, aber ihr noch mehr.» «Woran siehst du das?»
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«Weil die hinterher noch mehr weint. Die hat ein schlechtes Gewissen. Weil man soll ja Kinder nicht schlagen, sagt meine Mutter.» Er überlegt: «Und dann kann ich alles von ihr kriegen.» «Du kannst aber auch wirklich gemein sein!» «Und Mama noch mehr!» «Wieso?» «Zum Beispiel, wenn sie sauer ist und so. Die ist dann immer noch so ruhig und freundlich und so. Und... und dann wird sie plötzlich so richtig wütend. Dann schreit sie so, daß ich denke, jetzt ist sie ein Ungeheuer.» «Du kannst sie nicht richtig einschätzen. Was soll sie denn machen?» Es platzt aus ihm heraus: «Also wenn ich Scheiße mache, soll sie das sagen!» «Woran liegt es wohl, daß sie das nicht macht?» Er zuckt die Schultern. «Heute nachmittag hast du gegen eure Absprache verstoßen.» «Ich wollt mal sehen, wie weit die geht. Normalerweise, wenn Besuch da ist, kann ich schon viel machen. Eigentlich platzt die dann erst hinterher!» Er lehnt sich zurück, sieht mich an: «Mit dir kann ich das nicht machen, glaube ich jedenfalls nicht. Aber ich würd's versuchen.» Tim grinst, steht auf, geht in die Küche. Frau Riemers: «Kannst du mir helfen? Du hast doch auch den Dreck gemacht?!» «Nein!» Tim kommt mit dem Glas zurück. «Was hätte deine Mutter sagen sollen?» «Ich möchte, daß du mir hilfst. Und zwar sofort.» Er sieht mich an, grinst: «Ich sag doch, die ist verdammt lieb.»
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«Da muß ich eben aufpassen...» «Alles ist heute gefährlicher», erklärt mir Frau Wolters, und ihr Mann ergänzt: «Erziehung ist heute ein einziger Streß. Du mußt alles richtig machen.» Die Wolters sind Mitte Fünfzig, haben zwei schon fast erwachsene Söhne, die nicht mehr «zu Hause leben, aber immer noch gerne kommen». «Man macht sich jetzt eben mehr Gedanken, was mit Julia passiert.» Julia ist knapp sechs Jahre, «unser Nesthäkchen», wie Frau Wolters erklärt: «Ich hab mir immer noch 'ne Tochter gewünscht, meinem Mann war's egal. Na ja, ist ja nun auch in Ordnung. Es war schon 'ne Umstellung, wieder so ein kleines Kind hier zu haben. Weil dann geht ja alles noch mal von vorne los. Nur, wie gesagt, man ist vorsichtiger, überlegter und denkt, bloß alles richtiger machen als bei den Großen.» Herr Wolters spricht bedächtig, behutsam, seine Augen suchen einen fernen Punkt im Raum. «Wie sind denn die Großen?» «In Ordnung.» Frau Wolters richtet sich auf. «Schon in Ordnung. Natürlich, natürlich.» Sie sieht ihren Mann an. «So ist das ja auch wieder nicht. Aber man hat doch heute auch bessere Möglichkeiten.» Was sie damit meine, will ich wissen. «Also, man weiß doch, was ein Kind alles können muß. Wenn es in die Schule kommt, zum Beispiel. Also, sagen wir mal», sie überlegt einen Augenblick, und der Mann fährt fort: «Da ist das mit Julias Konzentrationsfähigkeit. Da hieß es dann auf einmal am Elternabend, das sei Voraussetzung für die Einschulung. Und da sie im Kindergarten nur spielt», er zieht die Augenbrauen hoch, seine Stimme bekommt einen tadelnden Klang, «haben wir Konzentrationsspiele besorgt.» Frau Wolters nickt: «Nun geht's, könnte besser sein, aber es geht.» Insgesamt erführen die Kinder heute mehr Förderungen, man habe eben mehr Zeit für Julia als früher für die Söhne. Ob sie den Eindruck hätten, dies sei für Julias Entwicklung förderlicher, frage ich. Beide schauen mich irritiert an - dann, nach einer -1 7 -
Pause, antwortet Herr Wolters: «Ich denke schon. Wir können schneller eingreifen, wenn's mal nicht so läuft.» Er denkt einen Augenblick nach: «Wenn ich diese Möglichkeiten früher gehabt hätte, ich wäre mehr geworden. Gut, ich bin zufrieden. Aber das Beste, was Julia passieren kann, ist doch 'ne gute Ausbildung. Und das kann nicht früh genug anfangen...» Frau Wolters fällt ihrem Mann ins Wort: «Und dann weiß man eben doch auch mehr und kann Fehler vermeiden.» Sie schüttelt gedankenschwer ihren Kopf: «Was hab ich bei den Großen nur alles falsch gemacht?!» «Was denn?» «Nein», so als wolle sie sich selbst beschwichtigen, «so hab ich's natürlich auch nicht gemeint. Aber so ein bißchen mehr hätten sie sich schon vertragen können. Ich war doch zu nachgiebig!» «Sind Sie jetzt fester?» «Nein, aber ich achte auf mehr.» Sie sieht ihren Ma nn an. «Daß sie morgens nicht nur trödelt oder Zeit sinnlos verbummelt oder einfach nur so aus dem Fenster guckt. Es gibt doch heute soviel Angebote für die Freizeit. Und da machen wir auch ein Programm!» «Ihr Mann und Sie?» Beide nicken. «Und Julia?» «Na ja, mal mault sie, wenn sie zum Flötenunterricht oder zum Voltigieren muß. Aber wenn sie dann erst mal da ist, gibt es sich. Ist nur die Überwindung, denke ich mir.» Frau Wolters stockt. Es scheint, als blicke sie nach innen: «Aber da machst du und machst du - und dann denk ich, ich mach es wirklich besser, gebe mir Mühe, aber Julia dankt es mir sowieso nicht. Die mault, sitzt rum. Wenn ich solche Eltern gehabt hätte... Aber das kann ich ihr nicht klarmachen. Ich gebe mir jede erdenkliche Mühe, bin immer um sie rum, und sie sagt dann nur...» Sie zögert einen Augenblick: «‹Laß mich in Ruhe!› Sagen tut sie's nicht, aber man sieht's ihr an.» Herr Wolters hat genau zugehört, hin und wieder heftig genickt: «Sie wird eben größer, eigenwilliger.» -1 8 -
Frau Wolters: «Die ist doch noch so klein, mein Gott, Rudolf, so klein. Die braucht uns noch.» «Und brauchen Sie Julia?» Beide lachen, sind verunsichert. Sie schauen sich an. Frau Wolters: «Ich will zeigen, daß ich eine gute Mutter bin!» «Wem?» - «Allen!» «Und Julia?» - «Der auch. Damit ich später... ein bißchen Dankbarkeit bekomme.»
«Ich will keine Supermutter sein!» Dritter Abend einer Veranstaltungsreihe in einem Kindergarten zum Thema: Überforderung von Kindern und deren Folgen. Simone Luchs, Mutter zweier Kinder, kommt auf mich zu, sieht ziemlich genervt aus. Sie wirkte den ganzen Abend über konzentriert, manchmal ärgerlich, fast unwirsch. Hin und wieder hat sie sich auf ihrem Block Notizen gemacht. «Kann ich Sie mal einen Augenblick alleine sprechen?» Wir gehen ein paar Schritte zur Seite. «Ich platze gleich. Ich halte das nicht mehr aus!» - «Was?» «Verdammt, diese Hochleistungseltern um mich herum, von denen Sie gerade gesprochen haben. Ich geb Ihnen da ja recht. Aber», sie sieht mich mit einer Mischung aus Trotz und Traurigkeit an, «ich will keine Supermutter sein, und ich werde trotzdem dazu gemacht. Der Druck ist unerträglich. Sie müssen mal kommen, wenn Mütter ihre Kinder vom Kindergarten abholen. Jede übertrifft sich.» Frau Luchs' Stimme ahmt andere Mütter nach, während ihr Kopf hin und her wiegt. «Aber ich gehe nächste Woche mit Patrick zum Ballett... und ich zum Judo... und ich zum Flötenunterricht...» Sie macht eine kurze Pause. «Das haben Sie heute abend alles schön gesagt. Aber mir, die ich so etwas nicht mache, mir haben Sie auch ein schlechtes Gewissen vermittelt. Ehrlich!» Sie sieht mich an: «Man ist doch verdammt allein gelassen in der Erziehung!» Sie zuckt mit den Schultern, blickt sich suchend um: «Sehen Sie, Frau Rothhus da hinten.» Sie weist mit dem Kopf in die Richtung: «Wenn ich die reden hör. Eine Profimutter durch und -1 9 -
durch. Immer aus dem Ei gepellt. Die hat nur Kinder, Haushalt, Garten und Kochen. Das sei nun doch wirklich nicht zuviel, meint sie. Tja, nur, die hat noch 'ne Oma, 'ne Köchin und 'ne Reinemachefrau.» Sie lacht etwas verzweifelt. «Und ich hab da den Slalom aus Beruf, Haushalt und Kindern.» Die Augen gehen hin und her, so, als suchten sie Halt: «Und dann bin ich noch alleinerziehend, die ganzen Selbstzweifel, Vorwürfe, Fragen über Fragen. Nächtelang lieg ich wach. Mach ich das richtig? Bin ich zu hart? Verlange ich zuviel? Darf ich konsequent sein? Wie ist das mit den Grenzen?» Sie macht eine kurze Pause. «So ist das!» Sie schaut zur Seite: «Gut, heute abend haben Sie mir Mut gemacht.» Sie zögert: «Dabei wollte ich gar nicht kommen. Ich hab so 'n Zorn auf den Laden hier!» «Was hat der Laden Ihnen getan?» «Der Laden nicht, aber das Personal, die Mütter.» Sie schüttelt sich. «Gestern war hier Elternfrühstück, um 9.00 Uhr. Ich konnte nicht, weil die Handwerker im Haus waren. Der Termin war nicht zu verlegen. Ich hab das mit Jannika, meiner Tochter, geklärt. Eine Nachbarin, deren Tochter auch hier ist, ist mit. Für Jannika war's o.k. Ehrlich, sie hatte Verständnis.» Eine kurze Pause. «Ich hab's der Erzieherin erklärt, worauf ich zu hören kriege: ‹Sie müssen einfach kommen, sonst ist Ihr Kind traurig.› Ich hab's erklärt, aber auf mich wurde eingequatscht und eingequatscht. Ich bin kleiner und kleiner geworden und hab mich als schlechter Mensch gefühlt: ‹Nicht mal den Handwerker sagen Sie ab, um für Ihr Kind dazusein.› Nachts habe ich von Krähen geträumt, die auf mich einhacken. Und es kam, wie es kommen mußte...» «Ihre Tochter hat dann am Morgen geheult, geklammert...» «... natürlich, um halb zehn, der Handwerker war gerade fertig, klingelt das Telefon, eine vorwurfsvolle Stimme: ‹Jannika sitzt nur so da, sie wartet, weil Mama nicht da ist...› Ich rufe im Büro an, bin hin zum Kindergarten gehetzt. Die Praktikantin steht da, sieht mich an, als ob ich ein halbes Jahr in Amerika gewesen sei, dann sagt sie mit leidender Stimme: ‹Frau Luchs›, verzieht dabei verächtlich ihr Gesicht, ihre Augenbrauen gehen -2 0 -
hoch: ‹Jannika hat sooo›, dieses ‹sooo› ist immer noch in meinem Ohr», und eine Hand fährt unwillkürlich dorthin, als müsse sie den Ton zum Verstummen bringen, «‹gelitten. Jannika konnte nichts essen, sooo hat sie auf Mama gewartet. » Frau Luchs holt tief Luft. «‹Wie schön, daß Sie es nun doch geschafft haben. Es ist sooo wichtig für Ihr Kind. Sie wird schnell sooo wehleidige›» «Sie platzen gleich?» «Wenn ich nur daran denke!» «Und was hat Jannika gemacht?» «Sie war wirklich anders als sonst, klammerte, war weinerlicher.» Frau Luchs klingt brüchig: «Da war wieder mein schlechtes Gewissen»; sie blickt gedankenverloren, schüttelt den Kopf: «So, nun ist mir leichter. Und Sie sehen, wie schwer das ist, ja zu mir zu sagen. Wenn man so will, sich selbst Grenzen zu setzen, sich nicht unter Druck setzen zu lassen. Ich will wirklich keine Supermutter sein... Aber woran erkennt man eine normale Mutter? Wo bekomme ich Bestätigung und nicht immer nur zu hören, was ich eben nicht mache?!» Sie gibt mir die Hand. «Schön, daß Sie mir zugehört haben, und danke für Ihre Tips heute abend!» «Und was nehmen Sie heute abend mit?» . Sie überlegt: «Selbstbewußtsein und Achtung vor mir selbst.»
«Man denkt zuviel nach» Alma lebt auf dem Lande, bewirtschaftet mit ihrem Mann einen mittelgroßen Hof. «Ich bin Oma, veer Enkels.» Ihre Stimme klingt ruhig, gemütlich, sie spricht einen breiten niederdeutschen Dialekt: «So, und nu willst du was von mir über Kindererziehung wissen, mien Jung.» Sie wechselt ins Hochdeutsche: «Ich bin eine einfache Frau, was soll ich dir schon sagen.» Sie steht auf, geht an einen Schrank, holt zwei Gläser und einen selbstangesetzten Likör: «Dann geit dat Snaken beter.» Sie fängt an, von ihrer Kindheit zu erzählen, von ihren Eltern - «arme Bauernsleute» -, ihren -2 1 -
sechs Geschwistern - «sind alle was geworden » -, ihrer Schulzeit - «der Hof und die Arbeit waren wichtiger als der regelmäßige Schulbesuch» -, ihrer häuslichen Erziehung: Hart sei diese gewesen, erinnert sie sich, hart, aber gerecht. Arbeiten mußte sie. Geschenkt gab's nichts. Alma denkt nach: «Ob's die Kinder heute besser haben, ich weiß es nicht?» Was sie meine, will ich wissen. «Ich glaube», sagt sie, «die Kinder verlieren sich. Die haben alles, die wissen nicht mehr, woran sie sind. Meine Enkels haben alles, Spielkram, Sachen zum Anziehen. Alles. Und gewieft sind die: ‹Oma, wenn wir bei dir nicht fernsehen können, kommen wir nicht.› So was hätten wir uns mal denken sollen.» Ihre Stimme wird heller, ihr rechter Zeigefinger geht in die Höhe. «Da hätt's früher heiße Ohren gegeben.» Alma nimmt einen Schluck aus dem Likörglas, schüttelt sich: «Brennt 'n büschen. Aber ist gut für die Gesundheit, ist ja auch wie Medizin.» Worin ihrer Meinung nach die Unterschiede beständen in der Erziehung von gestern und heute, will ich wissen. Und wie aus der Pistole geschossen, kommt die Antwort: «Die Mütter wollen heute keine Fehler machen. Ich seh das an meiner Schwiegertochter. Bloß alles perfekt machen, das Kind könnte ja Schaden nehmen. Ich konnte früher gar nicht viel nachdenken. Hatte gar keine Zeit dazu. Es mußte alles zack, zack gehen. Meine Kinder waren viel sich selbst überlassen. Und aus beiden ist doch was geworden.» Sie überlegt einen Augenblick: «Ich weiß nicht, ob man das sagen kann, aber wenn man zu viel Zeit für die Kinder hat», sie stockt, sieht mich fragend an, «ob das nun das Wahre ist?» Sie gießt uns beiden Likör nach: «Schmeckt gut, nicht? Ich will dir mal was sagen, mein Jung! Also, wenn Kurt, mein Jüngster, mal frech war, so mit vielen Widerworten und so, dann gab's drei Klapse auf den Hintern. Ich hab nie an den Kopf geschlagen. Davon wird man dösig, hab ich gehört. Drei Klapse», sie unterstreicht dies mit einer Handbewegung, «und alles war klar. Manchmal habe ich den Eindruck, als ob er sich die Klapse richtig abholen wollte. Tja.»
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Sie senkt den Blick, denkt kurz nach: «Weißt du, wenn ich Inge heute seh, meine Schwiegertochter, die redet und redet und redet, wenn der Kleine 'nen Rappel kriegt. Und nach dem Reden wird sie immer lauter und lauter und lauter, und irgendwann schreit sie, und dann knallt's bei ihr auch. Und dann heult sie und der Kleine auch. Das hätt sie doch auch einfacher haben können. Macht sich ihre Nerven kaputt.» Sie sieht mich an. «Du sagst ja gar nichts zu dem Punkt. Ist das so schlimm, was ich sage?» Sie nimmt das Glas: «Prost!» Wenn Alma ins Erzählen kam, dann gab's kein Bremsen, das wußte ich. «Weißt du, eins will ich dir noch erzählen. Willst du das hören?» Bevor ich antworten kann, setzt Alma schon an: «Mußt du unbedingt hören.» Sie steht auf, geht zum Herd. «Vorher muß ich noch die Kartoffeln aufsetzen, sonst kommt Karl nach Hause, und das Essen ist nicht auf dem Tisch. Dann ist er sofort muffelig.» Alma kommt zurück, setzt sich: «Also», beginnt sie, «die Kinder sind heut einfach zappeliger. Tja, weiß du, woran das liegt?» Ich zucke mit den Schultern. Sie kommt näher: «Ich will's dir sagen. Weil die Frauen immer schlanker werden, keine Brust, keinen Hintern und keinen Bauch.» Sie unterstreicht das Letztgesagte mit ihren Händen. «Bei den Frauen von heute ist doch nichts mehr dran.» Ich muß lachen. Was sie denn damit sagen wolle? «Also früher, wenn Dörte und Kurt abends unruhig waren oder auch nur so, wenn wir Zeit hatten, haben wir uns ins Bett gelegt, Dörte mit dem Kopf an meine Brust gelehnt, Kurt hatte die Hand auf meinem Bauch.» Sie sieht an sich herunter: «Kiek mol, und von beidem hab ich genug. Und dann haben wir geschmust. Ich hab von früher erzählt, und irgendwann sind sie eingeschlafen. Und wenn ich keine Zeit hatte, weißt du, was ich dann gemacht hab?» Ich schüttele den Kopf. «Dann hab ich zwei getragene Nachthemden aus der Kommode geholt. Die lagen für alle Fälle immer da. Die hab ich denen gegeben, so große, weiche baumwollene Nachthemden. -2 3 -
Und die haben nach mir gerochen. Das hat schon meine Mutter mit mir gemacht. Und die Kinder haben ihren Kopf auf die Nachthemden gelegt, und dann sind sie bald eingeschlafen. Ganz friedlich.» «Und wie lange hast du das gemacht?» Sie lacht verschmitzt: «Bei Kurt so lange, bis er 'ne Freundin hatte. Da war's vorbei. Ist ja auch normal, nicht? Mit meinen wollenen Ungetümen komme ich ja auch nicht gegen die Spitzenhöschen und Strapse an.» Ihre Stimme wird leiser: «Weißt du, aber auf Strapse können Kinder ihre Köpfe nicht legen, weil das zu ungemütlich ist, und die riechen auch nicht so schön wie meine baumwollenen Hemden. Und weil's davon immer weniger gibt, sind die Kinder nachts einfach zappeliger. Denk ich mir jedenfalls. So», sie nimmt noch einen Schluck aus dem Likörglas, «Prost. Nun hab ich alles gesagt. Nun bleib noch zu den Kohlrouladen.»
Ein Junge ist ein Junge Ich treffe Peter in einer Kneipe. «Hier haben wir mehr Ruhe. Zu Hause ist immer Trubel mit den Kindern.» Peter arbeitet als Dachdecker: «Hab ich gelernt, bin Geselle, zum Meister hab ich keinen Bock. Die Knete reicht auch so, weil die Alte», er stockt, «weil Elsa mitarbeitet.» Peter ist 29. Die Kinder, zwei Jungen, erzählt er, seien früh gekommen. «Elsa war 19, ich 21. War 'ne harte Zeit.» «Für wen?» «Für uns.» Er überlegt: «Aber wohl doch mehr für Elsa. Aber sie wollte ja Kinder!» «Du nicht?» «Nicht so schnell. Dann biste doch nicht mehr so richtig bei dir.» Wie er das denn meine, will ich wissen. «Ist doch klar. Kaum ist man aus dem Haus, da haste selbst 'ne Familie. Elsa und ich hatten kaum was voneinander. Na ja.» -2 4 -
Er sieht mich an: «Ist schön, daß die Kinder da sind. Aber lästig sind sie eben auch. Immer diese Fragerei. Und dann sind sie aufmüpfig, sie nehmen sich mehr raus als wir früher. Das ist schon manchmal eine Plage.» Was ihm denn die meiste Freude bereite mit den Kindern, frage ich. «Freude?» Er sieht mich suchend an: «Freude? Das ist schwer», zögert er. «Ja, doch», meint er nach einiger Zeit: «Wenn ich nach Hause komme, und die springen an mir hoch, wollen kuscheln oder spielen, das ist schön.» «Was macht dir Probleme?» «Erziehen ist ein elendigliches Geschäft», kommt es wie aus der Pistole geschossen. «Du machst nur Fehler, überall sind nur Klugscheißer, die alles besser wissen. Labern rum, in der Schule, im Fernsehen, in der Zeitung, überall. Und wenn man die Klugscheißer dann fragt, ob sie eigene Kinder haben, ist Sendepause. Alles Wichtigtuer.» Peter redet sich in Rage: «Und dann dieses Gerede von diesen neunmalklugen Weibern überall, dieses Gewäsch von den, na, wie heißt das... Femi... Femi...» Er sieht mich an: «Meinst du Feministinnen?» «Ja, ja, wo man kein Mann mehr sein darf.» Ich will protestieren, aber er macht eine wegwerfende Handbewegung. «Hör auf, hör bloß auf. Ein Junge ist ein Junge und muß auch so erzogen werden, sonst gibt's irgendwann nur noch Memmen. Und die Frauen tanzen dir auf der Nase rum!» «Was meint Elsa dazu?» Die sei schon angesteckt von diesem Zeug, meint er genervt. «Ich kann das alles nicht mehr hören. Woran sollen sich Jungen eigentlich messen, wenn sie nicht mehr Jungen sein dürfen? Mädchen haben's da einfacher.» Ich atme tief durch: «So einfach will ich's dir nicht machen, schließlich ist es doch wichtig, über Gewalt gegen Mädchen und Frauen zu reden und nach Abhilfe zu suchen. Das kannst du doch nicht einfach übergehen.» -2 5 -
«Siehst du», er wird heftig, «das geht doch immer weiter, die ganze Sache mit diesem Mißbrauch und so... also Gewalt... du weißt, was ich meine. Ich blick da überhaupt nicht mehr durch.» Er schüttelt den Kopf. «Was darf man noch, was nicht? Darf ich Kinder streicheln? Darf ich schmusen?... Muß man denn alles breittreten?... Es gibt einfach keine Maßstäbe mehr!» Was er darunter verstehe, will ich wissen. «Weißt du, da stellen sie doch alle Väter an den Pranger. Alle Väter, auch mich. Als ob ich so 'n Schwein bin, der was mit seinen Kindern macht.» Er macht eine Pause. «Tja, und..., so 'n Schwein wird verurteilt, kommt frei und macht weiter. Wenn meinen Kindern mal so was passieren würde, mit Sex und so... und wenn ich den Typen erwisch, den mach ich kalt, dem reiß ich das Arschloch bis zu den Ohren auf. Das schwör ich dir. Und das kannst du ruhig schreiben.»
Es gibt keine Überraschungen mehr «Ich bin froh, daß ich nicht mehr in der Schule bin», erklärt mir Josef Barthels, der lange als Schulleiter tätig war und schon seit zehn Jahren pensioniert ist. «Warum?» - «Ach, wissen Sie», meint er, «ich blick da nicht mehr durch. Diese Gesetze beispielsweise. Vor lauter Gesetzen sieht man die Kinder nicht mehr. Darf ich das noch, ist doch die Frage, nicht, was ist gut für das Kind? Als Pädagoge stehst du heute mit einem Bein im Gefängnis, und dabei geht Wärme verloren. Es fehlt einfach an Wärme. Überall ist die Frage, was hast du heute in der Schule gelernt? Schule ist doch auch ein Erlebnis.» Er macht eine kurze Pause. Das sei schon komisch, wenn er das sage, meint er schmunzelnd, «so 'n alter Knacker. Aber ich finde, heute ist alles angepaßter. Die Originale in der Schule werden immer weniger. Es gibt doch keine Überraschungen mehr.» Er lacht. «Vorhin war ein ehemaliger Schüler bei mir. Der wohnt nicht mehr hier, kommt aber doch regelmäßig vorbei. Mit dem hatte ich vor vielen Jahren einen Händel. Der war so 13 oder 14, und ich war erst kurz in der Schule. Der brachte mich ständig auf die Palme, weil er immer auf den Boden spuckte, häufig auch in -2 6 -
meine Richtung. Ich hab das verboten. Aber er machte weiter. Einmal hätte er mich fast getroffen... Ich bin ruhig zu ihm hin, hab allen Rotz in meinem Mund gesammelt und gezielt gespuckt. Der grüne Rotz ging in sein Auge. Der war starr vor Schreck. Nach der Schule ist er zu mir: ‹Sie haben gewonnen.›» «Kann man das verallgemeinern?» «Weiß ich nicht, aber es gibt eben so wenig Überraschungen in der Erziehung. Und weil es die nicht gibt, gibt es auch zu wenig Gefühle und zu wenig Geheimnisse. Meine Eltern haben kaum etwas davon gewußt, wenn ich in Gefahr war. Heute gibt's für jede Gefahr eine Versicherung, ein Gesetz. Aber Versicherungen machen nicht sicherer. Sicherheit erleben Kinder doch nur dann, wenn sie auch Unsicherheiten ausleben dürfen, und Grenzen erleben sie nur dann, wenn sie sie auch überschreiten dürfen.» Er stockt, wirkt nachdenklich: «Aber ob ich das auch so sagen würde, wenn ich jung wäre und in der Verantwortung, das weiß ich nicht. Das ist doch alles komplizierter geworden!»
Von Sinn und Unsinn des Grenzensetzens Elternabende, Bildungs- und Beratungsveranstaltungen, Fortbildungen für pädagogisches Fachpersonal, die ich in den letzten Jahren zum Thema «Grenzen setzen in der Erziehung» angeboten habe, fanden viele Zuhörer. Immer wieder tauchten Fragen auf wie: «Darf ich Kindern Grenzen setz en?» oder: «Wie artikuliere ich meine eigenen Grenzen?» Auffällig ist die negative Besetzung des Begriffs «Grenze», mit dem Strafe, Züchtigung, Ermahnung, Verbot, Moralpredigt, Versagung und ständiges «Nein» verbunden wird. Dahinter verbirgt sich zugleich ein hohes Maß an pädagogischer Handlungsunsicherheit, fehlendem Selbstwertgefühl, nicht vorhandenem Vertrauen in eigene Fähigkeiten - aber zugleich der Wunsch nach allgemeingültigen Normen und Werten, nach praktikablen Rezepten.
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Erziehungsschwierigkeiten, wie sie allenthalben - und nicht allein bezogen auf das Grenzensetzen - zu beobachten sind, sind zweifelsohne begründet in einer Werte- und Normunsicherheit über alltägliche Erziehungsfragen, im Widerspruch zwischen den eigenen praktizierten und möglichen Erziehungsstilen im Alltag sowie den Expertenmeinungen, wie Kindererziehung zu sein habe. Die überbordende Ratgeberliteratur macht Erziehung nicht leichter, sie läßt häufig Ratlosigkeit und Ohnmacht zurück; das Gefühl, es «niemals richtig und niemandem rec ht zu machen», fördert manchmal einen Trend, sich erzieherischer Verantwortung zu entledigen und diese an den medizinischen, therapeutischen oder pädagogischen Experten abzugeben, der für alle Fragen eine mehr oder weniger passende Antwort haben sollte. Deshalb kommt es mir immer mehr darauf an, den pädagogisch Handelnden - egal ob Eltern oder Fachpersonal nicht zu entmündigen, vielmehr seine Erfahrungen ernst zu nehmen, an sein Alltagswissen anzuknüpfen, um ihm so Verantwortung zurückzugeben und ihn in seinem Selbstwertgefühl zu stärken. Nur eine Erzieherpersönlichkeit kann Grenzen setzen, eine Persönlichkeit, die sich mit all ihren Vorzügen und Unvollkommenheiten annimmt und angenommen fühlt - weil nur sie Kinder mit all ihren Persönlichkeitsanteilen, den leisen wie den lauten, den fordernden wie den gebenden, den ängstlichen wie den selbstsicheren, den nachdenklich-reflexiven wie den impulsiven, den zerstörerischen wie den konstruktiven, anzunehmen bereit ist, indem sie fördert, unterstützt, Hilfestellung leistet, aber eben auch Grenzen setzt. Kinder anzunehmen, ihnen zuzuhören bedeutet nicht, jeder ihrer Launen und Forderungen nachzugeben. Kinder zu verstehen, sich in Sorgen und Nöte hineinzudenken heißt nicht, zerstörerische Grenzüberschreitungen zu akzeptieren. Die zunehmende Unsicherheit über verbindliche Werte und Normen ist das eine. Viele Eltern haben sich aber auch nur unzureichend mit ihrer eigenen Lebensund Familiengeschichte auseinandergesetzt: Wie sah die Erziehung -2 8 -
aus, als ich Kind war? Welche Grenzen habe ich erfahren? Welche Strafen habe ich erlitten? Welche Zuneigung habe ich gefühlt? Wurden meine Bedürfnisse respektiert?... Respekt vor und Auseinandersetzung mit Tradition darf weder zu einer diffusen Verklärung - «Früher war alles besser!» - werden noch zu einer pauschalen Ablehnung - nach dem Motto: «Ich will es alles anders machen!» oder «Du sollst es einmal besser haben!» Erziehung wird so zum Streß, zum Hochleistungssport, der selbst jene Eltern erfaßt, die sich selbstbewußt davon freimachen wollen. Kinder werden zu Objekten und Projektionsflächen, die jene Anteile ausleben müssen -, die ihren Eltern verwehrt wurden. Oder der Alp der eigenen frühen Kindheit drückt so mächtig, daß nicht selten Handlungsunsicherheiten die Folge sind. Die Konsequenzen sind paradox: Während manche Eltern die Erziehungsleitbilder von Freiheit und Selbständigkeit als die Abwesenheit von Grenzen und Regeln mißverstehen, suchen Kinder mehr denn je nach klaren und festen Leitfiguren, an denen sie sich orientieren und reiben, an denen sie sich messen können. Statt dessen verstecken sich viele Erziehungspersonen hinter hehren und guten Worten, umständlichen Erklärungen und endlosen Diskussionen, die findet man keine Einsicht auf Seiten der Kinder - in impulsivem Schreien oder beleidigter Wortlosigkeit enden. Zaudern ersetzt konsequentes Handeln. Und die berühmt-berüchtigte lange Leine schlägt nicht selten um in Rücksichtslosigkeit, Verwünschungen und Liebesentzug. Manche Kinder fühlen sich dann bevormundet, drangsaliert und ohnmächtig. «Da bin ich neulich ins Kinderzimmer, weil's mir zu bunt war. Die beiden schrien, tobten, obgleich sie wußten, ich wollte meine Ruhe», so berichtet Frau Eiser. «Mir hat's gestunken. Wirklich. Sich nicht an Absprachen halten, find ich einfach unmöglich.» «Ich hab's mir lange überlegt, ob ich hingehen soll.» Sie stockt einen Augenblick. «Dann bin ich hin, habe angeklopft, die Zimmertür aufgerissen und ganz ruhig, aber auch ganz ernst gesagt: ‹Ich möchte, daß ihr leise seid. Und zwar sofort!›» -2 9 -
Frau Eiser unterbricht sich, sieht mich an, Falten auf der Stirn: «Die haben mich völlig entgeistert angeguckt», und als wolle sie es immer noch nicht glauben, fügt sie hinzu, «die waren sofort leise, haben, wie es verabredet war, weitergespielt.» «Und wie ging es weiter?» «Ich bin raus und war völlig erschrocken, daß die Kinder so reagiert haben!» Sie schüttelt den Kopf, sieht nicht glücklich aus. «Sie erschrecken über Ihre Konsequenz und darüber, daß Sie auf Konsequenzen bestehen?» Sie überlegt: «Aber es muß doch anders gehen», meint sie in einer Mischung aus lautem Denken und Nachfragen. «Sie mögen sich nicht, wenn Sie fest und konsequent auftreten und damit Ihr Ziel erreichen?» Sie schüttelt nochmals den Kopf, sagt dann ganz vehement: «Ich will nicht wie mein Vater sein!» «Wie war ihr Vater?» Die Augen blicken nach unten. Dann erzählt sie von ihren Ängsten, die sie und ihre Schwester gehabt hätten, wenn sie mal im Zimmer laut waren. «Noch heute höre ich, wie mein Vater die Treppen hochkommt... die Stufen haben immer geknarrt... stumm ins Zimmer tritt, nichts sagt, uns nur lange und schmerzhaft an den Ohren zieht.» Kurze Pause, dann ganz bestimmt: «Ich will nicht wie mein Vater sein!» Eine andere Situation. Herr Kaiser erzählt von seinen nervenden Kindern, Mario, sieben, und Sabine, fünf Jahre: «Die durften von Anfang an mit an den gemeinsamen Tisch, egal, ob Frühstück, Mittag oder Abendbrot. In der letzten Zeit ist's die Hölle. Meine Frau und ich bekommen keinen Satz zu Ende, ohne daß wir unterbrochen werden. Das stinkt mir allmählich.» «Woran merken das die Kinder?» «Manchmal sag ich's denen schon ein bißchen.» «Wie sieht das bißchen aus?» -3 0 -
Er schaut mich irritiert an, lächelt, ist unschlüssig. «Wie merken die Kinder, daß Sie sauer sind? Haben Sie's gesagt, daß sie mal ruhig sein sollen?» «Nicht so richtig.» «Sie wollen's auch nicht, denke ich!» «Stimmt», entfährt es ihm. Und dann erzählt er von seiner Familie, den «gräßlichen Situationen bei Tisch. Wehe, wir haben als Kinder mal etwas gesagt, ohne gefragt worden zu sein. Dann gab's den tödlichen Blick.» Er macht eine Pause. «Und als ich älter war, hab ich mir geschworen, so autoritär bin ich nie.» «Ein Schwur fürs Leben?» «Ich komme ins Grübeln, ob es nicht doch mal besser mit einem klaren Wort ist. Aber wenn ich auch nur ansetze, liegt mir mein Vater im Ohr.» Wer mit Kindern zu tun hat - egal ob beruflich oder in der Familie -, der begegnet ständig zwei Kindern: dem Kind - oder den Kindern - vor mir und dem Kind in mir. Und je reflektierter dieses Kind in mir wirkt, je mehr ich meine Schmerzen, Trauer und Ängste, die mir als Kind zugefügt wurden, an dem Kind vor mir gutmachen will, um so schneller gebe ich - bewußt oder nicht - meine Ängste und Unsicherheiten weiter. Schmerz und Trauer, Verzweiflung und Wut sind nicht über Stellvertreter, sondern nur an mir selbst zu bewältigen. Je mehr ich die eigene Kindheit - und das sind ja nicht nur negative Gefühle und Niederlagen und Verzweiflungen, dazu gehören auch Freude, Glück und Sehnsucht - annehmen, in ihrer ganzen Breite akzeptieren kann, um so eher kann ich das Kind vor mir und mich als ganze Person, mit all ihren Anteilen, Meinungen und Gefühlen, annehmen. Zweifelsohne: Wer das Grenzensetzen in der Kindheit als Niederlage, Erniedrigung und Verzweiflung erlebt hat, dem fällt es schwer, oder es gehört viel Mut und Ermutigung dazu, später zu Handlungen zu stehen, die Grenzen setzen. Freilich: Die unsichtbaren oder auch einsichtigen Bindungen an die Ursprungsfamilie haben prägende - mal produktive, mal -3 1 -
hemmende - Kräfte. Sie wirken um so nachhaltiger, je weniger der einzelne die Ablösung, das Loslassen, die Trennung vom Elternhaus oder den elterlichen Traditionen bewußt vollzieht. Doch sind Erziehungsleitbilder wie Selbständigkeit, Autonomie und partnerschaftlicher Umgang ohne Rituale und Grenzen ebenso undenkbar wie Freiheit mit der Abwesenheit von Ordnung und Verantwortung gleichzusetzen ist. Kindorientiertes Handeln ist unabdingbar, aber nicht zu verwechseln damit, jedem Bedürfnis und jeder Forderung «Alle anderen dürfen, nur ich nicht!» - nachzugeben. Kinder brauchen klare und feste Persönlichkeiten. Wenn Kinder Festigkeit fühlen - eben nicht: erleiden! -, gewinnen sie Orientierung. Festigkeit schafft Grenzen, wo sie fehlen, herrscht Unsicherheit, fangen Kinder an, Grenzen auszutesten, um zu erfahren, wie weit sie gehen dürfen. Nur hat Festigkeit nichts mit Schreien und Brüllen, mit physischer oder psychischer Gewalt, mit Herrschsucht zu tun - vielmehr mit Klarheit, Bestimmtheit, mit Haltung und Stimme, mit innerer Ruhe, Gelassenheit und gegenseitiger Achtung. Wer zu Selbständigkeit und Autonomie anleiten will, sollte selbständig und autonom sein, d. h. den Mut haben, zu eigenen Handlungen zu stehen, sollte den Mut zur Unvollkommenheit haben. Vollkommenheit entmutigt, stiftet Kinder an, sich an der Vollkommenheit zu reiben, bis Kratzspuren an der omnipotenten Erziehungsfassade zu finden sind. Gerade der Zwang, keine Fehler in der Erziehung und es allen - nur sich selbst nicht - recht machen zu wollen, erzeugt weitere Schwierigkeiten beim Grenzensetzen. Wer Grenzen setzt, riskiert, sich bei Heranwachsenden nicht unbedingt beliebt zu machen; er riskiert Streit, Zorn und Wut. Und da die irrationale Annahme, von allen geliebt und anerkannt werden zu müssen, in vielen Bereichen des erzieherischen Handelns vorherrscht, scheuen sich viele Eltern und Erzieher, sich selbst und anderen Grenzen zu setzen. Hinzu kommt: Wer Grenzen setzt, muß über Konsequenzen bei Grenzverletzungen und Regelverstößen nachdenken. Dies ist anstrengend, erfordert Mut, aber auch Rückhalt; dies setzt voraus, sich aus-ein-3 2 -
anderzusetzen - und dies im ganz wörtlichen Sinne. Wer nur Nähe erträgt - sich nicht aus-ein-andersetzt -, ist unfähig, sich ab-zu-nabeln und ab-zu-grenzen. Ich habe den Eindruck, als ob Symbiose und grenzenlose Harmonie mit Liebe und Einfühlungsvermögen verwechselt werden. Doch während Liebe und die Annahme des anderen Nähe und Distanz, Eigenständigkeit und Individualität, mithin Grenzen - eben die zwisehen Ich und Du - kennt und akzeptiert, macht die symbiotische und grenzenlose Liebe krank, sie erdrückt und macht Kinder abhängig. So normal die symbiotische Eltern-(meist Mutter-)KindBeziehung in den ersten Lebensmonaten und Jahren ist - bietet sie doch umfassende Vorsorge, emotionale Verläßlichkeit, schafft sie Urvertrauen -, so notwendig ist es, Kinder dann loszu-lassen, ihnen eigene Schritte zu ermöglichen, wenn sie es signalisieren. «Als meine Tochter die ersten Schritte ging, sich zum ersten Male hinter einem Tisch versteckte, hatte ich das Gefühl, jetzt macht sie sich selbständig. Ich war traurig, aber auch irgendwie stolz», erinnert sich eine Mutter. «Aber es gehörte eine Portion Kraft dazu, sie zu lassen. Eben nicht beleidigt zu sein oder sich allein gelassen zu fühlen.» Grenzen zu setzen bedeutet, Kinder «zu-lassen» und «loszu-lassen», ihnen Mut zu machen, sich in ihrer Rolle zurechtzufinden. Dies geht nicht ohne Schrammen und Schmerzen. Wer Kinder vor der Wirklichkeit schützen will, macht sie in der Regel lebensuntüchtig. Schwierigkeiten mit einem gekonnten Setzen von Grenzen finden sich dort, wo Kinder zum Partnerersatz, zum emotionalen Kuschelkissen werden, wo Kinder dazu herhalten müssen, Lebenssinn zu stiften, oder dazu, einem emotional leeren Familienklima Gefühl und Atmosphäre zu verschaffen, wo man Kinder dazu mißbraucht, elterliche Bildungs- und Aufstiegswünsche im nachhinein zu verwirklichen. Und so gründen Probleme des Grenzensetzens auf einem offenkundigen Widerspruch, den ich aus vielen Gesprächen mit -3 3 -
Eltern heraushöre. Die Paar-Beziehung wird in manchen Familien der Eltern-Kind-Beziehung unter- bzw. nachgeordnet. Damit kommt dem Kind die zentrale, weil sinnstiftende Stellung innerhalb des Familiensystems zu. Und damit deutet sich zugleich ein Trend an, der Leitbildern wie Eigentätigkeit und Autonomie entgegensteuern kann. Denn in dem Maße, in dem einem Kind die besondere Bedeutung für eine Familie zugesprochen wird - z. B. Freude machen, Vorstellungen der Eltern verwirklichen, zum Lebensinhalt werden -, in dem Maße können Kinder nicht oder nur schwer losgelassen bzw. selbständig werden. Alles dreht sich - im wahrsten Sinne - um das Kind, die Grenzen werden diffus und verschwommen. Ohne Grenzen sind jedoch Eigenständigkeit, Autonomie, Selbstwertgefühl, emotionale und soziale Zugehörigkeit nicht auszuleben. Grenzen sind ein Teil des Fundaments, auf dem Eltern-Kind-Beziehungen aufbauen. Aber Grenzensetzen hat nichts mit Verboten und Strafe zu tun. Grenzen wollen nicht beherrschen, vielmehr leiten, führen, unterstützen und anregen. Den Verboten und Strafen geht es demgegenüber darum, Willen zu brechen oder Macht zu demonstrieren. Abgesehen davon, daß sich Verbote und Strafen meist nicht durchhalten lassen, weil sie im Affekt oder Zorn ausgesprochen werden, so wirken sie sich zusätzlich belastend auf die «Erziehungsbeziehungen» (Otto Speck) aus. Denn Grenzensetzen und Achtung des Kindes gehören zusammen. Entscheidend ist nicht, was Eltern über das Grenzensetzen sagen, entscheidend ist, wie sie es tun, wie sie es vorleben. Die «Erziehungsbeziehung» korrespondiert mit einer Erziehungshaltung, in der sich die Persönlichkeit des Erziehers, seine Werte und Normen konkretisieren. Das Kind in seiner Würde zu respektieren und zu achten trägt dazu bei, es in seinem Selbstwertgefühl zu stärken, ihm Verläßlichkeit und Vertrauen zu schenken, Orientierung zu geben. Wenn ich das Kind achte und respektiere, lebe ich Respekt und Achtung vor und kann diese Haltung dann auch vom Kind erwarten.
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Wer ständige Grenzüberschreitungen des Kindes g i noriert, sich ihnen gegenüber gleichgültig verhält, trägt nicht allein zur Verstärkung zerstörerischer Aktivität und Haltungen bei, sondern behindert die Ausbildung eines Selbstwertgefühls, verhindert das Gefühl gegenseitigen Respekts und gegenseitiger Ac htung. Grenzen bieten nicht allein Orientierung im Hier und Jetzt, sie zeigen Kindern an, wo sie hin- und nicht mehr hingehören, sie dokumentieren das Koordinatensystem des gegenwärtigen Standpunkts und weisen zukünftige Perspektiven auf: Hier bin ich, und da will ich hin. So geht denn die Einsicht in die Notwendigkeit von Grenzen aus der Sicht von Kindern - einher mit dem Wunsch, Grenzen zu variieren, sie auszuweiten und zu überschreiten. Grenzen sind zugleich Ende und Beginn des Wegs. Sie geben eine Zeitlang Sicherheit, bieten Schutz und Ziel, das - einmal erreicht - dazu auffordert, jenseits der Grenzen nach neuen Wegen und Perspektiven Ausschau zu halten. Grenzen dokumentieren Nähe und Distanz, Vertrauen auf Erreichtes und Zutrauen für Neues, Sich-Trennen von Gewohntem und Zugehen auf unbekannte Dimensionen und veränderten Herausforderungen und erneuten Grenzerfahrungen.
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2 «... manchmal bin ich so allein...» Grenzen fordern, Grenzen faszinieren, Grenzen schrecken die Kinder
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Petra Herbert zupft Unkraut im Garten. Sie kniet an einem Blumenbeet, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Frau Herbert haßt Gartenarbeit - wie ihr Mann und ihre beiden Kinder. «Nur an mir bleibt eben alles hängen», denkt sie. Maria, fünf Jahre, die jüngste Tochter, tritt hinzu: «Ach, hier bist du. Habe dich gesucht.» Keine Antwort, nur ein kurzer, mürrischer Blick. Maria bleibt am Rande des Beetes stehen, blickt ziellos in die Runde, dann zur Mutter, die - still in sich hineinfluchend - das Beet weiter säubert. Die Tochter schaut interessiert hin, während in der Mutter allmählich die Säuernis hochkommt. «Das stieß mir im Magen auf», sagt sie später. «Aber ich hab's nicht zur Sprache gebracht, nur indirekt, wie's typisch für mich ist.» Sie fing an zu lamentieren, leise, aber vernehmlich «Maria sollte es ja hören». «Früher habe ich immer müssen.» Sie zog an einem besonders hartnäckigen Unkraut, riß es mit viel Schwung heraus und verletzte sich an den Rosen. «Verdammt! Ich hab immer helfen müssen, da gab's nichts. Höchstens etwas hinter die Ohren.» Sie machte eine kurze Pause. «Und wehe, es gab Widerreden!» Frau Herbert schüttelt ihren Kopf, so, als wolle sie vergangene Schläge abschütteln. «Nein, in den Garten mußten wir immer.» Maria steht wie teilnahmslos da, geht dann in die Knie, findet einen Marienkäfer, läßt ihn auf den Handrücken krabbeln und beobachtet ihn intensiv. «Guck mal, ein Marienli.» Sie lacht. Keine Reaktion der Mutter. «Schau mal hier!» Maria hält ihn der Mutter vors Gesicht. Diese schaut kurz auf, verärgert, ihre Hand geht zur Stirn, sich den Schweiß erneut abwischend. «Ja, helfen mußte man früher.» Maria haucht den Käfer an, summt ein Lied. Endlich fliegt er weg, sie lacht. «Mußt du dich immer nur vergnügen?» Petra Herberts Stimme hat einen scharfen, aber doch unbestimmten Ton. «Hast du nichts anderes im Kopf?» -3 7 -
«Mama?!» Keine Reaktion. «Mama!» Marias Stimme wird fester. Frau Herbert blickt auf, während Maria langsam aufsteht: «Mama! Wenn ich dir helfen soll, dann sag bitte: ‹Maria, hilf mir beim Unkrautzupfen.› Dann helfe ich dir auch!»
Kinder berichten «Das war harte Arbeit...!» Ich komme eine Woche vor Beginn der großen Ferien in eine vierte Grundschulklasse. Ich kenne die Kinder durch zwei Hospitationen, die ich auf Wunsch der Klassenlehrerin durchgeführt habe. Der Grund waren die «ständigen Anmachen», denen sie sich ausgesetzt fühlte. Als ich die Schule betrete, kommt mir Frederick, einer der «Wortführer und Unruhestifter», entgegen. Er strahlt: «Heute haben wir es geschafft!» «Toll, habt ihr schon eure Noten erfahren?» Frederick schaut verwundert: «Wieso Zeugnisse?» «Na ja, das Schuljahr geht doch zu Ende.» Ich schaue ihn an: «Und ich denke, nun weißt du, wie's weitergeht!» Bei diesen Worten schüttelt er heftig den Kopf. «Quatsch! Wir haben's heute geschafft!» Er schaut mich an, als ob ich eine lange Leitung hätte. «Kapieren Sie's immer noch nicht?» Ich zucke die Schultern. «Heute ist sie heulend rausgerannt!» Ein Grinsen breitet sich über sein Gesicht aus. «Wer ist rausgerannt?»
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Frederick atmet tief aus, sagt in einer Mischung aus Mitleidigkeit und Verständnis: «Na, Frau Kalthoff.» Das ist Fredericks Klassenlehrerin. «Was ist passiert?» Er zögert einen Augenblick: «Tja, ich bin aufgestanden, hab mich in die Ecke gestellt und da hingepinkelt.» «Find ich 'ne verdammte Sauerei von dir», rufe ich spontan. «Ich auch!» entgegnet Frederick. «Aber was soll man machen?» Er sieht mich fragend an: «Ehrlich, was soll man da machen?» «Bestimmt nicht in die Ecke pinkeln!» «Mußte sein. Die hatte doch für alles Verständnis, also so etwas!» Er schüttelt den Kopf. «Ich wußte doch nie, wann die sauer auf mich oder auf die Klasse war. Ehrlich! Das wußte man nicht!» «Du wolltest mal sehen, wie weit du gehen kannst?» Frederick schmunzelt. «Und?» «War das eine harte Arbeit, bis ich das wußte!» Er überlegt, er wirkt fast weise: «Vier Jahre, stellen Sie sich das vor... vier Jahre!»
«Ich weiß, wie ich meine Eltern rumkrieg!» «Also», erklärt mir Fabian, neun Jahre, «wenn ich etwas haben will, dann ist es ganz einfach, ich sag dann nur, alle anderen haben das auch. Also mit dem ‹Game boy›. Und da hab ich dann eben gesagt, keiner spielt mit mir, ich bin so alleine.» «Genau», unterbricht ihn Marion, seine Mitschülerin. «Mama kann ich ganz leicht überreden.» Sie überlegt. «Und wenn das mal nicht so richtig klappt, dann ist ja auch noch Papa da. Der erlaubt viel mehr.» «Meiner nicht, der ist viel strenger. Der schimpft immer gleich.» Petra, acht Jahre, nickt heftig mit ihrem Kopf. «Bei dem -3 9 -
bekommt man nichts, ehrlich.» Sie schaut in die Runde. «Meiner ist auch streng», hakt Tim ein, «aber der vergißt immer alles, was er so an mich ranmeckert. Der sagt immer, du siehst eine Woche kein fern, weil ich was ausgefressen hab oder meine Schularbeiten vergessen. Und dann denke ich, morgen ist er eben nicht da und Mama...» Tim macht eine wegwerfende Handbewegung, «die ist eben nicht so schlimm. Ja, und dann guck ich eben fern... und übermorgen hat Papa das sowieso schon wieder vergessen.» Er lächelt still in sich hinein: «Die meckern doch nur. Da hör ich doch schon gar nicht mehr richtig hin. Die halten sich doch gar nicht mehr daran, was die sagen.» Tim wiegt seinen Kopf. «Wie bei uns in der Schule der Herr Schwabe», ergänzt Adrian, «genau so!» «Was ist mit Herrn Schwabe!» will ich wissen. «Ich weiß nicht.» Er schaut mich an, zuckt mit den Schultern. «Der will immer so unser Freund sein, na ja, eben kein Lehrer, weißt du? Und mit einemmal meckert er dann doch so richtig rum. Nicht so richtig, aber so nörgelig. Wie Mama, wenn sie mit mir sauer ist. Dann steht sie in der Küche rum und brummelt so rum. Ich kann sie dann nicht richtig verstehen, aber sie grummelt immer so in ihren Bart.» Adrian ahmt seine Mutter nach, macht ein ärgerliches Gesicht, läßt die Schultern fallen und gibt unverständliche Laute von sich. «Und das kann ich nicht ab. Nee.» Er überlegt kurz: «Dann soll sie doch laut meckern.» «Meine Mama meckert ganz schön laut.» Sarah nickt heftig. «Die schreit dann zum Schluß. Erst ist sie noch ganz lieb und läßt sich alles gefallen.» Sie überlegt. «Und wenn ich dann nerv oder mein Bruder, dann platzt sie mit einemmal. Ihre Augen werden so groß und der Mund. So stell ich mir 'ne Hexe aus dem Märchen vor...» «Oder einen Werwolf», fällt Julian ins Wort. «Also so ist meine Mutter auch. Da denkt man, das ist noch Spaß, weil sie sich das gefallen läßt, und mit einem Male steht da ein Wolf vor mir und will mich fressen. Dann bekomm ich's in echt mit der -4 0 -
Angst zu tun!» Ich schaue Julian an: «Und was möchtest du von deiner Mutter?» Er zuckt die Schultern, sagt dann eher fragend: «Weiß nicht?» «Aber ich», ruft Sarah: «Sie soll sagen, warum sie das nervt.» «Nee», meint Julian, «irgendwie anders. So anders.» «Was anders?» frage ich. «Irgendwie anders, ich weiß doch immer, was kommt!» ist sich Julian sicher. «Erst ist meine Mutter ruhig und dann schreit sie.» «Ja, das ist doch langweilig.» Sarah überlegt: «Das müßte irgendwie spannender sein, wenn ich mir nicht immer solche Sachen ausdenken würde, wo sie so ausflippt, das war doch echt ätzend bei uns. Stinklangweilig!»
«Manchmal krieg ich echt Angst!» Auf meine Frage «Was haltet ihr von Regeln im Hause oder in der Schule», entfährt es Ramona spontan: «Nichts!» Ramona ist elf Jahre, Grundschülerin. «Sind Regeln nicht auch hilfreich?» will ich wissen. «Das setzt nur Schläge», entgegnetsie sofort. Ich seh sie fragend an. «Wenn ich nicht still bin beim Essen oder so, muß ich sofort aus dem Zimmer.» «Und?» «Geht ja noch, meistens hat mein Vater dann ohnehin schlechte Laune.» Sie sieht mich an. «Aber wenn ich mal was Schlimmes gemacht hab...?» «Was Schlimmes?» «Vergessen, den Tisch zu decken oder so... dann sagt er: ‹Du hast noch zwei Freikarten!›» «Versteh ich nicht.» «Wenn ich's dann noch zweimal vergesse, dann sagt er, es ist wieder soweit.» Ihre Stimme wird leise, zittert ein wenig, sie schaut mich ganz ernst an: «Dann holt er die Hundepeitsche!» -4 1 -
«Was holt er?» «Die Hundepeitsche!» Ihre Stimme klingt fast gleichgültig, nahezu unbeteiligt. «Und dann kriege ich sie dreimal. Für jedesmal Vergessen einen Schlag, sagt mein Vater.» «Der ist aber gemein», fällt Björn ins Wort. «Nur manchmal, meist ist er ja gut», entgegnet Ramona. «Das tut doch weh », insistiert Björn. «Merk ich schon nicht mehr.» Ramonas Stimme ist kaum noch zu hören, ihre Augen schauen traurig nach unten: «Ich mag keine Regeln.» «Ich auch nicht», ruft Florian. «Wenn ich mal was mache, was Mutti nicht paßt, dann redet sie nicht mehr mit mir. Dann bin ich für sie Luft. Manchmal redet sie dann zwei oder drei Tage nicht mit mir.» Er schaut sich um. «Aber ich hab noch Willi.» Ich bin irritiert. «Das ist meine Kuschelpuppe. Mit der rede ich.» «Aber die versteht dich doch nicht?» Ramona schaut ungläubig. «Doch, die versteht mich!» «Ich denke, bestimmte Regeln machen doch aber auch Sinn, die sind wichtig!» werfe ich ein. «Wenn die Ampel rot ist, dann bleib ich stehen. Das ist eine gute Regel», ruft Kathrin. «Aber meistens sind Regeln blöde.» Petra schaut mich an. «Immer wenn Erwachsene nicht mehr weiterwissen und schimpfen, dann sagen sie: ‹So wird's gemacht!›» «Was sollen denn Erwachsene machen?» «Die können uns doch mal nach Regeln fragen!» «Wie meinst du das?» Petra: «Wir können doch auch denken. Und wenn die uns fragen, vielleicht wissen wir dann ja auch eine Antwort.» Björn nickt: «Eltern wissen immer alles besser und denken, wir sind nicht schlau.» Er lächelt: «Aber wir sind viel schlauer als die.»
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«Sagt meine Mutter auch immer», ergänzt Petra, «die sagt immer, wir haben es faustdick hinter den Ohren, wenn wir sie mal wieder angeschmiert haben.»
Über Grenzen und gegenseitige Achtung Manche Schwierigkeiten in der Kindererziehung, wie man sie allenthalben beobachtet, gründen sich auf mangelnde Grenzziehung. In Gesprächen - vor allem mit älteren Kindern wird deutlich, wie sich Heranwachsende von Erwachsenen im umfassenden Sinn allein gelassen fühlen. So sind viele störende und zerstörerische, auffällige und auffallende Aktionen und Aktivitäten im Alltag - ob nun in Kindergarten, Schule oder zu Hause - Versuche, sich in einer diffuser werdenden Welt, die keine Orientierung bietet, zurechtzufinden. Manchmal beobachte oder höre ich von ganz verzweifelten Versuchen, sich zu spüren, hilflos nach Hilfe zu schreien. Die sechsjährige Pia spielt ständig mit der Schere. Obgleich sie fähig ist, diese situationsangemessen zu verwenden, schneidet sie sich mit großer Regelmäßigkeit in Hand und Arm - so heftig und so lange, bis sie blutet. In Familiengesprächen stellt sich heraus: Nur bei Schmerz, Verletzung und Trauer bekommt Pia Aufmerksamkeit von ihren Eltern, die sich ansonsten nur mit sich und ihren Berufen beschäftigen, ohne von ihrer Tochter Notiz zu nehmen. Klaus, neun Jahre, ist ein «Pechvogel». So tituliert ihn seine Umgebung: Mal wird er von einem Auto angefahren, mal stürzt er schwer von einem Rad, mal bricht er sich beim Fußball das Nasenbein, mal renkt er sich beim Turnen einen Finger aus... Verletzungen, Schmerzen bestimmen seinen Alltag, sind aber auch Basis seiner Beziehungen. «Nur wenn ich im Bett liege und krank bin, kümmern die sich um mich.» Mit «die» sind seine Eltern, die Geschwister, Freunde und Verwandte gemeint. Kinder suchen manchmal Extremsituationen auf, um sich und ihre Grenzen zu spüren, um Beziehungen herzustellen. Die Gleichgültigkeit, die mangelnde Annahme, die Kinder in -4 3 -
manchen Beziehungen spüren und die das Gefühl hervorruft, allein zu sein, bringt Kinder - bewußt oder unbewußt - dazu, mit Grenzerfahrungen zu spielen, sich in unüberschaubare Situationen zu begeben und möglicherweise zu verlieren. Hinter maßlosen Grenzüberschreitungen verbirgt sich auch der Wunsch nach Festigkeit und Klarheit. Rober, 16 Jahre, nimmt häufig das Motorrad seines älteren Bruders, rast damit nachts über die Straßen. «Die sollen mich erwischen», sagt er. Mit «die» sind seine Eltern gemeint. «Was passiert dann?» Sein Gesicht bekommt einen zynischen Ausdruck: «Mama sagt, im Urlaub fahren wir nach Frankreich an den Strand. Da kannst du richtig gut Motorrad fahren!» «Und was willst du?» «Eins vors Schienbein...!» «Und von wem?» «Von meiner Mutter oder meinem Vater... so doll, daß ich schreie.» Es ist paradox: Auf der einen Seite sind Heranwachsende materiell überversorgt, ihnen mangelt es an nichts, auf der anderen Seite herrscht in manchen Eltern-Kind-Beziehungen eine unvorstellbare gefühlsmäßige Leere und Kälte. Persönliche Zuwendung erzwingen diese Kinder nur über negativ-schmerzhafte Erlebnisse: sei es, daß Schmerz gesucht wird, um Mitgefühl zu spüren, sei es in Form von körperlicher Erniedrigung und Mißhandlung. «An schöne Berührungen kann ich mich nicht erinnern», meint die 13jährige Jessica, «aber an diese fürchterlichen Schläge. Also bin ich ihr doch noch nicht gleichgültig, hab ich gedacht, als ich am Boden lag und Mama auf mich eingeschlagen hat.» Kinder wollen Grenzen und Regeln. Sie wünschen Klarheit. Sie wollen wissen, woran sie sind. Grenzen bieten dabei Hilfe, geben Schutz, bauen ein verläßliches Koordinatensystem auf, in dem man sich - zumindest eine Zeitlang - zurechtfinden kann. Und zugleich reizen Grenzen, Räume jenseits bekannter Grenzen kennenzulernen und diese zu erobern. An Grenzen zu -4 4 -
stoßen, sich an ihnen zu reiben bedeutet für das Kind, Grenzen seiner momentanen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu erkennen, so daß aus dem «Ich kann es noch nicht» irgendwann - mit Unterstützung der Eltern und unter Mithilfe des Kindes - ein «Ich kann es» wird. An Grenzen zu stoßen, sich an Grenzen zu reiben kann Kinder motivieren, Neues zu wagen und auszuprobieren. Tilmann, acht Jahre, ein leicht wahrnehmungsgestörtes Kind - mit Problemen in der Fein- und Grobmotorik - ist in der Bewegungstherapie. Schon seit Monaten übt er die Balance auf einem Seil, versucht, von einem Ende zum anderen zu laufen. Er müht sich, schafft jeden Tag ein größeres Stück mit ermutigender Unterstützung des Therapeuten und der Mutter. Eines Tages - auf dem Weg zu seiner wöchentlichen Trainingsstunde - hört er im Autoradio Neil Armstrongs berühmt gewordenen Satz nach der ersten Landung auf dem Mond: «Ein kleiner Schritt für mich, ein großer für die Menschheit.» An diesem Nachmittag klettert Tilmann wieder aufs Seil, versucht den Gang immer noch mal - bis er es schließlich schafft. Als er am anderen Ende steht, meint er ganz gelassen: «Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer für Tilmann.» Kinder spielen mit Grenzen, um sich zu prüfen, zu entwickeln, sich lustvoll Gefahren auszusetzen, Ängste auszuhalten und zu durchstehen. Die Faszination von Grenzüberschreitungen zeigt sich in der hohen subjektiven Bedeutung, die Kinder jenen Helden und Heldinnen in den Medien - ob nun in Märchen, Buch oder Film - zuweisen, Helden und Heldinnen, die gewohntes Terrain verlassen, ausziehen, sich zu bewähren, die Abenteuer wagen, sich mit bösen und geheimnisvollen Mächten auseinandersetzen, die an Verboten und Tabus rütteln, um dann gereift und gestärkt zurückzukommen. Solch Hinausgehen, Sich-Messen und SichEntwickeln vollzieht sich aber nur auf der Basis des Vertrauens und des Wissens um eigene Stärken und Kompetenzen und des Gespürs, daß es Zufluchtsstätten und Zauberformeln gibt, die Sicherheiten bieten.
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Medienhelden nehmen - vor allem in den Zeichentrickserien und im Spielzeugmarkt - stellenweise groteske Formen an: Überzogene Häßlichkeit herrscht vor. Abenteuer und Kämpfe sind nicht selten reduziert auf die Aneinanderreihung von Actionszenarien und einfachster archetypischer Symbolik. Nichtsdestotrotz fliegen Kinder darauf. Je greller und schriller, desto besser; je intensiver das Miterleben und das In-denBann-geschlagen-Werden, um so größere Bedeutung erhalten solcherart «Schmachtfetzen». Diese Faszination hängt auch zusammen mit der erlebnisärmeren Um- und Nahwelt der Kinder. Medienhelden leben Kindern das vor, was diese möglicherweise entbehren. Audiovisuelle Medien gestatten auf Knopfdruck das, was die Realität nicht anbietet oder nicht - mehr - zuläßt. Wenn Kinder also jene Helden und Heldinnen verehren, die sich in der Grenzüberschreitung bewähren - man denke nur einmal an die Märchenhelden -, dann gibt das zugleich Hinweise auf die seelische und gefühlsmäßige Befindlichkeit der Heranwachsenden bzw. darauf, was Kindern heute abgeht. So wie Grenzen Sicherheiten geben und herausfordern, so verunsichern fehlende Grenzen. Kinder sind haltlos. Und Kinder spüren, wie sich viele Eltern der wichtigen Aufgabe des Grenzensetzens immer mehr entziehen. Und zugleich fühlen Kinder, wie sich elterliche Grenzenlosigkeit nicht durchhalten läßt. Kinder sind verunsichert ob des letztlich inkonsequenten Erziehungsverhaltens: Das Nach- und Nebeneinander aus Zuckerbrot und Peitsche, aus Unterdrückung und Nachgiebigkeit, aus «langer Leine» und unkontrolliertimpulsiver erzieherischer Aggression können Kinder nicht oder nur schwer nachvollziehen. Grenzen und Regeln bedeuten beim grenzenlos-gleichgültigen Erziehungsstil häufig Verbote und Strafen. Letztere sind für Kinder deshalb negativ besetzt, weil sie darauf abzielen, den kindlichen Willen zu brechen. Strafen und Verbote sind kein geeignetes Mittel, Grenzen zu setzen: Verbote führen zu Heimlichkeit und Lügen, belegen neue Erfahrungen mit unangenehmen Gefühlen und schlechtem Gewissen. Strafen blockieren, machen und halten -4 6 -
Kinder klein, nehmen sie nicht als eigenständige und mitdenkende Partner ernst. Verbote und Strafen - das ahnen und fühlen Kinder - entspringen nicht selten unkontrollierter Spontaneität, sind Ausdruck von Hilflosigkeit und letztlich ausgerichtet an den Bedürfnissen des Erziehenden. Verbote und Strafen, Zuckerbrot und Peitsche - meist in einer Mischung aus Rache, Vergeltung und Nicht-mehr-weiter-Wissen eingesetzt - deuten darauf hin, daß Absprachen und Regeln fehlen, um - kritische - Alltagssituationen zu bewältigen. Das entscheidende Problem grenzenloser Gleichgültigkeit liegt darin, daß sie kindliche Grenzüberschreitungen lange ignoriert, duldet und damit positiv verstärkt - so lange jedenfalls, bis es Eltern nicht mehr aushalten. Kinder hingegen spielen solcherart Machtkämpfe bis zum Exzeß durch. Auf kindliche Grenzüberschreitungen ist einzugehen; sie sind Hinweise darauf, bestehende Grenzen möglicherweise zu variieren, zu erweitern, oder aber darauf, den Grenzüberschreitungen mittels abgesprochener Konsequenzen Einhalt zu gebieten. Konsequent zu sein hat nichts mit Demütigung der Kinder - «Du bist sowieso zu blöd!» - oder deren Erniedrigung - «Das lernst du sowieso nicht!» - zu tun. Kindern Grenzen zu setzen bedeutet, sie zu achten, sie als Mitmenschen an-zu-sehen. Und dies meine ich ganz wörtlich: Wer über Kinder redet und das Beste für sie will - «Du sollst es einmal besser haben!» -, der sieht über sie hinweg, der über-redet sie. «Jeder hat das Recht, in seiner Rolle geachtet zu werden.» So hat es der amerikanische Psychologe Dreikurs ausgedrückt. Grenzen setzen und konsequent sein gründet auf gegenseitiger Achtung, Kinder zu achten zieht nach sich, auch von Kindern die Achtung zu erwarten, die man ihnen entgegenbringt. Und weiter: Die Würde des Kindes zu respektieren heißt, Kindern zu vermitteln, daß sie die Würde des Erziehenden anerkennen. Kindern Grenzen zu setzen schließt ein, den kindlichen Körper und die Sexualität des Kindes, die kindliche Psyche und die Seele zu respektieren.
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3 «Ich meine es nur gut mit dir...» Begrenzte Wirklichkeitserfahrung im Alltag
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Kind, Raum und Zeit Mario, fünfeinhalb Jahre, besucht den Kindergarten, er ist ein - wie die Erzieherinnen sagen - «pflegeleichtes Kind». Er weiß um seine Wirkung auf Erwachsene, kokettiert mit seiner einnehmenden Persönlichkeit. Marios Eltern kümmern sich intensiv um ihren Sohn. Er wird vielseitig gefördert. Regelmäßigkeit und klare Abläufe zeichnen seinen Alltag aus. Mario spielt viel, ist fleißig, umsichtig, aber er gestattet sich kaum Pausen, geht ständig bis an seine körperlichen und intellektuellen Grenzen. So ist es nicht verwunderlich, wenn er häufig «gestreßt» wirkt. Spontanes Handeln sieht man selten bei ihm. Statt dessen plant er sehr genau und im voraus. Frustrationen vermag Mario nur schwer auszuhalten: Er will «alles richtig machen». Abends «schlafft Mario», wie seine Mutter sagt, «völlig ab». Er verweigert sich Gesprächen, zieht sich vielmehr schnell in sein Zimmer zurück. Er ist «bockig» und geht auf Spielangebote seitens der Eltern nicht ein. Beim Abendessen spielt er mit den gereichten Speisen, «mosert daran herum oder mischt die Situation richtig auf». So erinnert sich der Vater. «Dabei bemühen wir uns sehr um ihn», sagen die Eltern. Diese Bemühungen werden im Tagesablauf sichtbar: Morgens besucht Mario den Kindergarten - «Wir haben den besten am Ort ausgesucht!» -, desgleichen am Montag- und Mittwochnachmittag. An diesen Tagen arbeitet die Mutter. Der Kindergarten bietet zu dieser Zeit ein sportlich anspruchsvolles Bewegungsprogramm an. Dienstags geht Mario mit seinem Freund Robert in den Blockflötenkurs einer Musikschule; donnerstags fährt man mit einer Gruppe von Kindern - begleitet von den Müttern - auf einen nahen Abenteuerspielplatz. Der Freitag ist dem Einkaufsbummel mit der Mutter vorbehalten. Für die Wochenendgestaltung ist Marios Vater zuständig. «Früher wurde ich allein gelassen. Mario soll es da besser haben.» Auf der Grundlage von mehr als neunhundert Tagesabläufen, die ich bei fünf- bis elfjährigen Kindern untersucht habe, lassen
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sich - auch auf der Basis anderer Studien - einige verallgemeinerbare Tendenzen festhalten: 1. Kinder machen in ihrer Um- und Nahwelt ganz spezifische Raum- und Zeiterfahrungen. So sind viele Kinder häufig in einen engen Terminkalender eingezwängt. Dies bedeutet: Es dominiert eine funktionale Zeitorganisation, die sich an objektiven Gegebenheiten orientiert und eine genaue Planung nach sich zieht. Wachsende (An- oder Überforderungen häufig vermittelt über elterliches Anspruchsdenken - «Ihr sollt es einmal besser haben!» - machen genau abgestimmte Tagesabläufe notwendig, um die verschiedensten Interessen vor allem, wenn es noch mehr Kinder in einer Familie gibt miteinander in Einklang zu bringen. Immer mehr Mütter managen die Zeit ihrer Kinder, arbeiten als «Taxi-Chauffeure», die die Heranwachsenden von einem Ort zum nächsten oder von Termin zu Termin transportieren. Und immer weniger können Kinder ihre freie Zeit selbst gestalten. Langeweile. Nichtstun oder Müßiggang wird nicht gern gesehen und deshalb häufig unterbunden. Für mich ist es nicht verwunderlich, wenn Kinder zunehmend Probleme damit haben, die ihnen zur Verfügung stehende freie Zeit selbständig auszufüllen, wenn sie ständig Erwachsene fragen, was sie denn nun noch machen sollen. 2. Die Kinder lernen den Umgang mit sogenannten Funktionsräumen, mit Räumen zum Spielen, Toben, zum Lautsein, zum Malen, zum Matschen, zum Kneten... Spontane und unmittelbare Raumaneignung gestaltet sich schwieriger: Die Straße ist viel befahren, meist gepflastert, oder geteert, und selbst ein Tempolimit - sofern es eingehalten wird - setzt den Kindern enge Grenzen. Die ungestaltete Wiese, der Park, der Wald sind für viele Kinder weit entfernt und häufig schwer zu erreichen. Wenn aber Spielplätze nicht mehr in der Nähe des Wohnortes zugänglich sind, zieht das Verabredungen oder lange Anfahrtswege nach sich. 3. Wenn Kindern die spontane Raumaneignung schwergemacht wird, hat das Auswirkungen auf das Körpergefühl und das Orientierungsvermögen der Kinder. -5 0 -
Wenn man es Kindern schwermacht, sich - in Räumen - so zu bewegen, wie sie es gerne haben - eben nicht nur geplant und vorausschauend, sondern auch ziellos herumstromernd, bummelnd, laufend, mal leise, mal laut, mal die Regeln einhaltend, mal sie verletzend -, hat das durchaus Folgen für das Bewegungsgefühl und -bedürfnis von Kindern. In dem Maße, wie man diese einschränkt, in dem Maße will man sie durch pädagogisch überformte Bewegungsprogramme ausgleichen: Wenn das Toben im Park nicht möglich oder zugelassen ist, bleibt ja - ich überspitze - der Ballettunterricht; wenn die körperlichen Rangeleien am Nachmittag zwischen Kindergruppen unterbunden sind, dann bleiben Judo und Karate im Sportverein. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Ich habe nichts gegen solche körperlichen Betätigungen, wenn sie sich an kindlichen Bedürfnissen und ihrem Entwicklungsstand orientieren. Ich beobachte allerdings den gegenläufigen Trend: Kinder können sich seltener die Räume unmittelbar und spontan aneignen, gleichzeitig wird ein pädagogisches Ausgleichsprogramm verordnet - nach dem Motto: «Ich will doch nur dein Bestes!» In diesem Zusammenhang wird ein weiterer Gesichtspunkt wichtig: Wenn Eltern ihre Kinder von einem Ort - z. B. dem Kindergarten - zum nächsten - z. B. dem Flötenunterricht transportieren, so hat das Auswirkungen auf das Zeit- und Bewegungsgefühl von Kindern. Aneinandergereihte Termine drücken, bestimmen das Tempo und die Abläufe. Zwischenräume, die notwendig sind, um sich zu entspannen, abzuschalten oder sich einzustimmen, verlieren an Bedeutung: Wenn man von Veranstaltungsort zu Veranstaltungsort gefahren wird, verlieren Zwischenräume an Erlebnisqualität, sie huschen - durch das Autofenster betrachtet - im wahrsten Sinne des Wortes vorüber.
Wege und Bewegung Wenn Wege nicht mehr gegangen, also erlebt und erfahren, sondern vor allem gefahren werden, so wirkt sich dies auf das Zeit- und Raumgefühl von Kindern aus. Solche Einflüsse zeigen -5 1 -
sich nicht immer spektakulär, sie fallen nicht sofort ins Auge gleichwohl prägen sie den Alltag von Kindern. Mark bestand, als er fast sechs Jahre alt war, darauf, allein in den Kindergarten und von dort nach Hause zu gehen. Die Mutter erlaubte es ihm schließlich, weil ihn zwei gleichaltrige Freunde begleiteten. Mark erzählt: «Morgens ging es ganz schnell. Wir wollten zum Frühstück da sein. Das ist so gemütlich bei uns im Kindergarten. Nach Hause haben wir immer gebummelt. Erzählt haben wir uns was. Die ganzen Streiche und so. Beim Regen war's am schönsten. Da konnten wir in den Pfützen planschen. Oder im Sommer, da waren da Mauerritzen an so 'ner alten Mauer. Da waren immer kleine Echsen drin. Oder wenn wir ein bißchen Geld hatten, sind wir zu Tante Klara, um uns Kaugummi zu kaufen.» Ein Jahr später besucht Mark die Grundschule in der nächsten Stadt: Morgens nehmen ihn Nachbarn im Auto mit, mittags holt ihn die Mutter ab: «Das ist überhaupt nicht mehr gemütlich. Wir müssen leise sein. Und erzählen können wir uns auch nichts mehr. Mama hört ja mit. Und bei so gefährlichen Sachen, da hört sie immer genau hin. Und dann fragt sie immer. Ja, sie fragt immer: ‹Wie war's? Was für Hausaufgaben habt ihr?› Das nervt! Ehrlich! Aber bald darf ich mit dem Fahrrad in die Schule. Da freue ich mich schon drauf. Endlich wieder mal alleine sein!» Es geht nicht darum, daß immer mehr Kinder mit Schulbussen zum Unterricht oder zum Kindergarten gebracht werden. Mir ist bewußt: Viele Kinder brauchen Schulbusse, um überhaupt zum Unterricht zu kommen. Aber zunehmend bringen «mütterliche Taxifahrer» ihre Kinder morgens zum Unterricht und holen sie mittags wieder ab. Dasselbe gilt für den Kindergarten. Durch das Fahren mit Auto und Schulbus läuft der Weg in die bzw. von der Schule in immer gleichen Zeiträumen ab. Vor allem die - aus kindlicher Sicht - manchmal durchaus überflüssigen Autofahrten bedeuten einen Eingriff in die Wirklichkeitsaneignung und Raumerfahrung von Kindern: • Der selbst gestaltete Weg in die Schule wird in der Regel konzentrierter und schneller bewältigt, um den Beginn nicht zu -5 2 -
verpassen. Man geht rascher, durchschreitet Räume zielstrebiger. Die Wahrnehmung ist meist flüchtiger, man läßt sich weniger ablenken. • Pünktlichkeit zieht nach sich, Zeit zu organisieren, Zeit zu erleben, die sich an objektiven Gegebenheiten und Sachzwängen orientiert. Man spricht von einer funktionalen Zeitorganisation. Sie ist manchmal unverzichtbar. Und Pünktlichkeit kann eine Regel sein, die nützlich und hilfreich ist. Die Fahrt mit dem Auto ist - in der Regel - erlebnisärmer, reglementierter, bequemer. Hinzu kommt: Die häusliche Erziehung verlängert sich in den Schulweg hinein. • Auf dem Weg von der Schule nach Hause kann gebummelt oder getrödelt werden. Man bleibt stehen, schaut, sieht vieles, was man am Morgen übersehen hat. Man macht Umwege, entdeckt Neues oder Vertrautes, verarbeitet schulische Erfahrungen, schimpft auf Lehrer und Mitschüler, heckt Streiche aus, geht Freundschaften ein oder erlebt Feindschaften. Rangeleien oder körperliche Auseinandersetzungen gehören ebenso zum Schulweg wie - vor allem in der letzten Zeit zerstörerische Gewaltakte, die manchmal bedrohliche Ausmaße annehmen. Ist vom Kind auf dem Hinweg Zeitdisziplin gefordert, so kann die Zeit auf dem Rückweg subjektiv, d. h. orientiert an eigenen Zeitbedürfnissen, gestaltet werden. Dominierte auf dem Hinweg ein funktionaler Zeitbegriff, so kann nun eine ganz persönliche Zeiterfahrung gelebt werden. Schulwege - ob nun zu Fuß oder mit dem Fahrrad haben zu tun mit selbstbestimmter und -gestalteter Eroberung der Nah- und Umwelt. Und selbst die lebensfeindlichen und versteppten Betonwüsten mancher Trabantensiedlungen setzen die Wünsche der Kinder nach eigentätiger Raum- und Zeitgestaltung nicht gänzlich außer Kraft - aber: Sie erschweren sie, grenzen sie ein. • Die technische Überbrückung von Distanzen zieht Rationalisierung nach sich: je kürzer, je schneller, desto effektiver und besser. Aber auch zeitliche Reglementierungen Terminpläne und -abstimmungen - werden immer wichtiger.
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Deshalb stehen Zeitabsprachen in vielen Familien als Gesprächsinhalt,obenan. Wer Wege einschränkt, begrenzt das Gehen und Stehen, das Toben und Springen, das Klettern nund Balancieren. Sich bewegen und wahrnehmen, fühlen und denken gehören eng zusammen. Wer geht, läuft oder rennt, nimmt Sinneseindrücke mit dem ganzen Körper wahr. Durch Bewegen lernen Kinder sich, ihren Körper und ihre Umwelt kennen. Der Schulweg bei Regen ist ein anderer als bei praller Sonne, der Weg allein läßt andere Erfahrungen zu als der mit Freunden, eine Steinmauer lädt zum Balancieren ein, ein Busch, einen Zweig abzubrechen, um daraus eine Pistole zu basteln, die geschlossene Bahnschranke fordert zu einem Wettlauf, das Davorstehen zum Verschnaufen und zum Rätseln, wohin der Zug wohl fahren mag, die rote Ampel fordert auf, sinnvolle Regeln einzuhalten. Wege zu beschreiten heißt, Grenzen zu erleben, Widerstand zu spüren, sich abzusetzen, zu distanzieren. Sich bewegen und die Entwicklung des Ichs hängen zusammen. Wo Entfernungen gefahren und nicht mehr er-laufen, er-fahren werden können, prägt das die psychischmotorische Befindlichkeit von Kindern. Natürlich: Die großräumige Organisation des Schulbetriebs erfordert Schulbusse, erfordert auch Terminabstimmung oder die mobile Überwindung vom Räumen. Und weiter: Es gibt Schulwege, die gefährlich sind, deren Bewältigung der elterlichen Unterstützung und ermutigenden Anleitung durchaus bedürfen. Veränderungen in der Mikroweit des Schulweges, die anschaulich und exemplarisch direkte bzw. indirekte Eingriffe in kindliches Raum- und Zeiterleben aufzeigen sollen, haben ihre ganz spezifischen Konsequenzen. Wo man kindliche Raumaneignung einengt, wird das Kratzen an Grenzen leicht als Zerstörung gedeutet und schnell zum Vandalismus; wo man den kindlichen Bewegungsdrang stillegt, wird Toben und Laufen schnell zur impulsiv-unbeherrschten Aktion. Doch sind solche Eingriffe nicht nur ein Problem, das sich aus der Technologisierung und Mediatisierung der Kindheit ergibt.
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Wenn Kinder von Termin zu Termin, von Ort zu Ort gefahren werden, dann kann dies auch mit pädagogischer Bevormundung und Beeinflussung, mit Schutz und Bewahrung zu tun haben. In dem Maße, wie man Kindern nicht traut und noch weniger zutraut, man sie nicht läßt, wird das Bild eines hilfsbedürftigen, unmündigen Kindes gezeichnet: eines Kindes, das man einspannt in ein Erziehungsprogramm, welches zwar anspruchsvoll, aber nicht am Kind und seinen Entwicklungsbesonderheiten, vielmehr an den elterlichen Ansprüchen und Vorstellungen orientiert ist. Zwei weitere, kleinere Situationen vermögen den Zusammenhang von eingeschränkten Bewegungsabläufen und erzieherischer Beeinflussung aufzuzeigen. Mutter zu Juliane: «Hörst du, renne im Kindergarten nicht so viel herum, sonst schwitzt du wieder so.» Und im Hinausgehen zur Erzieherin gewandt. «Wenn Juliane tobt, dann wird sie naß und erkältet sich. Sie ist sowieso so anfällig für Krankheiten.» Als ich mit einer Gruppe von Kindergartenkindern in das Freigelände will, hält mich Pia fest und sagt traurig: «Heute kann ich nicht mit, ich hab meine Seidenschuhe an, die werden sonst dreckig. Mama hat gesagt, ich soll aufpassen.» Diese beiden Situationen rufen - je nach Standpunkt Schmunzeln oder Kopfschütteln hervor. Aber wer mit Erzieherinnen und Lehrerinnen redet, der weiß: Solche Situationen sind keine Ausnahmen. Immer mehr Kinder sind situationsunangemessen gekleidet. Damit schränkt man zugleich den kindlichen Bewegungsdrang - sicher ungewollt, aber auf subtile Weise - ein. Und viele Eltern sind sich über die Konsequenzen solcher «Stillegung» im unklaren. Wer körperliche Erfahrungen einschränkt, der kann Entwicklungsprozesse behindern. Im Schaukeln, im Laufen, im Springen, im Balancieren erfahren Kinder das Gefühl des Abhebens und der Schwerelosigkeit, des Rausches von Geschwindigkeit, der Geschicklichkeit und der Kraft. Das Kind erprobt und zeigt, was es kann. Nur über die praktische Bewältigung kommt das Kind zur gedanklichen Beherrschung. -5 5 -
Und dazu gehören auch Mißerfolge. Sie zeigen Grenzen auf, können zugleich ermutigen - oder auch entmutigen. Sicherheit in der Bewegung und ein wachsendes Selbstwertgefühl hängen eng zusammen, eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten und wenig Zu- und Selbstvertrauen aber auch. Über Bewegung wird Identität ausgebildet, werden soziale Beziehungen hergestellt. Und so kommt es nicht von ungefähr, wenn bewegungsgestörte, ungeschickte Kinder in der Gruppe häufig isoliert sind. Als ich dieses Thema mit Eltern auf einer Veranstaltung erarbeite, fragt Frau Daniels, Mutter zweier Kinder, genervt: «Ich sehe das schon ein. Aber sagen Sie mir, was ich machen soll. Ich achte doch schon auf vieles, und nun...» Sie kann ihren Satz nicht zu Ende bringen, eine andere Mutter fällt ihr ins Wort: «Ich gehe jedes Jahr gemeinsam mit meiner Tochter deren Terminkalender durch.» Sie macht eine kurze Pause. «Vor allem frage ich mich immer, welche Termine möchtest du, daß sie von den Kindern wahrgenommen werden? Und welche Termine möchten sie wohl wahrnehmen? Nur so gewährleiste ich, daß ich nicht meine Vorstellungen den Kindern überstülpe.» Die regelmäßige Überprüfung des kindlichen Terminkalenders kann eine Möglichkeit darstellen, übermäßige zeitliche Belastungen der Kinder zu kontrollieren. Zudem: Freizeit soll freie Zeit bleiben. Kinder brauchen Entspannung, das Gefühl, sich einmal fallenzulassen. Und dazu zählt - so schwer es manche Eltern vielleicht aushaken können -, mal in die Luft zu schauen, nur so dazusitzen... «Ich habe anfangs Schwierigkeiten gehabt», erinnert sich Frau Hubert, «meinem Sohn die Fahrt zur Schule mit dem Fahrrad zu gestatten. Ich dachte, er wäre noch viel zu klein. Er ist ja eben erst sieben Jahre. Ich hab mir da meine Gedanken gemacht.» Sie schaut sich sorgenvoll um. «Aber er hat keine Ruhe gegeben. Da hab ich mir schließlich einen Ruck gegeben. Nun geht es. Vor allem, weil er mit Freunden zur Schule fährt.» Sie überlegt: «Irgendwie ist er seitdem selbständiger geworden.
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Und bei uns kommen nicht diese ständigen Terminabsprachen dazwischen. Das hat zum Schluß wirklich genervt.» Zweifelsohne ist der automobilisierte Schulweg manchmal unumgänglich. Zu überlegen wäre jedoch, ob es unbedingt den elterlichen «Taxi-Verkehr» geben muß. Kinder brauchen auf dem Weg in die bzw. von der Schule soziale Situationen. Diese werden durch den gemeinsamen Fußweg mit Freunden ebenso gestaltet wie während der Fahrt mit dem Fahrrad oder im Schulbus. Wer Kinder unter einer Schutzglocke hält, macht sie untüchtig, der raubt ihnen wichtige Erfahrungen, die nur in der Auseinandersetzung, der Reibung und der Kommunikation mit anderen Menschen gemacht werden können.
Wahrnehmungsstörungen Cornelia, vier Jahre, fällt durch motorische Ungeschicklichkeiten auf. Ich will das an drei Situationen konkretisieren. Cornelia klettert auf einen Tisch, stellt sich dabei mehr als ungeschickt an. Sie kann Arme und Beine nur mühsam koordinieren. Hat sie den Tisch erklettert, läßt sie sich wie ein plumper Fisch auf den Teppichboden fallen. Sie vermag weder den Sprung noch den Sturz abzufedern und fängt trotz der Schmerzen erneut an zu klettern. In den Sportstunden beobachtet die Erzieherin, daß Cornelia weder balancieren noch rückwärts laufen kann. Nach maximal drei oder vier Schritten stolpert sie bzw. fällt sie um. Oder sie dreht sich um, um vorwärts zu gehen. Cornelia kann sich nicht anziehen, wenn die Kindergartengruppe von drinnen nach draußen wechselt. Sie ist unfähig, sich situationsangemessen anzukleiden. So läuft sie achtet man nicht konsequent darauf - auf Strümpfen in den Schnee oder im T-Shirt im kalten Regen. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Zur Deutung der geschilderten Situation habe ich die Eltern herangezogen. Cornelia ist körperlich und organisch gesund. Ihre motorischen und wahrnehmungsbedingten Störungen sind -5 7 -
kulturell, d.h. erzieherisch bedingt oder genauer: Sie sind Ausdruck eines bestimmten Erziehungsstils. Cornelias Mutter ist eine überfürsorgliche «Hochleistungsmutter»: • Die Sätze, die Cornelia häufig hört, lauten: «Paß auf!» «Sei vorsichtig!» - «Warte, ich komme!» Hinzu kommen noch Formulierungen wie: «Mach dich nicht schmutzig!» oder «Mach nichts kaputt!» • Bei allen spielerischen oder Bewegungsaktivitäten ihrer Tochter ist die Mutter anwesend, bereit, Cornelia im wahrsten Sinne des Wortes aufzufangen. Die Mutter ist bemüht, Cornelia vor negativen Erfahrungen zu schützen. Ihr wird alles erspart: Cornelia erlebt - ganz ohne Fernsehen - einen kulturellen Hospitalismus. • Dies betrifft gleichfalls Cornelias Umgang mit äußerer Realität. Sie durfte, wenn es regnete, nicht ins Freie, oder sie trug - auf Geheiß der Mutter - stets Kleidung, die unzweckmäßig oder bewegungshemmend war. Dazu die Mutter: «Aber ich habe es doch nur gut gemeint. Um mich hat sich nie einer gekümmert, da war nie einer da, der mir die Tränen trocknete. Und dann bin ich in den letzten Lumpen rumgerannt, die haben mich doch nur ausgelacht.» Bewegungsstörungen können - darauf haben die Forschungen von Ayres aufmerksam gemacht - auf Störungen in der sinngebenden Verarbeitung von Reizen im zentralen Nervensystem hinweisen. Anders ausgedrückt: Reize, die über Sinnesorgane aufgenommen und an das zentrale Nervensystem weitergeleitet werden, werden dort nicht, nur unzulänglich oder nicht angemessen verarbeitet. Symptome dieser Störung können sein: motorische Unruhe, erhöhte Ablenkbarkeit, Aggressionen und Selbstaggressionen, Konzentrationsstörungen, kurzzeitige Interessenzuweisungen, überzogene Ängstlichkeit und Unsicherheit, mangelndes Selbstvertrauen, Störungen in der Fein- und Grobmotorik oder fehlende Aufmerksamkeit. Die Ursache solcher Wahrnehmungsstörungen sind vielfältig: Sie sind - wie zahlreiche Publikationen - z. B. Fröhlich - belegen - auf organische Ursachen zurückzuführen. Auf diese sehr -5 8 -
komplexen biogenetischen Zusammenhänge will ich hier nicht eingehen. Wahrnehmungsstörungen können auch systemisch, d.h. Ausfluß einer Beziehungsstörung, sein: z. B. Folge einer andauernden Über- und Unterforderung, psychischen Stresses oder einer Störung in den Eltern-Kind-Beziehungen. Wahrnehmugnsgestörte Kinder sind manchmal Symptomträger, d. h., sie übernehmen die - vordergründig stabilisierende - Rolle eines verhaltensauffälligen Kindes innerhalb eines gespannten Familiensystems. Wahrnehmungsstörungen können auch kulturund zivilisationsbedingt sein, die Folge von Bewegungsmangel, aufgesetzten Erziehungsidealen und -normen, die sich mehr an elterlichen Vorstellungen denn am kindlichen Entwicklungsstand orientieren. Meist gibt es jedoch nicht die Ursache, vielmehr spielt ein ganzes Ursachenbündel ineinander. Dies trifft auch auf Cornelia zu. Hier behindert ein überbeschützender Erziehungsstil körperliche Selbsterfahrung. Die Unterforderung im Erleben von Körperlichkeit führt zu Störungen von Bewegungsabläufen und der Koordination der verschiedenen Sinnestätigkeiten. Cornelia wird schnell zum Sorgenkind, um das sich die Mutter noch mehr kümmern muß. Wahrnehmungsstörungen sind durch pädagogische und therapeutische Begleitung zu beheben: Cornelia besuchte eine Zeitlang psycho-motorische Kurse. Ergänzt wurden diese durch eine Kurzzeit-Familientherapie, in der Cornelias Mutter ermutigt wurde, ihre Tochter mehr zu lassen, um ihr so mehr Selbstvertrauen zu geben.
Körperliche Reaktionen Ungeachtet einer qualifizierten medizinischen Vorsorge und Betreuung leiden und erkranken immer mehr Kinder. Dies liegt nicht allein an den Ökologischen Belastungen, denen Kinder heute ausgesetzt sind. Dies liegt auch daran, daß der gutgemeinte Satz «Ich will doch nur dein Bestes» in
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psychischen Streß umschlägt. Kinder leiden unter ständigem Druck. Klaus, acht Jahre, hat seit vier Monaten eine chronische Mittelohrentzündung. Medikamente helfen nicht. Man hatte sich zu einer Operation entschlossen, als ich die Eltern und Klaus auf einem Familienseminar kennenlerne. Die Mutter erzählt mir von der Krankheit. Ich sage ihr: «Was mag der Klaus wohl nicht hören?!» Sie ist irritiert: «Wie meinen Sie das? Wir tun doch alles!» «Der kann irgend etwas nicht hören!» «Sie meinen, der macht die Ohren dicht, damit er nichts mehr hört?» «Nicht bewußt, aber sein Körper wehrt sich.» Ich will Hinweise zur Familie geben. Klaus hat eine Schwester, neun Jahre, und einen jüngeren Bruder, sechs Jahre. Die Eltern erklären die Unterschiede zwischen den Kindern so: «Klaus hat Schwierigkeiten in der Schule, bei den anderen läuft das. Nur Klaus, der setzt sich unter Druck. Klaus hat's besonders schwer. An seine große Schwester reicht er nicht heran, und der jüngere ist ihm schon fast ebenbürtig. Der strampelt sich ab, und es kommt nichts dabei heraus.» Ein zentraler Streitpunkt ist Klaus' Tagesablauf, vor allem die tägliche Übungsstunde, in der meist das Rechnen, die Schwäche von Klaus, obenan steht. Dazu die Mutter: «Ich will ihm helfen, damit er nicht leidet. Und ich will mir später auch nicht vorwerfen lassen, nichts getan zu haben. Er soll es so gut haben wie die anderen auch.» Ich frage Klaus: «Was magst du nicht hören?» Er zuckt mit den Schultern, überlegt, denkt angestrengt nach. Kleine Falten sind auf seiner Stirn. «Kann es sein, daß du nichts mehr von der Schule hören willst?» Plötzlich nickt er heftig und lächelt. Dann bricht es aus ihm heraus: «Ich kann es nicht mehr hören. Aber in meinem Ohr sitzt ein Zaubergeist, der hat die -6 0 -
beiden Ohren dichtgemacht, und nun kann ich nicht mehr hören. Das haben die davon.» «Wer sind die?» «Na, Mama, Papa, die sind so nett. Aber mit der Schule ist das schlimm.» «Wie müßte es sein, daß der Zaubergeist verschwindet?» Er überlegt eine Zeit. «Die müssen aufhören, von der Schule zu reden.» Ich will hier unterbrechen, auf verallgemeinerbare Trends dieses Falles eingehen. Wie schon angedeutet: Somatische d.h. körperliche - und psychosomatische - seelische Bedingtheit einer Krankheit - Störungen nehmen schon bei Kindern zu. Viele Kinder werden medikamentös behandelt, damit sie den unterschiedlichsten Anforderungen gerecht werden - vgl. hierzu Voß. Obgleich es vielen Kindern materiell gutgeht, Kindheit vielfältig ausgestaltet ist, man Kinder zur Selbständigkeit anhält, sind körperliche und seelische Beeinträchtigungen aufgrund zu hoher Belastungen - im emotionalen, kognitiven und körperlichen Bereich - unverkennbar. Zudem wirkt ein nüchternsachlicher, keine Grenzen setzender Erziehungsstil entwicklungshemmend. Kinder wehren sich gegen Zurichtungen, mal laut, mal leise, mal mit Worten, mal mit dem Körper. Zurück zu Klaus. In einem Beratungsgespräch finden wir eine Vereinbarung, mit der alle einverstanden sind: • Es wird nicht über die Schule gesprochen, nur wenn Klaus es wünscht. • Klaus' Leistungen sind nicht an denen seiner Geschwister zu messen. • Die Eltern sollen Klaus ermutigen. • Klaus berichtet seinen Eltern zweimal in der Woche freiwillig über die Schule - oder entsprechend häufiger. Das Ergebnis nach acht Wochen: • Die Familienatmosphäre hat sich entspannt. Es dreht sich nicht mehr alles um Klaus. -6 1 -
• Die Mittelohrentzündung ist abgeklungen. Klaus ganz selbstbewußt: «Den Zaubergeist brauch ich nicht mehr.» • Klaus' schulische Leistungen sacken nicht ab, sie bleiben befriedigend - aber er erreicht die Leistungen mit weniger Druck. • Klaus ist selbständiger geworden, geht mit mehr Spaß zur Schule. In der Rückschau erzählt die Mutter: «Ich hab erst jetzt gemerkt, wie wenig ich vorher ermutigt habe. Eigentlich habe ich ständig gedrängelt und reglementiert. Jemanden ermutigen ist das Allerschwerste.» Und später meint sie: «Man vergißt so schnell, jedes Kind auch für sich zu sehen. Diese ständigen Vergleiche setzen Kinder und einen selber unter Druck.»
Enge Grenzen entmutigen Anke, knapp vier Jahre, will beim Abräumen des Tisches helfen. Frau Meister, Ankes Mutter, ist zwiegespalten: «Laß man, Anke. Das ist noch zu schwer für dich.» «Aber ich will», insistiert Anke. «Meike hilft doch auch!» «Aber die ist viel größer. Irgendwann kannst du auch helfen.» Als die Mutter in der Küche ist, greift Anke zwei Tassen, will sie wegbringen. In diesem Moment kommt Frau Meister zurück, sieht ihre Tochter, unsicheren Schrittes, beide Tassen in der Hand. «Paß auf!» entfährt es ihr unwillkürlich. Anke schaut auf, kommt leicht ins Stolpern, die Tassen schwanken, eine fällt zu Boden und zerbricht. «Siehst du, was hab ich dir gesagt?» Frau Meisters Stimme klingt ärgerlich; Anke fängt an zu weinen. «Nun, komm! Ist ja nicht so schlimm.» Sie nimmt ihrer Tochter die Tasse weg, die hinterhergeht, mit einem Besen und einem Wischlappen zurückkommt. Als sie anfängt, die Scherben zusammenzukehren, tritt Frau Meister ins Zimmer: «Was machst du denn da?» «Ich räum auf!» Ankes Stimme klingt energisch. «Aber dann richtig!»
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Die Mutter verläßt den Raum, während Anke mit einer Mischung aus Langsamkeit und Umsicht sorgfältig die Scherben zusammenkehrt. Als Frau Meister nach einiger Zeit zurückkommt und sie die manchmal ungelenk anmutenden - Bemühungen sieht, meint sie: «Ich würde den Besen anders anfassen.» Und während sie das sagt, nimmt sie ihn. «So, nun laß man, den Rest mach ich!» Die Mutter meint es zweifelsohne «gut» mit ihrem Kind, indem sie versucht, dieses vor häuslichen Aufgaben und Mithilfe zu bewahren, oder indem sie Probleme für ihre Tochter löst. Aber: Kinder wollen mit Situationen und Gegenständen umgehen lernen. Nur im Begreifen entsteht der Begriff, und im Tun kann man sich seiner Fähigkeiten versichern. Nur wenn das Kind selbst handelt, erprobt es seine Möglichkeiten und Kräfte, erfährt es sich als eigenständiges und autonomes Wesen. Dazu gehört natürlich, Frustration und Mißerfolg auszuhalten. Dies gelingt Kindern um so eher, je mehr sie sich angenommen fühlen, wenn sie enttäuscht sind. Ein Satz wie: «Das schaffst du doch nicht!» entmutigt ebenso wie übermäßiges Beschützen - «Dazu bist du noch zu klein!». Zweifellos ist es wichtig, wenn man Mißerfolge mit dem Kind an- und bespricht. Aber Formulierungen wie «Was habe ich dir gesagt!» bauen - wie in diesem Fall - Anke nicht auf, stellen sie vielmehr als Versagerin bzw. als unfertiges kleines Wesen hin. Der Erwachsene ist dagegen der Besserwisser. Statt verdeckter Ratschläge oder heimlicher Befehle - «Wenn ich du wäre» - zu geben, hätte sich die Mutter beispielsweise in Ankes Enttäuschung einfühlen können. Der Satz «Es ist ja gar nicht so schlimm» zeigt jedoch: Sie nimmt die Gefühle ihrer Tochter genausowenig ernst wie deren Bemühungen, die mißliche Lage - im wahrsten Sinne des Wortes - zu bereinigen. Anke braucht bei der Suche nach einer selbständigen Problemlösung die mütterliche - oder auch väterliche - Mithilfe und Unterstützung. So erfährt sie, daß der erlebte Mißerfolg kein subjektives Versagen, sondern nur einen augenblicklichen Mangel an Fertigkeiten darstellt, der durch Übung beseitigt werden kann. Während Anke mit dem Aufwischen ihre Eigenständigkeit und -6 3 -
ihr Können erneut beweisen will, erlebt sie eine weitere Entmutigung: Die Mutter entreißt ihr den Besen, anstatt mit ihrer Tochter zu überlegen, wie es anders gemacht werden könnte. Wie solch eine konstruktive Lösung aussehen kann, zeigt Björns Umgang mit dem Milchreis. Björn möchte zum erstenmal Milchreis kochen. Das Rezept hat er auf einer schulischen Projektwoche kennengelernt. Björn hantiert in der Küche, nimmt die entsprechenden Zutaten, gießt Milch in den Topf, läßt sie aufkochen. Während er den Rezeptzettel nochmals genau studiert, klingelt das Telefon. Er vergißt die Milch, die hochquillt, überkocht und sich über die Herdplatte ergießt. Björn läuft vom Telefon weg, stellt die Energie des Herdes kleiner - kann aber nicht verhindern, daß die Milch im Topf und auf der Herdplatte ansetzt, es schnell angebrannt riecht. Die Mutter kommt zu ihm in die Küche, sieht ihren Sohn mit hochrotem Kopf, Tränen in den Augen: «In der Schule hat's geklappt», meint Björn gequält. Sie nimmt ihn in den Arm, tröstet: «Na, mein Koch.» Kurze Pause. «Schöner Mist, nicht!» Björn schüttelt sich los: «Richtig Scheiße!» Beide stehen herum, schauen auf den Herd. Die Mutter bückt sich, holt aus einem Schrank Reinigungsmaterial: «Ich zeig dir, wie ich den Herd saubermache. Ist mir auch schon passiert.» Sie schaut ihren Sohn an: «Und du hilfst mir, o.k.» Beide machen sich gemeinsam an die Reinigung, ohne viel zu reden. Am Ende sagt die Mutter: «Ich koche den Milchreis auf kleiner Flamme und rühre ihn dabei um.» Die Mutter verläßt die Küche. Björn versucht es nochmals mit seinem Lieblingsrezept. Es klappt. Mit den Worten «Komm herunter, es gibt Milchreis», lädt er sie zum Essen ein. Als beide sitzen, meint er grinsend: «Manchmal hast du wirklich gute Tips.» An dieser Situation lassen sich einige Handlungsmuster aufzeigen, mit denen Björns Mutter ihren Sohn ermutigt, als sein Experiment fehlschlägt. Indem sie seine Enttäuschung
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annimmt und nicht geringschätzt, läßt sie sich auf ihn ein, zeigt sie, daß sie ihn ernst nimmt. • Nicht auf Vollkommenheit achtet die Mutter, sie legt ihr Augenmerk darauf, Björns Fähigkeiten allmählich aufzubauen. • Sein «Unglück » begreift sie als Glück, seine Fertigkeiten neu zu definieren und zu entdecken. Sie ermutigt ihn zur Selbständigkeit; sie weiß, daß Kinder, die Fehler machen, aus Fehlern dann lernen, wenn man sie unterstützt. Björn wirkt nicht hilflos und abhängig, er ist selbstbewußt genug, aus dem Nochnicht-Können seine persönlichen Konsequenzen zu ziehen. Anders ausgedrückt: Kinder zu ermutigen heißt, ihnen Erfahrungsräume bereitzustellen, um so Kompetenzen und Geschicklichkeit zu fördern. Und Kinder zu achten meint, auf deren Fähigkeiten zu vertrauen.
«Ich möchte dir schlimme Erfahrungen ersparen!» Simon klettert auf dem Spielplatz umständlich auf einen hohen Baum. Je höher er klettert, desto häufiger hört er: «Paß auf!» oder: «Sei vorsichtig!» Hat er einen bestimmten Punkt des Kletterbaumes erreicht, so wird er unsicher, schwankt, zittert. Seine Mutter ruft laut: «Halt dich fest!» Sie rennt zu ihm hin, um ihn zu unterstützen - doch vergeblich: Simon läßt sich fallen, landet im weichen Sand und - fängt erbärmlich zu schluchzen an. Die Mutter schließt Simon in die Arme. Sie tröstet - mehr sich als ihn - mit den Worten: «Mein armer kleiner süßer Trottel.» Simon laufen Tränen über die Wangen. Die Mutter nimmt ein Taschentuch, wischt ihm das tränenfeuchte Gesicht: «Warum mußt du auch so hoch klettern?» Sie zuckt mit den Schultern: «Dazu bist du noch zu klein, mein Süßer!» Und je mehr sie ihn an sich drückt, um so lauter wird sein Schluchzen. Simon klettert immer und immer wieder - und immer und immer wieder fällt er wie ein Apfel vom Stamm. Zwar fängt die Mutter ihn nicht auf, aber Trost und Annahme erfährt er mit großer Regelmäßigkeit. Und je häufiger Simon Mißgeschicke passieren, um so nachhaltiger wird der Trost, die Fürsorge und -6 5 -
das Mitleid der Mutter. Als ich diese Situation auf einer Bildungsveranstaltung für Familien vortrage, fällt mir ein Vater ins Wort: «Aber wie hätte die Mutter denn reagieren sollen? Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Hätte sie ihn im Dreck liegenlassen sollen?» «Warum nicht?» entgegne ich fragend. «Dreck ist meistens weich und bedeutet Erfahrung. Kinder sind vor bestimmten Erfahrungen nicht zu schützen - und das ist gut so!» «Das verstehe ich nicht.» «Viele wollen Kindern unangenehme Erfahrungen ersparen.» «Wie meinen Sie das?» Die Ermutigung von Kindern und deren vermeintliche Hilflosigkeit gehören zusammen. Kinder machen häufig die Erfahrung, daß sich Hilofiosigkeit positiv, z. B. im Sinne von Aufmerksamkeit auf sich ziehen oder gewinnen, für sie auswirkt. Anders formuliert: Eltern können manchmal nur schwer mit den Verunsicherungen und Ängsten ihrer Kinder umgehen. Je verunsicherter und je ängstlicher sich ein Kind zeigt, um so mehr fühlen sich Erwachsene gedrängt, die Kinder zu unterstützen - selbst dann, wenn Kinder es gar nicht wünschen. Peter, vier Jahre, kommt aus Kasachstan. In den ersten Wochen sitzt er im Kindergarten ruhig, manchmal apathisch da. Er wirkt auf die Erzieherinnen traurig. Peter weint manchmal, beteiligt sich nicht an den Spielen - er zieht sich zurück, verweigert sich. So beobachtet es seine Erzieherin, so deutet sie ihre Beobachtung. Mitleid kommt bei ihr auf. Nach etwa drei Wochen, als sie es kaum noch aushält, wie Peter allein herumsteht, nimmt sie ihn morgens für zehn Minuten auf den Schoß, «um ihm den Übergang von zu Hause zu erleichtern». Peter scheint das zunächst zu genießen. Doch bald beginnt er zu weinen, sobald er auf den Schoß kommt. Das Weinen nimmt von Tag zu Tag zu, hört aber im Lauf der ersten Stunde im Kindergarten auf. Peters Gefühlsausbrüche eskalieren. Sie fangen schon an, sobald er den Kindergarten sieht. Er schluchzt weiter, während er auf dem Schoß der Erzieherin -6 6 -
sitzt, beruhigt sich dann, wenn er seinen gewohnten Platz erreicht hat. Es nahen die Ferien, und die Erzieherin hofft, daß Peters Traurigkeit verschwindet. Am Ferienende kommt Peters Oma auf den Kindergarten zu sprechen. Oma: «Morgen geht es wieder in den Kindergarten.» Als Peter dieses Wort hört, weint er augenblicklich laut los und schluchzt: «Will ich nicht, will ich nicht.» Oma: «Gefällt es dir nicht?» Peter schüttelt den Kopf. Oma: «Aber die sind doch alle ganz lieb zu dir.» Peter stutzt, schaut die Oma an. Peter: «Ja!» Er nickt heftig mit dem Kopf, Tränen laufen über sein Gesicht. Die Oma, ganz verzweifelt: «Ich verstehe dich nicht. Was hast du denn?» Peter hört mit dem Weinen auf, schaut seine Oma an. Dann entfährt es ihm: «Alles ist da gut. Nur ich muß jeden Morgen bei Frau Mayer auf dem Schoß nur dasitzen. Und dann hält sie mich fest. Und ich bin doch schon groß. Ich will nicht auf den Schoß.» Kindliche Ängste, Unsicherheiten, Zurückgezogenheit und Introvertiertheit rufen auf seiten des Erziehenden meist spontane gefühlshaltige Reaktionen hervor. Je unselbständighilfloser sich das Kind zeigt oder darstellt, um so vehementer, bemühter und intensiver werden die Anstrengungen des Pädagogen - bis hin zum Bemitleiden, wenn alle Bemühungen nichts fruchten. Provokativ ausgedrückt: Kinder brauchen kein Mitleid. Wer Kinder ständig bemitleidet, achtet sie nicht, macht sie schwach und hilflos. Mitleid baut nicht auf, macht passiv, behindert, entmutigt und macht meist handlungsunfähig. Selbst ein krankes Kind braucht kein Mitleid, weil es Selbstmitleid fördert. Krankheit gehört zum Leben wie der Tod. Das grandiose Gefühl der Gesundheit ist ohne den Gegenpol der Krankheit eben nicht zu genießen.
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Wer Kindern nur positiv-beglückende Elemente des Lebens vermitteln und zulassen will, der begrenzt Erfahrungen, der engt die Vielfalt des Lebens ein. Kinder ermessen Glück nur, wenn sie unglückliche, beklemmende Situationen gefühlt und überstanden haben. Sie schätzen die produktive Kraft der Angst nur dann angemessen ein, wenn sie solche Situationen selbständig bewältigt haben. Sie gestatten sich Aggressionen, wenn sie um Möglichkeiten wissen, sie in konstruktive Bahnen zu lenken. Wer Kinder bemitleidet ihrer begrenzten Realitätserfahrungen, der ökologischen Risiken, ihrer fehlenden Zukunftsperspektiven wegen -, der nimmt sie nicht an. Mitleid nimmt Menschen nicht ernst, es macht das Leiden nur größer. In Krisensituationen braucht das Kind mitfühlende Hilfestellung und Unterstützung, es braucht das Vertrauen und die Sicherheit, sich mit all den Sorgen, Nöten, der Trauer und den Schmerzen angenommen zu fühlen. Dann kann ein Kind Enttäuschungen und Frustrationen aushalten. Mitleid dagegen schwächt. Es hilft dem Kind nicht, selbständig zu werden oder eigentätig an Problemlösungen heranzugehen. Mitleid setzt dem Kind meist enge Grenzen. Es wird als «arm» und «schwach» angesehen. Es wird in seinen Fähigkeiten unterschätzt, und es werden die schöpferischen Kompetenzen des Kindes, Krisen und Probleme selbstbewußt anzugehen, übersehen. Mitleid richtet die Energie, das Fühlen auf die Person, die unglücklich ist, auf jene Person, die die Frustration erlitten hat. In Krisensituationen hilft nicht Mitleid, sondern Mitgefühl. Mitgefühl stärkt. Es fühlt sich in die Probleme ein, die zu lösen sind. Mitgefühl bietet Hilfe zur Selbsthilfe an, ist darauf angelegt, die schmerz- und krisenhafte Situation zu überwinden. Während das Mitleid kleinmacht, baut das Mitgefühl auf; während das Mitleid allein läßt, bietet das Mitgefühl Unterstützung an, während Mitleid entmutigt, gibt das Mitgefühl Verantwortung zurück.
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4 «Wenn Kinder auf mich hören, dann erschrecke ich...» Grenzenlose Inkonsequenz und Gleichgültigkeit
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Paule, der Glotzer Paul Jäger, fast zehn Jahre, holt sich während der Schulpause häufig dünne Äste und versucht, sie in Hände und Arme seiner Mitschüler zu stoßen. Er freut sich, wenn er seinen Klassenkameraden Angst einjagen kann, wenn sie weglaufen. Er reagiert mit Unverständnis, wenn sie alles über sich ergehen lassen: «Los, nun wehr dich, du Waschlappen!» Bei einem Gespräch in der Klasse erfährt Pauls Lehrerin, daß er «häufig» Kriminal- und Horrorfilme - «Besonders die, die spätabends kommen!» - sieht und von einer Szene besonders beeindruckt war, in der ein schlafender Junge «mit einer Spritze ermordet werden sollte». «Der lag nur so da», berichtet Paul, «ohne was zu merken. Man muß doch immer auf der Hut sein, auch wenn man schläft.» Später wird klar, daß Paul den Film allein gesehen hat, daß sein Vater erst gegen Ende der Sendung nach Hause - wie üblich leicht angetrunken - gekommen ist. Hermann Jäger setzte sich dazu und sah sich den Film noch mit an. Als er merkte, daß Paul sich hin und wieder die Augen zuhielt und ganz wegguckte, sagte er: «Wenn du Schiß hast, gehst du sofort raus. Aber sofort!» «Hab keine Angst.» «Aber warum machst du dann solche Faxen?» In Gesprächen wird Ilse Beyer, so heißt Pauls Lehrerin, dann deutlich, daß Paul sich nicht mehr traut, gefühlsmäßige Verunsicherungen zu zeigen. «Wenn ich Angst habe, ist's aus mit den Krimis », sagt Paul. Die Lehrerin ermutigt ihn, seine Ängste zu zeigen. Damit ergriff sie aber - ungewollt - Partei gegen den Vater. Deshalb widerspricht Paul heftig: «Eigentlich hat Papa doch recht. Wenn man das nicht abkann, soll man das nicht sehen. Und Angst ist sowieso Babykram.» Die Familienwelt der Jägers: Hermann Jäger, 38 Jahre, arbeitet als Baggerführer. Er verläßt sein Einfamilienhaus, das er sich selbst gebaut hat, gegen 6 Uhr. Dann wird er mit dem Betriebsbus zur Arbeit abgeholt. Da die Baustellen unterschiedlich weit von seinem Wohnort entfernt sind, dauert sein Arbeitstag oft bis in den frühen Abend hinein. Meist geht er -7 0 -
dann noch in seine Stammkneipe, um «einen zu trinken ». Er trifft sich dort regelmäßig mit «'n paar Kumpels ». Hermann Jäger ist im allgemeinen gegen 20.30 Uhr im Hause und «schaltet dann den Fernsehkasten ein» oder setzt sich zu «Paule, dem alten Glotzer». «Mir ist eigentlich egal, was kommt. Wenn's mir zu langweilig wird, schalte ich eben um.» In der Familie Jäger wird - wie Pauls Lehrerin weiß - «fast nur ferngesehen». «Ich weiß nicht», so Elisabeth Jäger, Pauls Mutter, «wenn's den Fernseher nicht gäbe, für uns müßte er erfunden werden.» Sie lacht und schränkt dann ein: «Aber für Paul ist dieser ganze Schund, den er da sieht, nicht gut. Ich seh das doch. Der wird doch direkt von uns abgezogen, zieht sich zurück. Er redet einfach nicht. Oder es gibt Krach, weil er nicht ins Bett will. Oder weil mein Mann was anderes sehen will. Und dann diese ewigen Anrufe aus der Schule. Frau Beyer ist ja ganz in Ordnung. Aber trotzdem hab ich ein schlechtes Gewissen. Was soll ich da machen?» Elisabeth Jäger reagiert mit Fernsehverbot: «Aber der flippt schier aus, wenn ich das mache.» Mit Liebesentzug: «Du bringst mich noch auf den Friedhof, wenn du so weitermachst.» Mit Kürzung des Taschengeldes, oder sie redet tagelang nicht mehr mit ihrem Sohn: «Da wird er dann richtig klein und lieb.» Meistens hält sie ihre Bestrafungen aber nicht durch, vor allem dann nicht, wenn Paul «so traurig aussieht. Oder wenn er sagt, ich hau von hier ab.» Hermann Jäger «zieht», wie er stolz feststellt, «die Kindererziehung durch. Wenn man mal was gelernt hat, das wird probiert. Uns hat der Schlag auf den Hinterkopf nicht geschadet. Dem Paul schadet das auch nicht. Und mit der ewigen Diskutiererei kommt man nicht weiter. Da sind uns die jungen Leute überlegen. Wir müssen sie mit unseren Mitteln schlagen.» Er prügelt vor allem dann, wenn er davon hört, daß sein Sohn «in der Schule wieder mal was angestellt hat. Oder wenn Paul nichts tut für die Schule und mit 'ner Fünf nach Hause kommt. So was macht er doch nur, um mich zu ärgern.»
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Die häuslichen Auseinandersetzungen eskalieren dann, wenn Hermann Jäger im angetrunkenen Zustand nach Hause kommt. «Dann geht's mir leichter von der Hand», sagt er, «obgleich mir's auch schon leid tut, vor allem wenn ich Betty seh. Die hat's schwer mit mir. Aber das wußte sie vorher. Aber dann sitzt Paule vor der Kiste, grinst mich frech an, weil er nicht ins Bett will... Aber wenn ich ihm dann eine kleb, ist Betty noch auf seiner Seite.» Elisabeth Jäger erzählte mir in einem anderen Gespräch: «Einmal hat er mich richtig niedergeschlagen. In den Bauch getreten. Dann hat er Paule geholt: So mußt du mit Frauen umgehen, wenn sie dich beleidigen oder an dir rumnörgeln.» Gemeinsame Aktivitäten oder Gespräche gibt es kaum in der Familie. Dazu Frau Jäger: «Wir leben nebeneinander her. Alles läuft so oder auch nicht. Wenn ich mit meinem Mann auch noch ständig reden müßte, mein Gott. Ich kann mir das nicht vorstellen. Ich freß alles in mich rein. Deshalb bin ich auch so fett geworden.»
Zuckerbrot und Peitsche Paul fehlt Verläßlichkeit, da die Grenzen ständig wechseln: hier die übertrieben verzärtelnde Zuwendung der Mutter, dort die gefühlsmäßige Vernachlässigung, die Schläge und die Herabwürdigung durch den Vater. Paul hat keine Sicherheit in der Einschätzung seiner nächsten Bezugspersonen: Er kann die erzieherischen Handlungen seines Vaters wenig vorhersagen, er weiß weder, was väterliche Nähe bedeutet, noch erlebt er mütterliche Distanz. So wird Pauls Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen untergraben. Eine Folge ist seine Flucht in die Welt der Medien. Fehlende Selbstsicherheit soll durch die Überidentifikation mit omnipotenten und -präsenten Medienhelden kompensiert werden von Medienhelden, deren antisoziale Verhaltensweisen dem vorgelebten väterlichen Modell entsprechen.
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Und doch ist Pauls Flucht in seine medial inszenierte Welt mehr: Sie drückt seine Wünsche nach verläßlichen Strukturen aus, seine Sehnsüchte nach Halt, nach Schutz und Orientierung - und dies um so intensiver, je mehr seine Eltern diese Wünsche und Sehnsüchte verkennen, Pauls zerstörerische und antisoziale Verhaltensweisen, die ein verzweifelter Hilfeschrei sind, überhören. In den Monaten nach der geschilderten Situation eskalierte Pauls «Zerstörungswut», gleichzeitig konnte aber die Lehrerin Pauls Mutter davon überzeugen, eine Erziehungsberatungsstelle aufzusuchen. Während sich der Vater bald zurückzog, hielten Elisabeth Jäger und Paul die Beratung über 18 Monate durch. Als der Mann eine außereheliche Beziehung begann, zog die Mutter mit Paul aus der Wohnung. Beide gingen in eine andere Stadt. Der Umgang von Mutter und Sohn gestaltete sich noch lange Zeit konflikthaltig, er wurde jedoch immer offener: «Jeder wußte, woran er beim anderen war», so die Mutter. Knapp zehn Jahre später. Als ich Paul wiedertreffe, macht er gerade sein Abitur. «Ich bin gut drauf», sagt er. Er wirkt selbstbewußt, ist sozial engagiert: «Ich will überall helfen. Das zurückgeben, was mir andere gegeben haben. Ohne zwei oder drei Menschen wäre ich wohl in der Gosse.» «Was ist noch wie früher?» «Hin und wieder brauch ich 'nen ‹geilen› Film, so'n richtig blöden Schweinefilm. Das tut gut. - Und: Nein sagen kann ich sehr schwer. Vor allem bei meiner Mutter und bei Peter, dem Sozialarbeiter. Die haben so viel Gutes getan. Also mit dem ‹Nein› ist es verdammt schwer...» Er schüttelt fragend seinen Kopf. In vielen Gesprächen mit sozial und emotional gefährdeten Kindern und Jugendlichen konnte ich Schutzfaktoren feststellen, die Heranwachsende trotz erhöhter psychischer und physischer Belastung entwickeln, um sich - so gut es geht - von psychosozialem Streß zu entlasten. Dies schließt schmerzhafte emotionale Belastungen zwar nicht aus, gibt den -7 3 -
Heranwachsenden jedoch das Gefühl - vor allem wenn ihnen Unterstützung zuteil wird -, selbständig Probleme und Konflikte zu lösen. An Pauls Situation können einige solcher Bewältigungsstrategien aufgezeigt werden: • Paul hat durch sein offenkundiges Verhalten um Hilfe geschrien. Er hat sich und seine unbefriedigende und erniedrigende Lebenssituation auffällig dargestellt. Er hat versucht, Halt und Orientierung zu bekommen. Da dies anfänglich über persönliche Vorbilder nicht möglich war, hat er sich an mediale Vorbilder gehalten. Dies ist als durchaus problematisch und widersprüchlich einzuschätzen, ist doch die eine Gefahr des Absinkens in die glitzernden Fluten einer medial und kommerziell geprägten Wirklichkeit nicht zu unterschätzen. Die andere ist diese: Die Medienhelden gaben Paul aber auch eine spezifische Form von Sicherheit und Verläßlichkeit. Dies wurde in zunehmendem Maße von der Umwelt erkannt. So konnte aus Pauls negativer Abgrenzung über Horror, Gewalt und Schrecken über Jahre hinweg eine positive Grenzfindung werden: Pauls Selbständigkeit und Selbstwertgefühl wird in dem Maße gestärkt, je mehr er sich auf sich selbst verlassen kann. Er gewinnt um so mehr an Selbstvertrauen, je mehr er das Alleinsein nicht als Verlassenheit, sondern als «Ich kann auch alleine» begreift. • Das Risiko und die Belastung durch schwierige Lebensumstände können - darauf haben zahlreiche psychologische Untersuchungen aufmerksam gemacht - durch Schutzfaktoren - z. B. die Einbindung in eine verläßliche Umgebung - zwar nicht vergessen gemacht, jedoch erheblich abgefedert werden. So erfuhr Paul - durch die Betreuung durch feste Bezugspersonen wie seine Lehrerin, den Therapeuten und einen Sozialarbeiter - Unterstützung, als er seine destruktiven Verhaltensweisen veränderte. Diese Personen haben nicht nur seine auffälligen Aktivitäten als Hilfeschrei gedeutet, um Sicherheit und Halt zu bekommen; sie versuchten darüber hinaus, an Pauls Kompetenzen anzuknüpfen, z. B. seine Fähigkeit, Gruppen anzuleiten oder soziale Aktivitäten zu -7 4 -
organisieren. Pauls Tätigkeiten erwiesen sich nun nicht mehr als störend, sie wurden in die Alltagsabläufe der Klasse und des Jugendzentrums einbezogen. Paul brauchte seine auffälligen Verhaltensweisen und zerstörerischen Grenzüberschreitungen nicht mehr, um jemand darzustellen und zu sein. Er bildete über seine produktiven, von allen anerkannten Tätigkeiten allmählich ein positives Selbstwertgefühl aus. Stabile Bezugspersonen haben ihm bei der Überwindung der erlernten Hilflosigkeit geholfen. Und: Paul erlebte weniger das Gefühl von Zuckerbrot und Peitsche, von beleidigtem Liebesentzug und plötzlicher Willkür. Er erfuhr die Verläßlichkeit von Regeln. «Dies war », so erinnert er sich, «verdammt schwer. Weil immer Bruno...», er zögert, «also der Sozialarbeiter aus dem Jugendzentrum, klar sagte, was er meinte... eben auch mal, ich solle nicht so 'n Mist machen. Da war ich schon sauer. Da dachte ich, jetzt biste wieder der Arsch wie früher zu Hause... Das geht automatisch... Ist heute manchmal noch so, wenn's mal nicht so klappt: Dann sind die anderen schuld.»
Folgenloses Laissez-faire Kai, fünfeinhalb Jahre, kommt jeden Morgen kurz nach acht in den Kindergarten, die Tür zum Gruppenraum laut zuknallend - nach dem Motto: «Hier bin ich!» Breitbeinig steht er da - und bekommt seine Aufmerksamkeit. Auf die Frage der Erzieherin: «Bist du da?» antwortet er grinsend: «Na klar!» Und auf die mehr rhetorische Frage: «Kannst du die Tür nicht leiser zumachen?» kommt ein eher achselzuckendes: «Ich glaub schon!» oder ein lächelndes «Macht so'n Spaß.» Und bei der freundlichen Zuwendung seiner Erzieherin: «Guten Morgen, Kai. Schön, daß du da bist», breitet sich Schalk in seinen Augen aus: «Meinst du das wirklich?» Erhält Kai überhaupt keine Aufmersamkeit, steht er einen Augenblick still, schaut sich um, geht auf ein Kind in seiner unmittelbaren Nähe zu. Je nach Lust, Laune und Tagesform schlägt er dann -7 5 -
zu, zieht es an den Haaren, beißt, kneift - so lange, bis ihm Aufmerksamkeit gewiß ist. «Kai», so stöhnen seine Erzieherinnen, «hält sich überhaupt nicht an Regeln. Und wenn wir mal hart werden, dann ist's auch nicht richtig. Dann will er abhauen oder heult.» Eine Erzieherin verdeutlicht dies an einer konkreten Situation. Neulich hätten fünf Mütter, darunter Kais Mutter, mit einer Erzieherin am Tisch gesessen zu Kaffee und Kuchen. Und die Kinder waren mit dabei. Kai «spielte» mit dem Butterkuchen. Er zerteilte ihn in Stücke und zerquetschte diese mit dem Löffel. Mutter: «Kai, laß das!» Sie wendete sich wieder dem Gespräch zu. Kai horte kurz auf, fing dann erneut an. Mutter: «Kai, ich hab dir gesagt, hör bitte auf.» Kai schaute «stolz» in die Runde, machte unverdrossen weiter, nahm nun sogar Kuchenstücke in die Hand und knetete kleine Kugeln. Die Mutter schaute zur Seite, ignorierte ihren Sohn. Die erste Kugel landete auf dem Rock der Mutter. Mutter: «Kai, wie häufig muß ich dir das noch sagen? Hörst du, schau mich an, wie häufig?» Kai blickte zur Seite. «Habe ich dir das nicht schon tausendmal gesagt, man spielt nicht mit dem Essen.» Kai sah weiterhin weg, beendete jedoch sein «Spiel». Kai: «Ich will noch Kakao.» Die Erzieherin füllte Kakao in einen Becher. Kai begann, mit dem Löffel im Becher Wellen zu machen. Durch eine unvorsichtige Bewegung fällt der Becher um. Der Inhalt ergießt sich über die Hose des Jungen. Die Mutter, in einer Mischung aus Ärger und Zorn: «Siehst du, das hast du davon! Ich hab's dir tausendmal gesagt!» Kai sah wehleidig seine durchnäßte und verschmutzte Hose an. Die Erzieherin: «Kai, geh bitte in den Waschraum. Wasche die Hose aus.» Kai blieb sitzen. Die Erzieherin, ganz bestimmt und fest: «Kai, ich möchte, daß du jetzt sofort in den Waschraum gehst.» -7 6 -
Kai stand auf, er hatte Tränen in den Augen, ging Richtung Waschraum. Die Mutter sah die Erzieherin ärgerlich-hilflos an und folgte ihrem Sohn: «Komm, Kai. Ich geh mit und helfe.» Sie legte ihren Arm auf seine Schultern. «Wie gesagt», schließen die Erzieherinnen, «dies ist nur eine Situation unter vielen. Zu Hause kann er anscheinend machen und tun, was er will.» Als ich einige Zeit später eine Veranstaltung zum «Grenzensetzen» durchführe, fragt Kais Vater: «Darf man Kindern schon so früh Regeln mit auf den Weggeben?» «Was spricht gegen bestimmte sinnvolle Regeln?» «Ich denke, Kinder sind noch viel zu klein, sich daran zu halten. Ich überfordere sie damit. Das will ich nicht.» Er erzählt, daß Kai keine einschränkenden Regeln erlebe: «Wir sind immer für ihn da!» «Und wie ist das morgens mit dem Frühstück?» «Mal kommt er, mal nicht!» «Aber meistens gibt's da den ersten Krach», unterbricht ihn seine Frau. «Weil er bummelt oder weil er noch was essen soll. Er will es aber nicht. Das gibt endlose Diskussionen, bis er wenigstens einen Happen nimmt...» Sie unterbricht sich. «Ich komme erst zum Frühstücken, wenn ich ihn in den Kindergarten gebracht habe.» «Na ja, ganz so schlimm, wie du ihn darstellst, ist er nicht», beschwichtigt der Vater. «Aber auf Trab hält er einen schon.» Er schmunzelt. «Er hat uns ganz gut in der Hand. Wenn der mal nicht bekommt, was er will, geht er schreiend in sein Zimmer und ruft: ‹Ich springe aus dem Fenster.» Wir dann hinterher.» Die Mutter überlegt: «... da betteln wir...» «Und er kommt dann nach einiger Zeit mit stolzgeschwellter Brust heraus»,sage ich. «Ja, da bekommt er, was wir ihm versprochen haben.» Der Vater überlegt kurz: «Aber Kinder müssen ja auch mal Sieger sein. Die Erwachsenen können ja nicht immer nur gewinnen.» -7 7 -
«Heute abend war wieder Theater», fügt die Mutter an. «Wir sollten nicht hierher. Jedenfalls nicht beide. Es gab einen Riesenkrach. Er hat gedroht, ich mach was ganz Schlimmes. Da hab ich gedroht: ‹Wehe!› Als wir weggegangen sind, gab's keinen Abschied. Er hatte sich eingeschlossen. Was das wohl noch gibt heute abend?» Als die Eltern nach Hause kamen, fanden sie das Wohnzimmer verwüstet vor: zwei Sessel zerschnitten, Milch und Joghurt auf den Teppich geleert und verschmiert, Zeitungen angezündet. Im Chaos saß friedlich schlafend Kai. Die Eltern waren erschrocken, der Vater wollte zuerst schreien, die Mutter beschwichtigte: «Pst! Wir tragen ihn ins Bett! Laß uns morgen mit ihm darüber reden.» Man redete ausführlich - wie die Eltern mir 14 Tage später erzählten - über die Ursachen für Kais Ausbrüche: «Warum machst du das?» Man brachte ihm viel Verständnis und Akzeptanz entgegen: «Versprich uns, das nie wieder zu machen!» Am Ende des Gesprächs stand allseitige Erleichterung - die Mutter reinigte den Teppich, die Versicherung zahlte die Sessel - bis 14 Tage später das Küchengeschirr kurz und klein geschlagen war. Kais Mutter hatte sich geweigert, mit ihrem Sohn zu spielen, weil dieser frech gewesen sei. Trotz wiederholten Drucks blieb sie «dieses Mal absolut hart» - bis «ich das Klirren hörte. Als ich das sah, hab ich gebrüllt.» Wer mit Familien in Beratungen oder auf Bildungsveranstaltungen zu tun hat, wer in Kindergärten und Schulen hospitiert und berät, der begegnet häufiger den Auswirkungen eines Erziehungsstils, der keine Grenzen setzt, der sieht sich mit Schwierigkeiten und Problemen konfrontiert, die auch und nicht zuletzt aus einem Laissez-faire-Stil im Alltag resultieren: Da werden Kinder zum Schrecken für die Gemeinschaft, sei es in der Familie, dem Kindergarten oder der Schulklasse. Sie benehmen sich unerträglich, handeln un-sozial und ohne Rücksicht auf Verluste. Schädigungen und Verletzungen, weil nur die Durchsetzung eigener Bedürfnisse, -7 8 -
des eigenen Willens zählt; die Umgebung wird unterjocht und terrorisiert. Kais Verhalten ist Provokation und Hilfeschrei zugleich. Er macht auf sich aufmerksam, möchte Konsequenzen - eben Grenzen und Regeln - spüren. Kai will sich angenommen und zugehörig fühlen. Er möchte eine eigene Identität haben, über die er sich ausdrücken kann, er will seine Kompetenzen und Stärken beweisen. Der Laissez-faire-Stil läßt Kinder dagegen allein. Er macht sie unfähig, soziale Beziehungen einzugehen und Kontakte aufzunehmen. So wie die Überbehütung nur räumliche Enge und körperliche Nähe zuläßt, damit erdrückt, Eigenständigkeit und Autonomie unterbindet, so bietet der Laissez-faire-Stil den Gegenpol: Hinter der - aus elterlicher Sicht - vermeintlich unbegrenzten großen Freiheit verbirgt sich unpersönliche Distanz, eine - für das Kind - unüberschaubare Weite, die Verlassenheitsangst und Einsamkeit aufkommen läßt und bald unerträglich wird. Widerstand und Auseinandersetzung können ebenso die Folge sein wie zerstörerische Aggressivität, Übermotorik oder Distanzlosigkeit. Solche Verhaltensweisen sind Ausdruck einer verzweifelten Suche nach Halt und Orientierung, nach Standort und Standpunkt, nach Sinn und Nähe. Auch der Laissez -faire-Stil macht Kinder eben lebensuntüchtig, hält sie klein und abhängig, dokumentiert Desinteresse am Kind. Wer keine Regeln formuliert oder Grenzen setzt, der überfordert Kinder intellektuell und gefühlsmäßig. Solcher Erziehungsstil läßt keine intensiven zwischenmenschlichen Beziehungen aufkommen. Er verkennt existentielle Wünsche der Heranwachsenden, ihre Wünsche nach emotionaler und sozialer Orientierung, den Wunsch nach Individualität, eben einzigartig zu sein. Übersieht Erziehung - wie im Laissez-faire-Stil - diese Wünsche, kommt es zu Erziehungsschwierigkeiten und Handlungsunsicherheiten
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• in der emotionalen Orientierung. Die Kinder fühlen sich in der Gruppe unwohl, wirken beziehungslos, entwickeln nur schwer Kontakte zu anderen Menschen. Sie haben kein Gefühl, für andere wichtig zu sein. Daraus erwachsen Probleme, sich anderen gegenüber angemessen zu verhalten: Die Kinder erscheinen distanzlos, schmeißen sich anderen an den Hals. Oder sie sind schüchtern, angepaßt, passiv und zurückgezogen; • in der sozialen Orientierung. Meist fehlen diesen Kindern persönliche Vorbilder, die Grenzen, Regeln und moralische Verhaltensrichtlinien vorleben; Vorbilder, an denen sich Kinder orientieren, anlehnen, an denen sie sich zugleich reiben und mit denen sie sich auseinandersetzen können. Die fehlende soziale Orientierung zeigt sich weiter in der Verbindlichkeit, mit der Kinder getroffene Absprachen einhalten: Kinder des Laissezfaire-Stils versprechen viel, halten sich aber selten daran. Sozial desorientierten Kindern fehlt Erfahrungssicherheit: Sie halten starr an bestimmten Vorhaben fest, zeigen sich wenig flexibel und scheuen vor neuen Erfahrungen zurück. Wer keine Grenze hat, kann auch nicht jenseits der Grenze schauen, sondern sucht zunächst einmal - wie zwanghaft - nach Halt und Orientierung; • im Wunsch nach Individualität. Der Laissez-faire-Stil gestattet den Kindern nicht, sich selbst zu achten und zu respektieren. Fehlende Selbstachtung führt zu Mißachtung anderer, dazu, sie nicht in ihrer Würde anzuerkennen. Der Laissez-faire-Stil überfordert Kinder, verlangt ihnen Leistungen ab, die sie - schon entwicklungsbedingt - nicht einlösen und umsetzen können. Es bleibt das Gefühl der Inkompetenz, des Nicht- bzw. Nie-Könnens - und nicht des «Noch-nicht-Könnens» zurück. Der Wunsch nach Individualität schließt das Gefühl ein, einzigartig und unverwechselbar zu sein, sich von anderen zu unterscheiden, Dinge oder Abläufe zu beherrschen, die nur das einzelne Kind kann, und trägt so dazu bei, Ich-Identität zu beweisen. Da Kai keine Möglichkeiten bekommt, seine produktiven und sozialen Fähigkeiten zu zeigen, macht er das genaue Gegenteil: Er fällt durch zerstörerische und unsoziale -8 0 -
Tätigkeiten auf - und bekommt damit, wenn auch nur negative, Zuwendung. Damit gewinnt er aber - wenn auch nur kurzfristig Aufmerksamkeit; • im Wunsch nach Stärke. Folgen des Laissez-faire liegen für Kinder darin, sich inkompetent, entscheidungsschwach zu fühlen. Die Kinder haben Schwierigkeiten, Verantwortung zu übernehmen, mit materiellen Frustrationen fertig zu werden und ihre - zweifellos vorhandenen - Kompetenzen situations- und sozial angemessen einzusetzen. Fehlende Bestätigung im Handeln wird ersetzt durch den Wunsch nach Herrschen und Machtausübung, gepaart mit egozentrischer Eigensinnigkeit. So ist es kein Wunder, wenn sich das Grenzensetzen im Laissez-faire-Stil als unwürdig-nervender Machtkampf gestaltet, der das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern zu einer Terrorbeziehung werden läßt. Der Laissez -faire-Stil läßt Kinder nicht los, er baut kein Vertrauen auf und scheut sich vor Auseinandersetzungen. Die «lange Leine» wechselt unvermutet mit impulsiven Strafaktionen, eine unsichere Toleranz wechselt mit undurchsichtiger Kontrolle, Verschmelzungswünsche mit willkürlichem Liebesentzug. So vollzieht sich das Grenzensetzen im Laissez-faire-Stil nicht auf der Basis gegenseitigen Respekts, sondern darauf, wer der Stärkere ist. Die Grenze wird schnell zur Strafe, zum Symbol dafür, wer verloren hat. Dies ist der Beginn eines neuen Teufelskreises: Da Frustrationen nicht ausgehalten werden, gleitet Strenge schnell in erneute Verschmelzungswünsche um. Und alles fängt von vorne an. Kais Eltern gingen mit ihrem Sohn in eine Familienberatung, parallel dazu habe ich Kais Prozeß im Kindergarten begleitet. In der Anfangszeit wurde auf vier Schwerpunkte geachtet: • Die klare Regelung von Kais Tagesablauf und den Ablauf seines Vormittags im Kindergarten durch vier feste Termine: das Begrüßungsund Abschiedsritual sowie zwei abgesprochene Zeiten mit den Erzieherinnen, die dann nur Kai zur Verfügung standen. -8 1 -
• Man bezog u. a. Spiele ein, um die Integration in die Gruppe zu fördern. Über Rollenspiele versuchte man, ihm die Notwendigkeit von Regeln vorzuleben und zu vermitteln. • Kais Stärke war das Basteln von Masken, waren seine kreativ-künstlerischen Tätigkeiten. Hier war er anerkannt. Seine Kompetenzen setzte man nun konstruktiv ein: Er war der Verwalter des Bastelmaterials, und er half anderen Kindern, wenn sie hier nicht mehr weiterwußten. • Um Kais Körpergefühl zu stärken, führte man zusätzlich ein Bewegungstraining für ihn ein. Kais Handlungsmuster änderten sich zusehends: Er entwickelte soziale Beziehungen zu anderen, er gewann einen eigenen Standpunkt. Um diesen zu gewinnen, setzte er sich zunächst einmal an immer den gleichen Tisch, um von dort aus seine Aktivitäten zu entfalten. Kai wurde zusehends bereit, Verantwortung zu übernehmen. Er hatte nun positive und konstruktive Möglichkeiten, sich auszudrücken und auch abzugrenzen. Rückfälle in sein distanz-grenzenloses Verhalten gab es nach wie vor. Hier hatte seine Gruppe Strategien entwickelt, Kai, der früher der «Klopper» hieß, nicht mehr abzustempeln, ihn vielmehr zu ermutigen, sein verändertes Verhalten beizubehalten.
Verwöhnung ohne Grenzen Frau Schneider bittet ihren zehnjährigen Sohn Stefan darum, zukünftig den Mittagstisch abzudecken: «Ich gehe arbeiten. Ich schaffe das nicht mehr.» Stefan sieht seine Mutter fragend an: «Was bekomme ich dafür?» Sie, irritiert: «Wieso?» «Ich habe immer etwas bekommen, wenn ich geholfen habe!» Frau Schneider zuckt mit den Schultern: «Tja!» «Da muß ich's mir überlegen», sagt Stefan, steht auf und verläßt den Raum. Frau Schneider fängt an, schnell das Geschirr abzuräumen. -8 2 -
Tina kommt aus der Schule nach Hause. Sie besucht die vierte Grundschulklasse. Sie strahlt, zeigt ihrer Mutter eine Klassenarbeit. «Null Fehler, schau mal!» «Da wird sich Papa aber freuen. Hat sich das Lernen doch gelohnt.» Kurze Pause. «Heute abend kommt ‹Ein Fall für zwei›!» Tina blickt die Mutter an, die geschäftig hin und her rennt. «Hörst du?» Die Mutter bleibt kurz stehen. «Darf ich das sehen?» «Nein!» «Aber meine Arbeit ist so gut, ich hab' mich so angestrengt.» «Frage Papa!» Die Mutter wirkt ärgerlich, während Tina aufspringt: «Dann darf ich das sehen, der ist lieb, und ich darf alles, wenn ich gut in der Schule bin.» In Annettes und Sylvias Zimmer hat mal wieder «die Bombe eingeschlagen», wie die Mutter meint. Trotz ihres Drängens bemühen sich die Kinder nicht, das Kinderzimmer aufzuräumen. Sie weigern sich selbst dann, als die Mutter allmählich säuerlicher wird. Die Kinder vertrösten ihre Mutter auf den jeweils nächsten Tag. Nichts geschieht. Die Atmosphäre wird gespannter, aber Annette und Sylvia gelingt es, dies zu überspielen: Mal schmeicheln sie der Mutter, mal helfen sie bei Kleinigkeiten im Haushalt, mal bieten sie Unterstützung beim Einkauf an... bis eines Tages Mutters berühmter Kragen platzt. Sie stürzt in das Zimmer der Kinder, schreit: «Hier wird sofort aufgeräumt! Sofort!» Annette will was sagen. «Keine Widerrede!» Sylvia steht langsam auf, nimmt ein herumliegendes Kleidungsstück und hängt es in den Schrank. «Ich bleibe hier, bis alles aufgeräumt ist!» Frau Meister verschränkt die Arme. Ihre Töchter sehen betroffen aus, aber sie beginnen aufzuräumen. «So», die Mutter lächelt, «und wenn ihr fertig seid, holt ihr euch 'ne Tüte Pommes.» Dann verläßt sie das Zimmer.
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Kinder müssen geachtet und respektiert, ihre Wünsche und Bedürfnisse ernstgenommen werden. Achtung, Respekt und Annahme des Kindes gelingen dann, wenn dieses nicht auf Kosten anderer Bedürfnisse - z. B. der elterlichen - geschieht. Auf kindliche Wünsche und Bedürfnisse einzugehen, diese gegebenenfalls zu erfüllen, hat nichts mit verwöhnen zu tun. Verwöhnten Kindern werden entweder keine oder zu enge Grenzen gesetzt: Entweder drückt Verwöhnung Überbehütung aus, oder Verwöhnung kompensiert Beziehungslosigkeit im Zusammenleben. Die materielle Überversorgung der Konsumgesellschaft schafft Voraussetzungen, sich mehr oder minder alles kaufen und leisten zu können, zieht es nach sich, daß aus persönlichen Erziehungsbeziehungen eine über Waren vermittelte Dienstleistungsbeziehung wird - und dies auch im familiären Bereich. Immer mehr Eltern vermeiden Frustrationen im materiellen Bereich, drücken Beziehungen über das Schenken und Kaufen von Waren aus. Daraus ergibt sich eine Schieflage: Während Kinder materiell zunehmend weniger frustriert werden, man materielle Frustrationen vermeidet «schließlich kann man sich etwas leisten» -, mutet man den Heranwachsenden in emotionaler Hinsicht viel zu. Unübersehbar ist, daß gefühlsmäßige Frustrationen wie Liebesentzug, emotionale Leere, Verlassenheits- und soziale Ängste in den letzten Jahren zunehmen. Häusliche Zusammenarbeit funktioniert nicht auf der Basis von Bestechung, weil solcherart Belohnung den Wunsch nach immer mehr, ständiger Belohnung und materieller Belobigung wachruft. Wird diese verweigert, erhalten Kinder das Gefühl, es komme nichts dabei heraus. Die Folge ist - Stefans Reaktionen zeigen es - Rache und aus mütterlicher Sicht Hilflosigkeit. Wer ständig Selbstverständlichkeiten – und die Mithilfe im Haushalt ist eine - materiell belohnt oder Belohnung in Aussicht stellt, trägt nicht allein zum grenzenlosen Immer-Mehr bei, sondern der entwertet auch das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Das Gefühl der Zugehörigkeit entwickelt sich über das aktive Mitwirken. Wer Kinder unablässig materiell verwöhnt, läßt sie ohne eigenständige Erfahrung. Das eigene Zimmer -8 4 -
aufzuräumen, den Tisch abzudecken, selbstbestimmte Leistungen in der Schule zu erbringen - dafür verdienen Kinder Ermutigung, positive Bestärkung, und - weil Ausnahme die Regel bestätigen - als Überraschungen mal eine materielle Bestätigung. Wer verwöhnt, erzeugt beim Kind Stillstand, motiviert nicht dazu, sich neuen Herausforderungen zu stellen, läßt Kinder orientierungs- und beziehungslos. Kinder können, wenn sie in einem emotional ausgeglichenen Klima aufwachsen, materielle Frustrationen aushalten. Kinder erfahren dadurch nicht allein Frustrationstoleranz, sie werden angehalten, nach neuen Wegen und Möglichkeiten Ausschau zu halten, sich ihre materiellen Wünsche zu erfüllen. Benjamin kommt aus der Schule nach Hause. Als die Mutter ihn nach dem Ablauf des Vormittags fragt, bleibt er wortkarg. Jeder Versuch von Frau Peters, mit ihrem Sohn ins Gespräch zu kommen, scheitert an seinen kurzen, meist mürrischen Antworten. Beim Mittagessen fängt er an: «Ich weiß, du magst Batman nicht!» Er zieht das «a» des Wortes ganz lang, so daß es wie «Bääätmään» klingt. «Wie bitte?» «Eben Bääätmään aus dem Fernsehen. Da, wo du gleich meckerst.» «Ich mag den auch nicht.» «Sag ich doch!» Benjamins Stimme bekommt einen spitzen Klang. «Und? Was ist mit Batman?» fragt Frau Peters. Ihr «Batman» hört sich wie «Bettmann» an. «Batman», verbessert Benjamin. «Also!» Die Mutter quält ein langgezogenes «Batman» heraus. «Was ist mit Batman?» «Ich möchte so 'n Umhang haben. Hab ich im Supermarkt gesehen.» «Von wem?» «Von dir.» Benjamins Antwort kommt zögernd. -8 5 -
Frau Peters überlegt: «Ich denke nicht, daß ich dir einen kaufe.» «Bitte! Bitte!» «Ich muß noch drüber nachdenken.» Szenenwechsel. Der Nachmittag desselben Tages. Frau Peters sitzt mit ihrem Sohn zusammen. «Ich kauf den Umhang nicht!» eröffnet sie das Gespräch. «Hab ich mir ja gedacht. Du haßt Batman!» Benjamin wirkt beleidigt. «Wir nähen einen gemeinsam.» «Will ich nicht. Ich will einen gekauften haben.» «Mein Angebot steht.» Beim Abendessen lenkt Benjamin ein: «Gut, nähen wir einen.» «Das freut mich.» «Willst du nicht wissen, warum?» fragt Benjamin. Frau Peters zuckt mit den Schultern. «Ich hab mit Oma telefoniert. Oma kauft mir 'nen richtigen, also die gibt mir die Hälfte dazu. Und dann hab ich ja noch mein Taschengeld.» «Ist in Ordnung!» Szenenwechsel. Am nächsten Tag beginnt man mit dem Nähen. Benjamin kauft die Materialien, ist an der Fertigstellung stark beteiligt. Frau Peters unterstützt ihn, leitet an. Er versucht, das Original zu imitieren, was ihm nicht gelingt. «Also», stellt er nach der Fertigstellung zufrieden fest, «jetzt hab ich meinen. Aber irgendwann besorg ich mir den ‹richtigen›.» Am folgenden Tag trägt er seinen Umhang beim Spielen, umringt von seinen Freunden. Die «finden das Ding geil». Der Original-Batmanumhang liegt auf dem Gabentisch - ein Geschenk von der Oma. Benjamin zieht ihn ein paar Tage an, dann wird er zur Wanddekoration in seinem Zimmer.
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Frau Peters hat Grenzen gesetzt. Sie hat sich den Wünschen ihres Sohnes verweigert, ihm gezeigt, daß sie nicht bereit ist, all seine Wünsche sofort und rückhaltlos zu erfüllen. Sie mutet ihrem Sohn materielle Frustration zu, gibt ihm aber zugleich die Gewißheit, die Sache und nicht seine Person abzulehnen. Ihr Angebot, den Umhang herzustellen, weist auf dreierlei hin: • Sie erkennt Benjamins Wunsch an, will diesen aber nicht durch Kauf und Konsum erfüllen, vielmehr durch eine gemeinsame Tätigkeit. So hat man zugleich Zeit füreinander, kann Beziehungen herstellen. • Die aufgezeigten Grenzen haben Benjamin den Anstoß gegeben, nach Wegen zu suchen, um doch noch den «richtigen» Umhang zu bekommen. • Benjamins Frustration ist umgeschlagen in Nachdenklichkeit und Kreativität. Das «Nein» der Mutter hat zu einem sozialen Miteinander und zu Kooperation in der Sache geführt. Das «Nein» hat Benjamin gezeigt, daß er materielle Frustration aushalten und diese Grenze als Herausforderung annehmen kann. «Weniger ist manchmal mehr» - so hat es der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer bezüglich des Konsums ausgedrückt. Dieses «Mehr» ist Beziehung, ist Spannung, ist Auseinandersetzung. Verwöhnt-grenzenlose Kinder haben demgegenüber weniger - weniger an Erfahrung, Handlungssicherheit, Vertrauen in eigene Fähigkeiten und an Mut, sich Neuem zu stellen.
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5 «Mama muß mal die Hexe sein.» Wie Kinder Grenzen suchen und finden
Wer Grenzen sucht, sich an ihnen reibt, ist bereit für neue Erfahrungen. Grenzen zeigen Kindern, was sie und wie weit sie gehen können. Zugleich führen sie Kindern vor Augen, was sie noch nicht können. Grenzpfähle sind wie Leuchttürme, sie weisen eine Zeitlang auf sicheres Fahrwasser hin, leiten bis zu einem anderen Fahrwasser oder bis das offene Meer erreicht -8 8 -
ist, in dem nach anderen verläßlichen Koordinaten Ausschau gehalten wird. Doch wollen Kinder mehr. Mit Grenzen zu spielen heißt mit eigenen Fähigkeiten zu spielen, an eigene Leistungsgrenzen zu gehen, Herausforderungen zu bestehen, um sein Selbstwertgefühl zu stärken, die Tiefe und die emotionale Basis zwischenmenschlicher Beziehungen zu ergründen, die Verläßlichkeit von Normen und Werten auszutesten, die ihnen Eltern und Erzieher vorleben. Die Suche nach Grenzen und die versuchten wie verwirklichten Grenzüberschreitungen weisen deshalb auf zweierlei hin: • Sie sind Zeichen für kognitive und gefühlsmäßige Entwicklungsschritte des Kindes. Es hat Erfahrungen gemacht, es hat sie verinnerlicht, es ist bereit, anderes, unbekanntes Terrain zu erkunden. Wenn das Kind an Grenzen rüttelt, macht es auf sich aufmerksam, will mehr und anderes, möchte neue Sicherheiten, weil die gewohnten nicht mehr reichen. Grenzüberschreitungen zeigen die Notwendigkeit an, über erweiterte Grenzen veränderte Regeln und mehr Mitsprache des Kindes bei Konfliktlösungen nachzudenken. • Grenzüberschreitungen weisen den Erwachsenen aber auch darauf hin, sich diesen zu stellen. Eltern - und alle anderen, die mit Kindern pädagogisch zu tun haben - sind Modelle, an denen sich Kinder orientieren. Und wenn Kinder nicht mehr wissen, woran sie bei ihren Eltern sind, dann testen sie deren Grenzen aus. Grenzüberschreitungen sind normal, aber Grenzüberschreitungen sind zugleich schmerzhaft, konfliktreich, nervenaufreibend und mühsam; dies vor allem dann, wenn es Kindern nicht so sehr darum geht, ihr Können zu beweisen, als vielmehr Eltern in einen Beziehungs-Clinch hineinzuziehen. So haben denn Grenzüberschreitungen neben dem entwicklungsbedingten auch den funktionalen Aspekt. Anders ausgedrückt: Grenzüberschreitungen werden von Kindern - unbewußt und verdeckt - eingesetzt, um sich, ihre Stellung im Familiensystem, im System der Gruppe oder ihre -8 9 -
psychosoziale Lage darzustellen. Diese Grenzüberschreitungen fordern Erwachsene heraus, und sie überfordern oft genug.
Grenzüberschreitung und Nachgiebigkeit Vor dem Supermarkt steht ein Schaukelpferd. Sabrina, vier Jahre, steuert wie selbstverständlich darauf zu, setzt sich darauf, schaut ihre Mutter, Frau Abraham, an, die in einiger Entfernung stehenbleibt: «Schaukeln! Ich will schaukeln!» Die Mutter: «So, nun komm!» Sabrina bleibt sitzen, bettelt: «Bitte, nur 20 Pfennig!» «Nein, Sabrina!» «Bitte, bitte!» Die Stimme der Mutter wird fester: «Du hast gestern geschaukelt...» «...Bitte, bitte!» «... Und wir haben abgesprochen, morgen schaukelst du nicht!» Die Mutter schaut Sabrina fest an, die weiter Schaukelbewegungen macht, dabei ihre Mutter nicht ansieht. Frau Abraham: «Und du warst einverstanden.» Sie will sich umdrehen, als Sabrina kleinlautweinerlich klagt: «Bitte, bitte. Nur noch einmal, Mama!» Frau Abraham geht einige Schritte in Richtung des Autos, als Sabrina laut schreit: «Alte Hexe, ich hasse dich!» Die Mutter bleibt wie angewurzelt stehen, dreht sich um. Sabrina hat Tränen in den Augen, ihre Stimme klingt klagend: «Bitte, Mami, nur noch einmal.« Sie schaut mit traurigverlorenen Augen. Frau Abraham nestelt in der Einkaufstasche, untermalt von Sabrinas weinerlichem «Bitte, bitte!»: «Na gut, dieses eine Mal. Aber nur dieses eine Mal. Versprichst du's mir?» Sabrina strahlt, das Geld fällt in den Schlitz. Die Mutter lächelt gequält, sieht ihrer Tochter mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Ärgerlichkeit zu und sagt später während einer -9 0 -
Bildungsveranstaltung: «So ist's immer. Die weiß, wie sie mich um den kleinen Finger wickelt.» Und dabei schaut sie zur Hand und wickelt diese symbolisch ein. Sabrina testet - unbewußt - Grenzen aus, sie überprüft, inwieweit sie sich an verabredete Regeln halten muß oder welche emotionalen Mechanismen, welche Druckmittel sie einsetzen kann, um ihre Ziele zu erreichen. Auf meine Frage: «Du weißt, wie du zum Schaukeln kommst?» schaut Sabrina mich kurz irritiert an, dann zieht sich ein breites Grinsen über ihr Gesicht. Ich mache mit einer weinerlich-greinenden Stimme ein «Ich will schaukeln» vor. Sabrina lacht, nickt heftig mit dem Kopf: «Genau!» Frau Abraham hatte zunächst angemessen reagiert und mit ihrer Tochter eine Vereinbarung getroffen. Übersehen hatten beide, was zu tun ist, wenn sich die Tochter nicht an die Absprache hält. Dies hatte Sabrina ausgenutzt, ihre Mutter auf Festigkeit und Konsequenz hin ausgetestet. Die Erfahrung, daß «Mami weich wird», kannte sie aus vergleichbaren Konfliktsituationen: «Wenn ich weine, krieg ich viel.» Sabrina setzt ihre «Wasserkraft» ein, um ihre Ziele zu erreichen. Sie ahnt und spürt, daß sie mit Tränen mehr bewirkt als die Mutter mit ihren Worten. Sabrina sind die Motive ihrer Grenzüberschreitungen natürlich nicht bewußt. Sie handelt impulsiv, aus einem inneren Drang heraus, ganz im Sinne von Versuch und Irrtum - nach dem Motto: «Mal sehen, wie weit ich heute gehen kann.» Sie möchte wissen, woran sie ist. Da die Mutter aber bei bestimmten emotionalen Haltungen ihrer Tochter nachgiebig ist, Sabrina mithin ihr Ziel - das Schaukeln - erreicht, bestand für sie kein Anlaß, ihre Quengelei zu unterlassen. «Aber was hätte ich denn tun sollen?» fragte Frau Abraham. «Was sollten Sie denn tun?» Sie überlegt einen Augenblick. «Einfach ins Auto gehen!» «Dann gehört das mit zur Absprache.»
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Mutter und Tochter vereinbaren, daß nur bei jedem zweiten Besuch das Schaukelpferd benutzt wird. Darauf verständigt man sich vor dem Einkauf nochmals. Hält sich Sabrina nicht an diese Absprache, wird die Mutter ins Auto gehen, fünf Minuten warten und dann abfahren. Sabrina ist einverstanden. Ein paar Tage später. Es ist «Nicht-Schaukel-Tag». Sabrina geht zum Pferd, setzt sich drauf, bleibt sitzen, bettelt, weint, greint. Frau Abraham erinnert kurz und ruhig an die Abmachung, dreht sich um und geht festen Schrittes zum Auto. Sie versucht, ihre weinende Tochter «zu überhören». Später sagt sie: «Auf dem Weg dahin mußte ich mir immer sagen: ‹Ich bin eine gute Mutter!›» Beim Auto angekommen, packt sie ein, setzt sich hinter das Steuer und wartet. Nach zwei Minuten kommt Sabrina, enttäuscht, genervt, ärgerlich. Sie setzt sich wortlos ins Auto. Als Frau Abraham anfährt, schauen sich beide an. Sabrina lächelt. Vier Gesichtspunkte sind mir bei diesem Umgang mit Grenzüberschreitungen wichtig: • Während Frau Abraham zunächst darauf verzichtet hatte, auf Konsequenzen bei Regelverstößen hinzuweisen, gehören nun die Folgen zur Absprache. Sabrina weiß, woran sie ist. • Die Mutter hat ihre Tochter zur Mitarbeit gewonnen. Es ging nicht um ein grundsätzliches «Nein» zum Schaukeln, vielmehr darum, dies auf eine für beide angemessene Weise zu lösen. • Frau Abraham blieb auch dann fest, als Sabrina ein weiteres Mal ihre Grenzen austesten wollte. • Wer handelt, verschafft sich Achtung; zeigt, wie er Absprachen ernst meint, und wird so zu einem verläßlichen Partner. Mutter und Tochter erfahren die Notwendigkeit, sich gegenseitig ernst zu nehmen, was wiederum Voraussetzung gegenseitigen Respekts ist.
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Macht austesten Tim, vier Jahre, kommt ins Wohnzimmer, ist durstig und wünscht etwas zu trinken. Die Mutter steht auf, beide gehen in die Küche. «Möchtest du O-Saft?» Tim nickt. Die Mutter gießt ein. «So, nun trink!» «Will ich nicht, möchte Milch.» «Kannst du doch gleich sagen.» Die Milch wird eingegossen. Tim nimmt das Milchglas, setzt an: «Mag ich nicht, die ist sauer.» «Ich denke, du bist durstig.» Die Stimme der Mutter wird ärgerlicher. «Bin ich auch.» «Was willst du denn?» Tim überlegt kurz. «Kirschsaft!» Die Mutter geht zum Regal, holt Kirschsaft. «Nicht diese Flasche, die daneben.» «Ist doch die gleiche.» «Nein.» «Ist aber die gleiche.» «Nein!» «Meinetwegen.» Die Mutter stellt eine Flasche zurück, nimmt die nächste. «So, nun reicht's aber.» Sie gießt den Saft ein. «Gib mir den O-Saft, ich glaube, der ist doch besser.» «Tim, ich glaub, ich spinne. Jetzt reicht's aber wirklich.» Die Stimme wird laut. «Nun trinkst du diesen Saft!» Sie drückt ihm das Glas in die Hand. Er trinkt einen Schluck, stellt das Glas zurück, verläßt grinsend die Küche, während eine genervte Mutter zurückbleibt: «Jedesmal dieser Nerv! Aber wirklich jedesmal!» stöhnt sie leise vor sich hin. -9 3 -
Ob nun beim Getränk, beim Essen, bei der Kleidung oder beim Spielzeug - von den anderen alltäglichen Konsumartikeln ganz zu schweigen - immer mehr Kinder werden früh in Entscheidungsprozesse einbezogen, haben die Qual der Wahl: Sie stehen lange vor dem Kleiderschrank, noch unfähig oder besser: überfordert, sich zu entscheiden; sie haben sich morgens für ein Essen zu entscheiden, von dem sie mittags nichts mehr wissen wollen. So notwendig der Respekt vor kindlichen Wünschen und Bedürfnissen ist, so muß dies doch alters- und situationsangemessen erfolgen. Die Klage vieler Eltern, aus jeder noch so kleinen und harmlosen Situation wie der Wahl eines Getränkes oder der Kleidung werde in Kürze «ein richtiger Nerv», zeigt, daß sich viele Kinder mit dem erzieherischen Leitbild von Selbständigkeit überfordert sehen dies besonders dann, wenn keine Absprachen und Regeln für solche Situationen bestehen. Entsprechende Verhaltensunsicherheiten sind Zeichen dafür, wie Kinder zu früh mit zu weiten Grenzen konfrontiert sind. Wenn Entscheidungen nicht mit verläßlichen Regeln, verbindlichen Grenzen und Absprachen einhergehen, fühlen sich Kinder allein gelassen und verunsichert. Kinder brauchen die Unterstützung und Ermutigung ihrer Eltern ebenso, wie sie bereit sein müssen, eigentätig an der Problemlösung mitzuarbeiten. Wer Kinder ständig überfordert - dies gilt selbst dann, wenn «man es noch so gut» meint -, halt sie klein, macht sie ungewollt - unselbständig. Um Kindern die Qual der Wahl zu erleichtern, ist es wichtig, sie aus einer für sie überschaubaren Anzahl - von Gegenständen - auswählen zu lassen. Ansonsten verlieren Kinder sich, werden entmutigt, trauen sich nicht. Die Folgen sind Machtkämpfe, Hilflosigkeiten, über die das Kind sein «Noch-nicht», ausdrückt. «Was hätte ich denn sagen sollen?» fragt Tims Mutter. «Was möchtest du trinken, Wasser oder O-Saft?» «Und wenn das Kind dann aber Kirschsaft möchte?» «Dann gibt es Kirschsaft und keine weiteren Diskussionen.» «Aber wenn er den dann nicht will und noch durstig ist?» «Ich denke, er ist nicht durstig, -9 4 -
sondern er prüft Sie, wie weit er mit seinen Wünschen gehen kann!»
Unergiebiger Wortschwall Durch Handeln Grenzen zu ziehen hilft dem Kind bei der Orientierung. Unendliches Reden dagegen macht Kinder - wie es Rudolf Dreikurs einmal ausdrückte - «muttertaub» - und sicherlich auch «vatertaub». Die Familien Moser und Schrader sitzen in einem kleinen Gartenrestaurant, um zu essen. Mosers haben zwei Kinder, Marion, acht, und Julian, sechs Jahre, Schraders den siebenjährigen Sven. Nach der Vorspeise fragen die Kinder, ob sie aufstehen dürfen. «Ja, aber nur hier in der Nähe spielen.» Die Kinder nicken, springen auf, fangen zunächst vorsichtig an, die Gegend zu erkunden. Immer weiter ziehen sie ihre Kreise, mal laut schnatternd, mal leise, mal kreischend, mal tuschelnd. Die Eltern unterhalten sich intensiv, schauen sich gegenseitig an. Die ermahnenden Hinweise «Marion» hierher oder «Sven, nicht so weit» oder «Julian, paß doch auf» klingen mehr dahingesagt und unverbindlich, dazu sind die Eltern zu sehr mit sich beschäftigt. Als Marion und Sven den Kellner ungewollt anrempeln, weil sie in ihr Toben vertieft sind, meint Herr Schrader schroff: «Mensch, paßt doch auf!» Und als Julian einen Stuhl laut krachend umschmeißt, entfährt es Frau Moser: «Nun hört aber endlich mal auf!» Frau Schrader meint genervt zur Runde der Erwachsenen: «Die sind heute fürchterlich. Man kann sich nicht mal in Ruhe unterhalten.» Die Kinder ziehen sich in eine Ecke zurück, spielen dort mit umherliegenden Kieseln. Kurze Atempause für die Eltern, unterbrochen von pflichtschuldigen Rufen wie «Julian, vorsichtig», «Sven, nicht mit Steinen werfen...» Die Kinder sind taub, sie ahnen, daß nicht sie die Adressaten sind, so indirekt klingen die Ermahnungen. Julian springt auf, läuft zu einem Blumenbeet in der Nähe des elterlichen Tisches und beginnt, auf der Steineinfassung zu -9 5 -
balancieren. Die beiden anderen kommen hinterher, tun es Julian nach. Regelmäßig gleiten die Kinder ab, treten auf die Tulpen. «Paßt doch auf», meint Frau Schrader. «Hört doch bitte auf», sagt Herr Moser. «Seid doch bitte vorsichtig, die armen Blumen. Das tut denen doch weh.» Frau Schraders Stimme klingt mitleidig. Die Kinder setzen ihr Spiel fort. Lustig und laut geht es zu. Als Julian mal wieder eine Tulpe zertreten hat, springt Frau Moser auf: «So, nun ist aber Schluß!» Als ihr Sohn von den Steinen zurücktritt, bleibt sie stehen, setzt sich, stößt ein «Ich weiß nicht, was die haben. Die sind so quirlig!» aus und fährt mit ihrem Gespräch fort. Sven hat unterdessen ein Wettrennen um den Steinrand des Blumenbeetes vereinbart: «Wer's am schnellsten schafft, gewinnt.» Sie fangen an, bemühen sich, das Beet nicht zu berühren, die Blumen nicht zu zertrampeln - gleichwohl vergeblich. Das ständige «Hör auf!» oder «Laßt das!» der Eltern überhören die Kinder, es kommt ihnen wohl eher wie Anfeuerungsrufe vor - bis, ja bis der Kellner sich vor den Kindern überlebensgroß aufbaut. Seine tiefe Stimme klingt ganz bestimmt: «Schluß nun. Ab an den Tisch!» Die Kinder zögern, der Kellner bleibt stehen, schaut die Kinder fest an, seine Augen bewegen sich langsam in Richtung des elterlichen Tisches. Und dann fügt er ganz freundlich hinzu: «Und wenn's da zu langweilig ist, könnt ihr mir helfen!» Die Kinder begleiten den Kellner zum Tisch. Als sie dort ankommen, meint Frau Moser irritiert: «Mensch, Harry, sind Sie aber heute ungnädig!» Harry, der Kellner, zuckt die Schultern: «Ich bin doch kein Artist!» - «Wieso?» - «Wenn mir drei Kinder auf der Nase tanzen könnten, würde ich nicht hier arbeiten, sondern im Variete!» Restaurants oder Supermärkte ermutigen die Kinder regelrecht zu Regelverstößen. Dort haben sie Zuschauer, die die kindlichen Schritte in unbekantes Terrain teils bewundernd, teils abwartend, teils mißbilligend beobachten, verbunden mit der beruhigenden Gewißheit, nicht in der Rolle von Eltern handeln zu müssen. -9 6 -
Über Regelverstöße und Grenzverletzungen provozieren Kinder Aufmerksamkeit. Indem die Schraders und Mosers nicht angemessen auf die Aktionen ihrer Kinder eingingen, fühlten diese sich nicht an- und ernst genommen. Erst der Kellner Harry konnte mit seinem Einspruch und seiner eindeutigen Haltung jene Grenze setzen, die auch die Kinder akzeptieren konnten. Unzählige Ermahnungen bedeuten in der Regel dann nichts für das Kind, wenn sie nur so dahingesagt sind. Das Kind «stellt die Ohren auf Durchzug». Viele Kinder ahnen: Viel Gerede und «gute Worte» sind mit Inkonsequenz verbunden. Als Frau Moser aufsteht, um ihren Worten «Jetzt ist aber Schluß» Festigkeit, Ernst und Nachdruck zu verleihen, als sie anfängt, eine Grenze ausdrucksstark einzufordern, bricht sie unvermittelt ab. Die Kinder fühlen sich daraufhin weiter ermutigt für neue «Taten», wissen sie doch aus Erfahrung, daß mütterlicherseits eher geredet denn gehandelt wird; mithin ein Ansporn für sie, weitere Grenzen auszutesten. • Vielen Kindern sind die Motive ihrer «Grenzscharmützel» nicht bewußt. Deshalb besteht für sie auch kein Anreiz, damit aufzuhören. Und warum soll ein Kind seine Regelverstöße beenden, wenn es dafür Zuwendung - wenn auch negative bekommt? Strafaktionen oder impulsive Reaktionen führen zu keinem Ergebnis, sind mehr darauf ausgerichtet, das Kind zu erniedrigen oder zu beherrschen. Solche Handlungen mögen kurzzeitig «Beruhigung» und «Erfolg» mit sich bringen, mittelund langfristig fordern sie das Kind aber heraus, über destruktiv-störende Aktionen mit den Eltern in eine Beziehung, genauer: in eine Macht-Ohnmacht-Beziehung einzutreten. • Wenn Eltern es mit ihren Anweisungen - z. B. «Hört auf!» ernst meinen, müssen sie sich voll auf die Einhaltung des ausgesprochenen Gebots konzentrieren. Wenn Kinder beobachten und erleben, wie Eltern solche Anweisungen nur nebenbei - und dies ist wörtlich gemeint - geben, denken sie gar nicht daran aufzuhören. Das ändert sich erst dann, wenn die Eltern zu ihren Anweisungen stehen.
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• Eltern wissen, in welcher Situation und zu welcher Zeit es mit großer Regelmäßigkeit «kracht». Die ständigen Ermahnungen, nun besonders brav, nett, ruhig oder angepaßt zu sein, helfen in der Regel nicht. Und je häufiger solche Situationen in Beziehungsstreß ausarten, um so unsicherängstlicher geht man in sie hinein und kann sich wieder nicht eindeutig verhalten - ganz im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Wie kann man sich in solchen Situationen angemessen verhalten? Vielleicht sollten Sie vorher in ruhigen Worten mit dem Kind über das Einhalten von Regeln reden und dabei seine Mithilfe zu gewinnen versuchen. Nicht gegen das Kind, sondern mit dem Kind lautet die Regel. Aber das gelingt nicht immer - trotz aller Absprachen. In Konfliktsituationen ist es dann wichtig, auf der Einhaltung der abgesprochenen Regeln zu bestehen - und dies in einer festen Körperhaltung und klaren Sprache. Das Kind spürt so, wie verbindlich die Eltern die Einhaltung von Regeln nehmen. Nur durch Tun und Erleben können Regeln und Grenzen verinnerlicht werden - dies so lange, bis neue Situationen kommen, die zu Grenzüberschreitungen reizen.
«Alle anderen dürfen...» Kinder haben ihre «bewußten und unbewußten - Strategien, Grenzen zu erweitern oder auszutesten. Je älter Kinder werden - spätestens vom Zeitpunkt des Kindergartenbesuchs an -, um so konsequenter, differenzierter und nachdrücklicher versuchen sie, ihre Positionen zu behaupten und Standpunkte zu erweitern. Ein bewährter - Zaubertrick ist die Selbstdarstellung als Außenseiter, gekoppelt mit - manchmal liebenswürdiger Nötigung. Florian, sieben Jahre, kommt aus der Schule nach Hause, geht zur Mutter und fragt: «Darf ich heute abend den Krimi sehen?» «Es gibt eine Absprache: keine Krimis nach 19 Uhr!» Frau Kösters Stimme klingt bestimmt. -9 8 -
Florian verschwindet in seinem Zimmer, nimmt beim Mittagessen das Thema wieder auf: «Darf ich heute abend den Krimi sehen?» «Florian, bitte!» Etwas ärgerlich und mißmutig ißt die Mutter weiter. Florian schweigt. «Was ist mit dir? Du bist so ruhig?» Florian, etwas kleinlaut, weinerlich, mit kleinkindhafter Stimme: «Alle dürfen den aber sehen.» Kurze Pause. «Und ich darf in der Pause schon nicht mehr mitspielen.» Er schluchzt: «Die nennen mich Baby, weil ich das noch nie gesehen habe.» Frau Köster streichelt ihrem Sohn die Hand: «Und wer kann das sehen?» «Alle!» «Wer sind alle?» Florian zuckt die Schultern. «Gut, dann rufe ich mal Mirko, Martin, Robert, Helena und Anna an! Ich glaub nämlich nicht, daß die das alle sehen!» Florians Stimme klingt plötzlich trotzig, erhält einen ganz bestimmten Klang: «Glaubst du mir etwa nicht? Das find ich aber gemein! Ruf da bloß nicht an!» «Alles klar. Ich denke, ihr macht euch da etwas vor in der Klasse, schaukelt euch gegenseitig hoch. Den Krimi siehst du jedenfalls nicht.» Florian hat den Krimi nicht gesehen, gleichwohl blieben der ständige Streit und die Frage der Mutter, ob sie zu «hart» und zuwenig verständnisvoll reagiert habe. Es ist völlig normal, wenn Kinder versuchen - bedingt durch die Erfahrung in Kindergarten, Hort, Freizeiteinrichtungen oder Schule -, Grenzen in der Familie in Frage zu stellen, sie zu überschreiten. Diese Grenzen tatsächlich neu zu setzen kann allerdings nur das Ergebnis gemeinsamer Bemühungen aller Beteiligten sein. Wenn sie auf der Basis von Nötigung - «alle anderen dürfen...» - festgesetzt werden, ist das im Res ultat ebenso problematisch wie stures Beharren auf einmal -9 9 -
abgesprochenen Regeln: «Das haben wir immer so gemacht. Und dabei bleibt es. Punkt. Basta!» «Alle anderen dürfen...» Ob es sich nun um den abendlichen Krimi, das schicke T-Shirt, längeres Aufbleiben, das neueste Monster-Spielzeug oder das höhere Taschengeld handelt: Immer versuchen Kinder auch, neue Grenzen auszutesten, abgesprochene Regeln in Frage zu stellen. Wer sofort nachgibt, der verschafft Kindern einen zweifachen Erfolg mit fragwürdigen Konsequenzen: Kinder lernen daraus, wie sie durch bestimmte Formulierungen und entsprechende Verhaltensweisen ihre Eltern «überzeugen», besser: «rumkriegen», und sie werden solch Modell immer wieder erfolgreich aus ihrer Sicht - anwenden. Die Eltern sind in eine Beziehungsfalle getappt, aus der sie sich - und das Kind - nur schwer wieder befreien können. Es ist sinnvoll - wie es Frau Köster gemacht hat -, auf bestehende Absprachen, Regeln und Grenzen zu verweisen. Dies sollte auf der «Ich-Ebene», nicht jedoch auf der «ManEbene» geschehen. Unangemessen ist ein Satz wie: «Man sieht in deinem Alter solche Filme nicht!», angemessen ist dagegen eine Feststellung wie: «Wir haben Filme, die du sehen kannst, abgesprochen. Ich finde, das sollte zunächst so bleiben.» Leben Sie den Kindern die Verläßlichkeit von Normen und Werten vor. Dies gibt den Kindern Vertrautheit und Sicherheit. Es ist ihnen zuzumuten, daß in anderen Familien ganz andere Modelle praktiziert werden: Das Kind kann vergleichen, kann werten; es erfährt, wie unterschiedliche Erziehungstile Vor- und Nachteile haben. Das Kind spürt möglicherweise Frustrationen, weil die anderen Kinder «immer mehr dürfen als ich!» Solche Frustrationen beziehen sich meist auf materielle Bereiche - und Fernsehvorlieben gehören zweifelsohne dazu. Materielle Frustrationen können Kinder durchaus aushalten, wenn sie emotionale Sicherheit spüren. Wenn Frau Kösters «Nein» von Florian allerdings als Verbot aufgefaßt würde und er dazu überginge, heimlich den Krimi zu -1 0 0 -
sehen, müßte sie anders handeln. Dann könnte es sein, daß er einmal abgemachte Regeln in Frage stellen will. Florian würde zeigen, daß er mehr kann und anders will. So steht denn hinter dem «Alle anderen dürfen...» manchmal der Hinweis des Kindes: «Ich bin größer. Ich möchte mehr sehen.» Dies Motiv kann in einem Gespräch aufgedeckt werden und dazu führen, nach neuen Regeln und Grenzen zu suchen. Am Ende kann dann durchaus der Krimi am Abend stehen. Doch ist dies das Resultat eines gemeinsamen Gesprächs, einer Auseinandersetzung und geschieht nicht deshalb, weil es alle anderen dürfen.
Grenzüberschreitungen als Provokation Nun ergeben sich Grenzüberschreitungen nicht allein aus dem Reiz, Bestehendes und Beherrschbares in Frage zu stellen, nach neuen Ufern Ausschau zu halten. Grenzüberschreitungen wollen provozieren, enthalten auch verdeckte Motive, die Eltern sich klarmachen und in konstruktive Bahnen lenken sollten. Alexander, neun Jahre, kommt nach Hause, läßt seine Schultasche fallen, geht sofort vor den Fernsehapparat. Dies führt zu regelmäßigen Auseinandersetzungen. Alexanders Mutter: «Es ist ein Greuel. Jeden Mittag gibt es Streit. Ich kann mir Mühe geben, wie ich will, aber regelmäßig gibt es Zoff. Über das Fernsehen und über das Essen. Dabei gebe ich mir soviel Mühe, will mit ihm reden.» Sie schüttelt den Kopf. Alexander, sein Bruder Harald, fünf Jahre, und die Mutter tragen dieses Problem auf einer Bildungsveranstaltung mit Eltern vor. Ich gebe einige Ausschnitte aus dem Gespräch wieder. «Eure Mutter beschwert sich mittags über Streit. Sie sagt, sie kann nicht mit euch reden.» Alexander protestiert: «Die redet nicht, die kommandiert und fragt aus wie ein Kommissar.» Harald nickt: «Ja, wie im Krimi, nur schlimmer, weil das ist ja echt bei Mama.» -1 0 1 -
«Wie ist es mit eurem Kommissar zu Hause?» Alexander setzt sich in Positur: «Ich komme, sie fragt: ‹Wie war's?› Oder: ‹Was habt ihr gemacht?› Oder: ‹Was habt ihr für Hausaufgaben?› Nur Fragen, immer Fragen, wenn ich nicht antworte: ‹Nun sag schon. Muß ich denn tausendmal fragen.› So ist das immer.» Die Mutter: «Aber mich interessiert doch, was ihr macht. Soll ich denn stumm dasitzen?» Alexander: «Aber nicht immer gleich ausfragen. In der Schule fragen sie, ich komme nach Hause, und schon fragt wieder einer.» Er macht eine Pause. «Der Fernseher fragt wenigstens nicht, und in meinem Zimmer habe ich dann Ruhe.» Die Mutter: «Ich bin ja wohl die fürchterlichste Mutter auf der Welt.» Harald faßt liebevoll ihre Hand: «Manchmal schon. Dann kannst du ganz schön nerven. Wenn ich vom Kindergarten komme, fragst du auch immer, ‹na, wie war's?› Und wenn ich dann sag, ‹ich hab gespielt›, sagst du, ‹was, du hast nur gespielt? Weiter nichts? Hast du da nichts Richtiges gemacht?›» In diesem Gespräch sind einige Themen enthalten, die man verallgemeinern kann: Zwischenmenschliche Kommunikation nimmt in manchen Familien ab, obwohl man - im Verhältnis zu früheren Zeiten - objektiv mehr freie Zeit hat. Zugleich ist freie Zeit aber verplante Zeit. Deshalb prägt Zeitknappheit das Familienleben - oder genauer: Viele Gespräche zwischen den Familienmitgliedern dienen der Abstimmung des Terminkalenders. Bei einer von mir jüngst durchgeführten Befragung bei 310 Familien zeigte sich, nur in 35 Prozent aller Haushalte gab es pro Werktag eine Zeit kommunikativer Gemeinsamkeit, eine Zeit, bei der alle Familienmitglieder zusammen waren. Ein anderer Befund verschärfte das Ergebnis: Etwa drei Viertel aller von mir befragten Kinder waren der Auffassung, die ElternKind-Gespräche seien im Endeffekt zu ergebnisorientiert, es müsse häufig «etwas herauskommen». -1 0 2 -
Kommunikationsanlässe als Orte des Berichtens, des Nacherlebens, des Mitfühlens, des Geschichtenerzählens finden selten statt. Knapp vier Fünftel der Kinder empfanden elterliches Reden häufig als Abfragen und Kreuzverhör, in dem Besserwisserei vor einem gemeinsamen Dialog rangiert. Unterschiedliche Meinungen zwischen Eltern und Kindern werden häufig schwer ausgehalten. Details oder abgesprochene Regeln werden jedesmal aufs neue ausdiskutiert. Eltern halten ihre ausgesprochenen Anweisungen - so fühlen das Kinder - manchmal nur schwer aus, dies vor allem dann, wenn sie kindlichen Widerstand hervorrufen. Zurück zu Alexander, Harald und deren Mutter. Auf ihre verzweifelte Frage: «Was soll ich denn bloß machen?» hatte Harald eine spontane Antwort: «Einfach mal ruhig sein. Ich merk doch, daß du dich freust, wenn ich komm!» Und Alexander ergänzt: «Ich will einfach meine Ruhe haben, und wenn ich reden will, dann tu ich das.» Mutter: «Und wenn du mir was verschweigst?» Alexander: «Dann erzähl ich's dir auch nicht, wenn du mich fragst.» Im Anschluß an das Gespräch finden wir eine Absprache: • Wenn die Kinder nach Hause kommen, fragt die Mutter nicht nach der Schule und dem Kindergarten, • jeder mag beim Essen erzählen, was er will, • die Mutter darf beim Abendbrot nach Schule und Kindergarten fragen. Das Resultat nach drei Wochen: Alle haben sich an die Absprache gehalten. Der Rückzug von Alexander vor den Fernsehapparat wurde unnötig, der Streit beim Essen vermieden. Die Mutter lernte, die Ruhe beim Essen als angenehm zu empfinden. Sie begann von sich, von ihrem Vormittag und ihrem Erlebten zu erzählen. Dies animierte die Kinder, von allein und freiwillig über ihre Erfahrungen zu berichten. So ist die Kommunikation lebendiger geworden, alle haben miteinander geredet. Alexander brauchte nicht mehr vor den Fernseher zu fliehen, um lästigen Fragen zu entgehen.
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Durch die Verletzung von Grenzen wollten Alexander und Harald auf eine für sie unbefriedigende Situation aufmerksam machen. Sie provozierten, um zu veränderten Regeln - hier während des Essens - zu gelangen. Nur indem sich alle Beteiligten anstrengten und mithalfen, war schließlich eine Absprache möglich.
«Du Arschloch!» Caroline, fünf Jahre, kommt aus dem Kindergarten, singt fröhlich, stellt sich zur Mutter und sagt unvermittelt: «Arschloch! Arschloch! Arschloch!» Dann blickt sie ihre Mutter an, die kurz lächelt und dann ganz fest und freundlich meint: «Caroline, zieh deinen Mantel aus. Das Essen ist fertig.» Caroline geht und kommt zurück. Beide essen. In den nächsten vier Tagen wiederholen sich Carolines «Arschloch»Ritual und die Reaktion der Mutter noch weitere Male. Am Abend des folgenden Tages meint Caroline im Anschluß an das Essen: «Hat geschmeckt, du Arschloch!» Die Mutter, ganz bestimmt: «Das sagt man nicht!» Caroline, ganz fröhlich: «Arschloch sagt man nicht!» Diesen Satz wiederholt sie spielerisch ein paarmal. Die Mutter, leicht säuerlich: «Caroline, bitte!» Caroline ist irritiert, meint dann etwas verhalten: «Aber Papa sagt das auch mal.» Die Mutter zögerlich: «Tja, das find ich auch nicht gut!» Caroline lächelt: «Und Papa ist viel größer als ich. Wenn der das nicht mal kann.» Schimpfworte und Kraftausdrücke faszinieren Kinder, mit und über sie testen sie normative Grenzen und zwischenmenschliche Verhaltensweisen aus. Je kleiner Kinder sind, um so weniger können sie sich die Bedeutung der - meist von älteren Kindern oder von Erwachsenen - ausgesprochenen Wörter vorstellen; Wörter, die geheimnisvoll klingen, Wörter, mit denen man offensichtlich etwas bewirken kann. Kinder übernehmen die Ausdrücke, stellen sie dann in einen ihnen vertrauten Zusammenhang und kalkulieren die Wirkung: Je überzogener die elterliche Reaktion, um so eher ahnen die Kinder, einen Volltreffer gelandet zu haben. Das Kraftwort findet -1 0 4 -
schnell Eingang in ihren Alltag - zu ihrem Vergnügen, zum Verdruß der Erwachsenen. Genausowenig wie anfänglich überzogen-heftige Reaktionen taugen, genausowenig helfen moralische Bewertungen. Arthur, sechs Jahre, zu seiner vierjährigen Schwester: «Du Ficksau!» «Selber Vieh... Vieh... Fischsau!» Der Vater tritt hinzu, sehr heftig: «Arthur, so etwas sagt man nicht!» - «Warum?» - «Das ist ein schmutziges Wort!» - «Wieso? Hat das was mit Scheiße oder Klackermatsche zu tun?» - «Arthur!» Der Vater ist entrüstet. Kinder ahnen die machtvolle Wirkung von Kraftausdrücken. Sie wissen aber weder um deren Durchschlagskraft noch Reichweite, deshalb handeln sie - unbewußt oder manchmal auch zielgerichtet - auf der Basis von Versuch und Irrtum. Anfänglich hat sich Carolines Mutter angemessen verhalten. Sie hat das Verhalten ihrer Tochter ignoriert, weder moralisch bewertet noch nach dem «Woher hast du das?» gefragt. Solche Fragen bringen Kinder schnell in Verteidigungspositionen. Sie geben anderen Kindern die Schuld. Dies hilft ihnen nicht, ihre Angewohnheiten zu verändern - höchstens in Anwesenheit jener Personen, die die Kraftausdrücke verurteilen. Bringt Ignorieren die - in diesem Fall - Schimpf- und Kraftausdrücke nicht beiseite, dann ist zu handeln - ansonsten würde das Übersehen und -hören Caroline in ihrer provozierenden Grenzüberschreitung bestärken, sie zum Weitermachen auffordern. Caroline würde das Ignorieren möglicherweise als Gleichgültigkeit deuten, sie würde ihr Handeln so lange fortsetzen, bis Grenzen gesetzt werden. Wichtig ist jedoch die Art und Weise, wie auf Carolines Provokation reagiert wird. Indem die Mutter auf der «Man»Ebene antwortet, bietet sie ihrer Tochter Gelegenheit, eigene Erfahrungen und Beobachtungen ins Spiel zu bringen: «Aber Papa sagt das auch!» Angemessen wäre gewesen: «Ich möchte das nicht hören!» oder: «Ich bin kein Arschloch!» Und auf Carolines «Warum»-Frage könnte sie antworten: «Ich fühle mich verletzt.» Bei dieser Auseinandersetzung kommt es -1 0 5 -
entscheidend darauf an, daß Caroline bezüglich ihrer Wortwahl, nicht jedoch als Person kritisiert wird. Es ist also zwischen einer Kritik an der Sache und der Kritik an einer sich entwickelnden Persönlichkeit zu unterscheiden. Caroline muß das Gefühl erfahren, alle Persönlichkeitsanteile, eben auch die grenzüberschreitenden, ausleben zu dürfen. Caroline muß dann aber aushalten, Grenzen gesetzt zu bekommen und Konsequenzen zu erfahren.
Entwürdigungen Frau Beyer erzählt auf einer Elternversammlung: «Meine Tochter ist schlimm.» Nina ist zehn Jahre, besucht die letzte Klasse einer Grundschule. «Sie ist», wie der Vater erzählt, «ein Wunschkind: Wir tun alles für unsere Tochter, sind immer für sie da!» - «Was ist schlimm an ihrer Tochter?» will ich wissen. «Es wird immer schlimmer, von Tag zu Tag. Die macht mit uns, was sie will», klagt Frau Beyer. Ihr Mann ergänzt: «Gestern hat sie mich geschlagen... Aus heiterem Himmel. Ins Gesicht. Hier sehen Sie.» Er weist auf einen blauen Fleck am Hals hin. Frau Beyer: «Nur weil er mit ihr nicht spielen wollte... zack, zack...!» Sie macht den Schlag ihrer Tochter nach, «... und schon sitzt es im Gesicht.» - «Und was machen Sie?» - «Wir beruhigen sie dann, reden mit ihr... und so...», meint der Vater. Er überlegt, sieht sich hilfesuchend um. «Manchmal schreie ich dann zurück. Dann ist's ganz schlimm. Sie heult, zieht sich in ihr Zimmer zurück, schließt sich ein. Und...», die Mutter sucht nach Worten, «... dann stehen wir bettelnd davor, vor der Tür, und wollen, daß sie aufmacht.» «Schlägt sie aus heiterem Himmel?» - «Nein, immer wenn wir sie frustrieren, wenn sie nicht bekommt, was sie will.» - «Nina behandelt Sie wie ein Stück Dreck», werfe ich ein. Herr Beyer ganz spontan: «Wie den letzten Dreck.» Und dann erzählt die Mutter, angefangen habe es vor einigen Jahren mit Worten wie «Komm her, du Arschloch» oder «Gibt's endlich Essen, du blöde Kuh.» - «Und wie haben Sie gehandelt?» - «Ich war freundlich, hab's übersehen. Ich dachte, -1 0 6 -
das sei eine Phase, die vorübergeht.» Frau Beyer wirkt nun sehr überlegt-nachdenklich. «Und dann meinte ich, Nina müsse diese Phase auch irgendwie ausleben.» Ihr Blick geht nach unten. «Ich konnte das früher nicht. Na ja, dachte ich, so sind die Kinder eben heute.» Herr Beyer mischt sich ein: «Aber es ging immer weiter. Zuerst war's nur zu Hause. Und dann ging's weiter, wenn Freunde da waren, dann beim Einkaufen und so. Schlimm, einfach schlimm.» Er blickt rat- und hilflos in die Runde: «Wir wissen da nicht mehr weiter. Zwei Kinder sind schon groß, aus dem Hause. Die hatten auch ihre Phase...» Er schüttelt vehement den Kopf. «Aber dies, mein Gott, das hätte ich nicht gedacht, wie weit Nina da geht.» Ein anderes Beispiel. Aufgelöst kommt Britta Althoff, Hauptschullehrerin, in eine Fortbildungsveranstaltung. Sie humpelt, hat Schmerzen. Dann erzählt sie, drei 15jährige Schüler hätten ihr absichtlich auf dem Flur der Schule ein Bein gestellt, sie sei ausgeglitten und schwer gestürzt. Frau Althoff fängt an zu weinen: «Die haben vor nichts und niemandem mehr Respekt, diese Kinder heute.» Sie schluchzt: «Und dabei sind das die Schüler, für die ich mich am meisten einsetze.» In einer späteren Phase der Veranstaltung suchen wir gemeinsam nach Begründungen für den ihrer Meinung nach fehlenden Respekt. «Das kommt nicht plötzlich. Das entwickelt sich», meine ich. Und irgendwann - im Laufe der Rekonstruktion erzählt sie: «Ich hab die Schüler jetzt acht Monate. Ich denke, vielleicht hat's mit diesen fiesen Wörtern zu tun.» Wie sie das meine, will ich wissen. «Tja, irgendwann fing's mit Bemerkungen über meine geilen Titten an, ganz zum Schluß war's ‹Jetzt kommt die alte Fotze›.» - «Und Sie?» - «Ich hab weggehört, hab's verdrängt. Irgendwann geht's vorbei, läuft sich's tot, hab ich gedacht.» Sie wirkt ganz nach innen gekehrt, schaut verzweifelt: «Aber was hätte ich denn da machen sollen? Wie soll man sich da wehren?» Manche Eltern, Erzieherinnen und Lehrerinnen sind verzweifelt, besorgt und unsicher über die - nach ihrer Meinung - zunehmende verbale, aber auch personale Gewalt gegenüber anderen. Da ist viel von fehlendem Respekt und fehlender -1 0 7 -
Achtung die Rede. Die geschilderten Situationen - die man um viele weitere, mal dramatischere, mal möglicherweise zum Schmunzeln verleitende Fallbeispiele ergänzen kann - weisen auf einige wichtige Gesichtspunkte im Umgang mit Grenzüberschreitungen hin: • Grenzüberschreitungen dienen auch dazu, Erziehungsbeziehungen zu thematisieren. Kinder und Jugendliche prüfen durch Versuch und Irrtum, wie weit sie gehen können, wann die Grenze der Belastbarkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen erreicht ist, wo die persönliche Integrität des erwachsenen Gegenübers verletzt wird. • Wenn über zerstörerische Aktionen - gleich, ob gegen Sachen oder gar gegen Personen - die Erziehungsbeziehung berührt wird, dann muß sofort gehandelt werden. Wer persönliche Beleidigungen hinnimmt, verstärkt oder vervielfacht diese. Ignorieren, Überhören und Übersehen mögen beim spielerischen Umgang mit Grenzüberschreitungen - wie bei Caroline - ein Mittel im pädagogischen Prozeß darstellen; bei entwürdigenden Beleidigungen werden sie als Gleichgültigkeit gedeutet, als Aufforderung weiterzumachen. • Aus lerntheoretischen Untersuchungen ist bekannt, daß die Bereitschaft, andere Menschen zu verletzen, zu zerstören und zu vernichten, dann gegeben ist, wenn das Opfer vor der Tat entwürdigt wird. Die ausländerfeindlichen Aktionen finden hier eine Erklärung: Man erklärt sie zu lebensunwürdigen Parasiten, zu Schmarotzern, die «den deutschen» Wohlstand wegfressen, und legitimiert damit seine Bereitschaft zur Gewalt, zu Körperverletzung und Totschlag. Wenn Erziehende ihrer EntWürdigung im pädagogischen Prozeß und Alltag nicht Einhalt gebieten, diese nicht sofort und mit Hinweis auf logische Konsequenzen - auf die ich an anderer Stelle noch eingehe (s. S. 169 ff.) - begegnen, tragen sie sicher ungewollt zu einer Verstärkung von Zerstörung gegen Sachen und Personen bei. Sie erleichtern es Heranwachsenden, Zerstörungswut - ob in Wort oder Tat - ungehemmt auszuleben, und leisten damit ungewollt einen Beitrag zur Mißachtung der eigenen Person. -1 0 8 -
Grenzen setzen gründet auf der Basis gegenseitigen Respekts und gegenseitiger Würde. Die Würde des Kindes zu respektieren schließt ein, daß das Kind die Würde des Erziehenden respektiert. Die körperlichen und physischen Grenzen des Jugendlichen zu respektieren schließt ein, daß der Jugendliche die körperliche und seelische Unversehrtheit des Erziehenden respektiert. Hierzu ist es notwendig, die eigenen Grenzen zu artikulieren, mit aller Festigkeit auf der Respektierung von Grenzen zu bestehen. Tut der oder die Erziehende dies nicht, gibt er oder sie sich auf. Statt einer durch Partnerschaftlichkeit und gegenseitigen Respekt sich auszeichnenden Erziehungsbeziehung zeigt sich ein antisoziales und inhumanes Beziehungschaos, das sich durch die Abwesenheit von Regeln negativ auszeichnet und das Menschenwürde weder zuläßt noch ausbildet.
Die leidigen und nutzlosen Fragen nach dem «Warum?» Bei grenzüberschreitenden Handlungen stellt sich schnell die Frage nach dem «Warum». Zwei Kinder prügeln sich kräftig, das eine Kind schlägt heftig zu, verletzt das andere: «Warum hast du das gemacht?» wird es gefragt. «Der hat angefangen», lautet meist die spontane Antwort. Ein Kind stößt mit Regelmäßigkeit seinen vollen Trinkbecher um. «Warum machst du das?» - «Darum!» «Warum»-Fragen - darauf haben Dreikurs und seine Mitarbeiter (1988) hingewiesen - sind kaum geeignet, die Motive der provokativen Grenzüberschreitungen aufzudecken und Kinder zu konstruktiver Mitarbeit bei Überwindung des störend-auffälligen Verhaltens zu gewinnen, Kinder - bis in die späte Grundschulzeit hinein - sind bei der Beantwortung von «Warum»-Fragen häufig überfordert. Solche Fragen sind meist rückwärts gerichtet, suchen nach Gründen und Ursachen und führen in der Sache schnell zu Selbstanklage oder -1 0 9 -
gegenseitigen Schuldvorwürfen. Sie dienen nicht dazu, notwendige Veränderungen anzuregen. Das Fehlverhalten des Kindes - so Dreikurs - sei nicht das Ziel dessen Handelns, vielmehr versuche es, über das Fehlverhalten - meist unbewußt - ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Die Aufgabe des Erwachsenen ist es, die verdeckten Ziele des Kindes durch Fragetechniken für sich - aber nicht für das Kind! - aufzudecken und in konstruktive Bahnen zu überführen. Dreikurs unterscheidet dabei vier Verhaltensdimensionen. Über das Fehlverhalten - z. B. provokative Grenzüberschreitungen - will das Kind • zunächst Aufmerksamkeit erzielen. Erreicht es sein Ziel nicht, stört es weiter und • übt Zwang und Macht aus, um so eine Überlegenheit zu beweisen. Gelingt auch dies nicht, so versucht das Kind, • sich zu rächen. Vergeltung auszudrücken, um, sollte auch so das Ziel nicht erreicht werden, • sich bzw. andere hilflos zu machen. Mareike, fünf Jahre, sitzt am Tisch des Kindergartens, hantiert ungeschickt mit Karton, Klebstoff und Schere, sie will einen Hampelmann basteln. Mal fällt die Schere auf den Boden, mal die Flasche mit Klebstoff. Frau Rose, die Erzieherin, setzt sich dazu: «Soll ich dir helfen?» Sie nimmt die Schere in die Hand, fängt an zu schneiden. Mareike schaut woandershin. «Nun, schau's dir an.» Mareike sieht immer noch weg, spielt mit dem Klebstoff. Nächster Tag. Eine vergleichbare Situation. Wieder fühlt sich Frau Rose gedrängt, Mareike zu helfen, weil sie «hintendran mit dem Basteln war». Mareike und die Erzieherin sitzen an einem Tisch über Eck. Während Frau Rose bastelt, sitzt Mareike eher gelangweilt herum, hampelt und strampelt mit den Beinen, trifft mit einiger Regelmäßigkeit das Schienbein ihrer Erzieherin. Obgleich es schmerzt, meint diese: «So Mareike, nun komm. Hilf!» Aber Mareikes Ungeschick läßt weiter grüßen, während unter dem Tisch die schmerzhafte Kontaktaufnahme weitergeht. -1 1 0 -
Zwei Tage später. Wieder am Basteltisch. Mareike sitzt allein, die anderen Kinder sind längst fertig. Frau Rose kommt, will helfen. «Na, bist du da, du blöde Kuh!» - «So nicht! Ich bin nett zu dir und du...» Mareike streckt ihr die Zunge heraus. «Hör auf damit!» Die Stimme der Erzieherin bekommt einen scharfen Klang: «Sonst gehe ich!» - «Blöde Kuh.» Frau Rose geht. Mareike bleibt zunächst wie erstarrt sitzen, versucht dann gelangweilt - zu basteln, schaut sich häufig um, wobei ihr Blick ständig die Erzieherin sucht. Sie fängt an, mit dem Stuhl zu kippeln, fällt hin, weint, wimmert. Frau Rose kommt hinzu: «Setz dich hin. Ein letztes Mal helfe ich noch.» Mareike verweigert die Mitarbeit, während die Erzieherin bastelt. Sie versucht, mit dem Kind ins Gespräch zu kommen, das verstockt-bockig dasitzt, die Lippen aufeinanderpreßt. Als der Hampelmann fast fertig ist, nimmt Mareike den Pinsel mit Klebstoff und streicht - ganz schnell und ganz plötzlich, ohne daß Frau Rose eine Abwehrchance hätte - diesen über den Ärmel der Bluse. «Bist du verrückt geworden», schreit Frau Rose. «Jetzt reicht's aber!» Sie springt auf, während Mareike hochschnellt, in die Puppenecke läuft, sich dort unansprechbar für den Rest des Vormittags - zurückzieht. An dieser Situation lassen sich die vier Ziele von Mareikes störendem Verhalten aufzeigen: Sie will zunächst Aufmerksamkeit, bekommt diese, ist dann freilich nicht bereit, von ihrem Verhalten zu lassen. An den folgenden Tagen stört sie weiter, verstärkt ihre Aktivitäten in Richtung Machtausübung. Ihr gelingt es, die Erzieherin in einen Machtkampf zu verwickeln - und hat ihn damit schon gewonnen. Während Frau Rose - wohlmeinend - auf der thematischen (Bastel-)Ebene handelt, hier Aufmerksamkeit herstellen und Unterstützung anbieten will, geht es Mareike um den Beziehungs-Clinch. Sie verletzt die Erzieherin im wahrsten Sinne des Wortes; rächt sich dafür, nicht verstanden worden zu sein, und bleibt beleidigt zurück, als sich Frau Rose zornig und enttäuscht zurückzieht. Damit ist die letzte Stufe der Eskalation vorgezeichnet: die gegenseitige Hilflosigkeit, die beide handlungsunfähig macht. -1 1 1 -
Während «Warum -»Fragen rückwärts gerichtet sind, müssen Fragen entwickelt und vom Erwachsenen gestellt werden, die geeignet sind, das Ziel des Kindes aufzudecken. Ob das Kind sein Ziel in der Frage erkannt hat, kann man am Erkennungsreflex - wie Dreikurs ihn genannt hat - ablesen. Er schreibt: «Jüngere Kinder werden entweder zugeben, daß sie sich mit einem der Ziele, die wir Ihnen genannt haben, unerwünscht verhalten haben, oder sie verraten sich durch ihre Mimik oder Gestik. Diesen mimischen oder gestischen Reflex nennen wir Wiedererkennungsreflex. Er drückt sich in der Regel durch ein Lächeln, Schmunzeln, verlegenes Auflachen oder ein Augenzwinkern aus. Ältere Kinder sind schon zu erfahren und geschickt, um noch offen zuzugeben, daß sie Aufmerksamkeit erzielen oder ihre Überlegenheit zeigen wollen. Infolgedessen sagen sie entweder ‹nein› auf unsere Fragen, die ihnen ihr Ziel erkennbar machen sollen, oder sie sitzen uns mit ausdrucksloser Miene gegenüber. Aber auch sie verraten sich durch ihre Körpersprache. Es kann sein, daß ihre Lippen zucken, ihre Augen aufblitzen oder der Lidschlag schneller wird, daß sie ihre Sitzhaltung ändern, ein Bein bewegen, mit den Fingern trommeln oder auch nur mit den Zehen wackeln. Es bedarf einer sorgfältigen Beobachtung ihrer Körpersprache, um zu wissen, ob wir das richtige Ziel erraten haben.» Dreikurs entwickelte eine spezielle Fragetechnik, um die Ziele im störenden Verhalten des Kindes aufzudecken. «Dadurch», formuliert er, «sieht das Kind, daß wir noch nicht alles wissen. Nur es selbst weiß, wann die richtige Frage gestellt worden ist. Jede Frage beginnt mit «Könnte es sein, daß...» So wäre • bei grenzüberschreitenden Ritualen, wie «Aufmerksamkeit auf sich ziehen» zu fragen: «Könnte es sein, daß du möchtest, daß ich mich mit dir beschäftige?» Oder: «Könnte es sein, daß du möchtest, daß ich dich mehr beachte?» • Bei Machtkämpfen: «Könnte es sein, daß du mir zeigen willst, daß du tun kannst, was du willst?» Oder: «Könnte es sein, daß du der Tonangebende sein willst?» -1 1 2 -
• Bei Rache- und Vergeltungsaktivitäten: «Könnte es sein, daß du mich verletzen willst?» Oder: «Könnte es sein, daß du mich bestrafen willst?» • Bei Hilflosigkeit: «Könnte es sein, daß du in Ruhe gelassen werden willst, weil du nichts kannst?» Oder: «Könnte es sein, daß du einfach keine Lust hast, etwas zu tun, ganz gleich, was es ist?» Bedeutsam ist, daß in der Frage keine versteckte Anklage enthalten ist. Und wichtig ist weiter, «daß das Kind in der Regel sich seines «verborgenen Beweggrundes› nicht bewußt ist. Aber wenn wir richtig geraten haben, wird dem Kind plötzlich die Richtigkeit der Vermutung klar. Es ist eine freudvolle Erfahrung für einen Menschen, der sich bisher unverstanden und herumgestoßen fühlte und glaubte, kein anerkanntes Mitglied der Gemeinschaft zu sein, sich verstanden zu fühlen. Dies ist der Anfang von Vertrauen und Selbstvertrauen.» Dreikurs schreibt weiter: «Es ist ungefährlich, einfach zu raten. Solange falsch geraten wird, weist das Kind einfach die Frage als falsch zurück. In dem Augenblick aber, in dem der richtige «verborgene Beweggrund» erraten wird, fühlt sich das Kind verstanden, legt seinen Widerstand und seine Ablehnung ab und beginnt kooperativ mitzuarbeiten.» Auf Mareikes Verhalten im Kindergarten übertragen: Als Frau Rose ihre Situation während einer Fortbildung vortrug, erarbeiteten wir eine Handlungsstrategie. Als Mareike einige Tage später erneut über störendes Verhalten im Stuhlkreis Aufmerksamkeit erlangen wollte, führte sie im Anschluß daran ein Gespräch. Frau Rose: «Könnte es sein, daß ich mehr für dich tun soll?» Mareike schwieg, schüttelte unmerklich den Kopf. «Könnte es sein, daß ich dir mehr beim Basteln helfen soll?» «Nein!» «Soll ich etwas ganz Besonderes für dich tun?» Mareike strahlte. «Kannst du mir einen Vorschlag machen?» Mareike überlegte, zuckte mit den Schultern. -1 1 3 -
«Möchtest du morgens, wenn du kommst, daß ich dich besonders lieb begrüße?» Mareike lächelte. Man vereinbarte, daß Frau Rose Mareike morgens mit einem besonderen Begrüßungsritual anspricht. Und im sich ans chließenden Gespräch erfährt die Erzieherin, daß Mareikes Eltern seit einiger Zeit frühmorgens aus dem Hause gehen, sie von einer Nachbarin in den Kindergarten gebracht wird. Ein intensives Abschiedsritual findet nicht statt. Die Erzieherin hatte die Motive von Mareikes Verhalten nicht erkennen können. Wie sollte sie auch. Erst die Aufdeckung durch die Methode des «stochastischen» Fragens (griechisch stochastikos: «im Erraten geschickt, scharfsinnig, das Richtige treffen») werden die Ziele von Mareikes Fehlverhalten erraten und in konstruktive Handlungsformen übersetzt. Wichtig ist auch: Frau Rose bittet Mareike um Mithilfe.
Verbindliche Regeln Provokative Grenzüberschreitungen weisen häufig auf fehlende Regeln und Grenzen in der Erziehungsbeziehung hin: 1. Häufig sind Regeln und Grenzen unklar und uneindeutig formuliert. Kinder wollen wissen, was sie in bestimmten Situationen dürfen und was nicht. Oder Regeln und Grenzen existieren bloß unausgesprochen-verdeckt. Um sie aufzudecken, testen Kinder Situationen aus. Sie machen so lange weiter, bis man ihnen Einhalt gebietet. 2. Eltern und andere pädagogisch Handelnde sprechen eigene Grenzen nicht an, argumentieren auf der «Man-Ebene» : «Man macht das nicht!» Da Kinder aus Beobachtungen lernen, sollten Eltern Störungen und eigene Gefühle auf der «Ich-Ebene» ansprechen: «Ich mag das nicht!» - «Ich ärgere mich!» - «Ich fühle mich gestört!» Dadurch entstehen persönliche Grenzen, an denen sich Kinder reiben und orientieren können. Zugleich erleichtern «Ich-Botschaften», zwischen der Kritik an der Sache und der Kritik an der Person zu unterscheiden.
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3. Nicht fest artikulierte Grenzsetzungen - z. B. «Wir wollen ruhig sein» - machen Kinder ebenso taub wie häufige Wiederholungen: «Das habe ich dir schon hundertmal gesagt!» Zur Grenzsetzung gehört Festigkeit in Körperhaltung und Stimme. Kinder brauchen das Gefühl, die Ziehung von Grenzen sei ernst gemeint. 4. Kritik an der Sache darf nicht mit Kritik an der Person verwechselt werden. Kinder müssen sich auch dann als Person angenommen fühlen, wenn sie Aktivitäten unternommen haben, die bestehende Absprachen und Regeln verletzen. Nur so sind sie zur Mithilfe an der Veränderung bereit. 5. Wenn Kinder Grenzen als überzogen, übertrieben und unangemessen empfinden, deuten sie dies als Strafe und Verbot und weichen nicht selten in nervende Machtkämpfe aus, indem sie Regeln ständig und völlig überzogen verletzen. Oder sie umgehen Verbote durch Heimlichkeiten. Dann sind Grenzen und Regeln zu überdenken, dann sollten Sie versuchen, die Mitarbeit des Kindes bei der Formulierung neuer Grenzen und Regeln zu gewinnen. 6. Regeln lassen sich - wie ich noch zeigen werde - nur dann einhalten, wenn über logische Folgen und natürliche Konsequenzen bei Regelverstößen nachgedacht wird. Diese kommen dann zum Tragen, wenn das Kind nicht mithilft oder ständig gegen bestehende Absprachen verstößt.
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6 «Ich wünschte mir, ich könnte zaubern!» Über die Kunst, Grenzen zu setzen
Jeder kennt Alltagssituationen, die ganz offenkundig die Notwendigkeit des unverzüglichen Grenzensetzens im Alltag beweisen: • Der dreijährige Ralf fährt mit einem Dreirad auf eine vielbefahrene Straße zu und will diese - die Fußgängerampel zeigt «Rot» - überqueren. Sein Vater hält ihn mit einem -1 1 6 -
kräftigen Ruck zurück. Auf das fragende «Warum» antwortet der Vater ruhig, in Stimme und Haltung ganz fest: «Es ist Rot. Du bleibst stehen!» Seine Hand auf Ralfs Schulter verleiht den Worten Nachdruck. • Die siebenjährige Patrizia kneift ihrer Mutter kräftig in den Oberarm. Es fängt an zu schmerzen. «Hör sofort auf», herrscht die Mutter ihre Tochter an. Patrizia lacht. Die Mutter erfaßt ihr Handgelenk: «Es tut mir weh. Hör bitte auf!» Sie geht in die Hocke, schaut Patrizia fest in die Augen. «Warum?» Patrizias Augen flackern. «Ich habe gesagt, hör auf! Es tut mir weh.» Doch so eindeutig sind nicht viele Situationen. Manche lassen einen schwanken, verlangen nach versichernder Bestätigung, rufen sie doch mehr Fragen denn eindeutige Antworten hervor: • Martin, neun Jahre, bummelt jeden Morgen - und mit einiger Regelmäßigkeit verpaßt er den Schulbus. «Fährst du mich», bettelt er. «Das ist deine Schuld», meint die Mutter. Martin insistiert weiter, zunächst trotzig, dann - je mehr die Mutter bei ihrem «Nein» bleibt - um so weinerlicher. Schließlich schaut er mit einem sorgenvollen Blick zu seiner Mutter hoch: «Gut, dann bleibe ich eben dumm, und wenn du willst, daß ich sitzenbleibe...» Da lenkt die Mutter ein bißchen resignierend ein: «Komm, schnell, ich fahr dich und kauf dann noch was ein.» • Bianca kommt mittags ständig nach ausgiebiger «Tratscherei» mit ihrer Freundin zu spät zum vereinbarten Mittagessen. Die Mutter hat angedroht, sie würde mit dem Essen beginnen, und Bianca müsse dann zukünftig mit lauwarmen Speisen vorliebnehmen. Bianca sitzt beleidigt vor ihrem vollen Teller und ißt nicht: «Kaltes Essen ist nicht gut.» «Das ist dein Problem.» Nach einigem Hin und Her steht sie auf, geht mit den Worten: «Gut, dann bin ich eben hungrig und dann hab ich gleich Kopfschmerzen» aus der Eßecke. «Bleib hier», lenkt die Mutter ein. «Ich stell's in die Mikrowelle, aber nur dieses eine Mal noch.» Die Male sind in der Zwischenzeit nicht mehr zu zählen. -1 1 7 -
• Mirko, acht Jahre, steht gegen 21 Uhr im Wohnzimmer. Seit einer Stunde sollte er schlafen. Das Gute-Nacht-Ritual ist längst vorbei. Er hat wiederholt versichert, nicht mehr zu erscheinen. «Ich kann nicht schlafen.» Frau Habermann: «Du weißt, dies ist die Zeit, die Papi und mir gehört. Du kannst lesen, spielen aber bitte in deinem Zimmer.» - «Papa, ich kann nicht schlafen.» - «Mirko, du kennst meine Meinung.» Er steht unschlüssig herum, die Eltern beachten ihn nicht. Sie lesen weiter in Buch und Zeitung, unterhalten sich kurz. «Papa?» Herr Habermann überhört ihn. Mirko geht zum Vater, schüttelt ihn. Während dieser ungerührt seine Frau anspricht: «Du, Marianne, was ich dir noch sagen wollte...», dreht sich Mirko verbittert ab: «Ihr mögt mich nicht. Ihr werdet noch sehen, was ihr davon habt.» Wutschnaubend verläßt er den Raum. Man sollte - und ich beziehe mich da natürlich ein - sich nichts vormachen: Grenzen setzen fällt nicht nur schwer, Grenzen setzen hängt von vielen, manchmal ganz zufälligen Rahmenbedingungen ab: von der ganz spezifischen Alltagssituation, der «Tagesform» der Beteiligten, vom Erziehungsstil - mal ganz von der persönlichen Lebensgeschichte abgesehen. in den nachstehenden Fallsituationen und Geschichten, in denen es mehr oder minder gelungen ist, Grenzen zu setzen, geht es nicht darum, die Leichtigkeit dieses Grenzensetzens aufzuzeigen: Ich weiß um die vielfältigen Probleme, die damit verbunden sind. Deshalb mögen die Geschichten zweierlei verdeutlichen. Die Schwierigkeiten beim Grenzensetzen sind normal und bedeuten kein erzieherisches Versagen. Eltern sollten Schwierigkeiten als Geschenke betrachten, als Geschenke besonderer Art, aus denen neue, vielleicht unbekannte Kompetenzen abzuleiten sind. Indem man die Schwierigkeiten als Herausforderung betrachtet, deutet man sie nicht als Niederlage, Minderwertigkeit, als Nicht-Können, Selbstzweifel oder Unvermögen, sondern unter dem Gesichtspunkt des Noch-nicht-Könnens. Grenzen zu setzen ist eine Form andauernder Bewährung. Hier ist der Weg das Ziel, soll heißen: Grenzensetzen ist nicht -1 1 8 -
in Form eines einmal erlernbaren Unterrichtsprogramms zu erfahren, vielmehr als ständige, lebenslange Herausforderung, als der Widerstreit von Versuch und Irrtum. Umwege und Sackgassen sind gestattet und erlaubt. Sie bedeuten - ganz nüchtern betrachtet - Erfahrungsgewinn. «Fehlerfreies» und reibungsloses Grenzensetzen gibt es nicht: Was gestern noch als Patentrezept gültig war, gilt heute schon nicht mehr und ist morgen hoffnungslos veraltet. Kinder verändern sich genauso wie der Erwachsene, und damit verändert sich jedesmal auch die Erziehungsbeziehung. Sich Fehler zu gestatten gibt Gelassenheit, bedeutet die Abkehr von der Vorstellung, vollkommen zu sein - Vollkommenheit gibt es sowieso nicht, weder in der Erziehung noch sonst. Wer sich als omnipotente und -präsente Persönlichkeit darstellt, fordert geradezu heraus, an der allzu gelassenen und gefälligen Fassade zu kratzen, um zu sehen und zu spüren, ob dahinter ein Mensch voll von Emotion, Lebensgeschichte, Sinnlichkeit, Engagement und Widersprüchen steckt. Trotz des Plädoyers für den Mut zur Unvollkommenheit und eine Gelassenheit beim Grenzensetzen sind Beurteilungs- und Bewertungskriterien unverzichtbar. So ist zu überprüfen, ob die für das Kind aufgestellten Grenzen und Regeln der eigenen Bequemlichkeit dienen, die damit verbundenen Konsequenzen offene oder verdeckte Verbote darstellen, die letztlich dazu führen, das Kind einzuengen, oder ob sie der kindlichen Entwicklung dienlich sind, dem Kind Sicherheit, Stabilität, Verläßlichkeit bieten, es ermutigen und herausfordern. Kinder das gilt insbesondere für jene, die durch Störungen und Schwierigkeiten herausfordern - werden in ihren konstruktiven und aufbauenden Anteilen dann verkannt, wenn man sie nur unter dem Blickwinkel des «Kannst du niemals...?» oder des «Muß du immer...?» betrachtet. Auch das schwierige, auffällige, störende, das Grenzen verletzende oder suchende Kind hat Persönlichkeitsanteile, die es zu fördern gilt, auf die sich ein positives Selbstwertgefühl aufbauen läßt. Daraus lassen sich einige Grundvoraussetzungen des Grenzensetzens ableiten:
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Gerade unsichere, unselbständige, desorientierte und verunsicherte Kinder brauchen überschaubare Regeln und Grenzen. Dazu sind Rituale und Routinen notwendig, die Sicherheit und Selbstvertrauen geben. Um Grenzen zu erkennen, benötigen Kinder Erwachsene, die nicht nur anderen Grenzen setzen, sondern eigene, selbstbestimmte Grenzen vorleben. Grenzen zu setzen gründet auf gegenseitiger Achtung, auf der Einsicht in eigene Grenzen sowie dem Respekt vor körperlichen, psychischen und seelischen Grenzen des Gegenübers. Grenzen zu setzen kann nur auf der Grundlage des Miteinanders geschehen. Das häufig zu beobachtende Gegeneinander: «Entweder machst du das oder...!» bzw. die Besserwisserei: «Ich meine es nur gut mit dir...» führt in der Regel zu Machtkämpfen: «Mal sehen, wer gewinnt...», zu Vergeltung: «Ich hasse dich!» oder zu Hilflosigkeit und beleidigtem Rückzug: «Du kannst mich mal!» Wer Grenzen setzt, muß über die Konsequenz beim Regelverstoß nachdenken. Bei eindeutigen Grenzen müssen die Kinder auch die Folge bei Regelverstößen einschätzen können. Konsequenzen haben nichts mit Bestrafung zu tun: Konsequenzen bauen auf der Mitarbeit des Kindes auf, Regelverstöße und Grenzüberschreitungen zukünftig zu verhindern. Strafen sind rückwärtsgewandt, wollen Rache und zielen auf ein «Ich zeig's dir, wer hier das Sagen hat.»
Gefahren begrenzen Hinter dem Haus der Familie Teichmann fließt ein kleiner Bach, einen halben Meter tief, der im Frühjahr viel Wasser führt. Teichmanns haben drei Kinder: Peter, elf Jahre, Marion, sieben Jahre, und Hanna, vier Jahre. Das Bachufer ist der bevorzugte Spielplatz der drei Kinder: Dies ist erlaubt, wenn alle Kinder zusammen sind. Marion und Hanna dürfen einzeln nicht hin, weil, wie die Eltern meinen, «dies zu gefährlich ist. Der Bach ist manchmal reißend, und dann haben die kleinen -1 2 0 -
Kinder keine Chance, wenn sie reinfallen.» Während Marion sich an die Absprache hält, geht Hanna häufig allein ans Ufer, spielt nah am Wasser. Als Hannas Regelüberschreitungen zunehmen, versucht Frau Teichmann eine Absprache. Sie fragt ihre Tochter, ob diese im Garten spielen könne, ohne ans Wasser zu gehen. Beide machen eine Grenze aus, die Hanna allein - nicht überschreiten dürfe. Hanna ist damit einverstanden. Die Mutter fügt allerdings hinzu: «Wenn du wieder allein an den Bach gehst, spielst du im Haus weiter.» Der nächste Tag. Hanna spielt im Garten, bewegt sich mehr und mehr auf die Grenze zu, zunächst tastend, dann sicherer werdend, bis sie wieder am Ufer steht. Die Mutter hat das gesehen: «Ich denke, daß es dir schwerfällt, dich an Absprachen zu halten. Du spielst jetzt im Haus weiter.» Hanna versucht, zu verhandeln, Frau Teichmann bleibt fest. Als die Tochter sich etwa eine Stunde im Haus aufgehalten hat, meint sie: «Ich kann draußen spielen. Ich gehe nicht ans Wasser.» «Gut», sagt die Mutter, «ich vertraue dir.» Hanna geht an diesem Nachmittag nicht ans Ufer. Sie hält sich an die Absprache. Am Abend erklären die Eltern den Kindern nochmals, warum Marion und Hanna nicht allein ans Ufer dürfen. Am Ende des Gesprächs stellen sie klar: «Das gilt nur für dieses Jahr. Wenn ihr bald größer seid, ihr vielleicht schwimmen könnt, entscheiden wir neu.» Die beiden Mädchen sind auf den großen Bruder sauer, der ihrer Meinung nach Vorrechte hat, darf er doch allein zum Bach. Der Vater erklärt kurz die unterschiedlichen Grenzen in der Erziehung, klärt dies so deutlich, daß keine weiteren Diskussionen aufkommen. Der folgende Tag bringt das gleiche Ritual. Hanna testet ihre Grenzen aus, Frau Teichmann setzt welche. Als sie noch am vierten Tag die freundliche Festigkeit ihrer Mutter spürt, ändert sich Hannas Spiel im Garten. Zwar wird sie von der Grenze zum Ufer weiter magisch angezogen, aber sie überschreitet diese nicht mehr, hält sich vielmehr an die Absprache. Diese Situation kann man auf viele Bereiche des Alltags erweitern: sei es die rote Ampel, vor der man stehenbleibt, sei -1 2 1 -
es die Steckdose, in die nichts hineingesteckt werden darf; sei es das Balkongitter, das keinen Drahtseilakt zuläßt; sei es die heiße Herdplatte, deren Anfassen nicht allein Schmerzen bereitet, sondern erhebliche Verbrennungen zufügt. Kinder suchen Gefahrensituationen auf, um sich zu fordern und andere herauszufordern, sich in Gefahren zu erproben. Sich ihnen zu stellen hat mit Probehandeln, mit dem Aushalten eigener Grenzen zu tun. Nur im Handeln, im eigentätigen Tun erfahren Kinder Grenzen, fühlen sich ganz, nur durch Versuch und Irrtum begreifen sie Wirklichkeit, vermögen sie diese auf den Begriff zu bringen, sind sie in der Lage, konstruktive von destruktiven, aufbauende von hemmenden, lustvolle von schmerzhaften Erfahrungen zu unterscheiden. Schmerz ist nicht über theoretische Erfahrungen, durch Bewahrung und überbehütende Begrenzung zu vermitteln; Kinder sind nicht vor der manchmal rauhen Wirklichkeit zu schützen: Das Kind muß in die Nähe der Hitze, um zu spüren, wie sich diese anfühlt, das Kind braucht das Gefühl von Kälte, um zu fühlen, was das bedeutet. Gleichwohl: Kinder nicht vor der Wirklichkeit schützen zu können, darf nicht bedeuten, sich vor Verantwortung zu drücken, sie machen und tun zu lassen, was sie möchten. Deshalb gelten für bestimmte lebensgefährliche Situationen strikte Verbote, die möglicherweise Grenzen herstellen, die Kindern bestimmte Erfahrungen überhaupt nicht ermöglichen. Mit dem Verbot einhergehen kann die Einsicht in alltägliche Gefahrenquellen, ohne dabei den ursprünglichen Entdeckungsund Erkundungsdrang von Kindern zu unterdrücken. Ich weiß: Das ist der Gang trockenen Fußes über den Bodensee, die Balance auf einem Seil zwischen zwei zwanzig Meter hohen Pfosten ohne Balancestab. Neben lustvollen Erfahrungen gehört der manchmal tränenreiche Schmerz: Nur wenn man die Hitze der Herdplatte spürt, faßt man sie beim nächsten Mal nicht an; nur wenn man weiß, wie schmerzhaft der Asphaltboden ist, bewegt man sich situationsangemessener. Auch hier gilt: Nicht immer geht es um -1 2 2 -
Schutz und Bewahrung, vielmehr darum, dem Kind Grenzen aufzuzeigen, ihm zuzumuten, bei der Gestaltung und der Einhaltung von Grenzen mitzuhelfen, selbständig extreme Gefahrensituationen zu erkennen und zu lernen, sie zu beherrschen. Es geht - und dies zeigt das Beispiel der Teichmanns - nicht darum, Gefahren von den Kindern fernzuhalten, sie vielmehr anzuleiten, allmählich mit Gefahrensituationen umzugehen. Nur über die Bewältigung von extremen Situationen lernt das Kind den Umgang mit der Wirklichkeit, erfährt es, seine Kompetenzen einzuschätzen und zu erproben; spürt es manchmal - schmerzhaft seine Grenzen. So notwendig die unvoreingenommene Neugier des Kindes ist, sich auf Herausforderungen einzulassen, so überlebensnotwendig ist es zugleich, sich seiner wirklichen Kompetenzen bewußt zu sein, sich nicht zu überschätzen, Maß und Übermaß voneinander zu unterscheiden. Detlef, 15 Jahre, ist ein S-Bahn-Surfer. Er klettert aus fahrenden Zügen, geht hohes Risiko ein. Er sagt: «Nur wenn ich raussteige, ist wirklich was los. Wie eine Droge ist das, nur billiger.» Detlef hat «nie Grenzen» gespürt, er durfte alles, weiß nicht, was Gefahren sind. «Es kümmert sich doch keiner um mich.» Detlef sucht Extremsituationen auf, um sich zu spüren, nur in dem Moment existentieller Gefahr lebt er auf - und schreit zugleich um Hilfe, damit sein Leben, das in höchster Gefahr scheint, geschützt wird. Knut, 16 Jahre, klaut regelmäßig Autos, jagt damit abends durch die Gegend. «Am liebsten durch Kurven. Das quietscht so schön. Geile Musik dazu.» Er überlegt: «Ich geh hohes Risiko. Wenn ich sterb, richtig weint keiner.» Knut hat alles, er ist allseitig versorgt - und ist trotzdem allein. «Keiner hilft mir. Ich bin allein. Ich kämpf allein.» So begibt sich Knut in Gefahrensituationen, um sich zu fühlen, nur in ihnen spürt er sich und seinen Körper, er reibt sich an den Grenzen des Todes. Da er keine anderen Grenzen kennt, sind nur sie Herausforderung. So weist denn der Umgang mit Gefahren auf dreierlei hin: -1 2 3 -
• Die fremdbestimmte Bewältigung von Gefahrensituationen kann dazu führen, das Kind unselbständig zu machen, es einzuengen, es von der Wirklichkeit fernzuhalten. • Das Kind in Gefahrensituationen allein zu lassen, zu meinen, es käme da schon wieder heraus, es bewältige sie allein, kann - aus der kindlichen Sicht - als Gleichgültigkeit und Laissez-faire von Erwachsenen gedeutet werden, dazu verleiten, sich ständig extremeren Gefahrensituationen auszusetzen, um auf Alleinsein und Verzweiflung aufmerksam zu machen. • Ermutigen Sie das Kind, sich beherrschenden Problemsituationen zu stellen, und bieten Sie - falls die kindlichen Fähigkeiten noch nicht ausreichen - Ihre Hilfestellung und Unterstützung an.
Den Tagesablauf regeln Die Zeitknappheit engt Kinder ein, Terminpläne lassen wenig Raum zur Entfaltung. So notwendig es ist, Kindern selbstbestimmte Zeiten zu lassen, Zeit zum Bummeln, zum Trödeln, zum endlosen In-die-Luft-Gucken, zur immer wiederkehrenden Wiederholung, so notwendig sind Routinen und Rituale im Tagesablauf. Sie bedeuten Abkürzung und Automatisierung, sie bilden Gewohnheiten aus, die Sicherheit und Verläßlichkeit aufbauen, sie verbinden Freiheit und Ordnung miteinander. Routinen entschärfen das Chaos und die Mühen des Alltags, gemeinsam verabredete Regeln und Abfolgen verhindern Streit und Wutausbrüche, tragen zu Absprachen und Konsequenzen bei. Routinen und Rituale wirken sich konstruktiv aus: Sie geben Familienmitgliedern Möglichkeiten an die Hand, sich in Problemsituationen auf vorher vereinbarte Regeln und Abläufe zurückzuziehen. Alle Beteiligten müssen wissen, woran sie sind. Für das Kind haben ausgebildete, praktizierte und gelebte Rituale Vorteile: Gewohnheiten bilden Fertigkeiten aus, machen Kinder kompetent, um mit unterschiedlichsten Situationen fertig zu werden. Gelebte Rituale und Routinen geben dem Kind -1 2 4 -
Gewißheit und Selbstvertrauen und ermutigen, sich auf eigene Fähigkeiten zu verlassen. Sie weisen dem Kind Wege, sich von anderen unabhängig zu machen, um autonom nach selbstbestimmten Lösungen zu suchen. Kinder brauchen einen festen Tagesablauf, der nichts mit Verplanung durch den Terminkalender zu tun hat. Kinder brauchen wiederkehrende Zeitpunkte - z. B. das Aufstehen, das Frühstück, die außerhäuslichen Aktivitäten, das Mittagessen, die Schlafensrituale -, damit sich eine innere Uhr ausbildet, die eine Einheit aus linearer Zeit, z. B. Pünktlichkeit, vorgegebenen Zeitstrukturen und aus selbstbestimmter Zeit, z. B. Trödeln, Bummeln, endlose Wiederholung, «Zeitvergeudung», bildet. Familien sollten für sich eigene Rituale ausbilden: Dazu gehört der Beginn am Morgen mit dem Frühstück, das Abendritual, die Geschichte vorm Zubettgehen, das gemeinsame Kuscheln, das Vertrautsein miteinander. Der Tagesablauf braucht einen Beginn, auf den man sich freut, und einen Abschluß, an dem das erzieherische Serviceprogramm der Eltern vorbei ist. Denn Eltern brauchen Zeit für sich, Zeit zur Entspannung, zur Einkehr, um sich zu regenerieren und zu finden. Eltern haben das Recht auf ihre eigene Zeit, ihren eigenen Raum - dies vor allem abends. Dieses Recht müssen Eltern ihren Kindern vermitteln. Natürlich: Bei Krankheit, in Streßsituationen, bei Real- und sozialen Ängsten ist Zuwendung notwendig. Dies ist selbstverständlich. Mir geht es hier vielmehr um die von Kindern provozierten Auftritte, um das elterliche Serviceprogramm zu verlängern. «Ich bin noch durstig.» - «Ich hab noch Hunger.» - «Da ist ein Krokodil.» Wenn Kinder dergestalt Eltern tyrannisieren und unter Druck setzen - und Kinder wissen um die Psychotricks, mit denen sie Eltern «kleinkriegen» -, dann ist es wichtig, wenn Eltern gelassen und bestimmt auf vereinbarte Regeln hinweisen. Aber zugleich gilt: Wenn Eltern sich ihre Zeiten nehmen, bedeutet dies, daß Kinder auch Anspruch auf ihre Räume und Zeiten, beispielsweise am Nachmittag, haben, in denen und zu denen sie ihre Wünsche und Bedürfnisse nach Langeweile und Nichtstun, nach endlosen Wiederholungen und dem -1 2 5 -
gedankenvergessenen In-die-Luft-Sehen ausleben können, ohne das von wohlmeinenden Erwachsenen vorgeworfen zu bekommen. Kinder brauchen die Regel, von welchem Zeitpunkt an das Wohnzimmer für sie tabu, ihr eigenes Zimmer der alleinige Aufenthaltsbereich ist; Eltern müssen fühlen, daß auch das Kinderzimmer für sie tabu ist, wenn Kinder dies wünschen. Eine Zubettgeh-Zeit zu vereinbaren heißt nicht, daß Kinder sofort schlafen müssen. Die Schlafbedürfnisse der Kinder sind unterschiedlich. Wenn Kinder von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr im Aufenthaltsbereich ihrer Eltern auftauchen sollen, bedeutet dies nicht: «Wenn ihr in eurem Zimmer seid, müßt ihr schlafen!» Wenn ein Kind den ständigen Wunsch hat aufzustehen, können Sie es danach fragen, was es dazu beitragen möchte, in seinem Zimmer zu bleiben: Das eine Kind braucht etwas Licht, ein anderes die versammelte Kuscheltierparade, ein drittes will in einem Buch blättern, ein viertes seiner Puppe den Tageslauf erklären, ein fünftes horcht nach Gespenstern und findet es langweilig, daß es keine richtigen gibt, ein sechstes unterhält sich mit der Schwester darüber, wie die Eltern am nächsten Tag zu ärgern sind, ein siebtes will vielleicht im Bett der Eltern kuscheln. Als ich dies auf einer Elternbildungsveranstaltung erzähle, meint Herr Zimmermann: «Aber wenn ich meinem Sohn die Freiheit gebe, einzuschlafen, wann er möchte, schläft er nie ein und ist morgens unausgeschlafen. Und dann geht das in der Schule los. Der besucht die dritte Klasse und lernt dann nichts. Und ich krieg Ärger mit dem Lehrer.» Kinder gehen bis an die Grenzen. Und Grenzen zu setzen meint, Grenzerfahrungen zu ermöglichen. Kindern nur verbal zu vermitteln, zuwenig Schlaf sei nicht «gut für sie», bleibt abstrakt, nur wenn sie spüren und fühlen, was Unausgeschlafenheit bedeutet, erhalten sie eine körperliche Erfahrung und sind dann vielleicht bereit, zukünftig anders zu handeln. Erst wenn ein Kind unausgeschlafen ist, kann man sich mit ihm über diesen Zustand unterhalten. -1 2 6 -
Familie Ropers hat Probleme mit ihrem zwölfjährigen Sohn Simon. Er ging zwar abends gegen 8 Uhr in sein Zimmer, schlief jedoch erst um Mitternacht ein. Morgens, als man ihn weckte, war er müde, «stinkig», wie die Mutter sagte. Sie mußte ihn unendliche Male wecken, ehe er aufstand. Als die Auseinandersetzung größer und unerträglicher wurde, meinte sie: «Ich wecke dich morgens und schaue noch dreimal bei dir vorbei.» Simon war einverstanden, schließlich sei er groß, er könne sich und seine Zeit selbst organisieren. Am nächsten Tag fand das verabredete Weckritual statt. Simon brummte morgens ungnädig: «Ich stehe auf» - aber er schlief weiter. Um 9 Uhr wachte er voller Schrecken auf, wütete herum, beschimpfte seine Mutter, wollte von ihr eine Entschuldigung für die Schule. «Geh hin und sag, was passiert ist.» Er ging in die Schule und meinte zum Lehrer: «Meine Mutter hat mich nicht geweckt.» Da das in den folgenden Wochen noch weitere Male passierte, rief der Klassenlehrer bei Ropers an und verlangte Aufklärung. Die Mutter erklärte die Situation. Als Simon erneut zu spät kam, dies mit dem Versagen seiner Mutter entschuldigte, meinte der Lehrer: «Ich denke, du erzählst mir Geschichten. Wenn du erst um Mitternacht einschläfst, ist das deine Sache. Nur morgens solltest du aufstehen, spätestens nach dem dritten Hinweis deiner Mutter.» Simon schaute verblüfft. Er ging von diesem Zeitpunkt an früher - wenn auch nach Meinung seiner Eltern nach wie vor zu spät - ins Bett, stand aber nun selbständig auf. Er hatte eigene Erfahrungen gemacht, seine Grenzen gespürt. Die Eltern hatten nicht gedroht - «Wenn du zu spät kommst, wirst du schon sehen, was du davon hast!» -, sie versuchten, das Problem auf eine konstruktive Weise zu lösen. Sie beteiligten ihn an der Lösung, entmündigten ihn nicht, machten sich aber auch nicht «seine» Gedanken - «Wie kommt er bloß zur Schule!» - «Was sagt der Lehrer, wenn er zu spät kommt?» - und gaben ihm so Verantwortung für das eigene Tun zurück. Sie hielten ihn nicht von negativen Erfahrungen -1 2 7 -
z.B. dem Zuspätkommen - fern, klärten darüber nicht theoretisch und abstrakt - «Das ist doch nicht gut, wenn du nicht rechtzeitig kommst!» - auf, sondern ließen ihn über eigene Erfahrungen Grenzen erkennen und finden. Wichtig: Simon erfuhr die schulische Konfliktsituation nicht als Bestrafung, vielmehr als logische Folge aus seinem morgendlichen Verhalten. Fühlen sich die Eltern dagegen für Simons Verhalten verantwortlich, setzen sie sich unter Druck und sind angespannt. Solch Verhalten führt meist zu Selbstvorwürfen und Minderwertigkeitsgefühlen. Die Situation der Ropers verdeutlicht noch einen anderen Aspekt: Die Eltern bestehen einerseits auf bestimmten Zeitgrenzen, z. B. die Zeit des Zubettgehens, des Aufstehens, des Schulbeginns. Zugleich darf Simon zeitliche Erfahrungen machen, einige Zeiträume selbst bestimmen: z. B. den Zeitpunkt des Einschlafens oder des Aufstehens. Dies fördert den verantwortungsbewußten Umgang mit sich, mit anderen und der Zeit, dies bedeutet, Verantwortung für sein Tun - oder auch das Nichttun - zu übernehmen. Kinder müssen den Umgang mit Zeit erfahren und lernen: Dazu gehört der lineare, funktionale Zeitbegriff - Pünktlichkeit, regelmäßige zeitliche Abfolgen - ebenso wie eine an subjektiven Bedürfnissen ausgerichtete Zeiterfahrung: Trödeln, Bummeln, Langeweile, unendliche Wiederholungen. Der selbstbestimmte Umgang mit Zeit gibt Sicherheit, Vertrautheit, Verläßlichkeit und bildet eine «innere Uhr» aus. Diese ist von Kind zu Kind unterschiedlich: Denken Sie daran, wenn Sie mit Ihrem Kind den Tagesablauf regeln: • Kinder brauchen Situationen des Müßiggangs, der Ruhe, der Stille, des Nichtstuns: Aus dem Fenster gucken, an die Decke stieren, nur so dahocken... Solche Zeiten dienen der Entspannung, der Selbstbesinnung. Sie sind dazu da, sich auszuhalten. Sie sind Zeiten der Ruhe, in denen nur vordergründig nichts passiert. Manche Eltern treiben Kinder in solchen Situationen an «Habt ihr nichts zu tun?» - «Holt doch euer Spielzeug!» - «Hast du schon die Hausaufgaben gemacht?». Manche schauen -1 2 8 -
neidisch in den Spiegel, den die Kinder ihnen vorhalten - «So gut wie du möchte ich es auch einmal haben!». Sie machen sich sicher auch ungewollt zu Zeitmanagern und gestreßten Freizeitanimateuren ihrer Kinder, denen die eigenen Ideen ausgehen. Und Eltern wundern sich über das Resultat dieser Haltung: Wenn Kinder dann nichts mehr mit sich anzufangen wissen, ihnen «die Decke auf den Kopf fällt», ist noch der mütterliche oder väterliche Rettungsring da: «Was soll ich jetzt machen, Papa?» - «Spiel doch!» - «Was denn?» - «Mit Legos!» «Hab ich schon!» - «Mit Knetgummi!» - «Hab ich schon!» «Male etwas!» Und mit den Worten «au ja» enteilt das Kind, um nach kürzester Zeit zurückzukommen: «Was nun, Papa?» • Kinder sind keine Automaten, die funktionieren, sich ohne weiteres von einer Situation auf die andere umstellen können. Kinder brauchen - wie Erwachsene - Zeiten des Übergangs, des Sich-Einlassens auf andere Erfahrungsräume: Das Kind, das von der Schule nach Hause kommt, muß sich erst wieder einfinden. Es braucht seine Zeit - deshalb sind die ständigen Fragen der Eltern aus kindlicher Sicht so «nervig». In Übergangszeiten kann man sich auf eigene Gefühle und Bedürfnisse besinnen. Dies gilt gleichermaßen für die Zeit vor dem Schlafengehen: Da sitzen Kinder am Abend gemütlich bei den Eltern, man ißt gemeinsam - oder die Kinder nur für sich; es folgt das Ritual des Ins-Bett-Gehens - und dann bleibt das Kind allein. Es schläft nicht sofort ein, muß sich erst emotional einrichten: die Erlebnisse des Tages durchdenken, auf Gespensterjagd gehen, dem Lieblingstier Sorgen und Nöte anvertrauen, auf komische Geräusche achten, sich mit dem Bruder oder der Schwester etwas erzählen, sich - heimlich oder offen - ein Bilderbuch ansehen, ein Buch lesen, sich eine oder mehrere Kassetten anhören. Kinder sind da erfinderisch - und auch was den Machtkämpf am Abend anbetrifft, ist ihr Einfallsreichtum groß, um die Eltern «aufzumischen». Christian, sieben Jahre, hat da seine eigenen Strategien: Er wurde liebevoll ins Bett gebracht, stand aber nach kurzer Zeit regelmäßig auf, kam ins Wohnzimmer und wollte bedient
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werden. «Ich kann nicht schlafen!» - «Ich hab noch Durst!» «Ich hab Hunger!» - «Da ist was Komisches im Zimmer!» Christian wurde bedient - so lange, bis die Eltern, wie sie sagten, «auch bedient waren». Christian hatte es leicht, er hatte aus langer Erfahrung ungeheure Schätze gesammelt, die ihm zugute kamen: «Mama ist da hart.» Das wußte er. Deshalb ging er zielstrebig zum Vater, blieb mit traurig-bettelnden Augen vor ihm stehen - und bekam, was er wollte. Christian funktionierte seinen Vater abends zum Oberkellner um, der zwar im Laufe des Abends immer mißmutiger, jedoch pflichtbewußt jene Wünsche erfüllte, die sein Sohn ihm auftrug - bis Christian am Ende einschlief. Doch irgendwann hielten die Eltern es nicht mehr aus, wie sie sagten. «Was kann man da nur machen?» Nach einigen Diskussionen einigten sich alle auf ein Ritual: Christian dürfe von einem bestimmten Zeitpunkt an das Wohnzimmer nicht mehr betreten. Auch Ausnahmesituationen sprach man durch. «Wir bedienen dich nicht mehr. Du bist dann Luft für uns.» Christian versprach, sich an diese Regelung zu halten. Die Absprache funktionierte einige Tage, als Christian doch wieder im Wohnzimmer stand. Die Eltern ignorierten ihn. Auch dies hatte man abgesprochen. Christian wartete einige Augenblicke. Nichts geschah. Er spulte sein «Wünscheprogramm» ab. Die Eltern blieben stumm, fest. Am anderen Morgen. «Ich hatte gestern noch Durst.» - «Christian, du weißt, wo du etwas zum Trinken findest.» Am übernächsten Abend ein ähnliches Spiel. Christian kommt, spielt sein Spiel. Die Eltern ignorieren ihn. Christian bleibt, fängt an zu schreien, zu pöbeln. Er beleidigt seine Eltern. Der Vater steht auf, nimmt seinen Sohn freundlich, aber fest in seinen Arm, geht mit ihm aus dem Wohnzimmer, bringt ihn ins Bett. Kurzes liebevolles Streicheln - aber kein Wort. Christians abendliche Ausflüge und Kontrollen ins Zimmer der Eltern haben ein Ende. Wenn Kinder das Recht auf selbstbestimmte Räume und Zeiten haben, so gilt dies gleichermaßen für Eltern. Eltern haben die Aufgabe, klare, offene und verläßliche Regeln aufzustellen, an denen sich Kinder orientieren und an die sie sich halten können. Grenzen der Kinder zu respektieren heißt, -1 3 0 -
Kindern auch zu vermitteln, daß sie Grenzen der Eltern respektieren. Dazu zählen eigene Räume und Zeiten der Eltern. Dies ist Teil der Regelung des Tagesablaufs, der nicht allein auf die Bedürfnisse und Entwicklungsnotwendigkeiten der Kinder auszurichten ist, sondern auch darauf hin, wie die emotionalen Wünsche von Eltern, ihre Wünsche nach Entspannung, Ruhe, Allein- und Füreinanderdasein umgesetzt werden können. So bedeutsam und wichtig es ist, dem Kind Nähe und gefühlsmäßige Geborgenheit zu geben, eine Familie, die nur diese Beziehungsmuster lebt, wird schnell zum undefinierbaren Beziehungskleister, zum sym -biotischen Ineinanderaufgehen, in dem nur noch ein undefinierbares «Wir» existiert. Familien brauchen neben der Nähe die Distanz, Familien brauchen Grenzen, die dem einzelnen Raum für Individualität geben, ihn davor schützen, sich mit selbst auferlegten Aufgaben zu überfordern, immer nur für andere, niemals für sich verantwortlich zu sein. Grenzenlose Zuneigung und Bereitschaft für andere grenzen an Selbstaufgabe, lassen Gleichwertigkeit und Partnerschaftlichkeit in den Beziehungen nicht zu. Grenzenlose Zuneigung bildet nicht Respekt vor dem Gegenüber aus, fördert vielmehr dessen seelische, physische und gefühlsmäßige Ausbeutung.
«Beim Fernsehen bist du hilflos ausgeliefert» September 1985: Ich komme zur Teambesprechung in eine Kindertagesstätte. Die Erzieherinnen sind in heftige Diskussionen verwickelt. Ich kenne das Team schon längere Zeit, bin mit einigen Eltern und Kindern, alle zwischen vier und zehn Jahre alt, vertraut, führe dort regelmäßig Elternstammtische zu Erziehungsfragen durch. «Gut, daß Sie heute kommen.» Claudia Rogler, die Leiterin, begrüßt mich. Sie sieht genervt aus, hat nichts von ihrer sonstigen Verbindlichkeit. Sie geht in die Ecke ihres Büros, holt ein Transparent, entrollt es und hält es mir demonstrativ hin: «Hier, so sind unsere ach so normalen Kinder.» Sie lacht: «Normal. Mein Gott, normal.»
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Ich versuche, das Transparent zu entschlüsseln: WEIRNSEHN. Ich wiederhole das Wort laut, bekomme keinen Sinn hinein. Sylvia Schmitt, eine Gruppenleiterin, holt ein zweites Transparent. Sie entrollt es, dabei kommen überdimensional gezeichnete Fernsehapparate zum Vorschein. «Ach», entfährt es mir, «nicht Weirnsehn, sondern Fernsehen.» Ich muß unwillkürlich schmunzeln. «Uns ist nicht zum Lachen.» Claudia Rogler wird ernst: «Wir hatten heut morgen 'neDemo!» «Was hatten Sie?» «Eine Demonstration von den Kindern, von denen Sie immer meinen, die seien vernünftig und könnten mit dem Fernsehen umgehen.» Sie macht eine Pause, in ihrem Blick liegt eine Mischung von Wut, Trotz und Hilflosigkeit. «Das hat mich heute um Jahre zurückgeschmissen.» Nun will ich wissen, was mit «das» gemeint ist. Wir fangen an, den «Demo-Vormittag» zu rekonstruieren. Claudia Rogler erzählt: «Wir wollen für einige Tage mit den Kindern in eine Bildungsstätte fahren und hatten uns im Team entschieden, keinen Fernsehapparat mitzunehmen. Das war klar. Wir haben einige Dauerglotzer in der Gruppe, und wir wollten denen mal was Gutes tun. Gut. Ich habe das meiner Gruppe gesagt. Tja, kein Kommentar und nichts. Die haben das einfach geschluckt. Das war gestern. Heute wollte ich mit denen über die Entscheidung noch mal diskutieren, wollte, daß sie einverstanden sind. Und da fing das Gemotze an. Richtig sauer waren die. Die meisten wollten den Fernsehapparat mitnehmen. Und irgendwann, als es mir zuviel wurde, hab ich gesagt, Schluß nun. Dann sind einige rausgegangen. Jan, den Sie ja kennen, hat sich einige Kinder geschnappt, und um elf Uhr standen sie auf der Matte, zwanzig Kinder, haben mit Transparenten demonstriert und riefen immer: ‹Fernsehen! Fernsehen!›» Sie schüttelt heftig den Kopf, so als müßte sie die Bilder des Vormittags entfernen. «Das Schlimmste», so eine andere Erzieherin, «da waren unsere Vielseher noch nicht mal dabei. -1 3 2 -
Das waren nur die Kinder, von denen wir meinten, die Eltern würden auf das Fernsehen achten. Nach dem, was ich heute morgen erlebt habe, kann ich nur sagen, gegen die Macht bin ich doch völlig hilflos und ausgeliefert.» Wir wollten gerade beginnen, die Situation «aufzudröseln», da klopft es an der Tür. Ohne die Antwort abzuwarten, steht Frau Schrader mit Jan, knapp sechs Jahre, dem Anführer der «Demo», in der Tür: «Hier, Jan will sich entschuldigen!» «Will ich nicht!» Jans Mutter erstarrt. «Aber du hast doch...» «Hab ich nicht!» «Du hast doch gesagt, du willst dich entschuldigen.» Kurze Pause. Jan sieht mich an: «Das war toll heut morgen. Wie im Fernsehen! Schade, daß du mit deinem Video nicht da warst.» «Jan, bist du denn total verrückt geworden? Komm jetzt!» Jan bleibt stehen: «Ich denk, ich soll mich entschuldigen.» «Dann tu's!» «Will ich aber nicht.» Claudia Rogler greift ein, erklärt kurz die Situation, in der wir uns befinden. Jan: «Da bleib ich hier!» Ich schlage vor, Jan solle sich den Vormittag aus der Sicht der Erwachsenen anhören, anschließend könne er kurz erklären, was der Anlaß zur Demo aus seiner Sicht war. «Dann gehst du.» Er nickt. Er hört sich die Schilderungen der Erzieherinnen aufmerksam an mit einer Mischung aus Schmunzeln und Betroffenheit. Als er dann an der Reihe ist, besteht er darauf, daß seine Mutter den Raum verläßt. Ich gebe Jans Beschreibung hier sehr stark gekürzt und weitgehend in meinen Worten wieder. Das sei «ja in Ordnung gewesen», meint Jan, «das mit der Entscheidung», den Fernseher nicht ins Landheim mitzunehmen. Aber die hatten sich «doch schon entschieden. Und die haben die Macht, das sind die Mächtigen. Das ist so. Ich bin ja auch mal mächtig.» -1 3 3 -
Ich frage danach, was die Kinder denn so wütend gemacht hat. «Das ist wie bei Mama, die kocht mittags Milchreis und sagt, das wird gegessen. Und ich sag dann, ich mag nicht, und die erzählt mir dann, wie gesund das ist und so. Und irgendwann halt ich mir die Ohren zu und sag, ich eß ja schon. Sonst erzählt die und erzählt. Papa ist dann auch manchmal genervt.» Er zögert, dann wird er ernst: «Ich find, Erwachsene reden manchmal nicht mit uns, die kommandieren!» «Wie meinst du das?» «Die sagen, wo's eben langgeht!» «Wo geht es denn lang?» will ich wissen. «Mama weiß das eben auch nicht. Und da haben sie ein schlechtes Gewissen.» Ich breche hier einmal ab. Kinder haben ein sehr genaues Gespür dafür, ob mit ihnen oder über sie geredet wird. Ich erlebe es - nicht nur in bezug auf die Medienerziehung - immer wieder, daß zwischen Grenzenlosigkeit und Grenzensetzen inkonsequent hin- und hergependelt wird. Kinder akzeptieren - natürlich nicht widerspruchslos - Grenzen, wenn sie begründet werden. Sich aber eine Entscheidung nachträglich von Kindern legitimieren lassen - nach dem Motto: «Oh, du liebe Erzieherin, hast ja mal wieder so recht» - bedeutet, Diskussionen zu entwerten, Dialog mit Monolog zu verwechseln. Jan hat das auf seine Art so ausgedrückt: «Ich glaub, die Claudia hatte mit dem Fernsehen ein schlechtes Gewissen wegen uns oder so. Sonst hätte sie doch nicht mit uns diskutiert.» Dem Team wären somit zwei Möglichkeiten geblieben: Entweder die Entscheidung, auf den Fernseher zu verzichten, kurz zu begründen oder aber über das Für und Wider des Fernsehens in der Bildungsstätte zu diskutieren, die Kinder mithin an der Entscheidung - pro und kontra Fernsehen - zu beteiligen. Übrigens: Als Jan den Raum verläßt, geht er zur Leiterin, drückt ihr einen kleinen Zettel in die Hand. Es ist ein Bild mit Blumen und Herzen und einer krakeligen Unterschrift. «Danke, Jan!» Darauf Jan, ganz leise: «Ich mag dich und das
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Fernsehen!» Draußen hör ich Jans Mutter. «Hast du dich entschuldgit?» Jan, sehr laut: «Beeil dich, nachher kommt Alf!» Januar 1986. Es gibt wieder Streit bei Schraders. Gegenstand ist ein Krimi, den Jan «gerne sehen möchte». Die Mutter ist aus dem Haus, Jan hat seinen Vater überredet. Beide sehen sich den Krimi «Die Fälle des Harry Fox» an. Vergnügtvertraut sitzen sie zusammen, als Frau Schrader ins Wohnzimmer platzt, sich kurz darzustellt, den Kopf schüttelt und ärgerlich kommentiert: «So'n Scheiß gibt's ja nicht! Und so etwas guckt ihr euch an!» Dann geht sie wieder hinaus. Jan atmet tief durch, wirkt erleichtert, befreit. Später sagt er einmal: «Wenn Mama da ist, kann ich nichts genießen.» Oder: «Immer meckern die rum. Und dann bin ich traurig, weil die mich ja meint.» Frau Schrader stellt dagegen: «Wenn ich solche Sendungen sehe, kann ich nicht an mich halten. Dann sag ich eben was!» So notwendig es ist, wenn Eltern ihren Kindern beim Fernsehen Grenzen setzen - und dies meint, eben nicht allein auf zeitliche, sondern auch auf inhaltliche Grenzen einzugehen -, entscheidend ist die Art und Weise, wie man dabei vorgeht. Frau Schrader nimmt bei ihren Versuchen Jan nicht ernst, im Gegenteil: Ihre abfällige Bemerkung ist eine Kritik am Sohn oder genauer: Sie vermischt ihre möglicherweise berechtigte Kritik an der Sache mit Kritik an der Person. Aus der Sicht Jans kommt ihre Kritik als «Weil ich diese Sendung mag, mag sie mich nicht!» an. Wer Sendungen kritisiert - und dazu besteht häufig genug Anlaß -, sollte das in Form einer Ich-Botschaft tun: «Ich finde diese Sendung scheußlich!» Dies trifft die Sache, nimmt aber die Person mit allen ihren Anteilen an, eben auch jenen, die die Mutter nicht akzeptiert. Jan bleiben dann zwei Möglichkeiten: • Er kann seinen Geschmack verteidigen: «Ich mag deine Sendungen auch nicht.» - «Du kannst rausgehen, wenn du das nicht sehen willst.» • Er weiß und spürt, wo die Grenzen zwischen ihm und seiner Mutter sind. Indem sie ihm deutlich macht, wo ihre ästhetischen -1 3 5 -
und moralischen Grenzen bezüglich des Medienangebots liegen, bietet sie ihm Orientierung an. Daran kann er sich abarbeiten, kann eigene moralische Überlegungen aufbauen und wieder verwerfen. Übrigens: Kinder begreifen nur, was eine anspruchsvolle Sendung ist, wenn sie auch anspruchslose gesehen haben und vergleichen können. Die Gefühlswelt von Kindern angesichts vernichtender, die Person treffender Kritik mache ich Eltern auf Veranstaltungen mit einer kleinen Geschichte deutlich: Eine Mutter sitzt vor dem Fernsehapparat, sieht sich gedankenverloren ihren Lieblingsfilm an, vielleicht eine Heimatschnulze. Die Tränen rinnen unaufhaltsam, ihr Blick wirkt verträumt. Sie ist vom Film völlig in den Bann gezoge. Ihr Mann kommt ins Wohnzimmer, stellt sich kurz dazu: «Über so'n Scheiß heulst du?» Und: «Darüber sollten wir hinterher mal diskutieren.» Um beim Hinausgehen hinzuzufügen: «Wenn du das nicht abkannst, mußt du ausmachen.» Diese Geschichte erntet Gelächter, spontane Kommentare wie «Den hätte ich sofort rausgeschmissen!» oder «Da hätt's die rote Karte gegeben!», aber auch Nachdenklichkeit, wie es den Kindern in vergleichbaren Situationen wohl gehen mag. Kinder haben ihre eigenen Reaktionen auf die heftige elterliche «Fernsehkritik»: Sie sehen konsequent weiter, eröffnen damit einen täglichen Machtkampf, oder sie weichen aus: zu Freunden, zu Nachbarn, zu den Großeltern. Kritik an Sendungen - ob nun annehmend oder ablehnend - ist notwendig: Sie sollte so formuliert sein, daß sich Kinder daran orientieren können - und Orientierung meint nicht unbedingt Akzeptanz, sondern auch Auseinandersetzung und Reibung. März 1986. Stammtisch in der Kindertagesstätte, Erziehungsfragen stehen auf der Tagesordnung. Jans Mutter ist anwesend und berichtet von einem Konflikt, der sich «wieder einmal um das Fernsehen» dreht. Jans sehnlichster Wunsch sei zur Zeit «Harry Fox», diese schreckliche Serie mit diesem Großvater als Detektiv, Klischees über Klischees, eine fürchterliche Sendung, lauter Gewalt, aber alles schön verpackt, so daß man nichts merkt». Frau Schrader hat Jan die Sendung verboten, und «komisch, er hat sofort eingewilligt. Ich -1 3 6 -
hab gesagt, mach doch was anderes, spiel doch. Du spielst sowieso zuwenig. Und als Anreiz hab ich ihm erlaubt, zu seinem Freund, zu Felix, zu gehen. Nun sagt Frau Rogler aber, Jan würde viel von der Sendung erzählen, würde Szenen mit Felix gemeinsam nachspielen. Aber er sieht sie nicht! Er sieht sie wirklich nicht.» Frau Schrader hatte schon mit Jan geredet, doch Jan hatte folgende Erklärung: «Alle anderen spielen das. Da mach ich eben mit. Sonst lachen die doch über mich.» Frau Schrader macht eine Kurze Pause, sie sieht mich an: «So, und nun sagen Sie mir, soll ich ihm die Sendung gestatten?» Da ein weiterer Stammtisch verabredet ist, gebe ich ihr zunächst zwei Aufgaben mit nach Hause: Einmal sollte sie sich «Harry Fox» ansehen, um zu einem genaueren Urteil über die Sendung zu kommen. Dann bitte ich sie, sich nochmals mit Jan über seinen dringlichen Fernsehwunsch zu unterhalten. Drei Wochen später. Jans Mutter kommt und erzählt, wie sie eines Abends ihren Sohn von Felix abholen wollte. «Ich war etwas früher dran, hab geklingelt. Keiner macht auf. Da bin ich um das Haus herum, konnte ins Wohnzimmer sehen. Stellen Sie sich vor, was ich sehe. Der Fernseher läuft, natürlich Harry Fox. Mein Sohn mit Felix auf dem Sofa, ganz gebannt, ihre Augen leuchten, Cola steht auf dem Tisch, Knabberzeug, so richtig glücklich sehen die aus. Ich bin dann still weggegangen. Als Jan dann nach Hause gekommen ist, hab ich ihn gefragt: ‹Na, habt ihr gespielt?› ‹Na klar!›» «Ich habe ihm dann von meiner Beobachtung erzählt, ich habe ihn gefragt: ‹Warum hast du nichts gesagt?›» «Das hättest du mir sowieso verboten!» «Du darfst es jetzt sehen! Hier!» «Was?» Er ist erstaunt. «Hier?» «Ja!» Er überlegt, «aber nur mit Felix!» «Warum?» «Du störst.» -1 3 7 -
«Ich habe ihm das gestattet, und nach kurzer Zeit war ihm die Sendung nicht mehr wichtig.» Nicht immer gelingt es so schnell, zu einer konstruktiven Lösung zu kommen. Wichtiger ist mir an dieser Geschichte, wie über Fernsehverbote von manchen Kindern Machtkämpfe begonnen werden. Jan, der sehr wenig fernsieht, ja manche Tage überhaupt keine Sehwünsche vorbringt, setzt den Krimi ein, um mit seiner Mutter in einen Machtkampf zu treten, den er mit seinen Möglichkeiten führte und schließlich gewann. Die Sendung war ihm letztlich zweitrangig: Für ihn war «Harry Fox» sein Mittel zur Aus-Einandersetzung mit der Mutter. Nur so ist die schnelle Lösung und rasche Distanz von der Sendung zu sehen: Jan fühlte sich durch die Entscheidung der Mutter ernst genommen, verstanden. Frau Schraders Bereitschaft, sich auf Jans Fernsehwünsche einzulassen, gab ihm zugleich die Gewißheit, daß sie ihm vertraute, mit Sendungen umzugehen, die sie selber ablehnte. Und Jan fühlte sich von seiner Mutter mit seinen (Gewalt-) Phantasien angenommen, die seine Mutter so vehement ablehnte. Winter 1986. Jans Leistungen in der Schule ließen nach. Angebote zur Mithilfe lehnte er ab, ging darauf nicht ein. «Nichts half!» Herr Schrader machte eine kurze Pause. «Und dann fing das mit seiner Unordnung im Zimmer an. Überall blieb was liegen. Es war zum Verrücktwerden. Gut, und in der höchsten Not, was macht man da?» Er schaut mich an. «Wenn das noch mal passiert, dann gibt's eine Woche kein Fernsehen.» - «Und?» Ich schaue ihn an. «Hat das funktioniert?» Herr Schrader zuckt kurz mit den Schultern: «Hat funktioniert!» - «Wie lange?» will ich wissen. «Zwei Tage!» «Und dann?» «Immer, wenn was rumlag, gab's Druck mit dem Fernsehen. Ich weiß, ist blödsinnig, aber was sollte ich denn machen? War
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doch das einzige Mittel, das wirklich funktionierte!» Herr Schrader schüttelt den Kopf. Fernsehverbote genauso wie Belohnungen mit Fernsehen helfen nur kurzzeitig oder oberflächlich. Sie helfen dem Kind nicht, seine Hausaufgaben eigenständiger zu machen oder die Unordnung zu vermeiden. Verbote führen schnell zu Machtkämpfen, zu Heimlichkeiten. Zudem werden Verbote meist unüberlegt ausgesprochen, in der Regel kaum durchgehalten. Viele Kinder erzählen mir, wie wenig ernst sie solche Verbote nehmen. Sie entwickeln Wege, diese Strafen zu umgehen. Belohnungen verstärken nur die Faszination des Fernsehens. Und: Belohnungen entwerten die Eigentätigkeit und die Selbständigkeit des Kindes. Hausaufgaben zu machen oder Unordnung zu vermeiden sind nämlich Selbstverständlichkeiten, die nicht extra belohnt werden müssen. Allerdings können bestimmte Handlungen der Kinder das Verbot von Fernsehsendungen durchaus nach sich ziehen, doch stellt sich dies dann nicht als Verbot, vielmehr als logische Konsequenz aus diesen Handlungen dar: • Manche Kinder werden zur Mithilfe im Haushalt herangezogen: den Rasen mähen, den Tisch abräumen, abwaschen etc. In diesem Fall kann es zur gemeinsamen vorherigen Absprache gehören, daß die Freizeitvergnügen erst beginnen, wenn alle Bedingungen der gemeinsamen Absprache erfüllt sind. Kinder wissen dann um die Konsequenzen, können sich darauf einstellen. • Kinder sollten dazu angehalten werden, ihre ausgewählten Fernsehsendungen einzuschalten, sie jedoch auch wieder auszuschalten. Kinder haben damit - häufig bedingt durch das elterliche Vorbild - Schwierigkeiten. Mit der Fernbedienung in der Hand «zappen» (drücken) sie sich noch durch die verschiedensten Programme. Sollten Unterstützungsmaßnahmen und Hilfen der Eltern hier nicht greifen, kann es - um die Absprache einzuhalten - zu einer -1 3 9 -
Konsequenz kommen: «Wenn du deine Sendung nicht ausmachst, gibt es sie beim nächsten Mal nicht!» Drei Gesichtspunkte zeichnen diese Konsequenz aus: 1. Sie steht in einem natürlichen Zusammenhang mit der Sache und ist vorher abgemacht. Konsequenz stellt aber keine Drohung dar. Sie läßt Kindern eine Wahl. 2. Sie ist für einen - bezogen auf das Kind - überschaubaren Zeitraum ausgesprochen. Das Kind wird so nicht entmutigt, sondern angeregt, die eingegangenen Absprachen einzuhalten. 3. Grenzen betreffen die Sache, nicht die Person. Gleichwohl sind vereinbarte Konsequenzen durchzuhalten. Gelingt dies nicht, machen Kinder die Erfahrung eines inkonsequenten elterlichen Erziehungsstils. Die Folgen sind vorhersehbar: Kinder nutzen dies - zu Recht aus. Frühjahr 1987: «Wenn man denkt, man ist damit durch», so Frau Schrader, «dann ist der nächste Krach schon da. Ich glaub, das ist eben das Nervende, daß das, was gestern noch zu Lösungen führte, morgen schon ungültig ist. Da ist eben alles im Fluß. Und was man macht, nichts ist wirklich richtig.» Sie erzählt, wie sie ihrem Sohn «Knight Rider» erlaubt hat. «Ich wollte, daß er nicht wieder abhaut. Also hab ich ja gesagt. Doch dann ist da eben noch Isabell, die ist eben erst viereinhalb. Die sieht sowieso schon zuviel. Gut, sie durfte mitsehen, aber ich habe mich dazugesetzt. Und ich hab ihr alles erklärt. Und auch hinterher, noch beim Zubettgehen, hab ich ihr viele Szenen erklärt, von denen ich meinte, daß das zuviel für sie gewesen wäre. Und vor vierzehn Tagen, nach so einer Sendung, sagt Isabell ‹Mama, du nervst fürchterlich.›» Stellen Sie sich das vor: Viereinhalbjahre, die sagt: ‹Mama, du nervst fürchterlich.›» Sie schüttelt den Kopf, fährt dann aber fort: «Und tags drauf ist Isabell mit Jan gekommen. Und Isabell hat gesagt, sie wolle mit Jan alleine sehen. Das sei viel schöner mit ihm. Der tröstet mich wirklich richtig, wenn's spannend ist. Der ist so ganz lieb zu mir.» Herr Schrader, der mit zum Elternstammtisch gekommen ist, ergänzt: «Ich versteh das schon, meine Frau ist manchmal sehr -1 4 0 -
rational. Ist doch klar, wenn die beiden so reagieren.» Frau Schrader: «Gar nichts ist klar, du weißt ja auch nicht weiter!» Herr Schrader berichtet daraufhin von seinen Versuchen, den Kindern bei der Verarbeitung von Sendungen behilflich zu sein: «Überall liest man, man solle Kinder nicht allein fernsehen lassen. Und von Ihnen hab ich ja schließlich gelernt, Erlebnisse spielerisch zu verarbeiten. Gut, hab ich gedacht, dann schaust du dir die Sendung mit den Kindern gemeinsam an. Und da hab ich vor dem Gerät drei Autos aus Kissen gebaut - wie bei Michael Knight. Man konnte sich richtig reinsetzen, gemütlich war's. Den Kindern hat's richtig gefallen. Und die haben Spaß gehabt. Die gingen richtig mit, wenn Michael Knight mit seinem Auto Gas gab, haben sie laute Geräusche gemacht, so richtig laute Geräusche. Toll, hab ich gedacht. Beim nächsten Mal machst du das genauso. Und als das Auto wieder schnell fuhr, da hab ich dann laute Fahrgeräusche gemacht. ‹Brumm, brumm› und so, Sie wissen ja schon, wie das ist, wenn ein Auto schnell fährt. Isabell hat mich angeschaut: ‹Papa, hast du was getrunken?› und Jan: ‹Sei vernünftig! Du störst!› Dann haben sie mich weggeschickt.» Er sieht mich an: «Also nichts kann man ihnen wirklich recht machen. Erziehung ist ein undankbares Geschäft.» So sinnvoll es ist, Kinder bei der Verarbeitung zu unterstützen, ihnen das Gefühl von Nähe und Angenommensein zu vermitteln, so wichtig ist es, dabei die Gefühle der Kinder zu berücksichtigen: Unterstützung und Hilfestellung dürfen dabei nichts mit Bevormundung zu tun haben. Die wichtigste Aufgabe von Eltern - bei der Nachbereitung von Fernsehsendungen - ist es, Kindern Räume und Zeiten, Rahmenbedingungen zu geben, in denen Kinder eigene Erfahrungen und Erfahrungsmöglichkeiten austesten können. Der Wunsch nach Alleinsein, nach eigentätiger Erfahrung sollte respektiert werden. Dies hat nichts mit Mißtrauen gegen die Eltern zu tun. Ich beobachte, daß Kinder miteinander solidarischer umgehen, wenn es um die Verarbeitung von Gefühlen geht. Deshalb können Eltern, können pädagogisch Handelnde viel -1 4 1 -
aus der Art und Weise lernen, wie Kinder medienbezogene Aneignungs- und Verarbeitungsprozesse gestalten. Dabei gelingt den Kindern ein selbstgestalteter Prozeß um so produktiver, je mehr sie sich der Nähe und des Vertrauens ihrer Eltern - oder der Erzieherinnen - gewiß sind. Dabei darf Nähe nicht mit Dabeisein und Anwesenheit verwechselt werden. Frühjahr 1989: Jans Vater spricht mich anläßlich eines Familienwochenendes an: «Da gibt's wieder mal ein Problem.» Jan schaltet den Fernsehapparat nicht aus, sobald seine Sendung zu Ende ist. «Der sieht weiter, bedient die Fernbedienung wie eine Orgel. Ich verbiete ihm das, aber ich bin dagegen machtlos.» Da Jan in der Nähe ist, bitte ich ihn hinzu. Jan hört sich die Schilderung des Vaters an, überlegt kurz: «Und du! Du machst auch nicht aus. Du schaltest doch auch hin und her. Du bist doch schon größer, und wenn du das nicht schaffst, wie soll ich das denn schaffen?» In einem kurzen Gespräch finden wir eine Lösung: Beide treffen eine Absprache, nach Sendungsschluß den Fernsehapparat auszuschalten. Gelingt dies nicht, wird er dabei von dem anderen erwischt, muß er beim nächsten Mal auf «seine» Sendung verzichten. Bei Jan handelte es sich dabei um «Batman», beim Vater um die «Sportschau ». Allein die Tatsache, daß sich Jans Vater bemühte, auch sein Handeln zu ändern, war Ansporn für Jan, es ihm nachzutun. Um es etwas allgemeiner zu formulieren: Das medienbezogene Handeln der Kinder ist Zeichen für dahinterliegende Prozesse, die es zu entschlüsseln gilt. Mir scheint es, daß das Fernsehen von Kindern allzu häufig nur als schlichte Tatsache - «Die sehen doch sowieso nur noch fern!» - «Die lassen sich doch ständig berieseln!» -, nicht aber als Chance begriffen wird, sich auf die Kinder einzulassen. Dazu nochmals Frau Schrader: «Vor zwei Jahren glotzten die beiden eine Zeitlang nur noch. Da hatten wir einen Elternabend zu dem Thema, und da haben Sie gesagt, wenn Kinder zu viel sehen, immer nur davorhängen, dann kann das auch eine stille Aufforderung der Kinder sein: ‹beschäftige dich mit mir!› Und auf dem Nachhauseweg hab ich gesagt: ‹Siehste, da hat er -1 4 2 -
recht.› Mein Mann war in dieser Zeit einige Zeit im Ausland, ich bin berufstätig, war selbst mit mir beschäftigt, war nicht gut drauf, und da hab ich die Kindererziehung schleifen lassen. Ich hab dann tags drauf mit den Kindern drüber gesprochen, hab mich bemüht, mehr Angebote zu machen, hab sie aber auch aufgefordert, mich dabei zu unterstützen. Die haben dann mitgezogen, und das mit dem Fernsehen war dann irgendwann kein Problem mehr.» Frühjahr 1990: Ein Familiennachmittag in der Einrichtung, der durchgeführt wird, weil ich mit meiner Beratungstätigkeit aufhöre. Ich frage die Familien nochmals nach den wichtigsten Erfahrungen aus den letzten Jahren - natürlich nicht nur bezogen aufs Medienthema. Frau Schrader: «Zu akzeptieren, daß Probleme und Konflikte in der Erziehung normal sind, daß das nichts mit persönlichem Versagen zu tun hat, das ist so schwer.» Herr Schrader: «Wenn du mit einem Problem fertig bist, mußt du gewiß sein, daß das nächste da ist.» Jan: «Daß die einen immer wie ein kleines Kind behandeln...» Isabell: «Ja, genau...» Jan: «Irgendwie merken die Eltern häufig gar nicht, daß man größer wird. Ich bin neun, und die denken immer noch, ich wäre fünf.» Fernseherziehung gelingt um so produktiver, je mehr sie als Miteinander konzipiert ist. Ein Gegeneinander und eine Besserwisserei führt zu Machtkämpfen und Hilflosigkeit. Dabei ist ein Gelingen nicht frei von Konflikten und Problemen. Wie andere Gegenstandsbereiche des Alltags erschweren und verkomplizieren Medien Erziehungsprozesse, bedeuten sie ständige Herausforderung, ein immerwährendes Überprüfen von Konzepten. Eine idealtypische Fernseherziehung gibt es nicht - Auseinandersetzungen, Heftigkeit, Streit, aber auch Inkonsequenz gehören dazu und: «Der Weg ist das Ziel.»
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Generationsgrenzen «Die berühmte Erfahrung des Alterns?»! Die Situation: Ein Musikfachgeschäft am Nachmittag. Einige wenige Jugendliche stehen an den Platten- und CD-Ständern; andere «ziehen» sich ihre Musik über Kopfhörer «rein ». Ich suche beim Buchstaben «C» eine LP von Eric Clapton, finde sie aber nicht. Als ich einen Verkäufer um Mithilfe bitte, zeigt dieser wortlos auf ein kleines, etwas verstecktes Regal. Ich muß es übersehen haben, frage deshalb nochmals, worauf der Verkäufer etwas lauter, fast genervt antwortet: «Da hinten! Da hinten links!» In meiner Nähe stehen zwei Jugendliche, vielleicht vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Sie müssen die Szene beobachtet haben, und so fangen sie an - ohne daß ich es wohl hören sollte -, sich über mich zu unterhalten. Der eine - zum anderen - : «Schwerhörig und blind, aber sich Clapton reinpfeifen.» Der zweite, den Kopf heftig schüttelnd: «Wieso? Find ich gut, würd mein Daddy sich nicht trauen. Echt nicht. Ist doch stark, 'ne Glatze und dann noch 'n Clapton...» «... Hör auf», fällt ihm der erste ins Wort. «Warste mal in so 'nem Konzert? Nur Opas mit ihren Muttis drin. Die kriegen feuchte Augen, halten Händchen und träumen von früher, als sie ihre Mamas angemacht haben. Das ist doch kein Konzert so was, das ist 'ne Andacht.» Ich habe die Platte schließlich gefunden, und auf dem Weg hinaus fällt mir das Gedicht vom «Alternden Stonesfan» (F. C. Delius) ein, in dem es u. a. heißt: «Er latscht in den Diskshop und gleich / auf die Platte los, die er will... / Um ihn rum, Kopfhörer um die Ohren, / die zehn oder fünfzehn Jahre jüngeren Typen, / die längst was anderes hören. /... Erinnerungen kommen hoch: / Die Stones im Hydepark damals, da / war ich mittendrin, da hat sich was / bewegt mit uns. Jetzt / fühlt er sich beobachtet. Jetzt / fühlt er sich überlegen: Die hängen hier rum / bei dieser immer schlechteren Musik, / leiden vielleicht an... / an Langeweile, aber ich, /... was -1 4 4 -
hab ich alles mitgemacht /... er sieht sich noch mal um, / ist das nun die berühmte Erfahrung des Alterns?»
Grenzziehungen und Widersprüche Die Verklärung von Vergangenheit führt zur Verwischung von Generationsspezifik und -grenzen; zielt zumeist darauf ab, die ganz eigenen Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen in der Gegenwart mehr ab- denn aufzuwerten. Die Offenheit und Klarheit, die mir Kinder und Jugendliche während der gemeinsamen Arbeit immer wieder entgegenbringen, gefällt mir, weil sie mich vor Scheinsolidarisierungen, vor der Gefahr, mich als «Berufsjugendlichen» zu verstehen, schützen und weil sie es mir gestatten, eigene Grenzen zu sehen und zu setzen und die anderer - eben die von Heranwachsenden gezogenen zu respektieren. Solch Grenzziehung ermöglicht Vergleiche in den Verläufen von Kindheits- und Jugendbiographien aus unterschiedlichen Jahrzehnten; Vergleiche, die möglicherweise einen Dialog über Unterschiede zwischen den Heranwachsenden «damals» und «heute» herbeiführen können. Aber ein Gespräch zwischen den Generationen darf dann nicht allein bei der Feststellung von Unterschieden stehenbleiben. Mir wird - um nur ein Beispiel zu nennen - zu leichtfertig und zu vorschnell mit dem Adjektiv «neu» argumentiert, wenn es darum geht, den Alltag von Kindern und Jugendlichen zu beschreiben und zu erklären. Denn unabhängig von gesellschaftlichen wie individuellen Veränderungen stellt sich beispielsweise die Adoleszenz weiter als Phase des Suchens und Ausprobierens dar; heißt Adoleszenz auch, sich mit - elterlichen - Traditionen auseinanderzusetzen oder am eigenen Identitätsentwurf zu arbeiten; bedeutet sie Rückkehr zur Körpersprache. Nicht Entwicklungsprozesse haben sich verändert, vielmehr schaffen sich die unterschiedlichen Generationen ganz spezifische Symbole, in denen sie sich wiederfinden oder an denen sie sich abarbeiten können.
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Sich die Normalität psychosozialer Abläufe in der Pubertät und damit einhergehender Symbole, Figuren und Helden klarzumachen meint, Standpunkte und Blickwinkel aller Beteiligten wahrzunehmen. Dabei könnten Fragen wichtig werden wie: Welche Fähigkeiten möchte ich der heranwachsenden Generation vermitteln, die ich für unverzichtbar halte? Welche Fähigkeiten haben sich überlebt, und von welchen Fähigkeiten der Heranwachsenden kann ich lernen? Solche Fragen können helfen, Gespräche zwischen den Generationen in Gang zu setzen. Ein Austausch über generationsspezifische (Medien-)Erfahrungen findet nur selten statt; meist geht es um Besserwisserei, mit der mancher Erwachsener ein besseres «Damals» gegen ein schlechteres «Heute» auszuspielen versucht. Wenn über Kinder und Jugendliche und deren Alltagserfahrungen geredet wird - und dazu gehören eben auch die medienbezogenen Erfahrungen -, habe ich manchmal den Eindruck, als ob solch ein Gespräch, besser: Klage, ja Anklage mehr mit dem Bulletin eines Arztes zu tun hat - ist doch da sehr häufig von phantasielosen, süchtigen, konsumbesessenen Heranwachsenden die Rede, denen nicht mehr zu helfen ist als mit behutsamen, beschreibenden Deutungen. Solche Kritik geht einher mit einer harmonisierenden Sicht der Vergangenheit, die gegen eine schlechte Gegenwart ausgespielt wird. Bei der Bewertung der medienbezogenen Erfahrungen der Heranwachsenden werden veränderte Lernprozesse schlichtweg verkannt. Damit einhergehend: Er geht um Macht, schließlich greifen Medien bzw. medienbezogene Erfahrungen in zwischenmenschliche Beziehungen ein. War und ist das Kind beim Lesenlernen noch auf die Kompetenzen des Erwachsenen angewiesen, so gestaltet sich das Erlernen der Bildersprache - bei Fernsehen und Film - anders. Zwar kann der Erwachsene hier unterstützend und begleitend tätig sein, gleichwohl machen Heranwachsende je eigene Erfahrungen, die für Erwachsene fremd und irritierend sind. Unterschiedlichste Erfahrungs- und Lernwelten prallen aufeinander bzw. stehen nebeneinander. -1 4 6 -
Kinder scheinen autonomer, machen selbständiger Erfahrungen; Erwachsene bleiben außen vor. Noch gravierender stellen sich die Erfahrungsunterschiede beim computerbezogenen Handeln dar: Schon Kinder sind häufig kompetenter als ihre Eltern; Jugendliche pfiffiger als ihre Lehrer. Erfahrungen werden nicht mehr von der älteren an die jüngere Generation vermittelt, gewohnte Lern- und damit Machtverhältnisse sind berührt, verändern sich. Dies möchte ich an zwei Aspekten fallbezogen verdeutlichen: dem medienbezogenen Handeln der Kinder sowie der Funktion des Computers im familialen Kommunikationssystem.
Computer und Autonomie Hannes, zwölf Jahre, besitzt einen Heimcomputer, mit dem er sich ständig beschäftigt. Als Hannes zunehmend die ihm angetragenen Aufgaben versäumt, die Schule - aus der Sicht seiner Eltern - vernachlässigt, kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung. Die Mutter transportiert den Computer aus dem Haus. Als Hannes aus der Schule zurückkommt und sieht, was passiert ist, rastet er aus: «Ihr behandelt mich wie ein Baby, bevormundet mich von vorne und hinten. Ich könnte euch alle umbringen», so erinnert sich Frau Günther, Hannes' Mutter, an die Szene. Hannes geht in sein Zimmer, schließt sich ein und ist erst am nächsten Tag wieder ansprechbar. Die Mutter ist noch ziemlich lange nach dieser Auseinandersetzung «ratlos, denn das hatte ich nicht erwartet, daß er so hilflos reagiert, so völlig hilflos. Aber ich mußte was tun, es war wie eine Sucht bei ihm.» Hannes bekommt das Gerät nach drei Tagen zurück. Hier zeigt sich, wie Hannes' Mutter dem Computer «zwiegespalten» gegenübersteht. Sie bewundert, wie sich ihr Sohn in eine Sache «hineinstürzen kann». Ihre ambivalente Einstellung setzt sich in einem Sowohl-als-auch-Erziehungsstil fort: «Bei den anderen Sachen, beim Fernsehen und so, hab ich eine klare Meinung, nur beim Computer, der ist mir fremd. Da bin ich ständig am Schwimmen.» Diese Haltung nimmt auch -1 4 7 -
Hannes' Vater ein. Hannes fühlt sich demgegenüber «wegen des Computers wie ein Baby behandelt». Ihn «nervt das Gezerre, weil ich nicht machen kann, was ich will». Vor allem, meint er, würden seine Eltern ihn nicht richtig verstehen, weil sie denken würden, «ich mache nur noch mit dem Computer rum, das stimmt aber gar nicht». Der vorgestellte Streit zeigt, wie wichtig der Computer für das Selbstverständnis von Hannes und seine Position in der Familie ist. Hannes versteht und empfindet die Wegnahme des Geräts als Angriff auf seine Identität, drückt sich doch im computerbezogenen Handeln auch Selbständigkeit aus, an der sich die Eltern nur negativ reiben können. Die heftige Reaktion auf den Entzug des Computers war nicht die einer Suchtentwöhnung, sondern ungläubiges Entsetzen darüber, daß die Mutter in einen Bereich eingriff, den er vor Sanktionen sicher wähnte. Hannes versuchte mittels seiner Computerinteressen, seine Stellung im Familiensystem genau zu bestimmen. Er hatte sich eine Sphäre geschaffen, die es ihm gestattete, sich auszudrücken, Fähigkeiten auszuprobieren, sich über Kompetenzen zu vergewissern. Der Umgang mit dem Gerät bot zugleich Gelegenheit, die Beziehungen zu seinen Eltern, die aus seiner Sicht nicht immer funktionierenden Wechselbeziehungen von Distanz und Nähe auszufüllen. So symbolisierte die Flucht an den Computer auch den Wunsch nach Distanz, nach Alleinsein. Aber Hannes setzte das Gerät auch ein, um «Nähe» zu suchen. Sein Angebot, der Familie die «Basic-Sprache» beizubringen, wurde freilich ebensowenig angenommen wie ausführliche Erklärungen über neu entworfene Programme. Hier tritt ein weiteres Problem zutage, das der Computer in die Familien bringt: Er führt zu Unsicherheiten im Alltagshandeln, macht ratlos. Hannes' Mutter: «Es fehlt mir an Kriterien, wie ich das bewerten kann. Ich sehe, Hannes geht kreativ mit dem Computer um - aber reicht das? Können wir das noch mit unseren Maßstäben einordnen? Ich frag mich immer, wie man das alles einordnen kann, ob Hannes phantasievoll und lebenstüchtig wird, wenn er damit umgeht.» -1 4 8 -
Der Computer wird so zur Projektionsfläche eigener Fragen, Ängste, Träume und Wünsche. «Und das macht es auch wohl alles so schwierig. Man muß lernen, Fragen zu stellen und sich dann die Antworten immer selbst zu suchen, eben nach bestem Wissen und Gewissen.» Und so ist das mütterliche Unbehagen über die vermeintliche Computersucht von Hannes auch die Unsicherheit über die beginnende Adoleszenz, in die Hannes allmählich kommt und die es mit sich bringt, gemeinsame familiale Aktivitäten aufzukündigen, sich aus vertraut gewordenen Zusammenhängen zu lösen. So überlagert sich für die Mutter in der anfangs geschilderten Auseinandersetzung zweierlei: einerseits die Unsicherheiten über eine neue Technologie, die in ihren möglichen sozialen Auswirkungen nicht in alltägliche Wissens - und Handlungskonzepte integriert ist, andererseits Hannes' beginnende Ablösung aus dem Elternhaus und Unsicherheiten darüber, wie sich der neuen Situation zu stellen sei. Dieses Fallbeispiel gibt - auf der Basis vieler anderer Interviews - den Blick frei auf zwei verallgemeinerbare Trends: • Kinder nutzen ihre computerbezogenen Kompetenzen häufig aus, um sich innerhalb des Familiensystems zu definieren. Dies gilt immer dann, wenn die Eltern versuchen, ihre Kinder an eine dominante Erwachsenenkultur zu binden. Umgang mit dem Computer bedeutet für die Kinder auch, sich eigener Identität zu vergewissern. • Medienbezogene Umgangsstile sind biographisch geprägt. In die Wahrnehmung von Medien geht schon erworbenes, vorangegangenes Wissen über andere Medien mit ein. Dies kann Offenheit, aber zugleich Ablehnung bedeuten. Computerdistanz findet hier eine Erklärung. In dem Maße, wie sich der Bildschirm als «Leitmedium» etabliert, sich Kinder und Jugendliche darauf beziehen, können sich medienbezogene Handlungsmuster herausbilden, so daß die Nichtakzeptanz des Computers als generationsspezifisches Moment zu deuten ist.
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Generationsspezifik erschwert Fernseherziehung Die generationsspezifischen Medienerfahrungen erschweren Erziehung, belasten Eltern-Kind-Beziehungcn - dies vor allem dann, wenn die Medienerziehung in der Familie als Gegeneinander und Besserwisserei verstanden wird. Machtkampf und Hilflosigkeit sind die Konsequenz. Nun ist es zweifellos richtig, Kinder bei der Verarbeitung von Fernseherfahrungen zu unterstützen; zweifellos ist es sinnvoll, auf die Gefühlslagen der Kinder einzugehen; Aber die Unterstützung und Hilfestellung darf nicht in Bevormundung und in die Enteignung von Erfahrungen münden. Die wichtigste Aufgabe von Eltern - z.B. bei der Nachbereitung von Fernsehsendungen - ist es, Kindern Räume und Zeiten, Rahmenbedingungen zu geben, in denen Heranwachsende eigene Erfahrungen austesten können. Der Wunsch nach selbständiger Bearbeitung sollte respektiert werden und hat nichts mit Mißtrauen gegen die Eltern zu tun. Dafür um so mehr mit generationsspezifischen Alltagserfahrungen: Einerseits drückt sich darin der Wunsch nach Autonomie und Selbständigst aus, Kinder wollen - auch bezüglich der Medien - eigene Erfahrungen machen, Grenzen ausloten, Emotionen aushalten, Lösungskompetenzen für unklare Situationen entwickeln. Andererseits wissen Kinder, daß sie miteinander wesentlich solidarischer umgehen, wenn es um die Verarbeitung von Gefühlen geht. Deshalb können auch Eltern, können Erzieherinnen viel aus der Art und Weise lernen, wie Kinder medienbezogene Aneignungs- und Verarbeitungsprozesse gestalten. Dabei gelingt den Kindern ein selbstgestalteter Prozeß um so besser, je mehr sie sich der Nähe und des Vertrauens ihrer Eltern gewiß sind. Um hier nicht mißverstanden zu werden: Die generationsspezifischen Unterschiede in der Wahrnehmung von Umwelt und Medien erfordern nicht eine zwanghafte symbiotische Übereinstimmung von Eltern und Kindern, sondern Unterscheidung und Distanz auf der einen, Dialog und Nähe auf der anderen Seite. Unterscheidung und Distanz -1 5 0 -
sollten die ganz unterschiedlichen Ausdrucksformen und Erfahrungsmöglichkeiten von Erwachsenen und Kindern anerkennen, Erwachsene aber zugleich veranlassen, kindliche Erfahrungen daraufhin abzuklopfen, was an neuen, möglicherweise für Erwachsene gültigen Formen darin gebunden und enthalten ist. Dialog und Nähe drücken aus, daß es sich in der Beobachtung und Begleitung kindlicher Wahrnehmungsstile nicht um ein gleichgültiges Sichgewährenlassen handeln kann, sondern darum, den Kindern jene emotionale Vertrautheit und Sicherheit zu verschaffen, die eine eigenständige Suche nach neuen Erfahrungsräumen erfordert.
Konsequenzen und Regeln Wenn alte und neue Medien im Alltag von Familien und Kindern, wenn generationsspezifische medienbezogene Erfahrungen eine Rolle spielen, dann sollte dies Auswirkungen auf das erzieherische Handeln haben. Diese Konsequenzen will ich thesenartig so zusammenfassen: • Um die Medienerfahrungen von Kindern zu begreifen und zu verstehen, ist eine Reflexion der eigenen medienbezogenen Deutungs und Handlungsmuster von Erwachsenen unabdingbar. Auch Eltern haben über ihre eigenen fernsehbezogenen Bedürfnisse nachzudenken. Eine Vorgehensweise jedoch, die in den Heranwachsenden nur eine Ansammlung von Defiziten - phantasielos! spielunfähig! - sieht, wird Kindern nicht gerecht. • Es geht um die Entwicklung einer kinder- und familienbezogenen Argumentation. Es geht um die Abkehr von allgemeingültigen Rezepten und darum, sich an konkreten Fällen zu orientieren. • Vorrangiges Ziel jedes erzieherischen Handelns müßte es sein, die unmittelbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten von Kindern zu fördern. Dies bedeutet, ihnen bei der Verarbeitung und Umsetzung medienbezogener Erlebnisse Hilfestellung zu geben, sie dabei zu unterstützen. Medien gehören zum Alltag, -1 5 1 -
sind Teil ihrer Alltagserfahrungen. Gleichwohl versuchen Kinder, das Medienerleben in jene Formen der Weltaneignung zu überführen, die ihnen am vertrautesten sind: das Spiel und das Gespräch. • Die unterschiedlichsten medienbezogenen Erfahrungen von Kindern und Eltern sind zum Ausgangspunkt von Bildungserfahrungen zu machen. Anders ausgedrückt: Das medienbezogene Handeln in Familien berührt alle Interaktionen und Beziehungen. Ob daraus produktive Möglichkeiten erwachsen oder ob damit negative Strukturen verstärkt werden, hängt davon ab, inwieweit solche Generationsunterschiede im Gespräch aufgearbeitet werden können. Daraus ergeben sich einige Regeln zur Fernseherziehung, die ich in dem Buch «Kinder können fernsehen» (rororo Nr. 8598) ausführlicher dargelegt habe: 1. Motive. Es ist wichtig, sich über die Motive klarzuwerden, die einzelne Haushaltsmitglieder dazu bringen, fernzusehen. Dabei sollte zwischen überdauernden und momentanen Bedürfnissen unterschieden werden. Sieht man gerade fern, weil es den aktuellen Bedürfnissen entspricht, oder wollte man eigentlich etwas ganz anderes machen? In dem einen Fall sollte man zu seinem Fernsehbedürfnis stehen. Im anderen wäre es wichtig, adäquate Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung zu finden. Wenn ein Kind extensive Fernsehwünsche hat, liegen dem möglicherweise individuelle Rahmenbedingungen zugrunde: z. B. ein kritisches Lebensereignis, eine aktuelle Situation, fehlende Freizeitalternativen oder auch das elterliche Fernsehverhalten. 2. Fernsehverbote helfen in der Regel wenig, sie führen meist zu einem Machtkampf zwischen Eltern und Kindern, fördern kindliche Widerstände und Proteste. Fernsehverbote haben in der Regel meist keinen Rückgang des Fernsehens zur Folge, sie fördern ausweichende Handlungen, z.B. «heimliches» Fernsehen bei Freunden oder Großeltern. 3. Fernsehen ist weder eine Belohnung noch eine Strafe und auch kein Babysitter. Falls es doch einmal dazu kommt, sollten -1 5 2 -
die Eltern ihren Kindern zumindest ihre Handlungsweise verständlich machen und begründen. Nur so können sie möglichen späteren Erpressungsversuchen begegnen. 4. Das Fernsehen muß sich dem Tagesablauf des Kindes unterordnen und nicht umgekehrt: Der kindliche Tagesablauf muß auf das Fernsehen abgestimmt werden. Die Fernsehdauer ist im Hinblick auf die sonstigen Freizeitaktivitäten zu begrenzen. Aber wichtig: Zeitweise auftretende «Glotzertage» sind kein Grund zur Beunruhigung. 5. Kinder sollten nach Möglichkeit nicht allein fernsehen. Sie wünschen sich vor allem Gleichaltrige oder Freunde als Partner, weil sie sich besser einfühlen können als Erwachsene. 6. Gespräche über das Fernsehen sollten auf Drohung, auf Moralisieren, Ausfragen oder Nicht-ernst-Nehmen unbedingt verzichten. Man sollte daher grundsätzlich nur in IchBotschaften - «Ich mag nicht...» - reden. Durch Verallgemeinerungen - «So etwas sieht man nicht...» - oder Belehrungen - «Was siehst du da wieder für einen Schwachsinn» - fühlen sich Kinder abgewertet und nicht verstanden. 7. Kinder brauchen Zeit zum Nachbereiten. Die Dauer hängt allerdings sowohl vom jeweiligen Kind als auch davon ab, wie stark es von der Sendung emotional berührt si t. Man sollte vermeiden, die Kinder im Anschluß an eine Sendung aus- und abzufragen. Statt dessen sollte man warten, bis das Kind von sich aus ein Gespräch anbietet. Dann sollte man aktiv zuhören. Man sollte mit der eigenen Anteilnahme und der Meinung nicht hinter dem Berg halten. Und bei alldem sollte man daran denken: Es gibt keine ideale und widerspruchsfreie Fernseherziehung. Fernseherziehung ist ein gegenseitiger und gemeinsamer Lernprozeß. Je dynamischer und offener solch ein Prozeß ablaufen kann, um so spannender wird er für alle Beteiligten sein.
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Konsequent sein - konsequent handeln Grenzensetzen - ich hatte es betont - hat nichts mit Bestrafung zu tun. Strafen heben meist auf eine abstrakte Moral ab - «Man tut das nicht!» -, mit der ein Vorschul- und Grundschulkind nicht viel anzufangen weiß. Strafen bedeuten Vergeltung, Herrschaft und Besserwisserei, wollen Willen brechen, Zwang ausüben und dienen nicht - und dies scheint mir wichtig zu sein - der Verbesserung und Veränderung des störenden bzw. schwierigen Verhaltens oder der Grenzüberschreitung. Strafen mögen zwar kurzfristig Erfolg zeigen, letztlich verschärfen sie negative Haltungen oder Einstellungen. Freilich: Wer Grenzen setzt, der muß zugleich darüber nachdenken, wie er bei Grenzverletzungen und nicht eingehaltenen Absprachen reagiert. Dabei kann es nicht um Strafe oder Verbote gehen, vielmehr um logische Konsequenzen und um natürliche Folgen (Dreikurs). Diese sind - im Gegensatz zur Strafe - mit dem Fehlverhalten z. B. bei Grenzverletzungen, verknüpft; sie beziehen sich auf das Hier und Jetzt, sind nicht rückwärts gewandt, indem sie den Ursachen des Fehlverhaltens auf der Spur sind. Sie sind vielmehr nach vorne gerichtet, zielen auf eine konstruktive Konfliktlösung. Natürliche Konsequenzen zeigen dem Kind: Ich kann mehr als nur Grenzen verletzen oder Regeln nicht einhalten, ich kann auch konstruktiv sein. Strafen verstärken Minderwertigkeitsgefühle - das, was man alles nicht kann! -, logische Folgen verstärken das Selbstwertgefühl - das, was ich alles kann! Deshalb geschehen natürliche Folgen freundlich, fest und auf der Basis gegenseitiger Achtung. Natürliche Folgen enthalten keine Drohung - «Wenn du dein Zimmer nicht aufräumst, dann...» -, sie sind darauf ausgerichtet, nicht jeder ungebührlichen Forderung des Kindes nachzugeben. Zugleich ermutigen sie das Kind, bei der Veränderung des störenden Handelns mitzuhelfen. Absprachen sind keine Kompromisse, sondern der Versuch aller Beteiligten, durch gemeinsame Überlegungen eine als unangemessen und -1 5 4 -
störend empfundene Situation zu lösen. Während Strafen entmündigen und entmutigen, bauen natürliche Folgen auf. Natürliche Folgen geben die Verantwortung für das Tun und Lassen an das Kind zurück: Sie lassen Kinder die Folgen unangemessenen Tuns spüren; sie zeigen zugleich Wege und Auswege.
Anziehen Bei Ankes Anziehritualen gab es jeden Morgen «richtiges Theater», wie die Eltern, Herr und Frau Saile, monierten, «die steht vor dem Schrank und kann sich nicht entscheiden.» Um Anke, 7 Jahre, die Wahl zu erleichtern, legt Frau Saile gemeinsam mit ihrer Tochter abends drei Kleidungsstücke zurecht. «Aus denen kann sie wählen. Sonst wird sie nie fertig.» Herr Saile schüttelt den Kopf: «Und trotzdem schafft sie es nicht.» Er zieht die Augenbrauen hoch: «Und damit sie rechtzeitig in die Schule kommt, dann helf ich ihr dann. Aber es ist, wie gesagt, nervig.» Während Frau Saile ihrer Tochter auf die Sprünge hilft - «Und hast du dein Schulbrot auch nicht vergessen?» -, bringt Herr Saile Anke zur Schule, weil sein Arbeitsweg dort vorbeiführt. «Was würde passieren, wenn Sie ihr nicht helfen würden?» frage ich. Beide sind irritiert, dann Frau Saile: «Na, die würde nie in die Schule kommen!» «Ich denke doch!» «Wieso?» Herr Saue schaut mich an. «Sie bringen Ihre Tochter doch hin!» Herr Saile überlegt: «Gut, dann geht sie im Pyjama in die Schule!» «Oder Sie erklären ihr, im Pyjama nehme ich dich nicht mit.» Frau Saile klingt besorgt: «Aber dann muß sie allein in die Schule oder kommt zu spät.» «Das ist die natürliche Folge ihres Verhaltens.» -1 5 5 -
«Was sollen wir machen?» Wir verabreden: Sailes versuchen, mit Anke über das nervige Morgenritual zu reden, gemeinsam nach einer für alle befriedigenden Lösung zu suchen. Zugleich stellen Sie aber freundlich und fest klar: «Im Pyjama gehst du nicht in die Schule.» In den Tagen nach dem Gespräch gelingt es Anke, sich rechtzeitig anzuziehen. Irgendwann beginnt wieder «der Nerv». Frau Saile erinnert an die Abmachung. Der nächste Morgen: Anke bummelt, sitzt räsonierend vor ihren Kleidungsstücken, vergißt die Zeit, als Herr Saile das Zimmer betritt: «Anke, ich gehe. Tschüs! Ich sehe dich heute abend.» Anke springt auf, will den Vater zurückhalten. Er streichelt ihr die Wange, fährt zur Arbeit. Anke zieht sich sehr schnell an, geht zur Mutter: «Wie komme ich zur Schule?» - «Zu Fuß.» «Dann komme ich zu spät.» Die Mutter, in freundlicher Festigkeit: «Anke, ich denke, das hältst du aus.» - «Was soll ich sagen?» - «Sag's, wie's war.» Ankes «Anziehnerv» hatte kurz darauf ein Ende. Frau Dose arbeitet als Erzieherin in einer Tagesstätte. Sie ist alleinerziehend. Markus, fünf Jahre, besucht den Kindergarten. Er wird jeden Morgen von der Mutter in die Einrichtung gebracht, «weil der Weg zu weit für ihn ist». Morgens gibt es Probleme mit Markus' Bummelei: Er spielt mit Legosteinen, dem Playmobil und He-Man-Figuren und vergißt die Zeit. Seine Milch trinkt er nebenbei - den Pyjama hat er noch nicht ausgezogen. Und jeden Morgen eskaliert die Situation. «Um ¾8 geht's los. Ich rufe: «‹Bist du fertig?› Er: ‹Gleich.› Und so geht's weiter. Alle dreißig Sekunden. Bis ich um fünf nach acht den Rappel krieg, ihn mir packe, anziehe, zack, zack. Er wehrt sich, will das nicht: ‹Du tust mir weh!› Und so haben wir jeden Morgen unseren Kampf.» Auf Kooperationsangebote geht Markus nicht ein. Er zeigt keine Bereitschaft zur Mithilfe, läßt seine Mutter immer wieder auflaufen. «Die Stimmung», so meint sie, «wird immer mieser. Und ich hab 'nen richtigen Horror vorm Morgen.» In einer «ruhigen Stunde» am Wochenende erklärt sie Markus: «Ich möchte, daß du dich anziehst. Ich denke, daß du das schaffst. -1 5 6 -
Im Kindergarten machst du das ja auch.» Markus hört aufmerksam zu, lächelt, als ob er sich verstanden fühlt. Dann fügt sie hinzu: «Markus, ich muß pünktlich zur Arbeit. Ich nehme dich dann im Pyjama mit und gebe dir die Sachen mit. Die kannst du dann im Kindergarten anziehen.» Markus ist ein cleverer Junge. Am Montag - nach dem Wochenende - ist er nicht angezogen: Gedankenverloren sitzt er im Schlafanzug vor den Legofiguren. «Markus, komm, es ist Zeit.» - «Noch nicht.» - «Markus, komm.» «Aber ich bin noch nicht angezogen.» Frau Dose zeigt ihm die Kleidungsstücke, nimmt ihren Sohn auf den Arm, will gehen. «Laß mich los!» Er zieht sich schnell die Schuhe an. Im D-Zug-Tempo rennt er zum Auto. Seine Mutter steigt ein. «Gib mir die Sachen», meint er mit einer Mischung aus Bestimmtheit und Irritation. Während der Fahrt zum Kindergarten zieht er sich an. Als er aussteigt, meint er: «Bist du aber streng geworden!» Er lächelt kurz: «Ich mag dich.» Am Nachmittag bittet Markus seine Mutter um Hilfe: «Du mußt mich bitte zweimal erinnern. Dann schaffe ich das auch.» Es gibt kaum noch nervige Morgenrituale.
Aufräumen Marion, acht Jahre, räumt ihr eigenes Zimmer nicht auf. «Wie ein Saustall sieht es dort aus», klagt ihre Mutter auf einem Elternabend zum Thema «Aufräumen». «Nur wenn ich Druck mache, geht's. Du darfst nicht ausgehen, nicht fernsehen oder so. Dann ist das Zimmer im Nu sauber. Aber», so die Mutter nachdenklich, «nach vier Wochen geht das Theater von vorne los.» Petra Schale hat mit ihren beiden Kindern andere Erfahrungen gemacht. Davon berichtet sie auf dem gleichen Elternabend. Auch bei ihr waren die Kinderzimmer in einem «wüsten Zustand». «Verbote», so erinnert sie sich, «halfen nur eine kurze Zeit. Dann war's wieder wie früher.» «Und was haben Sie gemacht? »
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«Sachen, die rumliegen, wasche ich nicht, hab ich gesagt. Nur das Zeug, das im Wäschesack liegt, wird gewaschen.» Und dann erzählte sie vom Ergebnis: «Jan, der Zehnjährige, hatte eines Tages keine Sachen mehr. Die lagen verstreut herum. Der mußte ohne Strümpfe in die Schule. Und Bernd hatte keine Unterhosen mehr zum Anziehen. Der hat sich dann aus Not seine Badehose angezogen. Das gab ein Riesentheater. ‹Scheiß Mutter› und so. Sie kennen ja diese Vorwürfe.» «Was haben Sie gemacht?» «Kopfhörer aufgesetzt und Beethoven gehört.» «Und Ihre Kinder?» «Als sie sich abgeregt hatten, gab's Entschuldigungen und das Versprechen, sich zu ändern.» «Und?» «Klappte. Allerdings haben sie mich gebeten, sie einmal in der Woche an die Wäsche zu erinnern.» Von einer ähnlichen Erfahrung erzählt Frau Fritz, Mutter dreier Söhne, acht, zehn und vierzehn Jahre alt. Nicht nur sie auch ihr Mann - hatten die Angewohnheit, Kleidungsstücke dort, wo sie sie ausgezogen hatten, «einfach fallen zu lassen». Viele Jahre hat sie alles aufgesucht, aufgeräumt, weggepackt, «bis es mir zuviel wurde». «Ich hab 'ne Familienkonferenz einberufen», erinnert sie sich. «Alles, was unaufgeräumt in der Wohnung rumliegt, sammle ich auf, packe es in einen Zaubersack, der jede Woche geöffnet wird.» Alle waren einverstanden. «Aber die hatten die Folgen nicht bedacht.» Frau Fritz schmunzelt. «Nach ein paar Tagen hatten sie keine «Klamotten» mehr, die sie brauchten, und dann ging's los: ‹Kannste nicht mal waschen? Wo ist das?› Tja: Und am Wochenende haben sie gewaschen, weil Betteln um Gnade nicht half. Ich war stur. Aufgeräumt haben sie, aber durchgehalten habe ich, bis die Woche rum war.» Frau Friedrichs hat etwas anderes erfahren. «Die Kinder räumten nie ihr Zimmer auf. Nichts half. Ich dachte, die seien irgendwie überfordert mit dem Aufräumen. Ich hab dann -1 5 8 -
angeboten, die ersten 15 Minuten mitzuhelfen, damit sie ermutigt werden, an ihren Saustall heranzugehen. Und das funktionierte, weil sie dann Land gesehen haben.» Herr Polster verrät ein anderes Rezept und meint: «So ganz ohne Druck geht's eben doch nicht. Druck und Verbot müssen schon sein.» Meine Antwort: «Mit Druck geht's nicht und mit Verboten lernen Kinder nicht, im Haushalt konstruktiv mitzuarbeiten.» Er ist beharrlich: «Nur mit Druck geht's.» Dann berichtet er von seiner Methode. Samstag ist in seiner Familie Aufräumtag jeder für sich in seinem Zimmer, und «bevor nicht aufgeräumt ist, gibt's kein Vergnügen. Alle waren damit einverstanden.» «Das ist konsequent», meine ich, «kein Druck. Ihre Kinder wissen, worauf sie sich einlassen.» Aktion und Reaktion hängen eng zusammen. Für ein Kind ist das überschaubar, nachvollziehbar. «Und wenn es Probleme mit dem Aufräumen hat, dann kann es sich Hilfe holen. Das haben Sie ja angeboten.» «Und was ist der Unterschied zum Verbot, zum Druck?» «Wenn Sie sagen, heute darfst du nicht fernsehen, weil du nicht aufgeräumt hast, oder du siehst heute fern, weil du aufgeräumt hast, dann wird das Fernsehen als Strafmittel oder zur Belohnung eingesetzt.» Wichtig ist, daß ein Kind bereit ist, beim Aufräumen mitzuhelfen - ohne Belohnung. Nur so lernt es, das eigene Zimmer selbständig in Ordnung zu bringen, dazu sind Kinder anzuleiten. Dabei müssen die Maßstäbe über Ordnung zwischen Eltern und Kindern nicht übereinstimmen: Was im Wohnzimmer als ordentlich gilt, kann im Geltungsbereich des Kinderzimmers anders aussehen.
Der Nerv mit dem Essen Mären, sechs Jahre, sitzt mit Vater, Mutter und dem älteren Bruder Daniel zum Mittagessen zusammen. Es gibt Gulasch.
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Mären: «Mag ich nicht!» Sie stützt demonstrativ ihren Kopf auf die Arme, wirkt bockig. Mutter: «Mären, probier's doch bitte einmal!» Mären: «Mag ich aber nicht. Das weißt du!» Die Mutter füllt ihr mit den Worten: «Nun probier's doch wenigstens, wenigstens einen Löffel» Gulasch auf den Teller. Während die Familie ißt, stochert Mären im Teller herum, spielt mit dem Essen, fängt an, mit dem Stuhl zu kippeln. Vater: «Mären, bitte. Entweder du ißt jetzt oder es...» Mären hat ihre Ohren auf Durchzug gestellt. Langsam kehrt Spannung ein. «Sitz still!» Mären: «Ich möchte Spaghetti.» Vater: «Die gab es doch gestern.» Es kommt zu einem kurzen, heftigen Wortwechsel. Als der Nerv und die Spannung einige Zeit anhalten, hält es die Mutter nicht mehr aus. Sie steht auf. «Also gut», sagt sie eher unwillig, «ich mach dir schon Spaghetti, damit dieses fürchterliche Gerangel aufhört.» Mären sitzt immer noch gelangweilt am Tisch, der Vater ißt mißvergnügt seinen Gulasch. Der Bruder beobachtet aufmerksam die Szene: «Alte Zicke!» - «Blöder Bock», entgegnet Mären. Als die Mutter mit den Spaghetti kommt, haben Vater und Daniel das Essen beendet. Beide stehen auf. Mären ißt ihre Spaghetti, die Mutter sitzt dabei. Beide unterhalten sich angeregt. Paul, neun Jahre, nörgelt jeden Mittag am Essen: Mal mag er das Essen, mal mag er es nicht. Frau Beißner brät ihm dann «'ne Extrawurst. Er ist sowieso ein schmales Hemd. Und wenn er dann nichts ißt.» Sie schüttelt den Kopf. «Nein. Das geht nicht.» Die Situation eskaliert, wird unerträglich: «Das Mittagessen war ein Horror. Wenn ich schon seine Schritte an der Haustür hörte, gab's 'nen Schlag in den Magen. Das war entsetzlich.» Sie überlegt: «Dabei hab ich mir so 'ne Mühe gegeben. Er durfte sich das Essen wünschen. Doch mittags wollte er nichts -1 6 0 -
davon wissen, was er morgens gesagt hatte. Und dann gingen die Diskussionen los...» «Und wie endeten die?» will ich wissen. «Es gab meistens 'ne Extrawurst oder eine wüste Auseinandersetzung. Paul zog sich dann beleidigt zurück.» «Und Sie?» «Ich hinterher. Wollte ihn überreden zu kommen.» Ihr Kopf bewegt sich heftig. «Wie kann ich das nur ändern? Der spielt mir auf der Nase herum!» Frau Beißner redet mit Paul. Man vereinbart, sich an die morgendliche Absprache über das Essen zu halten. Doch mittags fängt «das Theater wieder» an. Paul beginnt zu schimpfen, will die Vereinbarung nicht wahrhaben. Die Mutter sieht ihren Sohn an, sagt mit ganz bestimmter Stimme: «Du brauchst nichts zu essen.» Paul tobt weiter. «Ich denke, du gehst, Paul.» Paul horcht auf, wirkt irritiert: «Aber ich habe Hunger.» «Ich habe dir Essen gemacht. Du kannst essen. Ich denke, es schmeckt dir.» Paul springt auf, stößt unverständliche Verwünschungen aus, nur «du alte Hexe» versteht Frau Beißner noch - dann ist Paul verschwunden. Nach zwei Stunden kommt Paul aus seinem Zimmer zurück: «Ich habe Hunger.» Seine Stimme wirkt kleinlaut. «Heute abend gibt es ein leckeres Essen», meint Frau Beißner. «Ich hab aber jetzt Hunger.» «Ich denke, du hast mich verstanden, Paul!» Paul geht zur Mutter, legt seinen Kopf an ihre Schulter. Frau Beißner streichelt seinen Kopf. «Wollen wir Frieden schließen?» «Paul, ich bin nicht sauer auf dich.» «Ich mein wegen der Hexe.» Sie lächelt: «Manchmal bin ich auch eine.»
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«Ich hab mal gehört, Hexen mögen Kuchen. Darf ich welchen vom Bäcker holen?» «Meinetwegen, du Schlitzohr. Aber das ist jetzt 'ne Ausnahme.» Pauls Machtkämpfe beim Essen nehmen allmählich ab. Florian und Klaus, zwei Brüder, sechs und neun Jahre alt, bummeln auf dem Weg aus der Schule nach Hause. Sie unterhalten sich mit Freunden, trödeln, spielen, machen Umwege. Derweil wartet die Mutter, Frau Klauser, zu Hause mit dem Essen. Sie ist in Druck, muß sie doch am frühen Nachmittag zur Arbeit. «Das ist Streß», sagt sie. «Ich habe alles fertig, und die beiden kommen nicht.» Die Folge ist, daß schnell gegessen wird, «eine richtig ungemütliche Situation, absoluter Streß.» Frau Klauser bittet ihre Söhne darum, rechtzeitig zu kommen. Ohne Erfolg - dafür nehmen die mittäglichen Reibungen an Lautstärke und Heftigkeit zu. Der Streß am Nachmittag beginnt sich auf die abendliche Essenssituation auszuwirken. Auch sie wird zusehends angespannter. Nach einiger Zeit droht Frau Klauser: «Ich fange jetzt um Viertel vor eins mit dem Essen an, egal, ob ihr da seid.» Die Kinder protestieren. Ihnen ist das gemeinsame Mittagessen wichtig. Aber die Drohung bleibt ohne Folgen: Die Kinder kommen nach wie vor zu spät, Frau Klauser setzt ihre Worte nicht um: «Dann säßen die ja da ganz allein hier. Das bringe ich nicht über mein Herz.» Die Klausers stellen diese Situation auf einem Familienseminar vor. Alle sind sich einig darüber, wie wichtig das gemeinsame Mittagessen für alle ist. Im Laufe des Gesprächs wird den Kindern klar, daß sie bei der Lösung mithelfen müssen. Sie versprechen, sich zu beeilen, sich gegenseitig daran zu erinnern, zügiger nach Hause zu gehen. «Und wenn es nicht klappt?» «Dann darf Mama anfangen, und wir essen allein.» In den folgenden vier Tagen klappt die Absprache vorzüglich, gemeinsam freut man sich über das Ergebnis - bis Florian und Klaus wieder die Zeit vergessen. Frau Klauser beginnt mit dem -1 6 2 -
Essen, erst zögerlich, dann zunehmend säuerlich - aber am Ende ganz selbstbewußt: «Ich hatte nicht gedacht, daß ich so stark bin, mich an die Absprache zu halten.» Sie deckt den Tisch ab, stellt das Essen warm. Als sie das Haus verläßt, kommen Florian und Klaus. Die Mutter, schon im Mantel, bereit, aus dem Haus zu gehen, meint ganz freundlich: «Ich gehe jetzt. Das Essen steht auf dem Herd.» Sie umarmt beide und geht. Die Kinder fangen an zu streiten, warum wer wen nicht an die Absprache erinnert hat. Sie wärmen sich ihr Essen, setzen sich und fangen bald mit dem Essen an. In einem späteren Gespräch meint Florian anerkennend: «Hätt ich nicht von Mama gedacht.» Klaus meint ganz direkt: «Ich schon. Mal mußte sie ja was lernen.» Die Situationen lassen einige übergreifende Gesichtspunkte deutlich werden: • Es geht bei der Absprache über Regeln darum, die Kinder anzuregen, anzuleiten und zu unterstützen. Bestrafung und Achtung des Kindes schließen sich aus. Aber: Kinder, die ungebührliche Forderungen stellen, mißachten ihre Eltern, machen sie zu funktionierenden Sklaven. • Kinder lernen bei Grenz- und Regelüberschreitungen aus natürlichen Folgen: Dies gilt bei den Alltagsthemen «Unordnung» und «Bummelei» ebenso wie bei den Auseinandersetzungen über das Essen. Wichtig ist: Das Kind sollte die natürlichen Folgen fühlen, sie nicht als Drohung spüren. «Wenn du nicht ißt, wirst du hungrig sein!» stellt eine Drohung dar: «Du brauchst nicht zu essen!» bedeutet für das Kind eine Wahl: Es ist meine Sache zu essen. Tue ich das nicht, bin ich hinterher möglicherweise hungrig. • Der Umgang mit Unordnung macht zusätzliche Aspekte des Grenzensetzens und der Erziehung mit natürlichen Folgen deutlich: Das Kind wird aufgefordert und ermutigt, einen Beitrag zur Einhaltung von Ordnung zu leisten. Wenn Kinder nicht die Folgen der Unordnung fühlen, besteht für sie nur selten Anlaß, sich um die Ordnung im Zimmer oder in der Wohnung zu bemühen. Kinder lernen aus Erfahrung - nicht aus drohenden -1 6 3 -
oder «guten» Worten. Selbst wenn Kinder nicht aufräumen wollen, sind Bestrafungen - z.B. durch Fernsehverbot überflüssig und unangemessen. Sie fördern in der Regel Widerstände, verlangen gleichzeitig vom Kind keine konstruktive Mitarbeit bei der Lösung des anstehenden Problems. • Bei Grenzüberschreitungen und Regelverletzungen wird zu häufig mit Worten gekämpft. Formulierungen wie: «Das hab ich dir schon hundertmal gesagt» machen Kinder taub. Grenzen zu setzen und natürliche Folgen zu erfahren legt das Schwergewicht auf jenen Dreh, der das Alltagsproblem löst. Die natürliche Folge bleibt nicht bei der Ursachenforschung stecken - fragt nicht ständig nach dem «Warum» -, sondern ist auf das Hier und Jetzt, auf die pragmatische Lösung orientiert. «Warum»-Fragen bringen Kinder schnell in die Opfer- und Verteidigerhaltung, Eltern in die des Besserwissers. Natürliche Folgen fordern das Kind, arbeiten mit den konstruktiven Anteilen des Kindes, setzen Vertrauen in seine Kräfte und tragen so zur Stärkung des Selbstwertgefühls bei. Eine kleine Geschichte mag dies verdeutlichen. Maria, ein rußlanddeutsches Kind, ist sechs Jahre alt und befindet sich seit zwölf Wochen in einer Kindergartengruppe. Dort findet sie überhaupt keinen Kontakt. Die einzige Bezugsperson bleibt die Erzieherin. Maria lehnt die Spielangebote der anderen Kinder ab. Und sie tut sich schwer damit, wenn ihre Erzieherin ihr Grenzen setzt. So ist es kein Wunder, wenn die Erzieherin zunehmend genervt auf den «Quälgeist» Maria reagiert. Eines Tages beobachtet sie, wie Maria geschickt mit Schere und Faden umgehen kann. Da im Zuge eines Verkleidungsprojektes Näharbeiten anstehen, erhält Maria den Auftrag, die anderen Kinder im Nähen zu unterweisen. Dies macht sie mit großer Ernsthaftigkeit. Marias Selbstbewußtsein, ihre Selbständigkeit wächst. Sie fühlt sich akzeptiert, genau wie die anderen Kinder anfangen, Maria anzunehmen. Nach Beendigung des Projekts hat sich Maria von der Erzieherin als alleiniger Bezugsperson gelöst und andere Kinder als Personen, an denen sie sich orientieren kann, -1 6 4 -
gewonnen. Marias Erzieherin hat mithin den Dreh gefunden. Sie knüpft an die Kompetenzen des Kindes an, baut sie auf, ermutigt sie. Daraus folgt eine wachsende Autonomie, z.B. «Ich kann alleine» und nicht: «Ich bin alleine.» Daraus folgt weiter ein gesteigertes Selbstbewußtsein, z. B. «Ich schaffe es» und nicht: «Ich komme nicht zurecht!» Und daraus folgt schließlich ein erweiterter Horizont, z.B. «Ich finde mich zurecht» und nicht: «Ich komme nicht zurecht.» Maria geht auf andere zu, übernimmt Verantwortung und stellt sich neuen Herausforderungen. Natürliche oder logische Folgen entkrampfen Konfliktsituationen. Sie zeigen dem Kind, wie weit es gehen kann und geben dem Kind zugleich Verläßlichkeit: Natürliche Folgen sind vorhersehbar, das Kind weiß, woran es ist. Der Umgang mit Regelverstößen wird dann nicht von Tagesformen abhängig, verläuft vielmehr nach für alle erkennbaren Lösungsschritten: 1. Die Beschreibung und das Erkennen des Konflikts. 2. Das Durchspielen von Lösungen. Dazu gehört, die Mitarbeit des Kindes zu gewinnen. Dazu zählt weiter, abgesprochene Regeln auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. 3. Den Dreh zur Konfliktlösung finden: Lösungen sind wie Dietriche (de Shazer), sie müssen passen. Lassen sie sich nicht drehen, ist nach anderen Lösungen zu suchen - ganz im Sinne des stochastischen Fragens. 4. Es ist nach Wegen zur Umsetzung zu suchen. Dabei sollte darauf geachtet werden, das Selbstwertgefühl des Kindes zu stärken. Kinder sind nicht daraufhin zu beobachten, was sie nicht können, sondern daran zu messen, was sie können. Es ist nach positiven und konstruktiven Ausnahmen im Verhalten zu suchen. 5. Bei Verstößen gegen Absprachen ist über natürliche Konsequenzen nachzudenken, auf Strafen ist - selbst dann, wenn es im Finger juckt und sie kurzzeitige Erfolge bringen - zu verzichten.
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6. Absprachen sind auf ihr Ergebnis hin zu überprüfen. Gelungene Resultate sollten als Ermutigung genommen werden, auf dem gefundenen Weg weiterzumachen.
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7 «Wenn das doch so einfach war...» Über Schwierigkeiten mit dem Grenzensetzen
Viele der geschilderten Situationen habe ich mit Eltern, Lehrern, Erzieherinnen oder Sozialarbeiterinnen in Beratungsund Bildungsveranstaltungen erarbeitet und durchgesprochen. -1 6 7 -
Viele Lösungsvorschläge wurden akzeptiert und in den pädagogischen Alltag umgesetzt; manchmal mußte der gefundene «Dietrich» in der Praxis auch verändert bzw. ausgetauscht werden. Aber es gab auch Widerstände, Kopfschütteln, Unverständnis. Einige Teilnehmer und Teilnehmerinnen konnten sich nicht - oder nicht so schnell - auf die Tips und Dietriche einlassen, einige kritisierten, das «sei ja alles schön und gut», aber für die Praxis in Elternhaus und Schule unbrauchbar und zu abstrakt. Einige kurze Gesprächsausschnitte können die Richtung der Kritik veranschaulichen. «Wenn ich manche der Vorschläge höre, gut, ich kann das akzeptieren, aber Erziehung ist Streß. Und ich will nicht immer gestreßt sein!» «Ich will einfache Rezepte! Und die sollen funktionieren! Wozu gibt es denn pädagogische Experten? Die beschäftigen sich tagaus, tagein mit den Fragen. Wenn die nicht einmal Antworten wissen, wer dann?» «Wenn ich Bücher lese oder Veranstaltungen besuche, dann ist mir alles klar. Aber nach einem anstrengenden Arbeitstag sieht es schon wieder anders aus. Dann kommt dieser ganze Frust hoch: Eigentlich müßtest du jetzt so handeln... aber ich hab dann einfach nicht mehr die Kraft dazu. Und dann bau ich Mist, obgleich ich's besser weiß. Das nervt.» «Ich hab mir vorgenommen, es anders zu machen. Anders als früher. Und da steck ich eben zurück. Da halt ich die Klappe, obgleich ich schreien möchte. Tu ich aber nicht, weil ich kann keine Kinder anschreien. Jedenfalls nicht in der Schule. Das kriegt dann mein Mann zu Hause ab... oder die eigenen Kinder sind die Sündenböcke.» Ich will anhand dieser nicht zufällig ausgewählten Zitatausschnitte auf vier Gesichtspunkte hinweisen, die das Grenzensetzen erleichtern und zu mehr Gelassenheit ermuntern sollen:
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• Institutionelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen machen Erziehung nicht leichter, belasten vielmehr jene außerordentlich, die jeden Tag erzieherisch tätig sein müssen. • Pädagogische Arbeit bedeutet psychischen und physischen Streß. Zum Grenzensetzen in der pädagogischen Arbeit - darauf gehe ich im letzten Kapitel ein - gehört Einsicht in eigene Grenzen und die Kraft, selbstbewußt zu eigenen Grenzen zu stehen. Mehr denn je kommt es auf den «Mut zur Unvollkommenheit» (Dreikurs) an. Wer Erziehung als «Hochleistungssport» versteht und praktiziert, überfordert sich und die Kinder. Fehler können - ich hatte es betont Geschenke sein. Erziehungsstile fangen im Kopf an. Der Kopf konstruiert erzieherische Realität. Veränderungen in der Erziehungspraxis fangen im Kopf an, beginnen damit, pädagogische Alltagssituationen umzudeuten und neu zu strukturieren.
«Ich bin hart gewesen!» Viele Erziehende - ob nun Eltern oder Fachpersonal beschreiben und empfinden sich, wenn sie konsequent gehandelt haben, als «zu hart», «zu streng» oder «zu grob» egal, ob es sich um die verweigerte Fernsehsendung, das nicht gekaufte T-Shirt, den Wunsch nach dem sofortigen Nachhausekommen, den verbalen «Anpfiff», die drohende Geste oder das laute Wort handelt. Ich gehe hier nicht auf jene Eltern ein, die Kindererziehung mit Zurichtung und Stahlbädern verwechseln - nach dem Motto: Gelobt sei, was hart macht!; jene Eltern, die den Willen von Kindern brechen, sie zur Unterwürfigkeit und Anpassung erziehen, die Mitgefühl und Annahme im Keim ersticken, wo Zuwendung nur negativ und schmerzhaft - z. B. durch Schläge erlebt wird. «Heute war ich sehr hart», erklärt mir Gabriele Abraham. Was sie damit meine, will ich wissen. Sie beschreibt die Situation: Ihre beiden Sohne, acht und zehn Jahre alt, hatten -1 6 9 -
zum wiederholten Male im Wohnzimmer ihre Kleidung verstreut, obgleich «klar ist, das gibt es nicht! Aber die haben nicht auf mich gehört!» Sie macht eine wegwerfende Handbewegung: «Die denken, die können alles mit mir machen. Als heute wieder eine Jacke rumlag, war ich auf 190! Ich bin einfach geplatzt.» Die beiden Jungen hätten sie erschrocken angeschaut und mit den Worten: «Ja, ja, ist schon gut», die Kleidung weggetragen. «Mußt du dich immer gleich aufregen», habe der eine noch gesagt. Ihre Antwort: «Ihr müßt mich nicht zur Weißglut bringen.» Frau Abraham mag nicht laut werden, sie haßt das Schreien «wie die Pest. Ich komme mir vor wie eine Hexe.» So verständlich ihre impulsive Reaktion sein mag, zur Veränderung ihres und des Handelns ihrer Kinder trägt ihre verbale Einmischung nicht bei: Sie wird auch zukünftig «hart» handeln oder reagieren, wird sich nicht akzeptieren, wenn sie laut wird oder konsequent handelt. «Hart» hat für sie - wie das Gespräch mit ihr zeigt - zwei Bedeutungen: • «Ich mag nicht so gerne konsequent sein. Deshalb sage ich lieber nichts und mache es selber.» Und: • «Ich will nicht laut werden.» Das Zusammenleben mit Kindern erfordert Routinen und Regeln, die von allen eingehalten werden. Nur wenn alle Familienangehörigen mithelfen, ist eine Ordnung möglich, die allen auch Freiheiten zugesteht. Dazu zählt, sich über Konsequenzen klar zu sein, die bei Grenzüberschreitungen in Kraft treten, selbst wenn es sich - wie Frau Abraham meinte um so «Nebensächlichkeiten wie die Kleider» handelt. Ignorieren kann manchmal Nachlässigkeiten verstärken. Die Folgen sind klar: Frau Abraham trägt die Kleidung so lange ihren Kindern nach, bis man sie «zur Weißglut gebracht» hat. Konsequenz hat aber nichts mit Härte zu tun. «Härte» - wie bei Frau Abraham - stellt eine impulsive, wenig konstruktive spontane Reaktion dar, die am Problem des Aufräumens nichts verändert. Konsequenzen ergeben sich dagegen logisch und natürlich aus den Regelverstößen. Diese waren in einem -1 7 0 -
Gespräch zwischen Mutter und Söhnen auszuhandeln. Die Kinder wissen dann, woran sie sind. Unüberlegt-impulsive Reaktionen, wie sie Frau Abraham gezeigt hat, werden häufig als Erniedrigung erlebt und führen letztlich dazu, die Kleidung weiter herumliegen zu lassen. «Das mit den Konsequenzen kriege ich schon hin», meint Frau Abraham. «Aber mit diesem Schreien...» «Das wird vielleicht wieder passieren!» Ich sehe sie an. «Und dann?» Sie zuckt die Schultern. «Sagen Sie sich: Ich kann schreien!» Ihre Augen verengen sich zu einem schmalen Spalt. «Aber ich will, verdammt noch mal, keine Hexe sein!» Sie wirkt ungehalten. «Hexen sind aber weise und schöne Frauen!» meine ich lächelnd. «Aber doch nicht im Märchen! Verdammt!» Sie ist einigermaßen wütend. «Leben Sie im Märchen?» frage ich. Sie überlegt einen Augenblick: «Dann wäre ich nicht hier!» Ich mache einen Vorschlag: «Wenn Sie schreien, stellen Sie sich als schöne, weise Hexe vor.» «Und das hilft?» Frau Abraham schüttelt den Kopf. Nach ein paar Wochen treffen wir uns wieder. Sie erzählt mir, sie habe nur zweimal angesetzt, um zu schreien, sei jedoch sofort in Lachen ausgebrochen. Die Kinder seien irritiert gewesen: «Sollen wir dir helfen?» Und dann hätten sie die abgesprochenen Aufgaben erledigt. Mir kam es darauf an, daß sich Frau Abraham auch mit jenen Persönlichkeitsanteilen annehmen konnte, die sie nicht mochte und akzeptierte. Wer aber nur gegen die - aus seiner Sicht negativen Anteile - z. B. «Ich will nicht schreien!» - ankämpft, verbraucht dabei Kraft und Energie. Sinnvoller und im Sinne -1 7 1 -
einer Handlungsänderung scheint es, jene Anteile anzuerkennen, die stören und hemmend sind. Erst wenn ich diese annehmen kann - z.B. «Ich kann schreien!» -, entwickle ich Energien, um störende Anteile in konstruktive zu verändern. Aber dies ist ein Weg, der manchmal mit Umwegen und Sackgassen verbunden ist. «Das hört sich gut an », meint Herr Bruns, «aber es ist verdammt noch mal nicht leicht. Ich komme mir schon hart und schroff vor, wenn ich mal auf Abmachungen bestehe. Das mag ich nicht, und das will ich nicht akzeptieren.» Und im weiteren Verlauf erzählt er von seinem Vater, der «hart und unversöhnlich» gewesen sei. «Schläge waren die einzige Nähe. So will ich nicht sein.» Er klingt brüchig: «Meine Kinder sollen mich nicht hassen...», schluckt: «Sie sollen keine Angst vor mir haben!» «Was denn?» Herr Bruns überlegt, hebt die Schultern: «Mich akzeptieren, wie ich bin!» «Wie sind Sie?» Erlacht: «Manchmal ein Stinkstiefel!» «Sollen die denn auch den Stinkstiefel mögen?» «Wenn sie's aushalten!» Er schüttelt sich vor Lachen, hält sich die Nase zu. «Mann, o Mann!» «Gibt's eine andere Formulierung für hart?» Herr Bruns holt tief Luft: «Weiß nicht?» Er schaut hilfesuchend umher: «Na ja, schroff, gemein, unterdrückend, besserwisserisch...» «Wer war so?» «Mein Vater », kommt es wie aus der Pistole geschossen. «Und Sie?» «So bin ich nicht, vielleicht konsequent. Aber geht das denn mit Kindern nicht ohne Konsequenz? Verdammt, nun wollt ich alles anders machen... und bin wie der Alte. Alles wiederholt sich!» Er schüttelt vehement seinen Kopf, die Füße stampfen kurz auf. -1 7 2 -
«Sie sind doch anders: konsequent!» werfe ich ein. Viele Eltern meinen, man müsse auf eigene Räume, eigene Zeiten, eigene Bedürfnisse und eigene Wünsche verzichten. Die Beschneidung und Begrenzung kindlicher Freiräume wird als unangemessen, egoistisch, erwachsenenorientiert, als «hart» betrachtet. Nun gibt es in der erzieherischen Praxis durchaus viele Fallsituationen, in denen sich der Erwachsene als besserwisserischer Erzieher über kindliche Kommunikationsansprüche skrupellos hinwegsetzt und Kinder in ihren Entfaltungsmöglichkeiten hemmt. Aber zugleich gilt: Kindern Freiheiten für ihre kognitive und emotionale Entwicklung zu gewähren, darf nicht zur elterlichen Selbstaufgabe führen. Die Besinnung auf die erzieherischen Traditionen und Praktiken der Herkunftsfamilie darf weder zum Kult noch zur unreflektierten Abrechnung führen - Besinnung meint, jenem Sinn nachzuspüren, den man in der eigenen Erziehung fortführen möchte, um jenen Unsinn zu überwinden, der psychische Verletzungen mit sich gebracht hat. Herr Bruns erzieht anders als sein Vater. Aber er hat die väterliche «Konsequenz» als Unmenschlichkeit und Erniedrigung erlebt. Dies bringt ihn nun in Schwierigkeiten: Einerseits weiß er um die Notwendigkeit von Konsequenzen, andererseits machen ihm seine «Empfindungserinnerungen» (Zimmermann) einen Strich durch die Rechnung. «Härte» hat für ihn eine ähnliche negative Bedeutung wie «Konsequenz». Nur indem man den lebensgeschichtlichen Bedeutungsrahmen aufbricht, kann Herr Bruns Sätze wie «Ich bin fest» oder «Ich bin konsequent» akzeptieren. Erziehungsrealität wird vom einzelnen im Kopf hergestellt: Aussprüche oder Einschätzungen wie «Ich bin hart», «Ich bin streng», «Ich bin grob» etc. deuten und bewerten erzieherische Konsequenzen negativ. Das Grenzensetzen wird dann als problematische Erziehungsstrategie eingeschätzt, die «man» gerne vermeiden würde, weil «es doch auch anders gehen müßte». Dahinter stehen in der Regel zwei Grundhaltungen:
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• Da man sich fürchtet, konsequent zu handeln, erzieht man mit «langer Leine», lebt eine Toleranz vor, die die eigene physische und psychische Realität mißachtet. Hier kann Beratung ermutigen, natürliche und logische Konsequenzen im pädagogischen Prozeß einzuführen. • Die Bewertungen «hart», «grob» oder «streng» sind gedankliche Konstruktionen, die sich an der Biographie orientieren: Die einst erlebte und erlittene Erziehung geht ein Gemenge mit der nun praktizierten Erziehung ein. Und was man einst als Verletzung erlebt und erlitten hat, will man nun vermeiden. Es kommt zu einer wenig überlegten Auseinandersetzung mit der eigenen Familientradition. Man ist ängstlich darauf fixiert, Fehler nicht zu wiederholen. Um eigene Grenzen zu finden, sich in seinem Erziehungsstil angemessen einzuschätzen, ist es wichtig, Formulierungen wie «Ich bin hart» etc. genauer zu be- und umschreiben, sie eventuell umzudeuten. Wenn Konsequenzen notwendig und geboten sind, sie in der Folge von Absprachen als natürlich und logisch erscheinen, ist es angemessen, von «Ich bin fest», «Ich bin klar» oder «Ich bin konsequent» zu reden.
«Mut zur Unvollkommenheit» oder Der Umgang mit Erziehungsstreß Pädagogisches Handeln strengt an. Erziehung ist für alle Beteiligten häufig Streß: Eltern und Erzieher stoßen ständig an Grenzen - «Was soll ich denn nur machen!» -, erleben Gefühle der Ohnmacht und Beschränkung- «Manchmal kann man doch nichts machen!» - oder überfordern sich - «Ich will alles richtig machen!» -. Kinder erleben die pädagogisch Handelnden als gereizt, unausgeglichen, inkonsequent, ständig «unter Strom stehend», sind Versuchsobjekte in der Disziplin «Erziehung als Hochleistung ». Mehr denn je kommt es darauf an, mit Streßsituationen so umgehen zu lernen, daß sie Achtung für das Kind und den Erziehenden gewährleisten. Die Zauberformel heißt «Mut zur Unvollkommenheit». Sich und anderen Fehler zuzugestehen -1 7 4 -
ja, sich für gemachte Fehler etwas zu kaufen -, entkrampft das erzieherische Handeln, gestaltet die Erziehungsbeziehungen konstruktiver, menschlicher. «Mut zur Unvollkommenheit» bedeutet kein Plädoyer für gedankenlose Fahr- und Nachlässigkeit. Es gibt Grenzen, die eingehalten werden müssen, oder anders formuliert: Es gibt Erziehungspraktiken, die die Kinder in ihrer kognitiven und emotionalen Entwicklung behindern, die die Ausbildung von Selbstwert und Ich-Identität nicht zulassen, die mit sozialer Angst und Verunsicherung verbunden sind. Dazu zählt die Mißachtung physischer Grenzen des Kindes in Form des sexuellen Mißbrauchs; dazu gehört körperliche Gewaltanwendung als «Mittel» der alltäglichen Erziehung, darunter fällt die andauernde psychische und seelische Erniedrigung des Kindes durch emotionale Leere, Liebesentzug, Abweisung, Über- und Unterforderung. Niederlagen - z. B. der Eltern - gehören zum Erziehungsalltag. «Manchmal schreie ich doch», klagt Herr David, «obgleich ich mir's schon hundertmal vorgenommen habe. Aber irgendwann platze ich. Dann geht's mir schlecht, weil ich nicht so sein will. Und dann weiß ich, ich lerne es nie, ein richtiger Vater zu sein.» - «Manchmal rutscht mir die Hand schon aus.» Frau Schröder schaut unsicher, verzweifelt. «Vor allem mal abends nach der Arbeit. Dann bin ich müde, und wenn dann noch ein falsches Wort fällt, tja, dann kann es schon passieren.» Sie verleiht ihren Worten mit der Hand Nachdruck. «Aber dann mein ich auch, der Björn hat's so gewollt.» Werden Niederlagen nicht eingestanden, entstehen häufig Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle - «Ich kann es nicht!» -, oder man rationalisiert eigenes Versagen und Nicht-Können «Ich wäre ja o. k., aber du bist es nicht! Deshalb muß ich so handeln!» «Mut zur Unvollkommenheit» meint, seine persönlichen Energien darauf zu verwenden, Unvollkommenheit zu akzeptieren, den Umgang mit Fehlern als Chance zu begreifen. «Wenn ich mal ausgeflippt bin», sagt Frau Schröder, «und ich -1 7 5 -
mich beruhigt habe, gehe ich zu meinen Söhnen und entschuldige mich. Früher hab ich's ihnen auch erklärt, warum ich geschrien habe, aber dann haben sie nur gemeint, ist schon o. k.» «Ich hab's ähnlich gemacht», meint Frau Frost. «Ich bin häufig auch geplatzt, manchmal hat's was gesetzt. Ehrlich.» Sie wiegt ihren Kopf. «Dann war ich hier auf einem Elternabend, und Sie...», sie deutet auf mich, «haben gesagt: Bitten Sie Ihre Kinder um Mithilfe. Auch die sind verantwortlich für die Atmosphäre, die Stimmung in Ihrer Familie.» «Und wie ging's weiter?» «Ich hab dann zu den Kindern gesagt: Ihr müßt mithelfen, damit ich nicht so platze.» «Und wie haben Sie's gelöst?» «Streß gab's ja nur an bestimmten Tagen. Wenn ich nachmittags zur Arbeit mußte. Aber auch nicht immer. Eben nur manchmal. Tja, und dann hatte mein Jüngster, der war sechs, was von einem Erdbeben gehört und was von einer ‹Richterskala›, die die Stärke anzeigt. Und er meinte, meine Ausbrüche seien wie ein mittleres Erdbeben. Und dann hat er für mich eine...», sie schmunzelt, «‹Mama-Skala› eingerichtet: von eins, das war gutgelaunt, bis sechs, Vorsicht: absolute Gefahr! Ich hab darauf an den problematischen Tagen meine Stimmung angezeigt, und die wußten, woran sie waren. Manchmal konnten wir richtig darüber lachen.» «Und hat's geklappt?» «Meistens! Aber dann haben die mich so gereizt, daß ich völlig außer mir war. Dann brauchten die's auch. Heute erzählen sie, sonst war's zu langweilig mit mir gewesen. Na ja.» Diese Gespräche verdeutlichen den «Mut zur Unvollkommenheit» auf ganz anschauliche und ungewöhnliche Weise: • Da ist zunächst das Eingeständnis «Ich hab Mist gemacht», verbunden mit dem Wunsch, die Situation zukünftig anders zu gestalten. Das Problem nimmt man zum Anlaß, über Veränderungen nachzudenken. -1 7 6 -
• Es wird aber nicht bei den Ursachen des Problems angesetzt bzw. stehengeblieben. Dies führt meist nur zu gegenseitigen Schuldzuweisungen oder zu Schuldgefühlen «Ich bin schlecht» - oder zu unproduktiven Rationalisierungen «Ihr habt es so gewollt!» Man fragt nicht nach dem «Warum» von Streß und Genervtsein, vielmehr danach, was der Genervte bzw. die Gestreßte macht oder wann sie es nicht macht. Eine solche Betrachtungsweise konzentriert sich allein auf die Lösung: «Wie kann ich eine Situation verändern?» Anders ausgedrückt: Nicht alle problematischen Situationen werden angesprochen, vielmehr wählt man nur eine aus und versucht, sie zur Entspannung zu bringen. • Die Lösung geht von positiven Ausnahmen aus, davon, was funktioniert, und verstärkt diese - «Tue mehr davon, was funktioniert!». Dadurch werden die Fähigkeiten aller Beteiligten zur Problemlösung in den Vordergrund gestellt. • Das Problem und seine Lösung werden - z. B. in Form der vorgeschlagenen «Mama-Skala» - auf den Begriff gebracht. Man weicht den Problemen nicht aus. Der Umgang mit Problemen wird für die Familienmitglieder deshalb zum Geschenk, weil Unvollkommenheit ermutigt, nach neuen Wegen zu suchen, sich Herausforderungen zu stellen.
«Das ist reine Theorie!» «Wenn ich das hör, was Sie heute zum Grenzensetzen sagen, dann ist das für mich reine Theorie.» Herr Woher ist Hauptschullehrer. «Ich hab 22 Schüler in meiner Klasse, eine achte Klasse, in einem viel zu engen und zu stickigen Raum. Die Schüler kommen aus einem sozialen Brennpunkt, sind ziemlich aggressiv, manche straffällig, absolut unmotiviert. Da sind Techniken, wie Sie sie entwickeln, absolute Theorie.» Herr Wolter macht eine wegwerfende Handbewegung. «Alles gut gemeint, ehrlich, aber absolute Theorie, verstehen Sie?» Er schaut mich verzweifelt an. «Wenn ich meinem Schulleiter solche Vorschläge mache, dann zuckt der die Achseln oder will
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nichts von meinen Schwierigkeiten wissen. Alles hat bei ihm eben zu funktionieren.» «An mir hängt alles», erklärt mir Frau Lempe, «alles. Mein Mann ist unterwegs auf Montage. Ich bin genervt, gestreßt. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Da muß ich mitarbeiten, und dann die drei Kinder.» Sie atmet tief durch. «Wenn ich das alles beherzigen will. Nein, das geht nicht, wirklich nicht! Alles gut gemeint. Aber mir hilft's nicht.» Ihre ganze Haltung drückt Abwehr aus. In den bisherigen Überlegungen habe ich gesellschaftliche, sozio-kulturelle oder institutionelle Zwänge nicht immer ausdrücklich und ausführlich thematisiert. Mir ist bewußt, daß viele der hier entwickelten pädagogischen Handlungsmöglichkeiten und erzieherischen Techniken zum Grenzensetzen ihre eigenen Grenzen haben, die sich aus einer Vielzahl von Rahmenbedingungen ergeben und die manche Vorschläge zunächst und vordergründig als Theorie erscheinen lassen. Hohe Klassenstärken, unzureichende Versorgung mit Erzieherinnen, Lehrern und Lehrerinnen, mit sozial- und heilpädagogisch ausgebildeten Fachkräften, Mängel in der Ausund Fortbildung, Zeit- und Raumnot erschweren beispielsweise Beziehungsformen in der Schule, die gegenseitigen Respekt und gegenseitige Achtung ausbilden. Für viele Pädagogen ist der Umgang mit Heranwachsenden - Stichwort: Gewalt in der Schule! - Überlebenskampf. Umgekehrt sind viele Kinder und Jugendliche erniedrigenden Zurichtungstechniken, angstmachenden Gewaltformen in der Erziehung ausgeliefert. Für manche erscheinen meine Denkansätze und Lösungsvorschläge zunächst vielleicht unrealistisch, weil zu weit von der erfahrenen Wirklichkeit und den lebbaren Alternativen entfernt. Aber: Erzieherische Wirklichkeit und pädagogisches Handeln entstehen im Kopf -und dies gilt auch für Lösungen. «Das ist Theorie»: Solcher Satz zielt darauf, alles und alles sofort zu verändern. Hilfreicher ist es jedoch ungeachtet aller erschwerenden Rahmenbedingungen -, nach jenen produktiven Ausnahmen zu suchen, die selbst unter -1 7 8 -
erschwerten Rahmenbedingungen funktionieren und die das Gefühl des Könnens bzw. des Noch-nicht-Könnens vermitteln. Ich hatte es betont: Familienerziehung ist anstrengend, voll von Fallen, Problemen, Unzulänglichkeiten. Zeit- und Raumknappheit lassen befriedigende Erziehungsbeziehungen nicht immer zu. Finanzielle und materielle Nöte bedingen, daß Erziehungs- und Beziehungsfragen hintangestellt werden, wenn es denn überhaupt Fragen gibt. Alles hat mehr oder minder zu funktionieren. Dies ist eine Beschreibung - keine Be- und Abwertung. Aus meiner Tätigkeit in sozialen Brennpunkten weiß ich um das Bemühen, es «anders», «besser» oder «richtiger» zu machen, spüre ich den Widerspruch zwischen dem «eigentlich» Möglichen und den ganz real lebbaren bzw. praktizierbaren Erziehungsstilen. Ich bemerke Widersprüche, die Eltern häufig unzufrieden machen, das Gefühl der Minderwertigkeit und der Inkompetenz verstärken. Gerade bei dieser Klientel haben Elternbildung und -beratung die Aufgabe, Selbstwertgefühl und vorhandene Kompetenzen zu fördern, mit jenem Wissen und jenen Fähigkeiten zu arbeiten, die vorhanden sind, nicht jedoch im jammernden «Es funktioniert nichts» oder selbstbemitleidenden «Ich mache immer alles falsch» steckenzubleiben. Es ist vielmehr danach zu suchen, was wann und wie funktioniert. Und dann fallen mir «Zaubertage » - wie ich sie nenne - ein, «Zaubertage», an denen vieles klappt, wie «man» es sich wünscht. Dies ist kein Patentrezept gegen Alltagsfrust, gegen Ärger, gegen materielle und emotionale Unterversorgung, aber es bietet einen Ausweg, besser: einen ersten Schritt an; denn zaubern kann - fast - jeder. Denn schon das Märchen zeigt, Zauber und zaubern setzen ungeahnte Kräfte frei. Frau Albert hatte sich auf einem Elternseminar über ihren Alltag beklagt, über den beruflichen Streß, die gefühlsmäßige Leere, vor allem über materielle Sorgen. Ihr Mann war wie sie ständig von Arbeitslosigkeit bedroht, was zu Reibereien und ständigen lautstarken -1 7 9 -
Auseinandersetzungen führte. Auf die Frage, was wäre, wenn dies alles nicht wäre, meinte sie: «Das wäre zauberhaft.» «Dann zaubern Sie. Machen Sie sich Ihren Zaubertag.» Und einige Zeit später erzählt sie mir: «Ich fand das einen ziemlichen Quatsch, wie Sie das damals auf dem Elternabend gesagt haben. Das mit dem Zaubertag. Ehrlich, ziemlichen Quatsch. Das war schon echt albern. Ich bin dann nach Hause gegangen und hab's meinem Mann erzählt. Der hat nur den Kopf geschüttelt. Tags drauf war wieder fix Stimmung bei uns, der absolute Streß.» Ihre Augen richten sich hilfesuchend nach oben. «Mir sind schon fast wieder die Nerven durch, wie immer. Ich war drauf und dran zu schreien, da sagt mein Mann ganz plötzlich: Jetzt wird das Schreien weggezaubert. Ich war verblüfft, Marion und Barbara waren's auch. Die meinten: ‹Au ja.› Und dann war's still. Wir haben überlegt, wie man das Schreien wegzaubern kann. Die Kinder hatten tolle Ideen. Am Ende haben wir ein Krokodil gebastelt, das die Schreie frißt. Und immer, wenn einer nun laut war und zickig, war einer der Krokodilwärter. Das hieß dann: Nun reicht's. Das ging natürlich nicht jeden Tag. Aber so ein- oder zweimal in der Woche war Zaubertag. Oder wenn die Kinder mal spürten, jetzt ist dicke Luft, dann wollten sie zaubern. Gut, der Streß ist immer noch stark. Aber ich hab gemerkt, ich bin nicht mehr ganz meinen Launen ausgeliefert. Irgendwie kann ich etwas erreichen, wenn ich will. Das tut gut.» Es geht mir nicht darum, die soziale Armut und die gefühlsmäßigen Problemkonstellationen, denen Familien ausgesetzt sind, zu verkennen oder gar zu verharmlosen. Es soll auch nicht der Eindruck erweckt werden, als sei jede krisenhafte Situation schnell und mit wenig Anstrengung zu klären oder genauer: wegzuzaubern. Wichtig ist mir, daß komplexe Problemkonstellationen, die auf grundsätzliche psychosoziale, individuell meist nicht veränderbare Rahmenbedingungen zurückzuführen sind, durch die Konzentration auf ein Problem bzw. eine Zielperspektive viel von ihrer Ausweglosigkeit verlieren. Die Suche nach und das -1 8 0 -
Durchspielen von Lösungen stärkt das Selbstwertgefühl, indem es Verantwortung für Handeln zurückgibt und gleichzeitig das Gefühl von Machtlosigkeit und Minderwertigkeit relativiert. Die Einführung und das Durchleben eines «Zaubertages» bei der Familie Albert macht die Vorteile eines lösungsorientierten Vorgehens, wie es vom amerikanischen Therapeuten Steve de Shazer entwickelt wurde, deutlich: • Der «Zaubertag» stand am Beginn, nicht am Ende des gemeinsamen Weges. Er wurde durch das Tun der Familienmitglieder konstruiert. • Der «Zaubertag» ging nicht an die Ursache des Stresses, er setzte an die Stelle von erlebten und beklagten Unzulänglichkeiten eine veränderte Handlungsperspektive, etwas Neues, nicht Gewohntes. • Der «Zaubertag» erweist sich angesichts der komplexen materiellen Krise der Familie als kleine, wenn auch - und das ist entscheidend - lebbare und praktizierbare Perspektive. • Schließlich: Was für die Familie Albert beim «Zaubertag» gilt, ist für andere Familien möglicherweise nicht praktikabel. Das Finden von Lösungen gelingt nur individuell auf dem Hintergrund der ganz spezifischen und besonderen Perspektive einer Familie.
Vom Umgang mit Ausnahmen Ausnahmen beim Grenzensetzen sind genauso wichtig wie die schon dargestellten natürlichen Folgen und logischen Konsequenzen. Dabei sind zwei Formen der Ausnahmen zu unterscheiden: • Einmal die Suche nach positiven Ausnahmen, um den Blickwinkel der Ausweg- und Perspektivlosigkeit - «Mein Sohn macht immer...» - «Wie oft soll ich dir das noch sagen...» «Kannst du denn niemals...» oder «Ich mach es nie richtig...» zu überwinden. Über die Verstärkung positiver Ausnahmen nach dem Motto: «Mehr vom ‹Guten›» - können nach vorn
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gerichtete Lösungen entwickelt werden, die dem Handelnden das Gefühl der Kompetenz geben. • Ausnahmen bringen Überraschungen in die Erziehung, indem sie das Unerwartete tun, Ausnahmen von der Regel konstruieren. Ausnahmen können so spielerisch und auf eine ganz eigene Weise mit Grenzen spielen. Dies will ich an einigen Situationen konkretisieren. Herr und Frau Sommer beklagen sich über das «fürchterliche Eßverhalten» ihrer beiden Kinder, vier und sechs Jahre alt. «Jeden Tag gibt's abends Streß. Sie spielen mit dem Essen. Absprachen helfen nicht. Nur wenn wir sie lassen, dann ist's o. k. Aber das geht auf unsere Kosten.» Als die Sommers sich darauf einigen, daß die Kinder zweimal pro Woche - «Wir nennen es Schweine-Essen» - so speisen dürfen, wie sie wollen, nehmen die Auseinandersetzungen ziemlich schnell ab. Frau Kaiser hat es, wie sie sagt, «satt». Ihre Tochter zieht sich fürchterlich an: «Meistens läuft sie wie ein Clown herum. Es ist nicht zum Hinsehen.» Beide einigen sich darauf, daß es dreimal in der Woche einen «Clowns-Tag» gibt, an dem sich die Tochter so kleidet, wie sie es möchte. Die Familie Reuter hat drei Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren. «Der Älteste bringt immer so schweinische Wörter aus der Schule mit. Nur Arschloch, blöde Kuh, Pißnelke und so. Und das greifen die Kleinen begierig auf. Man hat den Eindruck, bei uns geht's wie auf der Toilette oder in der Gosse zu.» Herr Reuter ist über die «Fäkalsprache», wie er sie bezeichnet, entrüstet. Drohungen, Verbote helfen nicht, die Absprache, wenigstens beim Essen eine «schweinewortfreie Zeit», so der Ausdruck von Frau Reuter, einzuhalten, werden von «den Kindern mehr oder minder akzeptiert. Aber hinterher geht's um so intensiver weiter.» Herr Reuter: «Die waren so gerissen. Bestimmte Gesichtsausdrücke standen für diese scheußlichen Wörter, Nase zuhalten beispielsweise für Arschloch und so. Die schauten sich nur an und schon lachten sie.»
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Die grenzüberschreitenden Ausdrücke der Kinder wiesen auf einen Machtkampf hin, der bei den Eltern Gefühle der Hilflosigkeit - «Was können wir da nur machen?» - zurückließ, auf Seiten der Kinder weitere Rache- und Vergeltungswünsche hervorrief. Dann machte Frau Reuter eine wichtige Beobachtung. Immer wenn die Kinder «die Sau rausgelassen hatten, war's o. k. Die brauchten das offensichtlich.» Sie machte den Vorschlag einer zeitlich begrenzten «Schweinewort-Zeit». Dann konnten die Kinder mit allen Ausdrücken «um sich schmeißen». Die drei waren über den Vorschlag überrascht, gingen darauf ein, man verabredete eine Zeitgrenze - zuerst zehn, später fünf Minuten - und einen Zeitpunkt. Dieser variierte von Woche zu Woche. Die Absprache funktionierte, «obgleich's uns am Anfang», wie Herr Reuter schwer atmend meinte, «schwerfiel. Aber diese entsetzlichen Auseinandersetzungen hörten auf.» Grenzüberschreitungen sind Versuche der Orientierung, der Reibung an bestehenden Normen und Werten, des Probehandelns. Grenzüberschreitungen sind - aus der Sicht von Kindern - häufig spielerisch-lustvolle Schritte, aus der Perspektive der Erwachsenen bedeuten sie Nerv und Streß. Die Einführung von Ausnahmen verspricht Lösungen: • Sie zeigen Verständnis für grenzüberschreitende Aktionen, signalisieren Kindern Annahme: «Du bist o. k!» • Sie zeigen dem Kind zugleich die Grenzen, die Normen und Werte der Eltern an. Sie verweisen darauf, daß das Verständnis für einen Sachverhalt nicht mit dessen Akzeptanz verwechselt wird. Ein Elternteil kann die Fäkalsprache der Kinder auf dem Hintergrund von deren Entwicklung verstehen, braucht sie aber nicht zu akzeptieren. • Ausnahmen stellen suchende Schritte dar, daß Achtung und Respekt nur auf der Grundlage gegenseitigen Bemühens möglich sind. Ausnahmen nehmen auf die Bedürfnisse und Wünsche aller am erzieherischen Prozeß Beteiligten Rücksicht. • Ausnahmen zuzulassen sind spielerische Umgangsformen mit Grenzüberschreitungen. Sie bauen auf der Überlegung auf, -1 8 3 -
daß man Veränderungen im Handeln als Weg versteht, bei dem jeder Schritt ein Ziel darstellt. In einem Kindergarten ist das Team übereingekommen, Kinder dürfen Cowboy und Verfolgungsjagden spielen, dabei «schießen» - wenn auch nur mit selbstgebastelten Pistolen aus «Lego, Hölzern oder ähnlichem», wie die Erzieherinnen sagen. Gleichwohl gibt es «schießfreie Zonen», Räume, in denen «solche Pistolen» nicht benutzt werden dürfen, in denen entsprechende Spiele untersagt sind. Die Kinder sind von dieser Regel unterrichtet. Zugleich gibt es die Absprache, nur jene Kinder in das «Schießspiel» - so die Meinung der Kinder einzubeziehen, die dies wünschen. Freiwilligkeit ist oberstes Gebot. Die Erzieherinnen waren auf das Nebeneinander von «waffenfreier Zone» - wie es eine nannte - und der Akzeptanz von «Waffen» gekommen, weil sie beobachtet hatten, daß das vorher bestehende Verbot, generell nicht mit Pistolen zu spielen, zu Heimlichkeiten oder zu problematischen Tabuisierungen führte. Wenn eine Erzieherin ein Kind beim Spiel mit Pistolen aus Stöcken und «Lego»-Steinen erwischte, es auf die bestehende Absprache hinwies, erhielt sie nicht selten zur Antwort, das sei keine Pistole, sondern nur ein Sprechfunkgerät. In dieser Grenzüberschreitung - eben des bestehenden Verbots - zeigten sich zwei wichtige Gesichtspunkte: Die Kinder fühlten sich unbewußt - nicht mit allen Persönlichkeitsanteilen z. B. ihren aggressiv-gewaltförmigen - angenommen. Die Mißachtung genereller Regeln war ihr Versuch, auf sich aufmerksam zu machen. Das Verbot, gewaltförmige Spiele zu unterlassen, war - wie sich in der Beratung des Kindergartenteams zeigte - allein an den Wünschen und Bedürfnissen der Erzieherinnen ausgerichtet. Dies spürten die Kinder, wurde die Regel doch sehr allgemein - «Man tut das nicht!» - bzw. unter Hinweis auf die anderen, «ruhig» spielenden Kinder aufgestellt. Die Kinder wußten nicht, woran sie waren, sie fühlten sich nicht ernst genommen.
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Durch die Ausnahmen werden die verschiedenen Grenzen klarer gestaltet: Die Kinder wissen nun, daß die Erzieher ihre ganz eigenen Probleme mit dem Thema «Gewalt im Spiel» haben. Dies wurde den Kindern erklärt. Die Kinder ihrerseits fühlten sich durch die Erzieherinnen nun in ihrer ganzen Persönlichkeit angenommen. Sie hatten das Gefühl, nicht zurückgewiesen zu werden, wenn sie ihre Bedürfnisse nach Wildwest und Verfolgungsjagden intensiv auslebten. Und durch die Einführung von Regeln beim Spiel - «schießfreie Zone», Freiwilligkeit der Teilnahme - wurde das Spiel nicht einem grenzenlosen Selbstlauf überlassen, den die Kinder möglicherweise als Gleichgültigkeit und Laissez-faire gedeutet hätten. So weisen Ausnahmen bei Grenzüberschreitungen und bei Grenzsuchen auf zweierlei hin: Sie stellen den einzelnen mit seinen Möglichkeiten in den Mittelpunkt, sie orientieren sich an den ganz individuellen, ganz spezifischen und ganz situativen Bedingungen eines Erziehungsfeldes, sie zeigen dem einzelnen seine persönlichen Kompetenzen, ohne sich an anderen zu orientieren - «Warum klappt das nur bei anderen! Nie bei uns!» - Und: Ausnahmen sind lösungsorientiert. Sie haben nicht das Verdrängen des Problems - z. B. des Schießens oder der Fäkalsprache - zum Ziel. Ausnahmen stehen für einen Anfang. Schließlich: Ausnahmen arbeiten mit Überraschungen. Sie tun das Unerwartete. Kinder wissen um die Reaktionen von Erwachsenen bei störendem auffälligem Verhalten. Viele Eltern handeln impulsivspontan: Sie schimpfen, schreien, leiden mit, trösten... Meist sind solche - aus der Sicht der pädagogisch Handelnden verständlichen Reaktionen nicht dazu angetan, problematisches in konstruktives Handeln zu verwandeln. Es kommt vielmehr darauf an, das Nicht-Erwartete, das für das Kind Überraschende zu tun. Überraschungen sind wie Dietriche: Entweder sie passen zur Lösung, sie sind die Lösung... oder sie passen nicht. Dann müssen andere Dietriche gefunden und probiert werden. Dietriche sind der Schlüssel zum Problem - mit dem -1 8 5 -
entscheidenden Unterschied allerdings: Dietriche passen auch dann, wenn sie nicht alle Details des Schlüsselbartes aufweisen. Der Schlüssel geht der Sache auf den Grund, der Dietrich will nur eines - das Zauberkästchen öffnen, in dem die Lösung liegt. Zwei Situationen aus der Eltern- und Erwachsenenbildung mögen das konkretisieren. Monika Brahms hatte ständig «Nerv» mit ihrem sechsjährigen Sohn Kai. Dieser «Nerv» spielte sich regelmäßig an der Kasse des Supermarktes ab. «Je näher wir kamen, um so schneller ging es los: ‹Ich will Kaugummi, ich will Bonbons›, dies und das. Dieses ewige Gequengel meines Sohnes in den höchsten Pieptönen! Und je mehr ich ‹nein› sagte, um so heftiger wurde sein Getue. Manchmal war's, als ob er Zuschauer brauchte. Er konnte dann Schreianfälle kriegen, sich auf den Boden schmeißen, sich wälzen. Absprachen, ihm hinterher etwas zu kaufen, funktionierten eigentlich nicht: Mal ging's, mal nicht.» «Wann ging es?» Sie überlegt. «Wenn ich ihn vorher nochmals ganz deutlich an die Absprache erinnert hatte», sie stockt, «oder ihm an der Kasse deutlich sagte: ‹Jetzt hör auf. Brauchst du etwa Zuschauer?› Aber dann guckten die Leute. Irgendwie war mir das peinlich.» Sie sieht mich an: «Aber irgend etwas muß passieren, sonst schreie ich!» «Tun Sie's!» Ich lache. «Wie bitte?» Sie schreckt auf. «Ich soll ihn anschreien?» «Machen Sie, was Ihr Sohn macht. Auf den Boden schmeißen und dann schreien.» «Und die Leute? Die wundern sich. Ich bin bekannt am Ort, ich bin Lehrerin.» Sie schüttelt den Kopf. «Die be-wundern Sie, was für eine tolle Mutter Sie sind.» «Nein, das geht wirklich nicht.»
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Einige Tage später ruft sie mich an. «Ich hab's gemacht. Gestern.» Dann erzählt sie, wie ihr Sohn - je näher die Kasse kam anfing zu klagen, zu jammern, zu quengeln, sich wieder mal auf den Boden zu schmeißen. «Ich hab den Wagen weggeschoben, mich dann hingeschmissen. Hab extra meine alten Jeans angezogen. Alles erstarrte, auch Kai. Der hörte sofort auf, stand auf, gab mir die Hand: ‹Hör auf! Bitte hör auf!› Später haben wir darüber geredet. Er hat dann gemeint: ‹Ich kann fies sein, gell! ›» «Und wie ging's Ihnen?» «Ich war ungeheuer stolz auf mich, fühlte mich stark wie nie zuvor. Eine Frau hat mich vor dem Laden angesprochen: ‹Soviel Mut möchte ich auch mal haben! ›» «Und das Gequengel beim Einkaufen?» «Ist erst mal vorbei, aber ich kann dem Frieden kaum trauen.» Überraschungen sind paradoxe Eingriffe; sie verstärken das auffällige störende Verhalten, bauen auf eine Aktion auf, die das Kind nicht vorhersieht. Monika Brahms hat Kai ihre Grenze gezeigt, ihm deutlich gemacht, wann sie sich in Achtung und Respekt verletzt sieht. Der Dietrich paßt - wie auch in der anderen Situation. Ann-Kathrin, knapp sechs Jahre, kommt jeden Morgen in den Kindergarten, stellt sich vor ihrer Erzieherin, Frau Helmers, auf, holt tief Luft und rotzt in deren Richtung. Sie trifft zwar nicht, aber das Ziel ihrer Begierde ist deutlich. Frau Helmers irgoriert das Verhalten zweimal, artikuliert dann sehr deutlich ihre Grenzen. Ann-Kathrin fährt mit ihrem Verhalten fort. «Ich möchte zurückspucken», entfährt es ihr spontan, als ich sie während einer Beratung frage, was sie tun möchte. «Was hindert Sie?» «Ich kann's nicht!» «Wie ginge es?» «Nur in Gedanken!» -1 8 7 -
«Dann tun Sie so, als ob Sie spucken, und malen Sie sich aus, wie die Rotze bei Ann-Kathrin runterläuft!» Frau Helmers bricht in Lachen aus. Der nächste Morgen: Bevor Ann-Kathrin sich postieren kann, steht Frau Helmers überlebensgroß vor ihr, holt tief durch die Nase Luft, allen Rotz aus Stirn- und Nebenhöhlen im Mund versammelnd - und fängt mit einem Male schallend an zu lachen. «Ein wunderschönes, farbenprächtiges Bild. Rotze...», sie stockt «... Mensch, kann Rotze schön sein.» Ann-Kathrin wirkt konsterniert, überrascht, sagt kurz «Guten Morgen» und geht. Bei den beiden folgenden Begrüßungen ergibt sich ein ähnliches Ritual. Am vierten Morgen, als Frau Helmers mal wieder tief Luft holt, fragt Ann-Kathrin verstört: «Bist du erkältet? Oder warum machst du so komische Geräusche, bevor du lachst?» «Ich hatte einen spontanen Einfall. Ich bin in die Hocke und habe wie eine Hexe aus dem Märchen mit tiefer Stimme gesagt: «Damit ich dich besser anspucken kann.» Ann-Kathrin konnte sich vor Lachen kaum beruhigen, prustete, hüpfte umher, verschwand, kam nach einiger Zeit mit einer Zeichnung wieder. Darauf waren zwei Hexen, eine kleine, die aussah wie Ann-Kathrin, und eine große, die Ähnlichkeit mit der Erzieherin hatte. Beide spuckten. «Schenk ich dir. Aber zeig mir noch, wie weit du spucken kannst.» Frau Helmers ist mit Ann-Kathrin hinausgegangen, und beide haben ein Wettspucken veranstaltet. Der Dietrich paßte in diesem Fall. Frau Helmers hatte durch eine unerwartete Aktion ihre Grenze mit jenen Mitteln aufgezeigt, mit denen Ann-Kathrin die Grenze der Erzieherin austesten wollte. Als die verbale Absprache nicht das gewünschte Ergebnis zeigte, hat die Erzieherin ihre Grenzen vorgeführt, hat dem Kind ein magisches Bild - das der Hexe als Verkörperung der «bösen» Mutter bzw. der «bösen» Anteile angeboten, das Ann-Kathrin verstand und das ihre Situation spiegelte. Ann-Kathrin wußte, daß «man» nicht spucken durfte. Sie wollte überprüfen, wie weit sie gehen konnte bzw. durfte, ob -1 8 8 -
sie dann noch angenommen war und Verständnis finden würde, wenn sie störend-auffällig Grenzen überschritt.
Schläge setzen keine Grenzen «Ich will ja nicht schlagen », erzählt mir eine Mutter auf einem Elternabend, «aber manchmal rutscht mir die Hand doch auch aus. Tut mir zwar leid, aber das passiert. Wenn die nicht hören, dann setzt es was... tja, anders krieg ich die nicht zur Ruhe... Ehrlich.» «Wie soll ich mich da sonst durchsetzen», fällt eine andere Mutter ins Wort, «die hören ja nicht. Ich denke, mal ein bißchen hart anpacken... das schadet nicht. Nicht an den Kopf, aber zwei-, dreimal was auf den Hintern, das hilft.» Und ein Vater meint: «Ist ja alles schön und gut mit dem Reden und so, was man so liest und hört. Aber es geht eben nicht. Die holen sich ihre Tracht Prügel ab. War bei uns früher auch so. Alle Vierteljahr gab's was. Die Zeit war wieder reif, meinte mein Vater. Geschadet hat's, denke ich, nicht.» Ein anderer Vater wiegt nachdenklich den Kopf: «Ich weiß nicht. Wenn ich mal 'nen Klaps gebe, ich bin total fertig...» «Genauso geht's mir auch », hakt eine Mutter ein. «Genauso. Aber... Manchmal geht's nicht anders. Ich bin überfordert... fertig. Ich möchte es... anders machen, aber...» Sie zuckt die Schultern: «Es geht nicht. Wirklich nicht. Da gucken zu viele zu. Tja... und irgendwann stehst du so unter Druck, dann knallt es.» Dies sind einige kurze Gesprächsausschnitte, die ich mit Eltern über den Zusammenhang von Grenzensetzen, Bestrafen und körperlicher Züchtigung geführt habe. Wie Kinder darüber denken, fühlen und leiden, habe ich am Anfang beschrieben. Grenzensetzen hat nichts mit Bestrafung oder Drohung zu tun, schon gar nicht mit körperlicher Züchtigung, mit Schlägen oder dem berühmt-berüchtigten «Klaps» oder der «Ohrfeige», die «noch nie geschadet», vielmehr «das Denkvermögen erhöht» habe. Züchtigungen sind keine pädagogische Maßnahme, mögen sich auch kurzzeitige «Erfolge» einstellen. Schläge -1 8 9 -
demütigen, sie beschädigen die Würde des Erziehers und des Kindes. Schläge als Mittel des Grenzensetzens sind Eingeständnisse von Niederlagen. Schläge kennzeichnen und produzieren «verwundete Menschen» (Dreikurs). In den Begründungen für den Einsatz körperlicher Strafen finden sich einige immer wiederkehrende Argumentationsmuster: • Da sind zunächst einmal Lebensumstände, die überfordern, die den Widerspruch zwischen ungeahnten Möglichkeiten und wirklich lebbaren Alternativen offenkundig werden lassen. Kinder werden zu Projektionsflächen für eigenes Versagen, man treibt an ihnen den eigenen Beelzebub aus. • Kinder erfüllen nicht die in sie gesetzten Erwartungen. Dies führt nicht selten zu Bestrafungsaktionen, die das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl von Kindern weiter schmälern. Soziale Ängste, Versagensängste, Angst vor Liebesentzug und körperlicher Bestrafung sind die Folge. • Schlagen als Mittel und Möglichkeit der Bestrafung und des Grenzensetzens wird - «in Maßen eingesetzt» - als Erziehungsmittel legitimiert. So kann sich das Schlagen schnell zur Gewohnheit entwickeln, dies besonders dann, wenn sich dadurch kurzzeitige Erfolge zeigen, • Für viele Eltern sind die Zuneigung zu Kindern und deren körperliche Züchtigung kein Gegensatz. Dies dann nicht, wenn Eltern das subjektive Gefühl entwickeln, Kinder «holten sich Schläge geradezu ab» bzw. «zielten darauf ab, eine Ohrfeige zu bekommen». Die Folgen «schlagender Argumente» beim Grenzensetzen sind vielfältig: Zweifelsohne produziert nicht jede Ohrfeige seelische Krüppel, nicht jede Ohrfeige hat lebenslange irreparable Konsequenzen. Selbst wenn Ohrfeigen oder «hartes Anfassen» auch keine langfristigen Auswirkungen haben müssen oder körperliche bzw. seelische Schäden anrichten, sind sie als pädagogische Maßnahmen keinesfalls zu rechtfertigen. Mögen viele Erziehende auch meinen, Schläge und Züchtigungen stärkten ihre Autorität, weil sie nur so der -1 9 0 -
Gefahr entgingen, sich zur Marionette kindlicher Launen machen zu lassen. Letztlich dokumentieren Eltern nur Hilflosigkeit, Ohnmacht. Sie verringern Ansehen und Autorität. Schläge und Züchtigungen fördern allenfalls die Angst vor leerer und schwacher Autorität. Das Kind wehrt sich - unbewußt - gegen die erlittenen Demütigungen. Das Kind tritt mit dem Erziehenden in einen Machtkampf. Es rächt sich, übt Vergeltung, macht den Erziehenden hilflos, indem es durch sein Verhalten körperliche Züchtigung geradezu provoziert. Der Erziehende hat den Eindruck, als «wolle» das Kind Schläge. Dahinter steckt Rache des Kindes. Es führt dem Erziehenden erzieherische Hilflosigkeit und Ohnmacht ständig und immer aufs neue vor Augen. Und das Kind lernt: Wenn ich einmal Macht habe, dann habe ich das Recht, Gewalt auszuüben, zu züchtigen. Für viele Kinder stellt sich die körperliche Züchtigung als das Erleben von Angst und Ohnmacht dar. Der physische Schmerz vergeht manchmal schnell, was bleibt, sind die psychischen Wunden und Narben: Gefühle der Scham, der Bloßstellung und des Ausgeliefertseins. An die Stelle körperlicher Züchtigung tritt in der letzten Zeit in manchen familiären Erziehungsstilen - der Liebesentzug oder die verbale Züchtigung. Kinder werden durch den Entzug von gefühlsmäßiger Zuwendung, die Vermittlung von Schuldgefühlen, durch Anschreien oder durch ständige Nörgelei bestraft. Die Konsequenzen solcher Strafaktionen sind weniger offenkundig: Der seelische Schmerz geht nach innen. Trauer und Unsicherheit sind jedoch sichtbare Folgen. Das Gefühl des Ausgeliefertseins trifft das Kind besonders hart, läßt es allein, verlassen, macht es unsicher, untergräbt das Vertrauen. Wie auch immer: Die Anwendung von Strafen als Mittel des Grenzensetzens hilft dem Kind nicht, sich in seinem auffälligen Verhalten zu verändern. Überspitzt formuliert: Ohrfeigen und Liebesentzug zeigen keine Handlungsalternativen auf, garantieren keine Besserung, verstärken vielmehr Feindseligkeit und gegenseitige Mißachtung. Körperliche oder
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seelische Züchtigung stehen für mißglückte Konfliktlösungen, sie sind Rache und fördern Rachefeldzüge. «Aber was soll ich denn machen », klagt eine Mutter, «wenn mir die Hand ausgerutscht ist. Soll ich denn im Erdbeben versinken oder mir alles gefallen lassen?» Ich hatte es schon betont: Gefühle der Nutz- und Wertlosigkeit sind genausowenig ein Ausweg wie Rationalisierung oder Legitimierung der Schläge. Zwischen dem Zeigen menschlicher Regungen und Gefühle, die die eigenen Grenzen anzeigen, und dem verbalen und körperlichen Ausflippen, das Kinder verletzt, liegt eine Vielzahl von Handlungsalternativen. Und wenn man seine Grenzen überschritten, die Achtung des Kindes und die eigene Würde verletzt hat, dann ist dies als Eingeständnis einer Niederlage zu werten, ganz im Sinne des «Mutes zur Unvollkommenheit» ohne Wenn und Aber. Sich beim Kind zu entschuldigen, seine Mitarbeit einzufordern, damit aus der Erniedrigung und dem Verlust der Selbstachtung gegenseitige Anerkennung und konstruktive Zusammenarbeit wird, wäre dann der nächste Schritt.
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8 «Es ist anstrengend, konsequent zu sein...» Der Mut zu eigenen Grenzen
Die Grenzen erkennen Eltern, Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen opfern sich auf: «Man will nur das Beste für das Kind...», «Man will alles -1 9 3 -
anders machen...», «Man will es richtig machen...», «Man will das Kind verstehen...», «Man will das Kind annehmen...». Ich beobachte: Eltern, Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen ordnen sich unter. Für viele stehen das Kind, das Kindeswohl und die allumfassende Fürsorge an allererster Stelle. Die eigenen Bedürfnisse und Wünsche, das eigene Wohl, das eigene Sich-angenommen-Fühlen werden hintangestellt, eigene Grenzen nicht gespürt, gefühlt und gezogen. Der eigene Körper, die eigenen Gefühle scheinen stillgelegt. Grenzenlose Liebe, grenzenlose Zuneigung, grenzenloses Aufgehen im pädagogischen Beruf oder in der familialen Erziehung haben zu tun mit einer Aufgabe der eigenen Person, des eigenen Selbst. Konturen des Körpers und des eigenen Ichs verschwimmen. Man mutet sich viel und zu viel zu, man ist ständig für andere, kaum für sich selbst da, stellt sich als jemand dar, mit dem man alles machen kann. Dahinter steckt das Gefühl, immer und ständig gebraucht zu werden, unentbehrlich zu sein; dahinter steckt manchmal Gefall- und Selbstsucht. Man gibt sich auf, vernachlässigt sich, man nimmt sich selbst nicht mehr wahr. Wer in der Kindererziehung aufgeht, wird - im wahrsten Sinne des Wortes - unscheinbar, unsichtbar - gleichwohl zum Spielball anderer Interessen. Man wird, macht sich zum Opfer und Sklaven, dem nicht Respekt und Achtung, allenfalls Mitleid entgegengebracht wird, dem man freilich, immer wieder und aufs neue, Verletzungen und Niederlagen zumutet. Wer Kinder achten und respektieren, sie für Achtung und Respekt sensibilisieren will, muß lernen, sich selber ernst zu nehmen, sich zu achten, sich zu respektieren. Nur wer sich selber liebt, zu sich selber steht, sich in seiner ganzen Person akzeptieren kann, nimmt andere an, steht zu anderen, vermag sie zu lieben. Nur wer sich selber Grenzen setzt, sie vorlebt, vermag anderen Grenzen zu setzen, der kann ihnen die Möglichkeiten und Risiken des Grenzensetzens anschaulich und überzeugend vermitteln. Selbstaufgabe und Selbstverlust machen eine Situation und ein Traum deutlich, den mir eine Erzieherin, Angelika Reuter, -1 9 4 -
mitgeteilt hat: «Ich hatte einmal ein Kind, ein ganz schwieriges Kind in der Gruppe. Die Mutter war drogenabhängig. Jetzt ist sie ein Sozialfall, würd ich sagen. Der Junge hatte schwer zu leiden, bekam sehr viel zu Hause mit. Ich denke, er bekam die Schläge mit, die der Mutter vom Vater zugefügt wurden. Die Mutter war mit der Situation völlig überfordert. Ich hab sie auf Beratungsstellen hingewiesen, nichts ist geschehen. Und irgendwann ist mir alles über den Kopf gewachsen, diese Gespräche mit ihr. Und ich hab gemerkt, das bringt alles nichts.» Frau Reuter überlegt, schluckt: «Tja, dann hab ich Grenzen gesetzt, weil ich spürte, dieser Situation bist du nicht gewachsen. Aber gleichzeitig...», sie stockt, «ja, gleichzeitig sah ich eben das Kind, dessen Elend. Es war, als ob mir das Problem auf einem silbernen Tablett gereicht wurde. Und eigentlich müßte ich ja zugreifen, hab ich mir gesagt. Schließlich bin ich Erzieherin, ausgebildet, ich hab gelernt, mich auf so etwas einzulassen.» Sie faltet die Hände, blickt hinunter: «Also, die Mutter konnte ich loslassen. Das war mir schon klar. Aber ich hab mich, je mehr ich die Mutter losgelassen hab, viel intensiver um das Kind gekümmert, ganz intensiv sogar. Einfach aus dem Gefühl heraus.» Frau Reuter stockt, unterbricht kurz, fügt ganz langsam, ganz bedächtig hinzu: «Ich wollte ihm das geben, was er zu Hause nicht bekommt. Ich glaub, da war auch das schlechte Gewissen gegenüber der Mutter.» Sie schüttelt ihren Kopf: «Aber insgesamt war ich eben völlig hilflos. Und irgendwie ließ mich das Gefühl nicht los, ich müßte doch insgesamt noch mehr tun... Das hat mich beschäftigt, ließ mich nicht los, bis in den Traum hinein: ein ganz intensiver Traum.» Sie setzt sich aufrecht hin: «Ich beschäftige mich mit Torsten im Gruppenraum. Es kommen schwarz gekleidete Männer mit Maschinenpistolen herein und reißen den Bub an sich. Sie wollen ihn entführen. Ich verhandle mit diesen Männern. Sie sollen ihn zufrieden fassen, sage ich, er habe eine schwierige Lebenssituation. Doch diese Männer reagieren nicht. Da stelle ich mich ihnen zur Verfügung, sage ihnen also, sie können alles mit mir machen. Nur sie sollten um Himmels willen diesen -1 9 5 -
Jungen zufrieden lassen. Das tun sie dann auch. Dieses Angebot nehmen sie in Anspruch und versuchen, mich vor allen Mitarbeitern und den Kindern bloßzustellen. Ich soll mich nackt ausziehen, was ich auch tue. Sie schmeißen mich dann auf den Fußboden, und ich werde vergewaltigt. Bei der Vergewaltigung sehe ich immer den Torsten vor mir, wie er mich anschaut. Ich bin sehr hart. Ich zeige keine Regung. Ich habe geballte Fäuste, meine Fingernägel schneiden teilweise dabei meine Hand auf. Und dieser Junge sieht das. Ich werde ein paarmal vergewaltigt. Der Traum wechselt. Man ruft die Polizei. Wir hören draußen eine Menschenmenge. Der Junge soll ja entführt werden und wird rausgezerrt. Wir alle hinterher, sämtliche Kolleginnen und Kinder sind in der Gewalt von diesen Entführern, werden mit Pistolen bedroht. Wir kommen heraus, draußen steht eine Menschenmenge, sämtliche Eltern sind da, Polizisten sind aufgebaut. Über mir kreisen Hubschrauber. Die Mutter schreit: ‹Um Gottes willen, mein Sohn. Torsten, komm her!› Ich werde festgehalten. Torsten auch. Ich schreie: ‹Mein Gott, helft doch, helft doch.› Und zu den Polizisten: ‹Warum macht ihr denn nichts?› Aus dieser Hilflosigkeit heraus entwickle ich eine Wut und eine Kraft, daß ich mich aus der Gewalt der Täter lösen kann, mir eine Maschinenpistole greife und diese Entführer erschieße. So!» Sie atmet tief aus: «Und dann kommt ein Weiteres: Dieses ganze Erlebnis hat mich selbstverständlich krank gemacht. Ich konnte es nicht verarbeiten, war sehr lange im Krankenhaus und mußte mich in eine Therapie begeben. Dann, nach einem Jahr, wurde ich ins Fernsehstudio eingeladen und wurde gefragt, wie ich das Ganze verarbeitet habe, die Entführung, die Vergewaltigung. Ich habe gesagt: ‹Aufgrund dessen, daß ich mich in die Therapie begeben habe, habe ich es ganz gut verarbeitet.› Ja, und wie es denn dem Jungen gehen würde. Da habe ich gesagt: ‹Das müssen Sie mich nicht fragen, er ist mit dabei. Sie können ihn gern mal hereinrufen.› Und dann rufen sie den Jungen. Er setzt sich auf meinen Schoß, wird gefragt: ‹Na, Torsten, wie ist es dir ergangen, als du Frau Reuter gesehen hast. Hast du Angst gehabt, daß du stirbst? Hast du -1 9 6 -
überhaupt vor diesen Männern Angst gehabt, die dich bedroht haben?› - ‹Nein›, sagt Torsten, er habe keine Angst gehabt, denn als er gesehen habe, wie Frau Reuter nackt am Boden lag, ihre Fäuste geballt hatte, so daß die Fingernägel ins Fleisch gegriffen haben, da habe er ganz genau gewußt, mir passiert nichts. Sie hat die Kraft, mich hier heil herauszuholen, uns allen passiert nichts. Na ja, das Ganze wurde dann im Traum sehr theatralisch, und der Reporter fing an zu weinen, ich dann auch. Ich bin dann sehr aufgelöst aufgewacht.» Gemeinsam habe ich mit Angelika Reuter versucht, den Traum, der auf eine sehr dramatische Weise Selbstaufgabe, Opferhaltung und Unterordnung konkretisiert, zu deuten. Sie war langjährige Erzieherin, die anfangs ganz in ihrem Beruf aufging, die sich und ihre Bedürfnisse hintanstellte - bis ihre Energie, ihre Kräfte buchstäblich am Ende waren. Sie fing dann an, sich abzugrenzen, sich ernst zu nehmen. Sie lernte, ihren Körper und die Anstrengungen zu spüren. Diese Veränderungen begannen zunächst im Kopf. Sie setzte sich auf eine rationale Weise mit ihrem Selbstbild auseinander. Emotional waren die Beziehungen zu früheren Selbstbildern eben stark zu sein und leiden zu können - noch da. Körperlich und gefühlsmäßig machten sich die «alten» Anteile bemerkbar. Sie erzählt: «Wenn ich Torsten sehe oder auch die Mutter, dann bin ich immer bewegt, obgleich ich das nicht will. Irgend etwas in mir akzeptiert das noch nicht. Als ich im Traum vergewaltigt wurde, habe ich mir gesagt, da mußt du eben durch, das schaffst du, beiß die Zähne zusammen, das ist deine Bestimmung, deine Aufgabe...» «Sie geben nie auf...» «... ja, das war meine Aufgabe.» «Um eine Aufgabe zu erfüllen, mußten Sie sich aufgeben, sich opfern...» Sie nickt. Selbstlose Aufopferung im pädagogischen Handeln - gleich ob im Kindergarten, in der Schule oder im Elternhaus - ist keine Seltenheit. Körperliche und seelische Belastungen werden hingenommen. Man schluckt hinunter, halst sich weiter -1 9 7 -
Probleme auf, erträgt vieles. Erziehung wird zum psychischen Streß, zur körperlichen Belastung. Psychosomatische Symptome sind aber nicht der Ausdruck falschen Denkens oder falschen Handelns; in ihnen spiegeln sich Erfahrungen. Solche Symptome geben Hinweise darauf, wie Wirklichkeit wahrgenommen wird. Wer an diesen Symptomen ansetzt, erfährt manches über die Befindlichkeiten anderer Menschen. Ein Beispiel mag das zeigen: «Ich lasse mich immer einwickeln von den Kindern», klagt eine Mutter, die unter Atembeschwerden leidet. Dabei drückt sie sich mit beiden Händen auf die Brust, so daß ihr die Luft fast wegbleibt. Nun kommt es nicht so sehr darauf an, den Ursachen für das körperlich empfundene «Einwickeln» auf den Grund zu gehen. Wichtiger ist, gemeinsam nach Wegen zu suchen, wie sie freier atmen kann, um damit dem Ein-Wickeln durch andere zu entgehen. Liebe zu sich selber und Sich-annehmen-Können mit allen Stärken und Schwächen sind Voraussetzung dafür, die eigenen Grenzen zu erkennen, eigene Grenzen zu ziehen. Die Erkenntnis «Ich bin wichtig» bedeutet, das Handeln an den eigenen Möglichkeiten, den eigenen Wahrheiten und Überzeugungen auszurichten, bedeutet «Mut zur Unvollkommenheit» und andere nicht zu Sündenböcken bei Niederlagen und Schwächen zu machen. Je mehr man zu eigenen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten steht, um so mehr entwickelt man Mut und Spontaneität, um so mehr stellt man sich auf neue Herausforderungen und Wagnisse ein. Selbstliebe hat nichts mit überzogenen Allmachtsphantasien, mit Egozentrismus oder Selbstsucht zu tun. Selbstliebe ist die Grundlage für eine gefühlsmäßig volle Erziehungsbeziehung. Erziehungsschwierigkeiten im Elternhaus, im Kindergarten und in der Schule, Frustrationen bei Eltern und pädagogischem Fachpersonal haben zu tun damit, daß diese sich allzu schnell und bereitwillig den Ansprüchen der Kinder unterordnen. Sie haben zu tun mit pädagogischen und psychologischen Rat-1 9 8 -
Schlägen, die die Bedürfnisse von Eltern mißachten. Solch RatSchläge sind Schläge, weil sie aus einem Miteinander in der Erziehung Abhängigkeit und Sklaverei werden lassen. Wer Kindern immer und ständig gefällig sein will, der fällt, fällt auf, stellt sich als Untertan dar, der zieht sich kleine oder größere Herrscher heran, die nur schwer die Fähigkeiten zur Kooperation erlernen, die nur lernen, wie man den eigenen Willen durchsetzt. Ja zu sich zu sagen schließt allerdings ein, das Ja des Kindes zu sich anzunehmen. Nicht immer und ständig gefällig zu sein, zieht nach sich, daß Kinder ähnliches vorleben. Auch Kinder haben ein Anrecht darauf, nicht immer und ständig zu gefallen. Wer für sich Grenzen setzt, der muß bereit sein, die Grenzen, die die Kinder setzen, anzunehmen.
«Es ist anstrengend, konsequent zu sein!» «Erziehung ist», so erzählt ein Hauptschullehrer, «immer schwieriger. Nicht nur wegen der aggressiveren Schüler. Ich meine, insgesamt. Und zugleich fühl ich mich allein gelassen. Deshalb bin ich unsicher, suche nach Auswegen. Ich weiß natürlich, es gibt keine Rettungsringe. Und trotzdem suche ich.» Eine Grundschullehrerin berichtet in einer Fortbildungsveranstaltung: «Ich weiß nicht mehr, woran ich bin. Das betrifft nicht nur die Gewalt unter Schülern. Und dieses Gefühl, denke ich, überträgt sich auf Kinder. Woher sollen die denn eigentlich wissen, was richtig und was falsch ist, wenn ich das nicht mal weiß.» Und eine Kollegin ergänzt: «Diese Unsicherheit führt auch dazu, daß man komplizierte Überlegungen, wie jetzt über die Entstehung von Gewalt beispielsweise, so wie Sie das machen... gar nicht mehr aushält. Man sucht gierig, ich schließe mich da gar nicht aus, nach so richtig schön einfachen Erklärungen. Daß man erleichtert sagen kann, so ist es. Genau so.» Und während einer Diskussionsveranstaltung über das Thema «Gesellschaft und Gewalt» kommentiert eine -1 9 9 -
Sozialpädagogin meinen Redebeitrag: «Ich gebe Ihnen hundertprozentig recht mit dem, was Sie sagen. Nur sagen Sie mir, was ich machen soll?» «Was wollen Sie denn hören?» «Ein Patentrezept, ein wirkliches Patentrezept, das immer funktioniert.» «Meinen Sie, daß es so etwas gibt?» Sie zuckt mit den Schultern: «Wohl nicht.» Ein Lehrer sagte kurz danach in einem anderen Zusammenhang: «Manchmal frage ich mich, was erzählen die Schüler von mir in zwanzig Jahren. Was wohl?... Von mir?... Von meinem Stoff? Vielleicht, daß man mit mir reden konnte, ich nachgiebig war.» Er überlegt einen Augenblick: «Von meinem Geographielehrer weiß ich nicht mehr, wie er mir das Gangesdelta näher brachte, aber daß er fürchterlich altmodische Klamotten anhatte, aus dem Mund roch und afrikanische Märchen erzählte, wenn er nicht vorbereitet war.» In den vielen Bildungsveranstaltungen und Beratungen gleich, ob mit Familien, Erziehern und Erzieherinnen, Lehrern und Lehrerinnen -, die ich in der letzten Zeit durchgeführt habe, wiederholen sich bestimmte Erfahrungsund Argumentationsmuster: • Da spüre ich eine gravierende Verunsicherung über den Anstieg aggressiver Verhaltensweisen von Heranwachsenden. Je mehr sich solche Handlungen plausiblen Erklärungen versperren, um so nachdrücklicher werden Sündenböcke gesucht, die man direkt für Fehlentwicklungen verantwortlich macht. • Die zunehmende Desorientierung über die Verbindlichkeit von Normen und Werten in einer pluralistischen Gesellschaft egal, ob nun in der Erziehung oder der Auseinandersetzung mit aggressiven Handlungen - erschwert Lernprozesse. Je größer die Orientierungslosigkeit wird, um so stärker kommen verständliche Wünsche nach allgemeingültigen pädagogischen Handlungsanleitungen, nach einfachen, klaren Rezepten. -2 0 0 -
• In den letzten zwanzig Jahren ist der Begriff der Erzieherpersönlichkeit nicht mehr oder nur unzureichend thematisiert worden. Der Erzieher «verkümmerte» zum Wissensvermittler, hatte vom Kind bzw. vom Jugendlichen auszugehen, die eigenen Bedürfnisse, Wünsche, Gefühle, aber auch Probleme hintanzustellen. Der Umgang mit eigenen Emotionen wurde ausgeklammert, geradezu wegtrainiert. • Zugleich wächst der Trend, es Kindern unbedingt recht zu machen. Damit verstärkt sich die Angst, von Kindern abgelehnt zu werden. Der Mut, sich unbeliebt zu machen, indem man Grenzen setzt, eigene Belastungsgrenzen artikuliert, wird damit nicht gefördert. • Eltern, Erzieherinnen und Lehrer gleichen sich in erzieherischen Handlungen und ihren pädagogischen Haltungen sehr an. Wirkliches Verständnis für das Kind leitet sich aber weniger aus abstrakten Konzepten, sondern vielmehr aus der vorgelebten Ehrlichkeit und Offenheit des Pädagogen ab. Mangelnde Grenzziehung und Abgrenzung bedingen - die vielen Beispiele des Buches belegen das - Schwierigkeiten und Probleme in der Erziehungsbeziehung. Erziehung zu Selbständigkeit und Autonomie, freiheitlich-partnerschaftliche Erziehung schließt Ordnung und Regeln ein, die kindliche Bedürfnisse nach Verläßlichkeit, Vertrauen und Sicherheit einlösen.
Erziehungsgewalt und Erzieherpersönlichkeit Ich hospitierte einige Zeit in einer dritten Schulklasse, weil mich die Lehrerin darum gebeten hatte: «Ich habe da ein paar nervöse, richtig aggressive Kinder. Ich weiß nicht, was ich machen soll.» Während meiner Besuche bemerkte ich eine durchaus angenehme Unterrichtsatmosphäre, die Lehrerin war sichtlich bemüht, ihre Schüler und Schülerinnen auch dann noch anzunehmen, wenn diese störten. Dabei fielen mir im Laufe der Besuche einige immer wiederkehrende Abläufe auf:
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• Die Klassenlehrerin wies erst spät und dann mit Formulierungen wie: «Ihr stört die anderen. Seid bitte ruhiger!» auf Störungen hin. Zuvor versuchte sie, diese durch Nichtbeachtung in den Griff zu bekommen. • Bei ermahnenden Hinweisen versteckte sie ihre persönliche Meinung, indem sie sich zum Sprecher der anderen, vor allem der Schülerinnen machte. Ein Satz wie: «Ich fühle mich gestört» fiel nicht. • Bei Fortdauer der Störung blieben Stimme und Ton moderat. Ärger und Ungeduld waren ihnen nicht zu entnehmen, allenfalls in Mimik und Gestik drückte sich Anspannung und Säuernis aus. • Je moderater der Stimmklang, je häufiger die stereotypen, aber folgenlosen Ermahnungen, um so penetranter entwickelten sich die Störungen seitens der Schülerinnen und Schüler. Es war ganz offensichtlich ein von den Kindern inszenierter Machtkampf im Gange, aus dem sich die Lehrerin nicht klar und offen zurückzog. Durch ihre ständigen, letztlich inkonsequenten Hinweise - «Nun hab ich es euch schon ein paarmal gesagt, könnt ihr denn nicht mal ruhig sein!» -, ermutigte sie ihre Schülerinnen und Schüler, in der Auseinandersetzung, besser: im Machtkampf, fortzufahren. Als ich die Lehrerin auf meine Beobachtungen ansprach, entgegnete sie sofort: «Ich will nicht schreien, ich kann nicht laut werden. So waren meine Lehrer früher, und heute muß es eben anders sein.» Und: «Ich will so korrekt wie möglich sein. Wenn's geht, eben ohne Fehler. Ein Vorbild, an dem sich Kinder orientieren können.» Ein Gespräch mit den Schülern über deren Störungen ergab: «Die ist richtig in Ordnung, immer nett. Aber die kann doch nicht allein nett sein. Das kann kein Mensch.» - «Die ist dann noch so ruhig, wenn meine Mutter schon tausendmal ausgeflippt ist.» - «Ich weiß nicht, wann die sauer ist. Weiß ich wirklich nicht.» Und auf meine Frage: «Ihr wollt, daß sie mal so richtig platzt, so richtig wütend ist», entfuhr es einem «Störer»: «Ich will, daß sie mal so ein richtiges Ungeheuer ist, das wäre total geil!»
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An dieser Situation sind zwei Gesichtspunkte erwähnenswert: Wer Kindern ein vollkommenes, perfektes Bild des Erwachsenen vorführt, der erschwert ihnen nicht nur die allmähliche Ausbildung von Selbstwert, der verwandelt den Erziehungsprozeß in einen Hochleistungssport - «Ich will doch nur dein Bestes!» -, an dessen Ende Ungeduld, Streß, gegenseitige Überforderungen stehen. Kinder brauchen nicht allein den grandios-omnipotenten, allseits souveränen Erwachsenen. Kinder brauchen auch eine Erziehungsperson, die Fehler macht und eingesteht. Denn Fehler ermutigen dem Gegenüber, es anders, vielleicht richtiger zu machen. Die Angst davor, Fehler zu begehen oder zu vermeiden, läßt Erziehung häufig steril, korrekt und gefühllos werden. Sie erschwert Kindern die Ablösung, ermuntert Kinder geradewegs dazu, an der Fassade zu kratzen, um die omnipotente Erzieherpersönlichkeit schmerzhaft auf den Boden der Realität zurückzuholen. Kinder bringen Erwachsene in Konflikte, sie provozieren, wenn diese keine Gefühle zeigen, nur beherrschend sind. Dies gilt insbesondere für den Umgang mit Aggressionen oder Gefühlen wie Wut, Zorn und Haß. Auch diese müssen Kinder erst allmählich erlernen. Wie an einigen Situationen in vorausgegangenen Kapiteln aufgezeigt, erleben die Heranwachsenden an ihren Eltern häufig einen wenig gekonnten Umgang mit Aggressionen: Eltern verdrängen bzw. rationalisieren ihre Aggressionen oder leben diese offen als Erniedrigung, Destruktion und Mißhandlung aus. Wichtiger denn je sind für Kinder und Jugendliche jedoch erwachsene Bezugspersonen, die die eigenen aggressiven Persönlichkeitsanteile akzeptieren können, ohne daß diese in eine verbale und physische Schädigung anderer umschlagen. Nur so kann Kindern und Jugendlichen ein Modell vorgelebt werden, an dem sie sich orientieren und abarbeiten können. Denn die Faszination überlebensgroßer Medienhelden liegt darin begründet, daß
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Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten im realen Leben der Heranwachsenden immer weniger vorkommen. Um nochmals auf die angerissene Situation der Grundschullehrerin zurückzukommen: Als ich ihr - wie die Schülerinnen und Schüler auch - Mut machte, ihre verschiedenen Gefühle zu zeigen, sich über Sprache, Mimik und Gestik klar, unmißverständlich und situationsspezifisch auszudrücken, entfuhr ihr spontan die Frage: «Darf ich denn das? Darf ich denn auch mal böse sein?» Meine Antwort: «Sie dürfen und können, wenn ihre Schüler das Gefühl haben, daß Ihr Zorn, Ihre Wut sich an der Sache entzündet und keine Ablehnung der Schülerpersönlichkeit darstellt!» Sie war verblüfft: «Aber das ist so schwer und verdammt anstrengend.» Gemeinsam wurde eine Perspektive entworfen, wie sie offener mit ihren Gefühlen im Unterricht umgehen könnte. Das Resultat nach einigen Wochen: Die Atmosphäre in der Klasse war klarer, offener, lebendiger, nicht mehr von einem Gefühlskleister durchsetzt, die Störungen und Provokationen ließen erheblich nach. Ein Schüler drückte das so aus: «Ich weiß jetzt genau, woran ich bei ihr bin.» Um hier nicht mißverstanden zu werden: Dies ist kein unreflektiertes Plädoyer für den gezielten Einsatz von erzieherischen Aggressionen - vielmehr ein notwendiger Beitrag, den Begriff «Erziehungsgewalt» differenzierter zu betrachten und neu zu überdenken. Anders ausgedrückt: Schulische Erziehung als Teil des Sozialisations- und Kultivierungsprozesses von Heranwachsenden hat mit Aggressionen im weitesten Sinne zu tun - eben mit Aggression im ursprünglichen Sinn des Wortes: sich fortbewegen, weg vom Erreichten und hin zu neuen Möglichkeiten und Fertigkeiten. Die Entfaltung von Persönlichkeit ist ohne Aggression nicht denkbar. Aber genauso gilt: Selbständigkeit und Kreativität von Schülerinnen und Schülern kann durch erzieherische Aggression gehemmt und behindert werden. Deshalb ist es wichtig - wie es der Erziehungswissenschaftler Hartwig Rohm -2 0 4 -
einmal getan hat -, zwischen einer gekonnten und einer ungekonnten erzieherischen Aggression zu unterscheiden. «Dich mach ich fertig!» In der ungekonnten erzieherischen Aggression wird das Kind zum Objekt von Macht- und Beherrschungsimpulsen des Pädagogen. Da solche Impulse aber gesellschaftlich und sozial sanktioniert sind, wendet man sie auf zwei Weisen an: • Durch Verdrängung und Verleugnung der eigenen aggressiven Impulse und ihre Abspaltung und Projektion auf Sündenböcke - «Die unruhigen Kinder zwingen mich ja dazu!» «Die aggressiven Schüler machen mich wütend!» - «Die Medien/die Linken sind an allem schuld!» Andere werden verantwortlich gemacht, schuldig gesprochen, daß «man» selber «böse» sei, eben so sein muß, wie «man eigentlich» nicht ist. • Durch Rationalisierungen, anders ausgedrückt: weil Kinder/Schülerinnen und Schüler nicht den vorgegebenen Erwartungen, dem Werte- und Normensystem bzw. überzogenen Zukunftserwartungen - «Du sollst es einmal besser haben!» - der Eltern oder der Pädagogen entsprechen, kommt es zu Sanktionen, zu Bestrafungen und Erniedrigungen - «Eine Ohrfeige zur rechten Zeit hat noch niemandem geschadet!» -, die - und dies ist entscheidend - nicht den kritisierten Sachverhalt, sondern das Kind treffen, es entmündigen bzw. klein halten. Verdrängung, Verleugnung und Rationalisierung leiten sich häufig aus lebensgeschichtlich bedingten Persönlichkeitsanteilen des erzieherisch Handelnden ab, von Persönlichkeitsanteilen, die schon früher nicht oder nur unzureichend angenommen und verarbeitet wurden. Nicht nur bei der Bearbeitung kindlicher Aggressionen gilt: Man hat es bildlich gesprochen - mit zwei Kindern zu tun: dem Kind vor dem Pädagogen und dem Kind im Pädagogen. Und je näher, reflektierter, vielfältiger, ganzheitlicher der Pädagoge sein eigenes Kind-Ich annimmt, um so eher kann er die Kinder vor sich annehmen, ihnen Grenzen setzen, sie anspornen und fordern. -2 0 5 -
Bevor ich auf die gekonnten erzieherischen Aggressionen eingehe, will ich die ungekonnten an drei Situationen aus meinem Beratungsalltag veranschaulichen. Die ungekonnte erzieherische Aggression nimmt Kinder in ihrem Hier und Jetzt nicht an. Kinder werden auf eine imaginäre Zukunft hin getrimmt, damit in ihren aktuellen Befindlichkeiten nicht ernst genommen. So wird in Kindergärten und Grundschulen die Bandenbildung beispielsweise häufig mit dem Hinweis auf die «street-gangs» - «Ich will nicht, daß mein Sohn später einmal da landet!» - ebenso untersagt wie kindliches Rangeln und Ringkämpfe - «Ich möchte, daß mein Kind Konflikte verbal austrägt!» Für das Kind - zwischen vier und neun Jahren haben Bandenbildung und Ringkämpfe symbolische Funktionen - z. B. Sich-Abgrenzen, Solidarität finden - oder dienen dazu, Körperlichkeit selbstbestimmend und -bewußt auszuleben. Die gekonnte erzieherische Aggression erkennt diese Hintergründe, nimmt sie an und ernst und setzt dem «Bandenspiel» zeitliche und räumliche Regeln - z. B. Freiwilligkeit der Bandenbildung und der Teilnahme daran, keine Verletzungen oder Nötigungen anderer Kinder, Respektierung von Privatsphären, die Bildung von «banden- und ringkampffreien» Zonen, die zeitliche Begrenzung solcher Spiele - und führt Konsequenzen bei Regelverstößen ein. Die ungekonnte erzieherische Aggression nimmt die Kinder mit ihren aggressiven Persönlichkeitsanteilen nicht an, sondern erzieht zu deren Verleugnung oder Verdrängung. Ein Beispiel mag hierfür der Umgang mit dem Schießen, den Pistolen sein. Kinder, die wissen, daß Eltern oder Pädagogen solche Gewaltsymbolik ablehnen, und die beim Umgang mit einer «Lego-Pistole » erwischt werden, reagieren vielfach so: «Das ist keine Pistole, sondern ein Sprechfunkgerät!» Solche Antwort ist einerseits Ausdruck kindlicher Kreativität, andererseits Zeichen eines mangelnden Urvertrauens, erfahren Kinder doch sehr häufig, daß Eltern und Pädagogen auf den Umgang mit nicht gewünschten Persönlichkeitsanteilen - wie dem Schießen - mit Liebesentzug, mit beleidigten oder hilflosem Rückzug «Du wirst schon sehen, was du davon hast!» - oder einem -2 0 6 -
massiven Eingriff - z. B. der Zerstörung der Pistole - reagieren. Die Konsequenzen solchen Erziehungsstils können sein: Da sich ein Kind nur als «gutes» angenommen fühlt, verdrängt oder verleugnet es seine «bösen» Gefühle, formt sie um - und aus der Pistole wird ein Walkie-talkie - oder aber es projiziert das, was Erwachsene nicht mögen, auf andere Kinder - «Der ist schuld!», «Der hat mir die Pistole geschenkt!» Die gekonnte erzieherische Aggression nimmt dagegen das Schießen und die Pistolen der Kinder in ihrer symbolischen Funktion an, setzt aber erneut zeitliche und räumliche Grenzen: z. B. für den Zeitpunkt des Spiels, die Abgrenzung «schießfreier» Zonen; ja, es ist auch denkbar, daß solche Symbole aus Kindergarten oder Schule gänzlich ausgegrenzt bleiben, die Kinder sich gleichwohl in ihrem Bedürfnis nach Ausleben der Gewaltsymbolik angenommen fühlen - «Ich mag es momentan nicht, daß hier geschossen wird, aber ich verstehe, daß es euch Spaß macht!» Die ungekonnte erzieherische Aggression nimmt Kinder in deren zerstörerischem Verhalten nicht an und übt nicht selten falsch verstandene Nachsicht. Laissez-faire und Gleichgültigkeit gegenüber zerstörerischem oder provokativem Verhalten übersehen die in diesen Handlungsmustern enthaltenen Zeichen und Hinweise. Um dieses an einem Beispiel noch einmal zu verdeutlichen: Daniel, Torsten und Florian, alles 15jährige Gymnasiasten, hatten, als sie «erwischt wurden», eine dreijährige «Klaukarriere» - wie es einer nannte - hinter sich. «Angefangen», so erinnerte sich Daniel, «hat's im Supermarkt, überall dort, wo's einfach war.» - «Und dann », so Torsten, «ging's in der Schule weiter. Wir haben uns auf Fahrräder spezialisiert, haben sie umfrisiert. Das war 'ne geile Aktion. Aber nicht nur das Klauen war gut, auch die Arbeit danach, das Umfrisieren, und wenn wir sie verkauft haben. Aber wir haben's billig verkloppt. Uns ging's nicht ums Geld.» «Vor zwei Jahren war's dann fast ausgewesen.» Torsten zog die Augenbrauen hoch. «Da haben sie uns schon mal erwischt, aber wir konnten uns rausreden. Das war ganz leicht, und dann haben wir weitergemacht.» - «Ja und dann, als sie uns erwischt -2 0 7 -
haben, war's auch gut, ich glaub», so Daniel, «wir haben's auch drauf angelegt. Irgendwie mußte doch mal Schluß sein.» Diesem kleinen Ausschnitt aus einem längeren Gespräch will ich kurze Teile eines anderen Interviews gegenüberstellen. Darin erzählen Steffen und Marco, beide 16 Jahre, der eine Real-, der andere Oberschüler, über ihre Erfahrungen mit dem Stehlen: «Also anderen etwas wegnehmen, das ist im Prinzip Scheiße. Aber um zu den ‹Zehnern› zu gehören, da mußt du einfach klauen, erst wenn du klaust, gehörst du zu der Gruppe von Jungs.» - «Was sind die Zehner?» - «Zehn Leute, so wie wir, die 'ne geile Aktion suchen.» - «Wie ging das dann weiter?» - «Also zuerst haben wir kleinen Schülern die Pullover geklaut, den größeren dann später die Baseballmützen und die TShirts... tja, und zum Schluß sind wir in die Geschäfte, erst in die Supermärkte und dann zum Schluß in die Edelschuppen und so. Tja, und als wir genug geklaut hatten, was erlebt hatten, da waren wir bei den ‹Zehnern› aufgenommen. Heute kämpfen wir eher. Gehen in andere Städte und kämpfen darum. Gehen auf Schützenfeste und Diskos und so und mischen die auf. Aber wenn wir Bock haben, dann klauen wir auch jetzt noch. Aber wenn wir jemand abzocken, also so jemandem was wegnehmen, dann muß daraus eigentlich ein Kampf werden. Sonst ist das langweilig.» Der Diebstahl hat für die hier zu Wort gekommenen Jugendlichen spezifische Funktionen. Für Steffen und Marco ist er eine Bedingung für die Aufnahme in eine jugendliche Bande. Der Diebstahl wird zu einem Ritual, das sich mit der Zeit allerdings verselbständigt und Ausgangspunkt für weitere Grenzüberschreitungen bedeutet. Bei Daniel, Torsten und Florian ist der Diebstahl eine Auseinandersetzung mit Normen und kann als Ausdruck von Identitätsarbeit gedeutet werden. In der Grenzüberschreitung - dem Diebstahl - zeigt sich einerseits Distanz zur Kindheit, andererseits die Suche nach eigenen selbstbestimmten Normen. Die Ausbildung von IchIdentität und das Ausprobieren eigener Vorstellungen vollzieht sich immer als Auseinandersetzung mit vorgegebenen, festen Normen der Erwachsenenwelt. Je weniger fest und verbindlich -2 0 8 -
diese Werte sind, besser: vorgelebt werden, um so orientierungsloser vollzieht sich Identitätsarbeit. Keine neue Erfahrung ohne Reibung, ohne - manchmal schmerzende oder grenzensetzende - Kommunikation und Konfrontation. Deshalb kann man die Grenzüberschreitung der drei Gymnasiasten zwar verstehend deuten, darf sie aber nicht gleichgültig behandeln. Da sie sich über Diebstahl ausdrücken wollen, ist dem nur aktiv - d.h. regel- und grenzensetzend - zu begegnen. Sonst könnten andere, gravierendere Grenzüberschreitungen die Folge sein. Wenn die drei Schüler davon berichten, wie leicht ihnen die Diebstähle gemacht wurden - «wir das Gefühl hatten, Erwachsene wüßten davon, würden aber beide Augen zudrücken» -, so zeigt das, wie wenig diese Haltung Jugendliche mit ihren aggressiven Persönlichkeitsanteilen ernst nimmt. Aus ihrer Sicht erscheint dies als Gleichgültigkeit, als Laissez-faire - «Macht, was ihr wollt, ich kann doch nichts machen!» - ihnen werden Eckdaten und Grenzen vorenthalten, was zur Orientierungslosigkeit, zur Unsicherheit über Normen und Werte führt.
«Das muß ich erst mal aushalten können!» Die gekonnte erzieherische Aggression bietet demgegenüber Möglichkeiten, sich am Schüler und der Schülerin zu orientieren. Sie setzt jedoch dem ungebremsten Ausleben jeglicher aggressiver Impulse klare und offene Grenzen. Wer Grenzen setzt, der sollte bereit sein, die Haßimpulse seiner Schüler anzunehmen, sich auf Konflikt, Streit und Zoff vorzubereiten. Wer Grenzen setzt, der riskiert, daß sich Kinder und Jugendliche an diesen Grenzen reiben und erhitzen. Die gekonnte erzieherische Aggression baut auf dem vielschichtigen Bild einer Erzieherpersönlichkeit auf, die von den Schülern geliebt, manchmal abgewiesen, ja sogar gehaßt wird; die Orientierung bietet und Modelle vorlebt, die nicht Kumpel, sondern Partner ist. Die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern - wie die zwischen Eltern und Kindern - wird um so klarer, naher und fester, je weniger sie von Projektionen -2 0 9 -
ausgeht. Eine dieser Projektionen ist die vermeintliche «Engelhaftigkeit» - Hartwig Rohm - der am Erziehungsprozeß Beteiligten. Lehrer und Schüler, Eltern und Kinder sind Teufel und Engel - um es bildlich auszudrücken - in einer Person. Die Thematisierung von Haß und Liebe, von Wut und Mut, von Nähe und Distanz, von Annahme und Loslassen sind Voraussetzungen für einen ehrlichen Umgang, für ein offenes Miteinander, für eine Kultivierung aggressiver Impulse. Die gekonnte erzieherische Aggression hat dazu drei Möglichkeiten: • Sie erkennt die Symbolik und Funktion aggressiver Handlungen. • Trotz solch verstehender Annäherung setzt sie aggressiven Impulsen Grenzen. Dadurch nimmt sie diese ernst. • Sie fordert Kinder, ermutigt sie, gesellschaftlich sanktionierte Persönlichkeitsanteile - z.B. Aggressionen - zu zeigen, und mutet ihnen Frustrationen zu. Die gekonnte erzieherische Aggression unterscheidet dabei zwischen materieller und emotionaler Frustration. Während sie letztere vermeidet, sich bemüht, Kinder auch dort in ihrer Person anzunehmen, wo sie Grenzen überschreiten, erfüllt sie in materieller Hinsicht nicht alle kindlichen Wünsche und Bedürfnisse. Um dies am Ausspruch eines Ehepaars zu konkretisieren: «Wir stecken dir» (gemeint ist ihr Sohn) «alles in den Hintern, und was machst du, du dankst uns das mit deiner grenzenlosen Faulheit!» Eine sich am Konsum orientierende Gesellschaft kann materielle Werte ihrer Mitglieder vorausgesetzt - den Heranwachsenden viele Wünsche erfüllen. «Man» leistet sich etwas. Dabei bleiben Beziehungen, bleiben Gefühle auf der Strecke. Kaufen und Konsum suggerieren die Erfüllbarkeit aller Träume - aber Kaufen und Konsum tilgen persönliche Bemühungen. Sie genügen irgendwann nicht mehr. Das manchmal maßlose «Immer-Mehr, Immer-Neuer, ImmerBesser» der Heranwachsenden ist auch deren Versuch, hinter dem Immer-Mehr etc. die persönlichen Anstrengungen ihrer -2 1 0 -
Eltern und Pädagogen hervorzulocken, nicht «kauf mir immer mehr», sondern «kümmer dich endlich um mich » oder «mach was mit mir». Während Heranwachsende materielle Frustrationen durch List, Hinterlist und subversive Phantasie umgehen und vermeiden können, erniedrigt sie die emotionale Frustration oder führt sie dazu, sich über aggressive Handlungen jene Aufmerksamkeit zu verschaffen, die sie ansonsten nicht erhalten. Der Grundsatz beim Grenzensetzen lautet deshalb: Fest sein, ohne zu herrschen; konsequent sein, ohne zu drohen. So werden Kinder befähigt, Grenzen zu erkennen, sich an ihnen zu reiben, sie aber auch zu überwinden. Dies setzt Erwachsene voraus, die das vorleben. Notwendiger denn je ist Mut und Ermutigung zum Grenzensetzen.
Nachwort Zentrale Begriffe des Grenzensetzens sind - ich habe es dargestellt -Annahme, Offenheit und Klarheit, das Hier und Jetzt, die Überraschung, der gegenseitige Respekt, der Mut zur Verantwortung und zur Festigkeit: • Wer Kindern Grenzen setzt, hat zu respektieren, daß auch Kinder ihre Grenzen setzen. Wer für sich selbst Zeit und Raum reklamiert, hat dies gleichermaßen dem Kind zuzugestehen. Grenzen haben nichts mit Strafe, Bedrohung, Mißachtung oder Brechen des Willens zu tun. Wer Grenzen setzt, kann das nur auf der Grundlage der unbedingten Achtung des Kindes machen. Dafür muß ich als Erzieher aber auch eine Persönlichkeit sein, die geachtet werden kann. Mehr denn je brauchen Kinder menschliche Autoritäten, die Humanität verkörpern; Autoritäten, an denen sich Kinder orientieren und reiben, mit denen sie sich auseinandersetzen können. • Wer offen und klar ist, zeigt seine eigenen Grenzen. Wer offen und klar ist, lebt vor, was er meint. Klarheit und Offenheit schließen ein, zu den eigenen Handlungen zu stehen,
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Verantwortung zu übernehmen, die Folgen eigenen Tuns zu bedenken. • Grenzen, die im Hier und Jetzt gezogen werden, müssen keine für alle Zeit gültigen, unverrückbaren Markierungen sein. Grenzen sind in Abhängigkeit von kindlichen Entwicklungsschritten und der Entwicklung der Eltern-KindBeziehung zu verändern. So werden denn auch die Räume, in denen sich Erziehung und Beziehung vollziehen, verändert. Grenzen sind so auf die Kinder und ihre Entwicklung bezogen. • Grenzen zu setzen hat mit Phantasie und Überraschung zu tun, mit dem Mut, ganz gewöhnliche Schlüssel oder auch ungewöhnliche Dietriche für die Lösung von alltäglichen Problemen zu entwickeln. • Grenzen zu setzen schließt den Mut zum Fehler, zum Unvollkommenen und zum Fragmentarischen ein. Der Fußweg zum Nordpol beginnt mit dem ersten Schritt, erreicht wird das Ziel kaum. Ähnliches gilt für den Weg zum gekonnten Grenzensetzen: Er ist voll von Tücken, Schlaglöchern, Fallen, Umwegen und Sackgassen. Dabei gilt: Der Weg ist das Ziel, jeder Schritt stellt eine Etappe dar, deren Erreichen man genießen soll. So kann für Eltern und Kinder aus dem gemeinsamen Weg des Grenzensetzens ein Erlebnis werden, das Mut macht, die nächsten Schritte zu wagen.
Nachwort zur 17. Auflage Als ich vor knapp sieben Jahren daranging, dieses Buch zu schreiben, war es der Versuch, die Erfahrungen aus mehr als einem Jahrzehnt Familienberatung und Elternbildung zusammenzufassen. Ich hatte nichts Spektakuläres im Sinn, dazu enthält die Publikation zuviel selbstverständliches und altbekanntes Erziehungswissen. Deshalb hat mich der Verkaufserfolg mehr als überrascht. «Kinder brauchen Grenzen» ist ein geflügeltes Wort geworden, «ErziehungsGuru» nannte mich gar ein Wochenmagazin. Bodenständiger waren da die Reaktionen der Leser und Leserinnen. «Junger Mann», merkte einmal eine 71-jährige Zuhörerin, Oma von drei -2 1 2 -
Enkelkindern, im Anschluß an einen Vortrag an, «Sie haben ja recht mit dem, was Sie erzählen und schreiben.» Dann machte sie eine Pause und fuhr schmunzelnd fort: «Aber, daß man damit nun soviel Bücher verkaufen kann!» Sie hatte recht. Kaum jemand ist überraschter als ich, daß sich «Kinder brauchen Grenzen» nun eine viertelmillionmal verkauft hat, die Lizenz- und Sonderausgaben, die Übersetzungen nicht mitgerechnet. Der Titel hat vielfältige Reaktionen hervorgerufen, obgleich er nicht als Provokation gemeint war. «Kinder brauchen Grenzen» hatte nichts damit zu tun, Heranwachsende von oben herab zu bevormunden, ihnen zu sagen, wo es langgeht, gar mit antiautoritärer Erziehung abzurechnen. Die Absicht war vielmehr, die vielfältigen Bedeutungen aufzuzeigen, die mit dem Begriff «Grenzen» einhergehen: Grenzen umschließen ein Territorium, sie trennen, sie machen deutlich - bis hierher und nicht weiter. So zeigen Grenzen den Eltern an, wie weit sie gehen können. Grenzen schließen mithin auch aus, sich zu distanzieren, Grenzen schützen vor Eltern, die es ständig nur «gut» mit dem Kind meinen und dabei sein Recht auf Autonomie und den eigenen Raum mißachten. «Kinder brauchen Grenzen» bedeutet aber zugleich, daß Heranwachsende das Recht auf körperliche und psychische Unversehrtheit, auf Halt und Orientierung haben. Aber Grenzen deuten dem Kind auch an, was es kann oder noch nicht kann. Im Land jenseits der Grenzen liegen Möglichkeiten und Fähigkeiten, die sich Kinder im Laufe ihrer Entwicklung - aneignen und erobern können. Ohne Grenzen sind Leistungsbereitschaft und -willen nicht möglich. Schließlich: Grenzen bedeuten dem Kind, die Grenzen anderer zu achten und zu respektieren. Ohne gegenseitige Achtung und Respekt sind soziales Miteinander und partnerschaftliche Eltern-Kind-Beziehungen nicht möglich. Das Buch enthält noch zwei weitere Grundgedanken: Kinder brauchen Eltern, die sich selber Grenzen setzen. Dies meint: bereit sein, von Kindern, deren Kreativität und Spontaneität zu lernen, mithin die eigene Begrenztheit pädagogischen Handelns zu erkennen. Und: für Eltern bedeuten Grenzen, daß -2 1 3 -
es für sie ein Leben jenseits der Kindererziehung gibt. Wer sich ständig nur Gedanken macht, ob es dem Nachwuchs gutgeht, wird irgendwann ausgebrannt sein und bürdet zugleich den Kindern eine Last auf, unter der sie zusammenbrechen können. Nur wenn es Eltern gutgeht, geht es den Kindern gut! Diese Maxime reflektiert die Grenzen der Elternschaft: Sie befreit Kinder davon, sich für das Wohlbefinden der Eltern verantwortlich zu fühlen. Und der Satz zeigt an: Eltern haben das Recht auf kinderfreie Zeiten. Es gibt ein Leben jenseits der Vater- und Mutterrolle: das Leben in der Partnerschaft, das Leben als Mann und Frau. Und je stärker Kinder dies spüren, um so eher sind die Erziehungsbeziehungen geprägt von einer Balance aus Nähe und Distanz, aus Achtung und Respekt, aus Freiheit und Verantwortung. Über 1500 Briefe habe ich von Leserinnen und Lesern bekommen, Erwachsenen ebenso wie Heranwachsenden. Eine Mutter schrieb mir, Rezepte habe sie dem Buch nicht entnommen, aber das Gefühl bekommen, angenommen zu sein, auch wenn sie Fehler mache. Sie habe «wieder Spaß an der Erziehung bekommen. Ich konnte wieder lachen und mein Kind als Geschenk betrachten, von dem ich viel lernen konnte.» Der elfjährige Tom formulierte seine Gedanken auf einem Familienseminar so: Zuerst habe er «das Buch blöd gefunden, gegen die Kinder gerichtet. Aber seit Mama das gelesen hat, labert sie nicht mehr, sie redet jetzt richtig mit mir. Und ich weiß, was sie will.» Und wenn sie dann trotzdem «rumeiert, ich nicht weiß, was sie will, sage ich, Mama, was steht in dem Buch von deinem Herrn Rogge? Wozu liest du das eigentlich? Dann lacht sie. Und wir haben weniger Streß.» «Kinder brauchen Grenzen » wollte zu einer partnerschaftlichen Erziehung ermutigen. Die Resonanz zeigt, daß sich viele auf den Weg gemacht haben - Eltern wie Kinder. Bargteheide, im September 1999
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Literatur und Tips zum Weiterlesen Den nachstehenden Publikationen habe ich zahlreiche Anregungen zu verdanken. Und sie beleuchten weitere Gesichtspunkte des Grenzensetzens, die ich manchmal nur angerissen habe. Darüber hinaus habe ich Bücher aufgenommen, die nach der Fertigstellung von «Kinder brauchen Grenzen» erschienen sind und Gedankengänge fortführen. A. Jean Ayres: Bausteine der kindlichen Entwicklung. Berlin, Heidelberg, New York, Tokio 1984 Richard Bandler/John Grinder/Virginia Satir: Mit Familien reden. München 1987 Brigitte Beil: Gutes Kind, böses Kind. München 1996 Bruno Bettelheim: Ein Leben für Kinder. Stuttgart 1987 Manfred Biebl: Wir wollen doch nur dein Bestes! Salzburg 1991 T. Berry Brazelton: Mein Kind verstehen. München 1988 Anton A. Bucher/Rudolf Seitz/Rosemarie Donnenberg: Ich im pädagogischen Alltag. Macht-Ohnmacht-Zuversicht. Salzburg/Wien 1998 Christian Büttner: Mit aggressiven Kindern leben. Weinheim 1988 William Dämon: Die soziale Entwicklung des Kindes. Stuttgart 1989 Franchise Dolto: Die ersten fünf Jahre. München 1992 Rudolf Dreikurs/Loren Grey: Kinder lernen aus Folgen. Freiburg 1973 Vicki Soltz: Kinder fordern uns heraus. Stuttgart 1988 Rudolf Dreikurs/Pearl Cassel/Norbert Rückriem (Hg.): Disziplin ohne Tränen. München 1991 Rudolf Dreikurs/Bernice Bbronia Grundwald/FloyC. Pepper: Lehrer und Schüler lösen Disziplinprobleme. Weinheim/Basel 1987 -2 1 5 -
David Flkind: Wenn Eltern zu viel fordern. Hamburg 1989 Albert Ellis: Die rational-emotive Therapie. München 1977 Margret Erni: Autonomie wagen. Düsseldorf 1990 Margret Erni: Grenzen erfahren. Düsseldorf 1989 Selma Fraiberg: Die magischen Jahre in der Persönlichkeitsentwicklung des Vorschulkindes. Reinbek 1972 Astrid v. Friesen: Liebe spielt eine Rolle. Reinbek 1995 Andreas D. Fröhlich (Hg.): Wahrnehmungsstörungen und Wahrnehmungsförderung. Heidelberg 1983 Werner Haas: Der alltägliche Erziehungskampf. Reinbek 1993 Martin Herbert: Disziplin. Bern 1991 Martin Herbert: Essen und Schlafengehen. Probleme und Lösungen. Bern 1999 Helmut Jaschke: Grenzen finden in der Erziehung. Mainz 1992 Jesperjuul: Das kompetente Kind. Reinbek 1997 Linde v. Keyserlingk: Wer träumt, hat mehr vom Leben. Düsseldorf 1992 Remo H. Largo: Kinderjahre. München 1999 Thomas Lickona: Wie man gute Kinder erzieht! München 1989 Marcel Müller-Wieland: Der innere Weg. Mut zur Erziehung. Zürich 1982 Rolf Oerter/Leo Montada: Entwicklungspsychologie. München/Weinheim 1987 Emmi Pikler: Laßt mir Zeit. München 1988 Gisela Preuschoff: Von null bis drei. Alltag mit Kleinkindern. Köln 1995 Gisela Preuschoff: Von drei bis sechs. Alltag mit Vorschulkindern. Köln 1995
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Ulf Preuss-Lausitz/Tobias Rülcker/Helga Zeiher (Hg.): Selbständigkeit für Kinder Die große Freiheit? Weinheim/Basel 1990 Michael Rohr: Freiheit lassen - Grenzen setzen. Freiburg 1998 Hartwig Rohm: Kindliche Aggressivität. Frankfurt 1976 Virginia Satir: Selbstwert und Kommunikation. München 1975 Steve da Shazer: Der Dreh. Heidelberg 1988 Barbara Sichtermann: «Nein, nein, will nicht!» Reinbek 1983 Otto Speck: Chaos und Autonomie in der Erziehung. München/Basel 1991 Arnd Stein: Wenn Kinder aggressiv sind. München 1983 Arnd Stein: Mein Kind hat Angst. München 1982 L. Joseph Stone/Joseph Church: Kindheit und Jugend. Stuttgart 1978 R. Morray Thomas/Birgitt Feldmann: Die Entwicklung des Kindes. Weinheim/Basel 1986 Michael Titze: Lebensziel und Lebensstil. München 1979 Renate Valtin: Mit den Augen der Kinder. Reinbek 1991 Paul Watzlawick(Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. München 1981 Rolf Werning: Das sozial auffällige Kind. Münster/New York 1989 D. W. Winnicott: Familie und individuelle Entwicklung. Frankfurt/M. 1984 D. W. Winnicott: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Frankfurt/M. 1984 Katharina Zimmer: Versteh mich doch bitte. München 1992
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ELTERN SETZEN GRENZEN
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Inhalt Eltern setzen Grenzen ............................................................ 218 Inhalt ..................................................................................... 219 Statt eines Vorworts................................................................ 220 I Grenzen setzen ist (k)ein Kinderspiel ..................................... 226 Kapitel 1 Vom Umgang mit Fehlern ...................................... 227 Kapitel 2 Erwartungsdruck macht unsicher............................ 238 Kapitel 3 Kinder hören nicht auf «gute» Worte....................... 246 Kapitel 4 Von der Entmutigung durch Grenzen...................... 256 Kapitel 5 Partnerschaft und Autorität - kein Widerspruch........ 269 Kapitel 6 Mitgefühl! Nicht Mitleid!.......................................... 283 Kapitel 7 Konsequenzen sind keine Strafen! ......................... 292 Kapitel 8 Unterschiedliche Erziehungsstile ............................ 305 Kapitel 9 Grenzen ab welchem Alter? ................................... 315 II Aggressionen fordern heraus ................................................ 344 Kapitel 10 Gewalt im Spiel -Spiele der Gewalt ....................... 345 Kapitel 11 Symbole der Gewalt Actionfiguren ........................ 363 Kapitel 12 Über den Umgang mit Kraftausdrücken................. 375 Kapitel 13 Gewalttätige Jungen? Friedfertige Mädchen? ........ 390 III Kinder und Grenzerfahrungen .............................................. 405 Kapitel 14 Sexualität im Alltag von Kindern ........................... 406 Kapitel 15 Mißbrauchte Grenzen .......................................... 440 Kapitel 16 Kind, Tod und Trauer ........................................... 452 Nachwort Rituale geben Halt................................................ 478 Literatur.............................................................................. 490
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Statt eines Vorworts Ein Pfarrer kündigt im Anschluß an seine sonntägliche Predigt die Veranstaltungen der kommenden Woche an. Vor ihm sitzt eine Familie, links der Vater, rechts die Mutter, in der Mitte der knapp sechsjährige Roman. Als der Pfarrer besonders auf eine Lesung von Jan-Uwe Rogge mit dem Titel «Kinder können fernsehen» hinweist, sieht dieser, wie ein Lächeln über Romans Gesicht huscht. Roman blickt kurz nach rechts, dann nach links. Die Mimik seiner Eltern verrät nichts. Sie sitzen unbeweglich da. Als der Pfarrer seine Gemeinde mit Handschlag und persönlichen Worten verabschiedet, kommt auch Roman, seine Eltern gehen einen kleinen Schritt hinter ihm. Roman gibt dem Pfarrer die Hand, hält sie kurz fest. Dann blickt er zu ihm auf: «Herr Pfarrer! Ist das richtig, kommt da einer und sagt, ich kann fernsehen?» Voller Erwartung heften sich seine Augen an die Lippen des Pfarrers: «Ja, Roman, da kommt einer und liest aus seinem Buch ‹Kinder können fernsehen›.» Ein Lächeln spielt um Romans Mund. Seine Augen leuchten. Er dreht sich zu den Eltern, überlegt einen kurzen Augenblick. Dann räuspert er sich, bevor er dem Pfarrer mit Nachdruck in der Stimme sagt: «Herr Pfarrer, sagen Sie meinen Eltern doch, sie müssen da unbedingt hingehen! Sie glauben gar nicht, wie schlimm das bei mir zu Hause mit dem Fernsehen ist. Ich darf fast nicht fernsehen. Und ich bin doch schon groß.» Die Eltern kamen auch ohne die Fürsprache des Pfarrers. Jahre später. Eine Lesung aus dem Buch «Kinder brauchen Grenzen». Romans Eltern sind anwesend, sie kommen auf mich zu, begrüßen mich lachend. Sie haben einen Brief dabei. «Von Roman», erklärt die Mutter schmunzelnd. «Soll ich ihn lesen? Jetzt gleich?» frage ich. «Wenn Sie wollen! Ich weiß nicht, was darin steht.» Ich bin neugierig, reiße den Umschlag schnell auf, hole einen Brief heraus: «Lieber Herr Rogge», steht da, «Kinder können fernsehen war toll. Ich durfte mehr sehen als vorher. Nicht viel mehr, aber ein bißchen. Das war gut. Aber Sie müssen jetzt -2 2 0 -
mal ein Buch schreiben ‹Eltern brauchen Grenzen›. Meine Mutter hat ‹Kinder brauchen Grenzen› gelesen, und die ist jetzt ganz anders. Du hast so viele Tricks von uns Kindern einfach verraten. Aber ich hab' mir schon viele neue ausgedacht, die verrate ich Dir nicht. Und dann weiß Mama nicht, was sie tun soll, weil das ja nicht in Deinem Buch drinsteht. Und manchmal schimpft sie auf Dich, weil das, was Du schreibst, nicht klappt. Dann ist sie wütend - nicht auf mich, auf Dich. Aber Dein Buch ist auch gut, weil irgendwie sind Mama und Papa jetzt besser zu mir. Weil, wenn ich jetzt mal rumnerve, sagen die mal laut: ‹Nein, Roman!›. Und wenn Du mal ein Buch schreibst, Eltern brauchen Grenzen, verrat' ich Dir eine ganze Menge, wie man Eltern ärgern kann.» In der Folge meiner Lesungen, Vorträge und Seminare zum Grenzensetzen habe ich eine Vielzahl an Reaktionen bekommen - von Eltern, von Großeltern, von Kindern. Es gab Zustimmung. Ich habe erfahren, wie Eltern meine Lösungen und meinen Rat übernahmen und mit mehr, manchmal weniger Erfolg im Erziehungsalltag umsetzten. Und Eltern haben mir ihre Ideen verraten, die sie selbstbewußt und im Vertrauen auf eigene Fähigkeiten anwandten. Es gab auch Einwände und Kritik, es kamen wenige - meist anonyme - Beschimpfungen. Man äußerte Wünsche nach einer Fortsetzung bzw. inhaltlichen Erweiterung des «Grenzen»-Buches, das einige Bereiche des Familien- und Erziehungsalltags nicht oder nur ganz am Rande thematisiert. Mir waren diese Lücken bewußt. Bücher haben Grenzen, wollen sie lesbar bleiben. «Eltern setzen Grenzen» greift Fragen auf, die Eltern und Pädagogen während der Lesungen, in Seminaren und Beratungen gestellt haben, auf die ich in «Kinder brauchen Grenzen» eher am Rande eingegangen bin: - Wie geht man mit Fehlern in der alltäglichen Erziehungspraxis um? Wie bleibt man bei sich selber, ohne dem Erwartungsdruck von außen nachzugeben? Und: Kann man partnerschaftlich erziehen und gleichzeitig eine Autorität für das Kind sein?
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- Wo liegen die Unterschiede zwischen Konsequenzen und Strafen? Hält ein Kind unterschiedliche Erziehungsstile, z. B. von Vater und Mutter, aus? - Häufig werde ich gefragt, ab wann Kindern Grenzen zu setzen sind, würden jüngere Kinder den Sinn von Grenzen doch noch nicht verstehen. Wie kann man also jüngeren Kindern den Sinn von Grenzen verdeutlichen? - Helfen deutliche und klare Grenzen Kindern bei der Sinnsuche und der Kultivierung ihrer Aggressionen? Führen enge bzw. zu weit gesteckte Grenzen zu zerstörerischen Aggressionen? - Brauchen Kinder Monsterfiguren und Spiele mit Waffen? Sind Verbote in der Lage, Grenzen zu setzen, oder führen Verbote zu Heimlichkeiten? - Heranwachsende brauchen Orientierung. Sie wünschen Sinn. Gleichzeitig erleben sie einen unübersichtlichen und unkalkulierbaren Alltag. Welche lebendigen und mit Inhalt gefüllten Rituale können Kindern Halt vermitteln? - Kinder wachsen in einer Welt auf, die dem Realitätsprinzip verpflichtet ist. Dies überfordert sie. Kinder nehmen. Wirklichkeit jedoch ganzheitlich wahr - mit allen Sinnen, durchdrungen von Phantasie, Magie und Mythos. Erwachsene grenzen die magisch-phantastische Sichtweise von Kindern dagegen aus. Sie engen Kinder ein. Magie und Phantasie überschreiten Grenzen, lassen Unmögliches wahr werden. Sie schaffen eine ganz subjektive Wirklichkeit, die Kinder erst lebenstüchtig macht. Welche Chancen bieten magische Kräfte den Kindern, Grenzen zu finden, um mit Alltags- und Beziehungskonflikten auf eine ganz eigene Weise umzugehen? - Kinder erleben Grenzerfahrungen, die sie erniedrigen. Das Recht des Kindes auf physische Unversehrtheit ist nicht allein durch Kriege oder durch Katastrophen in Frage gestellt. Auch der sexuelle Mißbrauch mißachtet den Respekt vor dem Körper des Kindes und wird deshalb öffentlich diskutiert. Sexuell mißbrauchte Kinder haben das Recht auf umfassende Fürsorge. Genauso wichtig erscheint es, Kinder dabei zu -2 2 2 -
unterstützen, sich und ihren Körper eigenständig zu schützen, um selbstbewußt Körpergefühl und Sexualität zu leben. Welche Möglichkeiten bieten sich hier Eltern? - Krankheit gehört zum Leben wie der Tod. Krankheit und Tod bringen Grenzerfahrungen mit sich, die Kindern vorenthalten werden, weil ihre Eltern Probleme damit haben. Kinder, gerade jüngere Kinder, brechen Tabus, sie brauchen und wollen vielfältige Erfahrungen - und der Tod gehört dazu. Wie können Eltern auf Fragen nach dem Tod eingehen, ohne Kinder zu überfordern, und sie zugleich in ihrem Wunsch nach Wahrhaftigkeit ernst nehmen? Die Antworten auf diese Fragen werde ci h in Geschichten verdeutlichen - manchmal stillen, manchmal schrillen, manchmal zum Lachen anregenden Situationen und Erlebnissen aus dem Alltag. «Warum», so bin ich wiederholt gefragt worden, «schreiben Sie lustige Geschichten über so ernsthafte Themen?» «Was haben Sie gegen Lachen?» entgegne ich dann. Ich bin überzeugt: Lachen befreit, es setzt Erkenntnisse in Gang. Lachen erleichtert es, sich in seinen Unzulänglichkeiten anzunehmen. Die Geschichten, die ich erzähle, entstammen meinen Beobachtungen aus Praxisberatungen, Seminaren, Alltagssituationen, Rollenspielen und Erzählungen von Eltern und Kindern. Sie sind von mir zusammengefaßt, auf den - wie es so schön heißt - Punkt gebracht. Manche Namen und Situationen sind verfremdet, andere Familien und Anlässe sind authentisch wiedergegeben. «Ihre Geschichten», hielt mir ein Vater anläßlich einer Lesung vor, «sind voller Klischees und Vorurteile. Gut, das brauchen Sie wohl, damit bestimmte Dinge klarwerden.» Er unterbricht, lächelt: «Ich muß Ihnen mal eine ganz wirkliche Geschichte erzählen, die mir neulich passiert ist.» Und er fängt an, von dem Besuch eines abendlichen Vertrags über ein pädagogisches Thema zu erzählen. Der Saal sei voll gewesen. Eine gespannte Aufmerksamkeit habe geherrscht. Ein Elternpaar habe in der letzten Reihe gesessen, gemeinsam mit ihren beiden Kindern, vier und fünf Jahre alt. Nach zehn -2 2 3 -
Minuten wären die Kinder aufgestanden, hätten sich von den Eltern gelöst. «Stellen Sie sich vor», sagt der Vater zu mir, «die haben Legosteine dabeigehabt, damit gespielt. Anfangs leise, dann immer lauter, bis sie schließlich hin und her rannten. Die Eltern haben nichts gesagt.» «Und Sie?» will ich wissen. «Ich konnte den Vortrag ja noch verstehen!» Ich lache. «Ist ja schon gut!» meint er, mit beiden Händen abwinkend. «Wie ging's weiter?» Ich bin neugierig. «Die Kinder haben gespielt. Mal lauter, mal leiser. Keiner hat was gesagt!»-«Kannten Sie die Eltern? »frage ich. «Klar!»-«Und?» Ich ahne, was kommt. «Er ist Arzt mit therapeutischer Ausbildung, sie Lehrerin.» Ich schmunzle: «Wenn ich diese Geschichte erzählt hätte, was hätten Sie gedacht?» Er, ganz spontan: «Ausgedacht hat er sie die Geschichte. So viele Klischees und Zufälle kann es gar nicht geben.» Meine Veranstaltungen waren hervorragend besucht, zogen insbesondere jüngere Eltern an. Ja, ich gewann den Eindruck, als ob ich manchmal den Status eines pädagogischen «Gurus» erhielt, der zeigt, wie man Fehler in der Erziehung vermeiden kann, eines Rezeptgebers, der formuliert, wie eine ideale, störungsfreie Erziehung funktioniert. Um es vorwegzunehmen: Es gibt keine perfekte, ständig reibungslos sich entwickelnde Erziehungsbeziehung. Zu kompliziert sind die Situationen, zu verschieden sind die Menschen, mal ganz abgesehen von materiellen, sozialen, Ökonomischen oder kulturell verschiedenen Rahmenbedingungen. Deshalb hilft nicht jeder Rat. Dazu sind die Kinder, die Eltern-Kind-Beziehungen, dazu sind Alltagsabläufe zu unterschiedlich, unvergleichbar, unwägbar. Als eine Mutter mir erzählte, in Krisensituationen frage sie sich, was ich wohl jetzt sagen würde, stockte mir der Atem. Genau dies will ich nicht. Den anderen Menschen in seinen
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Fehlern annehmen bedeutet für mich, mir meiner eigenen Fehler bewußt zu sein. Manche meiner Unzulänglichkeiten mag ich so sehr, daß ich darauf nicht verzichten möchte. Sie sind kleine Geschenke, die mir zeigen, an mir zu arbeiten - aber so, daß ich unverwechselbar bleibe. Meine Bücher, meine Ideen, meine Geschichten wollen ermutigen, den ganz unverwechselbaren Weg in der Beziehung zu Kindern zu entwickeln, sie wollen nicht abhängig machen von dem Fachmann. Sie möchten Verantwortung an die Eltern zurückgeben, die vielfältigen Erfahrungen der Eltern im Umgang mit ihren Kindern ernst nehmen. Meine Tips sind vergleichbar mit der Beschreibung von Wanderrouten. Ich biete Wegmarkierungen an, Hinweise, wie das Ziel erreicht werden kann, mal mit Umwegen, mal auf direktem Weg. Aber gehen müssen die Eltern und Leser allein. Was mich ermutigt, sind Briefe von Eltern, in denen sie über ihren ganz eigenen Weg in der Erziehung selbstbewußt berichten, wie ihnen mein Buch Hilfe war, eine individuelle Erziehungsbeziehung zu entwickeln. Wege in der Erziehung entstehen beim Gehen. Und da das Gehen niemals geradlinig verläuft, vielmehr von Umwegen, Sackgassen, von Stillstand und Rückschritt gekennzeichnet ist, sind Wege nicht im vorhinein zu planen. Eine Kindererziehung, eine Eltern-KindBeziehung, die nach einem festgelegten Plan verlaufen soll, endet nicht selten in Machtkampf, in Chaos, in hilflos-beleidigter Wortlosigkeit. Verlaufen hat d.a mit Verirren zu tun, weil Verlaufen nicht selten eine Folge davon ist, sich zu sklavisch an vorgedruckte Wanderkarten zu halten. Meine Ideen wollen anregen - damit sie mit Leben gefüllt, unverwechselbar werden, muß die eigene Erfahrung hinzukommen.
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I Grenzen setzen ist (k)ein Kinderspiel
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Kapitel 1 Vom Umgang mit Fehlern
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Wenn Sie etwas schreiben oder formulieren, fragen Eltern, hört sich alles einfach an. Aber im Alltag und im Streß vergißt man so vieles! Wie vermeidet man Fehler? Zugegeben: Es ist manchmal ein Kreuz mit der Kindererziehung. «Egal, wie man's macht», erklärt mir ein Vater, «man macht's falsch. Wenn ich sauer bin, mein Kind anschreie, entwickle ich Schuldgefühle. Obgleich ich nach dem Schreien irgendwie erleichtert bin!» Er schaut mich erstaunt an. «Aber wenn ich mein Kind nicht anschreie, obgleich es nervt, sich nicht an Absprachen hält, dann quäle ich mich noch stärker und frage mich hinterher ständig, warum hast du keine Grenzen gesetzt? Warum bist du ständig das Opfer? Wo bleibst du mit deinen Gefühlen?» Dieser Vater hat sich eine klassische Falle aufgestellt: Er kann nicht «immer richtig» handeln. Entweder, er stellt seine eigenen Bedürfnisse hintenan, denkt nur an die Befriedigung kindlicher Wünsche. Oder er verstößt gegen seine Prinzipien, indem er z.B. sein Kind anschreit. In vielen Eltern-Kind-Beziehungen wollen die Eltern perfekt sein -und perfekt meint, einem selbstverordneten Ideal zu entsprechen. Dafür verzichten sie oft darauf, eigene Gefühle zu artikulieren. Eine merkwürdige Situation: Es scheint manchmal befreiender zu sein, spontan etwas Falsches zu tun, z. B. zu schimpfen oder zu schreien, als stunden- und tagelang mit heruntergeklappter Unterlippe durch die Wohnung zu laufen, dem anderen ein beleidigtes Gesicht zu präsentieren, um ihm ohne Worte, aber ebenso nachdrücklich zu zeigen, wie schlecht und unmöglich dieser Mensch ist. Zweifellos haben alle Familienmitglieder Anspruch darauf, angemessen behandelt zu werden. Aber dies gelingt nicht immer. Wer die Schwäche hat, Fehler zu begehen, sollte die Stärke besitzen, sich zu entschuldigen - nicht unwillig, hingenuschelt oder weil «man» es tut, sondern als ernst gemeinte Wiedergutmachung und mit der Absicht, künftig andere Konfliktlösungen zu entwickeln als die ungenießbare Melange aus Zuckerbrot und Peitsche oder wortlos beleidigtem Rückzug. -2 2 8 -
Perfekte Lösungen passen nicht Eine Mutter berichtet: «Ich habe eine Absprache mit meinen Söhnen. Sie sollen mich mittags dreißig Minuten alleine lassen. Ich brauche diese Ruhe. Aber nach zehn Minuten kommt Benjamin, mein Jüngster, vier Jahre, ins Zimmer, weil er Durst hat. Ich hab zu ihm ganz bestimmt gesagt: ‹Du weißt ja, wo alles steht. Geh!› Dann hab ich mit dem Finger zur Tür gewiesen. Ein klassischer Rausschmiß, er ist gegangen. Und ich hab mir gedacht, war das richtig? Gibt es nicht doch eine elegantere Lösung?» Sie denkt einen kleinen Augenblick nach, dann klingt ihre Stimme ganz bestimmt: «Ja, es muß eine bessere Lösung geben, eine, die alle zufriedenstellt!» Wiederum eine paradoxe Situation: Da führt eine Handlung zum gewünschten Ergebnis. Der Sohn verstößt gegen eine getroffene Absprache, die Mutter besteht auf Einhalten der Absprache. Sie artikuliert ihre Bedürfnisse. Das Kind akzeptiert dies - wenn auch nicht freudestrahlend. Trotzdem ist die Mutter nicht zufrieden; sollte Benjamin etwa sagen: «Mutter, ich danke dir, daß du so konsequent bist»? Mütter, Väter, pädagogisch Handelnde sind anscheinend niemals zufrieden. Sie haben Schwierigkeiten, Grenzen zu setzen, aber unendlich mehr Schwierigkeiten mit den Konsequenzen und die allergrößten Probleme mit den eigenen Gefühlen, die sich aus den vollzogenen Konsequenzen ergeben. Wer Grenzen setzt, konsequent handelt, wird nicht geliebt, vielmehr respektiert und geachtet - manchmal auch gehaßt. Diese anderen Seiten gehören zu einer gefühlsmäßig reifen Eltern-Kind-Beziehung.
Aber der Perfektionismus läßt diese Schatten nicht zu. Perfektionistisches Handeln wirkt sich auch in anderen Bereichen negativ aus. Wenn ich mit Eltern Situationen und Ideen entwickle, Probleme beim Grenzensetzen zu lösen, höre ich schnell den Satz: «Hab ich alles schon versucht. Das klappt nicht!» Aber was hin und wieder nicht funktioniert, muß nicht für alle Zeiten verworfen werden. Eltern - wie andere pädagogisch Handelnde - sind in der Situation eines Schlossers, der ein -2 2 9 -
unbekanntes Schloß zu knacken hat. Wenn er perfekt sein will, hat er Hunderte von Schlüsseln dabei, die er so lange ausprobiert, bis einer paßt. Das kann lange dauern, und manchmal paßt überhaupt kein Schlüssel. Der clevere Türöffner benutzt deshalb einen Dietrich. Ein Dietrich öffnet ein Schloß, ohne dessen spezifische Einzelheiten bis ins Detail zu kennen. Mal paßt ein Dietrich, mal nicht, dann kommt ein anderer zum Einsatz. Ein unbekanntes Schloß zu öffnen ist mit der Lösung eines Problems vergleichbar. Wenn man lange über dessen Ursachen nachdenkt, kommt man möglicherweise zu einer absolut richtigen Lösung - meist aber nicht, sitzt doch ein kleiner Specht im Hinterkopf, der ständig auf eine bessere Lösung pocht.
Nicht nach dem Warum, sondern nach dem Wozu fragen Aus ebendiesem Grunde helfen «Warum?»-Fragen wenig, einen Streit, wie er für Eltern-Kind-Beziehungen üblich ist, aus der Welt zu schaffen. Dies gilt insbesondere bei Heranwachsenden - aber natürlich nicht nur bei ihnen. Auf insistierende Warum-Fragen erhält der Erwachsene ein achselzuckendes «Darum!», ein trotziges «Weil andere Schuld haben!», ein verlegenes Grinsen oder ein leises «Weiß nicht!» Kreativer, weil lösungsorientierter ist die Verwendung von Fragen, die Dietrichen gleichkommen. Diese Vorgehensweise konzentriert sich nicht auf das «Warum?» - «Warum machst du das?» -, sondern darauf, daß ein Kind so handelt, z.B. bummelt, andere schlägt. Daraus ergibt sich eine unterschiedliche Lösungsperspektive: Während «Warum?»-Fragen den Blick nach rückwärts richten, verändern «Wozu?»-Fragen - «Wozu handelt ein Kind so, wie es handelt?» - den Blickwinkel. Es stellt das Kind mit seiner Umgebung in den Mittelpunkt - z. B. ein Kind, das um sich schlägt, um damit Aufmerksamkeit zu bekommen. Solche «Wozu?»-Fragen zwingen den Erwachsenen zu einer -2 3 0 -
genaueren Beobachtung des Kindes: «Was hat das Kind davon, wenn es so handelt, wie es handelt?» «Wozu?»-Fragen bleiben im Hier und Jetzt, in der Gegenwart des Kindes, und bringen eine veränderte zweite Perspektive mit sich: «Wie kann ich gemeinsam mit dem Kind sein störendes Verhalten verändern?» «Welche Lösungen bietet das Kind an, ohne daß es bisher davon wußte?» Und dies geht - einige Übung vorausgesetzt - schneller, als man glaubt. Peter Rudolf, ein Vater, hört aufmerksam zu, runzelt die Stirn: «Das mit den Dietrichen ist ja alles schön und gut. Aber auch nicht einfach. Also wenn ich jetzt sauer auf meinen zehnjährigen Christoph bin. Er hat sich nicht an Absprachen gehalten. Also, ganz konkret: Wenn er sein Zimmer nicht aufräumt, seine Klamotten rumliegen läßt, so daß sie zerknittern, dreckig werden, werden sie nicht gewaschen. Er muß das machen. Das ist die Absprache. Gut, ich weiß schon im vorhinein, dann zieht er ständig die gleichen Sachen an und stinkt dann, oder was weiß ich, was denken die Leute.» In diesem kurzen Gesprächsausschnitt wird ein weiterer kritischer Punkt perfektionistischer Erziehung thematisiert. Eltern verzichten deshalb auf Absprache und Konsequenz, weil sie meinen, die Folgen ihres Handelns vorauszusehen. Meist sind es Phantasien darüber, was nicht funktioniert. Die negative Prophezeiung trifft dann nicht selten als eine sich selbst erfüllende Vorhersage ein. Eltern betrachten konsequentes Erziehungshandeln häufig unter problematischen Vorzeichen («Was alles passieren könnte!»), kaum unter einer produktiven Perspektive - dies selbst dann nicht, wenn sich positive Folgen zeigen, sich Eltern in ihrer konsequenten Haltung bestätigt sehen. Mit den Dietrichen zu arbeiten meint deshalb, mehr von dem zu praktizieren, was funktioniert - «Tue mehr vom Guten!» Das heißt: Entscheidungen für bestimmte pädagogische Handlungsmuster gelten nur für einen bestimmten Zeitraum, dann werden sie ungültig, die Schlösser haben sich verändert, neue Dietriche müssen her. Dies spricht nicht gegen die alten. Sie sind nicht generell überholt, sie passen nur momentan nicht -2 3 1 -
mehr, müssen deshalb nicht verworfen oder gar weggeworfen werden. Weil Kinder (und Eltern) sich entwickeln, entwickeln sich auch die Beziehungen. Und damit verändern sich Grenzen. Dieses Gefühl, nicht zur Ruhe zu kommen, ist das «Nervende», wie es eine Mutter ausdrückt. «Da hast du das Kind sauber, dann kommt es auf diese Schimpfwörter aus dem Kindergarten, und kaum hast du das klar, sitzt er auf dem Hausdach und schreit: ‹Ich bin Tarzan.› Und wenn du gut drauf bist, rufst du: ‹Deine Liane ist hier unten! Komm runter!› Und wenn du schlecht drauf bist, machst du alle Fehler der Welt auf einmal. Und so geht's weiter - du denkst morgens beim Aufstehen schon: Was der Tag wohl heute noch bringt?»
Was ist falsch? Was ist richtig? Zwei irrationale Überzeugungen rufen jene Probleme hervor, die viele Eltern und pädagogisch Handelnde im Umgang mit Fehlern machen: Ich werde ärgerlich, vielleicht sogar wütend, wenn der Erziehungsalltag nicht so ist, wie ich ihn mir vorstelle oder vorgestellt habe. Natürlich erschweren Frustrationen, die sich aus den elterlichen Erziehungsaufgaben und dem pädagogischen Auftrag ergeben, den Alltag. Aber vielleicht könnte man Frustrationen auch so annehmen: «Es ist blöd, daß mir momentan die permanenten Schwierigkeiten mit dem Kind passieren. Aber ich denke, ich lerne irgendwann, damit umzugehen.» Oder: «Furchtbar, daß mein Kind dauernd so spät einschläft. Aber ich denke, ich finde dafür eine Lösung. Ich laß mir Zeit!« Weniger die Alltagssituationen frustrieren als die Meinungen und Einstellungen, mit denen man viele Erziehungssituationen betrachtet. Eltern und Pädagogen konstruieren ihre Erziehungsrealität selber, indem sie sie - positiv oder negativ bewerten. Damit ist ein zweiter irrationaler Grundgedanke angesprochen, der im erzieherischen Handeln auftaucht: Pädagogisch Handelnde gehen davon aus, daß sie jedes Problem unter Kontrolle haben müssen, daß es für jedes Problem in der Erziehung eine immer gültige Lösung geben müsse. -2 3 2 -
Da viele Menschen schlecht mit Frustrationen umgehen können, deshalb Frustrationen vermeiden, nimmt die Suche nach Rezepten zu, mit denen jede nur denkbare Situation des Alltags scheinbar beherrscht werden kann. Solch ein Perfektionismus versteckt sich hinter Formulierungen wie «Ich sollte...», «Ich müßte...» oder «Ich muß...» Die Psychoanalytikerin Karen Horney hat einmal von der «Tyrannei des Sollte» gesprochen, die einen intoleranten Umgang mit eigenen und den Fehlern der anderen mit sich bringt. Die «Tyrannei des Sollte» führt zu Zwang und Unfreiheit im pädagogischen Handeln, weil man - dem Anspruch nach eigener Vollkommenheit folgend - nichts verkehrt machen will. Zugleich sind damit die Erziehungsbeziehungen negativ berührt, lenkt man die ganze Energie auf die Vermeidung von Fehlern und nicht auf die Kontaktaufnahme, die Beobachtung, die persönliche Ansprache des Kindes. «Ich ärgere mich schwarz, wenn ich Fehler mache. Ich wollte sie nicht machen. Deshalb sollte ich noch mehr lesen und lernen», so der Kommentar eines Vaters zu seinem Erziehungsverhalten. Der amerikanische Psychotherapeut Albert Ellis spricht von «Mußturbatoren» - «Ichmuß», «Alle müssen»... -, die gefühlsmäßig stark belasten, die den Druck auf sich selbst und andere vergrößern. Gelassenheit - zu sich und anderen Menschen - geht darüber verloren. Der Perfektionismus schränkt Lösungen ein: Man sucht nach der theoretisch besten, nicht nach der praktikablen, der lebbaren und der realisierbaren. «Aber diese Haltung», so erzählt Erika Bertram, eine Mutter, «öffnet der Gleichgültigkeit, der Nachlässigkeit, der Gemeinheit gegenüber Kindern Tür und Tor. »Das mag in Einzelfällen sein, in der Regel gibt es Selbstsicherheit und Selbstvertrauen. «Aber wenn ich daran denke», erklärt mir Johanna Krämer, Mutter zweier Kinder, zehn und zwölf Jahre alt, «was ich in meinem Leben schon alles falsch gemacht habe, dann wird mir übel, ganz schlecht.» «Wie sind Ihre Kinder?» frage ich.
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Sie winkt ab: «Ach, die sind schon o.k.» Frau Krämer hebt ihre Schultern, lächelt: «Die sind wunderbar!» «Vielleicht haben Sie wunderbare Fehler gemacht!» Sie schaut ungläubig, etwas verständnislos. «W as würden Ihre Kinder sagen, wenn sie hier wären?» Frau Krämer ganz spontan: «Daß ich, glaube ich, absolut normal bin. Mal bin ich der Typ Hexe, mal richtig 'ne Mutter zum Kuscheln.» Viele Eltern lesen Ratgeber, entdecken dabei die gemachten Fehler in der eigenen Erziehung und «bekommen ein schlechtes Gewissen», wie Frau Krämer an anderer Stelle formuliert. Falsch ist aber nur dann etwas, wenn man weiß, was richtig ist. Das allgemeine Wissen über Erziehungsfragen nimmt enorm zu. Das macht Erziehung aber nicht nur leichter, das bedingt auch Handlungsunsicherheiten. Eltern erfahren von den problematischen Auswirkungen bestimmter Erziehungsstile. Sie fühlen sich verunsichert, fragen sich, welche Auswirkungen ihr Handeln wohl bei ihren Kindern bewirkt hat. Und manche Eltern stellen nun fest, daß ein Fehler, der objektiv einer war, vom Kind produktiv verarbeitet worden ist. Denn Kinder sind nicht allein Opfer, sie sind Gestalter ihrer Welt. Dies darf nicht als Freibrief dafür mißverstanden werden, den Willen der Kinder zu brechen, Erziehung als Zurichtung zu inszenieren. Wenn Eltern Kinder regelmäßig sprachlich oder körperlich züchtigen, dann handeln sie falsch: Das Wissen über die verhängnisvollen Folgen, die sprachliche oder körperliche Attacken für die kindliche Entwicklung haben können, ist mittlerweile Allgemeingut. Sätze wie «Ein paar Schläge haben noch nie geschadet» oder «Kleine Kinder sind wie kleine Hunde. Letztere brauchen hin und wieder den Stock» drücken nicht allein fehlenden Respekt vor der kindlichen Persönlichkeit aus, sie beschreiben die Unfähigkeit, nach Möglichkeiten für einen partnerschaftlichen Weg in den Erziehungsbeziehungen zu suchen.
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So notwendig mithin die Reflexion über Erziehungsstile ist, so wichtig ist es, mit Sensibilität den Fehlern im pädagogischen Handeln nachzuspüren, um dann an deren Überwindung zu arbeiten. Doch haben solche Prozesse nichts zu tun mit Selbstanklage, Selbstmitleid und Selbstbezichtigungen. Wer Energien in die Vermeidung von Fehlern steckt, wer beim Ärger über gemachte Fehler steckenbleibt, handelt rückwärtsgerichtet - und wird die Fehler ständig wiederholen. Wichtiger, folgen- und erfolgreicher scheint es, sich einzugestehen: «Fehler gehören zu mir.» Oder: «Ich kann Fehler machen.» Damit nimmt man seine Fehler an, sieht sie als Teil seiner Persönlichkeit und kann nach Wegen suchen, seine Probleme und Konflikte anders zu lösen. Glauben Sie mir: Fehler und Schwierigkeiten in der Erziehung ständig zu vermeiden, ihnen aus dem Weg zu gehen, ist schwieriger als sich ihnen offensiv und produktiv zu stellen. Elisabeth Klein erzählt, wie sie sich über Bianca, ihre achtjährige Tochter, «schnell ärgert». «Mal ist es ihre Bummelei am Morgen, dann das unaufgeräumte Zimmer, dann sind es die Hausaufgaben. Alles hab ich ihr tausendmal gesagt. Und sie ununterbrochen: ‹Ja, ja›. Aber es ist das gleiche Lied. Wir rasseln ständig zusammen.» Sie schüttelt bei der Schilderung den Kopf. «Erst bin ich noch ganz ruhig. Sage mir: ‹Nicht schreien, heute nicht!› Das geht auch eine Weile. Aber dann platze ich.» Ihre Arme und Hände schnellen bei der Schilderung jäh in die Luft, einen ausbrechenden Vulkan symbolisierend. «Dann rennt meine Tochter aus dem Zimmer, knallt die Tür zu. Ich bleibe genervt sitzen. Und dann zermartere ich mir den Kopf. Du bist eine blöde Mutter. Du solltest ruhig bleiben. Minutenlang geht das. Manchmal noch länger. Ich zerfließe in Selbstmitleid. So geht das.» Sie unterbricht sich, ihre Augen gehen zur Tür. «Und wenn dann mein Mann nach Hause kommt, schmunzelt der nur: ‹Ihr mit eurem Beziehungsstreß.› Oder ganz pädagogischer Klugscheißer: ‹Das kommt, weil du so inkonsequent bist.›» Ihre Augen fixieren einen fernen Punkt, ihre Lippen machen eine Bewegung, als ob sie ihren Mann zermalmen würde. Dann bricht es wie in einem Stakkato aus ihr -2 3 5 -
heraus: «Ich sollte gelassener werden! Ich sollte konsequenter sein! Ich sollte ruhiger werden! Und ich sollte... und ich sollte... und ich sollte... Mein Gott, was ich nicht alles sollte.» Ich warte, bis sie sich beruhigt hat, dann sage ich zu ihr: «Ich kann gelassen sein. Ich kann lassen. Ich kann konsequent sein. Vor allem: Ich kann Fehler machen. Das sind Ihre Sätze.» Sie sieht mich an. «Aber ich will doch keine Fehler machen, verdammt!» «Machen Sie keine?» - «Doch!» Sie wirkt ärgerlich: «Natürlich!» - «Also», sage ich. «Ich mache Fehler. Ich kann sie machen. Und ich lebe noch, auch wenn ich Fehler mache!» - «Hab ich verstanden! Denken Sie, ich bin bekloppt? Ist mir doch im Kopf alles klar. Was soll ich machen?» -«Sie können 25 Fehler am Tag machen!» - «Wieviel?» fragt sie mit einer Mischung aus Lachen und Entsetzen. «25! Wieviel haben Sie heute gemacht?» Sie lächelt, denkt kurz nach: «Viele!» - «Ist ein guter Tag. So wenig Fehler. Und schon so viel Anklagen.» Sie lacht: «Ich wollte mal Richter werden.» - «Nun haben Sie's leichter. Die Richterin und die Beschuldigte sind jeden Tag da!» Sie runzelt die Stirn. «Versteh' ich nicht!» - «Sie spielen jeden Tag das von ihnen gern gesehene Stück: Ich klage mich an!» Sie lacht. «Was soll ich denn mit den blöden Fehlern machen?» - «Sie sehen, sie annehmen, sie überwinden. Und wenn sie dann verschwunden sind, schnell neue machen. Denken Sie an Ihr Theaterstück. Das gab's sonst nicht mehr.» - «Aber ich will ganz andere Stücke spielen!» - «Wollen Sie's oder können Sie's?» - «Ich kann's. Hoffentlich!» Wir einigen uns auf ein Vorgehen. Am Abend, wenn sie beginnt, sich Vorwürfe zu machen, wenn sie anfängt, sich über ihre Fehler aufzuregen, solle sie an den «schlimmsten Fehler» des Tages denken, ihm eine Gestalt geben, eine freundliche, keine häßliche Gestalt, eine, die sie gerne anschaut. Dabei könne sie sich sagen: Die gehört zu mir. «Und dann», sage ich zu ihr, «holen Sie sich ein Glas Wein und prosten dem Fehler zu. So fangen Sie an, ihren Fehler zu genießen.» Sie wählt sich eine kleine Hexe als Gestalt, die wie ein lustiger Troll aussieht. «Das soll helfen?» -2 3 6 -
Sie ist skeptisch, ihrer Mimik und Körperhaltung nach zu urteilen. Wir treffen uns einige Wochen später wieder. «Es ist wie verhext. Ich kann mich nicht mehr ärgern. Meine Tochter beklagt sich, ich wäre so ruhig, würde gar nicht mehr ausflippen. Und ich brauche auch keine 25 Fehler mehr. Heute habe ich noch gar keinen gemacht. Es ist geradezu unheimlich.» Dann berichtet sie, wie sie sich am Abend in den Sessel setzt, es sich gemütlich macht. «Ich sah mich in Gedanken oben am Richtertisch. Bierernst. Fürchterlich, dachte ich, da muß Bianca ja verrückt werden. Ich sagte zu meiner Richterin: ‹Elisabeth, lächle!› Und sie hat gelächelt. So mochte ich mich viel lieber leiden. Ich habe ihr zugeprostet. Und vor meinem Richter stand mein Fehler. Ich hatte Bianca am Nachmittag aus dem Zimmer geschmissen, weil sie ausfällig wurde. O.k.! Und ich hab in Gedanken zum Fehler gesagt, das war nicht in Ordnung. Aber kein Grund in Sack und Asche zu gehen. Am nächsten Tag habe ich mich bei Bianca entschuldigt. ‹Ist schon gut›, hat sie gemurmelt.» Die Mutter denkt nach, lächelt: «Witzig. In den nächsten Tagen, merkte ich, fiel eine Last von mir ab. Ich fühlte mich freier. Und wenn ich mich ärgerte über irgend etwas, sah ich meine Richterin an und sagte: ‹Lächle, Elisabeth!› Das muß auch Bianca mitbekommen haben. Irgendwie hab' ich nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich geschmunzelt.» Bianca rückte dann näher an ihre Mutter heran. «Mama, ist irgend etwas mit dir? Früher hast du geschrien, jetzt lachst du. Du bist so ruhig geworden.» Da ist die Mutter ausgeflippt. Sie erinnert sich: «Und da, da ist's mir doch mit einem Male wieder hochgekommen. Voller Wut habe ich geschrien: ‹Kann ich's dir denn nie recht ma-chen!› Oh, Mensch, war ich sauer. Und wissen Sie, was Bianca gesagt hat?» Ich schüttelte den Kopf. «Gott sei Dank, Mama, du bist noch die alte.»
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Kapitel 2 Erwartungsdruck macht unsicher
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«Wenn man Bücher liest, auf Seminaren etwas über Kindererziehung hört, dann klingt das schlüssig und plausibel.» So formulieren Eltern in Briefen. «Aber im Alltagsstreß, vor allem wenn noch andere Menschen zuschauen, egal ob nun Freunde oder fremde Menschen, dann klappt nie etwas.« Doris Rohde kommt mit ihren beiden Kindern zum Einkaufen in den Supermarkt. Benjamin, vier Jahre, und Michael, sechs Jahre, verwandeln sich, so die Mutter, auf dem Parkplatz «in richtige kleine Ungeheuer. Zu Hause sind sie die normalsten Kinder, aber wenn andere da sind...» Sie schüttelt ihren Kopf, «...ist es, als ob sie Zuschauer brauchten.» Zwar fährt sie mit der Hoffnung in den Supermarkt, «heute passiert nichts» gleichwohl vergeblich. Die Ängste der Mutter vor dem Chaos, das ihre Kinder anrichten, erfüllten sich jedes Mal, also auch heute. Kaum ist Benjamin aus dem Auto gestiegen, rennt er zum Einkaufswagen, will ihn der Mutter bringen. Michael läuft hinterher, entreißt ihm den Wagen. Geschrei, Gerangel - die Mutter geht dazwischen, nimmt sich Benjamin, setzt ihn - ruckzuck - in den Wagen; packt Michael an der Hand, zieht ihn, eher heftig als sanft, hinter sich her. Der tritt um sich, zerrt, schreit lauthals: «Laß mich endlich los!» Benjamin will mittlerweile aus dem Wagen klettern, die Mutter drückt ihn kräftig zurück: «Du tust mir weh. Aua! Aua!» Er weint, nein: er brüllt so laut, als ob man ihn umbringen wolle. Allmählich werden andere Menschen auf den Machtkampf aufmerksam. Vergnügt: «Spannender als Fernsehen», neugierig: «Wie das wohl weitergeht?», kopfschüttelnd: «völlig überfordert», erleichtert: «Gut, daß ich keine kleinen Kinder mehr habe», besserwisserisch-intolerant: «links und rechts was an die Backen, dann sind sie still», sind die höchst unterschiedlichen Reaktionen. Die Mutter spürt die Blicke, ihr wird heiß, die Gedanken sind nicht mehr klar, sie fühlt Hektik und Ratlosigkeit in sich aufsteigen.
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«Und je mehr ich an die anderen Leute dachte, um so mehr verlor ich die Kinder aus dem Blick», so deutet sie später zutreffend die Situation. Benjamin setzt in der Zwischenzeit auf die schon oft mit Erfolg praktizierte Wasserkraft-Methode - also Tränen in den Augen - und erhält mit weinerlich-trotziger Stimme seine Aufmerksamkeit: «Ich will raus.» Er nervt mit schrillen Quengeltönen so lange, bis die Mutter ihn aus dem Wagen heraushebt: «Aber nicht herumtoben! Hörst du!» Benjamin hört natürlich nicht, denn kaum steht er mit beiden Beinen auf dem Boden, reißt er sich los, verschwindet hinter einem Regal. Michael hinterher. «Ihr könnt mir helfen. Holt da hinten eure Salzstangen.» Frau Rohde erklärt: «Damit hatte ich gute Erfahrungen gemacht. Wenn ich sie ablenkte, waren sie ruhiger, und ich konnte meine Sachen wenigstens einigermaßen erledigen.» Frau Rohde packt schnell ein paar Lebensmittel ein, weil sie mit «beiden Ohren immer bei den Kindern» ist. Doch braucht sie dieses Mal nicht beide Ohren: «Ein Schwerhöriger hätte auch ohne Hörgerät meine beiden Kinder noch gehört.» Riesiges Geschrei ertönt jenseits der Regale. Benjamin und Michael streiten sich um Tüten, zanken darüber, wer welche und wie viele zu nehmen habe. Sie zerren, sie stoßen, sie schubsen sich, sie rangeln - bis Benjamin rücklings in einen hohen Stapel mit Chips, Salzstangen und anderem Knabbergebäck fällt. Ein Chaos, ein Auflauf, Tüten über Tüten fallen auf Benjamin, viele liegen über ihm, er erschrickt und schreit. Die Mutter reißt ihn hoch. Wutentbrannt und außer sich, versetzt sie Michael ein paar heftige Klapse auf den Po. «Na endlich», hört sie eine Frau neben sich sagen. «Unmöglich, man schlägt keine Kinder», entrüstet sich eine andere. Nun weint auch Michael - aus Wut, aus Enttäuschung, aus Schmerz. Benjamin befreit sich aus seiner mißlichen Lage, rappelt sich hoch, läuft auf seinen Bruder zu, tritt ihm voll gegen das Schienbein - und lächelt. «Bist du denn verrückt -2 4 0 -
geworden», faucht sie Benjamin an, reißt ihn herum, hält ihn mit beiden Händen offensichtlich schmerzhaft am Handgelenk fest. «Aua! Aua! Mama, du tust mir weh.» Benjamin zappelt, wütet, gleichwohl vergeblich. Der Griff der Mutter bleibt fest, verursacht wohl auch Schmerz - bis eine der Frau Rohde unbekannte Frau sich in den Weg stellt und gereizt meint: «Nun seien Sie nicht so grob!» - «Der hätte ich bald eine gescheuert! Noch ein Wort und die wäre tot gewesen», erinnert sich Doris Rohde im nachhinein. Benjamin reißt sich los, geht zwei Schritte zur Frau, baut sich vor ihr auf und streckt ihr seine Zunge heraus. Konsterniert, kopfschüttelnd dreht diese ab. «Benjamin», ruft die Mutter mit einer Mischung aus Entsetzen und Überraschung. «Das macht man nicht!» «Dabei», so die Mutter beim Nachdenken, «hat er genau das gemacht, was ich mir nicht traute.» «Tja, irgendwie sind wir raus aus dem Supermarkt. Ich war schweißgebadet, spürte beim Verlassen der Halle Tausende Blicke, mitleidig, ärgerlich, wütend...» Benjamin und Michael halfen beim Schieben des Wagens und lächelten sich dabei verschmitzt an. «Und im Auto waren sie die nettesten Kinder der Welt, meine Kinder.» Ihre Augen richten sich nach oben, so als suchten sie dort ihre beiden blonden verlorenen Engel. Eine Situation, wie sie viele erleben - und für sie ist das eine Situation voller Streß, an deren Ende Gefühle absoluter Hilflosigkeit stehen. «Es ist», so die Mutter, «als ob sie wirklich Zuschauer brauchten!» Kinder testen Grenzen durch Versuch und Irrtum aus - dies insbesondere in Situationen, wo ihnen verläßliche Regeln, klare Grenzen fehlen oder in denen Erwachsene unklar, ungekonnt oder unsicher handeln, weniger ihrer Intuition, ihrem Gespür vertrauen, als ihr Erziehungshandeln danach richten, was Umherstehende erwarten. Kinder haben ein sehr feines Gespür für diese Unsicherheit. Sie fühlen: «Mama oder Papa würden anders handeln, wenn ich mit ihnen allein wäre. Sie nehmen mich nicht ernst, nicht ich -2 4 1 -
bin wichtig, sondern die anderen. »Und da Kinder diesem Gefühl in der Regel keinen sprachlichen Ausdruck verleihen können, verletzen und überschreiten sie so lange Grenzen, bis ihnen Aufmerksamkeit gewiß ist. Michael und Benjamin hielten sich im Haus an Regeln, sie waren Absprachen und Rituale gewohnt. Auch Doris Rohde verhielt sich in vertrauter Umgebung konsequent. «Mama ist beim Einkaufen ganz komisch», erzählt Michael einmal, und bringt damit die Verhaltensunsicherheit seiner Mutter auf den Punkt. «Ich will es allen zeigen», entfährt es ihr spontan, als ich die Frage stelle: «Wollen Sie anerkannt sein?» - «Ich will es besonders gut machen!» Und sie fährt fort: «Wissen Sie, ich war zehn Jahre als Erzieherin hier im Kindergarten tätig, habe viele Gespräche mit Eltern über Erziehung geführt und so.» Sie atmet tief aus. «Tja und nun will ich's eben allen zeigen, ich kann's nicht nur theoretisch. Ich kann's auch praktisch. Und zu Hause klappt es ja auch, aber wenn Leute da sind, vor allem, die ich kenne.» In dieser Äußerung kommt eine weitere Variante des Perfektionismus durch, die die Erziehungsbeziehung zwischen Eltern und Kindern mehr als kompliziert gestaltet: Der Versuch, von allen nicht nur anerkannt, sondern geradezu geliebt zu werden, führt zu der fixen Idee, daß es keinen geben darf, der einen ablehnt, der negativ über einen redet. Der eigene Blick konzentriert sich nicht auf Stärken, auf Menschen, die einen mögen - alles fokussiert sich auf jene, die man auch noch von sich und seinen ungeahnten Kompetenzen überzeugen muß. Die Folge: Man stuft sich herab, verleugnet eigene Bedürfnisse und macht sich in seinem erzieherischen Handeln von anderen abhängig. Man wird fremdgesteuert - dieses Gefühl hat Michael für die Supermarktsituation so ausgedrückt: «Mama ist so komisch.» Und an einer anderen Stelle sagt er: «Die sieht mich gar nicht. Die hört nicht zu.» Doris Rohde handelt nicht so, wie sie möchte, sondern so, wie sie meint, andere würden es von ihr erwarten. Dabei macht sie sich -2 4 2 -
gefühlsmäßig von der Zuwendung anderer, ihr völlig fremder Menschen abhängig. Sie setzt und formuliert nicht mehr jene Grenzen, die sie als bedeutsam erachtet. Sie handelt unsicher, weil sie - indem sie auf eigene Bedürfnisse verzichtet - sich von anderen (vermuteten) Meinungen abhängig macht. «Was ist das Schlimmste, was Sie sich in einer solchen Situation ausmalen könnten», frage ich. «Daß alle schlecht über mich reden!» - «Alle? Der ganze Ort?» Sie grinst: «Na, schon viele!» - «Gibt's noch schlimmere Bilder?» frage ich. Sie denkt nach, ihre Augen wandern hin und her, dann lacht sie: «Manchmal denk ich mir, die warten im Supermarkt schon auf mich, wie ich dienstags und freitags mit den Kindern komme. Ja, die kaufen nur noch ein, weil ich komme. Ich bin besser als diese komischen Sendungen im Fernsehen, wo nur noch geschrien wird. Wenn ich mir das vorstelle», sie hält die Hände vors Gesicht, «die kommen nur wegen meiner action.» «Stellen Sie sich das einmal vor.» Ich verstärke das Bild: «Tausende von Menschen stehen auf dem Parkplatz vom Supermarkt, in der Stadt hängen Plakate: Am Freitag versucht Frau Rohde ihre Kinder zu erziehen. Eintritt kostenlos. Chaos garantiert. Frau Rohde referiert im Anschluß über Theorie und Praxis in der Kindererziehung.» Sie hat die Hände noch vor dem Gesicht. «Wahnsinn!» murmelt sie. «Einfach Wahnsinn!» Sie ist still, wirkt nachdenklich. «Können Sie sich das vorstellen?» - «Was? Ich soll das machen?!» - «Nein! Vorstellen! Plakate aufstellen! Alles in Gedanken! Sich vorstellen, wie die Leute Sie auf dem Parkplatz empfangen!» Sie ist still, sagt nichts mehr, ihr Blick geht nach innen, sie schmunzelt: «Ich stell schon Plakate auf den Straßen zum Supermarkt auf!» Zwei Wochen später, Fortsetzung des Familienseminars. Sie berichtet : «Ich hatte die ganze Straße zum Supermarkt mit den Plakaten vollgestellt. Auf dem Weg dorthin habe ich sie richtig gesehen. Heiß und kalt war mir. Michael und Benjamin waren -2 4 3 -
anders als sonst. Ich glaub, die haben die Plakate auch gesehen. Und je näher ich dem Supermarkt kam, um so aufgeregter wurde ich. Und dann bin ich auf den Parkplatz gefahren, Tausende Menschen waren da. So richtige Geier. Und ich hab alle gegrüßt. Habe ganz generös mit den Händen gewunken. Also, ich muß wohl auch wirklich mit dem Kopf genickt haben, weil Michael meinte: ‹Mama, wen grüßt du denn? Ich seh da keinen.› Da hab ich laut losgelacht. Und der Kleine hat auch gelacht.» «Und?» «Ich bin ganz selbstbewußt ausgestiegen, Benjamin trug den Korb, Michael holte den Wagen. Es war ein Friede, die waren ganz anders als sonst!» Frau Rohde ging in den Supermarkt, «ich glaube, einige waren enttäuscht, weil's keine Krise gab.» Sie lächelt: «Als wir dann bei den Salzstangen vorbeikamen, streckte Benjamin plötzlich die Zunge raus: ‹Weißt du noch, Mama, neulich!› Michael sagte beim Hinausgehen: «Du bist heute so anders, Mama. Du hast richtig gelacht, sonst drehst du immer gleich durch.» «Irgendwie mußte ich das nun ganz zu Ende bringen», sagte Frau Rohde. «Ich hab mir dann auf dem Parkplatz nochmals die Leute vorgestellt, ins Publikum gewunken. Und das war so automatisch, ich hab wirklich gewunken. Und die Kinder haben auch gewunken. Und wissen Sie, es gibt ja keine Zufälle. Just in dem Moment, wo wir alle drei gewunken haben, kommt diese blöde besserwisserische Kuh von neulich auf den Parkplatz gefahren. Mein Gott, hab ich gedacht, was die jetzt wohl denkt?» Sie stockt kurz, findet dann selbst ihre Antwort: «Die denkt wohl, ich bin völlig abgedreht. Bin ich ja auch!» Die Abhängigkeit von anderen blockiert das Handeln, schränkt die Vielfalt von Lösungsmöglichkeiten ein. Subjektive Bewertungen, z.B.: «Wenn alle meinen Fehler sehen, dann ist das schlimm.», führen zu Selbstvorwürfen, zu einer Sicht der Realität, die mehr mit eigenen Ängsten und Unsicherheiten zu tun hat als mit der die Person umgebenden Wirklichkeit. Benjamin und Michael haben ihre Mutter nun als authentisch und klar erlebt. Doris Rohde hat ihre schlimmsten Phantasien durchgespielt und dabei festgestellt: Das Leben geht weiter. -2 4 4 -
Die Dietriche zu Lösungen hat nur sie in der Hand. Gibt sie diese aus der Hand, verliert sie ihre Handlungskompetenzen, macht sich abhängig von anderen, läßt ihre Kinder, die auf sie angewiesen sind, im wahrsten Sinne des Wortes allein.
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Kapitel 3 Kinder hören nicht auf «gute» Worte
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«Manchmal denke ich, mein Kind versteht mich nicht. Oder will mich nicht verstehen! Es kapiert mich nicht! Und dann sage ich es hundertmal... Und immer und immer wieder. Am Anfang noch ruhig, aber dann schreie ich doch. Wie bewahre ich Ruhe vor dem Sturm?» Anne Hausmann erzahlt von ihrer neunjährigen Caroline. Anne neigt zum «Labern», zu «unendlichen Erklärungen», wie sie selber sagt. Sie hat Schwierigkeiten, klare Anweisungen zu geben, setzt selbst da keine Grenzen, wo sie notwendig sind. Eines Abends wollte Caroline nicht ins Bett. Es folgte eine lange Diskussion, die sich zwischen mütterlichem Verständnis und gereiztem Ton hochschaukelte. Die Mutter erklärte in umständlichen, sich wiederholenden Ausführungen, warum es wichtig sei, daß neunjährige Mädchen mindestens neun Stunden schlafen müßten. Je langatmiger die Erklärungen, um so mehr rollte Caroline ihre Augen. Sie zog das Gespräch mit ständigen «Warums» oder einem beharrlichen «Versteh ich nicht!» in die Länge. Obgleich Anne Hausmann einem Nervenzusammenbruch nahe war, blieb sie zumindest äußerlich ruhig, setzte immer wieder von vorne an, um ihre Tochter mit ihren Argumenten zu überzeugen. Als der Mutter die Argumente auszugehen drohen, hält sich Caroline die Ohren mit den Händen zu, schaut sie fest an: «Mama, ich höre dich nicht. Aber ich mache, was du möchtest.» Sie steht auf, geht aus dem Zimmer, legt sich ins Bett. Die Mutter kommt, um «Gute Nacht» zu sagen. Sie kann es sich aber nicht verkneifen, die Angelegenheit nochmals zu erklären. Da gehen Carolines Hände wieder zu den Ohren: «Ich höre nicht, was du sagst! Aber ich mache es!» Der andere Morgen. Anne Hausmann sitzt am Frühstückstisch, ist völlig verunsichert, weiß nicht, wie sie ihrer Tochter begegnen soll. Caroline kommt dahergestürmt, fröhlich, selbstbewußt. Anne Hausmann hat sich vorgenommen, die abendliche Situation nochmals zu besprechen. Carolines Hände schnellen zu den Ohren hoch: «Ich hör nix, Mama!» Sie löst die Hände von den Ohren, umfaßt ein Glas mit Milch und trinkt es mit hastigen Schlucken aus. «Caroline, davon -2 4 7 -
bekommt man Bauchschmerzen.» Caroline lacht. Schon wieder die Erklärungen! Carolines Hände gehen zu den Ohren. «Jetzt ist aber Schluß!» Anne Hausmanns Stimme hat einen schrillen Klang. Caroline wirkt ruhig: «Mama! Ich hör dir nicht mehr zu! Aber ich mache, was du willst!» Morgendliches Aufstehen, Bummelei beim Anziehen, das liegengelassene Frühstück, unerledigte Hausaufgaben - in solchen alltäglichen Situationen brechen schnell heftige Gefühle aus. Gesichtsverlust, Ärger, Rachegefühle oder beleidigter Rückzug sind die Folge. Dabei verlaufen diese Konflikte nach einem von allen beteiligten Personen – unbewußt - festgelegten Drehbuch: Die Eltern beobachten eine Situation, die für sie klar ist, für die Kinder jedoch nicht. Die Eltern beobachten einen Sachverhalt, der sich für das Kind einleuchtend darstellt, für die Eltern aber mißverständlich. Aus diesem Mißverständnis entwickelt sich in kürzester Zeit Beziehungsstreß. Die Eltern wollen «ruhig» bleiben, artikulieren aber nicht klar ihre Grenzen. Das Kind stört weiter, ist auffällig, will verstanden, besser: angenommen werden. Irgendwann platzt den Eltern der Kragen, sie deuten - mal schreiend, mal wild gestikulierend, mal gefährlich leise zischend - Grenzen an. Das Kind hält ein, gehorcht, paßt sich an - bis am nächsten Tag das neue, alte Spiel von vorn beginnt.
Mehrdeutige Botschaften Viele Erziehungsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern geraten durch die unklare Sprache der Erwachsenen ins Ungleichgewicht. «Ich rede und rede», erzählt mir Gisela Schwarz, «rede mir den Mund fusselig, bemühe mich, freundlich zu sein, aber nichts passiert. Erst wenn ich die böse Hexe spiele, dann hören sie!» Als sie dies entrüstet erzählt, nicken die anderen anwesenden Eltern zustimmend. Erwachsene verhalten sich - ich hatte es gesagt - gegenüber Kindern unklar. Sie ärgern sich z. B. über die Bummelei, die Unordnung, zeigen mit ihrer Gestik und Mimik jedoch eine -2 4 8 -
wenn auch verbissen - freundliche Stimmung an. Das Kind hört zwar Fragen wie: «Würdest du bitte aufräumen?» «Könntest du dich vielleicht beeilen?» Doch Fragen setzen keine Grenzen. Das Kind deutet in der Mimik und Gestik des Erwachsenen Zeichen von Anspannung - z.B. schmale Lippen, schmale Augen, Stirnrunzeln -, die fragende Stimme klingt hingegen noch (!) ausgeglichen. Kinder können mit solch unklaren Botschaften nicht umgehen. Deshalb erzwingen sie durch ihr Handeln einen in sich stimmigen Erwachsenen; soll heißen: Sie akzeptieren erst Grenzen, wenn sie klar artikuliert werden. Sie nehmen den Erwachsenen erst dann an, wenn dieser in Gestik, Stimme und Sinn der Worte übereinstimmt. Mit den Worten des neunjährigen Claudius ausgedrückt: «Wenn ich nicht weiß, was genau läuft, dann mache ich meinen Scheiß weiter. Weil, meine Eltern sind ja immer noch so freundlich. Obgleich ich merk, gleich ist's soweit. Gleich explodiert sie. Und dann platzt sie auch. Gut, denke ich, hab ich doch nicht falsch gelegen. Hatte ich doch recht. Ich weiß nicht, aber meine Eltern machen es sich so schwer. Warum sagen sie denn nicht eher ‹Nein!›?» Claudius formuliert intuitiv, was die Kommunikationspsychologie durch zahlreiche Untersuchungen belegt hat: 55 Prozent der Kommunikation läuft über Körpersprache, über Mimik und Gestik, 38 Prozent läuft über den Stimmklang und die Art des Sprechens, lediglich 7 Prozent vermittelt sich den Kindern über den Inhalt, den Sinn der Worte. Mißverständnisse in der Eltern-Kind-Kommunikation haben ihre Ursache in der Unklarheit, mit der viele Erwachsene Absichten und Grenzen formulieren.
Kontakt aufnehmen Hinzu kommt ein weiterer, häufig übersehener bzw. wenig beachteter Aspekt. Eltern überschätzen nicht allein die Wirksamkeit ihrer Worte und Anweisungen. Sie unterschätzen zugleich, wie wichtig es ist, sich dem Kind zuzuwenden, Kontakt zu ihm aufzunehmen, wenn sie ihm etwas mitteilen -2 4 9 -
wollen. Kinder - und Erwachsene natürlich auch! - wünschen, angesprochen zu werden, sie wollen sich angesprochen fühlen. Wenn Eltern den Kindern sprachlich Grenzen setzen wollen, sollten sie - auch eingedenk der oben angeführten Untersuchung folgende Reihenfolge beachten: Kontaktaufnahme mit den Augen, Körperkontakt, dann eine eindeutige Sprache. Manuela Hard erzählt: «Mein Stefan ist vier. Früher habe ich geredet und geredet. Hör auf! Komm jetzt! Laß das! Das ging und ging und ging ewig weiter. Das fand kein Ende. Tja, und warum sollte er auch aufhören? Ich stand in der Küche, machte irgend etwas, war mit mir oder Dingen beschäftigt, und er tobte da im Wohnzimmer vor sich hin.» «Was haben Sie verändert?» frage ich. «Wenn ich etwas möchte, z. B. daß er aufräumt, dann sage ich nicht mehr ‹Räum' auf!›, ‹Räum' endlich auf!› oder ‹Wann räumst du denn endlich auf?› Nein, ich gehe hin, hocke mich vor ihn hin, schau' in seine Augen, nehme manchmal seine Hände, formuliere einen kurzen knappen Satz: ‹Stefan, ich möchte, daß du aufräumst!› Meistens klappt das. Manchmal rufe ich aus der Entfernung nur ganz deutlich: ‹Stefan!› Dann weiß er Bescheid, und meistens hält er sich dann an die Absprache. Und wenn nicht, dann weiß ich, es geht ihm gar nicht um das Aufräumen. Dann will er mit mir in einen Machtkampf eintreten.» Sie denkt nach: «Vor allem hat das unendliche Labern jetzt aufgehört!» Manuela Hard hat ihre Priorität auf ein klares, für Stefan verständliches Handeln gelegt: Er fühlt sich in Augen- und Körperkontakt angenommen. Er fühlt, seine Mutter redet nicht «um den heißen Brei»; sie sagt, was sie erwartet. «Unsere Beziehungen wurden klarer», erinnert sie sich. «Und auch er wurde eindeutiger. Früher erpreßte er mich, nötigte mich mit Tränen. Jetzt sagt er klarer: «Ich will das! Ich möchte das!› Und wenn ich dann nicht bei der Sache bin, kommt er auf meinen Schoß, sagt ganz bestimmt: ‹Mama!› Und wenn ich dann immer
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noch nicht zu ihm hinschaue, dreht er mein Gesicht in seine Richtung, damit ich ihn sehen kann.» Klarheit in der Sprache und Festigkeit im Gefühl läßt gegenseitigen Respekt entstehen. Partnerschaftlichkeit und Gleichwertigkeit in Beziehungen läßt sich nicht in allen Situationen gleichermaßen leben; sie ist das Ergebnis andauernder Bemühungen, ist das Resultat eines Prozesses.
Manche Fragen nehmen Kinder nicht ernst Nicht selten bringen Fragen, die bereits klare Festlegungen enthalten, einen Machtkampf mit sich, weil diese Fragen die Kinder nicht ernst nehmen. Wenn Eltern ihre Kinderz. B. fragen: «Wollen wir heute zu Oma?», die Entscheidung zum Besuch aber längst von den Eltern gefällt ist, so bleibt den Kindern ein angepaßtes «Ja!», ein gleichgültiges «Meinetwegen! »oder ein trotziges, selbstbestimmtes «Nein!» übrig. Wenn Kinder an Entscheidungsprozes sen nicht beteiligt sind bzw. werden, dann ist es für das Kind einleuchtender und begreiflicher, das Ergebnis mit fester und freundlicher Stimme mitzuteilen: «Ich möchte heute zu Oma und möchte, daß du mitkommst!» Dies muß nicht zu Begeisterungsstürmen des Kindes führen, zeigt ihm aber die Wünsche, die Bedürfnisse und das Wollen der Eltern an. Vieles spricht dafür, Kinder am Weg zu einer Entscheidung zu beteiligen, fördert dies doch auch die Bereitschaft, Mut zu eigenen Entscheidungen zu entwickeln und Verantwortung dafür zu übernehmen. Dann ist es wichtig, mit einem offenen Ausgang in das Gespräch zu gehen: «Ich habe mir überlegt, zu Oma zu gehen. Was meinst du dazu?» Oder: «Hättest du Lust zur Oma zu gehen? » Oder: «Wir könnten mal wieder Oma besuchen. Was hältst du davon?» Bedeutsam ist bei diesem Vorgehen, daß keine Vorentscheidung gefallen ist, daß das Kind spürt, an einer Entscheidung mitzuwirken. Es ist mithin wichtig, sich vor (!) dem Gespräch darüber klar zu sein: Teilt der Erwachsene dem Kind eine bereits getroffene Entscheidung mit, oder will der
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Erwachsene gemeinsam mit dem Kind zu einer Lösung kommen, die alle an der Situation Beteiligten zufriedenstellt.
Ich-Botschaften Nicht nur Kinder, auch Erwachsene können mit pauschalen Vorwürfen schlecht umgehen. Sätze wie: «Du räumst nie auf!», «Du bummelst nur!», «Du kommst immerzu spät!», «Du bist immer nur noch frech!» entmutigen Kinder nicht nur, sie bringen Erwachsene dazu, Kinder nur noch unter bestimmten negativen Gesichtspunkten zu betrachten. Kinder entwickeln umgekehrt Minderwertigkeitsgefühle, Wünsche nach Rache und Vergeltung, d. h., sie treten mit den anklagenden Eltern in einen Machtkampf ein, machen das familiäre und häusliche Zusammenleben zur Hölle. Vorwürfe, die mit «nie», «immer», «nur» daherkommen, sind unzulässige Verallgemeinerungen, sie enthalten nicht selten direkte oder indirekte Beschuldigungen, sind Ausdruck dafür, daß Kindern bestimmte Verhaltensweisen zugeschrieben werden. Nun brauchen Eltern nicht jede Störung oder Auffälligkeit des Kindes hinzunehmen, dies vor allem dann nicht, wenn es sich um nicht eingehaltene Absprachen oder die persönliche Integrität der Eltern handelt. Entscheidend ist mithin, wie Eltern Störungen thematisieren. Ich betone nochmals: Vorwürfe, verallgemeinernde Anklagen helfen Kindern nicht. «Das ist unmöglich, daß du ständig unpünktlich bist», schimpft Robert Holz seinen Sohn an. Hannes verspätet sich tatsächlich häufiger. «Hab's vergessen», versucht er zu beschwichtigen. «Du vergißt alles. Das ist zum Mäusemelken mit dir.» «Du bist nur schlecht gelaunt», kontert Hannes. «Bis eben hatte ich gute Laune.» «Dein Gesicht sah schon beleidigt aus, als du mich gesehen hast.» «Jetzt hör aber auf!» erwidert der Vater scharf. -2 5 2 -
«Was kann ich dafür, daß du so eine blöde Kindheit hattest.» Mit diesen Worten verläßt Hannes den Raum. Nicht der Sachkonflikt stand im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung, sondern eine «Beziehungskiste». Mit der Formulierung «Das ist unmöglich!» thematisiert der Vater nicht den Sachaspekt, greift vielmehr seinen Sohn direkt an. Dieser wiederum empfindet den Satz «Das ist unmöglich!» als «Du bist unmöglich!» bzw. «Weil ich zu spät komme, bin ich unmöglich.» Aus dem unbedingt zu klärenden Konflikt erwächst ein sprachlicher Clinch, werden Vorwürfe, die den anderen treffen sollen und die dann nicht selten in beleidigter Wortlosigkeit oder in Rachegelüsten enden. «Aber wie kann ich das lösen? Wie komme ich da raus, daß es ständig diese Formen annimmt?» Hannes' Vater ist verzweifelt. Die Zauberformel lautet, Ich-Botschaften zu formulieren bzw. zu lernen, sich darin auszudrücken. Ich-Botschaften benennen den Sachverhalt, geben Auskünfte über Gefühle und sprechen falls erforderlich und notwendig - die Konsequenzen an, die sich aus nicht eingehaltenen Absprachen ergeben können, z.B.: «Ich finde es nicht in Ordnung, wenn du länger als abgesprochen wegbleibst. Ich mache mir wirkliche Sorgen.» Sind vorher Absprachen getroffen worden, dann könnte so fortgesetzt werden; «Wir hatten abgesprochen, daß du anrufst, wenn was dazwischengekommen ist. Und ich hatte gesagt, wenn du das nicht machst, daß du dann morgen deinen Freund nicht besuchen kannst. Du warst einverstanden.» Ich-Botschaften legen Wert auf vier wichtige, miteinander zusammenhängende Aspekte: - Der Vater artikuliert seine Position. Er beschreibt die Situation, wie er sie sieht, spricht seine Gefühle an; - er beschuldigt seinen Sohn weder direkt noch indirekt, trennt somit die Sache von der Beziehungsebene; - Gestik, Mimik, Stimme und Sinn der Worte stimmen überein; -2 5 3 -
- und, wichtig: Sind in einem vorherigen Gespräch bereits Konsequenzen thematisiert worden, so sind diese nun umzusetzen. Doch erwarten Sie, wenn Sie Konsequenzen umsetzen, nicht angepaßtes Verhalten Ihrer Kinder, vielmehr Reibung, Widerstand, Drohung oder Rückzug. Nun werden solche Hinweise auf Ich-Botschaften in Kommunikations- und Partnerschaftsseminaren oft gegeben, in Rollenspielen oder an konkreten Beispielen aus dem Alltag veranschaulicht. Auffällig ist, daß viele Eltern trotzdem Anklagen in Ich-Botschaften unterbringen oder daß sie mit ihren Kindern in einen «therapeutischen Dialog» verfallen. Wenn jemand seinem Kind mit sanfter Stimme und freundlichem Blick ein «Ich bin wütend, weil du so spät kommst» hinsäuselt, dann sendet er dem Kind nicht nur eine doppelte Botschaft, dann hat er auch das Prinzip der IchBotschaft mißverstanden. Die Ich-Botschaft kommt nur beim anderen an, wenn man sich klar ausdrückt. Ähnliches gilt für ein weiteres Mißverständnis in der Anwendung der Ich-Botschaft. Es hat sich bei vielen Eltern, die es besonders gut meinen wollen, unter dem Deckmantel der Ich-Botschaft eine unsägliche Form der Betroffenheits- und Traurigkeits-«Kultur» entwickelt. «Ich bin jetzt ganz traurig, wenn du das machst», klagt eine Mutter ihre Tochter mit Tremolo in der Stimme an, und sie kann die Tränen nur knapp zurückhalten, weil Sarah zum wiederholten Male ihren Kot an der Klowand verschmiert hat. Hier stimmen Ton, Körperhaltung und Mimik nicht überein. Die Traurigkeit ist aufgesetzt, eine versteckte Anklage ist eingebaut, mit Liebesentzug wird gedroht. Wie kleinere Kinder solch Betroffenheitskultur bereits verinnerlicht haben, damit aber nicht mehr zu sich und ihren Gefühlen stehen können, zeigt eine Situation, die ich in einem Kindergarten erlebte und die mich sprachlos machte. Der knapp sechsjährige Knut hatte dem gleichaltrigen Simon bei einer Rangelei einen gezielten Boxschlag auf die Nase versetzt, weil -2 5 4 -
Simon ihn zuvor schmerzhaft gebissen hatte. Simons Nase blutete stark, eine Schramme war auf seiner Wange zu sehen. Simon schaute Knut beleidigt an und sagte doch tatsächlich: «Ich bin betroffen. Ich muß mit dir darüber reden!»
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Kapitel 4 Von der Entmutigung durch Grenzen
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«Sie gehen davon aus», so wollen Eltern von mir wissen, «daß Kinder an Konfliktlösungen konstruktiv mitarbeiten wollen, daß Kinder vernünftig sind. Nun erleben wir aber häufig Kinder, denen ist alles egal. Die zucken nur die Schultern, wenn man sie um Mitarbeit bei Konfliktlösungen bittet. Was bedeutet dies?» «Sie setzen», so kritisierte ein Vater, «immer ganz rational denkende Kinder voraus. Sie gehen davon aus, daß Kinder mithelfen wollen. Aber wenn ich meinen fünfjährigen Sohn beim Streit um Mithilfe bitte, wenn ich also vorgehe, wie Sie es an verschiedenen Stellen beschreiben, dann ernte ich mal Achselzucken, höre ich ‹Ist mir doch egal› oder bemerke ich eine Haltung, die ein ‹Mach deinen Scheiß doch allein› ausdrückt.» Manche Eltern sind rat- und hilflos, weil sie keinen Zugang zu ihren Kindern finden. Sie erleben Heranwachsende als bockig, unkooperativ. Daraus entsteht mal wortloser Rückzug der Eltern, mal das Gefühl von Minderwertigkeit oder erzieherischer Unfähigkeit - «Warum schaffe ich es nie?» «Warum habe ich nur solche Kinder?» - oder anklagende Vorwürfe an die Kinder «Müßt ihr mich denn immer ärgern!» Hinter kindlicher Verweigerung kann eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen Haltungen stehen. Wenn Kinder sich unkooperativ verhalten, in einen Machtkampf, gar in eine Rache- und Vergeltungsbeziehung mit den Eltern eintreten, dann ist es wenig produktiv, sie nach dem «Warum?» ihrer Verhaltensweisen zu befragen. Denn könnten Kinder die Frage «Warum machst du das?» angemessen beantworten, würden sie nicht störend auffällig handeln oder sich verweigernd-trotzig zurückziehen. Wichtiger als nach Hintergründen und Ursachen zu suchen, kann es für Eltern sein, sich zu befragen: «Was drückt mein Kind durch seine Haltung für mich aus?» Eine weitere hilfreiche Frage lautet: «Was hat mein Kind von seinem Verhalten?» Jedes Kind versucht zunächst, sich situationsangemessen zu verhalten. Erfährt es jedoch im Laufe seiner Entwicklung keine bestärkende Anerkennung für sein Können, kein Lob für seine Fortschritte und seine andauernden Bemühungen, erlebt es -2 5 7 -
keine Ermutigung bei eventuellen Schwierigkeiten und Problemen, dann sucht es sich - ganz im Sinne des Handelns von Versuch und Irrtum - andere Wege, um die Aufmerksamkeit von Erwachsenen, der Eltern und pädagogisch Handelnden zu erhalten: Es stört und zerstört, es macht sich klein und hilflos.
Fehlende Aufmerksamkeit entmutigt Sarah, sieben Jahre, kommt mittags von der Schule nach Hause. Ihre Mutter ist mit den beiden jüngeren Geschwistern, Patrizia, ein Jahr, und Johannes, zwei Jahre, intensiv beschäftigt. Beim gemeinsamen Mittagessen achtet die Mutter sehr genau auf Patrizias und Johannes' Tischmanieren. Sarah verhält sich unauffällig und berichtet beiläufig davon, wie sie in der Schule von zwei Schülern ständig gehänselt und belästigt wird. Die Lehrerin würde die Situation in der Schule ständig falsch beurteilen, beim Streit, der schnell zu Handgreiflichkeiten führe, gebe sie «ihr immer die ganze Schuld». «Ich geh nicht mehr in die Schule», erklärt sie der Mutter ganz bestimmt. Zunächst versucht diese, manches von dem Gehörten zu relativieren, «herunterzuspielen». Sarahs Erzählungen werden in den Tagen darauf drastischer, ihre Drohungen, die Schule nicht mehr zu besuchen, trägt sie mit immer größerem Nachdruck vor. Die Mutter nimmt Kontakt zur Lehrerin auf und erfährt im Gespräch, wie sich Sarah in der Schule wohl fühlt, wie sie durch ihr Sozialverhalten positiv auffällt. Sie schlichtet manchen Streit. Deshalb ist sie bei den Mitschülern und Mitschülerinnen äußerst beliebt. Sarahs Mutter ist einerseits erfreut, andererseits wütend, hat ihre Tochter sie doch belogen. Sie stellt Sarah mittags zu Rede, fragt danach, warum sie die Unwahrheit gesagt habe. Sarah streitet alles ab, bezichtigt nun ihrerseits die Lehrerin der Lüge, schreit die Mutter an und verläßt mit dem herausgepreßten Satz: «Ihr mögt mich doch alle nicht!» den Mittagstisch, schließt sich in ihr Zimmer ein.
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In den Tagen nach diesem Gespräch verschärft sich die häusliche Auseinandersetzung zwischen Mutter und älterer Tochter. Sarah versucht, ihren Vater als Koalitionspartner zu gewinnen. Er solle doch mal «richtig mit der Lehrerin» sprechen; Mama «glaubt dieser blöden Pute doch mehr als mir». Der Vater verbündet sich mit seiner Tochter, macht seiner Frau Vorwürfe, sie sei zu leichtgläubig und lenke zu schnell ein. «Ich glaube, ich muß da mal hin.» Als Sarahs Mutter ihrem Mann daraufhin ein ironisches «Mein Herr und Meister, ich danke dir, daß du alle Probleme löst» leise hinzischt, sieht Sarah, die zwischen den beiden Erwachsenen sitzt, gar nicht mal unzufrieden aus. Sie lehnt sich entspannt in ihrem Stuhl zurück. Als die Müllers diese Situation auf einem Elternseminar vorstellen, frage ich Sarah: «Du kommst nach Hause und kein Schwein sieht dich, nicht?» Sie sieht mich mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln an. «Könnte es sein, Sarah, daß Mama sich mehr mit dir beschäftigen soll, wenn du nach Hause kommst?» Sie nickt spontan, fühlt sich verstanden, ihr ganzer Körper entspannt sich. «Erzähl mal, wie ist das, wenn du nach Hause kommst?» Und dann berichtet Sarah detailgenau, wie sie das Haus betritt, ein Küßchen von der Mama bekommt. Sarah ist entrüstet: «Aber die sieht mich nicht mal richtig! Oder sie fragt einfach nur so: ‹Wie war's in der Schule?› Diese Frage kann ich nicht mehr hören. Fürchterlich!» Sarah fühlt sich nicht an- und ernstgenommen, sie vermag ihre Bedürfnisse aber auch nicht direkt anzusprechen - und sie will es möglicherweise auch nicht. Denn spielt sie die kompetente Tochter, wird sie von der Mutter doch nur mehr oder minder übersehen. So holt sie sich ihre Aufmerksamkeit, indem sie die Fragen nach der Schule auf eine Weise beantwortet, die ihr Beachtung garantiert. Ihre Mutter macht sich Sorgen, will das Problem für ihre Tochter lösen, kümmert sich damit um Sarah. Diese wiederum hat die Mutter mit ihrer Geschichte im Griff. Und so besteht für sie überhaupt kein Grund, von den «Schauergeschichten» abzulassen. Denn würde Sarah dies -2 5 9 -
tun, wäre die mütterliche Aufmerksamkeit dahin, bliebe Sarah wieder mehr oder minder unbeachtet. Als die Mutter diesen Beziehungsaspekt der Störung nicht erkennt, ihre Tochter vielmehr der Lüge bezichtigt, bringt Sarah den Vater ins Spiel, macht sich zum Gegenstand eines elterlichen Konfliktes. Nun steht sie endgültig im Mittelpunkt. Sie führt ihre Eltern wie Marionetten in einem Spiel vor, dessen Regeln sie beherrscht, dessen Ausgang sie freilich auch nicht kennt. Als mir Sarah mitteilte, wie allein sie sich fühle, wenn die «Mama sich mit den beiden anderen» beschäftige, frage ich: «Wie wäre es schön kuschelig?» - «Mama soll nur bei mir sein und mich drücken!» Die Familie entwickelt im Lauf des Beratungsgesprächs ein Begrüßungsritual, das nur Frau Müller und Sarah gehört. Patrizia und Johannes sind in dieser Zeit ausgeschlossen. Während des Mittagessens übernimmt Sarah zudem Verantwortung für ihre beiden Geschwister. Die «Gruselgeschichten» aus der Schule haben bald ein Ende. Sarah braucht sie nicht mehr, weil sie nicht nur persönliche Zuwendung bekommt, sondern durch Zuweisung von Verantwortung - in Erziehungsfragen - in ihrem positiven Sozialverhalten bestätigt wird.
Überforderung entmutigt Wenn «Wozu»-Fragen, die sich die Mutter selbst stellt und beantwortet, keine Erleichterung der Situation bewirken, wenn selbst logische Konsequenzen störende Handlungen nicht ändern, dann kann man zwei weitere Fragen anwenden: «Kann mein Kind etwas nicht?» bzw. «Will mein Kind etwas nicht?» Viele Eltern assoziieren bei störend-auffälligem Verhalten ihrer Kinder schnell einen Machtkampf, Renitenz oder Trotz, versuchen, über Drohung, Strafe oder mit physischen - z. B. dem Klaps - wie psychischen Zwängen - z. B. Liebesentzug Wohlverhalten des Kindes zu erzwingen, Grenzen zu setzen bzw. auf der Einhaltung von Grenzen zu bestehen. Aber Kinder, die bestimmten Aufgaben nicht nachkommen, die vereinbarte -2 6 0 -
Regeln und Rituale nicht einhalten, die festgelegte Grenzen mißachten, wollen nicht unbedingt in einen Machtkampf eintreten, wollen sich nicht rächen, gar die Eltern hilflos machen - manche Kinder können bestimmte Aufgaben nicht erledigen und überschreiten deshalb Grenzen. Diese Kinder haben noch keine entsprechenden Fähigkeiten ausgebildet. Viele Eltern überfordern ihre Kinder, sehen sie als kleine Erwachsene, nehmen die Grenzen ihrer momentanen Fähigkeiten nicht wahr. Denn Grenzen zeigen Kindern an, was sie können. Und Räume jenseits der Grenzen deuten auf ein «Das-kann-ichnoch-nicht» hin. Grenzen helfen - in vielen Alltagssituationen dem Kind bei der Orientierung; Grenzen erleichtern es dem Kind, einen Standpunkt zu finden. Überschaubare Grenzen stecken Räume und damit auch Fähigkeiten ab, die Kinder ermutigen können, Dinge anzupacken. Grenzen vermitteln den Kindern eine Übersichtlichkeit in unübersichtlichen Situationen: z.B. beim Aufräumen im Kinderzimmer die ersten drei Minuten mithelfen, um «Schneisen zu schlagen». Patricia Behrendt, Mutter der siebenjährigen Lena, erzählt von den ständigen Auseinandersetzungen, die sie beim morgendlichen Anziehen ihrer Tochter hatte. Lena stand minutenlang vor dem Kleiderschrank, schaute von einem Kleidungsstück zum anderen, unfähig, sich zu entscheiden. Patricia Behrendt kommt hinzu: «Was ist, Lena?» Lena schweigt, sagt nichts, «Du hast tausend Sachen zum Anziehen!» Lena starrt in den Kleiderschrank. Patricia Behrendt zählt auf, die einzelnen Möglichkeiten mit den Fingern vorführend: «Du kannst das anziehen... oder das... oder das.» Sie nimmt die Finger ihrer rechten Hand: «Du ziehst das an... oder das... oder das.» Kurze Pause. «Aber entscheide dich bitte!» Lena sagt nichts. Nach unendlichen Qualen wählt sie eine Kombination, wirkt unglücklich. Der Streß um die «Klamotten» zieht sich hin; er wirkt sich allmählich auf die Beziehung zwischen Mutter und Tochter aus. Patricia Behrendt: «Ich konnte sie nicht mehr vor'm Schrank stehen sehen. Dann drehte sich mir der Magen!» -2 6 1 -
Eines Morgens drohte die Situation zu eskalieren. Als Lena mal wieder hilflos vor dem Kleiderschrank stand, kam die Mutter dazu, schrie Lena an: «Du hast das zum Anziehen... und das... und das...» Lena schaute hilfesuchend die Mutter an: «Mama, sag' mir nur: ‹Lena, zieh' das oder das an! Dann kann ich mich entscheiden.»
Nicht-Wollen? Nicht-Können! Zwei weitere Alltagssituationen zeigen, wie eigene Deutungen die Wirklichkeit verzerren, wie man vorschnell kindliche Störungen als Nicht-Wollen, Bösartigkeit, Unhöflichkeit, Mißachtung, ja als Machtkampf mißdeutet. Karin Lampe, Hauptschullehrerin, wundert sich, daß ihr «Guten-Morgen»-Gruß von ihrer Klasse nicht erwidert wird - nur ein unverständliches Gemurmel, mehr oder minder freundlich, ist zu hören. Als sie sich beschwert und Unverständnis über soviel Unfreundlichkeit äußert, entfährt es Harald, elf Jahre: «Was wollen Sie eigentlich?» «Ich möchte, daß ihr meinen Gruß erwidert. Ich sage doch freundlich ‹Guten Morgen!›» Harald, einigermaßen konsterniert: «Dann müssen Sie uns das sagen!» «Aber das ist doch selbstverständlich!» Karin Lampe wirkt ärgerlich. Harald ist perplex: «Wieso selbstverständlich? » «Du sagst doch deinem Vater oder deiner Mutter auch ‹Guten Morgen›!» Harald lacht schrill: «Den seh ich nicht. Und der redet auch nicht! Der sagt kein freundliches Wort. Das ist ‹Baby-Lallen›, sagt der. Und wenn er das sagt, dann macht er ein kleines Baby nach.» Karin Lampe redet mit anderen Schülern, erfährt, nur ein kleiner Teil ihrer Klasse erlebt Begrüßungs- und Abschiedsrituale im Hause; kaum ein Schüler hat diese Rituale verinnerlicht, ihre Bedeutung für die zwischenmenschlichen -2 6 2 -
Beziehungen erkannt. Als die Lehrerin ihre Klasse darauf hinweist, wie wichtig ihr eine freundlich-menschliche Umgangsweise ist, beginnen die Heranwachsenden, ihr Verhalten ganz allmählich zu verändern. Karin Lampe kommt nach dieser Erfahrung zu der Erkenntnis: «Meine Schüler und Schülerinnen wollten, aber sie konnten nicht. Das mußte ich erst begreifen. Ich denke, man geht zu schnell davon aus, daß Selbstverständlichkeiten heutzutage selbstverständlich sind.» Dieses Beispiel zeigt: Manche Kinder und Jugendliche erfahren im häuslichen Milieu nicht jene Regeln und Rituale, die für ein humanes Miteinander, ein Zusammenleben, das auf gegenseitigem Respekt und gleichwertiger Achtung aufbaut, notwendig ist. Ich kenne Kinder, in deren Familien gemeinsame Mahlzeiten - ob nun beim Frühstück, beim Mittag- oder beim Abendessen kaum noch stattfinden; ich erlebe Kinder, die die Vertrautheit des Familiengesprächs nicht erfahren haben und deren Fähigkeit, aktiv zuzuhören, sich auf jemanden einzustellen, ihn in seiner - möglicherweise anderen - Meinung annehmen zu können, nicht ausgebildet ist. Diesen Kindern tut man Unrecht, wenn man ihnen vorschnell ein Nicht-Wollen, Gleichgültigkeit oder eine bewußt inszenierte Störung vorwirft. Viele Kinder würden sich auf Rituale und Regeln einlassen, wenn sie sie denn umsetzen könnten, wenn sie den Wert von Ritual und Regel verinnerlicht hätten. Deshalb müssen Kindergarten, Schule, außerhäusliche pädagogische Institutionen - ob das pädagogische Fachpersonal dies nun als zusätzliche Belastung erlebt oder nicht, mag dahingestellt sein - mit den Kindern notwendige Fähigkeiten ausbilden, die das zwischenmenschliche Zusammenleben im Alltag ritualisieren und regeln. Wenn Kinder sich selbst in Beziehungen erleben, verinnerlichen sie das, was sie dort erfahren, schneller. Nur in Beziehungen können Kinder Fähigkeiten und Fertigkeiten ausprobieren.
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Entmutigung, Bevormundung, Verharmlosung Eine Lehrerin stellt in einer Beratung ein Kind vor, Johannes, sieben Jahre. Johannes ist - wie sein Vater sagt - «der letzte Trottel. Wenn der was macht, ist sofort Chaos.» Johannes weiß von sich: «Ich werd' sowieso nichts mehr. Ich werd Straßenfeger.» Auf konstruktive Lösungen, auf Angebote zur Kooperation und Mitarbeit läßt er sich, so die Lehrerin, nicht mehr ein. Die elterliche Zuschreibung an Johannes, er sei ein Nichtsnutz, ein Versager, konstruiert eine ganz eigene Realität. Johannes wird von den Eltern ausschließlich unter diesem Blickwinkel gesehen, Johannes erlebt diesen mittlerweile ähnlich. Solche Mißachtung einer eigenen Persönlichkeit läßt Entmutigung entstehen, und entmutigte Kinder kommen nur schwer aus dem Teufelskreis von Verhaltenszuschreibung und der Bestätigung dieser Zuschreibung heraus. Resignation, Rückzug, Abbruch von Kommunikation können sich in der Folge ebenso ergeben wie zerstörerische, nach außen gerichtete Aggressionen. Solche Kinder haben - wie sie mir im Gespräch berichten - «nichts mehr zu verlieren». Sie schlagen um sich, schädigen sich und andere. «Wenn», so erklärt es mir der zwölfjährige Michael, «ich schon der letzte Arsch bin, dann mach ich's mit anderen auch so.» Wenn Erziehung diese Kinder zurichtet, ihnen das Recht auf eine eigenständige Persönlichkeit vorenthält, sie in ihrem Selbstwertgefühl beschädigt, dann kann sich auch kein Respekt und keine Achtung für andere Menschen entwickeln. Kinder, die keine Chance auf eine eigene Identität haben, können auch bei anderen Menschen keine Eigenständigkeit und Autonomie zulassen. Aber es existieren noch andere Erziehungsstile, Kinder zu entmutigen. Die vierjährige Anna hat Eltern, die ihre Erziehungsaufgabe als Rot-Kreuz-Helfer mißverstehen, die ununterbrochen im Einsatz sind. Anna war als Dreijährige ein quirlig-aufgewecktes Kind, forsch, sehr fordernd, zupackend. Kein Wunder, wenn ihr manches im ersten Zugriff mißlang - ob beim Basteln, beim Bauen, beim Aufräumen, beim Klettern, beim Spielen. Wer -2 6 4 -
Anna jetzt erlebt, hat ein weinerliches Kind vor sich, das sich nichts zutraut. Ständig umgeben von helfenden Händen, die Annas Mißgeschicke mit bemitleidender Stimme kommentieren: «Ach, Anna, Schätzchen, das tut mir leid!» - «Ach, Annachen!» - «Dafür bist du noch zu klein!» Anna erfährt Eltern, die Nähe und Bindung geben möchten, ihre Tochter damit aber unterdrücken, besser: bedrücken. Anna braucht eigenständige Erfahrungen, nur durch eigenes Tun, das auch Frustrationen und Mißerfolge mit sich bringen kann, kann sie wachsen. Neben den selbsternannten Rot-Kreuz-Helfern sind es Schwarz-und Hellseher, die Apokalyptiker oder Besserwisser, die Kinder in ihrem Wunsch nach Eigenständigkeit und unverwechselbaren Handlungen entmutigen. Bei Tom, sechs Jahre, reiht sich Mißgeschick an Mißgeschick. Alles, was er anfaßt, zerbricht - im wahrsten Sinne des Wortes. «Siehst du, Tom, ich hab's kommen sehen», hört er von seinen Eltern dann mit einer Mischung aus Anklage und Mitleid. Viele Eltern haben entmutigte Kinder; Kinder, die nicht bereit sind, Verantwortung zu übernehmen oder konstruktiv an Lösungen mitzuarbeiten, weil sie von ihren Eltern nicht ernstgenommen werden. Solche Eltern sehen ihre Kinder unter dem Blickwinkel des Pechvogels, des Tolpatsches, des «kleinen verträumten Trottels», wie Tom von seinen Eltern auch genannt wird. Kinder werden unter dem Blickwinkel des Nochnicht-Könnens wahrgenommen und nicht unter einer konstruktiven, die Kinder aufbauenden Perspektive. Simon, knapp fünf Jahre, hantiert mit dem Messer, will an einem Stück Holz schnitzen. Er rutscht ab, verletzt sich, aus einer kleinen Wunde rinnt Blut. Simon rennt zur Mutter, nicht unbedingt verzweifelt, aber doch traurig, voller Schmerz und Wut darüber, es wieder nicht mit dem Schnitzen geschafft zu haben. Simons Mutter sieht sich die Wunde an, holt ein Stück Pflaster: «Na, Simon, ist doch nicht ganz so schlimm.» Er kriegt -2 6 5 -
einen freundlichen Klaps auf die Schultern, geht zurück zum Basteltisch, sitzt vor Messer und Holz, als der Vater ins Zimmer kommt, sich das Werkzeug und das Material schnappt: «Das kriegen wir schon hin!» Simon schaut kaum hin, während der Vater bastelt, der nach ein paar Minuten eine kleine Figur fertiggestellt hat: «Na, sei mal nicht traurig. Das passiert eben noch.» Sowenig es Kinder aufbaut, wenn sie bei Mißgeschicken über Gebühr bemitleidet werden, so wenig konstruktiv ist eine Haltung, die die Gefühle des Kindes verkennt und übergeht. Kinder brauchen Grenzen, um zu erfahren, was sie können und vor allem, was sie noch nicht können. Aus dieser Spannung erwächst der Wunsch, neue Möglichkeiten und Fähigkeiten auszubilden, zu entwickeln und zu verfestigen. Mißgeschicke, Mißerfolge, kleinere oder größere Unglücke gehören zum Alltag. Was den Kindern in solchen Situationen nicht hilft, ist das Herunterspielen bzw. die Nicht-Annahme ihrer Gefühle vor allem, wenn es sich um Trauer, Wut oder Verzweiflung handelt. Für Simon ist «es schlimm», sich verletzt zu haben; die körperliche Wunde schmerzt vielleicht noch weniger als die seelische, das Erleben einer erneuten Frustration. Und Simon hilft man nicht damit, daß - wie der Vater es formuliert - «wir es schon schaffen». Simon möchte es allein schaffen, kann es aber noch nicht. Wenn Simon die Verantwortung aus der Hand genommen wird - und dies wortwörtlich -, fühlt er sich als Opfer, das nicht und von niemandem verstanden wird. Ein Pflaster tut zwar gut, eine vom Vater fertiggeschnitzte Puppe zeigt zwar ein Ergebnis - für Simon wären aufmunternde Worte und eine tröstende Umarmung ebenso hilfreich gewesen wie ein Gespräch darüber, wie man Messer geschickter anfassen kann, um selbständig zum Erfolg zu kommen.
Störung und Vernachlässigung Jessica, neun Jahre, fällt der Erzieherin im Hort auf. Sie spielt mit dem Essen. Versuche, mit ihr gemeinsam zu Lösungen zu kommen, scheitern. «Sie wartet geradezu unheimlich darauf, -2 6 6 -
bestraft zu werden», wie es die Erzieherin beobachtet. «Erst dann scheint sie glücklich zu sein.» Jessica lebt in einer paradoxen Situation. Sie ist das älteste Kind in einer Geschwisterreihe mit vier jüngeren Kindern, darunter einem Zwillingspärchen. Jessica erfährt zu Hause keine Aufmerksamkeit, keine liebevolle Zuwendung, jene Wärme, jenes Urvertrauen mithin, die notwendig sind, eine Entwicklung zu Eigenständigkeit, zu einer eigenen Identität überhaupt erst zu ermöglichen. Jessica hat dies früh - durch ihr Handeln begriffen: Nur wenn ich störe, falle ich auf. Jessica erfährt viele Strafen, weniger die körperlichen als vielmehr die seelischen Mißhandlungen. Die Eltern schreien sie an, sperren sie in ihr Zimmer. Beim Essen muß sie - falls sie stört - an einem kleinen Extratisch sitzen, darf dann kein Wort sagen. Ißt sie ihr Essen nicht auf, muß sie solange sitzenbleiben, bis der Teller leer ist. Manchmal hockt sie stundenlang vor ihrem Teller. «Jessica fordert», so die Beschreibung einer Erzieherin, «ständig übervolle Teller. Aber sie weiß, das Essen schaffe ich nie. Und auch wir waren natürlich nicht glücklich darüber und haben dann entsprechend gemeckert. Jetzt bekommt sie kleine Portionen, kann nachfordern - und jetzt spielt sie mit dem Essen. So hat sie uns wieder im Griff.» Kinder, die keine Beachtung finden, die keine emotionale Zuwendung erleben, fühlen sich schnell vernachlässigt, allein gelassen, entmutigt. Kontaktaufnahme gelingt diesen Kindern ausschließlich über störend-negatives Handeln. So geraten sie in den Mittelpunkt. Bestrafungen erleben sie - paradox genug als eine zwar schmerzliche, aber überhaupt als eine Form der Nähe. Bestrafungen erzeugen in diesen Kindern das Gefühl von Niederlagen und Unterlegen-Sein, die dann Rache- und Vergeltungsphantasien nahelegen. Das Kind fordert die Bestrafung von Eltern oder pädagogischem Fachpersonal heraus, um in ihnen dann das Gefühl von Minderwertigkeit «Du bist eine schlechte Mutter!» «Du kannst nur strafen!» hervorzurufen. Durch Bestrafung entmutigte und entmündigte Kinder lassen sich nur schwer auf konstruktive Konfliktlösungen ein, haben sie doch folgende Überzeugung verinnerlicht: Wenn -2 6 7 -
man positiv und konstruktiv mitarbeitet, steht man nicht mehr im Mittelpunkt. Nun gibt es Kinder, die arbeiten konstruktiv mit - aber nicht, um Eigenständigkeit und Selbstbewußtsein an den Tag zu legen. Manche Kinder zeigen sich nur deshalb konstruktiv, um gelobt und anerkannt zu werden. Diese Einstellung führt dazu, nicht aus eigener Überzeugung heraus etwas zu machen, sondern deshalb, weil man sich damit bei anderen beliebt machen kann.
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Kapitel 5 Partnerschaft und Autorität kein Widerspruch
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«Ich sage den Kindern schon häufig, was sie tun sollen, und dann höre ich: ‹Du bist gemein! Immer muß ich das machen, was du willst!› Aber ich will doch nicht autoritär sein. Wie kann ich das verhindern?» Bei Familie Karstens gibt es täglich Streit um das abendliche Zähneputzen. Jan-Hendrik, vier Jahre, weigert sich strikt dagegen, und so gibt es jeden Tag zur gleichen Zeit heftige Auseinandersetzungen. Bei Familie Weber entzünden sich die Konflikte am abendlichen Zubettgehen. Caroline, fünf Jahre, und ihr Bruder Anton, sechs Jahre, wollen um 20.30 Uhr das Wohnzimmer verlassen, die Eltern haben sich «halb acht Uhr zum Ziel» gesetzt. Und so tobt zwischen ihnen und den Kindern eine «richtige Auseinandersetzung», wie es der Vater formuliert. Die Kinder gewinnen häufig, denn «die haben ein großes Repertoire an Verzögerungstechniken, das sie abziehen, und dann ist es schon fast halb neun, bevor sie aus dem Zimmer sind», so die Mutter genervt. Und in der Familie Stolz bringen die Hausaufgaben den Familienfrieden schon seit Monaten durcheinander. Die Mutter besteht auf 14 Uhr, der neunjährige Bernd will seine Hausaufgaben am späten Nachmittag machen. Solche Konfliktsituationen kann man beliebig um viele andere alltägliche Reibungspunkte erweitern. Jede Familie - so scheint es - hat ihre ganz spezifische Situation, in der sich die Beteiligten mit unschöner Regelmäßigkeit, freilich mit großer Intensität reiben. Der Ablauf des Konfliktes verläuft zwar nicht nach festgelegten, aber doch eingeschliffenen Spielregeln, einem Ritual gleichend, das mit genau verteilten Rollen, einer ausgeklügelten Dramaturgie und vorauszusehendem Ausgang abläuft: Eltern bestehen auf Grenzen, die die Kinder anders sehen - und möglicherweise auch erleben. Die - mehr oder minder - klar formulierten Ansprüche der Eltern führen zu Blockaden durch die Kinder. Sie verweigern sich nach dem Motto: «Jetzt erst recht!» oder: «Jetzt nicht!» - je nach Standpunkt und Aussicht auf Erfolg. Dabei fällt auf: Viele Eltern lassen sich schnell die Rolle eines Widerparts zuweisen, -2 7 0 -
reagieren manchmal mit fast kindischem Trotz - unter der Überschrift: «Wir wollen doch mal sehen, wer hier gewinnt!» oder: «Ich hab' den längeren Atem!» Andere Eltern geben wiederum rasch nach, ziehen sich nachdenklich oder mit schlechtem Gewissen zurück: «Hab' ich nicht zuviel verlangt?» «Bin ich nicht doch ständig der Bestimmer?» «Nein! Autoritär ist das letzte, was ich sein möchte!»
Alternativen aufzeigen Vorausgesetzt, es geht bei der kindlichen Blockade nicht um einen inszenierten und aufgebauten Machtkampf, vorausgesetzt die Eltern-Kind-Beziehungen sind partnerschaftlich, und das Kind handelt nicht aus einem Unterlegenheitsgefühl heraus - dann empfiehlt sich ein Vorgehen, das der Psychotherapeut Paul Watzlawik als «Illusion von Alternativen» umschrieben hat. Denn die Vorgabe eines Rahmens durch die Eltern und ein partnerschaftlicher Erziehungsstil schließen sich keineswegs aus. Es gibt Situationen, in denen Eltern das Recht haben, etwas von Kinder zu fordern - und dies klar, authentisch, offen, ohne damit Kindern in deren Anspruch auf Recht und Achtung herabzuwürdigen. Und trotz der Forderungen geben diese Eltern ihren Kindern die Chance, in einem vorher angekündigten und festgelegten Maße mitzuentscheiden - nicht über den Inhalt einer Handlung, aber beispielsweise über das Wann und das Wie. Frau Karsten kann ihren Sohn fragen: «Willst du die Zähne am Abend um sieben oder halb acht putzen?» Nicht die Sache steht zur Diskussion, Jan-Hendrik hat vielmehr die Chance, über den Zeitpunkt mitzuentscheiden. In ähnlicher Weise könnten Lösungen zum Verlassen des Wohnzimmers durch Caroline und Anton sowie Bernds Erledigung der Hausaufgaben angegangen werden. Bei dieser Vorgehensweise kann eine unlösbar erscheinende Alltagssituation geklärt werden, daß die Interessen aller -2 7 1 -
Beteiligten berücksichtigt bleiben, ohne daß einer sein Gesicht verliert. Wenn sich in komplizierten alltäglichen Abläufen ständig dieselben Personen durchsetzen - egal ob es nun die Eltern oder die Kinder sind -, dann entsteht daraus schnell ein Machtkampf. Deshalb kann die «Illusion von Alternativen» zugleich als Gradmesser dienen, der Auskunft gibt, ob es in der Eltern-Kind-Auseinandersetzung um eine Sache - z. B. Zähneputzen - oder um das Austesten von Beziehungen geht. Gehen Kinder nicht auf die «Illusion von Alternativen» ein, dann kann-muß aber nicht! - es sich bei dem Streit, der sich ständig um eine Sache entzündet, um den Beginn oder den Höhepunkt eines Machtkampfes zwischen Eltern und Kindern handeln. Machtkämpfe sind - wie ich in «Kinder brauchen Grenzen» (S. 95 ff.) gezeigt habe - nach klaren Regeln und Ritualen anzugehen und zu beenden. Viele Kinder spüren, wie sich ihre Eltern unwohl fühlen, wenn sie sich als Vor- und Leitbild, ja sogar als menschliche Autorität darstellen, die durch Erfahrung und Wissen überzeugt. Gleichwertigkeit in der Beziehung zu Kindern - deren Achtung, Autonomie und das Selbstwertgefühl betreffend - bedeutet aber keineswegs Gleichrangigkeit, ja «Gleichmacherei» an Erfahrung und Wissen. Eltern sind Kindern in mancherlei Hinsicht überlegen. Eltern können Gefahren abschätzen, vorausschauend handeln auf der Basis von bereits gemachten Erfahrungen. Solch biographischer Hintergrund kann fruchtbar und konstruktiv, er kann zugleich blockierend und hemmend sein, wenn der elterliche Erfahrungsüberschuß als Besserwisserei benutzt oder mißverstanden wird, wenn mit dem Wissen um Gefahren Eltern ihre Kinder nicht von zu Hause oder generell - loslassen, wenn Eltern ihre Kinder festhalten und sie damit in deren intellektuellen wie gefühlsmäßigen Entwicklung behindern.
Grenzen entwickeln sich Aussprüche von Kindern wie «Ihr gewinnt immer!» «Ihr habt ständig recht!» «Ich muß immer machen, was ihr wollt!» sind nicht allein Versuche, Eltern ein schlechtes Gewissen zu -2 7 2 -
machen. Sie können zugleich ungelöste Themen der Erziehungsbeziehung andeuten. Grenzen, Regeln, Rituale werden von Eltern oft zu einem Zeitpunkt festgelegt, zu dem Eltern dies für wichtig und notwendig erachten - egal ob es sich nun um den Zeitpunkt des Zubettgehens, des Nachhausekommens, der Hausaufgaben, ob es sich um Abläufe wie das Aufräumen oder das Zähneputzen und Waschen handelt. So klar und hilfreich es für kleinere Kinder - bis zum dritten/vierten Lebensjahr - ist, wenn Eltern ihre Vorstellungen und Leitlinien, am Kind orientiert, umsetzen, so bedeutsam ist es, diese einmal gezogenen Grenzen dann zu ändern, wenn Kinder durch die versuchten wie vollzogenen Grenzüberschreitungen auf sich aufmerksam machen, wenn Kinder ihren Eltern durch ihr Verhalten anzeigen: «Seht mal, ich bin gewachsen! Ich kann schon was! Traut mir mehr zu!» Ich betone es nochmals: Jüngeren Kindern fällt es manchmal schwer, Probleme oder Konfliktsituationen, in denen sie sich befinden, sprachlich genau bzw. mit angemessenen Worten darzulegen. Kinder handeln! Dies ist eine Problemlösungskompetenz, die Eltern von ihren Kindern abschauen und erlernen können: Sich nicht in langatmigen Erklärungen und «guten» Worten zu verlieren, sondern statt dessen überzeugend zu handeln. Kindliche Handlungsmuster fallen ins Auge - und das sollen sie auch. Nur so gewinnen die Heranwachsenden Aufmerksamkeit, verbunden mit der Hoffnung, daß die Eltern die gesetzten Zeichen ihrer Kinder angemessen zu deuten wissen. Viele Kinder spüren: Erwachsene haben in emotionaler Hinsicht Schwierigkeiten mit dem Setzen von Grenzen und noch mehr im Formulieren bzw. der Durchsetzung von Konsequenzen. Manche Kinder nutzen diese Haltung mit gehöriger Schlitzohrigkeit aus. «Ich muß immer machen, was du sagst!» - solch ein Satz geht nicht spurlos an Eltern vorüber. Manche Mutter, mancher Vater führen dann langatmige Verteidigungsreden ins Feld oder legen Beweise für das Gegenteil vor, andere Eltern werden -2 7 3 -
nachdenklich, bekommen ein schlechtes Gewissen: «Du wolltest doch anders sein als deine Eltern, und nun wirft dir dein Kind genau das vor, was du an deinen Eltern partout nicht leiden konntest!» Die Falle, die ein Kind seinen Eltern unbewußt, manchmal aber durchaus gezielt - aufstellt, schnappt dann zu: «Eigentlich hat mein Kind ja recht!» Oder: «Kinder müssen doch auch bestimmen!» Und schon läßt man sich von getroffenen Absprachen, vereinbarten Regeln und angekündigten Konsequenzen abbringen. Als Autorität, als starke Persönlichkeit angesprochen oder betrachtet zu werden, das macht vielen Erwachsenen Unbehagen. Aber Kinder brauchen klare und feste Bezugspersonen, Kinder fordern Orientierung und Halt. Erziehung hat zu tun mit Beziehung, mit Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern. Und wenn sich Erwachsene aus der Erziehung zurückziehen in der Annahme, Kinder würden sich schon allein zurechtfinden, dann bedeutet dies: Erwachsene ziehen sich aus der Beziehung zurück. Kinder fühlen sich allein gelassen ohne Bindung. Sie brauchen Bindung, brauchen emotionale Zuwendung, um sich zu entwickeln, um Selbstwertgefühl auszubilden und zu einer eigenen Identität zu kommen. Die andere Seite der Medaille: Zugleich revoltieren Heranwachsende gegen diejenigen, die ihnen Orientierung anzeigen, Bindung geben, Heranwachsende lehnen sich auf, provozieren ihre Eltern. Solche Provokationen sind Gleichwertigkeit in den bzw. eine stabile Basis der Beziehungen vorausgesetzt - Teil eines Spiels, das die Eltern eine Zeitlang mitspielen und dem sie dann ihre Regeln aufdrücken können: «Ich denke, du kannst viel entscheiden. Aber jetzt möchte ich, daß etwas gemacht wird. Wenn ich für dich deshalb ein autoritärer Knacker bin, kann ich damit leben!» Wenn Kinder solche Aussagen nicht widerspruchslos hinnehmen, dann zeugt das von Selbstbewußtsein. Für mich sind Reibungen dieser Art natürlicher und altersgemäßer als kindliche Reaktionen, die jedweder Anweisung der Eltern mit einem angepaßten «Jawohl, Mama!» «Jawohl, Papa!» begegnen. Kinder möchten erfahren: Gleichberechtigung und -2 7 4 -
Partnerschaft haben nichts zu tun mit «Gleichmacherei». Eltern haben ein Mehr an Erfahrung, Eltern verkörpern Wissen, das Kinder erst erwerben müssen. Eltern bieten Bindung und damit Sicherheit. Kinder fühlen um diese Qualität des «Mehr», sie verlangen sie geradezu von ihren Eltern - wenn auch nicht klagund kritiklos. Kinder fordern Eltern heraus - dies stellt umgekehrt für die Eltern eine Herausforderung dar, vor der mancher Erwachsene flüchten möchte. Eine solche Flucht ist aber immer eine Flucht vor dem Kind, von dem Kind weg. Erziehung ist Beziehung, und Beziehung ist ohne Reibung nicht denkbar.
Eingefahrene Sichtweisen machen blind Sich in bestimmte Blickwinkel zu verrennen oder dort zu verharren -«Ich mache immer...», «Ich darf nie...» - ist nun nicht allein ein Privileg von Kindern, auch Erwachsene entwickeln nicht selten eine Sicht der Dinge, die ihnen kaum Chancen lassen, diese konstruktiv zu verändern. Mir ist es wichtig, in der Beratung von Eltern, Erzieherinnen oder Lehrerinnen, nicht so sehr nach den Gründen kindlicher (Fehl-)Handlungen zu fragen, sondern von der Tatsache auszugehen: Kinder handeln so, wie sie es tun. Und Erwachsene bewerten diese Handlungen. Dabei fällt auf: Es sind häufig nicht die Handlungsmuster, die Eltern verunsichern. Es sind vielmehr die elterlichen Meinungen über die kindlichen Handlungsmuster, die verunsichern und beunruhigen. Beratung hat demnach die Aufgabe, Eltern und andere pädagogisch Handelnde zu einer angemesseneren, d.h. wirklichkcitsadäquaten Sicht der Dinge zu verhelfen. Heiko, Martin, Niko, Paulo und Ronald, alle fast sechs Jahre alt, waren der Schrecken des Kindergartens. Schon am Morgen warten sie vor dem Kindergarten aufeinander. Sobald sie komplett versammelt sind, betreten sie den Kindergarten - «wie eine Gruppe Westernhelden», meint eine Erzieherin. Kaum haben sie den Gruppenraum betreten, fangen sie an zu rangeln, zu toben, zu schreien, «Theater zu machen». Laut und -2 7 5 -
bewegt, nein: sehr laut und äußerst dynamisch geht es zu, die Nerven und Ohren der Erwachsenen werden strapaziert. Vorsichtige Eingriffe der Erzieherinnen: «Könnt ihr nicht mal leiser sein?» gehen im Getöse unter; Drohungen wie «Ihr fliegt raus, wenn ihr weitermacht», nehmen Heiko und Konsorten nicht mehr ernst, haben sie doch die Erfahrung gemacht, daß solche sprachlichen Attacken ihrer beiden «lieben» Erzieherinnen niemals wirklich durchgehalten werden. Heiko und Paulo haben zudem eine klassische Gegenstrategie entwickelt: Sollte es wirklich mal brenzlig werden, strahlen sie ihre Erzieherinnen mit ihren blauen bzw. braunen Augen an, umschnurren sie wie kuschelige Kater... und schon ist der angekündigte Rausschmiß schnell vergessen. Was sie übrigens nicht daran hindert, hinterher mit dem Toben um so vehementer weiterzumachen. Hatte die «Fünfergang», wie man die Gruppe im Kindergarten auch umschrieb, voneinander genug, mischten die Jungen die anderen Kinder auf, zogen diese in ihr lautstark-impulsives Spiel mit ein. Besonders die Mädchen verhielten sich zwiespältig zur «Fünfergang»: Einerseits beklagten sie sich über Störungen und Angriffe, andererseits fanden sie es erregend und spannend, in das Spiel der Jungen einbezogen zu werden. «Die machen mich einfach wütend! Die sind fürchterlich!» erklärt mir die Leiterin des Kindergartens, Pamela Schneider, als sie die Situation in einer Fachberatung vorstellt. «Was tun Sie, damit die Kinder Sie wütend machen?» frage ich. Ihre Augen verengen sich, sie runzelt ihre Stirn, ihre Stimme hat einen leicht ungeduldigen Klang: «Ach, jetzt bin ich auch noch schuld!» «Wenn die Kinder Sie wütend machen, dann schicken Sie mir die Kinder her. Vielleicht finde ich mit ihnen eine Lösung für das Problem. Denn wenn die Kinder die Ursache für Ihre Wut sind, kann ich Ihnen nicht helfen!»
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Sie schüttelt heftig den Kopf, meine Idee absolut ablehnend: «Aber, verstehen Sie mich, die sind fürchterlich. Die müssen Sie nur mal sehen, wie die sind?» «Wie sehen die aus, Ihre Ungeheuer?» frage ich, und schmunzelnd erzählt mir Frau Schneider von «ihren Schlitzohren». Die Augen strahlen, als ob sie von einem Geliebten berichtet. «Sie mögen die Kinder?» «Ja. Aber wenn sie doch nur nicht so fürchterlich wären!» Sie blickt hilfesuchend nach oben: «Ich weiß da nicht mehr weiter», erklärt mir Sonja Ehlers, ihre Kollegin, «sie machen mit uns, was sie wollen.» Ich sehe die beiden an: «Die Kinder sind Geschenke für sie. Geschenke, die herausfordern!» Die beiden Erzieherinnen schütteln den Kopf. «Geschenke?» Frau Schneiders Augen verengen sich zu einem kleinen Spalt: «Auf solche Geschenke kann ich verzichten!» «Glaub ich nicht. Nehmen Sie die Fünfergang mal als Geschenk an!» «Sie meinen, ich kann von diesen Kindern etwas lernen, neue Erfahrungen machen?» «Das denke ich!» Die beiden Erzieherinnen beginnen neugierig zu werden. Ihre angespannte Körperhaltung wird lockerer. «Wie packen Sie Ihre Geschenke zu Hause ein?» frage ich. Pamela Schneider überlegt. Sie zögert mit der Antwort. «Wichtig ist für mich eine große Schleife!» «Welche Farbe?» «Dunkelrot!» Ihre Kollegin Sonja Ehlers lächelt, obgleich ihre Stimme noch einen leicht trotzigen Klang hat: «Meine Schleife ist blau!» Kurze Pause. «Aber jetzt sagen Sie uns endlich, was soll der Quatsch!» «Sie sollen sich die ‹Fünfergang› zu Geschenken machen. Sie mit Schleifen einpacken.» -2 7 7 -
Die beiden Erzieherinnen brechen in Lachen aus: «Etwa richtig?» In ihr Lachen mischt sich Skepsis. «Stellen Sie sich vor», sage ich, «morgen steht die Fünfergang vorm Kindergarten. Alle haben Schleifen im Haar, blaue und rote Schleifen, so wie Sie sie mögen. Und dann sagen Sie sich: ‹Das sind meine Geschenke.»›. Mit den Worten «Wenn's denn hilft!» erklären sich die beiden bereit, diese Phantasieübung, die zu einem veränderten Blickwinkel führen soll, am nächsten Morgen zu starten. Pamela Schneider und Sonja Ehlers stehen im Eingangsbereich des Kindergartens, sehen durch die Glastür nach draußen. Sie haben - wie sie später berichten - «mit einem Mal richtig Spaß an der Sache gehabt. Wir hatten richtigen Biß. «Mal sehen, was passiert», erinnert sich Sonja Ehlers. «Und schlimmer hätt's ja auch nicht werden können.» Die «Fünfergang» versammelt sich. Niko und Ronald kommen als letzte. Sonja Ehlers schmunzelt. «Was hast du?» Pamela Schneider ist irritiert. «Heiko hat 'ne Schleife... Und Paulo...» Sie hält sich die Hand vor ihren Mund. Ein ungläubiges Kichern ist zu hören: «Stell dir vor, die haben Schleifen im Haar... Die haben wirklich Schleifen im Haar...» «Meine auch... dunkelblaue... Die passen sogar zu Heikos Haar. Der sieht richtig süß aus.» Sie brechen in Lachen aus, das befreit klingt, so als purzelten Zentnerlasten an Spannung herunter. Die «Fünfergang» kommt den Weg zum Kindergarten hoch in der Vorfreude auf einen actionreichen Vormittag und darauf, mit ihren «lieben» Erzieherinnen das bekannte Spiel in einer weiteren Variante zu erproben. «Unsere Geschenke kommen», Sonja Ehlers lächelt. «Wir sollten sie empfangen.» «Eigentlich sind sie doch ganz süß... mit ihren Schleifen im Haar...» Strahlend, entspannt, ganz locker gehen die beiden auf ihre fünf Kinder zu. Die wiederum sind irritiert. «Is' was?» fragt Paulo. -2 7 8 -
«Warum seid ihr so lustig?» Niko wirkt nachdenklich. Auch Heiko will nicht glauben, was er sieht; war er doch bisher genervt-gestreßte Gesichter gewöhnt, wenn er den Kindergarten betrat. Alle fünf bekommen einen freundschaftlichen Klaps auf die Schultern, Annahme signalisierend. Die fünf wirken konsterniert. Sie schauen sich gegenseitig an, die gewohnten Rituale scheinen mit einem Mal hinfällig zu sein. Als die Erzieherinnen Aufgaben an die fünf Kinder verteilen, um sie durch Verantwortung noch stärker einzubinden, machen diese sofort und bereitwillig mit. «Heut ist irgendwas anders», Ronald wirkt nachdenklich, wiegt seinen Kopf hin und her und weiß (noch) nicht, ob er darüber lachen soll oder sauer sein. Der Vormittag verläuft so, wie die Erzieherinnen ihn sich bisher nicht vorzustellen trauten. Selbst als die «Fünfergang» eine Zeitlang Wirbel machte, betrachtete Pamela Schneider die «Störungen» mit anderen Augen: «Ich hab' sie mir mit Schleifen vorgestellt. Und da konnte ich ihr Spiel eine bestimmte Zeit aushallen.» Und Sonja Ehlers ergänzt: «Sie haben irgendwann von alleine aufgehört.» Diese Situation verdeutlicht, wie mit einer ungewöhnlichen Technik Grenzen gesetzt werden, dem Umdeuten von Situationen, um sie aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Dadurch gewinnt man Handlungsfähigkeit, überwindet seine Hilflosigkeit: - Häufig sehen Eltern die Kinder unter einem eingeschränkten und negativen Gesichtspunkt: «Du raubst mir die Nerven...» «Du bringst mich ständig auf die Palme...» Die Ursachen für die Probleme werden in andere Personen hineinverlagert, von denen man gerade dadurch abhängig wird. Erst macht man sich ein Bild von Kindern und deren Handlungen und preßt dann die Wirklichkeit in diesen vorgefertigten Rahmen. Aus diesem Raster - z. B. «der Störer», «der Auffällige», «der Aggressive»... - können die Kinder nur noch schwer ausbrechen. Und zugleich wird alles, was außerhalb des eigenen Rasters und des alltäglich Gewohnten ist, nicht mehr wahrgenommen. Eltern beklagen sich über ihre -2 7 9 -
Kinder, Pädagogen über ihre Schüler in detaillierten Beschreibungen, die freilich eher Abstempelungen und Stigmatisierungen sind, z. B. hyperaktiv, phantasielos, konzentrationsgestört, spielunfähig. Bei solchen Beschreibungen frage ich: «Was mögen Sie gerade an Ihrem Kind?» oder: «Wo hat denn der Schüler seine Stärken?» Dann folgt seitens des Anklägers nicht selten ein erstaunter Blick, ein längeres Schweigen, die Bitte um eine Denkpause - «Kann ich so schnell nicht sagen!» Manche Erwachsene fühlen sich ertappt, sogar erleichtert darüber, aus gewohnten Beobachtungsrastern gerissen zu werden. Durch die Erweiterung des Blickfeldes tritt das Kind in seiner ganzen Persönlichkeit vor Augen, möglicherweise mit jenen Anteilen, für die man bisher blind war. - Viele Erwachsene und Eltern bewerten - ich hatte darauf hingewiesen - nicht die Handlungen, die sie sehen, sie bewerten die Handlungenauf der Grundlage der Meinungen, die sie von diesen Handlungen haben - z.B.: Man schlägt sich nicht, man sagt keine Schimpfworte, man putzt sich die Zähne etc. Die Erzieherinnen lehnen in der oben beschriebenen Situation kindliche Störungen und damit einhergehende zerstörerische Aggressionen ab. Für sie sind diese Handlungen das Gegenteil von dem, was sie sich für ihre Arbeit wünschen. Sie wollen - zu Recht - ein ausgeglichenes und auf gegenseitigem Respekt aufbauendes Miteinander. Jede Handlung, die die Harmonie stört, wird deshalb negativ gedeutet, abgelehnt, abgeblockt, gemaßregelt. Und: Jedes Kind, das stört, wird auf der Basis eines bestimmten Beobachtungsrasters eingeordnet. Das Kind hat kaum Chancen, dieser Zuordnung zu entfliehen. Positive, konstruktive und soziale Persönlichkeitsanteile werden kaum wahrgenommen. - Es geht bei der Veränderung der Wirklichkeitssicht nicht darum, Schuld anders zu verteilen - nach dem Motto: Nicht das Kind hat die Probleme, sondern die Erwachsenen, die mit dem Kind zu tun haben. Es kommt mir darauf an, dem pädagogisch Handelnden veränderte Perspektiven für sein Handeln zu -2 8 0 -
geben. Solch eine Veränderung führt möglicherweise dazu, die Realität anders, d.h. angemessener zu betrachten, um so zu neuen Lösungen für problematische Konfliktsituationen zu kommen. Als Ausgangspunkt für ein praxis- und lösungsorientiertes Handeln, für Aktionen im Hier und Jetzt ist die Annahme wichtig, daß die Kinder so handeln, wie sie handeln. Es ist bedeutsam, jene Spielregeln zu erkennen, nach denen Kinder ihre Handlungen vollziehen. Und daraus folgt weiter: Wenn die Ursachen für Auffälligkeiten außerhalb meiner Eingriffsmöglichkeiten liegen, dann kann ich störendes Verhalten von Kindern nur schwer ändern. Wenn man sich jedoch als Teil des Gesamtsystems, z. B. der Eltern-Kind-Beziehung, mithin als Teil des Spiels betrachtet, dann hat man die Lösungsmöglichkeiten selbst in der Hand. Man ist nicht mehr hilflos seinen Launen oder denen des Kindes ausgeliefert, man hält einen Dietrich - oder mehrere - in der Hand. Schon durch die gewandelte Sichtweise auf Kinder sind Veränderungen möglich, ohne daß die Ursache für das auffällige Verhalten der Kinder in seiner Gänze erkannt ist. Diese Vorgehensweise ist kein Patentrezept, aber sie ist eine Möglichkeit, um auf ungewöhnliche Weise einen Zugang zum Kind zu finden, seine Beziehung zu ihm neu zu definieren. An der Situation der «Fünfergang» veranschaulicht: Nachdem die Erzieherinnen mit pädagogischen Maßnahmen keine passenden, d. h. von den Kindern akzeptierten Grenzen setzen konnten, weil die Maßnahmen ganz offensichtlich an der Realität der Kinder vorbeigingen, waren neue Spielregeln vonnöten. Die bisherigen brachten ausschließlich den Kindern Spaß: Sie wußten, wie sie ihre Erzieherinnen mit einem geringen Maß an Aufwand schnellstmöglich auf die Palme bringen konnten. Die «Erfolge» ihres Tuns waren an Gestik und Mimik von Pamela Schneider und Sonja Ehiers jeden Morgen abzulesen: Die Erzieherinnen wirkten angespannt, sobald sie die «Fünfergang» nur sahen. Daraus entstand eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Dann veränderten die Erzieherinnen ihren Blickwinkel und damit die Spielregeln. Als die Fünfergang -2 8 1 -
das Gefühl hatte, mit all ihren Persönlichkeitsanteilen angenommen zu sein - und dazu gehören auch die ungekonntaggressiven -, wurde ihr altes Ritual überflüssig. Das Lachen der Erzieherinnen signalisierte ihnen auf eine andere Weise als bisher Zugehörigkeit und Angenommensein. «Und was hat das alles mit Geschenk zu tun?» fragte Pamela Schneider, als sie mir vom veränderten Verhalten der «Fünfergang» berichtete. «Auf solche Geschenke kann ich nämlich absolut verzichten.» «Ich denke nicht», meine ich lachend. «Diese Fünfergang war ein Geschenk, weil Sie erfahren haben: Manche Problemlösungen liegen nicht außerhalb meiner Reichweite, ich trage die Lösung in mir. Ich kann sie erkennen, wenn ich will. Aber manchmal bin ich blockiert, und dann brauche ich ein Geschenk - mit dunkelroten Schleifen.»
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Kapitel 6 Mitgefühl! Nicht Mitleid!
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«Ich kann», so eine Leserin in einem Brief, «nicht zwischen Mitleid und Mitgefühl unterscheiden! Ich komme mir absolut hart und ungerecht vor, wenn ich kein Mitleid zeige. Warum ist Mitleid eine für Kinder so problematische Haltung? Was ist denn an Mitgefühl produktiver?» Konstantin war knapp fünf Jahre, als seine Mutter plötzlich starb. Er wollte ihren Tod nicht wahrhaben, zog sich dann im Kindergarten von anderen Kindern zurück, saß, wie die Erzieherinnen beobachteten, «nur so da, traurig, verlassen». Konstantin schien unansprechbar, isoliert, kam gleichwohl gerne am Morgen in die Einrichtung. Die anderen Kinder versuchten, ihn auf ihre Art zu trösten: Sie gingen zu ihm, wollten mit ihm reden, sie boten ihm Spiele an. Konstantin lehnte den Zuspruch meist ab. Ein «armes Kind, das schon viel mitgemacht hat», dieses Bild nistete sich in den Köpfen der Erzieherinnen, aber auch der anderen Eltern ein. Und je mehr sich die Erwachsenen um Konstantin bemühten, um so intensiver entwickelte sich seine stille Blockade. Konstantin zog sich mehr und mehr zurück, die Puppenecke oder die Kuschelmatratze waren seine Lieblingsplätze. Nach vielen Wochen löste sich Konstantin aus seiner Einkapselung, ging wieder auf die Kinder, aber mehr noch auf seine Erzieherinnen zu - allerdings in einer Art und Weise, die diese nicht erwartet hatten. Mal trat er kräftig und schmerzhaft zu, mal biß er Kinder, mal kniff er sie, mal ließ er eine Kanonade übelster Schimpfworte los. Das Kindergartenteam ignorierte zunächst - durchaus angemessen - sein Verhalten. Doch als das Ignorieren nicht half, Kinder fragten, was Konstantin denn wohl habe, versuchte man Grenzen zu setzen etwa mit folgenden Formulierungen: «Wir sind so nett zu dir und du bist so!» «Das mußt du nicht machen! Was soll das?» «Das macht man nicht!» Auch dies nutzte nichts vor allem deshalb, weil Mimik, Gestik und Stimmklang der Erzieherinnen Halbherzigkeit ausdrückten: «Der Junge hatte so schlimme Erfahrungen gemacht», -2 8 4 -
berichtet eine Erzieherin, «da konnte ich nicht laut werden, konsequent sein.» «Und», so ergänzt ihre Kollegin, «an Konsequenzen habe ich niemals gedacht. Die wären mir nicht in den Sinn gekommen. Sie hätten dieses traurige Kind mal sehen sollen, wenn ich nur ganz leise geschimpft habe!» Konstantins zerstörerisches Verhalten steigerte sich. Er verletzte andere Kinder, zerriß ihre Zeichnungen, zerstörte Basteleien, trat Eltern vors Schienbein, wenn diese ihre Kinder abholen wollten. Man brachte Konstantin eine schier unvorstellbare Geduld entgegen, weil man ihn als Opfer betrachtete und jede seiner Handlungen stillschweigend mit dem Tod seiner Mutter entschuldigte. «Da kann man nichts machen. Das gibt sich schon!» Über Monate zogen sich Konstantins Versuche hin, angemessene (!), eben nicht verständnisvoll-tolerierende Aufmerksamkeit zu bekommen - aus seiner Sicht vergeblich. Zwar reagierten die anderen Kinder, die Erzieherinnen und die Eltern zunehmend ungeduldig und gereizt, aber letztlich blieb Konstantin ein Opfer, das es zu bemitleiden galt. Bis er die Notbremse zog: Als er knapp sechs Jahre war, ließ er sich mittags im Kindergarten einschließen, setzte diesen durch eine geschickte Manipulation der Dusche unter Wasser, beschmierte Tapeten und Tische mit Farbe, hinterließ an drei Stellen kleine Häufchen mit Kot, seine Duftmarken sozusagen, kurz: Er inszenierte im Kindergarten ein totales Chaos. Zur Rede gestellt, stritt Konstantin nichts ab. Auf den Vorwurf seiner Erzieherin: «Wir waren so lieb zu dir, haben alles für dich gemacht. Warum tust du so was?» streckte er allerdings die Zunge heraus, trat ihr kräftig auf die Füße und meinte: «Blöde Kuh!» Eine andere Geschichte. Tom, sechseinhalb Jahre, erlebt eine durch Mißhandlung und Zurichtung gekennzeichnete Kindheit: Er wird vom Vater geschlagen, getreten, er wird in eine mit kaltem Wasser gefüllte Wanne gedrückt, wenn er nicht -2 8 5 -
gehorcht. Tom muß in lumpigen, dreckigen Kleidern zur Schule, ihm werden die Haare kurz, fast glatzenartig geschnitten. Die Eltern verweigern ihm sogar Essen und Trinken - besonders dann, wenn er ihre Erwartungen an schulische Leistungen nicht erfüllt hat. Toms Klassenlehrerin reagiert spontan, als sie von der Situtation erfährt. Sie redet mit den Eltern, will Änderung - und als sie diese nicht erreicht, setzt sie die Eltern unter Druck, droht mit dem Jugendamt. Der zuständige Sachbearbeiter bleibt jedoch untätig, denn die Eltern tun die Vorwürfe der Lehrerin und Toms Schilderungen als Hirngespinste ab. Während sie Tom als «Lügner, der er schon immer war», bezeichnen, stellen sie sich als strenge, aber liebevolle Eltern dar - «Uns rutscht schon mal die Hand aus! Aber dann entschuldigen wir uns!» - und finden beim Amt durchaus Verständnis. Tom reagiert auf die Eingriffe seiner Lehrerin anders, als diese erwartet hatte: Er erzählt nichts mehr von seinem häuslichen Elend. Er verweigert sich, distanziert sich. Durch die Gespräche der Lehrerin verstärkte sich der elterliche Druck auf Tom. Sie hatten harte Strafen angedroht, falls er sich der Lehrerin weiterhin öffnen sollte. «Was soll ich nur machen?» fragte mich die Lehrerin verzweifelt. «Tom ist so ein armes Würstchen. Der hat keinen, der ihm hilft.» «Lassen Sie die Elterngespräche», antworte ich sehr bestimmt. «Konzentrieren Sie sich auf Tom. Geben Sie ihm Energie. Ich denke, er ist kein kleines Würstchen. Er kann sich selbst helfen, wenn Sie ihm das vermitteln!» «Aber ich bin doch nur drei Stunden mit ihm zusammen. Der geht drauf, wenn ich nicht helfe.» «Sie gehen drauf mit Ihrer aufopferungsvollen Haltung, mit dieser spontanen Helfermentalität. Sie gehen mit unter, wenn Sie seine Retterin sein wollen. Zeigen Sie Tom, wie er -2 8 6 -
schwimmen kann.» Toms Lehrerin insistiert weiter: «Aber er ist noch zu klein dazu!» «Bei den Eltern ist er Opfer, bei Ihnen ist er es auch. Er ist Opfer Ihrer engagierten Bemühungen. Aber Tom ist auch Gestalter seiner Welt, er ist ein Kind, das handelt. Machen Sie ihn handlungsfähig, indem Sie ihm eine emotionale Stütze sind.» Die Lehrerin begann, über ihre Position nachzudenken. Sie war zwar nicht völlig überzeugt, sah aber auch: Der bisherige Weg hatte sie zunehmend kraft- und mutlos gemacht. In den folgenden Tagen sprach sie mit Tom, erklärte ihm ihr Vorgehen: Sie würde keine weiteren Gespräche mit den Eltern führen. Er könne während der Schulzeit jederzeit zu ihr kommen, um mit ihr zu reden, wenn er einen Gesprächspartner brauchte. «Und du redest wirklich nicht mit meinen Eltern?» Skepsis schwang in seinen Worten mit. «Ich verspreche es dir!» Tom akzeptierte das Vorgehen seiner Lehrerin. Obgleich die erniedrigende Situation zu Hause unverändert fortbestand, veränderte sich Toms Verhalten in der Schule: Er baute einen sehr intensiven Kontakt zur Lehrerin auf. Zwar hatte sie ihm ihre Telefonnummer gegeben, doch machte Tom keinen Gebrauch davon. Er suchte vielmehr Kontakt zu drei anderen Jungen seiner Klasse, die in seiner Nähe wohnten. Dort verbrachte er große Teile des Nachmittags. Toms schulische Leistungen blieben konstant nicht überragend, aber auch nicht unterdurchschnittlich -, obgleich er «häufig», wie seine Lehrerin beobachtete, «tagelang nur so vor sich hin starrte, sich in die Ruheecke zurückzog oder gedankenverloren wirkte». Toms Lehrerin empfand sehr widersprüchliche Gefühle während dieser Zeit: «Für mich war es schwierig, mich an die Absprache zu halten. Ständig diese Gedanken an das arme Kind, daß ich helfen muß. Aber ich hab's geschafft, weil Tom mir half. Er zeigte mir, das tut mir gut, wie du mit mir umgehst. Du nimmst mich ernst. Und ich merkte allmählich, wie er alleine -2 8 7 -
zu gehen begann. Ich sah, ich bildete es mir nicht ein, wie er in kleinsten Etappen selbständiger wurde. Er zeigte mir, ich kann alleine. Er hatte, ich wollte es nicht glauben, offensichtlich eine Art gefunden, seine häuslichen Erfahrungen zu verarbeiten. Ich glaube, er hat gelernt, sich anders zu sehen. Er hat unbewußt erfahren, ich kann mir helfen, ich bin nicht abhängig. Und mir machte das Mut, mit meinem Stil weiterzumachen. Ich hab zwar ständig die Schiene übers Jugendamt versucht, aber mir war klar, die Lösung kommt nicht von dort. Tom durchschlägt den gordischen Knoten selbst.» Als Tom das dritte Grundschuljahr fast beendet hatte, er war zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt, erschien er eines Donnerstags nicht zur Schule. Am Nachmittag klingelte bei der Lehrerin das Telefon. Tom meldete sich. Er erklärte, er habe sich versteckt, komme erst wieder, wenn man für ihn einen Platz in einem Kinderheim garantieren könne. «Ich geh nicht mehr nach Hause. Ich habe keine Eltern mehr. Mir geht es gut. Alles wird gut», sagte er zum Abschluß des Gesprächs. Und dann fügte er hinzu: «Mach dir keine Sorgen. »Tom hatte sich wie sich später herausstellte - mit der Hilfe eines Freundes in einer komfortablen Waldhütte versteckt, wurde von ihm mit Nahrungsmitteln versorgt. Die Lehrerin informierte umgehend Jugendamt und Polizei. Dies hatte sie Tom gesagt und darauf hingewiesen, er möge sich gleichfalls dort melden. Eine große Suchaktion lief an, man suchte Tom über Zeitung und Rundfunk. Doch vergeblich. Tom rief bei der Polizei an. Ein Polizist wollte Tom überzeugen, sein Versteck zu verlassen. Als dies nicht gelang, versprach er zu helfen. Man fand schnell einen Platz in einer ambulanten Wohngruppe, doch konnte dieser erst nach einigen Wochen belegt werden. Man teilte dies Tom mit, als er sich Tage später wieder bei der Polizei meldete. «Bis dahin mußt du zu Hause bleiben.» Eine Stunde später verließ Tom seine Hütte und ging zur Polizei, ließ sich nach Hause fahren. Dort empfing man ihn mit einer Mischung aus Eiseskälte und Vorwürfen. Tom wirkte stark und unantastbar, selbstbewußt und stolz, als er tags darauf in die Schule kam. -2 8 8 -
Er war ein «kleiner Held», wie es eine Schülerin ausdrückte. Nach drei Wochen erhielt er den versprochenen Platz in der Wohngruppe in einer entfernten Stadt. Am letzten Schultag kam er mit einem Blumenstrauß, überreichte ihn der Lehrerin. Im Strauß lag zerknittert ein kleiner weißer Zettel, darauf waren drei Blumen gemalt und das Wort «Danke!» Zwei Geschichten mit unterschiedlichen Verläufen, zwei Geschichten mit ganz verschiedenen Haltungen der Erwachsenen: Konstantin wird bemitleidet. Man betrachtet ihn als Opfer, unfähig, selbstbewußt zu handeln. Die Erwachsenen wollen seine Probleme für ihn lösen, sie halten es nicht aus, daß er traurig und verzweifelt ist. Durch übertriebene Nähe und Zuwendung will man ihn fröhlich stimmen, damit er - wie die Erzieherinnen sagen - «auf andere Gedanken kommt». Als er dann durch seine Störungen - unbewußt - darauf hinweisen will, wie unangemessen er dies Verhalten findet, er wirkliche Aufmerksamkeit, aber keine Bemitleidungen brauchte, als er durch weitere Regelverletzungen wie verzweifelt um Hilfe schreit, fühlt er sich immer noch nicht angenommen. Die wohlmeinenden Erwachsenen entwickeln Verständnis für jede seiner Störungen, anstatt diese durch klare Grenzziehung zu unterbinden. Ganz anders Toms Geschichte. Auch hier bringt Toms Erziehung, die seine Eltern als Stahlbad und Zurichtung mißverstehen, die Lehrerin in eine - durchaus verständliche und nachvollziehbare - Mitleidshaltung. Dieser Blickwinkel hilft Tom jedoch nicht, im Gegenteil: Er erlebt, wie seine Lehrerin Kontakt zu den Eltern aufnimmt, und er deutet dies als eine gegen ihn gerichtete Koalition. Er kapselt sich ab, wirkt hilflos, fühlt sich nun auch von der einzigen Vertrauensperson allein gelassen. Als die Pädagogin Tom anders sieht, wird die Beziehung zwischen ihm und ihr auf eine neue, gefühlsmäßig stabile Basis gestellt. Aus ihrer bemitleidenden Haltung wird eine Haltung des Mitgefühls. Sie betrachtet ihn als Subjekt, als eigenständigen Gestalter seiner Situation. Sie gibt ihm Nähe, vermittelt ihm Sicherheit, sie ist seine Reling, sein Geländer gehen, laufen oder stehenbleiben kann Tom allein. -2 8 9 -
Und ein weiterer Gesichtspunkt kommt hinzu: Sie traut Tom zu, seine Geschicke zu bestimmen und zu verändern, ohne ihn zu überfordern. Sie läßt sich auf Toms Tempo, sein Problem eigenständig anzugehen, ein. Sie lernt, ihn so anzunehmen, wie er ist, vor allem denkt sie nicht daran, was Tom wohl alles passieren könne, wenn sie nicht mehr seine Lehrerin ist. «Das fiel mir am Anfang schwer», erinnert sie sich, «weil ich dachte, was aus ihm wohl in ein paar Jahren wird. Aber damit setzte ich mich unter Druck und ihn wohl auch. Das war's genau, was mich am Anfang hilflos machte. Und in dem Maße, wie ich hilflos wurde, machte ich ihn auch unselbständig.» Indem die Lehrerin Tom loslassen konnte, entwickelte er Selbstvertrauen und eigene Fähigkeiten. Das Mitgefühl- «Ich bin bei dir!» «Ich gebe dir Unterstützung, aber gehen kannst du!» «Du kannst meine Hand nehmen, wenn du sie brauchst!» baute Tom auf, ließ Kreativität, Phantasie und Handlungsmöglichkeiten entstehen. Wer Kinder demgegenüber bemitleidet, macht sie von sich, seinen Fähigkeiten, seinen Gnaden abhängig; wer Kinder bemitleidet, verstärkt sie in ihrer Opferhaltung, ihrer Hilflosigkeit. Wer Kinder in einer Mitleidshaltung gegenübertritt, achtet sie nicht als Persönlichkeit. Konstantin wollte in seiner Trauer, in seinem Zorn, in seiner Wut, die der schmerzliche Verlust seiner Mutter ausgelöst hatte, nicht blindes Verständnis, er sehnte das Gefühl herbei, angenommen zu sein - wie jedes andere Kind auch. Mitleid nimmt Kinder nicht ernst, es macht ihr Leiden nur intensiver, läßt Hilfeschreie schriller werden. Wird dies verkannt, bleibt dem Kind nichts weiter übrig, als so lange um Aufmerksamkeit zu buhlen, bis die Erwachsenen zum Handeln verpflichtet sind. Krisensituationen, Konflikte und Probleme lassen sich im Alltag von Kindern nicht vermeiden. Und dies selbst dann nicht, «wenn man es noch so gut meint». Kinder leben in einer Welt voller Konflikte, voller Krisen und Widersprüche. Und auch die kindliche Entwicklung ist voll von Krisen, Umbrüchen, Reibungen und Mehrdeutigkeiten. Wenn dies schon nicht zu -2 9 0 -
verhindern ist, haben Kinder zumindest ein Anrecht darauf, als Subjekte respektiert und geachtet zu werden. Was das Kind mehr denn je braucht, ist Hilfestellung und Unter-Halt, das Mitgefühl einschließt. Kinder brauchen in Krisensituationen das Vertrauen und die Sicherheit, sich mit all ihren Sorgen, Traurigkeiten und Schmerzen angenommen zu fühlen. Mit der Gewißheit um Halt hält ein Kind Enttäuschungen und Frustrationen aus. Mitleid dagegen schwächt. Es hilft dem Kind nicht, selbstbewußt und eigentätig ein Problem anzugehen. Mitleid unterschätzt das Kind in seinen schöpferischen Fähigkeiten, Krisen zu bewältigen. Bei Problemen, die sich aus gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ebenso ergeben können wie aus individuellen Entwicklungsprozessen, hilft Mitgefühl. Mitgefühl stärkt. Mitgefühl bietet Hilfe an, weil es zur Selbsthilfe führt. Mitgefühl meint, sich in Betroffene einzufühlen, Mitgefühl ermutigt, Probleme anzugehen, sich ihnen zu stellen, nicht vor Problemen davonzulaufen oder sich zu entziehen. Das Mitgefühl gibt Verantwortung zurück, es vermittelt ein: «Du kannst es schaffen! Ich gebe dir Halt, wenn du ihn brauchst!»
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Kapitel 7 Konsequenzen sind keine Strafen!
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«Sind Konsequenzen nicht doch auch Strafen? Erpreßt man die Kinder nicht mit der Wenn-dann-Formulierung? Kinder haben bei Konsequenzen doch auch keine wirkliche Chance, sich zu entscheiden. Erwachsene bestimmen doch immer!» Michaela Geiger hatte mit ihrem fünfjährigen Robert einen ganzen Nachmittag lang gespielt, hatte sich intensiv um ihn gekümmert. Die Zeit verlief sehr harmonisch. Man vereinbarte, noch fünf Minuten zu spielen. Robert war einverstanden: Als Michaela Geiger das Spiel beenden wollte, bettelte Robert weiter, zögerte mit Weinerlichkeit und Traurigkeit das Ende immer aufs neue hinaus. Die Mutter wurde ungeduldiger, die bisher ausgeglichene Stimmung drohte umzuschlagen. Als Robert sie wieder einmal mit den Worten nötigte: «Du hast mich nicht lieb», flippte sie, wie sie sich später erinnert, «völlig aus!» «Was hast du gesagt?» schrie sie mit sich überschlagender Stimme. Robert streckte die Zunge heraus, murmelte einige Worte, die Michaela Geiger nicht genau verstand. Dann schaute Robert seine Mutter an: «Du spielst nie mit mir! Du magst mich nicht!» Sie springt auf, reißt ihren Sohn vom Stuhl hoch: «Gut, dann such dir 'ne andere Mutter!» Sie ist außer sich. «Und ich will dich hier nicht mehr sehen. Hau ab! Hau ab! Zieh doch aus!» Sie zieht ihn ins Kinderzimmer. «Los, pack deine Sachen!» Michaela Geiger sieht Roberts kleinen Rucksack in der Ecke des Zimmers liegen, reißt h in hoch. Robert steht die ganze Zeit wie versteinert herum, unfähig, ein Wort zu sagen. Er ist starr vor Schreck, schockiert über seine Mutter, die die Kommode aufzieht, Pullover, Hosen, Strümpfe, T-Shirts, alles mehr oder minder wahllos herauszieht, um sie in den kleinen Kinderrucksack zu stopfen. «Mama!» Roberts Stimme klingt zaghaft. «Halt die Klappe!» Der Satz kracht wie ein Hieb auf Robert nieder. Er schweigt. «So, nun komm!» Sie zieht ihn am Arm. «Ich bring dich jetzt zur Bushaltestelle, und dann fährst du in ein Kinderheim!» -2 9 3 -
«Nein! Nein! Nein!» Robert erstarrt, setzt sich auf den Boden, legt sich hin. Mit beiden Beinen klammert er sich am Bettgcländer fest. Seine Mutter zieht und zerrt, schreit: «Kommst du endlich. Ich schmeiß dich raus!» «Ich will doch lieb sein! Nicht ins Heim! Ich will immer lieb sein! Nicht ins Heim! Bitte, Mami, nicht ins Heim!» Roberts Stimme hat einen flehenden Klang. Aber die Mutter läßt ihm keine Chance. Je mehr er sich anklammert, um so heftiger zieht sie - bis er laut vor Schmerzen aufschreit. Sein linker Arm hängt ungelenk herunter, er ist - wie sich später herausstellt ausgekugelt. «Da bin ich wieder zur Besinnung gekommen. Als ich Robert da hab liegen sehen, bin ich zusammengebrochen und hab nur noch geheult!» Das ist eine - sicher sehr drastische - Situation, die aber das Prinzip der Strafe verdeutlicht: 1. Viele Erwachsene warten mit dem Grenzensetzen sehr lange, obgleich sie spüren, Klarheit und Festigkeit sind für eine weitere Klärung der Situation mehr als überfällig. 2. «Gute» Worte setzen keine Grenzen - vielmehr ist ein Handeln notwendig, das sich am Kind und seinen Möglichkeiten orientiert. Wird nicht gehandelt, so erzwingt das Kind dies, indem es seine Störungen fortsetzt. Wird nicht rechtzeitig eingegriffen, kann sich aus der langen Leine, dem Langmut, der stillschweigenden Duldung eine impulsive Strafaktion entwickeln, die manchmal physische und psychische Verletzungen nach sich zieht. 3. Strafen ändern nichts am störenden Verhalten des Kindes. Strafen mögen zwar kurzfristig eine Situation beenden - «Wenn du jetzt nicht aufhörst, dann werd ich böse!» - oder ein Resultat zeitigen: «Wenn du jetzt nicht Hausaufgaben machst, gibt's kein Fernsehen!» Das ist aber nur ein kurzzeitiges Erfolgserlebnis, denn durch Strafen werden Kindern keine Möglichkeiten aufgezeigt, das störende Verhalten zukünftig anders, vor allem selbständiger zu lösen.
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Elterliche Strafaktionen, die ein Kind als Erniedrigung empfindet, führen entweder zu dem Wunsch, sich durch weitere Störungen an den Eltern zu rächen, oder aber zu überangepaßtem Verhalten, um sich vor impulsiven elterlichen Strafaktionen zu schützen. In «Kinder brauchen Grenzen» habe ich an vielen Alltagssituationen - Bummelei, Aufräumen, Schlafengehen, Situationen beim Essen (Seite 133ff.) die Notwendigkeit von Konsequenzen aufgezeigt, wenn abgesprochene Grenzen übertreten werden. Nina Karl, Mutter der zehnjährigen Nicole, hatte Ärger mit dem Chaos in ihrem Zimmer. Durch klare Absprachen erreichte sie es, daß das Chaos sich zumindest nicht in der gesamten Wohnung ausbreitete. Die Mutter hatte einen «Zaubersack» genäht. Dann informierte sie ihre Tochter: «Alles, was am Morgen unaufgeräumt in der Wohnung herumliegt, kommt in den Zaubersack. Der wird erst nach einer Woche wieder geöffnet. Dann bekommst du deine Sachen zurück. Aber nicht vorher. Wie es in deinem Zimmer aussieht, das ist mir zwar nicht egal. Aber ich werde nicht hineinschauen.» Nicole akzeptierte den Zaubersack. Am nächsten Tag war alles aufgeräumt, am übernächsten Tag lagen Nicoles Lieblingsjeans und -pullover achtlos herum. Die Mutter ließ sie im Zaubersack verschwinden. Am dritten Morgen suchte Nicole verzweifelt ihre beiden Kleidungsstücke. Die Mutter erklärte ihr die Situation, Nicole «flippte völlig aus», wollte nicht in die Schule. Nina Karl blieb, wie auch in den folgenden Tagen, konsequent. Als Nicole die Festigkeit ihrer Mutter spürte, änderte sich schnell ihr Handeln. Zur Absprache gehörte, daß Nicole im eigenen Zimmer ihre eigene Ordnung behalten konnte. Und dies bedeutete - aus der Sicht der Mutter - Chaos. Nicole liebte ihre Anarchie, für sie bedeutete das Gemütlichkeit. Die Mutter akzeptierte dies eine Zeitlang, aber dann «wurde es mir zu bunt. Nicole ließ ihre Sachen, ihre Kleidungsstücke überall herumliegen... Die -2 9 5 -
zerknitterten, waren schnell dreckig. Ich war ununterbrochen am Waschen und am Bügeln.» Sie setzte sich mit Nicole zusammen: «Nicole, ich möchte, daß du wenigstens deine Kleidung in deinem Zimmer ordentlich behandelst. Ich bin nicht deine Waschfrau. Kleidungsstücke, die am Boden in deinem Zimmer liegen, die deshalb verschmutzen, zerknittern und die du dann nicht mehr anziehen magst, wasche und bügle ich nicht mehr!» Nicole widersprach der Beobachtung ihrer Mutter entschieden, ließ sich dann aber auf die Abmachung ein. Zwei Wochen lang achtete Nicole darauf, ihre Hosen, Blusen und Pullover pfleglich zu behandeln. Dann ging der Schlendrian wieder los. Sie legte die zerknitterten, verschmutzten Sachen in den Wäschekorb, um sie von der Mutter säubern zu lassen. Nina Karl sortierte Nicoles Sachen aus, erinnerte ihre Tochter an die Abmachung. Eines Morgens kam Nicole zur Mutter: «Ich hab nichts mehr anzuziehen!» «Zieh' das an, was du noch hast!» Nicole schaltete auf stur. Sie ging in den nächsten vierzehn Tagen in den immergleichen «Klamotten», wie die Mutter feststellte, in die Schule. Nina Karl schmunzelt: «Das war das Schwerste. Was denken wohl die anderen? Bin ich eine Rabenmutter? Und stinkt meine Tochter auch nicht?» Zudem provozierte Nicole ihre Mutter in den nächsten Tagen mit ihrem Aussehen. «Die dachte wohl, ich halte das nicht aus. Aber ich bin standhaft geblieben. Ich spürte intuitiv, das kannst du durchhalten, und deshalb hat's auch geklappt!» Nach vierzehn Tagen ging Nicole an den Wäschesack, holte ihre Kleidungsstücke heraus, wusch sie. «Kannst du mir was bügeln helfen?» Sie schaut ihre Mutter an: «Das kann ich nicht so gut.» «Klar helfe ich dir!» «Wir haben das zusammen gebügelt», erinnert sich Nina Karl, «dabei haben wir nochmals über die Situation geredet.» -2 9 6 -
«Mama, du bist viel strenger geworden. Das hätte ich nicht gedacht von dir!» An dieser Situation kann der Unterschied zwischen Strafe und Konsequenz anschaulich verdeutlicht werden: Die Strafe - baut auf Anpassung und Gefallsucht - macht veränderte Handlungsmuster von der Anwesenheit der Bezugspersonen abhängig - erzeugt Schuldgefühle beim Kind, das Gefühl «Ich bin böse!» und bei den Eltern «Ich erziehe schlecht!» - führt zu einer Rationalisierung der elterlichen pädagogischen Aggression: «Wenn mein Kind brav wäre, könnte auch ich gut sein!» - hat jedoch nicht selten Rache- und Vergeltungsphantasien der Kinder zur Folge. Konsequenzen stehen in grundsätzlichem Zusammenhang mit dem Tun des Kindes. Sie stellen natürlich Folgen dar, die beim Kind Einsicht wecken sollen. Konsequenzen müssen dem Kind vor der Grenzüberschreitung klar sein. Das Kind hat die Freiheit: Es kann Grenzen respektieren, Absprachen einhalten, dann treten die Konsequenzen nicht in Kraft. Überschreitet ein Kind Grenzen, mißachtet es Absprachen, dann weiß es um die Konsequenzen. - Auch die Konsequenzen argumentieren mit einer «Wenndann»-Formulierung. Ähnlichkeiten zur Strafandrohung sind sprachlich unverkennbar. Gleichwohl hat die «Wenn-dann»Verknüpfung bei der Konsequenz einen anderen Zusammenhang. Konsequenz baut darauf auf, daß Kinder an der Beseitigung von Störungen mitarbeiten wollen. Bei Konsequenzen geht es nicht um Schuld und Sühne, sie bauen auf einer partnerschaftlichen Erwachsenen-Kind-Beziehung auf, einer Partnerschaft, die Freiheit und Gleichwertigkeit nicht mit Grenzenlosigkeit und «Gleichmacherei» verwechselt. - Konsequenzen bauen auf gegenseitigem Respekt auf, sie wollen Lösungen durch Einsicht. Konsequenzen haben ein -2 9 7 -
positives Bild vom Kind: Sie gründen darauf, daß Kinder nur dann stören, wenn sie über konstruktive Aktionen keine Aufmerksamkeit bekommen. - Konsequenzen werden in ruhigem Ton formuliert. Dies ist möglich, weil sie im vorhinein abgesprochen werden. In folgenden Schritten lassen sich gemeinsam mit dem Kind Konsequenzen entwickeln: 1. Dem Kind wird das Problem beschrieben, die Sachlage dargestellt. Dabei ist auf Ich-Botschaften zu achten. Beschuldigungen - «Du bist schlecht!» - sind ebenso zu vermeiden wie unzulässige Verallgemeinerungen - «Du machst nie...» 2. Es ist wichtig, daß das Kind die Situation aus seiner Sicht darstellen kann. Aber Verständnis für die Situation des Kindes bedeutet nicht Akzeptanz. Deshalb: Durch Erklärungen der Kinder - «Andere sind schuld» -, durch Beteuerungen - «Ich mache nie mehr...!» - sollte man sich ebensowenig ablenken lassen wie durch Beleidigungen oder Nötigungen. 3. Die Konsequenzen werden mit Nachdruck aufgezeigt. Dabei müssen Erwachsene sich vergewissern, daß dem Kind die Konsequenzen klar sind. Ein wichtiges Prinzip ist: Die Konsequenzen müssen von den Eltern eingehalten werden. Deshalb sollten sie sich vorher vergewissern, ob die dem Kind angebotenen Konsequenzen sowohl praktisch wie gefühlsmäßig durchzuhalten sind. Sollte das nicht möglich sein, ist nach Konsequenzen zu suchen, die lebbar sind, ohne daß man sich oder die Kinder überforden. Die Vielschichtigkeit, mit der man Konsequenzen im pädagogischen Handeln einsetzen kann, macht die nächste Geschichte deutlich. Gerlinde Tauber, alleinerziehend, besucht mit Mario, sieben Jahre, «gerne mal das Chinarestaurant.» «Aber», so erzählt sie, «das ist in letzter Zeit der absolute Streß.» Sie schildert eine Situation. Kaum hat sie das Lokal betreten, sich an den Tisch gesetzt, schaut Mario sich kurz -2 9 8 -
nach allen Seiten um, lächelt. Seine «Zuschauer» sind ganz offensichtlich schon anwesend. Während Gerlinde Tauber in der Speisekarte blättert, hat sich Mario schon entschieden: Er will eine Frühlingsrolle. Deshalb nimmt er unterdessen die Eßstäbchen, spielt damit. «Schau mal, wie Mikado.» Die Mutter blickt weiter in die Karte. «Schau mal», beharrt Mario. Als er keine Aufmerksamkeit bekommt, stochert er mit den Stäbchen in den Blumen. «Mario!» Gerlinde Taubers Stimme klingt bestimmt. Doch Mario hört nicht auf, er führt die Stäbchen unter die Vase, die eine Schieflage bekommt. «Mario, hör auf!» Zögerlich nimmt er die Stäbchen zurück, stupft nun seine Mutter damit. Kurze Ruhepause als der Kellner die Bestellung entgegennimmt. Dann setzt er das Spiel mit den Stäbchen fort. Das ständige «Mario!» beendet nichts. Als es Gerlinde Tauber irgendwann zu bunt wird, entreißt sie ihrem Sohn sein «Spielzeug». «Aua, du tust mir weh!» schreit er auf. Er klingt weinerlich, schaut seine Mutter wehklagend an, seine Oberlippe ist auf die Unterlippe gepreßt, sein Kopf in die Hände gestützt - ganz beleidigte Leberwurst. «Wie häufig muß ich dir noch sagen, du sollst dich im Lokal benehmen. Zu Hause geht das am Eßtisch ja auch!» Er drückt ein paar Tränen heraus. Die Mutter versucht, ihn aufzumuntern, will ihn ablenken. Er ist gut in Form, während sie eine schlechte Tagesform hat. Er nimmt andere Stäbchen, hantiert damit herum, sie läßt ihn, «um bloß Ruhe zu haben. Die anderen Gäste schauten schon zu unserem Tisch herüber.» Als die Getränke kommen, benutzt Mario die Stäbchen dazu, um damit in seiner Brause Wellen zu machen. Das Glas kippelt, die Mutter fängt es im letzten Moment noch auf.
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«Mario!» Gerlinde Taubers Stimme klingt hart. Mario hört jedoch nur kurz auf, macht dann unverdrossen mit neuem Schwung weiter. Das «Laß das!», «Hör bitte auf!», «Kannst du dich denn nicht benehmen?», «Muß ich dir alles tausendmal sagen?» überhört Mario. «Muß ich denn erst richtig böse werden?» fragt die Mutter drohend. Doch Mario macht weiter, so als wolle er «Au, ja!» ausdrücken. «Oder müssen wir erst vor die Tür gehen?» In Marios Augen scheint wieder ein «Au ja!» aufzublitzen, in seiner Körperhaltung ein «Gleich hab ich sie soweit!» durchzuscheinen. Noch ist es nicht so weit. Erst kommt noch die Frühlingsrolle, Mario spielt weiter mit dem Glas und seinen Stäbchen, will nun aber aufhören, stellt sich dabei ungeschickt an, das Glas fällt um, der Inhalt ergießt sich auf seinen Teller und über die Frühlingsrolle. Mario zuckt zusammen. «Ich hab's dir ja gesagt!» Gerlinde Tauber ist sauer. «Nun ißt du das gefälligst auf!» meint sie bestimmt. Mario sitzt beleidigt und stocksteif da, schaut wehleidig drein, rührt nichts von der durchnäßten Frühlingsrolle an. Der Kellner kommt, bringt Mario eine neue Frühlingsrolle. Er hat es gut gemeint, die Mutter ist sauer: «Das war doch nicht nötig gewesen. Wer sich wie ein Schwein benimmt, muß wie ein Schwein essen!» So etwas läßt sich Mario nicht gefallen, solche Sätze lassen ihn vielmehr zur Hochform auflaufen. Mit funkelnden Augen blickt er die Mutter an, greift mit beiden Händen nach der Rolle und schmeißt sie der Mutter auf ihren Teller. Das Bierglas kippt um, der Inhalt ergießt sich über Gerlinde Taubers Rock. Sie springt instinktiv auf, reißt ihren Sohn vom Stuhl, gibt ihm drei Klapse auf den Hintern. Er schreit, brüllt, sie setzt ihn hin: «Wenn du jetzt nicht gleich ruhig bist...», herrscht sie ihn an. Er schweigt, ißt nichts, sie schlingt ihre Mahlzeit hinunter. «So ähnlich verlaufen unsere Auftritte relativ häufig», erzählt sie auf einem Elternseminar. Mario ist anwesend, gemeinsam -3 0 0 -
suchen wir deshalb nach einer Lösung und entwickeln dabei Wege: Mario darf beim Restaurantbesuch zunächst einige Minuten mit den Stäbchen spielen, dann ist sein Spiel für den Rest des Essens beendet. Man einigt sich zusätzlich darauf, ein Buch mitzunehmen, das Mutter und Sohn gemeinsam ansehen, und Mario hat dann noch die Idee mit dem Mikadospiel, das man vor dem Essen im Restaurant spielen kann. Beide sind einverstanden. «Und wenn's dann doch nicht klappt?» fragen sie. Mario lächelt: «Es klappt!» Er überlegt einen Augenblick: «Und wenn ich dann trotzdem spiele und nerve, dann rufst du bei Renate an, die kann mich dann abholen. Dann esse ich nicht.» Auch hier kommen die beiden schnell zu einer Einigung: Fährt Mario im Restaurant mit seinen «Machtspielchen» fort, kann die Mutter ihre Freundin Renate anrufen, um Mario abholen zu lassen. Er bleibt dann so lange bei ihr, bis die Mutter zu Ende gegessen hat. Für Mario ist das eine fühlbare Konsequenz, ist ihm doch das gemeinsame Essen mit der Mutter im Restaurant sehr wichtig. Die getroffenen Absprachen funktionieren, das Essen verläuft in harmonischen Bahnen - bis Mario eines Tages «wieder seinen Bock kriegt». «Ich habe ihm zweimal klare Grenzen gesetzt, ihn an die Absprachen erinnert. Er spielte weiter. Ich bin dann aufgestanden, hab Renate angerufen.» Gerlinde Taubers Freundin kam schnell. Als sie das Lokal betrat, war Mario sichtlich erschrocken. Er hörte mit dem Spiel auf. Gerlinde Tauber sagte ganz bestimmt: «Mario, bitte geh!» Mario hatte seine Mutter so konsequent noch nicht erlebt. «Mario, bitte geh.» Mario stand auf, ließ sich auf den Boden fallen, weinte, wimmerte: «Ich will auch immer wieder brav sein.» Gerlinde Tauber kniete sich zu ihrem Sohn und streichelte ihn: «Mario, ich möchte, daß du gehst. Du warst mit der Absprache einverstanden.» Mario hörte auf der Stelle mit dem Weinen auf, ergriff die Hand von Renate und verließ das Restaurant, ohne einen weiteren Ton zu sagen. -3 0 1 -
«Wie ging's Ihnen in der Situation?» «Zuerst gut, dann fürchterlich!» «Was war furchterregend?» «Die Reaktion der anderen Gäste. Das waren chinesische Drachen, so kamen sie mir jedenfalls vor, die mich fressen wollten. Gut, daß wir das damals auf dem Elternseminar genau durchgespielt haben!» «Was haben Sie dann gemacht?» «Was Sie gesagt haben: Einen scharfen Reisschnaps getrunken... auf mich und meine Konsequenzen!» «Und was war mit Mario?» «Mario wartete bei der Freundin auf mich. Als ich in die Wohnung kam, hat er mich nicht begrüßt, mich aus der Distanz beäugt. Aber in seinem Blick spürte ich auch Stolz auf mich. Zu meiner Freundin hatte er während der Heimfahrt vom Restaurant gesagt: ‹Hätt ich nicht von Mama gedacht!› Und dabei hat er wohl immer wieder den Kopf geschüttelt.» Manchmal ergeben sich Handlungsänderungen jedoch durch Konstellationen, die unvorhersehbar sind. Nicht immer sind Konsequenzen die Folgen pädagogischer Überlegungen. Isolde Rupert hat «Aufräumstreß» mit ihren drei Söhnen, Martin, fünf Jahre, Mike, acht Jahre, und Frederik, zehn Jahre. Sie hielten ihre Mutter in Atem, dies vor allem mit ihrer «schlechten» Angewohnheit, «ihre Kleidung überall in der Wohnung herumliegen zu lassen.» Isolde Rupert räumte zuerst alles auf und «den Kindern hinterher! Aber je mehr ich aufräumte, um so mehr ärgerte ich mich. Ich war wirklich nur noch dabei, die Sachen immer wieder in den Kleiderschrank zu hängen. Irgendwann hat es mir gestunken!» Anläßlich eines Familien Seminars entwickelte die Familie mit mir eine Absprache. Sollte diese nicht eingehalten werden, riet ich der Mutter zum «Zaubersack». «Alle Dinge, die in der Wohnung nicht an dem vereinbarten Platz liegen, werden in den Sack gesteckt», erläuterte ich. «Dieser Sack wird erst nach einigen Tagen geöffnet.» Isolde Rupert konnte sich das «gut -3 0 2 -
vorstellen.» Die Kinder schienen zunächst skeptisch, ließen sich dann jedoch auf den Zaubersack ein, der allerdings «nach vier Tagen wieder geöffnet» werden sollte. «Sonst», so Frederik, «sehe ich meine Lieblingsjeans ja nie mehr.» «Und ich meine Schuhe», ergänzte Mike. «Wenn ihr alles aufräumt, könnt ihr eure Sachen jederzeit anziehen», lachte Isolde Rupert. «Aber es ist so schwer, Mama», hakte Martin nach. «So schwer, so viele Sachen, an die ich denken muß.» Isolde Rupert blieb konsequent, die Kinder ließen sich darauf ein auch in der Hoffnung, wie Mike mir später sagte, es werde wohl alles nicht so schlimm werden: «Mama wird leicht weich!» Monate später treffe ich die Mutter auf einem anderen Seminar wieder. Sie kommt strahlend auf mich zu. «Es herrscht Ordnung!» ruft sie mir zu. Ich erinnere mich an das Beratungsgespräch. «Und der Zaubersack?» frage ich, mir innerlich auf die Schulter klopfend: «Das klappt eben doch mit dieser Methode.» Sie schmunzelt. «Das mit dem Zaubersack funktionierte zuerst, aber dann schlich sich das alte Verhalten wieder ein. Und irgendwie war's mir auch zu bunt. Ich hab dann wieder aufgeräumt. Das war so, wie's die Kinder vorhergesagt haben.» «Das mit dem Nichtaufräumen wurde immer schlimmer», erinnert sich die Mutter. «Die Kinder haben sich durchgesetzt und regelrecht triumphiert!» Ich sehe sie fragend an. «Aber die haben nur kurze Zeit triumphiert. Dann haben wir ein weiteres Familienmitglied bekommen, einen jungen Hund. Und der nahm alles in den Mund und benutzte das als Spielzeug. Aus seinem Mund kam nichts wieder heil zurück. Als Frederik zwei seiner Lieblingshosen zerrissen vorfand, Mike seine Schuhe zerstümmelt, da haben sie geflucht, und getobt... und von dem Zeitpunkt hatte ich drei richtige Putzteufel im Haus. Alles wanderte an den Platz, an den es gehörte.» Sie sieht mich lächelnd an: «Nichts für ungut mit dem Zaubersack. -3 0 3 -
Das hat Spaß gemacht. Aber wenn der nicht hilft, mein Rat an die Eltern: ein junger Hund mit Vorliebe für Markenklamotten!»
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Kapitel 8 Unterschiedliche Erziehungsstile
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«Mein Mann und ich sind uns in Erziehungsfragen nicht einig. Er reagiert nachgiebiger oder gelassener als ich! Schadet das den Kindern?» So lautet eine häufig gestellte Frage von Eltern. Kinder erleben in ihrem engeren wie weiteren Umfeld ganz spezifische Erziehungsstile. Eltern besitzen unterschiedliche Vorstellungen, die Großeltern praktizieren wiederum andere als die Eltern. Und in Kindergarten, Schule und Sportverein erfahren Kinder, daß manches von dem, was zu Hause möglich ist, dort nicht läuft. Solcherart sachbezogene Frustrationen sind den Kindern zuzumuten, können von ihnen durchaus produktiv bewältigt werden. Die Begegnung von Kindern mit ganz unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen gehört zu ihrem Alltag. Und genauso alltäglich ist die Erfahrung, daß sich Erziehungsbeziehungen verschieden gestalten: Der Kontakt zu Eltern ist ein anderer als der zur Erzieherin oder Lehrerin, der zu den Großeltern ein anderer als zu Bekannten. Das Kind erfährt unterschiedliche Erziehungsstile, indem es sie als gelebte Modelle spürt. Es lernt zu vergleichen; es erfährt, welches Modell angemessener ist. Die Begegnung mit unterschiedlichen Erziehungsstilen macht Kinder lebenstüchtig, gibt ihnen Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen, sich in verschiedenen Situationen des Alltags zurechtzufinden und zu behaupten. Allerdings müssen bei aller Unterschiedlichkeit einige Grundsätze beachtet werden: 1. Kinder müssen wissen, an wen bzw. woran sie sich in Situationen zu halten haben. Besteht hier keine Einigkeit, spielen Kinder die Beteiligten gegeneinander aus. 2. Die Verantwortlichkeit muß den Kindern klar sein. Sonst kann sich das Kind nicht orientieren. 3. Unterschiedliche Einstellungen dürfen von Erwachsenen nicht dazu mißbraucht werden, sich beim Kind einzuschmeicheln - «Bei mir darfst du mehr...» - oder die andere Bezugsperson gefühlsmäßig herabzusetzen - «Ich bin netter zu dir als...» Dies bringt Kinder in Loyalitätskonflikte.
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4. Unterschiedliche Erziehungsstile können nur auf der Basis von verbindlichen Grundprinzipien, die für alle Beteiligten gelten, praktiziert werden: Wenn ein Vater auf der Basis eines Laisser-faire-Stils erzieht, die Kinder dagegen ihre Mutter als fest und konsequent erleben, dann kann das dazu führen, daß Kinder ihre Eltern gegeneinander ausspielen. Einige dieser Prinzipien kann eine Alltagssituation verdeutlichen.
Verantwortung klären Szene in einem Garten. Konrad, sechs Jahre, und Manuel, fünf Jahre, helfen ihrem Vater beim Aufbau eines Holzhauses, das in Fertigteilen angeliefert worden ist. Horst Eberhard, der Vater, haut mit wuchtigen Schlägen Nägel in Bretter. Konrad und Manuel unterstützen ihn. Die Kinder halten zwei kleine Hämmer in der Hand, schlagen ebenfalls Nägel ein. Die Kinder gehen äußerst konzentriert, vorsichtig und gewissenhaft vor. Horst Eberhard hatte es ihnen zuvor genau erklärt: «Den Hammer haltet ihr so... die Nägel so... schlagt nicht zu fest... ich denke, ihr schafft das schon.» Begeistert und engagiert gehen die Kinder zur Sache. Sie hantieren geschickt mit den Werkzeugen. Zwar fällt mal ein Nagel herunter, mal der Hammer. Aber der Vater ermutigt seine Kinder weiterzumachen. Und sie geben nicht auf... bis Mareike Eberhard, die Mutter der beiden, in den Garten kommt, ihre Kinder mit dem Werkzeug bei der Arbeit sieht, sofort losschreit: «Was ist denn hier los? Seid ihr denn verrückt geworden!» Sie sieht, wie Manuel gerade dabei ist, mit einer wuchtigen Bewegung einen Nagel einzuschlagen. «Manuel, paß auf!» Manuel haut zu und trifft... seinen Daumen, nicht den Nagel. «Aua! Aua!» schreit er vor Schmerzen auf. «Siehst du, ich hab's gesagt, Manuel.» Sie entreißt ihm den Hammer, besieht flüchtig den Daumen, streichelt kurz sein Haar: «Das hast du davon... Ich geb dir nachher 'ne Salbe.» -3 0 7 -
Manuel nickt, ein paar Tränen schießen in die Augen. Die Mutter sieht Manuel an. «Wo ist Papa?» fragt sie entrüstet. Konrad weist mit der Hand hinter eine Holzwand. Mit schnellen Schritten tritt sie zu ihrem Mann. «Bist du denn verrückt geworden!» brüllt sie los. «Kann man dich denn mit den Kindern nicht ein paar Minuten alleine fassen.» Er kommt nicht zu einer Antwort. «Du bist völlig verantwortungslos!» Bevor Frau Eberhard ins Grundsätzliche von Erziehungsfragen abgleitet, kommen Manuel und Konrad hinzu. «Mama!» ruft Konrad sehr laut, seine Mutter übertönend. Sie stockt, sieht zu ihm hinunter: «Was ist?» «Mama, wir wollten Papa helfen. Und das können wir!» Konrad klingt überzeugend, und Manuel stimmt selbstbewußt zu: «Aber du denkst, wir sind noch klein.» Die Augen der Mutter verengen sich: «Und wer hat sich auf den Daumen geschlagen? Wer?» Ihre Stimme überschlägt sich. «Wenn du nicht gekommen wärst, dann hätt' ich den Nagel getroffen!» «Jetzt bin ich auch noch schuld. Nun hört's aber auf!» Sie läßt sich nicht beruhigen. «Heike!» Die Stimme ihres Mannes, der bisher gelassen zugesehen hat, klingt ruhig: «Heike! Bitte geh! Laß uns nachher darüber reden.» Aber Heike Eberhard ist voll in Fahrt: «So ist's immer. Du kneifst mal wieder. Typisch! Typisch! Wenn's wichtig wird, kneifst du!» Sie schaut ihren Mann wütend an: «Macht euren Scheiß alleine weiter. Aber ich fahr die Kinder nicht ins Krankenhaus, wenn was passiert. Das sag ich dir!» droht sie ihrem Mann. Dann geht sie schnellen Schrittes von dannen. Manuel schaut Konrad an. Konrad ahmt den hektischen Abgang seiner Mutter nach. -3 0 8 -
«Konrad! Hör auf!» mahnt der Vater und hebt seinen Zeigefinger: «An die Arbeit. Macht weiter, wie ich es euch gesagt habe. Wenn ihr mich braucht, könnt ihr mich holen.» Die Verantwortung in dieser Situation war zunächst klar verteilt. Sie lag beim Vater. Und er behielt die Übersicht. Der Vater hatte seine Kinder ermutigt, er vertraute ihnen, mit Hammer und Nägeln angemessen umzugehen. Der sprachliche Eingriff der Mutter verursachte eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Sie traute ihren Kindern - in dieser Situation - nicht so viel zu und wollte die Gefahr möglichst schnell abwenden. Der mißglückte Schlag Manuels scheint ihr recht zu geben. Das entscheidende Problem: Sie greift in die Kompetenzen ihres Mannes ein, will die Verantwortung an sich ziehen. Er rettet die Situation, indem er sich darüber mit seiner Frau in Anwesenheit der Kinder nicht auseinandersetzen will. Um hier nicht mißverstanden zu werden: Eltern können Meinungsverschiedenheiten vor den Kindern austragen, wenn die Kinder danach eine versöhnliche Konfliktlösung erleben. In der oben geschilderten Situation stellt sich die Sachlage aber anders dar: Der Zorn und die Angst der Mutter läßt die Suche nach einer Lösung nicht zu. Der Vater hat den Kindern durch sein Handeln - nicht durch Worte - ein Modell vorgelebt: Derjenige, der die Verantwortung in einer Situation trägt, ist der Bezugspunkt. Es geht hier nicht darum, der Mutter den Schwarzen Peter zuzuschieben. Dieses Prinzip gilt in einer anderen Situation für den Vater genauso. Herr Eberhard kochte hin und wieder gern mit seinen Kindern. Es gab dann meist Spaghetti Bolognese. «Ich finde das sehr gut», sagt die Mutter, «aber hinterher sieht die Küche und die Eßecke wie ein Schlachtfeld aus.» Sie überlegt: «Und wer macht alles sauber?» Kurze Pause. «Ich!» Frau Eberhard gerät in Rage: «Mein Mann meint, er hätte seine Schuldigkeit getan, und geht. Und ich steh mit dem Dreck allein da!»
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So lustvoll es für die Kinder sein mag, gemeinsam mit dem Vater zu kochen, so wichtig ist es, daß alle drei Beteiligten die Verantwortung nicht allein für den angenehmen Teil des Eßgelages tragen, sondern auch die mühsamen Aufräumarbeiten und Säuberungsaktionen übernehmen. «Aber», meint Frau Eberhard, «ich räum lieber selbst auf. Mein Mann macht mir das nicht gut genug.» Hier wird eine Inkonsequenz sichtbar, die es dem Vater wie den Kindern erleichtert, so weiterzumachen wie bisher. Die Mutter gibt den anderen Familienmitgliedern nicht die Verantwortung für ihr Tun zurück, sie nimmt sie ihnen ab, macht sie unselbständig, während sie selbst sich überfordert.
Unterschiede akzeptieren Unterschiedliche Einstellungen und Erziehungsstile zu praktizieren schließt ein, Unterschiede zu tolerieren. Vera Krüger hatte sich mit ihrem Mann darauf geeinigt, er sei für die Ordnung im Kinderzimmer verantwortlich. «Ich raßle ständig mit den beiden zusammen. Mein Mann ist da gelassener. Das gebe ich zu.» Die Arbeitsteilung funktioniert, die gereizte Atmosphäre, die sich am chaotischen Kinderzimmer entzündet, entspannt sich zunehmend - dafür braut sich ein anderes Gewitter zusammen. Vera Krüger hat einen anderen Ordnungsstandard als ihr Mann: «Ich bin großzügiger», sagt er, «aber es sieht auch aufgeräumt aus.» Als die Krügers diese Situation auf einem Seminar vorstellen, versuchen wir einen Weg zu finden, daß Frau Krüger die Verantwortung an ihren Mann abtreten kann. Als sie sagt: «Wenn ich's nicht seh, dann ist's mir auch egal», entwickelt sie ihre Lösung. «Dann gehen Sie nicht hinein!» sage ich. «Oder ich schau nicht so genau hin!» ergänzt sie.
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Vera Krüger schaffte es. Das Thema «Aufräumen» wurde unwichtiger, gemeinsam hatte man einen Weg gefunden, wie jeder mit seinem Stil leben konnte.
Großeltern nicht korrigieren Peter Meißner, Vater zweier Kinder, ist sauer auf seine Eltern: «Die machen alles anders: länger fernsehen, Süßigkeiten und und und. Alles, was die Kinder bei uns nicht tun oder tun dürfen, das dürfen sie dort. Es ist zum Verrücktwerden.» Großeltern erleben sich häufig in einer widersprüchlichen Position: Einerseits sind sie als Babysitter, als Aufpasser gerne gesehen, andererseits möchten viele Eltern Oma und Opa am liebsten selbst bewachen, damit sie sich ähnlich verhalten wie sie selbst. Dies ist nicht nur eine Überforderung, es nimmt auch dem Kind manchen Erfahrungsschatz. Großeltern erziehen anders, leben andere Beziehungen zu ihren Enkeln: Manchmal entwickeln Großeltern - nicht mehr gebunden in eine unmittelbare Erziehungsverantwortung ungeheure Großzügigkeiten, eine angenehme Gelassenheit, sie legen Herzlichkeit und Humor an den Tag; manchmal setzen Großeltern bei ihren Enkeln jene unsägliche Erziehung fort, unter der schon die eigenen Kinder zu leiden hatten. Es ist wenig sinnvoll, ja, es ist belastend, Großeltern verändern zu wollen. Sie haben ihre ganz eigenen Erfahrungen gemacht, die für sie Gültigkeit besitzen. Und viele Großeltern, so meine Beobachtung, verändern sich - nur bestimmen sie das Tempo dieses Prozesses selbst. Zudem gilt auch hier: Wer Kinder den Großeltern abgibt, gibt zugleich Verantwortung ab. Das Verhältnis zwischen Enkelkind und Großeltern ist keine Angelegenheit, in die sich Vater und Mutter zu mischen haben, diese Beziehung können nur die unmittelbar Beteiligten - also: Enkelkind und Großeltern - selbst klären.
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Zweifellos unterscheiden sich elterliches wie großelterliches Erziehungshandeln. Mein Rat an die Eltern: Vertrauen Sie Ihrem Kind, daß es selbst die Unterschiede erkennt, die Vorwie Nachteile abwägt. Kinder sind durchaus in der Lage, die spezifischen Erziehungsmodelle zu vergleichen, Verschiedenheiten zu erkennen. Je überzeugender die Eltern ihr Modell vorleben, um so stärker wird das Vertrauen des Kindes - und zugleich wächst auch die Reibung, der kindliche Wunsch nach Auseinandersetzung: Kinder spielen dann mit den unterschiedlichen Erfahrungen, die sie gemacht haben. Eltern, die diese Spielregeln zu deuten wissen, können souverän handeln; Eltern, die diese Spielregeln verkennen, handeln wenig kindorientiert. Anja, sieben Jahre, ist stocksauer auf ihre Eltern. Sie durfte zwei Sendungen im Fernsehen sehen, so wie es abgemacht war, so erläutern ihre Eltern, Herr und Frau Krüger. «Bei Oma kann ich das.» - «Bei Oma, nicht bei uns!» Herr Krüger klingt sehr bestimmt. «Dann kann ich ja gleich ausziehen!» Herr Krüger ist geschockt, seine Frau nicht: «Anja! Ich mag dich. Du weißt, wir mögen dich gerne hier haben. Aber wenn du gern zu Oma möchtest, dann rufe ich an. Wenn sie dich haben will, dann kannst du dorthin. Ich helf dir beim Packen. Dann fahr ich dich hin.» Anja rennt hinaus, es poltert in ihrem Zimmer. Sie sucht ganz offensichtlich etwas in ihrem Schrank. «Spinnst du?» fragt Herr Krüger seine Frau entrüstet. «Halt dich da raus. Das übernehme ich jetzt!» Jutta Krüger weiß, was sie will. Sie steht auf, geht ganz gelassen ins Zimmer ihrer Tochter. «Darf ich dir helfen?» Keine Antwort. «Wie lange willst du bleiben?» «Für immer!»
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«Ich denke, du nimmst Sachen für zwei Tage mit, den Rest holst du dann später!» «Fährst du mich zu Oma?» Anja klingt zögerlich. «Klar, es ist doch schon dunkel!» Jutta Krüger hilft ihrer Tochter beim Packen. Kurzer Abschied von ihrem Vater, der seine Frau zurückhalten will. «Jutta!» «Arno!» Sie schaut ihren Mann an, als ob sie ihn gleich fressen würde. Er sagt danach kein Wort mehr. Er läßt entnervt seine Arme sinken: «Ist ja schon gut!» Seine Augen blicken hilfesuchend zum Himmel. Mutter und Tochter fahren wortlos zur Oma. Anja hatte sie kurz telefonisch über ihre Ankunft unterrichtet. «Was ist denn hier los?» fragt die Oma, als beide ankommen. «Anja erzählt es dir gleich!» Die Mutter verabschiedet sich ganz zärtlich von ihrer Tochter, gibt ihr einen Kuß. «Du kannst jederzeit zurückkommen!» «Ich komm nie mehr! Ihr seid so gemein!» ruft Anja trotzig aus. Drei Stunden später. Es ist etwa 20.30 Uhr. Anja ruft bei den Eltern an: «Könnt ihr mich abholen?» «Warum?» fragt die Mutter. «Ich muß morgen schon um halb sechs aufstehen! Oma kann nicht Auto fahren! Ich müßte mit dem Schulbus fahren, der fährt schon so früh!» «Anja», sagt die Mutter, «ich hole dich nicht.» «Ich wollte zynisch sein», erklärte Frau Krüger später, und sagen: «Dann kannst du ja bis halb sechs fernsehen, dann brauchst du gar nicht erst ins Bett gehen. Aber das wäre gemein gewesen!» «Gib mir Papa einmal!»
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«Der schläft schon!» Das sei gelogen gewesen, aber wenn sie ihren Mann ans Telefon gelassen hätte, der wäre glatt gefahren. Und dann sei alles umsonst gewesen. Am nächsten Tag kommt Anja aus der Schule. Schön sei es gewesen, so früh aufzustehen. «Und bei Oma hat es Nutella gegeben und nicht deinen komischen Früchtequark.» «Willst du wieder zu ihr?» Anja gibt keine Antwort, ißt still ihr Essen. «Wie war's bei Oma?» «Bis drei Uhr in der Nacht habe ich ferngesehen!» «War's spannend?» «Oma hat geschlafen!» «War es spannend?» Frau Krüger bleibt hartnäckig. Anja sagt nichts. Nach dem Mittagessen steht sie auf, streichelt ihre Mutter. «Holen wir heute nachmittag die Sachen bei Oma ab?»
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Kapitel 9 Grenzen ab welchem Alter?
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«Ab welchem Alter des Kindes kann man Grenzen setzen?» lautet eine häufig gestellte Frage. «Sind jüngere Kinder mit Grenzen nicht überfordert? Verstehen Kinder dann die Notwendigkeit von Grenzen? Sind sie überhaupt fähig, bei Konflikten an der Lösung mitzuarbeiten, wie es bei älteren Kindern möglich ist?» Viele Erziehende besetzen den Begriff der Grenze - dies habe ich in «Kinder brauchen Grenzen» beschrieben - äußerst negativ: Er steht für Einengung, Hierarchie, Bevormundung, Strafe, fehlende Einfühlung in Kinder. Und mancher Erziehungsalltag gibt dieser Umschreibung leider recht. Dort wird Erziehung als Zurichtung und Brechen des kindlichen Willens mißverstanden. Grenzen haben meinem Verständnis nach jedoch unterstützende, schützende und lebenserhaltende Funktionen. Grenzen geben Sicherheit und bedeuten Orientierung am Kind. Kinder wünschen klare Grenzen, weil sie darüber das Gefühl der sozialen Zugehörigkeit, Verläßlichkeit, der Stärke und der Einzigartigkeit erfahren. Grenzen zu setzen ist Aufgabe der Eltern. Entziehen sie sich dieser Pflicht, dann fordern Kinder Grenzen ein. In ihrem Wunsch nach Halt reiben Kinder sich, machen auf sich aufmerksam - so lange, bis die Eltern endlich ihren Erziehungsaufgaben nachkommen. Eine grenzenlose Erziehung läßt Kinder allein, sie fühlen sich ohne personale Bezüge. Bei ihnen bildet sich ein Gefühl der Verlassenheit heraus. Durch klare Grenzen spüren Kinder das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, zu anderen Menschen, zur Familie. Auf der Basis einer intensiven Bindung kann Selbstvertrauen gedeihen, kann das Kind Beziehungen zu anderen Menschen eingehen. Es lernt, das Gewohnte von ungewohnten, noch nicht gemachten Erfahrungen zu unterscheiden. Das Kind erlebt eine Orientierung. Diese ist umso stärker, je konkreter Personen moralische und ethische Maßstäbe verkörpern, sie vorleben. Eine emotional stabile Lebensumgebung macht Mut, auf Unbekanntes zuzugehen, vor neuen Erfahrungen nicht zurückzuschrecken. Das Kind erfährt -3 1 6 -
seine individuelle Stärke. Grenzen schaffen Räume, die dem Kind vertraut sind, in denen es sich zurechtfinden kann. Hier überninmmt das Kind Verantwortung, entwickelt es Mut zu eigenständigen Entscheidungen, löst es Probleme, die dann für andere Aufgaben ermutigen. Grenzen zeigen dem Kind an, was es kann, Räume jenseits der Grenzen, was es noch nicht kann. Grenzen ermutigen für neue Ziele und zukünftige Planungen. Das Kind bekommt das Gefühl, einzigartig zu sein. Es entwickelt Achtung vor sich selber, und damit auch vor anderen. Es kann sich von anderen unterscheiden und sich damit in seinem Anderssein akzeptieren. Ohne Grenzen sind Individualität und Identität nicht möglich, ohne Grenzen wird die Ausbildung von Autonomie und Eigenständigkeit behindert. Deshalb ist die frühe Erfahrung von Grenzen wichtig allerdings auf der Basis einer gefühlsmäßig intakten Beziehung zwischen Eltern und Kindern, einer Beziehung, die von Offenheit und «normativer Klarheit», so der Erziehungswissenschaftler Otto Speck, geprägt ist. Damit umschreibt er, daß Eltern das vorleben, was sie vermitteln wollen. Nur mit praktischen Modellen kann sich ein Kind auseinandersetzen. Und Grenzensetzen erfordert darüber hinaus Reflexionsfähigkeit. So hilfreich sich Kontrolle und Unterstützung im Kleinkindalter auswirken können, so partnerschaftlich-kooperativ muß der Erziehungsstil sein, wenn die Kinder älter werden. Auch wenn manche erzieherischen Maßgaben zurücktreten, so bleibt es weiterhin Aufgabe der Eltern, bei Normverstößen wertende Feststellungen zu treffen. Weil nachgiebiges Erziehungsverhalten oder ein autokratisch-erdrückender Erziehungsstil nicht zu selbstverantwortlichem Handeln führen, keine Eigenständigkeit zulassen, brauchen schon kleinere Kinder Unterstützung, das «Erleben einer normativen Verläßlichkeit», so nochmals Otto Speck. Nur gestaltet sich das Grenzensetzen bei Kindern bis zum dritten Lebensjahr in besonderer Weise. Es ist einfacher und schwieriger zugleich: Einfacher, weil die Kinder den Eltern bedingungsloser vertrauen; schwieriger, weil die elterliche Verantwortung größer ist, damit aus dem Grenzensetzen nicht -3 1 7 -
ein Ausnutzen der Unerfahrenheit des Kindes, weit überzogene Reaktionen der Eltern oder zu enge Grenzen werden. Ständig überangepaßtes Verhalten des Kindes, seine auffällige Gefallsucht, die Überreaktion bei Kritik oder Regressionsverhalten -das Zurücksinken in frühkindliche Handlungsmuster- geben den Eltern möglicherweise Hinweise darauf, daß Kleinkindern zu strenge, zu wenig einfühlsame Grenzen gesetzt wurden. Grenzen für jüngere Kinder zu setzen muß besonders sorgfältig überlegt werden. Konsequente Festigkeit ist nicht zu verwechseln mit Strenge, Härte oder Strafe. Ein lautes Wort, ein unbedachter Klaps läßt sich - trotz vieler Reflexionen manchmal nicht vermeiden. Die Souveränität des Erwachsenen zeigt sich dann in ernstgemeinter Entschuldigung und Versöhnung - verbunden mit dem Willen, sich zukünftig anders zu verhalten. Einige Grundsätze sind beim Grenzensetzen mit jüngeren Kindern zu beachten: 1. Eltern nehmen häufig wortreich und wenig klar Kontakt zu den Kindern auf. Finden Eltern nach einem unendlichen «Labern» keine Einsicht auf Seiten der Kinder, sind nicht selten impulsive Reaktionen der Eltern - Brüllen, Schreien, Schläge die Folge. Wer mit kleineren Kindern redet, muß sich ihnen zuwenden - sie z. B. ansehen, anfassen. Kinder brauchen das Gefühl des Angenommenseins. Klarheit und Offenheit schützen vor unüberlegten Strafaktionen. 2. Sätze wie «Das ist gefährlich», «Das ist zu schwer für dich», «Das kannst du noch nicht!» unterstützen Kinder nur selten bei der Einhaltung von Grenzen. Begreifen geht über Greifen - dieser Grundsatz gilt beim Grenzensetzen für jüngere Kinder. Grenzen müssen begrifflich erfaßbar und anschaulich erfahrbar sein: Nur eine Hand in der Nähe der brennenden Kerze gibt das Gefühl von Hitze und Wärme. 3. Grenzen haben sich am Kind in seinem Hier und Jetzt, an seiner konkreten Gegenwart auszurichten. Was für andere Kinder gilt, braucht für das eigene Kind nicht zuzutreffen; was -3 1 8 -
für ein Kind in ein oder zwei Jahren als Einengung erfahrbar wird, kann gegenwärtig Hilfestellung und Unterstützung bedeuten. 4. Eltern sprechen jüngere Kinder nicht selten wie kleine Erwachsene an. Sie versuchen sehr rationale Konfliktlösungen und übersehen dabei, welche Chancen in den magischmythischen Konfliktlösungen liegen. Diese entsprechen häufig der animistischen Wirklichkeitssicht von Kindern, einer Sichtweise, in der Phantasie und Realität ineinander übergehen. In Gesprächen mit Eltern fallen drei Problembereiche auf, die ihnen beim Grenzensetzen häufig Minderwertigkeits- und Versagensgefühle machen: Svenja Krüger, Mutter der zweieinhalbjährigen Mären, klagt darüber, daß sie irgendwann doch ins Schreien verfalle, wenn ihre Tochter «zum hundertsten Male nicht hört, was ich sage. Ich flippe dann aus. Dann tut's mir auch leid. Aber ich kann's irgendwie nicht ändern!» Hubert Ranke, Vater des zweijährigen Lars, hat ein anderes Problem: «Ich erkläre alles tausendmal. Und Lars fragt nur ‹Warum?› Ich fange noch mal von vorne an, ganz behutsam und sehr einfühlsam, und er fragt dann ‹Warum?›. Ich kann das nicht mehr hören: ‹Warum?›...» Hubert Ranke hält sich die Ohren zu: «Wann kapiert der das endlich?» Christiane Schiller, Mutter des knapp dreijährigen Sven, hält es, wie sie formuliert, lange aus, aber «irgendwann knallt's dann. Dann kriegt Sven einen Klaps auf den Po, und dann tut er das, was ich will. Warum geht's eigentlich nicht ohne Klaps? Ich komme mir dann so schlecht vor! Wie kann ich das nur verhindern?»
Augenkontakt und Berührung Eltern setzen Kindern häufig Grenzen mit Mitteln, die die Kinder entweder kränken, die ihre körperliche Unversehrtheit mißachten oder sie überfordern. Kinder wollen erfahren, daß es -3 1 9 -
Eltern mit dem Setzen von Grenzen ernst nehmen. Dabei müssen die Erwachsenen bedenken, daß jüngere Kinder Wirklichkeit anders wahrnehmen. Die Notwendigkeit mancher Grenzen verstehen sie noch nicht - z. B. bei einer Ampel, die Rot zeigt, stehenzubleiben; nicht auf die heiße Herdplatte zu fassen etc. -, aber sie können sie erfühlen. Hierfür ist eine authentische Haltung der Eltern erforderlich, d. h., Körpersprache und die gesprochenen Anweisungen müssen übereinstimmen. Doppeldeutige Botschaften halten Kinder davon ab, Grenzen einzuhalten. Je mehr Eltern ihren Kindern mit langen Vorträgen versuchen, Grenzen zu setzen, umso öfter scheitern sie. Kinder brauchen bei manchen Grenzen die körperliche Berührung nicht die Schläge! -, um zu spüren, daß Eltern fest zu ihrer Haltung stehen. «Sven hört aber nicht. Er verlangt geradezu nach Schlägen», so nochmals Christiane Schiller, den Faden des Gesprächs aufnehmend. Auf meinen erstaunten Blick hin wiederholt sie: «Sven will wirklich Schläge!» «Das weiß ich nicht! Aber wenn Sie recht haben: Was ist das für ein Zeichen, das Ihnen Ihr Sohn damit geben will?» «Ja doch wohl nicht, daß ich ihn schlage!» Sie ist entrüstet. Ich nicke. Frau Schiller überlegt. «Was geben Sie ihm, wenn er Klapse bekommt?» «Körperkontakt!» ruft sie spontan. «Will er Körperkontakt? Berührung?» Diese Frage läßt sie stutzig werden. «Aber den bekommt er doch häufig genug.» «Das nehm ich an. Aber er will Ihre Nähe auch in Konfliktsituationen. Erbraucht dann die Berührung, die ihn das ‹Nein!› spüren läßt. Er möchte Berührung, keinen Klaps.» Körperliche Nähe, Berührung oder gefühlsmäßige Zuwendung sind freilich kein Allheilmittel, von ihnen ist abzuraten, wenn die emotionalen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern gestört sind oder wenn die körperliche Nähe - aus -3 2 0 -
der Sicht der Kinder - als Drohung oder gar Strafe empfunden werden kann. Ist jedoch eine angenehme emotionale Basis vorhanden, ist das Kind an positive Körperkontakte gewöhnt, dann kann Nähe, kann die Berührung - z. B. die Hand auf die Schultern legen, die Hände fest anfassen -, ein Kind nicht nur beruhigen. Nähe gibt der durch Worte formulierten Grenze Nach-Druck - und dies ist wörtlich gemeint. Nach-Druck hat nichts mit Unterdrückung zu tun. Nach-Druck bedeutet vielmehr freundschaftliche Festigkeit. Denn die Festigkeit, mit der das Kind berührt wird, läßt das Kind die Ernsthaftigkeit der Eltern spüren. Wer jüngeren Kindern Grenzen setzen will, kann den positiven Körperkontakt sehr früh einsetzen. Er ist der beste Schutz vor dem Klaps, der immer dann kommt, wenn die verbalen Argumente ausgehen, man nicht mehr weiterweiß. Berührung und Nähe verhindern einen gefürchteten Widerspruch in der Erziehung: Einerseits die lange Toleranz vieler Eltern, die sich im hundertfachen «Laß das!» oder «Nein!» ausdrückt, andererseits die daraus sich ergebenden unkontrollierten Aggressionen von Eltern gegenüber dem Kind. Unter zwei Voraussetzungen wirkt sich die dargestellte Methode allerdings als äußerst kontraproduktiv aus: l. Entzieht sich das Kind dem Griff, der Berührung, der körperlichen Nähe, dann müssen Sie es unbedingt in Ruhe lassen. Ein Kind darf nicht gegen seinen Willen umklammert werden. Ist ein Körperkontakt nicht möglich, dann hilft eine Kombination aus Augenkontakt und physischer Nähe. Wichtig: Der Augenkontakt geht vom Erwachsenen aus. Es darf keinen Zwang geben, den Erwachsenen anzuschauen - z. B. «Nun schau mich endlich an!» Das Kind fühlt den Blickkontakt des Erwachsenen auch, wenn es woandershin sieht. 2. Wenden Sie niemals körperliche Nähe und Berührung im Zustand großer Erregung an. Dann ist die Verletzungsgefahr zu groß. Dann sind die Grenzen zu einer körperlichen Mißhandlung des Kindes fließend. Berührung, Kontakt und Nähe setzen Sie deshalb bereits im frühen Stadium einer Auseinandersetzung ein, nicht erst dann, wenn die Situation -3 2 1 -
bereits eskaliert ist. Impulsives Schreien, um Grenzen letztlich doch durchzudrücken, gründet sich häufig auf eine zu große Geduld bzw. manchmal eine Laisser-faire-Haltung. Anstatt das Kind mit einem Wortschwall zu überziehen, der meist doch in Wutausbrüchen endet oder zu beleidigter Wortlosigkeit führt, sind klare und direkte Formulierungen wichtig, um auf gegenseitige Rücksichtnahme hinzuweisen: «Ich finde das nicht o. K., wie du dich mir gegenüber benimmst!»; an Mitgefühl zu erinnern: «Das ist nicht fair, wie du deine Schwester behandelst!» Es gibt Situationen, in denen man das Setzen von Grenzen nicht durch langatmige Erklärungen aufweichen darf, in denen vielmehr ein kurzes «Nein!» als Ausdruck von «Ich dulde es nicht!» reicht. Wenn ein Kind spürt, es schmerzt, wenn es in eine brennende Kerze faßt, oder es bringt Lebensgefahr mit sich, auf eine vielbefahrene Straße zu laufen, oder es zieht eine Überschwemmung des Tisches nach sich, mit einem gefüllten Teller zu balancieren; wenn die gesamte Situation also eindeutig ist, das Kind aufgrund von Vorauserfahrung darum weiß, dann kann ein «Nein!» angebracht sein, das frei von Zorn, Verachtung und Respektlosigkeit ist, mithin eingebettet in eine Atmosphäre, die Achtung und Respekt gestattet. Das «Nein!» stellt jedoch eine Ausnahme im pädagogischen Handeln dar, es ist nicht die Regel. Wird das «Nein!» zur Gewohnheit, nutzt es sich ab: Es ges tattet nämlich keinen veränderten Blickwinkel. Allerdings kann es spezifische Kontroversen für eine kurze Zeit beenden, dies gilt insbesondere für nachstehende Situationen: - bei mangelnder Realitätssicht von Kindern, z. B. bei Verletzungsgefahren, bei Uneinsichtigkeit aufgrund fehlender Erfahrungen, bei sprachlichen Grenzüberschreitungen durch Schimpfworte und Kraftausdrücke, - bei körperlichen Attacken - z. B. Beißen, Kneifen, Spucken etc., - bei Situationen, die man vorher mit dem Kind abgesprochen und geklärt hat, -3 2 2 -
- bei heftiger Erregung des Kindes, um sich durch einen kurzen Appell Gehör zu verschaffen, - bei äußerst komplizierten Erziehungssituationen, die man aber aufgrund äußerer Umstände - z. B. Besuch, Erwartungsdruck - nicht abschließend klären bzw. erörtern kann, die vielmehr vorläufig mit direktivem Appell zu beenden sind. Das «Nein!» stellt einen pädagogischen Eingriff dar, der an eine konkrete Situation gebunden ist. Er verändert - ich betone es nochmals! - nicht das störende Verhalten, er weist keine Handlungsalternativen auf. Aber dieser Eingriff verschafft vorerst Luft. Wenn dieses «Nein!» nicht abstumpfen, gar in einen Machtkampf umschlagen soll, dann ist es unverzichtbar, dem Kind hinterher - quasi in einer zweiten Phase der Problemlösung - das eigene Handeln kurz zu erläutern, um Verständnis für sein Tun zu bitten oder dem Kind Handlungsalternativen anzubieten. Denken Sie daran: Da Kinder zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr große Entwicklungsprozesse durchlaufen, deuten kindliche Grenzüberschreitungen zugleich darauf hin, daß sich das Kind manchmal entmündigt fühlt, mithin mehr Gelegenheit zu eigenverantwortlichem Tun haben möchte. Und schließlich ein weiterer Hinweis. Um nicht nur «Nein!» sagen zu müssen, kann mit dem Kind ein bestimmtes Zeichen z. B. eine Handbewegung oder eine Form des Augenkontakts ausgemacht werden, das das «Nein! »symbolisiert. Jüngere Kinder brauchen Klarheit und Festigkeit auf der Basis von Freundlichkeit und Verläßlichkeit, sie brauchen Eltern, die kindorientiert handeln, keine Personen, die lange Vorträge halten oder das Kind niederbrüllen. Es gibt zwei andere Techniken, die zunächst darauf ausgerichtet sind, Situationen zu beenden, sich mithin nicht dazu eignen, dem Kind eine veränderte Sichtweise oder Handlungsalternativen aufzuzeigen. Als Dauermethode werden sie von Kindern als Strafe und Herabwürdigung empfunden.
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Beide Techniken funktionieren nur auf der Grundlage einer gefühlsmäßig festen Beziehung: Man kann das Kind, wenn es in heftige Erregung gerät, aus der Situation herausnehmen, z. B. mit aller Deutlichkeit des Raumes verweisen: «Ich denke, du gehst jetzt. Nachher unterhalte ich mich weiter!» «Verlaß den Raum! In dieser Weise kann ich nicht mit dir reden!» Man kann kein Kind zwingen, den Raum zu verlassen, kein Kind darf mit körperlicher Gewalt zum Verlassen des Raumes gebracht werden. Herausnehmen aus der Situation darf zudem nicht als Isolierung empfunden werden. Sperren Sie Ihr Kind niemals in ein Zimmer oder schließen Sie es gar ein! Dies erzeugt neben heftigen Panikgefühlen starke Vernichtungs- und Verlassensängste. Geht das Kind auf den Vorschlag nicht ein, dann kann der Erwachsene den Raum verlassen - ohne jede Drohung. Sagen Sie z. B. «Ich geh jetzt in die Küche. Ich möchte nachher, wenn ich mich beruhigt habe, mit dir die Situation nochmals besprechen.» Sätze wie «Es ist zum Davonlaufen!» oder: «Du machst mich nochmal krank mit deinem Trotz!» erzeugen beim Kind Schuldgefühle und Ängste vorm Alleinsein. Wichtig: Der Erwachsene verläßt den Raum, nicht die Wohnung oder das Haus. Er bleibt erreichbar und geht auf sein Gesprächsangebot nach geraumer Zeit unbedingt ein. Manchmal entkrampft Humor die Situation. Humor hat aber nichts mit Sarkasmus und Zynismus zu tun. Waltraud Ebert macht entsprechende Erfahrungen mit ihrer zweieinhalbjährigen Elisa. «Wenn die 'nen Bock hat, sich auf den Boden wirft und rumschreit, nur ‹Nein! Nein! Nein!› brüllt, leg ich mich kurzerhand dazu. Aber natürlich nur, wenn ich gut in Form bin! Die schaut mich verdutzt an, dann lache ich sie an, und wir beide brechen in Lachen aus. Meist hört Elisa dann mit dem Wutanfall auf. Nicht immer, aber sie hat ja auch ein Recht auf ihre Tagesform!» Die Mutter hat - aus der Sicht ihrer Tochter - überraschend und paradox gehandelt. Einerseits so, wie es Elisa nicht erwartet hat, zum anderen hat sie das störende Verhalten ihrer Tochter überdreht, verstärkt. Auch diese Handlung zeugt von -3 2 4 -
Souveränität, von Festigkeit, sie setzt mit ganz ungewöhnlichen Mitteln Grenzen. Wohlgemerkt: Sie setzt eine Grenze, zeigt Elisa keine Handlungsalternative auf. Dies bleibt nachfolgenden Gesprächen überlassen.
Grenzen begreifen Vielen jüngeren Kindern werden Grenzen gezogen, indem Erwachsene etwas verbieten bzw. auf Gefährdungen hinweisen: «Du kannst die Kerze noch nicht anmachen. Du bist noch zu klein dazu!» «Du kannst das Porzellan noch nicht tragen, das ist zu schwer für dich!» Verbote bringen Reize mit sich, beinhalten Aufforderungen, das Untersagte heimlich zu tun. Und ständige Hinweise wie «Paß auf!» «Sei vorsichtig!» ich hatte es auf Seite 48 ff. beschrieben - bringen Verunsicherungen mit sich, bedeuten für manche Kinder eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Da man Kindern etwas nicht zutraut, trauen sie es sich selbst nicht zu, gehen mit wenig Ermutigung und Selbstverantwortung an eine Sache und scheitern. Kinder brauchen Erfahrungen, an denen sie wachsen, Kinder brauchen Grenzen, die für sie spürbar sind. Zwei ganz unterschiedliche Situationen können dies veranschaulichen. Ein Wintertag in einer süddeutschen Kleinstadt. Seit Tagen herrscht klirrender Frost. Der Gartenteich der Familie Schmidt ist zugefroren, gleichwohl noch nicht zum Betreten geeignet. Die Schmidts warnen ihre Kinder, Tom, zweieinhalb, und Jakob, viereinhalb Jahre, davor, das Eis zu betreten. Der Teich hat eine ungeheure Anziehungskraft. Hinweise auf die Gefahren überhören die Kinder. Ermahnungen helfen nicht, Verbote schon gar nicht. Tom und Jakob bringen andere Kinder mit, um ihnen den zugefrorenen Teich zu zeigen. Vorsichtig gehen sie an den Rand des mit Eis bedeckten Gewässers. Sie betreten die Fläche nicht, gleichwohl übt sie auf die Kinder eine ungeheure Anziehungskraft aus. Dann hört Jakob zufällig davon, das Eis müsse mindestens zehn Zentimeter dick sein, bevor man es betreten könne. -3 2 5 -
«Unser Eis ist dicker», beharrt er. Sein Vater - ermüdet vom vielen Reden - hat mit einem Male eine Idee. Er nimmt seine Kinder mit zum Teich, bepackt mit einem Handbohrer und mit einem Zollstock: «Ich bohr jetzt ein Loch. Wenn das Eis dünner ist als zehn Zentimeter, geht ihr nicht aufs Eis! Verstanden?!» Jakob nickt, Tom macht keine Anstalten. «Tom, sag ‹ja›.» Jakob gibt seinem Bruder einen Stoß. «Ja.» meint auch Tom kleinlaut. Der Vater bohrt ein Loch, nach fünf Zentimetern spürt man das kalte, nicht gefrorene Wasser. Das Loch wird größer gemacht, so daß die Kinder ihre Finger ins Wasser stecken können. «Keinen Schritt aufs Eis!» Die Stimme des Vaters klingt eindeutig. Jakob nickt, Tom tut es mit zeitlicher Verzögerung auch. Man einigt sich darauf, mindestens einen Meter Abstand zum gefrorenen Teich zu halten, jeden zweiten Tag zu bohren, falls das Frostwetter anhält. Die Kinder halten sich - so beobachten es die Eltern - an die Absprache. Nach ein paar Tagen war das Eis tragfähig, dann gab es für Jakob und Tom kein Halten mehr. Petra Friedrich hatte Streß, weil ihre dreijährige Mareike «das Blaue vom Himmel log!» Es war ein Spiel, für die Mutter ein Ärgerliches: Mareike «konnte sehr gut flunkern. Sie führte es mir ein ums andere Mal richtig vor!» Argumente halfen nicht, «gute» Worte schon gar nicht. Und wenn «ich ausflippte, hatte ich das Gefühl, sie würde schmunzeln.» Petra Friedrich überlegte eine Zeit: «Das war kein Machtkampf. Jedenfalls noch nicht! Das habe ich gespürt. Ich habe geglaubt, Mareike könnte die Folgen ihrer Lügen nicht abschätzen. Sie wüßte nicht, was sie machte!» Die Mutter erklärte ihrer Tochter, daß sie sich nicht ernst genommen fühle, ihrerseits dazu übergehen würde zu lügen. Als die Zeit fürs Abendessen nahte, sagte Petra Friedrich zu ihrer Tochter: «Heute abend gibt es nichts zu essen. Ich hab nichts eingekauft.» Mareike stutzte, ging zum Kühlschrank, fand ihn gefüllt vor: «Da ist ja was!»
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«Ich hab doch gesagt, ich lüge!» Mareike schaute erstaunt an ihrer Mutter hoch. Der nächste Morgen. Mareike will ihren Mantel anziehen. «Mareike, den Mantel kannst du heute nicht anziehen. Den hab ich verschenkt!» Mareike rennt zur Garderobe, findet ihr Kleidungsstück. «Da ist er ja!» Das Spiel wiederholte sich in den nächsten Tagen ein paarmal. Und in dem Maße, wie die Mutter ihrer Tochter die Bdeutung von Lügen spürbar machte, ließen Mareikes Lügen nach. Eines Abends, als Petra Friedrich ihrer Tochter «gute Nacht» wünschte, meinte Mareike: «Mama, du sollst nicht mehr lügen!» «O. k., ich lüg nicht mehr. Und du lügst auch nicht mehr! Abgemacht?» Mareike nickte. Die Lügen hatten ein Ende - vorerst jedenfalls. Kinder wünschen sich Anschaulichkeit, konkrete Bilder und Symbole, die ihnen helfen, Grenzen zu erkennen oder sich in abstrakten Vorstellungsgebilden zurechtzufinden. Doch nehmen manche Eltern die Wünsche der Kinder nach Begrifflichkeit und Konkretion nicht ernst genug, im Gegenteil: Eltern spielen fahrlässig mit kindlichen Phantasien, erzeugen mit ihren Vorstellungen nicht selten Angst und Unsicherheit. Johannes, drei Jahre, hatte wenig Lust auf das abendliche Zähne-putzen. Die Eltern setzten all ihre Überredungskünste ein, um ihren Sohn an ein «Putz»-Ritual zu gewöhnen. Doch vergeblich! Die familiären Auseinandersetzungen eskalierten von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Johannes war den elterlichen Argumenten nicht zugänglich, obgleich sie ihn in immergleichen Vorträgen mit den immerselben Begründungen von der Notwendigkeit des Zähneputzens zu überzeugen versuchten. Johannes hörte sich alles geduldig an, nahm die kleinsten elterlichen Vortragspausen zum Anlaß, sein stereotypes «Warum?» anzubringen. Dazu schüttelte er sein Haupt, ein deutliches -3 2 7 -
«Nein!» signalisierend. Und dann ging es wieder von vorne los... Von Bakterien war die Rede, von Viren, von allen möglichen gesundheitlichen Folgen, unterbliebe das Zähneputzen auf Dauer. Ein populärwissenschaftlicher Wortschwall brach über Johannes herein, er ertrug ihn mit geradezu stoischer Ruhe. Einmal fragte er: «Was sind Tieren?» «Viren!» verbesserte der Vater. «Was sind das?» Johannes überlegte kurz, suchte nach einer für ihn gültigen Antwort. Dem Vater war klar: Es mußte schnell ein passendes Bild her, damit Johannes ihn endlich verstand. «Sind das Teufel?» Johannes' Stimme klang verunsichert. «Das ist die Lösung», rief sich der Vater innerlich zu, vor Teufeln hatte Johannes eine geradezu höllische Angst. Er fürchtete sich vor ihren kleinen Hörnern, davor, daß sie ihm damit weh taten. Deshalb lag der Teddybär «Mimi» nachts bei Johannes, verfügte der Bär doch über Fähigkeiten, Johannes vor den Abgesandten der Hölle zu schützen. «Ja, wie Teufel!» grinste der Vater fast diabolisch. «Die bauen sich Häuser in deinen Zähnen. Die essen dann davon, was in deinen Zähnen hängenbleibt!» Johannes hörte mit großen Augen zu. Er wollte nun wissen, wie die Teufel und die Wohnungen denn aussähen. Und schließlich fragte er: «Was ist denn deren Lieblingsspeise?» «Die essen alles!» Und dann malte der Vater das Bild von den «Zahnteufeln» in schillernden Farben aus. Johannes stand plötzlich auf, sagte kein einziges Wort. Der Vater dachte, sein Sohn würde sich nun auf der Stelle die Zähne putzen. Doch weit gefehlt! Johannes stand am Waschbecken des Badezimmers, den Zahnputzbecher in der Hand, spülte sich den Mund mit viel Wasser immer und immer wieder aus. Die Zahnbürste lag unbenutzt herum. «Was machst du denn da?» Der Vater stand unschlüssig herum. -3 2 8 -
«Ich geb' den Teufeln Wasser! Die sollen trinken. Ich will meine Teufel im Mund behalten!» «Sag mal, spinnst du?» Der Vater schien außer sich. «Es ist zum Kotzen», erzählte er mir später, «da will man das besonders gut machen, und dann geht der gesamte Schuß nach hinten los!» «Was willst du denn mit den Teufeln, verdammte Kiste?» «Die helfen mir. Wenn die bei mir im Mund wohnen, dann kämpfen die gegen die bösen Teufel, die mich nachts besuchen wollen. Meine Teufel sind viel stärker. Aber die müssen gut essen und trinken!» Johannes schien zufrieden, er hatte eine Lösung gefunden, der Vater war noch weit - fünfzehn Monate! - davon entfernt. Eines Tages stand Johannes am Waschbecken, putzte die Zähne, die Eltern glaubten, ihren Augen nicht zu trauen, sie meinten zu träumen, sagten jedoch nichts, um das leidige Zahnputz-Thema nicht wieder aufzuwärmen. Es war ihnen in den vergangenen Monaten schwer genug gefallen, Johannes allmählich in Ruhe zu lassen. «Ich putz meine Zähne!» Johannes lächelte seine Eltern an. Die nickten. Sie brachten aber keinen Ton über ihre Lippen. «Wollt ihr nicht wissen, warum?» «Doch!» brach es aus der Mutter heraus. Johannes überlegte: «Die Teufel helfen mir jetzt nicht mehr. Die sind zu klein gegen meine Monster, die mich jetzt nachts besuchen. Ich hab 'ne Wasserpistole unterm Kopfkissen liegen. Die hilft mir mehr!» Nun zu einer anderen Situation. Auch sie zeigt, wie das animistische Denken der Kinder von Erwachsenen und Eltern ausgenutzt wird, wie sie mittels konkreter Schreckensbilder Wohlverhalten und Disziplin erreichen wollen. Doch Kinder sind nicht selten noch kreativer, gehen - allen Unsicherheiten zum Trotz - gekonnt und produktiv mit den wenig konstruktiven Argumenten der Erwachsenen um.
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Paul, drei Jahre, nuckelte ununterbrochen am Daumen. Paul war ein aufgeweckter Junge, er spielte viel, war ständig in Bewegung, schaute mit seinen braunen funkelnden Augen aufmerksam in die Welt. Paul war ein Sonnyboy, der Liebling seiner Erzieherinnen im Kindergarten - wenn nur sein ewiges Daumenlutschen nicht gewesen wäre. Erika Baier, Pauls Erzieherin, nervte das. Sie reglementierte Pauls Nuckeln und Lutschen - vergeblich! Je mehr sie intervenierte, um so schneller schnellte Pauls Daumen in den Mund. Eines Tages hatte Erika Baier genug - sie meinte, nun eine «härtere Gangart einschlagen» zu müssen. «Paul», so erklärte sie ihm eines Tages, «wenn du weiter am Daumen nuckelst, dann bekommst du schiefe Zähne.» Paul stutzte. «Paul, du bekommst ganz schiefe Zähne!» beharrte die Erzieherin. Paul führte den Daumen zum Mund, so automatisch ging das, als ob im Mund ein Magnet stecken würde. «Paul!» Die Stimme der Erzieherin klang scharf. Pauls Daumen bewegte sich langsam abwärts. «Paul, du bekommst von deinem Nuckeln wirklich ganz schiefe Zähne!» Es schien, als sei sich die Erzieherin in ihrer Argumentation nicht ganz sicher. «Wie schiefe Zähne?» Paul blitzte Erika Baier mit seinen Augen an. Sie schien unsicher, ihr fehlten die Worte, ja, es hatte den Anschein, als habe es ihr die Sprache verschlagen. «Wie schiefe Zähne?» wiederholte Paul ganz freundlich. Erika Baier schlug sich mit einem Mal mit der Hand vor die Stirn, sie lächelte - sie hatte den Einfall. «Wie beim Elefanten die scharfen Stoßzähne!» Mit einem Schwung ihres rechten Armes untermalte sie ihre Worte, lange und schiefe Stoßzähne andeutend. Paul schaute konsterniert: «Wie beim Elefanten die Stoßzähne?» Sie blickte Paul mitleidig an, so als sähe sie diese schon aus seinem Mund wachsen: «Paul, wie die schiefen Stoßzähne beim Elefanten!» -3 3 0 -
Paul schien sichtlich beeindruckt. Er sagte kein Wort, blickte seinen Daumen an und steckte ihn ganz langsam in die Hosentasche. Paul schüttelte wieder und wieder den Kopf: «So schief wie die Zähne beim Elefanten?» Er konnte es kaum glauben. Der nächste Morgen. Paul tritt auf seine Erzieherin zu: «Bekommt man vom Daumennuckeln wirklich so schiefe Zähne wie beim Elefanten?» Erika Baier nickte wie aus einem Reflex heraus. «Sag mal, Erika», fragte Paul, sie mit seinen großen braunen Augen anfunkelnd, «sag mal, Erika, wie kann ein Elefant vom Daumenlutschen schiefe Zähne bekommen? Der hat doch keinen Daumen!»
Erziehung im Hier und Jetzt Lars war knapp drei Jahre, als er die 300 Meter Fußweg von der elterlichen Wohnung zum Haus seiner Großeltern schon allein zurücklegte. Er mußte dabei eine kleine Straße überqueren. Dazu benutzte er einen Zebrastreifen. Er blieb stehen, schaute erst nach links, dann nach rechts. Dann streckte er seine rechte Hand aus, überquerte vorsichtig, aber ganz selbstsicher die Straße. Lars' Mutter, Pia Seibold, war hin- und hergerissen. Sie spürte, «Lars kann das! Ich kann ihm da vertrauen!» Aber sie hatte zugleich auch Nachbarn, Verwandte und Bekannte, die ihr Leichtfertigkeit, ja Fahrlässigkeit vorwarfen, ihr angst machten: «Wenn Lars etwas passiert, dann wirst du nie mehr glücklich!» «Und in meinen Träumen malte ich mir die allerschrecklichsten Sachen aus! Ich wachte nachts schweißgebadet auf, sah mich vorm Richterstuhl!» Pia Seibold ließ sich verunsichern. Sie verbot Lars den Allein-Gang zu den Großeltern und zu Freunden. Doch Lars sah die mütterliche Grenze nicht ein. Tag für Tag «büchste» er aus, machte sich auf seinen Weg. Ihm passierte nichts. Kam er jedoch wieder zu Hause an, erwartete ihn ein Donnerwetter, zunehmend hagelte es Sanktionen, die Lars aber nicht von seinem Tun abhielten. -3 3 1 -
Rolf Seibold, Lars' Vater, griff in die Situation ein, kritisierte seine Frau wegen ihrer Nachgiebigkeit, ihres Langmuts. «Ich nehme das jetzt in die Hand», meinte er, drohte Lars, ihn in seinem Zimmer einzuschließen, sollte er nochmal ohne Erlaubnis und allein das Haus verlassen. Lars überhörte die Drohung, wußte er doch aufgrund seiner Erfahrung vom inkonsequenten Erziehungsstil seines Vaters. Doch Lars hatte sich diesmal verschätzt: Als er wieder einmal allein aus dem Hause schlich, verspätet zum Abendessen kam, erwartete ihn der wütende Blick des Vaters: «Morgen sperr ich dich ins Zimmer. Dann kommst du nicht raus!» Lars' Mutter führte die Drohung am nächsten Tag aus. Doch Lars öffnete das Fenster, kletterte katzengewandt hinaus, schlich zu seiner Großmutter. Dies wiederholte sich am nächsten Tag. Die Stimmung in der Familie verschlechterte sich zunehmend. Argumenten war Lars nicht zugänglich, ihm passiere nichts, war sein entscheidendes Gegenargument. «Aber da kann was passieren!» «Mir nicht!» «Morgen bleibst du hier!» «Warum?» «Du hast mich hoffentlich verstanden!» Nach dem zehnten «Warum ?» flog Lars aus dem Raum, und zwischen den Eltern flogen die Fetzen. «Ich glaube, wir sind nicht gerecht!», versucht Pia Seibold einzulenken. «Der spinnt doch!» Rolf Seibold ist zornig. Ein Wort gibt das andere, der Ton wird scharf. «Damit du's weißt, morgen binde ich Lars an, wenn der wieder abhaut! Mal sehen, wer hier gewinnt. Das wollen wir doch mal sehen!» Pia Seibold versucht - eher matt denn engagiert - ihren Mann von seinem Vorhaben abzubringen. Kein Argument hilft. Der nächste Morgen kommt. Rolf Seibold informiert Lars am Frühstückstisch über sein Vorhaben.
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«Wenn du heute gehst, binde ich dich morgen an der Garage an! Verstanden?» Lars nickt beiläufig. Am Nachmittag geht Lars zu den Großeltern. Am Tag darauf findet sich Lars am Garagentor angebunden, eine sechs Meter lange Leine mit mehreren Knoten um seinen Bauch gebunden. Lars kann kaum glauben, was ihm da passiert ist. Er versucht, die Knoten zu lösen -vergeblich. Lars windet sich hin und her wie ein Löwe im Käfig. Er findet keinen Ausweg, fühlt sich gefesselt, fängt an zu schreien. Immer schriller werden seine Laute - bis der Vater kommt. Lars bittet mit flehender Stimme: «Ich gehe nie wieder weg, wenn du mich losbindest!» Der Vater läßt sich erweichen, löst die Knoten. Nur kurz darauf ist Lars verschwunden, unterwegs zu seinem Freund - und allein. Der Vater ist hilflos, die Mutter verzweifelt. Sie wissen keinen Ausweg mehr. Die Mutter meint: «Ich laß ihn gehen. Ich vertraue ihm!» Sie überlegt: «Ihm passiert nichts!» «Und wenn?» «Ihm passiert nichts!» Die Mutter stellt diese Situation gemeinsam mit Lars auf einem Familienseminar vor, will wissen, ob sie ihrem Sohn, der mittlerweile knapp vier Jahre ist, den Weg allein zumuten kann. «Ich fühle, er schafft's! Aber mein Kopf sagt, er ist noch zu klein!» «Ich kann es!» meint Lars selbstbewußt. Gemeinsam versuchen wir Absprachen, um Pia Seibold wie Lars Sicherheit zu geben: Lars ruft an, wenn er sein Ziel erreicht hat, er verspricht, pünktlich nach Hause zu kommen, immer den gewohnten Weg zu benutzen. Lars läßt sich auf alle Absprachen ein. Das Familienklima entspannt sich, die Warnungen der Nachbarn hören dagegen nicht auf. Fast scheint es, als warteten sie geradezu auf ein Unglück. Aber nichts passierte. Im Gegenteil: Lars entwickelte sich zu einem selbstbewußten Kind, das sich in der Folgezeit viel zutraute. Auf meine Feststellung während des Beratungsgesprächs: «Lars, dir kann nichts passieren, nicht?» lächelt er, er nickt ganz spontan. -3 3 3 -
«Ich gehe wie ein Indianer durch die Straßen. Ich schleiche ganz vorsichtig, schau mich um.» Dann greift er in seine Hosentasche, holt ein Abziehbild mit einem Indianer heraus: «Das ist mein Freund. Den hab ich schon ganz lange bei mir. Der ist ganz stark. Der sagt mir: ‹Lars, du schaffst das!›» Diese Geschichte stößt bei vielen Zuhörerinnen und Zuhörern, wenn ich sie ihnen vorstelle, auf Widerspruch. Viele meinen, die Mutter habe leichtfertig gehandelt angesichts der vielfältigen Gefahren, die jüngeren Kindern drohen. Pia Seibolds und Lars' Konfliktlösung sind nicht zu verallgemeinern, schon gar nicht vorschnell auf andere Situationen zu übertragen. Aber die Konfliktlösung macht ein Erziehungsverhalten deutlich, das sich am ganz individuellen Verhalten eines Kindes, an einem pädagogischen Handeln im Hier und Jetzt orientiert: Die Mutter hat nicht leichtfertig gehandelt, sondern auf der Grundlage ihrer Beobachtungen. Ihre Beobachtungen gaben ihr das Gespür, Lars schon mehr zutrauen zu können als anderen Kindern in seinem Alter: - Als Lars bemerkte, seine Eltern orientierten sich in ihrem Erziehungsstil mehr an der Meinung anderer Menschen als an seinen realen Möglichkeiten, trat er mit den Eltern in einen Machtkampf ein. Er machte sie hilflos, spielte mit ihnen, rächte sich bei ihnen für die ständigen Reglementierungen. - Lars war sich seines Handelns sicher. Er wollte als Lars angenommen sein, als ein Mensch mit ganz unverwechselbaren Zügen, spezifischen Fähigkeiten, Eigenarten und Kompetenzen. Als die Eltern dies erkannten, ihm vertrauten, sogar mehr vertrauten als anderen Kindern seiner Altersgruppe, ohne ihn deshalb zu überfordern, war er bereit, mit ihnen in eine konstruktive Erziehungsbeziehung zu treten. Nun zu einer anderen Situation, die ein weiteres Problem des erzieherischen Handelns im Hier und Jetzt berührt. «Darf mein Kind zu mir ins Bett kommen?» fragt Roswitha Heinrichs. «Heiko ist zwei. Und er kommt fast noch jede Nacht!» «Was spricht dagegen?» frage ich. -3 3 4 -
«Wenn er jetzt nicht lernt, allein zu schlafen, dann lernt er es nie. Das hört man doch! Das liest man!» Sie klingt ganz bestimmt, aber da klingt auch Sorge und Anspannung aus ihrer Stimme. «Haben Sie Probleme damit, wenn Ihr Heiko nachts kommt?» «Nein!» Sie schüttelt vehement den Kopf. «Und wie ist es mit Ihrem Mann?» «Der schläft sowieso wie 'n Bär.» «Dann lassen Sie Heiko zu sich ins Bett kommen!» rate ich. «Und wie wird das später?» will sie wissen. «Später finden Sie einen Weg. Dann ist Heiko größer, dann können Sie das Problem viel klarer lösen, und vor allen Dingen kann er an der Lösung mitarbeiten. Momentan ist er noch zu jung, und wenn Sie mit Zwang arbeiten, schadet das möglicherweise Ihrer Beziehung zu Heiko!» Aus dieser Situation lassen sich einige verallgemeinerbare Schlußfolgerungen ableiten: Wer jüngeren Kindern Grenzen setzt, setzt sie nicht für alle Zeiten. Grenzen im Hier und Jetzt zu ziehen meint, sie in Abhängigkeit von der kindlichen Entwicklung auch zu verändern. Grenzen sind keine unabänderlichen, allzeit gültigen Markierungen. Je älter Kinder werden, um so eher sind sie zur Mitarbeit bei Konfliktlösungen bereit; je jünger sie sind, um so weniger können sie es, weil sie noch nicht über entsprechende Fähigkeiten verfügen. Wenn Kinder ihre Nächte - oder Teile davon - im elterlichen Bett verbringen wollen, und Vater wie Mutter haben damit keine Probleme, dann gibt es keinen Grund, dem Kind oder den Kindern diesen Wunsch zu verwehren. Ein Anlaß zu verändertem Verhalten ergibt sich dann, wenn Vater oder Mutter sich genervt und gestört fühlen. Ähnliches gilt für das nächtliche Schreien. Auch hier hört man häufig den Vorschlag, kleine Kinder schreien zu lassen. Abgesehen davon, daß schreiende Kinder nicht zu überhören sind, verinnerlicht das Kind ein problematisches Modell, was -3 3 5 -
sich auf sein Urvertrauen, sein Selbstwertgefühl, seine Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, nachteilig auswirken kann: «Wenn ich Angst habe, bin ich allein und verlassen! Wenn ich in Not bin, helfen meine Eltern nicht!» Sollte ein Kind seine Eltern mit dem Schreien später benutzen, um ihnen Aufmerksamkeit abzunötigen, bleibt noch genügend Zeit, dieses dann störende Handlungsmuster zu ändern - aber gemeinsam. Über das Problem des Schlafengehens, des Durchschlafens gibt es einfühlsame Ratgeber, die die Vielschichtigkeit des Problems deutlich machen (z.B. Friedrich/Friebel vgl. Seite 251). Werden Kinder mit ihren nächtlichen Streifzügen zum Problem für Eltern, bieten sich eine Vielzahl von einfachen, nachvollziehbaren Rezepten an, die den Charakter von althergebrachten Hausmitteln haben. 1.Das Kind braucht klare Rituale, das betrifft nicht allein den Tagesablauf, das gilt gleichermaßen für das abendliche Zubettgehen. Je klarer, je verläßlicher und konkreter sich das Ritual für Kinder insgesamt darstellt, um so mehr lassen sie sich darauf ein - was kritische Tagesform und damit einhergehende Probleme beim Zubettgehen und Durchschlafen nicht ausschließt. 2. Das Schlafengehen, die Nacht bedeutet für viele Kinder Trennung, Alleinsein, auch seelischen Streß. Dieser ist Kindern - eine emotional gesicherte Basis vorausgesetzt - dann zuzumuten, wenn man natürliche Hilfsmittel zur Hand hat, um Streß abzubauen. Als besonders hilfreich erweist sich ein Schmuseobjekt - z.B. ein Teddy, eine Puppe -, das für ein Kind Verläßlichkeit bedeutet, dem Kind Schutz vor dem Alleinsein signalisiert. Es ist wichtig, dem Kind so früh wie möglich «sein» Schmuseobjekt, in der Fachsprache auch «Übergangsobjekt» genannt, zu ermöglichen. Dieses Objekt dient dem Kind, sich an die Welt, die nächste Umgebung, an unvertraute Situationen, an Trennung und Verlassenwerden zu gewöhnen. Wichtig: Es sollte nur ein Objekt sein, an welches das Kind seine Gefühle bindet. Meist ist dieses dann - über längere Zeit hinweg - ein schmutziger, ein riechender, ein abgenuckelter Gegenstand, der zusammen mit dem Kind schon viele Nächte -3 3 6 -
verbracht hat, ihm aber Kraft gibt, die Dunkelheit zu überstehen. Solch ein Objekt kann ermutigen, Konfliktsituationen auszuhalten, sie als beherrschbar zu erleben, Trennungen zu bestehen, teilweise bis in die ältere Kindheit hinein. Kai, ein elfjähriger «Rabauke», fuhr für fünf Tage in ein Schullandheim. Als er morgens am Bahnhof ankam, lugte aus seinem Rucksack ein Teddy, von ihm «Samson» genannt, mit abgeknabbertem Ohr, einäugig, der Kopf speckig vom vielen nächtlichen Nuckeln. «Na, Kai, willst du Samson mitnehmen», fragte ich ihn. «Sie glauben es nicht», erwiderte er ganz ernsthaft. «Ich wollte ihn nicht mitnehmen. Aber Samson hat so lange genervt, bis ich gesagt habe ‹o. k., dann kommst du mit!›» Eltern können die Symbolik des Übergangsobjektes unterstützen durch den Einsatz des Schnuffeltuchs, des Kopfkissenüberzugs («Schmusekissen») oder des getragenen Nachthemds der Mutter (Vgl. dazu auch die Geschichte «Man denkt zuviel nach» in «Kinder brauchen Grenzen», Seite 21f.). Wenn Kinder nicht in ihrem Bett schlafen wollen, mag es sinnvoll sein, ein Nachthemd in das Kinderbett zu legen, das die Mutter einige Tage getragen hat. Ähnliches gilt für den Kopfkissenbezug, auf den die Mutter ihren Kopf gelegt hat. Sowohl Nachthemd als auch Kopfkissenbezug haben unverwechselbar den mütterlichen Geruch angenommen. Ein Schnuffeltuch ist leicht herzustellen: Die Mutter legt sich ein Taschentuch oder eine Stoffwindel für einige Tage auf den Bauch, damit es ihren Geruch annimmt. Das Tuch gibt man dem Kind in die Hand oder legt es unter sein Kopfkissen. Kinder nehmen die Mutter instinktiv über unverwechselbare Gerüche wahr. Ihr ganz eigener Geruch bedeutet Nähe, gibt Bindung, wenn sie körperlich nicht anwesend ist. Der Geruch beruhigt, läßt das Kind schlafen, weil es die Sicherheit spürt, daß die Mutter nur vorübergehend vom Kind getrennt ist. Auch hier gilt: «Hausmittel» funktionieren nicht immer - zu
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vielschichtig und kompliziert können die Hintergründe für die Schlafstörungen des Kindes sein. Viele Eltern setzen die bewährten Mittel nach geraumer Zeit ab, weil sie hören, diese seien von einem bestimmten Alter an unangemessen. Ich halte solch ein Phasendenken - vor allem wenn es die emotionale Entwicklung von Kindern anbetrifft - für zu starr und wenig am Kind orientiert. Natürlich kann eine übertriebene Zuwendung zu Schmuseobjekten ein Zeichen für den seelischen Streß oder für eine gefühlsmäßige Störung des Kindes sein. Zunächst sind Schnuffeltuch, Schmusekissen oder Übergangsobjekt jedoch unter einer normalen, der kindlichen Entwicklung angemessenen Perspektive zu betrachten - und dies meint: Das Kind bestimmt das Tempo der Entfernung solcher symbolischen Gegenstände selbst, nicht ein wohlmeinender Erwachsener, der vorgibt zu wissen, was für ein Kind das Beste ist. Falls Kinder zu früh, zuwenig einfühlsam, weil von außen, mithin fremdbestimmt, von ihren Symbolen entwöhnt werden, kann das zur Flucht in andere, weniger konstruktive Symbole führen - statt des Schnuffeltuchs werden Süßigkeiten genommen, statt des Schmusekissens wird ein Beruhigungstee getrunken. Aus einer sehr sinnlichen Bewältigung von gefühlsmäßiger Frustration wird eine orale Befriedigung, d.h. die Bewältigung von Streß wird mit Essen und Trinken verbunden. Damit können Abhängigkeiten aufgebaut werden.
Magische Lösungen Schon jüngere Kinder entwickeln Problemlösungen, die Erwachsene häufig überhören, weil sie nicht ihren rationalen Vorstellungen entsprechen. Die Ideen der Kleinen werden häufig belächelt, dabei enthalten sie manchmal grandiose Perspektiven. Dies soll an zwei Situationen konkretisiert werden, die mir Familie Meinhold auf einem Elternseminar vorstellte. Lasse, drei Jahre, brachte die Familie durch seine «Unordnung permanent auf die Palme». Das betraf weniger die -3 3 8 -
Situation in seinem Zimmer als vielmehr seine Intensität, das Chaos in das gesamte Haus zu verlagern. Seine Eltern «flippten regelmäßig aus», und - so die Erwachsenen genervt «stellen Sie sich vor, dann sagt er noch, er mache nicht die Unordnung, sondern das mache Pumuckl, der ihn ständig besuche.» Herr Meinhold ist entrüstet: «Also da kann ich richtig ausflippen!» «Ehrlich!» Seine Frau nickt bestätigend. Lasse war bei diesem Teil des Gesprächs nicht anwesend. Ich holte ihn hinzu, schickte seine Eltern hinaus, um mir die Situation aus seiner Sicht erzählen zu lassen. «Was meinst du, hat dein Vater mir wegen der Unordnung gesagt?» Lasse lächelte mich an: «Das..., das mit dem Pumuckl...» Kurze Pause. «Pumuckl ist das ja auch!» Er schaut mich an, will meine Zustimmung. «Was ist das mit dem Pumuckl?» will ich wissen. «Also, der kommt und spielt mit mir, und dann geht er irgendwann und läßt alles liegen, und ich muß aufräumen, und dann habe ich keine Lust... Wer Unordnung macht, muß aufräumen, sagt Papa... Pumuckl macht das nicht!» Ich ließ mir Einzelheiten schildern, um ein genaueres Bild zu bekommen. Dann bat ich die Eltern hinein. Für mich war schnell klar: Lasse hatte seine Unordnung, seine «bösen» Anteile an Pumuckl gebunden. Und Lasse war überzeugt, nicht selbst für das Chaos verantwortlich zu sein. Als ich die Eltern fragte, was mir Lasse wohl erzählt habe, rief der Vater spontan aus: «Den Quatsch mit Pumuckl!» Er klingt säuerlich: «Wie immer! Ich kann's nicht mehr hören!» «Ist aber kein Quatsch!» Dabei ahmt Lasse Pumuckls quiekige Stimme nach. «Hör auf!» meint die Mutter genervt. «Es reicht, wenn du das zu Hause machst!» Lasse lächelt, er war nun auf dem besten Wege, seinen Eltern ihre Hilflosigkeit vorzuführen. Machtkampf pur! «Lasse», sage ich, «du solltest mal ganz deutlich mit -3 3 9 -
Pumuckl reden. Dich nervt die Unordnung doch auch. Meinst du, du kannst mit ihm reden?» Die Meinholds sehen mich entgeistert an. «Oder sollen deine Eltern mit Pumuckl reden?» Die beiden schütteln spontan den Kopf, sehen mich völlig konsterniert an. «Die nicht!» ruft Lasse. «Die verstehen den doch gar nicht!» «Was wirst du ihm sagen?» «Ich werde mit ihm schimpfen! Ich werd sagen: Aufräumen oder er braucht gar nicht mehr zum Spielen zu kommen!» Die Meinholds sind vom Gang des Gesprächs überrascht, intervenieren nicht mehr. Auf meine Frage, ob sie da mitziehen könnten, nicken sie verhalten: «Wenn's denn hilft!» Als sie den Raum verlassen, habe ich den Eindruck, als ob sie Mitleid mit mir haben wegen des Spielchens, auf das ich mich bei Lasse eingelassen habe. Vier Wochen später; Fortsetzung des Familienseminars. Die Meinholds kommen strahlend auf mich zu, das Problem mit der Unordnung in der Wohnung habe sich aufgelöst. Lasse mache nur noch in seinem Zimmer Chaos, ansonsten räume er auf. «Wahnsinnig! Der räumt jetzt auf!» Frau Meinhold lacht, den Sinneswandel ihres Sohnes gleichwohl noch ein wenig skeptisch betrachtend. Lasse kommt auf mich zu. «Na, Lasse, hast du mit Pumuckl geredet?» frage ich. «Und ob! Ich hab ihm gesagt: ‹Wenn du nicht aufräumst, spielst du nicht mit mir. In meinem Zimmer kannst du alles liegenlassen. Aber sonst räumst du auf! Ist das klar?!›» «Und Pumuckl hat dich verstanden?» Lasse nickt: «Und wie!» Eine ebenso einfache wie magische und kindgerechte Lösung, die gefunden wurde, weil ich mich auf Lasses Phantasien einließ. Die Kritik der Eltern an der Unordnung konnte Lasse nicht annehmen. Er empfand sie weniger als Kritik an der Sache denn als Kritik an seiner Person. Die Konsequenz: Er inszenierte einen Machtkampf. Und je vehementer die elterlichen Vorwürfe kamen, um so intensiver -3 4 0 -
führte er seine kleinen Rachefeldzüge, die die Eltern allmählich zur Verzweiflung trieben. Die Bedeutung von Lasses Phantasien war mir klar. Pumuckl verkörperte Lasses polare Sichtweise, die so typisch für jene Altersstufe ist: die Aufspaltung in «gute»-Lasseund «böse»-Pumuckl - Personen. Eine differenzierte Betrachtung von Personen - aus einer Entweder-oder-Haltung entwickelt sich eine Sowohl-als-auch-Haltung - gewinnen Kinder etwa vom fünften Lebensjahr an. Aber auch danach bleibt die polare Sichtweise noch erhalten. Sie wandelt sich erst allmählich. Pumuckl diente Lasse als Vehikel, ein magisches Vehikel, dessen Bedeutung für die Eltern auf den ersten Blick nicht zu erkennen war. Wenn Eltern sich mehr auf eine genauere Beobachtung ihrer jüngeren Kinder einlassen könnten, es lernten, Verständnis für deren magisch-mythische Sichtweisen zu zeigen, dann gelänge es, schon mit zwei- bis vierjährigen Kindern zu ganz überraschenden Konfliktlösungen zu kommen - Lösungen, die nur für begrenzte Zeit Gültigkeit haben, erwirbt das Kind mit zunehmendem Alter doch andere Fähigkeiten, sich mit sich und anderen Personen auseinanderzusetzen. Dann gewinnen Sprache und rationale Herangehensweisen an Gewicht. Dies zeigt die zweite Situation. Vera Fischer hatte sich vor kurzem von ihrem Mann getrennt. Ihre beiden Kinder Anke, drei Jahre, und Janine, fünf Jahre, lebten bei ihr. In der Trennungsphase bekam Dario, ein überdimensionaler Kuschelbär, der beiden gehörte, besondere Bedeutung für die Kinder. Die Mädchen wiesen Dario einen Platz am Familientisch zu, für ihn wurde extra ein Gedeck aufgetragen. Man wartete auf Dario, bis er mit dem Essen fertig war- und Dario war ein Langsamesser. Morgens bummelte Dario beim Anziehen. Es dauerte unendlich lange Zeit, bis Anke und Janine die passenden Klamotten ausgesucht und ihm angezogen hatten. Selbst ins Restaurant kam Dario mit. Selbstverständlich reservierte die Mutter auf Anraten der Kinder für ihn einen Platz, man legte ihm die Speisekarte vor. Doch -3 4 1 -
Dario war «kein guter Esser. Gott sei Dank», erinnert sich die Mutter, «sonst hätte für ihn auch noch ein Essen bestellt werden müssen. Die Mädchen waren da konsequent.» Man kaufte Dario sogar einen Kindersitz fürs Auto, in dem er angeschnallt mitfuhr. «Es war schon schwer, dies alles auszuhalten», berichtet Vera Fischer. «Die Leute schauten, als ob ich verrückt wäre. Und andere rieten mir, sofort fachliche Hilfe zu holen.» «Und Sie?» «Ich hatte den Eindruck, es würde den beiden guttun. Die brauchten das ganz offensichtlich. Ob's nun mit der Trennung zusammenhing oder nicht, wer will das schon wissen.» «Was hat Sie in Ihrem Gefühl bestärkt?» «Meine Mutter hatte den Bären eines Tages versteckt, als die beiden bei ihr zu Besuch waren. Der ging das ganze Theater mit Dario auf den Geist. Aber das Theater danach, als Dario verschwunden war, war nix dagegen. Die Mädchen flippten völlig aus. Die ältere hat sogar die Polizei angerufen, Dario sei entführt worden. Und dann standen mit einem Male vier Polizisten vor der Tür. Sie hätten meine Mutter sehensollen. Die hat den Mädchen Dario sofort wiedergegeben. Von da an wurde auf den Kuschelbär noch mehr achtgegeben!» «Wie lange ging das?» «Über ein Jahr. Eines Tages kamen die Kinder ins Auto ohne Dario. ‹Wo ist Dario?›, hab ci h gefragt. ‹Will der denn nicht mit?›» «‹Der schläft!› Am Mittag habe ich Dario gefunden. Er lag achtlos in der Ecke. Von da an hatte er keine Bedeutung mehr. Als erstes flog der Kindersitz für Dario aus dem Auto!» Der Bär gab den Kindern Sicherheit, er war eingebunden in ein Ritual, das den Mädchen Verläßlichkeit und Sicherheit bot. Dadurch konnten sie den Trennungsschmerz und damit einhergehende Ängste und Unsicherheiten auf eine ganz selbstbewußte Weise bewältigen. Als sie einen anderen Weg gefunden hatten, nahm die Bedeutung von Dario ab. -3 4 2 -
Kinder brauchen Magie und Mythen, Phantasiefiguren und ganz eigene Symbole, um auf einer verläßlichen emotionalen Basis Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl zu entwickeln.
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II Aggressionen fordern heraus
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Kapitel 10 Gewalt im Spiel -Spiele der Gewalt
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Allenthalben wird darüber geklagt, Heranwachsende seien spielunfähig, gar phantasielos. Und zudem wird darauf hingewiesen, daß in die Spiele der Kinder häufiger und auffälliger Elemente zerstörerischer Gewalt einbezogen sind. Bleibt angesichts dieser Feststellung die Frage, ob das Kinderspiel in seiner Vielfalt nicht schon immer innere Realität des Kindes symbolisierte, kindliche Gefühle und Entwicklungen und damit Aggressivität und Ängste zum Inhalt hatte. Veränderungen im Kinderspiel - z. B. das zerstörerische Ausleben von Aggressionsphantasien - sollen damit nicht in Abrede gestellt werden. Auf drei Entwicklungen, in denen sich möglicherweise Veränderungen zeigen, will ich exemplarisch hinweisen: - Veränderungen beim spielerischen Umgang mit Aggressionen - am Beispiel von Banden und Straßenkämpfen; - Störungen im Körperbewußtsein und in körperlichen Ausdrucksformen von Kindern; - den Versuch, Aggressionen als Kraft aus dem Alltag mit pädagogischer Aggression auszugrenzen.
Entritualisierung der Aggression Auf einem Elternseminar berichteten Teilnehmer, die ihre Kindheit und Jugend in den fünfziger Jahren erlebten, über ihren Umgang mit Aggressionen. «Früher», so erzählt Anton Richter mit leuchtenden Augen, «ging's härter zur Sache. Banden und Straßenkämpfe waren angesagt: der eine Straßenzug gegen den anderen, die von der Oberschule gegen die Hilfsschule. So hieß das ja früher noch... Wir verabredeten uns zu einem Zeitpunkt, an einem Ort unsere Eltern hatten keinen Einblick. Mein Vater war nur sauer, wenn ich was auf die Nase bekommen hatte... oder meine Mutter jammerte, wenn der Pullover zerrissen war. Wir haben uns nicht geschont, aber irgendwann war die Prügelei zu Ende. Weil die Kondition ausging, weil es keinen Spaß mehr brachte oder weil Erwachsene kamen und uns anbrüllten.» -3 4 6 -
«Worin sehen Sie Unterschiede zu heute?» Er überlegt, dann antwortet er aber ganz spontan: «Ich denke, es gab einen Unterschied, einen ganz wichtigen. Wenn bei uns einer am Boden lag, war der aus dem Spiel draußen. Auf den wurde nicht mehr eingetreten oder eingeschlagen. Oder wir hatten ein Zeichen ausgemacht, ein ganz bestimmtes Handzeichen, das hieß: Ich will oder kann nicht mehr! Dann hörten wir auf - wehe, wenn man gegen diesen Kodex verstieß, dann fiel die ganze Meute über einen her. Daß es solche Regeln nicht mehr gibt, macht mir Sorgen. Diese herumstromernden Skins, die jeden und alles wahllos verprügeln, das ist eine Verrohung der Sitten, so öffnet man der Zerstörung Tür und Tor und bringt jede harmlose Rangelei in ein schlechtes Licht.» Andere Väter, aber auch Mütter stimmten diesen Ausführungen mit eigenen Geschichten und Erlebnissen zu - z. B. von Schützenfesten, dem Maibaum-Aufstellen, Tanzveranstaltungen etc. Eine Mutter, die mit fünf Brüdern aufgewachsen war, erzählte von ihren häuslichen Kämpfen. Hart sei es zugegangen, aber herzlich. Manchmal habe es Schrammen gegeben, die Nase habe geblutet, ein Hemd sei eingerissen - alles außerhalb der Sicht- und Reichweite der Eltern: «Die haben nichts, fast nichts mitbekommen.» Wirkliche Verletzungen, «die gab's nicht. Es herrschten unausgesprochene Regeln, an die sich jeder hielt. Man hatte das Gespür, bis hierher darfst du gehen und nicht weiter.» Sie denkt einen Augenblick nach: «Dieses Gefühl, mit den anderen zu toben, sie zu packen, zu drücken und trotzdem nicht zu verletzen, dieses Gefühl ist meiner Ansicht nach verlorengegangen.» Nicht allein die subjektiven Berichte, auch wissenschaftliche Untersuchungen über Aggression als Bestandteil einer Jugendund Kinderkuttur kommen zum Schluß: Die ritualisierten Straßenkämpfe zwischen Kinder- und Jugendgruppen, sogenannten Banden, nahmen quantitativ in den letzten vierzig Jahren ab. Im gleichen Zeitraum kann man jedoch einen qualitativen Zuwachs an Sachbeschädigungen und -3 4 7 -
Körperverletzungen in der Folge von gewalttätigen Auseinandersetzungen feststellen. Die festgelegten Regeln gaben den Auseinandersetzungen früher Halt. Regelverstöße waren - das erlebten die Heranwachsenden - mit fühlbaren Konsequenzen belegt. Man verletzte sich nicht vorsätzlich, man trat und schlug auf einen wehrlos am Boden liegenden Menschen nicht ein. Und diejenigen, die keine Lust an der Fortsetzung des Kampfes hatten bzw. konditionell am Ende waren, ließ man unbehelligt. Hier soll kein Idyll konstruiert werden - nach dem Motto: «Das hat es früher nicht gegeben!» -, hier soll nicht eine vermeintlich harmonischere Vergangenheit gegen ein schlechtes Heute ausgespielt werden. Frühere Jahrzehnte wiesen auch Brutalitäten im zwischenmenschlichen Miteinander auf, Rituale und Regeln wurden nicht eingehalten, ohne Respekt wurde auf den anderen eingeschlagen, Menschenwürde mißachtet. Für uns heute bleibt die Frage, aus welchen Gründen Heranwachsende Rituale nicht mehr praktizieren? In Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen fallen zwei Gesichtspunkte auf: 1. Oberstes Erziehungsziel sind humane, auf gegenseitigen Respekt abzielende Erziehungsbeziehungen. Gleichzeitig bewertet man Aggressionen ausschließlich als negative Kräfte. Die konstruktive Seite der Aggression - z. B. Produktiv- und Kreativ-Sein, sich abgrenzen, um eigene Identität zu entwickeln - wird in der öffentlichen Diskussion ausgeblendet. Nicht die Verdrängung von Aggression aus dem Alltag kann mithin die Erziehungsperspektive für Kinder sein, vielmehr die konstruktive Seite von der zerstörerischmenschenverachtenden klar abzugrenzen. Denn um die destruktive Aggression zu beherrschen, ist eine Kultivierung von Aggression, d.h. die Erziehung zu einem gekonnten Umgang mit Aggression, unabdingbar. Hierfür sind allgemeinverbindliche Rituale und Regeln notwendig. Lebt man diese den Kindern nicht vor, haben sie keine Möglichkeiten, sie als nachvollziehbares und praktizierbares Modell anzunehmen und zu verinnerlichen. Wer Heranwachsende mit ihren -3 4 8 -
aggressiven Persönlichkeitsanteilen allein läßt, liefert sie einer chaotischen, den anderen Menschen in seiner Würde nicht achtenden Aggression aus. Solch Ausgeliefertsein endet -wie in vielen zerstörerischen Handlungen von Heranwachsenden gegenwärtig sichtbar - in einem blindwütigen Ausleben von Aggressionen, das von Inhumanität geprägt ist. 2. Aggression ist für Heranwachsende - entwicklungsbedingt - faszinierend. Kann Aggression in der Realität nicht kontrolliert, regelgebunden, ritualisiert und verläßlich ausgelebt werden, so sucht sich die Faszination ihre Symbole und Gegenstände. Und diese finden Heranwachsende in den Action-Szenarien der Medien. Im Verlauf von Elternseminaren habe ich Eltern nach gekonnten Aggressionsritualen in der eigenen Familie gefragt: z. B. nach regelmäßigen Rangel- und Kampfzeiten, um Körperkräfte zu erproben, z. B. nach «Kissenbzw. Polster-Schlachten», um ausgiebig zu toben. Nur in zwei Fünfteln aller Familien fanden sich entsprechende Rituale, obgleich Kinder - wie sie mir erzählten - diese Form des KörperErlebnisses besonders gern hatten. Insbesondere Mütter lehnten entsprechende Aktivitäten ab, weil ihre Kinder durch diese Spiele «erst recht aggressiv» bzw. dazu angeleitet würden, im späteren Leben unsozial und destruktiv handeln. Welch Mißverständnis, welch einseitige Sicht auf Aggression: Sie ist - im ursprünglichen Sinn des Wortes (lateinisch aggredi: etwas in Angriff nehmen, auf etwas zugehen) - eine Kraft, sie stellt ein Gefühl dar, das durch Verleugnung und Verdrängung nicht aus der Welt, schon gar nicht aus der Entwicklung von Kindern auszugrenzen ist. Je mehr man elterlicherseits zu einer Angst vor Aggression erzieht oder Aggression mit Verbot und Ausgrenzung belegt, je weniger fühlen sich Kinder mit diesen Persönlichkeitsanteilen angenommen. Mehr denn je ist eine Aggressionserziehung gefordert - nicht als gleichgültiges Gewährenlassen unter dem Motto: «Laßt Kinder ihre Aggressionen ausleben» -, vielmehr in Form von Aggressionsritualen und kontrollierten Handlungsmustern, die Respekt und Achtung vor der körperlichen Unversehrtheit anderer Menschen beinhalten. Je lebenszeitlich früher dies -3 4 9 -
praktiziert wird, desto intensiver werden solche Modelle von Kindern als lebbar verinnerlicht. Aggressionserziehung bedeutet, sich zunehmend körperlicher Auseinandersetzung zu enthalten, um nach altersgerechten Lösungen bei Konflikten zu suchen. Umgekehrt betrachtet: Je jünger Kinder sind - etwa bis zum Beginn des Grundschulalters - um so stärker werden Reibung und Meinungsverschiedenheiten auch körperlich ausgetragen. Allein mit Reflexion und sprachlichen Argumenten sind Kinder in dieser Altersstufe noch überfordert. Dies bedeutet nicht, auf Normen und Werte einer höheren moralischen Stufe in der Erziehung zu verzichten. Ganz im Gegenteil: Kinder sind zu begleiten, wenn es um angemessenere Konfliktlösungen geht. Dies aber weniger mittels unendlich «guter» Worte als vielmehr durch das Handeln von Erwachsenen: Je eher die Bezugspersonen eine entsprechend höhere moralische Stufe im Alltag leben, um so mehr leben sie Kindern ein Modell vor, ein Modell, das Kinder, wenn sie reifer werden, übernehmen können.
Entkörperlichung der Erziehung Christopher, sechs Jahre, ist im Kindergarten gefürchtet: Er fällt lange Zeit nicht auf. Aber dann steht er plötzlich auf, geht zu einem anderen Kind: Mal sieht Christopher es an, schaut nur zu - um dann plötzlich kräftig zuzuschlagen, scheinbar ohne Rücksicht auf Schmerz und Verletzungsgefahr. Die Kinder reagieren verschieden: Sie schreien auf, laufen weg, suchen Hilfe, hauen reflexartig zurück. Doch ziehen sich immer mehr Kinder von Christopher zurück. Pädagogische Eingriffe des Teams helfen wenig: Christopher braucht offensichtlich keine zusätzliche Aufmerksamkeit. Die hat er durch viele positive, produktive Aktionen ohnehin. Es läuft kein Machtkampf zwischen den Erzieherinnen und dem Kind. Es fällt zudem auf: Selbst angekündigte Konsequenzen, z. B. nach einem schmerzhaften Angriff für eine überschaubare Zeit an einem
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Einzeltisch zu spielen, halten Christopher nicht von seinen tätlichen Übergriffen ab. Die Erzieherinnen sind ratlos, steht Christopher nach einer Attacke wie ein «begossener Pudel hilflos die Schultern zuckend herum», so als wolle er sagen, dies habe er nicht gewollt. Betrachtet man Christopher genauer, wird sein Dilemma deutlich - ein Dilemma, das auf viele andere Kinder heute übertragen werden kann. Als ich mich mit Christopher über sein «Ausrasten», so seine Mutter, unterhalte, beteuert er ständig, er habe den anderen Kindern keine Schmerzen zufügen wollen. Eine Erzieherin, die bei dem Gespräch mit Christopher anwesend war, rief angesichts seiner Feststellung: «Kannst du denn nicht so Kontakt aufnehmen, daß du den anderen nicht weh tust?!» «Nein!» lautet Christophers spontane Antwort. «Jetzt hör aber auf», sagt die Erzieherin ärgerlich. Christopher hebt resigniert die Schultern. «Lassen Sie», beruhige ich sie. «Ich denke, er meint es ehrlich.» Nun ist sie irritiert, wohl auch ärgerlich auf mich. Ich hatte Christopher im Laufe des Vormittags längere Zeit beobachtet: Er wirkte sehr konzentriert, konnte geschickt basteln, hatte ein aufällig konstruktives Sozialverhalten, ging geradezu liebevoll mit anderen Kindern um. Er schlichtete manchen Streit, konnte mit seinen Argumenten zwischen Kindern vermitteln. Wenn er jedoch umherging, wirkte er schwerfällig, obgleich er eine eher zierliche Statur hat. Beim Laufen ruderte er, so als fürchte er, aus der Balance zu geraten. Beim Klettern und Turnen wirkte er ungelenk, so als drohe er, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Wollte er zu den anderen Kindern körperlichen Kontakt aufnehmen, so sah das ruppig und plump aus. Als die Kinder während eines Spiels sich an die Hände fassen sollten, packte Christopher so stark zu, daß er Schmerzen verursachte. Kinder entzogen sich mit einem lauten «Aua!» dem Zugriff. Christopher schaute - etwas verzweifelt - zuerst das Kind, dann seine Hand an. -3 5 1 -
Christopher erzählte mir, daß er zu Hause nicht «laut» sein dürfe. Körperliche Aktivitäten wie Rangeln, Toben seien untersagt. Seine Erziehung war - wie ein Gespräch mit den Eltern ergab - sehr «kopflastig». Man redete viel und intensiv, man behandelte Christopher wie einen kleinen Erwachsenen. Ein körperorientiertes Selbstbewußtsein bildete sich bei ihm nicht aus, die Eltern legten keinen Wert darauf. So zeigte sich Christopher intellektuell als äußerst kompetent, im Ausprobieren körperlicher Tätigkeiten wies er erhebliche Defizite auf: Er tobte kaum, er lebte körperliche Gefühle wenig aus. Christopher ging selten - wie seine Mutter in einem Gespräch formulierte - bis «an seine körperlichen Grenzen». Sie habe dies auch verhindert: «Wenn er so viel rumturnte, dann schwitzte er, und dann wurde er schnell krank!» Und an einer anderen Stelle merkte der Vater an: «Wenn der viel rumturnte und tobte, die Kinder sind so klein, und dann geht schnell was kaputt. Man muß sich eben schon früh beherrschen lernen.» In Christopher verkörperte sich ein Widerspruch: Er drückte sich brillant aus, konnte intellektuelle Bedürfnisse artikulieren, Streit schlichten - aber er schien körperlich ruhiggestellt, ja stillgelegt, Christopher war regelrecht zur Inkompetenz erzogen, seinen körperlichen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Christophers Geschichte ist durchaus verallgemeinerbar: Viele Kinder verlernen, körperliche Handlungen in ihren positiven wie negativen Wirkungen einzuschätzen. Wenn Kinder nicht durch Tun erfahren, daß z. B. Streicheln andere Empfindungsqualitäten nach sich zieht als kräftiges Zupacken; dann sind sie nicht in der Lage, Muskelkraft situationsangemessen zu gebrauchen: Sie wollen angemessenen körperlichen Kontakt aufnehmen, gleichwohl können sie es nicht: Aus dem beabsichtigten zärtlichen Knuff wird ein schmerzhafter Schlag. Solche Defizite sind zu beheben, sie sind nicht unabänderlich: 1. Durch die Einführung körperbetonter Rituale im Alltag, durch Spiele und Aktivitäten, die körperliche Empfindungen in -3 5 2 -
den Mittelpunkt stellen, die Kinder sinnlich erfahren lassen, wie Massagen mit unterschiedlichen Materialien sich anfühlen, wie sich Streicheln vom festen Griff unterscheidet; durch Toben und Rangeln, durch Spiele in Matsch und Wasser, durch spezifische Sinnesaktivitäten, um Gefühle zu stimulieren (s. Buchhinweise im Literaturverzeichnis). 2. Die Einführung körperbetonter Rituale, wie sie Judo, Karate, aber auch Basketball beinhalten. Selbstverständlich gilt dies gleichermaßen für andere Sportarten, die festgelegten Regeln unterliegen, an die sich der einzelne, will er nicht ausgeschlossen werden, halten muß. Nachteilig wirken sich beliebte Sportarten wie Fußball oder Handball dann aus, wenn Eltern den Sieg, den Gewinn über das Ausleben körperlicher Bedürfnisse, das für Kinder im Vordergrund steht, stellen. Sportarten wie Judo haben gerade für das Körpergefühl Heranwachsender erkennbare Vorteile: Kinder und Jugendliche spüren ihren Körper, gehen bis an die eigene Leistungsgrenze, sie erleben Rituale und Regeln, die darauf ausgerichtet sind, das Gegenüber nicht zu verletzen und zu zerstören, vielmehr mit ihm in einen fairen Wettstreit zu treten. 3. Die Einführung von Räumen und Zeiten, in denen Kinder körperliche Bedürfnisse ritualisiert ausleben dürfen. In einer Grundschule waren die Pausenaktivitäten der sechs- bis elfjährigen Kinder durch ungekonnte zerstörerische Aggressionen gekennzeichnet. Verletzungen und Sachbeschädigungen waren die Folge. Selbst mit dem Einsatz von mehr Aufsichtspersonal konnte man auffällige Gewalttätigkeiten nicht stoppen. Als man schließlich jegliches Toben, Herumlaufen, ja sogar die Lautstärke durch eine Schulordnung untersagte, verlagerten sich die destruktiven Aggressionen auf Sachen - z.B. durch die Beschädigung des Schulgebäudes oder der Klassenräume - und den Schulweg. Hier lebten die Kinder ungehindert, ungestüm und chaotisch das aus, was man ihnen regelgerecht verwehrte. Im Rahmen meines Projekts über «Gewalt in der Schule», das sich mit Maßnahmen zur Gewaltprophylaxe im schulischen Alltag befaßte, riet ich die Schulleitung und das Kollegium dazu, -3 5 3 -
«Rauf-Zonen» auf dem Schulhof einzurichten. Die Reaktionen des Kollegiums wie der Eltern waren äußerst negativ: Man befürchtete eine weitere Eskalation der Gewalt, man kritisierte den Begriff «Rauf-Zone» als Gewaltverherrlichung, man sah Chaos und Anarchie voraus. Die Schüler und Schülerinnen fühlten sich dagegen angesprochen, als man sie um Mithilfe bei der Umsetzung der Idee bat. Schließlich waren sie es, die unter der zerstörerischen Gewalt am heftigsten litten, empfanden sie es doch als einengend und entmutigend, nicht mit ihrer gesamten Persönlichkeit und dazu gehörten Aggressionsphantasien - von den Erwachsenen angenommen zu sein. Man einigte sich mit allen Beteiligten zunächst für ein halbes Jahr darauf, auf dem Schulhof zwei abgegrenzte Räume, eben «Rauf-Zonen» einzurichten. Hier durfte gerangelt, hier durfte gekämpft werden. Man richtete die Zonen auf den Rasenecken des Schulhofes ein, um die Verletzungsgefahr so gering wie möglich zu halten. Die Zonen waren durch Markierungen vom übrigen Gelände abgetrennt. Für die genannte Fläche galten Regeln, an deren Ausarbeitung die Schüler und Schülerinnen beteiligt waren. Mit der Einrichtung der «Rauf-Zone» wurden entsprechende Aktivitäten auf dem übrigen Schulgelände untersagt. Wer seine körperlichen Bedürfnisse ausleben wollte, mußte dies in den «Rauf-Zonen» machen. Dort galten einige feste Regeln: Es durfte kein Kind gezwungen werden, diesen Raum zu betreten. Die Teilnahme an den Rangeleien war freiwillig. Das Anfassen des Kopfes, Treten, Beißen, Spucken waren ebenso untersagt wie der Versuch, ein anderes Kind vorsätzlich zu schädigen. Zudem führte man ein «Code-Wort» ein. Auf Zuruf dieses Wortes durch die Aufsicht kamen alle Aktivitäten innerhalb der «Rauf-Zone» zum Stillstand. Mit diesem Wort konnten alle Kinder, die mit der Rangelei aufhören wollten, das Ende des Spiels signalisieren. Und über das «Code-Wort» war es möglich, den Kampfverlauf zu steuern bzw. zu ritualisieren. Verloren Kinder die Kontrolle, weil sie im Eifer der Rangelei Regeln vergaßen, war es dem «Code-Wort» möglich, sie zur Ruhe zu bringen und an die getroffenen Abmachungen zu -3 5 4 -
erinnern. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, die sich als Problem des Kollegiums und der Eltern zeigten (vertrauten diese doch nicht darauf, daß die Kinder sich an die Abmachungen hielten), spielten sich die vereinbarten Rituale und Regeln schnell ein. Dies galt insbesondere für jene Kinder, die man als «die größten Rabauken» kannte. Sie tobten sich in der Pause aus, gingen völlig aus sich heraus. Die körperbetonten Aktivitäten während der Pause hatten positive Auswirkungen auf das Unterrichtsgeschehen. Störungen, die sich im Unterricht aus angestauten körperlichen Spannungen ergaben, ließen erheblich nach. Der Wechsel aus intellektueller Anspannung während des Unterrichts und körperbetonter Entspannung in der Pause wirkte sich positiv auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis aus. Die zerstörerischen Aggressionen minimierten sich. Der Pausenbetrieb gestaltete sich nicht wesentlich leiser, nicht weniger motorisch - dafür aber ritualisiert, und er war von weniger vorsätzlich zerstörerischer Aggression gekennzeichnet. Die Kinder verinnerlichten schnell die vereinbarten Rituale, so sehr, daß einige ältere Schüler bereit waren, die Aufsicht in den «Rauf-Zonen» zu übernehmen. Indem man die Aufsicht an die Schülerinnen und Schüler abtrat, gab man ihnen Verantwortung dafür, eigenes Tun selbstbewußt und eigenständig zu gestalten. Durch die «RaufZonen» fühlten die Kinder sich als ganze Persönlichkeiten angenommen. Grenzüberschreitungen sind normal - auch Verstöße gegen die vereinbarten Regeln und Rituale. Als Konsequenz durfte die «Rauf-Zone» am folgenden Tag nicht aufgesucht werden. Diese Konsequenz zielte aber nicht auf Erniedrigung und Zurichtung des Kindes als vielmehr auf Einsicht und Überschaubarkeit: Wer über die Stränge schlug - und dies ist wörtlich zu nehmen -, mußte den raufenden Kindern von außen zusehen, war Begleitung der aufsichtführenden Person. Diese erklärte dem Kind nochmals die Regeln. Das Projekt verlief nicht frei von Widersprüchen. Es gab Proteste seitens einiger Eltern und Lehrer. Fast alle -3 5 5 -
Schwierigkeiten, die sich im Verlauf des Projekts in der Schule ergaben, wurden auf die Einführung der «Rauf-Zonen» zurückgeführt. Sie erwiesen sich als Blitzableiter, als Projektionsfläche. In sie legten Erwachsene ihre eigenen, nicht bewältigten Persönlichkeitsanteile - in diesem Fall die unbearbeiteten eigenen Aggressionen. Die Kinder empfanden das Projekt als äußerst konstruktiv, sie setzten sich dafür ein, daß man es über den vereinbarten Zeitraum hinaus verlängerte. Wohlgemerkt: «Rauf-Zonen» sind kein Patentrezept. Aber sie sind ein Dietrich, um sich zerstörerischen Aggressionen nicht hilflos auszusetzen. Sie geben Handlungsfähigkeit zurück. Es gibt andere Dietriche - z. B. die Einführung von «Ruhe- und Entspannungszonen» auf Schulhöfen -, die mit anderen Mitteln als den eben genannten erfolgreich umzusetzen sind. Aggressionen fordern heraus - man sollte diese Herausforderung mit Phantasie und Kreativität annehmen. Das gelingt um so folgenreicher, je mehr man zerstörerische Aggressionen nicht als Ausdruck eines bloßen Triebgeschehens betrachtet, vielmehr als Ausdruck problematischer Erziehungsbeziehungen oder als Hilfeschrei von Kindern, sie mitsamt aller Gefühle anzunehmen.
Recht auf Aggressionsphantasien Malte, knapp sechs Jahre, ist allein im Hause. Seine Eltern besuchen eine abendliche Diskussionsveranstaltung. Sie hatten ihrem Sohn untersagt, nach 19 Uhr fernzusehen. Malte freute sich insgeheim auf die Abwesenheit seiner Eltern, weil am Abend ein - wie er sagte - «Kriegsfilm» kam. Er hatte das einer Programmzeitschrift entnommen. Fasziniert betrachtete er dort ein Foto mit zerstörten Panzern und Flugzeugen. Seinen Eltern hatte er vorsorglich nichts gesagt, denn «die hätten das nie erlaubt. Ich darf ja nicht mal 'ne Pistole haben.» «Ich bemühe mich, ihn so gewaltfrei, so ohne Aggressionen zu erziehen», erzählte mir Maltes Mutter, Frau Baltus, später einmal, «keine Waffen, gar nichts, wenn er sich was besorgt, -3 5 6 -
nehm ich ihm das sofort weg. Das gibt zwar Krach, aber besser jetzt Krach als später die Folgen.» Herr Baltus zog «da lange Zeit mit, aber ich überleg mir jetzt, ob das wirklich so ganz richtig ist». Bedenken waren ihm gekommen, als er seinen Sohn mit einem Freund beim Wildwestspiel sah. Beide hatten sich aus Legosteinen Pistolen samt Granaten gebaut. Als der Vater in das Spiel mit den Worten platzte: «Sagt mal, ihr schießt doch nicht etwa», erwiderte Malte ganz ruhig: «Quatsch, siehst du doch. Das sind doch Sprechfunkgeräte.» «Ich denke, ihr spielt Western.» Malte: «Das ist ein ganz moderner Cowboy. Der schießt nicht. Der hat Walkie-talkies.» Der Vater sah die Gefahr, daß die starre Haltung seinen Sohn dazu bringen könnte, nicht mehr offen zu sein. «Was nützt es mir, wenn er keine Waffen anfaßt, aber dafür was unterdrückt oder lügen muß. Aber ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was richtig ist.» Frau Baltus, eine Grundschullehrerin, war damit nicht einverstanden, weil «ich doch jeden Tag die Auswirkungen solcher Gewalt auf dem Schulhof sehe». Doch zurück zu Maltes Fernsehabend. Als die Eltern aus dem Haus waren, setzte er sich vor den Fernsehapparat in Erwartung der Sendung. Er hatte sich bewaffnet: ein ganzes Arsenal von Holzklötzen, Stöcken und Legos, «alles Pistolen und Handgranaten», lagen um ihn verstreut. «Wenn's zu gefährlich wird, dann hätt ich zurückgeschossen.» Der Film begann, es war eine Dokumentation über den Widerstand in Afghanistan. Kurz vor Ende der Sendung wird die Wohnzimmertür aufgerissen. Frau Baltus stürzt hinein, sieht ihren Sohn aufrecht auf dem Sofa sitzen, in der rechten Hand seine «Stock»-Pistole, in der linken eine «Lego»-Granate: «Malte! Ich glaub, ich spinne!» Sie rennt zum Fernseher, drückt den Ausknopf. Malte: «Ich hasse dich! Ich hasse dich!» Frau Baltus geht auf Malte zu, will ihn packen: «Faß mich nicht an, sonst werf ich die Handgranate!» Malte springt auf, an der Mutter vorbei, rennt in sein Zimmer. Er schließt sich ein. -3 5 7 -
Die Eltern fangen an zu streiten: Er macht ihr Vorhaltungen, zu scharf eingegriffen zu haben; sie wirft ihm vor, das alles sei Folge seiner laschen Haltung. «Der weiß nicht mehr, woran er ist, ist doch klar. Dann macht er das, weil das die einfachste Lösung für ihn ist.» Der Streit nimmt an Lautstärke und Heftigkeit zu, als Malte ins Zimmer zurückkommt, sich vor beiden aufbaut und anmerkt: «Regt euch ab, ich werde doch Soldat!» Dann dreht er sich um, geht aus dem Zimmer. Kurzes Schweigen. Dann Frau Baltus: «Siehst du, die ganze Erziehung ist am Arsch.» Sie zürnt mit ihrem Mann, weint, liegt fast die ganze Nacht wach, beruhigt sich allmählich und entschließt sich, am nächsten Tag mit ihrem Sohn zu reden. Nach dem Mittagessen will sie ansetzen. Er, ganz cool: «Du nervst!» Frau Baltus erstarrt. Malte sieht seine Mutter fest an: «Ich werde Soldat. Das wirst du noch sehen.» Frau Baltus' Mimik ist zur Maske geworden, als Malte noch einen draufsetzt: «Krieg ist geil.» «Ich war leer», erinnert sie sich später. «Da tat sich ein Loch auf in der Erde, und ich bin darin versunken.» Malte steht auf, geht zu ihr, sieht sie kurz an, streichelt sie: «Ich hab dich gern.» Kurze Pause. «Aber ich werd' Soldat.» Die Situation stellt die Familie auf einem Seminar vor. Gemeinsam mit anderen Eltern versuchen wir eine Deutung. Die Baltus' erfahren Unterstützung, Verständnis. Andere Familien berichten von ähnlichen Diskussionen, von Wegen, die Lösungen mit sich brachten, eine entspanntere Atmosphäre im Miteinander bewirkten. «Aber», so Frau Baltus, immer noch entsetzt, «warum macht Malte das? Er sieht doch, ich gebe mir Mühe... Und dann das!» Sie schüttelt den Kopf. «Genau deshalb», wirft eine Mutter, Lea Fischer, ein. «Bei mir war's auch so. Je mehr ich verboten habe, um so schlimmer wurde alles. Es ging zum Schluß nicht nur um Pistolen. Es ging nur noch darum, wer diesen fürchterlichen Machtkampf gewinnt!» -3 5 8 -
Dann erzählt Frau Fischer ausführlich über ihre damalige häusliche Situation, über ihre Verzweiflung, ihre Ohnmachtsund Versagensgefühle - aber auch über den Weg aus der Krise, «um wieder handlungsfähig zu werden», wie sie formuliert. Viele Gespräche, die ich mit Eltern über die Aggressionswünsche ihrer Kinder geführt habe, bestätigen die Deutung von Maltes Inszenierung: Er setzt sein Spiel mit Pistolen und Bomben, seine Gewaltphantasien ein, um sich von der Friedfertigkeit, der überlegenen Moral, den Normen und Werten seiner Eltern abzugrenzen. Über seine Wünsche drückt er Eigenständigkeit aus. Während es für Malte um die Klärung von Beziehungen - «Ich will sosein, wie ich bin!» - geht, argumentiert Frau Baltus auf der Sachebene - «Man schießt nicht!» -, thematisiert gleichzeitig die Mutter-Kind-Beziehung: «Wenn du aggressiv bist, dann bist du schlecht!» Mutter und Sohn reden nicht nur aneinander vorbei, Malte fühlt sich durch die Vorwürfe seiner Mutter mißverstanden und abgelehnt. Während Frau Baltus ihren Sohn überzeugen will, wie moralisch verwerflich Waffen sind, mithin die äußere Realität anspricht, sind Maltes Aggressionen Ausdruck seiner inneren Realität, d. h. sie sind Ausdruck entwicklungsbedingter Aggressionen und Gefühle. In Krieg und Soldat-Sein konkretisiert sich sein Aggressionswunsch. Da sich Malte nicht angenommen fühlt, zwingt er seine Mutter in einen Machtkampf: «Ich bin nicht schlecht! Aber wenn du mich schlecht haben willst, bitte schön!» Seine Mutter erkennt den Machtkampf selbst dann nicht, als Malte sie mit seinen imaginären Wünschen - «Ich werd Soldat!» - hilflos macht. Mit dem Machtspiel drückt er der Mutter-Kind-Beziehung seinen Stempel auf. Und je starrer die Mutter versucht, ihm ihre Sichtweise aufzuzwingen, um so mehr gewinnt Malte Freude an der Konfrontation. Als Frau Fischer darüber berichtet, sie habe ihrem Sohn zwar keine Pistolen gekauft, aber immerhin durfte er sein «Wildwestspiel» machen, sagt Herr Baltus zu seiner Frau
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gewandt: «Siehst du! Du mit deinem oberpädagogischen Getue!» Frau Baltus war am Morgen nach Maltes Auftritt in die nahe Bibliothek gegangen, hatte sich dort bei einer befreundeten Bibliothekarin «Kinderbücher über die Grausamkeit des Krieges besorgt». Sie war nach wie vor von der Richtigkeit ihrer Maßnahmen überzeugt. «Ich wollte ihm zeigen, wohin das Schießen und die Waffen führen und was es mit dem Krieg auf sich hat. Mit so etwas spielt man nicht!» Frau Baltus senkt die Augen: Das habe einen «Mordskrach gegeben, als mein Mann diese Bücher in der Wohnung gesehen hat». Ob sie denn verrückt geworden sei, habe er geschrien: «Jetzt ist Schluß. Ich übernehme die Verantwortung. Du hältst dich da endgültig raus.» Ihr Mann sei völlig außer sich gewesen. «Ich war tödlich beleidigt. Ich habe ihn tagelang verflucht.» Und leise fügt sie hinzu: «Still und heimlich hab ich gehofft, er wird scheitern.» Herr Baltus ging zu Malte, erklärte ihm: «Ich mag nicht, wenn du schießt.» Dann habe er Regeln vereinbart: Schießspiele gab es nur im Freien und gemeinsam mit Freunden. «Ich möchte nicht, daß du auf mich zielst. Ich mag das nicht. Verstanden?» Malte habe genickt. In kürzester Zeit nahm die Faszination der Waffen ab, zumindest «war das Spiel aus unserem Blickfeld verschwunden». Spätestens da sei ihm - so Herr Baltus klargewesen, daß sein Sohn die ganze Sache mehr oder minder «bewußt vor unseren Augen inszeniert hatte. Meine Frau war aber noch nicht überzeugt. Und Malte spürte das.» Eines Morgens brachte er Pistolen mit an den Frühstückstisch, legte sie demonstrativ neben die Tasse. «Das war ein Verstoß gegen unsere Absprachen.» Frau Baltus sagte nichts: «Bloß keinen neuen Krach beginnen. Ich habe nichts gesagt. Aber ich muß wie gebannt auf die Waffe geguckt haben.» Maltes Vater schaut seinen Sohn dagegen ganz bestimmt an: «Malte!» Er reagiert nicht. -3 6 0 -
«Malte!» Die Stimme bekommt einen noch festeren Klang. «Ja?» fragt Malte so als wisse er nicht, worum es geht. «Malte! Gelbe Karte!» Die «gelbe Karte» war ein Symbol für einen Regelverstoß. «Kann ich sie liegenlassen?» will Malte mit einem Blick auf die Pistole gerichtet wissen. «Nein!» «Nun laß ihn man», greift die Mutter ein. Herr Baltus sieht seine Frau unmißverständlich an. Sie schweigt. «Malte! Du kennst die Absprache!» Seine Stimme klingt mehr als bestimmt, sie hat aber einen freundlichen Unterton. Malte steht auf, nimmt die Pistole, kommt nach kurzer Zeit wieder. «Hoffentlich geht nicht alles von vorne los!» Frau Baltus ist besorgt. «Ich denke nicht!» Malte setzt sich. «Darf ich meine Pistole mit an den Tisch nehmen?» fragt er. «Nein!» «Warum nicht?» Malte bleibt beharrlich. Herr Baltus überlegt: «Wenn Cowboys ein Lokal betreten, geben sie ihre Waffen an der Garderobe ab!» Ganz sicher war er sich nicht, ob das so war. Malte schaute seinen Vater nachdenklich an, dann nickte er: «Ist o. k., Sheriff.» Das Essen war «waffenfrei». Verbote - aber auch Ignorieren, wenn es um Provokationen geht - sind Ausdruck von Hilflosigkeit. Hinter der Faszination, die Gewaltszenarien, -bilder und -helden, die Symbole von Gewalt auf Kinder ausüben, steckt neben dem Wunsch nach Abgrenzung der nach Loslösung und Autonomie. Ohne Abgrenzung und Autonomie ist eine eigene Identität, sind Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen nicht möglich. Kindliche Aggression ist mit innerer und äußerer Bewegung verknüpft, solch dynamische Kraft dient der Ausbildung einer eigenen -3 6 1 -
Identität. Aggression als produktive Kraft will weg vom Erreichten, dient dazu, Unbekanntes bei sich und anderen zu entdecken. Eine kindliche Entwicklung ist ohne eine gekonnte Anwendung von Aggression undenkbar. Schon deshalb kann es in der Erziehung nicht um die Hemmung oder Verleumdung aggressiver Kräfte gehen, sondern darum, sie zu kontrollieren und zu kultivieren. Verdrängung, Verleugnung, Tabuisierung schaffen Aggressionen ebensowenig aus dem Alltag wie eine pädagogische Aggression, die im Namen der Moral Kinder zur Friedfertigkeit zwingen will. Eine pädagogische Aggression - wie Frau Baltus sie anwendet - verlangt von Kindern die Unterdrückung von nicht gewünschten Gefühlen, sie will den Verzicht auf das generelle Ausleben von Aggressionen. Pädagogische Aggressionen nehmen Kinder in ihren Entwicklungsbesonderheiten meist nicht an, sie übersehen die Gefühle der Kinder im Hier und Jetzt. Statt dessen geht es um die Entwicklung einer angepaßten Fassade. Wer seine - noch so gut gemeinten Ziele, so der Psychoanalytiker Schmidbauer, über die des Kindes stellt, bringt diesen bei, daß Hierarchie und Macht eingesetzt werden dürfen, um seine Ziele durchzudrücken. Sinn des Lebens ist dann nicht das Ausleben innerer Gefühle und Wünsche, die der kindlichen Entwicklung entsprechen, sondern «dieses Innere zu unterdrücken und die Erwartung auf äußere Anerkennung an seine Stelle zu setzen» (Schmidbauer). Doch viele Kinder wehren sich dagegen - Malte zeigt es -, sie fordern in einem Machtkampf eine realitätsgerechte Erziehungsbeziehung ein, eine Beziehung, die Kinder in ihrer Ganzheit annimmt.
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Kapitel 11 Symbole der Gewalt Actionfiguren
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Sie heißen He-Man, Spiderman, Turtles oder Captain Planet. Sie lösen bei Eltern, Erzieherinnen, Lehrern Unverständnis oder Ablehnung aus. Kinder, vor allem Jungen, sind dagegen fasziniert. Benjamin, sieben Jahre: «Ich hab da zwanzig Stück von. Ich spiele immer Schloß erobern. Stinkor und Skeletor wollen ins Schloß, aber He-Man läßt die nicht... Diese Geschichten, die ich spiel, da muß ich erst überlegen. Dann geht das wie von selbst... Mal bin ich der Gute, dann wieder der Böse, aber zum Schluß bin ich He-Man, weil ich gewinne und Eternia verteidige.» Ole, sieben Jahre: «Ich spiel mit Skeletor, was ich mir ausdenk. Oder auch mit He-Man. Dann hol ich mir von meiner Schwester die Barbies, und dann nimmt He-Man sein Zauberschwert, und dann peng, peng, peng, peng fallen die Barbies um, und He-Man hat gesiegt. Und meine Schwester fängt an zu schreien.» Olaf, acht Jahre: «Also, ich spiel am liebsten damit, wie HeMan im Wald ist und so allein ist, und dann kommt Hordak und seine wilde Horde und will ihm an den Kragen. Und dann muß He-Man ganz doll kämpfen, um zu gewinnen.»
Eine Inszenierung Jan-Christopher, sieben Jahre, besitzt keine He-ManFiguren, weil seine Mutter das nicht möchte. Er darf aber bei Freunden damit spielen. Tilmann, sechs Jahre, ist stolzer Besitzer einer ganzen Mannschaft, er läßt sie sich schenken von der «He-Man»-Oma, wie er sie nennt; manchmal kauft er sie sich auch selbst. Ich brauchte Figuren für eine Fortbildungsveranstaltung und bat ihn um Mithilfe. Er ging mit mir in einen Supermarkt: «Damit du Figuren einkaufst, an denen du den Lehrerinnen das meiste zeigen kannst», meinte er. Wir gingen zum Regal, das voll von «Masters»-Figuren war. Er wählte fachmännisch aus, verglich die Preise: «Kauf den Hordak nicht hier, der ist woanders
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billiger.» Bald waren wir von Kindern umringt, die Tilmann bestaunten. «Darfst du das alles kaufen?» fragte einer. «Na klar!» Der Einkaufswagen war schnell zur Hälfte voll. An der Kasse trafen wir zufällig eine Tilmann bekannte Mutter: «Hallo, guck mal.» Die Mutter lächelte Tilmann an. Als ihr Blick auf den Wageninhalt fiel, erschrak sie: «Was hast du denn da!» Tilmann schmunzelnd: »Ich mach 'ne Kindergeburtstagsparty, und dafür brauch ich die.» Als wir gingen, lachte er über seinen Scherz und die Verblüffung, die er mit seiner letzten Bemerkung ausgelöst hatte. Masters-Figuren sind Tilmann wichtig, sie nehmen Zeit und Raum seines Spiels ein - zugleich ist er vielseitig interessiert, in zahlreiche Freizeitaktivitäten einbezogen. Tilmanns Mutter findet die Figuren «nicht gut. Ich kauf ihm grundsätzlich keine.» Sie gestattet ihm den begrenzten Umgang, greift nur ein, wenn «es überhandnimmt oder er damit stört. Und er muß akzeptieren lernen, daß andere die Figur nicht leiden können. Das heißt ja nicht, daß sie ihn dann nicht mögen.» Tilmann findet die Figuren «geil, weil ich damit spielen kann». Mit den Masters-Figuren beschäftigt er sich zumeist allein, er kämpft, er inszeniert Situationen und «Schlachten». Tilmann hat mir die Figuren immer und immer wieder erklärt, hat große Nachsicht bewiesen, weil ich Schwierigkeiten hatte, die Bösen von den Guten zu unterscheiden, mir Namen und Funktionen nicht merken konnte. Ich darf beim Spiel zuschauen, ihn interviewen - nur das Mitspielen gestattet er nicht: «Dafür bist du zu alt», erklärt er mir einmal. Ich habe Tilmann häufig beim Spielen beobachtet. Das störte ihn kaum, weil er schnell in sein Spiel vertieft ist. Es herrschen - wenn auch durchaus nachvollziehbare Mißverständnisse über die Beschäftigung mit Masters-Figuren -3 6 5 -
vor: «Sie machen phantasielos!» «Sie machen gewalttätig!» «Sie fördern Unfrieden.» Deshalb sei hier eine Spielsituation kurz beschrieben. Tilmann gestaltet mit Jan-Christopher die «Schlacht um die Höhle des Schreckens». Zunächst plazieren die beiden die bösen Figuren in der Höhle. Die Höhle ist ein Stuhl. Dort wird Teela, die Mitstreiterin He-Mans, von Skeletor, Hordak und seiner bösen Horde gefangengehalten. He-Man, so besprechen es beide leise, solle dahin gehen, um seine Gefährtin zu befreien. Orko, He-Mans mit Zauberkräften ausgestatteter Gefährte, bereitet einen Spruch vor, mit dem He-Man die Bösen einschläfern kann. Tilmann (als Orko) flüstert Jan-Christopher (als He-Man) etwas ins Ohr, das ich nicht verstehen kann. Dann Örko/Tilmann: «Hast du verstanden, He-Man.» He-Man/ Jan-Christopher: «He-Man hat verstanden.» Dann ergreift Jan-Christopher Battle-Cat, He-Mans magisches Fortbewegungsmittel, eine Mischung aus Tiger, Pferd und Urtier, und greift Orko an. Tilmann/Orko: «Orko, siehst du, der ist übermütig geworden.» Battle-Cat beißt Orko. Tilmann: «Orko, Battle-Cat hat dich gebissen. Aber wir werden ihm nochmals verzeihen. Aber belästige uns nie wieder.» Battle-Cat macht mit seinem Spiel weiter. Tilmann: «He-Man, schau mal, der beleidigt mich weiter.» Und an Battle-Cat gerichtet: «Dafür schläfst du jetzt ein. Battle-Cat, schlaf ein wie reifer, weißer Wein.» Battle-Cat/Jan-Christopher schläft ein, schnarcht, träumt, schreckt auf: «Teela ist in Gefahr.» Tilmann: «Orko, er spricht, hast du verstanden, was er spricht?» Battle-Cat: «Teela ist in Gefahr.» Orko: «Battle-Cat, wach auf.» Orko macht einen Zauberspruch. Battle-Cat wacht auf. Das Spiel wird kurz unterbrochen, es folgt eine weitere Besprechung. Dann setzen sich Tilmann und Jan-Christopher als Orko und He-Man auf Battle-Cat und reiten zur Höhle. Zugleich hat ein Rollentausch stattgefunden. Jan-Christopher (als He-Man) schleicht sich in die Höhle, winkt Orko und Battle-3 6 6 -
Cat (gespielt von Tilmann) nach. Jan-Christopher: «He-Man, was ist mit dir los?» He-Man liegt wie betäubt am Boden. Tilmann: «Battle-Cat, He-Man ist eingeschlafen.» Jan-Christopher: «O Gott, was machen wir nun?» Tilmann: «Yeah, yeah...» Er murmelt einen unverständlichen Zauberspruch. He-Man erwacht. Doch dann treten die bösen Figuren auf den Plan. Zunächst agiert Tilmann mit den guten, JanChristopher mit den bösen Figuren. Dann folgt wieder ein Wechsel. Beim Kampf schlagen beide die Figuren aufeinander. Orko tritt auf, sagt einen Zauberspruch, die böse Horde fällt um, schläft ein. Tilmann (als Skeletor): «Wir müssen fliehen.» Jan-Christopher (als He-Man): «Komm Teela. Wir gehen zurück nach Eternia.» Das Spiel ist beendet.
Zur Faszination von Gewaltsymbolen Kinder fühlen die Bedeutung der Action-Figuren, sie begreifen das - im wahrsten Sinne des Wortes -, was ihnen angst macht, sie verunsichert. Action-Figuren geben kindlichen Gefühlen nicht nur Gestalt, sie zeigen offensichtlich Wege auf, mit ihnen umzugehen. Hier geht es mir nicht um eine pädagogische Begründung von kommerziell vertriebenen Phantasiefiguren! Diskussionen über deren Gefährlichkeit sind genauso verkürzt wie jene Argumentation, die eine pädagogische Nützlichkeit beweisen will. Beide Positionen stellen das Produkt in den Mittelpunkt, sie werden über, aber nicht mit dem Kind geführt. Die Faszination der Phantasiefiguren liegt - aus der Sicht von Kindern - in vielerlei Facetten begründet: Das Spiel mit den Figuren unterhält. Das Spiel ruft Bilder, Träume und Wünsche hervor. Das Spiel erzeugt Gefühle, Ängste und Unsicherheiten. Das Spiel spiegelt Sehnsüchte. Das Spiel weckt Neugier, bietet Orientierung und weist auf Lösungen hin. Das Spiel drückt innere Wirklichkeiten von Kindern aus, es deutet auf Entwicklungsschritte, ungelöste kritische Lebensereignisse oder unbewältigte Alltagserfahrungen hin. An und mit den Figuren -3 6 7 -
probiert ein Kind stellvertretend aus, was es sich (noch) nicht getraut oder wo es der äußeren Wirklichkeit (noch) nicht standhält. Was vor allem für Jungen ein Medium der spielerischen Auseinandersetzung ist, ist für Erwachsene ein Inbegriff von Gewalt, gleichbedeutend mit Klischee und Stereotyp, z. B. starke Männer, böse Dämonen. Doch was Erwachsene kritisieren, fasziniert die Kinder: Ob sie nun He-Man, Skeletor, X-Men, Captain Future, Turtles oder Shred-dar heißen Kindern ist meist klar, was oder wer damit gemeint ist: gut oder böse, mächtig oder ohnmächtig, stark oder schwach. Die Figuren sind in Gut und Böse eingeteilt, Differenzierungen gibt es nicht, Eindeutigkeit feiert Triumphe. In den vorproduzierten Welten der Action-Figuren sind Raum und Zeit aufgehoben; Magie und Mythos sind dagegen allgegenwärtig. Die Masters-Figuren zum Beispiel spiegeln unbewußt, aber doch eindringlich kindliche Alltagserfahrungen wider: Die Macht-Ohnmacht-Relation des kindlichen Alltags ist in der Verbindung von He-Man (der Gute) und Skeletor (der Böse) symbolisch dargestellt. Auch das von Kindern inszenierte Spiel weist symbolischmagische Züge auf: He-Man, das eigene übermächtige Ich, kämpft mit Skeletor, der Verkörperung des Schlechten. Wenn Tilmann, in der rechten den He-Man und in der linken Hand Skeletor haltend, beide miteinander kämpfen läßt, so streitet er unbewußt mit sich selbst. Bei diesem Kampf stirbt niemand, keiner wird verletzt. Der Kampf ist Ritualen unterworfen, er gibt Tilmanns innere Realität wider. Das Böse siegt nicht. Denn die geheime Botschaft des Spiels lautet: «Auch wenn ich manchmal böse bin, so bin ich trotzdem o. k.» Oder: «Auch wenn die Eltern mal böse sind, mag ich sie dennoch.» Das Spiel stellt eine Möglichkeit dar, sich mit seinen ganzen Persönlichkeitsanteilen - den guten wie den bösen anzunehmen. Das Kind wiederholt in seinem Spiel mit den Masters-Figuren Gewalterfahrungen, es durchlebt Gefühle von -3 6 8 -
Rache und Vergeltung. Aber: Im Spiel kann es Zerstörung, kann es Vernichtung ungeschehen machen. Tilmann hebt den am Boden liegenden Skeletor, ja die ganze Armee der Bösen auf, gibt ihnen erneut Gelegenheit, sich mit He-Man auseinanderzusetzen. Aggression dient in diesen Momenten nicht der Vernichtung, sondern der Selbständigkeit, Selbstbehauptung und Autonomie. Und wenn Tilmann mir erklärt, ich dürfe deshalb nicht mitspielen, weil ich zu groß sei, so weist er - unbewußt - darauf hin, daß Erwachsene andere, reifere Formen besitzen (sollten), um Aggression und Autonomie auszudrücken. Diese müssen Kinder erst noch erlernen.
Bedeutung von Klischees «Aber», so wirft ein Vater auf einem Familienseminar ein, «das Schwarzweißdenken verführt Kinder doch. Ich denke, ich muß nicht so erziehen, wie ich erzogen worden bin. Differenzierung ist wichtig, von klein auf. Nur dann lernen es die Kinder. Denn was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.» Er erntet mit dieser Feststellung breite Zustimmung. Kinder müssen allmählich lernen, polare Denkweisen und Beurteilungen aufzugeben, die guten wie bösen Anteile in sich zu akzeptieren. Dies vollzieht sich in einem Entwicklungsprozeß. Wer das von Vorschul- und jüngeren Grundschulkindern rückhaltlos und ohne jede Einschränkung fordert, der überfordert sie, hemmt sie möglicherweise in ihrer Entwicklung. Zunächst erleichtern es polare Gestaltungen und Dramaturgien (z. B. Gut und Böse, Stark und Schwach) dem jüngeren Kind, Unterschiede zu erfassen. Ein Sich-Einlassen auf polare Figuren - ob in Märchen, Buch oder Film - muß Kinder moralisch keineswegs verwirren - wie auch, entspricht Polarität doch ihrer Weltsicht. Bei der Beurteilung durch die Erwachsenen zeigt sich, wie wenig Kinder manchmal in ihrem Hier und Jetzt angenommen werden, wie kindliches Verhalten -3 6 9 -
nur unter zukünftigen Gesichtspunkten - «Ich möchte nicht, daß mein Kind böse wird.» - beurteilt wird. Kinder sollen wie kleine Erwachsene handeln und differenziert beurteilen können. Kinder identifizieren sich mit «guten» Figuren nicht deshalb, weil sie «gut» sind, sondern weil sie von Kindern als «gut» gedeutet werden. Kinder erfahren, erleben und nehmen die Welt subjektiv wahr. Antworten auf Kinder bedrängende Fragen sind für sie nur dann überzeugend, wenn diese im Rahmen ihres Wissens, ihrer Gefühle ablaufen. Je reifer ein Kind wird, um so weniger hält es sich an infantilen Problemlösungen fest; je jünger es ist, um so wichtiger ist magisches Denken; je unsicherer Kinder sind, um so bedeutender sind zunächst mythische Mächte. He-Man und Konsorten helfen - in Ermangelung möglicher realer und personaler Alternativen. Dies ist den Kindern, die mit den Figuren spielen, nicht bewußt, gleichwohl gilt das Unbewußte als eine - so der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim - «mächtige Determinante» im kindlichen Verhalten. Solange unbewußte Phantasien, Träume und Wünsche in einem Spiel bearbeitet werden können, so lange können Eltern jene Zeichen deuten, die die Kinder setzen und die für sie momentan wichtig sind. Nicht nur die Action-Figuren beweisen: Eltern lassen gewalttätige Phantasien, Wut, Zorn, Chaos und Ängste nur selten zu. Sie gestatten ihren Kindern die angenehmen Phantasien, die «schönen» Figuren: «Warum können Kinder von heute nicht mehr mit ihrem Teddy spielen?» Erwachsene verdrängen häufig kindliche Aggressionen, das Unsoziale, das Egoistische ihrer Kinder. Der Umgang mit den Figuren kann - wie gesagt - Symbol für einen normalen Reifeschritt sein. Und zugleich gibt er vielleicht Hinweise auf Entwicklungsstörungen. Tilmann erfährt die Unterstützung seiner Umwelt. Noch braucht er die Magie, den Mythos, um seine ganz persönlichen Konflikte zu bewältigen. Aber er hat daneben weitere Formen der Weltdurchdringung gefunden, weiß er sich doch mit seinen negativen
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Persönlichkeitsanteilen von Eltern und Geschwistern angenommen. Andreas, zehn Jahre, macht andere Erfahrungen mit ActionFiguren. Er besitzt eine Vielzahl, die er mit in die Schule nimmt, auf seinem Tisch aufbaut, um sich herum aufstellt, damit sie ihn «schützen». Seit nahezu zwei Jahren haben die Figuren große Bedeutung für ihn, ersetzen sie andere Spiel- und Freizeitaktivitäten, kompensieren sie emotionale Leere. Andreas lebt in und mit den Figuren. Die Eltern sind verzweifelt, lassen ihm die Figuren, weil, so die Mutter, «ihm das wohl hilft». Sie machen ihm die unbewußte Funktion seines Spiels klar, klären ihn auf, was er «eigentlich spielt». «Wir haben ihm gesagt, was los ist. Daß wir Bescheid wissen, was er da macht.» Andreas wurde von klein auf sehr realistisch erzogen. Märchen- und Phantasiefiguren gab es nicht, aufkeimende Aggressionen wurden schnell unterdrückt, Ängste rationalisiert oder in Psychospiele überführt. An Andreas' Spiel mit MastersFiguren fällt ein ganz begrenztes, eingeengtes Handlungsrepertoire auf. Sein Vater: «Ist doch klar, bei diesen Figuren.» Entweder trägt He-Man seinen Kampf mit dem Bösen aus, oder er läßt He-Man Abenteuergeschichtcn erfinden, die keinen Anfang und kein Ende haben. Andreas lebt in einer schier unendlichen Phantasiewelt. Der frühe Realismus in seiner Erziehung hat möglicherweise dazu geführt, daß die Eltern Gefühle und die inneren Bilder ihres Sohnes nicht anzunehmen vermochten. Haben Kinder wie Andreas keine Möglichkeiten, in Phantasie- und Traumwelten abzutauchen, um sich dort mit allen Gefühls- und Triebregungen zu konfrontieren, kann das lebenszeitlich später zu Fluchten in Phantasie weiten führen. Dann holt das Kind unter erschwerten Bedingungen das nach, was die frühe Kindheit nicht zuließ. Und das Unbewußte gewinnt möglicherweise die Überhand. Sogar ein Bruch mit der Wirklichkeit ist vorstellbar. Kinder funktionieren nicht wie Erwachsene, die für sich mit Magie und Mythos abgeschlossen haben oder es zumindest -3 7 1 -
meinen. Kinder erwarten noch von Magie und Mythos Hilfe. Das Spiel mit He-Man und Skeletor beispielsweise stellt eine eigenständige Inszenierung von Gut und Böse dar, die sich unendliche Male und über einen langen Zeitraum wiederholen kann. Kinder lernen zunächst über Symbole, bildhafte Vorstellungen. Ängste, Wünsche und Phantasien nehmen reale Gestalt an. Später müssen allerdings andere Formen der Weltdurchdringung und -aneignung hinzukommen. Gewalt- und Rachephantasien, Vergeltungswünsche und Ängste, die an und mit den Figuren ausgelebt werden, sind keine direkte Vorbereitung für spätere Taten. Wer aus den Spielen mit HeMan und X-Men auf zukünftige Weltraum kriege schließt, vereinfacht nicht nur, er nimmt Kinder nicht ernst, verkennt die Symbolik des Spiels.
Verbot oder Duldung Auf einem Elternabend im Kindergarten mit dem Thema Masters-Figuren geht es hoch her. Die Meinungen prallen unverhüllt aufeinander, wobei diejenigen, die die Figuren tolerieren, immer schweigsamer werden. Als ich auf die Bedeutung der Figuren zu sprechen komme, unterbricht mich ein Vater lautstark: «Das habe ich mir gedacht, Sie sind dafür. Wahrscheinlich haben Sie das hier» - er deutet auf einen Firmenkatalog - «auch geschrieben, in dem Sie auf das pädagogisch Wertvolle der Figuren hinweisen. Es ist unglaublich!» Er wendet sich an die Leiterin des Kindergartens: «Wie können Sie solch einen Industrievertreter einladen?» Man muß nicht für Action-Spielzeug a la Masters sein, um die problematischen Töne in der Diskussion zu hören und zu kritisieren. Auch mir gefällt manche Figur, manche Spielform nicht, auch ich habe Probleme mit der Technifizierung und Verherrlichung von Gewalt. Aber die Ausgrenzung der Figuren löst keine Probleme. Verbot und Tabuisierung treffen nur die Kinder, nicht aber die Produzenten. Gewaltphantasien, Zerstörungswünsche sind -3 7 2 -
nicht durch Verleugnung oder Verdrängung aus der Welt zu schaffen, die zerstörerischen Folgen von Aggression - so der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer - sind nur durch andauernde gemeinsame Bemühungen zu mildern. «Also kaufen wir unseren Kindern He-Man-Figuren, soviel wie möglich und alles wird gut?» meint der schon zitierte Vater sarkastisch. Wenn die Action-Figuren den Kindern Lösungen anbieten und Gefühle ansprechen, die ein Kind versteht, muß es erstaunen, daß Eltern und Pädagogen zwischen einer Entweder-(für die Masters) Oder-(gegen die Masters)Haltung schwanken. Wichtig ist, was die Eltern mit den Spielphantasien machen, die hinter den Figuren stehen: Bedeutsam ist, ob die Kinder sich mit ihren Phantasien von den Eltern angenommen fühlen. «Also», fragt eine Mutter, «soll ich die Figuren nun kaufen, wenn mein Sohn das wünscht?» «Nein», antworte ich. «Spielen Sie mit ihrem Sohn He-Man oder Turtles. Verkleiden Sie sich, toben Sie, rangeln Sie, lassen Sie sich auf die Regeln und Rituale ein, die Ihr Sohn wünscht. Das spart nicht nur Geld, Sie zeigen Ihrem Sohn, daß Sie Zeit für ihn haben und auch mit seinen Aggressionsphantasien umgehen können.» «Und wenn er dann solche Spiele nur noch will?» Sie bleibt hartnäckig. «Dann setzen Sie zeitliche und räumliche Grenzen. Verständnis für ein Kind bedeutet ja nicht, sich seinen Wünschen selbstlos unterzuordnen.» «Aber», hakt ein Vater nach, «wenn mein Sohn sein Taschengeld für diese Figuren ausgeben will?» Ich lächle. «Wenn Sie vereinbart haben, daß er mit dem Geld kaufen kann, was er will, dann kann er sich auch die Figuren kaufen!» «So war's bei meinem Sohn auch», ergänzt eine Mutter. «Er hat sich die Turtles vom Munde abgespart, und als er dann eine Figur hatte, lag sie nach drei Wochen in der Ecke rum!»
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Wer Kindern den Umgang mit den Figuren gestattet - was Eingriffe und Begrenzungen des Spiels durchaus einschließt oder den Kauf dieser Figuren keineswegs nach sich ziehen muß -, wer versucht, die Phantasien, die in diesen Figuren gebunden sind, in andere und unmittelbare Spielformen zu überführen, der trägt dazu bei, daß die Faszination dieses Spielzeugs abnimmt. Denn: Je weniger sich Kinder verstanden fühlen, je mehr Tabus auf den Figuren lasten, umso eher gerät die Auseinandersetzung um das «Action-Spielzeug» zu einem Machtkampf, der weder den Eltern noch den Kindern hilft. «Woran erkenne ich aber», so die sorgenvolle Anmerkung eines Vaters, «ob solche Figuren nicht doch schädlich oder problematisch für meine Kinder sind?» Wichtig ist, ob Kinder eingebunden sind in eine vertraute Familienatmosphäre, ob sie gefühlsmäßige Unterstützung und Nähe erfahren. Jan-Christopher und Tillmann bekommen dies. Sie mögen zwar die Actionfiguren, wichtiger sind ihnen aber die Kontakte zu Eltern, Geschwistern und anderen Bezugspersonen. Dort fühlen sie sich angenommen. Wenn wie bei Andreas keine Möglichkeit besteht, Aggressionsphantasien anders auszudrücken als über Actionfiguren, dann besteht die Gefahr einer gefühlsmäßig starken Bindung an diese Figuren, dann können Probleme bei der Ausbildung einer Ich-Identität, eines Selbstwertgefühls nicht ausgeschlossen werden.
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Kapitel 12 Über den Umgang mit Kraftausdrücken
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Versuch und Irrtum Felix, viereinhalb Jahre, kommt aus dem Kindergarten nach Hause, geht mit einem fröhlichen Lächeln ins Wohnzimmer, sieht seine Mutter an, stellt dann kurz und trocken, aber freundlich lächelnd fest: «Hallo! Du Ficksau!» Die Mutter schluckt, das Kinn fällt herunter. Ein klassischer Knockout. Nach mehreren Schrecksekunden nimmt sie ihren Sohn bei der Hand, schaut ihn fest an: «Felix, so etwas sagt man nicht!» Felix ist nun seinerseits irritiert, er zuckt unmerklich mit den Schultern, dreht sich um und mit den Worten: «Ficksau sagt man nicht!» läßt er eine verstörte Mutter zurück. Sie hört ihn auch später mit dem Spruch: «Felix, Ficksau sagt man nicht!» mal laut, mal leise, mal fast singend, mal den Satz eher lang hinziehend - durch das Haus toben. Beim Mittagessen faßt die Mutter Mut, und es entspinnt sich wie sie mir danach berichtet - folgender Dialog: «Du, Felix, das ist ein schmutziges Wort, was du da immer sagst!» «Was für ein Wort?» «Das, was du da ständig sagst! Woher hast du das denn überhaupt? » «Aus 'm Kindergarten. Sagt Alex auch!» Die Mutter ist entrüstet: «Da ruf ich sofort morgen an.» Und mehr zu sich, nach innen gekehrt: «Da gibt man sich Mühe und dann so etwas!» «Warum ist Ficksau ein so komisches Wort?» Die Mutter setzt an: «Ja, weißt du...» «Warum ?» Die Mutter überlegt, ihr fehlen die Worte. Felix lacht: «Warum ist Fischsau ein komisches Wort?» Er lacht stärker: «Fischsau... Saufisch...» Es bricht aus ihm heraus: «Saufisch. Fischsau. Saufick.» Er kann sich kaum vor Lachen halten: «Saufick!» «Felix!» Die Stimme der Mutter bekommt einen scharfen Klang. -3 7 6 -
«Hör sofort auf damit. Hörst du!» Sie sieht ihn an. Er dagegen scheint gelassen: «Warum?» «Ich hab's dir gesagt: Das sagt man nicht!» «Sagt Papa aber auch...!» Die Stimme der Mutter wird schrill, sie überschlägt sich fast: «Was sagt Papa?» «Na, so schlimme Wörter.» Er überlegt: «Arschloch! Verpiß dich! Und so!» Die Mutter wirkt fast erleichtert, aber innerlich bebt sie: «Aber nicht... Das nicht. Hörst du!» Felix bohrt weiter, er spürt, wie sich die Mutter windet: «Was ist mit Ficksau?» «Das ist ein schlimmes Wort!» «Warum?» Sie sucht nach Erklärungen, findet keine passenden Worte. Später erzählt sie mir auf einer Bildungsveranstaltung, sie wolle Felix «das mit der..., Sie wissen schon... Ich wollte ihm erklären, daß mich das verletzt hat.» «Und warum haben Sie das nicht gesagt?» «Ich wollte Einsicht bei Felix wecken und es besonders gut machen. Er sollte es verstehen, daß man damit jemanden verletzt. Deshalb meine langen Erklärungen.» Sie denkt nach: «Die Situation war verflixt verfahren. Felix hat meine Unsicherheit gespürt.» «Und wie ging es weiter», will ich wissen. «Irgendwann hat er gemeint: ‹Ist schon gut, Mama, Ficksau sagt man nicht.› Dann ging er aus dem Zimmer, leise den Satz vor sich hin murmelnd... und mich hat er völlig ratlos zurückgelassen.» Kraftausdrücke faszinieren Kinder, mit ihnen und über sie testen Kinder Grenzen, die Gültigkeit von Normen und Werten aus. In Kraftausdrücken, in Schimpfworten spiegeln sich nicht selten das Unmoralische und das Anarchische kindlicher Phantasien. Und dies ist - gemessen an der kindlichen -3 7 7 -
Entwicklung - als normal zu bezeichnen. Über Wortspiele, über den Klang von Wörtern drücken sich kleinere und größere Kinder aus, sie geben ihren inneren Bildern, ihren Versuchen, sich zu finden, eine Form. Die Bedeutung von Kraftausdrücken, von Schimpfworten und Verballhornungen erschließt sich Kindern, wenn sie sie in verschiedenen Zusammenhängen benutzen und die Reaktion ihrer Umgebung erleben. Kleinere Kinder nehmen Sprachwitze, Sprachspiele, das Ordinäre und das Gemeine der Sprache, aber auch verbale Aggressionen überall wahr - und da der Kindergarten zum Tagesablauf vieler Kinder gehört, eben auch dort. Hier hören sie die entsprechenden Ausdrücke, erfahren durch Beobachtung deren Wirkung, sie kennen aber nicht immer deren wirkliche Bedeutung, sind es doch meist ältere Kinder, die eine Art Vorreiterrolle annehmen. Begreifen geht über Greifen - dieser Grundsatz gilt auch, wenn es darum geht, die Bedeutung von Sprache auszutesten, ihren Gehalt möglichst konkret zu erfahren. Jüngere Kinder übernehmen - nicht: imitieren! - die aufgeschnappten Worte, stellen sie in einen ihnen vertrauten, deshalb meist familiären oder geschwisterlichen Zusammenhang und beobachten die Wirkung ihrer Worte: Je heftiger die Reaktionen der Erwachsenen, um so mehr ahnen Kinder, einen «Volltreffer» gelandet zu haben. Und jedes Kind wird versuchen, diesen «Volltreffer» zu wiederholen. Wenn die Eltern ausgetestet sind und resigniert in den Seilen hängen, erscheint Oma an der Haustür, die mit einem zärtlichen «Tag, du liebes Arschloch» begrüßt wird. Und sollte die großmütterliche Kinnlade ebenfalls herunterklappen, macht das Kind weiter - so lange jedenfalls, bis Grenzen gesetzt werden, die für das Kind begreiflich sind. Zurück zur eingangs geschilderten Situation. Felix' Mutter hat einige Aspekte übersehen, die es ihr erleichtert hätten, mit den Schimpfworten ihres Sohnes gekonnter umzugehen: - Hört man als Erwachsener einen bestimmten Kraftausdruck das erste oder zweite Mal, überhört man ihn am besten. Ganz im Sinne des Modell-Lernens kann dies aufseiten des Kindes zur Überlegung führen: Was woanders gewirkt hat, kommt bei -3 7 8 -
meinen Eltern oder zu Hause offensichtlich nicht an. Sie sollten auch nicht fragen: «Woher hast du das?»; damit bringen sie Kinder schnell in eine Verteidigungsposition und dazu, anderen die Schuld zu geben. - Hat das Überhören keinen Erfolg, sollten Sie handeln. Wer auch dann ignoriert, wenn das Kind seine Ausdrücke weiter verwendet, sie womöglich intensiviert, erreicht genau das Gegenteil. Das Kind muß geradezu mit seinen Regelverletzungen fortfahren, bis der scheinbar gleichgültige Erwachsene endlich reagiert und Grenzen setzt. - Von erheblicher Bedeutung ist die Art und Weise, wie man solche Grenzen artikuliert. Indem Felix' Mutter auf der «Man»Ebene argumentiert, bietet sie ihrem Sohn die Gelegenheit, eigene Erfahrungen und Beobachtungen ins Spiel zu bringen: «Papa macht das auch!» Angemessener und für Felix begreiflicher, weil nachvollziehbar wäre ein Satz gewesen wie: «Ich möchte/will das nicht hören!» Oder: «Ich bin keine Ficksau!» Auf Felix' mögliche «Warum»-Frage brauchen keine langatmigen Erklärungen zu folgen. Das Kind wünscht eindeutige und kurze Antworten, in denen sich die Haltung des Erwachsenen authentisch artikuliert. Felix' Mutter fühlt sich verletzt, also muß sie diesen Gefühlen auch Ausdruck verleihen und darf sie nicht durch «verkopfte» Antworten rationalisieren. Eine Antwort wie: «Felix, ich fühle mich verletzt!» oder: «Ficksau verletzt mich! Ich mag das Wort nicht!» ist dann ausreichend, wenn das Kind das Wahrhaftige der Antwort spürt. «Und wenn Felix immer noch auf einem ‹Warum› besteht?» fragt Felix' Mutter. «Dann geben Sie zwei oder dreimal Ihre Antwort. Und dies fest und ganz freundlich. Mehr aber nicht.» Umständliche Erklärungen überfordern Kinder. Sie orientieren sich in der Regel mehr an der Unsicherheit und den Bedürfnissen der Erwachsenen - «Ich kann dieses schreckliche Wort nicht aussprechen»; «Ich will eine gute Mutter sein! Und gute Mütter erklären!» - als an den Vorstellungen und Erfahrungen der Kinder. - Wichtig ist schließlich: Felix wird bezüglich seiner Wortwahl, nicht jedoch als Person - etwa «Du bist böse, weil du das sagst!»; «Du bist frech, wenn du das -3 7 9 -
sagst!» - kritisiert. Felix muß das Gefühl erfahren, alle Persönlichkeitsanteile, eben auch die grenzüberschreitenden, austesten zu dürfen. Dann kann er es aushalten, wenn er Grenzen spürt und Konsequenzen erfährt.
Vom Spiel mit Ausnahmen Eine weitere Möglichkeit, mit Schimpfworten umzugehen, sie für Kinder erfahrbar zu machen und sie zugleich zu begrenzen, ist die Einführung von klar definierten und ritualisierten Ausnahmen. In einer Kindertagesstätte entwickelte sich ein beliebtes Spiel, das die Kinder erfreute, die Erzieherinnen jedoch auf «die Palme brachte». Die ältesten Kinder, fast alle knapp sechs Jahre alt und kurz vor der Einschulung stehend, warfen «mit den häßlichsten Worten so um sich», wie Gerda Albert, die Leiterin, beobachtete. Nicht das Kindergartenteam sei Zielscheibe der sprachlichen Aggressionen, sondern die Kinder, «vor allem die kleineren. Aber auch die», so Frau Leber, hätten es schnell gelernt, sich zu behaupten: «Die schreien jetzt zurück. Zwar nicht ganz so schlimm... Aber immerhin.» Es ginge «wahnsinnig zu», meint sie. «Vor allem, ich bin jetzt hilflos. Grenzen helfen nicht. Je mehr wir eingreifen, um so heftiger geht's hinter unserem Rücken weiter. Ich weiß, Verbote machen neugierig. Das Tollste ist», sie schüttelt den Kopf, «wenn wir Erzieherinnen dabeistehen, sagt der eine: ‹Du Arschloch›, nicht laut, nicht mal leise, der bewegt nur die Lippen, beim ‹Arsch› geht der Mund weit auf, beim ‹loch› bleibt er fast geschlossen. Und dann erwidert der andere: ‹Pißnelke!› auch unhörbar. Der hat nur die Lippen bewegt. ‹Sei ruhig›, habe ich verzweifelt gemeint. Und da sagen die Kinder doch glatt: ‹Wir sagen doch gar nichts!› Stimmte ja auch, die haben ja auch nichts gesagt. Die haben mit unserer... nein, mit meiner Verzweiflung gespielt.» Da sich die Kinder von ihren Erzieherinnen mit der «Fäkalsprache» nicht angenommen fühlten und deren Reaktionen als unangemessen empfanden, traten sie in einen -3 8 0 -
Machtkampf ein. Ich machte Gerda Albert den Vorschlag, die komplizierte Situation durch ein Ritual zu entschärfen. «Machen Sie ein Spiel mit Schweineworten», riet ich ihr. «Legen Sie eine Zeit fest, einen Raum. Dann können Kinder alles ausdrücken, was sie wollen. In der übrigen Zeit sind die Kraftausdrücke allerdings untersagt.» «Aber macht das nicht erst richtig aggressiv? Werden nicht auch die Kinder animiert, die jetzt still sind?» fragte sie ängstlich. «Dann vereinbaren Sie eine freiwillige Teilnahme an diesem Spiel!» «Und wenn einige Kinder außerhalb dieser Zeit immer noch diese Worte sagen?» will sie es genau wissen. «Dieses Kind möchte Sie möglicherweise provozieren, steht mit Ihnen in einem Machtkampf. Diesem Kind geht es dann nicht um die Kraftausdrücke. Diesem Kind geht es um Beziehung, die es über seine Schimpfworte bekommt. Hier sind andere Fragen notwendig: Welchen Sinn hat die Störung? Oder: Habe ich das Kind eine Zeitlang übersehen? Oder: Wie kann das Kind durch positive Aktionen meine Aufmerksamkeit gewinnen?» Gerda Albert redet mit den Kindern, bringt die Idee einer «Schweinewortzeit» ein, macht aber gleichzeitig deutlich: Die übrige Zeit sei dann «schweinewortfrei». Dies gelte insbesondere für die Essenssituation und den Stuhlkreis. Während sie dies sagt, schaut sie alle Kinder der Reihe nach und mit festem Blick an. Alle Kinder sind - sehr zur Verwunderung des Teams - einverstanden. Man verabredet eine Zeit: am Vormittag gegen zehn Uhr, ein Zeitlimit: fünfzehn Minuten und eine - wie die Kinder sie nennen «Schweineecke». Die Leiterin stellt zu Beginn des Rituals ein rosarotes Plastikschwein auf, gibt das Startzeichen. Das Spiel geht los. «Die kannten gar nicht so viel Worte, wie ich befürchtete. Gut, ‹Arschloch› kam, ‹Kacker›, ‹Pisser›, ‹blöde Kuh...›, aber nach kurzer Zeit war's ein Spiel mit Worten: ‹Kacker..., Kackarsch..., Kackwurst..., Wurstkacke..., -3 8 1 -
Wurstknacke..., Knackheini..., Heidelbeere..., Schneidelbeere...›, so ging es weiter, bis die Zeit um war. Die Kinder hatten großen Spaß. Sie lachten, schrien sich an, freuten sich. Nach einer Viertelstunde, meistens schon vorher, ging ihnen die Luft aus. Die waren richtig erschöpft.» Von ein paar ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, hörten die Auseinandersetzungen um die Schimpfworte auf. «Da reichte es, wenn mal einem Kind wieder der Gaul durchging, zu sagen, nachher geht's in der Ecke weiter. Es war einverstanden. »Mit diesem Ritual konnten die Kinder ihren Dampf ablassen. Grenzüberschreitungen mittels Sprache sind Versuche der Orientierung, der Reibung an bestehenden Normen und Werten. Grenzüberschreitungen sind aus der Sicht von Kindern häufig spielerisch-lustvolle Schritte, aus der Perspektive der Erwachsenen bedeuten sie Streß. Die Einführung von ritualisierten Ausnahmen im Spiel verspricht aber Lösungen: Sie signalisieren dem Kind Verständnis für grenzüberschreitende Aktionen: «Du bist o. k. Auch wenn du das sagst», bedeutet die Annahme jener Anteile einer Persönlichkeit, mit der Erwachsene ihre Schwierigkeiten haben. Aber diese Schwierigkeiten beziehen sich auf den kritisierten Sachverhalt, eben die Kraftausdrücke, nicht auf die Person. So kann eine Erziehungsbeziehung hergestellt werden, die Belastungen aushält. - Verständnis für eine Sache darf nicht mit deren Akzeptanz verwechselt werden. Dies können Kinder erfahren und aushalten. Die Einführung der spielerischen Ausnahme zeigt den Kindern Grenzen auf, weist auf Normen hin, die den Erwachsenen wichtig sind. Solche Grenzen vermitteln Werte, auf deren Einhaltung Erwachsene mit Festigkeit bestehen können. Man kann die Kraftausdrücke der Kinder auf der Basis ihrer Entwicklung verstehen, akzeptiert sie aber trotzdem nicht. Wer Akzeptanz mit Verständnis verwechselt, der übersieht, daß
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eine Freiheit ohne lebendige Rituale zur Unfreiheit oder ins Chaos führt. - Ausnahmen bedeuten Schritte einer Suchbewegung, sie zeigen, daß Achtung und Respekt nur auf der Grundlage gegenseitigen Bemühens möglich sind. Ausnahmen nehmen auf die Bedürfnisse und Wünsche aller am erzieherischen Prozeß Beteiligten Rücksicht. - Wer Ausnahmen zuläßt, kann mit Grenzüberschreitungen spielerisch umgehen. Sie bauen auf der Überlegung auf, daß man Veränderungen im Handeln als Weg versteht, bei dem jeder Schritt ein Ziel, eine neue Grenze darstellt. Ausnahmen sind kein Patentrezept, sie bedeuten nicht, daß das gelöste Problem nicht doch irgendwann - wenn auch unter anderen Vorzeichen - wieder auftaucht. Aber dann hat man mit dem «Ausnahme-Spiel» einen Dietrich zur Hand, der auch für die neue Situation benutzt werden kann.
Sprache als Terror Kraftausdrücke können - in Form einer sprachlichen Erniedrigung - in vielen Situationen die Erziehungsbeziehung von Eltern und Kindern nachhaltig berühren und verletzen. Werden diese Beleidigungen und die damit einhergehenden Machtkämpfe ignoriert, führt das zu Hilflosigkeit, Haß und Zerstörungswünschcn bei allen Beteiligten. Eine Mutter erzählt auf einer Elternveranstaltung: «Meine Tochter ist schlimm.» Nina ist zehn Jahre, besucht die letzte Klasse einer Grundschule. «Sie ist», wie der Vater ergänzt, «ein Wunschkind: Wir tun alles für unsere Tochter, sind immer für sie da.» - «Was ist schlimm an Ihrer Tochter?» will ich wissen. Die Mutter klagt: «Es wird immer schlimmer, von Tag zu Tag. Sie macht mit uns, was sie will.» Der Mann ergänzt: «Gestern hat sie mich geschlagen... Aus heiterem Himmel. Ins Gesicht. Hier sehen Sie.» Er weist auf einen blauen Fleck am Hals hin. Die Mutter erklärt: «Nur weil er nicht mit ihr spielen wollte... zack, zack...!» Er macht den Schlag der Tochter nach, «... und schon sitzt es im Gesicht.» - «Und was machen Sie?» «Wir beruhigen sie dann, reden mit ihr... und so...», meint der -3 8 3 -
Vater. Ich stelle fest: «Nina behandelt Sie wie ein Stück Dreck!» Der Vater ganz spontan: «Wie den letzten Dreck.» Und dann erzählt die Mutter, angefangen habe es vor einigen Jahren mit Worten wie: «Komm her, du Arschloch» oder «Gibt's endlich Essen, du blöde Kuh.» «Wie haben Sie reagiert?» «Ich war freundlich, hab's überhört. Ich dachte, das sei eine Phase, die vorübergeht.» Die Mutter wirkt nun sehr nachdenklich: «Dann meinte ich, meine Tochter müsse diese Phase irgendwie ausleben. Ich konnte das früher nicht. Na ja, dachte ich, so sind die Kinder eben heute.» Manche Eltern, Erzieherinnen und Lehrerinnen sind besorgt und unsicher über die - ihrer Meinung nach - zunehmende sprachliche, aber natürlich auch personale Gewalt gegenüber anderen. Da ist viel von fehlendem Respekt und fehlender Achtung die Rede. Die geschilderte Situation weist auf weitere Gesichtspunkte im Umgang mit verbalen Grenzüberschreitungen hin: - Grenzüberschreitungen dienen manchmal dazu, unklare Erziehungsbeziehungen zu thematisieren. Kinder prüfen durch Versuch und Irrtum, wie weit sie gehen können, wann die Grenze der Belastbarkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen erreicht ist. - Wenn über verbale Aggressionen die Erziehungsbeziehung berührt wird, dann muß man sofort handeln. Wer persönliche Beleidigungen hinnimmt, verstärkt diese. Ignorieren, Überhören mögen beim spielerischen Umgang mit Grenzüberschreitungen - wie bei Felix - ein Mittel im pädagogischen Prozeß darstellen. Bei entwürdigenden Beleidigungen werden sie als Gleichgültigkeit gedeutet, als Aufforderung weiterzumachen. - Aus lerntheoretischen Untersuchungen ist bekannt, daß die Bereitschaft, andere Menschen zu verletzen, zu zerstören und zu töten, dann gegeben ist, wenn das Opfer vor der Tat entwürdigt wird. Wenn Erziehende ihrer Ent-Würdigung im pädagogischen Prozeß nicht Einhalt gebieten, dieser nicht sofort begegnen, -3 8 4 -
tragen sie - sicher ungewollt - zu einer Verstärkung der Aggressionen gegen Sachen und Personen bei. Sie erleichtern es Kindern, Zerstörungswut - egal ob in Wort oder Tat ungehemmt auszuleben, und leisten damit ungewollt einen Beitrag zur Mißachtung der eigenen Person.
Überraschende Lösungsversuche Nun helfen die vorgestellten Techniken nicht immer. Manchmal sind die Situationen, die Sachlage, die Eltern-KindBeziehung zu kompliziert, um klare Grenzen zu ziehen. Hier ist die Intuition, der überraschende Einfall gefragt, der Kinder als Person gefühlsmäßig annimmt, ihnen in der Sache jedoch eine klare, nachvollziehbare Grenze setzt. Kinder brauchen solch eine Grenzziehung nicht in allen Einzelheiten zu verstehen, durch Haltung, Mimik, Gestik, Stimmklang und Wortwahl des Erwachsenen können sie erfühlen, welche Grenze sie überschritten haben. Svenja Härtung, eine junge Grundschullehrerin, hat seit einiger Zeit Ärger mit ihrer dritten Grundschulklasse. Schimpfworte machen die Runde, gegenseitige verbale Beleidigungen und Verleumdungen sind zu hören. Einzelgespräche führen zu keinem wirklichen Erfolg - mal sind die Verbalattacken eine Zeitlang verstummt, dann sind sie um so lauter zu hören. Svenja Härtung ringt sich zu einem «Schweinewort»-Spiel durch, das im Anschluß an den Schulunterricht auf freiwilliger Basis durchgeführt wird. Viele Schüler nehmen daran teil, Mädchen sind nur wenige vertreten. Gleichwohl führt das Angebot dazu, «die Luft rauszunehmen aus der Sache». «Ich gewann den Eindruck, meine Klasse fühlte sich angenommen.» Nur Michael, fast zehn Jahre, drückte der Situation seinen ganz eigenen, von der Lehrerin nicht erwarteten Stempel auf. Als sie eines Tages - kurz nach einem «Schweinewort»-Spiel - die Klasse betrat, vermeinte sie, Michaels leise Stimme zu hören: «Fickerin!» Nein, unmöglich, befand sie, der «kleine süße Michael, ein Schlitzohr», der auch beim Spiel mit -3 8 5 -
Kraftausdrücken ein Erfinder skurrilster Worte war, nein, Michael und diese Worte, das konnte sie sich nicht vorstellen! In den nächsten Tagen schien sie bestätigt: Michael schaute sie interessiert an, wenn sie die Klasse betrat, blieb aber ruhig, aufmerksam, ganz folgsam. Einige Tage später. Kaum hatte sie an einem Montag, sehr entspannt und gut gelaunt, den Klassenraum betreten, sah Michael, der weit vorne saß, seine Lehrerin fest an. Mit ganz klarer Stimme sagte er: «Guten Morgen, Fickerin!» Die Klasse war konsterniert. Auch bei Svenja Härtung saß der Treffer. Sie ignorierte das «fürchterliche Wort, ich hatte so was noch nie in den Mund genommen.» Als Michael an den beiden folgenden Tagen mit seiner «Begrüßung» fortfuhr, bat sie ihn im Anschluß an den Unterricht zu einem Einzelgespräch. Michael war zu keiner wirklichen Kooperation bereit. «Es kommt mit einem Mal über mich», versuchte er zu erklären. «Ich kann da nichts machen.» Svenja Härtung ließ sich intensiv auf Michael ein, sie wollte mit ihm nach einer gemeinsamen Lösung suchen. Vergeblich! Alle Ideen wurden von Michael verworfen. Er wollte sich nicht auf pädagogische Lösungen einlassen. «Und das Tollste», erzählte die Lehrerin, «als ich diesen Fall in einer Fortbildung vortrug, meinte der Referent, ‹da hilft nur der Eisenbesen. Typisch! Wenn's pädagogisch nicht klappt, kommen die Züchtigungen aus dem 19. Jahrhundert.» «Aber was kann ich nur tun?» fragt sie mich während einer Beratung verzweifelt. «Was möchten Sie tun?» «Oh, ich will das auch zu ihm sagen», bricht es wütend aus ihr heraus. «Was hindert Sie?» «Ich kann es nicht sagen!» Ich sehe sie fragend an. Sie lacht: «Ich komm aus einem katholischen Elternhaus. Und wehe, da fiel früher nur ein böses Wort - an sexuelle Ausdrücke war überhaupt nicht zu denken -, dann mußten wir Kinder uns in die Ecke stellen und uns -3 8 6 -
mindestens eine Stunde schämen!» Sie schüttelt ihren Kopf. «Also ich kann das Wort nicht sagen. Das geht nicht.» Michaels Störungen nahmen zu. Nun stand er schon in der Klassentür, in Erwartung seiner Lehrerin, rief den Flur entlang: «Fickerin!» Svenja Hartungs Schule ist sehr alt, die Flure sind lang, die Mauersteine werfen laute Worte mit dröhnendem Hall zurück. «Und die Worte klangen mir in den Ohren. Das war schrecklich!» «Michael hatte mich völlig in der Hand. Ich war seine Marionette. Er wollte eine Grenze, das wußte ich natürlich. Aber wie?» Am dritten Morgen nach der erneuten Eskalation «hatte ich's. Mit einem Male. Ich sah einen Schatten, meinen Schatten, und konnte drüber-springen!» Michael stand wieder in der Tür, er rief laut: «Fickerin!» «Ich sah ihn vor mir. Ein Schätzchen. Aber nun war's aus mit dem Schatz. Schatz hin, Schatz her, dachte ich. Du bist ein Schlitzohr.» Svenja Härtung geht mit festen Schritten auf Michael zu «Fickerin, Fickerin» im Ohr, «gar nicht mal häßlich, ja fast spielerisch-lächelnd vorgebracht», wie sie sich später erinnert -, sie geht blitzschnell vor ihm in die Hocke, berührt mit ihrer linken Hand ganz freundlich seine rechte Schulter, lächelt ihn an. Dann hält sie ihm ihre rechte Hand vor die Augen, Daumen und Zeigefinger vielleicht drei oder vier Zentimenter auseinandergespreizt: «Da, Michael», sagt sie ganz ruhig, «deiner ist so klein.» Sie weist mit ihren Augen auf die Lücke zwischen Daumen und Zeigefinger, «das geht bei dir noch gar nicht!» Michael lächelt etwas verquält. Während sich Svenja Härtung langsam erhebt, faßt Michael ihre rechte Hand, Daumen und Zeigefinger zusammendrückend. Ihre Hand ist feucht. Seine auch. Beide betreten den Klassenraum. Die Klasse sitzt gespannt da. Die überraschende Maßnahme hat Wirkung gezeigt. «Und?» -3 8 7 -
«Das war schon widersprüchlich bei mir», meint sie. «Ich sah mich einige Male während des Unterrichts in der Ecke des Klassenraums stehen, das Gesicht zur Wand und hörte meinen Vater mit strafender Stimme sagen: ‹Svenja! Svenja! Wie weit ist es mit dir gekommene» Michaels Attacken hörten auf. «Es war vorbei! Ich konnte es kaum glauben!» Sie schüttelt den Kopf: «Es war wirklich vorbei! Ehrlich! Aber», sie sieht mich fragend an, «warum machen es Kinder einem manchmal so schwer?» «Kinder wollen von Eltern und anderen Erwachsenen nicht die pädagogisch wertvollste, sondern die künstlerisch beste Lösung», lache ich sie an. «Und für Kinder ist das Beste gerade gut genug!» «Aber doch nicht jeden Tag!» «Einen Michael haben Sie ja auch nicht jeden Tag!» «Gott sei Dank!» sagt sie spontan, und ich sah sie wieder in der Ecke stehen, das Gesicht zur Wand gerichtet. Einige kurze Anmerkungen zu dieser Situation: - Svenja Härtung hat nicht nach Ursachen für Michaels Verhalten gesucht. Rückwärtsgerichtete Fragen - «Warum handelt er so?» - hätten keine schnelle Lösung gebracht. - Die Lehrerin hat überraschend gehandelt - in einer Weise, die Michael nicht vorhersehen konnte. Das konkrete Vorgehen von Svenja Härtung ist nicht ohne weiteres übertragbar: Es war ihr und Michaels Spiel. Dieses Spiel hatte ganz eigene Abläufe, es funktionierte unter ganz spezifischen Bedingungen. Aber die Situation enthält verallgemeinerbare Strukturen: Wenn die emotionalen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern stimmen, sind solche paradoxen Eingriffe nicht nur möglich, sondern notwendig. Die Lehrerin hat Michael als Person akzeptiert, ihm aber auf eine emotional nachvollziehbare Weise ihre persönlichen Grenzen gezeigt. - Solche spontanen Lösungsversuche passen, oder sie passen nicht. Die Gründe hierfür bleiben häufig im dunkeln. Bei Michael kam zufällig heraus, warum Svenja Hartungs Satz «Der -3 8 8 -
ist noch zu klein...» ins Schwarze traf. Michael hat zwei ältere Brüder. Gemeinsam verglich man häufig die Größe der Penisse. Oder die drei Brüder «pißten», wie Michael sagte, «wer's am weitesten konnte.» Michael verlor ständig. Als er einmal davon hörte, wie Michaels Bruder einen «Ständer bekam, als er Julia küßte», war Michael traurig: «Ich hab Marion gestreichelt. Bei mir war da nichts.» Michaels Bruder hatte daraufhin gesagt: «Schlappschwanz. Dazu bist du noch zu klein.»
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Kapitel 13 Gewalttätige Jungen? Friedfertige Mädchen?
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Unterschiedliche Spielaktivitäten oder Vorlieben in der Mediennutzung zwischen Jungen und Mädchen sind vielfach ein Randthema in der pädagogischen Diskussion. Dies gilt auch für den Umgang mit Aggressionen. Zwar wird in manchen Untersuchungen auf unterschiedliche Programmvorlieben bei Jungen (z.B. Sportsendungen) und Mädchen (z. B. Musik- und Familiensendungen) und spezifische Vorlieben bei Freizeitaktivitäten (z. B. Jungen: Sport, mit Freunden spielen, Computeraktivitäten; Mädchen: Musizieren, Basteln/Werken, Lesen) aufmerksam gemacht. Andere Untersuchungen konzentrieren sich auf die in den Medien enthaltenen Bilder zur Weiblichkeit und sehen darin die Ursache bzw. den Verstärker von Geschlechtsrollenstereotypen. Solche Unterschiede werden vielfach geschlechtsspezifisch genannt. Ich spreche vielmehr von geschlechtsgebundenen Unterschieden. Ich will damit ausdrücken: Auch Mädchen haben Interesse an Action, und Jungen finden sich in Themen wieder, in denen zwischenmenschliche Beziehungen angesprochen werden wenn auch in wesentlich geringerem Ausmaß. Ausschließlich an einzelne Geschlechter gekoppelte Aktivitäten und Muster sind nicht festzustellen - jedenfalls legen das die vorliegenden Untersuchungsergebnisse nicht nahe. Die Begründungen für die unterschiedlichen Aktivitäten und Muster liegen insbesondere im Sozialisations - und Erziehungsprozeß, d. h., die geschlechtsgebundenen Unterschiede sind nicht unabänderlich, vielmehr durch biographische Erfahrungen und Lernprozesse veränderbar - wie natürlich auch zu verstärken.
Die gebratene Puppe Werner Mahler ist Erzieher in einem Schülerhort in einer norddeutschen Kleinstadt. Ich habe mich mit ihm verabredet, um seinen Erziehungsalltag kennenzulernen. Als ich ankomme, «war schon», wie er sagte, «ein Ding passiert». Er hatte beobachtet, wie Jörg und Armin, sieben und acht Jahre alt, eine zerfetzte Stoffpuppe zerschnitten, dann in die Küche gingen, sich eine Pfanne holten, die Puppenglieder hineinlegten und -3 9 1 -
anfingen, sie zu rösten. Als sich Brandgeruch verbreitete, ging Werner Mahler in die Küche. «Was macht ihr denn hier?» «Siehst du doch.» «Ihr spinnt wohl!» «Aber weißt du», sagte er dann zu mir, «das Schärfste kommt jetzt. Sagt doch Jörg, sie hätten gestern einen Zombie bei Freunden gesehen. Mir ist der Kinnladen runter. Ich war sprachlos und muß völlig bescheuert ausgesehen haben. Ich hab die beiden dann aus der Küche geschmissen. Die haben die ganze Zeit nur gegrinst. Das hat mich noch zusätzlich auf die Palme gebracht. Ich habe gehofft, ich bleibe von der HorrorScheiße verschont, nun das. Ich hab erst gedacht, die filmen mich. Aber das sah so echt und ganz überzeugend aus.» Wir haben uns am selben Nachmittag mit Jörg und Armin unterhalten. Beide Kinder sehen - und deshalb war der Erzieher auch so überrascht - sehr wenig fern. «Tom & Jerry oder, wenn wir brav sind, auch schon mal 'n Krimi, Straßen von San Francisco oder so. Aber so was ist schon gruselig genug», meint Jörg. Am Wochenende waren die Kinder mit ihren Vätern zum Angeln gefahren. Alle hatten geangelt, aber die Kinder durften die gefangenen Fische nicht schlachten. Armin: «Das war gemein. Das war ganz gemein. Dabei hatte mein Vater mir das versprochen. Ganz fest. Und ich hab mich drauf gefreut. Aber dann hat er gesagt, ich würd die Tiere nur quälen. Dabei stimmt das gar nicht.» Und Jörg ergänzt: «Wir durften nur angeln und haben so viele Fische gefangen, aber die haben wir einfach wieder reingeschmissen. Die waren ganz schön sauer mit der Zeit.» Im Verlauf des Gesprächs kommt dann heraus, daß sie ihr Puppen-Spiel vor allem deshalb gemacht haben, «um zu üben, wie das ist, wenn man schlachtet und kocht. Wir dürfen ja nichts richtig, wir müssen immer spielen. Jetzt haben wir das probiert, dann können wir das vielleicht das nächste Mal.» Und Armin fährt fort: «Das hat doch solchen Spaß gemacht, wie Papi da mit dem Fisch 'rummacht. Nur wir durften nicht. ‹Weg, -3 9 2 -
ihr quält nur›, richtig weggedrückt hat er mich. Nur zusehen durften wir.» Auf meine Frage, warum sie Werner Mahler diese Geschichte nicht erzählt, ihm statt dessen etwas von einem Zombiefilm berichtet hätten, grinsten sich beide an. Sie wollten darauf nicht antworten und fingen immer wieder an, von ihren Enttäuschungen während der Angel-Tour zu erzählen. Erst als ich am Abend den Hort verließ, zupfte mich Armin am Ärmel: «Du, weißt du, warum?» «Nein.» «Werner ist ja ganz nett. Nur wenn wir so Sachen sehen im Fernsehen, die er nicht mag, da schaut der immer so komisch. Das mögen wir nicht leiden an ihm. Deshalb haben wir das gesagt mit dem Zombie. Wir haben's einfach probiert, und er hat uns da ja auch geglaubt. Angeschmiert haben wir ihn, und er hat genauso doof geguckt, wie wir dachten. Und hinterher haben wir uns kaputtgelacht.» Jörg und Armin haben in der Bratszene jene Ohnmachtsgefühle, die sie am Sonntag durchmachten, nochmals aktualisiert. Sie haben eine Situation konstruiert, die eigenen, selbst geschaffenen Regeln unterliegt, eine Szene gespielt, die ihre Kompetenz und Qualifikation bestätigen soll. Als ihr Erzieher eingreift, die Spielsituation und die damit einhergehenden Emotionen stört, fühlen sie sich ähnlich gemaßregelt wie beim sonntäglichen Angeln. Während sie sich dort durch das Zurückwerfen der Fische wehren, setzen sie am Montag ihr Wissen über die Einstellungen des Erziehers zum Fernsehen und zum Video ein, um sich auf ihre Art und Weise mit ihm auseinanderzusetzen. Indem sie mit seinem Erschrecken spielen, ihn zum «Ausrasten» bringen, bekommen sie eigene Allmacht bestätigt.
Unterschiedliche Verarbeitungsmuster Jungen sind mehr an Abenteuern und Action, an den Eigenschaften der Helden interessiert: Die Kraft des Helden, seine Körperbeherrschung, seine Motorik, seine Bewegungen, seine Stimmgewalt, seine Dominanz, sein Kampfwille lassen -3 9 3 -
ihn für Jungen bedeutsam werden. Und auch die phantastischmagischen Momente in den Medienangeboten faszinieren Jungen genauso wie die nach außen gerichtete Aggression, die dann im Spiel sichtbar wird. Mädchen weisen demgegenüber den Beziehungs-, Trennungs- und Autonomiethemen in den Filmen größere Bedeutung zu. In den Handlungen der Familienserien, «Seifenopern» oder den Tier- und Arztgeschichten entdecken sie ihre (Alltags-)Themen wie Nähe und Distanz, Trennen und Sich-Finden, den Kampf um Selbständigkeit. Mögen Serien wie die Biene Maja, Heidi, die Lindenstraße oder der Landarzt - aus der Sicht von Erwachsenen - keine aufgesetzten, vordergründig-gewaltverherrlichenden Szenarien enthalten, aus der Sicht (vor allem) von Mädchen geht es durchaus um die Konfrontation mit gewalttätigen Alltagserfahrungen: loslassen und losgelassen werden, Eigenständigkeit und Behütung, Liebesentzug und Urvertrauen. Dies kann ein Fallbeispiel verdeutlichen. Beate, fünf Jahre, zieht sich schon seit einigen Wochen, sobald sie morgens in den Kindergarten kommt, in die Spielecke zurück. Sie nimmt sich eine kleine Puppe, die sie Heidi nennt, und inszeniert Gespräche, die über Wochen hinweg in immergleichen Wiederholungen verlaufen. Beate schlüpft dabei in die verschiedenen Rollen. Beate: «Mutti muß jetzt gehen, hörst du.» Heidi: «Warum kannst du denn nicht bleiben?» Beate: «Aber das hab ich dir doch gesagt.» Heidi: «Aber was hast du mir gesagt?» Beate: «Aber Heidi, das weißt du doch.» Heidi: «Mußt du gehen?» Beate: «Ich hab's dir doch gesagt. Ich muß arbeiten und du mußt hierbleiben. Du bist doch schon ein großes Mädchen.» Heidi: «Ich möchte nicht, daß du gehst.» Beate: «So, Heidi, nun sei schön brav und bleibe hier. Heute abend bin ich wieder da.» In anderen Spielen beschimpft «Heidi» ihre Mutter, klagt sie an oder hat Wutausbrüche. Die von Beate gespielte Mutter reagiert mit großer Geduld, zugleich aber mit einer penetranten -3 9 4 -
Betulichkeit. Beate kommt zudem regelmäßig zu ihrer Erzieherin, um sich aus einem «Heidi»-Buch vorlesen zu lassen. Dabei verlangt sie immer wieder nach zwei Auszügen, in denen es um Trennung und Wiederkehr geht, darum, wie Heidi mit dem Alleinsein fertig werden muß. Beates Mutter erzählt auf einem Elternnachmittag, daß ihre Tochter auch zu Hause ein «Heidi»-Rollenspiel inszeniert, zudem die «Heidi»Zeichentrickserie mittels Videokassette täglich zwei- bis dreimal sieht. Beates Mutter beobachtet mit wachsender Sorge, wie die «Fernseh-Heidi» das alltägliche Handeln und Spielen ihrer Tochter bestimmt. Beates Mutter beabsichtigt, wieder zu arbeiten. Dieses Vorhaben hatte sie mit ihrem Mann an mehreren Abenden so besprochen, daß Beate nichts hören konnte. «Ich wollte sie doch nicht beunruhigen.» Wie sich dann aber im nachhinein herausstellte, hatte Beate einmal Gesprächsfetzen gehört. Auch an den nächsten Abenden lauschte sie an der Wohnzimmertür. Dabei blieb der Eindruck bei ihr hängen: «Mami geht weg, um zu arbeiten. Und dann bin ich allein.» In dem «Heidi»-Film fand sich Beate mit ihrer Situation vor allem in den Trennungs- und Abschiedsszenen wieder. Und der bei der Film-«Heidi» ablaufende Entwicklungsprozeß gewann für Beate zunehmend an Bedeutung. In ihrem Spiel drängten die in der Film- und Buchrezeption durchlebten Phantasien in die Wirklichkeit, in ihrem Spiel suchte Beate nach eigenen Lösungsmöglichkeiten. Als Beates Mutter mit ihrer Tochter im Anschluß an das Beratungsgespräch offen über ihre in Aussicht stehende Berufstätigkeit redet, nimmt die Intensität der Rollenspiele ab, die Bedeutung von «Heidi» - in Form des Buchs und der Kassette - bleibt aber über längere Zeit hinweg bestehen. In den Nachspielen herrschen bei Jungen nach außen gerichtete - auch zerstörerische - Aggressionen, Action und die Suche nach Orientierung vor, bei den Mädchen überwiegen dagegen Beziehungsspiele. Dazu ein Fallbeispiel: In einer Folge der «Schwarzwaldklinik» ging es um den Unfall zweier Jungen: Sie hatten sich aus Übermut und um einem -3 9 5 -
Mädchen zu imponieren in einer unterirdischen Höhle, die sie nicht betreten durften, verirrt und waren dort verunglückt. In einer dramatischen, spektakulär inszenierten Rettungsaktion wurden sie befreit und in die Klinik gebracht. Diese Folge konfrontierte einige der zuschauenden Kinder bewußt oder vorbewußt mit Ängsten, Verboten und Aggressionen: Die Sendung zeigt die negativen Folgen des Verstoßes gegen Verbote und soziale Normen sowie damit einhergehende Sanktionen von Bezugspersonen. Oder der Unfall wird als existentielle Vernichtungserfahrung erlebt. Oder der Film zieht durch eine Action-Dramaturgie die Kinder in den Bann und berührt sie gefühlsmäßig stark. In zwei Kindergruppen eines Kindergartens waren einige Tage später folgende Spiele zu beobachten. Die eine Gruppe bestand aus Jens, Jörg, Niko und Peter. Alle sind zwischen fünf und sechs Jahre alt. Sie spielten in einer Ecke des Gartens. Dort hatten sie aus Zweigen, Blättern, Papier, Pappe, Sand und Wasser eine Höhle mit vielen Gängen konstruiert, eine «gruselige» Höhle, wie Peter erklärt. Jens hat Playmobil-Figuren geholt, diese werden in die Höhle geschoben, bis sie nicht mehr zu sehen sind. Niko: «Die kommen da nie mehr raus.» Jörg: «Die müssen sterben.» Peter: «Ich nicht. Ic h weiß, wie ich da rauskomme.» Es folgt ein Gespräch darüber, wie man sich aus solch brenzligen Situationen retten könnte. Jens: «Ich hätte He-Man mitgenommen, der hätte mir geholfen.» Jörg: «Brauchst du nicht, im Berg gibt's Geister, die helfen einem, ich mein, die helfen Kindern.» Niko: «Quatsch, da hilft nur ein Sprechfunkgerät.» Jörg: «Funktioniert aber im Berg nicht.» Jens: «Hilft eben doch nur He-Man.» Peter: «Oder mein Zauberstab. Da kann man alles mit machen.» Alle fangen an zu lachen. -3 9 6 -
Jens und Jörg stehen auf, während die beiden anderen vorsichtig nach den Figuren suchen. Die beiden kommen zurück. «So, jetzt holen wir sie raus.» In der einen Hand halten sie He-Man, mit der anderen Hand werfen sie Steine auf die Höhle, bis diese einstürzt. Dann fangen alle an, nach den Figuren zu wühlen. Als sie sie in den Händen halten, entspinnt sich ein Gespräch. Jens: «Gut, daß He-Man da war.» Jörg: «Die wären sonst nie rausgekommen, nie.» Jens, mehr zu sich selbst als zu den anderen: «Die hatten Glück, daß das He-Man gemacht hat. Wenn das die Eltern gemacht hätten, hätte es was gesetzt.» Niko und Peter ahmen Schläge auf den Hinterkopf nach und fangen an zu grinsen. In der anderen Gruppe sind Olivia, Heike und Inga, drei fast sechsjährige Mädchen, versammelt. Sie haben ein Zimmer der Puppenstube zu einem Operationssaal umgebaut. Aus dem Erste-Hilfe-Kasten des Kindergartens haben sie einige Utensilien entnommen. Dann holen sie sich zwei Puppen, legen diese auf den Operationstisch und beginnen ihre Operation. Olivia si t die Ärztin, Heike und Inga sind die Schwestern. Olivia: «DasMesser.» Es wird gereicht, der Puppe wird der Leib aufgeschlitzt. Heike: «Sieht schlimm aus.» Olivia: «Die Salbe.» Inga reicht Heike die Salbe, die in den aufgeschlitzten Bauch gedrückt wird. Dann nimmt Olivia ein Tesaband und klebt den Bauch zu. Inga reicht ihr eine weitere Puppe. Inga: «Was müssen die auch so unvernünftig spielen!» Heike: «Sind eben Jungen!» Olivia: «Die Schere.» Der Puppe wird ein Bein geschient. Heike: «Das andere muß wohl auch ab?» Olivia nimmt eine Schere, schneidet das Bein ab. Inga: «So kann es kommen!» Dann holt Heike einen Puppenwagen, legt die «Patienten» hinein und fährt damit fort. In den hier dargestellten Spielen setzten die Mädchen- und die Jungengruppen jeweils geschlechtsgebundene Akzente: - Die Aggressionen der Jungen richten sich stärker nach außen, vor allem in den Nachspielen und Erzählungen. Dies -3 9 7 -
mag auch Resultat eines Aneignungsstils sein, der Gefühle während des Sehens vermeidet und unterdrückt und sich im nachhinein in Motorik und Lautstärke entlädt. Mädchen zeigen ihre Betroffenheit, ihre Verunsicherung und ihre Ängste während des Sehens und Hörens offener. Sie fühlen mehr mit den Opfern, versetzen sich in die Lage der Betroffenen, sind an den Folgen aggressiver Akte interessiert. - Es sind nur selten medienbezogene Spiele zwischen Jungen und Mädchen zu beobachten. Sind Mädchen in die Spiele integriert, nehmen diese schnell die Opferrolle ein. - In den Abenteuer- und Rollenspielen dominieren Körperlichkeit und Kraft. Während in den Konfliktlösungen von Mädchen die realistische Komponente überwiegt, fällt bei den Jungen der Einsatz von Magie und Phantastik auf. - Das medienbezogene Nachspielen der Mädchen wirkt ruhiger, stiller, zurückgezogener. Dies ist die Konsequenz aus dem offenen Umgang mit Gefühlen während der Nutzung. Mädchen arbeiten in den Spielen nicht so sehr die physische als vielmehr die psychische Anspannung ab. Deshalb erscheinen die medienbezogenen Symbole verdeckter, sind die Bezüge zum Medium schwerer zu deuten. - Jungen spielen Gefühle während der Nutzung herab, unterdrücken diese. Verunsicherungen werden durch Übermotorik oder abwertende Bemerkungen geleugnet; das soll Gleichgültigkeit, Lässigkeit, Souveränität oder Kompetenz vorspiegeln. Vor allem Jungen überfordern sich während der Nutzung gefühlsmäßig. Dies hat Auswirkungen auf den Prozeß des Nachspiels und der Nachbereitung. Es dient in der ersten Phase vor allem dazu, die körperliche Anspannung durch Bewegungsabläufe abzubauen.
Unterdrückung von Aggressionen Die medienbezogenen Spiele der Jungen sind auch in Thema und Symbolik deutlicher zu identifizieren. Offen aggressive Spiele der Mädchen werden nicht selten von Erwachsenen meist früher reglementiert und konsequenter -3 9 8 -
unterdrückt. Ich möchte diese These am Umgang mit Monsterfiguren und den Barbiepuppen konkretisieren. Während etwa zwei Drittel der von mir befragten Jungen angeben, mindestens einmal mit Monster- und Actionfiguren Kontakt gehabt zu haben, und nahezu die Hälfte eine entsprechende Figur besaßen, hatten nicht einmal zehn Prozent der Mädchen vergleichbare Objekte, der Mehrzahl der Mädchen wurden die Monstergestalten von ihren älteren Brüdern «vererbt». Nur zwei Mädchen kauften sich bzw. ließen sich eine Monstergestalt schenken, «um die Mami zu ärgern, weil die dagegen war». Doch beeindruckender, weil tiefe Einblicke in gesellschaftliche Sozialisationsprozesse verschaffend, sind die Argumente, mit denen Mädchen Monsterfiguren ablehnen bzw. ihnen gleichgültig gegenüberstehen. Au f der Basis von Gruppengesprächen sowie teilnehmenden Spielbeobachtungen lassen sich drei Begründungen festhalten. Mädchen ist zunächst die Art und Weise, wie Jungen mit den Figuren spielen, zu laut, zu aktionsund bewegungsbetont. Sie lehnen die Spiele als unkooperativ ab. Hinzu kommt, daß Mädchen nicht wirklich in die symbolischen und ritualisierten Spielverläufe einbezogen sind, sondern meistens Statisten bleiben oder zu Bestandteilen der Requisite werden. Die Spielvorschläge und Handlungsanweisungen der Mädchen werden von den Jungen nicht ernst genommen bzw. nicht anerkannt. Dies macht die Teilhabe am Spiel - aus der Sicht der Mädchen - langweilig und uninteressant. Diese beiden Beobachtungen decken sich mit den Ergebnissen einer Langzeitstudie der amerikanischen Psychologin Maccoby, wonach Mädchen gleichgeschlechtliche Spielkameradinnen bevorzugen. Maccoby nennt hierfür zwei Gründe: Im Jungenspiel dominiert äußere Bewegung, es ist häufig rauh und grob und gekennzeichnet von einem auf Dominanz zielenden Wettbewerb. Während Mädchen Spiele durch Vorschläge zu beeinflussen versuchen, bevorzugen Jungen den direkten Anweisungsstil, um damit zum Erfolg zu -3 9 9 -
kommen. Jungen kommandieren mehr, fallen sich ins Wort. Mädchen meiden das Spiel mit Jungen, weil sie hier keine Chance zur Verwirklichung ihres Spiels haben. Und dies ist eben auch ein Grund, weshalb Mädchen das Spiel mit Monsterfiguren ablehnen. Und noch eine weitere Begründung bringen die Mädchen vor: Vor allem Mütter - aber auch Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen aus dem Elementarbereich - sehen es nicht gerne, wenn Mädchen mit Monsterfiguren spielen, während Jungen dieses - wenn auch häufig widerstrebend gestattet wird. Mädchen dürfen statt dessen mit Barbie-Puppen oder vergleichbaren Figuren spielen. Auffällig ist ein weiterer Unterschied: Während Jungen häufig intensiv, massiv und mit viel Drohung um den Kauf bzw. die Duldung von Monsterfiguren kämpfen, gehen Mädchen wesentlich stiller, leiser, wenn auch nicht weniger beharrlich vor. Jungen benutzen Schimpfworte, setzen offen Wut, Zorn, Haß und Enttäuschung ein. Mädchen bevorzugen demgegenüber Weinerlichkeit, Traurigkeit, Liebesentzug, heimliche Verwünschungen, setzen sogar - ob bewußt oder nicht - Bauchschmerzen oder Kopfweh ein, um ihr Ziel zu erreichen.
«Vom Unbewußten zum Unbewußten» Für geschlechtsgebundene Unterschiede beim Ausleben von Aggression oder im Umgang mit körper- und gewaltbetonten (medialen) Symbolen gibt es eine Vielzahl sich häufig widersprechender Erkenntnisse aus Soziologie, Psychologie, Psychoanalyse, der Pädagogik oder auch der Biologie. Der ganz spezifische Umgang mit Aggressionen scheint kulturell bedingt, durch Erziehung gesteuert und beeinflußt zu sein. So lassen sich erste Erklärungen für die beschriebenen Unterschiede im Umgang mit Gewalt finden. Eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren verweist darauf, daß eine geschlechtsgebundene Erziehung - z. B. im Hinblick auf Aggression - schon früh einsetzt und auf meist unbewußten -4 0 0 -
kulturellen Mustern fußt. Während männliche Babys beispielsweise länger und intensiver gestillt werden, erzieht man Mädchen früher und stärker zur Selbstverantwortung, bezieht man sie intensiver in familiäre Abläufe und häusliche Pflichten ein. Anders ausgedrückt: Gesellschaftliche Normen und Werte schlagen lebenszeitlich früher durch als bei Jungen. Mädchen begreifen und verinnerlichen offensichtlich eher, wie gesellschaftliche Repräsentanten (z. B. Familie und Schule) sie sehen möchten: bereit zum Opfer, kooperativ, kommunikativ, vermittelnd, sich unterordnend. Die Ablehnung des lauten, auf Wettbewerb und Durchsetzung orientierten Spiels oder der offene Umgang mit Aggressionen könnte hier eine Erklärung finden. Während Jungen die Suche nach Autonomie möglicherweise leichter zugestanden wird, Wort- und körperliche Gewalt nicht sofort verboten ist, haben es Mädchen schwerer, sich zu behaupten. Ihnen gesteht man allenfalls eine an häuslichen Pflichten orientierte Selbständigkeit zu. Während Jungen beim Kampf um Autonomie aktive, zumindest wohlwollende und tolerierende Unterstützung finden, setzt man Mädchen enge Grenzen, sehen sich Mädchen von Liebesverlust bedroht, wenn sie Selbstbewußtsein und Eigenständigkeit entwickeln wollen. Und weil Angst vor Liebesentzug dominiert, richten Mädchen ihre Aggressionen häufiger nach innen - z. B. in Form psychosomatischer Erkrankung -, oder sie binden ihre Aggressionsphantasien an Symbole, die sozial respektiert werden. Einige Autoren und Autorinnen haben in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von Pferdegeschichten für Mädchen hingewiesen. Ähnliches läßt sich auch im Rollenspiel mit den BarbiePuppen beobachten. Diese Spiele werden von manchen Erziehern, aber auch den wenigen wissenschaftlichen Betrachtungen als Einübung in typische, von der Gesellschaft gewünschte Frauenrollen gesehen. Dabei wird kaum beachtet, daß im Spiel der Mädchen mit den Puppen bereits verinnerlichte, kulturell anerzogene Handlungsmuster durchscheinen. Zunächst findet das zumeist ruhige, -4 0 1 -
zurückgezogene Spiel mit den Puppen weniger Beachtung als das laute, auffällige Spiel mit Monsterfiguren. Deshalb werden die in den Barbie-Spielsituationen gebundenen und enthaltenen Themen übersehen. Zwar ist das An- und Auskleiden besonders häufig zu beobachten, gleichwohl bearbeiten Mädchen über die und mit den Barbie-Puppen auch ihre entwicklungsbedingten Themen. Und dazu gehört die Auseinandersetzung mit Aggression, wie einige Fallbeobachtungen aus den Rollenspielen von Mädchen konkretisieren können: - Sandra, fünf Jahre, hat eine «böse» und eine «gute» Barbie-Puppe. Die «böse» wird im Rollenspiel mit dem Entzug schöner Barbie-Kleidung bestraft. - Anke, sieben Jahre, bestraft ihre «böse» Puppe, indem sie die langen blonden Haare abschneidet, dabei kommentiert sie: «Das hast du nun davon. Wenn man böse ist, sieht man das.» - Meike, acht Jahre, bestraft ihre Puppen beim Rollenspiel, indem sie diese in einen Schrank einsperrt und mit den Worten verläßt: «Wenn ihr wieder brav seid, komme ich zurück.» - Sabine, sieben Jahre, wählt sich das Doktorspiel, um ihre «böse» Puppe zu behandeln. Sie setzt ihre Puppe in einen Stuhl, fesselt sie, zieht eine Spritze aus dem Doktorkoffer auf und stößt diese genußvoll, aber mit Vehemenz in den Puppenarm, begleitet von einem vernehmlichen und befreienden: «So!» - Katharina, acht Jahre, kämmt ihrer «bösen» Puppe die Haare, wenn es darum geht, «Dampf abzulassen». Sie umfaßt dazu kräftig mit Daumen und Zeigefinger den Hals der Puppe, so als wolle sie sie würgen, nimmt dann den Kamm und zieht diesen stark und intensiv durch die Haare, so daß die Puppe wäre sie ein menschliches Wesen - heftige Schmerzen haben müßte. Dabei redet sie leise vor sich hin: «Halt still, du Biest!» Oder «Tut richtig weh, du Miststück!» Oder «Sei froh, daß du nicht in den Ofen kommst!» Oder «Wehe du sagst was, daß es weh tut!»
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Wenn Mädchen im Rollenspiel Aggressionen zurückgezogen und verdeckt bearbeiten, dabei nach außen gefühlvoll und sozial erscheinen, ist das die Folge einer Erziehung, in der Mädchen weniger Aggressionen bzw. Aggressionsphantasien zugestanden werden. Die Anwendung von Aggressionen darauf hat Margarete Mitscherlich hingewiesen - hat mit Schuldgefühlen zu tun, die von Jungen und Mädchen unterschiedlich wahrgenommen und erlebt werden. Während Jungen häufiger Schuld auf Sündenböcke übertragen, ihnen damit angstfreie Rachephantasien eher möglich sind, erleben Mädchen die Ausübung von Aggressionen als Gefährdung einer Beziehung zu den Eltern. Sie fürchten Liebesverlust, suchen sich deshalb - so Bruno Bettelheim - «harmlose, frohmachende Sublimierungsmöglichkeiten». So dienen Mädchen Pferdegeschichten oder auch Arztspiele als Ventil, kann die Herrschaft über das Tier oder den Körper als Beherrschung des Männlichen, des sexuell Triebhaften interpretiert werden. Aggressionen sind kulturell bedingt. Für die Entwicklung der Aggressionen, sowohl im Umgang mit zerstörerischer wie konstruktiver Aggression, ist die Phase zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr - die sogenannte orale wie anale Phase - wichtig. Die Herausbildung der Aggression ist eng verbunden mit dem Verhalten der wichtigsten Bezugspersonen. Ohne konstruktive Aggression ist Autonomie und Loslösung nicht möglich. Aggression stellt sich für Mädchen stärker als ein Beziehungskonflikt dar. Entscheidend ist demnach, wie die Mütter mit den Trennungswünschen des Mädchens umgehen und diese auf die mütterlichen Reaktionen reagieren. Hella, drei Jahre, kommt ins Wohnzimmer, sieht die Mutter: «Ich will dich töten.» «Hella, was sagst du da!» «Ich schneid dich kaputt!» «Dann bin ich tot.» «Macht nichts, ich mac h dich kaputt.» «Hella, das sagt man doch nicht.» -4 0 3 -
Hella geht hinaus, dreht sich um: «Ich hasse dich!» Hella hat ihrem Wunsch nach Eigenständigkeit auf drastische Weise Ausdruck gegeben, der Tod der Mutter ist für sie Symbol der Autonomie. Die Mutter reagiert darauf verständlicherweise mit Entsetzen, gleichzeitig reglementiert sie Hella, überführt die symbolische Phantasie in Realität. Hella zürnt, ist (noch) nicht anpassungsbereit. Sie reagiert mit Haß, führt Aggressionen nach außen ab. Margarete Mitscherlich hat darauf hingewiesen, daß Mädchen Autonomie widersprüchlicher und schuldbeladener erleben. Mädchen machen sich eher von Mitmenschen abhängig, ordnen sich unter. Die Über-Ich-Bildung, die die Einhaltung und Verinnerlichung von elterlichen Geboten und Verboten bedeutet, vollzieht sich bei Mädchen lebenszeitlich früher als bei Jungen, d. h., die mit Schuldgefühlen einhergehenden Aggressionen werden früher verinnerlicht, die dann durch Unterordnung, Anpassung, ständige Zuwendungsbeweise oder Rückversicherungen überwunden werden sollen. Aggressionen werden nicht unbedingt nach außen abgeführt, sie werden nach innen gekehrt. Und die nach innen gekehrte Aggressivität entlädt sich nicht selten in plötzlichen, ungekonnten aggressiven Akten. Dazu Hellas Mutter: «Ich lasse viel mit mir machen, bis es nicht mehr geht. Dann schreie ich, haue auf den Putz. Manchmal knall ich Hella eine, und dann fühl ich mich schlecht.» Die geschlechtsgebundenen Unterschiede im Ausleben von Aggression sind kein Schicksal, schon gar nicht auf körperlichanatomische oder biologische Aspekte zu reduzieren. Noch genauer als bei den Jungen müssen Phantasien und Spiele bei den Mädchen ernst- und angenommen werden, auf ihre verborgenen Wünsche und Symbole hin gedeutet werden. Phantasie und Spiele geben Hinweise darauf, neue Erfahrungen und Möglichkeiten zu erproben. Dies ist um so wichtiger, als die Erziehung zum Umgang mit Aggressionen eine Erziehung vom «Unbewußten zum Unbewußten» ist, soll heißen: Vor allem Mütter - aber nicht nur sie! - vermitteln ihren Kindern, vor allem den Mädchen, ihre häufig ungekonnte Haltung im Umgang mit Aggression. -4 0 4 -
III Kinder und Grenzerfahrungen
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Kapitel 14 Sexualität im Alltag von Kindern
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Es ist eine merkwürdig widersprüchliche Situation, in der sich Sexualerziehung - wieder? Oder: noch? - befindet: Manche Erwachsene, die beklagen, es werde zuviel von (Sexual)Technik in der Aufklärung geredet, zuwenig von Gefühl und Liebe, wollen keine oder eine nur unzureichende Sexualerziehung; andere, die sich in Sprache und Bild alltagsnah und kindorientiert darstellen und dabei den (sexual)pädagogischen Zeigefinger vergessen lassen möchten, übersehen dabei nicht selten zwischenmenschliche Beziehungen und Emotionalität. Manche Eltern sind wiederum froh über (Bilder-)Bücher und Broschüren, über Schule und Kindergarten, die Aufklärung übernehmen - manchmal mehr schlecht als recht, bemüht und verkrampft, dann wieder mit viel Engagement und Gefühl. Andere Eltern tun ihr Bestes, lesen Bücher, nehmen an Seminaren teil, um ihrem Kind die bestund frühestmögliche Aufklärung zukommen zu lassen. Um nicht mißverstanden zu werden: Ich verkenne oder übersehe keineswegs die vielen gekonnten Bemühungen in Elternhaus, Schule und Kindergarten um eine angemessene Sexualaufklärung von Kindern. Aber ich bemerke zugleich auch Bemüht-Verkrampftes, Angestrengt-Verkopftes. Nach meinem Gefühl bleiben - als Quintessenz aus Beratung und Seminararbeit - Zeit und Gelassenheit, der Mut zum Fragmentarischen und zur Überraschung auf der Strecke, ganz nach dem Motto: Man will es schließlich allen recht machen, und es soll einem keiner sagen, man habe etwas nicht bedacht. In der Sexualaufklärung geht es nicht allein um Beziehungen und Gefühle zwischen den Eltern, den Eltern und Kindern oder den Kindern untereinander. Wenn Kinder etwas über Sexualität wissen wollen, dann geht es ihnen nicht allein um Sachfragen, sondern zugleich -oder sogar ausschließlich - um Beziehungen, dann sprechen Kinder auch ihre Ängste, Unsicherheiten und Unklarheiten an. Je weniger Erziehende diese Mehrfachperspektive wahrnehmen, je mehr sie die Beziehungskomponente in ihren Antworten ausblenden, umso konflikthaltiger kann die «Erziehungsbeziehung» sein.
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Sexualerziehung ist niemals abgeschlossen, sie stellt sich als lebenslange Aufgabe dar: erst im Kindes-, dann im Jugendalter, später in den unterschiedlichsten Phasen der Partnerschaft bis hin in das hohe Alter. Jedes Lebensalter, jeder Lebensabschnitt bringt neue, veränderte Erfahrungen mit sich. Natürlich werden im Kindesalter wichtige Erfahrungen gelegt, zweifelsohne ist die Pubertät ein zentraler, nachhaltiger Einschnitt - aber Sexualerziehung ist damit nicht am Ende angekommen: Dieses Wissen könnte Eltern und Erziehende entlasten und dazu führen, Kinder wie Kinder und nicht wie kleine Erwachsene aufzuklären, ihnen und sich bei den Antworten Zeit zu geben. Dies meint nicht, Kinder auf ein imaginäres «Später» zu vertrösten, sondern ihnen Antworten zu geben, die ihrem Erfahrungs- und Entwicklungsstand entsprechen. Weniger ist manchmal mehr und Gelassenheit ein besserer Begleiter als guter Wille. Gelassenheit meint nicht Gleichgültigkeit, und der Verweis auf das Recht des Kindes auf Kindsein bedeutet nicht Kindertümelei aber Gelassenheit bewahrt vor Erziehungsstreß, davor, daß aus dem «Ich mein es doch nur gut mit dir» ein sexualaufklärerischer und erzieherischer Hochleistungssport wird. Wer mit Kindern zu tun hat, dem begegnen ständig zwei Personen: das Kind in mir und das Kind vor mir. Und je mehr ich Versäumnisse in der eigenen Kindheit am Kind vor mir gutmachen oder kompensieren will - «Bloß nicht den sexualfeindlichen Mief des Elternhauses wiederholen!» -, um so aufgesetzter sind die Ergebnisse, um so weniger wird das Kind in seinem Hier und Jetzt angenommen, um so wahrscheinlicher ist, daß eine Erziehungsbeziehung entsteht, die an die Realisierung eines Lernzielkataloges erinnert. Wissensvermittlung gegenüber Kindern - gerade im Bereich der Sexualität - muß klar und offen sein, doch wichtiger als die Vermittlung allgemeiner Wahrsätze oder naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ist Wahrhaftigkeit und Authentizität, ist Konkretheit und Anschaulichkeit, ist das Bemühen, den Sinn und den Hintersinn kindlicher Fragen zu -4 0 8 -
erfassen. Diese Haltung bietet Gewähr, auf die Sachfragen und Emotionen der Kinder einzugehen. Manchmal ist eine wahrhaftige Antwort passender für das Kind als die absolut richtige und letztlich gültige. Und denken Sie daran: Es gibt manchmal schwierige Phasen im Zusammenleben mit Kindern, in denen keine allzeit gültigen Patentlösungen möglich sind. Ermutigung und Trost können sich aus der Einsicht ergeben: Auch diese schwierigen Phasen gehen mal vorbei! Dies sollten Sie bedenken, wenn Sie die nachstehenden Überlegungen lesen. Meine Tips haben nicht den Anspruch, den komplexen Sachverhalt der Sexualerziehung umfassend zu beleuchten (vgl. Literaturverzeichnis Seite 251ff.), sie wollen vielmehr einige mir wichtige Situationen und Fragen ansprechen, die mit kindlichen und elterlichen Grenzerfahrungen zu tun haben: - kindliche Erfahrungen mit elterlicher Sexualität, konkretisiert am «Elternschlafzimmer», - Probleme in der elterlichen Sexualität im Kontext mit der Kindererziehung, - den Umgang der Eltern mit sexuellen Phantasien der Kinder, - den Mut zum Fragmentarischen bzw. die Ermutigung zu magisch-mythischen Konfliktlösungen in der Sexualerziehung, - wahrhaftige Antworten auf Kinderfragen zur Sexualität.
Elternschlafzimmer - eine Grenze?! Max, knapp fünf Jahre, kam eines Morgens in den Kindergarten. Er umkreiste ständig Monika Seibold, seine Erzieherin. Für sie war dieses Verhalten mehr als auffällig, weil Max ansonsten ein «burschikoser Typ» ist, der «nur wenig Streicheleinheiten» und Zuwendung brauchte, kam er doch wie seine Erzieherin meinte - aus einer gefühlsmäßig stabilen Familiensituation.
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Die Erzieherin deutete Max' Verhalten als «wirklich seltsam». Als er wieder einmal in ihrer Nähe stand, fragte sie beiläufig: «Is' was, Max?» Er schüttelte den Kopf, sah auf seine beiden Stoffpuppen, die er in der Hand führte. Max ließ die Puppen sich berühren. Er führte sie zusammen, nannte sie Nina und Dino. Sie umarmten sich. «Max, hast du was?» Die Erzieherin blieb hartnäckig. Max zögerte, druckste herum, wirkte unschlüssig. Dann schien es, als gäbe er sich einen Ruck: «Papa will Mama umbringen!» Er sagte es ganz ernsthaft. «Mäxchen! Mäxchen! Erzähl mir keine Schauermärchen!» Ihre Stimme hatte einen Klang, als ob sie ihn nicht ernst nahm, geschweige denn verstand. «Doch! »Max stampfte mit dem Fuß auf: «Papa will Mama umbringen!» Sie schüttelte mit dem Kopf, streichelte sein Haar: «Nun spiel erst mal weiter.» Sie hoffte, er würde auf andere Gedanken kommen. Schlecht geträumt habe er, dachte sie sich. Aber sie überlegte sich, alsbald mit der Mutter ein Gespräch zu führen. Einen Tag später: An diesem Vormittag war ein Schaukelpferd der Lieblingsplatz von Max. In den Zwischenpausen setzte er sich auf das Pferd, preßte es fest zwischen seine Schenkel, bewegte sich intensiv auf und ab, sein Kopf wurde rot, kleine Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn: «Ich mach dich fertig!» stöhnte er vor sich hin. «Ich mach dich fertig!» Und so als würde er sich selbst eine Antwort geben, stieß er ekstatische «Ja! Ja!» dazwischen. Das Spiel wiederholte sich regelmäßig. Monika Seibold ließ Max gewähren, machte sich allerdings Gedanken. Es ergab sich schnell die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Max' Mutter. Die Erzieherin hatte zu ihr «einen guten Draht», sie sprach sie auf ihre Beobachtung an. Die Mutter war ganz
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offensichtlich irritiert. Beide holten Max in der Hoffnung hinzu, Näheres von ihm zu erfahren. «Max, was erzählst du da!» Die Mutter wirkt entrüstet, obgleich sie sich vorgenommen hat, ruhig zu bleiben. Max zuckt mit den Schultern: «Du hast erzählt, Papa will mich umbringen!» Max schaut die Mutter gedankenverloren an. «Sag mal, was fällt dir ein. Sag mal, spinnst du!» Der Zeigefinger schnellt an die mütterliche Stirn. «Nun laß mal, Veronika», beschwichtigt die Erzieherin. «Ich spinn gar nicht», Max' Stimme klingt trotzig, aber auch sehr ernsthaft. «Ich spinn gar nicht.» Max' Mutter atmet tief aus: «Dann erzähl mir bitte, was ist..., aber sofort.» In ihre ungeduldige Stimme mischt sich ein drohender Unterton. Max geht zu seiner Erzieherin, nimmt ihre Hand. «Neulich hast du auf Papa gesessen und hast nur ‹Ja! Ja!› gesagt. Du hast mich gar nicht gehört. Und Papa hat gesagt: ‹Ich mach dich fertig. ›» Max' Mutter weicht entsetzt zwei Schritte zurück. Ihre Hand geht zum Mund, ihre Augen rollen verzweifelt hin und hervergeblich, sie finden keinen Halt. Max zieht seine Erzieherin an der Hand, damit sie ihn ansieht. «Und dann hat Papa immer gesagt: ‹Ich mach dich fertig. › Und du hast ganz laut gestöhnt: ‹Mach's!›» Max schaut verständnislos: «Ich hab mir die Ohren zugehalten, weil ich dachte, du stirbst.» Nun macht Veronika zwei Schritte auf ihren Sohn zu: «Mein Gott, Max.» Sie streichelt sein Haar: «War das neulich, als du nachts mal zu mir gekommen bist und dein Ohr an meinen Mund gelegt hast?» Max nickt: «Ich wollt hören, ob du noch atmest.» Die Mutter nimmt Max in den Arm: «Ich mag dich, Max.» «Wollt Papa dich wirklich umbringen?» «Nein!» Sie überlegt, doch ihr fällt keine «richtige» Antwort ein. Ihr Gehirn sei leer gewesen, meint sie später, tausend -4 1 1 -
Gedanken schössen ihr durch den Kopf: «Bloß jetzt nichts Falsches sagen.» Max spürt irgendwie die Hilflosigkeit seiner Mutter: «Mama?» Er sieht zu seiner Mutter hoch: «Mama, hast du mit Papa Schaukelpferd gespielt? Und das hat Spaß gemacht, nicht?» Die Erzieherin muß lachen, Erleichterung macht sich bei Max' Mutter breit: «Ja, es hat Spaß gemacht.» Max streichelt seine Mutter, geht zum Schaukelpferd, setzt sich drauf und stöhnt: «Ich mach dich fertig!» Max' Erlebnis macht deutlich, warum das Elternschlafzimmer als Grenze für Kinder bedeutsam werden kann - wohlgemerkt kann: Ein Dogma braucht diese Grenze nicht zu sein, dies liegt letztlich im Empfinden der Erwachsenen. Eltern haben das Recht auf eine eigene Intimität und ausgefüllte Sexualität- in einem eigenen Raum, zu selbstbestimmten Zeiten. Eine solche Einstellung hat nichts zu tun mit einer verqueren Einstellung zur Sexualität. Eltern, die ihre Bedürfnisse nur denen der Kinder unterordnen, die kindorientiertes Handeln milder Aufgabe der eigenen Persönlichkeit verwechseln, die in der Kindererziehung aufgehen, werden unsichtbar, sind graue Mäuse - bis zur Unkenntlichkeit in der Erziehungsaufgabe verschwunden. Sie können keine von Kindern geschätzten Persönlichkeiten sein. Denn wer keinen Respekt, keine Achtung vor sich selbst hat, der wird auch nicht respektierend geachtet. Genauso wie das Kind ein Recht auf eigene Zeiten und Räume, z. B. auf ein Alleinsein im eigenen Zimmer, hat, genauso wichtig ist es, den Kindern erfahrbar zu machen: «Ich brauche Zeit für mich! Wir brauchen Zeit für uns! Das ‹Hotel Mama› hat zu bestimmten Zeiten geschlossen.» Je normaler und selbstverständlicher diese Regel in den Alltag einbezogen ist, je konsequenter elterliche Bedürfnisse in für Kinder nachvollziehbare Rituale eingebunden sind, um so eher sind Kinder bereit - von bestimmten Tagesformen und Ausnahmen einmal abgesehen -, sich darauf einzulassen: Kinder fühlen, daß sie nicht generell ausgeschlossen werden, vielmehr nur für eine bestimmte, überschaubare Zeit auf sich gestellt sind.
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Eltern setzen ihre Grenzen in der Sache, nicht das Kind als Persönlichkeit wird zurückgewiesen, auch wenn es möglicherweise bestimmte Argumente - z.B. «Ihr mögt mich nicht!» - anführt, um Eltern moralisch unter Druck zu setzen. Und Eltern, die hier keine klare und feste Position besitzen, selbstbewußt ihre Zeit von den Kindern abverlangen, sind durchaus in der Gefahr, sich nötigen zu lassen. Überschaubare Trennungen sind - eine krisenfreie Situation in der Familie ebenso vorausgesetzt wie eine emotional feste zwischenmenschliche Beziehung - kein Problem für Kinder. Deshalb können Eltern ihre Zeiten ohne schlechtes Gewissen miteinander genießen. Wenn beim gemeinsamen Schmusen doch an «die kleinen, allein gelassenen Kinder» gedacht wird, dann ist nicht selten Beziehungsstreß die Folge: zwischen den Partnern, die sich diese Zeit einander nicht wirklich widmen, mit «einem Ohr bei den Kindern sind». Sie empfinden solche Situationen auf Dauer als Belastung, eine Belastung, von der sie sich nicht freimachen können. Den so erlebten Druck geben sie nicht selten auf eine subtile Weise an die Kinder weiter: «Du machst mich krank!» «Ich bin immer so gut zu dir! Und was machst du?» Nun läßt sich diese Klarheit nicht überall und in jeder Situation durchhalten - dies insbesondere dann nicht, wenn kleinere Kinder bis zum dritten Lebensjahr in einer Familie leben. Zwar kann man ihnen die Notwendigkeit einer eigenen Zeit und eigener Räume vermitteln, zwar kann man sie bitten, die geschlossene - nicht: abgeschlossene! -Tür zu respektieren. Gleichwohl handeln jüngere Kinder - und ich gehe nicht von einem Machtkampf aus - spontan, oder sie sind einfach vergeßlich. Stehen kleinere Kinder dann vor dem Bett, während die Eltern miteinander kuscheln, intensive Gefühle austauschen, miteinander schlafen, ist es wichtig, aufzuhören und das Kind nicht wegzuschicken. Steht das Kind vor der geschlossenen Tür und möchte hereinkommen, ist es für das Kind emotional bedrohlich, allein gelassen zu werden. Es ist besser - ich weiß: «Oh, welch Frust!» -, das Kind hineinzubitten. Kinder sind neugierig, wollen wissen, was die Eltern gerade -4 1 3 -
machen. Es reicht der Hinweis auf Zärtlichkeit, Schmusen und Streicheln - und vielleicht kann man das Kind, falls es das möchte, in ein gemeinsames zärtliches Kuschelspiel einbeziehen. Ältere Kinder haben manchmal den Wunsch, ihren Eltern beim Geschlechtsverkehr zuzusehen. Solch ein Bedürfnis hat wenig mit Voyeurismus als vielmehr mit Wissensdurst zu tun. Das Kind entwickelt - je älter es wird - Phantasien und Vorstellungen, die es nun als anschaulich-begriffliche Erfahrung hautnah erleben möchte. Es gibt Eltern, die ihren Kindern dies gestatten. Und diese Eltern berichten davon, wie Kinder, als ihre Neugier befriedigt war, weggegangen sind. Das kann durchaus sein. Meine Position ist eine andere: Sexualität gehört zwei Menschen, dies hat mit Intimität, mit Vertrautheit und Verläßlichkeit zu tun, die andere, auch die eigenen Kinder, ausschließt. Der den Kindern als biologischer Anschauungsunterricht vorgeführte Geschlechtsverkehr wirkt befremdlich; dabei ist ein komplexer Vorgang auf technischkörperliche Details reduziert. Wenn Kinder ihren Wissensdurst befriedigen wollen, dann mag es sinnvoll sein, in den nächsten Tagen eines der vielen Ratgeberbücher heranzuziehen, die Heranwachsenden auf eine ebenso einfühlsame wie konkretanschauliche Weise Details über Sexualität und den Geschlechtsverkehr zeigen. Wenn man diese Ratgeber dann gemeinsam mit den Kindern anschaut, empfinden diese eine solche Verhaltensweise nicht als elterliche Ausflucht, Verweigerung oder als Abschieben von Verantwortung. Etwas anderes ist es, wenn Kinder den Wunsch äußern, die Geschlechtsorgane der Eltern anzuschauen, sie vielleicht vorsichtig zu berühren. Wenn Eltern dies zulassen können ohne sich Zwang anzutun oder dabei ihre körperliche Integrität verletzt zu sehen -, kann dies Kindern helfen, Sexualität nicht allein als etwas Abstraktes, vielmehr in einer anschaulichsinnlichen und begrifflichen Atmosphäre zu erleben. «Mein Sohn Benjamin, fünf Jahre, hat sich neulich auf mich gelegt. Wir beide waren nackt. Da hat er seinen kleinen Penis -4 1 4 -
zwischen meine Schenkel gedrückt, sich auf und ab bewegt: ‹Mama, jetzt machen wir Ficki! Ficki!› Ich war geschockt, völlig hilflos.» Sie sieht mich verzweifelt an: «Geh sofort runter, hab ich gesagt, ihn richtig runtergeschubst.» «‹Aber Papi macht das auch! Ich darf das nicht!›» Sie überlegt: «Hat er ja recht! Aber was sollte ich sagen!» «Was haben Sie gesagt?» «Das tut man nicht!» Als sie ihren Blick senkt, meint sie spontan: «Ich weiß. Bescheuerte Antwort!» Ich will nicht weiter auf die Hintergründe von Benjamins Wünschen eingehen - die Psychoanalyse spricht von einer ödipalen Phase und Verschmelzungswünschen des Kindes -, weil sie zwar Verständnis für die Situation, nicht jedoch eine Handlungsanleitung für die Mutter mit sich bringen würde. Eine Grenzen setzende Antwort könnte in etwa lauten: Benjamin in den Arm nehmen und mit einer festen Stimme sagen: «Mit Papa möchte ich schlafen oder ‹Ficki› machen, wie du sagst. Das ist etwas, was uns beiden gehört. Ich hab dich sehr lieb, ich kuschel mit dir, ich streichle dich.» Auf «Warum»-Fragen der Kinder kann man in zweierlei Weise reagieren: Entweder im Prinzip der defekten Schallplatte: Konsequent, freundlich und fest die Sätze wiederholen: «Benjamin, das ist etwas, was Papi und mir gehört!» Oder Zurückfragen: «Was möchtest du noch wissen?» Möglicherweise steckt hinter dem Wunsch nach körperlicher Vereinigung auch Wissensdurst bzw. Vorstellungen, über die ein Kind noch weitere Informationen haben möchte. Elterlicher Geschlechtsverkehr kann beim Kind - die skizzierten Situationen zeigen es - falsch verstanden werden. Miteinander schlafen hat - aus der Sicht von Kindern - etwas Aggressiv-Gewalttätiges an sich, dies selbst dann, wenn es von den Beteiligten als intensive Zärtlichkeit erlebt wird. Dieser unterschiedliche Blickwinkel kann zu Mißverständnissen führen,
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die beim Kind gefühlsmäßige Betroffenheit nach sich ziehen kann. Angela, sechs Jahre, kommt zu ihrem Vater, Moritz Schäfer, morgens ins Bett. Er liegt schon wach, entspannt sich ein wenig. Angela kuschelt sich zu ihm, umschnurrt ihn wie eine Katze, streicht ihm durchs Haar. «Laß uns spielen, Papa», schlägt Angela mit einem Mal vor. «Nicht jetzt!» «Doch», insistiert Angela. Moritz Schäfer läßt sich breitschlagen: «Dann hol was zum Spielen. Du darfst es dir aussuchen.» «Nein! Hier spielen!» Moritz Schäfer schaut seine Tochter irritiert an: «Was meinst du?» Sie faßt seine Hand an: «Wie du das mit Mama machst!» Angela klingt fordernd. «Was mach ich mit Mama?» fragt er schnell, etwas hektisch. Ungeduldig bewegt er sich hin und her. «Ihr liegt da, unter der Decke, und dann hast du da die Hand», Angela zieht sie gegen seinen Widerstand zu sich heran und legt seine Hand auf ihren Bauch, preßt sie dort fest, «du hast da die Hand auf Mama, auf dem Bauch, und dann hat sie die Augen zu.» Angela schließt die Augen: «Und dann sagt sie zu dir: ‹Moritz, spiel mit mir..., spiel mit mir..., du mit deinen Zauberhänden. Und so geht das.» Angela macht ihre Mutter nach. Moritz Schäfer fühlt sich unwohl, aberwitzige Gedanken schießen durch seinen Kopf, als Angela ihn in die Wirklichkeit zurückholt: «Papa! Zauber auch mit mir! Bitte, bitte!» Dem Vater bleibt auf der Stelle die Spucke weg, er droht die Fassung zu verlieren: «Angela, sag mal, spinnst du völlig? Hast du schlecht geträumt oder was?» Sie, ganz selbstbewußt, die Unsicherheit ihres Vaters ignorierend, wohl auch nicht wahrnehmend: «Neulich, da kamt ihr spät nach Hause. Und du warst an meinem Bett und hast mir einen Kuß gegeben. Mami hat mich nur kurz gestreichelt. -4 1 6 -
Aber ich hab noch gar nicht geschlafen. Und sie hat zu dir gesagt: ‹Moritz, komm!› Und dann ist Mama einfach weggegangen. Sie hat mir keinen Kuß gegeben. Und dann bin ich aufgestanden. Ich wollt ein Küßchen von Mama. Und dann bin ich ins Schlafzimmer gekommen. Und da war niemand, da dachte ich, ihr seid wieder weggegangen. Aber ihr wart im Wohnzimmer. Mama lag im Sessel und du davor», sie stockt, «du hast mit deinen Händen gezaubert. Ich konnte das nicht sehen. Aber Mama hat's immer wieder gesagt.» Moritz Schäfer hat die Situation klar vor Augen. «Das war toll neulich», erzählt er mir auf einem Elternseminar, «wir haben nichts mehr gehört und gesehen. Ist doch in Ordnung, oder?» Ich nicke. Aber Angela ließ nicht locker: «Papa, was ist? Zauberst du?» «Ich mußte was machen», so Moritz Schäfer später im Gespräch. «Sie hatte wohl nicht alles mitbekommen. Und ich wollte das mit dem Zaubern auch nicht kaputtmachen. Da hatte ich einen Einfall.» «Hol die Zaubermännchen aus deinem Zimmer! Und dann machen wir Bauchtheater.» «Au, ja!» Angela springt auf, holt ihre Zauberpuppen, mit denen ihr Vater ansonsten abends vor dem Zubettgehen allerlei Tricks vorführt. Angela kommt wieder, hat schnell noch einen Bikini angezogen. Sie legt sich zum Vater, streichelt über ihren Bauchnabel: «Mein Bauchtheater...» Und bevor er antworten kann, fährt sie fort: «...ist geöffnet.» «Ob Miracoli», so nannte Angela ihre Zauberpuppe, «den Bauchnabel wegzaubern kann?» «Wir versuchend.» Beide hatten schon eine Zeitlang auf dem Bauch ihre Zaubertricks vorgeführt, als Eva Schäfer das Zimmer betritt - angezogen von dem Gekicher: «Was ist denn hier los?» «Wir zaubern, so wie Papa mit dir zaubert!»
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Eva Schäfer schaut erschrocken. Berichte über Mißbrauch von Kindern schießen spontan in ihren Kopf, ihr wird ganz heiß. Moritz Schäfer ahnt das, schüttelt lächelnd den Kopf: «Nicht wie mit Mama, wie mit dir, Angela!» Angela sieht ihren Vater an: «Meinetwegen!» Eva Schäfer wirkt noch immer einigermaßen irritiert. Ich habe das Elternschlafzimmer als mögliche Grenze bisher ausschließlich aus der Sicht der Kinder thematisiert. Damit einhergehende Probleme in der Partnerschaft sind nicht angesprochen worden. Auf einige Aspekte möchte ich deshalb eher kurz und mehr zusammenfassend hinweisen: - Es kommt mir nicht darauf an, elterliche Sexualität zu kasernieren, gar die geschlossene Tür als Patentlösung für ungestörten Sex einzuführen. Die Anmerkung einer Mutter leuchtet mir absolut ein: «Überlegen Sie doch mal, was Leute bei Seitensprüngen so anmacht: Mal eine Wohnung nur für sich zu haben, nackt herumzulaufen, zu kochen, den Eßtisch zu mißbrauchen oder in den Wald zu fahren - aber ohne Kindersitz!» Ungestörte Sexualität braucht Spontaneität, die gewährleistet die geschlossene Tür nicht unbedingt. - Und ein weiterer Aspekt zur Spontaneität: Viele Eltern schaffen ihre Kinder zu den Großeltern, zu Bekannten, mieten sich in ein Hotel ein. «Aber dann», so ein Vater, «war der Psychodruck groß, und man wollte an diesem Abend nichts anderes als fernsehen!» - Schließlich: Wenn kleinere Kinder den ganzen Tag an den Fersen der Mütter hängen, dann sind diese froh, für ein paar Stunden allein zu sein, um sich auf ihr eigenes Ich zu konzentrieren. «Dann», so eine Mutter, «kann man sich schwer auf jemanden einstellen. Wenn manche Männer meinen, man hätte keine Lust, dann sollte man ihnen erklären, warum man in dieser Phase, wenn kleine Kinder da sind, so ist. Oder der Mann sollte mal warten, bis die Frau Lust hat. Mein Mann ist manchmal wie ein eifersüchtiges Kind hinter mir her und drängelt ununterbrochen.» Eine andere Mutter stimmt spontan zu: «Selbst wenn der Kopf voll mit Erziehungsfragenist, die -4 1 8 -
Erotik im Kopf ziemlich kaputt ist, die Lust zwischen den Beinen ist aber noch da. Und die läßt sich manchmal mit einem Kissen zwischen den Schenkeln mit weniger Anstrengung befriedigen.» Die ganz verschiedenen Situationen, die sich aus Fragen und Handeln der Kinder ergeben, erfordern ganz verschiedene Lösungen. Patentrezepte gibt es nicht, Perfektionismus überfordert alle Beteiligten. Der Weg ist das Ziel - mehr denn je gilt das in der alltäglichen Sexualerziehung: Mal verläuft der Weg ebenerdig, ohne Tücken, meist sind es aber die «Mühen der Ebene», die bedrücken und entmutigen. Mut läßt sich vielleicht aus dem Trost gewinnen: In den Ebenen gibt es Oasen, die manchmal Genuß, Lust und Sinnlichkeit versprechen. Fragen der Kinder zur Sexualität fordern Eltern, manchmal überfordern sie sie auch - vor allem, wenn man meint, auf jede Frage eine Antwort wissen zu müssen. Fragen der Kinder bringen Überraschungen mit sich - manchmal auch Unsicherheit und Hilflosigkeit. Dies ist normal, alles andere unüblich. Kinder haben den Anspruch auf einen Menschen nicht auf einen pädagogischen Roboter, der ständig weiß, wie man erzieht. Dann sind Lösungen möglich, die den verschiedenen Alltagssituationen und -fragen Rechnung tragen - mal realistisch-moralisch, mal magisch-spielerisch, mal intuitiv aus dem Bauch heraus, letztlich jedoch souverän, wie die nachstehende Situation zeigt. Es ist kurz vor Mitternacht. Tilman, neun Jahre, ist auf dem Weg in sein Zimmer. Als er vor der Schlafzimmertür seiner Eltern steht, stockt er kurz... überlegt, zögert. Dann drückt er die Türklinke herunter, öffnet die Tür, sieht ins Dunkel des Zimmers. Er geht vorsichtig einige Schritte hinein, auf das Bett seiner Eltern zu. Bertold und Bruni sind liebevoll und intensiv auf sich bezogen - Bertold mit Bruni und Bruni mit Bertold. Sie liegen ineinander verschlungen, sind nur für sich da, nehmen die Welt um sich herum nicht wahr. Bruni umklammert Bertold, ihre Hände streicheln seinen Rücken. Sie hat ihre Beine fest um seinen Hintern geklammert, um ihn so intensiver zu spüren.
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Tilman hört Stöhnen, Geräusche der Lust. Er tritt ganz ans Bett heran, sieht ein in sich verschlungenes Menschenknäuel und fragt kurz und trocken: «Was macht ihr denn da?» Bruni schreckt auf, Bertold reißt den Kopf hoch. Auf der Stelle ist Schluß mit der Lust. Der Schreck fährt in sämtliche Glieder. Nach einer Sekunde des Schocks löst sich dieser in Lachen auf. Tilman insistiert: «Was macht ihr denn da?» Bertold findet seine Sprache wieder: «Tilman, das besprechen wir morgen.» Tilman fühlt sich nicht ganz so wohl in der Haut, steht noch unschlüssig am Bett, zumal seine Mutter ständig kichert. Der Vater, ein wenig ungeduldig, obwohl ihm klar war, heute würde wohl nichts mehr gehen: «Tilman, wenn du das nächste Mal reinkommst, dann klopfst du bitte an... So, nun geh!» Tilman wendet sich, geht hinaus. Er schließt die Tür. Die Eltern lachen. Bruni später: «Irgendwie war's auch 'ne Erleichterung. Da war ein Geheimnis gelüftet - so ganz unspektakulär. Wenn's auch schon 'n Schock war!» Es klopft nochmals. Bertold: «Herein!» Tilman öffnet die Tür einen Spalt, steckt den Kopf ins Zimmer: «Eine Frage hätte ich noch! Hat Bertold wenigstens ein Kondom benutzt?» Die Eltern prusten los. Tilman bleibt in der Tür stehen. Der Vater findet als erster das Wort wieder: «Jetzt ist aber Schluß. Alles andere besprechen wir morgen früh!» Bruni schläft in Bertolds Armen ein. Der nächste Morgen, beim Frühstück. Neben Tilman und den Eltern sitzt noch Philip, der ältere Bruder, mit am Tisch. Tilman wirkt nachdenklich: «Noch mal wegen gestern abend», beginnt er ganz selbstbewußt. «Wie machen das eigentlich Tiere?» will er wissen. Die Eltern schauen sich zögernd an, wissen nicht, was sie antworten sollen. Tilman spürt das. Da die Familie einen Hund hat, konkretisiert er seinen Wunsch: «Ich mein, wie machen das eigentlich Hunde?» -4 2 0 -
Als Bruni kurz überlegt, gerade zu einer Antwort ansetzen will, hakt Tilman nach: «Machen die das so verkrampft wie die Menschen?» Bruni runzelt die Stirn, wirkt nachdenklich: «Was meinst du mit ‹verkrampft›?» Tilman, ganz selbstverständlich: «Ja, du hattest gestern deine Beine so verkrampft um Bertold geschlungen. Machen Hunde das auch so?» Der Vater ist sprachlos, während die Mutter erklärt, das sei gar nicht verkrampft gewesen. Sie habe Bertold sehr lieb. Das gehöre mit dazu. Bruni bemüht sich, in knappen Sätzen zu beantworten, wonach ihr Sohn fragt. «Es war ein tolles unverkrampftes Gespräch. Ich habe versucht, nicht alles zu sagen, das Intime, das Schöne nicht zu zerlabern. Es sollten noch Geheimnisse übrigbleiben. Und da ich bei Tilmans Fragen blieb, habe ich ihn auch nicht überfordert. Und mich auch nicht. Ins Zimmer kam er nicht mehr unangemeldet. Er klopft jetzt an!»
Erwünschte Störungen? Nun sind es freilich nicht allein die Kinder, die Eltern unabsichtlich oder bewußt - bei ihren Wünschen nach Intimität und Sexualität stören oder unterbrechen. Ich habe in Beratungsgesprächen und Familienseminaren äußerst paradoxe Situationen erlebt. Jessica Roberts hat schon seit längerer Zeit erheblichen Streit mit ihrem Mann. Dieser «Beziehungsstreß» bezieht sich vor allem auf die Sexualität. Klaus Roberts wirft seiner Frau vor, «ständig mit einem Ohr beim Kind zu sein. Das ist völlig unnormal.» Sie habe zwar auch «Lust auf Sexualität, aber momentan weniger. Unsere Tochter Sarah hat bei mir Vorrang. Die ist erst knapp zwei Jahre und genießt deshalb Priorität.» Sarah kennt keine verbindlichen Abendrituale, keine zeitlichen Grenzen. Sie kann in den Wohnbereich bzw. ins Schlafzimmer der Eltern kommen, wann immer sie will. Dies müsse «Klaus eben verstehen», irgendwann habe sie auch wieder mehr Zeit für ihn. -4 2 1 -
Er vermag das «überhaupt nicht einzusehen», fühle sich zurückgesetzt. «Ich bin», so gibt Jessica Roberts im Laufe des Gesprächs ganz unumwunden zu, «froh, wenn Sarah noch lange bei uns spielt, einfach da ist. Dann hört Klaus das auch, er bekommt das ja mit, und ich brauche keine lange Diskussion, wenn es denn nicht geht.» Eine andere Situation. Beatrice Jäger, knapp vier Jahre alt, kommt bis elf Uhr abends zu ihren Eltern. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese sich schon im Bett oder noch im Wohnzimmer aufhalten. Während Wolfgang Jäger darüber sauer ist, erlebt seine Frau, Vera Jäger, diese Situation eher widersprüchlich. Zwar versucht sie, ihrer Tochter «Grenzen» zu setzen, aber, so stellt sie resignierend fest, «selbst wenn ich dann irgendwann schreie, hilft das kaum. Dann ist sie kurz darauf wieder da. Und mir tut's dann auch leid, daß ich laut geworden bin, und dann laß ich sie bei mir.» Wolfgang Jäger überläßt seiner Frau die Kindererziehung, «nur wenn's mir zu bunt wird, hau ich dazwischen. Nicht richtig hauen, aber schon mal mit Worten!» «Und wann ist das?» frage ich. Keine Antwort. Ich sehe ihn an. Er überlegt. «Wenn er was von mir will», wirft Vera Jäger dazwischen. Ihre Stimme hat einen harten Klang. Sie sieht ihren Mann an. Der, ganz spontan: «Du spinnst wohl.» Er schüttelt heftig den Kopf, tippt seinen Zeigefinger an die Stirn: «Quatsch!» «Kein Quatsch! Ich weiß schon immer, wenn du schreist. Nach zwei, drei Tagen, länger hältst du das doch nicht aus. Ich seh's dir doch schon an, wenn du von der Arbeit in die Wohnung kommst. Heute abend bin ich wieder dran!» Wolfgang Jäger wirkt konsterniert, schüttelt ununterbrochen den Kopf. Die Frau beharrt auf ihren Beobachtungen, es entspinnt sich eine Kontroverse, die sich hin- und herzieht. Während er die Beschreibungen seiner Frau völlig ablehnt,
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«reines Gequatsche», greift sie ihn mit schneidender Stimme an. «Könnte es sein», frage ich sie, «daß Sie froh sind, wenn Ihre Tochter Sie stört?» Ein Zucken ist in ihrem Mundwinkel zu sehen. «Und ob. Dann hab ich wenigstens meine Ruhe.» «Ach so», schreit er. «Ich hab's mir doch gedacht.» Kurze Pause. «Ich bin ein Mann und brauch's eben regelmäßig. Was kann ich denn dafür, wenn du das nicht so häufig haben mußt.» Sie versucht, ein wenig einzulenken: «Wenn du wenigstens zärtlicher wärst!» «Jetzt hör aber auf. Ich bin doch an allem schuld.» «Bist du nicht. Aber du willst nur deinen Spaß. Mehr nicht!» «Dann mach's dir doch selbst!» Er läßt sich beleidigt ins Sofa zurücksinken. «So ist's immer», sagt Vera Jäger resigniert. «Über dieses Theater ist nicht mit ihm zu reden.» Aus diesen beiden - sehr unterschiedlichen - Situationen lassen sich weitere Aspekte verallgemeinern, die das Grenzensetzen hinsichtlich elterlicher Sexualität unter einem anderen Blickwinkel beleuchten: - Störende Kinder werden von einigen Eltern funktionalisiert, um sich als Hochleistungspädagogen zu inszenieren, die ihre persönlichen Bedürfnisse hintanstellen, die sich als Erzieher, als Opfer darstellen, denen keine eigenen Zeiten oder Räume bleiben. Damit hier keine Fehldeutungen der vorgestellten Situationen aufkommen : Kinder sollen nicht ins Bett gebracht werden, damit «Springböcke» - wie sie eine Mutter nannte argumentieren können: «Du mußt mit mir schlafen! Das habe ich schließlich in einem Ratgeber gelesen!» - Es gibt kritische Partnerkonstellationen, in denen Kinder, die ihre Eltern bis spät in den Abend hinein nicht in Ruhe lassen, von ihren Eltern meist unbewußt dazu benutzt werden, sich einer oft als einseitig und unbefriedigend erlebten Sexualität zu entziehen. Kinder werden zu emotionalen Kuschelkissen, die -4 2 3 -
man vor sich her trägt, um den Partner auf Distanz zu halten. Wenn Kindern am Abend aus elterlicher Sicht nur schwer Grenzen zu setzen sind, dann kann - muß nicht! - auch eine gestörte körperliche und sexuelle Kommunikation von Eltern zugrunde liegen, vorausgesetzt, es sind andere Rahmenbedingungen und Faktoren, die Probleme beim Schlafengehen begünstigen, ausgeschlossen - z. B. ein fehlendes Zubettgehritual, kritische Lebensereignisse, längere Abwesenheit der Eltern, Krankheit und Schmerz. Das allabendlich auffällige Kind, das keine Grenzen findet, bei dem keine gesetzt werden, ist dann nur ein Symptom, in dem sich eine grundsätzliche Krise spiegelt. - Um angesichts der vorgestellten Situationen nicht mißverstanden zu werden: In vielen Beratungsgesprächen wird deutlich, wie Frauen ihrerseits darüber klagen, daß Männer sie vernachlässigen, nur an ihrer Karriere zimmern, keine Lust auf Sexualität haben. Sarah Winter, Mutter von vier Kindern, drückte das so aus: «Mein Mann macht mir ein Kind nach dem anderen, damit er seine Ruhe hat mit mir, um sich dann noch mehr auf seine Arbeit zu konzentrieren.»
Selbstbefriedigung Dorothea Eiser zögert, sie hat Schwierigkeiten, ihre Frage auf einem Elternseminar zu formulieren. «Also», fängt sie an, «mein Sohn, der Benno, liegt häufig auf dem Bauch. Und dann geht es auf und ab...» Sie sieht mich fragend an, ob ich sie denn wohl verstanden habe. «... er onaniert», ergänze ich. «Ja.» Ihre Stimme ist sehr leise, sie klingt brüchig. «Sein Kopf ist dann ganz rot... Ich will ihn dann ablenken. Aber nichts hilft.» Ihr Blick geht nach oben. Sie schüttelt den Kopf. Dann schaut sie mich an: «Nun hab ich gelesen, Selbstbefriedigung hat mit sexuellem Mißbrauch zu tun. Aber Benno ist nicht mißbraucht worden. Dafür leg ich meine Hand ins Feuer, ehrlich nicht. Ich bin da völlig fertig.» -4 2 4 -
Eine andere Situation. Sie «habe Angst», erzählt mir Gisela Bartels mit stockender Stimme. Ihre Tochter Jasmin, sieben Jahre, masturbiere ständig... «Ständig?» «Na, nichtständig, aber mir fällt's halt auf...» Sie ist unsicher, wirkt verzweifelt. «Sie haben Angst?» «Ja. Man liest soviel, Kinder, die das machten, seien in Gefahr.» «Ist Jasmin in Gefahr?» «Sie nicht!» Frau Bartels Stimme klingt bestimmt. «Wer?» «Ich weiß nicht... echt.» Sie hat Tränen in den Augen. «Ich hab Angst, Angst, daß Jasmin etwas passieren kann!» «Was ist Ihnen passiert?» Und dann erzählt Gisela Bartels, wie sie als Kind gern und häufig masturbiert habe. Ihre Tante habe sie einmal «erwischt». Sie sei ganz freundlich gewesen. Abends mußte «ich zu ihr ins Bett und dann hat sie mich verführt. Damals wußte ich das nicht, was das war. Ich war ja erst fünf. Aber es war auch schön...» Sie weint. «Aber irgendwann wollte ich das nicht mehr, und dann mußte ich immer zu ihr. Und sie hat dann gesagt, wenn ich nicht mehr komme, sagt sie es meiner Mutter... Ich warfroh, als sie wegzog... Und später», es schüttelt Gisela Bartels, «hatte ich sogar Mitleid mit ihr, weil sie so allein war.» Sie sieht mich ernst an: «Und nun habe ich Angst, daß Jasmin Ähnliches passiert.» Onanie, Masturbation wird mal wieder ausschließlich negativ diskutiert: War es früher eine verquere Sexualmoral, die kindliche Selbstbefriedigung mit Strafe und Zurichtung belegte, so wird Onanie heute (vor-)schnell unter der Perspektive des Mißbrauchs gesehen. Oder anders formuliert: Häufiges Onanieren gibt einen (!) Hinweis auf sexuellen Mißbrauch; Selbstbefriedigung wird vom Kind als auffälliges Verhalten inszeniert, um auf seine Situation aufmerksam zu machen. Dies -4 2 5 -
mag bei gezielten Verdachtsmomenten wichtig werden. Doch hat Selbstbefriedigung aus der Sicht von Kindern ein sehr weites Bedeutungsspektrum: - Onanie ist Bestandteil der körperlichen Selbstfindung und der emotional-sexuellen Entwicklung von Kindern. Solche Ausdrucksformen kommen häufiger vor, als Eltern meinen. Doch spielen sich diese sehr häufig in unbeobachteten Momenten ab. Onanie hat zu tun mit der Entdeckung des eigenen Körpers, mit Körpergefühl. Selbstbefriedigung spielt im übrigen auch in der Erwachsenensexualität - auch bei Paaren eine wichtige Rolle. - Daß die Berührung des Körpers mit lustvollen Momenten verbunden ist, erfährt das Kind eher beiläufig: durch die Reibung der Kleidung, durch das Liegen auf dem Bauch. Solche Gefühle werden dann durch Manipulationen verstärkt: Die Jungen berühren den Penis, drücken ihn rhythmisch gegen weiche Unterlagen; die Mädchen reizen ihren Kitzler mit der Hand, legen sich Kissen oder Stofftiere zwischen die Schenkel, um die angenehmen Gefühle zu verstärken. - Onanie bedeutet für Kinder Lust, sie bringt keinen körperlichen oder seelischen Schaden mit sich. Ein sich durch die gefühlsmäßige Entwicklung ergebendes Bedürfnis nach Selbstbefriedigung braucht nicht unterbrochen zu werden. Die häufig zu beobachtende Wiederholung der Selbstbefriedigung hat zu tun mit den lustvollen Gefühlen, die auf ein Noch-Mehr drängen, sowie der Neuigkeit, mit der ein Kind eigene Möglichkeiten entdeckt, den Körper spielerisch zu gebrauchen. - Aufmerksamkeit ist dann geboten, wenn Kinder ihre Geschlechtsorgane gegenseitig erkunden bzw. beginnen, sich gegenseitig sexuell zu stimulieren. Dies gilt insbesondere für kleinere Kinder, die die Folgen ihres Tuns nicht abschätzen können. Doch Aufmerksamkeit bedeutet nicht Verbot oder Ausgrenzung. Verbot und Ausgrenzung führen nur zu Verdrängungen, zu Heimlichkeiten. Sie helfen Kindern kaum, ein sexuelles wie körperliches Selbstbewußtsein auszubilden.
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Grenzen können nur durch klare Regeln und Rituale gezogen werden: Sexuelle Spiele müssen von Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit - also nicht ältere Kinder gegen jüngere Kinder, Jungen gegen Mädchen und umgekehrt -, von Freiwilligkeit also keine erzwungene und erpreßte Teilnahme am Spiel geprägt sein. Die Spiele dürfen nicht zu Verletzungen führen z. B. dürfen keine Gegenstände in die Scheide eingeführt werden. Und Kinder können lernen, daß nicht jede Situation des Alltags dafür geeignet ist, ihren Bedürfnissen nach Sexualität und Selbstbefriedigung nachzugehen. Bei allem Verständnis ist der vormittägliche Stuhlkreis im Kindergarten ein zwar subjektiv möglicher, objektiv aber wenig passender Ort für das Ausleben körperlich-sexueller Gefühle. Dies gilt gleichermaßen für die sonntägliche Kaffeerunde, wenn die Oma zum Besuch anwesend ist, um ihre Enkel zu sehen. Aufschieben des Bedürfnisses - nicht: Verbot! - kann ebenso hilfreich sein wie der Hinweis an das Kind, sich in eine ruhigere Ecke des Kindergartens oder in das eigene Zimmer zurückzuziehen. Solche von Verständnis getragenen Hinweise können dem Kind im Grundschulalter dazu verhelfen, Bedürfnisse nach sexueller Stimulation nicht sofort und unmittelbar zu befriedigen, sondern aufzuschieben oder zu sublimieren, d. h. sich andere, aber adäquate Symbole zu suchen, um Lust zu spüren und auszuleben.
Ungewöhnliche Entspannungsübungen Marion Weber, Mutter der siebenjährigen Patrizia, erzählt: «Ich fand es irgendwann völlig unmöglich. Patrizia nuckelte und nuckelte. Immer ging der Daumen in den Mund. Ich hab's ihr verboten. Hab ihr die ganze Sache madig gemacht. ‹Pfui›, hab ich gesagt. ‹Du siehst aus wie ein Affe...› und so.» «Hat's etwas genützt?» will ich wissen. «Und wie!» meint sie mit viel Ironie in der Stimme. «Nun onaniert sie wie verrückt. Früher hatte sie den Daumen im Mund, und nun hat sie ein Stofftier zwischen den Schenkeln, -4 2 7 -
liegt auf dem Bauch, und schon geht die Post ab.» Sie wirkt nachdenklich: «Hätt sie doch bloß noch ihren Daumen im Mund.» Eine andere Situation. Katharina, fünf Jahre, geht zwei- bis dreimal am Vormittag zu ihrem Tisch, der in der Ecke des Kindergartenraumes steht. Sie stellt ihre Beine breit, schiebt die Tischkante zwischen ihre Schenkel, bewegt sich dann rhythmisch, versunken und gedankenverloren. Ihr Kopf wird rot, ihre Augen scheinen versonnen. Katharina ist in diesem Moment nicht ansprechbar. Nach zehn Minuten kommt sie wieder zu sich, steht auf, geht zu den andern Kindern und spielt weiter. Katharinas Verhalten fällt den Erzieherinnen auf, den Kindern nicht. Sie betrachten das offensichtlich als normal. Katharinas Mutter, Julia Rückmers, ist besorgt: Auch zu Hause lege Julia ein ähnliches Verhalten an den Tag. Sie benutze dort die Stuhlkante zur Stimulation. Allerdings sei ihre Scheide stark gerötet, sie habe Schmerzen, könne aber von ihrem Tun nicht lassen. «Wann onaniert Katharina?» «Immer!» Ich runzle die Stirn. «Fast immer!» «Wann genau?» bohre ich weiter. Die Mutter überlegt, denkt angestrengt nach. Sie sucht nach Situationen, nach Anlässen, in denen sich ihre Tochter selbst befriedigt. «Wenn sie zur Ruhe kommen will», entfährt es der Mutter spontan. «Was war dann vorher?» «Na ja, dann stand sie irgendwie unter Strom. Sie nimmt sich aber auch verdammt viel vor!» «Und wie ist es mit Ihren Forderungen an Ihre Tochter?» «Na ja, ich will schon, daß aus ihr etwas wird!»
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Um die subjektive Bedeutung der Selbstbefriedigung aus der Sicht des Kindes genauer einzuschätzen, ist es unabdingbar, Zeitpunkt und Tagesabläufe der Kinder genauer zu beobachten. Viele Kinder leben unter Streß, sie sind ohne eine selbstgestaltete Freizeit in fest verplante Tagesabläufe eingespannt; viele Kinder fühlen sich unter Druck, den die Eltern ausleben oder ihren Kindern als Lebensmaxime vormachen. Permanente Spannungszustände vermögen Kinder auf Dauer nicht auszuhalten. Gibt man ihnen keine Möglichkeiten, Spannungszustände zu reduzieren, fordert der kindliche Körper sein Recht: Das Kind nuckelt, es regrediert (fällt in frühkindliche Verhaltensweisen zurück) - z.B. will es gewickelt werden, es hat übertriebene Zärtlichkeitsbedürfnisse - oder es onaniert. Während der entwicklungsbedingten Selbstbefriedigung kaum mit Sublimationen - also durch die Verlagerung auf andere Objekte - beizukommen ist, gelingt das bei der Selbstbefriedigung als Ausdruck von Entspannung eher: Suchen Sie nach Möglichkeiten, den Streß, die Überforderung des Kindes generell zu reduzieren. Man kann Formen der Entspannung - z. B. Meditation, Yoga, autogenes Training, Sport - mit dem Kind entwickeln, um ihm Gelegenheit zu geben, seine körperlichen Gefühle auf vielfältige Weise anzugehen. Wohlgemerkt: Sublimation der Selbstbefriedigung hat nichts zu tun mit Verbot. Vielmehr wird dem Kind eine Vielzahl an Techniken angeboten, damit es sich alters- und situationsangemessen entspannen kann.
Kinder-Phantasien Eine Situation aus einem Kinderhort. Im Anschluß an ein sich spontan ergebendes Gespräch über Fragen der Empfängnisverhütung während der Hausaufgaben bringt JanPeter, knapp sechs Jahre, am nächsten Tag seiner Horterzieherin Elisabeth ein buntes Kondom mit. Es entspinnt sich ein Gespräch zwischen Jan-Peter und der Erzieherin.
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«Hier», sagt Jan-Peter und zeigt ihr ein Kondom, das er sich über den Finger gezogen hat. Die Erzieherin ist überrascht, schluckt kurz. «Hier», insistiert Peter. Die Erzieherin findet mühsam ihre Worte: «Woher hast denn das?» «Aus Papas Schublade im Schrank. Der steht beim Bett.» Die Erzieherin will etwas sagen, ihr fehlen aber die Worte, sie lächelt Jan-Peter an: «Und?» «Rat mal, Elisabeth, warum schmeckt das nach Erdbeere?» «Woher weißt du denn das?» «Hab dran geleckt!» Die Erzieherin schaut Jan-Peter an: «Hmh, hmh!» Jan-Peter grinst: «Schmeckt gut! Wie Bonbons!» «Willst du auch mal?» Er hält ihr seinen Finger hin. Als Elisabeth reflexartig zurückweicht, den Kopf vehement schüttelt, fragt er ganz nachdenklich: «Elisabeth, warum müssen Kondome nach Erdbeeren schmecken?» Bevor er eine Antwort abwartet, meint er kopfschüttelnd: «Die sind doch da, daß da keine Kinder kommen. Komisch?» Während der letzten Worte ist Thomas, acht Jahre, hinzugekommen, hat sich Jan-Peters Überlegungen angehört. Thomas baut sich vor dem Jüngeren auf: «Du hast keine Ahnung.» Jan-Peter wirkt irritiert: «Ich hab doch Ahnung!» «Quatsch! Die schmecken nach Erdbeeren, weil Mama nimmt Papas Ding in den Mund. Und wenn das nach Erdbeeren schmeckt, mag Mama das lieber.» Jan-Peters Augen zucken, ein leichtes Kopfschütteln ist zu sehen, Jan-Peter runzelt die Stirn, sieht Elisabeth an. Beide wirken sprachlos. «Und das war gut so», erinnert sie sich später, «sonst hätte ich nur Blödsinn erzählt.» Während Thomas abdreht - auch in der Gewißheit, es diesem «Kleinen mal wieder gegeben zu -4 3 0 -
haben» -, schüttelt Jan-Peter den Kopf. Er klettert auf Elisabeths Schoß, sucht ihre Nähe, sieht sie mit einer Mischung aus Unsicherheit und Nachdenklichkeit an. «Im nachhinein», überlegt sie, «hat er mir, hat uns das geholfen. Jetzt konnte ich ihn annehmen und wirklich beobachten.» Nach einiger Bedenkzeit meint Jan-Peter: «Ich weiß, warum die nach Erdbeeren schmecken.» Elisabeth schaut Jan-Peter an. «Weil die Kinder, die dann nicht geboren werden, wegen dem Kon..., diesem Ding da», er zeigt mit seinem Kopf auf das Kondom am Finger, «nicht so traurig sind, wenn die keine Kinder werden.» Nach diesem Satz wirkt er, als habe er seine Lösung gefunden. Er scheint mit seiner Erklärung zufrieden. Elisabeth sagt nichts dazu, setzt ihn ab, geht und überlegt: «Hätte ich dazu nun etwas sagen sollen?» Zwei Zusätze zu dieser Situation. Kurz darauf ging die Erzieherin zu Thomas. Als sie mit ihm alleine ist, fragt sie: «Woher weißt du das mit dem Erdbeergeschmack?» Als er zu einem altväterlichen «Das weiß man doch!» ansetzen will, reagiert die Erzieherin schroff: «Zieh nicht so 'ne Show ab!» Thomas wird ernsthaft, berichtet von einer Aufklärungsbroschüre, in der er gelesen habe. «Aber», meint er zum Schluß des Gesprächs, «ich find das schon eklig. Also, ich würd doch lieber 'n Erdbeerbonbon lutschen.» Zweiter Nachtrag - fast ein Jahr später: Jan-Peter kommt zu Elisabeth, jetzt wisse er das mit «der Erdbeere auf dem Gum mi ganz genau». Seine Mama habe ihm das erklärt: Sie «mag Papas Pippi und dann küßt sie ihn. Weil nur auf den Mund küssen sei so langweilig. Und ich mag ja Erdbeeren.» JanPeter macht den Eindruck, als habe er Verständnis für die Erklärung seiner Mutter, als sei nun alles für ihn klar. Seine Augen gehen nach innen, als suchten sie Bilder für das, was die Mutter ihm erzählt hatte.
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«Aber Elisabeth, warum tut sie dann nicht Erdbeermarmelade um seinen Pippi?» «Ich mußte lachen», berichtet Elisabeth mir später, «Ja, was sollte ich sagen. Tja irgendwie hab ich dann gesagt: ‹Papas Pippi ist doch kein Brötchen.› Da hat's ihn vor Lachen fast zerrissen.» Soweit die Geschichte. Folgende Aspekte sind mir dabei wichtig: - Sexualaufklärung funktioniert nicht allein über Sprache, ist nicht allein eine Frage der präzisen Information. Vertrauen und Beziehung sind die Voraussetzung für eine Aufklärung, die sich am Kind orientiert. Das Kind braucht das Gefühl des Angenommen-Seins, das Gefühl, verstanden zu werden. - Die Erzieherin hat an der spezifischen Entwicklungsphase des Kindes angesetzt, den Erfahrungen des Kindes. Und da Jan-Peter und Thomas ganz spezifische Erfahrungen besitzen, hat sie entsprechend gehandelt. - Die Erzieherin hat ihrem Gefühl vertraut. Und sie hat den Kindern vertraut. Wenn Kinder nicht mit den Antworten auf ihre Fragen einverstanden sind, dann insistieren sie weiter, dann fordern sie Erwachsene weiter heraus. Und umgekehrt gilt auch dies: Wenn Kinder sich von Antworten überfordert fühlen, dann ziehen sie sich häufig zurück, dann schweigen sie. - Die Erzieherin hat den Erkenntnisstand beider Kinder berücksichtigt, sie hat beide für sich angenommen: Jan-Peter in seiner noch magischen Betrachtung von Wirklichkeit, Thomas in seinem schon authentisch-realistischen Herangehen. - Die Erzieherin hatte den Mut zum Fragmentarischen. Als die unterschiedlichen Erfahrungen von Thomas und Jan-Peter aufeinanderprallten, konnte sie beiden nicht zugleich gerecht werden. Sie hat sich in einem ersten Schritt für Jan-Peter entschieden, Thomas' Hinweis zunächst überhört. Dieses Überhören betraf Thomas' Einwand, als Person hat sie ihn wahrgenommen. Es war deshalb wichtig, daß sie später Kontakt zu Thomas aufgenommen hat. Noch wichtiger: Die Erzieherin besaß den Mut, Jan-Peters magische Deutung von -4 3 2 -
Realität stehenzulassen. Sie fühlte, diese Sichtweise passe momentan für ihn. Und noch wichtiger: Die magische Deutung wurde dem Kind nicht von außen auferlegt. Es war Jan-Peters ganz eigene Erklärung. Sie hatte für ihn im Augenblick alle Gültigkeit. - Die Erzieherin vertraute auf Jan-Peters Entwicklung, darauf, daß er zu ihr kommen würde, wenn es weitere Fragen, Probleme und Unsicherheiten geben sollte. Dies trat ein. Elisabeth blieb konsequent im Hier und Jetzt, orientierte sich am Hintersinn kindlicher Fragen - und nicht daran, was sie alles wußte, oder gar daran, was man zu dieser Frage alles sagen könnte. «Aber, ehrlich gesagt, damit bin ich auch ganz schön ins Schwitzen gekommen. Also das mit den Erdbeeren - mein lieber Gott, wo ich doch gar keine mag, schon gar nicht da!» - Schließlich hatte sie den Mut zu einem für Jan-Peter überraschenden Satz: «Aber Papas Pippi ist doch kein Brötchen!» Diesen Satz konnte sie nur formulieren, diese Formulierung vermochte Jan-Peter nur anzunehmen, weil die Vertrauensbasis, die emotionale Beziehung zwischen beiden Beteiligten gegeben war.
Magische Lösungen Marc und Jakob, beide knapp über sechs Jahre alt, treten mit ihrer Erzieherin, Stefanie Schrader, über sexuell gefärbte Annäherungsversuche in einen Machtkampf: Mal beißen sie in ihre Bluse, mal versuchen sie, diese zu öffnen, oder sie schleudern ihr den Turnbeutel zwischen die Beine. Stefanie mahnt, droht - vergeblich. Auch als sie deutlich ihre Grenzen formuliert, ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit einfordert, hören die Jungen nicht mit ihren Aktionen auf, selbst dann nicht, als sie Strafen androht. Im Gegenteil: Die Machtkämpfe nehmen an Intensität zu. Eines Tages - als eine ganze Gruppe von Kindern wieder um Stefanie herumsteht - springt Marc plötzlich auf sie zu, zieht sich ein kleines Stückchen an ihr hoch, ertastet ihre Brust, nimmt sie vorsichtig in die Hand, beißt dann jedoch durch den -4 3 3 -
dünnen Pullover kurz, aber heftig, vor allem sehr schmerzhaft zu. Stefanie ist von der Aktion völlig überrascht. Aber sie wirkt nur kurz geschockt. Reflexartig beugt sie sich zu Marc, packt ihn schnell, nimmt ihn auf den Arm und setzt ihm schmatzend einen Kuß auf seine Wange. «Ich mußte sofort handeln», erinnert sie sich im Rückblick. «Meine Worte, meine sprachlichen Grenzen reichten offensichtlich nicht mehr aus. Marc machte ja ständig weiter. Meine Beziehung zu Marc stimmte. Das spürte ich. Aber es mußte etwas passieren. Er war ein absolutes Schmusekind, das wußte ich. Nur vor der Gruppe, da spielte er den starken Macho... den Unberührbaren. Irgendwie war's ein Reflex von mir. Ich wollte ihm zeigen: Du tust mir weh. Ich mußte ihm das begreiflich machen. Da hab ich aus dem Gefühl heraus etwas gemacht, was er auch nicht mochte. Pädagogisch war das natürlich nicht richtig. Das weiß ich. Aber er hat mich verstanden. Für den Tag hatte ich meine Ruhe.» Sie erzählt weiter: «Marc zog sich zurück, beobachtete mich. Der Abschied war völlig normal.» Der nächste Morgen. Marc kommt ganz selbstbewußt auf seine Erzieherin zu. Ergibt ihr die Hand. Er lächelt. «Na», fragt Stefanie, «willst du wieder beißen?» Marc, ganz bestimmt : «Nee, ich bin giftig.» Daraufhin zieht er seinen Pulloverärmel hoch. Auf dem Arm hatte er sich mit Farbe eine grelle Schlange «eintätowiert», eine Schlange, die keinesfalls bedrohlich aussah: «Siehst du, ich bin giftig. Ich darf dich nicht mehr beißen.» Seine schmerzhaften und sexuell überformten Annäherungsversuche hatten ein Ende. Auch an dieser Situation lassen sich weitere Aspekte herausarbeiten, die für sexualerzieherische Vorgehensweisen verallgemeinerbar sind: - Zwar erfahre ich zunehmend von Heranwachsenden, die keinen Respekt vor der physischen Unversehrtheit ihrer Eltern, Lehrerinnen und Erzieherinnen haben. Und auch umgekehrt gilt: Manche Erwachsene nutzen schamlos ihre Vertrauensposition aus, um Kinder körperlich und sexuell zu mißbrauchen. Davon handelt diese Geschichte jedoch nicht, -4 3 4 -
vielmehr von der Vielfalt, dem Unvorhersehbarkeiten in Erwachsenen-Kind-Beziehungen. Stefanie hat zu Recht auf ihrer körperlichen Integrität beharrt, sie hat - wenn auch mit Verzögerung - darauf bestanden, daß Grenzen eingehalten werden müssen, um sich gegenseitig Respekt zuzugestehen. Doch bei allem Verständnis für kindliches Verhalten ist es unabdingbar, Kindern dann Grenzen zu setzen, wenn sie die körperliche Unversehrtheit der Erziehenden verletzen. Wenn Worte nicht ausreichen, um Grenzen zu ziehen, ist es wichtig zu handeln. - Das Handeln der Erzieherin stellte sich für Marc äußerst paradox dar. Diese Reaktion hatte er nicht erwartet. Die Erzieherin hat ihm durch eine konkrete und für ihn nachvollziehbare Aktion gezeigt: «Ich fühle mich durch dich verletzt und angegriffen.» Marc konnte ihren pädagogischen Eingriff deshalb annehmen, weil die emotionale Beziehung zwischen ihm und Stefanie stabil war: Er mochte Stefanie, sie konnte Marc annehmen. Es ging der Erzieherin nicht darum, Marc bloßzustellen, sondern ihn vielmehr ein einziges Mal eine für ihn unangenehme Erfahrung spüren zu lassen. Kinder lernen aus Erfahrung - nicht aus Worten. - Kindliche Entwicklung vollzieht sich in Beziehungen, für die Ausbildung einer eigenen Identität sind Orientierung und Halt wichtig. Doch kindliche Entwicklung spielt sich auch im Inneren des Heranwachsenden ab. Diese innere Wirklichkeit eines Kindes spiegelt sich in Mythen, in Phantasien, in Symbolen und Geschichten. Marcs Handeln verdeutlicht dies auf eine ebenso reale wie magische Weise. Zweifetsohne sind ihm die Gründe, das «Warum» seines Verhaltens, seiner Störungen, seiner Machtkämpfe nicht bewußt. Er sieht nur das Ergebnis, den unbestreitbaren «Erfolg», den er mit seinen Taten hat. Deshalb kann er auch nicht darüber reden, deshalb war es konsequent, daß Stefanie gehandelt und nicht weiter geredet hat. Marc wiederum hat für sich eine Lösung gefunden - eine gleichsam magisch-wundersame. Indem er sich in eine Schlange verwandelt, schützt er sich und Stefanie: Einerseits dient das Symbol als Schutz davor, nicht weiter zu «beißen» - «Ich bin -4 3 5 -
giftig. Ich höre jetzt auf!» -, andererseits dient die Schlange dem Selbstschutz - «Wenn du mich küßt, vergifte ich dich!» Hier zeigt sich die Bedeutung, die Kinder Monstern, gefährlichen Tieren oder Gespenstern zuweisen, sehr konkret: Die Symbole ängstigen, aber sie dienen zugleich der Bewältigung von Angst. Giftschlangen sind gefährlich. Man hat Angst vor ihnen. Deshalb ist Distanz ratsam. Ist man bzw. spielt man jedoch selbst eine Giftschlange, dann ist man stark, kann sich selber schützen und behaupten. Solche Symbole mahnen an die Einhaltung von Regeln, sie erinnern daran, vereinbarte Rituale einzuhalten. - Die Situation verdeutlicht auf eine konkrete Weise ein lösungs-orientiertes Vorgehen bei Störungen. Es wird nicht nach Ursachen gesucht - «Warum handelt Marc so?» -, vielmehr danach, wie das störende Verhalten auf eine für alle Beteiligten akzeptable und nachvollziehbare Weise zu verändern ist. Störungen werden dann nicht als Niederlagen empfunden, wenn den Beteiligten Wege aufgezeigt werden, mit Konflikten und Machtkämpfen konstruktiv umzugehen. Stefanies und Marcs Geschichten verdeutlichen einen Aspekt, der in der Sexualerziehung - aber nicht allein dort häufig ausgeblendet bleibt: Kinder entwickeln eigene magische Konfliktlösungen, Kinder weisen ihnen eine wichtige Bedeutung zu. Magie und Symbole - wie in diesem Fall die Schlange oder auch Jan-Peters Phantasie von der Funktion des Erdbeerkondoms - dienen der Bearbeitung innerer Wirklichkeiten. Magie und Symbole sind - wie das Spiel Instrumente zur Bewältigung von inneren Konflikten: Sie benennen Ängste und Unsicherheiten in symbolischer Weise. An Symbolen kann sich das Kind reiben und abarbeiten, es kann seine Ängste darin binden. Das Kind ist seinen Ängsten und Unsicherheiten nicht mehr völlig ausgeliefert. Es hat selbstbestimmte Techniken zur Hand, mit inneren Konflikten umzugehen.
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Kinderfragen Volker Apel, Vater der sechsjährigen Jessica, ist fast froh, als sie fragt, woher denn Kinder kommen. Er hatte sich schon seine Gedanken gemacht, warum sie niemals fragte, wo doch alle anderen Kinder ihre Eltern mit ihrem Wissensdurst nervten: «Hab ich was falsch gemacht? Waren wir zu prüde?» Dabei hatte er - wie beiläufig - Kinderbücher zum Thema Aufklärung «in der Wohnung herumliegen lassen». Jessica ignorierte diese, schien anders zu sein als jene Kinder, die in der Ratgeberliteratur vorkommen und Fragen formulieren, auf die die dort vorgestellten Eltern nur richtige Antworten haben. Nun war die Gelegenheit da. Volker Apel antwortete nicht auf Jessicas Fragen - er referierte über den Zeugungsakt, der natürlich kein technischer Vorgang sei, sondern ein Akt der Liebe, er dozierte über Lust, über seinen Penis, die Feuchtigkeit der Mutter, seinen Samenerguß, über das Einnisten des Eis in der Gebärmutter. Er bemühte sich um eine kindgerechte Sprache. Doch bei allem Bemühen übersah er Jessica, die voller Erstaunen dasaß, den Redeschwall ihres Vaters nicht stoppen konnte, so sehr brach es aus ihm heraus - nach den vielen Seminaren zur Sexualaufklärung, den langen Seiten in Aufklärungsbroschüren. Volker Apel redete und redete, erzählte vom Fötus, ja, er gebrauchte dieses Wort, verbesserte sich dann, sprach vom kleinen Kind, das im Bauch wächst, davon, daß die Mutter dicker und dicker werde, daß sie ihr Kind spürt bis es eines Tages, nein: nicht eines Tages, vielmehr nach neun Monaten, manchmal früher, manchmal später das Licht der Welt erblickte. «Tut das weh?» «Was?» «Wenn das Kind gemacht wird?» «Was?» «Wenn der Pippi in Mama steckt?»
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Diese Frage hatte er nicht erwartet, seine Tochter war noch bei der Zeugung, er schon bei der Geburt. Er wirkte irritiert: «Ich glaub nicht, wenn es feucht ist...» «Wie wird es feucht?» Volker Apel referierte von Drüsen und Hormonen, von Lust und Empfindung - alles in einer «kindgerechten» Sprache, versteht sich. Als er am Ende war, nicht mehr weiterwußte, unterbrach Jessica ihren Vater, offenbar einen weiteren Referatsschwall befürchtend. Nun wisse sie es, meinte sie ganz bestimmt, sie wolle keine Kinder haben, weil alles nur weh tue am Anfang, wenn keine Feuchtigkeit da sei, und am Ende bei der Geburt. Nein, Jessica war sich da sicher, mit ihr seien keine Kinder zu machen. Sie stand auf, streichelte ihren Vater flüchtig und ließ ihn mit der Erkenntnis zurück: «Wie man's macht, macht man's verkehrt. Nie wieder Aufklärung!» Kinderfragen nach Sexualität können sich aus verschiedenen Motiven ergeben: - Bei Kindern um das vierte/fünfte Lebensjahr herum kann Wissensdurst ein zentrales Motiv sein. Das Kind hat Erfahrungen gemacht, es kommt mit dem vorhandenen Wissen nicht mehr aus. Es will veränderte Informationen neu einordnen. - Das Kind hat auf seine bisherigen Fragen Antworten bekommen, die seinem Altersstand entsprachen, sich aber nun als unzureichend erweisen. Vielleicht haben Erwachsene nicht aktiv genug zugehört, haben die Bedeutung, die hinter den Kinderfragen standen, nicht erkannt oder fehlinterpretiert. - Mißverständnisse ergeben sich für Kinder häufig daraus, daß Erwachsene sehr intellektuell-rationalistisch antworten, sich nicht auf die Wahrnehmungs- und Erlebnisbesonderheiten von Kindern einlassen können. Nicht die richtige ist die passende Antwort, vielmehr eine wahrhaftige, die sich an den Vorstellungen und Phantasien von Kindern orientiert.
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Aus diesen Anmerkungen lassen sich einige Grundsätze ableiten, die bei der Beantwortung von Kinderfragen zur Sexualität von Eltern zu beachten sind: 1. Es ist wichtig, den Sinn einer Frage zu erkennen. Kinder fragen in der Regel nicht abstrakt, sie fragen nicht wissenschaftlich, sie sind als Menschen am Menschen interessiert. Deshalb muß auf kindliche Fragen kein sexualwissenschaftlicher Vortrag erfolgen. Zwar ist es wichtig, daß Eltern - wollen sie kompetent antworten - Bescheid über das wissen, was sie vermitteln wollen. Aber nicht alles das, was sie beherrschen, müssen sie in ihren Antworten unterbringen. Sonst beherrscht man mit seiner Antwort das Kind. Ein langatmiger Wortschwall verkennt nicht nur den Sinn der Kinderfrage, er geht meist auch am Erkenntnisstand des Kindes vorbei. 2. Je kleiner das Kind, um so konkreter, klarer, knapper und anschaulicher können die Antworten sein. So wichtig es ist, Sachverhalte nicht zu verfälschen, so bedeutsam ist der Mut zum Fragmentarischen. 3. Durch diesen Mut können weitere Fragen der Kinder angeregt werden. Dies ist um so wahrscheinlicher, je intensiver sich ein Kind durch die Antworten angesprochen fühlt. Antworten haben deshalb die Empfindung des Kindes zu berücksichtigen. 4. In elterlichen Antworten können Rückfragen an Kinder enthalten sein - z. B. «Wie stellst du dir das vor?» Rückfragen können zu Assoziationen und Phantasien führen, die dem Erwachsenen zeigen, wo das Kind intellektuell und emotional steht. Jedes Kind hat Vorstellungen, Meinungen, Haltungen, an denen sich Erwachsene orientieren sollten. Antworten, die nicht am Hier und Jetzt des Kindes anknüpfen, überfordern es. 5. Schließlich: Eine Sexualerziehung, die sich nicht als Prozeß versteht, überfordert alle Beteiligten und bleibt letztlich unbefriedigend. Befriedigende sexuelle Beziehungen, eine erfüllte Sexualität zu leben, ist eine lebenslange Aufgabe.
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Kapitel 15 Mißbrauchte Grenzen
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Der sexuelle Mißbrauch von Kindern hat die Diskussionen um kindliche Sexualität in den letzten Jahren nachhaltig geprägt. Diese Debatte war ebenso notwendig wie hilfreich, verschaffte sie doch einem lange tabuisierten Thema nicht nur jene Aufmerksamkeit, die es verdient hat. Es ermutigte die Opfer des Mißbrauchs, über erlittene Qualen zu reden, Geheimnisse, die keine sind, zu entschleiern, sich vom Druck, von Alpträumen zu befreien. Allerdings - und dies ist die Kehrseite der Publizität - blieb die andere Seite der Sexualität, die Freude am Körper und an Berührungen, zuweilen auf der Strecke. Normale Ausdrucksformen kindlicher Sexualität - z.B. sexuelle Spiele, die Onanie - betrachtete man vorschnell und einseitig unter dem Gesichtspunkt des Mißbrauchs. Will sagen: Manche Veröffentlichung, manche Vorträge und Seminare zu diesem Thema waren von Vereinfachungen gekennzeichnet - nicht die ganze Palette kindlicher Ausdrucksformen von Sexualität kam ins Blickfeld, vielmehr reduzierte man diese auf den Mißbrauch. Aufklärung darüber macht Sinn, wenn sie Eltern und andere pädagogisch Handelnde sensibilisiert, sexuelle Aktivitäten und Handlungsmuster auch, aber nicht ausschließlich und zuvorderst unter dem Gesichtspunkt des Mißbrauchs zu betrachten. Diese hier gewünschte Sensibilität ging mir in der öffentlichen wie pädagogischen Diskussion unter, ja manchmal gewann ich den Eindruck, als würden Seminare, Fortbildungen und Veranstaltungen nicht einer differenzierten Aufklärung, der Schärfung und Erweiterung des Blickwinkels, mithin der Kompetenzerweiterung dienen, als vielmehr der Ausbildung von Detektiven, die befähigt werden sollten, Mißbrauch nicht nur zu erkennen, sondern gar noch zu therapieren. Mögen die entsprechenden Maßnahmen vom Willen zur Aufklärung getragen sein, von der Überzeugung, «nur das Beste zu wollen», mancher «gute Wille» endete in Oberflächlichkeit, Maßnahmen erwiesen sich als kontraproduktiv. -4 4 1 -
Hinzu kommt die andere, schon angedeutete Kehrseite der öffentlichen Debatte. So wie im Zusammenhang mit der AidsDiskussion manche überwunden geglaubte, jedoch offensichtlich nur verdrängte Lust- und Sexualfeindlichkeit an Boden gewann, so konnte man Ähnliches im Zuge der sexuellen Mißbrauchsdebatte beobachten. Manchmal hatte ich den Eindruck, als könnten Vertreter und Vertreterinnen einer restriktiven Sexualmoral die Diskussionen über den sexuellen Mißbrauch für sich funktionalisieren, um einer neuen Sinnenfeindlichkeit das Feld zu bereiten. Das ist kein Vorwurf an jene, die sich engagiert um die Opfer des sexuellen Mißbrauchs kümmern - gleichwohl verlaufen Diskussionen über Sexualität nicht in einem gesellschaftsfernen Raum. Diskussionen sind eingebunden in sozialpsychologische und soziokulturelle Rahmenbedingungen. Dieser Rahmen war und ist in Deutschland - auch bezüglich der Sexualität - mehr geprägt von Verleugnung, Verdrängung und Heimlichkeit als von Klarheit. Und deshalb darf das, was die siebziger und achtziger Jahre an positiven Aufbrüchen - und wenn sie nur Spurenelemente wären - mit sich brachten, z.B. im Hinblick auf mehr Emotionalität in zwischenmenschlichen Beziehungen, nicht verlorengehen. «Ich hab gelernt, einen Schüler auch mal auf die Schulter zu klopfen, ihm übers Haar zu streicheln - natürlich nur, wenn er wollte. Und nun soll ich wieder umdenken. Ich komm mir gefühlsamputiert vor», berichtet Josef Alberts, ein Grundschullehrer. «Aber diese gefühlsmäßige Basis hat mir, den Schülern gutgetan. Und ich mache so weiter. Und wenn ein Schüler auf den Schoß kommt, weil er traurig ist oder Nähe will, dann kriegt er Zuwendung. Ich laß mich nicht verrückt machen!» Roswitha Schneider arbeitet als Erzieherin in einer Krippe, sie hat mit Kindern bis zum dritten Lebensjahr zu tun: «Wenn ich nun Kinder wasche, wickeln muß, diese kleinen knackigen Hintern der Jungen sehe, dann schau ich da gerne hin. Ja, ich hab gute Gefühle dabei.» Sie sieht mich an, ob ich das wohl richtig verstanden hätte. «Aber ich käme doch nie auf die Idee, -4 4 2 -
solch ein Kind zu mißbrauchen oder an ihm zu manipulieren.» Sie stockt: «Es darf doch nicht sein, daß die Perversen die Meßlatte für den normalen Umgang mit Sexualität legen.» Restriktive Sexualmoral ist der Nährboden, auf dem Mißbrauch gedeiht. Je stärker verdrängt, je geheimnisumwitterter sich Sexualität gibt, desto schneller ist Mißbrauch möglich. Die eine, puristische Heimlichkeit zieht die andere - die brutale, Kinder mißachtende, ihre Seele zerstörende - Heimlichkeit nach sich. Es gibt keinen wirkungsvollen Schutz vor Mißbrauch, aber es gibt Erziehungsziele, es gibt Erziehungsbeziehungen, die den Schutz begünstigen. Zunächst gilt: Kinder müssen in die Lage versetzt werden, sich selbst zu schützen. Unselbständige Kinder, Kinder mit mangelndem Selbstbewußtsein und fehlendem Körpergefühl, Kinder, die nicht gelernt haben, «Nein!» zu sagen, bzw. von ihren Eltern nicht darin ermutigt wurden, können häufiger in die Position des Opfers geraten als Selbstbewußtsein und Eigenständigkeit ausstrahlende Kinder. Körperbewußtsein - «Ich mag mich!» «Ich nehme mich an!» «Ich habe einen schönen Körper!» «Wer meinen Körper berühren darf, das bestimme ich!» - sowie sexuelles Selbstbewußtsein - z. B. zärtlich zu sich und anderen zu sein, einen liebevollen Umgang im zwischenmenschlichen Bereich pflegen - sind wirksame Schutzmechanismen vor Mißbrauch.
Fehlender Respekt Anna-Lena, knapp zwei Jahre, steht im langen Flur der elterlichen Wohnung. Es klingelt. Die Mutter öffnet die Tür, Anna-Lena wartet ein paar Schritte hinter ihr. Als sie die Oma entdeckt, die Anna-Lena seit einigen Monaten nicht gesehen hat, wohnt die Oma doch in einer entfernten Stadt, versteckt sich das Mädchen instinktiv hinter der Mutter, hält sich an einem Bein fest. Anna-Lena sucht Schutz hinter dem Rücken der Mutter. Es folgt eine kurze, herzliche Begrüßung zwischen den Erwachsenen.
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Die Großmutter, ganz freundlich-gelassen: «Na, wo ist denn Anna-Lena?» Die hält sich krampfhaft hinter der Mutter verborgen, nicht bereit, sich auf die Lockungen der Oma einzulassen. Als diese einen Schritt vortritt, um ihre Enkelin zu erspähen, läuft Anna-Lena ein paar Schritte in den Flur hinein. In sicherer Entfernung stoppt sie, dreht sich um, schaut ihre Oma unsicher an. «Na, komm, Anna-Lena!» Die Stimme der Großmutter klingt weiter freundlich, nicht drängelnd. Aber Anna-Lena bleibt stur. Sie läßt sich auf nichts ein - die Zeit ist noch nicht reif für Annäherungen. Nun bekommt die Stimme der Großmutter einen ungeduldigen Klang, und sie breitet ihre Arme aus, streckt sie in Richtung ihrer Enkelin aus - so als solle diese sich freudig in ihre Arme stürzen. Doch Anna-Lena tut ihr den Gefallen nicht: Je vehementer die Bemühungen der Großmutter, die Enkelin anzulocken, um so mehr versteift diese sich, die Arme abwehrend ineinander verschränkt. Die aufeinandergepreßten Lippen verraten Ablehnung, so als wolle sie sagen: «Nein, ich komme nicht!» Die Mutter geht zwei Schritte in Richtung auf Anna-Lena zu, die - froh um den vertrauten Halt - sich in den Rock ihrer Mutter verkrallt: «Was ist denn, Anna-Lena? Kennst du Oma nicht mehr?» Anna-Lena schüttelt den Kopf. Sie kann sich beim besten Willen nicht an die liebenswürdige Person erinnern, die da in einiger Entfernung steht. Wie denn auch? Sind seit ihrem letzten Besuch doch Monate vergangen. «Na, nun geh zu Oma!» meint die Mutter etwas genervt. Anna-Lena bleibt stocksteif, bewegt sich keinen Millimeter vorwärts. Die Großmutter nestelt an der abgestellten Reisetasche, holt Schokolade hervor, von der sie weiß, da «schmilzt meine Enkelin hin», wedelt damit in der Luft: «Guck mal, Anna-Lena, die magst du doch. Hat Oma dir mitgebracht!» Anna-Lena schaut neugierig an ihrer Mutter hoch. Tatsächlich - Oma hat ihre Lieblingsschokolade mitgebracht.
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«Na, nun geh mal.» Die Mutter versucht, ihrer Tochter einen kleinen Stups zu geben. Noch hat Anna-Lena auf «Nein» geschaltet. Sie bewegt sich nicht - nur ihr Kopf dreht sich neugierig in Richtung der Großmutter. «Na, komm, Anna-Lena!» Die Stimme der Mutter wird lauter: «Oma hat dich so lange nicht gesehen. Die ist ganz traurig, wenn du nicht gehst.» Dieses Mal klappt es: Langsam, ganz langsam löst sich Anna-Lena aus der Verbindung zu ihrer Mutter, geht vorsichtig, Schrittchen für Schrittchen, tastend auf die Großmutter zu, die sie in ihre Arme zieht. Und es kommt, wie es kommen mußte: Die Großmutter hält Anna-Lena - aus ihrer Sicht verständlich klammernd in ihren Armen. Anna-Lena läßt alles über sich ergehen. Sie spürt nicht die Umarmungen, die - herzlich gemeinten - Küsse, Anna-Lenas Augen sind auf die Schokolade gerichtet, und ein hilfloser Blick geht in Richtung Mutter, so als wolle sie sagen: «Ich hab Oma ja lieb. Aber muß es immer so schnell gehen!» Die psychischen wie emotionalen Bedingungen, die sexuellen Mißbrauch befördern können, fangen früh an bzw. werden durch unüberlegte Handlungsmuster von Erwachsenen, die sich der Konsequenz ihres Tuns nicht bewußt sind, begünstigt. Kleine Kinder entwickeln ab dem sechsten Lebensmonat, dem sogenannten Fremdel-Alter, hervorgerufen durch eine Verfeinerung ihrer Sinneswahrnehmung - z. B. der visuellen Kompetenzen - die Fähigkeit, zwischen vertrauten und unvertrauten Personen zu unterscheiden. Vertraute Menschen, die das Kind täglich oder ganz regelmäßig erlebt, geben Halt, Orientierung und Verläßlichkeit. Auf diese Personen bezieht sich das Kind, ihnen vertraut es bedingungslos. Den unbekannten Personen steht es zunächst skeptisch, «fremdelnd» gegenüber. Es betrachtet unvertraute Menschen aus einer Distanz. Diese Distanz verschafft dem Kind Sicherheit. Ein Erwachsener kann diese Distanz aushalten, denn sie hat nichts mit fehlender Liebe oder Emotionalität seitens der Kinder zu tun. Das kleine Kind - aber nicht nur das kleine - braucht viel mehr Selbstvertrauen zu sich, um Kontakt -4 4 5 -
zu dem ihm unbekannten Menschen - und sei es die Großmutter - aufzunehmen. Das Kind setzt - wie Anna-Lena - eine Grenze. Aus der Sicht des Erwachsenen mag dies einigermaßen befremdlich wirken. Aber eine durch das Kind in dieser Weise gezogene Grenze bietet Schutz, sie verschafft ihm Sicherheit. Nur im Wissen und im Vertrauen darauf vermag sich das Kind in einer ihm unvertrauten Situation zurechtzufinden. Das Kind spürt instinktiv, ohne diese Grenze bin ich überfordert, würde ich mich emotional ausliefern. Hat das Kind die unbekannte Person lang genug aus sicherer Distanz erlebt und eingeschätzt, beginnt es, sich sicherer zu fühlen, nimmt es - wenn auch zunächst nur zögernd und vorsichtig - Kontakt auf. Das kann über Blickkontakt gehen, über kleine Spielchen, die Annäherung signalisieren. Wichtig: Die Regeln dieser Spiele bestimmt das Kind. Werden die von Kindern aufgebauten Grenzen wie bei AnnaLena nicht respektiert, werden sie durch Bestechung z. B. Spielzeug, Süßigkeiten oder emotionale Nötigung («Oma ist ganz traurig!») niedergerissen, können Verhaltensunsicherheiten die Folge sein. Wohlgemerkt: Sie müssen nicht auftreten! Verhaltensunsicherheiten ergeben sich vielmehr aus der Häufigkeit, mit der Kindern dieser Erziehungsstil aufgebürdet wird. Für das Kind stellt sich solches Verhalten der Eltern als Zwickmühle dar: Da ist einerseits das eigene Gefühl, daß mein «Nein!» stimmt, daß mein Körper «Halte Distanz!» signalisiert; da sind andererseits vertraute Erwachsene, die einen auffordern, gegen das eigene innere Gespür zu handeln. Wer Kinder in diesem Lebensabschnitt nicht darin bestärkt, zu eigenen Gefühlen zu stehen, macht sie handlungsunsicher, entzieht ihnen Schutzmechanismen, die sich in anderen Situationen - z.B. wenn Eltern oder andere Bezugspersonen nicht anwesend sind - als hilfreich und lebenserhaltend erweisen. Deshalb: Bestärken Sie Ihr Kind in seinem «Nein!», auch wenn das anderen Personen weh tut! Akzeptieren Sie Grenzen, die das Kind setzt! Ihr Kind erfährt: Meine körperliche Unversehrtheit wird von jenen Personen, zu denen ich -4 4 6 -
Vertrauen habe, höher bewertet als irgendwelches «gute Benehmen», das die Umwelt von mir erwartet. Und das Kind verinnerlicht ein wichtiges Modell: Erwachsene haben Respekt, haben Achtung vor meinem Körper! Und umgekehrt: Erwachsene, die meinen Körper nicht respektieren, werden auf Distanz gehalten. Kinder, deren «Nein!», deren Wünsche nach Distanz von Erwachsenen ständig mißachtet werden, handeln nicht allein unsicherer, mißtrauischer oder ängstlicher gegenüber eigenen Gefühlen; sie werden auch distanzlos, da sie keine Beziehung zu festen Bezugspersonen aufbauen bzw. nicht lernen konnten, zwischen bekannten Personen, denen man vertrauen kann, und unbekannten Personen, denen man abwartend gegenübersteht, zu unterscheiden. Für diese Kinder sind alle Menschen gleich fern bzw. gleich nah. Da Kinder ohne Bindung nicht leben können, vielmehr gefühlsmäßig verwahrlosen würden, gehen sie ohne Distanz auf jeden Erwachsenen - aber auch auf Kinder - zu. Sie werfen sich ihnen - im wahrsten Sinne des Wortes - an den Hals, kriechen auf ihre Schöße, klammern sich an jeden Rock- und Hosenzipfel, den sie fassen können. Und werden sie von einer Person abgewiesen, dann steht schon die nächste als Klammerobjekt bereit. Diesen Kindern fehlt es meist an Selbstwertgefühl. Sie verfügen zudem über kein körperliches oder sexuelles Selbstbewußtsein, sind mithin in erheblichem Maße mißbrauchsgefährdet, können ihre Anlehnungsund Sicherheitsbedürfnisse doch jederzeit zum körperlichen und seelischen Schaden des Kindes ausgenutzt werden. Distanzlosigkeit ist nun nicht allein Folge eines Erziehungsstils; Distanzlosigkeit kann sich auch aus ungünstigen Lebensumständen während des ersten Lebensjahres ergeben: z. B. eine krankheitsbedingte längere Abwesenheit des Kindes von der Familie; Tod und Trennung von der Mutter; ständig wechselnde Bezugspersonen etc. Bauen Kinder in den ersten Lebensmonaten keine feste Bindung auf, sind sie nicht eingebunden in ein verläßliches -4 4 7 -
Koordinatensystem, dann können Distanzlosigkeit fehlendes Körperbewußtsein die Folge sein.
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Erlebter Mißbrauch Björn, fünf Jahre, fällt seinen Erzieherinnen im Kindergarten während der letzten Wochen auf: An bestimmten Tagen kotet er ein, setzt seine «Häufchen» so gezielt in den Sandkasten oder die Spielwiese, daß sie nicht zu übersehen sind. Danach geht er in den Waschraum, zieht sich Jeans und Unterhose aus, stellt sich in die Dusche, nimmt eine Handdusche zur Hand, spült sich damit seinen Po ab. Zwei- bis dreimal am Tag geht er zudem in die Puppenecke, nimmt sich eine Puppe, setzt sie sich auf den Bauch, ahmt einen Geschlechtsakt nach, den er lautstark kommentiert: «Ich fick dich! Ich fick dich!» Manchmal ergänzt er: «Ich fick dich tot!» Auch wenn er dieses Spiel beendet hat, geht er mit seiner Puppe zum Waschbecken, säubert sie zwischen den Beinen, trocknet sie dann zärtlich ab, legt sie in die Ecke zurück. Die Erzieherinnen finden zunächst keinen Zugang zu Björn, obgleich sie sein Einkoten als ernsten Hilfeschrei deuten. Ähnliches gilt für sein Spiel in der Puppenecke oder sein Waschritual. Das Kindergartenteam lädt mich gemeinsam mit einer Kollegin sowie Björns Mutter zu einem Gespräch ein. Die Erzieherinnen fühlen sich mit der Gesamtsituation überfordert. Auch der Mann ist eingeladen, er bleibt der Unterredung allerdings fern. Die Mutter, Paula Schmitz, 35 Jahre, wirkt unscheinbar: Die Haare fallen strähnig, ungewaschen über ihr Gesicht, die Augen sind dunkel umrandet, liegen tief in den Höhlen. Sie trägt Jeans, darüber einen langen Pullover, der bis zu den Knien fällt, keine Konturen ihres Körpers sichtbar werden läßt. Breitbeinig, erschöpft sitzt sie im Sessel. Die Hände zittern, als sie eine Tasse mit heißem Kaffee anfaßt. Sie sieht elend aus, Kummer, Leid und Unglück stehen ihr im Gesicht geschrieben.
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Die Erzieherinnen erzählen sehr genau von ihren Beobachtungen, versuchen, Paula Schmitz zu einer Stellungnahme zu bewegen. Nachdem sie anfänglich den Gesprächsverlauf blockiert hat: «Ich weiß auch nicht, woher das kommt!», erzählt sie, sie habe «das mit der Puppe zu Hause schon mal gesehen. Das war aber sein Teddy.» Sie denkt nach: «Aber er kann's nicht sehen!» «Was nicht sehen...», fragt meine Kollegin. «Wenn mein Mann über mich herfällt.» Und dann erzählt sie, wie ihr Mann sie jeden Tag zwinge, mit ihm zu schlafen. «Ich laß das geschehen. Ich denke an was anderes. Wenn er auf mir liegt. Der stöhnt nur und stößt zu. Ich denke einfach an was anderes... Und dann ist der auch schnell fertig!» «Und wo ist Björn?» «In seinem Zimmer. Dort ist er eingesperrt, oder wir schicken ihn solange nach unten!» «...hört er oder sieht Björn etwas...», will ich wissen. «Ich weiß es nicht. Vielleicht. Vielleicht auch nicht?» Sie überlegt. «Hinterher, ja, da bekommt er schon was mit. Wenn mein Mann fertig ist, geht er runter, will sein Essen. Beschimpft mich, daß ich nicht mitmache im Bett. Ich geh dann erst mal aufs Klo, stell mich in die Badewanne und laß lange heißes Wasser zwischen meine Schenkel laufen. Ich will sauber werden. So ist's immer: Mein Mann nimmt mich, wirft sich auf mich rauf, dann geht er. Ich spüre nichts. Gut, dann geh ich eben aufs Klo und wasch mich. So kann ich's aushalten!» Das Team wirkt erschüttert. Eine Erzieherin verläßt den Raum, Tränen in den Augen, sie würgt, hält die Spannung nicht mehr aus. «Wenn ich nackt unter der Dusche stehe, schaue ich meinen Körper an. Ich frage mich dann, warum mein Mann eigentlich noch Lust auf mich hat!» -4 4 9 -
Paula Schmitz wirkt apathisch, ohne Schmerz, ohne Tränen. Ein geschundener Körper, dessen Seele, um zu überleben, sich ins ganz Innere zurückgezogen hat. «Ich glaube, irgendwas bekommt Björn natürlich mit: ‹Warum duschst du so häufig›, fragt er.» «‹Ich mach mich sauber.› Was soll ich auch sonst sagen?» «Haben Sie den Eindruck», fragt meine Kollegin, «Björn bekommt mit, was Ihr Mann mit Ihnen macht?» Sie sieht uns beide an: «Am Anfang hab ich noch gesagt, schick Björn raus... Aber», sie stockt, «...aber ich hab einfach nicht mehr die Kraft dazu. Er wirft mich ja auch auf den Boden..., er schmeißt Björn schon raus..., aber...» Sie zuckt resignierend mit den Schultern: «Was soll's. Ich hab einfach nicht die Kraft... Und ich denk, er kriegt schon was mit.» Als Paula Schmitz nach dem Gespräch den Kindergarten verläßt, wird sie von ihrem Mann zu Hause erwartet. Er schlägt sie zusammen, vergewaltigt sie. Als ihr Mann dann einschläft, flieht sie in den Kindergarten. Meine Kollegin besorgt ihr einen Platz in einem Frauenhaus der nächsten Stadt. Björn kommt mit. Seine Waschrituale halten noch über einen Monat an. Erst als sich die gesamte Situation der Mutter stabilisiert, hört Björn mit dem Einkoten und seinen Ritualen auf. Diese Situation macht einen anderen Aspekt deutlich, der im Zusammenhang mit dem sexuellen Mißbrauch zuwenig Beachtung gefunden hat. Kinder sind nicht nur unmittelbare Opfer des Mißbrauchs, viele Kinder werden zu Augen- und Ohrenzeugen und damit indirekt zu Opfern sexueller Gewaltakte. Dies gilt nicht nur für Kinder aus den Krisengebieten der Welt, wo sie Vergewaltigung und sexuelle Nötigung ihrer Mütter aus nächster Nähe miterleben. Dies trifft auf Kinder im mitteleuropäischen Alltag zu, in denen sie den Mißbrauch durch den Vater oder den Lebensgefährten der Mutter miterleben. Das Kind macht nicht nur eine unfaßbare, brutale Erfahrung, es erlebt sich auch in einer absoluten Hilflosigkeit, einer Handlungsunfähigkeit, die in zerstörerische Aggressivität umschlagen kann. -4 5 0 -
Niko, elf Jahre, erzählt: «Einmal als mein Vater auf meiner Mutter lag..., da hab ich sie schreien hören, ganz laut..., und dann hat sie nur noch gewimmert.» Er stockt: «Dann hab ich 'ne Schere genommen und bin ins Wohnzimmer und hab voll in seinen Arsch gestochen.» Niko grinst verzweifelt: «Er ist aufgesprungen. ‹Gib mir die Schere›, hat er geschrien, ‹oder ich schlag deine Mutter tot.› Ich hab sie ihm gegeben. Da hat er mir mit der Schere die Haare abgeschnitten.» Niko zeigt mir einige Stellen an seinem Kopf, an denen noch die Spuren des väterlichen Gewaltakts sichtbar werden. Aus solchen Erfahrungen, wie sie Björn oder Niko erlebt haben, können sich vielfältige emotionale Konsequenzen ergeben. - Die Mutter lebt ihren Kindern ein unterentwickeltes Körperbewußtsein vor. Sie hat zudem - aufgrund ihrer Lebensgeschichte - kein sexuelles Selbstbewußtsein ausgebildet. Und da es an lebbaren Alternativen fehlt, hat das Modell für die Kinder Gültigkeit. Diese Kinder können potentielle Opfer von körperlichem wie seelischem Mißbrauch werden oder sie werden aus einem Gefühl ohnmächtiger Wut heraus selber zum Täter. - Es kann bei Kindern zu Verhaltensregressionen kommen, d.h., sie fallen in frühkindliche Handlungsmuster zurück: Einkoten, Einnässen, Flucht in Krankheit und Schmerz... Zudem sind Minderwertigkeitsgefühle sichtbar, die Kinder wirken entmutigt, kapseln sich ab. Fehlendes Körperbewußtsein kann sich in übertriebenen Berührungsängsten zeigen. - Verhaltensregressionen können - im wahrsten Sinne des Wortes - in zerstörerische Aggressionen umschlagen. Da Kindern wie Björn oder Niko in körperlicher Hinsicht kein Respekt entgegengebracht wird, ihr Wunsch nach körperlicher Unversehrtheit kaum erfüllt ist, entwickelt sich in den Kindern auch keine Achtung vor der körperlichen Unversehrtheit anderer Menschen.
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Kapitel 16 Kind, Tod und Trauer
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Marlene, fünf Jahre, kommt ins Wohnzimmer, setzt sich nahe ihrer Mutter aufs Sofa. Marlene sieht ihre Mutter, Friedrike Ammon, an: «Kannst du sterben, Mama?» Die Mutter schluckt, denkt: «Jetzt geht's auch bei mir mit diesen Fragen los.» Dann dreht sie sich langsam zu ihrer Tochter, nimmt deren Hand und nimmt sich vor: «Friederike, jetzt laber nicht!» Mit fester Stimme antwortet sie auf Marlenes Frage: «Ja!» Die Mutter wirkt unsicher. Was ihre Antwort bei der Tochter wohl auslösen wird? Marlene lächelt, ihre Stimme klingt bestimmt: «Aber noch lange nicht!» Die Mutter nickt: «Ich glaube, ich lebe noch lange!» Marlene streichelt ihre Mutter: «Wir wollen doch noch häufig in den Urlaub fahren, nicht?» «Noch ganz häufig!» Marlene überlegt. «Mama?» «Ja, Marlene!» «Vorher sterben noch Oma und Opa, nicht?» «Marlene, du kannst fragen!» Jetzt ist Friederike Ammon unsicher. «Wie kommst du darauf?» «Oma und Opa sind doch alt. Die haben ganz graue Haare.» «Oma und Opa können sterben. Aber noch leben sie ja.» Marlene nickt, steht auf. Ihre Fragen scheinen - vorerst jedenfalls - beantwortet. Eine andere Situation. Margret, sieben Jahre, hat von einem Flugzeugunglück in der Zeitung gelesen. Viele Menschen waren dabei ums Leben gekommen. Margret wußte: «In ein paar Wochen fliegen wir nach Griechenland.» Sie nimmt die Zeitung, die ein Bild mit rauchenden Flugzeugtrümmern zeigt, hilflosen Helfern, die vergeblich nach Überlebenden suchen, mit zu ihrer Mutter.
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«Und was ist, wenn wir abstürzen?» Mit dieser Frage eröffnet sie das Gespräch. «Wir stürzen nicht ab.» Irene Mahler ist sich absolut sicher. So hört es sich jedenfalls an. «Aber wenn...» Margret läßt sich nicht abschütteln. «Es kann doch sein...» «Margret...», Frau Mahler schüttelt den Kopf. «Komm her, Margret!» Margret nähert sich, setzt sich auf ihren Schoß. Die Mutter drückt sie fest, streichelt ihre Wange. «Mama, es kann doch passieren...» «Nein...» «Schau mal, da ist doch auch was explodiert.» Margret zeigt auf das Bild: «Ob die auch in Urlaub wollten?» Irene Mahler gibt sich einen Ruck: «Ja, es kann passieren.» Margret sieht ihre Mutter an: «Siehst du..., hab ich doch gesagt... Und dann?» Die Mutter zuckt die Schultern: «Weiß nicht!» «Sind wir dann tot?» Margrets Stimme klingt irritiert. «Ich bin bei dir!» Irene Mahlers Antwort kommt ganz spontan. Sie zieht ihre Tochter noch fester zu sich: «Ich bin bei dir!» Das klingt fast wie eine Beschwörung. «Wirklich?» Margret blickt skeptisch drein. «Aber klar!» Die Mutter bekräftigt: «Na klar, Margret!» Margret läßt nicht locker, sie bleibt hartnäckig: «Und dann?» Sie lacht ihre Mutter vielsagend an. Diese scheint ratlos, ihr Kopf verschwindet fast in den hochgezogenen Schultern. «Tja? Und dann?» Sie weiß keine Antwort. «Ich weißes», ruft Margret schnell. «Ich weiß, Mama. Dann fliegen wir zusammen in den Himmel.» Margret entzieht sich dem Zugriff ihrer Mutter, springt auf, schmunzelt: «Dann fliegen wir zusammen in den Himmel.» Mit diesen Worten verläßt sie den Raum.
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Fragen nach dem Tod Je älter Kinder werden, um so häufiger kommen entsprechende Fragen - unabhängig davon, ob ein aktueller Todesfall in der unmittelbaren Umgebung des Kindes passiert ist. Tod, das bedeutet für Kinder bis etwa zum Beginn der Grundschulzeit nicht das absolute Ende. Nach dem Tod fragen Kinder zunächst ohne Angst. Aber nicht selten blicken sie dann in unsicher wirkende Erwachsenengesichter, erhalten sie angstbesetzte Antworten. Tod bedeutet Leid und Trauer Schmerz und Verzweiflung, aber jüngere Kinder begreifen nicht das ganze Ausmaß des Todes. Fragen nach dem Tod weisen den Erwachsenen auf Entwicklungsschritte des Kindes hin: Es fängt an, über das «Woher kommt man» und «Wohin geht man» nachzudenken. Der Tod wird - aus der Sicht von Kindern - in Zusammenhang gebracht mit hohem Alter, mit Gefühlen des Alleinseins, aber auch mit dem Schlafzustand. Bis etwa zum sechsten Lebensjahr gilt der Tod für Kinder als ein umkehrbares, nur vorübergehendes Ereignis. Die Endgültigkeit des Todes begreifen Kinder dann nur schwer. Deshalb sind aggressiven Aktionen von Kindern in dieser Altersstufe, die auf eine Verletzung, gar Schädigung anderer Kinder z. B. während des Spiels hinauslaufen, mit aller Festigkeit Grenzen zu setzen. Ansonsten sind ernste Gefährdungen der Gesundheit nicht auszuschließen. Dies gilt insbesondere dann, wenn Kinder über emotionale Störungen oder ein nur unzureichend ausgebildetes Körpergefühl verfügen, für sie mithin nicht begreiflich ist, was sie mit ihrem Tun bewirken können. Bis zum sechsten Lebensjahr binden Kinder ihre Vorstellungen über den Tod an bestimmte Symbole, an spezifische Situationen, an eigene Erlebnisse: den schwarzen Mann, die Dunkelheit, die Nacht, die Krankheit, die Verletzung oder den Schmerz. Erst mit Beginn des Schulalters kommt die Endgültigkeit des Todes ins Blickfeld kindlicher Betrachtungsweise. -4 5 5 -
Fragen nach Tod und Trauer, nach Gott und Himmel sind für Kinder mithin normal. Erwachsene sind mit den Antworten deshalb häufig überfordert, weil solche Fragen an Verdrängtes, Verleugnetes rühren. Je mehr aber der Tod aus dem Alltag, dem Leben von Erwachsenen ausgeblendet bleibt, je mehr Erwachsene sich diesen Grenzerfahrungen hilflos ausgeliefert fühlen, um so mehr spüren Kinder, wie sie von engsten Bezugspersonen bei sie bedrückenden Erlebnissen alleingelassen werden. Kinder empfinden sich dann als haltund orientierungslos. Darüber hinaus sind Fragen der Kinder nach dem Tod nicht nur Fragen nach dem Ende. In ihren Fragen sind zugleich Wünsche enthalten; es sind Wünsche nach Auskunft über zentrale Sinnfragen des Lebens. Der Tod als Symbol ist schon früh Bestandteil kindlicher Entwicklung. Diese ist ohne Autonomie nicht denkbar, und Eigenständigkeit ist ohne den Abschied von vertrauten Situationen und Personen nicht vorstellbar. Sich zu trennen aus der symbiotischen Einheit mit der Mutter, aus der Geborgenheit der Familie, der Vertrautheit des Freundeskreises gehört zu den existentiellen Erfahrungen der Kinder. Tod hat mit Trennung, hat mit Abschiednehmen zu tun. In Trennung und Abschied sind Momente der Endgültigkeit des Todes enthalten. Die Entwicklung des Kindes hin zur Selbstwerdung und zu Selbstbewußtheit, zum Gefühl des «Ich kann allein» und zu Grenzerfahrungen wie «Ich brauch meine Eltern nicht mehr», ist gebunden an Abschied und Trennung. Ein Leben, das nicht Bilder und Symbole des Todes beinhaltet, ist ein armseliges und unvollständiges Leben. Kinder spüren das. Sie erleben Wirklichkeit in Polaritäten - und damit in ihrer Ganzheitlichkeit. Zum Leben gehört der Tod; die Gesundheit erhält ihren unbezahlbaren Wert durch die Krankheit, das Glück ist ohne Trauer undenkbar, erst in der Niederlage zeigen sich die intensiven Momente des Siegens, das innig erlebte Gefühl des festlichen Rituals wäre ohne die Mühen der Ebene nicht zu spüren, zur Nacht gehört der Tag, zum Tag die Nacht; Mond und Sonne sind untrennbar miteinander verbunden, genauso wie der Konflikt zur -4 5 6 -
Versöhnung gehört. Der Tod, das ahnen Kinder, ist nicht das Ende. Meine Überlegungen über «Kind, Tod und Trauer» gehen nur auf einige Alltagssituationen ein, an denen sich Grenzerfahrungen des Todes zeigen. Wer sich genauer und intensiver mit diesem aus vielen Eltern-Kind-Beziehungen verdrängten Thema beschäftigen möchte, sei auf die ebenso informativen wie einfühlsamen Publikationen von Kübler-Ross, Bracher, Leist und Tausch-Flammer/Bickel (vgl. Literaturverzeichnis Seite 251 ff.) verwiesen. Die eingangs angeführten Situationen zeigen - trotz aller widersprüchlichen Gefühle, die die Erwachsenen dabei an den Tag legen - eine konstruktive Perspektive auf, wie man auf kindliche Fragen nach Tod und Trauer eingehen kann: - Fragen nach dem Tod sind altersbedingt - unabhängig von aktuellen Ereignissen wie z. B. Tod in der Familie oder der Verwandtschaft. Das Kind wird größer, es bildet ein Körpergefühl aus. Das Kind wird sich zunehmend seiner körperlichen Macht und Kraft bewußt. Zugleich wirkt es gegenüber Erwachsenen noch sehr klein und verwundbar. Daraus ergeben sich Vernichtungsängste, die das Kind - ganz in einem animistisch-symbolischen Denken verfangen - an Monster, Gespenster, Einbrecher, Räuber, aber auch an wilde Tiere bindet. Solche Symbole sind aus der Sicht von Kindern doppeldeutig: Die «guten» Tiere oder Monster repräsentieren die Anlehnungsbedürfnisse, die Wünsche nach Zärtlichkeit; die «bösen» Elemente symbolisieren die zerstörerisch-aggressiven Phantasien des Kindes. Allmählich entwickeln sich beim Kind Formen des Zeitbewußtseins, Vorstellungen über das Woher und Wohin. Diese Spannung bedeutet für das Kind Unsicherheit, fördert aber auch seinen Wissensdurst. Fragen nach dem Tod in der Folge einer normalen emotionalen wie kognitiven Entwicklung sind deshalb Zeichen für Reife. Das Interessensspektrum des Kindes weitet sich - und damit reichen das bisherige Wissen, die bisher gestellten Fragen nicht mehr aus. Das Kind spürt: Veränderte Situationen erfordern andere Fragen, einen veränderten Zugriff auf Realität. Das Kind will -4 5 7 -
neue, gleichwohl feste und verläßliche Sicherheiten. Die Kinderfragen stehen für Sinnsuche - aber sie beinhalten zugleich den Wunsch nach Halt und Bindung. Nur auf dieser Basis sind Kinder aufgeschlossen für neue, bisher ungewohnte Erfahrungen. - Kinder werden früh in vielerlei gesellschaftliche, soziale und ökonomische Probleme wie Krisen eingebunden. Die multimediale Darstellung und Inszenierung von Katastrophen bedeutet für das Kind, daß es auf eine abstrakte, wenig greifbar-begriffliche Weise mit Situationen konfrontiert wird, die Vernichtungs-, vor allem Trennungsängste zurücklassen. «Das kann uns nicht passieren!» «Du brauchst keine Angst davor zu haben!» «Nun stell dich nicht so an»; Solche Antworten helfen wenig und signalisieren dem Kind lediglich elterliche Hilflosigkeit. Und das Kind fühlt sich allein gelassen. Weil Kinder bis zum achten/neunten Lebensjahr Katastrophen und Unglücke als die Aktualisierung von (vorhandenen) Vernichtungsund Trennungsängsten erleben, ist neben einer möglichst ehrlichen Antwort der persönliche Halt wichtig: «Es kann passieren! Aber wenn es passiert, bin ich bei dir!» Erzählungen aus dem Zweiten Weltkrieg während der Bombennächte untermauern diese Feststellung: Kinder, die während der Bombardierung nahe bei ihrer Mutter waren, denen die Mutter emotionale Nähe geben konnte, haben in der Regel weniger traumatische Erinnerungen als Kinder, die diese schreckliche Situation von ihren Müttern getrennt erleben mußten. - Generell gilt: Das Thema Tod ist erst dann von Eltern und Pädagogen aufzugreifen, wenn Kinder danach fragen. Würden sie von außen in das Kind hineingelegt, hätte das in der Regel eine gefühlsmäßige Überforderung zur Folge. Wenn Fragen gestellt werden, sollen Erwachsene genau zuhören, auf das achten, was das Kind wissen will. Fühlt man sich unsicher, sind geschickte und einfache Rückfragen angezeigt. «Was ist, wenn ich tot bin? Krieg ich dann eine schöne Beerdigung?» fragt die siebenjährige Sibylle. Der Vater nähert sich ihr, lächelt: «Ich denke, du lebst noch lange. Noch ganz -4 5 8 -
lange.» Kurze Pause: «Aber wie möchtest du, daß deine Beerdigung aussieht?» Eine andere Situation: «Wenn Oma jetzt im Himmel ist, wie sieht es wohl dort aus?» will Johannes, sechs Jahre, wissen. «Was meinst du, wie sieht es dort wohl aus?» gibt die Mutter die Frage zurück. Johannes überlegt kurz, erzählt dann von seinen Phantasien. Rückfragen knüpfen an Vorstellungen und Phantasien der Kinder an. Das Kind kann sich im Hier und Jetzt angenommen fühlen. Es erfährt: «Meine Frage nimmt man ernst. Ich bin nicht hilflos oder zu klein für diese Fragen!» Nun gibt es Situationen, in denen Antworten nicht möglich sind. Es gibt persönliche Tagesformen, die keine passende Antwort erwarten lassen; ja manchmal benötigt man Bedenkzeit, weil man selber vom Tod eines Menschen tief getroffen ist oder von der Kinderfrage überrascht wurde. Wer sich in der Situation überfordert - nach dem Motto: «Ich muß jetzt aber richtig handeln!» -, gibt, ohne es zu merken, die Überforderung an die Kinder weiter. Angemessener sind Antworten wie: «Ich kann das jetzt nicht beantworten, aber nachher habe ich Zeit für dich, und dann komme ich!» Es braucht wohl nicht betont zu werden, daß man später von sich aus auf das Kind zugeht und sein Versprechen einhält. - Während einige Eltern und Pädagogen sich den Kinderfragen nach dem Tod entziehen, meinen es andere besonders gut. Sie geben eine Menge an Information, die das Kind möglicherweise gar nicht hören will, weil es diese noch nicht verarbeiten kann. Solche Schilderungen können Bilder und Phantasien beim Kind hervorrufen, auf die es emotional nicht vorbereitet ist. Und Eltern sollten bedenken: Das Kind im Hier und Jetzt anzunehmen bedeutet, darauf zu vertrauen, daß das Kind wieder zu den Eltern kommen kann, wenn es sich als notwendig erweist, weitere Nachfragen zu stellen. So kann die elterliche Antwort auf eine Frage des Kindes mit dem Satz schließen: «Falls du mehr wissen willst, kannst du jederzeit kommen.» Klare und wahrhaftige Auskünfte sind notwendig. Doch genauso bedeutsam ist die emotionale und körperliche Nähe, in der diese Gespräche stattfinden. Kinder -4 5 9 -
brauchen verläßlichen Halt - dann können sie mit den Antworten ihrer Eltern und anderer Erwachsenen umgehen.
Beisetzung Anita Bach, Mutter der fünfjährigen Barbara, ist unsicher. Ihr Vater sei gestorben, erzählt sie, und nun überlege sie, ob Barbara Abschied vom Opa nehmen könne. Dieser sei in der Wohnung ihrer Schwiegereltern im Nachbarhaus aufgebahrt. Barbara hatte eine sehr intensive Beziehung zu ihrem Großvater. Sie hatte den Wunsch, sich persönlich von ihm zu verabschieden. Der Tod des Großvaters kam für alle überraschend, es herrschte große Trauer. Anita Bach fand den Wunsch ihrer Tochter selbstverständlich. Ich kannte Barbara aus einem Elternseminar. «Will Barbara freiwillig mitgehen?» frage ich. «Ja», antwortet die Mutter sehr schnell. «Die fragt und fragt. Ich glaube, es ist besser, sie sieht ihren Opa. Der sieht so friedlich aus!» «Können Sie Ihrer Tochter beim Abschied eine Hilfe sein? Können Sie Halt geben?» «Ich denke schon.» Sie stockt. «Ja! Ich kann das! Ich hab ja schon von ihm Abschied genommen. Ich denke, ich bin vorbereitet!» Als Anita Bach am folgenden Tag das Zimmer mit dem aufgebahrten Großvater betreten will, kommen zwei Verwandte hinzu. «Was willst du denn da, Anita?» Sie weisen mit den Köpfen in Richtung von Barbara, die unschlüssig-unsicher an der Hand ihrer Mutter verharrt. Die Mutter, ganz forsch: «Ich will zu Großvater. Und Barbara soll mit. Die möchte Abschied nehmen.» Das Selbstbewußtsein der Mutter bekommt durch das Auftreten der beiden Verwandten Kratzer. Zweifel kommen in ihr hoch. -4 6 0 -
«Das kannst du doch nicht machen!» entrüstet sich eine Großtante. «Das Kind kriegt einen Schock fürs Leben!» Und der dabeistehende Großonkel fügt ganz gebieterisch hinzu: «Spinnst du denn völlig!» Die eben so von sich überzeugte Anita Bach kommt ins Grübeln: Hatten die Verwandten nicht doch recht? Überfordert ein toter Mensch nicht meine Tochter? Barbara kuschelt sich näher an ihre Mutter, sie blickt verstohlen-ängstlich auf die Tür, hinter der ihr Großvater aufgebahrt ist. Die Mutter wirkt mutlos, dreht ab, ihre Tochter an der Hand haltend. «Komm, Babs, laß uns gehen.» In den kommenden Stunden hört die Mutter von den Verwandten viele Vorwürfe, sie bekommt kaum Unterstützung. Auch die geplante Teilnahme Barbaras an der Beisetzung fällt ins Wasser. Der emotionale Druck von außen erweist sich als zu stark. Einen Tag nach der Beerdigung geht die Mutter mit Barbara zum Friedhof, steht vor dem Grab, das mit Blumen und Kränzen überhäuft ist. «Was steht da?» Barbara weist auf eine weiße Schleife mit schwarzem Rand und einem Kreuz. «Ruhe in Frieden!» liest die Mutter langsam. Barbara stockt, wirkt nachdenklich. Dann sieht sie an der Mutter hoch. «Schläft Opa hier?» «Schon.» Anita Bach scheint unsicher. Dann fängt sie sich: «Ja, Opa liegt hier. Aber nur seine Schale. Seine Seele ist in den Himmel geflogen.» Barbara schaut aufs Grab, dann in den Himmel. So geht das einige Male: «Du, Mama!» «Ja!» «Du, Mama! Sag mal, wie kommt Opa von hier in den Himmel, wo doch auf seinem Sarg so viel Erde liegt?» -4 6 1 -
Die Mutter ist sprachlos. Barbara insistiert nicht weiter. Als sie vom Grab weggehen, winkt sie zaghaft, blickt zum Himmel, schüttelt - ganz in sich gekehrt - ihren Kopf. In den Monaten danach hat Barbara ein Lieblingsspiel: Sie inszeniert in der Sandkiste hinter dem Haus Beerdigung. Sie gräbt eine Puppe in den Sand, buddelt sie dann wieder aus und schmeißt sie hoch: «Jetzt kommst du in den Himmel!» Barbara fragt ihre Mutter nicht, will nichts von Erwachsenen wissen - sie spielt das, was sie nicht verstanden hat, was für sie offen war und ist. Barbaras Spiel nimmt zwar im Laufe der Zeit an Intensität ab. Anita Bach bemerkt jedoch: Die Geschichte mit der Beerdigung, dem Himmel, dem nicht vollzogenen Abschied ist für ihre Tochter weiter ein Problem. Knapp zwei Jahre später. Barbara ist sieben Jahre alt. Barbaras Oma stirbt ebenso plötzlich wie der Opa zuvor: Auch sie wird im Hause aufgebahrt. Dieses Mal ist die Mutter intuitiv, «aus dem Bauch heraus», entschlossen, so zu handeln, wie sie meint, daß es richtig sei. Nachdem die älteren Familienmitglieder Abschied genommen haben, verbittet sich die Mutter jegliches Eingreifen von anderen Erwachsenen. Auch Barbara will Abschied nehmen: «Ich will sie sehen! Und sie soll Opa dann noch sagen: Ich hab ihn liebgehabt!» Anita Bach steht mit ihrer Tochter vor dem Totenzimmer. Die Mutter ist nervös, Barbara freudig aufgeregt. «Du mußt aber leise sein. Oma schläft!» Barbara nickt zum Einverständnis. Die Mutter öffnet die Tür, beide betreten den Raum. Er ist abgedunkelt, Kerzen brennen, zwei Lampen hüllen den Raum in ein Dämmerlicht. Das Dunkle schreckt Barbara ein wenig, instinktiv sucht sie die Hand der Mutter. Als sie sich an das Dämmerlicht gewöhnt hat, zieht sie ihre Hand zurück. Die Mutter faltet die Hände zum Gebet. Barbara tut es ihr nach. «Was machst du?» «Ich bete!» -4 6 2 -
«Ich auch!» Barbara senkt den Kopf, wie es die Mutter tut. Dann gehen beide um die aufgebahrte Oma herum. «Oma sieht schön aus!» Barbara lächelt. «Pst!» Der Zeigefinger der Mutter geht zum Mund. «Tag, Oma!» Barbaras Stimme ist klar und fest. Sie sieht ihre Oma an: «Oma, ich will ade sagen!» Barbara schaut ihre Mutter noch fester an. Es scheint fast, als ob sie eine Antwort erwarte. «Ach, Oma!» Barbaras Ton klingt fast entschuldigend. «Du kannst ja nicht mehr reden!» Sie betrachtet ihre Oma intensiv, wird nachdenklich. Es folgt eine lange Pause des Schweigens, der Ruhe, ja, es scheint fast, als denke Barbara über alles intensiv nach, was die Oma ihr bedeutet hat. Dann kommt sie aus ihren Gedanken zurück, zupft am Ärmel der Mutter: «Mama, ist Omas Seele auch im Himmel?» «Ich glaub schon!» Anita Bach umfaßt die Schulter ihrer Tochter: «Babs, wir müssen jetzt gehen.» «Kann ich Oma einen Kuß geben?» fragt Barbara. Die Mutter wirkt völlig überrascht. Diese Frage, sagt sie später, habe sie nicht erwartet. «Wirre Gedanken rasten durch den Kopf. Die Leiche ist kalt. Leichengift und diese ganzen Phantasien.» Die Mutter findet schnell ihre Fassung und ihre Worte wieder: «Gut, aber vorsichtig. Und nur auf die Stirn.» Sie hebt ihre Tochter hoch, ihre Lippen suchen die Stirn der Großmutter. Barbara haucht einen flüchtigen Kuß, streichelt den von Stoff bedeckten Arm. Als sie wieder auf dem Boden steht, sieht sie die Oma an: «Ade, Oma. Und sag Opa, ci h durfte nicht ‹ade› sagen. Er soll nicht traurig sein.» Beide gehen aus dem Raum, Barbara läuft zur Sandkiste, spielt ein weiteres Mal die Beerdigung des Großvaters nach. Anita Bach läuft ins Schlafzimmer, schließt sich ein und «heult», wie sie mir sagte, «vor Erleichterung. Zwei Jahre Spannung mußten raus. Ich hab 'ne halbe Stunde geweint, dann war's gut.»
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An einigen Aspekten dieser Situation, die mir Frau Bach in einem Elternseminar schilderte, läßt sich zeigen, unter welchen Bedingungen Kinder Tod als eine belastende bzw. als eine zumutbare Erfahrung erleben: 1. Den Tod mit Schlaf zu vergleichen kann für jüngere Kinder zu einer realen Angst vor dem Einschlafen führen, es kann Angstträume, einen unruhigen Schlaf ebenso mit sich bringen wie die ständige Versicherung, ob die Eltern oder Geschwister noch da seien, eben leben würden. So kommen Kinder u. a. deshalb ins Bett ihrer schlafenden Eltern, streicheln, kneifen oder zwicken sie, um anhand der elterlichen Reaktion zu spüren: Meine Eltern leben noch. Ähnliches gilt für eine andere Verhaltensweise: Viele Eltern und Pädagogen mögen sich nicht an den Schießspielen ihrer Kinder beteiligen. Andere drohen: Wenn ihr richtig schießt, dann kann ich tot sein. Was für Kinder eine symbolische Funktion besitzt, hat für Erwachsene aufgrund anderer Erfahrungen - einen realen Kern. Dies versuchen manche Erwachsene den Kindern auf eine drastische Art und Weise zu vermitteln. Jochen schießt mit einer selbstgebastelten Holzpistole wild um sich, zielt auch auf seinen Vater. Josef Meixner fällt sofort «getroffen» um. Jochen rennt zu ihm, rüttelt an ihm, zieht und zerrt an seinem Arm: «Steh auf! Das war nur ein Spiel», schreit Jochen seinen Vater an, der weiter regungslos am Boden liegt. Er rührt sich nicht, er atmet - für Jochen - kaum spürbar. Jochen schubst weiter an seinem Vater, der ohne Regung daliegt. Das Kind gerät in Panik: «Papa! Wach auf! Papa, wach auf!» Endlich - für Jochen nach einer schier unvorstellbar langen Zeitspanne - öffnet der Vater die Augen, kommt langsam mit seinem Oberkörper hoch: «So ist es, wenn du andere totschießt.» «Aber ich hab doch nicht wirklich geschossen», beharrt Jochen. «Das war nur ein Spiel!» Er ist nach wie vor völlig aufgelöst.
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Der Vater hat die selbstbestimmten Spielregeln seines Sohnes verletzt. Aus der für Jochen symbolischen wurde eine für ihn nicht vorhersehbare äußere Wirklichkeit. Die überforderte ihn intellektuell wie gefühlsmäßig. Übrig blieb Jochens Angst: Freilich keine Angst vor dem weiteren Schießen als vielmehr eine Angst vor dem Tod des Vaters, an dem Jochen sich einen Teil Schuld gibt. So können wirkliche Schuldgefühle entstehen, eine starke emotionale Betroffenheit, die hilflos machen kann. Eine Ein- und Begrenzung von Jochens Spiel durch nachvollziehbare Regeln und Rituale mag durchaus notwendig und richtig sein. Die drastische Methode von Jochens Vater bewirkt aber nur Panik und Handlungsunsicherheiten auf seiten des Kindes, ein starkes Gefühls-Erleben, das es klein hält und unselbständig machen kann. Ebenso verhängnisvoll, weil angsterzeugend können bestimmte Formulierungen sein, z. B. «Du bringst mich noch ins Grab!» Oder: «Damit bringst du mich noch mal um. Das wirst du schon sehen!» 2. Kinder verarbeiten Un-Begriffenes im Spiel. Barbara hatte nachdem sie keinen wirklichen Abschied vom Großvater nehmen durfte - nur die Möglichkeit des Spiels, um unverarbeitete Trennungsgefühle auf eine für sie nachvollziehbare Weise zu inszenieren. Als sie am Tage nach der Beisetzung das Friedhofsgrab sah, konnte sie sich nicht vorstellen, wie der Großvater von dort in den Himmel gekommen war. Das Nachspiel war ihr selbstbestimmter und selbst gestalteter Versuch, zu einer ganz eigenen Lösung zu kommen. Antworten auf Kinderfragen nach Sterben, Tod und Begräbnis können deshalb mit Mythos, Magie und Symbol arbeiten. Sie brauchen nicht völlig richtig, sie müssen freilich wahrhaftig sein, dann kann das Kind sich mit seinen Phantasien und Vorstellungen in den Antworten der Eltern wiederfinden. «Muß ich», fragt die sechsjährige Cornelia, «in der Erde liegen, wenn ich tot bin?»
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«Nun», die Mutter streichelt Cornelias Haar, «was daliegt, ist eine Hülle wie bei den Erbsen. Du fliegst ganz woanders hin.» «Wohin, Mama?» «Weit weg!» «Kann ich dich dann noch sehen... und Philipp und Papa...» «Was meinst du, kannst du uns noch sehen?» «Ich kann dich noch sehen. Ich kann alle sehen.» Cornelias Stimme klingt selbstsicher. «Das denk ich auch!» unterstützt die Mutter Cornelia. «Und wie ist das, wenn du stirbst, Mama?» «Noch leb ich ja. Und ich will noch ein bißchen leben.» Die Mutter grinst. «Aber wenn! Mama!» Cornelias Stimme klingt energisch. Sie dringt auf eine Antwort. «Dann ist's wie bei dir.» 3. Kinder können an Begräbnissen teilnehmen, wenn sie es wünschen. Kein Kind sollte gezwungen werden. Freiwilligkeit ist die wichtigste Vorgabe. Freiwilligkeit schützt ein Kind: Es weiß am besten, wie weit es sich selbst emotional belasten kann. Aber da sich Kinder auch gefühlsmäßig überfordern können, ist persönlicher Beistand während des Begräbnisses wichtig. Kinder brauchen einen Halt, auf den sie sich verlassen können. Dies bietet ihnen zusätzlich Schutz. Hilfreich ist eine Vorbereitung auf den Gottesdienst. Man kann Kindern die Abläufe erklären, ihnen Rituale erläutern. Gerade ältere Kinder sind daran besonders interessiert. Generell gilt: Je intensiver Kinder sich angenommen fühlen, um so produktiver erweist sich die Grenzerfahrung von Trauer und Tod für die Persönlichkeitsentwicklung. Dies schließt Tränen, Wut, Zorn, dies schließt Verhaltensregressionen, z. B. Einnässen, Rückfall in eine Babysprache, übertriebene Kuschelbedürfnisse, Angst vor Dunkelheit nicht aus. Aber in der selbstbestimmten Konfrontation mit Trauer und Tod erlebt das Kind, daß es in dieser Situation nicht allein ist, es vielmehr Wege gibt, auf denen es eigenständig laufen kann. -4 6 6 -
Abschied inszenieren Simon, fast fünf Jahre, besuchte den Kindergarten. Er war dort beliebt, viele mochten ihn besonders, wenn er den Räuber Hotzenplotz spielte. Und das machte er häufig, weil doch niemand ein «so schöner Räuberhauptmann ist wie du», wie sich seine Erzieherinnen erinnerten. Eines Morgens kam Simon nicht in die Einrichtung, dafür kam der Anruf der Mutter, Simon sei am Tag zuvor bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Das Team war geschockt. An diesem Tage fragte - welch Zufall, aber Zufälle gibt es wohl nicht! - kein Kind nach Simon. Dies verschaffte den Erzieherinnen Zeit zur Reflexion. Die Meinungen, wie man den Kindern Simons Tod mitteilen könnte, waren geteilt: Einige wollten auf Zeit spielen, weil sie sich schlicht überfordert fühlten; andere wollten Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit gegenüber den Kindern. Man entschloß sich, die Kinder am nächsten Tag über Simons Tod zu unterrichten. Und das war gut so, hatte sich sein Unfall doch schnell im Stadtteil herumgesprochen. Der nächste Morgen: Es war ein Stuhlkreis gestellt, in der Mitte stand ein Bild von Simon, es brannten zwei Kerzen, und es lagen Dinge herum, die Simon gebastelt hatte. Christiane Berger, die Gruppenleiterin erzählte dann, daß Simon nicht mehr wiederkommen würde. Er sei bei einem Unfall tödlich verunglückt. «Kommt der nie mehr?» «Was ist Tod?» «Was macht Simon nun?» Die Fragen überschlugen sich. Einige Kinder erzählten spontan vom Tod ihrer Großeltern, andere vom Ableben ihres Hamsters oder Meerschweinchens, wieder andere von Beerdigungen, an denen sie schon teilgenommen hatten. «Wo ist Simon wohl jetzt?» fragte Annabelle ihre Erzieherin. «Was meint ihr, wo er wohl ist?» «Im Himmel!» «In den Wolken!» «Bei Jesus!» -4 6 7 -
«Vor der Himmelspforte, aber die nehmen keine Räuberhauptleute auf!» Auch hier gab es viele Antworten. «Wie sieht es im Himmel aus?» will Elisabeth wissen. «Was meinst du, wie es da wohl aussieht?» Christiane Berger gibt die Frage zurück. Elisabeth überlegt und schildert den Himmel als eine Form des Schlaraffenlands: «Da kann Simon immer Hotzenplotz spielen.» Auch andere Kinder berichten so intensiv über den Himmel, als seien sie schon einmal dagewesen. «Jeder erzählt Simon jetzt eine Geschichte», schlägt die Erzieherin vor, «euer schönstes Erlebnis, das ihr mit Simon hattet. Und dabei schaut, wenn es geht, das Bild in der Mitte an.» Und die Kinder hatten viel zu erzählen: von Abenteuern, von Streit, von lustigen Begebenheiten und von Konflikten. Simon wurde dabei nicht - ganz wörtlich genommen - in den Himmel gehoben. Er war präsent - fast schien es, als befinde er sich unter ihnen, wenn auch unsichtbar. Die Kinder lauschten andächtig ihren Geschichten. Es war eine fast geheimnisvolle Ruhe, eine ganz intensive Besinnung. Simons Mutter hatte dem Team vorgeschlagen: Wer zu der Beisetzung Simons kommen wollte, sollte das tun. Fast alle Kinder nahmen teil. Während des Gottesdienstes saßen die Kinder um den kleinen Sarg herum. Vorher hatte jeder eine Blume hingelegt. Und jedes Kind hatte ein Bild gemalt, etwas gebastelt, geknetet, konstruiert: Die witzigsten und seltsamsten Dinge lagen um den Sarg herum, ließen durch die Trauer hindurch Funken der Hoffnung, des Zukünftigen durchscheinen. Die Kinder hatten das Lied vom Räuber Hotzenplotz eingeübt und sangen es während der Trauerfeier voller Inbrunst, lauthals, mit viel Mitgefühl. Die Trauergäste schwankten zwischen Schmunzeln und Weinen.
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Simons Mutter meinte später: «Für mich war das eine ungeheure Kraft, die ich spürte, Simon war da. Es war eine Trauer, die mir viel gab!» Und dann fügte sie nach kurzer Bedenkzeit hinzu: «Vielleicht war Simon auf der Welt, um mir zu zeigen, wie stark Trauer machen kann!» Nach Rücksprache mit der Mutter verzichtete man auf den Gang zum Grab, weil sich dort starke Gefühlsausbrüche zeigen würden, die einige Kindermöglicherweise überfordert hätten. Statt dessen ging man zurück in den Kindergarten. Simons Mutter hatte Kuchen gebacken, Süßigkeiten, Kakao und Saft bereitgestellt. Es ging fröhlich zu. Simons Mutter kam im Anschluß an die Beisetzung hinzu, hatte aufgeblasene, bunte Luftballons mitgebracht. Jedes Kind durfte einen Gruß an Simon sagen. Die Erwachsenen schrieben diesen auf kleine Karten, die man an die Luftballons heftete. Als das Fest vorbei war, gingen die Kinder mit ihren Luftballons in den Garten hinaus, ließen sie los - «ein Gruß für Simon im Himmel!» Rote, blaue, grüne, gelbe Luftballons stiegen hoch, die Kinder schauten ihnen unendlich lange nach. «Ob Simon sich wohl freut?» fragte sich Elisabeth. Aber sie war sich sicher: «Der freut sich. Denn auf meiner Karte steht: ‹Du bist mein Räuberhauptmann!›» Simons Foto stand auf dem Schreibtisch der Gruppenleiterin. Und Simon war weiter ein Thema. Es kamen Fragen nach Himmel und Tod, nach dem Wohlergehen von Simon. Die Kinder waren traurig, daß Simon nicht mehr da war. Aber die Kinder hatten Abschied genommen. Und wenn sie Sehnsucht nach ihm hatten, konnten sie zum Bild gehen. Fast schien es: Je mehr er Platz in ihren Herzen genommen hatte, um so unwichtiger wurde das Foto, um so mehr verschwand er aus den Gesprächen. Fast ein Jahr später. Christian sitzt in der Spielecke, spielt mit einigen Puppen «Räuber und Gendarm», als er mit einem Male laut schreit: «Simon, jetzt reicht's aber! Es wird Zeit, daß du wiederkommst. Jetzt reicht's wirklich!» Er springt auf, mit Tränen in den Augen rennt zum Foto, flucht: «Simon, komm endlich zurück!» -4 6 9 -
Christine Berger tritt hinzu, drückt ihn ganz fest: «Christian, das geht nicht!» «Warum nicht?» Er ist verzweifelt: «Ohne ihn ist der Hotzenplotz so langweilig!» Die Erzieherin ist sprachlos: «Aber er ist doch in unseren Herzen!» «Aber», beharrt Christian, «das ist es ja gerade. Im Herzen ist Hotzenplotz doch so langweilig und gar nicht spannend!» Die vorstehende Situation zeigt, wie wenig Rationalisierungen, wie wenig «gut gemeinte» Worte Kindern bis zum achten/neunten Lebensjahr bei der Bewältigung von Trauer helfen. Auch eine Mitleidshaltung schwächt Kinder, wie das destruktive Handeln von Konstantin (s. Seite 66ff.) zeigt: Er fühlt sich in seinem Schmerz, seiner Wut, seiner Ohnmacht alleine gelassen. Er wollte Halt, er wollte Klarheit. Und als sich der «Mitleids-Ton» der Erwachsenen fortsetzte, schlug seine Ohnmacht in eine zerstörerische Energie um, die ihm letztendlich die Aufmerksamkeit brachte, die er wollte. So wie das Kind ein Schmuseobjekt benötigt, das ihm die Trennung von geliebten Personen erleichtert - der Teddy macht, vielleicht, das Alleinsein im eigenen Bett erträglich; das Schnuffeltuch, das nach der Mutter riecht, erleichtert den Abschied für die Zeit im Kindergarten -, so kann das Aufstellen eines Erinnerungsbildes oder das Gespräch über einen toten Menschen Trauer und Trennung erträglicher gestalten. Das bedeutet nicht, etwas zu verdrängen; es meint vielmehr: Rituale geben Halt, weisen Wege aus der Hilflosigkeit. Der Abschied von Simon war eingebunden in nachvollziehbare, ergreifend-greifbare Rituale. Diese gaben der Beerdigung nicht nur einen würdigen Rahmen; sie boten den Kindern auch Orientierung. Ähnliches gilt für die gesamte Situation: Die Kinder erfuhren Beistand und Zuwendung, ihnen wurde mit Geduld begegnet. Den Tod als Teil des Alltags zu inszenieren macht nicht mutlos, sondern läßt die Kinder lebenstüchtig werden: Jeden Tag mit vollem Bewußtsein zu genießen, Glücksmomente zu -4 7 0 -
erleben, sich in seiner Kraft zu spüren, so als sei es das letzte Mal - dies macht den Sinn des Lebens aus: Je mehr Tod und Abschied eingebunden sind in Rituale, die Freude machen und Schmerz erträglich halten, um so ausgefüllter können die Tage erlebt werden. Trotz aller Bemühungen sollten Eltern daran denken: Kinder haben das Recht auf Zorn und Wut angesichts des Todes, sie reagieren mit Schmerz und Krankheit, manchmal mit zerstörerischen Aggressionen und Depressionen. Manche Kinder verleugnen zunächst das Ereignis des Todes, andere verhandeln mit dem Tod, um den geliebten Menschen, das geliebte Tier zurückzubekommen. Wieder andere Kinder regredieren, d. h., sie fallen in frühere Verhaltensweisen zurück, stagnieren in ihrer Entwicklung. Wo das eigene Tun nicht hilft, keine Prozesse in Gang setzt, da ist professionelle Hilfe vonnöten. Erwachsene können bei der Bewältigung von Trauer und Tod helfen, wenn sie sich auf die Vorstellungen und Phantasien ihrer Kinder einlassen können. Dies macht die Geschichte von Jan und Trinchen deutlich, die mir ein Vater anläßlich eines Seminars über Kind und Tod erzählte, eine Geschichte, die vor vierzig Jahren spielte und deren positive Folgen bis in die Gegenwart reichen.
Jan und Trinchen Jan, gerade sieben Jahre, läuft in den Garten, der sich hinter dem Wohnhaus aus Backsteinen erstreckt, ein Bauerngarten mit Bäumen, Blumenstauden und Gemüsebeeten. Jan trifft dort Trinchen, seine Uroma, von ihm kurz Omama genannt. Trinchen ist knapp neunzig Jahre alt. Es ist Sommer. Ein strahlend blauer Himmel, kein Wölkchen ist zu sehen. Trinchen hängt frisch gewaschene Bettbezüge über die Leine. Jan freut sich, er hat gerade erfahren, daß er dieses Jahr mit seinen Eltern nach Dänemark zum Segeln fährt. Es ist Jans erster Urlaub. Und es wird die erste längere Trennung von zu Hause werden. -4 7 1 -
Jan springt auf seine Uroma zu, keucht etwas außer Atem: «Ich fahr nach Dänemark. Weit weg von dir.» Trinchen nimmt ihren Urenkel in den Arm, lächelt: «Schön, da war ich auch schon mal. Aber das ist lange her!» Jan schaut seine Uroma nachdenklich an: «Als du so klein warst wie ich, Omama?» Sie schmunzelt: «Ja. Ich war wohl so alt wie du. Ich war da mit meinen Eltern. Auf einem ganz alten Segelschiff!» Während Trinchen weiter mit ihrer Arbeit fortfährt, schaut Jan ihr zu. Er wirkt sehr nachdenklich. Dann geht er näher zu ihr, zupft an ihrer Schürze: «Omama!» Sie läßt sich nicht stören. «Omama!» Jan zupft stärker. «Was ist mit dir?» meint sie. «Omama!» Jans Stimme hört sich ernst an. Sie sieht nicht zu ihrem Enkel hinunter. «Omama!» setzt er nochmals an. Jetzt hat Trinchen für ihn Zeit. «Omama, was ist, wenn ich wiederkomme und du bist tot?» Trinchen läßt ein Bettlaken zurück in die Wanne gleiten, nimmt seinen Kopf in ihre Hände. Ihre Blicke gehen in die Ferne, suchen einen Punkt am Horizont. Dann meint sie ruhig, ihre Hände fahren tröstend durch seine Haare. «Das kann sein, Jan!» Jan entzieht sich, blickt zu ihr hoch. «Aber komm mal mit!» Trinchen faßt ihn um die Schulter, beide gehen zu einer Bank, die unter einem Apfelbaum steht. Trinchen setzt sich, nimmt Jan auf ihren Schoß. «Omama, kannst du wirklich sterben?» fragt Jan ganz ungläubig. «Ja, mein Junge!» «Und was ist, wenn ich dann nicht da bin, wenn du stirbst?» «Dann bin ich auf einer Wolke wie der da.» Sie schaut nach oben, und am eben noch wolkenlosen Himmel zieht eine -4 7 2 -
wunderschöne weiße Kumuluswolke auf - wandert von einem leichten Nordwestwind getragen über beide hinweg. «Aber dann kann ich dich doch nicht sehen!» Jan blinzelt Trinchen unsicher an. «Paß auf, Jan! Ich sing dir jetzt ein Lied. Das hab ich gesungen, als ich als Kind in Dänemark war.» Jan schaut seine Uroma interessiert an, streichelt flüchtig ihr Haar, und dann fängt Trinchen an, ganz leise das Lied von der Reise nach Seeland zu singen. Den Refrain hat Jan schnell verstanden. Er singt laut mit. Und so singen beide gemeinsam das Lied. Jan ist ausgelassen und fröhlich. Trinchen hört plötzlich mit dem Singen auf, umfaßt seine Schultern: «Wenn du wiederkommst, Jan, und ich bin tot, dann gehst du in den Garten und singst ganz laut das Lied. Und dann hör ich das auf der Wolke und schau 'runter und sag ‹tschüs!›.» Jan sieht Trinchen zweifelnd an: «Bestimmt, Omama?» Sie gibt ihm einen Kuß: «Versprochen!» «Laß uns das Lied noch mal singen. Ich will's nicht vergessen!» Ganz ernsthaft, ganz inbrünstig schmettert Jan das Lied von der Reise nach Seeland. Er segelt vierzehn Tage auf der Ostsee und genießt den Urlaub. Er freut sich über die fremden Häfen, die ihm unbekannten Menschen. Als er mit seinen Eltern den ersten Hafen auf Seeland anläuft, geht er allein an den Strand und singt leise sein Lied. Er denkt an Trinchen - zum ersten Mal während des Urlaubs. Er lernt soviel neues kennen; und seine Uroma ist so weit weg. Jan kommt zwei Wochen später von der Reise nach Hause. Trinchen ist gestorben, zwei Tage vor Jans Rückkehr. Er reagiert schockiert; geht in sein Zimmer, weint bittere Tränen. Der Trost der Eltern, Oma sei doch alt gewesen und jetzt im Himmel, lindert seinen Schmerz kaum. Vor lauter Erschöpfung schläft Jan irgendwann ein.
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Es ist schon später Nachmittag, als er wieder aufwacht. Jan springt auf, rennt an den Trauergästen vorbei, die im Wohnzimmer sitzen, läuft in den Garten. Er setzt sich auf die Bank unter dem Apfelbaum, auf der er mit Trinchen sein Lied einstudiert hat. Jan schaut zum Himmel, azurblau, keine Wolke, kein Lüftchen - ein Tag wie damals, als er seine Uroma nach dem Tod fragte. Jan fängt zu singen an - erst leise, den Refrain fast summend, dann lauter und lauter werdend. Es scheint, als würde er zunächst nur für sich singen. Allmählich geht sein Blick zum Himmel. Doch da ist nichts zu sehen. Sein Gesang von der Reise nach Seeland wird ständig lauter und intensiver. Als er wohl eine Viertelstunde - wenn nicht gar länger - das Lied geschmettert hat, kommen Trauergäste in den Garten gerannt. «Jan, was ist mit dir?» Jan hört nicht, er singt weiter. Die Mutter rüttelt an seinen Schultern: «Jan, komm zu dir!» Jans Großtante, die hinterhergerannt ist, meint mitleidig: «Das hat ihn alles völlig durcheinandergebracht. Der arme Kerl!» Andere Erwachsene kommen hinzu. Sie wirken hilflos, während Jan ununterbrochen singt. Er gönnt sich keine Atempause, aber er blickt häufig und zunehmend verzweifelt zum Himmel. «Der arme Kerl!» Die Großtante wirkt mitleidig, so als breche auch sie gleich in Tränen aus: «Wir hätten's ihm nicht so drastisch sagen sollen.» «Ach was!» Jans Mutter wird ärgerlich. Dann zu ihrem Sohn gewandt: «So, Jan, jetzt kommst du 'rein. Ich mach dir 'n Baldriantee.» Sie will ihn nehmen. «Laß mich. Ich sing, bis Oma auf der Wolke kommt.» «Der arme Kerl», die Großtante bekommt feuchte Augen. «Ich hab's Oma versprochen, ihr ein Lied zu singen, wenn sie tot ist.» -4 7 4 -
«Aber doch nicht so lange. Du wirst verrückt.» Jans Mutter will ihn aus dem Garten wegziehen. «Laß mich! Ich warte auf eine Wolke!» Und Jan singt weiter sein Lied von der Reise nach Seeland, zunehmend heiser, doch sehnsüchtig zum Himmel schauend. Jans Mutter zieht sich mit den anderen Trauergästen ins Haus zurück. Und die Großtante meint im Weggehen, ob man nicht doch einen Arzt holen müsse. Jans Zustand mache ihr Sorgen. Jan kommen erste leise Zweifel, ob Omama das damals nur so gesagt habe, um ihn zu beruhigen. Vielleicht aber auch deshalb, weil sie eine tolle Märchenerzählerin war. Vielleicht war alles ein Märchen? Jans Zweifel wachsen: «Singe ich das Lied richtig? Ist der Text auch richtig?» Erschöpfung macht sich in seiner Stimme breit, er faltet seine Hände, hört mit dem Singen auf, fleht zum Himmel: «Omama! Bitte komm! Bitte komm doch!» Tränen füllen seine Augen: «Omama, ich will dir doch nur ‹tschüs› sagen.» Dann atmet er tief durch, singt mit der letzten Kraft, die er noch hat, singt voller Inbrunst. Und dann mit einem Mal - er wagt kaum seinen Augen zu trauen. Vom Horizont in nordwestlicher Richtung steigt eine Wolke auf. Er schaut zwei-, dreimal hin, ja, da ist eine Wolke, noch klein, aber größer und größer werdend, ein richtig weißes Wolkengebilde schiebt sich heran, es sieht aus, wie ein riesiges Segel, das von einer leichten Sommerbrise aufgebläht wird. Jans Hände werden feucht, sein Gesicht, schon rot vom Singen, wird noch glänzender, Hitze steigt in ihm auf. «Omama!» schreit er, als die Wolke über ihm ist, «Omama! Ich singe dein Lied!» Und er singt es lauthals. Er sieht zur Wolke hinauf, kneift die Augen zusammen, damit er besser, damit er alles sehen kann. Und als er beim Refrain ist, beim Wörtchen «Seeland», da sieht er sie; ja er meint sogar, ihre blaßblaue Kittelschürze zu erkennen, die sie im Sommer häufig trug. Jan betrachtet das faltig-freundliche Gesicht seiner Uroma, ihre blauen Augen, ihren friedlichen Mund, ihr schlohweißes Haar. -4 7 5 -
Er hüpft aufgeregt hin und her, er springt vor Freude auf, winkt zum Himmel und bildet sich ein, sie würde zurückwinken. Nein, das war keine Einbildung. Trinchen lächelt, sie winkt, so wie sie es immer tat. «Tschüs, Omama!» schreit er. «Tschüs, Omama!» Nun treten Freudentränen in seine Augen. «Mach's gut, Oma!» Dann ist er still. Er horcht. Da ist Autolärm, da ist Vogelgezwitscher, und da ist..., ja da ist ihre zarte Stimme, so als klinge sie aus großer Ferne: «Tschüs, Jan!» hört er, «tschüs, Jan! Danke für das Lied!» Jan summt das Lied nur noch, er sieht der Wolke nach. «Da drinnen wohnt Uroma nun», denkt er, als die große weiße Wolke hinter den Dächern einiger Häuser im Südosten verschwindet. «Tschüs, Oma!» Erleichterung ist in seiner Stimme. Jan atmet tief durch, er geht fröhlich ins Haus und wischt sich dabei die Tränen weg. Als er das Wohnzimmer betritt, starren ihn alle an. Er spürt ihre mitleidigen Blicke. Er lächelt die Trauergäste an: «Ich hab Omama gesehen. In den Wolken. Sie hat ‹tschüs› gesagt.» Jans Mutter steht auf: «Schön, Jan! Ich mach dir einen Tee. Das war heute sehr viel für dich.» Viele Jahre später, Jan war längst erwachsen. Er war häufig mit dem Flugzeug unterwegs. Und manchmal, wenn sie durch Wolken flogen, meinte er, Trinchen zu sehen - mit ihrem schlohweißen Haar, ihrem freundlichen Mund, ihren blauen Augen, in seinem Ohr das Lied von der Reise nach Seeland. Je weniger Tod und Trauer aus dem Atitag ausgegrenzt sind, je weniger der Umgang damit tabuisiert wird, um so weniger ängstlich, um so selbstbewußter und eigenständiger können Kinder mit diesen Erfahrungen umgehen. Um Kinder in ihrer Trauerarbeit zu unterstützen, bedarf es nicht des Mitleids, nicht der Rationalisierung, es bedarf einer Begrifflichkeit, mit der Kinder etwas anfangen können: das Spiel, um Un-Begriffenes -4 7 6 -
zu verarbeiten, die Nähe von vertrauten Personen, die Halt gibt, und ein Ritual, in dem Kinder sich mit ihren Gefühlen und Gedanken aufgehoben fühlen. Abschied gehört zum Leben. Nur wer Abschied nimmt, ist frei für Neues, kann ankommen, kann etwas Neues beginnen. Und Abschied zu nehmen heißt, nicht die Toten zu vergessen, mahnt vielmehr daran, sie im Herzen, sie in der Erinnerung und in Gedanken fortleben zu lassen, das aufzuheben, was man an ihnen mochte und akzeptieren konnte. So ist man nicht ohnmächtig Gefühlen ausgeliefert; man gewinnt Handlungsfähigkeit zurück - und dies in einem Gefühlsbereich, den manche so gerne aus ihrem Leben ausklammern.
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Nachwort Rituale geben Halt Björn, 16 Jahre, ist ein Fußballrowdy, freilich kein rechtsradikaler Skinhead oder ein sozial benachteiligter Jugendlicher. Björn hat alles, er ist gut angezogen, wirkt auf Fremde lieb und höflich. Das ist die eine Seite von Björn, aber da ist eine andere, weniger angenehme Seite. Björn ist Mitglied einer Hooligan-Gruppe. Sie besteht aus acht Jugendlichen, Björn ist der «Youngster». Die Mutter kommt zu mir in die Beratungsstunde, weil Björn «schwere Sachschäden angerichtet hat.» Sie berichtet weiter: «Er hat drei Busse beschädigt, eine Imbißbude geplündert und angesteckt.» Björns Mutter ist verzweifelt: «Ich versteh das nicht, der hat alles, aber auch alles. Jeglichen Wunsch hab ich von seinen Augen abgelesen. Der hat's so gut wie kein anderer in seinem Alter.» «Was wollen Sie machen?» frage ich. «Er bekommt einen guten Anwalt. Dann mach ich den Schaden wieder gut. Mein Mann hat schon mit der Versicherung geredet und das veranlaßt. Und dann denk ich mir, fahren wir drei Wochen in einen schönen Urlaub, damit er auf andere Gedanken kommt.» Björn ist mit zur Beratung gekommen. Ich frage ihn: «Was meinst du, was deine Eltern jetzt wohl machen werden?» «Einen guten Anwalt, Geld und Bestechung in Form von Urlaub.» «Was willst du?» «Was in die Fresse!» ruft er spontan aus. «Wie meinst du das?» Es bricht aus ihm heraus, Tränen sind in seinen Augen zu sehen:
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«Ich will endlich mal was spüren. Weißt du, wann die mich das letzte Mal gestreichelt haben. Kann mich nicht erinnern! Ich bin für die wie ein Stück Investition, das sich irgendwie rentieren muß. Immer mehr reinpumpen, damit viel rauskommt. Aber damit ist jetzt Sense. Ich mach soviel Scheiß, das versprech ich, bis die mich endlich ernst nehmen!» Und nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: «Ich konnte doch machen, was ich wollte, jeden Mist. Dann waren meine Eltern nur kurz sauer, aber dann war das auch schnell vorbei.» In dieser Situation sind einige wichtige Aspekte enthalten, die für chaotische Strukturen in den Erziehungsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern kennzeichnend sind: - Autonomie als Erziehung zur Selbstverantwortung und Eigenständigkeit von Kindern ist nur auf der Basis von gegenseitigem Respekt, einer gegenseitigen Achtung möglich. Autonomie als Erziehungsziel bildet sich nicht durch «Laberei» heraus, sie muß von Erwachsenen dem Heranwachsenden als klares und authentisches Modell vorgelebt werden. Nur ein «Urvertrauen» gibt Heranwachsenden Verläßlichkeit, nur der Glaube an Bezugspersonen hilft Kindern, sich in einer unübersichtlichen Welt zurechtzufinden. Urvertrauen ist nicht anzuerziehen, Urvertrauen entwickelt sich aus festen Beziehungen heraus. Ein nicht entwickeltes Vertrauen, ein Mißtrauen macht Kinder ängstlich und unsicher, macht sie haltlos. Kinder empfinden sich als nicht zugehörig, bindungslos. Dies läßt sie «blind» um sich schlagen, so lange, bis sie Halt - meist über negative Zuwendung - gefunden haben. - Heranwachsende wünschen Kontrolle. Starke äußere Lenkung engt Selbständigkeit, Phantasie und Bereitschaft des Kindes, Verantwortung zu übernehmen, ein. Aber fehlende Lenkung und Nachgiebigkeit gefährden die Entwicklung des Kindes ebenso, sie fördern aggressives Verhalten. Nachgiebigkeit und autoritär-hierarchischer Druck sind zwei Seiten einer Medaille, die zerstörerisches Handeln begünstigen und selbstverantwortliche Aktivitäten verhindern. -4 7 9 -
Ich besuche eine Unterrichtseinheit über Drogen in einer sechsten Hauptschulklasse. Es ist ein erstklassiges Projekt, das der Lehrer Heiner Jansen durchgeführt hat. Die Schüler und Schülerinnen haben großen Spaß, sind sehr engagiert. Es ist die letzte Stunde dieses Projekts. Christoph meldet sich: «Was ist Ihre Meinung zu den Drogen, Herr Jansen?» will er wissen. Heiner Jansen steht im Klassenraum, geht zum Pult, setzt sich hinauf, schlägt die Beine übereinander. Fast scheint es, als habe er diese Frage erwartet. Dann fängt er an zu dozieren, wägt vorsichtig Vor- und Nachteile von Drogen ab. Alles hört sich wie ein ausgewogener Kommentar an. Nachdem Heiner Jansen etwa vier Minuten referiert hat, unterbricht ihn Christoph : «Verdammte Scheiße! Ich will Ihre Meinung hören. Mensch, laß die Laberei!» Heiner Jansen wirkt schockiert, steht auf, sieht mich, der in der Ecke des Klassenraums sitzt, an: «So ist's immer! Da gibt man sich Mühe. Und dann zum Schluß dies!» «Scheiße», schreit Christoph, nein, er schreit nicht, es klingt vielmehr flehend, «ich will doch nur Ihre Meinung hören, nicht diesen wohltemperierten Mist, den ich überall lese. Ich möchte Sie so gern ernst nehmen!» Ein eigener Standpunkt, ja Autonomie und Selbständigkeit generell sind nur über Auseinandersetzungen, die manchmal sehr schmerzhaft sein können, mit elterlichen Normen und Werten möglich. Kinder brauchen eine Zeitlang Geleit, ein Geleit, das ihnen verläßliche Normen und Werte bieten. Aber irgendwann haben Kinder genug vom Geleit, dann wollen sie den Alleingang wagen. Autonomie ist ohne gegenseitige Achtung nicht möglich. So wichtig es ist, Kinder als eigenständige Persönlichkeiten zu respektieren, so wichtig ist es, ihnen auch Respekt abzufordern. Anders formuliert: Kinder respektieren nur jene Erwachsene, die sich selbst respektieren; Kinder erfahren den Wert des Respekts nur dadurch, wenn ihnen Erwachsene -4 8 0 -
diesen Respekt vorleben. Einseitige Achtung der Eltern durch das Kind - «Du sollst Vater und Mutter ehren...!» -, die in der Vergangenheit verlangt wurde, erzeugt schnell Ohnmacht, Unterwürfigkeit, Angepaßtheit und graue Mäuse. Doch gegenwärtig wird das Gegenteil sichtbar: Alles ordnet sich den Kindern unter. Bedingungslose Kindorientierung ist angesagt man demonstriert für saubere Umwelt, für verträgliche Lebensmittel, gegen Kriege, gegen Gewalt im Namen der Kinder, die Zukünftiges repräsentieren. Eltern, vor allem Mütter, gehen in der Erziehung auf - wie Hefe im Kuchen, die nicht mehr sichtbar ist. Kinder sind «mein ein und alles», man selber ordnet sich unter. Wo bleiben die Eltern, die Erwachsenen mit ihren eigenen Bedürfnissen? Das Fehlen von Grenzen gefährdet kindliche Entwicklung ebenso wie die ständige Reflexion des eigenen Erziehungsstils. Mehr denn je ist die Kombination eines reflexionsoffenen Erziehungsstils mit elterlicher Unterstützung gefordert. Autonomie des Kindes entwickelt sich nur auf der Basis einer gefühlsmäßigen Erziehungsbeziehung, die von einem unterstützend-begleitenden Rahmen umgeben ist. Nur Wachsen-Lassen macht orientierungslos, das bloße Einlassen auf kindliche Bedürfnisse führt zur Haltlosigkeit des Kindes. Kinder brauchen wertende Feststellungen, um sich normativ orientieren zu können. Ein selbständiges, sinnerfülltes Leben ist nur auf der Grundlage eines inneren Halts möglich, aber der innere Halt bedarf des äußeren Halts. Gefühlsbindungen sind nicht nur wichtig für die Suche nach Orientierung, sie sind die Basis für Erziehungsbeziehungen, die auch manche Auseinandersetzung und Reibung mit sich bringt. Heute scheint vielen Kindern äußerer Halt zu fehlen, das Gefühl, angenommen zu sein. Fehlender Halt hat zu tun mit fehlenden Ritualen. Erwachsene haben Schwierigkeiten mit Ritualen, die sie mit Erstarrung, mit Machtausübung, mit Inhaltsleere und mit Zwang gleichsetzen. Viele haben erprobte Rituale im Erziehungsalltag über Bord geworfen, um nur nicht wie die Eltern von einst zu erscheinen. Tatsächlich können Rituale einengen, Luft zum Atmen nehmen, -4 8 1 -
die emotionale Entwicklung von Kindern behindern, dies vor allem dann, wenn mit der Durchführung von Ritualen die Durchsetzung von Hierarchien und Machtausübung verbunden ist. Aber anstatt jegliche Rituale über Bord zu werfen, ihre Bedeutung zu verleugnen, sollte man sich fragen: Welche Rituale hat man in der eigenen Kindheit als bedeutsam erlebt, so daß man sie an die eigenen Kinder weitergeben möchte? Welche Rituale hat man als einengend erlebt, so daß man sie aufgeben kann, weil sie inhaltsleer geworden sind? Rituale können mehrdeutig und widersprüchlich sein. Ihre fraglose Normalität, mit der sie den Menschen in seinem Tages- und Wochenlauf, den Jahreszeiten, ja dem Lebenslauf begleiten, läßt sie ja erst haltlos erscheinen. Rituale braucht man nicht zu erfinden, sie sind «da» - und zugleich kann man neue Rituale schaffen, um dem Ungewohnten den Mantel des Gewöhnlichen umzuhängen. Die Entritualisierung des Erziehungsalltags dagegen hat Orientierungslosigkeit, ja Chaos und Anarchie bewirkt: - Kinder, die nicht mit einem Abschiedsritual von ihren Eltern in Kindergarten und Schule abgegeben werden, sind ziellos, ständig in Bewegung. Wer nicht Abschied genommen hat, kommt nicht an, kann sich nicht auf neue Erfahrungen einlassen. - Da werden Klagen geäußert, Kinder würden in Tagesstätten ihre Erzieherinnen ständig nerven, sie wüßten nach einer vollbrachten Aufgabe nicht, was nun zu tun sei. Solche Kinder stehen nicht selten ständig unter Spannung, weil sie keine Zeit zur Entspannung haben, genauer: keine Fähigkeiten ausgebildet haben. Zeit der Muße, Phasen der Besinnung zu genießen. Bilden Kinder keine Entspannungsrituale aus, sind ungestüm-chaotische Ausbrüche oder mangelnde Frustrationstoleranz die Folge. - Ähnliches gilt für Kinder, die mehr oder minder sich selbst überlassen sind, die keinerlei Strukturierung ihrer Zeit kennen, sich deshalb in der Zeit verlieren. Auch sie besitzen keine Fähigkeiten, sich zu orientieren. Sie rennen atemlos von -4 8 2 -
Aktivität zu Aktivität, von Ort zu Ort, um - vergeblich Befriedigung zu finden. Solchen Kindern fehlen zeitliche wie räumliche Rituale, die ihnen Halt bieten. - Das Kind, das neue Räume betritt - sei es in Schule oder Kindergarten -, braucht Festigkeit, braucht Standpunkte. Kinder suchen sich diese instinktiv: sei es der Sitzplatz, das Spielzeug, der vertrauter werdende Lehrer, die Zeiteinteilung in Unterricht und Pause. Häufig halten Pädagogen und Pädagoginnen die langsame Suche der Kinder nach Halt nicht aus, sie verkennen deren Wünsche nach Festigkeit. Wenn dann Kinder zu lange an einem Ort sitzen, mit nur einem Gegenstand spielen, werden sie weggelockt, ihnen werden andere Spiele angeboten. Ein solches Vorgehen verwirrt Kinder. Neue Situationen und wechselnde Einflüsse verlangen nach Einfachheit, nach Reduktion der Eindrücke. Dies bieten die Rituale, sie sind eine Kraft, um sich als eigenständige Persönlichkeit inmitten des Chaos zu behaupten. - Aggressionen, die nicht durch Rituale gebunden sind, verkommen zu blinder Zerstörungswut. Viele Kinderspiele sind stark ritualisiert. Sie sind voller Symbolik, die die innere Realität der Kinder widerspiegelt. Symbolik und Ritual können Aggressionen in konstruktive Bahnen lenken. Regeln zeigen an, was möglich ist, Regeln dokumentieren, was nicht gewünscht wird. Da Aggressionen als Bestandteil des Lebens nicht aus dem Alltag auszublenden sind, bleiben Rituale und Symbole, über die ein gekonnter Umgang mit Aggressionen möglich ist. Rituale haben deshalb konfliktreduzierende Bedeutung. Die Vielfältigkeit von Ritualen macht eine weitere Situation deutlich. Melanie ist knapp vier Jahre, sie besucht neuerdings den Kindergarten. Am ersten Tag erscheint sie als Vampir verkleidet: Das Gesicht leicht weiß geschminkt, einen «Vampi»Umhang über die Schultern gehängt. Melanies Mutter bittet die Erzieherin um Entschuldigung, diese findet das eher lustig, den anderen Kindern ist's egal. Auch in den folgenden Tagen erscheint Melanie als Vampir verkleidet. Auffällig: Nur wenn sie in den Kindergarten geht, inszeniert sie dieses Ritual. -4 8 3 -
Ansonsten geht sie fröhlich und aufgeweckt als Melanie durch den Alltag. Nach dem Aufstehen und dem Frühstück betritt sie das Badezimmer, schminkt sich sorgfältig ihr Gesicht, wirft sich den selbstgenähten «Vampi»-Umhang um, schmiert sich etwas Gel ins Haar, überprüft vor dem Spiegel, ob alles passend ist, verläßt dann selbstbewußt das Zimmer und geht zum Kindergarten. Nach etwa zwei Wochen fängt Melanies Mutter an, sich zu beunruhigen, will ihre Tochter von der Inszenierung abhalten vergeblich. Melanie droht, dann nicht mehr den Kindergarten zu besuchen. Dies beunruhigt nun die Erzieherinnen, die Melanies Auftritt mit dem pädagogischen Konzept des Kindergartens in Zusammenhang bringen. Die Kinder nehmen an Melanie keinen Anstoß, sie empfinden alles als selbstverständlich und normal. Melanie ist trotz ihres Alters als starke Persönlichkeit anerkannt, die über viele kreative und soziale Fähigkeiten verfügt. Da ich im Kindergarten beratend tätig bin, bittet die Mutter, nachdem nochmals sechs Wochen verstrichen waren und Melanies «Vampi»-Ritual anhielt, mich um ein Beratungsgespräch. Sie mache sich Sorgen, ihr sei das alles nicht geheuer - vor allem deshalb, weil die Leute anfingen, über Melanie zu reden: «Ich will mir nicht vorwerfen lassen, nichts unternommen zu haben.» Melanies Vater, der beim Gespräch dabei ist, sieht «das lockerer. Das vergeht irgendwann. Ich hab mich früher als Indianer verkleidet.» Mit dieser Argumentation ist die Mutter überhaupt nicht einverstanden, sie bezichtigt ihn der Verharmlosung, sie meint, er würde den Kopf in den Sand stecken. Nachdem die Eltern den Raum verlassen haben, kommt Melanie hinzu. Ich kenne sie aus meinen Beobachtungen im Kindergarten. Melanie hat sich für das Gespräch nicht als Vampir verkleidet: «So kenne ich dich gar nicht», eröffne ich -4 8 4 -
das Gespräch. Sie lacht: «Ich hab ‹Vampi› zu Hause gelassen. Die schläft. Muß sich ausruhen.» Man nannte Melanie im Kindergarten «Vampi». Dann erzählt sie mir, wie sehr sie Vampire möge. Die «helfen mir. Das ist gut. Ich hab ganz viele Bücher darüber.» Und dann berichtet sie mir, was sie alles über Vampire weiß. Sie besitzt ein ungeheures Wissen, ich staune, erfahre manches mir Unbekannte über Vampire. Ihr gefällt, daß ich sie mit ihrem Wissen, ihrer Kompetenz ernst nehme. «Du magst Vampire?» frage ich. Sie nickt: «Ja, das sind meine Freunde. Die sind immer da und helfen mir.» «Was meinst du, Melanie, wie lange wirst du sie noch brauchen?» Sie stutzt, schaut mich an, dann meint sie ganz spontan und selbstsicher: «Bis ich groß bin!» «Wann bist du denn groß?» Sie ist irritiert, wirkt sprachlos. Ich lache sie an: «Wenn du fünf bist, sechs oder sieben Jahre?» Ohne lange zu überlegen, antwortet sie mir nun: «Wenn ich fünf bin, bin ich groß. Hat Mama auch gesagt. Dann kann ich mich alleine wehren!» «Kann es sein, daß du das mit ‹Vampi› abgesprochen hast?» Sie lächelt spontan, nickt bestätigend mit dem Kopf: «Hat ‹Vampi› mir versprochen! Wenn ich groß bin, kann ich alleine!» Als ich die Mutter später auf diese Informationen hin ansprach, wußte sie nichts damit anzufangen. Sie überlegte hin und her, suchte nach Erklärungen. «Kann es sein, daß ein Satz gefallen ist wie ‹Wenn du in den Kindergarten kommst, dann mußt du aufpassen, da geht's manchmal grob zu!›?» Sie, ganz spontan:
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«Verdammt, ja. Aber nur so ganz beiläufig, als sie mal wieder frech war, hab ich gesagt: ‹Wenn du im Kindergarten bist, schimpfen die Kinder mit dir und sind dann auch böse mit dir.› Sie hat kurz nachgedacht: ‹Dann hol ich meine Freunde!› Ich hab darüber nicht weiter nachgedacht. Aber hängt das damit zusammen?» «Es kann sein. Ich vermute es. Melanie hat ein Ritual entwickelt, mit dem sie ihre Ängste auffängt. So fühlt sie sich sicher.» Sie sieht mich fragend an: «Und wie lange wird das wohl noch gehen?» «Bis zum fünften Geburtstag!» «Wie lange?» Ihre Stimme bekommt einen lauten Klang: «Noch so lange! Aber warum denn bis zum fünften Geburtstag?» «Sie haben Melanie mal gesagt, mit fünf Jahren sei sie groß!» «Stimmt! Neulich erst mal wieder! So lange muß ich das noch aushalten? Ich werd verrückt! Nein, das geht nicht! Da muß jetzt was Richtiges her. Diese Tour läuft nicht mehr!» Sie redet sich in Rage, macht ein ärgerliches Gesicht: «Sie haben zuviel Verständnis für meine Tochter!» Während Melanie ihre Rituale selbstbewußt fortsetzte, selbstsicherer und eigenständiger wurde, rannte die Mutter von Arzt zu Therapeut, von Homöopath zu Beratungsstellen, erhielt dort die unterschiedlichsten Informationen: Die einen dramatisierten ihrem Gefühl nach, redeten davon, Melanie bearbeite dadurch frühkindliche Probleme, die anderen bagatellisierten ihr zu sehr, das würde schon mal wieder vergehen. Die Erzieherinnen konnten Melanies Rituale in der Zwischenzeit mit Gelassenheit annehmen. Die Kinder taten es ohnehin die ganze Zeit. Der fünfte Geburtstag nahte, das Team wollte Melanie eine Freude machen. Man verwandelte den Gruppenraum in eine «Vampir»-Höhle, kreierte Vampir-Getränke, ein Vampir-Kuchen wurde gebacken, alle - die Kinder wie die Pädagogen -4 8 6 -
verkleidetet sich als Vampire, um, wie es eine Erzieherin ausdrückte, «Melanie eine Freude zu machen. Wir waren irgendwie stolz auf sie. Sie ging ihren Weg so ganz selbstbewußt. Das fanden wir toll.» Melanie durfte an diesem Tag etwas später kommen, schließlich wollte man sie gebührend empfangen. Alles war gerichtet, die Vampire standen bereit, Melanie zu begrüßen. Melanie wußte von nichts, die ganze Sache wurde als Geheimnis behandelt. Die Tür des Kindergartens ging auf, Melanie trat ein - mit Jeans und Pullover bekleidet. Sie schaute verdutzt drein, die anderen Kinder, die Erzieherinnen noch mehr. «Melanie ist normal», rief ein Kind. «Das gibt's doch gar nicht!» meinte die Gruppenleiterin spontan. Melanie zuckte nur die Schultern: «Ich bin groß», sagte sie. «Ich bin groß, nun bin ich kein ‹Vampi› mehr. Ich bin doch fünf.» Kinder erfinden Rituale, in und mit denen sie sich unsichere Lebenssituationen begreiflich machen, sie auf eine anschauliche Weise bewältigen. Rituale bieten Halt und Orientierung. Selbstgeschaffene Rituale zeichnen sich durch fünf Bestandteile aus: - Das Ritual hebt sich vom Alltag ab. Das Ritual lebt durch seine Stilisierung - z. B. den Vampir - und die bewußt gestaltete Inszenierung - z. B. das morgendliche Schminken, die Verkleidung. Vor allem die Wiederholung, mit der das Ritual vollzogen wird, gibt dem Kind Sicherheit, bietet ihm Verläßlichkeit. Daraus entwickelt sich eine Kraft, die dem Kind Selbstvertrauen gibt. - Das Ritual lebt durch das Handeln. Begreifen geht über das Greifen - dieser Grundsatz, der den Entwicklungsprozeß von Kindern kennzeichnet, ist im Ritual auf eine ebenso konstruktive wie phantasievolle Weise aufgehoben. Das Ritual ist eingebunden in eine sinnliche Inszenierung, das Kind nimmt sich und das Ritual ganzheitlich wahr. - Das Ritual hat einen Anfang und ein Ende: Melanie praktizierte dies jeden Tag auf ihre Weise. Sie verwandelte sich
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für eine bestirnte Zeit in einen Vampir, der ihr Kraft gab, eine für sie unbestimmte Lebenssituation zu bestehen. Durch das Ritual kann das Ungewohnte - z. B. Melanies Gang in den Kindergarten - gewöhnlich, alltäglich und normal werden. Das Ritual bewahrt nicht nur auf, es schafft neue Gewohnheiten, es ermutigt, macht Lust, Räume jenseits gewohnter Grenzen kennenzulernen. Will ein Ritual nicht zur formalen Inszenierung erstarren, ist es selbst der Veränderung, ja einem Ende unterworfen. Als Melanie selbstsicher genug ist, braucht sie ihre Inszenierung nicht mehr, sie hat andere Fähigkeiten und Möglichkeiten gefunden, ihren Weg zu gehen. Jeder Schritt, den sie nun macht ist Teil dieses Weges. Melanie wird - falls ihr andere Widrigkeiten begegnen - sich auf die positive Kraft besinnen, die ihr das Ritual einst gegeben hat. Sie wird neue Rituale entwickeln, um ungewohnte Situationen selbstbewußt zu bestehen. Wenn der Weg das Ziel ist, Wege erst im Gehen entstehen, dann sind Rituale wie Geländer, Stützen, die am Rande stehen, die Halt bieten. Manche Stützen begleiten den Menschen viele Jahre, andere werden zurückgelassen oder ausgetauscht. Rituale geben äußeren Halt, Rituale tragen zur Überschaubarkeit des Lebensweges bei. Manche Rituale sind da; sie sind fraglos, zeitlos, gebunden an Jahreszeiten und Feste, müssen nicht ständig neu erfunden werden; andere gewinnen ihren Wert aus aktuellen Krisensituationen, wie Melanies Inszenierung beweist. Der äußere Halt, den Rituale bieten, ist wichtig für das innere Wachstum nicht nur der Kinder. Die zunehmende Entritualisierung des Alltags, des Lebens schlechthin, hat eine Unübersichtlichkeit mit sich gebracht, ein schwarzes Loch, das viele Menschen verunsichert. Während «leere» Rituale erstarren, irgendwann keine Bedeutung mehr haben, deshalb gemieden werden, geben klare und offene Rituale, die eingebunden sind in den Prozeß von Entwicklung und Leben, -4 8 8 -
Kraft; Rituale geben Auskunft, wie man Leben sinnvoll und inhaltsreich inszenieren kann. Vor allem Kinder spüren die hohe Bedeutungsdichte, die Rituale und die damit einhergehenden Symbole haben. Rituale geben Vertrautheit und Halt, sie geben Mittel an die Hand, um Erfahrungen zu bestehen, sie fangen Gefühle auf, binden Ängste, reduzieren Konflikte. Die vielen Geschichten des Buches zeigen die Bedeutung von Ritualen, sie verdeutlichen, daß diese nichts mit Erstarrung, mit unkritischer Haltung, mit Stillstand oder gar reaktionärem Gedankengang zu tun haben. Rituale in den Erziehungsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern sind symbolische Handlungen, die nicht allein verstanden, die vielmehr gefühlt werden. Rituale geben Halt, sie liefern nicht aus. Und da Kinder Rituale selber schaffen können, haben sie ein selbstbestimmtes Mittel in der Hand, ihre innere und äußere Wirklichkeit zu gestalten. Rituale sind notwendig, den eigenen Weg zu suchen und geprägt von selbstverantwortlichem Handeln auch zu gehen. Kinder sind nicht Opfer, Kinder sind Gestalter, sie sind Subjekte, die selbstbewußt und voller Vertrauen ihren Weg gehen können. Dazu brauchen sie elterliche Ermutigung und Zauberkräfte, die im Ritual aufgehoben sind.
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Literatur Ich habe auf einen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat verzichtet. Es gab Publikationen, die mir Mut gemacht haben, das Thema zu bearbeiten, und die mir bei meiner Arbeit mit Eltern und Kindern sehr geholfen haben. Die mir wichtigen Publikationen habe ich mit einem Sternchen * gekennzeichnet. Connirae und Steve Andreas: Mit Herz und Verstand. Paderborn 1992 George R. Bach/Herb Goldberg: Keine Angst vor Aggression. Frankfurt/M. 1981 * Richard Bandler/John Grinder/Virginia Satir: Mit Familien reden. München 1987 * Richard Bandler/John Grinder: Neue Wege der Kurzzeittherapie. Paderborn 1981 Manfred Berger: Sexualerziehung im Kindergarten. Frankfurt/M. 1988 * Bruno Bettelheim: Ein Leben für Kinder. Stuttgart 1987 * T. Barry Brazelton: Mein Kind verstehen. München 1988 * Tobias Brocher: Wenn Kinder trauern. Reinbek 1985 (rororo Nr. 7950) * Christian Büttner: Mit aggressiven Kindern leben. Weinheim 1988 * Christian Büttner (Hrsg.): Zauber, Magie und Rituale. München 1985 Nancy Chodorow: Das Erbe der Mütter. München 1985 William Dämon: Die soziale Entwicklung des Kindes. Stuttgart 1989 Francoise Dolto: Die ersten fünf Jahre. München 1992 * Rudolf Dreikurs/Loren Grey: Kinder lernen aus Folgen. Freiburg 1973 * Rudolf Dreikurs/Vicki SoItz: Kinderfordern uns heraus. Stuttgart 1988 David Elkind: Wenn Eltern zuviel fordern. Hamburg 1989 -4 9 0 -
Albert Ellis: Die rational-emotive Therapie. München 1977 * Magret Erni: Grenzen erfahren. Düsseldorf 1989 Sabine Friedrich/Volker Friebel: Einschlafen. Durchschlafen. Ausschlafen. Reinbek 1993 (rororo 9397) Hans Geißlinger: Die Imagination der Wirklichkeit. Frankfurt/M. 1992 * Helga Gürtler: Kinderärger. Elternsorgen. Ravensburg 1989 Sandy Sones: Schreiende Babys. Schlaflose Nächte. Ravensburg 1988 Evelyn Heinemann/Udo Rauchfleisch/Tilo Grüttner: Gewalttätige Kinder. Frankfurt/M. 1992 * Martin Herbert: Disziplin. Bern 1991 Klaus W. Hoffmann/Heidi Kaiser: Spiele und Lieder zum Kuscheln und Kosen. Reinbek 1995 (rororo Nr. 9507) Evan Imber-Black/Janine Roberts/Richard A. Whiting: Rituale. Heidelberg 1993 * Helmut Jaschke: Grenzen finden in der Erziehung. Mainz 1992 Jürgen Junker-Rösch: Gemeinsam spielen. Reinbek 1996 (rororo Nr. 9147) * Helmut Kentler: Eltern lernen Sexualerziehung. Reinbek 1981 * Linde von Keyserlingk: Wer träumt, hat mehr vom Leben. Düsseldorf 1992 * Elisabeth Kübler-Ross: Kinder und Tod. Zürich 1984 Carol H. Lankton/Stephen R. Lankton: Geschichten mit Zauberkraft. München 1991 Marielene Leist: Kinder begegnen dem Tod. Gütersloh 1979 Thomas Lickona: Wie man gute Kinder erzieht! München 1989 * Bettina Mähler: Geschwister. Reinbek 1992 (rororo Nr. 9316)
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* Margarete Mitscherlich: Die friedfertige Frau. Frankfurt/M. 1987 * Marcel Müller-Wieland: Der innere Weg. Mut zur Erziehung. Zürich 1982 Rosemarie Nave-Hertz: Familie heute. Darmstadt 1994 * Gertrud Nunner-Winkler (Hrsg.): Weibliche Moral. Frankfurt/New York 1991 Rolf Oerter/Leo Montada: Entwicklungspsychologie. München/Weinheim 1987 Christiane Olivier: Jokastes Kinder. München 1991 Emmi Pikler: Laßt mir Zeit. München 1988 Fritz Redl/David Wineman: Steuerung des aggressiven Verhaltens beim Kind. München 1976 * Hartwig Rohm: Kindliche Aggressivität. Frankfurt/M. 1976 Jan-Uwe Rogge: Kinder können fernsehen. Reinbek 1990 (rororo Nr. 8598) Jan-Uwe Rogge: Kinder brauchen Grenzen. Reinbek 1993 (rororo Nr. 9366) Heinz Rothbucher/Franz Wurst/Rosemarie Donnenberg: Grenzen erfahren. Räume schaffen. Salzburg 1994 * Udo Schmälzle: Mit Gewalt leben. Frankfurt/M. 1993 Carola Schuster-Brink: Kindertagen kennen kein Tabu. Ravensburg 1991 * Steve de Shazer: Wege der erfolgreichen Kurztherapie. Stuttgart 1989 Steve de Shazer: Der Dreh. Heidelberg 1988 * Verena Sommerfeld: Krieg und Frieden im Kinderzimmer. Reinbek 1991 (rororo Nr. 8807) * Otto Speck: Chaos und Autonomie in der Erziehung. München 1991 * Arnd Stein: Wenn Kinder aggressiv sind. München 1983 Daniela Tausch-Flammer/Lis Bickel: Wenn Kinder nach dem Sterben fragen. Freiburg 1994 -4 9 2 -
Michael Titze: Lebensziel und Lebensstil. München 1979 Renate Valtin: Mit den Augen der Kinder. Reinbek 1991 (rororo Nr. 9156) Sonia Wagenmann/Rainer Schönhammer: Mädchen und Pferde. Berlin 1994. Paul Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. München 1981 D.W. Winnicott: Aggression. Stuttgart 1988 * Katharina Zimmer: Versteh mich doch bitte. München 1992
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