Christian Lukas
Jäger und Berserker Version: v1.0
Ein feiner Schleier aus Staubpartikeln schwebte leise durch den Kir...
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Christian Lukas
Jäger und Berserker Version: v1.0
Ein feiner Schleier aus Staubpartikeln schwebte leise durch den Kirchsaal. Die Dämmerung hatte den Tag besiegt, schales Laternenlicht fiel durch die kunstvoll gefertigten Mosaikfenster in das Gebäude im Norden von Köln. Einige der Fenster wiesen kleine Löcher auf, durch die Wind in den Saal zog. Ein unwirkliches Flimmern lag in der Luft, wäh rend sich das Licht auf den feinen Staubkörnchen brach. Der Jäger stand in der Mitte des rechteckigen Kirchenschif fes und betrachtete das Bild des wiederauferstandenen Herrn. »Ich bin die Vergebung« stand als Botschaft auf einem der Fenster geschrieben. Es war die Abbildung von Jesus Chris tus – mit sichtbaren Wunden an Händen und Füßen. Jesus nach der Kreuzigung, auferstanden aus dem Reich der To ten.
Seit Gott im Herzen des Jägers lebte, hatte sich sein Dasein verändert. Es hatte vor allem wieder einen Sinn, war endlich wieder ein richtiges Leben jenseits der Finsternis. Dank sei Jesus. Jesus, der Herr, hatte auf dem Hügel von Golgatha den Tod besiegt und ihm seinen Schrecken genommen. Diese Ge wissheit gab dem Jäger Kraft, seinem oft blutigen Handwerk nach zugehen. Gott würde ihn nicht von der Schuld befreien, die er auf sich ge laden hatte. Von diesem Gedanken hatte er sich bereits vor Jahren verabschiedet. Doch das ewige Leben ängstigte ihn nicht mehr, die Fratzen der Hölle übten keine Macht mehr über ihn aus – denn Gott war gütig. Er nahm auch jene in seine Reihen auf, die gesündigt haben mochten – aber bereuten. Sowie der Jäger … Diese Tatsache ließ ihn den Anblick der verwesenden Leiber er tragen, die links und rechts von ihm in den Kirchenbänken lagen …
* Der Jäger bewegte sich langsam auf den Altarraum zu. Die Kirche war nicht sonderlich groß. Mit etwas gutem Willen bot sie vielleicht zweihundert Gläubigen einen Sitzplatz auf einer der schmucklosen Holzbänke. Die Kirche hatte keinen Namen. Evangelische Kirche Nord wurde sie in den Unterlagen der Kölner Stadtverwaltung genannt. In dem weiß gekalkten Gotteshaus wurden früher die Lehren Luthers ver kündet, heute war sie ein Zufluchtsort für alle Anhänger des Wah ren Glaubens. Sie alle liebten Gott von ganzem Herzen, ob sie sich eher katholischen, evangelischen oder orthodoxen Lehren ver bunden sahen, spielte keine Rolle. Die Kirche war für sie ein Ort der
Ruhe und der Zuflucht. Wer mochte diesen Ort dem Berserker verraten haben? Was hier geschehen war, trug eindeutig seine Handschrift. Nur er wagte einen derart konzentrierten Angriff auf eine Gemeinde der Wahren Gläubigen. Andererseits … Er und der Berserker hatten sich vor Jahren in Rumänien gegen übergestanden – und dort war der Berserker ums Leben gekommen. In einem fahrenden Zug – einem bis unter die Decke mit Munition beladenen Waggon – war es zwischen ihnen beiden zum Showdown gekommen. Zwei der Knechte des Berserkers hatte der Jäger bereits zuvor ge tötet. Sie waren gute Männer gewesen, keine blindwütigen Killer wie die, mit denen sich dieses Monster normalerweise umgab. Sie hatten dem Jäger zugesetzt – aber im Nahkampf mit dem Messer war er ihnen letztendlich überlegen. Gegen den Revolver von Smith & Wesson des Berserkers aber konnte auch der Jäger nichts ausrichten. Noch heute spürte er den Schmerz, der seinen Brustkorb zu sammenpresste, wenn er an diesen Moment dachte. Noch heute spürte er, wie die Kugel aus der Waffe des Berserkers in seinen Kör per eindrang. Doch das Glück war mit dem Jäger gewesen. Die Kugel hatte das Herz verfehlt, trat aus dem Rücken aus – ohne die Wirbelsäule in Mitleidenschaft zu ziehen – und bohrte sich in eine Munitionskiste. Bruchteile einer Sekunde später folgte eine Explosion. Der Jäger wurde durch die Druckwelle aus der offenen Ladeluke des Waggons ins Freie geschleudert, bevor eine zweite Explosion gleich mehrere Waggons zerfetzte … Mit einem Kopfschütteln riss sich der Jäger zurück in die Gegen wart. Er strich sich mit der Linken seine schulterlangen, schwarzen
Haare aus dem Gesicht. Obwohl aus der Ferne Autolärm ins Kirchgebäude drang, lag eine unheimliche Stille über dem Gotteshaus. Der Jäger rang um Fassung. Dies war eindeutig das Werk des Berserkers und seiner widerlichen Kreaturen, die einzig und allein aus purer Lust töteten. Sie suhlten sich im Leid ihrer Opfer und prahlten vor ihren Freunden mit ihren Taten, die sie ausschmückten und zelebrierten. Aber wie war das möglich? Der Jäger setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und ver suchte, das Geschehen zu rekonstruieren. Der Jäger hatte die Kirche durch das Haupttor betreten, selbstver ständlich erst nach einer Überprüfung der Lage. Doch offenbar waren die Bestien verschwunden, feierten ihren Sieg am Vorabend des neuen Jahrtausends. Sie schienen kein Interesse daran zu haben, die Polizei oder die Medien zu alarmieren, um ihr Tun der Öffent lichkeit publik zu machen. Diesbezüglich hatte sich ihre Taktik nicht verändert. Die Menschen sollten weiterhin in ihrer so genannten Realität leben, in der Vampire, Werwölfe und andere Wesen der Nacht die Hirngespinste von Roman- und Drehbuchautoren blieben. Die, die dieses Massaker betraf, würden davon erfahren. Ob Wahre Gläubige oder der Berserker: Sie agierten aus dem Un tergrund heraus – jenseits der Augen und Ohren der Öffentlichkeit. Der Angriff auf die Betenden war von mehreren Seiten gleichzeitig erfolgt. Durch die Seitentüren links und rechts der Sakristei hinter dem Altar, sowie vom Haupteingang aus. Die Angreifer, rekonstru ierte der Jäger, schienen die Besucher schließlich in die mittleren Sitzreihen getrieben und dort abgeschlachtet zu haben. »In Gottes Namen«, keuchte der Jäger. Neunundzwanzig Leichen zählte er in den Reihen links und rechts. Im Staub zu seinen Füßen erspähte er die Überreste eines be reits von jeglichen Hautresten befreiten Oberkiefers, dessen Eckzäh
ne weit aus dem Gebiss hervorstachen. Eines der Opfer betrachtete der Jäger genauer: Es handelte sich um eine Frau, dem äußeren Erscheinungsbild nach zu urteilen um die zwanzig Jahre alt. Sie hatte einen zarten, roten Mund, lange schwarze Haare, blaue Augen und feine Wangenknochen. Keine klassische Schönheit, aber ein Gesicht, von dem man magisch ange zogen wurde. Von Messerstichen malträtiert, schien sie ausgeblutet zu sein. Ihr Körper verfiel ohne seinen Lebenssaft. Der Jäger wandte seinen Blick von dem toten Mädchen ab. Trug er eine Mitschuld an dem, was hier geschehen war? 1990, in Rumänien, hatte er den halben Zug explodieren sehen. Die Druckwelle, Feuer, Trümmer waren über seinen Körper hinweg geflogen, als er aus dem Waggon gestürzt war. Der Jäger erinnerte sich an das Feuer ebenso wie an die warmen Sonnenstrahlen, die seinen Körper einhüllten, als er am Fuße des Bahndamms gelegen und darauf gewartet hatte, dass es mit seinem Dasein zuende ging. Vor seinem Schuldeingeständnis gegenüber Gott hatte er die Sonne gemieden wie die sprichwörtliche Pest. Doch nun zeigte sie sich als Freund. Statt ihn für die Sünden seines früheren Lebens zu verbrennen, wärmte sie seinen Körper, bis er den Schock und die ersten Schmerzen überwunden hatte. Leider nur schien er nicht der einzige Überlebende dieses Infernos gewesen zu sein – wie dieses Massaker am letzten Tag des alten Jahrtausends bewies. Der Jäger trug heute wie damals einen langen, schwarzen Mantel, der sich eng an seinen muskulösen, durchtrainierten Körper schmiegte, jedoch so geschnitten war, dass die Waffen, die er darun ter verbarg, unsichtbar blieben. Einen großkalibrigen Colt hatte er sich Ende der 80er Jahre zuge legt. Ob Vampir, Werwolf, Mensch: Wer von der Kugel des Colts umgepustet wurde, trat vor seinen Schöpfer. Samuel Colt hatte die alten Legenden über das Töten der Nacht
wesen relativiert und für eine gewisse Chancengleichheit zwischen Jägern und Gejagten gesorgt – vorausgesetzt, die Kugel traf die richtige Stelle. Unter der linken Schulter trug der Jäger eine kleine MPi. Sie war handlich und spuckte fünfzig Kugeln pro Sekunde aus. Ihre Durch schlagskraft war von der des Colts jedoch weit entfernt. Eine Kugel aus der israelischen Waffe hielt einen Gegner zwar auf, tötete ihn aber nicht unbedingt. Das konnte für den Schützen natürlich … nun … unangenehme Folgen nach sich ziehen. Ein kaum hörbares Geräusch drang durch den Kirchsaal. Es kam von der Empore. Auf diesen kleinen Balkon, auf dem für gewöhn lich der Organist Platz nahm, hätte ihn sein erster Weg führen müssen. Der Jäger fluchte leise. Seit fast zehn Jahren lebte er inzwi schen das Leben eines ehrbaren Durchschnittsbürgers, er war kör perlich zwar nach wie vor in Top-Form – doch fehlte ihm die für diese Angelegenheit notwendige Routine. Lamentieren aber half nicht. Angriff, schoss es ihm durch den Kopf, war hier nicht die beste, son dern die einzige Verteidigung. Blitzschnell glitt seine linke Hand unter den Mantel und riss den silbern glänzenden Colt aus dem Holster unter der rechten Schulter. Eins … Er wirbelte um seine eigene Achse und rannte los. Er war schnell – sehr schnell. Die säurefesten Sohlen seiner schweren Springerstiefel knallten wuchtig auf den Steinboden auf, die Wände erzeugten ein wummerndes Echo seiner Schritte. Zwei, drei, vier … Die Treppe der Empore direkt neben dem Haupteingang war er reicht. Fünf, sechs, sieben … Pro Schritt nahm er vier, fünf Stufen der alten Holztreppe.
Acht, neun … Er stand auf dem Balkon, seinen chromblitzenden Colt auf den Mann gerichtet, der auf einem kleinen Holzschemel vor der Orgel saß. Zehn!
* »Vater Johannes!« Der Jäger erschrak beim Anblick des alten Mannes. Eine tiefe Wunde zog sich längs über dessen Bauch. Der schwarze Anzug des Geistlichen war blutdurchtränkt, das Feuer seiner gü tigen, blauen Augen verlor bereits den Glanz. Dennoch lächelte er, als der Jäger vor ihm stand. »Samuel!« Ein dünner Blutfaden rann aus dem rechten Mundwinkel des Geistlichen. Es war ein Wunder, dass er noch lebte. Der hölzerne Boden des Balkons war von Notenblättern bedeckt, die meisten waren blutverschmiert. Der Jäger verstaute den Colt im Halfter. Der Priester kauerte auf dem Schemel, presste seine Unterarme auf die Bauchwunde. »Lass gut sein, Samuel«, sagte er, als ihm der Jäger helfen wollte. »Wenn ich mich bewege, werde ich wohl ein Problem mit meinen Gedärmen bekommen.« Samuel, der Jäger, starrte den Priester fassungslos an. Der alte Mann wusste um sein nahendes Ende – und lächelte. Der Jäger kniete sich zu Füßen des alten Priesters und legte seine Hände auf die Knie des alten Mannes. Er spürte, wie die Kälte des Todes vom Körper des Geistlichen Besitz ergriff. »Nun werde ich das neue Millennium nicht mehr erleben.« Aus
Pater Johannes’ Stimme klang leichtes Bedauern. Samuel suchte nach einer angemessen Antwort. Vergeblich. »Weißt du noch, wie oft du gehadert hast, wie oft du alles aufge ben und in die Dunkelheit zurückkehren wolltest?« »Wie könnte ich das vergessen. Ich verdanke Ihnen mein Leben.« »Nein, ich habe nur so getan, als wüsste ich auf deine Fragen Ant worten. Du ganz allein hast gegen das Böse angekämpft. Was du heute bist, das verdankst du deinem eigenen Willen.« »Und der Liebe und Vergebung Gottes …« Der Priester lachte auf, verzog schmerzerfüllt das Gesicht. »Und der Liebe Gottes«, bestätigte er einen Moment später. Kurz herrschte Stille. Die beiden Männer brauchten keine Worte, um ihre Gefühle füreinander auszudrücken. Johannes war mehr als Samuels Mentor. Er war sein Licht in der Dunkelheit, sein Anker. »Was ist passiert?«, fragte Samuel schließlich. »Wir zelebrierten unseren Dankgottesdienst. Pastor Weisenbrink hielt gerade die Predigt, als sie die Kirche stürmten.« »Wie viele waren es?« »Zwanzig … dreißig …«, antwortete der Geistliche. »Ich weiß es nicht. Bevor ich meine Gedanken ordnen konnte, stürmte einer von ihnen schon die Treppe hinauf«, der Priester schloss die Augen, »und rammte mir eine Machete in den Bauch. Vor dreißig Jahren hätte ich ihm die Machete aus der Hand gerissen und sie ihm in den verdammten Hintern gerammt. Aber ich bin offenbar keine fünfzig mehr.« Samuel lachte. »Nein, aber wie ein Achtzigjähriger sehen Sie auch nicht aus.«, »Bring mich nicht zum Lachen, Samuel.« Die Wangen des Priesters glühten rot auf, tapfer blickte der alte Mann seinem Ende entgegen. »Ich habe Schreie gehört, ich habe gehört, wie Weisenbrink auf die Angreifer einredete. Mein Mörder verließ die Empore, ich griff nach dem Handy und …«
Sein Atem wurde schwerer, er verkrampfte die Hände zu Fäusten und presste sich die Arme fester auf den Bauch. »Ich habe offenbar alles ausgeblendet«, vor Schmerzen verzog er das Gesicht, »und sie erst wieder schreien gehört, als ich das Handy fallen ließ – aber ich wusste, dass du kommen würdest …« »Ich hätte heute Abend bei euch sein müssen.« »Nein«, wehrte der Priester ab. »Das ist Unsinn. Hat dies auch nur einer von uns vorhersehen können?« Der alte Mann hustete. Es ging zu Ende. »Samuel, ich habe dich gerufen, nicht um Rache zu nehmen, sondern um über die Toten zu wachen. Wenn sie jemand findet, der nicht zu uns gehört, dann werden Fragen gestellt …« »Niemand wird Fragen stellen, das verspreche ich.« Der Pater lächelte zufrieden. Er streckte den rechten Arm aus, leg te die Hand auf Samuels Stirn und erteilte dem Jäger Gottes Segen. Das Blut floss nun ungehindert aus der Bauchwunde. Der Pater stürzte vom Schemel, Samuel fing seinen Körper auf und ließ ihn sanft zu Boden gleiten. Vater Johannes’ Augen glänzten. Weder Furcht noch Trauer war in ihnen zu lesen. Sie strahlten vor Freude. »Samuel, ich werde gleich vor meinen Schöpfer treten«, sagte er, »und weißt du, was ich ihn fragen werde?« »Nein«, antwortete Samuel. Das letzte Bild, das Vater Johannes auf Erden sehen sollte, sollte nicht das eines weinenden Mannes sein. Doch dem Jäger fiel es nicht leicht, seine Tränen zu unterdrücken. »Was werden Sie ihn fragen, Vater?« »Warum er einen altgedienten katholischen Missionar wie mich ausgerechnet in einer evangelischen Kirche abtreten lassen musste.« Samuel konnte beinahe das schallende Gelächter des Priesters hö ren, wie es ein Echo durch den Kirchsaal warf. Es hallte noch durch das Gotteshaus, nachdem Samuel dem toten Geistlichen längst die Augen geschlossen hatte …
* Samuels Frau Sarah wusste, dass seine Vergangenheit – kompliziert war. Sie stellte keine Fragen, wenn er Anrufe bekam, die ihn veranlass ten, sofort das Haus zu verlassen. Und das, obwohl die meisten An rufe nachts kamen, zu Zeiten, in denen normale Menschen schliefen. Dass Samuel anders war, dass er am liebsten nachts arbeitete und nur wenige Freunde hatte, war ihr als seiner Frau natürlich nicht verborgen geblieben. Wie anders er jedoch war, darüber machte sie sich keine Vorstellungen. So perfekt lebte er inzwischen das Leben eines normalen Menschen im Verhalten, in der Nahrungsaufnahme, in seinem Denken. Außerdem waren die Anrufe in den letzten Jahren selten ge worden und nur wenige Wahre Gläubige wussten, wer sich hinter der Maske des biederen Familienvaters versteckte, der seinen Lebensunterhalt als freier Übersetzer verdiente und Hypotheken für ein Reihenhäuschen in einer langweiligen Neubausiedlung im Süden der Stadt abbezahlte. Viele vermuteten den Jäger in den düstersten Winkeln der Welt. Er war ein Mythos: der Mann, der den Berserker vernichtet hatte. Ein Irrglaube, wie er nun bitter zugeben musste … Seine Kinder feierten das neue Jahrtausend bei Sarahs Eltern. Tom und Bea waren noch klein, für sie zählte allein der Anblick des zu erwartenden Feuerwerks heute um Mitternacht. Die Bedeutung dieses besonderen Jahreswechsels verstanden sie noch nicht. Wahre Gläubige feierten für gewöhnlich keinen Jahreswechsel. Den 24. Dezember feierten sie ausgiebig als den Geburtstag ihres Erlösers, der ihnen das Licht des Lebens zurückgegeben hatte. Und das nicht nur im metaphorischen Sinne.
Doch bis zum Tag der Heiligen Drei Könige taten sie Buße, wie es ihnen ihr Katechismus vorschrieb. »Feiere den Geburtstag deines Herrn Jesus – er hat deine Dunkelheit besiegt und dir das Licht ge schenkt.« So stand es wörtlich in ihrem Glaubensbuch zu lesen, das in keiner Bibliothek ausstand und nur von einem Wahren Gläubigen an einen Wahren Gläubigen weitergereicht werden durfte. Dass der Jäger die Regeln – die genau erklärten, wie und wie lang zu feiern sei – etwas zwangloser auslegte und eigentlich heute Abend mit Freunden Sylvester gefeiert hätte, rechtfertigte er damit, mit einer Frau verheiratet zu sein, die seinen Glauben respektierte – aber nicht teilte. Doch statt das neue Jahrtausend im Kreis von Freunden zu begrü ßen, kniete er vor dem toten Körper seines Mentors. Ein kurzes Ge bet, ein letzter Gruß. Für mehr reichte die Zeit nicht. Er wischte sich eine Träne aus dem Gesicht – und begann seine Arbeit. Der Jäger nahm das Handy des Geistlichen an sich, steckte das kleine Gerät in die Manteltasche und erhob sich. Auf einem Tischchen neben dem Schemel, auf dem der Priester gesessen hatte, lag der Mantel des Geistlichen ordentlich zu sammengefaltet. Samuel nahm ihn, faltete ihn auseinander und legte ihn über den toten Körper seines Mentors. Ohne seinen Gefühlen zu gehorchen, die nach einem Moment der Stille verlangten, machte er auf dem Absatz kehrt und rannte die Holztreppe hinunter. Sein erster Weg führte ihn zum Haupteingang. Er überprüfte die Verriegelung dieser Tür ebenso wie die der Nebeneingänge. Das Gebetshaus war ein typischer protestantischer Kirchenbau des 17. Jahrhunderts. Schmucklos, zweckmäßig, als Gegenpol zum ka tholischen Prunk der Entstehungszeit. Lediglich die kunstvoll gestalteten Mosaikfenster passten nicht ganz in das schlichte Am biente. Die Sitzbänke standen ordentlich in Reih und Glied, der
Altarraum befand sich etwa zwei Stufen über dem Boden des Kir chenschiffes. Von Samuel aus betrachtet zur Linken stand das Rednerpult, in der Mitte der Altar, rechts befand sich ein schlichtes Taufbecken, das erst vor einigen Jahren aus einem Ytong ähnlichen Stein gemeißelt worden war. Hinter dem Taufbecken befand sich eine weitere Tür. Sie führte zur Sakristei. Einen Turm besaß das Gotteshaus seit einem britischen Bomben angriff 1944 nicht mehr, daher bestand die gesamte Kirche nur aus dem Saal und der Sakristei. Es gab kein Gemeindehaus in der Nähe, es gab keinen Küster, der sich um das Gebäude kümmerte. So hatte dieses Gebäude nicht nur die Zeiten überdauert – es war auch in Vergessenheit geraten. Für die hiesige Gemeinde des Wahren Glaubens machte sie dies zu einem idealen Treffpunkt. Niemand, kümmerte sich um die paar Gläubigen, die sich hier regelmäßig zu Gottesdiensten trafen, und wenn doch, wurden sie meist für Mitglieder einer Sekte gehalten, mit denen die Anwohner – fast ausschließlich Zugezogene ohne Wurzeln in der Region – nichts zu tun haben wollten. »Wenn du nicht auffallen willst«, lautete Vater Johannes’ Credo, »verhalte dich auffällig. Bewege dich inmitten unter Menschen, füh re ein ganz normales Leben.« Dies war auch Samuels Lebensmotto geworden. Der Jäger öffnete die Tür zur Sakristei und betrat den kleinen Raum. Ein alter Schreibtisch, ein Ofen, in dem tatsächlich noch ein kleines Feuer loderte, ein Aktenschränkchen ohne Inhalt, eine Garderobe, das war alles. Milchglasfenster verhinderten ebenso einen Blick hinaus wie hinein. Samuel überprüfte die Außentür des kleinen Anbaus. Sie war fest verschlossen. Im Gegensatz zur Kirche selbst war die Sakristei noch staubfrei. Samuel atmete die zwar etwas abgestandene, aber vergleichsweise
klare Luft kräftig ein und aus und bereitete sich auf seinen Dienst vor: Wache bis zum Sonnenaufgang zu halten, während die un schuldigen Opfer des Berserkers in der Kirche verrotteten. Er durchquerte den kleinen Raum und wollte bereits in den Kirch saal zurückkehren, als sein Blick noch einmal auf die Garderobe fiel. Draußen war es kalt. Dennoch hing dort kein Mantel …
* »Wir zelebrierten unseren Dankgottesdienst. Pastor Weisenbrink hielt seine Predigt, als sie die Kirche stürmten.« Die Worte des sterbenden Johannes hallten in Samuels Ohren. Weisenbrink war ein relativ klein gewachsener, hagerer Mann mit stechenden grünen Augen und langem, schwarzen Haar, das er oft zum Zopf geflochten trug. Gebürtig stammte er aus Namibia, wo er der deutschen Minderheit angehörte. Seit drei Jahren hielt er in Köln seine Gottesdienste. Vater Johannes hatte ihn in einer südafrikanischen Nervenheilan stalt aufgelesen, wo er nach einer Vampir-Attacke gelandet war. Für die Ärzte war Weisenbrink nur ein verwirrter Geistlicher, der offen bar mit seinem Glauben haderte. Vater Johannes indes erkannte den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte. »Wo, zum Teufel, steckst du«, knurrte der Jäger und schritt durch die Sitzreihen, ohne Rücksicht auf die toten Körper zu nehmen. »Wo bist du?« Blut, überall Blut. Und Staub. Der Anblick der Getöteten war an Grausamkeit kaum zu überbieten. So viele Tote, so viel Leid und Entsetzen. Doch für diese Gedanken hatte der Jäger keine Zeit. Er suchte Weisenbrink. Vergeblich … War der Pastor ein Verräter? Hatte er den Bestien diesen Ort ver
raten? War er etwa ein Anhänger des Berserkers, der über Jahre hin weg nur eine Rolle gespielt hatte? Oder hatten sie ihn entführt? Samuel verwarf diesen Gedanken. Die Geistlichen des Wahren Glaubens waren in ihren Ansichten über den Sinn und Zweck ihrer Arbeit Fundamentalisten, die selbst unter Folter ihre Geheimnisse für sich behielten. Das wusste der Berserker. War der Pastor etwa davongelaufen? Samuel schloss seine Augen. Auch dies war unwahrscheinlich, weil kein Geistlicher des Wahren Glaubens eine sterbende Ge meinde zurücklassen würde. Und selbst wenn – wie wahrscheinlich war es, dass er in die Sakristei gegangen, seinen Mantel genommen und die Außentür des kleinen Raumes abgeschlossen hätte, wäh rend in der Kirche der Mob wütete? Ein normaler Mensch flüchtete in einer solchen Situation Hals über Kopf! Samuel rieb sich die Augen. Der Staub brannte, aber der Druck, den er verspürte, der kam von innen. Weisenbrink trug bei seinen Gottesdiensten stets eine Soutane. War er etwa ohne Jacke oder Mantel unterwegs gewesen? Unwahrscheinlich! Im Ofen der Sakristei glimmte noch das Feuer, draußen herrschten Minustemperaturen und Weisenbrink stammte aus Namibia. Er war Hitze gewöhnt, die trockene Kälte des Rheinlandes war für ihn et was Fremdes, Unangenehmes. Hatte ein Berserker den Mantel gestohlen? Ebenso unwahrschein lich, die Toten in der Kirche trugen teilweise wertvollen Schmuck – und der war unangetastet geblieben! Samuel verharrte in vollkommener Bewegungslosigkeit inmitten des Massakers. Er rekonstruierte vor seinem geistigen Auge die Tat, sah die einzelnen Bilder vor sich. Was ihn an diesem Ort irritierte, war das Fehlen fast jeglicher
Gegenwehr. Hier und da steckte eine Kugel in der Wand, einige Fenster waren beschädigt. Aber die Schäden hielten sich – abgese hen von der Masse an Toten – in Grenzen. Selbst die Bänke standen in Reih und Glied. Was hatte Vater Johannes gesagt? Wie hatte er den Sturm der Bes tien empfunden? »Ich habe Schreie gehört, ich habe gehört, wie Weisenbrink auf die Angreifer einredete. Mein Mörder verließ die Empore … Ich habe offenbar alles ausgeblendet und sie erst wieder schreien gehört, als ich das Handy fallen ließ …« »Nein,« brüllte der Jäger aus tiefster Kehle, »du hast nichts ausge blendet, ehrwürdiger Vater. Du hast nichts ausgeblendet, weil da nichts zum Ausblenden war!« Samuel rekonstruierte die Erstürmung der Kirche: Die Angreifer kamen durch alle Eingänge – inklusive der Sakristei – und kesselten ihre Opfer ein. Im Moment der Panik hatte Weisenbrink für Ruhe gesorgt und sowohl auf die Angreifer wie auch auf die Gläubigen eingeredet. Die Wahren Gläubigen hatten seinen Worten vertraut. Daher das Fehlen jeglicher Spuren von Gegenwehr! Die meisten der Wahren Gläubigen waren vor ihrem Bekenntnis zu Gott Mörder oder noch Schlimmeres gewesen; Personen mit Instinkten – die sie unterdrücken mochten, die sich aber nie ganz verleugnen ließen. Das wusste der Jäger aus eigener Erfahrung. Einige der Gläubigen hätten sich folglich den Bestien in den Weg gestellt. Sie hätten gekämpft, Verwüstungen angerichtet. Dies lag in ihrer Natur. Doch nichts war geschehen. Weil Weisenbrink sie zur Mäßigung gerufen und spontane Handlungen im Keim erstickt hatte. Einzig Vater Johannes an der Orgel war ein Unsicherheitsfaktor gewesen. Der alte erfahrene Kämpfer für den Wahren Glauben hätte Weisenbrinks Spiel durchschauen können. Daher musste er sofort sterben. Im Glauben, Vater Johannes sei tot, trieb Weisenbrink seine Schäflein zusammen. Dann wurde gezielt geschossen und die Ma
cheten kamen ins Spiel. Die Bilder, die sich vor Samuels Augen abspielten, waren an Bru talität und Widerlichkeit kaum zu überbieten. Dies war eine gezielte Hinrichtung gewesen und kein Fanal, das einfach nur Panik unter den Wahren Gläubigen verbreiten sollte, wie Samuel bislang ange nommen hatte. Dies war Völkermord! Der Berserker war nach Köln gekommen, wohl wissend, dass im Schatten des Doms eine der größten Gemeinden des Wahren Glau bens auf dem europäischen Kontinent existierte. Zweihundert Gläubige mochte die Gemeinde umfassen, hinzu kamen noch ein mal etwa fünfzig Wahre Gläubige im näheren Umland. Und die meisten von ihnen hatten sich versammelt, taten Buße, studierten das Wort Gottes, meditierten. Eine konzentrierte Aktion mit sechs, vielleicht acht Kommandos reichte aus, um die Gemeinde zu vernichten. Schnell, effektiv. Mitten in der Großstadt Köln – dennoch unbemerkt von der Öf fentlichkeit. Die nämlich hatte heute etwas anderes zu tun, als sich um ihre Nachbarn zu kümmern. Bei alledem aber gab es für die Wahren Gläubigen einen Hoff nungsschimmer am Horizont. Weisenbrink mochte in seiner Tätig keit als Pastor der Gemeinde die Namen seiner Schäflein kennen. Welche Person sich jedoch hinter welchem Tarnnamen verbarg, das wusste er nicht. Das wusste nur Vater Johannes! Traurig erkannte der Jäger, dass er den letzten Willen seines Mentors nicht erfüllen konnte …
* 31. Dezember 1999, 20.30 Uhr
Zwei Handys zweier Netzbetreiber, das eigene und das von Vater Johannes, befanden sich in seinem Besitz. Doch Sarah war einfach nicht ans Telefon zu bekommen. Es meldete sich nur der Anrufbe antworter. »Sarah, verschwinde aus dem Haus! Stell keine Fragen, tu, was ich sage!«, brüllte er ins Handy. Er hielt kurz inne, um sich zu beru higen. »Ich liebe dich …« Er unterbrach das Gespräch, bevor er ihre Mobilfunk-Nummer wählte. Doch die Netze waren an diesem Abend überlastet. Die Teil nehmerin, teilte ihm eine elektronische Frauenstimme mit, sei leider nicht erreichbar. »Scheiße!«, stieß er inbrünstig hervor. Er wählte die Nummer seiner Schwiegereltern. So oft er aber auch die Wahlwiederholungstaste drückte – bei ihrem Anschluss ertönte unentwegt das Besetztzeichen. Samuel raste mit seinem Renault über den Autobahnring. Nerven behalten! 120, 130 Kilometer pro Stunde waren drin, mehr war ihm trotz sei ner agressiven Fahrweise durch den starken Verkehr nicht möglich. Samuel kannte nur eine Hand voll Gläubiger persönlich. Er hielt sich aus der Gemeindearbeit vollkommen heraus. Für die meisten Gemeindemitglieder war er ein Niemand, der von Zeit zu Zeit an Treffen teilnahm, sich aber stets schüchtern im Hintergrund aufhielt. Peter Berg lautete der Name eines der wenigen Wahren Gläubigen, die über seine wahre Identität Bescheid wussten. Samuel wählte dessen Nummer. »Berg …«, meldete sich die Stimme eines Mannes mittleren Alters. »Hier ist Samuel. Der Berserker ist zurück …« »Was …?« »Stell keine Fragen!«, unterbrach ihn Samuel barsch. »Dafür haben wir keine Zeit. Pack deine Kinder und hau ab! Es sind schon über
zwanzig von uns tot, die Kirche ist verbrannte Erde. Hast du ein Handy?« »Ja …« Peter Berg rang nach Fassung. »Dann nimm es mit und versuche von unterwegs, so viele andere wie möglich zu warnen. Vielleicht schaffen wir es, eine Telefonkette aufzubauen und möglichst viele aus der Stadt zu schaffen.« »Aber …« »Gott sei mit dir, Peter.« Drei weitere Nummern kannte Samuel. Er rief sie an – doch er er reichte niemanden. Es fiel ihm nicht leicht, sich auf den Verkehr zu konzentrieren und gleichzeitig mit dem Mobiltelefon herumzuhantieren – einen Unfall durfte er sich jetzt auf keinen Fall erlauben. Dennoch suchte sich Sa muel durch das Menü von Vater Johannes’ Mobiltelefon, bis das Wort Telefonbuch im Display aufleuchtete. Aber abgesehen von der Nummer seines Hausarztes und denen einiger geistlicher Brüder, die jedoch keine Ahnung von der Existenz der Gemeinschaft der Wahren Gläubigen hatten, war das Telefonbuch – natürlich! – leer. »Shit, shit, shit!«, fluchte der Jäger. Er saß hinter dem Lenkrad seines Gefährts und versuchte, Ruhe zu bewahren. Von der Autobahn aus war das Hochhaus, in dem seine Schwiegereltern lebten, bereits zu sehen. Zwölf Etagen ragten in den Himmel hinauf. Großräumige Eigentumswohnungen zogen vor allem Familien mit drei und mehr Kindern an, und die Kaufpreise waren verhältnismäßig niedrig. Vor 30 Jahren hatten Samuels Schwiegereltern zur ersten Käufergeneration gehört. Samuel schoss die Autobahnausfahrt hinunter, überfuhr die rote Ampel am Ende der Ausfahrt – wofür er ein wütendes Huporches ter erntete – und nahm Kurs auf den Wohnturm. Das Glück war auf seiner Seite. Die beiden nächsten Kreuzungen, die es zu überqueren galt, gewährten ihm grün, an der dritten Am
pel ging es rechts ab. Der Wohnturm lag vor ihm.
* Samuel parkte in zweiter Reihe direkt im Eingangsbereich des zwölfstöckigen Gebäudes. Wurde das Haus bereits überwacht? Befanden sich die Bestien möglicherweise schon in der Wohnung seiner Schwiegereltern? Stand diese überhaupt auf der Liste der Objekte, die heute Nacht angegriffen werden sollten? Gab es diese Angriffe überhaupt – oder phantasierte Samuel? Hatte er in der Kirche falsche Schlüsse gezo gen? Seine Schwiegereltern wohnten direkt unter dem flachen Dach. Im Sommer herrschte in ihrer Wohnung eine mörderische Hitze. Dafür war der Ausblick wunderschön. Sie konnten einen großen Teil Kölns überschauen. Das Millenniumsfeuerwerk von ihrem Apparte ment aus zu beobachten – es wäre für Tom und Bea sicher zu einem unvergesslichen Ereignis geworden. Samuel rannte das Treppenhaus hinauf. So war er eh viel schneller im zwölften Stock als mit einem der Fahrstühle, die bei einem An griff ohnehin zur Todesfalle geworden wären. In der obersten Etage befanden sich nur zwei Wohnungen. Dun kelheit hüllte den Hausflur in trügerische Sicherheit. Samuel betätig te den Lichtschalter, wurde für einen Moment geblendet. »Westerholt« stand auf dem kleinen Plastikschild unter der gelben Klingel. Samuel betätigte sie, jemand schaute durch den Spion und öffnete die Tür. Ohne auf eine Aufforderung zu warten, trat der Jäger ein. »Samuel …« Seine Schwiegermutter starrte ihn aus weit auf gerissenen Augen an. Helga war vor zwei Wochen sechzig Jahre alt geworden. Ihre
freundlichen Augen, die blonden, kurz geschnittenen Haare und ihre Vorliebe für Jeans ließen sie jedoch deutlich jünger erscheinen. »Samuel, wie siehst du denn aus?«, stotterte sie mit Blick auf seine schwarze Kleidung verwundert. »Keine Zeit für Erklärungen!«, antwortete der Jäger hastig. Er verschloss die Wohnungstür, die zum Glück aus massivem Holz und nicht aus billigem Pressspan bestand. Es handelte sich um eine Maßanfertigung, die Samuels Schwiegervater nach einem Ein bruch vor einigen Jahren hatte anfertigen lassen. Sie war durch Sperr-Riegel auch im Boden verankert und selbst für einen Profi nicht mit einem Tritt aus den Angeln zu heben. »Samuel, was geht hier …?«, setzte seine Schwiegermutter an. »Wir schweben in großer Gefahr, wir …« Der Jäger verstummte. Aus dem Wohnzimmer gegenüber dem überaus geräumig geschnittenen, rechteckigen Flur trat Sarah her aus. »Was tust du hier?« Sie blickte Samuel verblüfft an. »Und du?«, fragte er zurück. »Du warst weg, und ich wollte nicht allein sein und auf dich warten …« »Papa?« Beas Stimmchen hallte durch den Flur. Sie kam aus Sarahs früherem Kinderzimmer gelaufen, strahlte über ihr engelsgleiches Gesichtchen und streckte die Arme aus. Am 22. Januar feierte die Kleine ihren vierten Geburtstag. Tom folgte seiner kleinen Schwester und wunderte sich ebenso wie seine Oma über den Aufzug des Vaters. Der Junge, der von sei ner Großmutter die Sommersprossen und von seinem Vater die schwarzen Haare geerbt hatte, war inzwischen sieben Jahre alt. Für sein Alter war er allerdings relativ klein. »Ich habe keine Zeit für Erklärungen,« wehrte Samuel alle Ein wände ab, nahm seine Tochter auf den Arm und gab ihr einen zärtli
chen Kuss auf die rechte Wange. »Ist das eine Waffe unter deinem Mantel?«, fragte ihn seine Schwiegermutter verblüfft, unfähig, sich von der Stelle zu rühren. »Ja, Schwiegermama – aber ich hoffe, sie nicht benutzen zu müssen.« »Sarah, was …?«, fragte Helga. »Schon gut, Mama.« Sarah war das Ebenbild ihrer Mutter – nur 25 Jahre jünger. Groß, blond, keine klassische Schönheit, aber eine Frau mit Ausstrahlung, Selbstbewusstsein und Stil. Sie trug eine schwarze Hose und einen weißen Pullover. »Was sollen wir tun, Sa muel?«, wollte sie erstaunlich ruhig wissen. »Zieht euch feste Schuhe und eine warme Jacke an.« Samuel schritt durch den Flur und übergab Bea seiner Frau, die die Kleine zärtlich in die Arme schloss. »Wo ist Bernd?«, fragte Samuel, als er seinen Schwiegervater nir gends entdecken konnte. »Er wollte rüber zur Tankstelle und Getränke kaufen, weil Sarah noch gekommen ist, und …«, stammelte Helga und ließ den Satz un vollendet. »Mama, zieh dir Schuhe an!«, befahl Sarah, als ihre Mutter vor Verwirrung keine Anstalten machte, sich zu rühren. »Was ist hier eigentlich los?«, schrie Helga Sarah an. »Warum trägt dein Mann diese bescheuerten Klamotten und kommt hier mit einer Waffe angerannt und …?« »Still!«, blaffte Samuel. Ein Schlüssel wurde ins Schloss der Wohnungstür geschoben. Sarah presste ihrer Mutter unsanft eine Hand auf den Mund, wäh rend sie Bea anlächelte und den Eindruck vermittelte, als sei dies nur ein Spiel. Samuel wiederum legte seinen Zeigefinger auf seinen Mund und deutete seinem Sohn an, still zu bleiben. Der Junge zitterte vor Angst, unfähig, auch nur einen Laut über
die Lippen zu bringen. Wie angewurzelt stand er im Türrahmen von Sarahs altem Zimmer, in dem heute Bernds Computer stand. Der Bildschirm zeigte die Website irgendeines Spieleportals. Daher kein telefonisches Durchkommen, kombinierte Samuel. Trotz der schweren Springerstiefel bewegte sich Samuel mit der Eleganz eines Balletttänzers durch den Flur, ohne dabei das leiseste Geräusch zu machen. Er nahm seinen Sohn auf den Arm und trug ihn ebenso leise in die Küche, den Raum links von der Eingangstür. Helga weinte vor Wut, traute sich aber nicht, Fragen zu stellen. Sa rah deutete ihrer Mutter an, Samuel zu folgen. Verstört kam diese der Aufforderung nach. Jemand rappelte von außen an der Tür, doch nichts geschah – vorerst zumindest …. Es klingelte. Samuels Schwiegereltern besaßen eine kleine, hellblaue, zweckmä ßig geschnittene Einbauküche. Übersichtlich, gut sortiert. Der Jäger öffnete die Schublade, in der sich das Besteck befand und griff nach einem langen Fleischermesser, mit dem Bernd an Festtagen den Braten zu schneiden pflegte. Samuel drücke es seiner Schwiegermutter in die Hand. »Wenn je mand anderes als Bernd oder ich versuchen sollte, die Küche zu be treten, rammst du ihm dieses Ding in den Bauch.« Samuel sagte dies mit einer Ruhe, als würde er jemanden die Spielregeln von Dame oder Mühle erklären. »Das macht deinen Gegner kampfunfähig. Du reißt ihm das Messer dann aus seinen Eingeweiden und kümmerst dich nicht weiter um ihn!« Helga starrte ihn mit offenem Mund an, dann das Messer, dann wieder Samuel. Endlich nickte sie hecktisch. Der Jäger wandte sich an Sarah und nahm ihr Bea ab, die inzwi schen ernster dreinblickte und offenbar spürte, dass dies kein Spiel war. Er übergab das kleine Mädchen seinem Sohn, der es in die Arme schloss.
Der Jäger strich seinem Sohn durch das dichte Haar. »Tom, du bist der Stolz meines Lebens. Früher habe ich immer gedacht, dass ich niemals Kinder haben würde – aber du und Bea, ihr seid keine Illu sion, ihr seid mein kleines Wunder. Was immer heute Abend auch geschehen mag«, Samuel lachte seinen Sohn an und gab ihm einen väterlichen, angedeuteten Boxhieb auf die Schulter, »ich weiß, dass du ein großartiger Mann wirst.« Sarah standen Tränen in den Augen. Samuel griff unter seinen Mantel, löste die Uzi aus ihrem Halfter und entsicherte sie. »200 Schuss. Du ziehst einfach den Abzug durch, wenn du einen Fremden siehst. Stell keine Fragen. Schieß einfach!« Sie schluckte und nickte. Es klingelte ein zweites Mal. Ohne ein weiteres Wort schlich Samuel zur Eingangstür. Natürlich hätte er durch den Türspion schauen können – doch falls vor der Tür jemand anderes als sein Schwiegervater stand, wäre dies für ihn das Todesurteil gewesen. Samuel kniete sich stattdessen vor die Tür und presste die Hände auf das massive Holz. Er spürte, wie die Moleküle unter seinen Handflächen in Schwingungen gerieten, wie sie tanzten und dem Wahren Gläubigen ihre Geheimnisse preisgaben. Samuel schloss die Augen. Das Sehen störte seine Wahrnehmung, lenkte vom Essenti ellen ab. Stille. Absolute Stille. Er nahm die Hände von der Tür, erhob sich vorsichtig und trat zwei Schritte zurück. Er richtete den Blick in die Küche, wo seine Schwiegermutter das Messer mit verkrampften Fingern um klammerte, während Sarah ihrem Mann ein angestrengtes Lächeln schenkte.
Samuel senkte seinen Kopf. All das, was heute Nacht geschah, war seine Schuld. Ohne weiteres Zögern riss der Jäger den silbern glänzenden Colt aus dem Holster, richtete ihn auf die Tür und drückte ab …
* »Bist du wahnsinnig?«, kreischte Helga, ließ das Messer fallen und stürzte sich – wie in Trance – auf ihren Schwiegersohn. Samuel hatte mit einer solchen Reaktion gerechnet. Er wirbelte einmal um die eigene Achse und griff mit der freien rechten Hand den Nacken sei ner an ihm vorbeischliddernden Schwiegermutter. Er riss sie zu Boden und warf sich über sie, um sie mit seinem eigenen Körper zu schützen. Keine Zehntelsekunde zu spät. Holz splitterte, Kugeln droschen umher, rissen Mauerstücke aus den Wänden. Ein Abstells tisch zerplatzte in einer Splitterwolke. Bea schrie, Tom hielt seine Schwester eng umschlungen, Sarah zitterte am ganzen Leib. Helga stand unter Schock, starrte Samuel aus weit aufgerissenen Augen an und hielt den Mund weit geöffnet, wie zu einem Schrei. Doch ihre Stimme versagte. Der Jäger schob den Colt zurück in das Holster, umklammerte Helga und zerrte sie zurück in die momentan halbwegs sichere Kü che. Er betete für die Nachbarn seiner Schwiegereltern. »Mögen Sie auswärts feiern.« Sarah half ihrer Mutter auf die Beine. Helgas Blick fiel ins Leere. Samuel streichelte ihr über den Kopf und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Es tut mir Leid«, hauchte er. »Es tut mit so unendlich Leid.« Metall schepperte. Die Schlösser gaben nach. Tritte donnerten gegen die Tür, der Rahmen brach entzwei.
Samuel umarmte seine Frau und inhalierte ihren Geruch. Ein Lä cheln huschte über sein Gesicht. Mit der Geschwindigkeit eines Pan thers jagte er unvermittelt zur Eingangstür. Ein Mann in unverfänglicher Alltagskleidung – Jeans, Lederjacke – schnellte in den Flur. Bevor er seinen Kopf zur Küche drehen und Samuels Familie erspähen konnte, packte ihn der Jäger mit der rech ten Hand am Hals und stieß ihn als lebenden Schutzschild rück wärts ins Treppenhaus. Der Mann fluchte auf Russisch. Kugeln peitschten umher und trafen ihn in Rücken und Hals. Er starb, bevor er realisierte, was mit ihm geschah. Samuel hielt ihn weiter umklammert. Direkt auf der gegenüberliegenden Seite der Eingangstür lag zu sammengekrümmt der Leichnam des Angreifers, den er durch die geschlossene Tür erschossen hatte. Ein weiterer Kerl stand kaum mehr als einen Meter von ihm entfernt zu seiner Linken. Es war die Bestie, die den eigenen Kameraden mit Blei vollgepumpt hatte. Ein vierter Angreifer kniete nahe der Treppe und sicherte offenbar das Treppenhaus. Die Angriffstaktik der Bestien war miserabel, Samuels Kinder schienen als leichtes Ziel klassifiziert worden zu sein, für den Fall massiver Gegenwehr hatten diese Männer offenbar keinen »Plan B« zur Hand. Der Mann an der Treppe eröffnete das Feuer – und traute seinen Augen nicht bei dem, was nun geschah. Samuel ließ den Leichnam, seinen Schutzschild, zu Boden gleiten. Aus dem Stand schnellte er in die Höhe, vollzog in der Luft einen Salto und verpasste dem Mann, der links von ihm stand, während des Überschlags einen Fußtritt unter das Kinn. Der Kerl fiel nicht einfach zu Boden, er flog drei, vier Meter weit an seinem letzten Kameraden vorbei. Der starrte ungläubig den schlaffen Körper an, der an ihm vorbei
zischte … Während Samuel, noch bevor er wieder auf den Füßen landete, den Colt aus dem Holster riss, anlegte und feuerte. Der Jäger kümmerte sich nicht weiter um sein letztes Opfer, das die Treppe hinunterfiel. Es stellte keine Gefahr mehr da. Ruhigen Schrittes bewegte er sich auf den letzten verbleibenden Angreifer zu, der auf dem Flurboden lag und benommen sein Kinn rieb. Es war ein Junge von vielleicht zwanzig Jahren mit blond gefärb ten, kurzen Haaren. Er starrte Samuel aus weit aufgerissenen Augen an. Er lag auf dem Rücken, der Kiefer war bereits blau ange schwollen. Seine Waffe hatte er beim Sturz fallen gelassen. Er trug ein kleines Mikrofon am Kragen seiner dunkelgrünen Lederjacke, im Ohr steckte der dazugehörige Kopfhörer. Samuel senkte sein rechtes Knie auf den Brustkorb des Jungen. Er konzentrierte sein gesamtes Gewicht auf das Gelenk, drückte es auf das Zwerchfell und beobachtete mit einer gewissen Genugtuung, wie der Angreifer verzweifelt nach Atem rang. »Ich werde dir ein paar Fragen stellen«, sagte der Jäger. »Bleibst du bei der Wahrheit, wirst du leben. Lügst du mich an, werde ich dich nicht einfach töten wie deine Freunde hier. Ich werde dir den Bauch aufschlitzen und genüsslich beim Sterben zusehen. Auf diese Art ist heute bereits ein guter Freund von mir gestorben, und das finde ich gar nicht komisch. Hast du mich verstanden?« Der Junge nickte aufgeregt. Samuel lächelte salbungsvoll und entlastete seinen Brustkorb. »Dann sind wir uns ja einig. Frage eins: Was habt Ihr mit meinem Schwiegervater gemacht?« »Wir sind ihm zufällig an der Haustür begegnet.« Der Junge sprach schnell. Im Gegensatz zu seinem Komplizen war er ein Deut scher und sprach ohne Akzent. »Wir haben ihn überwältigt, in un seren Van gezerrt und ihm die Kehle durchgeschnitten.«
Samuel blieb ruhig. Er hatte keine Zeit, um zu hassen und zu trau ern. »Nächste Frage: Wartet draußen jemand, mit dem ihr über eure Funkgeräte verbunden seid?« Der Junge schüttelte hastig den Kopf. »Unser Anführer hat uns Fo tos gegeben und gesagt, dies hier sei ein leichter Job: zwei Men schen, möglicherweise zwei Halbblüter. Ein größeres Kommando ist zu Ihrem Haus geschickt worden, um Sie zu töten und Ihre Frau, für Ihren Blut besudelnden Akt zu bestrafen.« Samuel schluckte seine Wut über die Worte des Jungen hinunter und sagte stattdessen: »Ich höre, du bist sehr kooperativ. Was wäre mit meinen Kinder geschehen?« »Das Kommando hätte sie getötet, beziehungsweise wir hätten das getan.« Samuel dachte kurz nach. Wahre Gläubige blieben in der Regel unter sich und heirateten keine Außenstehenden. In ganz Köln gab es vielleicht vier, fünf gemischte Paare, und nur wenigen wurde das Wunder eigener, gemeinsamer Kinder zuteil. »In Ordnung«, sagte der Jäger schließlich. »Meine Schwiegereltern sind keine Wahren Gläubigen. Hat Pastor Weisenbrink auch zu anderen nicht-gläubigen Angehörigen Kommandos geschickt?« »Nein, nur zu denen, bei denen er heute Abend Monster wie deine Kinder vermutete.« Weisenbrink war also tatsächlich der Verräter. Und ein Dämon, der selbst vor der Ermordung von Nicht-Gläubigen nicht Halt machte – für gewöhnlich ein Tabu in ihrem kleinen Krieg. »Habt Ihr uns in den letzten Wochen überwacht?«, fragte Samuel weiter. »Nur die wichtigen Gemeindemitglieder. Für mehr reichten unse re Kapazitäten nicht.« »Du hast also keine Ahnung, wer ich bin?«, hakte der Jäger nach. »Nein.«
»Dann wirst du mich zu deinem Anführer bringen. Tust du es nicht, wird dein Sterben noch fürchterlicher sein, als ich es dir be reits versprochen habe. Verstehst du mich?« Der Junge nickte. Samuel hieb ihm die Faust ins Gesicht, sodass er auf der Stelle das Bewusstsein verlor. Der Jäger packte ihn am Kragen, hob ihn vom Boden auf und legte ihn sich über die Schulter. Zurück in der Wohnung, ließ er ihn unsanft aufs Parkett fallen. Der Junge stöhnte auf. Seine Frau, Helga und die Kinder kauerten Arm in Arm auf dem Boden in der Küche. Sie weinten. Schließlich löste sich Sarah aus der Umarmung und wankte auf ih ren Mann zu. Zärtlich legte er seine Arme um ihren Nacken und küsste sie auf die Stirn. »Ihr habt gehört, was der Junge gesagt hat?«, fragte Samuel unsi cher. Sarah nickte. Tränen flossen über ihr Gesicht, ihre Augen wirkten aufgequollen. »Wir bringen die Kinder und deine Mutter in Sicherheit. Rede mit ihr, mach ihr klar, dass wir heute zum Trauern keine Zeit haben.« »Und was dann?«, fragte seine Frau mit Tränen erstickter Stimme. »Dann werde ich dich um einen Gefallen bitten müssen, für den du mich hassen und verachten wirst. Denn er wird dich und mich möglicherweise das Leben kosten …«
* 31. Dezember 1999, 21.50 Uhr Der Berserker residierte im Charleston Hotel auf der linken Rhein
seite. Das oberste Stockwerk gehörte allein ihm. Er hatte die so genannte Präsidentensuite, das größte Apartment der Etage, in sein Haupt quartier verwandelt. Der Raum maß zwölf Meter in der Länge, acht Meter in der Breite. Normalerweise wurde er durch eine Trennwand in zwei Räume ge teilt, der Berserker aber liebte es geräumig. Sofa und Tische hatte er aus dem Raum entfernen lassen. In der Mitte der Suite befand sich ein einziger Schreibtisch. Darauflag eine Karte der Stadt Köln, 93 grüne Kreise markierten Gebäude, in denen die Kommandos in dieser Nacht ihrem blutigen Handwerk nachgehen sollten. Wurde es von einem blauen Kreis abgedeckt, bedeutete dies, dass Haus oder Wohnung verlassen vorgefunden worden waren. Ein rotes Kreuz stand für den erfolgrei chen Abschluss einer Operation. Der Berserker wirkte angespannt. Dreißig blauen Kreisen standen gerade einmal fünfzehn rote Kreuze gegenüber. Darüber hinaus galt das Team »grau« als verschollen. »Euer Eminenz!« Ein junger Mann mit Schweizer Dialekt, militä risch kurz geschorenen Haaren und runder Brille, näherte sich dem Berserker. »Urs?« »Euer Eminenz, ein Mitglied von Team grau wünscht euch zu sprechen.« »Das wurde auch Zeit.« Der Berserker schlug mit der Faust auf den Tisch, Karte und Kreuze vibrierten. »Er soll vortreten.« Ein junger Mann mit blond gefärbten Haaren wurde in die Prä sidentensuite geleitet. Sein Gesicht war zu einer angeschwollenen Masse verkommen, offenbar hatte er einige Zähne verloren. Er zerr te eine Frau in die Suite, die sich heftig gegen ihre Zurschaustellung wehrte.
»Was soll das bedeuten?«, verlangte der Berserker zu wissen. »Holen sie bitte Pastor Weisenbrink, es gibt ein Problem«, sagte der junge Mann. Seine Stimme zitterte, er wirkte nervös und ange spannt. Der Berserker war über den Auftritt des jungen Mannes derart ir ritiert, dass er – ohne weitere Fragen zu stellen – tatsächlich seinem Sekretär Urs andeutete, seinen treuen Agenten zu rufen. Der Pastor betrat die Suite und wirkte müde. Er starrte die Frau an. »Und?«, fragte der Berserker den jungen Soldaten. »Mein Name ist Sarah Westerholt«, antwortete statt seiner die Frau. »Und Sie müssen der Herr sein, den die Wahren Gläubigen den Berserker nennen.« »Wer hat dir Stück Scheiße eigentlich erlaubt, mit mir zu sprechen? Soldat, töte die Frau …« »Mein Mann ist der Jäger!« Der Berserker wurde aschfahl. Er war 48 Jahre alt. Doch er sah älter aus, viel älter. Durch die stän dige Einnahme von Kortison war sein Gesicht aufgeschwemmt. Sei ne Haut im Gesicht und an den Händen war von Brandnarben über säht. Ohne den elektrischen Rollstuhl, in dem er saß, konnte er sich nicht fortbewegen, und nur Morphium ließ ihn seine ständigen Schmerzen ertragen. »Das kann nicht sein«, stotterte Pastor Weisenbrink. »Westerholt? Eminenz, ihr so genannter Mann, dieses Monster, ist ein, ein …« Weisenbrink verschluckte sich. »Er ist Übersetzer, Übersetzer für osteuropäische Sprachen – ein Niemand!« Sarah ließ ihre Blicke schweifen. Urs, der Sekretär, stand direkt zu ihrer Rechten und musterte sie abschätzig vom Scheitel bis zur Soh le. Sarah wich seinem Gaffen aus und ließ ihren Blick weiter durch die Suite gleiten.
»Die Schlampe soll mich anschauen«, schrie der Berserker. Urs packte ihren Kopf mit beiden Händen und drehte ihn unsanft dem Berserker zu. »Was hat die Schlampe zu sagen?« Sarah sah ihn kalt und voller Hass an. »Sechs Personen, der Berserker und der Pastor mittig, einer links und einer rechts neben mir, zwei hinter mir.« Der Berserker starrte Sarah aus wütenden Augen an. Im gleichen Augenblick explodierte auf breiter Front Fensterglas. Das Panoramafenster der Suite, das einen einmaligen Blick auf die Altstadt und den Dom erlaubte, platzte aus dem Rahmen. Zehn tausende kleinster Glassplitter schossen umher. Wie ein dunkler Racheengel bewegte sich der Jäger inmitten des Glasregens. Er nahm die Männer, die die Eingangstür bewachten, ins Visier seines großkalibrigen Colts und feuerte. Zwei Kugeln, zwei Tote. Der Racheengel bewegte sich dreimal so schnell wie seine Gegner. Bevor diese auch nur im Ansatz begriffen, was geschah, packte der Mann im schwarzen Mantel den Soldaten, der Sarah hergebracht hatte und rammte ihm den Ellenbogen ins Gesicht – während Sarah den Jäger fassungslos anstarrte. Samuels Fratze hatte in diesem Moment mit dem freundlichen Gesicht ihres Mannes – seinen lustigen braunen Augen, den wunderbaren schwarzen Haaren, dem schelmischen Grinsen – keine Ähnlichkeit. Feuerrot glühten die Augen, der Schädel schien bizarr in die Länge verzerrt zu sein, die Haare hingen in Fransen von diesem Schädel herab. Samuels Mund war breit – und seltsam deformiert. Lange Reißzähne stachen aus dem Oberkiefer hervor. Der Jäger stieß seine Frau zur Seite und stürzte sich auf den Sekre tär. Er glitt mit ihm zu Boden und rammte ihm im Sturz seine Reiß zähne in den Hals, nur um Bruchteile einer Sekunde später den
sterbenden Körper des Sekretärs zu Boden fallen zu lassen. Aus der Hocke heraus vollzog Samuel eine Drehung. Er richtete seinen Colt auf den Pastor und feuerte. Die Kugel, die Weisenbrink mit über 1400 Kilometern pro Stunde die Schulter zertrümmerte und durch das Schulterblatt aus seinem Körper wieder austrat, schlug in die Mahagonivertäfelung der Wand ein, während der Pastor zu Boden sank und das Bewusstsein verlor. Männer in Zivilkleidung stürmten die Suite, ihre Waffen im An schlag. Doch sie feuerten nicht. Der ihnen fremde Vampir stand kaum mehr als zwei Schritte vom Rollstuhl ihres Anführers entfernt – seine Waffe direkt auf dessen Kopf gerichtet. »Deine Männer sollen die Tür von außen verschließen«, befahl Sa muel. Der Klang seiner Stimme klang rau und scheppernd – eine Stimme aus den Tiefen der Hölle. Der Berserker gab den Männern den Rückzugsbefehl ohne zu zö gern, und sie gehorchten aufs Wort. »Dressierte Affen …«, fauchte Samuel. »Und du – feige wie eh und je! Du hättest sie feuern lassen sollen.« Sarah konnte den Blick nicht von dem Wesen abwenden, das die Kleidung ihres Mannes trug. Erst jetzt bemerkte sie, wie faltig und uralt seine Haut wirkte. Die Hände waren ebenso grotesk entstellt wie der Schädel, die Fingernägel erinnerten an die Krallen einer Katze. »Was willst du?« Der Berserker rang um Fassung. »Beenden, was vor zehn Jahren hätte beendet werden sollen.« »Dann bitte – ich habe meinen Frieden mit Gott geschlossen.« »Glaubst du wirklich, du wirst vor den Schöpfer treten?«, höhnte der Jäger. »Eher als du, du Monster!« »Samuel?« Samuel, der Jäger, hielt inne.
Die Augen des Berserkers leuchteten auf, denn ihm war Sarahs Unsicherheit beim Anblick Samuels nicht entgangen. »Deine Frau hat keine Ahnung, wer du bist.« »Ich bin ein Wahrer Gläubiger …« »Und ein Vampir, der jahrzehntelang Unheil über die Menschen gebracht hat.« Während Samuel seine Waffe mit der linken Hand auf den Kopf des Berserkers gerichtet hielt, legte er seine deformierte rechte Klaue um den fetten Hals seines Feindes. »Nur zu!«, stieß der an den Rollstuhl gefesselte Mann hervor, be vor der Jäger zudrücken konnte. »Aber was wird deine Frau sagen, wenn Sie mit ansehen muss, wie sich ihr Held als Monster und das vermeintliche Monster als der wahre Held entpuppt …« »Ein Held, der unschuldige Frauen und Kinder töten lässt …« »Wer sich mit dem Teufel einlässt, ist niemals unschuldig!« Der Berserker lachte. »Sie hat wohl noch nie dein wahres Gesicht gese hen, was?« Die Furcht war aus seinem Blick gewichen. »Ist es nicht eine Ironie des Schicksals: Du hast mir nie deine menschliche Maske gezeigt, immer nur dein wahres Ich.« Der Berserker grinste, obwohl Samuel den Colt immer fester gegen seine Schläfe presste. »Zehn Jahre kämpfte ich um mein Leben. Meine Haut ist verbrannt. Aber ich überlebe als Krüppel, formiere eine neue Armee … Und dann treffe ich dich hier. Hätte ich gewusst, dass du dich in Köln aufhäl tst, hätte ich meine gesamte Armee losgeschickt, nur um dich zu tö ten.« »Diese Amateurtruppe?« Samuel lachte. Dabei rann ihm blutiger Speichel aus den Mundwinkeln, das Blut des Sekretärs. »Diese Amateure, wie du sie nennst, sind Krieger Gottes …« »… die Gottes Diener ermorden!« »… Monster, Kreaturen der Hölle …« »Samuel!« Sarah hatte ihre Furcht abgelegt. Sie schritt auf ihren
Mann zu und legte ihm eine Hand auf die rechte Schulter. »Wer bist du? Was …?« »Ich bin ein Wahrer Gläubiger.« Der Berserker lachte, doch es wurde schnell ein Röcheln, als ihm der Jäger die Luft abdrückte. »Das Ewige Leben ist ein Fluch«, erklärte Samuel seiner Frau. »Zu Beginn genießt du es. Enthemmt von jeglicher Moral, weidest du dich an deinen Opfern, ergötzt dich an ihren Qualen. Schlachtfelder sind dein Paradies. Blut und nochmals Blut …« Er schüttelte lang sam den Kopf. »Aber das ewige Leben ist ein boshafter Clown, der dir Spaß und Vergnügen nur vorgaukelt. In Wahrheit will dich dieser Clown leiden sehen. Sechzig, siebzig Jahre lang glaubst du, du wärst ein gottgleiches Wesen. Du tötest, trinkst, liebst ohne Reue – doch dann ist die Welt, in die du hineingeboren wurdest, verge gangen. Neue Generationen von Menschen sind herangewachsen, neue Technologien sind entstanden – und du fühlst dich wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Das ist der Moment, in dem du er kennst, dass der Mensch in dir niemals gestorben ist …« »Willst du etwa Absolution?«, röchelte der Berserker. Samuels Griff hatte sich im Bann der Erinnerung gelockert. »Nein«, sagte der Vampir. »Vergebung kann ich auf dieser Welt nicht mehr erlangen. Aber ich kann helfen, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen.« Er löste den Griff um den Hals seines Feindes. »Die Wahren Gläubigen sind Vampire, Sarah«, wandte er sich an seine Frau, die ihm fassungslos ins fratzenartige Gesicht starrte. »Vampire, die dem Bösen entsagt und den Weg zu Gott ge funden haben. Als Dämon lebt man nur für den Augenblick, für den Rausch deiner Begierden. Aber welchen Sinn hat deine Existenz? Welchen Sinn hat eine Existenz, die allein darauf ausgerichtet ist, Leid zu verbreiten?« Der Jäger schnaubte – ein beängstigendes Geräusch – und blickte seine Frau fragend an, ohne eine Antwort zu erwarten.
»Gar keinen«, fuhr er auch sogleich fort. »Als ich vor über zwanzig Jahren erkannte, wer ich war, wollte ich meinem Dasein ein Ende bereiten. Aber ich hatte Angst, weil ich wusste, dass ich die Hölle verdient hatte.« Samuel versuchte zu lächeln, was seine Fratze noch furchteinflößender wirken ließ. »Vater Johannes fing mich auf und gab meinem Dasein einen neuen, wirklichen Sinn. Er führte mich mit anderen meiner Art zusammen und machte aus dem Monster einen Diener Gottes. Und Gott reichte mir die Hand, er erlaubte es mir, ihm zu dienen. Er ließ mich die Sonne wieder sehen, schenkte mir eine Frau und zwei Kinder. Wahre Kinder, keine Monster. Du kannst dir nicht vorstellen, wie unglaublich selten Wesen wie ich mit einem solchen Glück beschenkt werden – und das, obwohl ich Dinge getan habe, die du dir in deinen dunkelsten Gedanken nicht vorzustellen vermagst.« Sarah atmete tief ein und aus – doch sie behielt ihre Fassung: »Und warum nennt man dich den Jäger?« Samuel schwieg. »Ich …«, stotterte er und suchte nach den richtigen Worten. »Weil ich für das Gute kämpfen wollte, um für meine Verbrechen zu sühnen, gegen Dämonen und andere Wesen der Nacht.« Er sah in Sarahs Augen, dass sie mit dieser Antwort nicht zufrie den war. Eine bessere Antwort würde er ihr jedoch nicht geben. »Aber wenn sich die Wahren Gläubigen vom Bösen abgewandt haben und er,« sie zeigte auf den Berserker, ohne ihren Blick von Sa muel abzuwenden, »kein Dämon, sondern ein Mensch ist – was hat er dann mit euch zu tun?«. »Der Berserker?« Samuel lachte auf. »Seine Geschichte ist so er bärmlich. Er leitete 1985 eine Kommission des Vatikans, deren Auf gabe darin bestand, Wunder auf ihre Wahrhaftigkeit zu überprüfen. Er war jung, ein Spross aus reichem Hause und ein Karriere-Geistli cher aus dem Bilderbuch. Er stolperte während einer Untersuchung zufällig über die Wahren Gläubigen in einer Kirche in Spanien. Dar
über hätte er seine Vorgesetzten informieren müssen.« Der Jäger schoss seinem Gegner einen Blick zu, den Sarah nicht zu deuten wusste. War es Hass oder Verachtung, die daraus sprachen? »Das tat er aber nicht«, berichtete ihr Mann weiter. »Stattdessen handelte er eigenmächtig und ließ die Gemeinde von Söldnern aus rotten. Tja, nur leider stand die Gemeinde unter dem Schutz der Kir che, da ihre Mitglieder allesamt konvertiert waren. Ein jeder von ih nen besaß eine Seele, befreit vom Fluch der Finsternis.« Der Jäger schloss für einen kurzen Moment die Augen. »Zehn von uns starben,« fuhr er fort, sichtlich um Fassung bemüht. »Er wurde dar aufhin suspendiert. Aber seither führt er einen Privatkrieg gegen uns. Wie ein Berserker, ohne Gnade gegenüber seinen Opfern. Da her sein Name.« »Ihr seid Monster, Ausgeburten der Hölle!«, schrie der Berserker. »Ja, das sind wir«, antwortete Samuel unbeeindruckt. »Aber wenn es eine Hölle gibt, gibt es auch Gott. Und ich habe mich aus freien Stücken für Gott entschieden. Genauso wie du dich dafür entschie den hast, deine verletzte Eitelkeit zum Wegweiser deines Daseins zu machen.« »Und was wird nun aus ihm?«, fragte Sarah. »Sollte ich ihn am Leben lassen, wird er seine gedungenen Amateur-Killer auch weiterhin in die Welt schicken, um die Meinen zu ermorden. Bringe ich ihn um, weiß ich, dass du in mir nur noch das Monster sehen wirst, das in mir lebt – und nicht mehr den Mann, der ich geworden bin.« Pastor Weisenbrink röchelte. Der Geistliche erlangte sein Bewusst sein zurück, die Wunde, die in seiner Schulter klaffte, blutete fürch terlich. »Berserker«, wandte sich der Jäger an seinen alten Feind, »meine Frau wird nun gehen. Und es wird ihr nichts geschehen, ist das klar?« »Aber …«, Sarahs Stimme versagt.
»Nein!« Samuels dämonisches Wesen ließ Sarah verstummen. Mit der freien Hand nahm Samuel ein kleines Mikrofon vom Re vers seines Mantels und zog gleichzeitig einen kleinen Kopfhörer aus seinem seltsam deformierten rechten Ohr. Beides gehörte zu einem Funkgerät, das an seinem Gürtel klemmte. Er hatte es vor Helgas Wohnung einem der toten Gefolgsleute des Berserkers abgenommen. Ein zweites Funkgerät trug Sarah unter ih rem Pullover versteckt. So hatte Samuel hören können, was in der Suite vor sich ging – und schließlich zugeschlagen. Er legte dem Berserker sein Funkgerät auf den Schoß und forderte seinen Feind auf, mit den Männern vor der Tür zu sprechen. »Gib Ihnen den Befehl, meine Frau gehen zu lassen und alle noch aus stehenden Tötungsaktionen abzubrechen!« Der Berserker verschränkte seine Arme vor seinem aufge quollenen Bauch wie ein trotziges Kind. Samuel verpasste ihm einen leichten Fausthieb auf die Nase. Der Berserker stöhnte auf. Aus hasserfüllten Augen starrte er einen Moment in die hässliche Fratze des Vampirs, nahm das Funk gerät an sich und kam der Aufforderung Samuels nach. »Aber die Kommandos in der Stadt sind nur über ihre Handys zu erreichen«, informierte er schließlich den Vampir. »Es wird dauern, sie alle zu benachrichtigen.« »Dann sollten wir langsam damit beginnen, Berserker.« Samuel nickte seiner Frau zu. »Du kannst nun gehen, Sarah …« Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Ich werde nicht …« »Geh!« Samuel war den Tränen nahe. Aber in diesem Moment musste er unerbittlich und kalt wirken. Er war ein Dämon, erschaf fen, um das Böse in die Welt zu tragen. »Nein, ich liebe dich …« »Geh!«, forderte der Jäger. »Und lebe … Das ist alles, was ich dir noch geben kann: Leben! Und wenn nicht für dich oder mich, dann
für unsere Kinder – denn egal, was ihr Vater auch einst gewesen sein mag: Sie sind Menschen, ein Geschenk Gottes an einen Dämon, der sich vom Bösen abgewandt hat. Und als Menschen brauchen Sie eine Mutter, die sie liebt und ihnen Kraft gibt. Also: Geh!« Sie rührte sich nicht. »Bitte geh …« Sarah weinte. »GEH!«, brüllte Samuel. Endlich wandte sie den Blick von dem Geschöpf ab, das sie einst als Samuel geliebt hatte, und hastete davon. Sie öffnete die Tür der Suite und rannte zum nahe gelegenen Treppenhaus. Innerhalb von Sekunden war sie aus Samuels Sichtfeld verschwunden. Keiner der Wachleute rührte sie an. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss … Samuel war mit dem Berserker und dem röchelnden Pastor, in dessen Kirche sich zurzeit die Überreste von über zwanzig getöteten Vampiren in Staub auflösten, allein. »Und was hast du nun vor?«, fragte der Berserker den Vampir. »Diese Welt für die Wahren Gläubigen zu einem sichereren Ort zu machen …« ENDE