Knud Meister Carlo Andersen Jan als Detektiv #02
Jan wird Detektiv
Jan ergreift jede Gelegenheit, sich im kleinen als ...
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Knud Meister Carlo Andersen Jan als Detektiv #02
Jan wird Detektiv
Jan ergreift jede Gelegenheit, sich im kleinen als «Detektiv» zu erproben. So interessiert er sich in diesem Band lebhaft für die Aufklärung eines Bankraubs, mit dessen Untersuchung sein Vater gerade beschäftigt ist. ISBN: 3-275-00214-7 Albert Müller Verlag, AG., Rüschlikon-Zürich Achte Auflage
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Die Bände der Reihe «JAN ALS DETEKTIV» 1 Jan wird Detektiv 2 Jan und die Juwelendiebe 3 Jan und die Kindsräuber 4 Das Geheimnis der «Oceanic» 5 Jan und die Falschmünzer 6 Spuren im Schnee 7 Der verschwundene Film 8 Jan auf der Spur 9 Jan ganz groß! 10 Jan stellt 20 Fragen 11 Jan gewinnt die dritte Runde 12 Jan packt zu 13 Jan ruft SOS 14 Jan hat Glück 15 Jan und die Schmuggler 16 Jan, wir kommen! 17 Jan siegt zweimal 18 Jan in der Falle 19 Jan, paß auf! 20 Jan und der Meisterspion 21 Jan schöpft Verdacht 22 Jan zieht in die Welt 23 Jan auf großer Fahrt 24 Jan und die Marokkaner 25 Jan und die Leopardenmenschen
26 Jan zeigt Mut 27 Jan und das verhängnisvolle Telegramm 28 Jan wird bedroht 29 Jan in der Schußlinie 30 Jan und das Gold 31 Jan und die Dunkelmänner 32 Jan und die Rachegeister 33 Jan und die Posträuber
1 An einem Samstag um zwei Minuten nach zehn Uhr wurde die Gewerbeund Industriebank der Schauplatz des unverschämtesten Raubüberfalls, den man jemals in Kopenhagen erlebt hatte. Folgendes trug sich zu: Der Regen strömte nieder. Der Asphalt war spiegelblank. Das Wasser füllte die Rinnsteine in solchen Mengen, daß die unterirdischen Kanäle es kaum zu fassen vermochten; man konnte fast an Bäche zur Zeit der Schneeschmelze denken. Natürlich befanden sich nur ganz vereinzelte Menschen auf den Straßen. Als die Uhr die zehnte Vormittagsstunde schlug, steckte ein Bankangestellter auf den Glockenschlag genau den Schlüssel in die Tür und öffnete sie von innen. Er blickte in den Regen hinaus, schlug die Außentür auf und verschwand in der Drehtür. Hierauf sagte er scherzend zu einem der Beamten: »Das Wetter ist so abscheulich, daß wir die Bank ebensogut geschlossen lassen könnten.« Er hatte nicht bemerkt, daß in der Nähe des Bankeingangs ein Auto hielt. Doch kaum war er verschwunden, so stiegen zwei Männer aus dem Wagen. Der eine trug einen schwarzen Ölmantel und eine schmucke goldbordierte Uniformmütze. Er stellte sich vor dem Eingang auf, während der andere, die Hände in den Taschen vergraben, hineinging. Wenige Sekunden darauf kam ein Herr durch den strömenden Regen gelaufen. Er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und trug eine nasse Ledermappe unter dem Arm. Als er Miene machte, die Bank zu betreten, stellte sich ihm der Mann mit dem Ölmantel in den Weg und sagte: »Entschuldigen Sie, mein Herr; die Bank ist noch nicht geöffnet.« Der Herr mit der Mappe sah zu dem uniformierten Manne auf, dessen Mützenschirm das Gesicht zum Teil verdeckte und von -4-
dem auch sonst nicht viel zu sehen war, da der hochgeschlagene Kragen seines Ölmantels den unteren Teil des Gesichts verbarg. »Noch nicht geöffnet?« wiederholte der Herr mit der Mappe verwundert. »Aber es ist schon zehn Uhr vorbei, und die Tür steht ja sperrangelweit offen.« »Die Bank ist noch nicht geöffnet«, entgegnete der Uniformierte bestimmt. »Ihre Uhr geht wahrscheinlich vor.« »Ja, aber das Portal ist doch offen…« »Weil drinnen geputzt wird«, erklärte der Mann. »Ich muß Sie bitten, sich noch einige Minuten zu gedulden.« Die Stimme des Uniformierten klang so scharf und bestimmt, daß der Herr mit der Mappe unwillkürlich beeindruckt war, obwohl er eigentlich widersprechen wollte. Außerdem lief ihm das Regenwasser in den Hals, so daß er keine Lust verspürte, sich auf langwierige Erörterungen einzulassen, sondern sich nach einem Schutz umsah. Auf der gegenüberliegenden Straße entdeckte er einen Torbogen, zu dem er hinüberstürzte. Hier stellte er sich auf und schimpfte, verärgert über die Unpünktlichkeit der Bank, vor sich hin. Im Schalterraum der Bank spielte sich inzwischen ein dramatischer Auftritt ab. Der Mann, der, die Hände in den Taschen vergraben, die Bank betreten hatte, steuerte geradeswegs auf den Kassenschalter zu, wo ein alter, weißhaariger Kassierer ein Päckchen Tausendkronenscheine abzählte. Er blickte fragend auf, doch im nächsten Moment malte sich Überraschung in seiner Miene. Denn der Mann, der da vor ihm stand, hatte ein Paar Augen im Kopf, die nichts Gutes verhießen. Die Augen waren übrigens das einzige, das er von dem Manne sehen konnte. Der Mantelkragen verbarg den unteren Teil des Gesichts, und den Hut hatte er tief in die Stirn gedrückt. Auf dem Antlitz des Hauptkassierers, dessen rote Farbe noch von dem weißen Haar unterstrichen wurde, spiegelte sich waches Interesse. Er -5-
empfand nicht die geringste Furcht, obwohl sein Instinkt ihm sagte, daß Gefahr drohte. Seine hellblauen Augen sahen wachsam auf den Fremden, der plötzlich eine ruckartige Bewegung machte, wodurch in derselben Sekunde eine Pistole zum Vorschein kam, die er auf den Kassierer gerichtet hielt. Gleichzeitig flüsterte er mit einer Stimme, die scharf wie eine Stahlklinge war: »Geben Sie das Geld heraus, aber rasch!« Der Hauptkassierer zögerte. Sein Gesicht wurde um einen Schein röter, und seine Hände zitterten ein wenig.
Er begegnete dem Blick des Bankräubers und sah deutlich, daß der Mann zu allem entschlossen war. Dieser Mensch schreckte vor nichts zurück. Mit zitternden Händen schob der Kassierer -6-
einige Banknotenpäckchen über den Schaltertisch. Der Bankräuber griff mit der Linken zu und nahm die Noten mit einem Ruck an sich. Ebenso rasch stopfte er sie in die geräumigen Taschen seines Mantels. Fünfundachtzigtausend Kronen wanderten so binnen wenigen Sekunden aus der Bankkasse in die Taschen des Verbrechers. Hierauf schritt der geheimnisvolle Fremde rückwärts zur Tür, dauernd die Pistole auf die beiden Beamten gerichtet. »Wer sich rührt, den schieße ich nieder«, sagte er laut. Jetzt fuhren sämtliche Schalterbeamten hoch. Mit schreckgeweiteten Augen blickten sie auf den Mann, der mit der Pistole in der Hand zum Ausgang zurückwich. Als er die Drehtür erreicht hatte, versetzte er sie mit einem Druck des linken Ellbogens in Drehung, um mit der kreisenden Drehtür hinauszuschlüpfen. In dem Sekundenbruchteil, den dieses Vorgehen erforderte, handelte einer der jüngsten Bankbeamten blitzschnell. Er ergriff einen großen Briefbeschwerer aus Bronze und schleuderte ihn nach dem Bankräuber. Er traf ihn am linken Bein, und der Verbrecher stieß einen Schrei aus, während er sich umwandte und durch die Drehtür verschwand. Im nächsten Augenblick schrillte die Alarmglocke; einer der Bankangestellten rief sogleich die Polizei an, und die ganze Bank war in Aufruhr. Einige Bankbeamte liefen auf die Straße hinaus, um die Verfolgung des Räubers aufzunehmen, doch sahen sie nur noch, wie ein Auto in rasender Fahrt um die Ecke des Rathausplatzes bog. Nicht einmal die Nummer des Wagens vermochten sie zu erkennen. Ein Herr, der eine Mappe unter dem Arm trug, überquerte die Straße; sein Mantel war triefendnaß. »Ist die Bank jetzt endlich offen?« fragte er. »Endlich offen?« verwunderte sich der eine Bankbeamte, der trotz des Regens noch immer auf die Stelle starrte, wo das Auto verschwunden war. »Was meinen Sie damit?« »Ich wollte schon vor einiger Zeit hinein; aber der Portier wies -7-
mich ab. Er sagte, die Bank sei noch nicht geöffnet.« »Der Portier?« »Ja, er stand vor dem Eingang. Aber vorhin folgte er einem Herrn, der herauskam, und stieg mit ihm in ein Auto.« »Meinen Sie das Auto, das in diese Richtung fuhr?« Der Bankbeamte wies auf den Rathausplatz. »Ja«, erwiderte der Herr mit der Mappe. »Aber nun will ich endlich hinein. Ich habe keine Lust, noch länger zu warten. Ich verstehe übrigens nicht, wie man sich erlauben kann, die Kunden einfach fortzuweisen…« Jetzt begriff der Bankbeamte den Zusammenhang. »Es wäre uns niemals eingefallen, Sie fortzuweisen«, sagte er. »Wissen Sie, was geschehen ist? Die Bank ist geplündert worden!« »Geplündert? Eben?« »Jawohl, vor ein paar Minuten.« Nun war der Herr mit der Mappe derjenige, der sich vor Verwunderung kaum fassen konnte. Im selben Augenblick kam das Auto des Überfallkommandos der Polizei mit heulender Sirene die Straße heraufgerast.
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2 Kriminalkommissar Hans Helmer zerdrückte seinen Zigarrenstummel im Aschenbecher, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte den jungen Kriminalbeamten an, der vor ihm stand: »Nun, Mogensen, was haben Sie herausgefunden?« »Wir haben das Auto entdeckt, in dem die Bankräuber geflüchtet sind«, antwortete Mogensen. »Es stand auf dem Parkplatz beim Forum, und es erwies sich, daß es aus einer Privatgarage beim Güterbahnhof gestohlen worden ist. Der Eigentümer, ein Ingenieur namens F. C. Pedersen, ist seit einigen Tagen verreist. Er ist augenblicklich in Göteborg mit Bauarbeiten beschäftigt. Wir haben festgestellt, daß er sich von dort nicht fortgerührt hat. Das Schloß zur Garage ist ein einfaches Hängeschloß, das sich leicht öffnen läßt.« »Hm.« Helmer blätterte in einem Aktenstück. »Die Kerle haben fünfundachtzigtausend Kronen erbeutet… oder, um genau zu sein, vierundachtzigtausendachthundert Kronen. Darunter befinden sich fünfzig neue Tausendkronenscheine, deren fortlaufende Nummern die Bank notiert hat. Das übrige Geld ist schwerer zu bestimmen. Vieles deutet zudem darauf hin, daß der Räuber sich in seinem Fach auskennt, so daß er wohl auch wissen wird, was er nach dem Raub zu tun hat. Er wird sich wohl kaum die Blöße geben, die neuen großen Scheine sogleich in Verkehr zu bringen.« Der Kommissar schwieg und trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. Der junge Beamte wartete ab, was sein Vorgesetzter weiterhin sagen würde. »Das schlimmste an der ganzen Sache ist«, fuhr der Kommissar nach einer Weile fort, »daß wir weder von dem Bankräuber noch von seinem Helfershelfer ein genaueres Signalement haben. Niemand hat von den beiden mehr gesehen -9-
als die Augenpartie. Beide hatten den Mantelkragen hochgeschlagen und die Kopfbedeckung tief in die Stirn gedrückt. Der Kassierer meint allerdings, daß der Bankräuber einen kleinen, dunklen Schnurrbart gehabt hätte. Ganz sicher ist er aber nicht. Der Helfershelfer war ein kleiner, kräftiger Mann, behauptet der Herr, der vor der Bank mit ihm gesprochen hat. Ha! Ein kleiner, kräftiger Mann! Dieses Signalement würde auf jeden zweiten Kopenhagener passen.« Der Kommissar versank in Gedanken. Abermals blätterte er in den vor ihm liegenden Akten. Dann fragte er: »Was ist mit den Zeitungen?« Mogensen zog einige Nachmittagszeitungen aus der Tasche und legte sie vor den Kommissar auf den Schreibtisch. Die Überschriften waren in großen Lettern gedruckt, und überall waren Bilder von der Bank zu sehen; sie zeigten die Polizei bei der Arbeit und den weißhaarigen Kassierer an seinem Schalter. In den Artikeln wurde der Bankraub genau beschrieben, nicht die kleinste Einzelheit war vergessen. Den Beschluß bildete die wenig tröstliche Feststellung, daß die Räuber sich noch immer auf freiem Fuße befanden und daß die Polizei noch nicht die geringste Spur gefunden hatte. »Das ist der frechste Raubüberfall, den ich jemals erlebt habe«, bemerkte Kriminalkommissar Helmer. »Aber wir müssen die beiden Verbrecher erwischen. Nicht nur, damit die Bank ihr Geld zurückerhält, sondern vor allem, um den Leuten zu zeigen, daß ein Verbrechen sich niemals bezahlt macht. Wir haben der Öffentlichkeit gegenüber Pflichten. Sie wissen ja, Mogensen, daß die dänische Polizei bis jetzt noch alle Verbrecher unschädlich gemacht hat, die sich gegen das Gesetz vergangen und die öffentliche Sicherheit gefährdet haben. Und so soll es auch diesmal sein. Diese beiden Verbrecher müssen ebenfalls unschädlich gemacht werden.« Mogensen nickte. Er kannte seinen Vorgesetzten und wußte, daß er seine Pflicht sehr ernst nahm und seine ganze -10-
Arbeitskraft in den Dienst der öffentlichen Sicherheit stellte. »Welcher Fehler ist nun hier in erster Linie gemacht worden?« fuhr Helmer fort. »Ich meine, in welcher Hinsicht hat die Bank etwas versäumt?« »Sie hat nicht genügend Schutzmaßnahmen getroffen«, erwiderte Mogensen. »Richtig. Die meisten Banken verfügen heutzutage über eine umfassende Sicherungs- und Alarmanlage. In diesem Falle schließen sich bei einem Druck auf einen bestimmten Knopf automatisch sämtliche Ausgangstüren, und gleichzeitig wird die Polizei alarmiert. Der Räuber sitzt dann fest. Die Gewerbe- und Industriebank aber hatte sich nicht zureichend gesichert. Das war ein Fehler, für den sie nun bezahlen muß. Ich bin überzeugt, daß der Verwaltungsrat in seiner nächsten Sitzung den Beschluß fassen wird, eine tadellose Sicherungsanlage einzubauen. Das ist die erste Stufe in der Bekämpfung des Verbrecherwesens: Alle Bedingungen zu schaffen, die ein Verbrechen unmöglich machen. Man muß auf seine Sachen achtgeben, sein Fahrrad abschließen, sein Geld gut verwahren und nichts herumliegen lassen. Die Gewerbe- und Industriebank hat nun in dieser Beziehung etwas gelernt!«
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3 »Meine Güte, hab’ ich einen Hunger!« Jan Helmer kam in die Wohnstube geschossen, wo seine Mutter am Fenster saß, die unvermeidliche Näharbeit in den Händen. »Grüß Gott, kleine Frau Helmer!« »Grüß Gott, mein Junge.« Frau Helmer lächelte ihren Sohn an. »Hör einmal, Jan, du darfst auf der Treppe nicht so poltern. Ich dachte schon, ein ganzes Regiment käme heraufmarschiert. Was glaubst du denn, was die andern Hausbewohner sagen werden, wenn du solchen Krach machst?« Sie sah voll Stolz auf ihren Jungen. Jan hatte sich auf die Tischkante gesetzt und baumelte mit den Beinen. Er trug einen dunkelblauen Pullover, lange dunkelblaue Hosen und blauweiße Bootsschuhe. Sein Gesicht war sonnverbrannt, seine Augen glänzten vor Lebenslust und Gesundheit. »Hast du dich gut unterhalten?« »Ob ich mich gut unterhalten habe! Ach, Mutter, ich bin ja so glücklich, daß ich der Juniormannschaft beitreten durfte! Du ahnst nicht, wie herrlich das Segeln ist! Und Peter Winslöw, der Hafenaufseher, ist ein glänzender Lehrer.« Jan hatte nach endlosem Hinundherreden die Erlaubnis erhalten, der Juniormannschaft des Segelklubs beizutreten. Sein Vater, Kriminalkommissar Helmer, hatte von Anfang an nichts dagegen gehabt; aber Frau Irene Helmer war von Natur ziemlich ängstlich, so daß sie sich zuerst heftig widersetzt hatte. Tatsächlich saß sie jetzt immer mit klopfendem Herzen da, wenn Jan mit seiner Mannschaft auf dem Wasser war. Trotzdem freute sie sich an seiner Begeisterung und an seinem guten Aussehen, das er dem freien Leben auf dem Meer verdankte. Nun hörte sie lächelnd seiner begeisterten Schilderung von der heutigen Segelfahrt zu, obwohl sie nicht recht zu folgen -12-
vermochte, da alle möglichen Fachausdrücke durch die Luft schwirrten, mit denen sie überhaupt keinen Begriff verband. Was war zum Beispiel »Luvseite«, was »Backbord« und »Klüverbaum« und »Heck«? Was bedeutete es, wenn Jan von »abfallen« sprach und davon, daß »das Boot in den Wind geschossen war«? Sie gab es auf, hinter den tieferen Sinn dieser Seemannssprache zu kommen, und begnügte sich damit, sich an der Begeisterung ihres Sohnes zu freuen. Im übrigen setzte sie ihr Vertrauen auf den Hafenaufseher, der als vernünftiger und tüchtiger Mann galt und es verstand, die Knaben auf eine muntere und gleichwohl bestimmte Weise zu meistern. Während Jan erzählte, ging die Tür auf, und seine Schwester Lis kam herein. Sie war nur ein Jahr älter als Jan, doch schon fast erwachsen – wenigstens ihrer eigenen Meinung nach! Sie hatte mit einer Freundin einen Spaziergang gemacht und trug einen sehr hübschen Hut. Jan riß die Augen auf. »Heiliger Bimbam! Woher hast du denn diesen Deckel?« Er sprang vom Tisch hinunter, stürzte auf Lis zu und versuchte ihr den Hut zu entreißen. Sie wehrte sich, so gut sie konnte. »Scher dich, du Frechdachs! Es geht nur mich etwas an, was für einen Hut ich aufhabe. Au! Jan, du bist ein Ungeheuer! Geh, du verdirbst mir ja meinen Hut!« »Könnt ihr denn niemals Ruhe geben!« mahnte Frau Helmer. »Man möchte beinahe meinen, ihr wäret fünf Jahre alt.« Sie mußte dann aber doch lachen, als sie Jan sah, der sich den Hut seiner Schwester aufgesetzt hatte und damit durchs Zimmer stolzierte. Plötzlich hielt er in seinem Spaziergang inne, und Lis nützte die Gelegenheit, sich ihren Hut wieder anzueignen und mit verächtlicher Miene hinauszugehen. Jan fragte: »Kommt Vater heute spät nach Hause?« »Ich weiß wahrhaftig nicht, wann er heimkommt«, seufzte -13-
Frau Helmer. »Dieser Bankraub gibt ihm viel zu schaffen. Er rief vor kurzem an und sagte, daß er zum Abendessen hier zu sein hoffe; aber ich weiß zur Genüge, was das zu bedeuten hat. Es kann geradesogut sein, daß er die halbe Nacht hindurch arbeiten muß.«
»Wenn er nur den Räuber erwischen würde«, bemerkte Jan. »Der Kerl war wirklich unverschämt. Fast wie in einem amerikanischen Film.« Frau Helmer erhob sich. »Ich sehe jetzt in der Küche nach, ob Dagmar mit dem Essen fertig ist. Geh du dich inzwischen waschen, Jan; denn ich denke, wir werden bald essen. Vielleicht kommt Vater doch noch zur Zeit.« -14-
Diese Hoffnung sollte sie nicht trügen. Sie saßen noch nicht lange bei Tisch, als Kriminalkommissar Helmer erschien und erklärte, er habe einen Bärenhunger. Das war gewöhnlich sein Gruß, wenn er nach einem arbeitsreichen Tag heimkam. Dann aber dauerte es nicht lange, und er erzählte von seiner Tätigkeit. »Es ist eine ernste Sache; aber ich hege einige Zweifel, ob es uns diesmal gelingen wird, den Fall zu klären«, sagte er. »Ich muß offen gestehen, daß wir bis jetzt noch nicht die geringsten Anhaltspunkte haben, die uns möglicherweise auf die Spur der Verbrecher bringen könnten. Allerdings sind noch einige Nachforschungen im Gange, die uns vielleicht einen Fingerzeig geben werden.« »Hat denn niemand gesehen, wie die Bankräuber das Auto vor dem Forum verließen?« erkundigte sich Jan. »Das ist eins von den Dingen, die wir herauszubringen trachten. Aber bis jetzt sind wir noch zu keinem Ergebnis gekommen. Doch nun wollen wir von etwas anderem reden. Ich habe ja auch noch Pflichten als Familienvater zu erfüllen. Wie steht’s mit deinem Examen, Jan?« »Ob Jan nicht erst sein Kapitänsexamen ablegen wird, bevor er das Mittelschulexamen besteht?« warf Lis mit unschuldiger Miene ein. »Ich werde es schon schaffen, du Naseweis«, gab Jan zurück. »Das glaube ich auch, Jan«, sagte Helmer. »Obwohl du kein Erling bist.« Erling Krag war Jans bester Freund und sein vollkommenes Gegenstück. So schlank, geschmeidig und gelenk ig Jan war, so rundlich und körperlich unbeholfen war Erling. Und während Jan auf dem Sportplatz und bei allen Freiluftunternehmungen in der ersten Reihe stand, zeichnete sich Erling in der Schule als Klassenerster und Bücherwurm aus, ohne deshalb jedoch ein Kopfhänger zu sein. Seit ihrem ersten Schultag waren Erling und Jan unzertrennlich. -15-
»Erling ist nicht zu schlagen«, räumte Jan ein. »Neulich haben wir in der Physikstunde von Niels Bohr und seiner Atomtheorie gesprochen. Ich glaube, wenn Herr Bohr heute das Mittelschulexamen machen müßte, würde er Erlings Noten auch nicht erreichen. Das ist eine ganz bestimmte Fähigkeit, die Erling im Speck sitzt. Alles, was er liest, bleibt in seinem Speck haften. So hat er wenigstens etwas, wovon er in kargen Zeiten zehren kann!« Helmer lachte zu diesen Ausführungen, dann ging er zu einem andern Thema über: »Jetzt will ich dir etwas sagen, mein Sohn. Ich habe heute einen Brief von Onkel Christian erhalten. Er erwartet dich und Erling gleich nach dem Examen. Und weißt du, wer noch mitkommen soll?« Jans Begeisterung, die bei den ersten Worten seines Vaters hell aufgeflammt war, ließ etwas nach. Fragend blickte er Lis an. »Wir sollen wohl die Dame da mitnehmen?« »Wenn das der Fall wäre, solltest du dich freuen, daß deine Schwester ebenfalls aufs Land kommt«, sagte Helmer. »Übrigens glaube ich, daß Lis lieber mit der Reise nach Jütland wartet, bis ihr euch dort ausgetobt habt. Die Sondereinladung, die ich meine, gilt keinem Geringeren als Boy!« Diese Eröffnung bewirkte, daß Jan mit einem Freudengeheul aufsprang und in die Küche hinausstürzte, wo er fast das Dienstmädchen Dagmar umgerissen hätte, das friedlich am Küchentisch saß und sein Nachtessen verzehrte. Bei Jans stürmischem Erscheinen sprang Boy – ein schöner, großer Schäferhund – von seiner Matte auf, und Knabe und Hund stürzten ins Eßzimmer zurück, wo sie allen schüchternen Einwendungen Frau Helmers zum Trotz einen wilden Freudentanz aufführten. Helmer saß währenddessen in seinen Stuhl zurückgelehnt und sah lächelnd zu. Plötzlich aber kam ihm ein Gedanke; er fuhr auf und sagte: »Die Nachrichten!« Er eilte zum Radioapparat und stellte rasch den Ortssender ein. -16-
Es dauerte eine Weile, bis die Röhren warm geworden waren, und als endlich die Stimme des Sprechers ertönte, stellte sich heraus, daß man einen Teil der Nachrichten schon versäumt hatte. Man hörte ihn nur noch sagen: »… hat die Gewerbe- und Industriebank eine Belohnung von fünftausend Kronen für denjenigen ausgesetzt, dem es gelingt, die Bankräuber festzunehmen, oder der Mitteilungen machen kann, die zur Wiederbeschaffung der geraubten Geldsumme führen.« »Ach, wenn ich doch die fünftausend Kronen bekäme!« seufzte Jan. »Wenn ich doch bei der Jagd auf die Bankräuber mitmachen könnte!«
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4 Einige Tage später radelte Jan zur Polizeidirektion, um seinen Vater abzuholen. Kriminalkommissar Helmer hatte inzwischen angestrengt an der Aufklärung des Bankraubs gearbeitet. Trotzdem schien die Lösung des Verbrechens noch in weiter Ferne zu liegen. »Ich bin der festen Überzeugung«, sagte der Kriminalkommissar, während er mit Jan durch die Stadt radelte, »daß wir die Verbrecher erwischen werden; aber das kann noch einige Zeit dauern. Wir kommen nur langsam vorwärts.« »Hast du noch niemand in Verdacht?« fragte Jan. Helmer blickte in das aufgeweckte Gesicht seines Sohnes. Er sprach gern mit Jan von seiner Arbeit; denn damit versuchte er, den Jungen dazu zu erziehen, Schlußfolgerungen anzustellen, auf Einzelheiten zu achten und klar und rasch zu denken. Aus diesem Grunde brachte er oft die Rede auf die Arbeit der Polizei und wachte darüber, daß Jan jede Frage gründlich durchdachte. »Ja«, sagte er, »ich habe schon an einen alten Bekannten der Polizei gedacht, der gewöhnlich ›Gentleman-Harry‹ genannt wird. Er ist vor ein paar Monaten aus dem Staatsgefängnis von Horsens entlassen worden; dort hat er wegen Raubes drei Jahre abgesessen. Mancherlei deutet darauf hin, daß Gentleman-Harry bei dem Bankraub seine Hand im Spiele hatte. Aber Beweise habe ich dafür noch nicht.« »Was für ein Bursche ist er denn?« »Er ist kein gewöhnlicher Dieb. Unter anderem ist er berühmt als Pistolenschütze. Auf diesem Gebiet hat er ganz einzigartige Fähigkeiten.« »Und wo steckt er augenblicklich?« »Das weiß ich nicht… noch nicht. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis hat er sich eine kleine Wohnung am -18-
Frederiksberg gemietet. Er erzählte einem meiner Beamten, der sich eines Tages mit ihm unterhielt, daß er von nun an ein ehrenhaftes Leben führen und irgendeine Vertretung übernehmen wolle.« »Ist er denn jetzt nicht mehr in seiner Wohnung?« »Nein. Wir haben uns nach ihm umgesehen; aber der Vogel ist ausgeflogen. Die Hausbewohner sagen, daß ›Kaufmann Larsen sich auf eine Geschäftsreise begeben hat‹, und das klingt ja ganz hübsch. Aber wohin ist dieser ›Kaufmann‹ gereist? Ich will dir übrigens von einer Entdeckung erzählen, die wir bei der Durchsuchung von Gentleman-Harrys Wohnung gemacht haben, und sehen, ob du damit etwas anfangen kannst.« »Ja, laß hören, Vater!« Jans Augen blitzten. »Also paß auf: Im Badezimmer war noch nicht reingemacht worden, und wir sahen infolgedessen ein wenig über der Mitte der Badewanne einen dunklen Streifen, innen natürlich. Was besagt so ein Streifen?« Jan antwortete ohne Zögern: »Er zeigt an, wie hoch das Badewasser stand. Seife und Schmutz bilden oft so einen Streifen.« »Richtig. Auf dem Steinfußboden entdeckten wir einige schwarze Flecken, außerdem hingen ein paar nasse Handtücher da, die ich von unserem Chemiker untersuchen ließ. Die Untersuchung ergab, daß die Handtücher mit Wasserstoffsuperoxyd durchtränkt waren. Was hältst du davon?« Jan dachte nach. Sein Vater beobachtete ihn lächelnd. Die Frage war gar nicht so leicht zu beantworten; doch Jan liebte knifflige Denkaufgaben. Schließlich kam es etwas zögernd über seine Lippen: »Wasserstoffsuperoxyd bleicht doch, nicht wahr?« »Jawohl, entfärbt und bleicht.« -19-
Jan sann wiederum nach und sagte dann: »Was für eine Haarfarbe hat Gentleman-Harry?« »Er ist blond.« »Dann könnte man meinen, er habe sich die Haare erst gefärbt und sie danach wieder entfärbt. Ist das richtig?« Helmer lachte. »Du solltest das Geheimnis enträtseln, mein Junge! Mehr weiß ich selbst nicht. Deine Schlußfolgerung ist vernünftig; aber ob sie zutrifft, muß sich erst erweisen.« »Was könnte er denn sonst mit dem Wasserstoffsuperoxyd gemacht haben?« beharrte Jan. »Ich sage ja gar nicht, Herr Sherlock Holmes, daß du unrecht hast, sondern nur, daß wir noch nichts Bestimmtes wissen.« »Kannst du mir keinen besonderen Hinweis geben, was diesen Gentleman-Harry betrifft?« »Besondere Kennzeichen meinst du wohl?« »Ja.« »Er ist ein ziemlich flotter Bursche, groß und stark. Es ist nicht ganz ungefährlich, mit ihm aneinanderzugeraten. Aber er hat wirklich ein Kennzeichen, das so ausgeprägt ist, daß ihm alles Färben und Entfärben nicht viel nützen würde. Am rechten Arm hat er ein Muttermal, einen schmalen roten Streifen, der wie ein Armreif rings um das ganze Handgelenk geht. Diesem Kennzeichen kann Gentleman-Harry nicht entfliehen. Aber vielleicht schenken wir ihm ganz überflüssigerweise unsere Aufmerksamkeit; denn wer weiß, ob er am Ende mit der ganzen Sache überhaupt etwas zu schaffen hat? Erzähl mir nun lieber Neues von euren Seeräuberfahrten.« Da begann Jan von dem fröhlichen Seglerleben mit den Kameraden zu berichten, und er hörte erst auf, als sie daheim angekommen waren.
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5 Das Examen war überstanden. Die Ferien begannen. Um die Ferienfreude noch zu steigern, hatte das Schicksal Jan mit besseren Noten als erwartet durchs Examen rutschen lassen. Er war gewiß kein Faulpelz, aber so tüchtig und fleißig wie Erling war er nicht. Er strengte sich zwar an, es Erling gleichzutun, doch gab es wohl überhaupt keinen Schüler auf der Welt, der sich mit Erling hätte messen können. Die beiden unzertrennlichen Freunde waren strahlender Laune, als sie nach der Schlußfeier mit gutem Gewissen und frohgespannter Ferienerwartung heimwärts gingen. Sie schmiedeten tausend Pläne. Sie hatten sogar daran gedacht, mit dem Velo nach Jütland zu fahren. »Nehmt die Räder mit, aber fahrt mit dem Zug«, riet Kommissar Helmer. »Andernfalls sind die Ferien vorbei, bis ihr glücklich in Jütland angelangt seid!« Die Buben widersprachen anfangs heftig; schließlich waren sie sich einig, daß es besser wäre, diesem Rat zu folgen. Dann zogen sie an einem schönen Sommermorgen zum Hauptbahnhof, Bo y an der Leine führend, die Rucksäcke gefüllt mit all den Kleidungsstücken, die sie für den Ferienaufenthalt auf dem jütländischen Gutshof brauchten. Frau Helmer und Erlings Eltern begleiteten die Buben zur Bahn. Die beiden konnten es kaum mehr erwarten, daß die Reise endlich losging, und so hörten sie nur mit halbem Ohr auf die Ermahnungen, die ihnen noch zuteil wurden. Sie stürmten durch die Wagen und suchten ein leeres Abteil, in dem Boy bleiben durfte. Als der Zug endlich aus der Bahnhofshalle dampfte, lehnten sie aus dem Fenster und winkten vergnügt. Während der Fahrt gab es fortwährend etwas zu sehen, da die Reise durch die schöne seeländische Landschaft ging. Als sie in -21-
Korsör an Bord des Fährschiffs kamen, wurde die Sache noch aufregender. Sie bewunderten die großen Maschinen, betrachteten das schäumende Kielwasser und ließen sich nichts entgehen. Boy zeigte sich nicht weniger interessiert; doch erwies er sich im großen und ganzen als sehr sittsamer und ruhiger Reisegefährte, der von allen Mitreisenden ob seiner guten Haltung gelobt wurde. Aber er ließ sich von niemand streicheln; denn er war darauf dressiert, von Fremden keinerlei Zärtlichkeiten entgegenzunehmen. Er hielt sich die ganze Zeit dicht bei Jan und Erling und ließ kein Auge von ihnen; es war deutlich in seinen klugen Augen zu lesen, daß er dachte: Mit euch zwei flinken Burschen ist gut sein. Aber für eure Eltern ist es recht beruhigend, zu wissen, daß ich bei euch bin. Denn solltet ihr in eine Klemme geraten, so bin ich da, der euch aus der Patsche befreien wird. Wie recht er damit hatte, konnte vorläufig niemand ahnen. Die Fahrt über Fünen verging im Nu. Die beiden Buben futterten ihren Reiseproviant, den die Mütter nicht zu knapp bemessen hatten, so daß sie trotz ihrem mächtigen Appetit satt wurden. Die Brücke über den Kleinen Belt wurde ihnen zum Erlebnis. Als sie über den langen Deich gefahren waren und sich ganz plötzlich hoch über den schimmernden Wellen des Belts auf der prächtigen, silbern glänzenden Brücke befanden, brachen die beiden Jungen in begeisterte Rufe aus. Ein älterer Herr, der in einer Ecke saß und in einem Buch las, sah auf und sagte lächelnd: »Ja, ihr habt allen Grund, begeistert zu sein. Ihr könnt auch stolz sein, denn diese Brücke ist von dänischen Ingenieuren erbaut worden. In manchen Ländern, wo die Verhältnisse größer sind, gibt es noch größere Brücken. Aber ich glaube nicht, daß sich auf der ganzen Erde eine schönere Ingenieursarbeit findet als diese hier.« »Es ist kaum zu verstehen, daß ein Mensch so etwas machen kann«, bemerkte Jan mit ehrlicher Bewunderung. »Ja, wahrhaftig«, erwiderte der Herr, »man muß darüber -22-
staunen. Denkt nur, wie viele Gedanken in solch einer Brücke festgelegt sind. Denkt, wie viele Vorstudien dazu gemacht werden müssen, wie viele Bogen Papier vollgezeichnet und weggeworfen werden, wie vieler Überlegungen es bedarf, wie vieler Arbeitsstunden von Ingenieuren, Schmieden, Nietern, Erdarbeitern, bis die Brücke fertig ist und man darüberfahren kann. Ja, solch eine Brücke gibt allerhand zu denken.« Während der fremde Herr sprach, hatten die Knaben immer wieder die flotten Linien der Brücke bewundert und die schöne Aussicht mit den Augen verschlungen. Nun schwieg der Herr und vertiefte sich wieder in sein Buch, während Jan und Erling das Gespräch über den Brückenbau fortsetzten. Der Zug fuhr weiter. Er passierte Frederica, und in der Ferne sah man die Umrisse des Staatsgefängnisses von Horsens. Nachdem sie dann umgestiegen waren, fuhren die Buben auf Silkeborg zu, in dessen Nähe Christian Helmers Gutshof lag. Als der Zug sich Silkeborg näherte, wurden die Buben ganz kribbelig vor Erwartung. Sie nahmen die Rucksäcke aus dem Netz, stellten sich im Seitengang auf und blickten zum Fenster hinaus. Es war jetzt Abend; im Westen flammte der Himmel rot, und Erling, der sich auch aufs Malen verstand, erklärte Jan die Farbwirkungen des Sonnenuntergangs. Jan aber hörte nur mit halbem Ohr zu; denn er wartete darauf, daß sie endlich an dem kleinen Landbahnhof von Raunstal ankamen, wo Onkel Christian sie abholen wollte. Als der Zug dort hielt, sprang Jan als erster hinaus. Ihm auf den Fersen folgte Boy, bei dem die Natur die Oberhand über die Erziehung gewann, so daß er ein lautes Freudengebell hören ließ, weil er nun wieder in Freiheit war. Erling kam langsam und bedächtig daher, und als er sich Gutsbesitzer Helmer näherte, hatte Jan schon längst die schwielige Hand des Onkels gedrückt, die Grüße von daheim ausgerichtet und von der Reise erzählt. »So, da wäre ja auch Erling«, sagte Christian Helmer und gab dem Jungen die Hand. »Seit über einem Jahr hab’ ich dich nicht mehr gesehen. Du bist -23-
inzwischen auch nicht schlanker geworden.« »Nein«, erwiderte Erling mit schelmischem Blick, »aber denken Sie doch nur, Herr Helmer, wieviel man in einem Jahre essen kann.« Der Gutsbesitzer schlug Erling lachend auf die Schulter, worauf sie sich alle miteinander zu dem wartenden Auto begaben. »Oh«, sagte Erling enttäuscht, »ich hatte so gehofft, daß wir in einem Landauer mit braunen Pferden fahren würden!« »So, so«, brummte Christian Helmer, »ich hätte euch wohl vierspännig abholen sollen? Nein, mein Guter, heutzutage fährt man im Auto. Vielleicht wäre es besser, wenn man bei den Pferden geblieben wäre. Ich begreife selbst nicht recht, warum alles immer so geschwind gehen muß. Aber das soll es nun einmal. Wenn die ganze Welt sich daran gewöhnt hat, Auto zu fahren, muß Christian Helmer eben mitmachen. Das ist nicht zu ändern. Ich verspreche dir, Erling, daß du im Pferdewagen mitfahren kannst, sobald wir wieder mit den Rossen aufs Feld müssen. Das heißt jedoch, daß du um sechs Uhr morgens loszockeln mußt. So, nun hinein mit euch!«
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6 Von Anfang an waren die Ferien einfach wundervoll. Gutsbesitzer Helmer war ganz entzückt darüber, daß die Buben bei ihm zu Besuch weilten. Er war Witwer und hatte selbst keine Kinder; um so mehr Liebe brachte er den Kindern seines Bruders entgegen, und Jan war sein besonderer Liebling. Die beiden Knaben hatten es herrlich bei ihm. Christian Helmers Haushälterin, Fräulein Madsen – sie wurde immer nur »Mads« genannt – war eine energische Dame, die die Zügel des Haushalts in festen Händen hielt. Sie kochte so ausgezeichnet, daß Erling ihr gleich nach dem ersten Abendessen eine Liebeserklärung machte, worauf sie ihm einen Klaps versetzte und einen Frechdachs nannte. Damit war die Freundschaft zwischen ihnen geschlossen. Am Morgen nach der Ankunft krochen die Buben schon früh aus den Federn. Sie frühstückten mit Onkel Helmer zusammen und stürmten dann auf den Hof hinaus, wo sie mit großem Interesse den Knechten zusahen, die ihre Tagesarbeit schon aufgenommen hatten. Erling schloß sogleich Freundschaft mit dem Knecht, der mit den Pferden auf die Felder zu fahren pflegte. Das Ergebnis dieser Annäherung war, daß er wenige Minuten später auf einem Heuwagen saß und die Pferde äußerst flott über die Feldwege lenkte, während Jan sich an Anders’ Fersen heftete und Boy sich mit zufriedener Miene in die Sonne legte. Anders, den Jan schon von früheren Ferienaufenthalten in Raunstal her kannte und mit besonderer Freude begrüßt hatte, war Onkel Christians Großknecht, ein wahrer Hüne mit erstaunlichen Kräften. So stark er war, so gutmütig war er auch. Seine Geduld kannte keine Grenzen. Alle auf dem Hof liebten Anders und vergaben ihm gern sein ewiges Gesinge, so falsch und ohrenzerreißend es auch war. Jan, der die Musik sehr liebte, -25-
ließ Anders’ Gesang ebenfalls Gesang sein; er hielt sich bloß bisweilen die Ohren zu, wenn die Melodie allzu falsch klang. Nur Boy war nicht imstande, Anders’ Glanzleistungen ohne weiteres hinzunehmen. Der arme Hund war nahe daran, aus der Haut zu fahren, wenn Anders zu singen begann. Er streckte dann die Nase in die Luft und winselte so jämmerlich, daß es einen Stein hätte rühren können. Anders blickte ihn daraufhin stets leicht erstaunt an und sagte: »Du mußt nicht etwa glauben, daß das besser klingt!« »Nein, ganz gewiß nicht«, warf Jan ein, »aber Boy ist sehr musikalisch.« Das begriff Anders nicht, doch zerbrach er sich nicht weiter den Kopf darüber, sondern sang aus vollem Halse: »Horch, Kind, horch, wie der Sturmwind braust und rüttelt am Erker…« An einem der ersten Ferienabende sauen die Buben draußen hinter der Scheune und plauderten mit Anders, der seine Stummelpfeife rauchte und den Jungen einige Pfeile für ihre Bogen schnitzte. Sie hatten natürlich sofort Haselruten gefunden, die sich prächtig für Bogen eigneten, und Anders verstand sich trefflich aufs Pfeilschnitzen. Sie unterhielten sich über das Leben auf dem Lande, wo es so selten Neuigkeiten gab, und Anders sagte schließlich zu Jan: »Als Sohn eines Kriminalkommissars mußt du eigentlich eine Menge spannender Sachen miterleben.« Diese Bemerkung bot Jan eine hochwillkommene Gelegenheit, von etwas zu sprechen, das ihm schon lange auf der Seele lag: von dem Raubüberfall in der Gewerbe- und Industriebank. Er berichtete alles, was er wußte, und Anders, der sich nur mit einiger Mühe durch den Artikel in der Bauernzeitung hindurchbuchstabiert hatte, hörte ihm gefesselt zu, bis Jan den Gentleman-Harry erwähnte. »Den kenne ich«, sagte Anders mit aller Gemütsruhe. »Was?!« Jan fuhr auf und starrte den riesigen Jütländer an. -26-
Anders schnitzte ganz gelassen an den Pfeilen weiter, und es dauerte eine Weile, bis er zu erzählen anhob: »Ja, der Gentleman-Harry diente früher hier in der Gegend als Knecht. Aber das ist schon mehrere Jahre her. Er war viel zu fein für die Arbeit. Er konnte sich nicht recht damit abfinden und verschwand eines Tages. Was aus ihm wurde, weiß ich nicht. Man sagt, er sei in eine Besserungsanstalt gekommen. Das würde mich gar nicht so sehr wundern. Denn er war auch viel zu fein dazu, sich anständig zu benehmen.« »Stammt er denn aus der Gegend hier?« »Ja, freilich. Aber seine Eltern leben nicht mehr. Er hatte eine Menge Freunde; denn er warf nur so mit dem Geld um sich und hielt immer alle im Wirtshaus frei. Woher er das Geld hatte, weiß ich nicht; aber man sagt, er hätte es gestohlen. Wahrscheinlich ist er deshalb in die Besserungsanstalt gekommen. Er hatte auch oft Besuch von feinen Herren aus der Stadt. Aber er war ein Waschlappen, das ist sicher. Die Polizei hat übrigens neulich nach ihm gefragt.« »Wirklich?« warf Jan gespannt ein. »Ja, da wir gerade von ihm sprechen, fällt’s mir wieder ein. Einige Leute wurden gefragt, ob Harry hier gesehen worden sei; aber keiner wußte etwas von ihm. Sicher hing das mit dem Bankraub zusammen.« Anders führte einen kräftigen Streich mit seinem Messer, daß die Holzsplitter nur so flogen, und sagte: »Die Polizei sollte sich lieber um die Wilddiebe kümmern. Die machen uns immer mehr zu schaffen.« »Gibt’s hier wirklich Wilddiebe?« fragte Erling, der sich bis jetzt an der Unterhaltung nicht beteiligt hatte. »Wir hören oft in der Nacht drüben im Wald Schüsse fallen«, fuhr er fort. »Aber wir haben bis jetzt noch nicht herausfinden können, wer da eigentlich sein Unwesen treib t. Früher oder später werde ich die Kerle aber schon noch erwischen, und dann -27-
möchte ich nicht in ihrer Haut stecken.« Sein gutmütiges Gesicht sah jetzt ganz grimmig aus.
»Ja, wir haben hier Wilddiebe. Ich habe selbst einmal drüben in der Schonung ein angeschossenes Reh gefunden. Die Kerle knallen das Wild nieder, wo sie es finden, und legen auch Schlingen; dafür sollte man sie tüchtig verdreschen, denn ein Tier, das sich in einer Schlinge fängt, muß lange leiden. Sie bringen die Schlingen auf den Wechseln an, wo das Wild abends austritt. Ich habe schon oft einen Hasen in der Schlinge entdeckt und einmal auch einen armen Dachs. An einem Abend fand ich sogar einen Fuchs. Ich hörte ihn quietschen und ging dem Laut nach. Da saß er in einem Fangeisen, das die Kerle aufgestellt hatten. Auf diese Weise richten die Wilddiebe viel Schaden an. Diese Burschen sollte unsere Polizei unschädlich machen, statt sich um ein Verbrechen zu kümmern, das die Polizei in Kopenhagen -28-
viel besser ahnden kann.« Seit vielen Jahren ha tte Anders keine so lange Rede gehalten, doch ging ihm nichts so nahe, als wenn ein Tier gequält wurde, so daß sich seine Zunge löste, wenn die Rede darauf kam. Als die Buben im Bett lagen, sprachen sie noch lange über das, was Anders erzählt hatte. »Wenn wir doch bei der Entlarvung der Wilddiebe dabeisein könnten«, meinte Jan. »Mir sind Leute, die Tieren etwas zuleide tun, verhaßt.« »Mir auch«, stimmte Erling gähnend zu. »Aber ich bedanke mich auf jeden Fall dafür, in finsterer Nacht im Walde herumzulaufen und auf Schüsse zu horchen. Sicher würde man mich für einen Dachs halten und mir eins auf den Pelz brennen, wenn ich das täte.« Jan mußte über die Bedenken seines Freundes lachen. Im nächsten Augenblick aber wurde er wieder ernst. Er brachte den Gedanken an die geheimnisvollen Wilddiebe nicht aus dem Kopf. Immer wieder kam er darauf zu sprechen, bis ihm ein lautes Schnarchen aus Erlings Bett verriet, daß das Thema – wenigstens was Erling betraf – erschöpft war. Da drehte sich auch Jan auf die andere Seite und zog seine Decke hoch. Boy bewegte sich auf seiner Matte neben Jans Bett. Plötzlich fuhren beide, Knabe und Hund, mit einem Ruck auf. Vom Wald her knallten zwei Schüsse, rasch hintereinander. Jan saß aufrecht im Bett und lauschte. »Heiliger Bimbam… die Wilddiebe…« flüsterte er aufgeregt. Aber Erling schnarchte seelenruhig weiter.
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7
Jan lag der Länge nach auf dem Rasen vor dem Hauptgebäude des Gutes und las einen Brief seines Vaters. Da stand unter anderm: »Ich hoffe, daß Ihr beide – und natürlich auch Boy – es gut habt und daß Ihr Onkel Christian noch nicht zur Verzweiflung gebracht habt. Der Arme muß ja fürchterlich leiden mit zwei solchen Trabanten um sich! Nun Spaß beiseite. Ich verlasse mich darauf, daß Ihr Euch nicht nur anständig aufführt, sondern auch helft, wo ihr könnt. Grüße Onkel Christian vielmals von Mutter und mir und sag ihm, wie froh wir sind, daß er Euch zu sich eingeladen hat. Wir wissen Euch bei ihm in guten Händen. Ich nehme an, daß Du nun auch gern hören möchtest, wie es mit der Bankraubsache steht. Ich habe Dir darüber sogar etwas Neues zu berichten. Heute abend haben wir einen Burschen verhaftet, der früher einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist und den wir verdächtigten, an der Planung und Ausführung des Bankraubes beteiligt zu sein. Du weißt ja, daß ein Herr mit dem geheimnisvollen ›Bankportier‹ gesprochen hat, der draußen im Regen stand, um die Kunden von der Bank fernzuhalten, während drinnen der Raub verübt wurde. Dieser Herr glaubt den Verhafteten, der übrigens Ferdinand Jespersen heißt, wiederzuerkennen. Er ist nicht ganz sicher aber er meint, es könne gut sein, daß Jespersen derjenige ist, der damals vor der Bank gestanden hat. Das ist, wie ich einräumen muß, noch eine etwas schwache Grundlage, zumal wir bei Jespersen kein Geld gefunden haben und eine Haussuchung in seiner Wohnung keinerlei Ergebnis gezeitigt hat. Andererseits kann er seinen Anteil an dem Raub natürlich an allen möglichen Orten versteckt haben. Jespersen selbst hat ausgesagt, daß er sich an dem betreffenden Samstagvormittag zu Hause aufgehalten habe; -30-
aber niemand kann das bezeugen. So, da hast Du einen der kleinen ›kriminellen Bissen‹, hinter denen Du ja so eifrig her bist. Mutter sagt, ich solle nicht meinen ganzen Brief mit solchen Sachen füllen; doch weiß ich ja, wie sehr Du Dich für meine Arbeit interessierst. Und es scheint mir, daß das nur gut ist. Ich weiß nicht, ob Onkel Christian Dir schon erzählt hat, daß Lis nun auch nach Raunstal kommt. Sie reist morgen ab und wird eine Woche bei Euch bleiben, bevor sie zu einer Freundin in Prästö weiterfährt. Versprich mir, daß Ihr Euch anständig benehmen und Frieden halten werdet, solange Lis bei Euch ist. Es wäre nicht nett, wenn Ihr Onkel Christians Gastfreundschaft mit Zank und Streit vergelten würdet. Denk daran, mein Junge. Nehmt von uns allen die herzlichsten Grüße. Alles Gute und recht schöne Tage! Dein Vater« Jan drehte sich auf den Rücken und kaute an einem Grashalm, während er an die Neuigkeit dachte, die sein Vater ihm mitgeteilt hatte. Die Sache mit der Verhaftung klang recht spannend. »Aber daß wir Damenbesuch erhalten werden«, murmelte er vor sich hin, während er aufstand und in den Garten schlenderte, »scheint mir weniger spannend. Bis jetzt hatten wir es so gemütlich!«
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8
»Anders hat gefragt, ob ihr heute abend mit ihm auf Wilddiebsjagd gehen wollt«, sagte Onkel Helmer beim Nachtessen zu Jan und Erling. Beide Buben bekamen vor lauter Überraschung einen Bissen in die falsche Kehle. Sie husteten und klopften einander auf den Rücken, und es dauerte eine Weile, bis sie sich so weit gefaßt hatten, daß sie mehr von diesem aufregenden Plan hören konnten. »Ich weiß offen gestanden nicht recht«, fuhr Christian Helmer fort, »ob ich euch mitgehen lassen soll. Möglicherweise ist die Sache nicht so ganz ungefähr lich.« »Oh, bitte, laß uns mitgehen, Onkel Christian«, flehte Jan. »Wir sind ja schließlich keine Wickelkinder mehr.« »Wirklich nicht?« »Nein, wirklich nicht«, sagte Erling mit erkünstelter Würde. »Auf jeden Fall wäre ich, wenn ich ein Wickelkind sein sollte – was ich bezweifle –, das größte und umfangreichste der Welt. Ich muß Ihnen gestehen, Herr Helmer, daß mir neulich, als wir mit Anders darüber sprachen, der Gedanke, von einem Wilddieb für eine gute Beute gehalten zu werden, nicht sonderlich angenehm war. Inzwischen habe ich mir die Sache überlegt. Ich glaube nicht mehr, daß die Wilddiebe ihr Pulver an mich verschwenden werden.« »So, wann hast du denn deine Meinung geändert?« »Vor zwei Minuten und sechsunddreißig Sekunden, als Sie uns Anders’ ausgezeichneten Plan mitteilten. Meinen Sie nicht, daß Sie uns die Erlaubnis geben können?« Sie erhielten wirklich die Erlaubnis; aber Onkel Helmer erteilte sie nur sehr widerstrebend. -32-
Boy war derjenige, der den Ausschlag gab. Anders wollte den klugen und wachsamen Polizeihund auf der geplanten Streife gern mitnehmen. Das war jedoch nur möglich, wenn Jan ebenfalls mitkam; denn Boy ließ sich sogar von dem gutmütigen Anders nicht einmal streicheln, geschweige denn, daß er Anders’ Befehlen folgte. So wurde beschlossen, daß die Buben sich an dem Unternehmen beteiligen durften. Als die Dunkelheit sich langsam niederzusenken begann, schritten sie über die Felder auf den Wald zu. Anders mußte hoch und heilig versprechen, unterwegs keinen einzigen Ton zu singen. »Denn es wäre gar nicht nützlich, Boy die gute Laune zu verderben«, sagte Jan mit einem Lächeln. Anders brummte etwas vor sich hin, das die Jungen höflich überhörten, da es keine liebenswürdigen Worte waren. Aber er meinte es nicht so schlimm. Er stapfte recht vergnügt dahin, den Hut im Nacken und die Flinte über der Schulter. Die Buben mußten tüchtig ausschreiten, um Schritt mit ihm zu halten. »Wenn wir in den Wald kommen, dürfen wir nicht mehr miteinander reden«, sagte Anders mit gedämpfter Stimme. »Wir gehen zu einer Lichtung, auf der das Wild zu äsen pflegt. Da müssen wir Augen und Ohren offenhalten.« Sie verhielten sich mäuschenstill, während sie am Saum des Waldes entlangschritten. Es war ein ausgefahrener Weg mit tief eingeschnittenen Radspuren. Anders ging voraus, Jan folgte ihm mit Boy in kurzem Abstand, und Erling, der Mühe hatte, seinen keuchenden Atem zu dämpfen, bildete die Nachhut. Boy drehte wachsam den Kopf nach rechts und links und verfolgte mit gespitzten Ohren die kleinste Bewegung ringsum. Sie hielten sich dicht an die Bäume, damit sie nicht gesehen werden konnten, während sie eine Anhöhe hinaufstiegen. Den höchsten Punkt des Geländes bildete ein kleiner Hügel, der ganz mit Heidekraut bewachsen war. Oben angekommen, ließen sich die drei Kameraden auf den Erdboden nieder. Von hier aus hatten sie volle Aussicht über die Lichtung, die sich, umgeben von -33-
hohen Fichten, gen Westen vor ihnen senkte. »Dieser Teil der Gutswälder wird Westwald genannt«, erklärte Anders leise. »Diese Lichtung ist vor zwei Jahren entstanden; damals hat man hier tüchtig geholzt. Sämtliche Fichten, die früher den ganzen Abhang bedeckten, hat man gefällt; aber beim Näherkommen werdet ihr bemerken, daß schon wieder lauter neue Bäume gepflanzt sind. Dann seht ihr auch, daß die Lichtung weiter drüben in Wiesland übergeht, durch das ein kleiner Bach fließt. Dort treten die Tiere aus, um zu äsen und zu trinken, und dort versuchen die Wilddiebe ihr Glück und böllern drauflos.« Anders hatte nur flüsternd gesprochen. Die Buben saßen mucksmäusche nstill, innerlich äußerst gespannt auf das, was geschehen würde, während Boy aufmerksam auf jede Bewegung im Heidekraut und jeden Laut im Walde achtete. In weiter Ferne ertönte Hundegebell; aber das schien Boy nicht weiter zu interessieren. Er war ja darauf dressiert, sich nur mit dem zu beschäftigen, was ihm befohlen wurde. Plötzlich traten drei Rehe aus dem Wald hervor, windeten eine Weile und begannen dann auf der Lichtung zu äsen. Boy begann vor Spannung zu zittern; aber Jan legte beschwichtigend seine Hand auf den Hals des Hundes. Boy beruhigte sich sogleich, obwohl er kein Auge von den anmutigen Tieren ließ, die gemächlich durch das Gras streiften und sich’s wohl sein ließen. Es war ein hübscher Anblick, und wenn die beiden Jungen auch schon oft Rehe im Zoologischen Garten gesehen hatten, fanden sie es doch ungleich spannender, sie hier zu beobachten; denn nun sahen sie die scheuen Tiere in der freien Natur. Als Erling, einem unbezwinglichen Drange folgend, dem Kribbeln in seiner Nase nachgab und donnernd nieste, verschwanden die Rehe in hurtigen Fluchten im Walde. Erling war ganz untröstlich darüber, daß er sie vertrieben hatte. »Das ist ein Familienübel«, erklärte er Anders. »Auf der ganzen Welt gibt es niemand, der so laut und so oft niest wie wir. Wir sind… -34-
äh… a-a-a… a-a-a…« Dann folgte ein zweiter Trompetenstoß! Und was für einer! Ja, Erling hatte recht. Er war Fachmann im Niesen! Anders erhob sich. »Gesundheit«, sagte er ruhig. »Ich glaube, wir können unsern Standort verlegen; denn diese Kanonenschüsse haben sicher nicht nur das Wild, sondern auch die Wilddiebe verscheucht, wenn sie in der Nähe waren.« Hierauf machten die drei sich wieder auf den Weg. Erling war auch jetzt der letzte in der Reihe. Er schritt mit seinen kurzen Beinen aus, so rasch er konnte, und hoffte inbrünstig, an diesem Abend nicht mehr niesen zu müssen. »Wir wollen einmal versuchen, um die Bahnlinie herumzugehen«, flüsterte Anders Jan zu. »Dort ist auch eine Wiese, wo das Wild herauskommt. Ich hab’ da einmal Schlingen gefunden.« Jan nickte, und sie setzten ihren Weg fort. Aber plötzlich zog Boy an der Leine und blieb stehen. Auch Anders hielt inne, und die Buben blickten gespannt auf den Pfad, der an der Bahnstrecke entlangführte. Eine hohe Gestalt schritt weiter vorn in derselben Richtung wie sie selbst. »Hallo!« rief Anders. »Heda, halt!« Er mußte mehrere Male rufen, bis der Mann stillstand. Sie liefen zu ihm hin und sahen sich einem unheimlich aussehenden Burschen gegenüber, der seine Mütze tief über die Ohren gezogen hatte und dessen Kinn und Wangen mit struppigen Bartstoppeln bedeckt waren. »Guten Abend, Niels«, sagte Anders freundlich. Der andere brummte nur mißmutig. »Du bist noch spät unterwegs«, bemerkte Anders. Der Mann antwortete nicht, sondern musterte die Knaben. »Die Buben sind aus Kopenhagen«, erklärte Anders. »Sie sind bei Gutsbesitzer Helmer zu Besuch. Ja, du machst wirklich noch -35-
einen späten Abendspaziergang.« Er lachte.
»Ich hatte Kopfweh und wollte noch ein bißchen frische Luft schöpfen«, erwiderte der andere. »Da ist wohl nichts Schlimmes dabei.« »Nein, gewiß nicht… gewiß nicht«, sagte Anders. Sie tauschten noch ein paar allgemeine Redensarten. Jan betrachtete den Mann mit großer Neugier. Es sah aus, als ob er irgend etwas unter seiner Joppe trüge; aber Jan konnte nicht erkennen, was es war. »So, nun will ich heimgehen«, sagte Niels. »Versteht sich«, erwiderte Anders. »Es ist ja auch längst Schlafenszeit.« »Ja, vor allem für kleine Jungen«, bemerkte Niels spöttisch. Er tippte nachlässig mit der Hand an die Mütze und schritt ohne ein weiteres Wort von dannen. Die drei blieben stehen und schauten -36-
ihm nach, bis er um eine Ecke bog und verschwand. »Kein gemütlicher Geselle«, murmelte Anders. »Ja, er sieht nicht gerade vertrauenerweckend aus«, stimmte Jan zu. »Na, er ist nicht ganz so blutdürstig, wie er ausschaut«, meinte Anders. Sie kehrten um und machten sich auf den Heimweg. Boy lief folgsam und brav neben Jan her. »Wer ist dieser Niels eigentlich?« erkundigte sich Jan nach einer Weile. »Er heißt Niels Boelsen und wohnt unten am Moor«, erklärte Anders. »Er lebt ganz allein, und mir scheint, er weiß von den Wilddieben mehr, als er wahrhaben will. Allerdings kann ich das nicht beweisen; ich hab’s nur so im Gefühl.« »Er hatte irgend etwas unter seiner Joppe«, bemerkte Jan zu sich, selbst. »Was sagst du?« Anders war plötzlich ganz Ohr. »Ja, das hab’ ich auch gesehen«, fiel Erling ein. »Aber ich konnte nicht erkennen, was es war. Wie ein kleines Bündel sah es aus.« »Ich werde noch ganz tiefsinnig«, lachte Anders. »Wenn Niels ein Wilddieb ist und sein Gewehr unter der Joppe verbirgt, kann es bestimmt kein kleines Bündel sein. Na, heute abend haben wir nicht gerade viel ausgerichtet. Aber wir können ja bald wieder einmal losziehen.« Als sie ein Stück weit im Wald dahingeschr itten waren, hörten sie, wie ein Zug sich auf der Bahnstrecke näherte. »Das ist der Nachtzug«, sagte Anders. »Von dem haben wir nichts zu erwarten, denn er hält nicht bei uns, sondern fährt mit Schuß weiter.« Plötzlich hörten sie die Lokomotive schrill pfe ifen, und gleich darauf vernahm man das Kreischen der Bremsen. »Der Zug hält!« rief Jan. -37-
»Ja, es klingt wahrhaftig so«, meinte Anders. Gespannt lauschten sie, ohne sich zu rühren. Der Zug hielt augenscheinlich mitten auf der Strecke. Man hörte Türenschlage n und die Zugbeamten laut rufen. »Was mag da nur los sein?« fragte Erling. »Ob irgend etwas auf den Schienen liegt?« »Wir wollen horchen, was weiter geschieht«, sagte Jan. »Vielleicht hat er keine Einfahrt«, meinte Erling. »Dummes Zeug, die Station ist viel zu weit entfernt. Und im Wald kann man das Einfahrtssignal doch gar nicht sehen, nicht wahr, Anders?« »Nein, das ist unmöglich«, erwiderte Anders. »Denn durch den Wald führt die Bahnlinie in einer großen Kurve. Und bis zur Station sind’s noch über zwei Kilometer von hier aus.« »Dann muß es also etwas anderes sein. Aber was?« »Es kann ja etwas mit der Maschine los sein.« »Oder es liegt etwas auf den Schienen. Ein Tier…« »Oder jemand hat die Notbremse gezogen.« Die Buben überboten sich an Vermutungen. Aber es war nichts zu hören, das erklärt hätte, warum der Zug plötzlich angehalten hatte. »Kommt«, sagte Anders schließlich. »Laßt uns heimgehen. Es ist schon längst Schlafenszeit. Morgen werden wir noch früh genug erfahren, was mit dem Zug los war.« Sie schritten weiter durch den Wald, und kurz darauf hörten sie, wie der Zug sich wieder in Gang setzte. »So, nun kommt er ja wieder in Schwung«, bemerkte Anders. Offensichtlich kümmerte er sich nicht mehr um den Nachtzug; denn er begann vor sich hin zu summen, und aus dem Gesumm wurde bald ein so falsch klingender Gesang, daß Boy schier in Verzweiflung geriet. Die Buben hatten Mühe, ihr Lachen zu -38-
verbergen. »Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben…« Als sie auf der andern Seite aus dem Wald traten, sahen sie eine hohe Gestalt über die Felder schreiten. »Da geht ja Niels Boelsen wieder«, stieß Jan hervor. »Ja, vielleicht ist ihm sein Kopfweh vergangen«, meinte Anders und blickte mit zusammengekniffenen Augen nach der dunklen Gestalt, die nur undeutlich zu erkennen war. »Auf jeden Fall hat er kein Gewehr bei sich«, stellte er fest. Dann sang er wieder aus vollem Halse. Jans Gedanken aber irrten immer wieder zu der Frage ab: Warum hatte der Nachtzug angehalten? Er hatte das dunkle Gefühl, daß hinter dieser merkwürdigen Tatsache mehr stak, als man im Augenblick erkennen konnte.
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9
Der nächste Tag verlief äußerst friedlich, bis Lis gegen Abend eintraf. Onkel Helmer fuhr mit dem Wagen zur Station, um sie abzuholen. Während der Heimfahrt erzählte er ihr auch von der mißglückten Jagd auf die Wilddiebe, und Lis hatte dann beim Abendessen nichts Eiligeres zu tun, als die Buben damit aufzuziehen. »Das kommt davon, wenn kleine Jungen sich spät in der Nacht draußen herumtreiben«, sagte sie. »Ihr habt wahrscheinlich alle Wilddiebe weggeniest und ihnen durch eure bloße Anwesenheit zu verstehen gegeben, daß sie gut daran tun, eine Zeitlang Ruhe zu halten.« »Liebe Lis«, erwiderte Erling mit aller ihm zu Gebote stehenden Würde, »ich weiß zufällig, daß mein verehrter Freund und Wahlbruder, der die zweifelhafte Ehre genießt, dein leiblicher Bruder zu sein, seinem gestrengen Vater hoch und heilig versprechen mußte, während der Ferien eine gewisse junge Dame in keiner Weise zu necken und zu reizen. Da solltest du nun auch so sehr Sportsmann sein – entschuldige, ich meinte, Sportsfrau! –, uns nicht herauszufordern. Übrigens war ich derjenige, der geniest hat.« »Daran zweifle ich nicht«, gab Lis zurück. »Laß dich doch nicht auf einen Wortwechsel mit ihr ein, Erling«, riet Jan. »Sie ist hoffnungslos. Mädchen verstehen nichts und können nichts.« »Ach, wirklich?« sagte Lis schnippisch. »Nein, sie taugen zu nichts.« »Du wirst dich noch wundern!« entgegnete Lis. »Greift zu, und haltet Frieden«, lachte Onkel Helmer. »Ja, es ist wirklich schade um die schöne Sandtorte«, bemerkte -40-
Mads. »Geliebtes Fräulein Madsen«, sagte Erling, »Sie brauchen sich um die Sandtorte keine Sorgen zu machen. Um Ihretwillen, Fräulein Madsen, werde ich dafür sorgen, daß kein Krümchen von der vortrefflichen Sandtorte übrigbleibt.« Damit nahm er sich das sechste Stück! Aber Lis war nicht gewillt, das Thema so ohne weiteres fallenzulassen. »So, du meinst also, Jan, daß ich die Wilddiebe nicht erwischen könnte. Ich wette mit dir, daß ich vor euch herausfinden werde, wer die Wilddiebe sind.« »Das soll ein Wort sein! Um was wollen wir wetten?« »Um eine Krone.« »Das ist zu wenig«, entgegnete Jan. »Dabei wagt man nicht genug.« »Ihr habt’s gut vor«, murmelte Onkel Helmer, der sich seine Zigarre anzündete. »Zwei Kronen«, sagte Lis. »Fünf Kronen«, schlug Jan vor. Lis zögerte ein wenig. Fünf Kronen waren viel Geld. »Besitzt du überhaupt fünf Kronen?« erkundigte sie sich vorsichtigerweise. »Uhumm, ich bürge für ihn«, sagte Erling, den Mund voll Sandtorte. »Ihr seid völlig verrückt«, lachte der Gutsbesitzer, während Mads voll Stolz zusah, wie ein Stück Sandtorte nach dem andern von der Platte verschwand und für kurze Zeit auf Erlings Teller landete. Lis und Jan bekräftigten ihre Wette durch Handschlag. »Ich habe übrigens gehö rt, warum der Nachtzug vorgestern auf offener Strecke gehalten hat«, sagte Onkel Helmer am nächsten Tag, als sie beim Mittagessen saßen. -41-
Jan sah von seinem Teller auf. »Wahrhaftig? Was war denn der Grund?« »Der Zugführer hat erklärt, daß er plötzlich einen Mann erblickte, der eine rote Laterne schwenkte. Da glaubte er, daß irgend etwas auf den Schienen läge, und brachte den Zug zum Stehen.« »Und dann?« »Ja, das merkwürdige an der Sache ist, daß nichts auf den Schienen lag und daß der Mann mit der Laterne spurlos verschwunden war. Der Zugführer und der Schaffner haben den Bahnkörper eine große Strecke weit abgesucht, aber nichts gefunden. Als sich herausstellte, daß nicht die geringste Gefahr bestand und daß der Mann mit der Laterne wie vom Erdboden verschluckt war, blieb dem Lokomotivführer nichts anderes übrig, als weiterzufahren.« »Aber warum hat der Mann den Zug angehalten?« fragte Lis. Der Gutsbesitzer zuckte die Schultern. »Das weiß niemand. Warum wird in den Städten immer wieder falscher Feueralarm gegeben? Bubenstreiche, nicht wahr? Das tun nur Leute, die nicht daran denken, wie gefährlich es ist, grundlos Alarm zu schlagen. Der Löschzug muß ja immer so rasch durch die Straßen fahren, daß er eine Verkehrsgefahr bildet, wenn die Fahrer auch noch so umsichtig und aufmerksam sind. Abgesehen davon ist es ein schlechter Spaß, die Feuerwehr unnötigerweise zu alarmieren, weil dabei Benzin und Reifen verschwendet werden. Solche Scherze gehören meiner Meinung nach zu den dümmsten Gedankenlosigkeiten, die streng geahndet werden müssen. Ein Brandunglück ist eine ernste Sache, mit der man niemals spaßen sollte. Ich glaube, daß der Nachtzug auch von so einem Lausbuben zum Stehen gebracht wurde. Ein schlechter Scherz, ein sehr, sehr schlechter Scherz.« Nach dem Mittagessen begab sich Lis in die Küche, um Mads und den Mädchen bei der Arbeit zu helfen. Onkel Helmer zog -42-
sich zurück, um ein paar Briefe zu schreiben. Die Buben schlenderten in den Garten, wo sie sich ins Gras warfen, während Boy sich niedersetzte und aufmerksam eine Biene verfolgte, die von einer Blüte zur andern flog und Honig suchte. Jan lag auf dem Rücken und blickte zu den langsam dahinsegelnden Wolken auf. Erling fühlte sich etwas schläfrig und zwinkerte mit den Augen. »Weißt du was, Verehrtester«, sagte er, »man sollte eigentlich nach einem solchen Mittagessen ein Schläfchen tun. Wenn ich nicht an meine schlanke Sportsfigur denken müßte, würde ich mir das zur Gewohnheit machen.« Jan hörte ihm überhaupt nicht zu. Seine Gedanken kreisten um den Nachtzug, der auf offener Strecke gehalten hatte. »Hast du einmal darüber nachgedacht, warum der Zug auf der Strecke angehalten worden ist?« fragte er aus seinem Nachsinnen heraus. »Wie bitte? Ich sprach von etwas ganz anderem«, sagte Erling. »Aber wir können ja gern das Thema wechseln. Ich bin allerdings der Meinung, daß die Ansicht deines hochgeschätzten Onkels richtig ist; ich glaube auch, daß das Ganze ein Bubenstreich war. Oder nicht?« »Ja, das ist eine recht bequeme Annahme. Aber ich glaube nicht daran.« »Lieber Sherlock Holmes, siehst du wieder einmal Gespenster?« »Nein, ich sehe alles andere als Gespenster. Ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen. Ein Bubenstreich… gewiß, das ist möglich. Aber gibt es nicht noch eine andere Erklärung?« »Ich wüßte keine«, erwiderte Erling gähnend. Jan drehte sich herum und stützte sich auf. »Hör einmal«, sagte er. »Ich habe einen ganz bestimmten Gedanken, was diesen Zug betrifft.« -43-
»Erzähle ihn mir, wenn er auch todsicher verkehrt ist.« »Auf jeden Fall ist die Erklärung, daß der Mann mit der Laterne sich einen Spaß gemacht hat, für mein Gefühl ganz unzureichend. Wenn der Mann wirklich den Zug anhalten wollte, so hatte er einen andern Grund.« »Wenn er nicht verrückt ist!« »Ja, wenn er nicht verrückt ist. Was für einen Grund könnte er nun gehabt haben?« »Vielleicht wollte er mitfahren«, meinte Erling. »Möglich, aber nicht wahrscheinlich; denn dann hätte man ihn doch später im Zug gefaßt. In jedem Abteil wäre ein neuer Passagier nach dem unvermuteten Halt sogleich aufgefallen. Mir scheint eine andere Möglichkeit näherzuliegen.« »So? Jedenfalls nicht die, daß er aussteigen wollte, was?« Erling lachte. »Nein, aber er kann ja einem andern geholfen haben, den Zug zu verlassen.« »Auf offener Strecke?« »Ja, auf offener Strecke.« »Aber wem denn?« Jan zuckte die Schultern. »Das weiß ich nicht. Dafür weiß ich vielleicht, wer der Mann war, der den Zug angehalten hat.« »Wer, sag, wer?« »Möglicherweise der unheimliche Kerl, den wir im Wald trafen, kurz bevor der Zug kam.« »Niels Boelsen… so he ißt er doch?« »Ja, den meine ich. Er trug irgend etwas unter seiner Jacke, nicht wahr? Gesetzt den Fall, es wäre eine Laterne gewesen…« »Gesetzt den Fall, ich wäre Millionär und wohnte in der Türkei…«, lachte Erling. »Ich meine es ernst«, entgegnete Jan scharf. »Wenn Niels -44-
Boelsen den Zug angehalten hat, kann er es nicht getan haben, weil er mit dem Zug weiterfahren wollte; denn wir haben ihn ja später nochmals gesehen. Doch ist es durchaus möglich, daß die Sache verabredet war, damit irgendein anderer aussteigen konnte.« »Aber aus welchem Grunde sollte dieser andere den Wunsch verspüren, mitten auf der Strecke auszusteigen, noch dazu in einer ganz gottverlassenen Gegend?« »Eben deshalb.« »Eben weshalb?« »Weil die Gegend ganz verlassen ist, hatte der Mann den Wunsch, an dieser Stelle auszusteigen. Er wollte vielleicht nicht gern auf der Station gesehen werden.« »Donnerwetter! Das klingt spannend! Aber wenn der Mann das wollte – warum hat er dann nicht die Notbremse gezogen?« »Weil er vielleicht nicht allein im Abteil war und weil das Zugpersonal argwöhnisch geworden wäre, wenn keine wirkliche Ursache zum Ziehen der Notbremse vorlag. Wenn wir aber von der Voraussetzung ausgehen, daß der Mann Grund hatte, sich verborgen zu halten, durfte er doch nicht etwas tun, das möglicherweise die Aufmerksamkeit auf ihn lenken konnte.« »Du meinst also«, sagte Erling gedehnt, »er war mit einem Freund hier in der Gegend verabredet…« »Mit dem er abgemacht hatte, daß dieser Freund den Zug auf offener Strecke zum Stehen bringen würde. Ja, das meine ich.« »Wirklich?« »Ob sich die Sache wirklich so verhält, vermag ich natürlich nicht zu sagen. Aber es scheint mir einleuchtend. Es ist mir eingefallen, und ich komme nicht mehr davon los. Ein komischer Gedanke, nicht wahr?« Erling erwiderte bedächtig: »Wenn du es komisch findest, daß hier in der Gegend Verbrecher sind, dann weiß ich wahrhaftig -45-
nicht, was eigentlich komisch ist. Vielleicht sind es dieselben Leute, die die Bank…« Jan unterbrach ihn mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter. »Ach, wenn sie es doch wären!« »Au! Laß doch das Gehaue! Ich wollte dich ja nur aufziehen. Wie sollten es überhaupt die Bankräuber sein?« Jan dachte eine Weile nach. Dann erklärte er: »Es könnte ja… ich sage ausdrücklich, es könnte Gentleman-Harry sein.« »Hm«, brummte Erling. »Es könnte auch der Großmogul von Huttituttiputt sein. Du hast wirklich eine blühende Phantasie, Verehrtester.« Jan drehte sich wieder auf den Rücken und blickte zum Himmel empor. »Es könnte doch etwas daran sein«, sagte er wie zu sich selbst. »Du wirst sehen«, bemerkte Erling abschließend, »der Mann im Zug war einfach zu faul, vom Bahnhof zu Fuß nach Hause zu laufen. Deshalb hat er seinen Sohn veranlaßt, den Zug zum Stehen zu bringen. Diese Erklärung ist weitaus besser als deine. Du hast wirklich zu viel Phantasie.« Nach diesen Worten ließ sich Erling in das weiche Gras zurücksinken. Eine Minute später schnarchte er friedlich.
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10
Jan blieb im Gras liegen, während Erling so laut schnarchte, daß Jan die Ohren brummten. Er dachte über alles nach, was sich ereignet und was er erfahren hatte. Es waren lauter Kleinigkeiten, denen aber eine gewisse Bedeutung nicht abzusprechen war. Je mehr er überlegte, um so richtiger erschienen ihm seine Schlußfolgerungen. Schließlich überkam ihn ein brennendes Verlangen, die Dinge näher zu untersuchen. Zudem hatte er einen ganz bestimmten Gedanken, den er nicht abzuschütteln vermochte, obwohl an und für sich nichts die Richtigkeit dieses Gedankens bewies. Ohne sich dessen bewußt zu werden, riß er einen Grashalm nach dem andern aus und zerpflückte ihn, während er nachsann. Schließlich drehte er sich auf die Seite und versetzte Erling einen tüchtigen Stoß. »Auf mit dir, Dicker!« Erling zuckte zusammen und rief schlaftrunken: »Hilfe! Polizei! Ich bin wach… uha, uha… ich bin wach!« Jan lachte: »Du sollst auch wach sein. Auf mit dir, und hör endlich auf, einen köstlichen Sommertag damit zu vergeuden, daß du die Luft mit deinem Geschnarche erfüllst. Wir wollen auf Erkundungsfahrt.« »Wohin?« Erling setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Nun habe ich gerade so wunderbar geschlafen. Die großen Frikadellen, die Mads uns heute zum Mittagessen aufgetischt hat, wirken schrecklich einschläfernd. Aber gut haben sie geschmeckt…« »Halt die Klappe! Willst du mit?« »Willst du mit in den Wald, oh, so komm!« sang Erling. »Was gedenkst du denn überhaupt zu ›erkunden‹?« »Ich will mir Niels Boelsens Behausung unten am Moor etwas -47-
näher ansehen.« »So? Und weshalb?« »Das weiß ich nicht… noch nicht. Aber ich habe so eine Ahnung, daß es sich lohnen würde.« »Eine Ahnung? Du mit deinen Ahnungen! Also gut, ich gehe mit. Wann ziehen wir los?« »Jetzt gleich. Wir haben ja Zeit genug. Wenn wir zum Abendessen wieder daheim sind, ist alles in Ordnung. Vorher fragt niemand nach uns.« Ächzend erhob sich Erling; dann brachen die beiden Freunde auf, gefolgt von Boy, der aussah, als ob er wüßte, daß etwas Spannendes bevorstand. Auf jeden Fall war er sehr munterer Laune und zeigte großen Eifer.
Keiner von ihnen hatte bemerkt, daß Lis hinter einem Strauch im Garten gestanden und den Schluß ihres Gesprächs mitangehört hatte. Und keiner von ihnen bemerkte, daß sie ihnen jetzt in einigem Abstand folgte. Rüstig schritten sie aus, während sie über die Felder zu einem -48-
kleinen Stück Wald wanderten, das an Niels Boelsens vernachlässigten Garten grenzte. Als sie sich dem Rande des Wäldchens näherten, wo sich ein niedriger Deich im Bogen hinzog, warfen sie sich der Länge nach nieder und spähten zu der kleinen Hütte hinüber, die der unheimliche Niels Boelsen ganz allein bewohnte. Die Hütte sah ebenfalls etwas vernachlässigt aus, aber doch recht friedlich und gemütlich. Aus dem Schornstein stieg schwacher Rauch auf, und Jan flüsterte seinem Freund zu, daß Niels Boelsen offenbar daheim war, da im Herd Feuer brannte. In der Nähe der Hütte stand ein mit Dachpappe gedeckter Holzschuppen; davor lag ein Stapel Feuerholz. Ein baufälliger Brunnen vollendete das Bild.
»Was sollen wir nun machen?« flüsterte Erling. Aber Jan schüttelte den Kopf und bedeutete ihm, sich still zu verhalten. So lagen sie schweigend hinter dem Deich, und gerade als Erling die Geduld zu verlieren begann, knarrte die Hüttentür, und Niels Boelsen kam heraus. Er schloß die Tür hinter sich und schritt dem Wäldchen zu. Die Buben verfolgten ihn atemlos mit den Blicken, bis er zwischen den Bäumen -49-
verschwand. Als er nicht mehr zu sehen war, traf Erling Anstalten aufzustehen; doch Jan zischte ihm zu: »Warte noch. Wir müssen ganz sicher sein, daß er eine Zeitlang wegbleibt.« Sie warteten noch einige Minuten, bis sie der Überzeugung waren, daß Boelsen sich weit genug entfernt hatte. Hierauf schlichen sie vorsichtig auf die Hütte zu. Jan versuchte die Tür zu öffnen; aber sie war verschlossen. Er schaute durch die Fenster, doch war nichts Besonderes zu sehen. Die Hütte bestand aus zwei kleinen Kammern und einer Küche. In der einen Kammer stand ein Bett mit Strohmatratze und rotweiß gewürfeltem Bettzeug, das kunterbunt durcheinanderlag. Außerdem sah man hier einen Tisch und einen Schemel. Die andere Kammer enthielt ein abgenutztes Plüschsofa, einen Tisch und zwei Stühle. An den Wänden hingen einige Bilder, die offensichtlich aus Zeitschriften ausgeschnitten waren. Die Küche enthielt einen Herd, etwas Kochgeschirr und einen Tisch, der vor einer Bank stand. Das war alles. Die Buben schlichen um die Hütte herum und machten sich schließlich daran, die Umgebung zu erforschen. Vor allem der Schuppen fesselte Jans Aufmerksamkeit. Er versuchte die Tür zu öffnen; aber es gelang ihm nicht, obwohl sie nicht von außen abgeschlossen war. So begnügte er sich damit, nach einem Spalt zwischen den Brettern zu suchen, um. wenigstens hineinzuspähen. Doch der Schuppen war äußerst solid gebaut; es gab nicht die kleinste Ritze, die einen Blick in das Innere erlaubt hätte. Jan nickte nachdenklich vor sich hin und machte sich an die Untersuchung des Holzstapels, der sich jedoch als ganz uninteressant erwies. Erling begann schon davon zu sprechen, daß es besser sei, sich auf den Heimweg zu begeben, bevor man Gefahr lief, von Niels Boelsen ertappt zu werden, als Jan sich plötzlich bückte und etwas vom Boden aufhob. Er hielt ein schmutziges Taschentuch in der Hand, das um einen Stein gewickelt war, so daß das Ganze eine Art Totschläger bildete. Welchem andern Zweck ein mit einem -50-
Taschentuch umwickelter Stein sonst dienen könnte, wußte Jan nicht zu sagen. Voll Interesse betrachtete er seinen Fund. Er hatte dicht an der Hüttenwand gelegen, nicht weit von der Tür entfernt. »Was ist das?« fragte Erling. »Ich weiß es nicht recht«, antwortete Jan. Er wickelte den Stein aus und schaute ihn genau an. Es war ein ziemlich großer Stein, der ungefähr die Form eines Eies hatte. Auf der einen Seite war er fuchsrot, als ob man ihn bemalt hätte. Jan untersuchte ihn äußerst gewissenhaft, dann umhüllte er ihn wieder mit dem Taschentuch und steckte ihn in die Tasche. »Was willst du mit dem Zeug?« fragte Erling verwundert. »Wart nur ab, ich werd’s dir schon erklären. Jetzt wollen wir erst einmal sehen, ob wir nicht noch mehr finden.« Jan setzte seine Nachforschungen fort, bis er plötzlich innehielt und flüsterte: »Hast du das gehört?« – »Was denn?« Jan blickte angespannt zu dem Wäldchen hinüber. Boy hatte die Rückenhaare gesträubt und zerrte an der Leine. Im nächsten Augenblick verhielt er sich jedoch wieder ganz ruhig. Jan ließ kein Auge von den Bäumen. Auf einmal glitt ein verstehendes Lächeln über sein Gesicht, und er beschäftigte sich wieder mit seinen Untersuchungen. »Was war denn los?« erkundigte sich Erling. »Nichts. Ich erkläre es dir später.« »Hoffentlich werde ich später wirklich etwas zu wissen bekommen«, seufzte Erling. »Mir ist der Gedanke greulich, daß wir hier immer noch herumschnüffeln, obwohl Niels Boelsen jeden Augenblick zurückkehren kann. Wenn er uns erwischt, wird es wohl kaum ein ›Später‹ geben. Bist du denn immer noch nicht fertig?« »Doch, gleich«, erwiderte Jan. Hinter der Hütte entdeckten sie einen Holzklotz und einen Sägebock. Jan betrachtete alles mit großer Gründlichkeit. Er -51-
bückte sich und hob einen Holzschuh auf. »Schau dir das einmal an«, sagte er. »Das ist genau das, was wir brauchen.« »Ein alter Holzschuh? Was willst du damit?« »Ihn mir ausleihen.« »Bist du verrückt? Das ist Diebstahl!« Jan beruhigte seinen Freund: »Ich bringe ihn wieder zurück. Ich brauche ihn höchstens ein paar Stunden. So, nun können wir unseres Weges ziehen.« »Da ist ja noch einer«, bemerkte Erling und wies auf den zweiten Holzschuh, der ebenfalls am Boden lag. »Willst du den nicht ebenfalls ›ausleihen‹?« »Nein«, entgegnete Jan. »Einer genügt. Komm jetzt.« Im Laufschritt begaben sich die Knaben mit dem Hund ins Wäldchen. Sie liefen weiter, solange sie sich im Dickicht befanden. Die Zweige peitschten ihnen ins Gesicht, und sie mußten sich bücken, um nicht allzusehr mißhandelt zu werden. Als sie eine kleine Lichtung erreicht hatten, warfen sie sich ins Gras. Jan nahm den Holzschuh und den mit dem Taschentuch umwickelten Stein zur Hand. »So«, sagte Erling, »darf ich nun vielleicht hören, was du im Sinn hast? Man könnte wahrhaftig meinen, du seiest die Kriminalpolizei in Person.« Er verbeugte sich mit gespielter Ehrerbietung: »Sherlock Holmes, schieß los!« »Hör zu«, sagte Jan ernst. »Dieser Stein mit dem Taschentuch kann, soweit ich sehe, nichts anderes sein als eine Waffe.« »Wieso?« fragte Erling verdutzt. »Was sollte er sonst vorstellen?« »Nun ja, selbstverständlich ist etwas Richtiges an deiner Vermutung«, räumte Erling ein. »Aber was ist denn dabei? Es ist doch nicht verboten, sich eine Waffe herzustellen, wenn’s einem Spaß macht.« -52-
Jan wickelte den Stein aus dem Taschentuch und hielt ihn Erling unter die Nase. Erling betrachtete den Stein verständnislos. »Ich kann wirklich nichts Besonderes daran sehen«, sagte er. »Je nun, auf der einen Seite ist er rot, aber das…« »Das ist nämlich das Interessanteste daran«, unterbrach ihn Jan. »Siehst du nicht, woher der Stein stammt?« »Nein, das kann ich beim besten Willen nicht sehen.« »Du wirst niemals ein Detektiv werden.« »Danke, ich will ja auch Arzt werden.« »Dann werde ich es dir erklären«, sagte Jan mit geheimnisvoller Miene. »Es wird mir eine große Ehre sein, deinen Erklärungen zu lauschen, Sherlock Holmes.« »Halt die Klappe! Du siehst, daß der Stein auf der einen Seite rot ist. Und wenn du mit dem Finger darüber fährst, kannst du bemerken, daß die rote Färbung von Rost herrührt. Die Frage ist also: Wie kommt es, daß der Stein rot von Rost ist? Oder vielmehr: Wo findet man derartige Steine?« »Tja«, erwiderte Erling und gab sich den Anschein, als dächte er nach. »Soviel ich weiß, hast du den Stein bei Niels Boelsens Hütte auf dem Boden gefunden. Aber das meinst du wohl nicht.« »Hör doch endlich mit dem Quatsch auf!« sagte Jan ärgerlich. »Kannst du denn nie ernst sein? Ich will deinem denkfaulen Kopf nachhelfen: Solche Steine findet man auf Eisenbahnstrecken.« »Auf Eisenbahnstrecken. Du, da kannst du wirklich recht haben! Jan, du bist ein Genie!« »Laß das. Man findet sie auf dem Bahnkörper, nicht wahr? Die Räder nutzen sich ab, die Schienen auch, und der Eisenstaub legt sich auf die Steine zwischen den Schwellen. Durch den -53-
Regen rostet der Eisenstaub, meist auf der Oberseite der Steine. Daher bekommen die Steine ein solches Aussehen wie dieser hier.« Erling war hell begeistert. »Das ist glänzend! Weiter!« »Mit andern Worten: Dieser Stein hier ist von der Bahnstrecke drüben fortgenommen worden. Weshalb? Er ist in ein Taschentuch gewickelt worden. Weshalb? Er sollte als Waffe gebraucht werden, falls es notwendig gewesen wäre, sich zu wehren. Sollte man nicht meinen, daß der Mann, der vom Zug sprang, während sein Freund mit der roten Laterne winkte, ganz gern eine bequeme Waffe bei sich gehabt hätte?« »Das leuchtet mir ein«, meinte Erling. »Aber wenn es sich so verhält, daß der Mann, der vom Zug sprang, sich diese Waffe hergestellt hat, dann muß zwischen ihm und Niels Boelsen eine Verbindung bestehen. Und das war die Ahnung, die ich hatte.« »Ach, deine berühmte Ahnung«, sagte Erling mit gespielter Verachtung. »Herrschaft noch mal, du bist und bleibst ein Genie! Ich, Erling Krag, sage das hiermit laut und deutlich.« »Natürlich können alle diese Mutmaßungen geradesogut verkehrt sein«, meinte Jan nachdenklich. »Nun, und der Holzschuh?« fragte Erling ungeduldig. »Der Holzschuh könnte das Ganze beweisen.« »Wieso?« Erling zappelte vor Spannung. »Damit wollen wir noch warten«, erwiderte Jan. »Wie spät ist es jetzt?« Erling sah auf seine Armbanduhr. »Bald vier. Wie wär’s mit einem Nachmittagstee?« Jan erhob sich. »Das ist gar kein schlechter Gedanke. Laß uns heimgehen. Ich habe einen bestimmten Grund, daß ich zuerst nach Hause möchte, bevor wir sehen wo llen, was uns der Holzschuh erzählen kann. Komm!« -54-
Die Freunde begaben sich nach Hause. Jan versteckte den Holzschuh im Garten. Er legte ihn unter einen Strauch, wo er ihn gut verborgen wähnte. Dann machten sie sich auf die Suche nach Mads, um sie zu fragen, ob sie den Tisch decken sollten. Aber sie brauchten sich gar nicht zu bemühen. Mads war gerade im Begriff, die Teekanne ins Eßzimmer zu bringen, und Erling betrachtete mit liebevollen Blicken die Schüssel mit Käsebroten, die auf dem Tisch stand. Mads hatte offenbar Verständnis dafür, daß ein Nachmittagstee eine richtige Mahlzeit sein mußte, wenn man die Ferien auf dem Lande verlebte. »Wo ist Lis?« fragte Mads. »Und wo habt ihr eigentlich die ganze Zeit gesteckt?« »Oben im Walde«, erwiderte Jan, womit er ja die Wahrheit sprach. »Lis wird auch gleich kommen.« »Woher weißt du denn das?« erkundigte sich Erling verdutzt. Jan lächelte. »Ein Bruder soll immer wissen, was seine Schwester treibt.« Sie setzten sich an den Tisch. Mads und die Buben waren allein; denn Onkel Helmer war in die Stadt gefahren, wo heute Markt abgehalten wurde. Kurz darauf fand sich auch Lis ein, sorgfältig frisiert und gewaschen, und ließ sich an ihrem Platz nieder. Sie sprach keinen Ton, während sie sich den Tee einschenkte. Jan beobachtete sie lächelnd, bis er nicht mehr an sich zu halten vermochte, und bemerkte: »Es gibt eine Regel, die besagt, daß man niemals helle Kleider tragen soll, wenn man jemand ›beschatten‹ will. Sonst kann man meilenweit gesehen werden.« »Was meinst du damit?« fragte Lis, rasch aufblickend. »Nichts weiter, liebes Schwesterlein«, erwiderte Jan spöttisch. »Es gibt einem nur zu denken, wenn ein wachsamer Polizeihund einen Späher entdeckt, der sich zwischen den Bäumen zu verbergen trachtet, und wenn der Hund dann, anstatt anzugreifen, sogleich Ruhe gibt. Da ist wohl die Erklärung nicht -55-
ganz von der Hand zu weisen, daß dieser Späher mit einer reizenden jungen Dame identisch ist, die der Hund sehr gut kennt und die ihre niedliche Stubsnase in etwas steckt, das sie gar nichts angeht.« »Kümmere du dich nur um deine eigenen Angelegenheiten!« entgegnete Lis, die ganz rot geworden war. »Haltet Frieden, Kinder«, sagte Mads vermittelnd. Erling hatte gar nicht zugehört; er beschäftigte sich schon mit seinem vierten Käsebrot.
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11
Gleich nach dem Tee verschwanden die Buben mit Boy hinter der Scheune. »So, mein guter Hund«, sagte Jan, »jetzt bekommst du Arbeit.« Sie liefen zu dem Strauch, wo Jan den Holzschuh versteckt hatte. Boy äußerte sein Entzücken, indem er immer wieder an Jan hochsprang. Jan holte den Holzschuh hervor und wandte sich zum Gehen. »Wo willst du eigentlich hin?« fragte Erling. »Zur Bahnstrecke«, gab Jan Auskunft. »Komm nur…« Sie begaben sich zu der Stelle, wo sie Niels Boelsen an dem Abend, als Anders sie mit auf die Wilddiebsjagd genommen hatte, begegnet waren. Hier nahm Jan den Holzschuh zur Hand und ließ Boy daran schnüffeln. Der Hund spitzte die Ohren und blickte aufmerksam zu dem Knaben auf, der ihm den Holzschuh hinhielt und sagte: »Such, Boy, such! Jetzt wollen wir einmal sehen, was du kannst. Such, Boy, such!« Er reichte den Holzschuh Erling hinüber, der verwundert das Gebahren seines Freundes verfolgt hatte. Boy hatte augenscheinlich die Witterung in die Nase bekommen. Er begann an der Leine zu zerren, und Jan ließ sich willig von ihm führen. Der Hund trabte eifrig los, und die Buben mußten laufen, wenn sie mit ihm Schritt halten wollten. Jan hielt die Leine mit aller Kraft fest, damit der Hund sich nicht etwa losriß. Es ging an der Bahnstrecke entlang, und Boy hielt sich die ganze Zeit auf dem Pfade, bis sie an eine Stelle kamen, von der aus man das Geleise weit überschauen konnte. Hier bog der Hund plötzlich zu den Schienen ab, und verwundert folgten ihm die Knaben. Der Hund zog Jan über Schwellen und Schienen, lief an einer bestimmten Stelle ein wenig im Kreise umher, -57-
wandte sich dann wieder scharf und stürzte zum Wald hinüber. Nun ging’s im Zickzack zwischen den Bäumen dahin, die Buben mit immer größerem Staunen hinterdrein. In Jans Kopf wurde eine Vermutung allmählich zur Gewißheit. »Das ist ja geradezu ein lebensgefährliches Tempo, das ihr beide anschlagt«, stöhnte Erling, der, so gut er konnte, Schritt zu halten trachtete, während er den nicht sehr sauberen Holzschuh weit von sich hielt. »Wenn du mit diesem Räuber- undGendarm-Spiel fertig bist, können wir uns vielleicht nach Hause begeben. Mir ist die Lust vergangen, diesen Holzschuh noch länger herumzuschleppen.« »Hab noch ein bißchen Geduld«, erwiderte Jan. Aufmerksam folgte er dem eifrigen Hund. Boy hielt die ganze Zeit die Nase am Boden; nichts entging seiner Wachsamkeit. Es war deutlich zu merken, daß er einer bestimmten Witterung auf dem Erdboden folgte. Keinen Augenblick verlor er die Spur. Quer durch den Wald ging’s, und die Fichtenzweige schlugen den Buben ins Gesicht; die Sträucher peitschten ihre nackten Beine, und mehrmals stolperten sie über Wurzeln. Aber Jan merkte von allem nichts. Er folgte seinem Hund mit einem Eifer, den der rundliche Erling keineswegs teilte. Schließlich steuerte Boy auf eine dicht verwachsene Gruppe von Sträuchern zu, die auf einer kleinen Lichtung stand. Hier legte er sich bäuchlings nieder und arbeitete sich durch das Gestrüpp. Jan ließ sich ebenfalls auf alle viere nieder und kroch hinterher. Erling setzte sich ins Moos und schaute ihnen zu. ›Ich habe gar keine Lust, Waldschnecke zu spielen‹, dachte er. »Wenn ihr mit eurer Herumkriecherei fertig seid, teilt es mir bitte mit«, sagte er und legte sich auf den Rücken. »Uha, das tut gut! Ich bin froh, daß ich mir nicht den Beruf des Polizeibeamten ausgesucht habe. Ein Arzt kann im Auto fahren, wenn er sich zu einem Patienten begeben muß. Er braucht nicht wie eine Schlange auf dem Bauch zu kriechen!« -58-
Gleichwohl zeigte er großes Interesse, als Jan und Boy wieder aus dem Dickicht kamen. Beide waren sehr begeistert. Jans Haare sträubten sich nach allen Richtungen. An den Armen und Beinen und auch im Gesicht hatte er rote Striemen. Hände und Knie waren von Erde bedeckt. In der einen Hand trug er eine Signallaterne. Erling setzte sich mit einem Ruck auf, als er das sah. Noch nie hatte Jan eine so rasche Bewegung an ihm gesehen. »Heiliger Bimbam!« rief Erling mit ehrlicher Bewunderung. »Wo hast du denn das Ding aufgetrieben?« »Die Signallaterne, mit der der Zug angehalten worden ist!« jubelte Jan und schwenkte siegesstolz seinen Fund. »Sie war dort im Gestrüpp versteckt. Boy hat sie gefunden.« Er beugte sich nieder und klopfte dem Hund den Rücken. »Guter, braver Hund! Du bist und bleibst ein Prachtkerl!« Boy sah mit wachsamen Augen zu ihm auf und wedelte. Beide strahlten um die Wette vor Begeisterung und Zärtlichkeit. Dem Hund hing die Zunge aus dem Maul, und er schnaubte beglückt nach der überstandenen Arbeit. Jan warf sich neben Erling ins Moos und unterzog die Laterne einer genauen Betrachtung. »Das habe ich mir gleich gedacht«, sagte er zufrieden. »Demnach hat Niels Boelsen den Zug angehalten, nicht wahr?« bemerkte Erling. »Ja, daran ist nun nicht mehr zu zweifeln.« »Der Holzschuh hat uns also doch eine Geschichte erzählt«, meinte Erling. »Ich sag’s ja, du bist ein Genie, Sherlock Holmes.« Er dehnte sich behaglich. Jans Augen leuchteten. Er freute sich darauf, seinem Vater von seinem Fund und von Boys musterhafter Spürarbeit zu berichten. Er fand, daß er stolz sein durfte; denn von Anfang an waren seine Schlußfolgerungen richtig gewesen. -59-
»Woher mag er wohl die Laterne gehabt haben?« grübelte er. »Nun, das ist jetzt nicht so wichtig. Hauptsache ist, wir können beweisen, daß er den Zug angehalten hat. Nun müssen wir nur noch sehen, ob me ine übrigen Vermutungen stichhaltig sind.« »Du meinst, ob Niels Boelsen jemand helfen wollte, den Zug auf offener Strecke zu verlassen?« »Ja.« »Oh, das klingt höchst kriminell. Denk doch nur, wenn er wirklich einem Freund vom Zug heruntergeholfen hat! Wo steckt dann dieser Freund jetzt?« »Das weiß ich nicht… aber…« Jan hielt jählings inne und starrte seinen Kameraden mit offenem Mund an. »Stell dir vor… stell dir vor, wenn er in dem Schuppen wäre…« »In was für einem Schuppen?« »In dem Schuppen neben Niels Boelsens Hütte. Erinnere dich doch! Die Tür ließ sich nicht öffnen; aber sie war nicht von außen abgeschlossen. Sie muß also von innen versperrt worden sein… Heiliger Bimbam!« Erling machte ein ganz erschrockenes Gesicht, als er diese Erklärung vernahm. »Danke vielmals«, stöhnte er. »Stell dir einmal vor, wenn es uns gelungen wäre, die Tür zu öffnen! Halt mich fest! Ich werde ohnmächtig bei diesem Gedanken.« Er ließ sich in das weiche Moos zurücksinken, aber obwohl er offensichtlich nur Spaß machte, war ihm keineswegs wohl zumute; die ganze Lage gab ihm sehr zu denken. Er legte die Hand auf den Magen und fuhr fort: »Es gibt nur ein einziges Mittel gegen die Angst. Und das ist ein kräftiges Abendessen. Laß uns heimgehen.« Doch Jan blieb sitzen und starrte vor sich hin. Seine Gedanken kreisten unablässig um den Schuppen und die versperrte Tür. Ob wohl in dem Schuppen ein Mann gewesen war? »Sei dem, wie ihm wolle«, sagte er nach einer Weile bestimmt, »wir müssen den Holzschuh zurückbringen.« -60-
»Du bist wohl verrückt!« fuhr Erling auf. »Wir können uns doch nicht ein zweites Mal zu der Hütte schleichen.« »Es muß sein. Der Holzschuh muß an seinen Platz zurück. Niels Boelsen darf keinen Verdacht schöpfen. Wenn du nicht mitwillst, gehe ich eben allein.« Jan erhob sich, nahm die Laterne auf, die er neben sich ins Moos gestellt hatte, betrachtete sie und sagte: »Die Laterne sollte man eigentlich der Polizei übergeben. Aber ich glaube, damit warte ich besser noch.« »Was willst du denn damit machen?« fragte Erling neugierig. »Ich verstecke sie erst einmal ein paar Tage. Ich hoffe, daß wir noch mehr herausfinden werden. Aber laß uns nun den Holzschuh zurückbringen.« Erling seufzte. »Ist das wirklich notwendig?« »Ja! Das muß unbedingt geschehen.« Jan ergriff Boys Leine und machte sich auf den Weg zum Wäldchen am Moor. Erling empfand es denn doch als Schande, Furcht zu zeigen, und so folgte er seinem Freund. Als sie an dem Deich anlangten, wo sie sich das erstemal versteckt hatten, warfen sie sich ins Gras und betrachteten eine Ze itlang die Hütte, um sicher zu sein, daß sich nichts regte. Schließlich faßte Jan Mut, setzte die Laterne nieder und schlich näher; Erling und Boy blieben zurück. Jan lag bäuchlings auf dem Boden und schob sich langsam durch das hohe Gras vorwärts, wobei er fortwährend darauf bedacht war, hinter kleinen Erderhebungen und freistehenden Sträuchern Deckung zu nehmen, damit er von der Hütte aus nicht gesehen werden konnte. Von seinem Versteck hinter dem Deich aus verfolgte Erling das Manöver seines Freundes. Mit angehaltenem Atem sah er, wie Jan sich der Rückseite der Hütte, wo der Hackblock stand, näherte. Das war die Stelle, wo der Holzschuh hingelegt werden mußte. -61-
Keiner der Buben wußte, ob Niels Boelsen oder sein unbekannter Gast – ja, vielleicht alle beide – in der Hütte war und den Knaben auf die Hütte zuschleichen sah. Sie wußten ebensowenig, ob einer der Männer plötzlich heraustreten und Jan entdecken würde. Was würde dann geschehen? Auf einmal bemerkte Erling, daß ihm der Schweiß von der Stirn auf die Nase rann. Er wischte sich die Schweißtropfen ab, ohne den Blick von Jan zu wenden, der sich der kleinen, niedrigen Hütte immer mehr näherte. Jan hingegen empfand nicht die geringste Furcht. Wie’s immer zu gehen pflegt, wenn etwas auf dem Spiel steht, schenkte er der Angst keinen Gedanken, solange es zu handeln galt. Seine Augen suchten aufmerksam nach jedweder Möglichkeit einer Deckung. Er sah, daß er sich der Hütte gut bis auf ungefähr fünfzehn Meter nähern konnte, ohne daß es ihm an Verstecken fehlte. Aber dann wurde die Sache brenzlig. Das letzte Stück bis zum Hackblock -62-
bestand nur aus niedergetretenem Gras. War er erst einmal so weit, so konnte er sich hinter einem kleinen Strauch verbergen, rasch zum Hackblock laufen und wieder zum Strauch zurückrennen. Aber mit diesem Manöver war große Gefahr verbunden. Er kroch auf dem Bauch zu dem Strauch hinüber, hinter dem er eine Weile mucksmäuschenstill geduckt saß. Angespannt blickte er auf die Hütte. Dort regte sich nichts. Gerade in dem Augenblick, als er sich entschloß, den Versuch zu wagen, hörte er jemand durch den Wald kommen. Er legte sich platt zu Boden und starrte zu dem Pfad hinüber. Da erblickte er Niels Boelsen, der zurückkehrte. Jan lag regungslos. Mit den Augen verfolgte er den Mann, der sich der Hü tte näherte. Jans Herz klopfte wie rasend gegen die Rippen; sein Hirn arbeitete heftig. Es würde nun eine kurze Zeitspanne geben, in der Niels Boelsen verschwand, da er dann um die Ecke der Hütte bog, um seine Behausung von der Vorderseite zu betreten. Knapp eine Minute würde es wohl dauern, bis er in der Kammer war. Konnte man während dieser kurzen Frist zum Hackblock laufen, den Holzschuh niederlegen und wieder zurückeilen? Jan beschloß, es zu wagen. Aber da geschah etwas Unerwartetes… Niels Boelsen ging nicht in seine Hütte. Er bog plötzlich ab und schritt auf die Stelle zu, wo Jan lag. Jan war sich nicht klar darüber, was der Mann beabsichtigte. Er preßte sich noch fester an den Erdboden, schob sich tiefer in den Strauch hinein und hielt den Atem an. Nie ls Boelsen kam so nahe heran, daß Jan beinahe seine Schuhe berühren konnte. Der Mann blieb ein paar Sekunden stehen und schaute um sich. Dann schritt er zu dem Hackblock hinüber, nahm den einen Holzschuh auf und suchte voll Verwunderung nach dem andern. Es verging eine ganze Weile, bis er die vergebliche Suche aufgab. Kopfschüttelnd begab er sich auf die andere Seite der Hütte. Jan aber war jetzt vorsichtig. Er lief nicht, wie er sich vorgenommen hatte, zu dem Hackblock, sondern warf den -63-
Holzschuh mit kräftigem Schwung hinüber. Jan hatte gut gezielt, und das Glück war ihm hold. Während der Luftreise fiel das Stroh nicht aus dem Schuh, und mit einem kleinen Bums landete der Holzschuh gerade vor dem Hackblock. Jan atmete erleichtert auf und trat den Rückzug zum Wald an. Aber jetzt war die Kriecherei noch schwieriger; denn er konnte nicht mehr die Hütte im Auge behalten und gleichzeitig Deckung suchen. Es ging nur sehr langsam vorwärts, da er immer wieder den Kopf wenden und zurückschauen mußte. Doch das Unterne hmen glückte. Ohne Zwischenfall langte er beim Deich an, setzte im Sprung hinüber und lag endlich keuchend neben seinem Freunde, der vor Schrecken einer Ohnmacht nahe war. »Heiliger Bimbam, das war eine Überraschung!« stöhnte Erling. »Ich glaubte schon, ich würde dich nie mehr wiedersehen.« »Puha, ja, das war eine schlimme Sache«, lächelte Jan. Nachdem das Ganze überstanden war, verspürte er doch einige Angst! Aber er ließ sich nicht das geringste anmerken. »Komm, wir wollen heim«, flüsterte Erling. »Zu Hause ist es doch viel gemütlicher. Hier ist es mir nicht mehr wohl.« In raschem Lauf durchquerten sie das Wäldchen. Als sie auf die Felder gelangten, spürte Jan einen Wassertropfen auf der Stirn und gleich darauf noch einen. Obwohl sie eilig heimwärts rannten, entgingen sie dem heftigen Regenschauer nicht, der sintflutartig herabströmte. Sie waren klitschnaß, als sie endlich die gemütliche Wohnstube des Gutshofs betraten, und Mads betrachtete die beiden unbändigen Sommergäste mit kummervollen Blicken. »Aber Kinder, ihr werdet euch noch erkälten«, rief sie und schlug entsetzt die Hände zusammen. »Beeilt euch! Zieht rasch trockene Sachen an und bringt das nasse Zeug in die Küche, damit die Mägde es sofort trocknen. Aber ihr müßt euch sputen, denn das Essen kommt gleich auf den Tisch. Und ihr wißt ja, -64-
daß Onkel Christian sehr ärgerlich wird, wenn man beim Abendbrot nicht pünktlich erscheint.« Die Buben sputeten sich. Jan flüsterte Erling zu: »Kein Wort von der ganzen Sache. Denk dran!« »Selbstverständlich.« Plötzlich faßte sich Erling an den Kopf. »Jan! Die Laterne! Wo ist die Laterne? Du hattest sie doch unterwegs noch in der Hand…« Jan lachte. »Ich hab’ sie auf der Diele im Garderobeständer versteckt. Hast du das nicht einmal bemerkt?« »Nein, davon hab’ ich gar nichts gemerkt. Du scheinst dich zum Fachmann für unbemerkte Handlungen zu entwickeln.« »Das muß ein Detektiv auch sein«, erwiderte Jan selbstbewußt, während er seine nassen Sachen auszog. Kurz darauf erschienen die beiden Buben in trockenen Kleidern und mit glattgekämmtem Haar am Abendbrottisch, wo der Gutsbesitzer sie brummend erwartete. »Ihr kommt wieder einmal zu spät. Wo habt ihr denn gesteckt? Da kehre ich aus der Stadt heim und finde keinen einzigen Menschen vor. Ja, richtig, Lis war in der Küche, wo sie sich sehr niedlich ausnahm. Aber ihr zwei Stromer wart nirgends zu sehen.« »Wir waren im Walde«, erklärte Jan. »Nun ja, ihr sollt ja euer Vergnügen haben«, sagte Onkel Christian. »Aber haltet wenigstens die Essenszeit ein.« Er blickte zum Fenster hinaus. Draußen strömte der Regen hernieder. »Der reinste Wolkenbruch«, fuhr er fort. »Vielleicht wird daraus ein Dauerregen. Für das Land ist’s höchste Zeit, daß es etwas Feuchtigkeit abbekommt. So, nun futtert tüchtig, Kinder. Ich möchte euch wahrhaftig nicht in einem solchen Zustand heimschicken, daß eure Eltern sich über die hier erlittene Behandlung beklagen. Gib acht, Erling, du hast alle Anlage zur Magersucht!« -65-
12
Es regnete lange. Erst am nächsten Abend hellte das Wetter wieder auf. Die Buben saßen mit Onkel Helmer, Lis und Mads in dem gemütlichen Arbeitszimmer des Gutsbesitzers. In dem offenen Kamin brannten einige große Holzscheite, und alle rückten ihre Stühle ans Feuer, um den Geschichten vom Gutsleben zu lauschen, die Onkel Helmer erzählte. Boy hatte sich zu Jans Füßen niedergelassen und genoß sichtlich die Wärme des Feuers. Schließlich schlief er ein; doch beim geringsten außergewöhnlichen Laut hob er den Kopf und spitzte die Ohren. »So, nun wird es wohl aufhören zu regnen«, sagte Onkel Helmer, der zum Fenster hinausgeschaut hatte. »Es ist ja nicht wenig Wasser vom Himmel heruntergekommen; aber so sind wir sicher, daß uns kein Gewitter heimsucht. Das Unwetter zog sich so plötzlich zusammen, daß ich glaubte, wir würden einige Blitze und Donnerschläge erleben. Doch diesmal sind wir davon verschont geblieben.« Kurz darauf gingen sie alle hinaus und genossen die Schönheit des stillen Sommerabends. Die Luft war nach dem Regen so rein und frisch, und es herrschte eine so tiefe Stille, daß man aus der Ferne von den andern Höfen Geräusche herüberschallen hörte. Über die Felder klangen Stimmen. Christian Helmer atmete die köstliche Luft tief ein und sagte: »Ja, Kinder, wahrscheinlich ist das Leben in Kopenhagen viel spannender und unterhaltender als hier auf dem Lande. Aber solch einen Abend wie den heutigen erlebt man in keiner Stadt. Hier bekommt man doch wirklich frische Luft in die Lungen, was? Das Land ist und bleibt doch das beste. Man hat es hier weniger eilig, und doch ist das Leben viel ausgefüllter. Man -66-
kann seinen Interessen und Liebhabereien in aller Ruhe nachgehen, den Abend nach der Tagesarbeit genießen und sich fortwährend über Gottes herrliche Natur freuen.« »Ja, schön ist es hier«, meinte Erling, »aber ich finde, daß Sie unrecht haben, Herr Helmer, wenn Sie sagen, das Leben in der Stadt sei spannender. Ich finde, daß das Landleben so viel Spannung bietet, wie man sich nur wünschen kann, ja sogar noch mehr!« Mit einemmal bekam Jan einen tüchtigen Hustenanfall, und Erling mußte seine Rede unterbrechen, um ihn auf den Rücken zu klopfen. Jan raunte seinem Freund zu: »Du kannst dich auf etwas gefaßt machen, wenn du dich verrätst!« Erling beantwortete diese Warnung damit, daß er Jan einen besonders kräftigen Stoß in die Rippen versetzte. »Nun, spannend scheint mir das Leben hier nicht gerade zu sein«, sagte der Gutsbesitzer arglos. Aber wie um Erlings Worte zu bekräftigen, kam in diesem Augenblick Anders, vergnügt seine falschen Töne summend, um die Ecke und steuerte auf die Haupttreppe zu, wo Christian Helmer mit den Kindern stand. »Guten Abend, Anders«, sagte der Gutsbesitzer. »Gibt’s etwas Neues?« Anders nahm seinen Hut ab. »Ich wollte nur fragen, ob ich heute abend nicht wieder einmal nach den Wilddieben Ausschau halten soll. Nach dem Regen glauben sie sich vielleicht in Sicherheit und wagen sich hinaus.« »Ja, das ist gar kein schlechter Gedanke«, erwiderte der Gutsbesitzer. »Ich wäre froh, wenn wir die Kerle bald fassen würden. Es ist verkehrt, daß unsere Gesetze so milde mit den Wilddieben verfahren. Schau also nur zum Rechten, Anders. Hoffentlich hast du Glück und kannst den Burschen das Handwerk legen.« »Ich werde auf jeden Fall mein Bestes tun«, sagte Anders bescheiden. -67-
»Das weiß ich«, gab der Gutsbesitzer freundlich zurück. »Ich setze eine Belohnung aus. Du bekommst fünfzig Kronen für jeden Wilddieb, den du überführst und zur Anzeige bringst. Natürlich nimmst du jedem, den du erwischt, das Gewehr weg. Das ist die beste Art, ihn an der Ausübung seines schändlichen Gewerbes zu hindern.« Anders kicherte und fragte den Gutsbesitzer, ob er sich wohl noch erinnere, wie er einmal Schmied Rasmus drunten im Westwald gefangen habe. »Gewiß«, erwiderte Christian Helmer mit einem launigen Lächeln. »Die Geschichte werde ich nie vergessen. Rasmus übrigens auch nicht. Und du zuallerletzt, Anders.« »Was geschah denn damals?« erkundigte sich Jan. »Ach, das war ein Mann, der Schmied Rasmus genannt wurde, weil er früher einmal bei einem Schmied in die Lehre gegangen war und weil er über unheimliche Kräfte verfügte. Er verlegte sich auf die Wilddieberei, und eines Tages versuchten wir ihn zu überrumpeln. Da er als der schlimmste Raufbold der Gegend bekannt war, gab es niemand, der sich getraut hätte, mit ihm anzubinden. Das hatte ihm eine Selbstsicherheit verliehen, die weder für ihn noch für seine Umgebung gesund war. Als Anders ihn dann dingfest gemacht hatte, wurde er in mein Arbeitszimmer geführt, wo ich mit seinem Gewehr in der Hand saß. Das Gewehr hatte Anders ihm abgenommen. – ›Na, Rasmus‹, sagte ich zu ihm, ›eigentlich sollte sich die Polizei mit dieser Angelegenheit beschäftigen, was?‹ – Aber das wollte er natürlich nicht gerade gern. – ›Und was machen wir mit deinem Schießprügel hier?‹ fragte ich und deutete auf das Gewehr. – Ja, das wollte er gern wiederhaben; denn er hatte es entlehnt. – ›Dann will ich dir etwas sagen‹; erklärte ich. ›Du kannst für den Opferstock in der Kirche fünfzig Kronen geben oder dich mit Anders darum schlagen; wenn du das Geld bezahlt hast oder im Kampf mit Anders gewinnst, sollst du das Gewehr zurückbekommen.‹« -68-
»Was wählte er?« fragte Erling. Onkel Helmer lachte, und Anders kicherte vor Vergnügen. »Er besann sich ziemlich lange; denn fünfzig Kronen sind ja eine Menge Geld, zumal wenn man sie hergeben muß, ohne etwas davon zu haben. Aber schließlich zahlte er. Offenbar hatte er doch keine Lust, sich mit Anders auseinanderzusetzen.« Der Gutsbesitzer sann vor sich hin und fuhr fort: »Die Geschichte hat jedoch noch eine Moral. Und zwar folgende: In den meisten Fällen sind die Wilddiebe sehr feige. Vor nichts haben sie mehr Respekt als vor einer tüchtigen Tracht Prügel. Seither haben wir Schmied Rasmus nie mehr beim Wildern ertappt.« Anders schmunzelte, während er sagte: »Nicht immer haben die Wilddiebe solches Glück. Entsinnen Sie sich, Herr Helmer, wie einmal einer der Kerle sich unten auf der Wiese hinter dem Deich postiert hatte, wahrscheinlich, um einem Hasen aufzulauern? Ein Stück weiter entfernt zieht sich ein zweiter Deich hin, und plötzlich sah der Wilddieb, wie sich dahinter etwas bewegte. Nun, er böllerte sogleich los; denn diese Bande nimmt es ja nie genau und schaut gar nicht erst, was für Wild auftaucht.« »Ja, daran erinnere ich mich noch gut«, lächelte Christian Helmer. »Was war’s denn?« fragte Jan gespannt. Anders grinste über sein ganzes gutmütiges Gesicht. »Es war ein anderer Wilddieb, der hinter dem Deich lag. Sein Kollege hatte seinen Hut getroffen. Das war noch ein Glück; die Sache hätte ebensogut schlimmer ausgehen können.« »So«, sagte Christian Helmer abschließend, »nun mußt du dich aber auf den Weg machen, Anders, wenn du heute abend noch auf Wilddiebsjagd gehen willst.« »Ja, es wird wirklich Zeit«, meinte Anders. »Ich hätte nur gern die beiden Jungen und Boy mitgenommen.« Der Gutsbesitzer überlegte. Dann sagte er: »Das gefällt mir -69-
nicht so recht. Die Sache ist nicht ganz ungefährlich; schon letztesmal hatte ich große Bedenken.« Aber die Buben bestürmten ihn so heftig und baten so flehentlich um die Erlaubnis zum Mitgehen, daß er sich schließlich doch erweichen ließ. Wenige Minuten später brachen sie auf. Lis wollte auch mit; aber damit war der Onkel nicht einverstanden. Sie mußte zurückbleiben, worüber sie sich nicht wenig ärgerte. »Sei nicht betrübt, Lis«, tröstete der Onkel sie. »So etwas ist wirklich nichts für Mädchen. Ich habe die Verantwortung für euch Kinder, solange ihr hier auf dem Hof seid. Und ich lasse es lieber nicht auf ein Wagnis ankommen. So, nun wollen wir hineingehen.« – Währenddessen schritten die drei Kameraden, begleitet von Boy, den Jan an der Leine führte, über die Felder dem Wald zu. Die Erde war ganz durchweicht vom Regen, und sie durften nicht vom Pfad abweichen, da sie sonst kaum vorwärtsgekommen wären. »Hoffentlich haben wir heute abend mehr Glück als das letztemal«, murmelte Jan, als sie den Wald erreichten. Und wie zur Antwort auf diesen Wunsch fiel im selben Augenblick ein Schuß. Sie blieben stehen und lauschten. Aber es war nichts mehr zu hören. »Der Schuß ist dort drüben gefallen«, sagte Anders und wies in die Richtung des Moores. »Los, wir müssen uns sputen!« Boy zerrte an der Leine. Rasch strebten sie weiter. Es war schwer, den Ort festzustellen, wo der Schuß gefallen war, und so überließen sie sich willig der Führung des Hundes. Als sie sich dem Moor näherten, sagte Anders: »Nun wollen wir uns ein wenig verteilen und zuerst diesen Teil des Waldes vornehmen. Wir sind zwar nur zu dritt; doch wenn wir planmäßig vorgehen, können wir vielleicht etwas finden. Der Schuß klang ziemlich merkwürdig. Er schien nicht aus einer -70-
gewöhnlichen Jagdflinte zu stammen. Mag sein, daß wir dahinterkommen werden, was es damit auf sich hat.« Sie schritten durch den Wald, hielten die Augen offen und ließen sich nichts entgehen. Erling war nicht gerade begeistert, daß er nun allein gehen mußte; aber er sagte nichts. Anders bildete den einen Flügel des Trupps, Jan mit Boy den andern; in der Mitte ging Erling. Er hörte die Zweige unter den Füßen seiner Gefährten knacken, und ein paarmal, als eine aufgescheuchte Waldtaube von einem Ast aufflatterte, erschrak er heftig. Plötzlich rief Anders gedämpft: »Hallo… kommt beide her! Beeilt euch!« Als die beiden Buben zu der Stelle kamen, wo Anders stand, erblickten sie zu seinen Füßen einen toten Fuchs. »Er ist noch warm«, sagte Anders. »Tretet nicht zu nahe heran. Füchse riechen abscheulich. Zweifellos hat der Schuß, den wir gehört haben, dem Fuchs gegolten. Wartet, ich werde ihn mir einmal näher ansehen.« Er kniete bei dem Fuchs nieder und untersuchte ihn genau. Nach einer Weile erhob er sich kopfschüttelnd und sagte in erstauntem Ton: »Komische Sache. Das Tier ist nicht mit Schrot geschossen worden, sondern mit einer Kugel. Ich hab’s doch gleich gemerkt, daß der Schuß nicht von einer Jagdflinte herrührte.« »Was ist denn das für ein Unterschied?« fragte Erling wißbegierig. »Die Wilddiebe pflegen keine Kugeln zu gebrauchen, es sei denn, daß sie Jagd auf Rehe machen, und die schießen sie meistens beim Äsen auf der Wiese. Füchse hingegen schießt man immer nur mit Schrot.« »Es kann ja ein Zufall gewesen sein«, meinte Erling. »Allerdings«, räumte Anders ein. »Dann ist es aber ein sonderbarer Zufall, scheint mir.« Die Stelle, an der sie sich befanden, war nicht weit von dem Deich entfernt, hinter dem Niels Boelsens Hütte stand. Anders -71-
zog aus seiner Tasche ein Stück Schnur hervor und band dem toten Fuchs die Hinterläufe zusammen. Dann hängte er das Tier an einen dicken Stecken, den er ein paar Schritte entfernt gefunden hatte, schulterte den Stecken und sagte: »Heute abend werden wir wohl nichts mehr finden. Wir können allerdings noch ein wenig herumsuchen…« »Nein«, unterbrach ihn Jan hastig, »ich bin dagegen. Laß uns heimgehen. Morgen wollen wir weitersehen.« So machten sie sich auf den Heimweg. Jan verhielt sich schweigend. Es war ihm ein Gedanke gekommen. Er war froh, daß Anders so leichten Herzens umgekehrt war; denn es hätte ganz und gar nicht in seinen Plan gepaßt, wenn sie in der Abenddämmerung noch herumgelaufen wären und vielleicht alle Spuren zertreten hätten. Im geheimen hatte er den Beschluß gefaßt, am folgenden Tag die Sache näher zu untersuchen. Er wollte sehr früh aufstehen, sich allein hinausschleichen und den Wald von der Stelle an, wo der tote Fuchs gelegen hatte, genau durchforschen. Als sie so dahinmarschierten, sagte er auf einmal aus seinen Gedanken heraus: »Das war ein guter Schuß, mit dem der Fuchs umgelegt wurde, nicht wahr, Anders?« »Ja, wahrhaftig. Gut gezielt«, erwiderte Anders grimmig. »Der Mann, der den Schuß abgefeuert hat, muß also ein ausgezeichneter Schütze sein«, sagte Jan wie zu sich selbst. – Daheim angekommen, verabschiedeten sich die Buben von Anders. In der Wohnstube war es dunkel; aber in Onkel Helmers Schlafzimmer brannte Licht. Der Gutsbesitzer liebte es, zeitig zu Bett zu gehen und dann noch zu lesen. Lis war wohl schon schlafen gegangen; denn sie war nirgends zu sehen. Leise stiegen die Buben die Treppe hinauf, gefolgt von Boy. Von draußen war gedämpft Anders’ Stimme zu hören, der sich singend in seine Kammer begab. Auf den Zehenspitzen schlichen die Knaben durch den Korridor. Als sie an Lis’ -72-
Zimmer vorbeikamen, bemerkte Jan, daß die Tür angelehnt war. Aber er schenkte dem weiter keine Beachtung. Kurz darauf lagen die Buben im Bett, und Boy rollte sich auf seiner Decke zusammen, wobei er einen zufriedenen Seufzer hören ließ.
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13
Nachdem die beiden Knaben und Boy sich mit Anders entfernt hatten, sagte Gutsbesitzer Helmer zu Lis: »So, mein Kind, nun wollen wir’s uns drinnen ein wenig gemütlich machen. Wie war’s, wenn wir mit Mads eine Partie Rommé spielen würden?« Lis sah ein wenig niedergedrückt aus. Sie wäre für ihr Leben gern mit den andern in den Wald gegangen. Onkel Christians Einspruch hatte auf sie wie ein Guß kalten Wassers gewirkt. So konnte sie sich’s nicht versagen, schmollend zu bemerken: »Es ist wirklich nicht nett von dir, Onkel, daß du mich wie ein zweijähriges Kind behandelst.« Der Gutsbesitzer lächelte. »Ich hätte mir’s niemals einfallen lassen, ein zweijähriges Kind zu einer Partie Rommé aufzufordern«, erwiderte er. »Komm nun und vergiß, daß du gern mitgegangen wärst. Sei ein liebes Mädchen. Ich kann es einfach nicht verantworten, dich bei einem Unternehmen mitmachen zu lassen, das unter Umständen gefährlich ist.« »Aber wenn doch die Jungen dürfen…« »Vielleicht ist es auch etwas leichtsinnig von mir, daß ich ihnen die Erlaubnis gegeben habe. Auf jeden Fall können sie sich besser helfen.« Der Onkel legte den Arm um Lis’ Schultern und führte sie ins Haus. »Es ist mir ganz unverständlich, wie ein junges Mädchen solch ein Wagehals sein kann«, sagte er. »Von deiner Mutter hast du das bestimmt nicht; denn sie ist das vorsichtigste und ängstlichste Frauenzimmer, das ich überhaupt kenne. Ihr beide müßt sie ja manchmal um den Verstand bringen, wenn ihr so tollkühn herumschwirrt. Wie steht es denn mit Jan und seinem Segelsport? Ängstigt sich Mutter nicht über alle Maßen, wenn der Junge auf dem Wasser ist?« -74-
»O ja, und wie!« erwiderte Lis. »Aber Jan ist dabei in guten Händen. Und das Segeln ist gar nicht so gefährlich, wenn man sich darauf versteht. Das erklären alle Segler. Sie sagen, daß nur dann ein Unglück geschieht, wenn sich Leute mit dem Segelboot aufs Wasser wagen, die nichts vom Segeln verstehen.« »Das wird wohl stimmen«, meinte Onkel Helmer. »Aber sag einmal, bist du eigentlich daheim auch so wild wie hier?« Lis lächelte. »Findest du wirklich, daß ich so schlimm bin, Onkel? Jan zieht mich immer damit auf, daß ich mich als Erwachsene aufspiele.« »So, so«, lachte der Gutsbesitzer, »du bist also erwachsen! Da gehst du wohl mit deinen Freundinnen in hübschen Kleidern und neuen Hüten spazieren, was?« »Ja, so ungefähr«, stimmte Lis zu. »Das ist ja auch ganz natürlich. Wenn man daheim mit Gleichaltrigen zusammen ist, mag man doch kein Außenseiter sein, nicht wahr? Da muß man doch der Mode folgen und mitmachen. Oder bist du anderer Meinung?« »Alles mit Maß«, brummte Christian Helmer. In der Wohnstube angekommen, ging er an den Schrank, der seine Pfeifensammlung barg, um sich eine Pfeife auszusuchen. Diese Sammlung war geradezu eine Sehenswürdigkeit. Da gab es Pfeifen aller Arten, in allen Größen, von allen Formen, und Christian Helmer behandelte und pflegte sie mit einer Sorgfalt, als wären es kostbare Kunstwerke. Stopfte er sich eine Pfeife, so war das eine weihevolle Handlung, der er mit einem Ernst und einer Feierlichkeit oblag, als ob das Weiterbestehen der Welt davon abhinge. Der Tabak wurde zu einer kleinen Kugel zusammengerollt, die er dann auf eine ganz bestimmte Art und Weise in den Pfeifenkopf stopfte, um sicher zu sein, daß der Zug nichts zu wünschen übrigließ. Hierauf zündete er die Pfeife an, drückte die Glut mit dem Zeigefinger nieder – ohne sich auch -75-
nur im geringsten zu verbrennen! –, lehnte sich behaglich in seinen Sessel zurück und betrachtete die Rauchwolken, die seinem Munde entquollen, mit liebevollen Blicken. Lis schaute dieser Vorstellung zu, während sie dem Onkel ihren Standpunkt auseinandersetzte. »Aber siehst du, Onkel Christian, wenn ich nun hier so allein bin, nur mit dir und den Jungen zusammen, das heißt, ohne all die andern Mädchen, dann will ich endlich einmal ich selbst sein und alle Mode Mode sein lassen. Denn in Wirklichkeit schere ich mich keinen Deut um all den Kram, den Mädchen im Kopf haben.« »Wahrhaftig?« »Nun ja… ein bißchen vielleicht doch… Es ist ja auch ganz nett, hübsch angezogen zu sein, nicht wahr? Aber im Grunde beneide ich die Jungen, die tun und lassen können, was sie wollen, ohne an ihr Aussehen denken zu müssen. Erinnerst du dich, wie wir alle voriges Jahr hier waren und Vater in den ältesten Hosen herumlief, die ich jemals an ihm gesehen habe, wie er im Garten arbeitete und sich so schmutzig machte wie ein Kaminfeger? Ich weiß noch gut, wie er sagte, daß es nichts Schöneres gäbe, als sich nicht darum kümmern zu müssen, ob man einen sauberen Kragen anhat. So meine ich’s. Nicht, daß man deshalb keinen Sinn für Sauberkeit hat. Aber zur Abwechslung ist es einfach himmlisch, im Garten herumzuwirtschaften oder durchs Heidekraut zu laufen oder auf die Bäume zu klettern, ohne daran zu denken, daß man sich die Strümpfe zerreißen könnte.« Christian Helmer schmunzelte. ›Das Mädche n hat Mumm in den Knochen‹, dachte er. ›Sie gleicht ihrem Bruder, und das ist recht erfreulich.‹ Laut sagte er: »Schade, daß du nicht auch Kriminalkommissar werden kannst, Lis.« »Ja, das ist wirklich ein Jammer«, stimmte Lis mit so ehrlichem Bedauern zu, daß Christian Helmer lachen mußte. »Ich meine es ernst, Onkel Christian«, fuhr sie vorwurfsvoll -76-
fort. »Ich bin nämlich überzeugt, daß ich gar kein so schlechter Detektiv wäre. Mädchen sind oft sehr geeignet für derartige Dinge. Wir sind nicht nur imstande, eine ganze Menge zu bemerken, sondern können auch mit dem, was wir entdeckt haben, etwas anfangen. Aber es gibt ja auch weibliche Detektive«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Ja, natürlich gibt es auch weibliche Polizeibeamte«, räumte Christian Helmer ein. »Allerdings nicht sehr viele. Und du darfst nicht vergessen, daß ein Polizeibeamter auch anderes zu tun hat, als eine ganze Menge zu bemerken und damit etwas anzufangen. Im großen und ganzen ist und bleibt die Arbeit der Polizei Männerarbeit.« Lis wollte widersprechen; doch im selben Augenblick wurde die Tür geöffnet, und Mads kam herein. Sie brachte eine Schüssel, die sie auf den Tisch stellte. »Hier bringe ich die ersten Kirschen«, sagte sie. »Es sind noch nicht sehr viele; aber sie schmecken recht gut. Du sollst sie zum Trost haben, Lis, weil du nicht mitgehen durftest.« Da vergaß Lis für eine Weile ihren Ärger über die vermeintliche Zurücksetzung und stürzte sich mit Begeisterung auf die herrlichen Früchte. Der Onkel wiederholte seinen Vorschlag, eine Partie Rommé zu spielen; aber Mads mußte unbedingt eine angefangene Näharbeit fertigmachen. Und da Lis keine große Freude an den Tag legte, als der Onkel meinte, sie könnten ja zu zweit spielen, ließ er den Plan fallen und setzte sich an seinen Schreibtisch, um sich mit seiner Buchführung zu beschäftigen. Lis suchte sich aus dem Bücherschrank ein Buch heraus. Damit ließ sie sich in einem gemütlichen Sessel nieder, stellte die Schale mit den Kirschen neben sich und vergaß scheinbar über dem Lesen und Kirschenessen völlig, was sie von weiblichen Detektiven gesagt hatte. Aber nur scheinbar… Es dauerte nämlich nicht lange, bis der Gutsbesitzer sein -77-
dickes Rechnungsbuch zuklappte und sagte: »Nun, ist das Sandmännchen noch nicht gekommen?« Das sagte er jeden Abend, da er selbst gern zeitig zu Bett ging. Und diese Worte bedeuteten, daß sämtliche Hausbewohner auch zu Bett gehen mußten. Christian Helmer war, wie alle Leute auf dem Lande, ein Frühaufsteher und mochte Langschläfer ebensowenig wie Nachtvögel. »Ist die Sonne untergegangen, so ist der Tag vorbei«, pflegte er zu sagen. Folglich mußte man sich beeilen, ins Bett zu kommen, damit man ausgeruht und frisch war, wenn die Sonne am nächsten Morgen über dem Horizont erschien. Früh ins Bett gehen und früh aufstehen, das war seine Parole. Im allgemeinen war Lis nie sehr entzückt, wenn der Onkel am Abend Schluß machte; sie wollte immer gern länger aufbleiben. Doch an diesem Abend war sie bemerkenswert schläfrig. Sie gähnte vernehmlich, hielt sich die Hand vor den Mund und sagte: »Ja, zu mir ist der Sandmann schon gekommen. Er hat mir so viel Sand in die Augen gestreut, daß ich meine Lider kaum noch auseinanderhalten kann.« Christian Helmer stand auf und klopfte seine Pfeife aus. »Dann wäre es wohl am besten, ins Bett zu gehe n. Es besteht ja gar kein Grund, daß wir auf die Buben warten.« Mads erhob sich ebenfalls und erklärte, daß sie auch ein wenig müde sei. Mads war niemals etwas voll und ganz. Stets war sie ein wenig hungrig oder ein wenig schläfrig oder ein wenig bekümmert. Dabei rieb sie sich die Augen so heftig, daß deutlich zu erkennen war, wie müde sie war! Sie sagte gute Nacht und zog sich in ihr Zimmer zurück. Der Gutsbesitzer machte noch auf seinem Schreibtisch Ordnung, dann drehte er das Licht aus und ging hinauf, gefolgt von Lis, die wiederholt laut gähnte, während sie die Treppe hinaufstieg. »Es war doch ein guter Gedanke, Rommé spielen zu wollen«, sagte sie schelmisch, als sie vor ihrer Schlafzimmertür -78-
angekommen war. »So, findest du, Fräulein Naseweis«, erwiderte Christian Helmer und holte scherzhaft wie zu einer Ohrfeige aus. »Na, schlaf jetzt gut, mein Kind, und träum etwas Schönes. Am Frühstückstisch sehen wir uns dann froh und vergnügt wieder.« »Gute Nacht, Onkel Christian. Schlaf auch gut.« Der Gutsbesitzer schritt weiter durch den Korridor und verschwand in seinem Schlafzimmer. Kurz darauf setzte er geräuschvoll seine Stiefel vor die Tür, und Lis stellte ihre Schuhe ebenfalls hinaus.
Aber sie ging noch nicht zu Bett; denn ihre Schläfrigkeit war nur gespielt gewesen. Sie hatte einen Plan gefaßt, der nicht gerade mit dem Erlaubten in Einklang stand, doch Lis war eine sehr energische junge Dame. Da sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, an der Wilddiebsjagd teilzunehmen, war sie entschlossen, ihren Willen durchzusetzen, ganz gleich, wie die -79-
Sache ausgehen mochte. Rasch streifte sie ihr Kleid ab, zog eine lange, graue Hose, ein Hemd und eine Jacke an und schlüpfte in feste Stiefel. Dann kramte sie in ihrem Koffer, holte eine Taschenlampe hervor, steckte sie in die Jackentasche und schlich auf den Zehenspitzen die Treppe hinunter. Aber das war gar nicht so einfach! Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie sehr die Treppe knarrte! In allen Fugen knackten und knirschten die Stufen, so daß sie überzeugt war, das ganze Haus müßte es hören. Immerhin gelangte sie ohne Zwischenfall in die Diele, wo sie lauschend stehenblieb. Behutsam drückte sie dann die Klinke der Haustür nieder und öffnete die breite Tür. Ebenso vorsichtig trat sie auf den Treppenabsatz hinaus, von dem aus sie die Knaben mit Anders hatte fortziehen sehen. Sie lächelte zufrieden vor sich hin. Nun würde sie also ebenfalls einen Gang durch den nächtlichen Wald machen. Vielleicht hatte sie mehr Glück als die Jungen und erwischte die Wilddiebe zuerst. Sie ging durch, den Garten. Unterwegs begegnete sie einem der Gutsknechte, der höflich seine Mütze zog und sie grüßte. Dann trabte sie äußerst vergnügt über die Felder und überlegte, wie sie am besten vorgehen sollte. In Wirklichkeit hatte sie nämlich gar keinen festgelegten Plan. Sie hatte ihr Unternehmen keineswegs vorher durchdacht, sondern verließ sich ganz auf ihr Glück und auf die Eingebung des Augenblicks. Den Wald kannte sie von früheren Ferienbesuchen recht gut, und sie hatte eine ganz bestimmte Vermutung, wo die Wilddiebe zu finden sein würden. Sie beschloß, sich zu jener Lichtung zu begeben, die zwischen dem Hauptwald und dem Wäldchen hinter Niels Boelsens Haus lag. Sie nahm an, daß das Wild dort leicht zu erlegen wäre. Und sie hatte einmal gehört, daß die Wilddiebe sich mit Vorliebe am Waldrand in den Hinterhalt legten und von da aus Jagd auf die Tiere machten, die am Abend auf die Wiesen hinaustraten, um -80-
dort zu äsen. Sie wollte sich verstecken und auf die Wilddiebe warten, ihnen dann folgen und so feststellen, wo sie wohnten. Wenn ihr das gelang, konnten die Leute vom Hof am nächsten Tag die Schuldigen packen. Ja, so würde es am besten sein. Aber die Lichtung war groß, und die Wilddiebe – wenn sie überhaupt zu entdecken waren – konnten sich an vielen Stellen am Waldrand verbergen. Nun, sie mußte eben den ganzen Waldrand äußerst vorsichtig absuchen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu hoffen, daß es ihr gelingen würde, auf diese Weise zu einem Erfolg zu kommen. Zu ihrem eigenen Erstaunen stellte sie fe st, daß sie viel weniger Angst fühlte, als sie angenommen hatte. Jedenfalls spürte sie so gut wie gar keine Furcht, solange sie über die Felder schritt. Aber als sie dann den Wald erreicht hatte, schwand ihr Mut doch ein wenig. Es war dunkel zwischen den Bäumen, und der Wind bewegte die Wipfel, so daß sie rauschend hin und her schwangen. Bisweilen knackte ein Zweig im Wald, und Lis konnte nicht umhin, ein gelindes Grauen zu empfinden, bis ihr plötzlich einfiel, wie ihr Vater ihr einmal erzählt hatte, welche Angst er als kleiner Junge in der Dunkelheit ausgestanden. Sie entsann sich der Geschichte noch ganz genau: »Das war sehr schlimm für mich; denn wir lebten ja auf dem Lande«, hatte er erzählt. »So war ich natürlich sehr oft gezwungen, nach Einbruch der Dunkelheit durch den Garten oder den Wald zu gehen. Wahrscheinlich hatte ich immer so fürchterliche Angst, weil meine Phantasie sehr rege war. Sobald ich in der Dämmerung draußen war, glaubte ich überall unheimliche Gestalten zu sehen. Eine Katze, die über den Weg sprang, wurde zu einem schrecklichen Ungeheuer. Wenn ich am Abend durch den Wald ging, brach mir der Angstschweiß aus. Ich fühle noch heute ein Unbehagen, wenn ich daran zurückdenke. Eines Abends nun ging ich mit meiner Mutter während der Dämmerung durch den Wald. Sie war der -81-
unerschrockenste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe. Und sie war denn auch diejenige, die mich von meiner Angst befreite. – ›Hast du Angst?‹ fragte sie plötzlich, während wir dahinschritten. – ›N… n… nein‹, stotterte ich; denn natürlich konnte ich nicht zugeben, daß ich mich fürchtete. – ›Doch, du hast Angst‹, sagte Mutter. ›Wovor hast du denn Angst?‹ – ›V… v… vor n… n… nichts‹, stammelte ich. – ›Das ist das richtige Wort‹, antwortete meine Mutter. ›Du hast nämlich nicht die geringste Angst. Du glaubst eine Menge dummes Zeug, wovon überhaupt nichts stimmt.‹ – Es endete damit, daß ich es über mich brachte, ihr zu erklären, welchen Schrecken mir die großen Gestalten und die sonderbaren Laute im Wald einjagten. – ›Schau doch einmal genau nach‹, sagte Mutter. ›Überwinde nur ein einziges Mal deine Furcht und untersuch die Sache. Wenn du eine große Gestalt siehst, geh zu ihr hin und faß sie an. Versuch’s einmal.‹ – Wir standen gerade an einer Stelle, von der aus auf einer Lichtung eine verzerrte Gestalt zu sehen war. Sie glich einem ungeheuren Kobold und sah sehr schreckenerregend aus! Aber Mutter bestand darauf, daß ich zu der Gestalt hinüberging. – ›Nein… nein, i… ich trau’ mich nicht‹, sagte ich. – ›Unsinn‹, sagte Mutter sanft, aber bestimmt. ›Sei ein mutiger Bub und geh hin.‹ – Hu, was hatte ich für eine Angst! Aber ich faßte mir schließlich doch ein Herz und rückte dem Kobold zu Leibe. Und da geschah etwas Merkwürdiges. Als ich beim Näherkommen sah, daß der gespenstische Kobold in Wirklichkeit nichts anders als ein harmloser Wacholderstrauch war, verschwand meine Angst vor der Dunkelheit fast wie mit einem Zauberschlag. Nur ein einziges Mal hatte ich meine Furcht überwinden müssen, und schon war mir geholfen. Seither kannte ich keine Scheu mehr, auf Kobolde loszugehen. Und jedesmal erwiesen sie sich als Bäume oder Sträucher, wie es ja auch eine natürliche Erklärung für die sonderbaren Laute im Wald gab: Der Wind in den Bäumen, ein Vogel, der das welke Laub zum Rascheln brachte, oder etwas Ähnliches. Von diesem -82-
Tag an fürchtete ich mich nicht mehr davor, am Abend durch den Wald zu gehen.« So hatte Vaters Erzählung gelautet. Daran dachte Lis jetzt, und das machte ihr Mut. Natürlich durfte man dem, wovor man sich fürchtete, nicht ausweichen, sondern man mußte stracks darauf zugehen. Ein wenig Vorsicht war allerdings dabei am Platz. Kopfloses Drauflosstürzen hatte keinen Sinn. Andererseits galt es, sich davor zu hüten, daß man sich allerlei schreckliche Dinge einbildete. Das meiste ließ sich auf harmlose Weise erklären, wenn man ohne Furcht und mit gutem Willen auf sein Ziel zuschritt. Sie bewegte sich äußerst vorsichtig, um ja jegliches Geräusch zu vermeiden. Im Grunde fürchtete sie sich weniger davor, von den Wilddieben gesehen zu werden, als von den Buben und Anders entdeckt zu werden. Vielleicht verhielt es sich so, weil sie im Innersten gar nicht recht daran glaubte, daß es ihr gelingen könnte, die Wilddiebe zu fangen. Jedenfalls war es ungemein spannend, mitzumachen und ebenfalls eine Rolle in dem Spiele innezuhaben. Lis hatte schon ein ziemliches Stück des Waldes durchquert. Sie beschloß, den Weg zu verlassen und sich zwischen den Bäumen hindurchzuschleichen. Das tat sie denn auch; doch achtete sie darauf, daß sie gleichwohl der Richtung des Weges folgte, den sie zwischen den dunklen Baumstämmen durchschimmern sah. Es war aber gar nicht so einfach, sich quer durch den Wald zu schlagen; denn nicht nur galt es, aufzupassen, daß die Äste ihr nicht ins Gesicht schnellten, sondern vor allem darauf zu achten, daß sie nicht auf die am Boden liegenden Zweige trat. Leichtfüßig wie ein Reh sprang sie über alle Hindernisse, duckte sich hinter besonders dicke Baumstämme und lauschte angespannt. Ringsum herrschte Stille. Sie hörte nur den Wind in den Wipfeln rauschen und ab und zu den Flügelschlag einer Holztaube, die sie selbst aufgescheucht hatte. -83-
Allmählich sank die Nacht auf den Wald nieder. Als Lis das Haus verlassen hatte, war es noch dämmerig gewesen; doch jetzt begann es richtig dunkel zu werden. Am Himmel hatten sich graue Wolken zusammengezogen, so daß mit Regen zu rechnen war. Lis blickte immer wieder zu dem drohenden Gewölk auf und machte sich Vorwürfe, daß sie nicht vorsorglicherweise einen Regenmantel mitgenommen hatte. Aber andererseits bewegte sie sich freier in den Sachen, die sie für diese Unternehmung angezogen hatte. Eben wollte sie wieder zu einem Sprung ansetzen, da verharrte sie plötzlich regungslos, um sich im nächsten Augenblick hinter einen Baumstamm zu ducken. Deutlich hatte sie gehört, wie jemand sich auf dem Weg näherte. Behutsam schlich sie ein paar Schritte weiter und verbarg sich hinter dem nächsten Baum. Langsam, ganz langsam äugte sie hinter dem Stamm hervor. Wirklich, auf dem Weg kam jemand daher. Jetzt vernahm sie auch gedämpfte Stimmen. »Ja, wahrhaftig, gut gezielt«, hörte sie sagen. Sie spitzte die Ohren; sie wollte sich kein Wort der Unterhaltung entgehen lassen. Aber im selben Augenblick erkannte sie Jans Stimme, die antwortete: »Der Mann, der den Schuß abgefeuert hat, muß also ein ausgezeichneter Schütze sein.« Eiligst zog sie sich ganz hinter den Baumstamm zurück; denn sie befürchtete, daß Boy sie entdecken und die Buben auf sie aufmerksam machen könnte. Sie befand sich ungefähr zwanzig Schritte vom Weg entfernt. Kurz entschlossen sprang sie tiefer in den Wald hinein. Boy schlug nicht an. Wenn er etwas bemerkt hatte, so hatte er sie erkannt und beachtete sie infolgedessen nicht weiter. Die Gefahr schien überstanden. Sie blieb stehen und atmete heftig nach dem zwar kurzen, aber aufregenden Lauf. Sie wartete eine Weile, um ganz sicher zu sein, daß die Knaben und Anders sich außer Sichtweite befanden. -84-
Lis schaute auf ihre Uhr. Die Leuchtzeiger verrieten ihr, daß die anderen ihr Unternehmen nicht sehr lang ausgedehnt hatten. Sie fand es merkwürdig, daß sie schon heimgingen. Sie nahm ihre Wanderung wieder auf. Mit jeder Minute wurde es dunkler; trotzdem wollte sie ihre Taschenlampe nicht benutzen, solange sie ohne Licht vorwärtskommen konnte. Ihre Augen gewöhnten sich an die zunehmende Dunkelheit, so daß es ihr möglich war, die Richtung beizubehalten und den schwarzen Baumstämmen auszuweichen. Allmählich standen die Bäume weniger dicht. Lis merkte, daß sie sich der Lichtung näherte, und blieb eine Weile stehen, um einen Überblick über die Lage zu gewinnen. Längs des Waldrandes zog sich ein Deich hin. Es schien ihr, daß dieser Deich ein glänzendes Versteck für Wilddiebe sein müsse, wenn sie den Tieren auf der Lichtung auflauern wollten. Keinen Augenblick kam es ihr in den Sinn, daß die Dunkelheit es auch dem geschicktesten Wilddieb unmöglich machte, noch um diese Stunde zu jagen. Daran dachte sie überhaupt nicht. So behutsam wie möglich schlich sie zu dem Deich hinüber, bis sie sich ihm auf ungefähr zehn Meter genähert hatte. Dann bewegte sie sich parallel mit dem Deich weiter, wobei sie Augen und Ohren aufsperrte, fest überzeugt, in der nächsten Sekunde einen lauernden Wilddieb zu entdecken. Der Deich maß vom einen Ende bis zum andern nur einige hundert Meter. Aber Lis brauchte viel Zeit, bis sie die Strecke zurückgelegt hatte, da sie sich mit äußerster Vorsicht vorwärtsbewegte. Nicht das mindeste Geräusch entstand, während sie am Waldrand dahinhuschte. Jetzt hatte sie überhaupt keine Angst mehr. Die ganze Sache war viel zu spannend, als daß sich auch nur ein Fünkchen von Furcht in ihr hätte regen können. Aber wie zum Entgelt war sie vor Schrecken nahezu gelähmt, als sie plötzlich wiederum Stimmen und Schritte vernahm. -85-
Diesmal waren es bestimmt nicht Anders und die Buben. Diese Stimmen kannte sie nicht; sie klangen weiter entfernt, und sie beeilte sich festzustellen, woher sie kamen. Sie drangen von der Lichtung her an ihr Ohr, und es war deutlich zu merken, daß sie sich ihr näherten. Offenbar bewegten sich die Leute geradeswegs auf die Stelle zu, wo sie mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen wie angewurzelt stand. Aber der Schock dauerte nur einen Augenblick. Dann verbarg sie sich, mit äußerster Vorsicht hinter einer großen Tanne, wo sie sich niederkauerte, so daß sie hinlänglich gedeckt war. Sie schob sich so dicht an den Stamm heran, daß die Zweige sich fast um sie schlossen. Mucksmäuschenstill, mit angehaltenem Atem, hockte sie da, während sie auf die sich nähernden Schritte lauschte und auf die Stimmen, die immer deutlicher und deutlicher klangen, bis sie jedes Wort zu unterscheiden vermochte. »Morgen müssen wir fort«, sagte die eine Stimme, die hart und sehr bestimmt tönte. Die andere war weicher, aber keineswegs freundlicher. Im Gegenteil, sie klang sehr mürrisch und unliebenswürdig: »Ja, das müssen wir natürlich. Wenn wir nur auf rasche und angenehme Art von hier fortkommen könnten.« »Was hindert uns daran? Du mußt nur schauen, daß du ein Auto oder ein Motorrad erwischst. Aber du mußt zeitig auf den Beinen sein, sonst wird’s entdeckt. Weißt du nicht irgendeine Garage, wo ein Motorrad eingestellt ist? Die Sache müßte sich doch ganz einfach bewerkstelligen lassen.« »Ich glaube, ich kann mir eins aus dem Wirtshaus holen. Dort stehen immer ein paar in der Garage. Heute abend findet dort übrigens eine Tanzerei statt, so daß vielleicht ein paar Leute über Nacht dableiben. Auf jeden Fall werde ich’s morgen in aller Frühe versuchen; denn es kommt auch oft vor, daß die Ballgäste ihr Motorrad dalassen und zu Fuß heimgehen oder mit irgendeinem Wagenbesitzer fortfahren, weil sie sich nicht sattelfest fühlen.« -86-
»Das ist viel zu unbestimmt«, sagte der andere. »Das gefällt mir nicht recht. Wir müssen ganz sicher sein, daß wir ein Fahrzeug bekommen. Am liebsten hätte ich ein Motorrad. Das ist handlicher als ein Auto. Man kann damit auch besser auf Seitenwegen fahren.« »Ich werd’ schon eins beschaffen, verlaß dich drauf.« Lis lauschte mit wachsendem Interesse – aber auch mit wachsendem Entsetzen – diesem Gespräch. Sie zweifelte keine Sekunde daran, daß es sich um zwei Männer handelte, die etwas auf dem Kerbholz hatten. Aber was stak dahinter? Und warum wollten sie durchbrennen? Die Männer hatten jetzt den Deich überschritten und standen ganz in der Nähe des Baumes, hinter dem Lis sich verborgen hielt. Aber die Dunkelheit verbarg sie gut, und ihr Versteck war so günstig, daß keine Gefahr des Entdecktwerdens bestand. Das versicherte sie sich immer wieder selbst. Trotzdem zitterte sie vor Angst. Einen Rückzug gab es nun nicht mehr; sie mußte bleiben, wo sie war. »Das Geld hole ich morgen in aller Früh’«, sagte der eine Mann. »Inzwischen schnappst du das Motorrad. Und dann geht’s sofort los. Ich muß sehen, daß ich vor Tau und Tag fort bin. Ich glaube nicht, daß die Gegend hier noch sicher ist.« Der andere bemerkte vorwurfsvoll: »Wozu mußtest du auch den Fuchs schießen! Man wird ihn bestimmt finden, und dann gibt’s nur Scherereien. Dadurch ist jetzt alles viel schwieriger.« »Quatsch! Es wird überhaupt nichts geschehen. Sei doch nicht so feige. Ich konnte einfach nicht mehr bei dir zu Hause hocken, ich mußte auf eine kleine Spritztour hinaus. Und da lief mir der Fuchs gerade vor die Nase. Den Mann möchte ich sehen, der an sich zu halten vermag, wenn ihm ein Fuchs direkt vor den Lauf kommt. Und so schoß ich eben.« »Ja, leider. Besser wär’s, wenn du’s unterlassen hättest. Wenn wir jetzt nur noch mit heiler Haut davonkommen…« -87-
»Das werden wir. Du mußt mir am nächsten Tag gleich folgen. Erledige du nur dein Teil, und ich verschwinde genauso ungesehen, wie ich gekommen bin. Der eine Tag wird wohl keine Rolle spielen. Die Leute werden sicher nicht gleich Verdacht schöpfen.« »Hoffen wir’s.« Sie schritten weiter. Lis löste sich vorsichtig aus ihrem Versteck. Wer diese Männer auch sein mochten, ihre Flucht mußte verhindert werden, bevor es zu spät war. Wilddiebe waren sie auf jeden Fall… aber ob nicht noch etwas viel Schlimmeres? Sie versuchte das rasende Hämmern ihres Herzens zu beschwichtigen. Sie zitterte noch immer vor Angst und Aufregung; doch sie sagte sich, daß sie die einmal übernommene Aufgabe jetzt auch zu Ende führen mußte. Sie war entschlossen, den beiden Männern zu folgen und festzustellen, wo sie wohnten. Dann wollte sie zum Gutshof zurückeilen und dort die Leute alarmieren. Sie schlich hinter den Männern drein, sorgfältig darauf bedacht, daß der Abstand groß genug war, um nicht entdeckt zu werden. Sie konnte nicht mehr hören, was die beiden sprachen; aber das war jetzt auch nicht mehr so notwendig. Sie hatte genug vernommen, um zu wissen, daß sie es mit Verbrechern zu tun hatte. Die Männer gingen ein Stück weit durch den Wald, einem Weg folgend, der einen Bogen beschrieb und schließlich in eine Lichtung mündete. Bis jetzt hatte Lis ihnen folgen können, ohne gehört oder gesehen zu werden. Als die Männer jedoch auf die Lichtung hinaustraten, wurde die Sache schwierig für sie. Aber die Dunkelheit half ihr. Außerdem war sie vernünftig genug, eine Weile zu warten, bis die Männer einen größeren Vorsprung gewonnen hatten. So war die Gefahr des Entdecktwerdens geringer, und sie konnte gleichwohl die beiden Gestalten -88-
undeutlich erkennen, so daß sie ihnen nach geraumer Frist weiterhin zu folgen vermochte. Die beiden gingen auf ein kleines Wäldchen zu, und Lis folgte ihnen behutsam. Als sie das Wäldchen erreicht hatten, blieben sie eine Weile stehen, während sie dauernd miteinander redeten. Dann schritten sie weiter; Lis blieb ihnen auf den Fersen. Auf einmal trat die Katastrophe ein. In ihrem Bestreben, mit den Männern Schritt zu halten und sie nicht aus den Augen zu verlieren, hatte Lis nicht genügend aufgepaßt. Sie stolperte über einen Ast, der am Boden lag, und schlug der Länge nach hin, wobei der Ast krachend zerbrach. Mit einem Ruck blieben die Männer stehen. »Da ist jemand«, sagte der eine. »Wir wollen zurückgehen«, erwiderte der andere. Lis machte sich so klein wie möglich und versuchte von der Stelle, an der sie hingestürzt war, rückwärts fortzukriechen. Aber da die Männer stracks auf sie zustrebten, sah sie ein, daß sie unweigerlich entdeckt werden würde, wenn sie nicht rascher vom Fleck kam. Sie handelte blitzartig. Im Nu sprang sie auf, drehte um und rannte, alle Vorsicht beiseite lassend, auf den Wald zu, als gälte es ihr Leben. Die Männer setzten hinter ihr her. Aber Lis hatte einen Vorsprung. Sie lief im Zickzack, um ihre Verfolger irrezuführen. Sie hatte das Gefühl, als ob der Abstand zwischen ihr und den Männern größer würde. Schlimm war’s, daß sie die Lichtung überqueren mußte; denn hier war sie nicht mehr gedeckt. Sie wußte nicht, wie groß der Abstand zwischen ihr und ihren Verfolgern war; doch hielt sie sich nicht erst damit auf, zurückzuschauen, sondern rannte, was die Beine hergeben mochten. Dabei stand sie unbeschreibliche Angst aus. Sie näherte sich dem Wald, und ihr einziger Gedanke war; Wenn ich erst im Wald bin, kann ich mich gut verstecken. Dort -89-
drin finden sie mich niemals.
Auf einmal vernahm sie die schweren, raschen Sprünge der ihr nachsetzenden Männer ganz in ihrer Nähe und wußte, daß man sie eingeholt hatte. Die Lichtung war ihr zum Unheil geworden. Wenige Meter vom Waldessaum entfernt fiel sie ihren Verfolgern in die Hände. Der eine der Männer packte sie an der Schulter und hielt sie wie in einem Schraubstock fest. »Herrschaft noch mal!« rief er erstaunt. »Das ist ja ein Mädchen!« Prus tend und stöhnend kam der andere Mann angerannt. »Das ist eins von den Kindern, die bei Helmer zu Besuch sind«, erklärte er. Lis war wie gelähmt vor Entsetzen. »Hast du gelauscht?« fragte der Mann, der sie gefangen hatte. Sie schüttelte den Kopf und stammelte: »N… nein… nein… -90-
gewiß nicht…« »Wir können dich trotzdem nicht laufen lassen. Das wäre zu gefährlich. Niels, wir müssen sie mitnehmen.« Lis brach in lautes Schluchzen aus und flehte, man möge sie doch freilassen. Aber der Mann faßte sie nur noch fester am Arm und führte sie über die Lichtung zurück. »Merkwürdig, was diese Gören für ein Interesse an uns haben«, brummte er. »Aber morgen werden wir sie ja lossein.« Der andere knurrte mit gereizter Stimme etwas Unverständliches vor sich hin. Dann sagte er: »Nun bin ich genötigt, für immer zu türmen. Nach diesem Vorfall kann ich mich nicht mehr hier sehen lassen.«
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14
Über dem Eingang des Raunstaler Gutshofs befand sich eine Uhr, die alle halben und ganzen Stunden schlug. In dieser Nacht waren es nicht wenige Schläge, die Jan hörte. Er fand fast gar keinen Schlaf. Die meiste Zeit war er hellwach, horchte auf die Uhrschläge und blickte immer wieder zum Fenster, in Erwartung des ersten Tageslichts. Erling schlief den Schlaf des Gerechten und schnarchte, als würde er dafür bezahlt. Als die Uhr halb fünf schlug, stand Jan ganz leise auf, zog sich an, kramte in seinem Rucksack nach dem Taschentuch mit dem rostigen Stein, steckte sein Messer in die Tasche und schlich, gefolgt von Boy, in den Korridor hinaus. Als er an Lis’ Zimmer vorbeikam, sah er, daß die Tür noch immer angelehnt war, und diesmal fand er das doch höchst merkwürdig. Er öffnete die Tür ganz und schaute in das Zimmer. Das Bett war unberührt. Lis war fort. Jan erschrak heftig. Wo konnte Lis sein? Ob die Gutsleute wohl schon auf waren? Er schlich die Treppe hinunter, schlüpfte durch die Haustür und schritt über den Hof. Hier begegnete er einem der Knechte, der sich auf dem Weg zu den Ställen befand. Er betrachtete etwas verblüfft den Jungen, der sich so frühzeitig auf dem Hof zeigte. Jan sprach ihn an. »Guten Morgen«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Sie haben wohl nicht meine Schwester gesehen?« »Nein, die hab’ ich nicht gesehen. Wenigstens heute früh noch nicht.« »Und wann haben Sie sie zuletzt gesehen?« »Gestern abend«, erwiderte der Knecht nach kurzem -92-
Besinnen. »Sie gingen aus, kurz nachdem ihr andern mit Anders fortgegangen wart. Ich glaubte, sie wollte euch treffen.« Jan biß sich auf die Lippe. Die Sache schien wirklich ernst zu sein. Er sagte: »Das ve rstehe ich nicht. Meine Schwester ist nämlich nicht in ihrem Zimmer. Ich gehe sie jetzt suchen. Sagen Sie doch bitte Anders, daß ich nach meiner Schwester gefragt habe und daß sie gestern abend fortgegangen ist, ohne zurückzukommen. Aber mein Onkel soll nichts davon wissen; ich möchte nicht, daß er sich ängstigt.« »Das ist ja eine schreckliche Geschichte«, sagte der Knecht entsetzt. »Sollten wir nicht lieber alle nach ihr suchen?« »Nein, ich glaube, ich weiß, wo sie steckt. Ich hoffe, daß keine Gefahr besteht. Aber sagen Sie auf jeden Fall Anders Bescheid, wenn Sie ihn sehen.« »Ja, das werd’ ich gleich besorgen«, versprach der Knecht. Jan eilte über die Felder. Boy stürmte so rasch dahin, daß er den Jungen fast zog. Es war, als ob der Hund wüßte, daß es um etwas Wichtiges ging. Die ganze Zeit sann Jan darüber nach, wohin Lis sich wohl begeben haben könnte; aber es fiel ihm keine andere Erklärung ein als diejenige, die ihm sofort in den Sinn gekommen war, als er ihr leeres Zimmer wahrgenommen hatte: Sie hatte Detektiv spielen wollen, und ihr Verschwinden mußte auf irgendeine Weise damit zusammenhängen. Als er beim Walde angelangt war, schlug er ohne lange Überlegung die Richtung zu der Stelle ein, wo Anders am vorhergehenden Abend den toten Fuchs gefunden hatte. Das war zwar ein ziemlich weiter Weg; aber Jan legte ein gehöriges Tempo vor. Seit er Lis’ Verschwinden bemerkt hatte, war ihm entschieden weniger abenteuerlustig zumute. Um so wichtiger war es jedoch, den Sachverhalt so rasch wie möglich zu klären. Und sein Instinkt sagte ihm, daß die Lösung des Rätsels nicht allzu fern lag. -93-
Er eilte durch den Wald und fand schließlich die Stelle, wo der Fuchs gelegen hatte. Jetzt begann Jan sehr behutsam nach Spuren zu suchen, und zwar schlug er Kreise, die immer größer und größer wurden. Das war eine äußerst mühevolle Arbeit, die viel Geduld erforderte. Aber Mühe und Geduld lohnten sich; denn endlich fand er, was er suchte. Er war an den Waldesrand gelangt. Hier lief ein Weg, und auf der andern Seite des Weges lag der Wiesenabhang, an dessen Fuße Niels Boelsens Haus stand. Inmitten des Wiesenabhangs breitete sich das Wäldchen aus, das Jan und Erling schon die beiden Male aufgesucht, als sie sich zu Niels Boelsens Hütte begeben hatten. Auf dem Wege am Waldesrand waren deutlich Fußspuren zu sehen. Die Spuren führten quer über den Weg. An einer bestimmten Stelle war das Gras etwas stärker niedergetreten. Augenscheinlich war der Betreffende am Wald entlanggegangen und stehengeblieben, bevor er über den Weg zum Wiesenabhang geschritten war. Jan blickte um sich und kam zu dem Ergebnis, daß der Mann an der Stelle, wo das Gras darniederlag, stehengeblieben war, als er den Fuchs gesichtet und auf ihn geschossen hatte. Das Tier war dann noch weiter ins Dickicht gelaufen, wo es verendete. So mußte es gewesen sein. Jan untersuchte die Fußspuren genauer und stellte etwas sehr Merkwürdiges fest. Der Mann hatte ungleich große Schritte gemacht. Diese Tatsache gab dem Jungen zu denken. Er beugte sich abermals über die Spuren, die deutlich in die Erde gedrückt waren, und betrachtete sie gründlich. Die Spuren des rechten Schuhes zeichneten sich scharf ab, die des linken waren etwas verwischt und grenzten fast an die Spur des rechten Schuhes. Das deutete darauf hin, daß der Mann mit dem rechten Bein gewöhnliche Schritte gemacht hatte, jedoch nur halb so lange mit dem linken Bein, das er nachgeschleppt -94-
hatte. Offenbar hinkte der Mann. Jan stand eine Weile in Überlegungen versunken da. Dann holte er das Taschentuch mit dem Stein hervor und hielt es Boy vor die Nase. »So, mein guter Hund«, sagte er, »schnüffle tüchtig daran. Zeig wieder einmal, was für ein prächtiger Hund du bist. Such, Boy, such!« Der Hund setzte sich unverzüglich in Trab, wobei er die Schnauze nicht vom Boden ließ und den Fußspuren folgte. Jan ließ sich von ihm über den Weg und den Wiesenabhang hinunterführen. Als sie das Wäldchen erreicht hatten, lief Boy ein wenig vor und zurück; aber schließlich kamen sie Niels Boelsens Hütte doch immer näher. Nach einer Weile gelangten sie zu dem Deich, hinter dem Jan sich letzthin mit Erling versteckt hatte. Hier hielt er den Hund an. Er war sich nicht klar darüber, was er nun machen sollte. Er konnte natürlich heimlaufen und einige Leute zusammentrommeln. Aber er wußte nicht recht, ob er die dazu notwendige Zeit opfern durfte. Möglicherweise geschahen gerade während seiner Abwesenheit einschneidende Dinge. Da seine Ahnung zur Gewißheit geworden war, mochte er sich nicht von der Hütte entfernen. Andererseits sah er ein, daß er mit Niels Boelsen und seinem unheimlichen Gast nicht allein fertigzuwerden vermochte. Er warf sich hinter dem Deich ins Gras und zog den Hund zu sich nieder, so daß sie von der Hütte aus nicht gesehen werden konnten. Dann dachte er alles nochmals gründlich durch. Er hatte noch einen andern Grund, warum er bei den letzten Untersuchungen am liebsten allein sein wollte. Er war nämlich seiner Sache durchaus nicht so sicher, als daß er es gewagt hätte, die Leute auf dem Hof so ohne weiteres zu alarmieren. Wenn er ihnen seine Vermutungen auseinandersetzte, würden sie ihn vielleicht nur auslachen und sagen, daß er eine allzu lebhafte Phantasie hätte. Denn noch immer fehlte ihm der entscheidende Beweis, wenn er selbst auch recht zu haben glaubte. Gleichzeitig -95-
aber gab es noch ein anderes Problem, das ihn stark beschäftigte. Das war Lis’ Verschwinden. Zuinnerst stand Jan eine fürchterliche Angst aus, daß seiner Schwester ein Unglück zugestoßen sein könnte. Doch immer wieder tröstete er sich damit, daß man leicht dazu neigt, etwas Schlimmes anzunehmen, wenn man für ein Rätsel keine Erklärung findet. Trotzdem wurde er ein unbehagliches Gefühl nicht los, wenn er an Lis dachte. Er zweifelte nun nicht mehr daran, daß die Fußspuren des hinkenden Mannes zu Niels Boelsens Hütte führten. Aber was nun? Was sollte er machen? Er beschloß vorläufig hinter dem Deich liegenzubleiben und abzuwarten, ob sich in der Hütte irgend etwas regte. Aber Niels Boelsens Behausung machte einen so verlassenen und leeren Eindruck, daß man hätte meinen können, sie wäre seit undenklichen Zeiten nicht mehr bewohnt worden. Boy, der neben Jan lag, blickte ebenso gespannt wie der Knabe zu der Hütte hinüber. Und gerade als Jan aufstehen wollte, um durch die Fenster der anscheinend leeren Hütte zu spähen, sträubten sich Boys Rückenhaare; zugleich begann der Hund leise zu knurren. Jan legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Rücken. Sofort wurde Boy still, aber er zitterte vor Erregung. Die Tür der Hütte hatte sich geöffnet. Jan starrte angespannt hinüber. Er sah einen großen, schlanken Mann herauskommen. Der Mann hatte ganz helle Haare, die im Schein der aufgehenden Sonne leuchteten. Er stand eine kurze Weile da und blickte um sich. Dann ging er auf den Wald zu. In der Hand trug er einen kurzen Spaten. Jan bemerkte, daß er ungefähr auf die Stelle zustrebte, wo er selbst mit Boy lag. Langsam kroch er rückwärts von dem Deich hinunter und sah sich suchend nach einer Deckung um. Nicht weit von ihm -96-
entfernt stand ein Strauch, der fast bis zum obersten Rand des Deiches reichte. Dorthin glitten Knabe und Hund, während der Mann sich mit raschen Schritten dem Deich näherte. Es ging um Sekunden. Mehrmals war Jan überzeugt, daß der Mann sie entdeckt hätte. Aber dann glückte es ihnen doch, sich hinter dem Strauch zu verbergen. Jan legte Bo y die Hand auf den Kopf, womit er ihm bedeutete, sich mucksmäuschenstill zu verhalten. Der Hund kroch folgsam zusammen und verhielt sich ganz ruhig. Jan folgte mit den Blicken dem Fremden, der auf das Wäldchen zuschritt. Da sah er, daß der Mann das linke Bein nachzog. Regungslos kauerte Jan, während er kein Auge von dem Manne ließ. Als der Fremde zwischen den Stämmen verschwunden war, richtete Jan sich auf und folgte ihm so leise wie möglich. Glücklicherweise boten sich im Wald genügend Versteckmöglichkeiten; Jan huschte von Strauch zu Strauch, von Baumstamm zu Baumstamm, während der hinkende Mann durch das Wäldchen schritt. Schließlich blieb der Mann stehen. Jan verkroch sich hinter einem dicken Baum und spähte seitwärts hervor. Er sah, daß der Mann an eine r bestimmten Stelle zwischen drei Bäumen in der Erde zu graben begann. Er hatte nur wenige Spatenstiche gemacht, als er sich auch schon bückte und ein kleines Paket aufnahm. In diesem Augenblick schrak Jan jählings zusammen. In einer einzigen Sekunde waren seine Ahnungen zur Gewißheit geworden. Alles, was er sich zusammengereimt, was er aus Gehörtem geschlossen hatte, war mit einem Schlage so überzeugend wie überhaupt nur möglich bekräftigt. Nun vermutete er nicht mehr, nun wußte er! Denn der Mann, der sich da über das Loch bückte und ein Päckchen aufhob, hatte rings um das linke Handgelenk einen schmalen blutroten Streifen, ein rotes Muttermal. Das war das -97-
besondere »Kennzeichen«, das Jans Vater erwähnt hatte, als er von dem verschwundenen »Gentleman-Harry« erzählte!
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Jan wußte nicht recht, was er nun machen sollte. Er beobachtete, wie Gentleman-Harry das Loch wieder zuwarf und die Erde feststampfte. Dann sah er, wie der Mann das Päckchen unter den Arm nahm, sich wandte und zurückzugehen begann. Über eines war Jan sich durchaus im klaren: Er wollte Gentleman-Harry zur Hütte folgen und schauen, was der Mann weiterhin unternahm. Aber was dann? Das war die große Frage, die Jan in Verwirrung setzte. Er konnte ja allein nichts unternehmen, wenn sich das als notwendig erweisen sollte. Zwei Männer gegen einen Knaben – da vermochte er sicher nichts auszurichten. Zudem verfügten die Männer über Waffen, so daß selbst Boy nicht von Nutzen war, wenn es zu einem Handgemenge kam. Und Gentleman-Harry war, wie Jan von seinem Vater wußte, ein Meisterschütze. Boy… Ob der Hund nicht vielleicht auf andere Weise nützen konnte? Es war keine Zeit zu verlieren. Gentleman-Harry hatte sich schon auf den Rückweg durch das Wäldchen gemacht und war zwischen den Bäumen verschwunden. Jan hörte seine schweren Schritte in der Ferne; die Zweige knackten unter seinen Füßen. Blitzartig kam Jan ein Gedanke. Er kramte in seiner Tasche und zog einen Bleistiftstummel und ein Blatt Papier hervor. Das Ende des Bleistifts war ganz zerkaut, und von der Spitze war nicht mehr viel übrig. Das Papier war nichts anderes als Vaters Brief. Beide Dinge konnte Jan jetzt brauchen. Er riß ein Stück von dem Brief ab und kritzelte auf die unbeschriebene Rückseite:
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»Kommt sofort zu Niels Boelsens Hütte. Nehmt Gewehre mit. Gefährliche Verbrecher halten sich in der Hütte verborgen. Hilfe! – Jan.« Hierauf kramte er in seiner Tasche nach einem Stückchen Schnur; aber er fand nichts dergleichen. Er wußte nicht, was er machen sollte; doch schließlich sagte er sich, daß kein Ding auf der Welt zu kostbar für diese Sache war. Kurz entschlossen riß er einen Streifen von seinem Hemd und band damit den kleinen Brief an Boys Halsband fest. Hierauf sprach er mit dem Hund. Er setzte ihm auseinander, daß er heimlaufen solle, und Boy blickte mit seinen klugen Augen zu ihm auf, in denen zu lesen stand, daß er bereit war, alles zu tun, was man von ihm verlangte. »Such Erling«, befahl Jan. »Beeil dich und such Erling! Lauf, so rasch du kannst!« Er versetzte dem Hund einen leichten Schlag. Sogleich schoß Boy davon, und Jan sah zu seiner Erleichterung und Freude, daß der Hund geradeswegs die Richtung zum Gutshof einschlug. Jan hoffte das Beste, machte sich aber zugleich auf das Schlimmste gefaßt; er nahm allen Mut zusammen und schlich hinter Gentleman-Harry her, der inzwischen einen ziemlichen Vorsprung gewonnen hatte. Obwohl Jan, so rasch er konnte, dahineilte, erreichte er sein Versteck hinter dem Deich erst, als Gentleman-Harry gerade die Hütte betrat. Jan wunderte sich, daß Niels Boelsen bis jetzt noch nicht zu sehen gewesen war. Aber es blieb ihm keine Zeit, über derlei Fragen nachzusinnen. Er kroch so leise und so rasch wie möglich durch das Gras zur Hütte hinüber und richtete sich hier vorsichtig auf, um durchs Fenster zu spähen. Was er jetzt sah, ließ ihn vor Spannung den Atem anhalten. Gentleman-Harry stand in der einen Kammer am Tisch. Vor ihm lag das geöffnete Päckchen, das er im Wäldchen -100-
ausgegraben hatte. Er hielt ein Bündel Banknoten in der Hand, und ein noch größeres Bündel Geldscheine lag auf dem Tisch. Jan riß die Augen auf, als er diesen Haufen Geld sah. Nun gab es nicht den geringsten Zweifel mehr, wer den Raub in der Gewerbe- und Industriebank ausgeführt hatte. Jan bekam heftiges Herzklopfen bei dem Gedanken, daß er hier vor der Lösung jenes Rätsels stand, das der Kopenhagener Kriminalpolizei so viel Kopfzerbrechen bereitet hatte. Aber was nun? Es war klar, daß Gentleman-Harry im Begriffe stand zu flüchten. Bestimmt hatte er die Absicht, sich so rasch wie möglich unsichtbar zu machen. Also war keine Zeit zu verlieren, wenn man seine Flucht verhindern wollte. Aber wie sollte das geschehen? Das war die brennende Frage des Augenblicks. Ein Gedanke durchzuckte Jans Hirn. Es war ein gewagter Plan; doch wenn er glückte, so war es vielleicht möglich, Gentleman-Harry so lange aufzuhalten, bis Hilfe kam. Wenn nur Boy die Botschaft an die richtige Adresse brachte… Und wenn nur die andern den Zettel am Halsband des Hundes entdeckten… Gleichviel, er wollte es wagen! Jan schlich um die Hütte herum und klopfte kräftig an die Tür. Das Herz schlug ihm bis in den Hals hinauf; er sprach sich selbst Mut zu und versuchte, eine so unbefangene und unschuldige Miene aufzusetzen, wie es unter den gegebenen Umständen nur möglich war. Als niemand auf sein Klopfen antwortete, donnerte er mit den Fäusten gegen die Tür. Doch da auch daraufhin nichts geschah, drückte er auf die Klinke. Er öffnete die Tür und trat vorsichtig ein. Er befand sich in einem kleinen Vorraum mit Steinfußboden. Zur Linken war eine Tür, die in eine kleine Kammer führte, in der Niels Boelsen verschiedene Werkzeuge aufbewahrte. Die Tür zur Rechten -101-
führte in den Raum, wo sich Gentleman-Harry mit seinem gestohlenen Geld aufhielt. Jan überlegte nicht lange, sondern klopfte an die Tür zur Rechten. Keine Antwort. Er klopfte abermals. »Herein!« rief eine grobe Stimme von drinnen. Doch bevor Jan noch die Tür aufmachen konnte, wurde sie schon von innen geöffnet, und Gentleman-Harry stand vor ihm. »Was willst du?« Jan bemühte sich, so vertrauenerweckend wie möglich auszusehen. Er lächelte liebenswürdig. »Guten Tag«, sagte er. »Was willst du?« wiederholte Gentleman-Harry. Er machte Miene, Jan die Tür vor der Nase zuzuschlagen; aber dann besann er sich eines andern und rührte sich nicht. Jan warf einen raschen Blick in die Kammer. »Wo ist Niels?« fragte er. »Er ist nicht daheim«, lautete die kurze Antwort. »Oh, das ist schade«, sagte Jan treuherzig. »Ich wollte ihn besuchen.« »So?« Gentleman-Harry lachte spöttisch. »Hast du die Angewohnheit, um halb sechs Uhr morgens Besuche zu machen?« Jan ließ sich nicht verblüffen. »Auf dem Lande stehen wir zeitig auf«, entgegnete er. »Wir? Du bist jedenfalls nicht vom Lande.« Jan ging in die Kammer, während er krampfhaft überlegte, wie er das Gespräch fortsetzen könnte. »Nein, ich bin nur während der Ferien hier«, sagte er. »Aber wenn man auf dem Lande ist, wird man gleich zum Frühaufsteher, nicht wahr? Sie sind ja auch einer.« Er blickte sich um, aber das Geld war nirgends mehr zu sehen. Statt dessen stand auf einem der Stühle ein geschlossener Koffer. »Ich werde warten, bis Niels zurückkommt«, sagte Jan mit harmloser Miene. -102-
»Das geht nicht. Es wird lange dauern, bis er kommt.« »Wo ist er denn hin?« fragte Jan unbefangen. »Das geht dich nichts an«, knurrte Gentleman-Harry. Die Stimme des Mannes klang immer unsicherer. Jans Hirn arbeitete unter Hochdruck. »Sie sind wohl nicht von hier?« erkundigte sich Jan nach einer Weile liebenswürdig. »Nein«, antwortete Gentleman-Harry mürrisch. »Ich möchte wetten, daß Sie auch aus Kopenhagen sind«, sagte Jan. »Habe ich nicht recht?« »Ja«, lautete die zögernde Antwort. »Das dachte ich mir. Sie wollen wohl gerade abreisen?« »Ja.« »Das dachte ich mir. Dort steht ja ein Koffer. Waren Sie lange hier? Wir haben Sie nie gesehen…« Gentleman-Harry betrachtete den Knaben voll Mißtrauen. Jan war mitten im Raum stehengeblieben; dauernd überlegte er, was er unternehmen könnte. Plötzlich trat der Mann auf ihn zu, starrte ihn forschend und argwöhnisch an und sagte: »Mir scheint, daß du außerordentlich neugierig bist. Worauf willst du eigentlich hinaus?« Jan sah verwundert auf. »Ich?« fragte er unschuldig. »Ja, du! Was soll das heißen, daß du zu so früher Morgenstunde hier eindringst, he?« Mit jähem Griff packte der Mann Jan an der Schulter. Er faßte so hart zu, daß der Junge nahe daran war, aufzuschreien. Aber er biß die Zähne zusammen und blickte seinem Gegner fest in die Augen. »Antworte, Bengel! Was willst du hier?« »Gar nichts weiter. Ich möchte nur mit Niels sprechen!« »Weshalb?« -103-
»Ach, nur so…«
Gentleman-Harry versetzte Jan einen Stoß, daß der Knabe gegen den Stuhl flog, auf dem der Koffer stand. Jan stürzte zu Boden und riß Stuhl und Koffer im Fallen mit sich. Der Koffer ging auf. Lauter Geldscheine flatterten heraus. Mit einem Satz war Gentleman-Harry bei dem Koffer und las hastig die Banknoten zusammen. Jan kroch auf allen vieren zur Tür, richtete sich rasch auf, riß die Tür auf und schlüpfte hinaus. Im gleichen Augenblick aber erklang die schneidende Stimme des Mannes: »Nicht weiter, Bengel, oder ich schieße!« Jan blieb im Vorraum stehen.
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Gentleman-Harry durchquerte den Raum. Jan vernahm seine Schritte. Deutlich hörte er den hinkenden, schleppenden Gang, den er schon beim Anblick der sonderbaren Fußspur auf dem Weg am Waldesrand im Geiste vor sich gesehen hatte. Er fühlte sich an den Schultern gepackt und wurde mit roher Gewalt herumgedreht. Gentleman-Harry stand vor ihm. Das Gesicht des Mannes sah zornig, ja böse aus. »Du wolltest also abhauen, was?« sagte der Mann. Jan stammelte: »Ich… ich wollte…« »Ich glaube zu wissen, was du wolltest«, fiel Gentleman-Harry rauh ein. »Du bist scheint’s genauso neugierig wie die Range, die gestern abend hier herumschlich, was?« Jan schrak zusammen. Offenbar sprach der Mann von Lis. Kühn blickte Jan seinem Gegner in die Augen und sagte: »Meinen Sie meine Schwester? Wo ist sie?« Gentleman-Harry lachte höhnisch. »Du brauchst keine Angst um sie zu haben. Wir haben ihr nur eine kleine Lehre erteilt. In Zukunft wird sie ihre Nase wohl nicht mehr in anderer Leute Angelegenheiten stecken. Und das sollst du auch lernen…« Jan hatte vor Wut einen roten Kopf bekommen. Der Gedanke an seine Schwester, die sich möglicherweise in Gefahr befand, ließ ihn alle Furcht und Vorsicht vergessen. »Wo haben Sie sie versteckt?« rief er außer sich. »Antworten Sie! Wehe Ihnen, wenn Sie ihr etwas zuleide getan haben!« Eine schallende Ohrfeige war die Antwort. Aber Jan war dadurch nicht aufzuhalten. »Schlagen Sie mich nur«, sagte er. »Das nützt Ihnen ganz und gar nichts. In wenigen Augenblicken wird die Hütte umstellt sein. Dann sind Sie -105-
erledigt! Ja, Sie sind schon jetzt erledigt…« Abermals holte Gentleman-Harry aus, und seine schwere Hand traf Jans Wange. Jan fuhr jedoch fort: »Ich weiß, wer Sie sind. Sie sind Harry Larsen, genannt Gentleman-Harry. Und Sie sind derjenige, der den Bankraub in Kopenhagen begangen hat. Mein Vater ist Kriminalkommissar. Sie werden der Polizei nicht mehr entwischen.« Die Worte des Knaben versetzten den Mann augenblicklich in großen Schrecken. Er hielt die Hand erhoben, als fände er nicht mehr die Kraft, sie niedersausen zu lassen. Er glotzte Jan an und trat einen Schritt zurück. »Zum Kuckuck, wovon sprichst du überhaupt, Bengel? Ich habe niemals…« Jan unterbrach ihn rasch: »Sie haben den Bankraub in Kopenhagen begangen.« »Was für einen Bankraub? Du bist wohl verrückt!« »Ich spreche von dem Raub in der Kopenhagener Gewerbeund Industriebank«, erklärte Jan ruhig. »Ich weiß ganz genau, daß Sie der Täter sind.« »Ich habe die Bank nie betreten.« Gentleman-Harry lachte verlegen. Offenbar hatte er beschlossen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen; denn er fuhr fort: »Ich hätte dich vielleicht nicht schlagen sollen. Aber du solltest auch nicht so naseweis sein. Hör nun mit deinem dummen Geschwätz von dem Bankraub auf. Ich weiß überhaupt nichts davon.« »Wissen Sie auch nichts davon, daß Sie den Kassierer mit der Pistole bedrohten?« Jan hatte sich dem Mann um einen Schritt genähert. Gentleman-Harrys Augen flackerten. »Ach, dieser alte, weißhaarige Idiot…« »Woher wissen Sie, daß er weißhaarig ist, wenn Sie die Gewerbe- und Industriebank niemals betreten haben?« rief Jan -106-
frohlockend. Mit einem Ruck drehte er sich um und rannte zur Haustür, die er aufriß. Schon glaubte er sich in Sicherheit, als er Niels Boelsen erblickte, der gerade über die Wiese kam und nur wenige Schritte vom Haus entfernt war. Jan versuchte an ihm vorbeizuschlüpfen; doch Niels Boelsen sprang auf ihn zu, packte ihn und hielt ihn fest. Obwohl Jan sich wie ein Rasender wehrte und sträubte, wurde er wieder ins Haus und in die Kammer geschleppt. »Wer ist denn das?« fragte Boelsen und musterte den Jungen. Plötzlich ging ihm ein Licht auf, und er sagte: »Ah, bist du nicht neulich mit Anders draußen herumgeschlichen? Du wolltest dich wohl nützlich machen, was?« Jan trat mit den Füßen um sich, stemmte sich mit aller Kraft gegen den Zugriff des Mannes und tat, was er nur konnte, um sich zu befreien; aber all sein Wehren blieb erfolglos. Er hörte Gentleman-Harry sagen: »Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, Niels. Hast du ein Motorrad erwischt?« »Ja«, antwortete Niels Boelsen, »ich fand eins vor dem Wirtshaus. Natürlich müssen wir gleich fort. Was sollen wir mit dem Bengel hier anfangen?« »Sperr ihn zu dem Mädchen!« Hierauf schleppten die beiden Männer den sich heftig sträubenden Knaben hinaus. Alles Strampeln und Zappeln, Kratzen und Beißen half Jan nichts – er wurde zum Schuppen geschleift. Niels Boelsen schloß die Schuppentür auf, während Gentleman-Harry den Jungen festhielt. In einem Winkel des Schuppens sah Jan eine regungslose Gestalt am Boden liegen. Es war Lis. »Was habt ihr mit ihr gemacht, ihr Mörder!« schrie Jan und schlug um sich. Der Anblick der Schwester, die so still und unbeweglich dalag, machte ihn rasend, und er dachte überhaupt nicht mehr an sich selbst. -107-
»Sie ist nur ein wenig gefesselt«, sagte Niels Boelsen. »Man wird euch später schon finden. – Ich brauche noch ein Stück Schnur.« Der andere reichte ihm eine kurze Wäscheleine, und Boelsen begann Jans Handgelenk zusammenzuschnüren. Die Leine schnitt tief ins Fleisch und bereitete Jan heftige Schmerzen. Aber er biß die Zähne zusammen und tat keinen Mucks. Plötzlich waren Schritte zu vernehmen, die sich der Hütte zu nähern schienen. Die beiden Männer hörten sie ebenfalls. Niels Boelsens harter Griff lockerte sich. »Was habe ich gesagt!« rief Jan frohlockend. »Gleich ist die Hütte umstellt!« Gentleman-Harry stieß einen Fluch aus. Boelsen ließ Jan los. Beide Männer sprangen zur Hütte hinaus und setzten in raschem Lauf zu den Feldern hinüber. Jan löste die Schnur um seine Hände, die noch nicht verknotet war, rannte ebenfalls hinaus und winkte den Leuten zu, die aus dem Wäldchen auf die Hütte zustürmten. Zuvorderst liefen Anders und Erling, der von Boy vorwärtsgerissen wurde. »Laß den Hund los!« schrie Jan. »Laß Boy los, Erling! Es sind die Bankräuber.« Die beiden Verbrecher hatten einen guten Vorsprung gewonnen; sie rannten schon über die Felder. Jan war überzeugt, daß Niels Boelsen das gestohlene Motorrad beim Hauptweg am Ende der Felder versteckt hatte. Gela ng es den Verbrechern, den Hauptweg zu erreichen, so war es unmöglich, sie zu fangen. Erling hatte Boy losgelassen. In großen Sprüngen setzte der Polizeihund den beiden Flüchtenden nach. Es dauerte nicht lange, so hatte er sie eingeholt. Und zum Glück griff er Gentleman-Harry als ersten an; denn der hatte sich umgedreht und in seine Tasche gefaßt, um die Pistole hervorzuziehen. Bevor der Mann sein Vorhaben ausführen konnte, war der Hund schon über ihm. Er riß ihn zu Boden, schlug die Zähne in seinen -108-
rechten Arm und machte es ihm unmöglich, sich zur Wehr zu setzen. Niels Boelsen war wie gelähmt vor Schrecken stehengeblieben, als der Hund seinen Angriff vollführte. Jetzt versuchte Boelsen weiterzurennen, aber die Gutsknechte waren inzwischen herangekommen. Er konnte ihnen nicht mehr entgehen. Jan nahm sich nicht mehr die Zeit, zuzusehen, wie die beiden Verbrecher gepackt und gefesselt wurden. Er stürmte in den Schuppen, beugte sich über die unbewegliche Gestalt am Boden und löste in fliegender Hast die Stricke, mit denen man ihr Füße und Hände zusammengebunden hatte.
Die arme Lis! Die ganze Nacht hatte sie gefesselt dagelegen, noch dazu mit einem Knebel im Mund, damit sie nicht schreien konnte. Sie weinte bitterlich, als Jan sie aufrichtete und ihre Handgele nke massierte, wo der Strick tief ins Fleisch -109-
eingeschnitten hatte. »Ich folgte ihnen«, schluchzte sie; »aber ich hatte Pech und stolperte, und da überwältigten mich die beiden Kerle. Sie schleppten mich hierher und fesselten mich. Sie sagten, man würde mich später schon auffinden… Ach, Jan, ich hab’ solche Angst ausgestanden…« Sie weinte, als müßte ihr das Herz brechen. Aber plötzlich stammelte sie unter Tränen: »Du schuldest mir fünf Kronen; ich habe die Wette gewonnen.« Drüben auf den Feldern sang Anders aus vollem Halse, während die beiden Verbrecher zum Gutshof geführt wurden. Boy sprang begeistert um sie herum. Erling saß währenddessen im Gras und schnaufte infolge der Hetzjagd wie eine Dampfmaschine.
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Am Abend hatte Onkel Helmer Feuer im Kamin anzünden lassen, und Mads hatte zur Feier des Tages einen herrlichen Apfelkuchen gebacken. Die Kinder saßen um den Kamin und blickten in die Flammen. »So, Sherlock Holmes«, sagte der Onkel, »nun laß uns hören, was dir alles durch den Kopf gegangen ist. Denn schließlich mußt du dir ja einiges gedacht haben, während du den Kerlen nachgespürt hast. Wenn mich nicht alles täuscht, wirst du nichts anderes werden als Detektiv, genau wie dein Vater. Das liegt im Blute, was?« Jan lächelte. Lis sagte ärgerlich: »Nichts anderes? Glaubst du, daß die Detektive es so leicht haben, Onkel Christian?« Helmer blieb ganz ernst, während er erwiderte: »Nein, das glaube ich nicht. Es war ein Scherz, den ihr nicht mißverstehen dürft. Ich habe euren Vater immer bewundert. Schon als Kind zeigte er dieselben Fähigkeiten wie heute Jan. Ich habe es ihm nie gleichtun können, wenn er seine Beobachtungen machte und seine Schlüsse zog. – So, Jan, nun erzähl endlich, wie du das Ganze herausgefunden hast. Mir scheint es wirklich erstaunlich, daß es dir gelungen ist, den Bankraub aufzuklären, nachdem die Polizei so lange vergeblich nach den Tätern gesucht hat. Ich habe deinem Vater schon telegraphiert; er wird sich über die Nachricht sicher sehr freuen.« »Ach, eigentlich war gar nichts dabei«, erwiderte Jan ausweichend. »Unsinn, Junge! Sei nicht so bescheiden. Los, erzähle. Wir sind alle gespannt darauf.« Aber Jan hatte sich gerade ein Stück Apfelkuchen genommen, -111-
und es verging noch eine kleine Weile, bis er mit seinen Erklärungen begann. »Ihr müßt wissen, daß Vater mir berichtet hatte, der Bankräuber habe dunkle Haare und einen dunklen Schnurrbart. Später erzählte mir Vater dann, man habe in Gentleman-Harrys Wohnung nasse Handtücher gefunden, die mit Wasserstoffsuperoxyd durchtränkt waren. Das schien mir ganz danach auszusehen, als ob Harry Larsen erst seine Haare dunkel gefärbt und dann wieder gebleicht hatte. Außerdem wußte ich, daß der Räuber beim Verlassen der Bank von einem ihm nachgeschleuderten Briefbeschwerer getroffen worden war, und zwar am linken Bein. Also lag die Annahme nahe, daß er hinkte. Gentleman-Harry kannte Niels Boelsen von früher her. Wie die Polizei heute bei der Vernehmung festgestellt hat, sandte er ihm das ganze geraubte Geld als gewöhnliches Postpaket. Der Polizeibeamte, der mich verhört hat, erzählte es mir. Mit dem Geld hatte Harry seinem Freund einen Brief geschickt, in dem er ihm genaue Anweisungen gab, wie und wann er den Nachtzug zum Stehen bringen sollte. Auf diese Weise konnte GentlemanHarry in aller Gemütsruhe den Zug ungesehen verlassen und sich in Niels Boelsens Hütte verstecken, wo er abwarten wollte, bis sich eine günstige Gelegenheit zum Ausreißen bot. Der Plan war gut; denn da niemand ihn gesehen hatte, suchte ihn auch niemand hier auf dem Lande, obwohl die Polizei in Kopenhagen einen Steckbrief hinter ihm erlassen hatte. Tagsüber hielt Gentleman-Harry sich teils in der Hütte, teils im Schuppen verborgen. An dem Tag, als Erling und ich dort herumschnüffelten, schlief er gerade im Schuppen, so daß er nichts von unserer Anwesenheit merkte. Aber auf die Dauer hielt er es nicht aus, beständig in der Hütte oder im Schuppen tatenlos herumzusitzen. So begab er sich gestern abend auf eigene Faust auf die Jagd. Er hatte seine Pistole mit, und er ist ja ein glänzender Schütze. Das erwies sich wieder einmal bei dem Schuß, mit dem er den Fuchs niederstreckte. Es war jedoch sehr -112-
dumm von ihm, daß er sich nicht bezähmt hatte; denn dadurch lenkte er unsere Aufmerksamkeit auf sich. Wahrscheinlich ist ihm dieser Gedanke keinen Augenblick gekommen; er dachte sicher nicht daran, daß der Fuchs weiterlaufen würde, um im Dickicht zu verenden. So aber hat er selbst den Beweis geliefert, daß sich hier in der Gegend ein hervorragender Schütze befand, der sogar einen Fuchs mit der Kugel treffen konnte.« »Füchse versuchen sich immer fortzuschleppen, auch wenn man sie gut getroffen hat«, warf der Gutsbesitzer ein. »Gewiß, das hat mir Anders gesagt. Harrys Fehler besteht ja eben darin, daß er nicht daran gedacht hat. Wäre der Fuchs zusammengebrochen und gleich verendet, so hätte Harry ihn wohl mitgenommen. Aber er fand ihn nicht, und so fanden wir ihn. Als ich dann am andern Morgen die Spuren eines hinkenden Mannes entdeckte, erinnerte ich mich an das, was Anders mir von Gentleman-Harrys früherem Aufenthalt hier in der Gegend erzählt hatte. Und nun kam es mir immer wahrscheinlicher vor, daß Gentleman-Harry der Mann war, der an jenem Abend vom Zug gesprungen war. Ich ließ Boy die Witterung des Taschentuchs nehmen, das der Mann um den Stein von der Bahnstrecke gewickelt hatte. Daraufhin strebte Boy schnurstracks auf Niels Boelsens Hütte zu, so daß ich sicher war, daß der Mann sich dort aufhielt. Auf die gleiche Weise hatte Boy ja auch den Beweis erbracht, daß Niels Boelsen den Nachtzug angehalten ha t. Als ich dann dem hinkenden Mann folgte und beobachtete, wie er ein Päckchen aus der Erde grub, sah ich das rote Muttermal an seinem linken Handgelenk, das Gentleman-Harrys besonderes Kennzeichen bildet. Die vielen Geldscheine, die auf dem Tisch lagen, schlossen die Kette. Er leugnete heftig, jemals die Gewerbe- und Industriebank betreten zu haben. Aber er wußte, daß der Kassierer ein weißhaariger Mann ist. Ganz aus Versehen verriet er sich.« »Wo hast du nur den Mut hergenommen, zu ihm hineinzugehen?« fragte Onkel Helmer kopfschüttelnd. »Der -113-
Mann hätte dich ja zum Krüppel schlagen oder dich in der Verzweiflung gar töten können.« Jan errötete, während er bekannte: »Ich hab’ dabei auch, offen gestanden, fürchterliche Angst ausgestanden. Aber Vater hat mir immer gesagt, daß die meisten Verbrecher im Grunde feige Menschen sind, die selbst vor Angst zittern, wenn man sie erwischt. Und damit hatte Vater ja auch in diesem Falle recht. Als ich Gentleman-Harry auf den Kopf zusagte, daß ich wisse, wer er sei, und daß er den Bankraub begangen habe, bekam er Angst. Angst – vor mir!« Jan konnte sich nicht enthalten zu lachen. »Ja, Verbrecher sind keine Helden«, stimmte Christian Helmer zu, »zumal ihr schlechtes Gewissen sie lähmt. Rechtschaffene Menschen, die nicht vom vorgeschriebenen Pfade abweichen, haben viel mehr Mut; denn ihr gutes Gewissen verleiht ihnen Kraft. Die Verbrecher suchen sich auf hinterlistige Weise ihren Pflichten der menschlichen Gemeinschaft gegenüber zu entziehen, weil sie feige Naturen sind. Aber sie fahren dabei nicht gut, wie Gentleman-Harry und Niels Boelsen nun auch wieder feststellen müssen. Ein Verbrechen macht sich niemals bezahlt. Das einzige, was auf Erden Wert hat und stets seinen Lohn findet, ist ehrliche und gute Arbeit. Alles andere ist Blendwerk. Denkt immer daran, Kinder!« Eine Weile herrschte Schweigen. Dann sagte Lis: »Du hast mir die fünf Kronen noch nicht gegeben, Jan, die ich gewonnen habe. Ich habe die Wette doch gewonnen, nicht wahr?« »Ja, du hast sie gewonnen«, lachte Jan. »Aber ich muß dir die fünf Kronen schuldig bleiben, bis ich zu Geld komme.« »Ich weiß nicht recht…«, meinte Erling kopfschüttelnd. »Schließlich habe ich doch Jans Botschaft richtig erfaßt und unverzüglich den ganzen Hof alarmiert. Und deshalb werde ich mir gestatten, Boy und mir selbst eine Belohnung zu geben.« Mit diesen Worten griff er nach der Schüssel mit dem -114-
Apfelkuchen, nahm sich zwei große Stücke, warf eins davon dem beglückten Boy zu und schmauste vergnügt das andere. Dabei hatte er bereits vier Stücke verzehrt! Christian Helmer lachte. Dann wurde er wieder ernst und sagte: »Du hast wohl vergessen, Jan, daß du die fünftausend Kronen erhalten wirst, die die Bank für die Ergreifung der Räuber ausgesetzt hat. Diese Belohnung hast du dir ehrlich verdient. Was wirst du mit dem Geld machen?« Jan blickte nachdenklich ins Kaminfeuer. »Wir wünschen uns schon so lange ein Sommerhaus, wo die Eltern die Ferien verleben könnten«, erwiderte er. »Wir sprachen noch davon, kurz bevor ich hierher fuhr. Aber es fehlte immer an Geld, um diesen Plan Wirklichkeit werden zu lassen. Vielleicht wäre das jetzt möglich…« »Ja, natürlich ist das jetzt möglich«, nickte der Gutsbesitzer. »Ich hoffe nur, daß ihr dann euren einsamen Onkel auf der jütländischen Halbinsel nicht ganz vergessen werdet. Ihr müßt mich wenigstens im Sommer besuchen. Sonst erhebe ich energischen Einspruch.« »Ganz bestimmt werden wir auch in Zukunft kommen, Onkel Christian!« rief Jan. »Mein Ehrenwort darauf!« Der Gutsbesitzer rauchte zufrieden seine Pfeife. Erling schmauste weiterhin Apfelkuchen, und die beiden andern blickten, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, ins Feuer. Boy betrachtete alle mit wachen, neugierigen Augen. Nach einer Weile sagte Jan zu dem Hund: »Nun hast du nur ein Stück Apfelkuchen zur Belohnung bekommen, Boy. Und dabei gebührt dir doch der größte Ruhm. Aber ich verspreche dir eine wunderschöne Hundehütte, wenn wir das Sommerhaus gebaut haben. Ist’s so recht?« Boy legte den Kopf auf die Knie des Knaben, blickte mit glänzenden Augen zu ihm auf und wedelte begeistert. Draußen ertönte Gesang; schrill und falsch schmetterte eine Stimme: -115-
»Rosmarienheide zur Maienzeit blüht, Rosmarienheide erfreut das Gemüt, Rosmarienheide ist lieblich und zart, Rosmarienheide ist eigener Art…« Christian Helmer lachte: »Ja, ja, schön ist das nicht. Aber Anders soll nur ruhig singen. Er hat allen Grund, seinem Herzen Luft zu machen und sich zu freuen. Zwei Wilddiebe hat er unschädlich gemacht. Dafür erhält er die ausgesetzten hundert Kronen. Niels Boelsen hat ja ein Geständnis abgelegt, daß er immerzu gewildert hat. Nun ist Anders natürlich obenauf. – Nanu, was gibt’s denn da?« Das Telefon auf dem Schreibtisch hatte plötzlich geläutet. Christian Helmer erhob sich und nahm den Hörer ab. »Hallo«, sagte er, »hallo…« Er drehte sich um und sagte zu den Kindern: »Ein Ferngespräch. Wahrscheinlich ruft euer Vater an.« Lis und Jan sprangen auf und stürzten zu ihm. Beide streckten die Hände nach dem Hörer aus. Christian Helmer sagte: »Jan gebührt der Vorrang. Ausnahmsweise soll’s diesmal heißen: Erst der Herr und dann die Dame.« Jan ergriff den Hörer und rief in die Muschel: »Hallo!« Seine Augen strahlten vor Stolz und Freude, als er seines Vaters Stimme vernahm: »Das hast du gut gemacht, mein Junge. Ich beglückwünsche dich von ganzem Herzen. Geht es euch sonst gut?« »Ausgezeichnet, Vater. Allen zusammen.« »Das freut mich. Benehmt euch nur gut und helft tüchtig mit, damit Onkel Christian zufrieden mit euch ist.« »Ja, Vater. Geht es euch daheim auch gut?« -116-
»O ja, aber wir vermissen euch zwei Rangen. Es ist fast zu still im Hause, da niemand mehr streitet. Haltet ihr jetzt wenigstens Frieden?« »Ja, wir vertragen uns glänzend.« »Hoffentlich bleibt’s dabei. Und wie geht’s Erling? Ist er schlanker geworden?« »Er hat etwa fünf Pfund zugenommen«, lachte Jan. Jetzt verlor Lis die Geduld. Sie griff nach dem Hörer, und Jan mußte ihn ihr wohl oder übel überlassen, nachdem er dem Vater noch rasch Lebewohl zugerufen hatte. Lis sprudelte sogleich los und berichtete alles, was geschehen war. Jan kehrte mit einem Gefühl des Stolzes und der Freude zu seinem Sessel zurück, einem Gefühl, das er zuletzt empfunden, als er seine guten Examensnoten heimgebracht hatte. Der Vater hatte nicht sehr viel zu seiner Leistung gesagt. Nur: »Das hast du gut gemacht, mein Junge«, und: »Ich beglückwünsche dich.« Aber das genügte vollkommen.
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KNUD MEISTER • CARLO ANDERSEN Jan wird Detektiv («Jan als Detektiv», Band 1) Ist es möglich, gute Kriminalgeschichten für die Jugend zu schreiben? Diesen Versuch haben zwei bekannte dänische Kriminalschriftsteller mit ihrer Buchreihe «Jan als Detektiv» gemacht, und der Erfolg beweist das Gelingen. Die dänischen Polizeibehörden haben die «Jan»-Bücher warm empfohlen, weil sie den Verbrecher so zeigen, wie er ist: als Schädling und Außenseiter der Gesellschaft, den es zu bekämpfen gilt. Und weil sie zugleich die Arbeit der Polizei ins rechte Licht rücken, die fast alle Verbrecher früher oder später entlarvt, auch wenn sie ihren Händen auf noch so schlaue Weise zu entschlüpfen suchen. Von dieser Arbeit der Polizei lassen uns die «Jan»Bücher ein gutes Stück miterleben. Jan, aufgeweckt und intelligent, ist der Sohn eines Kopenhagener Kriminalkommissars, dem sein Vater regelmäßig von seinem Beruf erzählt, um ihm zu zeigen, daß Mut, kühle Überlegung und restloser Einsatz der ganzen Person vonnöten sind, um den Kampf mit einem Verbrecher aufzunehmen. Jan kennt keinen andern Gedanken, als später einmal den gleichen Beruf wie sein Vater auszuüben. Natürlich ergreift er jede Gelegenheit, sich im kleinen als «Detektiv» zu erproben. So interessiert er sich in diesem Band lebhaft für die Aufklärung eines Bankraubs, mit dessen Untersuchung sein Vater gerade beschäftigt ist. Er weiß, daß die Polizei einen vor kurzem aus der Strafanstalt entlassenen Verbrecher in Verdacht hat, der am Tage des Bankraubs verschwunden ist. In Jütland, wo Jan mit seiner Schwester Lis, seinem Freunde Erling und dem Polizeihund Boy bei seinem Onkel die Ferien verlebt, stößt er -118-
auf die Spur dieses Mannes. Wie es dem mutigen Jan Helmer gelingt, durch kleine Beobachtungen und richtige Schlußfolgerungen den Beweis für die Schuld des Verdächtigen zu erbringen und seine Festnahme durch die Polizei herbeizuführen - das lese man im Buche selber nach!
ALBERT MÜLLER VERLAG RÜSCHLIKON-ZÜRICH • STUTTGART • WIEN
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