Mohammed Khallouk Islamischer Fundamentalismus vor den Toren Europas
Mohammed Khallouk
Islamischer Fundamentalismus ...
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Mohammed Khallouk Islamischer Fundamentalismus vor den Toren Europas
Mohammed Khallouk
Islamischer Fundamentalismus vor den Toren Europas Marokko zwischen Rückfall ins Mittelalter und westlicher Modernität
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Katrin Emmerich Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Anke Vogel, Ober-Olm Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15949-2
1.1 Untersuchungsgegenstand
Für meine Tochter Sarah
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Inhaltsverzeichnis
7
Inhaltsverzeichnis
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Einleitung.................................................................................................... 11 1.1 Untersuchungsgegenstand ................................................................. 11 1.2 Zielsetzung ........................................................................................ 12 1.3 Forschungsinteresse........................................................................... 14 1.4 Schwierigkeiten bei der Materialerhebung........................................ 15 1.5 Untersuchungsmethode ..................................................................... 16 1.6 Wohlwollende Unterstützungsleistungen.......................................... 17
2
Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung................................................................................................ 19 2.1 Bestimmung eines schwierigen Begriffs........................................... 19 2.2 Zur Geschichte des islamischen Fundamentalismus ......................... 38 2.3 Der islamische Fundamentalismus der Gegenwart – Ursachen und Motive ........................................................................ 55 2.3.1 Psychische Aspekte fundamentalistischer Haltungen ....................... 55 2.3.2 Zur sozialen Basis des islamischen Fundamentalismus.................... 66 2.3.3 Konflikte als Betätigungsfeld für islamische Fundamentalisten....... 75 2.4 Verhältnis islamischer Fundamentalisten zur politischen Staatsmacht........................................................................................ 84 2.5 Reaktion der politischen Staatsmacht auf islamische Fundamentalisten............................................................................... 90
3
Entwicklung des Staates Marokko........................................................... 99 3.1 Überblick über die Geschichte Marokkos seit seiner Arabisierung.. 99 3.1.1 Verschiedene Dynastien in Marokko ................................................ 99 3.1.2 Der Weg in die Unabhängigkeit ...................................................... 112 3.1.3 Ära Hassan II................................................................................... 119 3.1.4 Machtübergabe an Mohammed VI.................................................. 129 3.2 Die politische Entwicklung seit der Unabhängigkeit ...................... 136 3.2.1 Die Verfassungsentwicklung seit 1962 ........................................... 136
8
Inhaltsverzeichnis
3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3
Herausbildung politischer Parteien ................................................. 145 Die Entwicklung des parlamentarischen Systems........................... 153 Republik oder Monarchie? .............................................................. 159 Einfluß der Religion auf die gesellschaftliche Entwicklung Marokkos ......................................................................................... 168 3.3.1 Bedeutung der Religion bei der politischen Entwicklung............... 168 3.3.2 Bedeutung der Religion bei der wirtschaftlichen Entwicklung ...... 177 3.3.3 Bedeutung der Religion im Bildungssektor .................................... 187 4
Al-Adl Wal-Ihsan – die größte islamistische Bewegung Marokkos.... 197 4.1 Historische Entstehung.................................................................... 197 4.2 Organisatorischer Aufbau................................................................ 202 4.2.1 Interne Struktur................................................................................ 202 4.2.2 Finanzquellen .................................................................................. 206 4.2.3 Methoden der Mitgliedergewinnung ............................................... 208 4.3 Ideologische Grundlagen................................................................. 213 4.4 Programmatik .................................................................................. 223
5
Al-Aadala Wattanmiya ........................................................................... 235 5.1 Historische Entstehung.................................................................... 235 5.2 Ideologische Grundlagen................................................................. 240 5.2.1 Khatibs Brief an Hassan II. ............................................................. 240 5.2.2 Attawhid Wal-Islah ......................................................................... 249 a) Prinzipien und Einstellungen........................................................... 251 b) Zielsetzungen................................................................................... 253 c) Grundfunktionen.............................................................................. 254 d) struktureller Aufbau......................................................................... 255 5.3 Programmatik .................................................................................. 256
6
Problematik der Durchsetzung der Scharia und der Errichtung des islamischen Staates............................................................................ 267 6.1 Zum Begriff Scharia ........................................................................ 267 6.2 Der Ruf zur Durchsetzung der Scharia............................................ 276 6.3 Wie kann die Durchsetzung der Scharia erfolgen? ......................... 282 6.4 Der islamische Staat ........................................................................ 288 6.4.1 Der Begriff islamische Regierung................................................... 288 6.4.2 Rechtsmacht im Koran .................................................................... 293
Inhaltsverzeichnis
9
7
Islamismus in Marokko – eine Herausforderung für die Zukunft ..... 301 7.1 Stellt Islamismus eine Gefahr für die marokkanische Gesellschaft dar? ............................................................................. 301 7.2 Bedroht der Islamismus in Marokko die europäische Zivilisation und ihre Wertegemeinschaft? ...................................... 309 7.3 Wie weit tragen die Eliten in Marokko und Europa zum Islamismus bei? ............................................................................... 317
8
Fazit........................................................................................................... 329
9
Glossar ...................................................................................................... 331
10 Literaturverzeichnis ................................................................................ 337 10.1 Primärliteratur.................................................................................. 337 a) arabische .......................................................................................... 337 b) sonstige ............................................................................................ 340 10.2 Sekundärliteratur ............................................................................. 342
1.1 Untersuchungsgegenstand
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1 Einleitung
1.1 Untersuchungsgegenstand Die westlichen Medien stellen islamischen Fundamentalismus in den mannigfaltigsten Zusammenhängen ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Die hierunter gefassten Phänomene divergieren so sehr, weshalb sie für eine politologische Einschätzung einer aktuellen, in Marokko verbreiteten Gesellschaftsströmung nach Konvergenz und wissenschaftlicher Relevanz einzuordnen sind. Negative Assoziationen wie „Islamismus“ mit „Terrorismus“, die islamischem Fundamentalismus bevorzugt zugeschrieben werden, erzeugen ein bedrohliches Bild von der islamischen Zivilisation, das sich in Teilen der westlichen Gesellschaft mittlerweile verfestigt hat. Der gesamte islamisch geprägte Orient sieht sich einer St+igmatisierung als „rückständige, gegen den aufklärerischen Freiheitsbegriff gerichtete Kulturgemeinschaft“ ausgesetzt. Die Entwicklung in Staaten und Regionen der unmittelbaren europäischen Nachbarschaft erfährt eine besonders kritische westliche Aufmerksamkeit, da man vor allem von dort ein Übergreifen auf die eigene Wertegemeinschaft befürchtet. Seit den Anschlägen von Casablanca am 16. Mai 2003 geraten islamisch fundamentalistische Tendenzen innerhalb des Königreichs Marokko verstärkt in den Blickpunkt, weil sie der Jahrhunderte langen Erfahrung einer toleranten, multikulturellen, dem Abendland gegenüber aufgeschlossenen marokkanischen Gesellschaft augenscheinlich widersprechen. Vor diesem Hintergrund erscheint es erforderlich, sich mit „islamischem Fundamentalismus in Marokko“ intensiver auseinanderzusetzen, um herauszufinden, welche Geisteshaltung sich im Konkreten dahinter verbirgt und wie sich dieser angemessen begegnen läßt. Die Verwirrung angesichts der Interpretationsvielfalt des islamischen Fundamentalismus verlangt nach einer zutreffenden Definition für Fundamentalismus allgemein und islamischen Fundamentalismus als eigenständiger Variante. Die Charakteristika gilt es zu veranschaulichen, sowie islamische Fundamentalisten in ihrer Authentizität und Reaktionsweise in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Umfeld hervorzuheben. Die gesellschaftspolitische Bedeutung von Islamismus und islamischem Fundamentalismus in wie für Marokko erfordert einen tieferen Einblick in die spezifischen kulturhistorischen Voraussetzungen. Insbesondere die Stellung des Islam innerhalb der marokkanischen Geschichte und Gegenwart wird für die verschiedensten Gesellschaftsbereiche besonders aber die staatspolitische Ordnung beleuchtet. Es gilt aufzuzeigen, in welcher Weise eine politische Instru-
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1 Einleitung
mentalisierung des Islam die marokkanische Civil Society bestimmt und ihre gegenwärtige wie zukünftige Entwicklung beeinflusst. Das Augenmerk richtet sich sowohl auf Bedingungen, die der Religion eine progressive, modernisierungsbeschleunigende Wirkung verleihen, als auch auf ein konstitutionelles Gefüge, indem der religiöse Einfluß zivilisatorischem Fortschritt entgegensteht. Die islamistischen Bewegungen des Landes werden dahingehend analysiert, ob sie sich in einem Kontext herausbilden, der in der Religion einen Antrieb für gesellschaftliche Veränderungen zum Wohle des Gemeinwesens erkennt; oder ob sie als Indikatoren einer verbreiteten Abwehrmentalität gegenüber mit dem Westen assoziierter Liberalisierung interpretiert werden müssen. Die gesellschaftlichen Grundeinstellungen einzelner islamistischer Strömungen sind ebenso gegenüberzustellen, wie das Staatsverständnis dem Islamismus zugeordneter Bewegungen und der sich ebenfalls auf eine religiöse Legitimationsgrundlage berufenden politischen Verantwortungsträger. Die Expertise zielt darauf ab, herauszufinden, in wie weit eine Separierung von Staat und Religion als zwei unabhängig voneinander agierende Ebenen, die sich im postaufklärerischen Europa herausgebildet hat, im islamisch geprägten Marokko realisierbar und erstrebenswert wäre. Differenziert nach radikalen und gemäßigten Islamisten ist ihr Islamverständnis auf die Akzeptanz des dem Westen nachempfundenen Gesellschaftsmodells zu überprüfen, in dem staatliche Verantwortungsübertragung nach rationalen Kriterien erfolgt. In einer Gegenüberstellung staatlicher Reaktionsweisen auf Islamismus erfordert es nachzuvollziehen, in wie fern die politische Obrigkeit Radikalisierung und Widerstand gegen vom Westen ausgehende Tendenzen erweckt. Ein politisches Modernisierungskonzept ist vorzustellen, in dem sich der Religion erwachsene Fortschrittsskepsis für die konstruktive Teilnahme an einem gesellschaftlichen Prozess gewinnen läßt. Westlichen Autoritäten verlangt es eine Perspektive aufzuzeigen, wie die sie der marokkanischen Gesellschaft gegenübertreten können, ohne eine Opposition gegen ihre Zivilisation entstehen zu lassen, sowie eine durch „islamischen Fundamentalismus“ tatsächlich oder vermeintlich ausgehende Gefahr zu minimieren. 1.2 Zielsetzung Fundamentalismus allgemein und islamischer Fundamentalismus in besonderem Maße wird gewöhnlich mit „Rückständigkeit“ oder „Vergangenheitsorientiertheit“ assoziiert. Ausgehend von einer existierenden oder in besonderem Maße wahrgenommenen Tendenz islamischer Gesellschaften zu Fundamentalismus entsteht im westlichen Zivilisationsraum immer wieder die fehlgeleitete Schlussfolgerung, der Islam verleite in besonderem Maße zu „fundamentalistischem
1.2 Zielsetzung
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Denken“ und sei von seinem Wesen her eine „rückwärtsgewandte fortschrittsfeindliche Religion“. Ein Hauptanliegen richtet sich auf die Widerlegung dieses aus Unkenntnis und oberflächlicher Information erwachsenen islamfeindlichen Ressentiments. Islamischer Fundamentalismus und seine politische Instrumentalisierung im Islamismus gilt es in einer Weise darzustellen, dass sie als Reaktionen auf aktuelle, für ungerecht befundene gesellschaftliche Gegebenheiten realisiert werden. Dahinter steht der Anspruch, staatlichen Verantwortungsträgern in und außerhalb Marokkos Perspektiven aufzuzeigen, über ihre Politik fundamentalistischen Tendenzen entgegenzuwirken. Ein Konzept zu präsentieren, das dem Königreich Marokko ohne Verleugnung seines zivilisatorischen Fundaments im Islam für gesellschaftlichen Fortschritt nach westlichen Vorbildern die Basis bereitet, erscheint geboten. Eine Strategie erweist sich als erforderlich, die Religion für aus rationaler Notwendigkeit erwachsene institutionelle Reformen einzusetzen, ohne für den Erhalt von autoritären undemokratischen Strukturen zu missbrauchen. Dem Westen gilt es eine nüchterne Sensibilität für die kulturspezifischen Voraussetzungen außerwestlicher Zivilisationen zu vermitteln, über die angemessen auf eine aktuelle Geistesströmung in Marokko reagiert werden kann. Der von Teilen der prowestlichen Elite ausgehenden Definition von Modernität als Übertragung okzidentaler Gesellschaftskonzepte auf Nationen mit divergentem kulturhistorischem Hintergrund erfordert ein eindeutiges Entgegentreten. Anhand von Exempeln aus der marokkanischen Geschichte und Gegenwart ist die in europäischen Diskursen vielfach geäußerte Ansicht zu widerlegen, gesellschaftlicher Fortschritt einhergehend mit politischer Freiheit und Pluralität bedinge die Abwendung von Religion. Eine im neuzeitlichen Westen ungewohnte Beziehung des staatlichen Kollektivs zur Religion gilt es in einer Weise zu präsentieren, dass darin zugleich traditionelle Wertegebundenheit und moderner Gemeinsinn erkannt werden kann. Gleichzeitig verlangt es eine politische Instrumentalisierung des Islam für absolutistische Herrschaft zu entlarven, sowie ihre Unvereinbarkeit mit einem modernen Islamverständnis herauszustellen. Hierzu müssen universelle, der europäischen Aufklärung entstammende politische Wertbegriffe wie Demokratie und Menschenrechte als konform mit dem islamischen Gerechtigkeitsbegriff hervorgehoben werden. Der Islam, zeitgemäß ausgelegt, sollte als Grundlage einer politischen Reformagenda präsentiert werden, die in der Lage ist, eine marokkanische Entwicklung voranzutreiben, von der alle Bevölkerungsschichten profitieren. Islamischer Fundamentalismus in Marokko darf in keiner Weise als Beleg einer grundsätzlichen Rivalität zwischen westlicher und islamischer Zivilisation erscheinen. Die dahinter stehende These eines bevorstehenden Kampfes der Kulturen mit der gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Islam und Westen als Höhepunkt gilt es vielmehr als realitätsfern zu charakterisieren. Wesentliches Anliegen besteht in der Animierung zu
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1 Einleitung
einem Kulturdialog auf der Basis des mit dem Islam konform gehenden Humanismus, der zugleich als Wesensmerkmal der westlichen Aufklärung zu kennzeichnen ist. Zwar besteht nicht die Absicht, der Religion erwachsene zivilisatorische Divergenzen zu negieren. Gegeneinander gerichteten Extrempositionen ist über eine aufrichtige Wertschätzung des Gegenübers das Fundament zu entziehen. 1.3 Forschungsinteresse In Marokko hat der Islam seit historischer Zeit bis in die Gegenwart hinein eine identitätsstiftende Wirkung gehabt, sowie in besonderem Maße zur zivilisatorischen Weiterentwicklung beigetragen. Unter diesem Aspekt erscheint ein islamischer Fundamentalismus, der im Ergebnis eine „Rückwärtsgewandtheit“ sowohl in gesellschaftlicher Hinsicht als auch im Religionsverständnis in sich birgt, kaum vorstellbar. Der Blickpunkt richtet sich auf dennoch vorhandene, lange Zeit unbeobachtete oder nicht als solche wahrgenommene Tendenzen zu Fundamentalismus in der marokkanischen Gesellschaft. Befindet sich das Land unter dem Einfluß einer generellen, zu Fundamentalismen neigenden Entwicklung oder bestehen aktuell besonders günstige Voraussetzungen, hervorgerufen durch spezifische Rahmenbedingungen? Für die politologische Diskussion wäre von Relevanz, inwieweit die marokkanische Variante des „Islamismus“ von unter der gleichen Kategorie gefassten Bewegungen in anderem geohistorischen Kontext sich abhebt. Das marokkanische Beispiel erscheint besonders geeignet, um darzustellen, wie das Staatsverständnis einer Herrschaftselite, mehr noch aber ihre Religionsauffassung sich auf die kollektive Hinwendung zu Islamismus auswirkt, da anders als in westlichen, aber auch einigen islamischen Ländern der Islam als verfassungsmäßig vorgegebene Staatsreligion verankert ist. Der über Jahrhunderte bestehende ökonomische wie kulturelle Austausch mit dem Westen, auf den andere Regionen der islamischen Zivilisation nicht in gleichem Maße zurückblicken können, bietet die Grundlage, herauszufinden, welchen Einfluß der Okzident auf die Herausbildung neuzeitlicher fundamentalistischer Gesinnung sowie für die Attraktivität fundamentalistischer Bewegungen ausgeübt hat und weiterhin ausübt. Trotz einer in Europa bestehenden Befürchtung, von Marokko ausgehend sich auf bedrohlich empfundene Entwicklungen wie u.a. den islamischen Fundamentalismus vorbereiten zu müssen, lässt sich feststellen, wie gering die Kenntnisse vor allem im deutschsprachigen Raum über ein Land sind, das hervorgerufen durch die Investitionstätigkeit der Gebrüder Mannesmann bereits seit der wilhelminischen Ära für Politik und Wirtschaft in Deutschland zum vorrangigen Interessensgebiet zählte. Eine tiefgründige Beschäftigung mit der marokkanischen Gesellschaft kann dem bestehenden ökonomischen Austausch eine
1.4 Schwierigkeiten bei der Materialerhebung
15
kulturelle und wissenschaftliche Begegnung folgen lassen, wovon nicht nur eine kleine Elite, sondern die gesamte marokkanische wie deutsche Civil Society zu profitieren in der Lage ist. Vor allem im Zusammenhang mit islamischem Fundamentalismus sind über Marokko noch kaum repräsentative Untersuchungen erfolgt, da die Medienöffentlichkeit jenes Phänomen lange Zeit hinweg fast ausschließlich mit dem Nahen und Mittleren Osten, allenfalls noch mit Algerien verband. Erst die Anschläge von Casablanca und verstärkt die Beteiligung von Marokkanern an politisch motivierten Gewaltaktionen in Europa wie beispielsweise der Ermordung des niederländischen Schriftstellers Theo Van Gogh haben deutlich vor Augen geführt, dass die islamische Zivilisation jenseits der Strasse von Gibraltar anfängt, womit ein spezifisch „islamischer“ Fundamentalismus bereits ab dort sich als gesellschaftsprägende Erscheinungsform herauskristallisieren könnte. Es gilt, eine wissenschaftliche Lücke zu schließen, damit die marokkanischen Ausdruckweisen bei künftigen Klassifizierungen von Islamismus oder islamischem Fundamentalismus nicht mehr unberücksichtigt bleiben und bei der Entwicklung von politischen Konzeptionen wie in geisteswissenschaftlichen Erörterungen ihre berechtigte Aufmerksamkeit finden. 1.4 Schwierigkeiten bei der Materialerhebung Bei den Vorarbeiten für den Einstieg in die eigentlichen wissenschaftlichen Forschungen zeigten sich Bedingungen, die den Zugang zu geeigneter Textgrundlage behinderten. Das bestehende literarische Fundament über islamistische Tendenzen in Marokko schien für eine vielschichtige Beleuchtung als nicht ausreichend. Hieraus erwuchs die Absicht, in selbst durchgeführten Interviews mit bekennenden marokkanischen Islamisten und ihren bedeutendsten Kritikern zu authentischen Zuschreibungen zu gelangen. Bei der Auswertung der ersten, bereits durchgeführten Interviews stellte sich allerdings heraus, dass die Aussagen der Interviewpartner von mangelhafter wissenschaftlicher Relevanz waren und im Wesentlichen bekannte Positionen wiederholt wurden. Die Überzeugung, dass eine ausführliche Präsentation der Interviews den ursprünglich vorgegebenen Umfang in unzulässiger Weise übersteigen würde, führte schließlich zur Beschränkung auf literarische Quellen. Hierzu gehörte neben der Primärliteratur der marokkanischen Islamisten Sekundärliteratur über islamischen Fundamentalismus. Die geringe Quantität literarischer Werke zu den spezifischen marokkanischen Islamismusvarianten erforderte einen Rückgriff auf allgemeine Literatur. Die Mannigfaltigkeit der unter islamischem Fundamentalismus gefassten Weltanschauungen bedingt eine so große Anzahl an Autoren, dass es kaum möglich erscheint, zum Verständnis des in Marokko existierenden Islamismus geeignete Feststellungen herauszuziehen. In anderem geohistorischen Zusammenhang zutreffende Kategorien dür-
16
1 Einleitung
fen nicht unbegründet auf Marokko übertragen werden und können allenfalls als Orientierung für eigens vorzunehmende Spezifizierungen und Klassifizierungen dienen. Die auf Marokko bezogenen Neukategorisierungen waren in einer Weise festzulegen, dass sie eine logische Verbindung zu allgemeinen, zum wissenschaftlichen Konsens erhobenen Definitionen erkennen lassen. Eine weitere, von der verwandten Textgrundlage ausgehende Problematik lag darin, die Aussagen der verschiedenen Autoren in geeigneter Weise in den eigenen Text einfließen zu lassen. Weder die Primär- noch die Sekundärliteratur ist vollständig in deutscher Sprache erhältlich. Der Zugriff auf fremdsprachiges Textmaterial erweist sich folglich als unvermeidbar. Mag die Sekundärliteratur noch weitgehend in Englisch oder Französisch verfasst worden sein und eine Zitierung in der Originalsprache sinnvoll erscheinen lassen, existiert Primärliteratur der Islamisten, die zudem nur in Marokko anzutreffen war, ausschließlich in Arabisch. In dem Bewusstsein, dass ein interessierter Leserkreis in Deutschland der arabischen Sprache gemeinhin nicht mächtig ist, erforderte es, Übersetzungen vorzunehmen. Abgesehen vom Zeitaufwand, den diese Übersetzungen in Anspruch genommen haben, verlangte es einer permanenten Vergewisserung, daß die Wiedergabe auf Deutsch den eigentlichen Kern der Aussage trifft, sowie die Absicht des Autors nicht durch eigene subjektive Interpretationen verändert. Diese von den literarischen Quellen ausgehenden methodischen Einschränkungen erwiesen sich letztlich als überwindbare Hürde, zu einem befriedigenden Abschluß zu gelangen. 1.5 Untersuchungsmethode Die Arbeit stützt sich im Wesentlichen auf die deduktive Methode der Erkenntnisgewinnung. Vorgegebene Hypothesen werden anhand arabischer Primärliteratur ebenso wie geeigneter deutscher, englischer oder französischer Sekundärliteratur zu belegen versucht. Die Untersuchung baut vor allem auf der Interpretation mehrdeutiger Aussagen, die es galt, in einen sinnvollen Kontext einzuordnen, sowie in eine geeignete Beziehung zur Abschlussthese zu bringen. Die Aufgabe bestand darin, die in der Primärliteratur vertretenen islamistischen Gesellschaftsauffassungen mit den Interpretationen der Sekundärliteratur zu vergleichen, sowie zu erörtern, inwieweit es den verschiedenen Autoren gelungen ist, ein wirklichkeitsgetreues Bild des marokkanischen Islamismus wiederzugeben. Im Vergleich entgegengesetzt positionierter Autoren verlangte es, herauszufinden, wo von einer realistischen Wiedergabe eines vorgefundenen Sachverhalts auszugehen ist und worin sich die subjektive Darstellungsweise herauskristallisiert. Die Entwicklung der These beinhaltete die Bezugnahme auf wissenschaftliche Positionierungen, die die eigene Ansicht stützen oder die es basierend auf fun-
1.6 Wohlwollende Unterstützungsleistungen
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dierter Primärliteratur zu widerlegen galt. Über die Erwerbung literarischer Vorkenntnisse gelang eine fundierte Stellungnahme zu den bedeutendsten gesellschaftlichen Aussagen von Islamisten wie Säkularisten, die schließlich in die Grundbewertung der dahinter stehenden Konzepte hineinmündete. In einem Schlussplädoyer wurde die Zusammenfassung der verschiedenen, in der Arbeit präsentierten Einschätzungen zu einer Gesamtthese erreicht. Alle Leitaussagen sind darin einbezogen, aber auch eine anhand der Literatur entwickelte Erklärung des islamischen Fundamentalismus in Marokko, sowie zur Funktion des Islam im marokkanischen Staatswesen. Die Anfangshypothesen mussten erneut hervorgehoben und entweder aufgrund der Untersuchungsergebnisse bestätigt oder falsifiziert werden.
1.6 Wohlwollende Unterstützungsleistungen Für die erfolgreiche Vollendung dieser Dissertation erwies sich die permanente Unterstützungsbereitschaft und Begleitung durch meinen Vertrauensdozenten, sowie von Freunden und Bekannten als unersetzbar. Die Betreuung durch Prof. Dr. Hans Karl Rupp stand mir jederzeit zur Verfügung und soll in besonderer Weise lobend herausgenommen werden. Vor allem bei der Strukturierung und Auswahl der geeigneten Untersuchungsmethode präsentierte sich Prof. Rupp jederzeit als Ansprechpartner, der immer wieder weiterführende Ideen und Anregungen parat hatte. Für die Zusammenstellung und Ordnung der Literatur, sowie das Layout zur öffentlichen Weitergabe der Arbeit haben langjährige Freunde und wissenschaftliche Begleiter sich wertvolle Verdienste und Respekt erworben. In diesem Zusammenang möchte ich besonders meine Frau Nisrin Awwad und meinen Freund Joachim Münch erwähnen. Nicht zuletzt gilt es die finanzielle Unterstützungsleistung seitens der Friedrich – Ebert – Stiftung hervorzuheben, ohne die der Rahmen für ungehindertes zielführendes wissenschaftliches Arbeiten wohl kaum erreichbar gewesen wäre. Den genannten Personen und Einrichtungen, sowie allen weiteren Mitwirkenden erfordert es unermesslichen Dank auszusprechen und ihren Anteil am letztendlich Erreichten bei jeder sich bietenden Gelegenheit herauszustellen.
2.1 Bestimmung eines schwierigen Begriffs
19
2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung 2
Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
2.1 Bestimmung eines schwierigen Begriffs Eine angemessene Darstellung der Vielschichtigkeit des Phänomens „Islamischer Fundamentalismus“, wie er in der Gegenwart auftritt, sowie seine wissenschaftstheoretische Einordnung verlangt die Suche nach einer umfassenden und präzisen Definition der Bezeichnung „Fundamentalismus“ im Allgemeinen und „Islamischer Fundamentalismus“ als spezieller Ausprägungsform. Die Definition sollte auftauchenden Mißverständnissen ebenso vorbeugen, wie einer politischideologischen Instrumentalisierung des Begriffes. Hierzu muß sie alle mit islamischem Fundamentalismus verbundenen Eigenschaften einbeziehen, ohne den Kontext, in dem er auftritt, aus dem Auge zu verlieren. Die historische Entstehung des Terminus im Zusammenhang mit einer Denkrichtung innerhalb des westlichen Christentums und seine Übertragung auf andere religiöse und säkulare Bewegungen, wie auf Erscheinungen der Welt des Islam wird nachgezeichnet und hinterfragt. Zur Diskussion gestellt wird die allgemeine Gültigkeit dem Fundamentalismus zugeschriebener Merkmale, sowie die von der Mehrheit der Autoren vertretene Sichtweise, daß Fundamentalismus jeglicher Form für die Gesellschaft der Zukunft eine Beeinträchtigung sei. Die Übertragung einer in der westlichen Zivilisation entstandenen Denkrichtung auf Strömungen innerhalb des islamischen Kulturraums gilt es grundsätzlich auf ihre Berechtigung zu reflektieren. Fundamentalismus, insbesondere islamischer Fundamentalismus wird im Bewußtsein der westlichen Gesellschaft immer wieder mit einer Politisierung einer Religion und gewalttätigen antiwestlichen Gesinnung gleichgesetzt, ein Determinismus, der angesichts der mangelnden Kenntnis des Islam begünstigt wird. Die Einbeziehung der spezifisch islamischen Erklärungen für Fundamentalismus, einschließlich jener von sich selbst als „Fundamentalisten“ bezeichnenden Muslimen erzeugt ein differenzierteres Bild über die islamische Denkweise. Hiervon ausgehend gelangt es zum kulturspezifischen Verständnis des islamischen Fundamentalismus, welches eine Bedrohung für den Islam wie für die moderne, plurale, multireligiöse Gesellschaft realistisch einzuschätzen erlaubt. In der kritischen Gegenüberstellung zu Fundamentalismusbeschreibungen der westlichen Literatur gelingt die Entwicklung einer eigenen Definition für islamischen Fundamentalismus, die einem Gesell-
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
schaftsphänomen angemessen Rechnung trägt, sowie für die politologische Auseinandersetzung die Grundlage bietet. Obwohl in den letzten Jahrzehnten immer wieder vom Fundamentalismus als einer weltweiten Tendenz gegen eine auf Ökonomie und Technik fixierte Modernisierung die Rede ist, wird seine historische Wurzel gewöhnlich exakt auf eine in bestimmten Kontext auftretende Geistesströmung mit einer territorial begrenzten Anhängerschaft beschränkt. Genauer gesagt handelt es sich um christlich protestantische Kreise, die seit dem Neunzehnten und frühen Zwanzigsten Jahrhundert im angloamerikanischen Raum politischen und kulturhistorischen Einfluß besitzen. Als wesentliches Charakteristikum gilt der Anspruch, die Geschehnisse der Welt, einschließlich ihrer Entstehung ausschließlich auf religiös biblischer Grundlage zu deuten. Hierbei kristallisiert sich eine Reaktion auf die ebenfalls von der westlichen Zivilisation ausgehende Aufklärung heraus, die rationale Erklärungsmuster basierend auf naturwissenschaftlicher Erkenntnis zum Maßstab erhoben hatte. Eine geistige Verbindung jenes christlich evangelikal begründeten Fundamentalismus zu antimodern erscheinenden Bewegungen jenseits des westlichen Abendlandes wurde erst später durch Zuschreibungen von außen hergestellt. Caplan (1987) erinnert an diesen nordamerikanischen Ursprung des Fundamentalismus und sieht die Entstehung wie die Existenz jener protestantischen Bewegung in besonderer Beziehung zur amerikanischen Kultur: Fundamentalismus is unquestionably an evocative image in our time, but it is important to counter what seems to be a popular assumption that it is uniquely of our time. Recent historans of Protestantism in the USA, anxious to dispel an earlier idea that American fundamentalism was entirely a product of the 1920s (which witnessed the controversy over evolution, leading to the infamous Scopes ´monkey` trial) have shown how it existed as a religious movement before, during and after the events of that decade. Marsden has traced its roots back to the Holiness and Pre-Millenial movements of the nineteenth century, and argued that fundamentalism in this century has 'emphasized doctrinal tendencies already strong in American culture and religious traditions`.1
Der ursprüngliche Begriff “Fundamentalismus” bezog sich folglich ausschließlich auf religiösen, speziell christlichen Fundamentalismus, der sich der modernen, auf Experiment und Irrtum beruhenden Naturwissenschaft entgegenstellte. Einen Anstoß für fundamentalistische Propaganda gab die Darvinssche Evolutionstheorie, die bei evangelikalen Kreisen in den USA auf Zurückweisung stieß. Als Theorie bezog sie die eigene wissenschaftliche Infragestellung bewußt mit ein. Das dahinter stehende Prinzip stand der fundamentalistischen Sichtweise entgegen, die den biblischen Bericht als einzige, von Gott inspirierte unhinter1
Caplan, Lionel: Studies in Religious Fundamentalism, p. 2
2.1 Bestimmung eines schwierigen Begriffs
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gehbare Wahrheit definiert. Wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung hatte sich nach evangelikaler Überzeugung auf die wortgetreue Auslegung der Heiligen Schrift zu beschränken. Die evangelikale Bewegung, die bis zur Gegenwart in den USA kulturellen wie politischen Einfluß besitzt, wird bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt. Obwohl sich die Bezeichnung Fundamentalismus ursprünglich lediglich auf die Einstellung zu moderner säkularer Wissenschaft bezog, assoziieren immer mehr Autoren den Begriff mit einem traditionalistisch patriarchalischen Gesellschaftsmodell, welches von der Mehrheit der Evangelikalen favorisiert wird. Man gelangt zu der Erkenntnis, dass jene archaische, antiliberale Weltanschauung in den verschiedensten Kulturen und Religionen strukturelle Parallelen findet. Sie kennzeichnet sich durch die Verbindung einer extremen Frömmigkeit mit der Fixierung auf eine geistige Autorität aus, deren Vorgaben und gesellschaftspolitische Ansichten unreflektiert übernommen werden. Rawlyk (1990) beschreibt den evangelikalen „fundamentalistischen“ Lebensstil auf folgende Weise: The North American evangelical tradition since the eighteenth century, [...] is distinctive for its heavy emphasis on the “intense conversion experience, fervid piety, ecstatic worship forms, Biblical literalism, the pure church ideal, and charismatic leadership.2
Mögen die Wissenschafts- und Technologiefeindlichkeit auf der einen und eine traditionalistisch autoritäre Grundeinstellung auf der anderen Seite zwei unabhängig voneinander auftretende Eigenschaften seien, beide spiegeln eine mangelnde Bereitschaft sich auf gesellschaftliche Veränderungen einzulassen wieder. Fundamentalismus wird daher nicht selten mit reaktionärer Gesellschaftsauffassung gleichgesetzt. Sie werde überall sichtbar, wo eine Gesellschaft sich insgesamt zivilisatorisch weiterentwickele und bestimmte Strömungen sich dieser Entwicklung entgegenstellten. Indem die gesellschaftliche Modernisierung bedingt durch ein weltweites Verkehrs- und Nachrichtennetz den gesamten Globus erfasse, nehme die antimoderne Reaktion gleichermaßen globale Züge an. Der geohistorische Beginn von Fundamentalismus im angloamerikanischen Kulturraum wird weniger mit einer generellen reaktionären Tendenz jener Zivilisation erklärt als mehr mit einer recht früh einsetzenden Modernisierung. Je später eine Gesellschaft mit der modernen Entwicklung konfrontiert werde, desto später werde der Fundamentalismus als Reaktion zum Vorschein treten. Da mittlerweile alle Zivilisationen von der technologisch wissenschaftlichen Entwicklung betroffen sind, können für jeden weiteren Entwicklungsschritt globale Auswirkungen angenommen werden. Die fundamentalistische Gegenreaktion äußert 2
Rawlyk, George A.: Champions of the Truth, p. 4
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
sich ebenfalls in globaler Form, obwohl eine unmittelbare Verbindung der einzelnen Strömungen angesichts der divergenten kulturellen Voraussetzungen nicht besteht. Zu differenzieren ist zwischen einer Skepsis gegenüber moderner Wissenschaft und einer vehementen Gegnerschaft zum der Aufklärung erwachsenen liberalen Gesellschaftsverständnis. Letzteres resultiert aus der mangelhaften Bereitschaft, ein geändertes Rollenverständnis und moderne politisch-ökonomische Machtstrukturen zu akzeptieren. Die Verfemung moderner Rationalität, die beide Eigenschaften des Fundamentalismus zur Folge hat, wurzelt in der Befürchtung, mit der wissenschaftlichen ebenso die moralisch-gesellschaftliche Deutungshoheit, sowie hiervon ausgehend gesellschaftspolitische Autorität zu verlieren. Kuhlmann (1989) gliedert den Fundamentalismus in intellektuellen und politischen Fundamentalismus auf, sowie verbindet ihn mit Abwehrreflexen gegenüber einer auf Freiheit und Selbstbestimmung basierenden Gesellschaft. Wende sich „intellektueller Fundamentalismus“ lediglich gegen eine auf Kritik und Zweifel beruhende Wissenschaftlichkeit, schließe „politischer Fundamentalismus“ die Sehnsucht nach traditionellen, autoritären Machtstrukturen notwendigerweise mit ein. Er kritisiert die fehlende Bereitschaft der Fundamentalisten, Eigeninitiative zu entwickeln, weshalb sie einem Gesellschaftsmodell anhingen, in dem eine geistige Autorität bereits gültige Normen vorgegeben habe: Fundamentalismus ist der selbstverschuldete Rückfall aus den Zumutungen des Selberdenkens, der Eigenverantwortung, der Begründungspflicht und der Offenheit aller Geltungsansprüche, Herrschaftslegitimationen und Lebensformen in die Sicherheit selbstfabrizierter Fundamente. […] Intellektueller Fundamentalismus ist die Flucht aus dem unabschließbaren Diskurs in die unbegründbaren und grundlosen Geheimnisse seiner vermeintlichen Fundamente. Politischer Fundamentalismus ist Metapolitik, die aus einer absoluten Wahrheit von oben oder von innen her das Recht beansprucht, den Regeln der Demokratie, des politischen Relativismus, der Unantastbarkeit der Menschenrechte, den Gesetzen der Toleranz, des Pluralismus und der Irrtumsfähigkeit enthoben zu sein.3
Aus der Tatsache, daß Religionen von einer ganzheitlichen, alle Lebensbereiche umfassenden, göttlichen Ordnung ausgehen, gelten sie als besonders geeignet, ein der Moderne entgegenstehendes Obrigkeitsmodell einzufordern. Religiöse Wahrheiten sind zeitungebunden und legen ein konservatives Festhalten nahe. Gott ist die Autorität schlechthin, womit seine Vorgaben über aus der Vernunft entwickelten Leitideen und vom Zeitgeist abhängigen Regelungen stehen. Die Fixierung auf traditionelle Autoritätsbeziehungen, die dem politischen Fundamentalismus gemeinhin zugeschrieben wird, kann aus einem religiösen Bewusst3
Kuhlmann, Wolfgang: Ist die Transzendentalpragmatik eine philosophische Form des Fundamentalismus? S. 33
2.1 Bestimmung eines schwierigen Begriffs
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sein heraus erwachsen, sofern es den damit verbundenen Strukturen gelingt, sich eine sakrale Rechtfertigung zuzumessen. Der Relativierung bestehender Autoritäten, die sich in einer pluralistischen Gesellschaft ergibt, haftet das Stigma der Auflehnung gegen die „göttliche Ordnung“ an. Ihre ideologische Verwurzelung in einem religiös begründeten Wahrheitsbegriff verleiht fundamentalistischer Einstellung die Voraussetzung, der durchaus vorhandenen Attraktivität durch die Moderne sich ergebender neuer Varianten die Legitimationsgrundlage zu entziehen. Da die Religion im Gegensatz zu säkularen Weltanschauungen besonders günstige Voraussetzungen für kollektiv akzeptierte archaische Normen bietet, sowie in der Tat Gewissheiten enthält, die sich rational nicht widerlegen lassen, wird der „religiöse Fundamentalismus“ als eigenständige Ausprägungsform von anderen Fundamentalismusspielarten unterschieden. Die drei abrahamitischen Buchreligionen gelten aufgrund ihres Absolutheitsanspruchs verbunden mit dem schriftlich fixierten Hintergrund als prädestiniert, fundamentalistische Gesinnung hervorzurufen. Bezogen auf moderne, zweifelsgebundene Wissenschaft und einen normenfreien Lebensstil mag der Widerstand aus christlichen, jüdischen und islamischen Kreisen aus den Schriften seine Rechtfertigungsgrundlage ziehen, autoritären Herrschaftsstrukturen lässt sich hierauf beziehend leichter begegnen. Fundamentalismus als unkritisches Befolgen einer für sakral befundenen Autorität findet in fernöstlichen Religionen wie dem Hinduismus oder der Lehre Konfuzius gleichermaßen seine ideologische Grundlage. Der geistigen Tradition der meisten Autoren in der westlichen Aufklärung, die sich im Widerstand gegen die Dominanz der christlichen Theologie entwickelt hat, ist es zu verdanken, dass religiöser Fundamentalismus wie bei Schluchter (2003) all zu oft mit einer buchstabengetreuen Auslegung religiösen Schrifttums gleichgesetzt wird. Schluchter begreift ihn als den Versuch, das in den religiösen Quellen Geforderte im Wortsinn mit Hilfe eines jakobinischen Verständnisses von moderner Politik zu realisieren. Religiöse Fundamentalisten verneinen also sowohl die Interpretationsbedürftigkeit religiöser Quellen als auch die Unhintergehbarkeit der Säkularisierung.4
Religiöser Fundamentalismus drückt sich gewöhnlich in einer Verklärung einer bestimmten Epoche in der eigenen Religionsgeschichte aus, sowie in der Ausrichtung auf eine Zukunft, in der der eigene Glaube wieder bestimmend sein soll. Da man der eigenen Frömmigkeitsform Einzigartigkeit voraussetzt, ist jedes davon abweichende Verhalten gleichbedeutend mit Sündhaftigkeit und Unglaube. Diese Einstellung birgt den Anspruch in sich, das eigene Religionsverständnis zur Nachahmung aufzudrängen und darüber hinaus die eigene Praktizierungs4
Schluchter, Wolfgang (Hrsg.): Fundamentalismus, Terrorismus, Krieg, S. 16
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form als einzige aufrichtige Religionsausübung zu akzeptieren. Schrifttreue Religiosität und autoritäres Denken gehen nicht notwendigerweise miteinander konform, zumal keine der Weltreligionen von ihrer ursprünglichen Lehre her der individuellen Entscheidung entgegensteht. Vielmehr schließt der Gedanke einer überirdischen Ordnung mit abstrakt formulierten Geboten die Aufforderung mit ein, auf der Basis der Vernunft zu einer zeitgemäßen Interpretation zu gelangen. Hieraus erwachsen heterogene religiöse Erfahrungen und voneinander abweichende, gleichermaßen berechtigte Praktizierungsformen. Mit der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft nimmt die Variabilität, sowie demzufolge die Religionsauslegungen, immer mehr zu. Für den religiösen Fundamentalisten erscheint es unerträglich, dass seinem einmal als „wahrhaftig“ erkannten Religionsverständnis Alternativen gegenübergestellt werden. Sein Bestreben richtet sich darauf aus, eine Vergangenheit wiederzubeleben, in der eine unitarische Gesellschaft die Abweichung „aufrechten Glaubens“ verhindert, sowie vor „falschen Vorbildern“ geschützt hat. Nielsen (1993) wähnt in der Nostalgie an ein „goldenes Zeitalter“ der eigenen Religion das entscheidende Wesenselement religiöser Fundamentalisten, die aus einem absoluten Wahrheitsanspruch heraus erwächst: For example, fundamentalists typically seek to return to an alleged golden age when their own particular type of piety and belief was dominant. The roots of this longing lie deep in both the history of religion and the individual religious experience. Fundamentalists support their position by appealing to the “timeless and unchanging truths of Scripture,” seldom taking into account the wide variety of expression in humankind`s religious past. At issue is not only tolerance and pluralism, but the historical character of religious insight. Characteristically for most fundamentalists, the idea that their own pattern of interpretation is not unique, and the absolute truth, is “unthinkable”.5
Die drei monotheistischen Religionen Christentum, Judentum und Islam, die ein niedergeschriebenes Fundament mit den wesentlichen Glaubensaussagen besitzen, bieten eine entscheidende Voraussetzung für besondere Schriftgläubigkeit, die in anderen Religionen nicht in gleichem Maße vorzufinden ist. Schriftgläubigkeit stellt das Wesen einer Buchreligion dar und ist keineswegs ein neuzeitliches Phänomen, sondern so alt wie die jeweilige Religion selbst. Religiöse Fundamentalisten fühlen sich den schriftlichen Grundlagen in besonderem Maße verpflichtet und fallen erst als „Fundamentalisten“ auf, sofern andere Anhänger ihrer Religion diese Texte flexibler auslegen, sowie im zeitlichen Kontext zu verstehen beanspruchen. Eine Religion, die Jahrhunderte hinweg gesellschafts5
Nielsen, Niels C.: Fundamentalism, mythos, and world religions, p. 2
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bestimmend sein will, kann ihre Grundbotschaften nicht beliebig neu interpretieren. Gleichzeitig wird ihr immer wieder Kompromißbereitschaft gegenüber den Ansprüchen der gesellschaftlichen Gegenwart abverlangt. Stellen diese Kompromisse in den Augen eines Teils ihrer Anhängerschaft jene Grundbotschaft in Frage, erweckt es Widerstand, der sich als „religiöser Fundamentalismus“ äußert. Die grundsätzliche Tendenz einer Religion für die Instrumentalisierung als „religiöser Fundamentalismus“ muß nach diesem Verständnis in Abhängigkeit zur Eindeutigkeit und Einzigartigkeit ihrer Botschaft gesehen werden. Diese Einzigartigkeit kennzeichnet die islamische Lehre in stärkerem Maße als das Judentum und Christentum, da sie auf einer in sich geschlossenen, in einem bestimmten zeithistorischen Kontext entstandenen schriftlichen Grundlage basiert, während die Botschaft der beiden anderen Religionen zu verschiedenen Zeiten über verschiedene religiöse Autoritäten an die Menschheit gelangt ist. Zudem vertritt der Islam im Gegensatz zu den anderen Buchreligionen grundsätzlich die vollständige, wortwörtliche göttliche Inspiration des Propheten Mohammed bei der Weitervermittlung der Botschaft. Die Schriftauslegung als interpretierende Wissenschaft nimmt innerhalb des Islam einen anderen Stellenwert ein als die Theologie im Christentum. Ein „schrifttreues“ Glaubensverständnis läßt für Muslime weniger Interpretationsspielraum als für Christen zu und bewirkt leicht, daß alle Muslime, die sich den Vorgaben der Heiligen Schriften gebunden fühlen, einer sich säkularisierenden Außenwelt als „Fundamentalisten“ erscheinen. An der Wende zum dritten Jahrtausend, wo die Modernisierung den gesamten Globus erfaßt hat, verbindet die sachunkundige Öffentlichkeit Fundamentalismus allgemein und religiösen Fundamentalismus im besonderen vorwiegend mit Strömungen innerhalb des Islam, obwohl der Begriff „Fundamentalismus“ im lexikalischen Verständnis, worauf Kepel (1991) hinweist, in einer nichtislamischen Kultur entstanden ist. Er fordert für eine zutreffendere Bezeichnung von Strömungen innerhalb des Islam andere Kriterien als gegenüber bestimmten Weltanschauungen innerhalb des Juden- und Christentums anzulegen: Les événements du monde islamique sont généralement ramenés, vus de Paris ou de New York, à «l`intégrisme musulman» ou au «muslim fundamentalism», sans que l`on se rende toujours compte que l`intégrisme ou le fondamentalisme sont deux catégories nées dans l`univers catholique et protestant respectivement, et qu`elles n`ont peutêtre pas, par le seul jeu d`une métaphore, valeur universelle. Je crois au contraire qu`elles sont simplificatrices et biaisées, et qu`elles entravent notre connaissance de ces phénomènes dans leur ensemble.6
6
Kepel, Gilles: La revanche de dieu, p. 15
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Inwieweit religiöser Fundamentalismus für eine Gesellschaft als Gefahr oder als Chance zu bewerten ist, ist immer in Abhängigkeit von den Kriterien zu entscheiden, die dem Phänomen zugeschrieben werden. Bezieht er sich ausschließlich auf ein schrifttreues Glaubensverständnis und eine Grundskepsis gegenüber der säkularen Moderne, kann er für eine Religion wie für ein Gemeinwesen keineswegs als Bedrohung eingestuft werden, sondern sollte vielmehr der religiös motivierten Auseinandersetzung mit der sich verändernden Umwelt zugeschrieben sein. Lediglich in Verbindung mit einem politischen Machtanspruch, einer verbreiteten Intoleranz und einem Widerstand gegen die Grundideen der geistigen Aufklärung stellt Fundamentalismus eine akute Gefährdung für den inneren Frieden eines Kollektivs und die zivilisatorische Weiterentwicklung dar. Ein Absolutheitsanspruch widerspricht nicht nur den Idealen der Aufklärung, sondern im Falle des Islam wie des Juden- und Christentums ebenso der fundamentalen Lehre der Religion selbst. Zwar geben diese Buchreligionen durchaus Anweisungen, nach welchen Regeln eine Gesellschaft sich zu ordnen habe, da die höchste Richterinstanz Gott zukommt, bleibt ihm im Jenseits die Entscheidung über die Aufrichtigkeit der Religiosität vorbehalten und kann im Diesseits nicht vorweg genommen werden. Wer in Buchreligionen eine allgemeine Tendenz zu Fundamentalismus wahrnimmt, kann lediglich die konsequente Schriftgläubigkeit als begünstigendes Kriterium heranziehen und muß im Falle des Islam, der auf einer einzigen, von Gott inspiriert verstandenen schriftlichen Basis sich gründet, zu einer besonderen Fundamentalismusaffinität gelangen. Eine Gleichsetzung von Schrifttreue und religiösem Fundamentalismus müsste den Islam von seinem Wesen her als „fundamentalistische Religion“ interpretieren. Die mit religiösem Fundamentalismus ebenfalls assoziierte Vergangenheitsbezogenheit lässt sich wie eine Orientierung an einem unzeitgemäßen Gesellschaftsmodell mit der islamischen Lehre ebenso wenig begründen wie mit der Botschaft anderer Religionen. In der Geschichte hat sich der Islam insgesamt keineswegs als weniger tolerant und aufgeschlossen gegenüber pluralen Geistesströmungen erwiesen als beispielsweise das Christentum. Allein aus dem Stellenwert des Heiligen Schrifttums dem Islam eine grundsätzliche Neigung zu Fundamentalismus und somit zu extremen reaktionären Weltanschauungen zu unterstellen, findet keine Rechtfertigung. Die unreflektierte Übertragung eines aus dem christlich-westlichen Kulturkreis in einem bestimmten Kontext verwendeten Begriffes auf vergleichbar erscheinende Phänomene innerhalb des Islam verleitet zudem zur Herausbildung von Mißverständnissen. Dem Verständnis und der wissenschaftlichen Erfassung eines in der Tat im islamischen Zivilisationsraum neuzeitlich existierenden Phänomens wäre damit in keiner Weise gedient. Die historische Entstehung des Begriffes Fundamentalismus außerhalb der islamischen Welt, mehr noch aber seine Un-
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eindeutigkeit haben, worauf Riesebrodt (1990) hinweist, dazu geführt, daß Islamwissenschaftler den Begriff „Fundamentalismus“ für die Bezeichnung von Strömungen innerhalb ihrer zu untersuchenden Religion generell ablehnen: Die explizite Ablehnung des Fundamentalismus-Begriffs erfolgt mit unterschiedlichen Argumenten. Viele Islamspezialisten wenden sich gegen die Übertragung eines Begriffs aus einem fremden kulturellen und historischen Kontext oder gehen prinzipiell von der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit solcher Phänomene aus. Sie akzeptieren allenfalls generalisierende Begriffe innerhalb des islamischen Kulturraums, wie etwa Islamismus, was für unseren Zweck offensichtlich ungeeignet ist. Andere argumentieren, daß alle islamischen Positionen eine literarische KoranInterpretation verträten und daher fundamentalistisch seien. Somit sei der Begriff nicht übertragbar; zumindest aber stelle dieser Punkt einen wichtigen Unterschied zwischen christlichem und islamischem Fundamentalismus dar.7
Der historische Ursprung des Begriffs Fundamentalismus in der Welt des Christentums bedingt, daß die meisten Autoren, die sich mit religiösem Fundamentalismus beschäftigt haben, dem christlichen Kulturraum entstammen, sich eingehend mit dem Christentum auseinandergesetzt haben, sowie die Eigenheiten der christlich fundamentalistischen Strömungen als Wesensmerkmale für religiösen Fundamentalismus schlechthin betrachten. Die Aufklärung, die in Europa und Nordamerika mehrheitlich als Loslösung von der politischen Beherrschung durch die Kirchen interpretiert wird, verleitet religiösen Fundamentalismus als Bestreben zu einzuschätzen, die traditionelle, klerikale politische Herrschaftsweise beibehalten zu beanspruchen. Man definiert ihn häufig als reaktionäre politische Einstellung mit dem Ziel „des theistischen Staates“. Indem als „absolut“ verstandene religiöse Vorgaben in der gesellschaftlichen Alltagspraxis durchgesetzt werden sollen, sei damit ein totalitärer politischer Machtanspruch verbunden. Die Erkenntnis, daß in der islamischen Staatenwelt bis zur Gegenwart das Bestreben besteht, traditionelle politische Machtstrukturen religiös abzusichern, führt zu der Ansicht, der Islam verleite in stärkerem Maße zum Fundamentalismus als das Christentum. Diese, aus der vom Kontext losgelösten Wahrnehmung der politischen Gegenwart erwachsene Voreingenommenheit wähnen einige westliche Intellektuelle und Religionswissenschaftler anhand der besonderen Schriftgläubigkeit des Islam belegt. Hierbei wird wie bei Kienzler (1996) auf die Divergenz zwischen dem islamischen Koranverständnis und dem im Christentum dominierenden Bibelverständnis verwiesen. Die nicht zu leugnende Tatsache, dass Strömungen, die im Christentum als „fundamentalistisch“ bezeichnet werden, wie die Muslime an die göttliche Verbalinspiration glauben, 7
Riesebrodt, Martin: Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, S. 15
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mag ihn bei seiner Einschätzung des Islam als „für religiösen Fundamentalismus prädestiniert“ bestärkt haben: Ein solches Verständnis der Inspiration (Eingebung des Textes der Offenbarung durch Gott) ist offenkundig einer besonderen fundamentalistischen Gefahr ausgesetzt. Wo ein solches Schriftverständnis absolut behauptet und durchgesetzt wird, geraten die Theologen und die Gläubigen in die Schwierigkeit, zum Ausdruck zu bringen, wie das Gotteswort im Menschenwort ergangen ist, d.h. etwa die Tatsache, daß auch Muhammed ein Mensch war, den Koran empfing und niederschrieb – möglicherweise mit Fehlern.8
Die Übertragung von Charakteristika bestimmter Denkströmungen innerhalb des Christentums auf das Religionsverständnis des Islam führt immer wieder zu dem Schluß, der Islam sei im Kern eine intolerante Religion und Fundamentalismus stelle weniger die Ausnahme als mehr die Regel dar. Begünstigt wird diese Sichtweise dadurch, daß die islamische Terminologie den Begriff des Usuliya (Fundamentalismus) ebenfalls kennt, als bestimmten Zweig der Islamwissenschaft, der sich mit den Usul (Urquellen des Islam) beschäftigt. Hieraus resultiert eine Selbstbezichtigung jener Gelehrten als „Fundamentalisten“. Sie sind innerhalb der Religion wie der islamischen Gesellschaft hoch angesehen, denn man billigt ihnen zu, über ihre umfangreiche Textkenntnis zu Weisheit gelangt zu sein sowie in der Lage, die göttliche Offenbarung in verschiedenen Dimensionen erfasst zu haben. Von der Aufklärung überzeugte Westler, die den Begriff des religiösen Fundamentalismus als abwertende Bezeichnung für reaktionäre, sich durch rigorosen Moralismus sowie den Verzicht auf zeitgemäße Interpretation der Heiligen Schriften kennzeichnende Minderheiten innerhalb des Christentums gewohnt sind, gewinnen bei der ersten Konfrontation mit der Welt des Islam nicht selten den Eindruck, die islamische Religion, zumindest aber die Geistlichkeit sei generell fundamentalistisch eingestellt. Die Hochachtung des Usuliyun (Fundamentlisten) von seiner islamischen Umwelt, die in der Realität aus einer besonderen Wertschätzung für interpretatorische Wissenschaft zeugt, lässt in westlichen Kreisen die irrige Ansicht entstehen, die islamische Zivilisation messe moderner Wissenschaftlichkeit keinen hohen Stellenwert bei. Nicht zu leugnen ist, daß die seit hellenistischer Zeit in Vergessenheit zu geraten drohende Philosophie im Hochmittelalter unter islamischem Vorzeichen wiederentdeckt worden ist. Erst über den islamischen Einfluß konnte die Dominanz der christlichen Theologie in der europäischen Geisteswissenschaft zugunsten der Philosophie verdrängt werden, womit die Voraussetzung für die aufklärerischen Ideen Rousseaus und Kants gegeben war. Hiermit war der Vorsprung des 8
Kienzler, Klaus: Der religiöse Fundamentalismus, S. 24
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Orients vor dem Okzident auf geisteswissenschaftlichem Gebiet allerdings eingeholt worden und nach einer geringen Zeitspanne stand umgekehrt das Morgenland hinter dem Abendland in der Entwicklung zurück. Die Ursache hierfür kann nicht nur dem modernisierten Wissenschaftsbegriff im Westen zugewiesen werden, sondern lag gleichermaßen an fehlendem Fortschrittsbewusstsein der Ulama (der islamischen Gelehrtenschaft). Indem man den Bab Al-Ijtihad (das Tor der Rechtauslegung) für geschlossen erklärte, beschränkte man sich darauf, die Heiligen Texte bustabengetreu wiederzugeben, sowie ältere, in anderem zeitörtlichen Zusammenhang entstandene Auslegungen unhinterfragt zu übernehmen. Die Islamwissenschaft verlor ihren interpretatorischen Charakter und reduzierte sich auf ein Konservieren überkommener Denkstrukturen. Zur gleichermaßen rückwärtsgewandten Gesellschaftsaufassung, wie sie sowohl bei christlichen als auch bei neuzeitlichen islamischen Fundamentalisten zum bestimmenden Kennzeichen zu zählen ist, erscheint hier die Richtung vorgezeichnet. Nicht wenige Autoren wie Ghaussy (1989) weisen deshalb der Ulama eine Hauptverantwortung für die gegenwärtige Rückständigkeit der islamischen Gesellschaft zu, die bereits in der frühen Neuzeit eine eigenständige Auslegung des religiösen Schrifttums für Laien verboten, sowie dem Fundamentalismus der Postmoderne den Weg geebnet hätten. Über die Vernachlässigung rationaler, auf neue Erkenntnisse ausgerichteter Natur- und Geisteswissenschaft sei die islamische Geistlichkeit verantwortlich, daß sich in der orientalischen Zivilisation neuzeitlich keine parallele Entwicklung zum europäischen Fortschrittsprozeß einstellen konnte: Dieser Dynamismus der sogenannten „formativen Phase“ der Rechtsentwicklung im Islam ging jedoch bald verloren, als zwischen der ´Ulama, den religiösen Gelehrten verschiedener Rechtsschulen, der Konsens entstand, daß die eigenständige Interpretation der Rechtsquellen im Islam, das Idjtihad, nicht mehr möglich ist. Diese, die islamische Dynamik blockierende Entscheidung beeinflußte die spätere Entwicklung maßgeblich und führte aus modernistischer Sicht u.a. zur inneren Verkrustung des Islam. 9
In der Tat ist eine skeptische Einstellung gegenüber moderner Gesellschaftsentwicklung in der islamischen Zivilisation verbreiteter als im Westen. Die Ursache liegt nicht im Islam begründet, sondern in der Tatsache, daß die meisten Muslime erst später über die auf Beherrschung ausgerichteten europäischen Kolonisatoren mit modernen Zivilisationsresultaten konfrontiert wurden. Die mit der Aufklärung verbundenen Gesellschaftsideale sind dabei nicht vermittelt worden. Man nahm die eigene Rückständigkeit gegenüber dem Okzident in besonderer 9
Ghaussy, Ghanie: Der islamische Fundamentalismus in der Gegenwart, S. 86
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Weise wahr, ohne die geistigen Voraussetzungen zu besitzen, eine eigenständige islamische Fortschrittsentwicklung herbeizuführen. Das Bewusstsein, in der Gegenwart nicht die entwicklungsprägende Zivilisation darzustellen, verleitete zunehmend dazu, auf die frühislamische Historie zurückzublicken, in der gesellschaftliche Progressivität vom eigenen Kulturkreis ausging. Über die Vergangenheit konnte man sich vergewissern, daß der Islam nicht die Ursache für den Verlust der zivilisatorischen Führungsrolle darstellte. Ohne die Fähigkeit zu zeitgemäßer Religionsauslegung musste man zu dem Schluß gelangen, nur in der Rückbesinnung auf historische Praktizierungsformen zum zivilisatorischen Erfolg zurückkehren zu können. In der Wiederkehr der ursprünglichen islamischen Gesellschaftsstrukturen wähnen islamische Fundamentalisten die Grundlage für die angestrebte Zukunftsordnung. Die nostalgische Rückschau in eine ferne „glorreiche“ Vergangenheit verbunden mit apokalyptischer Erwartung einer zumindest für die eigenen Anhänger paradiesischen Zukunft sind Eigenschaften, die religiöse Fundamentalisten anderer Konfessionen gleichermaßen aufweisen und die in ihrer Zunahme in der Gegenwart als Reaktion auf die säkulare Moderne gedeutet werden können. Ihr verstärktes Auftreten in außerwestlichen Gesellschaften sollte mit der bestimmenden Rolle der westlichen Zivilisation bei der neuzeitlichen Entwicklung erklärt werden. Diesem westlich dominierten Fortschrittsbegriff gelte nach Auffassung islamischer Fundamentalisten eine islamische Deutungshoheit entgegenzustellen, indem man die eigene religiöse Historie wiederzubeleben beansprucht. Merkel (2003) interpretiert den islamischen Fundamentalismus aus der Konfrontation des islamischen Selbstbewusstseins mit einer außerislamisch gesteuerten Moderne: Aus dem Islam als Religion vollzog sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ein Prozeß historischer Erneuerung der religiösen Tradition, und zwar im Spannungsfeld von Tradition und Moderne: der islamische Fundamentalismus. Dieser ist ideologisch gedeutet ein Reflexionsprozeß, der die Tradition reinterpretiert und radikalisiert. Bezugspunkt ist ein aus dem Koran und der Sunna gedeutetes, idealisiertes, versunkenes und imaginiertes „goldenes Zeitalter“, das es heute wieder herzustellen gelte. Die idealisierte Frühzeit des Islam wird so zum verpflichtenden Ideal der Gegenwart. […] Nicht der Islam soll modernisiert, sondern die Moderne islamisiert werden.10
In der islamischen Geschichte existierten immer wieder Epochen, in denen man sich der Frühzeit erinnerte und bestrebt war, die Gegenwart nach islamischen Konzeptionen aus der Vergangenheit zu strukturieren. Insofern ist islamischer Fundamentalismus, verstanden als Politisierung der Religion und Rückbesinnung 10
Merkel, Wolfgang: Religion, Fundamentalismus und Demokratie, S. 79
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auf dessen Ursprung keineswegs ein Phänomen der letzten Jahrzehnte. In jüngster Zeit wuchs das Bedürfnis nach einem politischen Wechsel, angesichts der Konfrontation mit einer in immer höherem Tempo sich verändernden Welt, auf die man Einfluß auszuüben beanspruchte. Erfahrung mit gesellschaftlichen Modellen außerhalb der islamischen Zivilisation fehlte. Man orientierte sich an der islamischen Blütezeit, in der die eigene Gesellschaft als vorbildlich angesehen wurde, sowie beanspruchte mit einer Renaissance frühislamischer Ordnungsstrukturen die Anforderungen der Zukunft zu bewältigen. Im Bewußtsein des historischen Erfolgs des Islam bei der Lösung von gesellschaftlichen Anfordernissen gelangten die islamischen Fundamentalisten zu der Ansicht, der Islam stelle aus sich heraus die Antwort auf alle Fragen der Menschheit und müsse nicht auf den gesellschaftlichen Kontext interpretiert werden. Vielmehr wird der Islam als allumfassende Ordnung und Konkurrenzsystem zu allen nichtislamischen wie säkularen Gesellschaftsmodellen erhoben, womit vernunftgeleitete Entscheidungsstrukturen innerhalb der islamischen Staatsordnung überflüssig würden. Hyman (1985) führt diese Sichtweise auf das fundamentalistische Bewusstsein zurück, der Islam sei nicht nur eine Religion, die individuelle Spiritualität erfordere, sondern gleichermaßen ein politisch-sozioökonomisches System, das in komplexen Detailfragen Lösungen zum Nutzen der Allgemeinheit gewährleiste: Central to the fundamentalist outlook is the conviction that Islam is a total philosophy affecting all areas of human activity. They believe that Islam is a complete social and economic sytem in its own right, distinct from capitalism and socialism alike – one, 11 moreover, containing the answers to current problems facing humanity.
Indem der Islam mit der Scharia (seiner Gesetzesgrundlage) als umfassendes Gesellschaftssystem aufgefaßt wird, bedarf es nach Ansicht eines Teils der islamischen Fundamentalisten keiner humanen Entscheidungsfindung zur angemessenen Problembewältigung. Der Islam bietet bereits die Grundlage für wertgebundenes staatliches Agieren auf den verschiedensten Ebenen. In der Überzeugung, aus der Scharia das einzige vollkommene Gesellschaftsmodell zu erkennen, beansprucht man die eigene Interpretation der islamischen Ordnung für ein gesellschaftliches Kollektiv zum alleinigen Maßstab zu erheben. Der Islam wird für absolute politische Herrschaft instrumentalisiert und dient als Mittel zur gesellschaftlichen Bevormundung, da jede vom eigenen Schariaverständnis abweichende Praktizierungsform mit staatlichen Sanktionen belegt wird. Der Mißbrauch einer Religion für die Legitimierung autokratischer Herrschaftsansprüche verbunden mit der Einschränkung der individuellen Freiheiten ist kein 11
Hyman, Anthony: Muslim Fundamentalism, p. 4
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Spezifikum des Islam, wohl aber des religiösen Fundamentalismus. Er resultiert aus einem Wahrheitsfanatismus. Indem nur die eigene Pietät als „aufrichtiger Glaube“ interpretiert wird, erklärt man jede Abweichung zur „Sündhaftigkeit“ und Kritik am eigenen Religionsverständnis zum „Unglaube“. Diese geistige Intoleranz muß nicht notwendigerweise mit einem autoritären politischen Herrschaftsanspruch einhergehen. In dem Bewusstsein, daß in einem demokratischen, auf individueller Freiheit beruhenden System die Wahlmöglichkeit zwischen pluralen Verhaltensmustern besteht und zur Abkehr von als sakrosankt erklärten Ritualen verleiten kann, erwächst das Begehren, über staatliche Obrigkeit den „rechtschaffenden Weg“ vorzuschreiben. Besonders die Abwehrmentalität gegenüber der liberalen Gesellschaftsentwicklung prädestiniert ein despotisches Ordnungsmodell, da gerade die Normfreiheit der westlichen Zivilisation, - so bedrohlich sie auch erscheinen mag, erkennbare Attraktivität vor allem auf die jüngere Generation ausübt. Alle religiösen Fundamentalisten sind im Kern gegen Demokratie und Pluralismus eingestellt. Beschränkt sich die autoritäre Tendenz bei einigen lediglich auf die eigene Gemeinschaft, deren Verlassen der Wahrheit mittels despotischer Erziehung und Denuntiation zu verhindern sei, beziehen andere die staatspolitische Ebene mit ein. Bei ihnen wird der religiöse Fundamentalismus mit politischem Fundamentalismus kombiniert. Da der Islam als allumfassendes System die soziopolitische Ordnung grundsätzlich einbezieht, eignet sich islamischer Fundamentalismus für politische Instrumentalisierung, die sich im Islamismus herauskristallisiert. In den verschiedensten kulturhistorischen Zeitepochen sind alle Weltreligionen für politische Herrschaftsausübung mißbraucht worden, der religiöse Fundamentalismus war nur eine von unzähligen Varianten. Noch bis zum Ende des Ersten Weltkrieges existierten fast in ganz Europa Monarchien, die sich unmittelbar mit „Gottes Gnade“ legitimierten, obwohl bereits damals im öffentlichen Bewußtsein der meisten Europäer die Religion nur einen untergeordneten Stellenwert einnahm. Zwar waren diese Herrscher keine Fundamentalisten im Sinne von Schrifttreue und Fortschrittsfeindlichkeit, die Heranziehung der Religion zur Absicherung ihrer Machtstrukturen verstanden sie in nicht geringerem Maße als mancher „Islamist“ der Gegenwart. In der islamischen Welt berufen sich als „fundamentalistisch“ wie als „liberal“ angesehene politische Herrschaftseliten gleichermaßen auf den Islam. Beschränken sich die sogenannten „Liberalen“ auf eine religiöse Rechtfertigung ihres Herrschaftsapparats, streben die „Fundamentalisten“ zugleich ein totalitäres System an, das jeden Gesellschaftsbereich nach eigenem Islamverständnis regelt. Totalitäre Obrigkeitsmodelle sind ebenso wenig auf einen islamischen Hintergrund beschränkt, traten in verschiedenen Religionen in unterschiedlichen Zeitepochen auf und waren im Europa des 20. Jahrhunderts in säkularer Form zeitweise dominant geworden. Die Islamisten er-
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kannten im fundamentalistischen Religionsverständnis die Grundlage, über die in ihrem zivilisatorischen Kontext der Totalitarismus zur Entfaltung gelangen konnte. Der neuzeitliche Islamismus darf somit keineswegs mit Orthodoxie, Traditionalismus und Konservatismus, geschweige denn mit einer Tendenz innerhalb der islamischen Gelehrtenschaft verwechselt werden. Erst die Kombination von einer Gegnerschaft zu individueller Freiheit mit Abwehrreflexen gegenüber modernem aufklärerischem Gedankengut unterscheiden ihn, worauf Merkel (2003) hinweist, von säkularen Fundamentalismustypen. Phänomenologisch kann er allerdings mit anderen religiösen Fundamentalismen gleichgesetzt werden: Antipluralismus, Antimodernismus, Intoleranz und ein rigider Moralismus vor allem in Fragen der Sexualmoral und der Geschlechterbeziehung kennzeichnen ihn. Diese Charakteristika hat der Islamismus mit anderen fundamentalistischen Religionsbewegungen im Christentum und Judentum gemeinsam.12
Vor dem Hintergrund, dass die islamische Zivilisation aus den Errungenschaften der Moderne in geringerem Maße einen Gewinn herauszuziehen in der Lage war als der christlich-jüdisch bestimmte Westen, konnte ein religiöser Fundamentalismus innerhalb des Islam auf stärkere Resonanz treffen. Quantitativ gesehen besitzen Fundamentalisten im Islam einen bedeutenderen Einfluß als innerhalb des Juden- und Christentums. Da im Westen die aufklärerischen Ideen mehrheitlich mit erstrebenswertem Fortschritt verbunden werden, gelingt es religiösen Fundamentalisten jener Zivilisation kaum, ihre Gesellschaftsvorstellungen politisch zur Geltung zu bringen. Die gegenwärtige Verbreitung islamistischer Auffassungen einhergehend mit der Etablierung islamistischer Obrigkeitsstrukturen in einigen islamischen Staaten darf keineswegs mit einer fundamentalismusförderlichen Tendenz des Islam erklärt werden. Je mehr die Muslime sich des geistigen Fundaments der westlichen Moderne bewusst werden und erkennen, daß politische Säkularität keineswegs kollektive Wertungebundenheit hervorruft, sowie in keiner Weise mit den kolonialen Erfahrungen gleichgesetzt werden kann, desto mehr wenden sie sich gegen ein Islamverständnis, das ihnen die Perspektiven des westlichen Fortschritts vorzuenthalten bestrebt ist. Vielmehr wird man sich gewahr, daß zivilisatorische Rückständigkeit gegenüber dem Westen nicht nur aus dessen politischer und ökonomischer Hegemonialstellung resultiert, sondern gleichermaßen aus einem islamistischen Religionsverständnis von Teilen der eigenen Herrschaftselite. Islamistische Herrschaftsstrukturen erfahren die schärfste Kritik von bekennenden Muslimen, die auf die progressive Grundausrichtung des Islam Bezug nehmen. Den Islamisten werfen sie vor, zeitgemäße Rechtsauslegung zu leugnen, sowie ein Gesellschaftsmodell anzustre12
Merkel, Wolfgang: Religion, Fundamentalismus und Demokratie, S. 77
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ben, daß mit dem Geist der Scharia in keiner Weise konform geht. Krämer (2003), die sich bewusst ist, dass religiöser Fundamentalismus aufgrund seiner Quantität in besonderer Weise mit dem Islam assoziiert wird, weist darauf hin, dass aufgeklärte Muslime sich dem Islamismus sowohl politisch als auch geistig entgegenstellen, ohne ihre islamische Verwurzelung zu verleugnen: Die „Islamisten“ […] sind sicherlich die lautesten und auffälligsten Fürsprecher einer Einheit von Religion, Recht und Politik. Sie geben in der Diskussion auf jeden Fall den Ton an, beeinflussen in nicht wenigen Staaten der Region auch das gesellschaftliche Leben und die Rechts- und Verfassungsordnung. Aber sie stoßen zugleich auf Kritik und Widerstand, der zum Teil seinerseits religiös argumentiert, um aus den normativen Quellen in dieser Frage ganz andere Schlüsse zu ziehen, zum Teil dezidiert säkularistisch auftritt, ohne die islamische Tradition zur Abstützung eigener Positionen zu bemühen.13
Einer immer bedeutender werdenden Strömung innerhalb des Islam reicht eine Rückbesinnung auf die religiösen Grundlagen für die Bewältigung von gesellschaftspolitischen Zukunftsaufgaben nicht mehr aus. Sie erkennen im Islam zwar den Wegweiser für eine an ethischen Normen orientierte Gesellschaft, nicht aber die Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung prämoderner Strukturen. Die Hinwendung zum islamischen Fundamentalismus, verbunden mit der Rückschau auf die eigene Religionsgeschichte, war der bedauernswerten Erkenntnis erwachsen, daß gegenwärtig der Westen die Entwicklung vorgibt. Hieraus entstand der Anspruch, mittels einer Restaurierung der frühislamischen Ordnung diesen geistigen und zivilisatorischen Rückstand aufzuholen. Zunehmend setzt sich allerdings die Erkenntnis durch, daß der Islam einer zeitgemäßen Interpretation bedarf. Über die Konfrontation mit den ideellen Voraussetzungen des westlichen Fortschritts gelangt man zu der Überzeugung, daß weniger der fehlende Bezug zur Religion als mehr ein Islamverständnis, dass Rationalität wenig Bedeutung beimesse, die Ursache des eigenen Zurückstehens darstelle. Die Gewißheit, dass es einer nichtislamischen Zivilisation gelungen war, die weltweite Führungsstellung zu übernehmen, führte zu der Erkenntnis, daß eine wertgebundene Gesellschaftsordnung nicht ausreichte, sondern mit Ideenpluralismus und Liberalität einhergehen müsse. Lewis (2002) sieht die Konfrontation mit dem fortdauernden Entwicklungsrückstand gegenüber dem Westen als entscheidenden Anstoß für die Suche nach einem modernen, auf Rationalität gründenden Islamverständnis: Die Frage, die sich ihnen jetzt stellte, war spezifischer – was ist die Quelle dieses Wohlstands und diese Stärke, der Talisman des westlichen Erfolgs? Traditionsge-
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Krämer, Gudrun: „Der Islam ist Religion und Staat“, S. 46
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mäß wären solche Fragen mit Begriffen aus der Religion heraus beantwortet worden. Denn alle Probleme sind letztlich religiöser Natur und können nur aus der Religion heraus beantwortet werden. Die traditionellen Autoren haben auf die Frage in ihrer älteren Formulierung stets die gleiche Antwort gegeben: „Wir müssen uns auf unsere Wurzeln besinnen und zu den guten alten Bräuchen, zum wahren Glauben und zum Wort Gottes zurückzukehren.“ Daraus folgerte natürlich, daß, wenn etwas nicht gut lief, Gott uns bestrafe, weil wir vom rechten Weg abgekommen waren. Dieses Argument verliert allerdings seine Überzeugungskraft, wenn es immer die Ungläubigen sind, die von den Veränderungen profitieren.14
Unter erklärten Fundamentalisten bestehen voneinander abweichende Ansichten zu gesellschaftlichen Fragestellungen. Dennoch erkennen sowohl „liberale“ als auch „radikale Fundamentalisten“ die islamischen Urquellen als einzige Grundlage gesellschaftlicher Problembewältigung an. Dies gelingt nur, wenn die eigene Auslegung zur Gültigkeit erhoben wird. Das Kennzeichen des Fundamentalismus ist demnach weniger die Fixierung auf die Heiligen Texte als mehr die fehlende Akzeptanz divergenter Auslegungen. Ein Fundamentalist, der sich auf eine liberale Tradition beruft, kann in konkreten Einzelfragen durchaus zu einer zeitgemäßen Schlussfolgerung gelangen. Er negiert die Berechtigung, aus der gleichen Textstelle eine abweichende Erkenntnis zu ziehen als seine geistige Autorität. Indem das Bab Al-Ijtihad für zeitgebundene Neuinterpretation geschlossen wird, verhindert man eine Orientierung des Islamverständnisses an sich verändernde Gesellschaftsbedingungen, da für immer mehr Sachverhalte keine Vorgabe besteht. In dem Maße, wie man immer häufiger mit unbeschriebenen Problemstellungen konfrontiert wird, ist man mehr und mehr auf das eigene Vernunfturteil angewiesen. Zwar beanspruchen liberale wie radikale Fundamentalisten prämoderne Ordnungsstrukturen durchzusetzen, liberale Fundamentalisten gelangen zu Schlußfolgerungen, die nicht nur rational, sondern auch im zeitlichen Kontext weiterführend sind. Islamischer Fundamentalismus wird nicht selten mit als „Terrorismus“ bezeichneter politisch motivierter Gewalt assoziiert. Diese unzutreffende Zuschreibung wird über interessenpolitisch motivierte Stigmatisierungen den eigenen Zielsetzungen entgegenstehender Opposition begünstigt. In der Tat schließt eine radikale Minderheit der Islamisten Gewalt als Weg zur Durchsetzung des eigenen Gesellschaftsmodells ausdrücklich ein. Sich selbst als Fundamentalisten bezeichnende islamische Gelehrte wollen in keiner Weise mit jener extremistischen Einstellung identifiziert werden. Es gilt eindeutig zu differenzieren zwischen der „Al-Taiyar Al-Islami“ (islamischen Hauptströmung) und den „Gama`at Al-Islamiyya“ (islamischen militanten Untergrundbewegungen). Die Er14
Lewis, Bernard: Der Untergang des Morgenlandes, S. 68
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kenntnis variabler Ausdrucksformen des islamischen Fundamentalismus, von denen die Gewaltanwendung nur selten gewählt wird, verleitete dazu, über die Klassifizierung verschiedene Fundamentalismustypen voneinander abzugrenzen. Nicht selten wurde auf die Selbstbezeichnung einiger Gelehrter Bezug genommen. Jene willkürliche Kategorisierung ruft die Interpretation einer geistigen Verbindung zwischen der Gelehrtenschaft und den Militanten erst hervor. Sie findet keine nachvollziehbaren Kriterien für die Abgrenzung nach außen hin. Die Verwendung des Begriffes „Fundamentalismus“ als abwertende Bezeichnung im Zusammenhang mit Kategorien, die angesehenen islamischen Wissenschaftsdiszplinen gelten, muß im westlichen Bewusstsein die Gleichsetzung von Islam mit Fundamentalismus erzeugen. Die von Tibi (1992) vorgenommene Einteilung in fünf Fundamentalismustypen wird nicht nur einem zeitgenössischen Phänomen im Islam nicht gerecht, sie entwertet seit Jahrhunderten etablierte islamische Wissenschaft, der attestiert wird, die Grundlagen des für allgemein gültig befundenen westlichen Diskursstils nicht einzubeziehen: al-Azhar-Fundamentalismus; strenger Skriptualismus; puristischer Fundamentalismus; revolutionärer Fundamentalismus; militanter Fundamentalismus15
Worin besteht nun das entscheidende Kriterium des islamischen Fundamentalismus, warum nimmt er in der westlichen Öffentlichkeit eine bedeutendere Stellung ein als vergleichbare Strömungen in anderen Religionen und woraus resultieren die mannigfaltigen Definitionen dieses Phänomens, die immer wieder Mißverständnisse hervorrufen? Islamischer Fundamentalismus muß als buchstabentreue Religionsauslegung verstanden werden, verbunden mit dem Anspruch, jegliche Gesellschaftsbereiche nach jahrhundertealten religiösen Vorgaben zu konzipieren. Er unterscheidet sich prinzipiell nicht von Fundamentalismus in anderen Buchreligionen, der ebenfalls auf einem wortwörtlichen Schriftverständnis basiert. Die gesamte Islamgeschichte hinweg hat es fundamentalistische Strömungen gegeben, deren Einfluß je nach Epoche variierte, allerdings zu keiner Zeit die islamische Zivilisation dominieren konnte. Vor dem Hintergrund der von Nichtmuslimen aus eindringenden Moderne gewann der islamische Fundamentalismus in den letzten Jahrzehnten begünstigende Voraussetzungen. Besonders die fehlende Erfahrung mit säkularen Geistesströmungen beförderte die Hinwendung zum religiösen Fundamentalismus. In der immer komplexer und undurchschaubarer erscheinenden Welt bietet er nicht widerlegbare Erklärungsmuster und erfährt Attraktivität. In der heutigen Zeit besteht im Fundamentalismus ebenso wenig die Hauptströmung im Islam wie in den Jahrhunderten zuvor. Keineswegs geht er mit Widerstand gegen jegliche Form von Modernität einher. 15
Tibi, Bassam: Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, S. 104ff.
2.1 Bestimmung eines schwierigen Begriffs
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Vielmehr muß er in seiner neuzeitlichen Variante als Reaktion auf eine zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft gesehen werden, die in anderen Religionen gleichermaßen zu beobachten ist. Andere außerwestliche Zivilisationen wie das hinduistische Indien kennen religiösen Fundamentalismus ebenso als gegen die westlich bestimmte Moderne zielende Denkrichtung. Aufgrund der geographischen Ferne jenes Zivilisationsraums, sowie angesichts der ungelösten, gewaltsam ausgetragenen politischen Konflikte innerhalb der islamischen Welt ist die europäische Fundamentalismusforschung in besonderer Weise auf islamischen Fundamentalismus fokussiert. Der islamische Fundamentalismus muß eindeutig vom Islam als einer modernen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossenen Religion wie vom Islamismus als politischer Instrumentalisierung des Islam unterschieden werden. Islamismus gewann in jüngster Zeit an Einfluß und baut diesen nicht zuletzt auf fundamentalistischer Gesinnung auf. Als wesentlichen Nährboden gilt es die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen politischen Ordnung, sowie einer soziökonomischen Rückständigkeit gegenüber dem Westen herauszustellen. Entscheidend für die verstärkte Hinwendung zu Islamismus erwies sich neben der fehlenden Kenntnis von den Leitideen der Aufklärung die Tatsache, daß westliche Verantwortungsträger die damit einhergehenden universellen Zielsetzungen immer wieder hinter materieller Interessensdurchsetzung haben zurückstehen lassen. Der Islamismus erfährt innerhalb der islamischen Civil Society Kritik, die von bekennenden islamischen Fundamentalisten geteilt wird. Dieses Zurückweisen radikaler Islamisten resultiert aus voneinander abweichender, z.T. interessengeleiteter Auslegung der Heiligen Schriften einhergehend mit divergenten Ansichten von Islamisten wie islamischen Fundamentalisten in gesellschaftspolitischen Alltagsfragen. Besonders hinsichtlich der Rechtfertigung für politisch motivierte Gewalt finden Islamisten und islamische Fundamentalisten kaum einen Konsens. Während die Islamisten Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Zielsetzung als legitim erachten, kennt der Islam gerechtfertigte Gewalt nur als Al-Jihad im Widerstand gegen Unrechtsherrschaft oder als Verteidigung gegen Angriffe auf die Umma (islamische Gemeinschaft). Nicht nur aufgeklärte Muslime, sondern ebenso die Mehrheit der islamischen Fundamentalisten lehnt gewalttätige Offensiven ab. Das überproportionale Auftreten von islamisch gerechtfertigter Gewalt in der politischen Gegenwart darf nicht auf den islamischen Fundamentalismus, schon gar nicht auf eine gewaltfördernde Tendenz des Islam, sondern muß auf seine islamistische Instrumentalisierung zurückgeführt werden. Resümierend ist islamischer Fundamentalismus als ein Phänomen innerhalb des Islam zu beschreiben, für welches unzählige, z.T. sich widersprechende Definitionen formuliert worden sind. Die Mannigfaltigkeit der Definitionen ergibt sich weniger aus der Uneindeutigkeit des Begriffes als mehr aus den divergenten
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
Absichten und kulturellen Hintergründe der Definiteure. In der Gegenwart wird islamischer Fundamentalismus nicht selten mit einem extremen, menschenverachteten Religionsverständnis einhergehend mit einer Bedrohung der individuellen Freiheit assoziiert. Diese abwertende Verwendung eines ursprünglich wertneutralen Begriffs resultiert aus der undifferenzierten Übertragung von aus der westlichen Zivilisation bekannten, als „Fundamentalismus“ bezeichneten Denkweisen auf die islamische Welt. Das häufig islamischem Fundamentalismus zugeschriebene Bedrohungsszenario erfolgt aus der Verwechselung mit dem Islamismus. Obwohl jener mit einem Missbrauch der Religion einhergeht, sowie für den Islam ein Gefährdungspotential darstellt, darf diese Bezeichnung ebensowenig zur Stigmatisierung politischer Opponenten instrumentalisiert werden. Eine eindeutige definitorische Abgrenzung des Islamismus vom islamischen Fundamentalismus, die der angemessenen Begegnung beiden Phänomenen gegenüber dienlich ist, erweist sich von der westlichen Perspektive aus als kaum zu bewältigende Bürde. Neben einem selten vorhandenen detaillierten Einblick in die kontextbezogenen Begriffsdeterminanten behindert der kulturbedingte Erfahrungshorizont eine Bezeichnung zu verwenden, so daß Missdeutungen ausgeschlossen sind. Jede, in der Öffentlichkeit auftretende Definition sollte hinterfragt werden, mit dem Ziel, eine Begriffswahl zu meiden, die die islamische Zivilisation der westlichen gegenüber als feindlich gesinnt erscheinen läßt. 2.2 Zur Geschichte des islamischen Fundamentalismus Um den Stellenwert des gegenwärtigen islamischen Fundamentalismus für die gesellschaftliche Entwicklung einschätzen zu können, soll der historische Einfluß von Fundamentalismus innerhalb des Islam in den Blickpunkt genommen werden. Die angemessene Bewertung einer aktuellen Gesellschaftsströmung kann erst unter der Kenntnis ihrer geistigen Traditionen erfolgen. Die orts- und zeithistorischen Zusammenhänge, unter denen islamischer Fundamentalismus Bedeutung gewinnen konnte, vermitteln einen Eindruck, worin die geistig religiöse wie politische Grundbotschaft islamischer Fundamentalisten liegt, sowie unter welchen Voraussetzungen sie gesellschaftlich auf Resonanz trifft. Hieraus lässt sich auf die Hintergründe fundamentalistischer Weltanschauungen in der Gegenwart schließen. Die Vermittlung, daß religiöser Fundamentalismus zu verschiedenen Epochen in der islamischen Welt bestimmend war, soll der Ansicht entgegenwirken, dass die gesellschaftlichen Veränderungen der Moderne eine Entwicklung von einem zeitgemäß verstandenen Islam zu Fundamentalismus notwendigerweise voraussetzen. Damit der gegenwärtige islamische Fundamentalismus nicht mit Geistesströmungen in historischen Epochen verwechselt wird, soll die Geschichte unterteilt werden zwischen extremen religiösen Tendenzen in der Frühzeit wie im
2.2 Zur Geschichte des islamischen Fundamentalismus
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Mittelalter und einer neuzeitlichen Entwicklung zum religiösen Fundamentalismus als Reaktion auf die Säkularisierung und Globalisierung der Welt, gedeutet als Widerstand gegen kulturelle wie politische „Beherrschungsansprüche“ des Westens. Ein Wesensmerkmal ist allen fundamentalistischen Bewegungen in der islamischen Geschichte gemeinsam. Sie stehen für eine buchstabengetreue Auslegung der Heiligen Schriften, für eine Rückbesinnung auf die islamische Vergangenheit, sowie eine Neuorientierung der jeweiligen Gegenwart an der eigenen Interpretation der Herrschaft des Propheten und der ersten Khalifen. Ausgehend von dem Bewusstsein, daß Prophet Mohammed und die rechtgeleiteten Khalifen neben religiöser Autorität politische Führungspositionen bekleideten, geht mit islamischem Fundamentalismus nicht selten das Streben nach Wiedererrichtung des prophetischen Ordnungsmodells einher. Islamische Fundamentalisten standen in gewisser Weise permanent in Opposition zum politischen Establishment ihrer jeweiligen Zeitepoche, das sie zu Veränderungen im Sinne ihres Islamverständnisses aufforderten. Besonders die Erfahrung von Fremdherrschaft, einhergehend mit der Beherrschung islamischen Territoriums berührte das Selbstwustsein der Muslime und wurde von Fundamentalisten mit der Abkehr von aufrichtiger religiöser Gesinnung sowie Werteverlust der eigenen Eliten erklärt. Vergleichbar dem Propheten gegenüber der ersten islamischen Gemeinde forderten die fundamentalistischen Gelehrten zur Einkehr und kollektiven Rückbesinnung auf die göttlichen Gebote auf. Hiermit verbanden sie die Voraussetzung für die Wiederentdeckung des islamischen Gemeinschaftsideals, in dem man die Grundlage eines erfolgreichen Aufbegehrens gegen die Willkürherrschaft der Okkupatoren wähnte. Die Phase der mongolischen und türkischen Eroberungen von großen Teilen Kleinasiens im Hochmittelalter gilt als „Blütezeit fundamentalistischer Renaissance“ innerhalb der islamischen Geistlichkeit. Die politische Obrigkeit, aber auch die jene Herrschaftsstrukturen verteidigende religiöse Gelehrtenschaft (das sogenannte „Establishment Islam“) verglich man mit der Jahiliyya (dem vorislamischen Heidentum), weil sie die vom Islam auferlegten Gemeinschaftsverpflichtungen vernachlässigt hätten. Der politische Anspruch zu einer Erhebung gegen die als despotisch erlebten Dynastien stellte den Ursprung des fundamentalistischen Erwachens dar. Angesichts von Korruption und Ausbeutung der Untertan wurde ihnen für eine unbefriedigende sozioökonomische Situation ebenso die Verantwortung zugeschoben wie für die Erfolge fremder kriegerischer Eroberer. Der politische Opportunismus, einhergehend mit der fehlenden Volksverbundenheit der führenden Geistlichen ließ deren Islamverständnis ebenfalls zum Gegenstand fundamentalistischer Agitation entwickeln. Nur bei einem gleichzeitigen Wechsel der weltlichen und geistlichen Autoritäten war nach fundamentalistischer Islaminterpretation die Basis für die Wiederkehr kollektiver Gerechtigkeit gegeben. Dekmejian (1985) weist darauf hin, dass
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
der Konflikt zwischen islamischen Fundamentalisten und der etablierten Gelehrtenschaft aus entgegensetzten Schlussfolgerungen der islamischen Lehre für die gesellschaftspolitische Gegenwart resultierte: This conflict pits the high-ranking clerics (ulama), who are usually government appointed and supported, against the leaderideologues of fundamentalist groups representing populist Islam. The conflict stems from their respective social-occupational positions and sharply divergent interpretations of Islam. As members of the establishment, the higher ulama tend to reinforce the legitimacy and actions of ruling elites through their interpretations of Islamic Law. In sharp contrast, fundamentalist ideologues reject the interpretive authority of the establishment ulama, and proceed to formulate doctrines of radical sociopolitical change.16
Beanspruchten die Fundamentalisten im islamischen Mittelalter in erster Linie eine kollektive Rückbesinnung zu den Grundsätzen von Koran und Sunna (prophetische Überlieferungen), der religiös motivierte Widerstand gegen eine auf den Islam sich berufende weltliche Obrigkeit ließ ihren Fundamentalismus auch als oppositionell gesinnte politische Bewegung erscheinen. Bestärkt wurde diese Politisierung durch die Vergewisserung, daß die anerkannten geistlichen Autoritäten zugleich politische Verantwortung wahrgenommen hatten. Ihre Herrschaftsweise stellte das Vorbild für ein gerechtes, islamisches politisches Ordnungsmodell. Die Berufung der verschiedenen Herrschaftsdynastien auf den Islam legte einen permanenten Vergleich mit der prophetischen Medinaordnung nahe. Fundamentalisten nahmen den Widerspruch zwischen dem islamisch begründeten moralischen Anspruch der Herrscher und der gesellschaftlichen Realität ihrer Zeit angesichts ihres umfangreichen Schriftkenntnisses in besonderer Weise wahr. Hieraus erwuchs das Bestreben, über die eigene politische Einflussnahme die prophetischen Ordnungsstrukturen zur Gültigkeit zurückzuführen. Die bis zur Gegenwart fortdauernde religiöse Legitimierung politischer Herrschaft in der islamischen Welt hat die gesamte Islamgeschichte hinweg fundamentalistische Oppositionsbewegungen hervorgebracht, welche aus erkannten gesellschaftlichen Missständen die Motivation herauszogen, eine kollektive Erneuerung nach traditionellen Vorbildern anzustreben. Eine bei gegenwärtigen islamischen Fundamentalisten anzutreffende politische Positionierung findet ihre geistigen Vorbilder in anerkannten islamischen Autoritäten der verschiedensten Zeitepochen, die ihre religiös motivierten Gesellschaftsforderungen über einen politischen Wandel zu erreichen beanspruchten. Die vermeintliche Vernachlässigung des islamischen Gemeinschaftsideals durch die religiös legitimierten Dynastien erwies sich als Antrieb für die politische Parteinahme. Ein von Dekmejian (1985) entworfenes Schema zeigt die verschiedensten Dynastien innerhalb der Islamgeschichte, die auf unterschiedliche Weise alle ihre politi16
Dekmejian, Hrair: Islam in Revolution, p. 21
2.2 Zur Geschichte des islamischen Fundamentalismus
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sche Führungsrolle auf die Religion bezogen. Ihre Instrumentalisierung des Islam für politische Herrschaft bildete zugleich die Rechtfertigungsgrundlage einer permanenten fundamentalistischen Oppositionsbewegung, die mit den verschiedensten charismatischen Führungsfiguren assoziiert wurde und sich bis in die Gegenwart nachverfolgen läßt: 1. Umayyad decline
2. Abbasid degeneration
3. Umayyad decline in Spain 4. Fatimid decline and Crusaders 5. Abbasid demise/Turkish and Mongolian conquests
6. Mongol/Turkic Invasions and chaos
7. Ottoman decline
8. Contemporary Islamic crisis milieux
Umar ibn Abd al-Aziz (d.720) Abu Hanifa (699-767) Malik (714-798) Shiite / Abbasid Revolt (750) Ibn Hanbal (780-855) Al-Shafii (767-854) Ismaili Shiite resurgence: Qaramitah (c.890) Ubaydallah al-Mahdi (909) Ibn Hazm (d. 1064) Salah al-Din (1171-1187) Nawawi (d.1277) Ibn Taymiyyah (d. 1328) Ibn al-Qayyim (d. 1350) Ibn Kathir (d.1373) Shiite resurgence: Hilli (d. 1325) Mushasha (d.1462) Shah Ismail (d. 1524) Abd al-Wahhab (d. 1791) Sanusiyyah (1800s) Mahdiyyah (1800s) Salafiyyah (1890s): Afghani (d. 1879) Abduh (d. 1905) Rida ( d. 1935) Muslim Brotherhood (1930s): Banna Sibai Qutb Mawdudi The Islamic Revolution and Shiite resurgence: Khomeini Baqir al-Sadr Shariati Sunni Resurgence (1970s): Utaybi Faraj Hawwa Turabi Tilmisani Sadiq al-Mahdi
Quelle: Dekmejian, Hrair: Islam in Revolution, p. 11
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
Islamischer Fundamentalismus gewann vor allem in jenen historischen Phasen an Bedeutung, in denen die islamische Zivilisation eine kulturelle und politische Führungsrolle zu verlieren drohte. Bereits im Mittelalter erwiesen sich die Epochen fremder Eroberungen islamischen Territoriums als Perioden verstärkten islamischen Fundamentalismus. Seit der Neuzeit wurde das Bewusstsein zivilisatorischer Rückständigkeit nicht nur durch anhaltende und zunehmende militärische Dominanz außerislamischer Mächte, sondern zugleich durch die kulturelle Hegemonialstellung des Westens genährt. Islamisch fundamentalistische Bewegungen zielten nicht mehr nur auf eine Rückbesinnung auf das ursprüngliche islamische Ordnungsmodell, sondern gleichermaßen auf einen geistigen Widerstand gegen den Einfluß von außerislamischen Leitidealen. Die Opposition richtete sich kaum noch auf dynastische Herrscher und eine obrigkeitstreue Geistlichkeit, sondern auf die westliche Moderne, welche die eigenen Eliten aus dem islamisch vorgegebenen Rahmen herauszuziehen schien. Man nahm eine Unterlegenheit wahr, die sich nicht auf die politisch- militärische Ebene beschränkte, sondern die geistig-kulturelle Ebene einschloß. Die Tatsache, daß es gelungen war, die islamische Welt fast vollständig zu unterwerfen, hatte das Bewusstsein einer kollektiven Rückständigkeit entstehen lassen. Vor dem Hintergrund der historischen Fortschrittlichkeit der islamischen Zivilisation, strebten die Fundamentalisten zu den prophetischen Ordnungsstrukturen zurückzukehren. Der Islam diente weniger als kollektiver Wegweiser, sondern als Grundlage einer generellen soziopolitischen Erneuerung, die sich an ursprünglichen islamischen Maßstäben zu orientieren hatte. Nielsen (1993) sieht den Wesenszug des neuzeitlichen islamischen Fundamentalismus einerseits als revolutionär, aufgrund der Umwandlung der Religion in ein die Gesamtgesellschaft veränderndes politisches Konzept, andererseits als konservativ, da man ein der Vergangenheit entlehntes Modell gegen auswärtige Bedrohung zu verteidigen beansprucht: My point is that the novelty of Islamic fundamentalism lies in the fact that the religion has been made into a revolutionary social program, in a form very different from that of traditional interpretations. To the fundamentalist consciousness, the Prophet`s model for society (which is often compromised by Muslim caliphs) appears to be threatened by forces from outside – Jewish, Christian, and secular.17
Schien die Vertreibung von christlichen Kreuzfahrern, die Überwindung der Mongolenherrschaft, die Islamisierung der Türken, sowie nachfolgend die Eroberung des ehemals christlichen Konstantinopels den endgültigen Sieg des Islam über Heiden- und Christentum zementiert zu haben, demonstrierte das neuzeitliche Eindringen der Europäer in das islamische Kernland, beginnend mit 17
Nielsen, Niels C.: Fundamentalism, Mythos, and World Religions, p. 96
2.2 Zur Geschichte des islamischen Fundamentalismus
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der napoleonischen Eroberung Ägyptens die Verwundbarkeit der islamisch legitimierten politischen Herrschaftsstrukturen. Weil die islamische Gesellschaft keine interne Dynamik mehr entfaltete, war es dem Westen gelungen, die zivilisatorische Entwicklung vorzugeben, sowie seine Normen weltweit zur Gültigkeit zu erheben. Innerhalb der islamischen Gelehrtenschaft entstand eine Diskussion, über welche Strategie sich die ursprüngliche Progressivität wiederherstellen ließe, um die westliche Vorrangstellung einzuholen. Die orthodoxen Geistlichen vertraten den fundamentalistischen Standpunkt, mit einer vollständigen Wiedererrichtung des prophetischen Ordnungsgefüges würde die islamische Gesellschaft ihre moralische Integrität zurückerlangen, sowie davon ausgehend mit göttlicher Unterstützung die ursprüngliche zivilisatorische Führungsstellung wiederherstellen. Demgegenüber standen prowestlich eingestellte Intellektuelle, die den Islam zwar ebenfalls als ethische Basis für die Beendigung der gesellschaftlichen Stagnation begriffen. Da die Aufnahme neuer Erkenntnisse von Nichtmuslimen ausdrücklich vorgesehen sei, behindere die gegenwärtige, vom Westen ausgehende Entwicklung den eigenen Fortschritt in keiner Weise. Vielmehr seien die Muslime verpflichtet, ihnen bislang verschlossene Wissensgebiete sich anzueignen, um die dahinter stehenden Techniken im islamischen Rahmen anzuwenden. Von der Fortschrittlichkeit der Europäer in den verschiedensten Wissenschaftsdiziplinen überzeugt, sollten die Muslime bewusst europäische Bildungseinrichtungen aufsuchen, um zu erfahren, in wie fern die dortigen Innovationen sich als dienlich erweisen würden. Der in Frankreich studierte Rifa`a Al-Tahtawi (1801-1873) verband die westliche Welt prinzipiell mit einer „nachahmenswerten Zivilisation“. Für ihn resultierte die Rückständigkeit seiner ägyptischen Heimat in der Verweigerung, Wissen und Gelehrsamkeit anderer Kulturen aufzunehmen. Al-Tahtawi (1989) wähnte in der Lern- und Aufnahmebereitschaft neuer Erkenntnisse eine dem Muslimen abverlangte Befähigung, die es im eigenen Interesse einzusetzen gelte: Sieht man genau hin, so wird man feststellen, dass alle diese [zuvor aufgezählten] Wissensgebiete, die jenen Franken vollkommen vertraut und bekannt sind, bei uns nur mangelhaft ausgebildet oder gänzlich unbekannt sind. Wer nun etwas nicht weiß, ist dem unterlegen, der dieselbe Sache meistert, und jemand, der sich erhaben dünkt, etwas zu lernen, wird allemal in Gram darum sterben. So danken wir denn Gott, der unseren Landesherren gesandt hat, auf dass er uns rette aus der Nacht der Unwissenheit in diesen Dingen, die man anderswo findet.18
Der islamische Rechtsgelehrte Jamal Al-Din Al-Afghani (1839-1897) verlangte eine Rückbesinnung auf den Koran, der sich in den vergangenen Jahrhunderten 18
Al-Tahtawi, Rifa`a: Ein Muslim entdeckt Europa, S. 21
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
durch unzählige Kommentare der Gelehrten zu Nebensächlichkeiten von seiner ursprünglichen Bedeutung entfernt habe. Al-Afghani erkannte die Widersprüche zwischen dem islamischen Wissenschaftsverständnis und der islamischen Gesellschaft seiner Zeit, welche sich nur durch eine Rückbesinnung auf das Fundament der Religion überwinden ließen. Hierin wähnte er die Grundlage für sein Fernziel einer Wiedererlangung der „Einheit der Muslime“. Diese Einheit bezog sich nicht nur auf den eigentlichen dogmatischen Glauben, sondern gleichermaßen auf das Politikverständnis. So kritisierte er beispielsweise, daß Arabisch im Osmanischen Reich nicht die einzige Amtssprache sei. Bekannt wurde er als Begründer der Idee des Panislamismus, die die arabische wie europäische Elite bis Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts intensiv beschäftigte. Sein Verhältnis zur Moderne war von dem Streben nach einem geeigneten Mittelweg zwischen einem statischen Festhalten an althergebrachten Traditionen und einer unreflektierten Übernahme westlicher Normen geprägt. Erkannte er eine Verweigerung gesellschaftlicher Veränderung keineswegs als förderlich an, bot die Orientierung an den eigentlichen religiösen Vorgaben die Voraussetzung, die Rückständigkeit gegenüber dem Westen aufzuholen. Aufgrund seiner Positionierung zwischen dogmatischem Verharren in der Tradition und unkritischer Übernahme westlicher Ordnungsmodelle führt Keddie (1968) Al-Afghani als ersten „NeoTraditionalisten“ an, weist jedoch darauf hin, dass angesichts seiner gleichzeitigen Zurückweisung von „reinem Traditionalismus wie reinem Westernismus“ er als Urheber der verschiedensten geistigen Strömungen innerhalb der islamischen Welt angesehen wird: As the first „Neo-Traditionalist“ whose influence spread beyond the borders of a single Muslim country, Afghani is in some sense the parent of various later trends that reject both pure traditionalism and pure Westernism. Although Afghani was, during his period of greatest influence, primarily anc ideologist of pan-Islam, his style of thought has some affinity with numerous other trends in the modern Islamic world.19
Al-Afghanis Einfluß inspirierte die islamischen Gelehrten Ägyptens im späten Neunzehnten und frühen Zwanzigsten Jahrhundert. Über seine Lehrtätigkeit fand er geistige Gefolgschaft, die seine Ideen aufnahm und weiterentwickelte. AlAfghanis bekanntester Schüler, der seine Philosophie weitergetragen hat, war Muhammad Abduh (1849-1905). Er war bestrebt, das islamische Schrifttum den gesellschaftlichen Anforderungen der modernen Welt gemäß auszulegen. Den Islam interpretierte er als Vernunftreligion. Der Koran stelle die Basis, auf rationalem Wege zu Offenbarung und Gotteserkenntnis zu gelangen. In der Nieder19
Keddie, Nikki R.: An Islamic Response to Imperialism, p. 3
2.2 Zur Geschichte des islamischen Fundamentalismus
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schrift des Korans sei jegliche Offenbarung zu einem Ende gekommen, so dass auf alle entscheidenden Fragen der Menschheit Antworten zu finden seien. Wie moderne Fundamentalisten fasste Abduh die Heiligen Schrift als geistige Grundlage für den Aufbau der menschlichen Gemeinschaftsordnung in Form eines Systems gegenseitiger Rechte und Pflichten auf. Er differenzierte zwischen den Verpflichtungen des Individuums gegenüber Gott, die nach spezifischen Vorschriften zu erfolgen hätten, und den Regeln des menschlichen Zusammenlebens, welche unter Beachtung eines allgemeinen Normenkatalogs nach den gesellschaftlichen Umständen festzusetzen seien. Der modernen Wissenschaft stand Abduh aufgeschlossen gegenüber. Da das wissenschaftliche Hinterfragen im Westen nicht auf der Basis des dortigen Christentums entstanden, sondern dem jeder menschlichen Kreatur übertragenen Geist entsprungen, sei für Muslime als „Vernunftgläubige“ noch leichter dorthin zu gelangen. Wenn Abduh (1966) auf die „wunderbare göttliche Gabe des Verstandes und der selbstständigen Urteilsbildung“ Bezug nimmt, weist er darauf hin, dass der Islam sich dessen schon seit seinem Ursprung bewusst gewesen sei. Die europäische Zivilisation habe erst im 16. Jahrhundert durch islamischen Einfluß die Fähigkeit zum rationalen Erfassen entdeckt, sowie über die Gelehrsamkeit der islamischen Welt zu ihrer zivilisatorischen Fortentwicklung gefunden: Hereby, and from all the foregoing, man entered fully into two great possessions relating to religion, which had for too long been denied him, namely independence of will and independence of thought and opinion. By these his humanity was perfected. By these he was put in the way of attaining that happiness which God had prepared for him in the gift of mind. A certain western philosopher of recent past has said that the growth of civilisation in Europe rested on these two principles. People were not roused to action, nor minds to vigour and speculation until a large number of them came to know their right to exercise choice and to seek out facts with their own minds. Such assurance only came to them in the sixteenth century AD- a fact which the same writer traces to the influence of Islamic culture and the scholarship of Muslim peoples in that century.20
In der westlichen Literatur ordnet man al-Afghani und Abduh, die traditionellen, schrifttreuen Islam mit dem Eintreten für eine Modernisierung im wissenschaftlich technischen Sinne verbanden, als „islamische Modernisten“ ein. Ihre Zurückweisung einer Säkularisierung nach dem Vorbild der europäischen Zivilisation, mehr noch ihr Postulat einer Neuordnung nach frühislamischen Grundsätzen kennzeichnet sie zugleich als Wegbereiter neuzeitlicher „fundamentalistischer Weltanschauungen“. Sowohl bei Al-Afghani als auch bei Abduh hängen beide Ansichten unmittelbar miteinander zusammen. Der geistige Widerstand 20
Abduh, Muhammad: The Theology of Unity, p. 127
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gegen die kulturpolitisch intendierte europäische Kolonisierung verleitete zur Konzeptsuche, den zivilisatorischen Vorsprung des Westens aufzuholen. Westliche Fortschrittlichkeit führte man auf wissenschaftliche Errungenschaften zurück, keineswegs auf das Christentum und erst recht nicht auf die Säkularisierung. Beide Gelehrten erkannten es als Herausforderung, daß eine nichtislamische Zivilisation die geistige und politische Führungsrolle der Welt übernommen hatte und daraus die Berechtigung ableitete, den Muslimen ihre Vorstellung von Staat, Recht und Ordnung aufzudrängen. Nur durch Rückbesinnung auf die urislamischen Leitideale, welche den modernen westlichen Normen sowohl intellektuell als auch moralisch überlegen angesehen wurden, sei die islamische Zivilisation in der Lage, sich gegen diese „Kulturhegemonie“ zu behaupten. Mit fortschreitender Kolonisierung gewann die gegen das Modernitätsverständnis des Westens gerichtete Tendenz innerhalb der islamischen Gelehrtenschaft immer mehr die Oberhand. Zunehmend wurde der wissenschaftliche Fortschritt des Abendlandes, der nicht zuletzt auf der Basis islamischer Philosophie erfolgt war, ebenfalls in Zweifel gezogen, weil der Okzident generell mit „Imperialismus“ und „Werteverfall“ gleichsetzte wurde. Die islamischen Fundamentalisten des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts, die fast ausschließlich unter europäischer Fremdherrschaft zu ihrer Einstellung gelangten, befanden westliche Strukturen in keiner Weise als nachahmenswert und forderten die vollständige Rückbesinnung auf die islamische Ursprungszeit. Die westliche Liberalität und den Individualismus interpretierten sie als Abkehr von ethischen Werten. Die Wurzel des Kolonialismus bestünde nicht in dem bei „Imperialmächten“ üblichen politökonomischen Hegemoniestreben, sondern in der Distanzierung der westlichen Zivilisation von ihrem eigenen religiösen Fundament. Hieraus folge ein Materialismus, der sich auf die staatliche Ebene hinaufziehe, sowie sich in der ökonomisch bestimmten kolonialen Interessenspolitik widerspiegele. Nielsen (1993) legt anhand einer islamisch fundamentalistischen Beschreibung der westlichen Zivilisation dar, daß die Geringschätzung des Westens weniger mit seiner nichtislamischen Grundlage oder seinem kolonialen Eroberungsstreben gerechtfertigt wurde, als mehr mit der Säkularisierung, die man als Loslösung von jeglichem religiösethischen Bezug wahr nahm: The occidentotic is a man totally without belief or conviction, to such an extent that he not only believes in nothing, but also does not actively disbelieve in anything – you might call him a syncretist. He is a timeserver. Once he gets across the bridge, he doesn`t care if it stands or falls. He has no faith, no direction, no aim, no belief, neither in God nor in humanity. He cares neither whether society is transformed or not nor whether religion or irreligion prevails. He is not even irreligious. He is indifferent. He even goes to the mosque at times, just as he goes to the club or the mov-
2.2 Zur Geschichte des islamischen Fundamentalismus
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ies. But everywhere he is only a spectator ....He never invests anything of himself – even to the extent of moist eyes at the death of a friend.21
Das Widersetzen gegenüber dem universalen Anspruch der vom Westen ausgehenden Moderne verbunden mit der Zurückweisung der westlichen Werteordnung zeigt sich als entscheidender Wesenszug des islamischen Fundamentalismus. Westliche Modernität wird keineswegs mit Aufklärung und säkularer, rational begründeter Wissenschaftlichkeit assoziiert als mehr mit Wertebeliebigkeit. Über eine Rückbesinnung auf ihre islamischen Grundsätze besäßen die Muslime die Voraussetzung, jegliche Rückständigkeit aufzuholen. Damit urislamische Leitideale wieder zur allgemeinen Gültigkeit erhoben werden können, bedürfe es nach der Vorstellung der islamischen Fundamentalisten einer staatlichen Ordnung, die sich auf der Scharia konstituiere. Als bedeutendste Verfechter dieser Grundidee in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts gelten die in Ägypten entstandenen Ikhwan Al-Muslimin (Muslimbrüder), die von Hasan Al-Banna (1906-1949) im Jahre 1928, noch während der britischen Kolonialherrschaft, gegründet worden sind. Wie Abduh interpretierten sie den Islam als Vernunftreligion, welche eine Ordnung in allen Gesellschaftsbereichen erfordere. Sich selbst betrachteten die Muslimbrüder als von Gott ausersehen, eine solche „heilige Ordnung“ wiederzuerrichten. In rationaler, säkularer Wissenschaftlichkeit erkannte Al-Banna ebensowenig eine nachahmenswerte Fortschrittlichkeit, wie er eine zeit- und kontextorientierte Schriftinterpretation für ein Irrweg hielt, da der Koran bereits in seiner originären Form eine „unveränderliche Wahrheit“ darstelle. Die Muslimbrüder sind im Kontext der Befreiungsbewegungen gegen die europäische Kolonialherrschaft entstanden. Sie unterschieden sich von säkularen Befreiungsbewegungen ideologisch darin, daß sie ihren politischen Kampf mit einem Eintreten für eine religiös legitimierte Gesellschaftsordnung verbanden. Diese islamische Ordnung postulierten sie als den „Dritten Weg“ zwischen den beiden herrschenden säkularen Ordnungen, dem Kapitalismus als „Ideologie des Westens“ und dem Kommunismus als „Ideologie des Ostens“. In bewußter Abgrenzung von den beiden anderen Ideologien bezeichnete man sein eigenes Gesellschaftsmodell als „Ideologie des Islamismus“ aufbauend auf vier Artikeln:
Der Glaube an einen Schöpfergott, der die Menschen im diesseitigen wie jenseitigen Leben binde und sich durch die Propheten geoffenbart habe. Die Einhaltung der rituellen religiösen Verpflichtungen wie Beten, Fasten und Almosengabe, die nicht nur für den einzelnen Gläubigen bestimmt seien, sondern ebenso dem gesellschaftlichen Zusammenhalt dienten.
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Nielsen, Niels C.: Fundamentalism, Mythos, and World Religions, p. 97
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
Das Bestreben, die traditionellen Strukturen in den muslimischen Ländern mit den islamischen Moralvorstellungen in Einklang zu bringen, sowie die Auffassung der sozialen Probleme als moralische Probleme. Die staatliche Gesetzgebung soll die Durchführung der moralischen islamischen Ordnung gewährleisten.
Die Tatsache, daß die postkolonialen Herrscher in der arabischen Welt sich allem Nationalismus zum Trotz mehr an der westlichen Moderne als an der islamischen Tradition orientierten, führte die Muslimbrüder in Opposition zu dieser Elite. Sie entwickelten ein alternatives Staatsmodell basierend auf der Volkssouveränität mit einer Regierung, die sich sowohl dem volonté generale als auch göttlichen Vorgaben gebunden fühlt. Über die Schura als Legislative und ein Kontrollorgan der Regierung als Exekutive hätte der Staat der Muslimbrüder eine gewisse Gewaltenteilung garantiert. Parteien oder Verbände zur Vertretung von Partikularinteressen befand man dem eigenen unitarischen Modell entgegenstehend. Als bedeutendster ideologischer und charismatischer Führer galt Sayyid Qutb (* 1906 hingerichtet 1966). Er mobilisierte seine Anhänger gegen die „materialistische Zivilisation des Westens“, die einen „Einklang der Seele mit ihrer wahren menschlichen Natur“ verhindere. Nur der Islam verleite zu der Befähigung, die vorgesehenen Aufgaben in der Gesellschaft zu erfüllen. Erst über die Religion befände sich der Mensch in der Lage, sich seiner animalischen Seele zu erwehren, sowie Geist und Intellekt einzusetzen. Moderne Säkularität stelle sich auf eine Stufe mit der Jahiliyya, weshalb es Pflicht jedes Muslimen sei, für eine weltweite Gemeinschaftsordnung nach dem Vorbild der Prophetenherrschaft in Medina einzutreten, in der alle Gesellschaftsbereiche dem Willen Gottes unterworfen seien. Qutb (2005) geht noch einen Schritt weiter und vertritt die These, dass nicht nur säkulare Gesellschaften seinem Ordnungsmodell entgegenstünden, sondern außer der „wahrhaftigen islamischen Gesellschaft“ ausschließlich „Jahiliyya“ existiere. Entscheidend sei nicht, daß sich eine Majorität der anzustrebenden Gesellschaft zum Islam bekenne, sondern daß sie die göttlichen Gebote nach Buchstaben und Geist einhalte und hierauf aufbauend die staatliche Gesetzgebung erfolge: Islam knows only two kinds of societies, the Islamic and the jahili. The islamic society is that which follows Islam in belief and ways of worship, in law and organization, in morals and manners. The jahili society is that which does not follow Islam and in which neither the Islamic belief and concepts, nor Islamic values or standards, Islamic laws and regulations, or Islamic morals and manners are cared for. The Islamic society is not one in which people call themselves “Muslims” but in which the Islamic law has no status, even though prayer, fasting and Hajj are regularly observed; and the Islamic society is not one in which people invent their own version
2.2 Zur Geschichte des islamischen Fundamentalismus
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of Islam, other than what God and His Messenger – peace be on him – have prescribed and explained, and call it, for example, “progressive Islam”.22
Qutbs anvisierte islamische Gesellschaft kennzeichne sich gleichermaßen durch die kollektive Befolgung der islamischen Pflichten wie durch ein staatliches Obrigkeitsgefüge nach dem Modell der Prophetenherrschaft. Da das menschliche Regelwerk unmittelbar von Gott vorgegeben sei, akzeptiere eine islamische Ordnung keine pluralen Praktizierungsvarianten und schon gar nicht divergente Auslegungen der Scharia. Die prophetischen Vorgaben müssten buchstabengetreu in das staatliche Gesetz übertragen sein, um Abweichungen vom islamischen Gesellschaftskodex auszuschließen. Zugleich stelle das islamische Moralverständnis die Grundlage des kollektiven Wertebewusstseins dar. Das Zusammentreffen der von Qutb aufgeführten Kriterien fand er in konstitutionell islamischen Staaten ebenso wenig vor wie in Gemeinwesen der außerislamischen Zivilisation. Da neben der islamischen Gesellschaft nur die Jahiliyya existiere, musste Qutb (2005) zu der Schlussfolgerung gelangen, dass jegliche Gesellschaften seiner Zeit der Jahiliyya zuzurechnen seien: The jahili society is any society other than the Muslim society; and if we want a more specific definition, we may say that any society is a jahili society which does not dedicate itself to submission to God alone, in its beliefs and ideas, in its observances of worship, and in its legal regulations. According to this definition, all the societies existing in the world today are jahili.23
Der Antrieb für Qutbs gesellschaftspolitisches Engagement lag nicht in erster Linie in seinem Zurückweisen der westlichen Säkularität, sondern vielmehr in einer Unterwerfung der gesamten Umma unter die „Herrschaft des Gebots“. Zwar seien einige von sich aus in der Lage, die göttlichen Normen als Maßstab anzuerkennen, für die anderen glaubte Qutb, äußere Bedingungen herstellen zu müssen, die eine „totale Revolution gegen die gegenwärtige Staatsordnung erforderten“. Qutbs Einstellung lässt sich nicht generell als Verweigerung gegenüber Modernität interpretieren, er verlangte eine Fortschrittlichkeit „im Sinne der Menschheit“. Seine gleichermaßen als „antimodern“ gedeutete Grundtendenz wird durch den religiösen Bezug untermauert. Nicht den Grundsätzen des Islam folgende Modernität ist gleichbedeutend mit „Jahiliyya“. Mit Qutbs Anspruch der Errichtung einer allumfassenden, alle Gesellschaftsbereiche betreffenden islamischen Ordnung die bestehende „Jahiliyya“ zu ersetzen, verbindet Nielsen (1993) eine „holistic ideology“, die er als totalitäre, gegen den Westen und jegliches säkular begründete System gerichtete Widerstandsmentalität interpretiert: 22 23
Qutb, Seyyid: Milestones, p. 93 ebd.: p. 80
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
Sayyid Qutb […] stated the case clearly, arguing that the religion revealed to the Prophet Muhammed embodies a unique ideal beyond history, time, and place. He envisaged it as towering above humanity and events and defined it as being both a doctrine and a method – an organic unity of theory and practice. It is this totalitarian, non-historical paradigm that is dominant in contemporary fundamentalism. Islam has become an ideological system – political, social, and economic, as well as theological – that in its own exclusive way provides a defense against the West and modernity.24
Qutbs umfangreiches Schrifttum verbunden mit seinem kompromisslosen Widerstand gegen das ägyptische Regime Nassers, wofür er letztlich 1966 als „Märtyrer“ hingerichtet wurde, ermöglichte der Muslimbruderschaft über die Grenzen Ägyptens hinaus Bekanntheitsgrad und bot die Voraussetzung für eine islamistische Opposition gegen die herrschenden Eliten. Die politische Repression, eine anhaltende sozioökonomische Krise in verschiedenen islamischen Staaten, sowie die Diskrepanz zwischen öffentlich propagiertem islamischen Bezug und einer unverkennbaren säkularen Tendenz der Führungseliten ließ die Sympathie für die Muslimbruderschaft weiter zunehmen. Es gelang ihnen, eine international agierende Organisation aufzubauen, die ihre finanzielle Rückendeckung bei wohlhabenden Muslimen in der europäischen und amerikanischen „Diaspora“ fand. Der ausbleibende politische Erfolg, ihr zweifelhaftes Ansehen angesichts zahlreicher, mit ihnen in Verbindung gebrachter Gewaltaktionen, sowie nicht zuletzt die anhaltende staatliche Repression ließ die Bruderschaft in jüngster Zeit von ihrer bis in die Neunziger Jahre verfolgten Strategie des bewaffneten Umsturzversuches Abstand nehmen. Über den Dialog mit Regierungen und Repräsentanten konkurrierender Weltanschauungen erreichten sie in Ägypten und Jordanien die öffentliche Akzeptanz, sowie die Zulassung als politische Partei bei allgemeinen Wahlen. Westlichen Eliten gegenüber zeigten sich die Muslimbrüder zunehmend ebenfalls dialogbereit. Das traditionalistische, gegen westliche Modernität gerichtete Islamverständnis haben sie allerdings weiterhin beibehalten. Ihr Anspruch, als einzige „wahrhafte Vertreter“ einer islamischen Civil Society aufzutreten, lässt sie bei aufgeklärten Muslimen nach wie vor auf Kritik treffen. In dem Maße wie der Islam als allumfassendes soziopolitisches System verstanden wurde, entwickelten sich fundamentalistische Strömungen mit sozialrevolutionärem Charakter. Ihre Hauptintention bestand darin, die islamische Zivilisation vor dem westlichen Materialismus zu bewahren, sowie die traditionelle, aus präkolonialer Zeit fortbestehende Gesellschaftsordnung mit dem Islam gerechtfertigt aufrecht zu erhalten. Die Wahrnehmung, dass die westliche Moderne 24
Nielsen, Niels C.: Fundamentalism, Mythos, and World Religions, p. 88
2.2 Zur Geschichte des islamischen Fundamentalismus
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sich scheinbar unaufhaltsam in die islamischen Gesellschaften hinein ausbreitete, sowie das traditionelle Wertefundament zur Disposition stellte, fasste man als Aufforderung, die ursprünglichen islamischen Ordnungsstrukturen staatlich festzusetzen. Eine erste fundamentalistische, dieses Grundanliegen verfolgende politische Bewegung, war die 1941 gegründete „Dschamaati Islami Pakistan“ des Rechtsgelehrten Abu l-Ala Maududi (1903-1979). Wie Qutb verband er mit dem Islam nicht nur individuelle Verpflichtungen, sondern ein kollektives System, sowie den Anspruch, eine „göttliche Herrschaftsordnung“ auf Erden zu errichten. Nur die Ausübung der Staatsgewalt durch „aufrechte Muslime“, verbunden mit der Unterordnung des staatlichen Gesetzes unter die Gebote der Scharia garantierten die Hinwendung der Civil Society zu den Vorgaben des Propheten. Die westliche Zivilisation wähnte Maududi durch Kapitalismus, Korruption und Sittenverfall aus dem inneren Gleichgewicht geraten und führte dies auf die Akzeptanz „von sündigen Menschen erlassener Gesetze“ zurück. In der Absicht, eine vergleichbare Entwicklung in der islamischen Welt zu verhindern, forderte er (1995) einen islamischen Staat, in dem alle „verführerischen“ Elemente der westlichen Zivilisation als „unislamisch“ zu unterbinden seien: Wenn Unzucht frei erlaubt ist, werden Predigten nur wenig bewirken. Eine Regierung muß hinter dem Verbot stehen, das es den Menschen leichter macht, von dieser Sünde abzulassen. Genauso ist es mit Trinken, Glücksspiel, Zins, Bestechung, Pornographie und verderblicher Erziehung: Ermahnung alleine, ohne Macht, reicht nicht aus, wenn die Umgebung uns zu diesen Dingen ermutigt oder sie zumindest toleriert.25
Obwohl Maududi jegliches nichtislamische Herrschaftssystem als unvollkommen abqualifizierte, differenzierte er zwischen unterschiedlichen Formen der Herrschaftsausübung namentlich Diktatur, Demokratie, Oligarchie oder Monarchie. Er läßt Verständnis dafür erkennen, dass die außerislamischen Zivilisationen angesichts des fehlenden Bezugs zum göttlichen Gebot und der Beschränkung auf humane Gesetzgebung sich neuzeitlich auf den Majoritätswillen als Prinzip festgelegt hätten. Regierungen seien an Verpflichtungen gegenüber der Gemeinheit gebunden, sowie könnten nicht willkürlich nach eigenem Ermessen politische Entscheidungen treffen. Die daraufhin erlassenen Gesetze blieben unbefriedigend, weil sie ausschließlich der menschlichen Vernunft entstammten. Im Islam habe Gott den Menschen „makellose Gesetze“ auferlegt, die nicht nur für den Einzelnen, sondern ebenso für das Gemeinwesen bindend seien. Bedürfte ein säkulares Obrigkeitsmodell der Kontrolle staatlicher Organe, denen Mangelhaftigkeit unterstellt werden müsse, sei in einem islamischen System die Kon25
Maududi, Sayyid Abul A´la: Als Muslim leben, S. 255
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
trolle bereits durch den permanenten Vergleich mit dem göttlichen Regelwerk gegeben. Die Überlegenheit seiner „islamischen Demokratie“ bestehe nach Maududi (1989) darin, dass die gesamte staatliche Obrigkeit Gott unmittelbar unterstellt sei, womit garantiert werde, daß menschliche Unzulänglichkeit in keiner Weise Einzug in die politische Alltagspraxis halte: In der westlichen säkularen Demokratie sind die Menschen die Herrscher; im Islam ruht die Herrschaftsgewalt bei Gott und die Menschen sind Seine Khalifen oder Statthalter. In der westlichen Demokratie erlassen die Menschen ihre eigenen Gesetze, in der islamischen müssen sie den von Gott durch Seinen Propheten erlassenen Gesetzen folgen und gehorchen. In der einen verpflichtet sich die Regierung, den Willen des Volkes zu erfüllen; in der anderen müssen die Regierung und die Menschen, die sie bilden, allesamt den Absichten Gottes Folge leisten. Kurz, die westliche Demokratie stellt eine Art von absoluter Staatsgewalt dar, die ihre Macht auf freie und unkontrollierte Weise ausübt, wohingegen die islamische Demokratie dem göttlichen Gesetz unterworfen ist und ihre Gewalt in Übereinstimmung mit den Anweisungen Gottes innerhalb der von ihm festgelegten Grenzen ausübt.26
Ausgehend von seinem Verständnis des Islam als Aufforderung zur staatlichen Durchsetzung der prophetisch vorgegebenen Ordnung und des Gottesgesetzes, mussten für Maududi alle nicht explizit auf den Islam sich beziehenden Staatsordnungen von Muslimen zurückgewiesen werden. Der Islamismus beansprucht ein dauerhaftes politisches Engagement, dass so lange revolutionär und gegen die aktuelle Führungselite gerichtet sei, bis diese das eigene Islamverständnis angenommen habe, sowie sich zur Festsetzung daraus folgender Ordnungsstrukturen verpflichten ließ. Da der Islam als globales sakrales Obrigkeitssystem interpretiert wurde, erklärte man rationale Kriterien für jenseits der Religion folgende politische Grenzziehungen als willkürlich und forderte die Muslime auf, die Revolution von einem Staat in den nächsten weiterzutragen. Langfristig sollten sogar die von Nichtmuslimen dominierten Zivilisationen sich dem islamischen Gesetz unterordnen. Die Muslime seien verpflichtet, dorthin zu gelangen und über eigene gesetzgeberische Verantwortungsübernahme die „Islamisierung“ voranzutreiben. Der Verpflichtung zur Einheit der Umma unter islamischer Herrschaft bewusst, wies Maududi das Konzept des modernen, territorial begrenzten Nationalstaats zurück und lehnte, worauf Hyman (1985) hinweist, die kulturpolitisch motivierte Separierung Pakistans von Indien ab: Maududi`s understanding of Islam was as a worldwide revolutionary movement led by true Muslims. He scorned the narrow concept of nationalism – this was the basis for his rejection of the partition scheme of India in 1947 – believing instead that the 26
Maududi, Sayyid Abul A´la: Islamische Lebensweise, S. 62
2.2 Zur Geschichte des islamischen Fundamentalismus
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Muslim community (ummah) as a whole was the sole valid identity for true Muslims.27
Der islamische Fundamentalismus der Neuzeit, sowie darauf aufbauend die politische Ideologie des Islamismus entwickeln sich aus der Konfrontation mit der vom Westen ausgehenden Moderne auf zweierlei Weise: In der ersten Variante sucht eine bereits vorhandene skeptische Gesinnung gegenüber dem Westen nach Rechtfertigung in den Urquellen des Islam. Aus der Erkenntnis, daß die politischen Ordnungsstrukturen der islamischen Zivilisation das Eindringen westlich säkularer Wertvorstellungen begünstigen, erwächst das Streben nach eigener politischer Verantwortungsübernahme. Die zweite Variante ergibt sich aus der Orientierung an buchstabengetreuer Schriftauslegung, wobei man sich der Diskrepanz zwischen den religiösen Vorgaben und der gesellschaftlichen Alltagspraxis gewahr wird. Die westliche Normfreiheit, die man als Ursache begreift, beansprucht man über die politische Ebene von der Gesellschaft fern zu halten. Die Beschwörung eines globalen islamistischen Obrigkeitssystems, abgeleitet aus der Umma als Gemeinschaft aller Muslime, erweist sich als begünstigend für die Ausbreitung islamistischer Bewegungen in der islamischen Welt. Lediglich im schiitischen Iran (1979), dem sunnitischen Sudan (1983) und basierend auf dem orthodoxen buchstabenorientierten Wahabismus in Saudi-Arabien gelang es, die Scharia in jeglichen Gesellschaftsbereichen zur staatsrechtlichen Gültigkeit zu erheben. Die Strategien, zur angestrebten staatlichen Entscheidungsebene zu gelangen, divergierten zwischen den islamistischen Bewegungen. Strebten einige den gewaltsamen Umsturz an, zielten andere auf eine Beeinflussung der bestehenden Obrigkeit im Sinne ihres fundamentalistischen Islamverständnises ab. Im Bewusstsein, dass die gegenwärtigen Staatssysteme Säkularität ebensowenig vorsehen, hat ein Teil der marokkanischen Islamisten zeitweise in Kooperationen mit dem politischen Establishment eingewilligt. Dieser Pragmatismus bedeutet keineswegs, die Orientierung an den ursprünglichen islamischen Leitidealen aufzugeben. Der Einfluß der Islamisten auf die Gesetzgebung variiert sowohl zwischen den Bewegungen als auch zwischen den Staaten. Er ist abhängig von der gesellschaftspolitischen Strategie der Bewegung, der jeweiligen Staatsverfassung, dem Verhältnis der Obrigkeit zum Islam, sowie von den Erfahrungen, die die Civil Society mit der vom Westen ausgehenden Moderne verbindet. Die Ursprünge des neuzeitlichen islamischen Fundamentalismus und seiner politischen Instrumentalisierung als Islamismus liegen in den Siebziger Jahren. Er entwickelt sich zu einem weltweiten Phänomen, erfasst die gesamte islamische Welt und findet bei muslimischen Minderheiten in der westlichen Diaspora ebenfalls Gefolg27
Hyman, Anthony: Muslim Fundamentalism, p. 11
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
schaft. Politisch stehen die meisten Bewegungen in Opposition zu einer autoritären, postkolonialen Herrschaftselite wie zum westlichen säkularen Gesellschaftssystem. Sie interpretieren den Islam als eigenständiges politisches System in Konkurrenz zu bestehenden soziopolitischen Ordnungen westlichen Ursprungs. Da die Scharia für die Muslime die einzige Richtschnur darstellen solle, beansprucht man sie zum Maßstab der staatlichen Gesetzgebung zu erheben. Obwohl die meisten Staaten in der islamischen Welt sich konstitutionell auf den Islam berufen, bildet die Scharia gewöhnlich nur in Teilbereichen das rechtliche Fundament. Ausgehend von der Tatsache, daß die Scharia unterschiedlich ausgelegt wird, bestehen islamische Staaten mit divergenter Rechtspraxis nebeneinander. Die universale Botschaft des Islam verleitet Islamisten dazu, eine weltweit einheitliche islamische Ordnung einzufordern, ein Ziel, welches immer wieder an partikularen politischen Interessen und dem Einfluß der heterogenen Regionalkulturen gescheitert ist. Bis zur Gegenwart haben sich in fast allen islamischen Staaten islamistische Bewegungen etabliert, die im Islam, traditionell interpretiert und schrifttreu praktiziert, die Grundlage für die Gesellschaftsordnung der Zukunft ansehen. Aufgrund voneinander abweichender Strategien, divergenter Auslegungen der Scharia, sowie unterschiedlicher Reaktionen der Herrschaftseliten variiert ihr Einfluß sowohl zwischen den Einzelstaaten als auch den einzelnen Bewegungen. Gemein ist fast allen eine dem Westen gegenüber distanzierte Grundtendenz verbunden mit der Befürchtung, daß die westliche Säkularität die Muslime ihrer religiösen Grundsätze entfremde. Das Zurückweisen des westlichen Universalanspruchs, einhergehend mit eigener universaler Zielsetzung, bildet die ideologische Grundlage des Postulats einer „Dauerrivalität zwischen islamischer und westlicher Zivilisation“. Bei einigen rechtsgerichteten westlichen Intellektuellen findet jenes Bewusstsein eines Gegeneinanders in der Beschwörung vom „Kampf der Kulturen“ seinen Widerhall. Beide Seiten leiten ihr Postulat aus der Historie ab, wonach seit der ersten islamischen Ausbreitung, spätestens aber seit den christlichen Kreuzzügen des Mittelalters ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen Westen und islamischer Welt bestanden habe. Die Islamisten orientieren sich an der uralten islamischen Einteilung in die Dar Al-Islam (Haus des Glaubens), welche die islamische Gesellschaft als Umma repräsentiert, gegenüber der Dar Al-Harb (Haus des Unglaubens), jeglicher Gesellschaft außerhalb des islamischen Herrschaftsbereichs. Beide stünden sich feindlich gesinnt gegenüber. Bestand im Mittelalter die Gefahr, dass die Dar Al-Islam von Kreuzfahrerheeren erobert werde, gehe die neuzeitliche Bedrohung von interessengeleiteter westlicher Imperialpolitik aus. Da jegliches außerislamische Herrschaftssystem der Dar Al-Harb zugezählt wird, hat man während des Kalten Krieges, worauf Dek-
2.3 Der islamische Fundamentalismus der Gegenwart – Ursachen und Motive
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mejian (1985) hinweist, sowohl die westlich kapitalistische Welt als auch den sozialistischen Einflußbereich dazugezählt: Historically, this dialectic represented the ongoing conflict between the territorial domain of Islam (Dar al-Islam) and the rest of the world. The latter was perceived by the Muslims as Dar al-Harb - a realm of inherent conflict lacking the peace of Islam and opposed to it on the world stage. This confrontation is an important part of the worldview of Islamic fundamentalists and many conventional Muslims. In the contemporary setting, the Dar al-Harb would include the West and the Communist Bloc.28
Der Vergleich mit der europäischen Geschichte seit dem frühen Mittelalter demonstriert, dass fundamentalistische Bewegungen mit religiösem Hintergrund weder in Vergangenheit noch Gegenwart ein spezifisches Kennzeichen der islamischen Zivilisation und keineswegs gegen den Westen gerichtet sind. Sie treten zu den verschiedensten Zeiten an unterschiedlichen Orten auf und werden in der Zukunft im Orient wie im Okzident ein Bestandteil der Zivilisation bleiben. Die Hinwendung zum religiösen Fundamentalismus dominiert in Gesellschaften, in denen das innere politische wie soziale Gleichgewicht gestört ist, sowie öffentliche Kritik an den aktuellen Verhältnissen entweder ohne Widerhall bleibt oder von der Obrigkeit behindert wird. Die Tatsache, dass gegenwärtig in der islamischen Welt fast ausschließlich repressive Machtstrukturen bestehen, sowie daß islamische Völker in besonderer Weise von Okkupation und Fremdherrschaft betroffen sind, lässt ein überdurchschnittlich günstiges Klima für religiösen Fundamentalismus und seine politische Instrumentalisierung entstehen. In dem Maße, wie der Westen jene, als ungerecht empfundenen Herrschaftssysteme unterstützt, wendet sich fundamentalistische oppositionelle Grundeinstellung gegen die westliche Zivilisation. Man differenziert nicht mehr zwischen der gegenwärtigen westlichen Politik und dem geistigen Hintergrund der im Westen entstandenen Moderne.
2.3 Der islamische Fundamentalismus der Gegenwart – Ursachen und Motive 2.3 Der islamische Fundamentalismus der Gegenwart – Ursachen und Motive 2.3.1 Psychische Aspekte fundamentalistischer Haltungen Um zu erfassen, aus welchem Kontext heraus religiöser Fundamentalismus in der islamischen Zivilisation seit Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts verstärkt 28
Dekmejian, Hrair: Islam in Revolution, p. 23
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
das Kollektivbewusstsein prägen konnte, erscheint ein Blick auf die psychologischen Voraussetzungen geboten, die für fundamentalistisches Gedankengut empfänglich werden lassen. Die gemeinsame Erfahrung mit von außen bestimmten Veränderungen kann zu gegenseitiger Ermutigung führen, an den unvermeidbaren Entwicklungen zu partizipieren, sowie diese eigenständig voranzutreiben. Ebenso kann sie eine Fixiertheit auf vertraute Wahrheiten begünstigen und sich in der Zurückweisung bisher ungekannter Denkkategorien und Kultureinflüsse äußern. Es verlangt herauszufinden, unter welchen Umständen die Bereitschaft gefördert wird, sich auf moderne Rationalität einzulassen und neu auftretende Problemstellungen zeitgemäß zu bewältigen. Inwieweit kann die Religion ein Protektionsbegehren gegenüber Fehltritten in eine Abwehrmentalität gegenüber unvorhersehbaren Entwicklungen hineinlenken? Demgegenüber erfordert es ein Religionsverständnis herauszustellen, das die Motivation befördert, sich neue Erkenntnisse anzueignen. Ein Fundamentalismus, der sich in Opposition zu modernen Entwicklungen begibt, kann aus dem Bewusstsein entstammen, daß die eigene Gesellschaft weder sinnlichen noch materiellen Gewinn hieraus zu ziehen vermag. Die westliche Modernität bedarf einer Reflexion, inwieweit sie eine Aufnahmebereitschaft außerwestlicher Zivilisationen berechtigt. Erwächst der Fundamentalismus aus der Erfahrung, die Moderne nicht nach dem eigenen Werteverständnis beeinflussen können, sondern auf die Ergebnisse des westlichen Fortschrittsbegriffs angewiesen zu sein? Fundamentalistische Gesinnung ließe sich vor diesem Hintergrund in keiner Weise als generelle „Antimodernität“ interpretieren. Die Form der Präsentation moderner Innovationen sollte hinterfragt werden, ob sie Interesse an Fortschrittlichkeit erweckt oder fundamentalistischer Verweigerungsmentalität die Basis bereitet. Die verschiedenenartigen Erfahrungen, die fundamentalistische Einstellung mental vertiefen, sind gegeneinander abzuwägen, sowie zum neuzeitlichen islamischen Fundamentalismus in Beziehung zu setzen. Charakteristisch für Fundamentalismus ist die Orientierung an bekannten Gewissheiten, die Sicherheit vermitteln. Jene Sicherheit kann die Religion bieten, da sie eindeutige Antworten auf Fragen parat hat, die sich bis in die Gegenwart der Ratio entziehen. Ein entscheidendes Kriterium ergibt sich durch den Anspruch auf eine „unveränderliche Wahrheit“. Der Islam hat Grundregeln auferlegt, die orts- und zeitunabhängig Bestand haben. Sie wurden von Generation zu Generation weitergegeben und werden in keiner Weise mit einer von außen gesteuerten gesellschaftlichen Entwicklung in Verbindung gebracht, sondern als Bestandteil der kollektiven Eigenidentität erfahren. Indem die Wertbegriffe der Moderne unkontrolliert in die eigene Zivilisation hineingelangen, werden sie kulturfremd und zugleich als bedrohlich wahrgenommen. Modernität wird mit einer „zivilisatorischen Niederlage“ gleichgesetzt und intendiert, diese Niederla-
2.3 Der islamische Fundamentalismus der Gegenwart – Ursachen und Motive
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ge in einer Rückbesinnung auf die Vergangenheit, in der die eigene Zivilisation den gesellschaftlichen Veränderungsprozeß bestimmt hat, zu begegnen. Mit der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft entstehen Problemstellungen, zu denen keine vorgegebenen Anweisungen bereitstehen, weil sie in dieser Form zuvor nicht aufgetreten sind. Es ergibt sich ein Konflikt zwischen dem Bestreben, Bewährtes fortzusetzen gegenüber der permanenten Veranlassung, neue Varianten auszutesten. Diesem Konflikt weicht der Fundamentalist aus, indem er die Vergangenheit, in der die Anzahl an Alternativen überschaubar war, als Maßstab festlegt, sowie sich der modernen Entwicklung entgegenstellt. Meyer (1989) attestiert dem in der Alternativlosigkeit der Vergangenheit verhafteten Fundamentalismus das Bestehen auf der Singularität in den Verhaltensoptionen durch ein Verschließen gegenüber dem Unvertrauten. Sie wurzele in der Befürchtung, bei der Auswahl der angemessenen Option zu scheitern: Fundamentalismus ist eine willkürliche Abschließungsbewegung, die als immanente Gegentendenz zum modernen Prozeß der generellen Öffnung des Denkens, des Handelns, der Lebensformen und des Gemeinwesens absolute Gewissheit, festen Halt, verlässliche Geborgenheit und unbezweifelbare Orientierung durch irrationale Verdammung aller Alternativen zurückbringen soll. Seine Beute ist dort am reichsten, wo Zumutungen und Kosten der Moderne ihre Chancen und Segnungen hoffnungslos übersteigen.29
Die Tatsache, daß der Westen sich in der Lage gezeigt hat, die Pluralität, die die Moderne hervorgebracht hat, kreativ einzusetzen, mag als Plädoyer für mehr Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Herausforderungen und fremden Weltanschauungen interpretiert werden. Hierin kann eine Ursache gesehen werden, warum die westliche Zivilisation sich neuzeitlich nicht in gleichem Maße mit dem Phänomen „Fundamentalismus“ konfrontiert sieht wie außerwestliche Zivilisationen. Nicht zu leugnende ökonomische, politische und wissenschaftliche Vormachtstellung des Okzidents führt bei zurückstehenden Gesellschaften zu einer kritischen Selbstreflexion und zur Suche nach Erklärungen. Mag ein Verharren an traditionellen Denkstrukturen an vergleichbarer Dynamik hindern, verleitet dies keineswegs zur Übernahme des westlichen pluralistischen Gesellschaftsmodells. Die zivilisatorische Rückständigkeit leugnet der religiöse Fundamentalist auf der Bewusstseinsebene, indem die eigene religiöse Gebundenheit als „moralische Überlegenheit“ in besonderer Weise nach außen getragen wird. Hierbei wird die Verschiedenartigkeit gegenüber dem Westen hervorgehoben, die eine Übernahme moderner Ordnungsstrukturen ausschließe. Der Fortschritt des Westens, basierend auf Säkularität, wird insgesamt herabgewürdigt, sowie 29
Meyer, Thomas: Fundamentalismus in der modernen Welt, S. 18
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das Bestehen auf der Gültigkeit unveränderlicher Gewissheiten als Kennzeichen von „Widerstandsfähigkeit“ herausgestellt. Arkoun (2000) interpretiert inneres Kompensationsstreben als Ursache für die von islamischen Fundamentalisten beschworene Divergenz zwischen „Islam und Westen“, die es der eigenen Civil Society nicht erlaube, die auf „areligiösen, unmoralischen“ Prinzipien beruhenden westlichen Errungenschaften zu übernehmen: Thus in the popular expression ´Islam and the West ´there is the unproblematized presentation of a static, dogmatic, essentialist, transcendentalized religious world, following the portrayal by believers who require that their ´difference´ should be respected, and who thus make it impossible for themselves to measure the distance that separates them from a dynamic, modern, secularized West, open to all innovations because it comprises agents who are more free, or totally detached, from traditional beliefs – although these agents too are sheltered from scientific criticism. Believers consolidate their position by contemplating the mocking opposition – never thoroughly analysed – between the high and living spirituality of the ´East` and the immoral materialism of the ´West`.30
Die antimoderne Grundtendenz außerwestlicher Zivilisationen darf nicht als allgemeine Opposition gegen den Westen simplifiziert werden. Man misstraut einer Fortschrittlichkeit, in der religiöse Wertmaßstäbe in den Hintergrund zu geraten drohen. Da die Moderne in der islamische Welt später Einzug gehalten hat, ist die ältere Generation in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der traditionelle Werte bestimmend waren und die angesichts ihrer Übersichtlichkeit eine eindeutige Einschätzung nach religiös-ethischen Kriterien zuließ. Die Pluralität der Moderne eröffnet neue Varianten, die nach dem traditionellen Moralverständnis kaum noch angemessen einzuordnen sind. Hieraus ergibt sich das Bestreben neben den traditionellen Werten zugleich das vormoderne Ordnungsmodell zu erhalten, in dem die Entscheidung für ethische Gebundenheit zweifelsfrei getroffen werden konnte. Modernität wird mit Gesellschaftsstrukturen gleichgesetzt, die zur Abwendung von Moral und Ethik verleiten. Der Westen als Urheber moderner Entwicklungen wird mit der Akzeptanz von gesellschaftlichen Missständen assoziiert, die mangels religiösen Bezugs nicht als solche aufgefasst würden. Vielmehr sieht man sich mit einer Gesellschaft konfrontiert, die dem eigenen Bemühen um die Einhaltung religiöser Normen keine Würdigung beimisst. Hieraus erwächst eine generelle Distanzierung von der westlichen Moderne, der unterstellt wird, auf religiöses Wertebewusstsein keine Rücksicht zu nehmen. Burgat (2003) konstatiert, daß der islamische Fundamentalismus nicht in erster Linie als Gegenüberstellung der islamischen und der westlichen Zivili30
Arkoun, Mohammed: Islam, Europe and the West, p. 177
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sation zu begreifen sei, sondern als Zurückweisen des westlichen Modernitätsverständnisses, das der metaphysischen Sphäre subjektiv keinen Raum lasse: The „Islamic tension“ then is less a reflection of the competition between two (divine) revelations than that of the stir created by the stating of a demand for spirituality in a society that thought it had moved beyond any need for public intervention regarding the sacred realm.31
Die Skepsis gegenüber einer vom Westen ausgehenden, kaum mit geistigem Gewinn assoziierten Modernisierung impliziert eine gegen den Okzident gerichtete Grundeinstellung innerhalb außerwestlicher Zivilisationen. Die Erfahrung materiell von den Errungenschaften der Moderne ebenso wenig profitieren zu können, verleitet dazu, jegliche, mit dem Westen assoziierte Wertbegriffe zurückzuweisen. Mag eine dem Okzident gegenüber distanzierte Grundstimmung genuin auf die als Abkehr von Religion gedeutete Säkularität zurückzuführen sein. Das Zusammentreffen mit einem Gesellschaftsmodell, in dem nur die Interessen einer minoritäre Elite zur Durchsetzung gelangen, veranlasst, westliches Gedankengut grundsätzlich zu verfemen. Jegliche modernen Leitideen geraten unter Verdacht, zur Installierung und Aufrechterhaltung einer für ungerecht empfundenen prowestlichen Gesellschaftsordnung zu dienen. Selbst die Theorien der Aufklärung finden als „im Westen entstanden“ keine Resonanz. Mit modernen westlichen Leitbegriffen verbindet man die Art und Weise, wie die westliche Zivilisation diese weltweit durchzusetzen versucht. Besonders die öffentliche Aufforderung zur Nachahmung des okzidentalen Gesellschaftsmodells wird als Bestreben interpretiert, die außerwestlichen Zivilisationen kulturpolitisch zu bevormunden. Man begreift sie als Fortsetzung der kolonialen Eroberungstendenz über die kulturell-geistige Ebene. Begünstigend für diese Sichtweise erweist sich die Verwendung westlicher Leitbegriffe in bewusster Abgrenzung zu außerwestlichen Zivilisationen. Geertz (1996) zeigt dies am Begriff „Liberalismus“ auf, der von westlichen Eliten als „universal“ postuliert wird. Da die Bezeichnung zugleich als spezifisches Identitätsmerkmal der westlichen Zivilisation dient, muß der vorgegebene Universalanspruch als „kulturpolitisches Hegemoniestreben“ aufgefasst werden: In den letzten Jahren hat sich sowohl der ökonomische als auch der politische Liberalismus von einer ideologischen Festung für eine Hälfte der Welt zu einem moralischen Angebot an die gesamte Welt entwickelt. Paradoxerweise wurde damit deutlich, wie sehr beide Varianten ein kulturspezifisches, im Westen entstandenes und dort ausgearbeitetes Phänomen darstellen. Derselbe Universalismus, dem sich der 31
Burgat, Francois: Veils and Obscuring Lenses, p. 23
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Liberalismus verpflichtet fühlt, den er propagiert und der seine weltbürgerliche Intention ausmacht, hat ihn in einen offenen Konflikt mit anderen Universalismen ähnlicher Intention geführt. [...] Der Liberalismus erscheint ihnen nur als ein weiterer Versuch, dem Rest der Welt westliche Werte aufzuzwingen: als eine Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln.32
Von Anhängern der Buchreligionen sollte das moderne, durch die Aufklärung entstandene Werteverständnis in keiner Weise als Bedrohung aufgefasst werden. Die Idee der Menschenrechte beruht auf der religiös motivierten Naturrechtslehre und wurde ursprünglich unter dem Einfluß islamischen Schrifttums im Sechzehnten Jahrhundert entwickelt. Die verbreitete Distanzierung gegenüber den Ideen der Aufklärung muß vielmehr auf kollektive Unkenntnis zurückgeführt werden, für die dem Westen die Verantwortung zugewiesen werden kann. Zwar fordert die westliche Politik auf, die als universell propagierten Gesellschaftsideale weltweit zu akzeptieren. Bisher haben sich die dahinter stehenden Grundsätze nur selten im Alltag widergespiegelt. Die postmodern zu beobachtende Tendenz zur Verdrängung der Religion aus der Öffentlichkeit wurde von den geistigen Urhebern des Rationalismus in keiner Weise propagiert. Egozentrismus und Selbstbezogenheit stehen dem volonté generale Roussaeus ebenfalls eindeutig entgegen. Sein Ideal zielte auf ein an den Interessen der Mehrheit ausgerichtetes Gemeinwesen ab, welches in Europa erst im Laufe von Jahrzehnten ansatzweise verwirklicht wurde und im absoluten Gegensatz zur Realität der meisten postkolonialen Staaten steht. Da der Westen seit der Kolonialzeit sein säkulares Kulturverständnis nach außen zu erkennen gab, nicht aber die dahinter stehenden Leitideale herausgestellt hat, wird westliche Modernität nicht selten mit fehlendem Respekt vor gemeinschaftsorientierten Werten gleichgesetzt. Tibi (1991) hält den Europäern vor, die Kolonialzeit nicht zur Weitervermittlung ihrer einheimischen aufklärerischen Philosophien eingesetzt zu haben, weil man die dahinter stehenden universellen Ideale exklusiv für sich interpretierte: Nur hat das europäische Kolonialsystem niemals eine Kulturdiffusion im Sinne der Aufklärung betrieben, sondern hat die koloniale Ideologie der >mission civilisatrice< parallel zu dem Verbot der Schriften Rousseaus und Montesquieus in den kolonialisierten Gebieten vertreten.33
Die Kolonialisierung hatte den außerwestlichen Eliten aufgezeigt, daß ihre Civil Society gegenüber dem Westen in der Entwicklung zurückstand. Man erachtete es als opportun, sich an westlichen Vorbildern zu orientieren, um Progressivität 32 33
Geertz, Clifford: Welt in Stücken, S. 87 Tibi, Bassam: Die Krise des modernen Islams, S. 32
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zu erlangen. Ohne das geistige Fundament der westlichen Fortschrittlichkeit konnten ihre Zukunftskonzeptionen das angestrebte Ziel nicht erreichen. Modernität blieb auf die Nachahmung des Gesellschaftsmodells beschränkt, welches bei den Kolonialmächten vorgefunden wurde. Vergleichbar den Kolonialverwaltungen, förderten die postkolonialen Herrscher moderne Prestigeobjekte für sich selbst wie für eine wohlhabende Minorität. Materielle Statussymbole besaßen Vorrang vor ideellen Werten, da man an ihnen die „Fortschrittlichkeit“ nach außen demonstrieren konnte. Sie ließen sich über den Import des technischen knowhows aus dem Westen mit geringerem Aufwand realisieren als beispielsweise ein humanistisches Bildungssystem, das in Europa erst im Laufe eines Jahrhunderts zur kollektiven Durchsetzung gelangt war. Ohne die strukturellen Voraussetzungen und Partizipation der Majorität musste die Zukunftsentwicklung unvollständig bleiben, so daß der zivilisatorische Rückstand nicht entscheidend verringert wurde. Fortschrittlichkeit assoziierten religiöse, gemeinschaftsverbundene Gesellschaftsschichten mit einer Vernachlässigung von Kollektivverpflichtungen, die dem Ideal des Islam ebenso entgegenstand wie den Postulaten der europäischen Aufklärung. Im dem Maße wie seine Kritiker das selektive Modernisierungsverständnis ebenso mit dem Westen in Beziehung setzten wie die postkoloniale Herrschaftselite, ergriff aufrechter Gemeinsinn gegen die Moderne, gegen den Okzident, sowie erst recht gegen die einheimischen Verantwortungsträger Partei. Im Bewusstsein, dass der Islam bereits Jahrhunderte vor der westlichen Aufklärung aus seiner Soziallehre heraus gemeinschaftsverbundener zivilisatorischer Weiterentwicklung den Rahmen geboten hatte, stützt sich Opposition gegen den elitären prowestlichen Modernisierungskurs in der islamischen Zivilisation auf die Religion und präferiert ein Gegenmodell aus der Vergangenheit. Heine (2001) erkennt das auf Außenwirkung gerichtete, an der subjektiven Assoziation mit dem Westen orientierte Fortschrittsverständnis für die Hinwendung zu islamischen Fundamentalismus als begünstigendes Element: Da diese Modernisierung [im politischen und ökonomischen Bereich] sich nur sehr langsam vollziehen konnte, bemühte man sich um die Schaffung von Symbolen, die als Beweis für den erreichten Fortschritt dienen sollten. Man baute Opernhäuser und gründete Symphonie-Orchester, deren Programm aus dem Repertoire westlicher klassischer Musik zusammengestellt wurde. Dass dies für die überwiegende Mehrheit der Gesellschaften gar keine positive Bedeutung hatte und zu Recht als sinnlose Geldverschwendung betrachtet wurde, ließ die führenden Kreise völlig unbeeindruckt. Hier beginnt etwas, was die radikalen islamischen Modernisierungskritiker als „Westoxikation“ bezeichnen und gegen das sie sich mit aller Macht wehren.34
34
Heine, Peter: Terror in Allahs Namen, S. 80
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
In der islamischen Welt äußert sich religiöser Fundamentalismus in der Suche nach auf islamischer Grundlage basierender Identität in Abgrenzung zum westlich säkularen Materialismus. Zum ideellen Hintergrund des westlichen Fortschritts findet man keinen Zugang, sowie ist weder in der Lage aus den materiellen Fortschrittsresultaten zu profitieren, noch einen gemeinschaftlichen Nutzen zu erkennen. Westliche Modernität nimmt man als Abkehr vom islamischen Gemeinschaftsbewusstsein wahr. In der Forderung nach Wiedererrichtung des vormodernen Ordnungsmodells verbirgt sich das Anliegen, traditionellen islamischen Gemeinsinn zu erhalten oder wiederzuerwecken. Der Islam lässt sich ebenso für eine am Ideal der Aufklärung orientierte gesellschaftliche Modernisierung einspannen. Die Menschenrechtsidee, die der metaphysischen Naturrechtslehre entstammt, findet ihre Entsprechung in allen drei Buchreligionen und kann aus dem Islam abgeleitet werden. Menschenrechte müssen in der gesellschaftlichen Alltagspraxis des modernen Gemeinwesens zur Geltung gelangen, damit westliche Fortschrittlichkeit als anzustrebendes Ziel aufgenommen wird. Ihre Durchsetzung darf nicht nur als Nachvollzug westlich universeller Vorgaben zu legitimiert werden, sondern in erster Linie als moderne Umsetzung der islamischen Gemeinschaftsverpflichtung. Die Scharia, modern ausgelegt, bietet die Grundlage für ein Modernisierungsverständnis, daß sich sowohl an islamischen Grundsätzen als auch an gesellschaftspolitischen Anforderungen der Neuzeit orientiert. Müller (1996) weist darauf hin, dass zwischen dem westlichen Humanitätsbegriff und der sozialen Pflichtenlehre des Islam keinerlei Divergenz herausgezogen werden kann, sofern diese Heiligen Texte zeitgemäß interpretiert würden: Koran und sunna können vielmehr ebenso menschenrechtsfreundlich interpretiert werden, nämlich in einem Sinne, der nicht zu einem anderen Verständnis von Religion und Menschenrechten, von Rechten und Pflichten und von Gehorsam und Widerstand als in westlichen Demokratien führt. Dies bedeutet, dass die Quellen des islamischen Rechts im sunnitisch-arabischen Verständnis nicht notwendig eine Barriere für die Adaptation der Menschenrechte im sunnitisch-islamischen Rechtskreis darstellen. Entscheidend ist vielmehr davon, wie mit den Quellen umgegangen wird.35
Das Verständnis einer Konformität von westlicher Aufklärung und islamischem Kollektivbegriff zieht die westliche Obrigkeit und muslimische Eliten zu gemeinsamer Verantwortung. Die westliche Verpflichtung ergibt sich aus dem universellen Anspruch der aufklärerischen Leitideale, während die Obrigkeiten der islamischen Welt aus ihrer islamischen Legitimation heraus sich bestimmten 35
Müller, Lorenz: Islam und Menschenrechte, S. 322
2.3 Der islamische Fundamentalismus der Gegenwart – Ursachen und Motive
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Anforderungen gegenübergestellt sehen. Modernität kann von Muslimen nur als erstrebenswert akzeptiert werden, wenn sie diese mit der Realisierung der islamischen Vorgabe an ein Gemeinwesen verbunden sehen. Bisher haben sowohl westliche als auch islamische Herrschaftseliten Modernisierung nur selten als kollektiven Prozeß erkennen lassen. Bei der Implementierung moderner Strukturen wurde die Majorität in den Entwicklungsprozess nicht einbezogen. Waren nur die Wohlhabenden von den Resultaten zu profitieren in der Lage, wurden die sich ergebenden Flexibilitätsanforderungen fast ausschließlich der Mittel- und Unterschicht abverlangt. Ohne moderne Infrastruktur konnte die Bevölkerungsmehrheit die für eigenständige Entwicklung notwendige Kreativität nicht einsetzen. Indem ihr zugleich elementare Menschenrechte vorenthalten wurden, musste der Eindruck entstehen, Modernisierung sei ein gegen sie gerichteter Prozess. Westlicher Progressivität gegenüber generell skeptisch eingestellte Fundamentalisten fanden nun die Voraussetzung, ihr traditionalistisches Alternativmodell in der Gesellschaft zu verbreiten. Indem der Westen sich ebenso wenig für die Realisierung von Demokratie und Menschenrechten einsetzte, musste das Eintreten für moderne Entwicklung als Abkehr von islamischer Gerechtigkeit aufgefasst werden. Um eine Akzeptanz der vom Westen ausgehenden Moderne zu bewirken, fordert Tessler (1997) sowohl die Regime der islamischen Welt als auch ihre westlichen Verbündeten auf, ihre Verpflichtungen zu einem Fortschritt im Sinne der Allgemeinheit verstärkt wahrzunehmen: These regimes, with active encouragement and assistance from their external allies, will have to work with increased honesty and effectiveness on behalf of all of their citizens, and this in turn will require greater respect for human rights, a more equitable distribution of those burdens of underdevelopment that cannot be avoided, and, above all, progress toward democratization and genuine government accountabil36 ity.
Für religiösen Fundamentalismus bestehen in der islamischen Gesellschaft aufgrund einer kollektiven Unzufriedenheit mit der gesellschaftlichen Gegenwart psychologisch begünstigte Voraussetzungen. Mit der vom Westen ausgehenden Modernität verbindet man keine positiven Erfahrungen. Fortschritt wird als von außen gewaltsam eindringend, sowie zum ausschließlichen materiellen Nutzen einer elitären Minorität wahrgenommen. Indem westliche Errungenschaften als Distanzierung von religiösen Werten interpretiert werden, geht die Übernahmebereitschaft verloren. Es entsteht eine Fixierung auf traditionelle, nachvollziehbare Erklärungsmuster und Ordnungsstrukturen aus der eigenen zivilisatorischen Vergangenheit. Gleichzeitig entwickelt sich eine Skepsis gegenüber dem Westen 36
Tessler, Mark: The Origins of Popular Support for Islamist Movements, p. 115
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
als Urheber der wertungebunden erfahrenen Progressivität. Indem die einheimischen Eliten westliche Kulturelemente unkritisch einfließen lassen, ohne die Civil Society angemessen an den unbestreitbaren Erfolgen westlicher Modernität zu beteiligen, wendet sich das entstehende Misstrauen gegenüber dem Westen als fundamentalistische Opposition gegen die herrschenden Obrigkeiten. Zur Verhinderung jener Abwehrmentalität gegenüber Fortschritt und Veränderung erfordert es, die Modernisierung nicht auf materielle Innovationen zu beschränken, sondern an ein Kollektiv gerichtete westliche Errungenschaften in der Alltagspraxis zur Geltung zu bringen. Die Identifikation mit den dahinter stehenden Idealen wird über die zeitgemäße Auslegung islamischer Urquellen erreicht. Im Westen blieb religiöser Fundamentalismus in der jüngeren Vergangenheit auf Minoritäten begrenzt. Neben der früher einsetzenden, aus der Civil Society heraus entstehenden modernen Entwicklung war das Bemühen zeitgenössischer christlicher Theologen zu erkennen, Fortschritt und Religion als vereinbar zu interpretieren. Die islamische Gelehrtenschaft stand zeitgemäßer Schriftauslegung lange Zeit skeptisch gegenüber und betrachtete die Ijtihad als abgeschlossenen Prozess. Die politischen Eliten bezogen sich zur Aufrechterhaltung prämoderner Ordnungsstrukturen auf den Islam, während ein Großteil der modernistischen Intellektualität dem Islam Rückwärtsgewandtheit attestierte. Die Fundamentalisten erschienen als die einzigen, die eine am Gemeinwohl orientierte Staatsentwicklung neuzeitlich mit dem Islam begründeten. Die im Islam verwurzelte Civil Society erkannte nur in einem Gesellschaftsmodell Wertegebundenheit, indem sie den von der Religion verlangten Gemeinsinn wahrnahm. Da alle moderner Entwicklung gegenüber aufgeschlossenen Konzepte Modernität selektiv auffassten oder die Loslösung von religiösem Bewusstsein propagierten, stieß das antimoderne Gegenmodell der Fundamentalisten auf Sympathie. Mehmet (1994) zieht sowohl die politischen als auch geistigen Autoritäten der islamischen Zivilisation für fundamentalistische Vergangenheitsfixierung zur Verantwortung, weil sie den Islam nicht als Verpflichtung erkannten, eine am Gemeinwohl orientierte moderne Entwicklung voranzutreiben: Die islamischen Gesellschaften sind deshalb nicht entwicklungsorientiert, weil der Islam nicht für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung mobilisiert wurde. Die Idee vom Staat als politischem Instrument zur Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse hat sich in der islamischen Gesellschaft schlichtweg nicht herausgebildet. Stattdessen entstand eine Tradition selbstherrlicher Führerschaft, bürokrati37 scher Lethargie und abgehobenen intellektuellen Elitedenkens.
37
Mehmet, Özay: Fundamentalismus und Nationalstaat, S. 54
2.3 Der islamische Fundamentalismus der Gegenwart – Ursachen und Motive
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Wie der Islam ist das Christentum für fundamentalistische Orientierung an prämodernen Strukturen instrumentalisiert worden. Den Vertretern der fundamentalistischen Ideologie innerhalb des Christentums gelingt es nicht, auf breite Resonanz zu treffen. Die Entwicklung der modernen Innovationen in der westlichen Zivilisation stellt eine Ursache für eine unter Muslimen häufiger anzutreffende Modernisierungsskepsis dar. Ebenso ist der Zusammenhang von moderner Entwicklung und geistiger Aufklärung in der islamischen Welt weniger bekannt. Vor allem der religiöse Hintergrund der aufklärerischen Postulate wurde der Mehrheit der Muslime nicht vermittelt. Zwar tendierte ein Teil der modernen westlichen Philosophen zum Atheismus und interpretierte die Religion als Barriere für gesellschaftliche Entwicklung. Sie stießen auf Widerspruch religiöser Intellektueller, die anhand moderner Auslegung des Heiligen Schrifttums die Vereinbarkeit ihres Glaubens mit einer modernen Gesellschaftsauffassung erkennen ließen. Wenn die an der Moderne orientierten Eliten in der islamischen Welt die islamischen Rechtsquellen ebenfalls zeitgemäß auslegen, erreichen sie eine verstärkte Identifikation der Muslime mit modernen Ordnungsstrukturen. Die Komplexität der Postmoderne verlangt keineswegs auf den religiösen Bezug für ethische Gebundenheit zu verzichten noch Spiritualität für die Teilhabe am Fortschritt aufzugeben. Ebenso wenig erfordert Aufgeschlossenheit gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen sich unreflektiert am Zeitgeist zu orientieren. Die berechtigte Befürchtung vieler Muslime, die zur Areligiosität tendierende westliche Säkularität in Verbindung mit dem verbreiteten Materialismus stelle ihr traditionelles Wertefundament zur Disposition, sollte islamische Verantwortungsträger motivieren, die Argumente moderner christlicher Philosophen als Grundlage für die Entwicklung eines islamischen Modernitätsbegriffes heranzuziehen. Watt (1988) fordert die islamische Geistlichkeit auf, die Unsicherheit vieler Muslime angesichts unverarbeiteter Gegenwartsprobleme zur Kenntnis zu nehmen und nach dem Vorbild christlicher Denker im Westen nach zeitgemäßen religiösen Antworten auf die Moderne zu suchen: The ideal of self-suffiency also hinders Muslims in dealing with contemporary problems. Many Western-educated Muslims today are only too conscious of the weakening of their religious beliefs by the anti-religious elements in Western thought; but few Muslim religious leaders are aware of the extent to which the anti-religious forces have been opposed by Christian thinkers, and of the possibility of adapting these Christian responses to needs of Muslims. The unwillingness of the ulema to learn from the West in this respect means that they are unable to help other Muslims with religious doubts, are indeed have no inkling of the depth and complexity of the 38 problems with which such people are dealing. 38
Watt, Montgomery: Islamic fundamentalism and modernity, p. 72
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
Die Erfahrung einer vom Westen ausgehenden Moderne, welche die Gesellschaftsstrukturen der eigenen Zivilisation in scheinbar unkontrolliertem Tempo verändert, begünstigt fundamentalistisches Zurückgreifen auf prämoderne Modelle. Entweder man wähnt sich dem Abendland geistig-moralisch überlegen und übersieht die Notwendigkeit, außerislamisch entwickelte Leitideale in die Gegenwartskonzeptionen einzubeziehen oder man kompensiert ein aus dem ökonomischen technologischen Zurückstehen erwachsenes Minderwertigkeitsbewusstsein mit dem Rückgriff auf ein transzendentes Ordnungsmodell der Vergangenheit, das historisch neben kollektiver Gerechtigkeit einer Fortschrittsentwicklung die Grundlage bot. Die Erfahrung, am gegenwärtigen Fortschrittsprozess nicht in angestrebter Weise beteiligt zu sein, weil eine prowestliche Herrschaftselite Modernität exklusiv nach ihren Interessen vorantreibt, verstärkt die Vergangenheitsorientierung zu geistiger Opposition gegenüber gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Ordnungsstrukturen. Man wähnt die islamische Zivilisation vom Westen dominiert, sowie ihrer traditionellen Werte entfremdet. Am westlichen Beispiel ließe sich demonstrieren, dass gesellschaftliche Veränderung in einem religiös-ethischen Rahmen auf Akzeptanz treffen und zu Eigeninitiative motivieren kann. Die hinter der Modernität stehenden Leitideale der Aufklärung gilt es unter Einbeziehung zeitgemäßer Interpretation des Islam im Zusammenhang mit den westlichen Zivilisationsresultaten zu stellen. Bei einer Differenzierung zwischen dem aufklärerischen Anspruch und der gegenwärtigen westlichen Realität kann die Grundskepsis gegenüber der Moderne überwunden werden. Das Bewusstsein entwickelt sich, mit einer eigenständig gesteuerten Progressivität, an der die Bevölkerungsmajorität partizipieren kann, sowohl traditionelle Wertbeziehungen zu erhalten, als auch den Errungenschaften der westlichen Zivilisation universelle Gültigkeit zuzugestehen. Erfolgreiche islamische Modernisierungskonzeptionen tragen dazu bei, das kollektive Rückständigkeitsgefühl zu überwinden. Fortschritt wird kaum noch mit dem Nachvollzug westlicher Resultate assoziiert, sondern mit universellen Vorgaben, die im islamischen Rahmen zur Anwendung gelangen.
2.3.2 Zur sozialen Basis des islamischen Fundamentalismus Anders als im europäischen Sozialstaat gelang es den islamischen Staaten nicht, den von der religiösen Ethik geforderten Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit mit der Industrialisierung in die Realität umzusetzen. Nach wie vor besteht keine flächendeckende Absicherung gegen soziale Risiken. Das Recht auf allgemeine Bildung kontrastiert mit anhaltend hohen Analphabetenraten, sowie fehlenden schulischen und beruflichen Abschlüssen. Die sozioökonomisch erfolgreiche
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westliche Zivilisation verbindet man mit der prowestlichen einheimischen Herrschaftselite, die sich nicht in der Lage erweist, soziale Disparitäten zu verringern. In der Geschichte haben revolutionäre Bewegungen ihre Aktivitäten in besonderer Weise entfalten können, wenn ökonomische Krisen vorherrschten. Inwieweit findet islamischer Fundamentalismus sozioökonomische Bedingungen vor, die ihn als sozialrevolutionäre Strömung attraktiv erscheinen lassen? Konzepte erfordert es aufzuzeigen, wie über eine Veränderung der ökonomischen Rahmenbedingungen fundamentalistischer Rückwärtsgewandtheit begegnet werden kann. Die gegenwärtigen Modernisierungsstrategien bedürfen einer Reflexion auf ihre Wirksamkeit, sowie sind zu hinterfragen, ob sie in einem Kontext angelegt sind, der bei Muslimen eine Verweigerungsmentalität gegenüber der Moderne begünstigt. Tragen westliche Verantwortungsträger dazu bei, einem islamischen Fundamentalismus die Basis zu bereiten, der sich in der Tendenz gegen westliches Fortschrittsverständnis wendet? Das westliche Gesellschaftsmodell ist angesichts seines unbestreitbaren Erfolgs daraufhin zu hinterfragen, welche Elemente sich hiervon auf ein islamisches Gemeinwesen übertragen lassen, ohne religiös motivierten Widerstand hervorzurufen. Die postkolonialen Herrschaftseliten erachteten über lange Zeit eine tiefgreifende Umstrukturierung ihrer Ökonomie nicht für notwendig, womit sie für die verschärfte sozioökonomische Krise die Basis legten. Anstatt in zukunftsträchtige Innovationen zu investieren, begnügte man sich, von der reichhaltig vorhandenen Substanz zu profitieren. Das einfließende ausländische Kapital wurde für Konsum und Prestigeobjekte einer Wohlstandselite aufgezehrt. Die vorhandene soziale Disparität blieb bestehen und vertiefte sich weiter. Die Aufwendungen für Militär und Geheimdienste zur Stabilisierung eines autoritären Machtapparats wuchsen immer mehr an, so dass für gemeinnützige Belange kaum noch Finanzmittel vorhanden waren. Vormoderne Sozialstrukturen wurden trotz teilweise erfolgreicher Ansiedlung westlicher Industrie beibehalten. Eignete sich das westliche Ökonomiemodell nicht als übertragbares Vorbild für eine eigenständige Entwicklung im islamischen Rahmen, belegt dagegen das Beispiel Ostasiens, dass außerwestliche Zivilisationen grundsätzlich die Voraussetzungen besitzen, von der Globalisierung zu profitieren. Sozioökonomischer Fortschritt ist nicht an die Kulturtradition gebunden. Er erfordert das Bewusstsein einer gesellschaftspolitischen Verantwortung, ausgerichtet auf die Teilhabe der Bevölkerung an der Entwicklung. Waterbury (1997) wirft den Regimes der arabischen Welt im Gegensatz zu den ostasiatischen Wirtschaftseliten fehlenden Einsatz für strukturelle Reformen vor und weist ihnen für die gegenwärtige sozioökonomische Rückständigkeit ihrer Nationen eine wesentliche Verantwortung zu:
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
It is safe to say that the incumbent political elites of the Mid-dle East and North Africa, having variously recognized that their economies need far-reaching restructuring, would like to emulate the authoritarian controls that East Asian newly industrializing countries (NICs) have successfully maintained.39
Die massenweise Hinwendung zu islamischen Fundamentalisten und ihren Konzepten erscheint plausibel vor dem Hintergrund einer frustrierenden Erkenntnis, dass die postkolonialen Herrschaftseliten sich weder bereit noch in der Lage zeigten, für eine Wohlstandsentwicklung die Rahmenbedingungen zu stellen. Die Erkenntnis, dass westliche Staaten in allen ökonomischen Sektoren eine Führungsposition einnahmen, hatte die Verantwortungsträger der islamischen Zivilisation veranlasst, ihre Konzeptionen westlichen Vorgaben unterzuordnen, sowie westlich entstandene Wirtschaftsideologien zu übernehmen. Die islamische Wirtschaftsethik wurde ebenso wenig einbezogen wie spezifische kulturelle Eigenheiten. Im religiöskulturellen Kontext entwickelte ökonomische Modelle entstammten ausschließlich der Civil Society und konnten nicht zur Umsetzung gelangen, da der Bevölkerung das politische Mitentscheidungsrecht verweigert wurde. Das Bewusstsein, daß die im Westen entwickelten Modelle sich dort erfolgreich erwiesen hatten, führte zu der Überzeugung, daß die dahinter stehenden ökonomischen Leitsätze für die eigene Zivilisation ebenfalls Gültigkeit besäßen. Weil die zivilisatorische Grundlage nicht vorhanden war, konnte die Majorität von den aufoktroyierten Wirtschaftsplänen der Herrschaftselite nicht profitieren und Wachstum beschränkte sich auf kapitalintensive Sektoren. Für eine Teilhabe am Wohlstand fehlten die Bildungs- und Infrastrukturvoraussetzungen. Der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft wurde mit dem Wachstum der Großstädte durch Binnenmigration eingeleitet, jedoch kein Modell entwickelt, die industriellen Wachstumserlöse der Gemeinheit zuzuführen. Die kapitalbesitzende, mit dem Ausland in Verbindung stehende Oberschicht konnte die neu eintreffenden Investitionen ungehindert zur Profitmaximierung einsetzen und erkannte keine Verpflichtung, die übrige Bevölkerung darin einzubeziehen. Die politischen Herrschaftsautoritäten gaben sich, wie Mehmet (1994) konstatiert, dem Trugschluß hin, wirtschaftliche Entwicklung nach westlichem Vorbild werde aus sich selbst heraus kollektiven Wohlstand nach sich ziehen: Die autoritär-staatliche Entwicklungspolitik setzte Entwicklung mit wirtschaftlichem Wachstum (d.h. Maximierung des Bruttosozialprodukts) gleich, und Modernisierung mit Urbanisierung, die ihrerseits einer kapitalintensiven Industrialisierung gleichkam. Die herrschenden nationalen Eliten und ihre ausländischen Berater waren auf den Gedanken fixiert, der Wohlstand von oben werde allmählich „durchsickern“, 39
Waterbury, John: From Social Contracts to Extraction Contracts, p. 142
2.3 Der islamische Fundamentalismus der Gegenwart – Ursachen und Motive
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früher oder später würden Industrialisierung und Verstädterung automatisch soziale Gerechtigkeit herbeiführen.40
Die sozioökonomische Realität in den meisten islamischen Ländern stand den vorgegebenen Zielsetzungen der Regierungen entgegen, die kaum Engagement für durchgreifende ökonomische Reformen erkennen ließen, um den Entwicklungsrückstand zu verringern. Die während der Kolonialzeit entstandene Einkommensschere öffnete sich weiter, da mit der einsetzenden Industrialisierung die Abhängigkeit von der globalen Weltökonomie zunahm. Auf das Bevölkerungswachstum und die strukturelle Verjüngung stellte sich der Ausbildungsund Arbeitsmarkt nicht angemessen ein, so dass die Jugendarbeitslosigkeit in fast allen Staaten Nordafrikas, des Nahen und Mittleren Ostens postkolonial in bisher ungekanntem Ausmaß erst entstand. Die vorhandene berufliche Qualifizierung wirkte sich aufgrund der allgemeinen Strukturschwäche der Volkswirtschaft ebenfalls kaum nachhaltig aus, so daß ein Hochschulabschluß immer weniger Heranwachsenden eine existenzsichernde Arbeitsstelle garantieren kann. Diese deprimierenden ökonomischen Zukunftsaussichten lassen eine resignierende Grundeinstellung entstehen. Die säkulare politische Elite verlor vor dem Hintergrund offensichtlichen Unvermögens oder mangelnden Interesses, der Bevölkerung eine identitätsstiftende ökonomische Zukunftsperspektive zu bieten, immer mehr an Vertrauen. Die ernüchternde Erkenntnis breitete sich aus, dass dauerhafte nationale Souveränität mehr erforderte als die Existenz eines politischen Staates mit eigenen Grenzen und Repräsentanten nach außen. Ohne ökonomische Wachstumsaussichten konnte sich kein nationalstaatliches Identitätsbewusstsein herausbilden. Es verstärkte sich der Eindruck, in einem fortgesetzten westlichen Abhängigkeitsverhältnis zu stehen. In dem Maße wie die volkswirtschaftlich als inkompetent erlebten Regime für ihre erfolglosen Programme Berater aus den ehemaligen Kolonialmächten heranzogen, entstand das Begehren nach einem politischen Wechsel. Der Anspruch galt einer Autorität, die eine vollkommene, den sozioökonomischen Bereich einschließende Souveränität durchzusetzen bereit sei. Da sie ihr angestrebtes Ordnungsmodell nicht aus dem Westen, sondern aus der islamischen Vergangenheit herauszogen, entwickelten sich die islamischen Fundamentalisten zur einzigen, vertrauenswürdig erscheindenen Alternative. Meier (1995) sieht die Zunahme des Islamismus in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Versagen der postkolonialen Herrscher beim Aufbau einer selbsttragenden Nationalökonomie: Der spätere Aufstieg des Islamismus kann als Ausdruck dafür interpretiert werden, wie sehr die zweite Aufgabe der postkolonialen Phase, die Verwirklichung innerer 40
Mehmet, Özay: Fundamentalismus und Nationalstaat, S. 63
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
Souveränität durch Schaffung stabiler Infrastrukturen, unter der Herrschaft der arabisch-nationalistischen Regime jener Epoche unerfüllt geblieben ist.41
Die fehlende nationale, am zivilisatorischen Hintergrund orientierte sozioökonomische Zukunftsstrategie wirkte sich nicht nur in geringen Investitionen im Bildungswesen aus. In der Annahme, eine städtisch geprägte Civil Society werde sich mit höherer Geschwindigkeit in den ökonomischen Strukturen der Moderne einfinden, beschleunigte die prowestliche Herrschaftselite ebenso den Urbanisierungsprozeß, ohne die Metropolen mit der notwendigen modernen Infrastruktur auszustatten. Es bildeten sich Trabantenstädte bestehend aus Elendsvierteln (slums, banlieus) mit unzureichender öffentlicher Versorgung, hohen Kriminalitätsraten und zunehmender Gewaltbereitschaft. Diese Erscheinungen sind Ausdruck einer kollektiven Frustration angesichts der sichtbar gewordenen Perspektivlosigkeit, sowie der unzureichenden Vorbereitung auf moderne sozioökonomische Prozesse. Das Verlangen nach einer Autorität entsteht, welche nicht nur über ein sämtliche Gesellschaftsbereiche einschließendes Ordnungsmodell verfügt, sondern sich ebenso bereit zeigt, den ökonomischen Alltagsproblemen die angemessene Aufmerksamkeit zu widmen. Die Islamisten, die im soziopolitisch verstandenen Islam die Lösung jeglicher Zukunftsprobleme wähnen, erwachsen für die unzähligen, von der Gegenwart Frustrierten zur „ersehnten Alternative“ heran. Angesichts ungehaltener politischer Versprechen sowie unwirksamer wirtschaftlicher Reformkonzepte erschien nur ein grundlegender Systemwechsel erfolgversprechend. Henry (1997) weist darauf hin, dass selbst die wenigen politischen Wechsel innerhalb der nordafrikanischen Staaten kaum spürbare ökonomische Modernisierung hervorbrachten, da die undemokratischen Strukturen beibehalten wurden und Reformen nicht der Gemeinheit, sondern der Aufrechterhaltung und Stabilisierung des status quo dienten: So far, then, North Africa illustrates only a negative relationship between economic and political change: Financial reform cannot give rise to independent business constituencies because the incumbent regimes remain authoritarian and can tolerate only crony capitalism.42
Die distanzierte Grundeinstellung der islamischen Fundamentalisten gegenüber dem Westen wirkt sich für die Erhöhung ihres Sympathisantenkreises begünstigend aus. Sie vermitteln die Botschaft, dass die sozioökonomische Divergenz mit einem westlichen Hegemonialanspruch auf kultureller und politischer Ebene einhergehe. Aus der Erkenntnis, in der Realität die ökonomischen bestimmten 41 42
Meier, Andreas: Politische Strömungen im modernen Islam, S. 77 Henry, Clement M.: Crises of Money and Power, p. 201
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gesellschaftspolitischen Machtstrukturen nicht revidieren zu können, erwächst ein Kompensationsbedürfnis auf der religiös-geistigen Ebene heran. Ein bereits vorhandenes Bewusstwerden der eigenen zivilisatorischen Rückständigkeit wird durch die Erfahrung, am westlich entstandenen Gesellschaftsmodell nicht teilhaben zu können, verstärkt. In der fundamentalistisch verstandenen Religion erhält man sich die Bestätigung, zu einem sakralen Ordnungsmodell zu gelangen, in dem der eigenen Zivilisation die in der Gegenwart sozioökonomisch vorenthaltene Gerechtigkeit zuteil werde und die derzeit dominierende westliche Zivilisation an ihrer materiellen Begehrlichkeit zu Grunde gehe. Maier (2004) interpretiert den gegen westliche Symbolik gerichteten Al-Jihadismus als islamistische Variante des Nord-Südkonflikts. Er stelle das Revancebedürfnis des von der globalen Entwicklung ausgeschlossenen Südens für die zivilisatorische Dominanz des Nordens, insbesondere Nordamerikas dar, die angesichts der sozioökonomischen Disparität in besonderer Weise wahrgenommen wird: Dass im Djihadismus religiöse Motive vorherrschen, bedeutet im übrigen nicht, dass sich die Bewegung in der gegenwärtigen Welt nicht auch andere Strömungen zu nutze macht. Hier kommen vor allem Dritte-Welt-Gefühle ins Spiel: das Gefühl einer universellen Demütigung der armen und unterentwickelten Völker gegenüber den reichen und führenden Nationen; das Bewusstsein eines kaum aufzuholenden Rückstands; wirtschaftliches, soziales, kulturelles Elend; die Einsicht, zu den Verlierern der Globalisierung zu gehören – und damit verbunden des Hass auf die Lebensformen der Reichen, auf die westliche politisch-kulturelle Überlegenheit und eine ausgeprägte Aversion gegen die letzte verbliebene Großmacht: Amerika.43
In der islamischen Gesellschaft der letzten Jahrzehnte ließen sich zwei oberflächlich betrachtet entgegengesetzt erscheinende Entwicklungen beobachten. Einerseits etabliert sich eine immer stärker am Westen und säkularen Vorbildern orientierte Elite in einer nach rationalen Kriterien aufgebauten Wirtschaft. Die Civil Society erscheint strukturell den westlichen postmodernen, postreligiösen Kollektiven ebenfalls immer ähnlicher. Islamische Symbolik in der Öffentlichkeit wie der Freitag als gesetzlicher Feiertag wird zunehmend ökonomischen Nützlichkeitskriterien geopfert. Säkulare Konsumansprüche einer materialistisch geprägten Oberschicht gewinnen die Oberhand gegenüber kollektivem Gemeinsinn. Andererseits ist in der jüngeren Generation, die mit den Resultaten der modernen Ökonomie bestens vertraut ist, eine verstärkte Hinwendung zum traditionellen Islam festzustellen. Eine tiefgründige, buchstabenorientierte Frömmigkeit geht mit einer bewussten Distanzierung vom Materialismus einher und erkennt im Islam nicht nur individuelle Sinngebung, sondern darüber hinaus ein 43
Maier, Hans: Religion und Gewalt, S. 26
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jegliche Gesellschaftsbereiche umfassendes Zukunftssystem. Diese Hinwendung zum Transzendenten und Irrationalen entsteht als Reaktion auf die ausschließlich monetären Kriterien unterworfene ökonomische Revolution der Postmoderne. Die unüberhörbare Kritik am modernen Wirtschaftssystem bei westlichen Linksintellektuellen und christlichen Kirchenvertretern kennzeichnet diese Tendenz in keiner Weise als Spezifikum der islamischen Zivilisation, ausbleibende Erfolge der nationalen Wirtschaftskonzeptionen und anhaltende sozioökonomische Krisenhaftigkeit lassen sie hier zum Massenphänomen anwachsen. Kurio (1992) interpretiert die fehlende Aussicht auf ökonomischen Erfolg als Hauptmotivation, dass gerade Jugendliche in der islamischen Welt im religiösen, antisäkular ausgerichteten Fundamentalismus ihre Identität suchen: Als Ursache ist- neben dem Orientierungsbedürfnis einer jugendlichen Intelligenzschicht – eher die relative Erfolglosigkeit der staatlichen Modernisierungsprogramme und die persönliche Perspektivlosigkeit der jungen Generation zu vermuten. Diese brachten zwar viele Veränderungen, aber keine Erfolge mit Modellcharakter, an denen man sich orientieren könnte.44
Die Wirtschaftspolitik der postkolonialen Ära erwies sich als ineffektiv und war weitgehend auf nominelles Wirtschaftswachstum beschränkt. In immer geringerem Maße berücksichtigte sie die Ansprüche der jungen Generation. Vor dem Hintergrund einer anhaltenden Verjüngung der Bevölkerungsstruktur nahmen die speziell Jugendliche betreffenden ökonomischen Probleme zu, ohne dass sich Bildungswesen und Arbeitsmarkt darauf einzustellen begannen. Die Diskrepanz zwischen der demographisch bedingten Notwendigkeit und der fehlenden Bereitschaft, die Anliegen jüngerer Bevölkerungsschichten in ökonomische Reformprogramme einzubeziehen, trat immer offensichtlicher zutage. Waren in den 80er Jahren erstmals erkennbare strukturelle Reformen eingeleitet worden, zeigte sich bereits ein Jahrzehnt später, dass die sozioökonomischen Realitäten sich kaum nachhaltig verbessert hatten, da die Strukturanpassungen sich in keiner Weise an demographischen Gegebenheiten orientiert hatten. Wurde man sich angesichts der zunehmenden Hinwendung von Jugendlichen zum Islamismus seit den 90er Jahren der spezifischen Situation dieser Altersgruppe gewahr, die Bereitschaft zu einer Änderung der einseitigen, unvollkommenen Wirtschaftspolitik blieb nach wie vor unzureichend. Die geringe Rücksichtnahme auf die heranwachsende Generation erklärt sich auch aus dem hohen Altersdurchschnitt der Entscheidungsträger und ihrer Selbstzufriedenheit angesichts ihrer historischen Erfolge bei der Erlangung der politischen Unabhängigkeit. Diese Reformverweigerung verschärft den Genera44
Kurio, Hars: Berberkönige und Schriftgelehrte, S. 12
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tionskonflikt, den die Islamisten zu einem soziopolitischen Systemkonflikt heraufzustilisieren verstehen. Es gelingt ihnen, immer mehr Jugendlichen zu suggerieren, nicht nur die untaugliche Wirtschaftspolitik der herrschenden Eliten, sondern das säkulare Gesellschaftssystem, daß sie repräsentierten, sei verantwortlich für die sozioökonomische Stagnation. Da erfolgversprechende Reformen bisher nie zur Umsetzung gelangt waren, konnte sich bei der jungen Generation keine positive Einstellung gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung herausbilden. Politische Wechsel innerhalb des postkolonialen Staates waren ebensowenig mit verstärktem Engagement einer neuen Autorität für strukturelle Veränderung einhergegegangen. Die Verantwortungsträger zogen ihre politische Legitimation weniger aus aktueller Reformbereitschaft als mehr aus ihrer ruhmreichen Vergangenheit. Von ihrer moralischen Integrität überzeugt, ließen sie Kritik an ihrem politischen Kurs ebenso wenig zu, wie sie alternative Modernisierungsvorschläge aus der Civil Society einbezogen. Bei der jüngeren Generation setzte sich die resignierende Grundansicht fest, die gesamte säkulare Ordnung sei für eine Modernisierung im Sinne der Gemeinheit ungeeignet. In den Islamisten erkennt man angesichts ihres Versprechens einer von gegenwärtigen Modellen grundlegend abweichenden Zukunftsstrategie die einzigen Hoffnungsträger. Wenn sich nicht Repräsentanten finden ließen, die ein breit angelegtes, die Belange der Jugendlichen einbeziehendes Modernisierungsprogramm zu realisieren in der Lage seien, werde die junge Generation des Maghreb nach Ansicht von Spencer (1993) den Alleinvertretungsanspruch der radikalen Islamisten zu akzeptieren bereit sein, da jegliche säkulare Konzeption mit sozioökonomischer Ineffektivität und Einseitigkeit gleichgesetzt werde: For the remainder of the 1990s, the strongest force for change will continue to be the social realities of the Maghreb which themselves provoked the incomplete reforms of the 1980s. […] If younger generations fail to be integrated into political and economic systems, more violent forms of rejecting those systems may ensue. By the early 1990s, none of the ruling establishments of the Maghreb had embarked on more than a partial transfer of resposibilities from those trained in the schools of national independence to post-indipendence generations. […] This reluctance is not just a question of age, but of the inability of ruling elites to appeal beyond historical symbols of legitimacy. In circumstances that no longer favour an uncritical acceptance of the past, it is not fortuitous, for example, that the most radical of Islamist leaders in the region have been in their thirties.45
Islamischer Fundamentalismus darf nicht nur als irrationale Reaktion auf global orientierte, vom Westen ausgehende Moderne aufgefaßt werden, sondern ist im 45
Spencer, Claire: The Maghreb in the 1990s, p. 56
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Kontext der sozioökonomischen Realität zu begreifen. Angesichts der Reduzierung von sozioökonomischer Entwicklung auf nominelles Wachstum sind die meisten islamischen Staaten nur einseitig modernisiert worden. Vor allem der Aufbau einer Infrastruktur, welche die Voraussetzung bot, die verschiedensten Bevölkerungsschichten in ein nationales Wohlstandskonzept einzubeziehen, wurde vernachlässigt. Trotz Ansiedlung moderner Industrie blieb die Zukunftsperspektive für die heranwachsende Generation so gering, dass immer häufiger in der Emigration in den Westen die einzige Chance gesehen wird. Die Erkenntnis, daß die westliche Zivilisation nicht nur als Urheber der ökonomisch bestimmten Moderne die Richtung vorgibt, sondern zugleich außerwestlich nicht vorhandene, soziale Aufstiegsmöglichkeiten bietet, steht dem islamischen Gerechtigkeitsempfinden entgegen. Indem der Nachvollzug westlicher Fortschrittlichkeit seitens der eigenen Eliten mit der Nichteinhaltung religiöser Kollektivverpflichtung einhergeht, entwickelt sich eine generelle Distanziertheit gegenüber der Moderne, die sich in fundamentalistischer Vergangenheitsorientierung widerspiegelt. Die westlich ökonomisch bestimmte Modernisierung vermittelt keine positive Identifikationsbeziehung und signalisiert das Ausgeschlossensein von der zivilisatorischen Entwicklung. Mag die fundamentalistische Zielsetzung, mit prämodernen Ordnungsstrukturen neuzeitliche ökonomische Probleme zu bewältigen, angesichts der Komplexität der Gegenwart sich als utopisch herausstellen, die Nachahmung westlicher Vorgaben ohne vergleichbare Rahmenbedingungen hat sich ebenfalls als wenig erfolgreich erwiesen. Der kollektiven Rückwärtsgewandtheit und gegen den Westen gerichteten Grundeinstellung kann nur angemessen begegnet werden, wenn moderne ökonomische Entwicklung ebenso wenig als von außen gesteuert wie gegen die eigene Zivilisation gerichtet wahrgenommen wird. Kulturelle Traditionen verlangt es bei der Implementierung moderner sozioökonomischer Strukturen einzubeziehen. Vor allem der islamischen Gemeinschaftsverpflichtung sollte in wirtschaftspolitischen Konzeptionen mehr Beachtung entgegengebracht werden. Allgemeinbildung ist als Grundlage für kollektive Partizipation an moderner Entwicklung zu begreifen. Für eine umfassende Bildungsreform lässt sich ebenso auf den Beginn moderner humanistischer Bildung unter islamischem Vorzeichen verweisen wie auf den Zusammenhang zwischen einem fortschrittlichen Bildungswesen und erfolgreicher Ökonomie im Westen. Die Forderung nach sozialem Ausgleich als Voraussetzung von ökonomischer Stabilität ließe sich ebenfalls sowohl mit der islamischen Soziallehre als auch mit dem europäischen Sozialstaat als Vorbild rechtfertigen. Eine dem islamischen Ideal wie den Erfordernissen der Globalisierung gleichermaßen Rechnung tragende Modernisierung verlangt weniger die Adaptation außerislamisch entwickelter ökonomischer Ideologien, als mehr die Bereitschaft, unter Beachtung islami-
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schen Gemeinsinns der Gesamtheit eine Zukunftsperspektive zu eröffnen. Die Fähigkeit, auf kulturellen Errungenschaften aufbauendes Basiswissen in neue Entwicklungen zu überführen, sollte bewusst gefördert werden. Jegliche, auf Nachhaltigkeit beruhende ökonomische Entwicklung kann kurzfristig von außen bestimmt sein, muß langfristig aus der Civil Society heraus erwachsen, an bestehende Traditionen anknüpfen, sowie der Allgemeinheit dienen. Fundamentalistische Vergangenheitsorientierung findet nur eine soziale Basis vor, sofern Modernität als ungesteuerter, vom Westen bestimmter ökonomischer Prozess wahrgenommen wird, dessen an die Gemeinheit gerichteten Errungenschaften der islamischen Zivilisation vorenthalten werden.
2.3.3 Konflikte als Betätigungsfeld für islamische Fundamentalisten In der islamistischen Weltanschauung nehmen politische Konflikte einen entscheidenden Stellenwert ein. Aktuelle kriegerische Auseinandersetzungen erweisen sich für islamistische Propaganda als begünstigend. Mögen diese Konflikte von ihrem Ursprung her in keiner Weise religiöser Natur sein, von den Islamisten werden sie im Hinblick auf ihr Engagement für ein globales islamisches Ordnungssystem hin interpretiert. Die Resonanz islamistischer Propaganda in Konfliktregionen deutet darauf hin, dass einem großen Teil der mittelbar oder unmittelbar Betroffenen die fundamentalistische Erklärung plausibel erscheint und nicht wenige im anvisierten islamistischen Obrigkeitsmodell den Weg zur gerechten Lösung jener Konflikte zu erkennen glauben. Um dieser Einschätzung auf den Grund zu gehen, bedarf es einer vergleichenden Analyse der jeweiligen kriegerischen Auseinandersetzungen, die die strukturellen Gemeinsamkeiten zum Ausdruck bringt, sowie aufzeigt, in welcher Weise es Islamisten gelingt, von jenen Konflikte zu profitieren. Über eine Replik auf politische Konflikte der neueren Geschichte gelingt es, den symbolischen Stellenwert aktueller bewaffneter Konfrontationen für die islamistische Gesamtstrategie einzuordnen. Indem die ursprünglichen Hintergründe der Konflikte thematisiert werden, lassen sich Konzepte entwickeln, die sowohl zur zufriedenstellenden Bewältigung beizutragen in der Lage sind, als auch eine fortgesetzte erfolgreiche islamistische Propaganda verhindern. Es handelt sich in den meisten Fällen um politisch ideologische oder ethnische Konflikte, in denen eine Partei entweder aus Nichtmuslimen besteht oder zumindest aus dem Eintreten für eine säkulare, am Westen orientierte Gesellschaftsordnung ihre Legitimation bezieht. Die eindeutige Parteinahme der Islamisten in jenen Auseinandersetzungen ergibt sich vor dem Hintergrund ihres global intendierten islamischen Herrschaftsanspruchs verbunden mit dem islami-
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schen Ideal einer weltweiten Solidaritätsgemeinschaft in Form der Umma. Man stellt nicht selten Assoziationen zu den „Heiligen Kriegen“ in frühislamischer Zeit her, in denen die Religion sich von der arabischen Halbinsel aus in alle Himmelsrichtungen ausbreiten konnte. Ausgehend von der Tatsache, dass der Al-Jihad ein Wesenselement des Islam sowie Verpflichtung eines jeden Muslims darstellt, interpretieren die Islamisten gegenwärtige politisch-ethnische Konflikte als „neuzeitlichen Al-Jihad“, mit der Absicht, eine zumindest emotionale – wenn nicht militärische Solidarität aller Muslime mit der von ihnen favorisierten Konfliktpartei zu erreichen. Lag die ursprüngliche Bedeutung des arabischen Wortes Al-Jihad lediglich bei „Anstrengung“, so wurde sie bereits im historischen Medina ebenso für den politischen „Kampf gegen die Ungläubigen“ verwendet. Richtete sich der Al-Jihad anfangs in erster Linie auf die Verteidigung gegen nichtmuslimische Herrscher, die den Muslimen ihre freie Entfaltung verweigerten, instrumentalisierten spätere islamische Herrscher ihn ebenso für Eroberungskriege zur Erweiterung ihres Territoriums. Die im Vergleich zum Christentum kurzzeitige islamische Ausbreitung verbunden mit der territorialen Ausdehnung islamischer Herrschaftsdynastien, verleitet einige westliche Historiker zu der Schlußfolgerung, der Krieg basierend auf imperialen politischen Interessen sei wesentliches Charakteristikum der ursprünglichen islamischen Mission gewesen. Antes (1997) schreibt dem interessengeleiteten, für „Heilig“ befundenen Krieg im Islam sogar historisch einen höheren Stellenwert zu als den Individualbekehrungen: Es ist wichtig, deshalb eigens darauf hinzuweisen, dass die Muslime bei ihrem Missionseifer wesentlich mehr staatspolitische Interessen verfolgt haben als beispielsweise die Christen. Individualbekehrungen, das Heil für den einzelnen also, standen bei weitem nicht so sehr im Vordergrund.46
Dieser These sollte entgegengehalten werden, daß religiösen Minoritäten, insbesondere den vom Koran ausdrücklich gewürdigten älteren Buchreligionen unter islamischer Herrschaft die freie religiöse Ausübung gewöhnlich garantiert wurde, eine Toleranz, die das mittelalterliche Christentum angesichts zerstörter Synagogen und in Kirchen umfunktionierter Moscheen verbunden mit Zwangsbekehrungen vermissen ließ. Das Wesen des Al-Jihads lag weniger darin, daß ein Muslime die höchste staatliche Instanz innehatte, als mehr in der regelkonformen Ausübung politischer Verantwortung, wozu die Toleranz gegenüber den Nichtmuslimen als elementarer Bestandteil hinzugehörte. Wenn neuzeitliche Islamisten Al-Jihad als Kampf für ein weltweites Khalifat unter ihrer Führung sowie bei Durchsetzung ihres Islamverständnisses interpretieren, können sie sich eben46
Antes, Peter: Der Islam als politischer Faktor, S. 40
2.3 Der islamische Fundamentalismus der Gegenwart – Ursachen und Motive
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so wenig auf den Propheten berufen wie auf die frühislamischen Dynastien, die zwar mit kriegerischen Mitteln ihr Territorium erweiterten, ihren neuen Untertan in Bekenntnisfragen weitgehend freie Entscheidung ließen. Mag die Aufforderung zum Al-Jihad in Geschichte wie Gegenwart von den verschiedensten Herrschern und Bewegungen zur religiösen Legitimierung ihrer Politik herangezogen worden sein, so folgte man nur in den wenigsten Fällen den konkreten Vorgaben von Koran und Sunna. Man setzte auf die kollektive Unkenntnis und benötigte in einer islamisch geprägten Gesellschaft den Islam, um zweifelhafte politische Vorgehensweisen zu rechtfertigen. In dieser Hinsicht unterschieden sich die frühislamischen Dynastien kaum von mittelalterlichen europäischen Fürstenhäusern, die das in ihrer Zivilisation dominierende Christentum für den angestrebten Krieg als Legitimationsstütze entdeckten. Diese Heranziehung der Religion für gewalttätige politische Auseinandersetzung erschien in der Neuzeit weniger opportun, weil die Religion in der europäischen Gesellschaft nicht mehr den mittelalterlichen Stellenwert einnahm. Für eine gewaltlegitimierende Propaganda bediente man sich zunehmend säkularen Rechtfertigungskriterien. Im Islam wird Gewalt als eine Variante der Konfliktbewältigung angesehen, sie ist ausschließlich zur Verteidigung gegen eine Bedrohung durch ungerechte Herrschaft vorgesehen und stellt selbst dort die letzte Option da, sofern jegliche gewaltfreien Optionen die Gerechtigkeit nicht durchzusetzen in der Lage sind. Rasoul (1991) weist auf die ausdrückliche Aufforderung zur friedlichen Konfliktbewältigung hin, die selbst gegenüber einem bisherigen Kriegsgegner Bestand habe, sobald dieser auf Gewalt verzichte und sich zum friedlichen Konsens bereit zeige: Gewalt darf nur angewendet werden, um Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu beseitigen. [...]Es wird empfohlen, im Falle eines Konflikts den Dialog und einen friedlichen Weg zu bevorzugen. Und wann immer der Gegner zufriedengestellt ist, soll man auch Frieden schließen. Unter dem Begriff „Al-Jihad“ ist auf keinen Fall ein „Heiliger“ Krieg zu verstehen, sondern ein Kampf gegen Ungerechtigkeit.47
Die islamische Aufforderung zu gewaltloser Konfliktbewältigung steht in scheinbarem Widerspruch zur Realität in der gegenwärtigen islamischen Welt, wo unzählige militärisch ausgetragene Regionalkonflikte die friedliche Koexistenz von verschiedenen Ethnien, divergenten Religionen und pluralen politischen Weltanschauungen beeinträchtigen. Besonders die Beteiligung einer nichtmuslimischen Konfliktpartei ermöglicht Islamisten, diese Regionalfehden als neuzeitliche Bestrebungen der Feinde des Islam darzustellen. Hiermit gelingt es, Solidarität mit den vermeintlichen Unterdrückten herzustellen und in Sympathie für 47
Rasoul, Fadil: Kultureller Dialog und Gewalt, S. 107
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islamistische politische Ziele hineinzulenken. Dem Westen wird unterstellt, Zwietracht unter den Muslimen zu befördern, um den mit dem Ende der Kolonialherrschaft verlorenen politischen Einfluß in der islamischen Welt zurückzugewinnen. Plausibilität erlangt diese Interpretation dadurch, dass westliche Intellektuelle mit der These vom „Kampf der Zivilisationen“ ebenfalls eine gewaltsam ausgetragene Rivalität zwischen Islam und Westen heraufbeschwören. Die interessengeleiten Konflikte innerhalb der islamischen Welt werden als Bestandteil einer westlich-islamischen Globalkonfrontation gedeutet, die sich aus dem Universalanspruch beider Zivilisationen im Zuge der vom Westen ausgehenden Moderne ergebe. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den einzelnen Regionalkonflikten besteht in der Realität nicht. Die Häufigkeit gewalttätig ausgetragener Differenzen ist eine Nachwirkung der kolonialen Epoche. Da die postkolonialen Grenzen die interessenpolitisch motivierten Aufteilungen der Kolonialmächte weitgehend nachvollzogen, konnten sich kaum Nationalstaaten nach religiösethnischen Identitätskriterien herausbilden. Der Nationalismus der postkolonialen Herrschaftselite stand im Kontrast zu aus präkolonialer Zeit erhalten gebliebenen Regionalidentitäten. Der Islam stellt in gewisser Weise das einzige verbindende Identifikationsmerkmal da, woraus sich das Bewusstsein nährt, mit einer Rückbesinnung auf die traditionelle islamische Ordnung die gegeneinander gerichteten ethnisch oder politisch begründeten Nationalismen überwinden zu können. Mit einer Fixierung auf den Westen als „gemeinsamen Feind“ soll nach islamistischer Lesart das islamische Zusammengehörigkeitsbewusstsein wiederhergestellt werden, um innerislamischen Konflikten die Grundlage zu entziehen. Das Beispiel Afghanistans, wo nach dem historischen „islamischen Sieg“ gegen die atheistische Großmacht UDSSR anstatt der ersehnten „gerechten Herrschaft“ ein innerislamischer Bürgerkrieg folgte, belegt, wie sehr die interessengeleite Einflußnahme des Westens die traditionelle islamische Identität durch plurale, ethnisch geprägte Identitäten verdrängt hat. So lange die zumeist profanen Konfliktursachen nicht beseitigt sind, lassen sich Rechtfertigungsgründe für politisch motivierte Gewalt finden. Neben der willkürlichen Grenzziehung kristallisiert sich vor allem die ungerechte Ressourcenverteilung als Barriere für ein friedliches Miteinander heraus. Rasoul (1991) weist darauf hin, daß die meisten Konflikte weit in die Historie zurückreichende Hintergründe besitzen, weshalb sie durch den neuzeitlichen Aufstieg des politischen Islams weder entstanden sind noch beendet werden konnten: Eine genauere Betrachtungsweise zeigt dagegen, dass die Anfänge all dieser Konflikte viel weiter zurückliegen, als der seit etwa zehn Jahren zu beobachtende Aufstieg des Islam. Auch wenn er den Entwicklungsprozeß in dieser Region zunehmend ideologisch und politisch prägt, wirken bei den Konflikten im Nahen bzw. Mittleren
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Osten viele andere realpolitische Faktoren mit. Die politische Landkarte des islamischen Orients zeigt eine von Westen nach Osten verlaufende Konfliktachse zwischen Nord und Süd: [...] Nur die Kriege zwischen Iran und Irak und in Afghanistan sind durch den neuen islamischen Aufstieg geprägt, wenn auch nicht verursacht worden. Fast alle anderen Konflikte sind ethnischer oder eindeutig realpolitischer Natur.48
Islamistische kulturpolitische Programmatik wird als Beitrag zur Friedfertigkeit propagiert. Mag diese Sichtweise angesichts der Vertrautheit mit den Vorteilen des Pluralismus im Westen auf geringe Akzeptanz treffen, an kriegerischer Realität verzweifelnde Muslime erkennen darin ein Zeichen der Hoffnung und wenden sich den Hoffnungsträgern zu. In Kriegszeiten ist das Bedürfnis nach tiefgründiger, fast magisch erscheinender Religiosität vorhanden, wovon religiös intendierte Bewegungen mit teilweise fundamentalistischen Ansichten in außerislamischen Zivilisationen ebenso zu profitieren verstehen. Man stellt sich gegen die vom Westen dominierte Gesellschaftsordnung, der die Verantwortung für die regionalen Konflikte zugewiesen wird. Die gegen den Westen gerichtete Grundeinstellung beruht auf einer einseitigen Wahrnehmung des Westens. Die interessengeleitete imperiale Politik westlicher Regierungen setzt man mit der westlichen Zivilisation gleich. Im Bewusstsein, daß mit Kreuzzügen, spanischer Reconquista und neuzeitlicher Kolonialherrschaft in den verschiedensten historischen Epochen eine Bedrohung von westlicher Seite ausging, schlussfolgern einige Islamisten eine generelle Rivalität des Westens gegenüber dem Islam. Nasir (1991) führt diese vermeintliche antiislamische Tendenz des Okzidents auf eine westliche Furcht vor zivilisatorischer Führungsstellung durch Muslime zurück: Die Jahrhunderte lange Geschichte der schlechten Behandlung der Muslime seitens des Westens hat die Muslime davon überzeugt, dass der Hass gegen sie auf Religion basiert. Auch wenn die westlichen Völker das Wort „Islam“ nicht auf die Zunge bringen, mögen sie den Fortschritt der muslimischen Völker nicht leiden. Aus Angst vor dem Emporkommen der muslimischen Völker ergreifen die westlichen Völker immer wieder Maßnahmen, jede aufkommende Macht der Muslime zu zerschlagen.49
Die Islamisten profitieren in dem Maße von den Regionalkonflikten, wie es ihnen gelingt, den westlichen Einfluß auf ihre Zivilisation als Ursache darzustellen. Die Erkenntnis, daß westliche Staaten politisch wie ökonomisch aus der kriegerischen Auseinandersetzung profitieren, bestärkt die islamistische Ansicht, der Westen sei generell an innerislamischer Instabilität interessiert. Westliche 48 49
ebd.: S. 105 Nasir Ahmad, Sheikh: Jehad im Islam, S. 51
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Leitideale, die ebenso friedlicher Konfliktbewältigung die Basis bereiten können wie das islamische Gemeinschaftsbewusstsein, werden nicht in Betracht gezogen, weil ihnen unterstellt wird, den status quo aufrecht zu erhalten. So lange die westliche Politik kein aktives Engagement für die Beseitigung der Konfliktursachen erkennen lässt, sondern über einseitige Einflussnahme zur Verschärfung des Potentials für gewalttätige Auseinandersetzung beiträgt, findet die gegen den Westen gerichtete Tendenz der Islamisten fortgesetzten Zulauf. Die Orientierung auf das westliche Feindbild verhindert rationale Ursachenforschung, wodurch die Gewaltspirale nicht zum Stillstand gelangt. Sowohl der Westen als materieller Kriegsgewinner als auch die Islamisten als geistige Profiteure sehen ihrem Ziel mit berechtigter Erwartung entgegen. Die Verinnerlichung, dass historisch erst der Islam in der Lage war, eine Gemeinschaftsidentität der ethnisch heterogenen Gesellschaft herzustellen, unterstützt die islamistische Interpretation für die neuzeitlichen innerislamischen Regionalfehden. Sie werden als Resultat über die Kolonialisierung in die islamische Zivilisation hineingedrungener westlicher gesellschaftspolitischer Leitbilder gedeutet. Die staatlichen Verantwortungsträger hätten die islamische Kollektivverpflichtung zugunsten säkularer westlicher Interessen in den Hintergrund treten lassen. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen islamischen Staaten um von Muslimen besiedeltes Territorium wie der Westsaharakonflikt zwischen Marokko und Algerien seien die Folge von Ordnungsstrukturen, die nicht im Islam ihre Legitimationsgrundlage besäßen. War die politische Spaltung Nordafrikas durch interessenpolitisch motivierte Grenzziehungen zwischen den Kolonialmächten hervorgerufen worden, trüge der Westen postkolonial zur Aufrechterhaltung dieser künstlichen staatlichen Aufteilungen, sowie zu gegeneinander gerichteten Konfrontationen bei. Die Präsenz westlicher Truppen in islamischen Staaten wie die fortbestehenden spanischen Küstenenklaven Ceuta und Mellila in Marokko gelten als Belege eines destruktiven westlichen Einflusses in der islamischen Zivilisation. Die Tatsache, dass die postkolonialen Herrschaftseliten bislang nicht die Bereitschaft erkennen ließen, die Vereinigung ihrer gleichermaßen islamischen Einzelstaaten in die Realität umzusetzen, beweise den außerislamischen Ursprung ihrer Ideologien, mit denen sie Partikularinteressen über das Gemeinwohl stellten. Die Islamisten schlussfolgern, daß erst die Hinwendung zum prophetischen Ordnungsmodell die politische Moral wieder einkehren lasse, mit der die selbstzerstörerischen Machtrivalitäten durch islamisches Pflichtbewusstsein ersetzt würden. Tzschaschel (1988) weist daraufhin, daß die politische Elite Nordafrikas schon seit Jahrzehnten die Vereinigung ihrer Nationalstaaten zu einer „maghrebinischen Union“ propagiere, aber angesichts fehlender Beziehung der Civil Society zu ihren säkularen Idealen sich nicht in der Lage zeige, die Instabilität fördernden Regionalismen und Disparitäten zu überwinden:
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Die einigende Idee des „Großen Arabischen Maghreb“ ist bei den Völkern der Region (noch) nicht stark genug verwurzelt, als dass sie die zentrifugalen Partikularismen überwinden könnte. Noch immer bestimmen nationale Egoismen den Reifeprozeß der Integration und die Kooperationsmöglichkeiten, noch immer wird das Rivalitätsstreben innerhalb der Region genährt von regionalen Konflikten, wirtschaftlichen Ungleichgewichten, unterschiedlichen Herrschaftssystemen und entsprechenden Legitimationsmustern sowie von hegemonialen Tendenzen.50
In der Erkenntnis, dass die aktuellen Herrschaftseliten für ihre interessengeleiteten Auseinandersetzungen gemeinschaftliche Zukunftsprojekte vernachlässigen, stellt man zunehmend ihre islamisch legitimierte Autorität zur Disposition. Die Ansicht verbreitet sich, diese Regime schadeten dem Islam und müssten gestürzt werden. Der Anspruch gilt Verantwortungsträgern, die sich dem Fortschritt der islamischen Zivilisation verpflichtet fühlen und gegeneinander gerichtete Rivalitäten zurückstellen. Da sie sich der Bedrohung durch außerislamische Hegemonialmächte nicht entgegenstellen, gelingt es den gegenwärtigen Staatsführungen nicht, ihr Interesse an einer friedlichen islamischen Gemeinschaft zu vermitteln. Die Islamisten erhalten in diesem Kontext Zulauf, da man in ihnen die einzige, glaubwürdige Alternative wahrnimmt. Die sich ebenfalls islamisch legitimierenden Regime sieht man auf dem Wege der Fitna (des verderblichen innerislamischen Bruderkriegs), welche sich sowohl in fehlenden Konzepten zu friedlicher Konfliktbewältigung äußere als auch in ausbleibendem Engagement für unterdrückte muslimische Völker. Weil der Westen ebenso wenig Einsatz erkennen lässt, eine friedliche Lösung nach Maßgabe des Völkerrechts herbeizuführen, findet Konfliktregelung nach westlichen Leitbildern keine Akzeptanz. Radikalen Islamisten gelingt über die gegen die herrschenden Obrigkeiten gerichteten Selbstmordattentate die Destabilisierung der Regime, sowie deren bereits zuvor beeinträchtigte Autorität weiter zu unterminieren. Die Gewalt wird in die islamischen Kernstaaten hineingetragen und demonstriert, daß unbewältigte regionale Krisen die gesamte islamische Zivilisation in Mitleidenschaft ziehen. Das islamistische Credo leitet sich aus der urislamischen Vorstellung ab, dass Krieg gegenüber einem muslimischen Kollektiv als Krieg gegen die gesamte Umma zu werten sei. Die Verweigerung islamischer Staaten, sich aktiv für eine friedliche Entwicklung in ihrer Region einzusetzen, befördert den Anspruch auf einen politischen Wechsel. In den arabischen Staaten ist die Verbitterung über die autokratischen Herrschaftseliten angesichts mangelnder Einhaltung der islamischen Gemeinschaftsverantwortung, besonders groß. Die oppositionelle Grundstimmung erkennen die Islamisten als Gelegenheit, für die Zunahme ihrer Gefolgschaft zu 50
Tzschaschel, Joachim: Politische Allianzen und Rivalitäten, S. 86
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nutzen. Hierfür ist Gewalt zur Destabilisierung der Staatsstrukturen eine angewandte Methode. Die Majorität der Islamisten fühlt sich an die islamische Aufforderung, Gewalt nur einzusetzen, wenn sich andere Mittel als erfolglos erweisen, gebunden. Die Teilnahme von Islamisten am gesellschaftspolitischen Diskurs demonstriert ihre grundsätzliche Bereitschaft, gewaltfreie Strategien vorzuziehen. Welche Strategie vorzugsweise eingesetzt wird, hängt nicht nur von den Islamisten, sondern in gleichem Maße von der Bereitschaft der Regime ab, sich auf demokratischen Wettbewerb einzulassen. Islamistische Gewalt wird vor allen in jenen Staaten verübt, deren Obrigkeit im Umgang mit Opposition vor repressiven Mitteln in keiner Weise zurückschreckt. Die Tatsache, daß jene Machtpotentaten in politischer und ökonomischer Verbindung zum Westen stehen, lässt dessen öffentliches Eintreten für universelle Werte als Zynismus erscheinen, so daß ein islamistischer Widerstand sich gleichermaßen gegen den Westen wendet. Trotz Flexibilität hinsichtlich der Oppositionsstrategien ist es den Islamisten bisher nicht gelungen, ihr eigenes Obrigkeitsmodell durchzusetzen. Die westliche Unterstützung der bestehenden Machtstrukturen kann hierfür als eine Ursache angesehen werden. Sie ruft eine verstärkte Fixierung auf den Westen als Feindbild hervor. Die Schlussfolgerung Kepels, Anschläge in westlichen Staaten als eine Art Kompensation für innenpolitische Niederlagen zu interpretieren, entbehrt jeglicher Grundlage. Vielmehr demonstriert die Sympathie, die AlKaida für seine Gewaltaktionen in den USA und Europa in Teilen der islamistischen Szene erfährt, dass die islamistische Bewegung aus ihrer gegen den Westen gerichteten Einstellung ihre Attraktivität zu ziehen vermag. Kepel (2004) vertritt die Ansicht, dies sei bislang im Kampf gegen die Herrscher der islamischen Welt kaum gelungen: De l`Égypte à la Bosnie, de l`Arabie saoudite à l`Algérie, les activistes jihadistes ont partout échoué en définitive à mobiliser derrière eux les «masses musulmanes» pour abattre les régimes au pouvoir – qualifiés d` «ennemi proche». Pour renverser le cours de ce déclin, il faut changer radicalement de stratégie en frappant un grand coup contre les États-Unis.51
Diese Sichtweise verkennt die zahlreichen Erfolge, die Islamisten in den verschiedensten Staaten auf gewaltlosem Wege errungen haben. Fast überall, wo sie bei einigermaßen fair konzipierten demokratischen Wahlen antreten konnten, haben islamistische Bewegungen sichtbare Zugewinne zu verzeichnen. In immer mehr Staaten stellen sie mittlerweile die einzige Opposition, die aus einer verbreiteten Unzufriedenheit erhöhte Zustimmungswerte herauszieht. Bislang konnten sie in kaum einem Staat die Herrschaft erlangen. Die Ursache liegt weniger 51
Kepel, Gilles: Fitna – Guerre au coeur de l`islam, p. 13
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in fehlender Akzeptanz in der Bevölkerung als mehr in einem autoritären Machtapparat, der oppositionellen Strömungen die Chancengleichheit vorenthält. Im Falle Algeriens wurde ein eindeutiger, demokratisch errungener Erfolg von Islamisten auf gewaltsame Weise für „illegal“ erklärt, sowie die vermeintlichen Sieger an der Verwirklichung des von der Bevölkerung erhaltenen Mandats gehindert. Die Gewalt erschien als letzte verbliebene Variante, zum erstrebten Ziel zu gelangen. In dem Maße, wie ein Zusammenhang zwischen der Aufrechterhaltung jener autoritären Regime und dem westlichen Einfluß hergestellt wird, wendet sich oppositionelle Einstellung der Islamisten ebenso gegen den Westen. Westliche Staaten, die Demokratie öffentlich als „universell“ propagieren, haben gleichzeitig dezidiert undemokratische Umgangsformen verbündeter Regime toleriert – wenn nicht sogar unterstützt. Es musste der Eindruck entstehen, ein demokratischer Prozess werde vom Westen nur akzeptiert, sofern die Erfolgsaussichten einer den eigenen Interessen zuwider laufenden Partei als gering eingeschätzt würden. Die verschiedenartigen Regionalkonflikte innerhalb der islamischen Welt kristallisieren sich als Nährboden für Islamismus heraus. Zwar reichen die Hintergründe jener gewalttätigen Auseinandersetzungen größtenteils bis in Kolonialzeit zurück, ihr Fortbestehen, sowie ihre Zunahme kann einem Scheitern der herrschenden Eliten mit ihren gesellschaftspolitischen Konzeptionen angelastet werden. Im Verweis auf die präkoloniale Vergangenheit, in der die islamisch bestimmte Gesellschaftsordnung lange Friedensperioden verbunden mit zivilisatorischer Entwicklung garantierte, weisen die Islamisten der zunehmenden Säkularisierung, einhergehend mit dem westlichen Einfluß die Verantwortung für die neuzeitliche Krisenhaftigkeit der Region zu. Eine Rückkehr zum ursprünglichen Khalifat wird als Grundvoraussetzung dargestellt, über die Wiederherstellung des Gemeinschaftsbewusstseins die Konfrontationen zu beenden, sowie die innerislamische Solidarität zu erreichen. Die Tatsache, daß die aktuellen Verantwortungsträger sich der islamischen Kollektivverpflichtung verweigern, sowie ihre materielle Interessen über islamischen Gemeinsinn stellen, delegitimiert sie im Bewusstsein der Bevölkerung und ermöglicht den Islamisten, sich als Alternative zu präsentieren. Aus der Erfahrung, daß der Westen ebenso wenig zur Überwindung der Konflikte, geschweige denn zur Beseitigung ihrer Ursachen beiträgt, erkennt man in den Islamisten die einzigen vertrauenswürdigen Repräsentanten. Erst die vom Westen unterstützte Konsensfindung über die Bekämpfung von regionalen Disparitäten sowie die Durchsetzung des Völkerrechts kann die Akzeptanz für rationale Krisenbewältigung herstellen. Indem die dialogbereiten Islamisten darin eingebunden werden, sind sie verpflichtet, einen ernsthaften Beitrag für die friedliche Koexistenz der verschiedenen Ethnien zu leisten. Mit dem Wesen des rationalen Interessensausgleichs werden sie anvertraut, der irrationaler Vergangenheitsverhaftung entgegenwirkt.
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2.4 Verhältnis islamischer Fundamentalisten zur politischen Staatsmacht In dem Maße, wie mit den neuzeitlichen islamischen Fundamentalisten politische Intentionen assoziiert werden, wächst ihrer Einstellung zur aktuellen politischen Obrigkeit entscheidende Bedeutung zu. Aufzuzeigen gilt es, inwieweit ihr Islamverständnis Konstruktivität gegenüber modernen Staatsstrukturen zulässt oder Obstruktion und Fundamentalopposition bedingt. Welche Voraussetzungen sollten staatliche Verantwortungsträger mitbringen, damit islamische Fundamentalisten sich bereit und in der Lage zeigen, sich im Sinne des Gemeinwesens zu engagieren, sowie sich mit moderner Staatlichkeit zu identifizieren? Erweist sich eine tendenziell oppositionelle Einstellung der Islamisten als generelles Zurückweisen eines modernen Politikbegriffes oder verbirgt sich dahinter eine Unzufriedenheit mit aktuellen politischen Entscheidungen, sowie der Art und Weise, wie sie zustande kommen? Da Islamisten in der Regel keine Trennung zwischen Politik und Religion vornehmen, gilt es das Religionsverständnis der Herrschenden der islamistischen Einstellung ihrer Politik gegenüberzustellen. Angesichts der Heterogenität der islamistischen Szene erfordert es die Divergenzen im Gegenübertritt zur Staatsmacht herauszustellen, sowie darzulegen, inwieweit sie auf ein generell voneinander abweichendes Politikverständnis zurückzuführen sind. Hieraus lässt sich sicherlich kein allgemeingültiges Regelwerk ableiten, welche staatliche Reaktion auf Islamismus zu erfolgen hat; es kristallisieren sich möglicherweise Vorbilder heraus, die eine tendenzielle Skepsis der Islamisten gegenüber säkularer Staatsautorität von Intoleranz und politischer Kompromissunfähigkeit, sowie gewalttätiger Untergrundtätigkeit abhalten. Angesichts der islamistischen Fixierung auf ein vollkommenes Obrigkeitsmodell aus der islamischen Vergangenheit erscheinen die politischen Systeme der Gegenwart als unbefriedigend. Demzufolge können die Repräsentanten dieser Systeme den an sie gestellten islamistischen Ansprüchen nur bedingt gerecht werden. Entscheidend für die Akzeptanz politischer Autoritäten erweist sich die Bereitschaft, traditionelle Werte, wie sie vom Islam vorgegeben sind, zum Maßstab zu erheben, sowie im politischen Alltag zur Geltung zu bringen. Der Islam wird als ganzheitliches System aufgefasst, dem sich politisches Agieren ebenso unterzuordnen habe wie die Privatsphäre des einzelnen Muslimen. Von jeglicher staatlicher Obrigkeit wird erwartet, islamischen Vorgaben im Gemeinwesen Gültigkeit zuzumessen. Mit dieser Forderung wissen sich die Islamisten im Einklang mit der Mehrheit der Muslime, sowie mit der kulturhistorischen Tradition ihrer Zivilisation. Seit der Islamisierung sahen sich die herrschenden Dynastien über Jahrhunderte hinweg verpflichtet, die Einhaltung der Scharia zu überwachen, sowie die gemeinschaftlichen Anliegen des Islam durchzusetzen. Konnten sie diesem Anspruch nicht entsprechen, trafen sie auf Kritik und ihre Herr-
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schaftslegitimation wurde zur Disposition gestellt. In Verbindung mit der arabischen Sprache, die über den Islam erst ihre großräumige Verbreitung über ein in zwei Kontinente hineinreichendes Territorium gefunden hatte, gelang den islamisch legitimierten Herrschern, bei den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und Ethnien gleichermaßen auf Akzeptanz zu treffen. Das islamische Gemeinschaftsbewußtsein war so tief in der Gesellschaft verankert, dass es von den Kolonialherrschern im Neunzehnten und frühen Zwanzigsten Jahrhundert nicht eliminiert werden konnte, obwohl diese mit dem erklärten Anspruch aufgetreten waren, ihre europäischen Leitideale im politischen, im kulturellen wie im sozioökonomischen Bereich durchzusetzen. Mit der Französischen Revolution im Westen entstandene moderne politische Wertbegriffe wie Nation oder Volkssouveränität konnten aufgrund ihrer Loslösung vom religiösen Bezug bei Muslimen auf keine Resonanz stoßen. Graef (1978) stellt heraus, dass jegliche, im französisch beherrschten Nordafrika unternommenen Versuche, die frankophonen Gesellschaftsideale in die dortige Zivilisation einfließen zu lassen, an der bereits vorhandenen islamisch bestimmten Kollektividentität gescheitert sind: Die erstrebte Assimilierung (...) stieß auf die Barriere des Islam. Die Gemeinsamkeiten der heutigen Bewohner Nordafrikas sind nicht durch rassische Merkmale bestimmt (...), die arabische Sprache und der Islam bestimmen die heutige Kulturgemeinschaft.52
Eine kleine Elite, die während der Kolonialzeit eine westliche Ausbildung erhalten und sich intensiv mit den westlichen Philosophien auseinandergesetzt hatte, entwickelte für die postkoloniale Ordnung eine säkulare politische Konzeption. Die moderne westliche Bildung erwies sich als Voraussetzung, den marokkanischen Befreiungskampf erfolgreich zu organisieren, sowie nachfolgend in Führungspositionen des neu gegründeten Staates zu gelangen. Eine identitätsstiftende kulturelle Verankerung in der Civil Society außer dem gemeinsamen Kampf gegen die Kolonialmacht besaß jene Elite von Anfang an nicht. Je mehr sie sich politisch wie kulturell an außerislamischen Modellen orientierte, desto mehr verlor sie die Unterstützung der übrigen Eliten, die ausschließlich religiös gebildet waren und sich dem islamischen Fundament ihrer Gesellschaft in besonderer Weise verpflichtet wähnten. Durch den fortgesetzten säkularistischen Einfluß sahen jene Traditionalisten den islamischen Charakter Marokkos bedroht und die gemeinsam errungene Souveränität in Frage gestellt. Angesichts ihrer geringen Kenntnisse von westlich-aufklärerischen Leitideen verbanden sie diese mit der prowestlichen Politik der Säkularisten und fanden keine Gemeinsamkeit mit dem Islam. Die Säkularisten ihrerseits hatten sich intellektuell so weit von ihrer isla52
Graef, Hans: Die französische Kolonisation Nordafrikas, S. 128
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mischen Wurzel distanziert, dass sie es nicht als notwendig erachteten, ihre Konzeptionen in einen islamischen Kontext zu stellen. Da sie die bestehenden, als „unmodern“ interpretierten islamischen Ordnungsstrukturen ebenso wenig einbezogen wie das religiöse Bewusstsein der Bevölkerung, brachten ihre Modernisierungsvorhaben keinen zivilisatorischen Fortschritt. Die Traditionalisten sahen sich ihrer skeptischen Einstellung bestätigt und postulierten, eine Auswechselung der politischen Autoritäten verbunden mit einer Rückkehr zum ursprünglichen islamischen Ordnungsmodell sei geboten. Erweist sich der Islamismus als tendenziell oppositionelle Einstellung gegenüber den modernistischen Führungseliten, divergieren die Konzeptionen, zum angestrebten Gesellschaftsmodell zu gelangen, sowohl zwischen den einzelnen Bewegungen als auch nach den jeweiligen Staatsstrukturen. Zielt man im einen Fall auf den gewalttätigen Sturz eines etablierten Regimes ab, soll im anderen Fall der bestehende Führungsapparat mit Islamisten besetzt werden, welche das islamistische Programm in die Realität umsetzen. Vor allem Dynastien wie in Marokko, die aus präkolonialer Zeit stammend sich bis in die Gegenwart haben behaupten können, vermitteln trotz aller unbestreitbaren Modernität zumindest den Anschein einer Verwurzelung in der islamischen Tradition. Zwar werden die Islamisten sich durchaus des Gegensatzes zwischen den politischen Zielsetzungen dieser Dynastien und ihrer angestrebten Wiedererrichtung der frühislamischen Ordnung bewusst; da die muslimische Mehrheit zu ihren „islamischen Autoritäten“ nach wie vor steht, beschränkt man sich darauf, innerhalb des Systems in politische Verantwortungspositionen zu gelangen. Mit anderen Worten: der marokkanische König soll oberster Repräsentant des Staates bleiben, jedoch verpflichtet werden, das islamistische Programm durchzusetzen. Herrschaftssysteme, die sich säkular legitimieren sowie auf politischem Wege die Religion aus der Öffentlichkeit verbannen, stoßen auf Mißbilligung, so dass sich ihr politischer Sturz als Legitimationsstütze für künftige islamistische Nachfolger erweist. Die aufoktroyierten Säkularisierungsprogramme im Iran der Schahzeit stellten den Garanten für die Resonanz der islamischen Revolution (1979) und ermöglichten den nachfolgenden islamistischen Eliten, in breiten Bevölkerungsschichten Sympathisanten zu finden. Mittlerweile hat sich in Staaten, die sich verfassungsrechtlich auf den Islam stützen, ebenfalls eine islamistische Opposition herausgebildet. Die Unzufriedenheit mit der Obrigkeit ergibt sich weniger aufgrund eines öffentlichen Säkularisierungsprogramms als mehr aus der offensichtlich gewordenen Diskrepanz zwischen der islamischen Rechtfertigung ihrer Politik und islamischen Normen entgegenstehender Alltagspraxis. Entscheidend für die angewandte islamistische Oppositionsstrategie ist nicht die Verbindung der aktuellen Staatsführung zur Religion, sondern die Bereitschaft, islamischen Gesellschaftsnormen Respekt entgegenzubringen.
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Ein islamisches Gemeinwesen verpflichtet jegliche Organe islamische Vorgaben einzuhalten. Verantwortungsträger besitzen eine Vorbildfunktion und sind aufgefordert, zu demonstrieren, dass islamischen Grundsätzen auf allen gesellschaftlichen Ebenen Gültigkeit beigemessen wird. Die Islamisten differenzieren nicht zwischen den religiösen Anforderungen und der staatlichen Gesetzgebung. Jegliche Gesetze gingen unmittelbar auf Allah zurück und seien in den islamischen Rechtsquellen festgelegt. Ein Bedarf nach eigens formulierter irdischer Staatsverfassung existiere in einem islamischen Ordnungsmodell nicht. Alle Staatsgewalten seien der Autorität des islamischen Gesetzes untergeordnet. Die staatliche Aufgabe bestehe darin, die Scharia in der gesellschaftlichen Alltagspraxis durchzusetzen. Jeglicher Verstoß der Obrigkeit gegen die islamische Rechtsgrundlage berechtige zum Widerstand. Die Idee einer Loslösung staatlicher Ordnung vom religiösen Bezug widerspreche der allumfassenden Lehre des Islam. Im neuzeitlichen Bestreben, sich auf säkulare Leitideale als Orientierungsmaßstab für staatliche Gesetzgebung zu beziehen, wird von den Islamisten die gegen den Islam gerichtete Einflussnahme des Westens interpretiert. Die Abkehr der Politik von der religiösen Rechtfertigungsgrundlage unterminiere ihr islamisches Verantwortungsbewusstsein. Das Ergebnis erweise sich in einer kollektiven Distanzierung vom islamischen Gemeinsinn und bereite einer erneuten westlichen Eroberung die Basis. Die dazu vorhandene Absicht interpretieren die Islamisten aus der allgemeinen Tendenz der prowestlichen Herrschaftseliten, säkularen Ordnungsmodellen in der politischen Alltagspraxis den Vorzug zu geben. In diesem Kontext erklärt sich, worauf Hosen (2004) hinweist, die heftige islamistische Reaktion auf Muslime, die politisch für einen modernen Verfassungsstaat eintreten wie auf Regierungen, die sich in ihren politischen Konzeptionen an westlichen Vorbildern orientieren: Secularization, the separation of religion and politics, is seen as the product of western colonialism and a conspiracy directed against Islam. [...]With the separation of religion and politics, jihad would be meaningless. The word and the idea of secularization have become very pejorative terms. Any Muslim scholar who supports this concept would allegedly be seen as a supporter of western hegemony. Accordingly, constitutionalism is the product of this western idea.53
Wie sollte ein Staatensystem konzipiert sein, welches sowohl den islamistischen Anforderungen entgegenkommt, als auch die Voraussetzung bietet, dem profanen Bereich entstammende Ansprüche der modernen Gesellschaft zu erfüllen? Eignet sich die Scharia überhaupt, gesellschaftspolitische Aufgaben des Einundzwanzigsten Jahrhunderts in einer zufriedenstellenden Weise zu bewältigen, oder 53
Hosen, Nadirsyah: In Search of Islamic Constitutionalism, p. 4
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werden Erwartungen geweckt, die angesichts der Komplexität der Moderne unerfüllbar bleiben müssen? In Europa erwies sich der Rückzug religiöser Autoritäten aus dem politischen Einflußbereich als Basis für zivilisatorischen Fortschritt, sowie für eine Gesellschaftsordnung, die gleichermaßen religiösen Gemeinsinn wie rationale Problembewältigung zulässt. Politische Entscheidungen sind permanenter Kritik ausgesetzt, die zur Korrektur im Sinne des Gemeinwesens animiert. Da Politik prinzipiell als „Interessensausgleich“ aufgefasst wird, setzt man Unvollkommenheit voraus und sieht sich immer wieder zur Reflexion veranlasst. Die Politik der islamischen Herrscher der verschiedensten historischen Epochen stand ebenso im zeitörtlichen Kontext. Um der politischen Interessensdurchsetzung eine religiöse Rechtfertigung zu verleihen, waren die Dynastien bestrebt, die religiösen Institutionen staatlich zu kontrollieren. Die umgekehrte sakrale Version, wonach die Ulama den Staat nach ihren Vorstellungen zu lenken in der Lage war, blieb Ausnahme. Aus der Erkenntnis, dass die postkolonialen Herrschaftseliten die bereits zuvor begonnene Konzipierung der Gesellschaftsordnung nach säkularen rationalen Kriterien verstärkt weiterverfolgten, erwuchs eine islamistische Opposition heran. Je mehr sich das Konzept des säkularen Staates in der islamischen Welt durchzusetzen begann, desto mehr entstand in traditionellen, religiös gebildeten Gesellschaftsschichten das Bestreben, die neuzeitliche Staatsordnung nach islamischen Werten restaurativ neu zu strukturieren. Die Ulama wurde sich gewahr, dass sie nicht nur im politischen Entscheidungsprozeß, sondern ebenso im gesellschaftlichen Alltag immer weniger die alleinige Autorität darstellte. Wenn Islamisten in einigen Staaten nach wie vor loyal zur herrschenden Obrigkeit eingestellt sind, ist dies auf einen unbeschränkten Einfluß der Ulama auf das Gesellschaftsleben zurückzuführen. Mit politischer Autorität innerhalb eines Gemeinwesens ausgestattet ist man für einige Zeit zu akzeptieren bereit, daß die Herrschaftselite für sich religiösen Normen einen geringeren Stellenwert einräumt. Eine staatliche Obrigkeit, die islamische Grundsätze hinter politischen Interessen zurückstehen lässt, gerät früher oder später in Konfrontation zur Geistlichkeit, der ihr politischer Einflussverlust offen demonstriert wird. Ihre oppositionelle Einstellung legitimieren die Islamisten weniger mit den einzelnen politischen Entscheidungen, die ihrem Islamverständnis entgegenstehen, sondern mehr mit einer generellen Abkehr der Staatsführung vom Islam, die man auf westlich säkularistische Vorbilder zurückführt. Anhand des Statements eines ägyptischen Fundamentalisten verdeutlicht Armstrong (2004), dass der Beleg für eine tatsächliche oder vermeintliche Geringschätzung islamischer Werte weniger in einer von der Norm abweichenden Islampraxis, sondern in der gesellschaftspolitischen Orientierung der Führungseliten am Westen gesucht wird:
2.4 Verhältnis islamischer Fundamentalisten zur politischen Staatsmacht
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Die Herrscher dieses Zeitalters sind vom Islam abgefallen. Sie wurden an den Tischen des Imperialismus großgezogen, ob Kreuzrittertum oder Zionismus. Vom Islam haben sie nichts als ihren Namen, obwohl sie beten und fasten und behaupten, Muslime zu sein.54
Die oppositionelle Grundeinstellung islamischer Fundamentalisten gegenüber einem modernen Politikverständnis erklärt sich nicht nur aus der Furcht vor einem Einflußverlust der Religion, sondern ebenso aus tiefgründiger Skepsis gegenüber kulturellen Einflüssen des Westens. Westliche Gesellschaftsauffassungen werden als Bedrohung heraufbeschworen und demzufolge eine Politik, die moderne Zivilisationsentwicklungen zum Maßstab erhebt. Der westliche Pluralismus wird mit Kulturrelativismus, sowie mit abnehmendem ethischen Bewusstsein assoziiert. In der Distanzierung der Herrschaftseliten von traditionellen Werten spiegele sich der zerstörerische westliche Einfluß wieder. Die Verfolgung politischer Ziele, die einer in der islamischen Gesellschaft ebenfalls zu beobachtenden Liberalisierung und Pluralisierung Rechnung tragen, beweise eine westliche Orientierung, sowie das Verlassen des islamischen Fundaments. Es findet keine Differenzierung zwischen einem förderlichen Pluralismus auf politischer wie kultureller Ebene gegenüber der im Westen erfahrenenen religiös-ethischen Ungebundenheit statt. Den heftigsten islamistischen Widerstand erlebte die marokkanische Staatsführung nicht bei ihrer prowestlichen Wirtschaftspolitik, die keine Skrupel erkennen ließ, außerislamische Strukturen nachzuahmen, sondern bei gesellschaftlichen Liberalisierungsbestrebungen wie der Neuordnung des Familienrechts, die nicht mit dem westlichen status quo, sondern einem geänderten marokkanischen Geschlechterrollenverständnis legitimiert wurde. Der Einfluß des westlichen Liberalismus ließ sich nicht verbergen, so daß erst über die öffentliche Bezugnahme auf den Islam für die moderne Gesetzgebung Akzeptanz erreicht wurde. Hummel (1994) hebt hervor, dass ein islamisch fundamentalistisches Zurückweisen westlicher Tendenzen sich nur mittelbar gegen westliche Ordnungsstrukturen richtet, unmittelbar und in erster Linie gegen die Pluralität und Normungebundenheit, die als moralischer Niedergang interpretiert wird: Die meisten „fundamentalistischen“ Aufbrüche der Gegenwart sind Reaktionen auf das, was als kulturelle Bedrohung empfunden wird. Der islamische Fundamentalismus wehrt sich gegen die tödliche Pest der „Okzidentose“ [...].Er will seine traditionellen religiös-kulturellen Werte nicht von der liberalen Gesellschaftsordnung und autonomen Ethik des Westens in Frage stellen lassen, vor allem nicht im Bereich von Sexualität, Ehe und Familie.55
54 55
Armstrong, Karen: Im Kampf für Gott, S. 468 Hummel, Reinhart: Religiöser Pluralismus oder Christliches Abendland? S. 135
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
Die Einstellung islamischer Fundamentalisten zur politischen Staatsführung kann tendenziell als oppositionell eingeschätzt werden und ist bei Islamisten, die selbst politische Ordnungsmacht anstreben, von unmittelbarer Rivalität geprägt. Vor allem die öffentlich vorangetriebene Säkularisierung stößt auf islamistischen Widerstand. Man wähnt dahinter das westliche Ziel, die islamische Gesellschaft von ihrer religiösen Werteverbundenheit zu distanzieren. Die angewandte islamistische Strategie, sich der bestehenden Herrschaftselite entgegenzustellen, divergiert weniger nach dem gesellschaftspolitischen Ideal als mehr nach den aktuellen Staatsstrukturen, sowie nach der staatlichen Reaktion auf die islamistische Opposition. Gewaltanwendung stellt eine Variante der politischen Auseinandersetzung dar. Sie findet in jenen Staaten Akzeptanz, deren Obrigkeiten ihrer Bevölkerung ein gesellschaftspolitisches Mitspracherecht vorenthalten, sowie gleichermaßen Gewalt als repressives Mittel gegen politische Opposition einsetzen. In immer mehr Staaten haben Islamisten die demokratische Auseinandersetzung mit der herrschenden Obrigkeit über den öffentlichen Diskurs aufgenommen, sowie sind in den politischen Wettbewerb über Wahlen eingetreten. Zwar geht ihre oppositionelle Grundeinstellung gegenüber der Staatsmacht mit einer Skepsis gegenüber dem westlichen Gesellschaftsmodell einher, sie bedeutet in keiner Weise ein generelles Zurückweisen westlicher Politstrukturen. Demokratie und politischer Pluralismus werden von gemäßigten Islamisten für die Durchsetzung des eigenen Ordnungsmodells als förderlich anerkannt. Erst die Erfahrung, dass der Westen in islamischen Staaten Obrigkeitssysteme unterstützt, die den vorgegebenen westlichen Idealen widersprechen, lässt gegen westliche Ziele gerichtete islamistische Gewalt als Teil der legitimen Auseinandersetzung mit dem Staatsapparat erscheinen.
2.5 Reaktion der politischen Staatsmacht auf islamische Fundamentalisten Die divergenten Strategien islamistischer Bewegungen in der Auseinandersetzung mit politischer Staatsmacht legen nahe, dass die staatlichen Verantwortungsträger ebenfalls voneinander abweichende Varianten im Gegenübertritt zu Islamisten verfolgen. Diese Varianten sind miteinander in Beziehung zu setzen, um einzuschätzen, ob sich eine allgemeine Tendenz dabei herauskristallisiert. Die polithistorischen Umstände, die eine staatliche Reaktion auf islamistische Bestrebungen bestimmen, müssen berücksichtigt werden. Inwieweit beeinflußt das Religionsverständnis einer Herrschaftselite ihr Verhältnis zu islamistischer Opposition? Wird der religiöse Herrschaftsanspruch der Islamisten von staatlichen Akteuren als Herausforderung begriffen, die eigene Politik verstärkt am islamischen Gemeinsinn auszurichten? Eine Bewertung verlangt es vorzuneh-
2.5 Reaktion der politischen Staatsmacht auf islamische Fundamentalisten
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men, ob ein verändertes Politikverständnis dazu beitragen kann, zu gewalttätiger Obstruktion tendierende Islamisten zu konstruktiver Mitarbeit im Gemeinwesen, sowie zur verantwortungsvollen Übernahme staatlicher Aufgaben zu motivieren. Anhand gelungener Beispiele, islamistische Bewegungen für den demokratischen Zukunftsdiskurs zu öffnen, gilt es eine erfolgversprechende Konzeption zu formulieren, wie islamistische Vergangenheitsorientierung in Aufgeschlossenheit gegenüber einem modernen Obrigkeitsbegriff und zeitgemäßen Staatsstrukturen umgelenkt werden kann. Regierungen, die im Islamismus eine Bedrohung für ihre Herrschaftsautorität wähnen, sind häufig nicht bereit, ihre politischen Konzeptionen an den berechtigten Ansprüchen der Bevölkerungsmehrheit zu orientieren. Die im Westen ausgebildete Herrschaftselite nimmt in ihrem Land einen Modernisierungsrückstand wahr, den es mit allen zu Verfügung stehenden Mitteln aufzuholen verlange. Jegliches Ansinnen, sich diesem Bestreben zu widersetzen, wird als „reaktionär“ aufgefasst. Bewegungen mit abweichenden Gesellschaftsvorstellungen und stärkerer Ausrichtung an Konzeptionen aus der eigenen Zivilisation unterstellt man, moderne Entwicklungen zu behindern. Beruft sich die Kritik am eigenen Herrschafts- und Modernisierungsstil auf den Islam, wird sie sie nicht selten als „islamischer Fundamentalismus“ stigmatisiert und vor der Öffentlichkeit inkriminiert. Neben staatlicher Repression gegen die Vertreter jener islamisch motivierten Gesellschaftskritik zielt man darauf hinaus, diese Bewegungen jenseits der Landesgrenzen als Gefahr darzustellen, um zu verhindern, dass die eigene Politik im Ausland auf Missbilligung trifft. Da der Zusammenhang zwischen fehlgeleiteter Modernisierung und der Zunahme des Islamismus nicht erkannt wird, gelangt man im Westen zu der Ansicht, die Islamisten stünden als einzige progressiver Entwicklung entgegen, sowie stellten die Ursache für eine okzidentalen Leitideen gegenüber abweisende Tendenz islamischer Gesellschaften dar. Die prowestlichen Herrschaftseliten, die westlich entstandene, universale Werte ebenso wenig beachten wie ihre islamistische Opposition, begünstigen ein bedrohlich erscheinendes Islambild in der westlichen Zivilisation. Der Islam wird insgesamt als feindlich, sowie mit modernen Gesellschaftsstrukturen unvereinbar wahrgenommen. Lücke (2004) sieht die Negativstigmatisierung des Islam in westlichen Medien, die durch Regierungen islamischer Staaten über moralische Abqualifizierung islamistischer Opposition hervorgerufen wird, als Ursache für die verbreitete Ansicht, der Islam stehe modernen westlichen Errungenschaften entgegen: Solche Nachrichten werden von der westlichen Welt mit Beunruhigung verfolgt, da man eine Bedrohung der eigenen Sicherheit und Werte fürchtet. Es gedeiht ein Bild des Islam als ungezügelter Kraft, die sich nach zeitweiliger Ruhepause neubelebt er-
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
hoben hat und nun sowohl für in der Aufklärung errungene geistige Werte wie auch für den Weltfrieden eine Gefahr darstellt.56
Während einige Regierungen den Islamismus als Bedrohung für die Zukunftsentwicklung interpretieren, erkennen andere die Verbindung von Religion und Politik einhergehend mit religiöser Legitimierung interessengeleiteter Machtbeziehungen als geeignet, ihre Politik durchzusetzen. In der Hinwendung zum Sakralen zielt man auf eine Verdrängung der eigenen Unzulänglichkeit aus dem öffentlichen Bewusstsein. In islamistischen Bewegungen erkannte man ein Gegengewicht zu rational argumentierender intellektueller Opposition, die sich angesichts eines als unvollkommen erkannten Modernisierungskurses herausgebildet hatte. Die Verankerung jener Islamisten in breiten Bevölkerungsschichten ließ sie mit der Zeit als gefährlicher erscheinen als die prowestlichen elitären Säkularisten. Über die Aufnahme religiöser Symbolik in die Politik zielte man darauf ab, die neoislamische Stimmung für den eigenen Machterhalt zu instrumentalisieren. Vor der säkularistischen Opposition, die sich ebenfalls in Konkurrenz zu den Islamisten befand, konnte man die auf öffentlichen Protest treffende Repressivität des eigenen Regimes mit dem „Kampf gegen den Islamismus“ rechtfertigen. Die islamistische Position sieht sich bestätigt und nimmt die Notwendigkeit, sich modernen aufklärerischen Konzeptionen zu öffnen, nicht wahr. Jalal Al-Azm (1993) wirft den arabischen Staatsführungen vor, den Islamismus, den sie öffentlich als „herausragende Bedrohung“ darstellten, lange Zeit gefördert zu haben, um die eigene fehlende Säkularität einhergehend mit einem vormodernen Staatsapparat vor der westlichen Intellektualität zu legitimieren: Letztendlich entwickelte sich der Islamismus, sowohl in organisierter wie auch in weniger organisierter Form, zu einem überaus bequemen Instrument: um öffentliche Rastlosigkeit in sichere Bahnen zu lenken, um radikalisierte, unzufriedene [...] Strömungen zu neutralisieren und einzudämmen, um das Vermächtnis früherer, linksorientierter populistischer Politik zu liquidieren und gleichzeitig die zunehmende Rechtsorientierung arabischer Politik zu legitimieren.57
Islamismus wird von staatlichen Autoritäten zur Aufrechterhaltung eines undemokratischen Herrschaftssystems herangezogen. Dient er einerseits dazu, eine bislang vorwiegend säkulare Opposition von politischem Einfluß fernzuhalten, stellt er andererseits eine Argumentationsgrundlage, fehlende Demokratisierung und vormoderne Staatsstrukturen vor der westlichen Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Weil die säkularistische Elite in der Gesellschaft kaum verankert war, 56 57
Lücke, Hanna: „Islamischer Fundamentalismus“ – Rückfall ins Mittelalter oder Wegbereiter der Moderne? S. 1 Jalal Al-Azm, Sadik: Wider den fundamentalistischen Ungeist, S. 247
2.5 Reaktion der politischen Staatsmacht auf islamische Fundamentalisten
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schätzte man sie nicht als Gefahr für die eigene Herrschaft ein. Sie wurde gezielt gefördert, damit von der zunehmenden Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen nicht ausschließlich die Islamisten profitierten. Die ideologische Heterogenität der politischen Opposition verhindert eine Einigung auf eine gemeinsame Strategie zur gleichermaßen angestrebten Ablösung des Regimes, das trotz fehlender Zukunftskonzeptionen in seiner Grundsubstanz stabil bleiben kann. In einer heraufbeschworenen islamistischen Bedrohung für westliche Werte erkennt man eine Methode, sich universalistischen Anliegen westlicher Regierungen zu widersetzen. Die tatsächliche oder vermeintliche Zustimmung für die Islamisten in der Bevölkerung dient als Rechtfertigung für die Verweigerung politischer Reformen. Dabei wird suggeriert, daß eine Liberalisierung der autoritären Obrigkeitsstrukturen den Islamisten günstige Voraussetzung biete, sowie ein westlichen Tendenzen entgegenstehendes Herrschaftssystem begünstige. Den Sieg der islamistischen Hamasbewegung bei den ersten demokratischen Wahlen in den Palästinensergebieten führen Regime mit absolutistischen Staatsorganen wie in Ägypten oder Marokko vor dem Westen als „Abschreckungsbeispiel“ an, welche Konsequenzen eine Demokratisierung ihrer Staaten für westliche Interessen bedeuten würde. Auf diese Weise gelingt es, die westliche Kritik am bestehenden status quo zu verringern, ohne über die Hintergründe des Islamismus eine Diskussion führen zu müssen. Die Konzeptlosigkeit der Herrschaftseliten gegenüber der islamistischen Herausforderung wird offenbar, wenn jener Islamismus seine Extremform in politisch-religiös motivierter Gewalt – häufig als „Terrorismus“ simplifiziert – erreicht hat, sowie Repression als einzige vertretbare Reaktion aufgefasst wird. In dieser gewalttätigen Zuspitzung der machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen Islamisten und staatlicher Autorität gelingt dem neutralen Beobachter kaum noch eine Differenzierung nach Tätern und Opfern. Beide Seiten haben die moralischen Grundsätze, die sie für sich in Anspruch nehmen, gleichermaßen verlassen. Eine endlose Spirale von Gewalt und Gegengewalt scheint die logische Folge, an deren Ende die vermeintlich schwächere Partei, die Islamisten, aufgrund ihrer religiösen Mystifizierung der gewalttätigen Konfrontation zumindest im eigenen Bewusstsein als „Sieger“ hervorgehen. Die Absicht der staatlichen Verantwortungsträger, ihr Gewaltpotential gegen den Islamismus einzusetzen, kann nicht nur angesichts ausbleibenden Erfolgs als gescheitert bewertet werden, man hat den Islamisten eine Märtyrerrolle zugewiesen. Die Staatsführung ruft einen „Despotismusvorwurf“ gegen sich hervor, womit den Islamisten die Rechtfertigungsgrundlage für ihre Gewaltanwendung geliefert wird. Diese Eskalation verbunden mit einer Entfernung staatlicher Machtausübung von jeglicher Rationalität erweist sich als psychologischer Erfolg der Islamisten. Baudrillard (2002) erkennt in der auf mangelhafter intellektueller Auseinandersetzung
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
mit dem Phänomen Islamismus beruhenden staatlichen Überreaktion auf „terroristische Symbolaktionen“ den eigentlichen Zweck jener „Terroristen“. Ihnen gelinge der Beweis, dass die Staatsmacht zu nüchterner Ursachenanalyse nicht in der Lage sei: Die Repression durchläuft dieselbe unvorhersehbare Spirale wie der Terrorakt, niemand weiß, wo sie Halt machen und welche plötzlichen Veränderungen sie zur Folge haben wird. Auf der Ebene der Bilder und der Information ist keine Unterscheidung möglich zwischen dem Spektakulären und dem Symbolischen, zwischen dem „Verbrechen“ und der Repression. Und eben diese unkontrollierbare Entfesselung der Reversibilität ist der wahre Sieg des Terrorismus.58
Die Dominanz von Repressivität gegenüber Islamisten ergibt sich aus der fehlenden Differenzierung zwischen den islamistischen Bewegungen. Islamismus setzt man mit „Terrorismus“ gleich und erkennt darin eine Legitimierungsstütze, oppositionellen Bewegungen mit hohem Popularitätsgrad den Zugang zu politischem Einfluß vorzuenthalten. Man nimmt nicht zur Kenntnis, daß die meisten islamistischen Bewegungen die gewaltlose Auseinandersetzung bevorzugen. Ihre islamistische oppositionelle Grundeinstellung reicht aus, ihnen ein politisches Mandat zu verweigern. Die Repräsentanten der Al-Adl Wal-Ihsan (Gerechtigkeit und Spiritualität) in Marokko sahen sich Inhaftierungen ausgesetzt, obwohl die Bewegung sich offiziell zur Gewaltlosigkeit bekennt. Das Bewusstsein der Ausgeschlossenheit hat die oppositionelle Tendenz verstärkt, die sich zunehmend gegen das gesamte Staatssystem richtet. Da gesellschaftliche Partizipation in offiziellen Gremien untersagt ist, wendet man sich mehr und mehr von der Öffentlichkeit ab und begibt sich in den Untergrund. An die Gesetze eines Staates, der legitime Rechte nicht zugesteht, sieht man sich kaum noch gebunden, womit langfristig die Hemmschwelle für gewalttätige Obstruktion sinkt. Der Islamismus wird durch die Repression nicht geringer, sondern radikalisiert sich und schreckt vor zweifelhaften Mitteln immer weniger zurück. Erfolgreicher erweisen sich Strategien, die auf eine Einbindung in politische Verantwortung setzen. Über die Teilhabe an staatlicher Verantwortung wird das Bewusstsein der Ausgeschlossenheit verringert. Entelis (1997) fordert die Regierungen der Maghrebstaaten auf, von staatlicher Repression gegen jegliche gewaltablehnenden Islamisten Abstand zu nehmen. Sie seien in der Lage, einen unschätzbaren Beitrag zu Demokratie und politischer Stabilität zu leisten: Should incumbent governments suceed in eliminating nonviolent Islamist groups, they will face a serious vacuum that can only result in greater political instability 58
Baudrillard, Jean: Der Geist des Terrorismus, S. 32
2.5 Reaktion der politischen Staatsmacht auf islamische Fundamentalisten
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and social uncertainty. In short, while popular support for nonviolent Islamists in North Africa is holding, it is challenged daily – from above by recalcitrant officials and from below by fringe groups prone to violence. Should nonviolent Islamists be forced under or radicalized into violence, stability and democracy in the Maghreb will be unlikely any time soon.59
Neben der gewaltsamen Bekämpfung des Islamismus, der Anbiederung an dessen politische Programmatik, sowie seiner bewussten Förderung begreift eine zunehmende Anzahl von Staaten Islamisten als realen Bestandteil ihrer Gesellschaft. Um jene Islamisten mit der Komplexität der Moderne zu konfrontieren, setzt man darauf, islamistischen Autoritäten staatliche Verantwortungspositionen zu übertragen. Die Regierungen zeigen Verständnis für die Hinwendung eines Teils ihrer Bevölkerung zu den Islamisten, angesichts deren Rückbesinnung auf das islamische Gerechtigkeitsideal in einer von den Risiken der Globalisierung geprägten Welt. Im Dialog erkennt man die Chance, den aufgrund von fehlgeleiteter Modernisierung auseinandergebrochenen gesellschaftlichen Konsens wiederherzustellen. Dieses öffentliche Aufwerten von im Westen mit totalitären Einstellungen assoziierten Islamisten birgt für die Staaten das Risiko, ihre westliche Unterstützung zu verlieren. Die unter dem Einfluß des 11. Septembers 2001 von westlichen Regierungen fast ultimativ geäußerten Appelle an islamische Staaten, „den islamistischen Terrorismus zu bekämpfen“, mußte auf Dialog und Einbindung setzenden Regierungen als bewusste Diskreditierung ihrer Politik erscheinen. Die Verknüpfung jener, kaum umsetzbaren westlichen Forderungen mit finanziellen Unterstützungsleistungen wurde als „westlicher Zwang“ aufgefasst. Den Regierungen blieb nur die Wahl zwischen der Fortsetzung einer repressiven Politik mit dem voraussehbaren Ergebnis einer gewaltsamen innenpolitischen Zuspitzung oder einer politökonomischen Ausgrenzung ihres Staates, mit der Folge einer Verschärfung der sozioökonomischen Krise, von der wiederum radikale Islamisten profitieren. Ein Teil der westlichen Elite hat ebenfalls erkannt, dass gewalttätige Repression gegenüber dem Islamismus keine erfolgversprechende Strategie darstellt. Indem Islamismus als verbreitete Strömung in der islamischen Zivilisation wahrgenommen wird, fordert man Regierungen islamischer Staaten explizit auf, mit den Islamisten in einen Dialog einzutreten. Einige Intellektuelle verlangen zudem Islamisten an außenpolitischen Diskursen zwischen islamischen und westlichen Regierungen teilhaben zu lassen. Bislang haben solche zukunftsweisenden Ansätze im Westen noch nicht überall Resonanz gefunden. Bei westlichen Regierungen steht der sicherheitspolitische Aspekt im Zusammenhang mit Islamismus nach wie vor im Vordergrund. In der islamischen Civil Society setzt 59
Entelis, John P.: Political Islam in the Maghreb, p. 43
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2 Islamischer Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung
sich der Eindruck fest, der Westen sei an keinem Fortschritt unter islamischem Vorzeichen interessiert, weil er den Islam generell westlichen, für universell postulierten Maßstäben entgegenstehend betrachte. Verstärkt wird dieses Bewusstsein durch die abwertende Tendenz, mit welcher einige Westler über den Islam im Allgemeinen, sowie über sein Verhältnis zu Politik und Moderne im Besonderen urteilen. Man unterstellt dem Islam einen Dogmatismus, der eine Konvergenz mit aufklärerischer Rationalität aus seinem Selbstverständnis heraus ausschließe, sowie einen Kulturdialog der islamischen Zivilisation mit dem Westen auf Augenhöhe unmöglich erscheinen lasse. Schulze (1993) wirft westlichen Eliten vor, dem Islam keine aufrechte Würdigung zuteil werden zu lassen, weil sie nicht bereit seien, sich mit dem realen Hintergrund der islamischen Religion auseinanderzusetzen: Nicht die islamische Geschichte wird als Grundlage für eine kritische Auseinandersetzung mit der islamischen Zivilisation genommen, sondern ein normatives, nominalistisches Verständnis des Islam. Der Islam wird zur positivistisch beschreibbaren Tatsache, die Kritiker des Islam werden zu Theologen: [...] Der Islam wird als zeitlose, immerwährende und immer gültige Religion betrachtet, die sich in knappen Sätzen als die Summe dogmatischer Tatsachen definieren lasse. Diese Postulate, meist in vulgarisierter Form noch entstellt, konstruieren das Bild einer Religion, welcher der Schrecken anhafte, den man selbst in der eigenen Religion überwunden meint.60
Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in islamischen Staaten erkannte man zunehmend eine differenzierte Auseinandersetzung der staatlichen Verantwortungsträger mit dem Islamismus als entscheidende Voraussetzung. Eine friedliche Entwicklung war nur garantiert, wenn es gelingen würde, Islamisten davon zu überzeugen, ihre gesellschaftlichen Ideale innerhalb des Rechtsstaats erreichen zu können. Das Beispiel Algeriens hatte demonstriert, dass die repressive Variante ohne Dialogbereitschaft von Regierungsseite sich als ungeeignet erweist. So lange eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit der Islamisten für den gewaltfreien Zukunftsdiskurs vorhanden ist, seien Regierungen aufgefordert, repressive Mittel ebenfalls auszuschließen. Marokko hat von der ausschließlichen sicherheitspolitischen Bekämpfungsmethode Abstand genommen, sowie ist auf verschiedenstem Wege dem Islamismus gegenübergetreten. Einem Teil der Islamisten ist die Partizipation an gesellschaftspolitischer Verantwortung über die Zulassung als politische Partei geöffnet worden, andere, ebenfalls gewaltablehnende Islamisten dürfen zumindest ohne permanente Anwesenheit von Polizei 60
Schulze, Reinhard: Islam und Herrschaft. Zur politischen Instrumentalisierung einer Religion, S. 95
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und Justiz in der Öffentlichkeit auftreten. Die Zustimmung zu Islamisten, die sich auf breite Gesellschaftsschichten stützen, ist auf diese Weise zwar nicht verringert worden, islamistisch legitimierte Gewalt blieb die Ausnahme. Es gilt der Überdramatisierung des Phänomens „Islamismus“ sich entgegenzustellen, da sie zum einen interessengeleitet ist, sowie zum anderen den kontextbezogenen Hintergründen kaum Beachtung entgegenbringt. Hassan II. (1993) forderte von der Politik mehr Gelassenheit im Umgang mit Islamismus, sowie eine nüchterne, differenzierte Herangehensweise an ein Phänomen, welches sich in den mannigfaltigsten Ausprägungsformen herausgebildet habe: D´abord il n´y a pas un, mais des intégrismes. […] S´ils se rencontraient, aucun d´eux n´envisagerait la solution des problèmes de la même fa9on. Je ne dis pas que ce phénomène n´est pas préoccupant, mais tant qu´il restera aussi divers dans ses raisons d´être et ses manifestations, il ne faut pas lui prêter le danger qu´on lui accorde.61
Die Heterogenität islamistischer Bewegungen, besonders hinsichtlich ihrer angewandten Mittel in Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht, rufen voneinander abweichende Reaktionen seitens der staatlichen Obrigkeit hervor. Angesichts einer unverkennbaren oppositionellen Tendenz der Islamisten, werden sie von den Herrschaftseliten allgemein als feindlich gesinnt eingestuft. Die bevorzugte Strategie im Gegenübertritt zum Islamismus steht im Verhältnis zu der Bedeutung, die dem Phänomen zugemessen wird. Eine Variante stützt sich auf Repression einhergehend mit der Stigmatisierung der Islamisten als „Terroristen“ zur öffentlichen Rechtfertigung der eigenen, Menschenrechten entgegenstehenden Politik. Eine Abmilderung islamistischer Einstellung konnte auf diese Weise bislang nicht erreicht werden. Vielmehr haben sich ursprünglich gewaltablehnende Islamisten in den Untergrund begeben. Konträr zu dieser repressiven Variante zieht eine Reihe von Staaten den Dialog, sowie die Einbeziehung der Islamisten in gesellschaftspolitische Verantwortung vor. Zwischen den verschiedenen islamistischen Strömungen wird kontextbezogen differenziert. Sofern eine friedliche Absicht erkannt wird, gesteht man den Islamisten ihre demokratischen Rechte zu. Eine Entwicklung zu prämodernen Ordnungsstrukturen lässt sich in jenen Staaten ebenso wenig nachweisen wie eine generelle Distanzierung vom Westen.
61
Hassan II.: La Mémoire d´un Roi, p. 241
3.1 Überblick über die Geschichte Marokkos seit seiner Arabisierung
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3 Entwicklung des Staates Marokko
3.1 Überblick über die Geschichte Marokkos seit seiner Arabisierung 3.1.1 Verschiedene Dynastien in Marokko Grob gegliedert lässt sich die Geschichte Marokkos in zwei Phasen unterteilen. Die erste Phase, die präislamische Epoche, ist geprägt von zahlreichen, nur lose miteinander in Verbindung stehenden Berberstämmen, die teils in nomadischer, teils in sesshafter Form lebend, sich den verschiedensten Eroberungszügen antiker Großmächte zu entziehen wussten. Die zweite Phase, die islamische Epoche, hält bis zur Gegenwart an und zeichnet sich durch eine allgemeine zentripetale Tendenz hin zu einem einheitlichen Ganzen aus. Ausgehend von der Tatsache, dass jenes Streben nach staatlicher Einheit im Prinzip mit dem Eindringen der Araber und dem Islam beginnt, kann von einer spezifischen „marokkanischen Landesgeschichte“ erst für diese zweite Phase ausgegangen werden. Mit ihr verbunden ist die doppelte Identität Marokkos sowohl als berberisches als auch arabisches Land, seine Verwurzelung im Islam, sowie seine politische Beherrschung durch Dynastien. Um zu erkennen, welche Schlüsse die gegenwärtige politische Führungselite aus dieser Verbindung vor allem im Hinblick auf Islamismus ziehen kann, erscheint eine eigenständige Betrachtung dieser Dynastien geboten. Besondere Aufmerksamkeit erfährt ihr Verhältnis zum Islam, ihre Einstellung zu gesellschaftlichem Fortschritt, ihre Beziehung zu außerislamischen Kulturen und Staaten, sowie nicht zuletzt die Verbindung zwischen ihrer islamischen Legitimation und politischen Herrschaft. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich ein Verständnis entwickeln, warum neuzeitliche Islamisten die Einheit von Religion und Politik zu einer ihrer Hauptforderungen erheben, sowie in der marokkanischen Civil Society dafür auf Anklang treffen. Welche Wirkung der Islam auf die marokkanische politische Entwicklung ausgeübt hat, lässt sich nicht zuletzt an seinem historischen Erfolg erkennen, die Berber in den zivilisatorischen Fortschrittsprozess mit einzubeziehen. Den Arabern war es als ersten von außen eindringenden Eroberern nicht nur gelungen, Marokko vollständig ihrem Einflussgebiet einzugliedern, sondern vielmehr sich dauerhaft dort anzusiedeln und mit neu zum Islam bekehrten Berbern ein gemeinsames islamisches Staatswesen aufzubauen. Zwar erreichten bereits in der präislamischen Phase auswärtige Imperialmächte wie Phönizier, Römer, Wandalen oder Byzantiner eine zeitweilige Besetzung einzelner Gebiete an der Mittel-
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3 Entwicklung des Staates Marokko
meerküste, ein Vordringen bis ins Landesinnere, eine Unterwerfung der Berberstämme einhergehend mit der Heranziehung der marokkanischen Berber für die zivilisatorische Entwicklung ihrer Großreiche blieb ihnen versagt. Erst die Araber besaßen mit dem Islam ein Element, welches ihnen nicht nur in wenigen Jahrzehnten eine territoriale Ausbreitung von der Arabischen Halbinsel aus bis zum Atlantik garantierte, sondern vielmehr den unterschiedlichsten Ethnien und Stammeskulturen trotz aller fortbestandenen Divergenz ein gemeinsames Identifikationsmerkmal bot. Von Ägypten aus waren die Araber um 640 n. Chr. in die Cyrenaika und bis Tripolitanien vorgedrungen, von wo aus sie unter dem Oberbefehl von Khalif Osman in ca. 70 Jahren den gesamten Maghreb eroberten. Leisteten die einheimischen Berber anfangs diesen „Okkupatoren“ Widerstand, fanden sie sich nach ihrem Übertritt zum Islam bereit, ihr Territorium mit den Arabern zu teilen. Die Bedeutung, die der Islam für die Geschichte Marokkos, besonders aber für das nationale Selbstbewusstsein der Marokkaner, – Berber wie Araber –, einnimmt, mag mit der Art und Weise zusammenhängen, wie der Islam unter die einheimische Bevölkerung gelangt ist. Zwar präsentierten sich die ersten eintreffenden Araber wie vor ihnen die antiken Großmächte als „Eroberer“, die auf eine Ausweitung ihres politischen Herrschaftsgebiets hinauszielten, die eigentliche Islamisierung, sowie politische Einigung des bislang in zahlreiche Berberstämme aufgeteilten Landes erreichten sie damit noch nicht. Dies gelang erst im achten Jahrhundert dem arabischen Herrschergeschlecht der Idrisen, die sich auf die direkte Nachkommenschaft von Mohammeds Schwiegersohn Ali, dem Ehegatten von Mohammeds Tochter Fatima, beriefen. Der Begründer dieser Dynastie, Idris I., war zuvor nicht als ruhmreicher Feldherr in Erscheinung getreten, sondern befand sich auf der Flucht, weshalb ihm offenbar leichter als seinen Vorgängern gelang, von den Berbern trotz seiner arabischen Herkunft als ihr neuer Regent akzeptiert zu werden. Sie hatten erkannt, dass es ihm nicht nur um die Begründung einer neuen Herrschaftsdynastie, sondern gleichermaßen um die Verbreitung der Religion seiner Vorfahren ging, die er weniger als „den Glauben der Araber“, als mehr als „Botschaft an alle Völker“ verstand. Frank (1990) weist darauf hin, dass Idris I. die marokkanischen Berber bereits vom islamischem Glauben überzeugt hatte, bevor er von diesen als politischer Herrscher auserkoren wurde. Ganz Marokko identifizierte sich von nun an so sehr mit ihm und seiner Herrschaft, dass man ihn seit seiner Ermordung sogar als Nationalheiligen verehrt: Idris war als Flüchtling ins Land gekommen, hatte in Volubilis Zuflucht gefunden und mit den Berbern gute Kontakte geschlossen. Er erwarb sich ihre Gunst, bekehrte sie zum Islam und wurde schließlich zu ihrem Führer gewählt. Nachdem er von
3.1 Überblick über die Geschichte Marokkos seit seiner Arabisierung
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Neidern ermordet worden war (793), bestatte man ihn am Dschebel Zerhoun, [...], und er wurde eine Art Nationalheiliger.62
Die historische Bedeutung der Idrisen für die marokkanische Nationalgeschichte beschränkte sich nicht auf den Begründer jenes Herrschergeschlechts. Auch in der Folgezeit leisteten sie einen unschätzbaren Beitrag zur kulturellen Weiterentwicklung des Landes. Idris II., der Sohn des Dynastiegründers, errichtete in Fes die erste bedeutende marokkanische Königsstätte und entwickelte sie zum religiösen und geistigen Zentrum des Landes. Bereits damals kam ihr eine hohe geistige und wissenschaftliche Stellung in Marokko, sowie darüber hinaus im gesamten arabisch-islamischen Raum zu. Als Universitätsstadt erfuhr Fes das gesamte arabische Mittelalter hindurch einen besonderen Ruf, von dem sie bis in die Moderne hinein profitierte. Im Gegensatz zu manchem zeitgleichen christlichen Fürstenhaus in Europa verstanden es die Idrisen, den Islam als „Fortschrittsreligion“ zu präsentieren. Ihre Erfolge können darauf zurückgeführt werden, dass sie mit dem Islam kein elitäres Klassenbewusstsein verbanden. Berber wie Araber konnten gleichrangig am politischen, wirtschaftlichen wie kulturellen Leben partizipieren, sowie mussten nicht befürchten, von Seiten des Herrschers in ihrer Gedankenfreiheit eingeschränkt zu werden. Die Volksverbundenheit und das besondere Bemühen um innere Einheit des Landes, welche mit den beiden ersten Idrisenfürsten assoziiert werden, blieben in der Geschichte Marokkos einzigartig. Unter ihren Nachkommen gewannen interne Rivalitäten zunehmend die Oberhand. Die Herrscherfamilie befehdete sich untereinander, womit ein rascher Bedeutungsverlust der Dynastie, sowie nachfolgend ihre Verdrängung durch andere Herrscherhäuser kaum zu vermeiden war. Das zweite bedeutende Herrschergeschlecht Marokkos waren die im 11. Jahrhundert aus der Sahara eingedrungenen Almorawiden. Sie stützten sich ursprünglich auf die beiden Wüstenstämme der Sanhadja und Lemta. Ihre politischen wie spirituellen Führer waren Abdallah Ibn Yassin und Yahya Ibn Omar, die sich und ihre Gefolgschaft aufgrund der tiefen Verwurzelung im Islam mit dem Ehrennamen El-Murabitun (die Standhaften, wörtlich: die vom Kloster) auszeichneten, woraus sich später der Name der Dynastie „Almorawiden“ ableitete. Yassin und seine Nachfolger verbanden mit dem Islam die Aufforderung zu permanenter Ausbreitung, sowie die Durchsetzung islamischer Grundsätze in Politik und Gesellschaft. Dementsprechend militant erwies sich ihr Islamverständnis und verleitete sie immer wieder zu kriegerischen Aktionen gegen noch nicht zum Islam bekehrte Völker wie gegen Machthaber, die sich ihrer Interpretation der islamischen Lehre nicht beugten. Mag mancher moderne, liberal empfindende Muslim unserer Zeit diese, teilweise auf Zwangsbekehrungen beruhen62
Frank, Gerd: Allahs große Söhne, S. 16
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3 Entwicklung des Staates Marokko
de Islamausbreitung nicht mit seiner Religionsauffassung in Einklang wähnen, den damaligen maghrebinischen Völkern vermittelten die Almorawiden offenbar einen so tiefgründigen spirituellen Eindruck, dass die Zahl derer, die sich aus freiem Entschluß ihrer Form des Islam anschlossen, nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Unter Führung von Abu Bekr gelang den Almorawiden aus der Kombination von freiem Bekehrungseifer mit Zwangsübertritten die vollständige Islamisierung der Atlasstämme, worauf sie mit Marrakesch im Jahre 1060 die zweite Residenzstadt des Landes errichteten. Der politische wie religiös-kulturelle Einfluß der Almorawiden erstreckte sich nicht nur über das heutige Gebiet Marokkos, sondern umfasste fast die gesamte Sahara, reichte bis Schwarzafrika, sowie auf die Iberische Halbinsel. Ohne die kollektive Akzeptanz ihres Islamverständnisses hätten sie wohl kaum über ein so weiträumiges Territorium die politische Herrschaft ausdehnen, sowie trotz gelegentlicher Widerstände für mehrere Jahrzehnte behaupten können. Seiwert (1988) belegt anhand von Berichten von Zeitzeugen, dass die almorawidische Islamisierungsmethode keineswegs ausschließlich als Zwang erlebt wurde, sondern vielfach zur freiwilligen Bekehrung veranlaßte: Abdallah [Ibn Yassin]bemächtigte sich der ganzen Wüste, und alle Stämme da leisteten ihm Folge und schlossen sich seiner Missionstätigkeit an und wahrten durch ihn die sunna.63
Für die Nachwelt erhalten die Almorawiden nicht nur im Hinblick auf ihre großräumige Islamisierung Nordwestafrikas Bedeutung, die dafür verantwortlich ist, dass der Islam sich sowohl zur Religion der Stadtbevölkerung, als auch zu einem wesentlichen Element im Zusammengehörigkeitsbewusstsein der ländlichen Berberstämme entwickeln konnte, sondern ebenso aufgrund ihrer technischen Gewandtheit. Als herausragendes Zeugnis in dieser Hinsicht muß ihre Bewässerungstechnik angesehen werden. Über unterirdische Kanäle waren sie in der Lage, ausgedehnte Steppengebiete in Südspanien in Gartenlandschaften und Dattelpalmenhaine zu verwandeln, sowie zahlreiche marokkanische Halbwüstengebiete für die Besiedlung und den Landbau zu erschließen. Ihr autoritärer Stil, verbunden mit einem dogmatischen, keinen Widerspruch duldenden Islamverständnis, stellte mit der Zeit eine Belastung für ihre Dynastie dar. Erwiesen sich diese Merkmale einerseits bei der territorialen Ausbreitung wie bei der internen Organisation ihrer Herrschaft nützlich, trugen sie andererseits dazu bei, dass aus Meinungsverschiedenheiten mit regionalen Stammesautoritäten sich in kurzer Zeit sezessionistische Aufstände entwickeln konnten, die die Autorität der jeweiligen Herrscher immer mehr untergruben. Die Dominanz der Almorawiden 63
Seiwert, Wolf-Dieter: Maurische Chronik, S. 29
3.1 Überblick über die Geschichte Marokkos seit seiner Arabisierung
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währte insgesamt nur eine kurze Zeitspanne und endete bereits im frühen 12. Jahrhundert. Eine kulturelle Blütezeit erlebte Marokko unter der Führung der Almohaden, einem berberischen Herrschergeschlecht aus dem Hohen Atlas. Ihr Name stammt vom arabischen Begriff „El-Muwahhidun“ (Bekenner des Einen) ab. Begründer dieser Dynastie war Ibn Tumart (1121), der sowohl politisch als auch religiös in Opposition zu den Almorawiden stand, obwohl der Name bei den Almohaden eine gleichermaßen tiefgründige islamische Verbundenheit nahelegt. Nach der erfolgreichen Eroberung Marokkos, Algeriens und Tunesiens (11491160) nahmen sie Andalusien ein und verteidigten den unter ihren Vorgängern arabisierten wie islamisierten Teil Spaniens gegen die von Norden eindringenden Heere der christlichen Konquistadoren. Als bedeutendster Herrscher gilt Abu Yaqub Yusuf II., mit dem Beinamen „El-Mansur“ (Der Siegreiche). In der ruhmreichen Schlacht von Alarcos (1195) gelang es ihm, die auf Andalusien vorstoßenden christlichen Heere der Kastilier vernichtend zu schlagen, sowie Südspanien vollständig unter marokkanische Kontrolle zu bringen. Auf seine Zeit geht der Bau des Hassanturmes in Rabat, der Kutubiyya-Moschee in Marrakesch, sowie der Giralda in Sevilla zurück. Kulturhistorisch sind die Almohaden nicht nur durch ihre architektonischen Hinterlassenschaften für die Nachwelt von Interesse. Die religiöse Toleranz einiger ihrer Herrscher verbunden mit gesellschaftspolitischer Liberalität erwies sich für den Fortschritt im natur- wie geisteswissenschaftlichen Bereich als Voraussetzung. Zahlreiche Bibliotheken und Bildungseinrichtungen wurden neu gegründet, an denen bedeutende Philosophen wie Ibn Ruschd (Averroes) ihre Lehrtätigkeit aufnahmen. Auf einen gewissen Ausgleich zwischen Arabern und Berbern bedacht, konnte man über einen langen Zeitraum hinweg die Sesshaftwerdung und Arabisierung der nomadischen Bevölkerung vorantreiben, sowie die andalusisch geprägten Kultur in den Städten zur Dominanz führen. Mit der Zeit nahmen Auseinandersetzungen zwischen nomadischen und sesshaften Berberstämmen immer mehr zu, die einerseits einen wirtschaftlichen Niedergang bedeuteten, sowie andererseits die Revolte berberischer Stammesführer gegen die almohadischen Herrscher erfolgreich zu nutzen wusste, so dass ihr politischer Einfluß in Fes bereits 1248 beendet, sowie 1269 letztlich ihre Hauptstadt Marrakesch von den Meriniden eingenommen wurde. Mit dem Sturz der Almohadenherrschaft endet die Epoche der religiös „missionarisch“ intendierten hochmittelalterlichen Dynastien in Marokko. Sowohl die Herrschaftszeit der Almorawiden als auch der Almohaden müssen dieser Phase zugerechnet werden. Beide Dynastien sind aus dem Anspruch eines charismatischen religiösen Lehrers heraus entstanden, eine bestimmte, dogmatische Form des Islam durchzusetzen. Hieraus entwickelte sich ein militanter Missionseifer, der sich nicht nur gegen Nichtmuslime, sondern vor allem gegen
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Muslime mit divergentem Schriftverständnis richtete. Untereinander rivalisierten beide Dynastien nicht in erster Linie um ein politisches Herrschaftsgebiet, sondern weit mehr um die korrekte Deutungshoheit des Islam. Mit den ersten Erfolgen bei der militärischen Eroberung nahm in beiden Fällen das politische Machtinteresse immer mehr den Vorrang ein. Die Sicherung der Herrschaftsprivilegien des eigenen berberischen Stammes gewann in der Praxis den höheren Stellenwert als die Zwangsbekehrung der ethnisch heterogenen Untertan. Mochte die religiöse Lehre und ihre flächenhafte Verbreitung im Einzelnen als dogmatisch oder gar rigoros erscheinen, mit der Größe und kulturellen Heterogenität des Herrschaftsgebiets wich jene Rigorosität zugunsten eines toleranten Pragmatismus. Zwar wurde nominell in beiden Dynastien die Politik von der Religionsauslegung determiniert, in der Realität bestimmten islamisches Kollektivbewusstsein sowie die politische Weitsicht der einzelnen Herrscher jene Epoche. Diese Kombination kann als Grundlage eines zivilisatorischen Erfolgs gewertet werden, dessen Resultate bis heute ihre Würdigung erfahren. Singer (1987) erkennt als gemeinsames Wesenselement von Almorawiden wie Almohaden einen religiös legitimierten Führungsanspruch, dessen ursprüngliche religiöse Intention mit der Etablierung der jeweiligen Dynastie profanen machtpolitischen Beweggründen untergeordnet wird: Betrachtet man die Bewegungen der Almoraviden und Almohaden als Ganzes, dann ergeben sich Parallelen [...]Vor allem aber verband beide die Tatsache, dass jeweils eine bestimmte berberische Stammesgruppe, die eine geschlossene Gesellschaft darstellte, die Bewegung trug und die Hegemonie beanspruchte. [...] Beide Bewegungen hatten einen religiösen Ursprung, wurden aber bald durch militärisch-politische Machtbestrebungen verformt.64
Die Meriniden, auch Banu Marin genannt, das letzte berberische Herrschergeschlecht Marokkos, waren bereits vor ihrer Herrschaftsübernahme öffentlich in Erscheinung getreten. Anfangs standen sie loyal zu den Almohaden und kämpften an ihrer Seite gegen die christlich-spanischen Heere Kastiliens und Aragons. Erst Anfang des 13. Jahrhunderts erkannten sie die aus Beduinenaufständen in Nordafrika, sowie militärischen Niederlagen in Spanien resultierende Führungsschwäche der Almohadenherrscher, welche sie für die eigene Herrschaftsübernahme ausnutzten. Ihre Ursprungsregion lag in den südmarokkanischen Wüstenund Oasengebieten, von wo aus sie die großen Städte Fes und Marrakesch eroberten, sowie Marokko zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert regierten. Anders als ihre Vorgänger verbanden sie mit ihrem Streben nach politischer Herr64
Singer, Hans-Rudolf: Der Maghreb und die Pyrenäenhalbinsel bis zum Ausgang des Mittelalters, S. 305
3.1 Überblick über die Geschichte Marokkos seit seiner Arabisierung
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schaft keine religiöse Neukonzipierung des Gemeinwesens. Sie waren überzeugte Muslime mit orthodoxer malikitischer Ausrichtung. Den Islam verstanden sie in erster Linie als Legitimation zur Absicherung ihrer, auf weltlicher materieller Grundlage beruhenden politischen Herrschaft, sowie als Strategie, die Scherifischen (auf die Abstammung des Propheten sich berufenden) Familien als Unterstützer ihrer Dynastie zu gewinnen. Thoden (1973) interpretiert aus der Art und Weise, wie die Meriniden ihre territoriale Herrschaft erlangten und ausbreiteten, dass materielle weltliche Machtinteressen ihre politischen Ambitionen im Wesentlichen bestimmten: Hinter dem Vorstoß der B. Marin stand keine religiöse Idee. [...] Sie stützten sich auf keine scherifische Familie wie z.B. die Dynastien nach ihnen, noch bewegte sie religiöser Reformeifer wie vor ihnen die Almoraviden und Almohaden. Die Hoffnung auf bessere Weidegebiete und die Aussicht auf gute Beute trieb die B. Marin bei den ersten Anzeichen der inneren Schwäche der Almohaden vorwärts; aus dieser Bewegung resultierte während eines Zusammentreffens vitaler Interessen und politischer Gegebenheiten die Eroberung des Landes.65
Da der Islam sich Pluralität und kultureller Vielfalt gegenüber aufgeschlossen zeigt und die Merinidenherrscher kein Interesse an einer Unterbindung kreativen Geistes besaßen, konnten sich Kunst, Architektur und Naturwissenschaft ungehindert weiterentwickeln. Wie im Europa der Renaissance und des Humanismus erwies sich jene spätmittelalterliche Epoche in Marokko als bedeutend in der Stadtentwicklung. Die Städte wuchsen an und erfuhren durch zahlreiche neue Moscheen und Medresen (Koranschulen), sowie durch Festungsanlagen mit schmuckvollen Ornamenten ihre Einzigartigkeit. Der wirtschaftliche Austausch mit anderen islamischen Ländern wie mit dem christlich geprägten Südeuropa erlebte trotz fortwährender kriegerischer Auseinandersetzungen eine Blütezeit. Über Sklavenhandel und Güteraustausch gelang es den Meriniden den Landeswohlstand zu mehren, sowie die politische Bedeutung Marokkos innerhalb der Region zu erhöhen. Vor allem die merinidische Anfangszeit ist durch zahlreiche militärische Erfolge gekennzeichnet. Im 14. Jahrhundert gelang es, weite, zuvor an christliche Fürstenhäuser verlorengegangene Teile Südspaniens in das islamisch maurische Einflussgebiet wiedereinzugliedern. Die fehlende Beteiligung des arabischen Bevölkerungsteils an politischer Macht, sowie fortwährende Auseinandersetzungen des Herrscherhauses mit regionalen Stammesfürsten spiegelten sich mit der Zeit in abnehmender militärischer Unterstützung der verschiedenen Provinzen und Stämme wieder, woraus Niederlagen resultierten.
65
Thoden, Rudolf: Abu ´l-Hasan ´Ali - Merinidenpolitik zwischen Nordafrika und Spanien, S. 44
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Hatte die berberische Herkunft der Meriniden, sowie ihre im Vergleich zu anderen Dynastien hervorzuhebende religiöse Toleranz für kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung die Basis geboten, ihre fehlende Bereitschaft muslimischen Völkern anderer Herkunft, vor allem den arabischen Stämmen die Gleichberechtigung zuzugestehen, erwiesen sich langfristig als destruktiv für den Fortbestand der Dynastie. Nach dem endgültigen Zerfall der Merinidenherrschaft (1465) trat das Land in eine Phase sich gegenseitig befehdender Kleindynastien ein. Diese fortgesetzte politische Uneinigkeit bot den Spaniern und Portugiesen die Voraussetzung, die letzten, noch bestehenden arabischen Provinzen Europas zurückzuerobern, weite Gebiete im Norden Marokkos unter ihre Kontrolle zu bekommen, sowie Dauerkolonien an der afrikanischen Küste zu gründen. Die mittelalterliche, marokkanisch-arabische Dominanz im westlichen Mittelmeerraum war damit endgültig an europäisch-christliche Mächte übergegangen. Zugleich endete mit der Merinidendynastie die berberische Herrschaft über den Maghreb; die Berber mussten von nun an sich fortwährend in die Dienste arabischer Dynastien oder europäisch-christlicher Kolonialmächte stellen. Zwar sind sie als Muslime sowohl von der Religion her als auch formal-rechtlich den Arabern gleichgestellt, die politische und soziokulturelle Gleichberechtigung musste bis in die Gegenwart permanent neu erkämpft werden. Das machtpolitische Vakuum, das mit dem Zerfall der berberischen Merinidenherrschaft eingetreten war, ermöglichte einer arabischen Dynastie, den Saaditen, Marokko unter ihre Kontrolle zu bringen. Dieses Herrschergeschlecht stammte ursprünglich aus dem Hidschaz (der arabischen Halbinsel) und drang im frühen 14. Jahrhundert in Südmarokko ein, von wo aus man sich im 16. Jahrhundert an Verteidigungsschlachten gegen die von der Küste her aufs Landesinnere vordringenden Portugiesen beteiligte. Ihre Erfolge im Al-Jihad, mehr noch ihre geistliche Autorität als Scherifen, ermöglichte ihnen nach der Einnahme von Fes (1554) von Marrakesch aus ihre Herrschaft über Marokko und darüber hinaus auszubreiten. Bedeutendster Herrscher war Ahmed El-Mansur (1578-1603), auf den eine erfolgreich ausgerichtete Landwirtschaft, ein funktionstüchtiges, nach osmanischem Vorbild organisiertes Wehr- und Verwaltungswesen, sowie ein profitträchtiger Handel mit England und Holland zurückgingen. Seine Regierungskunst, verbunden mit dem wirtschaftlichen Erfolg stellte die Basis für die militärisch erlangte Ausdehnung des saaditischen Herrschaftsgebiets zu einem Großreich. Kennzeichnend für die Saaditenherrschaft war wie bei früheren marokkanischen Dynastien der besonders herausgestellte, islamisch begründete Anspruch des Herrschergeschlechts. Hierfür reichte es nicht, darauf hinzuweisen, dass Allah die Herrscherfamilie mit einem charismatischen Führungsauftrag versehen habe, sondern es bedurfte der Berufung auf eine außergewöhnliche Verbindung des Dynastiebegründers zum Transzendenten. Die erfolgreiche Teil-
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nahme am Al-Jihad gegen die christlichen Portugiesen stand mit einer spezifischen Aufforderung eines Heiligen im Zusammenhang und verlieh erst zusammen mit der bereits vorhandenen Scherifischen Autorität das Ansehen, um als legitimes Herrschergeschlecht anerkannt zu werden. Offenbar war in jener Zeitepoche nur diese einzigartige Kreierung eines „islamischen Gottesgnadentums“ in der Lage, einem Herrschergeschlecht jene Würdigung zuteil werden lassen, die zur Etablierung einer bedeutenden Großdynastie benötigt wurde. Von Sivers (1987) hebt das spirituelle Fundament der Saaditen als Unikat in der islamischen Geschichte hervor. Dem scherifischen Dynastiebegründer soll von einem nicht aufgrund von Prophetenabstammung, sondern unmittelbar göttlich auserwählten Heiligen der Auftrag zum Al-Jihad verliehen worden sein. Diese direkte göttliche Inspiration ihres Ursprungs stellte die Saaditen gegenüber zeitgleichen islamischen Herrschergeschlechtern auf eine höhere geistliche Stufe: Um 1510 gelang es Muhammad al-Qa`im (1509-17), einem Mitglied der Scherifenfamilie der Banu Sa´d, die Fraktionen des mit ihm verbündeten Stammes de Ma´qil im südmarokkanischen Sous (Sus) zu vereinigen. Der späteren offiziellen Geschichtsschreibung zufolge hatte er den Auftrag zu dieser Einigung von einem Heiligen erhalten, der zum Glaubenskrieg gegen die Portugiesen aufrufen wollte. Interessant an diesem Gründungsmythos ist, dass ein genuin Heiliger ohne Scherifengenealogie einen durch Abkunft Heiligen zur Verwirklichung eines Glaubensgebots, nämlich der Beseitigung nicht-muslimischer Herrschaft über Muslime, aufrief. [...]Die Korsaren in Algerien legitimierten sich zwar auch durch ihren Glaubenskrieg gegen die Christen, aber die Scherifen von Marokko umgaben sich noch zusätzlich mit der Aura der Prophetenabkunft.66
Den Saaditen gelang es nicht mehr wie früheren marokkanische Dynastien, ihr Imperium übers Mittelmeer hinaus nach Europa auszubreiten, dennoch fügten sie den Portugiesen in der „Dreikönigsschlacht“ bei Ksar El-Kebir (1578) eine demütigende Niederlage zu, die deren Raubzüge an der marokkanischen Küste praktisch beendete. Zahlreiche portugiesische und spanische Kleinkolonien an der marokkanischen Küste eroberten sie zurück, sowie drangen weit in die südliche Richtung nach Schwarzafrika vor. Ihr Imperium erstreckte sich zeitweise über Timbuktu, den westlichen Sudan bis in den Senegal hinein. Wie den marokkanischen Großdynastien zuvor wurde den Saaditen mit der Zeit ihre interne Uneinigkeit zum Verhängnis. Sie beförderte Sezessionismus und Kleinstaaterei im Innern und bildete die Grundlage für militärische Misserfolge nach außen, die zu empfindlichen Territorialverlußten führten. Aus einer Rivalität zwischen den regionalen Herrschern von Fes und Marrakesch folgte eine 50jährige Periode mit 66
von Sivers, Peter: Nordafrika in der Neuzeit, S. 508
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anarchischen Zuständen, die schließlich zum Ende des saaditischen Herrschergeschlechts führte. Die Saaditen wurden durch die aus dem Oasengebiet Tafilalet stammenden Alaouiten abgelöst. Diese, bis in die Gegenwart regierende Dynastie legitimiert sich ebenfalls mit einer unmittelbaren Abstammung vom Propheten und erhält dadurch neben der weltlichen Macht eine Autorität im geistlichen Bereich. Den Alaouiten gelang es, gestützt auf das islamische Zusammengehörigkeitsbewußtsein das politisch gespaltene Land wieder zu einigen. Diese interne Einigkeit stellte die Basis für erneute außenpolitische Erfolge dar. In ihrer Frühzeit, vor allem unter der Herrschaft von Moulay Ismail (1672-1727) erreichten sie, die europäischen Küstenstützpunkte Nordafrikas wieder zurückzuerobern. Zwar folgten mit Beginn des 19. Jahrhunderts wieder neue ausländische Invasionen, da neben der frühen Kolonialmacht Spanien Frankreich nun ebenfalls Interesse an marokkanischem Territorium zeigte. Eine vollständige Kolonialisierung scheiterte lange Zeit an der Rivalität der beiden europäischen Großmächte untereinander. Ihre religiöse Autorität als Scherifen ermöglichte den Alaouiten, die auf den Islam gestützte, kulturelle Weiterentwicklung des Landes voranzutreiben. Sie gründeten neue islamische Stiftungen und unterstützten die Finanzierung für den Ausbau bestehender religiöser Einrichtungen. Neben einer Reihe neu errichteter Moscheen ließen sie religiöse Schulen und Bibliotheken erbauen, da sie den Islam als „Aufforderung zur Bildung“ verstanden. Die von ihnen ins Leben gerufenen wie die besonders geförderten islamischen Stiftungen dienten neben dem Bildungswesen vor allem gemeinnützigen Zwecken von der Medizin und Armenfürsorge, über die Verbesserung der Wasserversorgung bis zur Instandhaltung und Erneuerung städtischer Bausubstanz. Zwar stellte der Islam bei den Alaouiten wie bei ihren Vorgängern ein Element zur legitimatorischen Begründung ihrer politischen Herrschaft dar, ihre bereits vorhandene scherifische Autorität verlangte keinen besonders herausgestellten religiösen Reformeifer. Kogelmann (1999) konstatiert aus ihrer prophetischen Abstammung verbunden mit ihrer Vertrautheit mit der in Marokko dominierenden malikitischen Rechtsschule, dass die Alaouiten im Gegensatz zu anderen Dynastien zur religiösen Verankerung ihrer Herrschaft keine eigenständige „alaouitisch-islamische“ Infrastruktur aufbauen mussten: Anders als zur Zeit der Meriniden, die sich die religiöse Komponente ihrer Herrschaftslegitimation erst mittels einer gezielten Verbreitung religiöser Gelehrsamkeit verschaffen mussten, waren die `Alawi-Herrscher kraft ihrer Abstammung vom Propheten und der festen Verankerung der malikitischen Rechtsschule in Marokko weit
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weniger gezwungen, durch den Aufbau einer im Dienste der herrschenden Dynastie stehenden religiösen Infrastruktur ihren Herrschaftsanspruch zu untermauern.67
Neben ihrer Förderung von islamischer Religion und Kultur betrieben die Alaouiten besonders in der Herrschaftszeit Moulay Muhammeds (1757-1792) eine Wirtschaftspolitik, die auf Außenhandel mit Europa sowie Zolleinnahmen abzielte. Mit der Stadt Mogador (Essaoira) gründete man ein bedeutendes Handelszentrum, welches Händler aus ganz Europa anzog. Verbunden damit war eine zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit vom Ausland, die das Begehren der Europäer bestärkte, politisch auf Marokko ebenfalls Einfluß auszuüben. Die alaouitischen Sultane, insbesondere Moulay Sliman (1794-1822), zwangen die Nomadenstämme zur Sesshaftigkeit, womit sie berberische Aufstände beförderten, die die Widerstandsfähigkeit Marokkos gegenüber den imperialen europäischen Mächten langfristig schwächten. Die fortbestehende Konkurrenz der Kolonialmächte untereinander, vor allem zwischen den romanischen Südeuropäern Frankreich und Spanien gegenüber England und Deutschland, ermöglichten dem marokkanischen Kernland, zwar noch bis ins Zwanzigste Jahrhundert hinein seine Unabhängigkeit zu bewahren. Die europäischen Erfolge bei der Eroberung der Küsten zeigten zunehmende Konzeptlosigkeit in der marokkanischen Außenpolitik. Seit der Ära Moulay Slimans begann Marokko aus Furcht vor weiterer Ausbreitung der politischen wie kulturellen Einflüsse des Auslands den von Moulay Muhammed initiierten Außenhandel zu unterbinden, eine Politik, die im gesamten 19. Jahrhundert fortgesetzt wurde. Man sorgte für eine wirtschaftliche Stagnation im Innern, da neue Innovationen das Land nicht mehr erreichten. Die fehlende Modernisierung in Wirtschaft, Politik und Verwaltung erleichterte den Europäern die ökonomische Beherrschung und bot die Voraussetzung, um das Land politisch unter ihre Kontrolle zu bekommen. Als besonders ungünstig erwies sich die Tatsache, dass Marokko unmittelbar vor den Toren Europas liegt, zumal die übrigen nordafrikanischen Länder zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits weitgehend unter Kolonialherrschaft standen. Je mehr sich die verschiedenen europäischen Mächte für das Sultanat zu interessieren begannen, wurde ihnen ihre Rivalität untereinander bewusst. Sollte Marokko nicht Auslöser für einen innereuropäischen Krieg werden, musste man es dem Hauptinteressenten überlassen. Nach der „Ersten großen Marokkokrise“ (1904/06) hatten die europäischen Nationen erkannt, daß keine von ihnen Nordafrika alleine zu beherrschen in der Lage war. Man strebte nach einer „einvernehmlichen Lösung“, basierend auf der Aufteilung der jeweiligen Interessensgebiete. Die Schilderung der Marokko-Krise durch Mayer (2002) lässt erkennen, dass der Staat Marokko politisch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits so unbedeutend geworden war, 67
Kogelmann, Franz: Islamische fromme Stiftungen und Staat, S. 95
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dass die europäischen Mächte dem Land nur insoweit Aufmerksamkeit widmeten, wie sie eine „Kolonie vor der eigenen Haustür“ erlangen konnten, ohne mit anderen europäischen Nationen in Konflikt zu geraten: Das größte unter den wenigen verbliebenen Ländern, die ihre Souveränität erhalten hatten und auf das die Europäer nun mangels Alternativen ein Auge zu werfen begannen, lag direkt vor ihrer eigenen Haustüre: Marokko. Das weitgehend unbekannte, von nomadisierenden Berberstämmen durchzogene Sultansreich am Fuße des Atlasgebirges rückte um 1900 in das Blickfeld der Großmächte und wurde schon wenige Jahre später von einer von ihnen aufgesogen. [...] Mit der ersten Marokko-Krise der Jahre 1904/06 [...] entspann sich ein kolonialer Konflikt zwischen Frankreich, England und Deutschland, in dessen Verlauf man das Ziel Marokko plötzlich ganz aus den Augen verlor, war es doch lediglich der Auslöser für einen innereuropäischen Konflikt, der das bündnispolitische „Konzert“ des Kontinents auf folgenreiche Art durcheinanderwirbelte.68
Da England mit Ägypten und Italien mit Libyen auf der Konferenz von Algericas (1906) bereits ein wesentlicher Teil Nordafrikas zugestanden worden war, konnten sich Frankreich und Spanien Marokko untereinander aufteilen. Lediglich Deutschland, dessen Unternehmensgruppe Mannesmann mit dem marokkanischen Sultan Abdel-Aziz (1894- 1908) besondere Verträge geschlossen hatte, die ihnen Schürfrechte in marokkanischen Bergwerken sicherten, besaß weiterhin ein Interesse an einem souveränen Marokko. Da man sich zu einer eigenen kolonialen Eroberung nicht in der Lage sah, wähnte man in einer politischen Eigenständigkeit des Landes die günstigste Voraussetzung, an die elementarsten marokkanischen Rohstoffe zu gelangen. Deutschland stellte sich in Algericas als „einzige Garantiemacht“ eines politisch souveränen Marokkos den Kolonialplänen der Franzosen noch entgegen. Paris musste sich ebenfalls als „Garantiemacht“ beim Sultan präsentieren, um sein tatsächliches Ziel, die Abtretung von marokkanischem Territorium erreichen zu können. Mittels inszenierter Berberaufstände in den Jahren 1907-1911 erreichte man die Legitimation für eine militärische Intervention, die ein intern gespaltenes Sultanat kaum zurückzuweisen in der Lage war. Zwar stellte sich Berlin ebenfalls als Unterstützer des marokkanischen Herrscherhauses in innenpolitischen Konflikten dar, verschärfte damit aber nur die Rivalität mit den Franzosen. Vor diesem Hintergrund konnte die Entsendung von deutschen Kriegsschiffen vor die Küste Agadirs (1911) lediglich zur Vertiefung der seiner Zeit nicht auf Marokko beschränkten Dualität zwischen Deutschland und Frankreich, nicht aber zur Aufrechterhaltung der Souveränität Marokkos beitragen. Oncken (1981) weist darauf hin, dass Frankreich die deut68
Mayer, Martin: Geheime Diplomatie und öffentliche Meinung, S. 10
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schen Unterstützungsversprechen für den Sultan von Anfang an als gegen sich gerichteten Plan eines europäischen Rivalen interpretiert hat: Deutsche Protektion für marokkanische Würdenträger, das konnte für Frankreich die zumindest theoretische Gefahr feindlicher Enklaven im Staate bergen. Mochte Deutschland auch erklären, sich politisch zu desinteressieren, - hinter der Gesandtschaftsprotektion wären die gleichen Versuche mittelbarer Einflussnahme zu argwöhnen gewesen wie hinter der Anstellung türkischer Instrukteure am scherifischen Hofe zwei Jahre vorher.69
Politisches Unvermögen, verbunden mit „militärischem Säbelrasseln“ des letzten deutschen Kaisers Wilhelms II. bei politischen Unterstützungsversuchen des marokkanischen Sultanats während der „Zweiten Marokko-Krise“, trugen in entscheidendem Maße zum endgültigen Verlust der marokkanischen Souveränität am 30. März 1912 bei. Nicht vernachlässigt werden darf die zunehmende Uneinigkeit der alaouitischen Herrscherfamilie, einhergehend mit jahrzehntelanger isolationistischer Außenpolitik, sowie einer repressiven Grundeinstellung gegenüber den Berbern. Franzosen wie Spanier verstanden es, die abnehmende Autorität der alaouitischen Sultane, die aus unübersehbarem politischen Fehlverhalten resultierte, für ihre kolonialen Absichten zu instrumentalisieren, sowie die eigene Herrschaft auf die Nordwestspitze Afrikas auszubreiten. Erklärte Frankreich das marokkanische Kernland zu seinem Protektorat, sicherte sich Spanien das Rifgebiet, Teile der südmarokkanischen Atlantikküste, sowie seit 1934 Ifni. Tanger wurde unter nominell fortbestehender Hoheit des Sultans internationalisiert. Mit dem Beginn der Protektoratsherrschaft war zugleich die Zeit der über Marokko herrschenden islamischen Dynastien de fakto vorerst beendet und konnte erst nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit fortgesetzt werden. Resümierend lässt sich feststellen, dass die marokkanische Geschichte eine Aufeinanderfolge verschiedener islamischer Dynastien darstellt. So divergent das Religionsverständnis dieser Herrschergeschlechter, wie ihre soziokulturelle Prägung sich im gesellschaftspolitischen Alltag herauskristallisierten, sie alle erkannten im Islam die legitimatorische Basis ihrer Herrschaft. In allen Dynastien bestand eine unmittelbare Verbindung zwischen der Religion und der gesellschaftlichen Ordnung. Von der Politik über die Kunst bis zum Außenhandel wurden alle Bereiche von der Religion dominiert, sowie nach islamischen Maßstäben konzipiert. Die Idee einer Separierung der Religion von der öffentlichen Sphäre, wie sie von neuzeitlichen Säkularisten propagiert wird, findet in der marokkanischen Historie kein Vorbild. Vielmehr steht das Selbstverständnis der marokkanischen Nation seit ihrem Bestehen unmittelbar mit dem Islam im Zu69
Oncken, Emily: Panthersprung nach Agadir, S. 251
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sammenhang. Ausgehend vom islamischen Gleichheitsgrundsatz konnten Berber wie Araber eine gemeinsame „marokkanische Identität“ entwickeln, die den verschiedensten Dynastien in den unterschiedlichsten Zeitepochen die Grundlage bot, das Land stabil zu halten. Die zivilisatorische Entwicklung verlief nicht in gradliniger Form. Es bestanden Perioden der Kreativität im geistigen und naturwissenschaftlichen Bereich neben Perioden der Stagnation. Wie eine Epoche im Nachhinein bewertet werden konnte, hing in hohem Maße vom Religionsverständnis der jeweils Herrschenden ab. Verbanden diese den Islam mit einer buchstabenorientierten Schrifttreue, resultierte daraus nicht nur religiöse Intoleranz, sondern ebenso eine Einschränkung der freien Entfaltung. Orientierte man sich an zeitgemäßer Schriftauslegung, ging damit eine bewusste Förderung kreativen Geistes einher.
3.1.2 Der Weg in die Unabhängigkeit Mit der französischen und spanischen Protektoratsherrschaft war es erstmals seit der Islamisierung einem Eroberer von außerhalb der arabisch-islamischen Zivilisation gelungen, Marokko vollständig unter seine politische wie militärische Kontrolle zu bringen. Eine kulturelle Dominanz des nordafrikanischen Landes war damit noch keineswegs hergestellt. Über die Jahrhunderte hinweg hatte der Islam ein Zusammengehörigkeitsbewusstsein entstehen lassen, das eine außerislamische Besatzungsmacht mit militärischer Gewalt kaum beseitigen konnte. Vielmehr bildete der Anspruch seitens der Protektoratsmächte, ihre Vorstellungen von Staat, Recht und Gesellschaft den Marokkanern aufzudrängen, den Ausgangspunkt für eine in allen Landesteilen aktive, islamisch legitimierte Befreiungsbewegung. Die Marokkaner wurden sich bewusst, dass die Imperialherrschaft nicht nur an marokkanischen Rohstoffen interessiert war, sondern darüber hinaus europäische zivilisatorische Normen südlich des Mittelmeers zu etablieren beabsichtigte. Dieses kulturelle Hegemoniestreben bildete die legitimatorische Basis für einen islamisch motivierten Widerstand, welcher den historischen Al-Jihad der marokkanischen Dynastien gegen die christlichen Konquistadoren zum Vorbild stilisierte. Das nominell noch vorhandene scherifische Herrschergeschlecht der Alaouiten erkannte die aus jener Assoziation erwachsene Verantwortung und erreichte, die aus Arabern wie Berbern bestehende Unabhängigkeitsbewegung unter ihrer Führung zu einen. Eine Akzeptanz bei der marokkanischen Bevölkerung als „legitime Autoritäten“ hatten die Kolonialherrscher eigentlich nie erreicht. Sie mussten ihr Herrschaftsgebiet immer wieder mit größtem militärischem Aufwand verteidigen. Sobald Leitfiguren herangereift waren, die politische wie spirituelle Führung im
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Unabhängigkeitskampf zu übernehmen, trafen sie auf massenweise freiwillige Unterstützung. Als bedeutender charismatischer Anführer des frühen Widerstandsgeistes ist der Berber Abd El-Karim Al-Khattabi zu erwähnen, dem es im spanisch besetzten Norden in den Jahren 1922 bis 1926 gelang, eine eigene „Rif-Republik“ zu gründen, die nur von beiden Protektoratsmächten gemeinsam unter Einsatz von deutschem Giftgas beendet werden konnte. Im Süden erwuchs Ahmed Al-Hiba zum Initiateur des Aufstandes der Sous-Berber heran. Er verwickelte die Franzosen in eine mehrere Jahre andauernde verlustreiche militärische Auseinandersetzung. Damit eine Souveränität des gesamten marokkanischen Territoriums erreicht werden konnte, bedurfte es einer Institution, die sich in der Lage zeigte, diese regionalen, nicht in unmittelbarer Beziehung zueinander stehenden Befreiungsbewegungen unter einem gemeinsamen Ideal zu einen. Es galt einen Bezug zur islamischen Geschichte Marokkos herzustellen, um das kollektive Identitätsbewusstsein wiederzuerwecken. Die alaouitische Herrscherfamilie, die trotz der Übergabe der nationalen Souveränität an die europäische Militärverwaltung ihren geistlichen Titel als Scherifen behalten hatte, eignete sich am besten, die Führungsrolle der landesweiten Befreiungsbewegung zu übernehmen. Der seit 1927 amtierende Sultan Mohammed Ben Jussuf avancierte zur Symbolfigur für ein ununterbrochenes Streben, den Besatzungszustand zu überwinden. In der nordmarokkanischen Hafenstadt Tanger, die keiner spezifischen Kolonialmacht zugefallen war, besaß der Sultan die Berechtigung, nominell zu herrschen. Frankreich erkannte durchaus die Gefahr, die sich dadurch längerfristig für seine Protektoratsherrschaft ergab. Man stellte den Sultan unter die Kontrolle der französischen Verwaltung und zielte darauf ab, nicht nur Tanger ebenfalls zum frankophonen Einflußgebiet zu zählen, sondern den Sultan für die französische Autorität über die marokkanische Bevölkerung zu instrumentalisieren. Von Grävenitz (1925) lässt erkennen, dass die Sultansherrschaft über Tanger seiner Zeit als Teil der französischen Protektoratsherrschaft angesehen wurde: Dieser Behördenapparat ist ein scherifischer. Er untersteht also der Gewalt des Sultans, von dem er seine Instruktionen empfängt. Da aber der Sultan unter der Aufsicht der französischen Protektoratsverwaltung steht, so ist der Machzen in Tanger ein Stück der französischen Protektoratsverwaltung in Marokko.70
Im Bewusstsein der arabischen Abstammung des Sultans beabsichtigte Frankreich mit seiner Unterstützung zwischen Arabern und Berbern einen Interessensgegensatz herzustellen. Sie sollten nach dem Dahir-Berber (Berber-Dekret) (1930) unterschiedliche Rechtsprechung erhalten. Während die Berber sich nach dem Urf (Gewohnheitsrecht) orientieren konnten, sollten die Araber die islami70
von Grävenitz, Kurt-Fritz: Die Tanger-Frage, S. 54
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schen Gesetze der Vorkolonialzeit weiterhin einhalten. Im Bewusstsein, dass die Bevölkerung mehrheitlich berberischer Abstammung war, die Herrschaftselite aber weitgehend arabischer Herkunft, strebte man über eine rechtliche Privilegierung der Berber deren Akzeptanz des status quo an. Das islamische Zusammengehörigkeitsbewusstsein war so tief in der marokkanischen Bevölkerung verwurzelt, dass der dahinter stehende französische Plan zum Scheitern verurteilt war. Das öffentliche Infragestellen der Einheit der marokkanischen Nation, erreichte das Gegenteil, nämlich den Zusammenschluß der heterogenen Bevölkerung im gemeinsamen Widerstand gegen die französische Besatzung. Sowohl das DahirBerber als auch die Einbindungsversuche des Sultans wie traditioneller Autoritäten in die französische Protektoratsherrschaft entstammten der Philosophie des französischen Marschalls Louis Hubert Lyautey. Er zielte nicht darauf ab, den Völkern unter Kolonialherrschaft unmittelbar die französischen Ordnungsstrukturen aufzuoktroyieren, sondern beabsichtigte, die einheimischen Eliten zum Nutznießer der französischen Herrschaft heranzuziehen. Man strebte deren Bereitschaft an, das Land nach französischen Maßstäben zu modernisieren, sowie historisch gewachsene Strukturen durch frankophone zu ersetzen. In der marokkanischen Bevölkerung stieß dieser Plan keineswegs auf Akzeptanz und wurde als kulturelle Okkupation erlebt. Die kollektive Zurückweisung jener Form von Fremdbeherrschung veranlaßte die marokkanischen Eliten vielmehr, eine Distanz zur Protektoratsverwaltung zu wahren, um nicht als Kollaborateure zu erscheinen. Der islamisch motivierte Widerstandsgeist erwies sich als entscheidend, dass Lyauteys Strategie ihr Ziel verfehlte. Hoisington (1984) zufolge hatte sich Lyautey von der irrigen Auffassung leiten lassen, daß französische Ordnungsstrukturen, von einheimischen Eliten vermittelt, in der Bevölkerung eher Aufnahmebereitschaft finden würden: For Lyautey the protectorate was the political manifestation of „associationism“, which held that the empire should link divers peoples with France, preserving as much as possible their cultural forms and structure of government while providing the benefits of Western civilization and French governance. […] with a protectorate it [expansion of French influence] could be achieved by working with, not against, the “former ruling groups” who would help to pacify the country “at less expense and with greater success than with all our military columns”.71
Hervorgegangen ist der Widerstand aus der Civil Society, bei den Eliten hatte er ebenfalls Unterstützung gefunden. Man interpretierte die französische Politik als Zeichen fehlender Autorität und fühlte sich zum Engagement für die Wiederherstellung der Souveränität Marokkos geradezu herausgefordert. Die westliche 71
Hoisington, William A.: The Casablanca Connection, p. 5
3.1 Überblick über die Geschichte Marokkos seit seiner Arabisierung
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Ausbildung, verbunden mit der Aufnahme der Freiheitsideale der französischen Revolution, erwies sich als Inspiration für die moderne Organisation der marokkanischen Befreiungsbewegung. Den bislang ausschließlich religiös intendierten Widerstand galt es mit säkularen Leitbegriffen eine zweite Legitimationsstütze zu geben. Um sich der fortgesetzten Unterstützung der konservativen Bevölkerungsschichten zu vergewissern, hielt man an der Beschwörung des Islam als „Keimzelle des Widerstands“ fest. Im Jahre 1934 hatte sich auf dieser Basis eine modern organisierte landesweite Opposition gegen die französische Protektoratsmacht herausgebildet. Sie nannte sich „Comité d`Action Marocaine“. Ihr schlossen sich 1936 die „Mouvement Populaire“ (Volksbewegung), sowie die Nationalpartei an. Enge Verbindung hielt man zu der Nationalen Reformpartei, die in der spanischen Besatzungszone aktiv war. Im Jahre 1944 vereinigten sich Comité d`Action Marocaine und Mouvement Populaire zur Istiqlal (Marokkanischen Unabhängigkeitspartei) unter Führung von Allal Al-Fassi. Entscheidend für ihren politischen Erfolg angesichts anhaltender französischer Repression erwies sich der ununterbrochene Kontakt zum Sultan. In einer Rede in Tanger (1947) bekannte sich Ben Jussuf offiziell zum gemeinsamen Ziel mit der Istiqlal eines Marokkos als „islamischer Monarchie“. Der Sultan bemühte sich um Verbündete im Ausland. Er setzte auf die USA, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Dominanz der europäischen Mächte weitgehend verdrängt hatte. Seine politische Neutralität im Krieg, einhergehend mit einer nur begrenzten Loyalität gegenüber dem von Deutschland eingesetzten Vichy-Regime, sicherte dem Sultan die amerikanische Unterstützung. Die Verhinderung der Deportation der 200.000 marokkanischen Juden nach Deutschland erleichterte die am 22. Januar 1943 erfolgte Zustimmung des amerikanischen Präsidenten Roosevelt für seine Unabhängigkeitspläne. Bei einem Teil der marokkanischen Elite hatte die Protegierung durch die französische Protektoratsmacht ihre Wirkung nicht verfehlt. Der befürchtete Verlust ihrer Sonderstellung bei der Wiedererrichtung des Sultanats verleitete sie zu Sabotageaktionen gegen die gemeinsamen Pläne Ben Jussufs und der Istiqlal. Zum Hauptgegner des Sultans entwickelte sich der Pascha von Marrakesch, Thami El-Glaoui. Seine Rivalität gegenüber Ben Jussuf resultierte in einer von Frankreich garantierten politökonomischen Sonderstellung. Er besaß die Befugnis, die mit Verwaltungsaufgaben betrauten Kaids (Führer), die regionalen Berberfürsten, zu ernennen, sowie das Recht, von den Berbern Steuern einzunehmen. Als Großgrundbesitzer war er Gebieter über zahlreiche Kleinpächter, verfügte über Monopole im Agrarhandel und besaß wichtige Positionen in der Industrie. Die Verbindung des scherifischen Sultans zu der säkular orientierten Unabhängigkeitspartei Istiqlal brachte El-Glaoui endgültig in Opposition zur Unabhängigkeitsbewegung. Am 23. Dezember 1950 stellte er die politische wie
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geistliche Autorität des Sultans öffentlich in Frage. Mit dem Aufhetzen der Berber (dem sogenannten Berberritt vom Januar 1951) gelang es El-Glaoui, Frankreich in feindliche Einstellung zu Ben Jussuf zu treiben. Gemeinsam mit der Protektoratsverwaltung zielte der Pascha darauf ab, den Sultan zum Verlassen des Landes zu bewegen. Die Integrität, das Charisma, sowie die Hochachtung des Alaouitenherrschers in der Bevölkerung ließen El-Gaouis Plan scheitern. Im souveränen Marokko war für den Pascha keine bedeutende Rolle vorgesehen. Kaster (1963) weist darauf hin, dass der Einfluß der gesamten Familie El-Glaoui mit der marokkanischen Unabhängigkeit Geschichte geworden war: Die Unabhängigkeit machte Glauis Rolle und seinen Träumen, durch einen seiner zahlreichen Söhne eine Glaui-Dynastie im Süden aufzurichten, ein schnelles und unrühmliches Ende. Sein Name war zu einem der verhasstesten in Marokko geworden, und die meisten seiner Söhne verließen Hals über Kopf das Land.72
Die überparteiliche Assoziation der Unabhängigkeitsbewegung mit Ben Jussuf fand ihren Höhepunkt in der Ausweisung des Sultans aus Marokko durch die Besatzungsmacht am 20. August 1953 (anfangs nach Madagaskar, später Korsika). Sein Onkel Ben Arafa ließ man als Nachfolger einsetzen. Die marokkanische Bevölkerung boykottierte den aufgezwungen Monarchen und fühlte sich erst Recht zum Widerstand gegen die Protektoratsherrschaft herausgefordert. Der organisierte Befreiungskampf begann mit Großdemonstrationen im Spätsommer 1953 und setzte sich 1955 mit der Ablehnung französischer Waren einhergehend mit der Verweigerung von Steuerzahlungen fort. Es bildeten sich Partisanengruppen, die sich 1955 zu einer Nationale Befreiungsarmee vereinigten. Für die Unabhängigkeitsbewegung erwies sich die Einstellung Spaniens als günstig, mit dem der rechtmäßige Sultan 1926 einen separaten Frieden geschlossen hatte, weshalb Madrid den „neuen Sultan“ nicht anerkannte. Noch entscheidender stellte sich der gleichzeitig ausgebrochene algerische Unabhängigkeitskampf heraus, der Frankreichs Autorität weiter untergrub, so daß man sich gezwungen sah, Ende 1955 den Sultan aus seinem Exil zurückzuberufen. Nachdem Rücktritt Ben Arafas und der gleichzeitigen Wiederkehr Ben Jussufs war der Erfolg der Unabhängigkeitsbewegung nicht mehr aufzuhalten. Am 16. November 1955 zog Ben Jussuf in den Palast von Rabat ein und verkündete am 2. März 1956 die Unabhängigkeit Marokkos von der französischen Protektoratsherrschaft. Einen Monat später schloss sich die spanisch besetzte Zone, sowie am 29. Oktober Tanger an, das noch bis 1960 ein internationaler Freihafen blieb. Die Westsahara und einige Enklaven an der Küste blieben als spanische Kolonien bestehen. Ihre
72
Kaster, Heinrich L.: Islam ohne Schleier, S. 324
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Eingliederung wurde in späteren Jahren vollzogen. Lediglich Ceuta und Melilla sind bis in die Gegenwart unter spanischer Besatzung geblieben. Ben Jussuf ließ sich im August 1957 zum König Mohammed V. krönen, womit Marokko als „islamische Monarchie“ in die postkoloniale Phase eintrat. Bereits zuvor am 12. November 1956 war die Aufnahme in die UNO erfolgt, sowie in einem Vertrag zwischen dem damaligen französischen Außenminister Pineau und dem Sultan die Anerkennung durch die bisherige Protektoratsmacht. Der Monarch hatte sich die offizielle gesetzgeberische Gewalt übertragen lassen. Er beschränkte sich nicht auf den weltlichen Herrschertitel, sondern hielt an seinem aus präkolonialer Zeit stammenden religiösen Anspruch als Emir ElMumin (Führer aller Gäubigen) fest. Indem er 1960 den Posten des Regierungschefs übernahm und seinem Sohn Hassan das Amt des Vizeministerpräsidenten übertrug, sorgte er dafür, daß seine Palastinteressen in der Landespolitik zu Geltung kamen. Mohammed V. hatte das Charisma besessen, die marokkanische Civil Society auf das gemeinsame Ziel der staatlichen Souveränität hinter sich zu einen und verband nun die dadurch gewonnene politische Autorität mit seinem islamisch geprägten Führungsanspruch. Seine anfängliche aufgezwungene Zusammenarbeit mit der französischen Protektoratsherrschaft hatte ihm Zugang zu modernen westlichen Strukturen eröffnet. Über die Instrumentalisierung seines ererbten religiösen Titels stellte er die emotionale Verbindung zur traditionsverhafteten marokkanischen Bevölkerung her, auf die er sich zur Wiedererrichtung der islamisch begründeten Monarchie stützen konnte. Aufgrund der besonderen Identifizierung der Unabhängigkeitsbewegung mit einem Monarchen erfährt Marokko in der Region eine Sonderstellung. Sie ist nur mit einer ununterbrochenen dynastischen Geschichte zu erklären, in der die Einheit von Politik und Religion den Maßstab darstellte. Voll (1997) erkennt im besonderen Charisma Mohammeds V., bestärkt durch seine islamisch begründete Führungsrolle während der Erlangung der Souveränität, die entscheidende Voraussetzung, daß sich im souveränen Marokko sowohl traditionelle als auch moderne Eliten mit einem Monarchen als höchster politischer Autorität identifizieren: Because of his traditional charisma as sultan and his special role as a catalyst and focus for nationalist mobilization in the 1950s, Muhammad V was the ”one leader whose title to rule rested on sufficiently diverse modern and traditional groups to satisfy all sectors of the hetrogenous elite. ... Morocco is unique in the Middle East and North Africa in that the struggle for independence centered around the capture, revival, and renovation of a traditional institution, the monarchy”. This renovation involved the combination of the concepts of “king” and “sultan” as the identification of the head of the Moroccan polity.73 73
Voll, John O.: Sultans, Saints and Presidents, p. 11
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3 Entwicklung des Staates Marokko
Die koloniale Phase Marokkos hat ausgehend von einem ununterbrochenen Widerstandsgeist insgesamt nur eine relativ kurze Periode angedauert. Das islamische Zusammengehörigkeitsbewusstsein erwies sich als unüberwindliches Hindernis für die europäischen Mächte, ihren Vorstellungen von Staat, Politik und Recht bei den Marokkanern Akzeptanz zu verleihen. Die Heranziehung marokkanischer Autoritäten für die Übernahme von staatlichen Verwaltungsfunktionen wirkte dem Streben nach politischer Eigenständigkeit ebenso wenig entgegen wie die Heraufbeschwörung einer Rivalität zwischen Arabern und Berbern. Die Beibehaltung des Sultanats stellte die entscheidende Voraussetzung, die Befreiungsbewegung zum Ziel zu führen. Gestützt auf seine scherifische Autorität gelang es Sultan Ben Jussuf, dem späteren König Mohammed V., sich die Führungsrolle im Unabhängigkeitskampf übertragen zu lassen, sowie nachfolgend für die Wiedererlangung der politischen Herrschaft seiner Dynastie einzusetzen. Indem er den Widerstand gegen die Besatzung als „Heiligen Kampf“ heraufstilisierte, legte er den Marokkanern die islamische Verpflichtung zum Al-Jihad nahe. Er wähnte sich in der Tradition der verschiedenen marokkanischen Dynastien, die ihre Legitimation wie ihren späteren Ruhm aus dem Al-Jihad gegen die christlichen Invasionen aus Portugal und Spanien herauszogen. Obwohl die neuzeitlichen Okkupatoren ihre Fremdherrschaft säkular und nicht unmittelbar gegen den Islam gerichtet rechtfertigen, bedurfte es einer religiösen Grundlage für den oppositionellen Widerstand. In der Rede Mohammeds V. (1956) zum einjährigen Jubiläum seiner Rückkehr aus dem Exil, weist der Monarch neben seiner eigenen Führung der aus dem Islam erwachsenen Standhaftigkeit der Marokkaner, sowie letztlich Gott die Verantwortung für den Erfolg der Befreiungsbewegung zu: God would not have allowed Us to enjoy these benefits if there had not been a perfect understandig between the Sovereign and His people, creating this communion of feeling and ideas and unifying us in sacrifice and in the sacred struggle for Our ideals. The Sovereign who today is addressing you, proud to have accomplished His duty toward the nation, notes with pleasure the heroic behavior of His people, who were able to sustain constant efforts, lead a continuing fight, and accept sacrifices for the sacred cause of the Fatherland, that is, of Our liberty, Our independence, and our unity. Let us give thanks to God who has watched over us and prevented disaster from falling on Our path.74
74
Mohammed V.: The First Anniversary of the King ´s Return to Morocco, p. 113
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3.1.3 Ära Hassan II. Mit der Ernennung seines Sohnes zum Ministerpräsidenten durch König Mohammed V., wurde das Land auf Hassans späteren Herrschaftsantritt vorbereitet, welcher mit der Inthronisation Hassans II. am 3. März 1961 begann. Indem der neue König als erstes die Moschee aufsuchte, demonstrierte er, daß er sich wie seine alaouitischen Vorgänger nicht nur der historischen Tradition des Landes verpflichtet fühlte, sondern weiterhin als gleichermaßen weltliches wie geistliches Oberhaupt, Emir El- Muminin, verstand. Dieses Ritual stellte den Garanten für die Akzeptanz in der islamisch geprägten Bevölkerung als legitimer Malik (König). Zugleich zeigte Hassan II. damit an, dass für ihn religiöser Führungsanspruch mehr bedeutete, als die Beibehaltung eines dynastisch geerbten religiösen Titels. Er war sich der islamischen Werteverbundenheit der marokkanischen Gesellschaft bewusst, die eine besondere Verantwortung an die politische Führung stellte, in religiöser Hinsicht ebenso eine Vorbildfunktion einzunehmen. Die Rückbesinnung auf uralte islamische Rituale hinderte Hassan II. nicht, seinen Herrschaftsanspruch mit modernen westlichen Idealen zu verbinden. Hierfür erwiesen sich seine Kenntnisse der französischen Denkweise als Voraussetzung. Er fasste seine Rolle als Kombinierer von islamischer Tradition mit westlicher Modernität auf. Als Muslim fühlte er sich den anderen Buchreligionen als Geistesverwandter. Obwohl er davon überzeugt war, dass der Islam den direktesten Weg zur Gotteserkenntnis aufgezeigt habe, die mit der Religion verbundenen geistigen Werte erkannte er als gleichrangig. Geistige Errungenschaften, ausgehend von Westlern, fasste er gleichermaßen an die Muslime gerichtet auf. Wenn Hassan II. (1993) sich über die christliche Spiritualität geäußert hat, ließ er seinen außerordentlichen Respekt basierend auf Wesensverwandtschaft gegenüber dem Islam herausstellen: L´espirit de spiritualité est le même. Je pense simplement qu`on encombre les esprits des enfants chrétiens de beaucoup trop de mystères. Car, en définitive, selon moi, il n´y a pas de mystères dans la religion chrétienne, il existe seulement des symboles métaphysiques. Dans le Coran on trouve aussi le Saint-Esprit qui est l´intermédiaire entre Dieu et sa créature sur terre, et c´est lui qui a porté l´annonce à Marie, la seule femme nommée dans le Coran.75
Ob der junge König seine Kenntnisse moderner westlicher Leitideale in seinem politischen Agieren für förderlich hielt, darf zu Recht bezweifelt werden. Vor der Öffentlichkeit präsentierte er das politische System seines Landes durchaus als konstitutionelle Monarchie, basierend auf der Grundlage geschriebener Verfas75
Hassan II.: La Mémoire d`un Roi, p. 237
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3 Entwicklung des Staates Marokko
sung, die Ämterfülle, die er sich zugestand, wie den Einfluß, den er seiner königlichen Autorität in den verschiedensten Staatsgewalten zuwies, deuten eher auf ein prämodernes Staatsverständnis hin. Er beschränkte sich nicht auf die Rolle als Staatsoberhaupt, sondern sicherte sich die Führung in fast allen staatlichen Organen vom Ministerpräsidentenamt bis zum Oberkommandierenden der Streitkräfte. Die herausragende Stellung, die der Monarch innerhalb der staatlichen Ordnung für sich beanspruchte, entstammte aus seinem Bewusstsein, mit einem besonderen Auftrag versehen zu sein. Er wähnte sich nicht ausschließlich als oberster Repräsentant des Landes, sondern weit mehr als Bewahrer des Zusammenhalts der Nation sowohl in territorialer als auch in religiöser Hinsicht. Erst über die königliche Autorität waren dieser Interpretation zufolge die unter seinem Vater erkämpfte, staatliche Souveränität, sowie die fortgesetzte Gültigkeit islamischer Werte in der marokkanischen Gesellschaft gesichert. In der Tat war Mohammed V. beim Erfolg der Unabhängigkeitsbewegung eine besondere Rolle zuerkannt worden. Die Berufung auf die prophetische Abstammung seitens der Alaouitenherrscher hatte bislang ebenfalls zur Vertiefung der islamischen Gemeinschaftsidentität der Marokkaner beigetragen. Hassans Folgerung, er als König sei der einzige Garant für nationale Einheit und müsse den islamischen Glauben seines Volkes bewahren, erscheint aus einer Selbstüberschätzung erwachsen zu sein. Vergleichbar absolutistischen Herrschern des 18. Jahrhunderts wies sich Hassan II. (1976), wie er betonte, eine einzigartige, von Gott übertragene Aufgabe zu, die neben der politischen die religiöse Führung beinhaltete, sowie nicht nur Einheit und Unabhängigkeit, sondern darüber hinaus die Beachtung der Staatsverfassung abzusichern verlange: Le souverain se trouve donc investi d´une triple mission, religieuse, nationale et politique. Il veille au respect de l`Islam ; il garantit l`indépendance de la nation ; enfin, il représente l`unité, la pérennité de l`Etat et veille au respect de la Constitution.76
Hassans II. Einstellung gegenüber westlicher Modernität erwies sich als selektiv. Zeigte er sich modernen ökonomischen und technischen Errungenschaften gegenüber aufgeschlossen und war an einer Integration seines Landes in die einstige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) interessiert, befand er die politischen Fortschrittmodelle des Westens basierend auf Demokratie und Menschrechten nicht als nachahmenswürdig und hielt an seinem prämodernen, islamisch gerechtfertigten Absolutheitsanspruch fest. In dieser Hinsicht unterschied sich sein Islamverständnis nicht von aktuellen Islamisten, die moderne, im Westen entwickelte Technik ebenfalls ohne Bedenken einzusetzen bereit sind, westliche Gesellschaftsideale als „gegen den Islam gerichtet“ zurückweisen. Mit westli76
Hassan II.: Le défi, p. 83
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chen Werten verbinden Hassan II. wie die Islamisten keinen gesellschaftlichen Fortschritt, sondern das Verlassen traditioneller Ordnungsstrukturen, die ihnen kollektiven politischen Einfluß sichern. Diese Autorität sieht man durch Pluralität einhergehend mit demokratischer Konkurrenz bedroht. Der Islam dient nicht wie vorgegeben in erster Linie gemeinschaftlicher Wertegebundenheit, sondern als Mittel, ein Kollektiv geistig zu beherrschen. Der beklagte zivilisatorische Rückstand gegenüber dem Westen lässt sich mit diesem Islamverständnis nicht verringern, da zeitgemäße Denkstrukturen nicht aufgenommen und weitervermittelt werden. Indem die angestrebten materiellen Fortschrittsresultate immer wieder aus der westlichen Zivilisation nachvollzogen werden müssen, bleibt das Bewusstsein, vom Westen dominiert zu werden, bestehen. Abu Zaid (1994) attestiert dem bestehenden religiösen Diskurs bezüglich der ethischen Legitimität westlicher Modernität eine Unvollständigkeit, da er materielle und geistige Progressivität voneinander trennt: Der religiöse Diskurs trennt – um die Wahrheit zu sagen – zwischen der materiellen und der ideellen Fortschrittlichkeit der europäischen Zivilisation. Er zeigt sich aufgeschlossen, für die Übernahme der ersteren, er fördert sie sogar und animiert dazu. Die Übernahme der letzteren verbietet er und denunziert sie als Unwissenheit und Unglaube.77
Bereits in der Anfangszeit rief das absolutistische Staatsverständnis Hassans II., verbunden mit der Hinauszögerung als notwendig erkannter Reformen, bei der linksgerichteten nationalistischen Elite oppositionelle Einstellung hervor. Die aus der Civil Society entstandenen politischen Parteien, Istiqlal und UNFP (Union Nationale des Forces Populaires), forderten mehr Rechte für die konstitutionellen Organe ein. Hassan II. zeigte sich in keiner Weise bereit, den Ansprüchen der Opposition entgegenzukommen. Sein aus der Religion abgeleitetes Autoritätsbewusstsein duldete keine entgegenstehenden politischen Ansichten und zielte darauf ab, kritische Opposition auszuschalten, sowie politische Dissidenten von öffentlichen Ämtern fern zu halten. Neben der Inkriminierung als „illoyal“ verdächtigter Volksparteien galt es, das Entstehen politischer Autoritäten mit Führungsqualitäten zu verhindern. Regelmäßige, durch Parlamentsauflösung herbeigeführte Regierungswechsel, sowie die „unmittelbare Regierung“ über Hassans Stellvertreter ließen keine souverän agierende politische Staatsgewalt entstehen. Die vorhandene charismatische Elite wurde vom König ins Exil getrieben oder mußte wie im Falle des linksgerichteten Politikers Ben Barka mit ihrer vom Palast initiierten Ermordung rechnen. Hassan II. stellte die demokratische Regierungsform basierend auf allgemeinen Wahlen in einem Mehrparteien77
Abu Zaid, Nasr Hamid: Naqd Al-Chitab Addini, S. 92
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system als ungeeignet dar, die staatlichen Anforderungen Marokkos zu bewältigen. Auf zweifelhafte Weise ließ er sich diese Ansicht bestätigen. Ben Barka (1969) konstatiert, dass der König mit allen ihm zu Verfügung stehenden Mitteln die Etablierung eines demokratischen Parteiensystem zu verhindern suchte, dem er unterstellte, zur Modernisierung der marokkanischen Gesellschaft keinen konstruktiven Beitrag leisten zu können: Eine geschickt geführte Propagandakampagne sollte die Beschlagnahme der Machtbefugnisse durch den Hof rechtfertigen. Es wurde behauptet, das Parteiensystem hätte als Mittel zur politischen Organisation und zum wirtschaftlichen Wiederaufbau seine Unfähigkeit erwiesen, nachdem ihm alle Chancen gegeben worden waren. In Wirklichkeit aber hatte dieses System niemals die Möglichkeit, unter normalen Bedingungen zu funktionieren. Presse und Rundfunk verbreiteten täglich Ideen von politischen Pseudowissenschaftlern. Falsch verstanden und ihrem reellen Sinn entfremdet sollten diese Ideen die Notwendigkeit eines autoritären Regimes, um
das Stadium der Unterentwicklung zu überwinden, beweisen.78 Hassan II. hielt ein Jahrzehnt nach Wiedererlangung der staatlichen Souveränität noch immer nicht die Voraussetzungen für erreicht, demokratische Reformen zu einzuleiten. Von seiner eigenen Kompetenz in jeglichen gesellschaftlichen Angelegenheiten überzeugt, befand er staatliche Aufgabenteilung nicht als notwendig. Die Ansprüche der Bevölkerung zur Partizipation an staatlicher Verantwortung blieben bestehen und ihre Verweigerung verstärkte eine oppositionelle Tendenz gegenüber dem absolutistischen Monarchen. Die zunehmende Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf außenpolitische Krisen in den 60er Jahren, hervorgerufen durch einen eskalierenden Grenzkonflikt mit Algerien, wirkte der oppositionellen Grundstimmung im Innern in keiner Weise entgegen. Die Kritiker des Monarchen trafen weiterhin für ihr Anliegen einer demokratischen Erneuerung des Landes auf Resonanz in der Bevölkerung. Vielmehr verstärkte die fortgesetzte Vernachlässigung der innenpolitischen Gemeinschaftsaufgaben seitens des Königs die kollektive Unzufriedenheit und erwies sich als Stimulans einer von den verschiedensten Gesellschaftsschichten ausgehenden Protestbewegung. Der Widerstand gegen das als ungerecht erfahrene Herrschaftssystem Hassans II. organisierte sich seit 1965 in Studentenunruhen und setzte sich in Wahlboykotten oppositioneller Parteien fort. Über ihre Verbindung nach Frankreich war die Opposition in der Lage, den König unter Druck zu setzen und ließ ihn Handlungsbedarf erkennen. Mittels einer zweiten Verfassung im Jahre 1970 zielte er auf eine Besänftigung seiner innenpolitischen Kritiker ab. Die Opposition realisierte allerdings, dass die autoritären Grundstrukturen mit dieser Verfassung 78
Ben Barka, Mehdi: Revolutionäre Alternative, S. 30
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nicht beseitigt würden. Man boykottierte das vom König angesetzte Referendum und setzte den Widerstand fort. Die oppositionelle Grundstimmung gegenüber Hassan II. begünstigte antimonarchistische Einstellungen. Sein absolutistisches Staatsverständnis stellte die legitimatorische Grundlage für zwei Putschversuche. Der erste entstammte aufständischen Offizieren unter der Leitung von General Medbouh. Am 10. Juli 1971 versuchten sie den König in seiner Residenz in Skhirat festzunehmen und abzusetzen. Aufgrund mangelhafter Vorbereitung, sowie nach wie vor bestehender Loyalität der Armee zum Monarchen, gelang es, dieses Komplott niederzuschlagen. Dennoch hatte man erkannt, dass auf gewalttätige Weise die Möglichkeit bestünde, politische Systemveränderungen durchzusetzen. Die Bereitschaft zu einem erneuten Umsturzversuch war vorhanden und sollte nicht lange auf sich warten lassen. Als Hassan II. am 17. August 1972 aus Frankreich zurückkam, wurde die im Flug befindliche Boeing-Maschine plötzlich von vier Kampfflugzeugen angegriffen. Der König, der die Lage korrekt einschätzte, traf unversehrt auf dem Rabater Flughafen ein. Mit der Nachricht vom „Selbstmord des Verteidigungsministers Oufkir“ war die Verwicklung eines bislang treusten Verbündeten des Monarchen in den Aufstand offenbar geworden. Hassan II. wähnte im wiederholten Scheitern eines gegen ihn gerichteten Umsturzversuches die Rechtmäßigkeit seiner religiös legitimierten Herrschaft bestätigt. Einen Anlaß zur Reflexion seiner Politik nahm er nicht wahr, sondern wies sich mit der Auflösung des Verteidigungsministeriums einen weiteren staatlichen Aufgabenbereich zu. Er war so sehr von seiner „göttlich inspirierten Führungsrolle“ überzeugt, dass er den Zusammenhang zwischen der zunehmenden „Illoyalität“ und seinem diktatorischen Herrschaftsstil nicht erkannte. Wenn Hassan II. (1993) sich Jahre später zu den beiden Putschversuchen äußerte, offenbarte er, dass er bis zuletzt an diesen „göttlichen Auftrag“ glaubte, sowie das Scheitern beider Komplotts seiner ihm von Gott übertragenen Position zuwies: J´ai tiré de ces événements la sensation que Dieu a envers moi une certaine affection, et je vous assure que dans le métier que je fais, c´est extrêmement important de vivre constamment avec cette impression.79
Die Umsturzversuche führten bei Hassan II. in keiner Weise zu einer Änderung seines Herrschaftsverständnisses. In einer Gewaltenteilung wähnte er die Grundlage für den Einflussgewinn „systemfeindlicher Elemente“. Man beließ es bei symbolischen Verfassungsänderungen, um der demokratischen Opposition die Basis zu entziehen. Die innenpolitische Stimmungslage blieb in den Folgejahren angesichts ausbleibender gesellschaftlicher Reformen angespannt. Initiativen, die 79
Hassan II.: La Mémoire d´un Roi, p. 158
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Opposition in Regierungsverantwortung einzubinden, fanden keine Resonanz, da Hassans Zugeständnisse für nicht ausreichend gehalten wurden. Obwohl der König sich als Repräsentant der gesamten marokkanischen Gesellschaft darstellte, gelang es ihm nicht, die öffentliche Kritik an seinem autoritären Stil zum Schweigen zu bringen. Vielmehr hatten seine nicht eingelösten Reformankündigungen eine politische Wechselstimmung hervorgerufen. Der Monarch nahm das Zurückweisen seiner undemokratischen Staatsauffassung nicht wahr. Seine herausgehobene Stellung wähnte er in Einklang mit den Ansprüchen der Bevölkerung. Hassan II. (1993) gab sich der Illusion hin, seine Staatsverfassungen spiegelten Willen der Nation wieder, und attestierte sich, kollektive Änderungsbegehren rechtzeitig aufzunehmen: La seule chose qui compte, c`est la volonté populaire et l`ampleur avec laquelle elle s`exprime. Si un jour la population me dit que la Constitution actuelle ne lui plaît plus, je la referai. Mon Père m´a appris à ne jamais laisser les événements imposer leur cours mais à tenter de devancer les désirs des gens.80
Angesichts des anhaltenden Widerstandes gelang es Hassan II. nur mit Repression, sein autoritäres Regime aufrechtzuerhalten. Öffentliche Kritik an den bestehenden Verhältnissen war er bestrebt, mit allen Mitteln zu unterbinden. Politische Gegner hatten ihre Denunziation und Liquidierung zu befürchten. Ihnen blieb nur die Wahl zwischen der Flucht ins Ausland oder einer dauerhaften Ungewissheit vor politischer Verfolgung im Inland. Die Zivilgesellschaft ließ sich für Hassans II. internationalen Menschenrechtskonventionen entgegenstehendes Regime nicht vereinnahmen, sondern fasste die Einschüchterungsversuche als Aufforderung zur eigenständigen Gründung von Menschenrechtsorganisationen auf. Hierzu zählte die aus Istiqlal- Mitgliedern bestehende LMDDH (Ligue Marocaine pour la Défense des Droits de l`Homme), die studentische CLCRM (Comité de Lutte Contre la Répression au Maroc), aber ebenso die aus Mitgliedern der linksoppositionellen USFP (Union Socialiste Forces Populaires) bestehende AMDH (Association Marocaine des Droits de l`Homme). Diese Organisationen lenkten die Aufmerksamkeit der internationalen Weltöffentlichkeit auf die unbefriedigende Menschenrechtslage Marokkos. Über die französische Exilopposition stellten sie Kontakte zu ausländischen Regierungen wie internationalen Menschenrechtsorganisationen her. Es entstand ein permanenter Druck auf die marokkanischen Behörden. Der Monarch sah sich zu Konzessionen gezwungen. Seit den 80er Jahren erreichte man mit der Freilassung politischer Häftlinge, in der Aussetzung der Todesstrafe, sowie in rechtsstaatlichen Reformen international beachtenswerte humanitäre Fortschritte. Die repressive Grundstruktur des 80
ebd.: p. 75
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Regimes blieb allerdings erhalten. Im Bewusstsein, dass die Hinrichtung politischer Gegner zu Isolation des Staates auf internationaler Ebene geführt hätte, zog man die geheimdienstliche Variante vor. Risse et al. (2002) beschreiben die geheimen Verhörmethoden und lässt erkennen, wie weit das Marokko der Ära Hassan II. sich von rechtsstaatlichen Grundsätzen entfernt hatte: Die meisten Menschenrechtsverletzungen in Marokko und der Westsahara bezogen sich auf das „Verschwindenlassen“ von politischen Gegnern. Berichte über die Menschenrechtslage in Marokko stellten fest, dass Oppositionelle seit den siebziger Jahren systematisch „verschwanden“,[...]. „Verschwundene“ wurden selten getötet, aber gefoltert und über Jahrzehnte in geheimen marokkanischen Gefängnissen festgehalten. Die Bedingungen während der Langzeithaft der „Verschwundenen“ führten oft zum Tod.81
Territorialpolitisch erwies sich Hassan II. als erfolgreicher Stratege. War das Ende des französischen Protektorats bereits vor seiner Inthronisierung durchgesetzt worden, Teile der spanischen Protektoratsherrschaft bestanden fort. Hassan II. erreichte die fast vollständige Eingliederung dieser Gebiete. Der Befreiungsprozeß vollzog sich in mehreren Schritten, beginnend mit Tarfaya (1958) und Ifni (1969), dem 1975 die Westsahara folgen sollte. Ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, welches die historische Verbindung der Westsahara mit Marokko bestätigte, erwies sich als Legitimationsstütze für eine groß angelegte Operation zur Befreiung. Im sogenannten „Grünen Marsch“ von 1975 ließ Hassan II. 350.000 Freiwillige aus allen Provinzen Marokkos in einem „Pilgerzug“ in die Westsahara einmarschieren. Militärische Auseinandersetzungen sollten umgangen, sowie ausschließlich im Falle eines gegnerischen Angriffs eine Verteidigung erfolgen. Im Madrider Abkommen (14.11.1975) hatte der König im Einvernehmen mit Mauretanien und Spanien den endgültigen spanischen Truppenabzug bis zum 28.2.1976 durchgesetzt. Hassan II. ist mit seinem „Grünen Marsch“ ein extrem hohes Risiko eingegangen. Die Bereitschaft, 350.000 Frauen wie Männer der Lebensgefahr auszusetzen, zeugte von unvergleichlichem patriotischem Verantwortungsbewusstsein. Ohne die freiwillige Unterstützung aus allen Bevölkerungsschichten hätte Hassan II. wohl kaum diese Resonanz in der Öffentlichkeit gefunden. Die Tatsache, dass alle Teilnehmer dieses „Friedensmarsches“ unbewaffnete Zivilisten waren, hätte im Konfliktfall den Spaniern die Rolle „des Spielverderbers“ zugewiesen. Wie Hassan II. (1993) im Nachhinein zugibt, hatte er darauf spekuliert, dass Spanien sich eine negatives Bild in der internationalen Öffentlichkeit nicht würde leisten können, und auf diese Weise erfolgreich unter Druck gesetzt: 81
Risse, Thomas et al.: Die Macht der Menschenrechte, S. 143
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Il s´agissait d´un pari psychologique sur lequel tout reposait. Je savais que Franco et son entourage étaient des militaires. Mais s´ils se comportaient comme de vrais militaires, je ne les voyais pas tirer sur 350 000 civils désarmés. En revanche, s´il s´agissait de bouchers … C´était en réalité un affreux chantage, mais un chantage licite, qu´aucune loi ne réprimait.82
Hassan II. verband mit der Eingliederung der Westsahara nicht nur die fortgesetzte Befreiung marokkanischen Territoriums, sondern ebenso die Bestätigung der Rechtmäßigkeit seiner Politik insgesamt. Wie sein Vater die Legitimation für die Wiedererrichtung der Monarchie aus der Führungsrolle im Unabhängigkeitskampf zog, instrumentalisierte er seine außenpolitischen Erfolge zur Rechtfertigung seines absolutistischen Machtanspruchs. Die Tatsache, dass die schärfsten Kritiker Hassans II. ihm für die Wiedereingliederung der Westsahara öffentlichen Beifall bekundeten, verstärkte sein Bewusstsein, er allein besitze die Befähigung, das Land in eine der Gesellschaft dienliche Zukunft zu führen, wofür er sowohl von Gott als auch von der Bevölkerung das Mandat erhalten habe. Die Solidaritätsbekundungen aus den verschiedensten politischen Lagern erkannte der Monarch als Gelegenheit, die mit den Putschversuchen aufgekommenen Zweifel an seinem politischen Weitblick aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verdrängen. Ein Regent, dem es gelungen war, die Spanier zum Abzug aus einem so weiträumigen, rohstoffreichen Gebiet zu bewegen, so wurde suggeriert, sei in der Lage, andere Zukunftsprobleme ebenfalls in Angriff zu nehmen. Wie weit Hassan II. seinen außenpolitisch hinzugewonnenen Gestaltungsspielraum tatsächlich für innenpolitische Reformen eingesetzt hat, bleibt dem Interpreten überlassen. Eine zeitweilige Stabilisierung seiner monarchischen Autorität durch die Westsahara-Politik steht, worauf Jesser (1988) hinweißt, außer Diskussion: Da die Westsahara-Politik des Landes die persönliche Politik König Hassans ist, kommt der umfassende nationale Konsens zugleich dem Herrscher, seiner Dynastie, dem monarchischen System als solchem zugute: Er ist ein großer innenpolitischer Erfolg König Hassans nach den zwei für ihn höchst gefährlichen, freilich fehlgeschlagenen Attentaten von 1971 und 1972. So ist der Westsahara-Konflikt zu einem innenpolitischen Katalysator geworden, der für den König in hohem Maße machterhaltend wirkt.83
Die veränderte weltpolitische Lage Anfang der 90er Jahre mit der Demokratisierung Osteuropas und dem Wegfall des Ost-West-Gegensatzes wirkten sich begünstigend für einen Reformprozeß hin zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aus. Gleichzeitiger demokratischer Wandel in afrikanischen Staaten, 82 83
Hassan II.: La Mémoire d´un Roi, p. 193 Jesser, Walter: Der Westsahara-Konflikt, S. 108
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sowie die propagierte „neue Weltordnung“, motivierten die marokkanische Zivilgesellschaft, ihrer Forderung nach gesellschaftspolitischer Erneuerung Nachdruck zu verleihen. Internationale Netzwerke von NGO (Nichtregierungsorganisationen) wurden aufgebaut, über die man das Regime unter Druck setzte. Die trotz Repression niemals zum Stillstand gekommenen Proteste verstärkten sich wieder und verleiteten Hassan II., in seinem letzten Jahrzehnt zuvor verweigerte Reformen in Angriff zu nehmen. Der politische Modernisierungsprozeß verlief nicht geradlinig ab, war immer wieder von Rückschritten begleitet, konnte allerdings auf den verschiedensten Gebieten Erfolge vorweisen, mit denen Marokko zur Jahrtausendwende den Ansprüchen an ein modernes Staatswesen näher gekommen ist. Das erste bedeutende Signal von Hassans später Reformbereitschaft ging von der revidierten vierten Verfassung aus. Hierauf aufbauend folgte eine Parlamentsreform. Der Parlamentarismus wurde zu einem Zwei-KammernSystem umgeformt. Mit dem Zugeständnis, die erste Kammer unmittelbar vom Volk wählen zu lassen, erreichte der Monarch die Teilnahme der linksgerichteten Opposition an den daraufhin durchgeführten Wahlen. Da die Regierung weiterhin vom König ernannt wurde, bestand die Chance zu demonstrieren, dass er Ergebnisse freier Wahlen akzeptieren, die Exekutive dem Majoritätsvotum unterordnen, sowie der bisherigen Opposition politische Verantwortung zugestehen würde. Sein Entgegenkommen gegenüber langjährigen Opponenten reichte in der Tat so weit, dass der Sozialist Youssoufi nicht nur aus dem Exil zurückkehren konnte, sondern 1998, ein Jahr vor Hassans Tod, mit der Regierungsbildung beauftragt wurde. Den Menschenrechten erkannte Hassan II. in seinem letzten Jahrzent ihren öffentlichen Stellenwert zu. Der erste Schritt war der im April 1990 eingerichtete Menschenrechtskonsultativrat CCDH (Conseil Consultatif des Droits de l`Homme), dessen Unterausschüsse die Menschenrechtsverletzungen der vergangenen Jahre aufarbeiten sollten. Rekrutierten sich die Mitglieder dieses Rates vorwiegend aus Ministern oder königlichen Vertrauten, die Teilnahme an der Aufklärungsarbeit wurde den unabhängigen Menschenrechtsorganisationen zugestanden. In der revidierten Verfassung von 1996 fanden die Menschenrechte erstmals offiziell Erwähnung. Die Reformen im Bereich der Menschenrechte gipfelten in einem eigenständigen „Menschenrechtsministerium“, sowie einem Fach „Menschenrechte“ an Schulen. Weitere Reformen zielten auf die kulturelle Gleichberechtigung der Berber ab. Hassan II nahm Forderungen der 1991 von den 11 berberischen Kulturvereinen verkündeten Agadir- „Charta der masirischen Sprache und Kultur“ auf. Hierzu gehörte die 1994 erfolgte Zulassung berberischer Nachrichten in Rundfunk und Fernsehen, sowie die Bereitschaft, die drei Berberdialekte in Grundschulen als Unterrichtsfach einzurichten. Der politischen Opposition wurden bislang vorenthaltene Rechte zurückgegeben. Neben der Freilassung
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inhaftierter Dissidenten wurde exilierten Regimekritikern die Rückkehr gestattet. Von der Liberalisierung profitierte sowohl die säkulare, linksgerichtete als auch in Teilen die islamistische Opposition. Erreichten die Linken erstmals die Regierung zu stellen, durfte die islamistische PJD (Parti de la Justice et Développement) 1997 erstmals an Wahlen teilnehmen. Die Zugeständnisse an die Islamisten blieben allerdings hinter den Erwartungen zurück. Die immer wieder geforderte Legalisierung der Al-Adl Wal-Ihsan als politische Partei wurde ebenso wenig realisiert wie eine öffentlich zugesagte Freilassung ihres inhaftierten charismatischen Führers Abdessalam Yassine. Insgesamt betrachtet muß die Ära Hassan II. als zweiseitig bewertet werden. Außenpolitisch kann ihm ein Instinkt für Krisenbewältigung, sowie eine gelungene Einschätzung der globalen wie regionalen Kräfteverhältnisse nicht abgestritten werden. Von einem anfänglichen Grenzkonflikt mit Algerien abgesehen hielt er Marokko aus kriegerischen Auseinandersetzungen heraus und vermied fatale politische Bündnisse. Obwohl er die Nähe zu den USA und Frankreich aufsuchte, lehnte er während des Kalten Krieges eine allzu enge Bindung an den Westen ab und stand der damaligen UDSSR im Außenhandel ebenfalls eine bedeutende Rolle zu. Er erkannte den geeigneten Zeitpunkt, das ehemals spanisch besetzte Südmarokko, allen voran die Westsahara, zurückzugewinnen. Obwohl die Kontroverse mit den Separatisten in der Westsahara zu Hassans Lebzeiten nicht mehr einer endgültigen Lösung zugeführt werden konnte, verhinderte er die Eskalation zu einer außenpolitischen Dauerkrise oder gar einem zwischenstaatlicher Krieg. Den Anspruch auf die beiden, noch bestehenden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla hat er nie aufgegeben, die Wiedereingliederung bleibt seinem Sohn als Aufgabe erhalten. Innenpolitisch hat Hassan II. sein vorgegebenes Ziel einer umfangreichen, alle Gesellschaftsbereiche umfassenden Modernisierung weitgehend verfehlt. Gestützt auf seinen religiösen Titel als Emir El- Muminin gestand er sich ein absolutistisches Herrschaftsprivileg zu, mit dem er nicht nur alle Staatsgewalten de fakto in „Seiner Majestät“ vereinte, sondern darüber hinaus jeglichen erfolgversprechenden politischen Ideen die Verwirklichung verweigerte. Die im letzten Jahrzehnt seiner Regentschaft in Angriff genommenen Reforminitiativen reichten weder aus, um ein modernes politisches System zu etablieren, noch eine sozioökonomische Prosperitätsentwicklung einzuleiten. Massenarmut, anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, sowie ein den Erfordernissen der Zeit kaum entsprechendes Bildungswesen sind die Resultate einer Politik, die nur den nominellen ökonomischen Erfolg, nicht aber ein dem Kollektiv dienliches soziales Gerechtigkeitsbewusstsein verkörpert hat. Die Unabhängigkeit vom Ausland, die auf politischem Wege unter Hassans Vater erkämpft worden war, ist in sozioökonomischer Hinsicht angesichts fehlgeleiteter Modernisierung fast verloren gegangen.
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3.1.4 Machtübergabe an Mohammed VI. Mit der 1999 erfolgten Inthronisierung Mohammeds VI. war kein gewöhnlicher Generationswechsel innerhalb der Staatsführung vollzogen worden. Es sollte eine Generation mit einem grundlegend anderen Erfahrungshorizont die geerbte, sowie vielfach vernachlässigte Aufgabe der Modernisierung von Staat und Gesellschaft in Angriff nehmen. Der junge König hat die Protektoratszeit nicht erlebt, ist in einem rechtlich souveränen Staat aufgewachsen, der allerdings den Anforderungen der Moderne – wenn überhaupt – nur unzureichend begegnet ist. Sein prioritäres Anliegen sollte eine beschleunigte Fortführung der erst gegen Ende der Ära Hassan II. eingeleiteten politischen Reformen, ein Wandel zu mehr Demokratie und Pluralismus, die Herstellung von Gleichberechtigung der Geschlechter und Bevölkerungsschichten, sowie ein konstruktives Programm zur sozioökonomischen Entwicklung des Landes darstellen. Um sich von der autoritären Herrschaftsweise seines Vaters zu distanzieren, sowie die Bereitschaft zu einer Erneuerung des Landes erkennen zu lassen, erschien ein grundsätzlich geändertes Rollenverständnis vonnöten, über das der Monarch seine Aufgabe als Moderator und Förderer kreativer Ideen aus der Civil Society wahrnimmt. Zu erörtern galt es, in wie weit Mohammed VI. sich nicht nur rhetorisch von seinem Vorgänger abzugrenzen, sondern als Initiator für gesellschaftspolitischen Wandel erwiesen hat. Erfährt Marokko unter seiner Führung eine Entwicklung hin zu mehr Freiheit, Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit oder zielt der junge König darauf ab, das bisherige, politisch repressive und ökonomisch ineffektive Herrschaftssystem unter moderneren Vorzeichen beizubehalten? Welche hohen Erwartungen in ihn gesetzt wurden, war sich Mohammed VI. von Anfang an bewusst, als er seine drei wichtigsten Ziele mit „Armutsbekämpfung, Emanzipation der Frau, sowie Durchsetzung eines Rechtsstaats“ definierte. Darzustellen verlangt es, welche konkreten Schritte er zur Erreichung jedes einzelnen Ziels unternommen hat, sowie eine Einschätzung wagen, ob er der Realisierung seiner Vorhaben erkennbar näher gekommen ist. Da Hassan II. auf sozioökonomischem Gebiet so gut wie überhaupt keine durchgreifenden Reformen eingeleitet hatte, stellt die Beseitigung der Massenarmut für den jungen König die vorrangigste Herausforderung dar. Die Wirtschaftsordnung des Landes verlangt in einem demokratisch vorgegebenen Rahmen von Grund auf neu konzipiert zu werden. Die sozialen Probleme kristallisieren sich neben dem hohen Bevölkerungsanteil, der unterhalb der Armutsgrenze lebt, in der Massenarbeitslosigkeit, sowie in einem extrem niedrigen Bildungsniveau mit überdurchschnittlich hohen Analphabetenraten heraus. Hinzu kommt anhaltendes Bevölkerungswachstum, verbunden mit einer Verjüngung des Durchschnittsalters, wodurch qualitativ vorhandene Ressourcenknappheit quantitativ
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verstärkt wird. Die ersten Reformprojekte bezogen sich auf die öffentliche Infrastruktur. Elektrizität und Wasserversorgung wurden ausgebaut, so dass entlegene ländliche Regionen wie unterversorgte Viertel der Großstädte erstmals Zugang zum öffentlichen Grundversorgungsnetz erhielten. Gleichzeitig entstanden im Bausektor neue Arbeitsplätze. Im Bewusstsein der geographisch günstigen Lage, mit bedeutenden Häfen sowohl am Atlantik als auch am Mittelmeer, sowie der unmittelbaren Nachbarschaft Europas wurden Initiativen zur Belebung des Außenhandels ergriffen. Darin enthalten sind neben dem Abbau von Hemmnissen für ausländische Investitionen, Zollvergünstigungen, Steuererleichterungen, der Ausbau Tangers zum größten Containerumschlagplatz des Mittelmeerraums, sowie eine große Freihandelszone. Hiermit konnten ein reales Wirtschaftswachstum erreicht, sowie strukturelles Haushaltsdefizit und Inflation verringert werden. Um die Hauptursache der Massenarmut zu beseitigen, verlangte es den kollektiven Zugang zu moderner Bildung zu eröffnen. Die noch zu Lebzeiten Hassans II. veröffentlichte „Charta für Bildung und Ausbildung“ erfuhr neuen Antrieb und nahm mit Beginn des neuen Jahrtausends ihre Arbeit auf. Eine Reform des Schulwesens wurde eingeleitet. Der sofort einsetzende, bedeutende Anstieg der Einschulungsrate kann als bemerkenswerter Erfolg gewertet werden. Wesentlich dazu beigetragen hat neben dem Ausbau des Schulversorgungsnetzes die Bekämpfung der Kinderarbeit, die mit der Ratifizierung der internationalen Konvention zum Arbeitsverbot für unter 15jährige 1999 eingeleitet wurde. Die Gleichberechtigung der Frau verlangt die Beseitigung sowohl der rechtlichen als auch sozioökonomischen Diskriminierung. Damit die staatlichen Reformprogramme sich auf den gesellschaftlichen Alltag auswirken, bedarf es einer Orientierung des Geschlechterrollenverständnisses an der Moderne. In einem islamischen Land kommt der zeitgemäßen Religionsauslegung entscheidende Bedeutung zu, die dem König als Emir El- Muminin ein hohes Verantwortungsbewusstsein abverlangt. Einerseits sieht er sich verpflichtet, jegliche Reform, insbesondere im Verhältnis der Geschlechter zueinander, im Einklang mit islamischer Rechtsauffassung zu konzipieren, andererseits sollte er in der Lage sein, zu differenzieren zwischen tatsächlichen islamischen Vorgaben gegenüber den Anforderungen der Zeit nicht mehr entsprechenden Rollenzuweisungen. Der junge Monarch war sich bewusst, dass die Benachteiligung von Frauen auf einem unzeitgemäßen Islamverständnis, sowie einem prämodernen Familienrecht beruht. Gesellschaftlicher Zwang zu frühzeitiger Heirat verhindert eine Ausbildung der Frauen, sowie die Perspektive zu eigenständiger beruflicher Karriere. Um diese gesellschaftliche Ausgrenzung aufzuheben, bedurfte es einer grundlegenden Neuordnung des Familienrechts. Bereits 1999 war der Öffentlichkeit ein „Plan zur Integration der Frau in die Entwicklung“ präsentiert worden, der eine Modernisierung des Familienrechts beinhaltete. Die Umsetzung war am gemein-
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samen Widerstand von Religionsministerium und PJD gescheitert, der sich in der „Nationalen Liga zum Schutz der Familie“ organisiert hatte.84 Vom neuen König erhielten die Reformbestrebungen nun Unterstützung. Im Frühjahr 2001 ließ er die angesichts von Uneinigkeit ergebnislos gebliebene Regierungskommission durch eine eigens eingerichtete Reformkommission ersetzen, der neben Religionsgelehrten und CCDH drei Frauen angehörten. Die Folge der Attentate von Casablanca vom 16. Mai 2003 erwies sich als günstiger Augenblick, die schon länger angekündigten Reformen in die Realität umzusetzen. Die bisherigen Hauptgegner in Parlament und Regierung gaben ihren Widerstand auf und stimmten einem Kompromiss zu. In der Thronrede vom 10.10.2003 angekündigt, sowie seit 2004 als neues Personenstandsgesetz in Kraft getreten, wurden folgende grundlegenden Neuregelungen beschlossen: In der Ehe gelten nunmehr beide Partner als gemeinsam für Haushalt und Familie verantwortlich. Männer wie Frauen dürfen gleichberechtigt, aus freier Entscheidung, eine Ehe eingehen. Die Polygamie besteht als rechtliche Möglichkeit weiter, wird aber durch zusätzliche Auflagen stark eingeschränkt. Im Falle von unlösbar erscheinenden Ehekonflikten wird der Frau die freiwillige Einreichung der Scheidung erleichtert. Von öffentlich genehmigten Ausnahmen abgesehen, gilt für Frauen ein Mindestheiratsalter von 18 Jahren. Vor der Ehe gezeugte Kinder werden bei Eheschließung als gemeinsame Kinder anerkannt. Bei der Weigerung, die väterliche Verantwortung anzuerkennen, kann der mutmaßliche Erzeuger gerichtlich zum Vaterschaftstest gezwungen, sowie zur finanziellen Verantwortung herangezogen werden. Im Mudawana (2004) sind die Rechte und Pflichten von Frauen gegenüber Männern, aber auch von Kindern gegenüber den Eltern und Großeltern innerhalb von Ehe, Familie wie im Falle von Heirat und Scheidung erstmals nach modernem Zivilrecht festgelegt. Diskriminierungen aufgrund von familiären Verhältnissen sollen künftig ausgeschlossen werden. Anhand einiger Auszüge des neuen Gesetzeswerk lässt sich herauslesen, dass das marokkanische Recht Frauen künftig nicht mehr als „Objekte des Mannes“ definiert, sondern als souverän entscheidende Individuen, die aus eigenem Antrieb heraus familiäre Verantwortung eingehen und zur ihren Karriereabsichten nicht als Widerspruch auffassen. Die vom Islam dem Mann auferlegte Verpflichtung um das Wohl seiner familiären Angehörigen wird durch das neue Gesetz nicht nur bestätigt, sondern in einen zeitbezogenen Kontext gebracht:
84
Wisaratu Attanmiya Al-Ijtima`iya (Hrsg.): Maschru` Chutat Al-`Amal Al-Wataniya Liidmaj Al-Mar`a Fi Attanmiya, S. 10ff.
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Die Familie gilt fortan als Verantwortungsgemeinschaft, in der Frauen ebenso wie Männer Rechte und Pflichten besitzen. Der Vormund für eine volljährige Frau in Bezug auf Heiratsrecht und Partnerwahl wird abgeschafft, sie benötigt nicht mehr die Anwesenheit ihres Vaters oder eines männlichen Verwandten, wenn sie zu heiraten beabsichtigt. Ein von dritten Personen auferlegter Ehezwang ist damit rechtlich ausgeschlossen. Das gesetzlich vorgeschriebene Mindestheiratsalter wird sowohl für Männer als auch Frauen auf 18 Jahre festgesetzt. Ein Richter besitzt allerdings die Befugnis, in begründeten Ausnahmefällen dieses Alter herabzusetzen. Die Polygamie wurde mit rechtlichen Hindernissen sowie bürokratischen Anforderungen belegt. Männer müssen sich verpflichten, ihre Frauen sowohl rechtlich als auch finanziell gleich zu behandeln, sowie ihnen die gleiche emotionale Zuwendung zuzugestehen. Die Polygamie verlangt der Einhaltung strenger Regeln, sowie der Absprache mit einem Richter. Dieser muß sich vergewissern, dass die vorgesehene Gleichbehandlung gewährleistet ist, sowie ob allen Frauen einschließlich ihren Kindern Gerechtigkeit zuteil wird. Dem Richter müssen plausible Gründe für eine Mehrehe vorgelegt werden. Die (erste) Frau kann bei der Eheschließung im Ehevertrag verlangen, dass der Ehemann nicht noch einmal heiratet. Falls dies nicht im Ehevertrag verankert wird, besitzt die erste Frau das Recht, bei einer beabsichtigten Mehrehe um ihr Einverständnis gefragt zu werden. Von einem vollständigen Verbot wurde Abstand genommen, um keine „illegalen Mehrehen“ zu provozieren. Beide Ehepartner besitzen ein gleichwertiges Scheidungsrecht. Ein rechtloser Zustand von Frauen nach einer vom Mann eingereichten Scheidung soll verhindert werden, indem die Frau bereits vor der Scheidung ihre Rechte zugesprochen bekommt. Eine neue Regelung verlangt zudem vor jeder Scheidung von einem Gericht die Erlaubnis einzuholen. Die Scheidung wird nicht eher durchgeführt, bevor der Verdiener sich bereit erklärt, den Unterhalt für die Partner(in) und die Kinder zu übernehmen. Ohne schriftliches, amtlich beglaubigtes Dokument wird eine Scheidung nicht mehr akzeptiert. Das Scheidungsrecht wurde mit einem modernen Rollenverständnis der Frau in Einklang gebracht. Erleichtert wurde ihr die Scheidung, sofern der Mann seine familiären Verpflichtungen vernachlässigt, die Familie verlässt, Gewalt ausübt oder ausgeübt hat. Die in der Ehe beiden Partnern zustehenden Finanzen werden künftig vertraglich festgelegt. Jedem Ehepartner wird ein eigener finanzieller Anteil zugestanden, über den er frei verfügen kann.
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Das Recht des Kindes im Scheidungsfall wird eindeutig geregelt, d.h. es wurde eine Reihenfolge festgelegt, die entscheidet, wem das Sorgerecht zugesprochen wird. Im Normalfall bleibt das Kind bei der Mutter; lehnt diese ab, wird es dem Vater zugesprochen; bei Ablehnung beider Elternteile übernimmt die Großmutter mütterlicherseits das Kind. Ist keine der drei Personen zur Aufnahme des Kindes bereit oder in der Lage, entscheidet ein Richter, wo es versorgt werden soll. Die Rechte von Jugendlichen im Falle elterlicher Scheidung sind gestärkt worden. Mädchen wie Jungen sind berechtigt, ab dem Alter von 15 Jahren selbst zu entscheiden, ob sie bei der Mutter oder beim Vater bleiben wollen. Durch die Abstammung sich ergebende Probleme für ein Kind sollen künftig vermieden werden. Dies gilt besonders im Falle eines unehelichen Kindes. In einer Zeitspanne von bis zu fünf Jahren ist zum Beispiel die Vaterschaft zu klären.85
Mohammed VI. hielt bei seiner Neuordnung des Familienrechts internationale Rechtsstandards wie die „internationale Konvention von 1979 zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau“ ein und erreichte mit dem Verweis auf seine Eigenschaft als „höchster religiöser Würdenträger“ Unterstützung der gemäßigten Islamisten für sein Modernisierungsprogramm. Mit dem neuen Familienrecht gelang es dem jungen König nicht nur, die verschiedensten Strömungen der marokkanischen Civil Society für seine Form der Modernisierung zu gewinnen, vielmehr wurde geschriebenes Recht der gesellschaftlichen Realität angeglichen, in einem Land, in dem jede dritte Frau erwerbstätig ist, sowie nicht wenige Frauen als alleinerziehende Mütter die Hauptverantwortung ihrer Familien tragen. Damit die Mehrheit der marokkanischen Frauen die neuen rechtlichen Möglichkeiten in Ehe und Familie anwenden können, sind die Frauen angemessen auf die neue Rechtslage vorzubereiten. Entscheidende Aufgabe besteht darin, den Frauen den Zugang zu Allgemeinbildung zu erleichtern. Mit der rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter ist Mohammed VI. ein Meilenstein hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit gelungen. Ein demokratischer Rechtsstaat erfordert jedem Bürger die gleichen Grundrechte zuzugestehen. Die Erfahrung der Repression gegenüber Oppositionellen in der Ära Hassan II. hatte einen Erwartungsdruck auf Mohammed VI. entstehen lassen, Veränderungen im staatlichen Verhältnis zu politischen Dissidenten einzuleiten. Als erste symbolische Geste verkündete er die Entlassung des bisherigen Innenministers Driss Basri, der als oberster Dienstherr der Geheimpolizei für die Deportationen und Mißhandlungen von Regimekritikern die Hauptverantwortung trug. Die Freilas85
Al-Mudawana Al-Jadida Lilusra, S. 17ff.
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sung von politischen Häftlingen, sowie die Rückkehrerlaubnis Jahre lang exilierter Oppositionspolitiker wie des Juden Abraham Serfaty führten zu weiterer Entspannung des gesellschaftspolitischen Klimas. Die unter Hassan II. mehrfach angekündigte, aber immer wieder hinausgeschobene Aufhebung des Hausarrests des bekanntesten islamistischen Anführers Abdessalam Yassine wurde endlich realisiert. Besonderen Respekt erwarb sich Mohammed VI. für die neu eingerichtete „Kommission für Gerechtigkeit und Versöhnung“ zur Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen der Ära seines Vaters. Diese Wahrheitskommission soll die bisher geleugneten Fälle von „Verschwindenlassen“ aufklären, sowie eine angemessene Entschädigung der Opfer organisieren. Die Aufarbeitung erfolgt sowohl auf Antrag der Betroffenen als auch aus Eigeninitiative der Kommission, sofern ein konkreter Verdacht auf eine staatliche Misshandlung besteht. Die von Hassan II. begonnene kulturelle Gleichstellung des Berbertums wurde von Mohammed VI. mit konkreten Schritten weiterverfolgt. Seit 2001 werden die drei Berberdialekte des Landes an öffentlichen Schulen unterrichtet. Eine Erhebung des Berberischen auf Verfassungsrang als „zweite Landessprache“ neben Arabisch steht offenbar bevor. Für die Ausarbeitung seiner die verschiedensten Gesellschaftsbereiche betreffenden Reformen betrachtet der junge König sich allerdings nicht als verantwortlich. Belmlih (2005) stellt heraus, daß Mohammed VI. für die reformbedürftigen Sektoren eigene Institutionen vorsieht, die für eine Realisierung nach seinen Vorgaben zu sorgen haben: Mohammed VI. sieht es nicht als seine Aufgabe an, die einzelnen Reformprojekte in die Praxis umzusetzen. Er gibt lediglich als eine Art Moderator die Richtung vor, nach der die Reformen von den zuständigen, mit Fachkompetenz ausgestatteten konstitutionellen Organen zu erfolgen haben.86
Um eine Reformpolitik auf allen gesellschaftlichen Ebenen zum Erfolg zu führen, ist ein zeitgemäßes Religionsverständnis entscheidend. Indem Mohammed VI. die Religion nicht wie sein Vorgänger als Rechtfertigung eines despotischen Herrschaftsstils heranzieht, gelingt es ihm, die Konformität von islamischem Wertebewusstsein und moderner Staatsauffassung zu demonstrieren. Modernität nach religiös-ethischen Maßstäben sollte sich an gesellschaftlichen Notwendigkeiten orientieren. Für die Resonanz eines modernen Religionsverständnisses stellt die Art und Weise wie der Staat, namentlich der religiös legitimierte König als religionspolitischer Akteur auftritt, einen wesentlichen Einflussfaktor dar. Eine Modernisierung gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen kann nur gelingen, wenn die dahinter stehende Konzeption bei islamischen Autoritäten Unterstützung erfährt. Mohammed VI. hat diesen Zusammenhang erkannt. Über eine 86
Belmlih, Samir: Al-Maschru` Attanmawi Limohammad Assadis, S. 9
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Neuformierung des Ministeriums für Habous und Islamische Angelegenheiten zielte er darauf hinaus, den religiösen Einfluss des Staates zur konstruktiven Begleitung seiner gesellschaftspolitischen Reformen einzusetzen. Die Ersetzung des langjährigen, als konservativ geltenden Ressortleiters Abdelkebir M`Daghri Alaoui durch den progressiv gesinnten Ahmed Taoufiq sollte die Akzeptanz für die vorgesehene Neustrukturierung des Ministeriums herstellen. Mit der Einrichtung einer Direction des mosquées beansprucht der Staat, die 35.000 Moscheen des Landes zu überwachen. Die Direction pour l´enseignement religieux traditionnel besteht aus 16 regionalen Delegationen für islamische Angelegenheiten, die den Unterricht an Religionsschulen beaufsichtigen, sowie zeitgemäß neu konzipieren sollen. Die Rolle der Ulama wurde in einer Weise umdefiniert, um ihre Unterstützung für politische Reformen zu erreichen. Die Zusammensetzung des Conseil Supérieur des Oulémas wurde geändert. In dem aus 16 Geistlichen bestehenden, dem König unmittelbar unterstellten Gremium sind erstmals Frauen vertreten. Darif (2000) weist darauf hin, daß der Monarch in der Aufwertung des Obersten Rats der Rechtsgelehrten eine weitgehende Entmachtung des Religionsministeriums bewirkte, dessen Einfluß in der Vergangenheit politische Reformen immer wieder religiös legitimiert behindert hatte: Mohammed VI. wies dem Obersten Rat der Rechtsgelehrten eine Reihe neuer religionspolitischer Aufgaben zu, die bisher dem Ministerium für Habous und Religiöse Angelenheiten unterstanden. Ziel dieser Verantwortungsübertragung war, dass der König unmittelbar auf die dabei getroffenen strategischen Entscheidungen Einfluß ausüben konnte und auf diese Weise einen Missbrauch der Religion für politische Zwecke verhindern.87
Insgesamt kann die bisherige Amtszeit Mohammeds VI. als vielversprechend gewertet werden. Angesichts jahrzehntelanger Vernachlässigung von Modernisierung in fast allen Gesellschaftsbereichen erscheint der Umfang der Erneuerungspolitik im letzten halben Jahrzehnt bemerkenswert. Mit einem meßbaren ökonomischen Aufschwung, basierend auf moderner Infrastruktur, lassen sich erste Erfolge einer entwicklungsfördenden Wirtschaftspolitik erkennen. Über die in islamischem Rahmen konzipierte Neufassung des Familienrechts wurden die rechtlichen Hürden für moderne Geschlechterrollen weitgehend aufgehoben. Mit unfangreichen Bildungsprogrammen zeigt Mohammed VI. das Bewusstsein, dass gesellschaftliche Benachteiligungen nicht nur rechtliche Ursachen besitzen, sondern in einem gleichermaßen ineffektiven Bildungssystem wurzeln, daß es auf moderne Herausforderungen vorzubereiten gilt. Die Einbindung der Religion für eine auf Chancengleichheit ausgerichtete Reformpolitik erweist sich als geeignet, 87
Darif, Mohammed: Addin Wassiyasa Fi Al-Magrib, S. 87
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der religiös legitimierten Vergangenheitsverhaftung der Islamisten entgegenzuwirken. Zugleich demonstriert der König ein Progressivitätsverständnis, in dem Fortschritt sich nicht auf ökonomische Wachstumsraten reduziert, sondern neben der Partizipierung der Allgemeinheit an gesellschaftlicher Entwicklung eine moderne Islamauslegung einschließt. Zu hinterfragen gilt es auch seine eigene Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung. Trotz einer kritischen Reflexion des repressiven Systems seines Vorgängers war er bislang noch nicht zu einer vollständigen Liberalisierung des Staates bereit. Mit dem Kampf gegen den „Terrorismus“ sind nach den Anschlägen vom 16. Mai 2003 anfangs neu gewährte bürgerliche Freiheiten wieder eingeschränkt worden. Einem kontroversen, auf rationalen Argumenten gestützten Diskurs mit den Islamisten ist Mohammed VI. ebenfalls ausgewichen. Erklärtermaßen gewaltablehnenden Islamisten wie Al-Adl Wal-Ihsan wird das Recht auf Partizipierung an politischer Verantwortung weiterhin vorenthalten. Wenn Mohammed VI. Marokko in eine Zukunft zu führen beansprucht, die der islamischen Tradition angemessen Rechnung trägt, sowie die profanen Anforderungen der Moderne zu bewältigen in der Lage ist, darf seine Reformpolitik nicht in Ansätzen und Absichtserklärungen stehen bleiben. Sie sollte sich sowohl an einem zeitgemäßen Islamverständnis als auch an rechtsstaatlichen Vorgaben orientieren.
3.2 Die politische Entwicklung seit der Unabhängigkeit 3.2.1 Die Verfassungsentwicklung seit 1962 Die politische Entwicklung des postkolonialen Marokkos spiegelt sich in vier jeweils in der Ära Hassan II entstandenen Verfassungen wieder. Anhand dieser Verfassungen gilt es herauszustellen, in wie weit der marokkanische Staat auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert hat, sowie seiner Verpflichtung zu Modernisierung im politischen System nachgekommen ist. Als Ursache für kollektives Zurückweisen der herrschenden Obrigkeiten kristallisiert sich nicht selten die Unzufriedenheit mit politischen Rahmenbedingungen heraus. Fundamentalistische Kräfte sind hiervon zu profitieren in der Lage, sofern sie den Anspruch zu einem politischen Wechsel verkörpern. Mangelnde Erfahrung mit zeitgemäßen gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen verleitet zur Suche nach Alternativmodellen in der Vergangenheit. Herauszustellen gilt es, ob und in welcher Form die marokkanischen Verfassungen prämoderne religiöse Herrschaftsstrukturen zementiert und dadurch zur Radikalisierung bestehender islamistischer Tendenzen beigetragen haben. Erwiesen sie sich als Wegweiser für politische Reformen oder drücken sie fehlende Bereitschaft aus, gesellschaftliche
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Veränderungen im staatlichen Alltag nachzuvollziehen? Können die marokkanischen Verfassungen als Versuch gewertet werden, von fehlgeleiteter oder ausbleibender Modernisierung abzulenken, sowie einen unzeitgemäßen Obrigkeitsbegriff zu rechtfertigen? Es gilt jede einzelne Verfassung aus dem Kontext ihres Entstehens zu erklären. Hierauf aufbauend wird eine Einschätzung gewagt, ob es überhaupt eine Verfassungsentwicklung gegeben hat, oder lediglich der status quo in geändertem Text wiedergegeben wurde. Die herausragende Rolle bei der Erlangung der staatlichen Souveränität hatte Mohammed V. eine so hohe Wertschätzung zu teil werden lassen, dass er daraus folgerte, er allein besitze die Befähigung und Berechtigung, das Land gesellschaftlich weiterzuentwickeln. Eine Verfassung, zur Limitierung der Machtbefugnisse staatlicher Organe erschien ihm überflüssig. Die aus dem Unabhängigkeitskampf hervorgegangene intellektuelle Elite, die sich mit modernen westlichen Staatstheorien anvertraut hatte, war hingegen zu der Überzeugung gelangt, eine moderne Entwicklung nur in einer konstitutionellen Monarchie erreichen zu können. Die nicht erkennbare Bereitschaft des Königs, dieser oppositionellen Forderung entgegenzukommen, ließ zunehmende Kritik an seinem Staatsverständnis erwachsen. Verstand es Mohammed V. noch, sich den oppositionellen Anliegen vollständig zu widersetzen, mußte sich der 1961 neu auf den Thron gelangte Hassan II. seine Autorität erst aufbauen. Eine eigens vorgelegte Verfassung erschien ihm als Garant für die dauerhafte Akzeptanz seiner Monarchie, sowie ein geeignetes Instrument, seinen Kritikern die Resonanz zu entziehen. In seinem Staatsverständnis unterschied er sich prinzipiell nicht von seinem Vorgänger, so dass er den Ansprüchen nach mehr Demokratie und Gewaltenteilung in der politischen Praxis in keiner Weise Rechnung trug. Den autoritären, auf seine Majestät ausgerichteten Herrschaftsapparat galt es mittels geschriebener Verfassung zu legitimieren. Über die Bestätigung der Verfassung in einem von monarchietreuen Beamten überwachten Referendum sollte der Eindruck von Volksverbundenheit hinterlassen werden. Inhaltlich spiegelte diese 1962 verkündete erste Verfassung den absolutistischen Charakter des Staates mit einem Monarchen ohne institutionelle Beschränkungen in vollem Umfang wieder88. Die Bedingungen für eine demokratische Konstitution nach westlichen Vorbildern befand Hassan II. nicht als gegeben. Es bedürfe vielmehr einer allumfassenden Autorität des von Gott ausersehenen Königs, um Reformen im Dienste der Nation voranzutreiben. Die Sonderstellung, die der Monarch Seiner Majestät in allen drei Staatsgewalten zuerkennen ließ, brachte die erste Landesverfassung mit folgenden Bestimmungen zum Ausdruck:
88
Addustur Al-Magribi Lisanat 1962: S. 1ff.
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Der König ernennt den Ministerpräsidenten und die Minister. Er entbindet sie auf eigene Verfügung … von ihren Funktionen (Art. 24) Der König hat den Vorsitz im Ministerrat (Art. 25) Der König übt die Verordnungsgewalt auf den Gebieten aus, die ihm ausdrücklich durch die Verfassung vorbehalten sind (Art. 29)
Mit diesen Artikeln sicherte sich der Monarch die oberste Entscheidungsgewalt sowohl innerhalb der Exekutive als auch Legislative zu. Über den Vorsitz im „Hohen Rat der Richterschaft“ und im „Hohen Rat der Staatsanwaltschaft“ verfügte er über außerordentliche judikative Befugnisse, mit denen er in der Lage war, unmittelbar auf Gerichtsurteile einzuwirken. Die elementarste Errungenschaft des westlichen Verfassungsstaats, bestehend in einer Gewaltenteilung mit gegenseitiger Kontrolle, kam in der ersten marokkanischen Verfassung nicht zum Ausdruck. Zwar gewährte diese Verfassung den Marokkanern erstmals eine eigene Volksvertretung, die Demokratiedefizite im legislativen Bereich waren nicht zu übersehen. Formal oblag dem Parlament die Gesetzgebung, seine tatsächlichen gesetzgeberischen Befugnisse wurden durch verschiedene Artikel (vor allem 48, 53 und 99) eingeschränkt. Die parlamentarischen Funktionen begrenzten sich auf individuelle und kollektive Rechte, Grundprinzipien des Zivil- und Strafrechts, Regelung des Gerichtswesens, Grundgarantien für zivile und militärische Beamte, das Budget, sowie den Wirtschaftsplan. Galt ein verfassungsrechtlich abgesichertes Parlament innerhalb der arabischen Staatenwelt damals bereits als nachahmenswertes Vorbild, der Anspruch der Civil Society nach politischer Mitbestimmung blieb weitgehend unerfüllt. Welche Hindernisse demokratisch legitimierte, parlamentarische Gesetzgebung nach dieser Verfassung zu überwinden hatte, wird in folgenden Artikeln deutlich:
Sachgebiete, die nicht in den Kompetenzbereich der Gesetzgebung fallen, gehören zum Verordnungsrechtswesen (Art. 49) Die Regierung kann die Annahme jedes Vorschlags oder jeder Abänderung verweigern, wenn diese nicht in den Kompetenzbereich der Gesetzgebung fallen. (Art. 56) Bei Annahme unterliegt der Text (eines Gesetzes) der Entscheidung des Königs (Art. 62)
Trotz verfassungsrechtlich abgesicherter Entscheidungsbefugnisse eines gewählten Parlaments blieb dem König vor allem über letzteren Artikel das Privileg, nur jenen Gesetzen Gültigkeit zuzugestehen, die seine Position nicht in Frage stellten. Parlamentarische Vorhaben, die seine Vollmachten zur Disposition stellten, konnten an der Durchsetzung gehindert werden. Über die eigenständige Gesetz-
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gebung besaß der Monarch die Autorität, seine Vorstellung von Modernisierung sogar gegen gesellschaftlichen Widerstand voranzutreiben. Reforminitiativen aus der Zivilgesellschaft konnte er nach Belieben blockieren oder hinauszögern, womit einer flexiblen Entwicklung des Landes durch die Verfassung vorgegebene Grenzen gesetzt waren. Vielmehr lähmte die erschwerte Umsetzung moderner Konzepte die Kreativität in der Civil Society und bewirkte Resignation und Lethargie. Aus dem Bewusstsein, mit der Verfassung keine Liberalisierung der autoritären Grundstrukturen erreicht zu haben, entstand Frustration. Die Erkenntnis, die angestrebten politischen Ziele im konstitutionellen Rahmen nicht realisieren zu können, lebte den Widerstandsgeist auf und mündete in die kollektive Forderung nach einer neuen Verfassung. Hassan II. sah sich verstärktem Druck ausgesetzt und ließ sich in der Tat im Jahre 1970 zur Ausarbeitung einer zweiten Verfassung bewegen. Die Tatsache, dass die Al-Kutla Al-Wataniya (Nationale Front), eine Vereinigung der größten Oppositionsparteien Istiqlal und UNFP (Union Nationale des Forces Populaires), diese Verfassung von Anfang an boykottierte, demonstrierte den Vertrauensverlust in einen Monarchen, dem man die Bereitschaft absprach, dem Staat eine demokratische Verfassung zuzugestehen, da sein absolutistischer Führungsstil jeglichem konstitutionellen Geist entgegenstand. Bereits das erneute undemokratische Zustandekommen der Verfassung ließ kein Interesse seitens des Königs erkennen, sich auf demokratische Spielregeln einzulassen. Die Unterschiede gegenüber der ersten Verfassung kristallisierten sich als so unbedeutend heraus, dass ein konstitutioneller Prozeß mit einer Entwicklung zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sich nicht feststellen ließ. Die dominierende Rolle des Monarchen und sein Gewaltmonopol blieben in der zweiten Verfassung unangetastet. Zwar wurden Regierung und Parlament formal erweiterte Rechte zugestanden, ihre Abhängigkeit von der Gunst des absolutistischen Herrschers blieb bestehen. Die Mutmaßungen der Opposition, Hassan II. habe diese Verfassung als Mittel eingesetzt, um von seiner autoritären Herrschaftsweise abzulenken, sowie den andauernden Protesten die Mobilisierungsbasis zu entziehen, scheinen vor diesem Hintergrund plausibel. Bezeichnenderweise fällt die Verfassung in die unmittelbare Phase nach der Beendigung des Grenzkonflikts mit Algerien. Hatte Hassan II. erkannt, dass über militante Außenpolitik sich innenpolitischem Widerstand nicht entgegenwirken ließ, zielte er darauf ab, die Bedingungen für eine unumschränkte krisenfreie Herrschaft über eine neue Verfassung herzustellen. Als Ursache der kollektiven Unzufriedenheit realisierte er in keiner Weise seinen absolutistischen Herrschaftsstil, sondern wies ausschließlich seinen Kritikern die Verantwortung zu. Als Konsequenz wahrte er zwar den Anschein einer demokratischen Entwicklung von der ersten zur zweiten Verfassung, baute seine Stellung gegenüber kritischen Institutionen
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in der Realität weiter aus. Perrault (1990) weist darauf hin, dass entgegen aller demokratischen Lippenbekenntnisse die Rechte der konstitutionellen Organe gegenüber dem Monarchen in der Verfassung von 1970 noch weiter eingeschränkt wurden: La lecture du texte proposé accabla le moins crédules. Bien loin de donner du jeu aux institutions marocaines, la révision avait pour seul objectif de renforcer encore le pouvoir du roi. Immunité parlementaire supprimée pour la mise en cause du principe monarchique ou de la religion. Majorité absolue exigée pour demander la convocation d´une session extraordinaire, alors que le tiers des députés suffisait sous la précédente Constitution. Motion de censure recevable si elle est signée part les quart des députés au lieu du dixième. Parallèlement, la marge d´initiative du roi était élargie tant sur le plan législatif qu´exécutif.89
Der nur ein Jahr nach in Kraft treten der zweiten Verfassung verübte Umsturzversuch von Skhirat demonstrierte, dass Hassan II. sich in seiner Einschätzung, mit einer kosmetischen Verfassungsänderung Akzeptanz für sein Regime zu erreichen, getäuscht hatte. Aus der Erkenntnis, vom politischen Geschehen weiterhin ausgeschlossen zu bleiben, war die Unzufriedenheit in der marokkanischen Bevölkerung noch angewachsen. Die Bereitschaft zum Widerstand reichte bis ins Militär und die höchsten Staatsämter. Der König musste erkennen, dass die Verfassung von 1970 die erhoffte Krisenfestigkeit für seine Monarchie nicht hergestellt hatte. Bereits zwei Jahre später sah er sich zur Vorlage einer dritten Verfassung herausgefordert. Um sicher zu stellen, dass diese Verfassung nicht wie ihre Vorgänger auf Zurückweisung und Widerstand treffen würde, mussten darin Regierung und Parlament neue Befugnisse zugestanden werden. Von einer parlamentarischen Monarchie nach europäischem Vorbild war das Marokko der Verfassung von 197290 nach wie vor weit entfernt. Über die Artikel 66-69 besaß der Monarchen weiterhin die das Privileg, seinen Interessen zuwider laufende parlamentarische Gesetzgebung zu verhindern. Zu jeglichem Gesetzesbeschluß des Abgeordnetenhauses konnte der Monarch eine zweite Lesung verlangen. Sofern das Parlament nicht mit mindestens Zweidrittelmehrheit seinen ursprünglichen Beschluß wiederholte, besaß der König das Recht, diese Vorlage in einem eigens angesetzten Referendum ablehnen zu lassen. Damit war sie endgültig verhindert, da die Ergebnisse von Volksabstimmungen parlamentarischen Beschlüssen generell übergeordnet galten. Vorschläge für Verfassungsänderungen bedurften einer Zusammenarbeit von Monarch und Parlament, für die Festsetzung eines verfassungsändernden Referendums stand ausschließlich dem König 89 90
Perrault, Gilles: Notre ami le roi, p. 112 Addustur Al-Magribi Lisanat 1972: S. 1ff.
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die Befugnis zu. Nach Artikel 23 galt er zudem als „heilige unantastbare Persönlichkeit“, womit Kritik an seiner Politik einer „Majestätsbeleidigung“ gleichkam, sowie als Rechtsverstoß verfolgt werden konnte. Außerdem standen dem Monarchen zahlreiche Sonderrechte gegenüber den konstitutionellen Organen zu. Artikel 24 ermöglichte ihm, den Premierminister, sowie die übrigen Minister beliebig zu ernennen und abzusetzen. Über Artikel 25 führte er den Ministerrat und die beratenden Fachausschüsse der Regierung an. Über Artikel 27 war der Monarch berechtigt, das Parlament zu jedem Zeitpunkt aufzulösen. Artikel 30 gestand ihm den alleinigen Oberbefehl über die marokkanischen Streitkräfte zu. Besondere Vollmachten sicherte sich Hassan II. über Artikel 35, der ihm erlaubte, den Ausnahmezustand zu verhängen. Nach Artikel 80 verfügte der Monarch weiterhin über den Vorsitz im obersten Justizrat und konnte Gerichtsurteile beeinflussen. Der Anspruch der Opposition nach politischer Mitbestimmung und Gewaltenteilung blieb weiterhin uneingelöst. Alle staatlichen Organe – welche neuen Machtbefugnisse ihnen insgesamt zugewiesen worden waren – blieben in ihrer Funktionsweise abhängig vom König. Von der zweiten zur dritten Verfassung beschränkte sich die Entwicklung auf die Ausstattung einzelner Institutionen mit neuen Kompetenzen, ihr gesamtstaatlicher Einfluß stand weiterhin hinter der Autorität des Monarchen zurück. Eine Reform zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit war mit der dritten Verfassung nicht eingeleitet worden, so daß eine verstärkte Identifikation der Marokkaner mit ihrem Staatssystem Illusion blieb. Der zweite Umsturzversuch ausgehend vom Verteidigungsminister demonstrierte, dass Hassan II. nicht einmal die höchsten staatlichen Funktionsträger von seiner Veränderungsbereitschaft überzeugt hatte. Zwar gelang es ihm in den Folgejahren, durch die Wiedereingliederung der Westsahara an Reputation zurückzugewinnen, sowie das nächste Jahrzehnt unbeschadet zu überstehen, die Grundskepsis gegenüber seiner Politik und seiner Staatsauffassung ließ sich nicht ausräumen. Der von Osteuropa ausgehende Demokratisierungsprozess seit Ende der 80er Jahre erhöhte den Druck auf den unbeschränkten Machtpotentaten, eine neue Verfassung mit erkennbaren neuen Befugnissen für die konstitutionellen Organe ausarbeiten zu lassen, welche Hassan II. im Jahre 1996 mit dem vorgegebenen Ziel einer „Entwicklung zu mehr bürgerlicher Mitbestimmung“ vorlegte. Wesentliche Änderungen gegenüber der dritten Verfassung betrafen die legislativen Organe. Nach Artikel 36 besitzt Marokko ein Parlament, bestehend aus zwei verschiedenen Kammern, dem Repräsentantenhaus und der Ratskammer. Wie in Artikel 37 geregelt, wird die Zusammensetzung des Repräsentantenhauses alle fünf Jahre in allgemeiner, direkter Wahl neu bestimmt. Zu Beginn einer Legislaturperiode, in der sogenannten Oktober-Sitzung, wird der Präsident
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der Kammer von den Mitgliedern gewählt. Er bleibt dies gewöhnlich bis zur April-Sitzung des dritten Jahres, bei der ein neuer Präsident für die restliche Legislaturperiode bestimmt wird. Die Ratskammer umfasst nach Artikel 38 im Verhältnis von 3/5 Mitglieder, die in jeder Region durch Repräsentanten der Ortsgemeinden bestimmt werden; im Verhältnis von 2/5 Mitglieder, die von den regionalen, zuvor gewählten Berufskammern, sowie von auf nationaler Ebene gewählten Arbeitnehmervertretern bestimmt werden. Die Mitglieder der Ratskammer werden für 9 Jahre gewählt, sowie sind durch Dritte bereits alle 3 Jahre auswechselbar. Der Präsident der Ratskammer und die Präsidiumsmitglieder werden zu Beginn der ersten Oktober-Sitzung neu gewählt. Sie werden nach einer Erneuerung der Kammer durch Dritte von den einzelnen Vertretergruppen per Verhältniswahl bestimmt. Genießen die Abgeordneten beider Kammern bei der regulären Ausübung ihres Mandats eine parlamentarische Immunität, bleibt dieses Schutzrecht laut Artikel 39 bei „Infragestellen der Monarchie oder des Islam“ versagt. Der König besitzt noch weitere Rechte gegenüber dem Parlament. Er kann nach freiem Ermessen Untersuchungsausschüsse einberufen, wozu nach Artikel 42 im anderen Fall immer die Mehrheit der Mitglieder der jeweiligen Kammer aufgebracht werden muß. Zwar obliegt dem Parlament im Wesentlichen die Gesetzgebung, über ein Ermächtigungsgesetz kann nach Artikel 45 ebenso die vom König ernannte Regierung gesetzgeberische Entscheidungen treffen. Die Ermächtigungsgesetze müssen lediglich vom Parlament ratifiziert werden, was unmittelbar nach einer Parlamentsauflösung, wozu der König gegenüber beiden Kammern laut Artikel 71 das Recht besitzt, nicht möglich ist. Jeder neue Gesetzentwurf ist laut Artikel 58 von beiden Kammern zu prüfen, um zur Einigkeit über den Gesetzestext zu gelangen. Die Kammern stimmen über das Programm der Regierung ab (Artikel 60). Sie sind berechtigt, der Regierung nach den Artikeln 75 bis 77 das Vertrauen auszusprechen oder zu entziehen. Dies geschieht nach einer Vertrauensfrage seitens des Premierministers oder auf Antrag aus dem Parlament selbst. Der dazu notwendige Antrag verlangt ein Viertel der Mitglieder des Repräsentantenhauses oder ein Drittel der Mitglieder der Ratskammer, sowie das abschließende Votum der absoluten Mehrheit des Repräsentantenhauses oder eine Zweidrittelmehrheit der Ratskammer. Entzieht eine Kammer dem Premierminister das Vertrauen, muß die gesamte Regierung zurücktreten, ein Vorgang der erst ein Jahr nach erfolgreichem Misstrauensvotum wiederholt werden kann. Auf diese Weise besteht eine gewisse parlamentarische Kontrolle der Regierung, die sich zuvor fast ausschließlich dem König gegenüber verantwortlich zeigen musste. Das spezifische Recht des Monarchen, das Parlament zu erneuter Lesung von Gesetzesinitiativen aufzufordern, besteht laut Artikel 67 fort. Um eine Volksabstimmung zu umgehen, muß jener Gesetzesvorschlag nach Artikel 69 noch ein weiteres Mal in beiden Kammern mit
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Zweidrittelmehrheit bestätigt werden, womit ein Gesetz gegen den Willen des Monarchen de Fakto noch schwieriger parlamentarisch durchzusetzen ist als beim bisherigen Einkammernsystem. Neben der Einführung des Zweikammernparlaments wurde als wesentliche Neuerung in der Verfassung von 1996 ein Verfassungsrat, bestehend aus 12 Mitgliedern eingeführt. Laut Artikel 79 wird die Hälfte der Mitglieder für eine Amtszeit von 9 Jahren vom König bestimmt. Die übrigen 6 Mitglieder sind Dauermitglieder, die zur einen Hälfte vom Präsidenten des Repräsentantenhauses und zur anderen Hälfte vom Präsidenten der Ratskammer bestimmt werden. Jede Mitgliederkategorie ist grundsätzlich alle drei Jahre erneuerbar. Indem der König den Präsidenten des Rates aus den zuvor von ihm ausgewählten Ratsmitgliedern ernennt, bestimmt er die gesellschaftspolitische Tendenz des Gremiums. Der Monarch delegiert auf diese Weise zuvor unmittelbar ihm zustehende Befugnisse an ein Gremium, welches mutmaßlich in seinem Sinne urteilt. Die Hauptaufgabe des Verfassungsrates besteht laut Artikel 81 in der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Wahlen und Volksabstimmungen, die Überprüfung der Grundgesetze, sowie auf Antrag von König, Verfassungsratspräsident, dem Präsidenten einer Parlamentskammer oder einem Viertel der Mitglieder einer Parlamentskammer die Überprüfung neuer Gesetze. Einmal getroffene Entscheidungen des Verfassungsrates sind rechtlich nicht mehr anfechtbar, womit der König ohne Volksabstimmung die Verhinderung ihm nicht genehmer Gesetze, die der Verfassungsrat für „nicht verfassungskonform“ erklärt, erreichen kann. Der König besitzt laut Artikel 103 ebenso wie die Präsidenten beider Parlamentskammern das Initiativrecht für Verfassungsänderungen, die er einer Volksabstimmung unterziehen kann. Verfassungsänderungsvorschläge einfacher Parlamentsabgeordneter bedürfen dagegen laut Artikel 104 der Unterstützung durch ein Votum einer Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern, bevor sie laut Artikel 105 zur Volksabstimmung zugelassen werden und erst darauf hin als Verfassungsänderungen rechtskräftig werden. 91 Mit der vierten Verfassung von 1996 sind die Befugnisse der gewählten Legislativorgane erweitert worden, die erstmals die Möglichkeit zur echten parlamentarischen Kontrolle der Regierung besitzen. Das Zweikammernsystem kann ebenfalls als fortschrittliche Institution gewertet werden, da es über die Ratskammer regionale Eigenheiten und Interessensgegensätze von Berufgruppen verstärkt berücksichtigt. Mit dem Verfassungsrat hat Hassan II. ein allen anderen Verfassungsorganen übergeordnetes Gremium eingerichtet, über welches sich seine Palastinteressen gegenüber dem Gesetzgeber beliebig durchsetzen lassen. Jedes Gesetz kann vom König oder dem von ihm ernannten Ratspräsidenten zur 91
Addustur Al-Magribi Lisanat 1996: S. 113ff.
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Überprüfung herangezogen und anschließend abgelehnt oder zur Änderung gezwungen werden. Ausgehend davon, dass die Hälfte der Mitglieder der Monarch bestimmt und den Präsidenten des Gremiums ernennt, kann ein Urteil in seinem Sinne vorausgesetzt werden. Auf diese Weise wird die von den neu eingeführten Kammern nach den Vorstellungen des Wahlvolkes erlassene Gesetzgebung elementar eingeschränkt. Ebenso werden Verfassungsartikel, die sich als „demokratische Errungenschaft“ interpretieren ließen, von Seiten des Verfassungsrates mutmaßlich im Sinne des autokratischen Monarchen ausgelegt. Die Ämterfülle, die sich Hassan II. in den vorangegangenen Verfassungen zugebilligt hatte, bleibt im Wesentlichen bestehen. Eine Gewaltenteilung nach Maßgabe Montesquieus existiert im gegenwärtigen Marokko laut seiner gültigen Verfassung nicht. Auf seine „besondere Unantastbarkeit“ als Person wie als Institution verzichtet der Monarch in der letzten Verfassung ebenso wenig wie in den vorangegangen drei Konstitutionen. Der Verfassungstext lässt erkennen, dass Hassans II. Staatsverständnis sich von der ersten bis zur vierten Verfassung in keiner Weise geändert hat. Die verstärkten Mitbestimmungsrechte der Bevölkerung, sich manifestierend in zwei verschiedenen Parlamentskammern, können kaum als Beleg für einen demokratischen Sinneswandel des Königs interpretiert werden, vielmehr sind sie Ausdruck des Bestrebens, dem eigenen Land und seiner politischen Entwicklung ein modernes Erscheinungsbild zu verleihen. Trotz vier aufeinanderfolgender Verfassungen innerhalb von kaum mehr als dreißig Jahren wurde die autoritäre Grundstruktur des marokkanischen Staates nicht beseitigt. Gestützt auf seinen religiösen Titel als Emir El- Muminin behielt der König das Bewusstsein einer alleinigen, von Gott übertragenen Verantwortung für die Zukunft des Landes bei. Die Verfassungen dienten im Wesentlichen dazu, diesen Anspruch konstitutionell zu verankern, sowie ein prämodernes Staatsverständnis in einen modernen Rahmen zu stellen. In allen vier Verfassungen definiert sich der Monarch nicht nur als Staatsoberhaupt, sondern als eine Art „Heiliger“, der im Namen des Islam staatliche Funktionen ausübt. Kritik an seiner Position, mehr noch an der Institution Königtum bedeutet zugleich, den Islam zur Disposition zu stellen und verdient als „Hochverrat“ die Höchststrafe. In allen vier Verfassungen erscheint Marokko als „islamischer Gottesstaat“, dessen Statthalter der Monarch darstellt. Eine Übertragung von Staatsgewalt an rational legitimierte, konstitutionelle Organe steht diesem religiös gerechtfertigten Obrigkeitsbegriff entgegen. Dieser religiös legitimierte Absolutheitsanspruch unterscheidet sich prinzipiell nicht von jenem der Islamisten, zur Rechtfertigung nach außen bedarf er allerdings einer geschriebenen Verfassung. Für die Islamisten ist damit der Beweis geliefert, daß islamische Obrigkeitsstrukturen verlassen wurden, da sie den Koran als einzige islamische Verfassung interpretieren, die über jeglicher irdischen Konstitution steht. Der Anspruch zu einem explizit
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„islamischen“ Staatssystem wird durch die marokkanischen Verfassungen erhoben, zugleich aber nicht eingelöst. Die mangelnde Veränderungsbereitschaft von einer Verfassung auf die andere, die weniger aus politischer Überzeugung als aus kontextbezogenem Kalkül erfolgt, fördert die islamistische Vergangenheitsverhaftung.
3.2.2 Herausbildung politischer Parteien Neuzeitliche pluralistische Staatsysteme spiegeln sich in der Regel in der Repräsentation der verschiedensten politischen Weltanschauungen über Parteien wieder, die zum einen die politische Willensbildung beeinflussen, sowie zum anderen die Interessen und gesellschaftlichen Vorstellungen bestimmter Bevölkerungsteile zur Geltung bringen. Die offen ausgetragene Konkurrenz dieser Parteien konfrontiert den Bürger von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus mit den gesellschaftlichen Problemen, sowie verleitet zur Lösungssuche in einem zeitgemäßen Kontext. Voraussetzung für eine demokratische Konsensfindung mit der Durchsetzung der Mehrheitsauffassung ist die freie, ungehinderte politische Betätigung von und innerhalb der Parteien, sowie nicht zuletzt ein fairer Wettbewerb divergenter Parteien untereinander. Zu untersuchen gilt es, inwieweit in Marokko Parteien mit modernem Volksparteicharakter entstanden sind, mit welchen politischen Zielsetzungen diese Parteien in Vergangenheit und Gegenwart assoziiert werden, sowie ihre Rolle bei der Weiterentwicklung des politischen Systems. Besteht in Marokko ein Parteiensystem, das zur Lösung der wichtigsten Zukunftsaufgaben einen Beitrag zu leisten in der Lage ist? Erfüllen die Parteien die Voraussetzung, zu einer demokratischen Willensbildung den elementaren Kontakt zum Bürger herzustellen, oder sind ihre gesellschaftspolitischen Ideale zu weit vom Erfahrungshorizont der marokkanischen Bevölkerungsmajorität entfernt? Tragen sie über mangelndes Problembewusstsein, Abgehobenheit, sowie durch fehlende emotionale Beziehung zum Wahlbürger zur Distanzierung vom politischen Establishment bei? In einer Fokussierung auf die verschiedenen Parteien, ihre interne Struktur, gesellschaftliche Basis, sowie ihre Rolle im politischen System des postkolonialen Marokkos sollen Fehlentwicklungen aufgezeigt und Wege gefunden werden, wie über eine Reform des Parteiensystems den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts angemessen zu begegnen ist. Die längste Tradition besitzt die Istiqlal. Mit dem Ziel der staatlichen Souveränität Marokkos als „konstitutionelle Monarchie“ hatte sie sich unter französischer Besatzung 1944 herausgebildet. Über ihr unentwegtes Engagement für die Unabhängigkeit geriet sie in Konfrontation zur französischen Besatzungsmacht, die ihre Anhänger während des Zweiten Weltkrieges der Kollaboration
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mit Nazi-Deutschland bezichtigte, sowie zahlreiche Mitglieder der Partei verhaften ließ. Die Istiqlal lieferte die intellektuelle Basis, um gemeinsam mit dem damaligen Sultan Ben Jussuf, dem späteren König Mohammed V., sowie der überparteilichen Résistancebewegung den Unabhängigkeitskampf erfolgreich zu organisieren. Nach dem gemeinsamen Triumph im Kampf gegen die Protektoratsherrschaft endete die reibungslose Kooperation sowohl mit dem Monarchen als auch mit den ehemaligen Résistancekämpfern, da jede Seite den Erfolg für sich beanspruchte, sowie im postkolonialen Staat ihr eigenes Obrigkeitsmodell anstrebte. Vor allem die Positionierung im Sinne einer konstitutionellen, auf gewählten Repräsentativorganen basierenden Monarchie führte die Istiqlal in Konfrontation zum König, der gestützt auf seinen religiösen Titel, jegliche staatliche Gewalt für seinen Palast bestimmt wähnte. Stand die Partei ursprünglich links und gab sich staatsorientiert, rückte sie mit der Zeit ins Zentrum, so dass links von ihr politische Konkurrenz entstand. Eine bereits vor Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit einsetzende Tendenz zur Abspaltung von kleineren Parteien wie der PDI (Parti Democratique de l`Indépendance), sowie eine Rivalität zwischen den Gründervätern und der zweiten Generation der Parteifunktionäre standen ihrem Anspruch als „homogene Volkspartei“ und Vertreterin aller ehemaligen Unabhängigkeitskämpfer entgegen. Die fehlende Konsensbereitschaft der innerparteilichen Fraktionen untereinander begünstigte die Abspaltungstendenz und parteipolitische Zersplitterung. Zartman (1964) stellt heraus, dass die Einbeziehung bekennender Nationalisten in die Strukturen dieser mittelinks orientierten Volkspartei sowohl die Fraktionierung als auch die Neugründung einer klassischen Linkspartei als Konkurrentin provozierte, sowie eine richtungsweisende, der Gesamtbevölkerung dienliche Politik kaum noch durchsetzen ließ: The Istiqlal campaign to turn nationalist sympathizers into party members and to constitute a „homogenous“ (all-Istiqlal) government led to acquisition of eight of the fourteen ministries of the second Government of National Unity. The PDI was excluded, and its opportunistic opposition and internal factionalism reduced it to a force of only minor importance. The preindependence division between old-guard Istiqlal leaders and second-generation activists, supported by labor, led to increasing factionalism during the third (ostensibly “homogenous”) government. An open split in the party along these lines came in January, 1959, and by August, 1959, a new political constellation was formed.92
Neben der Konkurrenz von links wurde die Istiqlal vom 1961 neu auf den Thron gelangten König mit Hilfe eigens gegründeter Parteien von rechts bedrängt, so 92
Zartman, I. William: Government and Politics in Northern Africa, p. 33
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dass sie während der Ära Hassan II. nur selten parlamentarische Mehrheiten fand, ihre politischen Vorstellungen durchzusetzen, sowie fast ununterbrochen in Opposition stand. Die königstreuen Rechtsparteien verhinderten zudem, dass die auf den anerkannten islamischen Rechtsgelehrten Allal Al-Fassi zurückgehende Istiqlal ihren Anspruch als Integrationskraft des konservativen Bürgertums und der islamisch gebildeten traditionellen Elite wie beabsichtigt realisieren konnte. Obwohl sie eindeutig national-konservative Positionen vertrat, erschien die Partei vielen Traditionalisten über lange Zeit als Teil des linksintellektuellen Lagers, das mit säkularen westlichen Ideologien assoziiert wurde. Offenbar gelang es dem Monarchen, ihren Konstitutionalismus in Verbindung dem Islam entgegenstehenden Weltanschauungen zu bringen, womit sich ein Teil seiner konservativ eingestellten Kritiker mehr und mehr den Islamisten zuwandte. Erst 1998, ein Jahr vor Hassans Tod, bekam die Istiqlal die Gelegenheit, innerhalb einer Koalition aus verschiedenen Mitte-Links –Parteien Regierungsverantwortung zu übernehmen. Ihre ursprünglichen sozialpolitischen Anliegen vernachlässigte sie zunehmend, weshalb sie zuletzt deutlich an Zustimmung verlor. Hat sie ihre oppositionelle Einstellung gegenüber dem Monarchen weitgehend aufgegeben, tritt sie bis in die Gegenwart als entschiedener Fürsprecher der marokkanischen Einheit auf. Sie unterstützte Hassan II. bei der Eingliederung der Westsahara und besteht auf der Rückkehr der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla ins marokkanische Staatsgebiet als Ziel. Die Öffnung des Parteiensystems nach links ging im Wesentlichen auf Ben Barka zurück. Als ursprüngliche charismatische Führungspersönlichkeit innerhalb der Istiqlal hatte Ben Barka 1944 das Unabhängigkeitsmanifest unterzeichnet, wofür er zwei Jahre von den Franzosen inhaftiert worden war. Nach Erlangung der staatlichen Souveränität gelang es ihm als Exekutivsekretär, sich mit Hilfe der Gewerkschaft gegen parteiinterne Konkurrenten zu behaupten, sowie sein Konzept einer „marxistischen Monarchie“ als Wahlprogramm der Istiqlal festzuschreiben. Mohammed V. erkannte in Ben Barka einen einflussreichen Parteifunktionär und bediente sich seines Ansehens im Inland sowie seiner Kontakte ins Ausland, um für seinen Sohn Hassan als Thronerben die öffentliche Resonanz zu erreichen. Für Ben Barka erwies sich die anfängliche Unterstützung Hassans II. als Fehlkalkulation, da seine Politikvorstellungen weder beim neuen König noch innerhalb der Istiqlal die beabsichtigte Zustimmung fanden. Weniger links orientierte Parteifunktionäre veranlassten ihren früheren Weggefährten im September 1959 zum Parteiaustritt, sowie zur Gründung einer eigenständigen Linkspartei, der UNFP. Neben marxistisch gesinnten ehemaligen Istiqlal-Mitgliedern waren in der UNFP vor allem Studenten und Gewerkschafter aktiv, die darauf abzielten, die politische Souveränität des Staates zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit auszubauen.
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Der Konflikt zwischen Hassan II. und der Istiqlal bedeutete für die UNFP keine Unterstützung seitens des Palastes, der jeglichen, aus der Civil Society heraus entstandenen Volksparteien skeptisch gegenüberstand. Die Popularität bei den unteren Bevölkerungsschichten ließ die UNFP für den absolutistischen Herrschaftsanspruch des Königs gleichermaßen als Gefahr erscheinen wie die Istiqlal. Er bediente sich der Gewerkschaft UMT (l`Union Marocain du Travail), um die UNFP zu spalten, mit dem Ziel, verschiedene, untereinander uneinige Pateien von der Durchsetzung einer einheitlichen Oppositionspolitik abzuhalten. Das Entstehen einer auf ein eindeutiges Ziel festgelegten, von beiter Basis getragenen Oppositionspartei versuchte Hassan II. durch die Eliminierung anerkannter Autoritäten zu erreichen. Zahlreiche UNFP-Funktionäre ließ man verhaften. Ben Barka wurde nach einem bereits 1962 gescheiterten Attentatsversuch am 30. Oktober 1965 vom SDECE (Service de documentation extérieure et de contreespionnage) entführt, sowie mit Unterstützung des CIA (Central of Intelligence Agency) ermordet. Sowohl die fortgesetzte Zersplitterung der linksnationalen Volksparteien als auch der Erfolg Hassans II. bei der Etablierung seines autoritären Regimes wurzelten nicht zuletzt auf den Fehleinschätzungen der führenden nationalen Eliten Ende der fünfziger Jahre. Ben Barka war sich dieses Zusammenhangs bewusst geworden und warnte die zivile Opposition vor einer Wiederholung ihrer damaligen Irrtümer. Darif (2001) zufolge begriff Ben Barka die Uneinigkeit und Konzeptlosigkeit der nationalen Bewegung als entscheidende Ursache, daß es dem König gelingen konnte, die internen Konflikte der oppositionellen Eliten für seinen Machterhalt zu instrumentalisieren: In der Zeit zwischen 1956 und 1960 hat die nationale Bewegung drei verhängnisvolle Fehler begangen: Die nationale Bewegung hat ihre Erfahrungen in den Verhandlungen mit dem König nicht reflektiert und seine Positionen nicht bewertet. Man hat ohne Beziehung zur Bevölkerung im geschlossenen Kreis Konflikte untereinander ausgetragen. Als Folge davon war man sich seiner ideologischen Zielsetzung nicht bewusst und konnte kein gemeinsames Konzept entwickeln.93
Die zweite Generation der UNFP-Funktionäre wandte sich seit Ende der Sechziger Jahre zunehmend von der noch seit Gründungszeiten bestehenden Führungstroika ab. Man organisierte sich von Casablanca aus in der Studentenbewegung UNEM (l`Union National des Étudiants Marocain) und der Gewerkschaft UMT, sowie stellte sich gegen die von Abderrahim Bouabid von Rabat aus gesteuerte Parteispitze. Der König erkannte in den internen Rivalitäten der UNFP die Gelegenheit, die Partei zu zerschlagen. Am 2. April 1973 löste er die Parteizentrale in Rabat auf, ließ zahlreiche Funktionäre nach über Folter erzwungenem Geständ93
Darif, Mohammed: Al-Ahsab Assiyasia Al-Magribia, S. 126
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nis verhaften und wegen vermeintlicher „staatsfeindlicher Aktivitäten“ verurteilen. Angesichts der ihm gegenüber günstigeren Stimmungslage in Folge der Annexion der Westsahara zeigte sich der Monarch ab 1975 zu symbolischen Gesten an die Opposition bereit, so daß die bereits Verurteilten in einem zweiten Prozeß wieder freigesprochen wurden. Unter Führung Bouabids gründete sich die Partei als USFP neu. Sie beteiligte sich an der Parlamentswahl am 3. Juni 1977, die man aufgrund der patriotischen, für königstreue Parteien förderlichen Stimmung verlor. Das verkündete Wahlergebnis entsprach in seiner Dimension nicht der Realität, da der Monarch nicht nur die Wahlen manipuliert hatte, sondern auch Parteifunktionäre vor der Wahl verhaften ließ. Die geringen Aussichten bei Wahlen veranlassten die größten Oppositionsparteien USFP und Istiqlal, sich mit kleineren Linksparteien in einem Kutla (Block) zusammenzuschließen. Die Position gegenüber dem Monarchen wurde gefestigt, so dass 1998 unter Führung des aus dem Exil zurückgekehrten ehemaligen Dissidenten Abderrahmane Youssoufi die Regierung übernommen werden konnte. Die Öffnung der linken Volksparteien zur Mitte ließ am linken Rand mit der kommunistischen P.P.S. (Parti du Progrés et du Socialisme) und der M.P. (Mouvement Populaire) Konkurrenz entstehen. Die Einheit des linken Lagers wurde dadurch unterminiert, ohne dass die neuen, ebenfalls der staatlichen Repression ausgesetzten Parteien Einfluß auf die politische Entwicklung ausüben konnten. Die Volksnähe von UNFP/USFP und Istiqlal stand dem Staatsverständnis Hassans II. entgegen. Von Anfang an zielte er darauf ab, diese Parteien an Wahlerfolgen und parlamentarischen Mehrheiten zu hindern. Als Gegengewicht beförderte er in den Sechziger und Siebziger Jahren die Entstehung monarchietreuer Mitte-Rechts Parteien, die sich auf die traditionalistische ländliche Bevölkerung stützten. Der Monarch spekulierte darauf, über das konservative Erscheinungsbild dieser Parteien den modernistischen Linksparteien die Basis zu entziehen. Im politischen Alltag erwiesen sich diese Rechtsparteien kaum als konservative Volksparteien, sondern mehr als „prowestliche Interessenvertretungen“ von Großgrundbesitzern. Insbesondere die 1977 gegründete R.N.I. (Le Rassemblement National des Indépendants) setzte sich für die Privatisierung von Staatsunternehmen und ihren Verkauf an ausländische Großinvestoren ein. Die interessengeleitete, neoliberal ausgerichtete Wirtschaftspolitik der R.N.I. stieß bei städtischen Industriearbeitern wie in bürgerlichen Kreisen ärmerer Regionen auf Widerstand, woraus 1981 eine neue, gemäßigt marktwirtschaftlich orientierte Partei, die P.N.D. (Parti National Démocrate) entstand. Ihr Hauptanliegen war die Förderung bisher vernachlässigter ländlicher Regionen durch ein solidarisches Ausgleichssystem zwischen den Provinzen, um der Binnenwanderung und der Migration ins Ausland entgegenzuwirken. Obwohl sich R.N.I. und P.N.D. vom Grundsatz her als treue Monarchisten erwiesen, befürchtete Hassan II. in
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einer alleinigen Mehrheit einer dieser Parteien eine ihm gefährliche Machtstellung und ließ weitere Rechtsparteien als Konkurrenz entstehen. Als besonders loyal zum Monarchen gelten die FDIC (Front pour la Défense des Institutions Constitutionnels) und die U.C. (Union Constitutionnel). In Rechtskoalitionen mit R.N.I. und P.N.D. setzte sich die U.C. fast ausschließlich für die Palastinteressen ein. Unter dem Vorwand, die politische Mitte zu stärken, initiierte der Monarch 1983 außerdem noch die O.A.D.P. (Organisation de L`Action Démocratique Populaire) und die P.C.S. (Parti du Centre Social). Mit den Intitativen zur Gründung königstreuer Parteien bezweckte Hassan II., jegliche Volksparteien von Erfolgen bei Parlamentswahlen abzuhalten, sowie sich der Bildung einer ihm treu ergebenenen Regierung zu vergewissern. Schaar (1973) merkt an, dass der König selbst niemals als Funktionär der FDIC aufgetreten ist, jedoch erreicht hat, dass die Parteiführung sich aus seinen engsten Vertrauten und politischen Beratern zusammensetzte: The FDIC`s electoral objectives were to weaken the two established political parties, preserve the present character of the monarchical system, and establish the grounds for more certain governmental stability. The king has never been overtly involved in the Front, but his closest relatives, associates, and political advisers are active in its direction.94
Indem Marokko am Islam als Grundsäule seiner Gesellschaftsordnung festhielt, war es über viele Jahre hinweg gelungen, islamistische Bewegungen als Randerscheinung zu marginalisieren, sowie die Etablierung islamistischer Parteien zu verhindern. Die Orientierung der Regierungspolitik an westlichen Kapitalgebern, die nicht nur religiöse Grundsätze zur Disposition stellte, sondern ökonomisch ebenfalls nicht die angestrebte Entwicklung brachte, erwies sich als geeignet, Unterstützer für eine islamistische Opposition zu finden. Die bekannteste islamistische Bewegung, die sich bereits frühzeitig an die Verlierer der prowestlichen Modernisierung wandte, war die Al-Adl Wal-Ihsan. Schätzten sie modern orientierte Demokraten als pragmatisch und dialogbereit ein, ihr öffentliches Infragestellen der islamisch legitimierten Monarchie diente dem Palast als Legitimation, ihr die Umwandlung in eine politische Partei zu untersagen. Um religiös konservative Bevölkerungsschichten nicht in die Illegalität zu treiben, sowie ihre gesellschaftlichen Ansichten innerhalb des Parteiensystems zur Geltung zu bringen, gründete Abdelkrim Al-Khatib die MPDC (Mouvement Populaire Démocratique et Constitutionnel). Aufgrund ihrer öffentlichen Loyalität zur Monarchie konnten sich monarchiekritische Islamisten mit dieser Partei nur schwer identifizieren, so dass sie für lange Zeit keinen bedeutenden Unterstüt94
Schaar, Stuart: King Hassan`s Alternatives, p. 233
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zerkreis fand. Dieser Zustand änderte sich Mitte der Neunziger Jahre, weil die Untergrundbewegung Chabiba Islamia (islamische Jugend), die sich später in MUR (Mouvement Unité et Réforme) umbenannte, die MPDC als Grundlage entdeckte, ihr islamistisches Gesellschaftsmodell in die politische Praxis umzusetzen. MPDC und MUR vereinigen sich 1996 zur islamistischen Volkspartei PJD. 1997 trat man erstmals zur Parlamentswahl an und erreichte ein beachtenswertes Wahlergebnis. Öffentliche Kritik an der zunehmenden Orientierung der marokkanischen Gesellschaft an westlichen Zivilisationsnormen bildet ihre Grundideologie. Die Monarchie, einschließlich ihrer islamischen Rechtfertigung steht offiziell nicht zur Diskussion. Die wichtigsten Hochburgen der PJD sind die Armutsquartiere der Großstädte. Die im Vergleich zu westlichen Demokratien niedrige Wahlbeteiligung in Marokko demonstriert, dass ein großer Teil der Bevölkerung sich im gegenwärtigen Parteiensystem nicht repräsentiert sieht. Parteien werden nicht als dem Volk verpflichtet, sondern als „Alibivertretungen“ wahrgenommen, hinter denen sich die undemokratische Natur des autokratischen Regimes verberge. Als Teil eines als korrupt und eigennützig erfahrenen Systems gelingt es den Parteien nicht, die Bürger von ihrer Integrität und Unabhängigkeit zu überzeugen. Die generelle Zurückweisung des marokkanischen Parteiensystems wird nicht zuletzt mit der Tatsache gerechtfertigt, dass die Gründung einer der Bevölkerung verpflichteten Partei nicht zugelassen sei. Der verwehrte Eintritt von Islamisten wie Al-Adl Wal-Ihsan ins Parteiensystem hat diese Sichtweise bestätigt. Zwar konnte mit der PJD erstmals eine islamistische Partei zu den etablierten Parteien aufschließen, Kritik an der dominanten Stellung des Monarchen ist ihr ebenso untersagt wie ihrer parteipolitischen Konkurrenz. Die permanenten Abspaltungen und Neugründungen, die mittlerweile 26 Parteien hervorgebracht haben, sind Ausdruck einer dauerhaften Unzufriedenheit der politisch Aktiven, die nicht zuletzt mit fehlender innerparteilicher Demokratie erklärt werden kann. Eine faire Auseinandersetzung um unterschiedliche Konzepte findet innerhalb der Parteien kaum statt. Parteimitglieder mit von der Führung abweichenden Positionen sehen sich angesichts verweigerter interner Aufstiegschancen zum Parteiaustritt gedrängt. Die anhaltende Zunahme an Parteien erschwert die Einigung auf ein mehrheitsfähiges Regierungsprogramm im Sinne gesellschaftlichen Fortschritts. Politökonomische Abhängigkeit des Landes vom Westen ermöglicht den Volksparteien kaum, eine Regierungspolitik im Sinne ihrer Ideale umzusetzen, so daß die eigenen Anhänger sich frustriert von der Politik distanzieren. Ein Parteiensystem, welches modernen demokratischen Ansprüchen Rechnung trägt, sowie in der Lage ist, der Zuwendung zu radikalen islamistischen Ersatzautoritäten entgegenzuwirken, verlangt ernsthafte Konkurrenz einhergehend mit Wettbewerb um politische Inhalte. Hierzu ist der erste Schritt mit der
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Beendigung der gesteuerten Wahlfälschung vollzogen worden, womit die ausschließlich Palastinteressen vertretenen Parteien gegenüber in der Bevölkerung verankerten Parteien an Bedeutung verloren haben. Der zweite Schritt ist mit der Verabschiedung eines neuen Parteiengesetzes am 14. Februar 2006 eingeleitet worden. Es soll die zersplitterte Parteienlandschaft rationalisieren, sowie die Bildung von Allianzen und Koalitionen begünstigen. Die Parteienfinanzierung wurde im Hinblick auf staatliche Subventionen neu geregelt. Das neue Parteiengesetz zielt auf ein demokratischeres, transparenteres, sowie die Gesellschaft angemessener repräsentierendes Parteiensystem hinaus, dass auf politische Gegenwartsaufgaben vorbreitet ist, sowie in der Lage, alle Bevölkerungsschichten in den politischen Modernisierungsprozess einzubeziehen. Von den Parteien wird erwartet, selbstständig den Kontakt zum Bürger zu suchen, um zu erkennen, welchen Beitrag zur Zukunft des marokkanischen Gemeinwesens sie beisteuern können. Für die Islamisten bedeutete das Gesetz keine neue Betätigungsfreiheit, sondern verstärkte staatliche Repression, da die Funktionäre der im Parlament vertretenen PJD nun wie nicht legalisierte Bewegungen aus politischen Gründen gerichtlich belangt werden können. Kritisiert wurde außerdem, dass über die Zulassung von Parteien weiterhin das Innenministerium entscheide, da dies einer regierenden Partei die Gelegenheit biete, über die verweigerte oder nur unter Auflagen gewährte Zulassung potentielle Konkurrenz zu eliminieren. Lafrouji (2006) stellt den Inhalt des neuen Parteiengesetzes vor und interpretiert es als Rahmenvorgabe für eine eigenständige, interne Reform der Parteien: …, à mettre en place un cadre législatif propre aux partis politiques ayant pour but la rationalisation, la démocratie et de permettre la transparence de leur composition, gestion et financement en tenant compte des grandes étapes que les partis politiques ont franchies dans notre pays aux plans juridique, organisationnel et pratique ainsi que des enseignements qui en sont tirés à la lumière de l’évaluation de leur situation actuelle et de leur diagnostic d’une manière objective et approfondie en vue de déceler les points faibles et les dysfonctionnements qui limitent leur efficacité. Cette nouvelle législation vise également à hisser les partis politiques à un rang élevé afin de devenir un levier solide à même de mobiliser les efforts et les énergies des composantes de la société et de ses forces vives pour relever les défis intérieurs et extérieurs.95
Über seine Bürgerferne und Ineffizienz trägt das gegenwärtige marokkanische Parteiensystem in entscheidendem Maße zur Zurückweisung eines modernen Politikverständnisses, sowie zur Hinwendung zum Islamismus bei. Ihre interne Verkrustung angesichts eines fehlenden strukturellen Erneuerungsprozesses 95
Lafrouji, M’hammed: Droits des partis politiques et des libertés publiques, p. 8
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ermöglicht den Parteien nicht, die heranwachsende Generation für ihre politischen Inhalte zu interessieren. Die meisten Parteien sind im Umfeld von religiösen Gelehrten entstanden, die ihr islamisches Gemeinschaftsideal in der marokkanischen Politik zu realisieren beanspruchten. Historisch lassen sie sich bis auf den marokkanischen Unabhängigkeitskampf zurückverfolgen, aus dem die Führungselite bis in die Gegenwart ihre politische Legitimation bezieht. Weder wurde ein grundlegender Generationswechsel innerhalb der Führungsstrukturen vollzogen, noch der geänderte Erfahrungshorizont und die Problemstellungen der mehrheitlich jüngeren Bevölkerungsschichten erkennbar in die politische Programmatik einbezogen. Der Eindruck verfestigt sich, die politischen Parteien hätten kein Zugang zu den konkreten Anliegen und Bedürfnissen der Bevölkerung, weil sie getragen von überkommenen Idealen das Bewusstsein für die Alltagsprobleme vermissen ließen. Die innerhalb der Parteien nicht erkennbare Differenzierung zwischen der Religion entstammenden Kollektivverpflichtungen und profaner Bewältigung von Interessenskonflikten befähigt nicht zu zeitgemäßer, demokratischer Diskussion. Die Islamisten, die zumindest scheinbare Antworten auf die gesellschaftlichen Fragestellungen der Majorität besitzen, erscheinen als Alternative zu Parteien, deren in der Theorie bleibenden Diskursen man angesichts fehlender intellektueller Voraussetzungen nicht folgen kann. Ein Parteiensystem, das die Marokkaner für demokratisches politisches Engagement motiviert, sollte sich sowohl strukturell als auch inhaltlich auf die Interessen der Bevölkerung einstellen. Der Islam kann mit seinem Gemeinschaftsideal die ethische Grundlage für an der Zukunft orientierte Volksparteien darstellen, die konkrete sachbezogene Programmatik ist permanent im zeitlichen Kontext zu reflektieren. Anstatt vorgegebener Parolen sollte ein dynamischer, innerparteiischer Diskurs mit abweichenden Positionen die Konzeptentwicklung begleiten, in den die Bevölkerung mit einzubeziehen ist. Parteien, die in der Lage sind, flexibel auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren, sowie neu aufkommende Probleme angemessen in den politischen Konzeption zu Geltung zu bringen, stiften nicht nur eine Volksparteiidentität, sondern stellen zugleich die Attraktivität der Demokratie her.
3.2.3 Die Entwicklung des parlamentarischen Systems Ein wesentliches Element des modernen, demokratischen Konstitutionalismus stellt ein in regelmäßigen Abständen frei gewählten Parlament dar, dass neben seiner legislativen Funktion und als Kontrollorgan der Regierung den Raum für kontroverse politische Debatten bietet. Kennzeichen eines funktionierenden Parlamentarismus sind das Interesse der Civil Society an den im Parlament statt-
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findenden Diskussionen, die Förderung der politischen Meinungsbildung, sowie die parlamentarische Aufarbeitung von Missständen innerhalb von Politik und Gesellschaft. Gegenstand der Erörterung stellt die Entwicklung des Parlamentarismus in Marokko unter Berücksichtigung der genannten Kriterien dar. Ist der marokkanische Parlamentarismus in der Lage, seine Aufgabe entsprechend moderner konstitutioneller Staatssysteme zu erfüllen? Kann das marokkanische Parlament zur Entwicklung einer demokratischen Identität beitragen? Die rechtlichen Rahmenbedingungen für marokkanische Parlamente nach den bisherigen Verfassungen sind zu untersuchen, inwieweit sie für demokratischen Parlamentarismus die Grundlage bieten. Ebenso verlangt das Selbstverständnis von Abgeordneten einer Reflexion, ob sich daraus eine Verpflichtung gegenüber der Bevölkerung ableiten lässt, die den Bezug zur Demokratie herstellen kann. Letztlich gilt es die parlamentarische Rolle vom religiös-kulturellen Kontext aus zu bewerten und eine Einschätzung zu wagen, ob durch ein demokratisch gewähltes Parlament das vorhandene, islamische Gemeinschaftsbewusstsein der Marokkaner vertieft wird. Bereits in der ersten verfassungsgebenden Versammlung nach Wiedererlangung der Souveränität drängten Vertreter der Istiqlal den damaligen König Mohammed V., die Grundlagen für ein aus verschiedenen Fraktionen zusammengesetztes Parlament festzulegen. Man beanspruchte eine parlamentarische Monarchie nach europäischem Vorbild. Mohammed V. wie sein Sohn Hassan II. lehnten staatliche Gewaltenteilung ab und zeigten sich nicht bereit, ihre monarchischen Befugnisse von einem unabhängigen, dem Volk verpflichteten Repräsentativorgan kontrollieren zu lassen. Ging Mohammed V. auf die Forderung aus der Zivilgesellschaft erst gar nicht ein, gestand Hassan II. lediglich ein von der Gunst Seiner Majestät abhängiges „Alibiparlament“ zu. Dessen parlamentarische Befugnisse wurden in der ersten Verfassung von 1962 festgelegt. Dem Parlament wurden nur in soweit eigenständige Rechte zugestanden, wie der König für opportun befand, um einerseits der Opposition die Resonanz zu entziehen, sowie andererseits so viel wie möglich exekutive und legislative Entscheidungsautorität beim Palast zu behalten. Der Monarch gestand sich das Privileg zu, das Parlament auflösen und zu einem beliebigen Zeitpunkt Neuwahlen auszuschreiben. (Art.27) Zudem war er in der Lage, Regierungen ohne parlamentarische Mehrheiten einzuberufen und zu entlassen (Art.24). Hassan II. wandte seine Rechte gegenüber dem Parlament bei den verschiedensten Gelegenheiten an. Parlamentarisch bestimmte Regierungen wechselte er gewöhnlich nach nur wenigen Monaten im Amt wieder aus. In den Jahren 1965 bis 1970 regierte er ununterbrochen ohne parlamentarische Kontrolle, indem er nach einer Parlamentsauflösung die angekündigte Neuwahl immer wieder hinauszögerte, während er mittels Notstandsverordnungen (nach Art.35) selbstständig Gesetze erließ. Die größte
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Einschränkung des Parlamentarismus ergab sich in der Festlegung, dass dem Parlament nur die Gesetzgebung „im eigentlichen Sinne“ zustehe, nicht aber das Verordnungswesen, welches der vom König ernannten Regierung unterstand (Art.68). Das Unterzeichnungsrecht des Monarchen für bereits mit Mehrheit verabschiedete Gesetze (Art.70) ließ die Durchsetzung seinen Interessen entgegenstehender legislativer Vorhaben nahezu unmöglich erscheinen.96 Dem demokratischen Bewusstsein der marokkanischen Civil Society widersprach dieses in seinen Kompetenzen erheblich eingeschränkte Parlament eindeutig. Die Opposition hielt an ihrer Forderung fest, ein Parlament einzurichten, das befugt sei, Regierungen zu bestimmen, sowie nach freiem Ermessen Gesetze zu erlassen. Die Oppositionsparteien hatten erkannt, dass ihre Politik- und Gesellschaftsvorstellungen sich nur verwirklichen ließen, wenn sich parlamentarische Majoritäten in der Gesetzgebung widerspiegelten. Die Forderung nach einer Ausweitung der parlamentarischen Befugnisse besaß für die zivile Widerstandsbewegung Priorität. Der Monarch sah sich veranlasst, in der Verfassung von 1972 Reformen in das Parlament betreffenden Angelegenheiten durchzuführen. Hierzu zählte die Erhöhung der Abgeordnetenzahl (Art. 43). Da die Parlamentswahlen von Manipulation und fehlender Chancengleichheit der Parteien bestimmt blieben, brachten diese ausschließlich quantitativen Änderungen den monarchiekritischen Volksparteien kaum erkennbare Erfolge bei der Durchsetzung ihrer Politik. Reformen im Gesetzgebungsverfahren zielten ebenso wenig auf eine souveräne Rolle des Parlaments ab. Zwar wurden die Bereiche der parlamentarischen Gesetzgebung gegenüber dem von der Regierung bestimmten Verordnungswesen ausgeweitet (Art. 45), dem König stand nach wie vor das Recht zu, seinen Interessen widersprechende Gesetze zu verhindern. Zudem bestand das monarchische Privileg, für jedes neue Gesetz eine zweite Lesung zu verlangen, in der es eine Zweidrittelmehrheit benötigte. Anderenfalls konnte der König das Gesetz über eine Volksabstimmung zurückweisen lassen (Art. 66-68). Hiermit besaß er eine Art „Vetorecht“ gegenüber jeglicher parlamentarischer Gesetzgebung. Die Abgeordnetenkammer war nicht in der Lage, ihre Funktion als Kontrollorgan gegenüber König und Regierung hinreichend wahrzunehmen, da der Monarch bis in die Gegenwart laut Verfassung jeglicher Kritik entzogen ist (Art.23), sowie den Premierminister und alle übrigen Minister selbst ernennen bzw. abberufen konnte (Art.24). Das Recht des Königs, das Parlament aufzulösen, wurde beibehalten (Art.70), so dass Hassan II. nach der dritten Verfassung noch immer die Möglichkeit zu eigener Legislativgewalt besaß und weitere sechs Jahre (1971 bis 1977) ohne Parlament regierte.97
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Addustur Al-Magribi Lisanat 1962: S. 1ff. Addustur Al-Magribi Lisanat 1972: S. 1ff.
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Erst in der jüngsten Verfassung von 1996, in der ein Zweikammernparlament bestehend aus einem Repräsentantenhaus und einer Ratskammer eingeführt wurde (Art.36), sind die Rechte des Parlaments vor allem gegenüber der Regierung merklich gestärkt worden. Die erste Kammer, das Repräsentantenhaus, besteht seit den Wahlen von 1997 ausschließlich aus frei vom Volk gewählten Abgeordneten (Art.37). Zwar obliegt dem Monarchen weiterhin die Befugnis, für die Gültigkeit eines Gesetzes eine zweite Lesung mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit zu verlangen – nun sogar in zwei Kammern - (Art.67-69), die Regierung muß sich unmittelbar vor dem Parlament verantworten (Art.75). Das Recht zu parlamentarischen Untersuchungsausschüssen erlaubt dem Parlament, Regierungshandeln kritisch zu beleuchten sowie gegebenenfalls die Verantwortlichen für vermeidbare Fehler zur Rechenschaft zu ziehen. Beide Kammern besitzen die Befugnis, dem Premierminister das Vertrauen zu entziehen, womit die Demission der gesamten Regierung auf parlamentarischem Wege erreicht werden kann (Art 76,77). Zwar besitzt der König nach wie vor das Privileg, eine oder beide Parlamentskammern aufzulösen (Art.71); er muß spätestens drei Monate nach der Auflösung eine Neuwahl ansetzen und darf hernach dieselbe Kammer erst nach einem Jahr wieder auflösen (Art.72). Auf diese Weise ist das Parlament sowohl in seiner Funktion als Kontrollorgan der Regierung als auch als gewählte Volksvertretung aufgewertet worden. Das Zweikammernsystem mit der eigenständigen, aus Berufsständen bestehenden Ratskammer soll dazu beitragen, mehr Fachkompetenz im Gesetzgebungsverfahren zu mobilisieren. Kritiker sehen die von Interessengruppen dominierte, nur indirekt vom Volk gewählte Ratskammer als „watchdog“ gegenüber einem unbotmäßigem Repräsentantenhaus, dass aufgrund seiner alleinigen Bestimmung über freie Wahlen in seiner Zusammensetzung vom Monarchen nicht mehr zu kontrollieren ist. Im Verhältnis zur obersten Judikative hat die letzte Verfassung den Einfluß des Parlaments gegenüber dem König in der Praxis verringert. Zwar steht den Präsidenten beider Kammern das Recht zu, jeweils drei der zwölf Mitglieder im sogenannten Verfassungsrat zu bestimmen, da der Monarch nicht nur die anderen sechs Ratsmitglieder, sondern ebenso den Vorsitzenden bestimmt, dessen Votum bei Stimmengleichstand doppelt zählt (Art.79), verfügen seine Anhänger im Regelfall über die Mehrheit im höchsten judikativen Entscheidungsorgan. Der Verfassungsrat besitzt die Kompetenz, jedes Gesetz als „nicht verfassungskonform“ zurückweisen oder zu Abänderungen zu zwingen (Art.81). Über den Verweis eines neuen Gesetzes an den ihm tendenziell nahe stehenden Verfassungsrat besitzt der Monarch de Fakto die Möglichkeit, Gesetze ohne vorheriges Referendum verhindern zu lassen.98 98
Addustur Al-Magribi Lisanat 1996: S. 113ff.
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Mit der Verfassung 1996 sind dem Parlament erstmals erkennbare neue Rechte gegenüber anderen Staatsorganen zuerkannt worden. Sowohl für die Regierung als auch für den Monarchen stellt das Parlament einen Machtfaktor dar, der auf verfassungsrechtlichem Wege nicht mehr einfach übergangen werden kann. Damit verfügt die Zivilbevölkerung über unmittelbaren politischen Einfluß auf nationaler Ebene. Das Volk wird in die Lage versetzt, die politische Entwicklung mitzubestimmen. Das Parlament stellt ein Medium dar, über das die Interessen der Bevölkerung in der Politik zum Ausdruck gelangen. Die Stellung des Parlaments spiegelt die Stellung der gesamten Demokratie wieder. Wenn die Bürger ihr Recht zur Parlamentswahl nicht oder nur in geringem Unfang wahrnehmen, kann das nicht zuletzt auf eine nach wie vor unzureichende staatliche Aufgabenteilung zurückgeführt werden. Hieraus erwächst die Forderung nach einer grundlegenden Staatsreform, wozu mit der Parlamentsreform ein erster Schritt eingeleitet wurde. Das demokratisch gewählte Abgeordnetenhaus sollte für weitere politische Reformierung Initiative ergreifen. Die Identifikation mit staatlichen Organen erfolgt erst über den demokratischen Einfluß auf diese Institutionen, sowie das Bewusstsein, die Repräsentanten zu gegebener Zeit für ihre politischen Entscheidungen innerhalb des Systems zur Verantwortung ziehen zu können. Darif (1996) interpretiert eine grundlegende Erneuerung des politischen Systems in Marokko als fortbestehende Verpflichtung aus dem staatlichen Unabhängigkeitskampf. Den demokratischen Parlamentarismus sieht er erst als erreicht an, wenn sowohl die Konstitution als auch die Politik sich an demokratischen Grundsätzen orientiert: Der politische Ausgleich erfordert eine Neuregelung des Parlamentarismus. Diese Neuregelung erfolgt auf zwei Ebenen - Konstitutionell und Politisch. Die konstitutionelle Ebene geht einher mit einer Verfassungsreform, die sechs wesentliche Aufgaben zu erfüllen hat: Die Festsetzung der allgemeinen Menschenrechte, die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen den staatlichen Institutionen zueinander, die Zuweisung von Kontrollgremien für jedes Staatsorgan, die Etablierung einer Demokratie nach den kulturellen und regionalen Gegebenheiten, die Neufestlegung aller bedeutenden Verfassungsorgane, sowie die verfassungsrechtliche Begrenzung des Ausnahmezustands. Die politische Ebene erfordert die Durchsetzung des demokratischen Manifests vom 11.01.1994, ausgehend vom Ziel, die im Unabhängigkeitskampf erlangte territoriale Souveränität zu einer vollständigen Souveränität unserer mündigen Bürger auszubauen.99
Marokko benötigt eine tiefgreifende Parlamentsreform, welche die Abgeordnetenkammern als unabhängige Staatsgewalt, sowie darüber hinaus als oberste und 99
Darif, Mohammed: Al-Magrib Fi Muftaraq Atturuq, S. 107
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alleinige Legislative festschreibt. Jegliche Reform bleibt zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht das Bewusstsein vermitteln kann, dass parlamentarische Gesetzgebung Veränderung bewirkt, die durch die Teilnahme an Wahlen beeinflussbar ist. Eine dauerhafte demokratische Entwicklung kann erst eintreten, wenn in der Bevölkerung Demokratie als Wert an sich erkannt wird. Für die Transparenz parlamentarischer Abläufe wie die Würdigung von Majoritätsentscheidungen erweist sich die Aufklärung der Bürger über die Aufgaben des Parlaments als elementar. Die Wirkungsweise demokratischer Parlamente sollte zum Unterrichtsprogramm erhoben werden. Mißstände innerhalb des parlamentarischen Betriebs wie Korruption müssen öffentlich thematisiert und aufgearbeitet werden. Als Folge der erhöhten parlamentarischen Einflussmöglichkeiten sind die Ansprüche an die moralische Integrität von Abgeordneten gewachsen. Eine kritische Öffentlichkeit überwacht die Aufrichtigkeit des einzelnen Parlamentariers, so dass sich illegitime Handlungen nicht mehr vor der Bevölkerung verbergen lassen. Die Civil Society konnte in jüngster Zeit dazu beitragen, dass langjährig unbemerkte politische Skandale aufgedeckt wurden. Bei der Regelung des parlamentarischen Ablaufs sind nicht unreflektiert westliche Modelle zu übernehmen. Es gilt das Selbstbewusstsein für eine marokkanische Variante der parlamentarischen Demokratie zu entwickeln. Noch wichtiger erweist sich der unmittelbare Kontakt der Abgeordneten zum Wahlkreis, wo sich die Stimmung der Bevölkerung sowie die praktischen Auswirkungen eines Gesetzes erfahren lassen. Ein permanenter Praxisbezug, einhergehend mit der Bereitschaft, die eigenen Interessen den Ansprüchen der Wähler unterzuordnen, stellen den Garanten, dass parlamentarische Arbeit als „Dienst für das Volk“ aufgefasst und nicht als elitärer Mechanismus erfahren wird. Die Entwicklung zu einer aufrechten parlamentarischen Monarchie, wie sie bereits im Unabhängigkeitskampf gefordert wurde, ist erst mit der jüngsten Verfassungsreform in der Endphase der Ära Hassan II. eingeleitet worden und bislang nicht über Ansätze hinausgekommen. Ein religiös legitimiertes, autoritäres Obrigkeitsverständnis des Palasts erwies sich nicht als mit demokratischem Parlamentarismus vereinbar. Das Bewusstsein, gesellschaftliche Anliegen über ein demokratisch gewähltes Parlament zu Geltung bringen zu können, bildete sich innerhalb der marokkanischen Bevölkerung nur mangelhaft aus, so daß selbst dem aktuellen, im regionalen Vergleich einflussreichen Parlament geringes Interesse entgegengebracht wird. Die Vermittlung eines demokratischen Tendenzen entgegenstehenden Islamverständnisses ermöglicht radikalen Islamisten für ihre prämodernen Obrigkeitsmodelle, die parlamentarische Majoritätsfindung sowie die Teilnahme an Wahlen ausschließen, innerhalb der Gesellschaft auf Resonanz zu treffen. Die erfolgreiche Integrierung einer islamistischen Partei in die Parlamentsarbeit demonstriert eine grundsätzliche Vereinbarkeit von Parlamentaris-
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mus und islamischem Wertebewusstsein. Hieraus erwächst die Forderung nach einem eigenständigen marokkanischen Parlamentarismus, der in der Lage ist, die Aufgaben der Zukunft auf demokratische Weise zu bewältigen. Nur eine umfangreiche Parlamentsreform, gerechtfertigt über ein zeitgemäßes Islamverständnis, stellt den parlamentarischen Weg als erfolgreiche Variante heraus, islamischen Gemeinsinn in der Politik zur Geltung zu bringen. Erst ein Parlament, das den Bezug zu den Alltagsproblemen der Bevölkerung in seiner Gesetzgebung und Debattenkultur widerspiegelt, motiviert zur Partizipation und lässt die moderne Staatsordnung gegenüber prämodernen Ordnungsstrukturen attraktiv erscheinen.
3.2.4 Republik oder Monarchie? Angesichts der nicht aus einer Wahl hervorgegangenen, sondern dynastisch vererbten Stellung des marokkanischen Königs kommt unter den Eliten des Landes immer wieder die Diskussion auf, ob die Abschaffung dieser, aus prämoderner Zeit stammenden Dynastie zu mehr politischem Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und islamischer Wertegebundenheit beitragen könne. Der Blick auf die ehemalige Protektoratsmacht Frankreich, wo die erste demokratische Staatsverfassung Ende des Achtzehnten Jahrhunderts mit der Entledigung eines Jahrhunderte das Land beherrschenden Königtums einherging, verleitet zu der Ansicht, die Monarchie sei ein Element vormoderner Staatlichkeit, sowie für zivilisatorische Weiterentwicklung zu überwinden. Die religiöse Herrschaftslegitimation, welche die gegenwärtigen marokkanischen Könige mit absolutistischen Dynastien des prärevolutionären Europas teilen, wird von frankophon gebildeten Eliten als „rückständiges Element“ wahrgenommen. In islamistischen Kreisen interpretiert man die Monarchie als Blasphemie, da die genetische Abstammung der Alaouitendynastie vom Propheten Mohammed zum einen nicht belegt sei, sowie zum anderen der moderne, durch den König repräsentierte Nationalstaat mit dem prophetischen Ordnungsmodell in keiner Weise konform gehe. Vom demokratietheoretischen wie islamischen Hintergrund gilt es zum Diskussionsgegenstand Stellung zu beziehen, ob Marokko künftig als Monarchie bestehen bleiben, sich zu einer modernistischen Republik entwickeln oder durch ein islamisches Khalifat nach frühislamischen Vorbild zu ersetzen sei. Die wesentlichen Argumente von Befürwortern wie Gegnern der Monarchie in Vergangenheit wie Gegenwart gilt es auszuwerten, sowie herauszufinden, ob sich dahinter demokratische Gesinnung und islamisches Bewußtsein oder Rückwärtsgewandtheit, Nostalgie, illusionäres Elitendenken, sowie der Anspruch auf eigene, noch weniger demokratische Herrschaftsausübung verbergen. Im Vergleich mit republikanischen
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und monarchistischen Staatsystemen der westlichen wie der islamischen Zivilisation verlangt es einer Positionierung, welche Modelle zukunftsweisender, sowie für Marokko angemessener erscheinen. Ausgehend von der Tatsache, dass der republikanische Gedanke romanischen Ursprungs ist, können die republikanischen Ansichten in entscheidendem Maße auf die Konfrontation mit den politischen Ideen des romanischen Sprachraums zurückgeführt werden. Kamen aus diesem Zivilisationsraum über Jahrhunderte die Hauptinvasoren Marokkos, die im frühen Zwanzigsten Jahrhundert eine zeitweilige Fremdbeherrschung des nordafrikanischen Landes erreichten, gelangten hiermit ebenso die politischen Zielvorstellungen romanischer Intellektueller an die marokkanische Elite, die sich ihr „Neues Marokko“ hierauf zu gründen beanspruchte. Die Forderung nach einer Republik ist lange Zeit fast nie aus den unteren Bevölkerungsschichten, sondern zumeist von prowestlichen – genauer gesagt frankophon gebildeten Eliten erhoben worden. In Frankreich verbindet die Majorität der Historiker die Einführung demokratischer Staatsstrukturen mit der eigenen Revolution von 1789, welche mit der Gründung der sogenannten „Ersten Republik“ einherging. Die Tatsache, dass daraufhin in Frankreich erneut dreimal eine Monarchie wieder eingeführt wurde, ohne dass die Modernisierung als Prozess zum Stillstand gekommen wäre, mag die Assoziation von Modernität mit der Republik bereits in Zweifel ziehen. Die Theoretiker der französischen Aufklärung wie Voltaire, Montesquieu und Rousseau, die alle vor der Hinrichtung Ludwigs XVI. (1793) ihre Hauptwerke verfassten, haben die Monarchie als Institution nie öffentlich zur Disposition gestellt. Davon abgesehen ergibt sich die Frage, warum Marokko für sein Staatsmodell ausgerechnet seine ehemalige Protektoratsmacht zum Vorbild nehmen sollte, von welcher man sich – mit Unterstützung der Monarchie - erfolgreich gelöst hat. Der absolutistische Führungsstil Hassans II., der sich nur unwesentlich von den Bourbonenherrschern im vorrevolutionären Frankreich unterschied, mag hierfür als Rechtfertigung herhalten. Die marokkanische Civil Society erreichte in den letzten Jahren einen gesellschaftspolitischen Reformprozess, der in der arabischen Welt kaum Vorbilder kennt, obwohl dort - von den Golfstaaten und Jordanien abgesehen - die postkolonial erneuerten Monarchien nach nur wenigen Jahren durch Republiken ersetzt wurden. Demokratische Strukturen brachten diese Republiken in den meisten Fällen nicht hervor. Während in Marokko ein zwar vom König gelenktes, vom Grundsatz her pluralistisches Parteiensystem sich herausbilden konnte, basieren die Republiken des übrigen Nordafrikas im Wesentlichen auf Einparteiendiktaturen, die durch Wahlen herbeigeführte Regierungswechsel mit einer Änderung der politischen Grundtendenz unmöglich erscheinen lassen. Ein frei gewähltes Parlament, welches Regierungen abberufen kann, ist in Marokko erst in der jüngsten
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Verfassung von 1996 in Ansätzen verwirklicht worden. Vom demokratischen Standpunkt aus kann der marokkanische Parlamentarismus im Vergleich zu den republikanischen Nachbarstaaten als „Fortschritt“ aufgefasst werden, wo Regierungen ausschließlich vom Staatsoberhaupt oder vom Militär eingesetzt werden. Die Konsequenz zeigt sich in einer noch geringeren Identifikation von Bevölkerung und Staatsführung, sowie in gewaltbereiten islamistischen Widerstandsbewegungen. Unabhängig von der Frage nach den gesamtstaatlichen Machtstrukturen, die in fast allen Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas – Monarchien wie Republiken – in keiner Weise demokratisch sind, erweist sich die Identifikation mit dem Staatsoberhaupt für die kollektive Akzeptanz gesellschaftlicher Neuerungen von entscheidender Bedeutung. Verfügt ein Staatschef über besondere, ihm zugewiesene Eigenschaften, ist er in der Lage, die Civil Society auf bevorstehende Veränderungen einzustimmen. Dem Bedürfnis nach paternalistischer Führung in einem Zeitalter, in dem geordnete, übersichtliche Strukturen immer weniger erfahren werden, kann von einem Monarchen leichter entsprochen werden, da ein Monarch von traditionsgebundener Bevölkerung eher mit charismatischer Wesensart assoziiert wird als ein republikanisches Staatsoberhaupt. Der Monarch gilt nicht als der „höchste Amtsträger“, sondern als Repräsentant des Staates nach innen und außen. Erfährt politische Mitsprache Relevanz, um die gesellschaftliche Entwicklung mitzubestimmen, ist für traditionelle Bevölkerungsschichten eine Führungsautorität, der zugetraut wird, eine dem Kollektiv dienliche Richtung vorzugeben, von enormer Bedeutung. Monarchen besitzen, wie Anderson (2000) konstatiert, aufgrund ihrer zugeschriebenen Charakteristika gegenüber nicht selten auf ein breiteres Publikum distanziert wirkenden republikanischen Führern einen entscheidenden Vorteil: The magnitude of the transformation produces exceptional uncertainty and amplifies the importance of statecraft, personal skills and relationships, and brute force in government. In all of these respects, monarchy may have an advantage over its republican counterpart in that the monarchs (...) are expected to rely on personal attributes and virtues. They are neither sustained nor burdend by the impersonal rules and procedures of routinized bureaucracies and consolidated legislatures, as ostensibly republican rulers are expected to be.100
Das Monarchen anhaftende Image, mit „unvergleichlichen Eigenschaften“ versehen zu sein, wird im marokkanischen Monarchiemodell durch die Aufrechterhaltung der historischen religiösen Herrschaftslegitimation bestärkt. Der Verweis auf die scherifische Abstammung des Königs, der sich im Titel „Emir El- Mumi100 Anderson, Lisa: Dynasts and Nationalists: Why Monarchies Survive, p. 55
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nin“ manifestiert, wird mit besonderer Integrität und Pflichtbewusstsein assoziiert. Ihm wird zugebilligt, nicht nur der Vertreter einer ihn stützenden Interessensgemeinschaft zu sein, sondern darüber hinaus Hüter des Islam, sowie Garant für die Rechte und Freiheiten der Bürger. Diese tatsächliche oder vermeintliche religiöse Unversehrtheit verleiht dem Monarchen die politische Autorität, als notwendig erkannte Reformen gegen Widerstände aus Teilen der Gesellschaft durchzusetzen. Waren die marokkanischen Könige damit einerseits in der Lage, bis in die Gegenwart ihrem Palast eine absolutistische Einflusssphäre in allen Staatsgewalten zu erhalten, verhinderten sie andererseits, dass die Modernisierung ihres Landes ausschließlich als vom Westen bestimmte Wertentfremdung aufgefasst wird und steuerten gelegentlich Inflexibilität innerhalb des zivilen politischen Establishments entgegen. Ihre grundsätzliche Akzeptanz, sowohl bei gemeinhin als „königstreu“ geltenden Parteien als auch bei langjährigen Oppositionellen, verleiht den Monarchen die Autorität, zu einer innergesellschaftlichen Konsenssuche beizutragen, sowie für eine dynamische Weiterentwicklung der Gesellschaft die ideelle Vorreiterrolle abzugeben. Leveau (2000) schreibt der marokkanischen Monarchie angesichts der erfolgreichen Übertragung von symbolischer Stellung in politische Macht die Fähigkeit zu, gleichzeitig die nationale Identität aller Marokkaner zum Wohle der inneren Einheit zu festigen, sowie die Modernisierung des Staates voranzutreiben: Moroccan monarchy, in its current form, is a historical- political construction, intended to persuaded people to believe in the perenniality of its structures. Through their faith in the institution of monarchy, the people grant the monarch legitimacy in the eyes of both his partners and his opponents. The symbolic power of the monarch as the commander of the faithful can be very effectively converted into real power. By following this path, the monarchy has influenced the state`s modernization and ensured the preservation of a strong national identity and the keeping of a unitarian framework.101
Unter Marokkos Dynastien waren bis in die Neuzeit neben pluralen Weltanschauungen die verschiedensten Ethnien und Religionen am zivilisatorischen Entwicklungsprozeß beteiligt. Das marokkanische Monarchiemodell zeigt sich als gelungenes Beispiel, wie trotz staatlicher Förderung der arabisch – islamischen Mehrheitskultur, Minoritäten ihre Stellung in der Gesellschaft aufrecht erhalten können. Die Eigenheiten jüdischer und christlicher Minderheiten wurden über die Jahrhunderte hinweg von den Dynastien geschützt. Karrierechancen wurden ihnen aufgrund ihres religiösen Hintergrundes nicht verweigert, so daß 101 Leveau, Remy: The Moroccan Monarchy: A Political System in Quest of a New Equilibrium, p. 119
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einigen von ihnen der Aufstieg bis in höchste Staatsämter gelang. Ein mit der Protektoratsmacht eingedrungenes, frankophones Element ist zu keiner Zeit zwangsweise zu eliminieren versucht worden, wie wohl Arabisch mit der Wiedererlangung der Souveränität den Status als offizielle Amtssprache zurückerlangte. Anders als in mancher arabischen Nachbarrepublik stehen in Marokko französische Bildungseinrichtungen Interessenten weiterhin offen. Seit den Neunziger Jahren bekennt sich auf Initiative des Königs der Staat neben seiner arabischen offiziell zu seiner berberischen Wurzel. Die berberischen Dialekte haben den Rang einer Unterrichtssprache erhalten. Die Erhebung des Berberischen zur zweiten Amtssprache erscheint nur noch eine Frage der Zeit. Diese, vom Monarchen öffentlich akzeptierte und bewusst geförderte Pluralität steht im Gegensatz zu den Zwangsarabisierungen mancher postkolonialer Republik, entsprach der historisch gewachsenen Realität Marokkos mehr, sowie stellt einen Garanten für den inneren Ausgleich des Landes dar. Anderson (2000) konstatiert, das theoretische Fundament der Monarchien baue bereits auf der Ungleichheit und Heterogenität auf, die sich in der politischen Praxis widerspiegele: The theories of legitimation that accompany and support monarchy, by contrast, discourage formal interchangeability among subjects. Monarchies promote and defend definitions of the roles of kings and their subjects that emphasize inequality, diversity, and personal fealty. As a result, kings not only endorse societal diversity, inequality, and multiplicity as constitutive principles of politics; they deliberately create and maintain complex social structures in practice.102
Die einheitsstiftende Wirkung der marokkanischen Monarchie ist bis ins politische System hinein spürbar. Zugleich lässt sich nicht leugnen, daß der gesellschaftliche Modernisierungsprozess hinter den Ansprüchen der Civil Society in den letzten Jahren permanent zurückstand. Ist ein Monarch grundsätzlich in der Lage, zivilisatorischen Fortschritt zu begleiten und zu fördern, missbrauchten die marokkanischen Könige ihre religiös legitimierte Autorität allzu oft zur Hinauszögerung notwendiger Reformen. Die traditionellen Werte, die die islamische Monarchie verkörpern soll, sind kaum noch bestimmend geblieben, da gesellschaftliche Veränderung sich grundsätzlich nicht aufhalten ließ, die angemessene Partizipierung an den Errungenschaften der Moderne blieb den Marokkanern bislang weitgehend versagt. Mehr und Mehr wurde eine Diskrepanz zwischen dem ethischen Anspruch der religiös legitimierten Monarchie und der von Materialismus und Säkularität geprägten Alltagsrealität offenbar. Die Frage kam auf, ob die Monarchie eine zeitgemäße Wertegebundenheit angesichts einer religiösen Rechtfertigung prämoderner Autoritätsbeziehungen behindere. Vermittelt der 102 Anderson, Lisa: Dynasts and Nationalists: Why Monarchies Survive, p. 61
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König der älteren Generation nach wie vor das Bewusstsein, über seine vom Islam zugewiesene Position der Gesellschaft zivile Rechte und ethische Normen zu garantieren, konstatiert Munson, Jr. (1993), daß jüngere Marokkaner die Monarchie kaum noch mit gemeinschaftsstiftenden Werten, sondern mit einem Relikt aus einer vergangenen Epoche assoziierten, das ihnen den Zugang zu den Chancen der vom Westen ausgehenden Moderne erschwere: Morerover, the authoritarian values exemplified by the Moroccan monarchy have been seriously eroded by the transformation of Moroccan society in the twentieth century. More and more educated young Moroccans regard them, like the monarchy itself, as anachronistic.103
Der erkannte Widerspruch zwischen der religiösen Legitimierung des marokkanischen Königs und einer immer weniger religiös geprägten Gesellschaft bestärkt monarchiekritische Islamisten in ihrer Ansicht, die Monarchie stehe dem Islam entgegen. Entweder man erkenne im Monarchen grundsätzlich keine religiöse Autorität oder die Monarchie diene als negatives Beispiel, religiöse Ethik gegenüber opportunistischer Interessensdurchsetzung zurückstehen zu lassen. Diese Auffassung verkennt die Tatsache, dass viele Marokkaner den König zwar nicht mehr als religiös-moralisches Vorbild anerkennen, dem Königtum als staatspolitischer Institution weiterhin Bedeutung für die Stabilisierung des Landes beimessen. Die islamistische, gegen die Monarchie gerichtete Argumentation stellt auf der Bewusstseinsebene ebensowenig eine Trennung zwischen Staat und Religion her wie die autokratischen Monarchen, die man zu Recht kritisiert. Moderne Monarchieanhänger argumentieren nach rationalen Nützlichkeitserwägungen, worin sie sich von westlichen Monarchisten kaum unterscheiden. Die Mehrheit der anglikanischen Christen mißt Elisabeth II. als offiziellem Oberhaupt ihrer Kirche keine Bedeutung für ihre Beziehung zur Religion bei, als Bürger Großbritanniens sieht man die Royals gleichwohl als Teil seiner britischen Identität. Man muß die marokkanische Monarchie nicht als „Hüterin des Islam“ verstehen, geschweige denn das Königtum als „Heilige Institution“ anerkennen, um zu dem Schluß zu gelangen, dass der König ein nicht zu leugnender Einheitsstifter Marokkos darstellt. Der Bezug der Monarchie zum islamischen Fundament des Staates erscheint hierzu der Garant. Der Verweis auf die Religion überträgt dem Monarchen eine elementare Verantwortung zum Erhalt des islamischen Gerechtigkeitsideals in der Gesellschaft. Sofern der Inhaber des Throns bereit ist, dieser Verantwortung nachzukommen, kann er bei Marokkanern mit zeitgemäßem Religionsverständnis die Identifikation mit der Monarchie erhöhen. Eine Bereitschaft Mohammeds VI., dem islamischen Gerechtigkeitsideal im Alltagshandeln 103 Munson, Jr., Henry: Religion and Power in Morocco, p. 146
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mehr Bedeutung einzuräumen, kann das unter seinem Vorgänger Hassan II. kaum wahrgenommene Verantwortungsbewusstsein des „Emir El-Mumin“ wieder zur Geltung bringen. Zwar lässt sich eine Assoziation des Monarchen mit besonderen „islamischen Tugenden“ in der modernen Gesellschaft kaum noch erreichen, wohl aber die Anerkennung als „legitimes Oberhaupt des islamischen Marokkos“. Eine Verbindung des islamischen Gerechtigkeitsideals mit einer modernen Gesellschaftsauffassung, erkennbar in der politischen Praxis des marokkanischen Monarchen, kann dazu beitragen, dass unter zeitgemäßen Rahmenbedingungen islamische Grundsätze weiterhin Relevanz besitzen. Mit der Abschaffung der Monarchie ist in anderen islamisch geprägten Staaten zugleich jegliche Beziehung der öffentlichen Sphäre zum Islam aufgegeben worden. Radikale islamistische Bewegungen, getragen vom Ziel, ein vormodernes religiöses Ordnungsmodell wieder zu errichten, sind dort nicht weniger verbreitet und agieren militanter als in Marokko. Der König, der laut marokkanischer Verfassung die islamische Säule des Staates in sich trägt, bewirkt, dass das gesamte politische System in allgemeiner Beziehung zur Religion steht. Vorgaben der Scharia behalten im zivilen Bereich staatsrechtliche Gültigkeit, ohne dem Kollektiv eine bestimmte Praktizierungsform aufzudrängen. Vielmehr kann das Fortbestehen eines islamischen Grundgefüges, wofür die marokkanische Monarchie über Jahrhunderte den Garanten darstellte, eine islamistische Reaktion vom gewalttätigen Widerstand abhalten. Im Iran ist mit der Abschaffung der Monarchie die Hinwendung der Politik zum Sakralen erst neuzeitlich wieder erfolgt, nachdem ein dortiger Monarch jegliche religiöse Symbolik aus der Öffentlichkeit entfernt hatte. Entscheidend für die Hinwendung zum Islamismus erscheint weniger, ob sich ein Land republikanisch oder monarchistisch konstituiert, als mehr das Islamverständnis der politischen Verantwortungsträger. Die Regierungsweise sollte sich an islamischen Grundsätzen orientieren, sowie gleichermaßen das Bewusstsein vermitteln, dass neuzeitliche Problembewältigung nach rationalen Kriterien erfolgt. Islamismus erwächst, wo entweder religiöse Werte vernachlässigt oder der Islam mit archaischen Ordnungsstrukturen gleichgesetzt wird. Das Staatsoberhaupt wird von Islamisten als Vollzugsorgan islamistischer Politik begriffen. Seine Bezeichnung wie seine Stellung im konstitutionellen Gefüge sind nicht die entscheidenden Kriterien, sondern seine Bereitschaft, die Scharia in Staat und Gesellschaft durchzusetzen. Krämer (2000) postuliert, dass Islamisten nicht einmal eine tatsächliche oder vermeintliche prophetische Abstammung des Herrschers interessiert, sofern seine Politik ihrem Islamverständnis entgegensteht: But monarchy is not really the issue. According to contemporary Islamist thought, it is not so much the form of government that matters but its ethicolegal foundation and its function. Government and governance are perceived as techniques to see essential values implemented, and those values are Islamic ones – or simply Islam it-
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self. Put differently, it matters not so much wether the head of state be called emir, sultan, king, “Emir El- Muminin”, or president, or even whether he descended from the Prophet and the Quraysh; what matters is that he fulfills his duties as an Islamic ruler, defending the faith, implementing the shari`a, and guaranteeing order.104
Islamismus in Marokko resultiert weder aus der Monarchie noch aus ihrem islamischen Bezug, sondern wurde durch die religiöse Legitimierung undemokratischer Politik gefördert. Autokratie erweist sich ebenso wenig als Kennzeichen der islamischen Zivilisation wie des Islam. Bis ins Zwanzigste Jahrhundert hinein wähnten christliche Dynastien Europas sich ebenfalls als „göttlich zur Alleinherrschaft bestimmt“ und verhinderten eine demokratische Entwicklung, woraus antimonarchistische Bewegungen wie die Bolschewiken in Russland ihre Legitimation zogen. Diese zugleich antireligiösen Bewegungen konzipierten ihren Staat ebenso wenig auf Pluralismus und Gewaltenteilung. In Staaten, in denen Monarchien fortbestanden, konnte sich über ein geändertes Staats- und Religionsverständnis eine demokratische Staatsordnung entwickeln, die Gewaltenteilung ebenso einschließt wie freie Religionsausübung. Das Beispiel Spaniens belegt, dass in der geographischen Nähe Marokkos eine zuvor bereits abgeschaffte, später aber wieder eingesetzte Monarchie zur Demokratisierung unmittelbar beitragen konnte. Der spanische König Juan Carlos setzte sich Bestrebungen innerhalb des Militärs wie des konservativen Klerus, die faschistische Diktatur in der Post-Franco-Ära fortzusetzen, aktiv entgegen und trug dazu bei, dass sein Land mittlerweile in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit wie Prosperitätsentwicklung als nachahmenswert gilt. Die Rolle des spanischen Königs sollte für Mohammed VI. ein Vorbild darstellen, indem er eine demokratische Verfassungsreform durchsetzt, sowie seine Autorität zur Geltung bringt, dass staatliche Institutionen sich an demokratische Prinzipien gebunden fühlen. Auf seine islamische Verpflichtung für ein wertgebundenes Staatsmodell könnte er verweisen. Die eigentliche Ausübung staatlicher Gewalt gilt es durch Wahlen oder Qualifikation legitimierten Organen zu überlassen, die autonom agieren, sowie sich gegenseitig kontrollieren. Auf diese Weise kann die Monarchie islamischem Wertebewusstsein ebenso dienlich sein wie einer demokratischen Entwicklung. Der Traditionsverbundenheit der marokkanischen Gesellschaft kann eine auf Abstammungsprinzip beruhende Monarchie mit dem Verweis auf die seit der Islamisierung ununterbrochene dynastische Tradition begegnen. Unter Dynastien gelang der Aufstieg zur Kultur- und Wirtschaftsmacht in Mittelalter und früher Neuzeit. Gesellschaftliche Pluralität kristallisierte sich als besonderes Kennzeichen heraus, das sowohl Chancengleichheit als auch innere Einheit garantierte. 104 Krämer, Gudrun: Good Counsel to the King: The Islamist Opposition in Saudi Arabia, Jordan, and Morocco, p. 279
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Aufgrund ihres islamischen Fundaments identifizierte man sich mit der Monarchie und infolgedessen mit Marokko als Staat. Versuche, die marokkanische, islamisch geprägte Kollektividentität von außen zu spalten waren zum Scheitern verurteilt. Die Monarchie erwies sich als Garant für eine erst späte und insgesamt nur kurze Protektoratszeit. Seine religiöse Autorität verlieh dem Monarchen bei den Marokkanern das Charisma, sich trotz Besatzungszustand mit seiner Herrschaft zu identifizieren, obwohl er politisch nur über ein begrenztes Gebiet Einfluß besaß. Diese räumliche Trennung von politischer und religiös-spiritueller Macht ließe sich modern ebenso institutionell herstellen, indem der Monarch zwar weiterhin Staatsoberhaupt und höchster islamischer Repräsentant Marokkos bleibt, die Entscheidungsbefugnis in konkreten staatlichen Angelegenheiten dem Majoritätsvotum unterworfenen Institutionen überträgt. Seine religiöse Legitimation böte ihm die Autorität, diese Institutionen bei wertgebundenen Entscheidungen moralisch zu unterstützen und zur Reformierung zu animieren. Geertz (1988) interpretiert die sowohl religiöse als auch politische Beziehung der marokkanischen Monarchen zu ihren Untertan als „doppelte Legitimationsgrundlage“. Der Verweis auf die islamische Stellung der marokkanischen Sultane oder Könige habe der Bevölkerung den Eindruck vermittelt, daß von Gott übertragene, religiöse Autorität und profan bestimmte, politische Autorität in Seiner Majestät vereint seien, sowie untrennbar zusammengehörten, obwohl man sich über die Begrenztheit der politischen Macht jederzeit bewusst gewesen sei: Diese doppelte Legitimationsgrundlage führte wiederum zu einer doppelten Auffassung vom Wesen des Sultanats bei der Bevölkerung – oder vielleicht genauer gesagt: war das Resultat einer solchen. Einerseits war der Sultan der oberste Marabut des Landes, der ranghöchste Heilige; seine Autorität war spiritueller Art. Andererseits war der Sultan der ordnungsgemäß gewählte Führer der islamischen Gemeinschaft, ihr offiziell ernanntes Oberhaupt; seine Autorität war politischer Art. [...] Er regierte überall, aber er herrschte nur an bestimmten Orten.105
Trotz gesellschaftlicher Veränderung bestand in der Monarchie über die verschiedenen Zeitepochen hinweg eine entscheidende Stütze des marokkanischen, islamisch bestimmten Selbstbewusstseins und sollte es in Zukunft bleiben. Die kollektive Akzeptanz zivilisatorischer Entwicklung wird erst über vertraute Autoritätsbeziehungen hergestellt, die in Marokko in besonderer Weise mit der Monarchie verbunden sind. Die Rückkehr zu einem islamischen Khalifat nach frühislamischem Vorbild – wie immer dieses im Konkreten konzipiert sein mag – wird die Gesellschaft der Vormoderne mit der damaligen gesellschaftlichen Stellung der Religion in der Neuzeit nicht wiederbeleben. Traditionelle Werte 105 Geertz, Clifford: Religiöse Entwicklungen im Islam, S. 117
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innerhalb von Politik und Gesellschaft können mit der Monarchie angesichts ihrer historisch islamischen Verankerung erhalten bleiben, sofern sie mit einem modernen Religionsbegriff einhergehen. Eine religiös legitimierte, absolute Monarchie mit Steuerungsmacht auf allen politischen Ebenen schließt zeitgemäße islamische Schriftinterpretation aus. Der Weg in eine an zivilisatorischen Gegebenheiten gebundene Moderne verlangt eine demokratische Monarchie, in der der König als Mentor und Ideengeber für politische Reformen fungiert. Er sollte Bedingungen herstellen, um islamisches Bewusstsein und demokratischen Patriotismus miteinander zu vereinen. Der religiöse Titel des marokkanischen Königs „Emir El- Muminin“ prädestiniert geradezu für den Aufruf zu einer „marokkanischen islamischen Perestroika“, die von einer umfassenden Verfassungsreform begleitet wird. Unzählige Beispiele im Westen wie in der islamischen Welt belegen, daß Monarchien nicht weniger, aber auch nicht mehr zu Vergangenheitsverhaftung verleiten als Republiken. Entscheidend erweist sich ein zeitgemäßes Politikverständnis des Staatsoberhauptes, das sich auf die Civil Society überträgt.
3.3 Einfluß der Religion auf die gesellschaftliche Entwicklung Marokkos 3.3.1 Bedeutung der Religion bei der politischen Entwicklung Seit der Islamisierung legitimierten sich politische Verantwortungsträger auf unterschiedlichste Weise im Islam. Das neuzeitliche westliche Konzept einer Rechtfertigung politischer Entscheidungen, losgelöst von religiösen Vorgaben, findet in der marokkanischen Historie kein Vorbild. Ob der Islam die Beschränkung der Politik auf rationale, problembezogene Begründungspflicht überhaupt zulässt, steht zur Debatte. Es verlangt eine Einschätzung, in welcher Form sich das Verhältnis von Islam und Politik im marokkanischen Gemeinwesen dargestellt hat. Wurde die Religion für eine an profanen Interessen orientierte Politik instrumentalisiert? Hat die Politik in stärkerem Maße das Religionsverständnis bestimmt als die Religion das Politikverständnis? Um zu erkennen, welcher Stellenwert der Islam für erstrebenswerte politische Reformen in Marokko einnehmen sollte, bedarf es einer Reflexion, in welchem Zusammenhang die Religion zur politischen Begleitung zivilisatorischen Fortschritts beigetragen hat oder für die Etablierung unzeitgemäßer Obrigkeitsstrukturen mißbraucht wurde. Als Schlussfolgerung ergibt sich eine Positionierung, welche Beziehung zwischen Politik und Religion angestrebt werden sollte, damit Marokko den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begegnen kann, ohne sein islamisches Fundament zu leugnen.
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Als gemeinschaftsorientierte Religion stellt der Islam eine besondere Herausforderung für politische Verantwortungsträger dar, die Gemeinsinn und Pflichtgefühl in der politischen Praxis zur Geltung bringen sollen. Um islamische Werte innerhalb des Gemeinwesens bestimmen zu lassen, galt es, die politische Führung einer islamischen Autorität mit umfangreicher Kenntnis der Scharia zu übertragen. Schließlich hatte sich die Integrität des Propheten als Garant für die politische Durchsetzung des islamischen Gerechtigkeitsideals in Medina erwiesen. Das Bewusstsein, von der Religion mit der politischen Lenkungsfunktion beauftragt zu sein, ging mit einer besonderen Sensibilität für die Ansprüche und Bedürfnisse der Untertan einher, sowie umgekehrt eine ungeheure Erwartungshaltung der islamischen Gesellschaft an die politische Führung. Erfuhren diese Erwartungen eine Enttäuschung, geriet nicht nur die einzelne politische Entscheidung in die Kritik, sondern die islamisch legitimierte Führungsautorität wurde ebenfalls zur Disposition gestellt. Islamische Herrscher zielten darauf hinaus, eine islamisch bestimmte Identifikation mit ihrer politischen Führerschaft herzustellen. Um diesen einzigartigen „contract social“ zwischen politischer Staatsmacht und „citoyen“ über Jahrhunderte hinweg aufrecht zu erhalten, war die Obrigkeit bereit, aus präislamischer Zeit bestehenden, dem Islam nicht widersprechenden kulturbezogenen Ordnungsstrukturen weiterhin Gültigkeit zuzugestehen. In Marokko konnte trotz Arabisierung geschützt durch die islamischen Dynastien das berberische Kulturelement über die Jahrhunderte aufrechterhalten werden, sowie ein spezifisches „berberisches Recht“ im Rahmen der Scharia fortbestehen. Eine Akzeptanz des Islam als „marokkanische Volksreligion“ wäre niemals erfolgt, wenn damit eine politische Durchsetzung eines zivilisationsfremden Obrigkeitsmodells assoziiert worden wäre. Präislamische Imperien wie Phönizier oder Römer waren nicht zuletzt aufgrund ihrer Intoleranz gegenüber zivilisatorischen Eigenheiten am Eroberungsversuch Nordwestafrikas gescheitert. Das erkannte Ziel der Inkorporation europäischer Zivilisationselemente bildete die Voraussetzung für den Erfolg der marokkanischen Befreiungsbewegung gegen die Protektoratsherrschaft im frühen Zwanzigsten Jahrhundert. Eine wesentliche Ursache für den Untergang von islamischen Großdynastien bestand in ihrem Bestreben, ihre Islaminterpretation im politischen Herrschaftsgebiet zur alleinigen Gültigkeit zu erheben. Die Verbindung von islamischem Gemeinschaftsbewusstsein und Pragmatismus gegenüber kultur- und zeitbezogenen Problemlösungen erwies sich als der Talisman für den Erfolg islamischer Herrschaft in der marokkanischen Geschichte. Das Vorbild erkannten die Herrscher in der kulturellen Toleranz der ersten „rechtgeleiteten Khalifen“ als politischer Grundlage für die Ausbreitung des Islam vom „Kleinstaat Medina zur Weltreligion“. Voll (1982) stellt heraus, dass Pragmatismus gegenüber kulturspezifi-
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schen Eigenheiten und Verpflichtung gegenüber der prophetischen Botschaft für die frühislamischen Khalifen in keiner Weise ein Widerspruch bedeutete: The rapid transformation from a small city-state to a vast empire required great adjustments, and the Muslim leadership was basically pragmatic in adapting to the changing conditions. Many problems of administration were solved by utilizing the methods, and sometimes the personnel, of the earlier empires. Practical arrangements were made to solve specific problems, and only later were those arrangements systematized. Despite this flexibility, the caliphs never lost sight of the fact that they were the leaders of an Islamic community that was bound by the message of the Quran and the actions of the Prophet.106
Das tolerante, am Vorbild der frühen Khalifen orientierte Islamverständnis der mittelalterlichen Dynastien war nicht nur die Ursache für eine relative Stabilität ihrer Herrschaft, vielmehr die Grundlage für die Islamisierung der marokkanischen Gesellschaft, sowie für den hierauf aufbauend erreichten zivilisatorischen Fortschritt. Ein Großteil der unter islamischem Vorzeichen in mittelalterlicher Zeit entwickelten Naturwissenschaft ist im marokkanischen Kulturraum entstanden, wo die Bereitschaft bestand, „heidnisch griechische“ Schriften ins Arabische zu übersetzen und hieraus, getragen vom islamischen Bewusstsein, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Die Verbreitung der Lehren der maghrebinischmaurischen Philosophen wie Averroes demonstrierte eine besondere geistige Toleranz der politischen Obrigkeit, sowie bereiteten das intellektuelle Fundament für die spätere europäische Aufklärung. Obwohl die dynastischen Herrscher jener Zeit davon überzeugt waren, mit dem Islam die Voraussetzung für den Zusammenhalt ihres Reiches wie jegliche gesellschaftliche Entwicklung zu besitzen, hinderten sie außerislamische Ideen nicht an ihrer Ausbreitung über die Grenzen ihres Herrschaftsgebiets hinaus. Sie akzeptierten nicht nur wissenschaftliches Infragestellen, sondern verkörperten auch mit der Moderne assoziierte politische Ideale wie Pluralität und Volksverbundenheit in ihrer Herrschaftsweise. Sie sahen darin keinen Gegensatz zum Islam, der das Gemeinschaftsbewusstsein eines Herrschers explizit hervorhebt. Dieses tolerante Religionsverständnis behielt die marokkanische Herrschaftselite nicht dauerhaft bei. Die zivilisatorische Rückständigkeit im 19. Jahrhundert, die letztlich die Voraussetzung für die ein Jahrhundert später erfolgte europäische Beherrschung des Landes bildete, war nicht zuletzt auf einen religiös gerechtfertigten Exklusivitätsanspruch seiner politischen Autoritäten zurückzuführen. Mit dem Ansinnen, außerhalb des islamischen Kontexts entstandene Ideen von der marokkanischen Gesellschaft fern zu halten, verhinderte die Poli106 Voll, John O.: Islam – Continuity and Change in the Modern World, p. 10
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tik jegliche progressive Entwicklung, so dass das Land nicht über die Voraussetzung verfügte, den zivilisatorisch überlegenen Europäern sich zur Wehr zu setzen. Sowohl die weltoffenen, fortschrittsorientierten mittelalterlichen Dynastien als auch die dogmatischen, „illiberalen“ Sultane der frühen Neuzeit legitimierten sich nicht nur gleichermaßen im Islam, sondern sahen prophetische Ordnung wie Epoche der islamischen Ausbreitung als Vorbild für ihre Herrschaft an - die Ergebnisse waren höchst unterschiedlich. Die Auswirkungen auf das Religionsverständnis zeigten sich gleichermaßen divergent. Während sich in der einen Phase plurale, fortschrittsorientierte Auslegungen des Islam verbreiten konnten, fand in der anderen kaum ein Diskurs mit entgegengesetzten Positionen und anschließender Konsenssuche statt. Die Entwicklung in Marokko spiegelte eine in der gesamten islamischen Welt zu beobachtende Tendenz wieder, in der das Islamverständnis der herrschenden Obrigkeit sich auf die übrige Gesellschaft übertrug. Voll (1982) stellt heraus, daß von der Prophetenzeit bis zu den neuzeitlichen Sultanen das islamische Gemeinschaftsbewusstsein immer wieder dazu führte, dass die Islaminterpretion der jeweiligen Führungsschicht für das gesamte Gemeinwesen bestimmend wurde: The most visible aspect of the Islamic dimension is the experience of Sunnidominated community. The evolution of the ummah from the time of Muhammad, through the time of imperial Islam, and down to the great age of the sultanate empires is the manifestation of the majority interpretation of the Islamic message as it has been defined by the ruling political and cultural elites.107
Mit dem Verlust der politischen Souveränität wurde sich die marokkanischen Elite gewahr, dass ihre bisher praktizierte, mit dem Islam legitimierte Form der politischen Steuerung des Staatswesens nicht mehr den Anforderungen der Zeit entsprach. Bereits ein Jahrhundert zuvor hatte eine außerislamische Zivilisation Ideen hervorgebracht, die eine rationale Beziehung von Staatsgewalten zueinander als „Idealordnung“ erkannten. Die Religion nahm darin nicht mehr den ihr bisher zugewiesenen Stellenwert ein. Weil die Urheber dieses politischen Ordnungsmodells keine Muslime gewesen waren, hatten die dogmatisch gesinnten marokkanischen Sultane des 19. Jahrhunderts eine Verbreitung der dahinter stehenden Ideale in ihrem Herrschaftsgebiet unterbunden. Dieses Zurückweisen moderner politischer Leitideen verhinderte über lange Zeit sowohl eine Fortentwicklung des Politikverständnisses als auch zeitgemäße Religionsauslegung. Die Grundlage für die Wehrlosigkeit Marokkos gegenüber europäischen Imperialbestrebungen war gelegt. Die Protektoratsherrscher hielten zwar gleichermaßen die in ihrer Zivilisation entstandenen modernen politischen Leitideen von der 107 ebd.: p. 21
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marokkanischen Civil Society fern, die in Europa ausgebildete Elite hatte sie aufgenommen, woraus man die politischen Rahmenbedingungen eines künftigen „souveränen Marokkos“ ableitete. Die geistige Verbindung westlicher Aufklärungsideale mit islamischem Kollektivbewusstsein bot die Voraussetzung, die Befreiungsbewegung modern zu organisieren, sowie gleichzeitig bei allen Bevölkerungsschichten auf Resonanz zu treffen. Wie im marokkanischen Mittelalter hatte sich die zeitgemäße Übertragung außerislamischer Philosophien auf einen islamisch definierten politischen Freiheitsbegriff als Grundlage des politisch-zivilisatorischen Erfolgs erwiesen. Das moderne Verständnis des Islam als „Religion der Vernunft“ stellte keinen Gegensatz zwischen islamischer Gemeinschaftsverpflichtung und den politischen Idealen der vom Westen ausgehenden Moderne her. Die islamisch gestützten politischen Theorien, die man im Befreiungskampf verfolgte, sowie in postkolonialer Zeit zu realisieren beanspruchte, konvergierten mit dem Menschenbild der im Westen dominierenden politischen Philosphien und können zurecht als „politische Hauptströmungen der Moderne“ klassifiziert werden. Die Einbettung im Westen entstandener Denkrichtungen in eine spezifisch islamische Rechtfertigungslogik kennzeichneten das Wesensmerkmal der fortschrittsorientierten islamischen Elite des frühen 20. Jahrhunderts, wie sie in der marokkanischen Befreiungsbewegung zum Ausdruck gelangte. Schulze (2002) konstatiert aus der Übernahmebereitschaft westlich entstandener politischer Theorien in die Nomenklatur des modernen islamischen Politikbegriffs, dass der Islam sich durch grundsätzliche Aufgeschlossenheit gegenüber als „modern“ erkannten politischen Strukturen kennzeichnet: Die Moderne hatte drei Hauptströmungen politischer Theorie hervorgebracht (nationalistisch, liberalkonservativ und sozialistisch), die auch in den islamischem Gesellschaften zum Ausdruck kamen; allerdings relativierte äußerlich der Gebrauch der islamischen Sprache des Politischen diese Analogie, denn hierdurch wurden religiöse Termini in die Debatte geworfen, die zunächst kaum eine Beziehung zu den zeitgenössischen politischen Theorien vermuten ließen. [...] Offensichtlich bildete die islamische Kultur keine Barriere gegenüber den politischen Theorien der Moderne, sondern akzentuierte diese nur in einem besonderen Maße durch die Anwendung einer religiösen Symbolik und bestimmte die damit einhergehende politische Rhetorik.108
Die Bereitschaft, moderne westliche politische Philosophien mit islamischer Ethik in Einklang zu interpretieren, hatte sich als Grundvoraussetzung für den Erfolg der Befreiungsbewegung in Marokko, wie in den meisten anderen, unter 108 Schulze, Reinhard: Geschichte der Islamischen Welt im 20. Jahrhundert, S. 50
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europäische Kolonialherrschaft geratenen islamischen Staaten erwiesen. Eine politische Durchsetzung westlicher Aufklärungsideale in den postkolonial entstandenen Nationalstaaten war damit keineswegs garantiert. Die fehlende Kenntnis der traditionell religiös gebildeten Bevölkerungsschichten von okzidentalen politischen Idealen wie Demokratie und Menschenrechten erkannte die Herrschaftselite als begünstigend, einen neoabsolutistischen Obrigkeitsstaat zu etablieren. Im Bewusstsein, dass sich der Islam stets als Grundlage für die kollektive Akzeptanz politischer Führungsautorität erwiesen hatte, postulierte man westliche politische Pluralität mit dem Islam als unvereinbar. Gestützt auf ihren ererbten religiösen Titel als „Emir El- Muminin“ legitimierten sowohl Mohammed V. als auch Hassan II. ihr unitarisches, undemokratisches Politikverständnis, nach dem staatliche Gewalt ausschließlich Ihrer Majestät zustehe, im Islam. Da die materiellen westlichen Zivilisationsresultate weiterhin in die islamische Gesellschaft hineingelangten, litt zunehmend die Glaubwürdigkeit der politischen Elite in der Civil Society. Oppositionelle islamistische Bewegungen präsentierten sich als Ersatzautoritäten. Ihr Religions- und Staatsverständnis war ebenso von einem Absolutheitsanspruch bestimmt wie bei den autokratischen Regimen. Beide wiesen Demokratie und Pluralismus als „dem Islam widersprechend“ zurück. Radikale Islamisten vertreten die Auffassung, dass die moderne Demokratie nicht nur ihres nichtislamischen Ursprungs wegen prophetische Ordnungsvorgaben nicht erfüllen könne, sondern auch deshalb, weil das demokratische Modell grundsätzlich davon ausgehe, dass unvollkommene menschliche Individuen die soziopolitischen Grundsätze vorgeben. Dieses Islamverständnis leugnet die Tatsache, dass im Islam das „göttliche Recht“ zwar vollkommen formuliert, seit dem Tod des Propheten aber immer von Menschen nach ihrem jeweiligen Erfahrungshorizont ausgelegt worden ist. Man gesteht sich das Recht und die Befähigung zu, aus der eigenen Schariainterpretation heraus über ein komplexes Gemeinwesen, unabhängig von örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten, zu urteilen. An dieser Argumentationsweise zeigt sich die Instrumentalisierung des Islam für einen nicht nur unzeitgemäßen, sondern gleichermaßen gegen Jahrhunderte alte „islamische“ Tradition gerichteten totalitären Politikbegriff. Bei Anhängern der säkularen Demokratie erfolgt daraus nicht selten das Bewusstsein, demokratische Entwicklung erfordere die generelle Zurückdrängung des Islam. Das von Islamisten immer wieder hervorgehobene Gottesgesetz, das nach ihrem Verständnis die irdische Gesetzgebung bestimmen müsse, wähnt Jalal Al-Azm (1993) als Beleg für eine grundsätzliche Diskonformität zwischen Demokratie und Islam: Demokratie zum Beispiel ist eine Art zu leben, die dem islamischen Weg entgegengesetzt ist. Denn in einer Demokratie haben Menschen die Macht, Gesetze zu erlas-
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sen sowie zu verbieten und zu erlauben, was immer sie wollen (...) Im Islam dagegen verfügen die Menschen nicht über die Kompetenz zu bestimmen, was von Allah erlaubt (Halal) und was von Allah verboten (Haram) ist. Auch dann nicht, wenn sie vollständige Einmütigkeit über die Sache erreichen. Daher ist die Verbindung von Islam und Demokratie ungefähr so, als wolle man Judentum und Islam paaren. Denn genauso, wie es für eine Person unmöglich ist, gleichzeitig Muslim und Jude zu sein, kann sie nicht gleichzeitig Muslim und Demokrat sein.109
Islamisten wie gegen den Islam gerichtete Säkularisten setzen von Menschen nach Vernunft getroffene Regelungen notwendigerweise mit einer Distanzierung von islamischen Rechtsvorschriften gleich, da sie nicht zur Kenntnis nehmen, daß göttliche Gebote im komplexen politischen Alltag in den meisten Fällen nicht als buchstabentreue Vorgaben, sondern als kontextbezogene Interpretation zur Umsetzung gelangen. Die Aufforderung zum Ijtihad, zur zeitgemäßen, rational begründeten Neuauslegung der Scharia, wird außer Acht gelassen. Bei einer sinnbezogenen Schariainterpretion kann die dem eigenen Selbstverständnis nach unvollkommene Demokratie islamischen Ansprüchen entgegenkommen, weil sie die Möglichkeit zu divergenter Rechtsauslegung, sowie zu pluraler Praktizierungsform ausdrücklich einschließt. Weil der Islam die Übertragung göttlicher Ordnungsvorschriften in die politische Praxis einfordert, lässt sich die Rückgewinnung der politischen wie kulturellen Vorreiterrolle vom Westen nur in einem islamisch legitimierten politischen System erreichen. Die Säkularität als gedankliche Differenzierung zwischen staatlicher Ordnung und religiösem Obrigkeitsbegriff interpretiert man als Abwendung vom göttlichen Gesetz. Im Westen ausgebildete politische Eliten, autokratische postkoloniale politische Herrscher, erkennen den Islam gleichermaßen als das Fundament marokkanischer Staatsordnung an. Das Bewusstsein einer aktuellen Rückständigkeit gegenüber einer außerislamischen Zivilisation stellt das islamische Ordnungssystem nicht zur Disposition, sondern verlangt Reflexion und zeitgemäße Umsetzung. Interpretieren Traditionalisten die Entfernung vom frühislamischen Obrigkeitsmodell als Ursache für den Verlust der zivilisatorischen Führungsrolle, fordern Modernisten die bisher dominierende Auslegung angesichts geänderter Zeitumstände zu hinterfragen, sowie eine Übereinstimmung der Scharia mit modernen Politikanforderungen herzustellen. Hottinger (1993) stellt heraus, daß die Muslime ausbleibenden Fortschritt unter islamischer Herrschaft keineswegs auf die staatsrechtliche Gültigkeit der islamischen Gesetzgebung zurückführen, sondern auf eine Auslegung und Befolgung, die dem Geist der Scharia widerspricht:
109 Jalal Al Azm, Sadik: Unbehagen in der Moderne, S. 115
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Als Gesetzesreligion legt der Islam Wert darauf, das Leben der Gläubigen in dieser Welt nach dem Gottesgesetz zu regeln, und dies muss das beste aller Gesetze sein, weil es nach muslimischem Glauben von Gott selbst stammt. Die Gemeinschaft, die unter dem besten aller Gesetze lebt und sich an es hält, muss also auch eine erfolgreiche Gemeinschaft sein. Wenn sie das ganz offensichtlich nicht ist, muss etwas an ihrer Auffassung des Gottesgesetzes oder an ihrer Befolgung desselben verkehrt sein.110
Erwies sich die Instrumentalisierung des Islam Hassan II. als geeignet, für seinen absolutistischen Alleinherrschaftsanspruch lange Zeit auf Akzeptanz in der marokkanischen Öffentlichkeit zu treffen, erkannte die modern orientierte Elite in der religiösen Legitimierung politischer Zielsetzung einen Garanten, die Civil Society für ihre demokratischen Anliegen zu gewinnen. Marokkanische Menschenrechtsbewegungen stellen ihre universell intendierten, politischen Forderungen in Beziehung zur islamischen Ethik. Mohammed VI. hat seine gesellschaftlichen Reformen im Bereich des Mudawana in einem islamischen Rahmen konzipiert, um seine Politik nicht als Distanzierung von der Scharia erscheinen zu lassen. Mit der Kombination aus fortgesetzter Verpflichtung gegenüber der Scharia als imaginärer Grundlage staatlicher Gesetzgebung, sowie dem Anspruch zur zeitgemäßen politischen Umsetzung, gelang es dem jungen König, sowohl modernistische Intellektuelle als auch der Tradition verpflichtete Islamisten von seinem Reformkurs zu überzeugen. In der Differenzierung zwischen den fortdauernd gültigen, prophetischen Offenbarungstexten gegenüber den späteren, an die politische Gemeinschaft zur Zeit ihrer Niederschrift gerichteten Gesetzeskommentaren erkennt Hottinger (1988) die Chance, dass islamische Fundamentalisten die Tendenz zur buchstabengetreuen Übertragung frühislamischer Ordnungsstrukturen auf die Gegenwart überwinden: Die frühen prophetischen Texte seien überzeitlich, heute voll gültig; doch die späteren, langen, die sich mit der Ordnung der damaligen Gemeinschaft der Gläubigen abgaben, seien zeitgebunden. Bei ihnen müsse man, wolle man sie heute richtig verstehen, nach der Absicht des Gesetzgebers (das heißt Gottes) fragen. Dies wäre eine [...] Antwort, die man den Fundamentalisten erteilen könnte, wenn diese sich darauf beschränken, alle Texte wörtlich zu nehmen, und auf dieser Grundlage einen „islamischen Staat“ zu errichten suchen.111
Der Islamismus stellt sich als Bestreben dar, unzeitgemäße islamische Obrigkeitsstrukturen auf die Gegenwart zu übertragen, sowie moderne, dem Westen entstammende politische Leitideale als „zivilisationsfremd“ zurückzuweisen. 110 Hottinger, Arnold: Islamischer Fundamentalismus, S. 17 111 Hottinger, Arnold: Die Araber vor ihrer Zukunft, S. 94
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Neben dem außerislamischen Ursprung dient die Distanzierung politischer Begründungslogik von der Religion als Argumentation für eine vermeintliche Unvereinbarkeit des westlichen Politikverständnisses mit dem Islam. In der marokkanischen Geschichte erwies sich der Islam als Grundlage, außerislamisch entstandene Gesellschaftsideale in die politischen Konzeptionen einzubeziehen. Erkannten marokkanische Gelehrte in mittelalterlicher Zeit im Islam die Voraussetzung, antike Philosophien für wissenschaftlichen Fortschritt und kulturelle Toleranz einzusetzen, stellten marokkanische Intellektuelle im beginnenden 20. Jahrhundert eine Verbindung der Ideale der europäischen Aufklärung zum islamischen Freiheitsverständnis für die Überwindung der französischen Protektoratsherrschaft her. Eine fortschrittsorientierte Grundtendenz in der marokkanischen Politik erkannte in den verschiedensten Epochen im Islam die Basis für zivilisatorische Weiterentwicklung, sowie für die Akzeptanz außerislamisch entstandener humanistischer Leitideen. Da der Islam zwischen religiöser Verpflichtung des Individuums und kollektiver Aufgabenbewältigung nicht unterscheidet, bleibt eine Säkularität, basierend auf der Loslösung politischen Agierens von religiöser Ethik, in Marokko eine Illusion und ist als Konzept zum Scheitern verurteilt. Die mannigfaltige Einbeziehung außerislamischer Konzepte in eine fortschrittsorientierte, islamisch gerechtfertigte Politik in der marokkanischen Historie kann als Beleg für die Konformität des Islam mit universellen Humanitätsanforderungen herangezogen werden. Jalal Al-Azm (2005), der den Islam von seiner dogmatischen Lehre her mit säkularem Humanismus unvereinbar ansieht, muß anerkennen, dass die islamische Geschichte unzählige Demonstrationen bietet, wo zeitbezogene Interpretation säkular gedeutete Humanität hervorgebracht hat: Dogmatisch gesprochen nein, sie sind nicht kompatibel. Historisch gesprochen sind sie es jedoch. Überhaupt kann man ganz allgemein feststellen: Wann immer in der Geschichte des Islam das dogmatische Nein – wie korrekt im Sinne einer wörtlichen Auslegung des Koran es zum jeweiligen Zeitpunkt auch gewesen sein mag – in Konflikt geriet mit dem historischen Ja – wie unkorrekt und unorthodox dieses Ja seinerseits zum jeweiligen Zeitpunkt auch erschien -, das historische Ja behielt meist die Oberhand über das dogmatische Nein. Und dies in dem Maße, dass das jeweilige puristische Nein in Vergessenheit geriet.112
Die gesamte marokkanische Geschichte hinweg übte der Islam einen elementaren Einfluß auf die politische Entwicklung aus. Alle marokkanischen Dynastien erkannten im Islam die Grundlage, ihre Herrschaft zu stabilisieren, sowie ihren Autoritätsanspruch nach innen und außen abzusichern. Das divergente Religi112 Jalal Al-Azm, Sadik: Islam und säkularer Humanismus, S. 31
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onsverständnis der jeweiligen Herrschaftseliten muß als Ursache herangezogen werden, dass die Resultate dieser permanenten Beziehung zwischen Islam und Politik sich historisch uneinheitlich darstellen. Neben Phasen zivilisatorischen Fortschritts, basierend auf zeitgemäßer Islamauslegung, bestanden Phasen der Stagnation, resultierend aus dem Missverständnis des Islam als Rechtfertigung für Exklusivität und geistige Abschottung nach außen, sowie nicht zuletzt aus der Instrumentalisierung der Religion für totalitäre Herrschaft. Das Politikverständnis der religiös legitimierten Herrschaftseliten hat in gleichem Maße das Religionsverständnis ihrer Zeit geprägt, wie ihre Religionsauffassung im politischen Alltag bestimmend wurde. Politische Progressivität entwickelte sich aus zeitgemäßer Neuinterpretation der Scharia. Eine buchstabengerechte Übertragung frühislamischer Ordnungsstrukturen auf die Gegenwart erweist sich für die Bewältigung moderner Gemeinschaftsaufgaben als nicht weiterführend. Die Beschränkung der Begründung für politisches Agieren auf machiavellische Staatsraison wird den emotionalen Bezug der Civil Society nicht herstellen. Das islamische Gemeinschaftsbewusstsein verlangt islamische Grundsätze in der Politik zur Geltung zu bringen. Eine bewusste Distanzierung der Politik vom religiösen Bezug dient in keiner Weise als Garant für die Akzeptanz politischer Reformen. Ausgehend von kontextbezogener Islaminterpretation gilt es einen marokkanischen Fortschrittsbegriff zu formulieren, der aufklärerische Rationalität mit islamischem Gemeinschaftsbewusstsein in Beziehung setzt. Moderne westliche politische Systemvorstellungen wie Demokratie und Gewaltenteilung lassen sich aus einem islamischen Kontext heraus realisieren. Die Tatsache, dass die marokkanische Politik historisch den Rahmen vorgegeben hat, über den Bezug zur islamischen Ethik außerislamisch entstandene Gesellschaftskonzepte erfolgreich umzusetzen, vermittelt die Zuversicht für eine politische Zukunft, die sowohl islamische Gerechtigkeit als auch universell beanspruchten humanitären Fortschritt einschließt.
3.3.2 Bedeutung der Religion bei der wirtschaftlichen Entwicklung Als allumfassende Gesellschaftsordnung legt der Islam nicht nur dem Individuum einen ethischen Verhaltenskodex auf, sondern stellt Rahmenbedingungen für das Zusammenleben innerhalb einer Kollektivgemeinschaft. Ökonomie und Handel sind darin einbezogen, sowie einem bestimmten Regelwerk unterworfen. Die wirtschaftliche Entwicklung in einem islamisch verfassten Gemeinwesen erfolgt auf der Grundlage der Scharia. Aufzuzeigen erfordert es, in welcher Weise die Religion die Ökonomie in der marokkanischen Gesellschaft geprägt hat und weiterhin bestimmt. Ist eine Beschränkung der ökonomischen Ordnung auf
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rein materielle Kriterien wie Angebot und Nachfrage in einer islamischen Gemeinschaft überhaupt vorstellbar? Nicht zu leugnen ist, daß die ökonomische Entwicklung seit den letzten 200 Jahren vom Westen ausgegangen ist. Vor diesem Hintergrund verlangt es einer Erörterung, ob sich das marokkanische Wirtschaftsmodell mit modernen westlichen Ökonomieansprüchen als kompatibel erweist, sowie ob der Islam die Voraussetzung für eine zukunftsweisende, auf gesellschaftliche Veränderungen flexibel reagierende ökonomische Ordnung bietet. In welcher Form eignet sich der Islam, die komplexen Strukturen der neuzeitlichen Ökonomie angemessen zu erfassen, sowie zeitgemäß zu steuern? Welches Islamverständnis ist vonnöten, um einerseits islamische Anforderungen im wirtschaftlichen Alltag zur Geltung zu bringen, sowie andererseits erfolgreiche außerislamische Konzepte für wirtschaftlichen Aufschwung verbunden mit sozioökonomischer Stabilität einzubeziehen. Der Einfluß der Scharia bei der Etablierung der vormodernen marokkanischen Handelskultur erfordert einer Vergegenwärtigung, um ein Modell zu entwickeln, über das Marokko an den Errungenschaften der westlich bestimmten Globalisierung partizipieren kann, ohne islamische Kollektivverpflichtungen zur Disposition zu stellen. Weil der Islam seit dem 7. Jahrhundert ununterbrochen die politische Ordnung Marokkos bestimmte, muß davon ausgegangen werden, dass die Obrigkeit permanent bestrebt war, Konformität des wirtschaftlichen Agierens mit ihrem Islamverständnis herzustellen. Über den bereits seit dem Mittelalter bestehenden Außenhandel gelangten außerislamische sozioökonomische Strukturen in die Gesellschaft hinein und trugen zu bedeutenden wirtschaftlichen Prosperitätsphasen bei. Sofern nicht explizit vom Islam untersagte Praktiken Anwendung fanden interpretierte man die Religion über Jahrhunderte hinweg nicht als Hindernis für ökonomischen Profit im Handel mit Nichtmuslimen. Seit dem 19. Jahrhundert war der Einfluß der westlichen Ökonomie so bedeutend geworden, dass die Politik der Sultane die Gefahr einer Entfremdung der marokkanischen Gesellschaft von ihrer islamischen Grundlage heraufbeschwor und den Außenhandel weitgehend unterband. Eine selbst errichtete Barriere für ausländische Innovationen bedeutete im Ergebnis nicht die Vertiefung des islamischen Gemeinschaftsbewusstseins in der Ökonomie sondern sozioökonomische Rückständigkeit, die die Abhängigkeit vom Ausland erhöhte und einer den politischen und kulturellen Bereich einschließenden europäischen Fremdbeherrschung die Basis bereite. Hatte man gestützt auf die islamische Kollektividentität die politische Protektoratsherrschaft nach nur einem halben Jahrhundert überwunden, fand sich danach kein Rezept für ein eigenständiges marokkanisches Wirtschaftsmodell. Die über das islamische Bewusstsein zurückgewonnene Souveränität wurde durch fortdauernden ökonomischen Einfluß außerislamischer Mächte wieder unterhöhlt. Unter diesen Voraussetzungen war die marokkanische Gesellschaft immer weni-
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ger in der Lage, das islamische Gemeinschaftsideal einhergehend mit sozialer Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten. Voranschreitende Distanzierung des ökonomischen Alltags von islamischen Grundsätzen bei gleichzeitig ausbleibendem Wohlstand bildete die Legitimationsbasis für das Ansinnen der Islamisten, mit der Rückbesinnung auf traditionelle politische Ordnungsstrukturen die ökonomische Prosperität vergangener Epochen wiederzuerlangen. Sozioökonomische Divergenzen und ungleiche Ressourcenverteilung gelten dem islamischen Gleichheitsideal als widersprechend. Hieraus leitet sich ein ausgeprägtes soziales Engagement sowie ein permanentes Eintreten für die vom Wirtschaftssystem Benachteiligten ab. Der Islam beansprucht, die prophetische Botschaft nicht nur ideell über das Schrifttum zu vermitteln, sondern zugleich über materielle Wohlfahrt. Am Rande der Gesellschaft Stehende sollen von der islamischen Sozialethik profitieren. Um Ausbeutung und dauerhafte Abhängigkeit von Dritten auszuschließen, ist Muslimen die Riba (Zinsnahme) beim Verleihen von Geld und Wertgegenständen verboten. Als eine der fünf Säulen des Islam verpflichtet die Zakat (Almosengabe) jeden Muslimen zur Abtretung eines Teils seines Besitzes für Wohltätigkeitszwecke. Sie wird von der islamischen Obrigkeit eingezogen, um auf direktem Wege zu den Bedürftigen zu gelangen. Da von Muslimen bestimmte Herrschaftssysteme in der Realität nicht weniger korrupt und eigennützig waren als außerislamische Ordnungen, trieben lokale religiöse Autoritäten die Zakat weitgehend eigenständig ein. Ein besonderes Vertrauensverhältnis sorgt dafür, dass Zakatgelder neben den rein religiösen Zwecken den unmittelbar Notleidenden zu Gute kommen. Auf dieser Basis entwickelte sich in Marokko auf den untersten Einheiten ein islamisch organisiertes Netzwerk der Sozialfürsorge. Bis zur Gegenwart wird die in geringem Umfang vorhandene soziale Absicherung im Falle von Alter, Krankheit oder Erwerbslosigkeit nicht durch bürokratische Versicherungssysteme sondern durch religiösen Gemeinsinn gewährleistet. Funktionieren können solche Netzwerke nur, weil die islamische Gesellschaft Mitmenschlichkeit höher einschätzt als den wirtschaftlichen Nutzen. Die Sensibilität für die Ansprüche des Nächsten ist zentrales Element der islamischen Wirtschaftsethik. Organisierte Wohltätigkeit baut sowohl auf dem individuellen Gerechtigkeitssinn des Muslimen als auch auf dem religiösen Gemeinschaftsbewusstsein der ökonomischen Akteure auf. Ein staatlich institutionelles Sozialsystem ist erst vonnöten sofern private Profitinteressen über das Wohl der Gemeinschaft gestellt werden. Nienhaus (1982) verbindet mit der islamischen Gemeinnützigkeit die Aufforderung an jeden Muslimen zum freiwilligen Einsatz im Dienste seiner Mitmenschen: Wenn Gerechtigkeit das Fundament der Gesellschaft ist, ist Wohltätigkeit ihre Zierde und Vollendung. Wohltätigkeit, Selbstlosigkeit, Brüderlichkeit, Altruismus,
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Gottgefälligkeit – das sind die Werte, die das Denken und Handeln des idealen Moslems bestimmen sollen. Als ökonomische Konsequenz wird Eigennutz etwa in Gestalt der Gewinnmaximierung abgelehnt und gefordert, dass sich stattdessen auch der einzelne am Gemeinwohl und am Interesse der Gesellschaft ausrichten sollte.113
Über Jahrhunderte hinweg sicherte das islamische Fürsorgesystem den gesellschaftlichen Zusammenhalt und verhinderte Massenarmut als dauerhaftes Phänomen. Bestand in der marokkanischen Herrschaftselite gelegentlich die Tendenz, Minoritäten mit Privilegien auszustatten, anerkannte religiöse Autoritäten sorgten dafür, dass die übrigen Bevölkerungsteile nicht ausgegrenzt wurden. Die auf sozialen Ausgleich ausgerichtete Religion wirkte sich nicht nur identitätsstiftend für das politische Gemeinwesen aus sondern erwies sich als Voraussetzung, wirtschaftliche Krisen und Notlagen ohne Massenelend zu überstehen, sowie ein Mindestmaß an sozioökonomischer Stabilität zu garantieren. Bis zur Gegenwart zielt der islamisch verfasste Staat darauf hinaus, dieses soziale Netzwerk aufrecht zu erhalten, sowie die Partizipation aller Gesellschaftsschichten an der wirtschaftlichen Entwicklung zu erreichen. Mit dem neuzeitlich zunehmenden Einfluß des Westens auf die marokkanische Ökonomie erwies sich das traditionelle islamische Umverteilungssystem kaum noch als durchführbar. Die Europäer zwangen der marokkanischen Wirtschaft ihre rein materiellen Kriterien auf und verhinderten, dass der Staat seinen von der Religion auferlegten Verpflichtungen weiterhin in angemessener Weise nachkommen konnte. Für soziale Belange vorgesehene Finanzmittel wurden zweckentfremdet im Sinne des europäischen Zugangs zu den marokkanischen Ressourcen eingesetzt, so dass die Diskrepanz zwischen dem islamischen Anspruch des Staates gegenüber der ökonomischen Realität immer offensichtlicher wurde. Um die an das Kollektiv gerichteten islamischen Verpflichtungen zumindest ansatzweise einlösen zu können übernahmen anerkannte religiöse Würdenträger die Organisation der Gemeinschaftsfürsorge, über die sie sich ihre charismatische Autorität in der Bevölkerung erhielten. Die religiösen Gelehrten stellten allgemeine islamische Instruktionen wie die Aufforderung zum Gebet oder zur Pilgerfahrt in Zusammenhang mit der Gewährung sozialer Leistungen und besaßen über ihre Verteilungsmacht gesellschaftlichen Einfluß. In der marokkanischen Gesellschaft wurde ein Großteil der sozialpolitischen Aufgaben vom Maraboutismus übernommen. Es handelt sich bei den Marabouts um „Heilige“, die in einer besonderen Beziehung zu Gott und den Propheten gesehen werden, sowie für ihre Gefolgschaft eine charismatische Autorität besitzen. In mittelalterlicher Zeit dienten sie den Dynastien als „Anwerber“ für den Al-Jihad, sowie als Botschafter zur Weitervermittlung und Durchsetzung 113 Nienhaus, Volker: Islam und moderne Wirtschaft, S. 69
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ihres Islamverständnisses. Nach dem Tod eines Asketen entstand an einem ausgewählten Ort ein lokales Heiligtum, welches als Pilgerstätte sowie als religiöse Stiftung für Wohltätigkeitszwecke diente. Mit dem weitgehenden Rückzug des islamischen Staates aus der Verantwortung für die Verteilung sozialer Dienste, sind diesen Stiftungen Gemeinschaftsaufgaben übertragen worden, die sie über ihr umfangreiches Spendenwesen wahrnehmen. Die Spenden werden an die Asketen oder nach deren Tod an die Maraboutverwalter übergeben, die den Ertrag an die Bedürftigen weiterleiten. In ländlichen Regionen sind die Aktivitäten des Maraboutismus nach wie vor bedeutend, wenn gleich das Eindringen der modernen Wirtschaftsordnung ihrem Einfluss Grenzen setzt. Neben der seelischen Unterstützung richtet sich ihr Einsatz auf die Partizipierung am kollektiven Wohlstand, sowie die Überwindung undurchlässig erscheinender sozialer Barrieren. Eickelman (1976) stellt heraus, dass der Maraboutismus aufgrund seiner umfangreichen Aktivität im Sinne des islamischen Gerechtigkeitsideals eine so hohe Wertschätzung genießt, dass die Herrschaftseliten, die darin offiziell ein unzeitgemäßes „klerikales Machtpotential“ wähnten, bislang keinen ernsthaften Versuch unternahmen, den Marabouts ihren Einfluß zu entziehen: In all, the activities associated with marabouts are impressive. Few […] so thoroughly involve the active participation of the majority of the region´s rural population and activate social ties that transcend ordinary economic, social, and administrative boundaries. This fact is not lost upon government officials, despite their formal assertion that maraboutism constitutes an atavistic ideological residue of the least “evolved” segment of the population.114
Einen bedeutenden Stellenwert zur Durchsetzung des islamischen Gemeinschaftsideals im Alltag nehmen „Waqf“ oder „Habous“ (religiöse Stiftungen) ein. Jeder Muslim kann Teile seines Besitzes als Habous für gemeinnützige Zwecke dem Habous –Ministerium übertragen. Ein Habous darf weder verkauft noch vererbt werden, sondern steht unmittelbar der Allgemeinheit zu und wird nach Maßgabe der religiösen Vorschriften eingesetzt. Zur Versorgung der ärmeren Bevölkerungsschichten kommen den Habous in der marokkanischen Gesellschaft entscheidende Aufgaben zu. Religiöse Institutionen sind auf Habous basierend errichtet worden und nutzen die ihnen zufließenden Mittel zur regelkonformen Wahrnehmung der mannigfaltigsten Gemeinschaftsdiente. Über das Ministerium für Habous organisiert der marokkanische Staat das religiöse Stiftungswesen landesweit, um die Gesamtbevölkerung davon profitieren zu lassen. Da über die Jahrhunderte hinweg permanent neue Habous mit bisher ungekannten Aufgabengebieten eingerichtet wurden, deckt der Gesamtbestand an religiö114 Eickelman, Dale: Moroccan Islam, p. 7
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sen Stiftungen ein so breitgefächertes Aufgabenspektrum ab, dass alle ökonomischen Sektoren darin einbezogen sind. Der „karitative“ Bereich wird weitgehend über Habous organisiert. Enthalten sind darin neben der unmittelbaren Armenfürsorge, öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten oder Krankenhäuser. Wohn- und Erwerbsgelegenheiten für Bevölkerungsschichten, die sich auf andere Weise kaum ihr Existenzminimum absichern könnten, gehen auf Habous zurück. Über Habous wird zu günstigen Konditionen Land verpachtet, um Kleinpächtern ihr Auskommen zu sichern. Religiöse Stiftungen übernehmen zudem kommunale Infrastrukturdienste wie Straßenreinigung oder Abfallentsorgung. Die zentrale Bürokratisierung des Habous im Zuge der modernen, nach Rentabilitätskriterien erfolgten Neustrukturierung des öffentlichen Sektors hat dazu geführt, dass sich zahlreiche Aufgaben nicht mehr in der ursprünglichen Form wahrnehmen lassen, für das Gemeinwohl auf kommunaler Ebene besitzen religiöse Stiftungen nach wie vor entscheidende Bedeutung. Ein Bezug zum genuin Religiösen lässt sich zumeist erkennen, die Auswirkungen reichen weit darüber hinaus. Stöber (1986) weist darauf hin, dass religiöse Aufgabenbereiche bei den Habous quantitativ dominieren, aber mit Sozialdiensten kombiniert sind, von denen die Allgemeinheit profitiert: Daneben spielen aber auch andere soziale oder kommunale Zwecke eine Rolle, die z.T. noch einen engen religiösen Bezug besitzen: die Unterrichtung der Kinder (im Koranlesen), die Krankenversorgung, die Versorgung der Siedlung – in erster Linie der Moschee – mit Wasser. Kommunale Belange werden z.B. von den Stiftungen für Befestigungen, für Straßenreinigung und zum Abbau von Gefahrenquellen berührt.115
Ein Wesensmerkmal der traditionellen marokkanischen Gesellschaftsordnung war die permanente Einebnung von Wohlstandsdivergenzen, die über das religiöse Verantwortungsbewusstsein erreicht wurde. „Gemeinsinn“ bestand nicht als Terminus für theoretische Diskussionen, sondern offenbarte sich im gesellschaftlichen Alltag. Die moderne, unter nichtislamischem Vorzeichen entwickelte Industriegesellschaft beruht auf anderen Kriterien als das islamische Gemeinschaftsideal. Da die westlichen Wirtschaftsstrukturen weniger zum Wohle der Marokkaner sondern fast ausschließlich zum europäischen Nutzen in das Land hineingetragen wurden, gehörte die Herstellung einer Kompatibilität mit islamischen Ökonomievorschriften nicht zum vorrangigsten Interesse. Die Marokkaner wurden als „preiswerte Arbeitskräfte“ im Dienste der Versorgung des europäischen Marktes geschätzt. Eine spezifische Vorbereitung auf das neuzeitliche Wirtschaftssystem über den Aufbau einer modernen Anforderungen entsprechenden Infrastruktur 115 Stöber, Georg: „Habous Public“ in Marokko, S. 4
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wie in Europa erschien nicht notwendig. Mit dem Ende der Protektoratszeit bestand der allgemeine Anspruch, die politische Unabhängigkeit auf ökonomische Basis zu stellen. Die postkoloniale Herrschaftselite beugte sich allerdings den Interessen ausländischer Großinvestoren und gestattete das ungehinderte Einfließen von westlichem Kapital. Da die wenigen, bereits vorhandenen, modernen Unternehmen Europäern unterstanden, richtete sich die Ökonomie immer mehr an materieller Profitmaximierung, nicht aber an islamischen Gerechtigkeitsansprüchen aus. Konzepte für ein islamischen Anforderungen entsprechendes, zeitgemäßes Wirtschaftsmodell gelangten nicht zur Durchsetzung. Man bot den auf privaten Gewinn fixierten ausländischen Großunternehmen die Voraussetzung, das wirtschaftliche Potential des Landes unter sich aufzuteilen, ohne sie zu einer sozialethischen Verantwortung heranzuziehen. Mit dem unkontrolliert voranschreitenden, ökonomischen Modernisierungsprozeß verloren die religiösen Autoritäten zunehmend die finanzielle Basis, da sowohl der Staat als auch die ausländisch gesteuerte Privatwirtschaft vorhandene Mittel für eigene Zwecke bereit hielten. Über den Aufbau eines eigenen Sozialnetzes waren die Islamisten in der Lage, öffentlich vernachlässigte Gemeinschaftsdienste zu übernehmen. Die Tatsache, dass die Privatwirtschaft in Europa einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Stabilisierung leistet, vermag die Marokkaner von westlichen Sozialmodellen wenig überzeugen, zumal jene europäischen Unternehmen in ihrem Land die Missachtung des islamischen Gemeinwohls repräsentieren. Weil die moderne Wirtschaft nicht nur vom Westen ausging, sondern nationalen ökonomischen Grundsätzen keine Bedeutung beimaß, konstatiert die International Bank for Reconstruction and Development (1966), daß sie zur traditionellen marokkanischen, nach islamischen Regeln funktionierenden Ökonomie überhaupt keine Beziehung hergestellt hat: The modern economy was developed almost entirely by foreigners. Only a very few rich Moroccan families took part in this development […] Thus, the modern economy came to have few ties with the traditional economy, and its growth had little impact on the lives of the majority of the population. It is often said that the modern economy is juxtaposed to, but not integrated with, the traditional economy.116
Der westliche Einfluß auf die marokkanische Wirtschaft setzte sich nach der Protektoratszeit unvermindert fort und verstärkte sich in vielen Bereichen noch. Das Ausbleiben einer an nationalen Interessen orientierten politischen Steuerung der ökonomischen Entwicklung ermöglichte den bereits vorhandenen, westlichen Unternehmen, ihren Besitz an marokkanischen Ressourcen aufrecht zu erhalten, 116 International Bank for Reconstruction and Development: The economic development of Morocco, p. 13
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sowie die gesellschaftliche Modernisierung des Landes nach ihren Interessen voranzutreiben. Dies geschah auf zweierlei Weise: Zum einen wurden Investitionszusagen an westlichem Kapital dienliche innenpolitische Entscheidungen gebunden. Zum anderen wurde die marokkanische Position bei Außenhandelsverträgen mit den Herkunftsländern der Investoren unterminiert. Die westliche, an keinerlei nationale Regeln gebundene „moderne Ökonomie“ bestimmte mehr oder weniger die Grundlagen der marokkanischen Wirtschaftsordnung, sowie darüber hinaus die soziopolitische Entwicklung des Landes. Fehlendes Engagement der Herrschaftselite zum Aufbau einer eigenständigen, von Marokkanern kontrollierten Wirtschaft hatte den Staat von jeglichem Einfluß auf die Ökonomie entfernt. Basler (1976) weist darauf hin, dass die Neuregelung der Eigentumsverhältnisse nach Wiedererlangung der Souveränität die Industrie und den Dienstleistungssektor fast überhaupt nicht einbezogen hatte, so daß die zukunftsweisenden Ökonomiebereiche fortdauernd von Ausländern bestimmt blieben: Ein besonderes Problem für die marokkanische Wirtschaft ergibt sich aus der starken Präsenz ausländischen Kapitals. Während auf dem landwirtschaftlichen Sektor der ausländische Einfluß relativ früh durch eine teilweise Übernahme landwirtschaftlicher Betriebe durch Marokkaner abgeschwächt wurde und sich auf dem Phosphatsektor das Problem der eigentumsrechtlichen Abhängigkeit vom Ausland nicht stellte, da der Phosphatabbau seit 1920 vom Staat selbst betrieben wird, befand sich bis Anfang der 70er Jahre der übrige Bergbau, die Grundstoff- und verarbeitende Industrie sowie der Dienstleistungssektor zu mehr als 50% im Eigentum von Ausländern.117
Das islamistische Streben, über prämoderne Ordnungsstrukturen die islamische Ethik innerhalb der marokkanischen Wirtschaft wieder zum Maßstab zu erheben, resultiert aus der Erkenntnis, dass das gegenwärtige, auf westlichen Normen beruhende Wirtschaftssystem ethischen Fragen generell und islamischen Grundsätzen im Besonderen kaum Bedeutung beimisst. Zu Recht erkennt man den Einfluß der modernen Ökonomie als Ursache für die Angleichung der staatlichen Gesetzgebung an westliche Bestimmungen. Zwar erscheint eine Konvergenz frühislamischer Wirtschaftsmodelle mit modernen ökonomischen Anforderungen schwer vorstellbar, die Distanzierung der Wirtschaftsordnung von islamischer Ethik gilt keineswegs als erforderlich. Mit der Formulierung einer spezifisch „islamischen Ökonomie“ entwirft die Wirtschaftswissenschaft seit den Siebziger Jahren Konzepte, nach denen unter den Bedingungen der Moderne eine effektive Wirtschaft funktionieren kann, die sich zugleich an islamischen Grundsätzen orientiert. Über die praktische Konzipierung der islamischen Wirtschaft besteht sowohl bei Ökonomen als auch islamischen Gelehrten bis zur 117 Basler, Alois: Regionale Entwicklung und regionale Wirtschaftspolitik in Marokko, S. 26
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Gegenwart eine Kontroverse. Diese Uneinigkeit ergibt sich aus divergenten Interpretationen zu die Ökonomie betreffenden Vorgaben der Scharia. Der Begriff Riba beispielsweise wird von einigen Gelehrten als „Zins“ übersetzt und intendiert die Untersagung jeglicher moderner Bankgeschäfte. Andere Islamkundler setzen die Riba mit dem deutschen Wort „Wucher“ gleich und konstatieren, lediglich klassische Zinsgeschäfte, die einen „unerträglichen Rahmen“ überschreiten, seien mit islamischer Ethik unvereinbar. Die ökonomischen Vorschriften werden kontextgebunden interpretiert, um den hinter einer islamischen Regelung stehenden Grundgedanken in der modernen Ökonomie zur Geltung zu bringen. Die theoretischen Auseinandersetzungen über die korrekte Umsetzung der Riba in frühislamischen Epochen lassen erkennen, dass der Kontextbezug bereits damals vonnöten war, um die gesellschaftlichen Anforderungen auf die vorherrschenden Bedingungen zu übertragen. Ein erfolgreiches marokkanisches Wirtschaftsmodell für die Gegenwart kristallisiert sich als Mittelweg zwischen der Aufrechterhaltung vormoderner Wirtschaftspraktiken und der unreflektierten Adaptation westlich anzutreffender Konzeptionen heraus. Die negativen Erfahrungen mit den unter kolonialen Bedingungen in die marokkanische Zivilisation hineingelangten westlichen Kapitalgebern weisen dem islamischen Zinsverbot beispielsweise wieder einen höheren Stellenwert zu. Der Ausschluß jeglicher Fremdkapitalverwaltung erscheint für die Förderung moderner Innovationen nicht geeignet. Der im Westen üblichen Zinswirtschaft ließe sich ein eigenständiges, auf „Partnerschaftsverträgen“ beruhendes System gegenüberstellen, bei dem Kapitalgeber in einem vereinbarten Verhältnis am Profit der Investitionen beteiligt sind. Um einerseits den Marokkanern die Partizipation am modernen Wirtschaftssystem zu eröffnen, sowie andererseits den Einfluß von ausländischen Investoren auf ihr Land zu begrenzen, könnte auf die Dienste spezifischer „islamischer Banken“ zurückgegriffen werden. Bei einer Ertragssteigerung ist die Bank berechtigt, mit einem eigenen Anteil daran zu partizipieren. Sie darf den Schuldner nicht im Vorhinein vertraglich zur Rückzahlung der Schuld unter Einschluß von Zinsen verpflichten. Die Gefahr einer „Dauerverschuldung“ bei Verlustgeschäften, die bei Krediten konventioneller Banken nicht selten in ein Abhängigkeitsverhältnis hineinführt, bleibt weitgehend ausgeschlossen. Nienhaus & Wohlers-Scharf (1984) erläutern die Funktionsweise des islamischen Bankenkonzepts und lassen darin sowohl für die Bank als auch den Kreditnehmer eine Perspektive erkennen: Der für islamische Banken entscheidende Grundsatz lautet, dass bei einem reinen Gelddarlehen der Gläubiger vom Schuldner entweder nur die unbedingte Rückzahlung des Darlehensbetrages ohne jedes Aufgeld und ohne einen sonstigen vereinbarten Vorteil verlangen darf, oder eine prozentual, nicht im vorhinein in einem absoluten Betrag festgelegte Beteiligung am Ertrag des mit dem Darlehen finanzierten Pro-
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jekts aushandeln kann, wobei er dann auf eine Rückzahlungsgarantie für den Darlehensbetrag verzichten muß, was bedeutet, dass der Gewinnchance auch ein Verlustrisiko gegenübersteht.118
Moderne, auf islamischer Ethik beruhende Ökonomiekonzepte erfordern nicht, sich westlichen Wirtschaftstheorien gegenüber zu verschließen. Sie zielen auf eine Realisierung des islamischen Gerechtigkeitsideals unter den Bedingungen der Gegenwart hinaus. Eine Übernahme nicht dem Islam widersprechender wirtschaftlicher Grundsätze vom Westen findet ausdrücklich Akzeptanz. Das Grundmodell der westlichen Wirtschaftsordnung, die freie Marktwirtschaft, wird von kaum einem ernst zu nehmenden islamischen Wirtschaftswissenschaftler in Frage gestellt. Kritisiert wird die Preisgabe der islamischen Kollektivverantwortung zugunsten von Wirtschaftsinteressen westlicher Kapitalgeber, die in den islamischen Ländern erwirtschaftete Profite in den Westen zurückfließen lassen. Die auf private Profitmaximierung reduzierte okzidentale Wirtschaftsweise interpretiert man als Ursache dafür, dass gemeinschaftsorientierte Werte im Westen kaum Bedeutung einnähmen, eine Tendenz, der es nach islamistischer Auffassung in der islamischen Zivilisation entgegenzuwirken gelte. Schlotter (1999) konstatiert, dass die mannigfaltigen islamischen Wirtschaftskonzepte auf westlichen Grundmodellen wie der Marktwirtschaft aufbauten. Lediglich die individualistische Mentalität, die in besonderer Weise mit dem Kapitalismus assoziiert werde, gelte als mit islamischer Ethik unvereinbar: However, there is no agreement amongst the individual groupings as to what the practical content of an “Islamic economy” ought to be. The spectrum extends from “social democratic” concepts up to and including vigorous defence of free market and private property. In general – even amongst Islamist groups – no fundamental hostility to a capitalist market economy is discernible; there is merely a concern to combat its individualistic Western “excrescences”.119
Der Islam hat die ökonomische Entwicklung Marokkos über die verschiedensten Zeitepochen hinweg bestimmt, sowie die Regeln des wirtschaftlichen Agierens vorgegeben. Der Einfluß von anerkannten religiösen Autoritäten und einem umfangreichen islamischen Stiftungswesen garantierte die Partizipation aller Gesellschaftsschichten an wirtschaftlicher Prosperität. Nach wie vor trägt islamischer Gemeinsinn zur Abmilderung sozialer Notlagen bei, wenngleich die moderne, vom Westen ausgehende Ökonomie religiösethischen Maßstäben einen geringeren Stellenwert einräumt. Vor allem die Orientierung auf privaten Kon118 Nienhaus, Volker & Wohlers-Scharf, Traute: Arabische und islamische Banken, S. 101 119 Schlotter, Peter: Free Trade + Democratization = Development? The European Union´s Maghreb Policy, p. 33
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sum und materiellen Gewinn, hervorgerufen durch die neuzeitlichen westlichen Großinvestoren, wirkte sich in einer zunehmenden Distanzierung der marokkanischen Ökonomie von religiösen Grundsätzen aus, ohne dass die Bevölkerungsmajorität davon profitierte. Radikale Islamisten folgern daraus, dass die moderne, westlich bestimmte Wirtschaftsordnung generell mit dem Islam inkompatibel sei und fordern eine Rückkehr zu vormordernen Ordnungsstrukturen. Erfolgreiche Konzepte islamischer Wirtschaftsethiker lassen grundsätzlich eine Konformität islamischer Vorgaben mit modernen ökonomischen Anforderungen herstellen. Ein zeitgemäßes Schariaverständnis ist vonnöten, das eine Kompatibilität moderner westlich geprägter Wirtschaftsstrukturen mit islamischen Ethikvorschriften herstellt. In einem demokratischen Konsens sollte die marokkanische Wirtschaftspolitik Konzepte entwickeln, die sowohl der Entfernung der Ökonomie von islamischer Gemeinwohlverpflichtung entgegensteuern, als auch die Partizipation der Marokkaner an der globalen Prosperitätsentwicklung garantieren. Außerislamische Vorbilder können Orientierung bieten, sofern eine unreflektierte Übertragung westlicher Modelle auf den marokkanischen Kontext ausgeschlossen bleibt. Ausgehend von der Tatsache, dass im Westen kein einheitliches Wirtschaftsmodell besteht, sowie unter ethisch-religiösen Gesichtspunkten Alternativen zum status quo diskutiert werden, besteht kein Anlaß, an der Existenz eines für Marokko zukunftsweisenden, mit islamischer Ethik konformen, ökonomischen Konzepts zu zweifeln.
3.3.3 Bedeutung der Religion im Bildungssektor Als „Religion des Wissens“ räumt der Islam Bildung einen elementaren Stellenwert ein. Über die Art der geforderten Weitervermittlung von Kenntnissen bestehen bereits seit der islamischen Frühzeit Kontroversen. Das Verhältnis von religiöser Bildung und säkularer Wissenschaft stellte innerhalb der marokkanischen Gesellschaft immer wieder einen Gegenstand der Auseinandersetzungen dar. Die praktischen Auswirkungen der Religion auf das marokkanische Bildungswesen zeigten sich in den unterschiedlichen Zeitepochen uneinheitlich. Konnte sich über den Islam ein Bildungswesen etablieren, das zu wissenschaftlicher Freiheit und zivilisatorischem Fortschritt die Voraussetzung bot? Neuzeitliches Zurückstehen Marokkos gegenüber dem Westen wird häufig auf ein unzeitgemäßes Bildungswesen zurückgeführt. Hieraus entsteht die Ansicht, der Islam biete für moderne Bildung keine Grundlage. Trägt der Islam dazu bei, an die Allgemeinheit gerichtete Bildung auf die Anforderungen der Gegenwart einzustellen? Ein Bildungsmodell gilt es zu entwerfen, daß sowohl die Verbundenheit zur islamischen Kultur erkennen lässt als auch für die Partizipierung an der modernen Gesellschaft die
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Basis bereitet. Anhand historischer und gegenwärtiger Beispiele verlangt es ein für moderne Bildung förderliches Islamverständnis herauszustellen. Bereits die frühen islamischen Dynastien Marokkos waren sich der Bedeutung von Bildung als Basis gesellschaftlicher Entwicklung im kulturellen wie technologischen Bereich bewusst. Ihre Unterstützungsbereitschaft für zivilisatorischen Fortschritt zeigte sich in beeindruckender Weise auf dem Bildungssektor. Bildung wurde sowohl als religiöse Gelehrsamkeit geschätzt als auch in wissenschaftlichem Erforschen der profanen Umwelt mit der Weitergabe aufgenommener Kenntnisse. Rationales Ergründen von naturgegebenen Zusammenhängen wurde in keiner Weise als Gegensatz zum Islam aufgefasst. Ebensowenig sah man den Stellenwert der Heiligen Schrift durch den Rückgriff auf vorislamische philosophische Erkenntnisse zur Disposition gestellt. Die Gründung der ersten weltweiten Universität in Fes leistete die Voraussetzung für die Übersetzung antiker Werke vom Griechischen ins Arabische, die es vor dem islamischen Hintergrund neu zu interpretieren galt. In dieser Phase erwies sich das Bildungswesen als Garant der „maurischen Renaissance“. Das pluralistische Islamverständnis der Herrschenden kristallisierte sich als die Keimzelle für eine naturwie geisteswissenschaftliche Blütezeit heraus, die weit über den westlichen Mittelmeerraum hinaus Beachtung fand. Islam interpretierte man als permanentes Reflektieren bisheriger Weltsichten, verbunden mit der Fähigkeit, neu gewonnene wissenschaftliche Erkenntnisse zeitgemäß anzuwenden. Die Religion stellte für bedeutende Philosophen kein Hindernis, antike Leitideen auf den Universitäten zu diskutieren, sowie mit der islamischen Lehre in Konformität zu bringen. Gelehrte späterer Zeitepochen assoziierten mit dem Islam einen enger gefassten Bildungsbegriff als die Philosophen des marokkanischen Mittelalters. Bildung erforderte in erster Linie die korrekte Rezitation des Korans, sowie der Schriften anerkannter religiöser Autoritäten. Leitideale von außerhalb des islamischen Kontextes enthielten keine „religiösen Wahrheiten“, sowie galten nicht als wertvoll genug, um hieraus neue Erkenntnisse zu ziehen. Im Koran deutete man den Ursprung jeglicher Wissenschaft. Er musste in vorgegebener Weise wiedergegeben werden, damit jeder Muslime für sich wie die islamische Gesellschaft daraus Nutzen ziehen könne. Eine entscheidende Bedeutung kam dem Faqih (Lehrmeister), dem Einweiser in die vorgegebene Rezitierweise zu. Da der Koran die „absolute Wahrheit“ in sich trägt, erkannte man in einer wissenschaftlichen Auslegung der Texte zum zeitgemäßen Verständnis für die jeweilige Gegenwart keine Notwendigkeit. Selbst die Kenntnis von arabischer Grammatik und Rechtschreibung stand in der Werteskala dem „korrekten Nachsprechen“ von Koransuren hinterher. Wagner (1993) schildert den herausragenden Stellenwert des Faqih als Instruktionsmeister für die Anerkennung einer religiösen Bildungsleistung in Marokko, der zwar zum unabhängigen interpretatorischen Text-
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studium animiere, in erster Liene die Aussprache beim auswendigen Rezitieren vermittele: To a considerable extent, the Islamic educational system in Morocco can be said to be embodied in its teachers. The Quran is believed to be the actual word of God and is meant to be recited aloud. Learning to recite can only be accomplished with the help of a master skilled in phrasing and pronunciation conventions. Although much independent study of the text may also take place, it cannot replace the training and oral modeling provided by the fqih.120
Die linguistischen und kognitiven Fähigkeiten wurden im religiös geprägten Bildungswesen Marokkos bis zum äußersten beansprucht, auf Rationalität und Irrtum beruhende Wissenschaft, die in die Lage versetzt, Zusammenhänge zu hinterfragen, geriet immer mehr in den Hintergrund oder blieb einer kleinen Elite vorbehalten. Eine Weiterentwicklung von Bildung und Wissenschaft außerhalb des religiösen Bereichs fand kaum noch statt, da ein dogmatisches Religionsverständnis das Eindringen außerhalb der islamischen Zivilisation entwickelter Wissenschaftszweige zu verhindern wusste. Selbstzufriedenheit bestimmte das marokkanische Bildungswesen einer Epoche, die zwar mit Hochachtung in die eigene islamische Vergangenheit zurückschaute, Entwicklungen der Gegenwart außerhalb der eigenen Zivilisation nicht zur Kenntnis nahm, sowie nicht bereit war, Parallelen moderner Philosophien zur islamischen Lehre herzustellen. Ein modernes Bildungssystem, welches die Anforderungen der Zeit angemessen einbezog, konnte sich nicht etablieren. Der kollektive Zugang zu Bildung jenseits der Rezitation des Korans wurde nicht als prioritäre Aufgabe des islamischen Staates wahrgenommen. Marokko büßte seinen in mittelalterlicher Zeit erlangten zivilisatorischen Vorsprung gegenüber dem europäischen Kontinent immer mehr ein. Das Fehlen eines modernen, an die Allgemeinheit gerichteten Bildungswesens erwies sich als Hauptgrund für die Tatsache, dass Marokkos Bildungsniveau gegenwärtig hinter westlichen Ländern weit zurücksteht, sowie mit seiner hohen Analphabetenrate gegenüber anderen Entwicklungsländern noch Defizite aufzuweisen hat. Seit der Protektoratszeit suchte eine wohlhabende Minorität verstärkt westliche Bildungseinrichtungen auf, so dass jene Elite einen Großteil ihrer Ausbildung außerhalb Marokkos erhalten hatte. Die von der französischen Protektoratsherrschaft innerhalb des Landes gegründeten Bildungsinstitutionen richteten sich gleichermaßen nach westlichen Maßstäben aus. Zum bestehenden religiösen Erziehungswesen stellten sie keine Beziehung her. Es entstand eine Diskrepanz zwischen einer westlich säkular gebildeten Oberschicht und der übrigen Bevöl120 Wagner, Daniel A.: Literacy, culture and development, p. 42
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kerung, die entweder überhaupt keine Bildung oder nur religiöse Unterweisung an Koranschulen erhalten hatte. Der sowohl quantitativ als auch strukturell divergente Bildungshintergrund kristallisierte sich in voneinander abweichenden gesellschaftspolitischen Wertvorstellen heraus und spiegelte sich im Religionsverständnis wieder. Erachteten die westlich ausgebildeten Eliten das säkulare Erziehungswesen Europas als Vorbild für Marokko, erfuhr die übrige Bevölkerung die Religion als einzigen Garanten, an Bildung zu gelangen. Für eine erfolgreiche Bildungspolitik bedurfte es eines Konzepts, moderne Bildungsanforderungen mit dem islamischen Bildungsideal in Einklang zu bringen. Es zeigte sich eine Reflexion der neu aufgenommenen wie der traditionellen Bildungsziele als erforderlich, die das Islamverständnis mit einbezog. Le Veugle (1961) stellt heraus, daß die postkoloniale marokkanische Bildungspolitik für ihr Ziel, Tradition wie Moderne im Bildungsbereich angemessen zu berücksichtigen, erst die Vereinbarkeit westlicher Ideale und islamischer Werteverbundenheit erkennen musste: Um den Konflikt zwischen Modernität und Tradition lösen zu können, musste man wissen, welche Kultur das neue Marokko wünschte. Die für die Gründung des B.E.P. [Abteilung Erwachsenenbildung] Verantwortlichen glaubten, dass es notwendig sei, den Marokkanern folgende Punkte vor Augen zu führen: Welche westlichen Werte besitzen auch für Marokko Gültigkeit? Was ist heute noch im Islam und in der islamischen Kultur lebendig? Welches waren die Ursprünge der marokkanischen Kultur der Vergangenheit [...], welches sind sie heute [...], und welche werden es in Zukunft sein [...]? Welches sind Ursprung, Ziel und Bedeutung der großen gegenwärtigen geschichtlichen Strömungen, zwischen denen Marokko sich zu entscheiden hat?121
Die geringe Allgemeinbildung der Civil Society erkannte die marokkanische intellektuelle Elite bereits in den Anfangsjahren nach Wiedererlangung der Souveränität als Entwicklungshemmnis. Der Anspruch galt einer durchgreifenden Reform des Bildungswesens, getragen von einem Mentalitätswechsel in Politik und Gesellschaft, der zu angemessener Würdigung säkularer Bildung führen konnte. Die von Frankreich eingerichteten Bildungsstätten erwiesen sich hierfür als ungeeignet, da sie nur auf Französisch unterrichteten und keine Beziehung zur marokkanischen Landestradition im Unterricht erkennen ließen. Koranschulen blieben über lange Zeit weitgehend die einzigen Bildungseinrichtungen, auf denen Kenntnisse in arabischer Schriftsprache zu erhalten waren. Auf dem Lande fehlte jegliche Bildungsinfrastruktur. Den Aufbau moderner arabischer Bildungsinstitutionen erkannte die Politik im ersten Jahrzehnt des souveränen Marokkos nicht als prioritäre Aufgabe. Vom vorgegebenen Ziel, über die kollektive Beherrschung der arabischen Schriftsprache das Fundament für eine moderne zivilisatorische Entwicklung zu legen, blieb die Realität weiterhin entfernt. Wa121 Le Veugle, Jean: Erwachsenenbildung in Marokko, S. 33
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ren 1956 bei Erlangung der Unabhängigkeit noch 88,5% der Marokkaner Analphabeten und von 2 Millionen Schulpflichtigen nur 230.000 Kinder tatsächlich zum Schulbesuch bewegt worden, konnte erst 1965 die Einschulung aller siebenjährigen Kinder vermeldet werden. Erst allmählich wurde von den Großstädten ausgehend ein marokkanisches Versorgungsnetz aufgebaut. Die umfangreiche Inanspruchnahme der neuen Bildungsinstitutionen belegte, daß die Marokkaner säkulare Allgemeinbildung nicht als Gegensatz zu ihrem islamischen Glauben auffassten. Obwohl Koranschulen fortgesetzt als Einrichtungen religiöser Wertevermittlung aufgesucht wurden, bestand gleichzeitig ein kollektives Interesse an säkularer Bildung von der Grundschule bis zum universitären Bereich. Der Bedarf nach moderner Bildung stieg so sprunghaft an, daß die vorhandenen Einrichtungen ihn bis in jüngste Zeit nur unzureichend abdecken konnten. Besonders das Interesse junger Frauen an schulischer Bildung nahm mit der Aussicht auf einen erlernten Beruf immer mehr zu, so daß die Anzahl von Frauen mit Schulbildung seit den frühen Sechziger Jahren um das Fünfzigfache angewachsen ist. Je mehr man realisierte, daß die Chancen in der modernen Gesellschaft von der Allgemeinbildung abhingen, desto mehr wurde intellektuelle Wissensvermittlung als Wert erkannt, der das islamische Gerechtigkeitsideal zeitgemäß umsetzt. Um dem Verlangen nach moderner Bildung einigermaßen entgegenkommen zu können, boten religiöse Einrichtungen in ländlichen Regionen zunehmend neben dem Koranunterricht allgemeinbildende Fächer an. Eickelman (1997) zeigt anhand einer Tabelle für die Jahre 1955 bis 1992 die exponentielle Zunahme von Jugendlichen sowohl an weiterführenden Schulen als auch an Hochschulen, die mit anhaltend steigenden Schülerzahlen konfrontiert sind, weil Bildung als wichtigster Zugang zum zivilisatorischen Fortschritt wahrgenommen wird: Jahr 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1989 1992
Sekundarstufenschüler 30.000 100.000 220.000 300.000 500.000 850.000 1.250.000 1.400.000 1.550.000
Quelle: Eickelman, Dale: Muslim Politics, p. 23
Hochschüler 2.000 10.000 20.000 30.000 40.000 80.000 140.000 200.000 230.000
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3 Entwicklung des Staates Marokko
Die gesteigerte Wertschätzung säkularer Bildung ging keineswegs mit einer Mißachtung religiöser Bildung einher. Die Zunahme der Allgemeinbildung rief vielmehr eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Religion hervor. Die Bildungspolitik begünstigte diesen Schritt, in dem Arabisch, die Sprache des Islam, als Amtssprache wieder zur einzigen obligatorischen Unterrichtssprache Marokkos erklärt wurde. Französisch wurde auf den Status der ersten Fremdsprache zurückgestuft. Man eröffnete der Bevölkerung den Zugang zum islamischen Schrifttum und trug zu einem moderneren Islamverständnis der jungen Generation bei. Die ebenfalls erworbenen Kenntnisse westlicher Sprachen beförderten die Beschäftigung mit der westlichen Zivilisation und ihren aufklärerischen Ideen, die mit dem Islam in Einklang gebracht werden. Nicht wenige Marokkaner betrachten das nach wie vor gefragte Koranschulwesen als Ergänzung und Vorbereitung für die säkular ausgerichtete moderne Schullaufbahn. In dem Maße wie die Koranschule sich von einer reinen „Rezitierlehranstalt“ zu einer modernen religiösen Bildungseinrichtung weiterentwickelte, erkannte man in ihr einen Garanten, sowohl für die Vermittlung religiöser Werte in einem modernen Umfeld an die nächste Generation als auch, das Interesse für profane Bildung zu wecken. Wagner (1993) konstatiert, dass die marokkanischen Koranschulen sich sowohl in Lehrmethoden als auch Lehrinhalten auf die Bildungsansprüche der Moderne eingestellt haben, weil sie zum staatlichen Grundschulwesen einen permanenten Ideenaustausch hergestellt haben: In Morocco, despite a central focus on the study of Quranic texts, the traditional Quranic preschools have adapted to changes in contemporary social life. With the advent of increased primary school enrollments, a large majority of Moroccan children now attend Quranic preschools as preparation for formal schooling. […]In addition, the changes in populations served […], backgrounds of the teachers […], and pedagogy […] have placed Quranic schooling in more direct contact […] with the modern preschool school system.122
Moderne Lehrmethoden müssen nicht notwendigerweise mit einem modernen Gesellschaftsverständnis einhergehen. Die verschiedensten gesellschaftlichen Strömungen erkennen in der Lexikalität der Bevölkerung eine Möglichkeit, ihre Weltsicht der Öffentlichkeit zu vermitteln. Wie konventionelle Koranschulen haben sich die Islamisten in Stil und Methodik auf moderne Bildungsansprüche eingestellt. Angesichts zögerlicher Modernisierung des staatlichen Erziehungswesens, stellt die islamistische Bildungsvermittlung in manchen Regionen die einzige Form, an „moderne“ Bildung zu gelangen, dar. Das Interesse an Bildung wird für die islamistischen Ziele instrumentalisiert, indem die ideologische 122 Wagner, Daniel A.: Literacy, culture, and development, p. 264
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Weltanschauung die Bildungsinhalte bestimmt. Der autoritäre Staat sieht sein Meinungsmonopol zunehmend zur Disposition gestellt. Die Alphabetisierung, einhergehend mit dem ungehinderten Zugang der Bevölkerung zu modernen Massenmedien gilt es zu nutzen, das Regierungsprogramm darzulegen und zu rechtfertigen. In allgemeinen Schulbüchern, sowie in moderner Kinder- und Jugendliteratur wird die Monarchie in den mannigfaltigsten Zusammenhängen thematisiert, um der antimonarchistischen Opposition die Zustimmung zu entziehen. Zugleich wird der Staat sich bewusst, daß er nicht mehr als einziger Akteur Einfluß auf die Bevölkerung ausüben kann, womit der Erfolg von Manipulationsbestrebungen begrenzt bleibt. Ihre Bildung versetzt die Marokkaner in die Lage, Informationen der verschiedensten Hintergründe aufzunehmen, um sich eine differenzierte eigene Position zu bilden. In der Religion erkennt man kein Hindernis, da sie sich von ihrem Grundsatz her pluralen Weltanschauungen gegenüber aufgeschlossen zeigt. Eickelman (1997) konstatiert, daß die gestiegene Allgemeinbildung der Bevölkerung vom Staat die Suche nach neuen Methoden der öffentlichen Präsentation erfordert, da die Bürger über ein Mittel verfügen, den offiziellen staatlichen Darstellungen die oppositionelle Sichtweise gegenüberzustellen: The state has learned to talk back through the media to popularize the “official” political story, as illustrated in a comic book history of Morocco, available in Arabic and French, which tackles even the attempted overthrows of the monarchy in 1971 and 1972. Conversely, mass education empowers citizens to talk back to state authority by making the state one actor among many, and thus changing how the state can represent itself.123
Eine Entwicklung zu politischem Pluralismus, sowie zu einer Akzeptanz des modernen Gesellschaftssystems seitens der religiös geprägten Bevölkerungsmehrheit läßt sich nur über eine Teilhabe an moderner Bildung erreichen. Eine Gesellschaft, in der Analphabetismus weniger die Ausnahme als mehr die Regel darstellt, erreichen moderne gesellschaftspolitische Ideen nicht. Die Fähigkeit zur Reflexion kann sich nicht herausbilden, so daß utopische unrealistische Konzepte nicht entlarvt werden. Die Erfahrung, dass der Staat dem kollektiven Bedürfnis nach allgemeiner Bildung nur unzureichend entgegenkommt, läßt die Islamisten mit ihren alternativen Bildungsprogrammen auf Resonanz treffen. Um die islamistische Opposition von weiterem Einfluß auf die Bevölkerung abzuhalten, wurde die Notwendigkeit einer Bildungsreform erkannt. Über die Erklärung des anbrechenden Jahrzehnts zum „Jahrzehnt von Schule und Ausbildung“ versucht die Politik den Eindruck zu erwecken, den Anspruch nach Bildung künftig 123 Eickelman, Dale: Muslim Politics, p. 30
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3 Entwicklung des Staates Marokko
verstärkt in ihre Konzeptionen einzubeziehen. In der Tat wurden in den letzten Jahren einige Reformen durchgeführt. Eine im Jahre 1999 initiierte „Charta für Bildung und Ausbildung“ sollte das Bildungswesen auf allen Ebenen neu strukturieren. Die Konzentration der Kompetenzen für alle Schultypen in einem Ministerium stellte die Basis für eine abgestimmte Reformpolitik von der Grundbis zur Hochschule. Sie ging mit gesellschaftlichen Reformen einher, die sich mittelbar auf das Bildungswesen auswirken sollen. Die Anhebung des Mindestheiratsalters für Frauen auf 18 Jahre, sowie das Verbot der Kinderarbeit sollen allen Frauen wie Männern die Voraussetzungen für eine abgeschlossene schulische Ausbildung bieten. Die Erhebung der berberischen Dialekte zur Unterrichtssprache zielt auf eine erhöhte Identifikation der berberischen Landbevölkerung mit dem modernen Bildungssystem. Jegliche Reformen müssen unvollkommen bleiben, wenn es nicht gelingt, in der Gesellschaft eine grundsätzliche Akzeptanz für säkulare Bildung zu erreichen. Eine unreflektierte Nachahmung westlicher Vorbilder erweist sich hierfür als unangemessen. Da die gesamte traditionelle Bildungselite einen wesentlichen Teil ihrer Ausbildung auf Koranschulen erhalten hat, steht sie dem ausschließlich säkular orientierten westlichen Bildungsmodell skeptisch gegenüber. Seit der Islamisierung hat der Islam die Rahmenbedingungen für Bildung und Wissenschaft in Marokko geliefert. Die mittelalterlichen Dynastien verstanden ihre Religion im Einklang mit pluralistischer Bildung, sowie auf Beweis und Irrtum beruhender Wissenschaft. Religiöses Schrifttum und außerislamisch entstandene antike Philosophien akzeptierte man gleichermaßen als Grundlage für die Verbreitung von Wissen an die Allgemeinheit. Bildung richtete sich nicht nur an eine minoritäre Elite, sondern sollte der gesamten Gesellschaft zukommen. Hiermit war die Voraussetzung für einen zivilisatorischen Fortschritt auf allen Ebenen gelegt. Zunehmend behinderte ein dogmatisches Islamverständnis die Weiterentwicklung des Bildungswesens, da außerislamisch entstandene Lehren als Bestandteil marokkanischer Bildung zurückgewiesen wurden. Bildung blieb auf bestimmte Gesellschaftsschichten beschränkt, womit die Partizipierung der Majorität an der vom Westen ausgehenden modernen Entwicklung ausgeschlossen war. Ein traditionalistisches, mit dem Islam gerechtfertigtes Rollenverständnis verhinderte die Teilhabe von Frauen an institutioneller Bildung, woher eine überdurchschnittlich hohe weibliche Analphabetenrate resultiert. Angesichts der Komplexität der modernen Gesellschaft reicht eine Begrenzung von Bildung auf auswendiges Rezitieren von Korantexten nicht mehr aus. Der marokkanische Staat muß die Grundlage für ein flächendeckendes Netz mit Bildungsinstitutionen bereitstellen, die allen Bevölkerungsschichten den Zugang zu moderner profaner Wissensvermittlung eröffnen. Die Aufgeschlossenheit der frühislamischen Obrigkeiten gegenüber säkularer Wissenschaft belegt, daß der Islam sich
3.3 Einfluß der Religion auf die gesellschaftliche Entwicklung Marokkos
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hierfür nicht als Barriere erweist. Religiöser Wertevermittlung wird in Marokko nach wie vor ein bedeutender Stellenwert eingeräumt und sollte ein Bestandteil des Bildungswesens bleiben. Die Akzeptanz für moderne schulische Erziehung läßt sich über die Kombination von religiöser und säkularer Bildung erreichen. In einem austarierten Verhältnis sind staatliche und religiöse Bildungseinrichtungen in der Lage, die junge Generation Marokkos gemeinsam auf eine Zukunft vorzubereiten, die traditionelle Werte erhält und den Zugang zu moderner Entwicklung garantiert.
4.1 Historische Entstehung
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4 Al-Adl Wal-Ihsan – die größte islamistische Bewegung Marokkos
4.1 Historische Entstehung Die Geschichte der Bewegung hängt in besonderem Maße mit dem Lebenslauf ihres charismatischen Führers und Begründers Cheikh Abdesslam Yassine zusammen. Der 1928 in der Region Sus in Süd-Marokko geborene Yassine war ursprünglich im öffentlichen Bildungssektor beschäftigt. Nachdem er sieben Jahre lang in El-Jadida und Marrakesch Arabisch unterrichtet hatte, wurde er 1955 zum amtlichen Kontrolleur für Grundschulunterricht berufen und übte diese Funktion zuerst in Casablanca, sowie später in Beni Mellal aus. Es folgte ein rascher Aufstieg vom Direktor des Ausbildungszentrums für Grundschullehrer in Marrakesch (1960) und Aufsichtsbeamter für weiterführende Schulen in Casablanca (1963) zum Direktor des Zentrums für Lehrerausbildung in Rabat (1965 bis 1967). Eine Krankheit zwang Yassine bereits 1968 zum Abbruch seiner Karriere und brachte ihn mit dem sufistischen, spirituellen Lehrer Abbas Bouchich in Verbindung, der offenbar sein späteres Weltbild entscheidend prägte. Der plötzliche Tod seines Lehrers veranlasste Yassine, den Sufismus nach kurzer Zeit wieder zu verlassen. Sein Islamverständnis verband mit der Religion weniger mystische Zurückgezogenheit als mehr einen Auftrag für das Gemeinwohl. Hiervon ausgehend geriet er in Konflikt mit dem damaligen König Hassan II., dem er vorwarf, zwar einerseits auf seinen „islamischen Herrschaftsauftrag“ Bezug zu nehmen, andererseits wesentliche islamische Verpflichtungen, insbesondere in sozialer Hinsicht zu vernachlässigen. Für einen Brief an den Herrscher mit dem Titel „Al-Islam Aw Attufan“ (Islam oder die Sintflut) (1974) verbrachte Yassine dreieinhalb Jahre in Haft, zwei Jahre davon in einer psychiatrischen Anstalt. In diesem Brief hatte der Cheikh dem Monarchen vorgeworfen, die Grundlagen des Islam nicht zu kennen, sowie dementsprechend eine Islampolitik zu verfolgen, die mit den Vorschriften der Religion nicht in Einklang stehe. Er hielt dem König vor, die Muslime mit ihren Rechten nicht Ernst zu nehmen, sondern sich zu Lasten des Gemeinwesens zu bereichern, die Bevölkerung zu unterdrücken, sowie mit seiner Form der Islampraxis ein falsches Vorbild abzugeben. Vergleichbar einem Propheten wies Yassine (2000) Hassan II. auf seine „bevorstehende göttliche Strafe“ für die zuvor aufgezählten Vergehen hin:
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4 Al-Adl Wal-Ihsan – die größte islamistische Bewegung Marokkos
Mit Hilfe Ihrer Getreuen und Verwandtschaft haben Sie den Muslimen Ihr rechtmäßiges Vermögen entwendet. Sie haben Ihre von Gott vorgesehenen Aufgaben nicht erfüllt. Über falsche Vorgaben haben Sie uns vom rechten Weg abgebracht. Vielmehr haben Sie die unter Ihrer Verantwortung stehenden Menschen als Ihr Eigentum behandelt. Mit welcher Rechtfertigung gedenken Sie sich am Tag des Gerichts, nach der Wiederauferstehung, vor Gott zu verteidigen. An jenem Tag wird Ihnen Ihr auf Erden besessener Reichtum ebenso wenig zur Seite stehen wie die einstige privilegierte Stellung von Ihnen und Ihren Angehörigen, Das Urteil wird sich ausschließlich auf Ihre Taten stützen.124
Nach seiner Haftentlassung widmete Yassine sich verstärkt der Verbreitung seiner Islam- und Gesellschaftsvorstellungen, wozu er eine politisch-religiöse Bewegung aufbaute, mit dem Bestreben, langfristig sein Gesellschaftsmodell von staatlicher Ebene aus durchsetzen zu können. 1981 gründete er die Vereinigung Usrat Al-Jamaa (Familie der Gemeinschaft) als Ausgangspunkt für ein landesweites organisiertes Netzwerk zur Bindung der Gesellschaft an sein propagiertes Lebensmodell, sowie zur Bewältigung gemeinnütziger Aufgaben im Sinne seines Islamverständnisses. Als Ziel verfolgte er die Wiedererrichtung des islamischen Khalifats, basierend auf der Scharia als Rechtsgrundlage. Ein 1981 gestellter Antrag, in Form einer politischen Partei für die eigenen Gesellschaftsvorstellungen ein repräsentatives Mandat zu erlangen, erreichte keine behördliche Genehmigung. Man musste sich auf die Publizierung der eigenen Ideale, sowie die Ausweitung und Vertiefung der internen Organisation beschränken. Yassine verstärkte seine literarische Aktivität und brachte bis 1983 16 Ausgaben in einer selbst begründeten Zeitschrift Al-Jamaa (Gemeinschaft) heraus, in denen er immer wieder mit eigenen Artikeln Aufmerksamkeit erregte. Durch die öffentliche Kritik an der politischen und religiösen Rolle des marokkanischen Königs geriet er erneut mit der Staatsmacht in Konflikt. Besonders ein Artikel Yassines in der 10. Ausgabe der Zeitschrift, mit dem Titel Al-Qawl Wal-Afaal (Die Rede und die Handlung), als Kommentar zu einem Brief Hassans II. an die übrigen islamischen Staatschefs anlässlich der islamischen Jahrhundertwende konzipiert, empörte das Königshaus und provozierte dessen Repression. Der Artikel durfte nicht erscheinen und die gesamte Ausgabe der Zeitschrift wurde beschlagnahmt. Man erschwerte Yassine daraufhin mehr und mehr die Veröffentlichung seiner Artikel, bis seine Zeitschrift nach der 16. Ausgabe endgültig verboten wurde. Darif (1995) schildert, welchen Demütigungen die Mitwirkenden der Al-Jamaa sich zuletzt ausgesetzt sahen:
124 Yassine, Abdessalam: Al-Islam Aw Attufan, S. 49
4.1 Historische Entstehung
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Nach der Veröffentlichung der 10. Ausgabe hatten die staatlichen Zensurbehörden jegliche Dienstellen in der Redaktion überwacht und alle Ausgaben manipuliert. In dieser Ausgabe hatte Yassine im Leitartikel zum veröffentlichten Brief Hassans II., anlässlich des 1500. Jahrestag der Hedschra kritisch Stellung bezogen. Die Ausgabe war von der Polizei eingezogen worden und durfte nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Alle Mitarbeiter mussten sich offiziell von dem Artikel Yassines distanzieren und in polizeilicher Anwesenheit eine schriftliche Erklärung abgeben, daß sich ein Vorfall dieser Art nicht wiederhole.125
Yassine wandte sich über eine neue Zeitschrift Al-Subh (Der Morgen) mit seinen Thesen an die Öffentlichkeit, ihr Erscheinen wurde bereits nach der zweiten Auflage untersagt. Für einen nach Auffassung der Obrigkeit extrem aufrührerischen Artikel musste er erneut zwei Jahre in Haft, sowie eine Geldstrafe mit dem heutigen Wert von 500 EUR entrichten. Diese Repression hielt Yassine keineswegs von seinem gesellschaftlichen Engagement ab, sondern motivierte ihn verstärkt, im Sinne des Gemeinwesens Initiative zu ergreifen. Die Bewegung weitete ihr soziales Netzwerk aus. Man richtete sich vor allem an Universitäten und höhere Bildungseinrichtungen, an denen zahlreiche Aktivgruppen entstanden. Im Jahre 1987 nahm die von Yassine geleitete Wohlfahrtsvereinigung den Namen Jamaat Al-Adl Wal-Ihsan (Vereinigung für Gerechtigkeit und Spiritualität) an und nutzte ihre aus dem sozialen Engagement erwachsene Anerkennung bei den unteren Bevölkerungsschichten, um für ihre gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen auf Resonanz zu treffen. Die Verbreitung von Yassines Gesellschaftsbild war nun mit aktivem Einsatz im Sinne der „Benachteiligten“ verbunden. Seine Popularität erhöhte sich weiter. Man wies ihm den Status eines „spirituellen Führers“ zu. Daran hinderte ein 1989 gegen Yassine verhängter, über den Tod Hassans II. hinaus bis 2000 gültiger Hausarrest wenig, da die Bewegung weiter aktiv blieb und den Kontakt zu den verschiedenen Gesellschaftsschichten aufrechthalten konnte. Den Generationswechsel auf dem marokkanischen Thron nutzte Yassine, die Aufmerksamkeit auf die sozialen Disparitäten in der Gesellschaft zu lenken und forderte den neuen König zu verstärktem sozialem Engagement auf. In einem am 28. Januar 2000 veröffentlichten Brief unter dem Titel „Memorandum an die Berechtigten“ verlangte Yassine von Mohammed VI., das seiner Ansicht nach von Hassan II. unterschlagene Staatsvermögen im Wert von 50 Milliarden $ an die öffentlichen Haushalte zurückfließen zu lassen, um die Staatsschulden zu begleichen. Diese Aufforderung wiederholte Yassine nach seiner im Mai selbigen Jahres erfolgten Freilassung aus dem Hausarrest in seinem „Risala Ila Man Yahomohom Al-Amr“ (Memorandum, an den, den es betrifft). Sehen Yas125 Darif, Mohammed: Jama`at Al-Adl Wal-Ihsan, S. 195
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sines Anhänger in ihm eine Art „neuzeitlichen Propheten“, der das islamische Gerechtigkeitsideal nach traditionellem Vorbild auf das heutige Marokko zu übertragen suche, stellt er für Kritiker einen Sozialromantiker dar, der islamisch verklärt eine „sozialistisch“ anmutende Gleichheitsideologie vertrete. Der „Personenkult“ um Yassine, sowie die hohe Anzahl an Pilgern, die aus den verschiedensten Regionen sein Haus in Salé aufsuchen, gleicht für Außenstehende einer Art „Massenhysterie“. Die Menschenmenge, die ihn begleitete, als Yassine einige kürzere Wegstrecken entlang bedeutender marokkanischer Durchgangsstrassen beschritt, ließ manchem in ihm einen „neuen Khomeini“ erkennen. Mögen diese Assoziationen an der Realität vorbeigehen, kann dem Cheikh eine hohe geistige Ausstrahlung, einhergehend mit Mobilitätswirkung nicht abgestritten werden. Die warnend klingenden Beschwörungen von Yassines Kritikern entzünden sich vor allem an der Kombination aus Massengefolgschaft und autoritären, antipluralistischen Tendenzen in seinen Verlautbarungen, die Vergleiche zum europäischen Faschismus nahe legt. So prophezeit Al-Akhal (2003) eine politische Herrschaftsübernahme Yassines werde nicht nur das angekündigte islamische Gerechtigkeitsideal nicht realisieren, sondern vielmehr eine Autokratie errichten, die dem gegenwärtigen, vom Cheikh bekämpften, monarchistischen System hinsichtlich der repressiven Mittel in keiner Weise nachstehe, sowie demokratischen Bestrebungen keine Entfaltung erlaube: Für die Bürger wird sich die Herrschaft des Cheikhs noch verheerender auswirken, da er die Gründung von Parteien und den Aufbau von Organen aus der Zivilgesellschaft verbietet; denn nur über diese Institutionen kann das Volk seine zivilen Grundrechte und vielfältigen Ansichten zur Geltung bringen, sowie die öffentlichen Angelegenheiten nach eigenen Vorstellungen bestimmen.126
Die Fokussierung auf soziale Belange erhielt „Al-Adl Wal-Ihsan“ weniger durch Yassines Schriften als mehr durch die Wohlfahrtsprojekte, die sie in ihrer Alltagspraxis wahrnimmt. Die Projekte reichen vom Bildungssektor über die Gesundheitsfürsorge für Arme bis hin zu Wohnstätten für Alte und Behinderte. Yassines persönliches Charisma, verbunden mit den öffentlichen Auftritten seiner Tochter Nadia, die während der langjährigen Inhaftierung des Cheikhs die Repräsentation nach außen übernahm, bewirkten, dass die Nutznießer der Projekte sich ebenso für die politischen Anliegen der Bewegung zu interessieren begannen. Die Tatsache, dass erstmals eine Frau die Leitungsfunktion einer islamistischen Bewegung übernommen hatte, verlieh eine besondere Aufmerksamkeit der westlichen Medienöffentlichkeit, zumal Islamismus gewöhnlich mit Patriarchat und Männerdominanz assoziiert wird. Infolgedessen ist Nadia Yassi126 Al-Akhal, Said: Cheikh Abdessalam Yassine Mina Al-Qawma Nahwa Dawlat Al-Khilafa, S. 77
4.1 Historische Entstehung
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ne fast permanent im Blickwinkel des öffentlichen Bewusstseins und bringt ihre politischen Leitvorstellungen neben dem in mehreren Auflagen veröffentlichten eigenen Schrifttum in Zeitungsinterviews zum Ausdruck. Sie versteht sich als „demokratische Feministin“ zu präsentieren, die sich für einen „aufrechten demokratischen Wandel“ in ihrem Heimatland einsetze. In diesen Interviews geäußerte Kritik an König und gegenwärtigem politischen Establishment tragen dem Regime im Ausland einen zweifelhaften Ruf ein. Sie fordern noch eher staatliche Gegenreaktion heraus als auf einen marokkanischen Adressatenkreis beschränkte politische Äußerungen, so dass trotz der Beendigung des langjährigen Hausarrests gegen Abdessallam Yassine die Bewegung sich insgesamt weiterhin Inhaftierungen und gerichtlichen Verfolgungen ihrer Mitglieder ausgesetzt sieht. Die anhaltende Repression des Staates, sowohl gegen die Führung als auch gegen aktive Mitglieder, führten zu zunehmender Solidarisierung säkularer Bürgerrechtsbewegungen im In- und Ausland. Indem mit der PJD 1997 erstmals bekennende Islamisten zu regulären Wahlen zugelassen wurden, provozierte der marokkanische Staat die Forderung, „AlAdl Wal-Ihsan“ ebenfalls ein offizielles politisches Mandat zuzugestehen. Trotz Verringerung der Repression nach Amtsantritt Mohammeds VI. ließ sich das Königshaus zu diesem Schritt bisher nicht animieren, da die Bewegung nicht nur den gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen gegenüber kritisch eingestellt ist, sondern die Ansicht vertritt, die Monarchie sei mit dem Islams nicht vereinbar. Hiermit stellt sie sich der gegenwärtigen Verfassung eindeutig entgegen, die nicht nur die Monarchie als „Säule der Nation“ festschreibt, sondern dem König die Rolle einer „unantastbaren Persönlichkeit“ zuweist. Kritik an der Monarchie als Institution, mehr noch an ihrer islamischen Rechtfertigung, wird mit „Majestätsbeleidigung“ gleichgesetzt und strafrechtlich verfolgt. Die Führungsspitze der „Al-Adl Wal-Ihsan“ sieht sich dadurch nicht gehindert, in öffentlichen Interviews gegen die Monarchie Stellung zu beziehen. Obwohl das Endziel in der Wiedererrichtung des ursprünglichen islamischen Khalifats gesehen wird, stellt Nadia Yassine (2005) eindeutig heraus, dass sie von den aktuell existenten Staatsystemen die Republik für angemessener erachtet: Die Monarchie erweist sich für uns als ungeeignet. Daher sind wir zur Suche nach einem vorteilhafteren Modell verpflichtet. Vor die Alternative zwischen Monarchie und Republik gestellt habe ich der Republik den Vorzug gegeben.127
Im Zuge der Anschläge von Casablanca am 16. Mai 2003 nahmen die strafrechtlichten Verfahren nicht nur gegen Mitglieder der Familie Yassine, sondern gegen jegliche Anhänger der Bewegung zu, denen angesichts kritischer Äußerungen 127 Yassine, Nadia: Al-Malakiya La Tasluhu Lilmagrib Wanihayatu Annidam Waschika, S. 7
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über die gegenwärtige Konstitution die Vorbereitung eines „islamistischen Umsturzversuches“ unterstellt wurde. Zwar wurden die meisten Inhaftierten nach Druck der westlichen Medienöffentlichkeit vorzeitig aus der Haft entlassen, die verstärkte Repression hat die Distanz zum gegenwärtigen politischen Establishment weiter vertieft. Die Überzeugung verfestigte sich, daß nur ein grundlegender politischer Systemwechsel die marokkanische Gesellschaft dem islamischen Gemeinschaftsideal wieder näher bringen könne. Da man Revolutionen und gewaltsame Umstürze nicht als den erfolgreichen, vom Islam vorgezeichneten Weg erachtet, entwickelte Yassine 2005 das Konzept einer bevorstehenden „Qawma“ (öffentliche Erhebung). Infolge einer Serie von Visionen Cheikh Yassines und anderer führender Mitglieder wurde für das Jahr 2006 ein „besonderes Ereignis“ vorausgesagt. Gegner der Bewegung interpretierten daraus konkrete Absichten, einen gewalttätigen Aufstand anzustreben. Einige wähnten sogar ein geplantes Komplott zur Ersetzung der gegenwärtigen Monarchie durch ein „traditionalistisches Khalifat“. Weist „Al-Adl Wal-Ihsan“ Unterstellungen dieser Art von sich, verdeutlicht sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass sie das gegenwärtige politische System für illegitim, sowie mit islamischen Werten unvereinbar erachte. Argumentiert wird, ein Ordnungsmodell, das nicht in der Lage sei, die sozioökonomischen Probleme ansatzweise unter Kontrolle zu bekommen, habe seine Existenzberechtigung, zumindest aber seine Rechtmäßigkeit als Repräsentanz des marokkanischen Volkes aufzutreten, verloren. Der Versuch, sich als politische, an Wahlen teilnehmende Partei umzufunktionieren, ist vor allem deshalb nicht mehr unternommen worden, da man die Ansicht vertritt, auf diesem Wege einer prinzipiell „ungerechten“ Verfassungsordnung Legitimität zu verleihen.
4.2 Organisatorischer Aufbau 4.2.1 Interne Struktur Um einzuschätzen, ob die Bewegung, wie sie vorgibt, von basisdemokratischer Natur ist oder im Kern autoritär und demokratischen Prinzipien entgegenstehend, erscheint ein Einblick in ihre interne Struktur geboten. Es verlangt einer Darstellung der einzelnen strukturellen Ebenen, ihrer spezifischen Aufgabenbereiche, sowie der Beziehungen der verschiedenen Ebenen zueinander. In einer Interpretation der internen Machtstrukturen lässt sich eine Aussage bezüglich des Grundcharakters der Bewegung treffen, über die sich auf ihr Staatsverständnis schlussfolgern läßt. Einbezogen werden nur diejenigen Bestandteile des internen Beziehungssystems, die Verlautbarungen ihrer Mitglieder oder ihr nahe stehende
4.2 Organisatorischer Aufbau
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Kreise als eine Art „Selbstcharakterisierung“ an die Öffentlichkeit tragen. Die anhaltende staatliche Repression, einhergehend mit Konspirativität legt eine von dieser Version fundamental abweichende innere Organisation nahe, die dem Außenstehenden verschlossen bleibt, um Denunziation, mit der Konsequenz der Zerschlagung eines erfolgreichen Netzwerks durch den nationalen Sicherheitsdienst vorzubeugen. Die unterste Einheit eines hierarchisch gegliederten Modells stellt die „Usra“ (Familie), bestehend aus mindestens zwei und höchstens zehn gewöhnlich gleichgeschlechtlichen Mitgliedern. Jede „Familie“ legt sich einen Namen zu, der ihr die unverwechselbare Identität verleiht. Üblicherweise benennt man sich nach einer anerkannten islamischen Autorität oder einem islamischen Ereignis, dessen Bedeutung sich jedes Mitglied bewusst ist. Bis zu ihrer Höchstanzahl von zehn Mitgliedern kann eine „Familie“ durch Neuaufnahme anwachsen, bei einem Überschreiten dieser Größe spaltet sie sich auf, so dass zwei neue, unabhängige „Familien“ entstehen. Die Mitglieder einer „Familie“ bilden „brüderliche“ Zweiergruppen mit eigenen, ihnen zugewiesenen Aufgabenbereichen. Man orientiert sich an einer Praxis, die der Prophet im ersten Jahr seiner Medinaherrschaft befolgt haben soll. Jede „Familie“ besitzt eine eigene Kasse für interne Notfälle wie Krankheiten, Todesfälle oder Inhaftierung eines „Familienmitglieds“, aus der die Einnahmeausfälle wie die plötzlich auftretenden Kosten gedeckt werden. Mit mindestens sieben Stimmen wählt jede „Familie“ einen eigenen „Naqib AlUsra“ (Familienvorsteher). Drei bis zehn miteinander in Verbindung stehende „Familien“ ergeben eine „Schuaba“ (Sektion), die von einem „Majlis Aschuaba“ (Sektionsrat) vertreten wird. Ein „Sektionsrat“ besteht aus bis zu zehn „Nuqabaa Al-Usar“ (Familienvorstehern), die aus ihren Reihen einen „Naqib Majlis Aschuaba“ (Sektionsvorsteher) wählen. Dem „Murschid Aam“ (obersten Wegweiser) wie seinem Stellvertreter steht das Recht zu, einen für „ungeeignet“ befundenen „Sektionsvorsteher“ abzulehnen. Der „Sektionsrat“ stellt eine Verbindung zwischen der Führungsebene der Bewegung und ihrer Basis her. Er kontrolliert und berät die einzelnen „Familien“, koordiniert ein Programm für die Sektion und erstellt einen Bericht über die Aktivitäten der Sektion, den er an die übergeordnete Verantwortungsebene weiterleitet. In einer jede zwei Monate stattfindenden Versammlung erläutert der „Sektionsvorsteher“ die ideologischen Grundlagen und Gesellschaftskonzepte der „Al-Adl Wal-Ihsan“ nach den Schriften Yassines. Die nächsthöhere Ebene repräsentiert der aus sieben Mitgliedern zusammengesetzte „Majlis Al- Jiha“ (Provinzialrat). Seine Mitglieder werden von den Sektionsvorstehern der Provinzen mit Zweidrittelmehrheit gewählt und bestimmen selbst mit einfacher Mehrheit den „Majlis Al-Iqlim“ (Regionalrat). Dem „obersten Wegweiser“ wie seinem Stellvertreter steht das Privileg zu, bereits mit
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erforderlicher Mehrheit gewählte Ratsmitglieder im Nachhinein noch abzulehnen, sowie eine Neuwahl zu verlangen. Dem „Regionalrat“ übergeordnet ist der „Majlis Attanfidi Al-Qutri“ (Exekutivrat eines Landes), dessen Mitgliederzahl nicht offiziell festgelegt ist. Gewählt werden seine Mitglieder von einer Generalversammlung, bestehend aus sämtlichen Delegierten bzw. Vorstehern der Sektionen, Provinzen und Regionen. Der „Exekutivrat“ soll alle drei Jahre erneuert werden und befasst sich im Wesentlichen mit Leitungs- und Verwaltungsaufgaben. Die untergeordneten Räte üben fast ausschließlich Funktionen im DaawaBereich aus. Höchstes Gremium bildet der siebenköpfige „Majlis Al-Irschad“ (Lenkungsrat), dessen Mitglieder aus einer „konstituierenden Sitzung“ hervorgegangen sind. Künftig sollen sie von einer „Al-Muytamar Al-Aam“ (Generalkonferenz) mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden. Die Generalkonferenz umfasst alle „Sektions-, Provinz- und Regionalvorsteher“, sowie alle Mitglieder eines „Exekutivrates“ eines Landes. Der „Lenkungsrat“ wählt mit einfacher Mehrheit den „Amir Qutri“ (Landesführer). Die Beendigung seiner Amtszeit, hervorgerufen durch Tod, Rücktritt oder Entlassung, erfordert die Neuwahl durch eine Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der Generalkonferenz, die sich zwischen „zwei rechtschaffenen Männern“ zu entscheiden hat, welche zuvor von mindestens vier Mitgliedern des „Lenkungsrates“ für „fähig“ befunden und für das Amt vorgeschlagen wurden.128 Auf nationaler Ebene bildet der „Landesführer“ das Oberhaupt einer hierarchisch durchorganisierten Grundstruktur der „Al-Adl Wal-Ihsan“. Da die Bewegung sich einen universellen Charakter zumisst steht der „oberste Wegweiser“ über den „Landesführern“ und stimmt sie auf ein gemeinsames Programm ein. Ist die Arbeit der „Basis“, bestehend aus „Familien“ und „Sektionen“, für die praktische Daawa unverzichtbar, die Auseinandersetzung mit den Medien und der Außenwelt steht dem „obersten Wegweiser“, sowie den mittlerweile nur noch fünf Mitgliedern des ursprünglich siebenköpfigen „Lenkungsrates“ zu. Seit dem ersten Zusammentritt, hervorgegangen aus einer „konstituierenden Sitzung“ hat eine „Erneuerung“ des „Lenkungsrates“ über eine Wahl der „Generalkonferenz“ bisher noch nicht stattgefunden. Ein anvisierter Zeitpunkt für die vorgesehene Wahl ist der Öffentlichkeit ebenfalls nicht bekannt geworden. Offenbar ist die Bewegung angesichts fortdauernder staatlicher Repression nicht daran interessiert, dass jede Detailinformation aus der Führungsebene nach außen dringt. Der später hinzugekommene „Majlis Rabbani“ (spirituelle Rat) wird in seiner Stellung gegenüber den anderen Organen nicht eindeutig dargelegt. Da die Zusammensetzung des „spirituellen Rates“ ausschließlich auf Direktiven des „obersten Wegweisers“ erfolgt ist, kann darin ein „absolutistisches Element“ gese128 Darif, Mohammed: Jama`at Al-Adl Wal-Ihsan, S. 55ff.
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hen werden, welches den ansatzweisen demokratischen Strukturen der unteren Hierarchieebene wie dem öffentlichen Bekenntnis zum islamischen Gleichheitsprinzip entgegensteht. Das Ansinnen Yassines und seiner engsten Getreuen, die politischen Angelegenheiten abseits der gesellschaftlich- erzieherischen Arbeit der unteren und mittleren Ebene so weit wie möglich alleine zu bestimmen, geht offenbar mit dem Bewußtsein einer Art „göttlicher Vorsehung“ einher, die sich beauftragt wähnt, Weisungen an alle „Glieder eines Korpus“ zu erteilen. An die Öffentlichkeit gerichtet ist die Gründung des „Addayira Assiyasiya“ (politischer Kreis) einzuschätzen, der von Yassine initiiert wurde, um an den Debatten zu gesellschaftspolitisch relevanten Fragen zu partizipieren. Gleichzeitig dient der Kreis dem Aufbau politischer Netzwerke, mit dem Ziel, die Sympathisanten aus den verschiedensten gesellschaftlichen Hintergründen zusammenzuführen, sowie auf ein gemeinsames Gesellschaftskonzept einzuschwören. Der „politische Kreis“ zeigte sich als das Ergebnis einer außerordentlichen Sitzung des „Majlis Aschura“ (Schura-Rates). In der öffentlichen Darstellung der Organisationsstruktur wird der „politische Kreis“ nicht erwähnt, da man seine Arbeit nicht durch staatliche Infiltration gefährden möchte. Um den Bezug zu den verschiedensten Bestandteilen der Gesellschaft permanent herzustellen und die soziopolitische Arbeit der einzelnen gesellschaftlichen Aktivgruppen angemessen durchführen zu können, gründeten sich im Rahmen des „politischen Kreises“ die verschiedensten Abteilungen. Die bedeutendsten sind die „Al-Qitaa Annisayi“ (Frauenabteilung), die „Qitaa Aschabab“ (Jugendabteilung) und „Al-Qitaa Anniqabi“ (Gewerkschaftsabteilung). Beschäftigt sich die „Frauenabteilung“, in der Nadia Yassine mit zahlreichen, ins Leben gerufenen Aktivitäten Reputation erwarb, vorrangig mit gesellschaftspolitischen Frauen- und Familienthemen, bietet sie zudem soziale Dienste für am Rande der Gesellschaft stehende Frauen an. Die „Jugendabteilung“ besteht aus mehreren Unterabteilungen wie der „Al-Qitaa Attullabi“ (Studentenabteilung) und der „AlQitaa Attalamid“ (Schülerabteilung), so dass das Programm sich auf Bildungsgrad und Interessen einstellen kann. Die „Gewerkschaftsabteilung“, die Unterabteilungen für die verschiedenen Berufsgruppen umfasst, nimmt im Wesentlichen zu sozialpolitischen Fragen und zur Arbeitsmarktsituation Stellung. Alle Abteilungen leisten nicht nur praktische Arbeit, sondern formulieren ebenso einen politischen Forderungskatalog, wie der Situation ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe angemessen zu begegnen sei. Auf diese Weise werden immer wieder gesellschaftliche Probleme an die Öffentlichkeit getragen, denen man bisher scheinbar kaum Aufmerksamkeit gewidmet hat.129
129 ebd.: S. 58ff.
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So eindeutig die Trennlinien zwischen den einzelnen hierarchischen Ebenen sich darstellen, gewisse demokratische Elemente wie die Bestimmung der Vorsteher einer Einheit durch Wahlen mit Mehrheitsentscheidungen lassen sich in der Gesamtstruktur nicht leugnen. Grundsätzlich könnte jedes für „befähigt“ gehaltene Mitglied der Bewegung in die Führungsebenen aufsteigen, eine Voraussetzung, die einige staatlichen Organe des gegenwärtigen Marokkos nicht erfüllen. Die Einspruchsrechte des „Exekutivrats“ gegenüber Wahlentscheidungen der untergeordneten Ebenen, mehr noch die undurchsichtige Aufgabe des politisch agierenden „Lenkungsrates“, der unmittelbar von Yassine ernannt wird, lassen Zweifel an der Absicht aufkommen, eine Organisation zu formen, die die Interessen aller Gesellschaftsschichten angemessen zu vertreten in der Lage ist. Welcher Zweck besteht in den mannigfaltigen Abteilungen für einzelne Gesellschaftsteile und Berufsgruppen, wenn die Möglichkeit verwehrt ist, hierüber unmittelbar in die obersten Führungsgremien aufzusteigen? Da nur die obersten Ebenen allgemeingültige Entscheidungen treffen, leistet die Basis zwar die entscheidende Arbeit zur religiösen Erziehung und Neugewinnung von Mitgliedern, die Programmatik bestimmt sie in keiner Weise mit. Der hierarchische Aufbau erscheint einerseits geeignet, eine Beeinflussung von außen weitgehend zu verhindern, sowie nur „Landesführer“ zu stellen, welche bereits zuvor ihre Kompetenz sowohl in religiöser Hinsicht als auch in der praktischen Arbeit bewiesen haben. Andererseits behindert er eine dynamische Reaktion auf interne Entwicklungen der Mitgliederstruktur. Wenn sich aufgrund der Konfrontation mit der Praxis die Einstellung der Basis zu gesellschaftlichen Fragen ändert, kann diese Änderung erst Jahre später in den Führungsebenen wie in der Progammausrichtung nachvollzogen werden, da es mit kaum zu überwindenden Hindernissen verbunden ist, von außen als „Seiteneinsteiger“ mit Kontakt zur Basis in die obersten Gremien hineinzugelangen oder einzelne Etappen im vorgesehenen „innerorganisatorischen Aufstieg“ auszulassen. Auf diese Weise bleibt die Führung der Bewegung ihren ursprünglichen Zielen treu verbunden, eine Tendenz zur „dogmatischen Erstarrung“ ist von der Struktur her grundsätzlich angelegt.
4.2.2 Finanzquellen Da „Al-Adl Wal-Ihsan“ weder ein offiziell ins Register eingetragener Verein noch eine Körperschaft öffentlichen Rechts darstellt, geschweige denn den Status einer dem Parteiengesetz unterstehenden politischen Vereinigung besitzt, erhält sie keine finanzielle Unterstützung seitens der öffentlichen Hand. Ein öffentliches, der gesamten Bewegung zustehendes Bankkonto existiert ebenfalls nicht. Man sieht sich gezwungen, die finanzielle Basis für den Aufbau der hie-
4.2 Organisatorischer Aufbau
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rarchisch organisierten, weit verzweigten internen Verwaltung wie der umfangreichen gemeinnützigen Dienstleistungen selbst aufzubringen. Aufgrund der grundsätzlichen Distanz gegenüber der staatlichen Obrigkeit hält man es für opportun, die genaue Herkunft und Weiterleitung der zur Verfügung stehenden Finanzmittel nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Ein landesweites Budget für jegliche regionalspezifischen Aufgabenbereiche besteht nicht, jede „Region“ sorgt sich eigenständig um die erforderliche Finanzausstattung für die ihr untergeordneten „Familien“ und „Sektionen“. Jeder Einheit steht eine eigene „Kasse“ zu, die im Bedarfsfall, bei Krankheit, Arbeitslosigkeit oder unvorsehbaren Notsituationen bereit steht. Im Falle von plötzlicher Versorgungsknappheit einer „Region“, verpflichten sich die „Regionen“ mit einem finanziellen „Überangebot“ die fehlenden Mittel zu stellen. Als dem islamischen Gemeinschaftsideal folgende Bewegung richtet man an jedes Mitglied die Erwartung, einen Teil seiner Einkünfte und seines Vermögens ihr zur Verfügung zu stellen. Zum einen entrichten Mitglieder mit geregeltem Erwerbseinkommen jeden Monat einen festgelegten Anteil ihres Einkommens. Zum anderen fließt die „Zakat“ ausschließlich der Bewegung zu. Auf diese Weise besteht eine gesicherte, regelmäßige Einnahmequelle, die im Sinne der „gerechten Gesellschaft“ eingesetzt wird. Der „freiwillige Dienst“ endet keineswegs bei der regelmäßigen Zahlung von Bargeldbeträgen, sondern schließt die kostenfreie Arbeit im Auftrage der Bewegung mit ein. Zu ihrem Nutzen betreiben nicht wenige Mitglieder Handel oder stellen der Bewegung für bestimmte Unternehmungen die Gerätschaft zur Verfügung. Für gemeinschaftliche Zusammenkünfte oder karitative Dienste werden gewöhnlich keine Räumlichkeiten käuflich erworben oder gemietet, sondern die Privatgrundstücke von Mitgliedern genutzt. Der Arbeitseinsatz für die Bewegung – von Predigten und Vorträgen über Handel und Handwerk bis hin zu Diensten in den Sozialeinrichtungen reichend - wird als „religiöse Verpflichtung“ angesehen und bleibt ohne (irdische) Gegenleistung. Profitieren von den Wohltätigkeitsdiensten nicht nur Mitglieder, sondern ebenso andere Bedürftige, das öffentliche Interesse an ihrer Botschaft erzeugt eine permanente Nachfrage nach Medienprodukten, welche für die Bewegung wirtschaftlich von Nutzen ist. Der Erlös aus dem Verkauf eines großen Arsenals an Video- und Audiokassetten, die verschiedensten gesellschaftlichen Themengebiete behandelnd, aber ebenso Büchern führender Mitglieder dient der gesamten Bewegung wie ihrer mannigfaltigen Einsatzfelder. Über den Vertrieb von religiöser Kleidung, Parfüms, sowie Unterrichts- und religiösen Kinderbüchern steigt neben den finanziellen Einnahmen gleichzeitig der Bekanntheitsgrad. Neue zahlende Mitglieder werden gewonnen und die Ideale gelangen an ein breiteres Publikum. Die Bewegung organisiert eigene Gesangsgruppen, die in der Öffent-
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lichkeit (z.B. an Hochzeiten, Beschneidungs- oder Begräbnisfeiern) auftreten, sowie in neu auf den Markt gebrachten Audiokassetten ihre Botschaft verbreiten. Die Palette an käuflich zu erwerbenden Artikeln ist so breit gefächert, dass sich nicht nur eine permanent steigerungsfähige Einnahmebasis herausgebildet hat, sondern der Kreis derjenigen, die aus dem vielfältigen Angebot einen sinnlichen Gewinn erfahren, ebenfalls immer neue Gesellschaftsschichten einschließt.130 Angesichts des mannigfaltigen Dienstleistungsangebots der Bewegung wird immer wieder über zusätzliche, der Öffentlichkeit vorenthaltene Einnahmequellen spekuliert. Vor allem eine Beziehung zu wohlhabenden Islamisten im europäischen Ausland wie eine geheime Zuwendung der Golfstaaten wird unterstellt. Mit ethisch fragwürdigen Geschäften ist die Bewegung ebenfalls schon in Verbindung gebracht worden. Eindeutige Beweise für den Rückgriff auf Methoden jenseits der Legalität, an regelmäßige Einnahmequellen zu gelangen, sind bisher nicht vorgelegt worden. Sollten in Zukunft solche zweifelhaften Herkunftswege des finanziellen Potentials bewiesen werden, wird dies in keinem Fall darüber hinwegtäuschen, welche umfangreichen Gesellschaftsdienste über ein tief verinnerlichtes, islamisches Gemeinschaftsbewusstsein aufgebracht werden. Ohne staatsrechtliche Anerkennung, verbunden mit geregelter öffentlicher Zuwendung wird das Bestreben, sich auf andere Weise die finanzielle Basis herzustellen, grundsätzlich bestehen bleiben. Die Versuchung, nicht nur rechtlich nicht einwandfreie, sondern zugleich ethisch bedenkliche Wege zu wählen, ist ebenfalls gegeben, da sich eine Konspirativität verinnerlicht hat, die zu Verschwiegenheit und Unlauterkeit verleitet. Mit der Legalisierung und dem Aufbau einer landesweit anerkannten Organisation können nicht nur staatliche Stellen, sondern gleichermaßen kritische Mitglieder berechtigterweise eine regelmäßige Bekanntgabe der Herkunft wie Verwendung der Finanzmittel verlangen, die eine interne Selbstkontrolle garantiert, sowie zweifelhafte Geschäftstätigkeit weniger wahrscheinlich werden lässt.
4.2.3 Methoden der Mitgliedergewinnung Die Rekrutierung von Mitgliedschaft erfolgt auf dreierlei Weise. Neben der eigentlichen Ausbildung zum Vollmitglied dient die „Daawa“ (Bekehrung) über die Präsentation ihrer religiösen Lehre und Verbreitung der Ideale Yassines der Erhöhung der Mitgliederzahl. Nicht vernachlässigt werden dürfen die mannigfal-
130 Da keine Angaben zur Herkunft der Finanzmittel der Bewegung zur Verfügung standen, sah der Autor sich veranlasst, aus eigenen Beobachtungen wie aus öffentlichen Bekanntgaben die geeigneten Schlussfolgerungen zu ziehen.
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tigen karitativen Dienstleistungen, deren Nachfrage das generelle Interesse an „Al-Adl Wal-Ihsan“ erweckt.
Um sicher zu gehen, dass jedes Mitglied die Voraussetzungen für einen gewissenhaften „Dienst im Sinne der Jamaa“ erfülle, wird von jedem „Warid“ (Neuhinzugestoßenen) eine zwölfmonatige Vorbereitungszeit verlangt, in der er lernt, sich in das Regelwerk einzuordnen, sowie sich als tugendhafter Diener im Sinne der Bewegung zu beweisen. Auf Beschluß des „Sektionsrates“ wird ihm nun zugebilligt, die Mitgliedschaft zu erwerben. Er tritt in den Status eines provisorischen Mitglieds über und beteiligt sich aktiv an den „öffentlichen“ Veranstaltungen einer „Familie“. Die „nichtöffentlichen Veranstaltungen“ sind ihm nach wie vor verwehrt, einen speziellen Verantwortungsbereich bekommt er ebenfalls noch nicht zugewiesen. Hierzu bedarf es eines weiteren Jahres, woraufhin er vom „Sektionsrat“ auf Empfehlung des „Familienvorstehers“ zum „Muhajir“ (Auswanderer) erklärt wird. Er stellt nun sein Leben vollständig in die Verantwortung für seine „Familie“, sowie darüber hinaus die gesamte Bewegung, wofür er der elterlichen Familie „entwachsen“ sein muß. Bleibt der Kontakt zu den unmittelbaren Angehörigen weitgehend bestehen, bewegt sich jedes „Vollmitglied“ dennoch außerhalb seiner schulischen oder beruflichen Verpflichtungen weitgehend im Kreis seiner „Familie“ sowie anderer Mitglieder. Er setzt sich im Sinne der Daawa ein, leistet karitative Arbeit, sowie begleitet andere „Neuhinzugestoßene“ am Weg zur Mitgliedschaft. Ein „Vollmitglied“ muß seinen Status bereits ein Jahr innehaben, um zum „Familienvorsteher“ gewählt werden zu können. Die Mitgliedschaft erfordert in hohem Maße Einsatz und Aufopferungsbereitschaft. Man erhält einen streng geregelten Tagesablauf, der bereits eine Stunde vor Sonnenaufgang mit Gebet beginnt, sowie erst spät in der Nacht endet. Dem ersten Gebet folgen mehrere Vergebungsbitten, anschließend das gemeinsame Morgengebet in der Moschee. Bis Sonnenaufgang beschäftigt man sich nun mit dem Koranstudium. Dreimal täglich steht ein Lobpreis Gottes an. Neben den für jeden Muslimen verpflichtenden Gebeten kommen noch weitere Gebetsphasen hinzu. Die letzte Stunde vor der Nachtruhe beendet man mit einer „Andacht“, in der man sich der eigenen Taten bewusst wird und den Tag verarbeitet, bevor man ihn mit zwei aufeinander folgenden Schlussgebeten beendet. Zweimal wöchentlich sind Fastentage angesagt. Zur Vertiefung seiner „Beziehung zu Gott“ soll jedes Mitglied zweimal im Monat einen Friedhof aufsuchen. Diese an das Individuum gerichteten Pflichten werden durch Pflichten gegenüber der „Familie“ ergänzt. Hierzu zählen die alle zwei Wochen stattfindenden Versammlun-
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gen. Für eine Dauer von ca. zwei Stunden tritt man zusammen, um gemeinsam die Grundlagen der Religion zu studieren. Ein Teilnehmer eröffnet die Versammlung mit einer Koranlesung. Nach gemeinsamem Gebet folgt religiöser Unterricht, worin neben islamischem Recht, Aussprüchen und Angewohnheiten des Propheten, Koranrezitation, sowie Textauslegung vermittelt wird. Die Versammlung endet mit einer Diskussion alltäglicher Probleme einhergehend mit einer Beurteilung des Verhaltens der „Familienmitglieder“. Die „Nachtwache“, eine Versammlung an jedem Fastentag, erfolgt über ein Zusammentreffen einer ganzen „Sektion.“ Nach gemeinsamen Fastenbrechen folgt eine religiöse Ansprache. Die Versammlung wird fortgesetzt mit gemeinsamen „Abendgebet“, individueller Koranlektüre und „Lobpreis“, bevor die Nachtruhephase beginnt. Den anschließenden Tag findet man sich zum gemeinsamen „Morgengebet“ ein, bevor man seinen alltäglichen Pflichten nachgeht. Die „Daawa“ als zweite Form der Mitgliedergewinnung erfolgt vor allem über moderne Medien. Aufgrund des fehlenden Rechtsstatus sind der Bewegung die öffentlich rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten als Verbreitungsinstrument ihrer Ideale verwehrt. Das Internet, das sich nicht in gleichem Maße von staatlicher Seite zensieren und programmatisch steuern lässt, erkannte man als geeignetes Mittel, um ein breites, möglichst weltweites Publikum zu erreichen. Cheikh Yassine und seine Tochter Nadia verfügen über eigene Homepages. Jeden Freitag strahlt das Internet die Predigten Yassines wie anderer angesehener Mitglieder aus, so dass jeder Interessent die religiösen und gesellschaftlichen Ansichten der Bewegung übermittelt bekommt. In allwöchentlichen, öffentlich ausgestrahlten Diskussionsrunden ist ein Empfänger in der Lage, selbst zu den verschiedensten Gesellschaftsproblemen Stellung zu beziehen, sowie an den „obersten Wegweiser“ Fragen zu richten. Nadia Yassine veranstaltet einmal wöchentlich Gesprächsrunden zu Frauenthemen, wobei den Frauen für ihre spezifische Situation Ratschläge erteilt werden. Man verkauft Video- und Audiokassetten, CDs und Bücher mit den wichtigsten Schriften und Vorträgen Yassines, die Anweisungen für ein am Werteverständnis der Bewegung orientiertes Lebensmodell enthalten. Da der Islam als „ganzheitliches System“ aufgefasst wird, behandeln die Daawaprogramme alle gesellschaftlichen Themen von der Politik, über die gesunde Lebensweise, bis hin zu einem „gottgewollten“ Umgang mit der Umwelt. Über das Interesse an einem behandelten Themengebiet gelangt der Einzelne mit der Bewegung in Verbindung und wird mit der gesamten Ideologie und ihrem Weltbild konfrontiert. Die ursprünglichen Daawaformen hat man aller modernen Verbreitungsmethoden zum Trotz beibehalten. Jedes Mitglied ist aufgefordert, sein
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Bekanntenkreis vom Islamverständnis der „Al-Adl Wal-Ihsan“ zu überzeugen. Eine geeignete Möglichkeit, Außenstehenden das Wesen der Bewegung nahe zu bringen, stellen die jeden Monat stattfindenden Exkursionen dar. Es handelt sich um von einer „Familie“ organisierte, gewöhnlich mit anderen „Familien“ zusammen veranstaltete Ausflüge in die freie Natur, wofür auch die Teilnahme von Nichtmitgliedern eingeplant ist. Es wird erwartet, dass man Freunde oder Arbeitskollegen zu einer Exkursion einlädt, um für eine Mitgliedschaft das Interesse zu erwecken. Bereits im Morgengrauen reist man gemeinsam an, woraufhin ein Mitglied der organisierenden „Familie“ den übrigen Exkursionsteilnehmern den weiteren Tagesablauf erklärt. Er weist jedem Teilnehmer spezielle Aufgaben zu. Gebete und Mahlzeiten finden ebenso im Miteinander statt wie sportliche Aktivität, islamischer Gesang und religiöser Unterricht mit anschließender Diskussion. Die Exkursion erweist sich als gelungene Variante, ein gemeinsames „Freizeiterlebnis“ mit geistlichen Themen und religiös geprägtem Gemeinschaftsbewusstsein zu kombinieren. Sie entspricht dem ganzheitlichen Ideal der Bewegung, die Spiritualität und Gemeinsinn nicht voneinander trennt. Einen großen Teil der neu hinzu gewonnenen Mitglieder erreicht „Al-Adl Wal-Ihsan“ über ihre umfangreichen sozialen Dienstleistungen. Um das islamische Gerechtigkeitsideal in der Alltagspraxis zur Geltung zu bringen, richtete man ein eigenständiges Wohltätigkeitsnetzwerk auf. Die Bewegung mißt ihren Wohltätigkeitsdiensten entscheidende Bedeutung bei, die sie als Bestätigung sieht, dass religiöse Frömmigkeit und Gemeischaftsverantwortung gegenüber der Außenwelt untrennbar zusammengehören. Über das ganze Land verteilt sind in den mehr als zwanzig Jahren seit ihrem Bestehen von Mitgliedern geführte soziale Einrichtungen aufgebaut worden. In den Armenvierteln der Metropolen besitzt man zahlreiche Institutionen, die den Zugang zu öffentlich kaum garantierter Grundversorgung erleichtern. Die Aufgabengebiete der Sozialeinrichtungen sind vielfältig. Man orientiert sich am holistischen Ansatz Yassines, der alle Gesellschaftsbereiche dem islamischen Verantwortungsbewusstsein integriert sieht. Ein bedeutendes Einsatzfeld liegt auf dem Bereich des Bildungs- und Erziehungswesens. In der Erkenntnis, dass die zivilisatorische Rückständigkeit Marokkos gegenüber dem Westen nicht zuletzt aus der unzureichenden staatlichen Ausbildung resultiert, sorgt man selbst für Gelegenheiten, Kindern und Jugendlichen aus unterprivilegierten Gesellschaftsschichten die von staatlicher Seite vorenthaltene Bildung zukommen zu lassen. Die Unterstützung reicht von finanziellen Hilfsleistungen, über Hausaufgabenbetreuung für Kinder ärmerer Familien, bis hin zur Erteilung eigenen Schulunterrichts in abgelegenen ländlichen Regionen. Die eigenständige Erziehungsaufgabe nimmt einen so
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hohen Stellenwert ein, da religiöse Bildung mit säkularer Bildung kombiniert wird. Jede von der Bewegung unterhaltene Koranschule bietet Unterricht in den verschiedensten allgemeinbildenden Fächern, die soweit möglich von der Grundweltanschauung geprägt sind. Das Bildungsangebot richtet sich nicht nur an die jüngere Generation. Erwachsenen Frauen beispielsweise bietet man die Chance zu Alphabetisierungskursen. Auf diese Weise leistet man trotz eines in vieler Hinsicht konservativen Gesellschaftsbildes einen unschätzbaren Beitrag, das islamische Gleichheitsideal im Geschlechterrollenverständnis zum Ausdruck zu bringen, sowie eine Kompatibilität moderner Geschlechterrollen mit islamischem Wertebewusstsein herzustellen. Das unzureichende staatliche Engagement im Sozial- und Gesundheitsbereich hat man als Herausforderung aufgefasst, den von öffentlichen Versorgungsdiensten ausgeschlossenen Bevölkerungsschichten den Zugang zu eröffnen. Gesellschaftliche Randgruppen wie Drogenabhängige, Waisenkinder und Behinderte erhalten Unterstützung. Die Gesundheitsdienste sind von elementarer Bedeutung, da in Marokko anders als im europäischen Sozialstaat kein flächendeckendes gesetzliches Krankenversicherungssystem existiert, welches die Grundabsicherung im Krankheitsfall garantiert. Die Bewegung übernimmt in Bedarfsfällen die anfallenden Kosten und finanziert den ärmeren Familien Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte. Das soziale Engagement kennt keine Grenzen und kann als Beleg aufgefasst werden, dass das islamische Gerechtigkeitsideal sich mit gesellschaftlichem Einsatz in der Praxis verbinden lässt. Man erzeugt ein Gefühl von Ehrerbietung, das ein dauerhaftes Pflichtbewusstsein gegenüber den allgemeinen Zielen der Bewegung hervorruft.131 Die drei Ebenen der Mitgliedergewinnung der „Al-Adl Wal-Ihsan“ müssen immer im Zusammenhang miteinander betrachtet werden. Die Ausbildung zu „Vollmitgliedern“ zielt auf die unmittelbare Erhöhung der aktiven Mitgliederzahlen ab, welche die praktische Arbeit der Bewegung organisieren und durchführen. Hierzu ist ein umfangreiches Engagement, verbunden mit lebenslanger Aufopferungsbereitschaft vonnöten, weshalb eine zweistufige Vorbereitungszeit für die „Vollmitgliedschaft“ als Voraussetzung angesehen wird. Die Daawa wie die Sozialdienste richten sich in erster Linie auf die Erhöhung des allgemeinen Sympathisantenkreises aus, der die Basis für künftige aktive Mitgliedschaften bildet. Spricht die Daawa in stärkerem Maße die seelischen und geistigen Interessen an, demonstrieren die Sozialeinrichtungen den Bezug zur Alltagspraxis. Nur die Verbindung aller drei Ebenen, sowie die Weiterleitung von der einen 131 Darif, Mohammed: Al-Islamiyun Al-Magariba, S. 151ff.
4.3 Ideologische Grundlagen
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Ebene in die nächste, garantiert, dass ein immer weiter zunehmender Bekanntheitsgrad sich in fortlaufend wachsender Mitgliederzahl niederschlägt.
4.3 Ideologische Grundlagen Über einen Einblick in die Ideologie von „Al-Adl Wal-Ihsan“ kann ihre Bewertung vor dem gesellschaftlichen Hintergrund erfolgen, die sowohl ein allgemeines Urteil über die Bewegung beinhaltet als auch über das Umfeld, indem sie im Wesentlichen agiert. Kristallisiert sich die Bewegung als moderat und konstruktiv gegenüber Kritik von innen und außen oder als totalitär, sowie im Kern antidemokratisch heraus? Kann ihr aus einer gesamtideologiekritischen Betrachtung heraus ein ganzheitlich ausgerichtetes Islamverständnis mit modernem Charakter attestiert werden oder muß sie vorrangig als antimodern, gesellschaftlicher Entwicklung gegenüber verschlossen und reaktionär eingeschätzt werden? Einbeziehend ihren anhaltenden Erfolg in der marokkanischen Gesellschaft wird eine Schlussfolgerung gewagt, in wie weit das gegenwärtige Marokko auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet ist. Können die Ideale der Bewegung als wegweisend angesehen werden, einerseits die islamische Gesellschaft insgesamt, insbesondere die marokkanische Civil Society an islamischem Wertebewusstsein neu zu orientieren, sowie andererseits zur reflektiver Begleitung eines unvermeidbaren Fortschritts dienlich sein? Nicht zuletzt gilt es zu erörtern, auf welche Weise eine vorhandene Skepsis gegenüber dem Westen für eine Modernisierung in islamischem Rahmen herangezogen werden kann oder auf politischem Wege bekämpft werden sollte. Die Grundlage ihrer Ideologie stellt ihr holistisches Islamverständnis dar. Es hat sich aus zwei wesentlichen Einflussrichtungen heraus entwickelt, zum einen aus der Einkehr und Besinnlichkeit, ausgehend vom Studium des religiösen Schrifttums, verbunden mit tiefgründigem spirituellen Glauben, zum anderen aus der nach außen aufs gesellschaftliche Diesseits gerichteten Islamvorstellung, welche erfordert, Missstände zu erkennen, sowie über die Wiedererrichtung des Khalifats zu beseitigen. Der spirituelle Wesenszug geht weitgehend auf die Beeinflussung Yassines durch die Weltsicht des Sufismus zurück. In der Begegnung mit dem Scheich der Butschischiya, Sidi Abbas B. Mokhtar Bouchich, lernte er den Wert der Zurückgezogenheit, einhergehend mit einer mystischen, tiefgründigen Betrachtungsweise der Welt zu schätzen. Das einzigartige Verhältnis der beiden prägte Yassines Ideal einer „intensiven Beziehung zwischen religiösem Lehrer und Schüler“. Das Vertrauen des Schülers in seinen Lehrer ist so tief in der Seele verankert, dass es die Bereitschaft einschließt, jeglichen Aufforderungen zu folgen. In der Bewegung spiegelt sich diese unzertrennliche Bezie-
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hungsform in ihrer internen Struktur wieder, die blinde Gefolgschaft von der untersten Einheit, einer einzelnen „Familie“ über alle höheren Ebenen hinaus bis hin zum „obersten Wegweiser“ erfordert, sowie Zweifel an der eigenen Führung erst gar nicht aufkommen läßt. Man erfährt in den Worten und Anweisungen der Autoritäten den „unmittelbaren Geist Gottes“, der einem Sicherheit vermittelt. Das Bewusstsein, die prophetische Botschaft aufzunehmen, lässt ein kritisches Hinterfragen nicht notwendig erscheinen. Yassine (1998) stellt die Beziehung der Mitglieder zu den Autoritäten der Bewegung auf die gleiche Kategorie mit dem Verhältnis des aufrichten Muslimen zum Propheten und den islamischen Gelehrten, die allen profanen Alltagsbeziehungen übergeordnet gilt. Mit dem Zitat einer anerkannten islamischen Autorität bringt er zum Ausdruck, welche Wertschätzung er dem Gelehrtenwissen zumisst: Die Menschheit wird nur zu Zufriedenheit gelangen, wenn sie von der Gefolgschaft des Propheten und seinen Gelehrten ihr Wissen vermittelt bekomm; bekommt sie ihr Wissen aus anderen Quellen als von Gottes Botschaftern, wird sie damit kein glückseeliges Leben erreichen.132
Das intensive Studium islamistischer Literatur, insbesondere von al-Banna, Qutb und Maududi, rief bei Yassine zunehmend Zweifel an einem rein auf spirituelle Frömmigkeit ausgerichteten Islam, den er im Sufismus vorfand, hervor. Er nahm den frühzeitigen Tod seines Lehrers als Anlass, die Welt des Sufismus nach nur wenigen Jahren wieder zu verlassen und begann Ordnungskonzeptionen für den gesellschaftlichen Alltag zu entwickeln. Nach seinem an Qutb angelehnten Verständnis richtet sich der Islam nicht nur an das Individuum, - also an einen selbst -, sondern in erster Linie an die gesamte Gesellschaft und stellt Anforderungen jedes Einzelnen an die Gemeinschaft. Hieraus hat sich eine ausgeprägte Skepsis gegenüber dem Individualismus der Moderne entwickelt, die als eine Ursache für immer wieder zu erfolgende Warnungen vor einer tatsächlichen oder vermeintlichen „Verwestlichung“ angesehen werden kann. Individualismus setzt Yassine mit Selbstbezogenheit gleich, die dem auf die Gemeinschaft und das Miteinander ausgerichteten Islam der Ursprungszeit entgegenstehe. Eine Rückbesinnung auf die gesellschaftliche Praxis des Propheten und seiner unmittelbaren Nachfolger garantiere die Wiederentdeckung des verlorengegangenen Gemeinschaftsbewusstseins und ermögliche, die von der Modernisierung hervorgerufenen Probleme im Kolletiv zu bewältigen. Die Muslime sollten sich der Nöte und Bedürfnisse ihrer Umwelt bewusst sein, sowie ihren Beitrag leisten, das islamische Gerechtigkeitsideal im Diesseits zu verwirklichen. Diese Ausrichtung auf die islamische Sozialverpflichtung erscheint der Antrieb, den vielseitigen Unzuläng132 Yassine, Abdessalam: Al-Ihsan, S. 84
4.3 Ideologische Grundlagen
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lichkeiten des marokkanischen Gesellschaftssystems entgegenzutreten. Hieraus erwächst eine Politisierung der Bewegung, getragen von der Überzeugung, nur die Rückbesinnung auf die prophetische Ordnung mit der eigenen Interpretation der Scharia als Rechtsgrundlage garantiere die Durchsetzung des ganzheitlichen Islams im gesellschaftlichen Alltag. Jegliche Ordnungsmodelle, die von anderen Maßstäben bestimmt seien, führten zur Abwendung des Kollektivs vom Islam, sowie demzufolge zur „Jahiliyya“. Geleitet von der Auffassung, dass die gesamte Gesellschaftsordnung der Gegenwart vom Einfluß der Jahiliyya geprägt sei, erläutert Yassine (2000), an welchen Phänomenen sich dieses „neuzeitliche Heidentum“ herauskristallisiere: Ein wesentliches Element der „Jahiliyya“ erweist sich in der Unwissenheit des Menschen, zu welchem Zweck er überhaupt lebt, sie äußert sich in schlechten Regenten unabhängig davon, ob diese sich als Muslime bezeichnen oder nicht, sie äußert sich in einer Entwürdigung der Frau, sie äußert sich zudem in unkontrollierter instinktgesteuerter Gewalt, die zur Abweichung vom vorgesehenen Verhalten führt, sowie vom einem unrechten Geist gelenkt wird.133
Die gegenwärtigen, in Marokko wie in der übrigen islamischen Welt zu beobachtenden Entwicklungen von sozioökonomischer Rückständigkeit bis auf politische Konflikte, werden auf die Distanzierung des Kollektivs vom ursprünglichen Islam, sowie vom Gesellschaftsmodell des prophetischen Medinas zurückgeführt. Yassine verfolgt die Ideen Qutbs weiter, der das moderne säkularisierte Zeitalter als „neuzeitliche Jahiliyya“ charakterisiert. Die westlich geprägte Säkularität halte die Gesellschaft vom ursprünglichen Glauben ab, so daß „kollektiver Unglaube“ entstehe, der das „moderne Heidentum“ zur Folge habe. Anlehnend an die vier Textstellen im Koran, in denen im Zusammenhang mit dem Terminus Jahiliyya das vorislamische Heidentum charakterisiert wird, beschreibt Yassine (2001) seine Wahrnehmung der westlich geprägten, gesellschaftlichen Gegenwart. Die Jahiliyya lasse sich in vier in der Moderne verbreiteten Verhaltensweisen beobachten, der „Dan Al - Jahiliyya“ (ungerechtes Denken über Allah), der „Hukm Al- Jahiliyya“ (ungerechten Herrschaft), dem „Tabarruj Al- Jahiliyya“ (dem öffentlichen sich Herausstaffieren der Frau), sowie dem „Hamiyat Al- Jahiliyya“ (Parteilichkeit hegen).134 Die Ausbreitung aller vier Verhaltensformen resultiere neben den materiellen Verlockungen des modernen Zeitalters in der zunehmenden Unkenntnis von den Grundlagen des Islam. Da kaum noch eine intensive Beziehung zur Religion und zu Gott vorhanden sei, erfolge die Gewissensbildung ausgehend vom islamischen Gesetz vielfach nicht 133 Yassine, Abdessalam: Al-Islam Wal-Hadata, S. 228 134 Yassine, Abdessalam: Al-Adl: Al-Islamiyun Wal-Hukm, S. 537
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mehr. Der ursprüngliche islamische Wertbezug fehle unserer Gesellschaft, die sich als kaltherzig und gefühlsarm, gleichsam ziellos erweise. Je mehr man zu der Überzeugung gelangt, dass die beklagte Säkularisierung weniger in der nicht zu verhindernden, modernen ökonomisch-technischen Entwicklung als mehr in reduziertem religiösen Basiswissen ihren Ursprung habe, desto mehr wähnt man eine Verpflichtung, dem Kollektiv die islamischen Werte wieder ins Bewusstsein zu tragen. Ein Weg, sich dieser Aufgabe zu stellen, erkennt man in einer neuen Form der Daawa. Hiermit erhofft sich die Bewegung, die vom Glauben entfernte moderne Gesellschaft – im Okzident wie im Orient wieder mehr für das Wort Gottes zu interessieren. Man zielt darauf hinaus, islamische Symbolik in der Öffentlichkeit wieder stärker zur Geltung zu bringen, um der Ablenkung durch die materiellen Verführungen der vom Westen ausgehenden Moderne etwas entgegenzustellen. Die umfangreiche Daawatätigkeit in einem offiziell „islamischen Land“ resultiert nicht nur aus dem allgemeinen Bestreben einer Bewegung, ihre qualitative und quantitative Basis zu verbreitern, sondern ebenso aus dem Bewusstsein, dass der westliche Einfluß viele Muslime bereits weitgehend ihres religiösen Wertempfindens wie ihrer islamischen Identität entfremdet habe, einer Entwicklung, der man glaubt, entgegenwirken zu müssen. Das Ziel stellt eine einheitliche, grundsatztreue islamische Gemeinschaft dar, die sowohl über „Reislamisierung“ der Bevölkerung als auch über die Änderung der gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen nach „urislamischen Prinzipien“ erreicht werden soll. Die Daawa mündet nach Auffassung Yassines (1995) schließlich in ein weltweites islamisches Khalifat hinein, in dem die Regeln der Scharia sowohl für den Einzelnen als auch im gesellschaftlichen Kollektiv den alleinigen Maßstab darstellen: Die Daawa erweist sich in all jenen, die Interesse an der Wiederherstellung der Umma tragen und sich für die Errichtung von Gottes Ordnung auf Erden einsetzen (...) Die Aufgabe der Daawa liegt in der Errichtung eines vereinigten islamischen Khalifats. Sie beginnt mit dem Aufbau von islamischen Teilstaaten, verbunden mit der Suche nach einem geeigneten System. Die Daawa sollte darauf abzielen, all diejenigen zu entlarven, die den Islam für ihre Interessen instrumentalisieren, (...). Ihren Postulaten gilt es sich entgegenzustellen.(...). Die Aufgabe der Daawa ist, eine islamische Gesellschaftsordnung aufzubauen, d.h. die Regeln und vorgeschriebenen Rituale der Scharia müssen nach den Vorgaben der Gelehrten respektiert werden. Nachdem die Daawa dieses Ziel erreicht hat, besteht ihre Aufgabe darin, die finanziellen, technischen und administrativen Voraussetzungen für das irdische Leben bereitzustellen, d.h. die Regeln der Scharia müssen im gemeinschaftlichen Zusammenleben durchgesetzt werden.135
135 Yassine, Abdessalam: Nadarat Fi Al-Fiqh Wattarich, S. 91
4.3 Ideologische Grundlagen
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Die islamische Zivilisation wird grundsätzlich allen anderen Zivilisationen, insbesondere dem säkularisierten Westen aufgrund ihres Glaubens als „überlegen“ interpretiert, eine Überlegenheit, die angesichts der gegenwärtig verbreiteten „falschen Islampraxis“ nicht spürbar werde. In diesem Zusammenhang ist häufig von der „Fitna“ (inneren Spaltung) die Rede, ein urislamischer Gedanke, der bereits bei Qutb eine besondere Stellung einnimmt. Unter „Fitna“ versteht der Islam eine Spaltung innerhalb der Umma, die zur Verwirrung und kollektiver Verunsicherung führt, sowie letztlich in gewalttätigem Unheil enden kann. Die Muslime sind permanent angehalten, sich um interne Einigkeit und gegenseitige Unterstützung zu bemühen, mit dem Ziel, eine „Fitna“ entweder nicht entstehen zu lassen oder mit Gottes Hilfe zu überwinden. Die „Fitna“ äußert sich nicht nur in konfliktträchtigen Auseinandersetzungen, sondern ebenso in gesellschaftlicher Zügellosigkeit, ausgehend von einem kollektiven Verlassen des „göttlichen Regelwerks“. Wie Jahiliyya erfährt der Begriff Fitna bei Yassine Verwendung zur Beschreibung der gesellschaftlichen Gegenwart. Zum einen erkennt er die eigentliche, der ursprünglichen Bedeutung entlehnte „Fitna“, die in ungerechten, eigennützigen, sowie gegeneinander gerichteten politischen Herrschaftssystemen innerhalb der islamischen Welt sich widerspiegele. Zum anderen dient die Bezeichnung „Fitna“ zur Kennzeichnung des außerislamischen Westens. Die dort beobachtete „Spaltung“ äußere sich in fehlendem Wertebewusstsein und politökonomischem Hegemoniestreben. Als Ursache interpretiert man das im Westen vorherrschende Infragestellen jeglicher Spiritualität, das Individualismus und Egozentrismus hervorgerufen habe, sowie sich vom einzelnen Individuum bis auf die politische Ebene hinaufziehe. Den westlichen Materialismus, einhergehend mit fehlendem Gemeinschaftsbewusstsein wertet man als Beweis für die moralische Überlegenheit des Islam und seiner Zivilisation, die mit göttlicher Unterstützung in Zukunft zu ihrer ursprünglichen Stellung zurückgelangen werde. Aufgrund ihrer eigenen, aus der Vergangenheit erhalten gebliebenen Fitna sei die islamische Zivilisation gegenwärtig weder in der Lage, ihre zuerkannte Vorrangstellung einzunehmen, noch sich dem politischen und kulturellen Hegemoniestreben des Westens, der neuzeitlichen Fitna, zu widersetzen. Yassine (1998) verbindet mit der innerislamischen Fitna eine zerstörerische Macht, die jegliche Gesellschaftsbereiche anstecke, sowie die gesamte Zivilisation an ihrer Entfaltung hindere: In der islamischen Zivilisation der heutigen Zeit ist der Geist der damaligen Fitna auf allen gesellschaftlichen Ebenen nach wie vor spürbar. Die Fitna bestimmt unsere Gedanken, sie legt sich auf unsere Seele und prägt unser Verhältnis zu unserer eigenen Tradition. Die Fitna beherrscht die islamische Zivilisation so sehr, dass wir zu keiner fortschrittlichen Entwicklung in der Lage sind. Die Resultate zeigen sich in unserem Zurückstehen gegenüber der kolonialistischen westlichen Zivilisation auf
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den bedeutensten gesellschaftlichen Sektoren wie der Wissenschaft oder der Wirtschaft.136
Die Muslime müssten für die Rückkehr zu ihrer zivilisatorischen Führungsrolle zuerst ihre eigene „Fitna“ überwinden, welche aus der „Vermischung“ des Islam mit der Jahiliyya durch den Einfluß der abweichenden Lehren und Wertvorstellungen hervorgerufen worden sei. Neuzeitlich erwachse die „Fitna“ aus der „Tagrib“ (Verwestlichung). „Fitna“ versteht Yassine als „Inhiraf Chatir“ (gefährliche Abweichung) von der ursprünglichen islamischen Lehre, die im Ergebnis eine Pluralität von Islampraktizierungen mit sich bringe, sowie in gegeneinander gerichtete Konfessionalisierung hineinmünde. Der Ursprung der „Fitna“ liege nicht erst im neuzeitlichen Eindringen westlicher Normvorstellungen, vielmehr befinde sich die islamische Gesellschaft schon seit Jahrhunderten in einer Phase der „Fitna“, die mittlerweile durch das „moderne Heidentum“ besonders bedrohliche Auswirkungen hervorrufe. Den Beginn dieses „Spaltungsprozesses“ postuliert Yassine in der 661 nach Christi vollzogenen Trennung des Islam in Sunna und Schia, die er als „Al-Inhiraf Attarichi“ (historische Abweichung) definiert. In Folge dessen seien weitere Konfessionen mit eigenen Islaminterpretationen entstanden, verbunden mit fortschreitender Distanzierung vom Islam der Prophetenzeit. Hieraus entwickelten sich innerislamische Konflikte, bei denen immer weniger die korrekte Islampraxis, sondern Ungerechtigkeit, Habgier, Herrschsucht und Eitelkeit im Mittelpunkt gestanden hätten. Das Resultat erweise sich in gegenseitig sich befehdenden, korrupten, undemokratischen, prophetischen Vorgaben entgegenstehenden politischen Herrschaftssystemen in der Gegenwart. Die von den Herrschern nicht bekämpfte „Tagrib“ verleite ihre Untertan gleichermaßen zur Abkehr vom rechtschaffenen Weg, so dass nun die gesamte islamische Zivilisation in ihrem inneren Zusammenhalt bedroht sei. Die Muslime sollten diese „Bedrohung“ als Aufforderung begreifen, ihren Glauben und ihre Gemeinschaft untereinander wieder zu festigen, sowie im Sinne des Gemeinwesens mehr Verantwortungsbereitschaft zu demonstrieren. 137 Den vom Westen ausgehenden, die islamische Gemeinschaft gefährdenden Entwicklungen gelte es sich entgegenzustellen. Zurückzuweisen sei vor allem die moderne Wissenschaft mit dem „Zweifel“ als Wesensmerkmal. Der Zweifel als Methode beschränke sich nicht auf die menschlichen Werke, sondern beziehe die göttliche Offenbarung, die „einzige Quelle wahrhaftiger wissenschaftlicher Erkenntnisse“, mit ein, woraus Unglaube erwachse. Welchen Stellenwert die auf Zweifel beruhende Wissenschaftsentwicklung im Laufe der Jahrhunderte für gesellschaftliche Progressivität bedeutet hat, wird offenbar ebenso übersehen, 136 Yassine, Abdessalam: Al-Ihsan, S. 155 137 Yassine, Abdessalam: Nadarat Fi Al-Fiqh Wattarich, S. 7ff.
4.3 Ideologische Grundlagen
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wie die Tatsache, dass die rationale Wissenschaft nicht zuletzt von bekennenden Muslimen begründet, sowie später in Europa von tief religiösen Pionieren wieder entdeckt wurde, denen der Zweifel gegenüber menschlichen Erkenntnissen ihren Glauben an göttliche Wahrheiten in keiner Weise beeinträchtigte. Yassines Warnung vor vom Westen ausgehenden, die islamische Zivilisation „bedrohenden“ Tendenzen beschränkt sich keineswegs auf die Wissenschaft, sondern schließt den Werteverlusst ein. In dieser Hinsicht interpretiert er vor allem den Individualismus, der die Anliegen seiner Umwelt vernachlässige, sowie die Vorstufe zum Gemeinschaft zerstörenden Egoismus sei. Der Einfluß des westlichen Individualismus auf die islamische Zivilisation zeige sich in der fehlenden Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten. Das moderne „westliche Heidentum“ stelle individuelle Triebe über kollektive Verantwortung. Indem keine Reflexion des Verhaltens durch ein religiöses Gewissen erfolge, würden Verpflichtungen gegenüber Gott und den Mitmenschen nicht wahrgenommen. Das ethische Verantwortungsbewusstsein erwachse erst aus der Beziehung zur Religion und richte sich an jeden Muslim. Da vor Gott alle Menschen gleich seien, gelten seine Anforderungen an Frauen und Männer als gleichwertig. Zwar besitzen beide Geschlechter spezifische, vom Islam zugewiesene Rollen, sie sind gleichermaßen zur Erfüllung ihrer Pflichten aufgefordert. Die Kritik Yassines am westlichen Geschlechterrollenverständnis zielt weniger auf die rechtliche und politische Gleichstellung von Mann und Frau hinaus, als mehr auf die mangelnde Würdigung der unterschiedlichen Aufgabenbereiche von Frauen und Männern seitens der westlichen Gesellschaft. Beide Geschlechter ließen gleichermaßen das Bewusstsein für ihre von Gott auferlegten Pflichten vermissen. Die eindeutige Rolleneingrenzung von Mann und Frau steht dem im Westen propagierten Freiheitsideal entgegen, ein Festhalten an vormodernen Rollenzuweisungen, die Frauen den Männern untergeordnet definieren, geht damit keineswegs einher. Innerhalb des vom Islam vorgegebenen Rahmens wird eine Selbstverwirklichung der Frauen wie Männer akzeptiert und bewusst gefördert. Dem Individuum – Mann wie Frau – sei von der irdischen Obrigkeit freizustellen, inwieweit es sich auf die vorgesehene Rolle einlässt. Da letztlich nur der Islam zum rechtschaffenen Weg hinführe, bedürfe ein Muslim nach Yassine (2001) eines Vorbildes, das über den eigenen Glauben ein ethisch gebundenes Leben vorzeichne: Frauen und Männer sind im Islam gleichermaßen auf eine Stütze angewiesen, die ihnen den aufrechten Glauben vorlebt und spüren lässt. Die Frau und der Mann stehen den gleichen Rechten und Pflichten gegenüber und besitzen die freie Entscheidung für ein ungebundenes Leben nach ihren Verlockungen oder ein Leben nach dem Willen Gottes und des Propheten, dass zum Ewigen Leben führt.138 138 Yassine, Abdessalam: Al-Adl: Al-Islamiyun Wal-Hukm, S. 271
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Das Geschlechterrollenverständnis demonstriert, dass die Grundskepsis gegenüber dem Westen weniger der von dort ausgehenden zivilisatorischen Fortschrittlichkeit, als mehr der „geringen Wertschätzung für religiöse Ethik“ gilt, die auf politischer Ebene wie im gesellschaftlichen Alltag wahrgenommen wird. Diese ethische Ungebundenheit spiegele sich sowohl in der Vernachlässigung ehelicher und familiärer Verpflichtungen, als auch in einem rücksichtslosen, politökonomischen Herrschaftsstreben wieder, das bei den am Westen orientierten Führungseliten der islamischen Zivilisation bereits seinen Einfluß hinterlassen habe. Gegen diese westliche Hegemonie, die die eigenen Regime einschließt, sei Widerstand geboten und islamische Pflicht. Kritisiert man einerseits die „Jenseitsbezogenheit“ vieler Muslime, die zur Aufrechterhaltung des politischen Status Quo beitrage, widersetzt man sich andererseits gewalttätigem Widerstand, der repressorische Gegengewalt legitimiere und dem islamischen Verständnis des Al-Jihads widerspräche. Wie kaum eine andere islamistische Bewegung hebt „Al-Adl Wal-Ihsan“ das „Prinzip der Gewaltlosigkeit“ hervor, sowie distanziert sich von radikalen gewaltbereiten Islamisten. Die Gewalt lenke von der entscheidenden gesellschaftspolitischen Aufgabe ab, die dauerhaftes friedliches Engagement für die ersehnte islamische Ordnung bedinge. Man trennt zwischen einem „Al-Jihad Al-Qitali“ (kriegerischen Al-Jihad) und einem „Al-Jihad Assiyasi“ (politischen Al-Jihad), die zwar zusammen erfolgen können, die Hauptkonzentration verlange der nicht auf Gewalt beruhende, politische Al-Jihad. Dieser vorrangig zu befolgende, politische Al-Jihad gelte der Anstrengung, den Grundsätzen der Religion treu zu bleiben, um zum Vorbild für die übrige Gesellschaft heranzureifen. Mag „gewalttätiges Märtyrertum“ kurzfristig bestimmte Gesellschaftsteile begeistern, die Bewegung ist davon überzeugt, dass langfristig der ununterbrochene Einsatz im Sinne einer „gerechten Gesellschaft“ eine größere Anzahl von Menschen für den „Weg Gottes“ gewinnen werde. In diesem Sinne erfordere es, sich nicht von auf Gewalt setzenden „Heilspredigern“ verführen zu lassen, die im kriegerisch errungenen, politischen Sieg bereits die Vollendung des islamischen Auftrages wähnten. Yassine (1998) hebt die Stellung des „politischen Al-Jihads“ hervor, der auf die moralische Erneuerung der Gesellschaft hinausziele: Wenn der kriegerische Al-Jihad tatsächlich unumgänglich ist, sollte diesem ein politischer Al-Jihad sowohl vorausgehen, als auch ihm folgen. Der politischeAl-Jihad, ausgerichtet auf Erziehung, sowie die Entwicklung der Gesellschaft, ist vielleicht noch bedeutsamer, denn ihn erfolgreich zu führen ist anstrengend und benötigt Ausdauer, den kriegerischen Al-Jihad zu führen hingegen verlangt weniger Einsatz .139
139 Yassine, Abdessalam: Al-Ihsan, S. 488
4.3 Ideologische Grundlagen
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Das Islamverständnis Yassines animiert zu einem unentwegten gesellschaftlichen Einsatz, der die politische Ebene mit einbezieht. Nur die vom Propheten vorgezeichnete Gesellschaftsordnung könne das islamische Gerechtigkeitsideal im Alltag garantieren. Als Ursache für die beklagte Distanzierung des Kollektivs von islamischen Werten wie die Rückständigkeit islamischer Staaten gegenüber dem Westen postuliert „Al-Adl Wal-Ihsan“, dass die politisch Verantwortlichen dem „ursprünglichen Islam“ keine Beachtung beimäßen. Pflicht jedes Muslimen sei, mit friedlichen Mitteln zur Überwindung dieser „unislamischen“ Systeme beizutragen, sowie zu ihrer Ersetzung durch Repräsentanten, in deren Politik das ganzheitliche Islamverständnis der Bewegung zum Ausdruck gelange. Die Aufforderung zu verstärktem politischen Engagement geht mit Kritik an der „Passivität“ vieler Muslime einher, die Yassine auf mangelhafte Verinnerlichung der religiösen Werte zurückführt. Der Islam als gemeinschaftsorientierte, „politische Religion“ erfordere einen „politischen Al-Jihad“ für die von Gott vorgesehene Staatsordnung. Über die Etablierung am Volkswillen und demokratischen Majoritätsprinzip orientierten Herrschaftssystemen demonstriere gegenwärtig der Westen der islamischen Zivilisation wie gesellschaftliche Veränderungen im Sinne der Bevölkerung erreichbar seien. Die angestrebte gesellschaftliche Entwicklung der eigenen Zivilisation müsse allerdings auf islamischer Grundlage erfolgen, da der Islam für alle Gesellschaftsbereiche – und somit auch für die Politik – die Regeln vorgebe. In der Ursprungszeit habe der Islam gezeigt, wie sich ein vollkommenes Ordnungsmodell durchsetzen lasse. Sobald die Muslime den von ihnen verlangten Einsatz für die „gerechte Ordnung“ wieder aufbrächten, werde Gott die Realisierung garantieren. Als tief im Islam verwurzelte Bewegung interpretiert man jeglichen anzustrebenden gesellschaftlichen Fortschritt – im Westen wie in der islamischen Welt – auf der Grundlage der Heiligen Schrift. Der Islam habe die Grundsätze für Wissenschaft, Politik, Geschlechterrollenverständnis, sowie jegliche Lebensbereiche vorgegeben und stelle die Voraussetzung für eine humane Entwicklung. Tendenzen, die dem eigenen Verständnis von Humanität widersprechen, erklärt man mit der Unkenntnis des ursprünglichen Islams. Da die als „bedrohlich“ erfahrene gesellschaftliche Entwicklung gegenwärtig vom Westen ausgeht, führt man sie auf sie den fehlenden islamischen Hintergrund oder mehr noch auf eine Abkehr von jeglichem religiösethischen Normbewusstsein zurück. Nachahmenswerte Fortschrittlichkeit entstamme ursprünglich nicht der westlichen Zivilisation, sondern erkläre sich aus dem Einfluß des Islam, dessen die Okzidentalen sich nicht bewusst seien. Im Westen entstandene Entwicklungen brächten keine Progressivität hervor, da sie als „Ergebnisse der Jahiliyya“ nicht auf den Erkenntnissen der Heiligen Schriften beruhten. Woran lässt sich der geistige Ursprung einer gesellschaftlichen Innovation erkennen? Al-Adl Wal-Ihsan ist da-
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von überzeugt, dies mittels eingehender Prüfung anhand des islamischen Schrifttums herauszufinden. Vor diesem Hintergrund wähnt man das intensive Studium nicht nur von Koran und Sunna, sondern ebenso westlicher Denkkategorien als zivilisatorische Verpflichtung. Zu befürchten ist, dass eine Kompatibilität von Errungenschaften der Moderne mit dem Islam aufgrund der Komplexität der modernen Gesellschaft nicht hergestellt wird, da eine rationale kontextbezogene Interpretation der Schrift ausbleibt. Resümierend muß das holistische Islamverständnis der „Al-Adl Wal-Ihsan“ als entscheidender Antrieb für ihr umfangreiches, gesellschaftliches Engagement angesehen werden, das die politische Ebene mit einschließt. Gemeinsinn wird höher eingeschätzt als das Streben nach individuellem Glücksempfinden. Mit dem Islam verbindet man die Aufforderung zur Wiedererrichtung des ursprünglichen Khalifats, in dem die Grundsätze der Scharia alleiniger Maßstab darstellten. Wie dieses Khalifat angesichts geänderter Zeitumstände mit einer Komplexität, die in der frühislamischen Epoche nicht vorhanden war, realisiert und konzipiert sein soll, erscheint ungewiss. Eine moderne Problembewältigung ausschließlich auf der Heiligen Schrift zeugt von einem hohen Maß an Idealismus, der angesichts des Verzichts auf kontextgebundenes Schriftverständnis die Gefahr des Scheiterns in sich birgt. Das Festhalten an traditionellen, mit islamischer Ethik gerechtfertigten Normen, insbesondere im Bereich von Geschlechterrollen darf keinesfalls als „rückwärtsgewandt“ abqualifiziert werden, sondern stellt den Versuch dar, das islamische Rollenverständnis in einem zeitgemäßen Gesellschaftsmodell zur Geltung zu bringen. Der Islam dient der gesamten Menschheit und wird als Aufforderung erkannt, Muslimen wie Nichtmuslimen in ihren Alltagsnöten Unterstützung und Wegweisung zu bieten. Die mannigfaltigen Einsatzfelder lassen nicht nur einen permanenten Bezug zur Praxis, sondern in gewisser Weise moderne gemeinschaftliche Aufgabenbewältigung erkennen. Da fortschrittliche Entwicklung und wissenschaftliche Erkenntnis nur über das prophetische Schrifttum und islamische Gelehrsamkeit erfolgen könne, werden außerislamisch entstandene Ideen als nicht weiterführend zurückgewiesen. Moderner Wissenschaft und Rationalität, die im Westen als Grundvoraussetzung jeglicher Modernität angesehen werden, sowie in der mittelalterlichen islamischen Zivilisation ihren geistigen Ursprung besaßen, attestiert man eine „areligiöse“ Natur und interpretiert sie als Ursache für den Rückzug des religiösen Bewusstseins aus dem westlich geprägten Alltag. Die Kritik an den gegenwärtigen politischen Führungseliten, die angesichts ihrer Orientierung an westlichen Gesellschaftsidealen islamische Werte vernachlässigt hätten, kann angesichts des Rückzugs islamischer Grundregeln aus Wirtschaft und Gesellschaft nicht als vollkommen unberechtigt zurückgewiesen werden. Die Tatsache, daß der Westen gegenwärtig zeitgemäßere Sozialstrukturen
4.4 Programmatik
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etabliert hat, lässt sich ebenso wenig leugnen. Ein modernes islamisches Gesellschaftsmodell erfordert keineswegs die unreflektierte Nachahmung vorhandener Konzeptionen im Westen, Erkenntnisse der vom Westen ausgehenden Moderne sollten nicht von vorn herein vernehmt werden. Mit ihrem Ansinnen zur buchstabengetreuen Übertragung des frühislamischen Ordnungsmodells auf die Gegenwart, einhergehend mit der Skepsis gegenüber außerislamisch entstandenen Leitidealen zeigt sich der Grundcharakter islamistischer Bewegungen, die zwar den zivilisatorischen Fortschritt im Westen wahrnehmen, westliche Werte als Bedrohung für die islamische Welt zurückweisen. Die fehlende Separierung zwischen einem religiösen Gesellschaftsideal und der politischen Ordnung der Gegenwart erweist sich einerseits als Antrieb für politisches Engagement, andererseits als Barriere für die Verantwortungsübernahme im aktuellen, als unvollkommen erkannten System. Das öffentliche Bekenntnis zu gewaltlosem Widerstand hebt die Bewegung von radikalen Islamisten ab und vermittelt den eigenen gesellschaftspolitischen Alternativen ein höheres Maß an Glaubwürdigkeit. Wenn die Öffentlichkeit die Bereitschaft erkennen lässt, der Bewegung über ein politisches Mandat die Möglichkeit zuzugestehen, ihre Gesellschaftsvorstellungen umzusetzen, besteht die Chance, daß ein utopischer Idealismus einem nüchternen, zeitbezogenen Realismus weichen wird.
4.4 Programmatik Aus ihrem ganzheitlichen Islamverständnis leitet „Al-Adl Wal-Ihsan“ den Anspruch ab, die marokkanische Gesellschaft nach ihren Idealvorstellungen zu strukturieren. Ihr anvisiertes Gesellschaftsmodell wähnt die Bewegung als „göttlichen Auftrag“, die als einzig gerechte Zivilordnung interpretierte islamische Frühzeit wiederzubeleben. Im Hinblick auf eine künftige politische Einflußnahme gilt es die Auswirkungen der daraus abgeleiteten Kernforderungen auf den marokkanischen Alltag und darüber hinaus für die gesamte islamische Zivilisation in den Blickpunkt zu stellen. Auf jeden einzelnen Gesellschaftsbereich wird Bezug genommen, sowie erörtert, in wie weit die angestrebten Leitvorgaben in einem konzeptionellen Zusammenhang miteinander stehen. Ob der Bewegung ein umfassendes, durchsetzbares Programm vergleichbar politischen Parteien attestiert werden kann, sowie der Hintergrund der Attraktivität jenes Programm, bedürfen einer fundierten Einschätzung. Verbirgt sich dahinter ein ausgefeiltes Konzept, das islamische Gerechtigkeitsideal unter den Bedingungen der Gegenwart in praktische Politik umzusetzen oder lassen sich die darunter zusammengefassten Allgemeinheitsforderungen als Utopien entlarven, die nur so lange auf kollektiven Beifall treffen, wie sie nicht mit der Realität konfrontiert werden? Im
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Hinblick auf moderne Aufklärungsideale wie Pluralismus, Kritikfähigkeit und Rationalität erfordert die gesellschaftliche Konzeption der „Al-Adl Wal-Ihsan“ einer Reflexion. Nur in der ständigem Bezugnahme auf konkrete Vorstellungen im Bereich Politik, Wirtschaft oder Bildungswesen lässt sich einschätzen, ob die Bewegung insgesamt und ihre programmatischen Absichten im Besonderen auf eine Behinderung moderner Entwicklung hinauslaufen oder im Gegenzug gesellschaftliche Errungenschaften der Moderne, die aktuell nur Minoritäten zustehen, entsprechend dem islamischen Gleichheitsbewusstsein der Gesamtheit gewährleisten. Die von Yassine gestellte „Diagnose“, dass die derzeitige Gesellschaft in und außerhalb Marokkos von zahlreichen Fehlentwicklungen bestimmt werde, sowie dem Vollkommenheitsideal des Propheten in keiner Weise entspreche, fasst man als Aufforderung, das „Marokko der Zukunft“ am frühislamischen Vorbild neu auszurichten. Das angestrebte Khalifat ist sowohl in der Struktur als auch im Verhältnis der einzelnen Gesellschaftsbereiche zueinander der eigenen Interpretation des prophetischen Medinastaats nachempfunden. Die interne Beziehungsstruktur der Bewegung spiegele das Idealbild wieder, welches ein von „Al-Adl Wal-Ihsan“ dominiertes Gemeinwesen generell kennzeichnen solle. Das holistische Islamverständnis trennt weder zwischen privater und öffentlicher Sphäre noch zwischen Staat und Religion. Beide Ebenen stehen zueinander in Beziehung und sind zur Einheit zusammenzuführen. Mit anderen Worten, das angestrebte Gesellschaftskonzept, der sogenannte „Idealstaat“, lasse sich nur realisieren, wenn das Kollektiv über Daawa und Erziehung bereits zum „ursprünglichen Islam“ zurückgeführt worden sei. Umgekehrt benötige es aber auch ein dem prophetischen Vorbild folgendes Staatsmodell, um das Wertebewusstsein der islamischen Frühzeit wieder zur Geltung zu bringen. Ihre gesellschaftspolitische Aufgabe wähnt die Bewegung darin, möglichst alle Gesellschaftsbereiche nach den Vorgaben der Scharia zu reorganisieren. Das hiervon profitierende Kollektiv gelte es vom „Islam der Vorväter“ zu überzeugen, sowie für den Dienst am Gemeinwohl zu gewinnen. Jegliche kollektiven Unzulänglichkeiten von der verbreiteten Korruption über die ungleichmäßige Wohlstandverteilung bis hin zum zunehmenden Materialismus seien zu überwinden. Über die Etablierung des propagierten Gesellschaftsmodells, einhergehend mit einer sich am prophetischen Ideal orientierenden Erziehung beansprucht man, die geistige Reife der Menschen herzustellen, um sich gegenüber unterdrückerischen Systemen wie zerstörerischen Einflüssen außerislamischer Zivilisationen behaupten zu können. Yassine (1994) legt Wert darauf, dass diese Qawma (gesellschaftliche Erhebung) im Sinne des Islam sich fundamental von allen Revolutionen und politisch-militärischen Umstürzen der jüngeren Vergangenheit unterscheide, wo lediglich eine elitäre Minorität ihr eigenes, von kulturfremden Werten geprägtes, autoritäres Regime durchzusetzen bestrebt gewesen sei:
4.4 Programmatik
225
Unsere religiös verwurzelte Erziehung, verbunden mit unserer al-Jihadischen Organisation soll unsere Kräfte in eine Qawma hineinlenken. Diese Qawma muß tiefgreifend wirken, auf sicherem Fundament stehen, sowie sich allumfassender erweisen als jegliche Befreiungskriege, wie alle postkolonial erfolgten Revolutionen. Gewalttätige Umstürze dieser Art haben für unsere unterdrückte Bevölkerung lediglich den Wechsel von einer rechtsgerichteten zu einer linksgerichteten Jahiliyya bedeutet, das repressive, von Willkür geprägte System wurde beibehalten. Unsere Bewegung soll ein autonomes islamisches System vorbereiten, das seine Grundlage nicht auf eine Herrschaft von außerhalb stützt. Wir müssen erreichen, fortdauernd unabhängig zu bleiben, sowie die Korruption aus unserer Gesellschaft zu entfernen. Es gilt denjenigen entgegenzutreten, die hiermit die kollektive Freiheit einschränken. Unser Ziel besteht darin, ein Immunsystem gegen die Manipulation durch fremde Leitideale zu entwickeln, mit dem wir in der Lage sind, den kulturellen Eroberungsversuchen zu widerstehen, die letztlich den vollständigen Souveränitätsverlust hervorrufen.140
Innerhalb des gesellschaftspolitischen Paradigmas der „Al-Adl Wal-Ihsan“ nimmt Erziehung einhergehend mit Wertevermittlung eine herausgehobene Stellung ein. Hiermit verbindet man die Voraussetzung, das Kollektiv nicht nur politisch zu beherrschen, sondern gleichermaßen vom eigenen Islamverständnis überzeugen zu können. Realismus bringt die Einsicht hervor, über Erziehung nicht überall die Übernahme der Idealvorstellungen zu erreichen, der Anspruch besteht, das dahinter stehende Gesellschaftsmodell zum Maßstab für Marokko, sowie langfristig für die gesamte islamische Welt zu erheben. Das Bildungswesen zielt darauf ab, den Bürgern die islamischen Leitideale in einer Weise zu vermitteln, dass sie in ihrer jeweiligen Werteskala wieder Vorrangstellung einnehmen. Weil der Islam die emotionale Befriedigung des Individuums der Verantwortung für das Gemeinwohl unterordnet, richtet sich das Bildungskonzept neben der notwendigen Weitergabe von kognitiven Fertigkeiten auf den Transfer von sozialer Kompetenz aus. Nicht die Karriere des Einzelnen, sondern die Sensibilität für die berechtigten Ansprüche der Mitmenschen soll im Erziehungswesen im Mittelpunkt stehen. Religiöses Kollektivbewusstsein wird höher eingestuft als profane Übertragung von intellektuellem Wissen. Man leugnet nicht, dass intellektuelle Bildung ein entscheidender Aspekt der Erziehung darstellt, sie muß zum religiös definierten Gemeinnutzen in Beziehung stehen. Das staatliche Bildungswesen gelte es nach dem Vorbild der eigenen Erziehungseinrichtungen zu konzipieren, worin religiöse Wissensübertragung und profane Kenntnisweitergabe in einem erfolgen. Da die Heilige Schrift als Quelle jeglicher Wissenschaft aufgefasst wird, differenziert man nicht zwischen „religiöser“ und „säkularer“ Erkenntnisgewinnung. Jegliche Form von Bildung soll dazu befähigen, das Erlernte im Sinne „islamischer Gemeinnützigkeit“ einzusetzen. Das Erziehungs140 Yassine, Abdessalam: Al-Minhaj An-Nabawi, S. 17
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system der ersten islamischen Gemeinde beansprucht man wieder auferstehen zu lassen. Indem Yassine (1994) darauf hinweist, dass in jener Zeit über die prophetische Erziehungsmethode mit der Heiligen Schrift als Fundament eine in jeglicher Hinsicht vorbildliche Gesellschaft erreicht worden sei, lässt er erkennen, dass für ihn Rechtschaffenheit im religiösen Sinne zugleich zivilisatorischer Fortschritt bedeutet: Die prophetische Methode der Erziehung und Bildung stammt aus dem gleichen Ursprung, aus dem der menschliche Körper, sein Geist und seine Seele hervorgegangen sind. Hiermit wurde erreicht, dass die erste Generation der Muslime zur Zeit des Propheten dem göttlichen Gebot folgte und rechtschaffen war. Die Erziehungsmethode, die ihnen damals vermittelt wurde, erwies sich als geeignet, Gottgefälligkeit bestimmend werden zu lassen. Sie zeigte sich damals als wegweisend und wird sich auch heute wieder als wegweisend herausstellen. Entscheidend ist allerdings, dass jegliche Erziehung und Bildung auf dem Koran und dem prophetischen Wort gründet.141
Die Vielfältigkeit des Fächerkanons in den von der Bewegung initiierten Bildungseinrichtungen legt nahe, dass eine besondere Hervorhebung von religiösen Kenntnissen moderne alltagsbezogene Bildung in keiner Weise vernachlässigen würde. Sofern ein Nutzen für die Allgemeinheit darin erkannt wird, können moderne Technologien, sowie im Westen entstandene pädagogische Modelle ungehindert Anwendung finden. Mit der Unbefangenheit von Führungsmitgliedern gegenüber modernen Medien demonstriert die Bewegung, dass ihr Technikfeindlichkeit nicht unterstellt werden kann. Der außerislamische Ursprung dieser Technologien erweist sich für die Akzeptanz nicht als unüberwindbare Barriere. Das geistige Fundament moderner westlicher Innovationen, eine auf Irrtum beruhende Wissenschaft, wie sie bereits im frühislamischen Maghreb sich ansatzweise herausgebildet hatte, fände kaum die Rahmenbedingungen vor. In der Befürchtung, religiöse Wahrheiten ebenfalls zur Disposition stellen zu müssen, steht man wissenschaftlich fundierter Kritik an den eigenen Autoritäten, sowie rationalem Infragestellen bisheriger Gewissheiten skeptisch gegenüber. Zweifel an vorgegebenen gesellschaftspolitischen Leitidealen wird mit Zweifel am Heiligen Schrifttum gleichgesetzt. Nur wenn die grundsätzliche Bereitschaft besteht, zwischen einem wissenschaftlichen und einem religiösen Wahrheitsbegriff zu differenzieren, kann ein Bildungswesen die Voraussetzung für gesellschaftliche Weiterentwicklung und neue Innovationen herstellen, sowie das Fundament darstellen, den zivilisatorischen Rückstand Marokkos gegenüber dem Westen aufzuholen.
141 Yassine, Abdessalam: Mihnat Al-`Aql Al-Muslim, S. 34
4.4 Programmatik
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Ihre Attraktivität erfährt die Bewegung nicht zuletzt dadurch, dass sie den sogenannten „bildungsfernen Schichten“ den Zugang zu moderner Allgemeinbildung eröffnet, der ihnen über das staatliche Bildungswesen verwehrt ist. Bildung wird entsprechend dem islamischen Gleichheitsideal als allgemeines Menschenrecht aufgefasst. Mit diesem Bildungsverständnis hebt sich die Bewegung nicht nur elementar vom gegenwärtigen elitären System Marokkos ab, sie stellt zugleich den Vorbildcharakter des wirtschaftsliberalen Erziehungsmodells angloamerikanischer Prägung zur Diskussion. Davon unabhängig lässt sich nicht bestreiten, dass gesellschaftlicher Fortschritt aktuell vom Westen ausgeht und in Europa weitgehend Chancengerechtigkeit verwirklicht hat. Als Grundlage erweist sich die gleichberechtigte Teilhabe an moderner Bildung einhergehend mit der Erziehung zur Kritikfähigkeit, auf der die rationale Wissenschaft fußt. Ein Hinterfragen bewirkt nicht nur naturwissenschaftlichen Fortschritt, sondern setzt zugleich die Reflexion gesellschaftlicher Strukturen voraus. Ohne ihre breitgefächerte Allgemeinbildung hätten Yassine und seine Tochter mutmaßlich kaum die Defizite des gegenwärtigen Marokkos so präzise diagnostizieren können. Das eigene Gesellschaftsmodell benötigt jene Reflexion offenbar nicht, da es als absolut und vollkommen angesehen wird. Man gibt sich der gleichen Gefahr wie die zurecht kritisierte Herrschaftselite hin, dass Ideen von außerhalb in die eigene programmatische Konzeption nicht Eingang finden. Vielmehr lässt man fehlende Bereitschaft erkennen, vorgegebene Leitideen im geänderten Kontext zu reflektieren, sowie darauf aufbauend zu neuen Perspektiven zu gelangen. Das islamische Gleichheitsideal, wonach jeder gleichermaßen, basierend auf rationalem Textverständnis zu Erkenntnisgewinn befähigt ist, wird verkannt, wenn nur einer ausgewählten Elite die Möglichkeit gewährt wird, programmatische Leitlinien zur Disposition zu stellen. Ein auf Kritikfähigkeit hinauszielendes Bildungswesen erscheint mit diesem unitarischen Islamverständnis unvereinbar. Nur die von der Bewegung vorgegebene Interpretation der Scharia biete die Grundlage für die wahrhaftige islamische Ordnung. Divergente Auffassungen, die sich in einer pluralen, heterogenen Gesellschaft ergeben, werden als Distanzierung vom islamischen Fundament verkannt. Neben der Erneuerung des Bildungswesens intendiert das holistische Islamverständnis der „Al-Adl Wal-Ihsan“ eine Neukonzipierung der allgemeinen Gesellschaftsstrukturen nach dem Vorbild des historischen Medinas. Diese kollektive Umstrukturierung soll in Form der von Yassine beschriebenen Qawma erfolgen und wird als eine Art kontinuierlicher Prozeß hin zur angestrebten „Idealordnung“ interpretiert. In der Überzeugung, dass individuelles Wertebewusstsein und kollektive Leitideale unmittelbar miteinander zusammenhängen, ist der soziopolitische Einsatz mit der Daawa und der Erziehung untrennbar verbunden. Erst die innere Erfüllung vom göttlichen Geist versetze in die Lage, am Aufbau
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einer gerechten Gesellschaft mitzuwirken. Eine sozialrevolutionäre Bewegung, die ausschließlich auf Änderung der politischen Rahmenbedingungen hinauszielt, müsse zwangsläufig scheitern, da sie die einzelne menschliche Kreatur als Teil eines umzuformenden Systems nicht angemessen einbeziehe. Yassine (2001) intendiert seine Qawma nicht als von außen herbeigeführte, gewaltsame Zerstörung bestehender politischer Obrigkeitsstrukturen, sondern als unentwegter Einsatz für einen Mentalitätswandel der gesamten Menschheit von innen heraus. Die Qawma könne nur erfolgreich sein, wenn eine Bewußtseinsänderung jedes Einzelnen der angestrebten gesellschaftspolitischen Erneuerung die dauerhafte Basis biete: Eine Qawma erfordert eine allumfassende Änderung des menschlichen Wesens. Damit einher geht eine Änderung der Willenskraft, des Identitätsbewusstseins und der Gedankenwelt. Sie zielt auf eine Erneuerung von Seele und Geist, sowie darüber hinaus der gesamten Lebenseinstellung ab. Diese Wesensänderung sollte jeder gesellschaftspolitischen Erhebung vorausgehen, aber auch mit jeglicher Neuordnung gemeinschaftlicher Strukturen verbunden sein - ihr sozusagen die Richtung vorgeben.142
Entscheidend für die Durchsetzung der angestrebten Qawma erweise sich die Wiederherstellung des Gerechtigkeitsempfindens im Sinne des Islam. Der islamische Gleichheitsgrundsatz gebe einem politischen Programm die Grundorientierung. Das Gerechtigkeitsideal bleibt nicht nur dem Jenseits vorbehalten, sondern erfordere die Realisierung bereits im Diesseits. Man wird sich der vielfältigen Entwicklungsdivergenzen zwischen Süden und Norden, aber auch innerhalb Marokkos gewahr. Das Bestehen einer privilegierten Herrschaftselite fasst man als Beleg auf, inwieweit das auf Selbstbezogenheit gründende, westliche Menschenbild bereits Einzug in die eigene Zivilisation gefunden habe. Zu vermitteln gelte es, dass die marokkanisch-islamische Kultur auf anderen Leitprinzipien fundiere. Ein politisches Programm würde die von westlichen Verfassungen ebenfalls geforderte Gleichberechtigung zum handlungsleitenden Prinzip erheben. Als „universelle Botschaft“ stelle der Islam den Grundstein, über die Politik Disparitäten jeglicher Art entgegenzuwirken. Der Islam würde Staatsreligion bleiben und die Scharia verbindliches Recht. Da man den herrschenden Eliten vorhält, die islamische Grundlage Marokkos zu mißachten, ist von einem Bestreben auszugehen, sich in Bezug auf die Stellung der Religion innerhalb der staatlichen Gesetzgebung vom aktuellen Obrigkeitsmodell abzuheben. Yassine ist realitätsnah genug, die legislative Festsetzung der internen religiösen Praktizierung nicht zum offiziellen politischen Programm zu erheben. Dem eigenen Islamverständnis widersprechende Handlungen sollen durchaus staatsrechtlich 142 Yassine, Abdessalam: Rijal Al-Qawma Wal-Islah, S. 7
4.4 Programmatik
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unterbunden werden. In wie weit ein „religiöser Zwang auf staatlicher Ebene“ greift, ist nicht einwandfrei vorauszusagen, da innerhalb der Bewegung gemäßigte und radikale Strömungen existieren. So lange die gegenwärtig bestimmenden Autoritäten die Entscheidungsbefugnis besitzen, kann von einer Tolerierung pluraler Weltanschauungen ausgegangen werden. Eine Radikalisierung, hinauslaufend auf eine repressive Durchsetzung des eigenen Religionsverständnisses ist in bestimmtem Kontext nicht ausgeschlossen. Die Entwicklung wird davon abhängen, in wie weit man mit religiös gerechtfertigter, staatlicher Repression konfrontiert bleibt. Die Grundsätze der Heiligen Schrift beansprucht die Bewegung innerhalb der Ökonomie wieder zur Gültigkeit zu erheben. Dem Islam widersprechende Wirtschaftspraktiken seien auszuschließen. Die komplexe Gesellschaft der Gegenwart ließe Interpretationsspielraum zu, da die technologische Entwicklung den ökonomischen Alltag so sehr verändert hat, dass vergleichbare Bedingungen wie im Medina Mohammeds nur selten anzutreffen sind. Ist die Bereitschaft zu zeitgemäßer Neuinterpretation der Scharia vorhanden, sowie einen kreativen Pragmatismus hervorzubringen in der Lage, oder lähmt eine Fixierung auf fiktive Vorbilder aus der Vergangenheit die ökonomische Flexibilität? Orientierend an den Erkenntnissen der modernen islamischen Ökonomie könnte man über die Entwicklung spezifischer, auf Marokko ausgerichteter Konzepte dazu beitragen, das islamische Gerechtigkeitsideal wieder verstärkt zur Geltung zu bringen. Der Anspruch an ein Wirtschaftssystem, das alle Bevölkerungsschichten in den Fortschrittsprozess einbezieht, erhielte Glaubwürdigkeit und garantierte neben ökonomischem Erfolg die dauerhafte Anhängerschaft. Zum Scheitern verurteilt erscheint das Ansinnen, Marokko aus dem mittlerweile global bestehenden, westlich bestimmten ökonomischen System vollständig herauszulösen. Man beschränkt sich nicht nur darauf, erkannte ökonomische Fehlentwicklungen in einem eigenen islamischen Wirtschaftskonzept auszuschließen, sondern weist jegliche außerislamisch entstandenen ökonomischen Ordnungsstrukturen zurück. Ökonomischen Grundregeln wird eine irrationale, scheinbar magische Bedeutung zugemessen, wonach sie das Wesen der Religion und Philosophie ihres Begründers in sich verkörperten. Da nur der Islam „Gerechtigkeit und Wahrheit“ in sich trage, erweise sich im ökonomischen Agieren der Nichtmuslime entweder Unkenntnis der prophetischen Botschaft oder Opposition gegen das „göttliche Regelwerk“. Gesellschaftliche Probleme der Gegenwart seien weniger auf sozioökonomische Strukturveränderungen, als auf die Dominanz des Westens innerhalb der Ökonomie zurückzuführen. Yassine (1995) zählt sieben „bedrohliche Konsequenzen“, die eine wirtschaftliche Kooperation mit den „Ungläubigen“ begleiteten, auf. Er schließt daraus, dass nicht nur die Nachahmung außerislami-
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scher Wirtschaftsmodelle, sondern ebenso der Warenaustausch mit Gesellschaften außerhalb des islamischen Einflussbereichs verhindert werden müsse:
Eine Kooperation mit den Ungläubigen im ökonomischen Bereich wertet deren Stellung auf und erhöht gleichermaßen ihren gesellschaftspolitischen Einfluß. Über die ökonomische Orientierung an den Ungläubigen verlieren wir die Konzentration auf die Verpflichtungen gegenüber unseren Glaubensbrüdern. Über den wirtschaftlichen Austausch mit den Ungläubigen gelangen die Muslime in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihnen. Hiermit begeben sie sich in die Unfreiheit und Untertänigkeit hinein. Ungläubigen Kooperationspartnern fehlt das Gewissen für die göttliche Moralverpflichtung. Frevlerische Verhaltensweisen, die uns von unserer Religion untersagt sind, werden bei ihnen gebilligt. Ihr erklärtes Ziel besteht darin, Muslime ungerecht zu behandeln. Ihre schädlichen Erzeugnisse versuchen sie mittels Desinformation und verleumderischer Propaganda als wertvoll erscheinen zu lassen. Über die Ettikettierung ihrer Produkte mit unislamischer Symbolik wie z.B. dem christlichen Kreuz lassen sie ihre unterschwellige Absicht erkennen, uns zu missionieren und vom wahrhaftigen Glauben abzubringen.143
Im gesellschaftspolitischen Bereich erscheint nicht ganz eindeutig, in welche Richtung sich ein von „Al-Adl Wal-Ihsan“ geprägtes Marokko hinsichtlich universeller Leitideen der Moderne entwickeln würde. Die unmittelbare Erfahrung eines repressiven absolutistischen Regimes geht einerseits mit dem Anspruch nach einem liberalen, die Rechte des Einzelnen respektierenden Staatsmodell einher. Die Assoziation moderner politischer Systemvorgaben wie Demokratie, Parlamentarismus und Gewaltenteilung mit dem Westen sowie interessengeleiteter, westlicher Außenpolitik behindert andererseits die Aufnahmebereitschaft dahinter stehender universeller Grundsätze in das eigene politische Programm. Bislang besteht eine Grundskepsis gegenüber dem westlichen Gesellschaftsmodell. In der Praxis läuft die vorgegebene Ausrichtung am „urislamischen Khalifat“ auf ein prämodernes staatliches Autoritätsverständnis hinaus. Weist man die islamisch legitimierte Monarchie als „Missbrauch der Religion“ zurück, orientiert man sich aktuell an einer Republik, von der man sich erhofft, dass sie einer Instrumentalisierung des Islam für Autokratie und Absolutismus entgegenwirke. Die gleichermaßen autoritäre Tendenz innerhalb der eigenen Bewegungsstruktur legt eine unitaristische Gesellschaftsauffassung nahe, die abweichenden Sicht143 Yassine, Abdessalam: Fi Al-Iqtisad, S. 32
4.4 Programmatik
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weisen kaum Raum lässt. Nur die eigenen politischen Vorgaben, genauer gesagt diejenigen der charismatischen Führung, werden als „korrekte Auslegung der Scharia“ akzeptiert, jedes davon abweichende Gesellschaftsmodell sei gleichbedeutend mit „Heidentum“ und demzufolge geistig wie politisch zu bekämpfen. Legt die Außendarstellung einen Wert auf interne Toleranz, die staatlichen Zwang zu einem dem eigenen Islambegriff entsprechenden Verhalten ausschließe; die Radikalität, mit der man jede Abweichung von der vorgegebenen Linie verwirft, legt eine Art „Erziehungsdiktatur jakobinischen Vorbilds“ nahe. Mitglieder, welche die Ansichten des „Majlis Al-Irschad“ nicht teilen, sehen sich an internen Karriereperspektiven gehindert. Die Demokratie als westliches, der Rationalität entstammendes Gesellschaftsmodell weist man angesichts ihrer philosophischen Grundlage zurück. Die Erfahrung mit der westlichen, sich „demokratisch“ bezeichnenden Gesellschaft wird assoziiert mit dem System Demokratie und verlange, sich von jeglichem religiösen Wertempfinden zu distanzieren. Die Bewegung schlußfolgert daraus, Demokratie lasse von ihrem System her der Religion keinen Entfaltungsraum und rufe „kollektiven Atheismus“ hervor. Da man aus dem islamischen Bewusstsein heraus Zweifel an der Existenz Gottes als schwerwiegendere Sünde als jegliches menschliche Fehlverhalten bewertet, wird die mit der Vernunft legitimierte Demokratie gegenüber der angestrebten „göttlichen Ordnung“ als zurückstehend aufgefasst. Yassines (1996) Positionierung gegen die westliche Demokratie bedeutet nicht, dass vernunftgeleitetes Agieren für ihn keine Berechtigung besitze, im anzustrebenden Gesellschaftssystem müsse die religiöse Wahrheit der säkularen Ratio übergeordnet gelten: Unser entscheidendes Argument gegen die Demokratie ist ihre systematische Beschränkung auf menschliche Ideen und irdische Vernunft. Sie richtet sich ausschließlich auf das Ziel der Menschheit – genauer gesagt einem Teil der Menschheit –, ein zufriedenstellendes irdisches Leben zu garantieren. Als Wegbereiter für den sinnsuchenden Menschen, sich von seinem Unglauben zu befreien, erweist diese Demokratie sich nicht. Jener Unglaube stellt sich als die abscheulichste Variante menschlicher Unfreiheit dar. Man bleibt sein Leben lang im Ungewissen über die eigene Bestimmtheit nach dem leiblichen Tod. Indem diese Demokratie die religiöse Sinngebung außer Acht lässt, verleugnet sie die entscheidende Grundlage unseres menschlichen Daseins und kann nur als unvollkommen bewertet werden.144
Die kollektive Konsummentalität innerhalb der westlichen, demokratisch strukturierten Gesellschaften verleitet dazu, die aufklärerische Rationalität, das Fundament der Demokratie, mit Areligiosität gleichzusetzen. Die subjektive Wahr144 Yassine, Abdessalam: Schura Waddimuqratia, S. 24
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nehmung von den vorhandenen „Demokratien“ entspricht objektiv den Idealen Voltaires, Rousseaus und Kants ebenso wenig wie das elitäre, für „sakral“ befundene System der Bewegung. Konnte man zum einen die Vorzüge der Demokratie nicht erfahren, da man in einem undemokratischen System aufgewachsen ist, war man zum anderen nicht bereit, zwischen theoretischem Anspruch und gegenwärtiger westlicher Realität zu differenzieren. Erachtet ein Teil der Islamisten, eine außerwestliche „islamische“ Form der Demokratie für erstrebenswert, sieht Al-Adl Wal-Ihsan sie generell als Resultat der modernen, vom Westen ausgehenden Jahiliyya an. Worin bestünde aus demokratischer Sicht ein Gewinn, wenn die Monarchie durch ein Khalifat ersetzt würde? Ein öffentliches Eintreten für Demokratie und Pluralismus findet erst die Voraussetzung vor, wenn es mit der Bereitschaft einhergeht, zwischen Skepsis gegenüber menschlichen Absolutheitsansprüchen und Zweifel an religiösen Gewissheiten zu differenzieren. Über die Anerkennung der eigenen politischen Leitvorstellungen als kontextgebundene Interpretation der Scharia kann Demokratie innerhalb eines islamischen Rahmens der Weg geebnet werden. Die Bewegung ist nur selbst in der Lage, ein gesellschaftspolitisches Programm zu formulieren, dass ihre Ideale in der Realität widerspiegelt. Das gesellschaftliche Umfeld kann die Motivation und Voraussetzung bieten. Die staatliche Verwehrung der Durchsetzung politischer Vorstellungen läßt die Bewegung die Notwendigkeit zur Entwicklung alltagsbezogener Konzeptionen nicht einsehen. Wozu bedarf es eines realitätsbezogenen politischen Programms, wenn seine Umsetzung in die Praxis nicht erfolgen kann? Ein Zwang zur Konspirativität verhindert, dass konkrete Programminhalte der Öffentlichkeit zugänglich werden, da man der permanenten Gefahr ausgesetzt ist, einer feindlich gesinnten Obrigkeit Argumente für verstärkte Repression zu liefern. Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung findet keine Basis vor, so dass der interne Programmdiskurs ebenfalls einem erlesenen Kreis vorbehalten bleibt. Bietet repressive Erfahrung einerseits die Motivation, sich autoritären Strukturen entgegenzustellen, kann sie andererseits als negatives Vorbild zur Nachahmung verleiten. Die Fixierung auf ein undifferenziertes Feindbild im gegenwärtigen Obrigkeitssystem wirkt nicht nur der politischen Programmentwicklung, sondern gleichermaßen pluralistischen Tendenzen entgegen. Fortschrittliche politische Programme entstehen in Diskussionsprozessen, in denen die Konfrontation mit der Sichtweise des Gegenübers zu permanenter Selbstreflexion veranlasst. In demokratisch pluralistischen Debatten sind entgegengesetzte Argumente entweder in die eigene Überlegung einzubeziehen oder bedürfen rational fundierter Widerlegung. Erfahrung mit demokratischem Diskurs inspiriert zu einer internen Programmdiskussion, die politische Vorgaben nicht den Führungsebenen überlässt.
4.4 Programmatik
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Die Bewegung hat einen Anspruch nicht nur auf öffentlich-rechtliche Anerkennung sondern auch auf gleichberechtigte Partizipierung am staatlichen Reformprozess. Ihr gemeinschaftsorientiertes Islamverständnis sollte für eine Modernisierung der Gesellschaft als Motivation aufgefasst werden, in der traditionelle Werte den Maßstab darstellen. Der Bezug zum gesetzgeberischen Alltag ließe die utopische Orientierung an einer Idealordnung aus der Vergangenheit einem wertebewussten Realismus weichen, der darauf abzielt, den islamischen Regelungskodex unter neuzeitlichen Bedingungen zu verwirklichen. Eine islamischer Ethik verpflichtete Politik trüge dazu bei, profan definierte Progressivität mit einem zeitungebundenen Gerechtigkeitsbegriff zu kombinieren. Mit der Tatsache konfrontiert, dass in einer pluralen Gesellschaft verschiedene Weltanschauungen gleichwertig nebeneinander existieren, wächst die nüchterne Erkenntnis, dass demokratische Politik aus Kompromissen und Konsenssuche besteht. Die Hervorhebung von Gewaltlosigkeit seitens der „Al-Adl Wal-Ihsan“ gilt es als Herausforderung zum friedlichen Wettbewerb anzunehmen. Die Tatsache, dass Yassine bereits Anfang der Achtziger Jahre den Anspruch zur Gründung einer politischen Partei erhoben hatte, lässt seine grundsätzliche Bereitschaft zur Entwicklung eines alle gesellschaftlichen Ebenen umfassenden politischen Programms erkennen. Sein am Diesseits orientiertes Islamverständnis prädestiniert zur kollektiven Verantwortungsübernahme. In dieser Hinsicht ist „Al-Adl Wal-Ihsan“ als progressiver einzuschätzen als Teile der aktuellen Herrschaftselite, die Modernisierung kaum als politisch steuerbaren Prozess wahrnehmen. An der Gemeinschaft orientiertes, politisches Engagement verlangt weder ein Zurückhalten noch ein unkritisches Begleiten einer unvermeidbaren Entwicklung, sondern die permanente Einflussnahme im Dienste der Humanität. Ein zukunftsweisendes, gesellschaftspolitisches Programm wird daran gemessen, in wie weit es gelingt, die Abwehrmentalität gegenüber moderner Rationalität zu überwinden. Die Konfrontation mit demokratischer Argumentationsweise sollte als Aufforderung gefasst werden, eigene zivilisatorische Idealvorstellungen zu reflektieren. Die Erkenntnis kann erwachsen, dass der Islam den Wertmaßstab für das Gemeinwesen der Zukunft vorgibt, sofern konkrete Konzeptionen zur alltagsbezogenen Problembewältigung sich am zeitbezogenen Kontext orientieren. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass „Al-Adl Wal-Ihsan“ ein Khalifat nach eigenem Islamverständnis zu errichten anstrebt, welches von Marokko ausgeht und sich auf die gesamte islamische Zivilisation ausdehnt. Der anvisierte „Idealstaat“ sollte sich nicht nur moralisch und strukturell von einem außerislamischen Gemeinwesen abheben, sondern sich ebenso von den gegenwärtigen Staatsordnungen der islamischen Welt distanzieren. Maßstab stelle nicht interessengeleiteter Pragmatismus von Herrschaftseliten dar, sondern die buchstabengetreue Nachahmung der historischen Prophetenordnung in Medina.
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Besonders hervorgehoben wird das Gemeinschaftsideal des Islam, das in den islamischen Nationalstaaten der Postkolonialzeit zugunsten von Partikularinteressen einer prowestlichen Elite in den Hintergrund getreten sei. Mittels einer umfassenden Bildungs-, Wirtschafts- und Sozialagenda strebt man die Wiederherstellung des ursprünglichen islamischen Wertebewusstseins an. Jegliche Gesellschaftsbereiche seien dem gemeinschaftlichen Ziel unterworfen, sowie kurzfristige profane Interessensdurchsetzung der langfristig angelegten Qawma unterzuordnen. Die Skepsis gegenüber Resultaten der westlichen Gesellschaft wurzelt in einem tief verinnerlichten Mißtrauen gegenüber Rationalität sowie vernunftgeleiteter politischer Konzeptentwicklung. Die Tatsache, dass Modernität gegenwärtig vom Okzident ausgeht wird ausschließlich mit der Distanzierung der eigenen Zivilisation vom ursprünglichen Islam erklärt. Eine Entwicklung zeitbezogener Programminhalte erscheint vor diesem Hintergrund nicht notwendig. Der sufische Einfluß Yassines hat eine Distanz zur profanen Alltagsrealität hervorgerufen. Die utopische Fixierung auf den Idealstaat steht der Ausrichtung der politischen Programmatik auf zeitbezogene Problembewältigung entgegen. Die Aufrechterhaltung der aus dem umfangreichen zivilisatorischen Engagement erwachsenen Sympathie bei politischer Verantwortung erfordert ein kontextbezogenenes Islamverständnis, das in die Lage versetzt, ein gesellschaftspolitisches Alltagsprogramm permanent auf sich ändernde Bedingungen einzustellen.
5.1 Historische Entstehung
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5 Al-Aadala Wattanmiya
5.1 Historische Entstehung Seit 1997 sind mit der Al-Aadala Wattanmiya - PJD bekennende Islamisten im marokkanischen Parlament vertreten und stellen mittlerweile einen festen Bestandteil des marokkanischen Parteiensystems. Ein Verständnis für ihr aktuelles Agieren als „moderne islamistische Volkspartei“ kann sich erst unter der Kenntnis des historischen Zusammenhangs entwickeln, der zur Entstehung der PJD in der heutigen Form geführt hat. Wie konnte sich eine Basis herausbilden, um ein lange Zeit als vollständig geltendes, in seinen Grundstrukturen unveränderlich erscheinendes Parteiensystem von unten zu erweitern? Unter welchem Kontext ist das Entstehen einer Partei zu erklären, die nicht nur den Anspruch besitzt, zu den dominierenden Parteien aufzuschließen, sondern die bestimmende Rolle im marokkanischen Staat einzunehmen? Wuchs die Partei erst in den 90er Jahren zum anerkannten politischen Akteur heran, sieht sie ihre historischen Wurzeln bis in die Zeit des Unabhängigkeitskampfes gegen die französische Protektoratsherrschaft hineinreichen. Besondere Bedeutung misst man der Tatsache zu, dass der Parteigründer Abdelkrim Khatib in der Widerstandsbewegung gegen die Franzosen sich herausragende Verdienste erworben hatte. Seiner politischen Vergangenheit im postkolonialen Staat weist die PJD für ihre spätere Entstehung ebenfalls einen wesentlichen Einfluß zu. Man assoziiert mit der Kultivierung der patriotischen Historie Khatibs ein nationales Erscheinungsbild, getragen vom Anspruch als über die spezifisch islamistischen Kreise hinaus „alle Marokkaner vertretende Volkspartei“ Anerkennung zu erreichen. Khatibs politisches Engagement verstärkte sich in den 60er Jahren, wo er als erster marokkanischer Parlamentspräsident der Erklärung des damaligen Königs Hassan II. zur Ausrufung des Notstands im Mai 1965 öffentlich widersprach. Er kritisierte diese Entscheidung als der Verfassung entgegenstehend und nahm die Gelegenheit zum Anlass, im Februar 1967 mit der MPDC eine neue politische Partei zu gründen. Bedeutend für die spätere Entwicklung erwies sich Khatibs 1972 an den Monarchen gerichtetes, historisches Memorandum zur Überwindung der politischen Krise, die sich in den gerade überstandenen Putschversuchen herauskristallisiert hatte. Er stellte darin die Rückkehr zu Koran und Sunna als Voraussetzung zur Bewältigung jeglicher gemeinschaftlicher Aufgaben dar. Den König forderte er auf, den Notstand aufzuheben sowie zu demokratischen Grundsätzen zurückzukehren. Khatib rechtfertigte sein öffentliches Eintreten für
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5 Al-Aadala Wattanmiya
Demokratie mit dem Islam. Ausdrücklich bekannte er sich zur Monarchie, wobei Khatib (1972) klarstellte, daß für ihn als schrifttreuen Muslimen die monarchische Staatsform nicht das Entscheidende darstelle, sondern ihr konstitutioneller, demokratischer und vor allem islamischer Charakter: Als die Marokkaner die Monarchie als geeignetes politisches System für ihre Nation auswählten, stellten sie drei Bedingungen für diese Monarchie auf: Sie muß konstitutionell und demokratisch strukturiert sein, sowie im Islam ihr Fundament besitzen. Der Islam hat die Grundregeln für die Herrschaftsausübung eindeutig vorgegeben. Sie lassen sich aus der Schura ableiten. Die Schura ist prinzipiell mit jedem politischen Rahmensystem vereinbar. Entscheidend ist nicht die äußere Form, sondern die konkreten Machtbeziehungen.145
Für die Entwicklung von Khatibs Partei zur modern strukturierten Volkspartei wird die Aufnahmebereitschaft gegenüber Teilen der islamistischen Bewegung als Ursache angesehen, die ihr Mitte der 90er Jahre ein erneuertes Erscheinungsbild verliehen, sowie ein volksnäheres Auftreten in der Öffentlichkeit. Vor allem der Eintritt von Mitgliedern der zuvor fast ausschließlich im Untergrund aktiven Chabiba Islamia, die sich später in MUR umbenannte, erwies sich als bedeutender Schritt auf dem Weg zur islamistischen Massenpartei. Obwohl Teile der staatlichen Obrigkeit und prowestlichen Medienöffentlichkeit jeglichem Islamismus skeptisch gegenüber eingestellt waren sowie ein parlamentarisches Mandat einer islamistischen Partei als Bedrohung einschätzten, billigte der damalige Innenmister Driss Basri der MPDC trotz des Zusammenschlusses mit der islamistischen MUR die Teilnahme an regulären Wahlen zu. Spekulationen bestehen, dass Basri an der Förderung einer gemäßigt islamistischen Partei interessiert war, um den Einfluß von „Al-Adl Wal-Ihsan“ innerhalb der islamistischen Szene zu verringern. Die begünstigten Rahmenbedingungen erkannte die Partei als Gelegenheit für eine grundlegende Umstrukturierung auf der außerordentlichen Konferenz im Juni 1996. Die Vereinigung mit der MUR einhergehend mit der Umbenennung in PJD erwies sich als Voraussetzung, bei den 1997 stattfindenden Wahlen zum Repräsentantenhaus 9 Sitze hinzuzugewinnen, sowie die Fraktionsstärke gegenüber ihrer Vorläuferpartei auf 14 Abgeordnete fast zu verdreifachen. Selbst ist die Partei davon überzeugt, dass ihr Wahlerfolg ohne staatliche Manipulation des Urnengangs noch bedeutender ausgefallen wäre. Die öffentliche Resonanz und den Zuspruch in der Bevölkerung erklärte man sich nicht in erster Linie mit dem äußeren Erscheinungsbild, mit dem man sich von allen anderen im Parlament vertretenen Parteien unterschied, sondern weit mehr 145 Khatib, Abdelkrim: Mudakirat Al-Amin Al-`am Lilharaka Ascha`biya Addusturiya Addimuqratiya, S. 55
5.1 Historische Entstehung
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mit der Reformbereitschaft, die keinen Gesellschaftsbereich ausspare. Ihr Fraktionsvorsitzender Rmid (2002) stellt die Kombination aus der Rückkehr zu den geistig – kulturellen Grundsätzen Marokkos und gleichzeitiger permanenter Veränderungsbereitschaft als den Hintergrund für die Attraktivität der Partei dar: Obwohl wir die Herausforderung als politische Partei erst gerade aufgenommen hatten und den meisten unserer neuen Mitglieder Erfahrungen mit Wahlen noch fehlten, hatten wir uns entschlossen, zu den Legislativwahlen am 14.11.1997 anzutreten. Diese kurzfristige Entscheidung mobilisierte unsere Mitglieder zu besonderer Aktivität und Einsatzbereitschaft. Getragen von hoher Motivation haben wir unser Wahlprogramm erarbeitet. Es zielte auf umfassende Reformen auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Die Basis jeglicher Reformprojekte stellt die Rückbesinnung auf unseren kulturellen Hintergrund. Unsere Vision haben wir weitergetragen, wie sich die Probleme der marokkanischen Gesellschaft bewältigen lassen. Wir haben ein Konzept zur vollständigen Erneuerung des Landes entwickelt, das alle Gesellschaftsbereiche von der Politik, über die Ökonomie bis zum Bildungswesen einbezieht.146
Mit dem Wahlergebnis von 1997 glaubte man noch nicht die Durchsetzungskraft zu besitzen, in einer Regierung die politischen Vorstellungen angemessen zur Geltung bringen zu können. Man zog es vor, in die Opposition zu gehen, sowie die säkularistische Koalitionsregierung bei Vorhaben zu unterstützen, die mit den eigenen Zielsetzungen vereinbar schienen. Diese Strategie der „kritischen Unterstützung“ propagierte man als „neuen politischen Stil“. In der Praxis bedeutete dies, populären Gesetzesvorhaben zuzustimmen, weniger populäre Entscheidungen, für deren Durchsetzung die aktuelle Regierungsmehrheit ausreichte, nicht mitzutragen. Trotz parlamentarischer Verantwortungsübernahme und konstruktiver Mitarbeit an politischen Projekten der säkular orientierten Regierung stellte man die Verbindung zu oppositionell gesinnten, konservativ-islamischen Bürgerbewegungen her, mit denen man gemeinsame Veranstaltungen in der Öffentlichkeit organisierte. Große Aufmerksamkeit erweckte der Protestmarsch von März 2000 gegen den „Plan der Integration der Frau in die Entwicklung“ des Premierministers Yousoufi, den man als islamischen Werten widersprechend sowie als Wegbereiter einer normungebundenen Gesellschaft zurückwies. Die herkömmliche Familienstruktur mit partnerschaftlicher Treue verliere bei einer Durchsetzung dieser Familienpolitik ihre Gültigkeit, so daß einer ausschweifenden Lebensweise im sexuellen Bereich die Basis bereitet werde. Die Familienpolitik, sowie darüber hinaus die allgemeine säkularistische Tendenz der Regierungspolitik interpretierte die PJD als Distanzierung vom islamischen Normverständnis. Sie entschied sich im Oktober 2000 die „kritische 146 Rmid, Mustapha: Fariq Al-Adala Wattanmiya Bimajlis Annuwab, S. 4
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Unterstützung“ aufzugeben und zur „Rat erteilenden Opposition“ überzugehen. Bei dieser Entscheidung hatte man zudem den Wahlkampf im Blickpunkt, da die Parlamentswahlen von 2002 unmittelbar bevorstanden. Über eine Profilierung als „Bewahrer traditioneller Moralvorstellungen“ erhoffte man sich einen weiteren Popularitätszuwachs. In diesem Zusammenhang wird das im Oktober 2001 an die Öffentlichkeit gelangte Memorandum mit eigenen Vorschlägen für eine „Reform des Personenstandsrechts“ interpretiert. Signalisiert werden sollte, daß ein wertkonservatives Familienbild und gesellschaftspolitische Reformbereitschaft sich nicht ausschließen. In der Präambel dieses Memorandums rechtfertigte die PJD ihr Zurückweisen des Regierungsentwurfs. Zugleich stellt die Partei eindeutig heraus, daß sie die Familie in der herkömmlichen Form nicht in erster Linie als traditionelle Aufgabenteilung der Geschlechter auffasse, sondern als vom Islam vorgesehene Wertekategorie, die trotz gesellschaftlicher Veränderungen dauerhaft Bestand halten müsse: Als der Plan zur „Integration der Frau in die Entwicklung“ an die Öffentlichkeit gelangt war, zeigte sich, dass die dahinter stehenden Ideen dem Individualismus entstammten. Sie waren geprägt von einem Geschlechterrollenverständnis, daß nicht nur den Maßstäben unserer Scharia widersprach sondern darüber hinaus den Stellenwert der Familie in der Gesellschaft bedrohte, sowie ihre bisherige gesellschaftliche Aufgabe ausgehend von der islamischen Identität zur Disposition stellte. Die PJD hat mit anderen zivilgesellschaftlichen Initiateuren ein gemeinsames Aktionsbündnis gegen diesen Plan gebildet. Wir haben unsere Position in den bestehenden Diskussionen über den Erhalt der Institution Familie immer wieder zum Ausdruck gebracht.147
Um bei künftigen Urnengängen einen demokratischen Wettbewerb der Parteien untereinander sicher zu stellen sowie das angestrebte Wahlziel nicht durch staatliche Manipulationen zu gefährden, hatte man im September 2001 in einem Memorandum für „politische Reformen“ ein Konzept für ein neues Wahlgesetz entwickelt. Obwohl die Regierung die von der PJD ausgehenden Reformvorschläge nur in den seltensten Fällen umsetzte, erwies sich die Rolle als „Rat erteilende Opposition“ für die Partei als strategischer Erfolg. Die Basis war gelegt, bei der Parlamentswahl im September 2002 42 Parlamentssitze zu gewinnen, sowie zur drittgrößten Fraktion und stärksten Oppositionspartei aufzusteigen, obwohl sie nur in 56 von 91 Wahlkreisen Kandidaten aufstellte. Man konzentrierte seinen Wahlkampf auf die Armutsviertel der Großstädte Casablanca, Fès, Rabat und Tanger, in denen man die größte Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien registrierte, sowie infolgedessen die sicherste Unterstützung für 147 Hisb Al-Adala Wattanmiya (Hrsg.): Mudakirat Hawla Ta`dil Mudawanat Al-Ahwal Aschachsiya, S. 4
5.1 Historische Entstehung
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islamistische Oppositionspolitik erwarten konnte. Der politische Aufwärtstrend setzte sich in der Folgezeit fort und brachte auf regionaler wie kommunaler Ebene bemerkenswerte Wahlerfolge, die sich nicht nur in der Fraktionsstärke widerspiegelten, sondern vielerorts zur Übernahme von Regierungsverantwortung berechtigten, einhergehend mit der Erlangung von Bürgermeisterposten in zahlreichen Städten wie beispielsweise in der ehemaligen Königsstadt Fès. Die Anschläge in Casablanca vom 16. Mai 2003 brachten die Partei öffentlich in die Defensive. Die Tatsache, dass die Gewalt eindeutig der islamistischen Szene zugeschrieben werden konnte, sahen prowestliche Eliten und konkurrierende säkularistische Parteien als günstige Gelegenheit, die politische Stimmung gegen die ebenfalls als islamistisch geltende PJD und zu eigenen Gunsten zu wenden. Von Vertretern der Partei wurden die Selbstmordattentate nicht nur öffentlich verurteilt, für eine konkrete Beteiligung der PJD fanden sich keinerlei Hinweise. Dennoch stellte die öffentliche Assoziation von „Islamismus“ mit „Terrorismus“ und „politisch motivierter Gewalt“ die Funktionärselite vor die Wahl, entweder dauerhaft der Komplizenschaft bezichtigt zu werden oder die Bedingungen für ein staatstragenderes, pragmatisches Erscheinungsbild herzustellen. Die bisherigen Erfolge, auf demokratisch – parlamentarischem Wege zu Einfluß und Anerkennung zu gelangen, erkannte man als Motivation, sich für letztere Variante zu entscheiden. Man blieb bei der Überzeugung, die eigenen Ziele im demokratischen System eher zu erreichen als über gewalttätige Obstruktion, die in anderen Ländern gewalttätige staatliche Gegenreaktion provoziert hatte. Über moderne Medien wie das Internet galt es die Offensive zurückzugewinnen, wobei man sich im In- wie Ausland als fortschrittsorientierte, demokratische Bürgerpartei präsentierte. Kontakte zu westlichen Parteien und Regierungen dienten dazu, westliche Wertbegriffe wie Demokratie und Menschenrechte als den eigenen Zielen konform darzustellen, um im Westen auf mehr Resonanz zu treffen. Innenpolitisch gab die PJD die bisherige Oppositionsstrategie auf und beteiligte sich aktiv an von Regierung und König initiierten gesellschaftlichen Reformprojekten. Der Modernisierung des Personenstandsrechts stellte man sich nicht mehr öffentlich entgegen, sondern beschränkte sich darauf, Änderungsvorschläge aufzuzeigen. Gleichzeitige Kompromissbereitschaft der säkular orientierten Regierungsparteien stellte den Garanten für einen, von Regierung und PJD gemeinsam erarbeiteten Konsens, der die Verabschiedung des neuen Gesetzes im Jahre 2004 mit breiter parlamentarischer Mehrheit ermöglichte. Die Realitätsnähe, einhergehend mit Pragmatismus bei zukunftsweisenden politischen Entscheidungen hat der Partei mittlerweile einen nicht zu unterschätzenden Sympathisantenkreis in der Mittelschicht gebracht. Sie ist nicht mehr nur „Sprachrohr der klassischen Modernisierungsverlierer“ in den Stadtrandvierteln der Metropolen, sondern stützt sich auf eine breite Anhängerschaft unter Hand-
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werkern und Geschäftsleuten sowie traditionell gesinnten Geistlichen und Grundschullehrern, die mit der Weitergabe konservativ religiöser Inhalte betraut sind. Dieser mannigfaltige Unterstützerkreis lässt es einerseits nur noch eine Frage der Zeit erscheinen, bis die PJD als stärkste politische Kraft und Regierungspartei die Weiterentwicklung des Landes in entscheidendem Maße bestimmen wird. Andererseits entwickelt sie sich nach Ansicht manches ursprünglichen Sympathisanten mehr und mehr zu einer „etablierten Partei“, sowie zum Teil des zurückgewiesenen politischen Systems, woraus radikalere, auf Gewalt und Fundamentalopposition setzende Islamisten sich Gefolgschaft erhoffen können. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob es der PJD gelingt, als gemäßigt islamistische Partei die verschiedensten Gesellschaftsteile fortdauernd einzubinden, sowie für eine wertgebundene islamische Reformpolitik zu gewinnen oder ob sie sich radikalisiert, sowie den Weg des Konsenses und der Dialogbereitschaft verlässt.
5.2 Ideologische Grundlagen 5.2.1 Khatibs Brief an Hassan II. Die wichtigsten, bis zur Gegenwart bestimmenden ideologischen Grundlagen kommen bereits in dem Brief des Parteigründers Abdelkrim Khatib an Hassan II., verfasst im Jahre 1972, zum Ausdruck. Khatib stellt seine Wahrnehmung der gesellschaftlichen Gegenwart dar, in der er Missstände diagnostiziert, die es mittels eines tiefgreifenden, allumfassenden politischen Reformprozesses zu beseitigen verlange. Wirksame Reformen dürften keinen Gesellschaftsbereich herausnehmen. Die Voraussetzung ihrer Realisierung bestehe in der Orientierung an den Ansprüchen der Bevölkerung, sowie in der Respektierung der Grundlagen der Verfassung wie der Nation. Das geistige Fundament des anzustrebenden Reformprozesses wurzele im Islam, der über Jahrhunderte die moralische Rechtfertigungsstütze der Zivilisation dargestellt habe, sowie über die Verwirklichung jener Reformen zu seiner ursprünglichen Stellung in der marokkanischen Gesellschaft zurückkehre. Jegliche gesellschaftlichen Reformen gelte es, aus dem Islam als ethischem Antrieb herzuleiten, um eine Politik von der Orientierung an Partikularinteressen befreit im Dienst der Nation zu erreichen. Den Stellenwert des Islam für das Gelingen gesellschaftspolitischer Reformen hebt Khatib (1972) hervor, wobei er auf den förderlichen Einfluß der Religion auf politische Entwicklungen in der marokkanischen Historie verweist, die für die Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger nationaler Aufgaben Motivation und Zuversicht böten:
5.2 Ideologische Grundlagen
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Eine Reform kann nur realisiert werden, wenn sie sich auf die islamische Wiedergeburt bezieht. Der wahrhaftige Islam stellt eine ganzheitliche Lebensform dar. Vor diesem Hintergrund gebietet die Vernunft, alle heute zu bewältigenden gesellschaftlichen Aufgaben auf dem Islam aufzubauen. Früher war dies der Fall und sollte auch heute der Fall sein. Trotz immer währender fremder Eroberungs- und Zerstörungsversuche konnte der Islam mit seiner Zivilisation überleben.148
Neben dem Islam weist Khatib in seinem Memorandum der Beziehung der staatlichen Organe zueinander einen entscheidenden Einfluß auf die Realisierung politischer Reformen zu, wobei sich das Staatsystem insgesamt islamischen Vorgaben unterzuordnen habe. Der Islam habe mit der Schura die Grundlage einer legitimen Regierung vorgezeichnet, die für die Regierungsbildung in Marokko als islamischem Staat bindend sei. Im Bewusstsein, dass sich jegliche äußere Staatsform nach islamischer Grundlage konzipieren lasse, hätten sich die Marokkaner aus historischen Gründen für die Monarchie entschieden. Anders als die Staatsform seien für den Islam das politische System, die Art der Regierungsbildung, sowie die moralisch ethische Grundlage des Regierungshandelns elementar. Aus diesem Grund hätten die Marokkaner sich auf die demokratische, konstitutionelle und islamische Monarchie festgelegt, die alle Vorgaben und Werte der Schura beinhalte. Angesichts der Konformität von Schura mit Demokratie lasse der Islam den einzelnen Nationen zwar frei, ob sie sich im Sinne einer Republik oder Monarchie, eines Parlamentarismus oder Präsidialsystems entschieden, Regierungen müssten sich durch allgemeine Wahlen legitimieren, sowie in ihrer politischen Praxis die Anliegen des Volkes widerspiegeln, was im Falle der konstitutionellen, demokratischen Monarchie vom Modell her angelegt sei. Mit der Implementierung der „islamischen“ Monarchie habe sich Marokko von der Verfassung her zur Ausrichtung auf den Islam verpflichtet. Im Konkreten erfordere dieses Vermächtnis eine Wiederbelebung des Islam in jeglichen Lebensbereichen, angefangen beim Denken, sich hineinziehend in die kollektive Moral, über das Bildungswesen bis zu politischen Verantwortungsträgern. Diese Verpflichtung sei gegenwärtig deshalb von enormer Relevanz, weil die historische Fremdbeherrschung des Landes – wie alle Formen des Kolonialismus – von ihrem Wesen her „antiislamisch“ gewesen sei, sowie darauf ausgerichtet, über den Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Erziehungswesen das Land seines islamischen Hintergrundes zu distanzieren. Besonders die Fremdeinwirkung im Erziehungsbereich habe das fatale Ergebnis hervorgerufen, dass ganze Generationen nicht im vorgesehenen Sinne ausgebildet worden seien. Dem Islam widersprechende materielle wie immaterielle Ideale seien weitervermittelt worden, die 148 Khatib, Abelkrim: Mudakirat Al-Amin Al-`Am Lilharaka Ascha`biya Addusturiya Addimuqratiya, S. 55ff.
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Ethik kaum noch den angemessenen Stellenwert einräumten. Hiermit sei die Grundlage für die aktuelle Krisensituation vorbereitet worden, die sich von der zwischenmenschlichen Ebene bis in den politischen Bereich hinaufziehe. Um diese Krise zu überwinden, seien politische Reformen unausweichlich, die sich an einem von Khatib aufgestellten Forderungskatalog zu orientieren hätten: Die Rückkehr aller Lebensbereiche zum Islam stelle eine gesellschaftliche Notwendigkeit dar Khatib nimmt neben der politischen Krise eine Sinnkrise im Marokko seiner Zeit wahr, die alle Altersgruppen, insbesondere die 15-30jährigen, erfasse, sowie auf mangelnde Verwurzelung in der Religion zurückzuführen sei. Ein großer Teil der Marokkaner sei weder wahrhaftiger Muslim noch überzeugter Laizist oder Atheist. Er besitze keine Ideale und infolgedessen kein Selbstvertrauen, sowie kein eigenes Identitätsbewusstsein, weil er sich seiner ethischen Bestimmung nicht gewiss sei. Vielmehr entwürdige er sich selbst, so dass ihm der Zugang zur göttlichen Wahrheit verschlossen bleibe. Um seine fehlende Selbstsicherheit nicht nach außen zu offenbaren, bestätige er sich über Ersatzwerte aus dem materiellen Bereich. Auf diese Weise werde man empfänglich für die gesellschaftsvernichtenden Ideen, die im Westen vorherrschten, wo jene Form der Wertebeliebigkeit noch bestimmender sei. Für Marokko erweise es sich als besonders verheerend, dass ein nicht zu vernachlässigender Teil derjenigen Generation, aus der die politische und gesellschaftliche Führungselite hervorgehe, von jener Sinnkrise betroffen sei. Korruption, Bestechung, Vorteilsnahme und Unverantwortung seien als „gewöhnliche Verhaltensweisen“ in den marokkanischen Alltag eingekehrt. Um eine politische Reform zum erstrebten Ziel zu führen, bedürfe es einer kollektiven Rückbesinnung zum religiösen Fundament, das die Moral in der Gesellschaft wieder zur Geltung führe und den Funktionsträgern die Notwendigkeit gesellschaftlicher Reformen, sowie das dahinter stehende Ideal ins Bewusstsein trage. Hierdurch bilde sich erst die Bereitschaft aus, an sich gestellte Maßstäbe in der Politik zur Geltung zu bringen. Obwohl Khatib der Protektoratsherrschaft eine wesentliche Ursache für jene Sinnkrise zuschrieb, interpretierte er die politische Krise weniger als Resultat des französischen Einflusses, sondern in erster Linie als Ergebnis einer fehlgeleiteten Politik in den 60er Jahren. In jener Zeit habe man aus dem islamischen Gerechtigkeitsideal erwachsene, demokratische Grundsätze zu selten eingehalten, sowie dem politischen System Schaden zugefügt. Die erste Landesverfassung von 1962 sei ebenso wenig demokratischen Grundregeln gefolgt wie die erste, daraufhin gebildete Regierung von 1963. Der demokratische Gegenübertritt zu dieser Regierung, demonstriert von Khatibs Anhängern, verbunden mit der Aufforderung
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an alle politischen Parteien des Landes, sich an staatlicher Verantwortung zu beteiligen, hätten der Gesellschaft einen Weg aufgezeigt, der in eine hoffnungsvolle Zukunft mit einer wahrhaftigen konstitutionellen Monarchie hineingemündet hätte. Verschwörungspläne hätten den König allerdings veranlasst, von den gering vorhandenen, konstitutionellen Tendenzen weiter Abstand zu nehmen, sowie am 7. Juni 1965 den Ausnahmezustand zu erklären. Der Parlamentarismus wurde ausgesetzt, so daß zivile, aus Wahlen hervorgegangene Regierungen nicht mehr entstehen konnten. Obwohl Khatibs Partei den beabsichtigten Staatsstreich öffentlich verurteilt habe, habe man die Reaktion des Monarchen ebenfalls als dem Geist der Verfassung entgegenstehend, gleichermaßen als eine Art „Komplott“ zurückgewiesen, sowie dem König seine Missbilligung zum Ausdruck gebracht – ein Verhalten, welches Khatib sieben Jahre später nach wie vor als „berechtigt“ wertete, sowie vielmehr durch die Realität bestätigt sah. Die beiden Putschversuche hätten die fehlende Verantwortungsbereitschaft der herrschenden politischen Elite offensichtlich werden lassen, die aus der Unterordnung des Gemeinwohls unter egoistisches Machtstreben erfolgt sei. Zu überwinden sei diese Mentalität nur über eine geänderte Politik, die sich von ihrem Grundsatz her dem Gemeinwesen verpflichtet fühle, sowie hiervon ausgehend nur verantwortungsbereiten Charakteren gesellschaftlichen Einfluß zugestehe. Die verbreitete Verantwortungslosigkeit staatlicher Funktionsträger untergrabe das Vertrauensverhältnis der Bürger in staatliche Autorität, wodurch sich die politische Krise zu einer Vertrauenskrise ausgeweitet habe. Besonders verheerend erweise sich für den Glaubwürdigkeitsverlust der staatlichen Politik die Diskrepanz zwischen den vorgegebenen Ansprüchen gegenüber den Erfahrungen der marokkanischen Bürger. So lange der Erkennung politischer Notwendigkeiten keine Konsequenzen für die Praxis folgten, werde keine Vertrauensbasis in staatliche Obrigkeit hergestellt, sowie die kollektive Unzufriedenheit noch bestärkt. Die wenigen Reformen, die in den vergangenen Jahren realisiert worden seien, erfüllten die Erwartungen nicht. Den selbstgefälligen Darstellungen der politisch Verantwortlichen stünden unbefriedigende Ergebnisse gegenüber. Jener Widerspruch offenbare sich besonders im Bereich der Agrarpolitik. Zwar stelle der Staat die These auf, die Agrarrevolution würde sich zum Nutzen der Kleinbauern und Kleinpächter auswirken, die eigenes Land erhielten, das sie eigenständig bewirtschaften könnten. In der Realität habe nur ein geringer Teil der Landwirte von dieser Entwicklung profitiert, die eine überdimensionierte Fläche in Eigentum überführten, sowie zu Großgrundbesitzern angewachsen seien. Der Majorität sei kaum Land zugesprochen worden, so daß sie mit ihrem geringen Anteil einer übermächtigen Konkurrenz gegenüberstehe. Die mangelnde Bereitschaft der Politik, ihre gesetzten Zielvorgaben einzuhalten, zeige sich ebenso am Bildungswesen. In der Öffentlichkeit werde reklamiert,
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Bildung sei dem ganzen Volk zugänglich. Die Kinder und Jugendlichen, die auf der Straße sich zurechtfinden müssten und keine Zukunftsperspektive vorfänden, führten die von fehlender Partizipation an schulischer Bildung geprägte Realität tagtäglich vor Augen. Der offiziellen staatlichen Garantie einer unabhängigen, kompetenten Justiz stehe ebenfalls ein Alltag mit Willkürurteilen und Korruption unter Richtern wie Staatsanwälten gegenüber. Man verliere das Bewusstsein, von staatlicher Seite seine Rechte zugesichert zu bekommen. Das Vertrauen der Marokkaner in ihre Monarchie und ihr gesamtes Ordnungssystem als „Bewahrer von islamischer Gerechtigkeit“ werde untergraben. Glaubwürdigkeit könne erst wieder entstehen, wenn sich die gesellschaftlichen Repräsentanten der islamischen Grundlage des Gemeinwesens wieder bewusst würden. Nur der Islam übermittele die Gewissenhaftigkeit, die sicher stelle, dass staatliche Verantwortung im Sinne der Mitmenschlichkeit und des gemeinsamen Wohlergehens eingesetzt werde. Eine Regierung hervorgegangen aus korrekt durchgeführten demokratischen Wahlen Eine Beseitigung der unbestreitbaren, staatlich betriebenen Wahlmanipulationen stelle die Basis einer demokratisch legitimierten Regierung, sowie darüber hinaus einer an den Bedürfnissen des Volkes orientierten Politik, die Korruption, Bestechung und Vorteilsnahme ausschließe. Eine aus allgemeinen, gerechten, sowie demokratisch durchgeführten Wahlen hervorgegangene Regierung besitze das politische Mandat, alle notwendigen Reformen durchzusetzen. Nach den verfassungsmäßigen, demokratisch organisierten Wahlen erfordere es von der hierauf gebildeten Regierung, Verfassung und demokratische Grundsätze in der politischen Praxis zu respektieren. Um demokratisches Regieren zu garantieren, benötige es eine Verfassungsreform, die die Regierung als exekutive Gewalt gegenüber dem Monarchen wie anderen konstitutionellen Organen aufwerte, sowie zur Kontrolle staatlicher Behörden berechtige. Khatib erachtet eine demokratisch gesinnte Aufsicht über die Wahlbehörden, die dem Innenminister zustehe, als elementar. Unparteiische, konkurrierenden Bewerbern gegenüber gleichermaßen gerechte Wahl sei erst gewährleistet, wenn das Innenministerium aus der Parteipolitik herausgehalten werde. Es gelte dem Bestreben von Parteien entgegenzuwirken, über die Besetzung dieses Ministeriums den Wahlmodus zu eigenen Gunsten festzulegen. Khatib konkretisierte seine Forderungen an die aktuelle Regierungspolitik. Er listete eine Reihe von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen auf und präsentierte Konzepte, ihnen auf politischem Wege zu begegnen:
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Einigen Ministern der Regierung fehlte die politische Erfahrung: Alle Reformvorhaben des marokkanischen Staates seien im August 1971 einer zivilen Regierung in Auftrag gegeben worden. Diese Regierung sollte sich nach Bekunden des Monarchen aus allen Gesellschaftsebenen zusammensetzen, um eine Politik im Sinne der Gesamtheit durchführen zu können, die im Volk Akzeptanz erfahre und gewürdigt werde. Trotz einer im April 1972 vorgenommenen Kabinettsumbildung seien die angekündigten Reformen bislang noch kaum umgesetzt worden und die Marokkaner nähmen keinerlei Veränderung wahr. Khatib führte diese frustrierende Erkenntnis auf die Unerfahrenheit und mangelhafte Sachkenntnis der Regierungsmitglieder sowie auf ihre fehlende Orientierung an islamischen Grundsätzen zurück. Zudem fehle der Regierung die Beziehung zu den realen Problemen der Bevölkerungsmajorität, so dass sie kein gemeinsames erfolgversprechendes Reformprogramm entwickeln könnte. Künftige staatliche Verantwortungsträger im In- wie Ausland benötigten eine fachspezifische Vorbildung als Voraussetzung. Vom einfachen Verwaltungsbeamten bis zum nationalen Minister sollte jeder in der Lage sein, sein Aufgabengebiet entsprechend den Erfordernissen zu bewältigen, die auftretenden Probleme in seinem Bereich diagnostizieren, sowie zukunftsweisende Lösungskonzepte entwickeln. Justizwesen und Militär bedürfe einer grundlegenden Strukturreform: In besonderer Weise beziehe sich die Reformverpflichtung des Staatsapparats auf den Justizsektor, der von inkompetenten, korrupten, dem Gemeinwesen schadenden Beamten befreit werden müsse. Richter und Staatsanwälte hätten nicht nur auf ihrem Spezialgebiet eine angemessene Vorbildung mitzubringen, sondern seien zudem verpflichtet, Urteile im Sinne des Volkes wie des islamischen Gerechtigkeitsbegriffes auszusprechen. Wie die Justiz sei der marokkanische Verteidigungsapparat in besonderer Weise reformbedürftig. Militärs und Beamte des Verteidigungsministeriums benötigten einen Richtlinienkatalog, in dem Ziele und Aufgaben der Streitkräfte eindeutig beschrieben seien. Auf diese Weise lasse sich die in den Putschversuchen sichtbar gewordene, unbefugte Einmischung von Offizieren in die Politik verhindern. Nicht zuletzt verlange es eine Erneuerung des Innenministeriums, dass mit seiner Aufsicht über Polizeiapparat und Wahlbehörden eine nationale demokratische Verantwortung besitze. Jegliche Beamte seien auf Neutralität und Korrektheit zu überprüfen, sowie gegebenenfalls auszutauschen. Die diplomatische Vertretung im Ausland sei zu gering präsent: In der Vergangenheit hätte das diplomatische Korps die Interessen Marokkos im Ausland kaum zur Geltung gebracht. Diplomaten und Botschafter besäßen zu wenig Bezug zu ihrer Umgebung sowie zu dem Land, in dem sie ihre Auf-
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gabe zu erfüllen hätten. Der unzureichende Kontakt zu Bevölkerung und Institutionen ihres Gastlandes stelle die Ursache für eine verbreitete Unkenntnis im Ausland zur spezifischen Situation Marokkos und seiner internen Probleme. Oberflächliches Basiswissen äußere sich in der einseitigen, vorurteilsbeladenen Berichterstattung der ausländischen Presse im Zusammenhang mit Marokko, die besonders in ausländischen Medienberichten, behandelnd die Themengebiete Westsahara wie die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla erkennbar sei. Nur eine umfangreiche Vorkenntnis, für die die diplomatischen Vertretungen Marokkos die Verantwortung trügen, könne einer ausgewogeneren Sichtweise im Ausland getragen von einer neutraleren Berichterstattung die Basis bereiten. Das Bildungswesen sei reformbedürftig: Hiermit verband Khatib in erster Linie die Forderung, allgemeine Bildung zu arabisieren, sowie jedem Bürger zugänglich werden zu lassen. Erreicht werde das Reformziel nicht über eine quantitative Erhöhung der Ausstattung an Schulen, vielmehr erfordere es eine Modernisierung des Unterrichtsmaterials, um die Anforderungen der Gesellschaft an Bildung zu bewältigen. Die Teilhabe ländlicher Bevölkerung an allgemeiner schulischer Bildung verlange, die Koranschulen zu modernisieren, ihnen allgemeinbildende Aufgaben zu übertragen, um sie in das staatliche Erziehungssystem zu integrieren. Religiöse Bildung solle mit säkularer Bildung kombiniert werden, was sowohl den Bezug zum Islam frühzeitig herstelle als auch die Aufnahme von Bildungsinhalten erleichtere. Während in der Grundschule der Koran auswendig gelernt werden sollte, stellten die Erklärung des Inhaltes verbunden mit dem zeitgeschichtlichen Zusammenhang der Heiligen Texte Lerninhalte für das Gymnasium dar. Der kollektive Zugang zur allgemeinbildenden Schule werde über eine Befreiung der ärmeren Bevölkerungsteile von Unterrichtsgebühren erreicht. Stipendien seien einzurichten, um den Bedürftigen die Teilhabe an allen Ebenen des Bildungswesens zu ermöglichen. Ein gerechtes, alle Landesteile gleichberechtigt einbeziehendes Versorgungsnetz mit Bildungsinstitutionen sei zwingend geboten. Für den Erfolg der Reformen sei die Überprüfung der Bildungsinhalte, in wie weit sie dem Gemeinwesen dienlich seien, entscheident. Bildung dürfe nicht um ihrer selbst willen bestehen, sondern müsse einen Bezug zur Alltagsrealität erkennen lassen. Die Arabisierung des Bildungswesens sollte im Zusammenhang mit dem Abbau von Strukturen aus der Protektoratszeit durchgesetzt werden, die 16 Jahre nach der Unabhängigkeit immer noch vorhanden seien, sowie sich als Entwicklungshemmnisse erwiesen. Die Verwaltungsstrukturen fordert Khatib an den nationalen Gegebenheiten auszurichten, indem der Protektoratszeit entstammende Gesetze durch neue, marokkanische Gegebenheiten berücksichtigende Gesetze
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ersetzt würden. Die Bürokratie sei zu vereinfachen, sowie den Bürgern der Zugang zu staatlichen Stellen zu erleichtern. Für eine erfolgreiche Reform des Verwaltungsapparats erfordere es, Ausländer aus allen Verantwortungspositionen innerhalb von staatlichen Behörden herauszuhalten. Eine angemessene Unterstützung der Landbevölkerung sei erforderlich: Wie bereits erwähnt vertrat Khatib die Ansicht, die Agrarrevolution habe den Kleinlandwirten Marokkos nicht den versprochenen Zugang zu Land und modernen Produktionsformen eröffnet, sondern über ungerechte Landvergabe ein neuzeitliches Feudalsystem entstehen lassen. Anstatt einer kollektiven Prosperitätsentwicklung sei ein Abhängigkeitssystem entstanden, das nicht nur Massenarmut nicht entgegenwirke, sondern darüber hinaus die traditionelle Agrarstruktur zerstöre und Landbau unrentabel erscheinen lasse. Um dieser verheerenden Entwicklung entgegenzusteuern müsse die Korruption in den Landvergabeinstitutionen bekämpft werden, sowie Höchstgrenzen für den staatlichen Landerwerb festgesetzt, die der ungleichen Landverteilung entgegenwirken sollten. Die Landwirte seien auf die technische Agrarrevolution vorzubereiten. Modernes Bearbeitungsgerät müsse jedem Landwirt kostengünstig zugänglich werden, sowie die zeitgemäßen Bearbeitungsmethoden den Landwirten vermittelt. Eine moderne, rentable Landwirtschaft stelle den Garanten einer Fortentwicklung im ländlichen Raum, wirke dem Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land entgegen, sowie lasse die Migration in die Großstädte weniger attraktiv erscheinen. Tourismus müsse sich auf die Ethik des Landes einstellen: Khatib ist sich bewusst, welche Rolle der Tourismus für die Prosperitätsentwicklung des Landes, sowie nicht zuletzt für den Erhalt von Devisen einnimmt. In diesem Sinne ermuntert er den Monarchen, Tourismus verstärkt zu fördern. Gleichzeitig verlangt er, dass Touristen sich den religiös bedingten Gepflogenheiten des Landes unterzuordnen hätten. Zu verhindern gelte, dass über den Tourismus sich Verhaltensweisen in der marokkanischen Gesellschaft ausbreiteten, die dem Islam entgegenstünden, sowie traditionelle zivilisatorische Werte zur Disposition stellten. Ein Tourismus, der nur die Konsumangebote in Anspruch nehme, ohne die kulturellen und religiösen Eigenheiten des Landes angemessen zu würdigen, sei abzulehnen. Alle gesellschaftlichen Probleme ließen sich nur im Miteinander bewältigen: Soziale Ungleichheiten resultierten aus abnehmendem Gemeinsinn in Politik und Gesellschaft, die über die Rückkehr des islamischen Wertebewusstseins wiederbelebt werden sollten. Hiervon ausgehend sei eine zukunftsfähige Sozialpolitik zu konzipieren, von der die Gesamtheit profitiere. Eine wesentliche Aufgabe bestehe in einem landesweiten sozialen Wohnungsbauprogramm, damit heruntergekommene Stadtrandviertel und Bi-
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donvilles der Vergangenheit angehören. Moderne Infrastruktur, sowie eine bedarfsgerechte Versorgung mit Gemeinschaftsdiensten seien einzurichten. Die Beseitigung der sozialen Unterentwicklung stelle eine nationale politische Aufgabe dar, die ein von allen Parteien im Konsens erarbeitetes landesweites Entwicklungsprogramm erfordere. Der Trend zu von öffentlicher Versorgung abgeschnittenen, ausufernden Trabantenstädten sei nicht nur in einer Metropole, sondern in allen größeren Städten zu beobachten, sowie verlange ein politisches Gegensteuern von nationaler Ebene aus. Es reiche nicht aus, neue Wohnungen zu bauen, vielmehr müsse den Bewohnern eine wirtschaftliche Perspektive aufgezeigt werden. Ein nationales Wirtschaftsmodell sei zu entwickeln, dass die kollektive Teilhabe an der Prosperitätsentwicklung garantiere. Eine verantwortungsvolle Wirtschafts- und Sozialpolitik erfordere, sich an demographischen Entwicklungen zu orientieren. Die Wohnungsbauprogramme beispielsweise müssten von der demographischen Situation der Zukunft ausgehend geplant werden. Nur die politische Beseitigung der sozialen Ungerechtigkeiten könne einer beobachteten Tendenz zu Resignation entgegenwirken, sowie das Entstehen von Extremismus verbunden mit revolutionären Unruhen verhindern. In einer ausgewogenen, langfristig angelegten Sozialpolitik erweise sich die Voraussetzung einer gerechten Einkommensentwicklung, der Beseitigung von Sozialneid, sowie der Entstehung eines patriotischen Kollektivbewusstseins. Erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialreformen garantierten über die Identifikation der Marokkaner mit ihrer konstitutionellen Monarchie deren dauerhaften Bestand. Repressive Sicherheitspolitik könne nur kurzfristige Stabilität bieten, da sie lediglich auf die Absicherung der bestehenden Herrschaftselite abzielte, während die Bevölkerungsmajorität keinen emotionalen Bezug zu ihrem Staat bekomme. Die detaillierte Auflistung erkannter gesellschaftlicher Missstände hindert Khatib nicht, jegliches Einzelproblem in Beziehung zu der beschriebenen zivilisatorischen Krise zu bringen. Alle Bewältigungsstrategien führten erst in Verbindung mit der Beseitigung der geistigen Ursachen dieser Krise zum Erfolg. Hierzu erfordere es der kollektiven „Rückkehr zu Koran und Sunna“, die als Grundlage der islamischen Zivilisation insgesamt, sowie der marokkanischen Gesellschaft im Besonderen angesehen werden. Khatib ging davon aus, dass die Gesellschaft seiner Zeit sich von ihrem islamischen Fundament distanziert habe, was sich nicht nur in den Wertvorstellungen des Einzelnen, sondern ebenso im politischen Agieren des Staates widerspiegele. Die Kombination seiner gesellschaftlichen Forderung mit konkreten Ratschlägen an die politischen Verantwortungsträger lässt erkennen, dass er die islamischen Urtexte nicht nur als Handlungsanwei-
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sung für den einzelnen Muslimen auffasst, sondern als entscheidende Voraussetzung, gesellschaftliche Probleme der Neuzeit zu bewältigen. Objektive Fehlentwicklungen im politökonomischen Bereich werden nicht nur vom gesellschaftlichen Kontext der Gegenwart aus gedeutet, sondern gleichermaßen aus der kollektiven Missachtung der Grundsätze des Islam. Die Vernachlässigung von islamischen Verpflichtungen, hervorgerufen durch die vom Westen ausgehende Moderne, wird als Auslöser jeglicher Krise interpretiert. Erst über eine Wiedererweckung des religiösen Bewusstseins gelinge die Überwindung aller anderen profanen Krisensymptome. Der Herrschaftselite unterstellt Khatib einen geringen Bezug zum Islam, woraus sich ihre Versäumnisse erklärten. Diese Assoziation zeigt die Parallele zu anderen Islamisten, die ebenfalls sowohl die Rückkehr zum „schrifttreuen Islam“ als Basis für die Bewältigung gesellschaftlicher Alltagsprobleme ansehen, als auch die Einhaltung von islamischen Grundregeln von der politischen Ebene aus einfordern. Khatibs elementare Forderung einer islamischen Rückbesinnung, die eine konservative islamische Gesellschaftssicht nahe legt, geht keineswegs mit einem politischen Strukturkonservatismus einher. Jegliche anzustrebenden gesellschaftlichen Veränderungen ließen sich nur über eine generelle politische Reformbereitschaft verwirklichen und orientierten sich an den Problemen der Gegenwart. Ob moderne Technologien in der Landwirtschaft, zeitgemäße Bildungsinhalte in Schulen oder die Demokratie als abstraktes politisches System, Reformen führten nur zum Erfolg, wenn sie auf die Ansprüche der Zeit Bezug nähmen. Die Orientierung am islamischen Schrifttum liefert die moralische Rechtfertigung.
5.2.2 Attawhid Wal-Islah Die zweite ideologische Wurzel der PJD, die ihre islamistische Orientierung entscheidend geprägt hat, entstammt der Attawhid Wal-Islah (Einigkeits- und Reformbewegung). Die Mitglieder wurden in die von Khatib gegründete MPDC integriert, die ihnen seit 1996 ein legales politisches Betätigungsfeld bot, da der Bewegung die ursprünglich angestrebte eigenständige Gründung einer politischen Partei von staatlicher Seite verwehrt worden war. Dem Selbstverständnis nach handelt es sich bei der Attawhid Wal-Islah um einen gemeinnützigen marokkanischen Verein, der jeden bereit ist, aufzunehmen, sowie an seiner gesellschaftlichen Aufgabe mitwirken zu lassen, der Engagement im Sinne der idealistischen Zielsetzung zeigt. Das Betätigungsfeld umfasst in erster Linie religiöse Angelegenheiten, insbesondere eine umfangreiche Daawa, bezieht sich ebenso auf Wohltätigkeitsdienste gegenüber bedürftiger Bevölkerung. Die Erziehungsund Daawabetätigung soll sich nach den Vorgaben von Koran und Sunna orien-
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tieren, sowie gleichzeitig die berechtigten Anforderungen der Moderne einbeziehen. Das Bestreben geht dahin, die marokkanische Gesellschaft zur ihrem vielfach verloren gegangenen islamischen Bewusstsein zurückzuführen, ohne eine erstrebenswerte Fortschrittlichkeit zu behindern. Entstanden ist die Attawhid Wal-Islah aus zwei unterschiedlichen Bewegungen, die beide in den Siebziger Jahren begründet wurden und sich am 31. August 1996, zeitgleich mit dem Eintritt des überwiegenden Teils ihrer Mitglieder in die neu entstehende PJD, zu einer Bewegung zusammenschlossen. Es handelt sich hierbei um die Harakat AlIslah Wattajdid (islamische Reform- und Erneuerungsbewegung) und den Rabitat Al-Mustaqbal Al-Islami (Verbund für islamische Zukunftsorientierung). Die Gründung der Attawhid Wal-Islah in ihrer heutigen Form wurde parallel zu der Umbenennung der MPDC in PJD auf der Generalkonferenz 1996 mit der Aufnahme der vereinigten Bewegungen vollzogen. Auf dieser Generalkonferenz ist Ahmad Raissouni zum ersten Vorsitzenden der Bewegung sowie Abdullah Baha zu seinem Stellvertreter gewählt worden. Attawhid Wal-Islah gab sich ein eigenes Grundgesetz, das in seiner Präambel drei Grundprinzipien festlegte, von denen die künftige Programmatik niemals abweichen dürfe. Jene drei Grundprinzipien fasste man darüber hinaus als Basis für jegliche erstrebenswerten gesellschaftlichen Reformen auf:
Die geistliche Grundlage – d.h. Koran und Sunna – sollen die verbindlichen Textgrundlagen darstellen, an die jeder gebunden ist. Die politische Arbeit hat sich an diesem geistigen Fundament auszurichten. Die Schura soll der einzige akzeptable Weg der politischen Entscheidungsfindung darstellen – d.h. aufgrund der angenommenen Konvergenz von Schura und Demokratie sollte demokratischen Methoden grundsätzlich Vorrang eingeräumt werden. Alle Wege, zu neuen Entscheidungen zu gelangen, müssen immer wieder auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben der Schura überprüft werden. Wahlen sollen den einzigen Weg darstellen, zu politischen Verantwortungspositionen zu gelangen. Nicht nur über die Programmatik verlange es sich in Abstimmungen festzulegen, sondern ebenso die Funktionsträger erhalten ihre Aufgabenbereiche über Wahlen. Sie müssen sich in regelmäßigen Abständen einer Wiederwahl stellen, sowie können nur für eine begrenzte Amtsperiode kandidieren.149
Die zweite Generalkonferenz von 1998, die die bisherige politische Führung in ihren Amtspositionen bestätigte, sowie bis 2002 wiederwählte, legte erstmals die prioritären gesellschaftlichen Aufgabengebiete verbindlich fest. Das Bewusstsein, dass islamische Werte nicht mehr den zivilisatorischen Stellenwert besitzen, den sie die marokkanische Geschichte hinweg eingenommen hatten, verleiht 149 Attawhid Wal-Islah (Hrsg.): Al-Qanun Al-Asasi, S. 2ff.
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der Daawa wie erzieherischer Arbeit ein besonderes Gewicht. Vor diesem Hintergrund ist die verstärkte Hinwendung zur Jugendbetreuung zu verstehen. Die nächste Generation bedürfe nicht nur einer gesellschaftlichen Zukunftsperspektive, sondern sollte sensibilisiert werden für die islamischen Anforderungen an den Einzelnen wie das Kollektiv. Demokratische Verantwortungsübernahme in der Gesellschaft zu fördern, soll zum vorrangigen Ziel gehören. Es gelte eine Politik zu unterstützen, die jeden veranlasse, seinen Einsatz auf sein spezifisches Aufgabengebiet zu beschränken. Auf diese Weise könne jeder einen entscheidenden Beitrag für die Fortentwicklung der Gesamtheit leisten, ohne befürchten zu müssen, dass andere in seinem Kompetenzbereich ihm die Autorität entziehen. Damit das politische und gesellschaftliche Agieren einen größeren Bekanntheitsgrad erlange, erfordere es eine permanente Präsenz in modernen Medien, die in die Daawatätigkeit einzubeziehen sind. Eine angemessene Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen lasse sich nur bei interner Dynamik erreichen, wofür ein regelmäßiger Wechsel auf der Führungsebene, der ohnehin vorgesehen sei, die Voraussetzung darstelle. Zu diesem Zweck wurde im Jahre 2003 eine außerordentliche Generalkonferenz einberufen, auf der der damalige Vorsitzende Raissouni und sein Stellvertreter zurücktraten. Am 19. Oktober selbigen Jahres wurde Mohammed Hamdaoui zum Nachfolger Raissounis gewählt. Das Amt seines Stellvertreters übernahm Mohammed Yatzime.
a)
Prinzipien und Einstellungen
Marokko ist ein islamischer Staat: Die Bewegung vergewissert sich der Tatsache, dass dieser Grundsatz nicht nur in Geschichte und Gegenwart Bestand gehabt habe, sondern im eigenen gesellschaftlichen Agieren von Anfang an zur Geltung gekommen sei. Alle Marokkaner hätten sich historisch auf den Islam als geistiges Fundament der Nation geeinigt und seien nicht bereit, ihre Grundlage zur Disposition zu stellen. Obwohl man sich bewusst ist, dass ein Teil der Marokkaner heutzutage kein frommes, wertgebundenes, islamisches Leben im Sinne der eigenen Ideale führte, halte Marokko am Islam als Fundament seines gesellschaftspolitischen Systems fest. Mit seinem Titel Emir El- Muminin trage der Monarch die Bestätigung der islamischen Verankerung des Landes in sich, sowie stelle den Garanten für die fortgesetzte Ausrichtung am Islam in der Zukunft. Der Islam bereite die Basis für jegliches gesellschaftliches Engagement in Marokko. Verpflichtung zur aktiven Beteiligung: Diese Aufforderung ist der Erkenntnis erwachsen, dass sich die Gesellschaft nur zu den vorgegebenen Idealen hinführen lasse, wenn man Engagement im Sinne des Gemeinwesens de-
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monstriere, sowie politische Verantwortung übernehme. Eine Passivität verhindere erstens eine Veränderung im angestrebten Sinne, zweitens gehe sie mit Zurückgezogenheit, sowie mangelnder Erfahrung mit der gesellschaftlichen Realität einher. Eine Ausrichtung der internen Strukturen auf zivilisatorische Anforderungen werde bei fehlender Mitarbeit in gemeinschaftlichen Aufgabenfeldern kaum möglich, da man den Bezug zum gesellschaftlichen Umfeld nicht herstellen könne. Tradition und Modernität: Dahinter verbirgt sich das Grundanliegen der Bewegung, einerseits dem islamischen Fundament des Gemeinwesens, basierend auf Koran und Sunna fortgesetzt verbunden zu bleiben, andererseits Veränderungen ausgehend von neu aufkommenden Ideen und Anforderungen angemessen in die gesellschaftliche Arbeit einzubeziehen. Eine Progressivität auf islamischer Grundlage lasse sich nur erreichen, wenn das Bestreben vorhanden ist, neue Entwicklungen auf die Kompatibilität mit islamischen Vorgaben zu reflektieren, gegebenenfalls aufzunehmen und in der internen Praxis auszuprobieren, sowie bei einem erkennbaren Widerspruch zum Islam sich der dahinter stehenden Tendenz öffentlich entgegenzustellen. Reformen: Die grundsätzliche Verpflichtung zu Reformen bedeute, diese Reformen in einer Weise umzusetzen, dass sie der Allgemeinheit dienlich seien. Hierzu sieht man es als grundlegend an, sich von extremen Ansichten fernzuhalten. Eine geeignete Reform im Sinne der Bevölkerung müsse vielmehr von der politischen Mitte aus konzipiert sein. Vorschläge des äußeren linken oder rechten Randes des politischen Spektrums seien ebenso zu meiden wie religiöser Fanatismus und öffentlich dargebotene Areligiosität. Diese Radikaleinstellungen verhinderten einen gesellschaftlichen Konsens und bedrohten langfristig das friedliche Zusammenleben der Muslime allgemein wie im gemeinsamen Staat. Sie verleiteten zu Handlungen, die mit islamischer Ethik nicht vereinbar seien und bereiteten einem kollektiven Verlassen des moralischen Wertefundaments den Weg. Freiheit und Schura: Freiheit, sowohl individuell als auch im Kollektiv wird als göttlichen Ursprungs aufgefasst. Wahrhaftige Freiheit setze ihre Anwendung im Sinne des Islam voraus. Die Schura wird als der geeignete Weg interpretiert, die Freiheit nach islamischen Prinzipien einzusetzen. Die Schura habe die Attawhid Wal-Islah bei der Erkenntnis geleitet, wie die Freiheit realisiert, sowie nach ethischer Grundlage im Sinne der Menschlichkeit eingesetzt werden könne. Demokratie und Menschenrechte: Handele es sich hierbei um moderne, internationale Anforderungen an jegliche Kollektive – unabhängig vom zivilisatorischen Hintergrund, – die dahinter stehen Grundsätze habe der Is-
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lam bereits von Anfang an verinnerlicht, sowie erkenne darin keinen Widerspruch zu seiner Lehre. Als „islamisch motivierte Bewegung“ sieht man sich vielmehr dazu verpflichtet, jene Grundsätze in der gesellschaftlichen und politischen Arbeit widerspiegeln zu lassen. Lediglich jene Bereiche, die explizit dem islamischen Wertbegriff entgegenstünden, seien nicht zu praktizieren, sowie für das marokkanische Staatswesen zurückzuweisen. 150 b)
Zielsetzungen
Rückbesinnung auf die Religion: Unter dieser Forderung werden jegliche Ideale der Bewegung zusammengefasst. Ausgehend von der Ansicht, dass große Teile der marokkanischen Gesellschaft angesichts der Verlockungen des modernen Alltags dem Islam nicht mehr den vorgesehenen Stellenwert einräumten, gelte es einen Weg zu finden, die Religion mit den Gesellschaftsanforderungen der Neuzeit in Konvergenz zu bringen, sowie gleichzeitig zu religiösem Bewusstsein zurückzufinden. Ethische Gesinnung und Sittlichkeit sollten für das Individuum wie das Kollektiv Priorität erlangen, sowie dem Materialismus der modernen Gesellschaft entgegenwirken. Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität der Marokkaner: Ausgehend vom islamischen Gemeinsinn sieht man sich aufgefordert, den Mitmenschen ihre Lebensbedingungen sowohl in materieller als auch ideeller Hinsicht zu erleichtern. Man vergewissert sich der Tatsache, dass gesellschaftliche Konflikte und kriegerische Konfrontationen nicht zuletzt auf der unzureichenden Befriedigung von Grundbedürfnissen, sowie der mangelnden Teilhabe an Entwicklungschancen beruhten. Mit dem Engagement für die benachteiligten Bevölkerungsschichten verbindet man einen aktiven Beitrag zum Ideal einer religiös fundierten, humanen Gesellschaft. Indem die materiellen Nöte beseitigt würden, stelle man die Basis her, auf der Sozialneid seine Berechtigung verlöre, ebenso demonstriere man Mitmenschlichkeit im Alltag. Weltweite Unterstützung der Unterdrückten: Der Universalanspruch des Islam lasse eine Grundsensibilität gegenüber Unterdrückung und kollektivem Leid jenseits der nationalen Grenzen erwachsen. Jegliche Missachtung der berechtigten Anliegen von Muslimen stelle einen „Angriff“ auf die Unversehrtheit der Umma dar. Muslime seien zum weltweiten Beistand ihrer bedrohten Glaubensgenossen aufgefordert. Die Befreiungsbewegungen im Irak und Palästina könnten sich berechtigterweise der fortwährenden Unterstützung durch die Marokkaner vergewissern. Die Umma wird als „Ge-
150 ebd.: S. 4ff.
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meinschaft der Gläubigen wie notleidenden Völker“ interpretiert, weshalb die Unterstützung nicht nur keine nationalen Grenzen kenne, sondern sich gleichermaßen an Nichtmuslime richte, deren Würde bedroht sei. Teilnahme am Aufbau einer humanen Zivilisation: Die Attawhid Wal-Islah setzt sich dafür ein, der Menschheit eine ganzheitliche Erziehung zu vermitteln, die moralische Normen setze. Auf diese Weise entstehe eine humane Gesellschaft, in der man sich gegenseitig achte und dem Gegenüber die berechtigte Wertschätzung entgegen bringe. Eine auf humanen Grundregeln aufgebaute Gesellschaft wird als Voraussetzung angesehen, Gerechtigkeit und Fortschritt gemeinsam zu verwirklichen. Die weltweiten Konflikte, die auf mangelnder Beachtung der Rechte des Mitmenschen, sowie auf Eigennutz beruhten, könnten über den Einzug der humanen, islamischen Werte überwunden werden.151
c)
Grundfunktionen
Daawa: Die umfangreiche Daawatätigkeit zielt darauf ab, den Islam als ganzheitliches Gesellschaftsmodell in seinem Wesen der Gesellschaft wieder ins Bewusstsein zu tragen. Jeden Einzelnen gelte es zu guten Taten und islamischer Mitmenschlichkeit zu ermutigen, sowie von das Individuum wie das Zusammenleben beeinträchtigenden Verhaltensweisen, insbesondere vom Egozentrismus abzubringen, um ihm den Weg zum Gott und zur Erlösung zu erleichtern. Erziehung: Fast ebensowichtig wie die Daawa stellt sich die Erziehung dar, die nicht nur im pädagogischen, sondern ebenso im religiösen Sinne verstanden wird. Das Augenmerk richtet sich darauf, einen Beitrag zur Überwindung negativer Angewohnheiten der Mitmenschen zu leisten, sowie ein aufrechtes islamisches Bewusstsein vorzuleben und weiterzugeben. Erst das kollektive Beherrschen der Grundregeln des Islam stelle das Fundament einer gerechten, dem Fortschritt gegenüber aufgeschlossenen, islamischen Gesellschaft dar, die ihre Religion nicht nur als äußerliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Zivilisationen auffasse, sondern als innere Grundeinstellung erkennen lasse. Bildung: Wie Daawa und Erziehung richtet sich die Bildung an alle Ebenen der Gesellschaft – von der Familie über die Schule bis in die Politik. Bildung sollte darauf abzielen, nicht nur intellektuelles Wissen sondern gleichermaßen islamische Werteverbundenheit an die Gesellschaft und die nächste Generation weiterzuvermitteln. Um das Bildungswesen im ethisch
151 ebd.: S. 6ff.
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moralischen Sinne zum Erfolg zu führen, erfordere es nicht nur die Schüler, sondern gleichzeitig die Lehrer zu bilden, zur Weiterbildung zu animieren, sowie sie in die Lage zu versetzen, die Werte des Islam und das dahinter stehende Gesellschaftsmodell weiterzutragen.152 d)
struktureller Aufbau
Generalkonferenz: Sie stellt das höchste interne Entscheidungsgremium dar. Alle vier Jahre wird eine Generalkonferenz einberufen, um sich der Gesellschaftsbedingungen, sowie der zeitbezogenen und permanenten Aufgaben zu vergewissern. Die regelmäßige Aufeinanderfolge der Generalkonferenzen verhindere innerhalb der Bewegung eine dogmatische Erstarrung, da die Führung erneuert werden, sowie sich einer Wahl stellen muß. Noch wichtiger als die demokratische Bestimmung und zeitliche Begrenzung von Amtsträgern erweise sich die permanente Überarbeitung der Programmatik. Die Generalkonferenz dient dazu, die gesellschaftlichen und politischen Leitlinien auf Übereinstimmung mit der Gesamtzielsetzung zu reflektieren, sowie gegebenenfalls zu revidieren und neu zu formulieren. Der fortwährende Bezug der vielfältigen Betätigungsfelder zur gesellschaftlichen Realität, ohne das langfristige Ziel aus den Augen zu verlieren, werde gewährleistet. Schura-Rat: Er stellt das zweithöchste Gremium innerhalb der Bewegung dar und nimmt eine Ersatzfunktion für die nur alle vier Jahre stattfindende Generalkonferenz ein. Seine gewählten Mitglieder treffen alljährlich zu einer gemeinsamen Sitzung zusammen, um die Aufgabenbewältigung der Expertenkommission zu reflektieren. Mit der Ratifizierung des Jahresprogramms wird neben der langfristigen Zielsetzung die kurzfristige Durchorganisierung der mannigfaltigen Aufgabenfelder vorgenommen. Exekutivkommission: Sie stellt das Vertretungsorgan für die Leitung der Bewegung dar und besitzt den Auftrag, deren Vorgaben in die Praxis umzusetzen. Die Hauptaufgabe der Exekutivkommission besteht darin, einen fortwährenden Austausch zwischen dem institutionellen Innern und der von außen, von der Gesellschaft an die Attawhid Wal-Islah herangetragenen Verantwortung zu gewährleisten. Es erfordere, die anderen Institutionen innerhalb der Bewegung immer wieder auf die Konvergenz ihrer Praxis mit den vorgegebenen Zielsetzungen hinzuweisen. Gegebenenfalls sollte die Exekutivkommission für eine Änderung und Reformierung der Organisationsstruktur Perspektiven aufzeigen.153
152 ebd.: S. 8ff. 153 ebd.: S. 13 ff.
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Standen bei der MPDC von Anfang an staatspolitische Ziele im Mittelpunkt, kommt mit der Attawhid Wal-Islah ein ganzheitlicher Anspruch in der PJD zum Ausdruck. Ausgehend von einem Islamverständnis, in dem die Religion nicht nur Verpflichtungen an das Individuum enthalte, sondern Maßstab für die Orientierung eines Kollektivs darstelle, erfährt die gesellschaftliche Aktivität einen fortwährenden politischen Gegenwartsbezug. In dem Maße wie Marokko als „islamischer Staat“ wahrgenommen wird, erwächst die Verantwortung, nicht nur die eigenen Vorstellungen von Islam an die Gesellschaft weiterzuvermitteln, sondern das Gemeinwesen auf allen Ebenen nach islamischen Grundsätzen zu erneuern. Man wähnt eine Diskrepanz zwischen der islamischen Bestimmung des Staates und einer zunehmenden Säkularität des Alltags, der es sowohl mittels Daawa und Erziehung als auch über das Engagement in gemeinnützigen Institutionen entgegenzuwirken gelte. Die fortwährende Selbstreflexion, einbeziehend interne Organisation wie inhaltliche Schwerpunktsetzung, trägt dazu bei, gesellschaftliche Veränderungen aufzunehmen und sich sowohl in der Struktur als auch in der Praxis darauf einzustellen. Da man nicht in der Lage war, sich selbst als Partei umzuformen, suchte man die Verbindung zu einer bestehenden Partei, in deren politischer Zielsetzung man das eigene islamische Wertebewusstsein wiedererkannte. Die Erfahrung der ehemaligen MPDC-Mitglieder mit politischer Aufgabenbewältigung erleichtert die gemeinsame politische Arbeit in der PJD. Zugleich ermöglicht sie, den Einsatz als gemeinnützige Bewegung fortzusetzen und zu intensivieren. Die besondere Verpflichtung zur Demokratie dient als Antrieb, jenseits der unmittelbaren Parteipolitik demokratischen Grundsätzen ebenfalls Gültigkeit zuzumessen, sowie eine Kompatibilität zwischen islamischer und demokratischer Orientierung herzustellen.
5.3 Programmatik Für die Programmatik der PJD können drei Bezugsquellen als entscheidende Orientierungsgrundlage herangezogen werden. Neben dem 1972 verfassten Brief des Parteigründers Al-Khatib an den damaligen König Hassan II. werden die Prinzipienerklärung auf dem außerordentlichen Parteitag von 1996, auf dem der gegenwärtige Parteinamen erstmals öffentlich verwendet wurde, sowie die Abschlußerklärung der fünften Nationalkonferenz von 2004 als bindende Leitlinien aufgefasst. Man versteht sich als „islamisch intendierte Bürgerpartei“, die im Sinne der Bevölkerung eine Politik zur Modernisierung des Gemeinwesens als Ziel verfolge. Die Aufgabe der angestrebten Regierung besteht in der Verwirklichung von politischen und gesellschaftlichen Reformen auf den verschiedensten Ebenen. Um diese Reformen zum Erfolg im Sinne der Ideale der Partei
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zu führen, wie Generalsekretär El- Otmani (2005) darlegt, seien fünf Grundprinzipien zu beachten:
Jede Reform darf die Nationalen Grundsätze in keiner Weise zur Disposition stellen. Die politische Arbeit, die auf die Reformen ausgerichtet sein muß, verlangt gleichermaßen Verantwortungsbewusstsein und Selbstdisziplin. Demokratie ist die geeignete Staatsform, um politische Reformen zum Nutzen des Gemeinwesens zu verwirklichen. Die verschiedenen Reformen dürfen nicht gleichzeitig durchgesetzt werden, sondern sollten aufeinander aufbauend in zuvor eingehend diskutierten Einzelschritten umgesetzt werden. Die Reformen verlangen eine Kooperation mit allen gesellschaftlichen Institutionen, die eine grundsätzliche Reformbereitschaft erkennen lassen.154
Das zuletzt genannte Grundprinzip fordert die Konsenssuche zwischen allen ideologisch divergent ausgerichteten Parteien, um Stabilität und die Vorrangstellung des Gemeinwohls zu garantieren. Nur die Zusammenarbeit im Sinne des gerechten Fortschritts ermögliche Demokratie, freie Wahlen, sowie eine Regierung zum Nutzen der Gesamtheit. Parteien, Gewerkschaften, nationale Organisationen, Interessengruppen, sowie in Folge dessen die Civil Society insgesamt trügen eine historische Verantwortung, einen fortwährenden nationalen Konsens herzustellen und aufrecht zu erhalten. Die staatlichen Institutionen sieht man in der Pflicht, im Patriotismus zusammenzustehen, um ausländische Interventionen in die marokkanische Innenpolitik hinein zu verhindern. Man geht davon aus, dass ausländische Ratgeber ihre eigenen Interessen den Ansprüchen der Marokkaner übergeordnet verfolgen, sowie mangels Kenntnis der kulturspezifischen Eigenheiten des Landes ungeeignete, nicht zielführende Reformen initiieren würden. Ein Konsens innerhalb des Staates und seiner Civil Society hinsichtlich der Zielrichtung von politischen Reformen sorge dafür, dass keine Ressourcen für ungeeignete Projekte verbraucht würden, sowie garantiere nationale Stabilität. Die Reformen seien innerhalb des Landes zu entwickeln, sowie schrittweise bei Einbeziehung der Civil Society auf friedlichem Wege umzusetzen. Die gewaltsame Umsturzmethode, die versuche, politische Vorstellungen „von oben“ mittels Herrschaftseroberung, Repression und staatlichem Zwang durchzusetzen, schätzt man als ungeeignet ein, da sie letztlich ausländischer Einflußnahme die geeignete Basis biete. Man orientiert sich am Vorbild des Parteigründers Khatib. Obwohl Khatib die Verhängung des Ausnahmezustands durch den absolutistisch gesinnten Monarchen als „eindeutigen Verfassungsbruch“ wertete, habe er sich 154 El- Otmani, Saâd-Dine: Ma`alim Manhaj Hisb Al-Adala Wattanmiya Fi Al-Islah Assiyasi, S. 5
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nicht an gewaltsamen Umsturzplänen beteiligt, sondern auf zivilem, demokratischen Wege die politische Auseinandersetzung mit dem autoritären Regime bevorzugt. Ausgehend von diesem Vorbild habe sich die PJD auf den demokratischen Weg der Durchsetzung politischer Ziele festgelegt. Sieht man sich bis in die Gegenwart staatlicher Repression ausgesetzt, vergewissert man sich, dass gewalttätiger Widerstand eine Verletzung der eigenen Grundprinzipien darstelle. In der Überzeugung, dass nur diese Grundprinzipien die marokkanische Politik zum Erfolg führten, fordert man die anderen Parteien und staatlichen Verantwortungsträger auf, sich gleichermaßen darauf zu einigen. Das erste Grundprinzip fordert die Einhaltung der „nationalen Grundsätze“, die zugleich als die drei Grundsäulen Marokkos aufgefasst werden, sowie den verfassungsmäßigen Rahmen für politisches Agieren innerhalb Marokkos vorgeben, den Islam, die territoriale Integrität des Landes und seine konstitutionelle Monarchie. Den Islam gelte es als geistiges Fundament jeglicher Reform anzuerkennen, die von Muslimen für Muslime konzipiert werde. Hieraus folge eine Verpflichtung zu Toleranz, Kompromissbereitschaft und Rücksichtnahme. Eine Exklusivität, die nur die eigene Islampraxis zulasse, stehe nicht nur dem Toleranzgebot des Islam entgegen, sondern behindere zudem die nationale Konsenssuche in einem islamischen Staat. Es verlange eine permanente Dialogbereitschaft mit dem Ziel, ein Gegenüber von der eigenen politischen Position zu überzeugen. Gesellschaftliche Modernisierung, einhergehend mit Technisierung widerspreche dem Islam in keiner Weise, sowie erweise sich als notwendig, um mit dem weltweiten Fortschrittsprozess mithalten zu können. Der Islam stehe progressiver Entwicklung nicht nur aufgeschlossen gegenüber, er fordere die Gesellschaft vielmehr auf, daran zu partizipieren. Die Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Entwicklungen einhergehend mit der Akzeptanz pluraler Weltanschauungen bereite einer Konsensbereitschaft in der modernen heterogenen Gesellschaft die Basis. Unabhängig von seiner religiösen, politischen Sichtweise, der ethnischen Zugehörigkeit, sowie dem Geschlecht sollten jedem Marokkaner auf der Basis des islamischen Gleichheitsgrundsatzes die vollständigen Bürgerrechte zustehen. Man legt Wert darauf, weder als „Vertreter des Islam“ aufzutreten, noch durch den Islam legitimiert politischen Einfluß auszuüben, sondern von islamischen Grundsätzen geleitet politisch zu agieren. In dem Verweis auf die islamische Konstitution des marokkanischen Staates billigt man den übrigen Parteien zu, trotz ihres offiziell „säkularen“ Grundcharakters ebenfalls an islamische Grundsätzen gebunden zu sein. Erst der Islam erweise dem Monarchen die Legitimität, der als Emir- el-Muminin nicht nur politisches Staatsoberhaupt darstelle, sondern darüber hinaus die islamische Grundlage des gesamten Gemeinwesens garantiere.
5.3 Programmatik
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Die territoriale Integrität des Staates sieht man gleichermaßen als unantastbar an. Sie basiere auf dem Zusammenhalt eines historisch erwachsenen, geographischen Territoriums bei gleichzeitiger Kultivierung und Förderung der ethnischen und regionalen Eigenheiten. Bedroht seien beide Wesensmerkmale durch das Ansinnen des Westens, über die ökonomisch bestimmte Globalisierung, verbunden mit dem Postulat einer „Weltzivilisation“ nationale Besonderheiten zu eliminieren, sowie historisch erwachsene, ethnokulturelle Divergenzen künstlich aufzuheben. Die übrig gebliebenen spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, auf deren Wiedereingliederung in den marokkanischen Staatsverband sich nationale Politik festlegen sollte, interpretiert man als Beleg für eine nach wie vor bestehende westliche Kolonialpolitik, die heutzutage in erster Linie ökonomisch intendiert sei. Der Grundsatz der territorialen Einheit verlange nach Konzepten zur vollständigen politischen wie sozioökonomischen Integration der Westsahara, deren Zugehörigkeit zu Marokko niemals zur Disposition gestellt werden dürfe. Die ethnische und kulturelle Wurzel Marokkos erweise sich beispielsweise im Berbertum, das als wesentlicher Teil der marokkanischen Identität anerkannt wird. Vor diesem Hintergrund finden politische Projekte zur kulturellen Gleichberechtigung der Berber gegenüber den Arabern, der Gleichrangigkeit ihrer Sprache gegenüber Arabisch und Französisch, sowie der besonderen Förderung berberischer Eigenheiten Unterstützung. Die konstitutionelle Monarchie stelle einen elementares Wesenselement Marokkos dar. Man verweist auf die ausschließlich monarchistische Historie des Landes, die nicht einmal durch die Protektoratsherrschaft der republikanisch gesinnten Franzosen beendet werden konnte. Die konstitutionelle Monarchie interpretiert man als das äußerliche Symbol der inneren Einheit, womit sie in unmittelbarer Beziehung zum Islam und der territorialen Integrität stehe. Der Monarch mit seinem islamischen Titel repräsentiere den islamischen Charakter des Staates nach innen und außen, sowie stelle die Identifikation aller Landesteile mit der marokkanischen Nation her. Man distanziert sich eindeutig von Bestrebungen innerhalb des islamistischen Lagers, die Monarchie durch eine Republik oder ein Khalifat zu ersetzen. Jahrhunderte hinweg habe ein Monarch den inneren Zusammenhalt, getragen von islamischer Kollektividentität Marokkos garantiert, so dass nicht eingesehen wird, aus welchem Grund die Monarchie heutzutage traditionelle Werte in der Politik bedrohe. Ebensowenig stelle sie einen Gegensatz zur demokratischen Selbstverpflichtung. Demokratie wird als ein Gesellschaftssystem angesehen, dass auf der Gesinnung der Bürger wie der Beziehung der staatlichen Organe zueinander beruhe, sowie durch die Legitimationsweise des Staatsoberhaupts in keiner Weise angetastet werde, sofern der Monarch sich auf repräsentative Aufgaben beschränke und die eigentliche Regierungsgewalt gewählten Volksvertretern überlasse.
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Das zweite Grundprinzip der PJD beinhaltet die Verpflichtung zu Verantwortungsbereitschaft und Selbstdisziplin. In diesem Zusammenhang sind die eigene interne Struktur, sowie das Erscheinungsbild von elementarer Bedeutung. In der Erkenntnis, dass in der Vergangenheit notwendige gesellschaftliche Reformen nicht zuletzt an der Reformverweigerung von Parteien gescheitert seien, erfordere es eine demokratische Parteistruktur mit regelmäßigen Führungswechseln. Der parteiinternen Struktur misst man Vorbildcharakter für die angestrebte Organisation des staatspolitischen Systems bei. Der Anspruch zu mehr Demokratie sei nur zu realisieren, wenn er mit dem Einsatz im Sinne demokratischer Grundsätze innerhalb der eigenen Partei einhergehe. Korruption auf staatlicher Ebene ließe sich nicht entgegentreten, ohne eine Reflexion der eigenen Führungsstrukturen und parteiinternen Wahlen. Die Aufforderung zu mehr Verantwortungsbereitschaft richte sich an jedes Parteimitglied, das sich verpflichtet sehe, Verantwortung im Dienste des Gemeinwohls zu übernehmen, sowie sich dafür einzusetzen, dass die Parteipolitik sich an den gesellschaftlichen Alltagsproblemen orientiere. Man räumt der Bildung, Erziehung, aber auch der Kultur einen besonderen Stellenwert zur Vorbereitung künftiger politischer Verantwortungsträger ein, die ihre individuellen Ansprüche den Anliegen der Majorität unterordnen sollten. Eine Volkspartei müsse permanent die Bedürfnisse der Bevölkerung wahrnehmen, das politische Programm hieran ausrichten, sowie gegebenenfalls revidieren. Als Oppositionspartei sieht man sich aktuell nicht in der Lage, das Gemeinwesen nach eigenen Vorstellungen zu steuern. Dennoch besitze man Verantwortung, diejenigen, die staatstragende Positionen einnehmen, für die Notwendigkeit von Reformen im Sinne islamischer Gemeinnützigkeit zu sensibilisieren. Als drittes Grundprinzip benennt man die Demokratie, die nicht nur als Staatsform in Abgrenzung zu Diktatur oder Oligarchie definiert wird sondern auch als Grundlage für die Strukturierung der Gesellschaft - einschließlich der eigenen Partei. Das Eintreten für Demokratie verlange nicht nur den Einsatz zur Verwirklichung einer demokratischen Staatsverfassung sondern die Reflexion aller gemeinschaftlichen Organe hinsichtlich ihrer demokratischen Ausrichtung, sowie die Vergewisserung, dass Parteistruktur wie politisches Programm demokratischen Ansprüchen entsprächen. Die besondere Verpflichtung zu Demokratie sowohl als Grundsatz als auch als Mittel, staatliche Politik zu realisieren, sieht die PJD auf zwei Gründen erwachsen: Zum einen eines historischen Vermächtnisses, das mit dem ursprünglichen Namen „populäre konstitutionelle demokratische Bewegung“ in Verbindung gesehen wird. Als eine demokratische Partei sei sie 1967 – in einer Zeit, in der demokratische Prinzipien gemeinhin in Marokko kaum beachtet wurden- gegründet worden und habe damals eine Bereicherung für den Parteienstaat dargestellt. Die besondere Verpflichtung zu Demokratie sei
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über Jahrzehnte hinweg der Antrieb gewesen, an den von Hassan II. manipulierten, undemokratischen Parlamentswahlen nicht teilzunehmen, sowie sich fortwährend für demokratischen Wettbewerb zu engagieren. Nun, da dieser Wettbewerb zumindest ansatzweise gegeben sei, verlange es, an Parlamentswahlen teilzunehmen, sowie ausgestattet mit einem demokratischen Mandat für Demokratie auf allen Ebenen einzutreten. Die Orientierung der eigenen Parteistruktur an demokratischen Grundsätzen stelle der Glaubwürdigkeit und Vorbildhaftigkeit halber die Voraussetzung, sowie sei der Würdigung der eigenen Historie erforderlich. Der zweite Grund, der in besonderer Weise zu Demokratie innerhalb wie außerhalb der Partei verpflichte, ergebe sich aus ihrem zweiten ideellen Ursprung in der „Attawhid Wal-Islah“, die sich bereits seit Jahrzehnten nach demokratischen Grundsätzen strukturiert habe. Auf dem Wege zur populären Massenpartei nahm man die Mitglieder dieser Bewegung auf und sieht sich demzufolge zur Verwirklichung ihrer gesellschaftspolitischen Ideen verpflichtet. Dem Selbstverständnis nach sei die Attawhid Wal-Islah die einzige Bewegung gewesen, die bereits vor ihrer Integration in die Partei interne Demokratie nicht nur in der Theorie, sondern ebenso in der Praxis realisiert habe. Infolgedessen habe die Aufnahme ihrer Mitglieder sich nicht nur als intellektuelle Bereicherung der ebenfalls demokratisch gesinnten Parteibasis erwiesen, sondern beinhalte die Aufforderung weiterhin, jegliche gesellschaftlichen Probleme auf demokratischem Wege zu bewältigen. Das umfangreiche Studium islamischer Schriften, aber auch westlicher Gesellschaftsideale, habe ein demokratisches Bewusstsein wachsen lassen, dass nur in demokratischen Wahlen bestimmte Führungsstrukturen sowie demokratischen Kriterien folgende Programmatik akzeptiere. Im Gegensatz zu den während der Herrschaftszeit Hassans II. dominierenden Parteien habe man von Anfang an Wert darauf gelegt, dass die Dauer einer Wahlperiode für Parteigremien ebenso eingehalten wurde wie ein regelmäßiger Austausch der Verantwortungsträger. Die Mitglieder verlangten weiterhin nach innerparteilichem demokratischem Wettbewerb, der an modernen, der Wissenschaft entstammenden Kriterien sich orientiere, sowie jedem Mitglied - unabhängig von Alter, Geschlecht oder regionaler Herkunft - die gleichen Chancen einräume. Innerparteiliche Demokratie erfordere ein demokratisches politisches Programm, demokratische Entscheidungsfindung, sowie demokratischen Gremienaufbau. Innerhalb der PJD stelle sich Demokratie in fünf Wesensmerkmalen dar:
Politische Verantwortung innerhalb der Parteistruktur nach innen wie nach außen basiere auf Wahlen auf regelmäßig abgehaltenen Parteitagen: Jegliche innerparteilichen Amtsträger – auf nationaler wie regionaler Ebene – legitimierten sich über Wahlen und dürften nicht länger als zwei Amtsperi-
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oden eine Position innehaben, hiernach sei ihre Kandidatur für die entsprechende Funktion ausgeschlossen. Es bestünden Regelungen, wie die Alterstruktur von Parteigremien zusammengesetzt sein sollte. Ein Mindestanteil jüngerer Mitglieder schütze Parteigremien vor einem zu hohen Altersdurchschnitt, der verhindere, dass die Anliegen der jüngeren Generation in der Parteiarbeit wie im politischen Programm angemessen Berücksichtigung finden. Ein wesentliches Augenmerk wird darauf gelegt, dass Termine von Parteitagen wie Kontrollkommissionssitzungen eingehalten, sowie nicht aus Opportunitätsgründen der gegenwärtigen Parteiführung verschoben oder vorgezogen werden: Die Erfahrung mit anderen Institutionen innerhalb des marokkanischen Staatswesens habe gelehrt, dass die Auswahl der Termine politischen Charakter besitze, sowie über die Verschiebung von angesetzten Wahlen Amtsträger ihre Position länger als legitim zu behalten verstanden. Auf diese Weise werde das demokratische Prinzip peu-a-peu ausgehöhlt. Die Festsetzung von verbindlichen Grundsätzen hinsichtlich der Transparenz der Parteifinanzen: Die Parteiführung verpflichtet sich, der Basis regelmäßig Rechenschaft über Einnahmen und Ausgaben abzulegen, sowie die finanzielle Situation der Öffentlichkeit bekannt zu geben. Dieses Verhalten könne Missbrauch nicht grundsätzlich ausschließen, stelle jedoch einen geeigneten Weg dar, Fehlentwicklungen, die zu unkontrollierbaren Ausgaben führen könnten, frühzeitig zu erkennen, sowie mittels Druck der Basis ihnen entgegenzusteuern. Der Frau soll innerparteilich die Chancengleichheit gewährleistet sein: Im innerparteilichen Geschlechterrollenverständnis beansprucht man, ein Vorbild für die übrige Gesellschaft abzugeben. Alle Reformprogramme seien zu hinterfragen, inwieweit die spezifischen Anliegen des „schwächeren Geschlechts“ darin angemessen Berücksichtigung finden. Um bereits im Vorhinein weibliche Ansprüche an Politik und Gesellschaft innerparteilich zur Geltung zu bringen, hat man neben der Regelung bezüglich der Altersstruktur eine Quote für das Geschlechterverhältnis von Parteigremien festgelegt. Frauen, denen innerparteilich die Chance zu Aufstieg und Karriere nicht verwehrt werde, seien davon zu überzeugen, dass die PJD sich in der Politik ebenfalls ihren Interessen verpflichtet fühle. Die innerparteiliche Akzeptanz von Pluralität und Meinungsvielfalt: Jedes Mitglied erhalte die Garantie, von der Parteispitze variierende politische Positionen öffentlich äußern zu dürfen, ohne mit Sanktionen oder dem Verlust einer innerparteilichen Stellung zu rechnen. Diese Grundtoleranz gegenüber abweichenden Ansichten interpretiert an als Voraussetzung, dass Mitglieder mit divergenten Positionen der Partei erhalten bleiben, sowie gesellschaftli-
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che Diskussionen, die in der Bevölkerung ihre Berechtigung besäßen, innerhalb der Partei stattfinden und nicht Abspaltungstendenzen hervorrufen. Es verlange, zwischen einer politischen Position und ihrem Vertreter zu differenzieren, sowie Amtsträger nicht wegen ihrer Ansicht zu einer gesellschaftlichen Fragestellung, sondern ihrer Eignung für eine jeweilige Funktion auszuwählen.155 Das vierte Grundprinzip, das für eine zielführende Reformpolitik Beachtung finden müsse, ist die Form der politischen Durchsetzung, die stufenweise, in aufeinander aufbauenden Schritten zu erfolgen habe. Die Abschlußerklärung der fünften Nationalkonferenz von 2004 hebt diese Forderung ausdrücklich hervor. Sie ist der Erkenntnis erwachsen, dass sich die moderne Gesellschaft zu vielfältig und unübersichtlich erweist, um für jegliches spezifische Aufgabengebiet bereits von vornherein eine geeignete, durchgeplante Reformpolitik parat zu haben. Der Versuch, die verschiedensten Gesellschaftsbereiche gleichzeitig zu reformieren, gilt als zum Scheitern verurteilt und stelle die Voraussetzung für ein Verfehlen der vorgegeben Zielsetzung. Die langfristig ausgerichtete, etappenweise vollzogene Reformpolitik wird mit dem Anspruch zur Implementierung einer demokratischen Kultur in der marokkanischen Gesellschaft gerechtfertigt. Angesichts der langjährigen autoritären Herrschaftsweise sei in großen Teilen der Civil Society ein demokratisches Bewusstsein noch nicht verankert und könne erst nach und nach Einzug halten. Eine überstürzt durchgesetzte Reformpolitik, deren Erfolge nicht sofort sichtbar seien, werde die innere Fixierung auf autokratische Strukturen nicht beseitigen, sondern noch fördern. Die schrittweise Reformierung habe man bei der Kandidatenaufstellung während der vergangenen Wahlen demonstriert, indem die Anzahl der Kandidaten von Legislaturperiode zu Legislaturperiode erhöht wurde, um später – wenn die demokratische Kultur sich flächendeckend etabliert habe - in jeglichen Wahlbezirken anzutreten. Bei der ersten, als einigermaßen demokratisch geltenden Wahl zum Repräsentantenhaus 1997 beschränkte sich die Kandidatenaufstellung auf 40% der Wahlkreise. 2002 sah man sich bereits in der Lage, in 60% der Wahlbezirke den Bürgern Kandidaten zu präsentieren. 2003 nahm man erstmals an Regionalwahlen teil, an denen 50% der Wahlbezirke durch eigene Kandidaten abgedeckt wurden. Fünftes und letztes Grundprinzip für eine erfolgversprechende Reformpolitik stellt die Kooperationsbereitschaft mit den weltanschaulich divergenten Parteien im Sinne eines Konsenses in der marokkanischen Politik dar. Ziel sollte in der Einigung auf politische Reformen zum Nutzen des Gemeinwohls bestehen. Konkurrenz und Wettbewerb wird als ein Wesenselement der demokratischen 155 ebd.: S.12ff.
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Ordnung anerkannt, jede Partei sollte die Interessen der Gemeinheit dem eigenen politischen Vorteil gegenüber konkurrierenden Mitbewerbern als vorrangig betrachten. Die Erkenntnis, dass eine andere Partei eine im Grundsatz für notwendig erachtete Reform konzipiere, sollte als Aufforderung verstanden werden, sich an diesem Prozess mit eigenen konstruktiven Vorschlägen zu beteiligen. Durch die Kooperation werde verhindert, dass die Parteien den Blickwinkel auf ihre Stammwählerschaft beschränkten, die Gesamtheit vernachlässigten, sowie sich voneinander isolierten. Die Zusammenarbeit mit Parteien aus anderem Hintergrund führe zu gegenseitiger Bereicherung und Selbstreflexion. In der Bevölkerung gewönnen nicht nur die politischen Parteien an Glaubwürdigkeit, sondern die Demokratie erfahre erhöhte Akzeptanz. Die Erwartung zu mehr Kooperationsbereitschaft ergebe sich nicht zuletzt aus der vielfältig demonstrierten eigenen Konsensbereitschaft, die man erwidert zu sehen beansprucht, sowie als Grundlage für den Erfolg staatlicher Reformpolitik wertet. Fünf Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit werden genannt, die die eigene Konsensfähigkeit und Kooperationsbereitschaft zur Bewältigung politischer Gegenwartsaufgaben im Sinne des Gemeinwesens bewiesen hätten:
Besonders hervorgehoben wird die zweieinhalbjährige Unterstützung der Linksregierung von Youssoufi, die einer anderen ideologischen Wurzel entstammte, sowie religiös motivierten Anforderungen an Gesellschaftspolitik eher gleichgültig gegenüberstand. Sofern man erkannte, dass ihre politischen Projekte dem eigenem Werteverständnis nicht entgegenstanden, hielt man eine Zusammenarbeit für geboten und ließ die Bevölkerung erkennen, dass politische Reformen für wichtiger erachtet wurden als die Rivalität gegenüber einer aus anderen Parteien zusammengesetzten Regierung. Bis in die Gegenwart beteiligt man sich an von verschiedenen Parteien initiierten Projekten zur Solidarisierung mit Irakern und Palästinensern. Man bringe zum Ausdruck, dass das Verantwortungsbewusstsein für Not leidende Völker einen höheren Stellenwert besitze als innenpolitische Differenzen in einem zwar von gesellschaftlichen Problemen geprägten, jedoch keineswegs unter Krieg oder Hungersnot leidendem Land. Ebenso werde signalisiert, dass islamische Solidarität innenpolitischem Konkurrenzdenken als übergeordnet gelte. Ein weiteres Projekt, in dem PJD- Funktionäre gemeinsam mit Vertretern anderer Parteien für die Lösungssuche zusammenarbeiten, betrifft die Westsaharafrage. Im Sinne des besonders hervorgehobenen nationalen Grundsatzes der territorialen Integrität Marokkos erachtet man ein Engagement der Oppositionsparteien als notwendig und zeigt sich bereit, die Regierung bei Verhandlungen zu unterstützen.
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Die Außenpolitik erkennt man als Bereich an, der sich für Zusammenarbeit mit innenpolitischen Rivalen besonders eigne. Diese Sichtweise demonstriert man in der Beteiligung an der Suche nach Konzepten, wie eine von konkurrierenden Parteien angestrebte Mitgliedschaft Marokkos in der WTO einhergehend mit einer Annäherung an die USA in der Außenhandelspolitik erfolgen könne. Vom eigenen Grundsatz her lehnt man eine allzu enge Bindung an das Ausland – zumal die USA – ab und steht einer WTO- Mitgliedschaft skeptisch gegenüber. Das damit verbundene Projekt schätzt man für die Zukunft des Landes als elementar ein, daß eine Mitwirkung geboten erscheint. Auf regionaler Ebene bestehen verschiedene Kooperationen mit anderen Parteien, die seit den Wahlen von 2003 teilweise zu Koalitionen zusammengewachsen sind. Das Miteinander mit den verschiedensten Parteien lässt sich testen, um auf eine Koalitionsregierung auf nationaler Ebene gezielt hinsteuern zu können. Die Zusammenarbeit wird ähnlich wie die Kandidatenaufstellung bei Wahlen schrittweise ausgeweitet, um die anderen Parteien wie die Bürger auf die Teilnahme an der Regierung, sowie eine gemeinsame Reformpolitik angemessen vorzubereiten. Man beginnt mit Kooperationen, die sich in einem zweiten Schritt zu regionalen Koalitionen vertiefen, um in der Lage zu sein, auf nationaler Ebene erfolgreiche Koalitionen einzugehen.156
Im Programm der PJD kristallisiert sich die in mehreren Jahren gesammelte Erfahrung mit parlamentarischer Arbeit heraus. Politische Reformen werden einerseits als notwendig für eine gerechte, dynamische Gesellschaft eingefordert, andererseits sollten sie traditionelle islamische Werte in der Gegenwart zur Geltung bringen. Islamische Gesellschaftsvorgaben gelte es mit modernen Politikbegriffen in Einklang zu bringen, was in dem Bestreben zum Ausdruck kommt, Schura und Demokratie als konform darzustellen. Im Parteiprogramm, besonders im Verhältnis von Politik und Religion spiegelt sich die unterschiedliche Tradition der Parteimitgliedschaft wieder, die zum einen auf die MPDC, sowie zum anderen auf die Attawhid Wal-Islah zurückgeht. Unter diesem Aspekt erscheint es diskussionswürdig, ob die Partei von ihrer Grundausrichtung als „islamistisch“ zu bewerten ist, oder als „bürgerliche Partei mit islamistischem Hintergrund“. Das Verständnis des Islam als allumfassendes Gesellschaftsmodell, dass politische Entscheidungen in allen Bereichen bestimmen soll, lässt auf geistiger Ebene keine Trennung zwischen sakraler und profaner Problembewältigung erkennen. Einen fortwährenden Bezug zum Alltag sieht man in der Politik 156 ebd.: S.17ff.
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grundsätzlich als erforderlich an. Nicht der Islam legitimiere politisches Agieren, sondern erst die Durchsetzung von Reformen im Sinne islamischer Gemeinnützigkeit. Mit diesem Politik- und Religionsverständnis hebt man sich sowohl von radikalen Islamisten als auch von den absolutistischen Monarchen ab, die den Islam als Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung prämoderner Obrigkeitsstrukturen instrumentalisieren. Zugleich distanziert man sich von westlicher Säkularität. Marokko als islamisches Gemeinwesen bedürfe einer Fortschrittlichkeit auf islamischer Grundlage. Insgesamt kann das Gesellschaftsprogramm der PJD als ganzheitlich, alle wesentlichen Bereiche einbeziehend, sowie auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet beschrieben werden. Inwieweit damit eine erstrebenswerte gesellschaftliche Entwicklung eingeleitet werden kann, muß die Konfrontation mit der Realität beweisen. Erst in Regierungsverantwortung wird sich herausstellen, ob die PJD zur umfassenden Reformierung der marokkanischen Gesellschaft nach den Anforderungen der Zukunft in der Lage ist, oder lediglich ihre Idealvorstellungen in einem Wahlprogramm aufgelistet hat, ohne detailliert ausgefeilte Konzepte darauf aufzubauen. Hiervon abhängen wird nicht zuletzt ihr dauerhafter Erfolg bei der Einbindung der verschiedensten Gesellschaftsschichten, die sie von der Hinwendung zu Extremisten vom Rand des politischen Spektrums wie gewaltbereiten Islamisten abzuhalten beansprucht. Als entscheidend erweist sich das Verhalten der politischen Konkurrenz. Die Forderung nach Kooperationsbereitschaft und Zusammenarbeit erscheint gegenüber der drittgrößten Partei des Landes berechtigt. Weitere Zugewinne bei den 2007 angesetzten Wahlen sollten für eine Einbeziehung der PJD in Regierungsverantwortung als Grundlage aufgefasst werden. Nur auf diese Weise wird sie in die Lage versetzt, ihr Programm auf die politische Durchsetzbarkeit und Zeitbezogenheit zu reflektieren.
6.1 Zum Begriff Scharia
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6 Problematik der Durchsetzung der Scharia und der Errichtung des islamischen Staates
6.1 Zum Begriff Scharia Von Islamisten wird die Forderung erhoben, die Scharia zur verbindlichen Rechtsgrundlage des marokkanischen Staates zu erklären. Ein islamischer Staat sei erst etabliert, wenn alle gesellschaftlichen und rechtlichen Beziehungen aus der Scharia abgeleitet seien. Vertritt die gegenwärtige Obrigkeit die Auffassung, mit der verfassungsmäßigen Verankerung im Islam sei die Scharia bereits implementiert und müsse für die Alltagsgesetzgebung zeitgemäß ausgelegt werden, postulieren einige Säkularisten, die Scharia sei mit einer modernen Staatsordnung unvereinbar, sowie durch ein rational begründetes, auf den gesellschaftlichen Kontext bezogenes Rechtssystem zu ersetzen. In der marokkanischen Praxis sind nur noch zivilrechtliche Angelegenheiten nach der Scharia festgelegt, im Strafrecht hat sich durch den Einfluß der französischen Protektoratsherrschaft das westliche säkularistische Rechtsverständnis eingebürgert. Sollte Marokko wieder vollständig zum Schariarecht zurückkehren oder in allen Rechtsgebieten die westlichen Maßstäbe zur Gültigkeit erheben? Um die Problematik, die sich aus der Orientierung an der Scharia für ein zeitgenössisches Gemeinwesen ergibt, in seiner Dimension zu erfassen und angemessen einordnen zu können, erscheint es geboten, darzulegen, was unter dem Begriff Scharia zu verstehen ist, sowie worin das Wesen der islamischen Gesetzgebung liegt. Die Scharia bildet den ethischen und rechtlichen Verhaltenskodex der Muslime und ist sowohl für das einzelne Individuum als auch für ein islamisches Kollektiv von Relevanz. Sie gründet sich auf zwei materielle Rechtsquellen, den Koran und die Sunna, sowie auf zwei immaterielle Rechtsquellen, den Qiyas (Analogieschluß der Gelehrten) und die Ijmaa (Konsens der Gelehrten). Die schriftlich niedergelegten, materiellen Rechtsquellen sind allen anderen gesellschaftlichen Regelungen übergeordnet und religionsgeschichtlich älter als die immateriellen, die im nachhinein auf die materiellen Rechtsquellen beziehend festgelegt worden sind. Die erste Rechtsquelle stellt der Koran dar, das unmittelbare Wort Gottes, wie es dem Propheten Mohammed in arabischer Sprache zwischen ca. 610 und 632 nach Christi geoffenbart wurde. Der Koran besteht aus 114 Suren mit insgesamt ca. 6000 Versen, die die Eigenschaften Gottes verbunden mit seinem Wirken in der Heilsgeschichte darlegen, sowie die Pflichten des Muslimen gegenüber Gott, ebenso wie verschiedene Regeln und Rechtsfragen für die Gesell-
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6 Problematik der Durchsetzung der Scharia und der Errichtung des islamischen Staates
schaft, insbesondere im Bereich des Familien-, Straf-, Erb- und Vermögensrechts erläutern. Obwohl die zwischenmenschlichen Rechtsfragen nur etwa ein Zehntel des Heiligen Textes umfassen, wird dadurch klargestellt, daß nach islamischem Verständnis eine Gemeinschaft sich nicht nur durch den gemeinsamen spirituellen Glauben, sondern gleichermaßen durch ein bestimmtes, von Gott vorgegebenes Verhalten auszeichnet. Da nicht alle Gesellschaftsbereiche im Koran detailliert beschrieben sind, gilt die Handlung und Positionierung des Propheten in den übrigen Angelegenheiten als bindend. Indem Mohammed seit seiner Ankunft in Medina 622 politische Herrschaftsfunktion ausübte, erfordert es für jegliches, auf den Islam sich berufendes Gemeinwesen die Grundsätze des vom Propheten geführten Medinastaates als Teil der Scharia anzuerkennen. Die islamische Gemeinschaft mußte sich nach Mohammeds Tod mit der Tatsache auseinandersetzen, daß viele neu entstehende Problemstellungen im Koran nicht beschrieben waren. Die Einstellung des Propheten erkannte man nun als zweite ergiebige Rechtsquelle an, die als Sunna später in einer Vielzahl von Hadithen (Überlieferungen) schriftlich festgehalten wurde. Vor ihrer Niederschrift im 9. Jahrhundert sind die Hadithe einer strengen Nachforschung auf ihre Authentizität unterzogen worden, wonach nur die als eindeutig auf den Propheten zurückgehenden Berichte in einer Art Kanon in der Sunna Eingang gefunden haben. In welcher Weise jene materiellen Rechtsquellen im Alltag umzusetzen seien, bei Problemstellungen, zu denen im Schrifttum keine eindeutige Aussage besteht, blieb unter den Gelehrten über lange Zeit strittig. Vertraten einige die Ansicht, zu jeder gesellschaftlichen Angelegenheit sich ausschließlich auf Koran und Sunna beziehen zu müssen, sahen andere den vernunftbegabten Gelehrten mit seiner Ra´y (Schlussfolgerung) angesichts der umfangreichen Kenntnis der Heiligen Texte in der Lage, herauszufinden, worin sich „gottgefälliges“ Verhalten erweise. Man einigte sich schließlich, neben Koran und Sunna als immaterielle dritte Rechtsquelle den Qiyas zu akzeptieren. Hierbei wird eine Angelegenheit auf einen vergleichbaren, im Koran oder in der Sunna erwähnten Sachverhalt übertragen und daraus das rechtmäßige Verhalten gefolgert. Man führte das Alkoholverbot auf die berauschende Wirkung des Alkohols zurück und schloß daraus, andere, zur Zeit des Propheten noch nicht bekannte Rauschmittel wie Kokain ebenfalls als „von Gott verbotene Substanzen“ anzusehen und zu untersagen. Die Fortentwicklung der Gesellschaft mit dem Aufkommen immer neuer, bislang noch unbekannter Problemstellungen ließ auch die Qiyas nicht mehr überall als zielführender Weg der Rechtsfindung erscheinen. Ausgehend von der Voraussagung des Propheten, seine Gemeinde werde sich niemals in einem Irrtum einig sein, hielt man eine Gelehrtenversammlung für geboten, um zu einer Entscheidung zu gelangen, welches Verhalten mit den Vorgaben der bestehenden drei Rechtsquellen als konform anzusehen ist. Hieraus ergab sich die
6.1 Zum Begriff Scharia
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Ijmaa als zweite immaterielle, sowie insgesamt vierte islamische Rechtsquelle. Die Ijmaa galt als verbindlich, sofern kein Gelehrter innerhalb eines festgelegten Zeitraums gegen eine bestimmte Rechtspraxis Widerspruch eingelegt hatte. Vergleichbar einem Dogma in der Römisch Katholischen Kirche galt jedes neu errungene Ijmaa für die Ewigkeit und konnte nicht durch Ijtihad aufgehoben werden. Waren die frühen Rechtsgelehrten bis ins 10. Jahrhundert bereit, sich auf ein eigenständiges Bab Al-Ijtihad (Tor der Rechtsfindung), basierend auf eigenem Textverständnis, zu berufen, entstand unter den späteren Gelehrten die Tendenz, nur das Attaqlid (Prinzip der Nachahmung), basierend auf der Anerkennung einer Lehrautorität, fortdauernd gelten zu lassen. Ijtihad konnte nicht mehr stattfinden, sowie theoretisch keine Neuauslegung islamrechtlicher Texte in Bezug auf veränderte Gesellschaftsbedingungen. Einige Gelehrte hielten an ihrer Berechtigung zur eigenständigen Textauslegung fest, die jedem Schriftkundigen orts- und zeitunabhängig zugestanden sei. Die Tatsache, daß immer wieder Probleme auftraten, zu denen weder in einer der vier Rechtsquellen noch in den Kommentaren früher Rechtsgelehrter eindeutige Verhaltensvorschriften existierten, verlieh einer kontextbezogenen Neuauslegung weiterhin Relevanz. Dogmatisch gesinnte Gelehrte zweifelten die weitere Neuinterpretation dennoch an und verbanden damit eine Distanzierung vom ursprünglichen Sinn der Rechtsquellen. Im Zuge der anhaltenden Modernisierung der islamischen Gesellschaft entstand ein Konflikt unter den Gelehrten bezüglich des Stellenwerts von Ijtihad und Attaqlid, der die politische Debatte in islamischen Staaten mit prägte und bis heute prägt. Bestehen radikale Islamisten darauf, die Schlussfolgerungen der Gelehrten der islamischen Frühzeit als permanent gültig festzusetzen, vertreten gemäßigte Islamisten und fortschrittsorientierte Muslime die Auffassung, gesellschaftliche Progressivität verlange nach fortgesetzter Ijtihad, die vom Islam als vernunftorientierter Religion bewusst vorgesehen sei. Verwiesen wird auf den Stellenwert der rationalen Entscheidungsfindung in der ersten islamischen Gemeinde. Abu Zaid (1994) zufolge hätten die ersten Muslime sogar die Handlungen des Propheten kritisch hinterfragt, sowie nur diejenigen Verhaltensweisen als nachahmenswert aufgefasst, hinter denen sie eine unmittelbare göttliche Aufforderung erkannten: Die frühen Muslime haben sich immer wieder vergewissert, ob der Prophet in einer Angelegenheit aus der göttlichen Inspiration heraus gehandelt habe oder aus seiner eigenen Vernunft heraus zu einer Entscheidung gelangt sei. Wenn erkennbar war, daß die prophetische Einstellung aus eigenem Ermessen heraus erfolgt war, bestand der überwiegende Teil seiner Gefolgschaft auf ihrer abweichenden Position, zu der man aus eigener, rationaler Erkenntnis herausgefunden hatte.157 157 Abu Zaid, Nasr Hamid: Naqd Al-Chitab Addini, S. 78
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6 Problematik der Durchsetzung der Scharia und der Errichtung des islamischen Staates
Die divergente Auslegung von Koran und Sunna durch die Gelehrten führte zur Gründung verschiedener Madhabs (Rechtsschulen), von denen im sunnitischen Islam bis in die Gegenwart vier dominant geworden sind. Die Hanafiten, die älteste noch bestehende Madhab, die auf dem Gelehrten Abu Hanifa († 767) zurückgehen, stellen das individuelle Urteilsvermögen in den Mittelpunkt. Sie lassen der Ra`y, dem Qiyas und dem Istihsan (der fallbezogenen Einschätzung) einen entscheidenden Raum bei der Rechtsfindung. Der Gelehrte sieht sich aufgefordert, anhand seines Textverständnisses herauszufinden, in welchem Verhalten sich der Geist Gottes widerspiegelt. Eine andere Madhab, die auf Malik Ibn Anas († 795) zurückgeht, berücksichtigt in weit stärkerem Maße das Gewohnheitsrecht Medinas, welches vom Propheten nicht aufgehoben wurde, später durch die Ijmaa als berechtigt anerkannt, sowie weiterhin von den islamischen Autoritäten geschützt worden ist. Sowohl die vorwiegend in Kleinasien ansässigen Hanafiten als auch die in Nordafrika und nicht zuletzt in Marokko dominierenden Malikiten akzeptierten das in den neu islamisierten Gebieten vorgefundene Gewohnheitsrecht, so lange sie darin keinen Widerspruch zu Koran oder Sunna erkannten. Dies erklärt die innerhalb der islamischen Welt unterschiedliche Rechtspraxis in Einzelfragen, sowie kann als eine der Ursachen gewertet werden, weshalb der Islam in den mannigfaltigsten Kulturen und Weltregionen Akzeptanz und Anhängerschaft gefunden hat. Eine dritte Rechtsschule, die Schafiiten, beruft sich auf As-Safi´i († 820). Mit ihm wurde die islamische Rechtswissenschaft in der bis heute gültigen Art und Weise begründet. Er vervollständigte die Usul Al-Fiqh (Fundamente islamischer Jurisprudenz). Hierbei wurde der Ra´y in ihrem Stellenwert geringere Beachtung zugemessen, sowie eine buchstabengerechte Orientierung an den vier Rechtsquellen verlangt. Man legte Wert auf die Bedeutung der prophetischen Sunna und grenzte die zum Qiyas berechtigten Bereiche gegenüber der Praxis von Hannafiten und Malikiten ein. In den meisten arabischen Ländern blieben die Schafiiten in der Minderheit und konnten sich nur in Südostasien sowie am Horn von Afrika zur dominanten Madhab entwickeln. Die vierte, bezogen auf ihre Gefolgschaft, kleinste Schule richtet sich nach Ahmad ibn Hanbal († 855) und stellt die schrifttreue Auslegung der religiösen Quellen dem Individualverständnis vor. Die Qiyas wird ebenso wie Ra´y und Ijtihad als willkürliche Einflußnahme des Menschen auf göttliche und prophetische Vorgaben interpretiert und weitgehend unterbunden. Mit der politischen Einflusserlangung der Wahhabiya in Saudi-Arabien im 18. Jahrhundert, die den ihrer Zeit praktizierten Islam vom „historischen Makel“, der Bid´a (unislamischer Verhaltensweisen), hervorgerufen durch „fehlerhafte spätere Hineininterpretation“ zu befreien suchten, sowie zu der ursprünglichen Islampraktizierung zurückzukehren beanspruchten, erreichte die Hanbaliya auf der arabischen Halbinsel zunehmende Dominanz.
6.1 Zum Begriff Scharia
271
Obwohl die vier Rechtsschulen sich in Detailangelegenheiten voneinander unterscheiden, weisen sie im Grundsatz so viel Übereinstimmung auf, daß sich daraus ein spezifisch islamisches Rechtssystem ableiten ließ. Man akzeptiert, wenn ein Muslim sich an einer anderen Rechtsschule orientiert, sofern er in seiner Praxis konsequent bleibt und nicht nach Opportunität zwischen verschiedenen Madhabs variiert. Die gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung der divergenten Rechtsschulen hat religiöse Konflikte in Regionen, in denen mehrere Rechtsschulen praktiziert werden, in Geschichte und Gegenwart weitgehend ausgeschlossen. Der in der Umma zum Ausdruck gelangte islamische Zusammenhalt überwog gegenüber einer Identifikation mit einer bestimmten Madhab und ging mit der fortwährenden Bereitschaft einher, anderen Muslimen gleich welcher Ausrichtung in bedrohten Situationen Unterstützung zuzugestehen. Lediglich zwischen Sunniten und Schiiten kam es in verschiedenen Phasen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, die im Zweistromland sogar kriegerische Ausmaße annehmen konnten. Marokko mit der Dominanz der Sunniten malikitischer Prägung fand im Islam das identitätsstiftende Einheitskriterium, über das Berber wie Araber gleichermaßen die lokalen Gewohnheitsrechte des jeweils anderen akzeptierten. Regionale Abspaltungstendenzen blieben ebenso weitgehend aus wie ein Bestreben, Dominanz über die jeweils andere Kultur oder Ethnie zu erreichen. Diese gegenseitige Toleranz konnte sich nur entwickeln, weil die Rechtsschulen einerseits als geeignete, andererseits unvollkommene zeitbezogene Interpretationen der vier Rechtsquellen gewertet wurden. Abweichende Auslegungen behielten ihre Berechtigung. Jeder Gelehrte wurde in die Lage versetzt, aus seiner Erkenntnis heraus zu eigenen Interpretationen zu gelangen. Erst in dem Maße, indem den Auslegungen eines bestimmten Gelehrten der Stellenwert einer Rechtsquelle zugemessen wurde, bekam ein divergentes Schriftverständnis den Status von Häresie und Unglaube. Die religiöse Toleranz war ebenso zur Disposition gestellt wie die zeitgemäße Neuinterpretation der Scharia. Abu Zaid (1994) weist der Überhöhung der Einstellungen der frühen Rechtsgelehrten auf nahezu prophetische Stufe, die eine buchstabentreue Attaqlid dieser religiösen Vorbilder zum „rechtmäßigen Islam“ umdeutet, eine wesentliche Ursache für den Dogmatismus der Islamisten zu, der Pluralismus kaum Entfaltung biete: Die Erhebung der Schlussfolgerungen und Ijtihadergebnisse der frühislamischen Rechtsgelehrten zu Heiligen Texten, die keine Diskussion und Anzweifelung erlauben, behindert jegliche geistige Erneuerungsfähigkeit. Das besonders Fatale an dieser Entwicklung zeigt sich darin, dass der religiöse Diskurs eingeengt wird, weitere Ijtihad bleibt ausgeschlossen und die gesamte Religion erhält einen dogmatischen, undynamischen Charakter.158 158 ebd.: S. 84
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6 Problematik der Durchsetzung der Scharia und der Errichtung des islamischen Staates
Die vier Rechtsschulen geben den Muslimen die Richtschnur für ihr Leben, sowie einem islamischen Kollektiv das Fundament für staatliche Gesetzgebung vor. Es wird nicht nur nach rechtmäßigem und regelwidrigem Verhalten eingeteilt, sondern ebenso der Hintergrund einer Handlung, die damit verbundene Gesinnung sowie die Qualität eines Regelverstoßes mit einbezogen. Differenziert wird zwischen einem Verhalten, das irdische Sanktionen und Konsequenzen auf sich zieht und der allumfassenden wie gerechten Rechtspraxis Gottes im Jenseits, die unabhängig von der diesseitigen Rechtsprechung erfolgt. Im Bewusstsein, dass nicht in jedem Verhalten für die Mitmenschen Rechtschaffenheit oder Sündhaftigkeit sichtbar wird, grenzt die islamische Verhaltensethik fünf Moralstufen voneinander ab: Die erste Moralkategorie, das Haram (Verbot), betrifft ein Verhalten, das die Scharia eindeutig untersagt, wofür sie gewöhnlich bereits im Diesseits, in jedem Fall im Jenseits die gerechtfertigte Strafe vorsieht (beispielsweise die Riba). Dem gegenüber steht die Wajib (Pflicht), der unbedingt nachzukommen ist. Ihre Nichtbefolgung hat im Diesseits häufig noch nicht, spätestens aber im Jenseits die göttliche Strafe zur Folge. (beispielsweise das tägliche Gebet oder das Fasten im Ramadan). Die Mandub (Empfehlung) fordert den Muslimen zu Handlungen auf, in denen Frömmigkeit und göttlicher Gehorsam sichtbar wird (z.B. die freiwillige Almosengabe). Die Unterlassung hat keine Sanktionen zur Konsequenz, sofern sie nicht aus einer Geringschätzung heraus erfolgt. Die Mubah (Erlaubnis) gestattet alle Verhaltensweisen, die nach der Ethik der Scharia als wertneutral angesehen werden, d.h. sie sind weder ausdrücklich vorgesehen noch als verabscheuenswürdig charakterisiert und untersagt. Jener Moralstufe dürften aufgrund der fortgesetzten Ausdifferenzierung der Gesellschaft immer mehr Verhaltensoptionen zugezählt werden. Bei der letzten Moralkategorie, der Makruh (Verwerfung), handelt es sich um ein Verhalten, welches nach Möglichkeit ausgeschlossen werden sollte. Hierfür sieht die Scharia zwar keine Strafe vor, die bewusste Vermeidung wird spätestens im Jenseits goutiert (wie z.B. der Genuß von Pferdefleisch). In der islamischen Pflichtenlehre besteht neben der Einteilung in fünf Moralstufen die Unterscheidung nach Fard Al-Payn (Individualpflichten) wie dem Gebet, die jedem Muslimen auferlegt sind, gegenüber den Fard Al-Kifaya (Kollektivpflichten) wie z.B. dem Al-Jihad (Heiligen Krieg), die bereits als erfüllt gelten, wenn ein Teil der Gemeinschaft ihnen nachgeht und die übrigen Muslime hierfür die Voraussetzungen bieten. Die Rechts- und Entscheidungsfähigkeit wie das Gebot zur Einhaltung der religiösen Pflichten eines Individuums richten sich nach dessen Alter, Geschlecht, sowie der körperlich-seelischen Verfassung. Beginnt die Erbfähigkeit bereits im Säuglingsalter, bestehen in anderen Bereichen für die ersten Lebensjahre Rechtsbeschränkungen, einhergehend mit der Ausnahme von einigen später einzuhaltenden Pflichten. Ab dem Alter von 7
6.1 Zum Begriff Scharia
273
Jahren gilt ein Kind als mumayiz (entscheidungsfähig), getragen von der Fähigkeit, selbstständig nach Recht und Unrecht zu differenzieren. Bestimmte Pflichten können von ihm abverlangt werden. Die Volljährigkeit, sich äußernd in der Geschlechtsreife, geht mit der Erwartung eines ausgeprägten Verstandes und Pflichtbewußtseins einher. Von jedem erwachsenen männlichen Muslim wird erwartet, dass er seinen religiösen Verpflichtungen aus eigenem Antrieb nachkommt. Kinder sind beispielsweise vom Fastengebot im Ramadan weitgehend ausgenommen, sollten als Jugendliche zur Teilnahme bewogen werden, um als Erwachsene diese Regelung selbstständig einzuhalten. Frauen erhalten vergleichbare religiöse Rechte und Pflichten wie Männer, sind allerdings in speziellen Phasen von einem Teil der Pflichten ausgenommen (z.B. während der Periode oder der Schwangerschaft vom Fasten und den sonst obligatorischen Gebeten). Die Scharia mit ihrer Pflichtenlehre richtet sich grundsätzlich nach dem Prinzip der Eigenverantwortung an jeden Muslimen. Alter, Krankheit oder Unkenntnis kann von bestimmten Verpflichtungen befreien. Die Pflichtenlehre unterteilt in die Ibadat (Pflichten gegenüber Gott) gegenüber den Muaamalat (Pflichten gegenüber den Mitmenschen). Die Ibadat erläutert die Arkan Addin (fünf Säulen des Islam). Hierzu zählt die Schahada (Glaubensbekenntnis), die Salat (tägliches Gebet), die Zakat (Almosengabe), die Saum (Fasten im Ramadan) und die Hadj (Pilgerfahrt nach Mekka). Eine Verletzung jener in der Ibadat zum Ausdruck kommenden Pflichten wird als Sünde aufgefasst, bedingt den Ausschluß aus der islamischen Gemeinschaft allerdings erst, wenn eine Pflicht in ihrer geistlichen Bedeutung nicht gewürdigt wird. Neben der Gewährleistung der Ibadat stellt die Muaamalat Anforderungen an ein islamisches Staatswesen. Hierzu zählt neben Wirtschaft, Sozialwesen und Erziehungswesen das Familienund Erbrecht. Jenen Rechtsbereichen widmet sich folglich nicht nur die Scharia, sondern ebenso die islamische Rechtsgelehrtenausbildung. Das Familien- und Eherecht nimmt eine Vorrangstellung ein. Ehe und Familie gelten als natürliche Bestimmung jedes Menschen, weshalb der Islam in besonderer Weise am Schutz und Erhalt einer vorschriftsmäßigen Familienführung interessiert ist. Das Familienrecht enthält Vorgaben bezüglich Heirat, Scheidung, Partnerwahl, Ehevertrag, sowie Unterhalt und Sorgerecht. Zu den zwischenmenschlichen Beziehungen gehört die Ökonomie, weshalb die Scharia Vorschriften im Bereich des Handelsrechts, sowie zur Wirtschaftsethik enthält. Die Riba ist für Muslime verboten. Besonders streng sind die Vorgaben bezüglich der Waqf. Neben zivilrechtlichen Fragestellungen enthält die Scharia strafrechtliche Bestimmungen. Da ein Verstoß gegen eine Haram als bewußtes Zuwiderhandeln gegen Gottes Gebote angesehen und nicht nur im Jenseits, sondern bereits im Diesseits zu ahnden ist, sind drakonische, teilweise körperliche Strafen, die sogenannten Had-Strafen, angesetzt. Hierzu zählen Ab-
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6 Problematik der Durchsetzung der Scharia und der Errichtung des islamischen Staates
trennen von Gliedmaßen bei Eigentumsdelikten, über Peitschenhiebe, bis hin zur Steinigung bei Zina (Unzucht). Die härteste Strafe, die Todesstrafe, steht auf dem Irtadad (Abfall vom Glauben). Die islamischen Pflichten werden in ihrem Stellenwert unterschiedlich ausgelegt. Während radikale Islamisten die buchstabengerechte Befolgung aller religiösen Bestimmungen - unabhängig vom zeitlichen Kontext - verlangen, differenzieren moderne Rechtsgelehrte zwischen einem permanent gültigen Kern und kontextbezogenen Variablen, die durch Ijtihad zeitgemäß neu zu interpretieren sind. Krämer (1997) weist darauf hin, daß diese Unterscheidung den an das Individuum gerichteten Ibadat fortdauernd Relevanz zumisst, für ein islamisches Gemeinwesen verlangt, Bestimmungen der Muaamalat wie die Had-Strafen auf ihre kontextgebundene Zweckmäßigkeit zu hinterfragen: Die im islamischen Recht verankerte Differenzierung zwischen den „Pflichten gegenüber Gott, arabisch ibadat [...] und den „Pflichten der Menschen untereinander“, arabisch muamalat [...] erhält so eine neue und weitreichende Bedeutung. Während nämlich die[...] „Pflichten gegenüber Gott“ dem unantastbaren Kern des Islam zugeordnet werden, gelten die „Pflichten der Menschen untereinander“ mit Ausnahme weniger, in Koran und/oder Sunna definitiv geregelter Tatbestände als wandelbar, durch idjtihad stets neu zu definieren.159
Die Scharia hat in Marokko seit der französischen Protektoratszeit nur noch im zivilrechtlichen Bereich staatsrechtliche Gültigkeit. Im Bereich des Strafrechts haben die Franzosen ihre Rechtsvorstellungen dem marokkanischen Gemeinwesen aufgedrängt. Trotz geringer Modifizierung nach der Wiedererlangung der Souveränität behielt man die dahinter stehenden Grundprinzipien mehr oder weniger bei. Die im Westen häufig als „Wesen der Scharia“ aufgefassten HadStrafen sind im postkolonialen Marokko nicht zugelassen, obwohl man als konstitutionell islamischer Staat die Scharia allgemein für gültig erachtet. Die in Europa verfemte Todesstrafe ist in Marokko zwar nicht offiziell abgeschafft worden, seit 1994 in keinem Fall mehr ausgesprochen worden. Seit Amtsantritt Mohammeds VI. besteht die Tendenz, in zivilrechtlichen Angelegenheiten ebenfalls profane Kriterien stärker zu berücksichtigen. Die Neuordnung des Personenstandsrechts 2004 legt die Vorgaben der Scharia zu Grunde, läuft in der Praxis auf eine Orientierung an westlichen Vorbildern hinaus. Die jüngsten zivilrechtlichen Reformen gingen mit dem Anspruch einer zeitgemäßen Neuinterpretation der Scharia einher, die darauf abzielte, die Vorschriften der vier Rechtsquellen bei der Gesetzgebung regelkonform umzusetzen, sowie gleichzeitig mit einem modernen Rechtsstaatsverständnis in Übereinstimmung zu bringen. 159 Krämer, Gudrun: Der „Gottesstaat“ als Republik, S. 49
6.1 Zum Begriff Scharia
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Die kontextgebundene Auslegung der Scharia zieht aus der Tatsache ihre Berechtigung, dass in der Islamgeschichte zu keiner Zeit ein unveränderliches islamisches „Grundgesetz“ formuliert worden ist. Die vier Rechtsquellen besitzen seit ihrer Entstehung für alle Muslime Verbindlichkeit, eine kontextbezogene Anwendung fand immer wieder statt und stellte eine Identifizierung mit der Scharia in den unterschiedlichsten kulturellen Zusammenhängen her. Bereits die ersten rechtgeleiteten Khalifen waren bestrebt, eine Form der Umsetzung zu finden, die sich für ihr Gemeinwesen als förderlich erwies. Khalif Omar setzte das Handabtrennen bei Diebstahl als unangemessen erkannt aus, weil er den häufigen Diebstahl seiner Zeit als Verzweiflungsakt von wirtschaftlich Notleidenden diagnostizierte. Das Entstehen von vier unabhängigen Rechtsschulen stellt einen Beleg für Bereitschaft der frühen Rechtsgelehrten zu zeit- und ortsgebundener Neuauslegung dar, ohne die sich eine islamische Rechtslehre als interpretatorische diskursive Wissenschaft überhaupt nicht entwickelt hätte. Die Beschränkung auf die attaqlÍd als buchstabentreue Nachahmung einer Lehrautorität entwertet im Grunde genommen die vier Rechtsquellen, deren Neuinterpretation nach eigener Ratio nicht mehr erfolgt und stellt eine bestimmte kontextbezogene Schlussfolgerung den Ursprungstexten gleich. Bleibt die göttliche Offenbarung unverändert bestehen, erfährt die Scharia als praktische Realisierung im Alltag fortdauernd Relevanz. Jeder Muslim ist aufgefordert, die Scharia nach seiner Erkenntnis und seinem Schriftverständnis zu befolgen, sowie seine Mitmenschen zur Befolgung zu animieren. Die Festlegung einer bestimmten Praktizierungsvariante erwiese sich als hinderlich. Schimmel (1991) weist darauf hin, daß unzählige Generationen von Muslimen ohne Festsetzung der Scharia als spezifisches schriftlich fixiertes Dokument ausgekommen sind, da sie aus dem Studium der Rechtsquellen und der regelkonformen Praktizierung anderer heraus den geeigneten Weg zur Umsetzung erkannten: Die Scharia ist nicht kodifiziert worden; sie, die den ,praktischen Aspekt von Muhammads religiöser Doktrin´ bildet, ist durch die Jahrhunderte von Generation zu Generation weitergegeben worden.160
Von einigen, in der islamischen Lehre unbewanderten westlichen Intellektuellen ist die Forderung erhoben worden, die Scharia für ungültig zu erklären, sowie durch ein säkulares, am nichtislamischen Ausland orientiertes Grundgesetz für die Nationalstaaten zu ersetzen. Für die islamische Civil Society käme diese Forderung einem Abtrennen jahrhundertealter Rechtstradition gleich und stellte nichts anderes als ein Leugnen der islamischen Bestimmung einer Zivilisation dar. Die Tatsache, daß die Scharia sich auf von allen Muslimen akzeptiertes, 160 Schimmel, Annemarie: Der Islam, S. 55
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6 Problematik der Durchsetzung der Scharia und der Errichtung des islamischen Staates
schriftlich niedergelegtes „Wort Gottes“ bezieht, weist sie als endgültig aus und verleiht einen Ewigkeitscharakter, der trotz sich wandelnder gesellschaftspolitischer Rahmenbedingungen nicht zur Disposition gestellt werden kann. Eine Neuauslegung der in einem bestimmten zeithistorischen Kontext entstandenen Rechtsquellen hat die gesamte Islamgeschichte hinweg stattgefunden und dient in Zukunft ebenfalls der Akzeptanz von Recht und Gesetz unter den Bedingungen der Moderne. Zu verweisen ist auf die bei Hannafiten und Malikiten üblichen Qiyas, auf die ein islamisches Staatsrecht unter sich verändernden Gegebenheiten sich beziehen könnte, die in der Vergangenheit einen geeigneten Weg der Rechtsfindung im Sinne dynamischer Gesellschaftsentwicklung darstellten. Es gilt, sich des rationalen Urteilsvermögens zu bedienen, sowie unzeitgemäße Praktiken, die in keiner Rechtsquelle vorgegebenen sind, keinesfalls über die Erfordernisse der Gesellschaft zu stellen. Weder der Prophet noch die frühen Rechtsgelehrten verfolgten das Ziel, den Muslimen einige Jahrhunderte später für eine aufgeklärte, an den Errungenschaften der Moderne orientierte Zukunft Barrieren zu errichten.
6.2 Der Ruf zur Durchsetzung der Scharia Da die Scharia sowohl Individualpflichten für den Muslimen als auch Vorschriften für eine Gemeinschaftsordnung enthält, wird daraus die Forderung abgeleitet, ihre Vorgaben auf staatlicher Ebene zur Gültigkeit zu erheben. So entscheidend die Befolgung islamischer Grundsätze aus eigenem Antrieb heraus sich erweise, die Garantie einer aufrechten islamischen Gemeinschaft bestehe erst, wenn der eindeutige Verstoß gegen das islamische Gesetz im Diesseits sanktioniert werde. Ist die Festsetzung religiöser Gebote zu staatsrechtlichem Paragraphenwerk in einem modernen komplexen Gemeinwesen wie dem heutigen Marokko überhaupt möglich? Inwieweit stellt die Scharia eine staatliche Verfassungsgrundlage dar, wenn sie überhaupt nicht als in sich geschlossenes Grundgesetz besteht, sondern auf der Interpretation der Rechtsquellen von Gelehrten, sowie der Befolgung erlernter islamischer Pflichten beruht? Die Tatsache, daß die Marokkaner in den verschiedensten Ordnungsstrukturen die Scharia als Maßstab sowohl für die Beziehung zueinander als auch zur staatlichen Obrigkeit anerkannten, beweist, daß ihr Rechtsempfinden aus der Scharia erwachsen ist. Die Auswirkungen in der Praxis zeigten sich entsprechend der Interpretation der Herrschaftseliten uneinheitlich. Verlangt die Durchsetzung der Scharia in der Gegenwart die Orientierung an Vorbildern aus der Vergangenheit oder bedarf es einer erneuten Ijtihad, um die Kompatibilität mit den Ansprüchen der Moderne herzustellen? Die mannigfaltigen Schlussfolgerungen aus dem Ruf nach Erhe-
6.2 Der Ruf zur Durchsetzung der Scharia
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bung der Scharia zum staatlichen Gesetz gilt es für das neuzeitliche Marokko auf ihre Berechtigung zu hinterfragen, sowie einen Weg aufzuzeigen, den islamischen Charakter des Staates zu erhalten, ohne daß eine angemessene Reaktion auf die gesellschaftliche Entwicklung ausbleibt. Ein wesentliches Ziel marokkanischer Islamisten besteht darin, jegliche westlichen Elemente aus dem Obrigkeitssystem herauszunehmen, um die Scharia wieder vollständig zur staatsrechtlichen Gültigkeit zu erheben. Ein aufrechter islamischer Staat bestehe nur, wo alle Gesellschaftsbereiche sich an der Scharia ausrichteten und keine dem Islam widersprechenden Strukturen die Durchsetzung behinderten. Es reiche nicht aus, der Scharia eine formalrechtliche Bedeutung zuzumessen, sie müsse in jeder staatlichen Handlung, in jedem Gerichtsurteil, sowie in allen zwischenmenschlichen Beziehungen sichtbar sein. Ein Gemeinwesen, das diesen Anspruch nicht erfülle, könne sich nicht berechtigterweise als „islamischer Staat“ bezeichnen. Ein Teil der islamistischen Szene spricht dem gegenwärtigen Marokko die islamische Konstituierung ab. „Al-Adl WalIhsan“ geht noch einen Schritt weiter und sieht die islamische Zivilisation insgesamt durch die außerislamisch entstandenen Strukturen in ihrer Existenz bedroht. Gegengesteuert werden könne dieser Entwicklung politisch nur mit der Hinwendung zum ursprünglichen Khalifat, in dem das Rechtsbewusstsein geherrscht habe, wie es die Scharia vorsieht. Die Rückkehr zur Scharia lasse sich nicht in einer Revolution von oben erreichen, sondern werde erst allmählich in der beabsichtigten Qawma von unten in die Gesellschaft hineingetragen. Mit der Implementierung der Scharia verbindet man nicht die Erhebung idealistischer islamischer Rechtsvorschriften zu einem Sanktionsregime im aktuellen Marokko. Aus der Wiedererlangung des islamischen Wertempfindens heraus entstehe in der Bevölkerung das Verlangen nach islamischer Gesetzgebung. Über Daawa und Erziehung gelte es die ethische Normverbundenheit herzustellen, von der aus das islamische Recht sich vorschriftsmäßig im Alltag durchsetzen lasse. Verwiesen wird auf den Propheten, der die Gesellschaft Medinas erst zum Islam hingeführt habe, in einem zweiten Schritt den Glaubensgeschwistern die ethischen Maßstäbe gesetzt, um im letzten Schritt den Regelverstoß angemessen sanktionieren zu können. Diese Reihenfolge müsse im „neuzeitlichen Heidentum“ ebenfalls eingehalten werden, wenn das Khalifat in seiner Vollkommenheit realisiert werden solle. Yassine (2001) erkennt in der gegenwärtigen, von Materialismus und Besitzstreben beherrschten Gesellschaft in den körperlichen Had-Strafen keinen abschreckenden Wert, da den Menschen das Bewusstsein für rechtmäßiges Eigentum angesichts der ungerechten Disparitäten entgangen sei: Welche Rechtfertigung besitzt Handabtrennen für Diebstahl in einer Gesellschaft, die bereits auf Unrecht als Fundament basiert? Wie lässt sich das Bedürfnis nach
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6 Problematik der Durchsetzung der Scharia und der Errichtung des islamischen Staates
Teilhabe an Gütern angemessen bestrafen, wenn die Armen permanent ärmer werden und gleichzeitig erleben, wie die Reichen noch mehr bekommen?161
Nicht alle Islamisten interpretieren das gegenwärtige Staatsmodell als ungeeignet für die Durchsetzung der Scharia. Die PJD erkennt Marokko als „islamische Monarchie“ an, obwohl sie die Auffassung vertritt, die gegenwärtige Obrigkeit habe sich vom islamischen Kollektivbewusstsein distanziert. Die Scharia verliere in einem islamischen Gemeinwesen nicht ihre Gültigkeit, wenn seine Vertreter sich an die dahinter stehenden Grundsätze nicht gebunden fühlten. Die Marokkaner sind von der Verfassung her verpflichtet, sich zum Islam zu bekennen, sowie das islamische Regelwerk im Alltag einzuhalten. Diese Aufforderung gelte in besonderer Weise im politischen Bereich, über den man Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung nimmt. Die Wiederkehr islamischen Wertempfindens – darin sind sich die marokkanischen Islamisten einig – könne nur aus einer umfangreichen Daawa erwachsen, die der Bevölkerung wieder den Stellenwert der religiösen Regelungen vermitteln müsse. Erziehung und Daawatätigkeit erfolge nicht nur im privaten Lebensumfeld, sondern darüber hinaus in der Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung nach islamischen Maßstäben. Da die Scharia in einem islamisch verfassten Staat Verbindlichkeit erfahre, seien alle staatlichen Organe nach der Scharia zu konzipieren. Vielmehr seien die staatlichen Institutionen in ihrer Beziehung zueinander bereits aus dem islamischen Obrigkeitsbegriff erwachsen, den sie über regelkonforme Verantwortungsübernahme im staatlichen Alltag zur Geltung bringen. Das Grundsatzprogramm der Attawhid Wal-Islah (1999) assoziiert damit die Erwartung, dass die Verfassung den Repräsentanten staatlicher Organe das Bewusstsein vermittele, islamische Vorgaben einzuhalten und durchzusetzen: Wenn der Staat als das gemeinsame Agieren von Exekutive, Legislative und Judikative anerkannt wird, stellt er sich als ein von einer Verfassung gesteuertes gesellschaftliches System dar. In diesem System bestehen Institutionen und ein Verwaltungsapparat, welche die Aufgaben der staatlichen Gewalten wahrnehmen, sowie nach der Verfassung vollziehen sollen. Dieser Grundsatz erfordert, dass alle staatlichen Gewalten ihre Funktionen vom Islam erhalten, sowie nach islamischen Regeln auszuüben haben. Die daraufhin betriebene Politik muß sich ebenfalls am Islam orientieren.162
Angesichts veränderter Gesellschaftsumstände könnten sich die Anforderungen an ein auf der Scharia basierendes Staatswesen nach Auffassung der gemäßigten Islamisten ändern, sofern die Rechtsquellen die Leitlinien weiterhin vorgäben. 161 Yassine, Abdessalam: Al-Adl: Al-Islamiyun Wal-Hukm, S. 164 162 Attawhid Wal-Islah (Hrsg.): Al-Mitaq, S. 59
6.2 Der Ruf zur Durchsetzung der Scharia
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Die islamische Rechtsgrundlage stehe gesellschaftlichen Reformen in keiner Weise entgegen. Diese Reformen gelangten vielmehr ohne die Scharia als Fundament nicht zur gemeinschaftsstiftenden Wirkung. Erst vor dem islamischen Hintergrund lasse sich eine wertgebundene Reformpolitik realisieren. Die Scharia biete die Voraussetzung, gesellschaftspolitische Probleme zeitgemäß zu bewältigen. Die gesamte Islamgeschichte hindurch diente die Scharia als Basis für zivilisatorische Progressivität, weshalb sie in der Zukunft weiterhin den Rahmen eines erstrebenswerten Fortschritts darstelle. Ändern sich Anforderungen an ein Gemeinwesen im Laufe der Zeit, stelle die Scharia, zeitgemäß ausgelegt, fortdauernd demnach die Richtschnur. Im zivil- und strafrechtlichen Bereich seien heutzutage andere Schwerpunkte zu setzen als in der präkolonialen marokkanischen Gesellschaft, die islamischen Wertkategorien müssten erhalten bleiben. Während radikale Islamisten die marokkanische Reform des Mudawana von 2004 als Distanzierung von der Scharia vehement zurückweisen, sind gemäßigte Islamisten bereit, ausgehend von einem geänderten Geschlechterrollenverständnis eine Reform mitzutragen, sofern Ehe und Familie weiterhin als vom Islam geschützte Institutionen mit auf Grundlage der Scharia verteilten Rechten und Pflichten geachtet bleiben. Ein kontextgebundenes Schriftverständnis sieht eine Rückkehr zu den Had-Strafen für die marokkanische Gegenwart ebenfalls nicht vor. Stellten Vergehen wie Diebstahl oder Unzucht nach wie vor schwerwiegende islamische Sünden dar, ließen sie sich in der modernen Gesellschaft über die traditionellen Bestrafungsformen nicht verhindern. Indem die PJD die Demokratie als zeitgemäße Umsetzungsweise der Schura interpretiert, konstatiert sie, dass die Scharia moderne Rechtsstaatlichkeit nicht aufhebe, sondern den gesetzlichen und ethischen Rahmen vorgebe, in dem Demokratie in einem islamischen Staat funktioniere. Wenn gegenwärtig autokratische prämoderne Tendenzen innerhalb des politischen Systems Marokkos sich verfestigt hätten, sei dies auf den fehlenden Bezug der herrschenden Eliten zum Islam zurückzuführen. Da ihnen das islamische Bewusstsein fehle, folgten ihre politischen Entscheidungen kaum den Leitlinien der Scharia. Die Folge zeige sich in Eigennutz und verantwortungslosem Machtstreben, resultierend aus mangelnder Sensibilität gegenüber den Anliegen der Bevölkerung. Bei einem aus der Schura abgeleiteten Demokratieverständnis sei es unvorstellbar, dass materielle Interessen dem Gemeinwohl übergeordnet würden. Radikale Islamisten weisen Demokratie wie jegliches vernunftgeleitete westliche Staatssystem zurück. Die Scharia gebe verbindliche Regeln für die Ordnung der Gesellschaft vor, so daß es keiner vernunftbegründeten menschlichen Gesetzgebung bedürfe. Mit der Orientierung an einem der Ratio folgenden Ordnungssystem verlasse das Gemeinwesen seine islamische Grundlage, da sich staatliche Politik vom Islam losgelöst legitimiere. Politische Verantwortungsträger seien nicht in der Lage,
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nach islamischen Maßstäben zu entscheiden, wenn die Strukturen, in denen sie agierten, auf außerislamischen Prinzipien basierten. Da der Islam ebenso als Staatssystem wie als Religion interpretiert wird, komme für radikale Islamisten, wie Hosen (2004) erläutert, jegliche Einbeziehung westlicher säkularer Systemvorgaben in die Politik einer Distanzierung von der Scharia gleich: This group argues that adopting constitutionalism, which is outside of the Islamic discourse, will lead Muslims to abandon Islam by separating it from politics. Moreover, democracy and the rule of law are concepts alien to Islam and were introduced by western tradition. Unlike the law in a secular state, the Shari`ah makes no distinction and separation between religion and state. Islam is a religion and a state (din wa dawlah). State politics is part of Islamic teachings, in that Islam is a religion as much as it is a legal system.163
Dieses Schariaverständnis bestreitet, dass in einer Gesellschaft, die sich an der Scharia orientiert, politische Entscheidungen von Menschen getroffen werden, die auf ihre jeweiligen Zeitumstände reagieren. Insofern wird die Scharia grundsätzlich aus einem Kontext heraus interpretiert, unabhängig davon, ob die Verantwortungsträger sich dieser Tatsache bewusst sind oder nicht. Besitzen die religiösen Regeln als göttlichen Ursprungs für den einzelnen Muslimen wie für ein Gemeinwesen permanent Relevanz, ihre Umsetzung erweist sich nach den spezifischen Bedingungen als unterschiedlich. Bei in den Rechtsquellen exakt beschriebenen Problemstellungen erfordert die Durchsetzung der Scharia eine bestimmte vorgegebene Herangehensweise, die Jahrhunderte nach dem Propheten nach wie vor Berechtigung besitzt. Da die meisten Probleme in der Moderne, insbesondere in der Politik Äquivalente weder im Schrifttum noch in der frühislamischen Ordnung besitzen, ist entweder die Orientierung an zeitgenössischen Vorbildern oder an der eigenen Vernunft die einzige zielführende Lösungsvariante. Indem die frühislamischen Dynastien das Gewohnheitsrecht der neu zum Islam gelangten Völker zuließen, demonstrierten sie, daß die Durchsetzung der Scharia zu außerislamisch entstandenen Obrigkeitsstrukturen für sie keinen Widerspruch beinhaltete. Der Prophet hat den Bewohnern Medinas vor seiner Ankunft bestehende Rechtspraktiken weiterhin gestattet, sofern sie Gottes Offenbarung nicht entgegenstanden. Wer ein aus bestimmten Kontext heraus entstandenes Obrigkeitssystem aus der Vergangenheit im Marokko der Gegenwart zur rechtmäßiger Durchsetzung der Scharia erklärt, hat den Zweck der prophetischen Ordnung nicht erkannt. Sein Staatsverständnis unterscheidet sich gleichermaßen von westlichen Demokratien wie vom Obrigkeitsbegriff des Propheten, die beide eine permanente Neuorientierung an den berechtigten, sowie sich ändernden 163 Hosen, Nadirsyah: In Search of Islamic Constitutionalism, p. 4
6.2 Der Ruf zur Durchsetzung der Scharia
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Ansprüchen der Gemeinschaft verlangen. Eine buchstabenorientierte Nachahmung der historischen Medinastaates entspricht dem Ziel der Scharia ebenso wenig wie eine Wiederbelebung der klassisch griechischen Stadtstaaten eine moderne Demokratie realisieren kann. Obwohl der Begriff Demokratie außerhalb der islamischen Zivilisation entstanden ist, enthält er eine Wesensverwandtschaft mit der Schura. Beide verlangen, aus der Vernunft heraus einen Zeitbezug herzustellen und ein Gemeinwesen nach vorgegebenen ethischen Grundsätzen zu regeln. Resümierend kann ein Gemeinwesen, dass von Muslimen für Muslime konzipiert ist, zurecht beanspruchen, die Grundsätze der Scharia zu staatsrechtlicher Gültigkeit zu erheben. Es gilt das islamistische Ansinnen nach verstärkter Orientierung der marokkanischen Gesetzgebung an der Scharia nicht als „rückwärtsgewandt“ zurückzuweisen, sondern jedes Gesetz auf die Vereinbarkeit mit dem Werteverständnis des Islam zu reflektieren. Die Komplexität der neuzeitlichen Gesellschaft erfordert eine staatliche Regelung in Angelegenheiten, zu denen sich aus den vier islamischen Rechtsquellen keine Handlungsanweisung herauslesen lässt. Mittels Qiyas und Ijtihad sind die Marokkaner in der Lage, zu zeitgemäßen politischen Entscheidungen zu gelangen. Die Umsetzung muß ebenfalls in zeitgemäßer Form erfolgen, d.h. über eine geschriebene Staatsverfassung mit eindeutig definierten Rechten und Pflichten. Die Interpretation der Demokratie als adäquate Umsetzung der Schura stellt einen Weg dar, Vorgaben der Scharia und Ansprüche der Gegenwart in der Politik in Konformität zu bringen. Die Forderung nach Beibehaltung oder Rückkehr zu frühislamischen Obrigkeitsmodellen erwächst aus einem Schariaverständnis, das die Attaqlid über die Ijtihad stellt, sowie außerislamisch entstandenen Erkenntnissen von vorn herein die ethische Kompatibilität mit der Scharia abspricht. Für eine zivilisatorische Weiterentwicklung besteht ebenso wenig die Basis wie für eine dauerhafte Akzeptanz der Ordnungsstrukturen in der Bevölkerung, deren Ansprüche an Politik und Staat sich im Laufe der Zeit ändern. Die Polygamie wird unter den Bedingungen der Gegenwart beispielsweise nicht mehr als erstrebenswert angesehen. Erst über eine zeitgemäße Schariaauslegung war es der marokkanischen Politik möglich, das moderne Geschlechterrollenverständnis in der Gesetzgebung zu berücksichtigen, ohne islamische Grundsätze zur Disposition zu stellen. Der Ruf zur Durchsetzung der Scharia behält in einem modernen Staatswesen nur Berechtigung, wenn er mit rationaler Entscheidungsfindung einhergeht und die Bereitschaft einschließt, die kontextbezogene Interpretation der Scharia in ein wandlungsfähiges staatliches Gesetz zu überführen. Man erhält sich die Möglichkeit, bei geänderten Bedingungen den Gesetzestext ebenfalls zu ändern, ohne den dahinter stehenden Regeln der Scharia ihre Gültigkeit zu entziehen. Durch den Erhalt des Bab Al-Ijtihad wird die Scharia keineswegs aufgehoben, sondern in ihrer
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6 Problematik der Durchsetzung der Scharia und der Errichtung des islamischen Staates
Bedeutung aufgewertet, da er permanent zur geistigen Auseinandersetzung mit dem Schrifttum wie mit der gesellschaftlichen Realität auffordert.
6.3 Wie kann die Durchsetzung der Scharia erfolgen? Unter der Voraussetzung, daß die Scharia im Verhalten eines Muslimen und darüber hinaus eines islamischen Kollektivs dauerhaft Relevanz behält, erwächst eine Debatte bezüglich der Durchsetzung islamrechtlicher Bestimmungen unter den Bedingungen eines rational begründeten, kontextgebundenen Rechtsstaats. Darf ein Gemeinwesen von jahrhundertealter islamischer Rechtstradition abweichen, um weiterhin berechtigterweise die Scharia als Grundlage vorzugeben? Erfordert die Scharia eine Befolgung zu jeder Zeit an jedem Ort in gleicher Weise oder bedingt der Kontext die Praktizierungsform? Da die Rechtspraxis islamischer Staaten nicht nur von vergangenen, sondern ebenso von zeitgleichen islamischen Ordnungssystemen variiert, legt dies eine Pluralität in der Umsetzung der Scharia nahe. Indem islamische Staaten den Anspruch auf Konformität ihrer nicht übereinstimmenden Strukturen mit der Scharia erheben, entsteht nicht selten der Eindruck einer Beliebigkeit, die keine allgemein verbindliche Rechtsgrundlage zulasse. Vielmehr verbreitet sich das Bewusstsein, die staatlichen Gesetze seien weniger ausgehend von rationaler Auslegung religiöser Schriften als mehr aus Opportunitätskriterien von Herrschaftseliten heraus entstanden. Die Erkenntnis, dass islamisch konstituierte Staaten im konkreten Alltag profanen Interessen den Vorrang gewähren, verleitet dazu, die gegenwärtige staatliche Ordnung generell als inkompatibel mit der Scharia zu interpretieren. Läßt sich die Scharia überhaupt mit modernem, auf Interessensausgleich beruhendem Staatsverständnis vereinbaren? Einen Obrigkeitsbegriff gilt es zu formulieren, in dem die Scharia in vorgeschriebener Weise zur Durchsetzung gelangt, von den Bürgern nicht als Einschränkung ihrer Freiheit erfahren wird, sowie die Grundlage einer dynamischen und zugleich zielgerichteten Entwicklung Marokkos bietet. Für die Übertragung der Scharia auf modernes Staatsrecht fordern liberale Rechtsgelehrte zu differenzieren zwischen Passagen, die im zeitgenössischen Kollektiv buchstabengerecht vollzogen werden sollten, weil sie in jeder Hinsicht ein islamisches Gemeinwesen verpflichten, gegenüber Passagen, die auf ihre ursprüngliche Intention hin zu reflektieren, sowie dem Zivilisationsverständnis der Moderne gemäß neu auszulegen seien. Der islamische Wertebegriff bilde das geistige Fundament der Scharia, welches sich in der Gesetzgebung widerspiegeln solle. Unzweideutige Aussagen der Schriften behielten in einem islamischen Gemeinwesen verbindlichen Rechtscharakter. Das Riba-Verbot beispielsweise erfordere heutzutage nicht, jegliche Bankgeschäfte zu untersagen, es müssten
6.3 Wie kann die Durchsetzung der Scharia erfolgen?
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über islamische Banken erst Bedingungen hergestellt werden, über die ein durch Zinsforderungen sich ergebendes Abhängigkeitsverhältnis vermieden werden könne. Der Grundsatz, daß wirtschaftliches Agieren ohne Zinsen auskommen müsse, bleibe trotz gesellschaftlicher Weiterentwicklung bestehen, sowie sei über die staatliche Gesetzgebung zu realisieren. Die Scharia basiert auf dem unveränderlichen Wort Gottes und ist permanent und überall zu befolgen. Geänderte Umstände rechtfertigen keine Abweichungen von religiösen Geboten, mit denen die staatlichen Gesetze in Konformität gebracht werden müssen. Verbunden ist damit keineswegs die Nachahmung von Praktizierungsvarianten der islamischen Frühzeit. Zahlreiche Vorgaben der Scharia sind in einer Weise formuliert, daß sie nach den vorherrschenden Bedingungen variabel ausgelegt werden müssen. Sofern eine Handlung auf der Ethik der göttlichen Offenbarung gründet, ist zeit- und ortsgebundene Auslegung der Scharia ausdrücklich vorgesehen. In dem Maße wie die Anforderungen des Korans eindeutig sind besteht keine Möglichkeit für eine Entscheidung aufgrund von Opportunität. Lewis (1994) erkennt in der Differenzierung des Korans in präzise dargelegte Bestimmungen gegenüber Bestimmungen, die in Parabelform geoffenbart worden sind, die Basis für eine grundsatztreue, zugleich kontextbezogene Schariapraktizierung: For Muslims, the most sacred text – indeed the only text to which that adjective can properly be applied – is the Qur`an. The Qur`an is the primary source of holy law and where it contains a clear and unequivocal statement, this is accepted as an eternal commandment equally valid for all times and all places. The clearer and more explicit the statement, the less room there is for interpretation. But where, as often, the statement is elliptic or allusive, there is a need for interpretation and an opportunity for creative ingenuity.164
Im konkreten Alltag entstehen fortdauernd neue Problemstellungen, zu denen in keiner der vier Rechtsquellen unzweideutige Vorgaben existieren, so daß eine kontextbezogene Neuinterpretation weiterhin notwendig und angemessen bleibt. Sie sollte gesellschaftliche Veränderungen einbeziehen, sowie die Ethik für eine rationalen Kriterien folgende moderne Politik vorgeben. Eine berechtigte Kritik an einer im Westen wahrgenommenen Distanzierung von religiöser Ethik darf nicht mit einer Verweigerung gegenüber gesellschaftlicher Modernisierung einhergehen. Es verlangt zu differenzieren zwischen gesellschaftlicher Weiterentwicklung basierend auf ethischer Grundlage, gegenüber unreflektierter Nachahmung westlicher Vorbilder. Die vom Islam akzeptierte und angestrebte Progressivität sollte in einem bestimmten Rahmen, in einem Bezugssystem ablaufen und nicht ungesteuert vonstatten gehen. Der Ijtihad stellt die Grundlage für eine poli164 Lewis, Bernard: Muslims in Europe, p. 2
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6 Problematik der Durchsetzung der Scharia und der Errichtung des islamischen Staates
tisch begleitete Modernisierung unter den Bedingungen der Scharia. Sie mündet in eine dynamische zielgerichtete, sowie zugleich wertgebundene Weiterentwicklung der islamischen Zivilisation hinein. Zur freien Entfaltung einer modernen Gesellschaft bietet die islamische Ethik sowohl im individuellen als auch kollektiven Bereich die Basis, sofern ein zeitgemäßes Verständnis den Maßstab darstellt. In dieser modernen, mit der Scharia begründeten, islamischen Ethik sind gesellschaftliche Wertbegriffe enthalten, die in der westlichen Zivilisation ebenfalls zu den Leitidealen gehören, sowie politischem Agieren die Legitimation verleihen. Wenn mit dem Anspruch einer an der Scharia orientierenden Staatsordnung nicht die Rückkehr zu frühislamischen Obrigkeitsstrukturen verbunden ist, sondern die Anerkennung, daß die damit assoziierten Werte im außerislamischen Kontext gleichermaßen Beachtung finden, konstatiert Krämer (1997), stellten sie das geistige Fundament einer islamischen Moderne dar: Es lohnt sich, die Grundwerte, die Islamisten als konstitutiv für eine islamische Ordnung betrachten, näher ins Auge zu fassen. Tatsächlich zeigen sich [...] Ansätze, die die These von der „Islamisierung der Moderne“ (und der Modernisierung des Islam?) stützen könnten. Zu den [...] aufgelisteten Grundwerten zählen nicht nur Gerechtigkeit und der djihad, also jegliche Anstrengung auf dem Pfad des Glaubens, sondern auch Freiheit, Gleichheit und Verantwortung. Letztere [...] verraten vielmehr den Einfluss modernen politischen Denkens. Insofern wären auch auf dem Gebiet der Werte Innovationen verzeichnen, will man nicht – wie manche zeitgenössischen Muslime dies tun – argumentieren, daß diese Werte nur dem wahren Islam des Koran und der reinen Frühzeit zum Ausdruck verhelfen, [...].165
In Anlehnung an den Koran, sowie die tafsÍr (Kommentare der frühen Rechtsgelehrten) erlassen islamische Staaten auf den gesellschaftlichen Kontext bezogene Gesetze. Der konkrete Inhalt unterscheidet sich zwischen den einzelnen Staaten wie von prämodernen islamischen Gemeinwesen. Marokko und Saudi-Arabien sind in der sunnitisch geprägten islamischen Welt die einzigen Nationalstaaten, die sich noch offiziell bei der Gesetzgebung auf die Scharia berufen, wie wohl in anderen islamischen Staaten die Scharia ebenfalls den geistigen Orientierungsrahmen für die Legislative darstellt. Sofern die Bab Al-Ijtihad weiterhin offen bleibt, sowie als Weg der Umsetzung islamischen Rechts anerkannt wird, besteht die Voraussetzung für moderne rechtsstaatliche Reformen. Das marokkanische Personenstandsgesetz beispielsweise ließ sich unter Beibehaltung der islamischen Grundregeln von der Tradition entstammenden Benachteiligungen der Frau befreien, weil das islamische Geschlechterrollenverständnis über Ijtihad mit den Anforderungen der Moderne in Kompatibilität gebracht wurde. Ohne er165 Krämer, Gudrun: Der „Gottesstaat“ als Republik, S. 51
6.3 Wie kann die Durchsetzung der Scharia erfolgen?
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kannten Widerspruch zu eindeutigen Regelungen der Rechtsquellen stellt die Orientierung der staatlichen Gesetzgebung an den Bedingungen der Moderne den Maßstab dar. Für die Überprüfung des zu regelnden Sachverhalts auf die Vereinbarkeit mit der Scharia läßt man Fatwas (religiöse Rechtsgutachten) von Ulama erstellen. Sie betreffen beispielsweise den Umgang mit neuen Möglichkeiten der Medizin und sind in dieser Hinsicht vergleichbar mit der Enzyklika des Vatikans. Eine geistige Einflußnahme religiöser Autoritäten auf die staatliche Gesetzgebung in ethischen Fragen ist im 21. Jahrhundert keine spezifisch islamische Verhaltensweise, sondern erfolgt mit unterschiedlichen Ergebnissen in demokratischen westlichen Staaten gleichermaßen, wo die christlichen Kirchen zu politischen Fragen öffentlich Stellung beziehen. Die Gesetzgebung selbst wird nicht von Geistlichen vorgenommen, sondern bleibt dem demokratisch legitimierten Souverän überlassen. Nach islamischer Lehre sind nur die Ulama zur eigentlichen Textauslegung berechtigt, die daraus folgende Ausformulierung als staatliches Gesetz sollte einer mit den Gegebenheiten vertrauten aus dem Majoritätsvotum hervorgegangenen Legislative zugestanden sein. Mit der Forderung nach fortgesetzter Orientierung an der Scharia wird nicht selten ein Misserfolg sowie ein Zurückweisen des „westlichen Konzepts der Säkularität“ assoziiert. In der Tat kann das Verhältnis zwischen Religion und Staat in einem islamischen Gemeinwesen nicht westliche Modelle unreflektiert übernehmen, weil der Islam eine andere Beziehung zu staatlicher Obrigkeit verlangt als das im Westen dominierende Christentum. Der Einfluß von religiösen Autoritäten auf politische Entscheidungen ist in westlichen Staaten ebenfalls erkennbar, ohne daß daraus ein Entwicklungsrückstand entstanden ist. Der Marxismus, der Religion bewusst aus der öffentlichen Sphäre herauszuhalten bestrebt war, ist nicht zuletzt an einem religiös motivierten Widerstand sowohl in Europa als auch in der islamischen Welt gescheitert. Eine islamische Gesellschaft kann zurecht darauf bestehen, daß islamische Wertmaßstäbe sich in politischen Entscheidungen widerspiegeln, sofern sie auf Vernunftbasis erfolgen. Religiöse Gelehrte sind als anerkannte gesellschaftliche Autoritäten in der Lage, zur Akzeptanz politischer Reformen in der Bevölkerung beizutragen. Eine bei westlichen Intellektuellen nicht selten anzutreffende Gleichsetzung von religiösem Einfluß auf die Politik mit einem prämodernen Staatsverständnis stigmatisiert – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – eine religiös empfindende Gesellschaft mit einem daraus abgeleiteten ethischen Anspruch an staatliche Institutionen als „entwicklungsresistent“. Diese Auffassung trägt dazu bei, dass zukunftsweisende westliche Ideen in der islamischen Zivilisation als areligiös gelten und nicht auf Resonanz treffen. Man vertieft die Skepsis gegenüber dem Westen und erreicht, daß die Vorbilder für die gesellschaftliche Zukunft in der islamischen Vergangenheit gesucht werden, da die Moderne mit einer dem Islam widersprechenden
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6 Problematik der Durchsetzung der Scharia und der Errichtung des islamischen Staates
Weltsicht verbunden wird. Wenn Tibi (1995) eine „erfolgreiche Säkularität“ als einzige Alternative zum religiösen Fundamentalismus konstatiert, nimmt er den konstruktiven Beitrag des zeitgenössischen Schariaverständnisses für die politische Modernisierungsdebatte ebenso wenig zur Kenntnis wie die von ihm kritisierten Fundamentalisten, die lediglich den entgegengesetzten Schluß hieraus ziehen: Ich bezweifle den Bedarf an Religion in unserem Zeitalter keineswegs. Dennoch steckt hinter dem Aufstieg des religiösen Fundamentalismus das Scheitern säkularer Institutionen, und Lösungen für die Probleme der Menschheit im Übergang zum nächsten Jahrtausend sind von religiösen Bewegungen nicht zu erwarten – auch dann nicht, wenn sie nicht politisiert und zu Fundamentalismen werden.166
Eine moderne, an islamischen Werten orientierte Gesetzgebung kann nur erfolgen, wenn sich die marokkanische Gesellschaft der Relevanz der dahinter stehenden Thematik bewusst ist. Sie betrifft nicht nur die Ulama und Abgeordnete im Parlament, sondern die gesamte Nation, sowie darüber hinaus jeden Muslimen, der an ethisch gebundener Weiterentwicklung seiner Zivilisation interessiert ist. Die Diskussion über die angemessene Durchsetzung der Scharia darf sich nicht auf den Gelehrtendiskurs beschränken, sondern muß auf allen gesellschaftlichen Ebenen geführt werden, von der Schule über die Parteien und das Parlament bis zu den Islamisten, die ein auf der Scharia begründetes Gemeinwesen zu ihrer politischen Grundforderung erheben. Erweist sich der dahinter stehende Anspruch für einen islamischen Staat wie Marokko als berechtigt, die Realisierung im staatlichen Alltag kann nur über demokratischen Austausch von gegensätzlichen Argumenten, sowie in Gegenüberstellung von entgegengesetzten Konzepten erfolgen. Diese öffentliche Auseinandersetzung, in die alle gesellschaftlichen Eliten einbezogen sein sollten, bringt erst die angestrebten Ergebnisse hervor, wenn eine abweichende Auslegung als gleichwertig akzeptiert wird. Nur die Reflexion der eigenen Schlussfolgerungen einhergehend mit der Einbeziehung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse stellt die Voraussetzung für einen Schariabegriff, der moderne Staatlichkeit mit religionsethischen Grundsätzen im Gemeinwesen vereinbaren läßt. Al-Ansari (2003) interpretiert die islamistische Gleichsetzung der zeitbezogenen Neuinterpretation der Scharia mit der säkularistischen Forderung nach einer Herauslösung des Staates aus der religiösen Rechtfertigungslogik als entscheidendes Hindernis für eine gesellschaftliche Modernisierung auf der Basis der Scharia:
166 Tibi, Bassam: Krieg der Zivilisationen, S. 180
6.3 Wie kann die Durchsetzung der Scharia erfolgen?
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Die größte Barriere auf dem Weg zu einem modernen Verständnis der Scharia erwächst aus einer inneren und äußeren Ursache heraus. Die innere besteht in der fehlenden Bereitschaft der Islamisten, Kritik an sich selbst und den eigenen Autoritäten zuzulassen, sowie ihre bisherigen Schlussfolgerungen zu hinterfragen; die äußere zeigt sich in der Erfahrung, daß diejenigen, die sich dieses Themas bewusst zuwenden, von den meisten Islamisten als Opponenten stigmatisiert werden. Ihnen wird immer wieder unterstellt, sie zielten auf eine grundsätzliche Separierung von Religion und Politik hinaus, nach dem Motto „Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist.“167
Der Anspruch der Scharia als universelles, zeitungebundenes göttliches Gesetz erhebt sie in einem islamischen Gemeinwesen wie dem Königreich Marokko zum Maßstab für alle institutionellen Beziehungen, sowie jegliche irdische Gesetzgebung. Damit einher geht keineswegs der Fortbestand jahrhundertealter Rechtspraktiken, geschweige denn eine buchstabengerechte Nachahmung des historischen Medinas. Vielmehr bedürfen gesellschaftliche Regelungen in allen Bereichen, vom Familienrecht, über das Bildungswesen bis zu den Bestimmungen für den Handel und Ökonomie einer Selbstreflexion, inwieweit sie im bestehenden Kontext die Grundsätze die Scharia widerspiegeln. Hierzu ist bei weiterer Ausdifferenzierung der Gesellschaft die Akzeptanz permanenter Ijtihad erforderlich. Die Scharia sollte den ethischen Rahmen staatlicher Gesetzgebung vorgeben, für die konkrete Umsetzung stellt der Bezug zur gesellschaftlichen Alltagsrealität die Voraussetzung. Nicht die Scharia erweist sich als Hindernis für eine moderne Staatlichkeit, sondern das fundamentalistische Schriftverständnis, welches negiert, daß Gott seine Offenbarung der Menschheit in ihrem zeitlichen und örtlichen Bezugssystem als Richtschnur gegeben hat. Ein islamischer Staat, der die Scharia als geistiges Fundament anerkennt, sieht sich verpflichtet, jede gesetzliche Neuregelung auf die Vereinbarkeit mit den religiösen Rechtsquellen zu hinterfragen. Sollte die Formulierung der ethischen Rahmenbedingungen den religiösen Gelehrten angesichts ihrer Schriftkenntnis zugestanden sein, die Umsetzung im politischen Alltag muß demokratischer Auseinandersetzung folgend, von gewählten Volksvertretern durchgeführt werden. Indem der Islam jedem schriftkundigen Muslimen zubilligt, zu ethisch gebundenen Entscheidungen zu gelangen, bleiben die Werte der Scharia in der marokkanischen Staatsgesetzgebung maßgebend, sofern die Entscheidungsträger sich neben ihrer Ratio auf das religiöse Schrifttum beziehen.
167 Al-Ansari, Farid: Al-Bayan Adda`awi, S. 3
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6 Problematik der Durchsetzung der Scharia und der Errichtung des islamischen Staates
6.4 Der islamische Staat 6.4.1 Der Begriff islamische Regierung Seit der Islamisierung Marokkos haben alle herrschenden Dynastien ihre politischen Entscheidungen mit dem Islam legitimiert. Man berief sich unmittelbar auf Gott und wähnte sich als „islamische“ Herrschaft. Die Auswirkungen des dahinter stehenden Anspruchs auf die Entwicklung des Gemeinwesens zeigten sich uneinheitlich. Ist es überhaupt berechtigt, wenn staatliche Exekutive die Religion als Begründung für ihre Politik heranzieht? Welche Voraussetzungen sollte eine politische Obrigkeit erfüllen, damit sie nicht nur als rechtmäßig, sondern als gerecht im Sinne des Islam anerkannt werden kann? Das islamische Kollektivbewusstsein legt nahe, daß Regierungen nicht nur rationale Herrschaftsinteressen, sondern in erster Linie islamische Verpflichtungen einhalten müssen. Trotz ihres islamischen Herrschaftsanspruchs gelang es der marokkanischen Obrigkeit zuletzt nicht, die mehrheitlich muslimische Bevölkerung von ihrer Politik zu überzeugen. Erweist sich die islamische Rechtfertigungslogik in einem modernen Gemeinwesen als Hindernis für eine Vertrauensbasis zwischen Regierung und Regierten oder lassen sich auf diese Weise notwendige politische Reformen eher realisieren? Im Westen ging die zivilisatorische Progressivität mit einer Beschränkung auf rationale Begründungen für politisches Agieren wie das Majoritätsvotum einher. Eine Bewertung erscheint geboten, ob dieses Konzept für ein islamisches Gemeinwesen wie Marokko als nachahmenswert einzuschätzen ist, sowie in welcher Beziehung zur Religion marokkanische Regierungen stehen sollten, damit islamische Werte im Regierungshandeln ebenso sichtbar werden wie eine Orientierung an den Anforderungen der Allgemeinheit. Bereits in der Vergangenheit bestimmte das Islamverständnis der Herrschaftseliten in entscheidendem Maße die gesellschaftliche Entwicklung. Reichte die Verankerung ihrer Herrschaft im Islam zumindest eine Zeit lang für die Identifikation ihrer Untertanen mit ihrer Politik aus, war Progressivität erst garantiert, wenn damit eine Orientierung an den Anliegen der unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten, sowie den Erfordernissen der Zeit einherging. Eine dem Islam erwachsene Toleranz erkannten die mittelalterlichen Dynastien als Motivation, sich für Ideenpluralismus und rationale Wissenschaften einzusetzen. Sie bereiteten die Basis für neue Innovationen im technischen wie geistigen Bereich, die zur Inspiration der außerislamischen Zivilisation beitrugen. Spätere Herrscher interpretierten ihre islamische Grundlage als Berechtigung, dem außerislamischen Westen entstammende gesellschaftliche Konzepte zu unterbinden und an der Durchsetzung zu hindern. Ihre tatsächliche oder vermeintliche islamische Bestimmung wähnten die postkolonialen Monarchen als Begründung einer abso-
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lutistischen Herrschaft, verbunden mit fehlender Legitimität jeglicher politischer Opposition. Besonders bedenklich erscheint die Auffassung, als „islamische Regierung“ die Befugnis zu besitzen, über Jahrhunderte gültige, islamisch begründete Mechanismen in Wirtschaft und Gesellschaft außer Kraft zu setzen. Diesem Bewusstsein steht der Anspruch der Islamisten gegenüber, islamisch gerechtfertigt selbst die staatlichen Führungspositionen einzunehmen, um von der politischen Ebene aus prämoderne Obrigkeitsstrukturen wiederzubeleben. In der Wiedererrichtung des Khalifats beanspruchen einige Islamisten wie Al-Adl Wal-Ihsan die Voraussetzung zu erkennen, daß Regierungshandeln ausschließlich nach islamischen Maßstäben erfolge. Im Gegensatz zu den westlichen Regierungsformen, wo die Vernunft eine staatliche Obrigkeit bei politischen Entscheidungen leite, sei das Khalifat nicht auf rationale Erkenntnisse angewiesen, weil Gott dem Khalifen die Instruktionen gegeben habe, die dieser in der Politik umsetze. Kritik am Khalifen weise ihren Urheber nicht nur als Opponent gegen die Staatsmacht, sondern zugleich als Gegner des Islam aus. Für einen Diskurs mit entgegengesetzten Argumenten besteht kaum die Grundlage, da ein Khalif vom Bewusstsein geleitet wird, über seine Position im Besitz der endgültigen Wahrheit zu sein. Die Heterogenität der Herrschaftsweise von Khalifen entsprechend ihres jeweiligen Islamverständnisses lässt eine verbindliche Orientierung an der Vergangenheit für gegenwärtiges Regierungshandeln unmöglich erscheinen, zumal permanent neue Probleme zu bewältigen sind, die zuvor noch nicht auftraten. Von modernen Islamgelehrten wird der religiöse Stellenwert des Khalifats insgesamt angezweifelt, da nur der Prophet die islamische Botschaft unmittelbar von Gott erhalten habe. Bereits die vier rechtgeleiteten Khalifen seien für politische Entscheidungen auf ihre Ratio angewiesen gewesen. Eine Rückkehr zur Khalifatsherrschaft stelle keineswegs die Garantie dar, daß islamische Werte in der Politik verstärkt zur Geltung gelangten. Abderrazeq (2000) misst dem Khalifat für ein islamisches Gemeinwesen keine Bedeutung bei. Innerhalb der islamischen Religion sei keine spezifische Aufgabe an einen Khalifen übertragen worden. Vielmehr sei die islamische Gesellschaftsordnung nicht erst durch die Khalifen etabliert worden, die wie andere Herrscher ihre politische Funktion wahrgenommen und unvollkommen ausgeübt hätten: In der Realität, die sich anhand der Vernunft wie der Geschichte erkennen lässt, gelangt die Religion Gottes nicht über ein Khalifat zum Ausdruck. Sie ist nicht über einen Khalifen geoffenbart worden. Die Muslime haben ihr gemeinschaftliches Sozialwesen nicht von einem Khalifen erhalten. Weder zur Bewältigung sakraler noch profaner Probleme sind wir auf ein Khalifat angewiesen. Es ließe sich noch einen Schritt weitergehen und konstatieren, die tatsächlichen Khalifatsherrschaften haben
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die Muslime weitgehend in Elend und Notlagen hineingeführt, denn sie zeichneten sich durch Korruption und Willkürherrschaft aus.168
Die Argumentation Abderrazeqs entlarvt das Versprechen von Al-Adl WalIhsan, über das Khalifat zur aufrechten islamischen Regierungsweise zu gelangen, als Illusion. Haben sich die Khalifen ebenso wie die gegenwärtigen Könige Marokkos auf den Islam berufen, eine Berechtigung aus den islamischen Schriften zu ihrer Herrschaft hätten sie nicht ableiten können. Der Vorwurf Yassines an die Alouiten, mit Verweis auf ihre nicht belegte prophetische Abstammung den Islam für autokratische Herrschaft zu instrumentalisieren, hätte gegenüber einigen Khalifen ebenfalls Berechtigung gehabt. Zwar wurde die Herrschaft Medinas nach dem Tod des Propheten unmittelbar an Khalifen übertragen, eine religiöse Verpflichtung zur Khalifenherrschaft lasse sich hieraus ebenso wenig ableiten wie aus der leiblichen Verwandtschaft zum Propheten. Die islamische Umma kannte in den Jahrhunderten die verschiedensten Herrschaftsformen, vom Khalifat, über das Sultanat und das Königtum bis zur Republik. Sie alle konnten als islamische Staaten erfahren werden, sofern die Grundsätze der Scharia auf staatlicher Ebene geachtet wurden. Darif (1999) stellt heraus, daß Abderrazeq das Khalifat im religiösen Sinne als wertneutral einschätzte und der 1924 erfolgten Abschaffung gleichgültig gegenüber stand. Für ihn war offenbar nicht entscheidend, wie sich ein politisches System nach außen hin legitimierte, da sein Islamverständnis politische Herrschaftsstrukturen grundsätzlich als profan anerkannte und sich islamische Gebundenheit erst im konkreten Regierungshandeln erweise: Ali Abderrazeq vertritt die Auffassung, dass das Khalifat als gesellschaftspolitisches Ordnungssystem aus der islamischen Religion keine Rechtfertigung herauszog. Es erwies sich als zeitweilige Realität im Laufe der Geschichte der islamischen Umma. Mit anderen Worten: das Khalifat stellt eine profane politische Institution dar. Der islamischen Umma ist folglich freigestellt, ob sie am Khalifat weiterhin festhält oder sich davon trennt, um es durch ein anderes politisches System zu ersetzen.169
Eine islamische Regierung, die jegliches Vorhaben mit dem Prädikat „islamisch“ versehen kann, immunisiert sich gegen rationale Kritik, der das Ansinnen anhaftet, die islamische Grundlage des Kollektivs in Frage zu stellen. Gestützt auf seinen religiösen Titel unterstellte Hassan II. der Opposition, nicht nur entgegengesetzte politische Auffassungen zu vertreten, sondern zugleich die Konstitution Marokkos zu mißachten. Er sah weder einen Anlaß, sich mit konstruktiver Kritik 168 Abderrazeq, Ali: Al-Islam Wausul Al-Hukm, S. 136 169 Darif, Mohammed: Al-Harka Al-Islamiya, S. 68
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an seiner Regierungspolitik auseinanderzusetzen, noch die Notwendigkeit, seine politischen Entscheidungen zu reflektieren und gegebenenfalls zu ändern. Indem rationale Zielsetzungen wie die Beseitigung eines Entwicklungsrückstandes zum Leitmotiv politischen Agierens erhoben werden, lässt sich islamischer Ethik einen hohen Stellenwert beimessen; man bleibt fortdauernd angehalten, erkannte Fehlentscheidungen zu korrigieren. Einem Teil des Islamisten ist der Zusammenhang zwischen der Rechtfertigungsgrundlage von politischen Funktionen und der Reformbereitschaft der Amtsträger bewusst geworden. Wenn die PJD im Parlament über Gesetzesvorhaben abstimmt, legt sie Wert darauf, nicht im Namen des Islam zu entscheiden sondern den Inhalt des Gesetzes auf die Konvergenz zur Scharia zu hinterfragen. Die Schlussfolgerung für einen politischen Sachverhalt wird nicht als einheitlich vorausgesetzt, womit man sich fortlaufend zur Konsenssuche aufgefordert sieht. Regieren kann nach demokratischen wie islamischen Maßstäben sich gleichermaßen als erfolgreich erweisen, sofern sich das zuvor reflektierte Konzept durchsetzt. Dem Anspruch auf eine dezidiert „islamische Regierung“, die über den Islam ihren Regierungsauftrag erhält, wird auf diese Weise ebenso entgegengetreten wie der Distanzierung von der Scharia in der staatlichen Gesetzgebung. Ihre parlamentarische Erfahrung hat bei der PJD das Bewusstsein bestärkt, daß eine islamische Regierung ein utopisches Ziel bleiben muß, da politische Entscheidungen in jedem Staatssystem von Menschen getroffen würden, die nach ihrer subjektiven Wahrnehmung gesellschaftlicher Umstände zu einem Urteil gelangten. Die Scharia biete objektive Grundregeln, die von jedem Muslimen entsprechend seiner Ratio in der staatlichen Gesetzgebung zur Geltung gebracht werden könnten. Die Demokratie eröffne einen Rahmen, innerhalb dessen jeder Bürger, sich an der Scharia orientierend, zur Steuerung des Gemeinwesens beizutragen in der Lage sei. Im Bewusstsein, daß das System wie seine Gesetze fortdauernd unvollkommen blieben, bestehe permanent ein Bedarf nach Reflexion und Veränderungen. Das Ansinnen von Al-Adl Wal-Ihsan durch einen Systemwechsel zum Khalifat eine vollkommene islamische Regierung zu erreichen, werde unerfüllt bleiben. Es gelte, die Unzulänglichkeiten der politischen Gegenwart zu erkennen, sowie durch politische Aktivität einhergehend mit der Bereitschaft zur eigenen Regierungsbeteiligung ihnen entgegenzuwirken. Das islamische Gemeinschaftsbewusstsein wird als Verpflichtung aufgefasst, permanent politische Verantwortung zu übernehmen. Indem die Verfassung Marokko explizit als islamischen Staat ausweise, erhält die Aufforderung zum Einsatz für das Gemeinwesen sowie zur fortwährenden Erneuerung nach Maßgabe der Scharia staatsrechtlichen Charakter. Ait Bouchaib (2002) lässt das Bewusstwerden von Strukturen, die dem eigenen Islam- wie Demokratieverständnis widersprechen, als Legitimation für die Verweigerung der Mitwirkung innerhalb des politischen
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Systems nicht gelten, sondern leitet hieraus die verstärkte Motivation für das Engagement jedes Marokkaners zur Realisierung von Reformen ab: Die unbefriedigenden gesellschaftlichen Bedingungen in unserem Land verlangen von jedem Bürger, auf regionaler wie nationaler Ebene politische Verantwortung zu übernehmen. Der Paragraph Zwei unserer Verfassung fordert sogar bewusst zur Partizipation im Sinne des Gemeinwohls auf. [...] Der Rückzug auf die Privatsphäre und die Verweigerung, politische Aufgaben wahrzunehmen, gerechtfertigt mit dem Argument: Das System stehe nicht auf demokratischer Grundlage, sei elitär und messe den Menschenrechten nicht den berechtigten Stellenwert bei, wird keine Veränderung im erstrebenswerten Sinne herbeiführen und erweist sich als negativer Beitrag.170
Der Anspruch radikaler Islamisten zu einer „islamischen Regierung“ erweist sich für die Orientierung der politischen Obrigkeit in Marokko nicht als zukunftsweisendes Konzept. Beriefen sich historisch gesehen alle marokkanischen Dynastien auf den Islam, im islamischen Schrifttum findet ein Herrschaftssystem, indem ein Regent seine politischen Entscheidungen unmittelbar von Gott erhält, keine Grundlage. Der Prophet übte in Medina auch die politische Herrschaft aus, dabei differenzierte er zwischen seinen profanen politischen Bestimmungen und der Botschaft Gottes, die er in unmittelbarer Form aufgenommen und der Menschheit weitervermittelte. Konkrete Anweisungen, wie die künftige Regierung strukturiert sein sollte, erteilte er ebenso wenig wie er ein bestimmtes Obrigkeitssystem als allgemeinverbindlich vorgegeben hat. Entscheidend erweist sich eine politische Ordnung, in der die islamischen Kollektivverpflichtungen von staatlicher Seite garantiert sind und islamischer Gemeinsinn sich in der Regierungspolitik widerspiegelt. Kristallisierte sich das Khalifat über Jahrhunderte als ein Modell heraus, islamische Grundsätze im politischen Gemeinwesen zu Geltung zu bringen, kennt die Moderne neue Systeme, die den geänderten Ansprüchen an staatliche Politik entsprechen. Da der Islam Muslime zu rationalen Entscheidungen im Sinne eines Kollektivs befähigt, sollte ein System angestrebt werden, in dem jeder Marokkaner seine Erkenntnisse im Sinne wertgebundener Fortschrittlichkeit einsetzen kann. Eine „islamische Regierung“, die das Subjektivitätsprinzip leugnet und sich einen Unfehlbarkeitsstatus zuweist, wird kaum die gleichberechtigte Teilhabe des gesamten Volkes an der Entscheidungsfindung zugestehen, geschweige denn die Bereitschaft erkennen lassen, getroffene Entscheidungen zu hinterfragen. Das demokratische Majoritätsprinzip billigt jedem Bürger die Partizipation an der politischen Entwicklung zu, die in einem islamischen Gemeinwesen wie Marokko auf der Basis der Scharia erfolgen sollte. Demokratie in Marokko kann nicht als Nachahmung des westlichen Modells auf Akzep170 Ait Bouchaib, Abdellah: Al-Muscharaka Assiyasiya Watahadiyat Al-Waqi`, S. 32
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tanz treffen, sondern muß aus der Gesellschaft heraus erwachsen, die ihre Ansprüche an Regierungshandeln in unabhängigen regelmäßigen Wahlen wie in angemessenen politischen Konzepten zum Ausdruck bringt.
6.4.2 Rechtsmacht im Koran Da der Koran nicht nur eine Schilderung des Wesens Gottes und seiner Heilsgeschichte enthält sondern darüber hinaus konkrete Anweisungen für den gesellschaftlichen Alltag im Kollektiv, wird ihm für ein islamisches Gemeinwesen rechtsverbindlicher Charakter zugemessen. Er gilt nach islamischem Verständnis jedem irdisch formulierten Gesetz übergeordnet, das sich aus dem Koran ableiten muß, sowie mit Buchstaben und Geist der koranischen Vorschriften in Kompatibilität gebracht werden. Benötigt ein islamisches Kollektiv überhaupt ein geschriebenes Grundgesetz, wenn der Koran bereits verbindliche Leitlinien für menschliche Gesetzgebung vorgegeben hat? Lassen sich für moderne komplexe staatliche Gesetze im Koran die angemessenen Anweisungen finden? Nicht zu leugnen ist die Tatsache, daß islamische Staaten wie Marokko neuzeitlich nicht nur eigene geschriebene Verfassungen sondern ebenso voneinander abweichende Rechtspraktiken besitzen, so daß ihnen unterstellt werden könnte, das koranische Recht zu missachten oder nach Opportunität umzudeuten. Besitzt die koranische Rechtsmacht für staatliche Alltagsgesetzgebung überhaupt Relevanz? Ein Koranverständnis muß gefunden werden, in dem der Koran in seiner herausgehobenen Stellung im Islam gewürdigt wird, die staatliche Regelung der verschiedensten Gesellschaftsbereiche dadurch nicht behindert, sowie eine dynamische Entwicklung des marokkanischen Gemeinwesens die Grundlage vorfindet. Als erste islamische Rechtsquelle bindet der Koran jeden Muslimen und jedes islamische Kollektiv. Islamisten folgern daraus, der Koran müsse das allem anderen übergeordnete Gesetz eines islamischen Staates darstellen, dem sich jegliche institutionelle Urteilskraft zu beugen habe. Profane Gesetzgebung wie in säkularen Gemeinwesen ersetze göttliches Recht durch menschliche Vernunfturteile und werde das Ziel einer „gerechten Gesellschaftsordnung“ nicht erreichen. Die vorgesehene „Gesetzgebung im Islamischen Staat“ erweise sich als der buchstabentreue Nachvollzug koranischer Bestimmungen in geschriebenes Recht. Die Ausformulierung einer vernunftbegründeten Staatverfassung stelle die Grundlage für eine kollektive Distanzierung vom Koran, weil sie die unmittelbare Ableitung von Gesetzen aus der Heiligen Schrift ausschließe. Koranische Gebote stellten zugleich staatliche Gesetze dar. Der Koran kann ein Zuwiderhandeln nicht selbst sanktionieren und Gott, sein Urheber, richtet bisweilen erst im Jenseits, so dass der konkrete Umgang mit koranischem Vorgaben im Dies-
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seits dem menschlichen Ermessen unterliegt, wie Urteile nach frei formulierten humanen Gesetzen. Ergebnis sind abweichende Urteile in Abhängigkeit von der jeweiligen Textinterpretation. Im Bewusstsein auf der Basis des Gottesgesetzes geurteilt zu haben stellt sich jede Kritik des eigenen Urteils als Infragestellen des göttlichen Regelwerks dar. Ein Ermessenspielraum, der in der säkularen Rechtspraxis immer vorhanden ist, wird geleugnet, da das göttliche Recht absolut ist und nicht zur Disposition gestellt werden kann und darf. Indem sich staatliche Gesetze und Gerichtsurteile auf den Koran als unveränderliche Wahrheit berufen, wird die Notwendigkeit zur Zeit- und Fallbezogenheit bestritten. Eine Neuformulierung bei geändertem Kontext bleibt ausgeschlossen. Die Orientierung an der menschlichen Vernunft eröffnet den Weg zur permanenten Korrektur getroffener Entscheidungen, sofern sie von vorn herein ihre eigene Reversibilität einschließt. Gesetze lassen sich ändern und Gerichtsurteile aufheben, sobald die Vernunft neue Erkenntnisse hervorgebracht hat. Ein Absolutheitsanspruch, wie ihn die Islamisten mit Verweis auf die Durchsetzung der koranischen Rechtsmacht erheben, bleibt bei der Orientierung am Menschen als Subjekt ausgeschlossen. Es besteht vielmehr die Erwartung zu Reflexion und Kritik als Voraussetzung, sich selbst zu korrigieren. Künzli (1989) wertet die subjektive Vernunftbegründung als „radikal“, weil sie den eigenen Irrtum als Bedingung voraussetzt, sowie erst im Wissen um die eigene Unzulänglichkeit ihr Urteil fällt: Ein radikales Denken nun, wie ich es verstehe, versteht sich radikal insofern, als es sich seiner anthropologischen Verwurzelung in der condition humaine bewusst ist, das heißt seiner phylogenetisch bedingten Vorläufigkeit und Unvollkommenheit. Wenn man es paradox formulieren will: Absolut am radikalen Denken und an der autonomen Vernunft des Subjekts sind einzig deren Endlichkeit und Nicht- Absolutheit, die sie zum Dialog mit anderen Denkenden verpflichten. [...] Eine radikal autonome Vernunft des Subjekts hingegen ist, im Gegensatz zu dem, was die Philosophen unter einer objektiven Vernunft verstehen, grundsätzlich fallibel. Deshalb ist ihr auch kein absoluter Herrschaftsanspruch erlaubt, und sie bleibt angewiesen auf den Dialog als Kontrollinstanz. [...]Die autonome Vernunft ist [...] weder absolut objektiv noch bloß instrumentell subjektiv.171
Dem islamischen Verständnis nach stellt der Koran die absolute Gerechtigkeit dar, die dem subjektiven Gerechtigkeitsempfinden des Menschen grundsätzlich übergeordnet ist. Einem Gemeinwesen, das sich auf den Koran als Rechtsmacht gründet, wird zugebilligt, grundsätzlich gerecht und vollkommen zu sein. Weil der Mensch aus sich selbst heraus zu Fehlurteilen gelange, habe Gott über den Koran sein unfehlbares Gesetz geoffenbart. Es vermittele die permanente Orien171 Künzli, Arnold: Kritik der reinen Unvernunft, S. 58
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tierung und zeige auf, wie Tadellosigkeit zu erreichen sei. Ein vernunftbegründetes Gesetz könne nach islamistischer Auffassung nur als willkürlich empfunden werden, da die Menschen mit ihrer Ratio zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangten. Sehen aufgeklärte Muslime hierin die Grundlage für politische Reformen und Gesetzesänderungen, sind radikale Islamisten überzeugt, mit dem Koran ein irreversibles Gesetz zu besitzen, welches bei buchstabengerechter Befolgung in ein gerechtes islamisches Gemeinwesen hineinführe. Profane Gesetze darüber hinaus seien nicht notwendig. Die Unzulänglichkeiten der gesellschaftlichen Gegenwart resultierten weniger aus fehlendem Bezug der staatlichen Gesetze auf die Bedingungen der Moderne, als mehr in ihrer Ableitung von außerislamischen Vorbildern, sowie der Nichtbeachtung der Scharia. Erst im Khalifat, wenn die Scharia wieder den alleinigen Maßstab des marokkanischen Rechtsbewusstseins darstelle, sei die göttliche Gerechtigkeit wieder hergestellt. Der moderne Rechtsstaat könne diesen Anspruch nicht erfüllen. Über Daawa und Erziehung erfordere es, in der Gesellschaft das koranische Gerechtigkeitsempfinden wieder zu erwecken. Muslime wie Nichtmuslime sollten sich gewahr werden, daß sie sämtliche, ihnen zustehenden Rechte aus der Scharia erhalten hätten. Indem die Muslime ihren Pflichten nach Maßgabe des Korans nachgingen, entwickelten sie sich zum Vorbild für die Nichtmuslime. Yassine (1996) fasst den Koran als allem übergeordnetes, universell gültiges Gesetz auf, womit die Neuformulierung von Grundrechten wie in einer demokratischen Verfassung überflüssig sei: Der Koran besteht aus den Sprüchen des Propheten, aus der Vergegenwärtigung des Vorbildes der Glaubensväter, sowie der Ermahnung an die Muslime, dass sie sich über ihr gottgefälliges Leben von den Nichtmuslimen unterscheiden sollten. Gerechtigkeit soll allen Menschen widerfahren, unabhängig davon, ob sie sich als Muslime bekennen oder nicht und unabhängig davon, welcher Rasse und welchen Geschlechts. Der Koran bietet Gerechtigkeit für alle Menschen. Er gewährleistet Muslimen wie Nichtmuslimen ihre Menschenrechte, so lange sie sich nicht gegen die muslimische Gemeinde erheben.172
Die Heterogenität der Rechtsauslegung unterscheidet einen islamischen Staat nicht von säkularen Rechtsstaaten, wo geschriebenes Recht nach Ermessen interpretiert wird. Da der Islam in einer spezifischen Angelegenheit vom Grundsatz her nur ein Urteil zulässt, erfährt jegliche profane Urteilskraft trotz divergenter Ergebnisse in der Praxis so etwas wie einen „Endgültigkeitscharakter“. In einem modernen Gemeinwesen wird dieser Absolutheitsanspruch problematisch, bedingt durch die Tatsache, dass nicht selten über Bereiche entschieden wird, zu 172 Yassine, Abdessalam: Schura Waddimuqratia, S. 145
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denen im Koran keine konkreten Verhaltensanleitungen vorhanden sind. Hier ist ein Analogieschluß, eine Gegenüberstellung mit einer vergleichbaren, im Koran eindeutig beschriebenen Aussage vonnöten, die sich bei fortschreitender Komplexität kaum noch herstellen lässt, so daß man mehr und mehr auf die unmittelbare Ratio angewiesen ist. Umstritten ist, wer die Befugnis besitzt, gültige Rechtsauslegung zu treffen, da prinzipiell jeder Muslim zu rationaler Entscheidungsfindung in der Lage sein sollte, allerdings nur den religiösen Gelehrten die korrekte Koranauslegung zugebilligt wird. In der marokkanischen Praxis misst man dem Koran nur in bestimmten Angelegenheiten, vor allem im Familienrecht, staatsrechtliche Bedeutung zu und erkennt selbst dort die Notwendigkeit einer zeit- und kontextgebundenen Auslegung für ein staatliches Gesetzeswerk an. Ulama geben mit ihren fatwas den ethischen Rahmen vor, die Legislative und fallspezifische Auslegung erfolgt durch Parlamente und ausgebildete Juristen. Die urislamische Aufforderung zur rationalen Selbsterkenntnis legt im gesellschaftspolitischen Alltag eine Differenzierung zwischen staatlichem Recht, basierend auf von Menschen geschriebenem Gesetz, und koranischem Recht als Aufforderung an jeden Muslimen nahe. Institutionelle Entscheidungen werden als fallbezogen und reversibel anerkannt, ohne dass staatliche Verantwortungsträger gehindert sind, islamisch wertgebunden zu entscheiden. Das geschriebene Gesetz wird wie im säkularen Rechtsstaat nach rationalen Nützlichkeitserwägungen formuliert, von der Religion her ist jeder Muslim unabhängig davon zu einem Verhalten im Sinne des Korans verpflichtet. Da Gott als Schöpfer der Ratio zugebilligt wird, seine Bestimmungen für die Menschheit rationalen Kriterien unterzuordnen, muß sich kein Zielkonflikt ergeben. Ein Gemeinwesen besitzt die Berechtigung, ein Verhalten zu tolerieren, dass ein aufrechter Muslime nicht als „gottgewollt“ interpretieren würde, sofern für ein Leben nach islamischen Grundsätzen sowohl die rechtliche Basis als auch die gesellschaftliche Grundlage hergestellt ist. Das islamistische Religionsverständnis lässt sich auf diesen Pragmatismus nicht ein. Vollständig sei die Rechtsmacht im Koran erst durchgesetzt, wenn sie jeder im Alltag befolge. Der Prophet hätte es erreicht, daß die Bürger Medinas das göttliche Gesetz als verbindlich anerkannten, daher sei dies in der Gegenwart ebenfalls erforderlich. Beanspruchen radikale Islamisten, über staatliche Gewalt das Kollektiv zur Einhaltung der koranischen Gebote zu zwingen, erkennt Al-Adl Wal-Ihsan Daawa als die geeignete Grundlage an. Eine Gesellschaft, die in ihrer Gesamtheit vom islamischen Bewusstsein erfasst sei, erwarte ein System, in dem die göttliche Gerechtigkeit den Maßstab darstelle. Darif (1992) konstatiert, daß nach dem Islamverständnis Yassines der Prophet in Medina nicht nur allgemein ein Modell eines islamischen Gemeinwesens etabliert habe, sondern vielmehr den Muslimen der heutigen Zeit den Weg vorgezeigt, zu ihrer ursprünglichen einheitlichen Rechtsordnung zurückzufinden:
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Das prophetische Modell stellt sich als allumfassendes Projekt dar, das die Vergangenheit wie die Gegenwart einbezieht, sowie in die Zukunft weist. Das islamische System wird wiederhergestellt, beginnend mit Erziehung, sich fortsetzend in der Verbreitung unseres religiösen Wissens über Daawa, hineinmündend in die kollektive Erhebung, aus der die vollkommene islamische Ordnung hervorgeht. Die Umma erhält ein Konzept, wie sie ihre Einheit wiedererlangen kann. Alle Unzulänglichkeiten, mit denen die muslimische Gemeinde aktuell konfrontiert ist, lassen sich überwinden.173
Wird die „Rechtsmacht im Koran“ mit der Aufforderung verbunden, von staatlicher Ebene aus der Gesellschaft ein bestimmtes Modell aufzuoktroyieren, ist sie dem Geist des Islam widersprechend, der jedem Muslimen rationale Urteilskraft und Selbsterkenntnis zubilligt. Der Anspruch von einigen Islamisten, das eigene Koranverständnis zur Grundlage einer künftigen islamischen Staatsordnung zu erheben, bestreitet die Berechtigung muslimischer Verantwortungsträger, unter geänderten Umständen zu einer abweichenden Auslegung zu gelangen. Jedem Gemeinwesen, das sich vom ursprünglichen Khalifat unterscheide, sei die islamische Grundlage abzusprechen. Das eigens anvisierte Modell, das mutmaßlich ebenso auf den gegenwärtigen Kontext bezogen ist, interpretiert man als koranische Rechtsordnung, sowie als einziges „islamisches“ Gemeinwesen. Da kein Staat in der Gegenwart diese Bedingungen erfülle, bleibt nur noch der Schluß, sämtliche neuzeitlichen Systeme gründeten auf der Jahiliyya. Die gemäßigten Islamisten der PJD verlangen zwar ebenfalls, den Koran als Orientierungsmaßstab staatlicher Gesetzgebung anzuerkennen. Das gegenwärtige marokkanische System könne über rechtsstaatliche Reformen die Grundlage bieten, sofern die Gesellschaft über Daawa zum Islam zurückfinde. Eine zeit- und ortsgebundene Auslegung der Heiligen Schrift erkennt man als notwendig, sowie als Grundlage staatlicher Gesetzgebung an. Der Koran erhebe eindeutige Forderungen an ein staatliches Kollektiv, diese beträfen die Beziehungen staatlicher Organe zueinander, nicht aber die äußere Struktur. Die Demokratie interpretiert man als zeitgemäße Übertragung der Schura für ein islamisches Staatssystem als relevant. Ob diese Demokratie nun innerhalb einer Monarchie oder Republik zu realisieren sei, lasse der Koran offen, weshalb Marokko aus historischen Gründen die Monarchie ausgewählt habe. Anderen islamischen Staaten, die sich als Republik konstituieren, spricht man ihre Orientierung an islamischen Grundsätzen keineswegs ab. Die entscheidende Aufgabe eines islamischen Gemeinwesens sei neben der Orientierung am islamischen Werteverständnis die Durchsetzung von islamischen Kollektivverpflichtungen, sowie die Garantie, dass die Befolgung des koranischen Regelwerks durch den Staat die Rahmenbedingungen vorfinde. Ein 173 Darif, Mohammed: Al-Islam Assiyasi Fi Al-Magrib, S. 373
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permanenter Kontextbezug ist für die Gesetzgebung herzustellen, wie wohl die koranischen Bestimmungen für jede Zeit und jeden Ort gültig bleiben. Das Grundsatzprogramm der PJD von 1996 hebt ausdrücklich hervor, dass der Islam neben seiner geistigen Grundlage sich eindeutig als Gesetzesreligion auszeichne: Der Islam enthält nicht nur ethische Grundsätze, spirituelle Glaubensaussagen und Rituale, sondern darüber hinaus einen Kodex aus Verhaltensregeln, Leitlinien, sowie eine Bestimmung für das einzelne Individuum wie das Kollektiv.174
Indem eine fallible Übertragung der koranischen Vorschriften in der Praxis zugelassen wird, beschränkt sich die „Rechtsmacht im Koran“ innerhalb des Staates auf ihr ethisches Fundament. Staatliche Gesetzgebung sollte auf islamische Gemeinnützigkeit hinauszielen, wofür der Koran gegenwartsbezogen auszulegen ist. Eine situationsangemessene staatspolitische Verantwortung verlangt, die Partizipierung an den Errungenschaften der vom Westen ausgehenden Moderne zu garantieren, ohne das westliche Modell unreflektiert für Marokko zu übernehmen. Die vom Koran geschützten Institutionen Ehe und Familie können durch staatliches Recht Unterstützung erfahren, indem Bedingungen hergestellt werden, die familiäre Verantwortung nach koranischem Verständnis in der Moderne Attraktivität verleihen. Da die auftretenden Probleme profanen Charakter besitzen, sowie in der spezifischen Form im Koran nicht aufgeführt sind, lassen sie sich nur über die Vernunft bewältigen. Einer staatlich sanktionierten „Rechtsmacht im Koran“ bedarf es nicht, sondern staatlichen Gesetzen, die koranische Maßstäbe im gesellschaftlichen Alltag widerspiegeln. Der Koran ist in einem modernen islamischen Staat nicht selbst geschriebenes Gesetz, sondern bildet die Grundlage, von der aus staatliche Gesetzgebung erfolgt. Da die Gesetzgebung dem Menschen entstammt, besteht immer wieder Bedarf zu Gesetzesänderungen, das koranische Regelwerk als ethische Leitlinie bleibt erhalten. Man sieht sich permanent aufgefordert, herauszufinden, wo ein Gesetz angesichts geänderter Umstände dem Geist des Korans nicht mehr entspricht, das in einem neuen Gesetz zum Ausdruck gelangen sollte. Zeitgemäße Auslegungen des Korans lassen sich in Gesetzeskraft übertragen, womit unter prämodernen Bedingungen mit dem Koran gerechtfertigten Gesetzen die Gültigkeit entzogen wird, ohne die Rechtsmacht des Korans zur Disposition zu stellen. Eine modernere Auslegung der koranischen Ehevorschriften hat in Marokko dazu beigetragen, dass in der neuen Mudawana die Mehrehe nur noch bei Vorlage besonderer Gründe akzeptiert wird. Da die Polygamie weiterhin legalisiert bleibt, besteht die Rechtsmacht im Koran fort.
174 Hisb Al-Adala Wattanmiya (Hrsg.): Al-Waraqa Al-Madhabiya, S. 28
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Die Forderung einiger westlicher Intellektueller, auf die Orientierung an der koranischen Rechtsmacht zu verzichten, sollte berechtigterweise zurückgewiesen werden. Nach islamischem Verständnis würde damit der Koran als primäre Rechtsquelle für ungültig erklärt, sowie der islamischen Zivilisation ihr religionsethisches Fundament entzogen. Indem einige Islamisten die koranische Rechtsmacht anführen, um ihr der Prämoderne entstammendes Obrigkeitsmodell im marokkanischen Gemeinwesen durchzusetzen, messen sie sich einen besonderen Zugang zum Koran bei, der dem islamischen Gleichheitsgrundsatz widerspricht. Das Konzept einer durch Menschen repräsentierten Hakimiyyat Allah (Gottesherrschaft) auf Erden findet im Islam keine Grundlage, da selbst der Prophet zwischen seinem Agieren in politischer Funktion in Medina und dem geoffenbarten Wort Gottes zu differenzieren wusste. Ein demokratisches Gemeinwesen, das jedem Bürger das Recht zugesteht, an der irdischen Gesetzgebung mitzuwirken, ist in der Lage, die Grundregeln des Korans im politischen Alltag zur Geltung zu bringen, da eine permanente Reflexion in Bezug auf den sich ändernden Kontext vorgenommen wird. Die Marokkaner sollten den Koran als Aufforderung erkennen, sich von unzeitgemäßen Strukturen zu befreien. Entsprechend seiner Kenntnis der Heiligen Schrift ist jeder Staatsbürger in der Lage und aufgefordert, zur wertgebundenen Weiterentwicklung des Gemeinwesens beizutragen.
7.1 Stellt Islamismus eine Gefahr für die marokkanische Gesellschaft dar?
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7.1 Stellt Islamismus eine Gefahr für die marokkanische Gesellschaft dar? Die negativen Zuschreibungen gegenüber dem Phänomen „Islamismus“ wie die tatsächlichen, als „entwicklungshinderlich“ zu wertenden gesellschaftspolitischen Anschauungen von Islamisten legen nahe, dass Islamismus sich generell als „Bedrohung“ darstelle. Diese resignierende Sichtweise verhindert eine konzeptionell überzeugende Politik im Umgang mit Islamisten und verleitet dazu, die repressive Bekämpfung islamistischer Bewegungen als einzige angemessene Reaktion zu interpretieren, sowie in eine Hysterie zu verfallen, so daß die rationale Begegnung überhaupt nicht in Erwägung gezogen wird. Erforderlich erscheint eine realistische Einschätzung der Gefahr, die sich für Marokko aus dem Zuwachs islamistischer Bewegungen ergeben könnte. Hindert der Islamismus die marokkanische Gesellschaft am zivilisatorischen Fortschritt? Wird die Toleranz, die sich Jahrhunderte lang als Markenzeichen der maghrebinischen Kultur erwies, sowie in mittelalterlicher Zeit mit einer besonderen Aufgeschlossenheit gegenüber außerislamisch entstandenen Philosophien verbunden war, durch den neuzeitlichen Islamismus zur Disposition gestellt? Die Tatsache, dass aktuell progressive Gesellschaftskonzepte vor allem im Westen entstehen, wird in Marokko als besondere Herausforderung aufgefasst. Herauszufinden gilt, wie sich unter Einbeziehung westlicher Leitideale die Rahmenbedingungen für eine spezifisch marokkanische Zukunftsentwicklung herstellen lassen, die in der Civil Society auf Resonanz trifft. In welcher Weise lassen sich die islamistischen Strömungen des Landes in einen Prozeß einbinden, der die Partizipierung an westlichen Errungenschaften garantiert und zugleich eigene Akzente setzt? Für eine fundierte Einschätzung der marokkanischen Islamisten hinsichtlich ihres Einflusses auf die künftige Entwicklung der Gesellschaft, ist eine vollständige Erfassung der islamistischen Szene des Landes mit allen anzutreffenden Varianten unabdingbar. Eine Quantifizierung von Sympathisanten und Mitgliedern islamistischer Bewegungen reicht nicht aus, vielmehr erfordert es, jegliche, mit dem Attribut „islamistisch“ belegten Anschauungen, sowie ihre Veränderung in Abhängigkeit vom gesellschaftspolitischen Kontext in die Bewertung einzubeziehen. Eine potentielle Gefahr Islamismus ist in Abhängigkeit zu den Rahmenbedingungen zu interpretieren, unter denen sie entsteht, sowie auf die sie
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reagiert. Entscheidend erweist sich, daß das wissenschaftliche Ziel ausschließlich in der realistischen, unvoreingenommenen Abschätzung von Gefahren, sowie Entwicklungspotentialen des marokkanischen Islamismus besteht, nicht aber in der Bestätigung bekannter Stereotypen oder gar in der Rechtfertigung einer praktizierten Politik gegenüber einzelnen Bewegungen. Die Aussicht auf nicht als opportun angesehene Erkenntnisse hat marokkanische Forscher bisher weitgehend davon abgehalten, eine in den Kern vordringende Untersuchung der islamistischen Erscheinungen durchzuführen. Man befürchtete offenbar, dass die Ergebnisse negativen Einfluß auf staatliche Unterstützungen für die eigene Forschungsarbeit hervorrufen könnten und sparte ein als „heikel“ eingeschätztes Thema weitgehend aus. Darif (1992) wirft der marokkanischen Wissenschaft vor, im Bereich Islamismus die eigene Untersuchungstätigkeit Zuschreibungen aus der pseudowissenschaftlichen Öffentlichkeit unterzuordnen, sowie die Entstehung eines wirklichkeitstreues Bildes über marokkanischen Islamismus verhindert zu haben: Die marokkanische Wissenschaft hat sich mit dem Phänomen „politischer Islam“ bislang noch überhaupt nicht tiefgründig auseinandergesetzt. Die Nichtbeachtung oder bewusste Ausklammerung dieser zeitgeschichtlich relevanten Problematik zeigt sich in dem Ergebnis, dass keine objektiven, vollständigen Analysen zum marokkanischen Islamismus vorzufinden sind. Man hat sich auf die Aufnahme der oberflächlichen Zuschreibungen und Berichte von Journalisten beschränkt, die den Islamisten meistens einseitig entweder bewundernd oder feindlich gesinnt gegenüberstanden. Auf dieser Basis konnte nur eine Abwandlung der Realität basierend auf Fehlinformationen entstehen.175
Kritische Analysen zu marokkanischem Islamismus erscheinen als Ergebnis einer Einschätzung von außen, die entweder ohne die Kenntnis der marokkanischen Gegebenheiten erfolgt oder vom Ansinnen geleitet war, der westlichen Zivilisation entstammende Gesellschaftsvorstellungen zum Maßstab für Marokko zu erheben. Marokkanische Wissenschaftler, die an einer Aufklärung ihrer Bevölkerung über die wahrhaftigen Ziele der Islamisten interessiert sind, sehen sich sowohl von staatlicher Seite als auch aus dem islamistischen Lager Behinderungen und Stigmatisierungen ausgesetzt. Wirft die Herrschaftselite ihnen vor, das Phänomen zu verharmlosen, sowie auf diese Weise einer angemessenen politischen Bekämpfung die Grundlage zu entziehen, werden sie von Islamisten nicht selten mit dem Westen und dessen die islamische Zivilisation „bedrohenden“ Absichten in Verbindung gebracht. Besonders Marokkaner, die für mehr Toleranz und die Orientierung an Menschenrechten im spezifisch islamischen 175 Darif, Mohammed: Al-Islam Assiyasi Fi Al-Magrib, S. 5
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Rahmen eintreten, erfahren immer wieder, daß ihnen das islamische Bewusstsein abgesprochen wird, obwohl sie den Grundanliegen der Islamisten aufgeschlossen gegenüberstehen. Von westlichen Eliten wird die Ausgrenzung marokkanischer Wissenschaftler und Intellektueller in der marokkanischen Gesellschaft gefördert, sofern ihre Ansichten mit als „westlich“ postulierten Errungenschaften assoziiert werden. Islamismus läßt sich nur von seiner Rückwärtsgewandtheit abhalten, wenn das Eintreten für eine spezifisch marokkanische Fortschrittlichkeit im kulturell-religiösen Rahmen seine Anerkennung erfährt. Bielefeldt (1997) sieht die Vereinnahmung für humanen Fortschritt engagierter muslimischer Intellektueller durch westliche Autoritäten als eine wesentliche Ursache, daß ihre Konzepte in der islamischen Welt keine Resonanz finden und zurückgewiesen werden: Bedrohten Menschenrechtsbefürwortern von Europa aus moralische und politische Unterstützung zu geben ist ein Gebot der Solidarität. Eine solche Solidarität kann aber nicht darin bestehen, dass man die Anhänger universaler Menschenrechte kurzerhand zu „Westlern“ erklärt. Was in europäischen Ohren positiv klingen und als Kompliment gemeint sein mag, kann leicht als ungewollte Rechtfertigung der kulturellen, religiösen und oft auch politischen Ausgrenzung missverstanden werden, unter der kritische muslimische Intellektuelle derzeit vielfach leiden. Unreflektierte westliche Umarmung und islamistische Exkommunikation der angeblich „verwestlichten“ Dissidenten könnten sich so zuletzt als zwei Seiten ein und derselben Medaille erweisen.176
Indem rationale Wissenschaftlichkeit vereinnahmt wird und keine Basis vorfindet, fehlt die Voraussetzung für einen zukunftsorientierten Diskurs mit der Akzeptanz entgegengesetzter Argumente. Die islamistische Sichtweise misst sich eine Absolutheit zu, da sie den Anspruch der unmittelbaren Ableitung aus der Heiligen Schrift erhebt. Jegliche Abweichung stelle zugleich eine Distanzierung vom Islam dar und sei als Diskussionsgegenstand zurückzuweisen. Die Reflexion der als „unveränderliche Wahrheit“ interpretierten Schlussfolgerung angesichts eines geänderten Kontextes findet keine geistige Grundlage. Das eigene Gesellschaftsideal wird nicht auf die Kompatibilität mit der Gegenwart hinterfragt und behindert die Orientierung an zeitgemäßen Strukturen. Für ein Land wie Marokko, in dem seit historischer Zeit islamisches Identitätsbewusstsein mit der Aufgeschlossenheit gegenüber neuen, von außerhalb der islamischen Zivilisation entstammenden Ideen verbunden war, bedeutet jene islamisch gerechtfertigte fehlende Erneuerungsbereitschaft einen zivilisatorischen Rückschritt. Ohne die besondere Wertschätzung der griechischen „heidnischen“ Philosophie und Naturwissenschaft wäre die mittelalterliche Progressivität unter islamischem 176 Bielefeldt, Heiner: „Schwächlicher Werterelativismus?“ S. 65
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Einfluss kaum denkbar gewesen. Bedeutende Denker jener Zeit wie Averroes sahen zwischen ihrem Islam und „nichtislamischen“ Wertkategorien keinen Gegensatz, sondern waren bestrebt, die aufgenommen Ideen vom islamischen Hintergrund aus neu zu interpretieren und auf ihre Zeit zu übertragen. Die Ratio erkannten sie als geistige Grundlage eines progressiven Verständnisses ihrer Religion, sowie als Voraussetzung für zivilisatorische Weiterentwicklung im islamischen Rahmen an. Indem rationale Textauslegung mit dem Gegenwartsbezug geleugnet und außerislamisch entstandene Leitgedanken als „heidnisch“ verfemt zurückgewiesen werden, verliert die marokkanische Gesellschaft ihr Fundament für Progressivität, basierend auf permanenter Reflexion bisheriger Erklärungsmuster. Rationales Ergründen findet keine Basis vor, so daß die Kompatibilität von islamischen Werten mit modernen Weltanschauungen nicht hergestellt wird. Die Abwehrmentalität gegenüber jeglicher, vom Westen ausgehender Entwicklung, verstellt den Blick auf die nicht zu leugnende Tatsache, dass die westliche Zivilisation gegenwärtig in den verschiedensten Gesellschaftsbereichen einen Vorsprung besitzt. Für die Verringerung des Rückstands erscheint eine intensive Auseinandersetzung mit westlichen Leitidealen unabdingbar. Die Nachahmung des bestehenden westlichen Modells geht damit nicht notwendigerweise einher. Indem die Rationalität als geistige Grundlage der westlichen Fortschrittlichkeit anerkannt wird, besteht die Voraussetzung für einen eigenständigen marokkanischen Entwicklungsprozeß. Als rationale Religion steht dem Islam Rationalität bei gesellschaftlicher Problembewältigung in keiner Weise entgegen. Diese Rationalität bedingt ein reflektorisches Hinterfragen bestehender Strukturen, einhergehend mit dem Anspruch, Veränderungen zuzulassen und anzustreben. Wenn gesellschaftliche Strukturen nicht oder nur von bestimmten, dafür „Auserwählten“ reflektiert und zur Disposition gestellt werden dürfen, besteht die Gefahr, Entwicklungen weder wahrzunehmen noch ihnen angemessen zu begegnen. Bei einer Verweigerung der Teilnahme am politischen System läßt sich zur Beseitigung erkannter Unzulänglichkeiten kein Beitrag leisten. Die Bereitschaft zu Veränderungen bedeutet nicht, sich von einem über Jahrhunderte erfolgreichen Gesellschaftsmodell zu distanzieren, sondern es zeitgemäß weiterzuentwickeln. Die vergangenen und gegenwärtigen Errungenschaften der marokkanischen Civil Society gilt es angemessen zu würdigen, um das Selbstbewusstsein für die Entwicklung marokkanischer Zukunftskonzepte zu besitzen. Säkularistische Intellektuelle, die Fortschrittlichkeit nur im Westen wahrnehmen, sowie der islamischen Zivilisation eine Entwicklungsresistenz unterstellen, erreichen eine Opposition, die sich gegen Modernität stellt, die als elitär und gegen die eigenen Wertkategorien erfahren wird. Vielmehr wird islamistische Vergangenheitsverhaftung bestärkt. Wenn Montassair (2003) der aktuellen islamischen Gesellschaft einen Beitrag zur humanen Entwicklung generell abspricht, über-
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sieht er nicht nur die Erfolge bei einer Modernisierung im islamischen Rahmen, er vermittelt zudem die resignative Botschaft, jeglicher Einsatz für die Partizipierung am Fortschritt sei zum Scheitern verurteilt: Im Angesicht der Ereignisse des 11.9.2001 wurden wir uns bewusst, dass die islamische Welt von heute auf die geistige Stufe des Mittelalters zurückgefallen ist. Die zivilisatorische Diskrepanz zwischen uns und dem Westen hat sich soweit vertieft, dass wir Lichtjahre davon entfernt sind, moderne Weisheiten und Erkenntnisse, die den Menschen in seiner Entwicklung weiterführen, aufzunehmen.177
Eine Pluralität an Weltanschauungen geht einher mit der Akzeptanz von Konkurrenz für das eigene anvisierte Gesellschaftsmodell. Sie erfordert eine Flexibilität, zu der die radikalen Strömungen der marokkanischen Islamisten offenbar nicht bereit sind. Mit geistiger Intoleranz zielen sie darauf hinaus, jegliche Alternativen zum anvisierten Ordnungsmodell als „unislamisch“ stigmatisiert, an ihrer Ausbreitung zu hindern. Pluralismus und individuelle Entscheidungsfreiheit gelte es mit jeglicher zur Verfügung stehenden Macht als Resultate des außerislamischen Westens von der islamischen Zivilisation fern zu halten. Muslime, die vom islamischen Sozialisationskonzept überzeugt sind, bedürfen keiner geistigen Abgrenzung gegenüber den außerislamisch entstandenen Gesellschaftsidealen der Moderne, die als universal erkannt sich in den islamischen Kontext einbeziehen lassen. Ein von Exklusivität bestimmter Islamismus erweist sich nicht nur für eine gesellschaftliche Entwicklung Marokkos als Bedrohung, sondern darüber hinaus für den an der Selbsterkenntnis interessierten Islam. Die Gefahr liegt in der grundsätzlichen Negierung einer Berechtigung zu gleichberechtigter kontextbezogener Textauslegung. Ein Teil der Islamisten hat erkannt, dass ethisch gebundene Fortentwicklung nur über demokratische Strukturen, einhergehend mit permanentem Infragestellen bisher gültiger, mit dem Islam legitimierter Gesellschaftsauffassungen zu erreichen ist. Gesellschaftliche Veränderungen verlangten eine Neuauslegung der Scharia, um auf die geänderten Anforderungen angemessen zu reagieren. Islamische Vorgaben bleiben vom Grundsatz her für die Ewigkeit bestehen, Erkenntnisse der Moderne dienten – selbst wenn sie in der außerislamischem Zivilisation entstanden sind – dazu, den dahinter stehenden Grundgedanken in einen zeitlichen Kontext zu bringen und gegenwartsbezogen zu realisieren. Die Rahmenbedingen werden hergestellt, um die gesellschaftliche Entwicklung nach islamischen Maßstäben zu steuern. Ein Islamismus, der sowohl islamischen Wertmaßstäben fortdauernd Gültigkeit beimisst, als auch gesellschaftliche Konditionen in Theorie und Praxis einbezieht, gefährdet weder die marokkanische Zukunftsentwicklung noch lässt er den Islam als „reaktionäre 177 Montassair, Hamada: Al-Islamiyun Al-Magariba Wallu`ba Assiyasiya, S. 42
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Religion“ erscheinen. Indem jedem schriftkundigen Marokkaner sein profaner Erfahrungshorizont zugebilligt wird, eigene Ideen und Konzepte in die Zukunftsdiskussion einzubringen, findet ein Pluralismus die Voraussetzungen vor. Diese kontextgebundene Schriftinterpretation steht im Kontrast zum Exklusivitätsanspruch der Islamisten, die das Khalifat der frühislamischen Epoche als „islamisches Gemeinwesen“ schlechthin postulieren, sowie modernen Obrigkeitsstrukturen die Vereinbarkeit mit dem Islam absprechen. Weil die islamische Grundlage Marokkos in der Verfassung verankert ist, sehen gemäßigte Islamisten sich nicht gehindert, innerhalb des nationalstaatlich organisierten modernen Gemeinwesens politische Verantwortungspositionen einzunehmen. Kontextbezug erscheint notwendig für das legitime Ansinnen, dem Islam als Fundament Marokkos und ganzheitlichem Gesellschaftsmodell fortdauernd Attraktivität zu verleihen. Islam fasst man als Aufforderung, Unzulänglichkeiten in allen Gesellschaftsbereichen, eingebettet in einen vom Schrifttum vorgegebenen Rahmen, zu beseitigen. Entscheidend erweist sich die konkrete Handlung, die entweder islamische Verantwortungsbereitschaft erkennen lasse oder von privaten Interessen geleitet sei. Geistigen Pluralismus erkennt man als Basis, gesellschaftlich relevante Entscheidungen im Sinne islamischer Ethik zu treffen. Islamische Normen behielten trotz gesellschaftlicher Veränderung in Marokko fortdauernd Gültigkeit. Wähnen radikale Islamisten ihre Bewegung oder eine bestimmte geistige Autorität als den Maßstab für die gesamte Gesellschaft, die sich zur Nachahmung aufgefordert sehe, erweise sich für gemäßigte Islamisten die Vorbildhaftigkeit erst in der konkreten Handlung und erfordere permanentes Hinterfragen der eigenen Position. Ein Absolutheitsanspruch wird zurückgewiesen, so daß sich politische Führungsstrukturen nach demokratischen Kriterien erneuern ließen. Dieser Pragmatismus darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß bei gemäßigten Islamisten ein Islamischer Staat geführt von einem Khalifen ebenfalls das Ideal darstellt. Realitätssinn hindert sie daran, das Khalifat zum offiziellen politischen Programm zu erheben, da man sich bewusst ist, dies in absehbarer Zeit im gegenwärtigen Marokko nicht realisieren zu können. Die Gefahr besteht darin, daß bei geänderten Umständen die grundsätzliche Orientierung am Khalifenstaat die bisherige Toleranz und demokratische Erneuerungsbereitschaft in den Hintergrund treten lässt, sowie mit der Hinwendung zu prämodernen Strukturen einhergeht. Sofern die angestrebten Ideale auf friedliche Weise sich nicht verwirklichen lassen, kann auf den Weg über die staatliche Gewalt, der als erfolgreicher eingeschätzt wird, ausgewichen werden. Erst die Erkenntnis, dass das Khalifat nicht nur unzeitgemäß, sondern vom Islam überhaupt nicht gefordert ist, wird die dauerhafte Hinwendung zu modernen Obrigkeitsstrukturen garantieren. Hamimnat (2006) weist darauf hin, daß die marokkanischen Islamismusbewegungen trotz ihrer äußerlichen Unterschiede sich in den national relevanten Fra-
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gen immer wieder zur gemeinsamen Aktion zusammenfanden, da sie im Khalifat als Fernziel ihre gemeinsame islamistische Identität erkannten: Die verschiedenen islamistischen Bewegungen Marokkos haben seit ihrer Gründung in allen die Grundlagen der Nation betreffenden Angelegenheiten die patriotische Unterstützung nicht vermissen lassen und Einigkeit demonstriert, obwohl sie voneinander abweichende Auffassungen hinsichtlich der legitimen Daawaformen und der politischen Strategien vertreten. Differenzen dieser Art bewertete man als unbedeutend, sofern sie nicht das Endziel in Frage stellten, das in der Wiederherstellung des Khalifats gesehen wird.178
Die grundsätzliche Orientierung der Islamisten am Khalifat stellt eine latent vorhandene Bedrohung für die marokkanische Gesellschaft dar, die sich auf politischem Wege minimieren lässt. Über die Konfrontation mit demokratischen Entscheidungsmechanismen, einhergehend mit der Partizipierung am gesellschaftlichen Modernisierungsprozess auf islamischer Grundlage tritt die nostalgische Rückwärtsgewandtheit in den Hintergrund. Erfolge bei der demokratischen Durchsetzung von Reformen, die islamische Wertegebundenheit mit modernen Gesellschaftsidealen in Einklang bringen, lassen die auf Gewalt setzende Variante inattraktiv erscheinen. Sie tragen dazu bei, dass islamischer Gemeinsinn in der marokkanischen Politik insgesamt wieder verstärkt zum Ausdruck gelangt. Die Zugewinne der zugelassenen Islamisten bei den Parlamentswahlen 2002 erwiesen sich als Beweggrund für den jungen König und die etablierten Parteien, Konzepte für einen holistischen, mit islamischer Ethik konformen Modernisierungsprozess zu entwickeln. Über die Partizipation von Islamisten nicht nur an politischen Debatten, sondern ebenso an aktiven gesetzgeberischen Reformprozessen wurden sich die Hauptverantwortungsträger gewahr, dass Marokko als islamisches Land nach Reformen in einem „islamischen Rahmen“ verlangt. Jegliche erfolgreiche Modernisierung erfordere, den Islam als Wesenselement angemessen einzubeziehen. Indem gesellschaftliche Probleme nach Maßgabe der islamischen Ethik auf politischem Wege bewältigt werden, nehmen die Marokkaner ihren Staat als Unterstützer im Alltag wahr und identifizieren sich mit der demokratisch legitimierten Obrigkeit. Die Verweigerung bürgerlicher Grundrechte einhergehend mit Vernachlässigung von gemeinnützigen Aufgaben ruft eine permanente Unzufriedenheit mit der Gegenwart hervor, die utopische Rückwärtsgewandtheit verstärkt. Die Zunahme der Repressionen im Anschluß an die Anschläge vom 16. Mai 2003 hat die heraufbeschworene „Gefahr Islamismus“ nicht verringert, sondern eher noch erhöht, weil die aktuelle Politik von der Bevölkerung als gegen sie gerichtet erfahren wurde. Den Islamisten gelingt 178 Hamimnat, Salim: Sirat Al-Harakat Al-Islamiya, S. 119
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es, sich als Alternative darzustellen. Das Khalifat erhält neue Anhängerschaft, ausgehend vom Bewusstsein, im gegenwärtigen System die erstrebte Partizipation an den Errungenschaften der Moderne nicht zu erreichen. Schlussfolgernd darf Islamismus für die marokkanische Gesellschaftsentwicklung weder als „Gefahr“ noch als „Chance“ gewertet werden. Wie eine bestimmte Strömung eingeschätzt werden muß, hängt davon ab, in welcher Weise sie ihren „Islamismus“ zur Geltung bringt. Geht damit das Bestreben einher, ein prämodernes Gesellschaftsmodell dem Kollektiv zwangsweise aufzuoktroyieren, sowie das eigene Islamverständnis zur rechtsverbindlichen Gültigkeit zu erheben, kann dieser Islamismus zu Recht als „Bedrohung“ für einen auf Pluralismus basierenden, gesellschaftlichen Fortschritt eingestuft werden. Da Islamismus in der marokkanischen Gesellschaft als Phänomen erst in jüngster Zeit aufgetreten ist, kann weder den Marokkanern noch dem Islam eine Neigung zu Extremismen nachgesagt werden. Die Instrumentalisierung des Islam für ein prämodernes Obrigkeitssystem erweist sich in Marokko nicht als neue Erscheinung. Die postkolonialen Eliten haben den Islam zur Rechtfertigung ihres Regimes herangezogen und damit den Islamisten das negative Vorbild geliefert. Anhaltende staatliche Repression, einhergehend mit islamisch legitimierter Reformverweigerung bieten die Voraussetzungen, unter denen Islamismus sich zur einer Bedrohung entwickelt. Ein Anspruch auf Partizipierung an den Errungenschaften der Moderne lässt sich auf demokratischem Wege nicht realisieren, so daß das Versprechen radikaler Islamisten, über die Wiedererrichtung des Khalifats kollektive Gerechtigkeit zu erreichen, den Frustrierten als Perspektive erscheint. Die eigentliche Gefahr für die marokkanische Gesellschaft geht nicht vom Islamismus aus. Der berechtigte Anspruch der Marokkaner nach politischer Mitbestimmung lässt sich nicht aus dem Bewusstsein entfernen. Vielmehr erweist sich die Verweigerung elementarer Menschenrechte, einhergehend mit fehlender sozioökonomischer Chancengerechtigkeit als begünstigend für die Islamisten, sich als Alternative zur aktuellen, als elitär und autokratisch erfahrenen Obrigkeit zu präsentieren. Eine Verringerung der Zustimmung zu Islamismus ist nur über eine demokratische Modernisierung nach islamischen Grundsätzen zu erreichen. Erst wenn demokratische Wechsel zum Alltag gehören und Regierung wie Opposition die Anliegen aller Gesellschaftsschichten in ihre Konzepte einbeziehen, besteht die Voraussetzung für politische Stabilität und sozialen Frieden. Einem Islamismus, der darauf abzielt, ein Ordnungsmodell der Prämoderne neuzeitlich wiederzubeleben, wird die Basis entzogen.
7.2 Bedroht der Islamismus in Marokko die europäische Zivilisation
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7.2 Bedroht der Islamismus in Marokko die europäische Zivilisation und ihre Wertegemeinschaft? 7.2 Bedroht der Islamismus in Marokko die europäische Zivilisation Die Erkenntnis, dass Islamismus in der unmittelbaren geographischen Nachbarschaft verbreitet ist, ruft bei den Europäern eine Diskussion hervor, inwieweit das eigene zivilisatorische Erbe für die Welt des 21. Jahrhunderts den Maßstab darstellen kann. Das Bewusstsein einer Beteiligung von Marokkanern an religiös gerechtfertigter Gewalt in Europa erzeugte die Befürchtung, dass sich von Marokko ein neuer „Klerikalismus“ ausbreite, der mit der Aufklärung errungene Freiheitsrechte nördlich des Mittelmeers für ungültig erkläre. Erweist sich der marokkanische Islamismus als auf den marokkanischen Kontext bezogene, gesellschaftspolitische Strömung oder als Indikator einer generellen fundamentalistischen Tendenz im Islam, die sich gegen den Westen wendet, sowie auf muslimische Migranten in Europa übergreift? Der künftige Frieden in der westlichen Mittelmeerregion erscheint angesichts einer offenkundigen Wertedivergenz zwischen Muslimen und nichtmuslimischen Europäern zur Disposition gestellt. Welche Strategie sollte Europa entwickeln, um sowohl die negativen Folgen eines „islamistischen Erwachens“ vor seiner Pforte zu minimieren als auch Marokkaner für europäische gesellschaftliche Errungenschaften zu gewinnen? Erweist sich das europäische Islambild als geeignet, den marokkanischen Islamismus als Phänomen angemessen zu erfassen oder werden unzutreffende Zuschreibungen im Unterbewusstsein konserviert, die im Gegenübertritt zu Marokkanern zu ungeeigneten Reaktionen verleiten? Das geistige Fundament der europäischen Zivilisation gilt es zu ergründen, um entscheiden zu können, in wie weit Islamismus diesem entgegensteht, sowie auf welche Weise der marokkanischen Gesellschaft zu begegnen ist, damit europäische Werte nicht ihrerseits als Bedrohung erscheinen. Wähnte das mittelalterliche Europa sein Wertefundament im Christentum, setzt sich in der Postmoderne das Bewusstsein durch, die Aufklärung, verbunden mit den politischen Begriffen Demokratie und Menschenrechte seien die Grundsäulen der Zivilisation Europas. Sie bedingten eine Säkularität, getragen von der menschlichen Vernunft als handlungsleitendem Element. Außereuropäischen Zivilisationen wird angesichts eines postmodern fortbestehenden Einflusses religiöser Autoritäten auf staatlicher Ebene, einhergehend mit voraufklärerischen Gesellschaftsauffassungen unterstellt, ihre Religionen ließen Rationalität nicht zu. Besonders dem Islam schreibt man nicht selten eine antiliberale Grundtendenz zu, welche die islamische Zivilisation in Opposition zum westlichen Freiheitsbegriff hineinlenke. Die Tatsache, dass die meisten islamischen Staaten westliche Modernität kaum im Zusammenhang mit den vorgegebenen europäischen Wertbegriffen als mehr mit imperialer Herrschaft erfahren haben, bleibt
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unberücksichtigt. Die Assoziation von Rationalität mit Areligiosität wird den geistigen Urhebern der Aufklärung nicht gerecht, die ihre Säkularität ausschließlich im Zurückweisen des christlich- kirchlichen Absolutheitsanspruchs zum Ausdruck brachten. Ein späteres säkularistisches europäisches Dominanzstreben steht jenem aufklärerischen Relativismus entgegen und erfährt im Islamismus eine Variante des Widerstands. Indem der Islamismus zur allgemeinen Bedrohung für von Europa ausgehende gesellschaftliche Liberalität heraufstilisiert wird, lässt man seine oberflächliche Kenntnis offenbar werden. Eine Differenzierung innerhalb des Islamismus nach radikalen, gewaltbereiten und gemäßigten, kompromißbereiten Islamisten findet nicht statt. Mit dieser Generalisierung entzieht sich der Westen die eigene Basis für einen Kulturdialog mit der islamischen Zivilisation, der die Anerkennung des Gegenübers als gleichwertig voraussetzt. Die Stigmatisierung und Ausgrenzung treibt vom Grundsatz her dialogbereite Islamisten in die Fundamentalopposition hinein und führt erst jene Radikalisierung herbei, die einen Konsens ausschließt. Radikale Islamisten beanspruchen in der Tat, vormoderne Strukturen mit autoritären Mitteln festzuschreiben. Sie heben sich von gemäßigten Islamisten ab, die gleichermaßen konservative Gesellschaftsauffassungen vertreten, einer Modernisierung im kulturbezogenen Kontext sich aber nicht verweigern. Extreme Weltanschauungen sind kein Spezifikum der islamischen Zivilisation, geschweige denn Marokkos, sondern finden weltweit Anhängerschaft. Die Erfolge rechtsextremer Parteien in europäischen Staaten belegen, dass dort gleichermaßen eine Opposition zur aufklärerischen Liberalität existiert, deren radikale Variante angesichts der gleichmäßigen Wohlstandsverteilung auf Minderheiten begrenzt bleibt. Inwieweit extremistische Bewegungen innerhalb einer Gesellschaft auf Zustimmung treffen, hängt weniger vom kulturhistorischen Hintergrund als mehr von den politischen und sozioökonomischen Voraussetzungen ab. Die Extremismen richten sich gegen die Profiteure jenes Fortschritts, an dem man nicht teilhaben kann. Im Realisieren, dass in Europa Entwicklungschancen vorhanden sind, zu denen man in Marokko keinen Zugang findet, wendet sich marokkanischer Islamismus nicht nur gegen die eigenen Herrschaftseliten, sondern darüber hinaus gegen die europäische Zivilisation, der man unterstellt, Wohlstand und Entwicklung exklusiv für sich vorzusehen. Eine gegen den Westen gerichtete Einstellung erwächst aus unreflektierter Übertragung westlicher Modernisierungskonzepte auf außerwestliche Gesellschaften, ohne den religiöskulturellen Kontext einzubeziehen. Modernität wird mit einem Anspruch zur „Europäisierung des Globus“ assoziiert. Es bildet sich eine Opposition heraus, die sich generell gegen westliche Zivilisationserrungenschaften wendet. Ihre Zustimmung erfährt sie aufgrund der Tatsache, dass der geistige Hintergrund der westlichen Moderne während der Kolonialzeit nicht
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weitervermittelt wurde und vielfach unbekannt blieb. Für einen erfolgreichen Fortschrittsprozeß im zivilisatorischen Rahmen fehlt die strukturelle Basis. Die marokkanische Gesellschaft blieb in allen Bereichen hinter dem westlichen Abendland zurück. Der Eindruck verfestigte sich, westlicher Fortschritt diene der Aufrechterhaltung der westlichen Hegemonialstellung. Außerwestliche Zivilisationen sind immer weniger bereit, zu akzeptieren, dass der Westen die Grundsätze vorgibt, die ihre Gesellschaft bestimmen sollen. Die Anerkennung des europäischen Wertefundaments jenseits seiner Grenzen gelingt nur, wenn Europa sich vom Bestreben abwendet, anderen Zivilisationen die Kriterien vorzuschreiben, auf denen ihr Entwicklungsmodell basieren sollte. Der Verweis auf die Urheberschaft der Aufklärung darf nicht als Rechtfertigung herangezogen werden, die eigenen Wertmaßstäbe für andere Zivilisationen zum Maßstab zu erklären. Die dahinter stehenden Leitideale sind universal, ihre Universalität legt nahe, dass jede Nation in der Lage ist, sie im religiös-kulturellen Kontext umzusetzen. Europa wird die alleinige Deutungshoheit für Modernität aufgeben müssen, damit die europäisch entstandenen Wertbegriffe jenseits seiner Grenzen Akzeptanz erfahren. Sofern Europa den Marokkanern die ideellen und materiellen Grundvoraussetzungen bereitstellt, eine moderne Entwicklung nach marokkanischen Maßstäben zu realisieren, verliert ein Islamismus, der europäische Werte generell zurückweist, die Grundlage. Der zivilisatorische Erfolg Europas wird in besonderem Maße mit Pluralität und geistiger Freiheit assoziiert. Islamismus wird als Bedrohung aufgefasst, sofern ihm attestiert wird, abweichende Sichtweisen und Wertvorstellungen nicht zuzulassen. Die besondere Aufmerksamkeit, die Islamismus in der europäischen Medienöffentlichkeit erfährt und mit Pauschalzuschreibungen einhergeht, hat ein Islambild bei Europäern gefördert, daß eine grundsätzliche Inkompatibilität des Islam mit europäischen Werten nahe legt. Indem Muslime traditionellen, ihrer Religion erwachsenen Grundsätzen trotz gesellschaftlicher Modernisierung fortdauernd Gültigkeit zuweisen, wird ihnen unterstellt, sich in geistige Opposition zur westlichen Liberalität zu begeben. Muslimischen Immigranten in europäischen Ländern, die eine gewisse Distanz zum Gesellschaftsleben des Aufnahmelandes erkennen lassen, wird eine feindliche Grundeinstellung gegenüber europäischen Wertmaßstäben nachgesagt. Eine erfolgreiche Integration wird assoziiert mit Assimilation und Übernahme jeglicher Verhaltensweisen einer sogenannten „Leitkultur“, die unhinterfragt zum „Charakteristikum des Europäers“ erklärt wird. Indem Wertskala und Verhaltensweisen der Majoritätsgesellschaft zu „den europäischen Werten“ erhoben werden, wird der Pluralismus, das eigentliche Wesensmerkmal Europas und zugleich die Grundlage seines zivilisatorischen Fortschritts, nicht angemessen gewürdigt. Wie lässt sich erwarten, dass Liberalität und Multikulturalität für erstrebenswert erachtet wird, wenn mit diesen Beg-
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riffen die Übernahme der gesellschaftliche Alltagspraxis der europäischen Mehrheit verbunden wird? Die gebetsmühlenhaft erhobene Forderung an muslimische Migranten in Europa, sich zu „europäischen Normen“ zu bekennen, bietet einer von Kepel (2004) bei jungen Muslimen beklagten „Entfremdung von westlichen Werten“ erst die Rechtfertigungsgrundlage. In dem Maße wie die Mehrheitsgesellschaft als intolerant und abweisend erfahren wird gelten ihre Wertkategorien als inattraktiv, so daß nur die gewalttätige Opposition gegen diese „Kulturhegemonie“ oder der Rückzug in die Parallelgesellschaft als Ausweg gesehen wird: À l`autre extrême du spectre, on trouve de jeunes qui, violemment opposés à pareille perspective, exacerbent une rupture à fondement islamique rigide avec l`environnement européen, refusent une acculturation qu`ils soupçonnent d`adultérer leur identité. Quelques-uns traduiront cette sécession volontaire par le passage à la violence, exprimeront le ressentiment social en haine religieuse. D`autres, plus nombreux, se contenteront d`une scission par la pensée et aboutiront à une vie repliée sur des communautés closes, voire aspireront à émigrer de la terre des kuffar, les infidèles, les «mécréants», vers le dar el islam, le domaine des croyants.179
Indem in Europa lebenden Muslimen eine allgemeine Zurückweisung der europäischen Werte unterstellt wird, sobald sie ihre Unterscheidungsmerkmale gegenüber der nichtmuslimischen Mehrheit offen zum Ausdruck bringen, wird den 15 Millionen muslimischen Europäern indirekt ihre europäische Identität abgesprochen. Das bei Kepel erkennbare Exklusivitätsbewusstsein unterscheidet sich in geringerem Maße vom Absolutheitsanspruch radikaler Islamisten als von der Multikulturalität der Aufklärung. Zwar repräsentiert diese Sichtweise ebensowenig die Mehrheit der gegenwärtigen Europäer, sie dient Islamisten als Rechtfertigung für ihre oppositionelle Einstellung gegenüber dem Westen. Intoleranz auf der einen Seite fördert Intoleranz eines Gegenübers, sowie demonstrierte Dialogbereitschaft und Einfühlungsvermögen zum Abbau von Ressentiments beitragen. Europäer, die dem Islam mit abwertenden Verallgemeinerungen gegenübertreten, offenbaren nicht nur ihre oberflächliche und einseitige Wahrnehmung der islamischen Zivilisation, sie begünstigen die Imprägnierung vorurteilsbeladener Zuschreibungen über den Westen bei Muslimen. Radikale Islamisten, die den Okzident bereits als Feindbild verinnerlicht haben, sehen ihre Einschätzung bestätigt. Sie finden Belege für ihre Grundansicht, die europäische Intellektualität sei nicht an einem gleichrangigen Nebeneinander pluraler Weltanschauungen basierend auf gegenseitiger Wertschätzung interessiert sondern akzeptiere ausschließlich die Gültigkeit ihres anvisierten Gesellschaftsmodells. Wenn Europa den berechtigten Anspruch auf Akzeptanz seiner Werteordnung bei außereuropä179 Kepel, Gilles: Fitna – Guerre au coeur de l`islam, p. 295
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ischen Zivilisationen erhebt, sollte die eigene Öffentlichkeit einen Grundrespekt vor den Normbegriffen der nicht origin europäischen Kulturen erkennen zu lassen. Ein Gefahrenpotential für den Erhalt des westlichen Liberalitätsbegriffs entwickelt sich, sofern einflussreiche westliche Autoritäten dem Islam die Unvereinbarkeit mit westlichen Leitidealen unterstellen. Eine vorhandene Skepsis gegenüber dem Westen verfestigt sich, so dass westliche Errungenschaften in der Tat zurückgewiesen werden. Ressentiments, die sich über negative Erfahrungen bereits verinnerlicht haben, lassen sich kaum noch im gemeinsamen Dialog überwinden. Islamische Gesellschaften erkennen europäische Werte nicht als erstrebenswert sofern westliche Verantwortungsträger die Aufklärung nicht als das ethische Fundament ihrer Zivilisation herausstellen. Gesellschaftspolitische Universalanforderungen dürfen materiellen Interessen nicht untergeordnet werden. Westlicher Einfluß wird in Marokko als politökonomisches Dominanzstreben einhergehend mit Interessendurchsetzung zu Lasten der außerwestlichen Zivilisationen wahrgenommen. So lange die ethische Grundlage okzidentaler Modernität unvermittelt bleibt und im Gegenübertritt zu Muslimen nicht zum Ausdruck gelangt, wird eine Oppositionsmentalität gegen westliche Zivilisationsbegriffe gefördert. Zeigte sich die erste Konfrontation der islamischen Welt mit der westlichen Moderne im Kolonialismus, in dem die Europäer ihre zivilisatorischen Maßstäbe mit Gewalt durchzusetzen beanspruchten, wurde in der Postkolonialzeit eine Elite gefördert, die sich zwar ökonomisch und außenpolitisch am Westen orientierte, aufklärerischen Werten insgesamt aber geringe Bedeutung beimaß. Indem jene Elite zugleich elementare islamische Gemeinschaftsverpflichtungen vernachlässigte, verlor sie in der Bevölkerung ihren Rückhalt, so daß die Islamisten sich als Ersatzautoritäten präsentieren konnten. Je mehr die autoritäre postkoloniale Obrigkeit erkennbare Rückendeckung von westlichen Staaten erhielt, desto mehr erschienen westliche Werte als Distanzierung vom Islam. Da die Islamisten einerseits gegen den Westen Position bezogen und andererseits islamische Kollektivpflichten im alltäglichen Agieren Gültigkeit zuwiesen, stellte sich ihr Gesellschaftsmodell in der islamisch gebildeten Bevölkerung Marokkos als glaubwürdige Alternative zur als „ungerecht“ empfundenen, soziopolitischen Gegenwart dar. Wenn der Westen die bei Muslimen anzutreffende Assoziation seiner Zivilisation mit Materialismus und einem undemokratischem, gegen religiöse Werte gerichteten Herrschaftsstil beklagt, gilt es, wie Lewis (1993) konstatiert, sich bewusst zu werden, daß in vielen islamischen Staaten bislang nur Minoritäten zu den universalistisch postulierten Errungenschaften der vom Westen ausgehenden Moderne Zugang fanden:
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It is easy to understand the rage of the traditional Muslim confronted with the modern world. Schooled in a religious culture in which, from the beginning, rightness has meant supremacy, he has seen that supremacy lost in the world to Western power; […]And he does not fail to notice that the way of life of the rich and tyrannical […]are modeled, at least in appearance, on those of the infidel West. The Westerner may think, and sometimes dare to say, that these resemblances are in fact no more than appearance and that the underlying reality, though it has ceased to be Islamic in any meaningful sense, has not become European. Traditional Muslims who up until now have had little opportunity to observe European realities could hardly be expected to accept such fine distinctions, and it is not surprising that so many of them have found in the idea of resurgent Islam a new identity and dignity and an ideology for the critique of old and the devising of new regimes.180
In dem Maße wie Europas Wertegemeinschaft als exklusiv und elitär erlebt wird, findet ein Islamismus, der Europa zum Feindbild heraufstilisiert, in der marokkanischen Gesellschaft Zustimmung. Je länger Partizipierung am europäischen Wohlstandsmodell verwehrt bleibt desto radikaleren Ausdrucksweisen wendet sich die islamistische, gegen Europas Wertedominanz gerichtete Opposition zu. Auf gewalttätigen Widerstand setzende Islamisten erfahren Zustimmung in der marokkanischen Civil Society. Die Anschläge von Casablanca 2003 und Madrid 2004 haben demonstriert, dass die angewandten Mittel, seinen Widerstand zum Ausdruck zu bringen, bis zur Gewalt gegen europäische Symbolik eskalieren können. Eine Bedrohung für die europäische Zivilisation ergibt sich aus jener Gewaltbereitschaft nicht, sie erwächst aus der Entwicklungsdivergenz, die islamistische Gewalt als eines von mannigfaltigen, bedrohlich erscheinenden Phänomenen begünstigt. Die fehlende Teilhabe der Afrikaner an in Europa vorhandenen Entwicklungschancen drückt sich gleichermaßen in den Flüchtlingswellen vor der europäischen Mittelmeerküste, sowie in nach Europa hineingetragener Wirtschaftskriminalität aus. Beschränkt sich die europäische Politik darauf, die Symptome dieser Erscheinungen zu bekämpfen, ohne für die Beseitigung der Ursache ein langfristig angelegtes Konzept parat zu haben, lässt sich das Ziel einer friedlichen Koexistenz, von der beide Seiten des Mittelmeers profitieren, nicht erreichen. Das Bedrohungsempfinden der Europäer wird kaum verringert, da es permanent mit neuen Szenarien konfrontiert wird. Die Marokkaner sind in ihrer Majorität nicht gegen Europa eingestellt, sondern erachten vielmehr in der europäischen Zivilisation ein Vorbild für die eigene Zukunft. Bei erkennbarer europäischer Bereitschaft, eine marokkanische Fortschrittsentwicklung im Dienst der einheimischen Bevölkerung zu unterstützen, wird ein gegen westliche Zivilisationsnormen gerichteter Islamismus ebenso an Bedeutung verlieren wie jegli-
180 Lewis, Bernard: Islam and the West, p. 39
7.2 Bedroht der Islamismus in Marokko die europäische Zivilisation
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che existierenden Krisensymptome an der Zivilisationsgrenze – einschließlich der Gewaltbereitschaft. Eine Bedrohung des Pluralismus als Kernelement sowohl der europäischen Wertegemeinschaft als auch des Islam geht gegenwärtig vom Leitbild einer „Neuen Weltordnung“ aus, das beansprucht, außerwestlichen Zivilisationen ein bestimmtes, als „freiheitlich“ postuliertes Gesellschaftsmodell gewaltsam aufzuoktroyieren. Marokkanische Islamisten interpretieren hierin ein neuzeitlich westliches „Kreuzrittertum“, dem es sich entgegenzustellen gelte. Ihr Hauptfeindbild liegt weniger in Europa als mehr in Amerika, dem das Bestreben unterstellt wird, mit militärischer Gewalt die politischen und sozioökonomischen Strukturen der islamischen Welt nach seinen Interessen zu ordnen. Die marokkanische Gesellschaft fühlt sich zur europäischen Zivilisation trotz deren nichtislamischen Hintergrunds sowie kolonialer Erfahrung mit Europäern in besonderer Weise verbunden. Die seit mittelalterlicher Zeit bestehende Wertschätzung für die christlich - abendländische Tradition Europas ist so tief im marokkanischen Bewusstsein verankert, dass Marokko 1982 als erstes islamisches Land überhaupt den damaligen Papst Johannes Paul II. empfangen und gemeinsam mit islamischen Würdenträgern vor einer großen Menschenmenge hat beten lassen. Zahlreiche Marokkaner besuchen europäische Universitäten, um europäische Literatur und Geistesgeschichte zu studieren. Sofern europäische Staaten als geistige und politische Unterstützer der amerikanischen Hegemonialpolitik wahrgenommen werden, geht jene Hochachtung allerdings verloren. Ein islamistischer Widerstand wendet sich ebenso gegen Europa und kann wie in Madrid 2004 und London 2006 mit Gewalt gegen europäische Ziele einhergehen. Über eine eindeutige Distanzierung der europäischen Politik vom imperiale Züge aufweisenden amerikanischen außenpolitischen Paradigma, verbunden mit der Einigung auf eine gemeinsame friedliche Strategie im Gegenübertritt zur Islamischen Welt kann der Alte Kontinent demonstrieren, dass seine Werte sich in keiner Weise gegen die islamische Zivilisation richten, sowie Dialog und Einvernehmen erreichen. Sowohl die jahrhundertealte gegenseitige Bereicherung von Orient und Okzident auf marokkanischem Territorium als auch die aus der neuzeitlichen Migration entstandene „marokkanische Diaspora“ in Europa prädestinieren Marokkaner wie Europäer für den westlich-islamischen Wertedialog. Indem Europäer wie Marokkaner ihre Skrupel voreinander überwinden, sowie in einen Kulturdialog eintreten, entdecken beide Zivilisationen ihr gemeinsames Wertefundament wieder. Man erinnert sich der intellektuellen und wissenschaftlichen Kooperation, die im mittelalterlichen Maghreb stattfand, sowie die Basis des zivilisatorischen Fortschritts beiderseits des Mittelsmeers bildete. Diese fruchtbare Zusammenarbeit erwuchs zur entscheidenden Voraussetzung der späteren europäischen Renaissance wie des Humanismus. Hätten die mittelalter-
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lichen-maurischen Gelehrten einen bestehenden Exklusivitätsanspruch innerhalb von Islam oder Christentum als Aufforderung zur kulturpolitischen Beherrschung aufgefasst, wären die aufklärerischen Ideen im frühneuzeitlichen Europa nicht entwickelt worden. Die gemeinsame ethische Grundlage von Islam und Christentum brachte die Geistesgrößen aus beiden Kulturkreisen zusammen und bestärkte sie zugleich in ihrer Identität. Mittlerweile ist der Einfluß der Religion in der europäischen Gesellschaft so gering geworden, dass das Abendland seinen religiösen Maßstäben nicht mehr die ursprüngliche Bedeutung beimißt. Der Islam konfrontiert die Europäer wieder mit ihrem eigenen historischen und geistigkulturellen Fundament, weil er die Selbstverständlichkeit der Säkularisierung wie des Individualismus als „Markenzeichen des Fortschritts“ in Frage stellt. Eine Bedrohung kann nur derjenige darin erkennen, der anzustrebende Säkularisierung mit Distanzierung von religiösen Normen sowie Individualismus mit Egozentrismus gleichsetzt. Die islamische Zivilisation zeigt sich in der Lage, die Europäer zum Bewusstsein zurückführen, dass religiöser Gemeinsinn im modernen Kontext weiterhin Berechtigung erfährt. Man vergewissert sich der religionsethischen Rechtfertigungsgrundlage des Wohlfahrtsstaats als stabilisierendem Element der europäischen Demokratie. Wenn die koloniale Vergangenheit aufgearbeitet ist werden die Europäer den Stellenwert der Beziehung zur islamischen Welt für die eigene politische Entwicklung wieder angemessen würdigen. Schnapper (1994) interpretiert das durch die Geschichte geprägte Verhältnis zum Islam als entscheidenden Bestimmungsfaktor für die Suche der Europäer nach der eigenen, dauerhaft einenden demokratischen Identität: The centuries-old history of relations between Christianity and Islam and the more recent history of colonialism, still very much part of people`s consciousness, necessarily form a background to relations between Muslims and non-Muslims. European countries are traversing an economic recession that shows little sign of easing and that is causing the number of unemployed […] to rise. But European countries are also experiencing a political crisis which affects their perception of their own identity and the present structure of democracy itself, a crisis rendered all the starker because the erstwhile common enemy – communisms – whose presence was a factor of cohesion is no longer there.181
Das europäische Wertefundament wird weniger durch den marokkanischen Islamismus bedroht als mehr durch die Tatsache, dass außereuropäische Zivilisationen von den Ergebnissen der von Europa ausgehenden Moderne bislang nur unzureichend profitierten. Der Islamismus stellt sich als eine Variante dar, auf die wahrgenommene Disparität bei Entwicklungschancen zu reagieren. Ein west181 Schnapper, Dominique: Muslim communities, ethnic minorities and citizens, p. 158
7.3 Wie weit tragen die Eliten in Marokko und Europa zum Islamismus bei?
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licher Exklusivitätsanspruch, der nur dem eigenen Gesellschaftsmodell Fortschrittlichkeit attestiert, damit verbundene Errungenschaften außerwestlichen Zivilisationen nicht zugesteht, ruft Widerstand hervor. Diese Exklusivität steht im Gegensatz zum Pluralismus als Ideal der europäischen Aufklärung und distanziert Europa von seiner eigenen geistigen Tradition. Besonders in Verbindung mit einem politischen Hegemonialbestreben erfährt jene Exklusivität kollektives Zurückweisen. Eine erfolgversprechende gesellschaftspolitische Strategie, einem Bedrohungsszenario, ausgehend von marokkanischem Islamismus von Europa aus zu begegnen, sollte auf zwei Ebenen bestehen. Die erste Ebene erfordert die Entwicklung von Konzepten, die Disparität zwischen Europa und Marokko zu überwinden. Der europäische Wohlfahrtsstaat hat sich für die eigene Civil Society als Erfolgsmodell erwiesen. Er beruht auf dem Prinzip der Chancengleichheit, das aus der christlichen Ethik abgeleitet wurde und im islamischen Gleichheitsgrundsatz seine Entsprechung findet. Seine universale Gültigkeit erfordert, den Gesellschaften jenseits der europäischen Grenzen die gleichberechtigte Partizipation an moderner Entwicklung zuzugestehen. Die Erfahrung der Europäer mit erfolgreichen Entwicklungskonzepten verlangt die dahinter stehenden aufklärerischen Leitideen weiterzuvermitteln. Die westliche Unterstützung eines marokkanischen Reformprozesses im Sinne aller Bevölkerungsschichten lässt europäische Werte als kompatibel mit dem Islam erkennen. Zum Abbau von gegenseitigen Feindbildern erweist sich als zweite Ebene ein erfolgreicher Kulturdialog als entscheidend. Das gemeinsame Wertefundament von Islam und westlicher Aufklärung sollte als Motivation aufgefasst werden, einen Exklusivitätsanspruch von Islamisten wie westlichen Intellektuellen gemeinsam zurückzuweisen, der die eigene Wertskala zum alleinigen universellen Maßstab erhebt. Dem Islamismus lässt sich nur angemessen entgegentreten, indem das westliche Islambild von Stereotypen und unzutreffenden Negativzuschreibungen befreit wird. Über die Kombination der ersten materiellen Ebene mit der zweiten kulturell-geistigen Ebene wird die historische, gegenseitige Wertschätzung von Marokkanern und Europäern wiederhergestellt, sowie einem Bedrohungsempfinden auf beiden Seiten die Grundlage entzogen.
7.3 Wie weit tragen die Eliten in Marokko und Europa zum Islamismus bei? 7.3 Wie weit tragen die Eliten in Marokko und Europa zum Islamismus bei? Eine Geistesströmung erwächst immer in Abhängigkeit zu den vorgegebenen Leitideen der herrschenden Eliten ihrer Zeit. Der marokkanische Islamismus kristallisiert sich als eine Oppositionsbewegung gegen die Säkularisierung heraus, die mit der vom Westen ausgehenden Moderne assoziiert wird. Verbreiten
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7 Islamismus in Marokko – eine Herausforderung für die Zukunft
die gegenwärtigen Eliten ein Bewusstsein, daß Modernität und religiöse Gebundenheit als Gegensatz erscheinen lässt? Welchen Stellenwert misst die geistige Urheberschaft moderner Philosophien religiösen Wertkategorien für die Entwicklung von Gesellschaft allgemein, sowie des marokkanischen Gemeinwesens im Besonderen zu? Angesichts der Tatsache, daß die Moderne im Wesentlichen vom Westen bestimmt wird, ist vor allem das Verhältnis der westlichen Eliten zum Islam in den Mittelpunkt zu ziehen. Das Islambild der westlichen Repräsentanten der modernen Gemeinschaftsordnung verlangt eine Reflexion, inwieweit es Vergangenheitsverhaftung und Zurückweisung westlicher Kollektivanforderungen in Marokko begünstigt. Die marokkanischen Eliten sind gefordert, zu hinterfragen, in wie weit sie für die Hinwendung zu einem eigenständigen islamischen Fortschritt in der Civil Society ein Vorbild abgeben, die Zukunftsorientierung fördern, sowie die Wertschätzung westlicher Zivilisationserrungenschaften erleichtern. Moderne Leitideen verbindet man in Marokko neben der westlichen Zivilisation mit den politischen Eliten der Postkolonialzeit, welche westlich ausgebildet, die Ideale der Aufklärung als Grundlage für die Konzipierung des modernen Nationalstaats übernahmen. Liberté, égalité und fraternité, die Leitbegriffe der Französischen Revolution, bildeten die Parolen, mit denen man die politische Loslösung vom französischen „Mutterland“ begleitet hatte. In ihnen erkannte man die Rechtfertigungsstützen eines modernen marokkanischen Nationalbewusstseins. Die dahinter stehenden politischen Systemvorstellungen wurden nicht von allen Eliten für Marokko als nachahmenswert interpretiert. Der Monarch hielt an der aus vormoderner Zeit stammenden islamischen Rechtfertigungsgrundlage seiner Dynastie als Legitimation für einen politischen Absolutheitsanspruch fest und befand die im Westen mit der Aufklärung gerechtfertigte, demokratische Partizipation für Marokko nicht angemessen. Kollektive Teilhabe an moderner Entwicklung wurde von der Herrschaftselite öffentlich als Ziel propagiert, bedeutete in der Realität allerdings die Unterordnung unter westliche Interessen. Gesellschaftspolitische Reformen wurden weniger aus einer erkannten Notwendigkeit für die marokkanische Entwicklung durchgeführt, sondern um im Ausland den Eindruck von Fortschrittlichkeit zu hinterlassen. In der Civil Society bildete sich kaum das Bewusstsein heraus, die westlichen politischen Leitideale stellten universale Errungenschaften dar, die Marokko ebenso die Basis für Progressivität bereiten könnten wie im Okzident. Islamisten, die sich auf ein Gesellschaftsmodell der Vormoderne stützten, fanden in jenen Bevölkerungsschichten, die von der einseitig vorangetriebenen Modernisierung nicht profitierten, zunehmenden Beifall. Die neuzeitliche Konfrontation Marokkos mit dem Okzident war mit einer kolonialen Beherrschung verbunden, die ökonomisch im 19. Jahrhundert begann,
7.3 Wie weit tragen die Eliten in Marokko und Europa zum Islamismus bei?
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sich in der französisch-spanischen Protektoratszeit des frühen 20. Jahrhunderts auf die politische Ebene hinaufzog, sowie nach der Wiedererlangung der Souveränität weiterhin mit westlicher Interessendurchsetzung im Zusammenhang stand. Die kulturelle Beeinflussung durch die französische Protektoratsmacht einhergehend mit dem Erhalt westlichen Bildung hatte der marokkanischen Führungsschicht die Voraussetzung geboten, einen tieferen Einblick in die Denkweise des Abendlandes zu bekommen, so daß man mit den geistigen Wurzeln westlicher zivilisatorischer Fortschrittlichkeit in Berührung kam. Die durch die Kolonialherrschaft erzeugte, bedrohliche Betrachtungsweise des Okzidents wurde durch die gleichzeitige Assoziation der späteren Unabhängigkeit mit dem aufklärerischen Gedankengut bei den Eliten relativiert. Man verband den Westen nicht nur mit hegemonialer Fremdbeherrschung, sondern gleichermaßen mit einem anzustrebenden Fortschrittsbegriff. Aktuelle okzidentale Dominanz in Politik und Wirtschaft wurde in erster Linie mit eigener zivilisatorischer Rückständigkeit erklärt. Das hieraus abgeleitete Ansinnen einer Übernahme westlicher Strukturen nahm das ausschließlich bevormundende Erleben des Westens in der Civil Society kaum zur Kenntnis. So lange man die politische Entscheidungsebene inne hatte, gab man der Bevölkerung die Leitlinien vor, nach denen sich marokkanische Entwicklung zu orientieren hatte. Eine Partizipierung der Allgemeinheit an politischer Verantwortung wurde eher als hinderlich aufgefasst. Ohne den Bezug zur Alltagsrealität blieben die Reformen unvollständig und vertieften die Disparität zwischen der am Westen orientierten Oberschicht und der übrigen Bevölkerung. Die Erkenntnis, mit den westlichen Strukturen permanent konfrontiert zu sein, ohne von den Errungenschaften zu profitieren, hinterließ den Eindruck, Prosperität und demokratische Mitbestimmung erachte der Westen als exklusiv für sich. Modernisierung diene ausschließlich der Beibehaltung der politökonomischen Vormachtstellung der westlichen Zivilisation. Es entstand eine Opposition, die sich diesem von den marokkanischen Eliten unterstützten westlichen Hegemoniestreben widersetzte. Indem Maße wie die Islamisten neben ihrer geistigen Orientierung an Vorbildern aus der islamischen Vergangenheit moderne gemeinschaftliche Aufgaben wahrnahmen, wuchsen sie im Bewusstsein der Bevölkerung zur Alternative heran. Sie konservierten und vertieften die gegen den Westen gerichtete Einstellung, indem sie suggerierten, der fehlende islamische Hintergrund der modernen Leitideale sei die Ursache für den ausbleibenden Erfolg moderner Konzeptionen in der marokkanischen Zivilgesellschaft. Vor dem Hintergrund der Anschläge vom 16. Mai 2003 wurde ein Teil der Elite sich bewusst, daß die eigenen modernistischen Ideale bei der marokkanischen Majorität keine Resonanz gefunden hatten. Man fasste die islamistische Aktivität als Herausforderung für einen Modernisierungsprozeß, in den die Zivilgesellschaft
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eingebunden ist. Alaoui (2003) forderte die Erneuerung des Landes als gesamtgesellschaftliche Aufgabe anzuerkennen, in der jedem ein Beitrag zur kollektiven Teilhabe am Fortschritt abverlangt wird: Nach den Ereignissen erweist sich die dritte Aufgabe der Ziviligesellschaft darin, die Basis für die Übernahme von politischer Verantwortung zu verbreitern. Es gilt ein politisches Vakuum zu vermeiden, sowie zu verhindern, dass gemeinschaftliche Verpflichtungen nicht angemessen wahrgenommen werden. Diese Aufgabe soll als Angelegenheit der gesamten Nation und jedes Bürgers erkannt werden. Sie verlangt alle zur Verfügung stehenden pädagogischen Kräfte einzusetzen, angesichts einer Bevölkerung, die noch immer zu über Fünfzig Prozent aus Analphabeten besteht.182
Die allgemeine Orientierung an westlichen Vorbildern innerhalb der marokkanischen Eliten ging nicht mit einem einheitlichen Modernisierungsbegriff einher. Legten die einen die Priorität auf technisch ökonomische Innovation und hielten an traditionellen Autoritätsbeziehungen fest, verlangten die anderen die gesellschaftspolitischen Kollektiverrungeschaften der westlichen Zivilisation der marokkanischen Bevölkerung gleichermaßen zuzugestehen. Beide Strömungen zogen den Islam als Rechtfertigung ihrer Position heran. Vertraten erstere die Ansicht, die westlichen Aufklärungspostulate wie Demokratie und Pluralismus stünden dem Islam entgegen, interpretierten die anderen aus dem islamischen Gleichheitsgrundsatz heraus die Verpflichtung, die marokkanische Bevölkerung gleichberechtigt an moderner Entwicklung teilhaben zu lassen. Die Dominanz des selektiven Modernitätsverständnisses auf der politischen Führungsebene ließ in der Bevölkerung das Bewusstsein entstehen, die vom Westen ausgehende Moderne beruhe ausschließlich von materiellen Werten, zu denen man angesichts fehlender sozioökonomischer Voraussetzungen keinen Zugang erhalte. Indem die Befürworter einer eigenständigen marokkanischen, auf islamischer Ethik basierenden Fortschrittsagenda von politischen Autoritäten als „antiwestlich“ stigmatisiert wurden, fand eine Auseinandersetzung, in wie weit ihre Idealvorstellungen für Marokko sich als weiterführend erweisen würden, nicht statt. Die Intoleranz der Eliten untereinander, einhergehend mit der Parteinahme der Herrschenden für die ihnen opportun erscheinende Gesellschaftsauffassung stand einem Konsens über die geeignete Form der Modernität entgegen, so daß die Islamisten mit ihrem Gesellschaftsmodell verstärkt auf Resonanz trafen. Ihre unmittelbare Hinwendung zu den unteren Bevölkerungsschichten garantierte ihnen die Glaubwürdigkeit, kollektive Gerechtigkeit herzustellen in der Lage zu sein. Da jener Bevölkerung der Zugang zu moderner Bildung vorenthalten war, kannte sie die modernen Leitideen der Aufklärung nicht, so daß Islamismus sich ohne Konkurrenz verbreiten konnte. 182 Aloui, Said Ben Said: 16 Mai Al-Waqi`a Waddars, S. 113
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Eine Abwehrmentalität von Marokkanern gegen die westliche Denkweise sollte angesichts der historischen Wertschätzung des Okzidents sowie der besonderen Würdigung des Juden- wie Christentums seitens des Islam eigentlich nicht zu erwarten sein. Wenn sie dennoch existiert ergibt sich daraus eine Aufforderung an westliche Eliten, sich eingehender mit der marokkanischen Kultur auseinandersetzen, um vorausschauen zu können, wie ihre Idealvorstellungen in Marokko aufgenommen werden. Westliche Intellektuelle haben in jüngster Zeit des öfteren Termini geprägt, die bei Muslimen auf Unverständnis trafen oder als islamfeindlicher Kulturchauvinismus gedeutet wurden. Indem moderne Wertbegriffe wie Demokratie und Menschenrechte „dem Islam als entgegenstehend“ konstatiert werden, lässt man seine unzureichende, oberflächliche Gelehrsamkeit bezüglich Islam offenbar werden und fördert bei Muslimen die Zurückweisung der westlichen Moderne. Die Geringschätzung des Islam innerhalb der westlichen Elite resultiert zum einen aus einer ungerechtfertigten Übertragung der eigenen Gesellschaftsentwicklung auf andere Zivilisationen, sowie zum anderen aus einer mangelhaften Kenntnis der Wertvorstellungen eines Kulturkreises, zu dessen Sprache und Denkweise man kaum Zugang besitzt. Modernität und Aufklärung verbinden europäische Historiker gemeinhin mit Säkularisierung, sowie dem Rückzug der Religion aus der öffentlichen Sphäre, ein Prozeß, der auf ihrem Kontinent in dieser Kombination erfolgt ist. Die Tatsache, dass in der islamischen Welt politische Herrscher sich in der Postmoderne weiterhin auf die Religion berufen und prämoderne Gesellschaftsauffassungen häufiger anzutreffen sind, verleitet zu dem irrigen Schluß, der Islam sei mit Fortschrittlichkeit unvereinbar. Indem man unterstellt, der Islam trage zur Aufrechterhaltung prämoderner Gesellschaftsstrukturen bei, fordert man die Muslime indirekt auf, sich für eine moderne Entwicklung von ihrer Religion zu distanzieren. In Marokko, wo der Islam in besonderer Weise mit Kollektividentität, gemeinschaftlichem Zusammenhalt, sowie mit historischer Zivilisationsentwicklung verbunden wird, muss dieses Postulat zu Abwehrreflexen gegen den Westen, sowie zu einer Orientierung auf präkoloniale, mit dem Islam gleichgesetzte Ordnungsstrukturen führen. Die Voreingenommenheit westlicher Eliten gegenüber islamischen Gesellschaften resultiert nicht zuletzt aus fehlendem Zugang zu den Primärquellen des Islam. Aufgrund unzureichender arabischer Sprachkenntnisse ist man nur selten in der Lage, die Grundaussagen des Islam unmittelbar aus den islamischen Schriften herzuleiten, in einen Kontext einzuordnen, sowie angemessen zu würdigen. Das Bewusstsein, der Islam sei dem Werteverständnis der Aufklärung entgegengerichtet, erwächst aus der unkritischen Übernahme von Aussagen und Einschätzungen bezüglich des Islam, die entweder von Nichtmuslimen stammen, welche selbst der arabischen Sprache nicht mächtig waren oder von Muslimen
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ursprünglich in einem anderen Zusammenhang angewandt worden sind. Da die Aussagen nicht anhand der arabischen Originaltexte überprüft werden können, ist man verleitet, die unreflektierten Zuschreibungen als „Wesen des Islam“ zu interpretieren. Die gesamte westliche Bildungsschicht zeichnet sich durch eine verbreitete Unkenntnis islamischer Philosophie und Geistesgeschichte aus. Lewis (1993) konstatiert, daß selbst die Orientalisten und einschlägigen Islamwissenschaftler im Westen nur selten das intellektuelle Fundament besäßen, über das sich fundierte Aussagen zur islamischen Welt treffen ließen: It has been said that the history of the Arabs has been written in the West chiefly by historians who know no Arabic and by Arabists who know no history. If we add Persian, Turkish, and some other languages to the formula, it may be extended to cover the history of Islam as a whole. Even now it must be admitted, at whatever cost in professional selfesteem, that academic standards in Middle Eastern studies are recognizably lower than in other, more frequented disciplines.183
Erst der tiefere, auf eigener intellektueller Grundlage basierende Einblick in die Gedankenwelt des Islam lässt die „Religion des Orients“ als „weltoffen und wertgebunden“ erscheinen. Die Negativstigmatisierungen in der westlichen Öffentlichkeit, die von nicht wenigen Intellektuellen unwidersprochen hingenommen werden, haben einige anerkannte westliche Islamwissenschaftler verleitet, die islamischen Urquellen intensiver zu studieren, um bereits zuvor als „falsch und oberflächlich“ zurückgewiesene Aussagen argumentatorisch fundiert widerlegen zu können. Ein Teil der mit dem Orient vertrauten westlichen Elite gestand ihre Mitverantwortung für die Verbreitung von unkorrekten Assoziationen bezüglich des Islam, sowie fundamentalistische Entwicklungen im Islam ein. Es bedurfte einer angemessenen Erklärung, warum die islamische Zivilisation, die in voraufklärerischer Zeit Rationalität und wissenschaftlichem Diskurs einen hohen Stellenwert beigemessen hatte, heutzutage den daraus entwickelten westlichen Wertbegriffen mit besonderer Skepsis begegnet. Einen verbreiteten westlichen Exklusivitätsanspruch erkannte man als Ursache für die seltene Hinwendung neuzeitlicher islamischer Ethiker zu den Grundideen Rousseaus und Kants. Man gelangte peu a peu zu der Überzeugung, dass die Präsentation jener in Europa entstandenen Leitgedanken als „universell“ – keineswegs spezifisch „europäisch“ -, die Akzeptanz der dahinter stehenden Gesellschaftsanforderungen jenseits des westlichen Kulturkreises erreiche. Indem die Aufklärung nicht mehr als dem Islam entgegenstehend wahrgenommen wird, sondern als Grundlage aufgefasst, der bestehenden religiösen Rechtfertigung für wertgebundenes Ver-
183 Lewis, Bernard: Islam in History, p. 14
7.3 Wie weit tragen die Eliten in Marokko und Europa zum Islamismus bei?
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halten, die rationale Legitimation hinzuzufügen, kann sich gesellschaftliche Ethik gleichermaßen auf den Islam wie auf die allgemeine Humanität berufen. Bei den westlich gebildeten marokkanischen Eliten richtete sich die Abqualifizierung von traditionellen Gesellschaftsstrukturen als „entwicklungsbehindernd“ zunehmend ebenfalls gegen den Islam. Diese Ansicht ignorierte die über Jahrhunderte in Marokko unter islamischem Vorzeichen erreichte Progressivität. Ein Bestreben der prowestlichen Eliten, sich von islamischen Ordnungsvorstellungen loszulösen, erweckte bei der übrigen Gesellschaft einen Widerstand, die im Islam die Voraussetzung von gesellschaftlicher Entwicklung erfahren hatte. Die Vertrauensbasis in die von traditionellen Werten losgelöst agierende Führungsschicht wurde angesichts der ausbleibenden Erfolge beim vorgegebenen Ziel, die beklagte Rückständigkeit gegenüber dem Westen aufzuholen, zerstört. Dem postkolonialen Bildungsbürgertum attestierte man, an keiner Weiterentwicklung Marokkos im Sinne der Allgemeinheit interessiert zu sein. Es operiere als „Agent des Westens“, ausgerichtet auf das Ziel, die während der Kolonialzeit erlangte kulturelle und ökonomische Vorherrschaft gegenüber dem politisch souveränen Marokko beizubehalten. Es entwickelte sich eine geistige Oppositionsbewegung, die inspiriert war vom Leitgedanken, nur eine Rückbesinnung auf die frühislamische Ordnung, könne „wahrhaftige Souveränität“ garantieren. Die nicht erkennbare Bereitschaft marokkanischer Eliten, eine Kompatibilität zwischen dem Islam als Basis der einheimischen Kultur und den im Westen aufgenommenen, modernen Gesellschaftsidealen herzustellen, vermittelte den Eindruck, das westliche Modernitätsverständnis erfordere die Abkehr von der Religion. Getragen vom Bewusstsein, dass die säkulare Elite Marokko seines geistigen Fundaments entfremde, wähnen Islamisten in einer verstärkten Hinwendung zu „urislamischen Ordnungsstrukturen“ die Voraussetzung für eine Zukunft im Dienste der Nation. Ein Teil der Eliten erkannte die islamistische Kritik an einer bewussten Distanzierung des Modernisierungsdiskurses vom islamischen Wertebewusstsein als berechtigt an. Einige marokkanische Intellektuelle interpretieren den Islam modern und erklärten ihn zur Legitimationsgrundlage für einen ganzheitlichen Fortschritt, der auf Humanität gründe. Die doppelte legitimatorische Bezugnahme sowohl auf aufklärerische Rationalität als auch auf islamische Wertegebundenheit wurde von modernen islamischen Gelehrten weiterentwickelt. Bezüglich des allgemeinen Menschenrechts ergänzte man die profane rationale Rechtfertigung um eine sakrale und definierte das „Gottesgesetz“ als Ursprung jeglicher Humanität. Die von westlichen Intellektuellen erhobene Forderung nach universeller Durchsetzung moderner Humanitätsanforderungen sowie zeitgemäßer politischer Systemvorgaben erhielt aktive Unterstützung von neuzeitlichen islamischen Ethikern. Ein Teil der islamischen Geistlichkeit, aber ebenso gemäßigte Isla-
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7 Islamismus in Marokko – eine Herausforderung für die Zukunft
misten stellen mittlerweile einen festen Bestandteil der marokkanischen Menschenrechtsbewegung dar. Die im Parlament vertretene gemäßigt islamistische PJD legt Wert darauf, dass Demokratie und Menschenrechte mit ihrer Gesellschaftsauffassung nicht nur vereinbar seien, sondern vom Islam explizit als neuzeitliche Umsetzung der Schura vorgesehen. Je mehr man sich mit den Grundideen der Aufklärung auseinandersetzte, desto mehr wurde man sich der Konvergenz zu islamischen Gesellschaftsanforderungen gewahr. Der Anspruch zur Realisierung der modernen universalen Ideale in islamischen Rahmen wurde erhoben. Im Westen traf dieses berechtigte Anliegen nicht überall auf Akzeptanz. Nicht alle westlichen Eliten sind bereit, diesen Bewusstseinswandel innerhalb der islamischen Civil Society anzuerkennen. Offenbar wähnt man in einem aufgeklärten, auf Demokratie und Selbstbestimmung ausgerichteten Islamverständnis für die eigenen Interessen die größere Gefahr als in einer postkolonialen Elitendiktatur. Einige westliche Intellektuelle interpretieren die neuerliche „demokratische Grundtendenz“ innerhalb des Islamismus als Indikator abnehmenden Einflusses des Islam und berufen sich wie Kepel (2004) auf die Wahrnehmung, dass die mittlerweile bewusst verteidigten Ideale kurz zuvor noch als „Leitideen des Heidentums“ verfemt worden seien: Versuche, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch eine „islamische Charta“ der Menschenrechte zu ersetzen [...] sind nicht mehr von brennender Aktualität: Die islamistische Bewegung hat ihre stärkste Zeit hinter sich und ist heute weder darauf erpicht noch dazu in der Lage, ihre Sprachregelungen gegen ein universelles Idiom durchzusetzen. Im Gegenteil, zu Beginn des 21. Jahrhunderts bemühen sich die islamistischen Bewegungen und Parteien um Anerkennung als Demokraten und verurteilen die Repression, der sie ausgesetzt sind. Sie berufen sich dabei auf die allgemeinen Menschenrechte – auf eben jene Werte, die gestern noch als Ausdruck westlicher Gottlosigkeit verunglimpft wurden [...].184
Taktische Überlegungen stellen für die Hinwendung einiger Islamisten zu westlichen Leitideen ein nicht zu übersehendes Motiv dar. Sie zeugen allerdings davon, dass humanistische Grundsätze in einer islamischen Gesellschaft Gültigkeit besitzen und bei den Marokkanern auf Akzeptanz treffen. Mehr und mehr wird zwischen westlichen Werten und prowestlicher Interessenpolitik differenziert, sowie die gemeinsame ethische Grundlage zwischen Islam und Westen hervorgehoben. Westliche wie marokkanische Eliten trugen zu der Wiederentdeckung der Gemeinsamkeiten von Orient und Okzident bei, sowie entzogen einem Islamismus, der sich gegen die Aufklärung richtet, die Legitimationsbasis. Begünstigend wirkte sich neben ihrem Islamverständnis ihr Verhältnis zur westli184 Kepel, Gilles: Das Schwarzbuch des Dschihad, S. 430
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chen Modernität aus. Assoziiert man westlichen Fortschritt mit einer Loslösung von religiösem Bewusstsein, erreicht man in einer religiös empfindenden Gesellschaft keine Annahmebereitschaft. Eine Reserviertheit gegenüber dem Islam wie eine Verteidigung westlicher, gegen die marokkanische Nation gerichteter Interessenpolitik verleitet zum Zurückweisen westlicher Zivilisationsresultate. Die Hinwendung dem Westen gegenüber kritisch eingestellter Muslime zu abendländisch entwickelten gesellschaftlichen Paradigmen belebte die Diskussion okzidentaler Eliten bezüglich der Ursachen und Auswirkungen von Islamismus. Es entstand die Forderung, das Islambild der eigenen Zivilisation von unzutreffenden Zuschreibungen zu befreien. Eine historisch kritische Reflexion der eigenen Postulate verlangte, die Aufklärung mit Religiosität konform anzuerkennen. Man vergewisserte sich der Tatsache, dass die Aufklärung als theoretische Grundlage westlicher Modernität keineswegs gegen Religion, geschweige denn gegen den Islam gerichtet war. Eine real vorhandene Opposition gegen die Dominanz der christlichen Kirche schloß die Wertschätzung außerwestlicher Religionen und Weltsichten im europäischen Klassizismus bewusst ein. Dieses pluralistische Kernelement der klassischen Aufklärung mit der besonderen Ehrerbietung gegenüber außereuropäischen Weltanschauungen war im Zuge eines politischen Hegemoniestrebens der Europäer, einhergehend mit einem neuen, nicht mehr vorrangig religiös begründeten Kulturchauvinismus im späten 19. Jahrhundert der islamischen Zivilisation vorenthalten worden, ein Prozeß, den es nun im Sinne des Zusammenwirkens von Orient und Okzident im 21. Jahrhundert nachzuholen gelte. An die westlichen Eliten richtet sich die Forderung, die Aufklärungsideale, die ihre Gesellschaft hervorgebracht hat, als Grundlage für wertgebundene Fortschrittlichkeit weiterzuvermitteln. Obgleich sie im Widerstand gegen kirchliche Autorität auf politischer Ebene entstanden sind, besitzen sie im Kern einen religiösen Hintergrund. Mit der demokratischen Eigenentscheidung als Leitbild beinhalten sie Universalanforderungen, die für moderne Entwicklung in allen Zivilisationen die Voraussetzung bieten. Die aufklärerischen Ideen sind mit der Öffnung Europas von der eurozentrischen Sichtweise hin zu Multikulturalität, verbunden mit einer Wertschätzung außereuropäischer Philosophien im Zusammenhang darzustellen. Diese Ehrerbietung richtete sich insbesondere an den Islam. Die bekanntesten Literaten des Klassizismus von Lessing über Herder bis zu Goethe wiesen eine historisch verinnerlichte Geringschätzung der europäischen Zivilisation gegenüber dem Islam zurück und brachten seine humane, weltoffene, sowie progressive Tendenz in ihren Werken zum Ausdruck. An diesen historischen Beispielen sollten sich die Eliten der Gegenwart wieder verstärkt zu orientieren. Über das intensive Studium der islamischen Ethik, verbunden mit der angemessenen Würdigung des Orients und seiner Kultur verlangt es,
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wie die Orientalistin Schimmel (2002) fordert, zur Überwindung von Berührungsängsten und Feindbildern beizutragen, die einem europäischen Kulturchauvinismus gleichermaßen als geistige Grundlage dienen wie einem gegen den Westen gerichteten Islamismus: Wir sollten versuchen, über das Oberflächliche hinwegzukommen, wir sollten etwas tiefer eindringen, soweit wir es können. […] Man kann dem Orient nicht in einer flüchtigen, kleinen Begegnung das Rechte tun. Man kann den Orient nur mit einem liebenden Herzen verstehen, wie ja alles Verstehen eigentlich liebendes Verstehen ist. […] Es ist die Begegnung der großen Geister, die hier etwas zum Klingen bringt. Es scheint mir, als ob wir, gerade wir Orientalisten, die Pflicht haben, jene besten und positivsten Aspekte der islamischen Kultur immer wieder herauszuarbeiten. Wir können das mit unserer Sprachkenntnis, und wir sollten uns nicht von den Medien überrennen lassen, die immer nur auf das Spektakuläre und möglichst auch das Abscheuliche hinweisen.185
Eine wesentliche Forderung an die Eliten betrifft ihre Einflussnahme auf die Politik, die in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart dem Islamismus günstige Voraussetzungen bot. Eine religiös gerechtfertigte Reformverweigerung der herrschenden Obrigkeit sollten die marokkanischen Eliten als entscheidende Ursache für die Hinwendung von größeren Bevölkerungsteilen zum Islamismus herausstellen, sowie sich nicht für eine undifferenzierte Pauschalverfemung islamistischer Regierungskritiker als „Terroristen“ oder „Antimonarchisten“ instrumentalisieren lassen. Eine distanzierte Einstellung gegenüber der politischen Führung bietet die Grundlage, autoritäre Strukturen innerhalb von islamistischen Bewegungen öffentlich anzuprangern und dabei die beabsichtigte Reflexion zu erreichen. Die westlichen Eliten sollten ihre einheimischen Verantwortungsträger zurückweisen, wenn diese mit missionarischem Eifer und politökonomischen Pressionsmitteln ihre gesellschaftspolitischen Systemvorstellungen weltweit durchzusetzen beanspruchen. Jene humanistisch begründete, „moderne Imperialpolitik“ schadet dem dahinter stehenden Ideal. Sie erzeugt einen „Widerstandsgeist“, der sich gegen jegliche westlichen Errungenschaften richtet. Die ethische Gemeinsamkeit beider Zivilisationen sollte als Voraussetzung für geistigen wie materiellen Fortschritt herausgehoben werden. Es gilt, auf die historische Zusammenarbeit von Abend- und Morgenland hinzuweisen, die auf dem Territorium des heutigen Marokkos stattfand, zu gegenseitiger Bereicherung beitrug, sowie der europäischen Aufklärung die philosophische Basis bereite. Gegenseitige Hochachtung ging mit Respekt vor den Wertvorstellungen der anderen Kultur einher. Ohne die imperialistisch kriegerischen Durchsetzungsver185 Schimmel, Annemarie: Islam und Europa, S. 38
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suche christlich-westlicher Zivilisationsprinzipien, beginnend mit der spanischen Reconquista im späten Mittelalter, sich fortsetzend in der Protektoratszeit des frühen 20. Jahrhunderts, hätte diese gegenseitige kulturelle Befruchtung im Mittelmeerraum ununterbrochen fortbestehen können. Über die Wiedergewinnung des multikulturellen Bewusstseins ausgehend von den Eliten beider Seiten wird die gesamte Region sich intellektuell wieder vorwärts entwickeln. Ein in Marokko bestehendes antiwestliches Ressentiment lässt sich ebenso überwinden wie im Westen vorhandene Voreingenommenheit gegenüber dem Islam. Über eine intensive Auseinandersetzung mit der jeweils anderen Kultur sollten die Eliten den fremden Wertvorstellungen die angemessene Würdigung zuteil werden lassen, sowie undifferenzierte Zuschreibungen aus der eigenen Zivilisation fundiert widerlegen. In einem Dialog miteinander gilt es Missverständnisse auszuräumen, sowie sich von den friedlichen Absichten des Gegenübers und der Gleichwertigkeit dessen Weltanschauung zu überzeugen. Über ihre grundsätzliche Aufgeschlossenheit gegenüber Entwicklungen von außerhalb der eigenen Zivilisation sind die Eliten in der Lage, der Civil Society das Wesen der Multikulturalität zu vermitteln. Den geringeren Erfahrungshorizont der Bevölkerungsmajorität mit der fremden Kultur bei der Formulierung von gesellschaftlichen Zukunftskonzepten zu berücksichtigen erweist sich als erforderlich. Die Überwindung von Feindbildern kann erleichtert werden, wenn die Islamisten ebenso in den Dialog mit eingebunden sind wie westliche Intellektuelle mit öffentlichem Einfluß. Eine Stigmatisierung der fundamentalistischen Argumentationsweise als „rückständig“ oder „antimodern“ sollte nicht unwidersprochen bestehen bleiben. Islamismus gilt es als Reaktion auf eine unreflektierte, einseitige Modernisierung herauszustellen, die sich im Bewusstsein einer politökonomischen Hegemonie des Westens, sowie der Wahrnehmung einer Entfremdung von traditionellen Werten manifestiert. Indem zwischen beklagten, mit der westlichen Moderne assoziierten Entwicklungen und den Idealen der Aufklärung differenziert wird, lässt sich eine Aufgeschlossenheit gegenüber der vom Westen ausgehenden Moderne erreichen. Die säkularistischen prowestlichen Eliten sollten den religiösen Ansprüchen der Bevölkerung mehr Rücksicht entgegenbringen, damit ihr Konzept einer Herauslösung der Politik von der religiösen Rechtfertigungslogik nicht als kollektive Distanzierung von der Religion erscheint. Armstrong (2004) kritisiert eine verbreitete Intoleranz sowohl auf Seiten der Islamisten als auch der Säkularisten gegenüber der Sichtweise und Wertvorstellung der jeweils anderen Seite. Von beiden Seiten, besonders aber den Säkularisten, bedürfe es mehr Einfühlungsvermögen für eine Überwindung der Konfrontation, hineinmündend in eine Konsensfähigkeit zum Nutzen der Gesamtheit:
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Säkularisten und Fundamentalisten scheinen bisweilen in einer Abwärtsspirale der Feindschaft und gegenseitigen Vorwürfe gefangen zu sein. Wenn die Fundamentalisten zu einer stärker von Mitgefühl geprägten Einschätzung ihrer Feinde gelangen müssen, so müssen sich die Säkularisten ihrerseits mehr um das Wohlwollen, die Toleranz und den Respekt vor den Menschen bemühen, die charakteristisch für die moderne Kultur in ihrer besten Erscheinungsform sind, und sich mit mehr Empathie den Ängsten, Sorgen und Bedürfnissen zuwenden, die so viele ihrer fundamentalistischen Mitmenschen empfinden und die zu mißachten sich keine Gesellschaft mehr leisten kann.186
Über einen selektiven Modernisierungsbegriff, der Progressivität Exklusivitätscharakter gerichtet ausschließlich an die westliche Zivilisation, sowie an eine gesellschaftliche Minorität verleiht, begünstigten Eliten in Marokko wie in Europa die Hinwendung zum Islamismus. Ein Engagement zur Teilhabe der marokkanischen Civil Society am Fortschritt blieb lange Zeit aus, weil man die ideellen Errungenschaften der Moderne zwar allgemein als universell propagierte, bei der Realisierung politische wie ökonomische Interessen bedroht sah. Da die Islamisten, geleitet vom islamischen Kollektivideal, über fehlgeleitete Modernisierung entstandene soziökonomische Disparitäten mit praktischem Engagement bekämpften, stellte sich ihre an der islamischen Vergangenheit orientierte Idealordnung im Bewusstsein der Marokkaner als moderner dar als die neuzeitlichen westlichen Ordnungskonzepte. Besonders die Assoziierung von Modernität mit einer Distanzierung vom Islam hat eine Opposition gegen jegliche zeitgemäßen Gesellschaftsvorstellungen hervorgerufen. Indem Masse wie marokkanische Eliten aus einem Bewusstsein zivilisatorischer Rückständigkeit heraus westliche säkularistische Postulate übernahmen, waren die Islamisten in der Lage, für ihr Modell, als einzige mit dem Islam vereinbare Gemeinschaftsordnung interpretiert, Zustimmung zu finden. Mit einer zeitgemäßen Schriftinterpretation gelingt es modernen islamischen Ethikern, unterstützt von westlichen Islamwissenschaftlern, eine Kompatibilität universeller aufklärerischer Leitbegriffe mit dem Islam herzustellen. Man erhält die Legitimation für einen am islamischen Gemeinschaftsideal orientierten Modernisierungsprozeß. Wenn damit die Courage einhergeht, die politischen Verantwortungsträger zur Durchsetzung gesellschaftlicher Reformen im Sinne der Bevölkerung zu motivieren, sowie dialogbereite Islamisten in den Modernisierungsdiskurs einzubeziehen, kann die Skepsis der Marokkaner gegenüber dem Westen entstammender Fortschrittlichkeit überwunden werden. Ein Islamismus, der die Zukunft nach Vorbildern aus der Vergangenheit zu bewältigen beansprucht, verliert seine Unterstützung. 186 Armstrong, Karen: Im Kampf für Gott, S. 515
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8 Fazit
Seit der Islamisierung beeinflusst die Religion das marokkanische Staatswesen auf allen Ebenen. Bis in die Gegenwart legitimieren sich politische Autoritäten religiös und sind bestrebt, religiöse Grundsätze im Gemeinwesen zur Geltung zu bringen. Da der Islam im konkreten zeit- und ortsgebundenen Alltagshandeln divergent interpretiert wird, erweisen sich die Resultate dieser Verbindung von Staat und Religion in Geschichte und Gegenwart ebenfalls unterschiedlich. Inwieweit die Religion sich entwicklungsfördernd auswirkte oder zu Regression beitrug, hing in entscheidendem Maße vom Islamverständnis der jeweiligen staatlichen Verantwortungsträger ab. Erkannten sie den Islam als Wegbereiter eines Systems, das kollektive Gerechtigkeit und Pluralismus zu Grunde legt, war die Voraussetzung für zivilisatorischen Fortschritt gegeben. Interpretierten sie die Religion als Rechtfertigung eines absolutistischen Herrschaftsanspruchs, trugen sie zur Behinderung einer freiheitlichen Entwicklung bei. Der neuzeitliche islamische Fundamentalismus sollte als Bestreben begriffen werden, sich islamisch legitimiert einer gesellschaftlichen Tendenz entgegenzustellen, zu der man keine positiven Assoziationen herstellen kann. Eine grundsätzliche Zurückweisung von institutionellen Reformen geht damit nicht notwendigerweise einher. Das Nebeneinander von dogmatischen und modernisierungsbereiten Islamisten belegt, dass die Religion im marokkanischen Staatsverständnis der Gegenwart nach wie vor ein entscheidender Faktor darstellt, der sich sowohl als Unterstützer als auch als Barriere für Fortschritt erweisen kann. Die tiefgründige Verwurzelung der marokkanischen Civil Society im Islam lässt eine Säkularisierung als bewusste Distanzierung staatlicher Autorität von den Grundsätzen der Religion nicht erstrebenswert erscheinen. Eine religiös legitimierte Fixierung auf die Vergangenheit erwächst nur in dem Maße, wie eine Fortführung der Ijtihad, eine kontextgebundene Auslegung des Schrifttums geleugnet sowie vernunftgeleitetes staatliches Agieren durch das eigene Religionsverständnis behindert wird. Der Islam versteht sich nicht nur als Botschaft zur spirituellen Sinngebung des Individuums sondern zugleich als System zur Regelung eines gemeinschaftlichen Kollektivs nach ethischen Grundsätzen. Er verlangt nach einer Ordnungsinstanz, die die Einhaltung religiöser Gebote überwacht, sowie die Voraussetzung für eine vorgeschriebene Praktizierung im Alltag herstellt. Das westliche, in einem bestimmten Kontext entstandene Konzept der Säkularität mit der voll-
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8 Fazit
ständigen Loslösung institutioneller Entscheidungen von der religiösen Rechtfertigungslogik würde dem marokkanischen Gemeinwesen seine allgemein akzeptierte islamische Grundlage entziehen. Staatliche Institutionen besitzen im Islam profanen Charakter und erfüllen eine kontextgebundene Funktion gegenüber der Allgemeinheit. Die Heranziehung der Religion für die Rechtfertigung staatlicher Entscheidungsbefugnis widerspricht dem Islam und lässt sich mit moderner, vernunftgeleiteter staatlicher Aufgabenbewältigung nicht vereinbaren. Staatliche Organe sollten im künftigen Marokko ausschließlich nach rationalen Kriterien wie der Qualifikation der Entscheidungsträger oder der Legitimierung nach demokratischen Grundregeln ihre spezifischen Befugnisse zugewiesen bekommen. Als Verantwortungsträger sieht man sich nicht gehindert, islamische Maßstäbe in seiner Amtsführung zur Geltung zu bringen; außerdem ist man im islamischen Gemeinwesen zur Durchsetzung der Scharia verpflichtet. Das islamistische Bestreben, profane Gesellschaftsprobleme islamisch gerechtfertigt über unzeitgemäße Ordnungsstrukturen zu bewältigen, erwächst aus dem Bewusstsein, im aktuellen Obrigkeitssystem keinen, mit dem islamischen Gerechtigkeitsanspruch kompatiblen, zivilisatorischen Fortschritt zu erreichen. Marokkanische wie westliche Autoritäten sollten ihren Einfluß im Sinne einer allumfassenden grundlegenden Staatsreform einsetzen, über die Marokko in die Lage versetzt wird, seine Zukunft nach eigenen religiös-kulturellen Maßstäben zu steuern. Eine neue Verfassung, die demokratische Grundsätze allgemeinverbindlich festschreibt, könnte das Fundament für den Reformprozess bilden. Sie stellte die Voraussetzung für gesellschaftliche Reformen auf den verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen dar, die neben demokratischer Mitbestimmung den gleichberechtigten Zugang aller Bevölkerungsschichten zu den Ressourcen der Globalisierung garantieren müßte. Die Erfahrung mit erfolgreichen Modernisierungskonzepten zieht die Europäer zur Verantwortung, den Marokkanern die geistige und materielle Grundlage für eine spezifisch marokkanische Modernisierung bereit zu stellen. Bei gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, die in Marokko Chancengleichheit, einhergehend mit einer eigenständigen, an kulturell-religiösen Gegebenheiten orientierten Entwicklung garantieren, verlöre der Islamismus seine Attraktivität.
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Addayira Assiyasiya ..................................politischer Kreis Al-Aadala Wattanmiya ..............................Gerechtigkeit und Entwicklung Al-Adl Wal-Ihsan ......................................Gerechtigkeit und Spiritualität Al-Inhiraf Attarichi ...................................historische Abweichung Al-Jihad .....................................................wörtlich: Anstrengung; Heiliger Krieg Al-Jihad Al-Qitali .....................................kriegerischer Jhad Al-Jihad Assiyasi ......................................politischer Jhad Al-Muytamar Al-Aam ...............................Generalkonferenz Al-Qawl Wal-Afaal ..................................Die Rede und die Handlung Al-Qitaa Anniqabi......................................Gewerkschaftsabteilung Al-Qitaa Annisayi ......................................Frauenabteilung Al-Qitaa Attalamid ....................................Schülerabteilung Al-Qitaa Attullabi ......................................Studentenabteilung Amir Qutri ................................................Landesführer Al-Subh......................................................Der Morgen Al-Taiyar Al-Islami ..................................islamische Hauptströmung AMDH ......................................................Association Marocaine des Droits de l`Homme Amir Qutri .................................................Landesführer Arkan Addin .............................................die fünf Säulen des Islam Attaqlid .....................................................Nachahmung Attawhid Wal-Islah ...................................Einigkeits-– und Reformbewegung Bab Al-Ijtihad ...........................................Tor der Rechtsauslegung Bid´a ..........................................................unislamische Verhaltensweise Butschischiya ............................................sufistische Strömung benannt nach ihrem Begründer Cabiba Islamia ..........................................islamische Jugend CCDH .......................................................Conseil Consultatif des Droits des l`Homme CIA.............................................................Central of Intelligence Agency
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CLCRM ....................................................Comité de Lutte Contre la Répression au Maroc Daawa .......................................................Bekehrung zum Islam Dan Al-Jahiliyya .......................................ungerechtes Denken über Gott Dar Al-Harb ..............................................Haus des Unglaubens Dar Al-Islam .............................................Haus des Glaubens Dschamaati Islami Pakistan ......................pakistanische islamische Gemeinschaft El-Hautlah El-Watania ..............................Nationale Front El-Mansur .................................................der Siegreiche El-Murabitun .............................................die Standhaften El-Muwahhidun ........................................Bekenner des Einen Emir El- Muminin .....................................Führer aller Gläubigen Faqih .........................................................Lehrmeister Fard Al-Kifaya ..........................................Kollektivpflichten Fard Al-Payn .............................................Individualpflichten Fatwa .........................................................Rechtsgutachten der religiösen Gelehrten FDIC .........................................................Front pour la Défense des Institutions Constitutionnels Fitna ...........................................................verderblicher innerislamischer Bruderkrieg Gama`at Al-Islamiyya ..............................islamische militante Untergrundbewegungen Giralda ......................................................Name eines Turmes in Andalusien Habous ......................................................religiöse Stiftung Had ............................................................von der Scharia vorgesehene Strafen Hadith .......................................................Überlieferung Hadj ...........................................................Pilgerfahrt nach Mekka Hakimiyyat Allah ......................................Gottesherrschaft Hamiyat Al-jahiliyya ................................Parteilichkeit hegen Harakat Al-Islah Wattajdid .......................islamische Reform- und Erneuerungsbewegung Haram ........................................................Verbot Hidschaz ...................................................arabische Halbinsel Hukm Al-Jahiliyya ....................................ungerechte Herrschaft Ibadat ........................................................Pflichten gegenüber Gott Ibn Ruschd ................................................Averroes Ijmaa ..........................................................Konsens der Gelehrten
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Ijtihad ........................................................Auslegung der islamischen Rechtsquellen Ikhwan al-Muslimin ..................................Muslimbrüder Inhiraf Chatir ............................................gefährliche Abweichung Irtadat ........................................................Abfall vom Glauben Istihsan ......................................................fallbezogene Einschätzung Istiqlal .......................................................Unabhängigkeitspartei Jahiliyya ....................................................Heidentum Jamaa ........................................................Gemeinschaft Jamaa Al-Aadl Wal-Ihsan .........................Vereinigung für Gerechtigkeit und Spiritualität Kaid............................................................Führer Khalif/Khalifat ..........................................Wächter der göttlichen Ordnung auf Erden Kutla ..........................................................Bündnis Kutubiyya .................................................Turm in Marrakesch LMDDH ....................................................Ligue Marocaine pour la Défense des Droits de l`Homme Madhab ......................................................islamische Rechtsschule Majlis Al-Iqlim .........................................Regionalrat Majlis Al-Irschad ......................................Lenkungsrat Majlis Al-Jiha ............................................Provinzialrat Majlis Aschuaba .......................................Sektionsrat Majlis Aschura ..........................................Schura-Rat Majlis Attanfidi Al-Qutri ..........................Exekutivrat eines Landes Majlis Rabbani ..........................................spiritueller Rat Makruh ......................................................Verwerfung Malik .........................................................König Mandub .....................................................Empfehlung Medrese .....................................................Koranschule M.P. ...........................................................Mouvement Populaire MPDC .......................................................Mouvement Populaire Démocratique Constitutionnel Muaamalat ................................................die Pflichten gegenüber den Mitmenschen Mubah .......................................................Erlaubnis Mudawana .................................................Kodex Muhajir .....................................................Auswanderer
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9 Glossar
mumayiz ....................................................entscheidungsfähig MUR .........................................................Mouvement Unité et Réforme Murschid Aam ..........................................oberster Wegweiser Naqib Al-Usra ...........................................Familienvorsteher Naqib Majlis Aschuaba .............................Sektionsvorsteher O.A.D.P. ...................................................Organisation de L`Action Démocratique Populaire P.C.S. ........................................................Parti du Centre Social PDI ............................................................Parti Democratique de l`Indépendance PJD ............................................................Parti de la Justice et Développement P.N.D. .......................................................Parti National Démocrate P.P.S. .........................................................Parti du Progrés et du Socialisme Qawma ......................................................öffentliche Erhebung Qitaa aschabab ..........................................Jugendabteilung Qiyas ..........................................................Analogieschluß der Gelehrten Rabitat Al-Mustaqbal Al-Islami ................Verbund für islamische Zukunftsorientierung Ra´y ...........................................................Schlussfolgerung Riba ...........................................................Zinsnahme Risala Ila Man Yahomohom Al-Amr .......Memorandum an den, den es betrifft R.N.I. .........................................................Le Rassemblement National des Indépendants Salat ..........................................................das tägliche Gebet Saum .........................................................das Fasten im Ramadan Schahada ...................................................Glaubensbekenntnis Scharia ......................................................islamische Rechtsordnung Scherifisch ................................................auf die Abstammung des Propheten berufend Schuaba .....................................................Sektion Schura ........................................................wörtlich: Beratung; Grundprinzip islamischer Herrschaft beruhend auf dem koranischen Konzept der Partizipation SDECE ......................................................Service de documentation extérieure et de contre-espionnage Sunna ........................................................prophetische Überlieferungen Tabarruj Al-Jahiliyya ................................öffentliches Herausstaffieren der Frau Tagrib ........................................................Verwestlichung
9 Glossar
335
U.C. ...........................................................Union Constitutionnel Ulama ........................................................islamische Gelehrtenschaft Umma .......................................................islamische Gemeinschaft UMT ..........................................................l`Union Marocain du Travail UNEM .......................................................l`Union National des Étudiants Marocain UNFP ........................................................Union Nationale des Forces Populaires Urf..............................................................Gewohnheitsrecht der Berber USFP .........................................................Union Socialiste Forces Populaires Usra ...........................................................Familie Usrat Al-Jamaa ..........................................Familie der Gemeinschaft Usul............................................................Urquellen des Islam Usul Al-Fiqh ..............................................die vier Grundprinzipien islamischer Juirisprudenz Usuliya/ Usuliyun ......................................Fundamentalismus/ Fundamentalisten Wajib..........................................................Pflicht Waqf...........................................................religiöse Stiftung Warid .........................................................Neuhinzugestoßener Zakat ..........................................................verpflichtende Almosengabe Zina ............................................................Unzucht
10.1 Primärliteratur
337
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