T hommie Bayer
Irgendwie das Meer Gedichte & L ieder
Eichborn
Für alle, die bei Thommie Bayers Musik den Impuls vers...
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T hommie Bayer
Irgendwie das Meer Gedichte & L ieder
Eichborn
Für alle, die bei Thommie Bayers Musik den Impuls verspürten, ans Radio zu fassen und lauter zu drehen, für alle, die sich wünschten, sie hätten ihre Platten damals besser behandelt, und für alle, die in Thommie Bayers Romanen etwas finden, was es sonst so nicht gibt, nämlich: Zärtlichkeit ohne Kitsch und Poesie ohne Pathos – für die und ihre Freunde ist dieses Buch gedacht. Wer Thommie Bayers Sprache kennt, weiß, daß hier Ehrlichkeit und Charme sich mit Empfindsamkeit und Witz verbünden, Frechheit mit Geschmack und Eleganz.
Thommie Bayer
Irgendwie das M eer G edichte & L ieder
Für Uli
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bayer, Thommie: Irgendwie das Meer: Gedichte & Lieder / Thommie Bayer Frankfurt am Main: Eichborn, 1995 ISBN 3-8218-0397-5 © Vito von Eichborn GmbH & Co. Verlag KG, Frankfurt am Main, August 1995 Lektorat: Doris Engelke Gestaltung: Uli Gleis Satz: Gleis & Gormsen, Tübingen Druck & Bindung Wiener Verlag, Himberg ISBN 3-8218-0397-5 Verlagsverzeichnis schickt gern: Eichborn Verlag, Kaiserstr. 66, D-60329 Frankfurt
JAHRESZEITEN
WANN WIRD ES WIEDER SOMMER
Hör mal, wie der Badeofen singt, das klingt wie ein Orchester: ganz weit weg und wie durch eine Wolkenwand. Schau mal, wie dein Arm sich um mich legt, als wärst du meine Schwester. Sag mal, weinst du? Wieso zittert deine Hand? So vergehen unsre Tage; wann wird es wieder Sommer? Das ist meine Lieblingsfrage: wann wird es wieder Sommer?
7
EINMAL IM LEBEN
Diesen traurigen Ton einer Flöte hab ich einmal im Leben nur gehört, und das war nicht mal das Leben, es war in einem Film: dieser Ton, sanft und hell, hat mich betört. Dieses fröhliche Grün eines Frühlings hab ich einmal im Leben nur gesehn, und das war nicht mal das Leben, es war in einem Buch: dieses Grün war so herzzerreißend schön. Den Geschmack eines allerersten Kusses hab ich einmal im Leben nur gespürt, und das war auch nicht das Leben, es war in einem Lied, doch es hat mich zum Leben verführt. Seither bläst mir der Wind um die Ohren, und ich rieche Benzin und Asphalt. Wenn ich reise, bin ich wie noch mal geboren, wenn ich nicht mehr reise, wird mir kalt.
8
DIE LINIE DES ARMES DER DAME DES HAUSES
Die Linie des Armes der Dame des Hauses lockt alt wie die Sphinx im vergilbenden Licht das Sehnen der Gäste in die Schluchten des Traums, doch die Dame des Hauses sieht die Gäste nicht. Spät ist die Stunde, halbdunkel der Ton der Gespräche, die müde die Sehnsucht bedauern; nach Liebe, nach Wahrheit, einem Ort in der Nacht, wo die Wünsche wie Wölfe die Dame umlauern, geduldig und gierig, bereit zuzubeißen, den weißen, verlorenen Arm, der so weich auf die Lehne des Sessels geworfen, vergessen, dem Trieb einer Pflanze gleich, wächsern und bleich, der Dame des Hauses, den Träumen gehört, die sie träumt, die sie lebt und in denen sie spricht; von dem Murmeln der Gäste nicht wirklich gestört, denn die Dame des Hauses liebt die Gäste nicht. Die Linie des Armes der Dame des Hauses sagt: dir bin ich weich, ach, dir bin ich gut, deinen Lippen und Armen, der Kraft deiner Schulter. Wie weit du auch sein magst, mein Leben, mein Mut; mein Leben.
9
ALLES WIRD GUT
Jetzt wird wieder alles gut, alles wird gut. Der Zauberer zieht zum Beweis ein Kaninchen aus dem Hut. Jetzt wird wieder alles gut, alles wird gut. Jeder läßt jetzt einfach bleiben, was er sonst immer Böses tut. Der Seeräuber nimmt seine Augenklappe ab und sieht auf einmal wieder ganz wie Papa aus. Die böse Königin lacht und hat Grübchen wie Doris, und sie gehen Arm in Arm nach Haus. Jetzt wird wieder alles gut, alles wird gut. Jemand legt den Hörer auf und hat schon wieder Mut. Jetzt wird wieder alles gut, alles wird gut. Alles ist wieder sauber, keine Träne, keine Wunde, kein Blut. Die Wölfe sind fort, heute hetzt die Meute keinen, und am Himmel blinkt ein Flugzeug wie ein Stern. Es gibt kein falsches Wort mehr, und auch keinen Grund zum Weinen; alle schlafen oder haben sich gern. Jetzt wird wieder alles gut, alles wird gut. Niemand spottet, niemand droht niemand würgt an seiner Wut. Jetzt wird wieder alles gut, alles wird gut. Der Zauberer zieht zum Beweis die Pik-Dame aus dem Hut. 10
HIER IST DIE WELT IN ORDNUNG
Eine ländliche Ballade: alles riecht so gut nach Heu. Ich weiß nicht, ob ich es nun schade finden soll, oder ob ich mich über die Aussicht freu, noch zwei Wochen hier zu sein. Hier ist die Welt in Ordnung, so sauber und so klein. Was ist das hier für ein Grünzeug? Ob man das wohl essen kann? Da, wo ich herkomme, erkennt man, ob was eßbar ist oder nicht, daran, daß es auf der Speisekarte steht. Hier ist die Welt in Ordnung, ich glaub nur nicht, daß sie sich dreht. Jetzt hat die Kirche angefangen: Sprechstunde beim lieben Gott. Das ganze Dorf ist leergeblasen, nur da drüben geht ein Liebespärchen ziemlich flott schnurgerade zum Waldrand. Hier ist die Welt in Ordnung, dafür gäb ich meine linke Hand. Das ist alles hier wie Kino, nur ohne die Langnesefrau. Da rattert ’n Moped, da klappert ’n Kochtopf, und dort drüben grunzt ’ne Sau, oder ist das eine Kuh? Hier ist die Welt in Ordnung, ich gehör nur nicht dazu.
11
WEISST DU NOCH?
Weißt du noch: die niedlichen Kühe, die, als du sie melken wolltest, Stiere war’n? Ich hab mich gleich nicht ins Gatter reingetraut, die waren mir zu groß. Weißt du noch: wir standen an der Straße, war’n einfach losgetrampt am frühen Nachmittag. Die Welt war so weit, und wir hatten keine Zeit zu verlieren. Du warst so sicher und so frech, mit dir zusammen braucht’ ich keinen eig’nen Mut; es ging mir gut, ganz egal, was grade los war, du warst ja da. Weißt du noch: wir riefen meine Eltern an „Es geht uns prima, macht euch keine Sorgen mehr. Wir sind hinter Osnabrück, wir kommen nicht zurück, wir wollen noch ans Meer.“ Weißt du noch: wir fuhren mit Polizeischutz von Travemünde bis zurück nach Haus, und mit den Schlägen unsrer Eltern war die Reise, aber nicht die Freundschaft aus. Du warst so sicher und so frech, mit dir zusammen braucht’ ich keinen eig’nen Mut; es ging mir gut, ganz egal, was grade los war, du warst ja da. Manchmal, wenn ich Auto fahre, glaube ich, daß ich von dieser Sehnsucht was versteh, wenn ich zwei Jungs an der Autobahn stehn und mit den Daumen winken seh.
12
VERWANDLUNG
Es war so, daß sie eben ein mageres Kind war und nicht stark genug, sich zu wehren. Die Mutter sagte, du wirst nie Farbe bekommen und keiner wird dich je begehren. Und so gab man ihr auch keine Brüder auf den Weg, und sie spielte allein vor der Tür, und so lernte sie bald mit sich selber zu reden und erfand ihre eigene Sprache dafür. Und sie wuchs, wurde groß und ein richtiger Mensch, doch sie sprach nur in seltsamen Worten. Sie lachte und tanzte und hörte die Vögel singen an seltsamen Orten. Und später, da ging sie hinunter zum Fluß, aber weit hinten, jenseits vom Wehr, wo die Wiesen noch wild, ohne Futter zu tragen, so wuchsen wie heut nirgends mehr, denn dort, wo die Mutter nicht hinsah, fand sie einen, den wollte sie zum Freund, der war kraus in den Haaren und kraus im Gehirn und wie sie durch die Wiesen gestreunt, und den wollte sie lieben und wollte mit ihm jede Weite, die da war, bereisen, bis mindestens über den Berg mit ihm gehn und vielleicht bis hinauf zu den Schleusen. Und so rief sie nach ihm, als sie nah genug war, und es schien so, als hätt’ er gehört, denn er schaute zu ihr, doch dann wandte er sich, und er rannte und ließ sie verstört und verloren dort stehn, wo sie heute noch steht, aber nicht mehr als Mensch zu erkennen: Sie sieht aus wie Treibholz, an Land gedreht von den Strudeln im Fluß, deren Ränder das Ufer berennen. 13
AUTOBAHN / UND
September im Südwesten; alles riecht nach Staub und Gras. Die Luft ist noch heiß und flimmert und flirrt wie fließendes Wasser auf Glas. Die Autobahn ist wie ein Ozean, jeder Meter klebrig und zäh, darin verwoben die Reste von Katzen und Igeln, und manchmal ein Reh. Die andern sitzen hinten im Bus und lesen Lucky Luke, und ich hab Durst und außerdem einen steifen Hals vom Zug. Am Rasthof wollen wir Hubschrauber fangen mit einer Dose Fliegenspray. Bis Lörrach ist es noch gut eine Stunde, Zeit für noch einen Kaffee. Oktober im Osten, November Nordwesten, Dezember vermutlich daheim. Wir freuen uns heimlich auf Weihnachten, aber keiner gesteht es ein. Vielleicht werden wir ja tatsächlich mal alt, doch wir glauben es eigentlich nicht, aber wenn, dann haben wir sicher statt Falten kleine Autobahnen im Gesicht. Und an irgendeinem Tag, auf irgendeiner Autobahn wenn die weiße Linie unter uns den Boden nach hinten fegt, dann merken wir, daß schon seit Jahren die Straße hinter uns zerfällt; mit jedem Meter, den wir fahren, zerstör’n wir einen Meter Welt. Und an irgendeinem Tag auf irgendeiner Autobahn zerfällt die Straße vor unsern Augen, und jemand hält uns an. 14
DER REST VOM ROCK ’N ROLL
Der Vertreter, der sich abends in einer fremden Stadt um diese Kurve säuft, und endlich ist er voll, und das Mädchen, das nicht einschläft, weil ihr Baby Masern hat und dauernd schreit: das ist der Rest vom Rock ’n Roll. Ein Geldspielautomat, schwarzes Leder und ’n Traum, der nach Pomade stinkt und nicht zu fassen geht; ein Swimmingpool voll Schweiß, in dem man strampelt und ertrinkt und noch im Todeskampf das Ganze nicht versteht: das ist der Rest vom Rock ’n Roll. Laßt die Schmetterlinge fliegen, die Raketen, die Ballons, Hauptsache groß und viel und laut, sonst fällt’s nicht auf, und vergeßt den kleinen Jungen, der im Keller Ton für Ton von seinem Lieblingssolo übt. Er kommt nicht rauf. Die Kellertüre gibt’s nicht mehr. Der Boden ist planiert. Es war nur Einbildung. Wir sollten uns schämen. Hat man uns, oder haben wir die andern angeschmiert? Es tut uns leid. Wir woll’n uns wieder gut benehmen. Und nicht mehr Rock ’n Roll.
15
SOWAS WIE EIN STAR
Ich glaub, es war vor sechzehn Jahren, das ist schon langsam nicht mehr wahr, als wir noch klein und dämlich waren, da warst du sowas wie ein Star. Wir machten Handstand in der Pause, nur damit du uns mal siehst, wir verzappelten die Brause, aber du hast uns nie gegrüßt. Ich war der Blödeste und Kleinste und Unsichtbarste von uns allen, aber auch ich hab schlecht geschlafen, du hast mir so gefallen. Schließlich hab ich nicht mehr hingesehn, hab meine Sehnsucht überlebt, aber ein Loch in meiner Seele war noch mit deinem Bild verklebt. Jetzt bin ich dreißig und bin glücklich, hab eine Frau und einen Sohn, und ich gewöhne mich ans Leben und an meinen Nettolohn. Ich glaub, es war vor sechzehn Jahren, das ist schon langsam nicht mehr wahr, als wir noch klein und dämlich waren, da warst du sowas wie ein Star. Hey Star, was machst du in der Peepshow?
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SOMMER IN EUROPA
Es ist Sommer in Europa, aber Winter in mir drin. Ich hab doch keine Ecken mehr, wieso passe ich dann trotzdem nirgends hin? Ich hab doch immer aufgepaßt, wenn es was zu lernen gab. Ich hab doch auch nichts falsch gemacht, jedenfalls hat sich keiner je beklagt. Wieso such ich im Adreßbuch, ob es mich auch wirklich gibt? Wieso sitz ich da und warte drauf, daß mich doch vielleicht noch irgend jemand liebt?
17
HEUT GIBT ES KEINE INDIANER MEHR
Als deine Mutter dich zum Abendessen rief, da hast du rumgedruckst und wolltest nicht gehn. Ich fragte dich: „Mein roter Bruder hat doch sicher Hunger? Weißer Adler kann sein Zögern nicht verstehn.“ Und du sagtest: „Er spricht nicht mit gespalt’ner Zunge, er soll es wissen, es ist geheim: der große Büffel hat nämlich in die Hose geschissen“. Das ist lange her. Heut gibt es keine Indianer mehr. Und später, in der Deutscharbeit, da hattest du die Eins, und ich war neidisch und hab nicht verstanden, wieso du weinst und dein Gesicht versteckst, obwohl deine Note die beste von allen ist, und ich fragte dich, warum du so komisch bist. Und du sagtest: „Wenn’s das gäbe, verdiente ich ’ne Sieben. Es ist geheim: der große Büffel hat nämlich abgeschrieben.“ Das ist lange her. Heut gibt es keine Indianer mehr. Dann wolltest du weg, wolltest abhaun in der Nacht und hast mir dein Radio vermacht. Doch nach zwei Tagen warst du wieder da, müde und bleich; es hatte nämlich leider nicht bis Kanada gereicht. Doch du sagtest stolz: „Der große Büffel war immerhin schon kurz vor Frankreich, an der Autobahnausfahrt Niefern-Öschelbronn.“ Das ist lange her. Heut gibt es keine Indianer mehr.
18
Und dann wurden wir vierzehn, du brachtest mir bei, wie man richtig onaniert, und ich war dir sehr dankbar, ich dachte ich sterbe, und die ganze Welt vibriert; und dann wurden wir fünfzehn und fuhren mit den Rädern raus zu den Baggerseen, versuchten verzweifelt, im Schilf versteckt, nackte Mädchen zu sehn; und dann wurden wir sechzehn, und unser Leben war ’ne lange Explosion aus Musik und Farben und Reisen, und wir flogen in weiten Kreisen davon; und dann wurden wir siebzehn, und seither hab ich dich nicht mehr gesehn; von deiner Schwester hab ich später gehört: „Der große Büffel macht ’ne Lehre bei IBM.“ In der Zeitung heute morgen hab ich dein Bild gesehn, und ich schlug sie zu; ich wollte den Text nicht lesen. Jetzt weiß ich nicht, bist du vielleicht berühmt oder tot, oder beides, das heißt, eins davon gewesen. Es ist Nachmittag; die Sonne geht, die Schatten werden lang, und draußen spielen Kinder mit dem Colt, und die legen eine Oma um, für eine Handvoll Gold. Heut gibt es keine Indianer mehr.
19
EIN WEISSES SCHIFF
Da war ein Schiff, ein weißes Schiff, das fuhr hinaus zum Horizont, nur dieses Schiff war da, da war kein Land zu sehn. Es hatte Segel oder Dampf, ich weiß nicht mehr, ich weiß nur, daß darauf die waren, die noch immer von mir gehn. Und die Gestalten waren grau, doch ich erkannte sie genau, obwohl sie wie aus Nebel waren oder Glas. Sie war’n verschieden jung und alt, und eines konnte noch nicht mal auf seinen eig’nen Beinchen stehn, so klein war das. Da stand mein Vater, seitlich abgewandt und doch mit einer Geste, so als würd’ er winken, wüßt’ er daß ich schaue, oder so, als wollt’ er irgend etwas rüber zu mir werfen, war er sicher, daß ich ihm nochmal vertraue. Und dort die Musiker, die Paten meiner Träume, meines Mutes, die mich damals aus der klammen Enge zogen, standen ohne Instrumente auf dem Deck und schienen ängstlich und empört, sah’n aus, als hätt man sie betrogen.
20
Wie toskanische Zypressen standen sie am Oberdeck, verlor’n und hager, mit den Händen an der Seite. Kein Lüftchen kräuselte das Meer, aber das Schiff, jetzt konnt ich’s sehn, hatte doch Segel, wurde kleiner in der Weite. Und da war einer, der noch winkte, zaghaft, so, als zweifle er, ob da am Strand noch irgendwer aufs Wasser schaut. Oder war das eine Täuschung meiner Augen, die vom Starren müde eig’ne Bilder legten auf die Netzhaut? Es war zu spät, noch was zu rufen, und jetzt spürte ich den Kloß, ich wollt’ mich räuspern, doch es klang wie ein Gewinsel. Noch eine Weile stand ich so, dann wandte ich mich, um zu gehn und stellte fest, ich stand auf einer kleinen Insel.
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BRAUCHT DEN WOLF UND LIEBT DIE HUNDE
Wir sind in ihrem Herzen, ihr Herz ist groß, und manchmal, in ihrem Schoß, sind die Wölfe los. Ein Lächeln genügt, ein Wink mit der Hand, dann ist Vollmond und ein Lager im Sand. Sie kommt, und sie geht, wie sie will, wie sie kann, steht auf einmal ganz plötzlich im Raum. Für uns ist sie eine Göttin, eine Hexe, aber dann ist sie auch wie aus Luft, wie ein Traum. Berühren wir sie wirklich, oder streift sie uns nur, wie der Wind aus einer Wüste im Orient? Ihr Schattenfinger trifft uns wie der einer Sonnenuhr, doch tut er weh, wie er adelt und trennt. Zwar sortiert sie uns nie, doch wir lösen uns auf wie eine Meute ermüdender Hunde. Denn wir halten nicht Schritt mit ihrem atemlosen Lauf. Wir gehn an ihrer Gnade zugrunde. Ja, der Letzte von uns wird fallen am Weg und sterben: kein Wolf, bloß ein Hund. Und wenn sie verzeihend von dem Kadaver aufsteht, hat sie Frieden, dann wird sie gesund.
22
NACHSAISON
Wie Hausdiener sind gegangen;
der Portier poliert den Türgriff ein allerletztes Mal; das Meer, das zum Hotel gehört, plätschert müde, und vergessen liegt im Sand ein nasser Schal. Sind die Gäste erst gegangen, ist das alles nicht mehr wahr; nur noch lange Schatten streicheln jetzt den Marmor in der Bar. Die Lichter sind ausgegangen, und die Band hat Salty Dog zum letzten Mal gespielt; die Kabel werden aufgerollt; die Verstärker sind verladen; der Saal ist wie zerwühlt. Ist das Publikum verschwunden, ist das alles nicht mehr wahr; alte Wunden pochen leise unter naßgeschwitztem Haar. Sie ist durch den Zaun gegangen; ihren Namen am Türschild hat sie übermalt; die Aschenbecher sind noch ungeleert, und der Lippenstift am Kissen sieht rostig aus und alt. Die Geschichte ist zu Ende; du bist weißer als nur bleich; deine Hände zittern und der Boden ist so seltsam weich.
23
WEISS NICHT MEHR WIE’S GEHT
Da sitzt er im Speisewagen, versunken in ein achtloses Damenbein und quälende, bohrende Fragen, denn er würde viel lieber in der achtlosen Dame versunken sein. Der letzte Casanova weiß nicht mehr, wie’s geht. Da sitzt er vor seinem Kasten und schiebt Bataillone im Sand umher, versucht, sich zu erinnern, wie es war, wie es wäre, rückte Entsatz an von irgendwoher. Der letzte General weiß nicht mehr, wie’s geht. Da sitzt er in der Mansarde, hohl dröhnen die Worte im Kopf, ungesagt, und möchte ein einziges wirksames finden, das ihn lockt, das ihn streichelt, verwundert und fragt. Der letzte Dichter weiß nicht mehr, wie’ s geht. Da klappt er das Buch zu und ist schlecht gelaunt, hat die Wette verloren, hat alles verpatzt, sich täuschen lassen von der hübschen Idee, war verliebt in die Figuren, ein schlechter Regisseur. Der letzte liebe Gott wußte gar nicht, wie’s geht.
24
VOR DER ZUKUNFT
Noch einmal will er sie aus dem Fenster lehnen sehn, dieses Laken um den Körper, Haar wie Gold im Sonnenschein, So will er selber nochmal vor der Tür unten stehn, denn das war noch vor der Zukunft, ach, die Zukunft ist klein. Es war grün, alles war grün, und die Luft war wie Milch, und eine Stille in der Welt, wie zum Anfassen, wie zum Sehn, und dieses schlaftrunk’ne Lachen zwischen Laken und Haar, ach, einmal, noch einmal so fassunglos dastehn. Es war heiß, ungewöhnlich heiß und genau der Moment in der Mitte zwischen Heimkommen und fortgegangen sein, wo der Türgriff wie glühend an den Fingerspitzen brennt, so kurz vor der Zukunft, kurz bevor sie so klein wurde. Noch einmal will er sie aus dem Fenster lehnen sehn, dieses Laken um den Körper, Haar wie Gold im Sonnenschein. So will er selber nochmal vor der Tür unten stehn, so wie damals vor der Zukunft, ach, die Zukunft ist klein.
25
DIE TAGE WERDEN LÄNGER
Die Tage werden länger; die Straßen werden bleich. Ich trinke Rotwein am Nachmittag und denk an euch. Seid ihr immer noch beleidigt, wenn ihr meinen Namen hört? Es tut mir leid. Ich hab euch gestört. Es war Juni oder Juli, und du warst unterwegs, und sie rief mich an und fragte: „Hast du Zeit für mich?“ Und dann gingen wir spazieren und erinnerten uns daran, daß wir Freunde waren, seit ich denken kann. Wir haben beide sicher nichts Genaueres gefühlt, nur einer am andern uns’re Angst gekühlt. Angst, von irgendwas nicht rechtzeitig erreicht worden zu sein, und hinterher waren wir doppelt allein. Und du hast, als du wiederkamst, viel zu laut gelacht und ihr irgendwas von „Pflicht zur Freiheit“ vorgemacht, aber nach den großen Worten wurdest du erstaunlich klein und fandest mich verlogen und gemein. Die Tage wurden länger; die Straßen wurden bleich, und seitdem habe ich nichts mehr gehört von euch. Vielleicht habt ihr euch geeinigt: ich hätte sie verführt. Und dann war’s in Ordnung. Du hast nichts mehr gespürt. Die Tage werden länger; die Straßen werden bleich. Ich trinke Rotwein am Nachmittag und denk an euch. Erinnert ihr euch beide manchmal heimlich noch an mich? Und schämt euch leise? Denn der Betrogene bin ich.
26
ICH HAB LISE GESEHN
Ich hab Lise gesehn, wie sie einsam und still einen Weg geht, den sie schon lang nicht mehr will. Ich schlich mich vorbei, unbemerkt von ihr; ich glaube, sie suchte noch immer nach dir. Ich weiß, daß sich Lise jetzt vielen hingibt; ich weiß auch, daß sie keinen einzigen liebt; sie verachtet sie alle, weil sie so sind wie du, und sie sehnt sich nach deinen Augen und hat keine Ruh. Ich weiß noch, wie Lise zu deiner Zeit war, mit strahlenden Augen und rehbraunem Haar; sie hat sich verändert, ihr Haar ist rot, ihre Augen sind, auch wenn sie lächelt, immer wie tot. Sie hat einen bitteren Zug um den Mund; ihre Kleider sind alle ein wenig zu bunt; dein Zimmer ist leer, dein Kind ist drei, alt genug, um schon mal zu fragen, was ein Vater sei. Ich hab Lise gesehn, wie sie einsam und still ein Leben lebt, das sie schon lang nicht mehr will. Ich schlich mich vorbei, unbemerkt von ihr; ich glaube, sie suchte noch immer nach dir.
27
SIE TUT, WAS SIE KANN
Sie ist rot, oder blond,
oder je nachdem, was eben gerade gefragt ist, und sie tut, was sie kann, wenn sie kann, ist sie schön, und es kommt auch drauf an, was für ein Tag ist, doch sie ist kein Chamäleon; sie mag sich am liebsten, wenn sie ganz allein ist und nackt; sie verkleidet sich eben; sie tut, was sie kann; es hat sie ja keiner gefragt. Und sie mag Leonard Cohen und Herman van Veen und manchmal auch Theodorakis, und findet auch vieles, was im Radio läuft, schön, und es kommt auch drauf an, was für ein Tag ist. Und die ausgerechnet muß einem begegnen, der sein will wie Steve McQueen, der ist immer auf Jagd, und er hat sie gefragt, ob sie mitkommen möchte mit ihm. Er ist der Steppenwolf der Städte, der, der nirgends lange bleibt, und bei ihm vermutet jede Frau, daß er Gedichte schreibt; er ist ein stiller Ladykiller, unterwegs jede Nacht; er hat natürlich lange Wimpern und sowas Trauriges, wenn er lacht.
28
Und sie macht den Haushalt und er die Karriere, und das Fernsehn ist immer dabei, und er faßt sie hart an, er sagt, das will die doch so, und, daß das bei den Weibern so sei. Und sie putzt oder kocht, oder je nachdem, was eben gerade gefragt ist; und sie tut, was sie muß, wenn er’s will, ist sie schön, und es kommt auch drauf an, was für ein Tag ist. Nur manchmal am Vormittag steht sie vor’m Spiegel in Gedanken versunken und nackt, und sie fragt sich, warum sie hier steht, und sie sagt sich: Wegen ihm. Er hat mich gefragt.
29
FRIEDERIKE HEISS UND KALT
Papa wollte, das Kind sollte Friederike heißen; Mama war für Anna, aber mehr noch für Jean Pierre, doch man mußte drauf gefaßt sein, und es wurde auch ein Mädchen; heute heißt sie Heidi, und heut fahren sie ans Meer. Und dort geht sie an der Hand von Papa und Mama spazieren, und sie kennt schon all die Sachen, für die man sich genieren muß, und Papas Hand ist kalt, Mamas Hand ist heiß; sie hat links eine Gänsehaut, rechts kitzelt der Schweiß. Jetzt ist sie achtzehn Jahr alt und will Friederike heißen, oder Simone, Heidi heißt heut niemand mehr, doch sie kann’s jetzt nicht mehr ändern, und es ist auch nicht so wichtig, und heut schon gar nicht, denn sie fährt mit ihrem Freund ans Meer. Und dort liegen sie am Strand und trinken Wein aus Tassen, und ihr Freund darf sie fast überall anfassen; sie hat hinten einen Sonnenbrand, vorne ist sie noch weiß; am Bauch eine Gänsehaut, am Rücken juckt der Schweiß.
30
Jetzt ist sie achtundzwanzig, und sie hat auch eine Tochter, die heißt Friederike und einen Sohn, der heißt Simon, doch der ist erst ein Jahr alt und darf nicht mit in Urlaub; heute fahr’n sie mal nicht ans Meer, sondern nach Rom. Und dort gehn sie durch die große Stadt spazieren, und sie passen auf, daß Friederike nicht verlorengeht, denn die hat keine Lust, Kunstwerke anzusehn, und es ist heiß in den Straßen, kalt in den Museen. Jetzt ist Friederike achtzehn und Heidi über vierzig, und sie hat keine Lust mehr, mit ihrer Tochter wegzugehn, denn sie ist seit über einem Jahr geschieden und geniert sich, und sie wär gern auch noch mal so jung und so schön. Und sie fährt ab jetzt nach Nizza jedes Jahr. Friederike war in Finnland und fand’s wunderbar; sie liebt die Einsamkeit und haßt das Gewühl, und im Süden ist es warm, im Norden ist es kühl.
31
DER LETZTE INDIANER
Ist das die Straße, die nach Westen geht“,
frage ich den alten Mann. Der lehnt da mürrisch und zahnlos am Hydranten und glotzt mich einfach an. Ich warte, schließlich spuckt er aus und sagt in müdem Ton: „Na, wenn du das da eine Straße nennst, dann ist sie das, mein Sohn.“ Ich weiß, mein Pony frißt Benzin an dem die große Mutter stirbt. Aber solang der Recorder die Wahrheit spielt und mir die Seele nicht verdirbt, solange machen mir keine Gewehre Angst und kein Stacheldraht. Das einzige, was mich um den Verstand bringt, ist’n leerer Tank oder Bandsalat. Ich bin der letzte Indianer, nach mir kommt das Abendrot. Das war nicht Manitous Plan, aber Manitou ist auch schon tot. Die Welt ist wie ein Briefkuvert, ganz flach, ich halt nicht an, ich darf nicht rasten. Irgendwann klebt einer zu und schmeißt das ganze in den Kasten. Aber noch flieg ich flach am Boden lang, noch ist der Tank halbvoll. Was schieb ich jetzt in den Recorder, Eagles oder Rubber Soul? Ich fahre mit dem Tag, mich kann die Nacht heut nicht mehr überholen. Die hellen Stunden habe ich der Zeit und mich dem Tod gestohlen. Schon immer, seit ich denken kann, hat der Tod nach mir gesucht. Ich bin der letzte von uns, wir leben noch; wir leben noch, wir sind noch auf der Flucht. 32
Ich bin der letzte Indianer, nach mir kommt das Abendrot. Das war nicht Manitous Plan, aber Manitou ist auch schon tot. Die Tankuhr sagt: „Ich habe Durst“; da vorne kommt schon wieder eine Stadt. Da lehnt ein Alter am Hydranten, der sieht aus, als ob er Nachricht für mich hat. Er winkt, ich halte an, er sagt: „Ich würde gern erfahrn, bist du schon einmal um die Welt rum, oder bloß die ganze Zeit im Kreis gefahr’n?“ Vor Schreck und Wut steh ich aufs Gas; er lacht und winkt und höhnt mir hinterher: „Wie sieht’s bei den Chinesen aus, sind die immer noch gelb?“ Er amüsiert sich sehr. Von weitem hör ich ihn noch schrein: „Jetzt kennst du ja den Weg!“ Und der Recorder sagt: „The love you take is equal to the love you make.“ Ich bin der letzte Indianer, nach mir kommt das Abendrot. Das war nicht Manitous Plan, aber Manitou ist auch schon tot.
33
BRIEF EINER MUTTER
Es wird dunkel kurz nach vier,
du warst schon lange nicht mehr hier, Ich weiß nicht mehr, wie lange ist das her? Sicher mehr als ein Jahr; bald wird es wieder Januar. Bist du noch immer jede Woche in eine neue Frau verliebt? Ich frag mich manchmal ganz im Ernst, ob es genügend Frauen gibt, irgendwann gehn sie aus, und dann bleibst du allein. Du hast sicher viel zu tun. Wie bekommt dir denn die Stadt? Fährst du immer noch den Laster, oder hast du’s langsam satt? Ich würd’s verstehn, irgendwann will man auch die Früchte sehn. Ich hab manchmal Angst um dich. Ich weiß, auch Vater macht sich Sorgen. Ich merk es gut, obwohl, wir reden nicht mehr viel, aber wenn wir es tun, dann reden wir von dir. Wir haben so darauf gehofft, daß ein Lehrer aus dir wird, und du wärst ja einer, wenn sie dich nur nähmen, doch du bleibst in der Partei, und solche wollen sie halt nicht. Warum gehst du nicht ins Ausland, dort ist’s sicher nicht so schwer. Ist doch schade ums Examen. Ja, ich weiß, du bleibst hier, deine Freunde stehen hinter dir. Na, du weißt ja, wenn du kommst, dein Zimmer hier bleibt frei. Du kannst, solang du willst, bei uns wohnen, aber lohnen wird sich’s nicht. Es ist ja hier wie überall. 34
DU BIST NOCH JUNG
Schau mal da,
der alte Mann lächelt aus dem Fenster und freut sich, daß hier draußen noch was lebt; die Uhr in seinem Zimmer tickt mit jeder Stunde lauter, deshalb hat ihm Gott die Ohren zugeklebt. Du bist noch jung, keine sieben Jahre, und du weißt, daß es noch Abenteuer gibt. Wenn ich dir jetzt durch die Haare fahre, wirst du beißen, oder sagen „Du bist lieb?“ Ich will garnicht mehr zum Mond, ich flieg nur noch in die Küche, wo ich auch die Armaturen nicht versteh, aber manchmal hab ich unerwartet Tränen im Gesicht, wenn ich Indianer oder Liebespaare seh.
35
TAGESZEITEN
NACHTS, WENN ES WARM IST, BEI DEN ZÜGEN ZU STEHN
Nachts, wenn es warm ist, bei den Zügen zu stehn, die weiter fahr’n, als meine Träume nur gehn; an den Schildern zu sehn: die Welt ist noch da, ich kann jederzeit hin, es ist alles noch da, was mein inneres Auge so lang schon bewahrt, als Ziel oder Gipfel von manch einer Fahrt. Und die Menschen am Bahnsteig, die suchen ein Wort zwischen „Jetzt bist du hier, aber gleich bist du fort“ und dem Wunsch: „Diese Fahrt möge gut für dich sein, aber ich bleibe hier, und ich bleibe allein“, doch sie finden das Wort nicht, sie suchen vergebens nach dem Wort, nach dem Sinn, dieses Augenblicks, dieses Abschieds, dieses Ortes, dieses Lebens, und sie winken. Denn jetzt fährt der Zug, und der Lärm, den er macht, reißt ein Loch in die Welt, in die Stille der Nacht. Aber morgen in Rom oder Sonntag Athen ist der Himmel so hoch, und man kann nicht verstehn, daß in Köln oder Berlin oder an sonst einem Ort jemand stand und sich innerlich bog, weil ein Wort, nur ein Wort zwischen „Geh doch“ und „Bleib doch“ nicht fiel; und der Zug stand so kalt mit der Nase zum Ziel. Nachts, wenn es warm ist, bei den Zügen zu stehn, die weiter fahr’n, als meine Träume nur gehn, tut mir gut. Ich komm leise nach Hause zurück, und du schläfst schon. Du weißt, ich komm immer zurück, denn raus in die Welt brauch ich nur einen Schritt, und wenn ich den tu, dann nehm ich dich mit. Diese Welt ist noch da. Keine Eile tut not. Wir sind auch noch am Leben. Wir sind noch nicht tot. 39
VON FÜNF VOR ACHT BIS ACHT
Ein Vogel
hängt im Stacheldraht und ist schon lange tot. Ob irgendwo ein Sturm naht oder sonst ein Unheil droht? Die Oma macht die Läden zu, sie hat schon lang gelebt. Vielleicht fragt sie sich eben, ob das Leben an ihr klebt. Aber heute kommt kein Sturm, nur der Tag vergeht zur Nacht, und die Frau im Fernsehn lächelt von fünf vor acht bis acht.
40
HOTEL CENTRAL
Er schaut
dem Regen vor dem Fenster zu, wie der die Blätter von den Bäumen wischt und in den Rinnstein spült; er hat ein Bild in seinem Kopf, und das bist du, wie du die Nässe von den Haaren schüttelst, und er dich, unterkühlt, in das große, weiche Badetuch wickelt. „Hotel Central“, das Tuch ist weiß, der Name blau; ganz normal: eine nasse schöne Frau. Er schaut dem Rauch der Zigarette hinterher, wie der nach oben steigt, je weiter, desto weniger zu sehn. Inzwischen friert das Bild in seinem Kopf nicht mehr, hat einen Morgenmantel an und einen Pagen vor sich stehn. Der zerkleinert Eis mit silbernem Pickel. „Hotel Central“ im Silber eingraviert mit Blau; ganz normal: eine durstige schöne Frau. Er sieht das Zittern seiner Finger auf dem Tisch, und er zerreißt ein Stück Papier und wirft es wütend fort, denn das Bild in seinem Kopf hat sich verwischt, kaum noch Konturen, kaum noch Farben, keine Uhrzeit und kein Ort, nur diese Ahnung noch, und die ist wie zerstückelt. „Hotel Central“ steht am Portal. Das Taxi ist grau, und du fährst weg. Ganz normal: eine reisende schöne Frau. 41
DIE LEISE REISE
An einem Morgen um halb acht
hat sie die Türe aufgemacht; sie sagte: „Ich kauf nur schnell Kaffee“; er murmelte hinter seiner Zeitung vor: „Okay“. Sie hatte ihren Pelzmantel an und das ganze Haushaltsgeld dabei; dann ging sie noch schnell zur Bank, und dann noch zur Filiale am Bahnhof. Und mit fünfzehntausend in Reiseschecks setzte sie sich in den Zug und fuhr nach Frankfurt, und dort buchte sie den Flug nach Ibiza um viertel vor sechs. Dort sahen alle aus wie Filmstars, und alle hatten reichlich Geld, und sie verliebte sich in jeden und fühlte sich sehr wohl dabei. Und so verging ein halbes Jahr, und sie hatte nur noch achthundert Mark; sie fuhr zurück mit Autostop und dann von Stuttgart mit der Bahn. Und an einem Morgen kurz vor acht hat sie die Türe zugemacht; sie sagte: „Hier ist der Kaffee, der wird auch jede Woche teurer.“
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KOMM NACH HAUS
Nun sitz ich schon seit Stunden hier im Zimmer herum und wart auf deinen Schlüssel in der Tür. Komm nach Haus, ich sehne mich nach dir. Die Kneipen machen zu, und jetzt ist Nachtfahrverbot; ein letztes Auto fährt im zweiten Gang. Komm nach Haus, ich warte schon so lang. Ich wünschte, es wär endlich wieder Sommer oder Herbst, dann flöge eine Fliege um das Licht. Komm nach Haus, die Wohnung ist so leer ohne dich. Jetzt hör ich deinen Schlüssel in der Tür. Du bist da. Schnell tu ich so, als hätte ich zu tun: „Ach Hallo. Schon so spät? Bin gleich fertig.“
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NOCH NICHT MAL VOLLMOND ODER FÖHN
Dein Wecker klingelt wieder, weil du ihn nicht richtig totgeschlagen hast. Neben dir das Bett ist leer, nur ein Abdruck ist noch da von irgendwas. Noch nicht mal Vollmond oder Föhn, nur dieses brüllend große Maul, das wieder fressen mußte, wie so oft. Und die Grimasse, die irgendwer für ein Lächeln hielt; und hat sich was erhofft. Du fängst Menschen ein wie Sternschnuppen, mitten aus dem Flug mit bloßer Hand. Und dann hast du sie entweder zerquetscht oder dir die Finger dran verbrannt. Dieser Brand ist nicht zu löschen, dieses Spiel geht noch so lange, bis du tiltst. Eben schade um das Futter, an dem du deinen alten Hunger stillst.
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GUTEN MORGEN
Auf der Straße
in meinem Traum fuhr ein Wagen aus Glas, der zerbrach, als ich eben erwachte. Jetzt bin ich verwirrt, als wär da noch was, das ich eben noch tat, oder dachte. Schon fahren die Autos wieder mitten durch die Welt; es ist sieben Uhr morgens, die Nacht ist vorbei. Zeit, daß man wieder mal auf die Füße fällt; ein Kaffee, zwei Zigaretten noch, oder auch drei. Guten Morgen. Daß der Wagen noch anspringt, ist ’n Wunder, und gleich bin ich in die Straße eingebogen. Ich kann jetzt nicht nachsehn, aber hab ich vielleicht zwei verschiedene Socken angezogen? Nun fahr ich also wieder mitten durch die Welt; es ist viertel nach sieben, die Nacht ist vorbei. Zeit, daß mir irgendwas Gescheites einfällt; ich brauch ’ne Idee oder zwei oder drei. Guten Morgen. Vor der Firma Gedränge, schon zwei nach halb acht. Auf meinem Parkplatz steht ’n alter R 4. Und jetzt fällt’s mir ein: bin umsonst aufgewacht; ich arbeite gar nicht mehr hier. So fahr ich also wieder mitten durch die Welt; es ist viertel vor acht, und die Nacht ist vorbei. Ich krieg noch zwei Drittel von meinem letzten Geld, vielleicht noch ein Jahr lang, vielleicht auch noch zwei. Guten Morgen. 45
KEINE TRÄNEN MEHR
Nun hat sie keine Tränen mehr, und er hat keine Worte mehr, die Nacht hat keine Stunde mehr, der Kühlschrank keinen Wein; die Liebe keinen Sommer mehr, die Sehnsucht keine Flügel mehr; die Laken werden kalt sein und die Lust in ihnen klein. Doch birst ein Berg, dann schleudert er so manchen kleinen Stein an eine Stelle, an der bisher keiner lag. Und was heute noch ein Schmerz war, kann morgen auch ein Rätsel und schon nichts mehr sein am übernächsten Tag. Doch heut hat sie keine Tränen mehr, und er hat keine Worte mehr, die Nacht hat keine Stunde mehr, der Kühlschrank keinen Wein; die Liebe keinen Sommer mehr, die Sehnsucht keine Flügel mehr; die Laken werden kalt sein und die Lust in ihnen klein.
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SCHERBEN BRINGEN GLÜCK
Ihr habt es schön,
anstatt zu suchen, was in den schönen Rahmen reingehört; ihr nennt euch Schatz, anstatt zu fluchen, daß ihr einander stört. Ihr wollt nicht weiter bis zum Leben und nicht zur Einsamkeit zurück; ihr wollt die Scherben eurer Liebe kleben, aber Scherben bringen Glück. Ein kleines Kind kommt nicht in Frage; ein kleiner Hund wär nicht genug; vom Plattenspieler klingt die leise Klage von der großen Liebe und vom Betrug. Ihr meint, das Leben zeigt euch lange Nasen, dann werft ihr ein erlesen schönes Stück an die Wand, teure Teller, selt’ne Vasen: Scherben bringen Glück.
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PARADIESVOGEL
Du bist nicht im Paradies, Paradiesvogel, aber du bist bunt und in der Lage abzuhaun ins Paradies, Paradiesvogel; man soll dich lieben, aber keinen Käfig für dich baun. Denn erstens hat man Flügel zum Fliegen und nicht zum Bleiben, und zweitens ist dies hier nicht das Paradies, und drittens kann die Flaschenpost auch nur so lange treiben wie der, der sie geschrieben hat, am Leben ist. Das hat zwar nichts damit zu tun, aber klingt wunderschön. Es juckt dich in den Flügeln, du würdest gern probieren, ob das Fliegen noch geht, wenn der Wind weht, ob es noch geht; ich gebe keinen Laut von mir, ich will dich nicht verlieren; ich weiß, daß der Tag schon lang im Kalender steht, mit unsichtbarer Tinte schon im Kalender steht. Du bist nicht im Paradies, Paradiesvogel, aber du bist bunt und in der Lage abzuhaun, ins Paradies, Paradiesvogel; man soll dich lieben, aber keinen Käfig für dich baun.
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DAS GEWICHT DER NACHT
Es war dunkel, und die Luft war wie zum Schneiden, hundert Meter neben uns die Autobahn. „Ich hab Angst“, sagtest du, „und kann Angst nicht leiden. Wieso fahr’n wir nicht nach Hause? Wieso halten wir hier an?“ Ich sagte: „Hier sind wir endlich mal alleine, die Welt ist voll mit Menschen, außer hier.“ Und wie frierend strichst du über deine Beine: „Wieso fahr’n wir nicht zu dir, wieso fahr’n wir nicht zu mir?“ Die Nacht war schwer von all der Last der Sünden, die das Menschenvolk im Augenblick beging. Ich sagte: „Laß uns eine Stunde Null verkünden“, während ich schon gierig an deinen Lippen hing. Und dein Zittern wurde meins, und eine Weile wußte ich nicht, ob der Eindruck mich betrog, daß die Schwere dieser Nacht, wohl wegen uns’rer Eile auf uns, auf unsern Leibern noch ein bißchen schwerer wog.
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IN DER STILLE GROSSER NÄCHTE HÖRT MAN SCHRITTE AUF DER WELT
In der Stille großer Nächte hört man Schritte auf der Welt; wie ’ne große Puppenstube ist die Landschaft aufgestellt. Dann geht Gott mit seiner Lupe und paßt auf bei jedem Schritt, daß er nicht mal aus Versehen auf die falschen Stellen tritt. Seine Schuhgröße ist circa an die anderthalb Millionen, deshalb kann er auch beim besten Willen nicht jeden verschonen. Doch er gibt sich große Mühe, den besprochnen Weg zu gehn, nach dem Plan vom Architekten: hier ’ne Schlucht und da zwei Seen. Die Zeit ist knapp, dies Planquadrat muß morgen fertig sein. Gott hat mehr noch zu versorgen, als nur dies Weltall allein. Leider, leider, unter Zeitdruck kann man sich schon mal vertun. Dieser Job läßt keine Chance, irgendwann mal auszuruhn. Sowas ist ja kein Spaziergang, sieht nur zufällig so aus. Mit Siebenmeilenstiefeln trampelt Gott nachtein, nachtaus. Er beklagt sich nicht, obwohl er manchmal weint um eine Lilie. So ein Job ist Tradition, sowas bleibt in der Familie;
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die von Gott vererbt die Latschlizenz schon seit Generationen, ungeachtet mancher Zweifel, Skrupel und Reklamationen. So gehts nun mal im Leben zu: Man macht’s nicht jedem recht. Doch Gott Vater, Sohn und Kindeskinder machens gar nicht schlecht. Du tust dein Bestes, lieber Gott, nur bitte tus nicht hier. Gib’s den Menschen, ja doch, aber bitte nicht grad mir. Die Welt ist groß, die Gegend weit, und der hier nebenan ist so ein Arsch, ich finde, daß der ’n Tritt vertragen kann.
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ROTER HIMMEL
Ist so’n roter Himmel über der Stadt:
Ob irgendwer was angezündet hat? Brennt’n Haus, brennt’n Herz, oder brennt die ganze Welt? Die Nacht ist jedenfalls leuchtendrot erhellt. Ist so’n leises Rufen über der Stadt: Ob irgendjemand was vergessen hat? Einen Hund oder ein Kind oder das wichtigste überhaupt? Das Rufen ist so leis, daß man’s nicht glaubt. Ist so’n großes Schweigen über der Stadt: Ob irgendwer was ausgeschaltet hat? Sind alle still oder weg oder leben sie nicht mehr? Das Schweigen jedenfalls lastet auf mir schwer. Ist so’n roter Himmel über der Stadt: Ob irgendwer was angezündet hat? Brennt’n Haus, brennt’n Herz, oder brennt die ganze Welt? Die Nacht ist jedenfalls leuchtend rot.
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AN TAGEN WIE DIESEM
An Tagen wie diesem,
da steht man ganz still, weil man das letzte Ticken der Uhr hören will; an Tagen wie diesem, da gibt’s keinen Trost, kein Radio, kein Wetter, kein Telefon, keine Post; an Tagen wie diesem, da sucht man im Schrank, und man findet keine Pillen, und man ist ja auch nicht krank; an Tagen wie diesem bleibt das Badezimmer zu, denn der Spiegel grinst hämisch und bewölkt sich immerzu; an Tagen wie diesem ertrinken die Lauben unter graubraunen Wogen toter Spatzen und Tauben; an Tagen wie diesem sind die Autobahnen leer, denn es gibt irgendwie keine Reiseziele mehr; an Tagen wie diesem, da riecht es nach Gas, und die Menschen sind leise und fahrig und blaß; an Tagen wie diesem läßt du mich allein: das werde ich dir nie verzeihn. 53
ZUHAUSE
Es war wieder so ein Tag, an dem man auf die Straße rennt und sich bei jedem, den man trifft, entschuldigt, daß man eben auch nicht weiß, wo es diesmal wieder brennt, und wegen wem und wegen was und wie lang schon; ich saß in meinem Zimmer und versuchte, zu genießen, daß ich endlich wieder mal zu Hause war; und ich dachte an den Wecker, der dich morgens erschreckt und an den Kamm kurz danach in deinem Haar. Gestern rief dich einer an: er habe sich verwählt, aber ob du eventuell gerade nackt seist, und du sagtest: „Und wenn schon, aber was dachten Sie?“ und legtest ihn freundlich wieder auf; vielleicht ruft der jeden Tag eine neue Nummer an und ist höflich und freundlich, so gut es eben geht, und streicht abends Namen aus dem Telefonbuch und ist traurig, daß ihn keiner versteht.
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In Schorndorf stand schon wieder derselbe wie immer an der Autobahn und hielt den Daumen in die Luft und wollte nach Waiblingen, aber keiner hielt an, und zwar, weil er wie immer an der falschen Seite stand, und die Autofahrer wissen, daß er nicht in diese Richtung will, doch er hält es nicht aus, sich richtig zu stellen: mit dem Rücken zu seinem Ziel. Es war wieder so ein Tag ohne Sonne, ohne Post, ohne Vogelzwitschern und Ideen, an dem man „Alles unverändert“ an die Hintertüren schreibt, bloß um mal was Neues zu sehn, und man träumt davon „Keiner machts für niemand“ zu schreiben, und zwar an die Wand vom Polizeipräsidium. Und dann möchte man die Menschen zu Menschen machen, doch dafür ist man leider auch zu dumm.
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EIN GANZ NORMALER DONNERSTAG
Der Mann im Fernsehn sagt:
„Es ist vielleicht besser, Sie schauen jetzt da nicht hin.“ Woher weiß denn der, was gut für mich ist und ob ich überhaupt zu Hause bin? Ich schalte aus: bei mir im Zimmer ist kein Platz für die ganze Welt, und außerdem weiß ich noch immer selbst am besten, was mir nicht gefällt. Ein ganz normaler Donnerstag; ein ganz normaler Mann, der sich zwischen recht und schlecht nicht entscheiden kann. Und nebenan, da sitzt ein anderer Mann in einem dunklen, verrauchten Lokal und schaut sich Frauen in den Zeitungen an, doch die sind ihm auch zu normal, und irgendwas läuft im Radio, und er gähnt vor leeren Flaschen, verirrt sich mal ins Damenklo, um sich die Hände in Unschuld zu waschen. Ein ganz normaler Donnerstag; ein ganz normaler Mann, der sich zwischen recht und schlecht nicht entscheiden kann. Ich hab mein Zimmer tapeziert mit Kinoeintrittskarten; ich hab mich immer dafür geniert, sichtbar auf etwas zu warten; ich trinke weiter, bis mir das Leben lacht; Morgen früh wird aufgeräumt; wie gerne hätt ich heute Nacht wenigstens was versäumt. 56
GUTEN TAG
Die Bäckerin macht den Laden auf,
da stehen schon drei Kunden; der Direktor macht ’n Dauerlauf, aber nur vier kurze Runden; die Leute von der Nachtschicht dürfen jetzt nach Hause gehn, sie müssen den Tag von der falschen Seite sehn. Der Lehrer steigt ins Cabrio und denkt an Karl den Großen; seine Frau hat schon den Koffer zu, bügelt nie mehr seine Hosen; der Dichter deckt behutsam seine Schreibmaschine zu, in seinem Kopf, da spricht es immerzu: Guten Tag, guten Tag, es gibt so viele Menschen, die man alle gerne mag, guten Tag, so viele Menschen. Für den Pfarrer von Sankt Aegidius ist immer noch Aschermittwoch, und es ist noch immer Saturday Night für den Diskjockey aus Haigerloch; für Harald ist im Osten immer noch die Sonne rot; für die Frau in Schwarz ist immer noch alles tot. Ist es heut auch schwer, morgen wird ein guter Tag, das hab ich immer schon gesagt; das hab ich gestern schon gesagt. Für den bluejeansbleichen Musiker ist der Autolärm voller Töne, und der Maler im schwarzen Pulli sucht im Gully nur das Schöne, und jeder tut es nur für sich, und jeder ist allein und möchte so wie alle andern sein. 57
STUNDEN
IRGENDWIE DAS MEER
Wenn er spricht,
dann hörst du immer irgendwie das Meer, und das klingt schöner als die Spülung in deinem Hinterhof. Da segeln Möwen an die Reling, wieder weg, und hin und her, und jede dieser Möwen ist ein weißes Apostroph. Wenn er spricht, dann kann er mit den Möwen fliegen, kann er siegen, ohne jemand wehzutun, die ihn hören, können nicht genug von seiner Sprache kriegen, bleiben aufgerauht und werden nicht immun. Es ist ganz einfach: Hier ist die Tür und da der Scheck. Warum stehst du nicht auf? Warum gehst du nicht weg? Es ist ganz einfach: Du erkennst dich selber nur hier. Da hilft die Schiffspassage nichts und nicht die Tür. Wenn er spricht, dann hörst du immer irgendwie das Meer, und das ist größer als die Tränen, die du immer wieder schluckst. Aber kleine gold’ne Fische schwimmen auch in deinen Augen hin und her, wenn du dich immer wieder unter deine selbstgemachte Ausgangssperre duckst. Es ist ganz einfach: Wenn er spricht, dann kann er mit den Möwen fliegen, kann er siegen, ohne jemand wehzutun, die ihn hören, können nicht genug von seiner Sprache kriegen, bleiben aufgerauht und werden nicht immun. Würdest selber gerne mit den Möwen fliegen, könntest siegen, ohne jemand wehzutun die dich hörten, könnten nicht genug von deiner Sprache kriegen, blieben aufgerauht und würden nicht immun. 61
NACHT IN DER STADT
Es war
Nacht in der Stadt, die Häuser schwarz und riesengroß, und irgendwo auf dem Land rissen sich die Kettenhunde los. Aber hier in der Mitte der Welt war nur Nacht und so ein Ton in der Luft, der denen, die ihn hören können, Schmerzen macht. Es war lange schon dunkel und noch lang bis zum Morgen, da lief ein kleiner Junge, von den Schatten fast verborgen, in Schlangenlinien hüpfend eine Straßenschlucht hinab, und links und rechts aus den Gassen huschten lautlos und fahl immer mehr und hinunter zum Kanal. In dieser Nacht war die Dunkelheit schwärzer als immer, nur vom Wasser des Kanals kam ein zittriger Schimmer vollen Mondes, der nun bleich die Prozession sichtbar machte, von Kindern, vielleicht tausend, vielleicht mehr, von denen manch eines leise hüstelnd lachte. Und auf einmal, grade so, als hörten sie eine Musik, wiegten sie die Oberkörper vor und zurück. Und das Scharren ihrer Schuhe auf dem harten Beton und ihr Hüsteln und das Rascheln ihrer Kleider ergaben einen seltsamen Ton. 62
Dann plözlich stand aufrecht inmitten der Schar ein gleißend helles Mädchen mit eisgrauem Haar und bewegte die Arme und den Mund, als ob es sänge, und die anderen, die Schattigen, erstarrten, so, als hörten sie unglaubliche Klänge. Und dann, es sah aus wie eine stille Explosion, erschauerte die Menge und stob rasend davon in alle Richtungen zurück zwischen die Häuser, es war vier, und sie huschten, sich verteilend, durch die Gänge, und man hörte hier und da noch eine Tür. Wenig später erwachten die Bürger der Stadt, fühlten sich wie gerädert, zerschlagen und matt. Irgendwo weiter draußen war’n die Kettenhunde tot, und die Augen der Kinder waren fahl, und ihre Wangen wie von Fieber so rot. Und weit, weit weg in einer ganz andern Welt hat ein Kind sein Fernsehgerät ausgestellt und gegähnt und gedacht: sowas gibt es ja nicht; und dann putzte es sich noch die Zähne und löschte das Licht.
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BLUMEN IM PAPIERKORB
Blumen im Papierkorb,
Essen im Klo: was ist los mit dir? Das Telefon ist ohne Sinn, die Klingel sowieso; was ist los mit dir? Vielleicht komm ich dich besuchen; ich hab sehr viel zu tun; du hast es gut, du bist alt und darfst dich ausruhn. Ich soll dich grüßen von den Kindern, die hängen so an dir; laß dich nicht so gehn. Die Fenster werden größer, oder wirst du selber klein? Was ist los mit dir? Seit du nicht mehr hinausgehst, muß die Welt zu dir hinein; was ist los mit dir? Mach öfter mal das Fernsehn an; heut abend gibts ’ne Show, da ist was los, mit Kostümen und Gesang. Was ist mit der Gemeindeschwester, schaut sie noch nach dir? Weißt du was? Ich ruf sie an. Blumen im Papierkorb, Essen im Klo: was ist los mit dir? Das Telefon ist ohne Sinn, die Klingel sowieso; was ist los mit dir?
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HAB GEDULD
Dein schwarzer Schal im Sessel, und am Kissen dein Geruch. Da ist ein Ticken in der Heizung, und ich warte. Ich weiß, ich werde deine Schritte schon im Hausflur hör’n und kennen, denn das Warten hat mich wach gemacht und klug. Wie ’ne Katze, wie ’ne kleine schwarze Katze liegt der Schal im Sessel eingerollt und will, daß jemand friert, und das Ticken in der Heizung und das Knistern in der Tür sagen: Hab Geduld, sie kommt schon, hab Geduld. Und ich werde deine Schritte schon im Hausflur hör’n und kennen, denn das Warten hat mich wach gemacht und klug.
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DIESER STEIN
Wie krieg ich diesen Stein von meinem Herzen wieder runter, das ist an so’n Gewicht ja nicht gewöhnt. Ich steh da, wie unterm Hammer und warte auf ’n Wunder: nämlich, daß der Hammer doch nicht runterdröhnt. „Wir sind beide ganz bestimmt noch nicht am Ende uns’res Weges angekommen, oder so“, hast du gesagt. „Wir sind jung und stark und haben uns noch soviel vorgenommen, wir ham Trümpfe in der Hand“, hast du gesagt. Und ich hab mit’m Kopf genickt: Es wäre wohl soweit, einzusehen, wir sind beide nicht die letzte Möglichkeit; man müsse sich verwirklichen; ich würde dich nicht hassen; ich müsse mich ja sowieso an die eigne Nase fassen. Hab ich das gesagt? Dann hab ich noch laut geschrien: „Ich glaube auch, ich kann es! Wie die Nase eines Mannes, so auch sein Johannes! Ich kann, ich kann, hurra, so dann und wann faß ich mich dran!“ Du seist froh, daß ich noch Witze machen kann, hast du gesagt. Aber wie krieg ich diesen Stein von meinem Herzen wieder runter? Das ist für so’n Gewicht ja nicht gemacht. Ich steh da wie unterm Hammer und warte auf ’n Wunder: nämlich, daß der Hammer doch nicht runterkracht. 66
WO, GLAUBST DU, GEHST DU HIN?
Ich frage den, der am nächsten bei der Tür steht, ob ich denn hier richtig bin. Er sagt zu mir und lächelt fade: „Richtig oder falsch, wo, glaubst du, gehst du hin?“ Weil ich höflich bin, versuch ich zu erklären, daß man sowas nicht in jedem Falle weiß. Die Antwort wischt er weg und fragt nochmal im selben Ton: „Wo, glaubst du, gehst du hin?“ Ich kriege den Verdacht, der muß verrückt sein, zeig den Ausweis mit ’nem Foto von mir drin. Da fängt er an zu lachen, und lachend fragt er freundlicher: „Wo, glaubst du, gehst du hin?“ Nun schiebe ich ihn einfach auf die Seite und geh, als ob nichts wär, in Richtung Tür. Da stehen plötzlich andere und fragen mich im Chor: „Wo, glaubst du, gehst du hin?“ Jetzt ist keine Höflichkeit mehr nötig, und inzwischen hab ich auch schon ziemlich Angst, ich hau mich durch die Leute durch und schaff es bis zur Tür, und dann endlich bin ich hier. Aber wo, glaub ich, daß ich bin?
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OLIVER, SEBASTIAN UND NICOLE
Da sitzt Mama und kann sich nicht entscheiden, soll sie triumphieren oder lieber leiden, denn da sitzt Papa, und Papa geht’s nicht gut, doch er weiß nicht, daß er traurig ist, er denkt, er hat ’ne Wut. Da sitzen Oliver, Sebastian und Nicole und sind ganz leise, denn das Zimmer ist so voll mit diesem Argwohn, der wie Äderchen durch alle Dinge zieht, wie kleine Äderchen, die man bloß nicht sieht. Und in den Äderchen da fließt ein kaltes Blut, das macht kein Leben, es ist giftig, es tut niemandem gut. Mama rührt sich nicht und Papa möchte schrein, denn so wie’s ist, kann es nicht bleiben, aber anders kann’s nicht sein. Diese Stille ist so ewig wie ein Fluch. Man sehnt sich nach Gewitter oder wenigstens Besuch. Und Oliver, Sebastian und Nicole sind noch klein und wollen ganz bestimmt niemals erwachsen sein.
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DAS SAXOPHON WEINT
Deine Gesichtszüge entgleisen,
mich belügst du nicht. Du schickst deinen Körper wohl auf Reisen, aber nur deinen Körper und nicht dich. Und es ist doch auch immer dasselbe: viel Musik und wenig Licht und traurige Leute. Das ist nicht das Gelbe vom Ei des Columbus, nicht für mich. Aber das Saxophon weint, und das Saxophon lacht, ich glaub, wir haben gestern Nacht uns’re Liebe umgebracht. Sah so aus, als hätten wir sie mit Lust gekrönt, doch die Liebe hat zwischen uns beiden vor Schmerzen gestöhnt. Herr Ober, von dem hier nochmal ein Glas, das trink ich auf unsern Versuch. Ich frage mich immer noch, war es das? Eine Gnade oder ein Fluch? Jedenfalls tut es weh, dich hier so zu sehn, wie ’ne naßgeregnete Katze. Ich nehme mein Glas und schütt es im Gehn dieser Liebe in die leere Fratze. Das Saxophon weint und das Saxophon lacht, ich glaub, wir haben gestern Nacht unsre Liebe umgebracht. Sah so aus, als hätten wir sie mit Lust versöhnt, doch die Liebe hat zwischen uns beiden vor Schmerzen gestöhnt.
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LIEBE ELTERN
Liebe Eltern, ich hab ja nur noch da gesessen und die Poren und Risse auf dem Globus bewacht; jemand ist gekommen und hat mir Essen und Kaffee und sich Sorgen gemacht. Manchmal dreht sich die Erde noch immer so schnell, und wenn ich schwindlig werde, wird der Himmel so hell, und dann klingelt es an der Tür, jemand will zu mir. Liebe Eltern, in meiner Brust war ein Stundenschlag, den ich hörte an manchen Tagen, und dieses Geräusch, das ich gar nicht mag, versuchte ich totzuschlagen. Ich hatte einen blauen Fleck, so groß wie meine Hand, doch das Ticken ging nicht weg, bis ich auf der Straße stand. Liebe Eltern, ich habe Gott gefragt, warum Mutter nicht weint, warum Vater nicht lacht, aber dann ist da etwas im Fernsehn gewesen, das hat diese Fragen lächerlich gemacht. Manchmal dreht sich die Erde noch immer so schnell, und wenn ich schwindlig werde, wird der Himmel so hell, und dann klingelt es an der Tür, jemand will zu mir.
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Liebe Eltern, der Doktor redet mit mir. Er ist ein guter Mensch mit Verstand: Ich habe Gott gemalt, und der Doktor hat das Bild gesehn und Gott erkannt. Liebe Eltern, der Doktor hilft mir. Ich habe großes Glück. Ihr braucht nicht auf mich zu warten. Ich will nie zu euch zurück.
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IRGENDJEMAND KOMMT NACH HAUS
Da steht einer
hinterm Bahnhof und wartet, den Blick entlang der Schienen verlor’n; es ist Winter, und er steht schon eine Stunde; die Spitzen seines Bartes sind gefror’n. Jetzt fällt Schnee, und er geht in die Baracke, und er zieht die alte Wanduhr nochmal auf, denn so vergeht die Zeit ein bißchen schneller; jetzt macht er eine Rotweinflasche auf. Er wäre gern in seinem Land, wo die Leute manchmal singen, wo sie, wenn ein Fremder kommt, an der Straße stehn und winken, wo Wäsche aus den Fenstern hängt, und Frauen lehnen drüber; draußen spielen Kinder; irgendjemand kommt nach Haus. Und die Zeit vergeht tatsächlich etwas schneller; er versucht, ein bißchen traurig zu sein, aber wie er’s auch drehen und wenden mag, ihm fällt kein rechter Grund dafür ein. Er versucht, sich seiner Nachbarn zu entsinnen, doch die Namen und Gesichter zerrinnen, er versucht es mit einem Lottoschein, doch ihm fallen keine guten Zahlen ein. Und die Zeit vergeht, die Uhr tickt an der Wand, und ihm rutschen die Minuten aus der Hand, und er denkt: ich hab ein Recht auf irgendwas und reibt Löcher in den Dampf am Fensterglas. Und nun steht die Uhr; er zieht sie nicht mehr auf; er hat Kreide und Lippenstift gekauft und nach und nach die Wände vollgeschrieben mit Worten, die keiner hier versteht: Suah hcan tmmok dnamej dnegri rednik neleips nessuard rebürd nenhel neuarf dnu tgnäh nretsnef ned sua ehcsäw ow nekniw dnu nhets essarts red na tmmok redmerf nie nnew eis ow negnis lamhcnam etuel eid ow dnal nemies ni nreg eräw re 72
SCHWALBEN
Ein Schwarm von Schwalben fliegt nach Süden; ein Schwarm von Jägern spannt ’n Netz; ach, Schwalben, wieso bleibt ihr nicht einfach hier? Ein Schwarm von Erinnerungen ist mir geblieben und hat sich auf mir festgesetzt; wieso kommst du nicht einfach zurück zu mir? Das hat doch keinen Sinn, außer, daß es wehtut. Das hat doch keinen Sinn. Hier stauen sich die Tage, und ich werde meine Zeit nicht los; was machst du bloß, vermißt du mich denn garnicht? Fahr meinetwegen hundert, aber fahr in meine Richtung, ohne mich kann es dir doch garnicht gutgehn. Was willst du dir beweisen? Daß ich ohne dich zugrunde geh? Mir fallen alle Blütenblätter ab. Das liegt vielleicht am Herbst, aber vielleicht liegt’s auch an dir; wieso bist du nicht hier? Das hat doch keinen Sinn, außer, daß es wehtut. Das hat doch keinen Sinn.
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DER KNOTEN GEPLATZT
Ein ganz normaler junger Mann, der nichts kann, was nicht jeder kann, kniet ganz normal vor’m Telefon, will weinen, doch wer kann das schon. Ein Mädchen hat sich’s überlegt, die Beine auf den Tisch gelegt, und redet lauter kleine Messer ins Telefon. Davon wird ihr besser. Und irgendwo sitzt ein Prophet, das Lächeln ganz nach innen gedreht, und denkt: jetzt ist der Knoten geplatzt; der Teufel hat nicht aufgepaßt und alles verpatzt. Und jemand probiert’s mit ’nem Blumenstrauß, doch der Preis ist gestiegen, man wirft ihn raus, da wirft er die Tulpen in den Dreck und schneuzt sich erleichtert und schlendert weg. Ein and’rer sprüht ein A im Kreis, dazwischen wird die Tünche weiß; ein Mädchen träumt, sie wäre wach und hinge ihren Träumen nach. 74
Eine Frau hat eben nachgedacht, nach außen geschwiegen, nach innen gelacht, und sie ging zum Spiegel und machte Licht und fand eine neue Linie in ihrem Gesicht. Und irgendwo sitzt ein Prophet, das Lächeln ganz nach innen gedreht, und denkt: jetzt ist der Knoten geplatzt; der Teufel hat nicht aufgepaßt und alles verpatzt.
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UND
ALLES GEREGELT
Die Frauen müssen mindestens wunderschön sein; die Männer müssen stark sein, und wenn sie nicht stark sind, müssen auf’m Konto viele, viele Mark sein; Italiener müssen immer am Singen sein; Amerikaner müssen reich sein; Casanova muß es immer am Bringen sein; Kommunisten müssen gleich sein; die Yuppies müssen mindestens gut frisiert sein; die Punks müssen stinken; die Gewerbeaufsicht muß immer gut geschmiert sein; Gedichte müssen sich reimen, wenigstens manchmal; die Kinder müssen mindestens niedlich und klein sein, Blumen müssen duften; die Monster müssen mindestens groß und gemein sein; Türken müssen schuften, und dann sollen sie verduften; Humphrey Bogart mußte immer überlegen sein; das Kino muß bunt sein; Alternative müssen immer dagegen sein; dein Freund muß ein Hund sein; und Karneval muß immer mit Schunkeln sein, sonst kann mans nicht brauchen; die Liebe muß immer im Dunkeln sein, und danach muß man rauchen. Es ist alles geregelt, und alle machen mit, weil, jeder weiß Bescheid. Aber ich hab Tage, da glaub ich, ich spinne, und alle tun mir leid. 79
ARME SCHÖNE FRAUEN
Ach,
wer kümmert sich denn jetzt um die wunderschönen Frauen, die verschossenen Elfmeter der Natur? So schön, so wunderschön, daß jeder mal hinschauen will, aber dann schaun sie gleich wieder auf die Uhr. Ach, ihr armen schönen Frauen, wer paßt jetzt auf euch auf? Etwa nur noch die Modefotografen? Die schaffen es sogar, euch zum Lachen zu bringen, aber nur, um euch noch schöner aufs Zelluloid zu raffen. Arme schöne Frauen. Und dann hängt ihr an der Wand als Argument für irgendwas, aber keiner will sich mehr in euch verlieben, denn alle haben schon zu Hause eine eigene schöne Frau. und nur die, die alle Frauen im Bett haben wollen, sind noch geblieben. Und die haben keine Zeit, die müssen gleich wieder weg, die sind terminmäßig etwas in Not, denn sie müssen pro Tag drei schöne Frauen schaffen, sonst werden sie nicht fertig mit dem Überangebot. Arme schöne Frauen.
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DER SEKRETÄR
Wer ist der Mann,
er hat ’n Anzug an und sagt: „Der Strom kommt aus der Dose;“ er hat ’n Schlips vor’m Hals und gegebenenfalls ’ne Rakete in der Hose; er hat irgendwo ’n Kind und eine Frau, aber wo, das weiß er nicht so genau; wenn er will, dann kriegt er die Adresse her, die hat sein zuverlässiger Sekretär. Der Sekretär ist überhaupt sehr elegant und unentbehrlich, er kennt jeden FlickFlack in der Politick, er ist schnell, raffiniert und gefährlich; wenn zum Beispiel der Chef mal ’n Fremdwort braucht, so wie Polyneuropathie, dann holt der Sekretär den Duden her, der Sekretär ist nämlich ein Genie. Der Sekretär, der hat den Überblick und auch das Abitur, er kennt jeden Flugplan, jeden Puff, den Terminplan und die Uhr, und wenn der Minister im Bundestag wieder einen vom Pferd erzählt, dann hofft er sehr, daß man ihn und den Sekretär bald wieder wählt. 81
KLINKE OHNE TÜR
Mit dir zu reden ist wie Husten bei starkem Gegenwind: man steckt sich höchstens selber damit an. Einmal spielst du große Dame und dann wieder kleines Kind, je nach Laune oder Stunde oder Mann. Ich hab mich oft gefragt, warum du nur die Hochglanztypen siehst und dich vor anderen geradezu verriegelst. Ich glaub, jetzt weiß ich wohl, warum du vor normalen Menschen fliehst: du brauchst den Lack, in dem du dich dann spiegelst. Und irgendwann bist du vierzig und willst irgend etwas wieder, und dann weißt du nicht mehr, was und wofür, und dann stehst du irgendwo, in der rechten Hand ’n Fahrschein, in der linken eine Klinke ohne Tür. Und wenn das nicht Poesie ist, dann bist du auch kein Chamäleon, das die Farbe schneller wechselt, als man schauen kann. Du bist äußerlich schön bunt, aber innen grau wie Stein, und zwar wie ein Stein, auf den man niemals bauen kann. Stehst du manchmal vor dem Spiegel und spürst ein großes Loch und wagst es nicht, dich selber mal zu fragen, ob du deshalb niemals satt wirst, weil die viel zu große Leere in deiner Seele sitzt und nicht in deinem Magen?
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WIE SIE IST
Sie liest in neun verschiednen Büchern rum, und keines liest sie aus, träumt sich rein in diese Welt und wieder raus; sie ist zerbrechlich, aber frech, und alle ziehen so an ihr; wenn’s zuviele sind, flieht sie zurück zu dir. Sie geht und steht und lacht und weint und ist so groß und ist so klein, träumt sich raus aus dieser Welt und wieder rein; sie boxt und streichelt dich, und du stehst einfach da und schaust ihr zu, kannst nicht mehr schlafen, denn sie läßt dir keine Ruh. Du mußt sie nehmen, wie sie ist, aber nimm sie nicht zu fest, denn es könnte sein, daß irgendwas zerbricht; trotzdem nimm sie fest genug, denn wenn du sie fallen läßt, fällt sie tief, und sie fällt mitten auf’s Gesicht. Sie tapst dir Spuren in dein Herz, was dir wehtut und gefällt, denn du träumst sie schon hinein in deine Welt, und du möchtest, daß sie bleibt, doch du willst nicht, daß sie jetzt sich an einer deiner Kanten noch verletzt. Du mußt sie nehmen, wie sie ist; wie sie ist, so ist sie gut; sie spielt ihr Spiel, und du bist mittendrin; ach, gewöhn dich einfach dran: sie spielt den Vogel, du den Mann; gib ihr Futter, und dann fliegt sie zu dir hin. 83
WIEVIELE KINDER HABEN WIR?
Was ist los mit den Gesichtern, was ist mit den Leuten los? Ihre Augen werden kleiner und die Münder riesengroß. In den Kinos knirscht das Popcorn, Gummibärchen kopulieren; auf der Leinwand stöhnt ein Star und darf sich nicht genieren: Wieviele Kinder haben wir? Sind die Bäcker noch nicht glücklich im Brötchenparadies? Warum zünden sie die Theken an und machen alles mies? Warum grinst der Bundeskanzler? Wie heißt heute uns’re Krise? Wieso bin ich nicht mehr weg, wenn ich ganz fest die Augen schließe? Wieviele Kinder haben wir? Warum lächeln die nur alle so? Die hörn nicht auf, zu lächeln. Wieso schaffen’s die so leicht, die ganzen Fliegen totzufächeln? Sowieso, es ist doch Sommer, kein Grund, hübsch auszusehn, jetzt würd es doch genügen, einfach so draußen rumzustehn: Wieviele Kinder haben wir?
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Warum gibt es kein Geräusch mehr, nur dies fürchterliche Lachen? Die Chirurgen sind die letzten, die trotzdem noch Witze machen. Aus den Lautsprechern im Kaufhaus schießen Nadeln statt der Töne: Akupunktur, genau ins Ohr, gegen alles, auch Migräne: Wieviele Kinder haben wir? Piratenkapitäne mit hochgeschlagnen Kragen stehn in Gruppen an die Wand gelehnt und stellen keine Fragen. An den Eingängen zur U-Bahn stehen blaue Automaten, die spucken Karten aus, auf denen steht: vollbring zwei Heldentaten: Wieviele Kinder haben wir? Was ist los mit den Gesichtern, was ist mit den Leuten los? Ihre Herzen werden kleiner und die Fäuste riesengroß. In den Sälen knirscht das Leder, und die Sieger applaudieren. Auf der Bühne steht ein Star und darf sich nicht genieren: Wieviele Kinder haben wir?
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DER EINZIGE SENKRECHTE
Fritz hat keine Meinung, Karl hat kein Gesicht und kein Bewußtsein, vermißt er aber nicht. Jeanne hat keine Zukunft und Inge keine Brust und keine Kinder, aber ganz bewußt. Mike hat keine Muskeln und Hermann keinen Garten; Jan hat keinen Reisepaß, muß noch ’ne Woche warten. Vera hat kein’ Führerschein und Elsa kein Talent und keine Träume, weil sie die verpennt. Oh, was soll ich hier? Alle ham ’n Vogel außer mir. Oh, wo soll ich bloß hin? Es ist mir peinlich, daß ich der einzige Senkrechte bin. Winfried hat kein Abitur und Thomas keinen Feind und auch kein Zartgefühl; er hat’s nicht so gemeint. Sven hat kein’ Charakter und Arno kein’ Bedarf an reichen Mädchen, die sind eh nicht auf ihn scharf. Müller hat kein Rückgrat und der Doktor keinen Schimmer, und Frau Behringer hat kein Problem, und das ist fast noch schlimmer, als daß Koller keine Lobby hat und Rölling keine braucht und auch kein Kleingeld, weil er außerdem nicht raucht. Oh, was soll ich hier? Alle ham ’n Vogel außer mir. Oh, wo soll ich bloß hin? Es ist mir peinlich, daß ich der einzige Senkrechte bin.
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WAS HAST DU DENN HIER VERLOREN
Es gibt immer zwei Möglichkeiten, mindestens zwei. Und manchmal, wenn man Glück hat, ist die richtige dabei. Nun hast du dich entschieden, ich hab mich dran gewöhnt, hab mich endlich damit, daß du endlich weg bist, ausgesöhnt. Was hast du denn hier verloren, wer will dich denn hier noch sehn, hab ich nicht laut genug Hurra geschrien, als du sagtest, du willst gehn? Es gibt immer zwei Möglichkeiten, mindestens zwei. Und bei denen, die ich jetzt noch habe, bist du nicht dabei. Steck die Leidensmiene weg, das wird nicht mehr funktionier’n, mit diesem Abziehbild von Schwäche kannst du andern imponier’n. Was hast du denn hier verloren, wer will dich denn hier noch sehn, hab ich nicht laut genug Hurra geschrien, als du sagtest, du willst gehn? So, das war ’ne lange Rede, nimm den Fuß aus meiner Tür. Ab heute will dich nicht mehr jeder, nur noch alle außer mir. Das sind immer noch Millionen, die sollten dir genügen, aber mich kannst du verschonen, über mich nicht mehr verfügen. Was hast du denn hier verloren, wer will dich denn hier noch sehn, hab ich nicht laut genug Hurra geschrien, als du sagtest, du willst gehn?
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HUND
Sie nahmen sich, wie manche Leute beten: nüchtern, skeptisch, einfach so, nur als Versuch. Sie waren ängstlich, immerzu betreten, wie zu früh geerntet, ohne Geruch. Sie faßten ineinander, denn sie suchten etwas für die eig’ne hallend schwarze Leere, doch sie faßten nur in abgrundtiefe Schluchten, nichts zu greifen, was es wert gewesen wäre. Aber irgendwas, und sei es nicht im andern, suchten sie und schauten links und rechts umher, und sie ließen ihre Sehnsucht nächtens wandern, anfangs täglich, später jährlich, dann nicht mehr. Sie probierten auch die angebotnen Träume, doch langweilten sie sich meist auf halbem Wege, trotzdem füllten sie die vielen leeren Räume, sammelten Puppen, Porzellan und Bankbelege. Dann kauften sie sich einen treuen Hund, und sind seither vor Liebe ganz benommen. Er hüpft, und ihm läuft Speichel aus dem Mund. Auf den sind sie noch rechtzeitig gekommen.
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GORILLA
Bitte sag, daß du mich liebst, sag es jetzt und sag, wie sehr. Wenn du mir keinen Frieden gibst, dann brauch ich keinen mehr. Was machst du da? Du sollst mich lieben! Wieso erklärst du mir, daß es auch noch andre gibt? Was machst du da? Du sollst mir nicht das Herz verschieben, grade so, wie’s dir beliebt, als hätte ich zwei davon. Was machst du da? Du baust Gespenster auf vor mir, die quälen mich die halbe Nacht. Sie spielen mit ihren Muskeln vor meinem Fenster, ich bin fast um den Verstand gebracht, als hätte ich zwei davon. Bitte sag, daß du mich liebst, sag es jetzt und sag, wie sehr. Wenn du mir keinen Frieden gibst, dann brauch ich keinen mehr. Du schneidest mir die Haut in Streifen, blutig bin ich, blind und dumm, du machst mich krank. Ich höre hinter dir ein leises Schleifen, ist das der Gorilla in deinem Kleiderschrank? Oder hast du zwei davon? Was machst du da, wieso erklärst du mir, daß es viele Arten, sich zu lieben, gibt? Was machst du bloß? Du sollst mir nicht die Welt verschieben, grade so wie’s dir beliebt, als gäbe es zwei davon. Bitte sag, daß du mich liebst, sag es jetzt und sag, wie sehr. Wenn du mir keinen Frieden gibst, dann brauch ich keinen mehr.
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KUNSTAKADEMIE
An der Kunstakademie, da machen sie schöne Dinge häßlich und häßliche schön,
und sie leiden Höllenqualen, es zu machen, und die Kunstkäufer kaufen die Sachen, und die anderen Leute, die lachen und sagen: „Das kann mein Sohn auch, und der ist erst fünf, aber wenn er mit sowas ankäme, ich würd ihn schlagen!“ Das ist Humor. Haha haha ha haaa. Und dann lachen sie nochmal und sagen: „Mein Sohn geht ganz bestimmt nie auf die Kunstakademie.“
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DER MISSVERSTAND’NE GOTTFRIED
Vom Scheitel bis zum Hosenträger sieht er aus wie ’n Schläger, weil er meint, das gefiele den Frau’n. Er trainiert seine Muskeln täglich, er will nie mehr so kläglich schmächtig wie früher ausschaun. Seine Kleider haben alle irgendwie die richtige Marke. Wenn er irgendwo hinkommt, sagen die Leute: Da kommt der schöne starke aber mißverstand’ne Gottfried; ach, der mißverstand’ne Gottfried ist ganz anders. Keiner traut sich, mit ihm zu reden; er sieht aus, als könnte er jeden aus’m Anzug haun. Die Musikbox hat so viele Lieder, doch er drückt immer wieder nur „Bad bad Leroy Brown.“ Aber selbstverständlich hat er einen ganz weichen Kern, und selbstverständlich wärs ihm lieber, sie fänden ihn nicht nur schön, sondern hätten ihn gern, den mißverstand’nen Gottfried, weil, der mißverstand’ne Gottfried ist ganz anders.
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MICH JUCKTS, UND ICH BIN SCHLECHT GELAUNT
Mich juckts, und ich bin schlecht gelaunt; ich möchte irgendwas verweigern, bloß hab ich leider sowieso zu überhaupt nichts Lust. Ach, gäbs doch was im Kino, oder ein Konzert, oder, wenn der Zirkus da wär, dann ginge ich da nicht hin. Mich juckts, und ich bin schlecht gelaunt; ich hab auf alles eine Wut. Wenn ich irgendwem was antun könnte, das täte mir sicher gut. Ach, hätt ich doch eine Kuckucksuhr und ein Luftgewehr, ich lauerte dem Kuckuck auf und schösse hinter ihm her. Mich juckts, und ich bin schlecht gelaunt; ich finde nichts mehr schön. Vielleicht sollte ich zur Gerichtsverhandlung meines Bruders gehn? Der Richter wird fragen: „Wo warn Sie achtundsechzig?“ Mein Bruder wird sagen: „Im Kino.“ Der Richter wird sagen: „Ja, das kennen wir schon. Oder ham Sie noch die Karte?“ Mein Bruder wird sagen: „Ach, kennen Sie Kino?“ und nach der Karte suchen. Er wird alle seine Taschen durchwühlen und dabei ein bißchen fluchen, und dann wird er sagen: „Ach, wissen Sie, das ist neun Jahre her. Vielleicht ist die Hose mal gewaschen worden, ich finde die Karte nicht mehr.“ 92
Ich träumte, daß ich Hannes Wader fragte, was er von meinen Liedern hält, und obwohl er sich erst wand wie ein Aal, hätte er mir vielleicht was erzählt, doch dann weckte mich dieser Zimmermann am Telefon ziemlich roh; meine Frage wird wohl nie beantwortet werden. Ist vielleicht auch besser so. Mich juckts, und ich bin schlecht gelaunt; ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich geh jetzt runter und kauf Zigaretten und fang wieder an zu rauchen.
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UND ICH?
Manche reisen nur weg, um anzukommen; manche lieben nur, um geliebt zu werden; manche schenken was her, damit sie selber was kriegen; manche stehn nur aufrecht, um nicht quer zu liegen; manche haben Besitz, um nicht besessen zu werden; manche kommen in den Himmel und waren nie auf Erden, und manche sind den ganzen Tag blau. Und ich? Ich weiß nicht so genau. Manche schlagen zuerst, um nicht geschlagen zu werden; manche reden viel, um nichts gefragt zu werden; manche planen selber viel, um nicht verplant zu werden; manche üben vor dem Spiegel, nicht erkannt zu werden; manche schließen die Augen, um nicht gesehen zu werden; manche haben ein Motorrad, oder kenn’ sich aus mit Pferden, und manche sind auch abgrundtief schlecht. Und ich? Ich weiß nicht so recht.
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PARTISANEN
Geschmackspartisanen spucken Cola auf den Tisch und schrein: „Heh Wirt, dein Coca-Cola schmeckt nach Fisch!“ Und sie stehn in kleinen Gruppen in den Kunsthallen rum und sagen halblaut: „Michelangelo war dumm.“ Bewußtseinspartisanen diskutieren so lange, bis der Guru tot umfällt. Armer Guru. Und dann sind sie selber einer, und sie reden zu den Leuten, bis einer aufsteht und fängt an zu diskutieren. Geldpartisanen haben einen guten Job und wohnen garnicht in der Gegend, wo du wohnst. Sie haben Streifen auf’m Anzug und ’n Steifen auf der Bank und trinken immer nur Campari, was denn sonst. Liebespartisanen haben immer eine Liebste oder mehrere oder grade keine; sie lieben sich nie nur so zum eben mal probieren, nein, sie lieben sich immer gleich ins Reine. Modepartisanen haben grüne Haare oder rote oder schwarze oder vielleicht gelbe oder blaue oder weiße oder gar keine Haare, auf jeden Fall alle dasselbe. Urlaubspartisanen fahr’n nach Griechenland und finden dort ein einsames Dorf, direkt am Strand, und dann sagen sie es weiter, und dann ist es nicht mehr einsam, und dann suchen sie sich ein neues Land. 95
SEKUNDEN
HOHLRAUM IN DER ZEIT
Du kennst sie auch,
die klaren Tage, da man zittert, und man meint, daß selbst der liebe Gott ein kleines bißchen friert. Da steht man da, als wär man wieder klein und hätte eine Frage, die zu stellen man sich irgendwie geniert. Aber keiner sagt: „Was hast du denn?“ Man wüßte es auch nicht. Es ist nur so, daß dieser Schatten einen streift; und man steht da, vor einer Ampel und erwartet grünes Licht, obwohl man wirklich grade nicht so recht begreift: Was wäre Grün, und was wär Rot; bin ich glücklich oder tot; ist das ein Traum, oder ist es doch die Wirklichkeit? Und dann plötzlich macht es Klick, und dann kriegt man sich zurück, dann ist man draußen aus dem Hohlraum in der Zeit. Ich weiß, du kennst sie, diese Tage, und ein bißchen kennst du mich, und du weißt, ich bin dir gut und liebe dich. Hab keine Angst, wenn ich so steh, und bin so weg, so tief und weit: dann fall ich nur in diesen Hohlraum in der Zeit.
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SCHARNIER
Ein Scharnier
aus Messing hat ein Kind verloren, ein andres hat’s gesehn, aber nicht gewollt; ein drittes hat es schließlich aufgehoben und sich gefreut. Es dachte, sicher ist es Gold. Seit damals sind die Menschen alt geworden, sie gähnen beim Gedanken an den Mond; sie wissen, nichts ist anders oder besser hinterm Gartenzaun oder hinterm Horizont. Ich kann dir teuren Schmuck und Kleider schenken, weil du da bist und ich fröhlich bin mit dir, aber manchmal, da gerate ich ans Denken; dann gäbe ich dir lieber das Scharnier.
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GLÜCKLICH, DASS ES FAST WEHTUT
Ich meine, daß du in der Nachbarschaft Blumen klaust das ist doch irgendwie ’n dicker Hund, und daß du unsrer Tochter erklärst, die Erde sei flach wie ’n Brett und überhaupt nicht rund, bloß damit sie keine Angst vor’m Runterfallen hat, das finde ich nicht okay, aber ich bin glücklich, so, daß es fast wehtut, wenn ich dich zur Tür reinkommen seh. Wenn ich mich nicht ganz täusche, dann wird aus dir nie so ’ne richtige, erwachsene Frau. Einmal bist du wie ’ne Dame und dann wie ’n junger Hund, und ich werde nie so richtig aus dir schlau. Aber wenn du nachts um vier an den Türpfosten rennst und behauptest, der war gestern noch nicht da, dann frag ich mich, womit hab ich meine Zeit vertan, bevor ich dich zum erstenmal sah.
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GLITZERN
Die Musik stirbt, wenn man sie nicht hören will, dann ist sie bloß noch so ein störendes Geräusch, so wie die Wahrheit stirbt, wenn man sie nicht wissen will, man sich belügen läßt oder selber täuscht. So wie ein Mensch stirbt, wenn man ihn nicht lieben will, dann ist er bloß noch so ein Ding, das sich bewegt, und wie ein Buch stirbt, wenn man es nicht lesen will, oder ohne Frage auf die Seite legt. Aber ich sterbe nicht, sie hat mich angesehn, mit so ’nem Blick, auf dem ein Glitzern Schlittschuh läuft. Solche Blicke, die direkt, nicht über Bande gehn, machen, daß man sich an Lebensmut besäuft.
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SO WIE DU
Die Menschen haben Glatzen oder Haare oder Brüste oder Angst oder ’n IQ,
und manche haben Hände, um wo dran zu drehn, oder Beine, um wo draufzustehn, aber sie sind nicht so wie du.
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EINE TRAGISCH MODERNE ROMANZE
Sie war sechzehn Jahre und übervoll von der Hoffnung auf irgendwas Starkes; sie ging ins Odyssee, jeden Tag, da wars toll, da war immer was los, daran lag es; los war da nämlich, daß da Leute waren im Unterschied zu daheim, zwar taten die wenig, doch war man da immerhin irgendwie nicht so allein. Und einer war neunzehn, studierte schon fast und war ein wahnsinnig lockerer Typ, und der hat sie mal abends nach Hause gebracht und war irgendwie unheimlich lieb, und sie redeten im Auto total intensiv von der Hoffnung auf irgendwas Irres, und er fand es irre, wie sie auf ihn zuginge, aber ihn verwirr es. Das fand sie wieder spitze, wie ehrlich er sei, und das sagte sie ihm auch ganz offen, und das machte ihm Mut, und er hat fast sofort ihren Mund mit seinem getroffen; 104
es war wahnsinnig irre und zärtlich und so, und sie machten eine Weile so rum, dann passierte irgendwas, und sie zuckte zurück, und auch er drehte sich um, und er sagte noch was, sie verstand es nicht, und er stieß die Wagentür auf, und sie stand vor dem Haus im Straßenlampenlicht und ging erst nach ’ner Stunde hinauf, und sie weinte ins Fell ihres Rummelplatzbärs und schlief durch bis zur nächsten Nacht, und dann ging sie in die Küche, fraß den Kühlschrank leer, und das hat’s dann auch irgendwie gebracht.
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STEFAN UND DIE KATZE
Stefan wurde grade drei am zwölften Januar, es war klar, daß er der beste Freund der Katze war; die beiden rannten durch die Felder, und sie wälzten sich im Schnee, und sie rannten, rannten immer weiter weg vom Haus. Mutter, laß das Rufen sein, Stefan hört nicht mehr, zieh Schuhe an, und hol ihn wieder her. Später, als die Katze starb, war Stefan grade vier, und die Eltern kauften ihm sofort ein neues Tier; die beiden rannten auf die Baustelle und wälzten sich im Dreck, und der Hang war nicht befestigt und rutschte weg. Mutter, laß das Rufen sein, Stefan hört nicht mehr; die Bauarbeiter bringen ihn schon her. Und nach vielen, vielen Tränen in irgendeiner Nacht, da haben sich die Eltern einen neuen Stefan gemacht.
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FIREBALL WAITS FOR YOU
Die Städte bluten aus den U-Bahnschächten; das Blut rennt durch die Straßen und dringt ein in jeden Raum. Die Städte zittern in den kurzen Nächten; müde Flipperautomaten träumen einen Fiebertraum: Fireball waits for you! Ein paar Kluge schieben alles auf die Liebe, und ihr Argument sitzt abgeblättert, flüsternd „Gott vergelt’s“, in den Dünsten gastronomischer Betriebe: kleine Omas im vom Sohn zu spät geschenkt gekriegten Pelz. Der Kaiser lächelt dir zu! Sicher hat’s der Kaiser gut gemeint, sicher wußt’ er nicht, daß Mama weint; ach Mama, siebzig Jahre sind vergangen. Sicher kann der Kaiser nichts dafür; auch heute wieder dürfen wir vom Leben und von Gott nicht viel verlangen. Auf Wiedersehn in zwanzig Jahr’n; wir treffen uns in Miami oder am Ural. Auf Wiedersehn in zwanzig Jahr’n; wir treffen uns im Himmel oder in Wuppertal. Aber Mama soll nicht weinen. Aber Fireball waits for you! 107
UND PLÖTZLICH HÄLTST DU STILL
Und plötzlich hältst du still, und ein schwarzer Vogel fliegt mitten durch den Mond, der hinterm Stadtrand liegt. Plötzlich hältst du still, und in dir denkt sich etwas aus, und du weißt nicht, kommt am Ende Tod oder Leben raus. Es denkt sich selber, denkt in deiner Brust. Du atmest flach, solang du denken mußt. Und plötzlich gehst du los, und ein Auto fährt vorbei. Du weißt genau die Richtung, noch zwei Straßen oder drei, und dann nach links, und dann zwei Treppen rauf, dann tust du irgendwas, und morgen früh weißt du nicht mehr, was war das und wo war das. Plötzlich hältst du still, und ein schwarzer Vogel fliegt mitten durch den Mond, der hinterm Stadtrand liegt.
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KATZE
Sie schmiegt sich in sein Streicheln, will wie eine Katze sein. Katzen sind bewundernswert: schön, stolz und allein. Noch liegt sie so da; er traut sich nicht, ein Wort zu sagen; er hat Angst, sie zu verjagen, aber noch liegt sie so da und schmiegt sich in sein Streicheln, will wie eine Katze sein. Katzen sind bewundernswert: schön, stolz und allein.
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JA NATÜRLICH
Ja natürlich hast du Hände, Brüste, Augen, alles klar, aber außerdem noch irgend etwas mehr. Und wenn dies Irgendwas nun nur für mich gewesen war? Das wär so toll, so toll wär das, wenn das so wär. Und natürlich hast du Freunde, Männer, Lieben, weiß ich doch, bin doch nicht von Gestern, leb nicht erst seit heut. Aber von der Seite angesehn hab ich dich manchmal noch und mir gedacht, das seh nur ich, und mich gefreut. Wenn das stimmt, daß da ein Rest war, den du immer gut versteckt durch die Leute und den Lärm geschmuggelt hast, und der hat so lang geschlafen, und ich hab ihn jetzt geweckt, dann ist das ein Gedanke, der mir paßt.
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LIEBESERKLÄRUNG
Ich trinke Kaffee, du trinkst Tee; ich fahr Mercedes und du BMW. Ich hab ’ne Katze und du einen Hund. Ich rede mit den Händen, und du denkst mit dem Mund. Ich bin ein Fisch, und du bist wasserscheu; du hast alles schon gesehn, und für mich ist alles neu; du erinnerst dich an alles, jedes Bild, jeden Ton. Ich brauche für die Muppets Show ein Lexikon. Ich mag die Beatles und du die Rolling Stones, und es ist nicht anzunehmen, daß Du mich damit verschonst, wenn du morgens früh aufstehst, und ich bin grade eingeschlafen und muß abends wieder ausgeschlafen sein. Du kannst Italienisch und ich bin frankophil und nehme alles ernst, und für dich ist alles Spiel. Ich trinke Wein, und du trinkst Bier; wir passen nicht zusammen, los, gehn wir zu mir.
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Inhaltsverzeichnis
JAHRESZEITEN Wann wird es wieder Sommer 7 Einmal im Leben 8 Die Linie des Armes der Dame des Hauses 9 Alles wird gut 10 Hier ist die Welt in Ordnung 11 Weißt du noch? 12 Verwandlung 13 Autobahn / Und 14 Der Rest vom Rock ’n Roll 15 Sowas wie ein Star 16 Sommer in Europa 17 Heut gibt es keine Indianer mehr 18 Ein weißes Schiff 20 Braucht den Wolf und liebt die Hunde 22 Nachsaison 23 Weiß nicht mehr wie’s geht 24 Vor der Zukunft 25 Die Tage werden länger 26 Ich hab Lise gesehn 27 Sie tut, was sie kann 28 Friederike heiß und kalt 30 Der letzte Indianer 32 Brief einer Mutter 34 Du bist noch jung 35 TAGESZEITEN Nachts, wenn es warm ist, bei den Zügen zu stehn 39 Von fünf vor acht bis acht 40 Hotel Central 41 Die leise Reise 42 Komm nach Haus 43 Noch nichtmal Vollmond oder Föhn 44 Guten Morgen 45 Keine Tränen mehr 46 Scherben bringen Glück 47 Paradiesvogel 48 Das Gewicht der Nacht 49 In der Stille großer Nächte hört man Schritte auf der Welt 50 Roter Himmel 52 An Tagen wie diesem 53 Zuhause 54 Ein ganz normaler Donnerstag 56 Guten Tag 57
STUNDEN Irgendwie das Meer 61 Nacht in der Stadt 62 Blumen im Papierkorb 64 Hab Geduld 65 Dieser Stein 66 Wo, glaubst du, gehst du hin? 67 Oliver, Sebastian und Nicole 68 Das Saxophon weint 69 Liebe Eltern 70 Irgendjemand kommt nach Haus 72 Schwalben 73 Der Knoten geplatzt 74 UND
Alles geregelt 79 Arme schöne Frauen 80 Der Sekretär 81 Klinke ohne Tür 82 Wie sie ist 83 Wieviele Kinder haben wir? 84 Der einzige Senkrechte 86 Was hast du denn hier verloren 87 Hund 88 Gorilla 89 Kunstakademie 90 Der mißverstand’ne Gottfried 91 Mich juckts, und ich bin schlecht gelaunt 92 Und ich? 94 Partisanen 95 SEKUNDEN
Hohlraum in der Zeit 99 Scharnier 100 Glücklich, daß es fast wehtut 101 Glitzern 102 So wie du 103 Eine tragisch moderne Romanze 104 Stefan und die Katze 106 Fireball waits for you 107 Und plötzlich hältst du still 108 Katze 109 Ja natürlich 110 Liebeserklärung 111
COPYRIGHT-NACHWEIS Ich hab Lise gesehn / Brief einer Mutter / Mich juckts, und ich bin schlecht gelaunt © 1978 by TURNSTAR MUSIKVERLAG GMBH Rechte für Deutschland, Österreich, Schweiz und Osteuropa: ESSEX MUSIKVERTRIEB GMBH HAMBURG Erschienen auf der LP „Silchers Rache“ Bellaphon 1978 * Sie tut was sie kann / Die leise Reise / Autobahn-Und © 1979 by TURNSTAR MUSIKVERLAG GMBH Erschienen auf der LP „Abenteuer“ Metronome 1979 * Friederike heiß und kalt / Irgendjemand kommt nach Haus / Heut gibt es keine Indianer mehr / Komm nach Haus/ Zuhause / Die Tage werden länger © 1980 by ROBA MUSIK VERLAG GMBH Erschienen auf der LP „Feindliches Gebiet“ Metronome 1980 * Guten Tag / Klinke ohne Tür / Stefan und die Katze / Nachsaison / An Tagen wie diesem © 1981 by NEUE WELT MUSIKVERLAG Erschienen auf der LP „Kamikaze Bodenpersonal“ Metronome 1981 * Ein ganz normaler Donnerstag / Eine tragisch moderne Romanze / Liebe Eltern © 1982 by NEUE WELT MUSIKVERLAG Erschienen auf der LP „Paradies“ Metronome 1982 * Wann wird es wieder Sommer / Wieviele Kinder haben wir / Der Knoten geplatzt / Sowas wie ein Star/Partisanen / Blumen im Papierkorb / So wie Du Erschienen auf der LP „Was ist los“ Metronome 1983 * Alles geregelt / Hohlraum in der Zeit / Wie sie ist / Der Sekretär / Dieser Stein / Scherben bringen Glück © 1985 by KICK VERLAG - Erschienen auf der LP „Alles geregelt“ RCA 1985 * Irgendwie das Meer / Hotel Central / Arme schöne Frauen / Roter Himmel / Schwalben © 1988 by BERND REISIG MUSIKVERLAG Erschienen auf der LP „Fliegender Teppich von Gleis acht“ Ciao 1988 * Alles wird gut / Vor der Zukunft/Gorilla / Nachts, wenn es warm ist, bei den Zügen zu stehn / Glücklich, daß es fast wehtut / Einmal im Leben Erschienen auf der LP „Das blaue Wunder“ RMG 1995 * Weißes Schiff © 1989 by RMG Erschienen auf der LP „Nena: Wunder gescheh’n“ CBS 1989
Thommie Bayer, geboren 1953, studierte Malerei an der Kunstakademie Stuttgart, veröffentlichte als Sänger acht Langspielplatten und trat mit seiner Band weit über tausendmal auf, bevor er sich von der Musik verabschiedete und nur noch Bücher schrieb. Zwar werden manche seiner Lieder, wie zum Beispiel „Der letzte Cowboy kommt aus Gütersloh“, noch heute im Radio gespielt, aber die Gemeinde seiner Leser übertrifft die seiner Hörer weit an Zahl. „Das Herz ist eine miese Gegend“ (Rowohlt 1991) ist ein Kultbuch und geht von Hand zu Hand. Im Herbst 1992 erhielt Thommie Bayer den renommierten Thaddäus-Troll-Preis für sein bisheriges literarisches Gesamtwerk. Eine neue CD ist in Vorbereitung. Dieser Band mit Gedichten und Liedern ist somit ein Rückblick und Vorausblick auf den Dichter Thommie Bayer, der sich hinter dem Erzähler nicht zu verstecken braucht.
Das, was
Thommie Bayers Romane so besonders macht, diese Mischung nämlich aus Witz, Melancholie und Stimmenvielfalt, findet sich auch in seinen Gedichten und Liedertexten. Metrisch frei, aber fast immer gereimt, erzählt er kleine und größere Geschichten aus der sichtbaren, spürbaren und denkbaren Welt. Vierzig der schönsten Texte aus acht Langspielplatten und ebensoviele neue sind in diesem Band versammelt und lassen sich lesen, verschenken, ans Herz und unters Kopfkissen legen wie Liebesbriefe, Tagebuchnotizen, Polaroids und kleine Geheimnisse.
ISBN 3-8218-0397-5